ULLSTEIN 2000
SCIENCE FICTION STORIES 4 von Don A. Stuart Eric Frank Russell Everett B. Cole
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ULLSTEIN 2000
SCIENCE FICTION STORIES 4 von Don A. Stuart Eric Frank Russell Everett B. Cole
Ausgewählt und zusammengestellt von Walter Spiegl
ein Ullstein Buch
ULLSTEIN BUCH NR. 2791 IM VERLAG ULLSTEIN GMBH, FRANKFURT/M – BERLIN – WIEN Aus dem Amerikanischen übersetzt von Bodo Baumann
ERSTMALS IN DEUTSCHER SPRACHE Umschlagentwurf: Herbert Papala Alle Rechte vorbehalten Übersetzung © 1970 by Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Printed in Germany 1970 Gesamtherstellung: Augsburger Druck- und Verlagshaus GmbH
Sie hatten ihren Planeten verlassen, um neue, bewohnbare Welten zu suchen. Als sie auf dem dritten Planeten eines kleinen Sonnensystems am Rande der Milchstraße landeten, glaubten sie sich am Ziel. Der Planet war kaum besiedelt – nur einige wenige Menschen lebten in dem kleinen Kuppeldorf in der Nähe einer riesigen, verlassenen Stadt – sonderbare Leute, die alles vergessen zu haben schienen, was ihre Vorfahren an technischen Meisterleistungen entwickelt hatten… AM ANFANG DER UNENDLICHKEIT von Don A. Stuart Die Landung war reine Routinesache. Alles ging nach Plan. Nur die Kontaktaufnahme mit den Planetenbewohner wollte nicht so recht klappen. Die Leute nahmen keine feindselige Haltung ein, sie waren noch nicht einmal unfreundlich. Nur… sie wollten ganz einfach nicht. Und mit Gewalt erreichte man erst recht nichts bei ihnen… KEINE MACHT DER ERDE von Eric Frank Russell Konflikte zwischen Planeten, Kriege im Weltall, geführt mit den Vernichtungswaffen einer hochentwickelten Technologie, mußten verheerende Auswirkungen haben. Ganze Sonnensysteme würden vernichtet, aufstrebende Kulturen und Zivilisationen für immer ausgelöscht werden. Dies mußte verhindert werden. Kleine operative Eingriffe waren erforderlich, ohne daß der Patient es merkte. Irregeleitete, verführte Völker konnten gerettet werden, wenn man sie ihrer Führer beraubte – oder sie ersetzte… VERBOTENE WELTEN von Everett B. Cole
Don A. Stuart AM ANFANG DER UNENDLICHKEIT
1 Ron Thule, der Astronom, stand in der Ausstiegsluke und blickte hinunter auf die im Zwielicht sich in sanften Wellen ausbreitende Hügellandschaft. Langsam atmete er die würzige Luft dieses Planeten ein. Triumph spiegelte sich in seinen Augen – und auch Trauer. Vor knapp fünf Stunden waren sie hier gelandet. Immer noch war die Sonne hinter dem Horizont im Osten verborgen. Drüben im Westen stand der unwirtliche Trabant dieses Planeten, etwas mehr als 500000 Kilometer entfernt. Wie ein geisterhaft blasses Gesicht schwebte er im fahlblauen Himmel. Die Landung war ein Erfolg gewesen; denn sechs lange Reisejahre waren vergangen, in denen sie sich fast mit Lichtgeschwindigkeit durch das All bewegt hatten. Pareeth war jetzt dreieinhalb Lichtjahre von ihnen entfernt. Auf Pareeth hatte man diesen mächtigen, über achttausend Meter langen Raumkreuzer gebaut und in das Weltall geschossen, das ihn und die Besatzung von einhundert Mann hierhergebracht hatte. Der Planet war übervölkert. Man hatte das Raumschiff in der Hoffnung losgeschickt, daß es neue Planetensysteme entdeckte, neue Welten, die sich als Kolonien eigneten. Diese Hoffnung hatte sich in überreichem Maße erfüllt. Denn sie hatten nicht nur einen, sondern neun Planeten entdeckt. Und auch dieser Planet war nur das Sprungbrett für noch
unerschlossene Weiten des Weltalls, die dahinter lagen. Doch in das Gefühl des Erfolges mischte sich auch Trauer; denn dieser Planet war bewohnt. Ron Thule blickte hinüber zu dem kleinen Dorf, das sich im Wellental zweier Hügel ausbreitete. Das Dorf bestand aus einfachen, runden Kuppelgebilden, die aus einem bunt schillernden, glasartigen Material bestanden. Etliche dieser Kuppeln lagen im Schatten mächtiger, dunkelgrüner Bäume. – Sie waren fast zehn Meter hohe Gebäude, die rosa, blau oder perlmuttfarben schimmerten. Das tiefe Grün der Bäume und das helle Grün des moosartigen Grases, das die Hügel bedeckte, verlieh dem Bild eine friedliche Schönheit, die von den frischen Farben in den kleinen Gärten um die Kuppeln noch betont wurde. Das also war der Stand der Dinge. Der Planet, den die Raumfahrer von Pareeth nach sechs Jahren Reise durch den Weltraum gefunden hatten, war bewohnt. Sechs Jahre hindurch hatten sie nichts anderes gehört als das Sirren des Atomantriebs, das fast lautlose Vibrieren der grauen Stahlwände, in denen sie wohnten und die sie beschützt hatten. Jetzt herrschte die sanfte Stille einer friedlichen Landschaft. Braune, ausladende Baumäste waren an die Stelle grauer Metallstreben getreten, und der mächtige blaue Himmel dieses Planeten war eine erfreuliche Abwechslung, nachdem sie sechs Jahre lang unter einem niedrigen, künstlich beleuchteten Metallgewölbe hatten leben müssen. Alle Geräusche verliefen hier in der Weite der Landschaft, da keine Stahlwand das Echo zurückwarf; und das unaufhörliche Dröhnen der Maschinen war dem sanften Rauschen der Blätter gewichen. Alles lud zur Ruhe ein. Die Rasse, die diesen Planeten bewohnte hatte offenbar schon lang ihre Ruhe und ihren Frieden gefunden. Ron Thule blickte über die Kuppeln des Dorfes hinweg zu der Stelle, wo Commander Shor Nun mit seinem Archäologen und Anthropologen stand. Dahinter ragte
die größte Kuppel des Dorfes auf, die ungefähr zehn Meter im Durchmesser betragen mochte. Er verhandelte mit den Eingeborenen. Sie hatten ein zweisilbiges Wort für ihren Planeten. Erde nannten sie ihn. Die Versammlung löste sich auf. Shor Nun trat aus ihrer Mitte hervor – ein großer, athletisch gebauter Mann, gut aussehend in der silbergrauen Uniform des Interstellaren Expeditionskorps. Ihm folgten die beiden Wissenschaftler, ebenfalls in Uniform: junge, kräftige Männer von Pareeth, die man für die Expedition ausgewählt hatte, weil sie in physischer und geistiger Hinsicht auch den größten Belastungen und Anforderungen gewachsen waren. Doch das galt für jeden Mann der Besatzung. Dann kam Seun, der Mann von der Erde. Er war noch größer und schlanker als Shor Nun – eine drahtige, imponierende Erscheinung. Sein sehniger Körper war in einen elastischen, enganliegenden Anzug gehüllt, der wie Gold schimmerte. Über die Schultern hatte er ein leuchtend blaues Cape geworfen. Ihm folgten fünf seiner Männer, ebenfalls in goldfarbenen Anzügen. Nur die Umhänge unterschieden sich voneinander, reichten vom satten Grün bis zum leuchtenden Rot. Gelöst und ruhig schritten sie neben den Männern von Pareeth einher. Als die Gruppe herangekommen war, fragte Shor Nun: »Sind die Leute für die Expedition bereit?« Aus der vorderen Luke antwortete Toth Mour: »Jawohl, Commander. Zweiundzwanzig Männer. Was sagen die Einheimischen?« Shor Nun nickte leicht mit dem Kopf: »Wir können uns drüben umsehen, so lange wir wollen. Die Stadt ist verlassen. Ich kann ihre Sprache nicht richtig verstehen. – Was für Anordnungen hast du getroffen?« »Alle Abteilungschefs nehmen an der Expedition teil. Nur Ron Thule nicht. Für einen Astronom gibt es dort keine Arbeit.«
»Ich möchte dennoch gern mitkommen, Shor Nun«, sagte der Astronom leise. »Ich kann ja Zeichnungen oder Skizzen machen.« »Ich habe nichts dagegen«, erwiderte der Commander. »Toth Mour, laß die Leute antreten. Wir fangen sofort mit der Erkundung an. Die Tage sind auf diesem Planeten verschieden lang, wie ich hörte. Im Augenblick haben wir für dreizehn Stunden natürliches Tageslicht«. Ron Thule kletterte hinunter auf den weichen Grasboden und ging hinüber zu der Gruppe, die unter dem Raumschiff wartete. Seun sah ihn an und lächelte. Aus der Nähe wirkte der Mann von der Erde noch imponierender. Er mußte mindestens einen Meter neunzig groß sein. Sein Gesicht war von der Sonne gebräunt und hatte fast die gleiche Farbe wie sein Anzug. Seine Augen waren blau und schienen von unergründlicher Tiefe. Ein rätselhafter Blick lag darin – eine Mischung aus Verwirrung und Neugierde. Er ging zwischen den Fremdlingen und dem mächtigen grauen Rumpf ihres Schiffes hin und her, der wie ein künstlicher Berg vor ihm aufragte. Seun strich sich eine Strähne goldblonden Haares aus der breiten, glatten Stirn und sagte lächelnd: »Ich glaube, für einen Astronom gibt es auf unserer Welt überall etwas Interessantes zu sehen.« Er nickte Ron Thule zu. »Gehört nicht auch das Klima, der Boden und die Atmosphäre zu dem Fachgebiet dieser Wissenschaft?« »Die Chemiker beherrschen dieses Gebiet besser als ich«, erwiderte Ron Thule. Im gleichen Moment zuckte er betroffen zusammen. Ihm wurde bewußt, daß der Mann von der Erde gar nicht zu ihm gesprochen hatte. Die Frage war plötzlich in seinem Bewußtsein aufgetaucht, und er hatte sie ebenso selbstverständlich beantwortet. »Jeder erhält eine Sonderaufgabe. Nur ich nicht. Ich werde mir die Stadt ansehen. Die anderen untersuchen die Gebäude, die Statik, das Material oder die Einrichtung der Gebäude. Ich sehe mir die Stadt an.«
Ein merkwürdiges Gefühl des Unbehagens beschlich ihn. Dieser Seun machte ihn unsicher – dieser Nachkömmling einer Rasse, die bereits zehn Millionen Jahre existiert hatte, als seine Urahnen erst ihre entwicklungsgeschichtliche Geburt erlebten. Er trennte sich von der Gruppe und suchte sich einen eigenen Weg über das Feld. Es ging stetig bergan. Die sanften grünen Hügel fielen zurück. Langsam tauchte die Stadt vor seinen Augen auf. Dort, wo die grüne Linie des Hügelkammes sich im unendlichen Blau des Himmels verlor, tauchte zuerst ein Punkt auf, dann ein Dutzend, schließlich Hunderte. Er erreichte die Kuppe – und die Stadt lag vor ihm. Das heißt, sie ragte vor ihm auf, etwa zehn Kilometer entfernt, das riesige Tal ausfüllend. Die titanische Stadt einer titanischen Rasse! Die Türme leuchteten in opalisierender Vielfarbigkeit im Licht der goldenen Sonne. Wie lange standen sie schon so da? Tausend Meter ragten sie in den Himmel hinauf – Kolosse, zu deren Füßen die natürlichen Ablagerungen vieler, vieler Jahrtausende lagen. Welch gewaltige Behausungen für ein Geschlecht von Riesen, das längst vergangen war! Der kleine fremde Mann von der kleinen fremden Welt starrte ehrfürchtig diese gewaltigen Zeugen der Vergangenheit an. Sie kümmerten sich nicht darum. Langsam kam er näher, während sie immer höher in das unendliche Blau des Himmels hinaufzusteigen schienen. Er ging auf sie zu, staunend, erschauernd vor dieser schier unglaublichen Leistung einer längst vergangenen Epoche. Glatte, kolossale Massen; schier unmögliche Probleme der Statik; unglaubliche Gewichte und Räume waren hier bewältigt. Und trotzdem wirkten sie so leicht und schwerelos wie Traumgebilde und waren doch die Werke von Menschenhand. Ein Geist hatte hier seinen kühnen Traum in Linien, Kurven und gewaltigen Flächen verewigt. Dieser
sterbliche Geist war unter dem Schutt der Jahrmillionen vergessen; doch seine unsterbliche Idee hatte diesen gigantischen Massen Leben eingehaucht – ein Leben, das eine mächtige, glorreiche Vergangenheit wachhielt, sie immer noch majestätisch gegenwärtig machte. Der fortwährende Ruhm einer Rasse… einer Rasse, die jetzt unter knapp zehn Meter hohen, runden Kuppeln wohnte. Der Astronom drehte sich um. Das Dorf der Nachkommen dieser Rasse lag hinter den grünen Hügeln verborgen. Niedrig, einfach gerundet; gebaut aus dem gleichen sonderbaren schimmernden Kristall – ein Geheimnis, das sich wenigstens zum Teil aus jener Vergangenheit in die Gegenwart herübergerettet hatte… Die Stadt leuchtete wir eine Flamme vor ihm. Über zehn Millionen – oder waren es zwanzig Millionen? – Jahre hindurch hatte das Genie der Architekten sich am Leben erhalten, teilte sie sich diesem Mann von einem anderen Stern mit. Diese Architekten mußten von einer gewaltigen Zukunft ihrer Rasse geträumt haben.
Ron Thule stand jetzt auf dem weichen, grünen Rasen zwischen den Gebäuden. Der Wind hatte diesen Rasen angelegt. Seit Millionen von Jahren trieb er Staub und Erde vor sich her und lagerte alles als Opfergabe zu den Füßen dieser schweigenden Türme ab. So hatte sich der Talkessel allmählich gefüllt und sich mit immer neuen Erdschichten überzogen, so daß der Boden, auf dem der Architekt die Stadt errichtet hatte, heute über hundert Meter unter dem grünen Rasen liegen mußte. Doch die Türme nahmen keine Notiz davon. Sie träumten immer noch oben im blauen Himmel und warteten. Sie waren geduldig. Sie hatten schon Jahrmillionen gewartet und würden es noch einmal so lange aushalten. Eines
Tages würden die Architekten der Stadt wieder zurückkehren von den fernen Grenzen des Alls, würden mit ihren Schiffen landen, und alles würde wieder sein wie zuvor. Die Türme warteten. Sie verloren nicht den Glauben an ihre Bestimmung. Inzwischen lebten sie von den Erinnerungen – von den Erinnerungen an das glorreiche Zeitalter, als noch Riesen zwischen den Gebäuden einherschritten und die fernsten Planeten jenseits der Milchstraßen ihren Tribut an die Stadt ablieferten. Ihre Gründer würden wiederkehren. Bis dahin konnte nichts sie aus ihrer schweigenden Ruhe stören. Und doch war hier und da die lange Wartezeit nicht ganz spurlos an ihnen vorübergegangen. Während sie oben im Himmel von der Wiederkehr ihrer Meister träumten, hatten zahllose Regengüsse ihre Flanken abgewaschen, sich ihre eigenen Rinnen und Kanäle gezogen, die mächtigen Formen, scharfen Kanten und Ecken ein wenig gerundet und abgeschliffen. Diese Stadt hatte so lange – so unendlich lange – gewartet, daß sie vielleicht allmählich vergaß, was sie gewesen war… Und inzwischen zogen die Nachkommen dieser Architekten den Schatten der Bäume vor und bauten runde Kuppeln. Und anstatt der alten Meister war eine neue Rasse von Architekten hierhergekommen, die diese Stadt noch gar nicht kannte und noch gar nicht bemerkt hatte. Ron Thule blickte zu den Türmen hinauf und fragte sich, ob es nicht seinem Volk bestimmt war, den einst so kühn begonnenen Traum dauernde Wirklichkeit zu verleihen. Stimmen schlugen plötzlich an sein Ohr. Das Forschungsteam aus dem Schiff hatte die Stadt erreicht. »… härter als Diamanten, Shor Nun. Dabei elastischer als Beryllstahl. Trotzdem… « Das war die Stimme von Dee Lun, ihrem Metallurgen. Er würde das Geheimnis dieses Materials schon lüften. Sie würden alle lernen, begreifen, verstehen. Shor Nun, ihr Commander und Vorgesetzter, würde als
ausgebildeter Atomingenieur die Atomkraftwerke der Stadt wieder in Gang setzen und die Gebäude zu neuem Leben erwecken. Ron Thule war zuversichtlich. Sie würden das Erbe in dieser Stadt antreten. Er ging weiter. Er war für keine Spezialaufgabe eingeteilt worden, brauchte nicht die architektonischen Formen zu studieren oder die statischen Gesetze, nach denen man diese unglaublichen Massen aufgetürmt hatte, ohne die schwebende Anmut einer plumpen Schwere zu opfern. Damit mußten sich der Archäologe und ihr Bauingenieur beschäftigen. Und der Metallurge und der Chemiker untersuchten, woraus diese schimmernden Mauern bestanden.
Seun war neben ihm und blickte bedächtig die langen, grünen Straßen hinunter, die sich in der Ferne zwischen den Türmen verloren. »Dein Volk hat unseren Planeten vor langer, langer Zeit besucht«, sagte Ron Thule leise. »Unsere Sagen berichten von goldenen Göttern, die auf unseren Planeten Pareeth hinunterstiegen, um unserer Rasse das Feuer, den Bogen und den Hammer zu schenken. Diese Mythen haben sich zwei Millionen Jahre erhalten – viereinhalb Millionen Jahre nach eurer Zeitrechnung. Mit diesen drei Geschenken – das Feuer, den Bogen und den Hammer – schuf sich mein Volk eine blühende Kultur. Mit der Atomkraft vernichteten wir sie wieder und fielen auf die Stufe steinzeitlicher Barbarei zurück. Viermal stiegen wir wieder zu Kulturnationen empor, entdeckten das Geheimnis der atomaren Kräfte neu und bombten uns zurück in die Primitivität von Höhlenwesen. Doch die Erinnerung an die goldenen Götter überdauerte unsere vier Weltkatastrophen. Nie verloren wir die goldenen Götter aus dem Gedächtnis, die nach Pareeth gekommen waren, um unsere Kultur zu stiften.« Seun nickte langsam.
Seine Gedanken formten sich klar und deutlich im Bewußtsein des Astronomen. »Ja, ich weiß. Das sind die Architekten dieser Stadt gewesen. Vor unendlich langer Zeit waren unsere und eure Sonne noch in einem System vereinigt. Da kam ein gewaltiger Komet, brach in unser System ein, sprengte es auseinander und schuf neue Planeten. Eure Sonne scherte mit ihren Planeten aus dem ursprünglichen System aus. Unsere Sonne verharrte an ihrem Platz, ihre Planeten kühlten ab, bis die ersten Spuren von Leben erschienen und sich weiterentwickelten. Wir sind Zwillingsrassen, die die gleiche Sternengeburt erlebten. Die Erbauer dieser Stadt entdeckten das Geheimnis unseres gemeinsamen Ursprungs. Sie machten sich auf, um eure Sonne zu suchen. Sie hatte sich inzwischen einhunderttausend Lichtjahre von unserem System entfernt. Die Architekten dieser Stadt haben euren Planeten nur einmal besuchen können. Sie wollten zurückkehren; hatten aber inzwischen in die Entwicklung einer anderen Rasse helfend eingegriffen. Zum Dank dafür wurden sie von ihren ehemaligen Schützlingen mit ihren eigenen Waffen angegriffen. Deshalb schworen wir uns, nie mehr in die Geschicke einer anderen Rasse einzugreifen.« »Über die Breite der Milchstraße hinweg fanden sie unsere Sonne! Wie gelang ihnen das nur? So viele Sterne liegen dazwischen… « »Die Architekten dieser Stadt lösten das Problem. Sie berechneten die Bahnen aller Sonnen. Sie fanden heraus, welche Sonne einmal mit unserem System zusammen einen Verband gebildet haben mußte. Nach welchen Gesetzen der Mathematik? Ich habe sie vergessen. Ich fürchte, ich kann deine Gedanken nicht beantworten. Mein Volk hat so viele Dinge vergessen, die den Architekten dieser Stadt geläufig waren. Doch deine Leute suchen inzwischen die Eingänge zu
den Gebäuden. Ich kann sie euch zeigen. Ich kenne alle Wege in dieser Stadt. Der von Äonen aufgehäufte Staub hat alle Türen verschüttet. Aber die Zugänge auf den Dächern existieren noch, wo früher die großen Luftschiffe landeten. Von dort aus kann man in das Innere der Türme eindringen. Ich glaube, einer ist hier ganz in der Nähe. Vielleicht kann ich… «
2 Ron Thule ging langsam zu der Stelle, wo die anderen Mitglieder der Expedition versammelt waren. Seun verhandelte mit Shor Nun, und dann bewegte sich die Gruppe auf den grünen Straßen quer durch die Stadt. Der weiche, federnde Untergrund schluckte jedes Geräusch. Ihre leisen Stimmen drangen nicht weit, störten nicht das brütende Schweigen dieser majestätischen Türme. Wie Ameisen krochen sie auf den grünen Straßen dahin, himmelhoch überragt von den schimmernden Gebäuden im Tal der Titanen. Die Reihe dieser Türme schien sich endlos fortzusetzen, begleitete sie über niedrige Hügel, durch Senken, bis zum Horizont. Doch plötzlich zeigte sich eine gähnende Öffnung in einem der schimmernden Gebäude zu ihrer Linken, knapp zwei Meter über dem vom Wind aufgeschütteten Boden. Darunter versammelten sich jetzt die Mitglieder der Expedition. Einer von den Ingenieuren ließ sich von den anderen hochstemmen, kletterte in die Öffnung hinein und ließ ein Seil für die anderen hinab. Seun stand ein wenig abseits und wartete, bis Shor Nun als letzter am Seil hinaufgeklettert war und sich oben aufrichtete.
Dann schien der goldene Anzug des Mannes von der Erde plötzlich in einem sanften Licht zu erstrahlen, das ihn mit einer Aureole umgab. Von dieser Lichthülle umgeben, schwebte Seun schwerelos noch oben und landete in der Öffnung. Der Ingenieur, Shor Nun – alle standen sie wie erstarrt und staunten Seun an. Dieser drehte sich um, ein Lächeln um die Lippen. »Wie ich das mache? Das ist der Lathan – der Anzug, den ich trage.« »Er neutralisiert die Schwerkraft?« fragte Shor Nun, während seine dunklen Augen vor Erregung blitzten. »Neutralisieren? Weshalb die Schwerkraft neutralisieren, wenn sie doch zu den natürlichen Kräften gehört. Die Architekten der Stadt kannten ihre Gesetze. Sie erfanden diese Anzüge, ehe sie die Stadt verließen. Der Lathan unterwirft die Schwerkraft den Willensimpulsen seines Trägers. Der Steuermechanismus ist eingewebt und spricht sofort an, wenn – ja – wenn… Ich habe schon so viel vergessen. Ich werde versuchen, Ihnen das Prinzip zu erklären. Aber die Einzelheiten – leider… « Ron Thule spürte den Widerhall von Gedanken: Schwingungen, leise Ballungen, Atome und eine unsichtbare Verknüpfung von Schwankungen und Zerrungen, gegen die sich sein Verstand auflehnte. Vage, bruchstückhafte Ansätze von Ideen und Gedanken, die sich nicht zur Klarheit rundeten. Formlose, unklare Vorstellungen blitzten auf und erloschen sofort wieder. »Wir haben so viel von dem vergessen, was die Erbauer der Stadt wußten«, entschuldigte sich Seun. »Sie beherrschten so viele Künste und technische Verfahren, an die wir uns nur dunkel erinnern können. Und wir haben auch vergessen, wie sie diese Dinge vor Mißbrauch schützten. Es tut mir leid, meine Freunde – ich weiß nicht mehr, nach welchen Prinzipien oder Regeln die Lathans arbeiten.«
Shor Nun nickte nur und wendete sich dann wieder seiner Gruppe zu. Ron Thule warf noch einen letzten Blick auf die lange Reihe gigantischer Türme, die sich hinter dem Horizont verlor. Dann betrachtete er den Nachkommen der Männer, die ihre gewaltigen Träume in die Tat umgesetzt hatten. Diese Nachkommen träumten nicht mehr. »Versucht, in die unteren Stockwerke einzudringen«, befahl Shor Nun. »Die Dokumente und Archive werden in der Regel in der Nähe der Ausgänge aufbewahrt. Die Ingenieure kommen mit mir! Wir suchen einen Zugang zum Keller und zu den unterirdischen Versorgungsräumen. Dort müssen wir auf die Kraftwerke stoßen. Kommt!« Das opalisierende Licht, das durch die Wände der gigantischen Gebäude drang, wurde schwächer, je tiefer sie in das Innere vordrangen. Die Korridore erstreckten sich vor ihnen in der Dämmerung, kreuzten und vereinigten sich, verschlangen sich zu einem Labyrinth. Büroräume und Wohnungen taten sich vor ihnen auf – alle mit einer dicken Staubschicht bedeckt, ausgeräumt, nackt und kahl. Der breite Korridor, der ihnen Zutritt zu dem Gebäude gewährt hatte, war mindestens siebzig Meter hoch. Er hatte früher als Einflugschneise für Luftschiffe gedient. Diese Schneise endete in der Mitte des Gebäudes in einem saalartigen Raum, einem Parkplatz für die Luftschiffe. Und sie standen immer noch hier! Große, nur undeutlich erkennbare Formen im rosigen Zwielicht, das durch die lichtdurchlässigen Wände sickerte. Plötzlich erstrahlte der Raum taghell unter dem gleißenden Licht der mitgebrachten Atomstrahler. Die schimmernden Wände warfen das Licht zurück, verstreuten es über die dicke Staubschicht auf dem Boden der Halle. Etwa zwei Dutzend Flugmaschinen waren hier geparkt – stromlinienförmige Gebilde aus Kristall, überpudert mit grauem Staub. Sie
schienen zu schlafen wie müde Reisende, die nach langer Fahrt durch das All im Schatten ausruhen – vergessene Zeugen aus der Zeit, als als die Stadt mit brausendem, triumphierendem Leben erfüllt war. Langsam ging Shor Nun auf das nächste Flugschiff zu. Es war eine ungefähr zehn Meter lange Privatjacht – ein anmutiges Gebilde, das seit einer Ewigkeit auf seinen Piloten zu warten schien. Die Kabinenluke stand offen; und als Shor Nun aus Versehen den Rumpf mit dem Fuß berührte, leuchtete das ganze Schiff plötzlich in einem diffusen Licht, als erwache es zu neuem Leben. Ein leises, brummendes Geräusch drang aus dem Inneren, verstummte aber sogleich wieder. »Drus Nol, du begleitest mich. Seun, kennst du den Mechanismus, mit dem man diesen Apparat in Betrieb setzt?« Der Mann vor der Erde schüttelte den Kopf. »Ich kann euch leider nicht erklären, wie er funktioniert«, murmelte er. Seufzend fuhr er fort: »Man kann sowieso nicht damit fliegen. Es bezog nämlich seine Energie von Zentralkraftwerk der Stadt. Das hat seinen Betrieb vor einer Ewigkeit eingestellt. Die letzten Bewohner der Stadt legten es still, als sie die Stadt verließen.« Die beiden Männer vom Planeten Pareeth kletterten vorsichtig in die Kabine. Während sie sich zur Kommandokabine in die Bugspitze der Jacht vorarbeiteten, wurde das diffuse Licht schwächer und erlosch schließlich. Nur die Atomstrahler, die sie mitgebracht hatten, spendeten jetzt Licht. Die Akkumulatoren, die im Rumpf des Schiffes verborgen sein mußten, hatten sich erschöpft. Von irgendwoher kam ein leises Klicken und Knacken. Relais schalteten, versuchten vergeblich ein Notstromaggregat anzuzapfen. Ein kurzes Flackern, dann verstummte auch das knackende Geräusch der Relais. Im Lichtkegel der Atomstrahler tauchten Hebel und Skalen aus dem Dunkel auf. Alles war mit einer dicken Staubschicht
bedeckt. Röhren aus glasartigem Material leuchteten auf. Sie funkelten und sprühten viel stärker als jedes quarzhaltige Material, das die Männer von Pareeth kannten. Die Lichtbrechung erinnerte sie an die optischen Eigenschaften eines Diamanten. »Das zentrale Kraftwerk«, murmelte Shor Nun. »Wir müssen zuerst das Kraftwerk suchen. Die Kraftstoffzellen des Flugschiffes haben sich bestimmt längst zersetzt. Vielleicht ist noch ein Energierest im Kraftwerk übriggeblieben. Wenn der Apparat sich damit auflädt, könnten wir einen tödlichen Schlag bekommen. Die Isolierung hier scheint nicht mehr… « Doch die Architekten der Stadt hatten vorzüglich gebaut. Nirgends zeigte sich ein Leck oder eine spröde Stelle an der Isolierung. Nur die Staubdecke hatte Risse bekommen, als die Männer in den Kommandoraum traten…
Seun ging langsam um die schweigenden, dunklen Flugschiffe herum, eine Staubwolke hinter sich herziehend. Die Männer von Pareeth folgten ihm zum entgegengesetzten Ende der Halle. Dort öffnete sich ein zweiter Korridor, der in einen kleineren Saal mündete. Der Archäologe pfiff leise durch die Zähne. Die vier Wände waren mit Friesen bedeckt, mit geschichtlichen Darstellungen der Rasse, die diese Stadt gebaut und das Universum erobert hatte. Seun berührte mit der Hand einen flachen Schalter in der Wand, als er die Gedanken des Archäologen auffing. Lautlos glitt eine Tür von der Wand und gab auch das letzte Stück des Frieses frei. Der Archäologe arbeitete rastlos. Er unterhielt sich dabei mit dem Chemiker und dem Fotografen. Die Lichtkegel der Atomstrahler wurden heller, während die Männer zur Seite wichen, um der Kamera nicht den Blick auf die Wände zu verstellen.
Wieder berührte Seun einen Schalter. Die Tür glitt zurück in die Wand, versperrte den Rückweg in den Saal der Flugschiffe. Die Männer von Pareeth wendeten sich Seun zu und fragten besorgt: »Sollen wir mit dem Fahrstuhl fahren? Trägt er uns überhaupt? Wir dachten, alle Energiequellen seien abgeschaltet?« »Die Speicherzellen arbeiten noch. Zwar ist der größte Teil der gespeicherten Energie aufgebraucht worden; aber der Vorrat war so groß, daß man damit die ganze Stadt und alle Raumschiffe eine Woche lang in Betrieb halten konnte. Es ist also noch genügend Energie vorhanden. Außerdem gibt es Notausgänge, die man zu Fuß erreichen kann, falls alle anderen Mittel versagen. Wir befinden uns jetzt im untersten Kellergeschoß – fast tausend Fuß unter der Rampe, die uns als Noteinstieg diente. Hier sind alle Maschinen untergebracht, die die Stadt mit Energie versorgten und allem anderen, was ein Gemeinwesen braucht.« »Das Kraftwerk der Stadt befand sich also in diesem Gebäude?« »Hier unter der Erde besteht die Stadt aus einem einzigen Gebäude. Doch sie hat viele Köpfe. Das Kraftwerk muß gleich in der Nähe sein. Es ist allerdings schon lange her, als ich die unterirdische Stadt zum letztenmal besuchte. Ich war damals noch jung. Die Stadt faszinierte mich. Ihre Geschichte ist sehr interessant und… « »Interessant… « Dieses Wort schien in Ron Thules Bewußtsein nachzuhallen. Die Geschichte von der Eroberung des Weltalls! Davon träumte seine Rasse jetzt. Die Architekten der Stadt hatten den Traum verwirklicht – und ausgeträumt. Für ihre Nachkommen war diese Geschichte lediglich interessant. Interessant, nicht mehr. Diese dunklen, verschlungenen Labyrinthe waren interessant, wo seltsame, mit Hüllen überzogene Apparate standen. Es mußte sich um
Maschinen handeln, um eine unterirdische Fabrik. Vielleicht sollte sie nur für ein paar Jahre stillgelegt werden, bis die Zahl der Einwohner wieder zunahm und neue Verbrauchsgüter produziert werden mußten. Alles schien bereitzustehen, um die Produktion in kurzer Zeit wieder anzukurbeln. Große Lagerhallen, gespeichertes Rohmaterial, Ersatzteile, Karten, Skizzen, Archive. Bibliotheken aus grauem Metall, unter einer dicken Staubschicht verborgen. Die Anstrengung von tausend Generationen lag hier ungenützt, erstickte langsam in Staub und Verfall, wurde nur einen Augenblick wieder von Ron Thule und seinen Begleitern ans Licht der Gegenwart gehoben. Dann verzweigten sich die Korridore im Licht der Atomstrahler, mündeten in Quergänge ein, weiteten sich zu einem großen Tunnel, der hinunterführte in ein Becken, wo das Kraftwerk stand, das Kernstück der Stadt. Die mächtigen Maschinen und Generatoren schienen nur darauf zu warten, den Puls der Stadt von neuem zu beleben. Doch auch sie waren vom langen Warten müde geworden, hatten sich mit einer dicken Staubschicht überzogen, schliefen unter ihren grauen Decken, bis ihre Meister zurückkehrten. Shor Nun blieb mit seinem Ingenieur am Tor stehen. Seun, der Mann von der Erde, ging langsam hinunter in das Becken, das das Herz der Stadt umschloß. »Bei den goldenen Göttern von Pareeth – sieh nur, Drus Nol.« »Fünf Millionen Volt, wenn nicht noch mehr!« staunte der Ingenieur. »Das muß der Generator sein!« »Wenn der Generator in Betrieb ist«, drangen Seuns Gedanken den Männern von Pareeth ins Bewußtsein, »versorgt er die ganze Stadt mit Energie und alle ihre Raumschiffe, ganz gleich, an welchem Punkt des Universums sie sich gerade befinden.« Ein leises Zögern, dann noch ein Gedanke als
Zusatz: »Dieser Generator ist die größte Leistung, die diese Stadt hervorgebracht hat.« Shor Nun überschritt die Schwelle zum Kraftwerk. Seine Blicke maßen die Länge der Sammelschienen, folgten dem Verlauf ihrer schlanken Bogen, die an einem Schaltpult endeten, glitten wieder zurück, quer durch das Becken bis hinunter zu dem Gegenstand im Mittelpunkt – einem Gegenstand… Shor Nun schrie auf, lachte und schluchzte in einem Atemzug. Er schlug beide Hände vor die Augen, fiel auf die Knie und stöhnte: »Seht nicht hin, bei allen Göttern, seht nicht hin…!« Drus Nol eilte hinzu und beugte sich über ihn. Immer noch hielt Shor Nun die Hände vor das Gesicht. Seun, der Mann von der Erde, kam ebenfalls herbei. Eine eigenartige Beschwingtheit lag in seinen Schritten. »Shor Nun!« kam sein geistiger Befehl. »Steh auf!« Shor Nun richtete sich auf, als ihn der Gedankenbefehl erreichte. Wie ein Automat folgte er, nahm die Hände vom Gesicht, drückte sie gegen die Schenkel. Seine Augen waren leer – weiße Kugeln in den Augenhöhlen. Es war ein schrecklicher Anblick. »Shor Nun – schau mich an! Richte deinen Blick auf mich!« kam Seuns Befehl. Plötzlich schien er um einen halben Kopf über die Männer von Pareeth hinauszuwachsen. Gerade und straff stand er da, während das goldene Licht um ihn her sich in seinen Pupillen zu sammeln schien. Angezogen von einer schier unwiderstehlichen Kraft, wendete Shor Nun ihm die Augen zu. Die Besessenheit wich, die Wangenmuskeln entspannten sich, die Krämpfe und Zuckungen hörten auf. Langsam gewann Shor Nun seine
natürliche Haltung wieder. Seun wandte das Gesicht ab, während Shor Nun sich zitternd auf ein Schaltpult setzte. »Blicke nicht dorthin, wo die Sammelschiene in der Mitte der Halle endet, Drus Nol«, sagte er. »Es wäre dein Unglück. Die Irdischen kannten das Universum und seine Grenzen schon lange, bevor sie diese Stadt bauten. Die Dinge, an die sich die Nachkommen der Architekten nicht mehr erinnern können, zeugen von einem Wissen, das dem heutigen Stand unserer Wissenschaft nicht nur ebenbürtig, sondern tausendmal überlegen ist. Und doch gibt es gewisse charakteristische Grundzüge, die wir mit ihnen gemeinsam haben. Ich weiß nicht, was das Ding dort unten in der Mitte darstellen soll. Doch es zog meinen Blick magisch auf sich. Ich blickte es an, und im gleichen Moment verschwand es in eine andere Dimension. Seun, was ist das – dieses Ding?« »Der Generator versorgte die Stadt mit Energie – und alle Raumschiffe im Universum. Jedes Schiff im Weltall bezog seine Energie von diesem Generator. Das geschah mit Hilfe des Sorgan-Gerätes. Das Sorgan-Gerät war das Kernstück des Generators. Mit Hilfe dieses Gerätes konnte die Energie des Generators jedes Schiff im Weltall sofort erreichen, solange das Empfangsgerät im Schiff auf den Sorgan eingepegelt war. Es erzeugte ein Feld – « hier folgte ein Begriff, der dem Bewußtsein seiner Zuhörer unverständlich blieb – »das natürlich auch die zeitliche Dimension veränderte.« Seun nickte bedächtig. »Bei der ersten Umdrehung des Sorgan – am ersten Tag, als er in Betrieb gesetzt wurde – bewegte er sich zum Ende aller Zeiten und zum Rand des Universums und wieder zurück zu dem Tag, an dem er eingeschaltet wurde. Und alle Sorgan-Empfänger in den Raumschiffen, die auf den Steuer-Sorgan geeicht waren, mußten diese Reise mitmachen. Die Energie, die den Sorgan antrieb, wurde abgeschaltet, als die Architekten die Stadt
räumten; doch der Sorgan bewegt sich noch immer wie im ersten Hundertstel einer Sekunde nach seiner Inbetriebnahme. Denn da er bei seiner ersten Bewegung die Zeit bis zu ihrem Ende durchlief, streifte er auch diesen gegenwärtigen Moment und jeden Augenblick, der einmal sein wird. Wenn man auch versuchen würde, den Sorgan mit einer Atombombe zu zerstören, könnte man ihm nichts anhaben; denn er befindet sich dann schon wieder in einer anderen Zeit. Und so wird es bleiben bis zum Ende der Zeit. Nichts im Raum oder in der Zeit kann ihm etwas anhaben; denn er hat bereits das Ende aller Zeit erreicht. Deswegen dreht sich der Sorgan auch jetzt, und wird sich immer noch drehen, wenn diese Welt sich auflöst und die Sterne erlöschen. Erst am Ende, wenn das letzte Gleichgewicht hergestellt ist, wenn es keinen Wechsel mehr gibt oder es keine Veränderungen mehr geben kann, wird der Sorgan stehenbleiben. Denn dann werden auch die Dinge und das Weltall verharren, weil die Zeit stillsteht. Da der Sorgan bei seiner ersten Umdrehung diesen Endpunkt bereits erreichte und dann zurückschwang bis zu dem Tag, als er in Betrieb gesetzt wurde, strahlte er seine Energie bis zum Ende des Weltalls aus und zu allen Orten im Raum. Deswegen kann und konnte jedes Raumschiff, das sich auf der Reise zu anderen Sternen befand, diese Energie nützen.« Ron Thule warf einen raschen Blick hinüber. Der Sorgan drehte sich schneller als das Auge wahrnehmen konnte, ein schimmernder Sphäroid von etwa drei Meter Durchmesser. Die wirbelnden Spiralen schienen seine Gedanken zu lähmen. Dann war es plötzlich so, als könne er durch den Sorgan hindurchsehen, als wäre er ein Fenster zum Unendlichen. Ron Thule sah Zehntausende von anderen reglosen, sich rasend schnell drehenden Spiralen. Und dahinter schimmerten fremde Welten, unbekannte Sterne hinter den Sonnen – tausend Städte,
so gigantisch wie diese hier, auf tausend Planeten gegründet. Das Reich der Gründer dieser Stadt tat sich vor ihm auf. Dann verblaßte die Vision wieder – verblaßte wie der Traum aus Stein, Kristall und Metall, der hier auf die Ewigkeit zu warten schien.
3 Das Schiff verharrte bewegungslos über den gigantischen Türmen. Die sinkende Sonne überzog sie mit rosigem Hauch, zeichnete die harten, stählernen Konturen des großen interstellaren Raumkreuzers weicher, verwandelte das Schiff zu einem Traumgebilde, als müsse es sich den Türmen anpassen, die seit Millionen Jahren träumend auf ihre Erlösung warteten. Ron Thule blickte auf die Türme hinunter, und ein Gefühl der Befriedigung und Erfüllung überkam ihn. Pareeth würde seine Menschen hierherschicken. Eine Kolonie auf dieser uralten Welt würde neues, stärkeres Blut hervorbringen, würde die Ideale, welche diese Rasse vergessen hatte, mit neuem Inhalt erfüllen. Hinter den niedrigen Hügeln lagen die runden Kuppeln, unter denen die Bewohner der Erde heute wohnten – Seun und sein kleiner Stamm von fünfzig Leuten, die letzten Nachfahren einer einst weltbeherrschenden Rasse. Diese Leute waren zum Untergang verurteilt. Eine neue Welt würde hier entstehen, emsig damit beschäftigt, dieses Wissensgut zu frischem Leben zu erwecken und dann das Weltall zu erobern! Sie würden keine Zeit dafür übrig haben, diese Nachkömmlinge einer großen Rasse zu hüten und zu bewahren. Die Eingeborenen der Erde würden rasch von der
neuen, rastlosen Zivilisation aufgesogen werden. Das war unvermeidlich, wenn man den Fortschritt von fünf Millionen! Jahren vergessen hatte. Die Leute, die den Traum der Stadtgründer vergessen und verleugnet hatten, verdienten es nicht anders. Pareeth und seine Bewohner waren dazu ausersehen, das Erbe fortzuführen… ABSCHLIESSENDER BERICHT AN DAS KOMITEE VON PAREETH, VORGELEGT VON SHOR NUN, KOMMANDANT DER ERSTEN INTERSTELLAREN EXPEDITION … deswegen erschien es mir richtig, diesen Planeten schon nach einer Woche wieder zu verlassen, obwohl einige Teilnehmer dieser Expedition dagegen Protest einlegten, weil sie keine Gelegenheit bekamen, diese neue Welt zu besichtigen. Ich hielt es für besser, die dekadenten Einwohner der Erde nicht über Gebühr zu belästigen und mit diesen Berichten so rasch wie möglich nach Pareeth zurückzukehren, damit die zwölf neuen Raumschiffe sofort auf Kiel gelegt werden können. Ich schlage vor, diese neuen Schiffe aus Erdit zu bauen, weil sich dieses neue Material unseren Werkstoffen weit überlegen zeigte. Die unglaubliche Haltbarkeit der Gebäude in der Gigantenstadt beweist, wie dauerhaft dieser Werkstoff ist, und dabei stellten wir fest, daß man es aus den billigsten Rohstoffen herstellen kann. Viele Millionen können daher beim Bau der neuen Raumschiffe eingespart werden. Ein Mitglied unserer Expedition, der ehrenwerte Thon Raul, meint, daß wir vielleicht den Grad der Zivilisation unterschätzen, den die Bewohner der Erde noch besitzen. Als Anthropologe geht er sogar so weit, zu behaupten, daß sie eine Zivilisation pflegen, die sich so sehr von der unseren unterscheidet, daß sie
als Zivilisation kaum mehr zu erkennen ist. Seine Behauptung, es handle sich hier um eine rein geistige Kultur von hohem Rang erscheint mir unhaltbar in Anbetracht der Tatsache, daß Seun – ein Mann, der in seiner Gemeinde hoch geschätzt wird – seine Gedanken nicht klar ausdrücken kann. Sie scheinen ihm nicht einmal selbst deutlich bewußt zu werden. Seine Antworten sind typisch dafür: »Ich habe vergessen, wie sich das entwickelt hat«, oder »Ich kann das nur schwer erklären«, oder »Die genaue Formel wissen nur wenige von uns – die Historiker vielleicht… « Es ist natürlich unmöglich, die Behauptung zu widerlegen, daß so eine Zivilisation überhaupt möglich ist. Doch es stellt sich die Frage, was für einen Vorteil man dabei gewinnt, da das Grundgesetz der Evolution oder des Fortschrittes eine Zivilisation immer danach bewertet, ob ein Wandel dem Zivilisationsträger wirklich einen Nutzen bringt. Doch aus den Antworten von Seun geht klar und deutlich hervor, daß seine Rasse alle Kenntnisse vergessen hat, mit denen ihre Ahnen ihre gigantischen Städte und ihr Reich aufgebaut haben. Statt dessen sind sie in einen Zustand der Tatenlosigkeit zurückgefallen, der weder Arbeit noch Fortschritt kennt. Thon Raul hat außerdem die Wirkung beschrieben, die das Sorgan-Gerät auf mich ausübte. Seun konnte – ganz im Gegensatz zu mir – das Gerät ohne Mühe betrachten, ohne daß sich eine schädliche Wirkung bemerkbar machte. Er heilte mich sogar von den Folgen, die ich mir bei der Betrachtung des Gerätes, zuzog. Ich möchte meinen, daß geistige Veranlagungen sich nur sehr langsam verlieren. Es ist also möglich, daß die dekadenten Nachkommen einer gewaltigen Kultur immer noch die geistigen Gaben besitzen, mit denen ihre Ahnen – die Architekten der Stadt – ihre gigantische Kultur aufgebaut haben. Aber diese Veranlagungen sind nur latent vorhanden. Sie ruhen, weil der Wille fehlt, sie in die Tat
umzusetzen. Die Pareeth – das größte Raumschiff, das unsere Rasse jemals gebaut hat – liegt im Augenblick unbeweglich im leeren Raum: voll Energie und Kraftreserven – aber unbeweglich, weil das Steuer unbesetzt ist und der Wille fehlt, diese Energie auszunützen. So steht es auch mit dem dekadenten Rest einer vergangenen Rasse von Titanen. Noch ist ihre geistige Kapazität größer als unsere. Doch das göttliche Feuer des Ehrgeizes ist längst erloschen. Sie verlassen sich auf die Geräte und Werkzeuge, die sie von einer längst vergessenen Rasse geerbt haben, benutzen sie sogar auf eine ganz nutzlose und sinnlose Weise. Ich erinnere in diesem Zusammenhang nur daran, wie sie mit ihren eigenartigen Fluganzügen umgehen. Zum Schluß möchte ich meine Empfehlungen vortragen. Die zwölf geplanten Raumschiffe sollten so schnell wie möglich gebaut werden. Unser Programm müßte, wie besprochen, im vollen Umfang durchgeführt werden: siebentausendsechshundertachtunddreißig Männer und Frauen im Alter von achtzehn bis achtundzwanzig sollen nach ihrem Gesundheitsgrad, ihrer erblichen Veranlagung, ihrem Charakter und ihren Fähigkeiten ausgewählt werden, die man durch einen psychologischen Test ermittelt. Diese Leute sollen schon am Anfang des kommenden Jahres mit einer technischen Grundausstattung zu dem neuen! Planeten aufbrechen. Sechs Jahre wird die Reise dauern. Ein Jahr nach der Landung auf dem neuen Planeten, wenn ein gewisses Maß von Ordnung hergestellt sein wird, soll eines der Schiffe wieder nach Pareeth zurückkehren. Zwei Jahre nach der Landung werden dann zwei weitere Raumschiffe zur Ausgangsbasis zurückkehren mit den Erfahrungsberichten der beiden zurückliegenden Jahre. Danach werden wir jedes Jahr zwei weitere Raumschiffe zurücksenden.
