ULLSTEIN 2000
SCIENCE FICTION STORIES 3 von Everett B. Cole J. B. Clarke Murray Leinster
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ULLSTEIN 2000
SCIENCE FICTION STORIES 3 von Everett B. Cole J. B. Clarke Murray Leinster
Ausgewählt und zusammengestellt von Walter Spiegl
ein Ullstein Buch
ULLSTEIN BUCH NR. 2782 IM VERLAG ULLSTEIN GMBH, FRANKFURT/M – BERLIN – WIEN Aus dem Amerikanischen übersetzt von Bodo Baumann
ERSTMALS IN DEUTSCHER SPRACHE Umschlagentwurf: Herbert Papala Alle Rechte vorbehalten Übersetzung © 1970 by Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Printed in Germany 1970 Gesamtherstellung: Augsburger Druck- und Verlagshaus GmbH
Um seine Studien zu beenden, war er heimlich gelandet. Dann geschah das Unfaßbare: Trotz seiner überlegenen physischen und psychischen Kräfte ging er in eine Falle. Der Rückweg war abgeschnitten. Er war gestrandet auf einem Planeten, dessen Zivilisation die einfachsten Grundbegriffe der Raumfahrt noch nicht kannte. Er mußte einen Fluchtweg finden, ohne jedoch in die natürliche Entwicklung dieser Kultur verändernd einzugreifen… DIE STÖRUNG von Everett B. Cole Die Rulganer glaubten sich ihrer Sache schon sicher. In kürzester Zeit würde man mit der Eroberung des Planeten Erde beginnen können. Zwar waren Angriffskriege in der galaktischen Föderation verboten, aber man brauchte die andere Seite nur geschickt zu provozieren, um ungestraft zuschlagen zu können… GESCHENK DES HIMMELS von J. B. Clarke Sein Auftrag stand fest, sein Ziel auch, aber weil der Steuercomputer falsch programmiert war, landete Calhoun auf einem Planeten, dessen Umweltbedingungen seine Bewohner in die Isolation getrieben hatten. Und aus der überlieferten Angst vor Seuchen hatte sich ein zerstörerischer Komplex entwickelt… PLANET DER ANGST von Murray Leinster
Everett B. Cole DIE STÖRUNG
Die Kaiserin-Miralu-Straße gehörte zu jenen ehrwürdigen Straßen, die ihre Daseinsberechtigung längst verloren hatten. Jetzt dämmerte sie im Zwielicht dahin. Viele kannten sie, aber die meisten mieden sie. Trotzdem waren die Häuser zu beiden Seiten noch bewohnt. Sie dienten als billige Unterkünfte, und auch ein paar Läden und Tavernen gab es. Die alte Straßendecke aus Pflastersteinen – rissig und mit Moos bewachsen – widerstand tapfer dem Zahn der Zeit und dem Fortschritt. Die altmodische Kanalisation funktionierte auch noch. Die Straßenlaternen, halb verhüllt vom Nebel, erhellten nur ein paar vage Umrisse im Dunkel, überzogen die nassen Pflastersteine mit einem matten Schimmer und schufen einen ärmlichen Kontrast zu den schwarzen Lücken zwischen den schweigenden Häusern. Zwar sah man den Himmel als grauen Strich zwischen den vorspringenden Dachkanten; aber die Sterne blinkten durch einen milchiggrauen Schleier herab, und ihr trüber Schein erreichte nie den Grund der Straßenschlucht. Früher war die Kaiserin-Miralu-Straße stolzer Mittelpunkt der Stadt gewesen. Als Hauptstraße verband sie das Schloß mit dem Markt. Doch heute wurde der alte Marktplatz kaum mehr benutzt, und die Straßen, die von ihm ausgingen, waren viel zu schmal und wenig befahren. Natürlich hörte man auch hier noch leises Lachen, Lieder, das Klirren von Gläsern und hadernde Stimmen; doch das drang nur gedämpft durch die Fensterläden und dicken Mauern. Die Schritte des einsamen
Fußgängers und die Geräuschkulisse der anderen, der neuen Stadt übertönten alles. Er ging an den düsteren Fassaden entlang. Inzwischen fiel es ihm leicht, zu erraten, was hinter den geschlossenen Fensterläden vorging. Dicht vor ihm schnitt ein Licht eine Sekunde lang eine helle Schneise in den Nebel. Dann wurden die Fensterläden wieder geschlossen, und die Straße hüllte sich wieder in den Mantel geheimnisvoller Dunkelheit. Er brauchte kein Hellseher zu sein, um zu erraten, was sich hinter den Läden abspielte. Er kannte die meisten Spelunken und Nachtlokale in der Stadt. Er griff in seine Jacke, besann sich jedoch anders. Nein, das war wirklich nicht nötig. Seine normalen Verstandeskräfte reichten hier vollkommen aus. Es war höchste Zeit, daß er abreiste. Bardon barg keine Geheimnisse mehr für ihn. Die Stadt war ihm vertraut – fast zu vertraut. Er hatte hier nichts mehr verloren. Er mußte sein Schiff aus der Umlaufbahn her abrufen, noch eine weitere kleine Menge Edelmetall herstellen und dann in ein anderes Land reisen, um seine Kenntnisse von diesem Planeten abzurunden. Er blickte zurück zur Stadtmauer, wo die Lichter der Neustadt sich zu einem Glorienschein am Nachthimmel vereinigten. Dort waren die Museen, die Bibliotheken. Sie hatten ihm alles preisgegeben, was er wissen wollte. Er lächelte. Auch die Leute, die dort wohnten, hatten ausgeplaudert, was sie wußten. Sie hatten es freiwillig getan, ohne Zwang. Er mußte Abschied nehmen, neues Material sammeln. Er schüttelte den Kopf, als er an die vielen Fehler bei seiner ersten analytischen Arbeit dachte. Jetzt verstand er, warum man ihm befohlen hatte, seine Arbeit noch einmal zu überprüfen. Plötzlich spürte er eine geistige Spannung. Diese Spannung herrschte schon seit ein paar Sekunden vor, er hatte sie bewußt übergangen. Doch jetzt war es zu spät, als seine Hand zum
Gürtel zuckte. Der Dachziegel war groß und schwer. Er war schon dicht über ihm. Zwar konnte er noch ein Kraftfeld bilden, aber der Raum und die Zeit reichten nicht aus, um den herabfallenden Ziegel aufzufangen. Er wurde im Fall gebremst und etwas abgelenkt. Er spürte den Aufprall; der Nebel und die Wolken teilten sich. Kurz schimmerten die Sterne in ihrer ganzen funkelnden Pracht. Dann erloschen sie, und tiefe Dunkelheit hüllte ihn ein. Er brach auf dem Pflaster zusammen. Mit einer Reflexbewegung schaltete er noch das schützende Kraftfeld ab. Neben ihm zerbarst der Ziegel in Stücke. Eine Weile lang war es ganz still in der Straße, bis Gorfaer geduckt aus dem Torweg kam. Seine Stiefel huschten über die Pflastersteine, als er zu dem Bewußtlosen eilte. Einen Moment starrte er auf die reglose Gestalt. Dann schnalzte er zufrieden mit der Zunge. Wieder einmal war ein Coup gelungen. Seine neue Methode, Leute auf der Straße zu überfallen, war großartig, leicht und mühelos. Er spähte hinauf zum Dach. Sein Komplice Tosser turnte am Gerüst herunter. Gorfaer leerte die Taschen des Opfers. Im Jackett steckte ein Ring, den er neugierig betrachtete. Er nahm die Geldbörse an sich, das kleine verzierte Steuergerät und den Gürtel mit der ziselierten Schnalle. Dazu kam noch die Uhr und andere kleine Wertgegenstände. Zufrieden richtete er sich wieder auf. »Los, verschwinden!« rief er Tosser zu. »Ich habe alles!« Die zwei Straßenräuber eilten die Straße hinauf und bogen dann in einen Fußgängerweg ein. Sie überquerten eine Nebenstraße und erreichten schließlich unbemerkt ihr Versteck. Gorfaer schloß die Tür hinter sich und schleuderte den Ring achtlos auf seine Pritsche. Dann warf er sich rücklings auf die Matratze, schlug die Beine übereinander und sah sich die Beute genauer an.
Die Geldbörse war vielversprechend. Sie wog schwer, enthielt mehrere Münzen und eine Rolle Banknoten. Gorfaer zählte die Scheine sorgfältig. »Zweihundert Kronen«, sagte er zufrieden. »Kein schlechter Fang für eine Nacht. Was sagst du, Tosser?« Der andere kam näher, streckte habgierig die Hand nach dem Geld aus. Doch Gorfaer stieß sie zur Seite. »Nicht so hastig«, knurrte er. »Ich bin mit dem Teilen noch nicht fertig. Du bekommst schon, was dir zusteht.« Er schob die Geldbörse hinter sich an die Wand, wo sein Komplice sie nicht erreichen konnte, und wendete sich den anderen Beutestücken zu. Zuerst nahm er die Schachtel mit dem Steuergerät, »Hm«, meinte er kopfschüttelnd. »Ein Kästchen mit Geheimverschluß. Wenn wir wüßten, wie es zu öffnen ist, bekämen wir vielleicht einen Batzen Geld dafür.« Er betrachtete das Kästchen näher. Das Metall hatte einen stumpfen, silbrigen Glanz. Fünf Flächen des Kästchens wiesen verschlungene eingravierte Ornamente auf, die sechste ein paar kleine Knöpfe und einen Schaltknebel. Gorfaer spielte mit den Knöpfen, drückte auf einen. Nichts geschah. Er lehnte sich gegen die Wand und drückte auf einen anderen Knopf. Plötzlich schien er aus großer Höhe auf das Land hinunterzublicken. Er unterschied braune Felder und grüne Bäume. Am Rande der Wälder standen Häuser, so klein wie Spielzeugklötze. Er schüttelte verwundert den Kopf und drückte auf den ersten Knopf. Langsam begann der Boden unter ihm zu schwanken. Wieder drückte er auf einen Knopf – einen von denen, die kranzförmig um den Knebel in der Mitte lagen. Er stürzte. Eigenartig, denn er sah trotzdem noch das Zimmer. Tossers häßliche Fratze beugte sich über ihn. In dem mürrischen Gesicht spiegelte sich die Habgier. Trotzdem blieb
auch das Bild vom Wald und Häusern, auf die er mit furchterregender Schnelligkeit hinabstürzte. Gorfaer wollte von seiner Pritsche aufstehen. Im gleichen Augenblick verblaßte das Landschaftsbild. Als er aufrecht saß, war es ganz verschwunden. Wieder legte er sich hin – die Bäume griffen förmlich mit Wipfeln und Zweigen nach ihm. Er richtete sich auf – und die Szene verschwand. Kopfschüttelnd lehnte er sich erneut zurück. Dabei berührte seine Schläfe den Ring, den er vorhin auf die Pritsche geworfen hatte. Ein überwältigendes Haßgefühl durchströmte ihn. In einer flüchtigen Vision sah er sich auf der Straße neben einem seiner Opfer stehen. Doch dessen Gestalt und Gesicht blieben undeutlich. Nur sein eigenes Bild war klar. Genau sah er die Blutlache unter sich. Wütend fuhr er in die Höhe, packte den Ring, schleuderte ihn auf den Fußboden und trampelte darauf herum. Die Energiezellen im geistigen Kraftverstärker, wie sie in der Galaktischen Föderation verwendet werden, sind ziemlich robust konstruiert. Aber man hat dabei an den normalen Gebrauch gedacht, nicht an extreme Bedingungen oder an die sinnlose Zerstörungswut eines Straßenräubers. Der Ring hat daher nur eine dünne Isolation. In seinem Kern enthält er dagegen ein Kraftfeld von ungeheurer Stärke. Man hatte auf Handlichkeit Wert gelegt, was nur auf Kosten der Schutzisolierung ging. Der grobe Stiefelabsatz traf eine schwache Stelle. Das Leichtmetall wurde verbogen, die Isolierung brach auf. Zwei winzige Metallfäden berührten sich, der Energiespeicher entlud sich unkontrolliert und ein elektromagnetisches Schwerefeld entstand, das sogleich wieder zusammenbrach, als die Energiezelle erschöpft war. Eine grelle Stichflamme schoß empor, gefolgt von einer Detonation. Tosser spürte noch diese seltsame Spannung, die sich ausbreitete. Er sah auch das Aufschießen der Stichflamme; doch die Detonation vernahm er schon nicht mehr. Gorfaer
selbst sah nichts, vernahm nichts, fühlte nichts mehr. Er hörte einfach auf zu existieren. Niemand außerhalb des Zimmers erfuhr die Einzelheiten dieser Tragödie, die sich hier abspielte, obgleich eine einzige Person viel später immerhin den Hergang ziemlich genau erriet. Lichtjahre entfernt vom Explosionsherd schlug ein Zeiger auf einer Skala aus und registrierte einen nicht näher identifizierbaren Impuls in einer nicht genauer identifizierbaren Ecke der Milchstraße. Doch es sollte viele Jahre dauern, bis das Folgerungen nach sich zog… Die Stichflamme, die Explosion, die Brände – das alles scheuchte natürlich die Bevölkerung auf. Die Leute stürzten aus den Kneipen, kamen aus ihren Wohnungen, ließen Gläser und Würfel im Stich. Gaffer bestaunten das Feuer, stellten Fragen, wie das hatte geschehen können. Die Feuerwehr traf ein und der Stadtschutz. Die Flammen wurden gelöscht, die Feuerwehr zog wieder ab. Es blieb den Stadtschützern vorbehalten, den Pöbel von Plünderungen oder ähnlichen Übergriffen abzuhalten, bis die Spurensicherungsgruppe eintraf. In der Kaiserin-Miralu-Straße riß der Luftdruck der Explosion noch einige Dachziegel herunter. Sie zerbarsten krachend auf dem Katzenkopfpflaster. Den Lärm schien auch das Opfer des Überfalls zu hören, das dort immer noch lag. Es richtete sich mühsam auf. Sein Kopf schmerzte höllisch, und bei der kleinsten Bewegung revoltierte sein Magen. Er stand auf und schwankte hinüber zum nächsten Hauseingang. Dort überkam ihn die Übelkeit. Eine Weile lang lehnte er an der Wand, würgte und erbrach sich, bis ihm etwas besser wurde. Er fragte nicht, wer er war oder wo er sich befand. Er war einfach eine Kreatur, vom Schmerz gepeinigt, und von dem Drang beherrscht, den Ort zu verlassen, wo man ihr so weh getan hatte. Langsam schwankte er die Straße hinunter. Das eine Bein zog er etwas nach.
Es war ein normaler Anruf gewesen. Deshalb blieb auch Horon im Fahrzeug sitzen, während Schutzmann Korr ausstieg und zur Haustür ging. Er drückte auf die Klingel und wartete. Innen bewegte sich etwas. Eine ältliche Frau stand im Türrahmen und sah ihn fragend an. »Haben Sie uns wegen eines Betrunkenen angerufen?« Die Frau wich wortlos zur Seite. Da sah Schutzmann Korr einen Mann im Hausflur liegen. »Er fiel einfach herein, als ich die Tür öffnete«, erklärte die Frau. »Hat er Sie belästigt?« »Nein.« Sie schien trotzdem ein bißchen besorgt oder verängstigt. »Er fiel einfach um. Wir brachten ihn nicht mehr auf die Beine. Wir wußten nicht, ob er betrunken oder verletzt ist. Deswegen rief ich an.« Im Hausflur standen noch mehr Leute. Sie sahen Korr an und dann wieder die reglose Gestalt auf den Dielen. Korr blickte nur kurz zu ihnen hinüber und konzentrierte sich dann auf die Frau. »Wir kümmern uns um ihn«, versprach er. Er beugte sich hinunter und rüttelte den Mann an der Schulter. »He!« sagte er scharf, »was machen Sie hier!« Der Körper des Mannes zuckte ein paarmal, er gab jedoch keine Antwort. Korr rüttelte ihn wieder. »Los doch!« rief er. »Aufstehen!« Keine Antwort. Korr versuchte es noch einmal mit Schütteln, richtete sich dann auf und rief über die Schulter: »He, Vol – der ist bewußtlos. Komm und pack mal mit an!« Gemeinsam hoben sie den Mann vom Boden auf. Sie schoben ihn in den Streifenwagen. Vol Horon zuckte die Achseln. »Auch eine Möglichkeit«, meinte er, »seinen Kummer zu vergessen.« »Wirklich?« fragte sein Kollege. »Und was ist am nächsten Morgen?«
Sie stiegen wieder in ihren Wagen. Horon drückte auf den Brennstoffgeber, zog den Steuerknüppel zurück, und der Wagen holperte über das Kopfsteinpflaster. Nach ein paar Minuten bewegte sich ihr Fahrgast. Er versuchte den Kopf zu heben, gab es aber wieder auf, als der Schmerz ihn überwältigte. »Was ist los?« fragte er leise. Korr drehte den Kopf. »Nur keine Aufregung«, sagte er. »Morgen geht es Ihnen schon besser.« Der Fahrgast wußte zwar, daß irgend etwas nicht in Ordnung war. Doch er hatte keine Kraft mehr, seine Lage zu verbessern. Er wußte auch nicht, gegen wen oder was er ankämpfen sollte. Also blieb er, gegen den Sitz gelehnt, ganz still und sah Horon beim Fahren zu. Plötzlich verschwamm alles wieder, erloschen die Lichter und verwischten sich die Konturen der Häuser. Erst als der Wagen hielt, drang die Außenwelt wieder bis zu seinem Bewußtsein durch. »Können Sie aufstehen?« fragte Korr. Der Verletzte stellte einen Fuß auf den Boden und zuckte zusammen. »Mein Kopf!« Horon grinste. »Jetzt schon?« fragte er hämisch. »Sie müssen ja einen schlimmen Fusel getrunken haben!« Der Verletzte sah sich benommen um. »Wohin…?« »Kommen Sie schon!« drängte Korr und packte seinen Arm. »Dort hinein!« Der Wachbeamte hinter dem Schreibtisch war nicht mehr der jüngste. Seine Haare hatten ihren Glanz verloren. An einem zweiten Schreibtisch saß ein weiterer Beamter und las in einer Zeitung. »Betrunken«, sagte Korr. »Wurde in einem Hausflur bewußtlos.« »Wohnt er dort?« »Nein.« Korr schüttelte den Kopf. »Die haben ihn noch nie gesehen.«
Der Wachbeamte wendete sich dem Zivilisten zu: »Wie heißen Sie?« fragte er und ergriff einen Stift. »Ich bin…« Der Mann hielt sich wieder den Kopf. Darüber hatte er sich überhaupt noch keine Gedanken gemacht. Das war einfach zu viel. In seinem Kopf tobte der Schmerz. Immerhin war er – er selbst. Er war… er hieß… er gab es auf. »Ich kann mich nicht mehr erinnern«, sagte er. Er schwankte und hielt sich an der brusthohen Schranke fest. Korr wollte ihn aufrichten, doch der Wachbeamte unterband das mit einer Handbewegung. »Lassen Sie ihn«, sagte er. »Was für einen Beruf haben Sie, Bürger?« Der Mann dachte eine Weile über diese Frage nach. Mußte man so etwas haben? Er blickte den Wachbeamten an: »Keine Ahnung.« »Aber Sie müssen sich doch irgendwie Ihren Lebensunterhalt verdienen!« Lebensunterhalt? Ja, am Leben war er – aber Unterhalt? Was tat man dazu? Der Mann hinter dem Schreibtisch ließ die Zeitung sinken. »Warum müssen Betrunkene sich immer so blöd stellen?« Der Wachbeamte, Marnol Kastin, hatte schon viele Jahre im Innendienst verbracht. Und davor hatte er als Schutzmann die Straßen durchstreift und die Leute kennengelernt, nüchterne und betrunkene. Er hatte Verletzten geholfen und solchen, die nicht ganz richtig im Kopf waren. Er sah sich den Mann jenseits der Schranke genau an. Auf den ersten Blick gewöhnlicher Durchschnitt. Betrunken? Auf keinen Fall ein Gewohnheitstrinker. Durchtrainierter Körper, offensichtlich an gesunde Lebensweise gewöhnt. Korr und Horon waren groß und athletisch gebaut. Dieser Mann brauchte sich, verglichen mit ihnen, nicht zu schämen. Glattes Gesicht, ein bißchen hager, regelmäßige Züge, kein Anzeichen von Ausschweifung
oder Laster. Die Kleidung war zerknittert, ein bißchen schmutzig, aber von ausgezeichneter Qualität. Kastin dachte eine Weile nach. Nein, das war kein Trunkenbold oder Streuner. »Bringen Sie ihn zu einem Arzt, Korr«, befahl er. »Vielleicht ist er betrunken. Er kann aber auch verletzt sein. Mag sein, daß er bei der Explosion in der Klewor Straße etwas abbekommen hat.« Wieder war er nur halb bei Bewußtsein. Er wurde in den Wagen gehoben. Erst ging es über eine holprige Strecke, dann über eine glatte Fahrbahn. Das Fahrzeug hielt vor einem anderen Gebäude. Man schob ihn auf den Eingang zu. Wieder ein Mann, der verwirrende Fragen stellte. Erbrechen, Übelkeit, rasender Schmerz. Man legte ihn in ein Bett. Die Zeit stand still. Er schwebte in einem Dämmerzustand. Ein paar Minuten lang genoß er dieses Treiben zwischen Sein und Nichtsein, das weder Probleme noch Schmerzen kannte, nur ein Empfinden am Rande der Existenz. Dann schlug eine Frage durch. Was war geschehen? Ein schwaches Pochen im Schädel erinnerte ihn an seine Kopfschmerzen. Gelassen und unverbindlich versuchte er seine Vergangenheit zu erforschen. Es gab nur wenige Spuren, die er zurückverfolgen konnte. Doch alles blieb verworren. Trotz angestrengter Konzentration gelang es ihm nicht, seine Vergangenheit zu durchleuchten. Unruhe stieg in ihm auf. Irgend etwas war hier falsch – ein schreckliches Mißverständnis. Endlich erkannte er die Stimmen, die ihn geweckt hatten. Er entspannte sich wieder, hörte mit geschlossenen Augen zu. »Wußte nicht mehr, wer er war oder was ihm zugestoßen ist – wie?« »Nein. Nicht einmal seinen eigenen Namen. Seine Taschen waren leer. Ausgeraubt, ohne Zweifel.« »Hm – möchte nur wissen, was ihm passiert ist.«
»Der Arzt weiß es auch nicht. Muß einen wuchtigen Schlag auf den Kopf bekommen haben, sagt er.« Es wurde wieder still. Nur das Geräusch der sich schließenden Tür hörte er noch. Er öffnete langsam die Augen, sah sich in seiner Nähe um. Links und rechts ein leeres Bett. Die Decken waren zurückgeschlagen. Nachttische standen dort. Darauf Wassergläser, Zeitschriften, Glasröhrchen mit Tabletten. Alles in sauberstem Weiß. Nebenan lief Wasser. Stimmen unterhielten sich. Man konnte nicht verstehen, was sie sagten. Er blickte zum Fenster. Die Vorhänge waren zurückgezogen. Ein paar Baumwipfel waren zu sehen, darüber ein grauer Himmel. Ein Wort fiel über die Schwelle seines Bewußtseins. Krankenhaus! Das mußte es sein; er lag in einem Krankenhaus. Er schloß erneut die Augen, sammelte seine Gedanken hinter geschlossenen Lidern. Jetzt schlangen sich die losen Enden seiner Gedanken zu einem Kreis. Ja, er erinnerte sich an den dumpfen Aufprall, an das kurze Aufreißen des Nebels, ehe die Muskeln unter der Wucht des Schlages nachgaben. Geistige Spannung, der Versuch, irgend etwas in Betrieb zu setzen. Er mühte sich, noch mehr Fäden miteinander zu verknüpfen. Doch sein Gedächtnis ließ ihn im Stich; die Erinnerung blieb isoliert, eine Episode. Das Ereignis selbst – wo es passiert, wie es dazu gekommen, wer daran schuld war: all das blieb unbestimmt, eine Wildnis der Gedanken. Doch dies war nicht das dringlichste Problem. Eine andere Frage war viel wichtiger. Jemand hatte ihn nach seinem Namen gefragt. Ja, er mußte einen Namen haben. Aber er wußte ihn nicht. An andere Dinge konnte er sich wieder erinnern: Oper, Kino, Sportveranstaltungen, begeisterte Zuschauer. Aber wer war er selbst? Was war ein Name überhaupt? Er merkte, daß seine Gedanken sich im Kreis
bewegten. Er versuchte, auszubrechen, noch mehr Bilder aus der Wildnis seiner verworrenen Gedanken herauszufangen. Fakten, geschichtliche Ereignisse traten in sein Bewußtsein. Aber sie betrafen ihn nicht persönlich. Er wußte sie, doch sie waren nicht Bestandteil seiner Person. Name – was verstand man darunter? Wieder löste sich ein Wort aus dem Wirrwarr. Natürlich. Ein Name war das Zeichen der Identität. Er suchte weiter. Doch seine Identität konnte er nicht finden. Eine Weile umringte ihn eine große Menge Zuschauer. Sie saßen da, sahen ihn an. Aber ihre Umgebung war verschwommen. Er strengte sich an, Einzelheiten herauszulösen. Die Gesichter verschwammen sofort. Er konnte nicht mit dem Finger auf einen aus der Menge zeigen und ihn ansprechen: »Du kennst mich doch! Wer bin ich?« Nein, das ging nicht. Nur die Fragen blieben, und es kamen immer neue hinzu. Fragen über Fragen. Keine Antworten. Er sah hinüber zu der verschlossenen Tür. Er wußte, daß sich dahinter Leute bewegten. Auch sie würden ihm neue Fragen stellen. Wie heißen Sie? Wo wohnen Sie? Haben Sie eine Beschäftigung? Wo sind Sie beschäftigt? Was für einen Beruf haben Sie? Wo sind Sie geboren? Wie alt sind Sie? Das ließ sich auf einen einfachen Nenner bringen: Sie sind hier, aber wer sind Sie? Legen Sie Rechenschaft über sich selbst ab! Er schüttelte den Kopf. Soweit er es übersehen konnte, besaß er keine mit der Zeit gewachsene Existenz. Doch er war hier – daran bestand nicht der geringste Zweifel: Körper; ein Bett, auf dem er lag; wahrscheinlich sogar schriftliche Nachweise, daß er existierte, die irgendwo aufbewahrt wurden. Wieder schloß er die Augen, um über diese Fragen besser nachdenken zu können. Im Nebenraum wurde das Wasser abgestellt. Die Tür knarrte. Ein scharrendes Geräusch. Pantoffel schleiften über den
Boden. Das Quietschen einer Matratze. »Ob er sich wieder erinnern kann, wenn er aufwacht?« »Ich denke schon. Fuchsteufelswild wird er, kann ich dir sagen, weil sie ihm alles gestohlen haben!« Er öffnete erneut die Augen. Sein Blick wanderte über die Decke und die Fenster. Dann erst wagte er, hinüberzusehen zu den anderen Betten. Sie waren beide belegt. Der eine Patient las. Der andere bemerkte seinen Blick. »Ah«, sagte er, »er ist wach! Na, wie fühlst du dich?« »Kopf – tut weh.« Seine Antwort kam mühsam. Er verschluckte die Silben. Der Mann nickte. »Kann ich mir denken. Du warst bewußtlos, als sie dich gestern abend ins Bett legten.« Er beschäftigte sich mit seinem Kissen. »Ich heiße Neir – Damar Neir. Und du?« »Sehr erfreut. Ich bin… ich heiße… sehr erfreut… ich…« Er verstummte. Was war nun das schon wieder? Seine Gedanken schienen klar zu sein. Wenn er sie jedoch in Worte kleiden wollte, kam alles ganz verkehrt heraus. Der Mann, der sich vorgestellt hatte, sah ihn betroffen an. Er wollte etwas sagen; doch inzwischen war der dritte Patient aus dem Bett gestiegen, tippte Neir auf die Schulter und schüttelte den Kopf. Neir schien zu begreifen. Er deutete auf den anderen. »Der da heißt Mardon Pyl. Er ist überfahren worden. Liegt schon ein paar Wochen hier.« »Wo ist… hier?« Pyl lächelte breit. »Unfallstation, Stadtkrankenhaus. Schon das zweitemal, daß sie mich überfahren haben.« Er schwieg einen Atemzug lang. »Paß mal auf! Du legst dich flach hin und ruhst dich aus. Ja? Nur ausruhen, verstanden?« Er schlüpfte wieder unter seine Decke. Neir sah ihn eine Weile stirnrunzelnd an und vertiefte sich dann in ein Buch…
Die Tür ging auf. Eine Schwester kam herein. Sie blickte von einem Patienten zum anderen und konzentrierte sich dann auf den Neuen. »Ah«, sagte sie, »wir sind wieder bei Bewußtsein!« Sie ging hinaus und holte einen Arzt. Der sah zuerst das Krankenblatt an und zog dann einen Stuhl neben das Bett. »Na, dann wollen wir mal«, sagte er. Er rückte den Augenspiegel zurecht, nickte, griff nach dem Puls, nickte wieder. Als er das Handgelenk losließ, fiel der Arm schlaff auf die Bettdecke. Der Arzt stutzte, hob den Arm wieder an, untersuchte die Muskeln und Sehnen und legte den Arm sacht auf das Laken zurück. Er blickte den Patienten gespannt an. »Schließen Sie die Finger!« befahl er. Die Finger zuckten und bogen sich dann zitternd auf die Handfläche zu. Der Arzt sah es, nahm die Hand und bewegte die Finger hin und her. »Nun versuchen Sie es noch einmal!« befahl er. Wieder diese zitternde, schlaffe Reaktion. Der Arzt warf der Schwester einen Blick zu. Diese schrieb etwas auf ihren Block. »Und jetzt beugen Sie mal den Arm!« Der Patient gehorchte – versuchte es offensichtlich. Er stützte sich sogar auf den anderen Arm. Doch der linke Arm verweigerte den Dienst. Der Arzt sah den Bemühungen eine Weile zu und winkte dann ab. »Keine Angst«, sagte er, »das legt sich nach einer Weile wieder. Nun unterhalten wir beide uns mal über andere Dinge. Wie heißen Sie?« Der Patient betrachtete immer noch seinen Arm. »Der will nicht!« sagte er verwundert. Er massierte die Finger der anderen Hand und beugte den Arm. »Der gehorcht!« »Das kriegen wir schon wieder hin!« beruhigte ihn der Arzt. »Sie werden sehen, in ein paar Tagen laufen Sie wieder herum!« Er blickte auf das Formular in seiner Hand. »Ich brauche noch ein paar Auskünfte. Ihre Angehörigen machen
sich bestimmt Sorgen, wo Sie sind und… Wie heißen Sie?« Der Patient sah ihn an. Vor dieser Frage hatte er sich gefürchtet, seit der Arzt an sein Bett getreten war. Er mußte einen Namen haben. Er hatte aber keinen. Er schüttelte den Kopf, zuckte zusammen. »Ich kann mich nicht erinnern«, gestand er freimütig. »Hm«, der Arzt blickte auf sein Formular, setzte ein Kürzel in die für den Namen vorgesehene Spalte, während die Schwester das gleiche auf ihrem Notizblock tat. Dann sah er den Patienten wieder an. »Hm. Aber an die Stadt können Sie sich erinnern, wie?« »Ja, natürlich!« Er runzelte die Brauen. »Straßen und Häuser. Auch ein großes Denkmal…« »Kelore-Platz?« hakte der Arzt ein. »Kann sein. Auch eine große Bibliothek gleich in der Nähe…« Die Finger der linken Hand zuckten. Der Patient sah sie versunken an. Im Mundwinkel zuckte es. »Ich fühlte ihn zwar«, sagte er, »aber er war gerissen. Kam auf mich zu, ohne zu denken.« Der Arzt sah ihn verständnislos an. Die Schwester notierte hastig. »Von wem sprechen Sie?« fragte der Arzt. »Ich weiß nicht. Wir hatten keinen Kontakt miteinander.« Der Mann lag eine Weile ruhig da und schien nachzudenken. Dann winkte er ungeduldig ab. »Ich kann mich nicht mehr erinnern.« »Wo waren Sie?« »Keine Ahnung. Es war dunkel… enge Straße… ich weiß nicht mehr.« »Hm. Nun entspannen Sie sich mal. Machen Sie sich keine Sorgen. Die Erinnerung kommt schon wieder.« Der Arzt stand auf und holte eine Zeitschrift von Neirs Nachttisch. Er hielt die Titelseite dem Patienten vor das Gesicht. »Können Sie das lesen?« fragte er.
»Natürlich – Menosians Illustriertes Wochenblatt«, sagte er. »Weshalb fragen Sie?« »Ach – nichts«, erwiderte der Arzt. »Sie können es nachher lesen, wenn es Ihnen Spaß macht.« Er ließ die Zeitschrift auf dem Bett liegen. Das Verhör ging weiter. Der Arzt hielt sich meistens an seinen Fragebogen. Manchmal verfolgte er auch Andeutungen, die der Patient machte. Die Schwester schrieb eifrig mit. Schließlich schob der Arzt den Stuhl wieder an seinen alten Platz und sagte: »Lesen Sie die Zeitschrift und schalten Sie für eine Weile alles andere ab. Sie werden schon wieder gesund.« Er verließ das Zimmer. Die Schwester folgte ihm. Als die Tür sich geschlossen hatte, legte Neir seine Lektüre auf die Bettdecke. »Du kannst dich also an nichts mehr erinnern, wie?« fragte er ungläubig. »Doch, an eine ganze Menge sogar«, erwiderte der Neue. »Ich weiß nur nicht mehr, wer ich bin.« Er verzog ärgerlich das Gesicht. »Wenn ich nur diesen Arm bewegen könnte.« »Das kriegen die schon hin. Der Doktor hat es ja versprochen.« Er grinste. »Aber einen Namen mußt du doch haben. Wir können dich nicht immer mit ›he, du da‹ anreden. Paß auf: wie gefällt dir Varon?« »Solange das ein Name ist, könnt ihr mich nennen, wie ihr wollt«, antwortete der Neue… Im Ärztezimmer unterhielt sich Dr. Pryden mit der Stationsschwester. »Wir müssen ihm einen Namen geben. Harl Varon. Tragen Sie das ein. Geburtsort unbekannt, Beruf unbekannt, Familienstand unbekannt. Morgen beginnen wir mit der Beschäftigungstherapie.« Er seufzte und blickte auf seine Notizen. »Er muß einen Beruf erlernen, und wir
brauchen einen Bürgen für ihn. Ich bezweifle, daß sein Gedächtnis zurückkehrt; aber vielleicht kriegen wir wenigstens den Arm hin. Dann stehen auch seine Chancen für eine Bürgschaft viel besser.« Kiea Thendor überflog ihre Eintragungen. »Möchte nur wissen, ob er seine Persönlichkeit wiederfindet.« Sie klopfte mit dem Schreibstift gegen den Block. »Komische Antworten hat er ja gegeben. Was soll das zum Beispiel bedeuten: ›Er war gerissen. Kam auf mich zu, ohne zu denken.‹ Was hat das Denken mit dem Überfall zu tun? Verstehen Sie das, Doktor?« Pryden zuckte die Achseln. »Ich schaue auch nicht dahinter. War nicht die einzige sonderbare Bemerkung…« Er winkte ab. »Es gibt ja Situationen, wo ein Patient den Geistesgestörten spielt. Doch dafür liegt bei diesem Patienten kein Grund vor. Er war gut gekleidet, schien wohlhabend zu sein. Auf jeden Fall unabhängig. Ein Krimineller kann er auch nicht sein; sonst hätten die Stadtschützer einen Steckbrief von ihm.« Der Arzt schüttelte den Kopf. »Nein, er gewinnt nichts, wenn er uns etwas vormacht. Er hat nur etwas zu verlieren.« Er griff nach dem Fernsprechwähler. »Hoffen wir, daß die Stadtschützer einen Bekannten von ihm auftreiben. Ohne Gedächtnis findet er nie zu sich selbst zurück. Dann bleibt nur ein Bürge.« Kiea ließ den Kopf sinken. »Schrecklich, wenn man seine Bürgerrechte auf so tragische Weise verliert!« »Ja, wirklich zu bedauern, der Mann.« Pryden wählte gerade. »Scheint gut erzogen.« Er zuckte wieder die Achseln. »Na, bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als den Stadtschützern einen Bericht durchzugeben. Die Bürgschaftsabteilung verständigen wir erst, wenn wir Genaueres über seine Genesung wissen. Ob der Arm gelähmt bleibt und so.«
In der Vermißtenabteilung wurden Karteikarten gesichtet, Beschreibungen wurden verglichen. Neue Meldungen wurden vorrangig behandelt. Dann kam die Akte zurück. Der Mann wurde nirgends vermißt. Die Kartei der Arbeiter wurde überprüft, die unter Bürgschaftszwang standen. Von denen wurden immer welche vermißt; aber keiner, auf den die Beschreibung des Patienten zutraf. Die Akte kam zurück. Ein gelangweilter Stadtschützer besuchte mit den Kleidungsstücken des Patienten einen Laden nach dem anderen. Verkäufer erinnern sich selten. Sie sehen zu viele Kunden tagaus, tagein. Außerdem waren die Kleidungsstücke nicht mehr ganz neu. Die Stadtschützer klapperten die Klubs ab, die Bibliothek, das Museum, ein paar Restaurants. Ja, man hatte jemand gesehen, auf den die Beschreibung zutraf. Name und so weiter? Keine Ahnung, leider. Offenbar war der Unbekannte eine ganze Weile in der Stadt gewesen. Doch er gehörte nicht zur Prominenz; war nicht aufgefallen. Ja, der konnte nur von auswärts sein. Ausländer vielleicht. Ein leitender Beamter vom Stadtschutz sah die Akte durch. »Keine Anfragen von außerhalb. Und im Krankenhaus ist man davon überzeugt, der Mann hat tatsächlich sein Gedächtnis verloren?« »Ohne Frage. Aussicht, es wiederzuerlangen, gering. Sie wundern sich, daß er überhaupt mit dem Leben davonkam. Mit dieser Verletzung am Kopf habe er eigentlich die erste Nacht gar nicht überstehen können.« Der Beamte lächelte. »In diesem Fall kann er auch keinen Schaden mehr anrichten, falls er ein feindlicher Agent gewesen ist. Seinem Heimatland kann er nicht mehr nützen. Uns vielleicht schon. Wir werden ihm etwas zu tun geben.« Er schlug die Akte zu und winkte einen Angestellten herbei. »Geben Sie das weiter an die Bürgschaftsabteilung. Wir
wollen keine Zeit mehr mit Ermittlungen verschwenden, die Geld kosten und doch zu nichts führen…« Die Akte wanderte in den Aktenschrank. Der Aktenkundige selbst kam von einer Krankenstation in die andere. Man pflegte ihn arbeitstauglich. Und Harl Varon war jetzt jemand, zumindest dem Namen nach. Er betrat das Büro für Arbeitstherapie. Der Psychiater blickte vom Schreibtisch hoch. »Sie kommen wie gerufen!« sagte der Mann lächelnd und blickte auf eine Karte auf seinem Schreibtisch. »Habe das eben bekommen. Die Dornath-Niederlassung hat beschlossen, Sie unter Bürgschaftsvertrag zu nehmen«, sagte er. »Das ist eine erfreuliche Nachricht, nicht wahr?« »Dornath?« »Ja, die bauen die Dornath-Turbinenwagen. Eine der größten Fabriken am Platze. Wirklich großes Glück für Sie. Aber Sie haben sich bei der Behandlung auch sehr lernbegierig gezeigt.« Er stand auf. »Fangen wir gleich an. Sie werden als Monteur am Fließband arbeiten. Da müssen Ihre Hände voll einsatzfähig sein.« Varon folgte dem Psychiater zu einem Tisch. Das leichte Nachziehen des linken Fußes störte ihn, aber nicht allzu sehr. Er bewegte die Finger der linken Hand. Von einer Lähmung war nicht mehr viel zu bemerken. Auch den Arm konnte er beugen und bis zur Schulter heben. Höher brachte er ihn noch nicht. Der Therapeut beruhigte ihn: »Das wird vergehen. Nur Geduld. Und am Fließband brauchen Sie nicht die Arme über den Kopf zu strecken. Die Montageteile liegen neben Ihnen. Sehen Sie – genau so wie hier auf dem Tisch!« Er deutete auf die beiden gebogenen Schalen mit den Montageteilen. Zusammengeschoben bildeten sie einen Halbkreis. Vor dem Stuhl lag eine Werkskizze auf dem Tisch, wie man die Teile montieren mußte. Das Ganze ergab eine Pumpe, wenn es fertig
war. Gestern abend hatte er eine Broschüre auf seinem Nachttisch gefunden, in der die Arbeitsweise dieses Werkstückes beschrieben wurde. Er setzte sich und betrachtete die Einzelteile, während der Therapeut erklärte, in welcher Reihenfolge er arbeiten mußte. Dann übte er. Die Arbeit war wirklich nicht schwer. In ein paar Tagen konnte Varon schon schneller montieren, als es vorgeschrieben war. Der Therapeut beobachtete ihn und nickte zufrieden. »Gratuliere, Harl«, sagte er, »Sie sind ein fähiger Monteur. Ich stelle Ihnen nur noch ein Zeugnis aus.« Er füllte einen Fragebogen aus und reichte ihn dann dem Patienten. »So, das bringen Sie jetzt hinunter ins Büro. Sie werden heute entlassen. Alles andere bekommen Sie in der Verwaltung.« Es ging jetzt relativ schnell. Natürlich mußte Varon warten, bis er alle Entlassungsstationen durchlaufen hatte. Doch am frühen Nachmittag stellte er sich bereits an seinem neuen Arbeitsplatz vor. Dort führte man ihn in das Personalbüro. Das Büro war freundlich möbliert und sauber. An der Wand hingen ein Gemälde und ein paar Gruppenfotos. Hinter dem Schreibtisch lenkten zwei gerahmte Diplome die Blicke auf sich. Ein Namensschild stand auf dem Schreibtisch. Kort Dandro, der Personaldirektor, blätterte in ein paar Papieren, ehe er fragend aufsah. »Harl Varon ist mein Name. Das Stadtkrankenhaus schickt mich.« Der Personalchef sah ihn zerstreut an, doch dann lächelte er freundlich. »Oh ja, natürlich! Sie sind aber pünktlich!« Er sprach mit seiner Sekretärin: »Cara – bringen Sie mir die Akte des Neuen, Harl Varon!« Ein Mädchen trat mit einem Aktenordner ins Zimmer. Mit einer Unterschriftsmappe ging sie wieder hinaus, während der Personaldirektor sich Varons Akte vornahm. »Na«, meinte er
schließlich, »Sie scheinen ja völlig in Ordnung zu sein.« Er lächelte und trommelte mit den Fingern auf die Papiere. »Aber schließlich hat unsere Finanzabteilung auch eine Menge Geld in Sie investiert. Ihre Behandlung war nicht billig, Varon. Sie sind sehr krank gewesen und haben lange im Krankenhaus gelegen. Wir mußten eine Menge Umstände berücksichtigen, ehe wir uns zu einer Bürgschaft entschlossen. Aber ich glaube, die Investition wird sich lohnen. Das hoffen wir doch alle, nicht wahr?« Wieder lächelte er und beugte sich über die Akte. »Da sind zuerst einmal die Krankenhauskosten: eine Summe von eintausendeinhundertzweiundneunzig Kronen und dreiundsechzig Kel. Das haben wir natürlich bezahlt. Wir können keinen Arbeiter einstellen, der Schulden hat. Wir haben bei der Arbeiterwohlfahrt ein Konto für Sie eröffnet. Wir ziehen Ihnen pro Woche vier Kronen ab, die von der Wohlfahrt gutgeschrieben werden. Der Zins beträgt ein Zehntel Prozent pro Woche.« Er drehte das Blatt so herum, daß Varon die Zahlen sehen konnte. »Das da ist Ihr Anfangslohn. Er beträgt achtundzwanzig Kronen in der Woche. In der Arbeiterkantine bekommen Sie Gemeinschaftsverpflegung. Die kostet zehn Kronen die Woche. Sie haben keine Angehörigen?« Varon lächelte. »Soweit ich weiß, kümmert sich niemand um mich…« »Ja, natürlich«, der Personalchef lächelte. »Wir können Sie also im Junggesellenflügel unterbringen. Dafür stellen wir wöchentlich acht Kronen in Rechnung. Nun schauen wir mal…« Der Stift glitt an den Zahlen entlang. »Ja, das macht zweiundzwanzig Kronen. Ihnen bleiben also noch sechs Kronen Taschengeld. Damit kommen Sie bestimmt gut aus.« Der Personalchef stand auf und nickte ihm zu. »Nun kommen Sie mit. Ich werde Sie Ihrem Vorarbeiter vorstellen.«
Durch einen Seitenausgang gelangten sie in den Park. Die hohen, hellbraunen Fabrikhallen umschlossen ein Rechteck, das als Park angelegt war. Zwischen Hecken schlängelte sich ein Weg dahin, führte über eine Brücke und verschwand hinter den Bäumen. Der Himmel war hellblau. Varon nahm dieses Bild dankbar in sich auf. Hier konnte man sich nach der Arbeit wirklich ausruhen. Während sie über die Brücke gingen, machte sein Führer eine ärgerliche Bemerkung. Ein Mann war vor ihnen aufgetaucht. »Cenro!« rief der Personalchef. »Bleiben Sie stehen! Ich habe mit Ihnen zu reden!« Der Mann wollte soeben vom Weg abbiegen. Doch jetzt blieb er stehen. »Cenro«, rief der Personalchef noch einmal. »Was treiben Sie hier um diese Zeit?« Der Mann trat nervös von einem Fuß auf den anderen. Dann hielt er eine Mappe hoch, die er unter dem Arm getragen hatte. »Ich sollte das in die Werksleitung bringen. Ich wollte keine Zeit verschwenden und wählte den kürzesten Weg.« Der Personalchef sah ihn kopfschüttelnd an. »Ich begreife das nicht«, sagte er. »Sie kennen doch die Vorschriften, Cenro. Weshalb verstoßen Sie laufend dagegen?« »Ich wollte Zeit sparen.« Kort Dandro schüttelte den Kopf. »Schön. Ich werde später mit Ihrem Vorarbeiter reden.« »Jawohl.« Der Mann ging weiter. Dandro blickte ihm nach. »Ein schwieriger Fall«, sagte er seufzend, »guter Arbeiter, aber sehr undiszipliniert.« »Was hat er denn verbrochen?« fragte Varon neugierig. Der Personalchef sah ihn an. »Ist Ihnen das denn nicht klar?« fragte er überrascht. »Er hielt sich ohne Begleitung im Park auf!« Er brach ab und fuhr etwas milder fort: »Oh, ich vergaß, Sie kennen die Vorschriften noch nicht.« Er beschrieb einen Kreis mit der Hand. »Das hier ist der Direktionspark«, erklärte er.
