ULLSTEIN 2000
SCIENCE FICTION STORIES 13 von James H. Schmitz H. Beam Piper Harry Bates Randall Garrett ausgewählt
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ULLSTEIN 2000
SCIENCE FICTION STORIES 13 von James H. Schmitz H. Beam Piper Harry Bates Randall Garrett ausgewählt
Ausgewählt und zusammengestellt von Walter Spiegl
ein Ullstein Buch
ULLSTEIN BUCH NR. 2883 IM VERLAG ULLSTEIN GMBH, FRANKFURT/M – BERLIN-WIEN Aus dem Amerikanischen übersetzt von Heinzu Nagel, Ute Seeßlen und Udo H. Schwager
Umschlagillustration: Jeff Jones Alle Rechte vorbehalten Übersetzung © 1972 by Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Printed in Germany 1972 Gesamtherstellung: Augsburger Druck- und Verlagshaus GmbH ISBN 3 548 02883 7
Als Telzey erwacht, hat sie eine Doppelgängerin. Keines der beiden Mädchen weiß, welches das echte und welches das synthetische ist. Sie haben ihre Rolle zu spielen als Marionetten, deren Bewegungen ein Computer steuert. DER PUPPENSPIELER von James H. Schmitz Engstirnigkeit und Rechthaberei beschwören die Katastrophe herauf. Das Schicksal von Millionen liegt in den Händen des dümmsten von ihnen. BESCHRÄNKT ZURECHNUNGSFÄHIG von H. Beam Piper Ein Fanatiker hat den Sendboten einer anderen Welt erschossen. Nun wartet die Menschheit auf die Rache der Roboter. DER TAG, AN DEM DIE ERDE STILLSTAND von Harry Bates Es war nicht das Paradies, in dem er lebte und arbeitete, aber es war seine Welt. Gewaltsam herausgerissen, kam er mit allem zurecht, nur mit einem nicht… DIE UNHEIMLICHE FREIHEIT von Randall Garrett
James H. Schmitz DER PUPPENSPIELER
Eine junge Frau mit kastanienbraunem Haar und Pfirsichwangen, die in eine andere Wirklichkeit gehörte, ging mit katzenhafter Grazie an einer Restaurant-Terrasse in Orado City vorbei, wo Telzey während eines Einkaufsbummels eingekehrt war, um zu Mittag zu essen. Telzey blickte ihr entgegen. Eigenartig, dachte sie. Ihrem Aussehen und auch der Art nach, wie sie sich bewegte, kam ihr die Frau bekannt vor. Dennoch wußte sie, daß sie einander noch nie begegnet waren. Sie wußte aber auch, daß die Frau einfach nicht auf dieser Terrasse in Orado City sein durfte. Sie existierte in anderen Dimensionen, nicht hier und nicht heute. Die Frau, die demnach nicht existierte, sah Telzey im Vorübergehen an. Da war kein Erkennen in ihrem Blick. Telzey schob ihren Stuhl leicht zur Seite, sah zu, wie das vertraut-fremdartige Phantom nicht zu weit entfernt einen Tisch nahm und nach einer Bestellscheibe griff. Eine sehr gut aussehende junge Frau, mit schönem, gefaßtem Gesicht, modisch und teuer gekleidet – und keiner der Gäste schien an ihrer Anwesenheit etwas Ungewöhnliches zu finden. Vielleicht, überlegte Telzey, waren es nur ihre Psi-Sinne, die daran etwas Ungewöhnliches fanden. Sie schickte einen Gedankenfühler aus, aber kein telepathischer Kontakt entstand mit der anderen Person. Sie verspürte aber auch keinen Widerstand. Wenn die Frau eine Psi war, dann gehörte sie
einer untypischen Abart an. Sie hatte jetzt ein Glas vom Tisch genommen und nippte daran. Schließlich begriff sie. Daran war überhaupt nichts Geheimnisvolles, sagte sie zu sich, halb amüsiert und halb enttäuscht. Vor etwa einem Jahr hatte sie mit Bekannten eine Martriaufführung besucht. Diese Frau auf der Terrasse sah aus und bewegte sich wie eine der Puppen aus dem Stück, das sie an jenem Abend gesehen hatten. Die Puppe hatte eine Nebenrolle gespielt, die aber doch so wichtig gewesen war, daß Telzey sich daran erinnerte. Kein Wunder, daß die Begegnung sie überrascht hatte! Schließlich liefen Martri normalerweise nicht allein in der Stadt herum. Und dann überlegte sie: Oder doch? Telzey studierte erneut das bleiche Profil. Ihre Haut begann zu prickeln. Ein unwahrscheinlicher Gedanke war das zwar, aber sie konnte sich sehr schnell vergewissern. Manche Gehirne ließen sich sehr leicht durchforschen, andere bereiteten Schwierigkeiten. Und wieder andere gab es, bei denen war es überhaupt nicht möglich. Wenn diese Frau zufällig eine von denen war, bei denen es leicht ging, würde Telzey in wenigen Minuten mit einem Gedankenfühler feststellen können, was sie war – oder nicht war. Es dauerte länger. Telzey hatte sofort Kontakt, aber er blieb verschwommen und undeutlich; immer wieder verlor sie ihn. Dann, als sie ihn erneut hergestellt hatte, diesmal etwas fester, stand die Frau auf. Telzey steckte schnell ihre Kreditkarte in den Zahlmechanismus des Tisches, wartete, bis die Frau sich abgewandt hatte, und folgte ihr dann zum Ausgang. Martripuppen waren biologische Organismen, die man äußerlich nicht von menschlichen Wesen unterscheiden konnte. Sie hatten ein Gehirn, das man programmieren könnte, und das auf Stichwerte mit menschlicher Sprache und
menschlichem Verhalten reagierte. Ob man diese Art von Gehirn mit so etwas wie dem menschlichen Geist in Verbindung bringen konnte, war eine Frage, die Telzey noch nie zuvor überlegt hatte. Sie war von Martriaufführungen nicht sonderlich begeistert und hatte sich nie intensiv damit beschäftigt. Aber bei dieser jungen Frau hatte sie etwas gespürt. Die verschwommenen Eindrücke schienen menschlich. Aber ob es sich um die Ausstrahlungen des synthetischen Gehirns einer Martripuppe gehandelt hatte, konnte sie mit Sicherheit nicht sagen. Dafür waren die Eindrücke zu vage gewesen. Auf einer anderen Terrasse des Einkaufszentrums nahm die Frau ein Lufttaxi. Als es von der Plattform abhob, stieg Telzey in das nächste Taxi und bat den Piloten, dem soeben abgeflogenen Flugzeug zu folgen. Der Pilot holte sich das Taxi des Kollegen auf den Bildschirm. »Ich weiß nicht, ob das geht«, sagte er dann. »Der fliegt in ganz dichtem Verkehr.« Telzey lächelte. »Doppelten Tarif, wenn Sie es versuchen.« Sie nahmen die Verfolgung auf. Telzey bemühte sich, Gedankenkontakt mit der Frau aufrechtzuerhalten. Ein paar Minuten vergingen, dann sagte der Pilot: »Ich glaube, wir haben sie verloren.« Telzey wußte das bereits. Wenn man Gedankenkontakt herstellen konnte, spielte die Entfernung nicht unbedingt eine Rolle. In diesem Falle aber traf das zu. Der Flugverkehrsstrom quer durch die Stadt war dicht, und es würde nicht lange dauern, bis die automatischen Kontrollorgane sich einschalteten und Umleitungen vornahmen. Die bestenfalls schwachen Eindrücke, die Telzey empfangen hatte, wurden in zunehmendem Maße von den Gedanken anderer überlagert. Das Taxi, das sie verfolgt hatten, war inzwischen bestimmt schon einige Kilometer entfernt, Telzey stellte ihre gedanklichen Bemühungen ein, forderte den Piloten auf, zum
Einkaufszentrum zurückzufliegen, und lehnte sich nachdenklich in ihren Sitz zurück. Den wenigsten Martriphilen machte es etwas aus, wenn die Puppen auf der Bühne starben, sofern die Handlung es verlangte. Das war ein wesentlicher Bestandteil des Realismus einer Martriaufführung. Die Puppen waren biologische Maschinen; die Emotionen und Reaktionen, die sie zeigten, waren programmiert. Sie waren sich ihrer selbst nicht bewußt, so lautete jedenfalls die Theorie. Was Telzey in den Gedanken der jungen Frau mit dem kastanienbraunen Haar gefunden hatte, schien weniger wichtig als das, was sie nicht gefunden hatte, obwohl sie speziell danach gesucht hatte. Die junge Frau hatte gewußt, wo sie war und was sie tat. Da waren Fetzen unmittelbarer Erinnerung, momentane Beobachtungen, eine Spur von einem Ziel. Aber auf ihre eigene Person bezogen schien sie sich ihrer Existenz nicht bewußt zu sein. Sie wußte zwar, daß sie objektiv existierte, daß es sie gab, aber das war für sie eine Tatsache wie viele andere Tatsachen auch, die für sie nicht von besonderer Bedeutung waren. Mit anderen Worten: sie schien sich ihrer selbst nicht bewußt zu sein. Soweit Telzey das hatte feststellen können, besaß dieser Zustand für sie überhaupt keine Bedeutung; aber der Kontakt war nicht stark genug gewesen, um das mit Bestimmtheit sagen zu können. Genau betrachtet, überlegte Telzey etwa eine Stunde später, war die Sache unwichtig. Sie hatte eine Idee gehabt, hatte zunächst versucht sie zu widerlegen, und als ihr das nicht gelungen war, hatte sie sogar einiges Beweismaterial gesammelt, das ihre Theorie untermauerte. Verrückt! Sollte sie noch mehr Zeit damit verschwenden? Sie biß sich gereizt auf den Daumen, rief das Informationszentrum an und bat um Daten über Martriaufführungen und Martripuppen und sah sich das
Material an, als es eintraf. Es gab nicht viel, was sie nicht schon kannte. Eine Martribühne war ein programmierter Computer, der wiederum die Puppen programmierte und sie während des Spiels nach den allgemeinen Richtlinien des Regisseurs leitete. Handelte es sich um ein relativ neues Stück, gab es keine Aufführungen, die identisch waren. Computer und Puppen hatten gewisse Freiheiten in ihrem Verhalten und wurden so gelenkt, daß sie das Optimum an Logik und Wirkung erzielten. Erst wenn keine weiteren Verbesserungen am Stück mehr möglich waren, blieb die Martriaufführung unverändert, förmlich erstarrt in ihrer eigenen Perfektion. Aber das Material, das Telzey angefordert hatte, enthielt keinen Hinweis, daß jemals eine Martripuppe ausgerissen war, sich selbständig gemacht hatte. Das Martriensemble, dessen Aufführung Telzey besucht hatte, befand sich nicht mehr auf Orado. Sie konnte feststellen lassen, wo es sich gegenwärtig befand, aber es mußte auch einfachere Mittel und Wege geben, um sofort zu erfahren, was sie wissen wollte. Bei der Prüfung des Materials war einige Male ein Name aufgetaucht – Wakote Ti. Sie konnte mit ihm in Verbindung treten. Ein bedeutender Mann: Gelehrter, Industriemagnat, Millionär, Philantrop, Philosoph, Künstler und Kunstsammler; und darüber hinaus bester Kenner des Phänomens Martri. Wakote Ti entwarf, erzeugte und verkaufte die besten Puppen in der Zentralgalaxis, konstruierte und programmierte die fortschrittlichsten Martribühnen, hatte über fünfzig erfolgreiche Stücke geschrieben und war ein bekannter Regisseur. Eine von Telzeys Freundinnen hatte einen martribegeisterten Verwandten, der Wakote Ti nicht nur bewunderte, sondern auch geschäftliche Verbindungen zu ihm unterhielt. Er erklärte sich bereit, Telzey Bescheid zu sagen, wenn der große Mann das nächste Mal in seinen Laboratorien in Draise auftauchte.
Dann ließe sich bestimmt ein persönliches Gespräch vermitteln. »Es besteht gar kein Zweifel daran, daß es völlig legal ist, zu töten«, sagte Wakote Ti. Eine Seminararbeit, die sie angeblich über das Thema Martri schreiben wolle, hatte Telzey den Scheingrund geliefert, um ein Gespräch zu bitten. Er zuckte die Achseln. »Aber ich würde es einfach nicht übers Herz bringen, es zu tun. In diesen Puppen wohnt Leben und Geist, wenn auch synthetisch und nur in beschränktem Maße. Und was noch wichtiger ist: sie besitzen Persönlichkeit und Charakter. Natürlich ist alles programmiert, aber nach meinem Gefühl besteht der Unterschied zwischen Puppen und Menschen mehr in gradueller als in prinzipieller Weise. Es sind unfertige Leute. Sie handeln immer so, wie es ihnen ihr Charakter vorschreibt, nicht notwendigerweise so, wie der Komponist oder der Regisseur es wünscht. Ich habe mich schon oft gewundert, wie sie die Rollen, die ich ihnen vorschrieb, verändert haben. Aber die Änderungen waren meistens vorteilhaft für die Aufführung. Man kann sie nicht zwingen, von dem, was sie sind, abzuweichen, sobald sie programmiert sind. In dieser Beziehung scheinen sie aufrichtiger als viele von uns Menschen.« Ti schenkte Telzey ein gewinnendes Lächeln. Er war ein großer, muskulöser Mann in mittleren Jahren, mit rötlichem Gesicht und leicht angegrautem schwarzem Haar. Er strahlte Energie aus, und es gehörte auch grenzenlose Energie dazu, das zu vollbringen, was er vollbracht hatte. Gleichzeitig gab es da in seinen Gesten und seiner Stimme eine seltsame Sanftheit. Es fiel nicht schwer, Ti sympathisch zu finden. Und er hatte einen Geist, den ein Telepath nicht antasten konnte. Das hatte Telzey bereits nach den ersten Minuten festgestellt. Schade! Telzey hätte lieber die Informationen, die
sie von ihm wollte, auf direktem Wege bekommen, ohne ihm verraten zu müssen, was sie eigentlich suchte. »Benutzen Sie echte Menschen als Modelle für Ihre Puppen?« fragte Telzey. »Ich meine bei der Konstruktion?« »Im physischen Sinne?« »Ja.« Ti schüttelte den Kopf. »Nicht nur eine Person! Viele. Die Puppen sind Idealtypen.« Telzey zögerte und sagte dann: »Vor einiger Zeit hatte ich ein eigenartiges Erlebnis. Ich sah eine Frau, die genau wie die Martripuppe in einer Aufführung aussah, die ich besucht hatte. Ich war fast davon überzeugt, es müsse eine Puppe sein, die sich irgendwie von der Bühne entfernt und draußen in der Welt verlaufen hatte. Aber das ist wahrscheinlich unmöglich!« »Oh natürlich!« »Weshalb aber unmöglich?« »Wegen der Einschränkungen, denen sie unterliegen. Man kann eine Puppe so programmieren, daß sie in zwanzig bis fünfunddreißig Stücken eine gute Leistung bietet. Eine unserer neuen Puppen, die gerade eingesetzt wird, schafft sogar zweiundvierzig Rollen von durchschnittlichem Schwierigkeitsgrad. Ich glaube, das ist der Rekord. Im besten Falle kann sie aber nur eine sehr beschränkte Anzahl spezifischer Situationen meistern, verglichen mit der endlos wechselnden Vielzahl von Situationen in der wirklichen Welt. Würde man einer Puppe die Freiheit geben, so würde die Masse der Eindrücke sehr schnell ihre Reaktionskapazität überfordern. Die Puppe würde einfach aufhören zu funktionieren. Wie ein Kurzschluß.« »Theoretisch gesprochen«, fragte Telzey, »wäre es denn nicht möglich, die Reaktionskapazität bis zu dem Punkt auszuweiten, wo eine Puppe wie ein Mensch reagieren könnte?«
»Ich kann nicht sagen, daß es theoretisch unmöglich wäre«, entgegnete Ti. »Aber das würde eine neue Wissenschaft erfordern. Und da es genug echte Menschen gibt, hätte das doch keinen großen Sinn, oder?« Sie schüttelte den Kopf. »Wahrscheinlich nicht.« »Wir experimentieren natürlich ständig.« Ti stand auf. »In einem anderen Teil dieses Gebäudes gibt es eine Anzahl Prototypen in verschiedenen Entwicklungsstadien. Wir zeigen sie gewöhnlich nicht her, aber wenn Sie sie gern sehen möchten, kann ich eine Ausnahme machen.« »Das wäre sehr liebenswürdig«, sagte Telzey. Ganz überzeugend hatte das nicht geklungen, dachte sie. In anderen Bereichen wurden auch ständig neue Technologien entwickelt. Warum also nicht auch bei Martripuppen? Jedenfalls würde sie jetzt eine grundlegende Frage klären können. Sie würde versuchen, mit einem oder mehreren der Prototypen, die er ihr zeigen wollte, geistigen Kontakt aufzunehmen. Dann würde sie ja sehen, ob zwischen ihrem Eindruck bei der jungen Frau und dem bei den Prototypen eine Ähnlichkeit bestand. Aber den Plan gab sie rasch wieder auf. Ti hatte die Tür zu einem großen Büro geöffnet, und ein hünenhafter junger Mann, der hinter einem Schreibtisch saß, blickte auf, als sie eintraten. Er war Telepath. Wenn sich zwei Psi-Telepathen zufällig begegneten, so gab es dafür eine feste Verhaltensregel. War keiner der beiden daran interessiert, die Begegnung auszudehnen, ließen sie es sich nicht anmerken, daß sie wußten, daß der andere ein Psi war. Wenn einer interessiert war, gab er sich auf geistigem Wege zu erkennen. Wenn der andere nicht reagierte, war die Sache erledigt. Weder Telezey noch der junge Mann gaben sich zu erkennen. Ti stellte sie einander vor.
»Das ist Linden, mein Sekretär und Assistent«, sagte er, und zu Linden gewandt: »das ist Telzey Amberdon, die sich für unsere Puppen interessiert. Ich zeige ihr, was wir augenblicklich in der Entwicklung haben.« Linden, der aufgestanden war, verbeugte sich und sagte: »Soll ich Miss Amberdon herumführen?« »Nein, das mache ich selbst«, sagte Ti. »Ich sage es Ihnen bloß, damit Sie wissen, wo ich zu finden bin.« Damit war Telzey die Möglichkeit genommen, eine der Puppen geistig zu sondieren. Jetzt, da sie einander begegnet waren, würde Linden wahrscheinlich telepathische Aktivität in der Umgebung sofort bemerken. Und solange sie nicht mehr wußte, wollte sie verhüten, daß ihr eigentliches Interesse an den Puppen bekannt wurde. Es gab auch andere Möglichkeiten. Die halbe Stunde, die sie mit Ti im Keller verbrachte, war in anderer Hinsicht sehr interessant. »Die hier«, sagte er, »gehören zu einem Experiment, das der größeren Produktion dienen soll. Es galt bisher als gute Leistung, in drei Wochen eine fertige Puppe herzustellen. Wir haben diesen Rekord schon seit einiger Zeit gebrochen. Diese neuen Modelle können wir in vierundzwanzig Stunden herstellen. Sie sind für fünfzehn Spiele programmiert.« Er strahlte Telzey an. »Natürlich hat diese Puppe hier wahrscheinlich noch Kinderkrankheiten – sie ist noch nicht restlos getestet. Aber wir sind auf dem richtigen Wege! Geschwindigkeit ist wichtig. Puppen können beschädigt werden oder ausfallen, und dann liegt ein ganzes Programm brach, bis eine Ersatzpuppe da ist.«
In jener Nacht hatte Telzey in ihrem Haus in Orado City einen ungeladenen Besucher. Sie war kurz vor dem Einschlafen, als sie einen vorsichtigen Gedankenfühler spürte. Sie war sofort
völlig wach, ließ sich aber nicht anmerken, daß sie etwas bemerkt hatte. Vielleicht handelte es sich nur um ein Versehen. Aber dann schien es, als stecke Absicht dahinter. Der andere Psi war vorsichtig, aber der Fühler wurde nicht zurückgenommen. Ein nicht sehr geschickter Versuch, die Stärke ihrer Abschirmung zu prüfen, schwache Stellen zu finden, die leichten Zugang zu ihrem Geist erlaubten. Schließlich entschied Telzey, daß sie lange genug gewartet hatte. Sie ließ die Abschirmung fallen und jagte einen Psi-Stoß zurück. Er prallte gegen einen Schirm. Der Fühler verschwand. Irgendwo war jetzt wahrscheinlich jemand für eine Stunde außer Gefecht gesetzt. Telzey lag eine Weile wach und überlegte. Einen Augenblick hatte sie geglaubt, die Persönlichkeit des Fremden an seinem Fühler zu erkennen. Linden? Vielleicht. Aber was hatte er gesucht? In Orado City gab es ein Martritheater. Telzey hatte vorgehabt, sich am nächsten Tag eine Aufführung anzusehen. Auf die Weise hätte sie am ehesten Gelegenheit gehabt, ihre Studien weiterzuführen. Aber das Erlebnis mit dem PsiEindringling hatte sie dazu veranlaßt, ihre Pläne zu ändern. Wenn Wakote Ti versucht hatte, sie zu sondieren, hatte Ti starke Gründe, sich für einen Telepathen zu interessieren, der sich seinerseits für Martripuppen interessierte. Das konnte bedeuten, daß sie eine Weile unter Beobachtung stand. Deshalb wollte sie sich bemühen, alles, was sie mit Puppen zu tun hatte, möglichst im geheimen zu erledigen. Und das bedeutete auch, daß sie nicht ins Theater von Orado City gehen durfte. Sie zog telefonisch Erkundigungen ein und traf kurz darauf mit dem Luftkissenzug in einer anderen Stadt des Kontinents ein, wo gerade eine Martriaufführung stattfand. Unterwegs hatte sie ein paarmal den Sitzplatz gewechselt, aber nichts deutete darauf hin, daß man ihr folgte. Sie entrichtete die Eintrittsgebühr am Theatereingang…
Sie lag auf dem Rücken auf einer Couch, in einem großen Raum, den warmer Sonnenschein erfüllte. Außer ihr war niemand da. Der Schock macht sie einen Augenblick lang bewegungsunfähig. Schock nicht nur darüber, daß sie nicht wußte, wo sie sich befand oder wie sie hierher gekommen war. Irgend etwas an ihr selbst schien anders, verändert, nicht in Ordnung. Und dann erkannte sie es ganz plötzlich. Jede Spur von PsiBewußtsein war verschwunden. Sie versuchte, ihre Umgebung geistig zu erfassen. Aber es war, als hätte sie die Augen geöffnet und sähe nichts. Panik erfaßte sie. Sie lag ruhig da und kämpfte dagegen an, bis ihr Atem wieder gleichmäßig ging. Dann setzte sie sich auf und betrachtete ihre Umgebung. Die oberen zwei Drittel der einen Seite des Raumes bestanden aus einem großen Fenster, durch das man die Außenwelt erkennen konnte: Baumkronen. Hinter den Bäumen ein Berggipfel vor dem blauen Himmel. Der Raum selbst war einfach möbliert. Es gab einen langen Tisch aus poliertem dunklem Holz, Stühle, die Couch, auf der sie saß, Teppichboden. Dem Fenster gegenüber zwei geschlossene Türen. Das weiße Hemd, die weißen Shorts, die weißen Strümpfe und Mokassins – waren nicht die, die sie getragen hatte. Sie stellte vorsichtig den Fuß auf den Boden und stand auf, und in diesem Augenblick öffnete sich eine der Türen, und Telzey sah sich selbst ins Zimmer treten. Das versetzte ihr erneut einen Schock, aber nur ganz kurz. Die Erklärung war einleuchtend. Man brauchte bloß ein Mädchen zu nehmen, dessen Figur etwa der ihren glich. Kleine Korrekturen der Haut- und Augenfarbe, ein paar andere kosmetische Kunstgriffe, und schon hatte man einen scheinbaren Doppelgänger. Es gab natürlich Unterschiede, aber die waren zu unbedeutend, als daß sie einem gleich auffielen. Auf den
ersten Blick erkannte Telzey keine. Das Mädchen war ebenso gekleidet wie sie, trug ihr Haar so wie sie das ihre. »Hallo«, sagte Telzey so gleichmütig wie möglich. »Was soll das Spiel?« Ihr Double kam auf sie zu, musterte sie und trat zwei Schritte zurück. »An was erinnerst du dich zuletzt, bevor du hier aufgewacht bist?« fragte sie. Auch ihre Stimme? Jedenfalls ziemlich ähnlich. »An etwas wie einen weißen Blitz im Gehirn«, sagte Telzey vorsichtig. Das Mädchen nickte. »In der Stadt Sombedaln?« fragte sie. »In Sombedaln. Ich befand mich in einem Gebäude und ging auf eine Tür zu.« »Du warst etwa zehn Meter von der Tür entfernt«, sagte ihr Double. »Und dahinter war der Zuschauerraum des Martritheaters. Das ist auch meine letzte Erinnerung. Wie steht es mit deinem Psi? Ist es weg?« Telzey studierte sie einen Augenblick. »Wer bist du?« Das Double zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht. Ich habe das Gefühl, Telzey Amberdon zu sein. Aber das selbe Gefühl könnte ich auch haben, wenn ich es nicht wäre.« »Wenn du Telzey bist, wer bin dann ich?« fragte Telzey. »Setzen wir uns«, sagte das Double. »Ich bin seit einer halben Stunde wach, und man hat mir einiges gesagt. Das hat mich ziemlich fertiggemacht. Wahrscheinlich wird es dich auch schockieren.« Sie saßen nebeneinander auf der Couch. Das Double fuhr fort: »Im Augenblick ist es, glaube ich, nicht möglich, zu beweisen, daß ich die echte Telzey bin. Aber vielleicht können wir beweisen, daß du es bist.« »Wie?« »Psi«, sagte das Double. »Telzey hatte Psi-Kräfte. Ich kann sie jetzt nicht einsetzen. Nichts passiert. Wenn du – « »Ich kann es auch nicht«, sagte Telzey.
Das Double seufzte. »Dann wissen wir es nicht«, sagte sie. »Man hat mir gesagt, daß eine von uns Telzey ist und die andere eine Martrikopie, die sich für Telzey hält. Eine Puppe namens Gaziel. Sie ist während der letzten zwei Tage entstanden, so wie andere Puppen auch, aber sie ist so konstruiert, daß sie zu einem genauen Duplikat von Telzey wird. Sie hat die gleichen Erinnerungen wie Telzey und auch ihre Persönlichkeit. So hat man sie programmiert. Deshalb fühlt sie, daß sie Telzey ist.« Telzey schwieg ein paar Augenblicke. Dann fragte sie: »Ti?« »Ja. Wahrscheinlich gibt es sonst niemand, der das getan haben könnte.« »Ja, wahrscheinlich nicht. Warum hat er das getan?« »Er sagte, er würde es uns beim Mittagessen verraten. Er sprach mit mir, als er auf dem Bildschirm beobachtete, wie du aufwachtest. Dann schickte er mich hierher, damit ich dir sage, was geschehen ist.« »Also hat er zugesehen?« fragte Telzey. Das Double nickte. »Er wollte deine Reaktion sehen.« »Was die Frage angeht, wer von Ihnen Telzey ist«, sagte Ti, »und wer Gaziel, so habe ich für den Augenblick nicht vor, Ihnen das zu verraten!« Er lächelte gewinnend. »Theoretisch wäre es selbstverständlich durchaus möglich, daß Sie beide Puppen sind und daß die ursprüngliche Telzey jemand anderer ist. Allerdings brauchen wir für die nächste Zeit eine Möglichkeit, Sie beide auseinanderzuhalten.« Er zog einen Ring vom Finger, hielt beide Hände unter den Tisch und brachte sie als Fäuste wieder herauf. »Sie«, sagte er zu Telzey, »werden jetzt raten, in welcher Hand der Ring ist. Wenn Sie richtig raten, werden Sie für die nächste Zeit als Telzey bezeichnet, und Sie«, fügte er zu dem Double gewandt hinzu, »als Gaziel. Einverstanden?«
Beide nickten. »Links«, sagte Telzey. »Links stimmt!« antwortete Ti und strahlte sie an, während er die Hand öffnete und den Ring zeigte. Er steckte ihn wieder an den Finger und fragte Linden, der auch am Tisch saß: »Glauben Sie, daß sie geschummelt hat und Psi einsetzt?« Linden blickte bloß finster drein, sagte aber nichts. Ti lachte. »Linden mag Telzey im Augenblick nicht. Wußten Sie, daß Sie ihn beinahe zwei Stunden außer Gefecht gesetzt haben, als er versuchte, Ihre Gedanken zu lesen?« »Das habe ich mir gedacht«, sagte Gaziel. »Er möchte Ihnen das gern heimzahlen«, fuhr Ti fort. »Seien Sie also auf der Hut, meine Lieben, sonst erlaube ich es ihm. Und was nun Ihre Zukunft angeht: Telzeys Abwesenheit ist bis jetzt noch nicht entdeckt worden, und wenn es dazu kommt, wird eine gut vorbereitete Spur zu irgendeinem anderen Planeten führen und den Anschein geben, als wäre Telzey unter Begleiterscheinungen verschwunden, die darauf hindeuten, daß sie nicht mehr am Leben ist. Wissen Sie, ich beabsichtige nämlich, Telzey für immer zu behalten.« »Warum?« fragte Telzey. »Weil sie etwas bemerkt hat«, sagte Ti. »Es wäre nicht wichtig gewesen, hätte Linden nicht festgestellt, daß sie Telepathin ist.« »Dann war das Ihre Puppe, die mir im Restaurant aufgefallen ist«, sagte Gaziel. Sie blickte zu Telzey hinüber und fügte hinzu: »Die einer von uns aufgefallen ist.« »Die uns beiden aufgefallen ist«, verbesserte Telzey. »So ist es, glaube ich, einfacher.« Ti lächelte. »Ich bin sehr zufrieden mit Ihnen beiden. – Ja, es war meine Puppe. Wir brauchen die Sache im Augenblick nicht weiter zu erörtern. Als Telepath und mit ihrer Neugier wäre Telzey vielleicht ein ernsthaftes Problem für mich geworden. Deshalb habe ich sofort entschieden, sie in meine
Sammlung aufzunehmen, statt den einfacheren Weg einzuschlagen, sie beseitigen zu lassen. Ich forschte also in ihrer Vergangenheit, was die positive Meinung bestätigte, die ich während unserer ersten Unterhaltung gewonnen hatte. Sie versprach ein sehr nützliches Versuchsobjekt zu werden, und im Laufe der vergangenen Stunde hat sie eine weitere wertvolle Eigenschaft gezeigt.« »Und die wäre?« fragte Telzey. »Psychische Stärke«, erklärte Ti. »Ich interessiere mich seit einiger Zeit für Psi-Personen, und mit Lindens Hilfe ist es mir schon früher gelungen, mir einige dieser Leute zu verschaffen.« Er schüttelte den Kopf. »Im allgemeinen schlechtes Material. Manche ertrugen nicht einmal die Erkenntnis, daß ich ein Duplikat von ihnen hergestellt hatte. Sie brachen zusammen und wurden nutzlos. Die Duplikate natürlich ebenso. Aber bei Ihnen beiden ist das anders! Sie haben sich sofort der Situation angepaßt, haben mit gutem Appetit gegessen und schmieden zweifellos schon Pläne, dem alten Ti zu entfliehen!« »Was haben Sie mit uns vor«, fragte Telzey. Ti lächelte. »Das wird sich gleich erweisen. Es hat aber keine Eile.« »Noch eine Frage«, sagte Gaziel. »Wieso legen Sie Wert darauf, daß Telzey eine Psi ist, obwohl Sie ihre PsiFähigkeiten unterdrückt haben?« »Oh, das ist kein andauernder Zustand, den man nicht wieder ändern könnte«, antwortete Ti. »Die Fähigkeit wird zurückkommen. Man muß sie nur solange unterdrücken, bis ich gelernt habe, wie man sie – sozusagen – lenken kann.« »Und das Duplikat wird sie auch besitzen, nicht nur das Original?« fragte Gaziel. Ti nickte. »Das ist genau einer der Punkte, die ich klären möchte. Meine Puppen erledigen verschiedene Aufträge für
mich. Bedenken sie doch, wie wertvoll Puppen mit Telzeys Psi-Talenten sein könnten – ein sehr ausgeprägtes Talent, wie Linden hier bezeugen kann!« Er schob seinen Stuhl vom Tisch zurück. »Ihre Fragen haben mir Freude gemacht. Aber jetzt muß ich wieder arbeiten. Sehen Sie sich in Ihrer neuen Umgebung um. Sie befinden sich auf meiner Privatinsel. Zwei Drittel davon sind beinahe unberührte Wildnis. Das restliche Drittel ist ein gepflegtes Anwesen, durch Mauern vom Wald getrennt. Sie bleiben innerhalb der Umfriedung. Falls Sie versuchen sollten, in den Wald zu flüchten, wird man Sie fangen. Es gibt Strafen für Ungehorsam und, was noch wichtiger ist, der Wald beherbergt ganz besondere Puppen – experimentelle Spielereien, denen Sie, wie ich meine, nicht so gern begegnen möchten. Innerhalb der Mauern können Sie sich frei bewegen. Orte, die Sie im Augenblick nicht besuchen dürfen, sind Ihnen ohnehin nicht zugänglich.« »Die wissen natürlich, welche von uns die richtige ist«, sagte Gaziel zu Telzey. Sie gingen zwischen blühenden Ziersträuchern spazieren. »Es wäre Zeitverschwendung, wenn wir uns bemühten, das herauszufinden«, antwortete Telzey. Gaziel war der gleichen Meinung. Das Martriduplikat ließ sich vielleicht mit bestimmten Instrumenten erkennen. Die menschlichen Sinne jedenfalls versagten. »Würde es dich sehr stören, wenn sich herausstellen sollte, daß du nicht das Original bist?« fragte Gaziel. Telzey lächelte. »Ganz bestimmt. Und dich?« Gaziel nickte. »Ich habe noch nicht viel darüber nachgedacht, aber ich habe immer das Gefühl, daß ich zu etwas gehöre, das es schon sehr lange gibt. Es wäre gar nicht gut, jetzt festzustellen, daß das ein falsches Gefühl war, daß ich nur ich selbst bin, ein Wesen ohne Vergangenheit.«
»Jemand, der vor ganz kurzer Zeit überhaupt noch nicht existiert hat«, fügte Telzey hinzu. »Das wäre bestimmt unangenehm! Aber eine von uns beiden wird das schließlich erfahren. Und, wie Ti bemerkte, es ist ja auch möglich, daß wir beide Duplikate sind. Du weißt, unser Geist arbeitet fast identisch.« »Fast«, sagte Gaziel. »Von dem Augenblick an, als wir aufwachten, müssen unsere Gehirne begonnen haben, unabhängig voneinander zu denken, aber es wird noch eine Weile dauern, bis die Unterschiede wirklich bedeutsam werden.« »Das dürfen wir nicht vergessen«, sagte Telzey. Sie hatten die Sträucher hinter sich gelassen und sahen jetzt den Berg in der Ferne, der hinter den Bäumen des Urwaldes aufragte. Der gepflegte Landsitz schien eine ziemlich große Fläche der Insel einzunehmen. Als sie das weiße Gebäude durch eine Seitentür verlassen hatten, hatten sie die Grenzen des Anwesens nicht erkennen können, weil in allen Richtungen Baumgruppen die Sicht verwehrten. Aber den Berg konnten sie sehen, und den hatten sie sich als vorläufiges Ziel gesetzt. Wenn sie auf diesem Weg weitergingen, würden sie die Mauer erreichen, die den Landsitz umgab. »Da ist noch etwas«, sagte Telzey. »Wir wissen nicht, ob nicht Ti oder jemand anders alles mithört, was wir sagen.« Gaziel nickte. »Wir müssen es riskieren.« »Ja«, meinte Telzey. »Wir würden nicht weit kommen, wenn wir uns jetzt eine Zeichensprache einfallen lassen müßten.« Zehn Minuten später erreichten sie die Mauer. Sie ließ auf den ersten Blick alle gefaßten Pläne zu Flucht sinnlos erscheinen. Die glatte weiße Wandfläche war gute zehn Meter hoch. Kein Baum stand dichter als dreißig Meter an der Mauer. Sie bogen nach links ab. Entweder gab es irgendwo ein Tor, oder man benutzte Flugzeuge, um in den Wald zu kommen.
Es dauerte nicht lange, bis sie das Tor erreicht hatten. Von verschiedenen Stellen aus führten Fahrspuren durch das Gras. Es war ein Schiebetor, aber nirgends war ein Öffnungsmechanismus zu sehen. »Vielleicht wird es vom Haus aus bedient.« Vielleicht. Jedenfalls schien das Tor regelmäßig benutzt zu werden. Sie setzten sich ins Gras und warteten. Nur ein paar Minuten verstrichen, dann glitt das Tor lautlos in die Mauer zurück. Ein kleines geschlossenes Bodenfahrzeug kam herein, und das Schiebetor schloß sich wieder. Das Fahrzeug fuhr noch ein paar Meter und hielt dann an. Sie hatten nicht sehen können, wer darin saß. Jetzt öffnete sich vorn eine Tür. Linden trat heraus und ging mit finsterer Miene auf sie zu. Sie standen auf. »Was tun Sie hier?« fragte er. »Wir sehen uns um. Ti hat es uns erlaubt«, sagte Gaziel. »Er hat ihnen aber nicht gesagt, daß Sie hier sitzen und das Tor anstarren sollen, oder?« »Nein«, sagte Telzey. »Aber er hat es uns auch nicht verboten.« »Dann verbiete ich es Ihnen«, sagte Linden. »Geht weiter! Ich will Sie hier nicht mehr sehen!« Sie gingen weiter. Als sie sich nach einer Weile umsahen, war das Fahrzeug verschwunden. »Der mag uns wirklich nicht«, bemerkte Gaziel nachdenklich. »Ja, da hast du recht«, sagte Telzey. »Klettern wir auf einen Baum und sehen wir uns den Wald an.« Sie suchten sich einen geeigneten Baum aus und kletterten hinauf, bis sie über die Mauer sehen konnten. Eine gepflasterte Straße führte vom Tor auf den Berg zu. Dieser Teil der Insel schien fast völlig von dichtem tropischem Urwald bedeckt zu sein. Aber auch drüben wuchsen die Bäume wenigstens zehn
Meter von der Mauer entfernt. Spuren von tierischem Leben sahen sie nicht, bloß ein paar kleine Vögel. Nach einer Weile meinte Telzey: »Wahrscheinlich wird das Tor vom Wagen aus geöffnet.« »Hm – und Lindens Wagen war gepanzert.« Gaziel hatte sich ein wenig umgesehen. »Da, schau hin!« Telzey tat es. »Gärtner«, sagte sie nach einer Weile. »Vielleicht erfahren wir von denen etwas.«
Ein Geschwader von sechzehn flachen Apparaten schwebte wenige Zentimeter über dem Rasen zwischen den Bäumen heran. Auf jeder Maschine saß eine Bedienungsperson. Zwei Männer zu Fuß gaben über Funksprechgeräte Anweisungen. Gaziel deutete mit der Hand. »Schau dir den an!« Die beiden Mädchen waren vom Baum heruntergeklettert. Man hatte sie bis jetzt nicht gesehen. Aber nun kam eine der Maschinen von der Seite her auf den Baum zu, hinter dem sie standen. Der Fahrer hätte sie eigentlich sehen müssen, aber er achtete überhaupt nicht auf sie. Sie musterten ihn bestürzt. Seine Bewegungen wirkten ganz normal. Die Augen bewegten sich zwar auch, aber alles andere schien wie tot. Der Mund stand halb offen; die Lippen waren kraftlos, die Wangen wirkten schlaff. Die Maschine kam dicht an den Baum heran, bog im rechten Winkel ab und schlug einen anderen Kurs ein. Telzey sagte leise: »Die Fahrer der anderen Maschinen scheinen in der gleichen Verfassung zu sein wie dieser da. Aber die Aufseher wirken normal. Wollen sehen, ob sie reden können.« Sie traten hinter dem Baum hervor und gingen auf den ihnen am nächsten stehenden Mann zu. Er sah sie kommen und pfiff, um seinen Begleiter auf sie aufmerksam zu machen. »Nun«,
sagte er und lächelte freundlich. »Dr. Tis neue Gäste, nicht wahr?« Sein Blick ging zwischen beiden hin und her. »Und – äh – Zwillinge. Welche von euch beiden ist denn der Mensch?« Der andere Mann, ein großer, breitschultriger Bursche, war inzwischen herangekommen. Telzey zuckte die Achseln. »Wissen wir nicht.« Die Männer starrten sie an. »Und Sie können es nicht feststellen?« fragte der Große. »Nein«, sagte Gaziel. »Wir fühlen uns beide menschlich.« Dann fügte sie hinzu: »Nach allem, was Dr. Ti uns gesagt hat, sind Sie vielleicht auch keine echten Menschen, nur daß Sie es gar nicht wissen.« Die beiden sahen einander an und lachten. »Höchst unwahrscheinlich«, sagte der Große. »Ein Drahtkopf hat kein Bankkonto.« »Haben Sie denn eins? Draußen?« »Mhm. Ziemlich dickes sogar. Ich heiße übrigens Remiol. Der Knirps da heißt Eshan.« »Wir sind Telzey und Gaziel«, stellte Telzey vor. »Und Sie könnten unter Umständen Ihre Bankkonten noch etwas dicker machen.« Die beiden sahen sie an und schüttelten dann entschieden den Kopf. »Wir helfen Ihnen nicht bei der Flucht, falls Sie das meinen«, sagte Remiol. Und Eshan fügte hinzu: »Und selbst wenn er wollte, ginge es nicht. Vergessen Sie das lieber und bleiben Sie hier. Wenn man hier keinen Ärger macht, lebt es sich gar nicht so schlecht.« »Sie brauchten uns eigentlich gar nicht bei der Flucht zu helfen«, sagte Telzey. »Wie oft kommen Sie aufs Festland?« Der Gesichtsaudruck der beiden wirkte plötzlich leer, und auf Telzeys Haut prickelte es.
»Nun«, sagte Remiol und runzelte die Stirn. Er sprach langsam, als bereite es ihm Schwierigkeiten, die richtigen Worte zu finden. »Sooft es uns Spaß macht. Ich – « Er zögerte und sah sie verwirrt an. »Sie könnten eine Nachricht hinausschmuggeln«, sagte Gaziel und beobachtete ihn. »Vergessen Sie’s«, sagte Eshan, dem an Remiols Verhalten nichts Ungewöhnliches aufzufallen schien. »Wir arbeiten für Dr. Ti. Das Gehalt ist Klasse und das Leben leicht. Wir werden uns doch keine Laus in den Pelz setzen!« »Na schön«, sagte Telzey nach einer Weile. »Wenn Sie uns schon nicht helfen wollen, dann könnten Sie uns vielleicht sagen, was hier gespielt wird.« »Aber mit dem größten Vergnügen«, sagte Remiol, der plötzlich wieder ganz normal schien. Er lächelte Telzey an. »Wenn Dr. Ti nicht wollte, daß wir mit Ihnen reden, hätte er es uns gesagt. Er ist ein guter Chef. Man weiß immer, wie man mit ihm dran ist. Eshan, laß die Drahtköpfe Pause machen. Wir setzen uns mit den Mädchen hin.« Sie setzten sich ins Gras. Gaziel deutete auf die Maschinen. »Sie nennen sie Drahtköpfe. Das sind keine Menschen, sondern Arbeitsroboter?« »Keine Arbeitsroboter«, sagte Remiol. »Dr. Ti mag Roboter nicht. Das sind ganz normale Puppen – vielleicht etwas defekt oder Teststücke, vielleicht auch Theaterpuppen, die ein paar Rollen zuviel gespielt haben. Wenn sie so werden, halten sie höchstens noch ein Jahr – und dann werden sie wieder eingestampft oder wie man das nennt. Inzwischen kann man sie noch für einfache Arbeiten gebrauchen.« »Vielleicht sind echte Menschen darunter«, meinte Eshan nachdenklich und sah zu den Gärtnern hinüber. »Nach einer Weile denkt man nicht mehr darüber nach. Sie sind ohnehin alle programmiert.«
»Wie geraten denn echte Menschen in einen solchen Zustand?« wollte Gaziel wissen. Die Männer zückten die Achseln, und Remiol sagte: »In dem großen Gebäude dort wird an zahlreichen wichtigen Forschungsprojekten gearbeitet.« Telzey fragte: »Woher wußten Sie überhaupt, daß eine von uns ein Drahtkopf ist?« »Eine von den Laborantinnen hat es uns verraten«, erklärte Eshan. »Sie sagte, Dr. Ti sei mit den Ergebnissen sehr zufrieden. Ein paar von seinen anderen Zwillingsprojekten seien ihm nicht so gut gelungen.« Remiol blinzelte Telzey zu. »Aber die da ist Klasse!« Sie lächelte. »Waren Sie schon einmal auf der anderen Seite der Mauer?« Das waren sie. Wie es schien, war der Aufenthalt draußen wirklich so ungesund, wie Ti es geschildert hatte, sofern man nicht eines der kleinen gepanzerten Bodenfahrzeuge hatte. Die einzig wirklich sichere Stelle im Wald war eine kleine Festung am Berghang, und selbst die wurde gelegentlich angegriffen. Eshan und Remiol beschrieben einige der Martrikreaturen, die sie gesehen hatten. »Warum behält Dr. Ti sie überhaupt?« fragte Gaziel. »Manchmal braucht er sie für die Martriaufführungen, die er hier inszeniert«, sagte Remiol. »Warten Sie nur, bis Sie einmal eine gesehen haben«, sagte Eshan. »Das ist vielleicht aufregend! Eine solche Schau kriegen Sie sonst nirgends geboten.« »Und davon abgesehen«, ergänzte Remiol und kam damit wieder auf die synthetischen Wesen im Wald zurück, »dient es der Forschung. Zuerst habe ich mir auch Sorgen gemacht, eines könnte einmal über die Mauer kommen. Aber das ist noch nie passiert.«
»Nun, nun!« sagte plötzlich Ti. »Sie halten wohl ein Plauderstündchen?« Auf einer Schwebescheibe glitt er aus einer Baumgruppe heraus und schwebte zwei Meter von ihnen entfernt auf der Stelle. Mit beiden Händen hielt er sich an der Haltestange fest. »Hoffentlich macht es Ihnen nichts aus, Doktor«, sagte Remiol. Er und Eshan waren aufgestanden. Ti lächelte. »Mir etwas ausmachen? Aber nicht im geringsten. Es freut mich ungemein, daß die neuen Mitglieder unserer kleinen Gemeinschaft so schnell angefangen haben, Bekanntschaften zu schließen. Aber jetzt gehen wir alle wieder an die Arbeit. Telzey und Gaziel, Sie können mich zum Haus begleiten.« Sie stellten sich neben ihn auf die Scheibe, worauf diese in einem Bogen auf das Haus zu schwebte. Die Gartenmaschinen hoben vom Boden ab und nahmen ihre Arbeit auf. »Brauchbare Burschen, die zwei«, sagte Ti und strahlte Telzey und Gaziel an. »Nicht daß sie sich überanstrengen; aber das ist hier auch nicht nötig. Ich ziehe eine entspannte und freundliche Atmosphäre vor.« »Wie ich hörte, kann es hier auch manchmal sehr aufregend sein«, sagte Telzey. Ti lachte. »Das gibt den Kontrast. Die geistige und emotionelle Anregung durch das Martritheater! Ich brauche beides. Hier auf der Insel bin ich zu Höchstleistungen fähig. Man hat Ihnen ein Zimmer hergerichtet. Sie werden dorthin geführt, und dann hole ich Sie etwas später ab und zeige Ihnen meinen Besitz.« Das Bodenfahrzeug, das Linden gesteuert hatte, stand neben der Tür, durch die Telzey und Gaziel das Gebäude verlassen hatten. Die Schwebescheibe glitt daran vorbei zur Tür, die sich bei ihrer Annäherung öffnete. In der Halle dahinter sank sie zu Boden. Sie traten herunter.
»Aber Challis«, sagte Ti mit freundlicher Stimme und blickte an Telzey vorbei. »Was für eine angenehme Überraschung, dich wiederzusehen.« Telzey und Gaziel blickten sich um. Eine blasse, schlanke Frau mit hellblauem Haar kam durch die Halle auf sie zu. »Das ist meine liebe Frau«, sagte Ti. Er lächelte, aber Telzey bemerkte, daß sein Gesicht etwas von seiner gesunden Farbe verloren hatte. »Sie war einige Zeit von der Insel abwesend. Ich wußte gar nicht, daß sie heute zurückkommen würde.« Er wandte sich Challis zu, die inzwischen nähergekommen war. »Das sind zwei Neue, die mir sehr vielversprechend erscheinen, Challis. Sicherlich interessieren dich meine Pläne mit den beiden.« Challis musterte sie mit einem Ausdruck, der weder freundlich noch unfreundlich war. Prüfend hätte man ihn nennen können. Sie hatte hellgraue Augen und Züge von einer zarten Schönheit. Sie nickte leicht, und Telzey hatte ein eigenartiges Gefühl. »Ich werde jemand schicken, der Ihnen Ihr Zimmer zeigt«, sagte Ti. Er nahm Challis’ Arm. »Komm, meine Liebe, ich muß unbedingt hören, wie es dir ergangen ist.« Er ging mit ihr auf eine Tür zu. Als sich die Tür hinter dem Paar geschlossen hatte, sahen sich Telzey und Gaziel an. Gaziel faßte ihre Gedanken als erste in Worte: »Weißt du, Tis Frau erinnert mich an jemand, aber ich kann im Augenblick nicht sagen, an wen.« Ihr war es also auch aufgefallen – die große Ähnlichkeit im Aussehen und in den Bewegungen zwischen Challis und der jungen Frau mit dem kastanienbraunen Haar, die Telzey auf der Restaurant-Terrasse in Orado City gesehen hatte. Kurz darauf erschien eine resolute ältere Frau. Sie führte die beiden in ein großes Zimmer, zwei Etagen über der Halle, zeigte ihnen einen Kleiderschrank voll nach ihren Maßen
geschneiderter Garderobe und ließ sie allein, nachdem sie ihnen gesagt hatte, sie sollten sich umziehen und auf Dr. Ti warten. Die Kleider im Schrank waren Modelle, die Telzey sich auch selbst gekauft hätte, und man hatte sie offenbar mit großer Sorgfalt ausgewählt. Nachdem sie sich umgezogen hatten, öffneten die beiden die Tür und blickten hinaus. Niemand zu sehen. Schnell und leise huschten sie die Treppe hinunter. Lindens gepanzerter Wagen stand noch draußen. Auch hier war niemand zu sehen. Sie eilten zu dem Wagen. Aber sehr schnell mußten sie feststellen, daß beide Türen verschlossen waren. Hastig kehrten sie in ihr Zimmer zurück.