Auf Pareeth sollen inzwischen neue Raumschiffe gebaut werden, damit neue Kolonisten so schnell wie möglich nachkommen können. Ich schlage jedoch vor, mit diesem Bauprogramm so lange zu warten, bis ein Schiff von der Erde zurückkommt und den Erfahrungsbericht des ersten Jahres vorlegt, damit die überlegenen wissenschaftlichen Kenntnisse des neuen Planeten berücksichtigt werden können. Ich habe schon darauf hingewiesen, welchen gewaltigen Schatz an wissenschaftlichen Erfahrungen wir bei der Besichtigung der Stadt auf der Erde entdeckten. Die augenblickliche Besatzung der Pareeth hat sich in jeder Hinsicht bewährt. Sie ist kompetent, mutig und zuverlässig. Ich schlage deshalb vor, daß diese Besatzung auf die dreizehn Kolonistenschiffe verteilt werden soll, da sie in der Raumfahrt erfahren und für das Kolonisationsprogramm besonders qualifiziert ist. Fünfzig Leute von meiner Mannschaft sollten jedoch an Bord der Pareeth bleiben, so daß sie als Leitschiff für die Flotte eingesetzt werden kann. Ich bitte außerdem darum, Ron Thule an Bord des Flaggschiffes und zum Astronom des gesamten Unternehmens zu berufen. Seine Leistungen, die zur Entdeckung des neuen Planetensystems führten, sind an dieser Stelle lobend zu erwähnen. Ich halte ihn als astronomischen Spezialisten für das Unternehmen unentbehrlich. Unterzeichnet von SHOR NUN, am einunddreißigsten Tag nach der Landung. EINSTIMMIG VERABSCHIEDETER BERICHT DES KOMITEES VON PAREETH ÜBER DIE ERSTE EXPEDITION ZUM PLANETEN ERDE Das Komitee von Pareeth hat den Bericht, Aktenzeichen R 127 – s6 – I1, Überschrift: »Interstellare Forschungsberichte der
Expedition I« sorgfältig studiert und entbietet dem Leiter dieser Expedition, Shor Nun, seine Grüße. Das Komitee ist mit Ihrem Bericht außerordentlich zufrieden. Wir sind glücklich, daß die Expedition so erfolgreich verlaufen ist und schließen uns Ihren Empfehlungen an. Deswegen haben wir angeordnet, daß die angeforderten Raumschiffe sofort gebaut werden, deren Pläne vom Raumfahrtsamt unter dem Aktenzeichen 18834 – 18846 genehmigt worden sind. Weiterhin wurde beschlossen, die siebentausendsechshundertundachtunddreißig jungen Leute nach dem Verfahren auszuwählen, das Sie in Ihrem Bericht vorgeschlagen haben. Sollte die neue Kolonisationsphase Erfolg haben, ordnen wir an, daß die gegenwärtigen dekadenten Ureinwohner der Erde in keiner Weise belästigt oder angegriffen werden. Man sollte ihnen großzügig Land überlassen. Das Komitee auf Pareeth hat einstimmig beschlossen, die Ureinwohner der Erde als Gründungsväter der neuen Kolonie zu betrachten, sie zu schützen und ihnen in jeder Hinsicht zu helfen. Wir fühlen uns dieser Rasse zu großem Dank verpflichtet. Schließlich weisen die archäologischen und anthropologischen Berichte der Expedition eindeutig nach, daß die Vorfahren dieser Rasse – nämlich die Gründer der Stadt – das Feuer, den Bogen und den Hammer in mythologischer Vorzeit auf unseren Planeten gebracht haben. Diese Rasse hat also die erste Sprosse der Leiter zum Aufstieg unserer Zivilisation gelegt. Wir wollen deshalb auch den letzten Nachkommen jener großen Rasse die Möglichkeit geben, sich wieder zum Höhepunkt ihrer Zivilisation emporzuschwingen. Wir geben ihnen dafür jede nur denkbare Unterstützung, Hilfe und Ermunterung. Weiterhin ordnen wir an, daß die erste Kolonie an der Stelle errichtet werden soll, die auf Ihrer Karte mit dem Namen N’Yor bezeichnet wird. Diese Stelle befindet sich dicht bei Ihrem Landungsort. Die Niederlassung der Bewohner der
Erde, die ganz in der Nähe der Kolonisationsstätte liegt, soll dabei in keiner Weise belästigt werden – es sei denn, unsere Kolonisten werden von den Einheimischen angegriffen und handeln in Notwehr. Wenn sich die einheimische Bevölkerung der Erde tatsächlich weigern sollte, eine Kolonie am Ort N’Yor zuzulassen, sollte man erst den Weg des friedlichen Ausgleichs suchen. Schlägt dieser fehl, werden militärische Aktionen angeordnet, die jedoch nur so weit gehen sollen, um einen Widerstand zu brechen. Wenn die irdischen Bewohner nicht in der Nähe bleiben wollen, werden sie bei der Aussiedlung von uns unterstützt. Auf jeden Fall verpflichten wir die Kolonisten dazu, die noch lebenden Nachkommen unserer Kulturgründer in jeder Weise zu unterstützen, sie zu fördern und sie zu einem Wiederaufschwung zu ermuntern. Weiterhin ordnen wir an, daß Shor Nun, der Kommandant der Kolonistenflotte, gleichzeitig als Generalbevollmächtigter unser Komitee vertritt. Er trifft alle Entscheidungen und verfügt über unbeschränkte militärische Gewalt, bis die Neugründung auf der Erde in ihr drittes Jahr eintritt. Dann wird der Generalbevollmächtigte von einer gewählten Regierung abgelöst, deren Vollmacht und Verfassung von den Kolonisten selbst bestimmt werden sollen. Wir schlagen weiter vor, daß der neugegründete Kolonistenstaat auf der Erde mit dem Komitee von Pareeth Botschafter austauschen soll, wie das zwischen zwei souveränen Staaten üblich ist. Bis zur Gründung dieses Staates jedoch sollen diese Maßnahmen…
4
In sanften Wellen dehnte sich das grüne Land zwischen den schattigen Bäumen aus. Es schien unverändert. Auch die Stadt bot ein unverändertes Bild – schwebend zwischen dem Blau des Himmels und dem grünen Bett der Hochebene. Doch ihre Einsamkeit, die Jahrmillionen gedauert hatte, war jetzt vorüber. Zwölf große interstellare Raumschiffe schwebten erhaben und reglos über den mächtigen Türmen, deren durchsichtige Wände sich allmählich mit einem rosenfarbenen Hauch überzogen. Auf der niedrigen Hügelkette war ein dreizehntes Schiff gelandet – grau und mit Narben überzogen, die von achtzehn Jahren Raumfahrt zeugten. Die Luken schwangen auf. Ein paar Männer erschienen und traten hinaus in den Schein der Nachmittagssonne. Zu ihrer Rechten lag das gewaltige Denkmal der Stadtgründer. Zu ihrer Linken erhoben sich die niedrigen, einfachen Kuppeln der Nachkommen. Ron Thule kam aus der Luke und schloß sich den anderen acht Abteilungschefs an, die hinübersahen zu dem kleinen Dorf unter den schattenspendenden Bäumen. Shor Nun drehte sich langsam um und lächelte seinen Leuten zu. Er schüttelte den Kopf: »Ich habe sie nicht fragen wollen. Ich habe keine Ahnung, wie lange ihre Lebenserwartung ist. Vielleicht ist der Mann, den wir als Seun kannten, bereits tot. Als ich zum erstenmal hier landete, war ich ein junger Mann. Heute bin ich in den mittleren Jahren. Vielleicht läuft hier das Leben rascher ab, und die Leute, mit denen ich damals verhandelte, sind längst unter der Erde.« »Ein Mann kommt, Shor Nun«, sagte Ron Thule leise. »Er schwebt mit Hilfe dieses – wie hieß es doch gleich? – es ist schon so lange her, daß ich den Namen zum letztenmal gehört
habe.« Der Mann schwebte auf sie zu. Zeit schien für diese Leute wenig zu bedeuten. Dann wurde das sanfte blaue Leuchten seines Anzuges intensiver, und er kam rascher heran, als würde sich der Mann der Wichtigkeit ihrer Mission bewußt. »Ich – ich glaube, das ist Seun«, sagte der Archäologe. »Ich habe mir die Filme so oft angesehen… « Dann schwebte Seun vor ihnen und lächelte genauso selbstbewußt wie zwölf Jahre zuvor. Er hielt sich immer noch aufrecht und gerade. Nur sein Gesicht zeigte ein paar winzige Falten, wie sie das Leben voll Harmonie und Güte hinterläßt. Er hatte sich genauso wenig verändert wie die grünen Hügel ringsum und die Stadt dahinter. Das blaue Licht erlosch, als er sich lautlos vor ihnen auf den Boden hinunterließ. »Du bist zur Erde zurückgekommen, Shor Nun?« »Ja, Seun. Als wir das letztemal aufbrachen, haben wir davon gesprochen. Wir wünschen, hier eine Kolonie zu gründen – in der Nähe der uralten Stadt. Wir hoffen, daß auch wir eines Tages die Kenntnisse der Stadtgründer beherrschen und im Weltraum schalten und walten können, wie sie es taten. Vielleicht können wir auch in einige der verlassenen Türme einziehen und sie wieder mit Leben erfüllen.« »Eine Kolonie von Dauer?« fragte Seun nachdenklich. »Ja, Seun.« »Es gibt noch viele andere Städte wie diese hier auf unserem Planeten – fast so groß wie diese, und genauso ausgestattet. Meiner Rasse ist die Stille und Reinheit der Luft heilig. Könntest du deine Kolonie nicht woanders gründen – in Shao oder Loun vielleicht?« Shor Nun schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, Seun. Wir wollen in deiner Nähe wohnen, damit wir beide die vergessenen Geheimnisse wiederentdecken können. Wir müssen hier bleiben, weil die Stadt dort drüben von deinen Vorfahren als letzte verlassen wurde. In ihrem Schoß befinden sich alle Dinge, die deine Vorfahren erdacht und gebaut haben
– die letzten Errungenschaften der Stadt-Architekten. Wir helfen dir gern dabei, wenn du dein Dorf umsiedeln willst. Für dich ist diese Welt doch überall gleich. Für uns nicht. Die Stadt ist für uns wichtig. Es war die letzte, die von deinen Vorvätern verlassen wurde.« Seun atmete langsam aus und sah die zehn Männer von Pareeth der! Reihe nach an. Sein Verstand schien nach etwas zu suchen, nach etwas zu tasten. Sein Blick blieb einen Moment an dem Anthropologen hängen, wendete sich kurz Shor Nun zu und konzentrierte sich dann auf Ron Thule. Ron Thule blickte lang in diese klaren Augen. Sie glichen Gebirgsseen. Unmerklich veränderte sich dabei das Gesicht des Mannes, während sein Blick von Augenpaar zu Augenpaar wanderte. Seine sorglose Miene wurde irgendwie – anders. Es war immer noch das gleiche Gesicht; aber während der Astronom in diese unergründlichen Augen sah, kam ihm ein neuer Gedanke. Eine jähe Furcht überfiel ihn, so daß sich sein Herz zusammenzog und ein Zittern die Hände befiel. »Du hast vergessen«, murmelte er. »Ja, aber du hast nicht… « Seun lächelte. Sein straffer Mund entspannte sich, schien ihm recht zu geben. »Ja, Ron Thule. Das ist genug. Ich habe mir deinen Geist ausgesucht. Jemand muß es ja verstehen. Erinnere dich daran, daß wir nur zweimal in unserer Geschichte versucht haben, den Lauf des Schicksals einer anderen Rasse zu ändern. Deshalb wirst du verstehen, was ich zu tun habe.« Seuns Blick wandte sich ab. Shor Nun sah Seun immer noch an, und Ron Thule begriff – obwohl er nicht wußte, wie –, daß für die anderen inzwischen die Zeit stehengeblieben war. Er stand reglos da, gelähmt von dieser neuen, überwältigenden Erkenntnis. »Wir müssen hier wohnen bleiben«, sagte Seuns Geist. »Auch ich hatte gehofft, daß wir beide auf dieser Welt zusammenleben können. Aber wir sind zu verschieden
voneinander. Wir sind so weit voneinander getrennt, daß wir nicht zusammenbleiben können.« »Du willst also nicht umziehen?« fragte Shor Nun. Seun blickte nach oben. Die zwölf interstellaren Raumkreuzer waren inzwischen näher gekommen, hingen fast wie ein Dach über der Stelle, wo die Konferenz stattfand. »Das muß erst im Rat beschlossen werden. Aber ich glaube, die anderen werden mir zustimmen, Shor Nun.« Vage Bilder und Gedanken wanderten durch ihr Bewußtsein – Abglanz dessen, was Seun jetzt dachte. Langsam löste sich sein Blick von den zwölf schimmernden Raumschiffen und hefteten sich auf seine nach oben gekehrte Handfläche. Seine Augen leuchteten hell, als er sich konzentrierte. Die Luft ringsum schien sich zu bewegen; ein Gefühl der Ohnmacht beschlich die zehn Männer von Pareeth. Plötzlich – ganz unvermittelt – erschien ein gleißendes Licht auf Seuns Handfläche. Unzählige Schattierungen wechselten miteinander und erstarben. Ein leises, kristallenes Klingen ertönte. Etwas lag jetzt auf seiner nach oben gerichteten Handfläche: ein rundes, kleines Ding, einem Aquamarin ähnlich, mit Adern aus pulsierendem silbernen Licht durchzogen. Das Ding bewegte sich, veränderte sich, während sie zusahen, verlor seine Farbe, wechselte die Gestalt und die Strömung des pulsierenden Lichtes. Wieder ertönte das leise Klingen. Eine Wandlung hatte sich vollzogen. Jetzt lag eine winzige Kugel von tiefster Schwärze in seiner Hand und plötzlich funkelten Sterne darin, die, im Kern entstanden, sich zu den Grenzen hinbewegten, ihre Kreisbahnen in majestätischer Erhabenheit und unendlicher Kleinheit in der Kristallnacht zogen. Dann erloschen sie wieder. Seun hob den Kopf. Die Dunkelheit wich aus der Kristallkugel auf seiner Hand. Pulsierende, kleine Lichtadern erschienen. Er nahm die Kugel mit den Fingerspitzen, und
neun von den Männern von Pareeth wichen zurück. Ron Thule sah mit versteinertem Gesicht zu. Eine Woge blauen Nebels wallte empor, ergriff die zehn Männer und trug sie mit unwiderstehlicher, müheloser Gewalt zurück zur Luke, hinein in ihr Schiff. Plötzlich hatten sie nicht mehr grünes Gras unter den Füßen, sondern waren eingeschlossen in stählerne Wände, die vom Schrillen der Alarmglocken widerhallten. Die mächtigen Maschinen erwachten plötzlich zum Leben. Ron Thule stand an der Sichtblende neben der Luke. Draußen schwebte Seun über dem Boden. Plötzlich begannen die gewaltigen Atommotoren der Pareeth zu arbeiten. Aus den drei Energie-Projektoren schossen die vernichtenden Strahlen. Sie verschwanden an der Stelle, wo Seun stand, den schimmernden Kristall in der Hand. Zwölf schwebende Raumschiffe stöhnten unter der Gewalt der atomaren Energie; und über den Planeten züngelten kilometerlange Blitze. Durch das ganze Universum hallte ein heller Kristallklang. Im gleichen Augenblick verschwanden die grünen Wiesen der Erde. Die ewige Stadt löste sich in Schwärze auf. Nur noch Dunkelheit – gnadenlose, lichtlose Dunkelheit – umgab die Schiffe. Der leise Kristallton schwang und pulsierte und schwoll an. Die Atommotoren verstummten. Lähmende Stille senkte sich auf das Schiff herab. Die Dunkelheit wich einem matten Grau. Die Raumschiffe tauchten nacheinander aus der Schwärze auf, schienen sich widerstrebend in eine Richtung zu bewegen, als würden sie von einer unwiderstehlichen Gewalt zu einer Kursänderung gezwungen und in eine bestimmte, vorausberechnete Bahn gedrängt. Dann erwachte das Schiff wieder zum Leben. »Wir haben das Raumgefüge verlassen«, keuchte Shor Nun. »Das Kristall – das Kristall in seiner Hand… «
»Wir sind in einer anderen Dimension«, unterbrach ihn Ron Thule. »Warte, bis der Kristall nicht mehr klingt. Er ist schon schwächer. Wenn er schweigt, dann… « Shor Nun wendete sich ihm zu. Tiefe Schatten lagen unter seinen Augen. Sein Gesicht war bleich und verzerrt. »Was weißt du davon – was…?« Ron Thule schwieg. Er konnte darüber keine Rechenschaft ablegen. Irgendwo tönte ein Kristall. Das Universum warf leise das Echo zurück, als der helle Ton sanft verhallte. »Shor Nun, Shor Nun…« Ein leiser Schrei drang durch die Korridore. Schritte kamen näher, dröhnten, als rückte eine Marschkolonne heran. Shor Nun rief verzweifelt: »Der Kristall! Sie haben die Waffen der Stadtgründer nicht vergessen! Ein eigener Raum? Nein, wir werden an das Ende der Zeit gedrängt. Das ist der Raum, wie er aussehen muß, wenn die Zeit stillsteht – die Sterne sind erloschen, und die Planeten zu Staub zerfallen. Das ist das Ende des Nichts. Die Stadtgründer müssen auf diese Weise ihre Feinde vernichtet haben. Sie versetzten sie ans Ende von Raum und Zeit. Ich weiß es. So haben sie es gemacht. Und Seun hatte diese Waffe in seinem Besitz. Sobald der Kristallton verklingt – der letzte Energierest… Dann sterben auch wir. Wir sterben im Tod des Todes.« Shor Nun, der Befehlshaber der Flotte, schien aus seiner Erstarrung zu erwachen. Plötzlich sprang die Tür auf und ein Techniker wankte herein. Er war schneeweiß im Gesicht und seine Hände zitterten. »Kapitän – Shor Nun – die Maschinen bleiben stehen. Sie reagieren nicht mehr. Wir können keine Energie mehr erzeugen. Die Kraftzellen geben zwar noch Energie für den Notbetrieb ab; aber der Antrieb bewegt das Schiff nicht mehr! Was – was soll das alles bedeuten?« Shor Nun verharrte in brütendem Schweigen. Das Schiff hallte wider vom leisen Klang des Kristalls, das den Anfang und das Ende von Raum
und Zeit in der Hand eines Mannes vereinigte. Der Klang wurde schwächer. Er war sanft und wohltönend. Auch die hysterischen Stimmen im Schiff veränderten sich. Sie wurden leiser, gedämpfter, schienen dem verhallenden Klang des Kristalls zu lauschen. Shor Nun zuckte die Achseln. »Es spielt keine Rolle mehr. Die Kraft läßt nach. Die Gründer der Stadt haben eingegriffen, um ihre Nachkommen zu schützen.« Der Klang war jetzt ganz leise geworden. Der Nachhall hielt das Schiff gefangen. Jenseits der Sichtblende sah man, wie sich die anderen Schiffe wieder bewegten. Langsam nahmen sie wieder die Positionen ein wie vor der gewaltsamen Kursänderung. Dann… Shor Nuns unterdrückter Aufschrei wurde von den Stimmen der Besatzungsmitglieder übertönt. Blendend weißes Licht fiel wie eine Säule durch die Sichtluke. Ron Thule faßte sich zuerst. Seine Augen waren an grelle Lichtgegensätze gewöhnt. Seine Worte waren unverständlich, schwankten zwischen Lachen und Schluchzen. Shor Nun stand neben ihm. Er rieb sich die schmerzenden Augen. Das Schiff erwachte wieder zum Leben. Die Maschinen dröhnten. Unter ihnen schien Sonnenlicht auf grünes Gras und braune Erde. Da waren ein Streifen aus narbigem Beton, die scharfen, rechtwinkeligen Konturen eines Gebäudes. Am Horizont eine Reihe von Bergen mit weißen Kappen, teilweise verdeckt durch weniger eindrucksvolle Gebilde aus Stahl und Stein und Glas im Vordergrund. Das alles glitzerte und gleißte in dem starken Sonnenlicht mit einer Vertrautheit, die ans Herz griff. Heimweh, grenzenlose Sehnsucht stieg in ihnen auf, als sie dieses Panorama sahen… Und eine neue Welle des Schreckens schwemmte das alles hinweg. »Darun Tara«, flüsterte Shor Nun. »Darun Tara auf Pareeth. Ich werde verrückt – ich bin es. Eine Halluzination im Augenblick, da die Translations-Energie zusammenbricht.
Darun Tara – so wie wir es vor sechs Jahren verlassen haben. Nur wenig verändert – jene Halle dort am Rande des Feldes – sie ist immer noch nicht fertig – das Dach fehlt noch. Ich erkenne Thio Roul, den Raumhafendirektor. Er kommt auf uns zu. Ich bin verrückt. Wir sind fünf Lichtjahre von Pareeth entfernt und…« »Wir sind tatsächlich in Darun Tara, Shor Nun«, entgegnete Ron Thule leise. »Ich verstehe jetzt alles. Ich… « Er brach ab. Das gewaltige Schiff vibrierte, als habe man die Baßsaite einer gigantischen Harfe angeschlagen. Es knackte und knirschte, die Schotten und Wände ächzten. Wieder vibrierte das Schiff unter dem Schub einer gewaltigen Kraft. Streben und Querschotts stöhnten, Nieten ächzten unter der ungeheuren Belastung. Draußen schlugen Fäuste gegen die Ausstiegsluke. Thio Roul war da, Ton Gareth, Hol Brawn – vertraute Gesichter, die ängstlich durch die Sichtluken starrten. Shor Nun ging mit schleppendem Schritt zu den Schaltknöpfen für die Schleusenkammer…
5 Shor Nun klopfte leise gegen die Tür des Schiffsobservatoriums. Ron Thules Stimme drang leise und gedämpft durch die Metalltür. Der Kapitän öffnete. »Schau dir das an – schau nur!« rief der Astronom leise. Auf Zehenspitzen bewegte sich Shor Nun vorwärts. Das große Observatorium hatte sich in ein Vakuum verwandelt – in Räumlichkeit, in eine alles verschluckende Dunkelheit. Das
Licht draußen im Korridor drang nicht über die Schwelle herein. Äußerste Schwärze, in der ein paar winzige leuchtende Punkte schwebten. »Seun hat mir mein Teleskop weggenommen. Aber dafür gab er mir das da. Ich verstehe jetzt alles. Nur zweimal haben sie versucht, den Lauf des Schicksals einer Rasse zu verändern. Das sagte Seun zu mir.« Ron Thules Stimme fuhr fort: »Das ist das Vakuum des Weltraums. Das da ist Troth, unsere Sonne. Nun paß auf… « Der Stern dehnte sich aus. Das Vakuum wurde zurückgedrängt, verschwand, zog sich hinter die unsichtbaren Wände des Observatoriums zurück. Troth schwebte jetzt allein im Mittelpunkt, während sieben winzige Lichtpunkte in seiner Nähe blieben, das Licht ihrer Sonne reflektierend. »Das ist unser Planetensystem. Jetzt betrachten wir einmal das Planetensystem der Erde.« Wieder zog sich das Vakuum zusammen, ballte sich, Veränderte sich und explodierte. Eine Sonne blieb im Mittelpunkt schweben, bestrahlte mit ihrem gelblichen Licht fünf Planeten. »Die anderen Planeten sind zu klein oder reflektieren nicht genügend Sonnenlicht. Deshalb sehen wir sie nicht. Als ich ins Observatorium kam, schwebte ein anderes Planetensystem im Raum. Dieses da.« Wieder explodierte das Vakuum. Ein neues Sternensystem wurde sichtbar. »Das ist das System von Prothor«, erklärte der Astronom. »Prothor!« sagte Shor Nun staunend. »Prothor ist fünfeinhalb Lichtjahre von uns entfernt. Hat die Sonne Trabanten?« »Ja – unbewohnte Planeten. Ich kann jeden Planeten so nahe heranholen, wie ich will. Aber obgleich ich jede Einzelheit deutlich erkennen kann«, fuhr der Astronom traurig fort, »sehe ich kein anderes System in erreichbarer Nähe. Nur diese drei…«
»Kein anderes Planetensystem?« »Nein. Seun will uns kein weiteres Planetensystem mehr zeigen. Ich verstehe auch, weshalb. Ein System haben wir uns verdient – aus eigener Kraft und Initiative haben wir das System der Erde erreicht. Wir haben der Natur ein Geheimnis abgerungen. Das war unsere persönliche Leistung, eine folgerichtige Entwicklung, ein notwendiger Schritt in der Geschichte unserer Rasse. Seun und seine Freunde wollen uns nicht belästigen oder die Geschichte unserer Rasse beeinflussen. Deshalb gestatteten sie auch, daß wir auf die Erde zurückkehrten – doch unter der Voraussetzung, daß auch wir sie in Frieden ließen. Sie konnten uns die Rückkehr nicht verweigern, weil das gegen ihr Gerechtigkeitsgefühl verstoßen hätte. Aber sie hielten es für nötig, uns die Niederlassung auf der Erde zu verweigern, Shor Nun. Seun handelte danach. Aber hätte er es dabei belassen, hätte er den Verlauf unserer Geschichte entscheidend verändert. Deswegen gab er uns das. Er zeigte uns ein anderes Planetensystem, nicht weiter von uns entfernt als die Erde, das für unsere Zwecke geeignet ist. Wir haben also nur getauscht, nicht verloren. Das ist Seuns Gerechtigkeit.« »Seine Gerechtigkeit. Ja, ich kam zu dir, Ron Thule, weil du den Zusammenhang der Dinge am ehesten zu begreifen schienst.« Shor Nuns Stimme klang ganz leise in dem dunklen Vakuum des Observatoriums. Er betrachtete die Planeten der Sonne Prothor: »Wie ist das begreiflich? Wie konnte das geschehen? Weißt du es? Für uns sind inzwischen sechs Jahre vergangen. Unsere Freunde daheim wollten wissen, was für eine Katastrophe uns zwang, nach einem Jahr wieder zur Heimatbasis zurückzukehren. Ein Jahr ist inzwischen auf Pareeth vergangen. Mein Sohn wurde während der Reise zur
Erde geboren. Er ist bereits vier Jahre alt. Meine Tochter hat ihren zweiten Geburtstag gefeiert. Doch all das kann ja gar nicht geschehen sein, weil wir nur ein Jahr unterwegs waren. Seun hat uns das angetan – und doch kann es nicht so sein. Seun, der dekadente Nachkomme der Männer, die das Weltall eroberten. Seun der vergessen hat, wie man Weltraumschiffe baut und wie die gigantischen Türme mit den durchsichtigen Wänden entstanden sind. Seun, der mit seinen Freunden in einem kleinen Dorf wohnt, das von ein paar Bäumen vor Regen und Sonne geschützt wird. Was für ein Geheimnis versteckt sich hinter diesem Volk auf der Erde?« Ron Thules Stimme war ein Flüstern im Dunklen: »Ich komme aus einer weit entfernten Welt. Ich kann nicht sagen, welches Schicksal mich hierher verschlagen hat. Ich bin ein Barbar, gehöre zu einer Rasse, die weder Feuer noch Bogen noch den Hammer kennt. Sage mir, Shor Nun – was für Holz muß ich nehmen, damit ich durch Reibung Feuer erzeugen kann? Ist es hartes, zähes Eichenholz? Oder ist das weiche, harzige Holz der Föhre geeigneter? Verrate mir, wie man das Feuer erzeugt!« »Mit Streichhölzern natürlich – oder mit den Strahlen der Sonne… Nein, Ron Thule. Ich weiß es nicht mehr. Ich habe nur eine undeutliche Vorstellung davon. Ich – ich habe die Entwicklung von zehntausend Generationen vergessen. Ich kann nicht auf die Stufe zurückkehren, die du einnimmst, Barbar einer unzivilisierten Welt. Ich habe – ich habe es vergessen.« »Dann verrate mir wenigstens, wie ich den Feuerstein halten muß – wo ich den Meißel aus dem Geweih des Rentieres ansetzen muß, damit die Späne sauber und ebenmäßig fallen, so daß mein Messer scharf genug ist, die Beute zu zerlegen. Und wie steht es mit dem Bogen? Muß ich ihn ins Wasser legen, ehe ich ihn biege? Und wie muß ich das Fell der
erlegten Tiere behandeln, damit der Mantel, den ich daraus machen will, nicht hart und steif wird, sondern geschmeidig und weich?« »Auch das habe ich vergessen. Das sind Kenntnisse, die für mich ohne Wert sind. Ich kann dir nicht helfen, Barbar. Ich würde dich natürlich gastlich aufnehmen und dich ins Museum führen, wo die Reste einer längst überwundenen Vergangenheit in Vitrinen ausgestellt sind. Ich kann dir auch die uralten Höhlen zeigen, wo sich meine Vorfahren vor den wilden Tieren versteckten, denen sie im Freien wehrlos ausgesetzt waren. Ja, Ron Thule – ich habe die Anfänge unserer Entwicklung vergessen.« »Vor langer Zeit«, sagte Ron Thule nach einer langen Pause, »stellten die Städtegründer auf der Erde Atomreaktoren her, um die Energie freizusetzen, die in dem gewaltsam zusammengeschlossenen Raumgefüge verborgen ist, welches wir Atom nennen. Sie konstruierten das Sorgan-Gerät, um die Atomkraft an ihre erbärmlichen Nußschalen weiterzugeben, mit denen sie durch das All reisten – Höhlen aus Metall und Kristall, die sie vor den Gefahren des Weltraums schützen sollten. Seun hat das Atom vergessen. Er denkt in Raumbegriffen. Die Gewalten des Raumes, des Alls, sind ihm hörig. Er schuf das Kristall, das uns wieder hierherbrachte, aus den Energien des Alls, weil es ihm eine Aufgabe erleichterte, die er auch ohne dieses Hilfsmittel mit seiner geistigen Kraft allein hätte bewältigen können. Das Kristall war für ihn genauso überflüssig wie eine Rechenmaschine. Seine Rasse besitzt keine Raumschiffe; denn sie können sich an jeden beliebigen Punkt des Weltalls versetzen, ohne sich eines Raumschiffes bedienen zu müssen. Seun ist keineswegs ein dekadenter Nachkomme der Städtebauer. Sein Volk hat den Traum nicht vergessen, der die Gigantenstadt erschuf. Doch
der Traum der Städtegründer war ein kindlicher Traum, und seine Rasse steckte damals noch in den Kinderschuhen. So wie ein Kind ein Steckenpferd braucht, um seinen Traum Wirklichkeit zu verleihen, so brauchten die Städtegründer damals etwas Reales aus Metall und Kristall, um ihrem Traum Dauer und Festigkeit zu geben. Und uns geht es heute ebenso.« »Mein Sohn ist im Weltall geboren. Er ist vier Jahre alt. Trotzdem waren wir nur ein Jahr unterwegs«, erwiderte Shor Nun seufzend. »Unsere Flotte brauchte sechs Jahre dazu, die Kluft von fünf Lichtjahren zu überwinden. In dreißig Sekunden, unendlich schneller als das Licht, hat uns Seun auf Pareeth zurückgeschickt, damit die Entwicklung unserer Rasse so wenig wie möglich Schaden erleidet. Die Zeit ist eine Funktion, die von der Geschwindigkeit des Lichtes abhängig ist. Die Entfernung von fünf Lichtjahren entspricht fünf Jahren, die mit der Quadratwurzel von minus eins multipliziert wird. Wenn wir den Raum von fünf Lichtjahren in kürzester Zeit überbrückt haben, folgt daraus, daß wir auch fünf Jahre eingespart haben. Du und ich haben achtzehn Jahre unseres Lebens dafür geopfert, das Weltall zu erkunden, Shor Nun – achtzehn Jahre unserer besten Manneskraft. Indem uns Seun auf unsere Ausgangsbasis zurückversetzte, hat er uns den Planeten für immer verwehrt, den wir uns durch das Opfer so vieler Jahre eigentlich verdient hatten. Aber Seun hat unsere Hoffnung nicht ganz zerstört. Er gibt uns etwas dafür. Er gibt uns eine andere Sonne mit anderen Planeten. Das ist kein Geschenk von Seun für mich, den Astronomen, sondern eine Gabe für unsere Rasse. Und ich glaube, daß es nicht in unserer Macht steht, jemals ein anderes System als dieses da zu erreichen. Und dieses Gebilde im leeren Raum, das wir jetzt betrachten, wird wahrscheinlich an dem Tag verschwinden, wo wir auf den Planeten dieser Sonne landen werden. Denn Seun wird uns
beobachten – wie er es wahrscheinlich auch jetzt tut, um abzuwarten, ob wir seinen Willen richtig verstanden haben. Denn ich weiß nur eines: diese Sonne dort kann ich sehen, und die Planeten, die diese Sonne umkreisen. Auch die Sonne der Erde sehe ich und unsere eigene Sonne. Diese drei Systeme folgten willig dem Impuls meiner Gedanken und boten sich dar. Doch außer ihnen kann ich kein weiteres Sonnensystem in unserer Nähe erblicken. Ich glaube, das ist der Wille Seuns und seiner Rasse.« Der Astronom richtete sich plötzlich auf. Shor Nun verharrte mitten in einer Bewegung. »Ja«, flüsterte Seuns Stimme in ihrem Bewußtsein, »das ist mein Wille.«
Originaltitel: FORGETFULNESS
Eric Frank Russell KEINE MACHT DER ERDE
Das Schiff maß dreihundert Meter im Durchmesser; es war über anderthalb Kilometer lang. Eine solch gewaltige Masse nahm natürlich viel Raum ein, und ohne Flurschaden ging es auch nicht ab. Dieses Raumschiff zum Beispiel bedeckte ein ganzes Feld und die Hälfte des angrenzenden Ackers. Und die Rinne, die es in den Boden gerissen hatte, war sieben Meter tief. Diesen Schaden würde man leider nicht mehr beseitigen können. An Bord waren zweitausend Menschen, die sich in drei Gruppen unterteilten. Die schlanken, großgewachsenen Männer mit den Falten um die Augen war die Besatzung. Die Männer mit dem Bürstenhaarschnitt waren die Soldaten, und die Männer mit den nüchternen Gesichtern waren die Bürokraten. Die erste Kategorie betrachtete diese Welt mit dem professionellen, doch unbeteiligten Interesse von Globetrottern, die von einem Planeten zum anderen eilen. Die Soldaten sahen mit einer Mischung aus milder Verachtung und Langeweile auf die Dinge herab. Die Bürokraten bewahrten kühle Zurückhaltung. Diese Leute waren an den Anblick neuer Welten gewöhnt. Sie hatten schon Dutzende davon besucht und eine genau festgelegte Routine entwickelt, wie sie mit den Bewohnern dieser Welten zu verfahren hatten. Auch hier würde alles nach einem gut eingeübten, wohlerprobten Plan ablaufen. Die Sache hatte nur einen Haken. Die Männer an Bord des Raumschiffes
saßen in der Klemme, ohne etwas davon zu ahnen. In welcher Reihenfolge die Männer das Schiff zu verlassen hatten, war genau festgelegt. Als erster durfte der Botschafter aussteigen; dann der Kommandant des Schiffes; als dritter der Kommandeur der Bodentruppen; und als vierter der Chef der Zivilverwaltung. Diese Reihenfolge setzte sich natürlich bis in die unteren Ränge fort: als nächster kam der Privatsekretär seiner Exzellenz des Botschafters, dann der Zweite Offizier des Raumschiffes, der stellvertretende Kommandeur der Bodentruppen und schließlich der oberste Federfuchser von der Verwaltung. Anders erging es den untersten Chargen dieser Hierarchie: dem Barbier, Schuhwichser und Kammerdiener seiner Exzellenz; den Rekruten mit dem niedrigsten Dienstgrad, den Nullen und Strohköpfen von der Truppe, und den auf Zeit angestellten Aktenschleppern und Bleistiftspitzern, die von dem Tag träumten, wo sie eine Lebensstellung und einen eigenen Schreibtisch bekamen. Diese kleinen Steine im Gebäude der hierarchischen Pyramide mußten an Bord bleiben und hatten striktes Rauchverbot. Wären sie jedoch auf einer feindlich gesinnten Welt gelandet, die sie mit gefährlichen Waffen empfangen hätte, wäre die Reihenfolge des Ausstiegs umgekehrt gewesen, getreu dem Versprechen der Bibel, daß die ersten die letzten und die letzten die ersten sein sollen. Doch dieser Planet war nur amtlicherseits eine neue Welt. Inoffiziell war sie natürlich gar nicht neu und schon gar nicht fremd. In den Akten und staubigen Ablagen, zweihundert Lichtjahre von dieser Welt entfernt, war diese Welt mit einer verschlüsselten Nummer versehen und als reife Frucht klassifiziert, die längst gepflückt sein sollte. Leider hatte sich dieses Unternehmen erheblich verzögert, weil es nämlich im ganzen Weltall so viele reife Früchte gab, die es zu pflücken galt. Aus den verstaubten
Akten ging hervor, daß sich dieser Planet am äußersten Rand einer riesigen Weltenansammlung befand, die kurz nach der »großen Explosion« besiedelt worden war. Jedes Schulkind wußte natürlich über die »große Explosion« Bescheid. Die »große Explosion« war nichts anderes als eine hochtrabende Bezeichnung für eine bevölkerungspolitische Entwicklung, die stattfand, als der Blieder-Antrieb an die Stelle der Atomraketen trat. Denn der Blieder-Antrieb präsentierte der Menschheit den Kosmos sozusagen auf einem silbernen Tablett. Zu jener Zeit, als das geschah – vor etwa dreihundert bis fünfhundert Jahren – hatte sich jede Familie, jeder Verein und jede Clique, die glaubte, woanders besser zurechtzukommen, zur Auswanderung in das Weltall entschlossen. Die Ruhelosen, die Ehrgeizigen, die Unzufriedenen, die Exzentriker, die Oppositionellen, die Neurotiker und die schlichten Gemüter, die ihre Neugierde nicht bezähmen konnten – sie alle hatten sich zu Dutzenden, Hunderten, Tausenden in die Lüfte erhoben und waren davongeflogen…
Ungefähr zweihunderttausend Menschen waren auf diesem Planeten gelandet. Die letzten von ihnen waren vor ungefähr dreihundert Jahren hierhergekommen. Neunzig Prozent (nach statistischer Norm) der Einwanderer waren Freunde, Verwandte oder Bekannte der ersten Pioniere gewesen, die diesen Planeten erschlossen hatten. Falls sich die Bevölkerung inzwischen (wie üblich) um das Sechsfache oder Siebenfache vermehrt hatte, mußten heute hier mehrere Millionen Menschen wohnen. Daß das tatsächlich der Fall war, hatte sich schon beim Anflug auf diesen Planeten gezeigt; denn obwohl keine Großstädte zu erkennen waren, war das Land doch mit einem dichten Netz mittlerer und kleiner Städte und Dörfern überzogen. Seine Exzellenz der
Botschafter betrachtete das Gras unter seinen Füßen mit wohlwollendem Blick, pflückte einen saftigen Halm und richtete sich stöhnend wieder auf. Seine Exzellenz war so gebaut, daß das Bücken eine athletische Leistung ersten Ranges für ihn darstellte. »Gras irdischer Herkunft. Haben Sie das bemerkt, Captain? Ist das ein bloßer Zufall, oder haben die Auswanderer den Grassamen von der Erde importiert?« »Wahrscheinlich reiner Zufall«, bemerkte Captain Grayder. »Bis jetzt sind wir auf vier Planeten gestoßen, auf denen Gras wuchs. Warum soll es sich nicht auch beim fünften so verhalten?« »Vielleicht haben Sie recht«, murmelte seine Exzellenz und wagte mit stolzer Besitzermiene einen weiten Rundblick. »Sieht so aus, als ob da jemand sein Feld bestellt. Er benutzt eine kleine Maschine mit zwei großen Rädern zum Pflügen. Kann sich also nicht um rückständige Leute handeln. Hm-mm!« Er rieb sich nachdenklich das Doppelkinn. »Lassen Sie den Mann herbringen. Eine kleine Unterhaltung wäre ganz nützlich. Dann wissen wir, wo wir am besten anfangen können.« »Sehr wohl«, erwiderte Captain Grayder und wendete sich Oberst Shelton zu, dem Kommandeur der Bodentruppen. »Seine Exzellenz wünscht, mit dem Bauern da drüben zu sprechen.« Er deutete auf die Gestalt in der Ferne. »Der Bauer dort«, sagte Shelton zu Major Harne. »Seine Exzellenz will ihn sprechen – sofort.« »Bringen Sie den Bauern hierher«, befahl Harne dem Leutnant Deacon. »Und zwar schnell!« »Holen Sie den Bauern!« fuhr Deacon den Hauptfeldwebel Bidworthy an. »Und beeilen Sie sich! Seine Exzellenz wartet!« Der Hauptfeldwebel – ein dicker Mann mit kirschrotem Gesicht – blickte sich nach einem Untergebenen um. Doch dann fiel ihm wieder ein, daß die Mannschaft im Schiff
geblieben war und strenges Rauchverbot hatte. Es schien, daß der Auftrag an ihm hängenblieb. So marschierte er also los – quer über vier Felder –, bis er auf Rufweite an den Landmann herangekommen war. Dann blieb er in korrekter militärischer Haltung stehen und rief mit unverfälschter Kasernentonstimme: »He – Sie da!« Er winkte energisch. Der Bauer hielt – seinen Pflug an, wischte sich die Stirn ab und sah sich um. Sein Verhalten schien auszudrücken, daß das riesige Schiff in seiner Nähe ein so alltäglicher Anblick für ihn war wie eine Muttersau, die ein Dutzend Ferkel wirft. Bidworthy winkte noch einmal, diesmal mit militärisch vorgeschriebenem Handzeichen. Der Bauer winkte gelassen zurück und fuhr mit dem Pflügen fort. Hauptfeldwebel Bidworthy reagierte mit einem Fluch, der in Wirklichkeit nichts weiter bedeutete als: »Gott, bewahre mich!« Dann ging er noch fünfzig Schritte weiter. Er konnte jetzt das Gesicht des Bauern erkennen. Es war dunkelbraun, von der Sonne ledergegerbt, die Augenbrauen waren buschig. »He!« Der Bauer hielt den Pflug erneut an, stützte die eine Hand auf den Sattel und stocherte in seinen Zähnen. Erschreckt von dem Gedanken, daß vielleicht in den dreihundert Jahren nach der Einwanderung die gemeinsame Muttersprache zugunsten eines Dialektes vergessen worden war, fragte Bidworthy mißtrauisch: »Kannst du mich überhaupt verstehen?« »Kann einer den anderen wirklich immer verstehen?« erwiderte der Bauer. Dann wendete er sich erneut seiner Arbeit zu. Bidworthy mußte einen Moment gegen seine Verwirrung ankämpfen. Dann faßte er sich wieder und rief: »Seine Exzellenz, der Botschafter von der Erde, möchte dich sprechen. Sofort!«
»So?« Der Bauer musterte den Feldwebel und meinte gedehnt: »Wieso ist der Mann, der mich sprechen will, eine Exzellenz?« »Er ist eben ein Mann von großer Wichtigkeit«, knurrte Bidworthy. Er war sich nicht schlüssig, ob sich der Mann auf seine Kosten lustig machte oder nur ein einfältiges Gemüt besaß. »Ein Mann von großer Wichtigkeit«, wiederholte der Bauer gedehnt und blickte dabei zum Horizont. Er schien über einem ihm ungewohnten Begriff nachzudenken. »Was geschieht auf deinem Planeten, wenn diese Person stirbt?« fragte er nach einer Weile. »Nichts«, erwiderte Bidworthy wahrheitsgemäß. »Er dreht sich also weiter, als wäre nichts geschehen?« »Selbstverständlich.« »Dann«, erwiderte der Bauer, »kann er auch nicht wichtig sein.« Damit warf er seinen Motor wieder an. Die Räder mahlten und die Pflugscharen brachen die Erde um. Bidworthy ballte die Fäuste, atmete eine halbe Minute tief durch und sagte dann heiser: »Ich kann unmöglich ohne eine Botschaft zu seiner Exzellenz zurückkehren.« »Wirklich?« antwortete der Bauer kopfschüttelnd. »Was hindert dich denn daran?« Als er bemerkte, daß die Röte in Bidworthys Gesicht gefährlich zunahm, tröstete er ihn: »Nun gut, du kannst ihm ja ausrichten – ja – du kannst ihm von mir ausrichten: Grüß Gott und auf Wiedersehen.« Hauptfeldwebel Bidworthy war ein kräftiger Mann, wog zwei Zentner, kannte den Kosmos zwanzig Jahre lang aus eigener Anschauung und fürchtete weder Gott noch Teufel. Doch jetzt zitterte er am ganzen Körper, als zum Raumschiff zurückkehrte. Seine Exzellenz maß ihn mit kaltem Blick und fragte: »Nun?«
»Er will nicht kommen«, erwiderte Bidworthy. Die Stirnadern traten ihm hervor. »Wenn Sie mir den Mann nur ein paar Monate überlassen, Sir, werde ich ihm die Hammelbeine langziehen, daß er sich nur noch im Dauerlauf bewegt.« »Das traue ich Ihnen ohne weiteres zu, Hauptfeldwebel«, erwiderte seine Exzellenz. Dann flüsterte er Oberst Shelton ins Ohr: »Zweifellos ein guter Mann, aber kein Diplomat. Viel zu impulsiv und zu unbeherrscht in seiner Wortwahl. Am besten gehen Sie selbst, Oberst, und bringen den Mann her. Wir können doch nicht eine Ewigkeit hier herumstehen. Wir müssen endlich wissen, wo wir anzufangen haben.« »Sehr wohl, Eure Exzellenz.« Oberst Sheldon stakte über die Felder. Freundlich lächelnd begrüßte er den Bauern. »Guten Morgen, mein guter Mann.« Der Bauer hielt den Pflug an und seufzte. Es gab schon Tage, da kam man einfach nicht voran. Seine Augen waren dunkelbraun, fast schwarz. »Wie kommen Sie auf die Idee, daß ich Ihr Mann wäre?« »Ach, das ist so eine Redensart«, erwiderte Shelton. Er verstand jetzt, warum Bidworthy bei seiner Mission gescheitert war. Da waren zwei leicht reizbare Typen aufeinandergeprallt, hatte der eine Hund den anderen angeknurrt. »Ich wollte nur höflich sein.« »Tja«, erwiderte der Bauer und dachte eine Weile nach. »So ein Versuch lohnt sich schon.« Sheltons Gesicht rötete sich ein bißchen. Entschlossen fuhr er fort: »Wir würden uns freuen, wenn Sie uns im Raumschiff besuchen würden.« »Sie würden sich freuen?« fragte der Bauer ungläubig. »Selbstverständlich«, erwiderte Shelton. »Sie sind ein Lügner«, sagte der Bauer. Oberst Sheltons Gesicht wurde jetzt kirschrot. »Ich lasse es nicht zu, daß mich jemand einen Lügner schimpft!« rief er.
»Sie haben es aber zugelassen«, gab der Bauer zurück. Shelton überging den Einwand. Er knurrte: »Kommen Sie jetzt mit zum Schiff oder nicht?« »Ich komme nicht.« »Warum nicht?« »Meiob!« sagte der Bauer. »Was ist das?« »Meiob«, wiederholte der Bauer. Das klang wie eine Beleidigung. Oberst Shelton machte auf dem Absatz kehrt…
Er erstattete dem Botschafter Bericht: »Das ist eine von den Typen, die eine sehr hohe Wertschätzung haben. Das einzige, was ich aus dem Kerl herausholen konnte, war ›Meiob‹. Keine Ahnung, was das heißen soll.« »Dialekt«, meinte Captain Grayder sachkundig. »So etwas entwickelt sich häufig im Verlauf von dreihundert, vierhundert Jahren. Ich habe ein paar Welten besucht, wo der Dialekt so kraß ausgeprägt war, daß er fast eine neue Sprache darstellte.« »Er hat Sie aber verstanden, nicht wahr?« fragte der Botschafter. Shelton nickte. »Jawohl, Eure Exzellenz. Und seine eigene Aussprache ist auch noch korrekt. Doch er will sich einfach nicht von seinem Pflug trennen.« Er dachte kurz nach. »Wenn Sie mir Vollmacht geben, lasse ich ihn von einer bewaffneten Eskorte hierherbringen.« »Damit er die Aussage verweigert?« konterte der Botschafter ironisch. Er klopfte sich auf den Bauch, zog die Jacke straff und warf einen prüfenden Blick auf seine spiegelblanken Schuhe. »Es bleibt wohl nichts anderes übrig, als daß ich selbst mit ihm verhandle.« Oberst Shelton war schockiert. »Aber Eure Exzellenz. So etwas können Sie doch nicht tun!« »Weshalb denn nicht?«
»Es schickt sich nicht.« »Dessen bin ich mir bewußt«, erwiderte der Botschafter trocken. »Haben Sie einen besseren Vorschlag?« »Wir können einen Spähtrupp ausschicken, der uns einen anderen Mann besorgt – mit größerer Aufgeschlossenheit für unsere Belange.« »Jemand, der auch besser Bescheid weiß«, unterstützte Captain Grayder den Vorschlag seines Vorgesetzten. »Aus diesem Bauerntölpel werden wir sowieso nicht viel herausholen. Wahrscheinlich reicht sein Horizont nur so weit wie sein Acker.« »Also gut«, lenkte der Botschafter ein, recht froh darüber, daß er sich nicht selbst zu bemühen brauchte. »Stellen Sie eine Patrouille zusammen und sorgen Sie für Ergebnisse.« »Eine Patrouille«, sagte Oberst Shelton zu Major Harne. »Suchen Sie sofort ein paar Leute dafür aus.« »Eine Patrouille soll heraustreten«, gab Harne den Befehl an Leutnant Deacon weiter. »Dalli, dalli!« »Sofort mit einer Patrouille ausrücken, Hauptfeldwebel!« befahl Deacon. Bidworthy marschierte zum Raumschiff, stieg die Leiter hinauf, steckte den Kopf in die offene Schleuse und rief: »Feldwebel Gleed – kommen Sie sofort mit Ihrer Mannschaft vor das Schiff – und ein bißchen rasch, wenn ich bitten darf!« Er sog mißtrauisch die Luft ein und schwang sich durch die Schleuse. Seine Stimme wurde lauter. »Wer hat hier geraucht? Zum Himmeldonnerwetter – wenn ich den Kerl erwische, der hier… « Die Patrouille trat rechts neben der Luke in zwei Reihen zu je acht Mann an. Auf ein Kommando hin setzten sich die Männer in Bewegung. Waffen und Ausrüstungsgegenstände klapperten. Die orangefarbene Sonne spiegelte sich auf mattem Metall.
