Karin Reichel Reorganisation als politische Arena
GABLER RESEARCH Betriebliche Personalpolitik Herausgegeben von Prof...
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Karin Reichel Reorganisation als politische Arena
GABLER RESEARCH Betriebliche Personalpolitik Herausgegeben von Professorin Dr. Gertraude Krell und Professorin Dr. Barbara Sieben
Die Schriftenreihe dient der Publikation von Dissertationen und anderen richtungsweisenden Forschungsarbeiten. Die einzelnen Beiträge greifen die vielfältigen Fragestellungen im Bereich der betrieblichen Personalpolitik auf und vermitteln sowohl PraktikerInnen als auch WissenschaftlerInnen theoretische Orientierungen und handlungsrelevantes Wissen.
Karin Reichel
Reorganisation als politische Arena Eine Fallstudie an der Schnittstelle zwischen öffentlichem und privatwirtschaftlichem Sektor Mit einem Geleitwort von Prof. Dr. Florian Schramm
RESEARCH
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Dissertation Universität Hamburg, 2009
1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010 Lektorat: Ute Wrasmann | Stefanie Loyal Gabler Verlag ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.gabler.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-8349-2517-6
Geleitwort
V
Geleitwort Schon aufgrund der bedrückenden Staatsverschuldung steht der öffentliche Sektor mit seinen Aufgaben auf absehbare Zukunft in einem starken Maße unter finanziellem Legitimationsdruck. Sein Privileg ist noch immer, dass faktisch dieser Druck meist nicht zu Betriebsstilllegungen und Massenentlassungen führt. Stattdessen ist der öffentliche Sektor unter dem Vorzeichen einer stagnierenden bzw. schrumpfenden Entwicklung ganz besonders gefordert, Gewinne im Sinne ökonomischer wie sozialer Effizienz durch Binnenmodernisierung zu erzielen. Dem Wandel haftet in Wissenschaft wie Praxis durchaus Stabilität an. Seit jeher werden Organisationen nicht nur geschaffen sondern auch – mehr oder weniger geplant und erfolgreich – umgestaltet, so dass insgesamt für eine Stabilität und langfristige Überlebensfähigkeit einer Organisation, eines Systems offensichtlich Wandel notwendig ist. Jenseits dieser Allgemeinheit sind die Mühen der Ebene unvermeidlich: Wie wird die Veränderung eines Umsystems verarbeitet? Durch wen erfolgen Anpassungsprozesse? Wird auch aktiv gehandelt? Handelt es sich um den Wandel der Organisationen oder eher um Austausch – Entstehung und Untergang? All diese Fragen und weitere sind in ihrer Komplexität nur aus einer gewählten Perspektive mit einem bestimmten Erkenntnisziel produktiv zu bearbeiten. Hier hat sich Frau Reichel für eine verhaltenswissenschaftlich geprägte Analyse des organisationalen Wandels entschieden, in der neben betriebswirtschaftlichen Aspekten insbesondere psychologische und soziologische Erkenntnisse Berücksichtigung finden. Im Rahmen dieser Herangehensweise hat sie sich aus gutem Grund – wie noch gezeigt werden wird – für eine mikropolitische Analyse entschieden. Frau Reichel hat hier mit einem Botanischen Garten einen gleichermaßen exotischen wie typischen, ganz bestimmt jedoch äußerst lehrreichen Fall in Form der Aktionsforschung nicht nur analysiert, sondern auch ein wenig verändert. Die authentische wie transparente Darstellung und Interpretation des Geschehens liefert für Wissenschaft wie Praxis wertvolle Einsichten über die Chancen und allzu deutlichen Grenzen einer beteiligungsorientierten Reorganisation in einem gewissen finanziellen wie mikropolitischen Setting. Im Ergebnis zeigt sich eine dichte Beschreibung – eine sehr detaillierte und komplexe Fallstudie – von Strukturen und Akteuren, die ausgesprochen vielschichtig sind: Strukturell handelt es sich bei der betrachteten Organisation keineswegs um ein konstantes Gebilde, der extern heran getragene Veränderungsdruck aus Kostengründen ist beachtlich. Die Akteure sind so vielschichtig wie ihre Rollen, ihre Interessen, ihre Wahrnehmungen etc. Durch das systematische Herausarbeiten dieser Situation vermag Frau Reichel gute Gründe dafür anführen, warum geschehen ist, was geschehen ist, wiewohl sie damit in keiner Weise ausschließt, dass die Geschichte auch einen anderen Verlauf hätte haben können. Im gewissen Rahmen
VI
Geleitwort
sind Rationalitäten biegsam, Interpretationen und Machtverhältnissen ausgeliefert. Somit liefert sie einen weiteren Mosaikstein für die Organisationsforschung, die insgesamt – zumindest auf etliche Anwendungsfälle beschränkt – einen zurückhaltenden Umgang mit normativen Entscheidungsmodellen postuliert. Innovativ ist bei der Analyse, dass bei der Reorganisation des Botanischen Gartens ein Weg gewählt wurde, bei dem ein komplexes Zusammenwirken von Beschäftigten des öffentlichen Dienstes und privatwirtschaftlichen Beschäftigten in einem Gemeinschaftsbetrieb realisiert wurde. Derartige Kooperationen werden in Zukunft im Kontext von Public Private Partnership eine höhere Bedeutung haben, so dass die Ausführungen, die eine deutliche Warnung vor Oberflächlichkeit und Kurzsichtigkeit enthalten, erhebliche Praxisrelevanz aufweisen. Florian Schramm
Vorwort
VII
Vorwort Diese Arbeit habe ich 2004 als wissenschaftliche Projektmitarbeiterin der Universität Hamburg begonnen. Da viele Ereignisse und Erlebnisse erst durch die mikropolitische Brille betrachtet verständlich wurden, war die Reanalyse der im Forschungsprojekt gesammelten Daten für meine Dissertation nicht nur wissenschaftliche Arbeit, sondern auch ein ganz persönlicher Lernprozess. Für mich ist und bleibt mein Fallbeispiel hochspannend und ich versuche mit meiner Arbeit dazu beizutragen, das Drehbuch des Stücks zu erhellen, das gespielt wurde. Mir ist aber bewusst, dass man eine Geschichte nie vollständig erzählen kann und dass es neben meiner Wahrheit noch andere gibt. Bei all jenen, die mir diese Arbeit ermöglicht und mich in den Jahren der Fertigstellung begleitet und unterstützt haben, möchte ich mich im Folgenden bedanken. An erster Stelle gilt mein Dank meinem Doktorvater Prof. Dr. Florian Schramm für seine Offenheit, Geduld und Unterstützung. Er hat es stets geschafft, mich an der richtigen Stelle zu ermuntern bzw. zu bremsen. Insbesondere in der Anfangszeit wurde ich auch von Frau Prof. Dr. Renate Ortlieb fachlich beraten und kompetent unterstützt, wofür ich mich hiermit ebenfalls bedanke. Während meiner Arbeit im Projekt und bei der Präsentation meiner ersten Ergebnisse regten mich die TeilnehmerInnen des Hamburger Kolloquiums und der BeraterInnengruppe des ABF e.V. dankenswerterweise mit wertvollen Hinweisen zum Weiterdenken an. Danken möchte ich auch Herrn Prof. Dr. Nienhüser und den TeilnehmerInnen des HBS-Nachwuchskolloquiums Personalwirtschaft, die mich in meinem Forschungsprozess begleitet und mir wertvolle Ratschläge gegeben haben. Danken möchte ich desweiteren den KollegInnen, die bereits einen Schritt weiter waren und mir daher in der Endphase Aufmunterung und wertvolle Tipps geben konnten – namentlich Herrn Dr. Georg Greiner, Frau Dr. Mette Rehling und Frau Dr. Ingrid Zeitlhöfler.Mein ganz besonderer Dank gilt den Personen, mit denen ich vor Ort im Projekt zusammengearbeitet habe und deren Daten ich analysieren durfte. Ohne deren Offenheit und Kooperation hätte diese Arbeit nicht geschrieben werden können. Ebenfalls ein ganz besonders herzlicher Dank gebührt meinem Mann Matthias und meinen Töchtern Rebecca und Johanna, die mir bei der teils lustvollen, teils mühevollen Erstehung der vorliegenden Arbeit stets geduldig zur Seite standen und mir Kraft gegeben habe. Last but not least möchte ich mich bei meinen Eltern für die generelle Unterstützung auf meinem gesamten Weg bedanken. Ohne sie wäre ich nie so weit gekommen – ihnen widme ich diese Arbeit. Karin Reichel
Inhaltsverzeichnis
IX
Inhaltsverzeichnis Geleitwort ................................................................................................................... V Vorwort ..................................................................................................................... VII Inhaltsverzeichnis ...................................................................................................... IX Abbildungsverzeichnis ............................................................................................. XIII Abkürzungsverzeichnis.............................................................................................. XV 1 Einleitung ............................................................................................................. 1 1.1 Problemstellung und Zielsetzung der Arbeit .................................................. 1 1.2 Skizzierung des Vorgehens ........................................................................... 3 2 Reorganisation im öffentlichen Sektor ................................................................. 6 2.1 Das tradierte Organisationsmodell und seine Dysfunktionalitäten ................. 6 2.2 Die dominierenden Reformkonzepte ........................................................... 14 2.2.1 Das Konzept des New Public Management .......................................... 17 2.2.2 Das neue Steuerungsmodell ................................................................. 26 2.3 Veränderungsprozesse gestalten ................................................................ 42 2.3.1 Betriebswirtschaftlich-instrumentelle Perspektive ................................. 46 2.3.2 Sozial-technologische Perspektive ....................................................... 50 2.3.3 Erfolgsfaktoren für Veränderungsprozesse ........................................... 56 2.3.4 Nicht intendierte Wirkungen von Rückentwicklung ............................... 69 2.4 Stand der Umsetzungsdiskussion ............................................................... 73 3 Theoretischer Bezugsrahmen ............................................................................ 87 3.1 3.2
Reorganisation und (Mikro-)Politik .............................................................. 87 Die strategische Organisationsanalyse nach Crozier und Friedberg ........... 91
3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4
Die Organisation als soziales Handlungsfeld ........................................ 92 Die Organisation als Machtsystem........................................................ 94 Spiele in Organisationen ....................................................................... 99 Die Akteure und ihre Strategien .......................................................... 101
3.2.5 Wandel als Prozess kollektiven Lernens ............................................. 103 3.3 Kritik und konzeptionelle Weiterentwicklungen .......................................... 107 3.3.1 Die strukturelle Bedingtheit von Macht(-Ressourcen) ......................... 107 3.3.2 Die Spezifizierung des Spiele-Konzeptes ........................................... 110 3.3.3 Die systematische Analyse (mikro-)politischer Situationen ................. 114 3.3.3.1 Akteursperspektive und Handlungsorientierung ........................... 115 3.3.3.2 3.3.3.3 3.3.3.4 3.3.3.5
Intersubjektivität ........................................................................... 126 Interessen..................................................................................... 131 Macht............................................................................................ 134 Dialektik der Interdependenz ........................................................ 137
3.3.3.6
Legitimation .................................................................................. 139
X
Inhaltsverzeichnis
3.3.3.7 Zeitlichkeit .................................................................................... 140 3.3.3.8 Ambiguität .................................................................................... 142 3.4 Empirische Befunde der Verwendungsforschung ...................................... 144 4
3.5 Fazit und konzeptioneller Bezugsrahmen.................................................. 154 Methodisches Vorgehen .................................................................................. 158 4.1 Der Forschungsansatz .............................................................................. 158 4.2 Die Rolle der (Aktions-)Forscherin............................................................. 165
4.3 Erhebungsverlauf und Erhebungsverfahren .............................................. 169 4.4 Darstellung und Auswertung des empirischen Materials ........................... 173 4.5 Anmerkungen zu forschungsethischen Frage ........................................... 179 5 Betriebsfallstudie .............................................................................................. 183 5.1 5.2
Einleitung und Überblick ............................................................................ 183 Die Zentraleinrichtung Botanischer Garten Botanisches Museum ............ 183
5.2.1 Der Botanische Garten in Berlin-Dahlem ............................................ 183 5.2.2 Der strukturelle Kontext ...................................................................... 187 5.2.2.1 Die Aufbauorganisation ................................................................ 187 5.2.2.2 Die Ablauforganisation ................................................................. 191 5.3 Die Reorganisation .................................................................................... 197 5.3.1 Das Forschungs- und Entwicklungsprojekt ......................................... 199 5.3.2 Die Erkenntnisse aus der Grobanalyse............................................... 205 5.3.3 Die Erkenntnisse aus der Feinanalyse................................................ 207 5.3.3.1 Subjektive Arbeitsanalyse (SAA) .................................................. 207 5.3.3.2 Zeitbudgetanalyse ........................................................................ 223 5.3.3.3 Prozessanalysen und Analyse der Umweltsituation ..................... 226 5.3.4 Feedback an die Beteiligten ................................................................ 228 5.3.5 Die Erarbeitung des neuen Organigramms......................................... 231 5.3.6 Die Umsetzungsphase ........................................................................ 232 5.3.6.1 5.3.6.2
6
Die neue Aufbauorganisation der Abteilung I ............................... 233 Die neue Ablauforganisation der Abteilung I ................................ 235
5.3.6.3 Betriebliche Anpassungsqualifizierung ......................................... 245 5.3.6.4 Programm zur betrieblichen Gesundheitsförderung ..................... 249 5.3.7 Zwischenfazit ...................................................................................... 250 Reorganisation als Machtspiel ......................................................................... 253 6.1 Die traditionellen AkteurInnen ................................................................... 255 6.1.1 Ihre Ressourcen im Routinespiel ........................................................ 256 6.1.2 Ihre Interessen im Innovationsspiel..................................................... 263 6.2 6.3
Die AkteurInnen in der Regelsetzungsphase ............................................ 269 Die AkteurInnen in der Regelinterpretationsphase .................................... 272
6.3.1
Die BeraterInnen und BegleitforscherInnen als Meta-Spieler ............. 274
Inhaltsverzeichnis
XI
6.3.2 Der Kampf der Häuptlinge .................................................................. 278 6.3.3 Die Beschäftigten und ihre Interessenvertretung ................................ 283 6.4 Die Regelumsetzungsphase ...................................................................... 288 6.4.1 Widerstand als politischer Abstimmungsprozess ................................ 289 6.4.2 Der Kampf der Systeme ...................................................................... 291 7 Schlussbetrachtungen und Ausblick ................................................................ 298 7.1 Rückblickende Betrachtung der Vorgehensweise ..................................... 298 7.2 Zusammenfassung der Ergebnisse ........................................................... 301 7.3 Folgerungen für die Praxis und weiterer Forschungsbedarf ...................... 306 Literaturverzeichnis ................................................................................................ 311 Anhang ................................................................................................................... 333
Abbildungsverzeichnis
XIII
Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Abbildung 2: Abbildung 3: Abbildung 4: Abbildung 5: Abbildung 6: Abbildung 7: Abbildung 8:
Vom Bürokratiemodell zum NPM ....................................................... 18 Zentrale Elemente des NPM ............................................................. 20 Gestaltungselemente des PM ........................................................... 21 Ökonomische und organisatorische Dezentralisierung ..................... 24 Leitbilder und ihre Legitimation .......................................................... 25 Dimensionen des Neuen Steuerungsmodells .................................... 28 Rückführung auf Kernaufgaben ......................................................... 30 Wirksamkeit von Change Management Konzepten in Abhängigkeit von der Unternehmenssituation ......................................................... 44 Abbildung 9: Vergleich von Erfolgsfaktoren für die Gestaltung von Veränderungsprozessen .................................................................... 57 Abbildung 10: Akzeptanzfaktoren ............................................................................. 60 Abbildung 11: Unterschiede in der Begründung einer Beteiligung der Betroffenen .. 66 Abbildung 12: Vier Grundmuster der Mitarbeitereinbindung bei Reorganisationen . 67 Abbildung 13: Umsetzungsstrategien ....................................................................... 74 Abbildung 14: Dualität von Struktur und mikropolitischer Analyse ......................... 109 Abbildung 15: Logiken der Innovation und Routine ................................................ 112 Abbildung 16: Organisationale Spiele..................................................................... 114 Abbildung 17: Der Zusammenhang von Handlungen, Taktiken, Strategien und Haltungen ........................................................................................ 118 Abbildung 18: Offener und verdeckter Gebrauch mikropolitischer Taktiken .......... 124 Abbildung 19: Akteure, Phasen und Machtspiele im kommunalen Modernisierungsprozess .................................................................. 148 Abbildung 20: Modell von Veränderungsprozessen ............................................... 156 Abbildung 21: Vergleich Prozessschritte OE und Projektarbeitsschritte ................. 172 Abbildung 22: Sensitivierende Konzepte und ihre Operationalisierungsebenen..... 177 Abbildung 23: Akteurslandkarten (Mapping) – Beispiel für die Visualisierung ........ 178 Abbildung 24: Gartenplan ZE BGBM ...................................................................... 185 Abbildung 25: Aufgabenvielfalt eines botanischen Gartens .................................... 186 Abbildung 26: Einbettung und Aufbau der ZE BGBM ............................................. 188 Abbildung 27: Organigramm Abt. I BGBM .............................................................. 190 Abbildung 28: Revierbesetzung 2003 ..................................................................... 193 Abbildung 29: Zeitplan Projekt ................................................................................ 201 Abbildung 30: Zwei Varianten des Ablaufplans ...................................................... 204 Abbildung 31: Ergebnisse der Grobanalyse Abt. I BGBM ...................................... 206 Abbildung 32: SAA-Item mit Antwortmuster (Bsp.) ................................................. 209
XIV
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 33: Rangreihe der Hauptkategorien des SAA nach Höhe der Mittelwerte ....................................................................................... 212 Abbildung 34: Verteilung der SAA Hauptkategorien, N = 85 .................................. 213 Abbildung 35: Rangreihe der Unterkategorien des SAA nach Höhe der Mittelwerte ....................................................................................... 214 Abbildung 36: Verteilung der SAA Unterkategorien, N = 84 ................................... 215 Abbildung 37: Vergleich der Mittelwerte der Funktionsgruppen.............................. 217 Abbildung 38: Vergleich der Mittelwerte der Meisterbereiche ................................. 220 Abbildung 39: Ergebnis der Zeitbudgetanalyse eines Reviers des Häuserbereichs (Bsp. 1) .................................................................. 223 Abbildung 40: Ergebnis der Zeitbudgetanalyse eines Reviers des Häuserbereichs (Bsp. 2) .................................................................. 224 Abbildung 41: Ergebnis der Zeitbudgetanalyse eines Reviers aus dem Freiland (Bsp. 1) ............................................................................................ 224 Abbildung 42: Ergebnis der Zeitbudgetanalyse eines Reviers aus dem Freiland (Bsp. 2) ............................................................................................ 225 Abbildung 43: Vergleich der Ergebnisse der Zeitbudgetanalysen .......................... 226 Abbildung 44: Beispiel einer Prozessanalyse für einen Meisterbereich .................. 227 Abbildung 45: Beispiel für die Analyse der Umweltsituation eines Meisterbereichs 228 Abbildung 46: Das neue Organigramm der Abteilung I .......................................... 234 Abbildung 47: Schematische Darstellung des Vorgehens zur Personalentwicklungsplanung ......................................................... 237 Abbildung 48: Beiträge der Teilnehmenden an den gemeinsamen Arbeitsbesprechungen ..................................................................... 239 Abbildung 49: Revier- und Stellenbesetzung Mai 2005 .......................................... 243 Abbildung 50: Das Problem der „Realitätslücke“ .................................................... 251 Abbildung 51: Circulus vitiosus zwischen Kostensenkungs- und Besitzstandwahrungsinteressen ...................................................... 258 Abbildung 52: Projekte als Transmission der Innovation auf die Routine ............... 264 Abbildung 53: Der Regelproduktionsprozess in der ZE BGBM............................... 269 Abbildung 54: Die Akteurslandkarte in der Regelsetzungsphase ........................... 271 Abbildung 55: Circulus vitiosus im Innovationsspiel ............................................... 281 Abbildung 56: Die Akteurslandkarte in der Regelinterpretationsphase ................... 287 Abbildung 57: Die Akteurslandkarte in der Regelumsetzungsphase ...................... 297
Abkürzungsverzeichnis
XV
Abkürzungsverzeichnis Abb. ABM ABS Abt. AG Anmerk. Aufl. Azubi BAT BauGB-MaßnahmeG BetrVG Bd. BG
Abbildung Arbeitsbeschaffungsmaßnahme Arbeitsbeschaffung Abteilung Aktiengesellschaft Anmerkung Auflage Auszubildende/r Bundes-Angestelltentarifvertrag Baugesetzbuch-Maßnahmengesetz Betriebsverfassungsgesetz Band Botanischer Garten
BGBM BMT-G II
Botanischer Garten Botanisches Museum Bundesmanteltarifvertrag für Arbeiter gemeindlicher Verwaltungen und Betriebe
Bsp. bzw. ca. DBW Def. DStGB DT DUV d. V. EA engl. et al. etc. f.
Beispiel beziehungsweise circa (ungefähr, etwa) Zeitschrift Die Betriebswirtschaft Definition Deutscher Städte- und Gemeindebund Duft- und Tastgarten Deutscher Universitäts-Verlag des Verfassers ehrenamtliche MitarbeiterInnen englisch et alteri (und andere) et cetera (und so weiter) fortfolgend
ff. FU
fortfolgende Freie Universität Berlin
GA Gä GFA ggf. GM
GartenarbeiterIn GärtnerIn GartenfacharbeiterIn gegebenenfalls Gärtnermeister/-in
XVI
GmbH GO HdA Hrsg. i.d.R. IG inkl. jap. JDS Jg. Jhd. KF KGSt
Abkürzungsverzeichnis
lat. LIT MA MbC MbR
Gesellschaft mit beschränkter Haftpflicht Gemeindeordnung Humanisierung der Arbeit Herausgeber in der Regel Italienischer Garten inklusive japanisch Job Diagnostic Survey Jahrgang Jahrhundert Kraftfahrer Kommunale Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsvereinfachung lateinisch LIT Verlag MitarbeiterIn Management by Competition Management by Results
m.E. MittAB N NPM NSM OE p.a. PM PPP Prakt.
meiner Einschätzung nach Mitteilungen aus der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung Größe der Stichprobe New Public Management Neues Steuerungsmodell Organisationsentwicklung per annum (jährlich, für das Jahr) Public Management Public Private Partnership PraktikantInnen
PVG RG
Personalvertretungsgesetz ReviergärtnerIn
RHIA
Analyse von Arbeitsbelastungen als Folge von Regulationsbehinderungen
ROI ROS S. s. SAA SG
Return on Investment (Kapitalrendite) Return on Sales (Umsatzrendite) Seite siehe Subjektive Arbeitsanalyse Schmuckgarten
Abkürzungsverzeichnis
XVII
SGA sog. Sp. sRG TQM u.a. u.a.m. unv. USW u.U.
SaisongartenarbeiterIn sogenannte/r Spalte stellvertretende/r ReviergärtnerIn Total Quality Management und andere und anderes mehr unverändert Universitätsseminar der Wirtschaft unter Umständen
v.a. VERA vgl. vs. VZÄ WSI z.B. ZE Zivi
vor allem Verfahren zur Ermittlung von Regulationserfordernissen in der Arbeitstätigkeit vergleiche versus (im Gegensatz zu) Vollzeitäquivalente Wirtschafts- und sozialwissenschaftliches Institut zum Beispiel Zentraleinrichtung Zivildienstleistende/-r
z.T. zfo
zum Teil Zeitschrift Führung + Organisation
Problemstellung und Zielsetzung der Arbeit
1
1 Einleitung 1.1
Problemstellung und Zielsetzung der Arbeit
Mehr als zehn Jahre nach dem Beginn der New Public Management-Bewegung in Deutschland häufen sich die Versuche einer (Zwischen-)Bilanz des bisher Erreichten (vgl. Jann et al. 2006, Bogumil et al. 2007, S. 11). Die Reformbestrebungen haben das Ziel, die klassischen bürokratischen Verfahren des Verwaltungshandelns durch eine management- und ergebnisorientierte Steuerung zu ersetzen und eine effektive und effiziente Erstellung öffentlicher Dienstleistungen zu erreichen (vgl. Budäus 1994, Budäus 2003, S. 327). Es werden öffentliche Verwaltungen und Vereinigungen angestrebt, die untereinander und – da jetzt auch die Frage nach Eigenerstellung oder Fremdbezug gestellt wird – gegenüber privaten Leistungsanbietern im Wettbewerb bestehen können. Dabei halten auch Konzepte Einzug, die zuvor vor allem in der Privatwirtschaft angewandt wurden: Kosten- und Leistungsrechnung, Benchmarking, Downsizing, Lean Management, Outsourcing, Public Private Partnership… (vgl. Budäus 1998b, S. 3, Eichhorn 2003, S. 335; Budäus 2004, S. 312). Obwohl diese seit den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts verstärkt betriebene Binnenmodernisierung des Staates inzwischen alle Ebenen erreicht hat und vielfach erfolgreich war, werden auch den aktuellen Reformbestrebungen Nachhaltigkeitsdefizite attestiert1 (vgl. Hennig 1998, S. 3; Göbel 1999, S. 1; Bogumil et al. 2007, S. 8 ff.). Als Gründe für die Reformdefizite werden in der aktuellen Diskussion zum einen die Struktur- und Funktionslogik des öffentlichen Sektors und zum anderen das Reformkonzept selbst genannt. Während beispielsweise Hoon (2003) kritisiert, dass mit den bisher vorherrschenden großzahligen Befragungen wenig Aussagen zum Verlauf von Reformprozessen und seinen Einflussfaktoren gemacht werden könne, kommen andere Autoren zu dem Schluss, dass ein wesentlicher Grund für häufig zu beobachtende Probleme in der allzu „rationalistischen“ Sicht von Veränderungsprozessen liege.2 Das Konzept des New Public Management stehe dem mikropolitischen Handeln der Akteure naiv gegenüber (vgl. Bogumil & Kißler 1998a, S. 124, Brunner-Salten 2003, S. 161).
1
2
Das Scheitern von Reorganisationsprojekten ist allerdings – gemessen an den selbstgesteckten Zielen – kein „Privileg“ des öffentlichen Sektors, sondern auch in der Privatwirtschaft häufig zu beobachten (vgl. z.B. Stock-Homburg 2007, Schirmer 2000, Moldaschl 2004). Eine wesentliche Ursache dafür ist sicher Webers idealtypisches „Maschinenmodell der Verwaltung“ (vgl. Göbel 1999, S. 2 und Abschnitt 2.1).
2
Einleitung
Damit zielen die Autoren auf die Emergenz – d.h. das Auftreten neuer, nicht voraussagbarer Qualitäten beim Zusammenwirken mehrerer Faktoren – von Wandelprozessen ab. Obwohl die ökonomische, politische und soziale Umwelt Organisationen beeinflusst, passen sich diese nicht einfach „mechanisch“ an Umweltveränderungen an. Das Konzept der strategischen bzw. mikropolitischen Organisationsanalyse ist ein interessanter Erklärungsansatz für die Varianz von Transformationsprozessen (vgl. Crozier & Friedberg 1993, Ortmann et al. 1990, Becke 2002). Dabei werden Organisationen als (macht)politische Arenen betrachtet, in denen es neben den inhaltlichen Fragen immer auch um den Kampf um Macht und Einfluss geht (vgl. Neuberger 1995, S. 5). Auch Verwaltungen sind Handlungs- und Entscheidungsfelder, die aufgrund ihrer Strukturen und Sozialbeziehungen sowie der daraus entstehenden Interaktionsprozesse spezifische betriebliche Rationalisierungsmuster hervorbringen (vgl. Becke 2002, S. 34 ff.). Obwohl es zum Thema Verwaltungsreform eine Vielzahl an Veröffentlichungen mit beschreibendem bzw. normativem Charakter gibt, spielen Umsetzungsstrategien und Reformresistenzen in der verwaltungswissenschaftlichen Literatur bisher eine eher untergeordnete Rolle (vgl. Hoon 2003, Jann et al. 2006, Bogumil et al. 2007). Im Gegensatz dazu gibt es in der betriebswirtschaftlichen Forschung eine immense Literaturfülle über Prozesse des Wandels in Organisationen. Deren politische Dynamik wird zwar als Problem erkannt, aber mit Hilfe der richtigen sozial-technologischen Mittel als beherrschbar eingeschätzt (vgl. Reiß 1997, Doppler & Lauterburg 1999, Stock-Homburg 2007). Nicht zuletzt aus eigener Anschauung bin ich mit Schirmer jedoch der Meinung, dass die Kosten fehlgeschlagener oder nur unzureichender Implementierung von Reorganisationskonzepten auch Kosten der Fehleinschätzung der politischen Phänomene in Wandelprozessen bzw. von Kontrollillusionen hinsichtlich deren Beherrschbarkeit sind (vgl. Schirmer 2000, S. 7). Ich möchte mit meiner Arbeit an dieser Forschungslücke ansetzen und zum besseren Verständnis von Reorganisationsprozessen sowie den Ursachen von Reformdefiziten im öffentlichen Sektor beitragen3 (vgl. Abschnitt 3.5). In der vorliegenden Arbeit geht es daher um die theoretische Reflexion von Prozessen im Rahmen der Reorganisation einer universitären Zentraleinrichtung. Zu diesem Zweck werde ich die strategische bzw. mikropolitische Organisationsanalyse als theoretischen Bezugsrahmen4 für die Reanalyse der im Rahmen des Forschungs- und
3
4
Um, wie Göbel (1999, S. 5) es ausdrückt, „ein wenig Licht in die ‚Black-Box‘ der Verwaltungsmodernisierung zu bringen“. Ich verstehe meine empirische Forschung als theoriegeleitet, d.h. im Vordergrund meines Forschungsinteresses steht nicht die Arbeit an der Theorie (im Sinne von Theorieentwicklung),
Skizzierung des Vorgehens
3
Entwicklungsprojekts „Beteiligungsorientierte Veränderung der Arbeitsorganisation und der betriebsinternen Kommunikation in drei Bereichen der Zentraleinrichtung Botanischer Garten Botanisches Museum (ZE BGBM) der Freien Universität Berlin“ erhobenen Daten anwenden.5 Die Forschungsfragen beziehen sich dabei zum einen auf die Analyse des Reorganisationsprozesses (Prozessebene) und zum anderen auf die im Prozess verhandelten bzw. neu ausgehandelten Spielregeln und deren Auswirkungen auf die Machtverhältnisse (Inhaltsebene) im untersuchten Bereich: •
Wer ist im Reorganisationsprozess und damit im Produktionszyklus des Regelsystems AkteurIn6 und wer nur Agierende/r oder Betroffene/r?
•
Welche AkteurInnen haben in welcher Phase des Produktionszyklus des Regelsystems (im Fallbeispiel: die Aufbau- und Ablauforganisation) Definitionsmacht und hat dies Auswirkungen auf die Inhaltsebene?
•
Welche Strategien verfolgen die von der Reorganisation betroffenen Individuen und Gruppen?7 Welche Interessenbetroffenheiten und -konflikte liegen dem zugrunde?
•
Über welche Machtmittel verfügen die Beteiligten und (wie) werden sie eingesetzt?
•
Wie werden (welche) Interessenkonflikte gehandhabt und welche Rolle spielen dabei die Machtbeziehungen?
Über die analytische Reflexion hinaus sollen Hinweise für die „politikbewusstere“ Gestaltung von Reformprozessen gegeben werden.
1.2
Skizzierung des Vorgehens
Im Grundlagenteil (vgl. Kapitel 2) geht es zunächst um die Darstellung der Rahmenbedingungen, d.h. um die zugrunde liegenden Begrifflichkeiten der öffentlichen Verwaltung und deren Reformkonzepte sowie die unterschiedlichen Ansätze für Change Prozesse, denen im Sinne von Ortmann et al. (1990) weichenstellende Bedeutung im
5
6
7
sondern die Arbeit mit Theorie und mit (operationalisierbaren) Theoriebegriffen (vgl. Greifenstein et al. 1993, S. 19). Gegen einen weitverbreiteten Trend, aus „best practice“ Beispielen ohne theoretische Fundierung für die Praxis lernen zu wollen, geht es dabei um die theoriegeleitete Erklärung der stattgefundenen Prozesse und darum, auch aus Fehlern und Blockaden zu lernen (vgl. Bogumil 1999, Naschold & Bogumil 2000). Da ich mich nicht mit dem Hinweis begnügen wollte, die Leserinnen sollen sich doch bitte mit angesprochen fühlen, wenn ich aus „Gründen der Lesbarkeit“ nur die männliche Form verwende, werde ich in dieser Arbeit fast durchgängig das große „I“ verwenden, wenn sowohl Frauen als auch Männer gemeint sind. Aus forschungsethischen Gründen und um personalisierenden Schuldzuweisungen vorzubeugen, liegt der Fokus hierbei auf den Strategien der Akteursgruppen.
4
Einleitung
Reorganisationsprozess zukommt. Dafür werden ausgehend vom tradierten Bürokratiemodell und seinen potentiellen Dysfunktionalitäten zunächst die in diesem Bereich als Modernisierungsleitbilder fungierenden dominierenden Reformansätze dargestellt und reflektiert. Da das New Public Management und das Neue Steuerungsmodell eher konzeptionelle Orientierungsrahmen darstellen (vgl. Budäus 1994), werden darüber hinaus relevante betriebswirtschaftliche Konzepte zur Gestaltung von Reformprozessen dargestellt und kritisch diskutiert (vgl. Kißler et al. 2000, Brunner-Salten 2003). Am Stand der Umsetzungsdiskussion werden Defizite in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung sichtbar, die sowohl die theoretische Fundierung als auch die Empirie betreffen. Daran anknüpfend wird in Kapitel 3 der theoretische Bezugsrahmen dieser Arbeit entwickelt, der die Grundlage für die Analyse des empirischen Projektes bildet. Wenn Organisationen als politische Arenen betrachtet werden, muss auf der Suche nach den Ursachen von Reformdefiziten die Dynamik von Reorganisationen und damit auch die politisch-prozessuale Dimension dieses vielschichtigen Geschehens eingehender untersucht werden. Ein zu diesem Zweck bereits mehrfach angewandter und inzwischen konzeptionell verfeinerter Ansatz ist die strategische Organisationsanalyse von Crozier & Friedberg (1993), die ich nach Einführung der wichtigsten PolitikBegriffe als zentrales Konzept meines theoretischen Bezugsrahmens vorstelle. Da die fehlende Operationalisierung ihrer zentralen Konzepte (Macht, Strategien und Spiele), etliche forschungspraktische Fragen für eine mikroskopische Analyse der wechselseitigen Konstitution von organisationalem Handeln und Organisationsstrukturen offen lässt, müssen meine Ausführungen zur strategischen Organisationsanalyse um einige konzeptionelle Weiterentwicklungen ergänzt werden (vgl. Ortmann et al. 1990, Mintzberg 1983, Neuberger 1995). Die Basisbausteine zur Rekonstruktion von Reorganisationsprozessen liefert dann das Modell von Veränderungsprozessen nach Schirmer (2000) – präzisiert durch die Definition von Reorganisationen als Regelproduktionsprozess nach Greifenstein et al. (1993). In Kapitel 4 wird das methodische Vorgehen erläutert, das sich zum Teil aus dem gewählten theoretischen Bezugsrahmen ergibt. Da es sich bei der Erhebung selbst um einen Fallstudienansatz (vgl. Yin 1994) mit Bezügen zur Aktionsforschung handelt, werden sowohl der Forschungsansatz als auch die zum Einsatz gekommenen Datenerhebungsmethoden vorgestellt und kritisch reflektiert. Den Schwerpunkt der in Abschnitt 4.4 beschriebenen Datenauswertung bildet ein auf den Bezugsrahmen aufbauender Vergleich der verschiedenen Perspektiven und Sichtweisen (vgl. Friedberg 1995) sowie der Einsatz der sensitivierenden Konzepte als Strukturierungsdi-
Skizzierung des Vorgehens
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mensionen (vgl. Mayring 1995). Abschließen werde ich das Kapitel mit forschungsethischen Fragen, die sich aus dem gewählten Forschungsansatz ergeben. Im empirischen Teil meiner Arbeit soll meine Fallstudie zunächst „für sich sprechen“, bevor ich die Ergebnisse meiner theoriegeleiteten Analyse vorstelle. Daher geht es in Kapitel 5 zunächst um das konkrete Fallstudienobjekt und dessen Vorgeschichte, bevor eine dichte und feldnahe Beschreibung des untersuchten Reorganisationsprozesses folgt. Im Rahmen dieser Reorganisation fand das wissenschaftliche Begleitprojekt statt, dessen Mitarbeiterin ich war und dessen Ergebnisse die Grundlage für die Rekonstruktion des mikropolitisch begründeten Modells des untersuchten Handlungssystems bilden. Die Ergebnisse der theoretischen Reflexion werden in Kapitel 6 dargestellt. Dabei geht es zunächst um die traditionellen Akteure und ihre Ressourcen im Routinespiel und anschließend um die Rekonstruktion der Reorganisation als Regelproduktionsprozess. Im abschließenden Kapitel 7 werden zunächst mein Vorgehen und die Ergebnisse zusammengefasst sowie kritisch reflektiert. Zum Abschluss der Arbeit werden schließlich Implikationen für die Praxis diskutiert und weitere Forschungsfragen aufgezeigt. Im nun folgenden Kapitel werden zur Illustration der Reformnotwendigkeiten zunächst – anknüpfend an Max Weber – das tradierte Organisationsmodell des öffentlichen Sektors und seine potentiellen Dysfunktionalitäten skizziert. Daran anschließend stelle ich die derzeit als Modernisierungsleitbilder fungierenden dominierenden Ansätze in der Reform der öffentlichen Verwaltungen (das New Public Management und das Neue Steuerungsmodell) vor. Weil diese Konzepte weniger handlungsleitende Theorien, als vielmehr konzeptionelle Orientierungsrahmen darstellen, gehe ich anschließend – unter Rückgriff auf die dazu reichlich vorhandene betriebswirtschaftliche Literatur – auf die gängigen Konzepte zum Gestalten von Veränderungsprozessen und deren konzeptionelle Unzulänglichkeiten ein.
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Reorganisation im öffentlichen Sektor
2 Reorganisation im öffentlichen Sektor 2.1
Das tradierte Organisationsmodell und seine Dysfunktionalitäten
Mit dem Begriff „öffentliche Verwaltung“ bezeichnet man in Deutschland die Verwaltungen der Gebietskörperschaften des Bundes, der Bundesländer und die Kommunalverwaltungen, die aus Organisationseinheiten unterschiedlichen Typs bestehen. Es lassen sich zum einen Organisationseinheiten mit planenden, gesetzesvorbereitenden und gesetzesvollziehenden Aufgaben („Behörden“) und zum anderen Organisationseinheiten mit Dienstleistungs- und Produktionscharakter („Betriebe“) unterscheiden. Damit werden als öffentliche Verwaltungen alle Organisationen bezeichnet, die als Behörden oder Betriebe Aufgaben für politische Gemeinwesen (Bund, Länder, Kommunen) bzw. öffentliche Institutionen (z.B. Hochschulen, Theater), öffentliche Vereinigungen (z.B. Kammern) und Parafisci (z.B. Sozialversicherungen) erfüllen (vgl. Hoon 2003, S. 16 f.). In Deutschland verkompliziert sich der Gesamtaufbau der Verwaltungsstrukturen durch die unterschiedlichen Typen von Bundesländern. In allen Flächenländern gibt es oberhalb der untersten örtlichen Verwaltung die Verwaltung der Landkreise und der kreisfreien Städte, nur in den größeren Flächenländern existieren unterhalb der Landesebene auch noch die Regierungsbezirke bzw. Bezirksregierungen und die Stadtstaaten sind kreisfreie Städte und Stadtstaaten zugleich. Dadurch ergibt sich folgendes Aufbauschema der Verwaltungsorganisation in Deutschland (vgl. Naschold & Bogumil 2000, S, 136 f.): 1. 2. 3. 4. 5.
Verwaltungsebene: Verwaltungsebene: Verwaltungsebene: Verwaltungsebene: Verwaltungsebene:
Bund 16 Länder (mit 3 Stadtstaaten) 31 Regierungsbezirke 323 Landkreise und 116 kreisfreie Städte ca. 14.500 Gemeinden8
Die Verwaltung ist in Deutschland nach dem Grundgesetz (Art. 30 Abs. 83) vor allem Aufgabe der Länder und Gemeinden. Während der gesamte Bildungsbereich, das Krankenhauswesen, die Polizei, Umweltschutzmaßnahmen, Straßenbaumaßnahmen, die Finanzämter, Energiemaßnahmen, viele soziale Dienste etc. von Ländern 8
Da sich vor allem aufgrund der neuen Verwaltungsstrukturen die Zahl der kleinen Gemeinden ständig verändert, waren für Ostdeutschland im Jahr 2000 keine genauen Zahlen zu erhalten (vgl. Naschold & Bogumil 2000, S. 137). Nach einer Publikation des deutschen Städte- und Gemeindebundes waren es im Jahr 2008 nur noch knapp 12.300 Gemeinden (vgl. DStGB 2009).
Das tradierte Organisationsmodell und seine Dysfunktionalitäten
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und Kommunalbehörden bearbeitet werden, gibt es nur einen verhältnismäßig bescheidenen Anteil zentralstaatlicher Verwaltung (vgl. Naschold & Bogumil 2000, S. 137 ff.) Das tradierte Organisationsmodell der öffentlichen Verwaltungen9 basiert auf dem von Max Weber analysierten Bürokratiemodell (vgl. Budäus 1994). Er war davon überzeugt, dass die Bürokratie anderen Formen der Verwaltung (z.B. feudalen, kollegialen, ehren- oder nebenamtlichen) durch ihre „Maschinenartigkeit“ an Effizienz weit überlegen sei. Da die Mitglieder einer bürokratisch, d.h. zentralistisch strukturierten Verwaltung „Paragraphen-Automaten“ ohne jeglichen Eigensinn seien, könne deren Arbeitsergebnis genau berechnet, und Reibungsverluste minimiert werden. „Ein voll entwickelter bürokratischer Mechanismus verhält sich ... wie eine Maschine zu den nichtmechanischen Arten der Gütererzeugung. Präzision, Schnelligkeit, straffe Unterordnung, Ersparnisse an Reibungen, sachlichen und persönlichen Kosten sind bei streng bürokratischer ... Verwaltung durch geschulte Einzelbeamte gegenüber allen kollegialen oder ehren- und nebenamtlichen Formen auf das Optimum gesteigert. Sofern es sich um komplizierte Aufgaben handelt, ist bezahlte bürokratische Arbeit nicht nur präziser, sondern im Ergebnis oft sogar billiger als die formell unentgeltliche ehrenamtliche. ... Vor allem aber bietet die Bürokratisierung das Optimum an Möglichkeit für die Durchführung des Prinzips der Arbeitszerlegung in der Verwaltung nach rein sachlichen Gesichtspunkten, unter Verteilung der einzelnen Arbeiten auf spezialistisch abgerichtete und in fortwährender Übung immer weiter sich einschulende Funktionäre“ (Weber 1972, S. 561 f.).
Im Vergleich zu den Verwaltungen der absolutistischen Staaten mit personengebundener patriarchalischer Herrschaft und subjektiver Willkür setzt sich der bürokratische Verwaltungsstab aus hauptberuflichen und mit festen Gehältern entlohnten Beamten zusammen, die aufgrund ihrer Fachqualifikation ausgewählt werden. Sie haben eine vorgezeichnete Laufbahn (abhängig von Lebensalter und/oder Leistungen) vor sich und sind einer einheitlichen Amtsdisziplin (d.h. alle empfangenen Weisungen sind ohne Rücksicht auf die eigene Einstellung bedingungslos auszuführen) und Kontrolle unterworfen. Jedes Mitglied hat feste Zuständigkeiten (Kompetenzen, Entscheidungsbefugnisse) sowie die zur Erfüllung notwendige Befehlsgewalt (Weisungsbefugnisse) und einen festen Platz in der Amtshierarchie. Amt und Person sind jedoch prinzipiell getrennt. Die individuelle Aufgabenerfüllung und der sog. Dienstweg sind durch „rational gesatzte“ Normen und Regeln festgelegt. Neben der schriftlichen Fixierung der meisten Regeln (Verwaltungsordnung) wird vor allem die „Ak-
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Das Prinzip der bürokratischen Organisation findet man als Industriebürokratie auch im privatwirtschaftlichen Sektor (vgl. Bosetzky & Heinrich 1989, Budäus 1998, Kieser 2002, Moldaschl 2004).
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Reorganisation im öffentlichen Sektor
tenmäßigkeit“ aller Vorgänge betont, d.h. die Kommunikation hat über den Dienstweg und zumeist schriftlich (durch Briefe, Formulare, Aktennotizen etc.) zu erfolgen, damit die Kontrollierbarkeit der vorgenommenen Maßnahmen gewährleistet werden kann. Die Entlohnung erfolgt „standesgemäß“ nach der Art der Funktionen und Dauer der Dienstzeit, d.h. nicht (unbedingt) nach Leistung. (vgl. Kieser 2002, S. 50 ff., Bosetzky & Heinrich 1989, S. 49). Damit sind zunächst einmal die wichtigsten Regeln umrissen, die im Sinne von Sozialisationseinflüssen bis heute das Verhalten der Beschäftigten in großen Teilen des öffentlichen Sektors (mit)prägen: „Die Rolle des einzelnen Akteurs wird reduziert auf die eines Auszuführenden“ (vgl. Hennig 1998, S. 17). Das klassische Bürokratiemodell fundiert auf einer abstrakten Regelbindung und dem Glauben an die Legitimität dieser Regeln und steht für Rechtsbindung, Unparteilichkeit, Professionalität, Gleichbehandlung und Kontrollierbarkeit des Verwaltungshandelns (vgl. Budäus 1998b, S. 1 f.). Vier Bürokratie-konstituierende Variablen werden als besonders strukturprägend erachtet (vgl. Bosetzky & Heinrich 1989, S. 50 ff.): 1. Steuerung und Kontrolle der Organisation durch externe Personen, Gruppen oder Instanzen (z.B. Aufsichtsrat oder Parlament): da die von außen gesetzte Zielhierarchie mit Hilfe einer entsprechenden Weisungshierarchie nach innen durchgesetzt werden muss, führt diese Herrschaftsstruktur zwangsläufig zu Hierarchisierung, Formalisierung und Auferlegung bestimmter Regeln. 2. Größe der Organisation: je größer eine Organisation, desto stärker die Programmierung, Formalisierung und Spezialisierung der Tätigkeiten. Da in größeren Gruppen die Mitglieder nicht mehr durch ständigen persönlichen Kontakt verbunden sind, werden beispielsweise auch die zwischenmenschlichen Beziehungen unpersönlicher, nimmt die schriftliche Kommunikation zu und Beförderungskriterien werden dauerhafter festgelegt. 3. Komplexität der Organisation: je vielfältiger die Aufgaben in einer Organisation sind, desto größer werden die Arbeitsteilung und Spezialisierung. Weil damit auch der Koordinationsaufwand steigt, nimmt – unter den oben genannten Bedingungen – wiederum die Bürokratisierung zu. D.h. je mehr Spezialisten, desto mehr Routineverfahren, größere Aktenmäßigkeit und größere Hierarchie an Hilfskräften. 4. Selbstbezogenheit und Autonomiebedürfnisse der Organisationsmitglieder: je größer und komplexer die Organisation, desto höher der Lenkungs- und Kontrollaufwand für die Durchsetzung des Willens des Organisationsspitzen. Dies erklärt beispielsweise die Wichtigkeit der Beförderungskriterien Loyalität, Gehorsam und organisationsinterne Kenntnisse.
Das tradierte Organisationsmodell und seine Dysfunktionalitäten
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Die so entstandene bürokratische Organisation hat sowohl für die Leistungserbringung als auch für die Bedürfnisbefriedigung der Organisationsmitglieder den bereits erwähnten Vorteil der weitgehenden Berechenbarkeit der Handlungsabläufe und Entscheidungen nach innen und außen. Damit verbunden ist der zweite Vorteil: die Sicherheit im sozio-emotionalen Bereich. Da eine bürokratische Ordnung belastende Ungewissheiten reduziert (z.B. vor den Launen der Mächtigen schützt und vor unbegrenzter Verantwortung entlastet), schafft sie insbesondere für einen großen Teil der Organisationsmitglieder ein Gefühl der Geborgenheit. Durch klare Rollenabgrenzungen und die Betonung des Senioritätsprinzips bei Beförderungen wird der interne Konkurrenzkampf stark minimiert, was zu einer kameradschaftlichen Arbeitsatmosphäre („kameradschaftliche Bürokratie“) beiträgt (vgl. Bosetzky & Heinrich 1989, S. 52 f.). Andererseits ist der öffentliche Dienst in Deutschland geprägt durch überkommene Ungleichheiten und Statusdifferenzen zwischen den verschiedenen Beschäftigtengruppen (Beamte, Angestellte, Arbeiter), die Naschold & Bogumil (2000, S. 102) treffend als „gesellschaftspolitische Feudalverhältnisse“ bezeichnen. Damit die genannten Vorteile des bürokratischen Modells zum Tragen kommen können, müssen bestimmte Arbeits- und Umweltbedingungen erfüllt sein (vgl. Bosetzky & Heinrich 1989, S. 53 f.): •
Hohes Routinisierungspotential (kontinuierlich anfallende, planbare und unproblematische Informationen können anhand von Entscheidungsprogrammen störungsfrei abgearbeitet werden)
•
Hoher Bedarf an „lokaler“ Orientierung (auf die eigene Organisation bezogene Orientierung und praktisches Dienstwissen sind notwendig für die Aufgabenbewältigung)
•
Niedriges Problemlösepotential bei den Organisationsmitgliedern (macht Überwachung von außen sinnvoll und notwendig)
•
Starkes Bedürfnis der Mitglieder nach sozio-emotionaler Sicherheit
•
Starke Fügsamkeit der Organisationsmitglieder (aus innerer Zustimmung zur institutionellen Autorität oder Resignation heraus)
•
Homogene und stabile (ebenfalls bürokratisierte) Umwelt
•
Gesicherte Technologie
Die hier aufgeführten Arbeit- und Umweltbedingungen machen deutlich, dass dieses als Idealtyp einer Verwaltung entwickelte Organisationsmodell (nur) unter bestimmten Bedingungen funktional ist: in stabilen Umwelten (mit kleinen Budgets) und beschränkten öffentlichen Aufgaben sowie fügsamen Organisationsmitgliedern. Während die bürokratische Organisation der öffentlichen Verwaltung lange Zeit auch als Vorbild für die Privatwirtschaft diente, wird die einst hoch gepriesene formale Ratio-
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Reorganisation im öffentlichen Sektor
nalität heute als Hemmnis effizienter Aufgabenerledigung betrachtet (vgl. Naschold & Bogumil 2000). Denn, neben diesen Einschränkungen besteht prinzipiell die Gefahr einer dysfunktionalen Wirkung der bürokratischen Strukturen auf den einzelnen Akteur und zwar dann, wenn die Regeln zu absoluten, starren Werten umgeformt werden, die nicht mehr funktional an sich ändernde Bedingungen angepasst werden können. Da ein formales Regelsystem aber nie alle Eventualitäten und Besonderheiten des Einzelfalls erfassen und berücksichtigen kann, ist unbürokratisches – d.h. von den Regeln teilweise abweichendes Verhalten – eher die Regel als die Ausnahme. Das Verhalten der Akteure wird also nicht durch die Strukturen und Regeln determiniert, sondern die konkrete Organisationsstruktur entwickelt sich (auch) als (unbeabsichtigtes) Ergebnis von individuellen Handlungen entweder mehr zur bürokratischen oder unbürokratischen Erscheinungsform (vgl. Hennig 1998, S. 17 ff.).10 Den (negativen) Einfluss der Strukturen auf die Verhaltensweisen der Organisationsmitglieder benennen Bosetzky & Heinrich (1989, S. 54 f.) mit ihren drei Gruppen von tendenziellen Nachteilen einer Bürokratie auf der Organisationsebene: Mängel des hierarchischen Systems, Mängel in der Informationssammlung und verarbeitung, effizienzmindernde Attitüden und Reaktionsweisen von Bürokraten. Das hierarchische System ignoriert, dass Untergebene oft sachverständiger sind als Vorgesetzte, siedelt die Zuständigkeitsverteilung zu weit oben an und vernachlässigt die Bildung eines Konsenses über die Ziele. Das führt zu einer Überbetonung des Standpunkts der Spitze, blockiert die Initiative von unten und konzentriert damit sowohl Innovation als auch Unfähigkeit auf die Spitze. Darüber hinaus wird horizontale Kooperation be- und verhindert sowie eine formalistische, starre und aufwändige Koordination gefördert und die Tendenzen zur Vermehrung des Personals, zur doppelten Ausführung bestimmter Arbeiten, zu einem Übermaß an Vorschriften, zu überflüssiger Präzision und überflüssiger gegenseitiger Kontrolle- begünstigt. Die Betonung schriftlicher Kommunikation bei der Informationssammlung und -verarbeitung führt zu einer Überfülle an Informationen, zu einer Überbewertung der Äußerungen von Vorgesetzten gegenüber den Meinungen Untergebener und zur Neigung, Informationen zu filtern und zurück zu halten, um Fehler zu vertuschen bzw. um eigene Ziele zu erreichen. Unter effizienzmindernden Attitüden und Reaktionsweisen von Bürokraten verstehen die Autoren eine kalkulierte Leistungsbereitschaft (gerade so viel tun, um nicht aufzufallen), übertriebenes Streben nach Sicherheit, Überbetonen der Regelbefolgung, Rigidität im Hinblick auf Veränderungen, Abschieben von Verantwortung, Desinteresse am Zweck und an der Effektivität der eigenen Arbeit, übertriebenes Eigeninteresse (z.B. Orientierung auf die eigene Karriere), Sabotieren von unliebsamen Entscheidungen und Widerstand gegen Innovationen. 10
Vgl. dazu ausführlicher Abschnitt 3.2.2
Das tradierte Organisationsmodell und seine Dysfunktionalitäten
11
Auch Budäus (1994, S. 11 ff.) sieht in seiner Schwachstellenanalyse besonders gravierende Defizite in den Strukturen, in den verwaltungspolitischen Steuerungsmedien und im Führungs- und Managementwissen der öffentlichen Verwaltung. Strukturell hat die auf einem tayloristischen Organisationsverständnis beruhende strikte Arbeitsteilung und Hierarchie zu einer Atomisierung der Verantwortungsstrukturen geführt. Die Auslagerung von Serviceaufgaben (Organisation, Personal etc.) aus den Fachämtern in getrennte Querschnittsbereiche (Haupt- und Personalamt) hat bürokratischen Zentralismus und ein „System organisierter Unverantwortlichkeit“ zur Folge. Da die Fachbereiche nur fachlich verantwortlich sind und die Querschnittsämter über die Ressourcen verfügen, fühlt sich nur die Verwaltungsführung für das Endergebnis verantwortlich. Durch die überkommene Kameralistik hat die Verwaltungsführung kaum Informationen über die Kosten und Leistungen der Verwaltungspraxis und der Haushaltsplan ist eher ein monumentales Zahlenwerk als ein effizientes Steuerungsinstrument. Die mangelnde Transparenz hinsichtlich Leistungsprozessen und Outputs führt nicht zuletzt dazu, dass die Politik bei Haushaltsentscheidungen überfordert ist. Da sich die Mitarbeiterführung vor allem an den hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums (das quasi automatisch einen besonderen „Beamtenethos“ voraussetzt) orientiert, wird das Personal weder gepflegt noch adäquat genutzt. Die unzureichend genutzten Leistungspotentiale führen zu Demotivation, Burnout und innerer Kündigung und prägen die Kosten- und Leistungssituation deutlich negativ. Da zu dieser Reformbedürftigkeit der öffentlichen Verwaltung auch noch eine externe Ressourcenlücke kam, startete angesichts leerer Kassen zu Beginn der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts in den Kommunalverwaltungen eine Modernisierungsbewegung (vgl. Abschnitt 2.2.2), die sich inzwischen auf alle Teilbereiche und Ebenen der öffentlichen Verwaltung ausgeweitet hat (vgl. Budäus 1998c, S. 103 f.). Ziel der Reformbestrebungen war (und ist) die Anpassung öffentlicher Verwaltungen an die veränderten gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen. Dazu gehören insbesondere die zunehmende Haushaltskrise mit anhaltender Finanzmittelknappheit und daraus folgender strengerer politischer Kontrolle der Mittelverwendung sowie die gestiegene Anspruchshaltung der BürgerInnen bei sinkender Akzeptanz gegenüber dem öffentlichen Dienst und der Wertewandel bei den Beschäftigten.11 Göbel (1999) sieht deshalb die öffentliche Verwaltung angesichts rückläufiger Ressourcenausstattung zwischen Produktivitätsdefiziten12 und Legitima-
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Damit ist eine seit Mitte der 1970er Jahre zu beobachtende Veränderung von Einstellungen zur Erwerbsarbeit gemeint: an Stelle der lange Zeit vorherrschenden Orientierung an den klassischen Arbeitstugenden (Gehorsam, Unterordnung, Fleiß, Sauberkeit, Pünktlichkeit, Bescheidenheit etc.) treten zunehmend Werte wie Selbstentfaltung, Autonomie und Lebensgenuss (vgl. kritisch dazu Voß 1990). vgl. etwa Brunner-Salten 2003, S. 23 ff.
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Reorganisation im öffentlichen Sektor
tionsdruck. Da die Nachfrage nach staatlichen Leistungen auch zukünftig aufgrund der Verschärfung der gesellschaftlichen Polarisierung im Rahmen der sozialen, städtebaulichen und monetären Fürsorge (z.B. Alten- und Kinderbetreuung, Bildung und Ausbildung) steigen wird, werden Effektivität und Effizienz wichtige Legitimationsgrundlagen (vgl. Göbel 1999, S. 167). Daher standen (und stehen) angesichts knapperer Mittel infolge sinkender Steuereinnahmen als Ziele vor allem die finanzielle Konsolidierung und die Leistungssteigerung im Vordergrund (vgl. Hoon 2003, S. 17 ff.). „Erst die Erkenntnis, dass die Lücke zwischen dem bestehenden Aufgabenvolumen und dem vorhandenen Leistungspotential bei reduzierter Finanzmittelausstattung nicht zu schließen ist, führte dazu, das bestehende Verwaltungsmodell in Frage zu stellen“ (ebd., S. 20).
Die Reformbemühungen der öffentlichen Aufgabenwahrnehmung sind auch Ausdruck eines gewandelten Leitbildes des Staates (vgl. Budäus 1998c). Aufgrund der Entwicklung vom Ordnungs- zum Leistungsstaat ist das vorschriftsmäßige Verwaltungshandeln im Sinne des Weber´schen Bürokratiemodells nicht mehr ausreichend (vgl. Göbel 1999, S. 167, ausführlicher Naschold & Bogumil 2000). Und mit der Veränderung des Staatsverständnisses weg vom Staat als Wohlfahrtsmaximierer in Richtung einer neoliberalen minimalistischen Staatsauffassung, werden auch Umfang und Wahrnehmung der Aufgaben des Staates kritisiert (vgl. Noll & Ebert 1998, S. 68).13 Moldaschl (2004, S. 16) benennt in diesem Zusammenhang Dysfunktionalitäten einer staatlichen Bereitstellung öffentlicher Güter:14 •
mangelnder Anreiz zu ökonomischem Handeln durch kameralistisches Rechnungswesen
•
fehlende Zurechenbarkeit (accountability) der Verantwortung für kostenwirksame Entscheidungen, sowie fehlende Sanktionen bei Verschwendung
•
Trennung von Nutzer und Zahler bei öffentlichen Leistungen, d.h. fehlende Kontrolle seitens der Konsumenten der Leistungen
•
hohe Kosten der Entscheidungsfindung und der Ressourcenallokation
•
Trittbrettfahrerphänomene bzw. die Möglichkeit für Einzelne, Gemeinschaftsgüter privat auszubeuten
•
fehlender oder beschränkter Wettbewerb und dadurch ausbleibende Innovation, etwa durch staatliches Angebotsmonopol (Behinderung des freien Unternehmertums)
Einige der Kritikpunkte sind fast so alt wie das Bürokratiemodell selbst. Bereits im 19. Jhd. wird die Entwicklung hin zu einem „Staat im Staate“ und die Verselbständigung 13
14
Ausführlich zum gewandelten staatlichen Rollenverständnis und zur daraus resultierenden neuen Rolle der Verwaltung (vgl. Schuppert 1998) die z.T. bereits in der Schwachstellenanalyse von Budäus (1994) enthalten sind (s. oben).
Das tradierte Organisationsmodell und seine Dysfunktionalitäten
13
der Beamtenschaft als eine kostspielige und abgeschlossene Kaste beklagt, die sich sukzessive die staatliche Macht aneigne.15 Henning (1998) kommt zu dem Schluss, dass die öffentliche Verwaltung der Bundesrepublik in dem Dilemma steckt, gleichzeitig bewährtes Einstiegsmodell zum Export in Entwicklungs- und Schwellenländern, als auch statisches Auslaufmodell einer Bürokratie zu sein, die für moderne Industriestaaten wenig attraktiv ist: „In einem groben Stärken- und Schwächenvergleich steht die Rechtsstaatlichkeit, die Leistungsverläßlichkeit sowie die plurale und dezentrale Struktur des öffentlichen Sektors im Haben, während sich die hohen Kosten, Qualitätsdefizite und eine schwache Innovationsdynamik im Soll finden“ (Hennig 1998, S. 3).
Lange Zeit standen die Verwaltungsorganisationen des Staates – im Gegensatz zu privatwirtschaftlichen (bürokratischen) Großunternehmen – unter keinem existentiellen Erneuerungsdruck. Erst die im Licht der Umbrüche in den gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen sichtbar gewordene Modernisierungs- und Leistungslücke, kombiniert mit einer rapide abnehmenden Finanzierbarkeit der bisher öffentlich wahrgenommenen Aufgaben, lassen Innovation, Bedarfsorientierung und Wirtschaftlichkeit in den Vordergrund treten. Im Vergleich zu früheren Reformversuchen wird damit auch die bürokratische Organisationsstruktur der öffentlichen Verwaltung selbst als Problem betrachtet, deren Defizite im Rahmen einer Binnenmodernisierung des Staates beseitigt werden sollen (vgl. Budäus 1998b, S. 2 f.). Insbesondere das Zusammentreffen folgender Faktoren wird als Auslöser für den seit den 1990er Jahre zu beobachtenden umfassenden Verwaltungsmodernisierungsschub verantwortlich gemacht (Kißler et al. 2000, S. 14 f.):
15
•
das drastische öffentliche Haushaltsdefizit (das durch die Kosten der deutschen Einheit verschärft wurde),
•
das miserable Image des öffentlichen Dienstes,
•
die verschärfte Standortdebatte (in der eine rückständige öffentliche Verwaltung als infrastruktureller Standortnachteil betrachtet wird)
•
die fortschreitende europäische Integration (die dazu zwingt, sich mit den Standards in den anderen Ländern auseinanderzusetzen),
•
das Vorhandensein einer Gestaltungsalternative (publik gemacht durch internationale Leistungsvergleiche).
vgl. Türk et al. (2002, S. 123 ff.), die zu diesem Thema einen instruktiven Überblick bieten.
14
Reorganisation im öffentlichen Sektor
2.2
Die dominierenden Reformkonzepte
Der öffentliche Sektor in Deutschland reagierte auf die Dysfunktionalitäten der Bürokratie bereits ab den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts mit vielfältigen Reformversuchen (vgl. Budäus 1998b). Göbel (1999, S. 170 ff.) attestiert den Modernisierungsaktivitäten der vergangenen Jahrzehnte allerdings einen „zentralistischstrukturkonservativen Grundzug“. Die Kumulation emergenter Folgen jahrzehntelanger bürokratischer Rationalisierung, ungehemmter Technisierung, Hierarchie und funktionaler Spezialisierung ist seiner Meinung nach das organisationsstrukturelle Erbe das mit Hilfe des – aus der Privatwirtschaft übernommenen – neuen Leitbilds der „Lean Administration“ korrigiert werden soll. Diese neue Welle der Modernisierung staatlicher Verwaltung war in Deutschland Anfang der 1990er Jahre unter dem zunehmenden Druck der Haushaltskonsolidierung und wahrgenommener Steuerungsmängel zu beobachten. Naschold & Bogumil (2000, S. 143) unterscheiden insgesamt fünf Phasen der Verwaltungsreform in Deutschland: 1. 2. 3. 4.
die Rechtsbereinigung Ende der 1950er Jahre die kommunale Gebietsreform Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre die Funktionalreform in den 1970er Jahren die Bemühungen um mehr Bürgernähe und Verwaltungsvereinfachung seit Mitte der 1970er Jahre und in den 1980er Jahren 5. die betriebswirtschaftlich inspirierte Binnenmodernisierung der Verwaltung im Zuge der NPM-Bewegung seit Anfang der 1990er Jahre
Zum Abbau der bestehenden Defizite in den öffentlichen Verwaltungen werden in der aktuellen Reformliteratur unterschiedliche Ansätze diskutiert (vgl. Bosetzky & Heinrich 1989, Budäus 1998b, Naschold & Bogumil 2000). Hoon (2003, S. 21) beispielsweise rezipiert König (1997), der drei unterschiedliche Ansätze formuliert, mit denen die Reform des öffentlichen Sektors ausgestaltet werden kann: •
Kontraktive Politik: Dieser Reformansatz fokussiert sich auf den Abbau von Organisationseinheiten und Personalbeständen im Sinne eines „Down-Sizing“.
•
Funktionale Privatisierung: Der Ansatz beinhaltet die Reform der öffentlichen Leistungserbringung durch die Verlagerung der sozialen Handlungsverantwortung aus dem öffentlichen Sektor in den privaten oder Dritten Sektor.
•
Binnenrationalisierung: Dieser Ansatz umfasst das Ziel, die Modernisierung von Staat und Verwaltung durch den Einsatz von betriebswirtschaftlichen Instrumenten der Reorganisation, der Informationstechnologie, der Budgetierung sowie durch Kosten- und Leistungsrechnung und Controlling zu unterstützen.
Die dominierenden Reformkonzepte
15
Während die beiden ersten Ansätze auf die Minderung des Finanzdrucks abzielen, jedoch wenig zur Steigerung der Leistungsfähigkeit öffentlicher Verwaltungen beitragen, verspricht der Einsatz betriebswirtschaftlicher Steuerungsinstrumente sowohl einen wirtschaftlichen Mitteleinsatz, als auch die Erhöhung der Leistungsfähigkeit. Für dieses an den Modernisierungsstrategien des privatwirtschaftlichen Sektors angelehnte Vorgehen zum Wandel einer bürokratischen zur „modernen“ Verwaltung, hat sich international der Begriff „New Public Management“ (NPM) bzw. Public Management (PM)16 durchgesetzt (vgl. Budäus 1998b, Nöthen et al. 2004, S. 62; Hoon 2003, S. 22, Bogumil & Schmid 2001, S. 111). Da die Ausgangssituation für ein Veränderungsmanagement im öffentlichen Sektor erdumspannend die finanzielle Notsituation zu sein scheint, stehen Struktur, Größe und Effizienz des Staatssektors im Zentrum der Kritik (vgl. Brunner-Salten 2003, Naschold & Bogumil 2000). Die im internationalen Vergleich relativ späte Aufnahme des NPM in Deutschland17 wird mit dem Fehlen eines konkreten Handlungsdrucks und einer international zugesprochenen hohen Leistungsfähigkeit der deutschen Verwaltung erklärt (vgl. Bogumil 1999, S. 3 ff.; Bogumil et al. 2007, S. 23 ff.). Im Ländervergleich fällt auf, dass Großbritannien und Neuseeland mit Hilfe zentralstaatlicher Steuerung in radikalen, marktgetriebenen und ideologisch ausgerichteten Reformen den öffentlichen Sektor weitreichend rück- und umgebaut haben, während die Reformträger der programmatisch-pragmatisch angelegten Binnenmodernisierung des öffentlichen Sektors mit Verringerung der Leistungstiefe in Schweden und den Niederlanden der Staat und die Gemeinden waren. Sowohl in den USA als auch in Deutschland sind die zentralstaatlichen und gemeindlichen Modernisierungsprozesse dagegen weitgehend entkoppelt. Die Reformstrategien sind in den USA allerdings marktgesteuert, öffentlich und bürgerorientiert und fallweise sehr erfolgreich, während sie in Deutschland ad-hoc-pragmatisch und im wesentlichen auf Binnenmodernisierung ausgerichtet sind (vgl. Naschold & Bogumil 2000, S. 38 f.). Als Vorreiter und Vorbilder für die Verwaltungsmodernisierung der Kommunalverwaltung unter dem neuen administrativen Paradigma gelten in diesem Zusammenhang die Kommunen Tilburg (Niederlande), Delft (Niederlande), Phoenix (USA) und Christchurch (Neuseeland), die aufgrund der beschriebenen länderspezifischen Modernisierungs16
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Diese beiden Begriffe werden im Folgenden synonym benutzt. Der Vorschlag von Budäus (1994) NPM als Sammelbegriff aller international diskutierten Innovationen zu verwenden und mit PM den Teilbereich des NPM zu bezeichnen, der sich mit der Binnenmodernisierung beschäftigt, hat sich nicht durchgesetzt (vgl. Kißler et al. 2000, S. 22). Hier befinden sich die Kommunen als Vorreiter bereits vollständig in der Implementationsphase von Modernisierungsvorhaben, während die meisten Länder – und der Bund als Schlusslicht – noch zwischen Konzeptions- und Implementationsphase stecken (vgl. Naschold & Bogumil 2000, S. 223).
16
Reorganisation im öffentlichen Sektor
ansätze allerdings zu recht unterschiedlichen Ergebnissen kamen (vgl. Nöthen et al. 2004, S. 61 ff.). Damit wird deutlich, dass ökonomische Krisen nicht automatisch zu einer effizienten Problemlösung seitens des Staates führen, ohne Berücksichtigung der politischen und kulturellen Rahmenbedingungen und der jeweiligen Lernbereitschaft der relevanten Akteure (vgl. Naschold & Bogumil 2000, S. 109). In Modernisierungsvorhaben spielen auch historische Traditionen, kulturelle Normen und erworbene Praktiken – im Sinne von Pfadabhängigkeiten18 – eine mehr oder weniger große Rolle (vgl. Naschold & Bogumil 2000, S. 110), folgen aber nicht unmittelbar „objektiven“ ökonomischen, technologischen oder gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten. Diese müssen vielmehr zunächst mit Hilfe ökonomischgesellschaftlicher Leitbilder19 interpretiert werden, die mehrere Funktionen haben. Sie bilden erstens den Hintergrund der Problemwahrnehmung, zweitens den Bezugspunkt möglicher Lösungen und Chancen, drittens die Verständigungsbasis für die inner- und interorganisationale Kommunikation und legitimieren viertens eine ganz bestimmte Machtverteilung zwischen den beteiligten Akteuren (vgl. Göbel 1999, S. 173 f.). Naschold & Bogumil (2000, S. 32 f.) konstatieren, dass dem strategischen Umschwung in der quantitativen Entwicklung des öffentlichen Sektors in Deutschland ein Wandel im dominierenden Leitbild staatlicher Tätigkeit entspricht. Während die expansive Phase vom sozialdemokratisch inspirierten Leitbild des aktiven, wohlfahrtsmaximierenden Staates bestimmt war, stand die Stabilisierungs- und Konsolidierungsphase unter der ideologischen Hegemonie privatwirtschaftlicher Marktmechanismen. Ob das neue Paradigma – Göbel (1999, S. 164) spricht in diesem Zusammenhang von „Verwaltungsökonomisierung“ – bereits den bisherigen Endpunkt der Entwicklungen darstellt, darüber gehen die Meinungen auseinander. Einig sind sich die Autoren, dass es zukünftig um eine Neugestaltung der Trias von Verfügungsrechten, Wettbewerbskräften und staatlicher Regulation und weg vom dichotomisierenden Wechselspiel der klassischen Leitbilder von Staat und Wirtschaft geht. Dabei interessieren in erster Linie die Fragen, wie die Effizienz im öffentlichen Sektor gesteigert werden kann und in welchem Umfang und in welcher Qualität öffentliche Leistungen (von wem) zukünftig erstellt werden sollen. Staat, Verwaltung und öffentlicher Sektor seien aber nicht einfach Rahmenbedingungen privater Wirtschaft und Gesellschaft sondern konstitutiv für die Entwicklung der zivilen Gesellschaft und neuer Märkte (vgl. Naschold & Bogumil 2000, S. 33). 18
19
womit die Bandbreite verfügbarer Entwicklungsalternativen begrenzt wird, da einmal eingeschlagene Pfade Fakten schaffen und nicht beliebig verlassen werden können (vgl. dazu Schreyögg & Sydow 2003). oder synonym: (Modernisierungs-)Paradigmen
Die dominierenden Reformkonzepte
17
Bevor ich den Stand der Reformdiskussion darstelle, möchte ich aufgrund der hohen Relevanz der Modernisierungsparadigmen zunächst das Konzept des New Public Management und dessen deutsche Variante – als die dominierenden Leitbilder in der Reform der öffentlichen Verwaltungen – skizzieren.
2.2.1 Das Konzept des New Public Management Für den Begriff des New Public Management gibt es keine klare Definition und Abgrenzung, dieser Ansatz wird vielmehr als konzeptioneller Orientierungsrahmen betrachtet, an dem sich die Modernisierungsbestrebungen ausrichten. Daher stellt das New Public Management auch kein geschlossenes theoretisches Konzept dar, sondern einen Sammelbegriff für eine Vielzahl von Instrumenten, die als gemeinsames Leitbild die Mikroökonomisierung des öffentlichen Sektors zum Ziel haben (vgl. Budäus 1998c, S. 15; Hoon 2003, S. 22 f.). Auch Budäus (1998b) weist darauf hin, dass das NPM inhaltlich noch nicht für ein neues Paradigma, sondern eher für die Herbeiführung eines Paradigmenwechsels steht, bei dem die Orientierung an privaten Unternehmen und deren Managementtechniken eine wichtige Rolle spielen. Das Konzept des New Public Management umfasst die Gesamtheit möglicher und international mit unterschiedlichen Schwerpunkten diskutierten Strategien zur Schließung der Modernisierungslücke des öffentlichen Sektors (vgl. Kißler et al. 2000, S. 22). Zur inhaltlichen Abgrenzung und Strukturierung unterscheidet Budäus (1998b, S. 3 ff.) prinzipiell drei Reformebenen des New Public Management: 1. Auf der Ebene des Staates soll die Staatstätigkeit durch den Abbau von Aufgaben, Privatisierung sowie die Entwicklung innovativer Organisationsformen zurückgedrängt werden (Wandel vom produzierenden zum gewährleistenden Staat). 2. Auf der Ebene der externen Strukturreform soll dem gewandelten Rollenverständnis von Staat und Verwaltung Rechnung getragen werden, in dem Wettbewerbselemente und neue Formen der nutzerorientierten Leistungsfinanzierung eingeführt und damit die Struktur- und Handlungsbedingungen reformiert werden. 3. Auf der Ebene der Binnenreform20 der öffentlichen Verwaltungen sollen die internen Strukturen und Verfahren sowie der Umgang mit dem Personal reformiert werden.
20
Unter der Überschrift „Das Neue Steuerungsmodell“ (vgl. KGSt 1993a, Abschnitt 2.2.2) konzentriert sich die kommunale Ebene in Deutschland bisher überwiegend auf diese Ebene (vgl. Budäus 1998, S. 4).
18
Reorganisation im öffentlichen Sektor
Er weist darauf hin, dass die – schwerpunktmäßig in Deutschland zu u beobachtende – nenreform (und damit auf die Anwendu ung von ManageKonzentration auf die Binn eift, da zwischen der externen Strukturreform und der Binmentkonzepten) zu kurz gre er wechselseitiger Zusammenhang besteht. Seiner Meinenreform ein unmittelbare Herbeiführung von mehr Wettbewerb ein ne systematische nung nach erfordert die H mentwissen. Umgekehrt führt auch die praktische p UmsetAnwendung von Managem orien in den öffentlichen Verwaltungen nur n dann zu einer zung von Managementtheo Leistungssteigerung, wenn n Verwaltungshandeln wettbewerbsadäq quat positiv oder negativ sanktioniert werden n kann (vgl. Budäus 1998b, S. 5 ff.). Die folgende Abbildung verrdeutlicht die verschiedenen Bezugsfelde er des NPM sowie deren theoretische Bezüge:21
Abbildung 1: Vom Bürokratie emodell zum NPM (Quelle: Budäus 1998b, S. 6)
21
Da im weiteren Verlauf der Arbeit insbesondere die Funktion des NPM alss Leitbild im Modernisierungsprozess interesssiert, werden die theoretischen Bezüge (für einen Überblick vgl. Kieser 2002, S. 199 ff.) nicht weiter vertieft.
Die dominierenden Reformkonzepte
19
Während es bei Budäus (1998b) um die verschiedenen Reformebenen und deren Interdependenzen geht, betrachten Naschold & Bogumil (2000, S. 86) die wesentlichen Elemente des NPM: •
die Steuerung durch Ziele (Performanz-Management, Ergebnissteuerung, Management by results),
•
das Kontraktmanagement verselbständigter Verwaltungseinheiten,
•
die Auslagerung von Aufgaben auf private Unternehmen und Non-Profit-Organisationen,
•
die Bildung von Quasi-Märkten und
•
die Betonung der Kundenorientierung.
Bei all diesen Elementen geht es um die Stimulierung neuer Wirkungsmechanismen mit dem Ziel der Verbesserung der Qualität, der Effizienz und der Effektivität der Dienstleistungsproduktion im öffentlichen Sektor. Die Unterschiede zwischen dem NPM und der klassischen Verwaltung werden in der folgenden Abbildung detailliert gegenübergestellt (vgl. Jann 1998, S. 22):
20
Reorganisation im öffentlichen Sektor
New Public Management
Klassische Verwaltung
Steuerung
Quantifizierbare Outputs Präzise Leistungsziele Absprachen, Verträge Wettbewerb „auf Abstand“
Input Verfahren Regelung, Weisung Standards „direkt“
Kontrolle
Dezentrale Verantwortung gekoppelt mit Kennziffern, Controlling und Anreizen/ Konsequenzen
Zentrale Kontrolle (Hierarchie) mit Dienst-, Rechts- und Fachaufsicht
Leistungstiefe
Präferenz für Contracting Out Outsourcing Wettbewerb
Präferenz für möglichst umfassende vertikale und horizontale Integration (Eigenerstellung)
Organisation
Disaggregierung großer Einheiten in (quasi-)autonome Einrichtungen, Verselbständigung (kommerziell/nicht kommerziell, Politikformulierung/Politikdurchführung, Purchaser/Provider22, Politik/Verwaltung)
Präferenz für möglichst umfassende vertikale und horizontale Integration, Einheit von Programmierung, Implementierung und Finanzierung (Einheit der Verwaltung, Einräumigkeit der Verwaltung; Ministerverantwortlichkeit)
Ressourcen
Dezentrale Ressourcenverantwortung (Finanzen, Personal)
Zentrale Ressourcenverantwortung
Kultur
Imitation des privaten Sektors (kurzfristige Arbeitsverträge, Contract Management, Leistungsabsprachen, Leitbilder, Kundenorientierung)
Eigenständige Tradition (lebenslange Anstellung, besondere Ausbildung, Weisung, Senioritätsentgelt, Alimentation, Beamtenethos, Gemeinwohlbindung)
Anreize
Präferenz für monetäre Anreize (sowohl intern wie extern)
Präferenz für nicht-monetäre Anreize (Ethos, Status, Regeln)
Haushalt
Präferenz für Flexibilität Budgetierung, Globalhaushalte Doppik
Präferenz für Jährlichkeit Titelwirtschaft Kameralistik23
Fähigkeiten
Management Umsetzung, Steuerung „Entrepreneur“
Politikformulierung Recht „Civil Servant“24
Abbildung 2: Zentrale Elemente des NPM (Quelle: Jann 1998, S. 22) 22 23
24
„Abnehmer“/„Lieferant“ Im Gegensatz zur Doppik (doppelte Buchführung) ist die Kameralistik eine auf den Nachweis von Einnahmen und Ausgaben sowie den Vergleich mit dem Haushaltsplan ausgerichtete Rechnungsführung. „Entrepreneur“ (Unternehmer) vs. „Civil Servant“ (Verwaltungsbeamter)
Die dominierenden Reformkonzepte
21
Obwohl in der deutschen Diskussion keine Einigkeit hinsichtlich Anzahl und Auswahl der Elemente des NPM herrscht (vgl. Budäus 1994; Kißler et al. 1997, S. 23 f.; Naschold & Bogumil 2000, S. 87 f.), beziehen sich letztlich alle Konzepte eines NPM auf ein gemeinsames Verständnis von Organisationsveränderung, das besagt, dass an verschiedenen Führungsfunktionen (Strukturen, Verfahren, Personal und Außenverhältnis) aufgrund ihrer Interdependenzen gleichzeitig angesetzt werden muss. Welche Maßnahmen diesen vier zentralen Gestaltungselemente des Public Management zugeordnet sind, zeigt die folgende Abbildung: Gestaltungselemente des Public Management Ansatzpunkt
Maßnahmen
Organisationsstrukturen
Dezentralisierungs-, Entflechtungs-, Verselbständigungsstrategien
Verfahren
Ergebnisorientierung durch Kosten- und Leistungsrechnung, Controlling, outputorientiertes Rechnungswesen und Wirkungsanalysen Trennung von Politik und Dienstleistungsbereich durch klare Verantwortungsabgrenzung
Personal
Organisationsentwicklung durch die Einrichtung von Partizipations-, Kooperations- und Gruppenelementen, externe Beratung, Personalentwicklung durch Personalbeurteilung, Fort- und Weiterbildungsplanung, Karriere- und Verwendungsplanung und die Herausbildung einer Corporate Identity (CI)
Außenverhältnis
Ausbau der Kundenorientierung durch Total Quality Management (TQM) und Management by Competition (MbC)
Abbildung 3: Gestaltungselemente des PM (Quelle: Kißler et al., S. 28)
Um die starren, hierarchischen Organisationsstrukturen zu überwinden, kommt den Dezentralisierungs-, Entflechtungs-, Verselbständigungsstrategien eine besondere Bedeutung zu. Die Schaffung organisatorisch abgrenzbarer Einheiten (im Sinne von Verantwortungszentren) ist die Grundvoraussetzung für eine systematische Steuerung der Ressourcen. Mit der Dezentralisierung sollen die Verantwortungsstrukturen vertikal entflochten und die Einheit von Fach- und Ressourcenkompetenz implementiert werden. Erst wenn Organisationseinheiten institutionalisiert sind, denen Kosten und Leistungen zugeordnet werden können, sind ergebnisorientierte Verfahren sinnvoll einsetz-
22
Reorganisation im öffentlichen Sektor
bar. Dies funktioniert nur, wenn die strikte Trennung von Politik („policy making“) und öffentlicher Dienstleistung („service delivery“) eingehalten wird. Nur durch eine klare Verantwortungsabgrenzung zwischen Politik und Verwaltung kann die notwendige Verlagerung operativer Entscheidungen in verselbständigte Verantwortungszentren konsequent eingehalten werden. Dabei soll die Politik als Auftrag- und Kapitalgeber zum einen die Ziele und Rahmenbedingungen setzen und zum anderen die Erfüllung der Leistungsaufträge kontrollieren. Die Verwaltung ist als Auftragnehmer für die Erfüllung der Leistungsaufträge und für den Bericht über Auftragsvollzug und Abweichungen zuständig. Ein weiterer zentraler Ansatzpunkt ist das Personal, das in einer zunehmend komplexen und dynamischen Welt dezentral gesteuert werden muss sowie mehr Einfluss und Handlungsspielräume bekommen soll. Unterstützt durch externe Beratung – als Prozesshilfe und Impulsgeber – soll das organisationale und individuelle Lernen durch OE- und PE-Maßnahmen (kooperative Führungsstrukturen, Anreiz- und Motivationssysteme, Personalbeurteilung, Fort- und Weiterbildung...) gefördert werden. Mit diesen Maßnahmen sollen die Partizipations- und Selbstorganisationschancen und -fähigkeiten der Beschäftigten erhöht werden, mit dem Ziel organisationale Innovationsprozesse und personale Leistung zu optimieren. Durch die Herausbildung einer Corporate Identity soll nach innen die Mitarbeitermotivation und -identifikation gestärkt und nach außen eine kundenorientierte Marktstrategie entwickelt werden. Im Außenverhältnis soll durch Qualitätssicherungsmaßnahmen und der Orientierung an den Kundenbedürfnissen die Produktqualität und Kundenorientierung gesteigert werden. Die zu mehr Leistung anspornenden marktwirtschaftlichen Mechanismen (MbC) sollen durch die Installation von internen und externen Wettbewerbsstrukturen und Leistungsvergleichen gefördert werden (vgl. Kißler et al. 2000, S. 24 ff., Naschold & Bogumil 2000, S. 87 ff.) Da im weiteren Verlauf meiner Arbeit in erster Linie die deutsche Variante des New Public Management – das Neue Steuerungsmodell (NSM) – interessiert, möchte ich bezüglich der Kritik am NPM25 nur einen mir (auch hinsichtlich des NSM) als zentral erscheinenden Themenkomplex herausgreifen. Dieser Kritikpunkt bezieht sich meiner Meinung nach aber weniger auf das NPM als Konzept, sondern vielmehr auf die praktische Anwendung und kann daher einen wichtigen Beitrag zur Einschätzung der bisherigen Reformbemühungen und damit zu Verbesserungen leisten (vgl. Borins & Grüning 1998, S. 13). Moldaschl et al. (2004) thematisieren einen gesellschaftspolitischen bzw. normativen Aspekt dieser Entwicklungen und kritisieren in diesem Zu25
Einen ausführlichen Überblick zur Kritik am NPM bieten u.a. Borins & Grüning (1998).
Die dominierenden Reformkonzepte
23
sammenhang die „Ökonomisierung der Diskurse“, in der sie derzeit die einzig wirklich globale Konvergenz sehen. Sie konstatieren, dass ökonomische Anforderungen, Begründungen, Legitimationen und Werte auf den Prioritätenskalen gesellschaftlicher Entscheidungsprozesse definitiv weiter nach oben gerückt sind, egal ob es um Kindergärten, Hochschulen, Gesundheit oder Kultur geht. Sie vertreten des Weiteren die Meinung, dass dies für entwickelte, reiche, postindustrielle und – der Wertewandelthese26 nach – postmaterialistische Gesellschaften weder ein selbsterklärendes Phänomen sei, noch eines, das bestehende Optionsräume mental öffnet. Um praktische Gestaltungsräume im Verhältnis von Praxis und Denkmustern offen zuhalten bzw. (wieder) zu öffnen, plädieren sie dafür, Rigiditäten wie das von Politikern gerne zur Legitimation von unpopulären Entscheidungen herangezogene TINA-Prinzip („there is no alternative“) oder kontextfreies best-practice-Denken kritisch zu hinterfragen (vgl. Moldaschl 2004, S. 30 f.). Der Ansatz des New Public Management gibt zwar die Ziele der Verwaltungsmodernisierung vor, lässt aber Spielraum bei ihrer praktischen Umsetzung (vgl. Nöthen et al. 2004, S. 62). Je nachdem wie man mit den Trends zur Verwaltungsmodernisierung umgeht, sie beantwortet, ihnen andere Leitbilder zur Seite oder entgegenstellt, ergeben sich unterschiedliche situative Lösungen. Moldaschl (2004, S. 27 ff.) weist darauf hin, dass die verschiedenen Dezentralisierungsmaßnahmen auf zwei unterschiedliche – nur lose gekoppelte – Logiken (eine managerielle und eine marktliche) zurückführbar sind. Während sich die managerielle Logik (nur) einer anderen Form der Herrschaft bedient und eine organisatorische Rationalisierung bzw. Dezentralisierung anstrebt, werden Organisationsteile (bzw. Einrichtungen, Aufgaben oder Personen) nach der marktlichen Logik aus dem bürokratischen Herrschaftsbereich in die ökonomische Selbständigkeit entlassen, um eine ökonomische Rationalisierung bzw. Dezentralisierung zu bewirken. In der folgenden Abbildung werden die verschiedenen Reformmaßnahmen zur Dezentralisierung den zwei unterschiedlichen Logiken und angestrebten Zielen zugeordnet:
26
Für einen Überblick vgl. etwa Voß (1990)
24
Reorganisation im öffentlichen Sektor
Abbildung 4: Ökonomische und u organisatorische Dezentralisierung (Quelle: Moldaschl 2004, S. 29)
„Relative Autonomie“ bedeutet in diesem Zusammenhang, dass ess z.B. Pfadabhännomischer und orgigkeiten und kulturelle Prä äferenzen für die Kombination von ökon ganisatorischer Dezentralissierung gibt, aber keine Automatismen in dem Sinne, dass eine ökonomische auch auttomatische eine organisatorische Rationa alisierung mit sich bringt und umgekehrt. Zur Illustration I führt der Autor ein Beispiel aus der Wasserwirtschaft an: „Wenn eine Kommune eine Privatisierung P bt, aus dem öffentlivor allem im Interesse betreib chen Tarifvertrag herauszuko parung, aber keine ommen, betreibt sie damit reine Kosteneinsp wirkliche Effizienzverbesserun ng; letzteres allenfalls im Hinblick auf die ein ngesetzten Geldmittel, nicht die Leistung“ (Moldasschl 2004, S. 30).
n Kritikpunkt angesprochen, der sich wie gesagt weniger In diesem Beispiel wird ein auf das Konzept, sondern vielmehr auf die praktischen Reformen bezieht und auch m Thema neues Steuerungsmodell eine e Rolle spielt: die im nächsten Abschnitt zum einseitige Ausrichtung der „Modernisierung „ als Einsparung“ (vgl. Gö öbel 1999). Da die organisationale Rückentwiccklung im öffentlichen Sektor nicht in erste er Linie mit einem Nachfragerückgang nach den d „Produkten“ verbunden, sondern durrch die finanzielle Notlage bestimmt ist (vgl. Murray M 1995, Sp. 1845), werden die Tra ansformationsprozesse – trotz der meist po ositiv formulierten Ziele – von den Besch häftigten nicht als selbst initiierte und geplante Reform, sondern als krisengetriebenes Geschehen
Die dominierenden Reformkonzepte
25
wahrgenommen. Und weil nach wie vor eine kurzfristig operativ ausgerichtete Konzeption – im Sinne von Personalabbau als Sparmaßnahme – vorherrscht (vgl. Budäus 2003, S. 333), ist für die Betroffenen vor allem die Frage relevant, wie diese Veränderungsprozesse unter Berücksichtigung von ökonomischen und sozialen Zielen erfolgreich gestaltet werden können, da mit weniger Ressourcen ein Mehr an Qualität erreicht werden soll (vgl. etwa Rehling 2008). Da die Knappheit der Mittel praktisch jede bislang als „öffentlich“ betrachtete Aufgabe auf den Prüfstand der Leistbarkeit, Verzichtbarkeit oder marktlichen Realisierbarkeit bringt, geht es perspektivisch nicht nur um den Umgang mit einer vorübergehenden ökonomischen Schwäche, sondern viel grundlegender um das Verhältnis von Markt und Staat, Wettbewerb und sozialer Zwecksetzung (vgl. Moldaschl 2004, S. 13). Als Verbesserungsvorschlag wird angemahnt, dass sich Organisationen im öffentlichen und dritten Sektor (d.h. Non-Profit-Organisationen) nicht nur an wirtschaftlichen Kriterien messen lassen, sondern stärker auf ihre anderen Legitimationsgrundlagen beziehen und als Vorreiter der Partizipation, Demokratisierung und StakeholderOrientierung auftreten (vgl. Moldaschl 2004, S. 114 f.). Die folgende Abbildung illustriert, auf welcher Legitimationsgrundlage welches Leitbild (im Sinne einer Orientierung des Handelns) fußt: Orientierung des Handelns
Legitimationsgrundlage
.. an wirtschaftlichen Kriterien
Effizienz
.. an sachlich-technischen Kriterien
Professionalität/Effektivität
.. an politischen Forderungen/Vorgaben
demokratische Abstimmung
.. an sozialen Kriterien
soziale Normen
.. am Vorgesetzten
Autorität
.. an Anweisungen und Regeln
Bürokratie, Regeltreue
Abbildung 5: Leitbilder und ihre Legitimation (Quelle: Blutner & Metzner 1998, S. 165, nach Moldaschl 2004, S. 114)
Bei diesem Themenkomplex geht es letztendlich um die Frage, ob es sich beim NPM um eine neo-liberale Bewegung handelt und ob die öffentliche Sphäre die politische Sphäre der Gesellschaft ist, in der „höhere soziale Werte“ verfolgt werden können. Borins & Grüning (1998) verneinen die erste Frage und weisen darauf hin, dass angesichts der finanziellen Notlage und der Dysfunktionalitäten im öffentlichen Sektor von allen politischen Lagern (von „links“ bis „rechts“) Reformaktivitäten gestartet wurden. Bei der Beantwortung der zweiten Frage führen sie einerseits an, dass die Verfolgung dieser Werte den klassischen Wohlfahrtsstaat offensichtlich in ernsthafte
26
Reorganisation im öffentlichen Sektor
Haushaltsprobleme gebracht hat, betonen aber auch, dass es letztlich eine politische Frage ist, welche Werte für den öffentlichen Sektor angemessen (aber auch bezahlbar) sind (vgl. Borins & Grüning 1998, S. 44 ff.). Auch Jann (1998, S. 47 ff.) kommt zu dem Schluss, dass es zwar keinen grundsätzlichen Widerspruch zwischen beiden Sektoren gibt, aber problematische und sich zum Teil widersprechende Ansätze27 aus dem privaten Sektor nicht unbesehen auf den öffentlichen übertragen werden sollen. Diese und ähnlich Fragen stellen sich auch hinsichtlich der im Folgenden dargestellten deutschen Variante des New Public Management – dem Neuen Steuerungsmodell.
2.2.2 Das neue Steuerungsmodell Die in den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts von der Kommunalen Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsmodernisierung in Köln (KGSt) in Deutschland initiierten Reformbemühungen orientieren sich am „Tilburger Modell“28 und sind als deutsche Variante des NPM unter dem Namen „Neues Steuerungsmodell“ (NSM) bekannt (vgl. KGSt 1993, Naschold & Kißler 2000, Kißler et al. 2000, Nöthen et al. 2004, Bogumil et al. 2007). Bis zu diesem Zeitpunkt fehlt trotz der erkannten Defizite ein konsistentes Führungsmodell, das eine Verbesserung von Verwaltungsarbeit verspricht.29 Mit dem NSM wird ausgehend von einer diagnostizierten Steuerungs-, Management-, Attraktivitäts- und Legitimationslücke30 unter dem Motto „Von der Behörde zum Dienstleistungsunternehmen“ ein neues Leitbild für die Kommunen31 entworfen (vgl. KGSt 1993a; Kißler et al. 2000, S. 28 f.). Als Ziel des NSM wird der Aufbau einer unternehmensähnlichen dezentralen Führungs- und Organisationsstruktur genannt (Kißler et al. 2000, S. 29 f.) mit
27
28
29
30
31
So gelten Mitarbeiter beispielsweise im Downsizing als verzichtbar, während sie im TQM die entscheidende strategische Ressource darstellen (vgl. Jann 1998). Die niederländische Stadt Tilburg wurde ausgewählt, weil deren Finanzsteuerungssystem „den höchsten vorfindbaren Grad an instrumenteller Geschlossenheit und Unternehmensähnlichkeit aufwies“ (KGSt 1993a, S. 24) Wobei hierzu kritisch angemerkt werden kann, dass Naschold & Bogumil (2000) als eine wichtige Erfahrung aus den bisherigen Verwaltungsreformen die Erkenntnis ziehen, dass Verwaltungsreformen nicht so sehr an fehlenden Konzepten, sondern vor allem an starken Beharrungskräften in den Organisationen scheitern (vgl. Naschold & Bogumil 2000, S. 145). Rehling (2008, S. 12) weist darauf hin, dass diese Aufzählung häufig noch durch eine „Motivationslücke“ ergänzt wird, die durch Defizite im Bereich Personalführung und -entwicklung verursacht wird. In Deutschland sind die Kommunen die Vorreiter bei der Verwaltungsmodernisierung. Obwohl auch in den Landesverwaltungen (vor allem in den Stadtstaaten) inzwischen die Binnenmodernisierung verstärkt angegangen wird, hinkt die Landes- und Bundesebene hinter den Kommunen her. Die Gründe dafür werden insbesondere in der großen Finanznot der Kommunen und dem stärkeren Bürgerkontakt (der mit einem höheren Rechtfertigungsdruck verbunden ist) gesehen (vgl. Naschold & Bogumil 2000, S. 147).
Die dominierenden Reformkonzepte
27
•
einer klaren Verantwortungsabgrenzung zwischen Politik und Verwaltung in Form eines Kontraktmanagements,
•
dezentraler Ressourcen- und persönlicher Ergebnisverantwortung verbunden mit einem zentralen Steuerungs- und Controllingbereich sowie
•
einer Outputsteuerung in Form von Produktdefinition, Kosten- und Leistungsrechnung, Budgetierung und Qualitätsmanagement zur Schaffung direkter Abnehmerorientierung.
Damit zeichnet sich auf konzeptioneller Ebene eine weitgehende Übereinstimmung des NSM mit den bereits skizzierten Elementen des NPM ab. Wenn man allerdings die Veröffentlichungen der KGSt im Zeitverlauf betrachtet, scheint der Schwerpunkt zunächst auf der Nutzung von betriebswirtschaftlichen Instrumenten und dem Stärken der Managementebene zu liegen. Die neue Aufgabenverteilung zwischen Politik und Verwaltung, die Einführung von Wettbewerbselementen, die Beteiligung der Beschäftigten und Maßnahmen der Kundenorientierung scheinen dagegen zu Beginn als nachrangig betrachtet zu werden (vgl. Kißler et al. 2000, S. 30 f.). Bogumil et al. (2007, S. 30 f.) verdeutlichen die in den Folgejahren erfolgte Erweiterung des „Kernmodells“ in der folgenden Übersicht der wesentlichen Elemente des „erweiterten Modells“ des NSM. Hier wird gezeigt, wie die weiß unterlegten Bereiche des binnenorientierten Kernmodells der KGSt (als „unverzichtbare Mindestbedingungen“) durch die grau unterlegten Elemente (Personalinnovationen, Kundenorientierung und Wettbewerbselemente) ergänzt werden:
28
Reorganisation im öffentlichen Sektor
Binnendimension
Außendimension
Verhältnis Politik - Verwaltung
Ablösung des klassischen Bürokratiemodells
Trennung von Politik und Verwaltung („Was“ und „Wie“)
Verfahrensinnovationen
Kundenorientierung
•
•
Qualitätsmanagement
•
One-Stop-Agencies32
•
Politische Kontrakte
•
•
Politisches Controlling
•
Produktbudgets
Dezentrale Fach- und Ressourcenverantwortung Outputsteuerung über Produkte
•
Budgetierung
•
Controlling
•
Kosten-LeistungsRechnung
•
Kontraktmanagement
Organisationsinnovationen
Wettbewerbselemente
•
Konzernstruktur
•
Vermarktlichung
•
Zentraler Steuerungsdienst
•
Privatisierung
•
Leistungsvergleiche
•
Querschnittsbereiche als Servicestellen
Personalinnovationen •
Kooperations- und Gruppenelemente
•
Anreizsysteme
•
Modernes Personalmanagement
•
Betriebswirtschaftliches Wissen
•
Ganzheitliche Arbeitszusammenhänge
Abbildung 6: Dimensionen des Neuen Steuerungsmodells (Quelle: Bogumil & Kuhlmann 2004, S. 53, nach Bogumil et al. 2007, S. 31)
Auch bei der deutschen Variante des New Public Management geht es darum, das klassische Bürokratiemodell durch eine umfassende Dezentralisierung von Fach-
32
z.B. „Bürgerämter“ zur verbesserten Leistungserstellung und -transparenz mit kurzen Wartezeiten, umfassenden Öffnungszeiten, neuen Raumkonzepten und weitreichenden Informationsangeboten (vgl. Bogumil et al. 2007, S. 29).
Die dominierenden Reformkonzepte
29
und Ressourcenverantwortung sowie eine Output-gesteuerte Verwaltungsführung abzulösen, um (mehr) Effizienz und Effektivität zu erzielen. Dazu gehört die Umgestaltung der Aufbauorganisation (Fachbereichsstrukturen), die Einführung betriebswirtschaftlicher Steuerungsinstrumente (Controlling, Kosten- und Leistungsrechnung) und ein prononciertes Personalmanagement (Bogumil et al. 2007, S. 23). Die Zusammenführung der Fach- und Ressourcenverantwortung auf dezentraler Ebene (d.h. in der Konsequenz: Übereinstimmung zwischen Aufgabe, Kompetenz und Verantwortung) verbunden mit mehr Entscheidungsspielräumen für die ausführenden Stellen ist ein gemeinsames Kernziel aller internationalen Referenzmodelle des NPM. Damit verbunden ist auch ein Abbau von Hierarchieebenen (da häufig eine Führungsebene – Amt oder Dezernat – wegfällt) und die Schaffung von ganzheitlich in Teamstrukturen arbeitenden, sich weitgehend selbststeuernden Arbeitseinheiten (vgl. Bogumil et al. 2007, S. 24 f.). Die Verlagerung der Verantwortlichkeiten von den höheren auf die niederen Ebenen wird allerdings oftmals als Machtverlust der politischen Instanzen empfunden (obwohl sie weiterhin über Zielsetzungen und Ressourcenverteilung entscheiden) und schafft zudem einen erheblichen Weiterqualifizierungsbedarf bei den Beschäftigten Da das NSM individuelles und kreatives Handeln fordert, soll auch die Verwaltungskraft als interner Kunde betrachtet werden, der sowohl am Modernisierungsdesign und an der Instrumentenentwicklung als auch an den Produktbeschreibungen und der Aufgabenkritik beteiligt wird (Nöthen et al. 2004, S. 66 ff.). Im Kern der outputorientierten Steuerung steht das Produktkonzept (vgl. Bogumil et al. 2007, S. 25 f.). Ein Produkt ist eine Leistung, die eine Verwaltungseinheit für andere Stellen außerhalb des eigenen Bereichs (d.h. für andere Fachbereiche oder für BürgerInnen) erbringt. Zu einer Produktbeschreibung gehören eine Kurzbeschreibung der angebotenen Leistung und ihr Umfang sowie detaillierte Angaben zur Verantwortlichkeit, zur Auftragsgrundlage, zum einzusetzenden Budget und Daten zur Quantität, Qualität und Zielerreichung. Im Produktkatalog ist das gesamte Leistungsspektrum einer Verwaltungseinheit zusammengefasst. Der hohe Ausarbeitungsaufwand birgt allerdings die Gefahr, dass das Leistungsspektrum auch bei Bedarfsänderungen nicht kurzfristig angepasst wird. Vor einer Produkt- bzw. Leistungsbeschreibung muss zunächst geklärt werden, welche Leistungen in welchem Umfang von der jeweiligen Verwaltungseinheit auch in Zukunft noch erbracht werden müssen. Im Rahmen dieser so genannten „Aufgabenkritik“ stehen sowohl die Qualität und Quantität der Leistungen als auch deren Finan-
30
Reorganisation im öffentlichen Sektor
zierung und Ziele auf dem Prüfstand33. Damit soll der Aufgabenbestand auf die Kernaufgaben reduziert werden, was sowohl durch den kompletten Wegfall von Aufgaben bzw. der Begrenzung der Leistungstiefe (Aufgabenentlastung) als auch durch Outsourcingmaßnahmen (Aufgabenausgliederung)34 geschehen kann:
Abbildung 7: Rückführung auf Kernaufgaben (Quelle: Enquete-Kommission des SchleswigHolsteinischen Landtages 1994, S. 67; nach: Schuppert 1997, S. 541)
Aufgrund der Relevanz dieser Fragen – bei denen es letztlich um die Rollenverteilung zwischen Verwaltung, Wirtschaft und Gesellschaft bei der Aufgabenwahrneh33 34
Kritisch dazu vgl. Schuppert (1998, S. 21 ff). Reichard (1998, S. 141) schlägt für die Abwägung bei der Institutionenwahl für öffentliche Leistungen einen dreistufigen Beurteilungsprozess vor: 1. Klärung der strategischen Relevanz der betreffenden Leistung für die gewährleistende Verwaltung, 2. Prüfung der Spezifität der bei der Leistungserstellung einzusetzenden Produktionsfaktoren, 3. Untersuchung der Wirtschaftlichkeit der in Betracht kommenden organisatorischen Lösungen.