»Arbeiter dürfen sich hier nicht aufhalten, wenn sie nicht von einem Herrn der Direktion begleitet werden. Wir können nicht dulden, daß unsere Angestellten sich hier herumtreiben und ihre Arbeit vernachlässigen. Das würde unsere Produktionspläne schön durcheinanderbringen.« Er sah sich zufrieden im Park um. »Außerdem nimmt ein Arbeiter keine Rücksicht auf Firmeneigentum. Wahrscheinlich sähe es hier bald traurig aus, wenn jeder sich ungehindert im Park tummeln dürfte.« »Ach, so ist das«, murmelte Varon. »Was passiert jetzt mit dem Mann? Bekommt er eine Strafe?« Dandro schien diese Frage als Ungehörigkeit aufzufassen. Er reagierte gereizt: »Nein, wirklich!« Dann besann er sich wieder. »Ich weiß es nicht. Dafür ist sein Vorarbeiter zuständig.« Er lächelte. »Das Personalbüro befaßt sich nicht mit Disziplinarangelegenheiten. Wir sind dazu da, den Arbeitern zu helfen, nicht sie zu bestrafen.« Er ging etwas schneller. »Sie bekommen einen Wegweiser für die Angestellten«, fuhr er fort. »Da stehen alle Vorschriften unseres Werkes drin.« Er seufzte. »Hoffentlich halten Sie sich daran!« Sie erreichten eine Tür mit der Aufschrift »Kraftstoffpumpen«. Dandro warf Varon einen Blick zu, den Varon richtig deutete: er hielt dem Personalchef die Tür auf. Dandro betrat als erster die Halle. Der neue Monteur ging zwei Schritte hinter ihm. Am Ende der Halle, wo die Fließbänder sich trafen und in der angrenzenden Halle verschwanden, befand sich ein kleines Büro mit gläsernen Wänden. Ein Mann richtete sich hinter dem Schreibtisch auf, als die beiden in das Büro kamen. »Piros, das ist Ihr neuer Mann, Harl Varon.« Kort Dandro deutete über die Schulter. Dann drehte er sich um. »Kolar Piros ist Abteilungsleiter. Er leitet die Kraftstoffpumpen-Abteilung. Er wird Sie an Ihrem
Arbeitsplatz einweisen.« Der Personalchef wandte sich wieder an den Abteilungsleiter. »Nun, Piros, da ich schon mal hier bin, möchte ich mich in Ihrer Abteilung umsehen.« »Aber gern!« Der Abteilungsleiter öffnete eine Schublade und holte eine Broschüre heraus. »Hier, lesen Sie das inzwischen!« sagte er. »Ich komme gleich zurück!« Dann folgte er Dandro in die Halle hinaus. Varon sah den beiden eine Weile nach, während sie an den Arbeitsplätzen vorbeigingen, und blätterte dann in der Broschüre. Wegweiser für den Angestellten. Hinter dem Deckblatt lag eine zusammengefaltete Karte. Sie zeigte die Fabrikanlage in schematischer Darstellung. Es folgte eine Beschreibung der einzelnen Abteilungen: Kantine, Unterkünfte, Einkaufszentrum und so weiter. Anschließend kamen die Vorschriften. Varon überflog ein paar Seiten und blickte dann aus dem Fenster. Es war das einzige in der Abteilung. In der Montagehalle gab es Plakate statt Fenster. Gründlichkeit geht vor Schnelligkeit! Nur der Tüchtige ist zufrieden! Dein Akkordsoll ist… Über der Halle an der Stirnwand hing ein Wappen. Es drückte aus, daß hier alles dem Hause Dornath gehörte. Vom Fenster aus konnte Varon einen Teil der Versuchsstrecke sehen. Ein Turbinenwagen brauste über die Bahn. Man hörte das Heulen des Kompressors. Eine schwarze Rauchwolke quoll aus dem Auspuff. Das Quietschen der Reifen und das Heulen des Motors verklangen in der Ferne. Varon vertiefte sich wieder in die Broschüre. Piros kam allein zurück. Er sah den Neuen scharf an und setzte sich dann hinter seinen Schreibtisch. »Haben Sie alles gründlich durchgelesen?« fragte er. »Ich glaube ja.« »Sie wissen also Bescheid über die Anlagen und Örtlichkeiten, zu denen Sie keinen Zutritt haben?« »Ich glaube schon.«
Der Vorarbeiter nickte. »Schön. Sie trauen sich also zu, Ihre Unterkunft allein zu finden?« Varon deutete auf den Grundrißplan. »Ich denke schon.« »Wunderbar.« Der Abteilungsleiter blickte auf seine Uhr. »Ich zeige Ihnen Ihren Arbeitsplatz, und dann gehen Sie in Ihr Quartier und ruhen sich noch ein bißchen aus.« Der Abteilungsleiter verließ das Büro und führte Varon zu einer Werkbank. »Das ist Ihr Platz. Nummer zwölf«, sagte er. Er deutete auf eine Ziffer. »Ihre Schicht beginnt pünktlich um Null Uhr. Sie brauchen sich nicht anzumelden. Dafür ist Ihr Schichtführer verantwortlich. Er gibt Ihnen alle Auskünfte, die Sie brauchen. Mawner heißt er.« Er musterte Varon noch einmal mit einem langen Blick. »Wir werden uns nicht so bald wiedersehen, es sei denn, Sie fressen etwas aus. Also gehen Sie jetzt zuerst in Ihr Quartier. Denken Sie daran: ein fleißiger Arbeiter wird es bei Dornath immer gut haben.« Er nickte noch einmal zum Abschied und wendete sich dann ab. Ein paar Herzschläge lang sah Varon ihm nach, wie er am Fließband entlangging, auf sein Büro zu. Dann verließ Varon die Halle, blickte auf die Karte in seiner Broschüre und orientierte sich an den Nummern der Gebäude. Er mußte ziemlich weit gehen, bis er sein Quartier erreichte. Ab und zu verglich er die Symbole der Karte mit seiner Umgebung. Schließlich kam er zu einer Tür, über der »Unterkunft für Männer« stand. Ein Wegweiser half ihm hier weiter. Er mußte zwei Treppen hinaufsteigen, durch eine Schwingtür gehen und den Korridor hinunter. Dann war er am Ziel, vor der Tür 304. Varon öffnete die Tür und blieb im Eingang stehen. Ein Mann holte gerade etwas aus einem Schrank. Er sah den Neuen zuerst und drehte sich zu Varon um. »Du bist der Neue?« »Ja. Trete heute meinen Dienst an.«
»Aha.« Der Mann deutete auf ein Bett. »Das ist deins. Du gehst zuerst in die Verwaltung und besorgst dir deine Sachen.« Er blickte auf ein zusammengerolltes Tuch hinunter, das er in der Hand hielt. »Spielst du Tungo?« Varon antwortete lächelnd: »Leider haben sie mir das nicht beigebracht.« Der Mann starrte ihn überrascht an. »Wo kommst du denn her?« »Aus dem Krankenhaus. Kopfverletzung.« »Oh!« Der Mann schloß die Schranktür. »Na ja, mach’s dir bequem. Ich schau mich mal um, ob ich jemand finde.« Er verließ das Zimmer. Varon ging hinüber zu seinem Bett und setzte sich. Es gab nicht viel zu sehen im Raum: vier Schränke, vier Betten, zwei Spiegel. Ein Tisch zum Schreiben. An den Wänden hingen Bilder, auch ein paar gerahmte Urkunden. Der Boden war sauber. Durchs Fenster schaute man in einen Lichtschacht. Varon stand auf und ging zur Tür zurück. Auch hier hing ein gerahmtes Plakat. »Stubenordnung« stand darüber. Varon las den Text, ging dann auf den Korridor hinaus und begab sich zur Verwaltung. Unterwegs warf er einen Blick in den Erholungsraum. Ein paar Minuten später kam er mit einem Armvoll Gegenständen zurück. Er warf alles auf sein Bett. Er rieb seine schmerzenden Muskeln und las den Artikel 2 noch einmal durch. Der Raum hatte zu allen Tageszeiten sauber und aufgeräumt zu sein. Der Haufen auf der Matratze sah alles andere als ordentlich aus. Endlich hatte er alles verstaut und das Bett gemacht. Er betrachtete es mit Genugtuung. Die Beschäftigungstherapie hatte sich nicht nur auf die Berufsvorbereitung beschränkt. Auch Putzen, Flicken und Bettenmachen hatten dazugehört. Dafür mußte er jetzt dankbar sein. Er verließ die Stube und ging hinüber in den Erholungsraum.
Dort waren die Männer versammelt, die gerade Freischicht hatten. Manche lasen, einige saßen an kleinen Schreibpulten und schrieben, doch die meisten standen um den Tisch in der Mitte herum, auf dem ein Tuch ausgebreitet war. Auf der emaillierten Tischplatte standen kleine Zählwerke, und alle sahen gespannt einem Mann zu, der einen Lederbecher schüttelte. Vier Tetraeder fielen auf den Tisch. Er studierte sie und verglich mit den Symbolen auf dem Tuch. Dann nahm er zwei Tetraeder vom Tisch, warf sie in den Lederbecher zurück und schüttelte ihn wieder. Einer der Zuschauer brummelte: »Das schafft er nie!« Ein anderer holte ein paar Münzen aus der Tasche. »Garn hat immer Glück im Spiel. Wieviel setzt du dagegen?« »Eine halbe Krone, daß er es nicht schafft!« »Dann leg das Geld hin. Ich setze gegen dich, Mern.« Der Becher klatschte auf das Tuch, wurde hochgehoben. Der Spieler betrachtete sie und ging von einem Zählwerk zum anderen. »Tungo!« rief er lachend. Mern hatte eine halbe Krone verloren. »Na, wenn schon«, sagte er. »Man kann nicht immer gewinnen.« Varon sah dem Spiel eine Weile zu. Es schien ziemlich einfach zu sein. Die Zählwerke wurden nach den Wurfergebnissen der Tetraeder eingestellt, die aus dem Becher fielen. Bei bestimmten Konstellationen der Tetraeder und Zählwerke gab es Freiwürfe. Solche Kombinationen nannte man Tungo. Trotz der verhältnismäßig einfachen Spielregeln gehörte zum Gewinnen nicht nur Glück, sondern auch die Begabung, die Chancen richtig zu berechnen. Ein Spieler hatte zwei Würfe, um Tungo zu machen; er mußte ausscheiden, wenn ihm das nicht gelang. Varon verlor bald jedes Interesse an Tungo und machte einen Bummel in die Stadt. Er kam erst spät abends wieder zurück. Die Stadtbibliothek hatte eine viel größere Auswahl an Büchern als das
Krankenhaus; doch die Lesebeschränkungen waren ärgerlich. Er hatte sich zwei Bücher ausgesucht, deren Codenummern mit blauer Farbe aufgedruckt waren. Die Bibliothekarin hatte ihm fast eine Szene gemacht. Ob er denn nicht wisse, hatte sie ihn angefahren, daß gewöhnliche Arbeiter keine Bücher ausleihen dürften, deren Nummern in Farbe aufgedruckt waren. Seine Dummheit mache ihr jetzt unnötige Arbeit, weil sie die Eintragung wieder rückgängig machen müsse. Schließlich hatte Varon ein Buch mit schwarzer Nummer gefunden. Aber er war immer noch verstimmt über die Bestimmungen, die den Wissensstoff nach Klassen aufteilten. Das Tungo-Spiel war immer noch im Gang, als er am Erholungsraum vorbeikam. Nur die Spieler hatten gewechselt. Varon mischte sich wieder unter die Zuschauer. Ein Mann kam in diesem Augenblick herein, warf sich in einen Sessel und sah mit wütendem Gesicht dem Spiel zu. Jemand wurde auf den Mann aufmerksam. »He, Cenro, was ist denn mit dir heute los? Hat dir jemand eine Zigarre verpaßt?« »Nein, eine Sonderschicht.« »Was hast du denn jetzt wieder ausgefressen?« »Ach, Dandro, das alte Ekel! Piros schickt mich mit ein paar Berichten hinüber zur Direktion, da schleppt Dandro gerade einen Neuen durch den Park. Dabei sah er mich.« Cenro schlug mit der Hand auf die Armlehne. »Die Gehaltserhöhung für das nächste halbe Jahr ist wieder futsch.« Er schüttelte den Kopf, blickte sich im Raum um und entdeckte Varon. »He, du! Warum hast du den Kerl nicht abgelenkt? Vielleicht hätte er mich dann nicht gesehen!« Cenro stand auf. »Dieser zerstreute Trottel sieht und hört doch nichts, wenn er seine guten Ratschläge verteilt.«
»Aber ich wußte nicht, daß man den Park nicht betreten darf!« wehrte sich Varon, überrascht von diesem unerwarteten Vorwurf. »Es tut mir leid…« »Ach was, die Neuen wissen nie was!« Cenro sah ihn wütend an. »Zum Teufel mit ihnen. Ich gehe ins Bett.« Er verließ den Raum. Varon sah ihm nach. Hinter ihm gähnte jemand. »Ja, ich werde auch aufhören. Morgen muß ich wieder ran.« Als Varon sich wieder dem Spieltisch zuwandte, sahen die meisten weg, als interessierten sie sich nur für die Würfel. Varon hörte, daß Männer in Arbeitskleidung auf den Korridor hinausströmten. Gähnend gingen sie zur Treppe. Das war seine Schicht! An Schlaf war jetzt nicht mehr zu denken. Er mußte sich sogar beeilen, wenn er nicht zu spät zur Arbeit kommen wollte… Irgendwie verging die Zeit. Nach der Schicht wankte er zurück in sein Zimmer, schlief, ging wieder zur Arbeit. So verbrachte er Tage und Wochen. Varon wurde allmählich mit seinen Arbeitskollegen bekannt. Aber irgend etwas blieb fremd zwischen ihnen und ihm. Er hatte sein Glück beim Tungo versucht, aber auch da kamen sie sich nicht näher. Zuerst verlor er, dann gewann er sehr viel. Schließlich wurde das Spiel langweilig. Denn die Würfel fielen genau so, wie er sie haben wollte. Das freute ihn zwar, doch die Freude verwandelte sich bald in Mißmut. Er spielte nicht mehr und wendete sich anderen Zerstreuungen zu. Doch er blieb unzufrieden. Allmählich verging die Lähmung seines Arms, und Varon schloß sich einer Gruppe an, die Sport trieb. Aber auch diese Art von Freizeitbeschäftigung befriedigte ihn nicht. Überdies mußte er feststellen, daß Haß und Neid mit im Spiele waren. Zwar gratulierten die Verlierer den Gewinnern mit lächelndem Gesicht, und die Gewinner lobten die Verlierer, weil sie ihnen ebenbürtig seien, aber das Ganze wirkte doch wenig überzeugend.
Hinzu kam noch die Clique, die sich um Cenro bildete. Sie machte sich einen Spaß daraus, auf Kosten des Neuen ihre Scherze zu treiben. So geriet er immer mehr in die Isolierung und hielt sich in seiner Freizeit meist in der Bibliothek auf. Im Katalograum hatte er sich zuerst auf die historische Abteilung konzentriert; doch jetzt wechselte er das Thema. Er wollte einmal etwas anderes ausprobieren. Im Katalog stieß er auf einen vielversprechenden Titel. Er zog die Karteikarte heraus und las sie durch. Andere Welten im All hieß der Titel. Es war eine Sammlung von Erzählungen, die mit blühender Phantasie von der Möglichkeit anderer Lebensformen im Universum berichteten. Die Lesegebühr betrug zwanzig Kel. Er trug die Karteikarte hinüber zur Bibliothekarin. Die Angestellte musterte mißbilligend seine Arbeitskleidung und dann erst die Karte. Wieder warf sie ihm einen Blick zu. Sie wunderte sich wohl, daß ein einfacher Arbeiter so ausgefallene Interessen haben konnte. Aber da die Buchnummer schwarz war, mußte sie ihm das Buch aushändigen. Varon ging in den Leseraum, zeigte der Aufsicht das Buch und setzte sich an einen Tisch. Das Buch enthielt Berichte über Spekulationen bekannter Astronomen. Eingangs schilderte man bekannte Tatsachen von ein paar größeren Sterngruppen. Dann kamen Ausführungen über die Möglichkeiten interstellaren Reiseverkehrs, wurde beschrieben, wie man sich ein Raumschiff und seine Steuereinrichtungen vorstellte und wandte sich schließlich den Lebensbedingungen zu, die auf anderen Himmelskörpern herrschen mußten. Varon ertappte sich dabei, wie er sich über manche der geschilderten Möglichkeiten amüsierte. Es traf natürlich zu, daß eine Rasse ohne Werkzeuge sich nicht entwickeln konnte. Das war die wichtigste Voraussetzung. Am Anfang ihres Aufstiegs hatten alle Rassen die Fähigkeit entdecken müssen, Werkzeuge zu entwerfen und zu
gebrauchen. Plötzlich wurde ihm bewußt, was er da dachte. Er hob den Kopf und sah den Leseraum mit ganz anderen Augen an. Er las den Titel seines Buches zum zweitenmal. Plötzlich war es, als bräche ein Damm. Wie eine Flut kehrte die Erinnerung zurück. Er wußte jetzt, wer er war, woher er kam. Er erinnerte sich auch, weshalb er hierher gekommen war, und er konnte rekonstruieren, was in der Kaiserin-Miralu-Straße vorgefallen war. Das peinigende Gefühl eines schmerzlichen Verlustes überkam ihn, als er sein Schicksal mit dem Untergang eines Dorfes in Timlar in Zusammenhang brachte. Es war von einem rätselhaften »Meteoriten« zerstört worden. Mit der Nachricht hatten sich die Zeitungen eine Woche lang beschäftigt. Und dann wußte er auch, was bei der Explosion in der Klewor-Straße geschehen sein mußte. Er hatte seine Arbeitskollegen gehaßt, weil sie ihn schnitten, als sei er ein Fremdkörper, der nicht zu ihnen gehörte! Das stimmte ja auch! Es hatte vor zwei Zyklen begonnen. Auf Kleira… Die Kassetten auf dem Tisch bildeten einen eindrucksvollen Stapel; Klion Meinora machte dennoch ein unglückliches Gesicht. »Ich begreife immer noch nicht, was daran falsch sein soll«, verteidigte er sich. »Ich habe nur authentisches Material verwendet und mein Thema logisch entwickelt.« »Zugegeben«, erwiderte Donir Sa Klaron. »Es ist logisch aufgebaut. Aber ist die Logik die einzige Voraussetzung für eine archäologische Synthesis?« »Nein«, sagte Meinora widerstrebend. »Sie gilt nur für kurze Zeiträume.« Er blickte auf die Kassetten. »Man muß neue Varianten berücksichtigen, neue Gesichtspunkte herausarbeiten und darauf wiederum logisch aufbauen.«
Klaron nickte. Meinora sah ihn an, als erwarte er eine Antwort. »Aber ich habe doch neue Gesichtspunkte gefunden«, sagte er schließlich. »Selbst gefunden?« »Nein, nicht direkt. Ich bin nicht in den Kosmos hinausgeflogen, um automatische Beobachter aufzustellen. Das meiste Material habe ich vom Forschungsdienst bekommen und aus den Archiven der Celstorischen Sammlung. Das ist doch eine wissenschaftlich einwandfreie Methode, oder nicht?« »Natürlich«, sagte der ältere Mann. »Natürlich ist das wissenschaftlich einwandfrei, und viele Studenten verfahren auf die gleiche Weise. Aber von Ihnen erwarte ich mehr.« Er lehnte sich zurück und blickte seinen Schüler an. »Sie sind noch jung, Klion. Sie haben noch nicht viel erlebt. Doch Ihre Rasse ist sehr alt. Ich habe auch Studenten von jüngeren Rassen. Einige dieser Schüler sind älter als Sie; doch in einem gewissen Sinne sind sie trotzdem jünger. Von diesen Schülern erwarte ich ein gewisses Pensum, mehr nicht.« Er seufzte. »Sie wissen, daß die Ausbildung hier auf Kleira eigene Wege geht. Wir beurteilen Leistungen nicht nach Noten. Ein Student hat keinen vorgeschriebenen Studienplan. Er setzt seine Studien so lange fort, bis er nicht mehr Wissen in sich aufnehmen kann. Einige springen ab, wenn sie glauben, gewisse Probleme nicht begreifen zu können. Manchmal kehren sie später wieder an ihren Studienplatz zurück und erreichen ihr Ziel.« Klaron blickte durch das Fenster auf die weite Ebene des Planeten hinaus. Dann beugte er sich vor. »Was ist die eigentliche Aufgabe der archäologischen Synthesis, Klion?« »Nun, das Studium und die Analyse primitiver Entwicklungen, um die Gesetzmäßigkeiten historischer
Sequenzen zu erkennen. Das geschieht durch Vergleiche mit bereits bekannten historischen Entwicklungen.« »Gut. Und was folgt daraus?« »Die historischen Abläufe oder Epochen müssen wirklich belegt sein, positiv nachgewiesen werden. Ableitungen oder Rekonstruktionen sollten auf ein Minimum beschränkt sein. Haben Sie das Gefühl, daß meine Arbeit durch vorgefaßte Meinungen beeinflußt wurde?« »Nun, so etwas kann man nie ganz ausschließen. Aber daran habe ich eigentlich nicht so sehr gedacht. Ich könnte Ihre Arbeit akzeptieren, wie sie ist. Aber ich glaube, Sie können sie noch besser machen. Sie deuten in Ihrer Arbeit ein ernstzunehmendes Ergebnis an. Wie lautet es?« »Ich vertrete die Ansicht, daß die sozialen und ethischen Elemente bei der Darstellung des Übergangs vom mechanischindustriellen Zeitalter zum Zeitalter der Empathie zu kurz gekommen sind. Zwar hat man die mechanischen Kräfte, die dabei im Spiel waren, gründlich erforscht; aber Wesentliches hat man übersehen. Ich glaube, ich kann diese Lücke füllen, indem ich die während dieser Übergangsepoche wirksamen ethischen Elemente herausarbeite und ihre Gesetzmäßigkeit darlege. Als Studienobjekt habe ich mir Kleira ausgesucht. Ich habe schon eine Weile hier gelebt, und vom letzten Krieg ist eine Fülle authentischen Materials übriggeblieben, das sich gut verwerten läßt.« »Und wie steht es mit dem vergleichenden Bezugspunkt? Woher nehmen Sie Ihre Extrapolation, Ihre Analogien?« »Nun, ich habe Beobachtungen von Polymar. Der Forschungsdienst hat mir aus Sektor 7 ebenfalls geeignetes Material geliefert. In den Archiven von Celstor entdeckte ich einige hervorragende Synthesen und… hm… ich habe selbst ein paar induktive Schlüsse gezogen. Ich verglich mehrere Sekundärentwicklungen und baute darauf eine Theorie auf –
die Tendenz mit der größten Wahrscheinlichkeitsquote.« Klaron lehnte sich zurück und breitete seine Hände auf dem Tisch aus. »Doch weder die Beobachtungen von Polymar noch die Studien des Forschungsdienstes wurden von Gesichtspunkten geleitet, die für Ihre Arbeit ausschlaggebend sind, nicht wahr?« Meinora schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er, »nein, das waren sie allerdings nicht. Ich mußte…« Er stockte und beugte sich vor. »Ich begreife, was Sie meinen. Ich soll selbst in den Kosmos hinausfahren, eigene Beobachtungen anstellen, mir selbst die richtigen Studienobjekte aussuchen. Ich soll selbst Quelle für meine Untersuchungen sein, dann zurückkehren und aus diesem Material meine Synthesis aufbauen.« Klaron nickte und wartete. »Aber ich kann doch nicht Zyklus für Zyklus hinausfliegen, leben wie ein Weltraumtramp, mit niemand in Berührung kommen, ohne Kontakte leben.« »Die Freien Bürger scheinen aber großes Vergnügen an dieser Lebensweise zu haben.« »Die sind ganz anders als wir. Sie scheinen die Einsamkeit zu lieben. Sie reparieren ihre Apparate selbst, bauen sogar vieles nach eigenen Plänen. Die sind nicht auf Geld angewiesen. Jedenfalls scheinen sie nie welches zu bekommen.« »Der Weltraum ist groß, und er ist nicht leer«, erwiderte Klaron. »Alles, was man zum Leben braucht, ist dort vorhanden, solange man ein Raumschiff und einen MaterieUmwandler hat.« »Schon. Ich könnte natürlich draußen genauso gut arbeiten wie auf einem Planeten. Trotzdem brauche ich ab und zu Ablenkung, Zerstreuung, Kameradschaft.« »Na ja. Vielleicht können Sie mit den Freien Bürgern Bekanntschaft schließen. Sie werden sehen, Sie können eine Menge von ihnen lernen.«
»Von diesen Weltraumzigeunern?« Klion starrte seinen Lehrer ungläubig an. »Aber die sind doch so zugeknöpft… unzugänglich… oh, ich weiß nicht… auf jeden Fall unkultiviert.« Klaron lächelte nachsichtig. »Fliegen Sie selbst hinaus und bilden Sie sich ein Urteil. Die Mehrzahl dieser Freien Bürger stammt von den älteren Rassen ab.« Meinora musterte seinen Lehrer verblüfft. »Doch, mein Junge«, sagte dieser ernst. »Viele von ihnen stammen von den ältesten Kulturen ab. Und wenn es Ihnen langweilig wird oder wenn Sie Geld brauchen sollten, dann schreiben Sie zur Abwechslung etwas zur Unterhaltung.« Er deutete auf die Kassetten. »Ihre Arbeit hat durchaus literarischen Wert. Sie können einiges davon zu Romanen umschreiben.« Meinora sah den Archäologen eine Weile schweigend an. Dann schob er die Bandkassetten zusammen und sagte: »Ja, warum eigentlich nicht.« Er schloß den Koffer und sah hinaus zum Horizont. »Ich werde es versuchen«, sagte er. »Vielen Dank für Ihren Rat.« »Nichts zu danken.« Klaron drückte auf einen Knopf auf seinem Schreibtisch. Ein Teil der Wand glitt zur Seite. »Wenn Sie wollen, können Sie mir Ihr Beobachtungsmaterial bringen. Wir sehen es dann gemeinsam durch.« »Nochmals vielen Dank«, sagte Klion Meinora, trat hinaus auf den Balkon, betrachtete kurz die Landschaft, die tief unter ihm lag, und schaltete die Schwebesteuerung ein. Dann trat er über den Rand des Balkons hinaus. Zwei galaktische Zyklen waren vergangen. Nach einer letzten Überprüfung war seine Quellenforschung abgeschlossen. Er war davon überzeugt, daß Klaron diesmal mit seiner Arbeit zufrieden sein würde. Er sah hinüber zum Steuercomputer. Das rote Licht brannte. Er stand auf und ging zum Schaltpult. Ein Summton machte
ihn darauf aufmerksam, daß der Antrieb von UltraLichtgeschwindigkeit auf Landung schaltete. Er setzte sich, setzte den Sehschirm in Betrieb, um das Planetensystem zu betrachten, das er als letztes studieren wollte, ehe er auf Kleira zurückkehrte. Aber es war gar nicht das richtige. Ungläubig starrte er auf den Schirm. Wo eine G-3-Sonne sein sollte, sah er eine kleine F-1. Statt der erwarteten neun Planeten entdeckte er nur fünf. Irgend etwas war offenbar schiefgelaufen. Er zog das CodeBand aus dem Kursrechner, untersuchte es, holte den SternenAtlas und verglich. Schiffe trieben nicht von allein vom Kurs ab, und wenn ein Schaltkreis ausgefallen wäre oder nicht einwandfrei gearbeitet hätte, würde er es gemerkt haben. Nein, es mußte an der Berechnung liegen. Es war ein ganz simpler Fehler, der jedem bei der Übertragung hätte unterlaufen können; aber deswegen war das Ergebnis nicht weniger alarmierend. Er überprüfte die wahrscheinlichen Koordinaten mit den tatsächlichen Koordinaten, stellte sie auf dem Karteiindex ein und drückte auf den Knopf des Katalogschirms. Doch der Schirm blieb leer. Natürlich waren im Hintergrund Sterne zu sehen; doch die Mitte blieb leer. Der Tabulator erklärte, weshalb das so war. Der galaktische Sektor 12 war an seiner Peripherie noch nicht ganz erforscht. Der Sektor bestand noch nicht lange. Er war zum Teil vom Mirandonischen Reich beherrscht, das sich weigerte, mit der galaktischen Föderation Verbindung aufzunehmen, obwohl das Reich nur ein paar Planetensysteme umfaßte. Da aber die Mirandoer nur auf ihre Unabhängigkeit bedacht waren und nicht die Absicht hatten, Planeten der Föderation zu erobern, mischte man sich auch nicht in ihre inneren Angelegenheiten ein. So kam es, daß die Peripherie jenseits des Reiches von den Forschungsschiffen der Föderation gemieden wurde. Dieses kosmische
Raumgebiet war im Katalog mit dem lakonischen Satz bezeichnet: »Noch nicht katalogisiert.« Meinora beugte sich wieder über das Instrumentenpult. Er steuerte das Schiff so, daß verschiedene Sterne nacheinander in den Mittelpunkt des Schirmes gerieten. Der Spektralanalysator registrierte das schwache Licht eines jeden Raumkörpers, und der Computer summte leise, als er die empfangenen Daten verarbeitete. Schließlich drückte Meinora die End-Daten-Taste und sah sich das Ergebnis an. Es war identisch mit seiner Positionsberechnung. Wieder drückte er Tasten zum Vergleich und stellte fest, daß er sich außerhalb der Hoheitsgrenzen des Mirandonischen Reiches befand, also im unerforschten Raum. Und vor ihm lag eine Sonne, eine kleine Sonne mit fünf Planeten. Als Bürger der Föderation kannte er natürlich seine Vorschriften. Er mußte die charakteristischen Merkmale dieses Sonnensystems melden und dem Forschungsdienst die erste Kontaktaufnahme überlassen. Das war keine rechtsverbindliche Vorschrift, sondern nur eine Gewohnheitsregel. Er durfte natürlich auf eigene Faust den Entwicklungsstand einer möglicherweise existierenden Zivilisation erforschen, auch das Vorrecht in Anspruch nehmen, erste Beobachtungen selbst anzustellen, falls sein Studienauftrag das rechtfertigte; doch er durfte unter keinen Umständen mit der neuentdeckten Zivilisation Verbindung aufnehmen, bevor der Forschungsdienst Erkundungen abgeschlossen hatte. Er beobachtete das kleine Sonnensystem. Er stellte die selektive Vergrößerung ein und untersuchte die Planeten der Reihe nach. Zwei von ihnen schienen eine Atmosphäre zu haben. Die Umrisse der anderen Planeten waren gestochen scharf. Er stellte seine Spürgeräte auf Höchstleistung ein. Keine Anzeichen, daß man auf diesen Planeten das Problem der Raumfahrt gemeistert hatte. Er näherte sich aus der Sonne
kommend dem dritten Planeten und drang in die Atmosphäre ein. Sofort schaltete er auf Gegenkurs. Nichts Menschliches konnte in diesen Giftdämpfen leben. Dann flog er den vierten Planeten an. Die Atmosphäre wies eine zufriedenstellende Zusammensetzung auf. Er näherte sich der Oberfläche. Der Planet war Kleira erstaunlich ähnlich. Er hatte die gleiche Oberflächenstruktur: drei Landmassen, durch Meere in Subkontinente aufgeteilt. Er näherte sich jetzt einem der Hauptkontinente, suchte nach Spuren von Zivilisation. Dieser Planet war genau das, wovon er lange geträumt hatte. Der Entwicklungsgrad war für seine Zwecke ideal. Die Zivilisation befand sich in der frühen Blüte des mechanischen Zeitalters, wies jedoch eindeutige Anzeichen einer fehlerhaften Sozialstruktur auf. In fast allen Städten fiel ihm das Extrem von Luxus und Armut auf. Auch archaische Strukturen waren noch vorhanden. Moderne Städte bildeten keine Ausnahme. Es gab Bezirke mit Prachtbauten, die jetzt halb verfallen und verlassen schienen. Meinora stieß einen Jubelruf aus. So mußte Kleira vor dem letzten Vernichtungskrieg ausgesehen haben. Dieser Planet war ein perfektes Studienobjekt. Sogar die Bewohner dieses Planeten glichen den Menschen auf Kleira aufs Haar. Er griff nach dem Kommunikator, um sich mit der Verwaltungszentrale von Sektor 12 in Verbindung zu setzen. Doch dann zog er die Hand wieder zurück. Das hier war ein unentdeckter Planet. Es gab keine Daten über ihn. Der Forschungsdienst würde ihm die Erlaubnis verweigern, seine Beobachtungsgeräte aufzustellen. Zwei, drei Zyklen lang würde der Forschungsdienst niemand außer den eigenen Beobachtern auf dem Planeten dulden. Vielleicht würde es sogar noch länger dauern. Natürlich würden sie ihm die Ergebnisse ihrer Forschungsarbeit zur Verfügung stellen. Doch Meinora hatte ganz bestimmte Vorstellungen davon, was er für seine Forschungen brauchte und was nicht. Er wußte
jetzt, daß der Forschungsdienst für seine Arbeit keine umfassenden Daten liefern konnte. Der Forschungsdienst legte Wert auf physische Erscheinungsformen: Topographie, Klima, Biologie, Flora und dergleichen. Natürlich nahmen sie auch ethnische und soziale Beobachtungen in ihre Berichte auf. Doch diese waren für den Dienst von zweitrangiger Bedeutung, sozusagen winzige Splitter aus einem Gesamtbild. Mit Einzelheiten gab man sich überhaupt nicht ab, zum Beispiel mit den historischen Folgen eines politischen Coup, einer Wirtschaftskrise, eines Sozialkonfliktes und mit dem Stand der Forschung oder wie die Wissenschaftler des jeweiligen Planeten Geschichte und Moralphilosophie erforschten und lehrten. Der Forschungsdienst hatte wenig Interesse daran, wie der Durchschnittsbewohner eines Planeten seinen Alltag gestaltete und verbrachte. Doch genau das wollte Meinora wissen, hier lagen die Quellen für sein Studium. Er lehnte sich zurück und studierte das Leben in einer Stadt auf seinen Bildauswertern. Wenn er doch nur auf diesem Planeten landen dürfte! Doch eine direkte Kontaktaufnahme verstieß gegen das Gewohnheitsrecht. Er nahm sich ohnehin schon zu viel heraus. Bis jetzt hatte noch niemand das Schiff bemerkt. Es schwebte in einer Umlaufbahn. Das Planetensystem war abgelegen und unentdeckt. Er würde auch noch lange Zeit unentdeckt bleiben. Wenn er auf eigene Faust den Planeten erkundete, würden die Einheimischen nichts davon ahnen. Sie würden den Fremden aus dem All in ihrer Mitte gar nicht erkennen. Und der Patrouillendienst der Föderation wußte ebenfalls nichts. Die Regeln, wie mit neuentdeckten Planeten Kontakt aufgenommen werden sollte, dienten ja nur dem Schutze einer sich entwickelnden Kultur. Er wollte nicht in eine Entwicklung
eingreifen. Er wollte nur beobachten. Und ein Beobachter mischt sich nie ein, er registriert und zeichnet auf. Er plante wirklich nichts Böses. Er würde den Planeten genauso verlassen, wie er ihn vorgefunden hatte. Dann würde er die Entdeckung selbstverständlich der Sektorzentrale melden. Das Schiff sank durch die Atmosphäre hinunter auf den Teil des Planeten, wo gerade Nacht herrschte. Etwa dreihundert Meter über der Planetenoberfläche fing Meinora das Schiff ab und ließ es schweben. Er verließ es durch die Luke, das Hubsteuergerät umgeschnallt, um sich langsam auf den Boden hinabzulassen. Er stellte seinen Wahrnehmungskraftverstärker an, der ihm die Anwesenheit eines Eingeborenen rechtzeitig melden würde. Dann schaltete er den Energieschild ein, so daß er unsichtbar wurde, und schwebte auf die Stadt zu. Er war fest davon überzeugt, daß nichts schiefgehen konnte. Doch er hatte sich getäuscht. Etwas Unvorhergesehenes war eingetreten. Er war immer noch hier… Er klappte das Buch zu, stützte das Kinn in die Hand und überlegte, wie groß der geistige Schaden war, den ihm die Räuber zugefügt hatten. Er war nicht schlimm. Natürlich war ein Teil des Hirngewebes zerstört worden. Doch es heilte wieder und regenerierte sich. Ein Primitiver, ein Einheimischer, wäre nach dieser Verletzung nie mehr gesund geworden, wäre gelähmt oder schwachsinnig geblieben. Doch die lange Entwicklungsphase, das hohe Alter von Meinoras Rasse, hatte seine Physis und seine geistigen Regenerationskräfte erheblich differenzierter und widerstandsfähiger gemacht. Mit seinen überragenden geistigen Kräften aktivierte er nun auch die als Folge der Kopfverletzung noch abgeschnittenen Gehirnzellen. Schließlich lehnte er sich zurück. Er hatte alles getan, was er von sich aus tun konnte. Die Zeit würde den Rest besorgen.