Feldwebel Gleed brauchte seine Patrouille nicht weit zu führen. Die Männer waren kaum hundert Meter vorgerückt, als sie einen Einheimischen entdeckten, der quer über die Felder kam. Er beachtete das Schiff gar nicht, sondern interessierte sich nur für den Bauern. »Patrouille, rechts um!« bellte Gleed. Er führte seine Männer auf den Fußgänger zu. Die Patrouille beschleunigte das Tempo, öffnete eine Gasse und nahm den Fußgänger in die Mitte. Der Einheimische ließ sich nicht im geringsten stören. Er ging weiter, als wären die Uniformierten überhaupt nicht vorhanden. »Links um!« bellte Gleed. Die Männer gehorchten. Die Doppelreihe schwenkte nach links. Es war ein Manöver, das jedes Feldwebelherz höher schlagen ließ. Nur ein Umstand verdarb den guten Eindruck: der Zivilist in der Mitte behielt seine ursprüngliche Richtung bei. Er war im Begriff, zwischen dem vierten und fünften Mann der zweiten Reihe auszuscheren. Das brachte Gleed in Harnisch. Die Patrouille marschierte schnurgerade auf den Botschafter zu, da weitere Befehle ausblieben. Inzwischen setzte der Fußgänger in aller Ruhe seinen Weg in entgegengesetzter Richtung fort. Es war ein blamables militärisches Schauspiel, das sicher noch seine Folgen haben würde. Oberst Shelton würde ihn zusammenstauchen. Hinterher würde ihn Bidworthy auch noch vornehmen. »Patrouille!« rief Gleed heiser und deutete mit dem Finger auf den Ausbrecher. Er vergaß in diesem Moment alle Vorschriften. »Ergreift den Burschen!« Die Doppelreihe löste sich auf. Die Männer umringten den Einheimischen und brachten ihn gewaltsam zum Stehen. Gleed kam herbeigeprescht. Etwas außer Atem sagte er zu dem Einheimischen: »Hören Sie zu, der Botschafter vor der Erde wünscht mit Ihnen zu reden.«
Der Einheimische sagte gar nichts. Er sah den Feldwebel nur mit seinen sanften blauen Augen an. Es war ein komischer Kerl mit einem ungepflegten honigfarbenen Backenbart, der sich in alle Richtungen sträubte. Er hatte ein Gesicht wie eine Sonnenblume. »Werden Sie jetzt mit seiner Exzellenz, dem Botschafter, reden oder nicht?« herrschte Gleed das Individuum an. »Nein«, murmelte das Individuum und deutete mit dem Kopf in Richtung des pflügenden Bauern. »Ich will mit Zeke reden.« »Der Botschafter hat Vorrang!« sagte Gleed grob. »Er ist ein großes Tier!« »Daran zweifle ich keinen Moment«, antwortete der Einheimische. »Ah, ein Witzbold!« knurrte Gleed und brachte sein Gesicht ganz dicht an den honigfarbenen Bart heran. Er gab seinen Untergebenen einen Wink. »Wir werden ein bißchen nachhelfen! Vielleicht vergehen ihm dann die Späße!« Der Mann setzte sich einfach auf den Acker. Er saß da wie ein Denkmal, das hier die Ewigkeit überdauern wollte. Doch Gleed hatte Erfahrungen mit solchen Leuten, die sich bockig auf den Hosenboden setzten. »Hebt ihn auf!« befahl er, »und tragt ihn zu Seiner Exzellenz!« Die Soldaten gehorchten, hoben den Mann auf und trugen ihn, die Füße voran, auf das Raumschiff zu. Sie trugen ihn bis zu der Stelle, wo der Botschafter wartete, und stellten ihn dann auf die Füße. Sofort machte das Individuum kehrt und wollte davongehen. »Haltet ihn fest, verdammt noch mal!« brüllte Gleed. Die Patrouille packte den Burschen und hielt ihn fest. Seine Exzellenz betrachtete den Backenbart mit der Miene eines Mannes, der gelernt hat, seine wahren Gefühle zu verbergen, hüstelte vornehm und sagte: »Es tut mir wirklich leid, daß man Sie so rüde behandelt hat.«
»Das Leid hätten Sie sich ersparen können«, erwiderte der Gefangene. »Sie hätten meine Behandlung ja verhindern können.« »Mir blieb keine andere Wahl. Wir mußten ja endlich Kontakt aufnehmen.« »Das verstehe ich nicht«, erwiderte der Mann mit dem ungepflegten Bart. »Warum muß das ausgerechnet heute sein?« »Ich habe ›endlich‹ gesagt, nicht ›heute‹«, sagte der Botschafter gereizt. »Eben«, brummte das Individuum. Der Botschafter wandte sich stirnrunzelnd an den Oberst. »Verstehen Sie, was der Bursche meint?« fragte er. »Ich kann auch nur versuchen, seine Antwort zu deuten, Eure Exzellenz«, erwiderte der Oberst. »Ich glaube, er weist auf die Tatsache hin, daß wir seit dreihundert Jahren keine Verbindung mehr mit diesem Planeten hatten. Und da wir es so lange nicht eilig gehabt haben, liegt kein zwingender Anlaß vor, es heute zu tun.« Er blickte den Bartträger fragend an. Der Einheimische nickte und bestätigte die Deutung mit den Worten: »Für einen Halbgebildeten ist diese Erklärung gar nicht so übel.« Obwohl Bidworthy gar nicht gemeint und noch weniger gefragt war, platzte ihm trotzdem der Kragen. Er drückte die Brust heraus, rollte die Augen und kollerte wie ein Truthahn: »Ich bitte mir einen respektvollen Ton aus, wenn Sie mit meinem Vorgesetzten sprechen!« Die sanften blauen Augen des Gefangenen betrachteten mit kindlichem Staunen den Hauptfeldwebel Bidworthy vom Scheitel bis zur Sohle. Dann blickte er den Botschafter an. »Was ist denn das für ein Choleriker?« Der Botschafter wischte die Frage mit einer ungeduldigen Handbewegung fort. »Mein Guter, wir halten Sie doch nicht zu unserem Vergnügen hier fest, wie Sie anzunehmen scheinen. Wir wollen Sie nicht länger aufhalten, als unbedingt nötig. Wir
möchten nur… « Der Einheimische zupfte sich am Bart und unterbrach den Botschafter mit einer Frage: »Und Sie bestimmen natürlich, wie lange ich genötigt werde, hierzubleiben – nicht wahr?« »Nein, mein Guter, das entscheiden Sie selbst«, antwortete der Botschafter mit bewundernswerter Selbstbeherrschung. »Sie brauchen mir nur zu sagen… « »Ich habe bereits entschieden«, unterbrach der Gefangene den Botschafter zum zweitenmal. Er versuchte, sich aus dem Griff der Soldaten zu lösen. »Ich will mit Zeke reden.« »Sie brauchen uns nur zu sagen«, fuhr der Botschafter hartnäckig fort, »wo wir einen Verwaltungsbeamten finden, der uns zu Ihrer Regierung bringen kann.« Mit strengem Blick schloß der Botschafter: »Wo ist Ihre nächste Polizeistation?« »Meiob!« antwortete der Mann mit dem Bart. »Gleichfalls!« rief der Botschafter, der sich nur noch mühsam beherrschen konnte. »Ich wollte das die ganze Zeit schon tun«, erwiderte der Gefangene vorwurfsvoll. »Aber Sie haben mich ja nicht gelassen!« »Wenn ich einen Vorschlag machen darf, Eure Exzellenz«, mischte sich der Oberst wieder ein, »würde ich… « »Ich brauche keine Vorschläge, und ich würde sie auch nicht befolgen«, schnarrte der Botschafter, von dem die Geduld abfiel wie alter Putz. »Ich habe diesen Narrenzirkus satt. Ich glaube allmählich, wir sind zufällig in einem Reservat für Geistesgestörte gelandet. Wir sollten uns mit dieser simplen Tatsache abfinden, das Raumschiff besteigen und unverzüglich den Standort wechseln.« »Endlich sagen Sie was Vernünftiges«, meinte der Bärtige. »Und je weiter Sie fliegen umso vernünftiger.« »Ich denke nicht daran, den Planeten zu verlassen, guter Mann, falls Sie das in Ihrem Unverstand annehmen sollten«,
erwiderte der Botschafter mit unwiderstehlichem Sarkasmus. Er stampfte besitzergreifend mit dem Fuß auf die Erde. »Dieser Planet ist ein Teil des irdischen Weltreiches. Und wir werden ihn vermessen, reorganisieren und registrieren.« »Ganz recht, ganz recht«, sagte der Chef der Bürokraten, der sich viel auf seine Rhetorik einbildete. Seine Exzellenz warf einen unwilligen Blick in dessen Richtung und fuhr dann mit seiner Ansprache fort: »Wir werden das Schiff an einen Ort verlegen, wo die Leute etwas mehr Grips im Kopf haben.« Er winkte der Eskorte zu. »Laßt ihn laufen, Leute. Er hat es eilig. Wahrscheinlich will er sich bei seinem Freund ein Rasiermesser für seinen Bart ausleihen.« Die Soldaten ließen den Mann los. Der Bursche mit dem Backenbart drehte sich sofort zu dem pflügenden Bauern um, als würde er von einem kräftigen Magneten in diese Richtung gezogen. Ohne noch ein Wort zu verlieren, setzte er sich mit wiegenden Schritten in Bewegung. Gleed und Bidworthy sahen ihm nach, ohnmächtige Wut und Enttäuschung im Herzen. »Lassen Sie sofort starten«, befahl der Botschafter dem Kommandanten des Raumschiffes. »Gehen Sie in der Nähe einer größeren Stadt nieder, nicht in einer Wildnis, wo man Fremde angafft wie eine Horde Zigeuner!« Würdevoll stieg der Botschafter als erster die Gangway hinauf. Kommandant Grayder folgte als nächster. Dann kam Oberst Shelton und der Chef der Zivilverwaltung an die Reihe. Das Volk durfte zuletzt an Bord. Das waren Gleed und seine Leute. Die Gangway wurde eingezogen, die Schleuse geschlossen. Trotz seiner gewaltigen Größe hob sich das Schiff mit Leichtigkeit in die Luft. Es gab weder ein Getöse noch meilenlange Feuerschweife. Tatsächlich ging der Start so leise
vor sich, daß man nur das gedämpfte Tuck-tuck des Motorpfluges hörte und die Unterhaltung der beiden Männer, die hinter dem Pflug hergingen. Was sonst noch passierte, kümmerte die beiden nicht. »Sieben Pfund erstklassigen Tabak für ein Fäßchen Branntwein ist ein verflucht hoher Preis«, protestierte der mit dem Bart. »Nicht für meinen Brandy«, antwortete Zeke. »Er ist stärker als tausend Gands und geht so leicht über die Zunge wie die Worte eines Diplomaten von der Erde.«
Die zweite Landung des mächtigen Schiffes erfolgte auf einer Ebene, etwas mehr als tausend Meter von einer Stadt entfernt, deren Einwohnerzahl man auf zwölf- bis fünfzehntausend Leute schätzte. Kommandant Grayder hätte es vorgezogen, das Gelände aus niedriger Höhe erst mal gründlich zu studieren, ehe er landete. Doch mit einem so riesigen Raumschiff kann man nicht manövrieren wie mit einem. Hubschrauber. Also setzte Grayder das Schiff an der günstigsten Stelle auf, die er in der Eile finden konnte – und für seine Entscheidung hatte er bei der Sinkgeschwindigkeit des Schiffes nur ein paar Zehntelsekunden Zeit. Diesmal war die Furche, die das Raumschiff in den Boden riß, nur vier Meter tief. Die Erdkruste des Planeten war hier viel härter, bestand aus Lehm und Fels. Die Gangway wurde heruntergelassen, und zum zweitenmal verließ eine streng hierarchisch gegliederte Prozession das Schiff. Seine Exzellenz blickte erwartungsvoll zur Stadt hinüber. Enttäuschung malte sich auf seinem Gesicht. »Hier scheinen wirklich eigenartige Verhältnisse zu herrschen«, bemerkte er. »Die Stadt ist zum Greifen nahe. Hier sind wir, ein Raumschiff so groß wie ein Berg. Mindestens tausend Leute müssen unsere Landung beobachtet haben. Und wen
sehe ich? Niemand. Sie können doch nicht alle hinter zugezogenen Vorhängen pennen oder am Keller Poker spielen! Sehen Sie eine Spur von Aufregung?« »Nein«, stellte Oberst Shelton fest, der seine Augenlider massierte, um besser sehen zu können. »Ich habe nur eine rhetorische Frage gestellt, Oberst. Ich habe sie nicht an Sie gerichtet. Ich stelle fest: die Leute sind nicht aufgeregt. Sie sind nicht überrascht. Sie sind nicht einmal interessiert. Man möchte fast glauben, hier wäre schon einmal ein Raumschiff gelandet, das ihnen die Pest oder einen Haufen Ramsch gebracht hat. Ich begreife das einfach nicht.« »Vielleicht fehlt ihnen die natürliche Wißbegierde«, meinte Shelton. »Mag sein. Oder die Leute haben Angst. Oder sie spinnen alle. Wie Sie wissen, ist eine stattliche Anzahl von Planeten von Wirrköpfen kolonisiert worden, die eine Stätte suchten, wo sie ihre exzentrischen Veranlagungen ungehemmt entfalten konnten. Wenn sich eine Utopie dreihundert Jahre lang ungehindert entwickeln kann, wird sie zur Konvention. Das Außergewöhnliche wird zur Norm, das Irre normal. Dazu kommt noch Inzucht von mehreren Generationen. Kein Wunder, wenn daraus eine verrückte Welt entsteht. Aber wir werden sie von ihrer Verrücktheit heilen – verlassen Sie sich darauf!« »Selbstverständlich, Eure Exzellenz!« Der Botschafter sah den Oberst mißbilligend an. »Wenn Sie dauernd so mit den Augen rollen, Oberst, könnte man auch an Ihrem Verstand zweifeln.« Der Botschafter deutete nach Südosten, während der Oberst hastig die Hände hinter dem Rücken verschränkte. »Dort sehe ich eine Straße. Scheint eine Landstraße zu sein. Lassen Sie eine Patrouille auf dieser Straße vorrücken. Ich hoffe, daß Ihre Leute binnen kurzer Zeit einen aussagewilligen Eingeborenen aufgreifen. Falls nicht, werde ich ein ganzes Bataillon in die Stadt einrücken lassen.«
»Eine Patrouille«, gab Oberst Sheldon die Anordnung an Major Harne weiter. »Rufen Sie eine Patrouille heraus!« befahl Harne seinem Leutnant Deacon. »Die Patrouille soll heraustreten, Hauptfeldwebel!« rief Deacon. Bidworthy scheuchte Gleed ins Freie, deutete mit dem Finger auf die Straße, maulte ein bißchen herum, brachte den Feldwebel auf Trab. Gleed ließ seine Leute antreten, setzte sich an die Spitze und marschierte los. Ihr Orientierungspunkt war etwa achthundert Meter entfernt – eine kleine Erhebung vor der Stadt. Die Soldaten machten nachdenkliche Gesichter und wünschten Gleed und den Hauptfeldwebel zum Teufel oder auf einen anderen Planeten. Die Kolonne hatte ihr Ziel noch nicht ganz erreicht, als ein Einheimischer auftauchte. Er kam aus der Vorstadt und brauste auf einem Vehikel daher, das eine schwache Ähnlichkeit mit einem Motorrad besaß. Es fuhr auf Gummikugeln und wurde von einem Propeller angetrieben. Gleed bildete mit seinen Leuten eine Kette quer über die Straße. Das Vehikel gab ein heiseres Röhren von sich, ein Warnsignal. Es erinnerte die Soldaten an Bidworthys Stimme, wenn er beim Schuhapell einen rostigen Nagelkopf entdeckte. »Stehenbleiben!« warnte Gleed seine Leute. »Ich reiße jedem den Kopf ab, der ausweicht und eine Lücke öffnet!« Wieder röhrte das Fahrzeug. Niemand bewegte sich. Das Vehikel wurde langsamer und rollte bis zu der Straßensperre vor. Der Propeller drehte sich träge im Leerlauf. »Was soll denn das bedeuten?« fragte der Motorradfahrer. Er war ein hagerer, großer Bursche, der einen goldenen Ring in der Nase trug. Sein Haar war zu einem Zopf zusammengebunden, der ihm bis zur Taille reichte.
Gleed war so sehr in der Betrachtung dieses seltsamen Aufzuges vertieft, daß er keine präzise militärische Antwort geben konnte. Er deutete nur mit dem Daumen über die Schulter, wo der stählerne Berg des Schiffes aufragte und knurrte: »Raumschiff von der Erde.« »Aha – und was soll ich damit? Es auf den Schrottplatz bringen oder was?« »Wir suchen Leute, die mit uns zusammenarbeiten«, erwiderte Gleed. Er war immer noch fasziniert von dem Zopf, den der Einheimische trug. Er hatte noch nie einen Zopf gesehen. Der Mann sah durchaus nicht lächerlich oder weibisch aus – im Gegenteil. Die Haartracht verlieh dem Burschen einen Anflug von Wildheit oder Verwegenheit. Gleed fühlte sich an ein Bild erinnert, das er in einem Lesebuch gesehen hatte. So ähnlich waren die Ureinwohner von Nordamerika herumgelaufen, als die Weißen diesen Kontinent vor undenklichen Zeiten entdeckt hatten. »Zusammenarbeit«, antwortete der Eingeborene nachdenklich. »Das ist ein sehr hübsches Wort. Sie wissen doch, was es bedeutet, nicht wahr?« »Ich bin doch kein Idiot.« »Der Grad Ihrer Dummheit steht im Augenblick nicht zur Debatte«, erwiderte der Fremde. Sein Nasenring wackelte. »Wir sprachen gerade von Zusammenarbeit. Wahrscheinlich üben Sie sich täglich darin – oder ist das Wort Ihnen nur theoretisch geläufig?« »Da können Sie Gift drauf nehmen, daß wir uns täglich darin üben«, antwortete Gleed. »Jeder von uns tut das. Wir wollen uns doch nicht ins eigene Fleisch schneiden!« »Bleiben wir beim Thema! Wenn wir über Ihre Anatomie oder Verdauung sprechen, geraten wir nur ins Uferlose.« Er ließ den Motor kurz aufheulen und fragte dann: »Sie bekommen Befehle und führen sie aus, nicht wahr?«
»Selbstverständlich! Man würde mich ganz schön zurechtstauchen, wenn ich einen Befehl verweigerte… « »Das verstehen Sie also unter Zusammenarbeit.« Der Fremde seufzte und zuckte die Achseln. »Oh – es ist immer gut, wenn man geschichtliche Tatsachen aus erster Hand bestätigt bekommt. Es hätte ja sein können, daß die Historiker sich irrten.« Der Motor heulte wieder auf. »Entschuldigen Sie mich!« sagte der Fahrer und gab Gas. Die vordere Gummikugel rollte auf zwei Männer zu, warf sie zur Seite, ohne daß sie zu Schaden kamen. Dann war das Vehikel schon hinter der Straßensperre und raste die Straße hinunter. Der Zopf flatterte wie eine Fahne im Propellerwind. »Ihr Idioten!« schrie Gleed die beiden Unglücklichen an, die sich gegenseitig den Staub von der Uniform klopften. »Ich habe euch doch befohlen, stehenzubleiben! Warum habt ihr meine Anweisung nicht befolgt?« »Wir mußten ihn ja durchlassen«, antwortete der eine von den beiden und blickte den Feldwebel bockig an. »Das Ding war stärker als wir.« »Keine Widerrede. Sie hätten ja auf die Reifen schießen können! Aber Sie hatten natürlich Ihre Waffe nicht einsatzbereit!« »Sie haben uns nichts davon gesagt, daß scharf geschossen werden darf, Feldwebel.« »Und wo haben Sie eigentlich Ihre eigene Waffe?« maulte eine andere Stimme. Gleed wirbelte zornig herum. »Wer hat das eben gesagt?« fragte er und musterte mit funkelnden Augen seine Untergebenen. »Wenn der Mann sich nicht sofort meldet, bekommt die ganze Gruppe Strafdienst aufgebrummt, daß euch… « »Der Hauptfeldwebel kommt!« rief einer der Soldaten warnend. Bidworthy war noch gut vierhundert Meter entfernt.
Er rückte vor wie das strafende Gewissen nach verlorenem Gefecht. Als er die Gruppe erreicht hatte, musterte er die Männer mit einem kalten, verächtlichen Blick. »Wie konnte das geschehen?« Gleed erstattete Meldung. Er schloß mit den Worten: »Er sah aus wie ein Siouxindianer.« »Was ist denn das – ein Siouxindianer?« fragte Bidworthy streng. »Ach, ein Mensch, von dem ich mal als Kind in einem Buch gelesen habe«, antwortete Gleed, glücklich darüber, mit seinem überlegenen Wissen seinen Vorgesetzten von der Blamage ablenken zu können. »Sie trugen lange Haare und liefen in buntbestickten Decken herum.« »Verrückte Leute«, meinte Bidworthy verächtlich. »Ich habe schon mit sieben Jahren keine Märchen mehr gelesen. Mit zwölf las ich die ersten ballistischen Werke, und mit vierzehn hatte ich alle Fachbücher über das militärische Versorgungswesen studiert.« Er schnaubte laut und ließ seinen martialischen Blick über die Köpfe der Mannschaft gleiten. »Manch einer leidet eben an Entwicklungsstörungen.« »Aber die Leute haben tatsächlich gelebt«, widersprach Gleed, »sie… « »Hexen haben auch gelebt!« fuhr ihm Bidworthy in die Parade. »Meine Mutter hat mir das erzählt. Meine Mutter war eine gute Frau. Sie hat nie versucht, mir einen Bären aufzubinden – wenigstens nicht immer.« Er spuckte auf die Straße. »Seien Sie nicht kindisch!« Er blickte die Leute der Reihe nach an. »Also gut, macht eure Waffen fertig! Ich hoffe, ihr habt nicht vergessen, wie man damit umgeht! Ihr steht jetzt unter meinem Kommando. Der nächste Kerl kommt bestimmt nicht durch.« Er setzte sich auf einen großen Stein neben der Straße und blickte erwartungsvoll hinüber zur Vorstadt. Gleed stand gekränkt in seiner Nähe. Die Mannschaft sperrte wieder die Straße, die Waffen schußbereit im Halfter. Eine halbe
Stunde verging, ohne daß sich etwas rührte. Einer der Soldaten fragte: »Dürfen wir rauchen, Hauptfeldwebel?« »Nein!« Die Leute verharrten in brütendem Schweigen. Sie beobachteten die Stadt, leckten sich die Lippen und hingen ihren Gedanken nach. Eine Stadt – besonders eine Stadt mit menschlichen Bewohnern – beherbergte viele begehrenswerte Dinge in ihren Mauern, die man im Weltall sonst nicht antraf. Licht, Wärme, Gesellschaft, Freiheit, Fröhlichkeit – alles, was das Leben lebenswert macht. Und wenn man das alles so lange entbehren muß, kommt man vor Sehnsucht fast um. Schließlich tauchte eine Art von Omnibus am Ortseingang auf. Das Ding war stromlinienförmig gebaut, rollte auf zwanzig Gummikugeln und hupte natürlich auch lauter als das Motorrad. Nur wie das Ding angetrieben wurde, konnte man nicht genau erkennen. Der Omnibus war voll besetzt. Als das Vehikel bis auf zweihundert Meter an die Straßensperre herangekommen war, plärrte ein Lautsprecher: »Macht Platz! Macht Platz!« »Endlich!« knurrte Bidworthy zufrieden. »Hier kommt eine ganze Wagenladung von Einheimischen. Wenn wir nicht einen davon zum Sprechen bringen, quittiere ich den Dienst!« Er stand von seinem Stein auf. »Macht Platz! Macht Platz!« »Schießt in die Reifen!« brüllte Bidworthy, »falls der Fahrer versucht, die Sperre zu durchbrechen!« Doch das war nicht nötig. Das Vehikel wurde langsamer und blieb einen Meter vor der Postenkette stehen. Der Fahrer steckte den Kopf aus dem Seitenfenster. Bidworthy riß sich zusammen. Er wollte zuerst versuchen, ob er nicht mit freundschaftlicher Herablassung etwas erreichen konnte. Er ging auf das Fenster des Fahrers zu und sagte: »Guten Morgen.«
»Ihr Zeitgefühl ist vollkommen durcheinander«, erwiderte der Fahrer. Er hatte eine gebrochene Nase, Blumenkohlohren und ein energisches Kinn. Er sah aus wie ein Bulle oder einer, der sich schon oft mit Bullen herumgeschlagen hatte. »Können Sie sich denn keine Uhr leisten?« »Was?« »Der Morgen ist längst vorüber! Es ist später Nachmittag.« »Tatsächlich«, räumte Bidworthy ein und lächelte verkrampft. »Guten Nachmittag.« »Ich weiß nicht, ob er so gut ist«, meinte der Fahrer nachdenklich, beugte sich über sein Lenkrad und stocherte in den Zähnen. »Jeden Tag kommt man seinem Grab ein Stück näher.« »Das mag sein«, erwiderte Bidworthy, der sich nie über den Tod und das Leben Gedanken machte. »Aber ich habe jetzt andere Sorgen…« »Es hat keinen Sinn, sich über etwas Sorgen zu machen«, belehrte ihn der Fahrer. »Weil sonst morgen neue Sorgen hinzukommen, und übermorgen noch mehr, und… « »Mag sein«, unterbrach ihn Bidworthy. Er spürte, daß das nicht der rechte Augenblick war, über die dunklen Seiten des Daseins zu meditieren. »Doch ich bin gewöhnt, mich mit meinen Sorgen zu beschäftigen, wann und wie es mir paßt.« »Das ist auch nicht richtig«, widersprach der Mann. »Keiner steht mit seinen Sorgen allein da. Und die Zeit und die Art seiner Sorgen kann man sich auch nicht aussuchen. Oder ist das vielleicht nicht so?« »Ich weiß es nicht, und ich will es auch gar nicht wissen«, erwiderte Bidworthy gereizt. Seine Geduld ging zu Ende, und sein Blutdruck stieg an. Er wußte ja, daß Gleed und seine Männer zuhörten und sich wahrscheinlich diebisch freuten, daß er mit seiner Methode auch nicht vorankam. Und die Passagiere, die ihn mit offenem Mund anstarrten, brachten ihn
ebenfalls aus der Fassung. »Ich glaube, Sie suchen nur Ausflüchte, um mich hinzuhalten. Die können Sie sich sparen. Der Botschafter von der Erde wartet… « »Wir auch«, erwiderte der Fahrer spitz. »Er will mit Ihnen reden«, fuhr Bidworthy fort. »Und zwar mit Ihnen! Da können Sie… « »Ich bin der letzte, der ihn daran hindern würde. Bei uns herrscht Redefreiheit. Soll er doch vortreten und seinen Text aufsagen, damit wir endlich weiterkommen.« »Sie«, sagte Bidworthy grimmig, »gehen zu ihm. Verstanden?« Er deutete auf die Passagiere. »Die kommen auch mit!« »Ich gehe nicht mit!« rief ein dicker Mann, der den Kopf aus einem offenen Fenster gesteck hatte. Er trug eine Brille mit dicken Gläsern. Seine Augen wirkten so groß wie Spiegeleier. »Auf gar keinen Fall!« wiederholte er und schob einen weißrosa gestreiften Zylinder ins Genick. »Ich auch nicht«, rief der Fahrer. »Schön«, sagte Bidworthy drohend. »Wenn Sie sich mit Ihrer Kutsche nur einen Zentimeter von der Stelle rühren, machen wir aus Ihren Gummirollern Schaumstoffmatratzen. Verstanden? Steigen Sie aus!« »Ich find’s hier ganz bequem. Holen Sie mich doch heraus, wenn Sie was von mir wollen!« Bidworthy winkte sechs Mann heran. »Ihr habt gehört, was er sagt. Nehmt ihn beim Wort!« Die Männer stießen die Wagentür auf und packten den Fahrer. Wenn sie erwartet hatten, er würde sich verzweifelt gegen die Übermacht wehren, sahen sie sich enttäuscht. Der Fahrer ließ sich widerstandslos aus dem Sitz heben. Sie zogen ihn aus der Tür, konnten ihn aber nur bis zum Bauch ins Freie befördern.
»Los, los«, trieb Bidworthy seine Leute an. »Der Kerl ist doch nicht festgeleimt!« Einer von den Mannschaftsdienstgraden kletterte über den Fahrer hinweg, tastete unter dem Steuerrad herum und rief: »Ich fürchte, er ist es doch!« »Was soll das heißen?« »Er ist mit einer Kette an das Lenkrad gefesselt!« »Was? Das muß ich mir ansehen!« rief der Hauptfeldwebel. Er überzeugte sich, daß der Mann die Wahrheit gesagt hatte. Der Fahrer war mit einer Kette und einem komplizierten Sicherheitsschloß an die Lenkradsäule gefesselt. »Wo ist der Schlüssel für das Schloß?« »Such ihn doch!« sagte der Fahrer grinsend. Das taten sie auch. Sie tasteten den Fahrer am ganzen Körper ab; fanden jedoch den Schlüssel nicht. »Wer hat den Schlüssel?« »Meiob.« »Schiebt ihn wieder auf seinen Sitz!« knurrte Bidworthy wütend. »Wir nehmen die Passagiere mit. Ein Narr ist so gut wie der nächste, wenn ihr mich fragt.« Er ging zu den Seitentüren, riß sie auf. »Aussteigen, aber ein bißchen dalli!« Niemand rührte sich. Sie musterten ihn schweigend. Jeder schnitt dabei ein anderes Gesicht. Die Grimassen waren nicht dazu angetan, Bidworthys Selbstvertrauen zu stärken. Der dicke Mann mit dem buntgestreiften Zylinder blinzelte ihm spöttisch zu. »Sie können mit den Füßen oder dem Kopf voran aussteigen. Das überlasse ich Ihnen!« rief Bidworthy. »Aber es wird ausgestiegen!« »Wenn Sie schon Ihren Verstand nicht gebrauchen können«, erwiderte der Dicke mit dem gestreiften Zylinder, »sollten Sie wenigstens Ihre Augen aufmachen!« Er schob die Beine etwas zur Seite, und man hörte ein metallisches Klirren. Bidworthy
beugte sich durch die Tür. Dann kletterte er in den Fahrgastraum und ging die Sitzreihen entlang. Sein rotes Gesicht wurde eine Schattierung dunkler, als er wieder ausstieg und sich an Feldwebel Gleed wandte: »Die Burschen sind mit Ketten an ihre Sitze festgebunden. Ohne Ausnahme.« Er funkelte den Fahrer an: »Was soll das heißen? Ist das vielleicht ein Gefangenentransport?« »Meiob«, erwiderte der Fahrer hochmütig. »Wer hat die Schlüssel in Verwahrung?« »Meiob.« Bidworthy holte tief Luft. Er wendete sich an keinen im besonderen: »Man hört so oft von Amokläufern, die Dutzende von Leuten niedermähen. Ich habe das nie verstanden. Aber jetzt – jetzt verstehe ich sie.« Er kaute auf seinen Fingerknöcheln und sagte dann zu Gleed: »Sie nehmen dieses Vehikel mit zum Raumschiff, auch wenn dieser Clown ans Steuerrad festgekettet ist. Dort befreien Sie die Leute entweder mit Hilfe eines Schlüssels oder eines Schweißbrenners.« »Oder ihr laßt uns weiterfahren und nehmt eine Beruhigungspille«, schlug der Fahrer vor. »Halt’s Maul! Und wenn ich noch eine Million Jahre hier stehenbleiben muß, kommst du doch nicht… « »Der Oberst kommt!« murmelte Gleed und gab seinem Hauptfeldwebel einen Stoß mit dem Ellenbogen. Oberst Shelton erreichte den Omnibus, ging einmal um ihn herum – langsam, gemessen und mit dienstlich-strengem Blick. Er betrachtete die Insassen, die technische Konstruktion des Fahrzeugs und zuckte zusammen, als er den gestreiften Zylinder bemerkte, dessen Eigentümer ihm frech zugrinste. Dann trat er vor seine Untergebenen, die mürrisch auf weitere Anweisungen warteten. »Was gibt es denn diesmal für Schwierigkeiten, Hauptfeldwebel?«
»Sir, die Leute sind genauso plemplem wie die anderen. Benehmen sich frech und aufsässig und haben nicht den geringsten Respekt von Seiner Exzellenz. ›Meiob‹ ist alles, was sie sagen können. Sie wollen auch nicht aussteigen, und wir können sie nicht dazu zwingen, weil sie an ihre Sitze angekettet sind.« »Angekettet?« Sheltons Augenbrauen zuckten nach oben. »Weshalb denn das?« »Keine Ahnung, Sir. Vielleicht Sträflinge mit lebenslanger Zuchthausstrafe, unterwegs zum Gefängnis, Sir.« Shelton war schon außer Hörweite. Er wollte sich selbst von der Lage überzeugen. Anschließend kam er zu Bidworthy zurück und schnarrte: »Ihre Beobachtung entbehrt nicht der Logik, Hauptfeldwebel. Aber ich glaube nicht, daß es sich um einen Sträflingstransport handelt.« »Nicht, Sir?« »Nein.« Er warf einen anzüglichen Blick zurück auf die Fuhre mit den angeketteten Insassen. Der Blick galt den exzentrischen Kleidungsstücken der Fahrgäste: dem gestreiften Zylinder, den schreienden Farben und der gepunkteten Cocktailschleife, die einem rotblonden Mann von der linken bis zur rechten Schulter reichte. »Scheint sich eher um eine Fracht von Leuten zu handeln, die einen Dachschaden haben. Wahrscheinlich bringt man sie in irgendeine Heil- und Pflegeanstalt. Ich werde mich beim Fahrer erkundigen.« Shelton trat ans Fenster neben dem Fahrersitz. »Hätten Sie die Freundlichkeit, mir Ihr Fahrziel zu nennen?« »Ja«, erwiderte der Fahrer. »Nun bitte.« »Hören Sie mal«, sagte der Fahrer, »sprechen wir die gleiche Sprache?« »Wieso?«
»Erstens habe ich die Freundlichkeit nicht gepachtet. Zweitens habe ich was.« »Was?« »Was dagegen.« »Dagegen?« »Ihnen das Fahrziel zu nennen.« »Sie weigern sich also?« »Hat lange gedauert, bis Sie das kapiert haben, Söhnchen.« »Söhnchen?« brüllte Bidworthy erbost, bebend vor Entrüstung. »Ist Ihnen bewußt, Mann, daß Sie mit einem Oberst sprechen?« »Überlassen Sie die Sache mir!« sagte Shelton und winkte seinen Hauptfeldwebel zurück. Mit kalter Miene und dürren Worten beschied er dem Fahrer: »Fahren Sie weiter. Tut uns leid, daß wir Sie auf gehalten haben.« »Denken Sie nicht mehr daran«, erwiderte der Fahrer mit übertriebener Höflichkeit. »Ich werde Ihnen eines Tages den gleichen Gefallen tun.« Mit dieser rätselhaften Bemerkung ließ er sein Fahrzeug wieder anrollen. Die Soldaten auf der Straße wichen zurück, um ihm den Weg freizumachen. Mit einem hohen, pfeifenden Geräusch raste der Bus die Straße hinunter und verschwand in der Ferne. »Heiliger Strohsack!« fluchte Bidworthy, während er mit purpurrotem Gesicht der Fuhre nachstarrte. »Auf diesem Planeten gibt es mehr ungehobelte Flegel als sonstwo in diesem Teil der Milchstraße… « »Beruhigen Sie sich, Hauptfeldwebel«, beschwichtigte der Oberst. »Ich bin ganz Ihrer Meinung, aber ich berücksichtige dabei meinen Blutdruck. Es hat keinen Sinn, sich wegen einer Horde disziplinloser Flegel einen Herzinfarkt zu holen. Damit kommen wir keinen Schritt weiter.« »Mag sein, Sir. Aber… «
»Aber wir arbeiten hier mit untauglichen Mitteln«, fuhr Shelton rasch fort. »Wir haben es hier mit abnormen Verhältnissen zu tun. Wir müssen herausfinden, wie es zu dieser abnormen Entwicklung gekommen ist, und unsere Taktik darauf abstellen. Bisher hat unsere Patrouille nichts erreicht. Wir vergeuden nur kostbare Zeit. Wir müssen uns anderer, wirksamerer Methoden bedienen, um uns mit den Führungskräften dieses Planeten in Verbindung zu setzen. Lassen Sie die Leute antreten, Hauptfeldwebel, und marschieren Sie wieder zum Schiff zurück.«
Die Konferenz dauerte den ganzen Tag und die ganze Nacht bis in die frühen Morgenstunden. Während viel hin- und hergeredet wurde, fuhr eine Anzahl der sonderbarsten Vehikel am Raumschiff vorbei – die meisten auf Gummikugeln –, doch keiner der Insassen oder Fahrer interessierte sich im geringsten für den Raumkreuzer, würdigten ihn eines Blickes oder hielt an, um ein freundliches Wort mit der Besatzung zu wechseln. Die sonderbaren Bewohner dieses Planeten schienen mit einer eigenartigen geistigen Blindheit geschlagen und sahen offenbar ein Raumschiff erst dann, wenn man sie mit der Nase darauf stieß. Doch selbst dann glotzten sie nur dumm. Gegen Mittag kam auch ein Lastwagen auf zwei Dutzend Gummibällen vorbei, voll beladen mit jungen Mädchen, die ihre Haare mit bunten Kopftüchern hochgebunden hatten. Die Mädchen sangen von Abschiedsküssen und einem Geliebten, der ihnen nachwinkte. Ein halbes Dutzend Soldaten war gerade in der Nähe der Gangway mit Messingputzen beschäftigt. Als sie die Mädchen erblickten, kam Leben in die Leute. Sie pfiffen, winkten und juhuten. Ihre Sympathiekundgebungen stießen auf keine Gegenliebe. Niemand winkte zurück. Zu allem Überfluß steckte Bidworthy seinen Kopf aus der Luke
und vermehrte noch das Unlustgefühl der Liebeshungrigen. »Wenn ihr über überschüssige Kräfte verfügt, ihr Affen, habe ich noch ein paar hübsche Sachen für euch, die ihr reinigen könnt – die Latrine zum Beispiel!« brüllte er. Im Kartenhaus saß inzwischen das Führungskorps um den hufeisenförmigen Tisch herum und erörterte die Lage. Die meisten begnügten sich damit, den Standpunkt zu wiederholen, den sie schon gestern Abend eingenommen hatten. Neue Aspekte ergaben sich nicht. »Sind Sie sicher«, fragte der Botschafter den Kommandeur, »daß dieser Planet seit dreihundert Jahren nicht mehr angeflogen worden ist?« »Ganz sicher, Eure Exzellenz. Wäre das geschehen, hätte man es in die Kartei eingetragen.« »Wenn ein Raumschiff von der Erde hier gelandet wäre, ja. Aber können nicht Bewohner anderer Planeten inzwischen nachgeholt haben, was wir versäumt haben? Ich spüre es in meinem kleinen Finger, daß die Leute hier schlechte Erfahrungen mit Raumschiffen gemacht haben. Seitdem sehen sie so was wohl nicht gern. Vielleicht hat sich die Besatzung eines Raumschiffes schlecht benommen, die Leute bedroht oder sich in die inneren Angelegenheit dieses Planeten eingemischt. Kann sein, daß auch Piraten diesen Planeten heimgesucht haben. Oder skrupellose Kaufleute haben sie übers Ohr gehauen.« »Das halte ich für ausgeschlossen, Eure Exzellenz«, widersprach Grayder. »Der Auswandererstrom von der Erde verteilte sich auf so viele Planeten, daß heute noch die meisten davon unterbevölkert, nur zu einem Hundertstel entwickelt und nicht in der Lage sind, Raumschiffe zu bauen. Nicht einmal in ihrer primitivsten Form. Vielleicht beherrschen ein paar von ihnen die Technik, verfügen jedoch nicht über die Kapazitäten, Raumschiffe herzustellen.« »Ja, das steht auch in meinen Akten.«
»Alle Raumschiffe mit Blieder-Antrieb werden im Planetensystem Sol gebaut und auf der Erde zugelassen. Man weiß genau, wo sie sich befinden. Außer diesen modernen Kreuzern gibt es noch achtzig oder neunzig ausgemusterte Raketenschiffe, die wir zum Schrottpreis an das EpsilonSystem verkauft haben. Die setzen sie im Frachtverkehr zwischen ihren vierzehn Planeten ein, die sehr dicht beieinander liegen. Mit diesen uralten Pötten hätten sie dieses Planetensystem nicht in hundert Jahren erreichen können.« »Nein, das verstehe ich.« »Nicht registrierte Raumfahrzeuge mit extremem Aktionsradius existieren einfach nicht«, fuhr Grayder fort. »Daraus folgert, daß auch kein Pirat mit so einem Schiff hier gewesen sein kann. Ein Blieder-Schiff kostet so viel, daß ein Pirat erst Milliardär sein müßte, ehe er Pirat werden könnte.« »Dann«, meinte der Botschafter seufzend, »müssen wir zu unserer ersten Theorie zurückkehren: diese Welt hat sich abnorm entwickelt. Wahrscheinlich hat die Inzucht diese abnorme Entwicklung begünstigt.« »Vieles spricht für diese Theorie«, beeilte sich Oberst Shelton zu versichern. »Sie hätten nur den Bus sehen sollen, den ich persönlich inspizierte. Ein Leichenbeschauer trug zwei verschiedene Schuhe – links braun, rechts gelb. Ein mondgesichtiges Individuum hatte seinen Zylinder mit dem gestreiften Stoff einer Markise bespannt. Ihm fehlte nur noch die Wasserpfeife. Wahrscheinlich bekommt er sie dort, wo er hingefahren ist.« »Wo fuhr er denn hin?« »Das weiß ich nicht, Eure Exzellenz. Man verweigerte mir die Aussage.« Der Botschafter streifte ihn mit einem sarkastischen Blick und bemerkte dann: »Nun, das ist eine wertvolle Bereicherung unserer Kenntnisse von diesem Planeten. Ein unbekanntes Individuum erhält wahrscheinlich
einen unbekannten Gegenstand zu einem unbestimmten Zweck, sobald er sein unbekanntes Ziel erreicht.« Shelton kroch in sich zusammen. Er wünschte, er hätte den Mann mit dem Mondgesicht nie gesehen und die verrückte Welt dieses Mannes nie betreten. »Irgendwo müssen diese Leute hier eine Hauptstadt haben, ein Verwaltungszentrum, einen Regierungssitz, wo die Männer zusammenkommen, die die Macht ausüben«, erläuterte der Botschafter. »Wir müssen diese Hauptstadt finden, ehe wir die Regierungsgewalt übernehmen und ihren Apparat nach modernen Richtlinien reformieren können. Eine Hauptstadt ist natürlich kraft ihrer zentralisierten Regierungs- und Verwaltungsapparate immer ein ausgedehntes Gebilde. Sie ist nie ein anonymer Ort ohne charakteristische Züge. Schon ihr Erscheinungsbild muß sie über das durchschnittliche Maß hinausheben. Von der Luft aus muß sie leicht zu erkennen sein. Wir müssen sie suchen – hätten das von Anfang an tun sollen. Die Hauptstädte anderer Planeten haben wir doch auch auf Anhieb gefunden. Weshalb gelingt das denn hier nicht?« »Überzeugen Sie sich selbst, Eure Exzellenz«, erwiderte Kommander Grayder und breitete ein paar Fotos auf dem Tisch aus. »Das sind die beiden Hemisphären, die wir beim Anflug aufgenommen haben. Keine Stadt von bedeutender Größe ist darauf abgebildet. Tatsächlich gibt es nicht eine einzige Stadt, die über den Rahmen des Mittelmäßigen hinausgeht oder Züge aufweist, die sie von ihren Nachbarstädten unterscheidet.« »Ich halte nicht viel von Luftaufnahmen – schon gar nicht, wenn sie aus so großer Höhe gemacht wurden. Das nackte menschliche Auge sieht viel mehr. Wozu haben wir denn unsere Rettungsboote? Damit können wir doch den Planeten von Pol zu Pol genau unter die Lupe nehmen. Nicht wahr?«
»Eure Exzellenz, die Boote sind nicht für Erkundungszwecke gebaut.« »Na und? Macht das was, solange wir brauchbare Ergebnisse erzielen?« Grayder erwiderte geduldig: »Sie sind dafür gebaut, im Weltraum zu operieren, Sir. Sie haben eine Geschwindigkeit von fünfzigtausend Stundenkilometern. Es handelt sich bei ihnen um altmodische Raketenschiffe, die nur im Notfall eingesetzt werden sollen. Doch ein Aufklärungsschiff in Bodennähe darf nicht schneller fliegen als fünfhundert Kilometer in der Stunde, sonst sieht man nichts. Wenn wir mit unseren Rettungsbooten so langsam fliegen wollen, verschwenden wir den Treibstoff, ruinieren die Aggregate und müssen notlanden, ehe die Mission zu Ende ist.« »Höchste Zeit, daß unsere Rettungsboote ebenfalls mit Blieder-Antrieben ausgerüstet werden.« »Ganz Ihrer Meinung, Eure Exzellenz. Doch unsere kleinste Blieder-Maschine hat ein Gewicht von mehr als dreihundert Tonnen – auf irdische Verhältnisse umgerechnet. Und diese Masse ist viel zu groß für ein Rettungsboot.« Grayder schob die Fotos wieder in die Schublade. »Wir benötigen ein uraltes, propellergetriebenes Luftfahrzeug für diesen Zweck. Damit können wir erreichen, was uns mit unseren Schiffen unmöglich ist: langsam fliegen.« »Na, ebensogut könnten Sie sich ein Fahrrad aus einem Museum wünschen«, erwiderte der Botschafter spöttisch. »Wir haben sogar ein Fahrrad an Bord«, gab Grayder zurück. »So unglaublich das auch klingt. Es ist das Privateigentum von Harrison, unserem Zehnten Ingenieur.« »Und er hat es tatsächlich dabei?« »Harrison nimmt es auf jeden Raumflug mit, Sir. Man munkelt sogar, daß er nachts mit seinem Fahrrad schläft.«
»Ein Astronaut auf einem Fahrrad!« Der Botschafter schüttelte den Kopf und schneuzte sich vernehmlich. »Bereitet es dem Mann besondere Genugtuung, im All in die Pedalen zu treten und sozusagen eine Tour de France auf der Milchstraße zu erleben?« »Keine Ahnung, was er sich dabei denkt, Sir.« »Hm-m-m. Lassen Sie diesen Harrison rufen. Ich glaube, einen Narren fängt man am besten mit einem Narren.« Grayder ging zur Sprechanlage. »Der Zehnte Ingenieur, Harrison, wird sofort in den Kartenraum gebeten!« hallte es durchs Schiff. Zehn Minuten später meldete sich Harrison zur Stelle. Er hatte tausend Meter vom Maschinenraum bis hierher zurückgelegt. Harrison war dünn, drahtig, hatte dunkle Augen und abstehende Ohren, die es ihm bei Windstärke fünf ermöglichten, sich auf seinem Fahrrad auch ohne Treten der Pedale fortzubewegen. Der Botschafter betrachtete ihn neugierig wie eine zoologische Rarität. Harrison kam sich wie eine rosa Giraffe vor. »Mister, ich höre, daß Sie ein Fahrrad besitzen!« Harrison war sofort auf der Hut. »In den Vorschriften ist der Besitz eines Fahrrades nicht ausdrücklich verboten, Sir. Deshalb…« »Zum Teufel mit den Vorschriften!« fiel ihm der Botschafter ungeduldig ins Wort. »Wir befinden uns in einer verzwickten Lage und müssen zu verzwickten Mitteln greifen, um sie zu meistern.« »Ich verstehe, Sir.« »Sie sollen mir einen Gefallen tun. Besteigen Sie Ihr Fahrrad, fahren Sie hinüber in die Stadt und suchen Sie den Bürgermeister, den Sheriff, den Großwesir oder den obersten Wichtigtuer auf, der dort die Sache unter sich hat. Teilen Sie ihm mit, er sei bei uns zum Essen eingeladen. Er soll auch
seine Gemeinderäte oder was auch immer mitbringen – Frauen selbstverständlich auch.« »Jawohl, Sir.« »Zivilkleidung«, fügte der Botschafter hinzu. Harrison spitzte das eine Ohr. »Wie bitte, Sir?« »Sie können anziehen, was sie wollen. Kein Uniform- oder Frackzwang.« »Verstanden, Sir. Soll ich sofort aufbrechen, Sir?« »Auf der Stelle. Kehren Sie so rasch zurück, wie es geht, und überbringen Sie mir die Antwort des Würdenträgers. Verstanden?« Harrison salutierte schlampig und verließ den Kartenraum. Seine Exzellenz ließ sich in einem Lehnstuhl nieder, zog eine lange Zigarre aus der Brusttasche und biß die Spitze ab. »Wenn wir schon ihren Geist nicht ködern können, vielleicht gelingt es uns dann mit ihren Mägen.« Er wechselte einen verständnisvollen Blick mit Grayder. »Commander, sorgen Sie für eine reichliche Auswahl von Spirituosen. Venus-Cognac oder ähnliche hochprozentige Sachen. Wenn wir sie eine Stunde lang mit Leckerbissen und Alkohol traktieren, fangen sie bestimmt an zu reden. Wahrscheinlich hören sie dann überhaupt nicht mehr auf.« Er zündete seine Zigarre an und blies einen Rauchring. »Das ist ein erprobtes und unfehlbares Mittel der Diplomatie – die Verführung des Geistes durch Völlerei. Völlerei zieht immer. Sie werden sehen!«
Der Zehnte Ingenieur strampelte inzwischen auf die Stadt zu. Er erreichte die erste Querstraße, die von Einfamilienhäuschen mit hübschen Gärten gesäumt war. Eine freundliche, etwas rundliche Dame schnitt gerade die Gartenhecke. Harrison hielt am Gartenzaun und tippte höflich an die Mütze.