Die dominierenden Reformkonzepte
31
mung geht (vgl. Schuppert 1998, S. 20) – kann die Aufgabenzuordnung35 legitim nur über einen demokratischen Prozess gesucht und vereinbart werden (vgl. Naschold & Bogumil 2000, S. 67 ff.; Nöthen et al. 2004, S. 72).36 Die dezentrale Ressourcenverantwortung lässt sich finanzwirtschaftlich am besten über die Zuteilung eines festen Budgets an die dezentralen Einheiten steuern. Während sich die Budgetvolumen in der Verwaltung zumeist am bisherigen Ressourcenverbrauch orientiert haben, soll eine konsequent outputorientierte Budgetierung den Finanzbedarf für den zu erzielenden Output zur Verfügung stellen. Dazu muss das traditionell kameralistische geprägte Rechnungswesen (welches lediglich Einnahmen und Ausgaben miteinander vergleicht) auf eine Kosten- und Leistungsrechnung (mit der die Kosten für die Erbringung einer Leistung genau ermittelt werden können) umgestellt werden. Um Anreize für ein wirtschaftlicheres Verwaltungshandeln zu geben, müssten darüber hinaus die eingesparten Mittel in das nächste Haushaltsjahr übertragen werden dürfen (vgl. Nöthen et al. 2004). Mittels Kontrakten und Zielvereinbarungen sollen nicht nur Verwaltungsabläufe und städtische Beteiligungen (intern), sondern auch die Verwaltung durch die Gemeindevertretungen (extern) gesteuert werden (vgl. Bogumil et al. 2007, S. 23). Im Verhältnis von Politik und Verwaltung sollen differenzierte Zielvereinbarungen zum gewünschten Output als Steuerungs- und Kontrollinstrumente eingesetzt werden. Idealerweise liegen im Zuständigkeitsbereich der Politik die Zielsetzungen, ihre Ausformulierung in Programmen, die daran orientierten Budgetüberlegungen und die Kontrolle der Zielerreichung. Die Verwaltung ist dafür verantwortlich, dass die definierten Ziele unter Einhaltung der Recht- und Ordnungsmäßigkeit sowie der Wirtschaftlichkeit erreicht werden. Da in klassischen Verwaltungsorganisationen die Verantwortlichkeiten meist so geteilt sind, dass die für die Erreichung fachlicher Ziele Verantwortlichen nicht über Umfang, Art, Zeitpunkt und Dauer des Ressourceneinsatzes entscheiden können, soll das Kontraktmanagement auch für die Steuerung innerhalb der Verwaltung zum Einsatz kommen. Das Kontraktmanagement kann allerdings nur gelingen, wenn die Rollen und Aufgaben gemeinsam definiert und geeignete empirische Kontrollinstrumente (für quantitative und qualitative Ziele) entwickelt werden. Im Rahmen der Dezentralisierungsmaßnahmen soll das Controlling gewährleisten, dass 35
36
Im Rahmen einer ziel- und kriterienorientierten Leistungstiefenpolitik sollte bei aufgabenkritischen Überlegungen geklärt werden, welchem Typ (staatliche Kernaufgabe, staatliche Gewährleistungsaufgabe, staatliche Annexaufgabe, private Kernaufgabe) eine konkrete Aufgabe zuzuordnen ist und welche Eigenschaften (Spezifität, strategische Bedeutung, Unsicherheit, Häufigkeit) sie kennzeichnen (vgl. Naschold & Bogumil 2000, S.67 ff.). Zum Problem mangelnder Transparenz und Informationsasymmetrien innerhalb und zwischen einzelnen Verwaltungen und ganz besonders zwischen Verwaltung und Öffentlichkeit vgl. etwa Budäus (1994).
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die steuerungsrelevanten Daten den jeweiligen Entscheidungsebenen zur Verfügung stehen. Während sich das operative Controlling auf das Tagesgeschäft bezieht und den Verwaltungseinheiten zur Effizienzkontrolle dient, hat das strategische Controlling die langfristigen Ziele im Blick und dient den übergeordneten Stellen zur Effektivitätssteigerung (Nöthen et al. 2004, S. 67 f.). Die Stoßrichtung der Personalinnovationen ist weg von der bürokratisch orientierten Personalverwaltung hin zu humanressourcenorientierter Personalentwicklung.37 In diesem Sinne soll das Personal weniger als Kostenfaktor, sondern vielmehr als strategische Ressource betrachtet werden. Diese Ressource muss durch diverse Maßnahmen wie z.B. kontinuierliche Weiterbildung, lernförderliche Arbeitsstrukturen, Führungsfunktionen auf Zeit, Personalbewertung und anforderungsgerechte Bezahlung, Egalisierung der Personalstruktur entwickelt werden (vgl. Naschold & Bogumil 2000, S. 98 ff.). Durch die Einführung von nach außen und nach innen wirkenden Wettbewerbselementen (Wettbewerbssurrogate,38 Abschaffung verwaltungsinterner Abnahmepflichten, Privatisierungen,39 Public-Private-Partnerships40...) und durch die Orientierung an den „Kundenwünschen“ der BürgerInnen soll dieses neue System der Verwaltungssteuerung „unter Strom gesetzt“ werden (vgl. Kißler et al. 2000, Bogumil et al. 2007, S. 23). Wie das NPM hat also auch das NSM nicht nur die Anwendung von Managementinstrumenten („Binnenreform“) zum Gegenstand, sondern weit darüber hinaus Strukturfragen der externen und internen Steuerung des Angebots und der Nachfrage öffentlicher Güter und Dienstleistungen („externe Strukturreform“) (vgl. Budäus 1998c, S. 104 ff.; Budäus 2004, S. 312 ff.): „Während die Frage nach der günstigsten Form öffentlicher Aufgabenwahrnehmung in der Vergangenheit keine besonders starke Rolle gespielt hat, ist sie heute ein viel diskutiertes und häufig kontrovers bewertetes Entscheidungsproblem geworden. Dazu hat nicht allein die erwähnte Finanzkrise beigetragen, sondern ohne Zweifel auch ein verstärkter Druck, sich Leistungsvergleichen mit dem Privatsektor zu stellen. Die allgemeinen Wertorientierungen haben sich vom wohlfahrtsstaatlichen Modell deutlich in Richtung <Marktmodell> verschoben; die Überzeugung, daß private Organisationen in ihrer Leitungsfähigkeit öffentlichen Institutionen überlegen seien, ist weit verbreitet. Folgerichtig plädieren viele Akteure dafür, öffentliche Aufgaben soweit wie möglich von privaten Institutionen erledigen zu lassen“ (Reichard 1998, S. 121). 37 38 39 40
Vgl. dazu auch Rehling (2008) „Wettbewerbsersatz“ z.B. über Leistungsvergleiche wie Benchmarking Vgl. König & Benz (1997); kritisch dazu Schuppert 1998, S. 23 f. d.h. Kooperationen zwischen öffentlichen Verwaltungen und privaten Unternehmen (vgl. Budäus 2004).
Die dominierenden Reformkonzepte
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Als Argumente für die Notwendigkeit von Ausgliederungen werden offiziell angeführt, dass das Dienst- und Besoldungsrecht der öffentlichen Verwaltung keine vernünftige Personalpolitik erlaubt, dass das Haushaltsrecht einer wirtschaftlichen Verhaltensweise im Weg steht, dass die Aufgabenerfüllung der politischen Einflussnahme stärker entzogen werden muss, dass das Organisations- und Finanzierungsverhalten der öffentlichen Hand zu unflexibel ist und dass Privatrechtsträger steuerliche Vorteile in Anspruch nehmen können. Inoffiziell können aber auch egoistische Motive einzelner Interessengruppen (z.B. Zugewinn von besser bezahlten Positionen oder Abwälzung von unangenehmen Aufgaben) eine Rolle bei diesen Entscheidungen spielen (vgl. Kuban 1998, S. 357 ff.). Als Ziele werden neben Leistungs- und Finanz- bzw. Erfolgszielen (z.B. Effizienzsteigerung, Haushaltsentlastung, Einsparungen) auch ordnungspolitische bzw. übergeordnete Ziele (z.B. Abbau von Staat, Stärkung der eigenen Wettbewerbsposition) genannt (vgl. König & Benz 1997, S. 26 ff.; Reichard 1998, S. 126 f.). Damit stehen viele Verwaltungen immer häufiger vor der Entscheidung, ob sie bestimmte Leistungen weiter selbst erbringen, diese an (bereits bestehende oder dafür zu errichtende) verselbständigte öffentliche Einrichtungen oder nicht-öffentliche (privat-kommerzielle oder privat-gemeinnützige) Institutionen vergeben oder ob sie bei der Leistungserbringung mit anderen Organisationen (mehreren öffentlichen Trägern oder in gemischt öffentlich-privater Partnerschaft) kooperieren sollen. Welches die jeweils günstigste institutionelle Lösung ist, hängt im Einzelfall ab von den maßgeblichen Zielsetzungen, den daraus abzuleitenden Entscheidungskriterien, den verfügbaren Alternativen und den geltenden Rahmenbedingungen. Als Entscheidungshilfe kann zur Analyse der Situation das sog. Gewährleistungsmodell mit seinen drei Verantwortungsebenen herangezogen werden: Eine Verwaltungsinstitution nimmt ein bestimmtes Spektrum an (gesetzlich vorgegebenen bzw. politisch gewollten) öffentlichen Aufgaben wahr, deren Erbringung nach bestimmten rechtlichen, fachlichen und ökonomischen Standards von ihr gewährleistet werden muss (=Gewährleistungsverantwortung). Der Gewährleister muss dann festlegen, für welche dieser Leistungen er auch die Finanzierung übernehmen kann bzw. soll (=Finanzierungsverantwortung) und welche der gewährleisteten bzw. teilweise finanzierten Leistungen von ihm selbst erstellt werden (=Vollzugsverantwortung). Die Verwaltungsinstitution hat also prinzipiell die Möglichkeit, im Rahmen ihrer Gewährleistungsfunktion mit unterschiedlichen Organisationen aus dem staatlichen, gemeinnützigen und privaten Bereich zu kooperieren und Aufgaben bzw. einzelne Leistungsaufträge mit unterschiedlicher zeitlicher Reichweite und mit verschiedenartigen Verantwortungskompe-
34
Reorganisation im öffentlichen Sektor
tenzen zu übertragen41 (vgl. Reichard 1998, S. 121 ff.). Zur Erfassung des gesamten Privatisierungsspektrums unterscheidet Schuppert (1997, S. 543 f.) folgende sechs Privatisierungsvarianten: 1. Bei einer Organisationsprivatisierung bedient sich der Verwaltungsträger zur Wahrnehmung einer bestimmten Aufgabe der Formen des Privatrechts zur Schaffung einer Eigengesellschaft (GmbH oder AG). Diese formale Privatisierung wird auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene häufig praktiziert, weil man sich von der Nutzung einer privatrechtlichen Rechtsform per se Flexibilitäts-, Effizienzund Imagegewinne verspricht. 2. Unter einer Vermögensprivatisierung wird die Übertragung staatlichen oder kommunalen Eigentums (Liegenschaften und Wirtschaftunternehmen) auf Private verstanden.42 3. Die materielle Privatisierung ist eine echte Aufgabenverlagerung vom öffentlichen in den privaten Sektor (echte Aufgabenprivatisierung), kommt aber in der Praxis selten vor. 4. Die Finanzierungsprivatisierung zur Kostenverlagerung vom Steuer- auf den Gebührenzahler sowie der Beschaffung von Kapital und Know How spielt eine zunehmend größere Rolle (z.B. im Straßenbau, wo durch das Fernstraßenbauprivatisierungsgesetz die Übertragung von Bau, Erhalt, Betrieb und Finanzierung gebührenpflichtiger Bundesfernstraßen ermöglicht wurde). 5. Bei der funktionellen Privatisierung (oder Teilprivatisierung) verbleibt die Aufgabenzuständigkeit und -verantwortung im öffentlichen Sektor, während die Aufgabendurchführung (Leistungserstellung) auf ein echtes Privatrechtssubjekt übertragen wird, das damit als Verwaltungshelfer fungiert. Dieses variantenreiche Modell der Aufgabenerledigung durch Einschalten Privater in die Aufgabenwahrnehmung spielt vor allem auf kommunaler Ebene eine große Rolle.43 6. Die Verfahrensprivatisierung spielt insbesondere im Städtebau- und Umweltrecht zunehmend eine Rolle (z.B. das sog. Scopingverfahren nach dem Gesetz über die Umweltverträglichkeitsprüfung und die privatisierte Abwägungsvorberei41
42 43
Budäus (1998c) weist allerdings darauf hin, dass die Besonderheiten öffentlicher Güter zum einen keine einfache Verlagerung der Bereitstellung über den Markt erlauben und zum anderen neue Steuerungsprobleme in Kauf genommen werden müssen (vgl. Budäus 1008c, S. 102 ff.). Auch Reichard (1998) merkt an, dass das Kontraktmanagement neuartige und anspruchsvolle Anforderungen an das Verwaltungsmanagement stellt z.B. die Fähigkeit zu präzisen Leistungsbeschreibungen und zu kontinuierlichem Vertragsmonitoring (vgl. Reichard 1998, S. 124). bezeichnend der engl. Ausdruck dafür: „Selling the family silver“ (vgl. Schuppert 1997, S. 543). Zu diesen Auftraggeber-Auftragnehmermodellen merken Naschold & Bogumil (2000, S. 57 ff.) als Resümee der britischen Erfahrungen u.a. an, dass die erzielten Qualitäts- und Kostenwirkungen auf das Zusammenspiel von Wettbewerbsdruck, technisch-organisatorischer Modernisierung und personalwirtschaftlichen Kostenreduktionsstrategien (z.B. Lohnkürzungen, Verschlechterung der Arbeitsbedingungen, Arbeitsplatzabbau) zurückzuführen sind.
Die dominierenden Reformkonzepte
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tung durch den in § 7 BauGB-MaßnahmeG vorgesehenen Vorhaben- und Erschließungsplan). Insbesondere die beiden letzten Privatisierungsformen bieten eine Lösung aus der unfruchtbaren Entgegensetzung von entweder staatlicher oder privater Aufgabenerfüllung, produzieren aber auch eine Fülle von Überlappungen und gleitenden Übergängen vom öffentlichen Sektor in den privaten und umgekehrt (vgl. Killian et al. 2006). Daraus wiederum ergeben sich neue Anforderungen an wirksame Regulierungsmethoden und -instrumente, die dieser Tatsache Rechnung tragen. Die Verwaltung benötigt für ihr tägliches Geschäft des Contracting out Regulierungsverträge, die neben dem Aufgabentransfer auch die Sicherstellung des Niveaus der Aufgabenwahrnehmung (Kontrollrechte, Rückholklauseln etc.) regeln sowie die eigene Privatisierungsfolgenverantwortung44 deutlich werden lassen (vgl. Schuppert 1997, S. 544 ff.). Da die Entscheidung in der dargelegten institutionellen Wahlsituation weder rein ideologisch-normativ (pauschale „pro-Markt-“ oder „pro-Staat-Position“) noch konventionell ökonomisch (Vergleich der Produktions- und Beschaffungskosten unter Ausblendung spezifischer institutionen-bedingter Kosten sowie von externen Effekten) gefällt werden soll, leitet Reichard (1998b, S. 140) folgende Hinweise aus den theoretischen Bezügen des NPM (vgl. Abb. 1) ab: •
Neben den Produktions- und Beschaffungskosten sind auf jeden Fall auch die Transaktionskosten, d.h. die Kosten der Anbahnung, Vereinbarung, Kontrolle und Anpassung von Austauschbeziehungen, abzuschätzen (evtl. anhand von Hilfsmerkmalen der betreffenden Leistungen wie Häufigkeit und Unsicherheit von Transaktionen).45
•
Im Hinblick auf die „Prinzipal-Agenten“-Beziehung zwischen Auftragnehmer und -geber sind Informationsasymmetrien in Rechnung zu stellen und deren mögliche Folgen durch geeignete Anreizmechanismen abzumildern.
•
Die Verfügungsrechte sollten den handelnden Akteuren eindeutig und vollständig zugerechnet und mit zugkräftigen Anreizen verbunden werden.
•
Die Vertragsbeziehungen zwischen Auftraggeber und -nehmer sind (soweit sinnvoll und möglich) unter Berücksichtigung impliziter Vertrauensstrukturen zu regeln.
44
Nach der Durchführung der Privatisierungsmaßnahmen fortwirkende Verantwortlichkeiten der Verwaltung für die Konsequenzen der jeweiligen Maßnahme (z.B. für vorhandenes Personal) (vgl. Schuppert 1997, S. 569). König & Benz (1997, S. 78) weisen darauf hin, dass nicht nur eine Kosten-Nutzen-Analyse unter ökonomischen, sondern auch unter Zweckverwirklichungskriterien gemacht werden soll.
45
36
Reorganisation im öffentlichen Sektor
Mit diesen Hinweisen wird auch auf die Schwierigkeiten einer sich aufgrund einer zunehmenden Annäherung und Überlappung des öffentlichen und privaten Sektors ergebenden entgrenzenden Verwaltungsorganisation aufmerksam gemacht. Symbiotische Organisationsstrukturen (d.h. organisatorische Arrangements, die eine gemeinsame, arbeitsteilige Aufgabenerledigung von öffentlichem und privatem Sektor bewirken sollen und auf gegenseitigem Vertrauen basieren) haben sowohl negative als auch positive Auswirkungen in Form von Abhängigkeiten einerseits und Synergieeffekten andererseits (vgl. Schuppert 1998, S. 56 ff.). Erst wenn echter Wettbewerb entsteht und Marktmechanismen funktionieren, können beispielsweise die Auswirkungen von Informationsasymmetrien unter dem Aspekt der Versorgungsverbesserung wie der Kostenentlastung gemildert werden. Dies funktioniert allerdings weder bei natürlichen Monopolen noch bei Aufgaben, die für Private nicht interessant sind (vgl. König & Benz 1997, S. 633).46 Neben dem bis hierher skizzierten NSM als Referenzmodell für die Verwaltungsmodernisierung in Deutschland, veröffentlicht die KGSt im Rahmen einer breit angelegten Diffusionskampagne u.a. auch folgende Umsetzungsempfehlungen, die sich allerdings in erster Linie auf die Gestaltung der Binnenreform beziehen (vgl. KGSt 1993, S. 25 ff.): •
um die kritische Masse für den Umbau der Verwaltung zu erhalten, muss ein auf die örtlichen Interessen (wichtiger Akteure) zugeschnittener Überzeugungsprozess initiiert werden;
•
zwischen einer ausreichenden Zahl von Meinungsführern in Politik und Verwaltungsführung muss ein strategischer Konsens geschaffen werden;
•
durch die Schaffung einer Projektorganisation mit eigenem Budget und freigestellten, engagierten Mitarbeitern, einer der Verwaltungsführung zugeordnete Lenkungsgruppe, Projektgruppen für Teilprojekte und einem professionellen Projektmanagement sowie guter Öffentlichkeitsarbeit (nach innen und außen) sollen die Reformen vorangebracht werden;
•
um das Innovationspotential einer „lernenden Organisation“ zu nutzen, sollte der Umbau unter aktiver Beteiligung des Personalrats und möglichst vieler Beschäftigter erfolgen sowie flankierende Personalentwicklungsmaßnahmen (z.B. Fortbildungen zu den Themen Managementwissen und soziale Kompetenzen, Schaffung von Leistungsanreizen, Entwicklung von Fehlertoleranz) initiiert werden.
46
Zu den Steuerungsproblemen staatlicher Regulierung vgl. Grande (1997, S. 587 ff).
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37
Da es neben diesen eher allgemein gehaltenen Umsetzungsempfehlungen47 der KGSt keine Empfehlungen bezüglich der „richtigen“ Implementierungsstrategie eines NSM gibt, bieten sich große Spielräume bei der Ausgestaltung der Reorganisationsprojekte. Mit den bisher erläuterten Konzepten ist zwar die Zielrichtung definiert, aber vergleichsweise wenig über den Weg zur Zielerreichung ausgesagt. In der Verwaltungspraxis erfolgt der Einstieg sowohl über Pilotprojekte zur Übertragung von Ressourcenverantwortung, als auch flächendeckend über Budgetierungsvorhaben, eine systematische Aufgabenkritik oder aufbauorganisatorische Maßnahmen (vgl. Kißler et al. 2000, S. 30 ff.; Naschold & Bogumil 2000, S. 146 ff.; Bogumil et al. 2007, S. 37 ff.). Bogumil et al. (2007, S. 37) kommen zu dem Schluss, dass das Konzept des NSM als umfassendes Reformleitbild48 nur in knapp 15% der Kommunen aufgegriffen wurde. Die überwiegende Mehrheit (62,5%) betrachtet das NSM dagegen eher als Werkzeugkasten und orientiert sich nur an einzelnen Instrumenten. Naschold & Bogumil kommen bereits im Jahr 2000 im internationalen Vergleich zu dem Schluss, dass Verwaltungsmodernisierung überall ein mühsamer, langwieriger, konflikthafter und gemessen an den Zielvorstellungen mit bescheidenen Ergebnissen versehener Veränderungsprozess (vgl. Naschold & Bogumil 2000, S. 224) ist. An diesem Fazit hat sich sieben Jahre später bei der Auswertung von zehn Jahren Neues Steuerungsmodell nicht viel geändert. Die Beschäftigten orientieren sich zwar zunehmend an Wirtschaftlichkeitskriterien, aber die erhofften Einsparungen, Effizienzgewinne und Qualitätsverbesserungen bleiben aus (vgl. Schneider 2007, S. 27). Auch Bogumil et al. (2007, S. 318) fassen zusammen, dass man in einem harten Soll-Ist-Vergleich von einem weitgehenden Scheitern des NSM sprechen muss, da ein umfassender Paradigmenwechsel – weg vom weberianischen Bürokratiemodell hin zum NPM – nicht festzustellen ist. Obwohl in Deutschland eine breite Verwaltungsmodernisierungsbewegung zu beobachten ist und die Kommunalverwaltungen bürger- und kundenorientierter sind,49 scheint sich eine gewisse Reformmüdigkeit breit zu machen, die unterschiedliche Ursachen hat. Bei der Darstellung der zentralen Ursachen für die hier angesprochenen Nachhaltigkeitsdefizite unterscheide ich in Anlehnung an Naschold & Bogumil (2000, S. 221) drei nicht ganz trennscharfe, aber der Orientierung dienliche Diskussionsebenen: die Konzeptdiskussion, die Umsetzungsdiskussion und die Perspektivdiskussion. Da bisher wenig über die Umsetzungsstrategien des NSM gesagt wurde und der 47
48 49
Diese orientieren sich ebenfalls an der Privatwirtschaft und deren betriebswirtschaftlichen Wandelansätzen (vgl. Abschnitt 2.3). Vgl. Budäus 1994, S. 78 gemessen am Leistungsumfang, an der Leistungsqualität und der Verfahrensdauer (vgl. Bogumil et al. 2007, S. 296 ff.)
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Reorganisation im öffentlichen Sektor
Schwerpunkt meiner Arbeit auf der Untersuchung derselben liegt, gehe ich im Folgenden zunächst nur auf die m.E. wichtigsten Argumente der Konzeptdiskussion ein. Im Anschluss an Abschnitt 2.3 „Veränderungsprozesse gestalten“ werde ich die Umsetzungs- und Perspektivdiskussion skizzieren. Eine zentrale und von verschiedenen Seiten vorgebrachte konzeptionelle Kritik betrifft die Tauglichkeit der Privatwirtschaft als vorbildliches Modell einerseits sowie die Übertragbarkeit von privatwirtschaftlichen Steuerungsmechanismen auf den öffentlichen Sektor andererseits (vgl. Krell 1997, Reichard 1998, Jann 1998, Göbel 1999, Naschold & Bogumil 2000, Nöthen et al. 2004, Moldaschl 2004, Bogumil et al. 2007). Moldaschl (2004, S. 97 ff.) stellt in diesem Zusammenhang die Frage, was genau der öffentliche Sektor eigentlich vom erwerbswirtschaftlichen Sektor lernen kann und soll. Er zeigt anhand konkreter Beispiele auf, dass auch die Managementkonzepte und Restrukturierungsbemühungen in der Privatwirtschaft mit Ambivalenzen, Umsetzungsproblemen und unerwünschten Nebenfolgen zu kämpfen haben, diese aber aufgrund fehlender Evaluierung oft nicht publik würden. Die große Vielfalt und Divergenz der Rationalisierungskonzepte beweist auch in der Privatwirtschaft, dass es keine Patentrezepte und Alternativlosigkeit, aber Pfadabhängigkeiten gibt.50 In diesem Zusammenhang verweist beispielsweise Kühl (1994, S. 80 ff.) auf die Dilemmata postbürokratischer Unternehmen: das Flexibilitäts-, Politisierungs- und Komplexitätsdilemma. Je flexibler Organisationen – über die Integration der unsicheren Umwelt und die Zuweisung von Autonomie an ihre Mitarbeiter – werden, desto eher laufen sie Gefahr, dass sowohl die innere Ordnung als auch die Abgrenzung nach außen verschwimmt und letztlich ihr Fortbestand gefährdet wird. Die Politisierung nimmt zu, da verflüssigte Strukturen stabile Herrschaftsgefüge ablösen und dazu führen, dass Entscheidungen einer interessenoffenen Interpretation der beteiligten Akteure ausgesetzt sind und jede Innovation das diffizile Machtgleichgewicht bedroht. Last but not least bringen Vereinfachungsstrategien wie Lean Management einen zunehmenden Abstimmungsbedarf zwischen funktional ausdifferenzierten Abteilungen und damit eine hochkomplexe Form des Produzierens mit sich. Da der Staat nicht nur Dienstleistungs-, sondern auch Ordnungs- bzw. Herrschaftsaufgaben51 zu erfüllen hat, sind seiner Orientierung an den Kundenwünschen – die im Übrigen in der „Service-Wüste Deutschland“ auch in der privatwirtschaftlichen
50 51
vgl. dazu Abschnitt 2.2.1 Zur doppelten Legitimationsgrundlage der öffentlichen Verwaltung (effizientes Verwaltungshandeln und demokratische Willensbildung) und der Problematik die politische Rationalität durch die ökonomische ersetzen zu wollen vgl. u.a. Naschold & Bogumil (2000, S. 230 f.).
Die dominierenden Reformkonzepte
39
Dienstleistungsbranche nicht sehr ausgeprägt ist – klare Grenzen gesetzt.52 Weder ist „mehr Markt“ per se ein Wert, noch ist „Bürokratie“ an sich ein Unwert – es kommt jeweils darauf an, was man daraus macht (vgl. Krell 1997, S. 22 f.). Reformbefürworter wenden hierzu ein, dass das NPM weder den Ideen aus dem privaten Sektor hörig folgt, noch die Differenzen zwischen privatem und öffentlichem Sektor leugnet, aber erkennt, dass alle Organisationen mit einem grundsätzlichen Kontroll-Problem konfrontiert sind. Mit diesem sog. „Agency-Problem“ (Wie kann ein Prinzipal53 das Verhalten seiner Agenten54 so steuern und kontrollieren, dass ihre Handlungen in Übereinstimmung mit seinen Zielen stehen?)55 beschäftigen sich die ManagementKonzepte aus dem privaten Sektor (vgl. Borins & Grüning 1998, S. 41). Nach einer anfänglichen „Reformeuphorie“ wird inzwischen immer deutlicher, dass die Verwaltungsmodernisierung einen komplexen kulturellen Veränderungsprozess darstellt, der nicht auf die Einführung neuer Steuerungsinstrumente beschränkt werden kann, sondern auch grundsätzlichere Fragen aufwirft: „Die vorliegenden Erfahrungen zeigen unter anderem, daß die aus dem betriebswirtschaftlichen Bereich stammenden Instrumente nicht uneingeschränkt und ‚unbearbeitet’ in den Verwaltungssektor übernommen werden können. Fraglich ist jedoch, ob mehr ‚Markt’ (in allen begrifflichen Varianten von Wettbewerb, Kundenorientierung, Privatisierung etc.) tatsächlich die sog. ‚Modernisierungslücke’ zwischen einer traditionell hoheitlichen Verwaltungskultur und der durch Individualisierung gekennzeichneten BürgerInnengesellschaft schließen kann“ (Nöthen et al. 2004, S. 61).
Bogumil et al. (2007, S. 31 f.) konstatieren, dass die Frage nach der Anwendbarkeit der betriebswirtschaftlich-managerialen Instrumente in spezifischen Politikbereichen und Aufgabenfeldern bisher vernachlässigt wurde. Dabei würden unterschiedliche Aufgaben- und Handlungsprofile56 die Anwendbarkeit bzw. „Nicht-Anwendung“ einzelner Reformelemente offensichtlich nahe legen. In dieser Aufgabenspezifik sehen sie auch eine zentrale Erklärung dafür, warum die bisherige NSM-Reform in den
52
53 54 55 56
In der Tat muss der Kundenbegriff sorgfältig definiert werden. So erbringt die Polizei Sicherheitsdienste im Tausch gegen Steuern und gesetzestreues Verhalten der Bürger. Damit sind ihre Kunden die Steuerzahler, die sich gesetztestreu verhalten und nicht die Kriminellen, die bei ihrer Verhaftung in den „Genuss“ dieser Dienstleistungen kommen (vgl. Borins & Grüning 1998, S. 42 f.). „Auftraggeber“ (vgl. Kieser 2002, S. 209 f.) „Auftragnehmer“ (vgl. Kieser 2002, S. 209 f.) Zur Agenturtheorie vgl. Abschnitt 3.2.1 Hier spielen auch die vagen, widersprüchlichen, zweideutigen und instabilen Zielsetzungen im öffentlichen Sektor eine Rolle, die dazu führen, dass öffentliche Organisationen mit Zielkonflikten leben und sich unterschiedliche Teile einer Organisation gleichzeitig mit verschiedenen und z.T. widersprüchlichen Zielen beschäftigen müssen (vgl. Naschold & Bogumil 2000, S. 231).
40
Reorganisation im öffentlichen Sektor
deutschen Kommunen selektiv und häufig eher inkrementell erfolgt. Auch Moldaschl (2004) betont, dass die Frage nicht sei, ob Konzepte aus andere Kontexten übertragbar seien, sondern was und vor allem wie man von anderen lernen könne. Er plädiert für ein Leitbild des „reflexiven Lernens“ und führt dazu aus: „Bei der ihm zugrundliegenden Haltung geht man erstens davon aus, daß Lösungen immer ‚kontingent‘, d.h. auf einen lokalen Kontext abzustimmen sind; daß man sie also rekontextualisieren muß, wenn man sie verwenden will (beim Begriff ‚best practice‘ wird man deshalb zusammenzucken). Das heißt konkret: man muß leider Arbeit investieren, Denken und Kreativität. Man wird zweitens nicht nur an Konzepten und Prinzipien interessiert sein, sondern vor allem an Erfahrungen in der Umsetzung und an Ergebnissen, geplanten wie ungeplanten, und wird nach Auswertungen suchen. Man ist sich daher drittens der Bedeutung von Nebenfolgen gut gemeinter Strategien bewußt, und wird eher versuchen aus ihnen zu lernen, als sie wegzuleugnen. Schließlich wird man viertens auf diskursive Evaluierung setzen, d.h. auf eine Begleitung der Einführung und Umsetzung durch verschiedene Stakeholder, die ihre Interpretation der Ergebnisse sowie mögliche Folgerungen verhandeln. Das wäre dann kollektives Lernen, und die einsichtsvolle Veränderung der gültigen Regeln institutionelles Lernen“ (Moldaschl 2004, S. 119, Hervorhebungen im Original).
Die in Deutschland vorherrschende konzeptionelle Verengung auf die Binnenmodernisierung und hierbei nochmals auf die Ergebnissteuerung wird ebenfalls kritisch gesehen (vgl. Budäus & Grüning 1998, Naschold & Bogumil 2000). Das veränderte Rollenverständnis von Staat und Verwaltung führt zu einer Konzentration auf Privatisierung sowie Aufgabenkritik und Reformentscheidungen werden mit Sparmaßnahmen verwechselt (vgl. Budäus 1994, S. 32 ff.; Budäus & Grüning 1998, S. 8). Schneider (2007) merkt dazu an, dass das Neue Steuerungsmodell in Kommunen mit starken Haushaltsproblemen sogar eher kontraproduktiv ist, da es mit der outputorientierten Steuerung einen erheblichen zusätzlichen bürokratischen Aufwand produziert (vgl. Holtkamp 2007, S. 52). Während in der (dem NSM immanenten) Binnenorientierung ein wesentlicher Konstruktionsfehler gesehen werden kann, der bis heute nicht umfassend korrigiert wurde (vgl. Schneider 2007, S. 27), wird eine m.E. zentrale – und später noch zu vertiefende57 – andere Ursache für das Verfehlen der zentralen Ziele in folgendem Zitat angesprochen: „Das neue Steuerungssystem, der Produktkatalog, die Kosten-Leistungs-Rechnung und die dezentrale Ressourcenverantwortung können zu einem Fortschreibungsmanagement traditionell bürokratischer Strukturen im veränderten Gewande degenerieren, da eine Reihe von mikropolitischen Kräften in den Kommunen aus Gründen des Status- und Machterhaltes in
57
vgl. dazu die Abschnitte 2.4 und 3.4
Die dominierenden Reformkonzepte
41
diese Richtung drängen und aufgrund der Begrenztheit des Modernisierungsansatzes keine Gegenkräfte wirksam sind“ (Naschold & Bogumil 2000, S. 222).
So lange es sich bei den Reformbemühungen lediglich um Rationalisierungsvorhaben handelt, die noch dazu dem Status- und Machterhalt der MachthaberInnen dienen, werden weder „weiche Faktoren“ wie der Einbezug der MitarbeiterInnenperspektive und BürgerInnenorientierung noch Wettbewerbselemente die ihnen gebührende Beachtung finden. Auch Instrumente wie beispielsweise die beteiligungsorientierte Leitbildarbeit58 werden aufgrund der Offenheit und der Kosten eines solchen Leitbildprozesses im Rahmen der Verwaltungsmodernisierung bisher nur selten eingesetzt (vgl. Nöthen et al. 2004). Damit werden auch die in öffentlichen Verwaltungen (ausgeprägter als in privaten Unternehmen) eingesetzten mikropolitischen Strategien der Organisationsmitglieder – die z.B. aufgrund des umfassenden Kündigungsschutzes über ein erhebliches Sanktionspotential im Kampf gegen Veränderungen verfügen – zu wenig berücksichtigt (vgl. Naschold & Bogumil 2000, S. 93). Als Zwischenfazit lässt sich feststellen, dass das Theoriedefizit des NPM dazu führt, dass sich aus den theoretischen Erkenntnissen kaum Empfehlungen für die Gestaltung erfolgreicher Reformprozesse ableiten lassen. Für die Binnenreform wird zwar vielfach der „Managerialismus“, d.h. Empfehlungen und Konzepte der Managementlehre (z.B. Lean Management, Business Process Reengineering, Total Quality Management) herangezogen, dessen Erklärungsgehalt bzw. universalistischer Gestaltungsanspruch allerdings kontrovers diskutiert. Aus den als defizitär betrachteten Strukturen und Verfahren des öffentlichen Sektors (z.B. Dysfunktionalitäten des Verwaltungshandelns, strukturelle Pathologien und Ineffizienzen im Umgang mit finanziellen und personalen Ressourcen) werden Gestaltungsempfehlungen abgeleitet, die besagen, dass mit Hilfe von privatwirtschaftlichen Managementkonzepten die (ökonomischen) Probleme gelöst werden können. Damit wird die Behauptung aufgestellt, dass durch gutes Management alle Probleme lösbar sind und erfolgreiche Managementkonzepte der Privatwirtschaft im öffentlichen Sektor eine Leistungssteigerung erzielen. Die Übertragbarkeit von Managementkonzepten ohne entsprechende Modifikation wird von einigen Autoren aufgrund von fehlender Struktur- und Funktionsäquivalenz kritisiert. Der Managerialismus wird ohnehin weniger als theoretische Grundlage, sondern eher als kritisch diskutiertes ideologisch besetztes Schlagwort
58
Um eine Orientierung für das Verwaltungshandeln der Zukunft zu haben, können so genannte „Leitbilder“ entwickelt werden, die globale Zielvorstellungen enthalten. Dadurch sollen die Akteure des Modernisierungsprozesses dazu angeregt werden, sich über die Normen und Werte der Modernisierung zu verständigen und sich mit den Zielen zu identifizieren und zögerliche Verwaltungseinheiten sollen motiviert und aktiviert werden (vgl. Nöthen et al. 2004).
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Reorganisation im öffentlichen Sektor
verstanden und taugt daher ebenfalls nicht zur Ableitung von allgemein anerkannten Hinweisen für die Gestaltung von Reformprozessen. Die Gestaltung der Modernisierungsprozesse wird sowohl in der Verwaltungsforschung als auch in der betriebswirtschaftlichen Literatur meist als Steuerungs- oder Implementationsproblematik bezeichnet und – wie gleich aufgezeigt wird – meist weniger als soziales denn als technisches Problem betrachtet. Mit den aktuellen Reformbestrebungen halten nicht nur betriebswirtschaftliche Instrumente zur ziel- und ergebnisorientierten Steuerung der Arbeitsabläufe, sondern auch zur Gestaltung von Innovationsprozessen Einzug in den öffentlichen Sektor (vgl. Kißler et al. 2000, S. 25 f., Brunner-Salten 2003, S. 157 ff.). Während sich die KGSt sowie die Reformliteratur zum NPM und NSM in erster Linie mit der inhaltlichen Gestaltung der Reformelemente befasst (vgl. Budäus 1994, Budäus et al. 1998, Hoon 2003), hält die einschlägige Management-Literatur zahlreiche (mehr oder weniger theoretisch fundierte) Ratschläge und Hinweise zur erfolgreichen Gestaltung von Restrukturierungen parat.
2.3
Veränderungsprozesse gestalten
Die zunehmende praktische Relevanz der Thematik „Unternehmensveränderungen“ mit all seinen Chancen und Risiken59 hat in den letzen beiden Jahrzehnten zu intensiven Forschungen auf diesem Gebiet geführt. Die Schwerpunkte bei der wissenschaftlichen Bearbeitung der Frage, wie diese Veränderungen erfolgreich gestaltet werden können, liegen sowohl auf der Entwicklung von Konzepten und der theoretischen Erklärung als auch auf der empirischen Untersuchung von Unternehmensveränderungen. Zur Klassifikation der Veränderungen können drei Perspektiven unterschieden werden (vgl. Stock-Homburg 2007, S. 796 ff.): 1. im Hinblick auf den Auslöser von Veränderungen können offensive (aktiv durch das Unternehmen ausgelöste) von reaktiven (als Konsequenz geänderter Umwelt- oder Marktbedingungen stattfindende) Veränderungen unterschieden werden, 2. mit Blick auf die Intensität von Veränderungen können sowohl – nach dem Zeithorizont – radikale von kontinuierlichen Veränderungen, als auch – nach dem Ausmaß der Veränderung – (sukzessive) Anpassung von (umfassender und tiefgreifender) Transformation unterschieden werden,
59
Kraus et al. (2006, S. 20) zitieren beispielsweise eine Führungskraft, die die Bewältigung von Veränderungen begleitend zum Unternehmensalltag, mit einem Flugzeug vergleicht, das während des Fluges umgebaut werden soll, ohne die Sicherheit der Passagiere zu beeinträchtigen.
Veränderungsprozesse gestalten
43
3. je nach Ebene der Veränderung kann zwischen Veränderungen auf der Makroebene (Organisationsebene, d.h. z.B. Änderung der Strategie, Kultur, Struktur bzw. Prozesse) und der Mikroebene (Team- bzw. Mitarbeiterebene, d.h. z.B. Änderung der Teamorganisation, individuelle Veränderungsbereitschaft oder -fähigkeit) unterschieden werden.60 Da eigenständige Wandelkonzepte nur in Ansätzen bzw. implizit vorhanden sind, gehen die dominierenden Reformkonzepte im öffentlichen Sektor (Martens et al. 1995, Brunner-Salten 2003, Schäfer 2005) tendenziell von denselben Grundannahmen aus, wie zentrale betriebswirtschaftliche Wandelansätze für tief greifende Veränderungen (vgl. Reiß et al. 1997, Picot et al. 1999, Doppler & Lauterburg 1999, Krüger 2004). Reorganisationen werden in beiden Fällen als intendierte, bewusste und zweckrationale Prozesse betrachtet, die dazu dienen, organisatorische Regeln und Regelsysteme zu ändern, um vorgegebene Ziele zu erreichen. Im Folgenden wird unter „Reorganisation“ die geplante und tief greifende Umgestaltung der Gesamtorganisation (bzw. wesentlicher Teile davon) verstanden, deren revolutionärer Charakter diese Art von Wandel von langsam und unmerklich ablaufenden evolutionären Veränderungsprozessen unterscheidet (vgl. Reiß 1997, S. 7 ff.; Picot et al. 1999, S. 4).61 Unter dieser zweckrationalen Perspektive wird Wandel in erster Linie als Organisationsplanungs- und Prozesssteuerungsproblem betrachtet. Auch wenn darauf hingewiesen wird, dass der Planbar- und Beherrschbarkeit von (fundamentalem) Wandel deutliche Grenzen gesetzt sind, werden letztlich doch wieder „Stellschrauben“ für das erfolgreiche Change Management gesucht und benannt (vgl. Picot et al. 1999, Krüger 2004, Sp. 1606 ff.). Daher stehen Fragen der Gestaltungsmethodik im Vordergrund: insbesondere Fragen zu Methoden der Strukturgestaltung, der Prozesssteuerung und der Beeinflussung sozialer Prozesse. In Abhängigkeit von der Reichweite der Veränderungsprozesse (von global bis lokal) und der Auffassung vom „richtigen“ Management des Wandels (von „harten“ Formen der Transformation bis zu den „weichen“ Formen der Evolution benennt beispielsweise Reiß (1997, S. 9 ff.) ein breites Spektrum an Veränderungsmodellen. Die im Rahmen meiner Arbeit interessie-
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61
Mit Blick auf einschlägige Publikationen unterscheidet Niemeier (2000, S. 244 ff.) fünf Dimensionen von Wandel, die häufig thematisiert werden: Analyseebenen von Wandel, Interventionsstrategien des Wandels, Ausmaß des Wandels, Krisen als Auslöse- und Einflussfaktoren von Wandel, Widerstände beim Wandel. Reiß (1997, S. 18 f.) weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass der globale Charakter des Wandels genau genommen nicht mit dessen Radikalität gleichgesetzt werden darf (dieser Fehler ist seiner Meinung nach für Ansätze der Transformation, des Umbruchs, des Abbruchs alter Ordnungen und der Management-Revolutionen typisch). Der Radikalitätsgrad hängt vielmehr von den drei Dimensionen Breite, Tiefe und Geschwindigkeit ab.
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Reorganisation im öffentlichen Sektor
renden Prozesse der globalen und geplanten Veränderung fallen dabei in das Aufgabengebiet des Change Managements.62 Zu den klassischen harten Transformationsansätzen zählen dabei sowohl das Krisenmanagement als Paradebeispiel für ein reaktives Management,63 als auch die Modelle der Corporate Transformation und Business Transformation, die innerhalb des Reengineering propagiert werden.64 Weiche, d.h. stärker evolutionär angelegte Ansätze sind die Organisationsentwicklung65 und das organisationale Lernen, die sich durch einen schwächeren Interventionsgrad der Agenten des Wandels auszeichnen. Unter Einbezug der Unternehmenssituation – anhand des aktuellen Veränderungsbedarfs hinsichtlich operativer Erfolgskennzahlen (ROI, ROS, Cashflow...) und der Veränderungsfähigkeit des Systems hinsichtlich personeller und organisatorischer Kompetenzen – kommt Jarmai (1997) zu folgender Einschätzung der Wirksamkeit von Change Management Konzepten:
Abbildung 8: Wirksamkeit von Change Management Konzepten in Abhängigkeit von der Unternehmenssituation (Quelle: Jarmai 1997, S. 183)66 62
63
64 65 66
Für einen Überblick zum Thema Change Management vgl. auch Doppler & Lauterburg (1999), Kulmer & Trebesch (2004), Greif et al. (2004), Kraus et al. (2006). Konventionelle reaktive Modelle sehen im Change Management die Kunst, optimal auf Veränderungen im Umfeld antworten zu können, während anspruchsvollere proaktive Ansätze sich darauf konzentrieren, Unternehmen in „Lernende Organisationen“ zu verwandeln, um darüber hinaus Wandel auch selbst generieren zu können (vgl. Reiß et al. 1997). Vgl. Abschnitt 2.3.1 Vgl. Abschnitt 2.3.2 Zu einer ähnlichen Einschätzung kommen Kraus et al. (2006), die ebenfalls in Abhängigkeit von Veränderungsbedarf und -bereitschaft die fünf wesentlichen Konzepttrends zum Begleiten
Veränderungsprozesse gestalten
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Ein sehr großer Veränderungsbedarf in Kombination mit einer geringen Veränderungsfähigkeit, macht einen „Quantensprung“ (d.h. eine radikale top down Erneuerung aller Unternehmensprozesse mit dem Ziel entschiedener Vereinfachung und damit Kostenreduktion und Qualitätssteigerungen) zur Erhöhung der Kundenzufriedenheit und Leistungsfähigkeit notwendig. Ein großer Veränderungsbedarf in Kombination mit großer Veränderungsfähigkeit erlaubt dagegen eine zwar ebenfalls grundsätzliche, aber auf Ressourcenerhaltung und Selbstorganisation hin ausgerichtetes strategisches Redesign zur Erschließung neuer Geschäftsfelder. Bei mittlerem Veränderungsbedarf sowie mittlerer Veränderungsfähigkeit verspricht die an den Problem- und Chancen-Wahrnehmungen ansetzende Organisationsentwicklung Erfolg (vgl. Abschnitt 2.3.2). Bei geringem aktuellem Veränderungsbedarf sind Change Management Konzepte erfolgversprechend, die einen schrittweisen Wandel zum Ziel haben. Während das Total Quality Management (TQM) allerdings auf ein an den Erwartungen der Kunden orientiertes, durchgängiges Management der Qualität von Produkten und Prozessen setzt, hat Kaizen67 einen kontinuierlichen Verbesserungsprozess der realen Tätigkeiten zum Ziel und entwickelt Führungs- und Organisationsmethoden für ein aktives, transparentes und wertschöpfungsorientiertes Selbstmanagement. Das Konzept der Lernenden Organisation setzt dagegen eine sehr hohe Veränderungsfähigkeit voraus und hat das über die Anpassung an das sich ändernde Umfeld hinausgehende Ziel, eine Organisationsarchitektur mit starker innovativer Kraft und hoher Anschlussfähigkeit an die relevante Markt-, Technologieund Gesellschaftsentwicklung zu schaffen (vgl. Jarmai 1997, S. 180 ff.). Die Art und Weise, wie der notwendige Veränderungsprozess gesteuert und kontrolliert wird (d.h. die Veränderungsstrategie), hängt allerdings auch davon ab, welches Grundverständnis von Organisationen die Verantwortlichen haben. Wer die Organisation mit einer gut geölten Maschine vergleicht, wird dazu neigen, „Zahnräder auszutauschen“, um eine stärkere Übersetzung der Maschine zu sichern; wenn sie als politische Arena betrachtet wird, setzt man im Machtspiel vielleicht auf eine neue Koalition, um die eigenen Interessen durchzusetzen und wenn die Organisation als Pflanze gesehen wird, die wächst und sich entfaltet, muss bei Bedarf „gedüngt oder wilde Triebe müssen beschnitten“ werden… (vgl. Rosenstiel 1997, S. 196 ff.). Im Hinblick auf die Diskussion dieser Thematik innerhalb dieser Forschungsarbeit reicht es aus, mich auf einige zentrale Wandelkonzepte68 mit direktem Bezug zu meiner Fallstudie zu beschränken. Daher unterscheide ich im Folgenden in Anlehnung an
67 68
von Organisationsveränderungen der letzten 50 Jahre unterscheiden (vgl. Kraus et al. 2006, S. 21). jap. „Veränderung zum Besseren" Für einen Überblick zum Thema Strategien und Techniken der Veränderung vgl. u.a. Staehle (1999, S. 934 ff).
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Reorganisation im öffentlichen Sektor
Schirmer (2000, S. 43 ff.) eine eher betriebswirtschaftlich-instrumentelle („harte“) und eine eher sozial-technologische („weiche“) Perspektive auf Veränderungsprozesse.69
2.3.1 Betriebswirtschaftlich-instrumentelle Perspektive Es gibt eine Vielzahl von Ansätzen, die sich mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung aus betriebswirtschaftlich-instrumenteller Perspektive mit Reorganisationsprozessen beschäftigen (vgl. etwa Picot et al. 1999, Schirmer 2000). Ihnen ist gemeinsam, dass (re)organisieren in erster Linie heißt, durch Regeln eine dauerhafte Ordnung zu schaffen, mit dem Ziel, ein Höchstmaß an technisch-ökonomischer und individuell-sozialer Effizienz sicher zu stellen (vgl. Schirmer 2000, S. 45).70 In diesem Sinne beinhaltet beispielsweise das Konzept der Organisationsplanung rationale, in der betriebswirtschaftlichen Planungs- und Entscheidungslogik verwurzelte Top-Down-Strategien des organisatorischen Wandels. Die unter dem Oberbegriff „Organizational Transformation“ entwickelten Reorganisationsansätze71 sehen vor, dass interne oder externe Spezialisten organisatorische Ideallösungen vorbereiten, die von den Führungskräften konsequent und falls notwendig mit der Schlagartigkeit eines „Bombenwurfs“72 in der Organisation umgesetzt werden müssen. Dabei geht es immer um einen radikalen Bruch mit der Vergangenheit und einer grundlegenden Neugestaltung in Richtung Kundenorientierung sowie einer Ausrichtung auf bereichsübergreifende Geschäftsprozesse (vgl. Gaitanides 1998, S. 370 f.). Die Implementation der Ideallösung erfolgt daher mit hoher Geschwindigkeit73 und geringer Partizipation der Beschäftigten.74 Widerstände gegen den Wandel75 werden mit Macht- und Zwangsstrategien angegangen, da das Verhalten der Beschäftigten le69
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Picot et al. (1999, S. 5) unterscheiden mit ähnlicher Zielrichtung Organisationsplanung und Organisationsentwicklung als zwei Methoden der Realisierung von Reorganisationsvorhaben. Die dabei zu bewältigenden Probleme sind allerdings meist schlecht strukturiert, d.h. gekennzeichnet durch unvollständige und nicht-operationale Problemdefinitionen, lückenhafte Informationen zur Entscheidungssituation, fehlende Algorithmen für die Problemlösungsbemühungen etc. (vgl. Kirsch et al. 1979). z.B. „Reengeneering“, „Core Process Redesign“, „Process Innovation, „Business Transformation“ (vgl. Picot et al. 1999, S. 6) Da die Maschinenmetapher in der Praxis vor zu herrschen scheint, neigen viele Prozessverantwortliche zur Strategie des Bombenwurfs. Dabei wird die unter Ausschluss der Betroffenen erarbeitete Lösung schlagartig, d.h. wie eine „Bombe“ in die laufende Organisation geworfen und sofort in Kraft gesetzt (vgl. Kirsch et al. 1979, S. 180). Der Versuch durch den Überraschungseffekt rein zeitlich die Möglichkeiten für mikropolitische Manöver zu unterbinden, bewirkt oft genau das Gegenteil: als Folge der durchgeführten Maßnahmen treten umso heftigere Konflikte auf (vgl. Kieser et al. 1998, S. 216 f.). Doppler & Lauterburg (1999, S. 462) sprechen in diesem Zusammenhang gar von „menschenverachtenden Sanierern“, deren Pyrrhussiege erst später ersichtlich werden, wenn die motivatorischen Nebenkosten und sozialen Spätfolgen sichtbar werden. Zum Thema Widerstand gegen Wandel vgl. u.a. Piderit 2000, Robbins 2001, Greif et al. 2004, Cacaci 2006).
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diglich als hemmendes, aber überwindbares Hindernis betrachtet wird (vgl. Picot et al. 1999, S. 6 f., Gaitanides 1998, S. 373 f.). Aus den Anforderungen des neuen Grobkonzeptes und den alten Gewohnheiten entsteht nun als Kompromiss und unter Schmerzen die Realität der neuen Organisation. Während das Grobkonzept nämlich schlagartig und relativ unwiderruflich in Kraft gesetzt wird, müssen dessen „organisatorische Lücken“ von den Organisationsmitgliedern improvisatorisch ausgefüllt und die implizierten Detailprobleme sukzessive implementiert und getestet werden (vgl. u.a. Kirsch et al. 1979, S. 180 ff.; Ortmann et al. 1990, S. 457 ff.; Rosenstiel 1997, S. 197). Kieser & Bomke (1995) bezeichnen diesen Restrukturierungstyp als synoptischrationale Strategie, deren Grundannahme besagt, dass die Komplexität eines Reorganisationsprozesses voll beherrschbar ist, da eine Organisation wie eine Maschine repariert werden kann. Nach der Identifizierung der Probleme kann man deshalb mit Hilfe von Organisationstheorien eine umfassende „beste“ Lösung ermitteln, die anschließend von der Unternehmensleitung durchgesetzt wird. Unter der Voraussetzung, dass alle Beteiligten rational handeln, kann sich niemand der Rationalität der Gesamtlösung widersetzen. Falls es doch zu Widerstand kommt, müssen im Interesse der Effizienz geeignete Mittel (egal ob Einsatz formaler Macht oder Schaffung von Mitwirkungsmöglichkeiten etc.) eingesetzt werden, um den Widerstand – der nach dieser Logik nur irrational sein kann – zu überwinden. An diesen Ansätzen kann zum einen kritisiert werden, dass sich Organisationsmitglieder nicht an einer allumfassenden Rationalität orientieren (können), da sie lokale, an ihren Wissens- und Bewusstseinsstand angepasste Handlungslogiken entwickeln (vgl. Kühl 1998, S. 104).76 Zum anderen werden sowohl die Rahmenbedingungen als auch die Konflikthaftigkeit und der politische Gehalt von Reorganisationsprozessen in der betriebswirtschaftlichinstrumentellen Perspektive nicht genug berücksichtigt sind, was beispielsweise an einer Vielzahl fehlgeschlagener Reengineering-Projekte77 sichtbar wird (vgl. Picot et al. 1999, S. 1 ff.; Schirmer 2000, S. 1 ff.).
76
77
Da der Wahrnehmung wie der Informationsverarbeitung von Individuen Schranken gesetzt sind, kann es eigentlich immer nur eine begrenzte (individuelle) Rationalität geben, d.h. Rationalität lässt sich am besten verstehen, als Sichtweise des Betrachters (seine Ziele und die Art, wie er bewusst darauf hinzielt, sie zu verwirklichen). Eine kollektive Rationalität kann es nur geben, wenn sich alle Mitglieder einer Gruppe einig sind in Bezug auf ein gewünschtes Ergebnis, einen spezifizierten Satz von Mitteln zur Erreichung dieses Ergebnisses sowie die Art und Weise der Anwendung und der Feststellung des Erfolgs. Da diese weitgehende Übereinkunft nur in kleinen Gruppen zustande kommen kann, besitzen Organisationen zu jedem Zeitpunkt mehrere verschiedene und widersprüchliche Rationalitäten (vgl. Weick 1985, S. 36 ff. und Abschnitt 3.2.4). Für einen kritischen Überblick zum Thema Business Reengineering vgl. Gaitanides (1998).
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Reorganisation im öffentlichen Sektor
Auch Krüger (2004, Sp. 1607 ff.) weist im Hinblick auf sein Schichtenmodell des Wandels darauf hin, dass es kaum eine Sachfrage der Transformation gibt, die nicht zugleich eine Machtfrage ist. Da sich fundamentale Veränderungen nicht zuletzt auf Werte und Einstellungen der Organisationsmitglieder erstrecken, hat Wandlungsmanagement immer auch eine politisch-verhaltensorientierte Dimension und beinhaltet damit nicht nur das Management von Sachfragen, sondern auch das Management von Bewusstseinslagen. Der Wandlungsbedarf, d.h. das Ausmaß der sachlich notwenigen Veränderungen, bildet daher zwar den Ausgangspunkt des Wandels. Für die erfolgreiche Durchführung der Wandlungsprozesse muss sich das Wandlungsmanagement aber auch an der Wandlungsbereitschaft und der Wandlungsfähigkeit der Organisationsmitglieder ausrichten (vgl. u.a. Reiß 1997, S. 91 ff.; Christensen et al. 2006, S. 26 ff.; Jenewein 2008, S. 16 ff.). Eine zentrale Entscheidung ist deshalb die Wahl des eben schon erwähnten Restrukturierungstyps, da zahlreiche Folgeentscheidungen davon beeinflusst werden. Nimmt man den Partizipationsgrad als Kriterium, so bildet die synoptisch-rationale Strategie den einen Pol einer möglichen Skala von Restrukturierungsstrategien und die konsensorientierte Strategie den anderen. Kieser & Bomke (1995, Sp. 1829 ff.) kritisieren, dass die Grundannahme der synoptisch-rationalen Strategie so nicht haltbar ist, da Organisationstheorien nicht so leistungsfähig sind, dass sie die eindeutige Identifikation optimaler Lösungen ermöglichen: "Aufgrund einer nicht zu bewältigenden Komplexität des Restrukturierungsprozesses ist demzufolge mit nicht intendierten Wirkungen zu rechnen. Widerstand gegen geplante organisatorische Änderungen ist genauso rational oder nicht-rational wie die Planung dieser Restrukturierung selbst. Lösungen sind zwangsläufig immer Stückwerk und können damit ex definitione nicht synoptisch-rational sein" (ebd., Sp. 1832).
Der solchen Restrukturierungen zugrunde liegende Prozess ist daher (1) innovativ, da die Lösungen für jede Organisation maßgeschneidert werden müssen; (2) hochkomplex und schlecht beherrschbar, weil beispielsweise hierarchie- und abteilungsübergreifend zusammen gearbeitet werden muss und zahlreiche Änderungen anstehen; (3) in einem hohen Maße „politikbehaftet“, weil Machtpositionen verändert werden und um Gewinne und Verluste gekämpft wird. Da solche komplexen Prozesse von der Unternehmensleitung nicht im Detail geplant und durchgesetzt werden können, kann man den Restrukturierungsprozess nur durch Grundsatzentscheidungen und die Gestaltung von Rahmenbedingungen in Gang setzen und halten. Dazu gehören eine überzeugende Vision, die Wahl der Restrukturierungsstrategie, eine funktionierende Projektorganisation und ein gutes Projektmanagement sowie die erfolgreiche Handhabung der – aufgrund von unvermeidlichen mikropolitischen Manö-
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vern78 – auftauchenden Konflikte (vgl. Kieser & Bomke 1995, Streich 1997, Kraus et al. 2006). Obwohl hier die Konflikthaftigkeit und der politische Gehalt von Reorganisationen thematisiert werden, sind aus betriebswirtschaftlicher Sicht sowohl der Partizipationsgrad als auch einseitige Machtdrohung und -anwendung funktional zu betrachten. „Der Zweck heiligt die Mittel“ – weder die Interessenberücksichtigung noch der Einsatz von Macht haben einen wie auch immer gearteten Selbstzweck – es geht „nur“ um eine möglichst vollständige und reibungsfreie Umsetzung eines sachlich-rational richtigen Gestaltungskonzeptes79. Dies gilt meist auch für die im Folgenden dargestellten sozial-technologischen Konzepte, die vor allem zur Lösung des bereits erwähnten „Implementierungsproblems“80 organisatorischen Wandels herangezogen werden (vgl. Reiß 1997, S. 91 ff.; Schirmer 2000, S. 50 ff.). Die dynamische Wechselbeziehung von technisch-strukturellen Aspekten („Struktur“ als formale Organisation) und zwischenmenschlichen Prozessen („Kultur“ als informale Organisation), erfordert die motivationale strategische Mobilisierung der Organisationsmitglieder durch eine integrierte Strategie- und Organisationsentwicklung (vgl. Benölken & Greipel 1989). Da es aufgrund der hohen Komplexität nicht möglich ist, analytisch-rational eine Lösung zu finden, müssen die Organisationsmitglieder befähigt werden, ihre Probleme selbst zu lösen (gemäß dem Motto „Hilfe zur Selbsthilfe“).81 Die Führung soll sich im Wesentlichen darauf beschränken, den Prozess in Gang zu halten, der dazu dient, die Probleme gemeinsam zu analysieren sowie kooperativ eine Lösung zu erarbeiten und umzusetzen. Sofern die mit Hilfe dieser Strategie gefundenen Lösungen auf einem tragfähigen Konsens der verschiedenen Interessengruppen beruhen, sind sie die unter den gegebenen Umständen relativ besten (vgl. Kieser & Bomke 1995, Sp. 1832 f.). Insbesondere das Konzept der Organisationsentwicklung ist nach wie vor der bevorzugte Rezeptionspool der Betriebswirtschaftslehre für eine sozialwissenschaftlich erweiterte Perspektive organisatorischen Wandels und stellt zu diesem Zweck eine Reihe von Techniken bereit (vgl. u.a. Staehle 1999, S.922 ff.; Reiß 1997, S. 9 f.; Schirmer 2000, S. 55; Schreyögg & Noss 2000, S. 36).
78 79
80 81
Vgl. dazu auch Kapitel 3 Vgl. dazu beispielsweise „Das maßgeschneiderte Management von Wandel“ von Picot et al. (1999, S. 4 ff.) mit den sieben „Stellschrauben“: Zuordnung der Entscheidungs- und Handlungsrechte, Anreize, Controlling, Kommunikation, Aktivierung von Normen, Training und Timing (vgl. Abschnitt 2.3.3). Vgl. u.a. Gaitanides (1998, S. 373 f.). Hinter dieser Erkenntnis stecken u.a. systemtheoretische Ideen zur Funktionsweise lebendiger Systeme, die als autopoetische Systeme ständig daran arbeiten, sich selbst und ihre Grenzen zu reproduzieren (vgl. Kulmer & Trebesch 2004, S. 81).
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2.3.2 Sozial-technologische Perspektive Eine für geplanten Wandel eingesetzte konsensorientierte Entwicklungsstrategie ist das Konzept der Organisationsentwicklung (OE), das ein reichhaltiges Instrumentarium an Techniken zur Beeinflussung sozialer Prozesse bereitstellt.82 Dabei wird unter Verwendung verhaltenswissenschaftlicher Erkenntnisse ein längerfristiger organisationsweiter Entwicklungs- und Veränderungsprozess von Organisationen und den in ihr tätigen Menschen eingeleitet und unterstützt (vgl. French & Bell 1994, Wimmer 2004). Dahinter steckt die heutzutage weitgehend akzeptierte Vorstellung, dass der Erfolg von Reformen ganz wesentlich von den Einstellungen und der emotionalen Verfasstheit der Organisationsmitglieder abhängt, da negative Einstellungen und/oder Gefühle zu Widerstandverhalten führen können (vgl. Schreyögg & Noss 2000, S. 36). Der Prozess beruht daher auf (Erfahrungs-)Lernen aller Betroffenen durch direkte Beteiligung und wollte ursprünglich als normativ-reedukative Veränderungsstrategie verstanden werden, deren Ziel sowohl die Leistungssteigerung der Organisation als auch die Humanisierung der Arbeit ist (vgl. Niemeier 2000, S. 238; Trebesch 2004b, Sp. 988). Damit ist ein entscheidendes traditionelles Abgrenzungsmerkmal gegenüber der betriebswirtschaftlich-instrumentellen Perspektive genannt: „Der wesentliche Unterschied zu den Transformationsansätzen ist weniger die verhaltenswissenschaftliche Basis der Organisationsentwicklung. Ein geeigneteres Abgrenzungsmerkmal ist das Harmoniepostulat zwischen den Zielsetzungen des Unternehmens einerseits und der betroffenen Mitarbeiter andererseits. Eine solche Konsensfindung mündet letztlich in einem schwächeren Interventionsgrad der Agenten des Wandels: Diese verstehen sich als Katalysatoren, Moderatoren, Konfliktmanager und Prozeßberater in einem partizipativ angelegten Prozeß der Unternehmensentwicklung (Organizational Development). Eine solche Entwicklung von Unternehmen (Organisationen) setzt sowohl auf der Ebene der Individuen (Personalentwicklung), der Gruppen als auch der Gesamtorganisation an“ (Reiß 1997, S. 10).
Die Organisationsentwicklung stellt ein Problemlösungsmodell dar, dem eine Datensammlung und Diagnose vorausgeht und die die Funktion von Zielsetzung und Planung hervorhebt. Die OE betont – ganz im Sinne ihrer wesentlichen historischen Wurzeln, der Gruppendynamik, Aktionsforschung und des sozio-technischen Systemansatzes83 – den Systemcharakter von Organisationen und stellt damit einen ganzheitlichen Ansatz der Veränderung dar (vgl. etwa French & Bell 1994, S. 87;
82 83
Für einen Überblick vgl. u.a. Doppler & Lauterburg (1999); Trebesch (2004). Für einen Überblick zu den Ursprüngen und Modellen der OE vgl. u.a. Wimmer (2003, 2004), Trebesch (2004).
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Staehle 1999, S. 924 f.; Niemeier 2000, S. 238 ff., Kulmer & Trebesch 2004, S. 82 f.). Da das Gestaltungsinteresse die Erkenntnis- und Erklärungsinteressen immer überlagert hat, gibt es über die Ziele, Inhalte und Methoden keinen Konsens, sondern stattdessen verschiedene Modelle und Interventionstechniken (vgl. Lauterburg 1999, Trebesch 2004). Die OE-Szene ist ein Schmelztiegel unterschiedlichster Ideen, Konzepte und Kompetenzen, die sich vor allem auf dem Gebiet der weichen Faktoren profiliert hat (vgl. Breisig 1990, S. 323 ff.; Lauterburg 1999, S. 82). Jäckel (2003, S. 643 ff.) identifiziert beispielsweise sieben notwendige Basisprozesse der Organisationsentwicklung, die von den Führungskräften bearbeitet und gestaltet84 werden müssen: •
Diagnoseprozesse (Wo stehen wir als Organisation?)
•
Soll-Entwurfsprozesse (Wo wollen wir hin?)
•
Psychosoziale Änderungsprozesse (Welche Konflikte müssen auf dem Weg dahin bewältigt werden?)
•
Lernprozesse (Was müssen wir dafür dazu lernen?)
•
Informationsprozesse (Wer muss wann informiert werden?)
•
Umsetzungsprozesse (Welche Arbeitsschritte stehen wann an?)
•
Management der Veränderungsprozesse (Was muss wann und wie gesteuert werden?)85
Unabhängig von der konkreten Gestaltung der Organisationsentwicklungsprozesse müssen solche Veränderungsprojekte klassischerweise vier idealtypische Phasen86 durchlaufen, wenn sie erfolgreich sein wollen (vgl. Jäckel 2003, S. 647 f.; Trebesch 2004): •
In der Orientierungs- und Planungsphase werden Gespräche geführt, um die Standpunkte und Sichtweisen der verschiedenen Interessengruppen zu erfassen und um erste Vorschläge zum Vorgehen erarbeiten zu können. Ziel ist ein klarer Projektauftrag mit einer Definition der Rahmenbedingungen und einer Abgrenzung der unterschiedlichen Rollen.
•
In der Unfreezing-Phase geht es darum, mit Hilfe von Diagnose- und SollEntwurfsprozessen genug emotionale Energie und Bereitschaft für die Mühen eines Veränderungsprozesses zu erzeugen. Dabei können z.B. in Workshops die
84
Für einen Überblick zum Handwerkszeug der OE vgl. exemplarisch Doppler & Lauterburg (1999). Zum Thema Steuerungsinterventionen und Legitimation von Entscheidungen vgl. Freimuth (2005). Im Hinblick auf den typischen Verlauf eines Veränderungsprozesses konkurrieren Phasenmodelle mit unterschiedlichen Phaseneinteilungen mit Wasserfallmodellen, Spiralmodellen und evolutionären Ablaufmodellen (vgl. Reiß 1997, S. 26).
85
86
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Reorganisation im öffentlichen Sektor
Ergebnisse einer schriftlichen Befragung oder der Entwurf eines Leitbildes mit Abweichungsanalyse zum Ist-Zustand vorgestellt werden, um Betroffenheit und Verständnis für die Notwendigkeit von Veränderungen auszulösen. •
In der Moving-Phase müssen dann konkrete Maßnahmen umgesetzt sowie chaotische Zwischenzustände und Konfliktsituationen bearbeitet werden, um die Änderungen schrittweise einzuführen. In dieser Phase wird sowohl von der Projektleitung und Steuergruppe als auch von den Betroffenen voller Einsatz, Beweglichkeit und Improvisationsvermögen verlangt, um auftauchende Probleme konstruktiv zu lösen.
•
Nach der Phase des aktiven Neugestaltens ist es in der Refreezing-Phase notwendig, die erzielten Ergebnisse zu sichern und gegebenenfalls nach zu justieren. Nach Beendigung des Projektes fehlen nur noch die Kontrolle der Zielerreichung und die Evaluation des Prozesses.
Dieses bekannteste Phasenmodell des Wandels wird auch als „Eiswürfelmodell“ bezeichnet und suggeriert ebenso wie die betriebswirtschaftlich-instrumentellen Ansätze die (sozial)technologische Beherrschbarkeit des Wandels (vgl. Schirmer 2000, S. 58). Die Phasen-Modelle der OE gehen auf Lewin (1947) zurück und haben heute nach Ansicht einiger Autoren (zumindest in der Privatwirtschaft) an Relevanz verloren, da sich viele Unternehmen in einem Zustand permanenter Veränderung befinden (vgl. Schreyögg & Noss 2000, S. 37 ff.; Trebesch 2004, Sp. 991). Da das Umlernen der Organisationen unter diesem weltökonomischen Zeit- und Innovationsdruck zum überlebenskritischen Faktor geworden ist,87 ist auch Veränderungsarbeit deutlich ökonomisierter geworden (vgl. Kulmer & Trebesch 2004, S. 85 f.). So ist es nicht verwunderlich, dass an den neueren Entwicklungen kritisiert wird, dass die OE zunehmend auf ihre humanitären oder aufklärerischen Ansprüche verzichtet und sich stattdessen auf ein Bündel von theoretisch wenig fundierten sozial-technologischen Veränderungsinterventionen beschränkt (vgl. Breisig 1990, Staehle 1999, Schirmer 2000, Niemeier 2000). Eng mit diesem Instrumentalisierungsvorwurf und der darüber hinaus von Praktikerseite festgestellten mangelnden Wirksamkeit der Konzepte hängt die Kritik an einigen der zentralen Grundannahmen zusammen. Erstens kann die postulierte Interessenharmonie nicht unbedingt aufrechterhalten werden, da OE nicht in einem demokratischen Prozess unter Beibehaltung der Machtverhältnisse abläuft (vgl. Niemeier 2000, S. 254). Daher werden auch im Rahmen von Organisationsentwicklungsmaßnahmen von den Beteiligten mikropolitische Taktiken eingesetzt, wozu gehört, dass Machtverhältnisse sowie Interessenkonflikte verschleiert werden. Hierzu führen Kieser und Bomke (1995) an:
87
Vgl. Schreyögg (1995, S. 170); Wimmer (2004, S. 36 f.)
54
Reorganisation im öffentlichen Sektor
ner gütlichen Einigung steht der verbesserten Lösungsakzeptanz durch die Beteiligung der Betroffenen (Ergebnispromotion) eine erschwerte Lösungsentwicklung (Prozesspromotion) gegenüber und es ist daher fraglich, ob die Partizipationserträge die Partizipationskosten90 überwiegen. In konfliktträchtigen Prozessen besteht darüber hinaus die Gefahr, dass eine oder beide Seiten erheblich von ihren Zielvorstellungen abgehen müsse(n) und dadurch der Gesamterfolg gefährdet wird (vgl. Schirmer 2000, S. 52f.). Damit kann als Fazit festgehalten werden, dass das Konzept der Organisationsentwicklung mit seinen Machbarkeits- und Interventionsvorstellungen die Frage der Machtverteilung nicht thematisiert und tendenziell den eigenwilligen und eigensinnigen (System-)Charakter von Organisationen unterschätzt (vgl. Schreyögg 1995, S. 76 ff.; Niemeier 2000, S. 254; Trebesch 2004, Sp. 994). Die Organisationsentwicklung stellt zwar zahlreiche Techniken zur Steuerung sozialer Prozesse bereit, berücksichtigt aber sowohl betriebswirtschaftliche als auch (macht)politische Aspekte sowie moderne Wandelkonzepte91 zu wenig (vgl. Schreyögg & Noss 1995, 2000, Wimmer 2003, Trebesch 2004). Einschränkend kann allerdings angeführt werden, dass die beispielsweise von Schreyögg (1999) oder Wimmer (2004) formulierte harsche Kritik an der OE an einigen Stellen zu pauschal ist, da sie m.E. einerseits die Vielfalt der Ansätze und Entwicklungslinien innerhalb der OE weitgehend ignoriert und andererseits den Wandel der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und der Organisationen des privaten und öffentlichen Sektors zu sehr generalisiert. Die Kritik an der dem Phasenschema inhärenten Gleichgewichtslogik – die besagt, dass Wandel eine heikle Unterbrechung regulärer Phasen organisatorischen Gleichgewichts und Stabilität darstellt (vgl. Niemeier 2000, S. 255; Schreyögg & Noss 2000, S. 36 ff.) – ist beispielsweise nur für die erste und zweite Generation von Wandelmodellen92 zutreffend und ignoriert die stattgefundene Weiterentwicklung der OEAnsätze (vgl. Niemeier 2000, S. 238 ff.). Auch den von Trebesch (2004) geforderten Paradigmenwechsel haben beispielsweise Doppler & Lauterburg (1999) unter der neuen Bezeichnung „Change Management“ bereits in den 1990er Jahren antizipiert und die Methoden und Instrumente der OE als wesentliche und permanente Führungsaufgabe und -funktion in den Kontext des Veränderungsmanagements gestellt
90 91 92
Zum Thema Partizipation vgl. Abschnitt 2.3.3 Für einen Überblick vgl. u.a. Greif et al. (2004), Demers (2007) Perich (1992, S. 206 ff.) unterscheidet vier Modellgenerationen der Organisationsdynamik: Equilibriummodelle mit dem Management des Bewahrens, Homöostasemodelle mit dem Management eines zeitlich befristeten Wandelprogramms, prädeterminierte Phasenmodelle mit dem Management evolutionären Wandels und offene Entwicklungsmodelle mit dem Management transformativer Umbrüche.
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(vgl. Doppler & Lauterburg 1999, Trebesch 2004, Kulmer & Trebesch 2004).93 Diese OE-Ansätze kommen m.E. den von Reiß bereits 1997 geforderten realistischen und damit praxisnahen „Hybridmodellen“ von Wandel nahe, die sich sowohl von der Wissensanmaßung und Machbarkeitsideologie der Transformationsansätze, als auch vom Fatalismus der Evolutionsansätze distanzieren. Das Managementverständnis dieser Mischmodelle folgt dem Leitbild der Reform mit einem mittleren Interventionsgrad, d.h. sie beruhen auf einer spezifischen Kombination von Fremd- und Selbstorganisation und setzen auf die Partizipation der Betroffenen. Die Change Agents geben zwar erste Impulse, einen groben Rahmen und die Richtung vor, agieren aber ansonsten als Prozessbegleiter und Entwicklungshelfer (vgl. Reiß 1997, S. 15). Auch neuere bzw. weiter entwickelte konzeptionelle Ansätze zum Management des Wandels mit konstruktivistisch-systemischem Hintergrund weisen in diesem Zusammenhang auf die Notwendigkeit hin, jenseits von Gleichgewichtsdenken und Machbarkeit neue Wege für tiefgreifende unternehmerische Wandelprozesse zu suchen. Da der Wandel in den Köpfen der Organisationsmitglieder stattfindet und damit kollektive Interpretationsarbeit voraussetzt, werden hierbei insbesondere die Relevanz einer allgemeinen Systementwicklung im Sinne des Erschaffens von Beobachtungs- und Reflexionspotentialen sowie offene Kommunikationsmöglichkeiten und -kanäle betont (vgl. Kieser 1998, Schreyögg & Noss 2000, Rüegg-Stürm 2000). Obwohl die Organisationsentwicklung in Zeiten des Reengineerings, Outsourcings und Downsizings mehr Züge verschlief als steuerte,94 hat sie dennoch vor allem auf dem Gebiet der weichen Faktoren jahrelange Vorarbeit geleistet für die Korrektur eines technischen zugunsten eines sozialen Verständnisses von Organisation – worauf das „neue“ Wandel- und Organisationsverständnis aufbaut (vgl. Perich 1989, Lauterburg 1999, Kulmer & Trebesch 2004). Unter den Labels „lernende Organisation“, „wissensbasierte Firma“ oder „evolutionäre Unternehmen“ wird aus organisationstheoretischer Sicht eine neue Organisationsrationalität propagiert: vom „Wandel stabiler Organisationsstrukturen“ zur „Stabilisierung des Wandels“. Damit wird der Weg zum Ziel und die Prinzipien der Organisationsentwicklung (die organisatorischen „Auftau- und Gefrierregeln“) werden zum eigentlichen Kern der Organisation gemacht (vgl. Kühl 2001b, S. 80 ff.). In immer mehr mit Unsicherheit belasteten Wandlungsprozessen werden Problemdefinitionen, Problemlösungen sowie die Umsetzung dieser Lösungen zunehmend mikropolitisch gefärbte Prozesse und die Begleitung durch entsprechend geschulte ProzessberaterInnen bzw. Organisationsent-
93 94
Zur Zukunft der OE vgl. auch Kühl (2001). Zur neuen Agenda der OE im Rahmen dieser Managementtechniken vgl. Burke (1998).
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Reorganisation im öffentlichen Sektor
wicklerInnen weiterhin notwendig bzw. vielleicht sogar noch notwendiger als bisher (vgl. Burke 1998, Schein 1998, Kühl 2001).95 Auch bei der empirischen Suche nach Erfolgsfaktoren für die Gestaltung von Veränderungsprozessen geht es in erster Linie um praktisch-normative Fragen und Antworten zum Thema Gestaltungsmethodik.
2.3.3 Erfolgsfaktoren für Veränderungsprozesse Der mit Abstand größte Teil der Arbeiten zur Frage nach der erfolgreichen Gestaltung von Unternehmensveränderungen analysiert die Wandelprozesse auf empirischer Basis (vgl. Stock-Homburg 2007). Exemplarisch eine Auswahl an aktuellen Versionen, der in zahlreichen Varianten und auf unterschiedlichem Konkretisierungsniveau erarbeiteten Erfolgsfaktoren für Veränderungsprozesse:
95
Auch Jarmai (1997, S. 176) kommt zu dem Schluss, dass der Involvierungsbedarf des Klientensystems bei der Konstitution eines Berater-Klienten-Systems von der Radikalität des Wandels abhängt.
Veränderungsprozesse gestalten Charta des Managements von Veränderung (vgl. Doppler & Lauterburg 1999, S. 152) •
Zielorientiertes
Stellschrauben der Reorganisation
Neun Regeln erfolgreichen Wandels
(Picot et al. 1999, S. 135 ff.)
(vgl. Vahs & Leiser 2004, S. 101 ff.)
•
•
Keine Maßnahme ohne Diagnose Ganzheitliches Denken und Han-
•
Beteiligung der Betroffenen
•
Hilfe zur Selbsthilfe
•
Prozessorientierte Steuerung
•
Lebendige Kommunikation
•
Sorgfältige Auswahl der Schlüsselpersonen
•
• •
•
Axt an der Wurzel ansetzen
des Wandels be-
•
Fokus auf den Kunden richten
•
Professionelle Ge-
rücksichtigen •
Klare und verständliche Ziele
•
Motivation der Mitarbeiter
•
Vollständige und unverzerrte Kommunikation top•
up •
Aktivierung von Normen
•
Trainingsmaßnahmen für Reorganisationen
•
staltung des Erwachens •
Offene und zeitnahe Kommunikation über den Verände-
•
rungsprozess
•
Aktive Beteiligung der betroffenen Mitarbeiter
Transparenz und Nachvollziehbarkeit
•
Unterstützung durch das Topma-
Konstruktiver Umgang mit Wider-
nagement •
Qualifizierung für die Übernahme von tung
Beteiligung von Betroffenen
•
Führungskräfte müssen Wandel befürworten und Veränderungen
Gewinnung des mittleren Managements
•
Selbstverantwor•
Persönlichen Nutzen schaffen und/oder Leidensdruck nutzen
ständen
ReorganisationsTiming
Diagnose vor Veränderung
•
und die neue Struktur ReorganisationsControlling
•
Sachliche und psychologische Seite
Anreizsysteme für die Reorganisation
down und bottom-
•
Vorausschauender
Erfolgsfaktoren von Change-Prozessen (vgl. Kraus et al. 2006, S. 178 ff.)
Wandel
rechte auf Wissensträger
deln •
Zuordnung der Handlungs- und Entscheidungs-
Management •
57
Richtiges Timing und richtige Geschwindigkeit
•
vorleben
Projektmanagementmäßige Planung und Realisierung
•
Professionelles Controlling
•
Konsequentes Handeln
Abbildung 9: Vergleich von Erfolgsfaktoren für die Gestaltung von Veränderungsprozessen96 (Quelle: eigene Darstellung)
96
Ähnliche Auflistungen finden sich u.a. auch bei Gaßner (1999), Gerkhardt & Frey (2006), Stock-Homburg & Pescher (2008), Kuhnert & Teuber (2008).
58
Reorganisation im öffentlichen Sektor
Obwohl die Schwerpunktsetzung und der Konkretisierungsgrad variieren, steht bei allen die funktionale Perspektive im Vordergrund und suggeriert die Beherrschbarkeit von Wandelprozessen, denn der Notwendigkeit des Wandels stehen oftmals die Schwierigkeiten der Umsetzung gegenüber. Eine zentrale Fragestellung ist in diesem Zusammenhang der Umgang mit den Widerständen gegen den Wandel und zwar nicht nur im Sinne einer reaktiven Handhabung, sondern auch im Sinne von Prävention (vgl. Cacaci 2006, S. 23 ff.).97 Da es für den erfolgreichen Fortgang eines Veränderungsprojektes von entscheidender Bedeutung ist, Widerstand rechtzeitig zu erkennen und richtig zu beantworten, sind Kenntnisse über Formen und Ursachen von Widerstand notwendig (vgl. u.a. Doppler & Lauterburg 1999, S. 293 ff.; Cacaci 2006, S. 60 ff.). Doppler & Lauterburg (1999, S. 296) unterscheiden in einem Vier-Felder-Schema sowohl verbale vs. non-verbale, als auch aktive vs. passive Formen von Widerstand: Widerspruch (z.B. Gegenargumente, Vorwürfe, Drohungen, Polemik), Aufregung (z.B. Unruhe, Intrigen, Streik, Gerüchte, Cliquenbildung), Ausweichen (z.B. Schweigen, Bagatellisieren, Blödeln, Unwichtiges diskutieren) und Lustlosigkeit (z.B. Müdigkeit, Absentismus, innere Kündigung, Krankheit). Während Reiß (1997, S. 17) bei den Ursachen von Widerstand zwischen Fähigkeitsbarrieren (Unkenntnis/NichtKennen, Überforderung/Nicht-Können) und Bereitschaftsbarrieren (Schlechterstellung/Nicht-Wollen, Ohnmacht/Nicht-Dürfen) unterscheidet,98 postuliert Robbins (2001, S. 633) zwei Hauptgruppen: individuelle (selektive Wahrnehmung, Gewohnheit, Furcht vor dem Unbekannten, wirtschaftliche Faktoren, Sicherheit) und organisationale (strukturbedingte Trägheit, auf Subsysteme beschränkter Wandel, Gruppennormen, Entwertung von Fachwissen, Gefährdung bestehender Machtbeziehungen oder Ressourcenzuteilungen) Widerstände.99 Über diese eher beschreibenden Kategorisierungen hinausgehenden versucht Cacaci (2006, S. 61 ff.) zu einem besseres Verständnis der resistenzprovozierenden
97
98
99
Vgl. u.a. auch Reiß (1997, S. 17); Doppler & Lauterburg (1999, S. 293); Greif et al. (2004, S.193) Doppler & Lauterburg (1999, S. 294) kommen zu einer ähnlichen Einschätzung der ihrer Ansicht nach nachvollziehbaren Ursachen für Widerstand: (1) entweder die Betroffenen haben die Ziele, Hintergründe oder Motive einer Maßnahme nicht verstanden oder (2) sie haben verstanden, worum es geht, aber sie glauben nicht daran oder (3) sie haben verstanden und glauben daran, aber sie wollen oder können nicht mitgehen, weil sie sich keine positiven Konsequenzen davon versprechen. Auch Kieser et al. (1998, S. 123 ff.) weisen darauf hin, dass die Gründe für organisatorischen Konservatismus unternehmensintern sowohl auf der Verhaltensebene als auch auf der Systemebene zu suchen sind und unterscheiden dabei jeweils zwischen Widerstand (im Sinne von mangelnder Anpassungsbereitschaft) und Trägheit (im Sinne von mangelndem Anpassungsvermögen). Daneben gibt es dafür ihrer Meinung nach auch ungünstige unternehmensexterne Bedingungen.
Veränderungsprozesse gestalten
59
Faktoren zu kommen. Er unterscheidet gemäß seinem konstruktivistischen Forschungsverständnis aus subjektiver Sicht fünf Dimensionen von Widerständen gegen Wandel: die psychologisch-emotionale, die materielle, die soziale, die politische und die kulturelle Dimension.100 Damit knüpft er an Überlegungen an, die darauf hinweisen, dass hinter dem negativ konnotierten „Widerstand gegen Wandel“ sehr wohl auch positive Absichten stehen können (z.B. berechtigte Einwände oder Verbesserungsvorschläge) und es daher konstruktiver wäre, die Reaktionen der Beschäftigten differenzierter zu betrachten (vgl. u.a. Piderit 2000, Greif et al. 2004).101 In diesem Zusammenhang schlägt beispielsweise Piderit (2000, S. 786 ff.) im Rückgriff auf die sozialpsychologische Einstellungsforschung vor, hinsichtlich der Reaktionen der Beschäftigten eine kognitive, eine emotionale und eine zweckbestimmte Dimension zu unterscheiden, die jeweils und in unterschiedlichen Kombinationen mehr oder weniger negativ bzw. positiv ausgeprägt sein können. Aufgrund der Relevanz der Thematik ist es nicht verwunderlich, dass sich unter den Erfolgsfaktoren für die Gestaltung von Veränderungsprozessen (vgl. Abb. 9) auch einige der Kernkonzepte zur Überwindung von Veränderungsbarrieren wiederfinden: mächtige und einflussreiche Unterstützer und Vorbilder gewinnen, MitarbeiterInnen schulen und einbeziehen, erwünschtes Verhalten belohnen, Widerstand durch überzeugende Argumente abbauen etc. (vgl. Robbins 2001, S. 637 f.; Greif et al. 2004, S. 197). Reiß (1997, S. 93) sieht sowohl die Bestimmungsgrößen für den Grad der Akzeptanz102 als auch die Ansatzpunkte und Stellgrößen für gezielte Förderaktivitäten in den vier Akzeptanzfaktoren „Kennen“, „Können“, „Wollen“ und „Sollen“ (vgl. Abb. 10). Seiner Meinung nach wird die Akzeptanz des Wandels gefördert, wenn die Betroffenen die Veränderungen kennen, mit ihnen umgehen können und sie auch wollen. Darüber hinaus sollen sich möglichst viele Betroffene nach den neuen Spielregeln verhalten und als Vorbilder die neuen Verhaltensweisen praktizieren.
100
101
102
Er weist darauf hin, dass zwar jede der Dimensionen ein auslösendes bzw. bestimmendes Moment für die Entstehung von Widerstand sein kann, aber eine klare Zuordnung nicht immer möglich ist, da die Grenzen der Dimensionen fließend sind oder die resistenzprovozierenden Faktoren multidimensional (vgl. Cacaci 2006, S. 61). Ganz abgesehen davon, dass man mit dem „Widerstand gegen (von oben verordneten) Wandel“ automatisch die Perspektive der verantwortlichen Führungskräfte einnimmt und damit deren Interessen favorisiert (vgl. Piderit 2000, S. 783 ff.) „Akzeptanz“ bezeichnet eine positive Einstellung zur Veränderung, wobei nach Reiß (1997, S. 92) auch eine Mitwirkung unter Druck und die bloße Duldung als Akzeptanz interpretiert wird.
60
Reorganisation im öffentlichen Sektor
Abbildung 10: Akzeptanzfaktoren (Quelle: Reiß 1997, S. 93)
Da die Erfolgsfaktoren von WissenschaftlerInnen und BeraterInnen als allgemein gültige Patentrezepte für die Praxis „verkauft“ werden, können sie nur grobe normative Leitlinien darstellen.103 Hier gilt auch, was Gaitanides (1998, S. 373) dem Großteil der Empfehlungen zum Thema Business Reengineering attestiert: ihre Funktion ist eine kommunikativ-deklaratorische, nicht eine, die konkretes Veränderungshandeln anleiten kann. Ob diese normativen Leitlinien wirklich in der Praxis berücksichtigt werden bzw. wie sie tatsächlich umgesetzt werden und welche komplexen Fragestellungen damit verbunden sind, will ich am Beispiel Partizipation schlaglichtartig beleuchten. Obwohl in fast allen neueren Management- und Unternehmenskonzepten des privatwirtschaftlichen (und öffentlichen) Sektors die Beteiligung der betroffenen MitarbeiterInnen einen der wesentlichen kritischen Erfolgsfaktoren für eine zukunftsorientierte Unternehmensreorganisation darstellt (vgl. Kirsch et al. 1979, Reiß et al. 1997, Doppler & Lauterburg 1999, Vahs & Leiser 2004, Brunner-Salten 2003, Sverke et al. 2008), gibt es in der Praxis nur wenige Organisationen, in denen sie umfassend – d.h. auch an den Entscheidungen – beteiligt werden (vgl. Lullies 1997, S. 75). „Kaum eine Formel der Implementierungsarbeit ist so relevant und zugleich so schillernd wie die Partizipationsformel ‚Betroffene zu Beteiligten machen!‘. Immer wieder wird den Projektverantwortlichen vorgeworfen, sie würden lediglich eine Pseudo-Partizipation praktizieren. Außerdem signalisieren einige Untersuchungen, daß Partizipation im engen wie im weiten Sinne eher selten angewandt werden“ (Reiß 1997, S. 106). 103
Die Inhalte werden meiner Meinung nach auch durch die Untersuchungsmethodik (z.B. bei Vahs & Leiser 2003) einseitig beeinflusst, da davon auszugehen ist, dass auch – oder gerade – die zu diesem Zweck befragten Entscheidungsträger dazu neigen, ihre eigenen Handlungen im Rückblick als rational und erfolgreich darzustellen (vgl. Ortmann et al. 1990, S. 408).
Veränderungsprozesse gestalten
61
Um diesen Widerspruch zu verstehen, muss analysiert werden, was die Unternehmen unter Beteiligung104 verstehen und wie die Reorganisationsprozesse ablaufen, denn der Begriff Partizipation lässt sich mit unterschiedlichen Intentionen und Strategien verbinden, hinter denen nicht unbedingt der Gedanke einer Demokratisierung der Entscheidungsfindung steht (vgl. Cacaci 2006, S. 165; Behrens & Kädtler 2008). Wie bereits im Zitat von Reiß (1997) angesprochen, laufen die meisten Reorganisations-Projekte trotz weniger löblicher Ausnahmen – wenn überhaupt – nur mit rudimentärer Beteiligung der Betroffenen ab (vgl. dazu auch Lullies 1997, Kotthoff 1998 und Abschnitt 2.3.1). In Abhängigkeit vom konkreten Projektvorhaben sind verschiedene Beteiligungsabstufungen zu beobachten (vgl. Lullies 1997, S. 77): •
Im Falle von Restrukturierungen werden die Unternehmensstrukturen in einem top-down-approach als großer Wurf von oben (d.h. unter der Regie des TopManagements und in der Regel mit Hilfe von Beratungsfirmen) ohne jegliche Beteiligung der Beschäftigten „redesigned“.
•
Bei der Gestaltung einzelner Geschäftsprozesse werden die Prozessbetroffenen bei der Ist-Erfassung beteiligt, da ihr Wissen gebraucht wird, um die Ist-Situation der Prozesse richtig darzustellen. Nicht beteiligt werden sie bei der Festlegung der Ziele und bei der Ausarbeitung der Soll-Prozesse. Damit beschränkt sich die Rolle der Beschäftigten meist auf die der Datenlieferanten, da befürchtet wird, dass eine weitergehende Beteiligung die aufwändige und zeitraubende Projektarbeit stört und verzögert.
•
Je mehr das Ziel eines Projektes die Prozessverbesserung ist, desto eher besteht aufgrund des Expertenwissens der Beschäftigten die Chance auf echte Beteiligung – allerdings auch nur bei der Erarbeitung von Verbesserungsvorschlägen, nicht bei der Entscheidung über die Umsetzung.105
•
Nach Einschätzung der Autorin gab es Reorganisationsprojekte mit echter Beteiligung in der Vergangenheit am ehesten in außerindustriellen Bereichen (z.B. in der öffentlichen Verwaltung oder in Non-Profit-Organisationen).
Nach den vorangegangenen Ausführungen sind diese Ergebnisse nicht wirklich erstaunlich. Die Restrukturierungsstrategie und damit auch der angemessene Partizi104
105
Der neuerdings manchmal synonym gebrauchte Begriff „Empowerment“ beschränkt sich nicht auf mehr Einflussnahme im Wandelprozess, sondern meint grundsätzlicher „das Vermögen, das Menschen durch ihr fundiertes Wissen und ihre Motivation haben, zu erkennen und zugunsten der Organisation nutzbar zu machen“ (Randolph 1995, S. 58). Vgl. dazu auch Greif et al. (2004, S. 193 f.). Partizipation kann sich entweder auf den gesamten Prozess beziehen, oder nur auf einzelne Phasen: (1) die Identifikation des Problems bzw. der Sachlage, die einer Entscheidung bedarf, (2) die Generierung und Bewertung von Lösungsalternativen, (3) die Auswahl einer Alternative, (4) die Implementierung der gewählten Lösung und (5) die abschließende Evaluierung der Umsetzung (vgl. Szabo, 2007, S. 6).
62
Reorganisation im öffentlichen Sektor
pationsgrad werden nach funktionalen Gesichtspunkten gewählt – frei nach dem Motto: „So viel Partizipation wie nötig, so wenig Partizipation wie möglich“.106 Nach Kirsch et al. (1979, S. 298 f.) lassen sich – je nach dem, ob primär die Werte bzw. Bedürfnisse und/oder das Wissen und Know-How (bzw. weder noch) der vermeintlich Partizipierenden einbezogen werden soll – idealtypisch vier Arten von Partizipation unterscheiden: Bei der Pseudopartizipation geht es weder um die Werte noch um das Wissen der Partizipienten, sondern lediglich um die Verbesserung der zwischenmenschlichen Beziehungen, um dadurch die Akzeptanz der Führungsentscheidungen zu steigern. Im Falle der Human-Resources-Strategie soll durch die Eröffnung von Partizipationschancen das Wissenspotential der Geführten genutzt werden, aber deren Werte und Bedürfnisse ausgeklammert bleiben. Dadurch soll deren Problemlösungspotential genutzt und die Konsensmobilisierung erleichtert werden. Von Partizipation im Sinne der Social-Values-Strategie spricht man, wenn zwar die Werte bzw. Bedürfnisse berücksichtigt werden sollen, aber das Wissen der Partizipienten bei der Entscheidungsfindung nicht einfließen kann. Authentische Partizipation („echte Beteiligung“) eröffnet schließlich Partizipationsmöglichkeiten, die den Geführten sowohl die Artikulation und Berücksichtigung ihrer Bedürfnisse und Werte als auch die Mobilisierung ihres Wissens ermöglichen. Wie beispielsweise an den oben angeführten Beteiligungsabstufungen (vgl. Lullies 1997) sichtbar wird, kommen in der Praxis statt dieser idealtypischen Partizipationsmuster eher Mischformen vor, die vielfach im Sinne der Human-Resources-Strategie zu interpretieren sind (vgl. Kirsch et al. 1979, S. 299). Desweiteren können direkte und indirekte sowie formale und informale Partizipationsformen unterschieden werden: direkte, formale (de jure) Partizipation ist z.B. die mit dem Management vereinbarte und festgelegte Mitwirkung an Entscheidungsprozessen (beispielsweise im Rahmen von Qualitätszirkeln), direkte, informale (de facto) Partizipation bezeichnet z.B. partizipative Führung, d.h. tatsächlich gewährte Mitwirkung in der unmittelbaren Interaktion zwischen Führungskraft und untergebenen MitarbeiterInnen, unter indirekter (repräsentativer), formaler Partizipation versteht man die kodifizierten Mitbestimmungsrechte, z.B. im Aufsichtsrat oder im Rahmen der Betriebsrats-/bzw. Personalratstätigkeit und indirekte, informale Partizipation meint z.B. die tatsächlich gelebte gemeinsame Entscheidungsfindung durch Management und Interessenvertretung (vgl. Szabo 2007, S. 6). Mit Blick auf die indirekten Partizipationsformen kann festgestellt werden, dass auch die Interessenvertretungen angesichts der tiefgreifenden Rationalisierungs- und Um106
Vgl. exemplarisch dazu die „Konsensmatrix“ von Christensen et al. (2006)
Veränderungsprozesse gestalten
63
strukturierungsmaßnahmen in den Organisationen sowie der Einführung dezentraler Arbeitsstrukturen und partizipativer Managementkonzepte vor der Frage nach einer Neudefinition ihres Rollen- und Funktionsverständnisses stehen. In diesem Zusammenhang kritisiert Kotthoff (1995) die in der sozialwissenschaftlichen Diskussion verbreitete Geringschätzung der traditionellen „folgenorientierten Schutzpolitik“ der Betriebsräte sowie die unrealistischen Forderungen nach offensiver alternativer Gestaltung der Prozesse durch die Betriebsräte. Er plädiert stattdessen für Anpassungsleistungen, die die Voraussetzungen dafür schaffen, dass ihre alten institutionellen Stärken und Fähigkeiten auch unter den veränderten Bedingungen der arbeits-, betriebsund unternehmenspolitischen Reorganisation zur Geltung kommen. Dabei sollen neben einer anzustrebenden (gemäßigten) Co-Management-Rolle eine modernisierte Schutzpolitik und die auf die Managementkultur zielende Beziehungs- und Erziehungsarbeit nicht vergessen werden. Die zunehmende „Verbetrieblichung“ der Regulierungsprozesse in turbulenten Zeiten zwingt die Interessenvertretungen zu einer kooperativ-kritischen Haltung des Mittragens und Mitverantwortens und damit zu einer „Realpolitik“, die streckenweise eine „Verzichtpolitik“ ist, aber die institutionelle Bedeutung des Betriebsrates nicht verändert (vgl. Kotthoff 1998). Greifenstein (2004) kommt mit Blick auf die Standortsuche von Personalräten im Modernisierungsprozess zu ähnlichen Einschätzungen. Er stellt fest, dass sich auch die Personalratsarbeit auf einem schmalen Grat zwischen Rationalisierungsschutz und Modernisierungsmanagement bewegt. Ob der Modernisierungsprozess allerdings beschäftigtengerecht mitgestaltet werden kann, hängt sowohl vom Modernisierungskonzept (d.h. u.a. vom Ausmaß der eingeräumten Partizipationsmöglichkeiten) als auch vom Interessenvertretungsmodus der Personalvertretung (traditionell, ausgleichend oder progressiv)107 ab (vgl. dazu auch Bogumil & Kißler 1995, Kißler et al. 2000, Greifenstein & Kißler 2000 und Abschnitt 2.4). Auf der Suche nach den Gründen für ihre Befunde identifiziert Lullies (1997, S. 78 f.) drei Barrieren gegen Beteiligung bei Reorganisationen. Erstens wehrt sich das mittlere Management gegen die Übertragung von Kompetenzen an die Untergebenen und ist nur wenig bereit, Entscheidungs- und Kontrollbefugnisse zu delegieren. Das liegt zwar auch an der Angst vor Machtverlust, gravierender ist aber die Angst vor Arbeitsplatzverlust oder vor den neuen Aufgaben als Führungskraft (Stichwort: vom Führer zum Coach), die unter der Regie der neuen Unternehmenskonzepte neuerdings auch Manager haben. Die zweite und größere Barriere ist das massive Vor-
107
Diese Einteilung ist vergleichbar mit den von Eckardstein (1997) gefundenen Kooperationsmustern zwischen Management und Betriebsrat: zwei-Parteien-Modell, Expertenmodell und Co-Management (vgl. Eckardstein 1997, S. 120 f.).