»Und hier«, sagte Ti, »sehen Sie meinen Vorrat an menschlichem Forschungsmaterial.« Sie befanden sich in einem Kellergeschoß des Zentralgebäudes. Es war eigentlich ein großer Innenhof, von fünfstöckigen Gebäudemauern eingefaßt. Den Abschluß nach oben bildete ein milchig-weißes Oberlicht. Etwa hundert Menschen waren im Innenhof und auf den Galerien zu sehen: hauptsächlich junge Erwachsene. Es gab ein paar Kinder, einige wenige Leute in mittleren Jahren, überhaupt keine alten Leute. Alle waren gut gekleidet und gepflegt – ihre Gesichter wirkten ausgeglichen. Sie saßen oder standen herum oder schlenderten plaudernd umher. Andere waren stumm. Ihre Stimmen waren leise, die Gesten gelassen. »Und Ihr Martricomputer steuert sie?« fragte Telzey. Ti nickte. »Sie sind alle programmiert, aber da man sie im Augenblick nicht braucht, befinden sie sich in einer Art Wartezustand. Achten Sie allerdings auf die Fünfergruppe dort beim Springbrunnen! Die haben jetzt ihr Stichwort bekommen und beginnen dieselbe Diskussion, die sie wahrscheinlich schon tausendmal geführt haben. Solche Aktivitäten lassen sich natürlich variieren. Man kann ein Versuchsobjekt völlig
neu programmieren. Wenn es Sie interessiert, führe ich Ihnen ein paar vor.« »Und was hat das alles für einen Sinn?« »Das gehört zu meinen Experimenten«, erläuterte Ti. »Einerseits versuche ich, wie Sie ja wissen, festzustellen, bis zu welchem Grade es mir möglich ist, eine Martripuppe in ein menschlich funktionierendes Wesen umzuwandeln. Andererseits versuche ich aber auch, den Prozeß, ein menschliches Wesen in eine Martripuppe umzuwandeln, abzuschließen – oder zumindest in ein Wesen, das von einer Martripuppe nicht mehr unterschieden werden kann. Dasselbe wäre natürlich auch bei weniger hoch entwickelten Lebensformen möglich. Aber es ist viel interessanter, mit der menschlichen Spezies zu experimentieren. Außerdem hat das ganz entschieden Vorteile -einmal ganz davon abgesehen, daß es Menschen im Überfluß gibt, so daß es kein Problem ist, Forschungsmaterial zu bekommen.« »Haben Sie keine Angst, daß man Sie dabei erwischen könnte?« fragte Gaziel. Ti lächelte. »Nein. Ich bin sehr vorsichtig. Jeden Tag verschwindet eine überraschende hohe Zahl von Menschen in der Zentralgalaxis. Da fällt mein privater Bedarf überhaupt nicht ins Gewicht – statistisch gesehen.« »Und wenn Sie es geschafft haben – ich meine, wenn Sie bewiesen haben, daß Sie Menschen in Puppen und Puppen in Menschen verwandeln können – was werden Sie dann tun?« fragte Telzey. Ti streichelte ihre Schulter. »Das, meine Liebe, braucht Sie im Augenblick nicht zu beschäftigen. Aber ich habe sehr interessante Pläne.« Gaziel blickte zu ihm auf. »Ist das der Ort, wohin die eine von uns, die ursprüngliche Telzey, gehen wird?«
»Nein«, wehrte Ti ab, »unter keinen Umständen. Es wäre Verschwendung, sie zu den Vorräten zu stecken. Telzey wird, wenn die Dinge sich zu meiner Zufriedenheit entwickeln, meine Assistentin werden.« »In welcher Hinsicht?« »Bei dieser Frauenpuppe, die Sie in Orado City so interessiert hat, haben Sie doch versucht, ihren Geist zu sondieren?« Gaziel zögerte einen Augenblick. »Ja.« »Was haben Sie festgestellt?« »Nicht sehr viel. Sie entkam zu schnell. Aber mir schien, ihr fehle das Bewußtsein persönlicher Existenz. Es war im Keim da. Aber sehr unentwickelt. Sie war eine Marionette, die etwas tat.« »Haben Sie erfahren können, was sie vorhatte?« »Nein.« Ti rieb sich das Kinn. »Ich weiß nicht, ob ich das glauben soll«, meinte er nachdenklich. »Aber jetzt ist es gleichgültig. Ich habe eine Anzahl solcher Puppen. Man sollte natürlich eine Puppe, die für so etwas eingesetzt werden soll, niemals aus einem Schauspielerprototyp entwickeln, der öffentlich aufgetreten ist. Daß das in diesem Falle geschah, war ein gravierender Fehler. Linden hat ihn begangen. Ich war wütend. Aber Ihre Fähigkeit, den Geist dieser Puppe zu sondieren, beweist den möglichen Wert Telzeys. Soweit ich das beurteilen kann, ist Linden ein ziemlich fähiger Telepath. Aber Gedanken von Puppen kann er nicht lesen. Und wenn es darauf ankommt, Details eines menschlichen Geistes zu erfassen, wie ich das oft wünsche, so versagt er auch dabei. Davon abgesehen, hat er natürlich eine ganze Reihe zeitraubender Aufgaben für mich zu erledigen. Wir wissen bereits, daß Telzey in wenigstens zweifacher Hinsicht als Telepath fähiger ist als Linden. Sobald ihre PsiFunktionen zurückkehren, dürfte sie sehr nützlich sein.« Ti
machte eine weit ausholende Handbewegung. »Denken Sie doch nur an diese Leute hier! Das Maß individuellen Bewußtseins, das die besitzen, entspricht der Intensität der Programmierung, der man sie unterzogen hat. Bei manchen kann man das sehr leicht feststellen, bei anderen ist es nach den augenblicklich anwendbaren Methoden unmöglich geworden. Hier läge eine der Aufgaben für Telzey. Die Aufgabe dürfte ihr Spaß machen.« »Wird sie ein Drahtkopf werden?« fragte Telzey. »Oh ja, Sie werden beide programmiert werden«, erklärte Ti. »Anders könnte ich doch schwerlich auf Ihre volle Unterstützung rechnen, oder? Aber es wird sehr delikate Arbeit sein. Unsere bisherigen Experimente haben gezeigt, daß das Programmieren von Menschen mit Psi-Fähigkeit besondere Schwierigkeiten bereitet. Und ich möchte natürlich sicher sein, daß hier nichts falsch gemacht wird. So soll zum Beispiel Ihr Ich-Bewußtsein nicht beeinträchtigt werden.« Er lächelte. »Ich glaube, ich bin der Lösung dieser Probleme nahegekommen. Wir werden es gleich sehen.« »Und was beabsichtigen Sie mit der zu tun, die nicht Telzey ist?« fragte Telzey. »Ah, Gaziel!« Tis Augen leuchteten. »Die Möglichkeiten faszinieren mich. Die Frage ist, ob unser Verdoppelungsprozeß auch zu einer Verdoppelung des ursprünglichen Psi-Potentials geführt hat. Eine indirekte Prüfmöglichkeit dafür gab es nicht, aber wir werden es bald wissen. Falls das zutrifft, wird Gaziel der erste Matri-Psi geworden sein. Jedenfalls, meine Lieben, Sie können ganz beruhigt sein, gleichgültig, ob Sie nun das Original oder die Kopie sind. Jede von Ihnen wird von mir ebenso geschätzt wie die andere und ebenso zuvorkommend behandelt. Es ist mir klar, daß Sie sich mit der Lage noch nicht ganz abgefunden haben, aber das kommt noch.«
Telzey sah ihn an. Zum Teil waren das Lügen, zum Teil die Wahrheit. Natürlich würde er sie zuvorkommend behandeln. Sehr sogar. Sie waren wertvoll. Wenn sie seine Absichten nicht durchkreuzen konnten, würde er sie in ein immer dichter werdendes Netz von Zwängen einschließen, dem sie niemals mehr entkommen konnten; und der Rest ihres Ich-Bewußtseins würde am Ende auf der gleichen Ebene wie das jener zwei Aufseher im Garten angelangt sein. »Eshan und Remiol sind auch Drahtköpfe, nicht wahr?« fragte sie. Ti nickte. »Abgesehen von Linden und mir und im Augenblick Ihnen beiden ist jeder auf dieser Insel – um diesen Jargonausdruck zu benutzen – ein Drahtkopf. Ich habe hier mehr als hundertfünfzig menschliche Angestellte, und alle sind, ebenso wie die beiden, mit denen Sie im Garten gesprochen haben, loyale, zufriedene Menschen.« »Aber sie haben keine dicken Bankkonten draußen und dürfen auch nicht allein die Insel verlassen?« fragte Telzey. Ti hob die Brauen. »Natürlich nicht!« sagte er. »Das sind angenehme Illusionen, die sie sich bewahren. Draußen gibt es zu viele Neugierige, als daß man so etwas riskieren könnte. Außerdem – ich besitze zwar sehr viel Geld, habe aber auch genügend Projekte, für die ich es ausgeben kann. Warum sollte ich mir unnötige Spesen machen?« »Das haben wir uns auch gefragt«, sagte Gaziel ironisch. »Und jetzt«, sagte Ti und blieb vor einer kleinen Tür stehen, »wird Ihnen ein Privileg zuteil, das ich noch keinem unserer Angestellten gewährt habe! Hinter dieser Tür befinden sich Gehirn und Nervenzentrum von Tis Insel – der Regieraum des Martricomputers.« Er holte zwei Schlüssel heraus und hielt sie an zwei Stellen gegen die Tür. Nach wenigen Sekunden sanken die Schlüssel langsam in die Tür ein. Ti drehte sie herum und zog sie wieder zurück. Die Tür – ein dickes, wuchtiges Gebilde – schwamm langsam in den Raum dahinter. Ti bat Telzey und
Gaziel mit einer Handbewegung, einzutreten, und folgte ihnen dann. »Wir befinden uns jetzt im Innern des Computers«, erklärte er, »und dieser Raum ist wie der ganze Gebäudeteil abgeschirmt und gesichert. Nicht, daß wir Ärger erwarten. Nur Linden und ich haben hier Zutritt. Sonst weiß keiner, wo der Regieraum ist. Als meine künftigen Assistentinnen möchte ich ihn Ihnen aber zeigen.« Der Raum war nicht groß. Er war lang und schmal, mit einer niedrigen Decke. In der Nähe der Tür gab es einen versenkten Kontrollkomplex mit zwei Bedienungsplätzen. Ti klopfte gegen die Wand. »Der Computer reicht von hier aus drei Stockwerke in die Tiefe. Ich nehme nicht an, daß Sie schon einmal hinter einer Martribühne waren?« Die beiden Mädchen schüttelten den Kopf. »Man macht ein großes Geheimnis daraus«, sagte Ti. »Dabei liegt die Schwierigkeit nur in der Erstprogrammierung des Computers. Dazu gehört ein Meister! Selbst der geringste Fehler kann nie wieder ganz behoben werden. Es gibt wohl nur wenige Martricomputer, die der Perfektion nahe sind. Der hier kommt ihr vielleicht am nächsten, obwohl er in einem viel weiteren Bereich eingesetzt ist als jeder andere, bisher gebaute.« »Haben Sie ihn selber programmiert?« fragte Telzey. Ti sah die beiden überrascht an. »Natürlich. Wem sonst hätte ich das anvertrauen können? Aber was die Bedienung des Computers angeht – die Arbeit des Regisseurs ist gar nicht so schwierig. Linden ist kein Genie, aber in technischer Hinsicht ist er beinahe genauso geschickt wie ich selbst. Sie werden beide wahrscheinlich in ein paar Monaten in der Lage sein, den Computer zu bedienen und Martriaufführungen zu inszenieren. Und wenn Sie erst einmal ein Jahr hier sind, rechne ich fest damit, daß Sie selbst Stücke verfassen werden.«
Er trat in den tiefer gelegenen Kontrollkomplex hinunter, setzte sich in einen der Sessel, nahm eine Kappe aus Drahtgeflecht aus einer Nische und zog sie über den Kopf. »Eine Regiekappe«, sagte er. »Unsere Martribühne umfaßt die ganze Insel und die Wasserfläche in ihrer unmittelbaren Umgebung. Normalerweise ziehen Linden und ich es vor, zu den Zuschauern zu gehören. Sie wissen natürlich, daß der Computer die Fähigkeit besitzt, ein Stück während der Aufführung zu modifizieren. Gelegentlich könnten solche Modifikationen für die Zuschauer gefährlich werden. Wenn das geschieht, gestatten es uns diese Kappen, den Computer zu korrigieren. Das ist praktisch ihr einziger Zweck.« »Und wie funktioniert das?« fragte Gaziel. Ti tippte sich an die Schläfe. »Durch Mikrokontakte in meinem Schädel. Normalerweise sprechen die Regisseure ihre Anweisungen verbal aus, aber das ist nicht nötig. Der Gedanke allein, wenn er präzis genug formuliert ist, genügt. Es ist interessant, daß niemand weiß, weshalb das möglich ist.« Er deutete mit einer Kopfbewegung auf die Wand an der anderen Seite des Raumes. »Ein Monitor. Ich zeige Ihnen einige der Puppen im Wald.« Seine Hand huschte über das Schaltbrett, und auf dem Bildschirm erschien eine Ansicht – ein niedriges Gebäude mit leicht schrägen Wänden, inmitten einer breiten Lichtung. Das mußte die kleine Festung sein, von der Remiol und Eshan gesprochen hatten. Das Bild auf dem Schirm flackerte. Telzey spürte einen Stich in der Stirn. Dann war er weg. Kam wieder. Früher hatte sie beinahe nie Kopfschmerzen gehabt. Das Bild auf dem Schirm: ein unbeholfenes Wesen, das mit Klauenfüßen im Boden scharrte. Gaziel beobachtete Ti, die Lippen leicht geöffnet, die blauen Augen gebannt. Und Ti erklärte: » – kein genaues Gegenstück in der Natur, aber wir haben es mit einem Metabolismus ausgestattet, der sich der
Umwelt anpaßt. Wenn Sie so wollen, auch mit Instinkten, die sich der Umwelt anpassen. Es ist programmiert, sich selbst zu ernähren, und das tut es. Gewicht über zwei Tonnen.« Der Schmerz, ein ziemlich milder Schmerz, zog sich durch Telzeys Kopf, wanderte zu den Schläfen. Vielleicht war das ein Hinweis auf etwas anderes als die augenblicklichen nervlichen Belastungen. Ein ungeübter oder unbeholfener Versuch eines Telepathen, den Geist eines Menschen zu sondieren, der sich dagegen wehrte, konnte bei diesen Reaktionen hervorrufen, die ihrerseits die Symptome von Kopfschmerzen hatten. Und Linden war ein ziemlich schwacher Psi. Vielleicht versuchte er, das menschliche Original zu sondieren, dachte Telzey, vielleicht aber auch die Martrikopie, deren Kopf vermutlich ebenso schmerzte. Vielleicht spielte Linden sein eigenes Spiel, versuchte insgeheim, sich Macht über Tis neue Werkzeuge zu verschaffen, ehe diese wieder ihre Psi-Abwehr aufbaut… Aber gleichgültig, ob sie nun Original oder Kopie war, die Abwehrreaktion war ein gutes Zeichen. Wenn sie Widerstand leistete, bedeutete das, daß irgendeine verborgene Psi-Fähigkeit, deren sie sich noch nicht bewußt war, arbeitete – jetzt durch den Gebrauch angeregt wurde. Sollte er ruhig weiter sondieren! Es konnte nicht schaden. »Was halten Sie von diesem Prachtstück?« fragte Ti mit jovialem lächeln. Eine neue Kreatur kam auf den Bildschirm. Ein Ding, das sich bewegte wie eine zähe Masse langsam dahinfließenden gelblichen Öls. Zwei dunkle Augen wölbten sich an der Vorderseite. Telzey räusperte sich. »Irgendwie widerwärtig«, meinte sie. »Ja, und alles andere als harmlos. Hunger ist hineinprogrammiert. Und es ist kein Vegetarier. Wenn wir ihm gestatteten, seinen Trieben unbeschränkt nachzugehen, müßten
wir dauernd die Fauna im Wald auffüllen. Ich werde es jetzt veranlassen, einen Angriff auf die Festung zu machen.« Die fließende Masse wechselte plötzlich die Richtung und wurde schneller. Ti verfolgte es ein paar Minuten durch den Wald und holte dann die Festung wieder ins Bild. Sekunden später erschien der »Ölteppich« auf der Lichtung, das Vorderteil erhoben, der mit Fängen besetzte, eigenartig glasig wirkende Mund weit aufgerissen. Es klatschte gegen die Wand der Festung. »Könnte es hinein?« fragte Gaziel. Ti gluckste: »Ja, allerdings. Es kann sich beinahe so dünn machen wie ein Blatt Papier. Wenn wir es zuließen, würde es bald die Schießscharten entdecken und sich durch eine davon Zugang verschaffen. Aber die Festung ist gut bewaffnet. Wenn eines unserer selbständigen Ungeheuer der Computerkontrolle zu entgleiten droht, wird die Festung bemannt und der Ausreißer veranlaßt oder geködert, einen Angriff zu unternehmen. Die Waffen dort können alles vernichten, obwohl es etwas länger dauert, als wenn es natürliche Tiere von vergleichbarer Größe wären.« Er lächelte. »Für die habe ich auch Pläne, obwohl diese Pläne noch weit von der Verwirklichung entfernt sind.« Er schaltete den Bildschirm aus, legte die Regiekappe ab und stand auf. »Nach dem Abendessen findet heute eine Martriaufführung zu Ehren Ihrer Ankunft statt«, sagte er. »Vielleicht möchten Sie sich das Stück selbst auswählen, von dem Sie glauben, daß es Ihnen gefallen wird. Wenn Sie hierher kommen, zeige ich Ihnen, wie Sie unser Repertoire überfliegen können.« Sie traten in die Bodenversenkung und nahmen an der Konsole Platz. Ti erklärte ihnen die Steuereinrichtung, trat zurück und musterte ihre Gesichter. Telzey und Gaziel blickten auf die kleinen Bildschirme, sahen sich einzelne Ausschnitte
aus den Aufführungen an und schalteten weiter. Ein paar Minuten herrschte Stille, nur gelegentlich von flüsternden Puppenstimmen auf den Bildschirmen unterbrochen. Schließlich fragte Ti: »Haben Sie etwas gefunden, was Sie interessiert?« Telzey zuckte die Achseln. »Mir kommt alles interessant vor«, sagte sie, »aber diesen kurzen Ausschnitten kann man nicht viel entnehmen.« Sie sah Gaziel an. »Was meinst du?« Gaziel mochte sich ebenfalls nicht entscheiden. Mit ausdruckslosem Gesicht sagte sie: »Suchen Sie doch eines aus, Ti. Sie verstehen sicher mehr davon als wir.« Ti zeigte seine ebenmäßigen weißen Zähne bei einem etwas gereizten Lächeln. »Sie sind nicht leicht aus der Fassung zu bringen«, sagte er. »Na schön, dann werde ich eines auswählen. Eines meiner bevorzugten Stücke, an dem ich seit der letzten Aufführung ein paar Änderungen vorgenommen habe.« Er sah auf die Uhr. »Für heute haben Sie genug gesehen. Gehen Sie jetzt und ruhen Sie sich etwas aus. Das Abendessen wird in drei Stunden serviert. Es wird ein formelles Essen, und wir bekommen Besuch. Ich möchte Sie also in Abendkleidern sehen. Finden Sie von hier zu Ihrem Zimmer zurück?« Sie nickten, folgten ihm aus dem Regieraum und sahen zu, wie er die Tür wieder abschloß. Dann machten sie sich auf den Weg zu ihrem Zimmer. Als sie im nächsten Stock den Korridor betraten, blieben sie erschrocken stehen. Die blauhaarige Frau, die Ti Challis genannt hatte, stand reglos etwa zehn Meter entfernt und sah sie an. Bleiches Gesicht, blasse Augen… Telzey spürte, wie es ihr kalt über den Rücken lief. Vielleicht war es nur das Unerwartete an diesem Zusammentreffen, aber sie erinnerte sich, wie Ti die Farbe gewechselt hatte, als Challis zum erstenmal aufgetaucht
war; und der Gedanke kam ihr, daß so ein Gespenst aussehen müsse. Challis hob die Hand und winkte sie heran. Zögernd traten sie vor. Als sie herangekommen waren, trat sie zur Seite, auf eine offene Tür zu, und ging hinein. Telzey und Gaziel sahen sich an. »Ich glaube, wir sollten nachsehen, was sie will«, sagte Telzey leise. Gaziel nickte. Ihr schien das genauso zu widerstreben wie Telzey. »Wahrscheinlich.« Sie gingen zu der Tür. Ein schmaler, schwach beleuchteter Gang lag vor ihnen. In einiger Entfernung von ihnen ging Challis. Wieder wechselten die beiden Blicke. »Gehen wir.« Sie folgten Challis. Hinter ihnen schloß sich lautlos die Tür. Nach einigen Biegungen im Gang traten sie in einen niedrigen, geräumigen Raum, der völlig leer war – wie das Innere einer Schachtel. Diffuses Licht ging vom Boden, der Decke und den vier Wänden aus. Die Flächen wirkten wie auf Hochglanz poliertes Metall, reflektierten aber nicht. »Hier kann man uns nicht belauschen«, sagte Challis. »Wir können sprechen.« Ihre Stimme klang tief und melodisch und schien auf den ersten Blick nicht zu ihrer ätherischen Erscheinung zu passen. »Haben Sie keine Angst vor mir. Ich bin nur hierhergekommen, um mit Ihnen zu sprechen.« Sie sahen sie an. »Woher sind Sie gekommen?« fragte Gaziel. »Von drinnen.« »Drinnen?« »Aus dem Inneren der Maschine. Gewöhnlich bin ich dort oder scheine dort zu sein. Ich achte nicht sonderlich darauf. Gelegentlich – wahrscheinlich nicht oft – sagt man mir, daß ich herauskommen soll.«
»Wer sagt Ihnen, daß Sie herauskommen sollen?« fragte Telzey. Challis sah sie an: »Die Gedanken«, antwortete sie, »die Maschine denkt auf vielen Ebenen. Und diese Gedanken haben geistige Wesen geschaffen. Das haben wir nicht so geplant. Es hat sich aber so entwickelt. Sie existieren. Sie tun ihre Arbeit. Diese geistigen Wesen halten das für richtig. Verstehen Sie?« Zögernd nickten sie. »Er weiß, daß es sie gibt«, sagte Challis. »Er erkennt die Anzeichen. Einige von ihnen kann er beeinflussen. Viele andere sind ihm im Augenblick unzugänglich, aber man hat festgestellt, daß er den Verdoppelungsprozeß erneut abgeändert und ausgeweitet hat. Er hat Dinge vollbracht, die völlig neu sind. Und jetzt hat er das neue Modell mitgebracht. Eine von Ihnen ist das neue Modell. Das Modell ist analysiert worden, und man hat festgestellt, daß es eine Eigenschaft besitzt, die es ihm gestatten soll, Zutritt zu den Geisteswesen in der Maschine zu erlangen. Das wird nicht gewünscht. Wenn das Duplikat, das von dem Modell hergestellt wurde – die zweite von Ihnen – die gleiche Eigenschaft besitzt, wird das noch weniger gewünscht. Wenn man es einmal dupliziert hat, kann man es auch viele Male reproduzieren. Und er wird es viele Male reproduzieren. Es liegt nicht in seiner Art, ein erfolgreiches Modell nur beschränkt einzusetzen. Er wird genügend Duplikate herstellen, um jedes einzelne Geistwesen in der Maschine zu kontrollieren.« »Wir wollen das nicht«, sagte Gaziel. Challis’ Blick ging zu ihr. »Es wird auch nicht geschehen«, sagte sie, »wenn es ihm nicht gelingt, eine von Ihnen beiden für seine Zwecke einzusetzen. Es ist bekannt, daß Sie hochentwickelte Widerstandskräfte gegen die Programmierung besitzen, aber es ist zweifelhaft, ob Sie diesen Widerstand auf die Dauer
aufrechterhalten können. Deshalb sollten das Modell und sein Duplikat sich aus dem Bereich der Maschine entfernen. Das ist die logischste und für alle Teile zufriedenstellendste Lösung.« Telzey sah Gaziel an. »Das würden wir sehr gern tun«, sagte sie. »Können Sie uns helfen, die Insel zu verlassen?« Challis runzelte die Stirn. »Ich nehme an, daß es eine Möglichkeit gibt, die Insel zu verlassen«, sagte sie langsam. »Ich erinnere mich an andere Orte – « »Erinnern Sie sich, wo die Flugwagen aufbewahrt werden?« fragte Gaziel. »Flugwagen?« wiederholte Challis. Ihr Blick war nachdenklich. »Ja, er hat Flugwagen. Die sind hier irgendwo im Gebäude. Wenn allerdings das Modell und sein Duplikat nicht fähig sein sollten, das Gelände zu verlassen, sollten sie sich selbst zerstören. Die Geistwesen werden Ihnen die Möglichkeit für die Selbstzerstörung liefern. Und wenn Ihnen das nicht gelingt, so werden Möglichkeiten entwickelt, um Sie zu vernichten.« Telzey dachte nach. »Aber sie werden uns nicht helfen, die Insel zu verlassen?« Challis schüttelte den Kopf. »Die Insel ist die Martribühne. Dinge betreten sie; Dinge verlassen sie. Ich erinnere mich an andere Orte. Deshalb muß es auch einen Weg dorthin geben. Aber der Weg ist nicht bekannt. In diesem Punkt können die Geistwesen Ihnen also nicht helfen.« »Die Flugwagen – « »Irgendwo auf dem Gelände gibt es Flugwagen. Aber wo, das ist unbekannt.« Telzey sagte: »Es gibt noch eine andere Lösung.« »Welche?« »Die Geistwesen könnten statt dessen ihn vernichten.«
»Nein, das ist keine Lösung«, sagte Challis. »Er ist für die Aufrechterhaltung des Universums der Maschine wichtig. Er darf nicht vernichtet werden.« »Wer sind Sie?« fragte Gaziel. Challis sah sie an. »Ich scheine Challis zu sein. Aber wenn ich darüber nachdenke, so wie ich es jetzt tue, scheint mir, daß das nicht sein kann. Challis wußte viele Dinge, die ich nicht weiß. Sie hat ihm beim Bau der Maschine geholfen. Ihre Puppenkonstruktionen waren besser als seine eigenen, obwohl er inzwischen Dinge gelernt hat, die sie nie kannte. Und sie war selbst eines unserer erfolgreichsten Modelle. Viele Puppen waren Kopien von Challis, die man leicht verändert hatte.« Sie hielt nachdenklich inne. »Challis muß etwas zugestoßen sein«, fuhr sie fort. »Sie ist jetzt nicht hier. Nur ich scheine sie zu sein. Ich bestehe aus verschiedenen Persönlichkeitsmustern von Kopien von ihr, die in der Maschine aufbewahrt und ihm nicht mehr zugänglich sind. Er hat versucht, mich zu vernichten, aber die Geistwesen lenken die Vernichtungsbefehle immer wieder ab und melden ihm, daß sie ausgeführt worden sind. Gelegentlich, wie es auch jetzt geschehen ist, machen die Geistwesen wieder eine Kopie von Challis, und dann werde ich programmiert und bekomme meine Anweisungen. Das ist ihm unangenehm.« Wieder schwieg Challis eine Weile, dann fügte sie hinzu: »Es scheint, daß ich Ihnen die Botschaft überbracht habe. Gehen Sie auf dem Weg zurück, auf dem Sie gekommen sind. Vermeiden Sie, das zu tun, was er von Ihnen will. Wenn Sie das Obersteuerungssystem, durch das er Einfluß auf den Computer nimmt, desaktivieren können, dann tun Sie es. Falls Sie dazu Gelegenheit bekommen, verlassen Sie das Gelände, oder zerstören Sie sich selbst. Jede dieser Lösungen wäre zufriedenstellend.«
Sie wandte sich ab und ging durch den Raum davon. »Challis«, sagte Gaziel. Challis sah sich um. »Wissen die Geistwesen, welche von uns beiden das Modell ist?« fragte Gaziel. »Das interessiert jetzt nicht«, sagte Challis. Sie ging weiter. Sie blickten ihr nach, sahen dann einander an und wandten sich der Tür zum Korridor zu. Telzey hatte nach wie vor leichte Kopfschmerzen. Sie hielten noch etwa eine Stunde an, dann hörten sie auf. Gaziel gegenüber erwähnte sie nichts davon.
An dem Essen nahmen sechsunddreißig Leute teil, meist Angestellte auf der Insel. Telzey und Gaziel wurden vorgestellt. Dabei wurde nicht erwähnt, daß eine von ihnen ein Double war, und niemand sagte etwas über ihr identisches Aussehen, obwohl sicher Spekulationen darüber angestellt wurden. Telzey entnahm dem Gespräch mit ihren Tischnachbarn, daß alle es als großes Privileg betrachteten, hier zu sein und für Dr. Ti zu arbeiten. Alle waren begeisterte Anhänger des Martritheaters und sprachen in geradezu schwärmerischen Tönen von Tis Genie. Einmal bemerkte sie, daß Linden sie von der anderen Tischseite verstohlen beobachtete. Sie lächelte ihm zu, worauf er wegsah, ohne seinen Ausdruck zu verändern. Kurz nach dem Essen verließen die Gäste das Gebäude durch den Haupteingang. Draußen erwartete sie etwas – ein muschelförmiges Gebilde, ein Auditorium im kleinen, mit stufenförmig ansteigenden Reihen bequemer Sessel. Sie nahmen ihre Plätze ein. Telzey saß neben Gaziel. Dann hob sich die Muschel in die Lüfte und schwebte davon. Inzwischen war es Nacht geworden. Der vertraute Zauber des Sternenhimmels hüllte die Insel ein. Zwischen den Bäumen
leuchteten weiße Kugellampen auf. Und dann senkte sich die Muschel auf einer Stelle herab, wo das Anwesen an eine Bucht grenzte. Sechs Meter über dem Boden blieb die Muschel schweben. Ti und Linden, die einander gegenübersaßen, nahmen Regiekappen und stülpten sich das Drahtgeflecht über den Kopf. Ein tiefer Gong erklang. Das erwartungsvolle Murmeln rings um Gaziel und Telzey erstarb. Der Sternenschein wurde schwächer, und Stille senkte sich über sie. Alle Lichter verblaßten. Dann – als hätte man einen Vorhang weggezogen – blickten sie auf die Ufer eines tosenden Meeres hinaus. Eine große Sonne erhob sich über den Horizont, und die weißen Segel eines mächtigen Schiffes schwebten aus den Tiefen der Geschichte auf sie zu. Das Brüllen der See und das Klagen des Windes mischten sich zu einer wilden Symphonie. Tis Martriaufführung hatte begonnen.
»Der erste Akt hat mir gefallen«, sagte Telzey mit Kennermiene. »Aber den Rest hätte ich lieber nicht sehen wollen«, meinte Gaziel. Ti sah sie an. Der Rest seiner Zuschauer hatte bereits ihre Zimmer aufgesucht. »Nun«, meinte er mit mildem Tadel »es dauert einige Zeit, bis man Geschmack für das Martritheater entwickelt.« »Mag sein«, sagte Telzey. Sie gingen in ihr Zimmer und legten sich in die Betten. Telzey war noch eine Weile wach und blickte durch das große offene Fenster auf die Zweige hinaus, die sich im Schein der Sterne bewegten. Der leichte Nachtwind trug den sauberen Geruch von Salzwasser und die Kühle der Nacht herein. In der
Ferne hörte sie schwache Laute. Eine Weile schauderte sie unter der Decke. Die Martriaufführung war schrecklich gewesen. Ti liebte entsetzliche Spiele. Ihre Schläfen schmerzten. Linden war noch spät am Werk. Diesmal dauerte es nur etwa zwanzig Minuten. Sie schlief. Sie erwachte. Gaziel hatte sich in ihrem Bett aufgesetzt. Sie sahen einander schweigend an, ohne sich im Halbdunkel zu bewegen. Irgendwo hatte leise Musik eingesetzt. Vielleicht kam sie aus den Wänden des Zimmers, vielleicht auch von draußen. Das konnten sie nicht sagen. Aber es war Musik, die sie schon einmal gehört hatten, das Finale des Martristückes. Langsam schwoll sie an, und der Nachthimmel vor ihrem Fenster wurde undeutlich, wurde von den langsam pulsierenden Wogen kalten Lichts beiseite gedrängt, die jetzt durch das Fenster hereindrangen. Undeutliche Gestalten flackerten über die Wände. Sie stiegen aus den Betten und trafen sich in der Mitte des Zimmers. Einen Augenblick zitterte der Boden unter ihnen. Telzey flüsterte: »Ich glaube, Ti stellt uns jetzt auf die Bühne!« Gaziel warf ihr einen Blick zu, der sagte: Hoffentlich ist es bloß Ti! »Wollen sehen, ob wir hier herauskönnen.« Sie gingen zur Tür. Telzey griff nach dem Türknopf, zerrte daran. Der Knopf schien unter ihrem Griff zu schmelzen. »Drüben!« flüsterte Gaziel. Vor dem Fenster war jetzt Schwärze. Eine Schwärze, die sich bewegte. Die Umrisse des Zimmers bewegten sich, begannen um sie zu zerfließen. Und dann war es kein Zimmer mehr. Sie standen in einem Hohlweg, der von rötlichen Flammen, die zwischen den Steinen aufflackerten, zuckend beleuchtet
wurde, Flammen, die über den Boden huschten und wieder verschwanden. Die Ränder des Hohlwegs waren in Schatten verborgen, die von beiden Seiten auf sie herunterzudrücken schienen. Aber noch weiter oben bewegte sich etwas, undeutliche Gestalten, die sich dauernd zu verändern schienen, die jeden Augenblick woanders waren. Sie sahen sich um. Etwas geducktes Schwarzes kam von hinten heran. Die Umrisse bewegten sich, als bestünde die Gestalt aus dichtem Rauch. Sie wandten sich ab und gingen weiter. Der Weg war breit genug, daß sie nebeneinander gehen konnten, aber nicht viel breiter. Gaziel hauchte: »Ich wünschte, Ti hätte nicht gerade das ausgesucht!« Vielleicht schwebten sie gar nicht in echter Gefahr. Ti wollte sie bestimmt nicht verlieren, für den Fall, daß sie einen Fehler machten. Aber sie hatten heute selbst mit angesehen, wie Martripuppen in diesem Hohlweg den Puppentod gestorben waren; und wenn die Geistwesen, von denen Challis gesprochen hatte, existierten und zusahen, Ti aber nicht, dann gab es hier genügend Möglichkeiten, sie zu vernichten. »Am besten verhalten wir uns so, als wäre alles echt!« murmelte Telzey. »Ich weiß!« Um den Hohlweg zu verlassen, mußte man immer weiter gehen und durfte den Weg nicht verlassen. Das schwarze Verderben, das sie verfolgte, würde sie nicht einholen, solange sie nicht stehenblieben. Und was an den Rändern des Hohlwegs dahinfegte, konnte sie auf dem Weg nicht erreichen. Es gab Laute und Geräusche um sie, Flüstern, ein hungriges Winseln, unterdrücktes Gelächter und einmal ein böses Knurren, das nur ein paar Zentimeter von Telzeys Ohr entfernt schien. Aber sie ließen den Weg nicht aus den Augen, taten so, als existierte alles um sie her gar nicht.
Lang kann das so nicht weitergehen, sagte sich Telzey – und dann erhob sich eine gesichtslose Gestalt in einem Kapuzenumhang vor ihnen, der Umriß eines Mannes, aber zweimal so groß wie ein Mensch. Die Gestalt schien vor ihnen aus dem Boden zu wachsen und versperrte ihnen den Weg. Entsetzt blieben sie stehen. In der Aufführung, die sie gesehen hatten, war diese Gestalt nicht erschienen. Sie sahen sich um. Das rauchige schwarze Etwas war höchstens noch sechs Meter entfernt und kam langsam näher. Zu beiden Seiten drängten sich jetzt flackernde Eindrücke. Die Gestalt in dem Kapuzenumhang stand reglos. Sie gingen darauf zu. Und unmittelbar, ehe sie sie berührten, verschwand sie. Aber die anderen Gestalten tobten jetzt in einem immer wilder werdendem Reigen um sie herum. Der Hohlweg verschwand. Wieder blieben sie stehen, in einem schwach erleuchteten Gang, der ihnen vertraut vorkam. Vor ihnen, vielleicht vier Meter entfernt, war eine offene Tür. Sie gingen hindurch, schlossen sie hinter sich, und waren auf einmal in ihrem Zimmer. Es wirkte ganz normal. Vor dem Fenster bewegten sich die Zweige im Wind. Es lagen keine ungewöhnlichen Geräusche in der Luft. Telzey atmete tief auf und sagte: »Scheint, daß die Vorstellung vorbei ist!« Gaziel nickte. »Ti muß mit dem Übersteuerungssystem eingegriffen haben.« Einen Augenblick begegneten sich ihre Blicke. Es bestand kein Zweifel, daß jemand beabsichtigt hatte, sie nicht lebend aus dieser Szene entkommen zu lassen. Ti war es nicht gewesen; und daß es Linden gewesen sein konnte, das glaubten sie auch nicht. Telzey seufzte. »Nun«, meinte sie, »jetzt hat an diesem Abend wahrscheinlich jeder seinen Spaß gehabt. Wir sollten uns jetzt schlafen legen.«
Beim Frühstück musterte sie Ti einige Augenblicke und erkundigte sich dann, wie es ihnen ginge. »Gut«, sagte Telzey und strahlte. »Frühstücken bloß wir drei heute morgen zusammen?« »Linden hat zu tun«, sagte Ti. »Wir dachten, Ihre Frau würde vielleicht mit uns essen«, sagte Gaziel. Der Laut, den Ti von sich gab, hörte sich an wie die Mischung aus einem Grunzen und einem Lachen. »Sie ist heute nacht gestorben«, sagte er. »Ich habe damit gerechnet. Sie hält nicht besonders lang.« »Waaas?« fragte Telzey. »Sie war eine defekte Puppe«, erklärte Ti. »Ein frühes Modell nach dem Bild meiner Frau Challis, die vor ein paar Jahren bei einem Unfall ums Leben gekommen ist. Ein Computerdefekt, den ich nicht beheben konnte, ist die Ursache, daß von Zeit zu Zeit eine Kopie dieser Puppe in den Regenerationstanks hergestellt wird. Die Puppe betrachtet sich jedesmal als Challis, und ich möchte ihr wegen ihrer Ähnlichkeit mit meiner Frau die Illusion nicht nehmen oder sie gar beseitigen.« Er zuckte die Achseln. »Ich empfinde tiefe Abneigung gegenüber diesem Ding, aber seine Defekte zerstören es ohnehin innerhalb ein paar Stunden selbst.« Er kaute auf seiner Unterlippe und meinte dann etwas mürrisch: »Ihr Appetit scheint nicht gelitten zu haben! Haben Sie gut geschlafen?« Sie nickten. »Abgesehen von dieser Martriaufführung«, sagte Gaziel. »Was sollte das bezwecken?« wollte Telzey wissen. »Ein Reaktionstest«, sagte Ti. »Es hat Sie nicht gestört?« »Es konnte einem schon Angst machen«, sagte Telzey. »Wir wußten, daß zumindest Sie nicht vorhatten, uns zu töten, aber
am Ende sah es so aus, als drehte der Computer durch. Mußten Sie sich einschalten?« Ti nickte. »Zweimal sogar! Eigenartig! Das ist eine häufig durchgespielte Szene – es ist schon lange her, daß der Computer oder eine Puppe an dieser Stelle eine Logikabwandlung versucht hätte.« »Das lag vielleicht daran, daß wir keine programmierten Puppen sind«, schlug Gaziel vor. »Oder daran, daß eine von uns überhaupt keine Puppe ist.« Ti schüttelte den Kopf. »Unter den gegebenen Umständen dürfte das nichts ausmachen.« Sein Blick wanderte von einem der Mädchen zur anderen. Eine Sekunde lang flackerte etwas Unangenehmes in seinen Augen. »Sie sind vielleicht zu widerstandsfähig«, bemerkte er. »Nun, wir werden sehen – « »Was tun wir heute?« fragte Telzey. »Da bin ich noch nicht sicher«, sagte Ti. »Es könnte sich noch etwas ergeben. Die meiste Zeit werden Sie allein sein, aber bleiben Sie im Gebäude, wo ich Sie über die Lautsprecheranlage ausrufen kann, wenn ich Sie brauche.« Sie nickten. »Im Gebäude muß es ja eine Menge interessanter Dinge zu sehen geben«, sagte Gaziel. »Wir werden uns umsehen.« Sie hatten vor, sich sogar sehr gründlich umzusehen. Je langer Ti in den folgenden Stunden mit anderen Dingen beschäftigt war, desto besser. Aber ihre Hoffnung erfüllte sich nicht ganz. Sie beendeten das Frühstück und standen auf. Gaziel hatte gerade ihren Stuhl zurückgeschoben, während Telzey noch im Begriffe war, sich zu erheben. Und da war in ihrem Kopf plötzlich ein blendender weißer Blitz. Sogleich wurde es dunkel um sie. Sie saß in einem sehr bequemen Stuhl. Sehr bequem, abgesehen von der Tatsache,
daß sie festgeschnallt war. Rings um sie kalte Stille. Dann eine Stimme. Es war keine Gedankenverbindung, auch kein Geräusch, das ihre Ohren aufnahmen. Die Audio-Zentren ihres Gehirns wurden unmittelbar stimuliert. »Sie müssen sich entspannen und dürfen sich nicht sträuben«, hörte sie. »Man hat Sie geweckt, weil sie sich bewußt bemühen müssen, sich nicht zu sträuben.« Kalte Angst durchflutete sie. Ti hatte ihnen gestern den Programmierteil des Martricomputers gezeigt, und dort befand sie sich jetzt – sie versuchten, sie zu programmieren! Etwas wurde an ihrem Kopf befestigt. Berührungen wie von kriechenden Würmern schreckten sie. Sie mühte sich, das Gefühl zu unterdrücken, und dann hörte es auf. »Sie müssen sich entspannen«, sagte die Stimme in ihren Audio-Zentren. »Sie dürfen sich nicht sträuben. Denken Sie daran. Nicht sträuben.« Wieder die kriechenden Eindrücke. Sie wehrte sich. »Sie denken nicht an das Entspannen«, sagte die Stimme. »Versuchen Sie es.« Die Programmierschaltung wußte also, was sie dachte und was nicht. Sie war mit dem Computer verbunden.
»Wir versuchen jetzt schon seit beinahe zwei Stunden, Sie zu programmieren«, sagte Ti. »Was haben Sie dabei empfunden?« »Nun, ich war höchstens die letzten zehn Minuten wach«, sagte Telzey mit mürrischer Miene. »Ich weiß nicht, was in der restlichen Zeit vorgefallen ist.« Linden stand an einer Steuerkonsole auf der anderen Seite des Raumes. »Wir möchten wissen, was geschehen ist, während Sie wach waren.«
»Es fühlte sich so an, als bewegte sich etwas in meinem Kopf.« »Sonst nichts?« fragte Ti. »Oh, hin und wieder war da so ein eigenartiges Geräusch.« »Nur ein Geräusch? Können Sie es beschreiben?« Sie zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll. Es war einfach ein Geräusch, und zwar in meinem Kopf.« Sie schauderte. »Es hat mir gar nicht gefallen! Ich möchte nicht programmiert werden, Ti!« »Oh, Sie müssen sich aber programmieren lassen«, sagte Ti ruhig. »Sie müssen vernünftig sein. Haben Sie versucht, sich dagegen zu wehren?« »Ich wußte nicht, wie ich mich wehren sollte«, sagte Telzey. »Aber jedenfalls wollte ich es nicht!« Ti rieb sich das Kinn, sah sie an und fragte dann Linden: »Wie funktioniert der Anschluß jetzt?« »Einwandfrei«, sagte Linden. »Nun, dann stellen Sie fest, wie die andere Versuchsperson reagiert. Telzey, Sie warten draußen – diese Tür. Linden führt Sie in ein paar Minuten in einen anderen Gebäudeflügel.« Telzey fand Gaziel in dem anschließenden Zimmer. Ihre Augen begegneten sich. »Hat man dich programmiert?« fragte Gaziel. Telzey schüttelte den Kopf. »Nein, irgendeine Schwierigkeit mit dem Computeranschluß. Geradeso als wollte er nicht, daß ich programmiert werde.« Gaziels Augenlider zuckten; sie nickte, kam auf Telzey zu, warf einen schnellen Blick auf die Tür und steckte Telzey etwas in die Tasche. Dann trat sie zurück. »Jetzt bin wohl ich dran«, sagte sie. »Ja«, nickte Telzey, »sie haben schon davon gesprochen. Es ist, als wenn einem Würmer im Kopf herum kriechen, und dann ist da ein Geräusch, eigentlich nicht schlimm, aber es
wird dir nicht gefallen. Du wirst dir bestimmt auch wünschen, es irgendwie zu unterdrücken.« Wieder nickte Gaziel. »Hoffentlich funktioniert es bei mir auch nicht«, sagte sie. »Ich könnte mich einfach nicht mit dem Gedanken abfinden, programmiert herumzulaufen.« »Wenn es bei dir auch nicht funktioniert, gibt Ti vielleicht auf«, meinte Telzey. Die Tür öffnete sich, und Linden kam herein. Er sah Gaziel an und deutete mit dem Daumen auf die Tür. »Dr. Ti möchte Sie jetzt sprechen«, sagte er. »Viel Glück!« sagte Telzey zu Gaziel. Gaziel nickte und ging ins Nebenzimmer. Linden schloß die Tür hinter ihr. »Kommen Sie mit«, sagte er zu Telzey. »Dr. Ti hat gestattet, daß Sie sich im ganzen Gebäude frei bewegen dürfen. Aber er möchte nicht, daß Sie in die Programmierabteilung gehen, während er an der anderen Person arbeitet.« Sie verließen das Zimmer. Telzey sagte: »Linden – « »Dr. Linden«, stellte Linden mit kühler Stimme richtig. Telzey nickte. »Dr. Linden, ich weiß, daß Sie mich nicht leiden können – « »Stimmt.« Linden nickte. »Ich kann Sie nicht leiden. Sie haben mir, seit Sie in Draise aufgetaucht sind, nur Ärger mit Dr. Ti gebracht. Ganz besonders hat mir dieser Psi-Trick nicht gefallen.« »Nun, das war Notwehr«, sagte Telzey ruhig. »Was würden Sie denn tun, wenn Sie feststellten, daß sich jemand in Ihren Gedanken umschaut? Das heißt, wenn Sie die gleichen Fähigkeiten hätten wie ich – « Sie sah ihn nachdenklich an. »Aber die haben Sie wahrscheinlich nicht.« Linden blickte sie wütend an.
»Aber auch wenn Sie mich nicht leiden können, mich oder uns beide«, fuhr Telzey fort, »sollte es Ihnen wirklich lieber sein, wenn Ti es nicht schafft, uns zu programmieren. Sie sind wichtig für ihn, weil Sie der einzige Telepath sind, über den er verfügt. Aber wenn es sich herausstellen sollte, daß wir beide Psi-Fähigkeiten haben, zumindest das Original von uns beiden, und er uns steuern kann, dann sind Sie bei weitem nicht mehr so wichtig für ihn.« Lindens Gesichtsausdruck war jetzt sehr wachsam. »Sie schlagen vor, daß ich den Prozeß störe?« fragte er. Telzey zuckte die Achseln. »Das liegt natürlich bei Ihnen.« Linden machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich werde Dr. Ti von diesem Gespräch berichten«, sagte er. Wieder öffnete er eine Tür. »Und jetzt gehen Sie mir aus den Augen!« Das tat sie. Linden hatte nun genug Stoff, um darüber nachzudenken. Sie nahm den ersten Lift, den sie fand, und fuhr damit in den dritten Stock über der Erde hinauf und begab sich in ihr Zimmer. Der Gegenstand, den Gaziel ihr in die Tasche gesteckt hatte, war ein Plastikpäckchen so groß wie ihr Daumen. Sie öffnete es, faltete das Stück Papier, das sie darin fand, auseinander, und las. Das Papier war eng mit ihrer eigenen Kurzschrift beschrieben. Sie las: Funkstation 7. Stock, Abschn. 18. Dort ist es. Brauchbar? Aufpassen, Togelt, eingewickelt, stört dich nicht. Funker, Rodeen, hypnotisierbar. Sonst niemand da. Bin gerufen worden, bevor ich fertig war. Glück.
Telzey öffnete ihren Kleiderschrank, holte eine Bluse und einen Rock heraus, dieselben Kleidungsstücke, die Gaziel getragen hatte, als sie mit Togelt und Rodeen gesprochen hatte, trat an einen Spiegel und begann, ihr Haar so zu richten, wie
Gaziel es getragen hatte. Ihr Double hatte den Vormittag gut genutzt. Die Suche nach einer Sendestation, die es ihnen vielleicht erlaubte, eine Nachricht abzusetzen, hatte ganz oben auf ihrer Dringlichkeitsliste gestanden. Noch wichtiger war es nur, festzustellen, wo die Luftfahrzeuge aufbewahrt wurden. Dann erstarrte Telzey plötzlich während der Bewegung. Ihre Blicke bohrten sich in die ihres Spiegelbildes. Dann nickte sie leicht. Der Hinweis, den sie Linden gegeben hatte, hatte schnell zu Ergebnissen geführt. Er machte sich wirklich Sorgen, daß Ti vielleicht die Gewalt über einen oder zwei von ihm kontrollierte Psi bekommen könnte, die ihn ausstechen würden, sofern er sie nicht vorher selbst unter seine Kontrolle brachte. Der Kopf schmerzte wieder. Sie holte einen kleinen Lageplan des Zentralgebäudes heraus, den sie aus dem Büro mitgenommen hatte, als Ti sie am Vortag herumgeführt hatte. Der Plan war sehr aufschlußreich. Umfangreiche Teile der oberen Stockwerke waren offenbar nicht dargestellt. Ebensowenig die Fläche, wo sich der Martricomputer befand. Vermutlich waren das alles Räume, zu denen Tis Personal keinen Zutritt hatte. Das erleichterte die Suche nach Luftfahrzeugen wesentlich. Sie mußten sich irgendwo in den verbotenen Räumen befinden.
Rodeen war schlank und vielleicht Anfang zwanzig. Er lächelte freundlich, als er Telzey sah. Seine Arbeit war langweilig, und Gaziel hatte ihm den Eindruck vermittelt, er habe ihr einen Überblick über das Kommunikationssystem auf der Insel gegeben, und in dem Augenblick hatte Ti sie gerufen. Telzey ließ ihn in dem Glauben. Ein paar Minuten später erkundigte sie sich, wann er zuletzt die Insel verlassen hätte. Rodeens Augen wurden glasig. Er stand bereits unter ihrem
Einfluß. Sie hatte bisher nicht viel mit Hypnose gearbeitet, weil es keinen Grund dafür gegeben hatte. Psi war, wenn man es einsetzen konnte, sehr viel wirksamer, verläßlicher. Aber sie hatte sich ziemlich intensiv mit dem Thema beschäftigt. Rodeen war natürlich so programmiert, daß er nicht an die Funkanlage denken konnte. Es dauerte etwa zwanzig Minuten, um diese Sperre zu durchdringen. Und als es so weit war, wußte er überhaupt nicht mehr, wo er sich befand oder was er tat. Er öffnete einen Safe, holte das Funkgerät heraus und stellte es auf den Tisch. Telzey sah das Gerät an und richtete einige Fragen an Rodeen. Dann hielt sie inne. Schnelle Schritte näherten sich auf dem Korridor. Sie trat an die Tür. »Was hat Togelt denn gedacht, als er dich sah?« fragte sie. »Natürlich daß ich ein Zwilling von dir sei«, sagte Gaziel. »Erstaunliche Ähnlichkeit!« »Ti hat bei dir aber schnell aufgegeben!« Gaziel lächelte. »Du hast die Programmierschaltung richtiggehend paralysiert! Es funktionierte überhaupt nichts. Deshalb gab er auf. Wie hast du das gemacht?« »Die Schaltung wußte, was ich dachte. Deshalb entschied ich, daß es sich um eine Ausnahmesituation handeln müsse, deren Daten unmittelbar an den Computer weitergeleitet werden mußte«, sagte Telzey. »Dann hörte ich eine Art Pfeifen. Das war vermutlich die Regelschaltung. Ich bezog mich auf das, was wir von Challis gehört hatten, und wies darauf hin, daß es nicht im Sinne des Martricomputers sein könne, uns zu programmieren. Offenbar schloß man sich meiner Meinung an. Die Programmierschaltung setzte beinahe sofort aus. Hat Ti nach Linden gerufen?« Ihre Kopfschmerzen hatten vor etwa fünf Minuten aufgehört. Gaziel nickte. »Wir haben wieder etwas Zeit. Ti wird uns rufen, wenn er uns braucht.«
Sie war inzwischen zur Tür hereingekommen. Ihr Blick wanderte zum Tisch, und sie sah Telzey an. »Du hast es also gefunden. Können wir es benutzen?« »Erst wenn wir den Schlüssel haben, mit dem man es einschalten kann«, sagte Telzey. »Vermutlich weiß aber bloß Ti, wo dieser Schlüssel ist. Sonst bedient niemand die Anlage, nicht einmal Linden.« »Schade.« Gaziel sah Rodeen an, der nachdenklich lächelte, ohne sie jedoch dabei anzusehen. Er war völlig in sich versunken. »Für den Fall, daß wir den Schlüssel bekommen sollten«, schlug sie vor, »sollten wir ihm einen kleinen posthypnotischen Befehl geben, damit wir ihn das nächste Mal einfach ›einschalten‹ können – « Kurz darauf verließen sie den Raum, nachdem sie Rodeen wieder in normalen Zustand zurückversetzt hatten. Er erinnerte sich jetzt lediglich an eine kurze angeregte Unterhaltung, die er mit den Zwillingen geführt hatte. Telzey sah auf die Uhr. »Mittag ist schon vorbei«, bemerkte sie. »Aber Ti hat vielleicht noch eine Weile zu tun. Wir sollten uns die geeignetsten Stellen aussuchen, wo Luftwagen aufgehoben werden können.« Sie blickten auf den Plan. Dann fuhren sie in ein höheres Stockwerk hinauf.