»Entschuldigung, Ma’am, ich suche den Mann, der in der Stadt das größte Gewicht hat.« Die Dame blickte nur flüchtig auf und deutete dann mit der Gartenschere nach Süden. »Das ist Jeff Baines. Erste Querstraße rechts, dann die zweite links. Ein kleines Delikatessengeschäft.« »Vielen Dank.« Er fuhr weiter, hörte das leise Geräusch der Gartenschere hinter sich verhallen. Erste Querstraße rechts. Er bog um einen langen, niedrigen Lastwagen herum, der an der Ecke geparkt war. Zweite Querstraße links. Drei Kinder deuteten auf ihn und machten ihn mit schriller Stimme darauf aufmerksam, daß sich sein Hinterrad nur im Kreise drehe. Dann erreichte er den Delikatessenladen, lehnte das Rad an den Bordstein, gab ihm einen ermunternden Schlag auf den Sattel und ging in den Laden. Jeff war wirklich eine beachtenswerte Persönlichkeit. Er besaß ein vierstöckiges Kinn, einen Nacken von einem halben Meter Durchmesser und einen Schmerbauch, der den ganzen Ladentisch bedeckte. Der Mann wog mindestens drei Zentner und war zweifellos die »gewichtigste« Persönlichkeit in der Stadt. »Wollen Sie was?« fragte Jeff. Er holte die Worte von ganz unten herauf – wie Wasser aus einem Ziehbrunnen. »Nicht unbedingt«, murmelte Harrison und betrachtete die ausgestellten Leckerbissen. Er war überzeugt, daß die unverkaufte Ware bestimmt nicht an streunende Katzen verfüttert wurde. »Ich suche eine bestimmte Person.« »So?« erwiderte Jeff. »So was habe ich nicht im Sortiment. Man kann ja nicht jedem Geschmack gerecht werden.« Jeff Baines dachte eine Weile nach und kaute auf seiner Unterlippe. »Ich glaube, Sid Wilcock ist der Mann, den Sie suchen. Er
wohnt in der Dane Avenue. Er drückt sich immer sehr bestimmt aus.« »Nein, so meine ich das nicht«, widersprach Harrison. »Ich suche eine besondere Person… « »Ah, warum sagen Sie das nicht gleich?« rief Jeff Baines und dachte über das neue Problem nach. »Na, da kommt nur Ted Green für Sie in Frage. Er hat das Schuhgeschäft gleich an der Ecke. Ein Mann, der es besonders genau nimmt. Geradezu peinlich genau. Ein pedantischer Sonderling.« »Sie verstehen mich immer noch falsch«, erwiderte Harrison. »Ich suche einen wichtigen Mann, den ich zum Abendessen einladen soll.« Jeff Baines stützte sein viergeschossiges Kinn auf eine tablettgroße Hand und betrachtete Harrison nachdenklich. »Sie haben schon eine wunderliche Art, sich auszudrücken«, sagte er. »Erst einmal wird sich jeder Mann hüten, sich auf die Gabel nehmen zu lassen, besonders wenn er sich wichtig vorkommt. Und weshalb wollen Sie ihn dann einladen, wenn Sie ihn schon auf der Gabel haben – besonders zum Abendessen? Sie laden ihm doch nur ein Ob auf.« »Wie bitte?« »Ist doch ganz einfach. Man lädt doch kein neues Ob auf, wenn man noch alte Obs zu tilgen hat – oder?« »He?« Harrison ließ den Mund offenstehen, während seine Gedanken um das Rätsel kreisten, wie man neue Obs auflädt und alte Obs ablädt. Er war vollkommen verwirrt. »Sie wissen es also nicht, wie?« Jeff Baines massierte das dritte Kinn und seufzte. Er deutete auf Harrisons Jackenknöpfe. »Ist das eine Uniform?« »Ja.« »Eine echte, erstklassige, noch gültige Uniform aus erster Hand?« »Natürlich!«
»Aha!« murmelte Jeff. »Deswegen habe ich mich in Ihnen getäuscht! Sie kamen so ganz allein herein – ohne Vorgesetzten. Wenn eine ganze Meute in meinen Laden gekommen wäre – alle im gleichen Anzug – hätte ich gewußt, daß das eine Uniform ist. Das ist doch die Bedeutung einer Uniform, daß alle einheitlich angezogen sind.« »Ich glaube ja«, murmelte Harrison. Er hatte über die Bedeutung des Wortes Uniform noch nie nachgedacht. »Sie kommen also vom Schiff. Das hätte ich mir eigentlich gleich denken können. Muß am Wetter liegen, daß ich heute so langsam kapiere. Aber ich war nicht gefaßt darauf, daß einer – nur einer – von euch auf so einem verrückten Pedalgerüst durch die Stadt gondelt. Auf so etwas ist man doch nicht gefaßt, oder?« »Wahrscheinlich nicht«, stimmte Harrison dem Mann zu und blickte hinaus auf die Straße, ob nicht ein Eingeborener inzwischen sein geliebtes Stahlroß entführte, während er hier in ein Gespräch verwickelt war. Aber das Rad lehnte noch am Bordstein. »Gut. Nun heraus damit: weshalb sind Sie zu mir gekommen?« »Das versuche ich Ihnen doch ständig zu erklären. Man hat mich geschickt… « »Geschickt?« Jeffs Augen wurden untertassengroß. »Habe ich richtig gehört. Sie haben sich schicken lassen?« Harrison starrte seinen Gesprächspartner erstaunt an. »Natürlich; weshalb denn nicht?« »Oh, jetzt verstehe ich Sie erst«, rief Baines, während seine Miene sich aufhellte. »Mit Ihrer verrückten Ausdrucksweise bringen Sie mich ganz durcheinander. Sie meinen, Sie haben jemand ein Ob aufgeladen!« Verzweifelt erwiderte Harrison: »Was ist denn das, zum Kuckuck, ein Ob!« »Er weiß es nicht!« Jeff Baines richtete die Augen zur Ladendecke und flüsterte: »Nicht einmal das weiß er!« Er
seufzte und fragte mit resignierender Stimme: »Haben Sie Hunger?« »Bald.« »Okay. Ich könnte Ihnen ja erklären, was ein Ob ist – aber ich weiß noch etwas Besseres. Ich werde Ihnen zeigen, was ein Ob ist.« Jeff Baines stieß sich vom Ladentisch ab und winkte Harrison zu, ihm zu folgen. »Weiß eigentlich gar nicht, was mich bewegt, einem Uniformierten ein bißchen Bildung beizubringen«, murmelte er. »Wahrscheinlich plagt mich die Langeweile. Nun kommen Sie schon!« Gehorsam trabte Harrison hinter dem Dicken her durch die Hintertür auf den Hof. Jeff Baines deutete auf einen Stapel Kisten. »Konservendosen«, sagte er, schwenkte den Arm nach links und deutete auf einen Vorratsschuppen. »Öffnen Sie die Kisten und stellen Sie die Konserven dort drüben in die Regale. Die leeren Kisten kommen dort hinten hin.« Er schwenkte den Arm zur Mitte. »Sie können es tun oder auch lassen – wie Sie wollen. Wir leben schließlich in Freiheit.« Er drehte sich um watschelte in seinen Laden zurück. Harrison blieb allein. Er kratzte sich hinter den Ohren und dachte nach. Irgendwie hatte er den Verdacht, man mache sich auf seine Kosten lustig. Ein Anwärter namens Harrison qualifizierte sich für die Aufnahme in den Narrenverein. Aber wenn er dadurch seinen Vorgesetzten einen guten Dienst erwies? Vielleicht lernte er einen Trick, der sich auf diesem Planeten gut verwenden ließ? Nur aus Erfahrung wird man klug, überlegte er, und packte tüchtig zu. Er leerte die Kisten und stapelte die Dosen. Nach zwanzig Minuten harter Arbeit war alles so, wie Baines es ihm aufgetragen hatte. Harrison kehrte in den Laden zurück. Baines empfing ihn mit den Worten: »Sie haben mir soeben einen
Gefallen getan. Das bedeutet, Sie haben mir ein Ob aufgeladen. Ich bedanke mich deshalb auch gar nicht bei Ihnen. Das ist nämlich gar nicht nötig. Ich muß jetzt nur zusehen, wie ich das Ob wieder abladen kann.« »Ob?« »Obligation, verstehen Sie? Eine Verpflichtung. Wir verwenden eine Abkürzung dafür. Warum sollen wir so ein langes Wort in den Mund nehmen. Passen Sie auf, was ich jetzt mit diesem Ob tue. Ich gebe es weiter. Seth Warburton wohnt im übernächsten Haus. Im Augenblick steht er bei mir mit sechs Obs in der Kreide. Das heißt, ich habe ihm sechs Verpflichtungen aufgeladen. Wenn ich Sie jetzt zu ihm schicke, werde ich meine Verpflichtung los, die Sie mir aufgeladen haben, und Seth trägt ebenfalls eines von den Obs ab, die ich ihm aufgeladen habe. Sie sollen nämlich bei ihm essen. Verstanden?« Jeff Baines kritzelte etwas auf ein Stück Papier und reichte es Harrison. »Geben Sie ihm das«, sagte er. Harrison blickte das Stück Papier an. In lässiger Handschrift stand da: »Füttere diesen Burschen. Jeff Baines.« Leicht benommen begab sich Harrison wieder ins Freie, lehnte sich gegen sein Fahrrad und studierte den Zettel zum zweitenmal. »Füttern«, stand darauf, und »Bursche«. Immerhin war er Schiffsoffizier! So einen Ton hätte er sich unter normalen Umständen nicht einmal von einem Vorgesetzten gefallen lassen. Dann blickte er hinüber zu der Tür zwei Häuser weiter. Auf einem Schild über der Tür stand: »Seths Schlemmerstube.« Harrison rang mit sich. Doch der Hunger erzwang eine Entscheidung. Er ging zu Seths Schlemmerstube, den Zettel in der Hand haltend, als wäre es sein Todesurteil. Er betrat den Imbißraum. Drin gab es eine lange Theke, viel Dampf und klappernde Porzellanteller. Harrison suchte sich einen Platz an
einem Marmortisch, wo sich bereits eine grauäugige Brünette niedergelassen hatte. »Gestatten Sie?« fragte er höflich, während er den Stuhl zurechtrückte. »Was soll ich gestatten?« fragte sie und studierte seine Ohren wie exotische Gewächse, deren Namen sie noch nicht kannte. »Kleine Kinder? Hunde? Katzen? Lästige Verwandte?« »Ich meine, ob Sie erlauben, daß ich hier Platz nehme?« »Mir gefällt es hier, ob Sie nun Platz nehmen oder nicht. Hier herrscht Freiheit. Und freie Bürger fragen doch nicht, ob erlaubt ist, was ihnen zusteht – oder?« »Nein«, murmelte Harrison. Er rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Er kam sich vor wie ein Schachspieler, der schon beim ersten Zug eine Figur verliert. Ehe ihm eine passende Bemerkung einfiel, um das Gespräch fortzusetzen, stellte ihm ein Mann mit hagerem Gesicht und weißer Jacke ein Tablett hin. Ein gebratenes Huhn und drei Schüsseln mit einer ihm unbekannten Salatsorte standen darauf. Dieser Anblick raubte ihm beinahe die Fassung. Seit Jahren hatte er kein gebratenes Huhn gesehen. Und Salat in seiner natürlichen Form hatte er auch seit Monaten nicht mehr gegessen. An Bord gab es nur konzentrierte Nahrung. »Na?« fragte der Kellner, der Harrisons Blick falsch deutete. »Paßt Ihnen irgend etwas nicht an dem Essen?« »Oh doch!« beeilte sich Harrison, dem Ober zu versichern. »Und ob es mir paßt!« Der Kellner warf einen Blick auf den Zettel und rief dann einem Mann an der anderen Theke zu, der in Dampfschwaden gehüllt war: »Streich ein Ob von Jeffs Konto!« Er riß den Zettel in kleine Stücke und ging zur Theke zurück. »Das war ein schneller Tausch«, meinte die Brünette und deutete mit dem Kopf auf das Tablett. »Er wollte Ihnen ein EßOb aufladen, und Sie gaben mit einem Ob zurück. Damit sind
Sie beide quitt. Ich habe es nicht so gut. Ich muß ihm die Teller und Schüsseln abwaschen oder woanders eines von Seths Obs abtragen, um für mein Essen aufzukommen.« »Ich habe Konservenbüchsen ausgepackt«, murmelte Harrison und nahm Messer und Gabel. Auf dem Schiff gab es keine Bestecke. Sie waren auch nicht nötig, wenn man von Pillen und Pülverchen lebte. Das Wasser lief ihm im Mund zusammen. »Viel Auswahl hat man hier wohl nicht? Man muß essen, was man vorgesetzt bekommt.« »Nicht bei Seth«, erwiderte sie. »Wenn Sie bei ihm ein Oh guthaben, tut er sein bestes, um es abzutragen. Sie hätten ihm vorher sagen müssen, daß Sie ein Ob bei ihm guthaben – nicht hinterher jammern!« »Ich beklage mich ja gar nicht.« »Das können Sie aber. Ist schließlich Ihr gutes Recht. Wofür haben wir die Freiheit?« Sie dachte einen Moment nach. »Mir passiert das nur selten, daß ich Seth um ein Ob voraus bin. Dann kommt er gleich angetrabt, wenn ich nach Ananas und Schlagsahne rufe. Aber wenn Seth mir um ein Ob voraus ist, muß ich mich bemühen, daß ich was zu essen kriege.« Ihre grauen Augen zogen sich mißtrauisch zusammen. »Sie hören ja zu, als ob Sie noch nie etwas davon gehört hätten. Sind Sie denn fremd in der Stadt?« Er nickte mit vollem Mund. Er würgte den Bissen hinunter und sagte: »Ich bin vom Raumschiff.« »Gütiger Gott!« rief sie und schrak zusammen. »Ein Antigand! Wer hätte das gedacht. Sie sehen ja fast wie ein Mensch aus!« »Ich war schon immer stolz darauf, daß ich so eine verblüffende Ähnlichkeit mit einem Menschen habe.« Harrison war immer geistreich, wenn er einen vollen Magen hatte. Er kaute, sah sich um, schluckte und kaute. Der Kellner trat
wieder an seinen Tisch und fragte: »Was zu trinken? Dith, Doppel-Dith, Shemak oder Kaffee?« »Kaffee – dick und schwarz.« »Shemak ist viel besser«, murmelte die Brünette, nachdem der Kellner die Bestellung entgegengenommen hatte. »Aber weshalb soll ich einem Fremden Ratschläge geben?« Der Kaffee wurde in einem großen Krug gebracht, der einen Liter faßte. Während der Ober den Kaffee servierte, sagte er: »Sie haben freie Wahl beim Nachtisch, weil Seth ein Ob abladen muß. Sie können Apfelkuchen, Yimpik, gemahlene Tafelsoufers oder Melonen in Sirup haben.« »Ananas mit Schlagsahne.« »Oh!« Der Ober machte große Augen, starrte die Brünette vorwurfsvoll an und holte Ananas mit Schlagsahne. Harrison schob den Teller über den Tisch. »Essen Sie und verderben Sie sich bloß nicht den Magen.« »Der Nachtisch gehört Ihnen.« »Selbst wenn ich möchte, könnte ich ihn nicht mehr essen«, murmelte Harrison. Er rührte den Kaffee um und fühlte sich zufrieden mit sich und der Welt. Er deutete mit der Gabel auf seinen Magen. »Nichts geht mehr.« Er drehte die Gabel um machte eine einladende Geste. »Nun kommen Sie schon – greifen Sie zu! Zum Teufel mit der schlanken Linie!« »Nein!« Sie schob den Teller wieder zurück. »Wenn ich das annehme, bin ich wieder mit einem Ob belastet.« »Na und?« »Ich lasse nicht zu, daß Fremde mich ungebeten mit Obs beladen.« »Ganz vernünftig. Sehr weise Einstellung«, murmelte Harrison. »Fremde haben oft seltsame Einfälle.«
»Man merkt, Sie sind viel herumgekommen«, meinte die Brünette. »Nur begreife ich nicht, was an Ihrem Einfall seltsam sein soll.« »Geschirrspülerin!« »Wie bitte?« »Sie können ja Geschirr für mich spülen«, meinte er. »Aber das ist natürlich nur ein Witz.« Er schob ihr die Ananas mit Schlagsahne wieder hin. »Wenn Sie das Gefühl haben, ich lade ein Ob auf Sie ab, können Sie es sofort wieder auf bequeme Weise loswerden. Sie brauchen mir nur eine Auskunft zu geben. Sagen Sie mir, wo ich den schärfsten Käse der Stadt bekomme.« »Oh, das ist ein leicht abzutragendes Ob. Gehen Sie in Alec Peters Laden in der Zehnten Straße.« Damit machte sie sich über die Schlagsahne her. »Vielen Dank. Ich dachte schon, hier hätten alle einen Sprachfehler oder nicht alle Tassen im Schrank.« Er trank seinen Kaffee aus und lehnte sich behaglich zurück. So eine ungewöhnlich reichliche Mahlzeit war frisches Öl auf seinen Denkapparat. Doch dann glitt eine düstere Wolke des Mißtrauens über sein Gesicht. »Ist Peters tatsächlich der Inhaber eines Käseladens?« »Natürlich.« Mit einem Seufzer der Befriedigung schob die Brünette den leeren Teller von sich. Er holte tief Luft und sagte: »Aber ich suche eigentlich den Bürgermeister!« »Was ist denn das?« »Die Nummer Eins. Der große Boß. Der Sheriff, der Großwesir, der Gemeindevorsteher oder wie man das hohe Tier bei euch nennt!« »Ich weiß immer noch nicht, was Sie meinen«, erwiderte sie. Sie schien wirklich nicht zu begreifen.
»Den Mann, der diese Stadt leitet – den ersten Bürger der Stadt.« »Drücken Sie sich doch ein bißchen klarer aus«, tadelte sie ihn. »Ich suche den Anführer dieser Stadt!« »Wen oder was soll der Mann denn führen?« »Na, Sie und Seth und alle anderen!« Er machte eine Geste, die alle Häuser in der Nachbarschaft einzuschließen schien. Sie runzelte die Stirn. »Wohin soll der Mann uns denn führen?« »Wo seine Bürger eben hinwollen.« Sie sah ihn verständnislos an. Dann gab sie mit einem Achselzucken auf und winkte den Kellner herbei. »Matt, sag mal, wollen wir irgendwohin?« »Woher soll ich das wissen?« »Dann frag Seth, ob er irgendwohin will.« Der Kellner nickte und ging zu Seth hinter die Theke. Kurz darauf kam er mit der Antwort zurück: »Seth meint, er ginge um sechs Uhr heim – und ob dich das was anginge!« »Führt ihn jemand heim?« »Sei doch nicht albern!« brummelte Matt. »Seth weiß wohl selbst, wo er wohnt. Außerdem ist er vollkommen nüchtern.« Harrison mischte sich jetzt beschwichtigend ein: »Macht doch die Sache nicht komplizierter, als sie ist. Sagen Sie mir nur, wo ich einen städtischen Beamten finde – irgendeinen Beamten: den Polizeichef, den Stadtkämmerer, den Friedhofsverwalter oder den Friedensrichter.« »Was ist denn das – ein Beamter?« fragte Matt kopfschüttelnd. »Ein Friedensrichter? So etwas Verrücktes gibt es bei uns nicht«, sagte das Mädchen. Harrisons Gedanken drehten sich ein paarmal im Kreise, bis sie zum Stillstand kamen.
»Nehmen wir mal an«, sagte er dann und blickte Matt dabei an, »dieser Laden fängt an zu brennen. Was machen Sie dann?« »Ich gieße Benzin ins Feuer, damit es besser brennt«, antwortete Matt gereizt. Er hatte genug von der Fragerei und machte auch kein Hehl daraus. Naserümpfend kehrte er zur Theke zurück, was besagte, daß er sich von einem Schwachkopf nicht die Zeit stehlen lassen wollte. »Er würde das Feuer natürlich löschen«, erklärte die Brünette. »Oder was haben Sie für eine Antwort erwartet?« »Wenn er das Feuer aber nicht allein löschen kann?« »Dann würde er andere Leute zu Hilfe rufen.« »Und würden die ihm auch zu Hilfe kommen?« »Selbstverständlich«, erwiderte die Brünette und sah ihn mitleidig an. »Die Leute würden sich so eine Gelegenheit nie entgehen lassen. Sie könnten Seth eine Menge Obs aufladen.« »Vermutlich ja«, murmelte Harrison. Er schien mit seinen Fragen nicht einen Schritt weiterzukommen. Trotzdem wollte er noch einen letzten Vorstoß wagen, ehe er das Thema zu den Akten legte. »Wenn aber das Feuer viel zu groß und gefährlich ist, so daß die Passanten es nicht mehr löschen können?« »Dann würde Seth die Feuerwehr rufen.« Harrisons Niedergeschlagenheit wich sofort. Er schöpfte neuen Mut. »Aha, hier gibt es also eine Feuerwehr!« rief er triumphierend. »Da haben wir ja Beamte! Nun sagen Sie mir nur noch, wo ich die Feuerwache finde!« »Am Ende der Zwölften Straße. Sie können das Haus gar nicht verfehlen!« »Vielen Dank!« Harrison sprang auf und verabschiedete sich hastig. »Vielleicht sehen wir uns mal wieder!« Er stürmte hinaus und schwang sich auf sein Fahrrad.
Das Spritzenhaus war ein ziemlich großer Schuppen. Es enthielt vier Leiterwagen, zwei Spritzenwagen und einen Gerätewagen – alle mit einem Dutzend Gummikugeln bereift. Als Harrison sich die Spritzenwagen näher anschauen wollte, kam ein Männchen auf ihn zu, in unförmige Knickerbockers gekleidet. »Suchen Sie jemand?« fragte das schmächtige Männchen. »Den Feuerwehrhauptmann«, antwortete Harrison. »Wen?« Harrison hatte sich inzwischen mit der Mentalität dieser Leute besser vertraut gemacht. Er mußte mit ihnen reden wie mit einem kleinen Kind. »Nun hören Sie mal genau zu, Mister. Das ist ein Spritzenhaus mit von der Gemeinde bezahlten Löschfahrzeugen. Jemand hat dafür unterschrieben und verwaltete sie. Er schafft an, organisiert, füllt Formulare aus, telefoniert, organisiert, schlägt Gehaltserhöhungen vor, Beförderungen und so weiter. Er treibt die Müden an, verteilt Zigarren, bekommt Orden, schiebt die Schuld auf andere, wenn etwas schiefgeht. Er ist das höchste Tier hier im Laden, und alle anderen wissen das. Sie auch.« Er tippte dem Männchen mit dem Zeigefinger gegen die Brust. »Ich möchte diesen Mann sprechen, und wenn Sie ihn aus den Federn holen müssen.« »Hier ist keiner, der Zigarren verteilt oder Orden bekommt. Keiner ist wichtiger als der andere. Ich glaube, bei Ihnen piept’s wohl!« »Sie können von mir halten, was Sie wollen. Aber eines versichere ich Ihnen… « Im gleichen Moment unterbrach ihn das schrille Läuten der Feuerglocke. Sofort stürzten zwanzig Männer von allen Seiten herbei, schwangen sich auf einen Spritzen- und einen Leiterwagen und brausten damit auf die Straße hinaus. Abgesehen von dem flachen schüsselförmigen Schutzhelm trug jeder das, was ihm gefiel. Mehr noch: sie übertrafen sich
gegenseitig an Einfallsreichtum und Phantasie, was ihre Anzüge betraf. Der Schmächtige mit den unförmigen Knickerbockers hatte sich mit einem Satz auf den Spritzenwagen geschwungen und stand zwischen einem Dickwanst, der sich einen in allen Regenbogenfarben schillernden Leibgurt um das Hemd geschnallt hatte, und einer Zaunlatte von Mann, dem ein kanariengelber Kaftan um den Leib schlotterte. Ein Nachzügler, der kleine Glöckchen an den Ohrläppchen trug, versuchte verzweifelt, den Spritzenwagen einzuholen, griff nach der hinteren Ladeklappe, verfehlte sie sah belämmert zu, wie die beiden Wagen in einer Staubwolke verschwanden. Dann trottete er ins Spritzenhaus zurück, den Helm am Kinnriemen hin und herschwingend. »Wieder mal mein verdammtes Pech«, sagte er zu Harrison, der ihn mit offenem Mund anstarrte. »Ausgerechnet heute, beim besten Feuerwehralarm des Jahres. Eine große Brauerei brennt. Je eher wir zum Löschen kommen, um so größer sind die Obs, die wir dem Brauereibesitzer aufladen.« Er leckte sich die Lippen bei diesem Gedanken und ließ sich seufzend auf einen zusammengerollten Feuerwehrschlauch fallen. »Na ja, vielleicht ist das ganz gut für meine Gesundheit.« »Sagen Sie mir nur eins«, meinte Harrison. »Wie verdienen Sie sich denn Ihren Lebensunterhalt?« »Na, das ist vielleicht eine dumme Frage! Das sehen Sie doch! Ich bin bei der Feuerwehr!« »Ich weiß. Ich möchte nur wissen, wer Sie bezahlt!« »Mich bezahlt?« »Wer Ihnen Geld für Ihre Arbeit gibt – den Zaster!« »Sie reden aber komisch daher. Was ist denn das – Geld, Zaster?« Harrison rieb sich den Schädel, um die Blutzirkulation im Gehirn zu unterstützen. Wie sollte er dem Burschen erklären, was Geld ist? Oh, verdammt, er mußte einen neuen Ansatz versuchen. »Nehmen wir mal an, Ihre Frau
braucht einen neuen Wintermantel. Wie stellt sie es an, um ihn zu bekommen?« »Sie geht in ein Bekleidungshaus, das mit Feuerobs belastet ist. Der Inhaber streicht zwei Obs ab, und die Sache hat sich.« »Aber wenn es in dem Kleiderhaus noch nie gebrannt hat?« »Sie sind ziemlich dumm, mein Lieber. Wo kommen Sie denn eigentlich her?« Die Ohrglocken läuteten leise, als er Harrison musterte. »Es gibt kaum ein Geschäft in der Stadt, das nicht mit Feuerobs belastet ist. Jeder kluge Ladenbesitzer baut vor, teilt uns eine gewisse Summe an Feuerobs pro Monat zu – als Versicherung, verstehen Sie? Der kluge Mann baut immer vor. Und wenn wir jetzt ein Feuer löschen müssen, tragen wir dabei erst eine Menge Feuerobs ab, ehe wir bei dem Geschädigten wieder ein Guthaben an Obs haben. Das verhindert, daß wir die Sache übertreiben, sonst stecken wir ja lebenslänglich bis zum Hals in Schulden. Und der Geschädigte hat seine Versicherung auch nicht umsonst geobt. Ein vernünftiger Ausgleich, nicht wahr?« »Vielleicht. Aber… « »Ah – jetzt begreife ich erst«, unterbrach ihn der Feuerwehrmann, die Augen zusammenziehend. »Sie sind vom Raumschiff – ein Antigand!« »Ich komme von der Erde«, erwiderte Harrison würdevoll. »Alle Leute, die diesen Planeten besiedelt haben, stammten ursprünglich von der Erde.« »Wollen Sie mir Geschichtsunterricht erteilen?« Der Feuerwehrmann lachte bitter. »Sie irren, mein Herr. Wir haben einen fünfprozentigen Anteil an der Erbmasse der Marsbewohner.« »Selbst Marsbewohner sind Abkömmlinge von der Erde.« »Na und? Das liegt schon sehr, sehr lange zurück. Die Dinge wandeln sich, falls Sie das noch nicht gehört haben sollten. Wir haben keine Mars- oder Erdbewohner auf unserem
Planeten, außer Ihrer Raumschiffbesatzung, die ungebeten hierhergekommen ist. Wir sind Gands. Und du und dein naseweises Pack seid Antigands!« »Wir sind keine Antis! Wo hast du denn diesen Blödsinn her?« »Meiob!« rief der andere. Er schien plötzlich entschlossen, sich auf keine weitere Diskussion mehr einzulassen. Er warf seinen Helm zur Seite und spuckte auf den Boden. »Wie bitte?« »Hast du nicht gehört? Pack dein Zweirad und troll dich!« Harrison gab auf. Er nahm sein Fahrrad und strampelte mißgelaunt zurück zum Raumschiff.
Seine Exzellenz nahm ihn durch sein Monokel in Augenschein. »Endlich, mein Lieber. Das hat aber lange gedauert! Berichten Sie! Wie viele kommen und wann?« »Es kommt niemand, Sir«, erwiderte Harrison und fühlte sich ein bißchen schwach in den Knien. »Niemand?« Seine Exzellenz wölbte die Augenbrauen. »Wollen Sie damit sagen, daß die Honoratioren meine Einladung ausgeschlagen haben?« »Nein, Sir.« Der Botschafter wartete. Dann sagte er: »Nun sprechen Sie schon. Sie stehen da, als habe Ihr Stahlroß soeben einem Motorroller das Leben geschenkt. Sie sagen, die Honoratioren hätten meine Einladung zwar nicht ausgeschlagen, kämen aber trotzdem nicht. Wie soll ich das verstehen?« »Ich habe niemand gefragt, Sir.« »Er hat niemand gefragt!« Seine Exzellenz drehte sich Grayder, Shelton und den anderen zu. »Er hat niemand gefragt!« Er fixierte Harrison. »Wahrscheinlich vergaßen Sie Ihren Auftrag, trunken von der Freiheit und der Macht des
Menschen über die Maschine. Mit zwanzig Kilometer Stundengeschwindigkeit flitzten Sie kreuz und quer durch die Stadt, verärgerten die Einwohner, mißachteten die Verkehrszeichen, gefährdeten das Leben unschuldiger Bürger, läuteten nicht mal die Glocke… « »Entschuldigung, Sir. Aber ich besitze gar keine Glocke.« Harrison war verstimmt über diese Liste von Freveltaten. »Ich habe eine Hupe, die durch die Schwungkraft des Hinterrades angetrieben wird.« »Da haben wir es!« rief der Botschafter, der offenbar alle Hoffnung aufgegeben hatte. Er setzte sich, hieb sich mit der flachen Hand mehrmals gegen die Stirn. »Der eine holte sich eine Wasserpfeife; der andere hupt mit dem Hinterrad!« »Ich habe die Hupe selbst konstruiert, Sir«, klärte Harrison den Botschafter auf. »Das kann ich mir vorstellen. Ich habe das sogar von Ihnen erwartet.« Der Botschafter nahm sich zusammen, beugte sich vor und fragte: »Ich möchte Sie etwas Vertrauliches fragen, was nur uns beide angeht… « Er flüsterte Harrison so laut ins Ohr, daß das Echo ein paarmal wie ein Querschläger durch den Raum lief: »Warum haben Sie niemand gefragt?« »Fand niemand, mit dem ich darüber reden konnte, Sir. Ich habe mich gewaltig angestrengt; aber keiner schien zu begreifen, worum es ging. Oder sie taten wenigstens so, als verstünden sie mich nicht.« »Ähem!« hüstelte Seine Exzellenz und blickte zuerst aus dem Bullauge, dann auf seine Armbanduhr. »Das Licht wird schwächer, die Dämmerung naht. Für ein neues Unternehmen ist es heute zu spät.« Er räusperte sich und fuhr verärgert fort: »Wieder ein Tag vergeudet. Zweimal vierundzwanzig Stunden sind verschwendet, und wir treten immer noch auf der Stelle.« Er wendete sich Harrison erneut zu und betrachtete ihn mit einem kritischen Blick. »Gut, Mister. Wir können unsere Zeit
nicht nutzbringender verwenden. Erzählen Sie uns Ihre Geschichte – mit allen Details. Vielleicht entdecken wir ein Körnchen Vernunft darin.«
Harrison berichtete haarklein, was er alles erlebt hatte. Er schloß mit den Worten: »Ich hätte wahrscheinlich noch wochenlang mit diesen Leuten diskutieren können, ohne einen Schritt weiterzukommen. Ihre Gehirne sind offenbar von West nach Ost orientiert, während meines der Kompaßnadel folgt. Man kann sich mit den Einheimischen recht gut unterhalten – sogar freundschaftlich; aber bis der eine versteht, was der andere meint, dauert das eine Ewigkeit.« »So scheint es«, bemerkte der Botschafter sarkastisch. Er wendete sich an Commander Grayder. »Sie sind viel in der Milchstraße herumgekommen und haben so manchen Planeten besucht. Was halten Sie von der Sache?« »Das ist ein Problem der Bedeutungslehre, Eure Exzellenz«, erwiderte Grayder, der sich, durch manche Umstände gezwungen, mit diesem Fachgebiet befassen mußte. »Mit dieser Schwierigkeit wird man fast auf jeder Welt konfrontiert, die lange Zeit keinen Kontakt mit der Erde mehr hatte. Meistens ist allerdings die Diskrepanz der Bedeutungen nicht so groß, daß sie unüberwindlich scheint.« Er schwieg, in Erinnerungen versunken. »Auf Basileus zum Beispiel begrüßte uns der erste Einheimische mit dem Satz: Gutes Abschnallen!« »So? was bedeutet denn das?« »Komm in mein Haus, zieh dir Pantoffel an und mach’s dir gemütlich. Auf gut bürgerlich: Willkommen. Die Bedeutung des Satzes war nicht schwer zu erraten, da wir auf so etwas gefaßt waren.« Grayder streifte Harrison mit einem nachdenklichen Blick. »Hier allerdings scheinen sich die Begriffe schon weiter auseinanderentwickelt zu haben. Zwar
klingt die Sprache noch flüssig. Aber hinter dem vertrauten Lautbild verbirgt sich ein tiefgreifender Bedeutungswandel. Teilbegriffe sind ausgemerzt oder durch andere Begriffe ersetzt worden. Neue Denkformen verbinden sich mit den Lauten. Dazu kommt natürlich auch der unvermeidliche Lokaldialekt.« »So ein Dialektwort scheint mir auch ›Meiob‹ zu sein«, bemerkte Seine Exzellenz. »Ich kann mich auf kein irdisches Wort besinnen, wovon es abgeleitet sein könnte. Auch hat es einen beleidigenden Beigeschmack. Es hat wohl mit dem Wort ›Ob‹ etwas zu tun.« »Jawohl, Sir«, warf Harrison ein. »Auf dem Rückweg traf ich die Dame wieder, die mich in Baines Laden geschickt hatte. Wir ratschten ein bißchen am Gartenzaun. Ich fragte sie, was ›Meiob‹ bedeutet. Sie erklärte mir, es handle sich um sogenanntes abgesunkenes Wortgut…« »Nun reden Sie schon weiter!« ermunterte ihn der Botschafter. »Nach den unbeschreiblichen Ausdrücken, die mir durch den Ventilationsschacht aus dem Maschinenraum zugeflogen sind, bin ich auf alles gefaßt.« »Jawohl, Sir«, murmelte Harrison. »Ursprünglich aus der Zusammensetzung ›meine Obligation‹, also ›das ist meine Sache‹ abgeleitet, ist es heute an die Stelle eines geflügelten Ausspruchs getreten, den in grauer Vorzeit ein irdischer Ritter in Europa geprägt haben soll.« »Ein Ritter in Europa?« »Jawohl, Sir, ein gewisser Götz von Berlichingen.« Harrison errötete tief. »Nun los schon – was bedeutet dieser Ausspruch!« »Verzeihung, Sir. ›Sie können mich mal am A… lecken‹, Sir.« Seine Exzellenz zuckte zurück. Sein Gesicht färbte sich dunkelrot. »Das«, rief er entrüstet, »das haben mir also die
ungehobelten Leute dieses Planeten die ganze Zeit ins Gesicht zu sagen gewagt?« »Ich fürchte ja, Sir.« »Unerhört!« »Jawohl, Sir.« »Na, diese Burschen müssen offenbar eine Menge lernen!« Sein Nacken schwoll an, als er mit undiplomatischer Unbeherrschtheit mit der Faust auf den Kartentisch hieb. »Nicht die Spur einer Kultur – Meiob – die sollen mich kennenlernen!« »Jawohl, Sir«, stimmte Harrison zu, der sich immer unbehaglicher in seiner Haut fühlte und sich verdrücken wollte. »Kann ich jetzt wieder zu meinem Fahrrad zurückkehren?« »Verschwinden Sie!« rief der Botschafter. Er fuchtelte ein paarmal mit der Faust in der Luft herum und wendete sich dann mit wütendem Gesicht an den Kommandanten des Raumschiffes. »Fahrrad! Hat einer auf dem Schiff vielleicht noch eine Steinschleuder im Spind?« »Das bezweifle ich sehr, Eure Exzellenz. Doch wenn Sie das genau wissen wollen, laß ich Spindappell abhalten.« »Blödsinn!« schnaubte der Botschafter. »Das war eine sarkastische Bemerkung, keine echte Frage! Außerdem habe ich heute genug dummes Zeug erlebt. Mein Bedarf ist gedeckt!« Am nächsten Morgen fand eine relativ kurze und harmlose Fortsetzung der gestrigen Mammutkonferenz statt. Seine Exzellenz nahm den Stuhl am Kopfende der Hufeisentafel ein, räusperte sich und sah sich mit gerunzelten Brauen in der Runde um. »Fassen wir noch einmal zusammen, was wir an Material über diesen Planeten vorliegen haben. Die Esel, die diese Welt bewohnen, nennen sich Gands, halten nicht viel von ihrer
irdischen Abstammung und nennen uns Menschen Antigands. Das deutete eindeutig auf eine Schulbildung hin, die sich gegen die irdischen Errungenschaften und Vorbilder der Erde richtet. Von Kindesbeinen an wird den Leuten hier eingetrichtert, daß wir gegen alles sind, was sie für gut halten. Damit wollte man sie wohl auf unser Erscheinen vorbereiten.« »Leider haben wir auch keine Ahnung, für was diese Leute hier überhaupt eintreten«, warf Oberst Shelton überflüssigerweise in die Debatte. Wahrscheinlich wollte er damit beweisen, daß er anwesend war und aufpaßte. »Ich bin mir unserer Unwissenheit in diesem Punkt voll und ganz bewußt, Oberst«, bemerkte der Botschafter. »Die Leute hier haben sich in einer schweigenden Rebellion zusammengefunden und wollen uns ihre geheiligten Prinzipien nicht verraten. Wir müssen dieses Schweigen irgendwie brechen.« Er räusperte sich und fuhr energisch fort: »Dieses sonderbare Wirtschaftssystem ohne Bargeld kann meiner Ansicht nach nur funktionieren, weil erhebliche Überschüsse produziert werden. Doch bezweifle ich sehr, daß es auch nur einen Tag übersteht, wenn hier einmal zu viele Leute wohnen und das Angebot knapp wird. Die ökonomische Verfassung dieses Planeten scheint auf einer genossenschaftlichen Basis zu stehen; mit Privatunternehmen, einem Kreditwesen, das sich wie im Kindergarten auf Versprechen und Ehrenwort gründet, und mit unverhüllter Bettelei. Damit ist meiner Ansicht nach dieses System noch viel verrückter als die NahrungsmittelGuthaben, mit denen die Leute auf den vier äußeren Planeten der Epsilon-Sonne Sparkonten anlegen.« »Aber es funktioniert«, meinte Grayder spitz. »In gewisser Weise, ja. Das Fahrrad des Ingenieurs mit den abstehenden Ohren funktioniert auch. Der Ingenieur ebenfalls. Ein Motor zwischen den Rädern würde ihm Kraft und Schweiß sparen.« Eine Weile dachte der Botschafter über seinen
Vergleich nach, der ihm sehr geglückt schien, und er fuhr dann fort: »Dieses lokale ökonomische System – wenn man es überhaupt so nennen kann – ist wahrscheinlich das Produkt einer halbherzigen Entwicklung, die von einem exzentrischen Narren eingeleitet wurde, als er vor mehreren hundert Jahren hier mit seinen Freunden landete. Dieses System ist reif für die Motorisierung. Die Leute hier wissen das, lehnen sie aber ab, weil sie noch dreihundert Jahre hinter der Gegenwart herhinken. Sie fürchten jeden Wechsel, jede Verbesserung und den scharfen Wind, der ihnen ins Gesicht blasen könnte – wie alle rückständigen Leute. Außerdem haben gewisse Leute hier bestimmt ein Interesse daran, daß sich die Verhältnisse nicht ändern.« Er schnüffelte hörbar, um seine Verachtung zu zeigen. »Sie stellen sich gegen uns, weil sie nicht gestört werden wollen.« Sein autoritärer Blick wanderte um den Tisch. Er schien jeden zu einem Widerspruch herauszufordern, daß seine Begründung nicht besser als jede andere sei. Doch sie waren auf der Hut. Sie gingen ihm nicht in die Falle. Deshalb fuhr er fort: »Sobald wir diesen Planeten in den Griff bekommen, erwartet uns eine mühsame und schwierige Aufgabe. Wir müssen ihr gesamtes Erziehungs- und Bildungswesen umkrempeln, die anti-irdischen Vorurteile ausrotten, sie über die harten Tatsachen des Lebens aufklären. So etwas haben wir auch schon auf anderen Planeten bewältigt, doch hier ist diese Aufgabe besonders groß.« »Wir schaffen das schon«, murmelte jemand am Tisch. Der Botschafter überhörte die Zwischenbemerkung und beendete seinen Vortrag: »Doch all das liegt in der Zukunft. Wir müssen zuerst die Gegenwart bewältigen. Noch stellt sich uns die Frage: Wo laufen die Drähte der Macht zusammen? Wer hält sie in der Hand? Diese Frage müssen wir zuerst beantwortet
haben, ehe wir Fortschritte machen können. Und wie läßt sich diese Frage beantworten?« Der Botschafter lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Strengen Sie Ihren Grips an, meine Herren, und kommen Sie mir mit ein paar vernünftigen Vorschlägen!« Commander Grayder erhob sich. Er hielt ein dickes, in Leder gebundenes Buch in der Hand. »Eure Exzellenz – ich glaube nicht, daß wir unseren Grips besonders anstrengen müssen, um neue Wege der Kontaktaufnahme zu finden, Sir. Scheint so, als wären wir jetzt nicht am Zug, Sir.« »Was meinen Sie damit?« »In meiner Mannschaft befindet sich eine stattliche Anzahl alter Hasen. Jeder von ihnen kennt sich im Weltraum-Recht genau aus.« Er klopfte mit den Knöcheln gegen den Buchdeckel. »Das sind ausgepichte Winkeladvokaten, Sir. Die kennen die Vorschriften mindestens so gut wie ich. Bedauerlicherweise, kann ich da nur sagen.« »Und?« Grayder schlug das in Leder gebundene Buch auf. »Paragraph 127 schreibt vor, daß sich eine Raumschiffbesatzung auf einer feindlichen Welt im Kriegszustand befindet, bis das Schiff wieder startet. Auf einer nichtfeindlichen Welt gelten die Bestimmungen für Friedenszeiten.« »Na und?« »Paragraph 131 A schreibt vor, daß unter friedlichen Bedingungen die Raumschiffbesatzung Anspruch auf Landurlaub hat, sobald die Schiffsladung gelöscht oder zweiundsiebzig Stunden nach irdischer Zeitrechnung seit der Landung verstrichen sind – je nachdem, welcher Fall zuerst eintritt. Dabei darf nur eine Mindestreserve zurückbehalten werden, um den Betrieb an Bord aufrechtzuerhalten.« Grayder blickte hoch. »Bis zum Mittag hat sich die ganze Besatzung für
den Landurlaub fertig gemacht. Sie fiebern danach, an Land zu gehen, Sir. Es wird Spektakel geben, wenn wir die Vorschriften nicht einhalten.« »Tatsächlich?« meinte der Botschafter mit einem schiefen Grinsen. »Und was passiert, wenn ich diese Welt für feindselig erklären lasse? Dann müssen sie ihren Landurlaub verschieben, nicht wahr?« Grayder wälzte mit ausdrucklosem Gesicht die Seiten seines Buches und zitierte: »Paragraph 148 definiert Feindseligkeit folgendermaßen. Jeder Planet, der systematisch die Bürger des irdischen Reiches mit gewaltsamen Mitteln bekämpft, ist als feindselig zu betrachten.« Er schlug die Seite um. »Gewaltsame Mittel im Sinne dieses Paragraphen ist jede Handlung, die mit dem Vorsatz begangen wird, einen körperlichen Schaden zuzufügen, gleichgültig, ob dieser Vorsatz Erfolg hat oder nicht.« »Da bin ich anderer Meinung«, widersprach der Botschafter mit gerunzelter Stirn. »Eine Welt kann psychologisch feindselig eingestellt sein, ohne zu erkennbar gewaltsamen Mitteln zu greifen. Diese Welt ist dafür ein Beispiel. Sie ist keineswegs freundlich gesinnt.« »Das Weltraum-Recht kennt keine freundlichen Welten, Sir«, erwiderte Grayder. »Es unterscheidet lediglich zwischen feindlichen und nichtfeindlichen Planeten. Es steht alles hier drin.« »Wir wären schöne Idioten, wenn wir uns von Paragraphen gängeln ließen«, meinte der Botschafter. »Das gilt auch für Ihre Besatzung. Werfen Sie die Schwarte aus der Luke oder in den Verbrennungsofen. Befreien Sie sich davon – und vergessen Sie Ihre Paragraphen.« »Entschuldigen Sie, Eure Exzellenz, aber das ist leider verboten.« Grayder schlug die erste Seite im Buch auf. »Paragraph 1A, 1B und 1C sind sozusagen das Grundgesetz der Raumfahrt. Sie schreiben vor: Die Besatzung eines
Raumschiffes steht immer unter dem Kommando des Raumschiffkommandanten oder seines Stellvertreters, gleichgültig, ob das Raumschiff sich im All oder auf dem Boden befindet. Der Kommandant oder sein Stellvertreter halten sich strikt an die Paragraphen des Weltraum-Gesetzes und sind nur dem Weltraumkomitee auf der Erde verantwortlich. Dasselbe gilt für alle Truppen, Beamte und Zivilisten, die an Bord seines Schiffes sind, gleichgültig, ob das Raumschiff sich im Raum oder am Boden befindet. Oben genannte Personen, gleichgültig, welche Stellung oder welchen Rang sie einnehmen, sind den Anweisungen des Kommandanten oder seines Stellvertreters unterworfen. Unter dem Stellvertreter des Kommandanten versteht man einen Schiffsoffizier, der alle Rechte und Pflichten des Kommandanten wahrnimmt, sobald der Kommandant dazu selbst nicht in der Lage ist.« »Dankeschön. Das bedeutet, daß Sie König auf Ihrer Burg sind«, sagte der Botschafter, nicht sehr angenehm berührt. »Wenn uns die Paragraphen nicht passen, müssen wir eben aussteigen.« »Wenn ich auch den größten Respekt vor Eurer Exzellenz habe, muß ich mich trotzdem an meine Paragraphen halten. Vorschrift ist Vorschrift – daran läßt sich nun mal nichts ändern. Und die Mannschaft kennt diese Vorschriften ganz genau.« Grayder schob das Buch weg. »Ich wette zehn zu eins, daß die Leute nur bis zwölf Uhr mittags warten werden. Inzwischen bügeln sie ihre Hosen und schmieren sich Pomade ins Haar. Um zwölf Uhr werden sie auf dem vorgeschriebenen Dienstweg an mich herantreten, wogegen ich absolut nichts unternehmen kann. Dann werden sie den Ersten Maat bitten, mir die Urlaubsliste vorzulegen.« Er seufzte tief. »Ich kann zwar ein paar Namen streichen, aber ich darf unter gar keinen
Umständen verhindern, daß das volle Kontingent den Landurlaub antritt.« »Die Freiheit, sich an Land die Hörner abzustoßen, ist vielleicht in unserer Lage nicht das schlechteste«, mischte sich jetzt Oberst Shelton ein. Wahrscheinlich hätte er sich selbst gern an Land die Hörner abgestoßen. »Ein Nest wie dieses dort erwacht aus seinem Dornröschenschlaf, wenn die Flotte im Hafen liegt. Unzählige Kontakte werden hergestellt. Und das wollen wir doch, nicht wahr?« »Wir wollen die führenden Köpfe dieses Planeten finden«, korrigierte der Botschafter. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß die Elite dieses Planeten sich schminkt und pudert und ihr bestes Kleid anzieht, um eine Horde von hungrigen Matrosen begeistert an ihre Brust zu drücken.« Seine feisten Züge zuckten. »Wir müssen die Stecknadeln aus den Heuhaufen picken. Das erreichen wir bestimmt nicht, wenn ein Haufen Gemeiner durch die Landschaft schwärmt.« »Da stimme ich Ihnen zu, Eure Exzellenz«, meldete sich Grayder wieder zu Wort. »Aber trotzdem können wir nur diese Chance wahrnehmen. Wenn die Männer an Land gehen wollen, kann ich sie nicht daran hindern. Nur eines gibt mir Vollmacht, das zu unterbinden.« »Und was ist das?« »Beweise, die es mir erlauben, diese Welt im Sinne der Raumfahrtgesetze als feindlich zu definieren.« »Nun – können wir das nicht irgendwie arrangieren?« Der Botschafter wartete erst gar nicht eine Antwort ab, sonder fuhr fort: »In jeder Mannschaft steckt ein unverbesserlicher Unruhestifter. Holen Sie Ihren Unruhestifter in die Messe und geben Sie ihm einen doppelten Venusischen Cognac. Sagen Sie ihm, er bekäme sofort Landurlaub, zweifelten jedoch daran, daß er Freude daran haben würde, weil diese Gands uns für Leute hielten, vor denen man die Uhren und Mädchen
verstecken muß. Dann schieben Sie den Kerl aus der Luke. Wenn er mit einem veilchenblauen Auge und einer blutrünstigen Geschichte wiederkommt, wie viele von seinen Gegnern im Krankenhaus liegen, erklären Sie diese Welt für feindselig.« Er wedelte mit der Hand. »Da haben Sie dann, was Sie brauchen. Körperliche Gewaltanwendung. Alles genau so, wie es in den Paragraphen steht.« »Paragraph 148A stellt den Begriff der Feindseligkeit ganz klar heraus, Sir. Man versteht darunter systematisch organisierter Widerstand. Schlägereien mit Besatzungsmitgliedern dürfen unter gar keinen Umständen als Beweis eines organisierten Widerstandes ausgelegt werden.« Der Botschafter wendete sich mit zornigem Gesicht dem obersten Bürokraten zu: »Wenn Sie auf die Erde zurückkommen – falls überhaupt –, können Sie Ihrer vorgesetzten Dienststelle berichten, wie sehr die Raumfahrt durch Bürokraten, die Bücher verfassen, gelähmt, behindert und verhunzt wird!« Ehe der oberste Bürokrat an Bord sich eine höfliche Erwiderung ausdenken konnte, die sowohl dem Botschafter schmeichelte als auch seine vorgesetzte Dienststelle verteidigte, klopfte es an die Saaltür. Der Erste Maat, Morgan, trat ein, salutierte stramm und überreichte Commander Grayder einen Bogen Papier. »Die erste Urlaubsliste, Sir. Wenn Sie bitte unterschreiben wollen… «
Vierhundertundzwanzig Männer schwärmten am frühen Nachmittag in die Stadt. Sie näherten sich ihr in der üblichen Art und Weise – erwartungsvoll, abenteuerdurstig, in Gruppen von zweien, dreien, zu sechst oder zu zehnt. Gleed hatte sich Harrison angeschlossen. Sie fielen etwas aus dem Rahmen, da Gleed der einzige Feldwebel auf Urlaub und
Harrison der einzige Zehnte Ingenieur war. Sie stachen auch in anderer Hinsicht von den anderen ab, wie zwei Fische, die gegen den Strom schwammen. Sie trugen beide Zivil. Gleed vermißte die Uniform und Harrison kam sich ohne sein Fahrrad nackt vor. Diese beiden bescheidenen Züge individueller Selbstbestätigung genügten, um die zwei für eine Weile ananderzubinden – wenigstens für einen Tag. »Da haben wir es wirklich gut getroffen«, erklärte Gleed begeistert. »Ich habe ja schon viele Landurlaube erlebt; aber dieser ist absolute Spitzenklasse. Auf allen anderen Planeten hatten die Jungs mit dem gleichen Problem zu kämpfen – was sie als Geld benutzen sollten. Sie staffierten sich aus wie Nikoläuse, behängt mit allem möglichen Ramsch, den sie für ein Tauschgeschäft benützen konnten. Doch in der Regel waren neun Zehntel von den Sachen nur unnötiger Ballast, den niemand haben wollte. Sie brachten das Zeug dann schubkarrenweise wieder zurück zum Schiff.« »Auf Persephone hat mir eine langbeinige Milik einen zwanzigkarätigen lupenreinen Diamanten für mein Fahrrad geboten«, berichtete Harrison. »Phantastisch – und du hast ihn nicht genommen?« »Wozu? Ich hätte ja sechzehn Lichtjahre reisen müssen, um ein neues Fahrrad zu bekommen.« »Na – du hättest eine Weile auch ohne Tretmühle auskommen können.« »Aber auch ohne Diamanten. Oder kann man vielleicht auf einem Diamanten in der Stadt herumfahren?« »Ebensowenig bekommt man für ein Zweirad das gleiche Geld wie für eine Mondfährenjacht.« »Doch! Ich sagte dir ja, daß man mir einen hühnereigroßen Stein für mein Stahlroß angeboten hat.« »Das ist wirklich eine Affenschande. Du würdest zweihundertfünfzigtausend Kredite für den Glitzerstein
bekommen haben, wenn er von reinem Wasser war.« Feldwebel Gleed leckte sich die Lippen, als er an den vielen Zaster dachte, den Harrison zurückgewiesen hatte. »Kredite – viele, viele Kredite – so was läßt mein Herz am höchsten schlagen. Und deswegen ist dieser Landurlaub auch ganz große Klasse. Auf allen anderen Planeten predigte uns Grayder vor dem Landurlaub, daß wir einen guten Eindruck machen und uns wie Raumfahrer benehmen sollten. Doch diesmal redete er nur von Krediten.« »Der Botschafter hat ihm das wohl eingetrichtert.« »Trotzdem, trotzdem – es war eine vorzügliche Ansprache. Zehn Kredite, eine Flasche Cognac und doppelten Landurlaub für jeden Mann, der einen erwachsenen Gand, männlichen oder weiblichen Geschlechts, mitbringt. Einzige Voraussetzung: der Gand kommt freiwillig mit und ist bereit, Aussagen zu machen.« »Das Geld ist gar nicht so leicht zu verdienen, fürchte ich.« »Und hundert Kredite für jeden, der den Namen und die Adresse des höchsten Kommunalbeamten herausbekommt. Und tausend Kredite für den Mann, der den Namen und die genaue geographische Lage der Hauptstadt dieses Planeten auskundschaftet.« Er pfiff vergnügt vor sich hin. »Jemand wird heute abend mit gefüllten Taschen vom Urlaub heimkommen. Und Bidworthy ist das bestimmt nicht. Ich weiß das – denn ich stand ja dabei, als er die Einheimischen durch die Mangel drehte. Nicht ein Wort hat er aus ihnen herausbekommen!« Er unterbrach seinen Redefluß, um einer großen, appetitlichen Blondine nachzusehen, die eben an ihnen vorübergegangen war. »Hier ist Baines’ Laden, von dem ich schon erzählt habe. Los – hinein!« Gleed folgte Harrison widerstrebend, weil er den Blick von den Beinen der hübschen Blondine nicht so rasch lösen konnte.