64
Reorganisation im öffentlichen Sektor
dringen technizistischer Orientierungen und technokratischen Denkens (auch in nicht technischen Funktionsbereichen des Unternehmens), in dem der Mensch als Akteur keinen Platz mehr hat, sondern lediglich als Stör- und Kostenfaktor betrachtet wird.108 Die dritte Barriere folgt aus der zweiten: in Reorganisationsprozessen werden zunehmend ingenieursmäßige Methoden und Techniken für die Umgestaltung von Arbeitsprozessen angewandt. „Die Konsequenz davon ist, daß menschliche Arbeitsprozesse wie mechanische Produktionsprozesse gesehen werden. In dieser mechanistischen Sichtweise sind die Arbeitsprozesse durch eine endliche Anzahl von Elementen zu beschreiben und laufen unter gleichen Bedingungen immer gleich ab. Arbeit wird in Analogie zur Maschine gesehen, deren Kennzeichen repetitive Bewegung, entpersönlichte Prozesse und quantitative Ziele sind ... Das, was Arbeit wirklich ausmacht, kommt in dieser Sichtweise nicht vor, nämlich ihr sozialer Kontext und ihre Bestimmung durch Erfahrung, Gefühl, Wünsche, Motivation, von ad-hocEntscheidungen, Flexibilität, Anpassung, Integration, Improvisation – kurz all das, was Lebendigkeit und Fülle des Lebens ausmacht“ (Lullies 1997, S. 79).
Damit bleibt die Autorin zwar meiner Meinung nach eher auf der Symptomebene sowie bei personalisierenden Schuldzuweisungen stehen, spricht aber implizit die dahinter liegenden Machtverhältnisse und politischen Prozesse an, deren Auswirkungen sie beschreibt. Das wird bei ihrer Einschätzung der Konsequenzen deutlicher, wenn sie feststellt, das große Problem dieser technokratischen – d.h. ohne Beteiligung der Beschäftigten durchgeführten Reorganisationsprojekte – ist in der Praxis die Umsetzung der am sprichwörtlichen grünen Tisch erarbeiteten Soll-Konzepte. Wie schon erwähnt, gibt es auch für dieses Implementationsproblem spezielle Management-Konzepte, die durch Beteiligung der betroffenen MitarbeiterInnen die Einführung erleichtern sollen. Nach Einschätzung der Autorin geht es aber sowohl beim „Partizipativen Management“109 als auch beim „Change Management“110 nicht um echte Beteiligung, sondern lediglich darum, die neuen Organisationskonzepte mit möglichst geringem Widerstand umzusetzen. Daher beschränkt sich partizipatives Management in der Praxis auf die Information der von der Reorganisation Betroffenen im Rahmen von „Alibiveranstaltungen“ und im Rahmen des Change Managements wird typischerweise erst die fertige Lösung präsentiert, um mögliche zu überwindende Ängste und Hemmnisse zu identifizieren (vgl. Lullies 1997, S. 80).
108 109
110
Vgl. dazu in Abschnitt 2.3 das „Maschinenmodell“ der Organisation. Zum Konzept des Partizipativen Change Management vgl. Rosemann & Gleser (1999), Gleser (1999). Zum Konzept des Change Management vgl. Reiß et al. (1997), Doppler & Lauterburg (1999), Greif et al. 2004, Kuhnert & Teuber (2008)
Veränderungsprozesse gestalten
65
Da vielfach befürchtet wird, dass die Eröffnung von Partizipationschancen die Handlungsfähigkeit der Führung und damit die Realisierung einer geplanten organisatorischen Veränderung gefährdet, ist dies aus instrumenteller Perspektive ein rationales Vorgehen. Kirsch et al. (1979, S. 300 ff.) räumen ein, dass je nach Situation111 (z.B. Zeitbudget, Art des Konfliktpotentials) in der Tat zwischen einer zu befürchtenden schwierigeren Prozesspromotion (da mehr Sichtweisen und Konflikte relevant werden) und einer hoffentlich reibungsloseren Ergebnispromotion (da mehr Personen die Ergebnisse mittragen) abgewogen werden muss. Neben dem Kontext einer Entscheidung112 tragen auch demographische Merkmale der am Entscheidungsprozess beteiligten Personen (Alter, kulturelle Zugehörigkeit, Geschlecht etc.) ganz wesentlich dazu bei, inwieweit Partizipation eigesetzt wird bzw. eingesetzt werden soll (vgl. Szabo 2007, S. 6). Auch Reiß (1997, S. 106 f.) weist darauf hin, dass die Überlegenheit partizipativer Einführungsmodelle von wissenschaftlicher Seite noch nicht eindeutig bestätigt werden konnte.113 Trotzdem räumt er ein, dass diverse Erfahrungen und Untersuchungsergebnisse für eine partizipative Organisation von ChangeVorhaben sprechen, da sich ein Projektziel eher erreichen lässt, wenn es möglichst viele „Lokomotiven“ statt möglichst vieler „Anhänger“ hat. Beschäftigte werden allerdings nur unter ganz bestimmten Bedingungen zu „Lokomotiven“. Individuelles Partizipationshandeln setzt voraus, dass eine Person erstens Spielräume bei der Gestaltung betrieblicher Abläufe und Strukturen wahrnimmt114 und zweitens motiviert ist, an der Gestaltung dieser Spielräume mitzuwirken115 (vgl. Kerres & Rosemann 1992, S. 9 ff.). Einen instruktiven Überblick über mögliche Begründungen (ideologische oder funktionale) und die dazugehörigen Ziele für die Beteiligung von Betroffenen gibt Trebesch (2007, S. 33):
111 112
113
114
115
Vgl. dazu Vroom (1981) d.h. die Merkmale der konkreten Entscheidungssituation sowie die Ausprägung des organisatorischen und externalen Umfeldes Zur Erklärung der unterschiedlichen Partizipationswirkungen müssen sowohl Merkmale der Situation, als auch der Person gleichermaßen berücksichtigt werden (vgl. Schubert & Zink 1990). Davor stellt sich allerdings die Frage nach der Operationalisierbarkeit von Kosten und Nutzen einer partizipativen Veränderungsstrategie. Sowohl die Kosten (z.B. Produktivitätsausfälle der freigestellten MitarbeiterInnen) als auch der Nutzen (z.B. ökonomische Effekte, Mitarbeiterzufriedenheit, Fehlzeiten, Lerneffekte) lassen sich nicht unbedingt exakt beziffern und zuordnen (vgl. Gaßner 1999, S. 186). d.h. sowohl sachimmanente Gestaltungsvarianten erkennt, als auch Möglichkeiten sieht, durch eigenes partizipatives Handeln Einfluss auf Entscheidungen nehmen zu können Dazu müssen die positiven Folgen des Partizipationshandelns die möglichen Risiken überwiegen und die Wahrscheinlichkeit, dass die positiv bewerteten Folgen im Falle des partizipativen Handeln auch wirklich eintreten, muss einen kritischen Wert überschreiten (bei gleichzeitiger Abwesenheit einer anderen erfolgversprechenden Handlungsalternative) (vgl. Kerres & Rosemann 1992).
66
Reorganisation im öffentlichen Sektor
Beteiligung der Betroffenen an und im Veränderungsprozess
ideologische Begründung
− Mitbestimmung (als politischer Prozess der Machtkontrolle) − Mitarbeiter als mündig anerkennen − Lebens- und Arbeitsinteressen der Mitarbeiter berücksichtigen − Politische Wertebildung des Systems (Kultur) mit gestalten
funktionale Begründung
Wissens-Aspekt − Wissen und Fähigkeiten der Mitarbeiter nutzen (Know-how) − Problemlösungskapazität erhöhen durch Vielfalt der Ressourcen und Interessen − Entscheidungsfindung optimieren Kommunikations-Aspekt − Information: Um was geht es − Verstehen wird über Austausch gefördert − Sinngebung und -findung unterstützen (statt Motivation) − Orientierung aktiv einfordern Widerstands-Aspekt − Widerstand (der gute Gründe haben kann) wird bearbeitet − Identitätsveränderung wird unterstützt Umsetzungs-Aspekt − Mittragen der Veränderungen durch Überzeugung und Einsicht − Commitment (aktive Unterstützung, Beteiligte zu Betroffenen machen) − Ownership (sich verantwortlich für die Mitgestaltung machen) − Implementierung fördern und unterstützen
Feedback-Aspekt − Stimmung ausloten und beeinflussen − Erfolge und Schwierigkeiten rückmelden Interessens-Aspekt − die unterschiedlichen Interessen öffentlich machen und verknüpfen, bzw. ausgleichen − Bedürfnisse berücksichtigen Lern-Aspekt − Erkenntnisfortschritt durch (gemeinsames) Lernen (Gruppen als Ort des Lernens und Veränderns) − Erhöhung der Sicherheit, d.h. Relevanz und Gültigkeit der Veränderung Systemischer-Aspekt − das ganze System (in Elementen und Zielsetzungen) abbilden − Selbstorganisation offiziell fördern und stützen − Mitgestaltung der Organisationskultur (handlungsleitende Wertegenerierung)
Abbildung 11: Unterschiede in der Begründung einer Beteiligung der Betroffenen116 (Quelle: Trebesch 2007, S. 33)
Trebesch (2007) ist der Meinung, dass die bereits angesprochenen Kontrollverlustängste der Führungskräfte berechtigt sind, da sie die Methoden und Instrumente der Partizipation nur unzureichend beherrschen. Eine weitere Ursache für die Ablehnung und Mindernutzung der Möglichkeiten einer Beteiligung, sieht er in der permanenten Vermischung von ideologischen und funktionalen Begründungen. Da die Ziele (vgl. Abb. 11) ganz unterschiedlich sind, muss dieser Unterschied in Veränderungsprozessen thematisiert und die Motive geklärt werden. Obwohl er selbst darauf hinweist, dass Beteiligung immer ein politischer Prozess ist, verkennt er mit seinem Vorschlag m.E. die Brisanz dieser Thematik. Mikropolitisch betrachtet geht es hier letztlich um die Definitionsmacht im Regelproduktionsprozess, die von den Machthaberinnen im Regelfall nicht zur Disposition gestellt wird (vgl. Abschnitt 3.4).
116
Darin spiegeln sich auch die theoretischen Grundlagen von Partizipation: die humanistische Perspektive (Partizipation trägt dazu bei, das Bedürfnis der MitarbeiterInnen nach Leistung, sozialer Anerkennung und Kreativität zu befriedigen), die demokratische Perspektive (Partizipation als Mittel zur Neuverteilung von Macht und damit zur Demokratisierung am Arbeitsplatz) und die Effizienzperspektive (Partizipation zur Steigerung der organisationalen Effizienz, durch qualitativ höherwertige Entscheidungen, bessere Implementierung, reduzierter Kontrollbedarf, verbesserte Kommunikation und Kooperation, steigende Motivation, Rückgang von Krankenstand und Fluktuation etc.) (vgl. Szabo 2007, S. 5).
Veränderungsprozesse gestalten
67
Sowohl der Machtaspekt als auch die Relevanz der Situation werden m.E. von Picot et al. (1999, S. 140) berücksichtigt, die für die kontextabhängige Nutzung ihrer Stellschrauben der Reorganisation117 vier Grundmuster der Zuordnung von Entscheidungs- und Handlungsrechten – (1) das Recht zur Problemdefinition und Zielsetzung, (2) das Recht zur Ausarbeitung einer Reorganisationslösung, (3) das Recht zur Entscheidung, (4) das Recht zur Umsetzung der gewählten Reorganisationslösung, (5) das Recht zur Kontrolle und Beurteilung sowie (6) das Recht bzw. die Pflicht zur Nutzung der Reorganisationslösung im Alltag – unterscheiden:
Übergeordnete Instanz (z.B. Kernteam)
„Blitzkrieg“
„Mitwirkung“
„Delegation“
1) Problemdef./Ziel setzung 2) Lösungsausarbeitung 3) Entscheidung 4) Umsetzung 5) Kontrolle, Beurteilung
1) Problemdef./Ziel setzung 3) Entscheidung 5) Kontrolle, Beurteilung
1) Problemdef./Ziel setzung 5) Kontrolle, Beurteilung
2) Lösungsausarbeitung 4) Umsetzung
2) Lösungsausarbeitung 3) Entscheidung 4) Umsetzung
6) Nutzung im Alltag
6) Nutzung im Alltag
2) Lösungsausarbeitung 4) Umsetzung 6) Nutzung im Alltag
1) Problemdef./Ziel setzung 2) Lösungsausarbeitung 3) Entscheidung 4) Umsetzung 6) Nutzung im Alltag
1) konzentriert
1) mäßig verteiltes Reorganisationswissen
1) weit verteiltes tazites Reorganisationswissen
2) unipolar
2) eher unipolar
3) anspruchslos
3)eher anspruchslos
2) eher multipolar 3) eher anspruchsvoll
1) direkt Betroffene sind Träger des taziten Wissens 2) multipolar
Träger taziten Reorganisationswissens118
Direkt betroffene Mitarbeiter
EffizienzBedingung 1) Wissensverteilung
2) Machtverteilung 3) Präferenzstruktur
„Selbstorganisation“ 1) Problemdef./Ziel setzung 5) Kontrolle, Beurteilung
3) anspruchsvoll
Abbildung 12: Vier Grundmuster der Mitarbeitereinbindung bei Reorganisationen (Nach: Picot et al. 1999, S. 140; Quelle: Freudenberg 1999, S. 166)
117 118
Vgl. Abb. 9 Der Begriff „tazites Wissen“ bezeichnet implizites (nicht artikulierbares) Erfahrungswissen.
68
Reorganisation im öffentlichen Sektor
Da die Entscheidungs- und Handlungsrechte so zu verteilen sind, dass den handelnden Akteuren die positiven und negativen Folgen ihres Handeln möglichst eindeutig zugeordnet sind, soll die Verantwortung für die Reorganisation tendenziell einer möglichst kleinen Gruppe möglichst ganzheitlich übertragen werden. Dieses Kernteam soll aus den verantwortlichen Führungskräften bestehen und bei Bedarf um ausgewählte Wissensträger erweitert werden. Für die Einbindung weiterer MitarbeiterInnen ergeben sich je nach Ausprägung der drei Effizienzbedingungen „Wissensverteilung“, „Machtverteilung“ und „Präferenzstruktur“ die vier Grundmuster „Blitzkrieg“, „Mitwirkung“, „Delegation“ und „Selbstorganisation“. Beim „Blitzkrieg“119 und bei der „Mitwirkung“ liegen die Reorganisationsrechte ganzheitlich bzw. schwerpunktmäßig beim Kernteam, lediglich das Recht bzw. die Pflicht zur Nutzung der Reorganisationslösung im Alltag obliegt den direkt Betroffenen. Diese beiden Grundmuster zeichnen sich zwar durch einen geringen Zeit- und Ressourcenbedarf aus, sind allerdings nur bei gleichzeitigem Vorliegen von konzentrierter oder mäßiger Wissensverteilung, eher unipolarer Machtverteilung und eher anspruchslosen Präferenzstrukturen effizient. Bei verteiltem, tazitem Reorganisationswissen, multipolarer Machtstruktur und anspruchsvoller Präferenzstruktur der MitarbeiterInnen sind die beiden Grundmuster „Delegation“ und „Selbstverantwortung“ Erfolg versprechender. Durch die Einbindung von Beschäftigten können wichtige Kenntnisse direkt für den Reorganisationsprozess fruchtbar gemacht sowie Motivation und Akzeptanz erhöht werden. Vorhandener Ärger und Aggressionen können bearbeitet und damit breiter und massiver Widerstand der direkt Betroffenen, die sich ansonsten „übergangen“ fühlen, unterbunden werden (vgl. Picot et al. 1999, S. 135 ff.).120 Wie schon bei der im Rahmen der OE postulierten Interessenharmonie121 kritisch angemerkt, hängt es im Einzelfall u.a. von der Art des Konfliktpotentials ab, ob die Demokratisierung von Entscheidungsprozessen die Handlungsfähigkeit organisatorischer Führungssysteme gefährdet oder nicht. Dies dürfte eher dann der Fall sein, wenn die Reorganisation einem Null-Summen-Spiel ähnelt, als wenn sie einen guten Teil kooperativer Elemente enthält (vgl. Kirsch et al. 1979, S. 298 ff.). Reiß (1997, S. 134 ff.) empfiehlt in diesem Zusammenhang die flächendeckende Identifikation von „Gewinnern“ (bzw. BefürworterInnen) und „Verlierern“ (bzw. GegnerInnen) mit Hilfe einer Bestimmung der Zielgruppen einer Reorganisation nach dem Grad (hoch vs.
119 120
121
Vgl. „Bombenwurf“ in Abschnitt 2.3.1 Auch dies ist einer der heute üblichen Beteiligungsansätze mit pragmatischer bzw. funktionaler Begründung (vgl. Greif et al. 2004, S. 193). Vgl. Abschnitt 2.3.2
Veränderungsprozesse gestalten
69
niedrig) und der Art (positiv vs. negativ) der Betroffenheit.122 Während die Gewinner intensiv unterrichtet, geschult, durch die intrinsischen Vorteile der Veränderung motiviert und als Vorbilder sowie Moderatoren aktiv in die Projektorganisation eingebunden werden, sollen die Verlierer im unklaren gelassen, radikal umgeschult, gegebenenfalls entschädigt und im Rahmen der Projektorganisation umgangen werden. D.h. den verschiedenen Betroffenengruppen werden unterschiedliche „Gegengeschäfte“ angeboten: Den GewinnerInnen werden Gegenleistungen in Form von aktiver Mitwirkung, einem erhöhten Einsatz oder Zugeständnissen auf anderen Konfliktfeldern abverlangt, während man den VerliererInnen Kompensationsleistungen anbietet. Die Unentschlossenen können beispielsweise mit Belohnungen für besonders engagierte Pioniere der Veränderung motiviert werden.123 Dass Reformprozesse trotz der Kenntnis von „Erfolgsfaktoren“ oder „Stellschrauben“ nicht völlig beherrschbar sind, und dass Anspruch und Wirklichkeit zum Teil weit auseinander klaffen, zeigen die Beobachtungen des Scheiterns von Reorganisationen (vgl. stellvertretend für viele: Moldaschl 2004, Schlese et al. 2003, BrunnerSalten 2003, Schirmer 2000). Die mich im Hinblick auf mein Fallbeispiel besonders interessierende Bewältigung von Rückentwicklung von Organisationen geht beispielsweise oftmals mit einer „Verschlankung“ (d.h. mit Personalabbau) einher, was sowohl harte Konflikte als auch einige nicht intendierte Wirkungen mit sich bringt (vgl. u.a. Kieser & Bomke 1995, Sp. 1840 f., Weiss & Udris 2001, Marr & Steiner 2003).
2.3.4 Nicht intendierte Wirkungen von Rückentwicklung Im Handwörterbuch der Führung identifiziert beispielsweise Murray (1995) unter der Überschrift „Rückentwicklung von Organisationen und Führung“ sieben Handlungsfelder der Unternehmensführung. Grundvoraussetzung für das Ergreifen von Gegenmaßnahmen ist zunächst das (immer subjektive) Wahrnehmen der Rückentwicklung und das Einschätzen des Ausmaßes der Krise124 (vgl. auch Starbuck & Nystrom 1995, Sp. 1386; Reiß 1997, S. 13; Göbel 1999, S.53 ff.; Picot et al. 1999, S. 22 ff.). In Abhängigkeit von den vermuteten Ursachen für das Problem (externale oder internale Schuldzuweisung) wird der Umgang mit der Rückentwicklung unterschiedlich ausfallen. Diese Überlegungen beeinflussen die Wahl einer bestimmten Reakti122
123
124
Einen ähnlichen Ansatz wählt Gaßner (1999, S. 72 ff.), der je nach Höhe des Nutzenzuwachses für die Beschäftigten durch eine Gestaltungsmaßnahme von einem mehr oder weniger hohen Anreiz zur Unterstützung bzw. bei einer Nutzenminderung von einem Anreiz zum Widerstand ausgeht. Schon Lewin (1947) verweist auf drei wichtige Strategien des Wandels: Verstärkung der treibenden Kräfte, Verminderung der hemmenden Kräfte sowie die Kombination beider Strategien (vgl. Kirsch et al. 1979, S. 233). Zu Krisenursachen und zum Krisenprozess vgl. beispielsweise Hauschildt et al. (2006).
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Reorganisation im öffentlichen Sektor
onsstrategie sowie die Implementierung der gewählten Maßnahmen. Die Reaktionsstrategie und der Implementierungsprozess haben im Zusammenspiel mit situativen Faktoren spezifische Auswirkungen auf die Organisation und deren Mitglieder, mit deren Folgen die Führungskräfte wiederum adäquat umgehen müssen (vgl. Becke 2002, S. 36 f.). Darauf aufbauend lassen sich nach Murray (1995, Sp. 1851 ff.) drei grundlegende Reaktionsszenarien für organisationale Rückentwicklung unterscheiden: „Härte zeigen“, „Schlauer werden“ und „Minimalismus“.125 Obwohl diese Idealtypen nicht in Reinform auftreten, da konkrete Situationen Aspekte aller drei Szenarien enthalten, nimmt der Autor an, dass das Top-Management einer Organisation jeweils in eine Richtung tendiert: •
Führungskräfte, die zum „Härte zeigen“ tendieren, nehmen die Krise sehr ernst und glauben wenig verbleibende Reaktionszeit zu haben. Sie agieren als „Manager“, d.h. sie versuchen die vorliegenden Ziele und Strategien rational und effizient zu verwirklichen, wobei der Zweck die Mittel heiligt. Die strategische Stoßrichtung ist, so weiter zu machen wie bisher, nur schneller, billiger und mit besserer Qualität, was durch gleichmäßig verteilte Kostenreduktion erreicht werden soll. Handlungsentscheidungen werden (oftmals in einer Art „Bunkermentalität“) unter minimaler Information und Beratung von der Führungsspitze getroffen.126
•
Die Führungskräfte mit der Strategie „Schlauwerden“, nehmen die Krise ebenfalls ernst, schätzen die Reaktionszeit aber anders ein. Ihr Führungsstil ist der des „Charismatikers“, der durch das Infragestellen des Bestehenden und das Kommunizieren einer mitreißenden Zukunftsvision gekennzeichnet ist und als Ratgeber eines hoch motivierten Teams handelt.127 Die strategische Stoßrichtung ist daher auch die komplette Neuorientierung, bei der alles Bestehende völlig neu überdacht und ganz neue Lösungen gesucht werden. Neben der Kostenreduktion, die mit höherer Wahrscheinlichkeit unter strategischen Gesichtspunkten und mit Hilfe von Anreizen bewerkstelligt wird, sollen auch neue Ertragsmöglichkeiten erschlossen werden. Richtungsweisende Entscheidungen werden unter Einbezug der betroffenen MitarbeiterInnen getroffen.
•
Die Führungskräfte mit der Strategie des „Minimalismus“, betrachten die Rückentwicklung entweder als nicht so ernsthaft oder aber als nicht beeinflussbar. Da entweder kein Handlungsbedarf oder kein -spielraum gesehen wird, agieren sie als „Administratoren“, die in erster Linie den ihnen von anderen vorgegebenen
125
126 127
Zur Frage, welche Führungsform in Ausnahmesituationen effektiv ist, vgl. auch Krystek (1989a). Vgl. Abschnitt 2.3.1 Zu den Chancen und Risiken dieser „transformationalen Führung“ vgl. Oelsnitz (1999).
Veränderungsprozesse gestalten
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Praktiken und Abläufen folgen. Folgerichtig ist die strategische Stoßrichtung eine symbolische Kostensenkung, um die Geldgeber zu beschwichtigen, wodurch die Kostenreduktion gering ausfällt. Da sich der Minimalist selbst schicksalsergeben und passiv verhält, werden notwendige Entscheidungen zentral und mit geringster Partizipation gefällt. Die Notwendigkeit einer Veränderung wird zwar propagiert, aber da keine Taten folgen, entpuppt sich dies schnell als hohle Phrase. Auch dies ist einer der vielen Ansätze, die organisatorische Gestaltung primär als sachlich-logischen Problemlöseprozess darstellen. Es wird suggeriert, dass die Führungskraft – in Abhängigkeit von ihrer subjektiven Wahrnehmung – die freie Auswahl bei der Wahl der passenden Strategie hat.128 Dass insbesondere Rückentwicklung auch ein hochgradig politischer Prozess und es wesentlich schwieriger ist, Lösungen zu verkaufen und zu implementieren, als zu entwickeln, zeigt das häufige Scheitern von Reorganisationsprozessen in der Praxis129 und wird von anderen Autoren thematisiert (vgl. etwa Picot et al. 1999, Schirmer 2000, Naschold & Bogumil 2000). Vor allem in Studien der so genannten Survivor-Forschung werden zahlreiche - voneinander nicht unabhängige und sich gegenseitig verstärkende – negative Folgewirkungen von Personalabbau130 in Unternehmen der Privatwirtschaft auf drei Ebenen (Individuum, Gruppe, Organisation) identifiziert (vgl. Baeckmann 1998, Weiss & Udris 2001, Marr & Steiner 2003): 1. Individuum: Bereits die Ankündigung von Personalabbauprozessen löst bei den Beschäftigten in der Regel Unsicherheit und Ängste und damit eine erhöhte Stressbelastung aus (vgl. Schramm 1992, S. 162). Kurzfristig kann dann zwar oftmals eine Leistungssteigerung und eine Abnahme von Absentismus beobachtet werden, aber auch die (unerwünschte) Fluktuation von Leistungsträgern, Widerstand gegen Veränderungen, eine deutliche Verschlechterung der Loyalität und Arbeitszufriedenheit, sowie ein Verlust an Vertrauen und Commitment131 (vgl. Benz 2002). Führungskräfte reagieren auf die Doppelbelastung (Betroffene und Umsetzer zu sein) oft mit autoritärerem und bürokratischerem Führungsverhalten, sowie mit einer Verschlechterung der Informations- und Kommunikationspolitik.
128
129
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131
Den Einfluss und die Wechselwirkungen von Unternehmenskulturen und Unternehmenskrisen betrachtet Krystek (1989b). Obwohl Krisen prinzipiell Zeiten der Gefahren, aber auch der Chancen sind (vgl. u.a. Krystek 1989a, Starbuck & Nystrom 1995). Zum aktuellen Forschungsstand und den Determinanten des Downsizing vgl. Weller & Kabst (2007). Zum aktuellen Stand der arbeits- und organisationspsychologischen Bindungsforschung vgl. Franke & Felfe (2008).
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Reorganisation im öffentlichen Sektor
2. Gruppe: Personalabbauprozesse verursachen vermehrt Konfliktverhalten,132 das sich entweder solidarisch gegen die (vermeintlich) Verantwortlichen richtet oder zu einem vermehrten Wettbewerbsverhalten (Verteilungskämpfe) gegenüber Kollegen und/oder anderen Gruppen führt (vgl. Schramm 1992, S. 134 ff.). Durch den Ab- und Umbau von Personal werden zudem formelle und informelle Beziehungsgeflechte und Informationsnetzwerke gestört, was die Zusammenarbeit verschlechtert – auch dadurch, dass sie (z.T. konfliktreich) neu ausgehandelt und definiert werden müssen. Zumindest kurzfristig kommt es in vielen Fällen auch zu einer Verschlechterung des gegenseitigen Vertrauens (insbesondere gegenüber dem mittleren und oberen Management). 3. Organisation: Aufbau- und Ablauforganisation müssen an die veränderten Personalkapazitäten angepasst werden, daraus ergeben sich sowohl Verbesserungspotenziale (flachere Hierarchien, erweiterte Handlungsspielräume…) als auch vermehrte Belastungen (Arbeitsverdichtung, höhere Beanspruchung…) und Störungen in den eingespielten Betriebsabläufen (z.B. durch schlechtere Informationsflüsse). Das Entscheidungsverhalten wird in Zeiten der Krise oftmals durch den Rückgriff auf – vermeintlich Orientierung und Sicherheit gebendes – autoritäres und formalisiertes Führungsverhalten und die Verschlechterung der Beziehungen zwischen den Hierarchieebenen beeinflusst. Das führt meist zu kurzfristiger Problemorientierung und zu einer Einschränkung der Partizipation. Viele dieser Phänomene treten auch in der Folge von Veränderungsprozessen im öffentlichen Sektor auf, obwohl Ahlers (2004) zu dem Schluss kommt: "Nicht Angst vor Arbeitsplatzverlust dominiert das Arbeitsleben der Beschäftigten im öffentlichen Dienst – so wie dies in der Privatwirtschaft der Fall ist -, sondern die Frage, wie das unter den Bedingungen viel zu knapper Haushaltskassen verbleibende Personal die Arbeit fachgerecht und unter humanen Bedingungen ausführen soll" (Ahlers 2004, S. 83).
Eine auch im öffentlichen Sektor zunehmend beliebte Methode zur Personalkostenreduktion – die Ausgliederung von Tätigkeiten durch Outsourcing – ist dafür eine mögliche, aber nicht unumstrittene Antwort. Dabei wird argumentiert, dass Arbeitstätigkeiten, die strategisch unwichtig sind und keine oder wenig betriebsspezifische Qualifikationen verlangen, sowie Arbeiten, deren Ergebnisse leicht kontrollierbar sind, ausgelagert und über den Markt bezogen werden sollen, während strategisch wichtige Arbeitstätigkeiten weiterhin im Unternehmen verbleiben (vgl. Grande 1997, Schuppert 1997, Budäus 1998c, Friedrich & Martin 2004). Die andere Möglichkeit zur Senkung der Personalkosten ist die Externalisierung von Arbeitskräften durch den 132
Zum Zusammenhang von Konflikt und Konkurrenz vgl. etwa Grunwald & Redel (1988, S. 140).
Stand der Umsetzungsdiskussion
73
Einsatz von „Fremdpersonal“ (LeiharbeitnehmerInnen, Werkverträge oder „Ich-AGs“) (vgl. Nienhüser & Baumhus 2002, S. 61 f.). Dabei zeichnen sich allerdings neue Konfliktlinien ab, da sich die Frage stellt, ob bzw. inwieweit die von den Unternehmen erhofften Vorteile durch evtl. auftretende negative personalwirtschaftliche Wirkungen verringert werden. So ist es denkbar, dass sich die Beschäftigten aus dem Fremdpersonal und aus der Stammbelegschaft miteinander vergleichen, was zur Folge haben kann, dass den einen ihre schlechteren Arbeitsbedingungen bewusst werden und den anderen die Konkurrenzsituation, in der sie sich befinden. Dabei spielt der „subtile Droheffekt“ von Fremdpersonaleinsatz eine Rolle. Da die Größe einer Belegschaft keine fixe, den ArbeitnehmerInnen bekannte Größe ist und einzelne Arbeitstätigkeiten, Arbeitskräfte oder Unternehmensbereiche prinzipiell immer disponibel sind, schwebt die permanente Bedrohung als nächstes durch Fremdpersonal ersetzt zu werden, über vielen StammarbeitnehmerInnen. Das kann auf beiden Seiten zu Unzufriedenheit führen und Wissenstransferprobleme, Leistungsrückgang, Qualitätsverschlechterungen und steigenden Kontrollaufwand zur Folge haben (vgl. Nienhüser & Baumhus 2002, S. 62 ff.). Die dadurch steigenden Transaktionskosten können die Rentabilität des Outsourcing zumindest schmälern, da in einer Outsourcing-Beziehung nur dann eine NettoKooperationsrente erzielt werden kann, wenn die Brutto-Kooperationserträge höher sind, als die spezifischen (Transaktions-)Kosten der Beziehung (vgl. Hecker 2007, S. 8). Alle diese nicht intendierten Folgewirkungen und die daher häufig verfehlten Planungsziele deuten auf die Brüchigkeit und Umstrittenheit von Veränderungsprozessen und damit auf die Relevanz ihrer politisch-prozessuale Dimension hin. Doch diese Erkenntnisse werden bisher bei der Gestaltung von Reformprozessen im öffentlichen Sektor (noch zu) wenig beachtet.
2.4
Stand der Umsetzungsdiskussion
Auch in der den öffentlichen Sektor betreffenden Reformliteratur steht bislang die inhaltliche Gestaltung des Reformprozesses sowie Übertragungs- und Anwendungsfragen (d.h. die Dokumentation der Reformelemente, die Identifizierung von Reformdefiziten und die Ableitung von Umsetzungsempfehlungen) im Mittelpunkt. Dabei werden zumeist ex-post die Selbsteinschätzungen der Kommunen zum Reformstand
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Reorganisation im öffentlichen Sektor
abgefragt und als Fallstudien bzw. Best-Practice-Beispiele133 dokumentiert.134 Jann (2006, S. 14) kommt zu dem Schluss, dass die meisten Veröffentlichungen präskriptiver und normativer Natur sind, während die viel weniger glamouröse und schwierigere Frage, wie die Verwaltung wirklich aussieht und wo sie sich warum verändert, ausgeklammert wird. Da viele Fragen nach dem Verlauf von Reformprozessen, nach den Reformakteuren und nach den relevanten Einflussfaktoren noch offen sind, sollten neben den Reformelementen vermehrt auch das Umsetzungsvorgehen und der Implementationsprozess untersucht werden (vgl. Hoon 2003, S. 31 ff.). Denn noch sind die Reformen in Deutschland – deren zentrales Motiv wie bereits erwähnt die Personal- und Finanzmitteleinsparung ist – von z.T. gravierenden Implementationsproblemen geprägt. Auch Naschold & Bogumil (2000) betonen, dass Konzepte nur dann etwas bewirken, wenn auch ihre Umsetzungsinstrumente effektiv sind. Da der Erfolg der Reformen ganz wesentlich davon abhängt, ob es gelingt, die konzeptionellen Modernisierungsvorstellungen in einen kontinuierlichen und nachhaltigen Verbesserungsprozess zu überführen, ist die gewählte Umsetzungsstrategie ganz wesentlich. Ein Blick auf die im öffentlichen Sektor angewandten Umsetzungsstrategien zeigt u.a. die Orientierung an den zentralen betriebswirtschaftlichen Wandelansätzen (vgl. Abschnitt 2.3): Traditionelle Umsetzungsstrategie
Zyklische Verbesserungsstrategie (MbR)
Kontinuierliche Verbesserungsstrategie (TQM, TBM)
Radikale Umsetzungsstrategie (Reengineering)
Konzeptsteuerung
Kurzfristige Ergebnissteuerung
Prozesssteuerung
Strategische Leitbildsteuerung
Top-down-Ansatz
Top-down-Ansatz im Management-Zyklus
Bottom-up-Ansatz
Simultan-Ansatz
Experten und Reprä-
Projektorganisation
Breitenmobilisierung
sentanten
Einmalige Innovationen
Dialektik: Topmanagement und Breitenmobilisierung
Kontinuierliche, kurzzyklische Verbesse-
Kontinuierliche Verbesserung
Schnelle Entwicklung in „Quantensprüngen“
rung
Abbildung 13: Umsetzungsstrategien (Nach: Naschold & Bogumil 2000, S. 108; Quelle: Naschold 1995a, S. 34)
133
134
Greif et al. (2004, S. 21 ff.) weisen darauf hin, dass Best-Practice-Modelle als erfolgreiche Verhaltensmodelle zwar nützlich sein können, warnen aber vor dem nicht kalkulierbaren hohen Misserfolgsrisiko im Falle einer vorschnellen Verallgemeinerung. Dazu merken Naschold & Bogumil (2000, S. 222 f.) an, dass Verwaltungsmodernisierung auch die Stunde der Marketingabteilungen ist und wer heutzutage kein Modernisierungskonzept aufweisen kann (auch wenn noch nicht viel davon umgesetzt ist), ist „out“.
Stand der Umsetzungsdiskussion
75
Die Erfahrungen mit erfolgreich operierenden Verwaltungseinheiten sprechen dafür, dass die ersten beiden der vier typischen Umsetzungsstrategien weniger erfolgreich sind, als die beiden letzten und zwar aus folgenden Gründen: Erstens unterscheiden sich die Beteiligungsstrategien und damit das Ressourcenmobilisierungspotential. Mit der Breitenmobilisierung wird versucht, das Kreativitäts- und Motivationspotential aller Organisationsmitglieder zu mobilisieren (vgl. Abschnitt 2.3.3). Zweitens werden Innovationen nicht extern entwickelt (was in der Regel den Widerstand der Binnenstrukturen hervorruft),135 sondern neben den klassischen Hierarchien (aber mit diesen vernetzt und unterstützt) in breit angelegten „Parallel-Organisationen“ (z.B. Projektgruppen) erarbeitet. Da Umsetzungsprozesse drittens eine bestimmte Machtbasis benötigen und die spezifische Machtkonstellation berücksichtigen müssen, ist eine leitbildgesteuerte Umsetzungsstrategie zwar voraussetzungsvoll, aber Erfolg versprechend. In einer leitbildzentrierten Machtkonstellation sind der Entwicklungsprozess visionsgesteuert und die Machtbasis gruppenübergreifend angelegt. Dadurch können die vorhandenen Unterschiede in einen übergeordneten Bezugsrahmen und eine längere Zeitperspektive gestellt und erhöhte Motivations- und Kompensationspotentiale aufgebaut werden. Im internationalen Vergleich wird deutlich, dass die zentralen Antriebskräfte für die Modernisierung des öffentlichen Sektors nicht der ökonomische Leidensdruck ist, sondern die politisch-administrative Führung und bereichsübergreifende Meinungsführerkoalitionen. Erfolgreich sind allerdings auch sie erst dann, wenn der Wandlungsprozess zusätzlich von strategisch positionierten Beschäftigtengruppen und wichtigen Segmenten der Bevölkerung unterstützt wird. Erst eine solche „multizentrische Institutionenevolution“ kann sich dann über die Zeit zu einem nachhaltigen Entwicklungspfad verdichten. In diesem Sinne bilden neue Steuerungssysteme dann weniger ein rationalistisches Entscheidungskalkül, sondern vielmehr einen geeigneten Ansatzpunkt kollektiver wie verbindlicher Lern-, Erfahrungs- und Vereinbarungsprozesse (vgl. Naschold & Bogumil 2000, S. 103 ff.). Um die starken Beharrungskräfte in den Organisationen des öffentlichen Sektors zu überwinden, scheinen also eher sozial-technologische Wandelkonzepte geeignet zu sein (vgl. Abschnitt 2.3.2).136 Ein Blick auf die empirischen Erfahrungen zeigt jedoch, dass die deutsche Debatte (insbesondere auf Kommunalebene) im Gegensatz zu den eben ausgeführten Überlegungen lange Zeit von einer engen, buchhalterischen Kostensenkungsperspektive beherrscht war, was aber meist nur zu Leistungsabbau und nicht zu Effizienzsteige135 136
Das „Not invented here“-Syndrom (vgl. Doppler & Lauterburg 1999, S. 77 ff.). Diese Einschätzung wird beispielsweise auch von Rehling (2008, S. 37 ff.) geteilt, die in ihrer Zusammenstellung der Erfolgsfaktoren von Reformprozessen im öffentlichen Dienst neben der Vorbildfunktion der Managementseite die Notwendigkeit der Information und Einbindung der Belegschaftsseite hervorhebt.
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Reorganisation im öffentlichen Sektor
rungen geführt hat (vgl. Naschold & Bogumil 2000, S. 51). Bei der Wirtschaftlichkeitssteigerung, Kostenreduktion und Einsparung ist von eher bescheidenen Erfolgen auszugehen, lediglich im Hinblick auf die Binnenmodernisierung (System- und Kulturveränderungen) wurde ein günstiges Reformklima geschaffen und die Bürger- und Kundenorientierung nachhaltig verbessert (vgl. Bogumil et al. 2007, S. 315 ff.). Reichard (1998) erklärt die Nachhaltigkeitsdefizite vor allem mit der Naivität und Unangepasstheit des zu beobachtenden Konzepttransfers im deutschen Public Management. Unter dem Einfluss der mit den spezifischen Rahmenbedingungen, Handlungsformen und Erfolgsvoraussetzungen des öffentlichen Sektors wenig vertrauten Unternehmensberater und wenig professioneller Praktiker wurden „Quick-and-dirty“Lösungen gegenüber wissenschaftlich fundierten, aber noch nicht verfügbaren Ansätzen als vordringlich angesehen (Reichard 1998a, S. 53 ff.). Neben der Kostensenkungsstrategie bildet dabei der Transfer von öffentlichen Eigentumsrechten und öffentlicher Aufgabenerstellung aus dem öffentlichen Sektor in den privaten Bereich den zweiten Pfeiler bei der Neubestimmung öffentlicher Aufgaben (vgl. Nachold & Bogumil 2000, S. 51). In der Verwaltungsmodernisierungsdiskussion lässt sich daher als ein „Megatrend“ die Ausgliederung und Privatisierung von Verwaltungsaufgaben ausmachen (vgl. Schuppert 1997, S. 540). „Im Hinblick auf privatisierungsfähige Objekte reichten schon Ende der 70er Jahre Vorschläge von der Veräußerung des öffentlichen Wirtschaftsvermögens und Übertragungen im gesamten Bereich öffentlicher Aufgabenstellung über die marktwirtschaftliche Behandlung und Privatisierung von ´Gesundheitswesen, Bildung, Umweltschutz, Energieversorgung und sonstigem Dienstleistungsbereich´ bis zur Privatisierung von Hilfstätigkeiten wie Gebäudereinigung, Druckerei-, Buchbinder-, Schreibarbeiten, Wäschereien etc.“ (König & Benz 1997, S. 16).
Der „shooting star“ innerhalb dieses Megatrends ist das Contracting out, als eine Erscheinungsform der funktionalen oder Teil-Privatisierung und damit einer ausdifferenzierten Verantwortungs- und Arbeitsteilung zwischen Anbietern des öffentlichen und privaten Sektors.137 Ein zentrales Problem einer effektiven Steuerung und Kontrolle ist hier allerdings die Beziehung zwischen Regulierern und Regulierten, die unterschiedliche Interessen verfolgen, nach unterschiedlichen Rationalitäten agieren und über unterschiedliche Ressourcen und Durchsetzungsmacht verfügen (vgl. Benz & König 1997, S. 632). So ist es nicht verwunderlich, dass die von Budäus (1994) bereits vor mehr als zehn Jahren diagnostizierten Steuerungsprobleme (Übersteuerung im Kern der Verwaltung und Untersteuerung der dezentralen, peripheren öffentlichen Aufgabenfelder) nach wie vor nicht gelöst sind (vgl. Budäus 1994, S. 24 ff.; 137
Vgl. dazu Abschnitt 2.2.2
Stand der Umsetzungsdiskussion
77
Kuban 1998, S. 373; Killian 2006, S. 129; Bogumil et al. 2007, S. 75 ff.). Da die „Flucht aus dem Etat“ und dem öffentlichen Dienstrecht zwar ein mehr an Flexibilität, aber auch einen Verlust an Steuerbarkeit mit sich bringt, erschwert eine Verselbständigung häufig die Einbindung in organisationale Oberziele:138 „Mit der Ausgliederung entwickeln öffentliche Unternehmen Eigeninteressen und ein Eigenleben, das die Distanz zur Kernverwaltung anwachsen lässt und damit zentrifugale Tendenzen verstärkt“ (Bogumil et al. 2007, S. 75).
Weil mehr Wirtschaftlichkeit und Flexibilität durch den Modernisierungsprozess auch für die Verwaltung als Ziele angestrebt werden, soll der Begriff „Konzern Stadt“ zukünftig für die Vorstellung stehen, dass öffentlich- und privatrechtliche Organisationsformen der Leistungserbringung unter einem Dach zielgerichtet gesteuert sowie demokratisch kontrolliert werden (vgl. Kuban 1998, S, 374). Doch auch dieser „Megatrend“ in der Verwaltungsmodernisierungsdiskussion scheint kein Königsweg zur öffentlichen Aufgabenreform zu sein, weil damit zwar vielleicht der Haushalt entlastet werden kann, aber weder eindeutige Qualitätsverbesserungen noch eine höhere Kundenzufriedenheit nachweisbar sind. Stattdessen kann es zu Steuerungsproblemen und -verlusten kommen, da nicht nur Fremdfirmen, sondern auch öffentliche Unternehmen Eigeninteressen entwickeln. Um trotz unterschiedlicher arbeitsrechtlicher Regelungen eine Polarisierung und Entsolidarisierung der Beschäftigten des „Konzerns Stadt“ zu verhindern, gibt es daher Versuche „Konzernarbeitnehmervertretungen“ zu gründen (vgl. Greifenstein & Kißler 2000, S. 79 ff.; Bogumil et al. 2007, S. 75 f.). Die erfolgskritischen Faktoren liegen nicht in der privaten Rechtsform per se, sondern im Zusammenspiel von marktwirtschaftlicher Wettbewerbsdynamik, staatlichem Regulierungsregime und innerorganisatorischen Anreizstrukturen. Damit sich der öffentliche und private Sektor in einem wettbewerbsfördernden Umfeld gegenseitig ergänzen können, fordern Naschold & Bogumil (2000, S. 55 ff.) in ihrem Fazit zu diesem Themenkomplex daher eine Komplementaritätspolitik der öffentlichen Steuerungsinstanzen jenseits von ideologischen Dogmen und kurzfristigem Krisenmanagement. Dieses von Sparzwängen getriebene kurzfristige Krisenmanagement hat viele Reformprozesse im öffentlichen Sektor in die „Rationalisierungsfalle“ geführt: der Modernisierungsdiskurs entpuppt sich unter dem Druck der Haushaltskonsolidierung als Rationalisierungsschub. Damit wird die prinzipiell multifunktionale Grundausrichtung des NSM auf eine einseitige Orientierung an Kostenreduzierung verkürzt, was zur
138
Kühl (1998, S. 82 ff.) beschreibt die Dilemmata postbürokratischer, flexibler Unternehmen (Identitätsdilemma, Politisierungsdilemma, Komplexitätsdilemma) anschaulich.
78
Reorganisation im öffentlichen Sektor
Folge hat, dass die Beschäftigten den Glauben an die Realisierung von Modernisierungszielen im Bereich der Erhöhung der Arbeitsqualität und der Verbesserung der Kundenorientierung verlieren (vgl. Gerstlberger et al. 1999, S. 13; Naschold & Bogumil 2000, S. 226 f.; Kißler 2007, S. 19; Rehling 2008, S. 16). Aber während der traditionelle Verwaltungsmitarbeiter lediglich „Erfüllungsgehilfe“ einer Verwaltungsvorschrift oder gesetzlichen Bestimmung mit engen und klar definierten Ermessensspielräumen ist, sind die MitarbeiterInnen wie bei allen Organisationsentwicklungsprojekten als TrägerInnen der Veränderungsprozesse die eigentlichen Erfolgsfaktoren der Verwaltungsmodernisierung. Sie werden sich jedoch nur dann aktiv und kreativ einbringen, wenn ihre Interessen und Bedürfnisse im Reformprozess berücksichtigt werden. Wenn das Beharrungsvermögen von Verwaltungen und die Verwaltungskultur überwunden werden sollen, müssen die Beschäftigten nicht nur informiert, sondern auch aktiv miteinbezogen werden (vgl. Bogumil et al. 2007, S. 263 ff.). Während die zentrale Bedeutung der Nutzung der Humanressourcen in der Modernisierungsdebatte der Privatwirtschaft (mit einem Personalanteil von 20-50% an der Wertschöpfung) im Zentrum der Rationalisierungsbestrebungen steht,139 hinkt der öffentliche Sektor (mit einem entsprechenden Personalanteil von 60-90%) auf diesem Gebiet in weiten Teilen hinterher (vgl. Naschold & Bogumil 2000, S. 93 f.). Dies bestätigen auch die Erkenntnisse des Forschungsprojekts „Zehn Jahre Neues Steuerungsmodell – Evaluation kommunaler Verwaltungsmodernisierung“.140 Hier schätzten über die Hälfte der Personalräte den eigenen Einfluss auf die Modernisierung als gering (10% als sehr gering) ein, obwohl 62,5% der Personalratsvorsitzenden angaben, dass sie bereits in der Konzeptionsphase beteiligt wurden (weitere 27,5% wurden nach der Erarbeitung einer verwaltungsinternen Vorlage beteiligt und nur 3,6% der Personalräte wurden nicht beteiligt). Die wichtigsten Ziele der Interessenvertretungen scheinen sich zu ähneln: an erster Stelle werden die „Verhinderung betriebsbedingter Kündigungen“ und „Einkommenssicherung“ genannt, erst dann kommen „ausgewogene Gestaltung des Modernisierungsprozesses“ und „Beteiligung am Modernisierungsmanagement“. Bei den Beteiligungsformen der Beschäftigten dominieren regelmäßige Informationen und die Durchführung von Mitarbeiterbefragungen. Im Gegensatz zu den Personalräten werden die meisten Beschäftigten erst nach erfolgter Erarbeitung eines Konzeptes in den Prozess integriert (in 12,4% der Fälle gab es keine Beteiligung). Angesichts der geringen und späten Beteiligung
139 140
Zur Relativierung dieser Aussage vgl. Abschnitt 2.3.3 In diesem Projekt wurde eine für Deutschland einmalige breite Datenbasis per Befragung erhoben. Um die offizielle Perspektive der Verwaltungsleitung – bei der befürchtet wurde, dass sie sich durch eine Tendenz zur positiven Außendarstellung auszeichnet – zu ergänzen, wurden parallel dazu auch die Personalratsvorsitzenden befragt (vgl. Bogumil et al. 2007, S. 17).
Stand der Umsetzungsdiskussion
79
schätzen die Personalratsvorsitzenden den Einfluss der Beschäftigten in über 80% der Fälle als gering oder eher gering ein (vgl. Bogumil et al. 2007). Die Veränderung von Rollenverständnis und Aufgabenzuschnitt wird – wie jede Veränderung – nicht immer konfliktfrei und reibungslos vonstatten gehen, da sich das Verhältnis zu internen und externen KundInnen141 neu einspielen muss und weil es in solchen Prozessen in der Regel (objektiv und/oder subjektiv betrachtet) Gewinner und Verlierer gibt. So wie die MitarbeiterInnen erst noch ein Selbstverständnis als Dienstleistungserbringer entwickeln müssen, erfordert der Modernisierungsprozess auch von den Führungskräften ein neues Rollenverständnis und neue Qualifikationen. Die Ansprüche sind hoch: die Führungskräfte sollen über hohe soziale, instrumentelle und methodische Kompetenzen verfügen, um sowohl den Reformprozess möglichst schnell voranzubringen, als auch Kreativität und Eigenverantwortung bei den MitarbeiterInnen zu entfalten (vgl. Nöthen et al. 2004).142 Der traditionelle Verwaltungsbeamte ist ein Auslaufmodell. „Die Situation der Beschäftigten des öffentlichen Dienstes gleicht sich jener der Privatwirtschaft an. Die klassischen Vorstellungen von einem sicheren Arbeitsplatz mit guten Sozialleistungen und relativ wenig Streß werden damit kaum noch als Motivationsgrundlage für die Aufnahme einer Tätigkeit in der öffentlichen Verwaltung dienen können. Allerdings werden betriebswirtschaftlich qualifizierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die auch mehr Verantwortung tragen müssen, ihre Gehälter mit denen der Privatwirtschaft unmittelbar vergleichen“ (Nöthen et al. 2004, S. 77).
In diesem Zitat wird ein zweifaches Dilemma angesprochen, in dem sich der öffentliche Sektor meiner Ansicht nach in der derzeitigen Umbruchphase befindet. Das erste Dilemma bezieht sich auf die Gestaltung der Reformen, das zweite auf die Gestaltung der zukünftigen Anreizsysteme. Zum einen hat ein Großteil der Beschäftigten unter den von Nöthen et al. (2004) als „klassisch“ bezeichneten Vorstellungen (sicherer Arbeitsplatz, gute Sozialleistungen, relativ wenig Stress…) die Tätigkeit im öffentlichen Sektor aufgenommen und betrachtet diese aller Wahrscheinlichkeit (und Erfahrung) nach als (zu verteidigenden) Besitzstand (vgl. auch Bosetzky & Heinrich 1989, S. 29 ff., Kißler 2007, S. 21). Zum anderen kollidieren die im Sinne des NPM geänderten Anforderungen zum Teil drastisch mit dem bisher gelernten und gelebten
141 142
Zur Notwendigkeit der Aktivierung der Bürgerschaft vgl. Naschold & Bogumil (2000, S. 227 ff.). Diesen Ansprüchen werden sie allerdings nicht immer gerecht. Zum einen fehlen die notwendigen Kompetenzen und die Bereitschaft zur Beteiligung der MitarbeiterInnen (vgl. Abschnitt 2.3.3) und zum anderen treten auch hier Innovationswiderstände auf. Dies passiert insbesondere dann, wenn die leitenden Angestellten den bestehenden Zustand als ‚ihr Werk‘ betrachten und wenn es nicht ‚ihre Maßnahme‘ ist, da der Anstoß zu den Veränderungen von anderen kommt (vgl. Aregger 1976, S. 181).
80
Reorganisation im öffentlichen Sektor
Arbeitsverständnis.143 Während jahrzehntelang im Rahmen einer kameradschaftlichen Bürokratie von oben klare Regeln festgesetzt wurden, tradierte Zuständigkeitsgrenzen dominierten, für die Kommunikation die Dienstwege beachtet werden mussten und Nicht-Verantwortung als Entlastung erlebt werden konnte, soll plötzlich unter Wettbewerbsbedingungen arbeitsplatz- und bereichsübergreifend gedacht sowie zielund ergebnisorientiert zusammengearbeitet werden, Kommunikationsabläufe „enthierarchisiert“ und kundenorientiert gehandelt werden. Auch zur Überwindung dieser „Kulturbarriere“ müssen die Widersprüche zwischen bestehender verwaltungsspezifischer Kultur und den Modernisierungsbestrebungen zunächst offen gelegt und der Wandel der Kultur anschließend als kollektiver Lernprozess gestaltet werden (vgl. Rehling 2008, S. 41 f.). Unter diesen Umständen – die Spielregeln mitten im Spiel ändern zu müssen144 – ist es keine einfache Aufgabe, die aufgrund der finanziellen Notlage unabdingbare organisationale Rückentwicklung mit Hilfe der unter anderen Voraussetzungen sozialisierten Beschäftigten145 konstruktiv zu gestalten. Auch und gerade weil den gestiegenen Ansprüchen keine vergleichbaren Anreize folgen – zumindest nicht in absehbarer Zeit. Zu diesen Schlussfolgerungen kommen auch andere Autoren: „Grundlegende Veränderungen organisatorischer und technischer Art müssen die Möglichkeiten und Grenzen derjenigen in Rechnung stellen, die die Umbauarbeiten der Verwaltung, sei es planerisch-gestaltend oder fachlich-ausführend, im wesentlichen leisten sollen. Über Erfolg und Mißerfolg von Innovationsprozessen entscheidet nicht zuletzt die Berücksichtigung der sozialen Aspekte wie Perspektiven, Verständigung über Ziele, Erwartungen, Beurteilungskriterien, Belohnungsstrukturen, Machtressourcen. Hier liegen die entscheidenden Bestimmungsgrößen für die Höhe der zusätzlich entstehenden Kosten, wenn Innovationsplanungen ins Stocken geraten, nicht weiterkommen und am Ende steckenbleiben“ (Schröter 1995, Vorwort).
Während die Personalräte als Ko-Manager der Verwaltungsmodernisierung zu den Protagonisten gehören, sieht Kißler (2007, S. 20 ff.) die öffentlich Bediensteten aufgrund der mangelnden Mitbestimmungsmöglichkeiten eher in der Dulderrolle. In der Modernisierungspraxis werden Personalabbau und Kostensenkungsmaßnahmen 143
144 145
Gaßner (1999, S. 189) weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass es den MitarbeiterInnen im Rahmen einer organisatorischen Veränderung wichtig ist, dass die gewachsenen Strukturen nicht pauschal als veraltet und überholt abgewertet werden. Dieses Bedürfnis nach Würdigung der Vergangenheit erwächst nach Aregger (1976) aus einem „Organisationsstolz“, den die Beschäftigten im Laufe der Zeit entwickeln. Zum Spielekonzept vgl. Abschnitt 3.2.3 Erschwerend kommt hinzu, dass mögliche positive Aspekte (z.B. neue interessante Arbeitsgebiete, bessere Arbeitsbedingungen, Sicherung des Arbeitsplatzes) generell viel weniger wirksam sind, als mögliche negative Aspekte (z.B. neue zusätzliche Belastungen, Prestigeeinbußen, nachteilige Veränderungen im sozialen Klima) (vgl. Aregger 1976, S. 180).
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trotz konzeptionell vorgesehener „Verteilungsneutralität“ vor allem im unteren Arbeiter- und Angestelltenbereich durchführt und die Partizipationschancen ungleich verteilt. Daher wird für den Großteil der Beschäftigten die versprochene „Reformdividende“ in Form materieller (z.B. leistungsgerechte Bezahlung) und immaterieller Gratifikationen (z.B. Partizipation) nicht ausbezahlt. Stattdessen nimmt beispielsweise die Arbeitsbelastung zu und Aufstiegspositionen und Karrierechancen fallen weg.146 Damit kann das in der Forschung oft konstatierte strukturkonservative Beharren der Beschäftigten auch als (berechtigte) Schutzsuche vor den Rationalisierungsfolgen der NSM-Umsetzung betrachtet werden (vgl. Bogumil & Kißler 1995, Greifenstein & Kißler 2000, Kißler et al. 2000). Die Kritik am NPM setzt aber nicht nur an den theoretischen Grundlagen (vgl. Abb. 1) und der Bewährung in der praktischen Umsetzung an, sondern bezieht sich auch auf die normativen Grundlagen und die unerwünschten Nebenfolgen (vgl. exemplarisch Hoon 2003; Budäus 2003; Moldaschl 2004). Insbesondere Soziologen weisen auf die negativen Wirkungen der auch im öffentlichen Sektor vermehrt auftretenden Flexibilisierung und Vermarktlichung von Arbeit hin. So konstatiert beispielsweise Becke (2002, S. 287) ein drohendes Kooperationsdilemma. Er befürchtet, dass die Leistungs- und Kostenkonkurrenz zwischen einzelnen Einheiten wechselseitige soziale Abschottungs- und Schließungstendenzen begünstigt, wodurch Synergien einer bereichsübergreifenden Kooperation ungenutzt blieben. Wenn sich dezentrale Organisationsbereiche unter den Bedingungen unternehmensinterner Vermarktlichung zunehmend als „Schicksalsgemeinschaften“ auf innerbetrieblichen Märkten definieren, so erhöht sich der soziale Druck, die individuelle wie gruppenbezogene Selbstoptimierung zu forcieren, um ökonomisch mithalten zu können. Beschäftigte, die bei dieser Selbstrationalisierung nicht mitmachen können oder wollen, seien tendenziell von Ausgrenzungs- und Stigmatisierungsprozessen bedroht, da die soziale Fragmentierung einem solidarischen Arbeitshandeln von Beschäftigten den Boden entziehe und ihren sozialen Zusammenhalt schwäche. Das „Dilemma des betrieblichen Mitunternehmertums“ kann auch ein Problem im Rahmen der Verwaltungsreform werden: die kontinuierliche Selbstoptimierung der einzelnen Beschäftigten (um ökonomische Zielvorgaben zu erreichen), löst zugleich die kooperativen Handlungsgrundlagen für Produktivitätssteigerungen und Problemlösungskapazitäten auf (vgl. Becke 2002, S. 288).
146
Zu den weiteren Effekten organisationsstruktureller Dezentralisierung vgl. Bogumil et al. (2007, S. 46 ff.)
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Reorganisation im öffentlichen Sektor
"Bei Strategien zur internen Flexibilisierung des Personaleinsatzes weichen eingespielte Arbeitsbeziehungen und mehr oder weniger eindeutig definierte Arbeitsstellen zunehmend wechselnden Jobs und projektförmigen, fluktuierenden Arbeitszusammenhängen (Sennett 1998). Diese Flexibilisierungsstrategien lösen Beschäftigte aus relativ dauerhaften arbeitsbezogenen und informellen Sozial- und Kooperationszusammenhängen heraus. Sie konfrontieren sie zunehmend damit, sich auf neue personelle Konstellationen am Arbeitsplatz einzulassen. Diese neuen Kooperationsanforderungen beeinträchtigen die Erfahrung von Beschäftigten, Betriebe über vertraute Arbeits- und Sozialbeziehungen wahrzunehmen. Die Flexibilisierung des Personaleinsatzes fördert bei Beschäftigten zum Teil das Empfinden einer in sich fragmentierten Belegschaft anzugehören, in der ein Aufbau relativ stabiler arbeitsbezogener Vertrauensbeziehungen und Unterstützungsstrukturen erschwert wird" (Becke 2002, S. 288).
Damit würde die kameradschaftliche Bürokratie (vgl. Abschnitt 2.1) durch Wettbewerb und Konkurrenzbeziehungen abgelöst. Insbesondere der Trend zu verstärkten Ausgliederungen, Outsourcing und Privatisierungen bringt auch Probleme für die Beschäftigten und ihre Interessenvertretungen mit sich (vgl. Bogumil et al. 2007, S. 76). Um eine Polarisierung und Entsolidarisierung der unter unterschiedlichen arbeitsrechtlichen Regelungen (öffentliches Dienstrecht vs. privates Arbeitsrecht) in den verschiedenen Organisationseinheiten des „Konzerns Stadt“ arbeitenden Beschäftigten zu verhindern, gibt es teilweise Versuche, eine gemeinsame „Konzernarbeitnehmervertretung“ zu gründen (vgl. Greifenstein & Kißler 2000, S. S. 74 ff.). Unter Bezug auf Sennett (1998) und Kruse (2001) weist Becke (2002, S. 288 ff.) darüber hinaus auf die negativen psychologischen Folgen von Flexibilisierungstendenzen für die Beschäftigten hin. Das in Frage stellen von bis dato relativ absehbaren Karriereoptionen und Aufstiegschancen von Beschäftigten und die Arbeit in unterschiedlichen, wechselnden Kontexten löst Unsicherheit aus. Darüber hinaus hemmt es die Entwicklung eines Selbstwertgefühls, das in einem kohärenten arbeitsbezogenen Erfahrungszusammenhang bzw. einer relativ stabilen Erwerbsbiographie gründet und die Voraussetzung für soziale Bindungen und betriebliche Loyalität bildet. Die interne Flexibilisierung des Personaleinsatzes wird in vermarktlichten Unternehmen oftmals mit einer externen Flexibilisierung kombiniert. Damit werden Formen mindergeschützter Beschäftigung (zum Beispiel Zeit- und Leiharbeit, Arbeit auf Werk- und Honorarvertragsbasis, Scheinselbständigkeit), d.h. prekäre und instabile Arbeits- und Beschäftigungsverhältnisse zunehmen. Auch diese Tendenz lässt sich im öffentlichen Sektor u.a. im Rahmen von Privatisierungen beobachten (vgl. Abschnitt 2.2). Kritisch anzumerken wäre hier, dass die Fokussierung auf die Vermarktlichung zu kurz greift. Konkurrenz, Ausgrenzungs- und Stigmatisierungsprozesse sowie unsoli-
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darisches Verhalten gab es auch schon vorher und Karriereoptionen und Aufstiegschancen gab es zu keiner Zeit für alle Beschäftigten. Obzwar die Risiken der gegenwärtigen Entwicklungstendenzen nicht geleugnet werden sollen, dürfen auch die Chancen für positive Entwicklungen nicht vergessen werden. Becke (2002) selbst geht in seiner optimistischen Variante zur Weiterentwicklung gesellschaftlicher Arbeit davon aus, dass sich in der flexiblen Ökonomie postfordistische Arbeits- und Organisationsstrukturen durchsetzen, die erweiterte Optionen für den Abbau entfremdender Arbeitsbedingungen schaffen. Wenn man davon ausgeht, dass die Beteiligung von Beschäftigten unverzichtbar wird für den Erfolg möglichst kontinuierlicher betrieblicher Rationalisierungsprozesse (vgl. Abschnitt 2.3.2), eröffnen sich erweiterte arbeitspolitische Spielräume für diskursive Austausch- und Entscheidungsstrukturen in Unternehmen. Dadurch könnten sich die Selbstgestaltungs- und Autonomiespielräume der Beschäftigten im Arbeitsprozess erweitern und die Anerkennung des Bürgerstatus arbeitender Menschen in Unternehmen gefördert werden. In der pessimistischen Variante gewinnen dagegen soziale Ausgrenzungs- und Fragmentierungsprozesse an Relevanz, die letztendlich die Stabilität der vermarktlichten und flexibilisierten Unternehmen gefährden und eine Erosion ihres Sozialgefüges begünstigen (vgl. Becke 2002, S. 285 ff.). Um hierarchische Arbeitsorganisationsformen im öffentlichen Sektor abbauen zu können, müssen allerdings die entsprechenden Rechtskonstruktionen (z.B. Bundesbeamtengesetz, BAT) modernisiert und mit modernen Organisations- und Personalentwicklungsinstrumenten kompatibel gemacht werden. Das würde auch dazu beitragen, die in einer modernen, leistungsbezogenen Organisation dysfunktionalen Ungleichheiten und Statusdifferenzen abzubauen, um die Beschäftigungsgruppen zu egalisieren und die Arbeitsbeziehungen zu normalisieren (vgl. Naschold & Bogumil 2000, S. 102 f.). Last but not least sehen einige Autoren einen wesentlichen Grund für Implementationsschwierigkeiten in der dem NPM inhärenten Planungsrationalität, die dem mikropolitischen Handeln der Akteure naiv gegenüber stehe (vgl. Bogumil & Schmid 2001, S. 111 f.; Thomas & Davies 2005, S. 683). Im Rahmen der Verwaltungsmodernisierung werden die Beschäftigten aller hierarchischen Ebenen mit Anforderungen und Erwartungen konfrontiert, die zum Teil drastisch mit dem im öffentlichen Sektor gelernten und gelebten Arbeitsverständnis kollidiert (vgl. Abschnitt 2.1). Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass Betroffene, die nachteilige Auswirkungen auf ihre Stellen bzw. Abteilungen erwarten, mikropolitische Aktivitäten entwickeln, um diese zumindest abzufedern. Auch allen anderen Betroffenen falle der Abschied von alten Denkgewohnheiten, vertrauten Aufgaben und Prozeduren sowie Positionen und Einflussbeziehungen schwer (vgl. Kieser & Bomke 1995, Sp. 1840). Naschold & Bogumil (2000) kommen zu dem Schluss:
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Reorganisation im öffentlichen Sektor
„Die Binnenmodernisierung des öffentlichen Sektors stößt schnell an Reformgrenzen. Verwaltungsreformen scheitern nicht nur an falscher konzeptioneller Ausrichtung, sondern vor allem an starken Beharrungskräften in den Organisationen“ (Naschold & Bogumil 2000, S. 227).
Für die im Vergleich zur Privatwirtschaft stärkeren Beharrungskräfte werden die institutionellen Rahmenbedingungen und die daraus resultierenden Einstellungen verantwortlich gemacht. Als Leistungsverstärker sollen daher Wettbewerbselemente eingeführt und die Bürgerschaft aktiviert werden (vgl. Naschold & Bogumil 2000, S. 227 f.). Wie bereits ausgeführt, wird meist nicht geleugnet, dass mikropolitische Manöver und Konflikte unvermeidbar sind und dass der Erfolg von Reorganisationsprozessen auch oder sogar ganz wesentlich von der erfolgreichen Bewältigung solcher Konflikte abhängt. Kieser & Bomke (1995, Sp.1829 ff.) stellen fest, dass viele Restrukturierungsprozesse aufgrund der hochgradigen Komplexität und der sich gegenseitig paralysierenden politischen Kräfte gar nicht richtig in Gang kommen, versanden, abgebrochen werden oder unbefriedigende Ergebnisse erbringen. Zur Reduzierung von Reibungsverlusten sei es daher sinnvoll, „Gewinner-Verlierer-Spiele“ durch „Gewinner-Gewinner-Spiele“ bzw. „Gewinner-Entschädigter-Spiele“ zu ersetzen, um damit eine Entkoppelung von unternehmensnotwendigen Veränderungen und persönlicher Betroffenheit zu bewirken. Dies gilt auch – bzw. unter Berücksichtigung der Rahmenbedingungen vielleicht ganz besonders – im öffentlichen Sektor.147 Schröter (1995) stellt dazu treffend fest: „Den Blick für diese Zusammenhänge zu schärfen ist eine wesentliche Voraussetzung dafür, um in der Analyse von Veränderungsprozeßen zu den Bestimmungsgrößen vordringen zu können, die das Handeln der Akteure wesentlich bedingen und die nicht selten wegen ihrer Komplexität durch personalisierende Schuldzuschreibungen im Sinne mangelnder persönlicher Innovationsbreitschaft Einzelner verdeckt anstatt erklärt werden. Auf der Grundlage der mikropolitischen Analyse können die Handlungskonstellationen wahr- und ernstgenommen werden, aus denen heraus Innovationsleistungen erbracht werden (sollen). Auf diese Weise können Veränderungsperspektiven entstehen, die das Schaffen von Voraussetzungen ermöglichen, die es den Beschäftigten eher erlauben, das eigene Handeln an geänderten Prioritäten auszurichten und erste Schritte hin zu neuen Wegen zu versuchen“ (Schröter 1995, Vorwort).
Zusammenfassend kann also festgestellt werden, dass es zwar eine breite Verwaltungsmodernisierungsbewegung gibt, aber ein umfassender „Paradigmenwechsel“ 147
In diesem Zusammenhang spielen auch die Personalräte eine wichtige Rolle, die sich auf dem Modernisierungsgelände sowohl zwischen den Organisations- und Beschäftigteninteressen positionieren müssen, als auch die VerliererInnen schützen und den GewinnerInnen nützen sollen (vgl. Kißler 2007, S. 18).
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der deutschen Verwaltung vom weberianischen Bürokratiemodell zum New Public Management noch nicht feststellbar ist (vgl. Bogumil et al. 2007, S. 318). Die Gründe für die Implementationsprobleme zahlreicher in die Wege geleiteter Maßnahmen können auf mehreren Ebenen gesucht werden (vgl. Naschold & Bogumil 2000, S. 224 ff.): •
Hinter der vergleichsweise großen Kluft zwischen Konzeption und Praxis könnten sowohl die deutsche Vorliebe für Konzeptdiskussionen als auch die institutionellen Rahmenbedingungen (z.B. Dienstrecht und tradierte Einstellungen der Beschäftigten bei gleichzeitig fehlenden Motivations- und Sanktionierungsinstrumenten) stecken.
•
Fehlbesetzungen von zentralen Funktionen (z.B. Führungskräfte, Berater, Personalrat) wirken sich verheerend auf die Verwaltungsmodernisierung aus, da die-
•
Das Unterschätzen von Machtprozessen und Machtkonstellationen – die sowohl das Modernisierungskonzept und die Implementationsstrategie als auch den Umsetzungsprozess prägen – kann die Realisierung von Modernisierungszielen behindern.
•
Die Wechselbeziehung zwischen NPM und Haushaltskonsolidierung erweist sich meist als kontraproduktiv und führt in die Rationalisierungsfalle. Aufgrund der hohen Bedeutung der Kostensenkung kommen bei den Beschäftigten Zweifel auf an der prinzipiell multifunktionalen Grundausrichtung des NSM und am Streben
se akteurs- und personenabhängig ist.
nach mehr Arbeitsqualität und Kundenorientierung, was sich negativ auf Motivation und Veränderungsbereitschaft auswirkt. •
Die mangelhafte Prozessorientierung führt dazu, dass die Modernisierung des Managementprozesses nicht automatisch eine Modernisierung des Arbeitsprozesses mit sich bringt, sondern alte Strukturen zu verfestigen droht.
Zu den Wesensmerkmalen aller politischen Prozesse in Organisationen gehören nicht nur Macht- und Interessenkonflikte, sondern auch deren emergenter Charakter. Damit ist gemeint, dass sie aus dem Zusammenwirken intendierter (geplanter) und nicht intendierter Handlungen und Handlungsfolgen einer Vielzahl von Akteuren und Handlungsgelegenheiten entstehen, deren Verlauf und Ergebnisse für die Beteiligten nur begrenzt planbar und – wie oben ausgeführt – z. T. höchst überraschend sind (vgl. Schreyögg 1996, S. 417 ff.). Auf der Suche nach den Ursachen von Reformdefiziten muss die Dynamik von Reorganisationen und damit die politisch-prozessuale Dimension dieses vielschichtigen Geschehens eingehender untersucht werden. Ein zu diesem Zweck bereits mehrfach angewandter und konzeptionell verfeinerter Ansatz ist die strategische Organisationsanalyse von Crozier & Friedberg (1993), die
86
Reorganisation im öffentlichen Sektor
auch ich als meinen theoretischen Bezugsrahmen gewählt habe.148 Ich bin mit anderen Autoren der Meinung, dass dessen theoretisches und methodisches Instrumentarium und darauf aufbauender mikropolitischer Analysen besonders geeignet scheint, den emergenten Charakter von Reorganisationsprozessen zu erfassen (vgl. exemplarisch Ortmann et al. 1990, Schröter 1995, Göbel 1999, Schirmer 2000). Denn obwohl der traditionelle Verwaltungsbetrieb im Gegensatz zum NSM als Hort „organisierter Unverantwortlichkeit“ und „machtbesessener Karriereseilschaften“ gilt, müssen sich sowohl die BefürworterInnen als auch die GegnerInnen der Reformen zunächst jener Machtmittel zur Durchsetzung ihrer Interessen bedienen, die die zu verändernde Organisationsstruktur bietet. Denn die organisationalen Aushandlungsprozesse finden in diesen Institutionen statt und müssen zwangsläufig an diese anknüpfen, während sie sich an ihnen reiben und Veränderungsimpulse hervorbringen sollen (vgl. Göbel 1999, S. 183). Naschold & Bogumil (2000, S. 232) sehen noch erheblichen Evaluierungs- und Forschungsbedarf insbesondere hinsichtlich der mikropolitischen Betrachtung der Machtspiele im Modernisierungsprozess und der Analyse von Entscheidungs- und Lernprozessen in Organisationen in mehrdeutigen Situationen.
148
Obwohl sie keine (geschlossene) Theorie im engeren Sinne, sondern eher eine Sichtweise darstellt (Crozier & Friedberg 1993, S. 1 f.).
Reorganisation und (Mikro-)Politik
87
3 Theoretischer Bezugsrahmen Im Folgenden werde ich zunächst die wichtigsten Politik-Begriffe kurz einführen und im Anschluss die strategische Organisationsanalyse nach Crozier und Friedberg (1993) vorstellen und kritisch würdigen. Da bei Crozier & Friedberg viele forschungspraktische Fragen so unkonkret bleiben, dass eine Operationalisierung der Untersuchungsgegenstände schwer möglich scheint, ergänze ich diese Ausführungen durch einige konzeptionelle Weiterentwicklungen. Im Anschluss daran stelle ich den bisher ausgesparten Forschungsstand zum Organisationswandel in öffentlichen Verwaltungen in Deutschland unter mikropolitischer Perspektive dar, an dessen Ergebnisse ich mit meiner Arbeit anknüpfe.
3.1
Reorganisation und (Mikro-)Politik
Wie bereits erläutert, sind Reorganisationsprozesse in hohem Maße „politikbehaftet“ und Organisationen können daher als „politische Arenen“ betrachtet werden. „Geht man davon aus, daß in Unternehmungen Entscheidungen unter Zeitdruck, Mehrdeutigkeit und Risiko getroffen werden, daß vorhandene oder geschaffene Ressourcen für alternative Verwendungen eingesetzt werden, daß Interessenten in unterschiedlichem Ausmaß an Produktion und Aneignung der Ergebnisse partizipieren, daß vielfältige interne und externe Abhängigkeitsbeziehungen bestehen usw., dann wird verständlich, daß man Unternehmen als ‚politische Arenen‘ bezeichnen kann“ (Neuberger 1995, S. 5).
Hinter diesem Zitat steckt ein ganz spezieller Politikbegriff, neben dem noch viele andere existieren. Denn was mit „Politik“ gemeint ist, ist nicht nur in der Politikwissenschaft,149 sondern auch in der Betriebswirtschaft umstritten und wird uneinheitlich verwandt. Daraus ergeben sich sowohl Fragen nach der Reichweite der verschiedenen Politikbegriffe, als auch nach der Fruchtbarkeit bzw. Unfruchtbarkeit der jeweiligen Ansätze (vgl. Sandner 1992b, S. 45). In der betriebswirtschaftlichen Fachliteratur finden nach Sandner (1992a, S. 66 f.) fünf unterschiedliche Politikkonzepte (die wiederum verschiedene theoretische Ansätze umfassen können) Verwendung. Je nach Ansatz kann Politik in Unternehmen verstanden werden als... 1. Unternehmensstrategie (die dazu Befugten treffen grundsätzliche Entscheidungen für ihr Sozialsystem)
149
vgl. Prittwitz (1994, S. 11 ff.)
88
Theoretischer Bezugsrahmen
2. Treffen verbindlicher Entscheidungen durch die dazu legitimierte Kerngruppe (damit bekommen sie für alle Organisationsmitglieder Geltung) 3. sekundäres Sicherungshandeln (die Zielvorstellungen werden durchgesetzt) 4. Diskurs (argumentative Verständigung zum Erzielen von Konsens oder rationaler Vereinbarung) 5. Mikropolitik (Verfolgung partikularistischer persönlicher Ziele der Organisationsmitglieder aller hierarchischen Ebenen) Da die betriebswirtschaftlichen Politikkonzepte nach Sandner (1992b, S. 46 ff.) Defizite aufweisen,150 greift er auf zwei historische Konzeptualisierungen von Politik zurück – Herrschaft und Interessen – die im Wesentlichen noch immer unsere heutigen Vorstellungen von Politik prägen. Demnach lassen sich Organisationen einerseits als Herrschaftsgebilde betrachten, in denen Politik als Herrschaftsausübung den stabilisierenden Aspekt darstellt. Andererseits lassen sich Handlungen in Organisationen ohne theoretische Probleme auf organisationsexterne oder organisationsinterne Interessen zurückführen, womit der dynamische Aspekt von Politik als Interessenrealisierung ausgedrückt wird. Weil beide Betrachtungsweisen von Politik für die Betriebswirtschaftslehre von essentieller Bedeutung sind, kann Politik weder auf Strategie noch auf Mikropolitik reduziert werden. „Auch wenn Herrschaft dazu dient, die Handlungsmöglichkeiten der Mitarbeiter einzuengen und zu kanalisieren, so ist die theoretische Verknüpfung zwischen Interessenverfolgung und Herrschaftsausübung doch unmittelbar gegeben: Herrschaft entwickelt sich aus der dauerhaften Realisierung von Interessen. Das Ergebnis von Aushandlungsprozessen ist als Entscheidung darüber anzusehen, welche Interessen realisiert werden und welche nicht. Durch Legitimierung erhalten diese Ergebnisse für ihre (Sub)Systeme Verbindlichkeit und Öffentlichkeit und werden v.a. durch Legalisierung zum Bestandteil des organisatorischen Regelund Wertverteilungssystems. Im Rahmen der Institutionalisierung der Interessen lösen sie sich von ihren unmittelbaren Betreibern, sie werden Teil des innerorganisatorischen Ordnungssystems und werden von den Organisationsmitgliedern als legitimer Teil der bestehenden Ordnung anerkannt. Politik als Herrschaftsausübung ist damit auch aus der Warte der Institutionalisierung von Interessen zu sehen“ (Sandner 1992b, S. 71).
Türk (1989, S. 125 ff.) betrachtet Organisationen ebenfalls als „Arena“ interessengeleiteter Interventionen, Aushandlungen, Konflikte mit jeweils nur temporären Problemlösungen, bezieht in seinen drei Ansatzpunkten einer politikorientierten Grundperspektive aber auch noch die gesamtgesellschaftliche Einbettung der Organisation mit ein: 150
Für eine umfassende Diskussion zum Begriff und Bedeutungswandel des Politischen in der Betriebswirtschaftslehre vgl. Sandner (1992b), Neuberger (1995), Schreyögg (1998).
Reorganisation und (Mikro-)Politik
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Î Makropolitik – gesamtgesellschaftliche Ebene („Politik der Organisation“): Organisationsbildung in den verschiedenen Subsystemen der Gesellschaft und deren Einfluss auf staatliche Politik bzw. Einfluss gesamtgesellschaftlich bedingter Handlungslogiken auf Meso- und Mikropolitik Î Mesopolitik – Strukturgenese und -funktion in Organisationen („Produktion der Organisation“): Strukturen sind weder Produkte eines Organisationsgestalters, noch Wirkung einer kausal agierenden Umwelt, sondern (auch) durch Orientierungen und Handlungen der beteiligten Subjekte (re)produziert Î Mikropolitik („Politics in production“): die Versuche von Subjekten auch in organisationalen Strukturen ihre Identität zu behaupten bzw. zu entwickeln, eigene Bedürfnisse oder Interessen zu verwirklichen, sich mit anderen zu verbünden Wenn im Folgenden von Unternehmen als „politische Arenen“ die Rede ist, wird mit Politik in Anlehnung an Neuberger (1995a) nicht die resultierende verfasste Ordnung (polity)151 und auch nicht die allgemeine Strategie ihrer Konzeption und Durchsetzung (policy) gemeint, sondern die alltäglichen „Machenschaften“ ihrer (Re)Produktion: die Tages- oder Mikropolitik. Im Gegensatz zu Hill (1993), der die Gestaltung politischer Prozesse (politics) als ein Teilgebiet der Unternehmenspolitik betrachtet, grenzt Neuberger (1995a) die „Mikropolitik“ in Anlehnung an Türk (1989) von der „großen“, d.h. Unternehmenspolitik ab und meint damit das Arsenal der alltäglichen „kleinen“ (Mikro-)Techniken, mit deren Hilfe in Organisationen Macht aufgebaut und eingesetzt wird, um sich fremder Einflussnahme zu entziehen und den eigenen Handlungsspielraum zu erweitern. Damit wird die Metapher „politische Arena“ gemäß dem definierten Politikverständnis hier vor allem für interessengeleitete Aushandlungsprozesse, die in einem bestimmten Rahmen stattfinden und diesen zugleich verändern können, gebraucht (vgl. Ortlieb 2003, S. 65). Der so verstandene politische Ansatz leugnet einerseits nicht den „Zwang der Verhältnisse“, postuliert aber andererseits, dass diese Verhältnisse gesellschaftlich (re)produziert werden und lediglich Korridore des Handelns festlegen, aber das Geschehen nicht lückenlos determinieren (vgl. Neuberger 1995, S. 1 ff.). „Der Hypostasierung des Systems wollen wir nun nicht mit einer bloß entsprechenden des Akteurs begegnen, auch nicht mit der Idee eines Mittelweges, sondern im Sinne der Einsichten aller auf der Höhe befindlichen System- und Handlungstheorie: daß alles Handeln im Medium von Strukturen und Systemzwängen stattfindet, die es aber selbst konstituiert (hat) und beständig reproduziert“ (Küpper & Ortmann 1992, S. 8, Hervorhebungen im Original).
151
Diese Strukturkategorien der Politikwissenschaft sind aus den drei in der englischen Sprache verwendeten Grundbedeutungen von Politik: „polity“ (Form), „politics“ (Prozess) und „policy“ (Inhalt) abgeleitet (vgl. Hill 1993, Sp.4367).
90
Theoretischer Bezugsrahmen
Damit wird Politik bzw. Mikropolitik in Organisationen als organisationstheoretisches Konzept definiert. Es geht dabei nicht um den innerorganisatorischen Kleinkrieg von Machiavellisten,152 sondern um eine mikroskopische Analyse der wechselseitigen Konstitution von organisationalem Handeln und (Organisations-)Strukturen (vgl. Küpper & Ortmann 1992, S. 8; Bogumil & Schmid 2001, S. 28). Ich knüpfe damit an ein konzeptuales Verständnis von Mikropolitik an, das alles organisationale Handeln als interessengeleitetes, politisches Handeln betrachtet (vgl. Brüggemeier & Felsch 1992, S. 134 f.; Küpper 2004, Sp. 863). Im aspektualen Verständnis wird mikropolitisches Handeln dagegen als spezifische, temporäre und isolierbare Kategorie interaktiven Handelns begriffen, das von bestimmten Persönlichkeitstypen (den Mikropolitikern) in machiavellistischer und illegitimer Manier eingesetzt wird, um in egoistischer Absicht Vorteile zu erringen (vgl. Brüggemeier & Felsch 1992, S. 133 f.; Küpper 2004, Sp. 862). Mikropolitik muss aber keineswegs destruktiv sein,153 sondern ist vielmehr bestrebt, die Lücken, Unklarheiten und Widersprüchlichkeiten innerhalb des geltenden Regelsystems – gerade unter Berufung auf allgemein anerkannte Werte und Normen – zu nutzen. Allerdings lassen sich unter dem Deckmantel von Zweckdienlichkeit und Allgemeinwohl (auch) zahlreiche eigennützige Motive realisieren. Dabei gibt es situative Bedingungen, die einen idealen Nährboden für mikropolitisches Handeln bilden: Abhängigkeiten im Arbeitsprozess und die damit verbundenen Koordinationsprobleme; Mehrdeutigkeiten, Inkonsistenz und Intransparenz von Zielen, (Rollen-)Anforderungen und Situationsdefinitionen sowie die aus der Knappheit begehrter Ressourcen erwachsenden Konkurrenzsituationen (vgl. Dick 1992, S. 12 f.). Aus den bisherigen Ausführungen ergibt sich die besondere Relevanz von (Mikro)Politik in Veränderungsprozessen. Es geht dabei immer um die Umgestaltung der bei Neuberger angesprochenen überindividuellen Ordnungen, die die „Spielregeln“ und Gestaltungsspielräume für alle festlegen. In solchen Umbruchzeiten, in denen die alten Regeln nicht mehr und die neuen noch nicht gelten, werden alle beteiligten Akteure versuchen, ihre Interessen und Bedürfnisse in diesem Prozess einzubringen und durchzusetzen. Der Wandel kann dabei durch Mikropolitik gefördert oder behindert werden (vgl. Kieser et al. 1998, S. 200 ff.). „Organisationsveränderung ist immer auch ein politischer, d.h. ein Abstimmungsprozess, durch den eine an der Spitze der Organisation ausgehandelte allgemeine Zielsetzung via Abstimmung zwischen allen von der Veränderung Betroffenen in konkrete Handlungsweisen übersetzt wird, welche einer neuen Funktionsweise der Organisation entsprechen. Diese 152 153
Vgl. exemplarisch Mintzberg (1983), Bosetzky (1992) Da die Bandbreite ihrer Erscheinungsformen breit ist, kann sie allerdings sowohl positiv als auch negativ (bewertete) Funktionen haben (vgl. Neuberger 2006, S. 40 ff.).
Die strategische Organisationsanalyse nach Crozier und Friedberg
91
Abstimmung kann ‚stillschweigend‘ erfolgen. Sie wird dann als Widerstand gegen Wandel erfahren und interpretiert, aber dieser Widerstand ist im Grunde nicht anderes als eine (unbewusste und versteckte) Verhandlungstechnik, bei der das neue Organisationskonzept durch Unterlaufen, abweichendes Verhalten, Hinhalten u.a.m. aufgeweicht wird, um für die Interessen der von der Veränderung Betroffenen Platz zu schaffen. Die daraus sich ergebende Funktionsweise ist dann sehr wohl das Produkt eines Abstimmungsprozesses, in dem aber keiner der Beteiligten das Gefühl hatte, an einem solchen teilgenommen zu haben: Bewusst waren nur die Konflikte und die (versteckten) Abweichungen von der offiziellen Lösung.“ (Friedberg 2003, S. 101 f.).
Unter dieser Perspektive sind mikropolitische Betrachtungsweisen sozusagen mikroskopische Analysen der Feinstrukturen politischen Handelns in Organisationen, die mit „bloßem Auge“ nicht sichtbar sind, aber trotzdem einen Einfluss auf die MakroProzesse haben154 (vgl. Schreyögg 1996, S. 426, Schirmer 2000, S. 28). Im weiteren Verlauf der Arbeit werden die Begriffe Politik und Mikropolitik weitgehend synonym benutzt. Entscheidender als lexikalische Begriffsbestimmungen sind jedoch theoretische Entwürfe, durch die die verwendeten Begriffe erst ihre Bedeutung erhalten (vgl. Neuberger, 1995, S. 10). Das zentrale Konzept ist für mich die strategische Organisationsanalyse nach Crozier & Friedberg (1993), weil sie sich auch und gerade mit – auf den ersten Blick und nach Lesart der rationalistischen Organisationstheorien irrationalen – Störungen und Abweichungen beschäftigen (vgl. Crozier & Friedberg 1993, S. 27). Nach Neuberger (1995a, S. 204) kann als stimulierende Ausgangsfrage gelten, was auch mich besonders interessiert: Warum gibt es Widerstand, kontraintuitive Effekte, Gegeneinander-Handeln (Obstruktion), Tauschgeschäfte, Intransparenz...?
3.2
Die strategische Organisationsanalyse nach Crozier und Friedberg
Das Werk „Macht und Organisation“ des französischen Organisationssoziologen Crozier und seines Wiener Koautoren Friedberg beinhaltet eine Bürokratiekritik, die sich sowohl gegen die Fiktion eines autonomen rationalen Entscheiders, als auch gegen die totale Determination durch den „Zwang der Verhältnisse“ wendet (vgl. Neuberger 1995, S. 204). Crozier und Friedberg (1993) beschäftigen sich mit den Problemen kollektiven, d.h. organisierten Handelns der Menschen und damit mit der Beziehung zwischen sozialem Akteur und System, die nach ihrer Lesart nicht getrennt voneinander betrachtet werden können. Systeme sind für sie keine „fleischlo-
154
Womit die Türk´sche Trennung zwischen Makro- und Mikropolitik hinfällig wäre (vgl. Schirmer 2000).
92
Theoretischer Bezugsrahmen
sen Gebilde“ von Rollen, Funktionen und Informationsströmen, sondern bestehen und entwickeln sich nur über und durch die ihnen angehörigen Individuen und Gruppen, d.h. die sozialen Akteure. Die sozialen Akteure wiederum existieren nicht im luftleeren Raum, sondern handeln immer in Systemen, aus denen sie ihre Ressourcen beziehen, die ihnen aber zugleich Grenzen setzen (vgl. Crozier & Friedberg 1993, S. 3). Ihre Position ist also wie bereits erwähnt, eine dialektische: Freiheit gibt es nur in und gegen Strukturen, die gesellschaftlich (re)produziert werden und lediglich Korridore des Handelns festlegen, aber das Geschehen nicht lückenlos determinieren (vgl. Neuberger 1995, S. 204). Daraus ergibt sich der Handlungsspielraum der Akteure. Im Folgenden werde ich ihr Basiskonzept sowie notwendige Erweiterungen desselben darstellen.
3.2.1 Die Organisation als soziales Handlungsfeld Ausgangspunkt ihrer Überlegungen ist das Kernproblem jeder Organisation, das darin besteht, wie die zur Erreichung gemeinsamer Ziele notwendige Zusammenarbeit trotz widersprüchlicher Interessenlagen und Zielvorstellungen der beteiligten Akteure sichergestellt werden kann. Dem zugrunde liegt das in der Industriesoziologie oft zitierte „Transformationsproblem von Arbeitsvermögen in Arbeit“, das darin besteht, dass der Arbeitgeber zwar rechtlich über den Einsatz der Arbeitskraft verfügt, aber die faktische Verfügungsmacht beim Arbeitnehmer verbleibt (vgl. Türk 1993, S. 313). Da der Arbeitsvertrag lediglich ein abstraktes Leistungsversprechen beinhaltet, kann die tatsächliche Leistung stark variieren (von „Dienst nach Vorschrift“ bis „Planübererfüllung“). Denn ein Arbeitsvertrag ist ein typisches Beispiel für eine Auftrags- oder Agenturbeziehung im Sinne der Agenturtheorie. Danach überträgt ein Auftraggeber („Prinzipal“) zur Realisierung seiner Interessen bestimmte Aufgaben und Entscheidungskompetenzen auf der Basis einer Vereinbarung an einen beauftragten Partner („Agenten“), der für seine Dienste eine Vergütung erhält. Der Prinzipal kann sich damit zwar theoretisch die Arbeitskraft und das Wissen des Agenten zunutze machen, geht aber das Risiko ein, dass der Agent sich faktisch nicht gemäß des vereinbarten Auftrags verhält, sondern zum Nachteil des Prinzipals eigene Interessen155 verfolgt (vgl. Ebers & Gotsch 2002, S. 209). Obwohl die Unbestimmtheit des Arbeitsvertrages mit den Prämissen bürokratischer Kontrolle schwer vereinbar ist, liegt sie durchaus
155
So hat der Arbeitnehmer (Agent) zur langfristigen Sicherung seiner Leistungsfähigkeit Interesse an einer Dosierung der Verausgabung seiner Arbeitskraft, während der Betrieb (Prinzipal) tendenziell daran interessiert ist, das volle Leistungsvermögen zu nutzen (vgl. Pongratz & Voß 1997, S. 39).
Die strategische Organisationsanalyse nach Crozier und Friedberg
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auch im Interesse des Arbeitgebers. Im Interesse eines möglichst reibungslosen Produktionsprozesses kann man nämlich selten völlig auf die Subjektivität – und damit Flexibilität – des Arbeitnehmers verzichten. Organisationale Herrschaft ist also auf die Kooperation der Beherrschten angewiesen und vollzieht sich in dem grundsätzlichen Spannungsfeld zwischen Autonomie und Abhängigkeit sowie von Kontrolle und Konsens (vgl. Türk 1993, S. 313 f.; Göbel 1999, S. 9 f.).156 Um jedoch kontra-intuitive Effekte (d.h. die in ihren Ergebnissen auf der kollektiven Ebene nicht gewollten, unerwarteten, unsinnigen Wirkungen einer Vielzahl von individuellen, autonomen, in ihrem Rahmen und auf ihrer Ebene jeweils rationalen Entscheidungen) klein zu halten, muss das soziale Handlungsfeld so strukturiert werden, dass die Verhaltensweisen der Akteure zumindest teilweise integriert werden können. Die Lösungen, die die Akteure mit ihren jeweiligen Ressourcen und Fähigkeiten dafür aushandeln und praktizieren, sind aber weder die einzig möglichen, noch unbedingt die besten, sondern immer kontingente, d.h. letztlich unbestimmte und daher mit „bloßem Auge“ betrachtet (scheinbar) willkürliche157 (vgl. Crozier & Friedberg 1993, S. 7 ff.). Die Konstrukte kollektiven Handelns organisieren die mehr oder weniger freiwillige Unterwerfung der Einzelinteressen der Akteure unter den Willen und die Ziele des Ganzen (durch Zwang, Manipulation oder Verhandeln) und damit die Anerkennung von Macht- und Abhängigkeitsbeziehungen. Die verschiedenen Integrationsformen (Hierarchie, Arbeitsorganisation, Weisungsbefugnisse...) ermöglichen einerseits die notwendige Zusammenarbeit zwischen den Akteuren und erhalten andererseits deren Freiheiten, widersprüchliche Ziele zu verfolgen.158 Was aber nicht heißen soll, dass die Freiheiten und Machtressourcen gleichmäßig unter den Akteuren verteilt wären. „In einer früheren Arbeit haben wir die Tatsache unterstrichen, daß der Mensch in einer Organisation weder nur als Hand betrachtet werden kann, wie dies das Taylorsche Organisationsschema implizit voraussetzt, noch lediglich als Hand und Herz, wie es die Fürsprecher der Human-Relations-Bewegung fordern. Wir haben betont, daß beide vergessen, daß der Mensch auch und vor allem Kopf, das heißt, Freiheit ist, oder in konkreteren Worten, daß er ein autonom Handelnder ist, der berechnen und manipulieren kann und sich den Umständen
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Türk (1993, S. 320 f.) unterscheidet daher drei Dimensionen des Transformationsproblems: erstens die Transformation von Arbeitsvermögen in konkrete Arbeit, zweitens die Transformation konkreter Arbeit in geldwerte Arbeit und drittens die Transformation von Eigensinn in Konformität. Vgl. dazu das Mülleimer-Modell der Organisation (Kieser 2002, S. 148 ff.) Sandner (1992, S. 69) spricht in diesem Zusammenhang von „innerorganisatorischer Handlungssteuerung“ Türk (1981, S. 46) von „sozialer Kontrolle organisationalen Handelns“.
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und Bewegungen seiner Gegenspieler erfinderisch anpaßt“ (Crozier & Friedberg 1993, S. 27, Hervorhebungen im Original).
Sie betonen damit zwar zunächst die Freiheit bzw. den Eigensinn der Akteure, leugnen aber nicht, dass die Handlungsfähigkeiten ungleich verteilt sind.
3.2.2 Die Organisation als Machtsystem Crozier & Friedberg (1993, S. 13 f.) betrachten kollektives Handeln als Bündnis von Menschen gegen die Natur, mit dem Ziel materielle Probleme zu lösen. Die den zu lösenden Problemen innewohnenden Ungewissheiten in Bezug auf ihre Lösungsmöglichkeiten stellen die grundlegende Ressource in jeder Verhandlungsbeziehung dar: Macht. Dabei unterscheiden sie zwischen „natürlichen“ (die sich z.B. aus den technischen oder ökonomischen Merkmalen des Problems ergeben) und „künstlichen“ (durch Konstrukte kollektiven Handelns umdefinierte) Ungewissheiten und betrachten die bestehenden Strukturen einerseits als notwendige Instrumente zur Lösung von Problemen, andererseits als Zwänge für die Art und Weise der Lösungen. „Denn Ungewißheit vom Blickpunkt der Probleme ist Macht vom Blickpunkt der Akteure: Die Beziehung der Akteure untereinander, seinen es nun individuelle oder kollektive Akteure, sowie die Beziehung zu dem sie betreffenden Problem schreiben sich also in ein inegalitäres Handlungsfeld ein, das durch Macht- und Abhängigkeitsbeziehungen strukturiert wird. Denn gegenüber den relevanten Ungewißheiten eines Problems sind die Akteure nicht gleichgestellt. Diejenigen, die dank ihrer Situation, ihrer Ressourcen und ihrer Fähigkeiten (die natürlich immer persönlich und sozial konstruiert zugleich sind, weil man sich ja eben kein nichtstrukturiertes Handlungsfeld vorstellen kann) dazu fähig sind, diese Ungewißheiten zu kontrollieren, werden ihre Macht dazu benützen, um ihren Standpunkt anderen aufzuzwingen“ (ebd.).
Da der Begriff der Macht schwer zu fassen und vielfältig sei, gehen sie von der einfachen Formulierung aus, dass Macht – unabhängig von ihrer Quelle, ihrer Legitimation, ihrem Ziel oder Methode der Ausübung – immer die bestimmten Individuen oder Gruppen verfügbare Möglichkeit beinhaltet, auf andere Individuen oder Gruppen einzuwirken. Macht ist also die Fähigkeit oder Potenz etwas aktivieren bzw. in Bewegung setzen zu können (vgl. Göbel 1999, S. 8). Das beinhaltet, dass Macht nur in einer – zwei oder mehrere Akteure aneinander bindenden – Beziehung zum Tragen kommen kann. Voraussetzung ist, dass deren persönliche Interessen nur durch die Erreichung eines gemeinsamen Ziels befriedigt werden können und sie somit voneinander abhängig sind. Daher ist Macht für Crozier & Friedberg (1993, S. 39 ff.) kein
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Attribut der Akteure, sondern eine Beziehung – und zwar eine instrumentelle, nichttransitive, gegenseitige, aber unausgewogene Tausch- und Verhandlungsbeziehung. „Die Macht ist also letztlich in dem Freiraum angesiedelt, über den jeder der in eine Machtbeziehung eingetretenen Gegenspieler verfügt, das heißt, in seiner mehr oder weniger großen Möglichkeit, das zu verweigern, was der andere von ihm verlangt. Und die Kraft, der Reichtum, das Prestige, die Autorität, kurz, alle Ressourcen, die beide besitzen, spielen dabei nur in dem Maße eine Rolle, wie sie ihnen in der jeweiligen Beziehung eine größere Handlungsfreiheit verleihen“ (Crozier & Friedberg 1993, S. 41, Hervorhebungen im Original).
Die Macht eines sozialen Akteurs (Individuum oder Gruppe) ist also nach Crozier & Friedberg (1993, S. 43) eine Funktion der Größe der Ungewissheitszone, die er durch sein Verhalten seinen Gegenspielern gegenüber kontrollieren kann. Diese Ungewissheitszone muss allerdings relevant sein, sowohl in Bezug auf das zu behandelnde Problem, als auch hinsichtlich der Interessen der beteiligten Parteien. Ein Akteur hat nur dann Macht über einen anderen, wenn das Vorhandensein und die Beherrschung seiner Ungewissheitszone die Handlungsfähigkeit des anderen beeinflusst. Jeder Gegenspieler wird deshalb „ganz natürlich“ versuchen, die Vorhersehbarkeit seines eigenen Verhaltens und des der anderen zu manipulieren. Entweder direkt oder indirekt, indem die strukturellen Bedingungen und die Interaktionsregeln verändert werden. D.h. jeder Akteur versucht (tendenziell), seinen eigenen Handlungsspielraum so weit wie möglich auszudehnen und den seines Gegenspielers einzuschränken, um ihn in solche Zwänge einzuschließen, dass dessen Verhalten vorhersagbar wird. Jeder Mitspieler muss sich dabei allerdings an die herrschenden Regeln des jeweiligen organisationalen Interaktionszusammenhangs halten (vgl. Göbel 1999, S. 11). Insbesondere die strukturellen Merkmale einer Organisation (Hierarchie, Arbeitsorganisation, Verhaltensregeln...) ermöglichen und strukturieren die Machtbeziehungen zwischen Organisationsmitgliedern: •
Durch den Eintritt in eine Organisation bindet man sich freiwillig – zumindest zeitweilig – an andere Akteure, um gemeinsam eine bestimmte Aufgabe zu erfüllen und geht damit eine Beziehung ein.
•
Die die Funktionsweise einer Organisation bestimmenden Regeln und Strukturen schaffen und umschreiben mehr oder weniger kontrollierbare und mehr oder weniger relevante organisatorische Ungewissheitszonen, um die herum Machtbeziehungen entstehen (können).
•
Die formalen und informellen Regelungen der Organisation legen der Handlungsfreiheit der Akteure Zwänge auf und regulieren damit den Ablauf der Machtbezie-
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hungen. Diese sind allerdings nicht neutral, sondern privilegieren bestimmte Akteure zu Ungunsten anderer. Weil die von ihnen gebildeten und geschaffenen künstlichen Ungewissheitszonen von den jeweiligen Akteuren zugleich als Werkzeug und als Schutz benutzt werden können, ist ihre Kodifizierung immer ein wesentlicher Faktor der Machtbeziehungen, in denen sich die Mitglieder einer Organisation gegenüberstehen. Daher werden in Reorganisationen, deren Ziel – unter Bedingungen prinzipieller Ressourcenknappheit Macht und Einfluss (neu) zu verteilen – i.d.R. wesentliche Interessen von Organisationsmitgliedern substantiell in Frage stellt, politische Prozesse geradezu provoziert (vgl. Schirmer 2000, S. 5). •
Zweck und Funktionsweise einer Organisation legen zudem fest, welche Ressourcen relevant und mobilisierbar sind. Durch die Festlegung der Trümpfe, derer sich jeder in den Machtbeziehungen bedienen kann, verleiht die Organisation also ihren Mitgliedern zum einen ihre Spielfähigkeit. Zum anderen beeinflusst sie aber ihren Willen, sich in Verfolgung ihrer Strategien auch wirklich dieser Trümpfe zu bedienen, indem sie die Einsätze bestimmt und das, was jeder Mitspieler gewinnen oder verlieren kann (vgl. Crozier & Friedberg 1993, S. 47 ff.).