»Vielleicht können wir uns auch durch Hypnose eine Waffe verschaffen«, sagte Gaziel, »falls es hier bewaffnete Posten gibt.« Telzey sah sie an. Bis jetzt hatten sie noch keine Bewaffneten gesehen. Tis Angestellte waren so gründlich programmiert, daß man nicht einmal Schlösser an den Türen brauchte. »Die Truppen, die er gegen wildgewordene Waldbewohner einsetzt,
haben natürlich Waffen«, sagte sie. »Aber die haben ein ziemlich schweres Kaliber.« Gaziel nickte. »Ich habe an etwas Unauffälligeres gedacht. Etwas, das wir Ti oder Linden unter die Nase halten können, wenn sich eine entsprechende Situation ergibt.« »Wir werden die Augen offenhalten«, meinte Telzey. »Aber es sollte uns eigentlich etwas Besseres einfallen.« »Wahrscheinlich«, nickte Gaziel. Und dann hielt sie plötzlich inne. »Weil du sagst, wir sollen die Augen offenhalten – « »Ja?« »Das da drüben ist doch ein Lift, oder?« »So sehen die Lifttüren hier aus«, nickte Telzey. Dann hielt sie inne. »Du meinst, eine Lifttür, die auf dem Plan nicht verzeichnet ist?« »Soweit ich mich erinnere, nicht«, sagte Gaziel. »Wir wollen sehen – Abschnitt drei, siebzehn Strich drei.« Sie breiteten den Plan auf dem Boden aus und knieten daneben nieder. »Wir sind – hier!« sagte Gaziel und deutete auf den Plan. »Und – stimmt, der Lift ist nicht eingezeichnet. Für programmiertes Personal existiert er also nicht. Wir wollen sehen, wohin er führt!« Sie öffneten die Tür und sahen hinein. Es gab nur einen Schalter, keinen Hinweis darauf, wohin der Lift fuhr. »Vielleicht in Tis Büro«, überlegte Telzey. Gaziel zuckte die Achseln. »Er weiß ja, daß wir uns umsehen.« »Ja, aber vielleicht ist er im Augenblick ziemlich sauer«, sagte Telzey und zuckte ebenfalls die Achseln. »Also schön, dann komm!« Sie traten in die Liftkabine. Die Tür schloß sich hinter ihnen, und Telzey legte den Schalter um. Einige Sekunden verstrichen. Dann öffnete sich die Tür wieder.
Sie standen reglos da und sahen sich um. Gaziel sah Telzey an und schüttelte den Kopf. »So leicht kann es doch gar nicht sein«, murmelte sie. Telzey biß sich auf die Lippen. »Es sei denn, es wäre abgesperrt. Oder es gibt ein Sperrfeld, durch das man nicht gehen kann – « Sie blickten auf einen Garten hinaus, der im hellen Sonnenschein lag. Es schien, als gebe es keine Umzäunung. Da waren kleine Bäume und Blumenbeete. Ein lauer Wind wehte. Ziemlich am Ende des Gartens war eine kiesbedeckte Fläche – und auf der stand ein kleiner Luftwagen. Niemand war zu sehen. Nein, dachte Telzey, die Flucht von Tis Insel konnte unmöglich so leicht sein. Irgend etwas mußte sie daran hindern können, den Flugwagen zu benutzen, aber was es war, das mußten sie erst noch herausfinden. Vorsichtig traten sie vor, ein paar Schritte nur, sahen sich um, lauschten. Wieder machte Gaziel ein paar Schritte. Und dann packte Telzey plötzlich ihren Arm und riß sie zu sich heran. Sie taumelten in den Lift zurück. »Was ist denn los?« flüsterte Gaziel. Telzey legte den Finger auf den Mund und schüttelte den Kopf. »Beinahe schiefgegangen!« murmelte sie. »Die Sonne – « Gaziel sah sich um. Und dann weiteten sich ihre Augen. »Sollte um diese Tageszeit im Zenit stehen!« »Ja, sollte sie.« Das tat sie aber nicht. Ihrem Stand nach war es früher Morgen. Der Garten war eine Martribühne. »Das haben die für uns gestellt!« murmelte Gaziel. »Wir haben Challis gefragt, wo die Flugwagen sind – « Telzey nickte. »Sie sahen uns kommen und haben blitzschnell eine Szene aus irgendeinem Stück eingeblendet – damit wir hinaustreten auf die Bühne!«
»Beinahe hätten sie es geschafft. Schau dir das doch an!« sagte Gaziel leise. »Nichts bewegt sich.« Der Garten war unbeweglich geworden. Kein Lüftchen bewegte die Blumen; kein Blatt regte sich. Schweigen herrschte ringsum. »Sie haben den Ablauf angehalten«, flüsterte Telzey. »Jetzt warten sie, ob wir nicht doch versuchen, zu dem Wagen zu gelangen.« »Was uns mitten hinein in die Handlung geworfen hätte! Ich möchte nur wissen… Jetzt rührt es sich wieder!« Die Blumen im Garten bewegten sich im Wind. Einige Sekunden verstrichen, dann hörten sie einen heiseren Schrei, einen Angstschrei, und Augenblicke später Schritte. Ein junger Mann und eine junge Frau tauchten hinter Sträuchern auf, rannten auf den Flugwagen zu. Zur Linken tauchte plötzlich ein Mann aus einem Versteck auf. Er hielt ein Gewehr. Jetzt zielte er ruhig auf das Paar. Die beiden jungen Leute öffneten soeben den Einstieg. Die Flamme erfaßte die zwei Körper und ließ sie nicht los, als sie zuckend zu Boden sanken, und dann verblaßte das Bild. Telzey legte den Liftschalter um. Die Tür glitt zu. Sie sahen einander an. »Wenn dir der Sonnenstand nicht aufgefallen wäre – « sagte Gaziel. Sie atmete heftig. »Wenn wir… der Computer hätte die Szene kaum abändern müssen, um uns zu vernichten!« »Wenn diese Geistwesen es bloß nicht so eilig hätten«, sagte Telzey. Die Lifttür öffnete sich. Sie traten auf den Korridor hinaus, aus dem sie gekommen waren.
»Oh, natürlich haben wir hier im Gebäude auch permanente Martribühnen«, sagte Ti beim Mittagessen. »Dem Personal
hier ist der Zutritt meist verboten, aber Sie beide können sich gern umsehen, wenn es Ihnen Spaß macht. Die Einrichtungen sind narrensicher. Erinnern Sie mich daran, daß ich Ihnen morgen eine Planskizze gebe. Damit finden Sie sich besser zurecht.« Er schien guter Laune, wenn auch etwas nachdenklich. Hin und wieder musterte er sie prüfend. Wie er ihnen sagte, hatte er den ganzen Morgen damit verbracht, über das Problem der Programmierschaltung nachzudenken. Linden war für die Anlage verantwortlich. Aber Lindens Fähigkeiten waren beschränkt. Ti zuckte die Achseln. »Ich werde schon damit zurechtkommen. Möglicherweise muß ich die Programmierlogik etwas ändern. Und inzwischen – nun, Lindens Büro liegt ein Stockwerk über Ihrem Zimmer. Ich möchte, daß Sie anschließend hingehen. Er soll heute nachmittag Ihre allgemeine Unterweisung fortsetzen. Nehmen Sie die Treppe neben Ihrem Zimmer und gehen Sie oben nach links. Sie finden ihn ganz leicht.« Damit hatte er recht. Zuerst erreichten sie ein Büro, in dem ein halbes Dutzend geschwätziger junger Mädchen arbeitete. Eines der Mädchen stand auf und kam auf sie zu. »Dr. Linden?« fragte sie. »O ja, er erwartet Sie.« Sie folgten ihr durch ein weiteres Zimmer in Lindens Büro. Er stand hinter seinem Schreibtisch auf, als sie eintraten. »Dr. Ti hat mich verständigt, daß Sie zu mir unterwegs wären«, sagte er. Er sah das junge Mädchen an. »Ich gehe eine Weile weg. Kümmern Sie sich inzwischen um mein Telefon.« »Wie lange werden Sie weg sein«, erkundigte sie sich. »Ein, zwei Stunden.« Linden sah Telzey und Gaziel an. Er lächelte schief. »Gehen wir!« Er führte sie über eine schmale Rampe in einen Alkoyen, in den das Licht durch bunte Gläser fiel. Hier war eine Tür. Linden sperrte auf, öffnete die Tür aber nicht sofort.
»Ich will es Ihnen erklären«, sagte er und wandte sich zu ihnen um. »Ich habe Dr. Ti in Draise gesagt, daß Telzey gefährlich werden könne, und ich riet ihm, sie vernichten zu lassen. Aber ihn reizten die Möglichkeiten, die er in Telzey und eventuellen Doubles von ihr sah.« Linden zuckte die Achseln. »Nun, das ist seine Angelegenheit. Er hat versucht, Sie psychologisch zu verunsichern – die Martriprogrammierung wirkt am besten bei verunsicherten Persönlichkeiten. Aber seine Methode hat nicht funktioniert. Jetzt vermutet er, Sie könnten absichtlich das Versagen seiner Programmierschaltung heute morgen ausgelöst haben. Deshalb hat er beschlossen, einen anderen Weg einzuschlagen – und diesmal bin ich völlig seiner Meinung!« »Und worin besteht dieser andere Weg?« fragte Telzey vorsichtig. Linden lächelte. »In dem Raum hinter dieser Tür gibt es Geräte, die dafür bestimmt sind, schwierige Versuchspersonen gelehrig zu machen. Es freut mich, Ihnen sagen zu können, daß verschiedene Phasen dieses Prozesses von intensiven physischen Schmerzen begleitet sind, und Sie können mir glauben, daß Ihnen nichts erspart bleiben wird!« »Eine von uns ist Gaziel«, sagte Telzey. »Sie hat Ihnen nichts getan. Warum wollen Sie sie foltern?« Linden zuckte die Achseln. »Warum nicht? Subjektiv sind Sie beide Telzey. Und soweit es mich betrifft, sind Sie in gleicher Weise unerträglich. Sie werden noch früh genug herausfinden, welche von Ihnen die echte Telzey ist. Ich mache jetzt keinen Unterschied. Und wenn ich annehme, daß Sie hinreichend konditioniert sind, dann werde ich wieder mit der Unterdrückung Ihrer Psi-Fähigkeiten beginnen, um sicherzugehen, daß sich in dieser Hinsicht keine Probleme ergeben. Dann werde ich Dr. Ti melden, daß seine
Versuchspersonen für weitere Programmiersitzungen bereit sind.« Er lächelte Telzey zu. »Sie«, sagte er, »besaßen die Frechheit, mich darauf hinzuweisen, es wäre für mich von Vorteil, wenn Ti seine Absicht aufgäbe, Sie zu programmieren. Ich teile Ihre Meinung nicht. Er ist jetzt der Ansicht, daß das Experiment als solches wahrscheinlich fehlschlagen wird, ihm aber wertvolle neue Erkenntnisse liefern wird. Also wird er so lange damit fortfahren, bis Ihre geistige Resistenz gebrochen ist. Ich habe nichts dagegen einzuwenden.« Er öffnete die Tür, die er aufgesperrt hatte, und sah sich noch einmal um. »Was ich jetzt tue, könnte mein Personal erschrecken«, bemerkte er. »Testpersonen, die die Gefügigkeitsbehandlung durchmachen, verursachen erstaunlich viel Lärm, aber der Raum ist völlig schalldicht. Das ist also kein Problem. Sie können nach Herzenslust schreien, es wird mir ein Vergnügen bereiten, Ihnen zuzuhören. Hinein mit Ihnen!« Er ergriff die beiden am Arm und schob sie durch die Tür. Dann folgte er ihnen, schloß die Tür und versperrte sie von innen. Als er sich ihnen wieder zuwandte, warf Telzey sich nach vorn und umschlang seine Beine. Linden taumelte und stürzte. Gaziel warf sich über ihn. Es war ein erbitterter Kampf. Linden war zwar nicht besonders geschickt, dafür jedoch groß und stark genug, um mit einer von ihnen spielend leicht fertig zu werden. Zu zweit dagegen, kratzend, beißend und tretend, waren sie ihm durchaus gewachsen. Ineinander zu einem Knäuel verkrallt, wälzten sie sich durch den Raum. Linden versuchte, einen Arm freizubekommen. Ein Tisch stürzte um. Einige Instrumente, die darauf gestanden hatten, fielen auf den Boden. Telzey sah eines davon in Reichweite, ließ Linden los und griff danach. Es
war aus Plastik, aber schwer – und sie schlug es Linden über den Schädel. Er schrie auf. Erneut schlug sie zu, so fest sie nur konnte. Das Gerät brach, und Linden blieb reglos liegen. »Die Schlüssel – « stieß sie hervor. »Hab sie schon!« sagte Gaziel. Schnell durchsuchten sie Lindens Taschen, fanden aber nichts Brauchbares. Sein Atem ging jetzt schwer, aber er bewegte sich nicht. »Wir lassen ihn hier eingeschlossen«, sagte Telzey. »Die Tür ist fest – und er hat ja gesagt, daß der Raum schallisoliert ist.« Sie schlossen die Tür auf und öffneten sie vorsichtig. Alles war ruhig. Sie schlüpften hinaus, schlossen ab und eilten den Korridor hinunter. Irgendwo öffnete sich eine Tür; sie hörten Frauenstimmen, drehten sich um und duckten sich in eine Nische. »Wir müssen an dem Büro vorbei, dann geht es erst hinunter«, sagte Telzey leise. Gaziel sah sie einen Augenblick mit zusammengekniffenen Lippen an. »Die sollen glauben, daß wir uns im Wald verstecken, was?« »Ja, das scheint mir der beste Plan, oder?« Gaziel nickte. »Ich wünschte, wir hätten noch ein paar Stunden Zeit für Vorbereitungen. Es wird ein ziemliches Problem werden, die Flugwagen zu finden.« »Ich weiß. Da kann man eben nichts machen.« »Nein«, pflichtete Gaziel ihr bei. »Jetzt sind ja alle gegen uns. Linden und Ti wollen uns zu Puppen machen, und der Martricomputer wartet nur darauf, uns auf irgendeine Art in die Falle zu locken und zu vernichten. Wir sollten wirklich zusehen, daß wir so schnell wie möglich hier wegkommen. Und das hier ist unsere Chance.«
Der dritte Schlüssel, den Telzey probierte, öffnete die Seitentür von Lindens gepanzertem Bodenfahrzeug. Sie setzten sich hinein und zogen die Tür hinter sich zu. Telzey saß auf dem Fahrersitz. »Ich starte jetzt. Schau dich um und sag mir, was es hier alles gibt.« »Pistolen«, verkündete Gaziel kurz darauf. »Können wir die verwenden?« »Nun, es sind ziemlich schwere Dinger. Ich werde feststellen, wie sie funktionieren.« Ein klickendes Geräusch war zu hören, als sie an einer der Waffen herumprobierte. Die Maschine des Wagens erwachte jetzt zum Leben. Telzey steuerte das Fahrzeug über den Rasen auf die nächste Baumgruppe zu. Gaziel sah sie von der Seite an. »Kommst du zurecht?« »Ausgezeichnet! Prima Wagen. Ich fahre jetzt zu den Eichen hinüber.« »Mit den Pistolen kann ich umgehen«, sagte Gaziel. »Ich werde mir zwei in den Gürtel stecken. Sonst ist nichts zu gebrauchen.«
Etwa hundert Meter von dem Gebäudekomplex entfernt stand eine Gruppe Eichen. Lindens Wagen schob sich zwischen den Büschen darauf zu und blieb mitten in einem dichten Gebüsch stehen. Die Tür öffnete sich. Telzey kletterte vom Fahrersitz auf die Tür und schließlich auf das Dach des Wagens. Gaziel folgte dicht hinter ihr. Jede hatte sich eine der schweren Pistolen in den Gürtel geschoben. Ein kräftiger Ast ragte über dem Wagen in die Luft. Sie zogen sich daran in die Höhe und kletterten weiter hinauf. Minuten später saßen sie ganz oben in der Krone des Baumes am Rande des Wäldchens und hielten sich, zwei Meter voneinander entfernt, an Ästen fest. Durch die Blätter konnten
sie den Gebäudekomplex gut beobachten, blieben jedoch selber durch das Laub völlig verborgen. Bis jetzt hatten sie noch keine Aktivität bemerkt. »Es dauert vielleicht eine Weile, bis die anfangen, Linden zu suchen«, meinte Gaziel nach einiger Zeit. »Bis Ti sich nach uns erkundigt«, meinte Telzey. »Ja, ich vermute, Ti wird – « Gaziels Stimme brach ab. Telzey blickte zu ihr hinüber. Gaziel saß starr da und blickte auf Lindens Waffe, die sie mit beiden Händen festhielt. »Es tut mir leid«, sagte Telzey. »Ich wußte es bis jetzt selber nicht.« Gaziel schob langsam die Waffe wieder hinter ihren Gürtel und hob den Kopf. »Ich bin nichts«, sagte sie. Ihr Gesicht war ganz grau. »Eine Kopie. Ein Drahtkopf.« »Du bist ich«, sagte Telzey und blickte sie fest an. Gaziel schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht du. Hast du gespürt, wie ich soeben diesen Befehl bekommen habe?« Telzey nickte. »Ti versucht dich mit dem Computer zu steuern. Du solltest mich überwältigen, wenn nötig mit der Waffe, und mich und Lindens Wagen wieder zum Haupteingang zurückschaffen.« »Und ich hätte es getan!« sagte Gaziel. »Ich wollte gerade die Pistole auf dich richten. Du hast den Befehl widerrufen – « »Ich habe den Computerkontakt unterbrochen.« Gaziel atmete tief. »Du hast also deine Psi-Fähigkeiten zurückgewonnen«, sagte sie. »Wie kam das?« »Linden hat versucht, mich zu sondieren. Mehrmals. Seit gestern. Und dabei hat er einige Kanäle geöffnet, die verstopft waren. Den Rest habe ich vor etwa einer Stunde freigemacht.« Gaziel nickte. »Und du hast ihn unter Gedankenkontrolle genommen, nachdem du ihn niedergeschlagen hattest. Wie ist die Lage jetzt?«
Telzey sagte: »Ti hat nachgesehen. Er hatte selbst einen Schlüssel für die Folterkammer. Ich habe Linden geweckt und ihn veranlaßt, daß er Ti eine kleine Geschichte erzählt. Wir hätten Linden mit Pistolen bedroht und ihm sein Funkgerät weggenommen, ehe wir ihn niederschlugen. Wir würden beabsichtigen, eine Stelle im Wald zu finden, wo wir uns in seinem Wagen verstecken und um Hilfe rufen können. Jetzt nehmen sie unsere Verfolgung auf – mit den übrigen elf gepanzerten Fahrzeugen – für den Fall, daß der Befehl, den Ti dir gerade übermittelt hat, uns nicht zurückbringt.« Gaziel starrte sie an. Ihr Gesicht war kaltweiß. »Fährt Ti auch mit?« »Ja. Linden begleitet ihn. Sie brechen gerade auf. Ich habe natürlich immer noch meine Fühler in Lindens Gehirn und weiß jetzt, wie man zu den Flugwagen gelangt. Aber sie haben an wichtigen Punkten im Gebäude Posten aufgestellt. Es wird einige Zeit dauern, bis wir uns hinschleichen können, und wenn man uns sieht, könnte Ti mit seinen Patrouillen zurückkommen, um uns aufzuhalten. Also müssen wir erst dafür sorgen, daß sie nicht zurückkommen können.« Und dann fügte sie hinzu: »Da sind sie.« Ein Bodenwagen bog um die Ecke des Gebäudes. Andere folgten in Abständen von fünfzig Metern. Sie fuhren auf den Wald zu und verschwanden hinter den Bäumen. »Ti und Linden sind in Wagen 5 und 6«, sagte Telzey. »Jetzt können wir hinunterklettern.« Sie sah Gaziel an. »Du kommst doch mit, oder?« »Oh, natürlich komme ich mit«, sagte Gaziel, »ich helfe dir. Ich möchte, daß alles das ein Ende hat!«
Telzey legte den letzten Schalthebel um, schob sich das Haar aus dem Gesicht und sah Gaziel an. Ein tiefes Summen füllte den Regieraum. »Wir sind soweit«, sagte sie. »Irgendeine Reaktion von den Geistwesen?« fragte Gaziel. Telzey biß sich nachdenklich auf die Unterlippe. »Nun, gegenwärtig sind sie natürlich«, sagte sie. »Rings um uns. Ich spüre sie. Wie eine Armee. Gespenstisch! Aber ich glaube, daß sie uns nur beobachten. Sie haben bis jetzt noch nicht versucht, sich einzumischen, also werden sie uns auch nicht stören. Schließlich wollen wir ja von hier weg. Das wollten die doch auch. Und sie scheinen zu begreifen, daß wir das fest vorhaben.« Sie überlegte. »Nicht daß ich sie in Versuchung führen möchte, indem ich eine Bühne betrete! Aber das wird auch nicht nötig sein!« »Was hast du denn gemacht?« fragte Gaziel. »Ich habe das nicht begriffen.« »Ich auch nicht«, sagte Telzey. »Linden hat es gemacht. Ich habe sozusagen selbst zugesehen, wie ich reagierte.« Sie bewegte ihre Finger und sah sie an. »Tis Waldungeheuer haben die Fahrzeuge vom Tor abgeschnitten und treiben sie jetzt zur Festung. Einer der Wagen – nun, sie haben ihn erwischt. Ti und Linden sind bereits in der Festung. Ti hat versucht, mit dem Hauptgebäude Verbindung aufzunehmen, aber das geht nur über den Computer, und deshalb hat man ihn blockiert. Er weiß natürlich, daß der Computer das macht, und hat versucht, ihn auszuschalten.« »Aber die Schaltanlage des Computers funktioniert nicht mehr.« »Richtig. Das war das erste, was ich tat«, sagte Telzey, »Sie brauchen jetzt mindestens zweiunddreißig Minuten, um die Waldungeheuer von der Festung aus unschädlich zu machen.« »Und das ist ausreichend Zeit für uns, um zu den Flugwagen zu kommen?«
»Es sollte reichen. Aber wir haben noch mehr Zeit. Der erste Wagen, der aus dem Wald kommt und durch das Tor hereinfährt, wird eine von Tis Martriaufführungen auslösen – den dritten Akt von ›Armageddon 5‹ – so ähnlich heißt der Titel –, und Bühne ist das ganze Grundstück, abgesehen vom Gebäudekomplex. Ti kommt nicht bis hierher durch, bevor der dritte Akt zu Ende ist – und der dauert über eine Stunde. Wir wollen ihn natürlich so lange wie möglich aufhalten – « Plötzlich zuckte sie zusammen, verstummte einen Augenblick und schüttelte den Kopf. »Linden ist eben gestorben. Ti hat ihn erschossen. Er muß erkannt haben, daß ich Linden unter Gedankenkontrolle hatte. Aber das ändert jetzt nichts mehr.« Sie stand auf. »Komm! Wir müssen vorsichtig sein. Ich weiß, wo die Posten stehen. Aber es ist besser, wenn wir keinem über den Weg laufen.« Sie brauchten achtzehn Minuten, um ungesehen das Gebäude zu durchqueren und den Fahrzeugpark zu erreichen. Mehrere Lieferfahrzeuge standen dort – und vier kleine Flugwagen. Sie bestiegen einen der Wagen. Das Dach der Halle öffnete sich, als Telzey den Wagen startete. Durch das Fenster des Wagens zielten sie mit Lindens Pistolen auf die Antriebsaggregate des nächsten Lieferfahrzeuges. Nach wenigen Sekunden explodierte dieses. Alle Fahrzeuge waren schlagartig in Flammen gehüllt. Eine Kettenreaktion raste durch den ganzen Fahrzeugpark. Sie schlossen das Fenster und stiegen höher. Niemand würde ihnen von Tis Insel folgen. Das Energiefeld wurde durchlässig, als sie näherkamen, und schloß sich wieder hinter ihnen. Der Wagen raste über die von der Sonne bestrahlte Wasseroberfläche auf den südlichen Kontinent zu. Gaziel seufzte und legte ihre Pistole neben sich auf den Sitz.
»Ich habe gerade mit dem Gedanken gespielt«, sagte sie, »dich niederzuschießen und aus dem Wagen zu werfen. Dann wäre ich Telzey Amberdon gewesen.« Telzey nickte. »Das habe ich mir gedacht«, sagte sie. »Ich hätte mir das gleiche überlegt. Aber ich wußte, daß du es nicht tun würdest, weil ich es nämlich auch nicht getan hätte.« »Nein«, sagte Gaziel, »nur eine von uns kann das Original sein. Dafür kannst du nichts.« Sie lächelte müde. Es war das erstemal seit einer Stunde, daß sie lächelte. »Sterbe ich jetzt, Telzey?« »Nein, du wirst jetzt schlafen, mein anderes Ich. Sträube dich nicht dagegen.«
Etwa sechs Wochen später saß Telzey an einem kleinen Tisch im Raum-Terminal von Orado City und dachte über einiges nach, was sie vor ein paar Stunden erfahren hatte. Es kam gelegentlich vor, daß irgendein prominenter Bürger der Föderation nicht gerade verschwand, aber langsam unbedeutend wurde. Man hörte dann gelegentlich, daß er auf Reisen sei, daß man ihn an diesem oder jenem Ort gesehen habe und schließlich, daß er sich irgendwohin zurückgezogen hätte. Und niemand wußte dann genau, wo das war. Inzwischen gingen seine Besitztümer langsam in andere Hände über, sein Name wurde nicht mehr so häufig erwähnt, und am Ende schienen sogar persönliche Bekannte zu vergessen, daß er jemals existiert hatte. So würde es auch mit Wakote Ti sein. Er hatte verlangt, daß man ihm den Prozeß mache. Jetzt, da man ihm sein schönes Spielzeug weggenommen und seinen uneingeschränkten Forschungsprojekten ein Ende gemacht hatte, war er der Ansicht, daß man wenigstens die Welt mit seinem Genie vertraut machen müsse. Aber der psychologische Dienst der
Föderation hatte anders entschieden. Die Welt würde nichts erfahren, und Ti würde in Vergessenheit geraten. Aber er würde aktiv bleiben; der psychologische Dienst hatte immer Verwendung für Genies. »Und was ist mit seinen Erfindungen?« hatte Telzey ihren Bekannten beim psychologischen Dienst, Klayung, gefragt. »Er war doch viel weiter mit seinen Entwicklungen als alle anderen.« »Nach unserem besten Wissen«, hatte Klayung gesagt, »war er in der Tat sehr weit vorangekommen.« »Und das wird jetzt alles unterdrückt?« »Nicht für immer. Seine Theorien werden sorgfältig aufgezeichnet. Aber sie werden noch eine ganze Weile nicht ausgewertet. Bei manchen Spielzeugen ist es ratsam, wenn man sie für klügere Kinder aufbewahrt, als im Augenblick damit spielen konnten.« In den Akten stand, daß Ti eine Insel aus seinem Privatbesitz der Regierung übereignet hatte. Man würde dort eine Universität errichten. Und die vorher nur als Illusion vorhanden gewesenen Bankkonten seiner unschuldigen Angestellten waren plötzlich Wirklichkeit geworden. Und die weniger unschuldigen Angestellten wurden rehabilitiert. Seine Puppen und die Martrigeräte waren verschwunden.
Telzey sah ein Mädchen im grauen Kostüm eintreten. Sie schickte ihr einen Gedanken entgegen. »Hier bin ich!« Sofort kam die Reaktion. Das Mädchen trat auf den Tisch zu und nahm Telzey gegenüber Platz. »Du bist jetzt größer als ich, nicht wahr?« fragte Telzey. Gaziel lächelte. »Beinahe zwei Zentimeter.«
Größer, schlanker. Ihre Wangenknochen traten stärker hervor, auch die Stimme hatte sich verändert. »Man hat mir gesagt, daß ich mich noch ein gutes Jahr lang ändern werde, bis ich so bin, wie ich sein möchte«, sagte Gaziel. »Auch dann werden wir uns noch ziemlich ähnlich sehen. Aber niemand mehr wird mich für deinen Zwilling halten.« Sie musterte Telzey ernst. »Zuerst dachte ich, ich wollte dich gar nicht sehen, aber jetzt bin ich froh, daß ich dich gebeten habe, hier mit mir zusammenzutreffen.« »Ich auch«, lächelte Telzey. »Ich bin genauso ein Psi wie du geworden«, sagte Gaziel. »Ti hat da richtig vermutet.« Sie lächelte kurz. »Sogar der Dienst ist darüber überrascht.« »Ich wußte das, noch bevor wir die Insel verließen«, sagte Telzey. »Du hattest die gleichen Fähigkeiten wie ich. Sie waren bloß noch nicht aktiviert worden.« »Warum hast du mir das nicht gesagt?« »Ich habe nicht gewagt, selbst etwas zu unternehmen. Ich schaffte dich nur so schnell wie möglich zum Dienst.« Gaziel nickte. »Ich war damals ziemlich fertig, nicht wahr? Ich kann mich noch gut erinnern. Hat man dir gesagt, wie es mir ergangen ist?« »Nein, die haben bloß gesagt, du würdest es mir selbst erzählen, wenn du es für richtig hieltest.« »Aha.« Gaziel schwieg eine Weile. »Nun, ich will es dir erzählen. Was ich damals empfand, war nicht vernünftig. Ich haßte dich. Für mich warst du ein Scheusal, das mich verdrängt hatte, das mir meine Familie, meine Freunde, mein Leben genommen hatte. Das hielt sogar noch an, nachdem sie mir die Puppenkontakte aus dem Gehirn herausoperiert hatten. Ich konnte mir einfach nicht erklären, weshalb Ti sie bei mir angebracht hatte, wo ich doch die echte Telzey war.« Sie lächelte. »Wir sind recht erfinderisch, nicht wahr?«
»Ja, das sind wir«, nickte Telzey. »Schließlich kam ich darüber hinweg. Ich wußte, daß ich nicht Telzey war und auch nie gewesen war. Ich war Gaziel, das Produkt von Wakote Tis Experiment. Und dann kam noch einmal eine Versuchung. Dieses Angebot. Ich konnte Gaziel Amberdon werden, Telzeys eineiiger Zwilling, soeben in Orado eingetroffen – konnte in ein fertiges, maßgeschneidertes Leben hineintreten – eine maßgeschneiderte Lüge. Alles wäre ganz einfach für mich gewesen. Das war ein grausames Angebot, das du mir gemacht hast.« »Ja, es war grausam«, sagte Telzey. »Du mußtest eine Chance haben, um dich selbst zu entscheiden, wie du es haben wolltest.« »Du wußtest, daß ich ablehnen würde?« »Ja, das wußte ich. Du wärest eine Kopie geblieben, selbst wenn kein anderer es geahnt hätte.« Gaziel nickte. »Jetzt bin ich dir für das Angebot dankbar. Es hat mir geholfen, die richtige Entscheidung zu treffen, eine Gaziel zu werden, die nur ich selbst war, nicht die Kopie von jemand anderem.« »Ich hoffe«, meinte Telzey, »daß das nicht das letzte Mal ist, daß wir uns treffen.« »Wenn ich mich ganz von Telzey frei gemacht habe und ein eigener Mensch bin, werde ich dich wiedersehen wollen«, sagte Gaziel. »Ich werde dich besuchen.« Sie musterte Telzey eine Weile und lächelte. »In drei oder vier Jahren, glaube ich.« »Und was wirst du tun?« »Eine Weile werde ich für den Dienst arbeiten. Nicht für immer. Und was später kommt, werde ich sehen. Wußtest du, daß Ti mir eine Erbschaft hinterlassen hat?« »Eine Erbschaft?« »Er ist natürlich nicht tot. Ich habe meine Erbschaft vorzeitig angenommen. Ich habe deine juristischen Kenntnisse
eingesetzt und festgestellt, daß ich eine Forderung gegenüber Ti hatte. Es war ziemlich viel Geld, aber er hat sich nicht sonderlich gesträubt. Ich glaube, daß ich ihm Angst einflöße. Er ist mit den Nerven ziemlich herunter.« »Weshalb?« fragte Telzey. »Nun, der Martricomputer auf der Insel ist natürlich abgeschaltet. Der Dienst ist der Meinung, daß er im Augenblick viel zu gefährlich wäre. Aber Ti beklagt sich, daß Challis immer noch gelegentlich auftaucht. Ich weiß nicht – außer ihm hat sie bis jetzt noch keiner gesehen. Wie es scheint, hat er den tödlichen Unfall selber arrangiert, bei dem die echte Challis ums Leben gekommen ist.« Gaziel sah auf die Uhr. Sie stand auf. »Zeit, an Bord zu gehen. Leb wohl Telzey.« »Leb wohl«, sagte Telzey und blickte Gaziel nach. Klayung, der sonst nicht bereit war, über Gaziel zu sprechen, hatte nachdenklich gesagt: »Wenn sie einmal zu sich selbst gefunden hat, wird sie ein hochinteressanter Mensch sein.« Gaziel blieb plötzlich stehen und sah sich um. »Der arme alte Ti«, sagte sie und lachte. »Eigentlich hatte er keine Chance, oder?« »Nicht gegen zwei von unserer Sorte«, sagte Telzey. »Egal, was er sich noch hätte ausdenken können, irgendwie wären wir immer mit ihm fertig geworden.«
Originaltitel: THE TELZEY TOY. Copyright © 1971 by The Conde Nast Publications Inc. Aus ANALOG SCIENCE FICTION Januar 1971. Übersetzt von Heinz Nagel.
H. Beam Piper BESCHRÄNKT ZURECHNUNGSFÄHIG
Es gab im Jahre 1988 immer noch Menschen, die vor dem Atomkraftwerk Angst hatten. Die Alten nämlich, für die der Begriff Atomenergie immer noch aufs engste mit dem Namen Hiroshima verbunden war. Und diejenigen, die in der weithin sichtbaren Dampfsäule über der Anlage ein einladendes Ziel für die Bomben und Raketen des Feindes sahen. Auch einige Leute beim Geheimdienst und beim FBI, die sich darüber im klaren waren, wie wenig doch die ausgefeiltesten und modernsten Sicherheitsmaßnahmen vor einem raffinierten und zu allem entschlossenen Saboteur schützen konnten. Und ein kleiner Kreis von Technikern und Wissenschaftlern, die durch nichts davon zu überzeugen waren, daß eine Katastrophe durch das Durchgehen eines solchen Atommeilers völlig ausgeschlossen war. Zu diesen Pessimisten gehörte Scott Melroy. Er wußte zum Beispiel, daß es im Atomkraftwerk auf Long Island einige Fälle von Fast-Katastrophen gegeben hatte, die absichtlich geheimgehalten wurden und die alle mit dem neuen Doernberg-Giardano-Brüter zusammenhingen. Es war ihm bekannt, daß es beträchtliche, sorgfältig vertuschte Streitigkeiten an oberster Stelle gegeben hatte, ehe die Melroy Instruments Corporation den Auftrag erhalten hatte, ein vollautomatisches, computergesteuertes Kontrollsystem einzubauen, mit dessen Hilfe man solche Vorfälle in Zukunft ausschalten wollte. Das war vor etwa drei Monaten gewesen.
Melroy und seine Leute waren hier eingetroffen, waren in mehrere Arbeitsgruppen eingeteilt worden, hatten eine Montageabteilung eingerichtet, zahlreiche kleine Büros in einem leerstehenden Lagerhaus außerhalb der eigentlichen Reaktoranlage bezogen und zu arbeiten begonnen. Allerdings hatte die Arbeit zunächst unter schier endlosen Diskussionen und Konferenzen mit den Gewerkschaften und juristischem Gerangel gelitten. Erst jetzt waren sie so weit, daß sie mit ihrer Arbeit an dem Reaktor wirklich beginnen konnten. Melroy saß an seinem Schreibtisch in einem der Büros im ersten Stock des ehemaligen Lagerhauses, überprüfte gerade den Schaltplan einer Relaisanlage und spitzte gleichzeitig mit dem Taschenmesser seinen Bleistift. Er war groß, hager, von unbestimmbarem Alter, hatte schütter gewordenes, dunkelblondes Haar und einen breiten Mund. Er trug ein Hemd mit offenem Kragen und eine alte, schäbige Lederjacke. Während seine Hände mit Taschenmesser und Bleistift beschäftigt waren und sein Blick über das eng mit Linien und Symbolen bedeckte Blatt wanderte, überdachte er noch einmal die acht verschiedenen Möglichkeiten, die bewirken konnten, daß der hochleistungsfähige, aber auch äußerst gefährliche Doernberg-Giardano-Reaktor die kritische Masse erreichte, und er fragte sich, ob es nicht vielleicht doch eine unvorhersehbare neunte Gefahrenquelle dieser Art gab. Das war die große Angst, die in seinem Unterbewußtsein herumspukte und die ihm in letzter Zeit immer häufiger surrealistische Alpträume bereitet hatte. »Mr. Melroy!« tönte es aus der Sprechanlage auf seinem Schreibtisch, und eine weibliche Stimme fuhr fort: »Mr. Melroy, Dr. Rives ist eingetroffen.« Melroy drückte auf die Gegensprechtaste. »Dr. Rives?« wiederholte er. »Ersatz für Dr. von Heydenreich, den Psychologen.«
»Ah ja – herein mit ihm.« »Sofort, Mr. Melroy«, sagte die Sekretärin. Melroy ließ die Taste los und wunderte sich einen Augenblick lang über den seltsamen, fast ironischen Ton, den er in der Stimme seiner Sekretärin bemerkt zu haben glaubte. Dann öffnete sich die Tür – und er brauchte sich nicht mehr zu wundern: Dr. Rives war eine Frau. Eine sehr attraktive Frau, mit dunklem Haar, braunen Augen, einem ovalen, zart sonnengebräunten Gesicht und einem schönen Mund, auf dem der Lippenstift mit solcher Präzision aufgetragen war, daß er den Beifall eines jeden technischen Zeichners gefunden hätte. Sie war ziemlich groß, etwa einen Meter siebzig, und trug ein maßgeschneidertes dunkles graues Kostüm von konservativem Schnitt. Billig war es bestimmt nicht gewesen. Es hätte wegen seines konservativen Schnitts ein wenig zu ernst und altjüngferlich gewirkt, wenn da nicht die weiblichen Rundungen genau an den richtigen Stellen gewesen wären, und an Rundungen mangelte es der Frau Doktor wirklich nicht. Melroy stand auf, legte Messer und Bleistift weg und nahm die Pfeife aus dem Mund. »Guten Tag«, sagte er. »Dr. von Heydenreich hat mir eine ausgezeichnete, ausführliche Beschreibung Ihrer Fähigkeiten gegeben. Er hätte allerdings ein paar Einzelheiten hinzufügen sollen, damit sich das Bild – Aber wollen Sie sich nicht setzen?« Die Frau legte ihre Handtasche auf den Schreibtisch, setzte sich auf den Besucherstuhl und musterte Melroy mit leicht spöttischem Blick. »Er hat vielleicht in seinem Bericht vergessen zu erwähnen, daß das D. vor meinem Namen die Abkürzung von Doris ist«, sagte sie.
»Das soll mir in Zukunft eine Lehre sein«, versprach er. »Folgerungen darf man nur nach Prüfung der Objekte selbst oder ihrer genauen Beschreibungen ziehen, aber keinesfalls vom Etikett ableiten, das sie tragen. Kürzen Sie Ihren Vornamen eigentlich nur deshalb ab, weil es Sie reizt, zu sehen, wie die Leute reagieren, wenn sie erfahren, daß Sie eine Frau sind?« »Nun, das nicht gerade, obgleich es sehr amüsant und manchmal auch außerordentlich lehrreich ist. Ich habe damit angefangen, als ich für einige Fachzeitschriften zu schreiben begann. Es gibt unter meinen Kollegen immer noch das, was man einen gewissen männlichen Sex-Chauvinismus nennen könnte, und derselbe Leser, der höchst beeindruckt von einem Artikel wäre, als dessen Verfasser ein D. Warren Rives zeichnet, würde den gleichen Text mit abfälligem Schnauben beiseite legen, wäre als Verfasserin Doris Rives angegeben.« »Nun, glücklicherweise gehört Dr. von Heydenreich nicht zu dieser Sorte Menschen«, sagte Melroy. »Wie geht es dem Doktor übrigens – und was ist ihm eigentlich zugestoßen? Miss Kourtakides hat mir lediglich berichtet, er sei verletzt und läge in Pittsburgh im Krankenhaus.« »Der Doktor ist angeschossen worden«, berichtete Doris Rives. »Mit einer Ladung Schrot, und zwar in einen höchst undelikaten Körperteil. Er war am letzten Tag der NiederwildSaison auf der Jagd, und irgend so ein Trottel hat ihn wohl mit einem Truthahn verwechselt. Nichts Ernstes, aber er liegt mit dem Gesicht nach unten im Bett und flucht wie ein Wilder auf deutsch, englisch, russisch, italienisch, französisch und noch ein paar Sprachen, weil er nun die Rotwildjagd verpaßt.« »Da sieht man es wieder«, sagte Melroy. »Es gibt immer wieder Menschen, die einfach zu dumm sind, um mit gefährlichem Gerät richtig umzugehen – Ich nehme an, Dr.
von Heydenreich hat Sie darüber informiert, welche Aufgaben Sie hier vorfinden werden.« »Nun, nicht allzu ausführlich. Ich habe es so verstanden, daß ich Intelligenztests irgendwelcher Art bei einigen Ihrer Mitarbeiter durchführen soll. Ich habe eigentlich mit der Industrie kaum etwas zu tun gehabt«, erklärte sie. »In den letzten Jahren habe ich größtenteils im Auftrag karitativer Organisationen mit geistig zurückgebliebenen Menschen gearbeitet. Ich habe dem Doktor das gesagt, aber er meinte, eben deshalb habe er mich ausgewählt. Und dann hat er noch etwas gesagt. Er sagte: ›Ich habe bisher immer geglaubt, Melroys Angst, von lauter Idioten umgeben zu sein, sei pathologischer Art, aber nach diesem Jagdunfall fange ich an zu glauben, daß seine Angst gar nicht pathologisch, sondern sehr begründet ist.‹« Melroy nickte. »Angst möchte ich es noch nicht einmal nennen, schon lieber Wahn! Ich habe in der Tat wahnsinnige Angst vor Idioten, Stümpern und Dummköpfen, und die Möglichkeit, daß einer hier für mich arbeiten könnte, beunruhigt mich genau so, als würde nachts eine Kobra in mein Bett kriechen. Ich möchte, daß Sie aus dem Team, das ich eingestellt habe, alle Idioten herauspicken, damit ich sie auf der Stelle feuern kann.« »Und wie, Mr. Melroy, würden Sie den etwas vagen Begriff Idiot definieren?« fragte sie. »Sie wissen sicher, daß er nicht scharf umrissen ist. Die Republikaner nennen die Demokraten so, und umgekehrt genauso.« »Nun, ich nenne einen Menschen einen Idioten, wenn er Dinge tut, ohne vorher die möglichen Konsequenzen zu überdenken. Zum Beispiel jemanden, der einem sehr geachteten österreichischen Wissenschaftler eine Ladung Schrot in den Allerwertesten jagt, um nur ein einfaches Beispiel zu nennen. Oder Menschen, die auf irgendwelche
Knöpfe drücken, weil sie wissen wollen, was passiert, oder die an Ventilen oder Skalen herumspielen, weil sie nicht wissen, was sie mit ihren Händen anfangen sollen. Oder die Isolatoren von Hochspannungsleitungen herunterschießen, nur weil sie feststellen wollen, ob sie sie auch treffen können. Menschen, die nicht wissen, was Gefahr ist. Leute, die Verkehrszeichen und Warnschilder als lästig empfinden. Leute, die anderen gerne einen Streich spielen. Menschen, die – « »Ich weiß, was Sie meinen. Erst vorgestern habe ich gesehen, wie eine Frau aus purem Blödsinn ihren Cocktail in einen elektrischen Heizlüfter kippte. Sie wollte ihn nicht mehr trinken und nahm wahrscheinlich an, er würde sich in Dampf auflösen. Das Ergebnis kann man durchaus als spektakulär bezeichnen.« »Das nächste Mal wird sie das wohl nicht mehr tun. Nun, rein statistisch betrachtet möchte ich meinen, daß ich in meinem Team hier etwa drei oder vier solcher Typen habe. Sie sollen sie mir zeigen, damit ich sie feuern kann, ehe die ganze Anlage wegen ihrer Dämlichkeit in die Luft fliegt, was ganz leicht passieren könnte.« »Das«, sagte Doris Rives, »ist nicht so einfach, wie es sich daher sagt. Ein normaler Intelligenztest wird da nicht ausreichen. Die Frau mit dem Cocktail, von der ich gesprochen habe, hatte einen durchaus normalen Intelligenzquotienten. Sie hat nur keinen Gebrauch davon gemacht.« »Sicher«, sagte Melroy. Er holte einen dicken Aktenhefter aus seiner Schreibtischschublade und reichte ihn ihr. »Dr. von Heydenreich hat auch daran gedacht. Er hat vor etwa fünf Jahren diese Aufzeichnungen für mich besorgt. Der Intelligenztest basiert auf dem neuen Test der französischen Sûreté für geistig zurückgebliebene Kriminelle. Dann ist da ein Gedächtnistest, ein Test des Beurteilungsvermögens, des Unterscheidungsvermögens, der Reaktion, des Temperaments,
des emotionellen Zustandes und der allgemeinen Geisteshaltung.« Sie nahm den Hefter und blätterte ihn durch. »Ja, ich sehe schon. Den Sûreté-Test kenne ich. Hübsch ist auch dieser Gedächtnistest. Ich werde mir eine Kopie von dieser WortAssoziationen-Liste machen. Es ist wirklich ein ausgezeichneter Test. Korzybski hätte bestimmt seine Freude daran. Und da ist ja auch unser alter Freund, der RorschachTest. Ich habe immer den leisen Verdacht gehabt, daß man damit so ziemlich alles beweisen kann, was man möchte. Aber diese Fragen für das persönliche Interview sind wirklich raffiniert ausgetüftelt. Hat Heydenreich sie selbst zusammengestellt?« »Ja. Und wir haben ausreichende Mengen von Formularen für den schriftlichen Teil und umfassende Statistiken für die Auswertung. Außerdem stehen Aufzeichnungsgeräte für den mündlichen Test zur Verfügung. Wir müssen von jedem einzelnen Test ziemlich vollständige Unterlagen zur Verfügung haben für den Fall, daß – « Die Tür des Büros öffnete sich, und ein bulliger Mann mit einem schwarzen Schnurrbart trat ein. Er klopfte sich mit dem zerknautschten Hut den Schnee vom Mantel und machte ein paar unfeine Bemerkungen über das Wetter. Dann ging er weiter in den Raum hinein, sah die Frau neben dem Schreibtisch sitzen und wandte sich wieder zum Gehen. »Bleib ruhig, Sid«, sagte Melroy. »Dr. Rives, dies ist mein Stellvertreter, Sid Keating. Sid, Frau Doktor Rives ist der neue Idioten-Detektor. Sid ist auch für Personalfragen zuständig«, fuhr er fort. »Sie beide werden also eine ganze Weile zusammenarbeiten.« »Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Frau Doktor«, sagte Keating. Dann wandte er sich an Melroy. »Scott, willst du das
wirklich durchführen?« fragte er. »Ich fürchte, wir werden Schwierigkeiten bekommen.« »Überleg doch, Sid«, erwiderte Melroy. »Wir haben das alles schon mehrmals durchgekaut. Wenn wir erst an den Reaktoren arbeiten, könnt ihr – du, Ned Puryear, Joe Ricci und Steve Chalmers – nicht überall gleichzeitig sein. Ein kybernetisches System kann nur das tun, wozu es konstruiert worden ist, und wenn irgendein Blödmann irgend etwas falsch einbaut – « Er ließ den Satz unvollendet. Beide Männer wußten, was gemeint war. Keating schüttelte den Kopf. »Die Gewerkschaft wird Sturm laufen, wenn sie von den Tests hören«, prophezeite er. »Und wenn einer von den Herren Monteuren hinausgeworfen wird – « Auch dieser Satz brauchte nicht vollendet zu werden. »Wir haben das Recht«, sagte Melroy, »jeden Arbeiter zu entlassen, der, ich zitiere, nicht völlig geistig gesund, nicht ausreichend intelligent oder emotionell labil ist. Ende des Zitats. Das steht in unserem Tarifvertrag mit der Gewerkschaft.« »Dann werden sie eben behaupten, die Tests seien nicht in Ordnung gewesen.« »Ich glaube nicht, daß sie das werden beweisen können«, warf Doris Rives leicht indigniert ein. »Ich auch nicht, und vielleicht auch die nicht«, sagte Keating. »Aber sie werden es trotzdem tun. Also, Scott, heute abend werden sie den Doernsberg-Giardano Nummer eins abschalten. Bis acht Uhr wird er kalt genug sein, um daran arbeiten zu können. Wo sollen die Tests stattfinden? Hier?« »Das werden wir wohl müssen, es sei denn, wir bekommen die Erlaubnis vom Werkschutz, daß Dr. Rives das Reaktorgelände betreten darf.« Melroy wandte sich an sie. »Haben Sie sich schon jemals einer Überprüfung durch irgendeine Behörde unterwerfen müssen?«
»O ja, ich war 1982 und 1983 bei der psychiatrischen Abteilung der Heeresgruppe im Pazifik, und ich habe auch an einigen Projekten des Research Establishment im Jahre 1984 mitgearbeitet.« Melroy musterte sie scharf. Keating pfiff leise durch die Zähne. »Wenn sie da mitmachen durfte, wird man auch hier nichts gegen sie haben«, erklärte er. »Sollte man annehmen. Ich werde Colonel Bradshaw, den für Sicherheitsfragen zuständigen Offizier, anrufen.« »Auf diese Weise werden wir unsere Leute praktisch bei der Arbeit testen können«, sagte Keating. »Ich werde mit Ben darüber reden. Wir stellen einen Zeitplan auf.« Er wandte sich an Doris Rives. »Sie werden einen Armbandgeiger und ein Dosimeter brauchen. Ich werde Ihnen die Sachen besorgen. Hoffentlich bestehen Sie nicht darauf, auch eine Pistole zu tragen.« »Eine Pistole?« Einen Augenblick lang mußte sie geglaubt haben, es handle sich um irgendeinen technischen Ausdruck, aber dann dämmerte es ihr, daß dem nicht so war. »Sie meinen – ?« Sie machte mit Daumen und Zeigefinger die Bewegungen des Schießens. »Ja. Eine Kanone. Ein Ballermann. Eine Puste. Müssen wir alle tragen.« Er zog die Waffe halb aus der Hosentasche. »Wir sind nämlich alle vereidigte Beamte der Regierung mit Sondervollmachten. Bei Sabotageverdacht wird nämlich nicht lange gefackelt. Na, ich will sehen, daß ich die Anweisungen noch geschrieben und ans Schwarze Brett angeschlagen bekomme. Wir sehen uns später, Doktor.« »Glauben Sie, die Gewerkschaft wird wegen der Tests wirklich Schwierigkeiten machen?« fragte sie, als Keating gegangen war.