Von dieser angestrengten Arbeit hatte er Kopfschmerzen bekommen. Er schloß die Augen und legte den Kopf auf die Arme, um den Schmerz etwas zu lindern. Sein Gehirn sandte eine telepathische Frage aus. Er bekam keine Antwort, keinen Rückruf. Aber er hatte auch nichts erwartet. Der Bericht damals in der Zeitung war eindeutig gewesen. Er ließ keinen Zweifel übrig, was mit seinem Schiff geschehen war. Nach ein paar Minuten hob er den Kopf wieder. Jetzt fühlte er fast keine Schmerzen mehr. Er nahm das Buch und trug es zum Ausgang. Die Bibliothekarin sah ihn scharf an, sagte aber nichts. Er legte das Buch auf den Schreibtisch. »Nicht schlecht«, sagte er. »Wenn Sie mal Zeit haben, sollten Sie es lesen!« Dann ging er. Das Mädchen rümpfte hochmütig die Nase. Doch dann nahm sie das Buch, sah es neugierig an und umging die Vorschriften der Bibliothek. Sie fing an zu lesen. Meinora verließ das Bibliotheksgebäude, sah sich um und ging dann in Richtung der Dornath-Fabrik die Straße hinunter. Unterwegs überlegte er sich, was wohl passieren würde, wenn die Tarnzellen seiner beiden Beobachtungssatelliten, die er vor seiner Landung auf dem Planeten in eine Umlaufbahn gebracht hatte, erschöpft waren. Er lächelte vor sich hin. Eines Tages würden sie für die Einheimischen sichtbar am Himmel schweben. Er war neugierig, mit welchen Theorien die Wissenschaftler aufwarten würden, um diese »Himmelserscheinung« zu erklären. In der Unterkunft für Männer angekommen, sah er erst in seinem Zimmer nach dem Rechten und ging dann in den Freizeitraum. Niemand war da. Er blickte sich um, bis er sich erinnerte. Natürlich, die Männer besuchten einen Ringkampf! Varon ging hinüber zum Spieltisch, nahm den Lederbecher, schüttelte ihn und kippte vier Tetraeder auf das Tuch. Sie fielen in einer schnurgeraden Reihe mit den Punkten eins, zwei, drei, vier. Er nahm den letzten, warf ihn in die Luft, fing
ihn mit dem Becher auf und kippte ihn aufs Tuch. Er rollte wieder an seinen Platz in der Reihe und zeigte abermals eine Vier. Er legte alle Würfel in den Becher zurück und warf noch einmal. Diesmal zeigten alle Toren eine Drei. Eine Weile setzte er das Spiel fort und schüttelte dann energisch den Kopf. Dann ging er in sein Zimmer. Er stöberte in seinem Schrank; aber er hatte weder einen Schreibstift noch Papier eingekauft. Wozu auch? Er hatte ja niemand, an den er schreiben konnte. Aber jetzt brauchte er viel Papier, ganze Stöße, ein Faß Tinte und eine gute Feder. Er setzte sich aufs Bett und rechnete seinen Kontostand im Kopf aus. Am Tage seiner Aufnahme in der Fabrik hatte man ihm etwas über elfhundert Kronen Kredit gegeben. Genau gesagt elfhundertzweiundneunzig Kronen und dreiundsechzig Kel. Seine Kleidung, das Bettzeug und andere Gebrauchsgegenstände, die er am ersten Tag anschaffen mußte, hatten ihn einhundertzwanzig Kronen gekostet. Der Zins betrug ein Zehntel Prozent pro Woche. Er arbeitete jetzt ungefähr zwanzig Wochen in der Fabrik. In dieser Zeit hatte er achtzig Kronen auf sein Konto eingezahlt. Er strengte sein Gedächtnis an: was hatte er alles in der Kantine und im Einkaufszentrum gekauft? Als er alles addiert hatte, schüttelte er den Kopf. Sein Respekt vor der Finanzabteilung der Dornath-Gesellschaft stieg gewaltig. Soweit er die Zahlen richtig im Kopf hatte, belief sich der Sollstand seines Kreditkontos beim Arbeiter-Wohlfahrtsfond auf dreizehnhundertzweiundzwanzig Kronen und siebenundneunzig Kel. Er fragte sich, wie hoch sein Schuldenberg noch anwachsen durfte, ehe sie ihn vor weiteren Ausgaben warnten. Er suchte in seinen Taschen und fand drei Kronen und ein paar kleine Münzen. Im Schrank hatte er in einem verschließbaren Privatfach sechs Vier-Kronen-Noten verwahrt. Ein Beweis, daß er doch etwas zusammengespart
hatte. Habe sie ein bißchen an der Nase herumgeführt, dachte er lachend. Wollen mal nachrechnen. Wenn das so weitergeht, brauche ich ungefähr tausend Wochen, um meine Schulden abzutragen. Dann dauert es noch achthundert Wochen, bis ich so viel Geld zusammenhabe, um die »Bürgschaft der Unabhängigkeit« zu bezahlen. Erst dann darf ich die Fabrik verlassen und tun, was ich will. Er warf sich aufs Bett und lachte. »Na, das ist frühestens in achtzehn Jahren! Das bedeutet ja, daß ich ziemlich bald hier herauskomme!« Er wurde wieder ernst. Er dachte daran, daß der durchschnittliche Arbeiter auf diesem Planeten nur fünfzehn Jahre lang voll leistungsfähig war. Er kam also nie von seinen Schulden herunter. Garn Verlera holte sein Tungo-Spiel aus dem Schrank und blickte neugierig zu seinem Zimmergenossen hinüber. Ein komischer Kerl, dieser Varon. Man wußte nie, was er als nächstes anstellte. Wochenlang hat er keinen Stift zur Hand genommen. Und gestern kommt er plötzlich mit einem Packen Papier aus der Stadt, setzt sich hin und fängt an zu schreiben. Als hätte er nie etwas anderes getan. Garn blickte auf sein Tuch und schüttelte den Kopf. Vielleicht war es ganz gut. So geriet er wenigstens nie in Versuchung, Tungo mitzuspielen. Der Schreck saß ihm noch in den Gliedern, wie unheimlich geschickt Varon mit dem Becher umgehen konnte. Er trat hinaus auf den Korridor. Konnte sich nicht mehr erinnern, wie so ein Becher überhaupt aussieht, als er hierherkam, dachte Garn. Dann schaut er ein paarmal zu und gewinnt bei jedem Wurf. Er blieb stehen und sah zu seinem Zimmer zurück. Ich möchte wetten, er war Berufsspieler, ehe man ihm den Schädel einschlug. Ein komischer Vogel! Dann ging er in den Freizeitraum.
Harl Varon lächelte vor sich hin, während er Zeile um Zeile schrieb. Die Sache lief natürlich glatt und gut. Er hatte die Geschichte ja schon einmal verfaßt, allerdings weit entfernt von hier und mit einer anderen Technik. Aber es war der gleiche Roman. Er brauchte ihn jetzt nur zu Papier zu bringen. Plötzlich hielt er inne und las einen Absatz noch einmal durch. Er warf die Seite weg und schrieb sie noch einmal. Er war so vertieft in seine Arbeit, daß er Cenro nicht bemerkte, der leise ins Zimmer trat und grinsend das weggeworfene Blatt aufhob. »Was schreibst du denn da?« fragte er. Er begann zu lesen. Plötzlich stieß er einen Schrei höhnischer Begeisterung aus. Varon stand auf. Schon wieder dieses Ekel, dachte er. Zum Teufel mit der Ethik! »He, Jungs!« rief Cenro, »dieser Neue denkt, er sei ein Schriftsteller!« Er stellte sich theatralisch in Pose und begann die Seite herunterzulesen: »Sie blickten hinaus auf das Meer. Federwolken hingen am Himmel, mattgoldene Fächer auf tiefblauem Samt…« Harl wollte schon einen wütenden Gedanken aussenden, doch im letzten Moment schwächte er ihn ab. »Dorn«, sagte er leise. Cenro fuhr herum. Sein Lächeln erstarrte. »Das ist nicht sehr anständig, was du da tust, Dorn.« Harls Stimme hatte sich plötzlich verändert. Sie klang vorwurfsvoll. »Ich möchte mein Manuskript zurückhaben, bitte.« Cenro sah ziemlich verlegen aus, furchtsam sogar, als habe ein Erwachsener einen ungezogenen Jungen bei einem dummen Streich erwischt. Er druckste herum und gab das Blatt zurück. »Tut mir leid«, entschuldigte er sich. Dann ging er hinaus. Varon kehrte an seinen Schreibtisch zurück. Doch es hielt ihn nicht lange dort. Er legte den Federhalter weg und überquerte den Korridor. Er klopfte an die Tür. »Ach, geh weg – nein. Na, egal – komm ‘rein.« Klion Meinora zog die Tür hinter sich zu und betrachtete Cenro, der auf dem Bettrand saß und ihn trotzig
anblickte. »Tut mir leid, Cenro.« Klion streckte ihm die Hand hin. »Ich begriff erst im letzten Moment…« »Ach, du hast mich nur an einer Stelle erwischt, wo ich nicht vorbereitet war«, murmelte Cenro. Er starrte auf den Fußboden. »Wie mein Vater. Manchmal machte ich mich über seine Briefe lustig, bis ich eines Tages erkannte, daß er viel zu erschöpft war, um sich deswegen mit mir herumzuzanken.« Er atmete tief. »Ein zweites Mal erwischst du mich nicht mehr in einer schwachen Minute.« »Will ich ja gar nicht. Aber möchtest du dir die Sache nicht mal von der Seele reden?« »Du kannst auch nichts daran ändern.« Cenro stand auf. »Niemand kann etwas daran ändern.« »Du selbst kannst es. Vielleicht kann ich dir dabei ein bißchen helfen. Los, erzähl schon!« Die Geschichte kam zuerst bruchstückhaft und langsam, dann immer hastiger. Dorn Cenros Vater war vor vielen Jahren ein unabhängiger Mann und Beamter gewesen. Er stammte aus einer Familie von Handwerkern, Beamten, kleinen Bürokraten. Er hatte eine Frau, mehrere Kinder, ein kleines Haus, sogar einen Wagen, mit dem Dorn das Fahren gelernt hatte. Die Familie hatte einen festen Freundeskreis. Der kleine Dorn wurde dazu erzogen, ein angenehmes, ereignisloses Leben der Mittelklasse zu führen. Das war vor dem Zusammenbruch gewesen. Die Sache hatte mit einer falschen Buchung begonnen. Das schien zwar nur ein Versehen; aber in der Behörde waren Gelder veruntreut worden. Man hielt jetzt den alten Vark Cenro für den Schuldigen. Es kam zu einem Prozeß, einem langwierigen, teuren Prozeß. Man war durch mehrere Instanzen gegangen, und endlich hatte eine gründliche Untersuchung den wahren Täter, der das Geld unterschlagen hatte, zu Tage gefördert. Damit war Cenro zwar rehabilitiert worden; aber seine Schuldenlast war erdrückend, sein
Einkommen dagegen minimal. Zuerst hatte man den Wagen verkauft, dann das Haus. Schließlich mußte man sogar die Bürgschaftssumme der Unabhängigkeit angreifen, um die Prozeßkosten bezahlen zu können. Das war ein verhängnisvoller Fehler gewesen. Ein anderes Gericht erklärte Cenro für insolvent und damit als nicht mehr dienstwürdig. Schließlich hatte eine adelige Familie die Bürgschaft für ihn übernommen, doch trotz aller Sparsamkeit konnte er die Bürgschaftssumme nie mehr zusammenbringen, um unabhängig zu werden. So mußte Dorn Cenro natürlich die freie Schule verlassen. Das Haus Dornath bürgte für ihn, so daß er wenigstens die Grundschule besuchen konnte. Zuerst war sein Kreditkonto im Arbeiterwohlfahrtsfond nur klein gewesen, doch es wuchs stetig an, bis es Cenro wie Schuppen von den Augen fiel: er würde den Kredit nie zurückzahlen können, und er brauchte tausend Kronen, um den Status eines freien Bürgers zurückzugewinnen. Tatsächlich gehörte ihm kein Kel von seiner Löhnung. Klion lehnte sich zurück. »Eine verdammte Mausefalle, nicht wahr?« sagte er leise. Dann beugte er sich wieder vor. »Ich verstehe, was das bedeutet, Cenro. Du bist machtlos gegen sie. Aber du kannst dich mit ihnen verbinden.« Klion deutete auf die Gegenstände im Zimmer. »Das ist alles, was ein Arbeiter heute sein Eigen nennt. Aber die Vorarbeiter? Haben die nicht mehr?« Cenro zuckte die Achseln. »Hübschere Räume, Einzelzimmer. Auch mehr Zuwendungen.« Er breitete die Arme aus. »Im Grunde aber auch mehr Schulden.« »Schulden hast du schon immer gehabt. Man sorgt schon dafür, daß sie nicht in den Himmel wachsen. Cenro, du bist intelligenter als der Durchschnitt. Du hast zwar nicht die Ausbildung bekommen, die dir eigentlich zustünde; aber du
hast eine ordentliche Schule besucht. Warum holst du nicht alles an Vorteilen heraus, die sie dir anzubieten bereit sind?« »Och, ich weiß nicht. Vielleicht hätte ich auch gern Frau und Kinder. Aber wer will schon Kinder großziehen, die nur unter Bürgschaft arbeiten dürfen. Fließbandarbeiter?« Cenro runzelte die Stirn. »Hör zu, Varon. Du kommst hier noch ‘raus. Eines Tages bist du ganz groß. Du bist… ich weiß nicht, aber irgendwie spüre ich, daß du mir weit überlegen bist. Hör zu. Warum könntest du nicht eines Tages für mich bürgen? Ich brauche ja nicht viel: Nahrung, Kleidung, eine Krone hie und da. Ich möchte nur ‘raus hier, ‘raus!« Klion war betroffen von diesem Ausbruch. Er war einem Impuls gefolgt, als er bei Cenro anklopfte. Er wollte diesem Mann wirklich helfen, aber… Er wollte schon den Kopf schütteln, als er zu einer Entscheidung kam. »Ich werde eine Wette mit dir abschließen, Cenro«, sagte er. »Du hast recht. Ich komme hier heraus. Und zwar rascher, als man glaubt. Dann werde ich Verbindung mit dir halten. Sobald du zum Kolonnenführer aufrückst, werde ich dein Konto übernehmen. Dann wirst du eine Weile für mich arbeiten. Geht es gut, zahle ich die Bürgschaftssumme für dich. Wenn du das Geld beisammen hast, kannst du mir die Bürgschaft zurückzahlen – ohne Zinsen. Gilt der Handel?« Cenro sprang von seinem Bett auf. »Mann!« rief er, »Mann, du wirst sehen, wie ich spure!« Er lief zum Schrank, holte ein Taschentuch heraus und wedelte damit in der Luft herum. »Ich putze sogar dem alten Schleicher Dandro damit die Schuhe, wenn mich das weiterbringt!« Harl Varon ging zur Tür. Dort drehte er sich noch einmal um. »Tu mir noch einen Gefallen«, sagte er. »Der wäre?« »Halt den Mund. Wir beide haben jetzt genug zu tun, um hier herauszukommen. Wir wollen nicht die Zeit mit Geschwätz und Tratsch vergeuden.«
Kort Dandro zählte die Banknoten sorgfältig. Er drehte das Bündel herum und zählte es noch einmal. Dann sah er den Mann vor sich scharf an. »Wo haben Sie denn das Geld her?« fragte er streng. »Rechtmäßig erworben«, sagte Harl Varon. Er zog einen zusammengefalteten Bogen Papier aus der Tasche und reichte ihn über den Schreibtisch. Dandro nahm ihn, lehnte sich zurück und las. Er machte ein kritisches Gesicht, spitzte die Lippen und las das Schreiben zum zweitenmal. Endlich sah er wieder auf. »Tja«, sagte er, »tja, klingt recht hübsch, sehr hübsch, muß ich sagen.« Er schüttelte den Kopf und sah Varon tadelnd an. »Doch das scheint mir ein bißchen gegen Ihre vertraglichen Verpflichtungen zu verstoßen, wenn Sie noch Aufträge für einen anderen Konzern erledigen, während sie bei unserer Firma als Arbeitskraft verbürgt sind. Das geben Sie doch zu, nicht wahr?« Harl lächelte. »Es handelt sich hier nicht um ein Arbeitsverhältnis«, sagte er. »Nach dem Gesetz ist die Herstellung eines Kunstwerkes – ob musikalischer oder literarischer Art – nicht Gegenstand eines Arbeitsvertrages oder Arbeitsverhältnisses. Solche Werke bleiben, wenn nicht ausdrücklich in Auftrag gegeben, das alleinige Eigentum ihres Urhebers und können vor ihrem Verkauf auch nicht gepfändet werden. So steht es im Gesetzbuch.« Er holte tief Luft. »Natürlich ist der Erlös aus dem Verkauf eines Kunstwerkes allen rechtlichen Verpflichtungen unterworfen. Ich komme meinen Verpflichtungen nach, indem ich meine Schulden beim Arbeiterwohlfahrtsfond hiermit in voller Höhe bezahle – mit Zinsen, wie es das Gesetz verlangt.« Dandro klopfte auf seine Tischplatte, zupfte am Aktendeckel und sah sich hilfesuchend im Büro um. »Aber das ist doch Haarspalterei«, sagte er dann. »Warum kamen Sie nicht von
Anfang an zu mir und zahlten Ihre Honorare ein?« Er schielte zu dem uniformierten Schutzmann hinüber, der die Szene gelangweilt verfolgte. »Ich bin davon überzeugt, daß Sie das Geld ruhig und ohne Aufsehen in Verwahrung genommen hätten«, sagte Varon. »Aber es gibt Gesetze, die beachtet werden müssen. Ich tue das auf den Buchstaben genau. Ich habe meine Bürgschaft beim Notar hinterlegt. Außerdem habe ich einen Geldbetrag bei der Kämmerei eingezahlt, der doppelt so hoch ist wie meine Schulden. Ich habe mich unter den Schutz des Stadthauptmanns von Bardon gestellt. Dafür hat der Stadthauptmann einen Beamten seiner Schutzabteilung bevollmächtigt, meine Entlassungsurkunde als Zeuge zu unterschreiben, damit alles seine Ordnung hat und ich Ihre Fabrik so verlasse, wie es gesetzlich vorgeschrieben ist.« Dandro winkte ungeduldig mit der Hand. »Aber begreifen Sie denn nicht, Mann! Sie standen doch unter dem Schutz von Lord Dornath, seit wir vor einem Jahr beschlossen hatten, Sie in unserer Fabrik aufzunehmen! Warum bleiben Sie jetzt nicht schlicht und einfach hier unter seinem Schutz? Wir können ja über diesen kleinen Vorfall großzügig hinwegsehen. Sie können wieder an Ihren alten Arbeitsplatz zurückkehren, und alles bleibt, wie es war.« Er runzelte nachdenklich die Stirn und nickte. »Wir versprechen Ihnen, daß wir Ihnen keine Schwierigkeiten machen. Wir werden keine Anklage wegen Verschwörung und Insubordination gegen Sie erheben. Da können Sie ganz beruhigt sein. Vergessen wir doch die ganze Angelegenheit.« Varon schüttelte den Kopf. »Zu gütig von Ihnen«, sagte er, »wirklich zu gütig. Aber mein jetziger Status unterscheidet sich von meiner früheren Lage. Ich hoffe, Sie begreifen das. Gestern stand ich noch unter dem Bürgschaftsschutz von Lord Dornath, mußte mich an die Vorschriften dieses Unternehmens
halten, und mein Bürge räumte mir gewisse Privilegien ein, solange ich ein gehorsamer Angestellter des Hauses Dornath blieb. Doch heute trete ich hier als unabhängiger Bürger von Bardon auf. Der Stadthauptmann wacht über meine Rechte.« Er hielt inne und lächelte nicht mehr. »Dazu gehört«, fügte er dann in schärferem Ton hinzu, »daß man mich weder nötigen noch ungesetzlichen Zwangsmaßnahmen aussetzen darf.« Dandro winkte rasch ab. »Ja, natürlich.« Er schielte wieder zu dem Schutzmann hinüber, der nun gar nicht mehr gelangweilt drein sah. »Na gut, wenn Sie darauf bestehen. Gehen Sie in Ihr Quartier und holen Sie Ihre persönlichen Sachen. Bis Sie wieder zurückkommen, ist der Entlassungsschein fertig.« Er drehte sich um. »Cara, kommen Sie einen Moment zu mir herüber!« Varon ging aus dem Büro. Der Schutzmann folgte ihm. Als er eine Weile später aus dem Fabriktor trat, öffnete er seinen neuen Lederkoffer und zeigte ihn der Fabrikwache. Der Werkspolizist sah gelangweilt hinein. »Schon gut – passieren.« »Aber, aber!« protestierte Varon. »Sie müssen sich vergewissern, daß ich kein Fabrikeigentum mitnehme. Dann müssen Sie diesen Schein unterschreiben – hier an dieser Stelle.« Der Werkspolizist tat es und steckte den Schreibstift wieder in die Uniformtasche. »Wohl ein ganz Schlauer, wie?« brummte er. »Nur vorsichtig«, berichtigte Varon. Er ging auf die Straße hinaus, von dem Schutzmann begleitet. Harl wollte nach links abbiegen, als sie den Turbowagen erreichten, doch der Uniformierte hielt ihn auf. »Nein, steigen Sie ruhig ein«, sagte er lächelnd. »Wir brauchen Sie zwar nicht zurück in die Stadt zu fahren; aber wir tun das gern.« Er nahm Varon den Koffer ab und warf ihn auf den Rücksitz. Dann schwang er sich auf die Sitzbank neben den Fahrer und kicherte. »Zum erstenmal in zwanzig Jahren hat Dornath einen Mann herausgeben müssen.« Er lachte laut und klopfte seinem
Kollegen auf die Schulter. »Das Gesicht des Personalchefs hättest du sehen sollen! Nun, Bürger, wohin sollen wir dich bringen?« »Du kennst doch Liro Clatir?« Das Mädchen deutete auf die Tanzfläche. Varon nickte. »Ja«, sagte er. »Ich hab sie ein paarmal auf einer Party getroffen. Nicht schlecht, die Sachen, die sie schreibt.« Sie lachte vergnügt. »Na ja, in ihrem Beruf ist sie ziemlich gut. Aber hast du gehört, was für eine Szene sie vor ein paar Tagen in Doros Wohnung gemacht hat?« Harl seufzte innerlich. Das Mädchen erzählte den neuesten Gesellschaftsklatsch. Von viel Wein war die Rede, von zweideutigen Anträgen und von einem Schlafzimmer. Ein Mann drängte sich durch das Gewühl. Er kam auf sie zu. »Ich habe dich überall gesucht, Clia«, sagte er. »Tanzt du mit mir?« »Ich habe mich gerade mit Bürger… Kennst du eigentlich Harl Varon schon?« Sie drehte sich etwas zur Seite. »Das ist Merol Garlath, mein Verlobter.« Der Mann zog ein Taschentuch aus seinem spitzenverzierten Ärmel und sah Varon hochnäsig an. »Harl Varon«, wiederholte er. »Das klingt gar nicht wie ein richtiger Name. So nennt man Leute, die auf der Liste der Arbeiterwohlfahrt stehen.« Clia regte sich auf, doch Varon lächelte nur. »Richtig, dort habe ich den Namen auch bekommen, wie jedermann weiß.« Er winkte lässig. »Sie dürfen natürlich mit Ihrer Verlobten tanzen.« Er drehte sich um und ging hinüber zum Büfett. Ein schwerer, stattlicher Mann drehte sich um, als Harl sich dort einen Drink nehmen wollte. »Oh, hallo, Varon!« begrüßte er Harl. Ein Page kam, machte eine Verbeugung und hielt das Tablett in Reichweite des erlauchten Gastes. Der Stattliche wählte unter den Gläsern eines aus. »Danke dir, mein Junge.«
»Keine Ursache, Euer Lordschaft«, flüsterte der Page und hielt jetzt Varon das Tablett hin. Lord Dornath hob das Glas und betrachtete es kritisch. »Sollte eigentlich böse auf Sie sein, Varon«, sagte er. »Hörte, daß Sie mir einen meiner Leute abspenstig gemacht haben.« Varon nickte. »Es tut mir sehr leid, daß Euer Lordschaft das ungnädig aufgenommen haben.« Sein Gesprächspartner lachte kurz. »Aber nein, das ist schon in Ordnung. Schließlich haben wir ja genug Leute. Kann Ihnen wohl einen abtreten, denke ich. Was haben Sie mit ihm vor?« »Wissen Sie, es fällt mehr Arbeit an, als ich zuerst gedacht hatte. Ich brauche einen guten Mechaniker.« »Oh, natürlich. Sie haben Turbinenwagen zu einem Hobby gemacht, wie ich hörte. Haben sogar ein paar Straßenrennen damit gewonnen, wie man mir sagte. Gute Werbung für meine Fabrik, da Sie ja immer mit Dornath-Wagen ins Rennen gehen.« Lord Dornath nickte nachdenklich. »Ich sollte Ihnen vielleicht doch nicht so böse sein.« Er schwieg einen Moment. »Nur eins stört mich: dieser Mann Cenro.« »Ja, Euer Lordschaft?« »Versuchen Sie nicht, auch ihn zu einem freien Bürger zu machen. Glaube, das wäre zuviel für mich.« Er sah den Schriftsteller streng an. »Ja, das wäre wirklich zuviel. War ja nicht übel, daß Sie Ihre Bürgschaft aufbrachten. Sind ein wertvoller Bürger. Jammerschade, wenn in der Fabrik Ihre Fähigkeiten verkümmert wären. Aber dieser Mann – das ist etwas anderes. Gewöhnlicher Mensch, einfacher Arbeiter. Gar kein Vergleich mit Ihnen.« Er räusperte sich. »Die meisten von diesen – ähem – unabhängigen Bürgern gehörten sowieso unter Bürgschaft genommen. Verstehen Sie? Wären dann viel besser aufgehoben. Wir können es uns nicht leisten, noch mehr von diesen ungehobelten Burschen frei herumlaufen zu lassen.« Er wendete sich ab. »Ich muß mal nach Lady Dornath sehen.«
Harl Varon blickte seiner Lordschaft nach. Er stellte das Glas vorsichtig auf das Büfett und sagte leise: »Danke, Lord Dornath.« Er verabschiedete sich von der Gastgeberin, holte seinen Mantel und wartete draußen auf seinen Wagen. Es war eine kalte, sternklare Nacht. Funkelnde Lichtpunkte auf einem schwarzen Hintergrund. Nur über dem Horizont lag ein heller Streifen über der Stadt. Er blickte hinauf in den Nachthimmel. Markierungspunkte, die ihm wohl vertraut waren. Dazwischen ein mattes, undeutliches Schimmern. Zwischen den Sternen fiel es kaum auf. Doch Harl Varons Erinnerung überwand Lichtjahre. Er sah eine große Sternengruppe am anderen Ende der Milchstraße. Dort befand sich der Stern, den Klion Meinora als Sonne bezeichnete – seine Sonne, um den sein Heimatplanet kreiste. In der galaktischen Föderation nannte man diesen Planeten Dorsil. Er war der siebte Planet der Sonne Mernar. Für Meinora und die Brüder und Schwestern seines Volkes war Dorsil die Heimat, in die sie immer wieder zurückkehrten – eines Tages, irgendwie… Er hörte ein metallisches Klicken, energische Schritte, wieder ein Klicken. Harl Varons Gedanken kehrten in die Gegenwart zurück. Die hintere Wagentür stand offen. Ein livrierter Mann wartete in aufrechter Haltung daneben. Varon ließ sich in die Polster fallen. Als der Wagen ein Stück gefahren war, beugte er sich vor und schob die Trennscheibe beiseite. »Halte mal am Straßenrand, Dorn«, sagte er. »Ich setze mich vor zu dir.« »Hör zu«, fuhr er fort, als der Wagen sich wieder in Bewegung setzte. »Man hat abgewinkt.« »Wie meinst du das?« »Genauso wie bei einer Karambolage auf der Rennpiste.« Varon streckte die Beine aus. »Dornath hat mit der großen gelben Fahne gewinkt.«
»Du hast heute abend mit Lord Dornath gesprochen?« »Er sprach, ich hörte zu. Keine Ahnung, wie er erraten hat, was ich vorhabe, aber… Paß an der nächsten Ecke auf. Der Kerl glaubt, er wäre allein unterwegs!« Cenro begriff zwar nicht, bremste aber. Er hielt vor der Kreuzung, während ein Wagen auf die Kreuzung geschossen kam, knapp an ihrem Kühler vorbei, und davonraste. Cenro sah den Rücklichtern verwirrt nach. »Wenn du mich nicht gewarnt hättest, wäre er uns glatt…« Er sah Varon groß an. »Woher wußtest du, daß…« »Keine Ahnung. Intuition, glaube ich.« Harl zuckte die Achseln. Mit der Zeit war er dahintergekommen, daß er den Gedankenverstärker eigentlich gar nicht brauchte. Er starrte wie gebannt hinaus auf die beleuchtete Straße. Dann zuckte er wieder die Achseln. »Wie ich schon andeutete«, fuhr er fort, »wird es ein großes Geschrei geben, sobald ich versuchen sollte, für dich eine Bürgschaft zu erwirken. Der Alte ist nämlich noch ziemlich sauer auf dich, weil du seine Fabrik verlassen hast.« Der Fahrer warf ihm einen besorgten Blick zu. »Er will doch nicht…« »Oh, nein. Er wird nicht versuchen, dich zurückzuholen. Aber…« Cenro lächelte. »Was gibt es dann für Probleme?« Mit der linken Hand klopfte er gegen das Instrumentenbrett. »Ich hätte dich sowieso um eine Stellung gebeten, wenn du das Geld für meine Bürgschaft hingeblättert hättest. Und ich arbeite bereits für dich. Also läuft doch alles, wie es laufen soll.« »Ist das wirklich dein Ernst?« Der Wagen schwankte ein bißchen, als der Steuerknüppel nicht mehr so ruhig in Cenros Hand lag. »Chef, hör zu. Ich weiß nicht, was es ist. Aber ich spüre es. Als ich die Fabrik verließ, um für dich zu arbeiten, merkte ich, daß mich alle
beneideten. Einige von denen dort haben sogar Angst vor dir. Ja, Todesangst! Aber es gibt nicht einen unter ihnen, der nicht von einem Dach herunterspringen würde, wenn du es verlangst.« Varon sah ihn überrascht an. »Ist das wirklich wahr?« Der Fahrer nickte. »Ich versuchte erst, mich dagegen zu wehren«, gestand er. »Deshalb habe ich anfangs immer gestänkert und die anderen gegen dich aufgewiegelt. Aber es war sinnlos. Heute will ich nur in deiner Nähe sein.« Harl Varon betrachtete einen Moment den Mann neben sich, dann blickte er geradeaus. Daran hatte er bis jetzt noch nicht gedacht. Doch diese Folgen waren logisch bedingt. Die meisten Bewohner dieses Planeten waren mit der bestehenden Ordnung zufrieden. Sie hielten sie für gerecht und rechtmäßig. Sie wollten geführt werden und waren enttäuscht, wenn sich niemand anbot, der Führerqualitäten besaß. Cenro war ein Rebell gewesen. Doch Cenro war auch eine Ausnahme, soweit Varon die Verhältnisse auf diesem Planeten übersehen konnte. Rasch überdachte er die Möglichkeiten. Die Stadt, die Nation, die ganze Hemisphäre – alles würde ihm… »Nein!« rief er laut. Cenro fuhr zusammen. »Was ist los?« »Nichts. Gar nichts. Ich habe nur nachgedacht.« Dies war der entscheidende Punkt, weshalb es zu keinem echten Kontakt mit den Leuten kam. Hier lag die Gefahr. Wie leicht hätte er in diese Falle gehen können! Und je länger er hier bleiben mußte, um so größer hätte die Versuchung werden können. Er mußte weg von hier. Irgendwie. Und er durfte nie mehr hierher zurückkehren. Wie sollte er das anstellen? Verschiedene Bilder traten vor seine Augen. Er sah die Fabrikhallen der Dornath-Werke vor sich. Er sah noch andere, gleich große Fabriken. Natürlich – so ging es! Wenn man das technische Potential eines ganzen Planeten in eine Richtung lenkte und darauf konzentrierte…
Er sank in die Polster zurück. Gewisse Probleme der Archäologie, Entwicklungen, die ihm lange ein Rätsel geblieben waren, fanden plötzlich ihre Lösung. Seines war vielleicht gar kein Einzelschicksal. Andere vor ihm waren anderswo gestrandet, und manche von ihnen hatten der Versuchung der Macht nicht widerstanden. Jetzt erkannte er die Ursache für rätselhafte Vorgänge der Vernichtung, die so manchen Planeten verwüstet hatte. Eine Technologie war entstanden, hatte Früchte getragen – und dann war derjenige, der alles ausgelöst hatte, plötzlich verschwunden. Oder die Maschinen hatten sich unverhofft selbständig gemacht, und der Ingenieur war von einer Menge einfach überstimmt und mitgerissen worden. Nein, es mußte nicht immer die Versuchung der Macht sein. Die Falle schnappte erst zu, wenn man an Flucht dachte. Er schloß die Augen. »Wir wollen nach Hause, Cenro«, sagte er. »Ich bin müde.« Erst jetzt merkte er, daß der Wagen hielt. Cenro sah ihn gespannt von der Seite an. »Was ist los mit dir, Chef? So habe ich dich noch nie erlebt.« »Hoffen wir, daß du mich nie wieder in diesem Zustand erleben wirst, Dorn. Nie wieder!« Harl entspannte sich. Draußen huschten die Häuser vorbei. Das Heulen der Turbine begleitete seine Gedanken. Er verglich die komplizierte technische Konstruktion eines kleinen Raumkreuzers mit dem Fahrzeug, in dem sie jetzt nach Hause fuhren. Weder die Technologie noch die Philosophie dieses Planeten hatten auch nur annähernd einen Stand erreicht, um die einfachsten Anfangsprobleme der Raumfahrt zu lösen. Wie sollte er die Feinheiten eines genau abgestimmten MagnetSchwerkraftgenerators einem Techniker erklären, der gerade die Grundbegriffe des Elektromagnetismus kannte und die Schwerkraft für eine unverrückbare Größe hielt? Wie sollte eine Zivilisation, die ihre Technik auf das Prinzip der direkten Kraftanwendung gründete, die Grundbegriffe eines
Neutralisations-Antriebes verstehen? Natürlich hat man das Problem der Neutralisation hier auch schon am Rande gestreift. Doch man leitete hier die phasen-neutralisierte Kraft einfach zum Generator zurück. Sie nutzten zwar hie und da die entstehende Wärme; aber die Sekundärstrahlung konnten sie nicht heraussieben und verwenden. Sie hatten keine Ahnung von den subätherischen Phänomenen; und es würde noch lange dauern, bis sie den Sekundärraum entdeckten. Er lächelte vor sich hin, als er daran dachte, was ein Ingenieur zu den Polyphasenfeldern in einem Trans-LichtAntrieb sagen würde, wenn er bisher nur einfache Turbinen als letzte Errungenschaft der Technik kannte. Doch andere Probleme waren durchaus nicht zum Lachen. Was würde zum Beispiel mit einer Zivilisation geschehen, die den Krieg für den Vater aller Dinge hielt und plötzlich wirklich vernichtende Waffen in die Hand bekam – einen regelbaren Strahlenwerfer zum Beispiel. Nicht auszudenken, was mit den Festungen geschah, die nur als Schutz gegen ballistische Waffen und Druckwellen konstruiert waren, wenn man diese Strahlen gegen sie einsetzte! Generationen von Denkern waren nötig, um die sozial-ökonomischen Probleme auf diesem Planeten zu lösen. Dann mußten die nächsten Generationen die ethischen Formeln ausarbeiten, die ästhetischen Gleichungen und die Wissenschaft der Humanik. Keine Hilfe von außen konnte ihnen dabei helfen. Natürlich konnte man Vorschläge machen, ab und zu sogar eine Entwicklung in eine bestimmte Richtung lenken; doch die eigentliche Entscheidung blieb den Einheimischen vorbehalten. Die Philosophen, Wissenschaftler, Ingenieure dieses Planeten mußten selbst die Weichen stellen, die Probleme durchdenken, die Technologie entwickeln! Er betrachtete Cenro, der den Wagen mit gewohnter Sicherheit durch den Abendverkehr lenkte. Dieser Mann war ein intelligentes Mitglied seiner Gesellschaft. Er war vielen
Bürgern der galaktischen Föderation durchaus ebenbürtig – zumindest was seine Anlagen und geistigen Fähigkeiten betraf. Es gab noch viele andere auf diesem Planeten, die vielversprechende Talente besaßen. Man mußte sie nur richtig erziehen und ausbilden, dann konnten sie ohne Schwierigkeit in die Gesellschaft der galaktischen Föderation integriert werden. Das galt allerdings nur für den einzelnen, nicht für ihre Kultur. Als Individuen würden viele Bewohner dieses Planeten in der hochentwickelten galaktischen Zivilisation erfolgreich ihren Mann stehen – doch ihre planetarische Kultur würde man verwerfen, nicht absorbieren; zerstören, nicht weiterentwickeln. Der Wagen hielt. Cenro stieg aus und hielt seinem Chef die Tür auf. »Haben Sie heute abend noch einen Wunsch, Chef?« fragte er förmlich. »Nein«, erwiderte Varon. »Leg dich lieber frühzeitig ins Bett. Wir müssen morgen einen Wagen für das Dargfor-Rennen vorbereiten.« Harl schloß seine Wohnungstür auf. Er war immer noch in Gedanken versunken. Er konnte natürlich seine Werkstatt vergrößern und ein Raumboot bauen. Eine simple Apparatur, kein kompliziertes Gerät. Schließlich brauchte er ja nur ein paar Lichtjahre zurückzulegen, um nach Hause zu kommen. Das Wichtigste war natürlich der Antrieb; und die Teile dazu konnte er bestellen bei… Konnte er das wirklich? Die meisten mußte er in seiner Werkstatt selbst herstellen, und dazu brauchte er Werkzeugmaschinen. Selbst ein Sender kam nicht in Frage. Er konnte ein paar handelsübliche Teile dafür verwenden. Andere mußte er selbst herstellen. Aber es ging hierbei um grundsätzliche Probleme, nicht nur um technische Schwierigkeiten. Und außerdem brauchte er eine Energiequelle! Ein galaktischer Sender –
selbst das einfachste Gerät – verlangte Einzelteile, die den Technikern dieser Zivilisation Kopfzerbrechen und den Wissenschaftlern schlaflose Nächte bereiten würden. Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und betrachtete die Wände seines Arbeitszimmers. Nein, dies hier würde noch für lange Zeit sein Zuhause bleiben müssen. Er konnte sich die Langeweile damit vertreiben, daß er ein paar Prüfstände aufstellte und kleinere Verbesserungen an den handelsüblichen Turbinenwagen vornahm. Vielleicht konnte er auch im Lauf der Zeit mit Vorschlägen durchdringen, die einen Fortschritt für die Industrie auf diesem Planeten brachten. Es gab noch viel zu tun. Das Dargfor-Rennen fand in zwei Wochen statt. Ein leichter Nebel aus Staub und Rauch lag über der Stadt Dargfor. Jeder verfügbare Platz im Freien war von Zuschauern besetzt. Entlang der Strecke hatte man Tribünen errichtet. An den Boxen waren die Monteure fieberhaft damit beschäftigt, die letzten Einstellungen an den Motoren vorzunehmen. In einem Hof, gleich neben dem Start, beugte sich Dorn Cenro über den Motor. »Alles in Ordnung«, sagte er. »Nur noch das Gehäuse darüber, und die Kiste ist fertig zum Start.« »Könntest du die Brenner nicht noch ein bißchen weiter aufmachen?« Cenro betrachtete kritisch seine Arbeit. »Ich weiß nicht«, sagte er. »Ich habe schon alles herausgeholt, was man dem Material laut Werkangaben noch zutrauen darf. Das gäbe der Turbine zwar noch etwas mehr Druck; aber ich fürchte, das halten die Röhrenwände nicht aus.« Er nickte nachdenklich. »Nein, ich glaube, wir lassen es lieber, wie es ist.« Harl betrachtete die Brenner. »Schön, mag sein, daß du recht hast.« Er hob die Schultern. »Befestige die Verkleidung und mach die Kiste startklar.«
Cenro nickte und nahm einen Schraubenschlüssel aus der Werkzeugkiste. Plötzlich drehte er sich um. »Moment mal, Chef…« »Ja?« »Eigenartig. Mir fällt ein, daß ich Ihnen bisher noch nie widersprochen habe. Wie kommt das nur? Bisher ist immer alles richtig gewesen, was Sie mir geraten haben, Chef. Weshalb also gerade heute mein Widerspruch?« »Alles läuft so, wie es soll«, erwiderte Varon lächelnd. »Wenn du dir alles von mir gefallen läßt, Dorn, haben wir beide wirklich Grund zur Besorgnis.« »Ich weiß nicht«, murmelte Cenro und schraubte die Turbinenverkleidung fest. »Immerhin gab es eine Zeit, wo wir jedes Rennen gewonnen haben.« Er zog die Muttern fest an, lehnte sich über den Sitz und schaltete den Vorwärmer ein. Er beobachtete die Instrumente und drehte nach ein paar Minuten das Kraftstoffventil auf. Ein Druck auf den Anlasser: mit einem Knall sprang die Turbine an, und eine schwarze Rauchwolke schoß aus dem Auspuffrohr. Cenro drehte an einem Knopf, sah zu, wie ein Zeiger über eine Skala glitt. Dann trat er zurück. »He, Val!« rief er. »Du kannst den Flitzer haben!« »Du brauchst nicht so zu schreien!« rief jemand zurück. »Ich schaue dir schon geschlagene fünf Minuten zu!« Cenro drehte sich um. »Hallo!« sagte er lächelnd. »Hätte mir das denken können. Immerhin riskierst du deine Knochen in dem Ding. Und da möchtest du ja auch gern wissen, wie teuer wir deine Knochen verkaufen!« Val nickte. »Du sagst es!« Er rutschte hinter das Armaturenbrett, prüfte Skalen und Tourenmesser, nickte Cenro zu und öffnete die Drosselklappe. »Bin bald wieder zurück!« versprach er.