»Guten Nachmittag«, grüßte Harrison, freundlich lächelnd. »Stimmt nicht«, widersprach Jeff Baines. »Das Geschäft geht miserabel. Heute nachmittag ist das Semifinale im Fußball. Die halbe Stadt ist auf dem Fußballplatz. An ihren Magen denken sie erst, wenn das Spiel vorbei und mein Laden bereits geschlossen ist. Und morgen rennen sie mir dann die Bude ein, und ich kann gar nicht alle Wünsche befriedigen.« »Wie kann das Geschäft schlecht sein, wenn Sie doch gar kein Geld nehmen, auch wenn die Geschäfte gut gehen?« fragte Gleed, der von Harrison bereits unterrichtet worden war und seine Kenntnisse klug an den Mann bringen wollte. Jeffs große Mondaugen betrachteten Gleed von Kopf bis Fuß. Dann wendete er sich Harrison zu. »Was ist das für ein Subjekt? Stammt er ebenfalls von deinem Schiff? Wovon redet er überhaupt?« »Von Geld«, antwortete Harrison. »Geld ist ein Zeug, das wir verwenden, um den Güterumlauf zu vereinfachen. Geld wird gedruckt. Man kann es mit Obs vergleichen, die in verschiedenen Größen auf Papier verbrieft werden.« »Aha«, schnaufte Jeff Baines, »eine sehr lehrreiche Erklärung. Leute, die über jedes Ob schriftlich Buch führen müssen, sind für mich nicht vertrauenswürdig – weil sie sich nämlich selbst nicht trauen.« Er watschelte zu seinem hohen Stuhl und ließ sich mit pfeifendem Atem darauf nieder. »Und das bestätigt auch, was in unseren Schulbüchern geschrieben steht: daß ein Antigand sogar seine verwitwete Mutter betrügen würde.« »Eure Schulbücher lügen«, sagte Harrison. »Vielleicht«, murmelte Jeff. Er hatte keine Lust, sich deswegen zu streiten. »Aber bis ihr das Gegenteil bewiesen habt, halten wir uns an das, was unsere Schulbücher sagen.« Er sah die beiden prüfend an. »Was wollt ihr beiden denn von mir?«
»Einen Rat«, mischte sich Gleed rasch ein. »Wir haben Landurlaub. Wo gibt es hier das beste Essen und das größte Amüsement?« »Wie lange dauert euer Urlaub?« »Bis morgen abend.« »Zwecklos.« Jeff Baines schüttelte bedauernd den Kopf. »Bis dahin habt ihr noch nicht genügend Obs gesammelt, um für gutes Essen und Amüsement bezahlen zu können. Außerdem werden die meisten am Ort es ablehnen, sich von einem Antigand ein Ob aufhängen zu lassen. Die Leute sind hier sehr eigen.« »Schon gut«, meinte Harrison beschwichtigend. »Aber können wir nicht wenigstens irgendwo eine anständige Mahlzeit bekommen?« »Hm – ich kann euch das nicht sagen«, murmelte Jeff und streichelte sich das vierstöckige Kinn. »Mag sein, daß ihr wenigstens das bekommt; aber dazu verhelfen kann ich euch nicht. Ich will nichts von euch, und deshalb könnt ihr auch nicht ein Ob abtragen, das ich woanders gut habe.« »Und irgend einen anderen Vorschlag können Sie uns auch nicht machen?« fragte Gleed. »Wenn ihr beide Bürgerrecht in der Stadt hättet, wäre die Sache kinderleicht. Ihr könntet haben, was euer Herz begehrt, und tragt die Obs dann später ab, wenn sich eine Gelegenheit dazu bietet. Aber kein Mensch hier am Ort wird natürlich einem Antigand ein Ob einräumen, der heute auf Stadturlaub und morgen schon wieder im Weltraum ist.« »Wir denken gar nicht daran, morgen wieder abzureisen«, widersprach Gleed. »Wenn ein Botschafter des Reiches hierhergeschickt wird, bedeutet das, wir bleiben für immer.« »Wer sagt denn das?« »Das Reich. Was es sagt, gilt. Sie gehören ja schließlich auch dazu, nicht wahr?«
»Nein«, entgegnete Jeff. »Wir gehören zu gar niemand und nichts. Und wir werden auch in Zukunft niemand gehören. Und keiner wird uns dazu zwingen. Verstanden?« Gleed lehnte über den Ladentisch und betrachtete gedankenabwesend eine große Konservenbüchse mit eingemachtem Schweinefleisch. »Da ich nicht in Uniform bin und obendrein noch Urlaub habe, sympathisiere ich mit Ihrem Standpunkt, auch wenn ich das nicht sagen sollte. Ich würde es auch nicht begrüßen, wenn irgendwelche Bürokraten von einem anderen Stern mich mit Haut und Haaren ihrer Kartei einverleiben. Aber ihr werdet es schwer haben, uns wieder loszuwerden. So sind eben die Realitäten, wenn ihr es auch nicht wahrhaben wollt.« »So ist es eben nicht«, widersprach Jeff. Er schien sich seiner Sache sehr sicher zu sein. »Wir haben ein Mittel dagegen.« »Sehr wirksam kann das bestimmt nicht sein«, spottete Gleed. Es war mehr ein freundschaftlicher Rat als ein Vorwurf. »Der Schein trügt«, erwiderte Jeff. »Unser Mittel ist stärker als ihr ahnt.« »So?« »Wir haben zum Beispiel die stärkste Waffe, die ein Menschenhirn jemals erdachte. Wir sind Gands, verstehst du? Deshalb brauchen wir auch keine Raumschiffe, Kanonen und dergleichen Spielzeuge. Wir besitzen etwas viel Besseres. Ein wirksames Mittel. Es gibt keine Abwehr dagegen.« »Na, das Mittel möchte ich mal gern sehen«, meinte Gleed. Er schaltete schnell. Die Pläne und Konstruktionsunterlagen von einer neuen und außerordentlich wirksamen Waffe waren bestimmt viel wertvoller als die Adresse des Bürgermeisters. Vielleicht war Grayder so begeistert davon, daß er ihm in Anbetracht der militärischen Bedeutung seiner Entdeckung fünftausend Kredite als Belohnung gewährte. Deshalb fügte er mit einem sarkastischen Unterton hinzu: »Aber ich kann
natürlich nicht von Ihnen erwarten, daß Sie militärische Geheimnisse ausplaudern.« »Da ist nichts Geheimnisvolles dran«, erwiderte Jeff zu Gleeds Überraschung. »Sie können das Mittel jederzeit umsonst bekommen. Jeder Gand gibt es Ihnen, wenn Sie ihn bitten. Möchten Sie wissen, warum?« »Und ob ich das wissen will!« »Weil es nur in einer Richtung wirkt. Wir können das Mittel gegen euch verwenden – aber ihr nicht gegen uns.« »So eine Waffe gibt es nicht. Jeder kann die Waffe gegen einen anderen richten, sobald er weiß, wie er sie zu bedienen hat.« »Sind Sie sich Ihrer Sache auch ganz sicher?« »Absolut«, erwiderte Gleed. »Ich bin seit mehr als zwanzig Jahren im Dienst der Weltraumtruppe. In dieser Zeit habe ich alles über Waffen gelernt, was man überhaupt lernen kann. Von Pfeil und Bogen angefangen bis zu den H-BombenZerstäubern. Sie wollen mich aufs Glatteis führen. Da haben Sie bei mir kein Glück, mein Freund. Eine Waffe, die nur in eine Richtung wirkt, ist ein Ding der Unmöglichkeit.« »Streiten Sie nicht mit ihm«, sagte Harrison zu Baines. »Er wird erst überzeugt sein, wenn Sie ihm die Waffe zeigen.« »Ich habe das bereits begriffen«, erwiderte Jeff Baines und legte sein Gesicht in tausend Lachfältchen. »Habe ich nicht gesagt, daß jeder unsere Wunderwaffe haben kann? Warum bitten Sie mich nicht darum?« »Also gut – ich bitte darum«, brummelte Gleed ohne Begeisterung. Eine Waffe, die man überall umsonst bekommen kann, würde wohl nicht viel taugen. Seine fünftausend Kredite, die er bereits in seiner Tasche sah, schrumpften schnell auf fünf Kredite zusammen. »Reichen Sie mir das Ding mal über den Tisch, damit ich es ausprobieren kann.« Jeff drehte sich auf seinem ächzenden Stuhl zur Wand und entfernte eine
kleine glänzende Plakette von einem Wandhaken. Er reichte sie über den Ladentisch. »Sie können das Ding behalten. Möge es Ihnen von Nutzen sein.« Gleed betrachtete die Plakette und drehte sie zwischen den Fingern. Sie bestand aus einem ovalen Stück Elfenbein. Die eine Seite war blankgeputzt und leer. Die andere trug drei Buchstaben, die in das Elfenbein graviert waren: I. W. F. Gleed betrachtete die Plakette kopfschüttelnd. »Das nennen Sie eine Waffe?« fragte er. »Ja.« »Das geht über meinen Verstand«, murmelte Gleed und gab die Plakette an Harrison weiter. »Verstehst du das?« Harrison studierte das ovale Stück Elfenbein. »Nein«, sagte er, »das verstehe ich auch nicht.« Er blickte Baines fragend an. »I. W. F. – was soll das bedeuten?« »Ortsdialekt, beziehungsweise eine bei uns geläufige Abkürzung. Auf unserem Planeten sind die drei Buchstaben sozusagen ein Wappenspruch, ein Motto. Man sieht sie überall, falls Sie das noch nicht bemerkt haben sollten.« »Ja – hie und da habe ich das schon gesehen. Doch ich maß ihm keinerlei Bedeutung bei. Diese Buchstaben sind auch über dem Spritzenhaus und Seths Lokal in die Mauer eingemeißelt.« »Sie standen auch auf den Omnibustüren«, murmelte Gleed. »Habe mir auch nichts dabei gedacht. Hielt sie für die Anfangsbuchstaben der Transportfirma.« »Für uns bedeuten diese drei Buchstaben eine ganze Menge«, klärte Jeff ihn auf. »Ich will Freiheit!« »Donnerwetter«, murmelte Gleed. »Was für eine Waffe! Ich bin bereits tot, falle jeden Augenblick um und kippe aus meinen Latschen.« Er blickte Harrison nachdenklich an, der
die Plakette in die Hosentasche steckte. »Eine Zauberwaffe sozusagen. Hokuspokus Fidibus!« »Dummheit ist ein Segen«, sagte Baines. Er schien sich der Wirkung seiner Waffe sehr sicher zu sein. »Besonders wenn ein Kerl nicht weiß, daß er am Abzug herumspielt und die Waffe jeden Augenblick losgehen kann.« »Also gut«, sagte Gleed. »Erklären Sie uns, wie die Waffe funktioniert.« »Ich will nicht.« Jeffs Grinsen erlosch. Er schien sich sehr viel auf seine Antwort einzubilden. »Das ist aber eine kolossale Hilfe.« Gleed fühlte sich verraten und verkauft, besonders in Anbetracht der zu erwartenden Kredite. »Sie geben erst an wie eine Steige Affen, daß Sie eine Einweg-Waffe besäßen, schmeißen ein Stück Elfenbein über den Ladentisch und verweigern dann die Aussage. Aufschneiden kann jeder. Beweise wollen wir sehen!« »Ich will nicht«, wiederholte Baines, und sein Grinsen zog alle vier Kinne auseinander. Dann blickte er Harrison an und kniff vielsagend das linke Auge zu. Und in diesem Moment zündete es in Harrisons Verstand. Sein Mund ging auf. Rasch griff er in die Tasche und zog die Plakette hervor. Er betrachtete sie, als sehe er sie zum erstenmal. »Gib sie mir zurück«, bat Baines, der ihn gespannt beobachtete. Harrison steckte die Plakette wieder in die Tasche und sagte mit Entschiedenheit: »Ich will nicht.« Baines kicherte. »Manche Leute kapieren eben schneller.« Gleed wollte diese Anspielung nicht auf sich sitzen lassen. Er streckte gebieterisch die Hand aus. »Laß mich das Ding mal näher anschauen.« »Ich will nicht«, erwiderte Harrison und hielt Gleeds Blick trotzig stand. »He – das ist doch keine Art und Weise… « Gleeds zorniger Redefluß riß mitten im Wort ab. Eine Weile stand er mit leicht verglasten Augen da, während sich seine
Gedanken ein paarmal überschlugen. Dann flüsterte er: »Gütiger Himmel!« »Genau«, meinte Baines. »Die Güte des Himmels hat Ihnen doch noch auf die Sprünge geholfen. Sie denken zu langsam.« Eine Sturmflut aufrührerischer Gedanken drängte auf Gleed ein. »Komm – gehen wir«, sagte er heiser zu Harrison. »Ich muß nachdenken. Ich brauche einen stillen, ruhigen Ort, wo ich nachdenken kann.«
Sie entdeckten einen kleinen Park mit Bänken, Rasenflächen und Blumenrabatten. Kinder spielten im Becken eines kleinen Springbrunnens. Sie suchten sich eine Bank aus, die von einem besonders hübschen Blumenteppich eingerahmt war. Es waren alles exotische Gewächse, die auf der Erde nicht vorkamen. Nach einer Weile rückte Gleed mit der Bemerkung heraus: »Für einen Einzelgänger bedeutete es das Martyrium; aber für eine ganze Welt… « Seine Stimme brach ab, kam einen Moment später wieder: »Menschenskind – ich habe mir das überlegt. Die Folgen, verstehst du? Toll könnte man dabei werden!« Harrison sagte nichts. »Zum Beispiel«, fing Gleed wieder an, »zum Beispiel Bidworthy. Nehmen wir mal an, ich komme zum Schiff zurück, und dieses schnarchende Rhinozeros Bidworthy gibt mir einen Befehl. Ich schau ihm kühl und gelassen ins Gesicht und sage: ›Ich will nicht!‹ Entweder fällt er dann tot um, oder er sperrt mich in die Arrestzelle.« »Würde dir mal ganz gut tun.« »Augenblick, ich bin noch nicht fertig. Ich sitze also im Knast; aber deswegen ist der Befehl noch längst nicht ausgeführt. Bidworthy sucht sich ein anderes Opfer. Zufällig ist das einer von meinen Gesinnungsfreunden. Er zeigte Bidworthy also die kalte Schulter und sagte: ›Ich will nicht!‹
Er marschiert ebenfalls ins Loch, und ich bekomme Gesellschaft. Bidworthy versucht es mit dem nächsten, dem übernächsten. Das Loch füllt sich immer mehr, quillt bald über. Es gehen nämlich nur zwanzig Leute hinein. Man muß auf die Mannschaftsmesse ausweichen.« »Kommt gar nicht in Frage, daß du die Messe als Gefängnis zweckentfremdest!« »Sie nehmen aber die Messe dafür her«, fuhr Gleed fort. »Eure Messe. Bald stapeln sich auch dort die Befehlsverweigerer bis zur Decke. Bidworthy sorgt für raschen Nachschub, wenn ihn nicht inzwischen der Schlag getroffen hat. Als nächstes kommen die Schlafräume der Maschinisten dran.« »Weshalb mußt du ununterbrochen auf meiner Abteilung herumhacken?« »Auch die werden mit Befehlsverweigerern vollgestopft, bis die Türen nicht mehr zugehen.« Gleed war offensichtlich nicht gut auf das technische Personal zu sprechen. »Am Ende bleibt Bidworthy aber nichts anderes übrig, als Schrubber und Eimer selbst in die Hand zu nehmen und auf den Knien über die Decks zu rutschen, während Grayder, Shelton und die anderen hohen Tiere vor den Arrestlokalen Wache stehen müssen. Und Seine Exzellenz, der Botschafter, steht inzwischen mit seinen Jasagern und Karriereschneidern unten in der Kombüse und kocht für dich und mich das Essen.« Beeindruckt von der Kühnheit seines Entwurfes sperrte Gleed die Augen weit auf und flüsterte: »Heiliger Strohsack!« Ein bunter Gummiball rollte vor seine Füße. Er hob ihn auf und betrachtete ihn, während ein kleiner Junge herbeigerannt kam und ihn ernst betrachtete. »Gib mir bitte den Ball wieder!« »Ich will nicht«, sagte Gleed.
Der Kleine bettelte nicht. Er stampfte weder mit dem Fuß, noch kollerten ihm die Tränen über die Wangen. Er schien nur enttäuscht und drehte sich auf dem Absatz herum. »Hier hast du ihn, Kleiner!« rief Gleed und warf ihm den Ball nach. »Vielen Dank.« Der Junge bückte sich und sprang davon. Harrison sagte nachdenklich: »Wenn alle Leute im Weltall sich so verhalten? Was passiert, wenn jeder, der seinen Steuerbescheid erhält, ihn zerreißt und in den Papierkorb schmeißt? Was geschieht dann?« »Dann brauchen wir noch zwei Milchstraßen – die eine als Gefängnis, die andere für die Wärter.« »Es gäbe ein Chaos«, murmelte Harrison. Er deutete mit dem Kopf auf das Planschbecken neben dem Springbrunnen, wo die Kinder vergnügt herumtollten. »Aber das sieht nicht wie ein Chaos aus. Es scheint, daß die Leute hier nicht alles einfach ablehnen. Sie wenden ihr Veto konstruktiv an. Wahrscheinlich haben sie sich auf einen Katalog geeinigt, wo ein Veto angebracht ist. Aber wie dieser Katalog aussieht, davon habe ich keine Vorstellung.« »Ich auch nicht.« Ein alter Mann blieb in ihrer Nähe stehen, betrachtete sie mißtrauisch und wendete sich dann an einen jugendlichen Passanten. »Können Sie mir sagen, wo der Roller nach Martinstown hält?« »An der Ecke der Achten Straße«, antwortete der junge Mann. »Jede Stunde fährt ein Roller nach Martinstown. Sie müssen nur ein paar Minuten früher als sonst einsteigen, weil man Ihnen Handschellen verpaßt.« »Handschellen?« erwiderte der Ältere erstaunt. »Weshalb denn das?« »Die Straße führt am Raumschiff vorbei. Die Antigands versuchen, unsere Leute aus dem Bus zu zerren.«
»Oh, ja – daran habe ich gar nicht mehr gedacht!« Der alte Mann eilte weiter, warf im Vorbeigehen einen flüchtigen Blick auf Gleed und Harrison. »Das ist schon eine Plage – die Antigands!« »Da haben Sie recht«, erwiderte Gleed. »Dauernd reden wir ihnen zu, sie sollen diesen Planeten wieder verlassen; aber sie antworten nur: ›Wir wollen nicht!‹« Der alte Herr stolperte über seinen rechten Fuß, blieb stehen und eilte dann kopfschüttelnd weiter. »Manche erkennen uns an unserem Akzent«, murmelte Harrison. »Doch an meiner Aussprache hatten sie nicht auszusetzen. Das habe ich gemerkt, als ich bei Seth Huhn mit Salat aß.« Gleed horchte auf. »Wo man dich einmal verpflegt hat, wirst du auch zum zweitenmal etwas kriegen. Komm, wir wollen es wenigstens versuchen. Was haben wir schon zu verlieren?« »Unsere Geduld«, erwiderte Harrison gereizt. Er stand auf. »Gehen wir zu Seth. Wenn er nicht spurt, probieren wir es woanders. Klappt das auch nicht, verlassen wir die Stadt, ehe wir vor Hunger sterben.« »Das wollen die ja nur erreichen«, meinte Gleed verärgert und schnitt eine Grimasse. »Doch nur über meine Leiche führt ihr Weg.« »Richtig«, stimmte ihm Harrison bei, »deine Leiche wird sie nicht stören.« Matt kam an ihren Tisch, eine Serviette über dem Arm. »Ich bediene keine Antigands.« »Aber das letztemal haben Sie mich doch auch bedient!« protestierte Harrison. »Mag sein. Ich wußte damals noch nicht, daß Sie zum Raumschiff gehören. Doch jetzt weiß ich es.« Er wischte mit der Serviette über den Tisch. »Antigands können bei mir nichts bestellen.«
»Können Sie uns nicht wenigstens ein anderes Lokal nennen, wo wir bedient werden?« »Wenn sich einer von meinen Kollegen ein Ob von Ihnen aufschwatzen läßt, können Sie in seinem Lokal essen. Allerdings werden Sie nicht viel Glück haben, es sei denn, man verwechselt Sie mit einem Gand. So wie ich. Aber zweimal passiert mir nicht der gleiche Fehler.« Wieder wischte er mit der Serviette über den Tisch. »Sie machen trotzdem einen Fehler!« erwiderte Gleed. Seine Stimme war scharf und drohend. Er stieß Harrison mit dem Ellenbogen an. »Passen Sie mal auf!« Gleeds Hand erschien über der Tischplatte. Die Mündung eines kleinen Energiewerfers war auf Matts Bauchnabel gerichtet. »Vielleicht verstößt das gegen die Vorschrift. Aber das hängt von der Stimmung an Bord des Raumschiffes ab, wie man mein Verhalten beurteilt. Und im Augenblick sind sie dort alle stocksauer auf euch zweibeinigen Mulis!« Er bewegte den Lauf der Waffe hin und her. »Nun verschwinde schon und komm mit zwei gefüllten Tellern wieder.« »Ich will nicht«, erwiderte Matt, biß die Zähne zusammen und ignorierte die Waffe. Gleed entsicherte die Waffe. Man konnte es an dem metallischen Knacken hören. »Eine Bewegung«, murmelte er, »nur ein Niesen. Und das Ding geht los. Auf jetzt – hol uns was zu essen!« »Ich will nicht«, erwiderte Matt. Gleed steckte die Waffe verdrossen in die Jackentasche. »Es war nur ein Spaß. Die Waffe ist gar nicht geladen.« »Das macht nicht den leisesten Unterschied, ob sie geladen war oder nicht«, schnaubte Matt. »Ich bediene keine Antigands.« »Wenn ich aber die Geduld verloren und Sie in zwei Hälften zerschnitten hätte?«
»Wie hätte ich Sie dann bedienen können? Eine Leiche nützt niemandem. Höchste Zeit, daß ihr Antigands mal ein bißchen Logik lernt.« Damit eilte Matt zurück zur Theke. »So unrecht hat er damit gar nicht«, meinte Harrison, noch ein bißchen erschüttert von der Szene, die sie eben erlebt hatten. »Was kannst du schon mit einem Kadaver anfangen? Nichts. Du hast nur noch Scherereien mit der Beisetzung.« »Ich weiß nicht so recht. Wenn erst mal ein paar Tote herumliegen, kommen die anderen vielleicht zur Besinnung. Sie bewegen sich ein bißchen schneller und hören besser zu.« »Du beurteilst die Leute hier immer noch nach menschlichen Begriffen«, sagte Harrison. »Das ist verkehrt. Die Einheimischen mögen zwar von der Erde ausgewandert sein; aber heute sind sie Gands.« Er dachte einen Moment nach. »Ich habe keine Vorstellung davon, wie ein Gand beschaffen sein soll. Aber eines ist mir klar. Ein Gand ist ein Fanatiker. Nach der ›großen Explosion‹ hat man solche Typen millionenweise auf andere Planeten verfrachtet. Schau dir doch nur die verrückte Bande an, die heute auf Hygeia lebt.« »Ich war ein einziges Mal dort. Ich wäre fast blind geworden«, sagte Gleed, in Erinnerungen versunken. »Nicht ein einziges Feigenblatt in der U-Bahn. Sie behaupteten, wir wären pervers, weil wir Kleider trugen. Wir mußten uns schließlich der Landessitte beugen. Weißt du, was ich am Körper trug, als wir wieder starteten?« »Eine stramme Haltung?« »Ja, und eine Erkennungsmarke, Normgröße für Astronauten, aus Hotelsilber. Außerdem drei Winkel, mit Lippenstift auf den rechten Oberarm gemalt, damit jeder wußte, daß ich ein Feldwebel bin. Jeder Zoll ein Feldwebel – na, das war vielleicht ein Zirkus!« »Ich weiß – ich war auch eine Woche auf Hygeia.«
»Wir hatten einen Konteradmiral an Bord«, fuhr Gleed fort. »Den körperlichen Merkmalen nach hätte man ihn mit einem Paar ausgeleierten Hosenträgern vergleichen können. Im Adamskostüm konnte er nicht mal eine Nymphomanin beeindrucken. Die Hygeianer zitierten den Konteradmiral immer als Beispiel dafür, daß sie die echte Demokratie hätten, während wir uns von Lamettagötzen herumkommandieren ließen.« Gleed schnalzte mit der Zunge. »Ich weiß nicht – aber so ganz unrecht haben die gar nicht.« »Seit dem das Imperium aus der Taufe gehoben wurde, muß sich alles nach dem paradoxen Grundsatz richten, daß die Erde immer recht hat und eintausendsechshundertundzweiundvierzig Planeten immer unrecht«, meditierte Harrison laut. »He – du wälzt rebellische Gedanken!« Harrison sagte nichts darauf. Gleed sah ihn prüfend an, bemerkte, daß Harrison durch irgend etwas abgelenkt wurde, und blickte in die gleiche Richtung. Eine brünette junge Dame hatte soeben das Lokal betreten. »Sehr nett«, lobte Gleed. »Nicht zu jung und nicht zu alt. Nicht zu dick und nicht zu dünn. Gerade richtig.« »Ich kenne sie«, sagte Harrison und winkte der jungen Dame zu. Sie kam gelassenen Schrittes näher und nahm an ihrem Tisch Platz. Harrison besorgte die Vorstellung. »Das ist ein Freund von mir – Feldwebel Gleed.« »Arthur«, verbesserte Gleed, der die junge Dame mit den Blicken verschlang. »Mein Name ist Elissa«, sagte sie. »Was ist das – ein Feldwebel?« »Eine Art von übergeordnetem Untergebenen«, erklärte Gleed. »Ich gebe die Befehle an die Leute weiter, die die Befehle auszuführen haben.«
Ihre Augen wurden ganz groß. »Soll das heißen, daß es Leute gibt, die sich herumkommandieren lassen?« »Natürlich. Weshalb denn nicht?« »Meiner Ansicht nach müssen das Verrückte sein.« Sie blickte Harrison an. »Und Ihren Namen werde ich wohl nie erfahren, wie?« Er beeilte sich, diese Unterlassungssünde zu korrigieren und bat: »Bitte nicht James zu mir sagen. Jim ist mir lieber.« »Dann belassen wir es bei Jim.« Sie sah sich im Lokal um, betrachtete Theke und Tische. »War Matt schon am Tisch, um euch zu bedienen?« »Ja. Aber er weigerte sich, uns etwas zu bringen.« Sie hob ihre schönen Schultern. »Das ist sein gutes Recht. Jeder bei uns darf sich weigern. Das ist Freiheit, nicht wahr?« »Wir nennen so etwas Rebellion«, sagte Gleed. »Seien Sie doch nicht kindisch«, sagte sie tadelnd und stand auf. »Ich werde mit Seth sprechen. Ihr wartet hier.« »Das begreife wer will«, murmelte Gleed, als Elissa außer Hörweite war. »Der Dicke in dem Delikatessenladen hat doch behauptet, die Gands wollen uns so lange die kalte Schulter zeigen, bis wir wieder abdampfen. Aber diese Dame verhält sich ganz freundlich. Sie ist – ist… « Er suchte nach einem treffenden Wort: »… so ungandisch.« »Das stimmt nicht«, wiedersprach Harrison. »Sie haben alle das Recht, ›ich will nicht‹ zu sagen. Sie hält sich an diese Regel.« »Ja, beim Namen meiner Großmutter, du hast recht! Daran habe ich noch gar nicht gedacht! Man kann das im positiven wie im negativen Sinn auslegen. Jeder wie es ihm paßt.« »Richtig.« Harrison sprach leiser. »Da kommt sie!« Elissa nahm wieder Platz, strich sich die Haare aus der Stirn und sagte: »Seth wird uns persönlich bedienen.«
»Schon wieder ein Verräter«, meinte Gleed grinsend. »Doch nur unter einer Bedingung«, fuhr Elissa fort. »Ihr beiden müßt warten, bis er mit euch gesprochen hat. Ihr dürft nicht eher weggehen.« »Das ist ein billiger Preis für das Essen«, sagte Harrison. Doch da kam ihm plötzlich ein Gedanke. »Bedeutet das, daß Sie gleich drei Obs auf einmal abtragen müssen?« »Nein – nur ein Ob für mich selbst.« »Wie das?« »Seth hat so seine eigenen Ansichten. Er ist über die Antigands nicht glücklicher als die anderen Einwohner dieser Stadt.« »Weshalb bedient er uns dann?« »Seth ist nicht ganz mit dem Prinzip einverstanden, allen Antigands die kalte Schulter zu zeigen. Er meint, so sollte man nur die Verstockten und Unbelehrbaren behandeln.« Sie lächelte Gleed an, daß sich seine Kopfhaare aufrichteten. »Seth glaubt, ein intelligenter Antigand sei in Wirklichkeit ein potentieller Gand.« »Was ist das überhaupt – ein Gand?« fragte Harrison. »Ein Einwohner unseres Planeten.« »Woher stammt dieser Name?« »Von Gandhi.« Harrison runzelte die Stirn. »Wer war denn das?« »Ein Erdbewohner der Vorzeit. Er hat die Waffe erfunden.« »Habe nie etwas von diesem Kerl gehört.« »Das überrascht mich nicht.« »Wirklich nicht?« gab er gereizt zurück. »Ich möchte nur eines klarstellen: Auf der Erde ist die Schulbildung mindestens so gut wie… « »Ereifern Sie sich nur nicht, Jim.« Sie sprach das »Jim« mit langem I aus, so daß es besonders schmeichelhaft klang. »Ich wette nur zehn gegen eins, daß man seinen Namen aus euren
Schulbüchern verbannt hat. Er hätte euch ja unbequeme Ideen in den Kopf setzen können, versteht ihr? Man kann nicht erwarten, daß ein Mann etwas weiß, was man ihm in der Schule absichtlich verschwiegen hat.« »Wenn Sie damit andeuten, daß auf der Erde nur ein zensierter Geschichtsunterricht betrieben wird, nehme ich Ihnen das nicht ab!« »Es ist Ihr gutes Recht, etwas zu glauben oder nicht zu glauben. Das ist Freiheit, nicht wahr?« »Bis zu einem gewissen Grad schon. Aber ein Mann hat Pflichten. Er darf sie nicht einfach vergessen.« »Nein?« Sie sah ihn mit gewölbten Augenbrauen an, daß es ihm ganz heiß wurde. »Wer schreibt denn diese Pflichten vor?« »Meistens die Vorgesetzten.« »Kein Mensch ist einem anderen vorgesetzt. Kein Mensch hat das Recht, einem anderen Menschen seine Pflichten vorzuschreiben.« Sie schwieg und sah ihn nachdenklich an. »Wenn jemand auf der Erde so eine idiotische Macht ausüben darf, kommt das nur daher, weil Idioten so etwas zulassen. Sie haben Angst vor der Freiheit. Sie wollen lieber herumkommandiert werden. Und so etwas will ein Mann sein!« »Ich sollte Ihnen eigentlich gar nicht zuhören«, mischte sich Gleed jetzt ein. Sein wettergegerbtes Gesicht war dunkelrot. »Sie sind genauso vorlaut, wie Sie hübsch sind.« »Haben Sie Angst vor Ihren eigenen Gedanken?« gab sie spöttisch zurück, ohne auf das Kompliment einzugehen. Er wurde noch dunkler im Gesicht. »Ganz und gar nicht. Aber ich… « Er verstummte, als Seth mit drei gefüllten Tellern an den Tisch trat und servierte.
»Wir sehen uns später noch«, sagte Seth. Er war von mittlerer Größe, hatte schmale, scharfe Züge und durchdringende Augen. »Ich habe euch etwas mitzuteilen.«
Als sie gegessen hatten, setzte sich Seth zu ihnen an den Tisch und betrachtete die beiden Männer von der Erde. »Wieviel wißt ihr beiden bereits?« »Genug, um sich zu streiten«, sagte Elissa. »Sie stolpern über die Pflichten – wer sie vorschreibt und wer sie ausführt.« »Darüber muß man sich auch Gedanken machen«, meinte Harrison. »Keiner kann sich seiner Aufgabe entziehen.« »Und –?« meinte Seth. »Sie auch nicht. Diese Welt hier lebt ja von einem eigenartigen System, sich gegenseitig Pflichten aufzuladen. Wie soll dieses System funktionieren, wenn sich nicht jeder an die Verpflichtung hält, seine Schulden an Obs zurückzuzahlen?« »Das ist aber keine Pflicht, junger Mann«, erwiderte Seth. »Es wäre eine unverschämte Beleidigung, wenn ein Gand einen anderen an diese ›Pflicht‹ erinnern würde. Es ist ein Ding der Unmöglichkeit, daß einer dem anderen befiehlt, sein Ob abzutragen.« »Ich kann mir vorstellen, daß ein paar von euch in Saus und Braus leben«, warf Gleed an dieser Stelle ein. »Nichts hindert sie daran, von gepumpten Obs zu leben.« Er sah Seth nachdenklich an und fuhr dann fort: »Wie werden Sie denn mit einem Bürger fertig, der kein Gewissen hat?« »Das ist ganz einfach.« »Erzähle ihnen die Geschichte vom faulen Jack«, schlug Elissa vor. »Das ist eine Kindergeschichte«, erklärte Seth. »Jeder kennt sie hier auswendig. Es ist eine klassische Fabel, eine Sage wie… « Er suchte nach einem Vergleich. »Ich kann
mich leider nicht mehr an die Sagen und Märchen der Erde erinnern, die unsere Ahnen von dort mitgebracht haben.« »Eine Geschichte wie Dornröschen?« murmelte Harrison. »Ja«, griff Seth diesen Vorschlag dankbar auf. »So eine Geschichte wie Dornröschen.« Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und erzählte: »Der faule Jack wurde noch auf der Erde geboren, wuchs dann auf unserem Planeten auf und studierte als junger Mann unser Wirtschaftssystem. Er hielt sich für sehr schlau, als er beschloß, ein Schlepper und Nepper zu werden.« »Was ist das – ein Nepper und Schlepper?« »Na – so etwas wie ein Nassauer. Lebt von den Obs anderer Leute und trägt sie nicht ab oder weigert sich, anderen Leuten Obs aufzuladen. Ein Nassauer rafft alles an sich, gibt aber nichts dafür.« »Jetzt begreife ich, was Sie meinen. Ich kenne auch so ein paar Typen.« »Bis zu seinem sechzehnten Lebensjahr lebte Jack auch in Saus und Braus. Man ließ ihn gewähren. Er war ja noch ein Kind. Alle Kinder versuchen bis zu einem gewissen Alter, ein bißchen zu mogeln und zu neppen. Wir haben das in unserem System berücksichtigt. Doch nach seinem sechzehnten Lebensjahr kam der faule Jack bald in die Bredouille.« »So?« Harrison war viel neugieriger, als er es sich anmerken ließ. »Er ging in der Stadt herum und lud sich überall körbeweise Obs auf – Mahlzeiten, Kleider, Gebrauchsstände, alles. Unsere Stadt ist nicht groß. Auf unserem Planeten gibt es überhaupt keine großen Städte. Sie sind nur so groß, daß jeder jeden kennt – und jeder spricht natürlich auch über den anderen. Binnen vier Monaten wußte die ganze Stadt, daß Jack ein überzeugter Nassauer war.« »Nur weiter!« drängte Harrison ungeduldig.
»Auf einmal versiegten alle Quellen. Wo Jack auch hinkam – jeder lehnte mit einem ›ich will nicht‹ ab. Das ist Freiheit, verstehen Sie? Er bekam keine Mahlzeiten mehr, keine Kleider, kein Vergnügen, keine Gesellschaft, nichts. Bald litt er schrecklich Hunger, brach eines Nachts in die Speisekammer eines Gands ein, damit er wenigstens etwas zu essen hatte.« »Was machte der Gand dagegen?« »Nichts – absolut nichts.« »Das ermunterte ihn doch nur zum Stehlen, oder etwa nicht?« »Wieso denn das?« fragte Seth mit einem dünnen Lächeln. »Das bekam ihm gar nicht. Am nächsten Tag war sein Magen wieder leer. Er mußte also wieder einbrechen. Am nächsten Tag das gleiche. Die Leute wurden vorsichtiger, bewachten ihre Häuser und Läden. Die Nahrungsbeschaffung wurde von Tag zu Tag schwieriger – so schwierig, daß es für den faulen Jack besser war, die Stadt zu verlassen.« »Um weiterzustehlen«, meinte Harrison. »Und mit den gleichen Ergebnissen«, erwiderte Seth. »So mußte er weiterwandern von Stadt zu Stadt. Er war so stur und begriff sein Unglück einfach nicht.« »Aber er kam doch zurecht«, meinte Harrison. »Er mußte zwar dauernd umziehen, aber dafür holte er sich einfach, was er brauchte.« »Nein, mein Freund. Wie ich schon sagte, unsere Städte sind klein. Die Gands reisen viel, besuchen ihre Freunde in den anderen Städten. In der Stadt Nummer zwei hatte Jack immer einen Besucher aus Stadt Nummer eins zu befürchten, der von seinen Missetaten erzählte. Als er von einer Stadt zur anderen wanderte, wurde die Sache immer komplizierter. In der zwanzigsten Stadt mußte sich Jack bereits vor Besuchern aus neunzehn Städten in acht nehmen, die er vorher heimgesucht
hatte.« Seth beugte sich vor. »Nach der siebenundzwanzigsten Stadt war es aus.« »Aus?« »Die Aufenthalte wurden immer kürzer. Er blieb zwei Wochen in der Stadt Nummer fünfundzwanzig, eine Woche in der Stadt sechsundzwanzig und nur einen Tag in der Stadt Nummer siebenundzwanzig.« »Und was tat er dann?« »Zog sich in die Wildnis zurück. Lebte von Wurzeln, Beeren und kleinen Tieren. Dann verschwand er plötzlich, bis eines Tages Ausflügler auf seine Leiche stießen. Sie baumelte an einem Strick. Die Leiche war bis zum Skelett abgemagert. Er starb an der Einsamkeit und an Entbehrung. Das ist die Geschichte vom faulen Jack, dem Nassauer. Er wurde keine zwanzig Jahre alt.« »Auf der Erde hängen wir niemand, der sich auf die faule Haut legt«, meinte Gleed. »Das tun wir hier auch nicht«, sagte Seth. »Wir überlassen es jedem selbst, ob er sich aufhängen will oder nicht.« Er blickte die beiden verschmitzt an und fuhr dann fort: »Aber lassen Sie sich von dieser Geschichte nicht abschrecken. Solange ich lebe, ist noch niemand auf dieser Welt zu so einem drastischen Schritt getrieben worden. Wenigstens habe ich nichts davon gehört. Die Leute halten sich hier an ihre Verpflichtung, die Obs abzutragen, weil das eine wirtschaftliche Notwendigkeit ist. Nicht deshalb, weil sie damit eine moralische Pflicht verbinden. Niemand erteilt auf diesem Planeten Anweisungen, niemand wird hier reglementiert. Doch die Lebensweise übt natürlich einen gewissen Zwang auf die Leute aus. Man muß ehrlich leben – oder man leidet. Niemand leidet gern – selbst der Dümmste nicht.« »Ja, ich glaube, daß haben Sie recht«, murmelte Harrison, dem die Geschichte mächtig imponierte. »Natürlich habe ich
recht«, gab Seth zurück. »Aber darüber wollte ich eigentlich gar nicht mit euch reden. Ich wollte euch eine sehr wichtige Frage stellen: Was für ein Lebensziel verfolgt ihr beiden?« Ohne Zögern gab Gleed zur Antwort: »Durchs Weltall reisen, ohne dabei zu krepieren.« »Das gilt auch für mich«, erwiderte Harrison. »Das habe ich mir gedacht. Ihr beiden würdet nicht beim Astronautendienst sein, wenn euch das keinen Spaß machen würde. Aber ihr könnt das ja nicht ewig treiben. Alle guten Dinge haben mal ein Ende. Was dann?« Harrison rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. »Ich wage gar nicht daran zu denken.« »Eines Tages wird Ihnen nichts anderes übrigbleiben, als daran zu denken«, sagte Seth. »Wie viele Dienstjahre habt ihr noch vor euch?« »Viereinhalb Jahre, nach irdischer Zeitrechnung.« Seths Blick wanderte zu Gleed. »Drei Erdjahre.« »Nicht sehr viel«, brummte Seth. »Ich erwarte auch nicht, daß euch noch lange Zeit für euren Ehrgeiz bleibt. Man kann logischerweise annehmen, daß ein Raumschiff, das so tief in den Weltenraum vordringt, von einer erfahrenen Besatzung bedient wird. Die alten Hasen bekommen immer die schwierigsten Aufgaben. Sobald euer Raumschiff also wieder auf der Erde landet, heißt es für viele von euch Abschied nehmen. Habe ich recht?« »Für mich trifft das zu«, murmelte Gleed, dem nicht sehr wohl bei diesem Gedanken war. »Ja, die Zeit; je älter man wird, um so rascher vergeht sie. Doch selbst dann, wenn ihr aus dem Astronautendienst entlassen werdet, seid ihr beide noch relativ jung.« Ein spitzbübisches Lächeln spielte um seinen Mund. »Ich nehme an, ihr kauft euch dann ein eigenes Raumschiff und vagabundiert durch den Kosmos – oder?«
»Unmöglich«, erwiderte Gleed. »Selbst der Reichste kann sich bei uns höchstens einen Mondkreuzer leisten. Und eine Bummelreise zwischen der Erde und ihrem tristen Satelliten ist bestimmt kein Vergnügen, wenn man gewohnt ist, mit einem Blieder-Schiff quer durch die Milchstraße zu rasen. Auch das kleinste Blieder-Schiff ist sogar für einen Reichen unerschwinglich. Das kann sich nur eine Regierung leisten.« »Unter ›Regierung‹ verstehen Sie wohl eine Gemeinschaft – wie?« »In gewisser Weise ja.« »Nun – was werdet ihr also tun, wenn eure Reisetage im All vorüber sind?« »Ich habe es leider nicht so gut wie der Kumpel mit den Schlappohren da«, murmelte Gleed und deutete auf Harrison. »Ich bin Soldat, kein Techniker. Meine Auswahl ist beschränkt, weil mir die Qualifikationen fehlen.« Er rieb sich nachdenklich das Kinn. »Ich kam auf einer Farm zur Welt. Ich kenne mich auch noch gut in der Landwirtschaft aus. Am liebsten würde ich mir einen Hof kaufen und mich dort zur Ruhe setzen.« »Glauben Sie, Sie können das erreichen?« fragte Seth. »Vielleicht auf einem unterentwickelten Planeten wie Falder, Hygeia oder im Rosenfarbenen Paradies von Norton«, erwiderte Gleed. »Aber nie auf der Erde. So viel Geld habe ich nicht sparen können. Nicht mal die Hälfte von dem Preis, den eine Farm auf der Erde kostet.« »Das heißt, Sie können nicht genügend Obs zusammenbringen.« »Richtig«, erwiderte Gleed trübsinnig. »Nicht einmal, wenn ich bis zum achtzigsten Lebensjahr spare.« »So sieht also die Belohnung für einen Veteranen aus, der seine besten Jahre im Dienst der Erde verbracht hat. Sie
bekommen Pension und müssen auf alles verzichten, was Ihnen lieb und teuer ist.« »Halten Sie doch den Mund.« »Ich will nicht«, sagte Seth und beugte sich vor. »Weshalb, glauben Sie wohl, sind zweihunderttausend Gands hierhergekommen? Weshalb sind die Doukhobors zur Hygeia, die Quäker zu Beta Centaurus und die anderen Sekten zu ihren Planeten ausgewandert? Wollen Sie wissen, warum? Weil es für einen braven Bürger auf der Erde nur eine Alternative gibt: richte dich nach unseren Befehlen oder verschwinde! Wir verschwanden lieber und kamen hierher.« »Es war das beste, was unsere Ahnen tun konnten«, mischte sich Elissa wieder in die Debatte. »In unseren Geschichtsbüchern steht, daß die Erde damals sowieso übervölkert war. Wir wanderten aus und ließen Dampf aus dem Bevölkerungskessel ab.« »Das ist wieder eine andere Geschichte«, wies Seth sie zurecht. Er wandte sich Gleed zu: »Sie möchten eine Farm haben. Am liebsten auf der Erde, aber dieser Traum läßt sich nicht erfüllen. Die Erde sagt: ›Nein! Verschwinde!‹ Also müssen Sie woanders nach Ihrer Farm suchen.« Er legte eine Pause ein, damit Gleed das Gesagte besser verdaute. »Hier können Sie Ihre Farm haben.« Er schnippte mit den Fingern. »Sofort!« »So einfach können Sie mich nicht auf die Schippe nehmen«, erwiderte Gleed, obwohl er nur zu gern glaubte, was er da hörte. »Wo steckt der Pferdefuß?« »Auf diesem Planeten gehört das Acker- und Weideland demjenigen, der es nutzbar macht. Niemand macht ihm den Besitz streitig, solange er ihn bewirtschaftet. Sie müssen sich nur nach einem geeigneten Stück Land umsehen – und hier gibt es genug davon – und es bewirtschaften. Von diesem Augenblick an gehört es Ihnen. Sobald Sie dieses Land aber
wieder aufgeben – es nicht mehr bewirtschaften –, gehört es demjenigen, der davon Besitz ergreift.« »Heiliger Sternschnuppenschwarm!« rief Gleed ungläubig. »Das ist noch nicht alles. Wenn Sie sich nämlich ein bißchen länger umsehen und Glück haben, stoßen Sie auf eine Farm, die von ihrem Besitzer aufgegeben wurde – weil er gestorben ist oder krank wurde oder etwas Besseres gefunden hat. Es gibt ja viele Gründe, warum jemand seinen Hof nicht mehr bewirtschaftet. In diesem Fall übernehmen Sie gerodeten, kultivierten Boden; Ställe, Scheunen, Wohnhaus – alles. Sie legen sich sozusagen in ein gemachtes Bett. Und das gehört alles Ihnen – Ihnen ganz allein!« »Was schulde ich dafür dem Vorbesitzer?« fragte Gleed. »Nichts. Nicht mal ein Ob. Weshalb auch? Wenn er nicht gestorben ist, hat er seinen Bauernhof doch nur verlassen, weil er etwas Besseres gefunden hat – ohne sich Obs aufzuladen. Man kann nicht beide Male profitieren – beim Gehen und beim Kommen.« »Trotzdem begreife ich das alles noch nicht. Irgendwo muß doch da ein Haken sein. Ohne Obs oder gutes Geld geht es bei so etwas nie ab.« »Natürlich werden Sie sich dabei auch Obs aufladen. Sie gründen eine Farm. Eine Handvoll Leute aus dem Nachbarort helfen Ihnen beim Hausbau. Dabei werden Sie mit vielen Obs belastet. Der Zimmermann zum Beispiel verlangt für sich und seine Familie ein paar Jahre lang von Ihren Farmprodukten zu leben. Sie versprechen ihm das und laden damit seine Obs wieder ab. Sie beliefern ihn sogar ein paar Jahre länger und laden ihm dafür neue Obs auf. Dafür muß er Ihnen die Zäune flicken oder andere Arbeiten ausführen, damit er seine Obs tilgen kann. Und nach diesem Verfahren helfen Ihnen auch die anderen Leute – mit Rohmaterial, Saatgut, Maschinen, Transportleistungen und so weiter.«
»Die wollen doch später nicht alle mit Milch und Kartoffeln versorgt werden!« rief Gleed kopfschüttelnd. »Kartoffeln? Was ist denn das! Habe noch nie von diesem Zeug etwas gehört.« »Wie kann ich mit einem Lieferanten abrechnen, der seine ganzen Fressalien bereits von einem anderen Bauern bezieht?« »Ganz leicht«, antwortete Seth. »Sagen wir, ein Klempner liefert Ihnen die Milchkannen. Er will aber dafür keine landwirtschaftlichen Produkte haben. Er bezieht diese bereits aus einer anderen Quelle. Seine Frau und seine drei Töchter haben Übergewicht und sollten am besten gar nichts essen. Schon der Gedanke an das viele Fett und die Kohlehydrate, die Sie ihnen aufladen wollen, bereitet ihnen Übelkeit.« »Also?« »Aber der Schneider, der dem Klempner die Anzüge näht, oder der Schuster haben dem Klempner ein paar Obs aufgeladen, die er von sich aus nicht abtragen kann. So überträgt er einfach die Schulden, die er beim Schneider und Schuster hat, auf Sie. Sobald Ihre Farm etwas abwirft, beliefern Sie den Schuster und den Schneider mit Lebensmitteln und tragen damit zugleich Ihre Schulden und die des Klempners ab.« Seth schloß mit einem Lächeln: »Und jedermann ist glücklich und zufrieden.« Gleed dachte mit gerunzelter Stirn nach. »Sie führen mich in Versuchung!« rief er. »Das sollten Sie nicht tun. Einen Astronauten zu einem Verstoß gegen seinen Eid aufzufordern, ist ein Verbrechen. Das ist Verrat. Die Erde geht sehr scharf mit Verrätern ins Gericht.« »Unsinn!« rief Seth und schnaubte verächtlich. »Wir leben hier nach den gandischen Gesetzen!« »Die Sache ist doch ganz einfach«, mischte sich Elissa mit beschwichtigender Stimme ein. »Sie sagen sich erst einmal: Ich muß zurück ins Schiff. Es ist meine Pflicht, dorthin
zurückzukehren. Die Erde und das Raumschiff kommen keinesfalls ohne mich aus!« Sie schob eine Locke aus der Stirn. »Dann stellen Sie sich auf den Standpunkt eines freien Individuums und sagen: Ich will nicht!« »Die werden mir die Haut bei lebendigem Leib abziehen. Bidworthy würde das höchst persönlich besorgen.« »Das glaube ich nicht«, murmelte Seth. »Dieser Bidworthy – der kein sehr liebenswürdiger Bursche zu sein scheint – steht genauso am Scheideweg, wie ihr alle. Es gibt nur eine Alternative; eine dritte Möglichkeit ist ausgeschlossen. Wahrscheinlich wird er früher oder später nach Hause verduften oder auf unserem Planeten in einem Lastwagen herumkutschieren und Ihre Milchkannen abholen. Denn ganz tief in seinem Innern weiß er, daß er das schon immer tun wollte.« »Sie kennen ihn nicht so gut wie ich«, klagte Gleed. »Dieser Kerl hat ein rostiges Hufeisen als Seele in der Brust.« »Komisch«, bemerkte Harrison. »Das gleiche habe ich immer von dir gedacht – bis heute.« »Ich bin jetzt nicht im Dienst«, sagte Gleed, als würde das alles erklären. »Ich darf mich entspannen und kann mein wahres Ich frei umherschwirren lassen.« Er stand auf und schob den Unterkiefer vor. »Doch ich kehre jetzt wieder zu meinem Dienst zurück. Und zwar sofort!« »Aber du hast doch bis morgen Urlaub!« protestierte Harrison. »Bis zum Wecken!« »Kann schon sein. Trotzdem kehre ich zum Schiff zurück.« Elissa wollte etwas sagen. Doch sie schwieg, als Seth sie mit dem Ellenbogen anstieß. Schweigend sahen die drei zu, wie Gleed das Lokal verließ. »Das ist ein gutes Zeichen«, bemerkte Seth, sich offenbar seiner Sache sehr sicher. »Er hat an seiner schwächsten Stelle einen Boxhieb einstecken müssen.« Er kicherte in sich hinein
und wendete sich dann an Harrison. »Was versprechen Sie sich denn vom Leben?« »Vielen Dank für das Essen. Es war vorzüglich. Und ich hatte einen gewaltigen Hunger.« Harrison stand auf. Er war sichtlich verwirrt. Er deutete auf die Tür. »Ich muß ihn einholen. Wenn er zum Schiff zurückkehrt, werde ich ihn begleiten.« Wieder stieß Seth Elissa sacht mit dem Ellenbogen an. Schweigend sahen sie zu, wie er den Raum verließ und die Tür leise hinter sich zumachte. »Schafsköpfe«, murmelte Elissa enttäuscht. »Einer folgt dem anderen. Wie eine Hammelherde.« »Das stimmt nicht ganz«, widersprach Seth. »Sie sind menschliche Wesen, die von den gleichen Gedanken und Gefühlen bewegt werden wie unsere Vorväter. Und die konnte man wirklich nicht als Herdentiere bezeichnen.« Er drehte sich auf seinem Stuhl um und winkte Matt zu: »Bring uns doch bitte zwei Shemaks!« Dann wendete er sich wieder Elissa zu: »Ich möchte jede Wette eingehen, daß das Schiff nicht mehr lang hierbleibt. Es zahlt sich für diese Leute nicht aus.«
Aus dem Lautsprechersystem des Schlachtschiffes bellte es ungeduldig: »Fanshaw, Folsom, Fuller, Garson, Gleed, Gregory, Haines, Harrison, Hope – « und so ging es bis zum letzten Buchstaben im Alphabet. Ein dünnes Rinnsaal von Mannschaftsdienstgraden bewegte sich durch die Gänge und Schotten auf den Kartenraum zu. Dort formierten sich kleine Gruppen, steckten die Leute die Köpfe zusammen und unterhielten sich im Flüsterton. »War nichts Vernünftiges aus ihnen herauszubekommen. ›Meiob, Meiob‹ hieß es dauernd. Nach einer Weile hatte ich es satt.«
»Ihr hättet euch in kleine Trupps aufteilen sollen wie wir. Dieses Variete am Stadtrand hatte noch keine Beschreibung von uns erhalten. Wir marschierten einfach hinein und suchten uns einen Tisch aus.« »Habt ihr gehört, wie gut es Meakin getroffen hat? Er reparierte ein schadhaftes Dach, bekam eine Flasche mit doppeltem Dith und tyrannisierte den ganzen Laden. Er war so blau, daß er nicht mehr aufstehen konnte. Wir mußten ihn bis zum Schiff tragen.« »Manche haben eben das Glück gepachtet. Uns zeigte man überall die kalte Schulter, wo wir auch hinkamen. Das zerrt an den Nerven.« »Ihr hättet euch eben in kleine Gruppen aufteilen sollen!« »Die Hälfte der Leute muß sich noch in der Gosse wälzen. Bis jetzt ist nur jeder zweite zum Dienst erschienen.« »Grayder bekommt bestimmt einen Tobsuchtsanfall. Wenn er das geahnt hätte, hätte er dem zweiten Trupp keinen Urlaub gegeben.« Ab und zu steckte der Erste Offizier den Kopf durch die Tür und rief einen Namen auf, der vorhin bereits durch den Lautsprecher verlesen worden war. Häufig bekam er keine Antwort. »Harrison!« rief er. Harrison folgte dem Ersten Offizier stirnrunzelnd in den Kartenraum. Dort saß Commander Grayder hinter einem Schreibtisch und studierte bekümmert eine Liste, die vor ihm lag. Links neben dem Tisch stand Oberst Shelton in steifer Haltung. Rechts hinter ihm Major Harne. Beide schnitten Grimassen, als stiege ein übler Geruch aus einem Ausguß, den der Installateur gerade auseinandernimmt. Seine Exzellenz wanderte vor dem Schreibtisch auf und ab und stieß dumpfe, kehlige Laute aus. »Wir sind keine fünf Tage hier, und schon bricht die Disziplin zusammen.« Er wirbelte herum, als Harrison eintrat. »Ah – Sie sind das!« rief er scharf. »Wann sind Sie vom Landurlaub zurückgekehrt?«
»Vorgestern abend, Sir.« »Also vor Ablauf Ihrer Urlaubszeit, wie? Das ist aber sonderbar. Ist Ihr Rad kaputt?« »Nein, Sir. Ich habe das Fahrrad gar nicht mitgenommen.« »Um so besser«, bemerkte der Botschafter. »Hätten Sie nämlich Ihr Rad mitgenommen, wären Sie jetzt bereits tausend Meilen von hier weg und strampelten immer noch wie der Teufel.« »Wieso, Sir?« »Wieso? Er fragte auch noch, wieso! Das möchte ich ja gerade von Ihnen wissen – wieso!« Er ließ noch etwas Dampf ab und fragte dann: »Haben Sie die Stadt allein oder in Begleitung besucht?« »In Begleitung – mit Feldwebel Gleed, Sir.« »Rufen Sie Gleed herein!« befahl der Botschafter und sah Morgan an. Morgan öffnete die Tür und brüllte: »Gleed! Gleed!« Keine Antwort. Er versuchte es noch einmal, wieder ohne Erfolg. Man rief seinen Namen über das Lautsprechersystem aus – vergeblich. Feldwebel Gleed weigerte sich zu den Anwesenden zu gehören. »Hat er sich wieder eingetragen?« Grayder studierte die Liste. »Ja – vierundzwanzig Stunden vor Ablauf seiner Urlaubsfrist. Vielleicht ist er mit dem zweiten Urlaubstrupp heute morgen von Bord geschlichen. Das wäre ein doppeltes Vergehen.« »Wenn er nicht hier ist, ist er auch nicht anwesend. Vergehen hin, Vergehen her!« »Jawohl, Eure Exzellenz«, erwiderte Commander Grayder verdrossen. »GLEED!« heulte Morgan vor der Tür. Einen Moment darauf steckte er den Kopf herein: »Eure Exzellenz – einer von den Mannschaftsgraden meldet mir soeben, daß Gleed nicht an Bord ist. Er hat ihn nämlich erst vorhin in der Stadt gesehen.«
»Schicken Sie den Mannschaftsdienstgrad herein!« befahl der Botschafter. Dann deutete er mit einer unbeherrschten Geste auf Harrison. »Bleiben Sie stehen, wo sie sind, Mann, und wackeln Sie nicht dauernd mit den Ohren! Wir beide sind noch lange nicht miteinander fertig!« Ein schlaksiger Mechaniker kam herein, sah sich blinzelnd um, sichtlich beeindruckt von so viel hohen Tieren. »Was wissen Sie von Feldwebel Gleed?« fragte der Botschafter streng. Der Mechaniker biß sich auf die Unterlippe. Wahrscheinlich bereute er schon, daß er den Namen überhaupt erwähnt hatte. »Es verhält sich so, Euer Gnaden… « »Nennen Sie mich ›Sir‹!« »Jawohl, Sir.« Wieder ein rasches Blinzeln. »Ich ging mit dem zweiten Urlaubstrupp in aller Frühe von Bord, Sir, kam aber schon vor der Zeit zurück, weil mein Magen knurrte. Auf dem Heimweg begegnete ich dem Feldwebel Gleed und sprach ihn an.« »Wo? Wann?« »In der Stadt, Sir. Er saß in einem von diesen langen Überlandbussen. Mir kam das gleich spanisch vor.« »Kommen Sie endlich zur Sache, Mann! Was hat er Ihnen gesagt?« »Nicht viel, Sir. Er schien recht aufgekratzt zu sein, Sir. Erzählte was von einer jungen Witwe, die sich mit zweihundert Morgen Land herumplagen muß. Er meinte, er wolle sich die Witwe mal anschauen.« Er zögerte, wich zwei Schritte zurück und fuhr dann fort: »Er meinte, ich würde ihn entweder in Handschellen oder nie wiedersehen.« »Einer von Ihren Leuten!« schnaubte der Botschafter und sah Oberst Shelton böse an. »Ein Soldat mit hervorragendem Führungszeugnis, zwanzig Dienstjahre, drei Streifen und einer
ausreichenden Pension!« Der Botschafter wendete sich wieder dem Mechaniker zu. »Hat er Ihnen vielleicht den Ort genannt, wo er hinfahren wollte?« »Nein, Sir. Ich fragte ihn zwar danach, aber er grinste nur und antwortete: ›Meiob‹. Danach ging ich weiter.« »Gut. Sie können sich wieder in Ihr Quartier zurückziehen.« Der Botschafter wartete, bis der Mechaniker den Raum verlassen hatte. Dann drehte er sich Harrison zu: »Sie waren mit dem ersten Trupp auf Landurlaub.« »Jawohl, Sir.« »Ich möchte Ihnen zunächst etwas sagen, Mister. Vierhundertundzwanzig Mann gingen vorgestern auf Urlaub. Bisher sind nur zweihundert von ihnen wieder zurückgekehrt. Vierzig davon waren in mehr oder weniger fortgeschrittenem Stadium der Trunkenheit. Zehn davon sitzen unten im Loch und schreien ununterbrochen ›Ich will nicht!‹ Wahrscheinlich singen sie das auch noch, wenn sie wieder nüchtern geworden sind.« Er starrte Harrison so durchbohrend an, als wäre er allein an diesem Debakel schuld. Dann fuhr er fort: »An der ganzen Sache ist eines paradox. Die Betrunkenen kann ich zum Teil verstehen. Es gibt immer ein paar Leute unter der Mannschaft, die sich beim ersten Landurlaub einen andudeln. Doch von den zweihundert Nüchternen, die sich herbeiließen, wieder zum Dienst zu erscheinen, kam die Hälfte bereits vorgestern abend zurück – so wie Sie. Sie gaben alle den gleichen Grund an, weshalb sie freiwillig vierundzwanzig Stunden früher heimkamen: Die Stadt verhalte sich ihnen gegenüber unfreundlich. Sie würden behandelt, als seien sie Luft. Sie hätten diese Respektlosigkeit satt.« Harrison sagte nichts. »Wir haben es also mit zwei diametral entgegengesetzten Reaktionen zu tun«, fuhr der Botschafter fort. »Die einen sagen, die Stadt sei so unsympathisch, daß sie lieber ihren
Urlaub an Bord verbringen wollen. Die anderen finden sie so sympathisch, daß sie sich entweder mit einem Zeug voll laufen lassen, das sich doppelter Dith oder so ähnlich nennt, oder nüchtern bleiben und desertieren. Ich wünsche eine Erklärung von Ihnen. Es muß eine geben. Sie waren bereits zweimal in der Stadt. Also – Ihre Meinung?« Harrison war auf der Hut. »Es kommt ganz darauf an, ob man Sie sofort als Sprößling von der Erde erkennt oder nicht. Auch, mit welchen Gands man zusammenkommt: die einen wollen bekehren, die anderen nichts mit uns zu tun haben.« Er dachte eine Sekunde nach. »Die Uniform ist für sie das Erkennungszeichen.« »Sie meinen, die Leute sind hier allergisch gegen Uniformen?« »Mehr oder weniger, Sir.« »Und weshalb?« »Das kann ich nicht genau sagen, Sir. Dazu kenne ich die Einheimischen nicht gut genug. Ich vermute, das hängt mit ihrer Schulausbildung zusammen. Da hat man ihnen wahrscheinlich beigebracht, daß Uniformen das Symbol des irdischen Regimes sind, dem ihre Vorfahren entronnen sind.« »Entronnen, Quatsch!« schnaubte der Botschafter. »Sie haben sich der irdischen Erfindungen, Apparate und Technik bedient, um sich auf andere Planeten abzusetzen, wo sie ihre Ellenbogen besser gebrauchen konnten.« Er blickte Harrison düster an. »Trägt denn keiner von den Einheimischen eine Uniform?« »Nicht, daß ich wüßte, Sir. Eine Uniform ist hier sehr schwer zu erkennen. Die Gands scheinen ihre individuelle Persönlichkeit besonders dadurch zu unterstreichen, daß sie die verrücktesten Sachen anziehen. Von rosa Reitstiefeln bis zur roten Zopfperücke ist hier alles vertreten. Exzentrische Kleidung ist bei den Gands die Regel. Uniformen betrachten
sie als abartig und ungewöhnlich – erniedrigend, für das Individuum untragbar.« »Sie reden von den Einheimischen dauernd mit der Bezeichnung ›Gands‹. Wo stammt denn dieser Name her?« Harrison dachte an Elissa, als er die Frage beantwortete. Er sah sie jetzt ganz genau vor sich: am Tisch von Seths Lokal, wo die Dampfschwaden hinter der Theke aufstiegen und der Speiseduft köstlich und angenehm in der Nase kitzelte. Während er sich diese Szene noch einmal vergegenwärtigte, wurde ihm klar, daß dort etwas Wesentliches, aber Unwägbares vorherrschte, was sie hier an Bord des Raumschiffes immer entbehren mußten. »Und dieser Mann erfand das, was die Gands ›die Waffe‹ nennen, Sir«, schloß Harrison seinen Bericht. »H-m-m-m. Und er soll bei uns auf der Erde gelebt haben? Wie sah der Mann denn aus? Haben Sie ein Foto oder ein Denkmal gesehen?« »Hier werden keine Denkmäler aufgestellt, Sir. Die Leute hier behaupten, keiner sei wichtiger als sein Nachbar. Alle wären gleich.« »Blödsinn!« schnappte der Botschafter, der instinktiv diesen Gedanken von sich wies. »Ist es Ihnen vielleicht eingefallen zu fragen, in welchem Jahrhundert diese Wunderwaffe zum erstenmal angewendet wurde?« »Nein, Sir«, gestand Harrison. »Ich hielt das nicht für wichtig.« »So, nicht für wichtig! Manche von euch sind so langsam von Begriff wie ein schlafwandelndes callistonisches Faultier! Ich möchte Ihre Fähigkeiten als Mechaniker ja nicht anzweifeln, aber für den Geheimdienst sind Sie bestimmt hundertprozentig untauglich.« »Jawohl, Sir«, antwortete Harrison.