»Ganz sicher«, erwiderte Melroy. »Aus folgendem Grund: Ich habe etwa fünfzig meiner eigenen Leute aus Pittsburgh mitgebracht, aber ich kann sie nicht an den Reaktoren einsetzen, weil sie nicht Mitglieder der Gewerkschaft der Atomfacharbeiter sind. Und ich kann sie nicht einfach in die Gewerkschaft einschreiben lassen, weil diese Gewerkschaft Neuaufnahmen nur einmal im Jahr zuläßt und weil wir Dezember haben und die Aufnahmequote erschöpft ist. Also darf ich sie nur außerhalb des Reaktorgeländes einsetzen. Ich muß Gewerkschaftsmitglieder einstellen, die von der Gewerkschaft aufgrund ihrer Zugehörigkeitsdauer zu diesem Verein ausgewählt und mir zugeteilt werden. Das sind die Tatsachen, vor die man mich gestellt hat. Und deshalb habe ich darauf bestanden, daß der besagte Absatz, den ich vorhin zitiert habe, in den Tarifvertrag aufgenommen wurde. Jetzt wird also folgendes passieren. Die meisten der Männer werden den Test ohne Protest über sich ergehen lassen. Ein paar von ihnen werden sich jedoch dagegen auflehnen. Nichts bringt einen Idioten mehr aus der Fassung, als wenn jemand seine nicht ausreichende Intelligenz auf die Probe stellen will. Es wird höchstwahrscheinlich so kommen, daß diejenigen, die am lautesten gegen die Tests protestieren, auch diejenigen sind, die hinterher gefeuert werden, wenn der Test beweist, daß sie ein untragbares Sicherheitsrisiko darstellen, was sie natürlich nicht glauben wollen. Ein solcher Mensch glaubt von sich, daß er außerordentlich intelligent ist, genau wie ein Verrückter, der sich für völlig normal hält. Sie werden also behaupten, diese Untersuchungen seien nur ein Vorwand, um sie auf die einfache Tour hinauswerfen zu können. Und die Gewerkschaft wird sich, ganz gleich ob die paar Leute recht haben oder nicht, hinter sie stellen, zumindest im lokalen Bereich. Das steht außer Frage. Bei jedem Streit hat einfach der Arbeitgeber absolut unrecht, und der Arbeiter ist im Recht,
solange man das Gegenteil nicht beweisen kann. Und das ist verdammt schwierig, glauben Sie mir!« »Nun, wenn die Leute von der Gewerkschaft kommen, von ihr sogar ausgewählt wurden, aufgrund ihrer Zugehörigkeit, sollte man dann nicht annehmen, daß es sich um sehr erfahrene und zuverlässige Arbeiter handelt?« fragte sie. »Erfahren, ja. Das heißt, keiner von ihnen ist dabei erwischt worden, daß er irgendeine Katastrophe ausgelöst hat – bis jetzt«, gab Melroy zu bedenken. »Der Mann, vor dem ich Angst habe, kann jahrelang unter Aufsicht einfache Arbeiten durchführen, und es wird nichts passieren. Dann, eines Tages, ergreift er irgendwann einmal selbst die Initiative, und wenn er das tut, dann kann man nur zu irgendwelchen Göttern beten, daß das Ergebnis nicht die totale Katastrophe ist. Solche Leute stellen in einer hochtechnisierten Welt die größte Gefahr dar, der sich unsere Zivilisation gegenübersieht, wobei ich einen Atomkrieg nicht ausnehme.« Dr. Doris Rives hob eine Augenbraue. Melroy, der eine Pause eingelegt hatte, während der er seine Pfeife wieder anzündete, lächelte sie an. »Glauben Sie, ich leide unter Verfolgungswahn?« fragte er. »Mag sein. Aber denken Sie einmal an dieses Kraftwerk hier. Es deckt den gesamten Bedarf an elektrischer Energie zwischen Trenton und Albany, einschließlich der Stadt und des Großraumes New York. Seit 1982, als das letzte mit Kohle betriebene Dampfkraftwerk stillgelegt wurde, ist es die einzige Energiequelle – mit Ausnahme von ein paar Dieselgeneratoren, die nicht einmal ein Zehntel des Energiebedarfs decken könnten. Wenn Sie diese Anlage stillegen, wird es schlagartig in jedem Haus, jedem Büro, jeder Straße in der ganzen Gegend dunkel. Die Aufzüge bleiben stecken. Überlegen Sie sich bloß, was das für die Menschen in den Hochhäusern bedeutet. Und die Untergrundbahnen. Und die neuen automatischen
Förderbandstraßen, die schon achtzig Prozent des gesamten Frachtverkehrsaufkommens der City bewältigen. Und die Eisenbahnen. Es gibt in der ganzen Gegend höchstens noch ein knappes Dutzend Diesellokomotiven. Und die Pumpstationen für Öl, Wasser, Treibstoff. Und siebzig Prozent aller Heizungen sind elektrisch. Sie können sich einfach nicht vorstellen, was das bedeuten würde. Die Auswirkungen wären furchtbar. Aber schon das, was man sich vorstellen kann, ist ein Alptraum. Wissen Sie, es ist noch gar nicht so lange her, da war man von elektrischer Energie noch nicht völlig abhängig. Man konnte – wenn auch nur für kurze Zeit – auf andere Energie ausweichen. Damals konnte ein Idiot keinen so großen Schaden anrichten, es sei denn, er saß auf einem Thron oder kommandierte eine Armee. Heute jedoch ist alles, von dem wir abhängen, zentralisiert und der Gefahr plötzlicher Zerstörung ausgesetzt. Selbst unsere Nahrung – erinnern Sie sich nur an die Geschichte mit der verseuchten Limonade in Chicago; dreitausend Menschen kamen ins Krankenhaus, sechshundert starben nach dem Genuß des Getränks, nur wegen eines einzigen Idioten in einer Flaschenabfüllerei.« Er bewegte sich, als versuche er einen dunklen Schatten abzuschütteln, der plötzlich über ihn gefallen war, und warf einen Blick auf die Armbanduhr. »Sechzehn Uhr. Wie sind Sie überhaupt hergekommen? Mit einer Privatmaschine?« »Nein, mit einem Linienjet der TWA. Ich habe mir ein Zimmer im neuen Midtown Hotel in der siebenundvierzigsten Straße genommen. Mein Gepäck habe ich gleich ins Hotel bringen lassen. Ich bin mit der Untergrundbahn vom Flughafen direkt hierhergekommen.« »Ausgezeichnet. Ich wohne ebenfalls im Midtown Hotel, obgleich ich die Hälfte der Zeit hier schlafe.« Er deutete mit dem Kopf auf eine Tür zu seiner Linken. »Ich schlage vor, wir
gehen jetzt zusammen essen. Die Kantine hier wird von einem Diätspezialisten statt von einem Koch betrieben, und alles ist so schrecklich antiseptisch und gesund, daß ich jedesmal, wenn ich hineingehe, schwören möchte, es riecht nach Apotheke. Warten Sie einen Augenblick, bis ich mich umgezogen habe.« In dem Kraftwerk auf Long Island fühlte man sich vor Spionagetätigkeit und Sabotage sicher. Weder der technische Prozeß noch das verwendete spaltbare Material waren geheim, und die Sicherheitsmaßnahmen waren außerordentlich gründlich. Jede Person, jedes Gramm Material wurden gründlich untersucht; die Lebensgeschichte jedes hier beschäftigten Menschen, ob männlich oder weiblich, war bekannt bis zurück in die Wiege. Draußen, um den Zaun herum, verlief eine breite Straße, auf der Tag und Nacht gepanzerte Fahrzeuge patrouillierten. Es gab etwa eintausend Soldaten und eine dreihundert Mann starke Werkspolizei, und Gott allein wußte, wie viele der hier Beschäftigten Agenten von FBI oder Geheimdienst waren. Jeder Vorarbeiter, Inspektor und leitende Techniker war vereidigter Beamter der Regierung der Vereinigten Staaten. Und niemand außerhalb des Verteidigungsministeriums wußte, wie viele Radarstationen, Abwehrraketenbasen und sonstige militärische Schutzvorrichtungen installiert waren; jedenfalls erstreckte sich die Luft-Verteidigungszone von Boston bis Philadelphia und bis hinein nach Pennsylvania. Das Long Island Atomkraftwerk, mußte Melroy oft denken, war so unverletzlich wie Achilles – aber auch so empfindlich. Die sechs neuen Doernberg-Giardano-Brüterreaktoren standen in einem engen Kreis innerhalb des massiven, fensterlosen Betonklotzes. In sicherer Entfernung außerhalb der Abschirmung befand sich in einer Ecke des unglaublich hohen Raumes das Büro mit den Steuerinstrumenten des Technikers der Melroy Instruments Corporation. Auf der
gegenüberliegenden Seite befanden sich die Waschräume, die Garderoben und ein Eßraum für die Arbeiter. Sechzig oder siebzig Männer, die meisten von ihnen in weißen Overalls mit Namensschildern an der Brust, Dosimetern um den Hals und Armbandgeigerzählern, standen vor der Anschlagtafel neben der Bürotür. Man hörte Stimmengemurmel – einige schienen verblüfft oder zornig, die meisten aber eher belustigt. Als Melroy und Doris Rives herankamen, verstummte die Unterhaltung, und die Männer wandten sich um. In der plötzlich eingetretenen Stille war nur eine rauhe, aufgeregte Stimme zu vernehmen: » – glauben die eigentlich, sich herausnehmen zu können? So was brauchen wir uns nicht gefallen zu lassen!« Irgend jemand mußte vergeblich versucht haben, den Sprecher zum Schweigen zu bringen; denn gleich darauf fuhr dieselbe Stimme fort, und Melroy erkannte als Sprecher einen gedrungenen Mann mit einem wütenden Gesicht, der aufgeregt mit den Armen fuchtelte. »Als ob wir ‘ne Bande von Blödmännern wären oder Idioten oder so was! Aber das brauchen wir uns nicht gefallen zu lassen! Die haben überhaupt kein Recht – « Doris Rives hielt sich an Melroys Arm fest, während er einen Weg für sie beide durch die Menge bahnte. Im Büro trafen sie einen jungen Mann an, der eine Plakette der Bundespolizei am Hemd und einen 38er Revolver an der Hüfte trug. »Ben Puryear; Dr. Rives«, stellte Melroy vor. »Wer ist denn der Schreihals draußen?« »Ein typischer Angeber«, antwortete Puryear. »Hat immer was zu meckern.« Melroy nickte. Einer oder zwei von der Sorte waren immer unter den Leuten. »Und wie reagieren die anderen?« fragte er. Puryear zuckte mit den Schultern. »Ungefähr so, wie man es erwarten sollte. Sie machen Witze und ziehen sich gegenseitig
damit auf, wer wohl genug Intelligenz besäße, daß man sie mit einem Test überhaupt feststellen könne. Burris scheint der einzige zu sein, der Theater macht.« »Und was hat es dann zu bedeuten, daß sie draußen auf dem Gang stehen?« wollte Melroy wissen. »Es ist schon nach acht Uhr; warum sind sie nicht an der Arbeit?« »Der Reaktor ist noch zu heiß. Sowohl die Temperatur als auch die radioaktive Strahlung sind zu hoch.« »Na schön, dann sollen sie schon alle mit dem schriftlichen Teil des Tests beginnen. Sobald sie damit fertig sind, leiten wir die Befragungen ein.« Er wandte sich an Doris Rives. »Können Sie allen die Unterlagen gleichzeitig geben?« fragte er. »Und kann Ben Ihnen dabei helfen und aufpassen, daß es keine Absprachen unter den Leuten gibt und so weiter?« »O ja. Die Leute brauchen sich eigentlich nur an die schriftlichen Anweisungen zu halten.« Sie sah sich um. »Ich brauche einen Schreibtisch und einen weiteren Stuhl für die Testperson.« »Gleich hier drüben, Doktor«, sagte Puryear. »Und hier sind die Formulare, die Karten und das Tonbandgerät.« »Ja«, fügte Melroy hinzu. »Bitte achten Sie darauf, daß Sie auch wirklich von jedem mündlichen Test und von jedem Interview eine Tonbandaufzeichnung haben; wir könnten sie vielleicht später als Beweis brauchen und – « Er brach ab, als ein Mann in einem weißen Overall ins Büro gestürmt kam. Es war ein drahtiger kleiner Kerl mit einem breiten Mund und einem stark hervorstehenden Adamsapfel. Neben dem Namensschild trug er ein Zelluloidschildchen mit der Aufschrift: AAG-Vertrauensmann. »Ich muß mal telefonieren«, sagte er. Melroy deutete auf das Telefon auf dem Schreibtisch. Der Mann verzog den Mund und schüttelte den Kopf.
»Das nicht; ich brauche das mit der Spezialsprechmuschel zum Flüstern«, sagte er. »Es geht um vertrauliche Gewerkschaftsangelegenheiten.« Melroy zuckte mit den Schultern und deutete auf einen anderen Apparat. Der Mann nahm den Hörer ab, wählte eine Nummer und führte eine längere Unterhaltung, wobei er den Kopf abwandte, für den Fall, daß Melroy vielleicht in der Lage sein könnte, ihm die Worte von den Lippen abzulesen. Schließlich drehte er sich um. »Mr. Crandall möchte mit Ihnen sprechen«, sagte er und hielt Melroy den Hörer hin. Melroy ergriff einen anderen Hörer, drückte auf einen Knopf und meldete sich. In der Leitung war plötzlich ein leises Piepen. »Hier Crandall, Sekretär der AAG«, meldete sich dann der Teilnehmer am anderen Ende der Leitung. »Haben Sie ein Aufnahmegerät eingeschaltet?« »Natürlich«, antwortete Melroy. »Ich lasse alle geschäftlichen Gespräche routinemäßig aufzeichnen.« »Mr. Melroy, ich bin darüber informiert worden, daß Sie unsere bei Ihnen beschäftigten Mitglieder zwingen wollen, sich einem psychologischen Test zu unterwerfen. Stimmt das?« »Nicht ganz. Ich bin nicht in der Lage, jemanden gegen seinen Willen zu etwas zu zwingen. Wenn jemand Bedenken dagegen hat, sich den Tests zu unterziehen, so braucht er es nur zu sagen, und ich werde ihn unter Einhaltung der vereinbarten Kündigungsfrist gehen lassen.« »Das läuft auf das Gleiche hinaus. Eine Entlassungsdrohung ist gewissermaßen Erpressung. Wenn diese Männer ihre Stelle behalten wollen, müssen sie notgedrungen die Tests über sich ergehen lassen.« »Nun, das ist ziemlich korrekt formuliert«, gab Melroy zu. »Um es noch einmal klar zu sagen – Voraussetzung für eine
Beschäftigung bei mir ist, daß sich jeder Arbeiter dem Test unterzieht. Mein Vertrag mit Ihrer Gewerkschaft sieht ausdrücklich vor, daß ich das Recht habe, gewisse Forderungen an die Intelligenz meiner Mitarbeiter zu stellen. Diese psychologischen Tests sind die einzige Möglichkeit, zweifelsfrei festzustellen, ob eine Person geeignet ist oder nicht.« »Das heißt also, daß Sie denjenigen, bei dem durch den Test festgestellt wird, daß er, drücken wir es einmal so aus, ungenügende geistige Voraussetzungen mitbringt, von Ihnen entlassen wird?« »Innerhalb der üblichen Kündigungsfrist, ja.« »Nun, wenn Sie irgend jemanden aus diesem Grund entlassen, wird die Gewerkschaft natürlich darauf bestehen müssen, sorgfältig nachzuprüfen, ob der Entlassungsgrund zu Recht besteht.« »Mein Vertrag mit Ihrer Gewerkschaft sieht keinerlei derartigen Rechte Ihrer Seite vor. Das trifft nur im Falle von Entlassungen aus disziplinarischen Gründen zu – und die sind hier nicht gegeben. Ich stehe auf dem Standpunkt, daß bei dieser Art von Beschäftigung und der damit verbundenen Verantwortung ein gewisses Mindestmaß an Intelligenz und geistiger Stabilität unabdingbar ist.« »Sie werden also diese Tests durchführen?« »Wenn die Leute für mich arbeiten wollen, müssen sie sie mitmachen. Jeder, der sich ausschließt, bekommt automatisch seine Kündigung.« »Und wer wird von Fall zu Fall entscheiden, ob der Test bestanden ist oder nicht?« fragte Crandall. »Sie vielleicht?« »Gott bewahre, nicht ich! Ich bin Ingenieur, aber kein Psychologe. Die Tests werden sowohl durchgeführt als auch ausgewertet von Dr. D. Warren Rives. Dr. Rives besitzt das Diplom des American Board of Psychiatry and Neurology, ist
Mitglied der American Psychological Association und entscheidet völlig unabhängig, wer sich aufgrund der Tests qualifiziert.« »Nun, unser Vertrauensmann sagte mir, Sie hätten da irgendein Mädchen mitgebracht, das die Tests durchführen soll«, sagte Crandall herausfordernd. »Ich nehme an, er meint Dr. Rives«, antwortete Melroy kühl. »Ich kann Ihnen versichern, daß sie eine hervorragend qualifizierte Psychologin ist. Sie kam zu mir auf ausdrückliche Empfehlung von Dr. Karl von Heydenreich, der bei der Auswahl seiner Mitarbeiter noch nie sorglos umgegangen ist.« »Nun, Mr. Melroy, wir möchten natürlich keine unnötigen Schwierigkeiten mit Ihnen bekommen«, bedeutete ihm Crandall. »Aber wir werden darauf bestehen, bei jeder Entlassung, die sich als Folge dieser Tests ergibt, eine gründliche Untersuchung anzustellen.« »Das können Sie gern tun. Ich würde Ihnen allerdings raten, den Vertrag, den wir gemeinsam unterschrieben haben, gründlich durchzulesen. Lassen Sie sich von einem guten Anwalt auseinandersetzen, was wir miteinander vereinbart haben und was nicht. War da noch etwas, das Sie mit mir besprechen wollten? Nein? Dann guten Morgen, Mr. Crandall.« Er legte auf. »Schön, fangen wir an«, sagte er. »Ben, Sie schicken die Leute in den Eßraum. Da sind genug Tische und Stühle, damit wir den schriftlichen Test in zwei Schichten durchführen können.« »Ein Vertreter der Gewerkschaft muß aber während der Tests anwesend sein«, sagte der Gewerkschaftsvertrauensmann. »Mr. Crandall hat gesagt, daß ich dabeibleiben und aufpassen soll, was ihr mit den Jungs anstellt.« »Arbeitet dieser Mann für uns?« fragte Melroy Puryear.
»Ja. Koffler, Julius, Elektromechaniker, aus Joe Riccis Trupp.« »Na schön. Sorgen Sie dafür, daß er sowohl beim schriftlichen als auch beim mündlichen Teil als erster drankommt. Dann kann er den Rest der Zeit damit verbringen, seine Pflichten für die Gewerkschaft wahrzunehmen.« Er wandte sich an Koffler. »Aber daß wir uns auch verstehen: Sie mischen sich nicht ein. Wenn Sie irgend etwas feststellen sollten gegen das Sie glauben Bedenken geltend machen zu müssen, so schreiben Sie sich den Punkt auf, aber versuchen Sie nicht, sich einzumischen.«
Der schriftliche Teil des Tests dauerte etwa zwanzig Minuten. Melroy beobachtete noch eine Weile die persönlichen Interviews. Dann griff er nach einer starken Taschenlampe, steckte sie in die Tasche seiner Lederjacke und machte sich auf den Weg, einige Geräte zu inspizieren, die außerhalb des Reaktorgeländes zusammengebaut und vor kurzem hereingebracht worden waren. Als er hinausging, saß Koffler auf einem Stuhl, beobachtete Doris Rives und machte ab und zu Notizen auf einem Zettel. Etwa eine Stunde lang untersuchte Melroy die Geräte. Als er in das provisorische Büro zurückkehrte, war die Befragung noch in vollem Gang; Koffler war als Beobachter der Gewerkschaft immer noch auf dem Posten, schien sich aber offenbar zu langweilen, denn er hatte sich in ein Comic-Heft vertieft. Melroy verließ das Reaktorgelände und kehrte in sein Büro im Lagerhaus zurück. Irgendwann im Laufe des Nachmittags rief ihn jemand namens Leighton von der Atomenergiebehörde an und wollte wissen, was für Schwierigkeiten es zwischen ihm und der Gewerkschaft gegeben habe. Er sagte, von der
Gewerkschaftsleitung sei eine Beschwerde über Melroys angeblich spätkapitalistische und autoritäre Einstellung gegenüber den arbeitenden Menschen eingegangen. Melroy erklärte ausführlich, worum es sich handelte. Zum Schluß sagte er: »Ihre Behörde hat zwanzig Panzerfahrzeuge, über tausend Soldaten, Polizisten und Geheimagenten eingesetzt, die Sabotage verhindern sollen. Ist Ihnen eigentlich noch nie der Gedanke gekommen, daß ein Arbeiter, der aus Dummheit oder Nachlässigkeit einen Fehler macht, für die Anlage genauso gefährlich ist wie ein Saboteur? Wenn jemand Ihnen eine Kugel durch den Schädel jagt, dann ist es für Sie völlig gleichgültig, ob er den Mord ein Jahr lang geplant oder einfach nicht gewußt hat, daß die Waffe geladen war. Sie sind in jedem Fall tot. Ich hätte eher angenommen, einen Dank dafür zu hören, daß ich versuche, eine ernste Gefahrenquelle auszuschalten.« »Nun verstehen Sie doch meine Haltung nicht falsch, Mr. Melroy«, beeilte sich der andere zu versichern. »Ich habe volles Verständnis für das, was Sie tun. Aber diese Leute werden uns Schwierigkeiten bereiten.« »Wenn sie das tun, werde ich mit diesen Schwierigkeiten fertig werden müssen. Ich habe einen Vertrag mit Ihrer Behörde, ein neues Steuer- und Sicherheitssystem zu installieren. Für meine Personalpolitik sind Sie nicht zuständig«, antwortete Melroy. »Oh, haben Sie übrigens oft mit diesem Crandall zu tun?« »Ob ich was?« stotterte Leighton. »Mann, ich bin hier für Personalangelegenheiten zuständig – und somit in jedem Fall sein erstes Angriffsziel.« »Verstehe. Was ist er für ein Mensch? Als ich den Vertrag mit der AAG abschloß, ließ ich alles durch meinen Rechtsanwalt abwickeln. Ich habe ihn nie persönlich kennengelernt.«
»Nun, er hat eben einen Job, genauso wie ich einen habe«, sagte Leighton. »Und er ist sehr gewissenhaft. Leider glaubt er einem Arbeiter mehr als der Arbeitgeberseite. So lange, bis das Gegenteil bewiesen ist, aber das dauert eben meist sehr lange.« »Das habe ich befürchtet. Nun, sagen Sie ihm, daß Sie keinen Einfluß auf meine Personalpolitik haben. Wenn er was will, soll er zu mir kommen.«
Um sechzehn Uhr dreißig trat Doris Rives in Melroys Büro und fand ihn immer noch an seinem Schreibtisch sitzen. »Ich habe alle schriftlichen Tests erhalten. Zwanzig sind bereits durch mündliche Interviews ergänzt«, sagte sie. »Jetzt muß ich natürlich noch die Ergebnisse auswerten. Ich wollte nur fragen, ob Sie irgendwo einen Schreibtisch für mich haben.« »Bitten Sie meine Sekretärin, sie soll Sie unterbringen. Sie wird alles arrangieren. Und wenn Sie länger arbeiten wollen, lasse ich ihnen aus der Kantine etwas zu essen bringen. Ich selbst bin jedenfalls den ganzen Abend hier.« Sid Keating kam kurz darauf herein und legte Overall, Jacke und Schulterhalfter ab. »Ich kann einfach nicht glauben, daß sie alles heiße Material aus dem Reaktor entfernt haben«, sagte er. »Die Radioaktivität ist fast noch so hoch wie bei normaler Aktivität des Brenners. Die Temperatur ist ebenfalls noch sehr hoch. Das ist keine Reststrahlung.« »Seit heute morgen ist die Radioaktivität nicht gesunken. Ich bin deiner Meinung«, sagte Melroy. »Was stellen sie fest?« »Größtenteils Neutronen und Alpha-Teilchen. Ich habe mit Fred Hausinger, dem Betriebsleiter, gesprochen; ihm gefällt die Sache auch nicht.«
»Nun, ich bin kein Atomphysiker«, erklärte Melroy, »aber unter Berücksichtigung der Alphastrahlung würde ich sagen, daß die einen ordentlichen Brocken Pu-239 im Brenner vergessen haben. Was will Fred unternehmen?« »Oh, sie stochern mit ferngesteuerten Geräten im Reaktor herum. Als ich wegging, holte ein Arbeitstrupp gerade mit Kranen die Graphitblöcke heraus. Wahrscheinlich haben wir vor morgen mittag keine Gelegenheit, die Arbeit aufzunehmen.« Er öffnete eine dicke Mappe, die er mitgebracht hatte, und legte einen Stapel Papier auf seinen Schreibtisch. »Ich habe auch so genug zu tun.« »Hast du schon etwas gegessen? Ruf doch bitte in der Kantine an und laß drei Abendessen heraufkommen. Dr. Rives wird auch hier essen. Frag sie mal, was sie möchte.«
Eine halbe Stunde später saßen sie gemeinsam beim Essen. Doris Rives war mit der Auswertung der mündlichen Tests fertig. Nach dem Essen wollte sie die noch nicht ausgewerteten schriftlichen Arbeiten in Angriff nehmen. »Wie ist denn das bisherige Ergebnis?« fragte Melroy. »Besser als ich erwartet hatte. Nur zwei Ausfälle«, antwortete sie. »Harvey Burris und Julius Koffler.« »Nein!« Keating weinte fast. »Der AAG-Vertrauensmann und das größte Schlappmaul, das wir in der ganzen Gruppe haben!« »Nun, war das nicht zu erwarten?« fragte Melroy. »Wenn man überlegt, was für ein Theater die beiden aufführten – « »Die betreffenden beiden Testpersonen sind dumm. Es mangelt ihnen an Entscheidungsfähigkeit und nüchternem Beurteilungsvermögen«, sagte Doris. »Koffler ist das typische herangewachsene, vorlaute Problemkind, und Burris hat beinahe die Mentalität eines zwölfjährigen Rowdies. Beide
leiden unter Minderwertigkeitskomplexen. Wenn der Zweck dieses Tests der ist, den ich annehme, dann kann ich als Wissenschaftlerin und mit gutem Gewissen nur empfehlen, diese beiden Männer so schnell wie möglich zu entlassen.« »Das schlimmste daran ist nur, daß es genau die beiden Personen trifft, die uns vorwerfen können, der Test habe lediglich dazu herhalten müssen, Vertreter der Gewerkschaft lächerlich zu machen«, erklärte Melroy. »Sind es denn die einzigen, die schlecht abgeschnitten haben?« »Vielleicht kommen nach Prüfung der schriftlichen Tests noch ein paar Leute hinzu«, meinte Keating hoffnungsvoll. »Nein, das ist ausgeschlossen«, sagte Doris fest. »Der schriftliche Teil sollte lediglich der Beurteilung des logischen Denkvermögens dienen. Ganz unter uns: Ich weiß, daß einige Universitätsprofessoren diese Methode als nicht ganz zuverlässig bezeichnen. Aber wenn sich im Verlauf des Tests herausstellt, daß die Testpersonen Stabilität, Verantwortungsbewußtsein, gutes Unterscheidungs- und Beurteilungsvermögen und die Tendenz zeigen, vor jeder Handlung zu denken, kann man sie ruhigen Gewissens als für Ihre Zwecke tauglich bezeichnen.« »Na schön«, sagte Keating, »dann hüllen wir uns einfach in Schweigen, bis alle Tests ausgewertet sind.« »Nein!« sagte Melroy. »Jede Minute müssen wir mit der Möglichkeit rechnen, daß einer der beiden etwas anstellt, das zur Katastrophe führen könnte! Ich werde sie morgen früh entlassen.« Keating schüttelte besorgt den Kopf. »Wie du meinst. Aber behaupte hinterher nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.«
Keatings düstere Prophezeiungen bewahrheiteten sich schon um halb zehn am nächsten Morgen. Als erstes kam ein Anruf
Crandalls. Er beschuldigte Melroy, die psychologischen Tests als schäbigen Vorwand dazu benutzt zu haben, um Koffler und Burris entlassen und damit jeglichen Gewerkschaftseinfluß unterbinden zu können. Als Melroy die Forderung, die beiden Männer unverzüglich wieder einzustellen, zurückwies, verlangte Crandall die Tests der beiden Männer zu sehen. »Sie befinden sich hier in meinem Büro«, sagte Melroy. »Sie können sie selbstverständlich jederzeit gern einsehen und sich auch den mündlichen Teil anhören. Aber ich rate Ihnen, einen Psychologen mitzubringen, denn wenn Sie nicht selbst Psychiater sind, werden die Ergebnisse Ihnen wahrscheinlich nur wenig sagen.« Zehn Minuten später klingelte das Telefon wieder. Diesmal war es Leighton von der Atomenergiebehörde. »Wir sind äußerst besorgt über die Differenzen zwischen Ihnen und der Gewerkschaft«, begann er. »Nun, offen gestanden, ich auch«, gab Melroy zu. »Ich bin hier, um einen Auftrag auszuführen. Bestimmt nicht, um mit der Gewerkschaft Blinde Kuh zu spielen. Ich habe früher schon Schwierigkeiten mit der Gewerkschaft gehabt, und ich weiß, daß das alles andere als ein Vergnügen ist. Sie haben doch gestern schon einmal angerufen, nicht wahr? Dann kennen Sie ja meinen Standpunkt in dieser Angelegenheit.« »Sicher, Mr. Melroy. Ich habe mit Oberst Bradshaw, dem Sicherheitsoffizier, gestern eine längere Unterredung gehabt. Er ist durchaus Ihrer Meinung, daß ein unfähiger oder nachlässiger Arbeiter unter gewissen Umständen eine schlimmere Gefahr für die Anlage bedeuten kann als ein Saboteur. Und wir sind uns durchaus darüber im klaren, wie gefährlich die Doernberg-Giardanos sein könnten, wenn die elektronischen Steuereinrichtungen nicht einwandfrei installiert werden. Aber dieser Crandall droht mit Streik.«
»Lassen Sie ihn doch. In erster Linie geht das doch gegen mich, nicht gegen die Atomenergiebehörde. Und zweitens, wenn er es tut und sich die Sache zuspitzt, wird seine Forderung, die beiden Männer sollen wieder eingestellt werden, von der Regierung verworfen werden, und seine Organisation wird den Streik abblasen müssen.« »Nun, ich hoffe es wenigstens«, sagte Leighton, aber sein Tonfall ließ darauf schließen, daß diese Hoffnung recht schwach war. »Ich wünsche Ihnen Glück. Sie werden es brauchen!«
Eine Stunde später erschien Crandall in Melroys Büro. Er war noch ein ziemlich junger Mann. Melroy hielt ihn für ein wenig zu eitel und zu selbstsicher. »Mr. Melroy, wir lassen uns das nicht bieten«, begann er, kaum daß er den Raum betreten hatte. »Sie benutzen diese sogenannten Tests lediglich als einen Vorwand, um sich der Herren Koffler und Burris wegen ihrer Tätigkeit für die Gewerkschaft zu entledigen.« »Wer hat Sie denn auf diese Idee gebracht?« wollte Melroy wissen. »Koffler und Burris?« »So lautet die Beschwerde, die sie bei mir vorgebracht haben, und sie beruht auf Tatsachen«, antwortete Crandall. »Wir haben mindestens ein halbes Dutzend Beschwerden in unseren Akten, die Mr. Koffler eingereicht hat. Sie betreffen verschiedene unfaire Arbeitseinteilungen, schlechte Arbeitsbedingungen, Ungerechtigkeiten bei der Bezahlung von Überstunden und andere Verstöße, die meist Mr. Burris betreffen. Deshalb haben Sie beschlossen, die beiden Ihnen unbequemen Mitarbeiter loszuwerden, und Sie glauben, sich dazu des Paragraphen in unserem Vertrag bedienen zu können, der sich
auf Personen mit nicht ausreichender Intelligenz bezieht. Tatsache ist, daß Sie bekanntermaßen mehrmals angekündigt haben, daß Sie die beiden entlassen würden.« »Habe ich das?« Melroy musterte Crandall verwundert und fragte sich, ob dieser scherzte, aber er kam zu dem Schluß, daß er das tatsächlich ernst meinte. »Sie scheinen tatsächlich alles zu glauben, was Ihnen diese Leute erzählen. Nun, wenn sie Ihnen das gesagt haben, haben sie gelogen.« »Natürlich, eine andere Erklärung habe ich von Ihnen auch nicht erwartet«, antwortete Crandall. »Aber was sagen Sie dazu, daß man diesen beiden Männern, und nur diesen beiden, mangelnde Intelligenz vorwirft?« »Die Tests sind noch nicht in allen Fällen ausgewertet«, antwortete Melroy. »Und solange das nicht der Fall ist, können Sie nicht behaupten, daß Koffler und Burris die einzigen sind, die disqualifiziert wurden. Und wenn Sie sich die Unterlagen einmal genau ansehen, werden Sie feststellen, wo Koffler und Burris versagt und die anderen bestanden haben. Hier.« Er schob einen Stapel Fragebogen vor ihn auf den Schreibtisch. »Hier ist der Test von Koffler, und hier der von Burris. Das übrige sind die Unterlagen der Männer, die bestanden haben. Sehen Sie sie selbst durch, wenn Sie Lust haben.« Crandall untersuchte die Formulare und die Karten mit den Zusammenfassungen, die seine beiden Männer betrafen, und verglich stichprobenartig einige Fakten mit den Ergebnissen von Leuten, die die Tests bestanden hatten. »Aber – das ist doch ein Haufen blühender Unsinn«, stellte er schließlich fest. »Austern, Pinzetten… Meine Güte, bilden Sie sich allen Ernstes ein, mit solch einem Blödsinn eine Entschuldigung dafür in der Hand zu haben, diese beiden Männer hinauswerfen zu können?« »Ich habe Sie von vornherein darauf aufmerksam gemacht, daß Sie einen Psychologen mitbringen sollen«, erinnerte ihn
Melroy. »Und vielleicht lassen Sie dann auch gleich Koffler und Burris ihre Aussagen wiederholen. Sie haben sich den Tests auf genau die gleiche Art und Weise unterzogen wie alle anderen Beschäftigten. Sie verfügten nur nicht über das nötige geistige Rüstzeug, um wie die anderen mit den Fragen fertig zu werden. Und genau das ist der Grund, warum ich es nicht riskieren werde, sie weiter hier arbeiten zu lassen.« »Es steht lediglich Ihr Wort gegen das von Koffler und Burris«, wiederholte Crandall hartnäckig. »Und ihre Beschwerde lautet, daß Sie alles nur inszeniert haben, um sie loszuwerden.« »Meine Güte, bis gestern abend kannte ich die beiden doch überhaupt nicht!« »Sie behaupten aber das Gegenteil«, erklärte Crandall. »Sie behaupten, daß Keating und Sie selbst schon vom ersten Tag an hinter ihnen her gewesen seien. Sie und Ihre Vorarbeiter haben diese beiden Männer systematisch verfolgt und belauert. Die Tatsache, daß Burris Gründe für all die früheren Beschwerden hatte, beweist das.« »Es beweist lediglich, daß Burris unter einem Verfolgungswahn leidet und daß Koffler dämlich genug ist, ihm das alles abzunehmen.« »Oh, darauf wollen Sie also hinaus? Sie verfolgen einen Mann, und wenn er dahinterkommt, behaupten Sie einfach, er habe einen Verfolgungswahn. Nun, so billig kommen Sie nicht davon. Das ist alles, was ich Ihnen zu sagen habe.« Crandall warf den Testbogen auf den Schreibtisch. »Dieses Zeug hier ist nicht einmal das Papier wert, auf das es geschrieben wurde.« Er machte eine geradezu perfekte Kehrtwendung und stürmte aus dem Büro. Melroy ordnete die Papiere wieder und räumte sie weg. Dann setzte er sich an seinen Schreibtisch, stopfte sich eine Pfeife
und brachte sie in Gang. Um zwölf Uhr fünfzehn, als Ben Buryear ihn anrief, arbeitete er immer noch. »Sie haben die Arbeit niedergelegt«, berichtete er. »Harry Crandall war hier und hat mit ihnen gesprochen. Schlag zwölf Uhr lieferten sie alle ihre Geigerzähler ab und räumten ihre Spinde aus. Sie haben erklärt, sie wollen nicht eher die Arbeit wieder aufnehmen, als bis Koffler und Burris wieder eingestellt seien.« »Dann brauchen sie überhaupt nicht mehr zu kommen«, antwortete Melroy. »Crandall war vor ein paar Stunden hier. Er hat mir berichtet, daß Burris und Koffler ihm erzählt hätten, wir hätten Burris auf dem Kieker gehabt und systematisch verfolgt. Wissen Sie von irgendeinem Vorfall, der geeignet gewesen wäre, bei ihm diesen Eindruck hervorzurufen?« »Nein. Burris hat sich immer beklagt, er bekäme nicht genug Gelegenheit, Überstunden zu machen, aber Sie wissen ja, wie das ist: Er ist in keiner Weise qualifiziert; nur ungelernter Arbeiter. Und die Arbeiten, die wir in Überstunden zu vergeben hatten, konnten nur von Facharbeitern ausgeführt werden. Natürlich sind auch immer ein paar Hilfsarbeiter dabei, aber da haben wir ihn genauso oft eingeteilt wie die anderen.« »Wird das aus den Stechkarten ersichtlich sein?« »Ich bin sicher. Ich weiß zwar nicht, was er und Koffler diesem Crandall erzählt haben, aber was immer es gewesen sein mag – ich bin sicher, daß beide gelogen haben.« »Na schön. Und wie steht’s jetzt mit dem Reaktor?« »Hausinger sagt, daß sowohl die Strahlung als auch die Temperatur mittlerweile auf die Normalwerte des Ruhezustandes gesunken sind. Er hat mit seiner Gruppe einen ziemlichen Brocken Plutonium gefunden. Sie haben ihn herausgeholt.«
»Na schön. Richten Sie Dr. Rives aus, sie möchte bitte mit allen Testunterlagen, ob ausgewertet oder nicht, zu mir ins Büro kommen. Sie und die übrigen bleiben bei Ihrer Arbeit. Heute nachmittag, spätestens aber morgen früh, schicke ich euch genug Leute.« Er legte den Hörer auf, drückte auf die Taste seiner Sprechanlage und rief nach seiner Sekretärin. »Joan, ist Sid Keating draußen? Würden Sie ihn bitte hereinschicken?« Keating kam herein und hatte die Miene eines Propheten aufgesetzt, dessen angekündigtes Unheil prompt eingetroffen war. »Na schön, Cassandra«, begrüßte ihn Melroy. »Ich werde nicht sagen, daß du mich nicht gewarnt hast. Sieh mal. Dieser Streik ist illegal. Er verstößt gegen das Gesetz. Es ist ein wilder Streik.« »Sie werden einfach erklären, daß es sich um eine spontane Arbeitsniederlegung handelt.« »Aah! Ich hoffe, daß ich Crandall dabei erwische. Ich werde jeden einzelnen von diesen Männern wegen unerlaubten Verlassens des Werks während der Arbeitszeit feuern. Wie viele von unseren eigenen Leuten aus Pittsburgh arbeiten draußen in der Fertigung und Montage? Ungefähr sechzig?« »Dreiundsechzig. Warum? Du wirst sie doch nicht zur Arbeit an den Reaktoren einsetzen, oder?« »Genau das werde ich tun. Es sind qualifizierte KybernetikTechniker. Die werden sogar noch bessere Arbeit leisten als der Haufen, den wir hier einstellen mußten. Und um ganz sicher zu gehen, werde ich sie alle zu leitenden Angestellten machen. Damit sind sie dem Einflußbereich der Gewerkschaft entzogen.« »Aber wie steht es mit unserem Vertrag mit der AAG?«
»Der ist unwirksam geworden, weil Crandall durch seine Einmischung die Erfüllung unseres Vertrages mit der Atomenergiebehörde verhindert hat. Weißt du, was ich glaube? Der Gewerkschaftsvorstand wird diese Aktion abblasen müssen. Es wird ihnen weh tun, aber sie können nicht anders.« »Wie steht es mit der Sicherheitsfreistellung für unsere eigenen Leute?« »Keine Schwierigkeiten«, sagte Melroy. »Die meisten gelten als unbedenklich, seit wir für das Raketenabwehrsystem auf dem Zerstörer Alaska arbeiteten. Er wird zwar noch den ganzen Tag dauern, aber dann, glaube ich, können wir garantiert morgen früh um acht Uhr anfangen.«
Bis Keating alle regulären Angestellten der Melroy Instruments Corporation zusammengeholt und mit Colonel Bradshaw über die Sicherheitsüberprüfung gesprochen hatte, war es vierzehn Uhr dreißig geworden. Wenig später rief ihn Leighton, der Mann von der Atomenergiebehörde, an. »Melroy, was zum Teufel haben Sie vor?« fragte er ihn. »Wollen Sie denn, daß die ganze Anlage lahmgelegt wird? Die AAG rast wie ein tollwütiger Hund! Sie behaupten, Sie wollten mit Streikbrechern weitermachen und drohen damit, das gesamte Reaktorgelände in die Streikmaßnahmen mit einzubeziehen.« »Hier verbreiten sich Neuigkeiten ziemlich schnell, nicht wahr?« kommentierte Melroy. Er berichtete Leighton, was er vorhatte. Der Beamte war völlig verwirrt. »Aber die rufen einen Streik für die gesamte Anlage aus! Können Sie sich überhaupt vorstellen, was das bedeuten würde?« »Selbstverständlich kann ich das. Sie werden es entweder einen legalen Streik nennen, in welchem Falle die ganze
Angelegenheit öffentlich und neutral untersucht würde, und das ist genau das, was ich möchte – oder aber sie konfrontieren euch mit einem Pearl-Harbor-Streik, genauso wie sie es mit mir gemacht haben. Und in diesem Fall wird sich der Präsident persönlich einschalten und Techniker der Streitkräfte einfliegen müssen, damit der Betrieb hier weiterläuft. Dann wird sich die ganze Sache sogar noch schneller erledigen. Dieser Crandall bildet sich ein, die Männer, die ich gefeuert habe, seien Märtyrer, und jetzt predigt er den Kreuzzug. Allerdings sollte er einen advocatus diaboli bei sich haben, um die Märtyrereigenschaften dieser beiden Knaben einigermaßen plausibel erklären zu können, ehe er seine Kreuzritter losschickt.« Wenig später trat Doris Rives in das Büro. Sie trug einen Stapel Formulare und Karten im Arm. »Ich habe die restlichen Tests ausgewertet«, verkündete sie. »Nur ein Ausfall.« Melroy lachte. »Doktor, wir haben nur noch Ausfälle«, bedeutete er ihr. »Sieht so aus, als hätte es da einen weiteren Test gegeben, und bei dem sind sie alle durchgefallen. Erwiesene Bereitschaft, sich unkluger und ungeeigneter Führerschaft anzuvertrauen und sich zu unerlaubten Handlungen überreden zu lassen. Sie fahren jetzt bitte nach New York und nehmen die Prüfungsunterlagen einschließlich aller Tonbänder mit. Bleiben Sie im Hotel – die Ausfallzeit wird Ihnen selbstverständlich bezahlt – bis ich Sie brauche. Es wird wohl nicht einmal einen ganzen Tag dauern, bis ein Schlichtungsgespräch stattfindet.« Er empfing noch zwei weitere Telefonanrufe. Der erste kam um fünfzehn Uhr dreißig. Es war Leighton. Melroy vermutete, daß der Beamte seine Stimmung mit ein paar Drinks aufgemöbelt hatte, denn seine Stimme klang beinahe munter.
»So, der Krieg hat begonnen«, verkündete er. »Alle AAGArbeiter verlassen das Betriebsgelände, und zwar um acht Uhr morgen früh.« »Ein eindeutiger Verstoß gegen das Bundesarbeitsgesetz«, fuhr Melroy fort. »Crandall hat seinen Hals in die Guillotine gesteckt. Was unternimmt Washington?« »Präsident Hartley läßt Personal der Marine von den Kenebunkport-Reaktoren einfliegen. Sie werden um drei Uhr morgens da sein. Außerdem kommen um siebzehn Uhr ein paar Leute von der Bundesschlichtungsstelle auf dem Flughafen an. Vom Gewerkschaftshauptquartier in Oak Ridge kommen Prüfer der AAG. Sie dürften etwa zur gleichen Zeit eintreffen. Sie sollten sich bereithalten und auch Dr. Rives immer bei sich haben. Wir haben eine gute Chance, die ganze Angelegenheit spätestens übermorgen geklärt zu haben.« »Selbstverständlich werde ich zusammen mit Dr. Rives pünktlich da sein«, antwortete Melroy. »Es wird mir ein Vergnügen sein.« Eine Stunde später rief ihn Ben Puryear vom Reaktorgelände an. Seiner Stimme nach zu schließen mußte er eine Mordswut haben. »Scott, wissen Sie, was diese« – einen Augenblick lang knurrte er nur noch Schimpfnamen – »was die gemacht haben? Die haben den Doernberg-Giardano Eins wieder beschickt und die Reaktion eingeleitet!« »Wer?« »Fred Hausingers Truppe. Offensichtlich auf Harry Crandalls Befehl. Als Entschuldigung führten sie an, daß es zu unsicher sei, den Reaktor für unbestimmte Zeit in abgeschaltetem Zustand zu lassen. Aber der wahre Zweck der Aktion war lediglich, die Reaktion wieder einzuleiten, um damit unsere Leute daran zu hindern, ihre Arbeit aufzunehmen.«
»Und warum hat Hausinger nicht versucht, sie davon abzuhalten?« »Er hat es versucht, aber nicht energisch genug. Ich habe ihn gefragt, wozu er denn seine Machtbefugnisse habe, aber er hat erklärt, er hätte Anweisung, keine Gewalt anzuwenden, um keinen negativen Einfluß auf die Schlichtungskommission auszuüben.« Melroy fluchte. »Na schön. Sammeln Sie alle unsere privaten Papiere und Dokumente zusammen. Kommen Sie mit Steve und Joe zu mir. Wir arbeiten hier draußen – wenn wir dazu in der Lage sind.«
Doris Rives wartete unten auf der Straße, als Melroy das neue Bundesgebäude in jenem Teil Manhattans erreichte, der früher einmal Greenwich Village gewesen war. Sie trug eine Aktentasche, die er ihr abnahm. »Ich hatte schon Angst, Sie müßten auf mich warten«, sagte sie. »Ich bin mit dem Taxi gefahren, und unterwegs gab es zwei schreckliche Verkehrsstauungen – eine an der 40. Straße, und dann noch eine gleich beim Madison Square.« »Ja, es wird immer schlimmer. Verzeihen Sie meinen Komplex, aber in neunundneunzig Prozent aller Fälle ist es auch hier die Schuld einiger weniger Menschen, die irgend etwas Blödsinniges anstellen. Aber da wir gerade von Blödsinn reden – offen gestanden, ich fürchte, ich habe auch welchen gemacht. Ich habe vergessen, den Revolver aus der Manteltasche zu nehmen, und habe es doch tatsächlich erst gemerkt, als ich schon in der U-Bahn saß. In der anderen Jackentasche habe ich noch eine große Taschenlampe, aber das macht nichts. Sorgen mache ich mir nur darüber, daß sie vielleicht den Revolver finden und dann großes Geheul
anstimmen, weil ich bewaffnet zu einer friedlichen Schlichtungssitzung gekommen bin.« Das Hearing fand in einem der großen Konferenzräume im zweiundvierzigsten Stock statt. Melroy zog vorsichtig seinen Mantel aus und legte ihn auf einen Stuhl. Dann half er Doris aus dem ihren und legte ihn darüber.
Drei Männer befanden sich bereits in dem Raum, als sie eintrafen: Kenneth Leighton, der Beamte der Atomenergiebehörde, ein etwa fünfzigjähriger Mann mit Bauchansatz und schütter werdendem Haar; ein Mr. Lyons, schlank, groß und weißhaarig und ein Mr. Quillen, wesentlich jünger und mit einer breitrandigen Intellektuellenbrille. Bei den beiden letzteren handelte es sich um die Herren von der Bundesschlichtungsstelle. Sie hatten es sich in den Sesseln bequem gemacht und unterhielten sich über Theaterpremieren am Broadway. Als Doris Rives und Melroy hereinkamen, erhoben sie sich. »Bevor die anderen hier sind, dürfen wir nicht über dienstliche Dinge sprechen«, warnte Leighton. »Es ist nicht besonders günstig, daß ausgerechnet wir drei zuerst da waren; sie werden bestimmt annehmen, wir hätten versucht, uns ihnen gegenüber einen unfairen Vorteil zu verschaffen. Ich nehme an, Sie hatten noch keine Gelegenheit, sich eine der neuen Aufführungen anzusehen?« Glücklicherweise waren Doris und Melroy zwei Abende zuvor nach dem Essen ins Theater gegangen, und so konnten sie sich an der Unterhaltung beteiligen. Der junge Mr. Quillen wollte Doris Rives’ Meinung als Psychologin über die Heldin des Stückes hören. Doris antwortete, diese Heldin habe nichts gezeigt, was man auch nur im entferntesten als Denkprozesse irgendwelcher Art hätte bezeichnen können. Sie waren immer
noch bei diesem Thema, als die beiden Prüfer von der Gewerkschaft, Mr. Cronnin und Mr. Fields, eintrafen. Cronnin war etwa sechzig und hatte das verkniffene, etwas kurzsichtige Aussehen eines Präzisions-Feinmechanikers. Fields war wesentlich jünger und wirkte sportlich. Lyons, der die Funktion des Obersten Schlichters zu erfüllen schien, eröffnete darauf hin die Sitzung, und sie nahmen am Konferenztisch Platz. »Nun, meine Herren – und Dr. Rives –, dies soll nur eine informative Unterhaltung sein, damit wir zunächst die gegenseitigen Standpunkte kennenlernen. Wir werden keine Tonbandaufzeichnung machen. Wenn wir uns bis heute abend auf einen gemeinsamen Verständigungsnenner geeinigt haben, können wir das reguläre Hearing vielleicht für morgen um dreizehn Uhr ansetzen. Einverstanden?« Sie waren es. Der jüngere der beiden Schlichtungsbeamten, Mr. Quillen, räusperte sich. »Nach unseren Informationen war der Grund für diese Streitigkeiten die Entlassung der beiden Arbeiter namens Koffler und Burris durch Mr. Melroy. Ist das richtig?« »Nun, dazu gehört aber auch noch das Problem, daß die Melroy Instruments Corporation jetzt versucht, Streikbrecher einzusetzen, und daß die Atomenergiebehörde diesem ungewöhnlichen Plan zugestimmt hat«, sagte Cronnin. »Und die Tatsache, daß die AAG mich mit einem PearlHarbor-Streik konfrontiert hat«, stellte Melroy fest. »Diesen Ausdruck weisen wir auf das schärfste zurück!« erregte sich Cronnin. »Es ist eine durchaus gebräuchliche Bezeichnung, die einen Streik charakterisiert, der ohne Verhandlungen und ohne eine Vorwarnung ausbricht, was ja auch der Fall war«, bedeutete ihm Melroy.
»Außerdem ist da noch der von der AAG illegal gegen die Long Island-Atomkraftwerke ausgerufene Generalstreik«, meldete sich Leighton. »Mit einer Vorwarnzeit von nur sechzehn Stunden.« »Nun, das war nicht die Schuld der AAG als Organisation«, argumentierte Mr. Fields. »Mr. Cronnin und ich haben festgelegt, daß die Arbeitsniederlegung um zwei Wochen verschoben werden soll, genau wie es das Bundesstreikgesetz vorsieht.« »Na schön, und was ist mit meiner Firma?« wollte Melroy wissen. »Ihre AAG-Mitglieder sind heute mittag um Schlag zwölf Uhr einfach gegangen. Darf ich das als eine Aktion Ihrer Gewerkschaft betrachten, oder distanzieren Sie sich davon, damit ich diese Leute alle wegen unerlaubten Verlassens des Arbeitsplatzes entlassen kann?« »Und was ist mit jener Sonderaktion Ihrer Gewerkschaftsmitglieder, die auf Anweisung von Harry Crandall den Brüter-Reaktor Doernberg-Giardano Eins in der Anlage wieder neu beschickt haben, nachdem der Brennstoff entfernt worden war, in der Absicht, die Kettenreaktion wieder einzuleiten und somit Mr. Melroys Angestellten die Arbeit am Reaktor unmöglich zu machen?« fragte Leighton. »Darf ich vielleicht annehmen, daß die Gewerkschaft auch diese Aktion unterstützt?« »Davon habe ich nichts gewußt«, sagte Fields etwas bestürzt. »Ich auch nicht«, schnappte Cronnin. »Wann ist das passiert?« »Heute, ungefähr gegen sechzehn Uhr«, erklärte Melroy. »Nun, übernehmen Sie dafür die Verantwortung oder nicht?« bestand Leighton auf einer Antwort. Lyons, der mit einem kleinen Briefbeschwerer gespielt hatte, klopfte damit auf die Tischplatte.