Obwohl diese strukturellen Merkmale für alle Akteure relevante Zwänge darstellen, sind die im Rahmen einer Organisation geknüpften Beziehungen niemals das einfache Abbild von Kräfteverhältnissen und Herrschaftsformen, der Sozialstruktur oder von Produktionsverhältnissen und der sich daraus ergebenden technischen und sozialen Arbeitsteilung. Parallel zu der im offiziellen Organigramm kodifizierten und legitimierten Machtstruktur gibt es eine zweite, die erst deutlich wird, wenn man untersucht, wie die Akteure in einer Organisation die ihnen zur Verfügung stehenden Ungewissheitszonen in Verhandlungen einsetzen, um den anderen Akteuren soweit wie möglich ihre eigenen Interessen aufzuzwingen.159 Deren Verdeutlichung erlaube es, die reale Ausbreitung und Tragweite der offiziellen, durch das Organigramm verliehenen, Autorität besser zu bestimmen und den realen Freiraum abzuschätzen, über den die verschiedenen Akteure in ihren jeweiligen Verhandlungen verfügten. Diese Machtstruktur ergänze, berichtige oder beseitige die formalen Vorschriften und an ihr orientierten sich die Strategien aller Akteure (vgl. Crozier & Friedberg 1993, S. 54 f.). D.h. die formalisierte vertikale Machtstruktur (= Herrschaft), in der die Handlungsspielräume parallel zu den Machtpotentialen von oben nach unten abnehmen, schließt die Existenz frei flutender Machtpotentiale (= informelle Macht) nicht aus (vgl. Greifenstein et al. 1993, S. 27).
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Der eigene Wille kann gegen Widerstreben oder auf der Grundlage von Konsens durchgesetzt werden (vgl. z.B. Ortmann et al. 1990).
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Wenn sich die Macht der Akteure nicht (nur) mit Hilfe der strukturellen Merkmalen der Organisation erklären lässt, stellt sich die Frage nach den relevanten Ungewissheitszonen in Organisationen, auf die sich diese „zweite Machtstruktur“ begründet. Crozier und Friedberg (1993, S. 51 ff.)unterscheiden vier große Machtquellen in Organisationen.160 1. Der exklusive Besitz von praktischen Fähigkeiten, Kenntnissen, Kontextwissen..., der es ermöglicht, für die Organisation wichtige Probleme zu lösen. Sie weisen zwar darauf hin, dass die Expertise im eigentlichen Sinn als Machtquelle in einer komplexen Gesellschaft relativ selten sei. Eine große Anzahl von Experten besitze aber de facto ein Monopol, weil es zum einen zu schwierig oder zu kostspielig sei, sie zu ersetzen und es ihnen zum anderen durch die Organisierung ihrer Gruppeninteressen gelänge, ihre spezifischen Kenntnisse und Erfahrungen unverständlich oder unzugänglich zu machen und zu erhalten. Das gelte (rein theoretisch) für alle, die im Rahmen einer Organisation ein Minimum an Sachverstand besitzen. 2. Die Kontrolle der für die Organisation relevanten Umweltsegmente, die eine potentielle Störungsquelle ihres inneren Funktionsprozesses und damit eine bedeutende und unvermeidliche Ungewissheitszone darstellen. Jede Organisation ist in zweifacher Weise von ihrer Umwelt abhängig ist: einmal, um die für ihren Fortbestand notwendigen materiellen und menschlichen Ressourcen (Ausstattung, Personal usw.) zu erhalten und zum anderen, um ihr Produkt (Güter oder Dienstleistungen) an den Mann zu bringen. Daher kann keine Organisation existieren ohne Beziehungen mit den verschiedenen relevanten Segmenten ihrer Umwelt aufzunehmen. Und die Individuen und Gruppen, die durch ihre vielfältigen Verbindungen und Beziehungen diese Ungewissheitszone zum Vorteil der Organisation beherrschen können, werden in deren Rahmen über sehr viel Macht verfügen. 3. Die Kontrolle von Kommunikation und Informationsflüssen, auf die andere angewiesen sind, um ihre Aufgabe oder Funktion angemessen erfüllen zu können. Wer eine Stellung in einem Kommunikationsnetz innehat, die andere nicht übergehen oder auf deren Mitwirkung sie nicht verzichten können, hat Macht über diese Personen, da die Art und Weise, in der sie ihre Informationen weitergeben (mehr oder weniger verzögert, mehr oder weniger gefiltert oder „geschminkt“ usw.) die Handlungsfähigkeit des Empfängers tiefgehend beeinflussen kann. Der Empfänger wird sich in dieser Situation nur dann behaupten können, wenn er
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Sie weisen aber mit Nachdruck darauf hin, dass das „objektive“ Vorhandensein einer Ungewissheitsquelle nichts über den Willen oder die Fähigkeit der Akteure aussage, dieses Machtpotential auch zu nutzen (vgl. Crozier & Friedberg 1993, S. 51).
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seinerseits Informationen besitzt oder eine andere Ungewissheitsquelle beherrscht, die wiederum die Spielfähigkeit seiner Gegenspieler beeinflusst. 4. Die Benutzung organisatorischer Regeln, die zwar die Freiheit der Untergebenen begrenzen, aber auch vor der Willkür von Vorgesetzten schützen können. Indem organisatorische Regelungen genau vorschreiben, was die Untergebenen tun müssen, reduzieren sie deren Freiraum und erhöhen so die Macht der Vorgesetzten. Sie schränken aber zugleich deren Willkür ein, da sie zum Beispiel ihre Sanktionsmacht nurmehr unter bestimmten Umständen ausüben können. Wissen die Untergebenen die Regel als Schutzmittel anzuwenden, so ist der Vorgesetzte ihnen gegenüber (relativ) machtlos. Da in der Regel für einen reibungslosen Arbeitsablauf mehr getan werden muss, als die Regeln vorschreiben und der Vorgesetzte andererseits selbst an den Ergebnissen seines Bereichs gemessen wird, befindet er sich de facto in einer schwachen Position. Er hat nämlich kein Mittel, seine Untergebenen dazu zu bringen, mehr zu tun, als die Regeln fordern. Der Vorgesetzte kann diese Situation nur ausgleichen, wenn er nicht nur eine, sondern mehrere Regeln zu seiner Verfügung hat. Unter dieser Voraussetzung kann er tolerieren, dass seine Untergebenen bestimmten Regeln zuwider handeln und besitzt damit ein Mittel, mit der er sie erpressen kann. Mit Hilfe der Drohung, dass es mit seiner Toleranz ein Ende haben könnte und er wieder auf die strikte Befolgung aller Regeln achten werde, kann er seine Untergebenen dort, wo ihm dies nötig scheint, zu besonderer Anstrengung veranlassen. Er darf damit allerdings nicht zu weit gehen, damit die Untergebenen ihn nicht beim Wort nehmen und doch Dienst nach Vorschrift machen. Eine Organisation kann also als ein soziales Handlungssystem betrachtet werden, das die konfligierenden Interessen der handelnden Akteure durch ein Set formeller und informeller Regeln ausbalanciert. Die wiederum sind Elemente der organisationalen Sozialstruktur, die nicht nur das Organigramm u.a., sondern auch Regeln, Normen, Vorschriften, Gewohnheiten, Einsichten, Werte, Erfahrungen, Bindungen, Organisationsbestimmungen, das Gefüge von Denkvorstellungen, tragenden Verhaltensprinzipien, das Machtgefüge, das Beziehungsnetz von Sympathie und Antipathie etc. umfasst. Der große Vorteil von Regeln ist, dass nicht bei jeder Entscheidung Macht mobilisiert werden muss. Sie werden aber von den Akteuren ausgehandelt, definiert und zur Interessenwahrnehmung eingesetzt. Das Verhalten der Akteure wird also durch die Regelsysteme nicht determiniert, sondern konditioniert (vgl. Greifenstein et al. 1993, S. 21 ff.). Das offizielle Organigramm gilt beispielsweise nur insoweit, als sich die Organisationsmitglieder an das offizielle Regelungssystem halten. Arbeitsanweisungen können redefiniert und mehrdeutige Vorschriften instrumentalisiert werden. Die jeweils dominante Rationalität mit ihren daraus abgeleiteten Sach-
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zwängen ist Ausdruck der jeweiligen Machtverhältnisse usw. Organisationen können also einerseits als Herrschaftssysteme betrachtet werden, deren Regeln zur innerorganisatorischen Handlungssteuerung sich die Mitarbeiterinnen mit ihrem Eintritt weitgehend unterwerfen. Sie sind andererseits aber auch interessenpluralistische Gebilde, die als Instrumente und Vehikel zur Durchsetzung von spezifischen Einzel- und Gruppeninteressen auf allen hierarchischen Ebenen dienen (vgl. Sandner 1992b, S. 64 ff.).
3.2.3 Spiele in Organisationen Nach den bisherigen Ausführungen ist die Schlussfolgerung nachvollziehbar, dass es keine völlig geregelten und kontrollierten bzw. kontrollierbaren sozialen Systeme geben kann. Trotz der oft sehr starken Zwänge, die den individuellen und kollektiven Akteuren durch das System auferlegt sind, verfügt jeder Akteur über einen gewissen Freiraum (und sei er auch noch so klein). So lange der Mensch nicht Mittel (zum Zweck) ist, sondern (mehr oder weniger) autonomer Akteur, der seine Fähigkeiten, seinen „guten Willen“, sein Verhalten... den anderen gegenüber ungewiss erhält (um gegebenenfalls etwas anderes zu tun, als das was man von ihm erwartet), sind für Crozier und Friedberg (1993) zwischenmenschliche Beziehungen immer Machtbeziehungen. „Aber die Macht, von der hier die Rede ist, kann nicht mit bestehender Autorität gleichgesetzt werden. Macht ist weder die einfache Widerspiegelung und das Produkt einer Autoritätsstruktur, sei diese nun organisatorisch oder sozial, noch ist sie eine Eigenschaft, ein Besitzstand, den man sich aneignen könnte, wie man sich früher die Produktionsmittel durch die Verstaatlichung aneignen zu können glaubte. Sie ist im Grunde nichts weiter als das immer kontingente Ergebnis der Mobilisierung der von den Akteuren in einer gegebenen Spielstruktur kontrollierten Ungewißheitszonen für ihre Beziehungen und Verhandlungen mit den anderen Teilnehmern an diesem Spiel. Macht ist also eine Beziehung, die, als spezifische und autonome Vermittlung der widersprüchlichen Ziele der Akteure, immer an eine Spielstruktur gebunden ist: Diese Struktur umschreibt und definiert die Relevanz der ‚natürlichen‘ und ‚künstlichen‘ Ungewißheitsquellen, die diese kontrollieren können“ (vgl. Crozier & Friedberg 1993, S. 17, Hervorhebungen im Original).
In der schon mehrfach erwähnten Spiele-Metapher werden die Freiheit der autonomen Akteure und die Zwänge des Handlungssystems integriert. Da alle von einander abhängig sind und gegenseitig Macht aus üben, sind alle mit einander vernetzt. Dabei ist das oberste Ziel für alle Akteure, dass weitergespielt werden kann. Wichtigstes Nebenziel ist, dass dies – wie meist auch in Wettkampf- oder Gesellschaftsspielen üblich – unter möglichst hohen Gewinnaussichten für einen selbst geschieht. Nor-
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men- und Wertsysteme, d.h. die Spielregeln werden nicht ausschließlich vor dem Spiel vereinbart, sondern entstehen (auch) im und nach dem Spiel (vgl. Neuberger 1995, S. 210). Dieser zentrale Integrationsmechanismus prägt Crozier & Friedbergs Sicht von Organisation ganz entscheidend. Für sie ist das Spiel161 das wesentliche Instrument organisierten Handelns, da es Freiheit und Zwang vereint. Der Spieler kann eigentlich tun und lassen, was er will. Wenn er aber gewinnen will, muss er sich zur Durchsetzung seiner Interessen an die Spielregeln halten (d.h. die ihm auferlegten Zwänge akzeptieren) und eine diese Regeln beachtende rationale Strategie verfolgen.162 Wer den Bestand der Organisation und damit auch die eigenen Machtquellen nicht gefährden will, wird in diesem Kooperationsspiel mitspielen, sich den geltenden Spielregeln unterwerfen und damit das Überleben der Organisation sichern (vgl. Crozier & Friedberg 1993, S. 68). „Anstatt also die Funktionsweise einer Organisation als das Produkt einer durch die verschiedenartigsten Prozesse herbeigeführten Anpassung einer Gesamtheit von unterschiedlich motivierten Individuen und Gruppen anzusehen, schlagen wir vor, sie als Ergebnis einer Reihe von Spielen zu betrachten, an denen die verschiedenen Akteure in der Organisation teilnehmen. Die formalen und informellen Regeln umschreiben insbesondere die Gewinnund Verlustmöglichkeiten eines jeden, und legen dadurch eine Skala von rationalen, das heißt gewinnbringenden Strategien fest, unter denen die Akteure wählen müssen, wenn sie wollen, daß ihre Beteiligung an der Organisation ihren persönlichen Hoffnungen diene oder ihnen zumindest nicht zuwiderlaufe." (Crozier & Friedberg 1993, S. 69).
Die Spielmetapher impliziert aber weder, dass alle Akteure dasselbe Spiel spielen, noch eine Ausgangsgleichheit der Mitspieler oder einen Konsens über die Spielregeln. Es werden auf den verschiedenen Hierarchieebenen unterschiedliche Spiele gespielt (vgl. Abschnitt 3.3.2), die strukturellen Merkmale der Organisation verteilen die Ressourcen ungleichmäßig und jeder Akteur versucht die Spielregeln und den verlauf (wenn sich die Gelegenheit dazu bietet) zu seinen Gunsten zu beeinflussen (vgl. Crozier & Friedberg 1993, S. 69).163 Nach dieser Sichtweise gibt es in Organisa161
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163
Ein Ursprung dieses Spielbegriffs liegt in der Psychologie. Für Berne (2004, S. 23 ff.) besteht beispielsweise ein Großteil der Sozialaktivität von Menschen darin, Spiele zu spielen. Ein „Spiel“ ist für ihn eine periodisch wiederkehrende Folge sich häufig wiederholender Transaktionen, äußerlich scheinbar plausibel, dabei aber von verborgenen Motiven beherrscht. Neuberger (2006, S. 27 ff.) benutzt die Trias der Perspektiven des Politischen auch für die Mikropolitik und stellt die Spielregeln (Polity), Spielstrategien (Policy) und Spielzüge (Politics) in einem Dreiecks-Verhältnis dar, das alles mit allem in Beziehung setzt. Andere Autoren favorisieren die Begriffe „Mikropolitik“, „innerbetriebliche Handlungskonstellation“ oder „Arbeitspolitik“ – immer geht es um die Verschränkung von Kontrolle und Konsens, von Zwang und Freiheit, also um die Kontingenz des Handelns in Organisationen (vgl. Bogumil & Kißler 1998a, S. 147).
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tionen kein irrationales Handeln. Man muss nur lange genug suchen, um dessen Strategien, Kontexte und Ziele zu erkennen und die Spielregeln zu begreifen – mit Hilfe der oben bereits erwähnten mikroskopischen Analyse der Feinstrukturen politischen Handelns in Organisationen164 (vgl. Neuberger 1995, S. 208).
3.2.4 Die Akteure und ihre Strategien Da jeder Akteur also immer einen Freiheits- und Verhandlungsspielraum behält, der für die anderen Mit- oder Gegenspieler und die Organisation eine Ungewissheitsquelle darstellt, verfügt jeder Akteur über ein gewisses Machtpotential, dass er gegebenenfalls gegenüber anderen Akteuren einsetzen kann (aber nicht muss!). Je relevanter die von ihm kontrollierte Ungewissheitszone für die anderen Akteure ist (d.h. je mehr – potentiellen – Einfluss diese auf den Handlungsspielraum der anderen hat), desto größer ist seine (potentielle) Macht. Wie schon erläutert, wird in diesen ständigen Aushandlungsprozessen jeder Akteur bestrebt sein, einerseits offensiv seinen Einfluss auf die anderen Akteure geltend zu machen, um seine eigenen Forderungen durchzusetzen und andererseits defensiv den eigenen Spielraum vor der Beschränkung durch andere zu schützen. Kurz: die eigene Freiheitszone (d.h. Macht und damit Gewinnmöglichkeit) zu vergrößern und die Abhängigkeit von anderen zu reduzieren (vgl. Crozier & Friedberg 1993, S. 56). „Daher entdecken wir in all unseren Analysen neben oder, wenn man so sagen kann, hinter den Wirkungen der Sozialisation eine mehr oder weniger bewußte instinktive Tendenz aller Akteure, mit den ihnen zugeteilten Funktionen ein wenig zu ‚mogeln’ und sie derart umzuformen, daß sie den Erwartungen und dem Druck ihrer Gegenspieler ausweichen und so ihren Spielraum erhalten oder gar ausdehnen können. Gewiß gibt es hier im Rahmen einer Organisation beträchtliche Unterschiede. Aber jeder scheint in der Lage, mit seiner Rolle zu spielen und aus den in ihr enthaltenen Mehrdeutigkeiten, Inkohärenzen und Widersprüchen seinen Vorteil zu ziehen“ (Crozier & Friedberg 1993, S. 60).
Eine „objektiv“ vorhandene (kontrollierbare) Ungewissheitszone stellt also zunächst lediglich eine Machtmöglichkeit dar, erst der Wille und die Fähigkeit des Akteurs diese Gelegenheit auch zu nutzen und Kapital aus der Kontrolle zu schlagen, macht daraus eine Machtquelle (ebd., S. 50 f.). Crozier & Friedberg (1993) beziehen sich in ihrem Ansatz auf das Rationalitätsmodell von March und Simon (1958), das – im Gegensatz zum Konzept des Homo 164
Damit ist Rationalität im weitesten Sinne gemeint: als ex post gefolgerten Sinn eines Verhaltens aus der Perspektive des Akteurs – diesem im Extrem selbst nicht bewusst (vgl. Ortmann & Becker 1986, S. 596).
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Oeconomicus – davon ausgeht, dass die Freiheit und die Informationen für Menschen immer begrenzt sind. Entscheidungen können daher immer nur in einem Kontext begrenzter Rationalität getroffen werden, weshalb nicht (immer) nach der absolut besten Lösung gesucht wird, sondern nach der ersten, die den eigenen Mindestanforderungen genügt. Daher ist auch das Verhalten eines Akteurs nicht ständig genau durchdacht und im Hinblick auf anfangs festgelegte Ziele berechnet. Akteure hätten nur selten klare Ziele und noch weniger kohärente und konsistente Pläne, sondern vielfältige, mehr oder weniger vieldeutige, explizite und widersprüchliche. Die Pläne würden im Verlauf des Handelns geändert, einige verworfen, andere währenddessen oder sogar nachträglich entdeckt (manchmal nur deshalb weil unvorhergesehene und unvorhersehbare Folgen des Handelns dazu zwängen, die Lage zu überdenken und Schlussfolgerungen zu ändern). Aber auch wenn das Verhalten nicht rational sei in Bezug auf Ziele, sei es rational im Hinblick auf Handlungsgelegenheiten (und damit auf den sie definierenden Kontext) und im Hinblick auf das Verhalten der anderen Akteure (auf deren Parteinahme und auf das Spiel, das zwischen ihnen entstanden ist).165 Selbst wenn das Verhalten durch die Kontextfaktoren eingeschränkt sei, ist es immer aktiv und nie direkt determiniert. Auch hinter den Stimmungen und affektiven Reaktionen, die dieses Verhalten tagtäglich bestimmen, könne der Analytiker Regelmäßigkeiten entdecken, die nur in Hinsicht auf eine zugrunde liegende Strategie (die keineswegs mit dem Willen identisch ist und auch nicht notwendig bewusst zu sein braucht) sinnvoll seien (vgl. Crozier & Friedberg 1993, S. 32 ff.). Aus dieser Akteursperspektive folgt, dass es auch kein von den Akteuren unabhängiges Organisationsziel geben kann, sondern nur Ziele, die von mehreren Akteuren geteilt werden. Das liegt zum einen an der Arbeitsteilung, die zur Folge hat, dass jeder Akteur in Abhängigkeit von der ihm zugeteilten Funktion und seinem Platz in der Aufbauorganisation eine subjektive Sicht der Organisationsziele hat und dazu neigt, das ihm zugeteilte Zwischenziel als Hauptziel zu betrachten. Zum anderen sind die immer nur begrenzt vorhanden Ressourcen dafür verantwortlich, dass Akteure und Akteursgruppen um die Verteilung der knappen Mittel konkurrieren und deshalb unterschiedliche („egoistische“) Ziele verfolgen (müssen) (ebd., S. 57). „Eine Organisation ist hier letzten Endes nichts anderes als ein Gebilde von Konflikten und ihre Funktionsweise das Ergebnis der Auseinandersetzungen zwischen den kontingenten, vielfältigen und divergierenden Rationalitäten relativ freier Akteure, die die zu ihrer Verfügung 165
Sie grenzen sich damit ab von den drei Rationalitätsmodellen, mit denen in der Organisationsforschung sonst gearbeitet wird: dem handlungstheoretischen Modell der Zweckrationalität (in Form von individuell berechnender Mitteloptimierung), dem klassentheoretischen Modell der Herrschaftsrationalität (in Form von oktroyierter Ordnung) und dem gesellschaftstheoretischen Modell der Systemrationalität (in Form von abstraktifizierender technisch-sachlicher Verselbständigung (vgl. Türk 1989, S. 30 ff.).
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stehenden Machtquellen nutzen. Die Interessenkonflikte, die Inkohärenzen, die ‚Struktureffekte‘, die sich daraus ergeben, sind nicht etwa Manifestationen irgendwelcher ‚organisatorischer Dysfunktionen‘. Sie sind der Tribut, den eine Organisation zahlen muß, wenn sie bestehen will, ja nachgerade die Bedingung dafür, daß sie die Beiträge ihrer Mitglieder mobilisieren kann, und daß ihr von diesen jener ‚gute Wille‘ entgegengebracht wird, ohne den sie nicht richtig funktionieren kann“ (Crozier & Friedberg 1993, S. 57).
Aber auch Akteure, die eine für andere außerordentlich wichtige Ungewissheitszone beherrschen, können die dadurch erlangte Macht nur in gewisser Weise und innerhalb bestimmter Grenzen einsetzen. Nur wer „mitspielt“, d.h. nur wer die Erwartungen der anderen an ihn zumindest teilweise erfüllt, kann weiterhin über seine Macht verfügen. Wer weiterspielen will, muss sich an Spielregeln halten, die die Beziehungen der Akteure untereinander aufrechterhalten, Willkür einschränken und Verhandlungen mit anderen strukturieren. Da die Spielfähigkeit vom Fortbestand der Organisation (einer für alle verbindlichen Ungewissheitsquelle) abhängt, werden die organisatorischen „Spielregeln“ – die den Fortbestand gewährleisten sollen – für alle Teilnehmer zwingend. Die Beherrschung dieser grundlegenden, aber vagen Unsicherheit (die Überlebensfähigkeit der Organisation) ist nach Meinung von Crozier & Friedberg (1993, S. 63 ff.) die wichtigste Machtgrundlage der Führungskräfte. Nur wenn sie es schaffen, ein konkretes Mittel zu finden, ihren Einfluss geltend zu machen, können sie aus dieser „schwer handhabbaren Abschreckungswaffe“ Kapital schlagen. Dies gelingt insbesondere bei der Gründung einer Organisation und in für ihren Fortbestand besonders kritischen Phasen (z.B. Reorganisationen), da sie über beträchtlichen Einfluss verfügen, um Strukturen und Regeln so zu organisieren, dass sie ihnen die Beherrschung künstlicher Ungewissheitsquellen erlauben.166 Wenn man anerkennt, dass die Strukturen sozialen Handelns und damit auch organisationale Aufbau- und Ablauforganisationen von den beteiligten Akteuren erschaffen wurden, dann muss auch der Wandel derselben als Prozess kollektiver Schöpfung bzw. kollektiven Lernens betrachtet werden.
3.2.5 Wandel als Prozess kollektiven Lernens Da Entscheidungen immer auch anders ausfallen können, ist organisatorischer Wandel hochgradig kontingent und – weil das Handeln der Akteure situationsorientiert und sinnhaft ist – ein gerichteter Prozess. Weil aber auch die nicht intendierten Folgen dieses Handelns die Organisation verändern, ist dieser Prozess zwar gerich-
166
Bogumil & Kißler (1998a, S. 127) bezeichnen diesen Einfluss treffend als „Definitionsmacht“ (vgl. Abschnitt 3.4)
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tet, aber gleichzeitig ungezielt bzw. emergent (vgl. Bogumil & Schmid 2001, S. 106).167 „Wenn es wahr ist, daß es kein nicht-strukturiertes Handlungsfeld gibt, wenn es wahr ist, daß jede Lösung der Probleme kollektiven Handelns kontingent ist und daß es in diesem Bereich weder eine einzige noch eine ‚beste’ Lösung gibt, sondern immer mehrere, dann kann man Wandel, auf welcher Ebene er sich auch immer abspielt, nicht mehr begreifen als die bloße Durch- bzw. Umsetzung eines von irgendwelchen Weisen im vorhinein festgelegten Modells, dessen Rationalität und Rechtfertigung nicht zur Diskussion steht und das auch gegen den Willen und die irrationalen Widerstände der in ihren überkommenen Routinen entfremdeten und/oder durch die bestehenden Herrschaftsverhältnisse konditionierten Akteure durchgesetzt werden muß“ (Crozier & Friedberg 1993, S. 19).
Da Wandel ohne eine Veränderung des Machtsystems nicht möglich ist, müssen die vorhandenen Machtbeziehungen – als Bedingungen des Handelns und dessen zwingender Rahmen – immer das erste und wichtigste Ziel von Veränderungsversuchen sein. Crozier & Friedberg (1993, S. 276) betonen, dass Reformen nur gelingen können, wenn sie von der Basis – der „letztlich alles entscheidenden Ebene“ – mitgetragen werden (können). Zu diesem Zweck plädieren sie für mehr „Empowerment“ der Betroffenen. Nur wenn der Freiraum der Betroffenen anerkannt wird und die Vorschläge der Basis ernst genommen werden, kann man eine Reihe von Problemen entdecken, die sonst überhaupt nicht bemerkt worden wären. Darüber kommt man zu – auf gesundem Menschenverstand beruhenden – Kompromissen und zu einer praxisbezogenen Neuformulierung der Ziele. Erst dann können neue Beziehungsmuster entdeckt und erlernt werden und Veränderungen gelingen. Daher liegt die Gefahr des Missbrauchs von Macht ihrer Meinung nach auch nicht darin, dass ein Akteur eine Initiative ergreift, sondern darin, dass man ihm diese Möglichkeit nimmt, indem bestimmte Akteure oder höhere Instanzen das Monopol der Initiative de facto an sich reißen. Hier wird m.E. eine gewisse Nähe zur oben dargestellten sozialtechnologischen Perspektive auf Veränderungsprozesse deutlich (vgl. Abschnitt 2.3.2). Eine solche Perspektive erlaubt es auch, von den wirklichen Veränderungs- und Eingriffsmöglichkeiten in die Funktionsweisen von Organisationen eine realistischere Sicht zu bekommen und die in diesem Zusammenhang „maßlos übersteigerte“ Bedeutung der Rolle von Führungskräften zu relativieren.168 Nach Ansicht von Crozier und Friedberg (1993) haben Führungskräfte die Rolle von Croupiers, die die Einsätze verteilen und das Roulette (d.h. die Organisation) in Schwung halten, gegen die (und 167 168
Vgl. auch Ortmann et al. 1990, Schröter 1995, Schreyögg 1996, Göbel 1999, Schirmer 2000 Vgl. Abschnitt 2.3
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mit denen) die anderen Akteure spielen müssen und die versuchen werden, ihre Vormachtstellung auszunutzen, um das Spiel zu ihrem Vorteil zu gestalten (ebd., S. 73 ff.). Insbesondere die schon vorhandenen Spiele besitzen – als politische und kulturelle Konstrukte – eine gewisse Autonomie und Permanenz und sind auch für die Führungskräfte Grenze und Zwang und können, außer in Ausnahmesituationen und/oder schweren Krisen, nicht von einem Akteur radikal und umfassend geändert werden. Führungskräfte können zwar Ablauf und Ergebnis dieser Spiele beeinflussen oder verändern, indem sie die Einsätze umgestalten oder die Trümpfe der verschiedenen Teilnehmer, ihre Interaktionskanäle, ihre Koalitionsmöglichkeiten usw., ändern. Ihre Eingriffe sind aber immer partiell, da sie nicht alle Parameter der Spiele beherrschen, und indirekt, weil die Eingriffe durch die Logik und die Regulierungen der noch immer geltenden Spiele vermittelt und verändert werden (vgl. Crozier & Friedberg 1993, S. 75). Folgt man dieser Logik, dann können Reorganisationen nicht mehr als intendierte, bewusste und zweckrationale Prozesse betrachtet werden, die sozialtechnologisch beherrschbar sind (vgl. Abschnitt 2.3.2). „So versteht man auch die Schwierigkeiten besser, die sich bei jedem Versuch der Veränderung von Organisationen ergeben. In dieser Sicht bedeutet jede organisatorische Veränderung viel mehr als die Veränderung einiger Kästchen auf einem Organigramm, oder selbst die ‚Anpassung’ der Arbeiter an die Anforderungen einer neuen Technologie. Es läuft im Grunde immer darauf hinaus, ein Handlungssystem umzustrukturieren, das heißt, die entscheidenden Ungewißheitszonen und damit einen Großteil der Trümpfe und Ressourcen umzuverteilen, die die verschiedenen Gruppen im Rahmen einer Organisation bei ihrem Feilschen mobilisieren können. Dadurch kann man – und das ist viel schwerwiegender als die berühmten ‚psychologischen Kosten’ des Wandels, von denen man so viel spricht – sehr direkt die Fähigkeit der Organisationsmitglieder beeinflussen, ihre ‚Teilnahme’ am Spiel auszuhandeln. Hier findet der berühmt-berüchtigte ‚Widerstand gegen Veränderungen’ seine Rechtfertigung und auch seine ganze Legitimität“ (Crozier & Friedberg 1993, S. 65).
Crozier & Friedberg (1993, S. 19) plädieren folgerichtig dafür, den Begriff „Widerstand gegen Wandel“ aus dem Wortschatz zu streichen, da Widerstände ihrer Meinung nach in den meisten Fällen lediglich das Misstrauen ausdrücken, das die Betroffenen mit voller Berechtigung einer ohne ihr Zutun ausgearbeiteten Veränderung entgegenbrächten. Denn deren Ziel sei es meistens, ihre Verhaltensweisen zu „rationalisieren“, d.h. sie durch das Verkleinern von ihnen kontrollierter Ungewissheitszonen voraussehbar(er) zu machen (vgl. Fleming & Spicer 2007). Obwohl neue Managementkonzepte inzwischen andere Ziele haben und vermehrt auf Selbstorganisationsstrategien setzen, d.h. neue Freiräume und Selbstbestimmungsmöglichkeiten
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Theoretischer Bezugsrahmen
bieten (also Ungewissheitszonen zunächst vergrößern), können auch sie als Herrschaftstechniken betrachtet werden. Denn letztendlich zielen sie meist darauf ab, über „Selbst-Rationalisierungs-Prozesse“ das volle Leistungspotential der ArbeitnehmerInnen (d.h. auch Leistungsreserven, Kreativität, Erfahrungswissen, Motivation...) nutzbar zu machen. Da die fremdorganisierenden Begleitumstände (zumeist Stellenabbau und Arbeitsverdichtung) auch hier die Machtfrage verdeutlichen, setzen sich die Beschäftigten auch dagegen zur Wehr setzen (vgl. Pongratz & Voß 1997, S. 38 ff.). Crozier & Friedberg (1993, S. 20 ff.) wenden sich mit allem Nachdruck gegen „die Illusionen der Theoretiker der Herrschaft und Konditionierung“ sowie gegen „die Allmachts- und Simplifizierungsphantasmen von Managern, Politikern und Aktionisten“ und stellen fest, dass menschliches Verhalten auf keinen Fall das mechanische Produkt des Gehorsams oder des Drucks struktureller Gegebenheiten ist, sondern immer Ausdruck und Verwirklichung einer wenn auch noch so geringen Freiheit. Die einzige Alternative zu solch technokratischem und/oder autoritärem Wandel ist die Organisierung der Bedingungen, die kollektives und institutionelles Lernen auf allen Ebenen ermöglichen. Das setzt voraus, dass man die Spielmechanismen und bestehenden Konstrukte kollektiven Handelns, sowie deren Rolle und Bedeutung im sozialen System kennt und deren Widerstandskraft und Entwicklungsfähigkeit einschätzen kann. Wie bereits ausgeführt, taucht die Forderung nach einer „lernenden Organisation“ auch in neueren Ansätzen zum Management des Wandels mit konstruktivistisch-systemischem Hintergrund wieder auf, die mithilfe von Beobachtungs- und Reflexionspotentialen sowie offenen Kommunikationsmöglichkeiten und -kanälen eine allgemeine Systementwicklung erzielen wollen (vgl. Abschnitt 2.3.2). Last but not least sind auch die Spielmöglichkeiten und Gewinnchancen der Führungskräfte vom Fortbestand der Organisation abhängig und damit nicht nur von den unternehmensinternen Mitspielern, sondern auch von der unter Umständen schwerer beherrschbaren Umwelt. Sofern außerhalb der Organisation stehende Akteure durch ihr Verhalten Fortbestand und Erfolg der Organisation bedrohen können, stehen sie unter dem Zwang der Sanktionsmöglichkeiten, die diese ausüben können und zwar umso mehr, je besser und leichter ihre Leistungen gemessen werden können (vgl. Crozier & Friedberg 1993, S. 74). Nach dieser umfassenden Darstellung der strategischen Organisationsanalyse von Crozier & Friedberg (1993) gehe ich im Folgenden – ausgehend von der Kritik an diesem Ansatz – auf einige wichtige und aus forschungspraktischer Perspektive brauchbare Weiterentwicklungen bzw. anschlussfähige Ergänzungen derselben ein.
Kritik und konzeptionelle Weiterentwicklungen
3.3
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Kritik und konzeptionelle Weiterentwicklungen
Ein Hauptkritikpunkt an Crozier & Friedbergs strategischer Organisationsanalyse ist die fehlende Operationalisierung ihrer zentralen Konzepte (Macht, Strategien und Spiele), was ein wissenschaftliches Arbeiten damit erschwert. Da sie selbst keinen Fall umfassend und systematisch analysiert haben, bleibt ihre eigene Empirie Stückwerk und sie eine überzeugende Demonstration für die Erklärungskraft ihres Ansatzes schuldig. Insbesondere die Spiele-Metapher erfordert zwar einerseits großzügige Anpassungsleistungen, bietet aber andererseits dank ihrer weit gefassten Interpretationsmöglichkeiten und suggestiven Kraft ein breites Anwendungsfeld für die Analyse von komplexen Praxisfällen (vgl. Neuberger 1995, S. 215 ff.). Inzwischen liegen zahlreiche empirische Arbeiten vor, die Bezug auf die strategische Organisationsanalyse nehmen (vgl. exemplarisch Ortmann et al. 1990, Greifenstein et al. 1993, Bogumil & Kißler 1998a, Göbel 1999, Iding 2000, Schirmer 2000, Bogumil & Schmid 2001, Muhr 2004). Im Rahmen dieser Arbeiten wurde einerseits die Erklärungskraft des Ansatzes demonstriert und andererseits wurden zur Verbesserung der Operationalisierbarkeit Weiterentwicklungen bzw. Ergänzungen der strategischen Organisationsanalyse erarbeitet. Dazu gehören in erster Linie die Spezifizierung der strukturellen Bedingtheit von Macht(ressourcen) und des Spiele-Konzeptes, die im nächsten Abschnitt erläutert werden. Im Anschluss daran, ein Überblick über die Definitionsmerkmale (mikro)politischer Situationen nach Neuberger (1995), die man nach Schirmer (2000) auch als „systematische Binnendifferenzierung der strategischen Organisationsanalyse“ betrachten kann.
3.3.1 Die strukturelle Bedingtheit von Macht(-Ressourcen) Küpper & Ortmann (1986, 1992) kritisieren die „Akteur-Lastigkeit“ bei Crozier & Friedberg und versuchen dies zu korrigieren, indem sie in Anlehnung an Giddens (1988) die Strukturaspekte stärker betonen. Der Gedanke, dass Strukturen Produkt und Medium menschlichen Handelns seien, ist zwar auch schon im Spielkonzept von Crozier & Friedberg (1993) vorhanden, diese Dualität von Struktur sei aber bei Giddens prägnanter und expliziter formuliert. „Wie auch bei Crozier und Friedberg liegt dem Giddensschen Konzept der Dualität von Strukturen die Einsicht zugrunde, daß Struktur nicht nur einschränkende (constraining) Aspekte aufweist. Erst eine von den Handelnden wahrgenommene (oder zugeschriebene) Stabilität sozialer Systeme ermöglicht es ihnen beispielsweise, verläßliche Erwartungen über die Folgen des eigenen oder fremden Handelns auszubilden und damit intentional zu handeln. Ohne eine solche Regularität sozialer Praktiken wäre es weder möglich, alltägliche Dinge zu
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tun, wie etwa Einkaufen, oder beispielsweise arbeitsteilige Produktionsprozesse zu organisieren. Ebenso wichtig wie die restringierenden sind daher die ermöglichenden (enabling) Aspekte von Strukturen“ (Ortmann & Becker 1995, S. 57; Hervorhebungen im Original).
Daran anschließend könne auch der Machtbegriff von Crozier & Friedberg (1993) materialisiert werden, da sie der strukturellen Bedingtheit von Machtressourcen nur wenig Aufmerksamkeit gewidmet hätten. Ortmann & Becker (1995, S. 55 f.) identifizieren vier Dimensionen der Struktur, die nun als Machtmittel gesehen werden, mit denen Machtstrukturen reproduziert und zugleich von ihnen zur Verfügung gestellt werden: •
Regeln der Sinnkonstitution (z.B. Wahrnehmungsmuster, Organisationsvokabular, Leitbilder), d.h. die kognitive Ordnung eines sozialen Systems oder einer Organisation, die interaktiv ausgehandelt ist und die soziale Ordnung reproduziert.
•
Regeln der Legitimation (z.B. rechtliche Normen, organisationale Regeln), d.h. die normative Ordnung einer Organisation. Diese „Rechtsordnung“ begründet und begrenzt Machtansprüche und ist einerseits Koordinierungsinstrument (legt Korridore zulässigen Handelns fest) und andererseits im Konfliktfall Berufungsinstanz (liefert Rechtfertigung).
•
Die allokativen Ressourcen (z.B. Geld, Rohstoffe, Technik, Investitionsbudgets), d.h. die materiellen Aspekte der Organisationen. Mit Hilfe der allokativen Ressourcen ist es den Herrschenden möglich, ihrem Willen entsprechendes Ver-
•
Die autoritativen Ressourcen (z.B. Arbeitsorganisation, Verwaltungsapparat, Planungsinstrumente), d.h. Mittel der Organisation zur Koordination von Men-
halten zu belohnen oder Abweichungen mit Belohnungsentzug zu bedrohen.
schen in Raum und Zeit. Dazu gehören insbesondere die organisationale Hierarchie, die funktionale Arbeitsteilung und akteursspezifische Qualifikationen. Weil diese Mittel dazu eingesetzt werden können, um Herrschaft über Personen und Akteure zu erlangen und eigene Interessen zu realisieren, sind sie bedeutende Machtmittel zur Umgestaltung. Abweichend von Giddens (1988), der nur die Kontrolle von Ressourcen zu den Machtmitteln rechnet und in Erweiterung von Crozier & Friedberg (1993) basiert Macht damit auch auf der Verteilung von Ressourcen und nicht nur auf Wissen und Information – damit veranschlagen sie das Gewicht bestehender Machtstrukturen höher als diese und andere Autoren (vgl. Ortmann et al. 1990, S. 6). Obwohl meiner Ansicht nach alle diese Aspekte auch schon in der „Beherrschung von Unsicherheitszonen“ (die sich ja sehr wohl auch auf materielle Sachverhalte beziehen können) nach Crozier & Friedberg (1993) enthalten sind, liefern Ortmann & Becker
Kritik und konzeptionelle Weiterentwicklungen
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(1995) damit ein konkretere es Instrument zur Beschreibung und Analyse von mikropolitischen Prozessen in Orga n, auf welche Moanisationen, mit dem erfasst werden kann dalitäten sich mikropolitisch hes Handeln bezieht (vgl. Bogumil & Schmid 2001, S. 65 f.). Die folgende Abbildung verdeutlicht, wie die Strukturebene – ve ermittelt über welche beobachtbaren Modalitäten – mit der konkreten Handlungseb bene zusammenhängt:
Abbildung 14: Dualität von Strruktur und mikropolitischer Analyse (Quelle: Ortmann O et al. 1990, S. 27/30,, modifiziert nach Ortmann & Becker 1995, S. S 60)
Die Dualität von Struktur be edeutet bei Ortmann et al. (1990, S. 12)), dass Strukturen erst durch das Handeln von n Akteuren entstehen und daher beständ dig durch Handeln reproduziert werden müsse en bzw. durch Handeln verändert werden n können. Da sich dieses Handeln allerdings jener ungleich verteilten Ressourcen be edienen muss, die die dadurch entstandenen Machtstrukturen bereitstellen, werden sie s dadurch auch reproduziert. Obwohl Crozier & Friedberg (1993) immer wieder die Freiheit der Akteure A und damit nisatorischer Strukturen und Prozesse be etonen, sehen sie die Beeinflussbarkeit organ auch, dass die Freiheit des Handelns andererseits durch organisa atorische Zwänge eingeengt ist. Diese auch empirisch e oft festzustellende „Unbeweglichkeit“ von Organisationen wird von Ortman nn et al. (1990) durch den Begriff des „E Entscheidungskorridors“ präzisiert (vgl. Ortma ann et al. 1990, S. 65 ff., Ortmann & Beckker 1995, S. 40):
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Theoretischer Bezugsrahmen
•
Es lassen sich immer nur begrenzte, partielle Ziele ins Auge fassen und in kleinen Schritten ansteuern (Inkrementalismus, „muddling through“169).
•
Der Weg kann (fast) nur in vorgezeichneten Bahnen verlaufen, die zu verlassen hohe interne und externe Barrieren verhindern.
•
Es gibt (fast) keinen Weg zurück.
•
Es gibt (fast) keine Möglichkeit zu stoppen.
Die Akteure unterliegen vielfältigen Einflüssen und haben nie die freie Auswahl zwischen allen denkbaren Handlungsmöglichkeiten, sondern können nur in (mehr oder weniger) vorgezeichneten Bahnen handeln. Bevor Probleme in Organisationen wahrgenommen und definiert werden, wurden innerhalb und außerhalb der Organisation schon viele Entscheidungen getroffen, die darauf einen Einfluss haben. Im Hinblick auf Reorganisationen spielt es beispielsweise eine Rolle, welche Reorganisationsmaßnahmen in der Vergangenheit bereits erfolgreich waren, wie vergleichbare Organisationen reorganisieren, welche gesellschaftlichen Leitbilder und welche Management-Moden170 gerade angesagt sind, wie die aktuellen Machtverhältnisse sind etc. Alles, was in formal-logisch nicht eindeutig lösbaren Entscheidungssituationen dabei hilft, Unsicherheit zu reduzieren, wird dankbar angenommen und zur Legitimierung der – sich im Nachhinein (hoffentlich) als richtig erweisende – Entscheidung herangezogen. Einmal getroffene Entscheidungen schaffen einerseits Fakten, die den Entscheidungskorridor weiter verengen und haben andererseits intendierte sowie nicht intendierte Handlungsfolgen, auf die wiederum reagiert werden muss. Dadurch gibt es in der Regel keinen Weg zurück und keine Möglichkeit, den einmal angestoßenen Prozess (ohne Gesichtsverlust der Entscheider) zu stoppen (vgl. Ortmann et al. 1990, S. 409 ff.). Während der Kontingenzbegriff den Ermöglichungscharakter organisationaler Prozesse betont, verweist der Begriff des Entscheidungskorridors auf den restringierenden Aspekt. Da aber auch die Barrieren der Entscheidungskorridore sozial konstruiert sind, können die Akteure die Entscheidungskorridore mit ihrem (mikropolitischen) Handeln zustellen oder eröffnen (vgl. Bogumil & Schmid 2001, S. 67).
3.3.2 Die Spezifizierung des Spiele-Konzeptes Mit welchen Spielen bzw. Spielzügen die Akteure Einfluss nehmen, wird mit Hilfe der Weiterentwicklung des bei Crozier & Friedberg (1993) recht diffusen Spielkonzeptes 169 170
engl. „durchwursteln“ Zu den Moden und Mythen des Organisierens der letzten Jahrzehnte vgl. exemplarisch Kieser (1996); für eine soziologische Diskussion aktueller Managementkonzepte vgl. etwa Pongratz & Voß (1997).
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deutlich. Wie bereits erläutert, haben „Spiele in Organisationen“ nichts mit „Verspieltheit“ zu tun, sondern sind eher mit Wettkampf- oder Gesellschaftsspielen vergleichbar. Crozier & Friedberg (1993) machen aber keine differenzierten Aussagen zu Spielregeln, -situationen, -einsätzen und -gewinnen, -zielen und -ergebnissen, taktiken und -teilnehmerInnen etc. (vgl. Neuberger 1995, S. 192 ff.).171 Ortmann & Becker (1995, S. 63 ff.) machen beispielsweise die für Wandelprozesse wichtige Unterscheidung von Routine- und Innovationsspielen, die jeweils einer spezifischen Logik folgen. „Diese beiden Logiken der Innovation und der Routine bilden bedeutende Aspekte des Entscheidungskorridors. Auf die Dualität von Struktur bezogen, gehören sie den kognitiven und normativen Ordnungen an und bilden die Grundlage für die Mobilisierung von Ressourcen. Sie spiegeln unterschiedliche Perspektiven auf die Welt und unterschiedliche Handlungsnormen wieder. Beide Handlungslogiken entspringen unterschiedlichen organisationalen Spielen, die immer auch Machtspiele sind. Vertreter beider Logiken versuchen regelmäßig, ihre Handlungsfähigkeit zu erhalten, d.h. ihre Fähigkeit `to make a difference´.“ (Ortmann & Becker 1995, S. 66).
Routinespiele sind kooperative Spiele, die die Organisation am Laufen halten und durch Beständigkeit, Zuverlässigkeit und inkrementale Verbesserungen gekennzeichnet sind.172 Im Rahmen der notwendigen alltäglichen Routinetätigkeiten spielen sich Handlungsmuster ein und etablieren sich spezifische Gewinnmöglichkeiten, die oft informell sind und „von oben“ z.T. nicht wahrgenommen werden. Routinespiele reproduzieren sich selbst, weil die Spielregeln (d.h. die empfundenen Freiheiten und Zwänge der Akteure und damit ihre Strategien) stabil bleiben. Da es in den Routinespielen um alltägliche Routinetätigkeiten geht, sind die Spieler meist auf der ausführenden Ebene sowie im unteren und mittleren Management zu finden. Da es nach der Innovationslogik darum geht, die routinierte Prozessbeherrschung neu zu verteilen, gibt es in Prozessen organisationaler Innovation logischerweise einen strukturellen Konflikt zwischen Routine und Innovation. Denn im Vergleich zu Routinespielen sind Innovationsspiele Metaspiele, in denen es darum geht, die Spielregeln und die Gewinne so zu verändern, dass die Akteure neue Strategien finden müssen. Mikropolitische Konflikte sind strukturell in ihnen angelegt, da dies eine Ver171
172
Neuberger (1995, S. 216) merkt an, dass dieser Differenziertheitsgrad bisher noch nicht erreicht wurde und vermutet, dass alle der suggestiven Kraft der Spiele-Metapher vertrauen (oder deren Opfer sind). Zwar konkurrieren die spezifischen Normen und Standards der verschiedenen Abteilungen auch miteinander, aber letztlich müssen die verschiedenen Routinespiele doch kooperativ miteinander verzahnt werden (vgl. Ortmann et al. 1990, S. 464 ff.).
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änderung der Verteilung von Macht und Kontrolle und des Wertes von Ressourcen bedeutet. Innovationsspiele sind besonders umkämpft, weil es bei diesen Spielen darum geht, die Regeln, Strukturen, Einsätze, Gewinn- und Verlustmöglichkeiten von Routinespielen und damit die zukünftigen Positionen neu zu definieren. Besonders von denen, die ihre bisherigen Chancen gefährdet sehen, werden diese Spiele (die tendenziell im oberen Management gespielt bzw. „angezettelt“ werden) mit hohen Einsätzen gespielt (vgl. Ortmann & Becker 1995; Bogumil & Schmid 2001, S. 68). Logik der Innovation
Logik der Routine
Veränderung bestehender Routinen Große, umfassende Lösungen
Erhaltung von Routinen Inkrementale Verbesserung
Risiko
Sicherheit
Standardisierung Konfliktfreie Implementation
Beachtung von Abteilungsspezifika Partizipation der Betroffenen
Control fix
Autonomie der Subsysteme
Abbildung 15: Logiken der Innovation und Routine (Quelle: Ortmann & Becker 1995, S. 66)173
Als Transmission der Innovation auf die Routine dient in aller Regel ein Projekt(spiel). Der Dreh- und Angelpunkt der Projektarbeit und deren mikropolitischer Konflikte ist das mittlere Management, dessen Aufgabe es ist, die widerstreitenden Anforderungen von Routine und Innovation, von Abteilungs- und Projektarbeit zugleich zu bewältigen. Was eigentlich in der mikropolitisch so prekären Verzahnung von Routine- und Innovationsspiel angelegt ist, wird hier gern über Personalisierungen (in wechselseitigen Wahrnehmungen, Zuschreibungen, Abgrenzungen und Denunziationen) ausgetragen (vgl. Ortmann et al. 1990, S. 467 ff.). Mit welchen Spielen und Spielzügen – auch und gerade im Rahmen von Reorganisationen und anderen Projektspielen – Einfluss genommen wird, findet sich beispielsweise bei Mintzberg (1983, S. 183 ff.). Obwohl er „politische Spiele“ eher negativ bewertet und als illegitimes bzw. zumindest nicht unzweifelhaft legitimes Verhalten betrachtet (vgl. Mintzberg et al. 1999, S. 266 ff.), liefert er ein interessantes Beispiel für eine mögliche Einteilung von organisationalen Spielen:174
173
174
Die Autoren weisen zu Recht darauf hin, dass diese Gegenüberstellung zwar grob vereinfacht ist, aber Tendenzen korrekt wiedergibt (vgl. Ortmann & Becker 1995, S. 66). Auch er verwendet die Spiele-Metapher ohne genau zu definieren, was er mit dem Begriff „Spiel“ meint. Stattdessen illustriert er seine Spiele-Typologie mit Beispielen aus der empirischen Forschung (vgl. Neuberger 1995, S. 195 ff.).
Kritik und konzeptionelle Weiterentwicklungen
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I. Spiele, in denen Widerstand gegen Autorität geleistet wird 1. Widerstandsspiele gibt es in zwei Varianten: während in der subtilen hinhaltend Widerstand geleistet wird (d.h. Entscheidungen fehlinterpretiert, manipuliert, unterlaufen, buchstabengetreu oder übertrieben ausgeführt etc.), kommt es in einer aggressiven zu offener Meuterei und Rebellion (Streik, Obstruktion, Sabotage, offenem Ungehorsam). II. Spiele gegen die Widerstandsspiele 2. Konterrevolutionäre Spiele ersticken den Aufruhr im Keim oder kämpfen ihn nieder. In typisch bürokratischer Art wird der Widerstand gegen Autorität mit noch mehr Autorität gebrochen, z.B. mit drakonischen Sanktionen, enger Überwachung oder vorbeugenden Kontrollen. Eine politische Reaktion wäre: die andere Seite zu zersplittern („divide et impera“175), von Informationen abzuschneiden, Mehrdeutigkeit zu erzeugen etc. III. Spiele zum Aufbau von Macht 3. Im Sponsor-Protégé-Spiel hängt sich der Akteur (Protégé) an eine mächtige Person oder einen aufsteigenden Star (Sponsor) und zeigt Loyalität als Gegenleistung für ein Stück Teilhabe am Geschehen. Im Gegenzug kämpfen die Sponsoren für ihr Schützlinge, platzieren sie günstig, versorgen sie mit vertraulichen Informationen und verschaffen ihnen dadurch den Ruf, mächtige Beschützer zu haben. 4. Das Bündnis-Spiel wird vorwiegend zwischen Gleichrangigen gespielt, die ein Netz von Beziehungen (in Form von Interessengruppen, Lobbies, Fraktionen, Allianzen, Koalitionen) mit anderen in strategisch günstigen Positionen knüpfen und sich mit solchen Verbündeten umgeben, die Ressourcen (z.B. Information, Solidarität) zur Verfügung stellen können. 5. Im Reichsgründungs-Spiel sichern sich einzelne Akteure eine möglichst breite Gefolgschaft von Vasallen oder Kampftruppen, um ihre Einflusssphäre auszuweiten. Dabei kommt es unter Umständen zur Bildung von Lagern. 6. Im Budget-Spiel geht es darum, die Position auszubauen, die man bereits innehat (z.B. durch mehr Geld, mehr Stellen, mehr Raum, mehr Ausstattung, mehr Ressourcen jedweder Art). Das Spiel ist hoch formalisiert und allen gewieften TaktikerInnen bekannt: immer mehr fordern als man braucht (weil sowieso alles gekürzt wird), immer alles „rational“ begründen (können), die wahren Verhältnisse kaschieren, alle Mittel zum Periodenende verbrauchen etc. 7. Im Expertise-Spiel wird das eigene Expertentum übertrieben oder vorgetäuscht, Unentbehrlichkeit und Unersetzlichkeit behauptet, Fachwissen ausgespielt (oder zurückgehalten) oder es werden – wohlgesonnene – externe ExpertInnen (z.B. für Beratungen oder Gutachten) aufgeboten. 8. Das Dominanz-Spiel heißt im amerikanischen Original „lording“. Damit ist gemeint, dass man seine Macht voll ausspielt oder an anderen auslässt, um sie einzuschüchtern. Es wird offen gezeigt, wer der „Herr im Hause“ ist; jene werden tyrannisiert, die einem ausgeliefert sind. IV. Spiele zur Bekämpfung von Rivalen 9. Im Linie-gegen-Stab-Spiel stehen zwei legitime Einflussprinzipien gegeneinander: formale Autorität und Fachwissen (Expertentum, Regelwissen). Die Stäbe haben häufig viele Informationen, die sie gegen die Linie ausspielen können und sie können darüber hinaus versuchen, diese zu entmachten, in dem sie möglichst viel von deren „intuitiver“ oder „irrationaler“ Tätigkeit „rationalisieren“ (d.h. formalisieren, standardisieren, messen, dokumentieren…). Die Linie setzt ihre „administrative Rationalität“, d.h. ihr Wissen, wie es vor Ort zugeht, ihr Gespür, ihre Erfahrung etc. dagegen. 10. Das Rivalisierende-Lager-Spiel ist häufig das Ergebnis von Reichsgründungs- und Bündnis-Spielen. Es bilden sich zwei feindliche Lager heraus, die sich gegenseitig in Nullsummen-Spielen bekämpfen (z.B. „die alte Garde“ und „die Neuerer“). V. Spiele zur Realisierung organisationalen Wandels 11. Im Strategische-Kandidaten-Spiel sind mit „strategischer Kandidat“ nicht nur Personen (in die Karriere-Hoffnungen gesetzt werden), sondern auch Vorschläge, Projekte, Inves175
lat. „Teile und herrsche“
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Theoretischer Bezugsrahmen
titionen oder Programme gemeint. In diesem Spiel gibt es drei Phasen: Zuerst muss ein „Kandidat“ gefunden oder generiert werden, danach muss er als wertvoll und wichtig „verkauft“ und schließlich muss er durchgesetzt werden (um sich letztendlich „dranhängen“ zu können). 12. Im Verpfeifen-Spiel können Insider ihr Wissen um eine vertuschte oder geheim gehaltene Normverletzung (einer gesellschaftlichen und/oder organisationalen Norm) in der Organisation an Außenstehende (z.B. die Medien) weitergeben, um diese zum Eingreifen oder zur Mobilisierung von Opposition zu motivieren. 13. Das Jungtürken-Spiel ist im Grunde eine Extremvariante der „Widerstands-Spiele“: es geht um einen radikalen Wandel. Die bestehenden Machtverhältnisse und Ordnungen sollen durch eine Art „Staatsstreich“ umgestürzt werden. Dieses Spiel wird meist von hochrangigen Organisationsmitgliedern in verschwörerischen Geheimzirkeln vorbereitet und läuft auf eine Revolution hinaus; die Spieler gehen ein hohes Risiko ein Abbildung 16: Organisationale Spiele176 (Quelle: Mintzberg 1983, S. 188-217, zitiert nach Neuberger 1995, S. 195 ff.)
Nachdem bisher die Verfeinerung zentraler Dimensionen der strategischen Organisationsanalyse vorgestellt wurde, geht es im Folgenden um eine abschließende systematische Analyse von (mikro)politischen Situationen. Während Crozier & Friedberg (1993) ihren Ansatz in einem essayistisch, literarischen Stil beschreiben, analysiert Neuberger (1995a) die darin enthaltenen Definitionsmerkmale und trägt damit zu einer klareren Strukturierung des Untersuchungsfeldes bei.
3.3.3 Die systematische Analyse (mikro-)politischer Situationen Während sich andere Autoren in Abhängigkeit von ihrem Erkenntnisinteresse entweder eingehend mit einzelnen Teilaspekten der Thematik befassen oder lediglich einen groben Überblick geben177, benennt Neuberger (1995a) systematisch die Definitionsmerkmale politischer Situationen. Diese leitet er aus einer Vielzahl von Bestimmungen des Politischen ab, indem er häufig auftauchende Akzentsetzungen identifiziert und darauf seine Auffassung stützt: 1. „Akteure haben sowohl Handlungsspielraum wie Ressourcen, die von anderen begehrt werden; 2. es kommt zur Beziehung zwischen konkreten Personen (und nicht typisierten Akteuren oder Rollen); deshalb spielen emotionale und motivationale Aspekte eine sehr wichtige Rolle; 3. zwischen den Akteuren bestehen Interessens-, Beurteilungs- oder Verteilungskonflikte; 4. es gibt Machtdifferentiale und 5. gleichzeitig eine wechselseitige Abhängigkeit der Beteiligten;
176 177
Für eine Kurzfassung vgl. Mintzberg (1999, S. 270 f.). vgl. Abschnitt 3.1
Kritik und konzeptionelle Weiterentwicklungen
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6. die soziale Situation, in der Einfluß ausgeübt wird, ist vorstrukturiert (organisiert): die Beteiligten kennen sich und ihre formalen Positionen/Rechte; es gibt Grundregeln, die von beiden Parteien (E und A) nicht in Frage gestellt werden; 7. Situationen, Beziehungen und Handlungsweisen verändern sich fortwährend; 8. die Handlungssituation ist zumindest für eine der Parteien nicht völlig transparent“ (Neuberger 1995, S. 157, Hervorhebungen im Original).
Aus diesen „acht Merkmalen des Politischen“ – die mit der strategischen Organisationsanalyse kompatibel sind178 – entwickelt er Leitfragen, die meiner Meinung nach für die Analyse von politischen Konstellationen in Reorganisationsprozessen hilfreich sind, aber auch zahlreiche forschungspraktische Fragen aufwerfen (vgl. Neuberger 1995, S. 22 ff.): 1. Akteursperspektive, Handlungsorientierung: „Wer tut was (nicht)?“ 2. Intersubjektivität: „Welche interpersonalen Beziehungen existieren?“ oder „Welche anderen Subjekte sind – in welcher Konstellation – beteiligt?“ 3. Interessen: „Warum oder wozu handelt jemand?“ 4. Macht: „Wie wird das Geschehen beherrscht oder kontrolliert?“ 5. Dialektik der Interdependenz: „Wie wird wechselseitige Abhängigkeit bewältigt?“ 6. Legitimation: „Wie werden Handlungen oder Verhältnisse gerechtfertigt?“ 7. Zeitlichkeit: „Wie wird mit Instabilität, Wandel, Chancen umgegangen?“ 8. Ambiguität: „Welche Mehrdeutigkeiten, Widersprüche und Intransparenzen erlauben / erfordern (‚interessiertes‘) Handeln?“ Die anschließenden Ausführungen zeigen, dass die einzelnen Untersuchungsfelder jeweils sehr weit gefasst werden können und z.T. der Eindruck entsteht, dass mehr Fragen aufgeworfen, als beantwortet werden. Auf welche Teildimensionen im konkreten Fall besonders geachtet werden muss, hängt von den untersuchungsspezifischen Erkenntnisinteressen ab (vgl. Schirmer 2000, S. 37).
3.3.3.1 Akteursperspektive und Handlungsorientierung Die Frage: „Wer tut was?“ thematisiert sowohl die handelnden Personen als auch deren Handlungen. Bei der Analyse von Reorganisationsprozessen in Organisationen müssen also zunächst die beteiligten Akteure (Wer...?) identifiziert werden. Allein diese Frage ist nicht zweifelsfrei zu beantworten. Während sich beispielsweise 178
Schirmer (2000, S. 37) interpretiert Neubergers Leitfragenkatalog daher als eine systematische Binnendifferenzierung der strategischen Organisationsanalyse zur Charakterisierung politischen Verhaltens in Organisationen.
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Theoretischer Bezugsrahmen
Friedberg (1995) auf den Standpunkt stellt, dass alle von Veränderungen Betroffenen an einem politischen Abstimmungsprozess teilnehmen, auch wenn dieser „stillschweigend“ erfolgt (vgl. Abschnitt 3.1), gestehen Greifenstein et al. (1993) nur den Beteiligten einen Akteursstatus zu, die im Regelproduktionsprozess (legitime) Definitionsmacht besitzen (vgl. Abschnitt 3.4). Der Handlungsbezug (...tut was?) lässt es offen, ob es Positionen oder Rollen sind, die das Verhalten bestimmen oder ob unbewusste Motive, Persönlichkeitsdispositionen, individuelle Ziele und Absichten den Ausschlag geben. Der „Eigensinn“ der Subjekte, der sich nie völlig unterdrücken lässt, ergibt sich letztlich aus der situationsabhängigen „Gemengelage“ von Interessen, Handlungsgelegenheiten, Erfahrungswerten etc. (vgl. Neuberger 1995, S. 27). Diese Sichtweise erweitert die Bandbreite an möglichen Analyse- und Interpretationskonzepten: neben betriebswirtschaftlichen Ansätzen können beispielsweise auch soziologische, politologische oder psychologische Theorieansätze zum Einsatz kommen (vgl. Abschnitt 3.4). Neben der bereits aufgeworfenen Frage nach den beteiligten Akteuren bringt die Akteursorientierung für die Analyse noch weitere Abgrenzungsprobleme mit sich (ebd., S. 29 ff.): •
Da relevante abwesende Akteure und deren antizipierte Handlungen beobachtbares Verhalten z.T. erst verständlich machen, stellt sich für die Analyse die Frage, wie man diese (unsichtbaren) Akteure findet und begrenzt.
•
Für eine umfassende Analyse dürfen die einzelnen personalen Akteure zudem nicht isoliert betrachtet werden. Neben den Abhängigkeiten durch strukturelle Determinanten (z.B. Machtverhältnisse, Legitimationsmuster) müssen auch die konkreten Beziehungen betrachtet werden (zu Intersubjektivität und Interdependenz vgl. die Abschnitte 3.3.3.2 und 3.3.3.5).
•
179
Da sich die Handlungsanalyse auf die Oberfläche des Geschehens beschränkt, können bzw. müssen zahlreiche latente, d.h. unbeobachtete oder unbeobachtbare, nicht thematisierte Handlungen erschlossen werden („EisbergModell“179). Das gilt auch für das – überraschende, unerwartete – Nicht-Handeln: „Wer tut was nicht (obwohl es zu erwarten gewesen wäre)?“.
Das gilt meiner Meinung nach sogar in zweifacher Weise: zum einen – wie Neuberger (1995 a, S. 32) meint – ist wie bei einem Eisberg nur die Spitze der Dynamik der Ereignisse sichtbar, ein Großteil der damit zusammenhängenden Handlungen muss erschlossen werden. Zum anderen hat jede zwischenmenschliche Interaktion sowohl eine meist beobachtbare Sachlogik (die sichtbare Spitze des Eisbergs), die sich auf die Sachprobleme bezieht, als auch eine zu erschließende Psychologik, die die Beziehungsebene prägt (vgl. Langmaack & BrauneKrickau 1995, S. 66 ff.). Zum Eisberg-Modell für Themen des Change-Managements vgl. Jarmai (1997, S. 174).
Kritik und konzeptionelle Weiterentwicklungen
•
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Neben dem Handeln spielen auch nicht beobachtbare Kognitionen (Erwartungen, Interpretationen, Pläne, Vermutungen, Zuschreibungen etc.) eine Rolle, weil sie Basis von Anschlusshandlungen sein können: „Weil ich das von dir erwartet habe, habe ich so gehandelt!“ Auch hier stellt sich die Frage nach den geeigneten Analyseinstrumenten.
•
Da Handlungen immer mehrdeutig sind, können sie von verschiedenen BeobachterInnen unterschiedlich ausgelegt werden. Ausschlaggebend ist dabei die Interpunktion,180 die eine kontingente Ordnungsleistung der Beschreibenden ist. Auch die Beobachtung einer Handlung bildet nicht die objektive Realität, sondern die subjektive Wahrnehmung eines situierten, interessierten und kognitiv beschränkten Beobachters ab (vgl. Neuberger 2006, S. 105). Aus diesem Grund gibt es immer mehrere Wahrheiten und verschiedene Perspektiven auf eine Episode.
•
Weil gleichzeitig viele Handlungen stattfinden, können nicht alle mit gleicher Aufmerksamkeit verfolgt und thematisiert werden. Daraus ergibt sich das forschungsökonomische Problem einer sinnvollen Auswahl der Beobachtungsgegenstände und -zeitpunkte.
•
Es wäre zu kurz gegriffen, Handlungen nur subjektiv zu deuten. Ihre „objektive Funktionslogik“ muss unbedingt mit erfasst werden. Dabei sprechen die Daten allerdings nicht für sich, sondern werden erst durch selektive (Forschungs-)Fragen „zum Reden“ gebracht! Je nach Fokus des verwendeten AnaIyse- und Interpretationskonzeptes (s. oben) können daher beim selben Untersuchungsgegenstand unterschiedliche Antworten gefunden werden.
Diese Aufzählung macht deutlich, dass sich aus der Akteursperspektive zahlreiche forschungspraktische bzw. -ökonomische Fragen hinsichtlich der Abgrenzung des Untersuchungsgegenstandes sowie der Datenerhebung und -analyse ergeben, die nicht einfach zu beantworten sind. Für die Datenerhebung empfiehlt beispielsweise Friedberg (1995, S. 301 ff.), der Forscher soll eine empathische Haltung einnehmen und sich mit klinischen und qualitativen Methoden auf eine Reise in die „Innerlichkeit“ der Akteure begeben (vgl. Kapitel 4). Um Aussagen darüber machen zu können, wie die Akteure (z.B. BefürworterInnen und GegnerInnen von Modernisierungsprozessen) ihre Interessen durchsetzen oder verteidigen bzw. dies versuchen, muss das Verhalten der beteiligten Akteure zunächst beobachtet und anschließend interpretiert werden. Für die Analyse und Interpretation schlägt Neuberger (2006, S. 85 ff.) zwei Verallgemeinerungsrichtungen vor, die in folgender Abbildung dargestellt sind:
180
Mit „Interpunktieren“ ist gemeint: (willkürlich) die eine Handlung als Ursache, die andere Handlung als Folge auszulegen. Dabei ist die Frage nach der Ursache oft so unbeantwortbar wie die Frage: „War zuerst die Henne oder das Ei da?“ (vgl. Schulz von Thun 2006, S. 85 ff.)
118
Theoretischer Bezugsrahmen
Abbildung 17: Der Zusammenhang von Handlungen, Taktiken, Strategien181 und Haltungen (Quelle: Neuberger 2006, S. 104)
Ausgehend von der mittleren Ebene der beobachteten bzw. berichteten Verhaltensweisen lassen sich diese entweder (nach unten) zu Taktiken und Strategien bündeln oder (nach oben) „verinnerlichen“, d.h. zu Eigenschaften und Haltungen generalisieren (vgl. Neuberger 2006, S. 105). Haltungen und Eigenschaften sind dauerhafte und sowohl sachlich wie sozial generalisierte Dispositionen einer Person (z.B. Machiavellismus als Persönlichkeitseigenschaft oder Macht als Motiv),182 die das Handeln bestimmen und verlässlich vorhersagen lassen. Die Ebene der Haltungen und Persönlichkeitsmerkmale ist nicht direkt beobachtbar und hat alleine generell eine geringe Erklärungskraft, um Handeln in konkreten und komplexen Situationen vorherzusagen.183 Jede Personalisierung interpersonalen Geschehens verengt zudem den Blick auf individuelle Potenzen und 181
182 183
Die Einteilung der Strategien in „weich“, „rational“ und „hart“ geht auf Kipnis & Schmidt (1985) zurück (vgl. Somech & Drach-Zahavy 2002, S. 168). Vgl. Bosetzky (1992, S. 27 ff.) Exemplarisch dazu die Erkenntnisse zum eigenschaftstheoretischen Ansatz der Führung (vgl. Neuberger 2002, S. 237 ff.)
Kritik und konzeptionelle Weiterentwicklungen
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greift damit zu kurz. Durch die personale Attribution schreiben sich Handelnde zum einen mehr Einflussmöglichkeiten zu, als sie tatsächlich haben184 und werden zum anderen für Vorgänge zur Rechenschaft gezogen, die sie weder gewollt, noch (allein) verursacht haben (vgl. Neuberger 1995, S. 110 ff.). Trotzdem hängt der Einsatz und Erfolg von mikropolitischen Taktiken, zwar maßgeblich vom organisationalen Kontext, aber eben auch von Charakteristika der beteiligten Akteure (z.B. Phantasie, Feingefühl, Erfahrung, Kaltschnäuzigkeit) ab (vgl. Neuberger 2006, S. 147 ff.). Mikropolitische Taktiken sind alle (offen oder verborgen praktizierten) Finten, Tricks, Winkel- oder Schachzüge, Manöver oder Manipulationstechniken, die ein Akteur einsetzen kann, um sich Vorteile zu verschaffen. Prinzipiell sind diese Taktiken beobachtbar, das Geschehen verstehen kann man allerdings nur, wenn man die dahinterliegenden (Spiel)Regeln kennt, die die Situation kennzeichnen. „Soziales/politisches Handeln ist organisiert, d.h. es unterliegt Formbestimmungen, die von zwei GegnerInnen in einer Machtbeziehung nicht ausgehandelt, sondern vorausgesetzt werden. Nur auf der Grundlage solcher Festlegungen kann es Handlungsspielräume geben. Die Ordnung des Handelns bedient sich vieler Methoden: Hierarchie, Differenzierung, Formalisierung, Abstraktifizierung, Verregelung, Mediatisierung usw.“ (Neuberger 1995, S. 124, Hervorhebungen im Original).
In dieser Aufzählung sind alle Strukturdimensionen der Strukturebene von Ortmann & Becker (1995) enthalten (vgl. Abb. 14). Mit Mediatisierung (bei Ortmann & Becker „Signifikation“) ist gemeint, dass in allen sozialen Beziehungen Bedeutungen mit Hilfe von (Kommunikations-)Medien übermittelt werden müssen. Dies können spezielle (nur in einer bestimmten Beziehung gültige z.B. Gesten oder Worte zwischen zwei Verliebten) oder generalisierte (allgemein gültige z.B. Geld, Macht, Sprache, Vertrauen) Medien sein. Handlungen und Artefakte sind Symbole, über deren „Indexikalität“ (Verweisungsfunktion) man sich klar sein muss. D.h. jedes Zeichen ist für sich genommen mehrdeutig und muss daher unter zur Hilfenahme des zeitlichen und sozialen Kontextes interpretiert werden. Somit steckt auch hinter jeder dyadischen Interaktion eine zugrunde liegende, Person unabhängige Sinn-Ordnung, die in einer Deute-Gemeinschaft (z.B. Unternehmen, Familie, Paarbeziehung) weitgehend einheitlich gilt. In Organisationen sorgen die Herrschenden in der Regel dafür, dass ihre Sicht der Dinge zur dominanten – und damit unhinterfragten – Perspektive (d.h. der Rahmen für die „richtige“ Einordnung von Einzelerfahrungen) wird (vgl. Neuberger 1995, S. 124 ff. und Abschnitt 3.3.3.6).
184
Diese Allmachtsphantasien scheitern (auch) am emergenten Charakter politischer Prozesse (vgl. Abschnitt 2.4).
120
Theoretischer Bezugsrahmen
„Was zur fraglosen und allgemeingültigen Selbstverständlichkeit geworden ist, ist gerade dadurch hochpolitisch, weil es dem reflektierenden Bewußtsein und dem Streit zwischen den Interessenten vorübergehend entzogen ist ... Weil sie die ‚Prämissen-Selektion‘ bestimmt, ist die Stabilisierung einer Perspektive eine politische Strategie“ (Neuberger 1995, S. 132, Hervorhebungen im Original).
Auch Ortmann et al. (1990, S. 26) betonen, dass Fragen der Legitimation von Herrschaft, der normengestützten Machtausübung, der Ideologiebildung etc. aus einer Machttheorie nicht ausgeblendet werden dürfen. Damit erweist sich die manifeste (beobachtbare) Handlungsebene einer einfachen Handlungssequenz lediglich als Oberfläche einer komplizierten Tiefenstruktur von Handlungen und Beziehungen. Macht ist nicht sichtbar, sondern nur aus ihrer Wirkung erschließbar und jede (erfolgreiche) Handlung reproduziert in ihrem Vollzug die Bedeutungen, die ihren Vollzug erst ermöglichen (vgl. Ortmann et al. 1990, S. 12; Neuberger 1995, S. 125 ff.). Folgerichtig ist eine wichtige Vorbedingung für den erfolgreichen Einsatz einer Einflusstaktik die ihr zugrundeliegende Machtressource (vgl. Abschnitt 3.3.1). Bei jeder der folgenden Taktiken kann gefragt werden, auf welcher Machtgrundlage sie beruht (Neuberger 1995, S. 132 ff.). Da der Kreativität kaum Grenzen gesetzt sind, gibt es zahlreiche Versuche, die möglichen Taktiken zu klassifizieren.185 Im Folgenden als Überblick die „pragmatische Auflistung“ von Neuberger (1995a, S. 138 ff.): Zwang, (Nach-)Druck, Bestrafung, dominantes Auftreten: Diese Taktiken können nur eingesetzt werden, wenn Akteur A über die entsprechenden Machtgrundlagen und -mittel verfügt und Akteur B (bei Bedarf) Schaden zufügen kann (Kündigung, Züchtigung, Verletzung oder Entzug von Privilegien, Geld...). In jedem Fall wird damit gedroht, im Falle von Ungehorsam einen aversiven Reiz auszulösen, der Fluchtoder Vermeidungstendenzen zur Folge hätte, die wiederum von A blockiert werden müss(t)en. Belohnen, Vorteile verschaffen, Tauschhandel: Positive Verstärkung (versprechen oder verschaffen von Vorteilen und Nutzen) hat den großen Vorteil, die negativen Nebenwirkungen der Bestrafung (negative Emotionen, Fluchttendenzen, Reaktanz...) weitestgehend zu vermeiden. Auch diese Taktik kann nur eingesetzt werden, wenn über die entsprechenden Machtgrundlagen und -mittel verfügt werden kann 185
Neuberger (2006, S. 86 ff.) kritisiert hierbei allerdings, dass eine Hauptströmung mikropolitischer Forschung der How-to-do-it-Frage gewidmet ist. Deren Ergebnisse seien methodisch fragwürdig gewonnen und blenden die notwendige Kontextualisierung – als Einbettung in zeitliche, soziale und sachliche Zusammenhänge aus. Taktik-Listen als Verfahrensempfehlungen erscheinen häufig als Allzweckwaffen, blenden aber Möglichkeiten und Grenzen ihrer Anwendung aus.
Kritik und konzeptionelle Weiterentwicklungen
121
und wenn beide Seiten davon überzeugt sind, für sich einen Vorteil aus diesem Handel ziehen zu können. Diese beiden ersten Taktiken sind aus der Lernpsychologie als „KonsequenzenManagement“ (die Auftretenshäufigkeit des gewünschten Verhaltens wird durch Belohnung gesteigert, die des unerwünschten Verhaltens durch Bestrafung gesenkt) bekannt (vgl. Gage & Berliner 1986, S. 280 ff.). Beide Einflusstaktiken haben Tauschcharakter, d.h. A will etwas von B, aber auch B will etwas von A (z.B. Arbeitsleistung gegen Geld). Belohnt wird in dieser Tauschbeziehung die (Gegen-)Leistung und bestraft wird die Verweigerung der erwarteten (Gegen-)Leistung. In einer Tauschbeziehung haben aber immer beide Akteure eine gewisse Bestrafungsmacht (und Belohnungsmacht): die einen können beispielsweise durch Lohnkürzungen, die anderen durch aktiven oder passiven Widerstand signalisieren, dass sie mit der bestehenden Tauschrelation nicht (mehr) zufrieden sind. Appell an höhere Autoritäten bzw. geachtete Institutionen oder moralische Prinzipien: Bei dieser Taktik kann man sich auf personale (eine höhergestellte Person oder Personengruppe, der Betriebs-/Personalrat, die Staatsanwaltschaft, die Öffentlichkeit...) oder institutionelle (Menschenrechte, Zehn Gebote, BetrVG, Tradition, Sitte, Arbeitsgericht...) „Autoritäten“ berufen. Voraussetzung für das Einschalten einer höheren Autorität ist das Vorhandensein einer hierarchischen Ordnung, in der je nach Hierarchiestufe unterschiedlich weitreichende Wirkungschancen vertraglich geregelt sind (legitimer Besitz) oder faktisch hingenommen (angeeigneter Besitz) werden. Da auch der Zugang zu den Machtzentren gestuft ist, muss man die Wege und Verfahren kennen, um zur „höheren Autorität“ vorzudringen und gehört zu werden. Wer privilegierten Zugang hat, kann eher eine Beziehung zur höheren Autorität aufbauen (z.B. durch Loyalitätsbekundungen oder nützliche Vorleistungen) und hat im Konfliktfall bessere Chancen auf Rückendeckung und Fürsprache. Wenn Beziehungen zu außerhalb der Organisation liegenden Institutionen (Gewerkschaften, Kirchen, Parteien...) genutzt werden, spricht Bosetzky (1992, S. 30) von „geliehener oder induzierter Autorität“. Beim Einschalten von personaler Autorität kann der Übergang zur Koalitionsbildung fließend sein. Koalitionsbildung, Bündnis, gemeinsame Sache machen: Wenn die Kräfte eines Akteurs nicht ausreichen, um seine Interessen alleine durchzusetzen, kann er ein kalkuliertes Zweckbündnis mit anderen eingehen, die dieselben (oder ähnliche) Ziele haben. Damit sich der Aufwand für das Eingehen einer Koalition lohnt, müssen die anfallenden Transaktionskosten geringer als der (erwartete) Nutzen sein und es muss einen verbindlichen „Ergebnisaufteilungsvertrag“ geben. Solche kalkulierten
122
Theoretischer Bezugsrahmen
und kalkulierenden Arbeitsbündnisse zur individuellen Vorteilssicherung gibt es sowohl auf dyadischer, als auch auf Gruppen- und Organisationsebene (Mentoren, Gönner, Macht- und Fachpromotoren, Netzwerke, Organisationsmythen: „Wir sind alle eine große Familie“...). Wie später noch ausgeführt wird, spielen sie auch eine nicht unerhebliche Rolle in Reorganisationsprozessen (vgl. Abschnitt 3.3.3.2). Rationales Argumentieren, Sachlichkeit, vernünftiger Dialog, Überzeugen, Expertenmacht: Diese bei Befragungen – wahrscheinlich nicht zuletzt aus Gründen sozialer Erwünschtheit – am häufigsten genannte Einflusstaktik stützt sich lediglich auf die (akzeptierten) Problemlösefähigkeiten des einflussnehmenden Akteurs. Dies impliziert, dass nicht auf andere Einflussquellen (z.B. Belohnung oder Bestrafung, Hierarchie, Koalitionsbildung) zurückgegriffen wird. Eingesetzt werden kann diese Taktik nur, wenn das Problem oder die Streitfrage definiert werden kann und „objektive“ Lösungswege und ebensolche Bewertungskriterien benennbar sind. Insbesondere an dieser Taktik – die „eigentlich“ nur unter Voraussetzungen eingesetzt werden kann, die in der Praxis nur in wenigen Fällen gegeben sind – wird die „Doppelbödigkeit“ von mikropolitischen Taktiken (vgl. Abb. 18) deutlich. Da reale Problemsituationen in den meisten Fällen mehrdeutig sind und daher mehrere „Wirklichkeiten“ existieren, ist es eine Frage der Perspektive, ob eine Argumentation als „rational“ oder „pseudo-rational“ bewertet wird. Ausspielen der persönlichen Anziehungskraft oder Vorbildwirkung, Referenzmacht, Identifikation, Vorbild: Im Gegensatz zur Koalitionsbildung wird bei dieser Taktik eine unmittelbare und authentische persönliche Beziehung aufgebaut. Durch die persönliche Anziehungskraft (Aura, Charisma...) wird die nüchterne Transaktionsbeziehung emotionalisiert und löst Verehrung, Hingabe, Achtung, Liebe etc. aus und führt damit zur Identifikation mit der charismatischen Führung. Isolierung oder Ideologisierung, „begeisternde Appelle“: Im Gegensatz zur „berechnenden“ Taktik „Appell an höhere Autoritäten“ geht es hier um die emotionale Kraft („Sogwirkung“) von Träumen, Visionen oder Idealen. Der Einfluss wird unpersönlich, die Idee lenkt, begeistert, fanatisiert... Obwohl vordergründig Selbstlosigkeit propagiert wird (Identifikation mit einer Idee oder einem Kollektiv, im Dienst der Menschheit, der Nation...) handelt es sich aufgrund der Verschmelzung mit einem Ideal oder gar Gott viel eher um Selbstvergrößerung. Auch hier sei zum Abschluss noch einmal betont, dass der Einsatz und die Wirkung jeder Taktik von einer Vielzahl von Voraussetzungen (z.B. organisationaler Kontext,
Kritik und konzeptionelle Weiterentwicklungen
123
Persönlichkeitsmerkmale, Ziele, Machtbasen) abhängen und die Akteure damit bei der Auswahl von erfolgversprechenden Einflusstaktiken nicht frei sind186. Zur Erläuterung der am häufigsten genannten Einflusstaktiken wurde bisher lediglich eine dyadische Beziehung zwischen A und B betrachtet. In realen Situationen werden mikropolitische Taktiken jedoch in Systemen eingesetzt, die wesentlich komplexer und damit für den einzelnen Akteur nur teilweise kalkulierbar sind. Da Systeme nach ihren eigenen (schwer zu durchschauenden) Regeln funktionieren, kann ein Machteingriff das Gewollte, Nichts, etwas Anderes oder das Gegenteil bewirken – also intendierte und nicht intendierte Folgen haben.187 Die weitverbreitete Tendenz, die Möglichkeiten zu überschätzen, andere Personen oder die Strukturen, in die man eingebunden ist, zu verändern, wurde bereits im Abschnitt 2.3 „Veränderungsprozesse gestalten“ dargestellt. Strategisches Handeln ist immer eine Intervention in ein komplexes System und deren Erfolgswahrscheinlichkeit sind enge Grenzen gesetzt“ (vgl. Neuberger 1995, S. 108). Zu dieser Unübersichtlichkeit trägt bei, dass Politik in Organisationen in den allermeisten Fällen über Vermittlung oder Vertretung abgewickelt wird. Das heißt, Akteure vertreten nicht nur ihre eigenen Interessen, sondern auch die anderer Gruppen (Bereiche, Personen...) oder Inhalte und Ziele (Termineinhaltung, Qualitätssicherung, Kostensenkung...). „Aufgrund dieser universellen Vertretungssituation entfaltet sich eine oftmals unüberschaubare und unkontrollierbare Dynamik, die Voraussetzung und Spielfeld politischen Handelns ist. Denn jeder Akteur repräsentiert fast immer mehrere Positionen aus dem genannten Set von Personen/Projekten/Zielen und er bzw. sie kann das ausdrücklich oder vorgeblich oder implizit tun; die jeweils andere Seite muß ausloten, wen oder was jemand ‚eigentlich‘ vertritt und ob bzw. wie sehr der politische Akteur ‚identifiziert‘ werden kann mit der Gruppe oder Aufgabe oder Zielsetzung, für die der Delegiertenstatus beansprucht oder vermutet wird. Es kann sogar so weit gehen, daß ‚die Sache/Gruppe selbst‘ so nicht existiert, wie sie repräsentiert (dargestellt, vertreten) wird“ (Neuberger 1995, S. 150, Hervorhebungen im Original).
Auch diese Problematik spielt insbesondere in Reorganisationsprozessen eine wichtige Rolle. Die Repräsentanten für Anliegen oder Gruppen werden entweder (von oben) bestimmt oder (von unten) gewählt und je nach Aufgabe auch routinisiert und institutionalisiert (z.B. der Personalrat als Interessenvertretung der Beschäftigten). Sie sollen „Sprachrohr“ sein, d.h. die Interessen der Gruppe oder des Anliegens ver186
187
Ausführlich zu den Bedingungsmodellen in der mikropolitischen Forschung (vgl. Neuberger 2006, S. 154 ff.). zum Phänomen der Emergenz von politischen Prozessen vgl. Abschnitt 2.4
124
Theoretischer Bezugsrahmen
treten, woraus sich zwei Probleme ergeben (können). Erstens ist es fraglich, ob die zu vertretenden Interessen homogen sind und zweitens hat jeder Akteur (als Person, als Amtsinhaber und als Prozessbeteiligter) auch eigene Interessen, die mehr oder weniger mit denen der Vertretenen übereinstimmen. Unter dem Deckmantel von Zweckdienlichkeit und Allgemeinwohl lassen sich dann (auch) – unerkennbar und entwirrbar – zahlreiche eigennützige Motive realisieren (vgl. Dick 1992, S. 12). Damit ist implizit schon eine Taktik angesprochen, die Neuberger (1995a) als „MetaTaktik“ bezeichnet: das Täuschen. Jeden der oben genannten Einflussversuche kann man nämlich entweder offen und authentisch oder aber verdeckt bzw. unter Vorspiegelung falscher Tatsachen einsetzen. Wenn geblufft, getäuscht und getrickst wird, bleibt die versprochene Belohnung aus oder ist nichts wert; der Strafandrohung fehlt die Entschlossenheit oder die Möglichkeit der Durchsetzung; dem rationalen Argumentieren fehlt bei näherer Betrachtung die sachliche Grundlage; die vorgeblich ‚gemeinsame’ Sache in einer Koalition erweist sich als raffinierte Ausnützerei; persönliche Bewunderung entpuppt sich als gezielt inszeniertes Radfahren; die beschworenen Ideale entlarven sich bei näherem Zusehen als Kaschierungen persönlicher Vorteile... (vgl. Neuberger 1995, S. 152 ff.): Der Einsatz der Taktik erfolgt offen, authen-
Der Einsatz der Taktik erfolgt verdeckt, in
tisch
Täuschungsabsicht
1. Zwang oder Druck ausüben, bestrafen, bestimmt auftreten
Bluffen, einschüchtern
2. Belohnen, Vorteile verschaffen
Hohle Versprechungen machen, ködern, Schund andrehen
3. An höhere Autoritäten, Institutionen oder
Korruption, erlogene Beziehungen, Verfälschung
Prinzipien appellieren 4. Rationales Argumentieren
von Normen, Missbrauch von Vorrechten Fassade von Rationalität präsentieren, blenden,
5. Koalitionen bilden
hochstapeln Pseudo-Partizipation, geheuchelte Verschmel-
a) E mit A gegen X Kooperation, Fusion, Partizipation
zung
b) E mit X gegen A
Intrigen, Kabalen, Verschwörungen
Solidarisieren, Allianzen bilden 6. Persönlich attraktiv sein, Vorbild oder Modell sein 7. Idealisieren, Visionen bieten, Inspirieren
Schmeicheln, radfahren, lobhudeln, Imponiergehabe zeigen; Personenkult inszenieren, vergötzen Ideologisieren
Abbildung 18: Offener und verdeckter Gebrauch mikropolitischer Taktiken (Quelle: Neuberger 1995, S. 154)
Kritik und konzeptionelle Weiterentwicklungen
125
Hier wird deutlich, dass nicht die beobachtbare Handlung an sich, sondern deren Interpretation als offen oder verdeckt eingesetzt, eine Bewertung nach sich zieht. Während beispielsweise das „rationale Argumentieren“ übereinstimmend als positiv bewertet wird, finden sich sicher weniger Menschen, die „blenden und hochstapeln“ (offen) positiv bewerten. Die Problematik der Bewertung mikropolitischen Handelns wird von Neuberger (2006) ausführlich behandelt. Er konstatiert, dass drei Fragen geklärt werden müssen, wenn man Mikropolitik als abweichendes Verhalten betrachtet: 1. Wie und von wem wird definiert, was der Normbereich ist, 2. in welche Richtung wird abgewichen und 3. wie wird die Abweichung bewertet? Das als „nichtabweichend“ geltende Verhalten ist bereits mikropolitisch geprägt, da diese Festlegung vorher ausgehandelt wurde. Sie ist sozial konstruiert und legt die herrschende Norm („so soll es sein“) fest. Deviantes (abweichendes) Verhalten wiederum kann in zwei Richtungen von der Norm abweichen: der Akteur kann sich entweder weit über die Norm hinaus engagieren (Extra-Produktives Arbeitsverhalten) oder bleibt deutlich hinter den Anforderungen zurück (Kontraproduktives Arbeitsverhalten). Generell kann jegliches abweichende Verhalten (also auch „Übereifer“) als eigenmächtiges und eigensinniges Verhalten bewertet werden (meist im Nachhinein, wenn der Erfolg ausgeblieben ist) (vgl. Neuberger 2006, S. 42 ff.). Wenn man – wie ich in der vorliegenden Arbeit – keinen korrespondenztheoretischen,188 sondern einen konstruktivistischen189 Wahrheitsbegriff zugrunde legt, dann geht es bei der Nutzung oder gar Produktion von Doppelbödigkeit „nur“ um aktives Informationsmanagement. Und zwar nicht um das Verdrehen der sogenannten objektiven Wahrheit, sondern um das Erzeugen von Wirkung, d.h. letztlich um die Manipulation von Handlungsbereitschaften der zu beeinflussenden Akteure (vgl. Neuberger 1995, S. 152 ff.). Während viele AutorInnen „Strategie“ als Synonym für „Taktik“ verwenden, definiert Neuberger (2006) Strategie im Sinne von „policy“.190 Damit kann man die Taktiken mit Spielzügen und die Strategien mit Spielstrategien vergleichen (vgl. Neuberger 2006, S. 27). Strategien liegt ein Langfristschema zugrunde, das die Selektion, Kombination oder Sequenz von Taktiken nach einem leitenden Prinzip vorausplant. Sie sind typische Kombinationen oder Bündelungen von geplanten Einzeltaktiken, die person- oder situationstypisch eingesetzt werden. Ähnlich wie bei den Taktiken gibt es auch hier unterschiedliche Klassifikationsversuche, denen unterschiedliche Differenzierungskriterien zugrunde liegen. 188 189
190
d.h. Wahrheit ist die Übereinstimmung von Begriff und Sache d.h. es gibt keine „objektive“ Wahrheit, sie ist sozial konstruiert (vgl. exemplarisch Berger & Luckmann 1987) vgl. Abschnitt 3.1
126
Theoretischer Bezugsrahmen
Als Beispiel führt Neuberger (1995a, 2006) vier in der Praxis häufig vorkommende Manager-Typen an, die Kipnis & Schmidt (1988) durch Befragungen identifiziert haben. Sie lassen sich jeweils durch eine bestimmte Kombination von Einflusstaktiken (Rationalität, Freundlichkeit, Nachdruck, Tauschhandel, höhere Autorität, Koalition) kennzeichnen: „UniversalistInnen“ erreichen bei allen Einflussstrategien überdurchschnittliche Werte; „ZuschauerInnen“ lassen die Dinge treiben und haben ausnahmslos in allen Dimensionen die niedrigsten Werte; „TaktikerInnen“ bevorzugen einseitig „rationales Argumentieren“; „BeziehungsspezialistInnen“ belegten in praktisch allen Dimensionen kompromisshafte Mittelwerte, lediglich in „Freundlichkeit“ erreichten sie den Spitzenwert. Andere Einteilungen orientieren sich beispielsweise an der WeichHart-Typologie. So fassen Somech & Drach-Zahavy (2002, S. 172 ff.) auf der Basis einer Faktorenanalyse die Taktiken Austausch, Einschmeicheln, Rationalität als „rationale und weiche Strategie“ und die Taktiken Koalitionen, Assertiveness,191 Einschalten höherer Instanzen und Sanktionen als „harte Strategie“ zusammen. Bereits 1995 räumt Neuberger ein, dass Typologisierungen zwar den großen Vorteil haben, Ordnung in ein unübersichtliches Terrain zu bringen, aber eben so wie Personalisierungen die Zeit- und Situationsabhängigkeit von (mikropolitischem) Handeln vernachlässigen. Das Geschehen ist über die dyadische oder interpersonale Interaktion hinaus in größere zeitliche und soziale Zusammenhänge eingebettet. Kein Akteur kann in realen Situationen völlig frei aus dem Arsenal aller zur Verfügung stehender Techniken wählen, da Strukturen und Systeme nur einen eingeschränkten Entscheidungskorridor offen lassen. Ein weiterer großer Nachteil ist die vermeintliche Eindeutigkeit von Typologien, die der Doppelbödigkeit von mikropolitischen Strategien (vgl. Abb. 18) nicht gerecht werden kann (vgl. Neuberger 1995, S. 107 ff.). Das heißt aber nur, dass diese Typologien nicht dazu geeignet sind Handlungsempfehlungen (im Sinne von Patentrezepten) für die beteiligten Akteure daraus abzuleiten – für die Analyse des beobachtbaren Verhaltens in politischen Prozessen können sie ebenfalls hilfreich sein.
3.3.3.2 Intersubjektivität Im zwischenmenschlichen Miteinander sind die „Objekte“ des Handelns auch in bürokratischen Organisationen keine reinen „Paragraphen-Automaten“ (vgl. Weber 1972 und Abschnitt 2.1), sondern andere „Subjekte“ – d.h. diese „Objekte“ haben einen Eigensinn. Das erschwert die Handlungsplanung, da ein Subjekt erstens nicht „automatisch“, d.h. berechenbar reagiert, sondern das Handeln deutet und interpre191
engl. „Bestimmtheit, Durchsetzungsfähigkeit“
Kritik und konzeptionelle Weiterentwicklungen
127
tiert und auf der Grundlage dieser Deutungen reagiert. Zweitens wirkt der Vollzug des Handelns zurück auf den Handelnden und stabilisiert bzw. transformiert die Bedingungen, die das Handeln ermöglichten oder erzwangen (vgl. Neuberger 1995, S. 48). Intersubjektivität heißt also kurz gesagt, dass zwei Subjekte – beide mit „Eigensinn“192 ausgestattet – miteinander interagieren und sich gegenseitig beeinflussen. Dieser Eigensinn soll zwar eigentlich mit Hilfe der im Organigramm kodifizierten und legitimierten Machtstruktur minimiert werden, lässt sich aber nie völlig ausschalten, da die Akteure in einer Organisation die ihnen zur Verfügung stehenden Ungewissheitszonen in Verhandlungen einsetzen, um den anderen Akteuren soweit wie möglich ihre eigenen Interessen aufzuzwingen (vgl. Abschnitt 3.2.2). Crozier & Friedberg (1993) erläutern dies am Beispiel des Verhaltens eines Mitarbeiters seinem Vorgesetzten gegenüber. Dessen Verhalten beruht nicht nur auf Gehorsam und – vielleicht durch passiven Widerstand gemilderten – Konformismus, sondern ist das Ergebnis einer Verhandlung und zugleich ein Akt der Verhandlung. Dabei wird das Feld dieser Verhandlung für den Untergebenen einerseits begrenzt durch den ihm in seiner Arbeit zur Verfügung stehenden Handlungsspielraum, sowie von den technischen und sozialen Traditionen seines Berufs. Diese Gegebenheiten bestimmen seine Ersetzbarkeit und die Möglichkeiten, die genaue Beschaffenheit der von ihm zu lösenden Probleme zu kennen und ihn dadurch zu kontrollieren – also letztlich die Größe der von ihm beherrschten Ungewissheitszone und damit seine Machtbasis. Andererseits wird das Verhalten des Untergebenen auch geprägt sein durch die sich ihm bietenden Möglichkeiten, sich mit seinen Kollegen zusammenzutun und damit ihre Solidarität zu mobilisieren. Sein Verhalten wird davon geprägt sein, ob er es schafft, aus diesen verschiedenen Elementen seinen Vorteil zu ziehen, mit andern Beziehungen aufzunehmen, zu kommunizieren, Bündnisse einzugehen und aufzulösen. Wie er sich verhält, wird auch davon abhängen, ob er die psychologischen Spannungen ertragen kann, die das Risiko eines Konflikts mit sich bringen, wenn er sich nicht an die Anweisungen des Vorgesetzten hält. Schließlich und vor allem wird es von der Wahl der für ihn vorteilhaftesten Vorgehensweisen (d.h. Strategien und Einflusstaktiken) abhängen, die er aufgrund seiner intuitiven Kenntnis all dieser Elemente trifft (vgl. Crozier & Friedberg 1993, S. 26). Damit relativiert die Intersubjektivität den Akteursbezug: Akteure sind keine beziehungslosen asozialen Atome, sondern interagierende reflexive Subjekte, die in Be192
Um den Eigensinn der Subjekte zu beseitigen, wird in bürokratischen Organisationen angestrebt, alle Vorgänge rein sachlich abzuwickeln und das Handeln der Akteure durch Vorschriften, allgemeine Regeln und Formalien vorsehbar zu machen. Wenn man die Inter-Subjektivität vergesse und die anderen zu Objekten gemacht habe, könne man handeln wie ein Ingenieur (vgl. Neuberger 1995, S. 48 ff. und Abschnitt 2.3.1).
128
Theoretischer Bezugsrahmen
ziehungsnetze und Koalitionen eingespannt sind und oppositionelle Lager bilden können. Dabei spielt auch die Qualität der Beziehungen eine Rolle (Freundschaften, Gegnerschaften; sachlich, zeitlich und sozial begrenzte Zweckbündnisse...) sowie die „anwesenden Abwesenden“ und die zu objektiven Strukturen geronnenen unsichtbaren Interessen (z.B. das Lohnsystem) die verhaltenssteuernde Wirkungen haben. Elias (2009, S. 139 ff.) stellt hierzu fest, dass man zum Verständnis des Sozialen die „Figurationen“ der Beteiligten analysieren muss, d.h. die Interdependenzketten, die Menschen aneinander binden. Oder wie Neuberger (1995a, S. 48 ff.) es ausdrückt, man muss nach Netzwerken, Koalitionen und Bündnissen fragen: „Wer steckt mit wem unter einer Decke, wer hat bei wem ‚Schulden‘ zu begleichen, wo sind ‚Seilschaften‘ oder ‚Promotionsbündnisse‘...?“. Crozier & Friedberg (1993) weisen in diesem Zusammenhang darauf hin, dass man auch bei der Betrachtung von Gruppen nicht vergessen darf, dass diese – ebenso wie Organisationen – menschliche Konstrukte sind und keine von den Mitgliedern unabhängige Willens- und Handlungsfähigkeit besitzen. „Und wenn man zu begreifen versucht, wie und warum sich eine Gruppe bilden kann, bemerkt man, daß die Ähnlichkeit von Beschwerden oder die Behauptung gemeinsamer Ziele viel weniger entscheidend sind, als das Vorhandensein eines gemeinsamen Trumpfes, den man ausspielen kann (die Handlungsgelegenheit), und der Besitz einer ausreichenden Fähigkeit zur Interaktion oder, wenn man so will, zur Kooperation, die die Entwicklung gemeinsamen Handelns und also die Ausnutzung der vorliegenden Gelegenheiten ermöglicht“ (Crozier & Friedberg 1993, S. 31).
Wie bereits bei den Akteuren erläutert, kommt es auch bei einer Gruppe darauf an, was sie aus ihren Möglichkeiten (ihrer strategischen Situation im Produktionsprozess, ihrem beruflichen Qualifikationsgrad als Maß für die Freiheit und die Autonomie bei der Aufgabe und ihrem Grad an Interaktion zwischen den Gruppenmitgliedern)193 macht (vgl. Crozier & Friedberg 1993, S. 31). Damit geht es hier bei Crozier & Friedberg (1993) offensichtlich weniger um auf Dauer angelegte soziale Gruppen mit ihren spezifischen Definitionsmerkmalen (vgl. Sader 2000), sondern eher um Koalitionen im Sinne von kalkulierten und kalkulierenden Arbeitsbündnissen zur individuellen Vorteilssicherung.
193
Um den Grad der Interaktion abschätzen zu können, ist es für die Analyse vor allem wichtig zu fragen: „Wer kommuniziert wann und wo mit wem und welche Formen von Regelkommunikation (z.B. regelmäßige Besprechungen) gibt es?“.