Jawohl, Sir? Idiotisch! flüsterte eine Stimme in Harrisons Innern. Warum läßt du dir alles gefallen? Er ist doch nichts als ein dicker vollgefressener Angeber, der nicht mal ein Ob abtragen könnte, selbst wenn er das wollte. Er ist nicht besser als du. Die Naturburschen, die auf der Hygeia nackt rumlaufen, würden ihn als untauglich ausmustern, weil er einen Fettwanst herumschleppt. Doch du starrst auf seinen Hühnerfriedhof und sagst: »Jawohl, Sir. Tut mir leid, Sir.« Mit deinem Fahrrad käme er keine zehn Meter weit, dann landet er schon im Straßengraben. Spucke ihm doch ins Gesicht und sage: »Ich will nicht!« Oder hast du vielleicht Angst vor diesem Hanswurst? »Nein«, sagte Harrison laut und bestimmt. Captain Grayder sah auf. »Wenn Sie Fragen beantworten, ehe sie gestellt werden, sollten Sie den Schiffspsychiater aufsuchen. Oder verfügen Sie über hellseherische Gaben?« »Ich dachte nur laut«, erwiderte Harrison. »Ich begrüße es, wenn jemand seine Gehirnzellen gebraucht«, meinte Seine Exzellenz und holte ein paar dicke Bücher aus dem Wandregal. Er schlug den ersten Folianten auf und blätterte rasch die Seiten durch. »Wenn man seinen Grips täglich anstrengt, wird das Denken bald zur Gewohnheit. Vielleicht kommt dann der Tag, wo das Denken nicht mehr wehtut.« Er schob die Schwarten über den Tisch und holte noch mehr davon aus dem Regal. Dann sagte er zu Major Harne, der ihm gelassen zusah: »Glotzen Sie nicht so wie eine Wachspuppe im Militärmuseum! Greifen Sie lieber zu! Ich möchte alle Gandhis exzerpiert haben, die vor tausend Jahren bis hinauf zur Großen Explosion vor dreihundert Jahren auf der Erde gelebt haben.« Harne bewegte sich und holte ebenfalls Bücher aus dem Regal. Oberst Shelton folgte seinem Beispiel. Nur Commander Grayder blieb hinter seinem Schreibtisch hocken. »Ah, hier
haben wir ihn schon!« rief Seine Exzellenz und deutete mit seinem plumpen Zeigefinger auf eine Spalte. »Gandhi, auch Bapu oder Vater genannt, lebte vor vierhundertundsiebzig Jahren. Politphilosoph, Angehöriger des Hindustammes. Widersetzte sich jeder staatlichen Autorität mittels eines ausgeklügelten Systems, das er den zivilen Ungehorsam nannte. Die letzten seiner Anhänger verschwanden mit der Großen Explosion, können sich aber noch als versprengte Sekten auf einem entfernten Planeten gehalten haben!« »Offensichtlich haben sie sich gehalten«, bemerkte Commander Grayder mit trockener Stimme. »Ziviler Ungehorsam«, wiederholte der Botschafter und richtete den Blick gegen die Decke. Er schien eine Statue zu betrachten, die man aus Versehen verkehrt herum aufgestellt hatte. »Das kann man doch unmöglich zur Grundlage einer Zivilisation machen! So etwas funktioniert nicht.« »Es funktioniert«, bestätigte Harrison und vergaß, den ›Sir‹ hinzuzusetzen. »Sie wollen mir widersprechen, Mister?« »Ich stelle nur eine Tatsache fest.« »Eure Exzellenz«, mischte sich Grayder ein, »ich schlage vor… « »Überlassen Sie das mir!« Mit cholerischem Gesichtsausdruck winkte der Botschafter dem Commander zu, daß er sich zurückhalten solle. Dann heftete er den Blick auf Harrison. »Sie sind alles andere als ein Experte auf dem Gebiet der Staats Wirtschaft! Schreiben Sie sich das gefälligst hinter Ihre abstehenden Ohren! Jeder Mann Ihres Kalibers läßt sich von oberflächlichen Eindrücken täuschen!« »Es funktioniert«, erwiderte Harrison stur. Er wunderte sich nur, woher er plötzlich seine Halsstarrigkeit nahm. »Ihr Fahrrad funktioniert ja auch. Sie haben eben eine Fahrrad-Mentalität!«
Irgend etwas riß in seinem Inneren. Mit einer Stimme, die der seinen verblüffend ähnlich war, rief Harrison: »Unsinn!« und wackelte mit den Ohren, so erschrocken war er über seine eigene Kühnheit. »Was war das eben, Mister?« »Blödsinn!« wiederholte er. Was geschehen ist, kann man eben nicht ungeschehen machen. Diesmal kam der Commander dem Botschafter um Haaresbreite zuvor. Grayder erhob sich aus seinem Sessel und brüllte: »Ohne Berücksichtigung Ihres Ihnen zustehenden Urlaubs – wenn er noch zusteht – verdonnere ich Sie bis auf weiteres zu Schiffsarrest. Und jetzt verschwinden Sie!« Harrison gehorchte. Seine Gedanken drehten sich wie ein wildgewordenes Kettenkarussell; aber in seiner Seele herrschte süßer Frieden. Draußen funkelte ihn der Erste Offizier böse an. »Wie lange soll ich wohl mit der Namensliste hier herumstehen, wenn solche Burschen wie du eine ganze Woche mit den Vorgesetzten palavern?« Er rollte die Augen, hielt die Hände wie einen Trichter vor den Mund und bellte: »Hope! Hope!« Keine Antwort. »Hope ist hopsgegangen«, bemerkte ein Witzbold. »Haha – ich lache mich halbtot!« schnaubte der Erste und formte wieder die Hände zum Trichter. »Hyland! Hyland!« Keine Antwort.
Vier lange, langweilige, öde Tage schleppten sich dahin. Neun waren es jetzt insgesamt, seit das Schiff die Furche in den Boden gerissen hatte, an deren Ende es noch immer ruhte. An Bord braute sich etwas zusammen. Es herrschte dicke Luft. Das dritte und vierte Urlaubskontingent war mehrmals vertröstet worden. Die Mannschaft wurde ungeduldig und gereizt.
»Morgan hat dem Alten heute morgen wieder die dritte Urlaubsliste präsentiert. Mit dem gleichen Ergebnis. Grayder gibt zu, daß man diesen Planeten nicht als feindselig bezeichnen kann. Er kann uns also den Urlaub nicht verweigern.« »Warum tut er es trotzdem? Warum hält er sich nicht an seine Vorschriften? Die Weltraumkommission wird ihn dafür kreuzigen!« »Hm. Er redet sich damit heraus, daß er den Urlaub nicht verweigert, sondern nur verschiebt. Das ist Haarspalterei. Er meint, der Urlaub wird sofort gewährt, sobald die vermißten Mannschaftsdienstgrade wieder an Bord sind.« »Das kann bis zum Jüngsten Tag dauern. Der Teufel soll ihn holen! Mit diesem Trick betrügt er mich um meinen Urlaub!« Das war ein berechtigter Vorwurf. Wenn man wochenlang, monatelang – manchmal sogar jahrelang – in einer zugekorkten Flasche leben muß, egal, wie groß sie auch ist, muß man sich wenigstens einmal für kurze Zeit Luft verschaffen. Der Mensch braucht Sonne und Sauerstoff, ein Stück Muttererde, einen weiten, klaren Horizont, vernünftiges Essen, Frauen, neue Gesichter… »Ausgerechnet dann mußte er den Urlaub sperren, als wir ein Rezept für die Behandlung der Gands fanden. Wir müssen Räuberzivil anziehen und uns benehmen wie die Gands – das ist das ganze Geheimnis. Selbst die enttäuschten Jungs vom ersten Kontingent würden es jetzt noch einmal versuchen.« »Grayder will kein Risiko eingehen. Er hat schon zu viele Leute verloren. Wenn von der nächsten Quote wieder nur die Hälfte heimkommt, hat er nicht mehr genügend Leute, um das Schiff richtig zu bedienen. Wir könnten diesen Planeten nie mehr verlassen. Wie gefiele dir das?« »Ich würde der Erde keine Träne nachweinen.«
»Grayder soll doch auf die Bürokraten zurückgreifen! Höchste Zeit, daß die mal was Ordentliches lernen!« »Die Ausbildung dauert drei Jahre. Oder hast du es vielleicht in kürzerer Zeit geschafft?« Harrison kam in die Ingenieurmesse. Er hielt einen kleinen Briefumschlag in der Hand. Drei von seinen Kameraden fielen sofort über ihn her: »Seht mal, wer da kommt! Unser Freund, der den Botschafter angepöbelt hat!« »Ich weiß wenigstens, wofür ich Stubenarrest bekommen habe«, meinte Harrison grinsend. »Ihr wißt es ja bis heute noch nicht!« »Lange halten die uns nicht mehr hier, das kann ich dir flüstern! Wir werden etwas unternehmen!« »So? Was denn?« »Das überlegen wir uns gerade«, wichen die anderen aus. Einer sah den Briefumschlag in Harrisons Hand. »Was hast du denn da? Post?« »Richtig.« »Na – uns kann es egal sein. Ich dachte, es ist die Dienstanweisung von heute. Die Leute vom Maschinenraum kriegen sie ja immer zuerst.« »Es ist tatsächlich die heutige Post.« »Nun hör mal – jeder von uns weiß, daß die Post nie bis in diesen entfernten Winkel des Weltalls vordringt.« »Bis zu mir ist sie aber vorgedrungen.« »Wer hat sie denn zugestellt?« »Worral. Brachte den Brief vor einer Stunde aus der Stadt. Ein Freund von mir lud ihn zum Essen ein. Worral mußte den Ob zurückzahlen und brachte mir deshalb den Brief mit.« Er zupfte sich am rechten Ohr. »Das ist es, was ihr Jungs braucht – Verbindungen!« Die Jungs machten enttäuschte Gesichter. Einer fragte: »Was macht denn Worral in der Stadt? Hat der vielleicht Sonderprivilegien?«
»Sozusagen. Er ist verheiratet und hat drei Kinder.« »Na und?« »Der Botschafter meint, solchen Leuten kann man mehr vertrauen als den Ledigen. Sie werden nicht ohne weiteres desertieren. Sie haben zu viel zu verlieren. Deshalb wurden ein paar Familienväter ausgewählt und in die Stadt geschickt, um sich nach den Vermißten zu erkundigen.« »Haben sie etwas herausgefunden?« »Nicht viel. Worral meint, es sei alles nur verschwendete Zeit. Er hat zwar ein paar von unseren Jungs angetroffen. Aber als er sie zur Rückkehr überreden wollte sagten sie alle nur: ›Ich will nicht.‹ Und die Gands sagten ›Meiob‹. Und damit hatte sich’s.« »Etwas muß ja an diesem Planeten dran sein«, meinte einer nachdenklich. »Hätte mich doch zu gern selbst in der Stadt umgesehen.« »Gerade das will Grayder verhindern.« »Er wird noch viel Schlimmeres verhindern müssen, wenn er nicht bald zur Vernunft kommt. Unsere Geduld ist zu Ende.« »Das ist ja Aufhetzung zur Meuterei«, meinte Harrison und schüttelte den Kopf. »Kinder, ihr schockiert mich!«
Harrison ging das Niederdeck entlang, bis er seine Kabine erreichte. Er betrachtete neugierig den Umschlag. Vielleicht hatte eine zarte Hand das Brieflein verfaßt. Er hoffte es wenigstens. Er riß den Umschlag auf. Der Brief war von Gleed unterschrieben. Der Inhalt lautete wie folgt: »Wo ich bin oder was ich tue ist unwichtig. Der Brief könnte ja in falsche Hände fallen. Ich kann dir nur soviel sagen, daß ich ein herrlich gemachtes Bett gefunden habe und nur noch eine pietätvolle Schonzeit abwarten will, bis ich auch das andere (Doppelbett) besteige. Der Rest des Briefes geht Dich an.«
»So?« murmelte Harrison und legte sich auf die Koje zurück, um mehr Licht auf das Blatt zu bekommen. »Ich habe einen kleinen fetten Kerl entdeckt, der in einem leeren Laden sitzt und wartet. Als nächstes erfuhr ich, daß er sich den Laden kraft Besitznahme angeeignet hat. Er hat es im Auftrag einer Firma getan, die Zweikugelroller herstellt. Du weißt schon, die Dinger mit dem Propeller hinten. Die Firma möchte den Laden mit einem Mann besetzen, der die Vertretung der Roller und das Ersatzteillager für den betreffenden Ort übernimmt. Bis jetzt hat der kleine fette Kerl vier Bewerbungen erhalten, doch es war keiner mit einer technischen Ausbildung darunter. Derjenige, der den Laden schließlich bekommt, lädt der Stadt ein funktionelles Ob auf – was das auch immer heißen mag. Auf jeden Fall brauchst Du nur zuzugreifen, und der Laden gehört Dir. Sei kein Spielverderber. Spring ins Wasser – es ist sehr angenehm.« »Heiliger Kometenschweif!« rief Harrison. Sein Blick glitt hinunter zum Postskriptum. »P. S. Seth wird dir die Adresse geben. P. P. S. Die Stadt, wo der Laden ist, ist die Heimatstadt der kleinen Brünetten. Sie will dorthin zurückkehren, um in der Nähe ihrer Schwester wohnen zu können. Ich will das auch. Die Schwester ist nämlich eine Zuckerpuppe!« Harrison wälzte sich auf den Bauch und las den Brief zum zweitenmal. Er stand auf und schritt ruhelos in seiner winzigen Kabine auf und ab. Im Bereich des Imperiums gab es zwölfhundert besiedelte Planeten. Er hatte bisher ein Zehntel davon gesehen. Kein Astronaut lebt lange genug, um alle Planeten besichtigen zu können. Das Korps war in Gruppen eingeteilt, denen jeweils ein bestimmter Sektor zugeteilt wurde. Außer vom Hörensagen – und Gerüchte gab es überall – würde er nie erfahren, was für Paradiese oder PseudoParadiese ihn in den anderen Sektoren erwarteten. Auf jeden
Fall war es ein Lotteriespiel, sich auf gut Glück einen fremden Planeten als Ruhesitz auszusuchen, den irgendjemand für diesen Zweck empfohlen hatte. Über Geschmack läßt sich ja bekanntlich nicht streiten. Und was dem einen sein Uhl, ist dem andern seine Nachtigall. Die Wahl seines Ruhesitzes – eine häßliche Umschreibung für ein neues, ganz anderes, aber betriebsames Leben – mußte sich also auf seinen Sektor beschränken. Entweder kam dafür die so hoch geschätzte und teure Erde in Frage oder irgendein anderer, angenehmerer Planet. Da war zum Beispiel die Epsilon-Gruppe, vierzehn Planeten, die sich ganz gut eigneten, wenn man die hohe Schwerkraft vertragen konnte. Sie war viel größer als auf der Erde, und man schwankte dort über den Boden wie ein betäubter Elefant. Und da war noch Nortons Rosenfarbenes Paradies. Wenn man Septimus Norton richtig behandelte, seinem Radscha-Komplex entgegenkam und seinem Größenwahn schmeichelte, konnte man dort in Frieden leben. Oben am Rand der Milchstraße gab es ein Matriarchat, das von blonden Amazonen regiert wurde; ein Planet, der von Medizinmännern und Magiern beherrscht wurde; eine Adventisten-Kolonie und eine Welt, wo ein mit Bewußtsein begabtes Gemüse unter der Leitung von menschlichen Aufsehern sich selbst anbaute. Diese Planeten waren in einem Sektor von vierzig Lichtjahren Breite verstreut, mit BliederRaumschiffen jedoch leicht erreichbar. Mehr als einhundert Planeten kannte er aus persönlicher Erfahrung; obgleich das nur ein Bruchteil des Sektors war. Sie alle boten günstige Lebensbedingungen und Gesellschaft, ohne die man nicht leben kann. Doch dieser Planet der Gands hatte den anderen Welten etwas voraus. Er war gegenwärtig. Aus der Betrachtung seiner Umwelt gewann er die Erfahrung, auf die er seine Entscheidung gründen konnte. Die anderen
Planeten boten ihm keine Umwelt. Sie verloren an Wert, weil sie eben weit weg, nicht gegenwärtig waren. Unauffällig stahl er sich weg, ging in die Werkstatt hinter dem Blieder-Maschinenraum und putzte eine Stunde lang sein Fahrrad. Die Dämmerung brach schon herein, als er in seine Kabine zurückkehrte. Er holte die Elfenbeinplakette aus der Tasche, hängte sie an die Wand, legte sich auf seine Koje und starrte auf die Inschrift: I. W. F. Im Lautsprechersystem knackte es. Eine Stimme gab einen Befehl durch: »Alle Besatzungsmitglieder halten sich für morgen früh acht Uhr für neue Anweisungen bereit.« »Ich will nicht«, murmelte Harrison und schloß die Augen.
Es war zwanzig nach sieben. Niemand an Bord dachte daran, daß es noch früh am Morgen war. Astronauten haben kein Gefühl für frühe oder späte Tageszeiten. Das stellt sich erst wieder ein, wenn man einen Monat an Land gelebt hatte und sich wieder an den Sonnenuntergang und -aufgang gewöhnt. Das Kartenzimmer war leer. Aber im Kontrollraum herrschte fieberhafte Tätigkeit. Grayder war dort, Shelton, Harne, die Navigatoren Adamson, Werth und Yates. Seine Exzellenz, der Botschafter, selbstverständlich auch. »Ich hätte nie geglaubt, daß ich diesen Tag erleben würde«, nörgelte Seine Exzellenz und blickte den Navigatoren über die Schultern, die sich über eine Weltraumkarte beugten. »Wir sind noch keine zwei Wochen hier und räumen geschlagen das Feld.« »Bei allem Respekt, Eure Exzellenz, aber ich bin da nicht Ihrer Meinung«, sagte Commander Grayder. »Besiegt kann man nur von einem Gegner werden. Die Leute hier sind keine Gegner. Das ist ja das Verflixte an der Sache. Wir können die Gands nicht als feindselig bezeichnen.«
»Mag sein. Trotzdem handelt es sich um eine Niederlage. Oder wie würden Sie unseren Rückzug sonst bezeichnen?« »Wir sind überlistet worden. Sonderbare Umstände zwingen uns zum Nachgeben. Man kann seine Nichten und Neffen nicht deswegen versohlen, weil sie mit ihrem Onkel nicht sprechen wollen.« »Das ist Ihr Standpunkt als Raumschiffkommandant. Sie befinden sich in einer Situation, die Ihre Rückkehr zur Erde verlangt, damit Sie dort Bericht erstatten können. So schreiben es Ihre Vorschriften vor. Es ist eine Routineangelegenheit. Der ganze Weltraumdienst ist mit Routinebrettern vernagelt.« Der Botschafter starrte wieder auf die Weltraumkarte, als seien die Sterne an allem schuld. »Ich bin Diplomat. Wenn wir uns zurückziehen, ist das eine politische Niederlage, eine Beleidigung der Würde und des Ansehens unserer Erde. Ich bin mir noch nicht sicher, ob ich mitfliegen soll. Vielleicht ist es besser, wenn ich hierbleibe – obgleich ich den Einheimischen damit die Chance biete, mich auch weiterhin zu beleidigen.« »Ich maße mir nicht an, Ihnen Ratschläge zu erteilen«, sagte Grayder. »Aber ich halte mich an die Tatsachen: wir haben genügend Truppen und Waffen an Bord, um eine Polizeiaktion durchzuführen oder das Schiff erfolgreich zu verteidigen. Doch ich kann beim besten Willen keine Strafexpedition gegen die Gands führen, wenn sie uns keinen Grund oder Vorwand geben, sie zu bestrafen. Außerdem reicht unsere Bewaffnung nicht aus, um zwölf Millionen Gands zu vernichten. Dazu brauchen wir eine ganze Flotte. Wir würden also unsere Truppen einer so hohen Belastungsprobe unterwerfen, daß ich das kaum verantworten kann. Und das Ergebnis? Wenn wir siegen, bleibt eine verödete, nutzlose Welt übrig.« »Erinnern Sie mich bloß nicht daran. Ich habe das schon so oft durchgekaut, daß ich fast daran erstickt wäre.«
Grayder zuckte die Achseln. Er war ein Mann der Tat – solange es sich um Aktionen im Weltraum handelte. Planetarpolitische Winkelzüge waren nicht sein Bier. Jetzt, wo der entscheidende Moment des Rückstartes heranrückte, wurde er phlegmatisch. Für ihn war dieser Planet ein Hafen wie viele andere. Er hatte schon Hunderte von solchen Häfen besucht, und es würden noch viele andere Häfen folgen. »Eure Exzellenz, wenn Sie immer noch ernste Zweifel hegen, ob Sie mitfliegen oder hierbleiben wollen, wäre es mir sehr angenehm, wenn Sie Ihre Entscheidung bald treffen. Morgan hat mich davon unterrichtet, daß meine Besatzung auch ohne Genehmigung an Land gehen wird, wenn ich bis um zehn Uhr nicht die dritte Urlaubsliste unterschreibe.« »Damit laden sich Ihre Leute doch ernste Schwierigkeiten auf, nicht wahr?« »Schwierigkeiten schon«, erwiderte Grayder, »aber nicht so ernster Natur. Sie wenden jetzt meine Haarspalterei gegen mich selbst an. Da ich offiziell den Urlaub nicht gestrichen habe, bedeutet Landurlaub ohne Genehmigung auch keine Meuterei. Ich hatte den Urlaub ja nur verschoben. Die Leute könnten vor der Raumfahrtkommission dahingehend plädieren, ich hätte mich vorsätzlich über meine Bestimmungen hinweggesetzt. Wahrscheinlich kommen sie damit durch, wenn sie nur entschieden genug auftreten.« »Man sollte die Kommission mal in ein Raumschiff verfrachten und hierherbringen«, meinte Seine Exzellenz. »Vielleicht lernen die Mitglieder der Kommission dann ein paar Dinge, die sie hinter dem Schreibtisch nie begreifen werden.« Er betrachtete den Kommandanten mit spöttischer Genugtuung. »Könnten wir nicht unterwegs ein paar von unseren Bürokraten verlieren? Das wäre ein Unglück, von dem die Raumfahrt und die Menschheit nur profitieren könnte.«
»Dieser Vorschlag könnte von einem Gand stammen«, bemerkte Grayder. »Die würden nie auf diesen Gedanken kommen. Ihre Technik ist das Neinsagen. Nein, nein, tausendmal nein. Mehr steckt nicht dahinter. Aber in Anbetracht dessen, was hier geschehen ist, ist diese Technik vollkommen ausreichend.« Der Botschafter schwieg, in Gedanken seine Niederlage erwägend. Dann kam er zu einer Entscheidung. »Ich fliege mit. Es geht mir zwar wider den Strich, weil ich damit meine persönliche Niederlage eingestehe. Hierzubleiben wäre jedoch sinnlos, nur eine trotzige Geste, die im gegenwärtigen Zeitpunkt nichts einbringt.« »Also gut, Eure Exzellenz.« Grayder ging zur Backbordluke und blickte hinüber zur Stadt. »Bis jetzt fehlen mir vierhundert Leute. Ein paar von ihnen sind desertiert. Die übrigen werden zurückkommen, wenn ich nur lange genug warte. Sie haben es gut getroffen, lassen sich von irgendeinem Mädchen verwöhnen und machen so lange unerlaubt Urlaub, wie der Spaß anhält. Da sie sowieso bestraft werden, macht es keinen Unterschied, ob sie drei oder fünf Tage über den Zapfen hauen. So etwas passiert jedesmal nach einer langen Weltraumreise. Nach einer kurzen Reise ist es nicht so schlimm.« Er schwieg eine Weile und starrte hinüber auf die Straße. Sie war wie leergefegt. Keine verlorenen Schafe waren zu sehen, die zu ihrem Mutterschiff zurückkehrten. Grayder seufzte. »Wir können aber nicht auf verspätete Urlauber warten. Nicht auf diesem Planeten.« »Nein. Da bin ich ganz Ihrer Meinung.« »Wenn wir noch länger hierbleiben, verlieren wir wahrscheinlich noch einmal hundert Mann. Dann haben wir nicht mehr genügend ausgebildete Leute an Bord, um mit dem Raumschiff starten zu können. Wir können dieses Debakel nur dadurch abwenden, daß ich den Befehl zum Starten gebe. In
diesem Moment unterstehen alle Besatzungsmitglieder automatisch den Bestimmungen für den Raumflug.« Grayder zeigte ein schiefes Lächeln. »Das wird den Raumfahrtanwälten eine Nuß zu knacken geben.« »Starten Sie, wann Sie wollen«, murmelte der Botschafter. Er gesellte sich zu den Offizieren an der Backbordluke, schaute hinüber auf die Straße, beobachtete drei Gand-Busse, die, ohne anzuhalten, am Raumschiff vorbeibrausten. Er runzelte die Stirn, immer noch wütend angesichts einer Geisteshaltung, die einen Berg nicht sah, weil sie ihn nicht sehen wollte. Sein Blick glitt zum Heck des Raumschiffes. Er fuhr zusammen und rief: »Was tun denn die Leute außerhalb des Schiffes?« Grayder warf einen raschen Blick in die gleiche Richtung. Dann griff er zum Handmikrophon und bellte: »Alle Besatzungsmitglieder gehen sofort auf ihre Positionen! Wir starten!« Er legte ein paar Schalter um, wechselte die Leitung, bellte wieder: »Wer ist dort? Hauptfeldwebel Bidworthy? Sehen Sie mal nach, Hauptfeldwebel, was die sechs Leute dort draußen vor der Mittelschleuse zu suchen haben! Holen Sie sie sofort herein! Wir starten, sobald alle auf Station sind.«
Die vorderen und hinteren Gangways waren längst im Lagerraum verstaut worden. Irgend ein Schnelldenker von der Quartiermeisterei hatte rasch die Winde in Gang gesetzt, die die Leiter am Notausstieg mittschiffs wieder einholte. Damit vereitelte er im letzten Moment, daß Bidworthy und ein paar potentielle Sünder das Raumschiff verlassen konnten. Bidworthy stand in der Luke, sah sich am Ausstieg gehindert und starrte hinunter auf das Häuflein der sechs. Sein Schnurrbart sträubte sich nicht nur – er bebte. Fünf von den Leuten dort unten waren mit dem ersten Kontingent an Land
gegangen. Einer von ihnen gehörte zur Bodentruppe. Der sechste war Harrison, der sein frischgeputztes Fahrrad unter den Arm geklemmt hatte. Bidworthy musterte die sechs mit flammendem Blick – den Infanteristen zweimal – und brüllte: »Zurück an Bord! Keine Widerrede! Keine krummen Touren! Wir starten!« »Habt ihr das gehört?« sagte einer der sechs und stieß seinen Nebenmann mit dem Ellenbogen an. »Zurück an Bord. Kann einer von euch fliegen? Die Luke liegt zehn Meter über dem Boden.« »Keine Widerrede!« donnerte Bidworthy zum zweitenmal. »Ich habe meine Befehle!« »Hört nur!« rief der Infanterist. »Er nimmt Befehle entgegen – bei seinem Alter!« »Unbegreiflich«, meinte sein Nebenmann und schüttelte bekümmert den Kopf. Bidworthy suchte am glatten Rand der Luke vergeblich nach einem Knopf, einem Hebel, einem Griff, an dem er seinen Zorn auslassen konnte. »Ich warne euch! Wenn ihr versucht, mich zu…« »Spare dir die Worte, Biddy!« rief der Infanterist. »Von jetzt ab bin ich ein Gand.« Damit drehte er sich um und marschierte auf die Straße zu. Vier von den Leuten folgten ihm. Harrison schwang sich auf sein Stahlroß und setzte den rechten Fuß auf die Pedale. Der Hinterreifen streikte. Mit einem leisen Pfeifen ging ihm die Luft aus. »Kommt zurück!« heulte Bidworthy hinter den fünfen her. Er versuchte verzweifelt, die Leiter aus ihrer automatischen Halterung zu lösen. Eine Sirene wimmerte im Inneren des Kreuzers. Bidworthy verdoppelte seine Anstrengungen. Sein Blutdruck stieg. »Hörst du das?« rief Bidworthy und sah mit klopfenden Halsschlagadern zu, wie Harrison das hintere Ventil festdrehte
und mit der Fahrradpumpe den Hinterreifen wieder aufpumpte. »Wir starten jeden Moment. Zum letzenmal… « Wieder wimmerte die Sirene im Schiff, diesmal in kurzen, schrillen Stößen. Bidworthy sprang zurück, als der Lukendeckel herunterfiel. Die Schleusenkammer war jetzt verriegelt. Harrison schwang sich zum zweitenmal auf sein Stahlroß und setzte den Fuß auf die Pedale. Aber er trat sie nicht durch. Er blieb stehen und beobachtete das Schiff. Der stählerne Berg erzitterte vom Bug bis zum Heck. Dann erhob er sich langsam und lautlos vom Boden. Je höher er stieg, umso größer wurde die Beschleunigung. Er wurde schneller und schneller, schrumpfte zu einem Spielzeug zusammen, zu einem Punkt – und verschwand. Nur einen Moment lang spürte Harrison Zweifel, einen leisen Stich, eine Spur von Reue. Doch dieser Moment war rasch überwunden. Er blickte hinüber zur Straße. Die fünf Männer vom Raumschiff, die sich zu den gandischen Bürgerrechten bekannt hatten, hielten auf der Straße einen Bus an. Der Bus hielt prompt. Offenbar löste der Start des Raumschiffes eine spontane Hilfsbereitschaft aus. Die Einheimischen begriffen rasch. Er sah dem Bus nach, der auf seinen riesigen Gummibällen mit den fünf Neubürgern auf die Stadt zueilte. Ein Zweigummiballroller, von einem Propeller angetrieben, raste in die entgegengesetzte Richtung davon. »Deine Brünette«, hatte Gleed geschrieben. Wie kam er nur auf diese Idee? Hatte sie irgendeine Bemerkung fallen lassen, die Gleed zu seinen, Harrisons Gunsten ausgelegt hatte, weil seine großen Schlappohren gar nicht erwähnt wurden? Er blickte sich noch einmal um. Das Raumschiff hatte eine tiefe Furche hinterlassen – ungefähr fünfzehnhundert Meter lang und vier Meter tief. Zweitausend Männer von der Erde hatten in dem stählernen Koloß gewohnt. Dann nur noch achtzehnhundert. Dann sechszehnhundert.
Dann waren noch fünf abgehauen. Und noch einer. »Ich!« murmelte Harrison. Er zuckte die Achseln, trat in die Pedalen und strampelte auf seinem Stahlroß in Richtung Stadt davon. Die Erdbewohner hatten den Planeten der Gands verlassen…
Originaltitel: AND THEN THERE WERE NONE. Copyright 1951 by Street & Smith Publications, Inc. Aus ASTOUNDING SCIENCE FICTION Juni 1951.
Everett B. Cole VERBOTENE WELTEN
»Und das, meine Herren, ist eine Aufzeichnung, die wir an Bord der Rilno machten… « Auf dem dreidimensionalen Schirm kreisten ein Dutzend Planeten um ihre Sonnen. Diese Himmelskörper gehörten zum Imperium von Findur. Im Zentrum des Schirmes bewegten sich kleine leuchtende Punkte im Zickzack durch die Weite des Weltenraums. Winzige Strahlenbahnen schienen einen dieser Punkte zum Glühen zu bringen. Er war offensichtlich eingekreist. Im Zwielicht neben dem Schirm räusperte sich jemand und sagte: »Bei diesem Stand der Dinge nahm Captain Tero von der Kleeros Verbindung mit mir auf. Er bat mich um Erlaubnis, eine zehn Grad breite, vier Mikrosekunden lange Bresche schneiden zu dürfen, da er umzingelt war und fürchtete, die Akkumulatoren seiner Energieschirme würden sich unter dem schweren Feuer der Findur-Raumschiffe zu stark aufladen.« Der Sprecher holte Luft und fuhr fort: »Ich gab meine Zustimmung, denn ich sah keine andere Möglichkeit, ihn aus der Umzingelung zu befreien. Natürlich hätten wir mit der Flotte das Feuer eröffnen können. Aber niemand konnte sagen, ob Teros Schirme so lange standgehalten hätten, bis wir die Lage unter Kontrolle hatten. Die Kleeros bestätigte meine Durchsage, dann schaltete Tero sein Raum-Schergerät ein.« Auf dem Bildschirm sah man jetzt einen kleinen, spitzen, dunklen Kegel von dem umzingelten Lichtpunkt ausgehen.