»Meine Herren«, unterbrach er sie. »Wir versuchen, zu viele Themen auf einmal zu behandeln. Ich schlage vor, daß wir uns zunächst einmal auf das Problem der Entlassung dieser beiden Männer beschränken. Wenn wir hier zu dem Schluß kommen, daß die AAG in dieser – nennen wir sie einmal so – BurrisKoffler-Affäre zu Recht Beschwerde führt, können wir uns den anderen Fragen immer noch zuwenden.« »Einverstanden«, erklärte Melroy. »Wir auch«, nickte Cronnin. »Nun gut. Da die AAG in dieser Angelegenheit der Beschwerdeführer ist, bitte ich Sie, meine Herren, zunächst einmal Ihre Ansicht darzustellen.« Fields und Cronnin sahen sich gegenseitig an; dann nickte Cronnin Fields zu, und der stand auf. Die beiden betroffenen Arbeiter, erklärte er, seien wegen ihrer Gewerkschaftsaktivität zu Opfern andauernder Diskriminierung und Verfolgung gemacht worden. Koffler sei der Vertrauensmann der AAG bei den in der Reaktoranlage beschäftigten Arbeitern der Melroy Instruments Corporation gewesen, und Burris habe sich dadurch verdient gemacht, daß er ihm Beschwerden über ungerechte Arbeitsbedingungen zubrachte. Darüber hinaus war er der Meinung, daß die psychologischen Tests, denen die AAG-Mitglieder unterworfen worden waren, lediglich ein fadenscheiniger Vorwand dazu gewesen sei, zunächst einmal diese beiden Männer, im Prinzip jedoch jeden Beschwerdeführer zu entlassen, und außerdem sei die Praxis, Arbeiter einem solchen Test zu unterwerfen, beleidigend und diskriminierend und stünde im Widerspruch zu allen vernünftigen Anstellungsbedingungen. Er setzte sich, und im gleichen Augenblick stand Melroy auf. »Ich weise diese Behauptungen kategorisch und auf das energischste zurück«, erwiderte er. »Sie basieren ausschließlich auf Fehlinterpretationen jener beiden Männer,
die aufgrund des psychologischen Tests disqualifiziert wurden, weil sie, um es mit den Worten des Vertragstextes mit Ihrer Gewerkschaft auszudrücken, ›nicht vollständig geistig gesund, nicht ausreichend intelligent oder emotionell labil‹ sind. Geschehen ist lediglich folgendes: Ihr zuständiger Mann, Crandall, hat kritiklos alles, was sie ihm erzählt haben, hingenommen und akzeptiert, und Sie haben Ihrerseits Crandalls Bericht im gleichen Geiste einfach als Tatsache akzeptiert. Ehe ich weiterspreche«, fuhr Melroy, an Lyons gewandt, fort, »möchte ich Sie um Ihre Zustimmung dazu bitten, daß Dr. Rives die Testmethode und die Auswertung selbst erklärt.« Lyons gab seine Zustimmung, und Doris Rives erhob sich. Ziemlich ausführlich erläuterte sie Zweck und Art der Untersuchungen und die Methode, wie sie sie auswertete und beurteilte. »Aber hat Mr. Melroy irgendwann einmal versucht, Ihnen die Auslese bestimmter unerwünschter Personen anzutragen?« »Natürlich nicht!« Doris Rives wurde wütend. »Und wenn er es getan hätte, wäre ich mit der nächsten Maschine abgereist. Diese Unterstellung empfinde ich als Beleidigung! Und zu Ihrer Information, ich habe Mr. Melroy vorgestern nachmittag zum erstenmal in meinem Leben gesehen; ich bin von ihm in keinerlei Weise abhängig; ich habe diesen Auftrag in Vertretung von Dr. Karl von Heydenreich übernommen, der Untersuchungen dieser Art normalerweise für Melroy durchführt. Genügt Ihnen das?« »Ja, das genügt«, gab Fields zu. Er war offensichtlich beeindruckt gewesen, als sie den Namen des berühmten Psychologen genannt hatte. »Wenn ich Mr. Melroy einmal eine Frage stellen dürfte: Ich verstehe die Sache so, daß sich diesen Tests alle Ihre Beschäftigten unterziehen müssen. Warum verlangen Sie einen so ungewöhnlich hohen
Intelligenzdurchschnitt von Ihren Angestellten und sogar von den Arbeitern?« »Ungewöhnlich?« fragte Melroy. »Wenn die Maßstäbe, die durch diesen Test gesetzt werden, ungewöhnlich hoch sind, dann helfe Gott diesem Land; dann werden wir zu einer Nation von Halbidioten! Ich werde die diesbezügliche Erklärung Dr. Rives überlassen. Sie wird Ihnen erläutern, daß der Test nichts weiter feststellen soll als die geistigen Fähigkeiten eines ganz normalen Erwachsenen. Meine Gesellschaft ist auf kybernetische Kontroll- und Steuersysteme spezialisiert«, fuhr er fort. »Trotz der landläufigen Bezeichnungen wie ›Denkmaschinen‹ und ›Elektronengehirne‹ sind diese Maschinen natürlich in keiner Weise in der Lage, selbständig zu denken. Das System tut nur das und genau das, wozu es konstruiert und gebaut worden ist, und wenn irgend jemand einen Fehler mit einbaut, dann wird der Computer automatisch diesen Fehler machen, wenn er in Betrieb genommen wird.« »Er hat recht«, sagte Cronnin. »Die Männer, die eine solche Maschine bauen, müssen so einwandfrei denken können, wie die Maschine handeln soll – oder der Apparat wird eben so dumm, wie sie es sind.« Fields wandte sich ärgerlich zu ihm um. »Auf welcher Seite stehen Sie eigentlich?« fragte er. »Sie sind vielleicht Rechtsanwalt«, sagte Melroy. »Aber ich wette, daß Mr. Cronnin ein echter Praktiker ist.« Cronnin nickte unbewußt. »Na schön. Dann fragen Sie ihn doch einmal, wie diese Doernberg-Giardanos arbeiten. Und dann möchte ich Sie fragen: Angenommen, irgendein Trottel bastelt etwas zusammen, das nicht einwandfrei funktioniert, oder er macht den Fehler selbst, solange der Reaktor noch nicht automatisch gesteuert wird?«
Es war eine rein theoretische Frage, aber viel später, als er einmal wieder Zeit hatte, darüber nachzudenken, fragte sich Scott Melroy, ob wohl schon jemals in der Geschichte der Menschheit eine Frage so prompt und derart drastisch beantwortet worden war. Denn drei Sekunden, nachdem er seinen Satz beendet hatte, ging das Licht aus.
Einen Augenblick lang saßen sie alle still und reglos da. Dann sagte jemand gegenüber von Melroy: »Was zum Teufel?« Doris Rives, die neben ihm saß, umklammerte seinen Arm. Kenneth Leighton knipste ein Feuerzeug an und hielt es hoch. Die Fenster des Zimmers gingen nach Osten hinaus. Im flackernden Licht des Feuerzeuges tastete sich Melroy hinüber und ließ die Jalousie hinauf. Abgesehen von den Scheinwerfern der Autos unten auf der Straße und den Lichtern der Schiffe im Hafen war die Stadt völlig dunkel. Aber ein anderes, schreckliches Licht war am anderen Ende von Long Island zu sehen – ein riesiger Feuerball, der sich auf einer brodelnden Rauchsäule erhob. Vom unteren Ende der Feuersäule her drang ein unerträglich grelles Licht herüber, breitete sich aus, und dann stiegen weitere Feuerbälle in die Höhe. Dann erst kam die Druckwelle der ersten Explosion heran. »Die Hauptreaktoren auch«, sagte Melroy leise, ohne sich überhaupt bewußt zu sein, daß er redete. »Waren zwar zu gut abgeschirmt, als daß die Explosion ihnen etwas hätte anhaben können, aber die Hitze hat das Fusionsmaterial zur kritischen Masse zusammengeschmolzen.« Leighton, der immer noch das brennende Feuerzeug in der Hand hielt, stand jetzt neben ihm.
»Das ist doch nicht – mein Gott! – es kann gar nichts anderes sein! Die ganze Anlage ist in die Luft geflogen! Und es gibt nicht einmal genug Generatoren in dieser Gegend, um auch nur ein Hundertstel des Energiebedarfs zu decken!« »Und versuchen Sie jetzt bloß nicht, meinen Leuten die Schuld zu geben«, warnte ihn Melroy. »Sie waren noch nicht fertig mit der Sicherheitsüberprüfung, als das passiert ist.« »Was, glauben Sie, könnte geschehen sein?« fragte Cronnin. »Ist einer von den Doernberg-Giardanos durchgegangen?« »Ja. Das habt ihr eurem Crandall zu verdanken. Wenn er das überlebt hat, ist es sein Pech«, sagte Melroy grimmig. »Als Fred Hausinger gestern abend das Fusionsmaterial aus Brüter Eins holte, fand er einen Brocken Pu-239. Ich weiß nicht, was weiter damit geschehen ist, aber ich weiß, daß Crandall die Arbeiter veranlaßt hat, den Reaktor wieder zu beschicken, damit meine Leute nicht daran arbeiten konnten. Niemand wird je herausfinden, wie es passiert ist, aber es geschah in Eile; wahrscheinlich haben die Arbeiter alles wieder genauso hineingeschoben, wie es gewesen war. Und irgendwie muß dieser große überkritische Klumpen mit hineingeraten sein. So kam eines zum anderen. Sie wissen selbst, wie schnell diese Brüter arbeiten. Es hat nicht lange gedauert, wie Sie feststellen konnten, um eine Kritische Masse aufzubauen. Erinnern Sie sich an das, was ich sagte, ehe die Lichter ausgingen? Nun ist es geschehen. Irgendein Idiot, ein anonymer Kretin, hat einen Fehler gemacht.« »Ja, dieser Crandall. Er war ein guter Mann, aber er hat eben nicht oft genug eine Denkpause eingelegt«, sagte Cronnin. »Nun, ich nehme an, daß der Streik jetzt vorüber ist.« »Aber all die Menschen da draußen!« Doris Rives war eine Frau und dachte konkret, mehr in Menschen als in abstrakten Begriffen. »Die Explosion muß doch in vielen Kilometern Umkreis alles Leben ausgelöscht haben!«
Sid Keating, dachte Melroy. Und Joe Ricci, und Ben Puryear, und Steve Chalmers und all die anderen Arbeiter, die er aus Pittsburgh mitgebracht hatte. Doch dann unterdrückte er diese Gedanken. Die Menschen, an die es jetzt zu denken galt, waren die vielen Millionen Einwohner von Groß New York, das ganze Hudson-Tal entlang, bis hinauf nach Albany, und im Süden bis nach Trenton hinunter. Die Menschen, die im Dunklen saßen, ohne Wärme in diesem bitterkalten Winter, ohne Strom in den Untergrundbahnen, den Wolkenkratzern, den Eisenbahnen und den Vorortszügen. Er wandte sich an die Frau, die neben ihm stand. »Doris, ehe Sie Ihr Diplom als Psychologin machen konnten, haben Sie doch Medizin studiert, nicht wahr?« »Nun, ja – « »Dann sollten Sie sich jetzt lieber beim nächsten Krankenhaus melden. In den nächsten Tagen und Wochen werden die jeden Arzt brauchen, den sie kriegen können. Ich selbst bin Major der Reserve bei den Pionieren. Wahrscheinlich werden sie die Reserveoffiziere einberufen. Hoffen wir, daß einige Rundfunkstationen noch in Betrieb sind. Solange ich nichts Gegenteiliges höre, betrachte ich mich ab sofort als im aktiven Dienst befindlich.« Er sah sich um. »Weiß irgend jemand, wo sich das nächstgelegene ArmeeHauptquartier befindet?« »Unten irgendwo in den dreißiger Stockwerken gibt es ein Rekrutierungsbüro«, sagte Quillen. »Aber das ist jetzt wahrscheinlich geschlossen.« »Bodenverteidigungskommando in Midtown City«, sagte Leighton. »Die haben auch eine eigene medizinische Abteilung und würden sich freuen, Dr. Rives zu bekommen.« Melroy half ihr in den Mantel, reichte ihr die Handtasche und zog dann selbst seinen Mantel an. Die Taschenlampe und die Pistole wogen schwer in den Taschen. Jetzt würde er sie beide
brauchen können – sowohl die Waffe als auch die Taschenlampe… Dieser Stromausfall würde sich die New Yorker Unterwelt auf jeden Fall zunutze machen. Er reichte Doris die Lampe und hielt ihr den Arm hin, damit sie sich einhaken konnte. Dann gingen sie gemeinsam hinaus auf den dunklen Gang und in das Treppenhaus und machten sich auf den langen Abstieg zur dunklen Straße tief unten in eine Stadt, die schlagartig von ihrer Lebensenergie abgeschnitten worden war. Eine Stadt, die all ihre Eier in einen Korb gelegt – und den Korb dann einem kurzsichtigen Dummkopf genau vor die Füße gestellt hatte.
Originaltitel: DAY OF THE MORON. Copyright © 1951 by Street & Smith Publications, Inc. Aus ASTOUNDING SCIENCE FICTION September 1951. Übersetzt von Udo H. Schwager.
Harry Bates DER TAG, AN DEM DIE ERDE STILLSTAND
Von seinem hohen Leitersitz aus betrachtete Cliff Sutherland genau die Linien und Konturen des großen Roboters und blickte dann nachdenklich hinab auf den Strom von Besuchern aus dem ganzen Sonnensystem, die hierher ins Museum gekommen waren, um Gnut und das Raumschiff mit eigenen Augen zu sehen und sich noch einmal die unglaubliche und tragische Geschichte anzuhören. Er selbst betrachtete diese Ausstellung gewissermaßen auch als sein Werk, und das mit einigem Recht. Bei der Landung der Besucher aus dem Unbekannten war er zufällig der einzige Pressefotograf auf dem Gelände des Capitols gewesen, und er hatte die ersten Aufnahmen von dem Raumschiff gemacht. Er hatte aus nächster Nähe alles miterlebt, was sich in den folgenden Tagen an Verrücktem abgespielt hatte. Später hatte er noch viele Aufnahmen von dem fast zweieinhalb Meter großen Roboter, dem Raumschiff und von der edlen Gestalt des Botschafters Klaatu in seiner monumentalen Gruft im Wasser des Tidebeckens gemacht. Und da die Milliarden Menschen überall im bewohnbaren Raum nicht aufgehört hatten, sich mit diesem Ereignis zu beschäftigen, war er jetzt wieder hier, um Aufnahmen zu machen – wenn möglich aus einer ganz neuen Sicht. Diesmal hatte er sich vorgenommen, ein Foto von Gnut zu schießen, auf dem der Roboter unheimlich und bedrohlich wirken sollte. Die Aufnahmen, die er am Tag zuvor gemacht hatte, zeigten nicht ganz den erwünschten Effekt, und er hoffte,
daß er heute mehr Erfolg haben würde. Aber jetzt war das Licht noch nicht günstig, und er mußte warten, bis es etwas dämmriger wurde. Die Besucher, die gerade eingelassen wurden, stießen beim Anblick des geheimnisvollen riesigen grünen Raum-ZeitSchiffes erstaunte Rufe aus, vergaßen das Raumschiff aber sogleich, als sie die furchteinflößende Gestalt und den mächtigen Kopf des Riesen Gnut erblickten. Der Anblick mechanisch zusammengefügter Roboter, die grobe Ähnlichkeit mit der menschlichen Gestalt besaßen, war ihnen nicht fremd, aber einen Roboter wie diesen hatte noch kein Sterblicher erblickt. Gnuts Körper war überlebensgroß und bestand aus grünlich schimmerndem Metall, doch er war genauso geformt wie der Körper eines Menschen, mit Muskeln, Sehnen und Fleisch, nur eben alles aus grünlichem Metall. Er war nackt bis auf einen Lendenschurz. Er stand da wie der mächtige Gott der Maschinen eines künftigen Zeitalters voll ungeahnter technischer Möglichkeiten, sein Gesicht hatte einen verschlossenen, nachdenklichen Ausdruck. Bei seinem Anblick wagte keiner der Besucher, eine spöttische Bemerkung zu machen, und diejenigen, die dicht vor ihm standen, blieben gewöhnlich ganz stumm. Seine seltsamen, von innen her leuchtenden roten Augen gaben jedem Betrachter das Gefühl, als ruhte ihr Blick direkt auf ihm, und man erwartete unwillkürlich, daß er in der nächsten Sekunde unvorstellbare Dinge tun würde. Aus den Lautsprechern in der Decke ertönte ein leises Rascheln und Knistern, und die Besucher schwiegen erwartungsvoll. Nun kam der auf Tonband gesprochene Führungsvortrag. Cliff seufzte. Er kannte ihn schon auswendig; er war sogar dabei gewesen, als er aufgenommen wurde, und hatte dabei den Sprecher, einen jungen Mann namens Stillwell, kennengelernt.
»Meine sehr geehrten Damen und Herren«, begann eine klare, modulationsfähige Stimme – aber Cliff hörte gar nicht mehr hin. Die Schatten auf Gnuts Gesicht und Gestalt waren dunkler geworden, und Cliff konnte langsam daran denken, seine Aufnahme zu machen. Er holte die Probeabzüge der Aufnahmen, die er gestern gemacht hatte, hervor und verglich sie mit seinem Objekt. Er blickte hinüber und zurück auf die Bilder und runzelte die Stirn. Bis jetzt war es ihm noch nicht aufgefallen, aber nun kam es ihm so vor, als sei seit gestern eine Veränderung mit Gnut vorgegangen. Seine Haltung war die gleiche wie auf dem Foto, jede Einzelheit schien zu stimmen, aber trotzdem wurde Cliff das Gefühl nicht los, daß sich etwas verändert hatte. Er hob sein Fernglas vor die Augen und verglich sorgfältig jede Linie auf dem Foto mit der Wirklichkeit. Und dann bemerkte er es. Einem plötzlichen Entschluß folgend, machte er kurz hintereinander zwei Aufnahmen mit verschieden langer Belichtung. Eigentlich hätte er jetzt noch etwas warten und weitere Fotos machen sollen, aber er war so sicher, daß er eine wichtige Entdeckung gemacht hatte, daß er rasch seine Ausrüstung zusammenpackte, die Leiter hinunterkletterte und davoneilte. Zwanzig Minuten später machte er sich in seinem Hotelzimmer voll Ungeduld und Neugierde an die Entwicklung des neuen Films. Als Cliff die Negative der Aufnahmen von gestern und heute miteinander verglich, lief ihm ein Schauer über den Rücken. Es war tatsächlich eine Veränderung festzustellen! Und anscheinend war er der einzige, der sie bemerkt hatte! Und obwohl seine Entdeckung wichtig genug war, die Titelstory für jede Zeitung im Sonnensystem abzugeben, bedeutete sie doch nur einen winzigen Hinweis. Von dem, was sich wirklich
abspielte, hatte er ebensowenig Ahnung wie alle anderen auch. Er mußte dahinterkommen. Und das hieß, daß er sich heimlich im Museumsgebäude verstecken und dort übernachten mußte. Heute nacht gleich; er konnte gerade noch zurückkehren, bevor es schließen würde. Er wollte eine kleine Infrarot-Kamera mitnehmen, mit der er auch im Dunkeln fotografieren konnte. Damit würde er die richtigen Fotos und die wahre Story erhalten. Er nahm die Kamera, winkte ein Lufttaxi herbei und eilte zurück ins Museum. Die anwesende Besuchergruppe hörte sich gerade den Schluß des Vortrags an. Er war froh, daß er die Sondererlaubnis hatte, nach Belieben ein- und ausgehen zu können. Er hatte sich schon überlegt, wie er vorgehen wollte. Als erstes holte er sich bei einem der Wärter eine Auskunft. Die Antwort hatte er vorausgesehen, und sein Gesicht nahm den Ausdruck gespannter Erwartung an. Als nächstes mußte er einen Platz finden, an dem er vor den Augen der Wärter sicher war, die das Museum schlossen. Es gab nur einen solchen Platz- das Laboratorium hinter dem Raumschiff. Er trat kühn auf den Wärter zu, der am Eingang zu dem abgetrennten Teil stand, zeigte ihm seinen Presseausweis und erzählte ihm, daß er die Wissenschaftler interviewen wolle, und im nächsten Augenblick war er an der Tür zum Labor. Er war schon mehrmals hier gewesen und kannte sich daher gut aus. Das Labor war ein großer, provisorisch abgetrennter Raum, in dem die Wissenschaftler Versuche unternahmen, die Wand des Raumschiffs zu durchdringen. Überall lagen und standen große, schwere Gegenstände herum: Elektro- und Heißluftöfen, Glasballons mit Chemikalien, Asbestplatten, Kompressoren, Wannen, ein Mikroskop und verschiedene kleinere Ausrüstungsgegenstände, wie man sie in metallurgischen Laboratorien findet. Drei Männer in weißen
Kitteln waren am Ende des Raums mit einem Experiment beschäftigt. Cliff wartete einen Augenblick, schlüpfte dann hinein und versteckte sich unter einem Tisch, dessen Platte zum Teil unter Geräten begraben war. Hier konnte er sich einigermaßen sicher fühlen. Es würde nicht mehr lange dauern, bis die Wissenschaftler nach Hause gingen. Er konnte hören, wie auf der anderen Seite des Raumschiffs eine neue Besuchergruppe eingelassen wurde – hoffentlich die letzte für heute. Er machte es sich so bequem wie möglich. Gleich würde der Vortrag beginnen. Er mußte unwillkürlich lächeln, als er an eine bestimmte Stelle in dem Vortrag dachte. Da war sie schon – die klare, geübte Stimme des Sprechers Stillwell. Das Fußscharren und Geflüster der Besucher hörte auf, und Cliff konnte jedes Wort verstehen, obwohl zwischen ihm und den Lautsprechern das große Raumschiff stand. »Meine sehr geehrten Damen und Herren«, begann der Vortrag, »im Namen des Smithsonian Instituts begrüße ich Sie herzlich in unserem neuerbauten Interplanetarischen Flügel. Ich freue mich, daß Sie den Weg zu uns gefunden haben, um diese einzigartige Ausstellung zu besichtigen.« Kurze Pause. »Sie werden inzwischen alle erfahren haben, was sich hier vor drei Monaten ereignet hat, falls Sie es nicht sogar mit eigenen Augen auf dem Bildschirm mitverfolgt haben. Aber ich will Ihnen die Fakten noch einmal kurz ins Gedächtnis rufen. Am Nachmittag des sechzehnten September kurz nach siebzehn Uhr hielten sich wie gewöhnlich zahlreiche Besucher Washingtons in der Umgebung dieses Gebäudes auf. Es war ein freundlicher, warmer Tag. Aus dem Haupteingang des Museums strömten die Besucherscharen. Dieser Flügel existierte damals natürlich noch nicht. Alle waren zweifellos müde von den stundenlangen Besichtigungen und sehnten sich nach Ruhe. Und dann geschah es.
Auf dem Platz zu Ihrer Rechten, an der gleichen Stelle, an der es jetzt steht, tauchte das Raum-Zeit-Schiff auf. Von einem Augenblick zum andern war es einfach da. Es kam nicht vom Himmel herunter. Dutzende von Augenzeugen haben das bestätigt; es tauchte praktisch aus dem Nichts auf. Eben war es noch nicht da, im nächsten Moment war es da, und zwar an der gleichen Stelle, an der Sie es jetzt sehen. Die Menschen, die sich in der Nähe des Raumschiffs befanden, brachen in Panik aus und rannten schreiend davon. Die Kunde von dem Ereignis breitete sich wie eine Flutwelle über Washington aus. Funk, Fernsehen und Presse waren sofort zur Stelle. Die Polizei bildete eine weite Absperrkette um das Raumschiff herum, und Armee-Einheiten mit gepanzerten Fahrzeugen wurden hierher entsandt. Man befürchtete das Schlimmste. Es war nämlich von Anfang an klar, daß dieses Raumschiff nicht aus unserm Sonnensystem stammt. Jedes Kind wußte, daß auf der Erde überhaupt nur zwei Raumschiffe gebaut worden waren; und von diesen beiden war das eine zerstört worden, als es in die Sonne gezogen wurde, und von dem anderen hatte man gerade erfahren, daß es sicher auf dem Mars gelandet war. Zweitens bestand der Rumpf der bei uns gebauten Raumschiffe aus einer bekannten Metallegierung, während dieses Raumschiff hier, wie Sie sehen, aus einem unbekannten grünlichen Metall hergestellt ist. Das Raumschiff blieb unbeweglich an der Stelle stehen, an der es aufgetaucht war. Niemand kam heraus, und es gab auch keine Anzeichen dafür, ob sich Lebewesen darin aufhielten oder nicht. Die allgemeine Aufregung wuchs. Wer oder was war in dem Raumschiff verborgen? Waren die Besucher in feindlicher oder in friedlicher Absicht gekommen? Woher stammte das Raumschiff? Wie konnte es überhaupt so
plötzlich auftauchen, ohne daß man es vorher am Himmel gesehen hatte? Zwei Tage lang stand das Raumschiff hier an dieser Stelle, ohne daß sich etwas rührte. Zu der Zeit hatten die Wissenschaftler bereits herausgefunden, daß es sich um kein gewöhnliches Raumschiff, sondern vielmehr um ein RaumZeit-Schiff handeln müsse, da nur ein solches imstande wäre, so aufzutauchen wie dieses, nämlich durch Materialisation. Sie erklärten, daß es uns Erdbewohnern zwar theoretisch möglich sei, die Prinzipien der Relativität, nach denen ein solches Raum-Zeit-Schiff funktionierte, zu verstehen, aber noch lange nicht, sie praktisch anzuwenden, und man dürfe deshalb annehmen, daß dieses Raum-Zeit-Schiff vom entferntesten Ende des Universums zu uns gekommen sei, aus einer Entfernung, die zu überbrücken selbst das Licht Millionen Jahre gebraucht hätte. Als diese Erklärung der Wissenschaftler öffentlich bekannt wurde, wuchs die Aufregung noch mehr. Woher kam das Raumschiff? Wer waren seine Insassen? Weshalb waren sie zur Erde gekommen? Und vor allem warum zeigten sie sich nicht? Bereiteten sie sich darauf vor, die Erde mit einer schrecklichen Waffe zu vernichten? Und wo befand sich der Einstieg zum Raumschiff? Männer, die mutig genug waren, nahe heranzugehen, berichteten, daß sie keinen gefunden hätten. Die glatte Oberfläche des eiförmigen Körpers zeigte nicht den geringsten Spalt oder die kleinste Vertiefung. Und auch die Versuche einer Abordnung hochgestellter Persönlichkeiten, die das Raumschiff besuchten und durch Klopfzeichen mit den Insassen Kontakt aufnehmen wollten, blieben ergebnislos. Schließlich zeigte sich am Ende des zweiten Tages unter den Blicken Tausender von Menschen eine Öffnung im Raumschiff, und während sich die Mündungen schwerer
Waffen darauf richteten, senkte sich eine Rampe herunter, und ein göttergleiches Wesen in menschlicher Gestalt trat hervor. Ihm folgte ein riesiger Roboter. Als sie den Erdboden berührten, hob sich die Rampe wieder, und der Eingang schloß sich. Den Zehntausenden versammelter Menschen war sogleich klar, daß der Fremde in freundlicher Absicht gekommen war. Er hob seinen rechten Arm zum universellen Zeichen des Friedens; aber noch mehr waren die Nahestehenden von dem Ausdruck seines Gesichts beeindruckt, das Güte, Freundlichkeit und Weisheit ausstrahlte. Er sah in seinem hellen Gewand aus wie ein Gott. Sogleich trat eine Abordnung hoher Regierungsbeamter und Offiziere auf den Fremden zu, um ihn zu begrüßen. Er deutete mit Würde und Anmut zuerst auf sich und dann auf den Roboter und sagte in einem eigenartig betonten Englisch: ›Ich bin Klaatu, und das ist Gnut.‹ Die Namen wurden damals zuerst nicht richtig verstanden, aber das Ganze wurde von Fernsehleuten in Bild und Ton aufgenommen, und so konnte man die Namen später genau feststellen. Und dann geschah das Schreckliche, dessen wir Menschen uns für immer werden schämen müssen. Aus einem Baum in hundert Meter Entfernung fiel ein Schuß, und Klaatu sank zu Boden. Die versammelte Menschenmenge war einen Augenblick lang wie versteinert und begriff nicht, was geschehen war. Gnut, der seitlich hinter seinem Meister stand, drehte sich langsam zu ihm hin, bewegte zweimal den Kopf und verharrte dann in genau der Stellung, in der Sie ihn jetzt sehen. Dann brach die Hölle los. Die Polizisten holten den Mörder Klaatus aus dem Baum. Es war ein Geistesgestörter, der fortwährend schrie, der Teufel sei gekommen, um alle Erdbewohner umzubringen. Er wurde abgeführt, und den
leblosen Körper Klaatus brachte man eilig ins nächste Krankenhaus, um zu sehen, ob man nicht doch noch etwas für ihn tun könne. Die verstörte und erschreckte Menschenmenge umkreiste noch den ganzen Abend und die Nacht das Capitol. Das Raumschiff blieb unbeweglich an der gleichen Stelle, und auch Gnut hat sich aus der Haltung, die er angenommen hatte, nicht mehr gerührt – nicht einen Millimeter. Er verharrte die Nacht und die folgenden Tage in genau der Stellung, in der Sie ihn jetzt sehen. Als die Gruft im Tidebecken errichtet war, hielt man die feierliche Bestattungszeremonie für Klaatu ab – hier an der Stelle, an der Sie stehen, und die höchsten Würdenträger aller Nationen nahmen daran teil. Das war nicht nur angemessen, sondern auch aus Sicherheitsgründen notwendig, denn falls sich noch andere Lebewesen in dem Raumschiff aufhielten, was man damals nicht ausschließen konnte, mußte die echte Trauer der Erdbewohner über das, was vorgefallen war, sie beeindrucken. Ob Gnut noch lebte – oder vielleicht sollte ich eher sagen: funktionierte –, war nicht festzustellen. Er verharrte während der ganzen Zeremonie in der gleichen Haltung. Er blieb so, als man den Körper seines Meisters zur Gruft hinüberbrachte und Hort beisetzte, mitsamt der für die Nachwelt bedeutsamen Aufzeichnungen seines auf so tragische Weise beendeten kurzen Besuchs auf der Erde. Gnut blieb so Tag für Tag, Nacht für Nacht, bei Regen und Sonnenschein und zeigte mit keiner Regung, daß er wahrgenommen hatte, was um ihn herum geschehen war. Nach der Beisetzung wurde dieser Flügel an das Museum angebaut, um dem Raumschiff und Gnut Schutz zu gewähren. Beide waren, wie sich herausstellte, viel zu schwer, als daß man sie mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln sicher irgendwo anders hin hätte transportieren können.
Sie haben sicher von den bislang erfolglosen Versuchen unserer Metallurgen gehört, die Wand des Raumschiffs zu durchdringen. Hinter dem Raumschiff wurde ein abgeteilter Werkraum eingerichtet, in dem diese Versuche fortgesetzt werden. Bis jetzt hat sich dieses eigentümliche grüne Metall als unangreifbar erwiesen. Unsere Wissenschaftler können es weder durchdringen, noch sind sie in der Lage, exakt die Stelle anzugeben, an der Klaatu und Gnut ausgestiegen sind. Die Kreidemarkierungen, die Sie hier sehen, bezeichnen die Stelle nur annähernd. Viele Menschen haben befürchtet, Gnut könne seine Funktionsfähigkeit nur vorübergehend verloren haben und noch gefährlich werden, deshalb haben unsere Wissenschaftler alles getan, um diese Möglichkeit auszuschalten. Da der Roboter anscheinend aus dem gleichen unangreifbaren grünen Metall besteht wie das Raumschiff, konnten sie zwar nicht seinen Steuerungsmechanismus erreichen; aber sie hatten andere Mittel zur Verfügung. Sie haben elektrischen Strom von ungeheurer Stärke durch seinen Körper gejagt. Sie haben alle Teile seines Metallpanzers einer immensen Hitzeeinwirkung ausgesetzt. Sie haben ihn tagelang in Giftgase, starke Säuren und Ätzmittel getaucht und ihn mit allen bekannten Strahlen bombardiert. Sie brauchen vor ihm keine Angst mehr zu haben. Es ist unvorstellbar, daß seine Funktionsfähigkeit nach all diesen Prozeduren noch in irgendeiner Weise erhalten geblieben ist. Nur das eine sollten Sie beherzigen. Die Regierung verläßt sich darauf, daß keiner der Besucher es in diesem Gebäude an Ehrerbietung fehlen läßt. Es könnte sein, daß die unbekannte und unglaublich mächtige Zivilisation, die Klaatu und Gnut geschickt hat, eine neue Expedition aussendet, um zu erfahren, was aus ihnen geworden ist. Ob das nun geschieht oder nicht – nicht einer von uns darf es an der angemessenen Haltung
fehlen lassen. Wir konnten nicht voraussehen, was geschehen ist, und wir sind alle unermeßlich betrübt darüber, aber trotzdem haben wir in einem gewissen Sinn die Verantwortung dafür zu tragen, und wir müssen alles in unserer Macht Stehende tun, um eventuellen Vergeltungsmaßnahmen vorzubeugen. Sie können sich jetzt noch fünf Minuten hier aufhalten, beim Gongzeichen verlassen Sie bitte sofort den Raum. Falls Sie noch irgendwelche Fragen haben, können Sie von unseren Auskunftsautomaten, die entlang der Wand aufgestellt sind, jede gewünschte Auskunft erhalten. Vergessen Sie nicht: Was Sie hier vor sich haben, sind Symbole für die unglaublichen Errungenschaften wie auch für die Gebrechlichkeit der menschlichen Rasse.« Der Tonbandvortrag war beendet. Cliff bewegte vorsichtig seine steif gewordenen Glieder und grinste. Wenn die wüßten, was er wußte! Seine Fotos stimmten nämlich nicht so ganz mit der Darstellung des Vortrags überein. Auf dem gestrigen Foto war eine Linie des gemusterten Fußbodens deutlich am Außenrand des einen Fußes von Gnut sichtbar gewesen; auf dem heutigen Foto war diese Linie verdeckt. Gnut hatte sich bewegt! Oder er war bewegt worden, obwohl das ziemlich unwahrscheinlich war. Von einem Kran oder anderen Spuren einer derartigen Tätigkeit war nichts zu sehen. Man hätte das auch kaum in einer Nacht geschafft. Und weshalb hätte man ihn überhaupt weiterrücken sollen? Doch um ganz sicherzugehen, hatte Cliff noch den Wärter gefragt. Er konnte sich fast wörtlich an seine Antwort erinnern: »Nein, Gnut hat sich seit dem Tod seines Meisters nicht mehr bewegt und ist auch nicht bewegt worden. Im Gegenteil, es ist alles getan worden, um ihn in der Stellung, die er bei Klaatus Tod angenommen hat, zu fixieren. Der Fußboden wurde unter
ihm eingebaut, und die Wissenschaftler, welche die endgültige Zerstörung seiner Funktionsfähigkeit bewirkt haben, haben ihre Geräte um ihn herum aufgebaut, so wie er jetzt da steht. Sie brauchen keine Angst zu haben.« Cliff grinste wieder. Er hatte keine Angst. Noch nicht.
Einen Augenblick später ertönte der Gong über der Eingangstür, und eine Stimme aus den Lautsprechern verkündete: »Es ist fünf Uhr, meine Damen und Herren. Das Museum wird geschlossen.« Überrascht, daß es schon so spät war, wuschen sich die drei Wissenschaftler eilig die Hände, zogen ihre Kittel aus und verschwanden durch den abgeteilten Gang, ohne den Pressefotografen unter seinem Tisch zu entdecken. Das Fußscharren und Getrappel im Ausstellungsraum verebbte rasch, bis schließlich nur noch die Schritte der beiden Wärter zu hören waren, die sich vergewissern wollten, daß alles in Ordnung war. Einer von ihnen warf noch einen kurzen Blick ins Laboratorium, dann ging er zurück zu seinem Kollegen an der Eingangstür. Gleich darauf wurde die schwere Metalltür geschlossen, und es war still. Cliff wartete ein paar Minuten und verließ dann vorsichtig sein Versteck unter dem Tisch. Als er sich aufrichtete, klirrte etwas leise zu seinen Füßen. Er bückte sich behutsam und stieß auf die Scherben einer Glaspipette. Er mußte sie vom Tisch gestoßen haben. Das brachte ihn auf etwas, an das er vorher noch nicht gedacht hatte: Ein Gnut, der sich bewegte, konnte vielleicht auch sehen und hören – und gefährlich werden. Er mußte sehr vorsichtig sein.
Er blickte sich um. Zwei Seiten des Laboratoriums bestanden aus Faserplatten, die sich auf der Innenseite dicht an die gekrümmte Oberfläche des Raumschiffs anschlossen. Die Innenseite war das Raumschiff selbst, und die Außenseite bildete die südliche Fassade dieses Flügels. In ihr befanden sich vier hohe Fenster. Die abgetrennte Passage war der einzige Zugang. Er bewegte sich nicht. Bei seinem weiteren Vorgehen konnte er sich allein auf seine gute Ortskenntnis verlassen. Dieser Flügel war mit dem Westflügel des Museums durch eine kaum benutzte Tür verbunden und zeigte nach Westen hin in Richtung auf das Washington-Monument. Das Raumschiff befand sich nahe der Südseite, und Gnut stand nicht weit von der Nordostecke davor, genau gegenüber dem Eingang und der Passage, die zum Laboratorium führte. Wenn Cliff jetzt zurückging, würde er an der Stelle des Ausstellungsraums herauskommen, die von dem Roboter am weitesten entfernt war. Das war ihm gerade recht, denn auf der anderen Seite der Eingangstür stand auf einer kleinen Plattform ein mit Platten verkleideter Tisch, in dem das Tonbandgerät für den Vortrag auf bewahrt wurde. Dieser Tisch war der einzige Gegenstand, im Raum, hinter dem er sich verstecken konnte, um zu beobachten, was sich hier in der Nacht abspielen würde. Die einzigen Verstecke, die sonst noch in Frage kamen, waren die sechs Automaten entlang der Nordwand, die dort aufgestellt worden waren, um die Fragen der Besucher zu beantworten. Ihm blieb nur die Möglichkeit, sich hinter den Tisch zu schleichen. Er drehte sich um und schlich auf Zehenspitzen aus dem Labor heraus und den Gang entlang. Hier war es schon dunkel, denn alles Tageslicht, das in den Ausstellungsraum fiel, wurde durch den riesigen Schiffsrumpf abgedeckt. Geräuschlos erreichte er das Ende des Ganges. Dort beugte er sich
behutsam vor und lugte am Rumpf des Raumschiffs vorbei zu Gnut hinüber. Im ersten Augenblick erschrak er. Der Roboter blickte ihn direkt an! – oder jedenfalls schien es so. Kam das nur durch die eigenartige Stellung seiner Augen, oder hatte er ihn tatsächlich entdeckt? Jedenfalls hatte Gnut seine Kopfhaltung anscheinend nicht verändert. Vielleicht war alles ganz harmlos, aber trotzdem wünschte Cliff, die Strecke bis zum Tisch nicht mit dem Bewußtsein zurücklegen zu müssen, daß ihm die Augen des Roboters folgten. Er zog den Kopf zurück, setzte sich hin und wartete. Es mußte erst ganz dunkel werden, bevor er den Vorstoß zum Tisch hinüber wagen konnte. Er wartete eine volle Stunde, bis das schwache Licht der Lampen von draußen die einzige Beleuchtung bildete; dann stand er auf und sah wieder hinter dem Schiffsrumpf hervor. Die Augen des Roboters waren anscheinend wie zuvor direkt auf ihn gerichtet, nur daß sie jetzt in der Dunkelheit noch stärker leuchteten. Eine gespenstische Angelegenheit. Wußte Gnut, daß er hier war? Was dachte der Roboter? Konnte eine von Menschen gefertigte Maschine, selbst wenn sie so perfekt war wie Gnut, denn überhaupt etwas denken? Es wurde langsam Zeit für seinen Vorstoß, deshalb schob Cliff kurz entschlossen seine Kamera auf den Rücken, ließ sich auf alle viere nieder und kroch vorsichtig bis zu der Wand vor, in der sich die Eingangstür befand. Dort drückte er sich eng an die Mauer und schob sich langsam weiter nach vorn. Ohne abzusetzen und ohne einen Blick auf Gnuts furchtbare rote Augen zu wagen, kroch er Zentimeter um Zentimer weiter. Er brauchte zehn Minuten, um die dreißig Meter zu überwinden, und war in Schweiß gebadet, als seine Finger schließlich die dreißig Zentimeter hohe Plattform berührten, auf welcher der
Tisch stand. Lautlos wie ein Schatten kroch er darüber hin und ließ sich im Schutz des Tisches nieder. Er war endlich am Ziel. Er ruhte sich kurz aus und blickte dann vorsichtig um die Tischecke, um festzustellen, ob er beobachtet worden war. Gnuts Augen waren direkt auf ihn gerichtet. Jedenfalls schien es so. In der Dunkelheit zeichnete sich die Gestalt des Roboters als ein noch dunklerer geheimnisvoller Schatten ab, der den ganzen Raum zu beherrschen schien, obwohl er fünfundvierzig Meter entfernt war. Cliff konnte nicht entscheiden, ob Gnut seinen Standort weiter verschoben hatte oder nicht. Aber mochte Gnut ihn auch anblicken, sonst tat er jedenfalls nichts. Cliff konnte nicht die kleinste Regung an ihm wahrnehmen. Seine Haltung war die gleiche wie in den letzten drei Monaten, bei Regen oder Sonnenschein und während der letzten Woche in dem neuerbauten Flügel des Museums. Cliff nahm sich vor, keine Angst zu haben. Er wurde sich seines mitgenommenen Körpers bewußt. Knie und Ellbogen brannten, und seine Hose war bei der Kriecherei bestimmt ruiniert worden. Aber das war alles unwichtig, wenn das, worauf er wartete, tatsächlich eintreffen würde. Wenn Gnut sich wirklich bewegt und er ihn mit seiner Infrarot-Kamera dabei aufnehmen konnte, dann würde er eine Story verkaufen können, die ihm leicht fünfzig neue Anzüge einbringen würde. Und wenn er außerdem noch herausbekommen konnte, zu welchem Zweck Gnut sich bewegte – vorausgesetzt, seine Bewegungen hatten einen Zweck –, dann hätte er eine Story anzubieten, die der ganzen Welt den Atem rauben würde. Er machte es sich bequem und stellte sich auf eine längere Wartezeit ein; es war ja schließlich nicht vorauszusehen, wann Gnut sich bewegen würde. Cliffs Augen hatten sich langsam an die Dunkelheit gewöhnt, er konnte alle größeren Gegenstände gut erkennen. Von Zeit zu Zeit beugte er sich vor
und sah zu dem Roboter hinüber – starrte ihn so lange an, bis die Umrisse seines Körpers verschwammen und er sich zu bewegen schien, und dann mußte Cliff erst die Augen zusammenkneifen und ausruhen, um festzustellen, daß es nur eine Einbildung gewesen war. Der große Zeiger auf seiner Armbanduhr hatte schon wieder eine Runde gedreht. Das untätige Warten ermüdete Cliff, und er ließ immer mehr Zeit verstreichen, bevor er wieder den Kopf hinter dem Tisch hervorstreckte. Und so kam es, daß er fast zu Tode erschrak, als Gnut sich tatsächlich bewegte. Er streckte benommen und ein wenig gelangweilt den Kopf vor und erblickte plötzlich den Roboter nicht weit von sich entfernt mitten im Saal. Was ihn dabei am meisten erschreckte, war, daß Gnut sich in dem Moment, als er ihn erblickte, nicht mehr rührte. Er war mitten in der Bewegung erstarrt. Seine Augen leuchteten jetzt noch heller und waren auf Cliff gerichtet, daran gab es keinen Zweifel. Cliff wagte kaum zu atmen und starrte halb in Trance in diese Augen. Seine Gedanken überstürzten sich. Was hatte der Roboter vor? Weshalb war er plötzlich in der Bewegung erstarrt? Hatte er es auf ihn abgesehen? Wieso konnte er sich so lautlos bewegen? Gnuts Augen kamen in der Dunkelheit langsam näher. Das fast unhörbare Geräusch seiner Schritte verstärkte sich in Cliffs Ohren zu einem rhythmisch dumpfen Trommeln. Cliff, der gewöhnlich allen Lagen gewachsen war, fühlte sich jetzt vollkommen hilflos. Vor Angst wie versteinert, unfähig zu fliehen, lag er da, während das Ungeheuer aus Metall mit den feurigen Augen immer näher kam. Cliff verlor für einen Augenblick das Bewußtsein, und als er wieder zu sich kam, stand Gnut riesenhaft über ihm, seine
Beine zum Greifen nahe. Er beugte sich herab, und seine brennenden Augen sahen Cliff durchdringend an. Jetzt war es zu spät, um noch an Flucht zu denken. Zitternd erwartete Cliff den vernichtenden Schlag. Lange Zeit starrte Gnut ihn unbewegt an – es schien Cliff eine Ewigkeit. Und die ganze Zeit über wartete er auf den sicheren Tod. Und dann war es plötzlich vorbei. Gnut richtete sich auf und trat einen Schritt zurück. Er drehte sich um und ging dann mit rucklosen Bewegungen, wie sonst kein Roboter, dorthin zurück, woher er gekommen war. Cliff konnte es kaum fassen. Er war verschont worden. Gnut hätte ihn wie einen Wurm zertreten können – aber er hatte sich nur umgedreht und war zurückgegangen. Warum? Ein Roboter hat doch keine menschlichen Regungen. Gnut ging direkt auf das Raumschiff zu. Er blieb an einer bestimmten Stelle stehen und verursachte eine Reihe seltsamer Geräusche. Plötzlich sah Cliff eine schwarze Öffnung, dunkler als die Schatten im Museumsraum, und mit leisem Surren glitt eine Rampe heraus, die auf den Boden aufsetzte. Gnut schritt die Rampe hinauf, bückte sich leicht und verschwand im Innern des Raumschiffs. Jetzt dachte Cliff zum erstenmal wieder an die Fotos, derentwegen er eigentlich hergekommen war. Gnut hatte sich bewegt, aber er hatte ihn dabei nicht fotografiert! Was immer sich später noch an Möglichkeiten ergeben mochte, jetzt konnte er zumindest einmal die Öffnung im Raumschiff und die ausgezogene Rampe festhalten; er zückte seine Kamera und machte eine Aufnahme. Es verging eine lange Zeit. Gnut kam nicht wieder heraus. Was mochte er da drinnen nur machen, fragte sich Cliff. Er hatte inzwischen wieder etwas Mut gefaßt und spielte mit dem Gedanken, hinterher zu schleichen und durch die Öffnung einen Blick ins Raumschiff zu werfen, aber dann fand er es
doch zu riskant. Gnut hatte ihn einmal verschont, aber konnte man wissen, wie er sich das nächste Mal verhalten würde?
Es verging eine Stunde und noch eine. Gnut machte im Raumschiff irgend etwas, aber was das sein mochte, konnte sich Cliff nicht vorstellen. Wenn der Roboter ein Mensch gewesen wäre, dann hätte Cliff bestimmt einen Blick ins Innere gewagt, doch Gnut war eine so vollkommen unbekannte Größe, daß man derartige Experimente besser unterließ. Schon die einfachen Roboter, die auf der Erde gebaut wurden, waren unter bestimmten Bedingungen fähig, die unglaublichsten Dinge zu leisten; um wieviel mehr dann erst dieser Roboter, der das Werk einer unbekannten, unvorstellbar fortgeschrittenen Zivilisation war, die erstaunlichste Konstruktion, die man je gesehen hatte – welche übermenschlichen Fähigkeiten mochte er besitzen? Die Wissenschaftler der Erde hatten alles versucht, um ihn außer Funktion zu setzen. Mit Säuren, Hitze, Strahlen und gewaltigen Stößen hatten sie ihn bearbeitet – er hatte allem widerstanden. Seine glatte Oberfläche hatte nicht einen Kratzer abbekommen. Wahrscheinlich konnte er sogar im Dunkeln sehen. Und vielleicht hörte oder spürte er die kleinste Bewegung, die Cliff verursachte. Die Zeit verging. Und dann, es war kurz nach zwei Uhr morgens, geschah etwas so Geringfügiges, Vertrautes, aber auch so Unerwartetes, daß Cliff einen Augenblick an seinem Verstand zweifelte. Plötzlich hörte er in dem dunklen, stillen Raum leises Flügelflattern und gleich darauf das liebliche Zwitschern eines Vogels. Es war eine Spottdrossel. Irgendwo über ihm in der Dunkelheit. Sie sang mit klarer Stimme ihre Lieder, ohne Pause eins nach dem andern, dazwischen nur sehnsüchtige Lockrufe – ein richtiger Frühlingsliebesgesang,
vielleicht der schönste Gesang auf der Welt. Das Vogelzwitschern hörte ebenso plötzlich auf, wie es begonnen hatte. Wenn plötzlich eine Armee bewaffneter Soldaten aus dem Raumschiff gestürzt wäre, dann wäre Cliff wahrscheinlich weniger überrascht gewesen. Es war jetzt Dezember, und selbst in Florida hatten die Spottdrosseln noch nicht mit ihren Frühlingsliedern angefangen. Wie konnte eine von ihnen in dieses düstere Museum geraten sein? Und weshalb sang sie hier? Er wartete voll gespannter Neugier. Plötzlich bemerkte er Gnut, der vor dem Eingang zum Raumschiff stand. Er bewegte sich nicht, nur seine glühenden Augen sahen in Cliffs Richtung. Die Stille im Museum schien sich noch zu vertiefen; dann wurde sie durch den weichen Aufprall eines kleinen Körpers auf dem Boden ganz in Cliffs Nähe unterbrochen. Er wartete mit angehaltenem Atem. Das Licht in Gnuts Augen veränderte sich, und er begann mit seinen langsamen, gleitenden Schritten auf Cliff zuzugehen. Kurz vor ihm blieb er stehen, bückte sich und nahm etwas vom Boden auf. Eine ganze Weile stand er reglos da und betrachtete den kleinen Gegenstand in seiner Hand. Cliff konnte ihn nicht erkennen, aber er wußte, daß es der leblose Körper der Spottdrossel war. Dann dreht sich Gnut um und ging zurück ins Raumschiff, ohne noch einen Blick auf Cliff zu werfen.