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In Reorganisationen spielen Prozesse der Koalitionsbildung eine wichtige Rolle, um im Geflecht betrieblicher Interessenkonflikte und -betroffenheiten194 organisationalen Wandel zu initiieren und zu stabilisieren bzw. sich dagegen zu wehren (vgl. etwa Ortmann et al. 1990, S. 398; Schirmer 2000, S. 257; Muhr 2004, S. 244 ff.). Nach Sofsky & Paris (1991, S. 187 ff.) können Koalitionen als eine spezielle Konfiguration sozialer Macht betrachtet werden. Sie sind strategische Kooperationen, die vornehmlich gegen etwas, nicht für etwas sind. KoalitionspartnerInnen finden zusammen, weil sie gemeinsam mehr zu erreichen glauben, als allein. Dabei ist eine Koalition keine Assoziation gleicher und freier Brüder, aber Ungleichgewichte werden ertragen, solange gewährleitet ist, dass jeder Beteiligte am Ende mehr bekommt, als er individuell jemals bekäme. Dafür müssen die Verbündeten im Interesse der gemeinsamen Schlagkraft bereit sein, ihre eigenen Sonderinteressen dem gemeinsamen Arbeitskonsens zu unterwerfen. Da Koalitionen eher einer Vernunftehe gleichen, als einer intimen Partnerschaft, sind die Verbündeten ohne weiteres ersetzbar. Das mindert Abhängigkeiten und sichert Beweglichkeit – offenkundige Misserfolge sowie attraktive Abwerbestrategien der Kontrahenten rechtfertigen Austritte und Seitenwechsel. Koalitionen können nach ihren zwei zentralen sozialen Strukturprinzipien (Grad der sozialen Organisation und der sozialen Gemeinsamkeit) in folgende Koalitionstypen unterteilt werden (vgl. Sofsky & Paris 1991, S. 195 ff.): 1. Serielle Koalitionen werden lose von einer kollektiven Stimmungslage zusammengehalten. Beispielsweise treffen Innovationen in Organisationen häufig auf eine diffuse Ablehnungsfront, die kaum innere Verbindungen aufweist, aber im Konfliktfall (nicht abgesprochene) Parallelaktionen zur Folge haben (können). 2. Spontanbündnisse zeigen bereits erste Ansätze einer wechselseitigen Orientierung. Ohne vorherige Absprache schlagen die KoalitionspartnerInnen in einer dafür günstigen Situation in die gleiche Kerbe, imitieren einander, ergänzen und unterstützen sich gegenseitig. Doch so vergänglich die Anlässe, so vergänglich sind auch diese spontanen Allianzen. 3. Antagonistische Bündnisse sind bereits zeitlich stabiler. Sie bauen nicht auf sozialen Ähnlichkeiten auf, sondern beschränken sich aufs defensive Minimum, die nackte Selbsterhaltung oder Wahrung des gewohnten Kräftegleichgewichts. In Notlagen schließen sich manchmal auch Akteure, die sich spinnefeind sind, zu solchen Schutz- und Trutzbündnissen zusammen. Da die gemeinsamen Ziele jenseits der üblichen Frontlinien verlaufen, können auch ideologische Distanzen überwunden werden – aber nur solange, bis der gemeinsame Rivale besiegt ist. 4. Protokoalitionen sind dagegen Verabredungen auf Widerruf, explorative Partnerschaften, Allianzen vor der Allianz. Sie eignen sich zur allmählichen Annähe194
vgl. dazu den nächsten Abschnitt 3.3.3.3
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Theoretischer Bezugsrahmen
rung oder auch zur Sondierung der gegenseitigen Koalitionsbereitschaft, lassen aber den Rückzug offen. Da sich die (potentiellen) KoalitionspartnerInnen ihre Hintertürchen offen halten, ist im Ernstfall allerdings wenig Verlass aufeinander. 5. Zweckbündnisse gewinnen ihren Zusammenhalt durch eine gewisse Übereinstimmung in der Sache. Sie sind Allianzen auf Zeit, verkoppelt durch ein gemeinsames Programm oder einen strategischen Plan – sie wollen etwas erreichen. Hierbei ist nicht nur das Bündnis, sondern auch der Verbündete Mittel zum Zweck. Sachliche Auseinandersetzungen sind erlaubt, solange sie dem gemeinsamen Vorteil dienen. Sie verlieren ihren Wert, wenn sie ihren Zweck erfüllt haben oder sich als unzweckmäßig herausstellen und sie scheitern, wenn einer Alleingänge startet und den anderen auszubeuten beginnt. 6. Prophylaktisch-defensive Allianzen zielen auf die Verhinderung von Nachteilen ab. Defensive Koalitionen sind preiswert in ihrem Ressourcenbedarf, da für die Verteidigung des Status quo nur ein Mindestmaß an Handlungsaufwand nötig ist. Diesen Vorteil können sich auch die Mindermächtigen zunutze machen, wenn sie sich zu langfristigen Verliererbündnissen zusammentun, um die Kosten der Unterlegenheit untereinander aufzuteilen und die Gegenseite von Übergriffen abzuhalten – im Notfall durch aussitzen. 7. Organisierte Bündnisse sind dauerhaft Koalitionen, die durch Organisation die verstreuten Potentiale der Partner zu kompakter Schlagkraft verknüpfen. Je größer die dazu aufgebaute Bürokratie, desto höher der Objektivitätsgrad der Koalition, d.h. desto unabhängiger wird das Bündnis von aktuellen Anlässen. Das organisatorische Gehäuse der Koalition sorgt für Kontinuität – ist ihr ursprünglicher Zweck erfüllt, sucht der Apparat nach weiteren Aufgaben und gemeinsamen Zielen. 8. Habituelle Bündnisse sind nur mit extrem hohem Aufwand zu zerschlagen, da sie auf eingefahrenen Regelmäßigkeiten und fraglosen Gewohnheiten beruhen. Das Fundament ist kein Machtkalkül, sondern der Alltag einer Lebensform. Man ist Partner, weil man sich zusammengehörig fühlt, aufgrund langjähriger gemeinsamer Erfahrung, gleicher sozialer Stellung oder wegen der gleichen Mentalität, die ihren Ursprung in der gleichen Lebensweise hat. Die Macht der Gewohnheit garantiert Verlässlichkeit, Gleichsinnigkeit und Eintracht – Übergriffe und Neuerungen enden an der Mauer des kollektiven Habitus und bleiben folgenlos. Zur selben Zeit können sich in komplexen Machtfigurationen also ganz unterschiedliche Koalitionen gegenüberstehen, die von den Akteuren unter gewissen Bedingungen in Gang gesetzt, erhalten oder abgebrochen werden (vgl. Sofsky & Paris 1991, S. 205). Nach dieser Sichtweise sind Koalitionen in Wandelprozessen instabile und brüchige Konfliktbündnisse von Akteuren, die trotz teilweise gegenläufiger Interessen
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zur Durchsetzung von gemeinsamen Interessen gegen andere geschlossen werden – mal in taktischer Absicht, mal als eher implizites Geschehen (vgl. Ortmann et al. 1990, S. 395 ff.). Dabei müssen die Beteiligten mit einem hohen Ausmaß an NichtWissen und sozialer Intransparenz leben, da die anderen Subjekte und der weitere Gang der Dinge nicht berechenbar sind. So ist beispielsweise nicht quantifizierbar, welche Machtpotentiale die anderen Akteure einbringen oder verweigern können, wie groß die Widerstände sein werden etc. (vgl. etwa Schirmer 2000, S. 365; Muhr 2004, S. 50 ff.). In Reorganisationsprozessen kann neben den organisationsinternen Koalitionen auch eine bereits erwähnte organisationsübergreifende Koalition eine wichtige Rolle spielen: die Koalition zwischen der Unternehmensleitung und den von ihr angeheuerten BeraterInnen (vgl. Abschnitt 2.3.2). Dieses in der Regel als Zweckbündnis angelegte Berater-Klienten-System (BKS) muss von den beiden beteiligten Systemen eigens eingerichtet werden, damit Beratung überhaupt stattfinden kann. Innerhalb des Klientensystems (KS) muss sich zunächst ein System konstituieren, das sich für die Kooperation mit dem Beratersystem (BS) zuständig fühlt und die Ereignisse im BKS in das KS transferiert. Da dieses Subsystem in beiderseitigem Interesse von aufgeschlossenen und veränderungsbereiten „Helden des Wandels“ gebildet wird, entsteht eine nicht zu unterschätzende Delegiertenproblematik. Denn in dieser Konstellation besteht die Tendenz, die Veränderungsseite an das BKS (die „Change Agents“) zu delegieren und sich damit der ganze Rest des Systems – meist mit guten, handfesten Gründen der Routinelogik – darauf konzentrieren kann, die bewahrende Seite zu vertreten (vgl. Jarmai 1997, S. 175 ff.).
3.3.3.3 Interessen Hier wird die Handlungsanalyse („Wer tut was (nicht)?“) um eine energetische oder dynamische Perspektive erweitert, die die Frage stellt: „Wer tut was warum (nicht)?“. Es wird also nach den Beweggründen für das beobachtbare Verhalten gefragt. Aus Sicht des handelnden Subjekts können fremde (als Zumutung oder Zwang erfahrene) und eigene (als Autonomie empfundene) Interessen195 unterschieden werden, wobei fremde Interessen wiederum personalisiert (z.B. Vorgesetzter der mit Sanktionen droht) oder versachlicht (z.B. Fließband, Stechuhr) vorkommen. Die eigenen Interessen können als objektiv, d.h. universalisierbar, langfristig, rational begründbar oder subjektiv, d.h. individuell, kurzfristig, egoistisch betrachtet werden. Durch ge195
Mit „Interesse“ ist nach Sandner (1992a, S. 62) das Bestreben eines Akteurs gemeint, jene Situationen herbeizuführen oder zu erhalten, die unmittelbar oder mittelbar der (eigenen) Bedürfnisbefriedigung dienen.
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sellschaftliche und betriebliche Sozialisationsprozesse werden Teile des ursprünglichen Fremdzwanges (z.B. Arbeitstugenden wie Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit) verinnerlicht und zu eigenen Interessen („Selbst-Zwang“). Sind die für die jeweilige Organisation systemtauglichen und -dienlichen Tugenden anerzogen, verringern sich dadurch die Kontroll- und Transaktionskosten. Dieser Mechanismus ist der Kern jeder betrieblichen und gesellschaftlichen Sozialisation. Organisationen und Gesellschaften müssen so gestaltet werden, dass es im wohlverstandenen eigenen Interesse des einzelnen liegt, sich den kollektiven Zwängen zu fügen196. Aus ideologiekritischer Perspektive ist die Unterscheidung von „wahren“ und „falschen“ Interessen unverzichtbar, weil es sonst kein Argument gäbe, gegen bestehende – als schlecht bewertete – Verhältnisse vorzugehen. Dabei stellt sich allerdings die Frage, wer die Definitionsmacht über die Bewertung hat.197 Da die Betroffenen selbst aufgrund ihrer Sozialisation ihre „wahren“ Interessen u.U. gar nicht (mehr) kennen,198 müssen sie von einer außenstehenden Person oder Institution aufgeklärt werden. Daraus ergibt sich das Paradox, dass die benachteiligte Person zum Zweck der Mündigkeit zunächst bevormundet werden müsste199 (vgl. Neuberger 1995, S. 33 ff.). „Ein gut Stück der politischen Dynamik rührt daher, daß es Interessengegensätze gibt, daß latente Interessen ‚plötzlich’ virulent werden, daß über Interessen aufgeklärt werden kann oder daß sie manipuliert werden können, daß sich Personen oder Gruppen zu Sprechern oder Vertretern fremder Interessen machen... Es ist gerade die eigenartige Vermengung lernfähiger (kognitiver) und lernunfähiger (normativer) Erwartungen, die das Interessenkonzept für den politischen Diskurs so attraktiv macht: Dem Bestehenden kann eine Alternative gegenübergestellt werden, an der es sich messen lassen muß; wer Vorsprünge oder Vorteile hat, muß sie und sich rechtfertigen oder verteidigen; die Oberfläche der Erscheinungen kann ent-täuscht werden, allerdings ohne Garantie dafür, dass der Blick auf das Wahre freigegeben wird. Das Wichtigste an diesem Konzept ist, daß es existiert, denn es zwingt dazu, sich nicht zufriedenzugeben mit dem Sachlichen und Bestehenden, sondern unablässig zu fragen nach dem Verheimlichten, Möglichen, Besseren“ (Neuberger 1995, S. 44).
Organisationsmitglieder können also keine vollständig selbstbestimmten und selbstverwirklichenden autonomen Subjekte sein, die nur im eigenen Interesse handeln, 196
197
198
199
Elias (1997) erklärt die Notwendigkeit für diesen Prozess der Zivilisation durch die zunehmende Interdependenz größerer Menschengruppen voneinander, die nur funktionieren kann, wenn die Zwänge der Menschen aufeinander weitgehend in Selbstzwänge umgewandelt werden. Die Frage nach der Bewertung stellt auch Martin (2001, S. 14), der darauf hinweist, zwischen Interessen und Zielen zu unterscheiden. Obwohl das Setzen eines Zieles ein Versuch sei, seine Interessen zu definieren, kann man sich seiner Meinung nach auch Ziele setzen, die den eigenen Interessen zuwiderlaufen, z.B. mit Hilfe von Überstunden Karriere machen (Ziel) auf Kosten der eigenen Gesundheit (Interesse). Ein Phänomen, das beispielsweise auch in Forschungsarbeiten zum Thema Arbeitszufriedenheit thematisiert wird (vgl. z.B. Matiaske & Mellewigt 2001) Dieses Problem wurde schon früher, z.B. im Rahmen von HdA-Projekten zur Einführung von Gruppenarbeit thematisiert (vgl. Neuberger 1995).
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sondern sind auch den in der „Natur der Sache“ liegenden Handlungszwängen (der Macht der Verhältnisse) unterworfen. Türk (1989, S. 143 ff.) identifiziert drei „kapitalistische Organisationslogiken“, die er von der dreifachen Funktion des kapitalistischen Produktionsprozesses ableitet: erstens die Kooperationslogik im konkreten Arbeitsprozess, zweitens die Verwertungslogik im Verwertungsprozess des eingesetzten Kapitals und drittens die Herrschaftslogik im Prozess der sozialen Reproduktion gesellschaftlicher Herrschafts- bzw. „Ungleichheits“-Beziehungen.200 Das heißt, betriebliche Strukturen dienen nicht nur der Vermittlung realer Kooperation zwischen den Organisationsmitgliedern, sondern auch der Erwirtschaftung von Mehrwert und der Aufrechterhaltung sozialer Differenzierungen. Diese und andere Handlungslogiken (vgl. Moldaschl 2004, Abschnitt 2.2.1; Ortmann & Becker 1995, Abschnitt 3.3.2) strukturieren konkrete Ziele, Interessen und Mittel der Organisierung, eröffnen Felder für Meso- und Mikropolitik, sind aber in sich und untereinander konfliktbehaftet. Da die verschiedenen Logiken in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen und jede einseitige Akzentsetzung die Handlungsfähigkeit des Gesamtsystems (früher oder später) gefährdet, gibt es Wahlmöglichkeiten im Hinblick auf Handlungsmöglichkeiten und -notwendigkeiten, die von interessierten Akteuren (mikropolitisch) genutzt werden können (vgl. dazu auch Neuberger 1995, S. 45 ff.). Da Interessen, die in offiziellen Entscheidungsarenen der Organisation durchgesetzt werden konnten, dadurch legalisiert und zu offiziellen Zielen der Organisation werden (vgl. Sandner 1992a, S. 72), ist die Frage nach den durch Reorganisationsinitiativen ausgelösten Interessenbetroffenheiten und -konflikten ein wesentlicher Schlüssel zur Interpretation der Interaktionsdynamik in organisationalen Wandelprozessen. Interessenkonflikte treten allerdings nicht nur zwischen „oben“ und „unten“, d.h. zwischen Management und Belegschaft, sondern auch zwischen den Akteuren im Management (bzw. in der Belegschaft) auf. Dies wird u.a. damit erklärt, dass alle Akteure (auch Manager) ein ganzes Bündel von handlungsorientierenden und evtl. konfligierenden Interessen vertreten: Funktionsinteressen (die sich aus der Aufgaben- und Funktionslogik der Unternehmensteuerung ergeben), persönliche Interessen (z.B. Einkommens-, Status-, Karriereinteressen), Interesse an politischer Differenzierung (Aufrechterhaltung oder Änderung von Macht- und Herrschaftsbeziehungen), professionelle Interessen (Reputation auf fachlicher Ebene). Während die potentiellen RationalisierungsgewinnerInnen Koalitionen für den Wandel bilden, schließen sich die potentiellen RationalisierungsverliererInnen mit dem gemeinsamen Interesse an der Bewahrung des Staus quo zu Schutzbündnissen gegen drohende
200
Die Trennungslinien verlaufen dabei an vielen Fronten: Rang, Status, Qualifikation, Geschlecht, Alter, Nationalität, Einkommen... (vgl. Neuberger 1995, S. 46).
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Wohlfahrtsverluste (z.B. Macht-, Status-, Einkommensverluste) zusammen (vgl. exemplarisch Schirmer 2000, S. 247 ff.).
3.3.3.4 Macht In der Leitfrage, wie das Geschehen beherrscht oder kontrolliert wird, steckt bereits der Kern vieler Machtdefinitionen. Wie auch bei Crozier & Friedberg (1993) geht es in den meisten Definitionen um Bewegungsbewirkung oder -verhinderung: den Gang der Dinge (nicht) zu ändern (vgl. Neuberger 1995, S. 52 ff.). In Abhängigkeit von den Grundannahmen über die Funktionsweise von Organisationen, werden jedoch unterschiedliche Wirkmechanismen postuliert. Aus einer rationalitätsorientierten Perspektive kann man beispielsweise davon ausgehen, dass das Handeln der Subjekte in Anerkennung von Sachzwängen der Einsicht in die Notwendigkeit folgt. Im Rahmen herrschaftsfreier Kommunikation kann ein vernünftiger Konsens erzielt werden, da allein das bessere Argument entscheidet. Nach einer (machtfreien) systemischen Sichtweise ist (fast) alles programmiert und erledigt sich ohne Alternativen von selbst. In der von mir präferierten machtzentrierten Analyse wird davon ausgegangen, dass Aushandlungsprozesse stattfinden, in denen Individuen oder Gruppen auf andere Individuen oder Gruppen in beabsichtigter Weise einwirken (vgl. Weber 1972, Crozier & Friedberg 1993, Friedberg 1995). „Jede ernstzunehmende Analyse kollektiven Handelns muß also Macht in das Zentrum ihrer Überlegungen stellen, denn kollektives Handeln ist im Grunde nichts anderes als tagtägliche Politik. Macht ist ihr ‚Rohstoff‘“ (Crozier & Friedberg 1993, S. 14).
Die zentrale Frage: „Was ist Macht?“ kann letztlich nur durch Setzung und Konvention beantwortet werden. Da die Darstellung der vielen unterschiedlichen Machtkonzeptionen den Rahmen der vorliegenden Arbeit bei weitem sprengen würde,201 beschränke ich mich an dieser Stelle auf einige wenige Anmerkungen, die meiner Ansicht nach auch für die Analyse von Reorganisationsprozessen relevant sind. Sandner (1992a, S. 157 ff.) entwickelt als dynamisches Grundmodell der Entstehung von Macht die Sequenz Unterordnungsaufforderung – Verhandlung – Akzeptanz. In dieser interaktiven Herstellung einer Über- und Unterordnungsrelation wird die Machtausübung des A („Unterordnungsaufforderung“) erst nach längerer oder kürzerer Verhandlung zwischen A und B mit der Akzeptanz der Unterordnungsbedingungen durch B möglich. Stimmt B zu (was er nur tun wird, wenn er zur Realisierung 201
Für eine umfassende Darstellung der organisationstheoretischen Machtdiskussion vgl. exemplarisch Sandner (1992a, 1992b).
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seiner Interessen auf die von A kontrollierten Ressourcen angewiesen ist), kommt es zu einer vereinzelten Machtausübung von A über B. Damit kann jede direkte und persönliche Machtausübung im Unternehmen erklärt werden, unabhängig davon in welcher Beziehung sie zum Betriebszweck steht und ob sie außerhalb oder innerhalb der Legalität liegt. Diese Machtausübung kann eine einmalige Sequenz darstellen oder im Wiederholungsfall zu einem anhaltenden Handlungsmuster und damit zu einer informellen Regelung werden. Da diese direkte Steuerung – mit explizitem Aufforderungscharakter – einen hohen Kommunikationsaufwand erfordert, sind Unternehmen mit zunehmender Komplexität auf mehr und mehr indirekte Steuerung angewiesen. Bei der indirekten Steuerung ist der steuernde A nicht sichtbar. Stattdessen wird versucht, die Unterordnung von B über dazwischengeschaltete technologische (z.B. Maschinen), bürokratische (z.B. Regeln), psychologische (z.B. Motive) oder kulturelle (z.B. Normen) Instanzen herbeizuführen. Türk (1981) bezeichnet diese beiden Formen der Steuerung als persönliche bzw. unpersönliche Handlungskontrolle: „Wir wollen hier persönliche von unpersönlicher Handlungskontrolle unterscheiden, obwohl natürlich – was bei dieser Dichotomisierung leicht vernachlässigt wird – auch unpersönliche Kontrollmittel wie Technik, administrative Regelungen und Stellenschneidungen stets von Personen eingerichtet werden. Der für die Untersuchung wichtige Unterschied liegt aber darin, daß im Falle unpersönlicher Kontrolle der Vorgesetzte oder allgemein: die Organisationsherrschaft dem einzelnen Unterstellten nicht direkt gegenübertritt, sondern versachlicht, objektiviert, so dass im Bewußtsein des Betroffenen er sich gleichsam ‚Sachzwängen‘ und nicht der Herrschaft durch Menschen unterworfen sieht. Diese Unterwerfung unter Arbeitsund Organisationsstrukturen wird offenbar – durch entsprechende Bildungs- und Sozialisationsvorgänge gefördert – leichter geduldet oder akzeptiert als die direkte face-to-faceAbhängigkeit von vorgesetzten Personen. Die Entpersönlichung organisationaler Herrschaft mag diese deshalb eher stabil zu halten; darin liegt auch die große gegenregulative Bedeutung der Mitwirkungsmöglichkeiten der Arbeitnehmer bzw. der Arbeitnehmervertreter in den Bereichen der Investitions- und Organisationsplanung“ (Türk 1981, S. 49 f.).
Im Gegensatz zu den Dichotomisierungen von Sandner (1992a) oder Türk (1981) unterscheidet Lukes (1976) drei „Gesichter der Macht“. In der ersten Variante (Macht als Entscheidung) geht es um Gegnerschaft: SiegerInnen und VerliererInnen werden durch Kräftemessen ermittelt. Eine mächtigere Person (oder Gruppe, Organisation) A entscheidet gegen den erklärten Willen einer anderen B. Fall zwei (Macht als NichtEntscheidung) ist nach außen hin kaschierte Repression, eine Bevormundung, die auch im Gewand der Fürsorge daherkommen kann: A bestimmt die Entscheidungsmöglichkeiten für B und muss daher nicht gegen B einschreiten, weil im Vorfeld dafür gesorgt wurde, dass unerwünschte Entscheidungen gar nicht fallen können. Dies
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zeigt sich z.B. in der Handhabung einer Geschäftsordnung – die es erlaubt, bestimmte Punkte von der Tagesordnung zu nehmen, Diskussionszeiten einzuschränken, Argumente oder Materialien nicht zuzulassen etc., in der gezielt gefilterten Information, in der Wegnahme oder Entwertung von Ressourcen, in der Sperrung von (symbolischen) Wegen oder Kontakten usw. Da Alternativen von vorneherein keine Chancen haben, gibt es trotz klar empfundener Benachteiligung keinen offenkundigen oder nach außen sichtbaren Protest. Am subtilsten ist die dritte Variante (Macht durch „falsches Bewusstsein“), die Bewusstseinskontrolle und/oder strukturelle Macht genannt werden kann und die darauf abzielt, das B überhaupt nicht bemerkt, dass Macht gegen ihn ausgeübt wird (vgl. Abschnitt 3.3.3.3). Während die Macht im ersten Fall sichtbar ist und bekämpft werden kann, verschleiert sie sich im zweiten Fall für uninformierte BeobachterInnen (ist aber für die Machtunterworfenen durch die Einschränkung der Wahlmöglichkeiten spürbar) und scheint im dritten Fall gar nicht zu existieren: was geschieht, gilt als normal und durchaus im eigenen Interesse (vgl. Neuberger 1995, S. 56 ff.).202 Anhand der bisherigen Ausführungen wird deutlich, dass die von konfrontativen Machtkonzeptionen postulierte unilineare (dyadische) Machtstruktur in Organisationen zu kurz greift und stattdessen eine (hoch)komplexe Netzstruktur existiert. Weil Macht sich nicht nur entlang der formalen betrieblichen Hierarchie strukturiert, sondern stark verteilt ist (z.B. auch auf KollegInnen, Stabsabteilungen, Nebenhierarchien und vielfältige strukturelle Einrichtungen), ergibt sich die Chance, die verschiedenen Machtquellen gegeneinander auszuspielen. Denn jede Form der Herrschaftsausübung und -sicherung wird eben auch durch die Interessenrealisierung nichtherrschender Akteure begrenzt (vgl. Sandner 1992a, S. 166 f.). Becke (2002, S. 41 f.) sieht die – für die alltägliche Bewältigung von Arbeits- und Produktionsanforderungen unverzichtbaren – Machtquellen der Beschäftigten sowohl in ihrem arbeitsbezogenen und stofflichen Erfahrungswissen und ihren arbeitsbezogenen Handlungs- und Dispositionsspielräumen als auch in ihrem innovatorischen Qualifikationspotential. Da die Machtverhältnisse zwischen den Akteuren in der Betriebspraxis schnell intransparent und unberechenbar werden, versuchen diese auf vielfältige Weise zu202
Für Galtung (1975) ist eine derartige „mentale Programmierung“ sogar ein Beispiel für strukturelle Gewalt, die anonym in Form von Vorschriften, Normen, Verfahren, Gewohnheiten, Verteilungsregeln, Rechten, Technologien, Sachen, Apparaten, Einrichtungen, Architektur... wirkt und die ihren Verursacher weder kennt noch nennt (im Gegensatz zur personalen Gewalt – durch eine Person sichtbar ausgeübt). Beide Formen von Gewalt können jeweils physisch, psychisch, objektlos oder objektbezogen sein. Gewalt (im Sinne von Beeinflussungsmacht) liegt für Galtung dann vor, „...wenn Menschen so beeinflusst werden, daß ihre aktuelle somatische oder geistige Verwirklichung geringer ist als ihre potentielle Verwirklichung“ (Galtung 1975, S. 9 zitiert nach Neuberger 1995, S. 61). Das setzt allerdings voraus, dass es Normen gibt, die festlegen, was menschenmöglich und -würdig ist (vgl. dazu auch Abschnitt 3.3.3.3).
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mindest ein Stück Kontrolle (zurück) zu gewinnen – indem sie Machtverhältnisse stabilisieren, unerwünschte Koalitionen unterbinden, Einflussbereiche begrenzen und abschotten, Interessen partikularisieren, Transparenz herstellen... Standardisierung, Arbeitsteilung, Formalisierung, Entscheidungszentralisation etc. sind deshalb zwar einerseits organisationale Zwänge, aber andererseits gleichzeitig Techniken zur Bewältigung dieser Komplexität mit durchaus entlastender Funktion (vgl. Neuberger 1995, S. 63 ff.). „Die Funktionalität des koordinierten Handeln besteht darin, dass sich die Akteure in störungsfreien Phasen der Zusammenarbeit auf ein dichtes Netz aus formalen Vorgaben, Arbeitsplatzanweisungen, eingespielten Interaktionsmustern und unausgesprochenen Selbstverständlichkeiten des betrieblichen Alltags verlassen können. In diesem Sinne hat koordiniertes Handeln psychologisch betrachtet eine durchaus entlastende Funktion“ (Endres 2001, S. 64 f.).
Genau diese Routinen werden jedoch in Reorganisationsprozessen (zumindest teilweise) in Frage gestellt und neu ausgehandelt. Wo und wann sich welches Gesicht der Macht zeigt bzw. welche Themen (nicht) angesprochen werden, ist dabei im Rahmen einer mikropolitischen Organisationsanalyse eine interessante Fragestellung. Für Becke (2002, S. 44 ff.) sind hierbei drei Spielarten der Macht relevant. Gestaltungsmacht ist notwendig um den betrieblichen Status quo zu überwinden. Störoder Blockademacht wird mobilisiert, um die etablierten Macht- und Konsensstrukturen und das betriebliche Statusgefüge zu erhalten, wenn im Falle von Änderungen negative Folgewirkungen befürchtet werden. In beiden Fällen hängt die Handlungsfähigkeit der Akteure zudem von ihren Fähigkeiten ab, Kooperationsmacht zu entwickeln und auszuüben (vgl. Abschnitt 3.3.3.2).
3.3.3.5 Dialektik der Interdependenz Die Dialektik der Interdependenz thematisiert die „Abhängigkeit von den Abhängigen“ und die potentielle Umkehrbarkeit der Verhältnisse. Wenn Macht kein Besitz ist,203 sondern eine Beziehung und die Akteure füreinander „Zonen der Ungewissheit“ kontrollieren, dann brauchen sie sich gegenseitig. Der Antagonismus wird also kultiviert, denn die „GegnerInnen“ sollen ja nicht vernichtet, sondern genutzt werden. Daher kann Macht bzw. Herrschaft nie absolut sein, sondern nur relativ, d.h. sie muss als asymmetrische Beziehung gedacht werden (A hat mehr Macht über B als umgekehrt).
203
„Macht residiert nicht wie Körperkraft ‚in‘ den handelnden Personen“ (Neuberger 1995, S. 124)
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„Eine Machtbeziehung entsteht, wenn Akteure gegenseitig Interesse an den Ressourcen und hieraus folgenden Handlungsmöglichkeiten der jeweils anderen Akteure besitzen; wenn eine strategische Interdependenz besteht, so dass Akteure in ihrem Handeln mehr oder weniger auf das Handlungspotential andere relevanter Akteure Rücksicht nehmen, dieses Handeln also nur durch Bezug auf die Interessen und Ressourcen aller an organisationalen Interaktionen direkt oder indirekt beteiligten Akteure gedeutet werden kann“ (Küpper & Felsch 2000, S. 150, Hervorhebungen im Original).
Macht ist zudem selten total, sondern in der Regel beschränkt auf bestimmte Personen, Inhalte, Leistungen... Daraus folgt, dass Machtbeziehungen zumindest potentiell immer konflikthaft sind, weil in ihnen gegensätzliche Interessen reguliert werden müssen. Dieser latente Interessengegensatz kann auch durch Harmonieformeln (z.B. „Wir sitzen alle in einem Boot“) nicht „weginterpretiert“ werden, da es nur partiell gemeinsame Interessen gibt. In dieser Dynamik der Machtbeziehungen liegt nicht nur der Keim für mikropolitisches Handeln der Akteure, sondern auch für Instabilität und Wandel. (vgl. Neuberger 1995, S. 64 ff.). Der Ursprung innerorganisatorischer Macht kann in der innerorganisationalen Arbeitsteilung mit ihren sich daraus ergebenden Handlungsinterdependenzen und Beziehungen zwischen den beteiligten individuellen oder kollektiven Akteuren gesehen werden. Die Macht eines Akteurs ist aufgrund strategischer Interdependenzen umso größer, je wertvoller seine Qualifikationen und Handlungen für die Interessen anderer Akteure sind und je weniger er selbst bei seiner Interessenverfolgung auf Qualifikationen und Handlungen anderer Akteure angewiesen ist (vgl. Küpper & Felsch 2000, S. 151). Von dieser Grundannahme gehen auch Hickson et al. (1971) aus, daher wird in deren „Theorie strategischer Abhängigkeiten“ postuliert, dass auch die Macht einer Organisationseinheit von verschiedenen Einflussgrößen abhängt: -
Unsicherheit über Einwirkungen auf das System: Können sich die Akteure – in welcher Weise – unvorhersehbar für die anderen verhalten? Erfolg in der Bewältigung der Unsicherheit: Kann die davon ausgehende Unsicherheit – auf welche Weise, mit welcher Wahrscheinlichkeit – bewältigt werden? Ersetzbarkeit einer Einheit: Können die Akteure – mit welchem Aufwand, wie schnell, wie vollständig – ersetzt werden? Zentralität hinsichtlich des Arbeitsflusses: Würde ein Ausfall der Akteure die Arbeit anderer Einheiten in der Organisation – wie sehr – beeinträchtigen? (vgl. Neuberger 1995, S.75)
Ausgehend von diesen Überlegungen kann geschlussfolgert werden, dass es hilfreich ist, bei jeder Macht- und Abhängigkeitsanalyse die Frage nach dem Bedin-
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gungsumfeld, das bestimmte Akteure für andere Akteure kontrollieren, zu stellen. Da die organisationale Macht von Akteuren auf ihrer je unterschiedlichen Fähigkeit beruht, organisationale Formal-, Ressourcen- und Informationsstrukturen zur Kontrolle der Handlungen anderer Akteure einzusetzen, ergeben sich für jeden zu untersuchenden Sachverhalt vier Untersuchungsschritte (vgl. Neuberger 1995, S.75 ff.): 1. Um welche Macht-Ressourcen handelt es sich?; 2. Wer stellt diese Ressourcen zur Verfügung oder in wessen Verfügungsbereich sind sie?; 3. Wer benötigt sie?; 4. Gegen welche materiellen oder immateriellen Werte werden sie getauscht?
3.3.3.6 Legitimation Hier geht es um die Frage, worauf sich die Akteure berufen, um ihre Forderungen und Handlungen zu begründen. Mit Legitimation ist der Versuch gemeint, zur Durchsetzung oder Absicherung von Ordnungen an bereits bestehende Entscheidungsprämissen, Grundrechte, Sitten, Normen, Werte, Handlungsprinzipien etc. zu appellieren oder sie in den Köpfen und Herzen der Betroffenen zu verankern und die fortdauernde Geltung dieser Maximen strukturell abzusichern. Wie bereits erläutert (vgl. Abschnitt 3.2.2), sind geltende Prinzipien oder Werte sowohl Koordinationsinstrumente, die vorab Korridore zulässigen Handelns festlegen (alle wissen dann „was sich gehört“), als auch Berufungsinstanzen im Streitfall. Eine starke „Koalition“ mit dem herrschenden Konsens, gesetzlichen Bestimmungen etc. verleiht Macht bzw. begrenzt andere Machtansprüche und rechtfertigt das eigene Handeln oder den Widerstand gegen als illegitim Erachtetes. Prinzipiell kann zwischen mehr oder weniger generellen Rechtfertigungsformeln (Menschenrechte, Tradition, Vernunft, Gemeinwohl, gesetzliche Bestimmungen...) und mehr oder weniger spezifischen lokalen Normen, die sich im Organisationszusammenhang entwickelt haben, unterschieden werden (vgl. Neuberger 1995, S. 81 f.). Da alle Normen, Werte und Legitimierungsmuster keinen generellen oder gar universellen Stellenwert für sich beanspruchen können, werden sie stets durch die Entwicklung von partiellen und lokalen, sogar offen fraktionellen Interessen, Werten und Legitimitätsansprüchen relativiert und in Frage gestellt. Organisationen stehen nie passiv im Dienst einer einzigen Rationalität, sondern sind immer Montagen verschiedener „Welten“ mit spezifischen Handlungslogiken und Legitimierungsmustern zwischen denen politisch opportun Kompromisse ausgehandelt werden müssen (vgl. Friedberg 1995, S. 106 f.). Für die Koordination in Organisationen sind also eine Vielzahl von Entscheidungs- und Handlungs-Prämissen notwendig, die nicht immer aufeinander abgestimmt und gleichzeitig erfüllbar sind, woraus sich Handlungsspielraum für interessierte Akteure ergibt.
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In Entscheidungsprozessen versprechen vor allem Leitbilder, Paradigmen und „Philosophien“ – die deskriptiv-präskriptiv, aber vage skizzieren, wie moderne Organisationen ihre Aufgaben erfüllen (sollen) – Orientierung und normative Legitimation. Insbesondere in Reorganisationsprozessen können Produktionskonzepte oder Organisationsmoden den Charakter von Leitbildern annehmen und die Entwicklung in erheblichem Maße prägen. Die Manager (als Initiatoren der Innovationsspiele) legitimieren mit dem Aufgreifen von etablierten Organisationsmoden ihre Initiativen und leiten daraus normative Grundaussagen zum Vorgehen und zu den Zielen ab. Das Leitbild erleichtert nicht nur das „orchestrieren“ der verschiedenen Reorganisationsaktivitäten, sondern verkürzt auch die Argumentation – Vorschläge können als zum Konzept passend oder ihm widersprechend klassifiziert werden. Da Leitbilder nicht „zufällig“ ausgewählt werden und zudem vielfältig auslegbare interpretative Schemata sind, können auch hier unter dem Deckmantel der Zweckmäßigkeit eigene Interessen verfolgt werden (vgl. Kieser 1996, S. 30 ff.; Ortmann et al. 1990, S. 60 ff.). „Leitbilder sind wegen ihrer orientierenden, antreibenden, sinnstiftenden, motivierenden, normativ-legitimatorischen Funktion in Innovationsprozessen von großer mikropolitischer Bedeutung. Sie setzen sich nicht machtunabhängig durch, und ihre machtgestützte Etablierung hat Machtwirkungen, beeinträchtigt oder fördert die Durchsetzungschancen bestimmter Akteure, Interessen und Innovationskonzepte“ (Ortmann et al. 1990, S. 62).
Da die Legitimationsgrundlagen meist nicht direkt beobachtbar sind, müssen die Normen aus der Regelmäßigkeit des Handelns erschlossen werden.204
3.3.3.7 Zeitlichkeit Da die Verfügung über die Zeit (anderer) sowohl Machtbasis als auch Machtausdruck ist, spielt Zeitlichkeit in (Re)Organisationen in mehrfacher Hinsicht eine wichtige Rolle. Man sieht beispielsweise an der hohen Relevanz, die der betrieblichen Zeitwirtschaft zugewiesen wird, dass rund um das allgemeine Zeitverhalten der Beschäftigten bereits zahlreiche mikropolitisch nutzbare Unsicherheitszonen bestehen bzw. geschaffen werden können. Die Überwachung der Zeitregimes als Machtausübung (Verfolgung von Verspätungen, Fehlzeiten, Unterbrechungen, Überwachung von Pausen- und Anwesenheitszeiten, Dauer von Arbeiten, Leerzeiten, Umgang mit persönlichen Verteilzeiten, Zeitguthaben...) berührt die Zeit-Souveränität, die kreativ verteidigt wird. Auch in diesem Zusammenhang wird Zeit-Management als mikropolitische Taktik (verzögern, sequentialisieren, einen langen Atem haben, warten können 204
Politisches Handeln verrät nach Neuberger (1995, S. 7) deutlicher als Worte und Deklarationen die Haltung von Führungskräften.
Kritik und konzeptionelle Weiterentwicklungen
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oder jemanden warten lassen, sich Zeit lassen, unter Termindruck setzen, eine Auszeit nehmen...) eingesetzt (vgl. Neuberger 1995, S. 89). Eine besondere Relevanz bekommt der mikropolitische Umgang mit der Ressource „Zeit“ in Reorganisationsprojekten. In vielen Fällen steht der Handlungsbedarf schon lange fest, aber erst wenn sich die relevanten Akteure auch über die Dringlichkeit des Vorhabens verständigt haben, wird daraus auch Handlungs- und damit in der Regel Zeitdruck. Ab jetzt geraten das Problem und die Aktivitäten zu seiner Lösung unter den hierarchisch sich aufbauenden und verteilenden Druck organisationaler Weisungs-, Kontroll- und Sanktionsmechanismen: es werden Budgets bereitgestellt, Termine gesetzt und Zeitpläne aufgestellt. Da Projekterfolge mangels anderer Kontrollmöglichkeiten sehr stark über die Einhaltung der Termine kontrolliert werden, fungiert Zeitdruck schnell als blinder Erfolgsdruck (vgl. Ortmann et al. 1990, S. 458 ff.). „Die ihn ausüben, brauchen sich keine Gedanken über die Art und Weise zu machen, wie der Erfolg herbeigeführt und Schwierigkeiten überwunden werden können. Sie können aufs Tempo drücken, ohne von der Sache her argumentieren zu müssen. Das erlauben ihnen ihre Weisungsbefugnisse, Kontrollrechte und Sanktionsmacht. Wir haben gesehen, daß sie anders mangels inhaltlicher oder prozeduraler Kontrollmöglichkeiten auch kaum verfahren können“ (Ortmann et al. 1990, S. 462, Hervorhebungen im Original).
Wenn die Risiken der Implementation nach unten abgewälzt werden, ist Zeitdruck der mikropolitische Umgang mit fortexistierender Kontingenz. Die Zeit ist dann in Gestalt des „organizational slack“, die mikropolitische Reserve aus der man schöpfen kann, um mit Hilfe von Überstunden und Intensivierung der Arbeit die „Kinderkrankheiten“ der Innovation anzugehen. Was die vorgesetzten Akteure zu eher blindem Zeitdruck veranlasst, ist gleichzeitig die Machtbasis für die Beschäftigten, um auf Zeit spielen zu können – und damit auch Ausdruck der Interdependenz der Akteure. Der Vorsprung der unteren Ebenen im Expertenwissen kann für subtile Taktiken des „wohlwollenden Begleitens“, „Abwartens“ etc. genutzt werden, die zumindest zu (erheblichen) zeitlichen Verzögerungen führen können. Da das Topmanagement allerdings die Macht hat, längerfristige Investitions-, Personal- und Produktionsentscheidungen zu treffen, die die Organisation für entsprechende Zeiträume binden, hat es in solchen „Zeitspielen“ oftmals den längeren Atem (vgl. Ortmann et al. 1990, S. 462 f.). Zeit entzieht sich aber auch der willkürlichen Indienstnahme, denn politisches Handeln ist nicht nur zeitbindend sondern auch zeitgebunden. Für viele Handlungen gibt es den „günstigen Moment“, aber auch die „verpasste Chance“. In Projekten gibt es den „kritischen Zeitpunkt“, die „deadline“ und auch die „Ungleichzeitigkeit von Ent-
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Theoretischer Bezugsrahmen
wicklungen“. Man kann zwar versuchen „Zeit zu gewinnen“ oder „verliert Zeit“, aber alles fließt, nichts wiederholt sich. Damit spielt Zeit auch eine wichtige Rolle bei der Strukturierung des Handlungsstroms: Episoden haben eine (Vor-)Geschichte, man kann bedeutsame Wendepunkte und/oder „kritischen Situationen“ (Chancen, Zufälle, (un)glückliche Momente, dramatische Zuspitzungen, auffällige Aktionen...) identifizieren etc. Neben kurzfristiger Beschleunigung oder Verzögerungstaktik spielt daher auch die Langzeit- oder Langsichtperspektive eine Rolle – nicht zuletzt deshalb, weil mit „repeat business“ zu rechnen ist. Wenn dieselben Akteure längerfristig zusammenarbeiten müssen und sie Alternativen zur Verfügung haben, können sie sich nicht gegenseitig (ungestraft) rücksichtslos ausnutzen. Wer einmal übervorteilt wurde, wird versuchen, sich bei nächster Gelegenheit entsprechend „revanchieren“. Wer nur seine Augenblicks-Chancen nutzt und sich nicht an – auf Dauer angelegte – Spielregeln hält, erhöht damit langfristig die Transaktionskosten und verhält sich daher nicht ökonomisch (vgl. Neuberger 1995, S. 88).
3.3.3.8 Ambiguität Mikropolitische Analysen fragen danach, wo Mehrdeutigkeiten, Widersprüche, Konflikte etc. (und damit Handlungschancen) bestehen bzw. wie, wo und von wem Mehrdeutigkeit erzeugt, beseitigt oder genutzt wird. Dabei sollen nicht nur Ambiguitäten, Ambivalenzen und Zielkonflikte der handelnden Akteure beachtet werden, sondern auch strukturelle Mehrdeutigkeiten und Widersprüche (z.B. zwischen Qualität und Kosten) – ohne diese gäbe es kein politisches Handeln. Was klar und eindeutig versachlicht werden kann, ist „unter Kontrolle“, also beherrschbar. Was unvorhersehbar gehalten werden kann, stellt eine (noch) nicht beherrschbare Unsicherheitszone dar und verleiht daher Macht (vgl. Neuberger 1995, S. 90 ff.). Im Modell des klassischen (zweck-)rational handelnden Entscheiders wird im Gegensatz dazu vollständige und eindeutige Information bzw. Informiertheit vorausgesetzt. Da der Rationalität aufgrund der beschränkten kognitiven Fähigkeiten der Menschen allerdings enge personale Grenzen gesetzt sind, kann es in der Praxis nur divergierende Einzelrationalitäten geben.205 In Organisationen wird versucht, diese individuellen Rationalitäten durch die Organisationsstruktur zu koordinieren und dadurch stabile Verhaltenserwartungen zu ermöglichen. Doch das Verhalten der Organisationsmitglieder wird dadurch lediglich gesteuert, aber nicht determiniert und die Strukturen selbst sind durch Handeln veränderbar (vgl. Ortmann et al. 1990, S. 68 ff.). 205
und keine optimalen, sondern lediglich zufriedenstellende Problemlösungen vgl. Simon (1957).
Kritik und konzeptionelle Weiterentwicklungen
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„Auf Grund dieser Tatsache kann keine simple und lineare Logik Rechenschaft ablegen über die wirklichen Verhaltensweisen der Akteure in einem gegebenen Handlungsraum. Den beständigen Versuchen der einen, Ungewißheiten zu beseitigen, indem sie rationalisieren (d.h. letzten Endes, indem sie die problematischen und unsicheren Verknüpfungen automatisieren, um sie der menschlichen Willkür zu entziehen) wird stets entgegengewirkt durch die ebenfalls beständigen Versuche der anderen, ein Stückchen Ungewißheit in den anscheinend am besten bewältigten und rationalisierten Verknüpfungen zu bewahren oder sogar wieder zu erschaffen, um so eine Zone der Willkür zu rekonstruieren, die gegenüber den anderen ‚Verhandlungsware liefert‘ “ (Friedberg 1995, S. 284 f.).
Wer (andere be-)herrschen will, muss also einerseits Ambiguität bei den anderen beseitigen, d.h. diese auf das Befolgen klarer Regeln festlegen und sie andererseits bezüglich des eigenen Handelns erzeugen, d.h. eigene Planungs- und Handlungsmöglichkeiten undurchschaubar halten.206 Es ist deshalb eine nützliche politische Strategie, nach widersprüchlichen Strukturen, Aspekten, Dimensionen, Möglichkeiten, Intransparenzen und Komplexität zu suchen oder sie zu erzeugen“ (vgl. Neuberger 1995, S. 94). Da in Reorganisationsprozessen viele divergierende Interessen und Handlungslogiken aufeinander treffen und Entscheidungen (zumindest potentiell) immer auch anders gefällt werden können, spielt auch dieses letzte Definitionsmerkmal politischer Situationen eine ganz erhebliche Rolle bei der Analyse derselben. Ist diesem Zusammenhang spielt die von Brunsson (1982) gemachte Unterscheidung von Handlungs- und Entscheidungsrationalität eine wichtige Rolle. In organisationalen Entscheidungsprozessen geht es nicht in erster Linie um eine formal rationale Entscheidungsprozedur, sondern darum Handlungen zu initiieren. Zu diesem Zweck müssen die gefällten Entscheidungen kognitive, motivationale und verpflichtende Funktionen erfüllen, d.h. sie müssen für die Handelnden plausibel sein, zur Umsetzung motivieren und Verpflichtung (Commitment) erzeugen (vgl. Ortmann et al. 1990, S. 71 f.). „In the rational model it is assumed that the difficult and important thing is to think correctly, while in organizations the main difficulty is often to achieve co-ordinated organizational action. The ability to act forcefully is often more important to the survival and success of an organization than the ability to analyse successfully” (Brunsson & Olsen 1993, S. 66).
206
Die in diesem Zusammenhang beliebte Taktik des „Nebelwerfens“ eröffnet nicht nur Handlungsoptionen bzw. Hintertürchen, sondern verhindert in der Regel auch, persönlich verantwortlich gemacht zu werden (vgl. Neuberger 1995).
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Theoretischer Bezugsrahmen
Hier können beispielsweise die bereits erwähnten Leitbilder mit ihrer deskriptiven und normativen Funktion dazu beitragen, Entscheidungsprozeduren zu verkürzen. Nach Brunsson sind gute Entscheidungen handlungsrational, wenn sie durchgesetzt und implementiert werden können. Für Ortmann et al. (1990) heißt handlungsrationales Entscheiden daher, die mikropolitische Konstellation der Organisation in Rechnung zu stellen und mit der Macht zu kalkulieren – kurz: die mikropolitischen Durchsetzungschancen in der Entscheidungsprozedur im Blick zu haben. Nach den bisherigen Ausführungen sollte klar sein, dass auch Instrumente wie Wirtschaftlichkeitsanalysen und Budgets, die im betrieblichen Alltag eine formale Rationalität von Entscheidungsprozeduren suggerieren sollen, unter der politischen Perspektive eine stark symbolisch-politische Funktion haben. Sie bilden nach Horváth (1982, S. 256) eine ordnungsstiftende rationale Fassade des betrieblichen Geschehens. „Am Beispiel der Wirtschaftlichkeitsrechnung läßt sich daher das Ineinandergreifen der Dimensionen der Strukturierung: Kommunikation, Legitimation und Macht, demonstrieren. Sie sind sowohl interpretative Schemata als auch Mittel der Legitimation von Entscheidungen oder Handlungen, als auch Machtmittel“ (Ortmann et al. 1990, S. 72).
In Ergänzung der Vorstellung der strategischen Organisationsanalyse sowie ihrer konzeptionellen Verfeinerungen stelle ich im Folgenden wichtige empirische Befunde dar, deren Autoren Wandelprozesse ebenfalls als mikropolitische Gestaltungsprozesse betrachten und sich auf diesen Ansatz beziehen. Schirmer (2000, S. 30) bezeichnet diese gegenstandsbezogene, empirische Forschung in Abgrenzung zu den bereits skizzierten programmatischen Grundlagenarbeiten als „Verwendungsforschung”.207 Aufgrund meines Untersuchungsgegenstands und meiner Rolle als Aktionsforscherin interessieren mich dabei im Hinblick auf meine eigene Fragestellung besonders die Forschungsergebnisse zur Reform des öffentlichen Sektors sowie zum Thema Macht im Beratungsprozess.
3.4
Empirische Befunde der Verwendungsforschung
Die Kernaussagen der wenigen bisher vorliegenden mikropolitischen Arbeiten zu Modernisierungsprozessen im öffentlichen Sektor Deutschlands – die alle Bezug auf die strategische Organisationsanalyse nehmen – sind letztendlich immer ähnlich und werden in folgendem Zitat m.E. besonders treffend ausgedrückt.
207
vgl. Beck & Bonß (1995, S. 416 ff.)
Empirische Befunde der Verwendungsforschung
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„Die Einführung von PM-Elementen ohne mikropolitische Analysen der Ausgangsbedingungen und Auswirkungen ist wie das Aufstellen von Fettnäpfchen, in die man selber ständig stolpert“ (Bogumil & Kißler 1998a, S. 146).
Für den weiteren Fortgang meiner Arbeit besonders relevant ist die Studie von Bogumil & Kißler (1998a), die die zu rationalistische Sicht von Veränderungsprozessen in Verwaltungsorganisationen kritisieren. Da das Konzept des New Public Managements dem mikropolitischen Handeln der Akteure naiv gegenüber stehe, könne die mikropolitische Rekonstruktion der Reformprozesse dazu beitragen, die bisherigen Implementationsdefizite zu erklären. Anknüpfend an die Unterscheidung zwischen Entscheidungs- und Handlungsrationalität argumentieren sie, dass sich PM in erster Linie an der Entscheidungsrationalität (Welche Maßnahmen sind prinzipiell sinnvoll?) orientiert, während in der kommunalen Realität vor allem die Handlungsrationalität (Wie kann ich Entscheidungen durchsetzen?) für die Akteursstrategien relevant ist. Gute Entscheidungen sind handlungsrational in dem Sinne, dass sie unter dem Gesichtspunkt ihrer Durchsetzung und Implementation getroffen werden und müssen daher die mikropolitische Konstellation beachten (vgl. Bogumil & Kißler 1998a, S. 125 und Abschnitt 3.3.3.8). Sie selbst betrachten Kommunalverwaltungen im Sinne von Crozier & Friedberg (1993) als „Kampfarenen konfligierender Rationalitäten“, in der die Akteure als Träger von Machtpotentialen unterschiedliche (eigene) Interessen verfolgen, d.h. jeder „sein“ Spiel spielt. Die verschiedenen Interessen werden durch formelle und informelle Regeln (z.B. die Form der Arbeitsteilung, der hierarchische Aufbau, das Personalvertretungsgesetz, das Beamtenrecht, die kameralistische Haushaltsführung, besondere Rücksichtnahme auf die Bedürfnisse der Mehrheitsfraktionen oder der Vorrang rechtmäßiger Verfahren) austariert. Der Modernisierungsprozess zielt darauf ab, diese Regeln zu ändern und wird daher in Anlehnung an Greifenstein et al. (1993) als Regelproduktionsprozess verstanden. Diese Regelproduktion kann als Machtspiel definiert werden, an dem unterschiedliche Akteure interessenorientiert und unter Ausübung ihrer Regelungskompetenz teilnehmen. Im Gegensatz zum bisher benützten Akteursbegriff gelten hier nur diejenigen als Akteure, die im Produktionszyklus von Regelsystemen (d.h. bei Regelsetzung, Regelinterpretation und Regelimplementation) über Definitionsmacht verfügen – die anderen Beteiligten sind Agierende oder Betroffene. „Akteur ist, wer über Definitionsmacht im Modernisierungsprozeß (als Regelproduktionsprozeß) verfügt, wer an Prozessen sozialer Regelsetzung teilnimmt, sei es, dass sie rechtlich abgesichert sind in Form von Gesetzen (z.B. GO, PVG) oder formalen Organisationsregeln (z.B. Dienstanweisungen, Hierarchieaufbau) oder aufgrund tatsächlicher Übung erfolgen.
146
Theoretischer Bezugsrahmen
Dies ermöglicht die Unterscheidung zwischen Akteuren, in Organisationen Agierenden und den von den Maßnahmen (nur) Betroffenen und damit eine schärfere Analyse des spezifischen Einflußpotentials der an Modernisierungsprozessen Beteiligten“ (Bogumil & Kißler, 1998a, S. 127, Hervorhebungen im Original).
Die Verteilung der Definitionsmacht ist dabei ein Spiegelbild für die Machtverteilung in der Organisation, denn durch die Verfahrensregeln der Partizipation wird deren Reichweite (vom bloßen Mitreden, über die Mitwirkung, bis zum verbindlichen Mitbestimmen) festgelegt. Nur die bewusste und abgesicherte Teilnahme im Regelproduktionsprozess verleiht einen Akteursstatus. Wer in der Phase der Regelsetzung und interpretation nur mitreden darf, d.h. als Informationsquelle genutzt wird, bzw. auf die Korrektur- und Umsetzungspartizipation verwiesen wird, kann nur als Agierende/r betrachtet werden. Alle Beschäftigten, die zwar von den Maßnahmen betroffen sind, aber nicht einmal mitreden dürfen, gelten als Betroffene. In Abhängigkeit von den jeweils benötigten Ressourcen kann sich die Definitionsmacht allerdings in den unterschiedlichen Phasen des Regelproduktionsprozesses auf unterschiedliche Akteure bzw. Akteursgruppen verteilen. So können beispielsweise die Fähigkeiten, Fertigkeiten und das Erfahrungswissen der Beschäftigten in der Regelumsetzungsphase auch ohne abgesicherte Teilnahmemöglichkeiten zu Machtmitteln werden (vgl. Bogumil & Kißler 1998b und Abb. 19). Bogumil & Kißler (1998a, S. 139 ff.) kommen im Anschluss an ihre Analyse empirischer Befunde der Implementierung von Modernisierungsmaßnahmen in drei Stadtverwaltungen – die nach Einschätzung von Experten zu den fortgeschrittenen Modernisierungskommunen in Deutschland gehören – zu folgenden Ergebnissen. Verwaltungsmodernisierung lasse sich erstens durchaus als Machtspiel rekonstruieren, das allerdings zweitens von den bekannten Spielern nach alten Regeln gespielt werde, d.h. die Machtverhältnisse – von Ausnahmen abgesehen – nicht grundsätzlich verändere. Die für die einzelnen Phasen herausgearbeiteten Spiele (vgl. Abb. 19) seien alle Routinespiele und nicht die in der Konzeption des PM vorgesehenen Innovationsspiele. In der Regelsetzungsphase werde nicht das „rationale Politikspiel“ gespielt, sondern weiterhin das alte „Wählermaximierungsspiel“. Statt dem „CoManagementspiel“ werde in der Phase der Regelinterpretation immer noch das übliche „Bargainingspiel“208 gespielt. Und in der Regelumsetzungsphase werde weiterhin das gewohnte „Hierarchiespiel“ und nicht das anvisierte „Teamarbeitsspiel“ gespielt. Nach ihrer Analyse der Ursachen für diese wenig ermutigenden Ergebnisse, kommen sie zu dem Schluss, dass der Übergang von Routine- zu Innovationsspielen im
208
In einem Bargainingspiel finden konkurrierende Akteure eine Kompromisslösung, die so gestaltet ist, dass alle Beteiligten ihre Machtposition erhalten oder sogar ausbauen können.
Empirische Befunde der Verwendungsforschung
147
Rahmen von Reformprozessen nur durch die Nutzung von Motivation und/oder Macht möglich ist. Wenn die Akteure beispielsweise davon überzeugt sind, dass die Aussicht auf größere Gewinne realistisch ist, wären sie dazu bereit, die Spielregeln zu ändern. So lange die Verwaltungsmodernisierung allerdings an eine Haushaltskonsolidierung gekoppelt sei, gibt es dafür wenige Chancen. Daher sei eine andere Möglichkeit, die Verbreitung der Einsicht, dass die Fortführung bestehender Routinespiele den Organisationsbestand (und damit die Spiel- und Gewinnchancen aller Akteure) gefährde. Noch drastischer sei die Mobilisierung von Druck (externer und interner) sowie die Ausnutzung von Machtmitteln, um Widerstand und Blockaden zu beseitigen. Sie weisen allerdings darauf hin, dass die bestehenden Rahmenbedingungen (weitgehende Arbeitsplatzsicherheit, das Beamtenrecht, der BAT, die Personalvertretungsgesetze, die spezifische Mentalität, Ausbildung, die spezifische Personalrekrutierung, fehlende exit-Option bei vielen Dienstleistungen, Probleme der Effizienzkontrolle) den erfolgreichen Einsatz der zuletzt genannten Möglichkeit erschweren könnten. Zumal die Beschäftigten angesichts drohender und realer Gefahren durch Haushaltskonsolidierungsmaßnahmen (z.B. Leistungsverdichtungen durch Personalabbau, Unsicherheit bezüglich des Arbeitsplatzes) die tradierten Arbeitsbedingungen nicht nur akzeptierten, sondern sogar idealisierten (vgl. Bogumil & Kißler 1998a, S. 144 ff.). Ihre letzten Schlussfolgerungen sind m.E. (zu) nahe an personalisierenden Schuldzuweisungen und der gerne unterstellten „Veränderungsresistenz“ der im öffentlichen Sektor Beschäftigten. Obwohl die genannten Einwände prinzipiell nicht von der Hand zu weisen sind, muss darüber hinaus noch einmal ein Blick auf die Akteure, Phasen und Machtspiele im kommunalen Modernisierungsprozess (vgl. Abb. 19) geworfen werden:
148
Theoretisccher Bezugsrahmen
Abbildung 19: Akteure, Phase en und Machtspiele im kommunalen Modernissierungsprozess (Quelle: Bogum mil & Kißler 1998a, S. 138 f.)
Es fällt auf, dass die Bescchäftigten als Akteure erst in der Regelu umsetzungsphase auftauchen. Wie die Machttpotenziale der Beschäftigtengruppen im Reorganisations-
Empirische Befunde der Verwendungsforschung
149
prozess eingesetzt werden (können) und ob bzw. wann sie Definitionsmacht im Regelproduktionsprozess haben, hängt zunächst einmal von den Partizipationsmöglichkeiten ab, die die Führungskräfte ihnen einräumen. Dabei entscheiden die Verfahrensregeln der Partizipation über deren Verbindlichkeitsgrad und deren Reichweite. Nach Greifenstein et al. (1993, S. 32 ff.) kann man sich das Verhältnis von Reichweite und Partizipationsgrad wie zwei ineinander geschobene Trichter vorstellen. Während der Entscheidungsprozess auf dem Feld der Konzeptionspartizipation (Regelsetzung und -interpretation) noch relativ offen ist, aber gegenüber den Beschäftigten meist partizipationsverschlossen, öffnet sich der Prozess im Bereich der Korrekturpartizipation (Regelumsetzung) für eine breiter angelegte, aber – da es nichts mehr zu gestalten, sondern nur noch auszugestalten gibt – eingriffsschwache Beteiligung der Beschäftigten. Nichtsdestotrotz weisen die Autoren daraus hin, dass diese „Modernisierungspartizipation“ nicht nur Herrschaftsinstrument, sondern auch Autonomiechance sei. ArbeitnehmerInnen würden nämlich auf Dauer nicht mitreden wollen, ohne tatsächlich etwas zu sagen zu haben. Wenn dieser (Lern-)Prozess auf den „steinigen Pfad langwieriger Kompetenzaneignung und Organisationsentwicklung“ führe, könne daraus eine Veränderungsdynamik resultieren. Da zum „Dürfen“ auch noch das „Können“ und „Wollen“ kommen muss, ist des Weiteren – als subjektiv-personengebundener Anteil – Partizipationskompetenz der Beschäftigten vonnöten. Nur wer in kognitiver Hinsicht über Sach- und Handlungswissen verfügt und in motivationaler Hinsicht ein Beteiligungsinteresse hat, wird Definitionsmacht ausüben wollen und können. Wer hingegen kein (politisches) Interesse am Modernisierungsspiel hat oder weder Gelegenheit noch Kompetenz zum „Mitspielen“, wird in apathisch-resignative Abstinenz verfallen oder auf dem Status quo beharren (vgl. Bogumil & Kißler 1998b, S. 304). Friedberg (2003) weist darauf hin, dass Organisationsveränderung immer auch ein Abstimmungsprozess zwischen einer allgemeinen Zielsetzung und allen von der Veränderung Betroffenen ist. Werden die Betroffenen nicht aktiv beteiligt, kann er auch stillschweigend erfolgen. Das dabei beobachtbare Verhalten wird dann als Widerstand gegen Wandel interpretiert, ist aber im Grunde nicht anderes als eine (unbewusste und versteckte) Verhandlungstechnik, mit der für die Interessen der von der Veränderung Betroffenen Platz geschaffen wird. Bewusst werden nur die Konflikte und die (versteckten) Abweichungen von der offiziellen Lösung, aber keiner der Beteiligten hat das Gefühl, an einem Abstimmungsprozess teilgenommen zu haben (vgl. Thomas & Davies 2005 und Abschnitt 3.2.5). Die Vermutung, dass der sogenannte Widerstand ein Symptom für einen stillschweigenden Abstimmungsprozess sein könnte, wird beispielsweise durch die Ergebnisse
150
Theoretischer Bezugsrahmen
einer mikropolitischen Analyse der Behördenrealität(en) des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe gestützt. Hennig (1998) – der von 1991 bis 1996 dort Mitarbeiter war – interessierte sich ebenfalls für die Logik behördlicher Organisationsreformen und untersuchte diese mit Hilfe einer Langzeitbeobachtung sowie einer Dokumentenanalyse. Die Bewältigung einer durch ein Gutachten eines externen Unternehmensberaters hervorgerufenen Organisationskrise führte zur Verabschiedung eines neuen Organisationsmodells und dessen erfolgreicher Erprobung im Rahmen eines Pilotprojektes (1991-1993). In seine Analyse fließen die Leitbilder, Wahrnehmungsmuster und das Organisationsvokabular; die rechtlichen Normen und organisatorischen Regeln, die Arbeitsorganisation sowie die Verteilung der Ressourcen mit ein. Er kommt zu dem Schluss, dass die Verabschiedung des neuen Organisationsmodells weniger als rationale Erkenntnis der Behörde zur modernen Organisationsgestaltung, sondern eher als Ergebnis einer machtpolitisch betriebenen innerbehördlichen Reorganisation angesehen werden kann. Auch der Erfolg des Pilotprojektes könne nicht als geplante, systematische Innovation, sondern vielmehr als Resultat einer behördlichen „Bricolage“,209 bzw. eines behördlichen „muddling through“ betrachtet werden, d.h. die Ergebnisse waren zwar so nicht geplant, aber eine mikropolitische Koalition ist letztlich damit zufrieden. Als begünstigende Faktoren für den Erfolg des Pilotprojektes werden genannt: •
die politische Bedeutung der Modernisierungsmaßnahmen, da der Erfolg des Projektes als Aushängeschild für die innerbehördliche Bewältigung der Organisationskrise diente,
•
die Existenz eines partizipativen Diskussionsprozesses um Ziele und Wege der Modernisierung,
•
die projekthaft partizipative Systemgestaltung im Pilotprojekt, die die Einbeziehung verschiedenster Fachinteressen und damit die Berücksichtigung mikropolitischer Widerstände ermöglichte,
•
die Existenz von Qualifizierungsmaßnahmen und
•
der diffuse Leidensdruck der Fachabteilungen, der die Veränderung von mehr oder weniger eingespielten Routinen möglich machte (vgl. Bogumil & Schmid 2001, S. 106 ff.).
In dieselbe Richtung weisen die Untersuchungsergebnisse von Göbel (1999, S. 5 ff.), der anhand von drei Intensivfallstudien in größeren Kreisverwaltungen (mit mehr als 1200 MitarbeiterInnen) die Einführungsprozesse von Modernisierungsprojekten als verwaltungspolitischen Prozess rekonstruiert. Er legt seinen Untersuchungsfokus
209
franz. „Bastelei“
Empirische Befunde der Verwendungsforschung
151
allerdings auf das mittlere Management (Amts- und Abteilungsleiterebene) – das „Rückrat jeder Verwaltung“ –, das ihn aufgrund seiner Doppelfunktion als Opfer und Täter der Modernisierungsprozesse interessiert. Dabei will er nicht nur zum Aufhellen der Modernisierungspraxis beitragen, sondern durch den Vergleich zwischen überkommener und anvisierten Verwaltungs- und Steuerungspraxis auch einen Blick hinter die Kulissen der bestehenden Verwaltungsteuerung gewähren. Mit Hilfe von leitfadengestützten Interviews sowie einem zweimonatigen Praktikum (um den Arbeitsalltag der mittleren Führungsebene kennen zu lernen) identifiziert er zwei mikropolitische Dilemmata, die seiner Meinung nach kennzeichnend für Modernisierungsprozesse sind. Zum einen das verwaltungspolitische Dilemma, dass die mittleren Führungskräfte aufgrund ihres organisatorischen und technischen Sachverstands als Modernisierungspromotoren benötigt werden, aber an der Demontage ihrer eigenen Position mitarbeiten sollen. Zum anderen das legitimationspolitische Dilemma, dass die mittlere Führungsebene gebraucht wird, um ein Zuviel an Konflikten und Störungen – die die politische Legitimationsbasis in Frage stellen würden – zu verhindern. Letztendlich erfolge Führung in Kommunalverwaltungen primär in komplexen Kompensationsgeschäften und weniger nach formalen Autoritätskategorien. Wer sich durchsetzt, sei weniger eine Frage normativer Evidenz, als vielmehr faktischer Machtverhältnisse. Da mikropolitisches Handeln aber nur bedingt legitimationsfähig sei, werden die wahren Beweggründe des Handelns – weil sozial geächtet – nicht offengelegt, sondern hinter allgemein anerkannten Zielen und Werten versteckt. Auch hier tobt also hinter einer rationalen Fassade das mikropolitische Leben. Aus diesen Gründen müsse zukünftig stärker über die ermöglichende Funktion von Mikropolitik (als ein Mechanismus des institutionellen Wandels) nachgedacht werden. Wenn man davon ausgeht, dass existierende Organisationsstrukturen soziale Konstrukte sind (vgl. Abschnitt 3.2.2), muss eine erfolgreiche Intervention in erster Linie darauf abzielen, eingefahrene Denkmuster der Organisationsmitglieder durch Kommunikation zu durchbrechen und zu verändern (vgl. Göbel 1999, S. 223 ff.). „Die Entstehung neuer organisatorischer Lösungen ist eine mikropolitische Auseinandersetzung um den Erwerb neuer Wahrnehmungsmuster der organisationalen Realität, neuer Ziele, neuer Interpretationen für organisationales Handeln und neuer Interaktionsmuster“ (Göbel 1999, S. 228).
Ebenfalls relevant sind für mich die Forschungsarbeiten zum Thema Macht und Beratung, da in meinem Fallbeispiel gleich mehrere BeraterInnen an der Reorganisation
152
Theoretischer Bezugsrahmen
beteiligt waren – als „Aktionsforscherin“ war ich genau genommen eine davon.210 Auch dieser Untersuchungsgegenstand ist bisher selten beforscht worden. Stattdessen wurde von der Beratungsindustrie ein „zweckrationales Feiertagsbild“ der Beratung entworfen, das mit deren Praxis wenig zu tun hat (vgl. Iding 2000). Im Folgenden stelle ich kurz zwei mikropolitische Analysen vor, die mit unterschiedlichen methodischen Herangehensweisen einen Blick hinter die Kulissen der Beratungsprozesse erlauben. In der ersten geht es um OE-Prozesse im Krankenhaus (vgl. Iding 2000), in der zweiten um die Reorganisation eines mittelständischen Maschinenbauunternehmens (vgl. Muhr 2004).211 Im Gegensatz zu Muhr (2004) geht es Iding (2000) nicht nur um eine empirisch begründete und damit realitätsadäquatere Sicht auf Beratung, sondern darüber hinaus um erste Überlegungen zu einer mikropolitischen Theorie der Organisationsberatung. Er kritisiert die bisherige Beratungsforschung und ihre Vorstellung einer zweckrationalen Wohlgeordnetheit des Beratungsprozesses und setzt dagegen die These, dass Berater auch nur Mikropolitiker und interessierte Mit-Spieler im Wandelprozess sind. Die Kontaktaufnahme zum Berater ist dabei ein Spielzug in einem bereits laufenden Innovationsspiel. Über den Kontakt zu einem der beteiligten Berater erhält Iding (2000, S. 107 f.) selbst Zugang zu zwei Krankenhäusern, die sich beide in einem mehrjährigen OE-Prozess befinden. Als gegenstandsangemessene Methoden wählt er das Experteninterview, die Dokumentenanalyse und die nicht teilnehmende Beobachtung. In beiden Fallstudien kommt er zu dem ernüchternden Ergebnis, dass die Beratungsfälle zwar abgeschlossen wurden, aber als gescheitert betrachtet werden müssen. Während sich das eine OE-Projekt nach und nach als Rationalisierungsmaßnahme entpuppte, verlor das andere Projekt gleich am Anfang seine Machtpromotoren212 und kollidierte mit seiner partizipativen Ausrichtung mit den Kontrollverlustängsten des Krankenhaus-Managements. In beiden Fällen wurden die Berater nach dem Eintritt mit bereits im Gange befindlichen Organisationsspielen um Regeln und Ressourcenverteilungen konfrontiert, die sich massiv auf den Beratungsprozess auswirk-
210
211
212
Für Iding (2000, S. 206 f.) stellen Wissenschaftler-Berater eine Hybrid-Profession dar, die ihre Ergebnisse nicht nur in der Scientific Community, sondern auch im Beratungsgeschäft vermarkten können. Eine Studie zum Thema Macht in Beratungsprozessen der öffentlichen Verwaltung ist mir nicht bekannt. Weltz & Lullies (1983, S. 177) verweisen in diesem Zusammenhang zu Recht auf die mit der Festlegung von Fach- und Machtpromotoren unzulässige Reduktion der Komplexität des Geschehens. Macht lässt sich im Prozess nicht definitiv bestimmten Beteiligten zuordnen, sondern variiert je nach Phase und einsetzbarer Machtressource (vgl. dazu auch Ortmann et al. 1990, S. 395 ff.; Bogumil & Kißler 1998b).
Empirische Befunde der Verwendungsforschung
153
ten.213 Die Berater wurden damit zwangsläufig zu interessierten Mitspielern, die zwar Ungewissheitszonen kontrollierten, aber die geltenden Regeln zu wenig berücksichtigten. Das führte u.a. dazu, dass ihre Beratungsmethode und die Interventionsformen nicht mit dem Organisationstyp ihrer Klientenorganisation kompatibel waren. Obwohl viele der Beteiligten von den Projekten profitierten, wurde das Doppelziel der OE durch die Machtpromotoren letztlich in Richtung Rationalisierung aufgelöst. Aufgrund dieser Erkenntnisse versteht auch Iding (2000, S. 168 ff.) das beobachtbare und als „Widerstand gegen Wandel“ attribuierte Verhalten als rationales Agieren interessengeleiteter Akteure. Letztlich kommt Iding (2000) zu der Schlussfolgerung, dass der Beratungsprozess als Beteiligtsein des Beraters an einem mikropolitischen Organisationsspiel verstanden werden soll, in dem es darum geht, Regeln und Ressourcenverteilungen zu verändern. In diesem Sinn ist der Berater ein „Meta-Spieler“, der zunächst die geltenden Regeln und Ressourcenverteilungen mit Hilfe der Dimensionen Signifikation, Legitimation und Herrschaft erfassen müsse. Um seine Handlungsfreiheit für die Ermöglichung der notwendigen Metaspielzüge zu erhalten, soll er sich nicht vereinnahmen lassen, sondern muss so lange wie möglich für die anderen Akteure Unsicherheitszone bleiben. Muhr (2004, S. 5 ff.) knüpft mit seiner Untersuchung an die sich allmählich entwickelnde kritische Beratungsforschung und damit vor allem an diese Ergebnisse an. Er sieht Forschungsbedarf bei der Frage nach den Gründen für das Scheitern von Beratungsprozessen und will damit zur Entmythologisierung von Beratung beitragen. Dazu arbeitet er einen mehrjährigen Beratungsprozess – an dem er selbst als Juniorberater beteiligt war – mikropolitisch auf. Am Ende kommt er zu ähnlichen Ergebnissen: Beratung hat seiner Meinung nach bislang kein ausgeprägtes Sensorium für die zentralen machtpolitischen Aspekte von organisationaler Veränderung, daher träfen – wie seine mikropolitische Analyse einer konventionellen OE zeige – oftmals „naive“ Berater auf „naive“ Reformer. Er warnt allerdings davor, Mikropolitik bzw. eine strategische Organisationsanalyse als weiteres Reorganisationstool anwenden zu wollen. Aufgrund der unumgänglichen Kontingenz könne lediglich für mehr Reflexivität plädiert werden, die Herausforderung liege darin, mit der unvermeidbaren „Steuerungslücke“ umzugehen. Dazu gehört aber die Kenntnis und das Verständnis des
213
Naschold & Bogumil (2000, S. 225) weisen in diesem Zusammenhang auf die doppelte Attraktivität einer externen Beratung im Rahmen der Verwaltungsmodernisierung hin: zum einen können durch die vorurteilsfreiere Sicht auf die internen Problemlagen neue konstruktive Ideen eingebracht werden, zum anderen haben die Auftraggeber im Falle eines Scheiterns ein „Bauernopfer“, dem die Schuld zugeschoben werden kann.
154
Theoretischer Bezugsrahmen
Terrains, d.h. seiner Zwänge und Möglichkeiten, als unverzichtbare Basis jeder erfolgreichen Veränderung (vgl. Muhr 2004, S. 291 ff.). Nachdem ich in den vorangegangenen Kapiteln die theoretischen Grundlagen sowie die m.E. wichtigsten empirischen Befunde dazu dargestellt habe, werde ich nun im anschließenden Fazit meinen konzeptionellen Bezugsrahmen zusammenfassen.
3.5
Fazit und konzeptioneller Bezugsrahmen
Organisationen sind als soziale Systeme in der Praxis wesentlich schwerer steuerbar, als dies die klassischen theoretischen Ansätze glauben machen wollen (vgl. Abschnitt 2.4). Das liegt zunächst an der allem menschlichen Handeln eigenen, begrenzten Rationalität, die sowohl das Verhalten, als auch die dadurch produzierten Strukturen durchdringt. Beides ist damit das Produkt einer komplexen Mischung aus Affektivität, erlernten und durch Sozialisation verinnerlichten Routinen, moralischen und ethischen Überlegungen und instrumentalen Strategien und Berechnungen. Zum anderen liegt es an der Allgegenwart loser Verbindungen in Organisationen, da die Beziehungen zwischen den Organisationsmitgliedern heterogen und diskontinuierlich sind – nicht zuletzt, weil jede/r bestrebt ist, seine eigene Autonomie und Handlungsfähigkeit zu steigern oder zumindest zu schützen. Last but not least sind Organisationen komplexe Montagen von verschiedenen „Welten” mit unterschiedlichen Normen, Werten und Legitimierungsmuster („Akteursrationalitäten“), die keine generelle Gültigkeit für sich beanspruchen können, sondern in Konkurrenz zueinander stehen und relativiert sowie in Frage gestellt werden (können) (vgl. Friedberg 1995, S. 105 f.). Auf der Grundlage dieser Argumentation betrachte ich Organisationen nicht als zweckrationale, strikt an ökonomischen Effizienzkriterien ausgerichtete Gebilde, sondern als Arenen mikropolitischer Aushandlungsprozesse und -kämpfe, in denen jede/r „sein“ Spiel spielt. In diesem sozialen Handlungssystem werden die verschiedenen Interessen der handelnden Akteure jedoch durch formelle und informelle (Spiel)Regeln austariert. Aufgrund dieser wechselseitigen Interdependenz von Handlungen und Strukturen kann Organisation als Ergebnis einer Reihe von Spielen gesehen werden. Damit wird die (bürokratische) Maschinenmetapher durch eine Spielmetapher abgelöst. Wenn die Spielregeln einerseits das Akteurshandeln konditionieren, aber andererseits von den Akteuren gesetzt und zur Interessendurchsetzung genutzt werden können, zeigt sich Macht (auch) als Definitionsmacht im Produktionszyklus von Regelsystemen. Da es keinen organisationalen Wandel geben kann, ohne das Ändern der alten Spielregeln, ist diese Regelungskompetenz in Reorganisationspro-
Fazit und konzeptioneller Bezugsrahmen
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zessen von besonderer Bedeutung. Auch für mich haben daher nur diejenigen einen Akteursstatus, die über Definitionsmacht im Reorganisationsprozess verfügen – die anderen Beteiligten sind entweder Agierende oder (nur) Betroffene. Dieser Status kann allerdings im Prozess der Regelproduktion je nach Phase (Regelsetzung, Regelinterpretation oder Regelumsetzung) aufgrund der unterschiedlichen Teilnahmechancen und spezifischen Machtmittel variieren (vgl. Ortmann et al. 1990, S. 396; Bogumil & Kißler 1998a, S. 125 ff.). Um die Ursachen von Reformdefiziten im öffentlichen Sektor zu identifizieren, muss m.E. also zunächst die Dynamik von Reorganisationsprozessen verstanden werden. Dafür genügt es nicht, die Konzepte und Prozessabläufe an der Oberfläche zu analysieren. Stattdessen muss der Blick tiefer gehen, um die dahinter liegenden Strategien der beteiligten Akteure und die Spielstrukturen in denen sie agieren, sichtbar zu machen. Dabei geht es nicht um personalisierende Schuldzuweisungen und das Auffinden von „Sündenböcken“, sondern um das Aufzeigen des Wechselspiels von strukturellen und oftmals handlungsleitenden Rahmenbedingungen auf der einen und den strukturverändernden bzw. -(re)produzierenden (mikropolitischen) Handlungen der Akteure – die jeweils ihre legitimen Interessen vertreten – auf der anderen Seite214. Dieser Anspruch erfordert ein intensives fallstudienmäßiges Vorgehen, da hinter die rationale Fassade von Reorganisationen geblickt werden muss, um das dort tobende (mikro)politische Leben zu erfassen. Zur Veranschaulichung greife ich zunächst auf die Konzeptstruktur des Bezugsrahmens von Schirmer (2000) zurück, in der er die Basisbausteine zur Rekonstruktion von Politik in Reorganisationsprozessen in ein umfassenderes Modell von Veränderungsprozessen einfügt (vgl. Abb. 20).
214
Denn wie bereits ausgeführt, wird Mikropolitik hier nicht als innerorganisatorischer Kleinkrieg von Machiavellisten, sondern als organisationstheoretisches Konzept betrachtet (vgl. Bogumil & Kißler 1998a).
156
Theoretisccher Bezugsrahmen
Abbildung 20: Modell von Veränderungsprozessen (Quelle: Schirmer 2000 0, S. 211)
Ich gehe mit Schirmer (200 us, dass – wie be00, S. 210 ff.) zunächst einmal davon au reits in der Einleitung ange esprochen – Reorganisationen immer ein ne Anpassung an veränderte Umweltbedingu ungen sind, diese aber nicht mechanisttisch, sondern (in Abhängigkeit von der Organ nisationsgeschichte, deren Stärken und Schwächen S sowie den wahrgenommen Chancen und Risiken) „organisationsspezifiscch“ verlaufen (INPUT). Die im Zentrum dess Prozesses und der Analyse stehenden n sensitivierenden Basiskonzepte (vgl. Kapite el 4) benennen die zentralen Prozessch harakteristika von Reorganisationen. Die auffgrund der Umweltveränderung(en) erg griffene Veränderungsinitiative betrifft in un nterschiedlichem Ausmaß die Interessen der Organisationsmitglieder, was unterschiedliche Interessenbetroffenheiten zur Folge F hat. Die daer offen geführten raus entstehenden Interesssenkonflikte werden in mehr oder wenige Verhandlungen ausgetrage en, wobei ähnliche Interessen zur Bildung von Koalitionen führen können, um die eigene Macht- und Verhandlungsbasis zu z stärken (PROZESS). Diese Dynamik derr politischen Prozesse entwickelt sich niicht beliebig, sondern wird sowohl von strukkturell vermittelten, konkurrierenden Akte eursrationalitäten, kulturellen Prägungen und Leitbildern als auch durch strukturell vermittelte v Machte nach Prozessverlauf fallen die Ergebnissse auf funktionaasymmetrien beeinflusst. Je ler, politischer und prozessualer Ebene unterschiedlich aus (OUTPU UT). Während auf der funktionalen Ebene na ach der ökonomischen Effizienz gefragt wird, geht es auf
Fazit und konzeptioneller Bezugsrahmen
157
der politischen und prozessualen Ebene um die soziale Effizienz des Veränderungsprozesses. Die bidirektionalen Pfeile in Abbildung 20 sollen zum einen darauf hinweisen, dass es sich bei diesen Prozessen nicht um lineare Vorgänge, sondern um iterative Prozesse handelt. Zum anderen wird daran erinnert, dass die Akteure mit ihrem Handeln – gerade in Reorganisationen – auch die Spielstrukturen und -regeln, die ihr Handeln beeinflussen, verändern (wollen). Angesichts der komplexen Dynamik von Reorganisationsprozessen ist dieses Modell von Veränderungsprozessen allerdings nur eine vergleichsweise grobe Veranschaulichung. Nicht abgebildet werden beispielsweise die oben bereits erläuterten Präzisierungen des Prozesses als Regelproduktionsprozess in drei Phasen und der verschiedenen Rollen der Beteiligten (als AkteurInnen, Agierende, Betroffene) sowie die Zusammenhänge zwischen alten und neuen Spielen. Auf der Grundlage der bisherigen Ausführungen kann meine Fragestellung nun spezifiziert werden. Es geht mir zum einen um die Analyse des Reorganisationsprozesses (Prozessebene) und zum anderen um die im Prozess verhandelten bzw. neu ausgehandelten Spielregeln und deren Auswirkungen auf die Machtverhältnisse (Inhaltsebene) im untersuchten Bereich: •
Wer ist im Reorganisationsprozess und damit im Produktionszyklus des Regelsystems AkteurIn und wer nur Agierende/r oder Betroffene/r?
•
Welche AkteurInnen haben in welcher Phase des Produktionszyklus des Regelsystems (im Fallbeispiel: die Aufbau- und Ablauforganisation) Definitionsmacht und hat dies Auswirkungen auf die Inhaltsebene?
•
Welche Strategien verfolgen die von der Reorganisation betroffenen Individuen und Gruppen? Welche Interessenbetroffenheiten und -konflikte liegen dem zugrunde?
•
Über welche Machtmittel verfügen die Beteiligten und (wie) werden sie einge-
•
Wie werden (welche) Interessenkonflikte gehandhabt und welche Rolle spielen dabei die Machtbeziehungen?
setzt?
Mit Hilfe der Antworten auf diese Fragen, wird der Reorganisationsprozess als Machtspiel rekonstruiert und Hinweise auf das Entstehen der eingangs erwähnten „Realitätslücke“ abgeleitet. Auf welchem Weg und mit welchen Methoden diese Fragen beantwortet werden sollen, wird im folgenden Kapitel dargestellt.
158
Methodisches Vorgehen
4 Methodisches Vorgehen 4.1
Der Forschungsansatz
Da Untersuchungsmethoden ziel- und variablenadäquat sein sollen, kann mein Forschungsvorhaben – einen Reorganisationsprozess mikropolitisch zu untersuchen, um einen Blick hinter deren rationale Fassade zu gewähren – nur mit qualitativen Methoden bearbeitet werden. Denn es geht um die Untersuchung eines Prozessverlaufes, wofür eine detaillierte, intensive Analyse organisationsinterner Vorgänge erforderlich ist (vgl. Nienhüser 1993, S. 71 ff.). Hierbei reicht es nicht aus, Verhalten als stimuliertes (automatisches) Reagieren auf äußere oder innere Kräfte zu beobachten und zu beschreiben, sondern Handeln als intentionales, argumentationszugängliches Tun, mit welchem die Handelnden einen subjektiv gemeinten Sinn verbinden, soll verständlich gemacht werden (vgl. Weber 1972, S. 3). Diese grundlegende Unterscheidung von Handeln und Verhalten ist eine Wurzel der interpretativen (oder qualitativen) Sozialforschung. Den interpretativen Methoden liegt die Vorstellung zugrunde, dass sich Menschen nicht aus der BeobachterInnenperspektive „vermessen“ lassen, sondern dass sie in möglichst natürlichen Gesprächssituationen zu Wort kommen sollen.215 Statt den Befragten vorgefertigte Kategorien „überzustülpen“, nimmt der Forscher bzw. die Forscherin in einem interaktiven Prozess eine TeilnehmerInnenperspektive ein und nähert sich so deren sozialer Realität (vgl. Osterloh & Tiemann 1993, S. 94 f.). Dem Ansatz der strategischen Organisationsanalyse folgend, war auch die Entscheidung für ein fallspezifisches und induktives216 Vorgehen vorgegeben, denn die eingehende Kenntnis des empirischen Feldes und seiner stets spezifischen Konfigurationen hat darin einen ganz zentralen Stellenwert.217 Die strategische Organisationsanalyse ist ein interpretatives Verfahren, das ausgehend von den beobacht- und erfragbaren Verhaltensweisen und Einstellungen die Strategien der Organisationsmitglieder rekonstruiert und deren Sinn und Rationalität erklärt, indem sie sie mit den jeweils spezifischen, den Spielraum der Organisationsmitglieder umschreibenden Ressourcen und Zwängen in Verbindung setzt (vgl. Bogumil & Schmid 2001, S. 62 215
216
217
Als Verfahren werden daher meist das „offene Interview“, die Gruppendiskussion oder die teilnehmende Beobachtung vorgeschlagen (vgl. Osterloh & Tiemann 1993, S. 94). Wie in der qualitativen Sozialforschung üblich, beginnt auch die strategische Organisationsanalyse nicht mit elaborierten Hypothesen, die deduktiv aus vorhandenen Theorien abgeleitet werden, sondern mit der „offenen“ Sammlung von Daten. Dieses induktive Vorgehen folgt allerdings keinem tabula rasa Konzept menschlicher Erkenntnis, sondern dehnt vielmehr in einer „qualitativen Induktion“ bereits bekannte Regeln auf neue Objekte aus (vgl. Kelle & Kluge 1999, S. 16 ff.). In diesem Sinne bescheinigen Ortmann et al. (1990, S. 598) solcher Forschung den Charakter einer „detektivischen Archäologie“.
Der Forschungsansatz
159
und Abschnitt 3.3.3). Der „objektiv“ gegebene organisatorische Kontext (z.B. die Aufbauorganisation als struktureller Kontext, die technische Organisation, die Rationalisierung und Spezialisierung der Aufgaben, die Produktionsnormen und Ertragsprämien) kann dabei als passive Sicht bezeichnet werden. Wo der „industrielle Gesetzgeber“ lediglich technische Beziehungen organisieren wollte, wird daraus – als Folge der eingesetzten Strategien der Akteure im organisatorischen Kontext – die aktive (oder „subjektive“) Sicht (das organisatorische Konstrukt), d.h. die Strukturierung und Einsetzung von Machtbeziehungen zwischen den Akteuren (Leitfrage: Was machen die Akteure daraus?) (vgl. Crozier & Friedberg 1993, S. 35 ff.).218 „Die Analyse einer Machtbeziehung fordert also immer eine Antwort auf zwei Reihen von Fragen. Erstens, über welche Mittel verfügt jeder Gegenspieler, das heißt, welche Trümpfe erlauben es ihm, in einer bestimmten Situation seinen Freiraum auszudehnen? Zweitens, welche Kriterien definieren die Relevanz dieser Ressourcen und ihre mehr oder weniger leichte Mobilisierbarkeit, das heißt, um welchen Einsatz geht es in der Beziehung und in welche strukturellen Zwänge ist sie eingebettet?“ (Crozier & Friedberg 1993, S. 44, Hervorhebungen im Original).
Damit sind die zentralen (notwendigerweise vagen und vieldeutigen) theoretischen Begriffe angesprochen, die im Rahmen von strategischen Organisationsanalysen als sensibilisierende Konzepte von den FeldforscherInnen verwendet werden. Denn weder empirische Verallgemeinerungen noch theoretische Aussagen „emergieren“ einfach aus dem Datenmaterial. ForscherInnen benötigen vielmehr theoretische Sensibilität, um empirisch gegebenes Material in theoretischen Begriffen reflektieren, d.h. „relevante Daten“ und „signifikante Theorien“ sehen zu können. Der Unterschied zur hypothesenprüfenden quantitativen Forschung besteht u.a. darin, dass offene Konzepte benutzt werden, die die UntersucherInnen für die Wahrnehmung sozialer Deutungen in konkreten Handlungsfeldern sensibilisieren. Diese sensibilisierenden (oder sensitivierenden) Konzepte werden erst in der Auseinandersetzung mit dem empirischen Feld konkretisiert und dadurch in definitive Konzepte umgewandelt (vgl. Kelle & Kluge 1999, S. 25 ff.).219 Da Organisationskrisen nach Crozier & Friedberg (1993,
218
219
Damit nehmen Crozier & Friedberg (1993) ähnlich wie Weick (1985) eine ethnomethodologische Position ein – ohne sich explizit darauf zu beziehen. Denn auch die Ethnomethodologie versteht sich als eine Disziplin, die empirisch-analytisch ermitteln will, welche Methoden Gesellschaftsmitglieder zum Einsatz bringen, um ihr Alltagsleben zu organisieren (vgl. Osterloh 1993, S. 83 ff.). Je nach Explikation, Herkunft, Theoretisierungsgrad und empirischem Gehalt kann man unterschiedliche theoretische Wissensformen unterscheiden, von denen fünf praktische Bedeutung im qualitativen Forschungsprozess haben: empirisch nicht gehaltvolles Theoriewissen von ForscherInnen, empirisch gehaltvolles Alltagswissen von ForscherInnen, empirisch gehaltvolles Alltagswissen von Untersuchten, empirisch gehaltvolles Theoriewissen von Untersuchten, empirisch gehaltvolles Theoriewissen von ForscherInnen. Ziel des qualitativen Forschungs-
160
Methodisches Vorgehen
S. 67) bevorzugte Zeitpunkte für Organisationsanalysen sind, weil in diesen Perioden die für das jeweilige Machtsystem charakteristischen Machtverhältnisse zwischen den Akteuren deutlicher hervortreten, ist der von mir untersuchte krisengetriebene Reorganisationsprozess m.E. besonders geeignet als Untersuchungsgegenstand. Nur empirisch fundierte, reichhaltige Beschreibungen konkreter Reorganisationsprozesse können der Vielschichtigkeit des Gegenstandsbereiches gerecht werden und die Beschreibung ist bei diesem Forschungsansatz m.E. mindestens ebenso interessant, wie die Interpretation der beobachteten „Fakten“ – der Fall „spricht“ für sich. Um ein zu erforschendes Handlungsfeld in seiner gesamten Tiefe und Reichweite durchdringen zu können, bietet sich die Durchführung einer Einzelfallstudie an (vgl. Yin 1994, S. 14). Die Fallstudie ist allerdings keine spezielle Methode der empirischen Sozialforschung, sondern vielmehr ein Forschungsansatz im Sinne einer vielschichtigen methodischen Vorgehensweise, in der prinzipiell das gesamte Spektrum der sozialwissenschaftlichen Erhebungs- und Auswertungsmethoden zum Einsatz kommen kann (vgl. Boos 1993, S. 34). „Die Einzelfallstudie bezieht sich auf ein einzelnes Untersuchungsobjekt, um in einer vertieften Betrachtung Informationen zu Tage zu fördern, die der multiplen Fallstudie oder einer großzahlig angelegten statistischen Analyse entgehen“ (Hoon 2003, S. 53).
Diese Genauigkeit der Fallstudie „erkauft“ man sich allerdings mit einer eingeschränkten Generalisierbarkeit. Eine strategische Organisationsanalyse gehört nach Weicks Forschungsuhr220 zur Kategorie der „Sechs-Uhr-Forschung“, d.h. sie verzichtet zu Gunsten einer dichten Beschreibung der Feinstrukturen des Akteurshandelns (Genauigkeit und Einfachheit) auf die Generalisierbarkeit der Ergebnisse (vgl. Weick 1985, S. 55). So lange es allerdings darum geht, die analytische (und nicht die statistische) Generalisierung zu verbessern – und darum geht es hier –, kann man im Sinne Yins (1994) mit dieser geringen externen Validität leben.221 Die Qualität der Fallstudienergebnisse kann durch die Erhöhung der Kriterien Konstruktvalidität (mit Hilfe einheitlicher Messkriterien im Zeitverlauf), interne Validität (durch die Nutzung vieler unterschiedlicher Datenquellen) und Reliabilität (durch die detaillierte Dokumentation der Datenbasis und des methodischen Vorgehens) gesichert werden (vgl. Yin 1994,
220
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prozesses ist es, die ersten vier Wissensformen zu verknüpfen, um zur fünften Wissensform zu gelangen (vgl. Kelle & Kluge 1999, S. 35 f.). Auf der „Forschungsuhr“ sind die drei Anforderungen an eine Theorie – Allgemeinheit, Genauigkeit und Einfachheit – auf der zwölf, der vier und der acht eingeordnet, womit veranschaulicht wird, dass unmöglich alle drei zugleich erfüllt werden können (vgl. Weick 1985, S. 55). Zumal die intensive Erforschung eines einzelnen Falles, in der eine Vielzahl von Beobachtungen berücksichtigt und systematisch verknüpft und interpretiert werden, im Rahmen handlungsorientierter Forschung (z.B. in der Politik- oder Organisationsberatung) ohnehin einen eigenständigen Wert besitzen (vgl. Boos 1993, S. 39).
Der Forschungsansatz
161
S. 35 ff.). Eine besondere Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang der „systematischen Perspektiven-Triangulation“ zu, in der verschiedene methodische Zugänge kombiniert werden, die unterschiedliche Perspektiven auf den Fall eröffnen. Während beispielsweise mit Hilfe von Interviews der subjektiv gemeinte Sinn erfasst wird, können darüber hinaus mit Beobachtungsstudien Verhaltensweisen dokumentiert und mit Dokumentenanalysen die strukturellen Aspekte des Handlungssystem offengelegt werden (vgl. Boos 1993, S. 42; Flick 1995, S. 433 f.). Zur Frage der Methodenauswahl kommt Nienhüser (1993, S. 72 ff.) hinsichtlich der Beurteilung der Leistungsfähigkeit von Befragung, Dokumentenanalyse und Beobachtung zur Erforschung von Entscheidungsprozessen zu dem Schluss, dass die messtheoretischen („klassischen“) Gütekriterien eher die Funktion von Hintergrundkriterien haben. Er schlägt vor, die Methoden zu wählen, die – vor dem Hintergrund eines bestimmten Ziels und der zur Verfügung stehenden Forschungsressourcen – am wenigsten „Störungen“, d.h. Objektivitäts-, Reliabilitäts- und Validitätsprobleme hervorrufen. Zur Analyse der Ursachen dieser Störungen bezieht er sich auf ein Modell des Forschungsprozesses, das die Beziehung zwischen den Forschenden und den zu untersuchenden Objekten als (soziale) Beziehung charakterisiert, die mehrfach durch Informationsverarbeitungsprozesse geprägt ist. Daraus werden folgende „methodenangemessene“ (Flick 1995, S. 167) Gütekriterien abgeleitet: 1. Zieladäquatheit (müssen dem Forschungsziel entsprechen) 2. Variablenadäquatheit (müssen den zu erfassenden Variablen angemessen sein) 3. Objektadäquatheit (müssen den Eigenschaften der zu untersuchenden Entscheidungsprozesse angemessen sein) 4. Feldzugangsadäquatheit (müssen sicherstellen, dass den ForscherInnen der Zugang zum Forschungsfeld möglichst wenig begrenzt wird)222 5. Individualadäquatheit (müssen gewährleisten, dass Störungen aus individuellen Informationsverarbeitungsprozessen der ForscherInnen und ihrer InformantInnen möglichst vermieden bzw. kontrolliert werden) 6. Sozialadäquatheit (müssen sicherstellen, dass Störungen, die sich aus den sozialen Beziehungen zwischen ForscherInnen, „ZugangskontrolleurInnen“ und InformantInnen ergeben, möglichst vermieden bzw. kontrolliert werden) 7. Forschungsökonomische Adäquatheit (müssen ein angemessenes KostenNutzen-Verhältnis aufweisen)
222
Hierbei müssen insbesondere die Interessen der Zugangskontrolleure („Gatekeeper“) berücksichtigt werden, die generell die Erlaubnis zur Untersuchung gewähren oder versagen können bzw. den Zugang zu Informanten und Informationsquellen kontrollieren (vgl. Nienhüser 1993, S. 79).
162
Methodisches Vorgehen
8. Ethische Adäquatheit (sollten möglichst mit legitimen Wertmaßstäben vereinbar sein). Auch Nienhüser (1993) kommt letztendlich zu dem Schluss, dass es sinnvoll ist, mehrere Methoden miteinander zu verbinden, da nicht immer allen Kriterien gleichzeitig entsprochen werden kann und dass Transparenz für eine kritische Prüfung der Methoden unerlässlich ist.223 Für die Datenerhebung, d.h. zum Sammeln von Informationen und „Fakten“ sollen die ForscherInnen im Rahmen einer strategischen Organisationsanalyse eine empathische Haltung einnehmen und sich mit klinischen und qualitativen Methoden auf eine Reise in die „Innerlichkeit“ der Akteure begeben (vgl. Friedberg 1995, S. 301 ff.). „Vergleichbar einem Schwamm hat der Forscher während seiner Feldphase beim organisatorischen Ansatz keine Meinung, keine Ideen, sondern ist von unersättlicher Neugier gegenüber allem, was sich in dem von ihm erforschten Handlungsfeld abspielt. Er notiert sich alle Angaben, die man ihm liefert, er folgt den Interviewten so weit wie möglich in ihrer ‚Subjektivität’, d.h. in ihrer Argumentation, ihren Rechtfertigungen und ihren Beschreibungen, ohne ihnen zu widersprechen, ohne sie zu reduzieren oder abzuqualifizieren, sogar ohne ihnen den Gesichtspunkt eines anderen Akteurs in diesem Feld entgegenzuhalten. Gleichermaßen aufmerksam gegenüber der Art und Weise, in der die einzelnen Interviewpartner die Wirklichkeit beschreiben und ihre Meinungen, Gefühle und Verhaltensweisen rechtfertigen, versetzt er sich nacheinander in die Position eines jeden von ihnen, indem er ihren Gesichtspunkt übernimmt, aber ohne dass einer dabei die Oberhand über die anderen gewinnt“ (Friedberg 1995, S. 308).
Diese Forschungshaltung224 – „unvoreingenommen“ in das Feld zu gehen, um die Datensammlung und -interpretation nicht durch „fremde“ Kategorien und Begriffe zu verfälschen (vgl. Glaser & Strauss 1968) – ist kennzeichnend für die meisten qualitative Ansätze (vgl. Flick 1995, S. 148 ff.). Wie im vorigen Abschnitt bereits erwähnt, geht es dabei vor allem darum, ob die Kategorien der Erhebung und Auswertung bereits vor der Erhebung festgelegt wurden oder ob sie anhand des erhobenen Materials interpretativ und kontextspezifisch unter Zugrundelegung der alltagsweltlichen Interpretationen der Befragten entwickelt werden (vgl. Osterloh & Tiemann 1993, S. 95). Da Verstehen keine Erfindung sozialwissenschaftlicher Forschung ist, sondern der allgemeine Erfahrungsmodus von Angehörigen einer Lebenswelt, haben WissenschaftlerInnen keinen prinzipiell anderen Zugang zur Alltagswelt als NichtwissenschaftlerInnen (vgl. Osterloh 1993, S. 80). Damit wird die in anderen Forschungsan223
224
Allgemein zum Thema Methodenauswahl für die Datensammlung im qualitativen Forschungsprozess (vgl. Flick 1995, S. 156 ff.). in der das Erfassen der Feldsituation aus der Sicht der Akteure, aber auch aus eigener Anschauung ein wesentliches Erkenntnisinstrument ist.