Der Wagen rollte aus dem Hof und hielt neben den anderen Turbinenwagen an der Startlinie. Der Starter blickte prüfend die Wagen an und dann hinüber zu einem Herrn von der Rennleitung, der die lange Reihe der Autos abschritt. Sie nickten sich gegenseitig zu. Der Starter hob die Flagge und schwenkte sie im Halbkreis über dem Kopf… Die Fahrer zogen ihre Steuerknüppel an, drückten die Kraftstoffhebel nach unten, und im Nu war der Startplatz in eine dichte schwarze Rauchwolke gehüllt. Die Wagen mußten zuerst die Stadt verlassen. Einer von ihnen zog immer noch eine dichte Auspuffahne hinter sich her. Ein Mann vom Ordnungsdienst machte ihn mit einer schwarzen Flagge darauf aufmerksam. Jetzt waren nur noch dünne Rauchfäden zu erkennen, als die Wagen wie eine Meute auf der Flucht aus der Stadt rasten und einen langgezogenen Hügel hinauffuhren. Einen Augenblick schienen sie auf der Hügelkuppe in der Luft zu schweben, ehe sie in die steilen Kehren und Schleifen hinunter schossen und im rechten Winkel nach Blagor abbogen. Sie rasten über die Brücke, brausten durch die Schlucht und erreichten dann mit heulenden Gebläsen die engen Straßen von Morchfar. Dort, am Marktplatz, wendeten sie. Einer der Wagen brach aus, prallte gegen den Brunnen in der Mitte des Platzes, machte einen Satz durch die Luft und blieb stehen. Der Fahrer kletterte heraus und floh unter die Pfeiler des Rathausbalkons. Cenro schüttelte den Kopf und senkte das Fernglas. »Jedes Jahr muß der Rennklub einen neuen Brunnen für die Stadt stiften«, brummte er. Dann hob er das Glas wieder an die Augen. »Recht eintönig, nicht wahr?« sagte Varon mit leisem Lachen. Er beobachtete, wie Val, sein Fahrer, den Wagen steuerte. Wagen Nummer zwölf hatte zwar keinen großen Vorsprung; aber er führte. Und er baute seinen Vorsprung
stetig aus, bis die Kolonne hinter den Häusern von Pilgroun verschwand. Die Zuschauer atmeten auf. Es würde eine Weile dauern, bis die Führungsgruppe wieder in Sicht kam. Da tauchten die ersten Wagen wieder auf dem Hügel auf, rasten durch die Kurven, verschwanden wieder zwischen den Bäumen. Varon blickte durch sein Glas, las die Nummern ab. Er stieß einen leisen Ruf der Überraschung aus. Nummer zwölf lag nicht mehr in Führung. Cenro schwenkte seinen Feldstecher aufgeregt hin und her. »Die Prämie ist futsch, Chef!« jammerte er. »Verdammt…!« Varon beobachtete immer noch das Rennen. Nummer zwölf lag immerhin noch auf Platz zwei und holte jetzt wieder auf. Es würde knapp werden. »Eine Panne scheint er nicht zu haben«, murmelte Varon. Die beiden führenden Wagen rasten die kurvenreiche Bergstrecke herauf, nahmen die letzte S-Kurve bei der Taverne und drosselten das Tempo, als der Starter auf der Ziellinie mit der Flagge abwinkte. Cenro trat enttäuscht mit dem Absatz gegen die Hausmauer. »Nur Zweiter!« klagte er. »Meine Schuld. Ich hätte die Brenner so einstellen sollen, wie du mir geraten hast, Chef.« Mit hängenden Schultern folgte er Varon hinunter zu den Boxen. Nummer zwölf rollte jetzt in den Hof. Der Fahrer schloß das Brennstoffventil, stieg aus und nahm seinen Schutzhelm ab. »Tut mir leid, Chef«, entschuldigte er sich. »Ich habe die Kehre hinter Pilgroun zu scharf genommen. Wäre fast über die Böschung gerast. Drei Wagen zwängten sich an mir vorbei.« Er drehte sich Cenro zu. »Überprüf mal die Rohre«, sagte er. »Ich habe die Kiste fast überdreht, um wieder aufzuholen. Wahrscheinlich habe ich der Turbine zu viel zugemutet.« Harl Varon blickte Cenro an, zog die Augenbrauen fragend hoch und lächelte. Cenro gab das Lächeln zurück. »Na, wenn schon. Man kann eben nicht jedes Rennen gewinnen. Komm her, Val,
und hilf mir beim Verladen. Der Chef muß heute abend noch zum Ball des Automobilklubs…« »Wirklich schade, daß Sie nicht mehr selbst Rennen fahren, Varon«, sagte der Offizier, blickte auf seine dekorierte Uniformbluse hinunter und sah sein Gegenüber wohlwollend an. »Ich erinnere mich noch an die Zeit, als Sie einer der besten Fahrer auf dem Kontinent waren. Liegt ja nur ein paar Jahre zurück.« Harl lächelte. »Man wird eben älter«, erwiderte er. »Da traut man sich nicht mehr so viel zu.« In Wirklichkeit war er der Jüngste im Saal. Nicht nach Jahren gerechnet, selbstverständlich. Aber die Gäste, die hier versammelt waren, gehörten alle zu den reifen Jahrgängen ihrer Kultur. Doch er selbst war noch ein Schuljunge, ein Stürmer und Dränger, der seine Lektionen noch lange nicht alle gelernt hatte. Eines Tages – so hoffte er wenigstens – würden sie ihn hier herausholen. Doch wie alt würde er bis dahin geworden sein? Er zwang sich wieder dazu, seinem Gesprächspartner zuzuhören. Er erörterte die Konstruktion eines neuen Turbinen-Rennwagens. Der Mann beherrschte das Thema. Trotzdem drehte sich die Diskussion nur um elementare Dinge, um Grundbegriffe der Technik. Varon stimmte dem Mann zu, machte ein paar Bemerkungen und verabschiedete sich dann. Er ging von einer Gruppe zur anderen, grüßte Bekannte, wechselte ein paar Worte, ging weiter. Ein Satz ließ ihn aufhorchen. »… diese überragende Intelligenz. Er ist einer der größten Denker unserer Zeit. Schade, daß er nie geheiratet hat.« Harl wendete sich wieder ab. Das war ein anderes Problem, dem er sich wohl noch stellen mußte. Ein älterer Mann hielt ihn am Arm fest. »Varon, was halten Sie von den Theorien dieses Mannes – Yeldar, meine ich? Ich persönlich halte ihn…« In Wirklichkeit,
dachte Harl, ist dieser Welin Yeldar nichts anderes als ein Wirrkopf. Er hatte ursprünglich mit einer durchaus wertvollen These angefangen. Doch was er daraus gemacht hatte – wieviele Vorurteile, falsche Schlüsse, ideologische Schwärmereien er mit dieser These zu einem Irrgarten verflochten hatte, daß kein Mensch sich mehr darin zurechtfand, war wirklich beklagenswert. Dazu noch die Sprache: ein zweideutiges, hochtrabendes, prophetisches Pathos. Die Theorien von Yeldar bestätigten immer nur das, was ein Anhänger dieser Lehre herauslas. Yeldars Lehre war kein Fortschritt, sondern ein Rückschritt in der Philosophie dieses Planeten. Harl wußte wohl, daß es keinen Sinn hatte, seinem Gesprächspartner die Wahrheit zu sagen. Schließlich war dieser mindestens ein ebenso großer Wirrkopf wie Yeldar. Deshalb machte er nur ein paar kritische Bemerkungen, beglückwünschte den Alten zu seiner scharfsinnigen Analyse und ging auf den Balkon hinaus. Er blickte hinunter auf die Lichterketten der Stadt. Sie erstreckten sich durch das ganze Tal und endeten erst an der Silhouette der Bergketten am Horizont. Natürlich herrschten auch hier ungerechte Verhältnisse, ungleiche Bedingungen. Der Fortschritt war einseitig. Viele Bewohner der Stadt konnten ihre Fähigkeiten nicht entfalten. Andere wieder wurden viel höher eingestuft, als sie es verdienten. Doch diese Stadt würde weiter wachsen. Sie würde reifer werden. Die ganze Zivilisation würde sich entwickeln, auch wenn dieses Wachstum schmerzliche Rückschläge und Perioden der Gewalttätigkeit durchlaufen würde. Ein schwaches, undefinierbares Geräusch ging von dieser Stadt aus, gespeist von vielen Quellen: das Dröhnen schwerer Maschinen, das Sprechen und Rufen der Leute, die hier wohnten; die Laute und Schreie der Haustiere; das Krachen, Bersten, Splittern, wenn irgend etwas zu Bruch ging. Doch ein Geräusch
übertönte alle anderen: das helle Kreischen der Turbinenwagen. Tag und Nacht wurde die Geräuschkulisse der Stadt Bardon von diesem heulenden, singenden Kreischen geprägt, das zwar in seiner Stärke je nach Tageszeit an- und abschwoll, doch immer beherrschend blieb. Varon blickte auf die Straßen hinunter, sah den tanzenden Lichtern nach, lauschte diesem pulsierenden Heulen und Kreischen, spürte den beißenden Geruch der Abgase. Das war der Geruch und das Geräusch einer unreifen, unvollkommenen Entwicklung. Er erinnerte sich an einen Artikel, den er in der Zeitung gelesen hatte. Darin stand, daß durch die Abgase der Turbinenwagen die Temperatur in der Stadt um mehrere Grad höher war als in ländlichen Bezirken. Er beugte sich über die Brüstung. Diese Wärme konnte man sinnvoll verwenden. Der Kraftstoff brauchte nicht vergeudet zu werden. Das Geräusch ließ sich zu einem leisen Summen dämpfen. Man konnte die Zusammensetzung des Kraftstoffes genau bestimmen. Aus der Hitze wurde neue Energie. Eine einfache Neutralisation würde die Turbinen zum Schweigen bringen. Das äußere Kraftfeld, das bei der Neutralisation entstand, konnte… Er stockte, blickte hinauf in den Himmel, dann zurück in den Ballsaal. Das äußere Kraftfeld konnte ins Weltall hinausströmen. Die Reichweite eines einzelnen Feldes war begrenzt, aber konzentriert konnten sie zu einem Signal werden, das einige Lichtjahre weit vordringen würde. Man würde das Signal nicht verstehen, aber man würde es auch nicht überhören. Zum letztenmal blickte er zum Nachthimmel hinauf, winkte und kehrte in den Ballsaal zurück. Eine Weile plauderte er ungezwungen mit den Gästen. Doch er hatte es plötzlich eilig, sich zu verabschieden.
Cenro folgte seinem Chef durch das Wohnzimmer in den Arbeitsraum, holte sich einen Sessel heran und wartete. Varon setzte sich hinter den Schreibtisch und lehnte sich zurück. »Dorn«, begann er, »wie leistungsfähig sind eigentlich die Turbinenwagen?« »Nun ja, meiner Ansicht nach recht zufriedenstellend.« »Nein, das beantwortet nicht meine Frage. Wieviel Prozent der Verbrennungsenergie wird tatsächlich auf den Antrieb übertragen?« Cenro dachte eine Weile über die Frage nach. »Hm, ungefähr sechzehn Prozent«, murmelte er schließlich. »Eine Menge geht durch die Wärmeentwicklung verloren.« »Wie wäre es, wenn wir noch weitere zehn Prozent für den Antrieb verwenden könnten?« Cenro lächelte. »Das wäre ein gefundenes Fressen für Dornath. Er würde sich das Patent sichern.« Varon nickte. »Ich glaube, das schaffen wir.« Er griff nach Papier und Schreibstift. »Bisher haben wir eine Dampfturbine als Kraftquelle verwendet. Mit einem Gebläse drücken wir komprimierte Luft in eine Kammer. Der Kraftstoff dehnt sich bei der Verbrennung aus. Wir leiten die heißen Gase durch ein System von Röhren zum Auspuff. Dazwischen findet ein teilweiser Wärmeaustausch statt. Die heißen Gase erzeugen Dampf, der sich seinerseits ausdehnt und eine Turbine antreibt. Dann stehlen wir der Turbine wieder eine Menge Energie, um das Gebläse und die Kraftstoffpumpe anzutreiben. Was übrigbleibt, treibt den Wagen an. Habe ich recht?« »Stimmt genau. Doch wo können wir Energie einsparen?« Harl warf rasch ein paar Skizzen aufs Blatt. »Gasturbine – hier angeordnet«, erklärte er seine Zeichnung. »Dabei nützen wir sowohl die Ausdehnungsenergie der Gase wie auch deren Hitzeentwicklung aus. Der Energiefluß sieht dann folgendermaßen aus.«
Er deutete mit dem Schreibstift. Cenro nahm das Blatt Papier vom Tisch und studierte die Skizze. Dann ging er hinüber zum Bücherregal, holte ein Buch heraus, schlug eine Seite auf und las sie stirnrunzelnd durch. Wieder betrachtete er die Skizze, kehrte zum Tisch zurück und schrieb ein paar Zahlen auf das Blatt. Er rechnete, überlegte, rechnete wieder und blickte dann seinen Chef an. »Es könnte hinhauen«, sagte er, »wenn wir die Hilfsaggregate ebenfalls an die Gasturbine anschließen.« »Richtig«, sagte Varon. »Du bist der Chefmechaniker. Unsere Werkstatt ist inzwischen zu einer kleinen Fabrik geworden. Dir stehen also genügend Geräte und Maschinen zur Verfügung. Knie dich hinein. Dann besorgen wir uns ein Patent, und Lord Dornath bietet dir mit Handkuß seinen Schutz an, wenn du freier Bürger werden willst.« Cenro schüttelte den Kopf. »Das ist deine Idee, Chef.« »Theoretisch ja – aber wenn du sie in die Tat umsetzt, gehört sie dir«, entgegnete Harl. »Vergiß nicht, daß du die ganze Entwicklungsarbeit leistest. Ich bin nur Schriftsteller. Du bist der Ingenieur.« Cenro war schon in Gedanken bei seiner neuen Aufgabe. Varon sah ihm nach, als er das Arbeitszimmer verließ. Er war zufrieden. Dieses Projekt würde mehrere Zwecke auf einmal erfüllen. Wieder griff er zu Papier und Schreibstift. In der Werkstatt heulte das Gebläse mit äußerster Leistung. Varon tippte seinem Mechaniker auf die Schulter. Cenro drehte sich um und schloß die Ventile. Sofort erstarb das Getöse mit einem Fauchen. »Wie geht es voran, Dorn?« »Wir schaffen es, Chef.« Cenro deutete auf den Motor auf dem Prüfstand. »Leistungsgewicht um fünf Prozent verbessert. Kraftstoffausnützung um zwölf Prozent. Der Motor ist eine Wucht!«
»Laß ihn wieder laufen«, befahl Varon. »Ich möchte mir das mal anschauen.« Cenro blickte auf die Instrumente und öffnete wieder ein Ventil. Der Motor lief an. Er öffnete den Kraftstoffhahn und drückte auf den Zündknopf. Das Gebläse setzte mit einem singenden Heulton ein. »Springt auch viel leichter an als die alten Modelle!« schrie Cenro. »Ich habe noch einen Vorverdichter für den Anlasser eingebaut.« Varon überprüfte die Meßergebnisse. Endlich richtete er sich auf. Cenro schaltete den Motor ab. »Ziemlich laut, wie?« Cenro zuckte die Achseln. »Na ja, so wie immer. Ich werde natürlich noch einen Geräuschdämpfer am Auspuff anbringen und schallisolierendes Material im Motorgehäuse, ehe wir das Ding auf die Straße loslassen. Dabei geht allerdings etwas Energie verloren.« Harl schüttelte den Kopf und deutete mit dem Daumen hinter sich. »Ich glaube, da kann ich abhelfen«, sagte er lächelnd. »Auch ich bin in der Zwischenzeit nicht faul geblieben. Komm mal herüber!« Er ging voraus zu einem kleinen Verschlag, den er von der Werkstatt durch eine Zwischenwand abgetrennt hatte. Dort standen zwei kleine Motoren nebeneinander auf dem Prüfstand. Cenro betrachtete sie neugierig. Abgesehen von ein paar ungewöhnlichen Zusatzteilen sahen die beiden Motoren wie gewöhnliche Turbinen aus. Er schaltete sie ein. »Ich wollte mal ausprobieren, ob man den Lärm nicht neutralisieren kann«, erläuterte Varon und deutete auf die Zusatzteile. »Bisher hat man den Lärm ja nur gedämpft. Nun hör mal zu, was dabei herauskommt.« Die beiden Motoren hatten inzwischen ihre Höchstleistung erreicht. Ihr Lärm erfüllte den Raum. Jetzt ging Varon daran,
die merkwürdigen Zusatzteile anzuschließen. Das Heulen veränderte zunehmend seinen Geräuschcharakter. Zuerst hörte man ein dumpfes Blubbern; daraus wurde ein heiseres Seufzen. Als Varon schließlich das letzte Ventil öffnete, liefen die Motoren so gut wie geräuschlos. Nur ein leises Summen deutete an, daß sie unter höchster Belastung liefen. Cenro starrte diese schallschluckenden Zusatzteile verblüfft an. Die Motorleistung war etwas zurückgegangen; aber lange nicht so sehr wie bei den konventionellen Geräuschdämpfern. Neugierig berührte Cenro die Zusatzteile. Ein schwaches Vibrieren war zu spüren. Varon sah ihm zu und lachte. »Ich glaube, ich habe ein neues Prinzip entdeckt«, sagte er. Cenro kratzte sich am Kopf und machte ein andächtiges Gesicht. »Ja«, sagte er, »das ist wirklich etwas Neues. Es funktioniert auch. Aber ich kann meinen Ohren noch nicht trauen. Was spielt sich da ab?« »Geräuschneutralisation«, erwiderte Varon. »Mir leuchtete das gleich ein, als mir die Idee kam. Also fing ich mit ein paar praktischen Versuchen an. Zuerst peilte ich natürlich über den Daumen, und erst dann probierte ich, mir das alles mathematisch zurechtzulegen. Ich glaube, daß ich jetzt jedes Gerät nach diesem Prinzip geräuschärmer machen kann.« Die Dunstglocke aus Staub und Qualm hing auch diesmal wieder über Dargfor. Aber das Heulen der Düsen war verstummt. Die Wagen starteten mit quietschenden Reifen. Ein Funktionär vom Rennklub ging hinüber zu der Stelle, wo Varon und Cenro das Rennen beobachteten. »Ich muß schon sagen, diese neuen Motoren sind eine phantastische Ingenieurleistung. Aber trotzdem haben sie noch einen Fehler.« »So?«
»Ja. Und ich habe auch persönlich etwas gegen sie.« Der Mann machte eine ausholende Armbewegung. »Es geht viel zu leise zu. Das ist meine persönliche Meinung. Der Fehler sind die Neutralisationskontakte. Sie haben eine viel zu kurze Lebensdauer. Ich habe noch keine gesehen, die länger als sechs Monate durchgehalten haben. Die Rohre sind ja in Ordnung. Aber die Kontakte. Die brechen.« Varon nickte. »Ja, ich weiß«, meinte er. »Aber sie kosten ja nicht viel und sind leicht zu ersetzen. Trotzdem, ich gebe zu, sie sind ein Ärgernis. Cenro und ich sind schon dabei, den Fehler auszubügeln. Ich glaube, wir haben eine Lösung gefunden. Das erste verbesserte Modell steckt unter der Haube von Nummer zwölf. Vorher haben wir damit auf dem Prüfstand Versuche angestellt.« Innerlich mußte er lächeln. Natürlich wußte er die Antwort schon längst. Er hatte sie bereits beim ersten Entwurf seines Geräuschneutralisators berücksichtigt. Heute präsentierte er der Öffentlichkeit zum erstenmal die »richtige« Lösung. Denn die Kontakte sollten ja brechen. Sie gaben ihre Substanz her – opferten ihr Leben sozusagen –, um Energie für die subätherische Störung zu liefern, die ihr Notsignal ins All hinaustrug. Er sah den Wagen zu, die eben über den Hügel rasten. Diese Rennwagen und Tausende andere, die als Turbinenwagen die Straßen des Kontinents bevölkerten, opferten einen kleinen Prozentsatz ihrer Energie für dieses Notsignal. Wenn man wußte, wie viele Wagen mit dem CenroVaron-Motor ausgerüstet waren, konnte man die unermeßliche Energie, die hier frei wurde, einigermaßen abschätzen. Er beobachtete den Rennwagen Nummer zwölf durch sein Glas – der einzige Wagen auf dem ganzen Planeten, der nicht das Notsignal ausstrahlte. »Ja«, sagte er laut, »unsere Versuchsreihe ist natürlich noch nicht abgeschlossen. Wir probieren jetzt eine neue Schaltung der Neutralisationskontakte
in unserem Rennwagen aus. Wenn sich die Sache so bewährt, wie wir es hoffen, geben wir die Erfindung für die Öffentlichkeit frei. Dann braucht niemand mehr die Neutralisationskontakte in seinem Wagen auszuwechseln.« Das Kreischen der Reifen kündigte das Kommen der Spitzengruppe an. Varon beobachtete durch das Glas, wie sie durch die S-Kurve kamen. Nummer zwölf überfuhr als erster die Ziellinie. Cenro jubelte vor Freude. »Dreimal Sieger hintereinander. Wir können uns den Wanderpreis über die Haustür nageln.« »Da magst du recht haben«, stimmte ihm Varon zu. »Wahrscheinlich hat sich das bißchen Energie, das wir mit dem neuen Kontakt gewonnen haben, ausgewirkt.« »Ja, das gab ihm noch mehr Kraft.« Dorn blickte seinen Chef an. »Wo hast du denn die Energie hergenommen?« Harl schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Ich glaube, das war die Energie, die wir bei unseren ersten Geräuschdämpfern noch verloren haben.« Er sah Cenro an. »Ich weiß zwar nicht, wohin diese Energie abgeflossen ist, aber jetzt haben wir sie nutzbar gemacht.« Er wendete sich der Straße zu. »Komm, wir wollen in die Werkstatt zurückkehren. Mal sehen, was meine neueste Entwicklung auf dem Prüfstand macht.« Cenro grinste. »Ach, der neue Verbrennungs-Servomotor.« »Ja. Mit dem habe ich große Pläne.« Varon nickte. Das war die volle Wahrheit. Der ungedämpfte VerbrennungsServomotor würde kaum zu überhören sein. Und da fast die ganze Energie aus dem Motor in die verstärkten Neutralisationskontakte floß, wirkte das Ganze wie ein Peilsender für jemand, der das richtige Empfangsgerät besaß. Zweifellos hatte man den Peilsender bereits geortet. Und Harl Varon wollte zur Stelle sein, wenn jemand kam, um den Störsender zu suchen.
Er wurde bereits erwartet. Als sein Turbinenwagen die Auffahrt heraufkam, wandte sich der Mann vom galaktischen Forschungsdienst vom Motor auf dem Prüfstand ab. Er überzeugte sich davon, daß sein Körperschild ihn auch wirklich unsichtbar machte. Dann richtete er auf telepathischem Wege eine Frage an die beiden Insassen des Wagens. Er war überrascht über die Intensität der Reaktion. »Sind Sie vom Forschungsamt?« Es war ein klarer Gedanke, der an ihn gerichtet wurde. Kmolar bestätigte dies und ließ dann eine Reihe von Fragen folgen. Der andere schirmte seinen Geist eine Weile ab, während er zu seinem Begleiter im Wagen sprach. Dieser nickte und stieg aus. Kmolar forschte kurz in dessen Geist, während er auf das Haus zuging. Das war ein Eingeborener, der wenig von der Galaxis und nichts vom Leben im Weltall wußte. Klion Meinora lehnte sich auf dem Sitz des Wagens zurück. Er beantwortete alle an ihn gestellte Fragen, kostete das lang entbehrte Gefühl voll aus, direkte Verbindung von Verstand zu Verstand aufnehmen zu können. Er erklärte, wie er hierhergekommen war, was er hier getan hatte und welche Schritte er unternommen hatte, um die Störsignale auszuschalten, nachdem sie ihren Zweck erfüllt hatten. Kmolar konnte das alles nicht so recht glauben. »Sie arbeiteten also an Ihrer Doktorarbeit und hatten keine kriminellen Absichten, als Sie hier landeten? Und das Abenteuer endete dann damit, daß Sie auf einer ganzen Bandbreite den gesamten galaktischen Funkverkehr störten. Wie lange sind Sie schon hier?« Meinora seufzte. »Fünfundzwanzig oder dreißig Zyklen.« »Na, eine ziemlich lange Verbannung. Ich hoffe, es ist Ihnen bewußt, daß Sie noch einmal hierher zurückkehren, um alle Spuren zu verwischen.« »Ja, das weiß ich seit dem Tag, als ich hier landete.«
»Es hätte schlimmer kommen können. Sie werden im Hauptquartier für diese abschließende Tätigkeit ausgebildet. Dann verbringen Sie noch fünf, sechs Zyklen auf diesem Planeten, um dafür zu sorgen, daß kein dauernder Schaden zurückbleibt. Daran schließt sich eine Ersatzdienstleistung an. Alles in allem wird das zwanzig Zyklen dauern. Dann wollen wir mal Vorbereitungen für Ihre vorübergehende Abreise treffen. Wir müssen den Weg für Ihre Rückkehr offenhalten. Was schlagen Sie hierzu vor…?« Der kleine Patrouillenkreuzer kam aus dem Trans-Licht dicht vor dem Planetensystem und flog dann mit halber Lichtgeschwindigkeit auf die Sonne zu. Klion Meinora vom galaktischen Forschungsdienst überprüfte seine Instrumente. Die Anzeichen waren unverkennbar. Während seines unfreiwilligen Exils hatte er gelernt, wie groß der Schaden sein konnte, den ein Außenseiter auf einem ahnungslosen Planeten anstellen konnte. Und um dies zu verhüten, hatte er sich zum galaktischen Forschungsdienst gemeldet. Offensichtlich war jemand auf einem Planeten dieses Sonnensystems gestrandet. Jemand versuchte, diesen Planeten zu verlassen. Deshalb schuf er eine Technologie. Und er arbeitete fieberhaft und ohne Rücksicht auf die natürliche Entwicklung der Zivilisation dieses Planeten an der Verwirklichung seines Zieles. Deshalb mußte etwas geschehen. Dazu war er hier.
Originaltitel: EXILE. Copyright 1953 by Street & Smith Publications, Inc. Aus ASTOUNDING SCIENCE FICTION Januar 1954.
J. B. Clarke GESCHENK DES HIMMELS
Der Vorsitzende des Untersuchungsausschusses blickte auf seine Notizen, hob den Kopf und betrachtete den Mann im Zeugenstand. »Sie sind Captain Isaac Speckmann, Kommandant des Raumkreuzers Goddart IV?« Der Zeuge nickte. »Jawohl, Sir.« »Und Sie sind soeben von Ihrem letzten Einsatz zurückgekehrt?« »Jawohl.« »Wo operierten Sie?« »Im Schwerebereich des Jupiter.« »Ihr Auftrag?« »Forschungsauftrag in planetennaher Umlaufbahn. Außerdem hatten wir die Ablösung für die Raumstation Ganymed an Bord.« »Vielen Dank, Captain. Und jetzt kommen wir zu den Ereignissen des 6. Juni. Schildern Sie uns bitte, welche Rolle Sie und Ihr Raumkreuzer dabei spielten.« Der Mann im Zeugenstand deutete auf den Tisch. »Herr Vorsitzender, Sie haben von mir bereits einen schriftlichen Bericht erhalten. Ich glaube nicht…« »Entschuldigen Sie, Captain«, unterbrach ihn der Vorsitzende. »Dieser Ausschuß setzt sich weder aus Wissenschaftlern noch aus Astronauten zusammen. Deshalb überlassen wir die Analyse Ihres Berichtes den Experten. Von Ihnen möchten wir jetzt etwas anderes hören: eine zusammengefaßte Schilderung der Ereignisse in
allgemeinverständlicher Sprache. Kein technisches Kauderwelsch, wenn’s möglich ist.« Speckmanns strenges Gesicht hellte sich kurz auf. »Verstanden«, sagte er, dachte eine Weile nach und fuhr dann fort: »Wir hatten den Rückflug zur Erde angetreten, als unsere Instrumente das – ich will es mal Ding nennen – zum erstenmal registrierten. Das war im Bereich des Schwerefeldes des Mars. Den Instrumenten zufolge mußte es sich bei diesem Ding um einen Planetoiden von der Größe eines mittleren Berges handeln, der in einer Entfernung von ungefähr viertausend Kilometern Parallelkurs mit unserem Raumkreuzer hielt. Das machte mich stutzig. Ein Planetoid solcher Größe hätte längst auf der Karte registriert sein müssen. Auch die automatische Zielaufnahme hätte das Ding längst erfaßt und auf dem Kontrollschirm abgebildet haben müssen. Doch selbst bei stärkster Vergrößerung blieb das Objekt unsichtbar. Deshalb befahl ich meinem Navigator, einen Kollisionskurs zu programmieren. Ich hoffte, daß eine Annäherung an dieses geheimnisvolle Objekt diesen Widerspruch aufklären würde. Doch ehe ich den Kurs des Planetoiden kreuzen konnte, hatte er meine Absicht durchschaut und ebenfalls den Kurs geändert. Dieses Verhalten ließ nur einen Schluß zu: Es mußte sich um eine Navigationshilfe handeln, ein auf der Erde hergestelltes elektronisches Feuerschiff. Diese Leuchtfeuer verhalten sich ja ähnlich, wenn man auf Kollisionskurs geht. Und das starke Radarecho, das wir von dem Ding erhielten, erklärte ich mir als eine technische Neuerung, die die Peilung und Ortung im Raumverkehr erheblich erleichtern sollte. Doch als ich auf Sichtweite an dieses angebliche Feuerschiff herankam, erlebte ich die zweite große Überraschung: Das war keine zylindrische Leuchtboje von sechs Meter Länge, sondern eine kleine Kugel, nicht größer als ein Medizinball. Und dieses merkwürdige Ding ließ mich bis auf achtzehnhundert Meter herankommen,
ehe es wieder den Kurs änderte. Was ich auch unternahm, die Kugel hielt immer den gleichen Abstand. Während wir so im Zickzack durch den Raum flogen, funkten wir das Ding auf sämtlichen Frequenzen an, die uns zur Verfügung standen. Doch alle Impulse brachten immer das gleiche Ergebnis: unsere Computer beharrten darauf, daß dieses Ding einen Durchmesser von mindestens sechshundert Metern haben mußte. Optisch sahen wir dagegen nichts anderes als einen verdammten Medizinball.« »Und was führte Ihrer Meinung nach zu diesen sonderbaren Meßergebnissen, Captain? Konnte das Ding vielleicht einen Energieschirm aufgebaut haben?« Speckmann zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Für das Auge war es ein Ball, doch alle anderen elektronischen Aufzeichner hielten es für einen Berg. Ich beschloß deshalb, auszusteigen und das Ding persönlich zu untersuchen.« Jetzt huschte auch ein Lächeln über das Gesicht des Vorsitzenden: »Da fing der Spaß erst richtig an, wie ich Ihrem Bericht entnommen habe, nicht wahr?« »Spaß?« Der Zeuge lächelte. »Alptraum ist das richtige Wort. Das Ding ließ mich auf einer EVA-Arbeitsbühne fast bis auf Tuchfühlung herankommen. Dann – schwupp – verschwand es wie eine platzende Seifenblase. Und während ich ins Leere starrte, erhielt ich einen dringenden Aufruf von Bord. Im gleichen Augenblick, als das Ding vor meinen Augen verschwand, tauchte es zweihundert Kilometer entfernt wieder auf.« »Was tat es dann? Versuchte es sich wieder zu nähern?« »Nein, Sir. Es hing dort im Raum, als wollte es uns die Initiative überlassen. Die ergriffen wir dann auch, und es gelang mir, den Raumkreuzer bis auf hundertzwanzig Meter Entfernung an das Ding heranzumanövrieren. Herr Vorsitzender, Sie können sich nicht vorstellen, wie unsere
Computer im Kontrollraum verrückt spielten! Die armen Roboter glaubten, wir würden an einem Planetoiden zerschellen…« Der Captain kniff die Augen zusammen und grinste. »Ich weiß nicht, ob unser Navigationscomputer einen Nervenzusammenbruch bekam, als wir nach seinen Berechnungen schließlich in ein paar hundert Meter Tiefe im Inneren des Planetoiden zum Stehen kamen.« »Sie wollten das Ding entern?« »Das wäre zuviel gesagt, Herr Vorsitzender. Ich wollte nur herausfinden, was das für eine Kugel war. Ich stieg wieder auf die Arbeitsbühne um und näherte mich dem Ding bis auf Armeslänge. Es benahm sich wie bei meinem ersten Versuch. Ich langte hin – schwupp – da war es weg. Meldung vom Schiff: Neue Ortung, zweihundert Kilometer entfernt. Ich kehrte also wieder zum Kreuzer zurück, und die ganze Geschichte begann von vorne.« »Sind Sie da nicht ein bißchen fahrlässig mit Ihrem Treibstoff umgegangen, Captain?« mischte sich jetzt ein Mitglied des Untersuchungsausschusses ein. »Neugierde ist kaum eine hinreichende Begründung für Ausflüge in den Weltraum, die Treibstoff verschwenden.« Speckmann reagierte gereizt: »Irrtum! Mein Verhalten hatte nichts mit Neugierde zu tun.« Der Captain sah den Mann, der ihn zurechtgewiesen hatte, zornig an. »Es gehört zu meinen Pflichten, jeden Gegenstand zu untersuchen, der den Raumverkehr oder die Navigation stören kann. Außerdem ist der Fusions-Ionen-Antrieb des Raumkreuzers Goddart wesentlich leistungsstärker als vergleichbare Modelle anderer Raumschiffe. Ich gehöre nicht zu den Kommandanten, die ihrem Schiff und ihrer Besatzung ein unnötiges Risiko zumuten, Sir!« Der Vorsitzende hüstelte. »Wir nehmen das wohlwollend zur Kenntnis, Captain. Setzen Sie Ihren Bericht fort.« Speckmann holte tief Luft. »Für meinen nächsten Schritt
wählte ich ein anderes Verfahren. Ich hatte es satt, auf der Arbeitsbühne durch das Vakuum zu gondeln und nichts zu erreichen. Ich beschloß daher, an Bord meines Kreuzers zu bleiben und mich mit meinem Kreuzer so nahe wie möglich an die Kugel heranzuarbeiten. Ich hatte keinen Anlaß zu erwarten, daß sich das geheimnisvolle Ding anders benehmen würde wie bisher.« Speckmann grinste. »Aber das Ding hielt eine neue Überraschung für uns bereit. Es wurde normal. Es hörte auf zu reagieren.« Der Vorsitzende lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Es hörte auf zu reagieren? Wie soll ich das verstehen?« »Verstanden habe ich es auch nicht. Ich kann nur berichten, was passiert ist. Wir kamen also mit unserem Schiff bis auf vierhundert Meter an das Ding heran, als plötzlich unsere Computer aufhörten, verrückt zu spielen. Entweder gab es einen Kurzschluß oder die Instrumente fielen aus – auf jeden Fall registrierten wir plötzlich Meßwerte, die genau dem optischen Eindruck von dieser komischen Kugel entsprachen. Elektronik und Augenschein deckten sich auf einmal wieder. Wir hatten keinen Planetoiden mehr vor der Nase, sondern nur einen Medizinball. Ich handelte dementsprechend. Es gelang mir, mit dem Raumschiff so dicht an das Ding heranzukommen, daß wir es mit einem Schleppnetz an Bord ziehen konnten. Wir zurrten es dann im Laderaum fest.« »War das alles? Keine Tricks mehr? Kein Hokuspokus?« »Nein. Die Kugel verhielt sich genauso wie der Tisch vor Ihnen, Herr Vorsitzender. Leblose, feste, tote Materie.« »Aber Sie hatten doch noch eine dreimonatige Reise vor sich, ehe Sie die Erde erreichten«, meldete sich jetzt ein anderes Mitglied des Ausschusses zu Wort. »Als wissenschaftlich ausgebildeter Astronaut müssen Sie ja in dieser Zeit geradezu Folterqualen ausgestanden haben! Hat es Sie denn gar nicht gereizt, ein bißchen mit dem Ding herumzuexperimentieren?«
Speckmann nickte. »Das stimmt. Die Versuchung war groß. Aber meine Bodenstation gab mir strikte Anweisung, das Ding in Ruhe zu lassen.« Der Vorsitzende nickte Speckmann zu. »Wir danken Ihnen, Captain. Sie können Ihren Platz im Zuhörerraum wieder einnehmen. Ich bitte den nächsten Zeugen in den Zeugenstand!« Zu einer Zeit, als Abraham mit seiner Familie aus Ur aufbrach, begab es sich, daß die Vertreter dreier weltraumumspannenden Zivilisationen sich auf einem kleinen atmosphärelosen Planeten am Rand der Milchstraße trafen. Als Abgesandte hochentwickelter Völker, die seit vielen Generationen eine expansive Raumpolitik betrieben, wußten sie von den Gefahren einer Kollision widerstreitender Interessen. Ein ungezügelter Wettbewerb konnte im Weltall nur zu kriegerischen Verwicklungen führen. Deshalb beschlossen sie, eine gemeinsame Behörde zu gründen, die von jetzt an alle Forschungsexpeditionen und Kolonisationsprojekte dieser drei Zivilisationen aufeinander abstimmen und überwachen sollte. Damit wurde der Grundstein zur galaktischen Föderation gelegt. Am Anfang war das nur eine bescheidene Institution, eine kleine Behörde mit beschränkten Befugnissen. Doch inzwischen war daraus ein Zusammenschluß von mehreren tausend Sonnensystemen geworden, dem mehrere hundert Kulturen angehörten. Und der Bestand dieser Föderation gründete sich nicht auf ein umfangreiches Gesetzeswerk oder eine seitenlange Verfassung, sondern auf drei Grundsätze. Eines der Gründungsmitglieder, ein dreibeiniges Wesen von dem Planeten Combhra V, definierte das so: »Diese drei Prinzipien sind einfach und klar, aber so unveräußerlich und notwendig für den Bestand unserer Föderation wie die Atome für die Struktur der Masse. Sie sind der Felsen, auf dem das
galaktische Gesetz ruht.« Später gingen diese drei Grundsätze als »die drei Interdependenzen« in die galaktische Geschichte ein. Sie lauteten: Gegenseitige Zusammenarbeit und Unterstützung der Mitglieder. Wechselseitiger Verzicht auf Einmischung in die Angelegenheit sich entwickelnder Kulturen. Gegenseitiger Beistand im Falle einer Aggression. Der erste Grundsatz war eine Selbstverständlichkeit, der dritte brauchte nur sehr selten angewendet zu werden. Es ist nicht verwunderlich, daß sich gerade die zweite Interdependenz als problematisch erwies. Besonders für Zivilisationen, die noch mit jugendlichem Elan an ihre Expansion herangingen, war es verlockend, diesen Grundsatz auf ihre Weise auszulegen. Schließlich hatte nicht nur die Erde ihren Machiavelli. Jede Zivilisation mußte sich über kurz oder lang mit dem Problem auseinandersetzen, ob der Zweck die Mittel heiligt. Dennoch wurde die galaktische Föderation immer größer und mächtiger und wuchs über die Spiralarme der Milchstraße hinaus. Selbst die einsamen Sonnensysteme im Großen Graben zählten zu den Mitgliedern. So konnte es nicht ausbleiben, daß auch das Parkinsonsche Gesetz in dieser Föderation eine Rolle spielte und sich die Bürokratie zu einem Wasserkopf auswuchs. Das Zentrum der galaktischen Föderation wurde sozusagen ein administrativer Tausendfüßler, dessen eines Bein nicht mehr wußte, was das andere tat. Schwerfällig, in Traditionen erstarrt, sich im Leerlaufen mit sich selbst beschäftigend, wurde es zu einer musealen Hierarchie, das seine Prinzipien nur noch als Weihehandlungen betrachtete. Deshalb konnte es auch nicht ausbleiben, daß gewisse Kulturen am Rande der Föderation die Schwerfälligkeit des Apparates mißbrauchten. Sie genossen die Privilegien, die ihnen als Mitglieder der Föderation zustanden, verfolgten aber gleichzeitig ihre kolonialistische Expansionspolitik, die sie nur oberflächlich mit legalen Vorwänden bemäntelten.