Es vergingen Stunden, in denen Cliff darauf wartete, daß noch etwas geschehen würde. Seine Neugierde wuchs und verdrängte immer mehr die Angst vor dem Roboter. Wenn Gnut ihm etwas antun wollte, dann hätte er es gewiß getan, als er so bedrohlich vor ihm stand. Cliff begann sich Mut zu machen, doch einen Blick ins Raumschiff zu wagen. Und ein
Foto; er mußte an das Foto denken. Er hatte zwischendurch immer wieder vergessen, weshalb er eigentlich hier war. Endlich hatte er genügend Mut gesammelt, um es zu wagen. Er zog sich die Schuhe aus, band sie zusammen und hängte sie sich über die Schulter. Dann huschte er auf Socken rasch hinter den ersten der sechs entlang der Wand aufgestellten Auskunftautomaten. Dort hielt er einen Augenblick inne und wartete auf ein Anzeichen dafür, daß Gnut seinen Vorstoß bemerkt hatte. Als sich nichts rührte, schlüpfte er weiter hinter den nächsten Automaten und wartete wieder. Kühner geworden, lief er beim nächsten mal gleich die ganze Strecke bis zu dem letzten Auskunftsautomaten, der genau gegenüber dem Eingang zum Raumschiff stand. Dort erwartete ihn eine Enttäuschung. Aus dem Eingang fiel kein Licht. Aber ein Foto wollte er wenigstens machen. Er hob seine Kamera, richtete sie auf die dunkle Öffnung und machte eine Aufnahme mit ziemlich langer Belichtung. Dann stand er da und wußte nicht so recht, was er als Nächstes tun sollte. Während er so stand, drangen seltsame, gedämpfte Geräusche an sein Ohr, die anscheinend aus dem Innern des Raumschiffs kamen. Tierlaute – Kratzen und Keuchen, dazwischen ab und zu ein helles Klicken, dann tiefes, rauhes Knurren und wieder Kratzen und Keuchen, als ob drinnen ein Kampf ausgetragen würde. Bevor Cliff noch daran denken konnte, zu seinem Tisch zurückzulaufen, sprang plötzlich eine geduckte dunkle Gestalt aus dem Eingang, drehte sich um und richtete sich zu voller Mannesgröße auf. Cliff wurde von schrecklicher Angst gepackt, noch bevor er wußte, was das für ein Wesen war. Im nächsten Augenblick tauchte Gnut im Eingang auf und schritt ohne zu zögern die Rampe hinab auf das Wesen zu. Es wich einige Schritte zurück; aber dann blieb es stehen, hob seine mächtigen Arme und begann damit dröhnend gegen seine Brust zu trommeln; gleichzeitig stieß es ein tiefes,
herausforderndes Brüllen aus. Es gab nur ein Tier auf der Welt, das gegen seine Brust trommelte und so brüllt: Ein Gorilla! Und noch dazu war dies ein besonders großer! Gnut ging immer näher auf das Tier zu, und als er dicht vor ihm war, packte er es plötzlich und begann mit ihm zu ringen. Cliff hätte nie gedacht, daß Gnut so rasche Bewegungen ausführen konnte. In der Dunkelheit konnte er nicht alles genau erkennen, er sah nur, wie die beiden riesigen Gestalten, der große metallene Roboter und der untersetzte, kräftige Gorilla, einen Augenblick miteinander verschmolzen, wobei der Gorilla entsetzliche dumpfe Laute von sich gab; dann trennten sich die Gestalten; der Gorilla war anscheinend zurückgeschleudert worden. Das wilde Tier richtete sich sofort wieder zu seiner vollen Größe auf und stieß ein ohrenbetäubendes Brüllen aus. Gnut näherte sich ihm. Wieder verschmolzen die Gestalten zu einem Knäuel, und wieder trennten sie sich auf die gleiche Weise wie vorher. Gnut ging unbeirrt weiter auf den Gorilla zu, und nun begann das Tier zurückzuweichen. Plötzlich warf es sich auf eine menschenähnliche Gestalt an der Wand – es war der fünfte Auskunftsautomat –, stieß sie um und riß ihr den Plastikkopf ab. Zitternd vor Angst duckte Cliff sich hinter den Automaten, der ihm als Versteck diente. Er konnte seinem Herrgott danken, daß Gnut zwischen ihm und dem Gorilla war und daß er ihn immer weiter zurückdrängte. Plötzlich stürzte sich das Tier auf den nächsten Automaten in der Reihe, stemmte ihn mit unglaublicher Kraft hoch und schleuderte ihn gegen Gnut. Mit lautem metallischem Klirren prallte ein Roboter auf den anderen auf, und der von Menschen gebaute fiel seitlich zu Boden und rollte dort noch ein Stück weiter.
Cliff hätte sich hinterher dafür ohrfeigen können, daß er keine Fotos von dem Kampf gemacht hatte; aber er war so gespannt, daß er es ganz einfach vergaß. Der Gorilla wurde immer weiter zurückgedrängt; er zerschmetterte in seiner Wut einen Auskunftsroboter nach dem anderen und schleuderte die einzelnen Teile gegen Gnut, der sich dadurch nicht beeindrucken ließ. Bald waren sie bei dem Tisch angekommen, und Cliff war froh, daß er jetzt nicht mehr darunter hockte. Es wurde einen Augenblick still. Cliff konnte nicht erkennen, was sich dort hinten abspielte, aber er nahm an, daß der Gorilla in die Ecke gedrängt worden war und nicht mehr herauskonnte. Doch anscheinend nur für kurze Zeit. Denn plötzlich erhob sich wieder ein entsetzliches Brüllen, und die breite, untersetzte Gestalt sprang quer durch den Saal direkt auf Cliff zu. Sie kam ganz nahe heran und wandte sich erst im letzten Augenblick um. Cliff betete darum, daß Gnut rasch nachkommen möge, denn jetzt stand nur noch der letzte übriggebliebene Auskunftsautomat zwischen ihm und dem bis zum Wahnsinn gereizten Tier. Aus der Dämmerung tauchte Gnut auf. Der Gorilla richtete sich zu seiner vollen Größe auf und begann gegen seine Brust zu trommeln und sein herausforderndes Brüllen anzustimmen. Und dann geschah etwas Seltsames. Das gewaltige Tier kippte nach vorn und rollte sich langsam auf die Seite, so als sei es verletzt oder geschwächt. Dann richtete es sich keuchend wieder auf und stellte sich dem herankommenden Gnut entgegen. Während es so wartete, fiel sein Blick auf den letzten Auskunftsroboter und vielleicht auch auf Cliff, der sich dahinter verbarg. Mit furchtbarem Wutgebrüll trottete der Gorilla auf Cliff zu, und jetzt stellte Cliff trotz seiner Angst fest, daß das Tier tatsächlich Mühe hatte, sich aufrecht zu halten, so als sei es krank oder schwer verwundet. Er sprang noch rechtzeitig zurück; der Gorilla packte den letzen Roboter
und schleuderte ihn wütend gegen Gnut; er verfehlte ihn um Haaresbreite. Das war sein letzter Angriff. Er begann zu taumeln, fiel auf die Seite, bewegte sich ein paarmal vor und zurück, und dann wurde sein schwerer Körper von Zuckungen geschüttelt. Schließlich hörten sie auf, und er blieb ganz still liegen und bewegte sich nicht mehr.
Das erste fahle Licht der Morgendämmerung begann in den Raum zu kriechen. Aus seiner Ecke, in die er sich gedrückt hatte, beobachtete Cliff den großen Roboter. Sein Verhalten erschien ihm sehr seltsam. Er stand neben dem toten Gorilla und blickte mit einem Ausdruck von Trauer, wie man es wohl bei einem Menschen nennen würde, auf ihn hinunter. Cliff sah es ganz deutlich; Gnuts großes grünliches Gesicht zeigte Züge schmerzlicher Trauer, die Cliff vorher nicht darin bemerkt hatte. Er blieb eine Weile so stehen, dann beugte er sich hinab wie ein Vater zu seinem kranken Kind, nahm das große Tier in seine metallenen Arme und trug es behutsam ins Raumschiff. Cliff flüchtete zurück zu seinem Tisch; er hatte plötzlich Angst davor, daß sich noch mehr gefährliche und unerklärliche Dinge ereignen könnten. Ihm kam der Gedanke, daß es im Laboratorium vielleicht sicherer für ihn sei, und er schlich mit weichen Knien hinüber und versteckte sich in einem der großen Schmelzöfen. Er hoffte von ganzem Herzen, daß es bald Tag würde. In seinem Kopf war ein Chaos. Die erstaunlichen Ereignisse der Nacht jagten durch seine Gedanken, aber alles blieb ein Rätsel; wahrscheinlich konnte man keine vernünftige Erklärung dafür finden. Die Sache mit der Spottdrossel. Der Gorilla. Gnuts Trauer und seine Sanftmut. Wie konnte man ein solch phantastisches Durcheinander auf einen Nenner bringen!
Nach und nach wurde es Tag. Er saß da und wartete, und langsam begann er wieder zu hoffen, daß er vielleicht doch noch lebend von diesem Ort der Schrecken und Rätsel davonkommen könnte. Um halb neun wurden an der Eingangstür Geräusche laut, und der vertraute Klang menschlicher Stimmen drang an sein Ohr. Er kroch aus dem Ofen und schlich auf Zehenspitzen zum Eingang des Laboratoriums. Die Geräusche verstummten plötzlich, es folgte ein erschreckter Aufschrei, dann das Trappeln davonlaufender Füße und darauf Stille. Cliff schlich leise den Gang hinunter und blickte furchtsam um das Raumschiff herum. Gnut stand an seinem gewöhnlichen Platz, in der gleichen Haltung, die er beim Tod seines Meisters angenommen hatte, vor dem nun wieder fest geschlossenen Raumschiff. Der Saal glich einem Schlachtfeld. Die große Eingangstür stand offen, und Cliff rannte mit klopfendem Herzen hinaus. Als er Minuten später erschöpft in seinem Hotelzimmer anlangte und sich nur einen Augenblick zum Ausruhen hinsetzte, schlief er sofort ein. Später taumelte er schlaftrunken zu seinem Bett hinüber. Er wachte erst am späten Nachmittag wieder auf. Als Cliff langsam zu sich kam, glaubte er zuerst, die Bilder, die in seinem Kopf kreisten, entstammten einem Alptraum und nicht der Wirklichkeit. Erst die Erinnerung an die Aufnahmen, die er gemacht hatte, brachte ihn auf die Beine. Eilig machte er sich daran, den neuen Film zu entwickeln. Dann hielt er den Beweis dafür in der Hand, daß die Ereignisse dieser Nacht tatsächlich stattgefunden hatten. Beide Fotos waren gelungen. Auf dem ersten war deutlich die Rampe zu erkennen, die zum Eingang des Raumschiffs hinaufführte, so wie er sie von seinem Platz hinter dem Tisch gesehen hatte. Das zweite Foto, das er direkt vor dem geöffneten Eingang
geschossen hatte, war ein wenig enttäuschend; direkt hinter dem Eingang befand sich eine Wand, die jeden Einblick ins Innere des Raumschiffs versperrte. Das war wohl der Grund dafür, daß kein Licht aus dem Eingang gefallen war, während Gnut sich im Raumschiff aufgehalten hatte. Vorausgesetzt, Gnut benötigte überhaupt Licht. Cliff sah auf die Negative hinab und ärgerte sich. Was für ein schlechter Pressefotograf er doch war, daß er nur zwei lächerliche Aufnahmen zurückgebracht hatte! Dabei hätte er Gelegenheit genüg gehabt, wirklich aufregende Fotos zu machen: Gnut, wie er umherschritt – Gnuts Kampf mit dem Gorilla – Gnut, wie er die Drossel in der Hand hielt – Fotos, bei deren Anblick einem ein Schauer über den Rücken laufen würde! Und alles, was er mitgebracht hatte, waren zwei langweilige Aufnahmen vom Eingang. Natürlich waren sie wertvoll, aber er war trotzdem ein großer Esel. Und als Krönung seiner großartigen Leistung war er dann auch noch eingeschlafen! Aber jetzt mußte er so schnell wie möglich auf die Straße hinunter, um zu erfahren, was inzwischen passiert war. Er duschte rasch, rasierte sich und zog sich um. Wenig später betrat er ein nahegelegenes Restaurant, das vorwiegend von Journalisten und Presseleuten besucht wurde. An der Bar traf er auf einen befreundeten Kollegen und Konkurrenten. »Na, was meinst du denn dazu?« fragte dieser ihn, als er sich neben ihn auf den Barhocker schwang. »Ich meine überhaupt nichts, bevor ich nicht gefrühstückt habe«, antwortete Cliff. »Dann weißt du es also noch gar nicht?« »Was denn?« fragte Cliff, der genau wußte, was er darauf zu hören bekommen würde. »Du willst ein Pressefotograf sein?« war die Antwort seines Kollegen. »Liegst im Bett und schläfst, wenn die großen
Sachen passieren.« Aber dann erzählte er ihm, was man am Morgen im Museum entdeckt hatte und welche Aufregung darüber in der ganzen Welt herrschte. Cliff tat mit Erfolg drei Dinge gleichzeitig – er verschlang ein reichhaltiges Frühstück, dankte seinem Schicksal, daß man noch nicht mehr wußte, und legte dabei die ganze Zeit eine erstaunte Miene an den Tag. Noch immer kauend, stand er auf und eilte hinüber zum Museum. An der Sperre vor dem Eingang drängte sich die Menge der Neugierigen, aber Cliff wurde ohne weiteres eingelassen, als er seinen Presseausweis vorzeigte. Gnut und das Raumschiff standen an der gleichen Stelle, an der er sie zuletzt gesehen hatte, doch die über den Boden verstreuten Teile der zerstörten Automaten waren inzwischen an der Wand entlang aufgereiht worden. Im Saal hielten sich einige Kollegen von der Presse auf. »Ich war nicht da, ich hab’ alles versäumt«, sagte er zu einem von ihnen, einem Burschen namens Gus. »Wie erklärt man sich das Ganze eigentlich?« »Könntest du nicht ‘ne einfachere Frage stellen?« war die Antwort. »Niemand weiß es. Man nimmt an, daß vielleicht etwas aus dem Raumschiff herausgekommen ist, möglicherweise noch so ein Roboter wie Gnut. Aber sag, wo warst du denn?« »Im Bett.« »Dann wird’s Zeit, daß du das Versäumte nachholst. Millionen Menschen zittern vor Angst. Rache für den Tod Klaatus. Eine Invasion der Erde steht bevor.« »Aber das ist doch – « »Ich weiß, das ist verrückt, aber so steht es in jeder Zeitung; damit lassen sich Nachrichten besser verkaufen. Eben erst ist jedoch noch eine ganz erstaunliche Tatsache bekannt geworden. Komm mit.«
Er führte Cliff zu dem Tisch, um den sich eine Traube von Menschen gesammelt hatte, die interessiert auf einige von einem Wissenschaftler bewachte Gegenstände blickten. Gus zeigte auf einen gläsernen Objektträger, auf dem sich eine Anzahl kurzer dunkelbrauner Haare befanden. »Diese Haare stammen von einem ausgewachsenen Gorilla«, erklärte Gus mit einer gewissen hochmütigen Herablassung. »Die meisten davon sind heute morgen hier beim Aufräumen auf dem Fußboden gefunden worden. Ein paar klebten an den Trümmern der zerstörten Automaten.« Cliff rang sich eine verblüffte Miene ab. Gus zeigte auf ein Reagenzglas, das halb mit einer hellen bernsteinfarbenen Flüssigkeit gefüllt war. »Und das da ist Blut, verdünntes – Gorillablut. Es wurde an Gnuts Armen entdeckt.« »Mein Gott!« zwang Cliff sich auszurufen. »Und dafür gibt es keine Erklärung?« »Noch nicht mal ‘ne Theorie. Streng dein Köpfchen an, Wunderknabe – das ist deine große Chance.« Cliff trennte sich von Gus; es fiel ihm schwer, seine Rolle weiter durchzuhalten. Er wußte immer noch nicht, was er mit seiner Story anfangen sollte. Die Presseagenturen würden sich darum reißen, aber damit wären dann alle weiteren Aktivitäten für ihn unmöglich. Und irgendwie hatte er den Wunsch, die kommende Nacht wieder in dem Flügel zu verbringen, nur – er hatte auch schreckliche Angst. Er hatte in der letzten Nacht ziemlich viel durchgemacht und durchaus nicht die Absicht, sein Leben zu opfern. Er ging zu Gnut hinüber und sah ihn lange Zeit an. Niemand käme auf den Gedanken, daß er sich bewegt hatte, und niemand würde sich einen Ausdruck der Trauer auf seinem grünen metallenen Gesicht vorstellen können. Diese unheimlichen Augen! Cliff fragte sich, ob sie ihn tatsächlich
sahen, wie es den Anschein hatte, und ob sie in ihm den kühnen Eindringling von heute nacht erkannten. Aus welchem unbekannten Stoff mochten sie bestehen, diese kugelförmigen Gebilde, die von einem Zweig der menschlichen Rasse in seine Augenhöhlen eingepflanzt worden waren und die von den Erdenmenschen mit all ihrer Wissenschaft nicht einmal außer Funktion gesetzt werden konnten? Was mochte Gnut denken? Was konnte ein Roboter denken, ein von Menschen geschaffener Mechanismus? Zürnte er ihm? Cliff nahm es nicht an. Gnut hatte ihn in seiner Gewalt gehabt – und ihn nicht angerührt. Ob er es wagen konnte, noch eine Nacht hierzubleiben? Cliff hielt es nicht für ausgeschlossen. Er ging auf und ab und sann darüber nach. Er hatte das sichere Gefühl, daß Gnut sich wieder bewegen würde. Er besaß noch immer nicht die wirkliche Story. Und er hatte nur zwei armselige Fotos vom Raumschiff gemacht! Eigentlich hätte er sich gleich denken könne, wie sein Entschluß ausfallen würde. In der Abenddämmerung versteckte er sich bewaffnet mit seiner Kamera und einer handlichen Mikton-Laserpistole wieder unter dem Tisch im Laboratorium und hörte bald darauf, wie die metallene Eingangstür abgeschlossen wurde. Diesmal würde er die ganze Story bekommen – und die richtigen Fotos machen. Wenn man nur keine Wache im Saal zurückgelassen hatte!
Cliff lauschte lange Zeit angestrengt auf ein Geräusch, das darauf hindeuten würde, daß sich irgendwo eine Wache aufhielt, aber es blieb ganz still im Raum. Er war sehr froh darüber – obwohl er es irgendwie auch wieder bedauerte. Bei zunehmender Dunkelheit und im Bewußtsein, daß er nicht
mehr zurückkonnte, war ihm die Vorstellung, einen Gefährten zu haben, gar nicht so unangenehm. Etwa eine Stunde nach Anbruch der Dunkelheit zog er seine Schuhe aus, knüpfte sie zusammen und schlang sie um den Nacken und schlich dann leise den Gang hinunter. Alles schien genauso wie in der letzten Nacht zu sein. Gnut war eine unheimliche, verschwommene Schattengestalt auf der anderen Seite des Saals, seine glühenden roten Augen waren anscheinend genau wieder auf die Stelle gerichtet, an der Cliff hervorlugte. Ebenso wie in der letzten Nacht, nur noch vorsichtiger, ließ sich Cliff auf alle viere nieder und robbte dann an der Wand entlang bis hinüber zu der niedrigen Plattform, auf welcher der Tisch stand. Sobald er in Deckung war, rückte Cliff Pistole und Kamera so zurecht, daß sie schußbereit waren. Diesmal würde er seine Fotos bekommen. Er machte es sich zum Warten bequem und behielt Gnut die ganze Zeit über im Auge. Er gewöhnte sich langsam an die Dunkelheit. Mit der Zeit begann er sich einsam zu fühlen, und er bekam auch wieder Angst. Der Anblick von Gnuts rotglühenden Augen war schwer zu ertragen; er mußte sich immer wieder einreden, daß der Roboter ihm nichts antun würde. Er zweifelte jetzt kaum noch daran, daß er von ihm beobachtet wurde. Stunden verstrichen. Von Zeit zu Zeit vernahm er draußen hinter der Eingangstür leise Geräusche – vielleicht ein Wärter oder Neugierige. Gegen neun Uhr bemerkte er, daß Leben in den Roboter kam. Zuerst bewegte er nur den Kopf; er drehte ihn in Cliffs Richtung, und die Augen glühten noch stärker zu ihm herüber. Das war für einen Moment alles; dann rührte sich die dunkle Gestalt und begann sich vorwärts zu bewegen – direkt auf Cliff zu. Cliff hatte geglaubt, auf alles gefaßt zu sein, aber jetzt blieb ihm vor Angst fast das Herz stehen. Was würde geschehen?
Mit unglaublicher Lautlosigkeit kam Gnut näher und näher, bis seine furchterregende Gestalt direkt über Cliff aufragte. Lange Zeit brannten seine roten Augen auf den am Boden liegenden Mann herab. Cliff zitterte an allen Gliedern; es war noch schwerer zu ertragen als beim erstenmal. Er merkte, daß er, ohne es zu wollen, mit dem Geschöpf sprach. »Du darfst mir nichts tun«, flehte er. »Ich war nur neugierig. Ich wollte wissen, was hier vorgeht. Das ist mein Beruf. Verstehst du mich? Ich wollte dir nichts antun oder dich stören. Das… das konnte ich gar nicht. Bitte!« Der Roboter blieb vollkommen unbeweglich, und Cliff wußte nicht, ob er seine Worte verstanden hatte. Als Cliff das Gefühl hatte, die Spannung nicht länger ertragen zu können, streckte Gnut den Arm aus und nahm etwas aus der Tischschublade oder legte vielleicht auch etwas hinein; dann drehte er sich um und ging zurück. Cliff war gerettet. Der Roboter hatte ihn wieder verschont!
Cliff verlor langsam alle Angst. Er war jetzt ziemlich sicher, daß Gnut ihm nichts antun würde. Zweimal hatte er ihn in seiner Gewalt gehabt, und jedesmal hatte er ihn nur angeblickt und sich dann schweigend entfernt. Cliff konnte sich nicht vorstellen, was Gnut in der Schublade gemacht hatte. Gespannt wartete er darauf, was sich als Nächstes ereignen würde. Wie in der letzten Nacht ging der Roboter direkt auf das Raumschiff zu, gab diese seltsamen Geräusche von sich, auf die hin der Eingang sich öffnete, und ging, nachdem die Rampe herabgeglitten war, hinein. Cliff blieb jetzt lange Zeit allein in der Dunkelheit, etwa zwei Stunden lang. Aus dem Raumschiff drang kein Laut. Cliff sagte sich, daß er nun eigentlich zum Eingang schleichen und einen Blick hineinwerfen sollte, aber ihm fehlte
der Mut dazu. Vor einem zweiten Gorilla brauchte er sich mit seiner Pistole nicht zu fürchten, aber wenn Gnut ihn erwischte, konnte das sein Ende sein. Er nahm an, daß jeden Augenblick etwas ganz Phantastisches geschehen würde – er wußte nicht was; vielleicht würde wieder der liebliche Gesang der Spottdrossel ertönen, vielleicht würde noch ein Gorilla auftauchen oder irgend etwas dergleichen. Aber was dann tatsächlich geschah, war wieder vollkommen überraschend für ihn. Er vernahm einen kurzen gedämpften Laut und dann eine wohlbekannte menschliche Stimme, die ebenso bekannte Worte sprach. »…Herren«, war das erste, und danach kam eine kurze Pause. »Im Namen des Smithsonian Instituts begrüße ich Sie herzlich in unserem neuerbauten Interplanetarischen Flügel. Ich freue mich, daß Sie den Weg zu uns gefunden haben, um diese einzigartige Ausstellung zu besichtigen.« Es war der auf Band aufgezeichnete Vortrag, den Stillwell gesprochen hatte. Aber seine Stimme ertönte nicht durch die Lautsprecher in der Decke, sondern sie kam gedämpft aus dem Innern des Raumschiffs. Nach einer kurzen Pause fuhr die Stimme fort: »Sie werden inzwischen alle… alle – « Die Stimme brach ab. Cliff lief eine Gänsehaut über den Rücken. Die Wiederholung kam in dem aufgezeichneten Vortrag nicht vor! Einen Augenblick lang war alles still; dann drang aus dem Innern des Raumschiffs ein rauher, gedämpfter Schrei, gefolgt von Keuchen und Stöhnen und neuen Schreien. Es klang so, als ob ein Mann in höchster Not war. Angespannt blickte Cliff zum Raumschiffeingang hinüber. Er hörte innen dumpfes Trampeln, dann flüchtete ein menschlicher Schatten aus dem Eingang. Keuchend und taumelnd lief die Gestalt die Rampe hinunter und quer durch
den Saal genau auf Cliffs Versteck zu. Als sie etwa sechs Meter weit gekommen war, tauchte die riesige Gestalt Gnuts im Eingang auf. Cliff hielt den Atem an. Der Mann – es war Stillwell, er konnte ihn jetzt deutlich erkennen – hielt direkt auf den Tisch zu, hinter dem Cliff lag, so als wollte er sich ebenfalls dahinter verstecken, aber als er bis auf wenige Meter herangekommen war, knickten seine Knie ein, und er stürzte zu Boden. Im nächsten Augenblick stand Gnut über ihm, doch Stillwell schien ihn nicht zu bemerken. Er schien sehr krank und schwach zu sein, unternahm aber trotzdem immer wieder verzweifelte, aussichtslose Versuche, in den rettenden Schutz des Tisches zu gelangen. Da Gnut sich nicht rührte, wagte Cliff zu sprechen. »Was haben Sie, Stillwell?« fragte er. »Kann ich Ihnen helfen? Haben Sie keine Angst. Ich bin Cliff Sutherland. Sie wissen doch, der Pressefotograf.« Ohne im geringsten darüber erstaunt zu sein, Cliff hier vorzufinden, klammerte sich Stillwell an seine Anwesenheit wie ein Ertrinkender an einen Strohhalm und keuchte: »Helfen Sie mir! Gnut… Gnut – « Er war anscheinend zu schwach, um weiterzusprechen. »Was ist mit Gnut?« fragte Cliff. Er war sich der Nähe des unheimlichen Roboters bewußt und wagte es nicht, näher an Stillwell heranzukriechen. »Gnut tut Ihnen nichts«, fügte Cliff beruhigend hinzu. »Ich bin ganz sicher. Er tut mir auch nichts. Was fehlt Ihnen? Kann ich etwas für Sie tun?« Unter Aufbietung all seiner Kraft stützte Stillwell sich auf die Ellbogen. »Wo bin ich?« fragte er. »Im Interplanetarischen Flügel«, antwortete Cliff. »Wissen Sie das nicht?«
Einen Augenblick lang hörte man nur den keuchenden Atem Stillwells. Dann fragte er mit schwacher, heiserer Stimme: »Wie bin ich hierhergekommen?« »Das weiß ich nicht«, erwiderte Cliff. »Ich war gerade dabei, einen Vortrag auf Band zu sprechen«, sagte Stillwell, »und plötzlich war ich hier… ich meine, da drinnen – « Er brach ab; seine Angst schien wieder von ihm Besitz ergriffen zu haben. »Und dann?« fragte Cliff freundlich. »Ich lag in diesem Kasten – und über mir stand Gnut, der Roboter. Gnut! Sie haben ihn doch außer Funktion gesetzt! Er hat sich nie mehr bewegt!« »Beruhigen Sie sich«, sagte Cliff. »Ich glaube nicht, daß Gnut Ihnen etwas antun will.« Stillwell sank zurück. »Ich fühle mich sehr schwach«, keuchte er. »Etwas – Können Sie einen Arzt holen?« Er merkte gar nicht, daß der Roboter, vor dem er sich so fürchtete, über ihm stand und mit seinen glühenden Augen auf ihn herabsah. Während Cliff noch zögerte und überlegte, was er tun sollte, wurde der Atem des Mannes immer kürzer und stoßartiger. Cliff wagte sich nun endlich heraus, aber bei dem Zustand des Mannes kam jetzt jede Hilfe zu spät. Seine keuchenden Atemstöße wurden immer unregelmäßiger und schwächer, und auf einmal setzten sie ganz aus. Cliff fühlte nach seinem Herzschlag und blickte dann zu der über ihm stehenden Schattengestalt auf. »Er ist tot«, flüsterte er. Der Roboter schien ihn zu verstehen oder zumindest gehört zu haben. Er beugte sich vor und blickte auf die reglose Gestalt hinunter.
»Was geschieht hier, Gnut?« fragte Cliff plötzlich den Roboter. »Was bezweckst du damit? Kann ich dir irgendwie helfen? Ich kann nicht glauben, daß du böse Absichten hast, und ich glaube auch nicht, daß du diesen Mann getötet hast. Aber was geschieht hier eigentlich? Kannst du mich verstehen? Kannst du sprechen? Was hast du im Sinn?« Gnut rührte sich nicht und gab auch keinen Laut von sich, sondern blickte nur auf die reglose Gestalt zu seinen Füßen. Auf seinem Gesicht zeichnete sich, für Cliff deutlich wahrnehmbar, der Ausdruck nachdenklicher Trauer ab. Gnut verharrte so einige Minuten; dann beugte er sich tiefer, nahm den leblosen Körper Stillwells behutsam – ja liebevoll, wie es Cliff schien – in seine mächtigen Arme und trug ihn zu der Stelle an der Wand, an der die einzelnen Teile der zerstörten Auskunftsroboter aufgereiht waren. Vorsichtig legte er ihn daneben nieder. Dann kehrte er ins Raumschiff zurück. Furchtlos bewegte sich Cliff nun die Wand entlang. Er war schon fast bei den Roboterteilen angelangt, als er plötzlich reglos verharrte. Aus dem Raumschiffeingang tauchte Gnut wieder auf. Er trug im Arm noch einen Körper, einen größeren, den er behutsam neben Stillwells Leiche bettete. In der Hand hielt er einen kleinen Gegenstand, den Cliff nicht erkennen konnte, und diesen legte Gnut neben den großen Körper nieder. Dann ging er wieder ins Raumschiff und kehrte gleich darauf mit noch einem Körper in den Armen zurück, den er sacht neben die übrigen auf den Boden legte. Er blickte einen Augenblick auf alle hinab und ging dann langsam zur Rampe, wo er wie in Gedanken versunken reglos stehenblieb. Cliff bezähmte seine Neugierde, solange er konnte, wagte sich dann vor und beugte sich über die Körper, die Gnut am Boden aufgereiht hatte. Der erste war der leblose Körper Stillwells, der nächste die große, behaarte Gestalt des toten
Gorillas von gestern abend. Neben dem Gorilla lag der kleine Gegenstand, den der Roboter in der Hand gehalten hatte – es war der winzige Körper der Spottdrossel. Die beiden toten Tiere hatten bis jetzt im Raumschiff gelegen, und bei all der erstaunlichen Achtsamkeit, mit der er sie behandelte, sorgte Gnut also nur dafür, daß sein Haus aufgeräumt war. Aber da war noch der vierte Körper, dessen Geschichte Cliff nicht kannte. Er trat näher heran und beugte sich tief zu ihm hinunter. Ihm stockte der Atem. Unmöglich! dachte er; er mußte sich in der Richtung geirrt haben. Er näherte sich noch einmal dem ersten Körper. Ihm wurde eiskalt. Der erste Körper war der von Stillwell, aber der letzte in der Reihe auch; hier lagen zwei Körper von Stillwell, beide genau gleich aussehend und beide tot. Mit einem Aufschrei fuhr Cliff zurück, und dann rannte er in Panik fort von Gnut auf die Tür zu, schrie und hämmerte wild dagegen. Draußen war ein Geräusch zu hören. »Ich will ‘raus!« schrie er in höchster Angst. »Aufmachen! Laßt mich ‘raus! Schnell!« Die Tür öffnete sich einen Spalt, und er zwängte sich wie ein wildes Tier durch und rannte davon, weit über die Rasenfläche. Ein Paar, das so spät noch spazierenging, starrte ihm verwundert nach, und das brachte ihn wieder etwas zur Besinnung, so daß er immer langsamer lief und schließlich stehenblieb. Das Gebäude hinter ihm lag still da wie sonst, und seine Furcht, Gnut könnte ihm nachgejagt sein, war unbegründet. Er war noch immer auf Strümpfen. Keuchend setzte er sich ins feuchte Gras und zog seine Schuhe an; dann stand er auf, blickte zurück auf das Gebäude und versuchte, wieder Ordnung in seinen Kopf zu bringen. Was für ein heilloses
Durcheinander! Der tote Stillwell, der tote Gorilla und die tote Spottdrossel – alle drei waren sie vor seinen Augen gestorben. Und dann zuletzt das Schrecklichste – der zweite tote Stillwell, den er nicht hatte sterben sehen. Und dazu Gnuts erstaunliches behutsames Vorgehen und der traurige Ausdruck, den er zweimal auf seinem Gesicht gesehen hatte. Während er auf das Museumsgebäude blickte, wurde es dort allmählich lebendig. Vor dem Eingang zum Interplanetarischen Flügel hatten sich ein paar Menschen angesammelt, über seinem Kopf heulte die Sirene eines Polizeihubschraubers, und gleich darauf in der Ferne eine zweite, und von allen Seiten kamen Menschen angelaufen, zuerst nur vereinzelt, aber dann in immer größeren Scharen. Die Polizeihubschrauber setzten dicht vor der Eingangstür auf dem Rasen auf, und Cliff glaubte zu sehen, daß die Beamten in den Ausstellungsraum blickten. Plötzlich gingen im ganzen Flügel die Lichter an. Cliff hatte nun seine Selbstbeherrschung wiedergefunden und kehrte zurück. Er betrat den Ausstellungsraum. Als er davongelaufen war, hatte Gnut in Gedanken versunken neben der Rampe gestanden, aber nun befand er sich wieder in seiner gewohnten Haltung an der Stelle, an der er früher gestanden hatte, so als hätte er sich nie bewegt. Der Eingang zum Raumschiff war geschlossen und die Rampe eingezogen. Aber die vier toten Körper lagen noch immer neben den Roboterteilen an der Wand, so wie Cliff sie verlassen hatte. Cliff drehte sich erschrocken um, als hinter seinem Rücken ein Schrei erklang. Ein uniformierter Museumswärter wies mit der Hand auf ihn. »Das ist der Mann!« rief der Wärter. »Als ich die Tür öffnete, hat er sich herausgedrängt und ist wie vom Teufel gejagt davongelaufen.« Die Polizisten kreisten Cliff ein.
»Wer sind Sie? Was hat das zu bedeuten?« fragte einer von ihnen barsch. »Ich bin Cliff Sutherland, von Beruf Pressefotograf«, antwortete Cliff gelassen. »Ich war hier drin und bin hinausgelaufen. Wie der Wärter gesagt hat.« »Was haben Sie hier gemacht?« fragte der Polizist und sah ihn dabei starr an. »Was sind das für Leichen?« »Meine Herren, das will ich Ihnen gern erzählen – aber zuerst das Geschäft«, antwortete Cliff. »In diesem Raum haben sich einige sehr merkwürdige Dinge zugetragen. Ich habe es beobachtet und kann Ihnen alles erzählen, aber – « er lächelte, »ich werde es ablehnen, ohne den Beistand meines Anwalts irgendwelche Fragen zu beantworten, bis ich meine Story an eins der Nachrichtensyndikate verkauft habe. Sie wissen ja, wie es ist. Wenn Sie mir freundlicherweise gestatten würden, das Funkgerät in Ihrem Hubschrauber zu benutzen – nur für einen kleinen Augenblick, meine Herren, dann werden Sie die ganze Story in Kürze erfahren – sagen wir, in einer halben Stunde etwa, wenn das Fernsehen den Bericht bringt. Bis dahin können Sie sich gern Zeit lassen, meine Herren. Glauben Sie mir, man wird Ihnen nichts vorwerfen können.« Der Polizist, der ihm die Fragen gestellt hatte, blinzelte verblüfft, doch ein anderer, der schneller reagierte und der offensichtlich schlechte Manieren besaß, trat mit geballten Fäusten auf Cliff zu. Mit entwaffnender Höflichkeit streckte Cliff ihm seinen Presseausweis entgegen. Der Polizist warf einen schnellen Blick darauf und steckte ihn dann in die Tasche. Inzwischen hatten sich etwa fünfzig Leute im Saal versammelt, unter ihnen zwei Männer von einem Nachrichtensyndikat, die mit Hubschrauber hergekommen waren und die Cliff kannte. Die Polizisten murrten zwar, ließen es aber zu, daß er ihnen etwas zuflüsterte, und dann ging
er unter Polizeibegleitung mit ihnen hinaus zu ihrem Pressehubschrauber. Dort schloß Cliff per Funk in fünf . Minuten einen Vertrag ab, der ihm mehr Geld einbringen würde, als er sonst in einem ganzen Jahr verdiente. Danach händigte er den beiden Männern alle seine Fotos und Negative aus, erzählte ihnen die ganze Story, und sie flogen umgehend mit der sensationellen Meldung zurück in ihr Büro. Im Ausstellungsraum hatten sich inzwischen noch mehr Menschen angesammelt, und die Polizisten räumten ihn. Zehn Minuten später drängte sich ein großes Team von Funk- und Fernsehleuten herein, das von dem Syndikat, mit dem er den Vertrag abgeschlossen hatte, geschickt worden war. Und kurz darauf stand Cliff im grellen Licht der Scheinwerfer vor dem Raumschiff, nicht weit von Gnut entfernt – er hatte es abgelehnt, sich direkt unter ihn zu stellen –, und berichtete vor den Kameras und Mikrophonen seine Geschichte, die sie im Bruchteil einer Sekunde in die entferntesten Winkel des ganzen Planeten verbreiteten. Danach brachten ihn die Polizisten ins Gefängnis. Aus prinzipiellen Gründen, und weil sie alle stinksauer auf ihn waren.
Cliff verbrachte die ganze Nacht im Gefängnis – bis acht Uhr morgens, als seine Firma endlich einen Anwalt aufgetrieben hatte, der ihn herausholte. Und als er schließlich gehen durfte, hielt ihn ein Mann vom FBI am Ärmel fest. »Das Continental Bureau hat noch einige Fragen an Sie«, sagte der Mann. Cliff ging, ohne sich zu sträuben, mit. In einem repräsentativen Konferenzraum erwarteten ihn fünfunddreißig hohe Staatsbeamte und andere Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens – darunter ein persönlicher Mitarbeiter des Präsidenten, der Unterstaatssekretär, der
Vizeverteidigungsminister, einige bekannte Wissenschaftler, ein Oberst, Verwaltungsbeamte, Abteilungsleiter und hohe Beamte der Sicherheitspolizei. Den Vorsitz führte der alte graubärtige Sanders, Chef des FBI. Er mußte ihnen die ganze Geschichte von Anfang an noch mal erzählen und dann noch einmal in allen Einzelheiten, und zwar nicht deshalb, weil sie ihm nicht glaubten, sondern weil sie die Hoffnung nicht aufgegeben hatten, vielleicht doch noch auf eine wichtige Tatsache zu stoßen, die das unverständliche Verhalten Gnuts und die Ereignisse der letzten drei Nächte aufklären konnte. Geduldig durchforschte Cliff sein Gedächtnis nach jedem Detail. Die meisten Fragen stellte ihm Sanders selbst. Nach mehr als einer Stunde, als Cliff schon glaubte, sie seien endlich fertig, stellte Sanders ihm noch ein paar Fragen, die sich alle auf seine persönliche Meinung zu den Ereignissen bezogen. »Glauben Sie, daß die Funktionsfähigkeit Gnuts durch die Bestrahlungen, die Säure- und Hitzebehandlung und so weiter in irgendeiner Weise beeinträchtigt worden ist?« »Ich habe keinerlei Anzeichen dafür bemerkt.« »Glauben Sie, daß er sehen kann?« »Ich bin sicher, daß er sehen kann oder zumindest entsprechende Fähigkeiten besitzt.« »Glauben Sie, daß er hören kann?« »Ja, Sir. Als ich im Flüsterton zu ihm sagte, daß Stillwell tot sei, beugte er sich näher, wie um es mit eigenen Augen festzustellen. Es würde mich nicht wundern, wenn er auch den Sinn meiner Worte verstanden hätte.« »Aber außer den Geräuschen, die er gemacht hat, um das Raumschiff zu öffnen, hat er keinen Laut von sich gegeben und auch nicht gesprochen?« »Nicht ein einziges Wort, weder auf Englisch noch in irgendeiner anderen Sprache.«
»Meinen Sie, daß seine Kraft durch unsere Behandlung verringert worden ist?« fragte ihn einer der Wissenschaftler. »Ich habe ihnen bereits geschildert, wie leicht er mit dem Gorilla fertig geworden ist. Er kämpfte mit dem Tier und schleuderte es von sich, und danach wich der Gorilla furchtsam durch den ganzen Raum zurück.« »Wie würden Sie sich die Tatsache erklären, daß bei der Autopsie der toten Körper – sowohl des Gorillas und der Drossel wie auch der beiden vollkommen gleichen Körper Stillwells – weder eine tödliche Wunde noch sonst eine Todesursache festgestellt worden ist?« fragte ein Mediziner. »Das kann ich mir nicht erklären.« »Glauben Sie, daß Gnut gefährlich ist?« Diese Frage kam wieder von Sanders. »Potentiell halte ich ihn für sehr gefährlich.« »Aber Sie sagten, Sie hätten das Gefühl gehabt, er hege keine feindlichen Absichten.« »Ich meinte mir gegenüber. Ja, das Gefühl hatte ich. Aber ich fürchte, ich kann Ihnen dafür keine plausible Erklärung geben, außer daß er mich zweimal verschont hat, als ich ihm vollkommen hilflos ausgeliefert war. Vielleicht hängt es mit der behutsamen Art zusammen, mit der er die leblosen Körper behandelt hat, und vielleicht auch mit dem Ausdruck von Trauer, den ich zweimal auf seinem Gesicht bemerkt habe.« »Würden Sie es wagen, noch eine Nacht allein in dem Gebäude zu verbringen?« »Um keinen Preis der Welt.« Ein paar von ihnen lächelten. »Haben Sie von den Ereignissen der letzten Nacht Aufnahmen gemacht?« »Nein, Sir.« Cliff bewahrte nur mit Mühe die Fassung; er wäre vor Scham am liebsten in den Boden versunken. Ein Mann, der bisher geschwiegen hatte, erlöste ihn mit der Frage:
»Sie haben vorhin in Verbindung mit Gnuts Handlungsweise den Ausdruck ›zweckmäßig‹ gebraucht. Könnten Sie vielleicht etwas näher erläutern, was Sie damit gemeint haben?« »Ja, ich meinte damit etwas, das mir besonders aufgefallen ist: Jede von Gnuts Bewegungen schien den Erfordernissen der Umstände angepaßt zu sein. Wenn es notwendig war, bewegte er sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit; zum Beispiel, als er den Gorilla angriff; aber die übrige Zeit bewegte er sich meistens sehr langsam; er führte die einfachsten Aufgaben ganz methodisch aus. Dabei fällt mir noch etwas sehr Eigenartiges ein: Zuweilen verharrte er minutenlang vollkommen reglos in irgendeiner ganz beliebigen Haltung, zum Beispiel halb vorgebeugt. Es ist so, als ob seine Bewegungsabläufe im Vergleich zu unseren übersteigert sind; manche Bewegungen führt er überraschend schnell aus, andere wieder überraschend langsam. Vielleicht läßt sich damit erklären, daß er so lange Zeit vollkommen reglos geblieben ist.« »Das ist ein sehr interessanter Gesichtspunkt«, meinte einer der Wissenschaftler. »Wie würden Sie sich die Tatsache erklären, daß er sich in letzter Zeit nur nachts bewegt hat?« »Ich denke mir, er möchte vielleicht bei dem, was er tut, von niemandem gesehen werden, und nachts ist für ihn die einzige Gelegenheit dazu.« »Aber nachdem er Sie entdeckt hatte, hat er doch trotzdem weitergemacht.« »Ich weiß. Aber ich kann es mir nicht anders erklären, als daß er gemeint haben muß, ich sei harmlos und unfähig, ihn in irgendeiner Weise zu behindern- was zweifellos stimmte.« »Bevor Sie zu uns kamen, hatten wir uns gerade überlegt, ob wir ihn nicht in einen dicken Block aus Kunstglas eingießen sollten. Meinen Sie, er würde sich dagegen wehren?«
»Das kann ich nicht beurteilen. Wahrscheinlich nicht; er hat ja schließlich auch die übrigen Behandlungen mit Hitze, Säuren und Strahlen widerstandslos über sich ergehen lassen. Aber ich würde raten, es am Tag zu machen; nachts scheint er sich immer zu bewegen.« »Aber er hat sich auch schon am Tag bewegt, als er mit Klaatu aus dem Raumschiff kam.« »Ich weiß.« Ihnen fiel anscheinend nichts mehr ein, was sie ihn noch fragen könnten. Sanders schlug leicht mit der Hand auf den Tisch. »Ich denke, das ist im Augenblick alles, Mr. Sutherland«, sagte er. »Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe. Sie haben sich als ein sehr törichter, eigensinniger und tapferer junger Mann – oder besser Geschäftsmann erwiesen.« Er lächelte flüchtig. »Sie können jetzt gehen, aber es könnte sein, daß wir Sie später noch einmal brauchen werden. Wir werden sehen.« »Darf ich vielleicht noch so lange hierbleiben, bis Sie beschlossen haben, ob die Sache mit dem Kunstglas gemacht wird?« fragte Cliff. »Ich hätte gern als erster die Information.« »Die Sache ist bereits beschlossen. Sie können die Information benutzen. Mit dem Gießen wird umgehend begonnen werden.« »Danke, Sir«, sagte Cliff – und dann fügte er noch eine Bitte hinzu: »Würden Sie vielleicht so freundlich sein, mir zu gestatten, diese Nacht in der Nähe des Gebäudes, aber außerhalb zu verbringen? Nur außerhalb. Ich habe das Gefühl, daß etwas geschehen wird.« »Ich sehe, Sie wollen noch eine sensationelle Entdeckung machen«, sagte Sanders nicht unfreundlich. »Und dann lassen Sie die Polizei wieder warten, bis Sie Ihre Geschäfte abgeschlossen haben.«
»Diesmal nicht, Sir. Wenn etwas Wichtiges passiert, gebe ich der Polizei sofort Bescheid.« Sanders zögerte. »Ich weiß nicht recht«, meinte er. »Ich will Ihnen einen Vorschlag machen. Sämtliche Nachrichtensyndikate werden ihre Männer dorthin schicken wollen – das können wir natürlich nicht zulassen; aber wenn Sie es so einrichten könnten, daß Sie im Auftrag aller als einziger Berichterstatter anwesend sind, dann bin ich einverstanden. Es wird nichts geschehen, aber Ihre Berichte werden die hysterischen Gemüter beruhigen. Geben Sie mir Bescheid.« Cliff dankte ihm und eilte hinaus, um seine Firma anzurufen. Er gab ihnen – gratis – die Information von dem Kunstglasblock und unterbreitete ihnen Sanders’ Vorschlag. Zehn Minuten später riefen sie zurück und teilten ihm mit, daß alles abgemacht sei. Sie rieten ihm, sich ein wenig auszuruhen. Bei der Herstellung des Kunstglasblocks würden ihre Reporter anwesend sein. Cliff eilte gutgelaunt hinüber zum Museum. Es war von Tausenden Neugieriger umlagert, die von einer starken Polizeikette zurückgehalten wurden. Diesmal kam Cliff nicht durch die Absperrung; die Polizisten erkannten ihn, und da sie noch immer wütend auf ihn waren, ließen sie ihn ihre Macht fühlen. Aber das machte ihm wenig aus; er fühlte sich plötzlich sehr müde; er brauchte wirklich etwas Schlaf. Und so ging er in sein Hotel und legte sich zu Bett. Er hatte erst wenige Minuten geschlafen, als das Telefon neben ihm läutete. Mit geschlossenen Augen nahm er den Hörer ab. Die Leute von seiner Firma hatten eine seltsame Nachricht für ihn. Sie hatten gerade mit Stillwell gesprochen – mit dem echten Stillwell, der quicklebendig war. Die beiden toten Stillwells waren eine Art Kopie. Stillwell hatte keine Erklärung dafür; Brüder besaß er nicht.
Einen Augenblick lang fühlte sich Cliff hellwach, dann legte er sich wieder nieder. Ihn konnte nichts mehr erschüttern.
Um vier Uhr passierte Cliff erfrischt und mit einem InfrarotFernglas am Schulterriemen die Polizeisperre und betrat den Ausstellungsraum. Es gab keine Schwierigkeiten, denn man hatte ihn erwartet. Als er Gnut erblickte, beschlich ihn ein eigenartiges Gefühl; er spürte so etwas wie Mitleid mit dem riesigen Roboter. Gnut stand mit der gewohnten verschlossenen Miene in der gleichen Haltung wie sonst, den rechten Fuß ein wenig vorgeschoben; aber etwas war jetzt anders. Er war in einem gewaltigen Block aus durchsichtigem Kunstglas eingeschlossen. Vom Fußboden bis zu seiner vollen Höhe von zwei Meter fünfzig und von da an noch einmal so hoch und auf allen Seiten etwa ebenfalls zwei Meter fünfzig dick umgab ihn der Glaspanzer, der ihm auch nicht die geringste Bewegung gestatten würde. Es war zweifellos absurd, Mitleid mit einem Roboter, einer von Menschen geschaffenen Konstruktion, zu haben, aber Cliff betrachtete ihn inzwischen als ein lebendiges Wesen, ebenso lebendig wie die Menschen auch. Er hatte Absicht und Willen zu erkennen gegeben; er hatte selbständig komplizierte Handlungen ausgeführt; auf seinem Gesicht hatte zweimal ein Ausdruck von Trauer gestanden und mehrmals der Ausdruck tiefer Nachdenklichkeit; er hatte erbarmungslos gegen den Gorilla gekämpft und sich liebevoll des toten Vogels und der anderen leblosen Körper angenommen, und zweimal hatte er darauf verzichtet, Cliff zu zerschmettern, obwohl es ihm ein Leichtes gewesen wäre. Cliff zweifelte keinen Augenblickdaran, daß er noch immer lebendig war, was immer man auch in diesem Fall unter »lebendig« verstehen mochte.
Aber draußen warteten die Rundfunk- und Fernsehleute auf ihn; er hatte zu arbeiten. Er drehte sich um und ging zu ihnen hinaus, und bald darauf waren alle beschäftigt.
Eine Stunde später saß Cliff allein in viereinhalb Meter Höhe auf einem Baum, der ein kurzes Stück vom Museumsgebäude entfernt stand und von dem aus er durch ein Fenster die ganze obere Hälfte von Gnut sehen konnte. An den nächsten Ästen waren seine Instrumente angeschnallt: sein Infrarot-Fernglas, ein Funksprechgerät und eine Infrarot-Fernsehkamera mit einem Tonaufzeichner. Mit dem ersten, seinem Fernglas, würde er den Roboter auch im Dunkeln so deutlich sehen können wie bei Tageslicht, und die beiden anderen Instrumente sollten alle Bilder und Geräusche mitsamt dem von ihm gesprochenen Kommentar an die verschiedenen Fernsehstudios übermitteln, von wo aus sie dann Millionen Meilen weit in alle Richtungen ausgestrahlt werden würden. Noch nie zuvor hatte wohl ein einfacher Pressefotograf eine so wichtige Aufgabe zu erfüllen gehabt – zumindest keiner, der es versäumt hatte, Fotos zu machen. Aber das war jetzt vergessen, und Cliff war ziemlich stolz und sehr gespannt. In einiger Entfernung hatte sich hinter der Absperrungskette eine Menge Neugieriger – und Ängstlicher versammelt. Würde der Block aus Kunstglas stark genug sein, um Gnut zu halten? Und wenn nicht – würde Gnut dann herauskommen und sich rächen? Oder würden dem Raumschiff unvorstellbare Wesen entsteigen, um Gnut zu befreien und vielleicht Rache zu üben? Millionen Menschen saßen nervös vor ihren Empfangsgeräten; und die, welche da hinten standen, hofften einerseits, daß nichts Schlimmes passieren würde, aber andererseits wünschten sie es doch, und sie hielten sich bereit, jeden Augenblick zu fliehen.
Nicht weit von Cliff entfernt standen auf allen Seiten an sorgfältig ausgewählten Stellen Batterien von radargesteuerten Schnellfeuerkanonen, und seitlich hinter ihm war in einer Mulde ein Panzer aufgefahren. Die Mündungen aller schweren Waffen waren auf die Eingangstür des Museumsflügels gerichtet. Eine Anzahl kleinerer, beweglicherer Panzer stand fünfzig Meter weiter nördlich. Ihre Waffen waren ebenfalls auf die Eingangstür gerichtet.
Die Dämmerung brach herein; die letzten Offiziere, Politiker und anderen bevorzugten Personen verließen den Ausstellungsraum; die schwere Eingangstür wurde für die Nacht abgeschlossen. Bald war Cliff bis auf die Wachtposten an den Geschützen allein. Stunden verstrichen. Der Mond ging auf. Von Zeit zu Zeit berichtete Cliff ins Fernsehstudio, daß alles ruhig sei. Mit bloßem Auge konnte er von Gnut jetzt nicht mehr erkennen als die beiden rötlich glühenden Punkte seiner Augen, aber durch das Fernglas sah er ihn deutlich wie bei Tage in anscheinend nur drei Meter Entfernung vor sich. Abgesehen von den Augen konnte man den Eindruck haben, als sei der Roboter nichts weiter als eine tote, funktionsunfähige Metallmasse. Es verging noch eine Stunde. Ab und zu stellte Cliff den winzigen Monitor an und schaltete die verschiedenen Sender ein – jedesmal nur für ein paar Sekunden, weil die Leistung der Batterie begrenzt war. Überall wurden Bilder von Gnut und von ihm selbst gesendet, es war von nichts anderem die Rede, und einmal erblickte er auf dem kleinen Bildschirm auch den Baum, auf dem er saß, und darin, ganz winzig, sich selbst. Mächtige Infrarot-Kameras waren also die ganze Zeit über auf ihn gerichtet. Es war ein eigenartiges Gefühl.