Der Forschungsansatz
163
sätzen verpönte Subjektivität des Forschers zu einem wichtigen Forschungsinstrument gemacht, aber bewusst und kontrolliert eingesetzt.225 Um die Subjektivität zu kontrollieren, sollen so weit wie möglich formalisierte Forschungsverfahren angewandt und die elementaren Regeln der Logik und rationalen Argumentation eingehalten werden. Ausgehend von den fünf Grundproblemen der empirischen Sozialforschung in der Erhebungssituation226 zeigen Osterloh & Tiemann (1993, S. 96 ff.) auf, dass die forschungspraktischen Lösungen der interpretativen Verfahren für die Datengewinnung darauf hinaus laufen, die Erhebungssituation einer natürlichen Gesprächssituation anzugleichen und die Beobachtungen möglichst vollständig zu protokollieren.227 Zur Beantwortung der Frage, wann man die Datensammlung beenden kann, weil man „genug“ über das zu erforschende Handlungsfeld weiß, gehören nach Friedberg (1995, S. 321) neben der wissenschaftlichen Beurteilung der Ergiebigkeit und Plausibilität der erhaltenen Analysen und Interpretationen auch außerwissenschaftliche Opportunitäts- und Wirtschaftlichkeitsüberlegungen. Wenn sich die Informationen beim Zusammentragen der Daten zunehmend überschneiden, lege der „gesunde Menschenverstand“ nahe, die Datenerhebung zu beenden. Nach der Reise in die Innerlichkeit der Akteure und des Feldes müssen die ForscherInnen ihre Externalität (d.h. ihren Status als Außenstehende) wiedergewinnen, um die von ihnen gesammelten Materialien und Interviewdaten interpretieren zu können. Nachdem sie zuvor die vielfältigsten Interview- und Beobachtungsdaten gesammelt haben, kann nun begonnen werden, die verschiedenen Perspektiven und Sichtweisen zu vergleichen, um die darin enthaltenen Überschneidungen sowie Inkohärenzen und Widersprüche zu finden. Mit Hilfe des Vergleichs kann man Abstand gewinnen von den subjektiven Beschreibungen und sich eine Gesamtvorstellung vom analysierten Handlungsfeld und dessen Funktionslogik machen, die in dieser Form in keinem einzigen Interview „enthalten“ ist. Dadurch wird es möglich, die wuchernde Komplexität und Vielfältigkeit der empirischen Gegebenheiten und Informationen zu reduzieren und zu klären, um anschließend ein begründetes (d.h. auf umfangreiches
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Ohnehin stellt sich die Frage, ob eine objektive neutrale Tatbestandsaufnahme möglich ist. Sind die Interviewdaten, die WissenschaftlerInnen bei Betriebsumfragen erheben objektiv? Sind die Darstellungen von Vorgesetzten unverzerrter und realitätsnäher als die von ArbeiterInnen? Da allein schon die Auswahl des Themengebiets interessengeleitet ist und es keinen Beobachtungsstandpunkt gibt, von dem aus man alles sieht und alles sagen kann, gibt es keine Wirklichkeit an sich, die man ohne jede Verzerrung in einem Dokument oder Text widerspiegeln kann (vgl. Neuberger 1995, S. 24). Reduktion von Handeln auf Verhalten, Fragmentierung des Untersuchungsgegenstandes, Interaktion in der Befragung, „versteckte“ Hermeneutik, doppelte Hermeneutik Für ausführliche Hinweise zur Fixierung der erhobenen Daten (vgl. Flick 1995, S. 160 ff.).
164
Methodisches Vorgehen
empirisches Wissen gestütztes) Modell des Handlungssystems zu entwickeln228 (vgl. Friedberg 1995, S. 311 ff.). Hiermit zeigt Friedberg (1995) bereits einen möglichen Lösungsweg für die zwei Grundprobleme der interpretativen Sozialforschung in der Auswertungssituation auf. Osterloh & Tiemann (1993, S. 101 ff.) mahnen an, über den Möglichkeiten für konkrete, praxisnahe Analysen die zentralen methodologischen Probleme interpretativer Forschung nicht zu vergessen. Dabei geht es zum einen um die Frage der Validität (Kann der interpretative Forscher wirklich den gemeinten Sinn der Akteure messen?) und zum anderen um die Frage, ob mit dieser Herangehensweise kritisches Wissen produziert werden kann, das über eine deskriptive Reportage hinausgeht. Ähnlich wie Crozier & Friedberg (1993), die einen „objektiv“ (passiv) gegebenen organisatorischen Kontext und eine „subjektive“ (aktive) Sicht der Akteure unterscheiden, schlagen die Autorinnen als Lösung vor, mit Hilfe der Unterscheidung von „System“ (objektiv beobachtbar) und „Lebenswelt“ (nur von innen erschließbar) nomologisch-kausale Erklärungsansätze neben interpretativen Verstehensansätzen zu verwenden.229 Friedberg (1995, S. 319 ff.) scheint an diesem Punkt skeptischer zu sein. Er betont immer wieder, dass auch nach gewissenhafter Sammlung und Auswertung der Daten das erarbeitete Modell des untersuchten Handlungssystems nur „lokale“ Bedeutung habe und die gefundenen Erkenntnisse immer nur Hypothesen bleiben. Diese besitzen – im Vergleich zu den einzelnen subjektiven Sichtweisen – zwar einen höheren Allgemeinheitsgrad, da sie sich auf eine größere Zahl von Daten stützen und weil sie wissenschaftlich erarbeitet wurden, sind aber selbst nur ein provisorisches Teilergebnis (ohne den Anspruch erschöpfend oder allgemeingültig zu sein). Denn selbst wenn eine Analyse ex post die Entstehung eines Systemzustandes mit seinen Eigenschaften und Regulierungsweisen erklären kann, kann man aufgrund der Kontingenz der Ereignisse nur sehr eingeschränkt vorhersagen, wie sich das System in Zukunft weiter entwickelt. Es geht lediglich darum, die Handlungslogiken und die spezifischen Zwänge zu verstehen und zwar ohne denunziatorische oder anklägerische Absicht. Welche Nützlichkeit die Forschungsergebnisse haben, hängt letztlich von ihrer Verwendbarkeit durch die Akteure des jeweiligen Feldes ab. Deren Relevanz und Nützlichkeit wird im Falle einer Organisationsanalyse mindestens von zwei Gruppen bewertet: einerseits von WissenschaftlerInnen nach den oben genannten wissenschaftlichen Kriterien, andererseits von den durch die Untersuchung betroffenen Nicht228
229
Damit handelt es sich immer ein Stück weit um „Grounded Theory“ (Glaser & Strauss 1968), die nicht bloßen Empirismus betreibt, sondern in Auseinandersetzung mit dem Feld Konzeptund Strukturarbeit leistet (vgl. Muhr 2004). Zur Interpretation von Daten im qualitativen Forschungsprozess (vgl. Flick 1995, S. 163 ff.)
Die Rolle der (Aktions-)Forscherin
165
WissenschaftlerInnen gemäß ihrem pragmatischen Wert.230 Friedberg (1995, S. 316 ff.) weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die Weitergabe der Untersuchungsergebnisse an die zuvor befragten bzw. beobachteten Akteure zwar auch ein Stück (kommunikative) Validierung231 sein könne. Allerdings nicht als „Beweis“ für die Richtigkeit der eigenen Hypothesen, sondern als Chance für den Forscher, das System aufgrund der beobachtbaren Reaktionen (noch) besser verstehen zu können. Neben dieser Wissensvertiefung für den Wissenschaftler kann das Feedback an das untersuchte System auch Interventionsinstrument sein und zwar sowohl im Sinne einer möglichen Beeinflussung (im Sinne einer „self-fullfilling-prophecy“) als auch zum Anstoß von Selbstreflexion und Lernprozessen. Osterloh & Tiemann (1993, S. 103) weisen hierbei darauf hin, dass sich der für sie unverzichtbare Verständigungsprozess zwischen Wissenschaft und Praxis über viele Stufen, Diskussionsrunden und Zeiträume erstrecken kann.232
4.2
Die Rolle der (Aktions-)Forscherin
Wie Muhr (2004, S. 61) treffend feststellt, lebt Wissenschaft auch von Zufällen und Gelegenheiten. Ich persönlich verdanke meinen Feldzugang der Gelegenheit, als Projektmitarbeiterin im Forschungs- und Entwicklungsprojekt „Beteiligungsorientierte Veränderung der Arbeitsorganisation und der betriebsinternen Kommunikation in drei Bereichen der Zentraleinrichtung BGBM Berlin“ mitarbeiten zu dürfen, das als flankierende Maßnahme zur Bewältigung des dort notwendig gewordenen Personalabbaus initiiert worden war. Das Projekt war als Organisationsentwicklungsprozess angelegt und folgte zunächst dem Leitbild der Aktionsforschung (vgl. French & Bell 1990, Cunningham 1993), d.h. die Veränderung der Arbeitsorganisation und die Untersuchung derselben sollten in einem einheitlichen Prozess realisiert werden. "Aktionsforschung ist ein Konzept problemorientierter Organisationsveränderung, bei dem die Probleme gemeinsam mit den Beteiligten erhoben und analysiert werden. Veränderungsmaßnahmen werden auf Basis der gemeinsam erarbeiteten Problemanalyse eingeleitet, durchgeführt und in ihren Wirkungen analysiert" (Staehle 1999, S. 923).
Gebert (1995, S. 300) führt aus, dass die Aktionsforschung – als ein Konzept der Handlungsforschung (vgl. Gstettner 1995, S. 266) – (a) dem zu beratenden System bei der Lösung seiner konkreten praktischen Probleme helfen soll. Sie dient (b) weniger der Hypothesenüberprüfung als vielmehr der Hypothesenentwicklung sowie 230
231 232
Darüber hinaus vielleicht auch noch von interessierten PraktikerInnen, die die gewonnenen Einsichten nach der Passung in – und Relevanz für – ihre eigene Erfahrungswelt beurteilen. vgl. dazu auch Boos (1993, S. 43) und Kvale (1995) Zum Thema Forschung als Diskurs mit den Beforschten (vgl. Flick 1995, S. 170 f.).
166
Methodisches Vorgehen
dem Freisetzen von Lernprozessen, wobei (c) die Transformation der klassischen Subjekt-Objekt-Beziehung zwischen Forscher und Beforschten in eine SubjektSubjekt-Beziehung angestrebt wird. In der Aktionsforschung wird die als Problem aufgenommene soziale Situation als Gesamtheit (d.h. als soziales Feld) betrachtet, aus der nicht aufgrund forschungsimmanenter Überlegungen einzelne Variablen isoliert werden könnten (vgl. Klüver & Krüger 1975, S. 76). Damit wird auch hier die Subjektivität und Reaktivität des sozialwissenschaftlichen Forschungsprozesses bewusst aufgenommen und geradezu zur Tugend (und Eigenart) sozialwissenschaftlicher Forschung erklärt. „Die Rolle des Forschers, die Relevanz möglicher Ergebnisse, Nutzen und Grenzen von Methoden sollen bewusst in das Forschungsdesign einbezogen werden und mit den Betroffenen diskutiert werden. Dies erfolgt mit dem Ziel, die Betroffenen selbst zur Mitsteuerung des Forschungsprozesses zu befähigen. Letztlich basiert diese Methodologie auf der Lewin´schen Einsicht, daß soziale Systeme nur studiert werden können, wenn und indem man sie verändert, und daß somit jede Forschungsaktivität einen Änderungsprozeß im Feld darstellt, dem bewußt Rechnung getragen werden muß." (Wächter 1979, S. 9 f.)
In unserem Forschungsprozess resultiert daraus die Schwierigkeit, die beiden sich aus dieser Forschungsstrategie ergebenden Rollen „WissenschaftlerIn“ und „BeraterIn“ immer wieder ganz bewusst zu wechseln sowie den Anforderungen beider Rollen gerecht zu werden. Da zwischen diesen Rollen potentielle Spannungsverhältnisse bestehen, stellt sich ForscherInnen in der Rolle von BeraterInnen häufig die Frage nach der Wissenschaftlichkeit ihres Tuns. Die Aufgabe einer grundsätzlich distanzierenden Haltung zugunsten eines bewussten Engagements führt auch zu einer methodologischen Komplizierung des Forschungsprozesses.233 Die Auswirkungen der im Forschungsprozess gewonnenen Erkenntnisse sind selbst noch dessen Gegenstand und der Wunsch nach einer schnellen Umsetzung des Wissens in die Praxis kollidiert mit der Notwendigkeit wissenschaftlicher Reflexion. Last but not least unterliegt diese Forschungsstrategie den Beschränkungen, die durch das System und durch die in diesem System mit (Definitions-)Macht ausgestatten Akteuren ausgeübt werden (vgl. Nieder 1993, S. 192 f.). Als Projektmitarbeiterin ging ich zunächst mit der im vorigen Abschnitt beschriebenen Forschungshaltung234 einer „gleichschwebenden Aufmerksamkeit“ (Flick 1995, S.
233
234
Im Handlungsforschungsprozess sind für Gstettner (1995, S. 268) reflektierende Distanz, vermittelnde Kommunikation und pateiergreifendes Engagement aufeinander bezogen und nur durch bestimmte Analyse- und Auswertungsverfahren der Sozialforschung trennbar. Diese Haltung umfasst nach Nieder (1993, S. 190) folgende Punkte: Neugierde zu bewahren, um Neues überhaupt sehen zu können; bereit oder fähig zu sein, persönliche Verunsicherung
Die Rolle der (Aktions-)Forscherin
167
150) sowie mit „unersättlicher Neugier“ (Friedberg 1995, S. 308) ins Feld. Ich war gespannt auf das von mir zu erforschende Handlungsfeld, das anderen Handlungsbedingungen und Situationszwängen unterliegt, als die mir bereits vertrauteren privatwirtschaftlichen Produktionsbetriebe. Meine Rolle als Wissenschaftlerin war insoweit geklärt, als alle betrieblichen Akteure wussten, dass es sich bei meiner Projektstelle um eine Promotionsstelle handelt und ich über den Reorganisationsprozess eine Dissertation schreiben werde. Da im zu bewältigenden Veränderungsprozess meine Rolle als (interessierte) „Mitspielerin“ im Vordergrund stand, war diese Information für die meisten meiner Informanten offensichtlich zweitrangig.235 Hier wird deutlich, dass ForscherInnen nicht einfach eine bestimmte Rolle im Feld einnehmen (können), sondern diese – teils ersatzweise und/oder unfreiwillig – (auch) zugewiesen bekommen. Da von der Art dieser Rolle u.a. bestimmt wird, zu welchen Informationen und InformantInnen die Forschenden Zugang finden oder eben nicht, ist die Wahl einer bestimmten Rolle eine wichtige Entscheidung im Forschungsprozess. Ihre Umsetzung in der praktischen Arbeit ist aber ein Prozess der Aushandlung, der mehrere Phasen umfasst. Im Rahmen der Aktionsforschung wandelt sich der anfängliche Fremdenstatus allmählich in die Rolle des Initianten, wobei der damit verbundene sukzessive Verlust der Außenperspektive zu einer fruchtbaren Erkenntnisquelle wird (vgl. Flick 1995, S. 154). Diese Art der Feldforschung bringt zwar eine Reihe von Chancen mit sich, beinhaltet aber auch einige Risiken (vgl. Nieder 1993, Muhr 2004). Der größte Vorteil bestand in meinem Fall darin, den Reorganisationsprozess hautnah („aus erster Hand“) miterleben zu können und relativ selbstverständlich dazu zu gehören. Als Aktionsforscherin wurde ich damit aber auch – zumindest vorübergehend – Partei und (potentielle) Akteurin. Damit verbunden war die sukzessive Einnahme einer Innenperspektive236, was das Verstehen der Sicht der Erforschten und deren Organisationsprinzipien aus deren Perspektive ermöglicht (vgl. Flick 1995, S. 155). Durch das Eintauchen in den Alltag der Reorganisation konnte ich mich nicht heraushalten und neutral bleiben – Krisen und Erfolge des Projekts waren auch mit mir als Person assoziiert. Das persönliche Eingebundensein in das zu erforschende Handlungssystem ermöglicht den Zugriff auf Datenquellen, die „externen“ ForscherInnen nicht zugänglich gewesen wären (so wurde ich beispielweise in den betriebsinternen E-Mail-Verteiler aufge-
235
236
zu ertragen; Offenheit und Aufgabe von Distanz; die Fähigkeit, zwischen Forscher und Beforschten eine emotionale Beziehung zu entwickeln, zu akzeptieren oder zu ertragen So interessierte sich beispielsweise keiner der betrieblichen Akteure besonders für die Fragestellung meiner Dissertation. Diese Innenperspektive bleibt allerdings immer unvollständig, da Forschende immer „professionelle Fremde“ bleiben, denen bestimmte Einblicke verwehrt werden. In sozialen Gruppen gibt es immer eine Wirklichkeit, die AußenseiterInnen präsentiert wird und eine Wirklichkeit, die für Eingeweihte reserviert ist (vgl. Flick 1995, S. 154).
168
Methodisches Vorgehen
nommen), verunmöglicht aber gleichzeitig andere (evtl. sinnvolle) Zugänge. So habe ich beispielsweise bewusst auf ExpertInneninterviews zum Thema Macht und Mikropolitik verzichtet, da ich davon überzeugt bin, dass ich als „Mitspielerin“ zu diesem „Tabuthema“ auf diesem Wege nur verzerrte und rationalisierende Antworten bekommen hätte (vgl. Ortmann et al. 1990, Schröter 1995). Dieser methodische Zugang bleibt m.E. WissenschaftlerInnen vorbehalten, die ihre Rolle als „BesucherIn“ definieren (vgl. Flick 1995, S. 154). Da sich mein Arbeitsplatz während der Projektlaufzeit auf dem Gartengelände im Gebäude der Gartenverwaltung befand, ergaben sich stattdessen neben den projektbezogenen („offiziellen“) Gesprächsanlässen zahlreiche Gelegenheiten für Beobachtungen und informelle Gespräche, die ich in Forschungsmemos und im Projekttagebuch237 dokumentiert habe. Dabei war ich während meines Feldaufenthalts stets bemüht, mit allen Akteursgruppen im Gespräch zu bleiben, um ihre jeweilige Perspektive oder beobachtete Verhaltensweisen bzw. Konfliktursachen besser zu verstehen. Diese im Rahmen teilnehmender Beobachtung en passant geführten Feldgespräche („Beobachtungsgespräche“) waren fester Bestandteil meiner Forschungsstrategie und im Wechselspiel zwischen Beobachtung und konkreter Nachfrage eine ergiebige Informationsquelle (vgl. Hopf 1995, S. 177 ff.; Muhr 2004, S. 64 ff.). Insbesondere während der Projektlaufzeit musste auch ich die Erfahrung machen, dass die Widersprüche zwischen Intervention und Reflexion, zwischen Aktion und Forschung nur mit Hilfe einer sekundären Forschungsebene (vor allem durch regelmäßige Supervision mit FachkollegInnen) bewältigt werden können. Diese Doppelperspektive ist notwendig, um nicht die Sichtweise und Bewertung der Betroffenen zum alleinigen Maßstab des Forschungsprozesses zu machen, um die Bedeutsamkeit der zahlreichen personen- und situationsgebundenen Erfahrungen für den Forschungsprozess besser einschätzen zu können und um nicht auf die bloße Moderation des Gruppenprozesses mit den Betroffenen reduziert zu werden (vgl. Nieder 1993, S. 200).238 Die der vorliegenden Arbeit zugrundeliegende Forschungsfrage kristallisierte sich erst im Verlauf der Projektarbeit heraus, als mir – auf der sekundären Forschungsebene – zunehmend deutlich wurde, dass es bei dieser Reorganisation zwar auch,
237
238
Die Feldnotizen der Forschenden sind das klassische Medium zur Fixierung der Daten in der Feldforschung. Im Spannungsfeld von Authentizität und Strukturierung sollte die Sparsamkeitsregel beachtet werden: nur so viel aufzeichnen, wie zur Beantwortung der Fragestellung unbedingt notwendig ist (vgl. Flick 1995, S. 160 f.; Legewie 1995, S. 192) Auch Legewie (1995, S. 192) weist auf die Gefahr der einseitigen Identifikation mit der TeilnehmerInnenrolle in der Feldforschung („going native“) hin.
Erhebungsverlauf und Erhebungsverfahren
169
aber nicht nur um die Lösung konkreter praktischer Probleme geht. Küpper & Ortmann (1988b) beschreiben solche und ähnliche Vorgänge sehr anschaulich: "Sie zahlen Preise und stellen Weichen, errichten Blockaden oder springen auf Züge, geraten aufs Abstellgleis oder fallen die Treppe hinauf, gehen in Deckung oder seilen sich ab, verteilen Schwarze Peter und holen Verstärkung, suchen Rückendeckung und Absicherung, setzen Brückenköpfe und lassen Bomben platzen, schaffen vollendete Tatsachen oder suchen das Gespräch. Daß es ihnen um die Sache nicht ginge, lässt sich nicht behaupten; aber immer läuft mit: der Kampf um Positionen und Besitzstände, Ressourcen und Karrieren, Einfluss und Macht. Klare Fronten sind jedenfalls nicht die Regel. Wohl ist die Macht ungleich verteilt. Nie aber sind ‚die da unten‘ ganz ohne Macht." (Küpper & Ortmann 1988b, S. 7).
Trotz sekundärer Forschungsebene war auch in meinem Fallbeispiel die Vielzahl von Interessenströmungen für mich als handelnde Akteurin während der Projektlaufzeit nicht vollständig kanalisierbar, beobachtbar und antizipierbar. Ich bewegte mich wie die anderen AkteurInnen in einem nur begrenzt versteh- und kalkulierbaren Handlungsfeld. Wie in vergleichbaren Untersuchungen, war auch in meinem Fall erst die von konkreten Handlungszwängen entlastete wissenschaftliche Analyse im Anschluss an die Projektarbeit in der Lage, hier ein größeres Maß an Transparenz herzustellen.239
4.3
Erhebungsverlauf und Erhebungsverfahren
Die vorliegende Einzelfallstudie umfasst einen Analysezeitraum von rund vier Jahren und ist – ganz im Sinne der systematischen Perspektiven-Triangulation – durch reichhaltiges qualitatives und quantitatives Datenmaterial aus unterschiedlichen Datenquellen gekennzeichnet. Zur Rekonstruktion der Vorgeschichte und der Kontextbedingungen greife ich auf historische Daten (z.B. Berichte, Konzeptpapiere, Organigramm, Revierplan) zurück. Für die strategische Organisationsanalyse des Reorganisationsprozesses stütze ich mich auf die umfangreichen Echtzeit-Daten der Begleitforschungsphase, die im Rahmen von teilnehmenden Beobachtungen, Befragungen, Gruppendiskussionen und offenen bzw. halbstrukturierten Einzelinterviews gesammelt und erfasst wurden (z.B. Besprechungsprotokolle, Ergebnisse von Mitarbeiterbefragungen, Protokolle von Beobachtungsgesprächen und Interviews). Im Rahmen der Datenerhebung wurden alle Hierarchieebenen vom Topmanagement der ZE BGBM über das mittlere und untere Management der Abteilung I „Garten“ bis 239
vgl. dazu exemplarisch Muhr (2004, S. 243 f.)
170
Methodisches Vorgehen
hinunter zur Ebene der Hilfskräfte sowie (Gesamt-)Personalrat, Unternehmensberatung und MitarbeiterInnen der Fremdfirmen soweit wie möglich miteinbezogen. Eine weitere Datenquelle für die strategische Organisationsanalyse stellen externe und interne Dokumente dar, die das (selbst erhobene und damit „subjektive“) empirische Material erhärten und reichhaltiger machen (z.B. Zwischenberichte, Rundschreiben, Zeitungsartikel, Positionspapiere). Als Projektmitarbeiterin hatte ich von Ausnahmen abgesehen, allerdings weder Zugriff auf Besprechungsprotokolle der höchsten Ebene (z.B. Sitzungen mit dem leitenden Direktor oder mit dem Kanzler der FUB) noch auf die Sitzungsprotokolle des Personalrats und der ver.di-Betriebsgruppe.240 Damit beziehen sich die gesammelten Materialien nicht in gleichem Umfang auf alle Akteursgruppen, die im Reorganisationsprozess eine Rolle gespielt haben. Sie geben vielmehr schwerpunktmäßig Auskunft über den Bereich des Botanischen Gartens.241 Dieser Methodenmix sollte neben der Ermöglichung einer dichten Beschreibung auch dazu beitragen, die jeweiligen Vor- und Nachteile der zur Datenerhebung verwendeten Methoden zumindest zum Teil auszugleichen (vgl. Nienhüser 1993, S. 86 ff.; Bogumil et al. 2007, S. 22). Der in der Einstiegsphase gewählte Zugang per teilnehmende Beobachtung und offenen Interviews diente dem Aufbau vielseitiger Kontakte und lieferte wichtige Aufschlüsse über das Feld und damit die Basis für gezielte vertiefende Recherchen (vgl. Legewie 1995, S. 191 f.). Wie bereits erwähnt (vgl. Abschnitt 3.3.3.1), können Beobachtungen niemals objektiv sein, da sie von einem situierten, interessierten und kognitiv beschränkten Beobachter mehrfach selektiert werden: worauf wird geachtet, was wird ignoriert, wie werden die Beobachtungen festgehalten, was wird weiterverarbeitet, wie wird es interpretiert...? (vgl. Neuberger 2006, S. 105). Ein Nachteil dieser Methoden besteht vor allem darin, dass dieses unstrukturierte und situationsspezifische Verfahren der Datenerhebung aufgrund einer Vielzahl von dabei gefällten (z.T. unbewussten) ad-hoc-Entscheidungen, Interpretationen, gegenseitigen sozialen Beeinflussungen etc. einer individuellen Kontrolle und Reflexion nur schwer zugänglich ist (vgl. Nienhüser 1993, S. 83). Im Rahmen von Gruppendiskussionen werden diese Nachteile noch durch die Dynamisierung der Situation durch Gruppenprozesse verschärft. So taucht hier beispielsweise zusätzlich die Frage auf, ob die Äußerungen von Gruppenmitgliedern ihre „wahren“ Meinungen widerspiegeln oder ob vielmehr 240
241
D.h. ich hatte nur sehr begrenzten Zutritt zu den „Hinterbühnen“ des Reorganisationsprozesses (vgl. Abschnitt 5.4). Ein Problem, auf das schon andere Forscher hingewiesen haben (vgl. etwa Ortmann et al. 1990, S. 595). Mit dem Personalrat und den Mitgliedern der ver.di-Betriebsgruppe haben immer wieder (informelle) Gespräche stattgefunden.
Erhebungsverlauf und Erhebungsverfahren
171
die dominanten Gruppenmeinungen und -normen artikuliert werden. Trotz dieser Einschränkungen sind auch Gruppendiskussionen eine wichtige zusätzliche Informationsquelle für FeldforscherInnen und können darüber hinaus einen Lernprozess für die an der Forschung Beteiligten anstoßen (vgl. Dreher & Dreher 1995, S. 186 ff.). Im Gegensatz zu den bisher erwähnten Methoden der Datenerhebung gibt es im Rahmen einer Dokumentenanalyse keine Verzerrungen durch die soziale Beziehung zwischen ForscherInnen und Beforschten und bei Vorliegen entsprechender Dokumente können auch lange zurückliegende Ereignisse untersucht werden. Trotzdem weisen auch die auf diesem Weg gewonnenen materiell-symbolischen Informationen Probleme auf. Diese ergeben sich ebenfalls aus der selektiven Speicherung und Aufbewahrung, da auch Dokumente immer nur einen Teil der Ereignisse abbilden und zwar die, die für die beteiligten Akteure von Interesse sind.242 Die im weiteren Erhebungsverlauf zur gezielten Informationssammlung verwendeten strukturierteren Interviews und schriftlichen Befragungen – die der grundgesamtheitsbezogenen Deskription sowie der Validierung der in der Einstiegsphase gewonnenen Daten dienten – bieten vor allem einen Vorteil bei der Kontrolle kognitiver Prozesse der ForscherInnen (vgl. Nienhüser 1993, S. 83 ff.). Der handlungsleitende Theorieansatz für die Projektarbeit war das Konzept der Organisationsentwicklung (OE). Da den meisten OE-Interventionen das Aktionsforschungsmodell zugrunde liegt, ergeben sich folgende Prozessschritte – die sich bei Bedarf in mehreren Schleifen wiederholen können – (vgl. French & Bell 1994, S. 112), an denen sich auch die Projektarbeitsschritte orientierten:
242
Diese sind damit nicht unbedingt valider, sondern beispielsweise bewusst „geschönt“ – diese Beobachtung kann dann aber mikropolitisch interpretiert werden (vgl. Muhr 2004, S. 70).
172
Methodisches Vorgehen
Prozessschritte OE
Projektarbeitsschritte
1. Problem bzw. Handlungsbedarf wird Projektskizze des Abteilungsleiters erkannt 2. Besprechung mit einem/r sozialwissen- Projektantrag schaftlichen Berater/in 3. Datensammlung und Diagnose (Prob- Grobanalyse lemdefinitionen der Akteure) 4. Ergänzung der Datensammlung
Veränderungsorientierte Analysen
5. Feedback an die Beteiligten
Feedback an die Beteiligten (Workshops)
6. Gemeinsame Handlungsplanung (Ziele Skizze "Neue Arbeitsorganisation" und Maßnahmen) 7. Umsetzung und erneute Datensamm- Umsetzungsbegleitung lung zur Erfolgskontrolle Abbildung 21: Vergleich Prozessschritte OE und Projektarbeitsschritte (Quelle: eigene Darstellung)
Dabei entsprechen die ersten beiden Schritte der Orientierungs- und Planungsphase, die Schritte drei bis fünf der Unfreezing-Phase und Schritt sechs und sieben der Moving-Phase (vgl. Abschnitt 2.3.2). Gemäß der Forschungsstrategie „Aktionsforschung“ haben wir als ForscherInnen bei der Problembearbeitung im sozialen Feld versucht, soziale Nützlichkeit mit theoretischer Bedeutsamkeit zu verbinden. Dazu gehört, dass die Problemformulierung, die Auswahl der Forschungsprozeduren und die Präsentation und Anwendung von Forschungsbefunden nicht tiefergehenden wissenschaftstheoretischen und methodologischen Annahmen entsprangen, sondern dem pragmatischen Gesichtspunkt, möglichst vielfältige Informationsquellen und Einwirkungsmöglichkeiten im sozialen Feld zu erschließen bzw. zu bewahren. (vgl. Hron 1979, S. 20) Als Projektmitarbeiterin bestanden meine Aufgaben unter anderem in der Datenerhebung (beispielsweise mit Hilfe von Mitarbeiterbefragungen zu unterschiedlichen Themen), der Teilnahme und z.T. Protokollierung von Sitzungen und Gesprächskreisen (z.B. Sitzungen der Steuerungsgruppe, Meisterrunden, Besprechungen in den Meisterbereichen), der Konzeption und Moderation von Workshops, der Übernahme von Beratungsaufgaben bei der Entwicklung der neuen Aufbau- und Ablauforganisation und dem Mitverfassen von Zwischen- und Endberichten. Daraus ergaben sich folgende Arbeitsschritte, die innerhalb der Projektlaufzeit realisiert wurden:
Darstellung und Auswertung des empirischen Materials
173
1. Grobanalyse des Handlungssystems mit Schwerpunkt Garten(Juli/Aug. 2004) 2. Mitarbeit bei der Erarbeitung des neuen Organigramms (Juli-Dez. 2004) 3. Feinanalyse: Subjektive Arbeits- und Zeitbudgetanalysen (Sep./Nov. 2004) 4. Durchführung der Workshops für die Meisterbereiche (Okt.-Dez. 2004) 5. Erarbeitung einer Skizze „Neue Arbeitsorganisation“ (Jan. 2005) 6. Moderation der Informationsveranstaltungen (Jan./Feb. 2005) 7. Begleitung bei der Umsetzungs- und Erprobungsphase (ab Feb. 2005) 8. Erhebung der Kompetenzprofile der Beschäftigten (Feb.-Aug. 2005) 9. Entwurf eines Personalentwicklungsplans (Juni 2005) Auch in meinem Fall hat sich der relativ lange Erhebungszeitraum (trotz unterschiedlicher Intensität der Datensammlung) als günstig erwiesen. Obwohl die langwierige Implementationsphase am Ende der Projektlaufzeit noch nicht abgeschlossen war, konnte m.E. ein Gutteil der Prozessdynamik und auch der allmähliche Prozess der „rationalisierenden Legendenbildung“ (Ortmann et al. 1990, S. 598) erfasst werden.
4.4
Darstellung und Auswertung des empirischen Materials
Da in der Aktionsforschung die Problemauswahl und -definition nicht vorrangig aus dem Kontext wissenschaftlicher Erkenntnisziele abgeleitet wird, sondern von konkreten gesellschaftlichen bzw. organisationalen Bedürfnissen (vgl. Klüver & Krüger 1975, S. 76), standen im Projektverlauf je nach Arbeitsphase verschiedene Schwerpunktthemen im Fokus der Aufmerksamkeit. "Die im Forschungsprozeß gewonnenen Daten werden nicht mehr als isolierte Daten ‚an sich’ angesehen, sondern als Momente eines prozeßhaften Ablaufes interpretiert; sie gewinnen ihren Sinn auf der theoretischen Ebene dadurch, daß sie stets mit dem realen Prozeß als Gesamtheit zusammengedacht werden, und erhalten ihre Relevanz auf der praktischen Ebene als konstitutive Momente weiterer Prozeßabläufe." (Klüver & Krüger 1975, S. 76)
In diesem Sinne wurde im Rahmen des Projekts folgendes umfangreiches Datenmaterial (qualitativ und quantitativ) erhoben bzw. gesammelt: •
Protokolle der offenen bzw. halbstrukturierten Interviews (in der Analysephase und zur Erhebung der Kompetenzprofile),
•
Dokumente (Organigramme, Revierpläne, Stellenbeschreibungen, E-Mails, Mitarbeiterinformationen, Sitzungsprotokolle aller Art, Zielvereinbarungen, Berichte verschiedener Akteure, Positionspapiere)
174
•
Methodisches Vorgehen
Datensammlungen (Subjektive Arbeitsanalysen als Vollerhebung n=85, Zeitbudgetanalysen, Prozessanalysen, Umweltsituation der Meisterbereiche, Workshop-Protokolle von Gruppendiskussionen und Kompetenzprofile der Mitarbeiter/innen als Vollerhebung n=73)
•
Forschungsmemos und Projekttagebuch243
Die auf diesem Wege erzeugte Datenfülle musste im Forschungsprozess bewältigt werden, was – wie bereits angesprochen – in der Aktionsforschung eine weitere Herausforderung ist. „A process database, thus, poses considerable challenges. The sheer volume of words to be organized and understood can create a sense of drowning in a shapeless mass of information (Pettigrew´s, 1990, much quoted „death by data asphyxiation“)” (Langley 1999, S. 693) oder kurz gesagt: „Process data are messy“ (Langley 1999, S. 691).
Nachdem die ForscherInnen in einem qualitativen Forschungsprozess die sie interessierende soziale oder psychische Realität – im Anschluss an die Datenerhebung – in einen Text transformiert haben, wird deren Kreativität im Umgang mit dem erstellten Text zur zentralen Erkenntnisressource. Dabei hat die angestrebte Form der Interpretation in der Regel Implikationen für den Zugang zu den Daten. Dem gegenüber qualitativen Verfahren erhobenen Vorwurf der wenig standardisierten Datenauswertung stehen eine Vielzahl von Auswertungsverfahren gegenüber, die allerdings in der Tat jeweils einen erheblichen Freiraum bei der Aufbereitung und Analyse der Daten lassen (vgl. Flick 1995, S. 163 ff.). Diesem Problem kann man, wie oben bereits angesprochen, nur durch weitgehende Transparenz der Methode und Logik der Auswertungsschritte begegnen (vgl. Yin 1994, Flick 1995, Friedberg 1995, Schirmer 2000). Ich habe meine Daten zunächst vollständig gesichtet und die Ereignisse in eine chronologische Reihenfolge gebracht. Anschließend wurden mit Hilfe der forschungsleitenden Fragen relevante einzelne Ereignisse oder komplexere (Entscheidungs-)Situationen aus dem Datenmaterial identifiziert und nach der Bezogenheit auf die Akteursgruppen geordnet.244 Darauf aufbauend wurde zunächst eine deskriptive
243
244
Wichtig für die Aktionsforscherin zur Dokumentation und Reflexion der Ereignisse (vgl. Flick 1995, S. 160 f.; Legewie 1995, S. 192). Kirsch et al. (1979, S. 234 ff.) bezeichnen die beschriebene Herangehensweise als Episodenkonzept und empfehlen diese Kombination aus mikroskopischer und makroskopischer Sichtweisen zur Analyse des geplanten Wandels, um dessen Komplexität zu erfassen. Mit der Abgrenzung dieser „Episoden“ richtet man den Schweinwerfer auf einen für die Erklärung des Gesamtzusammenhangs besonders wichtigen Ausschnitt aus dem nie endenden Kontinuum von Aktivitäten und Interaktionen aus dem „ongoing process“ des Systems. Die nicht zur ab-
Darstellung und Auswertung des empirischen Materials
175
Fallgeschichte in Form einer Betriebsfallstudie erarbeitet, die durch die möglichst feldnahe Darstellungsebene dazu dienen soll, die Spezifik des Handlungsfeldes zu erfassen und die Perspektiven der Akteure kennen zu lernen. Durch diese anschauliche „dichte“ Beschreibung und die Vermeidung vorschneller Interpretationen anhand analytischer Kategorien soll der Fall zunächst einmal für sich selbst sprechen. Da ich zu diesem Zweck allerdings schon Auswahlentscheidungen treffen musste und eine Reihenfolge festlege, ist auch eine solche Darstellung kein bloßes Abbild der Wirklichkeit, sondern ein bereits arrangierter und problematisierter Ausschnitt (vgl. Muhr 2004, S. 73). Im letzten („eigentlichen“) Analyseschritt werden die so aufbereiteten Daten der Akteursgruppen kontrastiert und qualitativ interpretiert (vgl. Schröter 1995, S. 19). Zu diesem Zweck werden die aus der Theorie abgeleiteten Basiskonzepte zur Rekonstruktion von Politik in Reorganisationsprozessen als Strukturierungsdimensionen herangezogen. In Anlehnung an die strukturierende Inhaltsanalyse (vgl. Mayring 1995, S. 212 f.) dienen die sensitivierenden Konzepte und deren Operationalisierungsebenen – die Schirmer (2000, S. 215 ff.) anknüpfend an sein Modell von Veränderungsprozessen (vgl. Abschnitt 3.5) in einem Überblick zusammengestellt hat – als Ordnungskriterien: Basiskonzepte (sensitivierende
Operationalisierungsebene
Konzepte) Interessenbetroffen heiten
•
Interessenbetroffenheit: Die Wahrnehmung und Bewertung der Folgen von Reorganisationsinitiativen durch die Akteure aus Sicht von Funktionsinteressen (Notwendigkeiten der Aufgabenerfüllung einer Abteilung, einer Stelle), Positionsinteressen (Ausweitung oder Erhaltung von Macht und Einfluss) oder persönlichen Interessen (Karriere, Sicherheit des Arbeitsplatzes, Reputation)
•
Interessenbetroffenheit in Form einer Bedrohung: Werden Folgen von reorganisationsinitiativen als künftige Einschränkung der vorhandenen Möglichkeiten zur Realisierung von Funktions-, Positions- oder Karriereinteressen wahrgenommen und bewertet?
•
Interessenbetroffenheit in Form einer Chance: Werden Folgen von Reorganisationsinitiativen als künftige Chance zur Realisierung von Funktions-, Positions- oder Karriereinteressen wahrgenommen und bewertet?
Interessenkonflikte
•
Interessenkonflikte: Die interessengeleiteten Handlungspläne mindestens zweier Akteure sind nicht miteinander vereinbar
•
Konfliktursachen: Entstehen Konflikte zwischen Akteuren um Positionser-
gegrenzten Episode gehörenden Systemaktivitäten werden dabei als Umfeld der Episode betrachtet.
176
Methodisches Vorgehen halt, Aufgabenzuschnitt, Einkommensentwicklung, Karrieremöglichkeiten? •
Konflikthandhabung: a.) in Form von Gewinn-Verlust-Kämpfen: Werden Konflikte als Kampf um die Verteilung von Rationalisierungs/Reorganisationsgewinnen und/oder die Begrenzung von Rationalisierungs-/Reorganisationsverlusten geführt, bei denen ein Interessenausgleich partiell unmöglich ist („harte Konflikte“)? Vor allem mit Blick auf Positionsinteressen und persönlichen Interessen (zu erkennen an Konflikten um Positionserhalt, Aufgabenzuschnitt, Einkommensentwicklung, Karrieremöglichkeiten) b.) in Form von integrativen Verhandlungslösungen: Ist ein Bemühen zwischen Akteuren zu erkennen, eine wechselseitige Berücksichtigung von Interessen zu ermöglichen, z.B. durch Kompromisse oder Tauschgeschäfte?
Konkurrierende Akteursrationali-
•
Konkurrierende Akteursrationalitäten: Strukturell vermittelte, auf Ziel- und Mittelebene konkurrierende Wahrnehmung und Bewertung von Reorganisationsinitiativen durch Akteure
•
Lassen sich typische Unterschiede in der Wahrnehmung und Bewertung der Reorganisationsinitiativen erkennen?
•
Lassen sich typische Unterschiede in der Wahrnehmung und Bewertung der Reorganisationsinitiativen erkennen aufgrund - unterschiedlicher Abteilungszugehörigkeit
täten
- unterschiedlicher fachlicher Sozialisation - unterschiedlicher hierarchischer Position - unterschiedlichen Rollen der Akteure im Reorganisationsprozess (Strategen, Implementatoren, Ausführende, Fach-, Macht-, Prozesspromotor)? Leitbild / Kulturelle
•
Prägungen
Leitbild: Möglichst einfache, pointierte sprachliche Darstellung der Mission eines Reorganisationsprozesses (z.B. „schlanke Unternehmen“; „Hierarchie vom Kopf auf die Füße stellen“)
•
Kulturelle Prägungen: Verfestigte Werte und Verhaltenstraditionen, die auch Interessenkonflikte in Reorganisationsprozessen prägen
•
Gibt es einen „Stil des Hauses“, ein „Selbstverständnis“, das z.B. Degradierungen, Entlassungen, für bestimmte Akteure ausschließt? Das maßgeblich Art und Ausmaß der Partizipation von Betroffenen regelt? Das „Tabuthemen“ regelt?
Koalitionen
•
Koalition: Nicht formalisierte Gruppe von Akteuren, mit „Wir-Gefühl“, die Einfluss nimmt auf wegweisende Entscheidungen des Reorganisationsprozesses.
•
Unterstützerkoalition: Werden von Akteuren gemeinsame Interessen verfolgt, die der Initiierung und Realisierung von Reorganisationsmaßnahmen dienen? Von welchen Akteuren? Auf welche Weise? Wird miteinander über Vorgehensweisen zur Realisierung dieser Interessen kommuniziert?
•
Abwehrkoalition: Werden von Akteuren gemeinsam Interessen verfolgt, die der Abwehr von Reorganisationsmaßnahmen und dem Rationalisie-
Darstellung und Auswertung des empirischen Materials
177
rungs-/Interessenschutz dienen? Von welchen Akteuren? Auf welche Weise? Wird miteinander über Vorgehensweisen zur Realisierung dieser Interessen kommuniziert? Verhandlungen
•
Verhandlungen: das Bemühen zwischen Akteuren (Verhandlungsparteien), eine verbindliche und akzeptierte Berücksichtigung von Interessen zu erreichen
•
Wirklichkeitsdefinierende Dimension von Verhandlungen (Versuche der Bestimmung dessen, „was relevant ist und was nicht“) Bemühen sich Akteure: - eine verbindliche und gemeinsam akzeptierte Definition der Ausgangslage und der „wirklichen“ Probleme der Organisation zu entwickeln? - ein verbindliches und akzeptiertes Leitbild einer Reorganisation zu entwickeln? - verbindliche und akzeptierte Folgenabschätzungen von Reorganisationsmaßnahmen zu entwickeln?
•
Distributive Dimension von Verhandlungen Findet ein Feilschen um die Verteilung von Nutzen (Vorteilen, Gewinnen) und Kosten (Nachteilen, Lasten) von angestrebten Reorganisationsmaßnahmen statt? Bezüglich Sicherheit des Arbeitsplatzes, Degradierung, Altersversorgung, Einkommensentwicklung, Karriereentwicklung?
(Strukturell vermittelte) Machtasym-
•
(Strukturell vermittelte) Machtasymmetrien: dauerhafte Möglichkeiten von Akteuren, ihre Interessen auch gegen Widerstand durchzusetzen
metrien
•
Dominieren bestimmte Teilnehmer am Reorganisationsprozess den Entscheidungsverlauf und die -ergebnisse im Sinne ihrer Interessen?
•
Wodurch wird die Dominanz erreicht? Durch Anwendung formaler Machtmittel (Sanktionen)? Durch indirekte, strukturale Steuerung (Verteilung von Aufgaben, Kompetenzen, Verantwortlichkeiten, von personellen und finanziellen Ressourcen)? Durch Rahmensteuerung (Berufung auf tradierte Regeln, Routinen und auf „Selbstverständlichkeiten“ des Alltags; Appelle an Loyalität, Pflichtbewusstsein, Verantwortungsgefühl)?
Abbildung 22: Sensitivierende Konzepte und ihre Operationalisierungsebenen (Quelle: Schirmer 2000, S. 215 ff.)
Die so gefundenen Ergebnisse sind – wie bereits ausgeführt – nicht besser oder schlechter als die Deutungsversuche der Akteure, haben aber einen Mehrwert, der sich aus dem höheren Allgemeinheitsgrad und der wissenschaftlichen Erarbeitung ergibt. „Dies erzeugt aber keine radikale Trennung zwischen seinem Wissen und dem der Akteure, höchstens einen perspektivischen Effekt. ... Der Mehrwert der Analyse entsteht dadurch, daß sie mittels einer strukturierten Denkweise in Perspektive gesetzt und alle gleichzeitig in einer Gesamtanalyse ins Spiel gebracht werden“ (Friedberg 1995, S. 325).
178
Methodisches Vorgehen
Der methodischen Logik der qualitativen Sozialforschung im allgemeinen und der strategischen Organisationsanalyse im besonderen folgend, werde ich dazu die Perspektiven der Akteure in einem systematischen Vergleich theoriegeleitet (d.h. mit Hilfe der sensitivierenden Konzepte) reflektieren. Dies dient zum einen dazu, meine „Externalität“ als Forscherin wieder herzustellen, um aus wissenschaftlicher Distanz treibende Kräfte von Politik in meinem Fallbeispiel zu rekonstruieren, die im Prozess so von keinem der Akteure erkannt werden konnte. Zum anderen sollen damit die Ergebnisse anschlussfähig gemacht werden für über meine Arbeit hinausgehende theoretische Diskurse der (Organisations-)Forschung (vgl. Flick 1995, S. 167 ff.; Schirmer 2000, S. 240). Zur Veranschaulichung der Analyseergebnisse zur Frage, wer im Reorganisationsprozess AkteurIn und wer nur Agierende/r oder Betroffene/r ist, greife ich auf ein für meine Zwecke leicht modifiziertes Instrument aus der Entwicklungszusammenarbeit – die sogenannte Akteurslandkarte – zurück, das ich im Folgenden kurz vorstelle:
Abbildung 23: Akteurslandkarten (Mapping) – Beispiel für die Visualisierung (Quelle: Maenning et al. 2007, S. 36)
Da Partizipation in demokratischen Strukturen und Armutsbekämpfung Hand in Hand gehen, ist für die internationale Entwicklungszusammenarbeit eine umsichtige Akteursanalyse die Grundlage einer jeden Beratung. Um nachhaltige, strukturelle Wirkungen erzielen zu können, müssen mit Hilfe einer detaillierten Politik- und Akteursanalyse geeignete Stellschrauben für eine wirksame Unterstützung von Veränderungsprozessen identifiziert werden. Zur Auswahl geeigneter Partner und Maßnahmen zur Förderung ihrer Leitungs- und Kooperationsfähigkeit, muss zunächst
Anmerkungen zu forschungsethischen Frage
179
geklärt werden, welche Akteure auf welcher Ebene eine Rolle spielen (vgl. Maennling et al. 2007, S. 35 ff.). Ein zu diesem Zweck entwickeltes Instrument stellt die Akteurslandkarte dar, auf der die Akteure in Bezug auf ihren Einfluss sowie auf ihre Zugehörigkeit zu den drei Sektoren Zivilgesellschaft, Staat und Privatwirtschaft eingeordnet und in Beziehung zueinander gestellt werden (vgl. Abb. 23). Ich lehne mich weitgehend an die in Abbildung 23 gezeigte und erläuterte Darstellung der verschiedenen Akteure bzw. Akteursgruppen und deren Beziehungen untereinander an, ändere aber anknüpfend an meinen konzeptionellen Bezugsrahmen die Begrifflichkeiten an zwei Stellen: 1. Schlüsselakteure sind bei mir „Akteure“, primäre Akteure sind „Agierende“ und sekundäre Akteure sind „Betroffene“. 2. Diese werden in meinem Fall folgenden drei Sektoren zugeordnet: der „FU Berlin“, der „ZE BGBM“ und den „Externen“. Wie bereits erläutert, sind die Machtmittel der Beteiligten nicht nur unterschiedlich, sondern variieren auch in den einzelnen Phasen des Regelproduktionsprozesses z.T. erheblich (vgl. Bogumil & Kißler 1998b, S. 302). Um diese Machtverschiebungen zu verdeutlichen, werde ich für die Phasen der Regelsetzung, der Regelinterpretation und der Regelumsetzung jeweils eine spezifische Akteurslandkarte erstellen.
4.5
Anmerkungen zu forschungsethischen Frage
Da die Forscherin im qualitativen Forschungsprozess als zentrales kommunikatives Erkenntnisinstrument im Kontakt mit den Erforschten nicht als Neutrum auftreten kann, stellen sich im Zusammenhang mit der Frage nach der Rolle auch Fragen des Vertrauens-, Interessens- und Datenschutzes (vgl. Flick 1995, S. 155). Nienhüser (1993, S. 8 f.) sieht bei der Erforschung von Entscheidungsprozessen ethische Probleme, wenn Gatekeeper und InformantInnen über die Untersuchungsabsichten oder die Identität der ForscherInnen getäuscht oder im Unklaren gelassen werden. Da in diesem Untersuchungsfeld aber vor allem die mit ethischen Problemen behafteten Methoden besonders valide Ergebnisse liefern, stellt sich letztlich die Frage, ob der Zweck die Mittel heiligt. Die Frage nach den Interessen und den Zielen der Forschenden sind m.E. auch im Rahmen von Aktionsforschung nicht einfach zu beantworten. Diese Forschungsstrategie hat einerseits den Anspruch, Forschung im Interesse der Betroffenen zu machen, andererseits sind auch AktionsforscherInnen Beschränkungen unterworfen, die durch das System und durch die in diesem System mit Macht ausgestatten AkteurIn-
180
Methodisches Vorgehen
nen (die allerdings auch zu den „Forschungssubjekten“ gehören) ausgeübt werden. Die zentrale forschungsethische Fragestellung ist daher für mich die nach den Verwertungsinteressen: Wer profitiert letztlich von den Forschungsergebnissen und kann gewährleistet werden, dass den Erforschten kein Nachteil durch Weitergebe der Daten oder Ergebnisse an „interessierte Dritte“ entsteht?245 Diese Frage spielt m.E. im Rahmen einer strategischen Organisationsanalyse keine Rolle bzw. wird zumindest stark relativiert. Wie bereits ausführlich dargelegt (vgl. Abschnitt 3.2), geht es bei der strategischen Organisationsanalyse darum, einerseits die Handlungslogiken der Akteure zu erkennen und andererseits die spezifischen Zwänge – in denen sie stecken und die diese Handlungslogiken mit produzieren – zu identifizieren. Durch diesen nicht auflösbaren Zusammenhang kann eine solche Analyse weder eine denunziatorische noch anklägerische Absicht verfolgen. Personalisierende Schuldzuweisungen – zurückgeführt auf Inkompetenz, Veränderungsresistenz, Profilneurosen, Machthunger etc. einzelner Akteure bzw. Akteursgruppen – werden damit zwar nicht völlig ausgeschlossen, haben aber lange nicht die Relevanz, die ihnen in anderen Ansätzen sowie in der betrieblichen Praxis zugeschrieben werden. „Deshalb kann sich eine politische Analyse auch nicht mit der Sortierung persönlicher Standpunkte begnügen. Allzu schnell gleitet eine solch buchstäblich oberflächliche Auswertung in Personalisierungen ab, die Handlungen den einzelnen Personen und ihren spezifischen Motiven, Erfahrungen und Bedürfnissen zuschreiben. Darum ist auch die strukturelle Bestimmtheit individueller Äußerungen zu reflektieren. Der konkrete Meister, der konkrete Betriebsrat: sie sind Agenten, die die objektiven Interessen des Systems repräsentieren; durch sie hindurch handelt das System. In pragmatischer Absicht geht es in politischen Analysen darum, Spielräume für realistische Handlungsmöglichkeiten auszuloten: Wann besteht ein großes Spektrum solcher Möglichkeiten und wann ist der Korridor sehr eng? Können die Freiräume aktiv vergrößert werden? Hätte es auch die Möglichkeit des Andershandelns gegeben?“ (Neuberger 1995, S. 25).
Nichtsdestotrotz besteht auch hinsichtlich der vorliegenden Arbeit die Gefahr, dass meine Forschungsergebnisse (z.B. von den betrieblichen AkteurInnen selbst) an instrumentellen Rationalitätskriterien gemessen und „Sündenböcke“ gesucht werden. Um die Beforschten davor zu schützen, habe ich wo immer dies möglich war, übergeordnete Kategorien (z.B. Personalrat, mittleres Management, GärtnermeisterInnen) verwendet, um die Identifikation von konkreten Personen zu verhindern (vgl. Muhr 2004, S. 74). Auf eine komplette Anonymisierung des Falls habe ich bewusst verzichtet, da die spezielle wissenschaftliche und fachliche Reputation des Botani-
245
vgl. Flick (1995, S. 155)
Anmerkungen zu forschungsethischen Frage
181
schen Gartens in Berlin als drittgrößter der Welt zum einen eine wichtige Rolle im Prozess gespielt hat (vgl. Abschnitt 6.1.1.1) und ich zum anderen nicht davon ausgehen muss, dass konkreten Personen aufgrund der Ergebnisse meiner Studie Nachteile erwachsen (können) – zumal zwischen den analysierten Ereignissen und der Veröffentlichung inzwischen mehrere Jahre liegen. Trotzdem muss hier das berechtigte wissenschaftliche Interesse an einer umfangreichen Dokumentation und Offenlegung von Dokumenten hinter dem ebenfalls berechtigten Interesse der am Forschungsprozess Beteiligten nach Anonymität zurückstehen. Denn auch hinsichtlich meiner Ergebnisse stellt sich die Frage nach den Verwertungsinteressen. Friedberg (1995) weist daraufhin, dass die Nützlichkeit der Forschungsergebnisse von ihrer Verwendbarkeit durch die Akteure des jeweiligen Feldes abhängt. Das im Folgenden angesprochene „Normenproblem“ der Aktionsforschung gilt meiner Meinung nach im gleichen Maße für die strategische Organisationsanalyse. "Da forschungsstrategisch für Aktionsforschung der Verwendungszusammenhang von besonderer Bedeutung ist, stellt sich das Normenproblem mit besonderer Schärfe. In welchen Verwendungszwecken sind Aktionsforschungsprojekte angesiedelt und wie tragen sie den Verwendungszwängen Rechnung? Bisher haben sich solche Projekte vor allem auf pädagogische Fragen und auf Verbesserung von Lebenschancen von sozial benachteiligten Gruppen (z.B. Randgruppen der Gesellschaft) konzentriert. Eine Übertragung auf ökonomische Fragen wirft das Problem auf, inwieweit sich Aktionsforschung den herrschaftssichernden Interessen anpassen soll oder verweigern kann. In dem Bemühen, für alle am Änderungsund Forschungsprozeß Beteiligten und davon Betroffenen Transparenz herzustellen und über Zusammenhänge und Abhängigkeiten aufzuklären, stellt Aktionsforschung einen emanzipatorischen Anspruch, der es erlaubt, wesentliche, in der Ökonomie bisher vernachlässigte Fragestellungen zu thematisieren" (Wächter 1979, S. 10).
Diese Problematik wird bereits von Crozier & Friedberg (1993, S. 267 f.) thematisiert, wenn sie anmerken, dass ihrem Ansatz die Gefahr einer „Manipulation zweiten Grades“ innewohnt. D.h. jede Kenntnis und jede Denkweise kann zuerst von denen benutzt werden, die aufgrund ihrer sozialen und kulturellen Situation in der Lage sind, daraus ihren Vorteil zu ziehen. Damit haben zwar die Führungskräfte aufgrund der besseren Kenntnisse des Kontextes gewisse Vorteile, aber da die Untergebenen keine passiven Subjekte sind, wird dies in der zwischen ihnen bestehenden Verhandlungsbeziehung relativiert. Ich kann in diesem Sinne nur hoffen, dass meine Arbeit allen Beteiligten zu einer besseren Kenntnis der Sozialstruktur ihres spezifischen Handlungsfeldes verhilft. Damit könnte nicht nur ein kleiner Beitrag zum Ausloten
182
Methodisches Vorgehen
realistischer Handlungsspielräume, sondern letztlich zu einer Versachlichung der Reorganisationsprozesse (im öffentlichen Sektor) geleistet werden (vgl. Kapitel 7).
Die Zentraleinrichtung Botanischer Garten Botanisches Museum
183
5 Betriebsfallstudie 5.1
Einleitung und Überblick
Im empirischen Teil meiner Arbeit beschreibe ich zunächst die Organisation und ihre Strukturen zu Projektbeginn sowie den Reorganisationsprozess im Überblick. Danach folgt die mikropolitische Analyse des Reorganisationsprozesses mit Schwerpunkt auf den Jahren 2004 und 2005. Mit diesem Vorgehen versuche ich Deskription und Interpretation auseinander zu halten – der Fall soll zunächst „für sich sprechen“. Dass dies nicht völlig gelingen kann, ist mir bewusst: jede Darstellung ist durch die Auswahl, Betonung sowie An- und Einordnung des Datenmaterials bereits Interpretation (vgl. Kapitel 4).
5.2
Die Zentraleinrichtung Botanischer Garten Botanisches Museum
5.2.1 Der Botanische Garten in Berlin-Dahlem Trotz enger Verbindung mit der Universität waren der Botanische Garten und das Botanische Museum (BGBM) Berlin-Dahlem von 1954-1994 eine außeruniversitäre, der Senatsverwaltung für Wissenschaft und Kultur direkt unterstellte Einrichtung. Sie wurde am 01.01.1995 wieder der Universität angegliedert und zwar als eine Zentraleinrichtung (ZE) der Freien Universität Berlin (FUB) (vgl. Kilian 2007). Das Grundstück der ZE BGBM ist Sondereigentum des Landes und wird von der FUB bewirtschaftet; die Bauunterhaltung liegt bei der Senatsbauverwaltung. Finanziell ist sie überwiegend von der öffentlichen Hand abhängig: 87% der Ausgaben der ZE BGBM werden durch den Zuschuss der FUB gedeckt. Das Eigentum an den Produktionsund Verwaltungsmitteln sowie die Verfügungsgewalt über sie liegen also bei Personen außerhalb der eigentlichen Organisation. Die politische Steuerung und Kontrolle erfolgt durch Parlament und Regierung (qua Gesetzgebung, Budgetrecht und Personalpolitik). Die Berliner Universitäten und damit auch die ZE BGBM sind der Zielhierarchie unterworfen, die im Berliner Senat entwickelt wird und der Weisungshierarchie, die deren Umsetzung garantieren soll (vgl. Bosetzky & Heinrich 1989, S. 50 f.). Die ZE BGBM umfasst neben dem Botanischen Museum, den Herbarien und der Fachbibliothek sowie den Forschungsbereichen (z.B. Labore, Biodiversitätsinformatik) vor allem einen spezialisierten Garten (Freilandfläche und Gewächshäuser), der durch folgende Merkmale gekennzeichnet ist:
184
•
Betriebsfallstudie
Multifunktionelle Lebendsammlung mit ca. 22.000 Arten und damit hinsichtlich Artenvielfalt weltweit der drittgrößte botanische Garten; ca. 50% in Gewächshäusern und 50% im Freiland, der größte Teil ist für die Öffentlichkeit zugänglich.
•
Mit 43 Hektar flächenmäßig der größte universitäre Botanische Garten in Deutschland.
•
Über 50 Gewächshäuser mit ca. 16.000 m², darunter das Große Tropenhaus, das z.Zt. für 16 Mio. € baulich saniert und technisch modernisiert wird.
•
Über 1.100 unterschiedliche Flächen, denen jeweils definierte Sammlungen mit ca. 180.000 Akzessionen (Herkünfte) zugeordnet sind.
•
Zwischen 25.000 und 35.000 Positionen Materiallieferungen jährlich für die Lehre.
•
Ca. 24.000 Positionen bestdokumentierter und überwiegend seltener Arten im Samenkatalog246 von 1996 bis heute.
•
Ca. 4.800 Akzessionen nur für den Bereich Erhaltungskulturen gefährdeter Arten und Forschungskulturen.
Neben den wissenschaftlichen Lebendsammlungen (die zu einem mehr oder weniger großen Teil auf Schauflächen kultiviert werden) gibt es reine Schaubereiche mit niedrigerem oder ohne wissenschaftlichen Anspruch im Freiland (z.B. der italienische Garten, der Duft- und Tastgarten, der Schmuckgarten). Diese Bereiche sind zum Großteil entlang des Hauptweges des Gartens angelegt, der die beiden Eingänge am Königin-Luise-Platz und an der Straße Unter den Eichen verbindet. Östlich vom Hauptweg liegen die meisten Gebäude (Gartenverwaltung (DG-01),247 Wirtschaftshof (DG-03 und DG-04 und Museumsgebäude), inklusive der meisten Schau- und Anzuchtgewächshäuser (GW-01 und GW-02), westlich davon erstreckt sich ein Großteil der Freiflächen. Die Freiflächen des Botanischen Gartens sind als Landschaftsgarten gestaltet, dessen Ziel es ist, die Pflanzen der verschiedenen Erdteile und Habitate möglichst in ihrer natürlichen Umgebung zu zeigen. Die größten Bereiche sind dabei die geografischen Anlagen mit 12,9 Hektar (PG-01, PG-02, PG03), die den italienischen Garten (IG) umschließen und das Arboretum (AR-01 und AR-02) mit 13,9 Hektar. In der südwestlichen Ecke des Gartens wurde ursprünglich eine systematische Abteilung (SY) angelegt, die nach dem Krieg verkleinert wurde und nun eine Anlage für das System der krautigen Pflanzen und einen Arzneipflan-
246
247
Die Samenkataloge der botanischen Gärten – die nur für andere Forschungseinrichtungen bestimmt sind – dienen dem internationalen (nicht-kommerziellen) Austausch von selbst produzierten Samen zu wissenschaftlichen Zwecken. Die Abkürzungen in Klammern finden sich im Gartenplan wieder und dienen der Orientierung.
Die Zentraleinrichtung Botanisscher Garten Botanisches Museum
185
zengarten (AZ) beherberg gt. Zwischen dem Botanischen Museum m (MU) und den Schaugewächshäusern (GW W-01) befinden sich der Sumpf- und Wa assergarten (SW) gisch-morphologische Abteilung (BM). Ge sowie die ehemalige biolog egenüber des itan sich das große Tropenhaus und die Wa armhäuser, rechts lienischen Gartens befinden daneben das Mittelmeer- und u Kanarenhaus (Kalthaus). Hinter dem m großen Tropenhaus und bis hinunter zum m Wirtschaftshof erstrecken sich die dazugehörenden Anzuchtgewächshäuser (GW--02). Neben den Umkleideräume en und der Kantine248 (DG-02) wurde de er Duft- und Tastgarten (DT) angelegt, zwisschen dem Gebäude der Gartenverwaltung (DG-01) und dem südlichen Eingang we erden einjährige Staudengewächse und Gartenblumen G gezeigt (SP). Östlich des Sch hmuckgartens und für die BesucherInnen n nicht zugänglich ist der Bereich für die Erha altungs- und Wissenschaftlerkulturen (EW W) mit Freiflächen und Gewächshäusern.
Abbildung 24: Gartenplan ZE BGBM (Quelle: BGBM 2003)
artenleitung sind die Lebendsammlungen n und GartenanlaNach Einschätzung der Ga gen wissenschaftlicher Kerrn und multifunktionale Ressource für die d Zentraleinrichtung BGBM, die FU Berlin n und darüber hinaus. Sie stehen daher im Zentrum der 248
Die erst im September 20 004 nach längerer Zeit wieder eröffnet wurde.
186
Betriebsfallstudie
Aufgaben für die Abt. I (Ga arten) und dienen der Forschung, Lehre, Bildung, ArterhalFUB) vor allem zu tung, Erholung und als Sch haufenster für die Wissenschaft (an der F Fragen der Biodiversität (vg gl. Abb. 25).
Abbildung 25: Aufgabenvielfallt eines botanischen Gartens (Quelle: Fischbeck-Eysholdt 2001)
F hat der Botanische Garten in erster Linie Aufgaben in Als Zentraleinrichtung der FUB den Bereichen der wissensschaftlichen Forschung und Lehre zu erffüllen. Daher sind für die Gartenleitung die Au ufrechterhaltung und der Ausbau der reicchhaltigen, gärtnerisch gut gepflegten und wissenschaftlich w genau dokumentierten, international bedeutenden Sammlungen le ebender Pflanzen in den Freilandanlagen n und in den Gewächshäusern Kernaufgabe en. Zunehmend spielen dabei auch Frag gen der Erhaltung gefährdeter Pflanzen und der Biodiversität eine Rolle. Darüber hinaus hat der Bottanische Garten Berlin-Dahlem aber aucch einen Bildungsauftrag für nicht universitäre e Zielgruppen (z.B. Kindergruppen, Schu ulklassen, interessierte Laien) und bietet ein nen innerstädtischen Naherholungsraum m sowie einen Ort für kulturelle und private Ve eranstaltungen (Staudenmarkt, Sommerkkonzerte, Hochzeiten etc.). Aus diesen vielfältigen Aufgaben (vgl. Abb. 25) ergeben sich s unterschiedliche Ziel- bzw. Kundengruppen, deren Bedürfnisse sich z.T. widersprechen, aber dennoch alle berücksichtig gt werden sollen. Während die WissenscchaftlerInnen beispielsweise in Ruhe mit de en umfangreichen und wissenschaftlich genau dokumentierten Lebendsammlungen n arbeiten wollen,249 erfreuen sich BesuccherInnen eher an üppig blühenden, aber wisssenschaftlich nicht relevanten Züchtung gen oder machen
249
Wenn sie nicht – wie häu ufig der Fall – anhand der Herbarbelege forschen..
Die Zentraleinrichtung Botanischer Garten Botanisches Museum
187
sich gar einen Spaß daraus, die Schilder mit Namen und Akzessionsnummern der Pflanzen umzustecken bzw. Pflanzen unerlaubterweise zu pflücken.
5.2.2 Der strukturelle Kontext Die Organisationsform des BGBM im Jahr 2004 lässt sich als überwiegend bürokratisch250 bezeichnen. In der Verwaltungstheorie und -praxis findet die Differenzierung zwischen Strukturen und Funktionen ihre Entsprechung in der Unterscheidung von Ablauf- und Aufbauorganisation. Während die Ablauforganisation alle Regelungen für den Arbeitsablauf umfasst, beinhaltet die Aufbauorganisation die Regelungen zur Feststellung und Gliederung der Arbeitsaufgaben sowie zum Aufbau und zur Einrichtung der den Aufgabenvollzug tragenden Organisationseinheiten und Stellen (vgl. Göbel 1999, S. 42 f.). 5.2.2.1 Die Aufbauorganisation Die Aufbauorganisation des BGBM entspricht einer Linienorganisation (Ein-LinienSystem), wobei die Organisationseinheiten hierarchisch in Form einer Pyramide aufbaut sind. Jeder Mitarbeiter bekommt diesem Modell zufolge nur von seinem direkten Vorgesetzten – dessen Kompetenzbereich eng abgegrenzt ist – Aufgaben, Aufträge und Weisungen. Der sogenannte Dienstweg (das vertikale Liniensystem) ist Informationskanal und Entscheidungsweg und darf nur in Ausnahmefällen abgekürzt werden. Analog zum Regelaufbau einer Behörde besteht auch die ZE BGBM aus drei Hierarchieebenen: der Leitungsebene (leitender Direktor), der mittleren Ebene (Abteilungen) und der Basisebene (Referate) (vgl. Göbel 1999, S. 42 f.).
250
Vgl. dazu die Ausführungen zu Max Webers Bürokratiemodell (vgl. 2.1).
188
Betriebsfallstudie
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Abbildung 26: Einbettung und Aufbau der ZE BGBM (Quelle: BGBM 2004, eigene Darstellung)
Die direkt dem Kanzler der FU Berlin unterstellte Zentraleinrichtung BGBM ist in vier Abteilungen untergliedert: Abteilung I „Garten“, Abteilung II „Bibliothek und Schaumuseum“, Abteilung III „Biodiversitätsinformatik und Labore“, Abteilung IV „Öffentlichkeitsarbeit und Herbarien“. Diese vier Abteilungen unterstehen dem leitenden Direktor, der nach dem Prinzip der Monokratie die Organisationshoheit innehat, d.h. alleiniger Träger oberster Entscheidungsfunktionen ist. Damit ist er nicht nur gesetzlicher Repräsentant der ZE BGBM nach außen, sondern hat auch die administrative Organisationsgewalt nach innen und kann damit sowohl den strukturellen Aufbau als auch den Geschäftsablauf und den Aufgabenzuschnitt festlegen. Sowohl die Anzahl an MitarbeiterInnen, als auch die flächenmäßige Ausdehnung und insbesondere die hohe Komplexität der ZE BGBM haben zu einer erheblichen Arbeitsteilung und Spezialisierung mit einem entsprechenden Koordinationsaufwand geführt. Die vier Abteilungen stellen die mittlere Ebene dar. Die Hauptfunktion der AbteilungsleiterInnen ist die Steuerung und Überwachung der fachlichen Arbeit. Sie alle sind WissenschaftlerInnen und stellen die notwendige Verbindung zwischen der Leitung und den operativ tätigen Basiseinheiten her. Da die Aufgaben dieser mittleren Führungsebene vor allem auf persönlichen Kontakten zu MitarbeiterInnen und Vorgesetzten basieren, hat sie eine wichtige Funktion als Informationsknotenpunkt. Die Führungskräfte der Mittellinie sollen sich einerseits um die Belange der Basisein-
Die Zentraleinrichtung Botanischer Garten Botanisches Museum
189
heiten kümmern und diese bei Bedarf nach oben kommunizieren. Andererseits müssen sie die Weisungen von oben nach unten hin spezifizieren und durchsetzen (vgl. Bosetzky & Heinrich 1989, S. 44 ff.). In der ZE BGBM nimmt die Abteilung I „Garten“ eine Sonderstellung ein. Sie ist sowohl personell als auch flächenmäßig die größte Abteilung und als einzige in zwei Unterabteilungen gegliedert. Während in den anderen drei Abteilungen auch in den Basiseinheiten überwiegend WissenschaftlerInnen beschäftigt sind, arbeitet in der Abteilung I überwiegend gärtnerisches Personal. Zur Unterabteilung I a „Gartenwissenschaft“ gehören das Gartenherbar251 sowie die drei GartenwissenschaftlerInnen, die für die wissenschaftliche Konzeption der ihnen zugeordneten Lebendsammlungen verantwortlich sind und in Absprache mit den jeweiligen ReviergärtnerInnen die Pflanzpläne und Präsentation der Lebendsammlungen in den Schaubereichen festlegen. Die Unterabteilung I b „Garten“ war 2004 in sechs Referate untergliedert: 1. Pflanzengeographie, 2. Arboretum / System, 3. Erhaltungs- und Wissenschaftskulturen / Dokumentation, 4. Warmhäuser, 5. Kalthäuser, 6. Technik:
251
Das Gartenherbar ist eine Sammlung getrockneter und gepresster Pflanzen bzw. Pflanzenteile für wissenschaftliche Zwecke. Einzelne Pflanzen bzw. ihre Teile werden dafür aus den Lebendsammlungen oder Wildbeständen entnommen und als Einheit erkennbar auf einem Herbarbogen aufgeklebt. Durch die Angabe des wissenschaftlichen Namens der Pflanze, des Fundorts, Funddatums, Finders, Angaben zu Standort, Häufigkeit, Begleitpflanzen und weiteren Beobachtungen wird daraus ein Herbarbeleg.
190
Betriebsfallstudie ƵƐƚćŶĚŝŐŬĞŝƚĞŶ ďƚĞŝůƵŶŐƐůĞŝƚĞƌ ŽƚĂŶŝƐĐŚĞƌ'ĂƌƚĞŶ
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Abbildung 27: Organigramm Abt. I BGBM (Quelle: BGBM 2004, eigene Darstellung)
Die Abteilungsgliederung der Abteilung I ist historisch gewachsen und beruht auf einer Einteilung nach Flächen und taxonomischen (d.h. systematischen) Gruppen. Die fünf Referate, die mit der Pflege der wissenschaftlichen Lebendsammlungen betraut sind, entsprechen noch 2004 den fünf Meisterbereichen: I b A „Pflanzengeographie“ mit den Revieren Skandinavien, Griechenland/Himalaya, Japan/Nordamerika, Alpengarten, Duft- und Tastgarten und Sumpf- und Wassergarten; I b B „Arboretum/System“ mit den Revieren Arboretum, Systematische Abteilung/Arzneigarten und Baumpflege; I b C „Erhaltungs- und Wissenschaftskulturen“ mit den Revieren Erhaltungs- und Wissenschaftlerkulturen, Samenstube und Fahrdienst; I b D „Warmhäuser“ mit den Revieren Großes Tropenhaus, Bromelien/Tropische Nutzpflanzen, Orchideen/Begonien, Kleines Tropenhaus, Viktoriahaus und der Betreuung der Auszubildenden sowie I b E „Kalthäuser“ mit den Revieren Sukkulente, Australien/Südafrika, Ostasien/Aquarien, Mittelmeerhaus und Bauern- und Schmuckgarten252. Das Referat F „Technik“ ist für das reibungslose Funktionieren der Heizung, Energie- und Wasserversorgung sowie für die Durchführung der notwendigen Reparaturen an Gewächshäusern, Gartenbänken etc. zuständig.
252
Zum damaligen Zeitpunkt ist die Meisterstelle des Referats I b E nicht besetzt. Die Fachaufsicht wird vom Referat I b D übernommen, die Büro- und Verwaltungsaufgaben sind auf alle GärtnermeisterInnen verteilt.
Die Zentraleinrichtung Botanischer Garten Botanisches Museum
191
5.2.2.2 Die Ablauforganisation Die Weisungen von oben werden in einer wöchentlich stattfindenden sogenannten „Dienstagsrunde“, zu der der leitende Direktor die AbteilungsleiterInnen einlädt, mitgeteilt und besprochen. Die Gartenleitung trifft sich alle zwei Wochen zum Informationsaustausch in der sogenannten „Meisterrunde“ mit den Führungskräften der Referate. In besonderen Fällen – und damit in unregelmäßigen Abständen – lädt die Gartenleitung zu einer Reviergärtnersitzung ein. Im Normalfall werden die Weisungen und Informationen von oben durch die GärtnermeisterInnen an die ReviergärtnerInnen weitergegeben. Die MeisterInnen bemühen sich täglich ihre Bereiche aufzusuchen, da allerdings der Aufwand für die Verwaltungs- und Büroarbeiten ihrer Einschätzung nach zunimmt, ist ihnen dies nicht immer möglich. Bei Bedarf – und damit auch unregelmäßig – werden von den GärtnermeisterInnen Besprechungen mit allen MitarbeiterInnen ihres Meisterbereichs anberaumt. Die Leitung der Reviere obliegt bis Ende 2004 jeweils einem/r ReviergärtnerIn, d.h. sie sind der Informationsknotenpunkt zur Gartenleitung, zur Gartenwissenschaft, zum/zur MeisterIn, zu anderen Revieren und haben die Vorarbeiterfunktion im Revier inne. Der/die ReviergärtnerIn (RG) wird im Revier mindestens von einem/r zweiten – oft auch dritten, manchmal vierten – GärtnerIn (Gä) unterstützt, sowie je nach Arbeitsumfang von einem/r oder mehreren Garten(fach)arbeiterInnen (GFA/GA) und Zivildienstleistenden. Im Freiland wurden bis 2003 zusätzlich von April bis November SaisongartenarbeiterInnen (bis zu vier SGA pro Revier) eingestellt. Darüber hinaus werden in unterschiedlichem Ausmaß auch andere (anzulernende) Arbeits- und Hilfskräfte (Hochschul- und SchülerpraktikantInnen, ABM- und ABS-Kräfte, Ehrenamtliche) eingesetzt. Die inoffizielle „Nummerierung“ der in einem Revier arbeitenden GärtnerInnen („ErsteR“, „ZweiteR“...) ist gleichzeitig die Rangordnung und richtet sich in erster Linie nach dem Dienstalter im Revier und der damit zusammenhängenden Lohngruppeneinstufung (s. unten). Wer im Vergleich zu den anderen die meisten Dienstjahre im Revier verbrachte, hatte bisher (fast) unabhängig von der tatsächlichen Leistung gute Chancen auf den Posten des/der ReviergärtnerIn und hat damit das Ende der Karriereleiter für GärtnerInnen in der ZE erreicht. Da die Arbeiten in den Revieren hochspezialisiert sind (z.T. werden die Pflanzen weltweit einmalig im BGBM kultiviert) und oftmals jahrelange Erfahrung erfordern, ist dieses Senioritätsprinzip zumeist sehr sinnvoll. Es führte allerdings in der Vergangenheit manchmal dazu, dass GärtnerInnen „automatisch“ befördert wurden, die zwar viel Erfahrung, aber trotzdem nicht unbedingt alle Kompetenzen zur Führung eines Reviers hatten. Ein revierübergreifen-
192
Betriebsfallstudie
der Aufstieg ist nur möglich, wenn bereits in der Vergangenheit in den betreffenden Revieren einschlägige Erfahrungen gesammelt werden konnten oder wenn eng mit anderen (zumeist Nachbar-)Revieren kooperiert wird. Regelmäßige revierübergreifende Kooperationen beispielsweise zum Abfedern von Arbeitsspitzen gibt es bis 2004 vor allem dann, wenn zwischen den dafür zuständigen ReviergärtnerInnen gute persönliche Beziehungen bestehen. Die einzige institutionalisierte revierübergreifende Zusammenarbeit gibt es im Meisterbereich „Pflanzengeografie“. Dort treffen sich die ReviergärtnerInnen in Eigeninitiative (mit oder ohne GärtnermeisterIn) einmal in der Woche zur sogenannten „Freitagsrunde“, um die anstehenden Arbeiten gemeinsam zu koordinieren. In allen anderen Fällen wird ad hoc und quasi auf Zuruf bei Bedarf kooperiert. In der Regel sind die Reviere nicht nur für die Pflege der Altbestände, sondern auch für die Anzuchten zum Erhalt der Lebendsammlungen oder von neu dazu gekommenen Pflanzen selbst verantwortlich. Daher hat fast jedes Revier sowohl einen Schaubereich als auch entsprechende Anzuchtbereiche (sowie z.T. für die Öffentlichkeit nicht zugängliche Sammlungen bzw. Sammlungsteile) zu betreuen. Zu dieser Regel gibt es allerdings drei Ausnahmen: 1. Für die ganze Pflanzengeografie übernimmt der Alpengarten die Anzucht der Pflanzen für die Schaubereiche. 2. Büsche und Bäume für das gesamte Freiland werden von der Baumschule im Arboretum geliefert. 3. Das große Tropenhaus wird bei Bedarf von den anderen Revieren in den Warmhäusern „beliefert“, hat also wie die Reviere der Pflanzengeografie keine eigene Anzucht. Bereichsübergreifende Aufgaben – vorwiegend Logistik, d.h. Transport von Substraten in die Reviere oder Abtransport von Gartenabfällen aus den Revieren etc. – werden für die ganze Zentraleinheit per täglicher Absprache von drei dem Referat I b C angegliederten Kraftfahrern (KF) aus dem „Fahrdienst“253 erledigt.
Die „traditionelle“ Zuordnung der unterschiedlichen Beschäftigtengruppen (ohne die zahlenmäßig stark schwankenden Aushilfskräfte) auf die einzelnen Reviere wird im Folgenden anhand des sogenannten Revierplans von 2003 dargestellt:
253
Die Fahrer sind nicht nur für Fahrdienste, Kompostplatz und Materiallager innerhalb des Gartens zuständig, sondern übernehmen auch Fahrdienste aller Art außerhalb des BGBM.
Die Zentraleinrichtung Botanischer Garten Botanisches Museum Bereich / Revier
RG
193
Gä
GFA/GA
SGA
2
2
4
KF
I b A: Pflanzengeografie: Skandinavien- 1 Iberien Pflanzengeografie: Griechenland- 1 Himalaya Pflanzengeografie: Japan- 1 Nordamerika
2
3
3
1 (+ 1 Saison)
1
3
Pflanzengeografie: Anzucht
1
2,5
1
Duft- und Tastgarten
1
Sumpf- und Wassergarten
1
1
1
1
I b B: Arboretum, Baumschule
1
2
3
Arbeitsgruppe: Bäume, Wiesen, 1 Wege Pflanzensystem, Arzneipflanzen, 1 Nutzgarten I b C:
1
1
2,5
3
Erhaltungs- und Wissenschafts- 1 kulturen Samendienst, Kursmaterialien, 1 Akzessionierung Fahrer
1,25
1
3
2
1 3
I b D: Großes Tropenhaus
1
1
Bromelien, tropische Nutzpflan- 1 zen, Orchideen Begonien, Buntblättrige, Tropen- 1 pflanzen Kleines Tropenhaus, Farne 1
3
Victoriahaus, pflanzen I b E:
2
tropische
Sumpf- 1
1
1,75
1
2
Kakteen und andere Sukkulenten 1
2
Australien, Südafrika, Insektivo- 1 ren Ostasien, Aquarienpflanzen 1
2
1
1,75
1
Mittelmeergebiet
2
1
Bauerngarten, Schmuckanlagen
1
1
Summe:
21
34(35),75 22
2
1 17
3
Abbildung 28: Revierbesetzung 2003254 (Quelle: BGBM 2003, eigene Darstellung) 254
Diese Revierübersicht ist bereits das Ergebnis von früheren Restrukturierungen des gärtnerischen Bereichs des BGBM. Nach Aussagen der GärtnermeisterInnen wurden seit 1996
194
Betriebsfallstudie
Die Arbeitsorganisation im gärtnerischen Bereich der ZE BGBM (Abteilung I) ist historisch gewachsen. Sie war bis in die neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts stark geprägt von einer durch klare Trennung von Planung, Ausführung und Kontrolle gekennzeichneten Arbeitsteilung und streng hierarchischen Linienstrukturen. Dies spiegelt sich auch im (mindestens bis 2006 gültigen) Geschäftsverteilungsplan von 1991 wider, in dem die jeweiligen Tätigkeitsbereiche wie folgt festgeschrieben sind:
Die Gärtnermeister haben für ihren Bereich die folgenden Aufgaben: Verantwortung für jeweils einen Bereich. Erfassung der Pflanzenbestände in Karteien zur zentralen Datenverarbeitung im internationalen Rahmen. Ständige Durchführung der wissenschaftlich erarbeiteten Nomenklaturkenntnisse in Zusammenarbeit mit der Gartenwissenschaft. Überwachung der Frucht- und Samenernte in den Bereichen. Versuche bei pflanzensanitären Maßnahmen an nicht in Kultur bekannten Wildpflanzen in enger Zusammenarbeit mit dem Pflanzenschutzamt. Ausbildung des gärtnerischen Fachpersonals in ihrem speziellen Arbeitsbereich. Gärtnerisch-botanische Fachauskünfte. Führungen im gesamten Gartenbereich. Betreuung von Betriebspraktikanten. Mitarbeit am Informations-System des Botanischen Gartens. Die Reviergärtner betreuen ein bestimmtes Revier. Sie führen die erforderlichen Pflanz-, Pflege- und Erntearbeiten einschließlich Beschilderung mit Unterstützung der ihnen unterstellten Arbeitskräfte durch. Ihnen obliegt auch die Arbeitseinteilung und die Unterweisung der Arbeitskräfte. Ferner sind sie verantwortlich für die Erhaltung des Artenbestandes und der Führung der Artenbestandslisten. Die Gärtner der Lohngruppe 6 sind mit der Betreuung der in ihrem Revier vorhandenen Spezialkulturen betraut – Fachgruppe 22. Hierbei handelt es sich um Pflanzen, die in unseren Breiten nicht beheimatet sind und demzufolge spezieller Pflege hinsichtlich Licht, Temperatur, Bodenverhältnisse bedürfen und besondere Schutzmaßnahmen gegen Schädlinge und Krankheiten erfordern. Die Gärtner unterstützen die Reviergärtner und vertreten sie bei deren Abwesenheit. Die Gärtner der Lohngruppe 5 verrichten qualifizierte gärtnerische Arbeiten in den Kulturen des BG, wie z.B. Vermehrung generativer und vegetativer Art, Herstellung besonderer Erdmischungen, Durchführung spezieller Pflegemaßnahmen. Aufgrund der Vielzahl der im BG kultivierten Pflanzenarten erfordert ihre Tätigkeit durch langjährige Erfahrung erworbene gute Artenkenntnisse. Wegen der erheblichen Schwiewiederholt Reviere zusammengelegt, Flächen stillgelegt bzw. umgewandelt und Stellen gestrichen. 2004 waren schon die Reinigung, die Aufsicht, die Kassen und die Wiesenmahd an zwei Privatfirmen fremdvergeben.
Die Zentraleinrichtung Botanischer Garten Botanisches Museum
195
rigkeiten bei den unterschiedlichen speziellen Kulturen sind von ihnen hochwertige Arbeiten im Sinne der Fachgruppe 1 zu leisten. Die Gärtner der Lohngruppe 4 führen die in den Revieren anfallenden gärtnerischen Arbeiten aus, für die sie aufgrund ihrer Ausbildung – Besitz des Gehilfenbriefes – qualifiziert sind. Sie haben Gelegenheit, sich umfassende Artenkenntnisse anzueignen und die unterschiedlichsten Kulturbedingungen für die hier vorhandenen Pflanzen kennen zu lernen. Gartenarbeiter (Lohngruppe 3), die aufgrund ihrer mehrjährigen Tätigkeit in botanischen Gärten erworbene Fachkenntnisse qualifizierte gärtnerische Hilfs- und Pflegearbeiten ausführen, wie z.B. Ausjäten in den pflanzengeographischen Anlagen, Samenreinigung, Pikieren u.ä. Sowie sie nach Erfüllen der Voraussetzungen die verwaltungseigene Prüfung ablegen,255 erhalten sie Lohn nach Lohngruppe 4 BMT-G II.256 Gartenarbeiter (Lohngruppe 2), die einfache Hilfs- und Pflegearbeiten unter Anleitung sowie Lade- und Transportarbeiten (Erden, Substrate, Kübelpflanzen, Abfälle u.a.) ausführen.257 Obwohl der Führungsstil nach Einschätzung vieler MitarbeiterInnen nicht mehr so autoritär ist, wie noch zu Zeiten der vorherigen Meistergeneration,258 werden die relevanten Entscheidungen nach wie vor von den Führungskräften getroffen und nach unten durchgesetzt.259 Das Macht- und Autoritätsgefälle wird auch durch die soziale Distanz zum gärtnerischen Personal ausgedrückt. Wie oben bereits ausgeführt, gibt es keine regelmäßigen Treffen zwischen der Gartenverwaltung und den Beschäftigten – die Vorgesetzten entscheiden ad hoc über den Bedarf. Die Kommunikation zwischen dem Topmanagement und den Beschäftigten beschränkt sich auf hochgradig ritualisierte Anlässe (z.B. Personalversammlungen oder – vom Personalrat organisierte – Betriebsfeiern) und gelegentliche Mitarbeitergespräche bei Personalproblemen. Überhaupt gibt es vergleichsweise wenig direkte Interaktion zwischen Muse255
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Die GartenarbeiterInnen konnten sich bisher – Unterstützung durch die Vorgesetzten vorausgesetzt – durch das Ablegen der verwaltungseigenen Prüfung zum/zur GärtnerIn weiterqualifizieren. Da seit längerem keine Gärtnerstelle mehr frei war, wurde diese Möglichkeit schon seit Jahren nicht mehr genutzt. Bundesmanteltarifvertrag für Arbeiter gemeindlicher Verwaltungen und Betriebe Diese Arbeiten werden (bzw. wurden) auch von anderen Hilfskräften (Zivildienstleistende, Ehrenamtliche, ABM- und ABS-Kräfte, Praktikanten) erledigt. Unter deren Regie nach Aussagen einiger MitarbeiterInnen z.T. „militärischer Drill“ vorherrschte. Symptomatisch ist hier m.E. die Aussage einer Führungskraft gegenüber einer Mitarbeiterin „Sie sind hier zum Arbeiten und nicht zum Denken“.
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Betriebsfallstudie
um und Garten. Mindestens einmal im Jahr besprechen die GartenwissenschaftlerInnen mit dem/der zuständigen MeisterIn und ReviergärtnerIn die Pflanzpläne der durch sie betreuten Sammlungen. Die früher in den Wintermonaten von den (Garten-)WissenschaftlerInnen für das gärtnerische Personal angebotenen Fachvorträge zu ausgewählten Pflanzen bzw. Sammlungen finden schon seit mehreren Jahren nicht mehr statt. Die in der Aufbauorganisation deutlich werdende funktionale Trennung von Kopf- und Handarbeit bzw. wissenschaftlichen und leitenden Tätigkeiten auf der einen und ausführenden Tätigkeiten auf der anderen Seite wird auch durch die räumliche Trennung der Beschäftigten deutlich. Der leitende Direktor, die Verwaltung und die Abteilungen II „Bibliothek/Schaumuseum“, III „Biodiversitätsinformatik/Labore“ und VI „Öffentlichkeitsarbeit/Herbarien“ sowie die MitarbeiterInnen der Unterabteilung I a „Gartenwissenschaft“ – und damit fast alle WissenschaftlerInnen – sind im Museumsgebäude (vgl. Abb. 24 „Gartenplan“: MU) am Eingang Königin-Luise-Platz untergebracht. Die Gartenleitung260 und die GärtnermeisterInnen (Gartenverwaltung) sowie die MitarbeiterInnen des Referats F (Technik) sitzen hingegen am anderen Ende des Gartengeländes in den Dienstgebäuden (vgl. Abb. 24 „Gartenplan“: DG) in der Nähe des Eingangs Unter den Eichen. Im Gebäude der Gartenverwaltung sind auch die Räume des Personalrats der ZE BGBM sowie des Gesamtpersonalrats der FU Berlin untergebracht. Das sonstige gärtnerische Personal hat seine Arbeits- und Pausenräume zumeist in Arbeitsplatznähe, d.h. in der Baumschule, im Alpengarten und in den Gewächshäusern. Weil der Botanische Garten auf einem Grundstück in Hanglage angelegt wurde, muss ein Teil der Beschäftigten im doppelten Wortsinn „nach oben“, um zu den Vorgesetzten zu gelangen.261 Interessanterweise werden von den Beschäftigten nicht nur Unterschiede zwischen den Hierarchieebenen (bzw. zwischen Kopfund Handarbeit), sondern auch zwischen den Referaten gemacht. Insbesondere die körperlich oftmals schwerer und unter Witterungseinflüssen arbeitenden MitarbeiterInnen aus dem Freiland („Wir wühlen hier im Dreck“) unterstellen den KollegInnen aus den Gewächshäusern, dass diese auf sie herabsehen würden. Demnach steigt der zugeschriebene Status innerhalb der ZE BGBM tendenziell, je „sauberer“ und wissenschaftlicher die zu erledigenden Arbeitsaufgaben sind.
260
261
Das änderte sich Anfang 2005: der Abteilungsleiter der Abteilung I bezog ein Büro im Museum und ein Teil der Verwaltung kam in das Dienstgebäude der Gartenverwaltung. Wenn von „denen da oben“ und „uns hier unten“ die Rede war, war dies immer doppeldeutig.
Die Reorganisation
5.3
197
Die Reorganisation
Während es seit 1996 immer wieder kleinere interne Umstrukturierungen gab (vgl. Abschnitt 5.2.2.2), befindet sich die ZE BGBM seit 2004 in einem intensiven Prozess der Umstrukturierung. Ausgelöst wurde dieser Reorganisationsprozess durch die Bestrebungen des Landes Berlin, seinen Landeshaushalt zu konsolidieren.262 In deren Folge kommt es 2003 u.a. in den Etatverhandlungen mit den Universitäten zu Vereinbarungen über eine Verringerung des Landeszuschusses. Die Kürzungsvorgaben des Senats von Berlin in Höhe von 23,3 Mio. € werden innerhalb der Freien Universität Berlin auf die einzelnen Einrichtungen (Fachbereiche, Zentraleinrichtungen, zentrale Verwaltung etc.) verteilt (vgl. Lenzen 2004). Als eine Konsequenz aus den Sparauflagen des Berliner Senats schließt sich das Präsidium der Freien Universität Berlin zunächst den Empfehlungen eines Organisationsgutachtens263 an und beschließt 2003, die Technik und Gartenpflege der Zentraleinrichtung BGBM in eine Service GmbH zu überführen. Nach massiven Protesten der Leitung des BGBM – unterstützt durch die Belegschaft und die Berliner Öffentlichkeit264 – wird der Beschluss für zwei Jahre ausgesetzt, dafür jedoch eine Haushaltsabsenkung von 7,380 Mio. € (in 2003) auf 6,527 Mio. € (in 2009) vereinbart. Unter Berücksichtigung der Kostenerhöhungen (Tarifentwicklung, Inflation, Energie etc.) ergibt sich daraus eine notwendige Einsparung von ca. 1,5 Mio. €. Das entspricht einer Reduzierung um 13,5%. Die Ausgangslage für die anstehenden Einsparungen ist nicht sehr ermutigend: Neben einem Investitionsrückstau, der zu hohen Energie- und Unterhaltskosten führt (ca. 11% der Gesamtkosten stellen Energie und Wasser dar), gibt es Defizite im Controlling (Kosten- und Leistungsrechnung) sowie hinsichtlich Qualität und Personal. Diese resultieren gleichermaßen aus der typischen Verwaltungsstruktur öffentlicher Institutionen und der besonderen Geschichte der Einrichtung. Im Jahr 2003 betragen die Personalkosten der ZE BGBM 72% der Gesamtkosten. Die Löhne der MitarbeiterInnen in der ZE sind meist höher und die Arbeitszeiten niedriger als bei vergleichbaren Beschäftigten in der Privatwirtschaft – wobei der Vergleich angesichts der divergierenden Tätigkeiten durchaus problematisch ist. Die Altersstruktur ist
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Die Finanzkrise ist im Land Berlin ein besonders wichtiges Motiv für die Reformbemühungen, da dessen Schulden – nicht zuletzt aufgrund vereinigungsbedingter Sonderlasten – trotz umfassender finanzieller Unterstützung durch Bundeszuschüsse und den Länderfinanzausgleich weiter rasant steigen (vgl. Engelniederhammer et al. 1999, S. 39). vom 16.07.2003 - erstellt durch die Unternehmensberatung, die die Reorganisation bis 2007 begleitete. Es wurden über 78.000 Protest-Unterschriften gesammelt und dem damaligen Parlamentspräsidenten Momper übergeben (vgl. Berliner Morgenpost, 08.07.2003).
198
Betriebsfallstudie
durch eine relative Überalterung gegenüber dem Durchschnitt aller Beschäftigten in der Privatwirtschaft gekennzeichnet. Dabei sind die MitarbeiterInnen aber im Schnitt „zu jung“, als dass größere Einsparungen durch natürliche Fluktuation in den nächsten Jahren zu erwarten sind und aufgrund der tariflichen Gegebenheiten sind bis 2009 keine betriebsbedingten Kündigungen möglich (vgl. Schlese et al. 2007). Aufgrund dieser Faktenlage sollen die nach der Absenkung des Zuschusses notwendigen Einsparungen nach Beschluss des Topmanagements hauptsächlich durch eine Kombination von Stellenabbau265 und formaler Privatisierung erreicht werden. Die daraus folgende Schrumpfung der Stammbelegschaft macht bei gleichbleibendem Arbeitsanfall eine Anpassung der Aufbau- und Ablauforganisation erforderlich. Durch ein extern begleitetes und breit angelegtes Modernisierungsprogramm mit folgenden Bausteinen soll die ZE BGBM innerhalb dieser zwei Jahre grundlegend reorganisiert und das gesetzte Sparziel erreicht werden:
• • • • • •
Strategiebildungsprozess der Wissenschaftler der ZE BGBM Eingliederung des BGBM in die Wissenschaftliche Leibniz Gemeinschaft266 („Blaue Liste“) Planung für die einzelnen Kostenstellen der ZE BGBM Allgemeine Planung und Vorbereitung von Bausanierungsmaßnahmen Untersuchung von möglichen Fremdvergaben in der Technik und Gartenpflege Anpassen der Aufbau- und Ablauforganisation des Gartens (Abt. I) unter Berücksichtigung der finanziellen Möglichkeiten und der Erfordernisse der Qualitätssicherung
Mit den ersten beiden Bausteinen beschäftigt sich eine Gruppe von WissenschaftlerInnen. Die Verwaltung beginnt in Zusammenarbeit mit den AbteilungsleiterInnen paralell dazu die Planung der einzelnen Kostenstellen. Der gesamte Reorganisati-
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Da bis 2009 keine betriebsbedingten Kündigungen möglich sind, wird zu diesem Zweck bis 2011 ein Einstellungsstopp verhängt (d.h. jede Stelle, die aufgrund von altersbedingtem oder anderweitig motiviertem Ausscheiden von Mitarbeiter/innen vakant wird, fällt bis dahin – bis auf einige wenige Ausnahmen – weg). Damit war klar, dass die Stammbelegschaft der Abt. I von 104 Mitarbeiter/innen im Jahr 2004 voraussichtlich auf 72 Stellen (VZÄ, d.h. 77 Mitarbeiter/innen) im Jahr 2011 schrumpfen wird. Dies ist ein Zusammenschluss von 83 Forschungseinrichtungen, die wissenschaftliche Fragestellungen von gesamtgesellschaftlicher Bedeutung bearbeiten und nur Organisationen aufnehmen, die deren strenge Fördervoraussetzungen (wissenschaftliche Exzellenz, Erfüllung des gesellschaftlichen Auftrags und verantwortungsvoller Umgang mit öffentlichen Geldern) erfüllen.
Die Reorganisation
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onsprozess startet unter der Bezeichnung „Beteiligungsorientierte Reorganisation“,267 wobei das Leitbild für die letzten beiden Bausteine mit dem Motto „Insourcing durch Outsourcing“268 auf den Punkt gebracht wird. Da für Fremdvergaben nur Arbeitstätigkeiten in Frage kommen, die strategisch wenig erheblich sind und keine oder wenig betriebsspezifische Qualifikationen verlangen, ist relativ absehbar, dass die Abteilung I (und hier vor allem der gärtnerische Bereich) die Hauptlast der Einsparungen zu tragen haben wird. Obwohl von Seiten des Topmanagements betont wird, dass auch die anderen Abteilungen Einsparungen erbringen müssen, sind in einer Forschungseinrichtung augenscheinlich die wissenschaftlichen Tätigkeiten die strategisch wichtigen Arbeitstätigkeiten, die in der Organisation verbleiben sollen. Damit starten im Botanischen Garten (Abt. I) folgende Teilprojekte: •
Forschungs- und Entwicklungsprojekt „Beteiligungsorientierte Veränderung der Arbeitsorganisation und der betriebsinternen Kommunikation in drei Bereichen der Zentraleinrichtung BGBM Berlin“
•
Vorstudie „Garten“ zur möglichen Fremdvergabe von Leistungen in der Freilandpflege insbesondere für die Bereiche Rasen- und Wiesenmahd, Heckenschnitt, Laubbeseitigung, Wege- und Platzflächen
•
Investitionsplanung zur Modernisierung des Großen Tropenhauses und der Technik in den Gewächshäusern sowie für Maßnahmen zur Steigerung der Wassereffizienz
Der Fokus meiner weiteren Ausführungen liegt im Folgenden auf dem letzten der oben genannten Bausteine, d.h. auf dem Prozess zur Anpassung der Aufbau- und Ablauforganisation der Abteilung I „Garten“.
5.3.1 Das Forschungs- und Entwicklungsprojekt Als flankierende Maßnahme zur Bewältigung des geplanten Personalabbaus wird das Forschungs- und Entwicklungsprojekt „Beteiligungsorientierte Veränderung der Arbeitsorganisation und der betriebsinternen Kommunikation in drei Bereichen269 der 267
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Damit ist ein Beratungsansatz gemeint, der sich als Einheit von Organisationsgestaltung, Personalentwicklung und/oder -austausch vor dem Hintergrund technischer und betriebswirtschaftlicher Innovationen versteht – mit dem Ziel sowohl die wirtschaftliche Lage als auch die Arbeitsbedingungen zu verbessern (vgl. Schlese et al. 2003, S. 290 ff.). Der „Masterplan“, der sich im Verlauf der Reorganisation immer mehr konkretisiert, besteht darin, Leistungen zunächst fremd zu vergeben, um später eine Servicegesellschaft zu gründen, die mehrheitlich der FUB gehören soll. Damit geht es hier „nur“ um ein zeitlich begrenztes Contracting-Out an private Anbieter (vgl. Reichard 2006) und damit um eine „unechte“ Aufgabenprivatisierung (vgl. Killian et al. 2006) Diese drei Bereiche sind: Gewächshäuser, Freiland und Schmuckflächen/Betriebshof.
200
Betriebsfallstudie
Zentraleinrichtung BGBM Berlin“ initiiert.270 Die von Prof. Schramm (Universität Hamburg, Department Wirtschaft und Politik) beantragte und vom Kanzler der FU Berlin bewilligte wissenschaftliche Begleitforschung verfolgt folgende Ziele (vgl. Schramm 2004b, S. 2 f.): •
Erhalten der Qualifizierung und Motivation der Beschäftigten unter schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen sowie Sicherung eines hohen Niveaus der gärtnerischen Betreuung der Flächen.
•
Erarbeiten von realisierbaren Vorschlägen zur Aufbau- und Ablauforganisation, die während der Laufzeit weitgehend implementiert werden. Beteiligungsorientierte Planung und Implementierung neuer Arbeitsabläufe und Zuständigkeiten.
•
Verbesserung von Kommunikation und Umgang mit psychischen und physischen Belastungen, die u.a. durch teilweise schwierige Aufgabenanhäufungen verursacht werden.
•
Durchsetzen eines partizipativen Führungsstils bei gleichzeitigem Abbau von Hierarchien sowie Erhöhen von Motivation und Produktivität (inklusive Beseitigen von Reibungsverlusten durch mangelhafte Kommunikation, unkoordinierten Arbeitseinsatz oder fehlende Ausstattung).
•
Bessere Abstimmung der Entscheidungs- und Arbeitsprozesse aufeinander, Verbesserung der Informationsflüsse.
•
Reduzierung des Arbeitsaufwandes und von Führungshierarchien, sowie Entlastung der Leitung.
Zum Erreichen dieser Ziele innerhalb eines Jahres wird folgender Zeitplan aufgestellt, der sich an den idealtypischen Phasen eines OE-Projektes (Orientierung und Planung, Unfreezing, Moving, Refreezing) orientiert (vgl. Abschnitt 2.3.2):
270
Die erste Projektskizze erstellt die Gartenleitung. Die konkrete Umsetzung wird vom an der Reorganisation beteiligten Unternehmensberater betrieben.