Doch jeder Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht. Auf Aktion folgte Reaktion. Ein kleines Sonnenreich am Rande der Föderation war daran schuld, daß der galaktische Zusammenschluß bis in seine Grundfesten erschüttert wurde und sich endlich zum Handeln aufraffte. Denn dieses Sonnenreich meldete plötzlich eine erstaunliche Häufung von Zwischenfällen, in denen es angeblich unprovoziert angegriffen wurde… »Dr. van Buran, Sie haben die Meßdaten der Goddart IV ausgewertet und den künstlichen Himmelskörper untersucht, stimmt das?« »Jawohl.« »Haben Sie daraus bestimmte Schlüsse ziehen können?« »Durchaus.« Der Wissenschaftler starrte die Mitglieder des Ausschusses mit steinernem Gesicht an. Der Vorsitzende hüstelte. »Können Sie uns diese Rückschlüsse näher erläutern, Doktor?« »Selbstverständlich. Erstens hat der künstliche Himmelskörper die Entfernung von zweihundert Kilometern im Raum nicht in Nullzeit zurückgelegt, wie Captain Speckmann vorhin anzudeuten schien. Der Zeitintervall, der zwischen dem Verschwinden des Körpers und seinem Wiederauftauchen an einer anderen Stelle lag, ist durchaus meßbar.« »Aber – äh – das ging doch ziemlich schnell, nicht wahr?« »Außerordentlich schnell. Vielleicht sollte ich mich für Laien etwas verständlicher ausdrücken. An Bord der Goddart IV gibt es Meßsonden, die außerordentlich empfindlich auf Zeitintervalle reagieren. Wie Sie wissen, pflanzt sich das Licht mit einer Geschwindigkeit von dreihunderttausend Kilometer je Sekunde fort. Die Meßsonden stellten fest, daß der künstliche Himmelskörper sich bei seinen merkwürdigen
Ausweichmanövern mit einer Geschwindigkeit durch den Raum bewegte, die ungefähr das sechsfache der Lichtgeschwindigkeit betrug.« Der Vorsitzende schwieg. Ein Mitglied des Untersuchungsausschusses konnte sich nicht so gut beherrschen. »Unmöglich!« rief er. »Genau das habe ich auch gesagt, als mir die Meßergebnisse vorlagen«, sagte der Wissenschaftler. »Doch was ich auch anstellte, die Meßergebnisse blieben immer die gleichen. Sechsfache Lichtgeschwindigkeit. Glauben Sie mir, ein Wissenschaftler, der jahrelang mit einer Theorie arbeitet, auf die sich unser gültiges Weltbild stützt, hat es viel schwerer als ein Laie, sich den Tatsachen zu beugen. Ich muß gestehen, die Theorie der absoluten Lichtgeschwindigkeit ist ein Irrtum.« »Das heißt also, die Lichtgeschwindigkeit ist nicht die absolute Geschwindigkeit, sondern nur eine von vielen möglichen?« »Genau.« Van Buran stieß einen Seufzer aus. Er wirkte müde. »Genau«, wiederholte er schwach. »Ein Irrtum ist ausgeschlossen, Doktor?« »Ganz ausgeschlossen«, bestätigte der Wissenschaftler. »Ich habe die Instrumente an Bord des Raumkreuzers mehrmals überprüfen lassen. Drei Kollegen haben meine Ergebnisse nachgeprüft und bestätigt.« »Ich verstehe«, murmelte der Vorsitzende und legte eine nachdenkliche Pause ein. »Kommen wir jetzt zu dem künstlichen Himmelskörper. Was haben Sie dazu zu sagen, Doktor?« »Erst einmal etwas Grundsätzliches: er wurde nicht auf der Erde gebaut. Ich habe für diesen Untersuchungsausschuß ein Modell des fraglichen Himmelskörpers anfertigen lassen. Leider habe ich Ihnen nicht das Original mitbringen können, da es zerlegt wurde und im Augenblick wissenschaftlich untersucht wird. Wie Sie sehen, gleicht dieses Ding tatsächlich
einem Medizinball von fast fünfzig Zentimeter Durchmesser. Das Modell hier ist natürlich stark vereinfacht, enthält jedoch alle wesentlichen Einzelheiten. Das Gehäuse der Kugel besteht aus einer Stahllegierung von bemerkenswerter Stärke…« »Ist die Zusammensetzung der Legierung bereits analysiert worden?« »Noch nicht. Das wird geschehen, wenn ich mit der Untersuchung fertig bin und ihn an die Metallurgen weitergebe.« Der Vorsitzende nickte. »Bitte, fahren Sie mit Ihrem Bericht fort.« »Dieses Artefakt besitzt einen Riegel oder einen Verschluß, den wir ohne Schwierigkeiten nachbauen konnten: Bemerken Sie die kleine Einbuchtung neben Ihrem rechten Daumen, Herr Vorsitzender? Ja, das ist sie. Legen Sie jetzt Ihren Daumen an diese Stelle und drücken Sie fest zu.« Van Buran wartete, bis der Vorsitzende seiner Aufforderung nachgekommen war. Die Kugel klappte auseinander. »Wie Sie sehen, ist der Himmelskörper aus zwei Halbkugeln zusammengesetzt. Die Holzstückchen, die innen an die Kugelschalen geklebt sind, stellen maßstabs- und formgerecht die Einrichtung oder das Inventar dieses künstlichen Raumkörpers dar. Der Zylinder dort ist die Energiequelle. Eigenartigerweise scheint es sich dabei um ein Prinzip zu handeln, das uns seit Jahren vertraut ist – einen IonenUmwandler. Der Würfel daneben scheint das Gerät zu sein, das die Computer und Ortungsgeräte an Bord des Raumkreuzers Goddart durcheinanderbrachte. Wir werden später noch darauf zu sprechen kommen. Das klobige, hförmige Ding daneben ist meiner Ansicht nach das Antriebsaggregat. Ich kann Ihnen versichern, meine Herren, daß wir dieses Aggregat sehr genau unter die Lupe nehmen werden. Dann folgen eine Reihe von kleineren Instrumenten, die wir im Modell weggelassen haben. Es handelt sich um
Halbleiter und Schaltanordnungen, die offenbar zum Erzeugen, Aussenden und Richten elektromagnetischer Wellen dienen. Der Rest besteht aus Gegenständen, deren Zweck uns noch unklar ist. Ich zweifle nicht daran, daß wir uns auch bald von diesen Geräten ein genaues Bild machen können. Das ist nur eine Frage der Zeit.« »Sie sind sehr optimistisch, Doktor«, bemerkte der Vorsitzende lächelnd. »Ich habe auch alle Ursache dazu. Nehmen wir zum Beispiel diesen Würfel da, mit dem das Artefakt eine Art von schützendem Energiefeld aufbaute. Die Funktion dieses Gerätes ist mir durchaus nicht so fremd, wie Sie annehmen. Denn ich gehöre seit einiger Zeit einem Forschungsteam an, das ein ähnliches Gerät entwickeln soll. Wir wollen damit die Raumschiffe vor den schädlichen Strahlen der Sonnenstürme schützen. Das geschieht dadurch, daß das Raumschiff mit einem unsichtbaren Energieschirm umgeben wird, von dem die Strahlungspartikel abprallen. Genau dasselbe ist passiert, als die Goddart ihre Radarimpulse auf diesen künstlichen Raumkörper gerichtet hat. Deshalb schlugen die Computer Alarm und meldeten einen Planetoiden von mehreren hundert Meter Durchmesser. Doch kehren wir jetzt zu diesem Gerät zurück. Aufgrund unserer Entwicklungsarbeiten an einem ähnlichen Apparat können wir die Bedeutung der Einzelteile durch Analogieschlüsse ermitteln. Wenn uns das gelungen ist, wenden wir unsere Aufmerksamkeit den anderen Geräten zu, die für uns technisches Neuland darstellen. Da sie aber mit den anderen Geräten funktionell zusammenhängen, schließen wir von Bekanntem auf Unbekanntes und so weiter…« »Sehr interessant. Trotzdem bleibe ich bei meiner Behauptung von vorhin: Ich glaube, Ihre Prognose ist zu optimistisch, Doktor.«
Van Buran lächelte vieldeutig. Er schwieg eine Weile und wartete dann mit einer Bemerkung auf, die wie eine Bombe einschlug. »Ja«, sagte van Buran, »fast hätte ich es vergessen. Wir haben das Schaltdiagramm.« »Das… was?« rief der Vorsitzende und starrte den Wissenschaftler fassungslos an. Die übrigen Mitglieder des Ausschusses steckten die Köpfe zusammen und flüsterten aufgeregt. Der Vorsitzende griff nach der Glocke. Endlich kehrte wieder Ruhe ein. Van Buran lächelte noch immer. »Das Schaltdiagramm ist auf der Innenseite der Kugelschalen eingeätzt. Es handelt sich dabei um Zeichensymbole und Linien, die die Schaltkreise genau wiedergeben. Schriftzeichen oder Zahlensymbole wurden nicht verwendet. Das ist sehr bemerkenswert und läßt nur eine Erklärung zu. Wer auch immer für diese Skizzen verantwortlich ist, wußte genau, was er tat. Er wollte damit einem anderen intelligenten Wesen Hinweise geben, das mit seiner Sprache oder mathematischen Symbolen nicht vertraut ist. Und diese Hinweise sind so klar verständlich, daß wir sie ohne Zweifel entschlüsseln können. Wenn Sie mir einen Vergleich gestatten: man hat uns sozusagen die Konstruktionspläne eines fremden Raumschiffantriebs zugespielt.« »Gütiger Himmel«, murmelte einer der Herren. »Könnte…« Der Vorsitzende unterdrückte, was er hatte sagen wollen. »Soll das heißen, daß wir aufgrund der Schaltskizzen dieses geheimnisvollen Himmelskörpers Raumschiffe bauen können, die schneller fliegen können als das Licht?« »Ohne Zweifel. Ich möchte sogar behaupten, daß man uns ausschließlich zu diesem Zweck den Himmelskörper zugespielt hat.« Van Burans dünne Lippen kräuselten sich zu
einem Lächeln. »Oder kommen die Herren zu einem anderen Ergebnis?« Der Vorsitzende fuhr mit der Hand nervös durch sein Haar. »Ich glaube, daß wir damit nur dem Ergebnis der Untersuchung vorgreifen würden«, sagte er abweisend. »Ich danke Ihnen, Doktor van Buran. Sie können wieder in den Zuhörerraum gehen. Ist… äh…Mr. Evert Galen hier? Ich möchte ihn gern als nächsten Zeugen vernehmen…« In dem wenig erforschten Gebiet der Planetoiden zwischen Mars- und Jupiterbahn drehte sich ein hausgroßes Stück Materie langsam um seine Achse. Dieser Himmelskörper unterschied sich kaum von den Planetoiden in seiner Umgebung. Doch unter seiner Kruste verbarg sich ein Labyrinth von Korridoren und Kabinen, alle hell erleuchtet und geometrisch angelegt. Die Felskruste diente nur zur Tarnung. Der Kapitän des rulganischen Raumschiffes – ein vierschrötiger grauhäutiger menschenähnlicher Zweibeiner mit Namen Etran Kun, hörte aufmerksam zu, als sein erster Offizier Bericht erstattete. »Unser Plan läuft ab wie vorgesehen«, sagte der erste Offizier. »Die Kugel befindet sich im Augenblick an einem Ort am Ostrand des Kontinents. Man hat sie geöffnet und zum Teil auch schon zerlegt.« Der Kapitän nickte und lächelte zufrieden. »Gut, sehr gut. Ich hoffe nur, daß die Neugierde dieser Planetenbewohner nicht zu weit geht. Die Registriergeräte und Sender dürfen sie allerdings nicht finden.« Der erste Offizier schüttelte den Kopf: »Kein Grund zur Besorgnis, Sir. Wie Sie wissen, haben wir die Registriergeräte in der Kugelschale versteckt. Auch eine Entdeckung mit Röntgenstrahlen ist so gut wie ausgeschlossen, weil wir sie
hinter der eingeätzten Schaltskizze angeordnet haben. Wir können außerordentlich zufrieden sein, Captain. Alles läuft wie geplant.« »Mag sein. Doch man soll den Tag nie vor dem Abend loben. Noch sind eine Reihe von Voraussetzungen nicht erfüllt.« Kun hielt seinem ersten Offizier die rechte Hand mit den acht Fingern vors Gesicht und begann zu zählen. »Erstens: die Kugel muß den richtigen Leuten in die Hände fallen. Wir hoffen, daß das bereits geschehen ist. Doch eine Bestätigung dafür haben wir noch nicht. Zweitens: Wir müssen uns darauf verlassen können, daß die Wissenschaftler dieses Planeten alle Geräte und Funktionen unseres Modells richtig entschlüsseln. Wir wissen, daß die Wesen auf dem Planeten einen hohen Intelligenzgrad besitzen. Doch ob sie das Ding nachbauen können, bleibt dahingestellt. Drittens: Die Bewohner des Planeten müssen nach unserem Modell ihr eigenes Raumschiff bauen und testen. Dabei besteht die Gefahr, daß sie schon beim ersten Versuch ihren eigenen Planeten in die Luft sprengen. Viertens: Sobald sie ihr erstes Raumschiff nach unserem Modell gebaut haben, muß es in unser Hoheitsgebiet eindringen. Fünftens: Das ganze Unternehmen muß bis zum sechzehnten, dreiundachtzig Standardzeit abgewickelt sein.« Hier blickte Rak seinen Vorgesetzten überrascht an: »Seit wann besteht denn diese Anordnung? Ich dachte, wir haben unbegrenzte Zeit zur Verfügung!« Kun knurrte etwas Unverständliches, drehte sich um und nahm eine Meldespule vom Magnethalter. Er warf sie seinem ersten Offizier zu: »Da haben Sie die Antwort!« Rak fing die Spule geschickt auf, legte sie ans Ohr und hörte eine Weile schweigend zu. Doch plötzlich bekam seine graue Haut rote Flecken vor Ärger.
»Verdammt, was soll denn das…?« rief er. »Die Raumpest sollen die Kerle kriegen!« Der Kapitän zuckte mit den breiten Schultern und sagte mürrisch: »Machen wir uns doch nichts vor, Rak. Damit mußten wir rechnen. Das wissen Sie so gut wie ich. Wir müssen unsere Pläne eben danach richten. Die Spicaner haben die Verfassungsänderung ratifiziert, und jetzt wird sie nach einer Übergangsfrist von vier Standardjahren zum allgemein verbindlichen Gesetz in der Föderation. Diese Frist sitzt uns von jetzt ab wie eine Faust im Nacken. Vier Jahre. In dieser Zeit müssen wir es schaffen!« Rak hatte sich schon wieder gefaßt. Er nickte und sagte: »Wir werden es schaffen, verlassen Sie sich darauf, Captain. Wir wissen bereits, daß unser Modell die archaische Konzeption der Relativitätstheorie verdrängt hat. Die Wissenschaftler auf Terra sind tief beeindruckt. Sie müssen sich mit diesem Problem befassen. Was Ihren zweiten Einwand anlangt: an der hohen Intelligenz dieser Wesen besteht überhaupt kein Zweifel. Soweit ich weiß, gibt es keine Zivilisation im Weltall, die innerhalb von zweihundert Jahren von einer Ackerbaukultur bis zur Technik Raumfahrt vorgedrungen ist. Das haben nur die Menschen auf Terra bisher geschafft. Ich traue ihnen deshalb auch keine Schlamperei zu. Leute mit solchen Fähigkeiten können durchaus berechnen, welche gewaltigen Energien frei werden, wenn der Super-C-Antrieb einen Konstruktionsfehler hat. Ehrlich gesagt: ich müßte mich sehr täuschen, wenn die Burschen den ersten Prototyp nicht ganz woanders ausprobieren – auf ihrem Mond oder einem anderen Planeten. Was aber das Ziel ihrer ersten Reise betrifft…« Rak breitete die Arme aus. »Die Burschen auf Terra sind fanatische Anhänger der Vernunft. Und was ist vernünftiger, als sich das Sonnensystem als Ziel auszusuchen, das der eigenen Sonne am nächsten liegt?«
»Ich mißtraue der Vernunft«, sagte der Kapitän. Rak hatte offensichtlich den Einwand seines Vorgesetzten überhört. Sein Mund spaltete sich zu einem breiten Grinsen. »Nebenbei bemerkt, Captain. Ich habe gehört, daß unsere Leute im Centaurus-Gebiet bereits einen kleinen Zwischenfall für unsere Freunde von Terra vorbereitet haben.« »Und wie soll das aussehen?« fragte Etran Kun. »Das Übliche, glaube ich. Ein Raumschiff explodiert oder ein paar stillgelegte Rüstungswerke werden atomisiert. Auf jeden Fall wird es hinreichen, daß wir uns vor der Zentralbehörde rechtfertigen können. Sie wissen ja, wie der Ausdruck heißt: angemessene Schutzmaßnahme.« »›Um auch andere Mitglieder der galaktischen Föderation vor Übergriffen durch Raumpiraten zu schützen‹«, zitierte der Kapitän. »Sechsmal haben wir schon diese blödsinnige Meldung an die oberste Behörde der galaktischen Föderation geschickt, sechsmal haben die Behörden beide Augen zugedrückt, während wir unser Reich um sechs weitere Planeten vergrößern konnten!« »Wenn sie das Märchen bereits sechsmal geschluckt haben…« »… werden sie das auch beim siebten Mal tun! Dafür werde ich schon sorgen!« Kun lief jetzt wie ein hungriger Tiger im Kontrollraum auf und ab und ballte die Hände zu Fäusten. »Aber was passiert, wenn wir Terra ausgebeutet haben? Was geschieht, wenn wir einen neuen Planeten brauchen – Welt Nummer acht?« »Ich bin davon überzeugt, unsere Regierung ist sich dieses Problems bewußt und hat bereits eine Lösung vorbereitet«, murmelte Rak. »Quatsch!« fauchte der Kapitän. »Sobald die Verfassungsänderung Gesetz ist, schickt man uns eine ganze Armee von Beobachtern auf den Hals. Klar, sie werden nur
bestätigen, was diese Hohlköpfe in der obersten galaktischen Behörde schon längst wissen… Aber Gesetz ist Gesetz! Dann mobilisieren sie ihre Polizeitruppe gegen uns! Und die Schlachtkreuzer der galaktischen Föderation machen uns genau so rasch und gründlich fertig, wie wir seinerzeit den Zwergstaat auf Traesna II liquidiert haben!« Kapitän Etran Kun stapfte zu der großen Sternenkarte hinüber, die eine ganze Wand im Kontrollzentrum des Raumschiffes einnahm. Das größte Gebiet auf der Karte war rot schraffiert – ein Zeichen dafür, daß die Sternensysteme zur Föderation gehörten. Das rulganische Reich war mit Gelb eingezeichnet. Die Sonne Sol, deren Planet Terra ihr augenblickliches Operationsziel bildete, war auf der Karte von einem grünen Ring pulsierenden Lichtes umgeben. Dahinter und bis zum Rand der Milchstraße gab es noch Tausende von Sternen, deren Gebiet auf der Karte grau eingezeichnet war. Das war noch unerforschter Raum, Beuteobjekte, die nach Ansicht der Rulganer nur darauf warteten, geschluckt zu werden. »Möchte nur wissen, wie wir das erobern wollen«, brummte Kun und wischte mit seinen Fingern über das graue Gebiet bis zum Rand der Milchstraße… »Mr. Galen, Sie sind Direktor der Weltsicherheitsbehörde?« »Das ist richtig.« »Seit wann ist Ihre Behörde für diese uns hier beschäftigende Sache zuständig?« »Seit Anfang an. Das Raumfahrtzentrum hat mein Büro sofort benachrichtigt, als die Goddart IV dieser komischen Kugel begegnete. Inzwischen ist die Verbindung zwischen der Weltsicherheitsbehörde und meinen Kollegen vom Raumfahrtzentrum nicht mehr abgerissen.« »Meiner Ansicht nach ist diese Kugel aus dem Weltall doch eher ein Studienobjekt für Wissenschaftler als für einen
Sicherheitsbeamten. Woran arbeitet also Ihre Organisation?« In Galens Gesicht zuckte es. Er lächelte und schob seinen Unterkiefer vor. »Ich verstehe Ihre Frage nicht ganz, Herr Vorsitzender. Jemand hat uns aus irgendeinem Grund dieses Ding zugespielt…« »Zugespielt?« »Was geschah, war kein Zufall. Im Gegenteil. Es war eine klug eingefädelte Operation, ein Schauspiel, eine Demonstration – wie Sie wollen, Herr Vorsitzender. Warum ließ sich dieses Artefakt so leicht auseinandernehmen? Weil es zu diesem Zweck gebaut war! Und dann schickten uns die Hersteller auch gleich die Gebrauchsanweisung mit. Die Absicht ist eindeutig: Sie wollen uns dazu bringen, die Grenzen unseres Planetensystems zu überschreiten.« »Aha!« »Die Frage ist nur: weshalb wollen die Unbekannten das?« Galens dunkle Augen blitzten, als er sich im Zeugenstand vorbeugte: »Ich glaube, ich kann Ihnen auf diese Frage eine Antwort geben. Allerdings möchte ich sie vorläufig noch geheimhalten. Ich will hier nur einen Wunsch äußern: Ehe van Buran und seine Kollegen das Ding noch weiter auseinandernehmen, verlange ich, daß es meiner Behörde übergeben wird.« »Sie verlangen also die Herausgabe dieses Objekts«, sagte der Vorsitzende mit unterkühlter Liebenswürdigkeit. »Eine bemerkenswerte Bitte, Mr. Galen. Zweifellos haben Sie auch eine stichhaltige Begründung für Ihre Forderung.« »Richtig«, erwiderte Galen gelassen. »Sobald sich dieses Artefakt in unseren Händen befindet, werde ich seine Vernichtung anordnen.« Einen Moment lang war es totenstill im Saal. Dann sprang jemand in der hintersten Reihe der Zuhörerbänke auf und rief erregt: »Einen Dreck werden Sie tun!«
Zum erstenmal hatte der sonst so beherrschte Dr. van Buran seine Fassung verloren… »Sie sind der Vorgesetzte von Mr. Galen?« Johann de Roos, stellvertretender Generalsekretär der Weltregierung, nickte. »Das ist richtig, wenn Sie es mit der Gliederung unserer Weltorganisation erklären. Doch in der Praxis sieht das etwas anders aus. Mein Büro sorgt eigentlich nur für die Stellenbesetzung dieser Abteilung und für die Bereitstellung von Geldern. Aber die eigentliche Verwaltung liegt in den Händen von Mr. Galen und seinen Leuten.« »Trotzdem hat Mr. Galen vor diesem Ausschuß erklärt, Sie seien der zuständige Mann, der uns die Gründe nennen kann, weshalb der künstliche Himmelskörper zerstört werden soll. Wenn Sie aber in Ihrer Eigenschaft als stellvertretender Generalsekretär der Weltregierung nur für die finanziellen Probleme der Sicherheitsbehörde zuständig sind, sehe ich nicht ein, weshalb man Sie als Zeuge genannt hat.« Der Vorsitzende stützte sein Kinn in die Hand und blickte den Zeugen fragend an. Der stellvertretende Generalsekretär lächelte. »Wahrscheinlich deswegen, weil ich Politiker bin und Mr. Galen Beamter. Wir haben uns nämlich beide darauf geeinigt, daß die Motive, die zu diesem Vorfall im Weltraum führten, politischer Art sein könnten.« Der Vorsitzende wölbte fragend die Augenbrauen: »Könnten, Mr. de Roos?« »Natürlich gibt es zahllose andere Möglichkeiten, von denen die meisten für die Menschheit keine Gefahr darstellen. Doch der harmlose Zweck dieses künstlichen Himmelskörpers läßt sich nicht beweisen. Folglich muß Mr. Galen das Schlimmste befürchten und unverzüglich handeln. Schließlich ist er verantwortlich für die Sicherheit des Planeten.«
»Weswegen er auch darauf besteht, diesen künstlichen Himmelskörper zu zerstören, nicht wahr?« »Richtig.« »Ich verstehe. Ich wäre Ihnen deshalb dankbar, Mr. de Roos, wenn Sie mir die politischen Motive näher erläutern würden.« »Hm. Das ist nicht einfach«, fuhr der stellvertretende Generalsekretär fort. Er zögerte und sagte dann: »Wählen wir ein Beispiel: Stellen Sie sich ein kleines Land vor, reich an Bodenschätzen, aber militärisch gesehen schwach. Stellen Sie sich weiter vor: dieses Land – nennen wir es A – ist von mächtigen Nachbarn umgeben. Wir unterstellen, daß A und seine Nachbarn sich vertraglich gegenseitig dazu verpflichtet haben, die politische Unabhängigkeit und die Grenzen des anderen zu garantieren, sobald eines der Länder bedroht wird und um Unterstützung bittet. Alle Staaten, die diesen Vertrag unterzeichnet haben, haben nun die ehrliche Absicht, sich an dieses Übereinkommen zu halten – mit einer Ausnahme. Den Staat B beherrscht zufällig eine Diktatur, die ihre gewaltige Militärmacht nur aufrechterhalten kann, wenn sie weitere Bodenschätze und finanzielle Mittel für ihren Staat erobern kann. Es liegt nun auf der Hand, daß die Regierung von B mit begehrlichen Augen auf die noch unangetasteten Bodenschätze seines kleinen Nachbarn schielt. Wie kann B aber jetzt diesen Reichtum an sich reißen, ohne daß A sich auf den Beistandspakt beruft und um Hilfe bittet?« Der Vorsitzende betrachtete den Zeugen nachdenklich. »Wenn Sie mich fragen: da gibt es ein erprobtes Mittel. Man muß es so hinstellen, als wäre A der Angreifer…« Der Sekretär lächelte. »Ich bin ganz Ihrer Meinung! Man schmuggelt ein paar moderne Waffen über die Grenze und verteilt sie an eine Volksgruppe, deren traditionelle Feinde gleich über der Grenze auf dem Gebiet des Landes B leben. Sie können sich vorstellen, was jetzt passiert. Ein paar hundert
Leute überschreiten die Grenze, töten in B ein paar Dorfbewohner und verschleppen Frauen und Kinder, nachdem sie die Häuser in Brand gesteckt haben. Die Regierung von B ist entrüstet, die nationale Ehre und Unabhängigkeit ist verletzt. Während die Armeen von B in A einrücken, sind die Diplomaten von B in den anderen Staaten emsig bei der Arbeit. Sie protestieren, zeigen Bilder und Berichte vor, wie schrecklich die Terroristen von A auf ihrem Gebiet gehaust hätten. Bis die Lage sich wieder klärt und der Nebel der Täuschung sich verzogen hat, ist die Eroberung von A bereits eine vollzogene Tatsache. Anerkennung der Realitäten verlangt man dann. Es ist zu spät, etwas dagegen zu unternehmen.« Der stellvertretende Generalsekretär lächelte bescheiden und fuhr dann fort: »Vielleicht hinkt dieser Vergleich ein bißchen, meine Herren. Das gebe ich zu. Aber wenn man diesen Vergleich maßstabsgerecht vergrößert und auf das Weltall anwendet, ist es durchaus denkbar, daß die Erde in die Rolle des Landes A gedrängt werden könnte.« Der Vorsitzende blickte den Zeugen verwirrt an. »Wollen Sie damit sagen: dieser künstliche Himmelskörper von der Größe eines Medizinballes spielt die Rolle der modernen Waffen in Ihrem Vergleich von vorhin?« »Natürlich.« »Aber das Ding ist doch gar keine Waffe. Und wir sind auch keine Volksgruppe, die seit vielen Jahren mit dem Nachbar in Streit lebt. Oder sind wir das vielleicht?« Der Zeuge blieb kühl und gelassen, als der Untersuchungsausschuß die Worte des Vorsitzenden mit Gelächter quittierte. Er lehnte sich zurück und sagte: »Herr Vorsitzender, so ein Zwischenfall, wie ich ihn in meinem Vergleich geschildert habe, läßt sich leicht herbeiführen. Oder sagen wir konstruieren. Der Staat B kann der Sache ein wenig
nachhelfen. Er läßt durch eigene Leute einige seiner Untertanen an der Grenze erschießen und unterstellt mittels gefälschter Beweise, daß die Ärmsten von Eindringlingen aus A hingeschlachtet worden seien. In diesem Fall wäre der künstliche Himmelskörper nur eine Aufforderung an uns, uns dorthin zu begeben, wo das Verbrechen stattfinden soll. Dann wird es nicht lange dauern – um wieder bei meinem Vergleich zu bleiben –, bis die Raumschiffe von B bei uns erscheinen.« »Aber, aber«, erwiderte ein Mitglied des Untersuchungsausschusses kopfschüttelnd. »Ich habe das Gefühl, Ihre Phantasie geht mit Ihnen durch! Herr Generalsekretär, machen Sie nicht aus der Mücke einen Elefanten?« »Keineswegs«, entgegnete der Zeuge ungerührt. »Denken Sie einmal genau nach, meine Herren! Ist diese geheimnisvolle Kugel das Geschenk einer uns freundlich gesinnten Macht? Kaum. Denn sonst würde der Spender nicht anonym bleiben. Es wäre doch viel einfacher, uns direkt anzusprechen. Weshalb diese Geheimniskrämerei? Ganz einfach: Auf diese Weise gibt es nämlich keinen Beweis dafür, daß wir unser neues Raumschiff mit fremder Hilfe gebaut haben. Und warum darf es keinen Beweis dafür geben? Damit es so aussieht, als hätten wir von Anfang an vorgehabt, unseren Nachbarn zu überfallen. Und da wir das Raumschiff aus eigener Kraft bauen konnten, stellen wir angeblich auch eine echte Gefahr dar.« »Vielleicht sehen diese unbekannten Spender für menschliche Augen so ungeheuerlich aus, daß sie sich uns nicht zeigen wollten«, erwiderte der Vorsitzende. »Das würde doch diese Geheimniskrämerei erklären oder etwa nicht?« »In diesem Fall bezweifle ich, ob wir das Ding überhaupt bekommen hätten!« erwiderte de Roos. »Feindseligkeit und Abneigung, weil andere Lebewesen und Intelligenzen nicht das gleiche Aussehen und die gleiche Hautfarbe haben wie wir, ist
eine so dumme Denkungsweise, daß ich sie der menschlichen Rasse gar nicht mehr zutraue. Solche Vorurteile lassen uns von Anfang nicht brauchbar erscheinen als Mitglieder einer kosmischen Gemeinschaft. Sind Sie da nicht der gleichen Meinung, Herr Vorsitzender?« »Nicht ganz, Herr Sekretär, denn Sie unterstellen diesem unbekannten Wesen die gleiche Denkungsart wie uns. Ihr Hauptargument beruht nämlich auf menschlicher Logik, die auf unserem Planeten entwickelt worden ist. Es ist durchaus möglich, daß Bewohner anderer Planeten auch eine ganz andere Logik kennen als wir.« De Roos lachte. »Entschuldigen Sie, Herr Vorsitzender, ich möchte Sie nicht beleidigen – doch Ihre Schlußfolgerungen sind nicht ganz logisch. Dr. van Buran kann Ihnen bestätigen, daß die Logik ein Ergebnis der Vernunft ist. Anders ausgedrückt: die Logik ist ein wirksames Verfahren, Tatsachen so zu verarbeiten, daß sich daraus die bestmöglichste Lösung ergibt. Die Wissenschaft ist logisch; die Naturgesetze sind logisch, und diese Gesetze gelten für das ganze Universum. Sie sind überall gleich. In meinem Vergleich habe ich nur dargestellt, wie man die Tatsachen logisch manipuliert, damit sie zu einem gewünschten Ergebnis führen – mit einem Minimum an Anstrengung und Aufwand. Und genau das ist es, was unsere unbekannten Gönner mit uns vorhaben. Ich glaube nämlich, daß diese Gönner ihr Geschenk so verpackt haben, wie wir es haben wollen. Ohne Zweifel haben sie uns gründlich studiert, unsere Funk- und Fernsehsendungen ausgewertet. Das beweist nur wieder meine Theorie. Wenn diese künstliche Kugel ein Köder sein soll, muß sie auch der Mentalität unserer Wissenschaftler und unserer Öffentlichkeit entsprechen. Das tut dieser Himmelskörper zweifellos. Darüber sind wir uns doch wohl einig, nicht wahr?«
»Hm.« Der Vorsitzende trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte. Dann blickte er auf und fragte mit einem Lächeln: »Schalten Sie eigentlich häufig Ihren Fernseher ein, Mr. de Roos?« »Manchmal, wenn ich Zeit habe. Weshalb fragen Sie?« »Weil unsere unbekannten Spender der Menschheit doch eine Menge zuzutrauen scheinen, wenn sie uns so eine Kugel schicken, obgleich sie den Schwachsinn mit ansehen müssen, der die meisten unserer Sendungen auszeichnet.« Ja, es wurde viel gelacht am ersten Sitzungstag. Viele Meinungen wurden vertreten, wenig vom Sachverhalt verstanden und noch weniger geklärt. Die Liste der Zeugen war lang, die Protokolle stapelten sich, bis der Vorsitzende die Sitzung vertagte… »Sie sind also davon überzeugt, daß die Rulganer wieder ein krummes Ding drehen wollen, nicht wahr?« sagte der Spicaner mit dem seidig glänzenden weißen Fell. Sein Gesprächspartner – ein Weganer, der äußerlich einem Menschen sehr ähnlich sah – breitete in einer hilflosen Geste seine Hände aus und sagte: »Überzeugt? Ich schon, aber genau weiß man es erst, wenn es wieder einmal zu spät ist. Wir wissen nur, was unsere Beobachter berichteten. Ein großes rulganisches Raumschiff befindet sich im Planetensystem der Sonne.« Der Spicaner sagte nachdenklich: »Ich glaube, daß Terra ein sehr nützliches Mitglied unserer Föderation werden könnte. Wenn Rulga aber dem natürlichen Entwicklungsprozeß auf der Erde vorgreift…« »Die wollen doch nur provozieren!« rief der Weganer entrüstet. »Sie kennen doch die Methoden dieser Halunken! Wenn diese Burschen wieder einen Fall konstruieren und Polizeibefugnisse in Anspruch nehmen, werden sie aus Terra
eine Sklavenkolonie machen. Falls das geschieht, wird mein Volk nicht mehr länger passiv bleiben. Es wird handeln!« »Tatsächlich?« Der Spicaner blickte seinen Freund mit zusammengekniffenen Augen an. »Was will Wega denn tun? Will sie sich aus der galaktischen Föderation zurückziehen?« »Natürlich nicht!« erwiderte der Weganer gereizt. »Doch die Bewohner von Terra sind uns so ähnlich, daß wir unsere Sympathien für diese Rasse nicht verhehlen können. Wir sind sozusagen gefühlsmäßig engagiert. Wir müssen und werden darauf drängen, daß dieser Planet vor Übergriffen geschützt wird!« Sein Tonfall änderte sich plötzlich. Er war nicht mehr drohend und gereizt, sondern liebenswürdig und verbindlich: »Rorra, ich rechne es Ihnen hoch an, daß Sie diese Übergriffe endlich unterbinden wollen. Und wenn Ihre Verfassungsänderung einmal Gesetz wird…« »Das ist erst der Fall, wenn die nächste Vollversammlung zusammentritt – in vier Standardjahren.« Die riesigen Augen des Spicaner färbten sich schwarz, als er nachdenklich fortfuhr: »Dieser Termin setzt die Rulganer ein bißchen unter Zeitdruck. Aber ich bezweifle, daß sie deswegen ihre Pläne aufgeben werden.« Der große bewegliche Mund verzog sich zu einem Lächeln. »Da ich auch die Psychologie der Weganer kenne, glaube ich nicht, daß Ihre Regierung sich nur mit Protesten begnügen wird.« »Da haben Sie allerdings recht. Wir haben schon seit einem Jahr einen Geheimagenten auf Terra.« »Dachte ich es mir doch«, sagte der Spicaner. »Natürlich ist das nicht ganz legal. Nur wundere ich mich darüber, daß Sie bereits vor einem Jahr gehandelt haben, während die Rulganer erst vor ein paar Wochen mit ihrem Raumschiff in Richtung Terra aufbrachen. Sind die Weganer Hellseher?« »Hellseher?« Ghenne Va-Skronne schüttelte energisch den Kopf. »Ich glaube, auf diesem Gebiet sind uns die Spicaner bei
weitem überlegen, Rorra. Außerdem sind die PsiInformationen auch nur zu neunzig Prozent zuverlässig. Nein, in unserem Fall haben wir uns ganz auf die altmodische Logik verlassen.« »Aha!« Der Spicaner drohte seinem Gesprächspartner gutmütig mit dem Finger. »Schließlich haben die besten PsiSpezialisten auf Ihrem Planeten die Logik als gleichberechtigte Schule anerkannt. Trotzdem wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie mir Ihre Logik ein bißchen erläutern wollten.« »Nichts leichter als das«, erwiderte der Weganer lächelnd. »Sie wissen ja selbst, daß die Wirtschaft auf Rulga im argen liegt. Obgleich das Reich nur über wenige Bodenschätze verfügt und ein sehr geringes Volkseinkommen hat, hat Rulga eine riesige Raumflotte aufgebaut, die mehr als die Hälfte ihres Sozialprodukts verschlingt. Den Rest bekommt die sogenannte Nobilität. Für die vielen halbverhungerten Millionen, die in ihrem Herrschaftsbereich wohnen, bleiben nur die Abfälle vom reichgedeckten Tisch der Adeligen, genau zehn Prozent des Sozialprodukts.« »Eine sehr ungesunde Situation«, stimmte Rorra zu. »Richtig. In der Bevölkerung gärt es. Der Herrscher weiß, daß er auf einem Pulverfaß sitzt. Das alte Lied. Wenn die Innenpolitik im argen liegt, muß man ein Ventil in der Außenpolitik suchen. Er muß etwas tun, um seine Untertanen bei der Stange zu halten. Der Herrscher kann seine Stellung nur retten, wenn er den Reichtum des Adelstandes garantiert und den Militärs Einfluß und neue Waffen bewilligt.« »Deshalb auch die ungezügelte Eroberungslust des Herrschers«, ergänzte der Spicaner. »Die übliche Tendenz jeder imperialistischen Regierungsform.« »Eine sehr beklagenswerte Tendenz für die Opfer. Leider hat Rulga mit seinen ersten Abenteuern im Weltraum Erfolg gehabt. Die Masse seiner Untertanen befindet sich in einem
ständigen Siegestaumel. Die patriotische Begeisterung wächst. Der Mob vergöttert den Herrscher und seine Adeligen. Ihre Stellung ist unerschüttert. Die Militärs sind mit den Expansionsplänen beschäftigt und kommen auf keine Umsturzgedanken. Natürlich stand diesen imperialistischen Gelüsten die zweite Interdependenz der galaktischen Föderation entgegen. Doch Sie und ich wissen genau, wie raffiniert der Herrscher mit diesem Problem fertiggeworden ist.« »Womit wir wieder bei Terra angelangt sind.« »Richtig. Denn Terra ist, um bei unserer altmodischen Logik zu bleiben, das nächste wahrscheinliche Opfer. Sechs Planeten hat die Herrschaft der Rulganer bereits ausgeblutet, doch ihre Wirtschaft verzeichnet bereits wieder einen Niedergang, nachdem sie die Früchte ihrer Eroberungen aufgezehrt haben…« Va-Skronnes Temperament ging mit ihm durch. Wütend schlug er mit der Faust auf den Tisch: »Können Sie sich vorstellen, daß diese Piraten sich eine solch günstige Gelegenheit entgehen lassen?« »Offen gestanden, nein«, erwiderte der Spicaner bedächtig. »Trotzdem kann ich Wega einen Tadel nicht ersparen, daß sie einen Geheimagenten auf Terra geschickt hat. Schließlich verstößt das gegen unsere Grundsätze. Es bedeutet Einmischung in die inneren Angelegenheiten einer sich entwickelnden Kultur.« Der Weganer schnaubte verächtlich. »Eine entschuldbare Übertretung im Angesicht eines Kapitalverbrechens!« »Mag sein. Aber ich zweifle sehr, daß der galaktische Gerichtshof diese Maßnahme billigen wird.« Va-Skronne starrte den Spicaner verblüfft an: »Rorra?« Der Spicaner überhörte den Appell, der in diesem Ausruf lag. Er betrachtete seinen Gesprächspartner nachdenklich und fuhr dann fort: »Mir will scheinen, Ihr Agent ist auf Terra fehl am Platze.