Plötzlich bemerkte Cliff etwas, und er blickte rasch durch das Fernglas. Gnuts Augen bewegten sich; oder ihre Leuchtkraft veränderte sich wenigstens. Es war, als strichen zwei kleine rote Scheinwerfer hin und her, die bei jeder Bewegung Cliffs Augen trafen. Aufgeregt schaltete Cliff sein Aufnahmegerät ein, meldete diese Erscheinung dem Studio und schilderte sie genauer für die Millionen Zuschauer und Hörer, die dadurch ebenfalls in Aufregung versetzt wurden. War es möglich, daß Gnut tatsächlich aus seinem schrecklichen Gefängnis ausbrechen würde? Minuten vergingen, das Blitzen in Gnuts Augen hielt an, aber sonst konnte Cliff keine Veränderung am Körper des Roboters bemerken. Er beschrieb in kurzen Sätzen, was er sah. Gnut war ganz offensichtlich lebendig; es konnte keinen Zweifel daran geben, daß er sich gegen den durchsichtigen Glaspanzer, der ihn so fest umschloß, anspannte; aber solange er das Glas nicht sprengte, würde man keine Bewegung an seinem Körper feststellen können. Cliff ließ das Fernglas sinken – und erschrak. In der Dunkelheit bemerkte er mit bloßem Auge etwas ganz Erstaunliches, etwas, das er durch sein Gerät nicht hatte sehen können. Der Körper des Roboters schimmerte in einem blassen Rot. Mit zitternden Fingern korrigierte Cliff die Einstellung der Kameralinse, und während er das tat, wurde das rötliche Leuchten immer intensiver. Es sah aus, als ob Gnuts Körper glühte! Während Cliff ständig die Linse neu einstellen mußte, schilderte er in aufgeregten Sätzen diese Erscheinung. Gnuts Gestalt glühte in einem tiefen Rot, das immer heller wurde. Es war jetzt auch ganz deutlich durchs Fernglas sichtbar. Und dann bewegte er sich! Es gab keinen Zweifel!
Er besaß offenbar die Fähigkeit, seine eigene Körpertemperatur stark zu verändern, und damit eröffnete sich ihm nun doch eine Möglichkeit, sich aus dem dicken Kunstglaspanzer zu befreien. Cliff erinnerte sich daran, daß dieses Kunstglas ein thermoplastisches Material war, das bei Abkühlung hart wurde und umgekehrt durch Erhitzen wieder schmolz. Gnut schmolz sich seinen Weg frei! In abgehackten Sätzen berichtete Cliff darüber. Der Roboter glühte jetzt wie Feuer, die harten Kanten des Glasblocks rundeten sich, und das ganze Gebilde begann in sich zusammenzusinken. Es ging immer schneller. Der Roboter konnte sich schon freier bewegen. Das Kunstglas sank bis zu seinem Kopf hinunter, dann bis zu seinen Schultern und dann bis zu seinen Hüften – weiter konnte Cliff nicht sehen. Er war frei! Und noch immer rot glühend trat Gnut einen Schritt vor und war außer Sicht! Cliff strengte Augen und Ohren an, konnte aber nichts weiter bemerken als das entfernte Raunen der Neugierigen hinter der Polizeikette und ein paar leise, scharfe Kommandos bei den Geschützen. Man hatte das Ganze wahrscheinlich auf dem Bildschirm mitverfolgt und machte sich jetzt bereit.
Es vergingen ein paar Minuten. Vom Eingang her ertönte ein lautes Knacken; dann öffnete sich die schwere Metalltür, und heraus trat der riesige metallene Roboter, der jetzt nicht mehr glühte. Er blieb reglos stehen, nur seine roten Augen bewegten sich in der Dunkelheit hin und her. Kommandos wurden ausgegeben. Dann schien der Weltuntergang zu kommen; ein ohrenbetäubendes Donnern hub an, vor Cliff schien alles zu explodieren und in Rauch und Trümmer aufzugehen, und der Baum, auf dem er saß, neigte sich seitwärts, so daß er fast hinuntergefallen wäre.
Trümmerteile flogen durch die Luft. Das schwere Panzergeschütz hatte gesprochen, und er war sicher, daß Gnut getroffen worden war. Cliff klammerte sich in seinem Baum fest und spähte durch die Rauchwolken. Als sie sich etwas lichteten, bemerkte er, daß sich unter den Trümmern an der Eingangstür etwas bewegte, und dann sah er undeutlich, wie Gnuts mächtige Gestalt sich aufrichtete. Er drehte sich langsam zu dem Panzer und stürzte sich plötzlich in seitlichem Bogen auf ihn. Das Geschütz schwang herum, aber der Roboter wich ihm aus und war im nächsten Moment heran. Während die Mannschaft entsetzt nach allen Seiten auseinanderstob, zerschmetterte Gnut mit einem Faustschlag das Geschütz, drehte sich dann um und blickte direkt zu Cliff herüber. Er bewegte sich auf ihn zu und stand im nächsten Augenblick unter dem Baum. Cliff kletterte höher hinauf. Gnut umklammerte den Stamm, zog ihn mit einem Ruck mitsamt den Wurzeln aus der Erde, und der Baum kippte um. Bevor Cliff sich aus dem Gewirr der Äste befreien und davonlaufen konnte, hatte der Roboter ihn schon mit seinen metallenen Händen gepackt und hochgehoben. Cliff glaubte, sein Ende sei gekommen, aber er sollte in dieser Nacht noch seltsame Dinge erleben. Gnut tat ihm nichts an. Er betrachtete ihn einen Augenblick aus nächster Nähe, setzte ihn dann auf seine Schulter und hielt ihn am Knöchel fest. Dann drehte er sich um und ging ohne zu zögern mit ihm den Pfad entlang, der vom Museumsgebäude in westlicher Richtung führte. Cliff saß hilflos auf Gnuts Schulter. Er sah, wie hinter ihnen die Panzer über die Rasenfläche rollten, die Geschützmündungen auf Gnut – und ihn selbst – gerichtet. Aber sie feuerten nicht. Gnut hatte sich dagegen abgesichert,
indem er ihn auf seine Schulter gesetzt hatte – das hoffte Cliff jedenfalls. Der Roboter hielt direkt auf das Tidebecken zu. In der Ferne rückte die Menge der Neugierigen langsam nach. Plötzlich ergoß sich an einer Stelle ein Strom von Menschen über die freie Fläche – die Polizeikette war gesprengt worden. Die Menge stürmte heran, wurde dann langsamer und bildete in etwa fünfzig Meter Entfernung einen Ring. Nur wenige wagten sich näher heran. Gnut kümmerte sich nicht um sie. Sein Hals und seine Schulter bildeten für Cliff einen stahlharten Sitz, doch die Muskeln bewegten sich wie bei einem Menschen. Diese metallene Muskulatur war für Cliff ein unfaßliches Wunder. Zielstrebig trug Gnut den jungen Mann über Wege, Rasenflächen und an Baumreihen vorbei, gefolgt von Tausenden lärmender Menschen. Über ihren Köpfen dröhnten Hubschrauber, und um sie herum heulten die Sirenen der Polizeiwagen. Vor ihnen lag die stille Wasseroberfläche des Tidebeckens. In deren Mitte erhob sich, von einem Dutzend Scheinwerfer angestrahlt, die schlichte schwarze Marmorgruft des getöteten Botschafters Klaatu. Sollte ein Wiedersehen mit dem Toten stattfinden? Ohne zu zögern schritt Gnut das Ufer hinab und stieg ins Wasser. Es reichte ihm bis an die Knie, dann bis zu den Hüften, und schließlich waren auch Cliffs Füße unter Wasser. Zielstrebig bahnte Gnut sich seinen Weg durch das dunkle Wasser auf die Gruft zu, in der Klaatu aufgebahrt war. Der viereckige, dunkel schimmernde Marmorblock schien immer höher und größer zu werden, je mehr sie sich ihm näherten. Das Becken wurde zur Mitte hin flacher, und Gnuts Körper tauchte langsam wieder aus dem Wasser auf, bis er schließlich seinen Fuß auf die erste der zur Gruft hinaufführenden Stufen setzte. Im nächsten Augenblick waren
sie auf der Plattform, in deren Mitte das schlichte, langgestreckte Grabmal stand. Im blendenden Licht der Scheinwerfer umschritt der riesige Roboter das Grabmal, dann bückte er sich und stemmte sich mit aller Kraft gegen die Deckplatte. Der Marmor barst, die schwere Deckplatte glitt auf der anderen Seite hinab und zerbrach mit Getöse. Gnut kniete sich nieder und blickte in die Gruft, während Cliff auf seiner Schulter darüber schwebte. Drinnen sah man im Schatten einen Sarg aus dickem, durchsichtigem Kunstglas, fest versiegelt gegen die Einflüsse der Zeit, in dem die sterblichen Reste Klaatus, des Besuchers aus dem großen Unbekannten, lagen. Er lag da, wie wenn er schliefe, sein Gesicht trug den Ausdruck edler Güte, der einige Unwissende veranlaßt hatte, ihn für einen Gott zu halten. Er trug das Gewand, in dem er angekommen war. Auf seinem Sarg waren weder verwelkte Blumen noch sonst ein Grabschmuck zu finden; das wäre nur eine Entweihung gewesen. Zu Füßen des Sarges lag eine kleine versiegelte Kunstglasschachtel, in der sich alle Aufzeichnungen von seinem Besuch auf der Erde befanden – eine Beschreibung der Ereignisse, die sich bei seiner Ankunft abgespielt hatten, Fotos von Gnut und dem Raumschiff und eine kleine VideophonRolle, auf der für alle Zeiten sein kurzes Erscheinen und seine wenigen Worte festgehalten waren. Cliff saß ganz still und wünschte sich, daß er Gnuts Gesicht sehen könne. Gnut verharrte ebenfalls lange Zeit reglos in seiner ehrfürchtigen Haltung. Auf der von den Scheinwerfern hell erleuchteten Pyramide und unter den Blicken der tausendköpfigen ängstlichen und aufgeregten Menge erwies Gnut offensichtlich seinem edlen Meister die letzte Ehre. Dann war es plötzlich vorbei. Gnut streckte den Arm aus, nahm die kleine Schachtel mit den Aufzeichnungen, erhob sich und ging die Stufen hinunter.
Er schritt unbeirrt durch das Wasser und wieder über die Rasenflächen und Wege zurück zum Museum. Die Scharen der Neugierigen stoben vor ihm auseinander, und hinter ihm wagten sie sich wieder näher heran und trampelten sich im Bemühen, Gnut nicht aus den Augen zu verlieren, gegenseitig auf die Leiber. Von Gnuts Rückweg gibt es keine einzige Fernsehaufzeichnung. Alle Aufnahmegeräte waren auf dem Weg zur Gruft zerstört oder beschädigt worden. Als sie sich dem Museumsgebäude näherten, sah Cliff, daß das Panzergeschütz ein sechs Meter breites Loch vom Dach bis zum Boden in die Front gerissen hatte. Gnut stieg mühelos über die Trümmer hinweg und ging geradewegs auf das Raumschiff zu. Cliff hoffte inständig, daß Gnut ihn jetzt wieder freilassen möge. Und tatsächlich – der Roboter setzte ihn ab und wies auf den Eingang; dann drehte er sich um und gab jene Geräusche von sich, auf die hin sich das Raumschiff öffnete. Die Rampe glitt herab, und er ging hinein. Und nun wagte Cliff etwas ganz Verrücktes. Als die Rampe wieder zurückglitt, sprang er im letzten Moment selbst darauf und lief ins Raumschiff. Hinter ihm schloß sich der Eingang.
Drinnen herrschte absolute Dunkelheit und Stille. Cliff rührte sich nicht. Er hatte das Gefühl, daß Gnut dicht vor ihm sein mußte, und so war es auch. Seine harte metallene Hand faßte Cliff um die Mitte, zog ihn an seine kalte Hüfte und trug ihn mit sich. Plötzlich flammten verborgene Lampen auf und tauchten alles in ein bläuliches Licht. Gnut setzte Cliff ab und sah ihn an. Der junge Mann bereute bereits seinen raschen Entschluß, doch der Roboter schien ihm nicht böse zu sein, obwohl man den Ausdruck seiner Augen
nie ergründen konnte. Er wies auf einen Stuhl, der in einer Ecke des Raums stand. Diesmal folgte Cliff sogleich und setzte sich bescheiden hin; eine Zeitlang wagte er nicht einmal, sich umzusehen. Als er es endlich tat, sah er, daß sie sich in einer Art Laboratorium befanden. Komplizierte Apparate aus Metall und Plastik standen an den Wänden und auf einigen kleineren Tischen; er konnte sich nicht vorstellen, welche Funktion sie hatten. In der Mitte des Raums stand ein langer Metalltisch und darauf ein großer, sargähnlicher Kasten, der durch ein Gewirr von Drähten mit einem kompliziert aussehenden Apparat verbunden war. Über dem Kasten fiel aus einer Lampe mit vielen Röhren ein heller Lichtkegel. Ein Gegenstand, der halb verdeckt auf einem Tisch in der Nähe lag, kam Cliff bekannt – und in dieser Umgebung seltsam fremd vor. Von seinem Platz aus sah es wie eine Aktentasche aus – eine ganz gewöhnliche irdische Aktentasche. Er fragte sich, was es damit für eine Bewandtnis haben mochte. Gnut beachtete ihn nicht weiter, sondern schlitzte mit der Spitze eines dicken Werkzeugs den Deckel der Schachtel auf, in der sich die Aufzeichnungen befanden. Er nahm die Rolle mit dem Videophon-Band heraus und verbrachte eine halbe Stunde damit, sie im Innern des Apparats, der am Ende des großen Tisches stand, zu befestigen. Cliff sah fasziniert zu; er war erstaunt, mit welcher Geschicklichkeit der Roboter seine steifen Metallfinger bewegen konnte. Nachdem er dies erledigt hatte, beschäftigte sich Gnut lange Zeit mit einem zweiten Apparat, der auf einem angrenzenden Tisch stand. Dann hielt er einen Augenblick bedächtig inne und drückte auf einen langen Stab im Innern des Apparats. Aus dem sargähnlichen Kasten ertönte eine Stimme – die Stimme des toten Botschafters.
»Ich bin Klaatu«, sagte die Stimme, »und das ist Gnut.« Es ist das Tonband! – sagte sich Cliff. Es waren die ersten und einzigen Worte, die der Botschafter gesprochen hatte. Aber im nächsten Augenblick sah Cliff, daß er sich getäuscht hatte. In dem Kasten lag ein Mann! Der Mann bewegte sich und setzte sich auf, und Cliff blickte in das lebendige Antlitz von Klaatu! Klaatu schien erstaunt zu sein und sagte in einer unbekannten Sprache etwas zu Gnut – und Gnut bewegte zum erstenmal in Cliffs Anwesenheit die Lippen und antwortete in der gleichen Sprache. Die Silben klangen, als wären sie von menschlichem Gefühl durchdrungen, und der Ausdruck auf Klaatus Gesicht wechselte von Überraschung zu ungläubigem Staunen. Sie unterhielten sich einige Minuten. Dann schien Klaatu erschöpft zu sein; er wollte sich gerade wieder zurücklegen, als er Cliff erblickte. Gnut sprach längere Zeit auf ihn ein. Klaatu winkte Cliff mit einer Handbewegung zu sich, und Cliff folgte der Aufforderung. »Gnut hat mir alles erzählt«, sagte Klaatu mit leiser, milder Stimme. Dann sah er Cliff einen Augenblick schweigend an, auf seinem Gesicht lag ein freundliches, müdes Lächeln. Cliff hätte ihm am liebsten hundert Fragen auf einmal gestellt, aber er wagte nicht, gleich zu sprechen. »Aber Sie – « begann er schließlich in respektvollem Ton, »Sie sind doch nicht der Klaatu, der in der Gruft lag?« Das Lächeln schwand vom Gesicht des Mannes, und er schüttelte den Kopf. »Nein.« Er drehte den Kopf zu Gnut und sagte etwas in seiner Sprache zu ihm, woraufhin sich die Züge des Roboters wie im Schmerz verzerrten. Dann wandte er sich wieder Cliff zu. »Ich sterbe«, sagte er einfach, so als wiederhole er es nur noch einmal für den Erdenmenschen. Wieder erschien auf seinem Gesicht das freundliche, müde Lächeln.
Cliff stand sprachlos da. Er wußte nicht, wie er das alles verstehen sollte. Klaatu schien seine Gedanken zu lesen. »Ich merke, Sie verstehen es nicht«, sagte er. »Gnut besitzt große Fähigkeiten, obwohl er anders ist als wir. Als der neue Flügel an das Museum angebaut war und die Vorträge begannen, hatte er einen erstaunlichen Einfall. Er machte sich sogleich an die Ausführung und baute in den Nächten diesen Apparat hier… und damit hat er mich jetzt wiedererschaffen, durch meine Stimme, wie Ihre Leute sie aufgezeichnet hatten. Wie Sie sicher wissen, ist jedem Körper ein ganz charakteristischer Klang zu eigen. Gnut hat nun einen Apparat konstruiert, mit dem er den Vorgang der Stimmaufzeichnung umkehren und aus der Stimme wieder den charakteristischen Körper erschaffen kann.« Cliff hielt den Atem an. Das war es also! »Aber Sie brauchen nicht zu sterben!« rief er voller Eifer. »Ihre Stimme ist aufgenommen worden, als Sie aus dem Raumschiff kamen und als es Ihnen noch gut ging! Ich bringe Sie in ein Krankenhaus! Wir haben sehr gute Ärzte!« Klaatu schüttelte kaum wahrnehmbar den Kopf. »Sie verstehen noch immer nicht«, sagte er mit schwächer werdender Stimme. »Ihre Aufzeichnung war ungenau. Vielleicht sind es nur ganz geringfügige Ungenauigkeiten, aber sie genügen, um das Produkt lebensunfähig zu machen. Gnut hat mir gesagt, daß alle Produkte seiner Experimente nach wenigen Minuten gestorben seien… und bei mir wird es genauso sein.« Plötzlich verstand Cliff, woher Gnut den Stoff für seine »Experimente« genommen hatte. Er erinnerte sich daran, daß an dem Tag, an dem der neue Flügel eröffnet wurde, von einem Angestellten des Smithsonian Instituts eine Aktentasche vermißt worden war, in der sich Tonbänder mit Aufnahmen verschiedener Tierstimmen befunden hatten. Auf dem Tisch
dort lag eine Aktentasche! Und die Stillwells mußten aus den Tonbandstreifen entstanden sein, die in der Tischschublade im Ausstellungsraum aufbewahrt worden waren. Aber sein Herz war schwer. Er wollte nicht, daß dieser Fremde starb. Plötzlich kam ihm eine Idee. Er trug sie mit wachsender Begeisterung vor. »Sie sagten, die Tonaufzeichnung sei ungenau, und das ist sie sicherlich. Aber das muß an dem ungenauen Aufnahmegerät liegen. Wenn Gnut jetzt bei dem umgekehrten Prozeß die Teile des gleichen Apparats benutzen würde, mit dem Ihre Stimme aufgenommen worden ist, dann könnte man die Fehler vielleicht erkennen und beheben, und Sie würden leben und müßten nicht sterben!« Bei seinen letzten Worten schnellte Gnut herum und packte ihn an den Schultern. Auf seinen metallenen Zügen spiegelte sich menschliche Erregung. »Besorgen Sie mir diesen Apparat!« befahl er – in deutlichem Englisch. Er schob Cliff auf den Eingang zu, aber Klaatu winkte ab. »Das hat keine Eile«, sagte Klaatu freundlich. »Für mich ist es zu spät. – Wie heißen Sie, junger Mann?« Cliff sagte es ihm. »Bleiben Sie bis zum Ende bei mir«, bat Klaatu. Er schloß die Augen und legte sich zurück; dann fügte er lächelnd mit geschlossenen Augen hinzu: »Und seien Sie nicht traurig, denn jetzt werde ich vielleicht noch einmal leben… und ich werde es Ihnen zu verdanken haben. Ich fühle keinen Schmerz – « Seine Stimme wurde immer schwächer. Cliff hätte so viele Fragen an ihn gehabt, aber er konnte ihn nur stumm ansehen. Wieder schien Klaatu seine Gedanken zu lesen. »Ich weiß«, sagte er matt. »Ich weiß. Wir haben einander so viel zu fragen. Über Ihre Zivilisation… und Gnuts – « »Und Ihre«, sagte Cliff.
»Und Gnuts«, sagte die milde Stimme wieder. »Vielleicht… komme ich zurück… eines Tages – « Er lag reglos da. So lag er lange Zeit, und dann wußte Cliff, daß er tot war. Tränen traten ihm in die Augen; in den wenigen Minuten hatte er diesen Mann liebgewonnen. Er blickte auf Gnut. Der Roboter wußte ebenfalls, daß Klaatu tot war, aber in seinen rotglühenden Augen standen keine Tränen; sie waren fest auf Cliff gerichtet, und diesmal wußte der junge Mann, was Gnut dachte. »Gnut«, sagte er feierlich, so als lege er einen Eid ab, »ich werde das Aufnahmegerät beschaffen. Genau das Gerät, mit allem, was dazu gehört.« Wortlos führte Gnut ihn zum Ausgang. Auf seine Geräusche hin öffnete er sich. Draußen wich eine lärmende Menschenmenge zurück; jeder wollte als erster den Raum verlassen, und in ihrer Angst trampelten die Menschen übereinander hinweg. Der Flügel war erleuchtet. Cliff ging die Rampe hinunter.
Die beiden folgenden Stunden kamen Cliff später in der Erinnerung immer wie ein Traum vor. Es war so, als ob das geheimnisvolle Laboratorium mit dem friedlich schlafenden Toten der eigentliche Mittelpunkt seines Lebens sei, während die Szene draußen, als er mit den lärmenden Menschen sprach, ihm als ein grobes, unwirkliches Zwischenspiel erschien. Er stand nicht weit entfernt von der Rampe. Er erzählte ihnen nur einen Teil seiner Geschichte. Man schenkte ihm Glauben. Er wartete ruhig, während die höchsten Beamten des Landes alles in Bewegung setzten, um das Aufnahmegerät zu beschaffen. Als man es schließlich brachte, ging Cliff damit in den kleinen Vorraum hinter dem Eingang zum Raumschiff. Dort stand Gnut, als hätte er auf ihn gewartet. In seinen Armen hielt
er den zarten Körper des zweiten Klaatu. Behutsam reichte er ihn hinaus zu Cliff, der ihn wortlos entgegennahm, so als sei alles schon abgesprochen worden. Cliff spürte, daß dies der Abschied war. Von all dem, was Cliff Klaatu hatte sagen wollen, schien ihm eins am dringlichsten zu sein. Als nun der grüne Metallroboter vor ihm im Eingang des großen grünen Raumschiffs stand, war die letzte Gelegenheit dazu. »Gnut«, sagte er ernst, während er behutsam den schlaffen Körper in den Armen hielt, »bitte tu mir einen Gefallen. Hör gut zu. Ich möchte, daß du deinem Meister, ich meine, dem neuen Meister, sagst, daß das, was dem ersten Klaatu zugestoßen ist, ein Unglücksfall war, den die gesamte Erdbevölkerung zutiefst bedauert. Wirst du ihm das sagen?« »Ich habe es gewußt«, sagte der Roboter freundlich. »Aber versprichst du mir, daß du es deinem Meister sagen wirst – genau diese Worte –, sobald er lebt?« »Das ist ein Mißverständnis«, sagte Gnut noch immer freundlich, und ruhig fügte er noch einen Satz hinzu. Als Cliff ihn hörte, verschwamm alles vor seinen Augen, und er war wie betäubt. Als er wieder zu sich kam, sah er gerade noch, wie das große Raumschiff verschwand. Es war plötzlich einfach nicht mehr da. Er wich einige Schritte zurück. In seinen Ohren dröhnten Gnuts letzte Worte. Er würde den Klang bis zu seinem Tod nicht vergessen. »Das ist ein Mißverständnis«, hatte der mächtige Roboter gesagt »Ich bin der Meister.« Originaltitel: FAREWELL TO THE MASTER. Aus ASTOUNDING SCIENCE FICTION Oktober 1940. Mit Genehmigung des Autors. Übersetzt von Ute Seeßlen.
Randall Garrett DIE UNHEIMLICHE FREIHEIT
»Aber, meine Herren«, sagte der Mediziner, »ich glaube wirklich nicht, daß wir eine Religion, die Menschenopfer fordert, als humane Religion betrachten können.« Und der Künstler lächelte und meinte: »Zumindest nicht vom Standpunkt des Opfers aus betrachtet.« »Unsinn«, sagte der Philosoph und blickte gereizt auf, weil man ihn aus seinen Gedanken gerissen hatte. »Was ist, wenn es dem Opfer gefällt?« Auszug aus dem Werk »Die gedankenlosen Gläubigen« von Kaplan Philipp Dachboden. Der große Frachter Naipor glitt mit seinen Zehntausenden von Tonnen in die Landemulde auf dem Planeten Viornes. Das ging so sanft, wie wenn man ein Ei in einen Eierkorb legt, und beinahe so leise. Die Antischwerkraftaggregate wurden abgeschaltet, und ein metallisches Seufzen ertönte, als die mächtige Landemulde das ganze Gewicht des Raumriesen zu spüren bekam. Jetzt war das Schiff offiziell gelandet, und die Naipor stand unter dem Befehl des Bodenkommandos. Raumkapitän Humbolt Reed seufzte, lehnte sich in seinem Sessel zurück und berührte eine Schaltleiste an seinem Schreibtisch. »Hochleutnant Blyke soll sofort den Schätzer in meine Kabine bringen«, sagte er mit befehlsgewohnter Stimme.
Dann nahm er die Hand von der Schaltleiste, ohne auf eine Antwort zu warten. In einem anderen Teil des Schiffes, in der Nähe der Feuerleitstelle, saß der Mann, den man als den Schätzer bezeichnete. Natürlich hatte er einen Namen, einen ganz gewöhnlichen Namen wie jeder andere. Der war in den Schiffsbüchern und in der Hauptregistratur verzeichnet. Aber er gebrauchte ihn beinahe nie; er dachte kaum mehr daran. Zwanzig seiner fünfunddreißig Lebensjahre war er ein ausgebildeter Schätzer gewesen, und seit fünfzehn Jahren war er der Schätzer der Naipor. Für einen Schätzer wirkte er ziemlich imponierend. Er war groß und breitschultrig, mit einem kantigen Gesicht. Sein Vater hatte sich Sorgen gemacht, er könnte vielleicht die Fähigkeiten eines Schätzers nicht haben, während seine Mutter insgeheim gehofft hatte, er würde Privilegierter werden. Zum Glück für ihn hatten beide Elternteile umsonst gebangt und gehofft. Er war nicht nur ein Schätzer geworden, sondern auch ein erstklassiger Vorhersager, und behandelte seine Untergebenen mit schroffer Ungeduld, wenn sie es versäumten, ihre Fähigkeiten einzusetzen. Als das Schiff landete, war er gerade damit beschäftigt, Kraybo, den jungen Mann, der wahrscheinlich eines Tages die Aufgaben des Schätzers übernehmen würde – falls er je lernte, damit fertig zu werden – eine Standpauke zu halten. »Entweder sind Sie ein Lügner oder ein Idiot«, sagte der Schätzer soeben bissig. »Ich wünschte, ich wüßte, was von beiden.« Kraybo, der vor ihm stramm stand, schluckte bloß und sagte nichts. Er hatte schon zu oft die Hand des Schätzers gespürt und enthielt sich jeglicher Äußerung, die jener als Provokation auffassen könnte.
Der Schätzer kniff die Lider zusammen und versuchte zu erkennen, was in Kraybos Gedanken vorging. »Schauen Sie, Kraybo«, sagte er nach einer Weile, »das Rebellenschiff ist so nahe herangekommen, daß es hätte Schaden anrichten können. Die Naipor und das Leben der Besatzung waren in Gefahr. Sie hatten in jenem Quadranten des Schiffes Dienst und haben das gegnerische Schiff zu nahe herangelassen. Aus den Aufzeichnungen geht hervor, daß Sie einen der Feuerstöße falsch ausgerichtet haben. Und jetzt möchte ich folgendes wissen: Haben Sie geschätzt, oder haben Sie sich zu sehr auf den Computer verlassen?« »Ich habe dem Computer vertraut«, sagte Kraybo mit leicht bebender Stimme. »Ich bedauere den Fehler, Sir. Es soll nicht wieder vorkommen.« Die Stimme des Schätzers klang jetzt wie das Knurren eines Tieres. »Hoffentlich! Sie wissen genau, daß ein Computer Ihnen Daten und Wahrscheinlichkeitsrechnungen bezüglich des Kurses eines angreifenden Schiffes liefert. Sie dürfen aber nicht denken, daß ein Computer auch das Ergebnis ausspuckt.« »Ich weiß, Sir, ich hätte – « »Sie hätten uns beinahe alle umgebracht!« fuhr der Schätzer ihn an. »Darf ich annehmen, daß Sie den Kurs des gegnerischen Schiffes zwar richtig geschätzt, sich aber trotzdem auf die Berechnungen des Computers verlassen haben?« »Ja, Sir«, sagte Kraybo. »Ich gebe meinen Fehler zu und bin bereit, die Strafe auf mich zu nehmen.« Der Schätzer grinste. Sein Gesicht wirkte jetzt wie das eines Wolfes. »Wie großmütig! Es freut mich, daß Sie dazu bereit sind. Ich hätte wirklich nicht gewußt, was ich tun sollte, wenn Sie es abgelehnt hätten.« Kraybos Gesicht war feuerrot, aber er schwieg.
Die Stimme des Schätzers war weich und sarkastisch geworden. »Aber in diesem Fall wäre mir wirklich nur ein Ausweg geblieben« – plötzlich brüllte er – »nämlich Ihnen den Schädel einzuschlagen!« Kraybo wurde bleich. Der Schätzer wechselte wieder den Ton. »Aber lassen wir das. Melden Sie sich in der Disziplinarabteilung. Intensität fünf, zehn Minuten. Wegtreten.« Kraybo, dessen Gesicht ganz fahl geworden war, blieb einen Augenblick stehen, als wollte er den Schätzer um Milde bitten. Aber dann sah er den Blick in den Augen seines Vorgesetzten und überlegte es sich anders. »Jawohl, Sir«, sagte er mit schwacher Stimme. Dann salutierte er und ging. Und der Schätzer saß da und wartete auf das Unvermeidliche. Es kam auch. Zwei Minuten, nachdem Kraybo gegangen war, erschien Hochleutnant Blyke. Er stand an der Tür der Kabine des Schätzers, begleitet von einem Posten. »Meister Schätzer, Sie werden uns begleiten.« Er wirkte gelangweilt, und seine Stimme war ausdruckslos. Der Schätzer beugte beim Salutieren den Kopf. »Wie Sie befehlen, Sir.« Und er folgte dem Leutnant auf den Gang hinaus. Der Posten schloß sich an. Der Schätzer dachte nicht an die bevorstehende Sitzung mit dem Kapitän. Er dachte an Kraybo. Kraybo war einundzwanzig. Seine Ausbildung als Schätzer hatte begonnen, als er alt genug gewesen war, um zu sprechen und zu verstehen. Gelegentlich zeigte er Ansätze eines geradezu ungeheuren Talents, aber die meiste Zeit schien er – nun, faul zu sein. Und dann erhob sich natürlich immer die Frage, wie groß seine Fähigkeiten tatsächlich waren. Ein Gefecht im gespenstisch verzerrten Raumkontinuum der Ultralichtgeschwindigkeiten erfordert mehr als Maschinen und
mehr als normale menschliche Fähigkeiten. Kein Computer kann die Flugbahn eines manövrierenden Raumschiffs, an dessen Steuerkontrollen ein Mensch sitzt, berechnen. Selbst die überlichtschnellen Strahlen der Megadynprojektoren brauchen Zeit, um ihr Ziel zu erreichen. Man muß also die Stelle anvisieren, wo das gegnerische Schiff sein wird, und nicht das Schiff selbst. Das wußte man, seit die Menschen begonnen hatten, Kriege zu führen: bei einem beweglichen Ziel muß man vorhalten. Für ein Ziel, das sich mit konstanter Geschwindigkeit oder gleichbleibender Beschleunigung bewegte und eine mathematisch berechenbare Flugbahn einhielt, war ein Computer nicht nur notwendig, sondern auch ausreichend. In einem solchen Fall reichte die Präzision aus, und die Treffgenauigkeit betrug hundert Prozent. Aber die Ausweichmanöver eines menschlichen Piloten, dem noch dazu ein Regellosigkeitswähler zur Verfügung steht, sind nicht logisch und können demzufolge auch nicht von einem Computer errechnet werden. Die Position eines so gesteuerten Schiffes kann nur statistisch vorhergesagt werden, wie zum Beispiel die Bewegung der Teilchen bei der Brownschen Bewegung. Man kann die wahrscheinliche Position bestenfalls erraten. Für die Kriegsführung im Weltraum genügt das natürlich nicht. Das Errechnen solch erratischer Flugbahnen erforderte eine besondere Art menschlichen Geistes und deshalb auch eine besondere Art von Mensch. Es erforderte einen Schätzer. Nur ein Schätzer war in der Lage, einem anderen Schätzer zu erklären, wie der Geist eines Schätzers arbeitete. Aber eigentlich kam es ja nur auf die objektiven Ergebnisse an. Ein Schätzer konnte die Flugbahn eines Schiffes »schätzen«, und mehr interessierte eigentlich nicht. Ein Meister Schätzer war in der Lage, in 99,999% aller Fälle tatsächlich genau zu schätzen.
Aber was mochte mit Kraybo los gewesen sein? Er hatte natürlich einen Feuerleitcomputer, der ihm half, zu richten und zu zielen. Aber er schien nicht in der Lage gewesen zu sein, sich auf seine Schätzungen zu verlassen. Mehr als einmal hatte er auf eine Stelle gefeuert, die der Computer ihm als Position des gegnerischen Schiffes errechnet hatte, anstatt auf die Stelle zu feuern, wo das Schiff einen Sekundenbruchteil später sein würde. Es gab nur zwei Möglichkeiten. Entweder war es genau so, wie er gesagt hatte, er verließ sich also nicht auf seine Schätzungen, sondern nur auf den Computer; oder er war überhaupt unfähig, seine Schätzungen zu koordinieren, und hoffte, daß der Computer ihm die Arbeit abnahm. Wenn ersteres zutraf, war Kraybo ein Narr; traf letzteres zu, dann war er ein Lügner und ebensowenig in der Lage, die Feuerleitstelle der Naipor zu leiten, wie der Kapitän des Schiffes. Dem Schätzer war es verhaßt, Kraybo bestrafen zu lassen, aber das war die einzige Methode, einen jungen Mann dazu zu bringen, mit vollem Gedankeneinsatz bei der Sache zu sein. Schließlich, dachte der Schätzer, habe ich es auch auf diese Weise gelernt. Also wird es auch Kraybo nichts schaden. Aber der letzte Gedanke galt mehr seinem eigenen Gewissen. Der Leutnant war inzwischen an der Tür der Kapitänskabine angelangt. Die Tür öffnete sich vor ihnen, und alle drei – der Leutnant, der Schätzer und der Posten – traten ein und gingen durch den Raum auf den Schreibtisch des Kapitäns zu. Der Kapitän blickte nicht einmal auf, bis Hochleutnant Blyke salutierte und meldete: »Der Schätzer, Sir.« Darauf nickte der Kapitän dem Leutnant kurz zu und musterte den Schätzer kühl. »Das Schiff ist schwer beschädigt. Da es hier auf Viornes keine Reparaturdocks gibt, müssen wir
unsere Ladung löschen und leer zu D’Graskis Planeten fliegen, um dort die Reparatur vornehmen zu lassen. Und die ganze Zeit werden wir praktisch ungeschützt den Angriffen der Rebellen ausgesetzt sein.« Die eiskalte Stimme verklang, und er musterte den Schätzer abweisend. Zehn lange Sekunden dauerte das. Der Schätzer sagte nichts. Es gab nichts, was er hätte sagen, was ihm hätte helfen können. Der Schätzer mochte Großkapitän Reed nicht – ja noch mehr, er fürchtete ihn. Reed war erst seit drei Jahren Kapitän der Naipor und hatte den alten Kapitän nach dessen Pensionierung abgelöst. Er achtete auf strikte Disziplin und neigte dazu, selbst bei geringfügigen Übertretungen der Vorschriften schwere Strafen zu verhängen. Das Recht dazu hatte er; schließlich war er der Kapitän. Aber der alte Kapitän hatte den Schätzer nie in den Nervenbrenner geschickt, seit er den Schätzer als Schätzer in die Mannschaft aufgenommen hatte. Kapitän Reed dagegen. Die kalte Stimme des Kapitäns riß ihn aus seinen Überlegungen. »Nun? Wo lag der Fehler? Wenn der Computer versagt hat, sagen Sie es; dann sprechen wir mit dem Ingenieur.« Der Schätzer wußte, daß der Kapitän ihm einen Ausweg zeigte – aber der Schätzer wußte auch, daß es eine Falle war. Also senkte er den Kopf und salutierte. »Nein, Herr, es war mein Fehler.« Großkapitän Reed nickte befriedigt. »Schön. Intensität fünf, zwei Minuten.« Der Schätzer verbeugte sich und salutierte. Dann machte er auf dem Absatz kehrt und ging hinaus. Der Posten brauchte ihm nicht zu folgen; er war mit einer sehr milden Strafe davongekommen.
Er ging zur Disziplinarabteilung, den Kopf korrekt gesenkt, bereit, ihn zu heben, falls ihm ein Mannschaftsangehöriger mit niedrigerem Rang begegnete, bereit ihn zu senken, wenn er einem Offizier der Schiffsleitung begegnete. Er glaubte bereits den schrecklichen Schmerz zu spüren, den der Nervenbrenner durch seinen Körper jagen würde: zwei Minuten lang alle zehn Sekunden ein Schock wie der Schlag einer Peitsche, die seinen Körper traf. Seine einzige Befriedigung lag in dem Wissen, daß er Kraybo zu zehn Minuten der gleichen Strafe verdonnert hatte.
Der Schätzer lag auf seinem Bett, das Gesicht nach unten, die Finger krampfhaft zuckend bei der Erinnerung an den erlittenen Schmerz. Dreizehn Schocks. Dreizehn quälende Schocks unmenschlicher Tortur. Jetzt war es vorbei, aber seine Nervenknoten zuckten noch bei der Erinnerung an jene brennenden Energiestöße. Er war fünfunddreißig. Das mußte er immer vor Augen behalten. Er war jetzt fünfunddreißig und sollte seine Nerven besser unter Kontrolle haben als damals mit zwanzig. Er fragte sich, ob ihm Tränen aus den Augen gelaufen waren. Es war unwichtig. Zumindest weinte er jetzt nicht laut. Natürlich hatte er im Nervenbrenner geschrien. Dreizehn Mal hatte er geschrien. Ein Mann, der nicht schrie, wenn ihn die Schmerzschocks trafen, war entweder bewußtlos oder tot. Es war keine Schande, im Brenner zu schreien. Aber jetzt schrie er nicht. Zehn Minuten lag er da, die Zähne zusammengebissen, und langsam ließ das Zucken nach. Physischen Schaden richtete der Brenner nicht an; es wäre unwirtschaftlich, Mitglieder der Schiffsbesatzung physisch zu verletzen. Man brauchte auch nur sehr wenig Energie an die Nervenenden zu bringen, um sie zu der komplizierten
elektrochemischen Reaktion anzuregen, die dann jene furchtbaren Schmerzimpulse an Gehirn und Rückenmark weitergab. Im Nervensystem wurde dabei weniger Schaden angerichtet, als man sich selbst bei einer ausgedehnten Sauftour zufügen konnte. Aber die Auswirkung auf den Geist war etwas anderes. Es war eine sehr wirksame Methode, einen Menschen dazu zu bringen, praktisch alles zu lernen, was man ihm beibringen wollte. Nach einer Weile schauderte der Schätzer noch einmal, atmete tief ein, hielt etwa fünfzehn Sekunden die Luft an, atmete wieder aus. Etwas später stemmte er sich in die Höhe und schwang die Beine über die Bettkante. Ein paar Minuten saß er auf dem Bettrand. Dann stand er auf und zog seine beste Uniform an. Schließlich hatte der Kapitän ihm nicht verboten, Landurlaub zu machen. Und er war noch nie zuvor auf Viornes gewesen. Und wer weiß, vielleicht fühlte er sich nach ein paar Drinks besser. Knapp zwei Stunden später entschied er, daß es bessere Planeten in der Galaxis gab, sogar Tausende von besseren Planeten. Viornes war klein, ein kleiner Planet von großer Dichte mit einer Schwerebeschleunigung von einskommazwei G – nicht ausreichend, um einen bewegungsunfähig zu machen, aber genug, um einen schnell ermüden zu lassen. Dieser Planet exportierte in erster Linie landwirtschaftliche Produkte. Auf Viornes gab es wenige Städte und eigentlich überhaupt kein Bevölkerungszentrum, das man Großstadt hätte nennen können. Selbst hier in der größten und betriebsamsten Stadt des Planeten lag die Einwohnerzahl unter einer Million. Es war eine junge Welt mit einer nur zwei Jahrhunderte alten Geschichte. Bei der sorgfältig überwachten
Bevölkerungskontrolle würde der Planet wahrscheinlich noch ein halbes Jahrtausend unbedeutend und provinziell bleiben. Der Schätzer schlenderte durch eine der Straßen von Bellinberg – wahrscheinlich hatte man die Stadt nach dem ersten Priv-Präsidenten des Planeten benannt – und suchte nach einem anständigen Lokal. Es war Abend, und die gelbe Sonne war hinter dem Horizont im Westen versunken. Jetzt spannte sich ein klarer, mit Sternen übersäter Himmel über der Welt. Die Straßen der Stadt waren hell erleuchtet. Dafür sorgten Glühscheiben, die bis in Höhe der Erdgeschosse die Wände der Gebäude eingelassen waren. Darüber ragten die Mauern finster in die Höhe. Gelegentlich huschte der Flugwagen eines Priv über den Schätzer hinweg. In der Ferne sah er die schimmernden Türme des Privilegierten-Viertels über den acht- oder zehnstöckigen Gebäuden aufragen. Die Straßen waren ziemlich belebt – hauptsächlich von Bürgern der Klassen vier oder fünf, die bescheiden beiseite traten, wenn sie seine Uniform erblickten. Gelegentlich fuhr der Wagen eines Bürgers der Klasse drei an ihm vorbei, und der Schätzer empfand jedesmal Neid. Theoretisch entsprach sein eigener Rang der Klasse drei. Aber er hatte noch nie ein Auto besessen. Wozu brauchte auch ein Astronaut einen Wagen? Trotzdem wäre es angenehm, einmal einen zu fahren, dachte er; jedenfalls wäre es ein neues Erlebnis. Im Augenblick suchte er eine Bar der Klasse drei; ein Lokal, wo man etwas zu trinken und einen Bissen zu essen bekam. Er war natürlich berechtigt, auch die Bar einer niedrigeren Klasse zu betreten. Aber er hatte sich noch nie recht wohl dabei gefühlt, wenn er sich zu Leuten gesellte, die unter ihm standen. Außerdem würden auch die anderen sich in seiner Gegenwart nicht wohlfühlen, zumal er eine Waffe an der Seite trug. Man mußte mindestens zur Klasse drei gehören, um eine Strahlenpistole tragen zu dürfen, und nur Einser und Zweier
verfügten über elektronische Kraftfelder, die sie vor der Wirkung der Waffe schützten. Da Einser und Zweier ohnehin Privs waren, bildeten sie füreinander keine Gefahr. Nach einer Weile sagte er sich, daß er sich im falschen Viertel der Stadt befand. In diesen Straßen gab es keine Lokale der Klasse drei. Vielleicht hätte er gleich in den Astronautenklub im Raumhafen gehen sollen. Andererseits hatte er keine Lust gehabt, Offiziere seiner eigenen Klasse zu sehen. Ganz besonders nicht nach dem Fiasko, das beinahe zur Vernichtung der Naipor geführt hatte. Und als Schätzer stand man ohnehin etwas abseits von der eigenen Klasse. Er überlegte einen Augenblick, ob er einen Polizisten fragen sollte, unterließ es dann aber. Schließlich ging er in eine Bar der Klasse vier, die zufällig am Wege lag, und schnippte mit den Fingern, um den Barkeeper herbeizurufen. Das plötzliche Schweigen, das sein Eintreten ausgelöst hatte, nahm er nicht zur Kenntnis. Der Barkeeper stellte schnell ein Glas vor ihn hin und verneigte sich. »Bitte, Herr. Bitte, Herr. Was kann ich für Sie tun, Herr? Es ist mir eine große Ehre, daß Sie gekommen sind. Womit kann ich Ihnen dienen, Herr?« Der Mann trug die Kleidung der fünften Klasse so daß alle seine Kunden im Rang über ihm standen, aber die Plakette am Arm zeigte, daß sein Dienstherr ein Zweier war, und das wiederum gewährte ihm genügend Autorität, um in dem Lokal für Ordnung zu sorgen. »Wo ist die nächste Dreierbar?« herrschte der Schätzer ihn an. Der Barkeeper machte ein enttäuschtes Gesicht, blieb aber unterwürfig. »Oh, ziemlich weit von hier, Herr. Die nächste ist Mallards Bar an der Ecke vierzehnte Straße und Oberer Boulevard. Wenigstens fünfzehnhundert Meter entfernt.«
Der Schätzer runzelte die Stirn. Er war tatsächlich ins falsche Stadtviertel geraten. »Aber es wäre mir eine Ehre, Sie zu bedienen, Herr«, beeilte sich der Mann zu versichern. »Privatnische, das Beste von allen. Sie wären völlig ungestört – « Der Schätzer schüttelte den Kopf. »Nein. Sagen Sie mir nur, wie ich am schnellsten zu Mallards Bar komme.« Der Barkeeper sah ihn eine Weile an und strich sich mit der Hand übers Kinn. Dann meinte er: »Sie haben vermutlich keinen Wagen, Herr. Nein? Nun, dann können Sie entweder die Untergrundbahn nehmen oder zu Fuß gehen – « Er ließ den Satz unvollendet und wartete auf die Entscheidung des Schätzers. Dieser überlegte schnell. Die Untergrundbahn war für Vierer und Fünfer. Dreier besaßen Autos. Einser und Zweier hatten Flugwagen; Sechser und darunter gingen zu Fuß. Und Astronauten auch. Das Unangenehme daran war nur, daß Astronauten nicht ans Gehen gewöhnt sind, ganz besonders auf einem Planeten, wo sie zwanzig Prozent mehr wiegen als gewöhnlich. Der Schätzer entschied, daß er die Untergrundbahn nehmen würde. Später konnte er vielleicht jemanden dazu bewegen, ihn zum Raumhafen zu fahren. Aber fünf Minuten später ging er zu Fuß in die Richtung, die der Barkeeper ihm gewiesen hatte. Um zur nächsten Untergrundstation zu kommen, hätte er fünf Minuten laufen müssen. Von der anderen Station zur Bar waren es noch einmal zehn. Da war es schon besser, den ganzen Weg zu Fuß zurückzulegen. Er stellte fest, daß er nicht als einziger Astronaut in der Stadt unterwegs war; aus einer der Fünfertavernen, an denen er vorbeiging, schlug ihm grölender Gesang entgegen, und er sah eine Gruppe Männer drei Raummatrosen umringen, die ein
ziemlich schmutziges Lied sangen. Der Schätzer lächelte. Sollten sie ihren Spaß haben, solange sie Landurlaub hatten. An Bord war ihr Leben ohnehin nicht sehr abwechslungsreich. Natürlich gewährte man ihnen ein Minimum an Abwechslung, aber eine“ kleine Sauf tour hin und wieder war etwas, auf das man sich freuen konnte. Und ein kurzer Aufenthalt im Nervenbrenner sorgte dann schon dafür, daß sie wieder nüchtern wurden, falls sie den Fehler begingen, betrunken an Bord zurückzukommen. Einem Fünfer konnte der Nervenbrenner ohnehin nicht viel anhaben. Fünfer waren große, zähe, von der Arbeit abgehärtete Burschen, deren Geist nicht empfindlich genug war, um unter dieser Behandlung zu leiden. Sie schrien natürlich genauso laut wie jeder andere, wenn sie im Brenner steckten, aber die Behandlung hatte nicht die gleiche psychische Wirkung auf sie. Ihre Empfindungen waren viel zu verhärtet, als daß eine nachhaltige Wirkung zurückgeblieben wäre. Allerdings würde ein Priv in einem Brenner kaputtgehen. Falls die Behandlung ihn nicht an Ort und Stelle umbrachte, würde er tagelang krank sein. Privs waren zu weich, um das zu ertragen. Soweit der Schätzer wußte, war noch nie ein Einser dieser Behandlung unterzogen worden, und ein Zweier nur ganz selten. Sie waren nicht daran gewöhnt, sie hatten nicht die Energie, es zu überstehen. Und dann riß ihn das vertraute Warnsignal, das gleichsam wie ein Klingeln durch seine Gedanken schrillte, aus seinen Überlegungen. Er wurde sich seiner Umgebung bewußt und stellte fest, daß er sich in ein Sechserviertel verirrt hatte. Links und rechts standen die primitiven Häuser von Familien der Klasse sechs. Die Straßen waren nur schwach erleuchtet, und niemand war zu sehen. Sechser hatten bereits Ausgangssperre. Der nächste Fußgänger war gute hundert Meter entfernt und bog soeben um eine Ecke.
Der Schätzer brauchte bloß den Bruchteil einer Sekunde, um das zu erkennen, und er wußte zugleich, daß es nicht die Umgebung war, die die Warnung in ihm ausgelöst hatte. Da war etwas hinter ihm – es bewegte sich. Woher er das wußte? Er konnte es selbst nicht sagen. Das leise Schaben eines Fußes auf dem Pflaster, das kaum hörbare Rascheln von Stoff, das Flüstern der Luft, die bewegt wurde. Beinahe nichts Wahrnehmbares. Aber für einen Schätzer reichte es. Er wußte, daß jemand, kaum zehn Schritte hinter ihm, einen schweren Gegenstand geworfen hatte. Er kannte die Flugbahn des Gegenstandes auf den tausendstel Millimeter genau und wußte, wie er den Kopf bewegen mußte, um dem Wurfgeschoß zu entgehen. Er bewegte den Kopf. Gleichzeitig warf er den Körper zur Seite. Es war nur eine Vermutung gewesen, aber mehr brauchte ein Schätzer nicht. Von der ersten Warnung bis zur Reaktion seines Körpers war höchstens eine halbe Sekunde verstrichen. Als der schwere Gegenstand vorbeiflog, wollte er sich umdrehen. Er wollte handeln, aber es war schon zu spät. Etwas brannte durch seinen Körper wie Millionen glühender Nadeln, die sich durch Haut und Fleisch in seine Knochen bohrten. Er konnte nicht einmal schreien. Und dann wurde es schwarz um ihn. Natürlich kam der Gedanke, kann man ein Feuer sehr nachhaltig löschen, indem man kaltes Wasser darüber gießt. Das ist eine sehr gute Idee. Wenigstens war das Feuer gelöscht. Feuer? Was für ein Feuer? Das Feuer in seinem Körper. Die glühende Hitze, die durch das kalte Wasser gelindert worden war. Langsam kehrte das Bewußtsein des Schätzers zurück.