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201
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Die Reorganisation
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Abbildung 29: Zeitplan Projekt (Quelle: Schramm 2004b)
Bei der Projektdurchführung müssen folgende Rahmenbedingungen beachtet werden: •
Durch die Absenkung der Zuwendung der FUB um 1 Mio. p.a. wird „von außen“ Veränderungsdruck erzeugt, d.h. es handelt sich um eine reaktive bzw. krisengetriebene Reorganisation.
•
Der beschlossene Personalabbau in der Stammbelegschaft schränkt den Gestaltungsspielraum für zukunftsfähige Lösungsmöglichkeiten ein.
•
Die am 01.08.2004 in Kraft tretende Tarifabsenkung und Arbeitszeitverkürzung werden die personelle Lage zusätzlich verschärfen.
•
Die Fremdvergabe von Leistungen soll deutlich ausgebaut werden, da hier zum einen das größte Einsparpotential vermutet wird und zum anderen das gärtnerische Personal damit entlastet werden soll. Auch dadurch wird der Gestaltungsspielraum für die neue Arbeitsorganisation kleiner.
•
Von Anfang an werden zudem weitere Revierzusammenlegungen in Betracht gezogen, wodurch sich die Anzahl der Reviergärtnerstellen und damit die Aufstiegschancen für die MitarbeiterInnen verringern werden.
202
•
Betriebsfallstudie
Als weiteres Einsparpotential werden Kürzungen von Zulagen in Erwägung gezogen, was noch mehr Einkommenseinbußen für einen Teil der MitarbeiterInnen bedeuten wird und sich sehr wahrscheinlich negativ auf deren Motivation auswirkt.
•
Die anstehenden Personalratswahlen Ende 2004 werden eine kontinuierliche Zusammenarbeit mit der Interessenvertretung erschweren.
•
Da der Präsidiumsbeschluss lediglich ausgesetzt wurde, schwebt das Damoklesschwert „Privatisierung“ nach wie vor über der Zentraleinrichtung.
Diese Rahmenbedingungen belasten und erschweren das geplante beteiligungsorientierte Vorgehen von vorneherein. Auf der motivationalen Ebene fühlen sich viele MitarbeiterInnen durch die Sparvorgaben und den Privatisierungsbeschluss von Anfang an als ohnmächtige Opfer einer übergeordneten Instanz.271 Auf der organisationalen Ebene sind die Handlungsspielräume sehr klein, da die Verteilmasse für die Kompensation von Verlusten und die Optionen für Personalbewegungen sehr gering sind. Dass nicht alle Beteiligten die Projektziele teilen und der Prozess nicht wie ursprünglich angekündigt ergebnisoffen ist, wird gleich zu Beginn der Projektlaufzeit in der ersten Besprechung mit den Führungskräften (Verwaltungsleitung, Abteilungsleitung, technische Leitung, GärtnermeisterInnen) deutlich. Ein Ergebnis dieser Projektvorstellung und -besprechung ist eine Modifikation des Zielkatalogs (vgl. Reichel 2004). Beim Vergleich der beiden Zielkataloge fällt erstens auf, dass in den Zielen für das Projekt bereits die grobe Richtung für die Aufbau- und Ablauforganisation festgeschrieben wird („flexible, bereichsübergreifende und breit qualifizierte Arbeitsteams, die je nach Arbeitsanfall weitgehend selbstverantwortlich arbeiten“). Zweitens werden die beiden Ziele des Projekts zum Thema Führung („Durchsetzen eines partizipativen Führungsstils bei gleichzeitigem Abbau von Hierarchien“ und „Reduzierung des Arbeitsaufwandes und von Führungshierarchien, sowie Entlastung der Leitung“) ersatzlos gestrichen. Nach diesem Einführungsgespräch sind darüber hinaus auch die Interessen der daran Beteiligten bereits deutlich (vgl. Reichel 2004): •
271
Die Abteilungsleitung betont, dass es keinen Widerspruch zwischen den beiden Zielen „Steigerung der Effektivität“ und „Verbesserung der Qualität des Arbeitslebens“ geben müsse. Dies spiegelt offensichtlich eine berlinweite Stimmungslage der im öffentlichen Sektor Beschäftigten wider: Da der finanzpolitische Druck seit den 1990er Jahren immer weiter zugenommen hat, nehmen viele von ihnen das gesamte Berliner Reformprojekt nur noch als verkappte Sparpolitik wahr (vgl. Engelniederhammer et al. 1999).
Die Reorganisation
203
•
Die technische Leitung ergänzt, dass die Ist-Analyse der Arbeitsorganisation höchste Priorität habe, da eine konkrete Grundlage für die anstehende Reorgani-
•
Die Verwaltungsleitung wünscht sich für die Zukunft eine möglichst kleine Stammbelegschaft.
•
Die GärtnermeisterInnen erhoffen sich klare Strukturen, aber auch den Schutz der MitarbeiterInnen vor Überforderung
sation geschaffen werden müsse.
Die Projektsteuerung für die Restrukturierung des öffentlich-rechtlichen Bereichs übernimmt eine Lenkungsgruppe, die sich bis Anfang 2005 aus folgenden Teilnehmenden zusammensetzt: der Verwaltungsleitung, der Abteilungsleitung, der technischen Leitung, der Unternehmensberatung und der Projektmitarbeiterin – die Projektleitung des wissenschaftlichen Begleitprojektes nimmt nur bei Bedarf teil, an einer Sitzung nimmt zudem der leitende Direktor der ZE BGBM teil. Mit dem Argument, dass die Diskussionen zu zeitaufwändig wären, wird die Teilnahme des Personalrats sowie von VertreterInnen der Beschäftigtengruppen bis Ende 2004 von den Führungskräften des BGBM abgelehnt. Erst nach Inkraftsetzung des neuen Organigramms am 01.01.2005 – und damit dem Beginn der Umsetzungsphase – ändert sich die Zusammensetzung: Die Verwaltungsleitung nimmt nicht mehr teil, ein Gärtnermeister und ein Vertreter des Personalrats kommen hinzu. Da das Forschungs- und Entwicklungsprojekt ursprünglich als Organisationsentwicklungs-Maßnahme konzipiert worden ist, soll zunächst eine umfassende Ist-Analyse durchgeführt werden. Nach der Analysephase sollen die Ergebnisse den Betroffenen vorgestellt und anschließend gemeinsam Gestaltungsvorschläge erarbeitet werden. Damit würde die neue Aufbau- und Ablauforganisation weitgehend ergebnisoffen und beteiligungsorientiert entwickelt. Hinter dieser Vorgehensweise steckt die Überlegung, dass nur eine maßgeschneiderte Lösung – die von den konkreten Problemen der Organisation ausgeht und die Betroffenen zu Beteiligten macht – auch in der Umsetzung Aussicht auf Erfolg hat. Obwohl diese Herangehensweise aufwändig ist und die aktive Teilnahme der OrganisationsteilnehmerInnen erfordert, schätzten wir die Erfolgsaussichten höher ein, als die einer reinen Expertenlösung, die „Top down“ vorgegeben wird (vgl. Abschnitt 2.3). Dieses Vorgehen (vgl. Abb. 30 „Variante 1“) wird im Rahmen der ersten Sitzung der Lenkungsgruppe auf Wunsch der Führungskräfte abgeändert: Es wird beschlossen, parallel zur Ist-Analyse in der Steuerungsgruppe das neue Organigramm festzulegen, um den Rahmen für die spätere Beteiligung der MitarbeiterInnen in der Umsetzungsphase abzustecken (vgl. Abb. 30 „Variante 2“).
204
Betriebsfallstudie
Variante 1:
Variante 2:
Grobanalyse
Grobanalyse
Vertiefung der IST-Analyse
Erarbeitung Organigramm (Workshop)
Feedback der Ergebnisse (Workshop)
Neues Organigramm
Neue Arbeitsorganisation
Vertiefung IST-Analyse
Erarbeitung Organigramm (Workshop)
Feedback der Ergebnisse (Workshop)
Neues Organigramm
Neue Arbeitsorganisation
Abbildung 30: Zwei Varianten des Ablaufplans (Quelle: unveröffentlichte Tischvorlage der Steuerungsgruppensitzung am 29.07.04)
Hier zeigt sich beispielhaft, dass die von uns gewählte Forschungsstrategie den Beschränkungen, die durch das System und durch die in diesem System mit (Definitions-)Macht ausgestatten Akteuren ausgeübt werden unterliegt (vgl. Nieder 1993, S. 192 f.). Dahinter steckt m.E. vor allem die in Veränderungsprozessen nicht untypische Angst der Führungskräfte vor Kontroll- und Machtverlust. Die vorgebrachten Argumente sind „rational“: Wenn man die MitarbeiterInnen beteilige, könne man unpopuläre, aber notwendige Maßnahmen nicht mehr durchsetzen, die Bedürfnisse und Ansprüche würden grenzenlos und die Prozesse durch das viele miteinander reden zumindest erheblich verzögert, wenn nicht gar verwässert.272
272
vgl. dazu auch Trebesch (2007, S. 33)
Die Reorganisation
205
5.3.2 Die Erkenntnisse aus der Grobanalyse Da Unterlagen zur bisherigen Arbeitsorganisation und zum Umfang der Arbeiten (z.B. Arbeitspläne, Stellenbeschreibungen, Stundenzettel) nicht oder nur rudimentär vorhanden sind, wähle ich als ersten Feldzugang in die Abteilung I die teilnehmende Beobachtung. Konkret heißt das, dass ich alle GärtnermeisterInnen und ausgewählte ReviergärtnerInnen aus jedem Meisterbereich mindestens einen Arbeitstag lang begleite und befrage.273 Dadurch möchte ich einen Eindruck davon bekommen, wie die Arbeit bisher organisiert ist, was gut funktioniert und wo es Probleme gibt. Darüber hinaus nehme ich an diversen Sitzungen im Garten teil und analysiere die ersten Dokumente, die mir zur Verfügung gestellt werden (vgl. Abschnitt 4.4). Mit Hilfe dieses Vorgehens wird schnell deutlich, dass es neben der formalen, bürokratischen Struktur (die im Organigramm und Geschäftsverteilungsplan festgeschrieben ist) noch eine zweite, informelle Struktur gibt, die auf mich eher wie „organisiertes Chaos“ wirkt. Zusammengehalten wird m.E. alles von zwei wichtigen integrierenden Mechanismen: vom gemeinsamen Bezug auf das Wohl der (wertvollen) Pflanzen und vom Stolz auf das internationale Renommee der ZE BGBM. Innerhalb dieses Rahmens hat allerdings jede/r einen ganz individuellen Blick auf das Ganze und setzt unterschiedliche Prioritäten bei der Arbeit. Bedingt durch die Aufgaben- und Artenvielfalt des botanischen Gartens sowie die eingeschränkte Planbarkeit vieler gärtnerischer Arbeiten ist ohnehin eine große Spannbreite an Verhaltensmöglichkeiten als regelkonform zu betrachten und durch die Vorgesetzten schwer kontrollierbar. Nicht zuletzt aufgrund der großen räumlichen Distanz wird vieles – von der täglichen Arbeitsplanung bis hin zur kompletten Umgestaltung von Schaubereichen – von den Beschäftigten auf dem kurzen Dienstweg oder gänzlich in Eigenregie entschieden. Dabei können je nach Bedarf und völlig legitim die Interessen der BesucherInnen des botanischen Gartens oder die der WissenschaftlerInnen, wahlweise auch Kostenargumente, Witterungseinflüsse oder die Einhaltung der organisationalen Regeln etc. zur Begründung des eigenen Handelns ins Feld geführt werden. Aber wie schon gesagt, das Chaos ist organisiert: die formalen, bürokratischen Strukturen sind ein wichtiger Bestandteil des Arbeitsalltages. Die langen Dienstwege und umständlichen Prozeduren sowie Verwaltungsvorschriften sind meist arbeitsintensiv, intransparent und zeitaufwändig. Die tendenziell eher autoritären Führungsstrukturen sind oft ineffizient und haben u.a. starke Ungleichgewichte in der Arbeitsbelastung, Informationsdefizite sowie eine mangelnde Partizipation der Beschäftigten
273
Die Vorgesetzten motivieren ihre MitarbeiterInnen jeweils dazu, mir alle Sorgen und Nöte anzuvertrauen.
206
Betriebsfallstudie
an Entscheidungen, die ihr unmittelbares Arbeitsumfeld betreffen, zur Folge. Aufgrund der räumlichen und zwischenmenschlichen Nähe hat sich innerhalb der Reviere zumeist eine je nach Gruppenzusammensetzung spezifische „kameradschaftliche Bürokratie“ (vgl. Abschnitt 2.1) entwickelt, in der man sich gegenseitig unterstützt und sozialisiert. Die Kehrseite dieser Binnensolidarität ist allerdings eine gewisse Außenaggression: Zwischen den Revieren und Bereichen sind Spannungen zu beobachten. Dabei geht es neben persönlichen Animositäten oft um knappe Ressourcen (z.B. Transportfahrzeuge oder Hilfskräfte). Die bereits durchgeführten Reorganisationsmaßnahmen und der aus Sicht der Beschäftigten immens gestiegene Kostendruck (der sich z.B. negativ auf die Qualität der Arbeitsmittel auswirkt), werden vom gärtnerischen Personal als große Belastung und Verschlechterung der Arbeitsbedingungen wahrgenommen. Die ersten Analyseergebnisse werden wie folgt zusammengefasst und der Lenkungsgruppe vorgestellt. Stärken
Schwächen
•
Engagierte Mitarbeiter/innen, die eigenverantwortlich und selbständig agieren
•
Eingeschränkt einsatzfähige und bereite Mitarbeiter/innen
•
Mangelhafte Informationsflüsse
•
Dienstwege dürfen bei Bedarf abgekürzt werden
•
Umständliche und zeitintensive Prozeduren
•
Hoher Grad an Selbstorganisation
•
•
Reorganisationsprozesse zur Effektivierung sind z.T. schon im Gange
Ungelöste Konflikte zwischen den Revieren und zwischen Garten und Museum
•
Punktuelle revierübergreifende Zusammenarbeit wird schon praktiziert
•
•
Kundenorientierung nach außen ist in vielen Bereichen vorhanden
Unklare Entscheidungswege und Zuständigkeits- bzw. Kompetenzbereiche
•
Intransparente Personalentscheidungen
•
Fachkompetenz und Einsatzbereitschaft der Mitarbeiter/innen zum Wohle • der Pflanzen •
Verbesserungswürdige Dienstleistungsmentalität nach innen Suboptimale Arbeitsbedingungen
Abbildung 31: Ergebnisse der Grobanalyse Abt. I BGBM (Quelle: unveröffentlichte Tischvorlage der Steuerungsgruppensitzung am 29.07.2004)
Die Reorganisation
207
Da die im Rahmen der Grobanalyse gewonnenen Erkenntnisse noch sehr lückenhaft sind und allenfalls das Aufstellen von ersten Hypothesen erlauben, sollen im nächsten Arbeitsschritt im ganzen Botanischen Garten veränderungsorientierte Analysen durchgeführt werden.
5.3.3 Die Erkenntnisse aus der Feinanalyse Während im Rahmen der Lenkungsgruppensitzungen – mehr oder weniger unter Ausschluss der betrieblichen Öffentlichkeit – das neue Organigramm erarbeitet wird (vgl. Abschnitt 5.3.5), beginnt im gärtnerischen Bereich die zweite Analyse-Phase. Um einen möglichst ganzheitlichen Einblick zu erhalten, werden sowohl eher qualitative (Subjektive Arbeitsanalyse) als auch eher quantitative Daten (Zeitbudgetanalyse) erhoben. Im Folgenden stelle ich zunächst die gefundenen Ergebnisse – die meiner Meinung nach ebenfalls „für sich sprechen“ – dar. Im Anschluss daran werde ich schildern, wie sie von den unterschiedlichen Akteursgruppe aufgenommen wurden.
5.3.3.1 Subjektive Arbeitsanalyse (SAA) Für eine veränderungsorientierte Analyse wird ein Analyseinstrument benötigt, das wichtige Hinweise auf Ansatzpunkte für eine Restrukturierung von Arbeitstätigkeiten (und damit auch der Arbeitsorganisation) liefern kann. Für diesen Zweck kommen prinzipiell objektive (abstrahieren von den individuellen Besonderheiten der Arbeitenden, z.B. VERA274 oder RHIA275) und subjektive (erfassen die subjektive Wahrnehmung der Arbeitssituation durch die Beschäftigten, z.B. JDS,276 SAA) Verfahren zur Analyse von Arbeitstätigkeiten in Frage (vgl. Ulich 1994). Im vorliegenden Fall sprechen zwei Argumente für den Einsatz eines subjektiven Verfahrens: erstens war es aus forschungsökonomischen Gründen nicht möglich, alle Tätigkeiten im gärtnerischen Bereich per Beobachtungsinterview „objektiv“ zu erfassen und zu analysieren. Zweitens sollten die MitarbeiterInnen mit Hilfe eines subjektiven Verfahrens in die Lage versetzt werden, ihre Arbeitstätigkeiten selbst zu analysieren und zu reflektieren, da sie anschließend in die Erarbeitung von Verbesserungsvorschlägen eingebunden werden sollten. Da der JDS in der Literatur als „zu grob“ für die Planung von Gestaltungsmaßnahmen eingeschätzt wird (vgl. Ulich 1994, S. 92), fällt die Wahl schließlich auf das Verfahren der subjektiven Arbeitsana274 275 276
Verfahren zur Ermittlung von Regulationserfordernissen in der Arbeitstätigkeit Analyse von Arbeitsbelastungen als Folge von Regulationsbehinderungen Job Diagnostic Survey
208
Betriebsfallstudie
lyse (SAA). Der Fragebogen zur Subjektiven Arbeitsanalyse wurde nach Dunkel (1999, S. 402) bereits in zahlreichen Untersuchungen eingesetzt (vgl. Ulich 1994, S. 93 ff.). Der Konstruktion des Fragebogens liegen zwei Hauptaspekte zugrunde: "(1) der Aspekt der Entfremdung mit den Kategorien Fremdbestimmung versus Selbstregulation, Sinnlosigkeit versus Transparenz, Dequalifikation versus Handlungskompetenz, soziale Isolierung versus soziales Engagement; (2) der Aspekt der Beanspruchung mit den Kategorien qualitative Unterforderung, quantitative und qualitative Überforderung." (Ulich 1994, S. 93 f.).
Zur Operationalisierung dieser Aspekte wurden folgende sechs Haupt- und 14 Subindices gebildet (vgl. Udris & Alioth 1980, S. 63): Indices des SAA 1. Handlungsspielraum 1.1. Autonomie (Verfügungs- und Bewegungsfreiheit) 1.2. Variabilität (positives Pendant zur Unterforderung) 2. Transparenz 2.1. Transparenz der Aufgabe (Feedback) 2.2. Soziale Transparenz (Überblick) 3. Verantwortung 3.1. Verantwortung für eine gemeinsame Aufgabe (Status) 3.2. Verantwortung für Ereignisse (Belastung) 4. Qualifikation 4.1. Anforderungen 4.2. Einsatz 4.3. Chancen (psychologische Zukunft) 5. Soziale Struktur 5.1. Soziale Unterstützung durch die Kollegen 5.2. Kooperation (Interdependenz) 5.3. Respektierung durch den Vorgesetzten 6. Arbeitsbelastung 6.1. Arbeitsvolumen (quantitative Überforderung) 6.2. Schwierigkeit (qualitative Überforderung) Die Indices sind psychologisch nicht unabhängig, da in Abhängigkeit von der technologischen, organisatorischen und sozialen Struktur der jeweiligen Arbeitssituation sowie von individuellen und kollektiven Merkmalen der Befragten (teilweise) Wechselbeziehungen bestehen. Um Berufs-, Tätigkeits- und Arbeitsplatzvergleiche durchführen zu können, wurde bei der Formulierung der Items darauf geachtet, dass dieses Fragen- und Antwortmuster in unterschiedlichen Arbeitsbereichen und Berufsfeldern vorgelegt werden kann. Die 50 Items für den Fragebogen wurden als Behaup-
Die Reorganisation
209
tungen formuliert, zu deren Beantwortung eine fünfstufige Likert-Skala vorgegeben wird (vgl. Dunckel 1999):
stimmt nicht (sehr selten)
stimmt kaum (selten)
stimmt teilsteils (manchmal)
stimmt ziemlich (oft)
stimmt genau (sehr oft)
2) Man hält in der Abteilung gut zusammen
Abbildung 32: SAA-Item mit Antwortmuster (Bsp.) (Quelle: Dunkel 1999)
Der Fragebogen (vgl. Anhang 1) wird in der Abteilung I von fast allen MitarbeiterInnen bis zur Ebene der GärtnermeisterInnen ausgefüllt. Die Befragten werden gebeten, auf dem ausgefüllten Fragebogen ihre Funktion und ihren Meisterbereich zu notieren, damit bei der Auswertung auch Gruppenvergleiche zwischen den Funktionsgruppen und den Meisterbereichen gemacht werden können. Die Treffen der MitarbeiterInnen eines Meisterbereichs zum Ausfüllen der Fragebögen werden gleichzeitig dazu genutzt, das Begleitprojekt vorzustellen und Fragen zum Stand des Reorganisationsprozesses zu beantworten. Das wichtigste Ziel des SAA-Einsatzes ist die Schaffung einer fundierten Basis für die im nächsten Arbeitsschritt geplante Diskussion mit den Betroffenen zur Frage, welche Aspekte der Arbeitstätigkeiten vorrangig verbessert werden sollen. Aufgrund der Einblicke im Rahmen der Grobanalyse, habe ich folgende Hypothesen, welche Unterschiede ich bei der Auswertung der Subjektiven Arbeitsanalysen zwischen den Funktionsgruppen bzw. Meisterbereichen finden werde: 1. Tendenziell werden MitarbeiterInnen, die in der betrieblichen Hierarchie höher stehen, ihre Arbeitssituation insgesamt positiver bewerten. 2. Insbesondere der Handlungsspielraum, die Verantwortung für eine gemeinsame Aufgabe und die Qualifikation müssten bei den GärtnermeisterInnen und wahrscheinlich auch bei den ReviergärtnerInnen größer sein. 3. Die Transparenz müsste bei den ReviergärtnerInnen am höchsten sein, da diese zum einen den direktesten Draht zu den GärtnermeisterInnen und zum anderen den besten Überblick in ihren Revieren haben. 4. Aufgrund der bereits gestrichenen SaisongartenarbeiterInnen und anderer vakanter Stellen wird das Arbeitsvolumen insbesondere im Freiland und von den GärtnermeisterInnen als hoch eingeschätzt werden. Die Zielpopulation im Befragungszeitraum besteht aus 106 MitarbeiterInnen des Botanischen Gartens Berlin (inkl. der Auszubildenden und Zivildienstleistenden). Davon haben an der Befragung nicht teilgenommen: 15 MitarbeiterInnen (= 14,15% der
210
Betriebsfallstudie
Zielpopulation – zwei ReviergärtnerInnen, zwei GärtnerInnen, zwei GartenarbeiterInnen, neun Zivildienstleistende bzw. ein/e MitarbeiterIn aus den Kalthäusern, acht MitarbeiterInnen aus der Pflanzengeografie, sechs MitarbeiterInnen aus den Warmhäusern), d.h. die Fragebögen wurden verteilt an 91 Befragungspersonen. Davon haben sechs MitarbeiterInnen (= 5,66% der Zielpopulation bzw. 5,94% der Befragungspersonen – ein/e ReviergärtnerIn, ein/e GärtnerIn, drei GartenarbeiterInnen, ein Zivildienstleistender bzw. zwei MitarbeiterInnen aus den Kalthäusern, drei MitarbeiterInnen aus der Pflanzengeografie, ein/e MitarbeiterIn aus den Warmhäusern) einen leeren Fragebogen abgegeben. Daraus ergeben sich insgesamt 85 gültige Datensätze (d.h. ausgefüllte Fragebögen) und damit eine sehr gute Rücklaufquote von 80,2% in Bezug auf die Zielpopulation. Die Fallzahl ermöglicht Signifikanztests. Interessant ist, dass 26 Personen beim Ausfüllen des Fragebogens mindestens eine Frage nicht beantwortet haben (= 30,58%). Hier kann nur spekuliert werden, ob dies aus Versehen passierte oder ob inhaltliche, strategische oder andere Motive dahinter stecken. Als wirklich dramatisch sind nur die Fälle zu betrachten, in denen der Fragebogen nur zur Hälfte oder etwas mehr ausgefüllt wurde (das sind nur drei Fälle – eine/r davon hat beispielsweise alle Fragen zur Respektierung durch Vorgesetze und alle Fragen zur Schwierigkeit der Arbeit nicht beantwortet!). Folgende Antworten fehlen am häufigsten: •
Aussage 12: 4.3 „Diese Arbeit schafft gute Möglichkeiten weiterzukommen“ (9 missings = 10,6% von 85)
•
Aussage 7: 4.2 „Man kann tun, was man am besten kann“ (7 missings)
•
Aussage 16: 6.2 „Man muss Dinge tun, für die man zuwenig ausgebildet oder vorbereitet ist (5 missings)
•
Aussage 38: 2.1 „ Man sieht, was mit dem Arbeitsergebnis später passiert“ (5 missings)
Ein anonym in meinen Briefkasten geworfener nicht ausgefüllter Fragebogen mit zahlreichen Kommentaren sowie handschriftliche Anmerkungen auf ausgefüllten Fragebögen liefern Hinweise auf mögliche Vorbehalte gegen bzw. bei der Beantwortung der Fragen. Beispielsweise wird als Kommentar zu Aussage 7 (s. oben) vermerkt: „Das hieße ja, außer Unkraut zupfen könne man nichts besser“, Aussage 16 (s. oben) wurde folgendermaßen kommentiert: „Will man wissen, ob man auch woanders eingesetzt werden könnte?“, die Aussage 14 („Man hat bei der Arbeit Gelegenheit, sich mit seinen Kollegen zu unterhalten“) wird mit folgender Aussage beantwortet: „Mit anderen Worten will man wissen, ob wir quatschen oder arbeiten“ und
Die Reorganisation
211
auf Aussage 40 ("Bei dieser Arbeit gibt es Sachen, die zu kompliziert sind") wird sogar geantwortet: „Natürlich, wir sind alle Idioten!“. In diesen Kommentaren spiegelt sich m.E. ein grundsätzliches Misstrauen277, was auch eine plausible Erklärung für die oben genannten Antwortverweigerungen wäre. Dieses Misstrauen scheint auch der Personalrat zu teilen und stoppt die gerade erst angelaufene Feinanalyse. Erst nach einer ausführlichen Vorstellung der Instrumente auf der Personalratssitzung und der Zusage durch das Topmanagement, dass die Ergebnisse nicht zur Leistungs- und Verhaltenskontrolle eingesetzt werden, kann die Datenerhebung fortgesetzt werden. Auf eine andere bzw. zusätzliche Erklärung weist Neuberger (1995a) hin: „Fragebogen sind – technisch gesprochen – reaktive Methoden, d.h. sie haben die Besonderheit, auf vorgegebene Items Reaktionen zu verlangen. Die Items sind weitgehend kontextfrei formuliert. Für die antwortende Person bedeutet dies, daß sie zum einen ihre eigenen konkreten Erfahrungen nicht spontan einbringen kann und daß sie zweitens die Itemformulierung erst in ihr eigenes Bezugssystem ‚rückübersetzen‘ muß, um Sinn aus der Frage zu machen. Die Befragten erfinden also Kontexte (Handlungssituationen) hinzu, in denen sich das abstrakte Verhalten, das im Items gemeint ist, abgespielt hat und sie werden schließlich durch die vorgegebenen Item unter Umständen dazu verführt, in Richtung sozialer Erwünschtheit zu antworten (Es macht sich z.B. gut, wenn man in erster Linie rational argumentiert!) und Handlungsweisen zu bestätigen, die sie selbst gar nicht erlebt haben, aber für möglich halten“ (Neuberger 1995, S. 136, Hervorhebungen im Original).
Die „Kontextfreiheit“ wurde in der Tat von einigen MitarbeiterInnen beim Ausfüllen kritisiert und dieser Argumentation folgend wäre der Fragebogen dann auch eine Art Projektionsfläche sowohl für Hoffnungen bzw. Idealisierungen als auch Befürchtungen bezüglich der bestehenden oder erwarteten Arbeitsbedingungen. Die Auswertung der 85 gültigen Datensätze erbrachte bezüglich der Hauptkategorien folgende Ergebnisse (Rangreihe absteigend nach Mittelwert278):
277 278
Nach dem Motto: „Jede Aussage kann gegen Sie verwendet werden“. „Mean“
212
Betriebsfallstudie Descriptive Statistics N
Minimum
Maximum
Mean
Std. Deviation
H2 Transparenz (2.)
85
1,9
4,83
3,9405
0,6069
H3 Verantwortung (3.)
85
2,5
5
3,898
0,5754
H1 Handlungsspielraum (1.)
85
2,1
5
3,8488
0,5493
H5 Soziale Struktur (5.)
85
1,33
5
3,6758
0,7066
H4 Qualifikation (4.)
85
1,53
5
3,6157
0,786
H6 Arbeitsbelastung (6.)
85
1
4,88
3,4968
0,6219
Valid N (listwise)
85
Abbildung 33: Rangreihe der Hauptkategorien des SAA nach Höhe der Mittelwerte (Quelle: eigene Darstellung)279
Die Verteilungen der Hauptkategorien – unabhängig von Funktion oder Bereich – zeigen, dass gemessen an einer Punkteverteilung von 1 bis 5 (1 ist die schlechteste und 5 die beste Bewertung) die Mehrheit der MitarbeiterInnen des Botanischen Gartens die eigene Arbeitssituation „überdurchschnittlich“ betrachtet (wenn man davon ausgeht, dass der Wert 3 (teils-teils) dem rechnerischen Mittel auf der vorgegebenen Skala entspricht). Den schlechtesten Mittelwert bekommt dabei die Hauptkategorie Arbeitsbelastung. Da bei der subjektiven Arbeitsanalyse der individuelle Bewertungsmaßstab eine wichtige Rolle spielt, kann hier vermutet werden, dass das vergleichsweise schlechte Ergebnis durch den Vergleich mit früheren (personalintensiveren) Zeiten zustande kommt (vgl. Hypothese 4). An den niedrigsten (Minimum) und höchsten (Maximum) Werten sieht man allerdings auch, dass es eine sehr weite Streuung in der Bewertung der einzelnen Hauptkategorien gibt. Genauere Informationen zur Streuung der Werte liefert die Analyse der Lage und Verteilung der erhobenen Werte für die SAA Hauptkategorien. In der folgenden graphischen Darstellung der Häufigkeitsverteilung (ein sog. „Box-Plot“) werden jeweils das Zentrum (der Median), die Streuung, die Schiefe und die Spannweite (in diesem Fall zur besseren Veranschaulichung ohne die Extremwerte) der Verteilung dargestellt. Jeder Box-Plot besteht aus vier Quartilen (5-25%, 25-50%, 50-75%, 75-95%). Der Strich im dunkelgrauen Feld kennzeichnet den Median, das gesamte dunkelgraue Feld veranschaulicht den Bereich der Skala, in dem 50% der Antworten liegen (wobei an der Länge des Feldes jeweils die Höhe der Streuung abgelesen werden kann):
279
In der letzten Spalte ist die Standard Deviation (Standardabweichung - ein Maß für die Streuung der Werte einer Zufallsvariablen um ihren Mittelwert) angegeben.
Die Reorganisation
213
Verteilung SAA HAUPTKATEGORIEN
5
75-95% 4
50-75%
3
25-50%
5-25% 2
H6 Arbeitsbelastung (6)
H5 Soziale Struktur (5)
H4 Qualifikation (4)
H3 Verantwortung (3)
H2 Transparenz (2)
H1 Handlungsspielr aum (1)
1
Abbildung 34: Verteilung der SAA Hauptkategorien, N = 85 (Quelle: eigene Darstellung)
Auffällig ist die unterschiedlich große Streuung bei den Hauptkategorien: besonders bei den Einschätzungen in den Kategorien „Qualifikation“ und „soziale Struktur“ ist die Streuung größer als bei den anderen Dimensionen. Hierin könnte sich die Kluft zwischen den qualifizierten Fachkräften und den an- bzw. ungelernten Hilfskräften widerspiegeln (vgl. Hypothese 2). Für die Unterkategorien des SAA ergeben sich folgende Werte (Rangreihe absteigend nach Mittelwert):
214
Betriebsfallstudie Descriptive Statistics N
Minimum
Maximum
Mean
Std. Deviation
H2U1 Transparenz der Aufgabe (2.1)
85
1,8
5
4,2535
0,7136
H1U2 Variabilität (1.2)
85
2,5
5
4,1676
0,6436
H3U1 Verantwortung für Aufgabe Status (3.1)
85
2,33
5
4,0922
0,7303
H6U2 Schwierigkeit (6.2)
84
2,5
5
4,0575
0,6828
H5U1 Soziale Unterstützung durch Kollegen(5.1)
85
1
5
3,9706
0,8669
H4U1 Anforderungen (4.1)
85
1,5
5
3,851
0,8777
H5U3 Respektierung durch Vorgesetzte (5.3)
84
1,33
5
3,7798
0,9082
H3U2 Soziale Verantwortung für Ereignisse - Belastung (3.2)
85
2,33
5
3,7039
0,6238
H2U2 Soziale Transparenz (1.2)
85
1,67
4,67
3,6275
0,7213
H1U1 Autonomie (1.1)
85
1,2
5
3,53
0,6907
H4U2 Einsatz von Fähigkeiten und Kenntnissen (4.2)
85
1
5
3,5294
0,9715
H4U3 Chancen (4.3)
85
1
5
3,4667
0,9594
H5U2 Kooperation (5.2)
85
1
5
3,2863
0,9303
H6U1 Arbeitsvolumen (6.1)
85
1
4,75
2,9721
0,838
Valid N (listwise)
84
Abbildung 35: Rangreihe der Unterkategorien des SAA nach Höhe der Mittelwerte (Quelle: eigene Darstellung)
Auch die Verteilungen der Unterkategorien ergeben – unabhängig von Funktion oder Bereich – dass gemessen an einer Punkteverteilung von 1 bis 5 die Mehrheit der MitarbeiterInnen des Botanischen Gartens die eigene Arbeitssituation „überdurchschnittlich“ bewertet. Die Ausnahme mit dem schlechtesten Mittelwert ist dabei die Unterkategorie Arbeitsvolumen (vgl. Hypothese 4). Auch hier liefert die Analyse der Lage und Verteilung der erhobenen Werte für die SAA Unterkategorien (graphisch dargestellt als BoxPlot) zusätzliche Informationen:
Die Reorganisation
215
Verteilung SAA UNTERKATEGORIEN 5,00
75-95% 4,00
50-75% 3,00
25-50% 2,00
5-25% H6U1 Arbeitsvolumen (6.1)
H5U2 Kooperation (5.2)
H4U3 Chancen (4.3)
H4U1 Anforderungen (4.1)
H3U1 Verantwortung fuer Aufgabe - Status (3.1)
H2U1 Transparenz der Aufgabe (2.1)
H1U1 Autonomie (1.1)
1,00
Abbildung 36: Verteilung der SAA Unterkategorien, N = 84 (Quelle: eigene Darstellung)
Hier finden sich die größten Streuungen bei den Kategorien „Einsatz von Fähigkeiten und Kenntnissen“ und „Chancen“ (in der Hauptkategorie „Qualifikation“) und bei allen drei Unterkategorien der Hauptkategorie „Soziale Unterstützung“ („Soziale Unterstützung durch Kollegen“, „Kooperation“, „Respektierung durch die/den Vorgesetzte/n“). Diese Ergebnisse könnten als Bestätigung der oben genannten Vermutungen zur Kluft zwischen den qualifizierten Fachkräften und den an- bzw. ungelernten Hilfskräften betrachtet werden (vgl. Hypothese 1). Zur Überprüfung der Hypothesen sowie zur Beantwortung der Fragen, welche Variablen für die Streuung der Werte verantwortlich sind und welcher Optimierungsbedarf sich aus den Ergebnissen der Befragung ableiten lässt, werden die Mittelwerte der Funktionsgruppen miteinander verglichen (vgl. Abb. 37). Beim Vergleich der Funktionsgruppen (GärtnermeisterInnen, ReviergärtnerInnen, GärtnerInnen, GartenarbeiterInnen, Auszubildende und Zivildienstleistende) kommt man hinsichtlich der zuvor aufgestellten Hypothesen zu folgenden Erkenntnissen: Die Hypothese 1 („Tendenziell werden MitarbeiterInnen, die in der betrieblichen Hierarchie höher stehen, ihre Arbeitssituation insgesamt positiver bewerten“) kann so pauschal nicht bestätigt werden (am ehesten bei: Variabilität und Soziale Verantwor-
216
Betriebsfallstudie
tung für Ereignisse). Insbesondere die Werte der GärtnermeisterInnen sind bei einigen Kategorien (Autonomie, Transparenz, Einsatz von Fähigkeiten und Fertigkeiten, Respektierung durch Vorgesetzten, Arbeitsbelastung) niedriger als erwartet. Beim Vergleich der ReviergärtnerInnen mit den GärtnerInnen und GartenarbeiterInnen stimmt die Hypothese tendenziell schon eher, allerdings sind die Unterschiede geringer als erwartet. Für die „unterste Hierarchiestufe“ (die Zivildienstleistenden) scheint die Hypothese allerdings recht gut zu zutreffen. Auch die Hypothese 2 („Insbesondere der Handlungsspielraum, die Verantwortung für eine gemeinsame Aufgabe und die Qualifikation müssten bei den GärtnermeisterInnen und wahrscheinlich auch bei den ReviergärtnerInnen größer sein“) trifft nur teilweise zu. Während die Variabilität in der Tat besser bewertet wird, ist die Autonomie der GärtnermeisterInnen nach eigener Einschätzung nicht höher als die der GärtnerInnen und GartenarbeiterInnen. Hinsichtlich der Verantwortung für die Aufgabe gibt es kaum Abweichungen zwischen GärtnermeisterInnen, ReviergärtnerInnen, GärtnerInnen, GartenarbeiterInnen und Auszubildenden (d.h. dem gärtnerischen Personal im engeren Sinne). Bei der Qualifikation weichen nur die GartenarbeiterInnen bei den Anforderungen nach unten ab, die Auszubildenden beim Einsatz von Fähigkeiten und Kenntnissen sowie bei den Chancen nach oben. Die Hypothese 3 („Die Transparenz müsste bei den ReviergärtnerInnen am höchsten sein, da diese zum einen den direktesten Draht zu den GärtnermeisterInnen und zum anderen den besten Überblick in den Revieren haben“) kann wiederum nur teilweise betätigt werden. Während die ReviergärtnerInnen bei der sozialen Transparenz tatsächlich den höchsten Wert haben, liegen sie bei der Transparenz der Aufgabe mit den GartenarbeiterInnen unter den GärtnerInnen und Auszubildenden, aber deutlich über den GärtnermeisterInnen und den Zivildienstleistenden.
Hypothese 4 („Aufgrund der bereits gestrichenen SaisongartenarbeiterInnen und anderer vakanter Stellen wird das Arbeitsvolumen insbesondere im Freiland und von den GärtnermeisterInnen als hoch eingeschätzt werden“) trifft insbesondere für die GärtnermeisterInnen280 zu (gefolgt von ReviergärtnerInnen, GärtnerInnen und GartenarbeiterInnen). Das Arbeitsvolumen ist die einzige Kategorie, bei dem die Zivildienstleistenden besser abschneiden, als alle anderen Funktionsgruppen.
280
Das liegt u.a. daran, dass zum Zeitpunkt der Befragung eine Meisterstelle vakant ist.
Die Reorganisation
217
H6U2 Schwierigkeit (6.2)
H1U1 Autonomie (1.1) 5
H1U2 Variablilität (1.2)
4 H6U1 Arbeitsvolumen (6.1)
H2U1 Transparenz der Aufgabe (2.1)
3 2
H5U3 Respektierung durch Vorgesetzte (5.3)
H2U2 Soziale Transparenz (1.2)
1 0
H3U1 Verantwortung f uer Auf gabe - Status (3.1)
H5U2 Kooperation (5.2)
H3U2 Soziale Verantwortung f uer Ereignisse - Belastung (3.2)
H5U1 Soziale Unterstuetzung durch Kollegen(5.1) H4U3 Chancen (4.3)
H4U1 Anforderungen (4.1)
H4U2 Einsatz von Faehigkeiten und Kenntnissen (4.2) 0 Gaertnermeister Mean
1 Reviergaertner Mean
2 Gaertner Mean
4 Kraftfahrer Mean
5 Azubi Mean
6 Zivi Mean
3 Gartenarbeiter Mean
Abbildung 37: Vergleich der Mittelwerte der Funktionsgruppen (Quelle: eigene Darstellung)
Im Mittelwertvergleich (vgl. Abb. 37) fallen folgende Ergebnisse auf: 1) GärtnermeisterInnen sehen deutlich weniger Transparenz der Aufgabe und etwas weniger soziale Transparenz als RG, GÄ, GA, AZUBI; 2) GärtnermeisterInnen verspüren deutlich weniger Respektierung durch Vorgesetze; 3) GärtnermeisterInnen schätzen ihr Arbeitsvolumen und die Schwierigkeit höher ein; 4) ReviergärtnerInnen verspüren anscheinend eine größere Autonomie als GärtnermeisterInnen, GärtnerInnen, GartenarbeiterInnen und Auszubildende; 5) GartenarbeiterInnen verspüren deutlich weniger Kooperation; 6) Auszubildende sehen größere Chancen, mehr soziale Unterstützung durch Kollegen, bessere Respektierung durch Vorgesetze und einen größeren Einsatz ihrer Fähigkeiten; 7) Zivildienstleistende und Auszubildende schätzen ihr Arbeitsvolumen als geringer ein; 8) Zivildienstleistende schätzen im Durchschnitt ihre gesamte Arbeitssituation schlechter ein.
218
Betriebsfallstudie
Ein Teil der oben erwähnten großen Streuung könnte also in der Tat durch Unterschiede zwischen den Funktionsgruppen zu erklären sein. Die Regressionsergebnisse mit der Vergleichsgruppe GärtnerInnen (kontrolliert für Bereichszugehörigkeit) ergeben folgende signifikante und nicht-signifikante Ergebnisse: 1)
2)
GärtnermeisterInnen unterscheiden sich tatsächlich signifikant von GärtnerInnen hinsichtlich Arbeitsvolumen und Schwierigkeit, wie anhand der deskriptiven Ergebnisse vermutet. Bei der Respektierung durch Vorgesetzte konnten hingegen keine signifikanten Unterschiede festgestellt werden. Für diese Unterschiede kommen verschiedene Erklärungsansätze in Frage: Erstens war im Befragungszeitraum die Stelle der/des Kalthausmeisterin/s nicht besetzt, was dazu führte, dass die Arbeitsaufgaben aller fünf Meisterstellen von vier MeisterInnen bewältigt werden mussten. Zweitens haben die GärtnermeisterInnen ein breites Aufgabenspektrum (das durch die Reorganisation noch breiter wurde) zu bewältigen, was zu immer längeren Bürozeiten führt. Drittens erweist sich die traditionelle Sandwich-Position von MeisterInnen und der damit verbundene Spagat zwischen den operativ tätigen MitarbeiterInnen und der Leitungsebene insbesondere in wirtschaftlich schwierigen Zeiten als äußerst schwierig. ReviergärtnerInnen und GärtnermeisterInnen sehen in ihrer Arbeit mehr Verantwortung für Ereignisse als GärtnerInnen, aber auch eine schlechtere Transparenz der Aufgabe als GärtnerInnen. Beide Unterschiede sind plausibel: Als untere bzw. mittlere Führungskräfte haben ReviergärtnerInnen und GärtnermeisterInnen qua Position mehr Verantwortung für Ereignisse als die ihnen unterstellten GärtnerInnen. Andererseits bringt die Führungsverantwortung auch einen zunehmend hohen Anteil an Bürotätigkeiten (beispielsweise Verwaltung und Dokumentation) mit sich. Und während im gärtnerischen Bereich direktes Feedback für die eigene Arbeit vom Wachsen und Gedeihen der Pflanzen kommt, ist die Transparenz der Aufgabe bei Bürotätigkeiten wesentlich geringer (je nach Transparenz von Informationsflüssen und Entscheidungsstrukturen).
3)
ReviergärtnerInnen verspüren signifikant mehr Autonomie und größere soziale Transparenz als GärtnerInnen (während zwischen GärtnermeisterInnen und GartenarbeiterInnen kein signifikanter Unterschied gefunden werden konnte). Auch dieses Ergebnis ist mit Blick auf die betriebliche Praxis im Befragungszeitraum erklärbar: da die GärtnermeisterInnen durch ihre zahlreichen Bürotätigkeiten wenig Zeit für die Steuerung der operativen Ebene (und damit auch vergleichsweise wenig Einblick in die tägliche Arbeit) haben, tragen die ReviergärtnerInnen de facto die alleinige Verantwortung für die Arbeit in den Revieren. Je
Die Reorganisation
219
nach Führungsstil des/der ReviergärtnerIn haben die im Revier tätigen MitarbeiterInnen mehr oder weniger viel Einblick in die Einsatzplanung und Arbeitsabläufe. Dieser Erklärungsansatz wird auch durch die Auswertungsergebnisse der Zeitbudgetanalysen (vgl. Abschnitt 5.3.3.2) gestützt. 4)
GartenarbeiterInnen schätzen die an sie gestellten Anforderungen signifikant niedriger ein als die GärtnerInnen. Ein signifikanter Unterschied hinsichtlich der Kooperation konnte nicht nachgewiesen werden. Die Unterschiede ergeben sich aller Wahrscheinlichkeit nach durch das qualifikationsbedingte unterschiedliche Niveau der Arbeitsaufgaben, das sich bereits in der Beschreibung der Lohngruppen deutlich abzeichnet (vgl. Abschnitt 5.2.2.2). Dass es keine Unterschiede bei der Kooperation gibt, könnte daran liegen, dass die meisten gärtnerischen Arbeiten von einer Person alleine ausgeführt werden können und die Kooperation erfordernden Planungs- und Koordinationsaufgaben zum Befragungszeitpunkt überwiegend von den ReviergärtnerInnen gemacht wurden.
5)
Auszubildende sehen signifikant mehr Chancen als GärtnerInnen, unterscheiden sich jedoch in allen anderen Dimensionen nicht signifikant von den Einschätzungen der GärtnerInnen. Der gefundene Unterschied erklärt sich wahrscheinlich durch die besondere Situation der Auszubildenden, die erst am Anfang ihres Berufslebens stehen und denen damit prinzipiell noch alle Chancen offen stehen.
Da die Streuungen der gefundenen Werte auch durch die Bereichszugehörigkeit erklärt werden könnten, wurden auch hier die Mittelwerte verglichen (vgl. Abb. 38). Die Hypothese 4 („Aufgrund der bereits gestrichenen SaisongartenarbeiterInnen und anderer vakanter Stellen wird das Arbeitsvolumen insbesondere im Freiland und von den GärtnermeisterInnen als hoch eingeschätzt werden“) trifft auch im Vergleich der Bereiche so pauschal nicht zu. Das Arbeitsvolumen wird wie erwartet von der Pflanzengeographie am höchsten eingeschätzt, danach kommen allerdings gleich die Kalthäuser und der Bereich Sonderaufgaben, erst danach die Warmhäuser und das Arboretum/Baumschule. Ansonsten fällt auf, dass vor allem bei den Hauptkategorien Qualifikation und Soziale Struktur die größte Streuung zu finden ist und die Warmhäuser und die Kalthäuser ihre Arbeitssituation fast durchgängig gleich bewerten (Ausnahme: Chancen und Arbeitsvolumen) sowie die höchsten Werte haben. Abweichungen nach unten finden sich beim Arboretum/Baumschule bei den Unterkategorien Variabilität, Anforderun-
220
Betriebsfallstudie
gen und Kooperation sowie beim Bereich Sonderaufgaben bei Transparenz und in den Unterkategorien Anforderungen und Chancen.
H6U2 Schwierigkeit (6.2)
H1U1 Autonomie (1.1) 5
H1U2 Variablilit凑 (1.2)
4 H6U1 Arbeitsvolumen (6.1)
H2U1 Transparenz der Auf gabe (2.1) 3
H5U3 Respektierung durch Vorgesetzte (5.3)
2
H2U2 Soziale Transparenz (2.2)
1 H3U1 Verantwortung f uer Auf gabe Status (3.1)
H5U2 Kooperation (5.2)
H5U1 Soziale Unterstuetzung durch Kollegen(5.1)
H3U2 Soziale Verantwortung f uer Ereignisse - Belastung (3.2)
H4U3 Chancen (4.3)
H4U1 Anf orderungen (4.1)
H4U2 Einsatz von Faehigkeiten und Kenntnissen (4.2) Arboretum/Baumschule Mean Pflanzengeographie Mean Warmhaeuser Mean
Kalthaeuser Mean Sonderaufgaben Mean
Abbildung 38: Vergleich der Mittelwerte der Meisterbereiche (Quelle: eigene Darstellung)
Folgende signifikanten Bereichsunterschiede (im Vergleich der anderen Bereiche mit dem personell am besten ausgestatteten Bereich – der Pflanzengeographie) wurden gefunden (vgl. Abb. 38): •
Variabilität und Verantwortung für eine gemeinsame Aufgabe: Arboretum/Baumschule signifikant niedriger. Dieses Ergebnis lässt durch die unterschiedliche Artenvielfalt (in der Pflanzengeographie höher) und die unterschiedlichen Lebenszyklen der jeweils betreuten Pflanzen, die anders geartete Arbeitsaufgaben und einen unterschiedlich hohen Abstimmungsbedarf mit sich bringen, erklären.
•
Anforderungen: Arboretum/Baumschule und Sonderaufgaben signifikant niedriger. Die aufgrund der Tätigkeitsbereiche gleichförmigeren Arbeitsaufgaben sind wahrscheinlich auch für diese Unterschiede verantwortlich.
•
Chancen: Warmhäuser signifikant höher. Dass die Chancen in den Warmhäusern höher eingeschätzt werden, liegt höchstwahrscheinlich an den zum Befragungszeitpunkt dort beschäftigten Auszubildenden, die bei dieser Unterkategorie besonders hohe Werte hatten.
Die Reorganisation
•
221
Soziale Unterstützung: Kalthäuser signifikant höher. Dieses Ergebnis könnte auf einen unterschiedlich starken Gruppenzusammenhalt oder auf grundsätzliche Unterschiede bei der Gruppenzusammensetzung bzw. Selbsteinschätzung hindeuten.
•
Kooperation: Arboretum/Baumschule signifikant niedriger, Kalthäuser signifikant höher. Auch diese Ergebnisse könnte durch den unterschiedlich großen Abstimmungsbedarf bei der Erledigung der bereichsspezifischen Aufgaben entstanden sein.
•
Arbeitsvolumen: Arboretum/Baumschule, Sonderaufgaben, Warmhäuser signifikant höher. Da der Wegfall der SaisongartenarbeiterInnen insbesondere die Pflanzengeographie betraf, ist dieses Ergebnis ebenfalls plausibel (vgl. Hypothese 4).
Damit kann zusammenfassend festgestellt werden, dass es zwar einige – aufgrund der anders gearteten Arbeitsaufgaben erklärbare – signifikante Unterschiede zwischen den Meisterbereichen gibt, die Unterschiede zwischen den Funktionsgruppen aber deutlicher und aussagekräftiger sind. Um die Belastbarkeit der Daten besser einschätzen zu können, muss an dieser Stelle ein kritischer Blick auf die Befragungsergebnisse bzw. deren Zustandekommen geworfen werden. Für die vergleichsweise guten Ergebnisse könnte es verschiedene Gründe geben. Die einfachste Erklärung wäre, dass die Ergebnisse tatsächlich die subjektive Wahrnehmung der im gärtnerischen Bereich Beschäftigten widerspiegeln. In diesem Fall muss die Frage erlaubt sein, wodurch diese zustande kommt. Prinzipiell gibt es auch dafür zwei Erklärungsansätze: Entweder die Wahrnehmung spiegelt die tatsächliche, objektiv erfassbare Arbeitssituation wieder oder die subjektive Wahrnehmung ist das Ergebnis eines Prozesses zur Verringerung kognitiver Dissonanz. Die in der Arbeitszufriedenheitsforschung gefundenen Erklärungen für das Phänomen hoher Zufriedenheitsäußerungen wie z.B. gesunkenes Anspruchsniveau, selektives Vergessen, soziale Erwünschtheit (vgl. Matiaske & Mellewigt 2001) sind meiner Meinung nach auch hier relevant. Aufgrund der Erkenntnisse aus der Grobanalyse liegt daher die Vermutung nahe, dass die „guten“ Ergebnisse beispielsweise aufgrund einer resignativen Arbeitszufriedenheit zustande gekommen sind und nicht viel über die „objektive“ Qualität der Arbeit aussagen. Eine ganz andere Erklärung kam von Seiten des Personalrats, der die mit dem Projektstart geweckten Hoffnungen auf Verbesserungen für die guten Ergebnisse zumindest mitverantwortlich macht.
222
Betriebsfallstudie
Ein anderer (evtl. ergänzender) Erklärungsansatz wäre, dass es bei der Befragung einen gewissen Effekt der Selbstselektion gegeben hat. Immerhin haben 15 von 106 MitarbeiterInnen (d.h. 14,15% der Zielpopulation) an der Erhebung nicht teilgenommen bzw. einen leeren Fragebogen abgegeben. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass dies die besonders Unzufriedenen waren, die sich aus Protest nicht beteiligt und damit das Ergebnis unfreiwillig einseitig verfälscht haben. Der dritte mögliche Grund könnte sein, dass die Beschäftigten ihre Situation aus strategischen Gründen positiver dargestellt haben, als sie wirklich ist. Da viele MitarbeiterInnen nach eigenen Aussagen nichts ändern wollten, haben sie mit den passenden Befragungsergebnissen vielleicht „beweisen“ wollen, dass es wirklich keinen Änderungsbedarf gibt. Dazu passt die bereits erwähnte Funktion des Fragebogens als Projektionsfläche. Vielleicht wollten sie aber auch nur nicht als „Nestbeschmutzer“ dastehen und antworteten daher im Sinne der vorherrschenden Gruppennormen. Trotz dieser vorsichtigen Einschränkungen bezüglich der Belastbarkeit der gefundenen Ergebnisse, können m.E. doch klare Ansatzpunkte für eine Restrukturierung der Arbeitstätigkeiten identifiziert werden, die auch mit den Erkenntnissen aus der Grobanalyse vereinbar sind. Der größte Handlungsbedarf beim gärtnerischen Personal im engeren Sinne ergibt sich bei den GärtnermeisterInnen, den GärtnerInnen und den GartenarbeiterInnen.281 Insbesondere die GärtnermeisterInnen sollten zum einen angesichts der schlechten Ergebnisse in der Hauptkategorie Arbeitsbelastung unbedingt quantitativ und qualitativ entlastet werden. Zum anderen wäre es sinnvoll dafür zu sorgen, die GärtnermeisterInnen (wieder) vermehrt in die Arbeit in den Revieren ihrer Meisterbereiche einzubeziehen und den Informationsfluss allgemein zu verbessern, um die Transparenz der Aufgabe zu erhöhen. Auch für die GärtnerInnen sollte die Autonomie und die soziale Transparenz erhöht werden. Nicht zuletzt aufgrund der immer dünner werdenden Personaldecke sollten zudem die Aufgaben den GartenarbeiterInnen abwechslungsreicher und anspruchsvoller gestaltet werden. Hintergrund dieser Überlegungen sind dabei auch die Normen meiner Profession als Arbeits- und Organisationspsychologin (mit dem Ziel einer menschengerechten bzw. persönlichkeitsförderlichen Arbeitsgestaltung) sowie meines Rollenverständnisses als Organisationsentwicklerin (mit dem Ziel einer „Demokratisierung“ der Organisation). Da auch in Zukunft voraussichtlich keine neuen Stellen geschaffen werden können, wird jeder neue Aufgabenzuschnitt in einer Funktionsgruppe allerdings nur unter Einbezug der anderen Funktionsgruppen zu bewerkstelligen sein.
281
Der ebenfalls deutlich werdende Bedarf beim Einsatz der Zivildienstleistenden wird nicht weiter vertieft, da sich die Führungskräfte aufgrund der vielen Probleme mit dieser Personengruppe dazu entschlossen haben, in Zukunft auf diese zu verzichten.
Die Reorganisation
223
5.3.3.2 Zeitbudgetanalyse Weil in der ZE BGBM keine Stundenzettel geführt wurden, gab es keine verlässlichen Daten über die benötigten Arbeitszeiten für die unterschiedlichen Tätigkeiten im gärtnerischen Bereich. Mit dem Einsatz der Zeitbudgetanalysen wurden zwei Ziele verfolgt: Erstens sollten quantitative Daten zum Ist-Stand der Arbeitsorganisation erhoben werden, um eine Ausgangsbasis für die Anpassung der Arbeitsorganisation zu erhalten. Diese Informationen sollten zweitens eine (erste) „objektivere“ Grundlage für die Personalbedarfs- und Personalkostenplanung liefern. Zur Datenerhebung werden die ReviergärtnerInnen gebeten, anhand einer vorgegebenen Liste mit allen im gärtnerischen Bereich anfallenden Tätigkeiten (vgl. Anhang 2) für alle MitarbeiterInnen im Revier zu schätzen, wie viel Prozent der Arbeitszeit im Durchschnitt für welche Tätigkeit aufgewendet werden muss. In 19 von 22 befragten Revieren282 bzw. Arbeitsgruppen nehmen sich die ReviergärtnerInnen bzw. die zuständigen Vorgesetzten die Zeit und füllen die Tabelle für die Zeitbudgetanalyse aus. Für die Darstellung der Ergebnisse wurden die Prozentzahlen der einzelnen Tätigkeiten unter zehn Hauptkategorien aufsummiert. Exemplarisch zunächst die Ergebnisse zweier Reviere aus dem Häuserbereich (vgl. Abb. 39 und 40): Tätigkeit Spezielle Facharbeiten Dokumentation Spezielle Pflegearbeiten Allgemeine Pflegearbeiten GaLa-Arbeiten Sonstige Arbeiten Dienstleistungen Bereichsführung Zusammenarbeit mit Externen Logistik
RG Gä Gä Aufwand in % der Arbeitszeit 32 51 52 10 2 2 16 17 17 3 26 25 0 0 0 2 4 4 7 0 0 30 0 0 0 0 0 0 0 0
Abbildung 39: Ergebnis der Zeitbudgetanalyse eines Reviers des Häuserbereichs (Bsp. 1) (Quelle: eigene Darstellung)
282
Drei ReviergärtnerInnen aus dem Freiland haben das Ausfüllen der Tabelle abgelehnt.
224
Betriebsfallstudie
Tätigkeit Spezielle Facharbeiten Dokumentation Spezielle Pflegearbeiten Allgemeine Pflegearbeiten GaLa-Arbeiten Sonstige Arbeiten Dienstleistungen Bereichsführung Zusammenarbeit mit Externen Logistik
RG Gä Gä Zivis Aufwand in % der Arbeitszeit 40,5 35 44,5 44 8 10,5 3,5 1 31 35 31,5 5 7,5 5,5 10 44 0 0 0 0 1 1 1 4,5 6,5 5 4 16,5 15,5 6,5 2 0 0 0 0 0
0
0
0
Abbildung 40: Ergebnis der Zeitbudgetanalyse eines Reviers des Häuserbereichs (Bsp. 2) (Quelle: eigene Darstellung)
Beim Vergleich der beiden Diagramme fällt auf, dass die erhobenen Daten wie erhofft Rückschlüsse auf die jeweilige revierspezifische Arbeitsorganisation zulassen. Während im ersten Beispiel deutlich wird, dass der oder die ReviergärtnerIn beispielsweise die alleinige Verantwortung für die Bereichsführung und die Dienstleistungen trägt sowie die Hauptlast bei der Dokumentation (d.h. eine für die Abt. I eher traditionelle Arbeitsteilung vorherrscht), sind diese Aufgaben im zweiten Beispiel einigermaßen gleichmäßig auf alle im Revier arbeitenden GärtnerInnen verteilt (d.h. es wird eher im Team gearbeitet). Ähnliche (wenn auch nicht so deutlich ausgeprägte) Unterschiede können auch im Freiland gefunden werden (vgl. Abb. 41 und 42): Tätigkeit Spezielle Facharbeiten Dokumentation Spezielle Pflegearbeiten Allgemeine Pflegearbeiten GaLa-Arbeiten Sonstige Arbeiten Dienstleistungen Bereichsführung Zusammenarbeit mit Externen Logistik
RG Gä GA Zivi Aufwand in % der Arbeitszeit 70 56 0 0 12 0 0 0 7,5 8,5 54 47 4 35,5 20 25 0 0 8 2 0 0 18 26 0 0 0 7 0 0 0 0 0 0 0
0
0
0
Abbildung 41: Ergebnis der Zeitbudgetanalyse eines Reviers aus dem Freiland (Bsp. 1) (Quelle: eigene Darstellung)
Die Reorganisation
225
Tätigkeit
RG
Gä
Spezielle Facharbeiten Dokumentation Spezielle Pflegearbeiten
35
22
Gä GFA GA GA Zivi Zivi Prakt. Aufwand in % der Arbeitszeit 20 12 22 0 0 0 0 19
6 16
1 23
16
1 7
0 8
0 7
0 6
0 2
0 3
Allgemeine Pflegearbeiten
20
42
54
79
67
81
86
32
80
GaLa-Arbeiten Sonstige Arbeiten Dienstleistungen Bereichsführung Zusammenarbeit mit Externen
0 1 2 20 0
0 1 2 9 0
0 1 8 1 0
0 1 0 0
1 1 1 0 0
4 5 3 0 0
2 3 3 0 0
51 12 1 2 0
1 9 5 2 0
0 0 27 4 0
0 0 0 0 0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
Logistik
Gä
7 2
EA 0 0 0
41 100
Abbildung 42: Ergebnis der Zeitbudgetanalyse eines Reviers aus dem Freiland (Bsp. 2) (Quelle: eigene Darstellung)
Für die unterschiedliche Arbeitsteilung in den Revieren gibt es sicherlich viele Gründe: zum einen unterscheidet sich der Umfang der anfallenden Tätigkeiten in Abhängigkeit von den zu betreuenden Pflanzen bzw. Arbeitsaufgaben und zum anderen muss auf die Kompetenzprofile der einzelnen MitarbeiterInnen Rücksicht genommen werden. Meiner Einschätzung nach sind insbesondere die ReviergärtnerInnen bei der Organisation der Arbeit im Revier die Schlüsselpersonen. Die bisherige Arbeitsorganisation gibt ihnen die Macht, die anfallenden Arbeiten im eigenen Revier weitgehend selbständig einzuteilen und an die vorhandenen MitarbeiterInnen nach ihrem Gutdünken zu delegieren (vgl. Abschnitt 5.2.2.2). Diese Vermutung wird durch die Ergebnisse der subjektiven Arbeitsanalyse gestützt. Die zum Teil immensen Unterschiede werden beim Vergleich aller Zeitbudgetanalysen deutlich (angegeben sind jeweils der niedrigste und der höchste gefundene Wert):
226
Betriebsfallstudie
Spezielle Facharbeiten
RG
Gä
Azubi
GA
Prakt.
Zivi
ABM
ABS
EA
0-70
0-77
64-82
0-22
0-19
0-44
0-10
0-100
0-95
Dokumentation
2-52
0-89
0-3
0-1
0-7
0-1
0-30
0
0
Spezielle Pflegearbeiten
6-77
2-35
6-18
6-75
2-5
0-47
0-2
0-100
0-14
Allgemeine Pflegearbeiten
0-32
0-79
4-16
10-90
41-88
1-90
0-93
0-85
0-100
GaLa283-Arbeiten
0
0-1
0
0-8
0-3
0-51
0-3
0
0
Sonstige Arbeiten
0-3
0-22
1-4
0-20
0-20
0-26
0-10
0-20
0-33
Dienstleistungen 0-30
0-47
0-5
0-3
0-4
0-27
0-10
0
0-1
Bereichsführung 0-30 0-15,5
0
0-4
0-4
0-2
0
0
0
Zusammenarbeit mit Externen
0-8
0-2
0
0-1
0
0
0
0
0-1
Logistik
0
0-2
0
0-2
0
0
0
0
0
Abbildung 43: Vergleich der Ergebnisse der Zeitbudgetanalysen (Arbeitszeit aller Funktionsgruppen in % pro Hauptkategorie, geschätzt durch die ReviergärtnerInnen) (Quelle: eigene Darstellung)
Als Fazit kann festgehalten werden, dass 2004 im gärtnerischen Bereich zwar die Aufbauorganisation einheitlich ist, aber die Ablauforganisation innerhalb und zwischen den Revieren je nach Führungsstil und in Abhängigkeit von den Kompetenzprofilen sowie Umfang der anfallenden Arbeiten z.T. sehr unterschiedlich gestaltet wird. Dabei können im Wesentlichen drei verschiedene Varianten der Arbeitsteilung identifiziert werden: 1. Die Aufgaben im Revier werden bis auf wenige Ausnahmen gemeinsam bearbeitet 2. Bestimmte Aufgaben im Revier werden getrennt, andere gemeinsam bearbeitet 3. Klare Aufgabenteilung im Revier streng nach Hierarchie Das heißt m.E. für die Gestaltung der zukünftigen Arbeitsorganisation, dass Gestaltungsspielräume vorhanden sind. 5.3.3.3 Prozessanalysen und Analyse der Umweltsituation Neben der Subjektiven Arbeitsanalyse und der Zeitbudgetanalyse werden für die Meisterbereiche (außer Referat I b C EW/Dokumentation) Prozessanalysen zum 283
Garten- und Landschaftsbau, d.h. Wegebau, Entwässerung etc.
Die Reorganisation
227
Aufzeigen der anfallenden Arbeitsschritte plus In- und Output (vgl. Abb. 44) sowie Analysen der jeweiligen Umweltsituation zum Erfassen der unterschiedlichen Anforderungen (vgl. Abb. 45) erstellt. Diese Daten werden erhoben, um Transparenz zu schaffen, eine Reflektion über die eigene Arbeit anzuregen und um ggf. Rationalisierungspotentiale bzw. Entlastungsansätze identifizieren zu können. Damit wird die IstAnalyse komplettiert, deren Ergebnisse anschließend im Rahmen der Workshops mit den MitarbeiterInnen der Meisterbereiche besprochen werden.
Inventur Begehungsliste
Alpengarten
Samenkatalog(e) Auswahl GM/RG Auswahl G.wiss.
Bestellliste
Bestellung GM Bestellung DG02
Lieferung ( GI / DG02) BoGart-Eintrag
Akzessionierung
Eintrag Revierdatenbank
Auslieferung GM Annahme RG Werkzeug, Töpfe, Erde, Stecketikett, Arbeitskleidung, evtl. Aussaatkasten
Sämlinge
Revierdatenbank
Pflanzen (BoGart-Eintrag?)
Aussaat (GH)
Kompost
Pflege / Kontrolle Schlauch, Gießkanne, Beschattung, Lüftung
Grünabfall (Fahrzeug)
Pikieren Pflege / Kontrolle
Werkzeug, Töpfe, Erde, Arbeitskleidung Werkzeug, Erde, Arbeitskleidung
FL-Pflanzen
Beet vorbereiten Topfen -> Frühbeet
Werkzeug, Karre, Palette, Töpfe, Arbeitskleidung, Gießkanne Pflanzen von EW
Pflege / Kontrolle Schaupflanze (BoGart?)
Beet vorbereiten An d. Standort pflanzen
Pflanzen von BS
PG
Werkzeug, Dünger, Arbeitskleidung, Schlauch od. Gießkanne od. Regner, evtl. Beschattung, evtl. Pflanzenschutz
Bestellliste Fotosatzetiketten
Etikett
Herbarbeleg
Pflege / Kontrolle Abnahme Herbarbeleg
Samen
Samenernte Bodenbearbeitung
Rückschnitt Winterschutz
Abbildung 44: Beispiel einer Prozessanalyse für einen Meisterbereich284 (Quelle: eigene Darstellung)
284
BoGART ist die Akzessionsdatenbank der ZE BGBM
228
Betriebsfallstudie
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Abbildung 45: Beispiel für die Analyse der Umweltsituation eines Meisterbereichs285 (Quelle: eigene Darstellung)
5.3.4 Feedback an die Beteiligten Während in der Lenkungsgruppe weiterhin das neue Organigramm diskutiert wird, sollen die betroffenen MitarbeiterInnen nun in den Reorganisationsprozess mit ein bezogen werden. Im Rahmen von insgesamt elf Workshops (vier Workshops für ARB/SYS, je zwei Workshops für WH, KH und PG/AG sowie ein Workshop für EW/DG02) werden in den letzten Monaten des Jahres 2004 – meist in Anwesenheit der Gartenleitung – zunächst die Ergebnisse der Ist-Analyse vorgestellt und diskutiert, um daran anschließend die Vor- und Nachteile verschiedener Arbeitsorganisationsmodelle zu erörtern. Der Grobablauf ist in allen Meisterbereichen ähnlich: Nach der Einführung von Kommunikationsregeln für die Workshops wird zunächst anhand des noch gültigen Organigramms (vgl. Abb. 26 und 27) die Stellung der Organisationseinheit und die Analy285
Die grau unterlegten Anmerkungen wurden im Rahmen des ersten Workshops gesammelt (vgl. Abschnitt 5.3.4).
Die Reorganisation
229
se der Umweltsituation (vgl. Abb. 45) vorgestellt und besprochen. Anschließend werden die Prozessschritte (vgl. Abb. 44) und die Ergebnisse der Subjektiven Arbeitsanalyse (vgl. Abb. 37 und 38) sowie die daraus gewonnenen Erkenntnisse präsentiert und gemeinsam besprochen. Ausgehend von den Analyseergebnissen werden anschließend die Gestaltungsziele für die neue Arbeitsorganisation (Kostensenkung umsetzen, wissenschaftliche Sammlung erhalten, Qualifikation und Motivation erhalten) ergänzt und besprochen. Vor diesem Hintergrund werden dann die Vor- und Nachteile der möglichen Arbeitsorganisationsmodelle gesammelt und diskutiert, sowie zum Abschluss jeweils ein Meinungsbild zur präferierten Lösungsmöglichkeit erstellt. Die Anzahl der dafür notwendigen Workshops pro Meisterbereich und die inhaltliche Schwerpunktsetzung hängt vom Informationsbedürfnis, den Fragen und der Diskussionsfreudigkeit der beteiligten MitarbeiterInnen ab. Eine Ausnahme bildet der Bereich EW/DG02, bei dem sich zu diesem Zeitpunkt schon abzeichnet, dass er neu strukturiert und eher wachsen als schrumpfen wird. Da noch keine endgültige Entscheidung gefallen ist, werden in diesem Meisterbereich ebenfalls die Analyseergebnisse besprochen. Mit der Präsentation der Ergebnisse der Ist-Analyse werden mehrere Ziele verfolgt: •
alle MitarbeiterInnen – auch die, die bisher nur ihren eigenen Arbeitsbereich kennen – sollen einen Überblick über den ganzen Meisterbereich sowie dessen Einbettung bekommen;
•
damit sollen alle MitarbeiterInnen auf einen gemeinsamen Informationsstand gebracht werden;
•
durch die Auseinandersetzung mit den Ergebnissen der Ist-Analyse soll ein Reflexionsprozess über die bisherige Arbeitsorganisation angeregt werden;
•
bei der Besprechung der Analyseergebnisse sollen Ansatzpunkte für notwendige Veränderungen identifiziert werden.
Bemerkenswert ist, dass die Ergebnisse der Subjektiven Arbeitsanalyse sowohl von den Führungskräften, als auch von den Beschäftigten als überdurchschnittlich gut und damit – bis auf wenige Punkte wie z.B. die Entlastung der GärtnermeisterInnen – als nicht verbesserungswürdig eingeschätzt werden. Im Anschluss wird über die Vor- und Nachteile verschiedener denkbarer Arbeitsorganisationsmodelle diskutiert: •
eine Arbeitsgruppe pro Meisterbereich (mit oder ohne VorarbeiterIn)
230
Betriebsfallstudie
•
je eine bereichsübergreifende Arbeitsgruppe für Freiland und Häuserbereich mit VorarbeiterIn
•
eine Arbeitsgruppe für den ganzen Garten
•
Beibehaltung der bisherigen Arbeitsorganisation (inkl. Vorarbeiterzulage)
Die Lösung „eine Arbeitsgruppe für den ganzen Garten“ wird von allen Beteiligten als zwar theoretische, aber angesichts der Größe und Artenvielfalt des Gartens nicht praktikable Variante verworfen. Im Verlauf der Diskussionen wird deutlich, dass die MitarbeiterInnen, die in die Arbeitsgruppen versetzt werden würden, dies als Degradierung empfänden und den Verlust der bisherigen Gruppenzugehörigkeit befürchten. Hinter diesen Befürchtungen stecken in erster Linie die bereits mit revierübergreifenden Arbeiten (die in der Regel auf Reviergärtnerebene besprochen und von diesen angeordnet wurden) gemachten Erfahrungen. Diese werden als „Feuerwehreinsätze“ beschrieben und bieten aufgrund meist wenig attraktiver Arbeiten keine Möglichkeiten zu einer Qualifizierung in diesen Arbeitsbereichen. Ohne die Möglichkeit sich intensive und spezialisierte Pflanzenkenntnisse in einem Revier anzueignen, sinken für die betroffenen GärtnerInnen die Chancen auf eine spätere ReviergärtnerInnen-Stelle (vgl. Abschnitt 5.2.2.2). Die ReviergärtnerInnen selbst befürchten vor allem den Verlust der Vorarbeiterzulagen und betonen, es werde schon revierübergreifend gearbeitet.286 Es wird darüber hinaus befürchtet, dass unangenehme Arbeiten ohne VorarbeiterIn liegen bleiben und dass die Motivation und die Verantwortlichkeit für die eigene Arbeit sinken könnte. Auf der anderen Seite betonen die GärtnerInnen, dass sie aufgrund ihrer Fachkompetenz keine VorarbeiterInnen brauchen würden und dass die revierübergreifende Zusammenarbeit gestärkt werden muss. Dazu könne aber die „Freitagsrunde“ flächendeckend eingeführt werden. Dass die revierübergreifenden Arbeitsgruppen wenig attraktiv sind, hat also viele Ursachen: der hohe Stellenwert des Expertenstatus' und die bisherige Beförderungspraxis, die bisherigen Erfahrungen mit „Feuerwehreinsätzen“, das Zugehörigkeitsgefühl und die Identifikation mit dem eigenen Arbeitsbereich sowie eine befürchtete Verantwortungsdiffusion. Als besonders positiv an den Workshops wird von den Beschäftigten die hierarchieübergreifende Kommunikation („alle an einem Tisch“) und die Beantwortung der Fragen zum Reorganisationsprozess durch die Gartenleitung bewertet. Dies ist angesichts der spärlichen direkten Kommunikationsgelegenheiten mit den Vorgesetzten, 286
Wie bereits erwähnt, gibt es in einem Meisterbereich zum damaligen Zeitpunkt schon ein wöchentliches Koordinationstreffen der ReviergärtnerInnen (die sogenannte „Freitagsrunde“), ansonsten wird nur bei Bedarf und ad hoc zusammengearbeitet.
Die Reorganisation
231
die während der Reorganisation weiter eingeschränkt wurden,287 nicht verwunderlich. Dadurch entstand ein immens großer Informationsbedarf, nicht zuletzt, um den Wahrheitsgehalt der – zum damaligen Zeitpunkt anstatt offizieller Informationen – kursierenden Gerüchte zu überprüfen. Nachdem die schlimmsten Befürchtungen ausgeräumt werden können, bringt ein abschließendes Meinungsbild fast unisono das Fazit, dass die vertraute Arbeitsorganisation beibehalten werden soll. Um die vorgebrachten Bedenken auszuräumen und die Reorganisation doch noch konsensgestützt voranzubringen, werden zunächst weitere Workshops angekündigt.
Parallel zur Analyse- und Feedbackphase wird in der Lenkungsgruppe unter weitgehendem „Ausschluss der Betriebsöffentlichkeit“ um das neue Organigramm gerungen. Damit werden an anderer Stelle bereits Fakten geschaffen, die den Handlungsspielraum für die zukünftige Ablauforganisation weiter einschränken.
5.3.5 Die Erarbeitung des neuen Organigramms Von Juli bis Dezember 2004 werden zahlreiche Organigrammentwürfe erarbeitet und im Rahmen der Lenkungsgruppensitzungen diskutiert. Die bereits im Einführungsgespräch (vgl. Abschnitt 5.3.1) deutlich werdenden unterschiedlichen Interessen von Verwaltungs- und Gartenleitung führen im weiteren Verlauf zu einer Frontenbildung und zum Teil sehr kontroversen Auseinandersetzungen.288 Der sich verschärfende Diskussionsprozess kann in drei Arbeitsphasen mit unterschiedlichen inhaltlichen Schwerpunkten unterteilt werden: 1. Erhalt des Status quo, 2. Reorganisation, 3. Outsourcing. Zu Beginn der ersten Arbeitsphase wird zunächst lediglich versucht, die noch verbleibenden MitarbeiterInnen möglichst gerecht auf die vorhandenen Reviere und Arbeitsbereiche zu verteilen. Nachdem sich herausstellt, dass dies aufgrund der immer dünner werdenden Personaldecke nicht funktionieren kann, wird geprüft und überlegt, welche Arbeitsaufgaben sich ohne größere Qualitätsverluste für weitere Fremdvergaben eignen könnten (dazu wurde wie bereits erwähnt ein Gutachten durch eine Fremdfirma angefertigt).289 Diese Lösung liegt nahe, da zum damaligen Zeitpunkt bereits die Reinigung, die Aufsicht, die Kassen und die Wiesenmahd fremdvergeben sind.
287 288
289
aus Angst, die MitarbeiterInnen mit „Zwischenständen“ noch mehr zu verunsichern. Zum Verständnis der auf der Sachebene ablaufenden Diskussions- und Entscheidungsprozesse müssen meiner Meinung nach die Motive und Interessen der beteiligten Akteure als weitere Betrachtungsebene miteinbezogen werden (vgl. Abschnitt 5.4.1.2). Das Gutachten kommt zu dem Ergebnis, dass die Fremdvergabe von Leistungen in der Freilandpflege Einsparungen von 32-49% der bisherigen Kosten erbringen könnten.
232
Betriebsfallstudie
Damit vor allem der gärtnerische Bereich so weit wie möglich unter Kontrolle der ZE BGBM bleibt, einigt man sich trotz anfänglicher Bedenken zunächst darauf, die Aufgaben der Techniker und Betriebsschlosser fremd zu vergeben und die Mitglieder dieser Beschäftigtengruppen auf die Personalüberhangliste der FUB zu setzen. Durch die sukzessive Übernahme dieser Arbeitsaufgaben durch die bereits für die ZE tätige Privatfirma290 (Aufsicht und Kassen) kann zwar ein Teil der Einsparungen erzielt werden, die Auswirkungen auf das Organigramm sind aber zunächst gering, da sie die früheren Techniker lediglich ersetzen. Dennoch ist damit ein Anfang für weitere umfassendere Veränderungen gemacht, was dazu führt, dass in der zweiten Arbeitsphase zahlreiche Organigrammentwürfe produziert werden, die sich im Wesentlichen in folgenden Punkten unterscheiden: •
Anzahl der Hierarchieebenen
•
Anzahl der Meister- oder vergleichbarer Bereiche und/oder Meisterstellen
•
Zuordnung der Serviceaufgaben (eigener Bereich oder in die Meisterbereiche integriert)
•
Integration oder Separierung der sogenannten Schutzsammlungen (gefährdete Arten)
Am Ende dieser Arbeitsphase einigt man sich auf fünf Meisterbereiche bzw. Meisterbereichen vergleichbare Säulen im Organigramm (eine davon der neu geschaffene Service-Bereich) und einen vom gärtnerischen Bereich getrennten Wissenschaftsbereich, der direkt dem Abteilungsleiter untersteht.
In der dritten und letzten Phase wird schließlich trotz massiver Proteste der Gartenleitung am Jahresende 2004 entschieden, dass der ganze Service-Bereich zwar unter der Fachaufsicht der Leitung des Cost Centers Garten stehen soll, dieser aber aus arbeitsrechtlichen Gründen keine operative Weisungsbefugnis über die dort arbeitenden MitarbeiterInnen haben kann. Während die disziplinarische Befugnis weiterhin bei der Verwaltung der ZE BGBM verbleibt, wird die operative Weisungsbefugnis an die Privatfirma übertragen.
5.3.6 Die Umsetzungsphase Das Vorhaben, die in den Workshops deutlich sichtbar gewordenen Widerstände gegen die geplanten Änderungen in weiteren Workshops zu bearbeiten, wird von den 290
Diese Privatfirma ist inzwischen nicht mehr für die ZE BGBM tätig, sie wurde durch eine andere Firma ersetzt (Stand Januar 2006)
Die Reorganisation
233
weiteren Entwicklungen überflüssig gemacht: Das Topmanagement der ZE BGBM macht von seiner Organisationshoheit Gebrauch und setzt das neue Organigramm – und damit auch die von mir nach den Workshops erarbeitete neue Ablauforganisation – „planmäßig“ am 01.01.2005 in Kraft. Der dazu gehörige Geschäftsverteilungsplan wird „zwischen den Jahren“ unter der Regie der Gartenleitung aufgestellt.
5.3.6.1 Die neue Aufbauorganisation der Abteilung I Da die Stammbelegschaft in den Gewächshäusern und im Freiland aufgrund des Einstellungsstopps weiter schrumpfen wird, werden die Arbeiten gemäß dem DreiSäulen-Konzept zukünftig neu verteilt – mit dem Ziel, das Qualitätsniveau trotzdem halten zu können bzw. zu steigern: 1. Alle Aufgaben, die nicht unmittelbar dem Erhalt der wissenschaftlichen Lebendsammlungen dienen (Bepflanzung und Pflege der Schmuckflächen, Wege- und Platzpflege, Wiesenmahd, Organisation von Veranstaltungen), werden vom neu geschaffenen Servicebereich von einer gemischten Belegschaft (MitarbeiterInnen des Botanischen Gartens und der Privatfirma) unter der Leitung (Koordination) der Privatfirma und unter Fachaufsicht des botanischen Gartens übernommen. Dadurch werden die Meisterbereiche Arboretum, Pflanzengeographie, Warmhäuser und Kalthäuser entlastet und verschlankt und können sich auf ihre Kernaufgaben konzentrieren. 2. Der Bereich Erhaltungs- und Wissenschaftskulturen (inkl. Samenstube) wird direkt der Abteilungsleitung unterstellt und soll zukünftig weiter ausgebaut werden (Planung: verstärkt in Projektform), um in Zukunft auch die Lebendsammlungen zu betreuen, die nicht für den Schaubereich bestimmt sind. 3. Innerhalb der Meisterbereiche Arboretum, Pflanzengeographie, Warmhäuser und Kalthäuser sollen zukünftig nur noch zwei MitarbeiterInnen pro Revier (ReviergärtnerIn und stellvertretende/r ReviergärtnerIn) fest zugeordnet bleiben. Alle anderen MitarbeiterInnen des jeweiligen Meisterbereichs bilden eine Arbeitsgruppe, die unter Leitung des/der Meisters/in für alle Reviere des Meisterbereichs zuständig ist, aber weiterhin in einem regional noch überschaubaren Bereich integriert bleibt. Damit entsteht pro Meisterbereich eine revierübergreifend tätige Arbeitsgruppe, mit dem Ziel, innerhalb eines Meisterbereichs im Team (= GM + RG + sRG + Gä + GA) gemeinsam die Verantwortung für den gesamten Bereich zu übernehmen. Um die Arbeit unter den vorhandenen Rahmenbedingungen (Stellenstreichungen, Arbeitszeitverkürzung, Urlaubs- und Krankheitszeiten...) auch weiterhin zu schaffen, muss dafür gesorgt werden, dass möglichst viele MitarbeiterInnen möglichst viele Aufgaben (revierübergreifend) erledigen können.
234
Betriebsfallstudie
Da die Arbeitsgruppen langfristig durch natürliche Fluktuation und durch Versetzungen in die Reviere immer kleiner werden, ist für diesen Fall vorgesehen, dass zunehmend Flächen bzw. Aufgaben bestimmt werden, welche (zusätzlich) vom Servicebereich zu bearbeiten sind.
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Abbildung 46: Das neue Organigramm der Abteilung I (Quelle: BGBM 2005, eigene Darstellung)
Beim Vergleich des alten (vgl. Abb. 27) mit dem neuen Organigramm (vgl. Abb. 46) fallen folgende Unterschiede auf: 1. der wissenschaftliche Bereich wird um ein Revier verstärkt und direkt dem Abteilungsleiter unterstellt 2. die vier Meisterbereiche291 mit den wissenschaftlichen Lebendsammlungen sind dem Betriebsleiter unterstellt und werden einheitlich mit vier Revieren ausgestattet292 3. aus dem Referat F wird eine Stabsstelle des Betriebsleiters 291 292
2005 wird auch die Meisterstelle für die Kalthäuser wieder besetzt. Mit der Begründung, dass das Revier Baumpflege Serviceaufgaben erledige, wurde es inzwischen ebenfalls in den Servicebereich integriert. Damit hat der Meisterbereich Arboretum nur noch drei Reviere.
Die Reorganisation
235
4. der neugeschaffene Servicebereich (Schlosser, Handwerker, Schmuckgärten, Pflege und Logistik) steht unter der Fachaufsicht des Betriebsleiters, aber unter der Weisungsbefugnis einer Fremdfirma 5. es gibt in der Abt. I keine Stelle mehr für administrative Aufgaben (Lohnstunden, Ausgaben etc.)293 Diese formalen Änderungen bringen zahlreiche Verwerfungen und Verschiebungen bei vertrauten Aufgaben und Prozeduren sowie Positionen und Einflussbeziehungen mit sich. Während der wissenschaftliche Bereich beispielsweise personell aufgestockt wird, werden andere Reviere bzw. MitarbeiterInnen neuen Bereichen zugeordnet. Da der neue Geschäftsverteilungsplan zumeist ohne vorherige Absprache mit den betroffenen MitarbeiterInnen aufgestellt wurde, müssen sich die betroffenen Beschäftigten teilweise von heute auf morgen auf eine neue Arbeitssituation einstellen (z.T. mit neuem Aufgabenbereich, neuen Anforderungen, neuem Kollegenkreis, neuen Vorgesetzten...). Dies wird insbesondere von den nun im Service-Bereich tätigen MitarbeiterInnen (zumindest zunächst) als Degradierung bzw. vielleicht treffender: als Abschiebung empfunden. Damit schrumpft die Belegschaft der Abteilung I unter der Weisungsbefugnis der Abteilungsleitung von 104 MitarbeiterInnen in 2004 auf 64 MitarbeiterInnen im Oktober 2005. Vierzig MitarbeiterInnen scheiden entweder aus Altersgründen aus dem Erwerbsleben aus oder werden auf andere Arbeitsplätze an der FU Berlin (dies betrifft bis auf eine Ausnahme alle ehemaligen Schlosser und Handwerker der ZE BGBM) bzw. in den Service-Bereich versetzt.
5.3.6.2 Die neue Ablauforganisation der Abteilung I Da die Zeit und die Auftraggeber drängen, arbeite ich nach den wenig zukunftsfähigen Ergebnissen der Workshops Ende 2004 den Entwurf eines umsetzungsfähigen Arbeitsorganisationsmodells – im Sinne einer positiven Vision – aus. Dabei bin ich zwar bemüht, sowohl an die Stärken der bereits praktizierten Arbeitsorganisation (vgl. Abschnitt 5.3.3.2 „Variante 1“) anzuknüpfen und die Erkenntnisse aus der Analysephase sowie die in zahlreichen Gesprächen formulierten Bedürfnisse der Be-
293
Diese Aufgaben werden inzwischen z.T. (in Zusammenarbeit mit den GärtnermeisterInnen) von der stellvertretenden Verwaltungsleiterin und ihrer Mitarbeiterin übernommen, die nach dem Umzug des Abteilungsleiters in das Gebäude des botanischen Museums ihr Büro in die Gartenverwaltung verlegt hat.
236
Betriebsfallstudie
schäftigten weitgehend zu berücksichtigen.294 Trotzdem wird mit der Inkraftsetzung dieser Arbeitsorganisation am 01.01.2005 sowohl der Weg der Aktionsforschung als auch der der OE verlassen. Es schlägt die Stunde der „Expertenlösungen“, die nun in der verbleibenden Projektlaufzeit „Top-down“ implementiert werden sollen. Das heißt, dass in den vier Meisterbereichen mit den wissenschaftlichen Lebendsammlungen eine „Matrixorganisation“ (Reviere plus revierübergreifende Arbeitsgruppen) eingeführt werden soll. Damit sind in jedem Revier nur noch maximal zwei MitarbeiterInnen (Vollzeitstellen) als SpezialistInnen für die dort kultivierten Pflanzen eingesetzt. Die übrigen MitarbeiterInnen in den Bereichen müssen von den MeisterInnen in Absprache mit dem ganzen Team je nach Arbeitsanfall direkt zur Unterstützung der Reviere eingesetzt werden. Da die Mitglieder der Arbeitsgruppen nicht nur die anfallenden Arbeiten im Bereich möglichst eigenständig und verantwortungsbewusst erledigen sollen, sondern aus ihren Reihen auch die NachrückerInnen für freiwerdende (stellvertretende) ReviergärtnerInnen-Stellen kommen, müssen •
sie alle für ihre Arbeit relevanten Informationen erhalten,
•
sie sich bei der und durch die Arbeit qualifizieren können (d.h. es müssen ausreichend Gelegenheiten zu qualifizierenden Arbeiten geschaffen werden),
•
regelmäßige Feedback- und Personalentwicklungsgespräche stattfinden,
•
sie die Chance bekommen, ihre Ideen und Verbesserungsvorschläge einzubringen und umzusetzen,
•
sie bei Bedarf geschult werden.
In Absprache mit den betroffenen MitarbeiterInnen und den Vorgesetzten muss dafür ein Personalentwicklungskonzept erarbeitet werden. Trotz Personalabbau und minimalen Aufstiegschancen sollen die MitarbeiterInnen für das revierübergreifende Arbeiten systematisch qualifiziert werden. Ein zentraler Baustein ist dabei das „Training on the job“, d.h. die fachliche Qualifizierung durch die praktische Durchführung der zu erlernenden Tätigkeiten unter Anleitung von sachkundigen KollegInnen. Jede/r MitarbeiterIn soll sich dadurch mittelfristig neben seinem/ihrem bisherigen Arbeitsplatz mindestens in einen oder zwei gleichwertige Arbeitsplätze in einem anderen Revier des Meisterbereichs einarbeiten (qua „Job rotation“). Durch die Rotation innerhalb der Arbeitsgruppe sind ein Höchstmaß an Flexibilität und an Kenntnissen der verschiedenen Tätigkeiten im Bereich sowie ein Belastungswechsel anzustreben. 294
Darüber hinaus spielten für mich die Gütekriterien für persönlichkeitsförderliche Arbeitsgestaltung und ein gewisser emanzipatorischer Anspruch eine wichtige Rolle (vgl. 5.3.1).
Die Reorganisation
237
Alle entsprechend qualifizierten MitarbeiterInnen sollen zudem auch noch anspruchsvollere Aufgaben übernehmen (qua „Job enrichment“).
Zielsetzung hierbei ist es, ausgehend von der bisherigen Arbeitsteilung zu einer neuen Arbeitsteilung mit einer deutlich stärkeren Arbeitsanreicherung zu kommen, ohne jedoch dadurch die MitarbeiterInnen zu überfordern. So ergibt sich auch innerhalb der Arbeitsgruppen eine „Matrix“: MitarbeiterInnen betreuen schwerpunktmäßig 2-3 Reviere (ohne diesen aber fest zugeordnet zu sein) und übernehmen – wenn möglich – auch höherwertige und allgemeine Aufgaben. Die Anforderungen werden von den Revieren definiert, die Arbeitsorganisation liegt letztendlich bei den MeisterInnen. Hierbei sind sowohl die Erfordernisse der Personalentwicklung also auch die personalrechtlichen Voraussetzungen und Konsequenzen zu berücksichtigen.
Schematische Darstellung (Ausschnitt): Revier 1
Revier 2
Mitarbeiter/in
1
2
Spezielle Facharbeiten
X
O
Spezielle Pflegearbeiten
O
O
Allgemeine Pflegearbeiten
O
5
6
X O
X X
Allgemeine Pflegearbeiten
4
X
Spezielle Facharbeiten Spezielle Pflegearbeiten
Revier 3
3
X X
O
O
O
O
O
X
Spezielle Facharbeiten
X
X
O
Spezielle Pflegearbeiten
X
X
O
Allgemeine Pflegearbeiten
X
X
O
IST-Analyse: Personalentwicklungsplan:
Bisherige Einsatzfelder = O Neues, zusätzliches Einsatzgebiet (Stufe 1) = X Neues, zusätzliches Einsatzgebiet (Stufe 2) = X Abbildung 47: Schematische Darstellung des Vorgehens zur Personalentwicklungsplanung (Quelle: eigene Darstellung)
Für jedes Team sind die Arbeitsaufgaben, das Maß an Eigenverantwortlichkeit und die Befugnisse zu beschreiben. Die Gruppenmitglieder sollen im Rahmen ihrer Aufgaben gemeinsam die Verantwortung für die jeweiligen Arbeitsergebnisse (z.B. Qualität, Menge, Kosten) tragen, soweit diese von der Gruppe beeinflusst werden können. Dies gilt auch für die Arbeitseinteilung (z.B. Vorziehen oder Zurückstellen nicht zeitkritischer Tätigkeiten) und die An- und Abwesenheitsplanung. Im Konfliktfall – und im Bedarfsfall auch über den bereichsübergreifenden Personaleinsatz – entscheidet nach Absprache der/die zuständige MeisterIn. Das Einbringen von Vorschlägen für eine bessere Gestaltung der Abläufe und für eine Optimierung der Arbeitsergebnisse
238
Betriebsfallstudie
wird von allen Teammitgliedern erwartet. Im Bedarfsfall muss der/die MeisterIn dabei unterstützen, dass diese auch umgesetzt werden können. Die GärtnermeisterInnen haben die Verantwortung für jeweils einen Bereich. Neben der Ausbildung des gärtnerischen Fachpersonals in ihrem speziellen Arbeitsbereich, sollen sie sich in Zukunft stärker um die Bereichs- und Mitarbeiterführung (im Sinne von Betreuung und Motivation) kümmern. Die Hauptaufgaben der/des Meisterin/s bestehen darin, •
bei der Zielerreichung zu unterstützen und bei auftretenden Problemen zu beraten (dafür müssen erst in Absprache mit der Gartenleitung und den GartenwissenschaftlerInnen Zielvereinbarungen formuliert werden),
•
die revierübergreifenden Belange des Meisterbereichs zu koordinieren,
•
sich um die Weiterqualifizierung aller MitarbeiterInnen zu kümmern (im Sinne des Personalentwicklungskonzepts),
•
Feedback- und Personalentwicklungsgespräche zu führen (dafür müssen Beurteilungskriterien formuliert, operationalisiert und transparent gemacht werden),
•
sich um die gruppen- und bereichsübergreifende Kooperation und Kommunikation (z.B. mit dem Servicebereich, Öffentlichkeitsarbeit...) zu kümmern,
•
bei Problemlösungen im Rahmen des kontinuierlichen Verbesserungsprozesses (KVP) zu unterstützen.
Zur gruppen- und bereichsübergreifenden Kooperation und Kommunikation z.B. zur Planung eines notwendigen bereichsübergreifenden Personaleinsatzes oder zur Koordinierung des Maschinen- und Fahrzeugeinsatzes sowie zur Verteilung und Abstimmung bereichsübergreifender Arbeitsaufgaben findet wie bisher mindestens 14tägig eine Meisterrunde unter der Leitung der Abteilungsleitung statt. Die nach wie vor einem Revier zugeordneten (stellvertretenden) ReviergärtnerInnen betreuen ein bestimmtes Revier. Sie sind verantwortlich für die Erhaltung des Artenbestandes und der Führung der Artenbestandslisten. Die ReviergärtnerInnen können sich durch die Entlastung durch den/die MeisterIn stärker als bisher auf die Belange und Anforderungen der Pflanzen in den wissenschaftlichen Lebendsammlungen sowie die Dokumentation konzentrieren. Die sich daraus ergebenden erforderlichen Pflanz-, Pflege- und Erntearbeiten einschließlich Beschilderung und der dafür notwendige Arbeitskräfteeinsatz muss im Rahmen von gemeinsamen Arbeitsbesprechungen aufgezeigt und gemeinsam koordiniert werden. Im Revier obliegt ihnen bei Bedarf die Arbeitseinteilung und Unterweisung der ihnen je nach Arbeitsanfall und Absprache zugewiesenen Arbeitskräfte. Um die fachlichen Kompetenzen der ReviergärtnerInnen stärker zu nutzen und um die GärtnermeisterInnen zu entlasten sowie zur Kompensation der erlittenen Verluste, könnten sie beispielsweise zusätzlich Führungen in ihrem Arbeitsbereich und andere qualifizierte Aufgaben übernehmen.
Die Reorganisation
239
In regelmäßig stattfindenden Arbeitsbesprechungen legt das ganze Arbeitsteam gemeinsam den Arbeitsplan und den Einsatz der Arbeitsgruppe bis zur nächsten Besprechung fest, wobei (nur) in Konfliktfällen der/die GärtnermeisterIn entscheidet. Kurzfristig notwendige (meist witterungs- oder ausfallbedingte) Absprachen werden weiterhin auf dem „kurzen Dienstweg“ erledigt. Die getroffenen Absprachen werden in einem für alle MitarbeiterInnen zugänglichen Maßnahmenplan festgehalten, der beim nächsten Treffen als Wiedervorlage dient. Zur Übernahme und Effektivierung dieser Aufgabe sollten sich die Führungskräfte Techniken zur Sitzungsleitung, Mitarbeiterführung, Konfliktbewältigung und KVP295 aneignen.
RG (Anforderungen Pflanzen im Rev.)
GM (Anforderungen Bereich und PE)
Arbeitseinsatz Gemeinsame Arbeitsbesprechung Arbeitsgruppe (Kompetenzen und Ideen)
Abbildung 48: Beiträge der Teilnehmenden an den gemeinsamen Arbeitsbesprechungen (Quelle: eigene Darstellung)
Mit der Einführung von regelmäßigen Arbeitsbesprechungen werden mehrere Ziele verfolgt. Das gemeinsame Besprechen und Planen der anstehenden Arbeiten •
295
qualifiziert die bisher von den Planungsprozessen ausgeschlossenen MitarbeiterInnen, indem es einen größeren Überblick ermöglicht und damit eine breitere Grundlage für eigenverantwortliches Mitdenken schafft (und damit auch die notwendige Abkehr von der traditionellen Arbeitsteilung möglich macht)
Kontinuierlicher Verbesserungsprozess
240
•
Betriebsfallstudie
verbessert – wie von fast allen gewünscht – den Informationsfluss in beide Richtungen: die MitarbeiterInnen können ihre Fragen und Anliegen direkt mit ihrem/r MeisterIn klären und die GärtnermeisterInnen bekommen (wieder) mehr Informationen aus erster Hand und können ihrerseits Informationen direkt weitergeben
•
soll dabei mithelfen, die Reviergrenzen noch durchlässiger zu machen und den Teamgeist in den Meisterbereichen (weiter) zu stärken.