Eigentlich sind es doch die Antriebe der Rulganer, die uns im Augenblick Sorge bereiten. Doch andererseits weiß ich auch, daß ein Agent von Wega sich nicht als ein Bewohner von Rulga ausgeben kann. Die Rassenunterschiede sind zu groß.« Rorra lächelte. »Eine Zwischenfrage: haben Sie schon wieder mal etwas von Ihrem Agenten gehört?« Der Weganer schüttelte den Kopf. »Noch nicht. Schließlich hält sich ein rulganisches Raumschiff in der Nähe von Terra auf. Sobald unser Agent eine Nachricht sendet, wird sie natürlich von dem Raumschiff aufgefangen. Und dann werden die Rulganer schön dafür sorgen, daß keine Ultra-Wellen-Signale mehr von Terra in den Weltraum gelangen. Deshalb schweigt unser Mann lieber.« Va-Skronne zögerte kurz und fuhr dann fort: »Es sei denn, die Ereignisse zwingen ihn dazu, sein Schweigen zu brechen.« »Hm«, meinte Rorra. »Ihr Agent scheint wohl keine genauen Vorstellungen davon zu haben, was er auf Terra eigentlich tun soll.« Der Spicaner sah seinen Partner prüfen an: »Bis jetzt haben Sie mir nur verraten, was er nicht tun darf.« »Das kann nur er allein entscheiden!« erwiderte Va-Skronne ausweichend. »Er muß wissen, wie weit er gehen darf. Mehr kann ich Ihnen leider nicht sagen. Nur eines noch: wir haben ihn auf Terra gegen einen Einheimischen ausgewechselt. Es war ein ziemlich kompliziertes und waghalsiges Unternehmen. Wir hoffen sehr, daß er jetzt einen gewissen Einfluß auf die Entwicklung der Dinge nehmen kann. Rulga muß erst beweisen, daß Terra mit ihrem Festhalten an der Relativitätstheorie und ihren archaischen Raumschiffen, die sich noch langsamer als das Licht bewegen, eine Gefahr für die galaktische Föderation darstellen, wenn ihr Plan Erfolg haben soll. Die Rulganer müssen schon sehr gerissen vorgehen, wenn ihnen das gelingen soll. Falls die Rulganer den ersten Akt ihres gewagten Spiels auf Terra inszenieren, wird Den-Hahlov,
unser Agent, davon erfahren und uns benachrichtigen.« Der Weganer holte tief Luft. »Wenigstens hoffen wir das.« »Und was können Sie inzwischen unternehmen?« fragte der Spicaner. Va-Skronne zuckte die Achseln. »Warten, was denn sonst?« »Ja, ich wüßte auch nicht, was Sie sonst tun könnten.« Rorra erhob sich, schwebte durch den Raum und drehte sich an der Tür noch einmal um. Va-Skronne sah Rorra gespannt an. »Dann will ich auch so lange warten«, sagte der Spicaner, ehe er den Raum verließ… »Jenson Langley?« »Jawohl, das ist mein Name.« »Sagen Sie, Mr. Langley, in welcher Funktion arbeiten Sie bei der Interplanetarischen Entwicklungsgesellschaft?« »Ich bin Direktor für die Öffentlichkeitsarbeit.« »In gewisser Hinsicht also ein Verkaufsmanager, nicht wahr?« Man konnte den herablassenden Ton in der Stimme des Vorsitzenden nicht überhören. »In gewisser Hinsicht haben Sie recht«, gab der Zeuge gelassen zu. »Doch Sie sehen meine Arbeit aus der falschen Sicht, glaube ich, Herr Vorsitzender. Die Entwicklungsarbeit unserer Raumfahrt verschlingt Unsummen von Steuergeldern. Jemand muß deshalb der Bevölkerung erklären, daß dieses Geld nicht verschwendet, sondern im Gegenteil gut angelegt wird. Das ist meine Aufgabe.« »Mit anderen Worten: Sie versüßen die bittere Pille«, bemerkte ein Mitglied des Ausschusses zu dieser Aussage des Zeugen. Langley lächelte. »Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen.« Der Vorsitzende räusperte sich. »Wie Sie wissen, Mr. Langley, haben wir Sie nicht geladen. Sie haben sich freiwillig
zu einer Aussage gemeldet. Wir haben dieser Bitte entsprochen, obwohl Sie keine nähere Begründung Ihrem Gesuch beigelegt haben. Wir nehmen deshalb an, daß Ihre Gesellschaft Sie als Sprecher vorgeschickt hat und auch gute Gründe dafür hat. Sie müssen aber verstehen, daß unsere Zeit knapp ist. Wir bitten Sie deshalb, sich auf das Wesentliche zu beschränken.« »Selbstverständlich«, erwiderte Langley und zog einen grauen Aktenordner aus seiner Diplomatentasche. »Dieses Dokument legt ausführlich dar, was ich jetzt nur kurz zusammenfasse, Herr Vorsitzender.« Langley legte den Aktenordner auf den Tisch des Ausschusses. »Die Interplanetarische Entwicklungsgesellschaft wird sich jedem Versuch widersetzen, den künstlichen Himmelskörper zu vernichten oder die wissenschaftlichen Erkenntnisse, die daraus gewonnen wurden, zu unterschlagen. Das würde bedeuten, daß man den Menschen den Weg zu den Sternen verwehrt. Es gibt zahlreiche unbewohnte Planeten im Weltraum, auf denen menschliches Leben möglich und entwicklungsfähig ist. Und zwar nicht unter künstlich geschaffenen Verhältnissen, sondern genau so frei und natürlich wie hier auf der Erde.« Der Vorsitzende war nicht sehr beeindruckt. »Unbewohnte Planeten, sagen Sie?« »Zweifellos. Schließlich ist der Mensch ja auch auf seinem eigenen Planeten noch nicht so lange heimisch. Ehe er in Erscheinung trat, existierte der Planet Erde bereits seit vielen Milliarden Jahren. Und während dieser Zeit war die Erde durchaus nicht unbewohnbar, sondern besaß eine üppig entwickelte Fauna und Flora, ganz zu schweigen von unermeßlichen Bodenschätzen.« »Doch wenn im Weltraum noch andere erdähnliche Planeten existieren sollten, darf man doch annehmen, daß sie bereits
von anderen intelligenten Wesen kolonisiert worden sind«, wendete ein anderes Mitglied des Ausschusses ein. »Dieser künstliche Raumkörper beweist doch, daß noch andere technisch erfahrene Rassen im Weltraum leben.« Der Zeuge schüttelte den Kopf. »Das ist kein Argument. Das Leben entfaltet sich in vielen Varianten. Ein Paradies für die Menschheit ist wahrscheinlich eine giftige Hölle für eine andere Rasse aus dem Weltraum. Und was dem einen nützt, ist für den anderen schädlich. Es gibt also Planeten, die für uns als Kolonien ungeeignet, für andere aber geradezu ideal sind. Und umgekehrt natürlich auch.« »Ein Kolonisationsunternehmen, wie Sie es uns schildern, würde gigantische Summen verschlingen«, sagte der Präsident. »Wie würde die Interplanetarische Entwicklungsgesellschaft diese Ausgaben dem Steuerzahler schmackhaft machen, Mr. Langley?« »Sie haben recht; eine Kolonisation im Weltall wird Milliarden kosten«, gab Langley zu. »Trotzdem wären die Kosten geringer als die Entwicklungskosten für unser eigenes Sonnensystem.« Der Vorsitzende blickte den Zeugen neugierig an. »Wie bitte? Es handelt sich doch hier um weitaus größere Entfernungen?« »Herr Vorsitzender, wissen Sie eigentlich, wie lange unsere Raumschiffe zum Titan, unserer jüngsten Kolonie, unterwegs sind? Fast zwei Jahre! Doch mit dem neuen Antrieb – und ich bin fest davon überzeugt, daß es sich hier um ein Modell handelt, das wir nachbauen sollen – könnten wir die Entfernung zum nächsten Sonnensystem in weniger als einem Jahr zurücklegen!« Langley hob die Hand und nickte den vier Männern des Untersuchungsausschusses beschwörend zu. »Die Kosten der künstlichen Atmosphäre auf Titan allein würden ausreichen, mindestens zwölf Reisen zum nächsten
Sternensystem zu finanzieren. Und auch die Aufwendungen für unsere erste Mondstation waren höher…« »Ich hoffe, Sie haben uns nicht auch so viel vorzutragen, wie unser letzter Zeuge«, sagte der Vorsitzende erschöpft. Dr. van Buran hatte sich für seine zweite Aussage ebenfalls freiwillig gemeldet. Er lächelte. »Ich habe nur ein paar Neuigkeiten, die den Ausschuß interessieren werden.« »Ah!« Der Vorsitzende beugte sich vor. Sein Interesse war neu entfacht. Der Wissenschaftler legte ein Stück Metall auf den Tisch und ein Vergrößerungsglas daneben. »Ich habe ein Segment der kugelförmigen Schale unseres geheimnisvollen Himmelskörpers mitgebracht«, sagte Dr. van Buran. »Ich möchte die Herren bitten, sich dieses Stück durch das Vergrößerungsglas anzusehen.« Der Vorsitzende folgte der Aufforderung. »Ich sehe ein paar schwache Linien«, sagte er, als er eine Weile durch das Vergrößerungsglas gesehen hatte. »Silberne Linien.« Er blickte auf. »Ist das das Schaltdiagramm, von dem Sie gesprochen haben?« »Nein, Sir. Diese Linien befanden sich unter dem Schaltdiagramm. Ein spiegelbildgleiches Duplikat sozusagen. Ich zeige Ihnen hier eine stark vergrößerte Aufnahme von diesen Linien. Sie können daran erkennen, daß es sich nicht um aufgedruckte Schaltkreise, sondern um Kanäle handelt, in die außerordentlich feine Leiter eingelötet sind. Es ist eine sehr komplexe Schaltanlage, die wir bei unserer ersten Röntgenuntersuchung nicht entdeckt haben. Das gelang deshalb nicht, weil diese Schaltkreise durch das Diagramm verdeckt wurden.« Der Vorsitzende gab inzwischen die Lupe und das Stück Metall an die Beisitzer weiter. Van Buran fuhr fort: »Wir entdeckten diese verborgenen Schaltkreise, als mein Assistent die Kugelschalen mit einem Infrarotgerät
durchleuchtete. Er fand eine Stelle, die etwas wärmer wurde als das übrige Metall. Mein Assistent nahm eine Feile und kratzte solange an der Kugelschale herum, bis er auf eine winzige Energiezelle stieß – und den Anfang des Schwingkreises, den die Zelle mit Energie speiste.« »Hm«, meinte der Vorsitzende, während er die Vergrößerung dieser neuen Entdeckung studierte. »Was halten Sie davon, Doktor? Wozu dient dieses Gebilde?« »Ohne Zweifel handelt es sich um einen Peilsender«, erwiderte van Buran, ohne zu zögern. »Ein Sender, der es erlaubt, zu jeder Tages- und Nachtzeit die Position dieser künstlichen Raumkugel zu orten. Wahrscheinlich dient das Gerät nicht nur der Ortung, sondern hat noch weitere Informationen gesendet. Vielleicht hat es sogar unsere Gespräche abgehört. Natürlich ist der Sender jetzt stillgelegt. Wir werden lange brauchen, bis wir herausfinden, welche Funktionen der Sender im einzelnen erfüllt hat.« »Das gefällt mir gar nicht!« rief ein Mitglied des Ausschusses. »Ich hatte schon von Anfang an das Gefühl, daß an der Sache etwas faul ist. Doch jetzt glaube ich, man hat uns ein trojanisches Pferd auf die Erde geschickt!« »Eine durchaus plausible Theorie«, stimmte der Vorsitzende seinem Kollegen nachdenklich zu. »Trotzdem…« Er sah den Zeugen fragend an: »Doktor, ist dieses Peil- oder Abhörgerät ein Beweis dafür, daß uns dieser künstliche Himmelskörper mit feindseligen Absichten geschickt worden ist?« »Das Peilgerät kann viel bedeuten, Gutes oder Böses.« Der Wissenschaftler lächelte kühl. »Sie haben mich schon bei meiner ersten Anhörung darauf hingewiesen, daß ich mich jeder Spekulation enthalten soll. Deshalb beschränke ich mich auf Tatsachen.« »Ah… ja, natürlich.« Der Vorsitzende blätterte im Protokoll, fand die Seite, die er suchte, und fuhr dann fort: »Gestern
sagten Sie aus, Sie hätten schon so viel bei der Untersuchung des künstlichen Himmelskörpers gelernt, daß Sie das Antriebssystem nachbauen könnten. Haben Sie dieser Aussage noch etwas hinzuzufügen?« »Jawohl. Als ich hier vor dem Ausschuß aussagte, waren meine Mitarbeiter damit beschäftigt, ein paar interessante Fehlerquellen im Antriebssystem des künstlichen Himmelskörpers zu entdecken. Zum Beispiel war der Energieverlust dieses Superantriebs ganz erheblich. Auch das Polarisationsverfahren…« »Ich bitte Sie, uns mit technischen Einzelheiten zu verschonen.« »Schön. Was ich gestern gesagt habe, muß heute ergänzt werden. Wir können nicht nur das Antriebssystem nachbauen und dann schneller als mit Lichtgeschwindigkeit fliegen, sondern wir können es wahrscheinlich noch verbessern!« Zwei Jahre und acht Monate später. Das rulganische Raumschiff hielt sich immer noch im Planetoidengürtel auf. Es schien Bestandteil des Sonnensystems geworden zu sein. Wie alle intelligenten Wesen im Kosmos, konnte auch der durchschnittliche Rulganer ein gewisses Maß an Monotonie ertragen, solange man auf bessere Zeiten hoffen durfte. Doch ohne Hoffnung wird jede Routine unerträglich oder sogar zu einer seelischen Folterkammer. Und diesen Grad der Hoffnungslosigkeit hatte man an Bord des rulganischen Raumschiffes erreicht. Nach mehr als zwei Jahren Aufenthalt in einem Schwarm von Planetoiden schien es der Besatzung, als habe man sie lebendig begraben. Natürlich war da immer noch die Hoffnung, Terra erobern und reiche Beute machen zu können. Aber welche Fortschritte hatten sie inzwischen auf diesem Weg gemacht? Was war auf
der Erde los? Sie waren ohne Nachricht geblieben; denn die Signale des Senders waren schon wenige Tage nach der Bergung des künstlichen Raumkörpers durch das irdische Raumschiff verstummt. Offiziell sprach man von einem technischen Versagen der Geräte. Doch selbst die Rekruten unter den achthundert Besatzungsmitgliedern wußten, daß der Feind den sorgfältig getarnten Abhörsender entdeckt haben konnte. Tatsache war, daß keiner von ihnen eine Ahnung hatte, was jetzt auf der Erde vorging. Der Reiseverkehr innerhalb des Planetensystems lief ab wie gewohnt. Zwei Expeditionen zum Uranus und Neptun wurden unternommen. Zwischen der Erde und dem Mond begann man mit dem Zusammenbau einer riesigen Raumstation. Das waren alles keine positiven Hinweise. Die Strategen auf Rulga hatten damit gerechnet, daß die Bewohner von Terra spätestens eineinhalb Jahre nach der Bergung des künstlichen Himmelskörpers den ersten Prototyp des Super-C-Antriebs fertiggestellt haben würden. Doch nichts geschah. Obgleich die Sonden des rulganischen Raumschiffes darauf vorbereitet waren, die Signale des charakteristischen Energiestoßes zu registrieren, blieben die Alarmanlagen stumm. Entweder hatten die Strategen auf Rulga die Bewohner von Terra außerordentlich überschätzt, oder sie waren gerissener als vorausberechnet… sehr viel gerissener. Etran Kun und seine Offiziere bekamen jedesmal eine graue Gänsehaut, wenn sie an die zweite Möglichkeit dachten. Wie sehr sich inzwischen die Stimmung an Bord des rulganischen Raumschiffes verschlechtert hatte, zeigte die Reaktion des Kommandanten, als eine kleine Meuterei unter der Besatzung ausbrach. Eigentlich war es nur eine Beschwerde, weil seit einigen Monaten die Rationen gekürzt wurden. Zwei Besatzungsmitglieder wurden sofort hingerichtet, ein dritter zu Tode gefoltert. Kun zwang seiner
Besatzung ein Terrorregime auf, das man gewöhnlich nur den unterworfenen Rassen fremder Planeten zumutete. Was für eine Ironie des Schicksals: die Eroberer hatten mit den Unterdrückten die Rollen getauscht. Doch die Besatzung ertrug es mit Geduld, weil sie immer noch von besseren Tagen und reicher Beute auf Terra träumte. Und endlich kam der Tag, wo jeder Rulganer in dem künstlichen Planetoiden erleichtert aufatmete. Terra brach die Funkstille und lieferte freiwillig die Informationen, die für die Rulganer so wichtig waren. Diese denkwürdige Sendung begann mit einem Aufruf: »Alle Sendungen sind sofort zu unterbrechen. Es folgt eine Mitteilung von größter Wichtigkeit.« Etran Kun und sein erster Offizier begaben sich sofort in den Nachrichtenraum. Auf dem Bildschirm sahen sie einen ältlichen Mann, der vor einer stilisierten Weltkarte saß. Das war das einzige Symbol, das die Weltregierung von ihrer Vorgängerin – der UNO – übernommen hatte. »Das ist der Generalsekretär der Weltregierung«, unterrichtete eine Ordonnanz den Kommandanten im Flüsterton. »Er hat gerade berichtet, wie eines ihrer Raumschiffe unser Artefakt entdeckte und barg.« Die Computer lieferten eine Simultanübersetzung in der Sprache der Rulganer: »Wir sahen uns vor eine lebenswichtige Frage gestellt«, sagte der Generalsekretär der Weltregierung. »War dieses Geschenk ein Akt der Nächstenliebe? Oder steckten arglistige Motive dahinter. Sollten wir dazu eingeladen werden, in Zukunft auch auf anderen Sternen zu wohnen, oder wollte man uns zu einem Abenteuer verleiten, das fremden Eroberern einen Vorwand für einen Überfall auf die Erde liefern sollte? Einige von uns rieten dazu, dieser Entscheidung auszuweichen, indem wir den künstlichen Himmelskörper vernichteten. Andere wieder wiesen darauf hin, daß die Vernichtung des Himmelskörpers
den unbekannten Spender zu falschen Schlüssen verleiten konnte – zu Schlüssen, die sich katastrophal auf unsere Zukunft auswirken konnten. Im Widerstreit der Meinungen zeichnete sich eine Tatsache deutlich ab: Die Zukunft der Menschheit stand auf dem Spiel. Diese Tatsache fand ihre Bestätigung, als unsere Wissenschaftler bei der Zerlegung des künstlichen Himmelskörpers einen geheimen Abhörsender entdeckten. Dieser Sender wurde sofort außer Betrieb gesetzt, wodurch die Verbindung zwischen den fremden Spendern und ihrem Geschenk unterbrochen war. Wir wußten, daß wir über unsere Zukunft nur frei entscheiden konnten, wenn wir alles geheimhielten, was mit diesem Himmelskörper zusammenhing. Deshalb gaben wir auch keine Meldung von der Bergung des Artefakten an die Presse weiter. Alle Leute, die damit zu tun hatten, wurden zur strengsten Geheimhaltung verpflichtet. Erst dann fällten wir eine Entscheidung. Nach der Auswertung bauten wir einen neuartigen Antrieb für unsere Raumschiffe, der es uns zum erstenmal ermöglichen sollte, ins Weltall jenseits unserer Sonne vorzustoßen. Dieser neuartige Antrieb war bereits eine Weiterentwicklung des Originals, das man uns als Modell zugespielt hatte. Ob wir diesen Antrieb jedoch auch tatsächlich verwenden sollten, war eine Entscheidung, die wir uns bis zum letzten Augenblick vorbehielten. Bei der Untersuchung des neuartigen Antriebsystems stießen unsere Physiker noch auf eine andere Tatsache. Sie wiesen nach, daß beim Einschalten dieses neuartigen Antriebsystems ein sehr starker Energiestoß ausgelöst wurde, der sich noch auf eine Entfernung von mehreren hundert Millionen Kilometern registrieren ließ. Es stellte sich nun die Frage: War dieser für den Antrieb charakteristische Energieimpuls ein Signal, auf das unsere
Spender warteten, um handeln zu können? Diese Frage konnte natürlich nur der Spender beantworten. Wir mußten annehmen, daß sich ein fremdes Raumschiff innerhalb der Reichweite eines solchen Signals aufhielt. Das geeignetste Versteck boten die kleinen Planeten zwischen Mars- und Jupiterbahn.« Der Generalsekretär lächelte. Die Rulganer hatten natürlich keine Ahnung, was ein menschliches Lächeln alles bedeuten konnte. Deshalb wußten sie auch nicht, was jetzt kam. Es traf sie vollkommen unvorbereitet. Etran Kun und seine Offiziere glaubten nämlich schon, ihr Plan sei gescheitert, weil die Bewohner von Terra sich für die Vorsicht entschieden und den neuartigen Raumschiffantrieb nicht eingeschaltet hatten. Wie wenig kannten sie sich doch aus in der Psychologie der menschlichen Rasse! Als Eroberer hätten sie wissen müssen, daß Vorsicht immer nur die Kehrseite der Kühnheit ist. »Vor fünf Monaten wurde das Raumschiff mit dem Super-CAntrieb fertiggestellt«, fuhr der Generalsekretär fort. »Wir standen vor der letzten Entscheidung. Zwei Probleme harrten noch ihrer Lösung. Erstens« – der Sekretär streckte den Daumen seiner linken Hand aus – »Wie konnten wir unseren neuen Antrieb einschalten, ohne daß dieses starke Signal in den Weltraum drang? Zweitens: Warteten unangenehme Überraschungen auf uns, wenn wir den Raumkreuzer in das Nachbarsystem Alpha Centaurus hinüberschickten?« Rak, der erste Offizier der Rulganer, brummte ärgerlich. Die Aussichten auf eine mühelose Eroberung von Terra verflüchtigten sich immer mehr. Der Kommandant stand neben ihm wie eine Statue aus grauem Granit. Doch in seinen orangefarbenen Augen wetterleuchtete es. »Setzen Sie sich sofort mit unserer Basis in Verbindung«, befahl er wütend. »Ich möchte wissen, ob…« »Glücklicherweise war die Lösung dieser Probleme verhältnismäßig einfach«, fuhr der Generalsekretär fort, »weil
es sich hier nicht um technische, sondern um strategische Fragen handelte. Wie wir sie lösten, möchte ich nicht weiter erwähnen. Auf jeden Fall schaltete unser erstes Sternenschiff, der Raumkreuzer Nummer 1, unter dem Befehl von Captain Isaac Speckmann seinen Super-C-Antrieb am 3. Februar 2019 ein. Gestern, also am 24. Mai, erhielt ich die folgende Nachricht über unsere Forschungsstation auf Titan übermittelt. Ich darf sie Ihnen verlesen: Raumkreuzer 1 heute um sechs Uhr dreißig im Zielgebiet angekommen. Raumschiff und Besatzung wohlauf. Schon wenige Minuten nach Abschalten des Super-C-Antriebes Kontaktaufnahme mit außerirdischen Wesen, die uns freundlich empfingen. Weitere Berichte werden wir…« Ein gleißender Lichtstrahl zischte durch den Nachrichtenraum des rulganischen Schiffes. Der Fernsehschirm zerbarst. Die Schaltpulte des Nachrichtenraumes waren nur noch rauchende Trümmer. Kapitän Etran Kun schleuderte seinen Strahler in den zerstörten Schirm und fluchte… »Eigentlich war es lächerlich einfach«, erklärte der Abgesandte von der Erde. »Trotzdem haben unsere besten Wissenschaftler monatelang über einer Lösung gebrütet, ehe die Erleuchtung kam. Wir wußten, daß sich das fremde Raumschiff nur im Planetoidengürtel verbergen konnte. Deshalb brauchten wir lediglich unser Raumschiff in eine Position zu manövrieren, die im Schutze des toten Winkels eines unserer Planeten lag. Praktisch sah das dann so aus: Unser erstes Sternenschiff, der Raumkreuzer 1, startete mit konventionellem Antrieb von der Erde und landete auf Titan. Dort wurde alles für den interstellaren Raumflug vorbereitet. Dann startete das Raumschiff von Titan – ebenfalls mit konventionellem Antrieb – und begab sich auf eine Kreisbahn um den Saturn. Der
Kapitän wartete, bis er sich auf der erdabgewandten Seite des Planeten befand und…« Sein weganischer Begleiter legte den Finger auf den Mund. »Still«, flüsterte er. »Rorra kommt auf die Tribüne. Er wird die offizielle Erklärung abgeben.« Die beiden sahen zu, wie der Spicaner die Rednertribüne in der Mitte der Halle der Generalversammlung betrat. Die Szene erinnerte den Abgesandten von der Erde an ein surrealistisches Gemälde. Tausende von Wesen waren hier in der riesigen Arena versammelt – Gestalten jeder nur denkbaren Größe, Form und Farbe. Jede saß, stand, lag oder schwebte an ihrem Platz. Manche hatten Masken vor dem Gesicht, andere wieder saßen in durchsichtigen Blasen, die mit einer ihnen zuträglichen Atmosphäre gefüllt waren. Denn die Mischung aus Sauerstoff und anderen Gasen, die heute den Versammlungsraum der Generalversammlung erfüllte, hatte man nur ihm zu Ehren in den Raum gepumpt, weil die Versammlung zum erstenmal einen Abgesandten von Terra bei sich begrüßte. Morgen sollte der Delegierte eines anderen Planeten in die Versammlung eingeführt werden, und dort atmete man eine Mischung aus Chlor und Stickstoff. Das bedeutete, daß morgen der Abgesandte von Terra ein besonderes Gehäuse brauchte, um der Ehrung beiwohnen zu können. Doch Bernhardt Latendorf nahm das gern in Kauf. In der weiten Arena wurde es still, als Rorra sich vor den sechs Symbolen der galaktischen Föderation verneigte: vor dem Norden, dem Süden, dem Osten, dem Westen, dem Zenit und dem Nadir, alle durch kostbare Edelsteine dargestellt. Dann wandte er sich dem Balkon zu, auf dem der Abgeordnete von Terra und sein Bürge standen, verbeugte sich tief vor dem Vertreter einer Rasse, die mit ihrem ersten Sternenschiff alle Rekorde geschlagen hatte und mit einer Geschwindigkeit von
200 Parsec mitten in das Kerngebiet der galaktischen Föderation vorgedrungen war. »Im Namen aller Versammelten«, begann Rorra, »begrüße ich den Vertreter von Terra in der galaktischen Föderation. Möge die Mitgliedschaft von Terra in unserem Bund von Dauer und gegenseitigem Nutzen sein. Mögen Regierung und Ausschüsse unserer Föderation von Terras Weisheit und Erfahrung profitieren. Nur so kann unsere Föderation wachsen.« Die Delegierten beantworteten die kurze Ansprache mit lautem Stimmengewirr. Latendorf blickte sich besorgt um. War das Zustimmung oder Ablehnung? Er flüsterte seinem weganischen Bürgen etwas ins Ohr. Doch Va-Skronne lächelte nur und schüttelte den Kopf. »Das war die Formel der Zustimmung, ein uraltes Wort. Dimhon lautet es. In eurer Sprache heißt das wohl soviel wie: So soll es geschehen.« Der Mann von der Erde war tief beeindruckt. »So steht es schon in unserer Bibel«, flüsterte er. »Dort heißt es Amen!« Rorra fuhr mit seiner Ansprache fort: »Auf Terra herrscht die Sitte, mit souveränen Staaten Botschafter auszutauschen. Wir richten uns danach. Deshalb ernenne ich Va-Skronne zum Abgesandten der galaktischen Föderation bei der Regierung von Terra.« Wieder folgte ein lautes Gemurmel. Latendorf sah das zufriedene Lächeln auf Va-Skronnes Gesicht. Das Gemurmel konnte also nur Zustimmung bedeuten. Latendorf war sehr glücklich über diese Wahl. Denn Va-Skronne war so überraschend menschenähnlich, daß man ihm selbst Gemütsbewegungen vom Gesicht ablesen konnte. Jetzt wechselte Rorra die Sprache. Ein Computer übersetzte die Worte des Spicaners, so daß Latendorf die Ansprache mithören konnte. »Meine Freunde«, fuhr Rorra in der galaktischen Sprache fort, die in dieser Versammlung schon Tradition war, als auf
der Erde Rom gegründet wurde. »Ich glaube, Sie werden meine nächste Mitteilung mit ebenso großem Beifall begrüßen. Gerade heute, wo wir den Abgesandten der Erde in unserer Mitte aufgenommen haben.« Der Spicaner legte eine Pause ein. Er lächelte nicht, aber man merkte es seinem Tonfall an, wie groß die Genugtuung war, die ihn erfüllte. »Sie wissen bereits, was ich meine: die Verfassungsänderung 8063, die von Spica eingebracht worden ist. Sie verbietet jede militärische Aktion gegen einen angeblichen Aggressor, solange die Beschwerde über eine Aggression nicht von der dazu ermächtigten Behörde der galaktischen Föderation nachgeprüft worden ist. Ich verkündige hiermit, daß die gesetzlich vorgeschriebene Übergangszeit von vier Standardjahren verstrichen ist. Alle Vollzugsorgane der galaktischen Föderation kennen die Ausführungsbestimmungen, die inzwischen von unseren Ausschüssen erlassen worden sind. Alle Widersprüche gegen die Verfassungsänderung wurden von der Regierung geprüft, erörtert und vom Hohen Rat verworfen. Die Verfassungsänderung 8063 ist hiermit Gesetz geworden.« Die Stärke des Applauses, der jetzt folgte, überraschte selbst einen so erfahrenen Politiker wie Va-Skronne. Staunend schüttelte er den Kopf. »Bernhardt, ich glaube, dieser Husarenstreich von Terra hat die ehrwürdige Versammlung mit neuem Geist erfüllt. Soviel Anteilnahme hat man seit tausend Jahren nicht mehr in dieser Arena erlebt… Ein Wunder ist geschehen! Die galaktische Föderation ist endlich aus ihrer Lethargie erwacht!« Rorra wartete geduldig, bis der Applaus verklungen war. Sein grimmiges Gesicht blieb gelassen. »Natürlich weiß inzwischen jeder von Ihnen, was für eigenartige Umstände die Aufnahme von Terra in unserem erlauchten Kreise begleiteten. Sie kennen alle die Rolle, die ein gewisses Reich dabei spielte – ein Reich mit prähistorischen
Ansichten darüber, was man unter Expansion zu verstehen hat.« Die abfällige Bemerkung des Spicaners löste langanhaltendes Gelächter aus. In der dritten Reihe saßen ein paar grauhäutige Delegierte, die mit verkniffenen Augen und versteinerten Gesichtern warteten, bis das Gelächter verebbte. »Deshalb schlage ich vor«, fuhr Rorra fort, »daß die Leute von Terra den Ausschuß bilden sollen, der über den Vollzug der Verfassungsänderung 8063 wacht. Denn schließlich ist Terra gerade einem Anschlag, wie ihn unser neues Gesetz verbietet, auf außerordentlich geschickte Weise entronnen. Und ich glaube, daß kein anderes Mitglied so viel Erfahrung mit imperialistischen Abenteuern besitzt, wie Terra, dessen Aufnahme in unserer Mitte wir heute feiern…« Diesmal gab es nicht nur ohrenbetäubende Zustimmung durch die in der Arena versammelten Mitglieder, sondern auch von Millionen galaktischer Bürger. Die Generalversammlung wurde nämlich auf dem galaktischen Ultra-Wellen-Netz in alle Arme der Milchstraße übertragen. Ein zweiter Vertreter von Terra verfolgte die Sendung im Wohnzimmer eines kleinen Landhauses auf Wega 9. Er klatschte begeistert Beifall, als er hörte, daß die Erde schon bei ihrer Aufnahme in die Generalversammlung auch in einen der wichtigsten Ausschüsse der galaktischen Regierung gewählt wurde. Er deutete auf den Fernsehschirm, der die ganze Seitenwand des Zimmers einnahm, und sagte: »Wahrscheinlich sind Sie mit der Entwicklung der Dinge genauso zufrieden wie ich. Der Agent, der auf der Erde meine Rolle gespielt hat, hat eine bewundernswerte Tat vollbracht.« Der eine der beiden Weganer, die den Mann von der Erde in dem Landhaus »bewachen« mußten, nickte. »Ihr Doppelgänger ist ein fähiger Mann. Doch ich muß Ihnen das Kompliment zurückgeben. Er brauchte nämlich seine einzigartigen
Fähigkeiten gar nicht einzusetzen. Er tat nur das, was Sie an seiner Stelle auch getan hätten. Ihre Leute haben die eigentliche Arbeit geleistet.« Der Mann von der Erde blickte den Sprecher verblüfft an. »Wollen Sie damit andeuten, ich hätte Ihnen meine Zeit ganz umsonst geopfert? Verdammt, wenn das alles…« »Aber beruhigen Sie sich doch«, unterbrach ihn der Weganer. »Unser Botschafter, den wir auf die Erde schicken, braucht einen Attache, der sich auf Terra bereits auskennt. Er wird von der Erfahrung unseres Agenten eine Menge lernen können. Und dann müssen Sie die Sache auch von unserem Standpunkt aus betrachten. Wir konnten nicht ahnen, daß die listigen Rulganer auf einen Planeten stoßen würden, dessen Bewohner noch listenreicher waren als sie.« Der Mann von Terra lachte. »Ich fasse das als Kompliment auf. Trotzdem habe ich meine Zweifel. Glauben Sie nicht, daß meine Mitbürger auf der Erde verärgert sein werden, wenn sie erfahren, daß unter ihnen ein Geheimagent von der Wega gelebt hat?« »Sie werden das nie erfahren.« »Wirklich nicht?« erwiderte der Mann von Terra stirnrunzelnd. »Die Weganer scheinen ja ein von sich sehr überzeugtes Völkchen zu sein.« »Nicht ganz ohne Berechtigung; denn Sie werden in ein paar Monaten auf Ihrem eigenen Planeten erwachen – in Ihrem Bett, in Ihrem Zimmer –, ohne zu wissen, daß Sie hier gewesen sind. Nicht einmal im Traum werden Sie sich daran erinnern.« Wieder blickte der Mann von der Erde seine Bewacher verblufft an: »Wie wollen Sie das erreichen? Durch Gehirnwäsche?« Der Weganer nickte. Der Mann von Terra zuckte die Achseln. »Aber eines verstehe ich nicht: wie soll ich meinen Landsleuten eine
Gedächtnislücke von fünf Jahren erklären! Noch dazu als Wissenschaftler!« »Das wird nicht nötig sein. Wir prägen Ihrem Gedächtnis alles ein, was Sie in diesen fünf Jahren auf der Erde erlebt hätten, wenn Sie an der Stelle unseres Agenten gewesen wären. Und ich kann Ihnen versichern, das werden sehr interessante Erinnerungen sein.« »Zweifellos«, erwiderte der Terraner trocken. »Wann wollen Sie mich Ihrer Gehirnwäsche unterziehen?« »Es handelt sich hier um einen einfachen, schmerzlosen Prozeß. Er dauert nur ein paar Tage und kann vorgenommen werden, während Sie sich auf der Rückreise zu Ihrem Heimatplaneten befinden. Wir können auch die Behandlung bis zum letzten Moment vor der Landung aufschieben, falls Sie nicht in einem ›erinnerungslosen‹ Zustand die Reise unternehmen wollen.« »Also gut«, erwiderte der Mann von der Erde lächelnd. »Wann fliegen wir los?« »Sofort, wenn Sie es wünschen.« Nach Hause! Schon der Gedanke daran ließ das Herz des Mannes höher schlagen. Langsam erhob er sich aus seinem Sessel und sagte: »Also gut, zeigen Sie mir den Weg!« Die beiden Weganer nickten und öffneten die Tür. Dr. van Buran folgte seinen Begleitern zum Raumschiff, das ihn in die Heimat zurückbringen sollte…
Originaltitel: ARTIFACT. Copyright 1969 by Coude-Nast Publications, Inc. Aus ANALOG Juli 1969.
Murray Leinster PLANET DER ANGST
1
»Ein Irrtum ist die Verleugnung einer Realität. Fehler jedoch sind nur geistige Trugschlüsse. Im Notfall kann ein Fehler aus dem Zwang heraus erfolgen, überstürzt zu handeln. Man kann sich nicht in Ruhe für das beste entscheiden: etwas muß sofort geschehen. Die meisten Fehler kommen jedoch nicht unter dem Zwang äußerer Einflüsse zustande. Man akzeptiert den erstbesten Einfall als Lösung für ein Problem, ohne ihn kritisch zu durchleuchten, entweder aus unüberwindlicher Scheu vor gründlicher Gedankenarbeit oder aus leidenschaftlichem Widerwillen, sich eingehend mit dem gestellten Problem auseinanderzusetzen, weil hübschere und angenehmere Dinge die Phantasie beschäftigen…« The Practice of Thinking Fitzgerald
Später stellte sich heraus, daß jemand den falschen Knopf am Computer gedrückt hatte. Gerade in diesem Fall hätte dieser Fehler nie passieren dürfen. Doch der Mensch ist nicht unfehlbar, und es gibt keinen Akt, keine Handlung, keine Entwicklung, wo der irrende Mensch nicht seine Hand im Spiel hätte. Ohne ihn geht es nun einmal nicht, wie man ja auch bei der Herstellung eines komplizierten Produktes auf den einfachen Hammer nicht verzichten kann. Und die Menschen
haben es so an sich, daß sie ihre Fehler ganz beiläufig machen, so völlig unbeabsichtigt, so ohne jeden Argwohn – unberechenbar eben. Und deshalb… Calhoun hörte die Durchsage des Tonbandsprechers: »Nach dem Gongschlag noch fünf Sekunden bis zum Übergang.« Calhoun gähnte und legte das Buch beiseite, mit dem er sich beschäftigt hatte. The Practice of Thinking. Fortbildung war eine notwendige Voraussetzung, wenn er in seinem Beruf weiterkommen wollte. Außerdem war das ein nützlicher Zeitvertreib während des Flugs. Er ging zum Steuerpult und schnallte sich im Sitz fest. Murgatroyd, der Tormal, nahm den Schwanz von den Augen und tappte aus seiner Ecke, wo er ein Nickerchen gemacht hatte. Er kauerte sich unter Calhouns Sitz. Dort konnte man sich wenigstens festhalten, wenn es kritisch wurde. Und mit seinen vier schwarzen Pfoten und dem Schwanz konnte er das an fünf Stellen zugleich tun. »Tschi!« kreischte Murgatroyd mit seiner schrillen Stimme. »Da gebe ich dir vollkommen recht«, erwiderte Calhoun. »Vier steinerne Wände machen noch kein Gefängnis aus und der Raumkreuzer vom Med-Service ist noch lange kein Käfig. Trotzdem wären wir beide froh, wenn wir uns draußen ein bißchen die Beine vertreten könnten.« Tick-tack, kam es aus dem Tonbandsprecher, tick-tack. Dann ertönte der Gong. Eine Stimme zählte die Sekunden: »Fünf – vier – drei – zwei – eins.« Das Schiff schaltete auf Normalantrieb um. Calhoun zuckte zusammen. Niemand wird sich jemals an den Übergang von Normal- auf Super-C-Antrieb und umgekehrt gewöhnen können. Der Kopf schwindelt, der Magen hebt sich; es wird einem schrecklich schlecht in diesem Augenblick. Gleichgültig, wie oft man diese kritische Phase erlebt hat: immer muß man gegen diese unsinnige Panik ankämpfen, die von dieser Übelkeit ausgelöst wird.
Doch gleich darauf schalteten sich die Beobachtungsschirme automatisch ein. Calhoun sah sich um. Der Kosmos sah jetzt ganz normal aus, ließ sich nicht mit dem Kosmos vergleichen, wie er bei Super-C-Antrieb aussah. Aber Calhoun gefiel dieser Anblick gar nicht. Er, Murgatroyd und das Med-Schiff befanden sich in einer weiten Leere, im Nichts. Es waren zwar überall Sterne zu sehen: matte, helle und in allen Farbschattierungen leuchtende; aber sie waren alle winzig klein. Stecknadelgroß. Darauf war er nicht vorbereitet. Das hatte er keinesfalls erwartet. Längst nicht mehr hielten die Raumschiffe in der erhabenen Einsamkeit des Vakuums zwischen den Sternen an, damit man das Universum betrachten konnte. Alle Schiffe schalten nach dem Start sobald als möglich auf Super-C um. Normalerweise geschieht dies schon fünf oder sechs Planetendurchmesser von der Startbasis entfernt. Und alle Schiffe schalten erst so dicht vor dem Ziel auf Normalantrieb zurück, wie es die Messungen und Berechnungen erlauben. Sie halten nicht unterwegs an, um die Aussicht zu bewundern. Es bekommt dem Menschen schlecht, wenn er die Sternenwelt aus unendlicher Entfernung betrachtet. Da wirkt er selbst so klein und winzig. Mancher hat bei diesem Anblick schon das Zähneklappern bekommen. Oder er kriegte einen Schock fürs Leben. Calhoun betrachtete das interstellare Vakuum mit gerunzelter Stirn. Da stimmte etwas nicht. Zwar bestand noch kein Anlaß zur Panik, aber… Er hatte eine Sonne zu sehen erwartet, mondsichelartig ausgestrahlte Planeten, wolkenverhangene Welten, die ihre Kreisbahn um die Sonne zogen. Die Sonne hätte der Stern Merida sein sollen, und Calhouns Bestimmungsort war Merida II. Einige der Bewohner dieses Planeten sollten einer routinemäßigen Vorsorgeuntersuchung unterzogen werden. Das war völlig normal. Dementsprechend
hätte auch sein Bericht für die Gesundheitsbehörde ausgesehen: normal, zufriedenstellend und ohne besondere Vorkommnisse. Aber daran war jetzt nicht mehr zu denken. Er befand sich in einem total leeren Raum. Ein ungesunder Zustand, geradezu unheimlich. Murgatroyd sprang auf die Sessellehne und betrachtete die Beobachtungsschirme. Calhoun runzelte immer noch die Stirn. Murgatroyd machte ihm das nach. Die Tormals begnügten sich damit, den Menschen alles nachzumachen. Er begriff folglich auch nicht, was er sah, aber er gab immerhin eine Erklärung ab. »Tschi!« kreischte er schrill. »Eine sehr kluge Feststellung«, sagte Calhoun mißgelaunt. »Wirklich sehr treffend, Murgatroyd. Mir will das auch nicht gefallen. Jemand hat da gepfuscht.« Murgatroyd hielt nicht viel von einsilbigen Bemerkungen. Er ließ sich gern in Diskussionen ein. »Tschi-tschi! Tschi-tschitschi!« schnatterte er. »Nur zu wahr«, erwiderte Calhoun. »Dumme Geschichte. Aber jetzt spring mal von der Lehne, damit ich etwas unternehmen kann.« Murgatroyd folgte der Aufforderung. Er sah zu, wie Calhoun aus einem Schrank die für eine solche Situation gedachten Geräte herausholte. Wenn die Lage nicht verzweifelt war, würde sie sich mit diesen Geräten korrigieren lassen. Andernfalls gab es keine Hilfe mehr. Die durchschnittliche Entfernung zwischen den Sternen im Milchstraßensystem beträgt zwischen vier und fünf Lichtjahre. Der Abstand zwischen Sternen von der Größenordnung der Sonne ist in der Regel noch viel größer, und mit wenigen Ausnahmen sind die bewohnbaren Planeten Sonnen-Trabanten. Doch nur eine verschwindende Minderzahl der bewohnbaren Planeten sind tatsächlich bewohnt, und wenn ein Schiff zwei
Monate lang blind mit Super-C-Antrieb gefahren ist, kann man sich nicht einfach in der Pilotenkanzel umdrehen, mit dem Finger auf etwas deuten und rufen: »Da hinten ist meine Startbasis!« Da liegt viel zu viel Raum dazwischen. Außerdem kann man auch nicht ohne weiteres seinen Standort mit Hilfe der Sternkarten bestimmen, wenn man nicht weiß, wo man sich gerade aufhält. Doch vielleicht war der Fehler gar nicht so schlimm. Wenn das Med-Schiff nicht weiter als acht bis zehn Lichtjahre von Merida entfernt im interstellaren Raum von Super-C heruntergeschaltet hatte, konnte Calhoun vielleicht über die spektroskopische Parallaxe die Sonne identifizieren. Er holte die Kamera mit den sechs Linsen heraus. Damit konnte er seine sechs Beobachtungsschirme fotografieren, die den Raum in allen Richtungen zeigten. Sekunden später hatte er bereits eine farbgetreue Aufnahme von allen Sternen der dritten Größenordnung und höher, deren Helligkeitsgrad sich am Durchmesser der Farbpunkte ablesen ließ. Er legte die Aufnahme beiseite und sagte: »Wir schalten auf Super-C, Murgatroyd!« Er drückte auf den Knopf, und sofort überkam ihn wieder der Schwindel, die Übelkeit und die Panik – alles gleichzeitig und vorübergehend. Murgatroyd machte: »Tschi«, doch Calhoun ließ trotz dieses Protestschreis den Knopf erst fünf Minuten später wieder los. Er und Murgatroyd schluckten und würgten im Duett, als sich die Raum-ZeitDimension wieder entzerrte. Wieder fotografierte er den Kosmos und lenkte das Schiff dann um neunzig Grad herum. Druck auf den Super-C-Knopf, Flattern in der Magengrube, schwindelnder Kopf. Nach fünf Minuten Knopf loslassen, die gleiche Tortur. Wieder tauchte das Schiff im Normalraum auf. »Tschi-tschi!« protestierte Murgatroyd. Mit den haarigen Pfoten hielt er sich seinen kleinen runden Bauch. »Du hast vollkommen recht«, sagte Calhoun. »Mir gefällt die Hin- und
Herschaukelei auch nicht. Aber ich muß wissen, wo wir sind, falls wir überhaupt wo sind.« Er fotografierte wieder und gab die drei Aufnahmen in den Auswerter. Auf dem Schirm des Auswerters erschien ein Bild des Kosmos. Extrem weit entfernte Sterne flatterten nicht. Das heißt, ihre säkularen Parallaxen waren nicht zu ermitteln. Aber jeder Stern innerhalb von zwanzig Lichtjahren mußte charakteristische Bewegungen zeigen. Tatsächlich flatterte einer der aufgenommenen Sterne deutlich. Calhoun betrachtete ihn mißtrauisch. »Weiß der Himmel, wo wir stecken«, sagte er. »Da hat uns jemand was Schönes eingebrockt! Der einzige Stern, der hier eine Parallaxe hat, ist auf keinen Fall Merida. Wenn du mich fragst, ist das überhaupt kein Stern! Zwei der Aufnahmen weisen ihn als durchschnittlichen Stern wie die Sonne aus. Die dritte hält ihn für einen roten Zwergstern!« Wissenschaftlich betrachtet war das ein Ding der Unmöglichkeit. Eine Sonne bekommt keine andere Farbe, wenn man sie von zwei verschiedenen Punkten aus betrachtet, schon gar nicht, wenn der Blickwinkel außerordentlich klein ist. Calhoun stellte eine Überschlagsrechnung an. Er schaltete den Super-C-Antrieb auf eine Stunde Fahrt in Richtung des flatternden Sterns ein. Eine Stunde lang mußte er jetzt Zeit totschlagen. Irgendwie wollte er herausfinden, ob der Fehler in seinem Astro-Navigationscomputer steckte oder in den Daten enthalten war, mit denen man ihn gefüttert hatte. War ersteres der Fall, saß er bös in der Klemme. Galt letzteres, war es auch nicht viel günstiger. Doch bei Super-C-Geschwindigkeit konnte er diese Probleme nicht lösen. Er legte sich in seine Koje und versuchte sich wieder auf das Buch zu konzentrieren, in dem er vorhin gelesen hatte. »Ein menschlicher Irrtum ist nie ganz zufällig«, las er. »Der Verstand hat die Tendenz, gespeicherte Daten für unfehlbar zu
halten und neue Daten zu verwerfen, die den vorhandenen Daten widersprechen…« Er gähnte und übersprang ein paar Zeilen. »In jedem Individuum steckt ein persönlicher Irrtumsfaktor, der nicht nur eine quantitative, sondern auch eine qualitative Größe besitzt…« Er las weiter, nahm das Gelesene aber nur zur Hälfte auf. Der Tonbandsprecher sagte: »Nach dem Gongschlag noch fünf Sekunden bis zum Übergang.« Calhoun schnallte sich in den Steuersitz. Murgatroyd sagte kleinlaut: »Tschi!« und schlüpfte unter den Sessel. Die Stimme zählte: »Fünf – vier – drei – zwei – eins…« Das kleine Med-Schiff kam in den Normalraum. Sofort sprangen die Notdüsen an und bremsten mit aller Kraft. Murgatroyd klammerte sich verzweifelt fest. Dann schalteten die Düsen automatisch wieder ab. Irgend etwas mußte wider alle Berechnungen ganz in ihrer Nähe gewesen sein – vielleicht Meteoritenreste. Auf den Beobachtungsschirmen waren ein Sternenfeld in der Ferne und ein Stern im Abstand von zwei Lichtstunden zu erkennen. Calhoun schüttelte den Kopf. Der Stern stand im Bereich des Steuerbordschirms. Es war ein gelber Stern von der Größenordnung der Sonne. Ein schwach sichtbarer Ring umgab ihn. Auch Planeten waren vorhanden. Ein Gas-Gigant war so nahe, daß er schon als kleine Kugel zu erkennen war, und ein silberner Strich, sichelförmig – wenn man in die Richtung der Sonne blickte –, deutete auf einen zweiten Planeten hin. Doch was Calhoun so sehr faszinierte, war der Ring oder das Band aus schimmernder Materie zwischen seinem Schiff und dem Stern mit seinen Planeten. Das konnten keine Überreste eines Satelliten sein. Es war ein dünnes, breites, goldnes, schimmerndes Band, ein bißchen ausgefranst an den Rändern. Auch die äußere Oberfläche schien unregelmäßig und wellig zu sein. Calhoun
mußte an riesige Rauchringe denken, die übereinanderlagen. Calhoun starrte ein paar Sekunden auf dieses Gebilde. »Tatsache!« rief er. »Da glaubt man, man habe schon alles gesehen!« Plötzlich kam ihm ein anderer Gedanke. »Und wir haben doch recht, Murgatroyd! Es ist nicht unser Computer, der irrte! Es lag an den Daten. Wir sind nämlich genau dort, wo wir vorhin hinfliegen wollten. Und hier muß es auch irgendwo einen bewohnten Planeten geben!« Er schaltete das Elektronenteleskop ein. Das Band sah tatsächlich aus wie ein breiter Ring aus Tausenden von Rauchringen. Es mußte natürlich aus festen Teilchen bestehen, und ein fester Gegenstand konnte sich im Raum nur halten, wenn er sich auf einer Kreisbahn bewegte. Doch nach spätestens ein paar tausend Umdrehungen hätten die Unregelmäßigkeiten verschwinden müssen. Dieses Band war aber nicht glatt. Also mußte es auch noch verhältnismäßig jung sein. »Es ist Natriumstaub«, murmelte Calhoun. »Kann auch Kalium sein. Ist absichtlich dort hingehängt worden. Teilchen, die klein genug sind, um Oberfläche und Reflektionswirkung zu besitzen, aber groß genug, um nicht von Lichtquanten aus der Bahn gedrängt zu werden. Sehr raffiniert, Murgatroyd! Sollte wohl einen ganz bestimmten Zweck erfüllen. Dient zur Klimaverbesserung für einen Planeten innerhalb des Ringes. Und dieser Planet ist – der dort! Den sehen wir uns mal an!« Sein Respekt vor diesem »Klimagürtel« war so groß, daß er den kurzen Super-C-Schub gar nicht weiter beachtete. Er wußte jetzt auch, woher die rote Verfärbung auf einer seiner Aufnahmen stammte. Licht, das durch weit verstreute, winzig kleine Teilchen fällt, färbt sich rot. Bei dieser einen Aufnahme hatte er den Stern genau durch diesen Ring fotografiert. Dieses Staubband war eine großartige Idee. Geradezu genial, weil so einfach. Es reflektierte die Sonnenwärme, die sich
nutzlos in den leeren Raum hinausstrahlte, auf einen kalten Planeten und wärmte ihn. Und dabei war die Masse des Staubes, der diesen gewaltigen Ring bildete, sicherlich ganz unbedeutend. Es konnte sich dabei höchstens so um sechzig, siebzig Tonnen handeln. Der Planet, für den der Ring geschaffen worden war, war der dritte Trabant vom Stern aus gerechnet. Wie es bei diesen Systemen von der Größenordnung der Sonne üblich war, betrug der Abstand des dritten Planeten von seinem Stern ungefähr zweihundert Millionen Kilometer. Mehr als zwei Drittel seiner Oberfläche waren mit Schnee und Eis bedeckt. Die Ausläufer der Gletscher ließen die Hochgebirge und Gebirgszüge erkennen, die fast bis zum Äquator reichten. Doch dort entdeckte Calhoun das schimmernde Blau eines Meeres und einen schmalen grünen Vegetationsgürtel in der tropischen Zone. Calhoun drehte das Med-Schiff in die richtige Lage für eine Funkverbindung. Das war nicht die Merida II, aber eine Kolonie gab es hier bestimmt. Dieses schimmernde Band war nicht umsonst in den Raum gehängt worden. »Med-Schiff Esclipus zwanzig«, sprach er zuversichtlich in das Mikrophon des Raumtelefons. »Ich rufe Bodenstation. Erbitte Koordinaten für die Landung. Meine Masse beträgt fünfzig Tonnen. Ich wiederhole: fünf-null Tonnen. Zweck der Landung: Feststellung meiner augenblicklichen Position in Relation zum Zielort.« Es knackte. Calhoun wiederholte seine Meldung. Er hörte Stimmengemurmel. Jemand sprach nicht direkt ins Mikrophon, sondern unterhielt sich im Hintergrund. »Wie lange ist es her, daß ein Raumschiff bei uns landete?« Eine andere Stimme antwortete barsch: »Auch wenn er nicht aus Zwei-Stadt oder Drei-Stadt kommt, wer garantiert uns, daß er nicht eine Seuche…« Dann jähe Stille. Jemand hatte wohl die Hand über
das Mikrophon gelegt. Eine lange Pause folgte. Calhoun wiederholte seinen Ruf zum drittenmal. »Med-Schiff Esclipus zwanzig«, antwortete plötzlich eine Stimme über das Raumtelefon. »Sie bekommen Landeerlaubnis.« Aber wie eine Einladung klang das nicht. »Die Position ist…« Calhoun wollte seinen Ohren nicht trauen. Die Koordinaten entsprachen nicht dem üblichen galaktischen Schema. Man gab ihm die Ortszeit des Raumschiffhafens durch und den planetarischen Breitengrad. Er sollte sich drauf einstellen. Das konnte er natürlich, aber die Anweisungen waren einfach primitiv. So weit Calhoun zurückdenken konnte, hatte es in der Raumfahrt noch nie etwas anderes als galaktische Koordinaten gegeben. Aber er bestätigte die Durchsage. Dann kam die Stimme noch einmal: »Lassen Sie sich Zeit! Wir können die Erlaubnis immer noch widerrufen! Und wir müssen uns sowieso erst überlegen, wie wir ein Fünfzig-Tonnen-Schiff herunterholen sollen!« Richtig sauer hatte das geklungen! Und dabei war der interstellare Med-Service Mädchen für alles – überlastet, ohne ausreichenden Nachwuchs und ständig im Einsatz. Man betrachtete ihn als eine Selbstverständlichkeit – wie die Luft, die man atmet –, und deshalb hielt es auch niemand für nötig, für die Hilfe Danke zu sagen. Aber dem Med-Service zu mißtrauen, daran dachte bestimmt keiner. Dieses Mißtrauen und die eigenartigen Koordinaten, das leuchtende Band im All und die verhüllte Warnung: all das erweckte sein berufliches Interesse. Es reizte ihn jetzt geradezu, auf diesem Planeten zu landen.