Doch plötzlich – während die winzigen Funken im Bereich des Kegels verlöschten – breitete sich das Dunkel aus wie ein Fächer, der Winkel öffnete sich immer weiter. In der sich ausbreitenden Schwärze erlöschten die Sonnen wie Kerzen im Zugwind. Ein schwarzer, undurchdringlicher Vorhang schien sich über diesen Raumsektor zu senken. Und schließlich erlosch auch der Lichtpunkt, von dem diese Schwärze ausging. Zurück blieb nur ein durchscheinendes schwarzes, unregelmäßig geformtes Loch im Weltenraum, wo vorher noch Sonnen, Planeten und sich bekämpfende Raumschiffe gewesen waren. »Wie Sie alle wissen, Gentlemen«, fuhr die Stimme fort, »muß der Energieschirm heruntergeschaltet werden, um Nebenwirkungen zu vermeiden und Schäden am Schiff zu verhindern. Die Bresche wird so angesetzt, daß kein Energiestrahler an dieser Stelle durchschlagen kann. Aber es besteht dennoch die Möglichkeit von eins zu einer Million, daß ein Energiestrahl durchschlägt, während die Raumschere aufgebaut wird. Wir waren an Bord der Rilno lediglich auf Vermutungen angewiesen. Wahrscheinlich hat so ein Strahl die Schaltzentrale der Kleeros getroffen, als das Schiff seine Energieschirme herunterschaltete. So geriet Teros Schiff offenbar außer Kontrolle, und er sprengte es, um die totale Vernichtung des Raumsektors zu verhindern. Doch ehe ihm das gelang, waren seine Angreifer und fast das gesamte Imperium von Findur bereits ausgelöscht. Denn die Raumschere hatte sie vorher erfaßt, so daß der Schaden irreparabel ist. Wie gesagt stützt sich meine Theorie nur auf unsere Beobachtungen. Tero hatte keine Zeit mehr einen Bericht durchzugeben, ehe er sich selbst vernichtete.« Das Bild auf dem Schirm erlosch, und die Raumbeleuchtung ging an. Der Sprecher war ein schlanker, hochgewachsener Mensch. Die hohe Stirn, die gewölbten Brauen und die
ausgeprägten Züge ließen eine gewisse ironische Überlegenheit erkennen, als amüsiere sich dieser Mann über das Universum und alles, was sich darin tummelte. Doch die schmalen Lider und Lippen widersprachen diesem Eindruck. Und auch die Falten um Mund und Nase bestätigten, daß dieser Mann Entbehrungen, Kummer und Sorgen sehr gut kannte. Jetzt stand er aufrecht da. Flotten-Commander Dalthos A-Riman wartete auf den Spruch des Gerichtes… Das Wesen hinter dem Pult nickte den anderen Mitgliedern des Kollegiums zu. »Haben Sie noch Fragen an den Commander, Gentlemen?« Ein kleines, geschmeidiges Wesen hob eine menschenähnliche Hand. A-Riman blickte in die Richtung. Er kannte den Sektorchef Sesnir gut. Er hatte einen scharfen Verstand und stellte gefährliche Fragen. »Sie geben an, Captain Tero sei umzingelt gewesen, Commander«, sagte Sesnir. »Wie konnte er der übrigen Flotte so weit vorausfliegen, daß er in einen Hinterhalt geriet?« »Sie werden sich erinnern, Sir, was ich vorhin über die Taktik der Findur-Raumschiffe ausgeführt habe«, erwiderte ARiman. »Sie haben einen Polyphasen-Schirm entwickelt, der ihre Raumschiffe im Ruhezustand unsichtbar machte. Wir entdeckten sie erst, wenn sie sich bewegten oder wenn wir bis auf eine halbe Parsec an sie herankamen. Der Feuerwechsel fand mehrere Parsecs außerhalb ihres üblichen Operationsgebietes statt.« Der Flotten-Commander fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. »Ich wollte gerade Tero den Befehl übermitteln, sich näher beim Verband zu halten, als er plötzlich in den Beschuß einer unsichtbaren Flotte geriet, die ihn umringt hatte.« »Das heißt also, daß die Findur-Raumschiffe in unserem Hoheitsgebiet operiert haben. Warum haben die Aufklärer nichts gemeldet?«
»Die Aufklärer waren der Grund, warum ich mit der ganzen Flotte operierte, Sir«, erwiderte A-Riman. »Seit drei Tagen hatte ich keinen Bericht mehr von meinen Aufklärungsschiffen erhalten. Ich wußte, daß in diesem Gebiet feindliche Einheiten lagen. Aber mir fehlte jeder Hinweis, wie die Lage dort tatsächlich aussah.« Ein anderes Mitglied des Kollegiums ergriff das Wort: »Sie rückten mit der ganzen Flotte aus, ohne zu wissen, was Sie erwartet?« »Ich hielt das für meine Pflicht, Sir. Ich ging in Schlachtformation vor, um auf alle Möglichkeiten vorbereitet zu sein. Überdies hielt ich es für weit weniger bedenklich, ein Schiff der Gefahr eines Überfalles auszusetzen, als die ganze Flotte in einen Hinterhalt treiben zu lassen. Ich war davon überzeugt, daß meine Aufklärungsschiffe, die sich seit drei Tagen nicht mehr gemeldet hatten, vernichtet worden waren. Ich war nicht bereit, noch mehr Aufklärer zu opfern. Tero erbot sich freiwillig, als Lockvogel eventuellen Beschuß auf sich zu lenken und dann so lange Ausweichmanöver zu fliegen, bis das Gros der Flotte heran war.« A-Riman holte wieder Luft. »Wäre der Operationsplan der Findur-Flotte nicht so raffiniert angelegt gewesen, und hätte der Zufall uns nicht diesen so unwahrscheinlichen Streich gespielt, hätte sich Tero mit Leichtigkeit aus der Umzingelung befreien können. Wir hätten in das Imperium von Findur eindringen und die Maßnahmen ergreifen können, die der Hohe Rat vorgeschrieben hat.« »Hm«, meinte der Fragesteller. »Wahrscheinlich hätte ich an Ihrer Stelle genauso gehandelt.« »Dann möchte ich aber folgendes wissen«, meldete sich jetzt wieder Sesnir. »Warum haben Sie nicht einfach aus sicherer Entfernung das Feuer eröffnet? Sie hätten Ihre Kompetenzen
nicht überschritten, ein Raumschiff gerettet und das Imperium von Findur für alle Zeiten als Unruhestifter ausgeschaltet. Aber jetzt haben wir eine Raumverwerfung im Sektor Siebzehn, die wir nie mehr ausbügeln können.« A-Riman blickte den Sektorchef fest an. »Genau das wollte ich verhindern, Sir. Ich bin – und war schon immer – der Meinung, daß die Vernichtung von Sonnen, Planeten und sich entwickelnder Kulturen, wenn sie sich uns gegenüber zunächst auch noch feindlich verhalten, ein gefährlicher und vermeidbarer Raubbau am Bestand des Universums darstellt und gegen den ersten Grundsatz der galaktischen Ethik verstößt.« Der Vorsitzende des Kollegiums blickte auf. »Diese EthikGrundsätze gelten nur für Mitglieder der Föderation, Commander.« »Meiner Meinung nach sollten sie für jedes intelligente Leben im Universum Gültigkeit haben, Sir«, erwiderte ARiman. »Behandle alle anderen genauso, wie du in der gleichen Situation von den anderen behandelt werden willst«, sagte Sesnir und fuhr dann sarkastisch fort: »Mit dieser Redensart werden Sie sich wohl kaum gegen einen Energiestrahler schützen können.« A-Riman lächelte. »Sie haben recht. Aber es gibt Möglichkeiten, um… « Vandor ka Bensir, der Admiral der stellaren Flottenverbände, klopfte auf den Tisch. »Meine Herren, eine Diskussion über die Grundsätze der galaktischen Ethik ist immer sehr interessant; aber in unserem Fall scheint sie mir nicht angebracht. Wenn keine weiteren Fragen oder Bemerkungen zur Sache anstehen, werde ich die Sitzung beenden.« Er sah sich im Saal um. »Keine weiteren Bemerkungen mehr? Gut. Als Vorsitzender dieses Gerichts gebe ich hiermit bekannt, daß sich das Gericht zur Beratung zurückzieht. Commander A-
Riman? Wollen Sie inzwischen den Raum verlassen? Wir werden Sie wieder hereinrufen, wenn wir unseren Spruch gefällt haben… «
Nachdem sich die Tür hinter dem Commander geschlossen hatte, wendete sich Bensir an die Mitglieder des Kollegiums. »Gentlemen, wir wollen jetzt die Meinung des Kollegiums zum Tatbestand hören. Beginnen wir mit dem jüngsten Mitglied. Commander Dal Klar, was haben Sie dazu zu sagen?« »Admiral, leider hat meine Aussage den Umfang einer kleinen Ansprache.« Dal Klar blickte seinen Stabschef an und sah sich im Kollegium um. »Doch ich will die Zeit des hohen Kollegiums nicht über Gebühr beanspruchen.« Ka Bensir lächelte wohlwollend. »Sie meinen, junge Offiziere sollen weniger reden als handeln, wie?« »So ungefähr, Sir.« »Dieses Gericht«, sagte der Vorsitzende, »hat so viel Zeit, wie man für die Rechtsfindung braucht – und sollte es eine Ewigkeit dauern. Sie dürfen laut denken. Sie können alles vorbringen, was Sie für richtig halten. Sie können sagen, was Sie wollen, wie Sie wollen und wann Sie wollen.« Dal Klar holte tief Luft. »Also gut. Zuerst meine Überzeugung: A-Riman hat richtig gehandelt. Was er tat stand im Einklang mit seiner Moral und der Ethik seiner Zivilisation. Wie Sie alle wissen, Gentlemen, stammt A-Riman aus der Republik Celstor. Sie gehört zu den ältesten Mitgliedern unserer Föderation. Die Leute von Celstor haben wesentlich am wissenschaftlichen Fortschritt der galaktischen Föderation mitgewirkt. Einen großen Teil philosophischen Erbes unserer Zivilisation verdanken wir der Republik Celstor. A-Riman hat selbst zwei denkwürdige Kommentare über unsere Philosophie
und Ethik geschrieben. Aus ihnen wird von den Mitgliedern der Föderation häufig zitiert.« Dal Klar blickte zu Sektorchef Sesnir hinüber. »Hätte der Commander ohne Warnung seine vernichtenden Waffen eingesetzt, hätte er eine verhältnismäßig junge und hilflose Zivilisation schwer angeschlagen oder gar ausgelöscht, hätte er sich in direkten Widerspruch zu seinen erklärten Moralgesetzen gestellt. Dann wäre er unglaubwürdig geworden und hätte unseren Tadel und unsere Verurteilung verdient. Doch sein tatsächliches Verhalten war exemplarisch, ein Beispiel würdig der Tradition unserer Flotte. Was passierte, war nicht seine Schuld. Es war ein nicht vorherzusehender, unglücklicher Zufall, der jedem Flotten-Commander hätte zustoßen können, der einen ähnlichen Auftrag durchzuführen hatte.« Dal Klar räusperte sich und fuhr dann fort: »Wir haben Zeugen gehört, die bestätigt haben, wie streng die Zucht und wie hoch der Ausbildungsgrad in A-Rimans Flottenverband sind. Er legt auf beides besonderen Wert. Also können wir ihm keine Nachlässigkeit anlasten.« Dal Klar schwieg. Ka Bensir blickte ein anderes Kollegiumsmitglied an. »Ich hätte es vielleicht ein bißchen anders ausgedrückt, Sir, aber ich habe dem nichts hinzuzufügen. Der Commander hat recht.« Zwei weitere Mitglieder schlossen sich dieser Meinung an. Nur Sektorchef Sesnir schüttelte den Kopf und sagte: »Ich scheine mit meiner Ansicht die Minderheit darzustellen. Gut. Aber ich halte es für selbstmörderisch, diese jungen, halbzivilisierten, aggressiven Kulturen mit Samthandschuhen anzufassen. Ehe wir ihnen unsere Moralbegriffe beibringen können, werden sie uns unermeßlichen Schaden zufügen. Vielleicht schaffen sie es sogar, jüngere Mitglieder unserer Föderation zum Abfall zu bewegen und eine rivalisierende Föderation zu errichten. Dann säßen wir ernsthaft in der Klemme. Ich habe A-Rimans
Kommentare gelesen. Ich kenne die moralischen Vorstellungen dieses ›kämpfenden Philosophen‹. Ehrlich gesagt: ein solcher Mann gehört nicht in die Flotte. Er ist zu weich.« Der Vorsitzende nickte. »Ich behalte mir meinen Kommentar bis zum Schluß vor«, sagte er. »Wollen die Herren bitte Ihre Urteile zu Protokoll geben?«
Ein paar Minuten später schob der Protokollführer einige Blätter in den Bildgeber, der vor ihm stand. Der Wandschirm leuchtet auf. Die Kleeros, ein Schiff der A-Klasse, ging verloren, und im Sektor Siebzehn entstand eine dauernde Raumverwerfung, weil Flotten-Commander Dalthos A-Riman fahrlässig seine Flotte ohne vorhergehende Erkundung gegen eine feindliche Streitmacht führte, statt die verbrecherische Zivilisation durch Waffeneinsatz aus sicherer Entfernung zu vernichten. Ka Bensir deutete auf Dal Klar. Dieser schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er mit Nachdruck. Ka Bensir wandte sich an den nächsten. Wieder ein entschiedenes Nein. Nur einer stimmte dieser Version des Urteils zu. Ka Bensir gab dem Protokollführer ein Zeichen. Wieder leuchtete der Wandschirm auf. Die Kleeros, ein Schiff der A-Klasse, wurde von ihrem Captain selbst vernichtet, um größeres Unheil abzuwenden. Die Ursache des Versagens des Raum-Schergerätes an Bord der Kleeros läßt sich nicht feststellen, weil niemand die Vernichtung des Schiffes überlebt hat und vor der Selbstvernichtung keine Nachrichtenverbindung mit der Kleeros bestand. Flotten-Commander Dalthos A-Riman handelte entsprechend seinen Befehlen und zeigte wünschenswerte Umsicht und untadeliges Verhalten. Das
Versagen der Kontrollgeräte an Bord der Kleeros, was zu einer permanenten Raumverwerfung führte, konnten weder vom Flotten-Commander noch von Captain Naiver Tero vorausgesehen werden. Da der Einsatz des Raum-Schergerätes zur Verteidigung der Raumschiffe der Föderation zulässig und aus taktischen Gründen unerläßlich ist, ist weder Captain Tero dafür zu tadeln, daß er um Erlaubnis zum Einsatz dieser Waffe gebeten, noch Commander A-Riman, daß er diese Erlaubnis erteilt hat. Die Katastrophe, die auf den Einsatz dieser Waffe folgte, muß auf Umstände zurückgeführt werden, die von beiden Beteiligten weder hätten vorhergesehen noch beeinflußt werden können. Wieder deutete Ka Bensir auf Dal Klar. »Ich stimme zu«, sagte der junge Commander. Auch der nächste nickte. Der nächste ebenfalls. Und so fort. Schließlich klopfte Ka Bensir mit den Knöcheln mehrmals auf die Tischplatte. »Die Beurteilungen sind also vollzählig. Da wir entschieden haben, daß Commander A-Rieman keinen Tadel verdient, ist dieser Punkt geklärt. Wie steht es mit einer Auszeichnung für Captain Tero und seine Mannschaft?« »Verdienstorden der Föderation für Tero. Würdigung im Flottenbefehl für die Mannschaft«, meldete sich eine Baßstimme. »Verdienstorden zweiter Klasse!« rief eine andere Stimme. »Sind alle dafür?« Zustimmendes Murmeln. »Einstimmig angenommen«, sagte Bensir. »Ich gebe das zu Protokoll.« Vandor ka Bensir zog seinen Säbel. »FlottenCommander Dalthos A-Riman soll wieder hereinkommen«, befahl er. Er legte den Säbel so auf das Pult, daß die nadelfeine Spitze von der Tür weg und auf den Wandschirm gerichtet war, wo das gültige Urteil des Kollegiums aufleuchtete und die Belobigung für den Captain und die Mannschaft der Kleeros. A-Riman trat in den Saal. Er sah die blanke Waffe auf dem Pult und nickte. Dann las er das Urteil auf dem Wandschirm.
»Ich bedanke mich, Gentlemen«, sagte er. »Die Untersuchung ist vorüber. Ich bitte um Erlaubnis jetzt eine Bitte vortragen zu dürfen. Ich möchte zum Fahndungskorps versetzt werden. Ich glaube, daß ich dort nützlicher bin als in der Kampftruppe.« Er deutete mit dem Kopf auf den Wandschirm. »Trotz dieses Urteils ist es durchaus möglich, daß einige von Ihnen mir hierin beipflichten. Der wahre Grund für meinen Wunsch um Versetzung ist folgender: ich möchte der Föderation gewisse Verbesserungsvorschläge unterbreiten, die die Arbeit der Flotte in Zukunft erheblich erleichtern könnten. Nur im Fahndungskorps kann ich Beweise erbringen, die meine Verbesserungsvorschläge untermauern sollen. Darauf kommt es mir an, Gentlemen.« Das Offizierskasino des Sektor 10 war nur mäßig besucht. Commander A-Riman betrat gerade den Speisesaal. An einem Tisch entdeckte er zwei alte Bekannte. Er ging sofort auf sie zu. »Habt ihr was dagegen, wenn ich mich zu euch setze?« Die beiden sahen auf. »Dalthos, altes Haus!« rief der eine. »Wo kommst du denn her? Ich dachte, du treibst dich im Sektor 17 herum?« A-Riman zog sich einen Stuhl heran. »Habe mich zu euch versetzen lassen, Veldon«, sagte er, während er sich setzte. »Ich bin der neue Gruppen-Commander vom Fahndungskorps.« Veldon Bolsein sah ihn prüfend an. »Hörte, daß du Schwierigkeiten hattest, weil eine Raumschere verrückt spielte. Was ist passiert? Haben Sie dir eine Zigarre verpaßt?« »Nein. Die Anklage wurde fallen gelassen.« A-Riman lächelte. »Ich habe selbst um Versetzung zum Fahndungskorps gebeten.«
Bolsein wölbte die rechte Augenbraue, legte den Kopf schief und blickte A-Riman ins Gesicht. »Ich habe wohl nicht richtig gehört«, sagte er. »Was hast du gesagt? Du hast selber um Versetzung gebeten?« »Richtig.« »Hirnverbrannt«, murmelte Flotten-Commander Plios Knolu und stemmte die Ellenbogen auf den Tisch. Er beugte sich vor, legte das Kinn auf die Hände und sah A-Riman mitleidig an. »Sag mal, haben sie dir mit einem Knüppel das Gehirn weichgeklopft? Oder haben sie es dir gleich ganz herausgenommen?« A-Riman lehnte sich zurück und lachte. »Ich bin noch Herr meiner sämtlichen Sinne. Und ich habe…« »Vorsicht!« warnte Bolsein mit leiser Stimme. Er stand auf. A-Riman sah sich um und entdeckte den Sektorchef, der eben den Saal betreten hatte. Er und Knolu erhoben sich ebenfalls. Sektorchef Dal-Kun nahm am Kopfende des Tisches Platz. »Gesundheit, meine Herrn!« begrüßte er sie. »Wie ich sehe, kennen sich die Herren bereits.« Er überflog die Speisekarte und wählte eine Nummer. »Habe mir vorhin Ihre Akte vorgenommen, A-Riman.« Er blickte über den Tisch. »Sieht gut aus. Selbst die verdammte Raumverwerfung hat Ihnen nichts geschadet. Man hat Ihnen das nicht angelastet.« Er schwieg, während das bestellte Gericht auf der Tischplatte auftauchte. Er hob den Deckel von der Schüssel und kostete. »Die Versorgung funktioniert, wie ich sehe.« Er nahm eine Kelle. »Ich verstehe nur nicht, warum Sie sich zum Fahndungskorps versetzen ließen. Da gibt es nicht die geringste Aussicht auf Beförderung.« A-Riman lächelte. »Das versuchte ich gerade Bolsein und Knolu zu erklären, als Sie hereinkamen, Sir.« Er schwieg einen Moment, um seine Gedanken zu sammeln. »Ich habe mich
intensiv mit Kriminologie beschäftigt. Dabei kamen mir ein paar neuartige Ideen, wie man in jungen Zivilisationen das Verbrechen schon im Keime ersticken könnte. Vorbeugung, verstehen Sie? Ich würde meine Theorien gern in der Praxis erproben. Es gibt Planetensysteme in diesem Sektor, die sich für diesen Versuch geradezu anbieten, und ich…« Dal-Kun legte sein Besteck auf den Tisch. »Damit würde ich mich nicht so sehr beeilen, Commander. Wenn Sie einige Zyklen lang Ihren Dienst zufriedenstellend versehen haben, lasse ich gern mit mir reden. Neue Theorien… « Er griff wieder nach seinem Besteck. »Hier treiben sich junge Taugenichtse herum, die die Quarantänevorschriften brechen, Schwierigkeiten machen, die Raumfahrtbestimmungen verletzen. Mit denen werden Sie eine Weile lang genug zu tun haben.« Er schnaufte ärgerlich. »Im Augenblick liegen fünf Haftbefehle in Ihrer Abteilung. Aber Ihre Leute scheinen sie aus irgendeinem unerfindlichen Grunde nicht ausführen zu können.« »In diesem Fall werde ich mich sofort an die Arbeit machen«, erwiderte A-Riman. »Kann ich mit Unterstützung durch die Flotte rechnen?« Der Sektorchef brummte: »Weshalb nicht? Commander Knolu hat zwei Zyklen lang nichts anderes als Patrouillendienst geschoben. Schadet ihm gar nichts, wenn er seinen fetten Hintern ein bißchen bewegt.« Dann begann er zu essen. Nachdem der Chef sich zurückgezogen hatte, ließ sich Bolsein ein zweites Glas Telon kommen und lehnte sich zurück. »Der Chef ist zwar ein Rauhbein, aber sonst ganz in Ordnung«, sagte er. »Du kannst immer mit seiner Unterstützung rechnen.« »Was sind das denn für neue Ideen, mit denen du dich herumschlägst, A-Riman?« fragte Knolu.
»Habt ihr schon mal den Befehl erhalten, einen Planeten zu schleifen oder zu vernichten?« Knolu nickte. »Sicher, ein paarmal schon. Erst vor zehn Zyklen habe ich in diesem Sektor so einen Befehl ausführen müssen.« »Aha. Und wie war dir dabei zumute?« Knolu schüttelte den Kopf. »Wie kommt man sich schon vor, wenn man Leben vernichten muß? Beschissen! Aber der Hohe Rat gibt keinen Befehl, der nicht gerechtfertigt ist. Dem Rat gefällt das auch nicht, wenn wir Substanz verlieren.« »Vielleicht gibt es eine Möglichkeit, auf solche destruktiven Maßnahmen in Zukunft zu verzichten. Wie fändest du das?« Bolsein kniff die Lider zusammen. »Viele Commander würden erleichtert aufatmen.« Er seufzte. »Aber ich sehe da schwarz. Sobald eine junge Zivilisation die Raumfahrttechnik entwickelt hat, setzen wir uns mit ihr in Verbindung. Meistens scheitern die Verhandlungen. Sie glauben, allein kommen sie besser zurecht. Bald wird ihnen ihr eigenes Planetensystem zu klein. Sie versuchen, Planeten der Föderation zu erobern. Dann erhalten wir den Befehl zum Eingreifen.« »Wenn wir uns aber mit diesen Zivilisationen in Verbindung setzen, ehe sie die Raumfahrt beherrschen?« »Das verstößt gegen unsere Grundsätze, wie du weißt.« »Ist Betreuung und Anleitung vielleicht unmoralisch?« Knolu setzte sich aufrecht hin. »Ah, jetzt verstehe ich, was du vorhast. Aber wer von uns ist schon bereit, auf einem primitiven Planeten unter primitiven Wesen zu leben, sie anzuleiten und zu unterrichten? Abgesehen von der Zeit und dem Idealismus, den man dafür aufwenden muß – wer garantiert für den Erfolg?« A-Riman lächelte. »Ihr habt ja gehört, was der Chef gesagt hat. Fünf Leute stehen auf dem Fahndungsblatt. Ich habe die Akten noch nicht gesehen. Aber ich gehe jede Wette ein, daß
mindestens drei von ihnen gegen die Quarantänevorschriften verstoßen und sich auf primitiven Planeten aufgehalten haben. Und… « Bolsein unterbrach ihn mit einer energischen Geste. »Alle fünf, mein Lieber. In unserem Sektor haben wir besonders viel Ärger mit solchen Leuten. Im letzten Zyklus mußte ich mich sogar mit einer ganzen Bande von ihnen herumschlagen. Sie hatten eine Art Planeten-Schachspiel entwickelt, wobei die Bewohner des Planeten als Schachfiguren herhalten mußten.« Er schüttelte den Kopf. »Meine Offiziere waren so schockiert, daß sie die Übeltäter an Ort und Stelle vernichteten. Brachten sie erst gar nicht hierher zur Rehabilitierung.« »Damit bestätigst du nur, was ich beweisen will«, sagte ARiman. »Es gibt eine Reihe von Leuten, die auf primitiven Planeten unter primitiven Wesen leben – freiwillig.« »Sicher«, entgegnete Bolsein. »Aber das sind Schmarotzer.« »Was ist ein Schmarotzer?« Knolu lehnte sich zurück und lächelte: »Das steht in der Dienstvorschrift. Ein Schmarotzer ist ein Wesen, das keine produktive Arbeit leistet. Sobald ein Schmarotzer seinen Lebensunterhalt gesichert hat, verwendet er seine gesamte Zeit und Energie nur noch dafür, sich zu vergnügen.« Er beugte sich vor. »Ich hätte zu diesem Thema noch viel mehr zu sagen. Meiner Ansicht nach ist ein Schmarotzer ein Wesen, das sofort in die Besserungsanstalt gehört, sobald es die typischen Symptome entwickelt.« Er winkte mit der Hand ab, als Bolsein ihn unterbrechen wollte. »Ich weiß, was du sagen willst. Ich kenne den Sittenkodex der Truppe. Wir sollen uns nicht in die Lebensgewohnheiten der Zivilisten einmischen, solange sie dem Gemeinwohl nicht schaden, nicht gegen Sitte und Moral verstoßen und sich in die Privatsphäre des Nachbarn nicht einmischen. Aber man sollte eine Ausnahme machen. Schon
nach wenigen Zyklen sind ihnen die harmlosen Vergnügungen zu langweilig. Sie kommen auf raffinierte Einfälle. Schließlich ist ihnen auch das Raffinierte nicht mehr gut genug, und sie suchen das Ausschweifende, Amoralische und schließlich das Verbrecherische. Am Schluß steht dann der Haftbefehl. Warum behandeln wir sie nicht gleich als das, was sie am Ende sowieso werden?« »In einer Zeit, die mehr als tausend Perioden zurückliegt«, berichtete A-Riman, »lange bevor die Celstoraner sich in den Weltenraum hinauswagten, hatte sich mein Planet mit einem ähnlichen Problem herumgeschlagen. Sicher, es war nicht von so großer Tragweite wie unser Problem heute, aber die Voraussetzungen waren ähnlich. Die Gouverneure organisierten so etwas wie eine Gedankenpolizei, um das Übel schon im Keim zu ersticken. Doch das führte zur Diktatur, und die Zivilisation von Celstor wurde mindestens um tausend planetarische Zyklen zurückgeworfen. Wir kehrten fast wieder in den primitiven Zustand der Barbarei zurück. Erst eine globale Revolution schaffte hier Abhilfe, beseitigte die Gouverneure und vernichtete den Polizeistaat. Schließlich gründeten wir die Republik Celstor, doch das ging nicht ohne reaktionäre Bewegungen ab, die immer wieder niedergekämpft werden mußten. Nein, wir wollen die Ethik oder den Moralkodex nicht verbessern oder ergänzen. Wir wollen sie lediglich besser anwenden.« Er blickte Knolu an. »Kommen wir auf meine erste Frage zurück: Was ist ein Schmarotzer. Meiner Ansicht nach ist das ein Wesen, dessen Ausbildung unvollkommen war. Oder nicht den gewünschten Erfolg hervorbrachte. Er ist ein Wesen, das nach Abenteuern sucht – oder nach Betätigung, wenn man so will. Doch er ist nicht gewohnt, die Disziplin zu üben, die zu jeder schöpferischen Arbeit gehört. In unserer hochentwickelten Zivilisation kann man sich mühelos die Nahrung beschaffen, die man zum
Leben braucht. Jede beliebige Menge. Mit unseren Materieumwandlern können wir überall leben, gut leben. Nahrung und materieller Besitz ist heute kein Problem mehr, kein Anreiz. Die meisten von uns – Leute mit Bildung und Einsicht –, beziehen ihr Vergnügen und ihre Befriedigung aus dem Gefühl, etwas geleistet zu haben. Der Schmarotzer hat diesen Grad der Entwicklung jedoch noch nicht erreicht. Erst wenn seine Vergnügungssucht ihn bereits auf eine schiefe Bahn gebracht hat, ist er gemäß unseren Vorschriften reif für Besserungsmaßnahmen. Nach seiner Rehabilitierung kann aus ihm sogar ein nützliches Mitglied der galaktischen Gemeinschaft werden. Wie du weißt, trifft das in den meisten Fällen zu.« »Da spricht der ›kämpfende Philisoph‹«, sagte Knolu und lachte. »Seitdem die A-Rimanschen ›Ergänzungen zur Galaktischen Ethik‹ erschienen sind, lebt der Verfasser in einer selbsterschaffenen Welt.« »Irrtum«, widersprach A-Riman. »Ich habe nur versucht, eine moralische Bestandsaufnahme zu liefern. Ich wollte die gesamte galaktische Zivilisation auf einen Nenner bringen. Ich suche nach einer Lösung für die Probleme der jungen Zivilisationen. Die meisten von ihnen sind wie Phönix aus der Asche älterer Kulturen erstanden, die sich entweder selbst zerstört haben oder das Opfer interstellarer Auseinandersetzungen wurden.« Er hielt nachdenklich inne und fuhr nach einer Weile wieder fort. »Es dauert lange, bis ein ausgebrannter Planet eine neue Zivilisation entwickelt. Es dauert noch länger, bis man eine erloschene Sonne wieder zum Strahlen bringt, damit sie ihre Trabanten mit lebensnotwendigem Licht versorgen kann. Nehmen wir als Beispiel das Imperium von Findur. Als mein Vater noch zur Schule ging, erwachte das Imperium zu geistigem Leben, erfand die erste primitive Schrift, entdeckte die ersten
Naturgesetze. Jetzt wurde dieses Imperium von einem meiner Captains ausgelöscht. So etwas darf nicht mehr geschehen. Der Fortschritt intelligenter Kulturen muß gesichert werden.« »Aber wie?« fragte Bolsein. »Zuerst werde ich meine Agenten einsetzen. Sie sollen sich zehn Zyklen lang auf diesen primitiven Planeten aufhalten. Natürlich muß ich sie anschließend auf einen längeren Urlaub schicken. Aber ich hoffe, daß ihr Wirken unter den Primitiven nicht umsonst war. Ich wünsche, daß wir diese erwachenden Kulturen in eine bestimmte Richtung leiten können, damit sie nicht falschen Götzen verfallen. Wir wollen sie mit den Grundzügen der galaktischen Ethik vertraut machen, damit sie später freiwillig in der Galaktischen Föderation mitarbeiten wollen, sobald ihnen die Existenz dieser kosmischen Gemeinschaft bewußt wird. Wenn uns das gelingt, finden wir auch genügend Freiwillige für diesen moralischen Entwicklungsdienst auf primitiven Welten. Vielleicht können wir auch unter den Eingeborenen dieser Welten freiwillige Helfer rekrutieren, die wir ausbilden und auf ihrem Heimatplaneten arbeiten lassen. Wenn Schmarotzer und Müßiggänger auf primitiven Planeten leben können, warum dann nicht auch verantwortungsbewußte Männer, die etwas Nützliches leisten? Sie sollen an der Wiege neuer Zivilisationen Pate stehen, sie von ihren barbarischen Anfängen an begleiten, bis sie sich zur Raumfahrt empor entwickeln. Mit dem richtigen moralischen Rüstzeug versehen, verfolgen diese jungen Kulturen dann nicht das ehrgeizige Ziel, sich ein eigenes Imperium aufzubauen. Sie werden sich in unsere bestehende Gemeinschaft einordnen, in einen fruchtbaren Austausch von Ideen und technischen Entwicklungen mit den übrigen galaktischen Welten treten, nützliche und ehrenwerte Mitglieder der Föderation werden.«
»Aha. Und wie sieht das praktisch aus?« fragte Knolu. »Ganz einfach. Auf meiner Liste stehen fünf Leute, die ich verhaften soll. Der Chef verlangt, daß sie so rasch wie möglich unschädlich gemacht werden sollen. Er gibt mir eine Frist von fünf Zyklen, um Vollzugsmeldung zu erstatten. Ich brauche eure Unterstützung, dann kann es losgehen.« Bolsein schüttelte den Kopf. »Ich hätte nie gedacht, daß ich eines Tages Befehle vom Fahndungskorps entgegennehmen würde. Also, was brauchst du? Ein paar hundert Aufklärer oder vielleicht gleich die ganze Flotte?«
Besiro war wirklich der Juwel des Planeten. In der Hauptstadt waren alle Talente, die Intelligenz, die Schönheit und der Reichtum versammelt. Hier trafen sich aber auch die schlimmsten Diebe und Verbrecher dieses Planeten. Nach Einbruch der Dunkelheit gingen die Stutzer des Hofes und die reichen Edelleute nie ohne Leibwache auf die Straße. Die reichen Kaufleute hielten es ebenso. Um so sonderbarer war das Verhalten eines Fußgängers, der sich lange nach Einbruch der Dunkelheit in einer dunklen Nebenstraße dem Gasthaus »Zu den drei Königen« näherte. Der Mann war kostbar gekleidet. Der Federhut, mit Juwelen besetzt, war nach der neuesten Mode. Dasselbe traf auf die Spitzen und Jabots, die wattierten Schultern und die kostbaren Schnallen an den Schuhen zu. Die Knöpfe am Jackett funkelten im trüben Licht der Straßenbeleuchtung wie Fixsterne am Himmel. Er ging lässig dahin, warf ab und zu einen gelangweilten Blick auf die geschlossenen Fensterläden zu seiner Rechten. Dann stieß er auf eine dunkle Einfahrt. Er blieb stehen, neigte lauschend den Kopf, lächelte und setzte seinen Weg fort. Mit der rechten Hand strich er sanft über seinen Gürtel. Dann packte er seinen Degen. In der Einfahrt
gab der Matrose Klur flüsternd letzte Anweisungen. »Hör zu, Einauge«, sagte er. »Sobald er in Reichweite kommt, wirfst du dich gegen seine Beine. Slogger und ich murksen ihn ab, ehe er wieder auf die Füße kommt.« Die Schritte wurden lauter. Klur gab Einauge einen aufmunternden Stoß. »Jetzt!« flüsterte er. Einauge hechtete aus dem Torbogen. Im gleichen Augenblick blieb der Fußgänger stehen, wich einen halben Schritt zurück. Einauge begriff nicht mehr, wie kläglich er seinen Auftrag verpatzt hatte. Der lange, scharfe Degen in der ringgeschmückten Hand des Stutzers trennte ihm den Kopf vom Rumpf, ehe sein Körper auf dem Pflaster aufschlug. Dann drehte sich das Opfer des geplanten Überfalls behende um und ließ Klur in den Degen laufen. Klur sah nur noch verschwommene Umrisse von Spitzen und Borten, ehe er auf der Straße zusammenbrach. Dann ging der Stutzer zum Angriff über, drückte Slogger mit der Degenspitze gegen die Hausmauer. Slogger hielt vor Entsetzen die Luft an. »Herr, bitte… mit Verlaub, ich wurde gezwungen. Ich bin ein friedlicher Bürger. Ich hätte Ihnen nichts getan. Bei meiner Ehre… ich hätte es nie versucht.!« Der Stutzer lächelte. »Ich sehe, daß du die Wahrheit sprichst«, sagte er. »Laß deinen Knüppel fallen!« Der Knüppel rollte über das Pflaster. »Deine Hilflosigkeit rührt mich«, fuhr der Stutzer fort. »Im Vergleich zu den beiden streitsüchtigen Männern, die hier tot zu unseren Füßen liegen, bist du nur ein armer Wicht.« Er senkte den Degen. »Troll dich!« befahl er. Slogger seufzte erleichtert und drehte sich um, um sich aus der Gefahrenzone zu retten. Die Degenspitze zuckte hinter ihm her. Slogger schrie auf vor Schmerz und Überraschung. Das Blut im Hals erstickte seinen Schrei. Der Stutzer blickte hinunter auf den Toten. Er schüttelte den Kopf. »Abschaum«, murmelte er und
untersuchte die beiden anderen Toten. Klur hatte noch die sauberste Jacke an. Er beugte sich vor, und wischte sorgfältig seinen Degen an Klurs Kleidern ab. Dann schob er ihn zurück in die Scheide, rückte den Federhut wieder gerade und setzte beschwingt seinen Weg fort. Manir Kal, der beste Fechter des Landes, hatte sein Können wieder einmal eindrucksvoll bewiesen…
Die Berichte waren ausführlich und gingen sehr auf die Einzelheiten ein. A-Riman las sie einmal rasch durch und studierte sie dann zum zweitenmal. Ab und zu nickte er mit dem Kopf. Ein paar von seinen Agenten waren gut, andere hervorragend. Er drückte auf einen Knopf am Schreibtisch. Nichts. Er runzelte die Stirn und probierte einen zweiten Knopf. Wieder nichts. A-Riman blickte entrüstet auf die Ruftafel und drückte die nächsten Knöpfe. Sein Sprechschirm blieb dunkel. Schließlich blieb nur noch ein Knopf »Konferenz«. Er legte den Finger darauf und wartete, ob diesmal etwas Positives geschah. Nach einer Minute leuchtete ein Licht auf dem Pult auf. A-Riman betätigte den Knopf unter dem Licht, die Tür ging auf, und ein Captain trat herein, stand stramm, legte die Hand salutierend an die Mütze und meldete: »Captain Poltar zur Stelle, Sir.« Er blieb in strammer Haltung stehen. »Rühren, Captain«, befahl A-Riman. »Warum haben Sie sich nicht auf dem Sprechschirm gemeldet?« Der Captain verharrte noch immer in strammer Haltung. »Unser bisheriger Vorgesetzter bestand auf persönlichem Erscheinen, Sir.« Er nahm die Hände von der Hosennaht. »Machen Sie mal die Tür auf«, befahl A-Riman. »Ich glaube, da kommen noch mehr. Anschließend besorgen Sie sich eine Sitzgelegenheit.«
Eine Stimme drang von draußen herein: »Wahrscheinlich sollen wir die Wachen bei den verdächtigen Planeten überprüfen. Als ob wir nicht schon genug…« Die Stimme brach ab, als der Sprecher merkte, daß die Tür zum Büro seines Gruppen-Commanders offenstand. Zwei Offiziere kamen herein, die Köpfe rot vor Verlegenheit. Sie standen stramm, salutierten und warteten auf eine Strafpredigt. »Setzen Sie sich, meine Herren«, sagte A-Riman freundlich. »Wir sind doch bestimmt noch nicht vollzählig.« Tatsächlich kamen noch drei Offiziere herein und salutierten. »Rühren, meine Herren«, sagte A-Riman und wendete sich dann Captain Poltar zu. »Können wir noch mit weiteren Offizieren rechnen?« fragte er. Poltar zählte und schüttelte den Kopf. »Vollzählig, Sir. Die anderen haben dienstfrei oder arbeiten im Außendienst.« »Gut«, sagte A-Riman. »Schicken Sie diese Leute später zu mir. Einzeln.« Er wendete sich jetzt den Versammelten zu. »Meine Herren«, sagte er, »das ist meine erste und wahrscheinlich auch meine letzte Stabsbesprechung.« Er hob abwehrend die Hand. »Nein, verstehen Sie mich nicht falsch. Ich hoffe, noch viel Zyklen lang auf diesem Platz zu sitzen. Aber ich werde dafür sorgen, daß der Konferenz-Knopf stillgelegt wird.« Er wendete sich wieder Captain Poltar zu. »Was taten Sie gerade, als ich auf den Knopf drückte?« »Ich schrieb an meinem Deci-Zyklus-Bericht, Sir.« »Es dauerte über eine Minute, bis Sie sich zur Stelle meldeten.« »Jawohl, Sir.« »Wie lange wird es dauern, bis Sie an Ihren Platz zurückkehren und mit ihrer Arbeit fortfahren können?« »Ungefähr zehn Minuten oder eine Viertelstunde, Sir.«
»Sie verlieren also eine Viertelstunde von Ihrer Arbeitszeit. Dazu kommt noch die Zeit, die wir hier für unsere Konferenz brauchen. Wie lange wird sie Ihrer Schätzung nach dauern?« »Wahrscheinlich anderthalb Stunden, Sir.« A-Riman sah sich im Kreis seiner Offiziere um. »Ist jemand der Anwesenden der Meinung, er würde weniger Zeit verlieren?« Schweigen. »Ergebnis«, fuhr der Commander fort. »Ich drücke auf einige Knöpfe und verliere neun Arbeitsstunden. Das ist ein ganzer Arbeitstag.« Stirnrunzelnd betrachtete er die Knöpfe an seinem Schreibtisch. »Mr. Kelnar, Sie sind doch Ingenieur. Ich gebe Ihnen den Auftrag, die Leitungen so zu verlegen, daß ich mich mit meinen Offizieren über den Bildschirm unterhalten kann.« Ein älterer Offizier erhob sich und sagte: »Ich werde das sofort erledigen, Sir.« »Augenblick!« rief A-Riman. »Sie waren doch früher bei der kämpfenden Truppe. Wieso haben Sie sich versetzen lassen?« »Bruchlandung, Sir, mit einem Reparaturschiff. Als man mich wieder zusammengeflickt hatte, entschied die Kommission, ich sei für den aktiven Truppendienst nicht mehr geeignet.« »Warum gingen Sie dann nicht in Pension?« »Mir gefällt es bei dieser Truppe, Sir.« A-Riman entließ den Mann mit einer Handbewegung. Der Ingenieur-Offizier salutierte und zog sich zurück. A-Riman sah ihm nach, nickte nachdenklich und wendete sich dann wieder den anderen Offizieren zu. »Vielleicht ist die Zeit, die wir heute in diesem Raum gemeinsam opfern, gar nicht verschwendet«, sagte er leise. »Reden wir zuerst von meiner Philosophie. Was ich von diesem Betrieb hier halte. Auch ich komme von der kämpfenden Truppe, meine Herren. Niemand hat mich gezwungen, hierherzukommen. Ich ließ mich versetzen – aus ähnlichen Gründen wie Mr. Kelnar. Mir gefällt
es hier. Von jetzt an gibt es hier nur noch Arbeitsstunden. Wir werden keine Zeit mehr für Konferenzen, Berichte und so weiter haben. Wenn ich einen von Ihnen rufe, meine Herren, dann meldet er sich sofort auf dem Sprechschirm. Und wenn Sie nicht in Ihrem Büro sind, meine Herren, muß man Sie in kürzester Zeit erreichen können. Sie rufen mich auf die gleiche Weise, wenn Sie Fragen haben. Kann sein, daß ich mich zufällig gerade am anderen Ende des Sektors befinde. Doch dann ist jemand in meinem Büro, der genau weiß, wo ich zu erreichen bin.« Er nahm die Mikroaufnahmen der Haftbefehle vom Tisch und hielt sie hoch. »Wir sollen fünf Schmarotzer festnehmen, die die Quarantänebestimmungen des fünften Planeten des dritten Gordischen Sonnensystems verletzt haben. Sie sind immer noch auf freiem Fuß und halten sich vermutlich auf jenem Planeten auf. Weshalb?« »Unsere Wachen liegen bereit. Sie haben das betreffende Sonnensystem eingekreist. Wir warten darauf, daß die Leute den Planeten wieder verlassen. Bis jetzt ist das nicht geschehen.« Captain Poltar gab diese Auskunft mit etwas zögernder Stimme. »Und die Delinquenten befinden sich tatsächlich auf diesem Planeten, wie?« »Kein Zweifel, Sir. Wir haben sie im Sucher gehabt, bis sie auf dem Planeten landeten. Dann schlossen wir sie ein. Nicht ein Staubkörnchen könnte ohne unser Wissen die Sperre durchdringen. Wir behalten sie ständig im Auge.« »Und wie sehen Ihre operativen Maßnahmen aus?« »Das steht in meinem Bericht, Sir«, gab ein anderer Offizier zur Antwort. »Zehn mit zwei Männern besetzte Aufklärer umkreisen den Planeten im Nahorbit. Die Detektoren sind ständig auf Betrieb geschaltet. Wir wissen sofort, wann und wo sie sich bewegen.«
»Zwanzig Ihrer Leute arbeiten also Tag und Nacht, um ein Mauseloch zu bewachen«, sagte A-Riman. »Warum schicken Sie nicht einfach fünf Ihrer Leute hinunter, nehmen die Delinquenten fest und liefern sie ein?« Captain Poltar machte ein schockiertes Gesicht. »Ich muß mich an die Bestimmungen halten, Sir.« »Aha. Welche Bestimmungen?« »Ich glaube, SGR 344 – 53 – 4, Sir. Ich werde nachsehen, wenn Sie es genauer wissen möchten, Sir.« A-Riman lächelte und sagte trocken: »Bemühen Sie sich nicht. Ich habe schon selbst nachgesehen. Darin heißt es: ›Nur im äußersten Notfall dürfen Wachmannschaften auf einem primitiven Planeten landen. Dazu muß die Erlaubnis einer vorgesetzten Dienststelle eingeholt werden.‹ Haben Sie sich um die Erlaubnis Ihrer vorgesetzten Dienststelle bemüht, Captain?« »Nein, Sir. Commander Redendale hat die vorgesetzte Dienststelle nicht anrufen wollen. Er sagte, er will die Unfähigkeit meiner Leute nicht vor dem Hohen Rat verantworten müssen. Denn niemand anders sei in unserem Fall als vorgesetzte Dienststelle zu verstehen, sagte er. Primitive Aufträge sollten auch mit primitiven Mitteln erledigt werden, sagte er. Meine Leute sollten die Delinquenten vom Planeten weglocken.« Der Commander lächelte. »Er hat Ihnen wohl auch verraten, nach welchem Rezept Ihre Leute verfahren sollen, wie?« »Leider nicht, Sir.« Und so etwas haben sie zur kämpfenden Truppe versetzt, dachte A-Riman. Er schüttelte den Kopf und drückte auf eine Reihe von Knöpfen auf seinem Schreibtisch. Der Sprechschirm leuchtete auf. Ein Gesicht erschien, und eine energische Stimme meldete sich: »Büro des Admirals – Ordonnanz zur Stelle.«
»CAC-Gruppen-Commander«, meldete sich A-Riman. »Verbinden Sie mich mit dem Admiral.« »Jawohl, Sir.« Die Ordonnanz drückte auf einen Knopf, und das Gesicht verblaßte. Ein paar Sekunden später erschien das Gesicht von Sektorchef Da-Kun auf dem Schirm. »Ja, Commander? Was wünschen Sie?« »Sir, ich bitte um die Erlaubnis, zehn meiner Leute auf einem primitiven Planeten absetzen zu dürfen.« »Weshalb?« »Ich habe fünf Haftbefehle, Sir. Die Delinquenten sind geortet worden, und ich möchte sie festnehmen. Dazu muß ich ein paar meiner Männer auf dem Planeten absetzen.« »Wann hat man die Leute geortet?« »Vor einem halben Zyklus, Sir.« Das Gesicht des Sektorchefs verfärbte sich. »Warum hat man mich nicht schon vor einem halben Zyklus um Landeerlaubnis gebeten?« »Diese Frage kann ich Ihnen leider nicht sofort beantworten. Das entzieht sich meiner Kenntnis«, erwiderte A-Riman leise. »Dann stellen Sie den Grund fest, Commander. Ich möchte in einer Stunde Meldung darüber bekommen.« Der Sektorchef beugte sich vor. »Landen Sie und holen Sie diese Müßiggänger sofort von dem Planeten herunter. Vollzugsmeldung der fünf Haftbefehle innerhalb von zehn Tagen.« Das Bild auf dem Schirm erlosch. A-Riman blickte auf. »Meine Herren, Sie haben das Gespräch mitangehört. Sie wissen also jetzt, wo die vorgesetzte Dienststelle zu erreichen ist. Der Admiral hat eine Frist von zehn Tagen gesetzt. Ich weiß natürlich, daß man in dieser Zeit nicht einen ganzen Planeten durchkämmen kann.« Er schwieg einen Moment und blickte dann seine Offiziere der Reihe nach an. »Trotzdem werde ich die Bedingungen noch verschärfen. Wenn Ihre Leute wirklich etwas taugen und die
ganze Zeit über den Aufenthaltsort der Delinquenten kannten, dann können sie mir auch die Verhafteten morgen nach dem Mittagessen vorführen. Lebendig, verstanden?« Die fünf Offiziere sahen sich an. Dann wanderten die Blicke der fünf wieder zu ihrem Vorgesetzten. »Morgen, Sir?« stotterte einer von ihnen. »Gleich nach dem Mittagessen?« A-Riman nickte. »Lebend«, betonte er noch einmal. »Wie Sie das anstellen, ist Ihre Sache. Sie können meinetwegen den ganzen Planeten umkrempeln, wenn man das mit zehn Leuten überhaupt fertigbringt. Hauptsache, Sie schaffen mir die Missetäter herbei. Um das Porzellan, das Sie dabei zerschlagen, kümmern wir uns später. Also, meine Herren, an die Arbeit. Ich werde inzwischen dem Admiral erklären, warum Sie nicht schon viel früher tätig wurden.« A-Riman schaltete wieder den Sprechschirm ein. »Die Konferenz ist beendet.« Suchspezialist Kembar blickte mit saurem Gesicht auf sein Sprechgerät. »Einen halben Zyklus lang umkreise ich jetzt schon diesen Planeten und behalte ein paar Affen im Auge, die sich dort unten vergnügen. Aber ich darf ihnen kein Härchen krümmen. Ich sitze hier herum, drehe an den Knöpfen und beobachte sie. Ich darf nicht landen, um die Affen abzuholen – nein, ich muß stillsitzen.« Er sah seinen Kollegen finster an. Der grinste nur. »Das ist wirklich kein Spaß, du vorsintflutliches Steißtier! Da gibt’s nichts zu lachen!« Navigator Dayne streckte seine langen Arme aus. »Jetzt hast du den Befehl, die Burschen abzuholen. Was paßt dir denn nicht?« Kembar schüttelte den Kopf. »Diese verfluchte Zeitverschwendung!
Einen halben Zyklus kurven wir herum, und dann bekommen wir plötzlich den Befehl, die Burschen morgen zum Mittagessen dem Chef vorzuführen.« Er blickte auf die Uhr. »Okay, du setzt ganz nahe vor der Stadt auf, und wir rücken dann ein. Sag den anderen, daß wir uns im Park vor der Stadt treffen wollen.« Dayne nickte und schaltete die Landegeräte ein. »Die schleppen noch die altmodischen Mohrkan-Körperschilde mit sich herum, nicht wahr?« fragte er über die Schulter. »Ja«, erwiderte Kembar. Er holte einige Kleidungsstücke und Waffen aus einer Luke. »Achtung, Tarnprojektor einschalten!«
Das Gasthaus »Zu den drei Königen« war keine luxuriös ausgestattete Herberge. Es lag auch nicht im besten Viertel der Stadt. Ein paar Höflinge hatten den Gasthof aus irgendeiner Laune heraus zu ihrer Stammkneipe erkoren, und der Wirt, geschäftstüchtig wie er war, hatte diese Laune sofort ausgenützt. Er engagierte ein paar gute Leute, legte einige vorzügliche Weine in seinen Keller und behielt doch die Atmosphäre bei, die den Höflingen so sehr zu behagen schien: das Äußere einer rustikalen, etwas heruntergekommenen Spelunke. Im Gastzimmer standen lange rohe Holzbänke an den Wänden. Davor frischgescheuerte Holztische. Die Mitte des Raumes blieb frei, damit die Kellner sich schnell und ungehindert bewegen konnten. Manchmal führten die Gäste hier Duelle mit Degen aus. Doch der Wirt bemühte sich immer, solche Streithändel im Keim zu ersticken. Er sah es nicht gern, wenn Blut auf die sauberen Dielenbretter floß. In der geräumigen Diele vor dem Gastzimmer begrüßte Manir Kal seine Freunde. Balc schäkerte mit einer Kellnerin. Kemdor sah ihm dabei amüsiert zu. »Wo steckt Bintar?« fragte Kal.
Kem-dor deutete in den Hintergrund. »In der Küche«, sagte er. »Er paßt auf, daß sein Essen richtig zubereitet wird.« Balc schob die Kellnerin von sich. »Ich habe die Nase voll von diesem Rattenloch«, sagte er. »Immer dasselbe. Warum suchen wir uns nicht etwas anderes?« Kal schüttelte den Kopf. »Wir müssen noch eine Weile ausharren«, sagte er. »Malon meint, sie beobachten uns immer noch. Wir dürfen uns so lange nicht rühren, bis die da oben aufgeben.« Stirnrunzelnd sah er sich in der Diele um. Kem-dor nickte. »Du hast recht«, sagte er. »Aber es muß doch noch einen besseren Zeitvertreib geben als diese stumpfsinnige Spielhölle.« »Versuchen wir unsere Talente mal in ihren Krämerläden«, schlug Balc vor. »Vielleicht kommen wir da mehr auf unsere Kosten.« Kem-dor schnaubte verächtlich. »Das habe ich gleich zu Anfang versucht«, stöhnte er. »Zuerst war es ja ganz lustig, ihren primitiven Tricks zuzuschauen. Doch dann… « Er winkte mit seiner ringgeschmückten Hand ab. »Ich kann mir denken, was du sagen willst«, murmelte Kal. »Die Verbrecher hier haben auch nicht viel Mumm in den Knochen. Es kommt nie zu einem richtigen Duell.« Er näherte sich der Tür des Gastzimmers. »Los gehen wir hinein und ertränken wir unsere Langeweile im Wein… « Als Manir Kal die Gaststube betrat, steuerte er gleich auf seinen Stammplatz an einem Ecktisch zu. Dort saß ein großer, kräftiger Mann. Kal musterte ihn. Er war hager, so groß wie er selbst, nicht schlecht gekleidet, wenn auch nicht nach der allerletzten Mode. Wahrscheinlich ein Gutsbesitzer, der in die Stadt gekommen war, um den Karneval mitzumachen. Kal ging auf ihn zu. »Tut mir leid, mein Lieber«, sagte er herablassend, »aber das ist mein Platz.«
Der Mann sah zu ihm auf, machte aber keine Anstalten, sich von der Bank zu erheben. »Es gibt noch eine Menge Tische hier im Raum. Alle leer.« Er deutete auf den Tisch neben seinem. »Da ist zum Beispiel noch ein Platz frei.« Kal lächelte in sich hinein. Vielleicht hatte er endlich jemand gefunden, der ihm ein wenig Abwechslung bot. »Du scheinst mich nicht richtig zu verstehen«, sagte er streng. »Du sitzt auf meinem Platz. Willst du die Güte haben und ihn endlich räumen?« Der Angesprochene hob das Glas an den Mund und trank ruhig einen Schluck Wein. »Ich sagte doch schon, es sind noch andere Plätze frei«, erwiderte er und stellte das Glas auf den Tisch zurück. »Ich sitze schon eine ganze Weile hier. Es gefällt mir an diesem Platz.« Er musterte Manir Kal vom Kopf bis zu den Füßen. »An einem anderen Tisch werden Sie sich bestimmt auch nicht schmutzig machen.« Irgend jemand begann zu lachen. Manir Kals Gesicht lief dunkelrot an. Er strich leicht über seinen Gürtel, hob dann das Glas des Fremden auf und schüttete ihm den Inhalt ins Gesicht. Im gleichen Augenblick flankte der bäuerlich gekleidete Fremde über den Tisch. Manir Kal spürte den Faustschlag auf der Nase, und ein Schwinger trieb ihn quer durch den Raum an einen Tisch gegenüber. Irrsinnige Wut stieg in ihm hoch. Er riß den Degen aus der Scheide. »Dafür werde ich dir die Rippen einzeln aus dem Leib schneiden!« knurrte er. Doch der Fremde hielt selbst schon einen Degen in der Hand. »Los doch! Versuche es einmal!« Korno schob seinen fetten Körper zwischen die Streitenden. »Aber meine Herren!« beschwor er sie. »Wir wollen doch nicht…« Kal piekte ihn von hinten mit dem Degen. »Mach, daß du aus dem Weg kommst, du Idiot«, knurrte er, »oder ich lasse dir das Sägemehl aus dem Wanst!« Mit einem entsetzten Schrei sprang Korno davon, rieb sich das Hinterteil und sah mit verstörtem Gesicht dem Duell zu.
Die Klingen züngelten unter dem Gewölbe, schienen umeinander zu kreisen, während die beiden Duellanten sich abtasteten. Kal versuchte es mit einem blitzschnellen Ausfall. Aber der wurde pariert und mit einem Gegenstoß beantwortet, daß Kal fast das Gleichgewicht verloren hätte. Trotzdem fühlte er sich pudelwohl bei diesem Zweikampf. Hier war endlich ein ebenbürtiger Gegner. Er flocht ein verwirrendes Netz aus Stößen und Paraden und beendete das »Feuerwerk« mit seinem Lieblingstrick – einen Schlag, den er vor langer Zeit einmal gelernt hatte und der seinen Gegner entwaffnen sollte. Doch irgendwie ging diesmal der Trick daneben. Seine Klinge stieß nach unten. Sofort zog er sie zurück, um seinen Körper vor einem Gegenangriff zu schützen. »Da mußt du dir schon was Besseres einfallen lassen«, sagte der Fremde in Kals Muttersprache und lachte. »Etwas viel Besseres… « Manir Kal wollte schon etwas erwidern, als ihm bewußt würde, in welcher Sprache der Fremde ihn angeredet hatte. »Sie sind… « Mit einer gewandten Bewegung stieß der Fremde Kal zurück, schlug seine Klinge zur Seite und folgte ihm mit einem Ausfall, der Kal die Degenspitze in die rechte Schulter trieb. »Ganz richtig«, sagte er, »ich bin… « »He!« protestierte jemand. »Der Alte hat befohlen, sie lebend abzuliefern.« »Weiß ich«, erwiderte der Duellant, zog den Degen wieder aus Kals Schulter und steckte ihn in die Scheide. »Aber im Befehl stand nichts davon, daß wir die Kerle nicht ein bißchen zur Ader lassen dürfen.« Manir Kal starrte seinen Gegner an, der so mühelos mit seinen Fechtkünsten fertig geworden war. Dann sank er bewußtlos zu Boden. Seine drei Freunde stürzten zur Tür. Doch dort traten ihnen zwei Männer mit grimmigen Gesichtern in den Weg.