Er begann die Empfindungen seines Körpers wahrzunehmen. Da war ein allgemeiner, allumfassender Schmerz, den an verschiedenen Stellen stärkere Schmerzempfindungen überlagerten. Da war die Feuchtigkeit und die Kühle. Und da war das eigenartige, nagende Gefühl in seinem Magen. Zuerst interessierte es ihn gar nicht, wie er in diese Lage gekommen war. Auch seine Umgebung schien ihn nicht zu interessieren. In erster Linie war für ihn wichtig, aus der Lage herauszukommen. Gleichzeitig wußte er, daß das nicht möglich war. Er versuchte sich zu bewegen, seine Stellung zu verändern, aber seine Muskeln schienen so schrecklich müde, daß es ihn höchste Anstrengung kostete, sie auch nur zu einem leisen Zucken zu veranlassen. Nach mehreren Versuchen gelang es ihm, die Arme unter die Brust zu schieben. Erst jetzt erkannte er, daß er auf dem Bauch gelegen hatte, die rechte Wange gegen kalten schleimigen Stein gedrückt. Er stemmte sich ein paar Zentimeter in die Höhe, aber die Mühe war zu groß, und er brach wieder zusammen. Eine Weile lag er da und versuchte, die eigenartige und ungemütliche Umwelt zu ergründen. Er schien auf einer geneigten Fläche zu liegen. Der Kopf lag etwas höher als die Füße. Die untere Körperhälfte befand sich in kaltem, sanft bewegtem Wasser. Der Geruch! Es war ein unglaublicher Gestank, ein Übelkeit erregender Brodem von Fäulnis und Verwesung. Jetzt bewegte er den Kopf und zwang sich, die Augen zu öffnen. Irgendwo über ihm war ein schwaches Glühen. Aber das Licht reichte aus, um ihm die Gewölbedecke, kaum einen Meter über ihm, zu zeigen. Er lag in einer Art Rohr, das – Und dann wußte er es plötzlich. Er befand sich in einer Kanalröhre.
Der Schock ließ ihn etwas klarer denken und verlieh seinen Muskeln zusätzliche Kraft. Er stemmte sich auf Hände und Knie hoch und begann auf die schwache Lichtquelle zuzukriechen. Es waren höchstens zwei Meter, aber er schien eine unendliche Zeit zu brauchen, um dorthin zu gelangen. Über ihm war ein Gitterrost, von einem Fetzen Papier teilweise bedeckt. Das Licht, das durch das Gitter hereinfiel, stammte von einer Glühscheibe oben auf der Straße. Da lag er jetzt, erschöpft und schmerzgequält, und versuchte, seine Gehirnzellen zu aktivieren, versuchte zu entscheiden, was er tun sollte. Er würde natürlich den Gitterrost heben müssen. Soviel stand fest. Er mußte dazu aufstehen. War er auch kräftig genug? Es gab nur ein Mittel, um das herauszufinden. Wieder stemmte er sich auf Hände und Knie hoch, und diesmal schien es leichter zu gehen. Dann stützte er sich gegen die gewölbte Wand des Abflußrohres und stand auf. Seine Knie waren weich, aber sie würden ihn tragen – sie mußten ihn tragen. Der Kanaldeckel war gar nicht so weit entfernt, wie er angenommen hatte; er mußte den Kopf beugen, um nicht dagegen zu stoßen. In dieser Stellung verhielt er, um Atem zu holen. Dann griff er hinauf, zuerst mit der einen Hand, dann mit der anderen, um das Gitter zu packen. Und dann stemmte er es mit aller Kraft, die ihm zur Verfügung stand, nach oben. Das Gitter bewegte sich in seinen Scharnieren und schlug dann laut auf das Pflaster. Blieb noch das Problem, wie er aus dem Loch klettern sollte. Der Schätzer wußte nicht, wie er es löste. Irgendwie brachte er es fertig, aus dem Loch zu steigen. Dann lag er erschöpft auf dem Pflaster. Er wußte, daß es einen Grund gab, warum er nicht ewig hier liegenbleiben durfte. Irgendeinen Grund, der es geraten erscheinen ließ, sich zu verstecken, damit keiner ihn sah. Und erst jetzt erkannte er, daß er splitternackt war. Man
hatte ihm alles weggenommen. Auch das Chronometer, das er am Handgelenk getragen hatte. Mühsam stemmte er sich erneut in die Höhe und fing an zu gehen, wie betrunken zu taumeln, und irgendwie schaffte er es, auf den Füßen zu bleiben. Er mußte einen Unterschlupf finden. Und irgendwann wurde es wieder schwarz um ihn.
Als er erwachte, fühlte er sich sehr müde und schwach und dennoch eigenartig frisch, als hätte er lange geschlafen. Er öffnete die Augen und starrte, ohne zu denken, in den fremdartigen Raum. Er wollte eigentlich gar nicht denken, er wußte nur, daß er nicht fror, daß er sich wohlfühlte, daß er irgendwie in Sicherheit war, und nach dem Alptraum der Kälte und des Schreckens war das ein so angenehmes Gefühl, daß er sich ihm ganz hingeben wollte, ohne es zu analysieren. Aber da war immer noch die Erinnerung an den Alptraum, und er konnte sie nicht unterdrücken. Und er wußte, daß es kein Alptraum, sondern Wirklichkeit gewesen war. Jetzt erinnerte er sich an alles. Jemand hatte ihn mit einer Strahlenpistole niedergeschossen, mit dieser gemeinen kleinen Waffe, die in einem einzigen Schock die gleiche Energie abgab, die ein Nervenbrenner über den Zeitraum mehrerer Minuten verteilte und dosierte. Er erinnerte sich, wie er im letzten Augenblick zur Seite gezuckt war, bevor die Waffe abgefeuert wurde. Vermutlich hatte ihm das das Leben gerettet. Hätte der Energiestrahl ihn am Kopf oder an der Wirbelsäule getroffen, so wäre er jetzt tot. Der Mann, der ihn niedergeschossen hatte, hatte ihn wahrscheinlich irgendwohin geschleift, ihm Kleidung und Wertsachen abgenommen und ihn dann in den Abfluß geworfen. Vermutlich hatte der Verbrecher geglaubt, er sei tot. Hätte man dann Tage oder Wochen später die Leiche
gefunden, wäre kein Mensch in der Lage gewesen, sie zu identifizieren. Das Ganze wäre als unaufgeklärtes Gewaltverbrechen zu den Akten gelegt worden. In Stadtvierteln wie jenem kam so etwas ziemlich häufig vor. Und nun dachte er wieder an den Raum, in dem er sich befand. Er setzte sich im Bett auf und blickte sich um. Standardeinrichtung Klasse sechs. Harte, graue Wände aus gegossenem Polymer – sehr simpel. Ebenso Boden und Decke. Glühscheibe an der Decke. Graue Bettücher. Jemand hatte ihn nach der Flucht aus dem Verlies des Abflußrohres gefunden und hierhergebracht. Wer? Das wohlige Gefühl, das er beim Aufwachen empfunden hatte, war schon lange wieder vergangen. Jetzt empfand er eine seltsame Mischung aus Ekel und Angst. Er hatte nie einen Sechser gekannt. Selbst der einfachste Matrose auf der Naipor war ein Fünfer. Der Schätzer stieg aus dem Bett. Er trug ein sackähnliches graues Gewand, das bis zu den Knien reichte. Sonst nichts. Barfuß schlich er zur Tür. Dahinter war nichts zu hören. Also drehte er vorsichtig den Knopf und schob die Tür einen Spalt auf. Und dann hörte er leise Stimmen. Die erste Stimme war die eines Mannes: » – so wie man Hunde fängt, hä?« Die Stimme klang verärgert. »Der bringt uns bloß Ärger. Schau dir doch seine Visage an. Das ist kein Sechser. Nicht mal ein Fünfer. Priv sag ich. Ärger wird’s geben!« Dann die Stimme einer Frau: »Der und ein Priv?« Ein scharfes Lachen. »Nackt, schmutzig, naß kommt er an meine Tür. Seit wann braucht denn ein Priv von einem Sechser Hilfe, und seit wann reden denn Privs so wie wir, wenn sie blau sind. Nein – das ist kein Priv.«
Der Schätzer verstand das nicht. Wenn die Frau ihn meinte, konnte er doch unmöglich den primitiven Dialekt der Sechser gesprochen haben, als er im Delirium lag. Die Frau fuhr fort: »Nein, Labby, kümmer du dich um dein Kram und ich um den mein. Da, hol was zu essen. Los, hau jetzt ab. Komm abends wieder, bevor’s dunkel wird.« Der Mann brummte etwas, das der Schätzer nicht verstand, aber seine Stimme klang irgendwie resigniert. Und dann ging eine Tür auf und zu, und eine Weile herrschte Schweigen. Jetzt näherten sich die Schritte der Frau, und ihre Stimme sagte: »Da haben Sie Glück gehabt, daß Labby Sie nicht gesehen hat, als Sie die Tür aufgemacht haben. Sonst hätte der gewußt, daß Sie wach sind.« Der Schätzer wich von der Tür zurück, als sie eintrat. Die Frau hatte ein farbloses Gesicht, das zu ihrer farblosen Kleidung paßte. Ihr Haar war kurz, und sie hatte eine formlose Gestalt, so als bemühe sich ihr Körper, das formlose Kleid auszufüllen. Und als sie zu lächeln versuchte, schien ihr das nicht ganz zu gelingen, als wäre ihr Mund solche Beanspruchungen nicht gewöhnt. »Wie fühl’n Sie sich?« fragte sie. Sie war unter der Tür stehengeblieben. »Ich… äh – « der Schätzer wußte nicht, was er sagen sollte. Er befand sich in einer völlig fremdartigen Umgebung und in einer ihm völlig unbekannten Situation. »Ich fühle mich wohl«, sagte er schließlich. Sie nickte. »Genug geschlaf’n haben Sie ja. Wie’n Toter, bloß daß Sie im Schlaf geredet haben.« Dann hatte er also in seinem Delirium doch gesprochen. »Wie… wie lange war ich bewußtlos?« »Drei Tage«, sagte sie ausdruckslos. »Beinah vier.« Sie hielt inne. »Ihr Schiff ist weg.«
»Weg?« stieß der Schätzer hervor. »Die Naipor?Weg?« Es schien ihm, als wäre die Welt unter seinen Füßen versunken, so daß er endlos durch ein Nichts fallen mußte. Natürlich stimmte es. Man brauchte bloß vierundzwanzig Stunden, um die Ladung eines Schiffes zu löschen. Und da man nicht die Absicht gehabt hatte, neue Ladung aufzunehmen, brauchte man auch nicht länger zu warten. Da entstand ein Vakuum in seinem Geist, eine Leere in seinem Wesen, das nichts mehr fühlen konnte. Das Schiff war sein ganzes Leben, sein Zuhause, seine Arbeit, seine Sicherheit gewesen. »Woher wissen Sie, daß ich von dem Schiff stamme?« fragte er benommen. »Aus dem Steckbrief«, sagte sie. Sie griff in eine der großen Taschen ihres grauen Kleides, und ihre Hand kam mit einem zerknitterten Stück Papier wieder hervor. Sie hielt es ihm schweigend hin. Es war der Steckbrief eines Vertragsbrechers. GESUCHT wird wegen VERTRAGSBRUCH Jaim Jakom Diego Alter 35; Körpergröße 185 cm; Gewicht 96 kg; Haarfarbe schwarz, Augenfarbe blau; Hautfarbe weiß; Jaim Jakom Diego, Astrotech, Klasse drei, Schätzer, hat am 37. 3. 119 den Vertrag mit der Interstellar Transport- und Handelsunion gebrochen, indem er sich an diesem Tage nicht zum Dienst auf dem Handelsschiff Naipor zurückmeldete. Alle Bürger werden hiermit davon unterrichtet, daß besagter Jaim Jakom Diego nur bei der ITH beschäftigt werden darf und daß er auf keinem Planeten’ einen festen Wohnsitz, Vermögen oder Wertsachen
besitzt. Er verfügt auch über keinerlei Beförderungsberechtigungen. Für Hinweise, die zur Festnahme des Gesuchten führen, wird die übliche Belohnung sowie eine zusätzliche Prämie ausgesetzt. Der Schätzer musterte sein Bild auf dem Steckbrief. Es war alt, vor nahezu fünfzehn Jahren aufgenommen. Die Ähnlichkeit war nicht mehr besonders groß. Aber das hatte nichts zu besagen. Ein Deserteur hatte kaum Chancen. Wie lange würde er etwas zu essen bekommen, und wo sollte er wohnen? Er blickte von dem Zettel auf und sah die Frau an. Sie erwiderte seinen Blick ausdruckslos. Er wußte jetzt, warum sie ihn wie einen Gleichrangigen angesprochen hatte, obwohl sie gelesen hatte, daß er der Klasse drei angehörte. »Warum haben Sie nicht versucht, die Belohnung zu kassieren?« fragte er. Plötzlich fühlte er sich schwach und setzte sich wieder auf den Bettrand. »Ich brauche Sie.« Dann weiteten sich ihre Augen. »Blaß sehen Sie aus. Ich besorg Ihnen jetzt was zu Essen. Drei Tage lang haben Sie ja bloß Suppe gegessen. Bleiben Sie sitzen. Ich komme gleich wieder.« Er nickte. Er fühlte sich krank. Sie ging ins andere Zimmer und ließ die Tür offen. Er hörte Geräusche aus der kleinen Küche. Die Frau fing zu reden an und hob die Stimme, damit er sie hören konnte. »Mögen Sie Eier?« sagte sie. »Ja, manche«, sagte der Schätzer. »Aber das ist jetzt egal, ich habe Hunger.« Er hatte gar nicht gewußt, wie hungrig er war. »Manche?« Die Stimme der Frau klang überrascht. »Gibt’s denn verschiedene Eier?« In der Küche wurde es plötzlich still, während sie gespannt auf die Antwort wartete.
»Ja«, sagte der Schätzer, »auf anderen Planeten. Was für Eier haben Sie denn?« »Einfach… einfach Eier.« »Ich meine, von welchen Tieren stammen die denn?« »Von Hühnern. Was für Tiere legen denn sonst Eier?« »Andere Vögel.« Ganz schwach wünschte er, er wisse mehr über die Fauna von Ciornes. Hühner waren ziemlich weit verbreitet. Er schob den Gedanken mit einem Achselzucken beiseite. Ihn interessierte das eigentlich nicht. Sollten sich die Ökologen darum kümmern. »Vögel?« fragte die Frau. Der Begriff war ihr sichtlich unbekannt. »Andere Arten von Hühnern«, sagte er müde. »Manche größer, manche kleiner, manche in anderen Farben.« Er hoffte, die Antwort würde sie zufriedenstellen. Offenbar tat sie das. Sie sagte: »Oh«, und fuhr fort, mit ihrem Geschirr zu hantieren. Das Schweigen war nach ein oder zwei Minuten unerträglich geworden. Der Schätzer hatte die Frau anschreien wollen, sie solle den Mund halten, ihn zufrieden lassen, ihn nicht mit ihren blöden Fragen belästigen, Fragen, die er nicht beantworten konnte, weil sie zu dumm war, die Antwort zu begreifen. Er hatte sich gefragt, warum er sie nicht angeschrien hatte. Schließlich brauchte ein Dreier ja nicht die Fragen eines Sechsers zu beantworten. Aber er hatte ihr Antwort gegeben. Und nachdem sie zu reden aufgehört hatte, glaubte er auch zu wissen, warum. Er wollte reden, wollte angesprochen werden, wollte beschäftigt sein, um die Leere in seinem Geist nicht spüren zu müssen, um die Bresche nicht zu fühlen, die man in seine Welt geschlagen hatte.
Was würde er jetzt tun, wenn das alles nicht passiert wäre. Unwillkürlich blickte er auf sein Handgelenk. Aber das Chronometer war verschwunden. Er wäre wie immer um 0600 Schiffszeit erwacht. Er hätte sich angezogen und um 0630 in der Messe gesessen und hätte schweigend mit den anderen seiner Klasse sein Frühstück verzehrt. Um 0640 wäre abgeräumt worden, und sie hätten sich bis 0645 unterhalten dürfen. Dann die Inspektion des Feuerleitsystems von 0650 bis 0750. Dann – Er zwang sich, an etwas anderes zu denken, nur nicht an die angenehme, gleichförmige Routine, in der ein Vierteljahrhundert lang und länger sein Leben verlaufen war. Als die Stimme der Frau wieder ertönte, empfand er es wie eine Erleichterung. »Was ist ein Schätzer?« Er erklärte es ihr, so gut er konnte, versuchte Begriffe zu verwenden, die eine Frau mit ihrem geringen Wortschatz und ihrer beschränkten Intelligenz begreifen konnte. Er war nicht ganz sicher, ob es ihm gelang, aber es tat gut, überhaupt darüber reden zu können. Er merkte, wie er dieselben Formulierungen gebrauchte wie früher in den Einführungskursen für Schätzer-Anwärter, die man ihm zur Ausbildung zugewiesen hatte. »Die Fähigkeit, genaue Vorhersagen zu machen, ist nicht erlernbar. Sofern ein Mensch nicht die angeborene Fähigkeit, Schätzer zu werden, in sich hat, kann er das Schätzen auch nicht lernen, ebensowenig wie ein Blinder nicht in der Lage ist, Lesen zu lernen.« Plötzlich fiel ihm ein, wieso die Frau eigentlich den Steckbrief hatte lesen können. Er würde sie nachher fragen müssen. »Andererseits führt die genetische Veranlagung eines Schätzers nicht automatisch dazu, daß man exakte Schätzungen abgeben kann; wie wenn jemand zwar einwandfrei sehen, aber nicht automatisch auch schon lesen kann. Um also aus dieser Veranlagung eine Fähigkeit zu
machen, bedarf es jahrelangen harten Trainings. Sie müssen lernen, sich zu konzentrieren, die ungeteilte Aufmerksamkeit auf die Aufgabe zu richten – « Er hielt plötzlich inne. Die Frau stand mit einem Teller und einem dampf enden Krug in der Hand unter der Tür. Ihre Augen waren groß. »Sie meinen mich?« »Nein… nein!« Er schüttelte den Kopf. »Ich… habe an etwas anderes gedacht.« Sie kam herein. »Sie haben ja Tränen in den Augen. Tut Ihnen was weh?« Er wollte ja sagen. Er wollte ihr sagen, wie sehr verletzt er war und weshalb. Aber die Worte kamen nicht. »Nein«, sagte er. »Meine Augen sind bloß etwas überanstrengt.« Sie nickte, akzeptierte seine Erklärung. »Hier. Da essen Sie mal, damit Sie was in den Bauch kriegen.« Er aß, ohne sich darum zu kümmern, wie das Essen schmeckte. Er sprach nicht, und sie schwieg auch, und dafür war er dankbar. Unterhaltung während des Essens wäre für ihn ebenso schmerzhaft wie sinnlos gewesen. Eigenartig, daß in gewisser Hinsicht Menschen der Klasse sechs mehr Freiheiten hatten als er. Vermutlich durften sie auch während einer Mahlzeit reden, wann immer sie wollten. Er war auch froh, daß sie nicht versucht hatte, gleichzeitig mit ihm zu essen. Es störte ihn nicht, daß eine Angehörige der Klasse sechs sein Essen zubereitete und servierte. Es störte ihn auch nicht, daß sie in seiner Nähe war. Hätte sie sich aber zu ihm gesetzt und mitgegessen Aber das hatte sie nicht getan, also vergaß er es. Nach dem Essen fühlte er sich viel besser. Er hatte gar nicht erkannt, wie hungrig er gewesen war. Sie trug die Teller weg, kam aber gleich zurück.
»Haben Sie sich überlegt, was Sie jetzt tun wollen?« fragte sie. Er schüttelte den Kopf. Das hatte er nicht überlegt. Er hatte nicht einmal daran denken wollen. Es war, als flüsterte irgendwo im Unterbewußtsein eine Stimme, daß das Ganze nur ein schlimmer Traum sei. Gleich würde er in seiner Kabine an Bord der Naipor aufwachen. Verstandesmäßig wußte er, daß das nicht wahr war, aber emotionelle Bedürfnisse, verbunden mit Wunschdenken, hatten seinen Intellekt gelähmt. Dennoch wußte er, daß er hier nicht bleiben konnte. Der Gedanke, den Rest seines Lebens in einem Wohnviertel der Klasse sechs zu verbringen, war abstoßend für ihn. Aber er konnte nirgendwo anders hingehen. Obwohl man keinen Prozeß gegen ihn geführt hatte, war er praktisch bereits deklassifiziert. »Ich glaube, ich werde mich stellen«, sagte er. »Ich werde sagen, daß man mich überfallen und beraubt hat. Vielleicht glaubt man mir.« »Vielleicht, bloß vielleicht?« Er zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht. Ich war noch nie in einer solchen Lage. Ich weiß es einfach nicht.« »Was werden die mit Ihnen machen, wenn Sie sich stellen?« »Das weiß ich ebenfalls nicht.« Ihre Augen schienen plötzlich in weite Ferne zu blicken. »Ich hab ‘ne Idee. Vielleicht nützt die uns beiden was.« Er sah sie an. »Was meinen Sie?« Ihr Blick kam aus der Ferne zurück, und ihre Augen blickten in die seinen. »Die Rebellen«, sagte sie mit ihrer ausdruckslosen Stimme. »Wir könnten zu den Rebellen gehen.« Der Schätzer hatte zwanzig Jahre lang gegen die Rebellen gekämpft und haßte sie, seit er sich erinnern konnte. Daß er je ein Rebell werden könnte, wäre ihm nie im Traum eingefallen. Selbst die Vorstellung, einen der Rebellenplaneten aufsuchen
zu müssen, war so fremdartig, daß der Vorschlag wie ein Schock auf ihn wirkte. Und doch verdiente der Gedanke einige Überlegung. Die Rebellen. Was wußte er eigentlich über sie. Sie nannten sich natürlich nicht Rebellen; das war eine Bezeichnung, die das Aristarchat eingeführt hatte. Der Schätzer konnte sich zunächst gar nicht daran erinnern, wie sie sich selbst bezeichneten. Ihre Regierungsform war eine nahezu anarchistische Form der Ochlokratie. Daran erinnerte er sich, eine Art Herrschaft des Pöbels. Sie war die Folge einer überholten Politik, die man vor Jahrhunderten angewandt hatte, um die Planeten der Galaxis zu besiedeln. Es gibt Leute, die sich einfach keiner sozialen Ordnung anpassen können oder wollen – höchstens einer ganz primitiven. Entsprechend der Gesellschaft, in der sie existierten, und der Art ihrer eigenen asozialen Tätigkeit hatte man sie im Laufe der Jahrhunderte alles mögliche genannt: manchmal Verbrecher, manchmal Pioniere. Das hatte jeweils davon abgehangen, ob sie gegen die jeweils vorherrschende Gesellschaftsform gekämpft hatten oder vor ihr geflüchtet waren. Der Schätzer wußte so gut wie nichts über allgemeine Geschichte, aber er hatte gehört, daß die Ausbreitung der menschlichen Rasse über die Galaxis von der Erde ihren Ausgang genommen hatte – einem Planeten, dem er nie näher als tausend Parsec gekommen war –, in dem man freiwillige Auswanderer und verurteilte Gesetzesbrecher gemeinsam zu neuen erdähnlichen Planeten befördert hatte. Im Laufe des Generationenwechsels hatte sich ein zivilisierender Einfluß bemerkbar gemacht, der von Neueinwanderern gefördert worden war, und das Aristarchat entstand. War das Aristarchat wirklich so alt? Der Schätzer hatte das Gefühl, daß es damals eine andere Regierungsform gegeben
haben mußte. Vielleicht war diese Regierung Vorläufer und Wegbereiter des Aristarchats gewesen, denn das augenblickliche Gesellschaftssystem existierte schon seit vier oder fünf Jahrhunderten. Vielleicht noch länger. Der Schätzer erkannte, daß sein Wissen über die Geschichte der Antike ebenso lückenhaft wie das aller anderen Menschen war; schließlich war das auch nicht sein Spezialgebiet. Auch heute noch bediente man sich zur Besiedlung neuer Planeten der altbewährten Methode, nur daß man deklassifizierte Bürger und Angehörige der Klasse sieben dorthin schickte. Aber in jenen frühen Tagen der Besiedlung hatte es noch nicht die straffe Organisation gegeben, über die heute das Aristarchat verfügte. Planeten waren manchmal Generationen lang in Vergessenheit geraten. (Der Schätzer erinnerte sich vage daran, daß es in jener Zeit Kriege gegeben hatte und daß Kriege dazu beigetragen hatten, daß Planeten verlorengingen.) Einige neubesiedelte Planeten hatten sich ohne Eingriff der Erdregierung selbst zivilisiert. Und als die Erdregierung dann gekommen war, hatten sie sich mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln gegen die Integration gewehrt. Die meisten dieser widerspenstigen Planeten waren schließlich unterworfen worden. Aber es gab noch so viele »vergessene« Planeten, die sich selbst verwalteten und in einer lockeren Konföderation zusammengefaßt waren. Die nannte man die Rebellen. Wegen der zahlenmäßigen Überlegenheit des Aristarchats und weil es keine Geheimpolitik betrieb oder sich in den Tiefen des Weltraums versteckte, kannten die Rebellen die Lage der Planeten des Aristarchats genau, während das Aristarchat seinerseits unmöglich in den Myriaden von Sternsystemen, die die Galaxis bildeten, einzelne Planeten suchen konnte.
So waren die Rebellen zu Piraten geworden und raubten die Handelsschiffe des Aristarchats aus. Warum? Das wußte niemand. (Oder, korrigierte sich der Schätzer, er wußte es jedenfalls nicht.) Für eine kranke Kultur wie die der Rebellen mußte es auch krankhafte Gründe geben. Das Aristarchat umfaßte beinahe alle Planeten der Galaxis, die von Menschen bewohnt werden konnten, soviel hatte man den Schätzer gelehrt. Warum es nur in einem Umkreis von fünftausend Lichtjahren vom Zentrum der Galaxis aus erdähnliche Planeten geben sollte, war für ihn ein Geheimnis, aber schließlich war er kein Astrophysiker. Nun hatte diese Frau, diese Vettel aus der Klasse sechs, gesagt, sie hätte gehört, das Aristarchat unterdrücke Fakten; es gäbe Planeten bis hinaus zur Peripherie, die von Rebellen bewohnt würden. Die legendäre Erde sei einer jener Planeten und tausenderlei Dinge. Alle falsch, wie der Schätzer wußte. Aber die Frau war fest davon überzeugt, daß man sie auf einem Rebellenplaneten aufnehmen würde. Bei den Rebellen gebe es keine Klassen, hatte sie gesagt. (Der Schätzer hielt das für baren Unsinn; eine klassenlose Gesellschaft war von vorneherein unmöglich.) Der Schätzer hatte die Frau gefragt, weshalb, wenn ihre Behauptungen zuträfen, die Rebellen nicht schon lange das Aristarchat bezwungen hätten. Wenn sie die Galaxis bis hinaus zur Peripherie beherrschten, dann hielten sie das Aristarchat doch umzingelt, oder? Darauf hatte sie keine Antwort gewußt. Und erst später hatte der Schätzer erkannt, daß er eine Antwort wußte. Ja, er selbst war ein kleiner, aber nicht zu unterschätzender Teil dieser Antwort. Die Rebellen hatten keine Schätzer. Das wußte er aus eigener Erfahrung. Er hatte Gefechte im Weltraum gegen Rebellenschiffe mitgemacht und die Naipor unbeschädigt aus
den Schlachten herausgeführt und gleichzeitig den Schiffen der Rebellen schweren Schaden zugefügt. Sie hatten keine Schätzer (besser: keine ausgebildeten Schätzer, korrigierte er sich. Die genetischen Anlagen mochten auch bei Rebellen vorhanden sein, man nutzte sie nur nicht.) Und dann überlegte er, daß die Rebellen vielleicht eine andere Art von Talent besitzen mochten. Sie schienen in der Lage zu sein, auf große Entfernung ein einzelnes Schiff des Aristarchats zu orten, während es den Schiffen des Aristarchats noch nicht einmal möglich war, eine ganze Flotte von Rebellenschiffen zu entdecken, ehe sie auf Angriffsweite herangekommen waren. Aber auch das war nicht seine Sache. Auf lange Sicht war keiner dieser Punkte wichtig. Das, was den Schätzer zur Entscheidung führte, ihn zum Handeln veranlaßte, war das Eingeständnis der Frau, daß sie wußte, wie man tatsächlich einen Planeten der Rebellen erreichen konnte. Es war ganz einfach. Sie mußten sich gefangennehmen lassen. »Die Raumschiffe haben keine Leute drin, wissen Sie«, sagte sie, als verstünde sie genau, wovon sie sprach. »Die wollen unsere Schiffe schnappen, nicht kaputtmachen. Also schicken sie ein paar kleine Schiffe, um unsere Schiffe zu beschädigen. Macht ihnen nichts aus, wenn ihre kleinen Schiffe auch eins abkriegen, weil ja keiner drin ist, wissen Sie. Die wollen nur unsere Schiffe schnappen und die Leute, wo da drin sind.« »Ja, ja«, hatte der Schätzer ungeduldig gesagt, »aber was hat das mit uns zu tun?« Sie machte eine zaghafte Handbewegung, so als habe sie sein befehlsgewohnter Ton erschreckt. Schließlich war sie es nicht gewohnt, mit Angehörigen der Klasse drei wie mit Gleichgestellten zu sprechen. »Ich sag’s Ihnen doch!« Sie hielt inne, um ihre Gedanken neu zu ordnen. »Aber das muß ich Sie fragen: Wenn wir in einem
Schiff sind, können Sie dafür sorgen, daß es nicht auf die Rebellenschiffe schießt?« Der Schätzer erkannte sofort, worauf sie hinauswollte. Es klang noch nicht sehr sinnvoll, aber eine Spur von Logik lag doch darin. »Ich verstehe«, sagte er. »Sie wollen wissen, ob ich das Feuerleitsystem eines Raumschiffes so weit ausschalten könnte, daß die Rebellenschiffe es kapern können?« »Ja – ich denke schon. Können Sie das?« »Ja-a-a«, sagte der Schätzer langsam, »das könnte ich. Aber ich kann nicht einfach hingehen und es tun. Ich meine, es ist beinahe unmöglich, an Bord eines Schiffes zu gelangen. Und ohne einen offiziellen Auftrag kann ich ohnehin nichts tun.« Aber sie wirkte gar nicht enttäuscht. Statt dessen lächelte sie und sagte: »Ich werde dafür sorgen, daß wir auf das Schiff kommen. Und Sie kriegen einen offiziellen Auftrag. Das schaffen wir.« Während sie ihren Plan darlegte, wunderte sich der Schätzer erst über die Kühnheit der Ausführung. Schon bald begann er zu begreifen, welche Möglichkeiten er bot. Erst dann nämlich hatte die Frau dem Schätzer Dinge gesagt, nach denen zu fragen er vergessen hatte. Sie hieß Deyla und arbeitete als Putzfrau im Wohngebiet der Privilegierten. Und nach und nach fühlte der Schätzer, wie ihn die Verzweiflung langsam losließ und wie Hoffnung an ihre Stelle trat.
Der Schätzer trottete bedächtig auf das hohe, leuchtende Gebäude zu, das ziemlich im Zentrum des Wohngebiets der Privilegierten lag. Er bewegte die Füße vorsichtig, und sein Blick war auf die weiche, teppichartige Oberfläche des Straßenbelages gerichtet. Er trug das stumpfe Grau eines
Arbeiters der Klasse sechs, und sein Betragen war sorgfältig darauf abgestimmt. Am Arm steckte eine goldene Plakette, die besagte, daß er bei einem Angehörigen der Klasse eins unter Vertrag stand. In der Tasche trug er eine gefälschte Ausweiskarte mit der gleichen Information. Niemand achtete auf ihn. Er war einer von vielen und ging seiner primitiven Beschäftigung nach. An der Gebäudefront prangte ein großes Leuchtbuchstabenband: VIORNES-EXPORT-UNTERNEHMEN Der Haupteingang war natürlich für einen Sechser verboten. Er ging daran vorbei und wich immer wieder Bürgern höherer Klassen aus. So erreichte er schließlich die schmale Gasse, die zur Rückseite des Gebäudes führte. Ein Posten der Klasse fünf, mit einem Schlagstock bewaffnet, stand neben der Tür, die zum Arbeitereingang führte. Der Schätzer hielt seine Karte, wie Deyla es ihm aufgetragen hatte, in der Hand, als er sich der Tür näherte. Der Posten würdigte die Karte kaum eines Blicks, sondern winkte dem Schätzer, er solle eintreten. Dabei verlor er kein Wort. Der Schätzer zitterte, als er weiterging, teils vor Wut, teils aus Angst. Der Posten hätte auf den ersten Blick erkennen müssen, daß er nicht der Klasse sechs angehörte. Der Schätzer war ganz sicher, daß er nicht wie ein Sechser wirkte. Aber Fünfer waren eben auch nicht besonders intelligent. Der Schätzer betrat die Korridore der unteren Gebäudehälfte und folgte einem Weg, den Deyla ihm beschrieben hatte. Er zögerte keine Sekunde; sein Erinnerungsvermögen für solche Dinge arbeitete einwandfrei. Er hätte sich sogar bei völliger Dunkelheit in dem Gebäude zurechtgefunden.
Wieder wunderte sich der Schätzer, welche Freiheiten die Sechser doch besaßen. Solange sie ihre Arbeit gut verrichteten, kümmerte sich niemand darum, wie sie ihre Zeit verbrachten. Nun, die Arbeiten, für die Sechser sich am besten eigneten, waren meist trivialer Natur – teilweise waren sie sogar völlig überflüssig. Jedenfalls war es axiomatisch für jedes gut funktionierende Gesellschaftssystem, daß sich jedermann eines gesicherten Arbeitsplatzes erfreute; denn das machte die Leute erst richtig glücklich. Natürlich gab es eine ganze Menge Sechser, die im Baugewerbe oder in der Landwirtschaft arbeiteten und die von Aufsehern zur Arbeit angetrieben wurden. Aber Reinigungsarbeiten und dergleichen bedurften keiner besonderen Aufsicht. Mehr als saubermachen kann man nicht; es gibt da kein Arbeitssoll, das erfüllt oder unterschritten werden könnte. Nachdem er einige Minuten zu Fuß gegangen war und mehrere Treppen erstiegen hatte – Sechser benutzten keine Lifts oder Schweberöhren –, fand er das Zimmer, in dem er sich mit Deyla verabredet hatte. Es war ein kleiner Abstellraum für Reinigungsgeräte und Putzmittel. Sie wartete auf ihn. Und jetzt, wo die Zeit für sie gekommen war, ihren Plan auszuführen, zeigte Deylas Gesicht Angst. Der Schätzer wußte, daß seine Entscheidung richtig gewesen war. Aber darüber sagte er jetzt noch nichts. »Wissen Sie das ganz genau, das mit dem Bestimmungsort?« fragte er, ehe sie etwas sagen konnte. Sie nickte nervös. »Ja, ja. D’Graskis Planet. Das hat er gesagt.« »Gut«. Der Schätzer hatte drei Wochen lang auf diese Stunde gewartet, aber er hatte gewußt, daß sie eines Tages kommen würde. D’Graskis Planet war der nächstliegende
Reparaturstützpunkt. Früher oder später würde ein Schiff von Viornes dorthin fliegen. Er hatte Deyla gesagt, daß diese Route die höchste Wahrscheinlichkeit eines Angriffs durch Rebellschiffe bot, daß sie warten sollte, bis ein Schiff im Raumhafen landete, das nach Graski weiterflog. Und jetzt war das Schiff da. »Wie ist der Name des Schiffes?« fragte er. »Trobwell.« »Was ist denn mit Ihnen los?« fragte er plötzlich nicht besonders freundlich. Sie schauderte. »Angst, schreckliche Angst«, sagte sie. »Das dachte ich mir. Haben Sie die Kleidung?« »J-ja – « Und dann brach sie zusammen. »Sie müssen mir helfen! Sie müssen mir zeigen, wie ich gehen soll, wie ich reden soll, sonst schnappt man uns beide!« Er schüttelte sie. »Halten Sie den Mund!« Als sie sich beruhigt hatte, sagte er: »Sie haben natürlich recht. Wenn Sie einen Fehler machen, verhaftet man uns beide. Aber ich fürchte, es ist jetzt zu spät, Ihnen Benehmen beizubringen. Dazu war es schon immer zu spät.« »Wa – was soll das heißen?« »Schon gut. Wo ist der Reisekoffer?« Sie deutete stumm auf ein Regal, eines der vielen an den Wänden. Der Schätzer holte eine Schachtel mit Staubfiltern heraus. Dahinter stand ein golden und blauer Reisekoffer. Die Frau hatte Monate damit verbracht, die Dinge, die sich darin befanden, zu stehlen. Stück für Stück hatte sie zusammengetragen, lange bevor der Schätzer in ihr Leben getreten war. Und immer hatte sie von dem Tag geträumt, an dem sie eine Privilegierte, eine Dame werden würde. Und erst als er gekommen war, hatte sie versucht, diesen Traum zu verwirklichen.
Der Schätzer legte den Daumen auf das Kofferschloß, und das Gepäckstück klappte auf. Die goldene Uniform eines Privilegierten der Klasse eins glitzerte zwischen den Frauenkleidern. Und sie hatte auch nichts vergessen. Die Strahlenpistole mit Pistolentasche und Koppel lag unter der Uniform. Vorsichtig, beinahe ehrfurchtsvoll hob er die Waffe heraus. Das war das erste Mal, daß er wieder eine in der Hand hielt, seit jenem Tag, als man mit einer auf ihn geschossen hatte. Aber das war lange, lange her. Er stellte die Stärke der Energie »Betäubung« ein. »Werden wir uns hier umkleiden?« fragte sie verängstigt. »Und dann einfach hinausgehen? Ich hab Angst!« Er stand auf. Die Waffe hielt er in der Hand, so daß die Mündung auf den Boden gerichtet war. »Jetzt will ich Ihnen etwas sagen«, meinte er und bemühte sich um einen freundlichen Ton. »Vielleicht hilft Ihnen das, sich Ärger zu ersparen. Sie können keine Privilegierte darstellen. Ganz gleich, wie lange Sie auch üben. Sie werden es einfach nicht schaffen. Sie sind geistig dazu nicht fähig. Jedes Wort, jede Bewegung würde Sie verraten.« Langsam trat der Schock in ihr Gesicht. »Sie nehmen mich nicht mit?« fragte sie mit ihrer weichen, ausdruckslosen Stimme. »Nein.« »Wie soll ich dann zu den Rebellen kommen? Wie?« In ihren Augen standen jetzt Tränen. »Es tut mir leid«, sagte er, »aber ich fürchte, Ihre idealisierten Rebellen gibt es nicht. Der Gedanke ist einfach lächerlich. Ihre unsinnigen Angriffe auf unsere Schiffe zeigen, daß sie geistig unstabil und verdreht sind, und jetzt erzählen Sie mir ja nicht wieder etwas von automatischen, ferngesteuerten Schiffen. Man baut keine Maschine, wenn ein Mensch die gleiche Arbeit
verrichten kann. Diese angeblich so großartige Rebellennation hätte sich schon lange von selbst aufgelöst, wenn sie nach dem Prinzip arbeitete, daß ein Mensch einer niedrigen Klasse mehr wert ist als eine Maschine. Sie sind besser dran, wenn Sie hier weiter Ihre Arbeit tun. Das Paradies einer klassenlosen Rebellengesellschaft gibt es nicht.« Sie schüttelte den Kopf, während er sprach, versuchte die Worte abzuwehren, die ihren geliebten Traum vernichten wollten. Und die Worte hatten ihre Wirkung, weil sie ihm glaubte, weil er selbst glaubte, was er sagte. »Nein«, sagte sie weich, »nein, nein, nein.« Der Schätzer hob die Strahlenpistole und drückte ab. Betäubt sank sie zu Boden.
Eine halbe Stunde später hatte der Schätzer selber Angst. Es schien ihm schwer, aber es gelang ihm, selbstbewußt über das riesige Raumfeld auf den gigantischen Rumpf der Trobwell zuzugehen, ohne seine Furcht zu zeigen. Wenn sie ihn jetzt ertappten – Er kapselte sich gegen den Gedanken ab und ging weiter. Am Eingang zur Landesmulde stand ein Posten der Klasse vier. Er senkte den Kopf und salutierte, als der Schätzer an ihm vorüberging. . So leicht! dachte der Schätzer. So unglaublich leicht! Selbst der Kapitän des Schiffes würde nur ein Priv der Klasse zwei sein. Niemand würde ihm Fragen stellen. Niemand würde es wagen. Ein Leutnant blickte auf, als er das Schiff betrat, und salutierte hastig.
»Eine Ehre, Sie an Bord zu haben, hoher Herr«, sagte er unterwürfig. »Aber Sie sind sich natürlich darüber im klaren, daß wir in wenigen Minuten starten.« Worte drängten sich in die Kehle des Schätzers, und er mußte schlucken, ehe er sprechen konnte. »Das weiß ich. Ich… ich komme mit Ihnen.« Die Augen des Leutnants weiteten sich. »Aber mir liegen keine diesbezüglichen Befehle vor, hoher Herr.« Das ist es! dachte der Schätzer. Entweder schaffte er es jetzt, oder er war verloren. Für alle Zeiten verloren. Er runzelte die Stirn. »Dann schreiben Sie den Befehl eben aus! Ich werde mich beim Kapitän wegen dieser Änderung in letzter Minute entschuldigen. Aber ich möchte keine Startverzögerung. Es ist von größter Wichtigkeit, daß ich auf schnellstem Wege D’Graskis Planet erreiche!« Der Leutnant wurde bleich. »Entschuldigen Sie, hoher Herr. Ich werde dafür sorgen, daß entsprechende Befehle nachgetragen werden. Wünschen Sie eine Kabine?« »Natürlich! Ich nehme an, Sie haben eine geeignete Kabine zur Verfügung?« »Ganz bestimmt, hoher Herr. Ich werde veranlassen, daß der Quartiermeister sofort eine für Sie herrichten läßt.« »Ausgezeichnet«, sagte der Schätzer, »ausgezeichnet«. Fünfzehn Minuten später startete die Trobwell planmäßig. Der Schätzer atmete in seiner Kabine erleichtert auf. Endlich auf dem Weg nach D’Graskis Planeten.
»Bitte, hoher Herr«, sagte der Kapitän, »wie glauben Sie, daß man in diesem Fall entscheiden sollte?« und schob dem Schätzer die Akte über den Schreibtisch hin. Der Schätzer starrte die Papiere an, ohne sie richtig zu sehen. Seit fünf Tagen hatte ihm jetzt der Kapitän der Trobwell
Papiere vorgelegt und Fragen dieser Art gestellt. Und da er der ranghöchste Priv an Bord war, erwartete man von ihm, daß er sie beantwortete. Dieser Fall war noch komplizierter als die anderen, und keiner der bisherigen Fälle war leicht gewesen. Er zwang sich, die Schrift zu lesen, zwang sich, den Vorgang zu verstehen. Das waren keine einfachen Probleme von der Art, wie er sie sein ganzes Leben lang bewältigt hatte. Es ging um die Frage der Auswahl von drei verschiedenen Ladungen, die an drei verschiedene Bestimmungsorte transportiert werden sollten. Und welches war die beste Wahl? Zu berücksichtigen war der Energieverbrauch des Schiffes im Vergleich zum Handelswert der Ladung. Dabei mußte man natürlich auch die Schwundquote berücksichtigen und den Einfluß der schwankenden Marktpreise. Die Zahlen waren alle da, aber sie bedeuteten nichts. Manchmal hatte er überhaupt nicht erkennen können, worin der Unterschied zwischen den einzelnen Alternativen bestand. Einmal hatte man ihm die Aufzeichnungen einer Verhandlung des Bordgerichts vorgelegt. Zeugen hatten zwei einander widersprechende Berichte über einen Vorfall geliefert, und der Angeklagte eine dritte Version. Wie sollte man da ein Urteil abgeben. Und dennoch hatte man ihn darum gebeten. Er biß sich nervös auf die Unterlippe, hörte aber gleich wieder auf, als er erkannte, daß jetzt nicht die Zeit dafür war, sich die Belastung anmerken zu lassen. »Ich würde sagen, Plan B ist die beste Wahl«, sagte er schließlich. Das war reine Vermutung. Hatte er einen Fehler gemacht? Der Kapitän nickte weise. »Danke, hoher Herr. Sie waren mir eine große Hilfe. Das Treffen von Entscheidungen ist viel zu verantwortungsvoll, als daß man es auf die leichte Schulter nehmen dürfte.«
Der Schätzer konnte es nicht mehr ertragen. »Es war mir ein Vergnügen, Ihnen helfen zu können«, sagte er und stand auf. »Aber ich muß noch einige Akten durcharbeiten, ehe wir D’Graskis Planet erreichen. Hoffentlich werde ich damit fertig.« Der Kapitän sprang auf. »Oh, selbstverständlich, hoher Herr. Hoffentlich habe ich Sie mit meinen kleinen Problemen nicht belästigt. Ich werde Sie den Rest der Reise nicht mehr stören.« Der Schätzer dankte ihm und ging in seine Kabine. Dann lag er stundenlang mit Kopfschmerzen im Bett. Hätten die Umstände ihn nicht gezwungen, so hätte er nie versucht, die Rolle eines Privilegierten zu spielen. Nie! Und er war nicht einmal sicher, ob er diese Rolle für den Rest der Reise durchstehen würde. Aber irgendwie schaffte er es. Er blieb die meiste Zeit in seiner Kabine und erweckte den Anschein, die golden und blaue Reisetasche enthielte wichtige Dokumente, die er zu bearbeiten hatte. Angst hatte er nur vor den Mahlzeiten, wenn er bei dem Kapitän und den zwei Leutnants saß, die beim Essen wie die Affen schnatterten. Und er hatte auch sprechen müssen. Schweigen hätte vielleicht einen schlechten Eindruck gemacht. Wie er das haßte! Sein Mund war dazu da, um zu sprechen oder zu essen – alles zu seiner Zeit. Natürlich hatten die Privs eine Kunst daraus gemacht. Schließlich hatten sie auch mehr Zeit für ihre Mahlzeiten als Angehörige der Klasse drei. Sie nahmen immer ein paar Bissen zu sich, während ein anderer sprach, sprachen dann selbst, während der andere kaute. Aber ihn störte das, und der Schätzer schaffte es nie ganz, die beiden Tätigkeiten miteinander zu verbinden. Aber offenbar fiel das keinem der drei Offiziere auf. Als die Trobwell dann D’Graskis Planeten erreichte, war er beinahe krank von der Anstrengung, die Rolle eines Privilegierten zu spielen. Das Schlimmste war gewesen, als ein
Rebellenschiff sie angegriffen hatte. Er war im Bett liegengeblieben, hatte aber jede Beschleunigungsphase bewußt miterlebt. Ohne Bildschirm und Computer, die ihm Daten vermittelten, konnte er nicht schätzen. Und dennoch hatte er es die ganze Zeit versucht; er konnte einfach nicht anders, dazu war er ausgebildet worden. Und am schlimmsten war, daß seine Schätzungen jedesmal falsch waren. Als das Schiff schließlich im Reparaturdock zur Ruhe kam, kostete es den Schätzer Mühe, das Zittern seiner Hände zu unterdrücken. Er verließ das Schiff und fühlte sich wie ein gebrochener alter Mann, aber als seine Füße den Boden berührten, dachte er: Ich habe es geschafft! Trotz allem habe ich es geschafft! Und dann kamen zwei Männer auf ihn zu. Zwei Männer in den blauen Uniformen der Disziplinarabteilung eines Schiffes. Er erkannte nicht nur ihre Gesichter, er las auch den Namen auf ihren Uniformspiegeln: Naipor.
Raumkapitän Humboldt Reed, Kommandant der Naipor sah seinen Meister Schätzer an und schüttelte den Kopf. »Ich sollte sie erschießen lassen. Deklassifizierung ist für Sie viel zu milde. Sie haben es gewagt, sich als Privilegierter zu verkleiden! Wie sind Sie je auf den Gedanken gekommen, daß Sie diese Rolle spielen könnten?« Er hielt inne und bellte den Schätzer dann an: »Los! Erklären Sie mir das!« »Es war die einzige Möglichkeit, die mir einfiel, wieder zur Naipor zu kommen, Sir«, sagte der Schätzer zerknirscht. Der Kapitän lehnte sich langsam in seinem Sessel zurück. »Nun, es gibt einen mildernden Umstand. Die Offiziere der Trobwell haben mir gemeldet, daß Ihre Auftritte während der Reise sehr erheiternd auf sie gewirkt haben. Sie hätten selten
so viel gelacht über Ihre komische Nummer. Man hatte Sie auf den ersten Blick durchschaut. Aber jetzt sagen Sie mir ehrlich, warum Sie beim Start der Naipor auf Viornes nicht an Bord waren!« Der Schätzer erklärte mit leiser Stimme, was geschehen war. Er erzählte, wie man nach ihm geworfen hatte und wie der Schuß aus der Strahlenwaffe ihn betäubt hatte. Er erzählte von der Frau Deyla. Alles klang monoton und mutlos. Als er geendet hatte, nickte der Kapitän. »Das entspricht genau dem Geständnis, das uns vorliegt.« »Geständnis, Herr?« Der Schätzer sah den Kapitän verständnislos an. Kapitän Reed seufzte. »Sie sind doch der Schätzer. Sagen Sie mir: glauben Sie, daß ich Sie hinterrücks niederstrahlen könnte?« »Sie sind der Kapitän, Herr.« »Ich denke jetzt nicht an disziplinarische Maßnahmen«, sagte der Kapitän. »Ich meine tückisch aus dem Hinterhalt.« »Nun- nein, Herr. Ich würde wissen, daß Sie es sind, und könnte schätzen, wohin Sie feuern wollen, und dann wäre ich nicht mehr an dieser Stelle.« »Was für eine Person wäre dann in der Lage, etwas nach Ihnen zu werfen, damit Sie anfangen zu schätzen, folglich auch ausweichen und dann so mit diesem Ausweichmanöver beschäftigt sind, daß Sie versäumen, erneut zu schätzen, während dieselbe Person mit der Strahlenpistole auf Sie zielt? Was für eine Person würde genau wissen, wo Sie beim Ausweichen sein würden? Was für eine Person würde genau wissen, wohin Sie mit der Strahlenpistole zielen müßte?« Der Schätzer hatte, lange ehe der Kapitän seine wortreiche Frage beendet hatte, durchschaut, was kommen würde. »Ein zweiter Schätzer, Herr«, sagte er, und dann verengten sich seine Augen.
»Genau das«, erwiderte Kapitän Reed. »Ihr Assistent Kraybo. Er ist während eines Rebellenangriffs auf dem Wege hierher zusammengebrochen. Er hatte einfach nicht das Zeug dazu, Meister Schätzer zu werden. Und obwohl er versucht hat, Sie umzubringen, um Ihre Position einzunehmen, wurde er nicht damit fertig. Er erlitt einen Nervenzusammenbruch, als er versuchte, allein zu koordinieren. Sie haben uns sehr gefehlt, Meister Schätzer.« »Darf ich mich um die Disziplinierung von Kraybo kümmern, Sir?« fragte der Schätzer kühl. »Dafür ist es zu spät. Er ist deklassifiziert worden.« Der Kapitän sah auf die Papiere auf seinem Schreibtisch. »Sie können sich als wieder in den Dienst aufgenommen betrachten, Meister Schätzer. Das Ganze war nicht Ihre Schuld. Aber es darf nicht unbestraft hingenommen werden, daß Sie sich als Privilegierter verkleidet haben, ganz gleich, wie edel auch Ihre Motive waren. Sie melden sich die nächsten fünf Tage täglich in der Disziplinarabteilung. Intensität drei, drei Minuten lang. Und während des Aufenthalts im Reparaturdock dürfen Sie das Schiff nicht verlassen.« »Danke, hoher Herr.« Der Schätzer machte auf dem Absatz kehrt, marschierte hinaus und wandte sich in die Richtung, wo die Disziplinarabteilung lag. Er war glücklich, wieder daheim zu sein. Auszug aus dem Werk »Die gedankenlosen Gläubigen« von Kaplan Philipp Dachboden: »Aber, meine Herren«, sagte der Mediziner, »ich glaube wirklich nicht, daß wir eine Religion, die Menschenopfer fordert, als humane Religion betrachten können.«
Und der Künstler lächelte und meinte: »Zumindest nicht vom Standpunkt des Opfers aus betrachtet.« »Unsinn«, sagte der Philosoph und blickte gereizt auf, weil man ihn aus seinen Gedanken gerissen hatte. »Was ist, wenn es dem Opfer gefällt?«
Originaltitel: BUT, I DONT THINK. Copyright © 1959 by Street & Smith Publications, Inc. Aus ASTOUNDING SCIENCE FICTION Juli 1959. Übersetzt von Heinz Nagel.