2
»Ein unlösbares, aber zwingendes Problem kann nicht nur einen unkontrollierbaren Wutausbruch in einem Einzelwesen auslösen, sondern sogar in einer ganzen Gemeinschaft. Man leugnet leidenschaftlich die Existenz des Problems oder widersetzt sich einer planvollen Suche nach einer Lösung. In der Vergangenheit löste die erste Reaktion eine Massenwut aus, die man als Krieg bezeichnete. Als zweite Reaktion wurde eine fanatisch verfochtene dogmatische Ideologie aufgebaut. Als dritte Reaktion kam die moderne Zivilisation zustande. Doch alle drei Reaktionen sind im modernen Einzelwesen vereint. Falls die ersten beiden Reaktionen auch in unserer Gemeinschaft wiederaufleben würden…« The Practice of Thinking Fitzgerald
Die Landung war alles andere als Routine. Sie war nervtötend. Die Energieschneise griff hinauf in den Raum und suchte unbeholfen nach dem Sanitätsschiff. Ungeschickte Hände waren da am Werk. Das Kraftfeld schloß sich endlich. Was jetzt kam, war noch schlimmer. Ein blutiger Anfänger mußte unten am Steuerpult sitzen. Calhoun schrie ins Telefon, man sollte gefälligst etwas vorsichtiger mit dem Kraftfeld umgehen, weil die Temperatur der Außenhaut gefährlich anstieg. Vom Planeten unten sah er so gut wie nichts, weil er alle Hände voll zu tun hatte, damit kein Unglück geschah. In einer Höhe von etwa sechzig Kilometern verschwand der letzte blaue Schimmer des Meeres hinter der Planetenkrümmung. In dreißigtausend Meter Höhe wurden die
Gebirgsketten deutlich erkennbar. Eisflüsse schlängelten sich zu Tal, zu Gletschern erstarrt. Drei grüne Flecken leuchteten aus dieser eisigen Landschaft herauf. Der eine lag genau unter dem Raumschiff und hatte einen Durchmesser von etwa eintausendfünfhundert Meter. Das Stahlgerüst mit dem Landekreuz war der Mittelpunkt dieses grünen Flecks. Der zweite Fleck war eher rechteckig und langgestreckt, mit schwarzen Streifen durchsetzt und zum Tal dunstverhangen. Der dritte Fleck glich in etwa einem Dreieck. Diese Flecken lagen viele Kilometer auseinander. Das Rechteck und das Dreieck verschwanden hinter den Gebirgszügen, als das Raumschiff immer tiefer sank. Nirgends Städte, nirgends Straßen, nur eine Eiswelt mit frosterstarrtem Boden und einem bißchen offenen Fahrwasser am Äquator. Der Raumschiffhafen lag in einem schneeumringten Talkessel in der Polarzone. Kurz vor der Landung schnallte sich Calhoun wieder an, weil das Einholen des Schiffs geradezu lebensgefährlich wurde. Er nahm Murgatroyd auf den Schoß und hielt ihn fest, während das Schiff hin- und hertorkelte wie ein Ballon im Sturm. Endlich sah Calhoun die Gitterkonstruktion des Landekreuzes an den Sichtluken vorübergleiten. Sekunden darauf schepperte und bebte alles in der Kabine, als würde ein Zug entgleisen. Das Raumschiff kam mit einem heftigen Stoß zur Ruhe. Nach zwei Monaten Flug durch das Weltall war das ein aufregender Abschluß. Calhoun holte tief Luft. »Und jetzt«, kam eine Stimme durchs Raumtelefon, die trotz ihrer Grobheit irgendwie Erleichterung verriet, »jetzt bleiben Sie in Ihrem Schiff. Sie dürfen nicht eher herauskommen, bis wir beschlossen haben, was wir mit Ihnen anfangen!« Calhoun zog die Augenbrauen in die Höhe. Verrücktheit! Er warf einen Blick hinüber zum Kraftfeldanzeiger. Er stand auf Null. Das Landekreuz war abgeschaltet. Der Mann bluffte nur. Im
Notfall brauchte Calhoun nämlich nur die Notdüsen einzuschalten und starten, selbst wenn er genau im Schußfeld lag. Was er bezweifelte. Und ehe diese Laien an den Steuergeräten wieder ein Kraftfeld aufbauen konnten, war er längst auf der anderen Seite des Planeten. »Lassen Sie sich ruhig Zeit«, erwiderte er ironisch. »Ich drehe so lange Däumchen.« Er verließ seinen Sitz und blickte hinaus. Ungläubig betrachtete er die Landschaft. Das Landekreuz hatte einen Durchmesser von fünfzehnhundert Metern und war ungefähr achthundert Meter hoch. Es war ein riesiges kreisrundes Stahlgerüst aus Masten und Trägern. Kupferkabel schlängelten sich durch die Gitterkonstruktionen, um das sehr starke Kraftfeld zu erzeugen, das man zum Einholen schwerer Schiffe braucht. Normalerweise sah man diese gigantischen Konstruktionen nur im Zentrum großer Städte. Sie bezogen ihre Energie aus der Ionosphäre, um die Schiffe in das All hinauszuheben oder von dort einzuholen. Brauchte man sie nicht als Startrampe, so dienten sie der Energieversorgung der Industrie und der Städte. Hier gab es keine Stadt. Zwar konnte er eine grüne Wiese sehen, die das Landekreuz umgab wie ein grüner Ring. Auch ein Kontrollturm war vorhanden. Er war solid konstruiert, aber an seinen Wänden hatte man Schuppen angebaut, die wie Vogelnester aussahen. Und auf dem Gras weideten Kühe. Das Landekreuz stand inmitten einer Weide! Außer den Anbauten am Kontrollturm war weit und breit kein Gebäude zu sehen. Kein Haus, keine Halle, nichts. Nicht einmal eine Straße führte zum Landekreuz. Calhoun schaltete die Außenmikrophone ein. Doch außer dem Säuseln des Windes im stählernen Gestänge war nichts zu hören. Das Brüllen einer Kuh schreckte ihn auf.
Calhoun pfiff leise vor sich hin, während er von einer Luke zur anderen ging. »Murgatroyd«, sagte er nachdenklich, »du siehst hier die Folgen eines menschlichen Irrtums. Ich weiß zwar immer noch nicht, wo ich bin, da ich fürchte, daß dieser Stern auf keiner Karte verzeichnet ist. Trotzdem kann ich dir versichern, daß der Planet früher einmal registriert worden ist. Hinsichtlich seiner Eignung als Siedlungsgebiet hat er wahrscheinlich die Wertung Null Komma Null bekommen, was bedeutet, daß man hier zwar leben kann, jedoch nur, wenn es unbedingt sein muß. Trotzdem kamen Leute hierher, und das war ein Fehler.« Er starrte hinaus. Ein Mensch bewegte sich tief unter ihm. Es war eine Frau. Sie trug formlose, schlecht sitzende Kleidung. Sie bewegte sich auf einen schwarzen Gegenstand zu. Das war eine Kuh mit dunklem Fell. »Daß dieser Fehler passieren konnte, leuchtet mir ein«, setzte Calhoun seine Belehrung fort. »Doch die Konsequenzen, die man aus diesem Fehler gezogen hat, gefallen mir gar nicht. Es gibt so etwas wie einen Isolierungskomplex, Murgatroyd. Ein Syndrom freiwilliger oder unfreiwilliger Abgeschiedenheit. Ein Syndrom, Murgatroyd, ist das Gesamtbild der für eine Krankheit charakteristischen Symptome. Für uns Menschen ist die Isolierung ein pathologischer Zustand. Einsamkeit ist eine Krankheit. Du hilfst mir, sie zu ertragen. Doch mit deiner Gesellschaft allein käme ich nicht aus, Murgatroyd, so charmant und nett du auch sein magst. Eine Gruppe von Menschen hält es natürlich länger aus als ein Einzelwesen. Doch auch für eine kleine Gruppe ist die Isolierung auf die Dauer unerträglich.« »Tschi«, stimmte Murgatroyd zu. »Somit«, fuhr Calhoun stirnrunzelnd fort, »erkennt der MedService klar und deutlich, daß hier ein besonderes Problem vorliegt. Vielleicht handelt es sich nur um eine partielle
Immunität. Aber auch davon gibt es bösartige Varianten. Ist der Fall aber typisch und voll ausgereift, dann haben wir beide eine harte Nuß zu knacken. Übrigens: wie kommt der Staubring ins All? Leute mit Einsamkeitskomplexen haben ihn bestimmt nicht dorthin gehängt.« Er setzte sich und überlegte noch einmal, was für unerfreuliche Theorien er da entwickelt hatte. Dann betrachtete er zum zweitenmal die eisige Landschaft. Diese grüne Weide um das Landekreuz herum widersprach jeder Logik. Die Gletscher reichten teilweise ins Tal hinein. Diese Ausläufer hätten eigentlich schmelzen und das Tal überfluten müssen. Aber sie taten es nicht. Warum taten sie es nicht? Es dauerte über eine Stunde, ehe sich jemand über das Raumtelefon meldete. Wieder eine Männerstimme, aber sehr erregt. »Wir haben uns über Sie unterhalten«, sagte die Stimme. Die Erregung hatte überhaupt keine Berechtigung. »Sie sagen, Sie gehörten dem Med-Service an. Wie wollen Sie uns das beweisen?« Das Schiff sollte eigentlich als Beweis genügen, dachte Calhoun kopfschüttelnd. Aber er erwiderte höflich: »Ich habe meine Papiere dabei. Wenn Sie auf Sichtverbindung umschalten, kann ich Ihnen meine Beglaubigung zeigen.« »Unser Bildschirm ist nicht in Ordnung«, erwiderte die Stimme mißtrauisch. »Aber wir haben eine kranke Kuh. Man hat sie uns vorgestern nacht auf die Weide getrieben. Behandeln Sie die Kuh, und wir akzeptieren das als Beglaubigung.« Calhoun wollte seinen Ohren nicht trauen. Die Symptome waren wirklich beängstigend! Die Behandlung einer kranken Kuh war für diese Leute überzeugender als die Ausweise des Gesundheitsdienstes! So eine Begriffsverwirrung von Wertmaßstäben deutete auf Schlimmeres hin als auf einen Einsamkeitskomplex! Da gab es nun im Weltall Tausende von
zivilisierten Planeten mit Städten und hochentwickelter Technologie, was für alle selbstverständlich war wie der Sonnenaufgang. Einem Med-Schiff verdächtige Motive zu unterstellen war einfach dumm. Doch hier auf diesem Planeten… »In Ordnung«, erwiderte Calhoun. »Darf ich nun das Schiff verlassen, um die – äh – den Patienten zu untersuchen?« »Wir bringen die Kuh zum Schiff«, sagte die aufgeregte Stimme. »Und bleiben Sie in der Nähe Ihres Schiffes!« Drohend fuhr die Stimme fort: »Die Leute aus Zwei-Stadt haben uns die Kuh in die Herde geschmuggelt! Sie wollen unsere Herde vernichten! Was für Waffen haben Sie bei sich?« »Dies ist ein Med-Schiff!« protestierte Calhoun. »Ich führe nur mit, was ich im Katastrophenfall brauche!« »Wir wollen diese Waffen haben«, sagte die Stimme. »Sie sagten, Sie wollten wissen, wo Sie sind. Wir werden Ihnen das verraten, wenn Sie uns Ihre Waffen für diese Auskunft geben.« Calhoun stockte der Atem. »Wir können darüber später verhandeln«, erwiderte er. »Ich bin etwas verwirrt, verstehen Sie? Erledigen wir die Dinge der Reihe nach. Bringen Sie die Kuh.« Er stützte den Kopf auf die Hände. Fast hätte er vergessen, das Mikrophon abzuschalten. Er blickte Murgatroyd flehend an. »Murgatroyd, sag etwas Vernünftiges! Ich habe noch nie mit jemand gesprochen, der vor Hysterie fast überschnappt. Wenigstens nicht in den letzten Jahren. Sag etwas Vernünftiges!« »Tschi?« kreischte Murgatroyd mit großen Augen. »Danke«, sagte Calhoun. Er ging wieder an die Luke, um die Umgebung zu beobachten. Er sah, wie ein paar Gestalten aus den Schuppen kamen, die an den Mauern des Kontrollturms klebten. Ihre
Kleidung mußte schwer und steif sein, nach den schwerfälligen Bewegungen der Gestalten zu schließen. Die Männer bewegten sich zu Fuß über die Weide, die früher Landeplatz für Raumschiffe gewesen sein mußte. Sie erreichten eine Stelle, wo ein Tier auf der Erde lag. Calhoun hatte die Kuh vorhin nicht weiter beachtet. Kühe legten sich ja häufig ins Gras, um wiederzukäuen. Man sah sie fast überall, wo Menschen Kolonien gegründet hatten. Die Männer in den steifen Anzügen zogen die Pflöcke heraus und spulten den Draht auf, mit denen sie um die Kuh herum einen Zaun errichtet hatten. Dann trieben sie das Tier mit Stöcken an. Es richtete sich auf und bewegte den Kopf hin und her. Dann trottete es auf das Schiff zu. Fünfzig Meter vom Schiff entfernt blieb die Gruppe stehen. Die Außenmikrophone übertrugen das Murmeln der Stimmen in die Kabine. Jetzt konnte Calhoun auch die Gesichter erkennen. Vier der sechs Männer trugen Bärte. Die sechs drehten sich um und entfernten sich hastig. Die beiden jungen sahen sich mehrmals um. Die Kuh legte sich wieder ins Gras und glotzte. »Ich verlasse jetzt das Schiff«, sagte Calhoun. »Wir behalten Sie im Auge!« kam die Antwort aus dem Lautsprecher. Calhoun blickte auf das Außenthermometer, zog einen zweiten Anzug über, steckte den Energiestrahler in die Tasche und verließ das Schiff durch die Ausstiegsluke. Die Luft war bitterkalt. Das empfand man besonders nach zwei Monaten Aufenthalt in einem vollklimatisierten Schiff. Doch Calhoun fror nicht. Er brauchte eine Weile, bis er diesen Widerspruch erklären konnte. Der Boden war warm, obgleich die Luft eiskalt war. Heizelemente mußten in den Boden eingelassen worden sein, die ihre Energie irgendwoher bezogen, wahrscheinlich vom Landekreuz, das wiederum die Ionosphäre anzapfte. Der Boden war jedenfalls warm, Pflanzen
wuchsen, von denen sich die Kühe ernährten. Wahrscheinlich gab es auch Hydroponik-Gärten unter der Erde. Dort zog man das Gemüse, das man zur gesunden Ernährung brauchte. Aber in einem kalten Klima war der Mensch auch auf fleischliche Nahrung angewiesen. Calhoun überquerte die Wiese. Ringsum ragten finster die schneebedeckten Bergriesen auf. Er musterte die Kuh mit zugekniffenen Augen. Es war zum Lachen. Er hatte keine Ahnung von Tiermedizin und was so ein Haustier alles an Krankheiten kriegen konnte. Die hysterische Stimme vorhin hatte behauptet, das Biest sei »eingeschmuggelt« worden, um eine ganze Herde »zu vernichten«. Also handelte es sich um eine Infektion, und zu einer Infektion gehört immer ein Erreger. Er nahm dem Tier Blut- und Speichelproben ab. Bei einem Wiederkäuer muß sich eine Darminfektion zweifellos auch im Speichel nachweisen lassen. Er überlegte, daß er von der normalen Temperatur eines Rindviehs keine Ahnung hatte. Auf diesen Wert mußte er also verzichten. Auch Puls oder Atmung halfen ihm nicht. Schließlich kam es nur sehr selten vor, daß man den interstellaren Med-Service wegen einer kranken Kuh alarmierte. Im Schiff verdünnte er die Proben mit einer Nährlösung. Er verteilte sie auf Objektträger und legte die hauchdünnen Deckplättchen darüber. Unter dem Elektronenmikroskop untersuchte er die Proben. Fünf Minuten später hatte Calhoun den Erreger isoliert und auch ein Gegenmittel gefunden. Unter dem Mikroskop beobachtete er, wie die mikroskopisch kleinen Fremdkörper abstarben. Anschließend stieg Calhoun wieder aus dem Schiff und ging zu der kranken Kuh hinüber. Er schätzte ihr Gewicht und gab ihr dann eine Injektion. Im Schiff schaltete er das Telefon ein und sagte: »Die Kuh dürfte in etwa dreißig Stunden wieder auf
den Beinen sein. Verraten Sie mir jetzt den Namen Ihrer Sonne?« Die Stimme entgegnete hitzig: »Wir hatten doch von Waffen gesprochen! Außerdem müssen wir abwarten, ob die Kuh tatsächlich gesund wird! In einer Stunde ist Sonnenuntergang. Wenn es wieder Tag wird und es der Kuh besser geht, werden wir weitersehen.« Calhoun schaltete das Mikrophon ein, um die Geschehnisse an Bord aufzuzeichnen. Die technischen Einzelheiten seiner Manöver hatte er bereits diktiert. Jetzt beschrieb er den Materiering, die Verhältnisse auf dem Planeten und erwähnte die Rückschlüsse, die er daraus zog. »Besonders bedenklich erscheinen mir die Anzeichen eines Einsamkeits-Syndroms. Die Leute hier hegen ein unbegründetes Mißtrauen gegen mich und lassen sich auf keine Verhandlungen ein, weil sie fürchten, ich könnte sie als Fremder irgendwie überlisten. Sie stellen Posten aus – angeblich hätte sich jemand durch die Postenkette geschlichen –, um sich vor den Gegnern zu schützen, die in Zwei-Stadt und Drei-Stadt wohnen sollen. Ich habe jedoch den Eindruck, daß die Posten einen Quarantänezustand aufrechterhalten. Wahrscheinlich haben die anderen Gemeinden ebenfalls Quarantänebestimmungen erlassen und führen gegeneinander eine Art von bakteriologischem kalten Krieg. Anders läßt sich das Unterschieben einer kranken Kuh, um die Herde der Nachbargemeinde zu vernichten, nicht erklären. Zwar verfügt diese Gemeinde über ein Landekreuz für Raumschiffe, aber das befreit sie nicht von ihrem Isolations-Komplex. Ich fürchte, ich habe es hier mit einem Fall des klassischen Robinson-Crusoe-Problems zu tun. Falls das zutrifft, werde ich noch unangenehme Überraschungen erleben!«
Er schaltete das Mikrophon ab. Das klassische CrusoeProblem war eine sehr heikle Angelegenheit. Es leitete seinen Namen von einer sagenhaften Geschichte ab, die sich auf der Erde zugetragen haben soll. Ein Mann namens Crusoe soll dort ein halbes Leben lang allein auf einer Insel gelebt haben, nachdem er Schiffbruch erlitten hatte. Mit seinem Namen hatte man eine Krankheitserscheinung bezeichnet, die besonders häufig in den ersten hektischen Jahren der galaktischen Kolonisation auftrat. Diese Erscheinung trat zum erstenmal im Zusammenhang mit einem Schiffbruch auf. Besatzung und Passagiere eines Raumschiffes waren erst nach drei Generationen wiederentdeckt worden. Später ereigneten sich natürlich noch viel schlimmere und tragischere Fälle. Inzwischen war vieles anders geworden. Trotzdem war der Robinson-Crusoe-Fall theoretisch noch möglich. Hier war er vielleicht sogar eingetreten. Calhoun hoffte natürlich, daß es nicht so sei. Es kam Calhoun gar nicht in den Sinn, daß die Sache ihn eigentlich nichts anging, weil er keinen Auftrag hatte. Er gehörte zum Med-Service, und der Med-Service hatte für das Wohl der Menschen zu sorgen, wo er sie antraf. Wenn eine Handvoll Leute sich dafür entschied, in einer unwirtlichen Gegend zu wohnen, war das deren Problem. Leitete sich aber daraus unnötige Gefahr für Leib und Leben ab, mußte man eingreifen. Und in einer Crusoe-Kolonie gab es eine Menge lebensgefährlichen Zündstoff! Die Nacht sank auf den Planeten herab. Neue Geräusche drangen von draußen herein. Er blickte hinaus. Die Weide lag im matten Licht des Ringes im All. Nur die Stahlgerüste des Landekreuzes ragten schwarz und drohend in die eisige Luft. Er sah eine dunkle Gestalt sich zwischen den Gerüsten bewegen. Sie verschwand und tauchte als schwarzer Schatten vor dem weißen Schneehintergrund wieder auf. Dann sah er sie
nicht mehr. Die Zeit verging. Wieder erschien eine Gestalt an der Stelle, wo die andere vorhin verschwunden war. Sie ging auf das Landefeld zu. Es hatte vermutlich eine Ablösung zwischen Wachtposten stattgefunden. Mißtrauen, Feindseligkeit. Die unangenehmsten Eigenschaften der menschlichen Rasse waren hier nach langer Isolierung wieder zu Tage getreten. Die Bevölkerung, die hier wohnte, konnte nicht groß sein. Und sie war wieder – so schien es wenigstens, –, in drei voneinander isolierte Gemeinden aufgeteilt. Diese hier besaß das Landefeld, also Energie, und ein Raumtelefon; jedoch keinen Fernsehschirm. Daß es hier drei einander feindlich gesinnte Gruppen gab, machte die Situation vom medizinischen Standpunkt aus noch viel komplizierter. Calhoun erwachte bereits wieder, als draußen noch alles still war. Ein paarmal hörte er berstende Geräusche im Gebirge, als würde dort geschossen. Wahrscheinlich rührte das Bersten von den Gletschern her. Er fühlte sich plötzlich schrecklich nervös. Es war noch immer dunkel, als er plötzlich draußen vor dem Schiff Geräusche hörte. Er stellte den Verstärker ein und erkannte, daß sich eine Gruppe von Menschen auf das Schiff zubewegte. Ab und zu hielten sie an, als müßten sie sehr vorsichtig sein. »Murgatroyd«, sagte Calhoun, »wir bekommen Besuch. Sie haben sich nicht über Raumtelefon gemeldet, also gehören sie eigentlich nicht hierher.« Murgatroyd kam blinzelnd aus seiner Ecke, wo er geschlafen hatte. Er sah zu, wie Calhoun den Energiestrahler entsicherte und das Bordaufzeichnungsgerät einschaltete. »Alles klar, Murgatroyd?« »Tschi!« kreischte Murgatroyd, als leise, doch ziemlich aufgeregt gegen die Einstiegsluke geklopft wurde. Calhoun zog eine Grimasse und trat in die Schleuse. Er schaltete die Sperre aus und wollte die Luke nach außen schwingen, als sie
ihm aus der Hand gerissen wurde und ein paar Gestalten in die Kabine stürzten. Sie drückten ihn buchstäblich gegen die Wand. Er hörte, wie die Luke sich wieder leise schloß. Dann sah er sich fünf vermummten Männern gegenüber, die Mäntel, Kapuzen und Handschuhe trugen. Sie hatten sich auch Tücher vorgebunden, die ihre Gesichter bis zu den Augen verdeckten. Als Waffen trugen sie Messer, aber keine Strahler. Eine vierschrötige Gestalt mit kalten grauen Augen schien der Sprecher zu sein. »Sie sind also der Mann, der heute hier landete«, sagte er mit einer tiefen Stimme, die schroff und befehlend klang. »Mein Name ist Hunt. Aus Zwei-Stadt. Sie sind Mediziner?« »Richtig«, erwiderte Calhoun. Die Augen, die auf ihn gerichtet waren, blickten eher ängstlich als drohend. Nur der vierschrötige Wortführer hatte keine Furcht vor ihm. »Ich landete hier, um herauszufinden, wo ich eigentlich bin. Mein Astro-Computer ist falsch programmiert worden und…« »Sie kennen sich also mit Krankheiten aus, eh?« unterbrach ihn der Vierschrötige. »Können Krankheiten heilen, wie?« »Ich bin Pilot eines Med-Schiffes«, antwortete Calhoun. »Sie werden in Zwei-Stadt gebraucht«, sagte Hunt mit seiner tiefen Stimme. Sein Auftreten verriet Entschlossenheit und Tatkraft. »Wir kamen hierher, um Sie zu holen. Nehmen Sie Ihre Medikamente mit. Ziehen Sie warme Sachen an. Wir können transportieren, so viel Sie brauchen oder mitnehmen wollen. Wir haben einen Schlitten draußen.« Calhoun spürte so etwas wie Erleichterung. Dieser Vorschlag kam nicht ungelegen. Das würde seine Aufgabe auf diesem Planeten erheblich vereinfachen. Wenn Abgeschiedenheit und Angst den Verstand lähmen, Abwechslung und Hoffnung von vornherein ausschließen, dann kann auch ein Mediziner nicht mehr viel helfen. Doch wenn man ihn aus eigenem Antrieb zu sich holte…
»Tschi!« kreischte Murgatroyd von der Decke herab. Calhoun blickte hinauf, wo Murgatroyd sich an einem Ring festhielt. Murgatroyd war ein friedliches Tier. Wenn es zu Handgreiflichkeiten kam oder zu kommen drohte, verdrückte er sich. Doch jetzt schimpfte er. Die maskierten Männer blickten ängstlich zu ihm hinauf. Der Anführer fuhr seine Begleiter sofort schroff an: »Das ist doch nur ein Tier!« Er wandte sich wieder Calhoun zu. »Wir brauchen Sie wirklich. Wir führen nichts Böses im Schilde. Und wenn Sie als Belohnung was brauchen können, was wir besitzen, können Sie es haben. Aber jetzt kommen Sie mit!« »Gehören diese Gesichtsmasken auch zu den Beweisen Ihres guten Willens?« fragte Calhoun. »Die müssen wir tragen«, antwortete die Baßstimme ungeduldig. »Möchten uns nicht anstecken. Sie sind bestimmt Bakterienträger. Zeigen Sie uns jetzt, was Sie mitnehmen wollen.« Calhouns Optimismus schwand. Diese Antwort hatte seine Illusionen zerstört. Der Einsamkeitswahn saß tiefer, als er gedacht hatte. Daß Fremde gefährlich sind, ist ein Vorurteil oder Glaubenssache. Alle Menschen tragen Krankheitskeime in sich. Auch das war Glaubenssache. Früher glaubte man sogar, sie hätten den bösen Blick. Aber selbst der Rückfall in die Primitivität konnte die Spuren der Kultur nicht ganz ausgelöscht haben. Drei Niederlassungen gab es auf diesem Planeten. Soweit Calhoun das beurteilen konnte, waren die Leute hier zivilisiert genug, nicht an Zauberei zu glauben, sondern nur an die Gefahr einer Ansteckung. Wahrscheinlich gab es dafür Gründe oder hatte es handfeste Gründe gegeben. Folglich unterbanden die Bewohner der drei Niederlassungen jeden Kontakt mit der anderen Gruppe. Sie blieben unter sich. Fremde wurden zurückgewiesen. Doch immer bestand Gefahr, daß diese Quarantäne durchbrochen wurde, falls der Kreis der in der Selbstisolation lebenden Gemeinschaft zu groß wurde.
Denn der Zwang, diese Schranken zu durchbrechen, war ein menschliches Prinzip. Und damit würde auch das Dogma Gültigkeit verlieren, daß die Isolation in einer feindlichen Umwelt die einzige Rettung vor dem Untergang war. »Ich komme gern mit Ihnen«, sagte Calhoun. »Aber ich muß den Leuten hier Bescheid geben, daß ich das Schiff verlassen habe. Es wäre sehr peinlich für mich, wenn sie mein Schiff in den Raum hinauskatapultieren, weil ich mich nicht am Telefon melde. Die bringen das fertig. Man ist hier sehr schreckhaft.« »Hinterlassen Sie eine schriftliche Botschaft«, befahl Hunt ungeduldig. »Ich verfasse sie. Und wenn sie vor Wut platzen, sie würden es nicht wagen, uns zu verfolgen.« »So?« »Glauben Sie vielleicht, die Leute von Ein-Stadt wollen unter einer Schneelawine begraben sein?« Calhoun sah das ein. In der Polarzone war das Reisen schon schwierig genug. Diese Leute hatten viel gewagt, um ihn abzuholen. Doch sie waren stolz auf ihren Wagemut. Sie glaubten nicht, daß die Einwohner anderer – »geringerer« – Städte so viel Mut besaßen wie sie. Überheblichkeit gehörte zu den Symptomen ihrer Krankheit. Es fängt klein an und endet mit Gruppenwahn. Calhoun begann zu packen. Sein Mikroskop ließ er zurück. Das war zu kostbar. Die Antibiotika würden gute Dienste leisten. Antiseptische Mittel auf jeden Fall. Seine Erste-HilfeAusrüstung. »Das ist alles«, sagte er dann. »Decken brauchen Sie noch«, entgegnete Hunt. Calhoun zuckte die Achseln. Er zog sich warm an. Er hatte zwar schon einen Energiestrahler in der Tasche, holte aber trotzdem mit betonter Gelassenheit ein Energie-Strahlgewehr aus einem Fach unter der Decke. Seine Besucher ließen das widerspruchslos geschehen. Achselzuckend legte Calhoun es wieder ins Fach zurück. Das
Herunterholen der Waffe war nur ein Versuch gewesen. Calhoun deutete das Schweigen als positives Zeichen. Vielleicht war es diesem vierschrötigen Wortführer, Hunt, gelungen, wenigstens seine Gemeinde einigermaßen bei gesundem Verstand zu erhalten. Calhoun hoffte es. »Murgatroyd«, sagte er zu seinem Tormal, der sich immer noch an der Kabinendecke festklammerte. »Wir haben zu tun. Besser, du kommst mit.« Murgatroyd turnte mißtrauisch herunter und hüpfte dann auf Calhouns Schulter. Dort klammerte er sich fest. Calhoun fiel es auf, daß seine Entführer, Besucher – wie man sie auch nennen mochte – es ängstlich vermieden, irgend etwas in der Kabine anzufassen. Wenigstens nicht mit bloßen Händen. Doch nicht Scheu oder ein Gebot der Höflichkeit leiteten sie. In ihren Augen flackerte die Angst – die Angst vor der Ansteckung. »Ungehobelte Burschen, wie?« flüsterte Calhoun seinem Weltraumgenossen zu. »Trotzdem steckt in der rauhen Schale ein Herz aus Gold. Wir Ärzte müssen wenigstens so tun, als ob wir nur das beste von unseren Patienten erwarteten!« »Tschi!« kreischte Murgatroyd, als Calhoun die Luke betrat.