»Schilde herunter«, befahl einer von ihnen. »Versucht lieber nicht, Widerstand zu leisten!« Sie hielten alle einen gewissen Gegenstand in der Hand, den die drei nur zu gut kannten. Der Mann, der sich mit Kal duelliert hatte, hob den Verletzten auf und lud ihn sich auf die Schulter. »Los, kommt, Kinder!« befahl er den anderen. Dann blickte er zum Wirt hinüber. »Damit du Bescheid weißt: wir bringen ihn zu einem Arzt. Seine Freunde begleiten uns dorthin.«
A-Riman lehnte sich in seinem Sessel zurück. Den Hauptteil der Arbeit hatte er für heute erledigt. Nur ein paar Routineangelegenheiten blieben übrig, mit denen er sich nicht persönlich befaßte. Er gähnte und blickte auf die Uhr. Allmählich wurde es Zeit, daß jemand kam, um die Verhaftung der fünf Schmarotzer zu melden. Er lächelte in sich hinein. »Möchte gern wissen, was sie bisher erreicht haben«, sagte er zu sich. Er beugte sich vor und drückte auf einen Knopf. Kurz erschien das Gesicht einer Ordonnanz auf dem Schirm, dann kam Captain Poltar ins Bild. »Ja, Sir?« »Was machen unsere fünf Schmarotzer?« Der Captain blickte auf sein Pult. »Sie sind im Augenblick im Verhörsaal, Sir«, erwiderte er. »Wir wollten sie Ihnen dann gleich nach dem Mittagessen vorführen, wie Sie befohlen hatten.« A-Riman hob beide Augenbrauen. »Wer hat sie denn hier eingeliefert?« »Leutnant Norkals Patrouille hatte gerade Dienst, Sir. Sergeant Kembar ist mit seiner Gruppe gelandet und hat die Verhaftung vorgenommen. Sie kamen am frühen Morgen mit den Gefangenen im Hauptquartier an.« »Sehr gut«, sagte der Commander mit einem Nicken. »Ich schätze es, wenn ein Unternehmen noch vor Ablauf der Frist
durchgeführt ist.« Er warf wieder einen Blick auf die Uhr. »Ich habe noch Zeit vor dem Essen. Der Sergeant soll mir die Leute schon jetzt vorführen.« Er schaltete seinen Sprechschirm wieder ab und lehnte sich im Sessel zurück. Über der Tür leuchtete die Täfelung auf, und A-Riman drückte auf den Knopf. Sergeant Kembar trat in das Büro und grüßte in strammer Haltung. Er trug eine frisch gereinigte Uniform. Die Rangabzeichen glitzerten wie Sterne auf dem schwarzen Tuch. Er trat neben die Tür und zog die Waffe. »Schicken Sie die Gefangenen herein, Corporal«, befahl er. Fünf etwas zerzauste Individuen kamen im Gänsemarsch durch die Tür. Die Gefangenen mußten sich in einer Reihe vor dem Tisch des Gruppen-Commanders aufstellen. A-Riman blickte sie der Reihe nach an und lachte. »Eine feine Gesellschaft haben wir da«, sagte er spöttisch. »Nützliche Mitglieder der galaktischen Vereinigung – der Stolz der Föderation.« Sergeant Kembar streifte die Gefangenen nur mit einem Blick. »So etwas kommt eben vor, Sir«, sagte er mit ausdruckslosem Gesicht. A-Rimans gute Laune verflog. »Leider, Sergeant«, sagte er. Er deutete auf Manir Kal, der mit trotzigem Gesicht als erster im Glied ihm gegenüberstand. Der ehemalige Fechtmeister von Besiro trug seinen rechten Arm in der Schlinge. Seine Schulter war frisch verbunden. »Wozu taugt dieses Subjekt da?« Sergeant Kembar lächelte flüchtig. »Als Messerstecher«, erwiderte er. »Ah. Aber er hat seinen Meister gefunden, wie?« Das Lächeln des Sergeanten wurde breiter. »Mit Hilfe eines Körperschildes wird er mit fast jedem primitiven Messerstecher und Fechter fertig«, sagte er. »Zwar ist es mit seiner Fechtkunst nicht weit her, aber er weiß immerhin, an welchem Ende der Degen scharf ist – seit gestern.« Der Sergeant warf einen vielsagenden Blick auf den Verband. Manir Kal sah den Sergeanten wütend an, senkte dann aber
den Kopf. »Nun?« ermunterte ihn A-Riman. »Er hatte ebenfalls einen Körperschild«, murmelte Kal. A-Riman blickte den Sergeanten fragend an. Dieser fuhr grinsend fort: »Das stimmt, Sir. Mein Körperschild war nicht neutralisiert. Aber das stellte das Subjekt erst fest, als er bereits an Bord unseres Aufklärungsschiffes war. Das Subjekt kam im Verlauf unserer kleinen Auseinandersetzung nicht nahe genug an mich heran, um meinen Körperschild zu entdecken.« Er betrachtete nachdenklich seine wunden Knöchel. »Ich bekam seinen zu spüren – an seiner harten Nase.« Manir Kal brauste jetzt auf: »Ich bin ein galaktischer Bürger!« rief er wütend. »Ich verwahre mich dagegen, als Subjekt bezeichnet zu werden!« Dalhos A-Riman sah in nur streng an. »Sie haben Ihre Bürgerrechte in dem Augenblick verwirkt, als Sie auf einem primitiven Planeten landeten«, sagte er kalt. »Jetzt sind Sie nichts anderes als ein Subjekt für die Besserungsanstalt. Sie haben kein Recht mehr, für sich selbst zu sprechen.« Er deutete auf Balc. »Was ist mit dem da?« Der Sergeant zog eine Grimasse. »Ein Schürzenjäger«, erklärte er. Er blickte die Reihe der Gefangenen entlang. »Dieser dort ist ein Vielfraß.« Er deutete auf den nächsten. »Der dort kann einfache Gleichungen und Wahrscheinlichkeitsrechnungen mit Hilfe eines Computers lösen. Er hält sich für einen Meister des Glückspiels«. Der Zeigefinger des Sergeanten deutete auf den letzten. »Dort haben wir endlich ein Talent. Er kann tatsächliche ein Raumboot landen, ohne gleich Bruch zu machen.« Malon blickte den Sergeanten herausfordernd an. »Ich bin Ihnen immerhin davongeflogen.« Der Sergeant erwiderte gelassen: »Das Boot dieses Subjekts setzte zur Landung auf dem Planeten an, nachdem es uns einen falschen Flugplan durchgegeben hatte. Wir hätten es ja
atomisieren können. Aber wir hatten strikte Anweisungen, das Boot nur im äußersten Notfall zu zerstören. Seit ihrer Landung haben wir diese fünf Subjekte nicht mehr aus den Augen gelassen.« A-Riman nickte. »Das sind also typische Schmarotzer.« »Jawohl, Sir. Die Vergnügungen, mit denen sie ihre Zeit totschlagen, wechseln zwar von Mal zu Mal. Der Phantasie sind da keine Grenzen gesetzt. Diese fünf Exemplare sind als typisch zu bezeichnen.« »Ich verstehe«, erwiderte A-Riman und stand auf. »Führen Sie die Subjekte ab, stellen Sie die Papiere aus und verfrachten Sie sie dann zum Rehabilitierungs-Center. In Zukunft bringen Sie die kriminellen Schmarotzer gleich zum Aldebaran-Center und schicken mir nur einen Bericht. Ich habe von diesen Typen genug gesehen.« Er ging zur Tür. »Ich werde jetzt essen, Sergeant. Anschließend kommen Sie mit Ihrer Gruppe zum Rapport.« Der Sektorchef war gerade beim Nachtisch, als A-Riman in den Speisesaal kam. »Mit Ihrer Erlaubnis, Sir«, sagte er, zog sich einen Stuhl an den Tisch heran und studierte die Speisenfolge. Er wählte ein Menü. Dal-Kun räusperte sich. »Ich möchte Ihnen ja den Appetit nicht verderben, Commander«, sagte er. »Aber was haben Sie in der Sache dieser fünf Schmarotzer inzwischen veranlaßt?« A-Riman blickte auf seine Uhr. »Sie werden gerade nach Aldebaran verladen, Sir«, sagte er. »Die Berichte werden gerade geschrieben. Ich lasse sie an Ihr Büro weiterleiten.« Dal-Kun ließ den Rest seines Nachtisches stehen. »Sehr gut, Commander«, murmelte er. »Ich bin… « Er blickte auf. »Sie haben die Leute innerhalb von zwanzig Stunden festnehmen lassen, wie? Ich möchte nur wissen, was in Ihrer Abteilung im letzten halben Zyklus gearbeitet wurde!«
A-Riman schüttelte den Kopf. »Ich habe Ihnen bereits eine Lageschilderung gegeben, Sir. Es war unseren Leuten verboten, auf primitiven Planeten zu landen. Erst gestern nachmittag erhielten sie die Erlaubnis. Die Leute hatten die Delinquenten die ganze Zeit über beobachtet. Sie konnten die fünf also sofort verhaften, als sie die Erlaubnis dazu bekamen.« »Wahrscheinlich haben sie dabei großen Schaden auf dem Planeten angerichtet. Wie lange werden Sie brauchen, um den Schaden zu reparieren?« A-Riman machte ein nachdenkliches Gesicht. »Die Verhaftung wurde sorgfältig und unauffällig durchgeführt. Ich glaube, der Schaden, den die Schmarotzer angerichtet haben, wird uns mehr Kopfzerbrechen machen als die Verhaftung selbst. Ich rechne mit zwei Zehntel eines Zyklus, Sir. Bis dahin ist alles wieder bereinigt.« Bolsein und Knolu blickten erschrocken auf, als der Admiral beide Hände auf die Tischplatte stützte. »Commander«, sagte er streng. »Wollen Sie mir einen Bären aufbinden?« Er sah seinen Untergebenen durchbohrend an. »Commander Redendale vertrat immer hartnäckig die Meinung, es würde mindestens zwei Zyklen dauern, bis die Spuren einer Landung auf einem primitiven Planeten restlos getilgt seien.« A-Riman nickte. »Manchmal stimmt das. Ich möchte mir kein Urteil über meinen Vorgänger anmaßen, Sir. Ich habe ein paar sehr tüchtige Leute von ihm übernommen.« Er rieb sich nachdenklich die Wange. »Die Leute arbeiten so hervorragend, daß sie bei ihrer Polizeimaßnahme höchstens mit zehn Eingeborenen in Berührung kamen und von den örtlichen Behörden überhaupt nicht bemerkt wurden. Als Primitive getarnt, inszenierten sie einen kleinen Wirtshausstreit und
nahmen dabei die fünf Missetäter fest. In den Augen der Primitiven war das ein ganz natürlicher Vorgang.« A-Riman rieb sich wieder die Wange. »Der Sergeant und seine Gruppe werden sich heute nachmittag bei mir zum Rapport melden. Ich glaube, die Leute haben eine Belobigung verdient. Anschließend werde ich die Gruppe wieder auf den Planeten zurückschicken, damit sie dort die Scherben kitten, die unsere fünf Missetäter hinterlassen haben.« Dal-Kun knurrte: »Sie sind nicht zu beneiden, Commander. Redendale hat Ihnen nichts als Scherereien hinterlassen. Und die Leute, die Ihnen zur Verfügung stehen, wurden entweder von anderen Sektoren zu Ihrer Gruppe versetzt oder von früheren Commandern ausgebildet.« Der Admiral drückte auf einen Knopf, ließ sein Gedeck verschwinden und fuhr dann mißgelaunt fort: »Redendale hat sich nicht einen Zyklus lang auf seinem Posten gehalten. Ich habe ihn versetzen lassen. Hielt ihn nicht geeignet für seinen Posten. Jetzt tut es mir beinahe leid, daß ich ihn nicht vor ein Disziplinargericht gestellt habe.« Der Admiral verschränkte die Arme vor der Brust: »Sie haben doch mal etwas von einem Experiment erwähnt, Commander. Solange Sie Ihre Aufgaben so prompt erledigen, wie die Verhaftung der fünf Schmarotzer, und Sie gegen keine Vorschriften verstoßen, gebe ich Ihnen freie Hand. Brauchen Sie irgendwelche Vollmachten?« »Jawohl, Sir«, erwiderte A-Riman. »Ich brauche Landeerlaubnis auf primitiven Planeten und die Genehmigung für meine Leute, mindestens drei Zyklen lang auf primitiven Planeten zu arbeiten.« »Begründung?« »Rehabilitation, Sir. Ich habe mir eine Zivilisation ausgesucht, die noch in ihren Anfängen steckt. Meine Späher haben berichtet, daß diese Zivilisation sich nicht in
wünschenswerter Weise entwickelt. Deshalb möchte ich ein Besserungsprogramm durchführen. Entweder wird sich diese Zivilisation in naher Zukunft selbst vernichten, oder wir werden in spätestens fünf Perioden dazu gezwungen sein, diese Zivilisation zu zerstören. Doch unter richtiger Anleitung kann diese Zivilisation sich in eine nützliche Kultur verwandeln. Statt sie vernichten zu müssen, werden wir sie als wertvolles Mitglied in die Föderation aufnehmen können.« Er stützte die rechte Hand auf den Tisch. »Ich glaube, wir können das erreichen, ohne die charakteristischen Eigenarten dieser Zivilisation zu verändern. Ich halte es für unsere moralische Pflicht, dem Planeten zu helfen.« Dal-Kun musterte seinen Untergebenen nachdenklich. »Ihren ›kämpfenden Philosophen‹ habe ich ja gelesen«, sagte er, »aber hier handelt es sich doch um etwas grundlegend Neues, nicht wahr?« Er trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte. »Wo wollen Sie denn das Personal für so ein Programm hernehmen?« »Während der ersten Zyklen kann ich auf mein CACPersonal zurückgreifen, Sir. Vielleicht borgt mir auch die Flotte ein paar Leute aus. Später, wenn das Experiment sich günstig entwickelt, werde ich neues Personal anfordern.« »Sie glauben also, die Einsatzabteilung wird neue Planstellen genehmigen? Da habe ich Zweifel. Ihre Abteilung ist bereits überbesetzt.« »Das weiß ich, Sir. Ich vertraue jedoch darauf, daß mein Experiment noch vor der nächsten Personalstärkenüberprüfung mit einem Teilerfolg abgeschlossen werden kann. In acht Zyklen muß sich bereits die Tendenz zur Besserung deutlich abzeichnen.« »Da haben Sie aber eine Menge Arbeit vor sich«, sagte der Sektorchef kopfschüttelnd. »Viertausend Tage haben Sie Zeit, eine Wende in einer Zivilisation herbeizuführen, die
mindestens viertausend Zyklen alt ist.« Er sah A-Riman neugierig an. »Ich bin sehr gespannt darauf, ob Ihre Leute das fertigbringen.« Er nickte nachdenklich und stemmte die Hand auf den Tisch. »Legen Sie sich ins Zeug, Commander. Die Sache ist einen Versuch wert. Wenn Sie mir innerhalb von sechs Zyklen Beweise für eine positive Entwicklung bringen können, werde ich Ihnen die Personalabteilung für weitere zehn Zyklen vom Hals halten. Dann muß die Entwicklung bereits so weit fortgeschritten sein, daß sie ein Präzedenzfall für den Hohen Rat ist.« Er blickte die drei Offiziere am Tisch einen Moment schweigend an, erhob sich dann und verließ den Raum. »Mann, Mann«, sagte Veldon Bolsein, »da hat der Alte sich aber fast übernommen!« Er blickte A-Riman an. »Alter Diogenes, diesmal geht es wirklich hart auf hart. Wenn du dieses Programm verpatzt, bleibt vom ›kämpfenden Philosophen‹ nicht mehr viel übrig – höchstens eine verstaubte Personalakte.« Knolu grinste. »Da hat er recht. Ich kenne den Alten. Wenn du versagst, steckt er dich in einen Materieumwandler und macht ein paar Gummigaloschen aus dir.« A-Riman nickte ernst. »Ich weiß das. Aber ich habe mich ja nur deswegen hierher versetzen lassen, um mein Experiment durchführen zu können.« Er sah die beiden mit nüchternem Blick an. »Wenn ich versage, muß der Alte schon einen Staubfilter benutzen, wenn er noch so viele Partikelchen von mir zusammenbringen will, um daraus einen Gummischuh zu machen.« Er stand auf und ging zum Ausgang. »Wir sehen uns beim Abendessen!« sagte er über die Schulter. »Die Pflicht ruft!« Quel-tze, Hohepriester von Gundar und Herr des Himmels, stand am Altar auf dem Dach seines Tempels von Dolezin. Er blickte zum Firmament hinauf und schätzte die Zeit ab, die Gundar brauchen würde, um den Zenit zu erreichen. Dann
mußte das Opfer vollzogen werden. Eine strahlende Sonne stand am wolkenlosen Himmel. Der weiße polierte Marmor reflektierte das grelle Licht und blendete die Unterpriester, daß sie die Augen vom Altar abwenden mußten. Der Schatten des Ringes, der oben an der Spitze des Tempels befestigt war, glitt langsam auf den Altar zu. Quel-tze sah sich prüfend in der Gemeinde seiner Assistenten um, vergewisserte sich, daß alles in Ordnung war. Die fünf Unterpriester standen am vorgeschriebenen Platz. Ihre priesterlichen Gewänder spiegelten das Licht von Gundar, symbolisierten in angemessener Weise Gundars Herrlichkeit. Einer von ihnen hielt die große goldene Schale, ein anderer das große Opfermesser. Die drei übrigen waren so um den Altar verteilt, daß das Opfer mit geringstem Zeitverlust und Energieaufwand auf dem Opferstein festgeschnallt werden konnte. Der Hohepriester blickte hinunter auf die Stadt, auf ein Meer von Gesichtern, das vor spannender Erwartung erstarrt schien. Die ganze Bevölkerung war zu dem Schauspiel erschienen. Der Schatten glitt auf den Altar hinauf. Quel-tze gab ein Zeichen und griff mit der anderen Hand nach dem Messer. Eine Stufe tiefer begann der Chor zu singen. Die Wände hinter dem Chor waren konkav geformt, warfen die Schallwellen hinunter auf die Stadt und die wartende Gemeinde, so daß nur ein leises Murmeln von unten bis zu den Priestern am Altar hinaufdrang. Die Hymne an die Sonne erschallte über der Stadt Dolezin hin und erstickte alle anderen Geräusche. Aus dem Steingang hinter dem Altar traten zwei athletisch gebaute Priester heraus. Sie hielten ein Mädchen an den Armen gepackt, das sich nur noch schwach wehrte. Danach kamen zwei weitere Priester aus dem schattigen Tunnel. Als das Mädchen den Opferaltar erblickte, weiteten sich seine Augen vor Entsetzen. Sie öffnete den Mund zu einem Schrei. »Still,
mein Kind!« befahl Quel-tze. »Dir wird eine Ehre zuteil, um die dich jede Frau in der Stadt nur beneiden kann.« »Mir liegt aber nichts daran«, schluchzte das Mädchen. »Ich will nach Hause!« Der Hohepriester lächelte mit verkniffenen Lippen. »Das geht leider nicht, meine Tochter«, sagte er. Er nickte den beiden Priestern zu, die hinter dem Mädchen wartend standen. Rasch entkleideten sie das Mädchen, nahmen ihm das zeremonielle Opfergewand und den schweren Halsring und Brustschmuck ab, die das Mädchen hier heraufgeschleppt hatte. Sie legten die Kleider und den Schmuck beiseite, packten die Handgelenke des Mädchens und halfen den beiden anderen, das Mädchen auf den Altar zu legen. Dann wurden die Fesseln um die Hand- und Fußgelenke befestigt. Hilflos lag das Mädchen da, im Angesicht des strahlenden Himmels und Gundars. Es schloß geblendet die Augen und schrie. Der Schatten des Ringes an der Spitze des Tempels kroch über den nackten Körper des Mädchens. Der gleißende Lichtfleck in der Mitte näherte sich seiner Brust. Quel-tze hob beide Hände, blickte hinauf zur Sonne mit einer flehenden Geste. Unter ihm sang der Chor: »Großer Gundar, sei uns gnädig! Mache die Felder fruchtbar und gib uns Glück auf all unseren Wegen.« Die Lichtscheibe erreichte die Brüste. Quel-tze stieß das Messer nach unten, setzte die Spitze in die Mitte der Scheibe. Dann machte er einen raschen Einstich. Der Körper des Mädchens zuckte und lag dann still. Auch der Chor sang leiser und verstummte. Quel-tze griff jetzt mit beiden Händen zu, packte das noch schwach pulsierende Herz der Erntebraut und löste es mit ein paar geschickten Schnitten. Er hielt es eine Weile über dem Kopf, ehe er es an die assistierenden Priester weitergab. Wieder hielt er die Hände über dem Kopf. »Die Erntebraut ist
in das Reich des Himmels eingegangen«, verkündete er. »Ihre reine Seele wird uns reichen Segen bringen.« Ein Seufzer brandete von den Zuschauern empor. Langsam löste sich die Menge auf und verteilte sich in den Gassen. Am Rande des gaffenden Haufens stützte ein weißhariger Mann eine Frau. Sie wankte. Behutsam lenkte er sie weg von den Zuschauern. Quel-tze wendete sich ebenfalls ab von der Menge unten. Er ging die Treppe hinunter zu seinen Gemächern. Er fühlte sich zerschlagen – wie jedes Jahr, wenn die Ekstase der Opferung vorüber war. Das Mädchen war außerordentlich schön gewesen. Doch das war keine Ausnahme. Es gab viele schöne Mädchen in der Stadt. Mit einer Handbewegung entließ er seine Unterpriester und trat in das Vorzimmer seiner Wohnung. Er schloß die Tür hinter sich und ging auf sein Schlafzimmer zu. »Da ist ja unser Freund«, sagte eine Stimme hinter ihm. »Gesund und munter.« Quel-tze drehte sich rasch zur Tür um; doch dort verstellte ihm ein Mann den Weg. Er war groß und athletisch gebaut. Seine Kleidung war schwarz und schien aus einer einzigen Tuchbahn gefertigt. Kleine Abzeichen glitzerten daran. In der Hand hielt er einen kleinen metallischen Gegenstand. Irgend etwas Drohendes, Selbstbewußtes ging davon aus, wie der Fremde den Gegenstand in der Hand drehte. Quel-tze spürte, daß er sich dem Fremden nicht ungestraft nähern durfte. Er wendete sich ab. Doch jetzt stand ein zweiter Mann vor ihm – an der Stelle, wo vorhin noch nichts gewesen war. Dieser trug die kostbaren Gewänder des Hohepriesters: Quel-tzes eigene Amtstracht. Auch er hatte diesen sonderbaren Metallgegenstand in der Hand. »Hier können wir nicht mit dir verhandeln«, sagte dieser Mann. »Deshalb werde ich dich eine Weile vertreten, bis du in
deinen neuen Pflichten unterwiesen und auf deine Aufgabe richtig vorbereitet bist.« Es kam Quel-tze vor, als leuchte der Metallgegenstand in der Hand seines Doppelgängers kurz auf. Dann wurde es dunkel um ihn her…
Langsam kam Quel-tzes Bewußtsein zurück. Zuerst hörte er nur Stimmen, Fetzen einer Unterhaltung. Dann war auch sein Sehvermögen wieder da. Riemen banden ihn an einen Stuhl. Wütend zerrte er an den Fesseln. »Dafür werdet ihr büßen«, drohte er. »Wenn man mich vermißt… « Er wurde unterbrochen. Eine Gestalt in schwarzer Uniform trat in sein Gesichtsfeld. »Du täuschst dich, mein Kleiner«, sagte die Gestalt. »Erstens vermißt man dich gar nicht. Zweitens ist deine Welt weit weg von hier.« Er trat zur Seite und deutete auf einen Schirm, auf dem man ein Lichtpünktchen in schwarzer Leere sah. »Dieses Fünkchen dort«, sagte er, »ist dein ›Herr des Himmels‹.« Er lächelte Quel-tze ins Gesicht. »Drittens müssen wir sogleich mit deiner Ausbildung beginnen.« Wieder deutete er auf den Schirm. »Vor vielen tausend Zyklen«, sprach eine ruhige Stimme aus dem Lautsprecher, »schien diese Sonne auf ihre Planeten genauso wie heute. Damals waren die Planeten unbewohnt. Auf manchen aber regte sich bereits Leben.« Quel-tze spürte eine eigenartige Anziehungskraft. Sie ging von dem Schirm aus, faszinierte ihn, zwang ihn, jede Information aufzunehmen, zu speichern. Auf dem Schirm sah man jetzt Einzelheiten. Eine Sonne mit Planeten. Der Unterricht nahm seinen Fortgang. Quel-tze sah, wie sich Leben entwickelte, wie verschiedene Arten von Lebewesen entstanden. Eine Zivilisation nahm ihren Anfang. Man gab ihm zu essen. Er schlief. Der Unterricht begann von neuem.
Zivilisationen wuchsen und erblühten. Manche starben und erloschen. Die Stimme erklärte, weshalb das so war. Während Quel-tze zusah, erreichte eine Zivilisation einen schwindelerregenden Gipfel der Vollkommenheit. Sie entwickelte technische und mechanische Fertigkeiten, die ihm unfaßbar schienen. Die Wesen, die auf diesem Planeten lebten, reisten ins Weltall hinaus, griffen nach anderen Sternen, verfielen dann in ihren alten Fehler, sich gegenseitig in kleinlichen Fehden aufzureiben und vernichteten in wenigen Wochen, was in Jahrhunderten mühsam aufgebaut worden war. Ein paar Überlebende starrten wie betäubt auf die Trümmer ihrer ehemaligen Herrlichkeit. Ihre Nachkommen fielen in die Barbarei der Vorzeit zurück, machten sich jedoch dann wieder an die zähe, harte Arbeit des Wiederaufbaus. Quel-tze erschauerte, versuchte, diese Bilder aus seinem Gedächtnis zu tilgen, doch jedesmal stand die Warnung auf der Schwelle seines Bewußtseins: »Lerne, denn nur durch Wissen wirst du überleben!« Auf dem Schirm erstand die Zivilisation von neuem aus ihren Trümmern. Ihre Entwicklung beschleunigte sich in dem Maße, wie ihre Technik sich differenzierte. Wieder griff die Zivilisation hinaus in das Weltenall. Man landete auf anderen Sonnensystemen. Die Eroberung des Kosmos begann, ein interstellares Weltreich wuchs heran. Doch man sah auch die Schattenseiten. Andere Zivilisationen brachen zusammen, wurden von der Tafel der Geschichte gelöscht, weil unbarmherzige Eroberer es so haben wollten. Der Unterricht wendete sich anderen Themen zu. Bisher war die Entwicklung der Technologie betont worden. Jetzt rückte die Entwicklung der Ethik, der Moral und des Rechtes in den Mittelpunkt. Wieder wurden die Zivilisationen auf ihrem Vormarsch gezeigt – ihre rechtlichen, sittlichen und religiösen Strukturen wurden bloßgelegt. Man zeigte die Bewegungen der
Kulturen, ihr Schwanken zwischen empfindsamer, überempfindlicher Moralität und hemmungsloser Amoralität. Der Zyklus dieser geistigen Entwicklung wurde von der Stimme des Vortragenden so klar herausgearbeitet, als handle es sich um eine Geometrieaufgabe. Einige dieser Lebensgemeinschaften scheiterten und gingen unter. Andere wieder zerstörten sich in einem jähen Ausbruch sinnloser Gewalt. Wieder andere waren erfolgreich und gehörten auch jetzt noch zur galaktischen Gemeinschaft. Langsam wurden die Grundzüge deutlich, die Prinzipien, auf denen die Galaktische Föderation aufgebaut war. Staunend erkannte Quel-tze, daß eine Vielzahl von Welten in friedlicher Harmonie und Toleranz zusammenleben konnten, obwohl sie von völlig verschiedenen intelligenten Wesen bewohnt wurden und in Gestalt, Ursprung und Lebensweise nichts miteinander gemein hatten. Zum Beispiel sah Quel-tze auf einem Planeten ein friedliches Hirten- und Bauernvolk. Hier war eine Zivilisation, die an ihrer bescheidenen Agrarstruktur festhielt, obwohl sie die hochentwickelte Technologie ihrer Nachbarn auf anderen Sternen sehr wohl kannte. Und Quel-tze erkannte staunend, daß diese technisch unterentwickelte Zivilisation von der Galaktischen Föderation durchaus als gleichberechtigtes Mitglied anerkannt wurde. Im Hohen Rat begegnete man den Delegierten von diesem Planeten mit dem gleichen Respekt wie den anderen. Überdies setzte sich die Bevölkerung dieses Planeten nicht nur aus Eingeborenen zusammen. Gleichgesinnte aus allen Ecken und Enden des Kosmos hatten sich hier zusammengefunden. Und es gab Raumschiffe, die als selbständige Gemeinwesen galten und anerkannt wurden. Auch sie waren Mitglieder der Föderation, ständig unterwegs und landeten selten auf einem Planeten. Diese Weltraumnomaden waren gleichberechtigt und besaßen Sitz und Stimme im Hohen Rat. Sie trugen wie alle anderen ihren
Teil zur Entwicklung und Wohlfahrt der Galaktischen Zivilisation bei. Das Bild wechselte. Wieder umkreisten Planeten eine energiespendende Sonne. Leben regte sich. Lebensformen wuchsen heran und entwickelten sich. Einer dieser Lebensformen strebte zügig voran. Eine Zivilisation entstand, erblühte und gedieh. Quel-tze bewegte sich unruhig in seinem Sessel. Diese Entwicklung war ihm vertraut. Ein religiöser Kult riß die Macht an sich und zwang Staat und Volk unter sein Joch. Die Sonne wurde zum »Herrn der Schöpfung« erklärt. Kultische Riten wurden entwickelt. Die Priesterschaft übernahm allmählich die gesamte Macht im Staat, obwohl niemand außerhalb der Tempel richtig begriff, was eigentlich vorging. Quel-tze schüttelte den Kopf. Er hatte schon ähnliche Entwicklungen auf anderen Planeten gesehen. Er wußte, wie das enden würde – Niedergang, Fehlschlag, Vernichtung waren hier im Keim bereits vorhanden. Quel-tze krümmte sich auf seinem Stuhl, als dieser peinliche Bericht vor seinen Augen ablief. Ein Beamter der Regierung erwies sich als ehrenhaft, womit man nicht gerechnet hatte. Er widersetzte sich gewissen Praktiken, die man als Bestechung bezeichnen konnte, obwohl seine Kollegen und einige Priester ihn warnten. Schließlich schritt der Tempel zur Tat. Die Tochter des widerspenstigen Beamten wurde für das jährliche Opferfest ausgewählt. Während die Opferzeremonie sich entfaltete, gab der Sprecher eine Analyse der Motive, Gründe und möglichen Folgen. Ähnliche Situationen auf anderen Planeten wurden zum Vergleich herangezogen. Quel-tze erschauerte, als der Höhepunkt der Opferhandlung noch einmal wiederholt wurde. Er bäumte sich im Sessel auf und brach bewußtlos zusammen. Zwei Männer eilten herbei. Einer legte einen Gegenstand an Quel-tzes Hals, horchte und nickte dann.
»Ein schwerer Schock, Sergeant«, sagte er. »Aber er wird ihn überstehen.« Er gab dem Hohepriester ein Injektion in den Arm und wartete. Wieder kehrte Quel-tzes Bewußtsein zurück. Diesmal blieb es still um ihn her. Einen Moment lang flackerte der Wahnsinn in seinen Augen. Doch dann lehnte er sich gefaßt zurück und wartete darauf, daß der Schirm von neuem aufleuchtete. Doch nichts geschah. »Sie können mit meiner Erziehung fortfahren, meine Herren«, sagte Quel-tze mit gelassener Stimme. »Ich bin wieder aufnahmefähig.« Der Psychologe in schwarzer Uniform trat in sein Blickfeld. Er betrachtete prüfend den Gefangenen und lächelte ihm dann zu. Er beugte sich vor und löste die Fesseln. »Ich glaube, Sie sind bereit, Quel-tze«, sagte er. »Möchten Sie jetzt Ihre Mitschüler kennenlernen?« Quel-tze nickte stumm. Er stand auf und massierte seine Muskeln. Er sah sich einen Moment im Raum um und folgte dann den beiden Wächtern hinüber in die nächste Kabine, wo mehrere Leute ihn erwarteten. Ein Mann trat vor, als der Priester hereinkam. »Quel-tze«, sagte er, die Hand ausstreckend, »vor ein paar Tagen habe ich Sie noch gehaßt. Aber jetzt – ich glaube, jetzt können wir zusammenarbeiten.« Quel-tze hob die eigene Hand. Einen Augenblick lang standen sich die beiden gegenüber, legte jeder dem anderen die Hand auf die Schulter. »Ich bitte um Verzeihung, Tal-Quor«, sagte der Priester. »Auch ich war nicht ganz unschuldig, Queltze«, sagte der andere. »Wäre es nicht meine Tochter gewesen, hätte ich mich kaum darüber aufgeregt.« Ein helles Lachen schallte durch den Raum. »Das Ganze war nur ein Zaubertrick«, sagte eine Mädchenstimme. »In diesem Jahr wurde eine Kröte als Erntebraut der Sonne geopfert.« »Achtung!« rief jemand. Der Sektorchef Dal-Kun schob sich durch die Versammelten, trat vor sie hin, nickte seinen
Offizieren zu und sagte: »Stehen Sie bequem, meine Herren. In diesen Räumen findet nur selten eine Stabsbesprechung statt. Doch Commander A-Riman hat etwas mitzuteilen, was alle von uns interessieren wird. Ich möchte anschließend Ihre Meinungen hören. Bitte, Commander!« Der CAC-Chef wendete sich jetzt den Versammelten zu. »Sie wissen alle, meine Herren, daß die Fahndungsabteilung während der letzten fünf Zyklen ein Experiment durchgeführt hat. Die Angehörigen dieser Abteilung wie auch Mitglieder der kämpfenden Verbände haben sich im Verlauf der Zeit so sehr für unser Versuchsprogramm interessiert, daß viele von ihnen freiwillig daran mitarbeiteten, wenn es ihre Zeit erlaubte. Mit Hilfe des Schatzmeisters unseres Sektors ist es uns gelungen, den größten Teil der für dieses Programm aufgewendeten Zeit als Ausbildungsstunden anzurechnen.« Er nickte einem älteren Offizier lächelnd zu. »Ich glaube nicht, daß diese Zeit vergeudet wurde. Ich hoffe, Sie werden mir beipflichten, nachdem Sie sich meinen Bericht angesehen haben.« A-Riman verneigte sich und nahm Platz. Das Licht im Raum ging aus, und der Schirm leuchtete auf. Ein Sonnensystem erschien, aus der Perspektive eines sich nähernden Raumschiffes aufgenommen. Ein Planet rückte in den Mittelpunkt und wurde rasch größer. Die Stimme des Beobachters drang aus dem Lautsprecher. »Das ist der siebte Planet der Sonne Frank III, Nummer sechs-zwei-neun, im zehnten Sektor. Auf diesem Planeten gibt es seit mindestens tausend Perioden sich entwickelnde Lebensformen. Das Alter im Augenblick führenden Zivilisation schätzen wir auf sieben Perioden.« Eine Nahaufnahme von der Stadt mit charakteristischen Einzelheiten folgte. Gespräche zwischen Vertretern verschiedener Schichten der Bevölkerung waren aufgezeichnet worden und wurden jetzt wiederholt. Die Gedanken und Taten der Behörden wurden analysiert und
demonstriert. Zunehmende Brutalität machte sich in der Regierung, im Privatleben und im Tempel breit. Amoralität ging Hand in Hand mit Menschenopfern. Schließlich kam ein ausführlicher Bericht über den Opferbrauch der Erntebraut. Hier meldete sich wieder die Stimme des Kommentators. »Aus alledem erkennt man, daß diese Zivilisation wahrscheinlich kein gutes Ende nehmen wird. Sie wird eine Weile lang stagnieren und dann vernichtet werden – entweder von einer anderen Zivilisation, die erst heranwachsen wird, oder auf Befehl der Föderation, wenn diese Zivilisation eine Gefahr für den galaktischen Frieden wird.« Eine Pause folgte. Der Schirm zeigte die große Stadt in der Totale. Die Dächer leuchteten in der Sonne. »Wir haben diese Zivilisation für unser Experiment ausgewählt«, setzte die Stimme wieder ein. Man zeigte die Entführung von Quel-tze und seiner Begleiter. Kurze Einblenden schilderten die Erziehung aus Ausbildung der Entführten. Die nächste Szene schilderte, wie man den Hohepriester und seine Begleiter wieder auf seinem Heimatplaneten absetzte. Sogleich zeichneten sich Reformen ab, die von den zurückgebrachten Entführten eingeleitet wurden. Man sah Quel-tze, wie er sich mit sechs Ministern des Kelmiranschen Kaiserreiches auseinandersetzen mußte. Einer der Minister war der Wortführer. »Wir dulden nicht, daß man an unsere geheiligten Traditionen im Tempel rührt«, sagte er. »Ich dachte, ich wäre der Hohepriester«, erwiderte Quel-tze gelassen. Der Minister sah ihn verächtlich an. »Dein Tempel war schon immer eine Einrichtung des Staates. Das müßtest du eigentlich wissen, Pfaffe. Wir erteilen die Befehle – du gibst unseren Anordnungen die Weihe der Unfehlbarkeit.« »Das ist Gotteslästerung, meine Herren«, rief der Priester. »Unsinn! Das ist Staatsraison, nichts anderes«, schnaubte der
Minister. »Also zum letzten Mal: akzeptieren Sie unsere Wahl der Erntebraut, oder akzeptieren Sie sie nicht?« Quelt-tze lächelte zuvorkommend. »Wie ich vorhin schon ausführte«, sagte er, »bin ich nicht mehr auf die Wahl der Erntebraut angewiesen. Das Ritual hat sich geändert. Wir haben die alten Zeremonien wiedereingesetzt, die vor dem Zeitalter der Grausamkeit und Amoralität geübt wurden. Der Altar wurde entfernt.« Der Minister kniff den Mund zusammen. »Also gut, dann zwingen Sie uns zum Handeln.« Er machte eine unwillige Handbewegung. Einen Moment lang sah er den Hohepriester durchbohrend an. Dann wendete er sich ab. »Wache!« rief er. »Dieser Mann ist wegen Hochverrats zu verhaften!« Eine Gruppe bewaffneter Priester kam in den Saal. Die Minister sahen sie verwirrt an. »Das«, erklärte Quel-tze geschmeidig, »sind meine Leute. Ihre Wachen liegen bereits im Tempelverlies, wohin wir Sie jetzt ebenfalls bringen werden.« Er blickte den Anführer der bewaffneten Priester an. »Schaffe sie hinunter in die Kerker. Dort werden sie bleiben, bis wir ihnen wegen Gotteslästerung im Tempel den Prozeß machen.« Die sechs Minister waren bleich geworden. »Der Kaiser… « stotterte einer. Wieder lächelte Quel-tze. »Der Kaiser empfängt soeben eine Delegation der Geistlichkeit. Ich möchte hinzufügen, daß diese Delegation viel erfolgreicher sein wird als Ihr gemeinsames Auftreten, meine Herren Minister. Wir drohen nicht, wir wenden keine Gewalt an und überzeugen trotzdem. Morgen früh wird es der Kaiser für richtig halten, sein Kabinett vollkommen neu zusammenzustellen.« Die folgenden Szenen zeigten das neue Kabinett bei der Arbeit. Zum Abschluß sah man die Erntebraut, die hoch aufgerichtet auf dem Dach des Tempels von Dolezin stand. Sie
war stolz darauf, aus vielen anderen Bewerberinnen ausgewählt worden zu sein. Sie war das schönste, das begabteste von allen Mädchen in der Stadt. Neben ihr stand ein preisgekröntes Tier, das später in den kaiserlichen Ställen wertvolle Dienste leisten sollte. In der Hand hielt das Mädchen die schönsten Früchte der diesjährigen Ernte. Unter ihr sangen die Priester im Chor. Es war die gleiche Choral an die Sonne wie früher, nur etwas leiser, damit man auch die helle, klare Stimme des Mädchens hören konnte. Der Kommentar setzte wieder ein: »Wahrscheinlich wird diese Kultur sich positiv weiterentwickeln. Natürlich muß noch mindestens eine Periode lang ihr Werdegang überwacht werden. Trotzdem glauben wir zuversichtlich, daß aus unserem Experimentierplaneten einmal ein wertvolles Mitglied der Föderation wird.« Das Licht im Saal ging wieder an. Commander A-Riman stand auf. »Meine Herren«, verkündete er den Versammelten, »daß ist mein Rechenschaftsbericht über die ersten fünf Zyklen. Sie haben fast alles gesehen, was wir in unserem Experiment unternommen haben. Natürlich haben wir die Entwicklung etwas forciert, um in relativ kurzer Zeit Beweise vorlegen zu können, wie ein Erziehungsprogramm unserer Meinung nach aussehen soll. In Zukunft werden solche Programme natürlich behutsamer und langsamer ablaufen. Trotzdem glaube ich, was bewiesen werden sollte. Haben die Herren irgendwelche Fragen oder Bemerkungen?« Geronor Keldon stand auf, der Schatzmeister des Sektors. »Meine Herren, ich muß gestehen, daß ich zuerst nur widerstrebend meine Erlaubnis dazu gab, unsere Leute für dieses Experiment einzusetzen. Doch jetzt habe ich keine Bedenken mehr, damit fortzufahren.« Andere Offiziere meldeten sich zu Wort und äußerten ihre Meinung zu dem Bericht. Es waren nur anerkennende Worte. Ein paar
bedauerten lediglich, daß sie nicht aktiv bei diesem Experiment mitgewirkt hatten. Schließlich ergriff Dal-Kun noch einmal das Wort. »Wie es scheint«, sagte er, sich im Saal umblickend, »hat der Bericht Ihre allgemeine Zustimmung gefunden. Trotzdem möchte ich von jedem einzelnen von Ihnen einen Bewertungsbogen und eventuell Vorschläge, wie dieses Programm noch verbessert werden könnte. Ich bin nämlich der Meinung, daß dieser Bericht mit eventuellen Empfehlungen dem Hohen Rat der Föderation vorgelegt werden sollte. Guten Tag, meine Herren. Die Konferenz ist beendet… «
A-Riman schaltete den Bericht ab, als der Apparat auf dem Schreibtisch summte. Auf dem Schirm erschien das Gesicht eines Sekretärs. »Wer will mich sprechen?« »Captain Poltar, Sir.« »Gut. Stellen Sie durch.« Der Captain schien verstohlen zu lächeln. »Die neuen Leute sind soeben eingetroffen. Soll ich sie hereinschicken, Sir?« »Ja. Was für einen Eindruck haben Sie von den Leuten?« »Einen recht guten, Sir.« Wieder glitt ein Lächeln über die Züge des Captains. A-Riman störte das ein bißchen. »Was ist denn so lustig daran, daß wie Ersatzleute bekommen, Captain?« fragte er. »Oh, eigentlich gar nichts. Sir. Ich schicke jetzt den ersten in Ihr Büro.« »Sie bringen ihn persönlich herein«, knurrte A-Riman. »Dann können wir uns beide über den Witz freuen.« Er schaltete ab und wartete. Poltar lachte selten. Es mußte sich also schon um einen seltsamen Nachschub handeln, den er heute bekommen hatte.
Er drückte auf den Knopf, als das Licht über der Tür aufleuchtete. Der Captain kam als erster herein, wich zur Seite und meldete: »Hier ist der erste, Sir!« Ein Wachmann trat herein. Mit mathematischer Genauigkeit machte er seine zwei vorgeschriebenen Schritte, stand stramm und salutierte. A-Rimans geschultes Auge sah auf einen Blick, was mit diesem Mann los war. Die schwarze Uniform war neu. Bis auf die gekreuzten Fackeln am Kragen war alles an dem Mann einförmiges Schwarz. »Suchtechniker Manir Kal meldet sich zum Dienst, Sir!« sagte der Mann, während er die Hand an die Hosennaht legte. »Rühren Sie, Wachmann«, sagte ARiman. »Haben wir uns nicht schon einmal gesehen?« »Jawohl, Sir«, erwiderte der Neue. »Ich war schon einmal in diesem Büro.« »Ich erinnere mich«, bemerkte der Gruppen-Commander trocken. Er warf Captain Poltar einen mild-tadelnden Blick zu. »So etwas ist doch schon früher passiert. Ich weiß nicht, was daran so amüsant sein soll!« Doch Poltar grinste nur. »Das ist noch nicht alles, Sir.« Er ging zur Tür und winkte. Ein zweiter Wachmann trat ins Zimmer und salutierte. »Phsychologe Bar Kor Delthos meldet sich zum Dienst, Sir.« »Aha«, murmelte A-Riman, »noch mehr von dieser Sorte?« »Noch drei, Sir«, erwiderte Poltar. »Ein Physiker, ein Analysator und ein Pilot.« A-Riman lächelte und brach dann in ein Gelächter aus. »Captain, Sie haben recht! Bringen Sie alle fünf herein und lassen Sie Sergeant Kembar holen!« Noch drei Rekruten schoben sich ins Büro und salutierten. ARiman sah die fünf streng an. »Wer von euch kam denn nun auf diesen Einfall, wie?« Manir Kal hob die Hand. »Das ist wohl meine Schuld gewesen, Sir«, sagte er. »Allerdings hat Kwybold, der Chef
des Rehabilitations-Centers, unsere Entscheidung auch etwas beeinflußt.« A-Riman nickte. »Dachte ich mir’s doch. – Wie war es im Umschulungszentrum?« Manir Kal zog eine Grimasse. »Ich habe ziemlich lange Zeit im Krankenhaus verbringen müssen, Sir.« Er rieb sich nachdenklich das Kinn. »Mindestens zwanzig Wachleute übertreffen mich im Degenfechten. Versucht haben es alle.« Er schwieg einen Moment. »Ich habe trotzdem eine Menge dabei gelernt. Ich glaube, Sergeant Kembar würde es jetzt nicht mehr so leicht gelingen, mich zu besiegen.« »Wollen Sie das gleich ausprobieren?« fragte A-Riman lächelnd. Manir Kal schüttelte den Kopf. »Vielen Dank, nein, Sir«, erwiderte er entschlossen. »Das nächstemal, wenn ich den Degen ziehe, geschieht das nur im dienstlichen Auftrag. Das gehört zu meinen Pflichten. Ich lege keine privaten Fechteinlagen mehr aufs Parkett, Sir.« Sergeant Kembar trat ins Büro des Chefs. A-Riman rief ihm gleich an der Tür zu, ehe er Haltung annehmen konnte: »Stehen Sie bequem, Sergeant.« Er deutete auf die fünf Leute im Büro. »Ersatz ist für Sie gekommen.« »Vielen Dank, Sir. Ich bin sowieso knapp an Personal im Augenblick.« Kembar wendete sich den fünf Ersatzleuten zu. »Ich werde gleich Ihre… « Er blinzelte, dann starrte er Manir Kal ins Gesicht. »Ich habe Sie doch schon mal gesehen!« Sein Blick wanderte von einem zum anderen. »Dieser da sticht mit dem Messer«, sagte Manir Kal mit ausdruckslosem Gesicht. »Der da ist ein Schürzenjäger«, griff Kembar die Anspielung auf. »Ich bin das Talent«, rühmte sich Malon spöttisch. Kembar stemmte die Arme in die Seiten und schüttelte hilflos den Kopf. »Schon gut«, sagte er schließlich. »Es gibt noch mehr Leute, die das Lager von Innen kennen. Glaubt ihr
vielleicht, ihr seid die einzigen, die sich im RehabilitierungsCenter zum Polizeidienst meldeten?« A-Riman hüstelte. »Ich habe auch eine Überraschung für Sie, Sergeant«, sagte er. Kembar nahm Haltung an. »Jawohl, Sir?« »Ich kenne Mr. Kwybold ebenfalls«, sagte A-Riman. »Sehr gut sogar. Vor ein paar tausend Zyklen habe ich nämlich eine Revolution gegen den Hohen Rat der Föderation angeführt.«
Kilar Mar-Li erhob sich von seinem Sessel. Er war der Chefdelegierte von Celstor, und sein Wort hatte Gewicht. Er wußte auch, daß dieser Bericht von einem Landsmann und seinem Schützling stammte. Trotzdem hielt er es für richtig, eine Erklärung abzugeben. »Werte Kollegen«, sagte er, »wir haben soeben einen Zwischenbericht gehört und gesehen und einen Antrag entgegengenommen.« Ein paar seiner Kollegen lächelten. Er beschloß, von seinen rhetorischen Stelzen herunterzusteigen, und lächelte ebenfalls. »Verdammt feierlose Einleitung«, sagte er. »Trotzdem stelle ich folgendes fest. Vier galaktische Stunden lang haben wir jetzt einen Bericht aus Sektor zehn mitangesehen. Dort hat man ein neues Experiment gewagt. Ich glaube, es hat sich bewährt. Deshalb gestatte ich mir folgenden Antrag: der Hohe Rat möge dem Commander A-Riman Vollmacht erteilen, daß er mit seinem Programm fortfahren kann.« Ein Delegierter vom paldorianischen Imperium stand auf. Diese Sternengruppe gehörte noch nicht lange zur Föderation. »Ich würde diesen Antrag noch erweitern«, sagte er. »Sobald der Delegierte des siebten Planeten von der Sonne Frank III, Nummer sechs-zwei-neun, Sektor zehn, in diesem Hohen Haus seinen Stuhl einnimmt, soll der diesem Hause nahelegen, daß
ein neues Korps gegründet werden soll. Dieses Korps sollte sich ausschließlich der Schulung oder Umschulung, falls die Lage es erforderte, der neuen Kulturen im Kosmos widmen.« Der Präsident der Versammlung lachte. »Darf ich den Herren Delegierten daran erinnern, daß es vielleicht noch ein paar tausend Zyklen dauern wird, bis der besagte Abgeordnete, der vielleicht noch nicht geboren ist, hier im Hause seinen Sitz einnehmen wird!« Mar-Li erhob sich zum zweitenmal. »Ich nehme die Erweiterung meines Antrags gern zur Kenntnis«, sagte er. »Die Föderation hat mehr als tausend Perioden verstreichen lassen, ehe dieses Experiment Ereignis wurde. Wir können auch noch zwei oder drei Perioden abwarten, bis die letzten Ergebnisse dieses Experimentes vorliegen. Ich prophezeie aber jetzt schon, daß noch viele von uns den Tag erleben werden, wenn der neue Delegierte seinen Platz zugewiesen bekommt.«
Marzold Quonzar war der erste Delegierte von der Gundarischen Vereinigung, der seinen Platz im hohen Rat der Föderation einnahm. Er rieb sich die Augen, als das Licht im Saal wieder aufleuchtete. »Aha, das ist also die wahre Geschichte meiner Kultur«, sagte er. Ein paar Minuten saß er nachdenklich da. Dann rief er nach seinem Sekretär. »Verfassen Sie einen Antrag an den Hohen Rat der Föderation«, sagte er. »Die Überschrift lautet: ›Gründung eines neuen Korps in der stellaren Polizeitruppe‹. Den Text Überlasse ich Ihnen.« Er hielt inne und fuhr dann nachdenklich fort: »Der Comander hatte einen Spitznamen, per ›Kämpfende Philosoph‹ wurde er genannt. Hm… «
Er nickte entschlossen. »Ja, wir werden als Namen für diese neue Truppe ›Das philosophische Korps‹ vorschlagen… «
Originaltitel: FIGHTING PHILOSOPHER. Copyright 1955 by Street & Smith Publications, Inc. Aus ASTOUNDING SCIENCE FICTION.