3
»Die Zivilisation stützt sich auf die Vernunft, die menschliche Ziele und Zwecke verwirklichen will. Die meisten Fehler stellen sich beim Denkprozeß ein. Doch es kann auch ein tiefer und fundamentaler Irrtum darüber vorliegen, welche Ziele und Zwecke der Mensch verfolgt. Es ist eine Tatsache, daß die Ziele und Zwecke der Menschen nicht einfach denen vernunftbegabter Tiere gleichzusetzen sind. Es ist ein Kardinalfehler, wenn man zum Beispiel glaubt, Wohlstand, Glück oder sogar das Überleben seien gar keine so hohen Güter, daß es sich danach zu streben lohne.« The Practice of Thinking Fitzgerald
Draußen am Kombinationsschloß der Einstiegsluke wurde ein Zettel befestigt. Darauf stand, daß Calhoun von Männern aus Zwei-Stadt entführt worden war, um einen Kranken zu heilen. Weiter stand da, daß man Calhoun wieder zurückbringen würde. Vielleicht glaubten die Empfänger der Nachricht nicht daran; aber es würde ihnen kaum gelingen, das Schiff zu zerstören. Auch ein Einbruch ins Schiff würde fehlschlagen. Es war ein eigenartiges Gefühl, über grüne Matten zu schreiten, während der Frost unter den Sohlen knirschte. Der Nachtwind war beißend kalt. Calhoun trug einen Mantel aus synthetischem Fell, auf dem sich selbst bei extremen Temperaturen kein Reif bilden konnte. Trotzdem mußte er die geheizte Schneebrille festerziehen und Mund und Nase mit Fell bedecken, um ein Tränen der Augen zu verhindern. Andererseits war es ihm zu heiß an den Füßen, die stark
schwitzten, als er die tausend Meter bis zum Rand der Weide zurückgelegt hatte. Dort wartete ein Schlitten. Fünf Männer hatten die Kabine des Raumschiffes betreten. Beim Schlitten wartete ein sechster. Alarm war nicht geschlagen worden. Alles blieb ruhig. Hunt drängte Calhoun, auf dem Schlitten Platz zu nehmen. »Ich bin kräftig genug, einen Fußmarsch durchhalten zu können«, wendete Calhoun ein. »Sie haben keine Ahnung, wohin die Reise geht«, erwiderte Hunt schroff. Calhoun setzte sich also auf den Schlitten. Die Kufen waren sehr lang. In der Dunkelheit konnte er natürlich nicht alle Einzelheiten erkennen; doch schien ihm die Konstruktion des Schlittens einleuchtend. Mit den extrem langen Kufen konnte man sogar Gletscherspalten überwinden. Die sechs Männer schoben. Calhoun blickte stirnrunzelnd geradeaus. Murgatroyd begann zu zittern. Calhoun steckte ihn unter seinen Mantel. Zwei Meilen vom Weidegebiet entfernt hielt der Schlitten an. Einer von den Männern tat etwas hinter Calhouns Sitz. Plötzlich zerschnitt ein explosionsartiges Geräusch die Stille. Der Schlitten setzte sich in Bewegung, während die sechs Männer auf die Sitzfläche sprangen. Einer fluchte leise. Im gleichen Augenblick machte der Schlitten einen heftigen Satz nach vorn und schoß eine Anhöhe hinauf. Die Geschwindigkeit nahm noch zu. Auf beiden Seiten stoben Schneefontänen im hohen Bogen auf. Dann ging es wieder bergab, hinunter in eine Schlucht, wo das Echo knatternd von den Schneewänden zurückhallte. Eine halbe Stunde ging das so. Calhoun hatte noch nie so eine waghalsige, aufregende und schöne Fahrt erlebt wie diese Schlittentour. An einer Stelle schoß der Schlitten wie ein Pfeil zwischen den Felsen heraus und raste dann so schnell einen Schneehang hinunter, daß der Wind heulend durch die Kufen pfiff. Dann schaltete der Antrieb um, während die Fahrt sich erheblich
verlangsamte und der Schlitten schließlich nur noch im Schrittempo dahinkroch. Jetzt bewährte sich die Gliederkonstruktion des Aufbaus. Vier Männer übernahmen die Steuerung des Schlittens, der sich wie eine Schlange über die eisige Fläche eines Gletschers wand, an aufgetürmten Eisschollen entlang und über knisternde Firnzungen. Einmal hielt der Schlitten an. Lange Stäbe wurden ausgefahren und legten sich wie eine Brücke über eine mächtige Gletscherspalte. Sie glitten darauf hinüber und zogen die Stäbe wieder ein. Dann ging es hinauf zu einem bläulich schimmernden Kamm, der die Höhenzüge ringsum überragte. Wie Wellen verloren sich die Berge in der Ferne. Dann ging es wieder atemberaubend schnell bergab, durch einen Tunnel, den das Schmelzwasser irgendwann einmal in das Eis gespült hatte. Jäh öffnete sich ein riesiges Tal zu ihren Füßen. Das mußte ihr Reiseziel sein. Ein paar hundert Meter unter ihnen, auf der Talsohle, war ein dunkler, ungefähr zwei Meilen langer Fleck zu sehen. Der blaugoldene Schimmer des Nachthimmels ließ keine Farbe erkennen; doch es handelte sich hier um ein ähnlich beheiztes Weideland wie in Ein-Stadt. Nur daß hier Nebelschwaden aufstiegen und sich über dem Tal zu einem Wolkendach verdichteten. Ein Wind erfaßte die Wolken und trieb sie fort. Der Schlitten verlangsamte die Fahrt und blieb neben einem hohen steinernen Kamin stehen. Eine Stimme rief etwas, Hunts Baß antwortete: »Wir sind’s. Wir haben ihn. Ist alles in Ordnung?« »… nein!« erwiderte die unsichtbare Gestalt. »Sie sind ausgebrochen. Er brach aus, band sie los, und jetzt sind sie wieder entkommen. Wir hätten sie töten sollen. Dann hätten wir jetzt nicht die Scherereien!« Alles hielt inne, verstummte, erstarrte in der Bewegung, als hätten die Männer auf dem Schlitten einen furchtbaren Schock
erlitten, als wären alle ihre Anstrengungen mit einem Schlage zunichte gemacht worden. Calhoun wartete. Hunt sah aus wie eine Statue aus Stein. Dann spuckte einer der Männer auf dem Schlitten aus. Ein anderer bewegte sich unruhig. »Alles umsonst«, sagte die Stimme von vorhin rauh. Calhoun fragte: »Was soll das heißen? Sind die Patienten weggelaufen?« »Ist das der Quacksalber?« fragte der Unsichtbare spöttisch. Dann fuhr er wütend fort: »Natürlich sind sie weggelaufen! Mann und Frau! Jetzt haben wir die Bescherung! Mit DreiStadt gibt’s Ärger, weil wir ihnen den Medizinmann geklaut haben! Drei-Stadt läßt sich das bestimmt nicht gefallen…« Die Stimme wurde schrill, überschlug sich fast vor Zorn. »Und alles nur, weil die beiden sich verliebt haben! Wir hätten sie entweder gleich umlegen oder im Schnee sterben lassen sollen, wie sie es vorhatten!« Calhoun nickte leicht. Wenn ein Syndrom den Kontakt zwischen zwei Gemeinden verbietet, weil man sich vor einer tödlichen Ansteckung fürchtet, sind natürliche romantische Beziehungen ebenfalls verboten. Exogamie – Partnerwahl außerhalb einer geschlossenen Gemeinschaft – ist notwendig für die Gesundheit eines Stammes, eines Volkes, einer Rasse. Deshalb hat die Natur alle Lebewesen mit einem Instinkt dafür ausgerüstet. Je gewaltsamer aber eine kleine Gruppe von Menschen sich isoliert, desto stärker wird der Drang zur Exogamie. Schon bei oberflächlichen Begegnungen zwischen Fremden kann sich dieser Drang mit Gewalt bemerkbar machen. Diese Anziehungskraft, die ein Fremder auf einen anderen ausübt, ist sowohl eine weise Vorsorge der Natur wie auch der Anlaß zu großen Katastrophen. Es ist eine fast berüchtigte Tatsache, daß die Mannschaften von Raumschiffen auf Planeten mit kleinen und selten besuchten Kolonien außerordentlich gern gesehen sind. Es ist nicht weniger bekannt, daß ein Mädchen, das auf ihrem
eigenen Planeten keinen Mann findet, nur das Fahrgeld zu einem anderen Planeten zusammenzukratzen braucht, um den Mann ihrer Wahl zu finden. Calhoun hätte diesen Leuten gleich voraussagen können, daß jemand gegen ihre Tradition, ihr Gesetz und ihre Quarantäne revoltieren würde. Auch die heftige Reaktion in diesem besonderen Fall war verständlich. Dieses Mädchen mußte sich schon schrecklich verliebt haben – was natürlich auch für den jungen Mann galt –, wenn sie dafür ihren Ausschluß aus der Gesellschaft in Kauf nahm. Schließlich gab es auf dieser Welt nur Nahrung auf künstlich beheizten Weiden und aus Hydroponik-Gärten. Für Menschen, die sich nicht an die Quarantänebestimmungen hielten, war die Liebe glatter Selbstmord. Für die anderen, die diese Leidenschaft nicht kannten, bedeutete Liebe eine Kriegserklärung. Die tiefe Stimme von Hunt sagte tonlos: »Hör auf. Es ist meine Schuld. Ich tat es für meine Tochter. Ich wollte nicht, daß sie starb. Ich werde dafür büßen. Drei-Stadt und Ein-Stadt werden sich wieder beruhigen, wenn ihr meldet, daß alles nur meine Schuld war. Und daß ihr mich deshalb aus der Stadt vertrieben habt.« Calhoun fragte scharf: »Was soll das? Was geht hier vor?« Der Mann im Schatten antwortete wütend und verächtlich: »Seine Tochter Nym hatte Postendienst. Sie sollte verhindern, daß sich Leute aus Drei-Stadt bei uns einschlichen. Sie unterhielt sich mit einem Posten von Drei-Stadt über eine Schlucht hinweg. Beide besaßen Funkgeräte. Die waren nur für den dienstlichen Gebrauch bestimmt, aber die beiden unterhielten sich privat auf unserer Wellenlänge. Dann stahl sie ein Fernsehsprechgerät aus unserem Lager. Er besorgte sich offenbar auch eins. Und dann bildeten sie sich ein, es lohne sich, gemeinsam zu sterben. Sie wollen versuchen, den
Äquator zu erreichen. Aber die Aussichten, daß sie es schaffen, sind gleich Null!« »Wir hätten sie laufenlassen sollen«, meinte Hunt niedergeschlagen. »Dann wären sie gestorben. Aber ich überredete ein paar Männer dazu, wir sollten sie wieder einfangen. Wir trafen Vorsichtsmaßnahmen wegen – wegen der Seuche. Und wir – ich – sperrten sie in getrennte Zellen. Ich – ich hoffte, daß meine Tochter nicht gleich an der DreiStadt-Krankheit sterben würde. Ich hoffte sogar, daß der junge Mann nicht an der Seuche sterben würde, die bei uns herrscht, wie er behauptet, obwohl wir noch nie etwas davon gemerkt haben. Und dann fingen wir Ihren Funkspruch auf, in Ein-Stadt landen zu dürfen. Wir konnten diesen Ruf nicht beantworten; doch wir bekamen jedes Wort mit, auch die Sache mit der kranken Kuh. Und… Wir haben irgendwo mal gelesen, daß es Med-Schiffe gibt. Ich – ich hoffte, Sie könnten Nym retten. Sie sollte nicht an der Seuche sterben, die der junge Mann aus Drei-Stadt eingeschleppt hat. Aber meine Tochter und der junge Mann sind wieder geflohen.« »Und wir gehen jetzt auch kein Risiko mehr ein!« rief die Stimme aus dem Schatten der Felsen. »Wir haben einen Beschluß gefaßt! Sie sind fort. Wir müssen alles verbrennen, was die beiden berührt haben. Und du wirst dein Amt als Ratsvorsitzender niederlegen. Das ist ebenfalls beschlossen. Und wir wollen keinen Arzt bei uns haben. Der Rat hat dagegen gestimmt!« Wieder nickte Calhoun, als habe er das alles erwartet. Es ist ein charakteristisches Zeichen für eine Angstpsychose, daß man alles zurückweist, was irgendwie mit dem Gegenstand zusammenhängt, vor dem man Angst hat. Auch kluge, sorgfältig überlegte Maßnahmen. Hier lag ein akuter Fall vor, der den Med-Service zum Eingreifen zwang. Denn hier wurden aus einer Zwangsvorstellung heraus Menschenleben
sinnlos gefährdet. Hunt machte eine verzweifelte Handbewegung. »Ich werde den Mediziner wieder zurückbringen. Vielleicht können sie ihn in Ein-Stadt brauchen. Man wird mir die Schuld geben, weil ich ihn entführt habe. Ich brauche leider den Schlitten, aber ihr hättet ihn ja sowieso verbrennen müssen. Der Mediziner wird den Leuten von Ein-Stadt berichten, daß ich verbannt worden bin. Ihr verliert mich und meine Tochter, Drei-Stadt hat einen Mann verloren. Ein-Stadt wird zwar murren und schimpfen, aber sie haben ja nichts verloren. Deswegen werden sie auch nichts gegen euch unternehmen.« Stille. Einer der Männer, die bei der Entführung Calhouns geholfen hatten, rutschte vom Schlitten und trottete auf den Felskamin zu. Hunt rief ihm mit barscher Stimme nach: »Vergiß nicht, deine Kleider zu verbrennen! Ihr anderen verlaßt den Schlitten. Ich bringe den Mediziner zurück. Es hat keinen Sinn, einen Krieg anzufangen, nur weil ich einen Fehler gemacht habe. Ich allein bezahle die Zeche.« Die Männer rutschten vom Schlitten, standen verlegen im Schnee. Einer sagte unbeholfen: »Tut mir leid, Hunt. Viel Glück!« »Damit kann ich jetzt auch nichts mehr anfangen«, erwiderte der vierschrötige Mann. Das Knattern des Schlittenmotors verstärkte sich wieder zu einem donnernden Getöse, nachdem der Schlitten gewendet hatte und sich von der Gruppe der Männer entfernte. Calhoun beugte sich zur Seite und versuchte, das Knattern des Motors zu überschreien. Er winkte mit beiden Händen. Hunt stand hinter dem Sitz und steuerte das Kufenfahrzeug. Er drosselte den Motor. »Was wollen Sie denn?« fragte Hunt. »Zwei Menschen sind weggelaufen«, sagte Calhoun aufgebracht. »Ihre Tochter Nym und ein junger Mann aus
Drei-Stadt. Sie hat man aus Ihrer Gemeinschaft ausgeschlossen, damit es keinen Krieg zwischen den beiden Kolonien gibt.« »Und?« fragte Hunt müde. »Was für eine Frage! Beeilen Sie sich und fahren Sie den beiden nach, ehe sie im Schnee umkommen!« brüllte Calhoun wütend. »Schließlich haben Sie mich ja geholt, um die beiden zu retten! Und solange man nicht unbedingt sterben muß, soll man es auch – verdammt noch mal – nicht tun!« Hunt erwiderte tonlos: »Sie sind unterwegs zur heißen Klimazone. Dort werden sie nie ankommen. Ich will Sie zuerst zu Ihrem Schiff zurückbringen und den beiden anschließend den Schlitten geben, damit sie wenigstens… damit Nym nicht so rasch sterben muß.« Er setzte den Schlitten wieder in Bewegung. Hunts Zustand war Calhoun nur zu gut vertraut – Schock oder Verzweiflung, die jedes andere Gefühl verdrängten. Calhoun zog den Energiestrahler aus der Tasche. Schon von Anfang an hätte er seine Entführung verhindern können, wenn er es gewollt hätte. Aber seine Aufgabe war es, zu helfen, wenn man seine Hilfe brauchte. Er richtete den Strahler auf den Schnee und drückte auf den Auslöser. Eine Schneewehe verdampfte, und eine weiße Wolke stieg hinauf in den blaugoldenen Nachthimmel. »Ich will nicht zu meinem Schiff zurückgebracht werden«, sagte Calhoun fest. »Fahren Sie hinter den beiden jungen Leuten her!« »Was – was wollen Sie?« fragte Hunt verstört. »Sie wollen die beiden…« »Wir wollen die beiden Flüchtlinge einfangen – Ihre Tochter und ihren Begleiter«, wiederholte Calhoun. »Hier herrscht eine Einsamkeits-Psychose, ein Isolations-Syndrom, ein RobinsonCrusoe-Komplex! Dagegen muß eingeschritten werden! Das
verlangt die öffentliche Gesundheit und das Wohl der menschlichen Gemeinschaft!« Hunt starrte ihn immer noch mit offenem Mund an. Calhouns Gedankengänge waren ihm unbegreiflich. »Sie meinen…« Hunt schluckte und fuhr stotternd fort: »Sie – sie sind unterwegs zur tropischen Zone. Es gibt gar keinen anderen Weg. Achten Sie auf die Spuren!« Der Schlitten raste über den Schnee. Hunt schien genau zu wissen, wohin er den Schlitten lenken mußte. Calhoun überlegte inzwischen, nach welchem Schema sich die Symptome hier auf diesem Planeten entwickelt hatten. Ganz offensichtlich existierten auf diesem Planeten drei Städte oder drei Kolonien. Man bezeichnete sie mit Ziffern. Außerdem hatte er drei eisfreie, mit Gras bewachsene Enklaven in der Schneewüste erkennen können. Eine wurde ganz offensichtlich durch unterirdische elektrische Heizelemente erwärmt. Die zweite Kolonie, die jetzt hinter ihnen lag, wurde wahrscheinlich nicht elektrisch beheizt. Offenbar wurde sie mit Dampfkraft versorgt, worauf die Nebelschwaden über der Niederlassung hindeuteten. Der Schlitten selbst verwendete Benzin als Kraftstoff und hatte einen Düsenantrieb als Motor. Solche Motoren ließen sich ziemlich einfach herstellen. ZweiStadt stützte also seine Energieversorgung auf Erdöl oder Erdgas. Was Drei-Stadt als Energiequelle benutzte, ließ sich im Augenblick nicht feststellen. Calhoun versuchte das Bild abzurunden. Zum Beispiel – wie kam das schimmernde Band in den Himmel? Eine solche Leistung überstieg bei weitem die technischen Fähigkeiten einer an Einsamkeits-Psychose leidenden Gesellschaft. Außerdem vermutete er Hydroponik-Gärten unter der Erde. Zwei-Stadt hatte als »Stadttor« einen Felsenkamin oder einen Schacht. Auch das wies auf eine nur mäßig entwickelte
Technik hin. Daraus folgte: der ursprüngliche Zweck der menschlichen Kolonie auf diesem Planeten war rein kommerziell. Ausbeutung von Bodenschätzen durch Bergwerke wahrscheinlich. Nur ein Bergwerksbetrieb rechtfertigte eine menschliche Niederlassung unter arktischen Bedingungen. Wahrscheinlich hatte man diesen Planeten kolonisiert, um seltene Metalle abzubauen. Vielleicht existierte auch eine Rohrleitung zum Raumschiffhafen, die Erdgas oder Erdöl dorthin transportierte. Wahrscheinlich hatte man das Gas oder Öl dazu verwendet, um das erzhaltige Gestein an Ort und Stelle aufzubereiten und dann als Metall in Barrenform in Raumschiffe zu verladen. Man konnte auch das Metall mit Hilfe der Suspensionsmethode im Erdöl durch die Rohrleitung zum Raumhafen transportiert haben, weil in diesem Klima andere Transportmittel zu kostspielig waren. Falls seine Theorie richtig und dieser Planet im Grunde nur eine Bergwerksniederlassung war, lösten sich viele Rätsel von selbst. Wahrscheinlich war dieser Planet früher Eigentum eines Industriekonzerns gewesen, der nur gelegentlich Raumschiffe hierherschickte, um das aufbereitete Metall abzuholen. Vielleicht hatte der Konzern hier vor einhundertfünfzig oder zweihundert Jahren eine Niederlassung gegründet, als die interstellare Verwaltung noch nicht voll entwickelt war. Es konnte durchaus sein, daß dieser Planet dem interstellaren Med-Service gar nicht bekannt war. Und eines Tages hatte man dann den Bergwerksbetrieb hier eingestellt, weil die Ausbeute sich nicht mehr lohnte. Man legte keinen Wert mehr auf diese Niederlassung. Wer den Planeten verlassen wollte, konnte natürlich gehen. Doch einige hatten hier Wurzeln geschlagen, wollten in den geheizten Städten bleiben, wo sie zur Welt gekommen waren. Sie konnten sich ein Leben auf einem anderen fremden Planeten
nicht vorstellen. So weit konnte man logisch rekonstruieren, was sich auf diesem Planeten abgespielt hatte. Doch jetzt kam das eigentliche Problem, das den Med-Service anging. Binnen eines Jahrhunderts konnte eine isolierte Gemeinde alle Abwehrkräfte gegen Krankheiten verlieren, unter denen sie bislang nie gelitten hatte. Es hatte in der Vergangenheit Fälle gegeben, daß ganze Völker ausgerottet wurden, als ein Fremder eine Krankheit bei ihnen einschleppte. Kamen zwei Gemeinschaften miteinander in Berührung, die lange in strenger Abgeschiedenheit gelebt hatten, konnte eine Seuche mit verheerender Gewalt ausbrechen. Krankheitserreger folgen ihrem eigenen Mechanismus. Der eigentliche Austausch von Krankheitskeimen hatte hier wohl schon vor zwei Generationen stattgefunden. Eine kleine, isolierte Gemeinde konnte durchaus den Erreger einer oder mehrerer Krankheiten in sich tragen. Die Leute steckten sich zwar gegenseitig an, aber die Krankheit brach nicht aus, weil sich neben den Erregern auch die Abwehrstoffe im Körper gebildet hatten. Die Gemeinde war also immun gegen die Krankheiten, die latent in ihr schlummerten. Dasselbe galt für eine zweite isolierte Gemeinde. Auch sie war immun gegen die Seuche, deren Erreger sie mit sich herumtrug; aber sie konnte die Seuche jederzeit auf Fremde übertragen. Daraus war folgende Lage entstanden: jede der drei Städte hatte im ersten Jahrhundert ihrer Isolierung wahrscheinlich einen oder mehrere Erreger in ihren Mauern kultiviert, gegen die die Leute immun waren. Aber gegen andere Erreger, die in ihrer Stadt nicht vorkamen, hatten sich keine Abwehrstoffe gebildet. Damit waren sie praktisch wehrlos gegen jeden fremden Krankheitskeim, den ein Fremder in ihre Stadt einschleppte. Praktisch konnte jeder Bewohner von Ein-Stadt, der mit einem Bewohner von Zwei-Stadt oder Drei-Stadt in Berührung kam, ihn mit seinem spezifischen Krankheitserreger
infizieren, gegen den er selbst immun war. Bei ihm selbst brach die Krankheit nie aus, aber für die anderen konnte diese Berührung tödlich enden. Dasselbe galt natürlich auch im umgekehrten Falle. Calhoun verfolgte diesen Gedankengang weiter, während ihm der eisige Wind ins Gesicht blies. Er kannte diese Situation nur zu gut. Viele primitive Tabus der Menschheitsgeschichte hatten sich daraus abgeleitet. Zum Beispiel, daß Frauen für die Männer gefährlich waren, und die Männer sich vor dem bösen Mana in acht nehmen mußten, das ihre Bräute ausatmeten. Die gleiche Vorsicht war geboten, wenn kleine, isoliert lebende Stämme sich gegenseitig überfielen und die Frauen als Beute fortschleppten. Dabei war derjenige Stamm im Vorteil, der es mit der Hygiene nicht so genau nahm und deshalb auch viele Abwehrstoffe gegen die verschiedensten Krankheitserreger entwickelt hatte. Der primitive Aberglaube, daß die Frauen für die Männer gefährlich seien, hatte nur dann eine gewisse Berechtigung, wenn die verschleppten Frauen in ihrer Kleidung, in ihrem Speichel oder Blut tödliche Krankheitskeime als »Geschenk« mitbrachten, gegen die sie selbst immun waren, die aber bei ihren Eroberern eine Seuche auslösten. Der Schlitten neigte sich, legte sich in eine Kurve und schleuderte dabei haushohe Fontänen in den Nachthimmel. Hunt drosselte den Motor. »Die Spur!« schrie er Calhoun ins Ohr. Calhoun sah die Eindrücke im Schnee – ovale Rahmen, mit einem Gitterflechtwerk verbunden. Es mußte sich um altertümliche Schneeschuhe handeln, die verhinderten, daß man zu tief in den lockeren Schnee einsank. Calhoun wußte jetzt genau, was hier vorgefallen war. Er mußte nur den klassischen »Fall«, den typischen Verlauf einer Konfliktsituation den konkreten Verhältnissen anpassen: Ein Mädchen in schweren, häßlichen Kleidern, die sie vor der
Kälte schützen sollten, bestieg einen Wachturm von ZweiStadt, der ein verschneites Gebirgstal überragte. Lange, bitterkalte Stunden vergingen, ohne daß sich etwas ereignete. Ewiger Schnee – immer der gleiche Anblick. Das Leben bestand vorwiegend aus dieser monotonen Öde. Doch das Mädchen wußte, daß dort drüben auf der anderen Anhöhe ein Wachtposten aus einer fremden Stadt stand, der die gleiche Öde und Einsamkeit ertragen mußte. Sein Hauch oder die Berührung seiner Hand bedeutete Krankheit und Tod. Sie hatte über die seltsame Wechselwirkung des Schicksals nachgedacht; denn auch ihre Berührung und ihr Hauch bedeutete Tod und Krankheit für den Posten dort drüben. Ein Gefühl der Angst beschlich sie. Doch da kam plötzlich ein Anruf von drüben auf der Frequenz ihres Funksprechgerätes. Wahrscheinlich gab sie zuerst keine Antwort. Aber sie hörte zu. Und es war die Stimme eines jungen Mannes, der wissen wollte, wer ihm da gegenüberstand. Und es kam der Tag, als sie zum erstenmal ihre Scheu überwand. Erleichtert und fasziniert stellte sie fest, daß der junge Mann von Lebensverhältnissen sprach, die ihr so sehr vertraut waren. – Und er sollte fremd und tödlich für sie sein! Natürlich, solange sie beide physischen Kontakt vermieden, war ein Gespräch ganz harmlos. Vielleicht machten sie sich sogar lustig über die tödliche Gefahr, mit der jeder den anderen bedrohte. Vielleicht amüsierten sie sich darüber, daß zwei Städte sich haßten, weil sie sich meiden mußten. Dann kam die unüberwindliche Neugierde, sich wenigstens sehen zu dürfen. Sie sprachen sich offen über diese Möglichkeit aus. Auch diese Neugierde war harmlos. Sie wußten ja, daß sie eine Grenze nicht überschreiten durften, die für sie beide den Tod bedeutete. Warum sollten sie sich nicht wenigstens anschauen? Und dann betrachteten sie sich atemlos auf den Bildschirmen der Geräte, die sie gestohlen hatten. Das war ganz harmlos. Sie
waren nur neugierig. Sie sah einen Fremden, der ihr doch so vertraut war; er sah ein Mädchen, das viel schöner war als alle, denen er in seiner Heimatstadt begegnet war. Sie beklagten das Schicksal, das ihnen eine so strenge Trennung auferlegte. Schließlich klagten sie nicht mehr – sie lehnten sich auf. Verzweifelte Rebellion, Entschlüsse und Schwüre reiften im Wechselgespräch über das verschneite Tal hinweg. Eine Erkenntnis überwältigte sie beide: es sei viel besser, gemeinsam zu sterben als getrennt zu leben. Wahnwitzige Pläne folgten – Vorbereitungen zur Flucht, ein geheimer Treffpunkt, wo sie gemeinsam den langen Weg zur heißen Zone antreten wollten. Im blaugoldenen Nachtlicht hob sich etwas Dunkles vom Schnee ab. Als der Schlitten näherkam, wurden die Umrisse zweier Menschen deutlich, die sich schützend aneinanderdrängten. Trotzig starrten sie dem Schlitten entgegen. Das Motorgeräusch erstarb, der Schlitten glitt leise dahin, der Schnee knirschte unter den Kufen. Das Mädchen riß die Gesichtsmaske herunter, die alle Menschen auf diesem Planeten trugen, wenn sie sich im Freien aufhielten. Sie wendete das Gesicht ihrem Begleiter zu, und sie küßten sich. Und plötzlich glitzerte etwas im goldenen Schimmer des künstlichen Ringes. Der Mann plante eine Verzweiflungstat. Er hob das Messer… Calhouns Energiestrahler zischte; die Messerklinge verdampfte. Der junge Mann mußte das Heft loslassen. Zischend versank das Messer im Schnee. »Es ist immer sehr spannend, wenn es dramatisch wird«, meinte Calhoun heiter. »Aber ich versichere Ihnen, ein gesunder Ausweg ist bei weitem befriedigender. Ich nehme an, die junge Dame heißt Nym. Den jungen Mann kenne ich nicht. Aber hören Sie gut zu: Nyms Vater und ich sind gekommen,
um Ihnen zu helfen. Wir wollen die Einsamkeitspsychose auf diesem Planeten bekämpfen und heilen.« Murgatroyd versuchte verzweifelt, den Kopf aus dem Mantel zu schieben. Er hatte die Entladung des Energiestrahles gehört. Aufregende Dinge spielten sich draußen ab. Calhoun schob ihn wieder zurück. »Erzählen Sie den beiden, weshalb wir ihnen nachgefahren sind, Hunt«, sagte er. »Berichten Sie, was Sie für die beiden getan haben!« Hunt gehorchte. Mit stockender Stimme erzählte er, er habe den Schlitten hierhergebracht, um sie beide in die tropische Zone zu bringen, wo sie wenigstens nicht zu erfrieren brauchten. Calhoun fügte schroff hinzu, daß es dort wahrscheinlich auch genügend Nahrung für sie gäbe. Das Band im Himmel biete eine Gewähr dafür.
4
»Eine Handlung ist normalerweise die Folge eines Gedankens. Da wir eine Handlung nicht widerrufen können, neigen wir zu dem Glauben, wir könnten auch den Gedanken nicht widerrufen, der die Tat auslöste. Tatsächlich klammern wir uns verzweifelt an unsere Fehler. Wenn wir unsere Ansichten ändern, geschieht das meistens unter dem Zwang neuer Gedanken, die eine neue Handlung verlangen – so dringend und unausweichlich, daß wir unsere früheren falschen Gedanken nicht erst entwerten müssen, sondern sie einfach vergessen, ohne es jemand zu gestehen, nicht einmal uns selbst.« The Practice of Thinking Fitzgerald
Murgatroyd kletterte vom Baum herunter, die Backentaschen mit Nüssen gefüllt. Calhoun hielt die Hand auf und Murgatroyd gestattete ihm die Früchte seiner anstrengenden Klettertour näher zu untersuchen. Murgatroyd besaß eine Reihe von nützlichen Eigenschaften. Sein Geschmackssinn und seine empfindliche Verdauung gehörten eigentlich nicht dazu. Aber jetzt waren sie eine große Hilfe. Murgatroyds Magen funktionierte so erstaunlich »menschlich«, daß alles, was Murgatroyd vertrug, auch für Calhoun genießbar war. Und Murgatroyd wiederum aß nichts, was Calhoun nicht vertrug. »Dem Himmel sei Dank. Wir haben die Frostgrenze hinter uns gelassen«, sagte Calhoun laut. »Tschi!« machte Murgatroyd. Die beiden standen auf einem mit Büschen und Bäumen bewachsenen Hügel, dessen Hang sanft bis zum Ufer einer
kleinen Bucht abfiel; hinter ihnen ragten die Schneeberge auf. Die Schneegrenze lag jetzt gut tausend Meter über ihnen. Hunt kam auf die beiden zu. Er hatte die schweren Stiefel und den Filzmantel abgelegt. Er trug einen spitzen Stock in der einen Hand und in der anderen ein Bündel Fische. Kindliches Staunen lag auf seinem Gesicht. Dieser Ausdruck wurde jetzt schon zur Gewohnheit. »Murgatroyd«, sagte Calhoun beiläufig, »hat wieder eßbare Nüsse entdeckt. Soweit ich es übersehen kann, ist das meiste, was hier wächst, von der guten alten Erde importiert worden.« Hunt nickte. Das Sprechen schien ihm auf einmal schwer zu fallen. »Ich habe mit Pat geredet«, sagte er schließlich. »Ah, der Schwiegersohn«, meinte Calhoun, »der Ihnen nicht nur für Ihre Tochter zu danken hat und die Rettung seines Lebens, sondern auch für einen gültigen Trauschein, den Sie als Magistratsbeamter von Zwei-Stadt ausstellen können. Ich hoffe, er hat es am gebührenden Respekt nicht fehlen lassen.« Hunt wurde ungeduldig. »Er sagt, Sie hätten weder bei ihm noch bei Nym etwas unternommen, um sie zu retten!« Calhoun nickte. »Da hat er recht.« »Aber… dann müssen sie doch beide sterben! Nym wird an der Drei-Stadt-Seuche sterben! Und die Leute von Drei-Stadt haben immer davon gesprochen, daß wir die Zwei-StadtSeuche mit uns herumschleppen, die uns zwar nicht schadet, für sie aber unweigerlich tödlich ist!« »Das«, erwiderte Calhoun, »beruht zweifellos auf historischen Tatsachen. Im Augenblick hat diese Behauptung nur noch Wert als Bestandteil des Isolations-Syndroms. Sie gehört zum Krankheitsbild des Robinson-Crusoe-Komplexes, den es zu behandeln gilt. Ich habe Nym und Pat absichtlich nicht behandelt, um zu beweisen, daß die Ansteckungsgefahr heute nur noch in der Einbildung von Leuten existiert, die an
Massenhypochondrie leiden. Diese Hypochondrie stützt sich zwar auf echte Krankheitsfälle, die aber heute nur noch historischen Wert haben. Doch das ist verständlich. Eine Hypochondrie fängt immer so an.« Hunt schüttelte fassungslos den Kopf. »Ich verstehe überhaupt nichts mehr!« sagte er hilflos. »Ich werde Ihnen das einmal an Hand einer Skizze erklären«, antwortete Calhoun. »Die Sache ist wirklich nicht einfach. Haben Sie Pat gefragt, was die Leute von Drei-Stadt über das Band im Himmel wissen? Ich vermute, indirekt hat es etwas mit den Pflanzen und Tieren zu tun, die in dieser tropischen Zone existieren. Aus Versehen sind die eßbaren Nüsse, die Fische, die Eichhörnchen, die Tauben, Hasen und Hummeln bestimmt nicht hierhergekommen! Was meint Pat dazu?« Hunt zuckte nur schweigend die Achseln. »Wenn ich mit ihm reden will«, fuhr Calhoun ärgerlich fort, »hört er gar nicht hin. Er gafft immerzu nur Ihre Tochter an und strahlt. Der Mann hat den Verstand verloren! Aber Sie sind immerhin sein Schwiegervater. Ihnen darf er die Antwort nicht verweigern!« Hunt setzte sich plötzlich auf den Boden, lehnte den primitiven Speer gegen einen Baum und betrachtete seinen Fang. Er hatte sich noch nicht an den Überfluß gewöhnt, mit dem die Natur hier menschliche Nahrung spendete. Die Luft kam ihm ungewöhnlich warm und würzig vor. Er wählte einen Fisch aus und begann ihn auszunehmen. Calhoun hatte ihm gezeigt, wie man die Filetstücke herausschnitt, nachdem er ihm Unterricht im Harpunieren von Fischen erteilt hatte. Das war zwei Tage nach ihrer Ankunft in der tropischen Zone. »Die Kinder von Drei-Stadt«, erzählte Hunt bei der Arbeit, »lernen das gleiche in der Schule wie die Kinder von ZweiStadt. Menschen landeten auf diesem Planeten, um unter Tage Bodenschätze abzubauen. Ein Konzern hatte sie
hierhergeschickt. Raumschiffe kamen zu festgesetzten Zeiten, um das Metall abzuholen und die Menschen hier mit allem Nötigen zu versorgen. Die Menschen auf dem Planeten hatten es gut. Sie lebten glücklich und zufrieden. Dann errichtete der Konzern das leuchtende Band im Himmel, damit eine heiße Zone entstand, wo alles wachsen und gedeihen konnte, was die Menschen hier brauchten. Doch plötzlich konnte man das Metall von den Bergwerken nicht mehr zu den Schiffen bringen, die hier landeten. Die heiße Zone hatte sich ausgebreitet, die Gletscher tauten viel stärker ab, und die Rohrleitungen zwischen den Städten barsten und konnten nicht mehr repariert werden. Da erklärte der Konzern, wenn er das Metall nicht bekäme, könne man auch keine Raumschiffe mehr schicken. Wer auf andere Planeten übersiedeln wollte, solle sich melden. Einige zogen tatsächlich weg; mit Sack, Pack, Frau und Kindern. Doch viele blieben. Sie hatten ihre Häuser, genug zu essen, so viel Licht und Wärme, wie sie brauchten. Es waren die Ur-Ur-Großväter unserer Väter, die sich zum Hierbleiben entschlossen.« Hunt untersuchte die Regenbogenforelle, die er ausgenommen hatte. Er biß ein Stück von dem rosigen Fleisch ab und kaute. »Gekocht schmeckt es besser«, bemerkte Calhoun. »Aber roh schmeckt es auch«, erwiderte Hunt. Grauhaarig und vierschrötig, bedächtig in seinen Bewegungen, verlor er nichts von seiner Würde, weil er wie ein primitiver Wilder rohen Fisch kaute. »Die Raumschiffe kamen also nicht mehr. Dafür kam die Seuche. In Ein-Stadt brach eine Seuche aus, die sich auf alle Besucher aus Zwei-Stadt und Drei-Stadt übertrug. Zwei-Stadt hatte eine andere Seuche, mit der sie die Besucher aus Ein-Stadt und Drei-Stadt ansteckte. Drei-Stadt…« Er räusperte sich. »Unsere Kinder lernen bei uns in Zwei-Stadt, nur die Bewohner von Zwei-Stadt seien gesund und haben
keine Seuche. Die Kinder in Drei-Stadt lernen aber auch so etwas. Dort hören sie in der Schule, nur Drei-Stadt sei gesund, und die anderen…« Calhoun sagte nichts. Murgatroyd knabberte an einer Nuß. Hunt sah plötzlich auf. »Pat hat Nym gar nicht mit der Seuche von Drei-Stadt angesteckt«, sagte er. »Also war das falsch, was wir dachten. Und Nym hat Pat ebenfalls nicht angesteckt. Also war Pats Befürchtung auch falsch.« Calhoun erwiderte: »Es ist nicht so leicht, wie Sie glauben. Die Krankheit kann sich in einem Krankheitsträger am Leben erhalten. So habt ihr es ja auch von den Leuten behauptet, die in den anderen Städten wohnten – sie sind Krankheitsträger. So ein Träger hat die Krankheit in sich und weiß es gar nicht. Die Leute, die mit dem Krankheitsträger in Berührung kommen, tragen die Krankheitserreger auf der Haut oder in ihrer Kleidung mit sich fort und geben sie weiter. Bald ist jeder in der Gemeinde, wo der Krankheitsträger wohnt, an diese Krankheit ›gewöhnt‹. Er ist immun. Aber man weiß das nicht. Eines Tages kommt Besuch von einem Einwohner aus einer anderen Stadt, der nicht gegen diese Krankheit immun ist. Bei dem bricht die Krankheit aus, und er stirbt daran.« Hunt dachte angestrengt nach. »Weil die Krankheit an der Kleidung hing?« Calhoun nickte. »So ist es. Andere Träger haben wieder andere Krankheitskeime in sich. Nehmen wir an, dieser Träger wohnt in Ein-Stadt. So werden alle Einwohner von Ein-Stadt an die Krankheit gewöhnt, die dieser Träger mit sich herumschleppt. Das geschieht im frühesten Kindheitsalter. Der Krankheitsträger von Zwei-Stadt hat wieder eine andere Krankheit in sich, und der von Drei-Stadt noch eine andere. Jede Stadt wird also immun gegen ihre eigene Krankheit, aber nicht gegen…«
»Ja, so muß es sein«, unterbrach ihn Hunt. »Aber weshalb stirbt Pat dann nicht an unserer Krankheit? Warum Nym nicht an Pats Krankheit? Warum tun Sie nichts, damit beide am Leben bleiben?« »Nehmen wir einmal an«, erwiderte Calhoun, »ein Krankheitsträger stirbt. Was passiert dann?« »Dann gibt es keine Krankheit mehr, die man mit sich herumschleppt. Man gibt sie nicht mehr an Fremde weiter, die nicht immun dagegen sind! Die Kinder können sich nicht mehr daran, gewöhnen, weil keine Ein-Stadt-, Zwei-Stadt- oder Drei-Stadt-Seuche mehr existiert!« »Ja«, fuhr Calhoun fort, »die Krankheit gibt es nicht mehr, nur noch den Glauben an die Seuche. Sie, Hunt, glaubten an die Seuche. Alle anderen glauben noch daran. Deshalb isolierten sich die Städte voneinander und stellten Wachen aus, weil sie etwas glaubten, was es nicht mehr gibt. Aus einer Wahrheit wurde ein Wahn. Und Nym und Pat laufen hinaus in die eisige Kälte und sterben an diesem Wahn. Dieser Glaube fordert viele Opfer. Sie wären auch daran gestorben.« Hunt schluckte. Dann lächelte er. »Was nun?« fragte er. »Mir gefällt Ihre Erklärung! Wir waren keine Narren, weil wir etwas glaubten, was einmal wahr gewesen ist. Aber wir wären Toren, wenn wir immer noch glaubten, was jetzt nur noch ein Wahn ist. Wie können wir das den Leuten beibringen, Calhoun? Geben Sie mir einen Rat! Ich werde mit den Leuten immer fertig, wenn sie keine Angst haben! Ich habe stets erreicht, daß sie taten, was ich für richtig hielt. Aber wenn sie sich fürchten…« »… wenn sie sich fürchten«, fiel ihm Calhoun ins Wort, »holen sie einen Fremden. Vergessen Sie nicht, daß auch Sie zu mir gekommen sind. Sie sind ein Fremder für die Leute von Ein-Stadt und Drei-Stadt. Pat ist ein Fremder in Zwei-Stadt. Wenn die drei Städte wirklich Angst haben, dann…«
Hunt sah Calhoun wie gebannt an. Calhoun erinnerte sich jetzt wieder daran, wem er gegenüberstand. Hunt war der gewählte Ratsvorsitzende eines Planeten. Man spürte es an diesem durchdringenden, prüfenden Blick. »Sprechen Sie weiter!« forderte Hunt ihn auf. »Wie sollen wir die Leute dazu zwingen…« Hunt machte eine Handbewegung, die alles um sie herum einschloß. »Bei der Angst…?« Calhoun sagte es ihm. Mit nüchternen Worten. Überreden war zwecklos. Worte reichten nicht hin, Drohungen reichten nicht aus, Versprechungen genügten nicht. Hasen, Tauben und Eichhörnchen und Fische – gefrorene Fische – und Säcke voll Nüsse… auch das genügte noch nicht. Beweise allein konnten den Bann nicht brechen. Aber… »Ein Isolations-Syndrom ist ein neurotischer Zustand. Ein Robinson-Crusoe-Komplex ist eine Psychose, eine neurotische Hypochondrie. Sie und Pat – Sie beide können es schaffen.« Hunt verzog das Gesicht. »Gut. Ich hasse die Kälte, die eisige Luft, seit ich dieses Paradies hier kenne. Trotzdem will ich es tun. Wenn ich Enkelkinder bekomme, sollen sie Spielgefährten haben. Möchten Sie, daß wir Sie zu Ihrem Schiff zurückbringen?« »Ja«, antwortete Calhoun. »Und dabei fällt mir etwas ein – wie heißt dieser Planet überhaupt?« Calhoun erreichte unbehelligt das Landekreuz und untersuchte das Raumschiff von außen. Er entdeckte ein paar Kratzer an der Außenhaut; aber die Luke hatte man nicht aufgesprengt. Im Licht des schimmernden Ringes sah er auch die Spuren im Gras; doch sie hielten respektvollen Abstand vom Schiff. EinStadt war aufgescheucht. Das Raumschiff machte sie nervös. Aber man war zugleich ratlos. Solange nichts Böses von diesem Fremdkörper ausging…
Er drehte am Kombinationsschloß, als etwas in seiner Nähe vorbeihoppelte. Calhoun fuhr betroffen zusammen, und Murgatroyd fragte: »Tschi?« Dann begriff Calhoun, was ihn erschreckt hatte, und lächelte. Er öffnete die Luke, zog sie hinter sich zu und stellte die Außenmikrophone an. Die Luft im Schiff kam ihm verbraucht vor nach dem eisigen Hauch der Berge. Kleine Pfoten huschten und trippelten durch das Gras. Leises Gurren ertönte. Er lächelte. Wenn der Morgen anbrach, würden die Leute von Ein-Stadt ihre Weide mit Kaninchen, Hasen, Eichhörnchen und Tauben bevölkert finden. Sie würden genauso reagieren, wie ZweiStadt und Drei-Stadt reagiert hatten: mit Panik. Und die Panik würde sofort den Gedanken wachrufen, der wie ein Alptraum über ihrem Dasein lag. Krankheit! Was man im Leben am meisten fürchtet, tritt auch nur selten ein. Dinge, die häufig vorkommen, werfen einem nicht um. Man nimmt sie als gegeben hin. Oder man stirbt an ihnen. Angst hat man immer nur vor dem Nichtvorhandenen oder dem Außergewöhnlichen. Ein-Stadt würde von der Angst vor der Krankheit erfaßt werden. Und die Krankheit würde kommen. Hunt würde sich mit seinem Tornistergerät einschalten und zu der Gemeinde sprechen. Tiefe Sorge bewege ihn – so würde er sagen –, weil die Haustiere, die eigentlich für Zwei-Stadt bestimmt waren, aus Versehen auf der Weide von Ein-Stadt ausgeladen worden waren. Er würde sagen, daß die Tiere eine Seuche in sich trugen. Die Leute von Zwei-Stadt litten bereits an dieser Seuche, die mit heftigen Kopfschmerzen begann, auf die Krämpfe und nervöse Angstzustände folgten. Und weiter würde er sagen, daß Calhoun Medikamente nach Zwei-Stadt gebracht hatte, mit der man diese und alle anderen Seuchen heilen konnte. Sollte also die Seuche mit den beschriebenen Symptomen in Ein-Stadt auftreten, konnte den Kranken sofort geholfen werden. Sie brauchten nur nach Zwei-Stadt zu reisen.
Die Krankheit würde ausbrechen. Ganz unvermeidlich. Es gab in den drei Gemeinden schon lange keine Krankheitserreger mehr. Niederlassungen in arktischen Zonen, die nie Besuch aus Städten mit gemäßigtem Klima bekamen, wo Krankheiten heimisch waren, blieben bemerkenswert gesund. Das war ganz natürlich. Aber ein EinsamkeitsKomplex… Die Leute von Ein-Stadt würden sich schließlich zähneknirschend auf den Weg nach Zwei-Stadt machen. Ihre Leiden würden echt sein. Natürlich fiel es ihnen schwer, ihre selbstgewählte Isolierung zu durchbrechen. Aber die Angst vor ihrer Krankheit – auch wenn sie nur eingebildet war – würde sie dazu zwingen. Doch damit waren die Überraschungen noch nicht zu Ende. Denn wenn sie nach Zwei-Stadt kamen, würden sie dort von Einwohnern aus Drei-Stadt behandelt werden. Sie würden entsetzt sein. Aber Hunt und Pat würden die Leute wieder beruhigen. Mit ihren »Zaubermitteln« wirkten sie das »Wunder« der Heilung. Ein Robinson-Crusoe-Komplex kann nur mit drastischen Mitteln geheilt werden. Durch ein Wunder eben Calhoun überprüfte seine Instrumente. Er mußte die Notdüsen einschalten und seinen Kurs sehr sorgfältig berechnen, um zuerst zu seiner Ausgangsbasis zurückzukehren, ehe er Merida II besuchte. Ein Irrtum von solcher Tragweite sollte ihm nicht mehr unterlaufen. Doch plötzlich mußte er lachen. »Murgatroyd«, sagte er, »ich glaube, daß unsere Fehler – die wir unter allen Umständen vermeiden möchten – in Wirklichkeit weise Gedanken der Vorsehung sind.« »Tschi?« fragte Murgatroyd. »Der Industriekonzern, der diesen Planeten kolonisierte«, sagte Calhoun, »hängte den Ring ins All, um die Kolonie autark zu machen und gewaltige Summen an Transportkosten einzusparen. Diese großartige Idee war ein Fehler; denn sie
ruinierten damit ihre Bergwerke und mußten die Kolonie aufgeben. Sie vergaßen, die aufgelassene Kolonie dem interstellaren Med-Service zu melden und begingen damit ihren zweiten Fehler. Denn jetzt brauchen sie eine Genehmigung, wenn sie ihre alte Kolonie wieder in Besitz nehmen wollen. Diese Genehmigung bekommen sie nicht, weil die Kolonie inzwischen selbständig geworden ist. Dann machte jemand den Fehler, unseren Computer falsch zu programmieren. Dieser Fehler brachte uns hierher. Ein-Stadt beging den Fehler, uns unfreundlich zu empfangen. Zwei-Stadt machte dann den Fehler, Nym als Posten einzuteilen, und DreiStadt beging den Fehler…« Murgatroyd gähnte. »Und du«, fuhr Calhoun streng fort, »machst den Fehler, daß du nicht aufpaßt.« Er schnallte sich an. Dann schaltete er die Düsen ein, und das Raumschiff schoß himmelwärts. Die Leute von Ein-Stadt kamen aus ihren unterirdischen Behausungen, um festzustellen, was dieses Getöse bedeutete. Sie würden Kaninchen, Tauben und Eichhörnchen auf ihrer Weide entdecken und sich zu Tode fürchten. Calhoun lachte. »Nachdem wir auf Super-C umgeschaltet haben, werde ich einen Bericht darüber verfassen. Ein Isolations-Syndrom und ein Robinson-Crusoe-Komplex sind psychopathische Erscheinungen, die ich mit psychologischen Maßnahmen geheilt habe. Ein außerordentliches Phänomen! Ich glaube, der Bericht wird mir Spaß machen!« Das war ein Irrtum. Zwar stimmte sein berechneter Kurs haargenau, und er kam glücklich wieder zu seiner Ausgangsbasis zurück; doch als man dort seinen Bericht las, verlangte man, daß er ein ganzes Buch über diesen Vorfall schrieb, mit Fußnoten, Quellenangabe und Register. Ja, der Bericht war wirklich ein großer Fehler gewesen!
Originaltitel: RIBBON IN THE SKY. Copyright 1952 by Street & Smith Publications, Inc. Aus ASTOUNDING SCIENCE FICTION Januar 1952.