Hinter dieser Form der Gruppenarbeit steckt wie oben bereits angesprochen auch die vom HdA-Gedanken296 inspirierte Intention, den Arbeitsprozess vermehrt in einen Partizipationsprozess zu überführen und zumindest auf operativer Ebene auf eine stärkere Demokratisierung hin zu wirken. Wenn produktionsbezogene Entscheidungen diskursiv – unter verbindlicher Beteiligung der Betroffenen – gefällt werden, können sich die bisherigen BefehlsempfängerInnen emanzipieren und qualifizieren. Die erzwungene Verschlankung der Aufbauorganisation sollte meiner Meinung nach genutzt werden, um eine leistungsförderliche Arbeitsorganisation einzuführen, in der ein Großteil der Belegschaftsintelligenz, d.h. das praktische Erfahrungswissen, nicht länger brachliegt.297 Schlanke Strukturen bieten die Chance der Abkehr von überkommener Arbeitsteilung und einem Abbau von tayloristisch determinierter Spezialisierung (vgl. Greifenstein et al. 1993, S. 329 f.). Dadurch sollen die oftmals einseitig eingesetzten Beschäftigten zu multifunktionalen Arbeitskräften mit einem breiten Erfahrungswissen werden. Dieses Arbeitsorganisationsmodell ist m.E. auch ein Beispiel für die von Bosetzky & Heinrich (1989) propagierten kooperativen Modelle, die als Gegenmodelle zur bürokratischen Organisation und zum Abbau der damit verbundenen Nachteile (vgl. Abschnitt 2.1) unter verschiedenen Bezeichnungen diskutiert und durch folgende Merkmale bestimmt werden können: •
296
297
Kurzfristig definierte Positionen und Rollen sowie Verteilung von Kompetenzen und Aufgaben von Fall zu Fall auf besonders spezialisierte und am wenigsten ausgelastete Mitarbeiter bei provisorischen Steuerungssignalen des Koordinators (statt dauerhafte Formalisierung der Arbeit und konditionale Programmierung der Mitarbeiter);
Staatliches Förderprogramm “Humanisierung des Arbeitslebens” – 1974 vom damaligen Bundesforschungsministerium initiiert. Vgl. dazu auch Wiegand (1997), Becker (2002)
Die Reorganisation
241
•
umfassende Kenntnisse und Fertigkeiten aller Organisationsmitglieder, so dass prinzipiell und nach kurzer Einarbeitungszeit jeder jede Rolle überneh-
•
Kontrolle durch den Arbeitsfluss, die Kollegen und die Fachöffentlichkeit (Ergebniskontrolle) und vor allem Innensteuerung mit Hilfe internalisierter Kontrollmechanismen (statt Kontrolle durch einen Vorgesetzten);
•
wichtige Entscheidungen werden in Kollegien oder unter Beteiligung aller getroffen, während die Koordinierung der laufenden Arbeit durch einen gewählten Koordinator oder Koordinierungsausschuss besorgt wird (statt Allgemeinentscheidungsvollmacht eines Vorgesetzten);
•
nur eine instabile Schichtung aufgrund fachlichen Könnens mit einem Primus inter pares auf begrenzte Zeit (statt stabile Hierarchie);
•
Kommunikation nach Bedarf (statt dauerhaft festgelegten Kommunikationskanäle);
•
Benutzung der Kommunikationswege zur Weitergabe von Sachinformationen, Ratschlägen etc. (statt zur Übermittlung von Befehlen von oben nach unten und von Vollzugsentscheidungen von unten nach oben);
•
wichtige Informationen sind allen zugänglich und die Informierung anderer erfolgt ohne Aufforderung (statt Informationsmonopolisierung an der Spitze);
•
Vorrang der mündlichen Kommunikation (statt schriftliche Fixierung aller Vor-
•
fließende und extensiv ausgelegte Verhaltensnormen (statt erschöpfende Disziplinarordnung) (vgl. Bosetzky & Heinrich 1989, S. 61).
men kann (statt enge Spezialisierung);
gänge);
Voraussetzung für diese neue kooperative Form der Arbeitsorganisation ist jedoch, dass Macht und Einfluss neu verteilt werden. Bisher gültige Spielregeln wie Befehl und Gehorsam in klaren Über- und Unterordnungsverhältnissen werden kontraproduktiv. Nur durch mehr (kontrollierte) Autonomie der Beschäftigten und eine Enthierarchisierung können die Ziele erreicht werden. Dabei müssen sich insbesondere die (verbleibenden) unteren Hierarchieebenen, d.h. die ReviergärtnerInnen und GärtnermeisterInnen umorientieren und eine mehr beratende und koordinierende Rolle einnehmen. Wie jede Partizipation braucht allerdings auch dieser Prozess Zeit – und Zeit ist im Reorganisationsprozess der ZE BGBM knapp (vgl. Greifenstein et al. 1993, S. 333). Daher werden unter Zeitdruck Fakten geschaffen,298 bevor die Beschäftigten von den möglichen Vorteilen überzeugt werden können. Die Einwände der Beschäftigten sind
298
nach dem Motto: „Genug geredet, jetzt wird gehandelt!“
242
Betriebsfallstudie
noch nicht ausgeräumt und die („wie üblich“) intransparenten Personalentscheidungen bestätigen für viele der Betroffenen ihre Befürchtungen, dass auch diese Neuerungen für sie (wieder nur) Verschlechterungen bedeuten. Aus Sicht der Beschäftigten ist es nachvollziehbar, dass dieses Vorgehen Unruhe und Unmut im gärtnerischen Bereich auslöst. Aufgrund der Stimmungslage werden die Beschäftigten von der Gartenleitung Ende Januar 2005 zu Informationsveranstaltungen299 über den Stand der Reorganisation eingeladen. Den MitarbeiterInnen werden das neue Organigramm, Auszüge aus dem neuen Geschäftsverteilungsplan, die im voran gegangenen Abschnitt erläuterte neue Arbeitsorganisation und die weiteren Arbeitsschritte zur Erstellung eines Personalentwicklungsplans vorgestellt und mit ihnen besprochen. Um die Wogen zu glätten und die MitarbeiterInnen zu beruhigen, versuchen die mit Beschwerden konfrontierten Führungskräften in den nächsten Wochen abzuwiegeln. Dies wird offensichtlich von vielen Beschäftigten als Signal verstanden, einfach so weiter zu machen wie bisher. Formal sieht der neue Geschäftsverteilungsplan im Mai 2005 nach einigen Nachbesserungen folgende Revierbesetzungen vor:
299
je Meisterbereich eine Veranstaltung
Die Reorganisation
Bereich/Revier IA1 Schutzsammlungen Wissenschaftlerkulturen Samendienst, Kursmaterialien, Akzessionierung Arbeitsgruppe I A 1 IC1 Großes Tropenhaus Bromelien, trop. Nutzpflanzen, Orchideen Kl. Tropenhaus, Farne, Begonien Victoriahaus, trop. Sumpfpflanzen Arbeitsgruppe I C 1 IC2 Kakteen und and. Sukkulenten Australien, S-Afrika, Insektivoren O-Asien, Schmuckpfl.anzucht, Aquarienpflanzen Mittelmeergebiet Arbeitsgruppe I C 2 IC3 Arboretum, Baumschule Arbeitsgruppe: Bäume, Wiesen, Wege Pflanzensystem, Arzneipflanzen, Nutzgarten Sumpf- und Wassergarten Arbeitsgruppe I C 3 IC4 Pflanzengeografie:SkandinavienIberien Pflanzengeografie: Griechenl.Himalaya Pflanzengeografie: JapanNordamerika Pflanzengeografie: Anzucht Arbeitsgruppe I C 4 Service-Bereich Schmuckanlagen Duft- und Tastgarten Summe:
243
RG
Gä
1 1
2 0,5 1 0,5
1 1
1 1
1 1
1 1 5
1 1 1
1 1 1
1
1 2
1 1
1
1
1
1
1 0,5
SGA300
KF
1
2
1
1
1
1
1
1
1
1
1 2,5 1
1 19
GFA/GA
30
3,5
5 2 2 16,5
3
0
3
Abbildung 49: Revier- und Stellenbesetzung Mai 2005 (nur BGBM-MitarbeiterInnen) (Quelle: BGBM 2005, eigene Darstellung)
Hier wird die Umsetzung der neuen Ablauforganisation sichtbar. Im Vergleich zum Revierplan 2003 (vgl. Abb. 28) sind für jedes Revier nur noch zwei fest zugeordnete
300
Die im Revierplan 2003 noch aufgeführten Saisonkräfte waren schon 2004 aus Kostengründen ersatzlos gestrichen worden.
244
Betriebsfallstudie
PflanzenspezialistInnen (ReviergärtnerIn und StellvertreterIn) vorgesehen, die restlichen MitarbeiterInnen gehören einer Arbeitsgruppe an, die für den ganzen Meisterbereich zuständig ist und dem/der jeweiligen GärtnermeisterIn untergeordnet ist. Mit diesem Modell soll einerseits die notwendige Flexibilität geschaffen und andererseits die ebenfalls benötigte Motivation und Verantwortungsübernahme durch regionale Bindung erhalten werden. Zwei Warmhausreviere werden nach dem Ausscheiden einer der beiden ReviergärtnerInnen zusammengelegt. Die Schmuckanlagen und Eingangsbereiche sowie der Bauerngarten und der Duft- und Tastgarten werden dem Service-Bereich zugeordnet. Durch die Übernahme dieser und einiger anderer Aufgaben durch den Service-Bereich sollen die Reviere deutlich entlastet werden und die verbleibenden Kapazitäten auf die Kernkompetenzen (wissenschaftliche Lebendsammlungen) konzentriert werden. Wie nach den Workshop-Ergebnissen zu erwarten war, gibt es erhebliche hierarchieübergreifende Widerstände bei der Umsetzung der neuen Aufbau- und Ablauforganisation. Die MitarbeiterInnen fühlen sich weiterhin in erster Linie ihren Revieren zugehörig und haben insbesondere große Vorbehalte gegen die gemeinsamen Arbeitsbesprechungen. Diese Besprechungen sollen am Beginn der Umsetzungsphase nicht nur zur gegenseitigen Information und für die gemeinsame Arbeitsplanung, sondern im Sinne einer Teambildungsmaßnahme auch zur Klärung der anfänglichen Schwierigkeiten und Probleme genutzt werden.301 Trotzdem werden die gemeinsamen Arbeitsbesprechungen „aus Zeitmangel“ je nach Meisterbereich höchstens alle zwei Wochen durchgeführt.302 Durch den langen Turnus werden die Besprechungen sowohl zeitintensiv als auch ineffektiv und die (oftmals kurzfristig nötigen) Arbeitsabsprachen können weiterhin nicht gemeinsam gemacht werden. Die in der Umsetzungsphase von Seiten des Projekts gemachten Unterstützungsangebote (z.B. Moderation der Arbeitsbesprechungen) zur Initiierung der neuen Aufbau- und Ablauforganisation werden nur wenig in Anspruch genommen und/oder werden z.T. dazu genutzt, den angestauten Unmut kund zu tun. Statt sich – im Sinne der Korrekturpartizipation – auf die konkrete Ausgestaltung der eigenen Arbeitsorganisation zu konzentrieren, werden Zeit und Energie darauf verwendet, sich mit der „Konkurrenz“ zu beschäftigen. Die MitarbeiterInnen des Service-Bereichs werden scharf beobachtet, um den Entscheidungsträgern nachweisen zu können, dass die Privatfirma vielleicht kostengünstiger, aber dafür qualitativ schlechter arbeitet. Umgekehrt passiert dies allerdings auch – die MitarbeiterInnen der Fremdfirma pflegen z.T.
301 302
Hier hätten auch die in den Workshops begonnenen Diskussionen fortgeführt werden können. Die einzige Ausnahme ist der Service-Bereich: hier findet täglich eine kurze Arbeitsbesprechung statt.
Die Reorganisation
245
ebenfalls ihre Vorurteile gegenüber den bekanntermaßen „faulen und teuren sowie reformresistenten“ Beschäftigten im öffentlichen Dienst. Daher hat die Aufspaltung der Belegschaft meiner Wahrnehmung nach in dieser Phase einen gewissen „Wagenburgeffekt“ auf beiden Seiten. Mit der Umsetzungsphase startet eben auch der „Kampf der Systeme” (Privatwirtschaft versus öffentlicher Sektor), in dem sich Privatisierungsbefürworter und -gegner zunächst unversöhnlich gegenüber stehen. Der Riss geht durch alle Hierarchieebenen. Gemäß meinem Rollenverständnis versuche ich, zwischen den beiden Lagern zu vermitteln und mich nicht von einer Seite vereinnahmen zu lassen. Damit gerate ich aber zwischen die Fronten und werde letztlich von allen als Verbündete der Gegenseite und damit (potentielle) Gegnerin betrachtet.303 Auf den anhaltenden Widerstand in der Umsetzungsphase reagiert das Topmanagement mit Dienstanweisungen zur ordnungsgemäßen Umsetzung der neuen Aufbau- und Ablauforganisation sowie mit weiteren Versetzungen in den ServiceBereich (die Arbeitsgruppe „Bäume, Wiesen, Wege“ und die „Kraftfahrer“).
5.3.6.3 Betriebliche Anpassungsqualifizierung Das wissenschaftliche Begleitprojekt bietet in der Umsetzungsphase weitere konkrete Hilfsmaßnahmen an, um die oben genannten Widerstände zu überwinden und die Folgen der Reorganisation zu bewältigen. Eine gravierende Folgewirkung der Reorganisationsmaßnahmen ist beispielsweise die bei vielen Personalabbauprozessen zu beobachtende Zerstörung von gewachsenen und unter den vorherigen Bedingungen bewährten Arbeitsbeziehungen und Kommunikationsstrukturen. Darüber hinaus erfordern das Anfang 2005 in Kraft gesetzte Organigramm und die neue Arbeitsorganisation eine grundlegende Neuorientierung sowohl auf individueller Ebene als auch auf der Ebene der Arbeitsgruppen. Die MitarbeiterInnen eines Meisterbereichs sollen gemeinsam mit den Vorgesetzten festlegen, wo und wie die knapper werdenden Ressourcen effektiv und effizient eingesetzt werden können bzw. müssen, um die qualitativen und quantitativen Arbeitsziele noch zu erreichen. Der Neuaufbau von tragfähigen Kooperationsbeziehungen einerseits und die aus der neuen Arbeitsorganisation erwachsenen gestiegenen Anforderungen an die Flexibilität und die fachlichen und sozialen Kompetenzen andererseits sind zeit- und arbeitsaufwändig und zumindest für einen Teil der Beschäftigten Angst besetzt. Zur erfolgreichen Bewältigung all dieser mit dem Veränderungsvorhaben verbundenen Anforderungen sollen die dazu benötigten Fach-, Methoden- und Sozialkompetenzen vermittelt werden.
303
Während mir die einen vorwerfen, dass ich mich „zur Steigbügelhalterin des Kapitalismus“ machen lasse, bezeichnen mich die anderen als „Sozialromantikerin“.
246
Betriebsfallstudie
Auf der individuellen Ebene muss zum einen das Fachwissen (z.B. Pflanzenkenntnisse, Arbeitstechniken) revierübergreifend verbreitert werden, zum anderen muss die Kooperations- und Teamfähigkeit weiterentwickelt werden. Auf der Gruppenebene bedarf es einer gemeinsamen Neuorientierung, die auch die Vorgesetzten mit einbezieht. Erst wenn die neuen Gruppenstrukturen wieder tragfähig sind und die Regeln für die neu zu gestaltende Kooperation ausgehandelt sind, kann eine funktionierende Zusammenarbeit unter den neuen Bedingungen stattfinden. Die dünner werdende Personaldecke macht es erforderlich, dass jeder einzelne Mitarbeiter möglichst selbständig und verantwortungsvoll arbeitet und zwar sowohl bei der Planung als auch bei der Ausführung seiner Arbeitsaufgaben. Daraus ergeben sich auch neue Anforderungen an die Führungskräfte. Insbesondere die GärtnermeisterInnen und die ReviergärtnerInnen als direkte Vorgesetzte bzw. Fachaufsicht kommen in den neuen Strukturen nicht umhin, ihre Rolle zumindest teilweise neu zu definieren (beispielsweise in Richtung ModeratorIn und Coach).304 Statt Fremd- und Ablaufkontrolle muss mit Hilfe von Motivation und Delegation vermehrt auf Selbst- und Ergebniskontrolle orientiert werden. Mit Hilfe einer Ist-Analyse der Kompetenzprofile und Entwicklungswünsche aller MitarbeiterInnen im gärtnerischen Bereich der ZE BGBM durch das Begleitprojekt soll im weiteren Verlauf eine erste Grundlage geschaffen werden, um den konkreten Qualifizierungsbedarf305 zu identifizieren. Nach der Auswertung dieser Ist-Analyse und der Festlegung eines Soll-Zustands soll ein Personalentwicklungsplan erarbeitet werden. Hier muss es in erster Linie um die Höherqualifizierung der NachrückerInnen auf die in absehbarer Zeit freiwerdenden Stellen (durch in den Ruhestand gehende ReviergärtnerInnen) gehen, um einem Kompetenzverlust vorzubeugen. In zweiter Linie sollten auch die freiwerdenden Stellen der NachrückerInnen wiederum qualifiziert besetzt werden, woraus sich ebenfalls Qualifizierungsbedarf ergibt. Last but not least sollten alle MitarbeiterInnen, die flexibler eingesetzt werden sollen – wie oben schon erwähnt – für den Einsatz auf anderen Arbeitsplätzen qualifiziert werden. Dies betrifft insbesondere auch die bisher wenig qualifizierten GartenarbeiterInnen, die voraussichtlich aufgrund der in Zukunft verstärkt auftretenden Personalengpässe bei Bedarf zeitweilig auch höher qualifizierte Aufgaben übernehmen müssen bzw. dürfen. Zur Erhebung der Kompetenzprofile wird die schon für die Zeitbudgetanalysen erstellte Tätigkeitsliste angepasst und um ein weiteres Blatt für die Dokumentation der Aus- und Weiterbildungen, der beruflichen Erfahrungen, der betrieblichen Einweisungen und Funktionen ergänzt (vgl. Anhang 3).
304
305
Zu den veränderten Haltungen, Rollen und Instrumenten im Rahmen von Gruppenarbeit vgl. exemplarisch Wippermann (2008, S. 41 ff.). sowohl betriebliche als auch individuelle Erfordernisse
Die Reorganisation
247
Im Rahmen von Einzelinterviews wurde die Selbsteinschätzung der MitarbeiterInnen zu folgenden Punkten erfragt: •
Welche Tätigkeiten beherrschen Sie ohne Anleitung - und in welchen Revieren (vor allem des Meisterbereichs in dem Sie arbeiten)?
•
Welche Tätigkeiten können Sie mit Anleitung - und in welchen Revieren (vor allem des Meisterbereichs in dem Sie arbeiten) - übernehmen?
•
Welche Ausbildungen und welche Berufserfahrungen haben Sie (wo gesammelt)?
•
Welche Dienstreisen, Fort- und Weiterbildungen haben Sie schon gemacht?
•
Für welche Geräte, Maschinen und Fahrzeuge haben Sie eine Einweisung?
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Welche betrieblichen Funktionen haben Sie inne (z.B. Sicherheitsbeauftragte/r, Erst-Helfer/in)?
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Welche Entwicklungs- und/oder Qualifizierungswünsche haben Sie persönlich oder aus betrieblichen Gründen?
Diese halbstrukturierten, ca. einstündigen Interviews wurden mit 48 MitarbeiterInnen persönlich geführt (zwei MitarbeiterInnen wurden nicht persönlich befragt, weil sie kurz vor der Verrentung standen). Dass sich das Betriebsklima verschlechtert hat und das Misstrauen seit der ersten Analysephase auch dem wissenschaftlichen Begleitprojekt gegenüber gestiegen ist, wird an den 23 Beschäftigten deutlich, die ein Interview mit mir – ohne Angabe von Gründen – ablehnten (darunter ein kompletter Meisterbereich). Wenn die MitarbeiterInnen nicht bereit waren, eine Selbsteinschätzung abzugeben (oder nicht selbst befragt wurden), wird eine Fremdeinschätzung durch die/den nächsthöhere/n Vorgesetzte/n vorgenommen.306 Ansonsten werden die Selbsteinschätzungen anschließend den jeweils zuständigen GärtnermeisterInnen vorgelegt, um grobe Selbstüberschätzungen oder -unterschätzungen von Seiten der MitarbeiterInnen zu identifizieren.307 Nach Beendigung der Erhebung wird mit Hilfe der Befragungsergebnisse eine Kompetenzmatrix pro Meisterbereich (zum einen für das ganze Team, zum anderen nur für die Arbeitsgruppe) erstellt, um den konkreten Qualifizierungsbedarf innerhalb der Arbeitsteams zu ermitteln. Obwohl auch hier die Ergebnisse z.T. kritisch betrachtet 306
307
In diesen Fällen sind die Angaben bezüglich Aus- und Weiterbildungen, Dienstreisen etc. sehr spärlich und es fehlen natürlich die persönlichen Entwicklungswünsche. Beim Vergleich der Selbst- mit den Fremdeinschätzungen fällt auf, dass sich die Beschäftigten differenzierter und kritischer einschätzen, als dies die Vorgesetzten tun, die wiederum stärker zwischen ihren (guten und weniger guten) MitarbeiterInnen differenzieren (vgl. Nerdinger 2003, S. 236 f.).
248
Betriebsfallstudie
werden müssen, da manche MitarbeiterInnen ihre Einsatzflexibilität (wahrscheinlich aus strategischen Gründen) entweder größer (bzw. meistens kleiner) dargestellt haben, als sie ist, bestätigten die GärtnermeisterInnen im Großen und Ganzen die Einschätzungen.308 Im Vergleich mit den Ergebnissen der Zeitbudgetanalysen fällt auf, dass ein Teil der MitarbeiterInnen angibt, mehr Tätigkeiten zu beherrschen und auch ausführen zu wollen, als sie tatsächlich ausführen dürfen. Dafür könnte es mehrere Erklärungen geben: es könnte beispielsweise daran liegen, dass die unter den gegebenen Rahmenbedingungen anfallenden Arbeiten keine andere Verteilung zulassen, es könnte aber auch sein, dass die bisherigen Machtverhältnisse in den Revieren und Meisterbereichen dafür verantwortlich sind (vgl. Abschnitt 6.1.1).309 Bei der Auswertung der Kompetenzmatrizes für die Meisterbereiche fällt zunächst wie erwartet auf, dass die Tätigkeiten (in Abhängigkeit von dem für die Ausführung erforderliche Qualifikationsniveau) mit steigendem Niveau nur noch von wenigen Beschäftigten beherrscht werden. Durch die nach oben hin lückenhafte Kompetenzverteilung zeichnen sich (drohende) personelle Engpässe in den Meisterbereichen bzw. deren Arbeitsgruppen ab. Der Ausfall von hoch qualifizierten LeistungsträgerInnen kann in einigen Bereichen dazu führen, dass bestimmte Tätigkeiten nicht ausgeführt werden können, da kein/e andere/r MitarbeiterIn die entsprechende Qualifikation besitzt. Diese Engpässe könnten durch die angestrebte teamorientiertere Arbeitsweise und einen flexibleren sowie qualifizierenden Arbeitseinsatz zukünftig vermieden werden. Ein weiteres – nicht untypisches – Ergebnis ist die Erkenntnis, dass die hochqualifizierten MitarbeiterInnen eher in den Genuss von Weiterbildungsmaßnahmen kommen, als die An- und Ungelernten (vgl. Düll & Bellmann 1999, S. 70 f.). Aufgrund der individuellen Entwicklungswünsche der MitarbeiterInnen und den feststehenden betrieblichen Erfordernissen kann ein erster Entwurf für einen Personalentwicklungsplan erarbeitet werden. Bei der Festlegung eines – für einen verbindlichen Entwicklungsplan notwendigen – zukunftsfähigen Soll-Zustandes310 in Form von aktualisierten Stellenbeschreibungen ergeben sich allerdings Schwierigkeiten. Zum einen herrscht keine Einigkeit über den generellen Sinn und Zweck von Stellenbeschreibungen, zum anderen ist der Reorganisationsprozess noch nicht abgeschlossen und die Arbeitsverteilung daher noch unklar. 308
309
310
Alle MitarbeiterInnen haben einen Ausdruck ihres Kompetenzprofils erhalten und hatten die Möglichkeit Korrekturen, Änderungswünsche oder bei Bedarf Aktualisierungen einfügen zu lassen. Von dieser Gelegenheit haben – wie zu erwarten – nur die Beschäftigten Gebrauch gemacht, die zu einer Selbsteinschätzung bereit gewesen waren. Mittel- bis langfristig wären meiner Meinung nach anknüpfend an diese Kompetenzprofile regelmäßige Personalentwicklungsgespräche erstrebenswert (dieser Wunsch wurde auch von einem Großteil der Beschäftigten im Rahmen der Interviews immer wieder geäußert). Zur Personalentwicklungsplanung vgl. exemplarisch Jung (2005, S. 252 ff.).
Die Reorganisation
249
5.3.6.4 Programm zur betrieblichen Gesundheitsförderung Nicht nur die ZE BGBM, sondern die ganze FUB sind seit mehreren Jahren von erheblichen Mittelkürzungen betroffen, die einher gehen mit schwierigen Umstrukturierungsmaßnahmen und erheblichem Personalabbau (vgl. Abschnitt 5.3). In dieser Situation haben Präsidium und Personalvertretung der Universität, zusammen mit allen betrieblichen Akteuren beschlossen, einen umfassenden Prozess der betrieblichen Gesundheitsförderung zu starten. Da neben den Fachkompetenzen auch die notwendigen Methoden- und Sozialkompetenzen für den Neuaufbau von tragfähigen Kommunikations- und Kooperationsbeziehungen vermittelt werden sollen, um Stress und Reibungsverluste zu minimieren, erarbeite ich in Zusammenarbeit mit der FUWeiterbildung ein Programm zur betrieblichen Gesundheitsförderung für die ZE BGBM. Anknüpfend an die oben (vgl. Abschnitt 5.3.6.3) ausgeführten Überlegungen sollen folgende Maßnahmen der Betrieblichen Gesundheitsförderung Bestandteil eines notwendigen Veränderungs-Managements sein. Mit dem Ziel, die Gesundheit und die Motivation der MitarbeiterInnen trotz der unvermeidlichen Umstrukturierung zu erhalten bzw. wiederzugewinnen, „innere Kündigungen“ zu vermeiden und die Beschäftigten in die Gestaltung des Wandels aktiv einzubeziehen: 1. Qualifizierungsreihe für die Vorgesetzten: Themenschwerpunkte: • Gesprächsführung und Sitzungsleitung • Teammanagement • Ziel- und Effektivitätsmanagement • Entstehung von und Umgang mit Konflikten • Systematische Personalentwicklung 2. Workshops für die Meisterbereiche: Themenschwerpunkte: • Effizienz der Arbeitsbesprechungen • Gegenseitige Hilfe und Unterstützung bei der Erfüllung der Aufgaben • Arbeiten im Team • Entstehung von und Umgang mit Konflikten • Problemlösung 3. Fachvorträge zur beruflichen Qualifikationsentwicklung des gärtnerischen Personals
250
Betriebsfallstudie
4. Ergonomie vor Ort: Kurzseminare mit Begehungen der Arbeitsbereiche und Beratung vor Ort 5. Zukunfts-Workshop "Wohin will sich die ZE BGBM entwickeln?"
Wie die anderen Unterstützungsangebote, können auch diese Maßnahmen nur dann erfolgreich sein, wenn sie nicht nur als kurzlebige Trouble-shooting-Aktivität betrachtet werden, sondern die dafür notwendige Unterstützung und Rückendeckung durch die Vorgesetzten gewährleistet ist. Das erfordert u.a. regelmäßige Mitarbeitergespräche, ein hohes Maß an Beteiligung der direkt Betroffenen und der jeweiligen Vorgesetzten sowie eine strategische Ausrichtung der gesamten Personalentwicklung (vgl. Riekhof 1995, Sp. 1709 ff.). Die Beschäftigten begrüßen zwar prinzipiell die Angebote zur Personalentwicklung, sprechen sich allerdings zu diesem Zeitpunkt vehement gegen mich als Referentin aus, da ich aufgrund meines „Vorwissens“ nicht neutral sei.
5.3.7 Zwischenfazit Das Gesamtprojekt ist in vielerlei Hinsicht vorbildlich verlaufen: ein Großteil der Einsparziele wurde bereits nach Ablauf eines Jahres erreicht und mit Hilfe der Berater und der wissenschaftlichen Begleitforschung wurde in derselben Zeit eine neue Aufbau- und Ablauforganisation erarbeitet. Dennoch scheinen viele der Beteiligten aus unterschiedlichen Gründen frustriert und enttäuscht zu sein. Als Zwischenfazit zum Stand der Reorganisation resümieren wir in unserem Abschlussbericht (vgl. Schramm & Reichel 2006), dass die Reorganisation auf der sachlichen Ebene (Einsparungen, Organigramm, Arbeitsorganisation etc.) zwar formal Fortschritte gemacht, aber der Lernprozess auf der psychologischen Ebene und damit die Umsetzung nicht Schritt gehalten hat.311 Damit zeigt sich ein weiteres Mal, dass es einfacher ist, Lösungen zu entwickeln, als zu implementieren. Dieses für komplexe Veränderungssituationen nicht untypische Phänomen nennen Vahs und Leiser (2004) „Realitätslücke“ (vgl. Abb. 50).
311
Seewald (2003, S. 44) unterscheidet in diesem Zusammenhang „Change“ und „Transition“. Change ist schnell, formell, äußerlich und bezieht sich auf veränderte äußere Ereignisse wie z.B. Verträge, Namensänderungen, neue Aufbau- und Ablauforganisation, Umsetzung von MitarbeiterInnen. Transition ist mittel- bis langfristig, informell, innerlich und betrifft den inneren Entwicklungsprozess, d.h. Werte, Haltungen, Gefühle und Verhalten.
Die Reorganisation
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Psychologische Ebene Lernprozess
Prozessstart (revolutionärer Akt)
Verhaltensänderung
„Realitätslücke“
Veränderungsprozess
Veränderungsergebnis
Organisationsänderung
Sachliche Ebene
Abbildung 50: Das Problem der „Realitätslücke“ (Quelle: Vahs & Leiser 2004, S. 103)
Auf der sachlichen Ebene wurden zwischen 2003 und 2005 im öffentlich-rechtlichen Bereich 36 Stellen (von 117 in 2003) abgebaut und die Aufbauorganisation neu strukturiert – in ein Cost Center Garten, die Gartenwissenschaft und den Servicebereich. Die erreichten Einsparungen betrugen bis Ende 2006 922.000 €. Hierin ist die Fremdvergabe von Leistungen enthalten. Durch die Überführung dieser Fremdvergabe in eine Betriebsgesellschaft (in Eigentum der FUB) in 2007 und die Übernahme weiterer Aufgaben sollen sich die Einsparungen noch auf ca. 1,2 Mio. € erhöhen. Eine Besonderheit ist dabei der Servicebereich. Hierbei handelt es sich um eine eigene Kostenstelle der ZE BGBM, die organisatorisch der allgemeinen Verwaltung der ZE zugeordnet ist. In ihm arbeiten öffentlich-rechtliche Beschäftigte mit den WerkvertragsarbeitnehmerInnen des privatisierten Bereiches unter einer Leitung zusammen. Er bildet gewissermaßen den Kern des geplanten Gemeinschaftsbetriebes (bestehenden aus Betriebsgesellschaft und Cost Center Garten). Der Rest der notwendigen Einsparungen soll u.a. durch die Erhöhung der Einnahmen und Energieeffizienzmaßnahmen erreicht werden. Das Einsparungspotenzial ist also beträchtlich, kann in vollem Umfang aber nur erreicht werden, wenn nur geringe Transaktionskosten (z.B. durch Qualitäts- und Koordinationsprobleme) anfallen.312 Inzwischen wurde von der Beratungsfirma auch konkretisiert, dass die Haushaltskonsolidierung und Reorganisation insgesamt in vier Phasen erfolgen soll:
312
Diese Kosten wurden bisher nie exakt berechnet und sind im Übrigen auch schwer zu beziffern.
252
Betriebsfallstudie
1. Phase: Stellenabbau und Fremdvergabe von Leistungen sowie Restrukturierung des öffentlich-rechtlichen Bereiches 2. Phase: Überführung der Fremdvergaben in eine Betriebsgesellschaft 3. Phase: Insourcing, d.h. Rückholung bereits fremd vergebener Leistungen in die Betriebsgesellschaft 4. Phase: Outsourcing, d.h. formale Privatisierung weiterer Leistungen Der Fallbeschreibung ist unschwer zu entnehmen, dass die Lernprozesse auf der psychologischen Ebene bei diesem Tempo bisher nicht mithalten konnten. Daher ist fraglich, wie nachhaltig die Fortschritte auf der sachlichen Ebene sind und welche Folgewirkungen der bisherige Reorganisationsprozess beispielsweise auf Motivation, Commitment und Leistungsbereitschaft der MitarbeiterInnen hat. Insbesondere im Hinblick auf ein für den zukünftigen Gemeinschaftsbetrieb unabdingbares konstruktives Zusammenarbeiten der Belegschaft(en) sind die Antworten auf diese Fragen zentral, aber zum jetzigen Zeitpunkt nur schwer abschätzbar. Ich bin der Auffassung, dass mein Fall ein Beispiel dafür ist, dass die Kosten nur unzureichender Implementierung von Reorganisationskonzepten auch Kosten der Fehleinschätzung der politischen Phänomene in Wandelprozessen bzw. von Kontrollillusionen hinsichtlich deren Beherrschbarkeit sind. Dies möchte ich mit der nun folgenden mikropolitischen Analyse des bis hierhin beschriebenen Reorganisationsprozesses belegen. Der Erkenntnisgewinn liegt nicht nur in einer Antwort auf die Frage nach dem Zustandekommen der Realitätslücke, sondern auch zur Gestaltung des weiteren Prozesses.
Die Reorganisation
253
6 Reorganisation als Machtspiel Auch die ZE BGBM kann in Anlehnung an Crozier & Friedberg (1993) als ein soziales Handlungssystem betrachtet werden, in dem die verschiedenen Interessen der Handelnden mit Hilfe formeller und informeller Regeln in geregelten Austauschbeziehungen austariert werden. Da es in Veränderungsprozessen immer (auch) um das Verändern dieser Regeln geht, kann man eine Reorganisation als Produktionsprozess eines neuen Regelsystems definieren. Im Gegensatz zu den Proklamationen der meisten betriebswirtschaftlichen Wandelansätze ist dieser Prozess allerdings keineswegs immer bewusst, intendiert und zweckrational, sondern nur begrenzt planbar und oftmals höchst überraschend (vgl. Abschnitt 2.4). Zu den Wesensmerkmalen aller politischen Prozesse gehört neben den Macht- und Interessenkonflikten auch deren emergenter Charakter. Ihre Dynamik entfaltet sich aus dem Zusammenwirken von intendierten und nicht intendierten Handlungen und Handlungsfolgen einer Vielzahl von AkteurInnen und Handlungsgelegenheiten, die ein einzelner Akteur nicht überblicken und vorhersehen kann (vgl. Schirmer 2000). Der im vorigen Kapitel dargestellte Blick hinter die Kulissen einer Reorganisation liefert bereits zahlreiche Anhaltspunkte für diese Thesen. Er lässt AkteurInnen und Interessengegensätze erkennbar werden, zeigt Konflikte bei der Verteilung von Gewinnen und Verlusten der Reorganisation auf und gibt einen Eindruck vom mehr oder weniger erfolgreichen Einsatz von Macht(-mitteln). Das Erreichen der Einsparziele ist alles andere als eine bloße Sachfrage, es ist bzw. wird zu einem neuen Politikfeld für die beteiligten Akteure. Und zwar eines, in dem in viel „roherer und brutalerer Weise“ (Crozier & Friedberg 1993) als im normalen Alltaggeschäft, die für dieses Machtsystem charakteristischen Machtverhältnisse zwischen den Akteuren hervortreten. Das Ziel der jetzt folgenden mikropolitischen Analyse des Reorganisationsprozesses ist weder das Aufzeigen von „Fehlern“ oder „Sündenböcken“, noch das Erarbeiten von (mikropolitischen) Handlungsanweisungen und Lösungsvorschläge. Es geht mir in erster Linie um ein realitätsadäquateres Verständnis des Reorganisationsverlaufs. Zwar ist auch meine mikropolitische Analyse (wie jede Analyse) nur eine begründete Konstruktion, aber eine, die von der Nahbeschreibung des Geschehens – wie sie die Falldarstellung geliefert hat – zurücktritt und den Blick theoriegeleitet auf grundlegendere Handlungs- und Beziehungsinteressen lenkt (vgl. Abschnitt 4.1).313 Aus diesem Verständnis können sich Ansatzpunkte für eine zukünftige „politikbewusstere“ Prozessgestaltung ergeben. Wie bei einer Einzelfallstudie üblich, können die Ergebnisse nicht repräsentativ sein. Da ich jedoch an bereits vorliegende Untersuchungs313
Was in meinem Fall auch eine selbstkritische Reflektion der Rolle und Vorgehensweise der Begleitforschung erforderlich machte.
254
Reorganisation als Machtspiel
ergebnisse zum Thema Reorganisation im öffentlichen Sektor anknüpfen kann (vgl. Abschnitt 3.4), werde ich im letzten Kapitel meiner Arbeit versuchen, diese in einen größeren Rahmen einzubinden. Die zentralen Fragen einer strategischen Organisationsanalyse sind zunächst einmal die nach den AkteurInnen, ihren Interessen und ihren Ressourcen. Ein wichtiges Ergebnis der Arbeiten von Bogumil & Kißler (1998a) ist die Erkenntnis, dass sich die Antworten auf diese Fragen im Prozessverlauf verändern. Auch ich werde den Regelproduktionsprozess in drei Phasen (Regelsetzung, Regelinterpretation und Regelimplementation) unterteilen und analysieren, wer in welcher Phase eine aktive Rolle spielen darf oder spielen kann (vgl. Abschnitt 3.4). Nur wer in diesem Prozess Definitionsmacht hat, gilt als AkteurIn, die anderen Handelnden sind Agierende oder (nur) Betroffene. Die Regelsetzungsphase ist in meinem Fallbeispiel mit dem Aussetzen des Präsidiumsbeschlusses zur Privatisierung des Gartens und der stattdessen ausgehandelten Haushaltsabsenkung abgeschlossen. Die Regelinterpretationsphase endet mit der Inkraftsetzung der neuen Aufbau- und Ablauforganisation am 01.01.2005. Ab diesem Zeitpunkt beginnt die Regelumsetzungsphase (vgl. Abb. 53). Auch in meiner Fallanalyse wird zu sehen sein, dass die Machtmittel der Beteiligten nicht nur ungleich verteilt sind, sondern auch in den unterschiedlichen Phasen variieren. Um die Interessen der Beteiligten erkennen zu können, muss man hinter die kurzfristigen und situationsspezifischen Handlungen und Motive (die manches Mal irrational erscheinen) blicken, um die längerfristigeren stabileren Handlungsorientierungen von AkteurInnen und Akteursgruppen zu identifizieren. In diesem Zusammenhang ist die Überlegung zentral, welche tatsächlichen interessenbezogenen Konsequenzen der Reorganisationsprozess für die Beteiligten hat. (Macht-)Interessen drücken nach Crozier & Friedberg (1993) immer den legitimen Wunsch der Beteiligten aus, ihre Handlungsfähigkeit zu verteidigen oder auszuweiten und liefern den Orientierungsrahmen für das Verständnis von Konflikt- und Handlungsmustern im vorliegenden Fallbeispiel. Dabei geht es nicht (nur) um individuelle Motive oder klischeehafte Funktions- und Rollenzuschreibungen, sondern um eine umfassende situationsspezifische Rekonstruktion von (rationalen) Akteursinteressen. Mit welchen Machtmitteln und -taktiken die Interessen durchgesetzt wurden bzw. durchgesetzt werden sollten, kann ich nur zum Teil rekonstruieren. Ich habe zwar an vielen Sitzungen teilgenommen und mich bemüht, mit möglichst vielen Beteiligten im Gespräch zu bleiben, aber ich konnte und durfte nur einen ausgewählten Teil des Geschehens beobachten. Neben den forschungsökonomischen spielen dabei auch
Die traditionellen AkteurInnen
255
machtpolitische Gründe eine Rolle. Auch in meinem Fallbeispiel gibt es – wie in jeder Organisation – eine sichtbare „Vorderbühne“ (im Sinne einer Betriebsöffentlichkeit) und eine nicht sichtbare „Hinterbühne“ (im Sinne von mehr oder weniger „geheimen“ Machtzirkeln, zu denen ich keinen Zutritt hatte), wobei die relevanten Entscheidungen oft auf letzterer getroffen werden (vgl. Iding 2000 und Abschnitt 4.2).
6.1
Die traditionellen AkteurInnen
Um verstehen zu können, welche Konsequenzen die in der Fallbeschreibung dargestellten Veränderungen auf das Machtgefüge und die Interessenlagen der Beteiligten in der ZE BGBM haben, werde ich zunächst die wichtigsten Akteure bzw. Akteursgruppen und ihre Machtpotenziale zu Beginn der Reorganisation 2004 skizzieren, bevor ich zur Analyse des Reorganisationsprozesses komme. Im Gegensatz zu anderen Einrichtungen des öffentlichen Dienstes mit typischem Behördencharakter, bestehen Hochschulen aus unterschiedlichen Einheiten mit spezifischen Strukturen und Kulturen (Fachbereiche, Institute, Lehrstühle, zentrale Verwaltung, zentrale Einrichtungen, Stabsstellen etc.). Die vergleichsweise diffusen Zielen hinsichtlich der Kernaufgaben Forschung und Lehre und die verschiedenen Steuerungsmechanismen – zentrale Steuerung durch staatliche Regeln und akademische Selbstverwaltung – bescheren Universitäten eine hohe Politikhaltigkeit (Ortmann 1995b, S. 112). In den demokratischen Hochschulgremien (z.B. Senat, Fachbereichs- bzw. Fakultätsräte) vertreten die verschiedenen Statusgruppen (ProfessorInnen, wissenschaftliche MitarbeiterInnen, VerwaltungsmitarbeiterInnen, Studierende) zwar ihre unterschiedlichen Interessen, haben im „Machtfeld Universität“ (Braun 2001, S. 246) aber letztlich weder gleichberechtigte Mitspracherechte noch vergleichbares Durchsetzungsvermögen.314 Tendenziell stehen sich der organisatorisch fragmentierte und relativ autonome akademisch-wissenschaftliche und der eher hierarchisch strukturierte verwaltend-dienstleistende Bereich gegenüber. Obwohl die hochqualifizierten WissenschaftlerInnen als zentrale Gruppe in Universitäten über ein hohes Maß an Autonomie und (ExpertInnen-)Macht verfügen, sind sie zugleich von zentralen Ressourcen und Finanzen – den wichtigsten Machtquellen der Administration und Leitungsebenen – abhängig (vgl. Rehling 2008, 181 ff.).
314
Zu diesen Mitspracherechten kommen noch die Mitbestimmungsrechte wie das Personalvertretungsrecht oder die Gleichstellungsgesetze (vgl. Rehling 2008, S. 23 ff.).
256
Reorganisation als Machtspiel
6.1.1 Ihre Ressourcen im Routinespiel Da (fast) alle Beschäftigten während meiner Analysephase noch mit den bis dahin üblichen Routinespielen beschäftigt waren, konnten viele davon mit Hilfe der erhobenen Daten rekonstruiert werden. Zwei dieser Routinespiele scheinen mir dabei besonders relevant: das „Renommee-Erhaltungs-Spiel“ (wir wollen auf jeden Fall der drittgrößte Botanische Garten der Welt bleiben) und das nicht nur im öffentlichen Sektor beliebte „Hierarchiespiel“ (der Kampf um Posten, Lohngruppen und Karrierechancen). Obwohl der Privatisierungsbeschluss des Präsidiums im Jahr 2003 ein Schock war, konnte dieser in einer gemeinsamen und erfolgreichen Kraftanstrengung zunächst einmal abgewehrt werden – die notwendigen Veränderungen schienen zu diesem Zeitpunkt noch in weiter Ferne. Aufgrund der formalen Entscheidungs- und Anweisungsbefugnisse ist die Macht in der ZE BGBM sehr asymmetrisch verteilt. Innerhalb der Zentraleinrichtung hat der leitende Direktor, dem die allgemeine Verwaltung und vier AbteilungsleiterInnen untergeordnet sind, die Organisationshoheit. Er ist damit der mächtigste interne Veto-Player, d.h. er verfügt über das Letztentscheidungsrecht auf allen Hierarchieebenen und macht davon auch zuweilen (im Konfliktfall oder um eigene Interesse durchzusetzen) Gebrauch. Seine Machtfülle kann im Routinespiel nur durch die Expertenmacht seiner Untergebenen und durch die Macht des Faktischen eingeschränkt werden. Als Universitätsprofessor gilt sein Interesse offensichtlich vor allem der Wissenschaft sowie dem Erhalt des wissenschaftlichen Renommees der ZE BGBM. Die Lebendsammlungen sind dabei vielleicht eher Mittel zum Zweck (insbesondere als Aushängeschild und als potentielle Ressource für Forschungszwecke) und er erwartet daher von seinen Untergebenen, dass sie möglichst störungs- und konfliktfrei – aber qualitativ hochwertig – bewirtschaftet werden. Aufgrund seiner Position steht er über dem Hierarchiespiel, ist aber in den Routinespielen für alle anderen Akteure einer der wichtigsten (da mächtigsten) Koalitionspartner. Im Konfliktfall versuchen die Konfliktparteien Einfluss auf seine Entscheidungen zu nehmen und hoffen auf ein Machtwort, das ihrer jeweiligen Sache zum Sieg verhilft. Die ihm als Stabsstelle untergeordnete Verwaltung besetzt mit den Themen Finanzen und Personal zwar zwei relevante Unsicherheitszonen, hat aber in beiden Bereichen einen eingeschränkten Handlungsspielraum. Sie ist einerseits von den Weisungen „von oben“ (leitender Direktor und allgemeine Verwaltung der FUB) abhängig und andererseits auf die Kooperation und Information „von unten“ angewiesen. Im Routinespiel hat sie daher einerseits eine vorwiegend verwaltende und wenig gestaltende Rolle, doch über ihren Einfluss auf die allokativen und autoritativ-
Die traditionellen AkteurInnen
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administrativen Ressourcen (vgl. Abschnitt 3.3.1) stehen ihr andererseits wichtige Herrschaftsinstrumente zu Verfügung. Genau genommen gibt es für die Verwaltung gemäß ihrer Funktion kein reines Routinespiel – sie gehört zu den kollektiven Akteuren, zu deren Aufgaben das Initiieren von Innovationsspielen gehört. Daher folgt sie in erster Linie einer Managementlogik (vgl. Ortmann et al. 1990), die sich zwar an vorgegebene bürokratische Regeln und Anweisungen halten muss, aber in Zeiten knapper Kassen vor allem an wirtschaftlicher Effizienz interessiert ist. Das wird beispielsweise an den bereits erfolgten Fremdvergaben (vor allem Kasse, Aufsicht, Wiesenmahd), den Vorgaben für die Materialbeschaffung oder den bereits gefällten Personalentscheidungen (z.B. Streichung der Stellen für SaisongartenarbeiterInnen) deutlich. Ihre Machtmittel sind vor allem Anweisungsbefugnisse, Sanktionsmacht bei personellen Entscheidungen, Informationsvorsprünge, Kontrollrechte, Budgetzuweisungen und Expertenwissen in Verwaltungsfragen. Während die Verwaltungsleitung u.a. durch ihre organisatorische Einbindung einen guten und kurzen Draht zur „Machtzentrale“ der ZE BGBM hat, ist das Verhältnis zum örtlichen Personalrat angespannt. Der Interessenvertretung wird von der Verwaltung eine in der Vergangenheit immer wieder wahrgenommene „Blockadehaltung“ gegenüber notwendigen Reformbemühungen nachgesagt. Die Vorbehalte beruhen auf Gegenseitigkeit – jede Seite wirft der anderen vor, die eigene Arbeit zu erschweren. Mikropolitisch betrachtet drückt sich darin der „Kampf zweier Logiken“ aus, der sich in einem von Ortmann et al. (1990) beschriebenen Wahrnehmungsund Handlungszirkel systematisch verfestigt. Die Verwaltung versucht ihre Pflicht zu tun, d.h. die Kosten zu senken und zwar – aufgrund der früheren als negativ bewerteten Erfahrungen – möglichst ohne den Personalrat daran zu beteiligen. Dieses Vorgehen wird vom Personalrat – ebenfalls aufgrund der früheren als negativ bewerteten Erfahrungen – als (weiterer) Beweis wahrgenommen, von der Verwaltung nicht ernst genommen und wenig in Entscheidungsprozesse eingebunden zu werden. Das daraus erwachsende steigende Misstrauen verstärkt auf Seiten des Personalrats das Bestreben, den Status quo zu verteidigen und fördert eine bremsende Politik. Die Verwaltung nimmt dieses Bestreben als „Blockadehaltung“ wahr und sieht sich dadurch wiederum in ihrer Auffassung bestätigt, was sie – angesichts derartig verkrusteter Strukturen – in ihrem Streben nach Reformen bestärkt (vgl. Abb. 51). Und so gerinnen Normen, Handlungsorientierungen sowie Wahrnehmungs- und Deutungsmuster langsam aber sicher zur Struktur: zu Regeln des Umgangs miteinander, die aufgrund ihrer beständigen Reproduktion durch das Handeln der Beteiligten, bald nicht mehr hinterfragt bzw. anders gedacht werden können (vgl. Ortmann et al. 1990, S. 469 f.). Wenn man davon ausgeht, dass die Qualität des kollektiven sozialen Dialogs im Betrieb davon abhängt, ob die etablierten Akteure (Management und Interes-
258
Reorganisation als Machtspiel
senvertretung), es schaffen, ihre „Rationalitäten“ aufeinander abzustimmen und die Kommunikation (Art, Umfang, Zeitpunkt und Ort des wechselseitigen Informationsaustausches) über die Richtung des Wandels der Arbeitsbeziehungen bestimmt (vgl. Greifenstein et al. 1993, S. 29 f.), dann sind die Chancen für einen konfliktarmen Wandel aufgrund dieser Voraussetzungen in der ZE BGBM offensichtlich nicht sehr günstig.
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Abbildung 51: Circulus vitiosus zwischen Kostensenkungs- und Besitzstandwahrungsinteressen (Quelle: eigene Darstellung, in Anlehnung an Ortmann et al. 1990, S. 470)
Während die Verwaltung gemäß ihrer Funktion in erster Linie einer Managementlogik (vgl. Ortmann et al. 1990) folgt, scheint sich der Personalrat ebenfalls gemäß seiner Funktion im Rahmen seiner formellen Rechte vor allem auf seine Schutzfunktion für die Beschäftigten zu konzentrieren. Er orientiert sich an sozialen Kriterien und Normen und seine sichtbaren Gestaltungsinitiativen zielen im Routinespiel folgerichtig auf die sozialen Belange, z.B. die Wiedereröffnung der Kantine oder die Organisation von Weihnachtsfeier und Betriebsausflug. Seine Macht speist sich zum einen aus den formalen Rechten, die das Personalvertretungsgesetz ihm zubilligt – dieses Machtpotenzial kann allerdings nur wirksam werden, wenn die Rechte entweder automatisch gewährt oder erstritten werden. Zum anderen aber auch aus dem individu-
Die traditionellen AkteurInnen
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ellen Machtpotenzial seiner Mitglieder, die allerdings nicht nur ihr Wissen und ihre Beziehungen, sondern auch ihre Eigeninteressen mit einbringen. D.h. je nach Zusammensetzung des Gremiums werden in Abhängigkeit von den Prioritäten der beteiligten Akteure unterschiedliche Themen, Herangehensweisen und Verhandlungsstrategien eine Rolle in der Personalratsarbeit spielen. Da nicht nur der örtliche Personalrat, sondern auch der Gesamtpersonalrat der FUB seine Räume im Gebäude der Garteninspektion hat, werden diese kurzen Wege in gravierenden Problemfällen auch genutzt, um hier zusätzliche Unterstützung einzuholen. Das Machtpotenzial der Führungskräfte der Abt. I „Garten“ (mittlere und untere Führungsebene) speist sich ebenfalls als legitimierte Autorität zunächst aus den formalen Entscheidungs- und Anweisungsbefugnissen, die sich aus den hierarchischen Unterstellungsverhältnissen ergeben. Die mittleren und unteren Führungskräfte können daher in den Routinespielen insbesondere die Informations- und Kommunikationskanäle kontrollieren sowie die Organisationsregeln zur Sanktionierung und Gratifikation von MitarbeiterInnen nutzen, aber auch Expertenwissen weitergeben oder vorenthalten. Der Handlungsspielraum der Vorgesetzten im Botanischen Garten ist jedoch einerseits durch die Machtfülle des leitenden Direktors und die langen, umständlichen Dienstwege bis zur Verwaltung der FUB (z.B. in Personalfragen), andererseits durch die vom gärtnerischen Personal beherrschten Ungewissheitszonen auf der fachlichen Ebene (s. unten) eingeschränkt. Aufgrund seiner Stellung im institutionellen Kontext steht das mittlere und untere Management zwischen dem Topmanagement und seinen Anforderungen von oben und dem Produktions- und Arbeitsprozess mit seinen Ansprüchen von unten. Die Abteilungs- und Gartenleitung ist einerseits regelmäßig eingebunden in die Besprechungsrunden „oben“ im Botanischen Museum, sitzt mit den GärtnermeisterInnen aber „unten“ in der Garteninspektion. D.h. sie nehmen u.a. an der wöchentlich stattfindenden Besprechung der AbteilungsleiterInnen mit dem leitenden Direktor teil und geben die Informationen alle vierzehn Tage in der Meisterrunde an die GärtnermeisterInnen und den Betriebsingenieur weiter. Die MeisterInnen wiederum stehen zwischen Abteilungs- und Gartenleitung und ihren MitarbeiterInnen in den Revieren. In ihren Meisterbereichen können sie allerdings eher als „Primus inter pares“315 verstanden werden, da sie – im Gegensatz zu ihren eigenen akademischen Vorgesetzten – nicht zuletzt aufgrund ähnlicher Sozialisationsverläufe und daraus resultierendem Erfahrungswissen mehr Gemeinsamkeiten mit ihren Untergebenen haben. Sie befinden sich in einer typischen Sandwichposition: Von ihren Vorgesetzten werden
315
lat. „Erster unter Gleichen“
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ihnen immer mehr (administrative) Aufgaben aufgebürdet, von ihren MitarbeiterInnen kommen immer mehr Klagen über sich verschlechternde Arbeitsbedingungen. Sie haben das Gefühl an dieser Situation wenig ändern zu können, zumal sie sich aufgrund der vakanten Meisterstelle von der anfallenden Mehrarbeit zusätzlich belastet fühlen. Beiden Führungsebenen gemeinsam ist die Doppelbindung ihres Handelns an der Schnittstelle zwischen strategischer und operativer Sphäre und deren Einfluss auf ihre Beziehung zu ihren MitarbeiterInnen („Sandwichposition“). Die von zahlreichen Umwelteinflüssen abhängigen gärtnerischen Arbeiten lassen auf der operativen Ebene eine feste Arbeitsteilung, ein dauerhaftes System von Regeln und Richtlinien sowie eine detailliierte Routineprogrammierung gar nicht zu. Daher müssen das „Was“, das „Womit“, das „Wann“ und das „Wie lange“ der wahrzunehmenden Aufgaben relativ unbestimmt bleiben,316 was eine formale Steuerung und Kontrolle immens erschwert. Unter diesen Bedingungen kann die Aufgabenerledigung ohne ein Minimum an Konsens und Kooperationsbereitschaft von Seiten der MitarbeiterInnen nicht gewährleistet werden. Dies wird beispielsweise im Falle der GärtnermeisterInnen durch die Ergebnisse der Subjektiven Arbeitsanalyse belegt, die zeigen, dass die ihnen untergebenen ReviergärtnerInnen einen besseren Überblick über die Arbeits- und Personalsituation haben und daher Entscheidungen ohne deren Mitarbeit zumindest wesentlich schwieriger sind. Daher wird die formale Steuerung m.E. ergänzt durch eine Personalisierung und Emotionalisierung der Arbeitsbeziehungen. Die mittleren Führungskräfte erwarten von ihren MitarbeiterInnen zwar auch fachliche Kompetenzen, aber mindestens ebenso wichtig sind Engagement, Loyalität, Flexibilität und Kooperationsbereitschaft. Neben Ergebniskontrolle, Aufgabenverteilung, Informationsaustausch und fachlicher Hilfestellung spielen in der Zusammenarbeit mit den Mitarbeiterinnen daher auch Fragen der Motivation, der Arbeitszufriedenheit und der sozialen Kohäsion innerhalb der Arbeitsgruppe eine wichtige Rolle. Da sich umfassende Reziprozität, Vertrauen und Kommunikation allerdings nur in relativ herrschaftsfreien Beziehungen entfalten können, wird die Herrschaftsstruktur abgeschwächt. So werden vor allem die Anweisungen und Befehle an die (qualifizierten) LeistungsträgerInnen beispielsweise als Bitten oder Ratschläge geäußert und Entscheidungen in vielen Fällen gemeinsam gefällt.317 Als „weiche“ Kontrollstrategien werden oftmals die von Crozier & Friedberg (1993) beschriebenen Kompensationsgeschäfte – Gestaltungsmöglichkeiten gegen leistungskonformes Verhalten – eingesetzt (vgl. Abschnitt 3.2.2). Verhalten sich die Mit316 317
Daraus ergeben sich dann auch die Ungewissheitszonen des gärtnerischen Personals. Das ist nach Bosetzky & Heinrich (1989) ein Kennzeichen „kameradschaftlicher Bürokratie“ (vgl. Abschnitt 2.1).
Die traditionellen AkteurInnen
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arbeiterInnen vorgesetztenkonform und leistungsbereit, dann werden die Zügel locker gelassen, d.h. die Kontrollen werden reduziert und über kleinere Regelverstöße wird hinweg gesehen. Wird der/die Untergebene dagegen als leistungsunwillig oder aufmüpfig eingeschätzt, erhöhen die Vorgesetzten den Druck, d.h. Aufträge oder bürokratische Regeln werden zuungunsten des Mitarbeiters ausgelegt und damit seine Freiräume eingeschränkt. Weder die Abteilungs- und Gartenleitung, noch die GärtnermeisterInnen können es allerdings riskieren, dass sich ihre Untergebenen auf einen „Dienst nach Vorschrift“ zurückziehen. Da sie zur Erfüllung der Vorgaben auf die Kreativität, das Engagement und die Flexibilität ihrer MitarbeiterInnen angewiesen sind, haben sie Interesse an einer harmonischen Arbeitsbeziehung, die von Commitment, Vertrauen und einer gewissen Solidarität geprägt ist. Das erreichen sie nur, wenn sie es schaffen, ihre Wünsche und Vorstellungen mit denen ihrer MitarbeiterInnen „unter einen Hut zu bringen“. Daher ist die Position der mittleren Führungskräfte mit einer gewissen Pufferfunktion verbunden, die nicht nur die unmittelbaren Arbeitsbeziehungen, sondern letztlich den gesamten institutionellen Kontext stabilisiert. Die mittleren Führungskräfte sind Vorgesetzte und Teammitglied zugleich und können deshalb als „Rückrat der Organisation“ betrachtet werden (vgl. Göbel 1999, S. 132 ff.). Das gärtnerische Personal in den Revieren der ZE BGBM ist aufgrund der immensen Artenvielfalt zumeist hoch spezialisiert. Daraus ergibt sich ein vergleichsweise großes Machtpotenzial im Routinespiel, da die Ungewissheitszonen – die die Beschäftigten durch ihr organisatorisches und fachliches Erfahrungswissen beherrschen – umfangreich sind. Die fachlich-inhaltlichen Ungewissheitszonen werden, wie oben bereits erwähnt, durch die mangelnde Planbarkeit von gärtnerischen Arbeitsabläufen (z.B. aufgrund von Witterungsabhängigkeit, unvorhersehbarem Schädlingsoder Krankheitsbefall) noch vergrößert. Dieses – nur zu einem kleinen Teil verschriftlichte und evtl. auch nicht schriftlich erfassbare – arbeitsbezogene und stoffliche Erfahrungswissen stellt eine wichtige Machtquelle für die Beschäftigten dar (vgl. Becke 2002, S. 41). Dies gilt insbesondere für die ReviergärtnerInnen, die bisher sowohl FachexpertInnen als auch VorarbeiterInnen sind und damit zumindest für ihren Bereich über ähnliche Machtressourcen wie die mittlere und untere Führungsebene verfügen. Auch die oben beschriebenen Steuerungs- und Kontrollmechanismen finden sich hier in abgeschwächter Form wieder. An der Auflistung der Aufgaben für die unterschiedlichen Hierarchieebenen im Geschäftsverteilungsplan (vgl. Abschnitt 5.2.2.2) wird deutlich, dass die beherrschbaren Unsicherheitszonen und damit die Machtbasen auf den niedrigeren Ebenen mit dem Entscheidungs- und Handlungsspielraum immer kleiner werden. Vom bisherigen
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Reorganisation als Machtspiel
Hierarchiespiel profitieren also augenscheinlich vor allem die ReviergärtnerInnen. Da die Position eines/r Reviergärtners/in nicht nur finanziell attraktiv ist, sondern innerhalb der ZE BGBM auch mit Expertenmacht und einem hohen Sozialstatus ausgestattet ist (vgl. Abschnitt 5.3.3.1), spielen fast alle GärtnerInnen dieses Spiel mit. Wer es schafft, sich im Laufe seiner Dienstzeit in einem Revier das notwendige Fachwissen anzueignen und sich durch entsprechendes Verhalten nicht unbeliebt zu machen, hat nach den bisherigen Spielregeln des Hierarchiespiels gute Chancen, mitteloder langfristig zum/zur ReviergärtnerIn aufzusteigen.
Auf der operativen Ebene ergeben sich aufgrund der unterschiedlichen Aufgaben eines Botanischen Gartens – Forschung, Lehre, Volksbildung, Arterhaltung und Erholung zu gewährleisten (vgl. Abb. 25) – weitere mikropolitisch nutzbare Regelungslücken, die von den Beschäftigten für ihre Interessen bezüglich Arbeits- und Reviergestaltung genutzt werden können. Da die verschiedenen „KundInnen“ auch unterschiedliche Interessen und Bedürfnisse haben318 können evtl. ganz eigennützige Ziele mit Verweis auf eine dieser Zielgruppen gerechtfertigt werden. Daraus ergeben sich im Routinespiel Freiräume und damit Ungewissheitszonen, die die formale Steuerung der oberen und mittleren Führungskräfte auf operativer Ebene zunächst beschränken, aber wie erläutert, als Verhandlungsmasse in den Kompensationsgeschäften genutzt werden können. Die für eine bürokratische Organisation typische, kaskadenförmig nach unten abfallende formelle Hierarchie wird also durch eine informelle Beziehungsstruktur mit zahlreichen Abhängigkeiten und Tauschbeziehungen ergänzt. Beides dient der Beherrschung der zentralen Ungewissheitszone im Routinespiel: dem Transformationsprozess von Arbeitsvermögen in Arbeit (vgl. Abschnitt 3.2.1). Diese Ungewissheitszone steht unter der Kontrolle der Vorgesetzten und Arbeitenden kraft ihres Expertenwissens sowie der Interessenvertretung kraft ihrer Regelungskompetenz. Was schon in einem reinen Verwaltungsapparat nicht funktionieren kann, ist in einem Garten erst recht dysfunktional: durch Vorgabe von bürokratischen Strukturen und Regeln lückenlos Komplexität reduzieren und Eindeutigkeit produzieren zu wollen. Trotzdem wird offensichtlich mehr Klarheit gewünscht – allerdings immer von den anderen: bereits in den Vorgesprächen mit der Verwaltungs- und Gartenleitung zeichnet sich eine gewisse Unzufriedenheit über die mangelnde Transparenz und Lenkbarkeit der Abteilung I ab, während sich das gärtnerische Personal über die unklaren Führungsstrukturen und vagen Zielvorgaben, die eine Reihe von Ziel- und Rollenkonflikten zur Folge haben (können), beklagt.
318
So sind zum Beispiel die wissenschaftlich wertvollsten Pflanzen oftmals für die BesucherInnen nicht besonders attraktiv, da sie beispielsweise nicht üppig blühen.
Die traditionellen AkteurInnen
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Im Anschluss an die Rekonstruktion der Routinespiele zeige ich im Folgenden auf, welche prinzipiellen Interessen sich für die beteiligten Akteure bzw. Akteursgruppen für das Innovationsspiel daraus ergeben. Ob sich diese Interessen im Prozessverlauf ändern und mit welchen Strategien sie durchgesetzt werden sollen, erläutere ich anhand der sich daran anschließenden mikropolitischen Analyse der drei Phasen des Regelproduktionsprozesses.
6.1.2 Ihre Interessen im Innovationsspiel Nachdem also bisher vor allem die eben beschriebenen Routinespiele gespielt wurden, steht die ZE BGBM durch den Privatisierungsbeschluss (vgl. Abschnitt 5.3) plötzlich vor einer existenziellen Krise und muss befürchten, im schlimmsten Fall vom drittgrößten Botanischen Garten der Welt zu einem innerstädtischen Park „degradiert“ zu werden. In dieser Situation versuchen die beteiligten Akteure ihre Handlungsfähigkeit – die naturgemäß vom Fortbestand der Organisation abhängt – zu verteidigen. Nach der mit Hilfe von massiven Protesten erstrittenen Kompromisslösung, den Privatisierungsbeschluss gegen die Zusicherung von Einsparungen und Reformen für zwei Jahre auszusetzen, wird von den wenigsten geleugnet, dass etwas passieren muss, aber was getan werden sollte und wie, bleibt umstritten. Ein extern begleitetes und breit angelegtes Modernisierungsprogramm (vgl. Abschnitt 5.3) soll dabei unterstützen, die ZE BGBM innerhalb dieser zwei Jahre grundlegend zu reorganisieren und damit das in den Nachverhandlungen durchgesetzte Sparziel zu erreichen. Mikropolitisch betrachtet, soll dieses „Projektspiel“ als Transmission der Innovation auf die Routine dienen (vgl. Abb. 52).
264
Reorganisation als Machtspiel
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ZŽƵƚŝŶĞƐƉŝĞů Abbildung 52: Projekte als Transmission der Innovation auf die Routine (Quelle: eigene Darstellung, in Anlehnung an Ortmann et al. 1990, S. 468)
Während die ReformerInnen im Projektspiel versuchen ein ihrer Meinung nach zur Rettung der Organisation notwendiges Innovationsspiel zu spielen, versuchen die RoutinespielerInnen ihre Besitzstände zu verteidigen. Ob und wie dies gelingt, hat zwar auch etwas mit kühl berechnendem Kalkül zu tun, aber mehr noch mit sozialen Aushandlungsprozessen, sich sukzessive ergebenden Handlungsoptionen, Mehrdeutigkeiten, nicht-intendierten Handlungsfolgen, der Wahrnehmung strukturinduzierter Interessen etc. Dies bitte ich beim Lesen der nun folgenden Herausarbeitung bzw. Zuspitzung der Interessenpositionen der zentralen AkteurInnen bzw. Akteursgruppen im Innovationsspiel bzw. Projektspiel stets zu berücksichtigen. Auch dieser Fall zeigt deutlich, dass meist ein ganzes Bündel von z.T. widerstreitenden Interessen im Spiel ist, was zu einer nur schwer durchschaubaren Politisierung der Reorganisation führt. Denn diese Interessenlagen beeinflussen den Reorganisationsverlauf, in dem es zwar auch, aber eben nicht nur um die Sache geht (vgl. exemplarisch Ortmann et al. 1990, Muhr 2004). Nicht nur die ZE BGBM wird durch die Finanzkrise in ein Innovationsspiel gezwungen, sondern die gesamte FUB. Da die Berliner Universitäten – nicht zuletzt aufgrund der desolaten Haushaltslage – nach der Wiedervereinigung in Konkurrenz zu einan-
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der stehen, liegt es nahe, dass das Präsidium ein Interesse daran hat, die Kürzungsauflagen des Landes Berlin möglichst vorbildlich zu bewältigen. Damit kann man vielleicht im Konkurrenzkampf punkten und sich persönlich als fähiges Management profilieren. Das wird aller Voraussicht nach nur gelingen, wenn die Kürzungen möglichst konfliktarm und geräuschlos über die Bühne gebracht werden können – nicht zuletzt, um Demotivation und Unruhe unter den Beschäftigten sowie schlechte Presse zu vermeiden. Der leitende Direktor der ZE BGBM hat in erster Linie ein Interesse daran, das Überleben „seiner“ Zentraleinrichtung und deren wissenschaftliches Renommee zu retten. In seiner Position als Veto-Player kann er es sich leisten, die Planung und Durchführung der dazu erforderlichen Maßnahmen zum Großteil an seine Verwaltung und die vom Kanzler bestellten BeraterInnen zu delegieren. Da er die Organisationshoheit innehat, kann er auf die unmittelbare und aktive Kontrolle über den Veränderungsprozess verzichten und sich stattdessen auf weichenstellende Entscheidungssituationen fokussieren. Die Verwaltungsleitung hat aufgrund ihrer bisherigen negativen Erfahrungen mit Reforminitiativen begründete Zweifel an der Reformwilligkeit und -fähigkeit der Beschäftigten und ihrer Interessenvertretung. Da die früheren Reformversuche weitgehend gescheitert sind, wird die sich bietende Handlungsgelegenheit ergriffen und daran (mit)gearbeitet, die Spielregeln im Sinne der Verwaltung neu zu definieren. Das ganze Reorganisationsvorhaben steht aufgrund der Vorgaben „von oben“ unter einem immensen Zeit- und Erfolgsdruck. Daher sind die Interessen – neben evtl. vorhandenen persönlichen Profilierungswünschen – in erster Linie auf das dafür notwendige rasche Erreichen der betriebswirtschaftlichen Ziele gerichtet. Die Unternehmensberatung, die die ZE BGBM mit ihrem Organisationsgutachten als Sanierungsfall definierte, hat sich mit ihrer zunächst gescheiterten Privatisierungsempfehlung bereits auf eine bestimmte Richtung des Veränderungsprozesses festgelegt. Sie wird direkt vom Kanzler – ebenfalls ein mächtiger Veto-Player – finanziert und ist ihm gegenüber rechenschaftspflichtig. Zwar muss sie in erster Linie das Kundeninteresse und damit das Erreichen der vorgegebenen Ziele im Auge haben, hat als Beratungsunternehmen aber darüber hinaus auch ein Existenzsicherungsinteresse über den aktuellen Beratungsfall hinaus. Daher liegt es nahe, dass sie sich mit der erfolgreichen Reorganisation auch als leistungsfähige und zuverlässige Expertin profilieren will, die auf dem hart umkämpften Beratungsmarkt damit werben und weitere (Folge-)Aufträge akquirieren kann.
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Reorganisation als Machtspiel
Die zweite externe Akteursgruppe, die den Prozess längerfristig begleitet, ist das wissenschaftliche Begleitprojekt. Auch wir haben von Anfang an vor allem zwei Interessen, die sich auf die beiden Rollen beziehen, die sich aus unserem Aktionsforschungsansatz ergeben (vgl. Abschnitt 4.3). Zum einen wollen wir als „BeraterInnen“ dazu beitragen, die im Projektantrag festgeschriebenen Ziele zu erreichen und zum anderen wollen wir als „WissenschaftlerInnen“ einen an den Normen unserer Profession gemessenen vorzeigbaren wissenschaftlichen Beitrag zur Organisationsund Personalforschung produzieren. Damit sind für unsere Arbeit mindestens drei Bewertungsmaßstäbe relevant: als BeraterInnen müssen wir uns sowohl an den inhaltlichen Qualitätskriterien für gute Arbeitsgestaltung,319 als auch an den Erfolgskriterien für gelungene Organisationsentwicklung auf der Prozessebene und als WissenschaftlerInnen an den Kriterien für seriöses wissenschaftliches Arbeiten messen lassen. Die Interessen der mittleren Führungskräfte ergeben sich aus ihrer bereits beschriebenen Stellung im institutionellen Kontext zwischen Topmanagement und ausführender Ebene. Insbesondere die Abteilungs- und Gartenleitung ist aufgrund ihrer Doppelrolle zwischen Innovations- und Routinearbeit nicht nur Dreh- und Angelpunkt der Projektarbeit, sondern auch der entstehenden mikropolitischen Konflikte (vgl. Ortmann et al. 1990, S. 468). Sie müssen die Abteilungs- und Projektarbeit und damit die widerstreitenden Anforderungen von Routine und Innovation zugleich bewältigen. Dabei dürfen sie nicht vergessen, dass es im Projektspiel auch darum geht, darauf zu achten, wie die Karten für das zukünftige Routinespiel – ihr eigenes und das ihrer Abteilung – gemischt werden. In diesem „double bind“320 können sie fast nur verlieren. Wenn sie nicht genügend Initiative zeigen oder sich gar aktiv auf die Seite der Routine stellen, werden sie stigmatisiert, ausgegrenzt oder gefährden evtl. ihre Gratifikations- und Karrierechancen. Stellen sie sich auf die Seite der Innovation, gefährden sie u.U. das Erreichen der operativen Ziele sowie die notwendigen guten Beziehungen zu ihren Untergebenen. Dieses Dilemma wird schon in der Projektskizze und im Einführungsgespräch deutlich, da die Abteilungsleitung die Reorganisation zwar für unumgänglich hält, aber Wert auf ein partizipatives Vorgehen legt und die Motivation ihrer Untergebenen erhalten will. Die Interessen der GärtnermeisterInnen ergeben sich ebenfalls aus ihrer „Sandwich-Position“, mit der sie sich – in abgeschwächter Form – in einer vergleichbaren Doppelrolle wie Abteilungs- und Gartenleitung befinden. Da sie im Botanischen Gar-
319
320
D.h. für mich in explizit humanistischer Orientierung: persönlichkeitsförderliche Arbeitsgestaltung. Engl.: „Doppelbindung“ (im Sinne von Zwickmühle oder Dilemma).
Die traditionellen AkteurInnen
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ten jedoch für die gärtnerischen Arbeiten verantwortlich sind, muss ihr Interesse in erster Linie dem reibungslosen Ablauf des Routinespiels gelten. Da sie die für GärtnerInnen höchste Karrierestufe in der ZE BGBM schon erreicht haben, sind im Innovationsspiel keine wesentlich besseren Gewinnchancen für sie zu erwarten. In ihrer Rolle als „Primus inter pares“ in ihren Meisterbereichen gilt ihr Interesse aller Voraussicht nach eher der Bestandsicherung und dem Verteidigen ihrer eigenen Handlungsfähigkeit. Auf der ausführenden Ebene stellt die Gruppe der in den Revieren Beschäftigten keine homogene Akteursgruppe dar. Zwar gilt für alle MitarbeiterInnen des gärtnerischen Bereichs, dass sie aufgrund ihres schwer kontrollierbaren Erfahrungswissens im Routinespiel gewisse Unsicherheitszonen kontrollieren, aber die sich daraus ergebenden Handlungsspielräume sind innerhalb der Meisterbereiche sowie innerhalb der Reviere ungleich verteilt. Wie bereits in den vorigen Abschnitten erläutert, gibt es auch im Rahmen der bisherigen Routinespiele bereits GewinnerInnen und VerliererInnen, die daher in unterschiedlichem Ausmaß von einer Änderung der Spielregeln betroffen wären. Insbesondere die ReviergärtnerInnen und deren StellvertreterInnen – sowie alle, die sich in absehbarer Zeit in dieser Rolle sehen – haben ein Interesse daran, ihre Handlungsfähigkeit und ihre Besitzstände mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln zu verteidigen. So lange die alten Spielregeln in Kraft sind, werden sich auch die – zahlenmäßig ohnehin weit unterlegenen – Beschäftigten, die evtl. von den neuen Spielregeln profitieren könnten – insbesondere die GartenarbeiterInnen –, im eigenen Interesse vorsichtshalber auf die Seite der (noch) Mächtigen stellen. Neben diesen direkten Machtbeziehungen spielen beim zögerlichen Verhalten der bisherigen Untergebenen auch die strukturellen Rahmenbedingungen (z.B. die Lohngruppenbindung) eine Rolle, die in absehbarer Zeit nicht geändert werden und die keine Leistungsorientierung und Flexibilisierung fördern. Da die bisherigen Erfahrungen mit Reorganisationsprozessen gezeigt haben, dass diese für das gärtnerische Personal tendenziell immer Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen bedeuten, überwiegt daher generell das Interesse an Besitzstandwahrung. Der Kostendruck und die breit geführte öffentliche Diskussion über den ineffizienten öffentlichen Sektor (vgl. Abschnitt 2.1) setzen die Beschäftigten und ihre Interessenvertretungen ohnehin seit Jahren unter Druck und Rechtfertigungszwang. Vor diesem Hintergrund und in Anbetracht des bereits beschriebenen negativen Wahrnehmungs- und Handlungszirkels zwischen Verwaltung und Interessenvertretung hat der Personalrat wenig Handlungsspielraum. Er beschränkt sich passiv-abwehrend auf seine Schutzfunktion und hat ein Interesse daran, den Status quo der Arbeitsbedingungen zu sichern, um die Besitzstände seiner WählerInnen zu verteidigen. Mit die-
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Reorganisation als Machtspiel
ser traditionellen Form der Interessenvertretungspolitik ist der Personalrat zudem auf der sicheren Seite, denn Mitgestaltung hieße auch Mitverantwortung für den Prozess und die erzielten Ergebnisse (vgl. Bogumil & Kißler 1995, S. 414 ff.; Kißler et al. 2000, S. 67 ff., Greifenstein & Kißler 2000, 31 f.). Dieser Überblick über die heterogenen Interessenlagen der am betrieblichen Wandel interessierten bzw. nicht interessierten potentiellen AkteurInnen lässt erwarten, dass interessenpolitische Konflikte im weiteren Verlauf unausweichlich sind. Wie bereits in anderen Untersuchungen, zeigt sich auch in meiner Fallstudie, dass sich die potentiellen GewinnerInnen als VeränderungspromotorInnen („Treiber“) hervortun, während aus den potentiellen VerliererInnen die VeränderungsgegnerInnen („Bremser“) werden (vgl. Ortmann et al. 1990). Wer sich allerdings wie und mit welchen Mitteln im Reorganisationsprozess für seine Interessen einsetzen kann und wer die Definitionsmacht im Regelproduktionsprozess hat, hängt u.a. von den Partizipationsmöglichkeiten ab. Denn die Verfahrensregeln der Partizipation (nur Mitreden, Mitwirkung oder sogar Mitbestimmung) entscheiden über deren Verbindlichkeitsgrad und deren Reichweite. Allerdings kann sich die Definitionsmacht in Abhängigkeit von den jeweils benötigten Ressourcen in den unterschiedlichen Phasen des Regelproduktionsprozesses auch ohne abgesicherte Teilnahmemöglichkeiten auf unterschiedliche Akteure bzw. Akteursgruppen verteilen (vgl. Bogumil & Kißler 1998b). Wer also letztlich wirklich welche Preise gewinnt bzw. welche Geister gerufen werden – die man ja bekanntlich manchmal nicht mehr los wird – werde ich in der nun folgenden Prozessanalyse aufzeigen. Die Regelsetzungsphase beginnt für mich wie eingangs erwähnt mit dem Senatsbeschluss 2003 und endet mit dem zweiten Präsidiumsbeschluss der FUB im selben Jahr. In diesem Zeitraum wird einerseits der Beschluss gefällt, dass sich in der ZE BGBM etwas ändern muss und mit den Sparauflagen werden andererseits die Weichen für die Reorganisation gestellt. Die Regelinterpretationsphase beginnt mit dem Projektstart für die „Beteiligungsorientierte Reorganisation“ im Jahr 2004 und endet nach der Erarbeitung der neuen Aufbau- und Ablauforganisation mit Ablauf des Jahres. In dieser Phase wird festgelegt, wie die Einsparungen erzielt werden können und was dafür reorganisiert werden muss. Mit dem Inkraftsetzen der neuen Aufbau- und Ablauforganisation am 01.01.2005 sind die neuen Regeln offiziell gültig und sollen in der nun folgenden Regelumsetzungsphase implementiert werden (vgl. Abb. 53):
Die AkteurInnen in der Regelsetzungsphase
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269
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Abbildung 53: Der Regelproduktionsprozess in der ZE BGBM (Quelle: eigene Darstellung)
6.2
Die AkteurInnen in der Regelsetzungsphase
Wie in der Fallbeschreibung (vgl. Abschnitt 5.3) deutlich wird, sind in der Regelsetzungsphase – im Anschluss an die Kürzungsauflagen des Landes Berlin – vor allem das Präsidium der FUB, die Beratungsfirma und das Topmanagement der ZE BGBM die handelnden Akteure. Die von den PolitikerInnen beschlossenen Sparauflagen zur Konsolidierung des Landeshaushaltes führen innerhalb der FUB zu einer Mittelverknappung, die nach unten weitergeben werden muss. Unter diesem Erfolgsdruck gilt das Interesse in erster Linie einer zukunftsfähigen Sanierung, die das Überleben der Universität sichert, daher wird ein harter betriebswirtschaftlich orientierter Sparkurs gefahren. Um die Unsicherheit zu minimieren und die notwendigen, aber aller Voraussicht nach unpopulären Maßnahmen zu legitimieren, wird offensichtlich eine gesellschaftlich anerkannte Strategie gewählt, die Entscheidungsrationalität signalisiert: eine Unternehmensberatung wird damit beauftragt, das bereits erwähnte Organisationsgutachten zu erstellen. Das Ergebnis ist für die ZE BGBM schockierend und wird nicht kampflos hingenommen. Mit Hilfe der Mobilisierung der Berliner Öffentlichkeit, die sich für den Erhalt des u.a. als Naherholungsgebiet beliebten Botanischen Gartens einsetzt, wird die Ver-
270
Reorganisation als Machtspiel
handlungsposition des BGBM gestärkt. Das führt dazu, dass der schon gefasste Privatisierungsbeschluss für den Botanischen Garten – allem Anschein nach mit Hilfe eines „Bargainingspiels“ zwischen dem Präsidium der FUB und dem Topmanagement der ZE BGBM – vorläufig revidiert wird. Das Verhandlungsergebnis besagt, dass der Präsidiumsbeschluss gegen finanzielle Zusagen sowie Modernisierungsversprechungen für zwei Jahre ausgesetzt wird. D.h. nach zwei Jahren wird – in Abhängigkeit von den Ergebnissen der Reorganisation – erneut über die weitere Zukunft der ZE entschieden. Die Beratungsfirma – die sich mit dem Organisationsgutachten bereits profiliert hat – wird vom Kanzler der FUB beauftragt, die ZE BGBM bei diesen Bemühungen zu unterstützen. Mikropolitisch betrachtet kann dies als Spielzug eines interessierten Akteurs in einem bereits laufenden Innovationsspiel betrachtet werden (vgl. Abschnitt 6.1.3.1). Die Beschäftigten und ihre Interessenvertretung unterstützen zwar im eigenen Interesse die Bemühungen, eine Privatisierung zu verhindern, haben in dieser Phase aber keine Definitionsmacht und sind damit nur „Agierende“ und letztlich von den Verhandlungsergebnissen Betroffene (vgl. Abschnitt 3.4). Definitionsmacht hatten in der Regelsetzungsphase das Topmanagement der FUB und dessen Berater sowie das Topmanagement der ZE BGBM. Damit sieht die Akteurslandkarte321 in der Regelsetzungsphase wie folgt aus (vgl. Abb. 54):
321
vgl. Abschnitt 4.4
Die AkteurInnen in der Regelsetzungsphase
271
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Abbildung 54: Die Akteurslandkarte in der Regelsetzungsphase (Quelle: eigene Darstellung)
Die Beteiligten können zunächst den drei Sektoren „BGBM“ (d.h. für die ganze ZE BGBM Verantwortliche), „Abteilung I“ (d.h. Angehörige der Abteilung I „Garten“) und „Externe“ (d.h. alle, die nicht der ZE BGBM angehören – damit auch das Topmanagement der FUB) zugeordnet werden. Die kleinen Kreise stehen für die AkteurInnen, d.h. die Beteiligten mit Definitionsmacht im Regelproduktionsprozess. Da die Größe der Kreise den Einfluss in Bezug auf die Regelproduktionsphase symbolisiert, sind hier das Präsidium bzw. der Kanzler (P/K) sowie der Leitende Direktor (D) als VetoPlayer mit den größten Kreisen dargestellt. Die beiden anderen Akteure sind die Unternehmensberatung (UB) und die Verwaltungsleitung (VL). Während die Abteilungsleitung (AL) als mittlere Führungsebene in dieser Phase als Agierende – die nicht direkt beteiligt sind, aber (potentiell) Einfluss ausüben – betrachtet werden kann, sind sowohl Personalrat (PR), als auch die Belegschaft der Abteilung I (MA) eher Betroffene. Die Agierenden und Betroffenen werden den beiden äußeren großen Kreisen zugeordnet und durch Rechtecke symbolisiert. Die Beziehungen zwischen den Beteiligten werden durch Linien und Pfeile symbolisiert: Eine durchgezogene Linie steht für eine enge Beziehung bezüglich Informationsaustausch, Frequenz der Kontakte, Interessenübereinstimmung, Koordination, gegenseitiges Vertrauen etc.; ein Pfeil steht für die Richtung eines Unterstellungsverhältnisses; ein bidirektionaler Pfeil steht für eine Vertragsbeziehung, eine durch einen Blitz unterbrochene Linie steht für Beziehungs-
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Reorganisation als Machtspiel
spannungen, Interessengegensätze und konflikthaltige Beziehungen; eine gestrichelte Linie steht für schwache oder informelle Beziehungen, wobei das Fragezeichen hinzugesetzt wird, wenn die Beziehung aus meiner Perspektive ungeklärt ist. Mit der Reorganisation der ZE BGBM wird offensichtlich in erster Linie ein Ziel verfolgt: die mit dem Präsidium der FUB ausgehandelten Einsparungen zu erreichen, um das (wissenschaftliche) Überleben der Organisation zu sichern. Nach einem Vergleich der Bausteine der Reorganisation (vgl. Abschnitt 5.3) mit den Elementen des neuen Steuerungsmodells (vgl. Abschnitt 2.2.2) liegt der Schluss nahe, dass auch hier das NSM als grundsätzliches Leitbild für die Reformmaßnahmen dient.322 Wie für die deutsche Verwaltungsreform insgesamt typisch (vgl. Naschold & Bogumil 2000), ist der Ausgangspunkt des Veränderungsdrucks die Finanzknappheit, die im vorliegenden Fallbeispiel die Schwerpunktsetzung auf die Einführung betriebswirtschaftlicher Instrumente erklärt. Damit ist die Regel gesetzt, an der sich im weiteren Verlauf (fast) alles messen lassen muss und die sich als die entscheidende Legitimationsgrundlage für die noch kommenden Entscheidungen darstellen wird. Mit dieser Regelsetzung schlägt die Stunde der Wirtschaftlichkeitsrechnungen, der Budgets und der nicht hinterfragbaren Zahlenwerke, die eine „rationale Fassade des betrieblichen Geschehens“ (vgl. Horváth 1982, S. 256) bilden. Mikropolitisch betrachtet wird diese rationale Fassade aber auch eingesetzt, um die Interessen von AkteurInnen zu kaschieren bzw. diese durchzusetzen. Denn in solche Berechnungen gehen immer Gewichtungen verschiedener Kriterien ein, die die Interessen und Perspektiven derjenigen widerspiegeln, die diese Gewichtungen durchsetzen (vgl. Iding 2000, S. 92). An der Tatsache, dass die Einsparungen erzielt werden müssen, kann ab jetzt keiner der Beteiligten in der ZE noch etwas ändern, über den Weg zum Ziel gibt es allerdings im weiteren Verlauf heftige Kontroversen. Hier zeigt sich u.a., dass die oben skizzierte Komplexität und innere Heterogenität einer Hochschule (vgl. Abschnitt 6.1) auch Auswirkungen auf die Diskussion von Reformforderungen bzw. -bemühungen hat (vgl. Rehling 2008, 186 f.).
6.3
Die AkteurInnen in der Regelinterpretationsphase
Angesichts der existentiellen Krise stehen die verantwortlichen Topmanager der ZE BGBM für die nächsten zwei Jahre unter enormem Zeitdruck und müssen rasch handeln. Der leitende Direktor ist mit seiner Organisationshoheit in der Regelset322
Das ist nicht verwunderlich, da sich der gesamte Berliner Reformansatz an den Vorstellungen des KGSt zu einem Neuen Steuerungsmodell orientiert (vgl. Engelniederhammer et al. 2006, S. 41 ff.).
Die AkteurInnen in der Regelinterpretationsphase
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zungs- und Regelinterpretationsphase zwar der mächtigste interne Veto-Player – was insbesondere im Konfliktfall wichtig ist – delegiert aber die Planung und Durchführung der Reorganisation weitgehend an andere Akteure. Dies sind insbesondere die Verwaltungsleitung und die Beratungsfirma, die im weiteren Verlauf als Veränderungspromotoren in Erscheinung treten und intensiv daran arbeiten, die Einsparziele zu erreichen. Sie setzen auf einen schnellen Systemwechsel und eine kompromisslose Modernisierung. Damit ist gemeint, dass die „teure“ und de facto unkündbare Stammbelegschaft der Abteilung I soweit wie möglich abgebaut und durch kostengünstigere MitarbeiterInnen eines privaten Dienstleisters – denen man im Bedarfsfall auch wieder kündigen kann – ersetzt werden sollen. Unter ihrer Regie soll zunächst ein Großteil der Kostenreduktion durch einen Personalabbau per Einstellungsstopp bis 2011 (d.h. jede Stelle, die vakant wird, fällt bis dahin – bis auf einige wenige Ausnahmen323 – weg) realisiert werden (vgl. Abschnitt 5.3). Da die wissenschaftlichen Lebendsammlungen nicht verkleinert und die Attraktivität des Gartens für die BesucherInnen mindestens erhalten (besser noch: gesteigert) werden soll, ist geplant, den Wegfall der Stellen durch Fremdvergaben von nichtwissenschaftlichen Aufgaben zu kompensieren. Zwar werden auch im Botanischen Museum Stellen abgebaut, da aber zum einen die Gehälter von wissenschaftlichen MitarbeiterInnen deutlich höher sind und zum anderen die geplanten Fremdvergaben vor allem im gärtnerischen Bereich umsetzbar sind, zeichnet sich ab, dass die Abteilung I „Garten“ – gemessen an der Anzahl der Stellen – die Hauptlasten der Einsparungen zu tragen hat und die bisherige Aufbau- und Ablauforganisation dadurch in absehbarer Zeit nicht mehr tragfähig sein wird. Da sich der leitende Direktor in erster Linie für die Eingliederung der ZE BGBM in die Leibniz-Gemeinschaft stark macht, liegt es nahe, dass die Veränderungspromotoren für diese Pläne von ihm volle Rückendeckung haben. Wie bereits erwähnt (vgl. Abschnitt 5.3), ist die Leibniz-Gemeinschaft ein Zusammenschluss von 83 Forschungseinrichtungen, die wissenschaftliche Fragestellungen von gesamtgesellschaftlicher Bedeutung bearbeiten. Da in die Leibniz-Gemeinschaft nur Organisationen aufgenommen werden, die deren strenge Fördervoraussetzungen (wissenschaftliche Exzellenz, Erfüllung des gesellschaftlichen Auftrags und verantwortungsvoller Umgang mit öffentlichen Geldern) erfüllen, könnte die anstehende Reorganisation für ihn Mittel zum Zweck sein. Vor diesem Hintergrund würde auch die Notwendigkeit ersichtlich, sich schützend vor den wissenschaftlichen Bereich zu stellen und die Fremdvergabepläne für die nicht-wissenschaftlichen Aufgaben und Bereiche zu unterstützen. 323
Diese Ausnahmen werden letztlich vom Topmanagement in Absprache mit der Unternehmensberatung festgelegt.
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Reorganisation als Machtspiel
Mikropolitisch betrachtet wird klar, warum die Veränderungspromotoren ein so großes Interesse an der Durchsetzung ihrer Pläne haben. Durch die Ausweitung der Fremdvergaben könnten gleich mehrere Ziele erreicht werden. Erstens kann die Verwaltung über die Ausschreibungen und die Vertragsgestaltung die Bedingungen für die Fremdfirma beeinflussen und damit auch gestaltend in die Arbeitsabläufe des Gartens eingreifen. Da davon ausgegangen wird, dass eine Privatfirma wesentlich kostengünstiger arbeiten kann, werden zweitens die gewünschten Sparziele erreicht. Drittens würden die bisher bindenden tarifvertraglichen Regelungen des öffentlichen Dienstes dann nur noch für einen Teil des gärtnerischen Personals gelten, womit gleichzeitig der Einflussbereich des Personalrats verkleinert würde. Angesichts der bereits geschilderten subjektiv wahrgenommenen betrieblichen Handlungskonstellation (vgl. Abb. 51) wäre dies ein probates Mittel für die Verwaltung, um die eigene Machtbasis zu vergrößern und mit deren Hilfe die Steuerungsfähigkeit des botanischen Gartens zu erhöhen. Das ist allerdings nur möglich, wenn gleichzeitig die Ungewissheitszonen und damit die Machtbasen anderer AkteurInnen verkleinert werden. Insbesondere das bisher exklusive Erfahrungswissen des gärtnerischen Personals muss zuvor in objektivierbares Planungswissen transformiert und damit den Management- und Planungsprozessen zugänglich gemacht werden. Das heißt, die beschriebenen Reorganisationspläne können nur in die Tat umgesetzt werden, wenn die für die Ausschreibungen notwendigen Leistungsbeschreibungen vorhanden sind, für die aufgrund der bereits beschriebenen betrieblichen Konstellation die erforderlichen Informationen zum Großteil fehlen (vgl. Abschnitt 6.1.1). In dieser Situation wird zunächst eine weitere Beratungsfirma damit beauftragt einen Teil dieser Informationen zu beschaffen.
6.3.1 Die BeraterInnen und BegleitforscherInnen als Meta-Spieler Etwa zur gleichen Zeit erstellt die Abteilungsleitung „Garten“ eine Projektskizze „Arbeitsorganisation und betriebsinterne Kommunikation“. Sie plant, für zwei Jahre ein/e Arbeits- und OrganisationspsychologIn für Personal- und Organisationsentwicklung zur Reorganisation der Arbeitsprozesse und Kommunikationsabläufe im Botanischen Garten der FU hinzu zu ziehen. Dieser Vorschlag wird von der Unternehmensberatung aufgegriffen, modifiziert und in die Tat umgesetzt. Sie kontaktiert ein ihr bekanntes Institut und das wissenschaftliche Begleitprojekt geht nach Absprache mit der Verwaltungs- und Abteilungsleitung daraufhin – ebenfalls beauftragt vom Kanzler – „als flankierende Maßnahme“ an den Start (vgl. Abschnitt 5.3.1). Wie bereits erläutert, sind BeraterInnen und BegleitforscherInnen324 mikropolitisch betrachtet externe 324
Iding (2000, S. 206) spricht von der neuen „Hybrid-Profession“ des Wissenschaftler-Beraters.
Die AkteurInnen in der Regelinterpretationsphase
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Akteure, die von organisationsinternen interessierten AkteurInnen in einem bereits laufenden Innovationsspiel hinzugezogen werden. Da dies so betrachtet ein Spielzug ist, haben die Auftraggeber dabei für den externen Akteur bereits eine bestimmte Rolle in diesem Spiel vorgesehen – und zwar eine, die ihre Interessen fördern soll (vgl. Saam 2007, S. 107). Wenn das Projekt „Beteiligungsorientierte Reorganisation“ als Transmissionsriemen für die Innovation auf die Routine interpretiert wird (vgl. Abb. 52), fällt auf, dass im Projektspiel viel „Manpower“ eingesetzt wird. Das lässt die Deutung zu, dass die Initiatoren davon ausgehen, dass ein starker Motor gebraucht wird, um das Routinespiel zu ändern. Dafür spricht auch der Spielzug des Kanzlers, die Unternehmensberatung – die mit dem Organisationsgutachten bereits bewiesen hat, dass sie keine Angst vor unpopulären Entscheidungen hat – zur Erhöhung der Durchsetzungskraft der Innovation zu beauftragen. Externe sind nicht an die geltenden Regeln und Ressourcenverteilungen der Organisation gebunden, d.h. nicht in die Routinespiele involviert und können daher als „Meta-SpielerInnen“ daran mitarbeiten, die SpielerInnen zu einem neuen Spielverhalten zu bewegen. Machtpolitisch betrachtet sind Kontaktaufnahme und Auswahl eines bestimmten Meta-Spielers jedoch nicht zufällig, sondern immer auch mit einem mehr oder weniger impliziten Koalitionsangebot verbunden. Auch die Projektskizze der Abteilungsleitung kann als Spielzug und Reaktion auf die sich abzeichnende Dominanz des Innovationsspiels bzw. der betriebswirtschaftlichen Ziele interpretiert werden. Die Veränderungspromotoren wollen sich aber anscheinend das Heft nicht aus der Hand nehmen lassen und ergreifen ihrerseits die Initiative, bevor die Abteilungsleitung ihren Plan in die Tat umsetzen kann. Damit soll höchstwahrscheinlich verhindert werden, dass die Seite der RoutinespielerInnen – zu denen die Abteilungsleitung aus Sicht der Veränderungspromotoren mutmaßlich gehört (vgl. Abschnitt 6.1.2) – durch eine interessengeleitete Auswahl eines geeigneten Meta-Spielers ihre Front und damit Widerstandskraft verstärken kann. Mit der im weiteren Verlauf realisierten Auswahl (in die sowohl die Unternehmensberatung, als auch Verwaltungs- und Abteilungsleitung eingebunden sind) eines bereits bekannten und damit einschätzbaren Partners ist aus mikropolitischer Sicht ein klares Koalitionsangebot verbunden. Wie für Auftragnehmer üblich, orientieren wir uns zunächst in erster Linie an den Interessen derer, die an unserer Auswahl maßgeblich beteiligt waren. Wir schließen uns indes keiner der bereits vorhandenen Problemdefinitionen an, sondern beginnen planmäßig mit einer eigenständigen Problem- und Situationsanalyse. Damit wollen wir unserer Rolle als Meta-Spieler gerecht werden und vermeiden, uns in das (dysfunktionale) Spiel der Organisation involvieren zu lassen. Da
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Reorganisation als Machtspiel
der Prozess nach Aussagen der betrieblichen Akteure zunächst als weitgehend ergebnisoffen betrachtet wird, halten wir unsere Rollendefinition als OrganisationsentwicklerInnen zu Projektbeginn für weitgehend kompatibel mit den Interessen der anderen AkteurInnen. Dass wir stattdessen in ein bereits laufendes Spiel eingestiegen sind, in dessen Verlauf bereits Entscheidungen getroffen wurden, deren Konsequenzen unsere Arbeit als OrganisationsentwicklerInnen noch stark beeinflussen werden, wird erst später deutlich. Ein kritischer Rückblick zeigt allerdings, dass sich bereits im Rahmen unserer Auftaktveranstaltung die formierenden Fronten abzeichnen. Im Rahmen unseres „Kick-off-Meetings“ – zu dem der Personalrat auf Bitte des Topmanagements nicht eingeladen wird – werden die konfligierenden Schwerpunktsetzungen und Interessen der Beteiligten schon benannt (vgl. Reichel 2004): Die Veränderungspromotoren fühlen sich – im Auftrag des Kanzlers – vor allem für die zugesagte Kostensenkung verantwortlich und positionieren sich damit als von „ganz oben“ legitimierte Innovationsspieler. Die Abteilungsleitung in ihrer Doppelrolle betont folgerichtig, dass es keinen Widerspruch zwischen den beiden Zielen „Steigerung der Effektivität“ und „Verbesserung der Qualität des Arbeitslebens“ geben müsse. Die GärtnermeisterInnen als RoutinespielerInnen erhoffen sich zur Entschärfung ihrer Sandwichposition sowohl mehr Eindeutigkeit als auch den Schutz ihrer MitarbeiterInnen vor Überforderung. In dieser Anfangsphase sind weder die Frontverläufe noch die Koalitionen in den anstehenden Verteilungskämpfen deutlich ausgeprägt, zumal sich die Interessenlagen durch die unterschiedlichen Funktionen recht gut erklären lassen. Von Projektseite gehen wir ganz im Sinne der Organisationsentwicklung nach wie vor davon aus, dass sowohl die ökonomischen als auch die sozialen Ziele erreichbar sind und wir als neutrale und faire VermittlerInnen zwischen den Interessen des Topmanagements und denen des gärtnerischen Personals vermitteln können (vgl. Abschnitt 6.1.2). Dass die in der Öffentlichkeit formulierten Erwartungen nur die Spitze des Eisbergs darstellen und zahlreiche andere nicht offenbart bzw. z.T. (noch) nicht bewusst sind, wird im weiteren Verlauf der Reorganisation deutlich. Eine erste Einschätzung, dass die Befürwortung bzw. Unterstützung des Projekts auf Vorschuss erfolgt und an (zunächst) nicht ausgesprochene (Koalitions-)Erwartungen geknüpft ist, wird sich später bewahrheiten. Die „Schuldscheine“ für nicht erfüllte Erwartungen werden erst im weiteren Verlauf präsentiert (vgl. Edding 2000, S. 32). Als wissenschaftliche BegleitforscherInnen bemühen wir uns weitgehend neutral zu bleiben und uns den Vereinnahmungsversuchen der verschiedenen betrieblichen AkteurInnen zu entziehen. Das fällt zunächst nicht schwer, da die Sichtweisen und
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Perspektiven von allen AkteurInnen aus ihrer jeweiligen subjektiven Perspektive nachvollziehbar sind. Durch diese Allparteilichkeit bekommen wir in der Regelinterpretationsphase einen Einblick in die konfligierenden Strategien der AkteurInnen und Agierenden über den andere AkteurInnen nicht verfügen. Unser Werben für gegenseitiges Verständnis bewirkt allerdings keine wesentliche Veränderung in der wechselseitigen Wahrnehmung, was die Voraussetzung dafür wäre, die Beteiligten aus ihren alten Pattstellungen herauszuführen (vgl. Abschnitt 6.1.1).325 Stattdessen gerate ich zunehmend in eine Falle, die für „Grenzgänger“ typisch ist: wer nicht eindeutig einer Akteursgruppe zuzuordnen ist, dem misstrauen letztlich alle (vgl. Tietel 2001). Während mich die einen wie bereits erwähnt, als „Sozialromantikerin“ betrachten, da ich mich für die Interessen und die Partizipation der Beschäftigten einsetze, titulieren mich die anderen „Steigbügelhalterin des Kapitalismus“, da ich auch das Erreichen der Einsparziele propagiere. Mikropolitisch betrachtet werden hier von beiden Seiten die ersten Schuldscheine für nicht eingelöste Unterstützungserwartungen präsentiert – nach dem Motto: „Wer nicht für mich ist, ist gegen mich“. Die von BeraterInnen oft geforderte Neutralität und Distanzwahrung ist aus einer machttheoretischen Perspektive ohnehin unrealistisch. Wer als Externer (ohne formale Macht) etwas bewirken will, ist auf einen mächtigen innerbetrieblichen Koalitionär angewiesen. Sowohl Nähe als auch Distanz können allerdings zur Folge haben, dass damit andere Handlungs- und Beziehungsoptionen ausgeschlossen bzw. erschwert werden. Wer Distanz halten will, kann auf kein Koalitionsangebot eingehen und läuft Gefahr ohne Einfluss zu bleiben, wer sich klar auf eine Seite stellt, wird zum Gegner der anderen Interessengruppen. Auch die Koalitionsbildung dient nicht nur der Sache, sondern durch die Bündelung der Kräfte von gleichgesinnten AkteurInnen auch der Einflusssteigerung einzelner Akteure (vgl. Abschnitt 3.3.3.2). Aus dieser Perspektive wird im Rückblick deutlich, dass meine Neutralität und mein Distanzhalten von interessierten AkteurInnen genutzt werden konnte, um mich als Informationsquelle bzw. Sprachrohr zu instrumentalisieren, was von mir nicht-intendierte Handlungsfolgen nach sich zog. Auf die Wichtigkeit von Prozessen der Koalitionsbildung, um im Geflecht betrieblicher Interessenkonflikte organisationalen Wandel zu initiieren und zu stabilisieren, wurde bereits in vergleichbaren Studien (vgl. Ortmann et al. 1990, Schirmer 2000, Muhr 2004) hingewiesen. Jede Koalition ist allerdings ein voraussetzungsvolles und labiles soziales Arrangement, das nur so lange besteht, wie zumindest partiell gleich gerich325
Hier muss im kritischen Rückblick eingeräumt werden, dass die Intransparenz und Ambiguität des betrieblichen Handlungsfeldes unterschätzt und die Beherrschbarkeit des Wandels und seiner politischen Dynamik überschätzt wurde.
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tete Interessen vorhanden sind und der Nutzen die Kosten übersteigt. Was nicht heißen soll, dass Koalitionen immer aufgrund rationaler Überlegungen und bewusster Entscheidungen geschlossen oder aufgelöst werden – diese Prozesse sind auch situations- und gelegenheitsbedingt (vgl. Abschnitt 3.3.3.2). Insbesondere in inhaltlich umstrittenen und durch Interessenkonflikte geprägten Reorganisationsprozessen müssen Ressourcen zusammengelegt werden, um das Machtpotential der Unterstützer des Wandels zu verbreitern und die Reorganisationsinitiativen durchzusetzen zu können – dies wird auch an der Besetzung des Projektspiels deutlich (vgl. Abb. 52). Diese Zusammenhänge missachtet der einem reedukativen Verständnis verhaftete Organisationsentwicklungsansatz. Da sich heterogene Interessenlagen nicht einfach auflösen lassen, hat auch eine qua Steuergruppe „verordnete“ Koalition nicht automatisch einen einvernehmlichen Interessenausgleich, eine vorweggenommene und diskursive Konfliktlösung sowie eine breitere Basis von Unterstützern des Wandels zur Folge – schafft aber vielleicht die Voraussetzung dafür, dass dies möglich wird. Wichtige Entscheidungen werden auch in meiner Fallstudie nur in „echten“ Koalitionen getroffen. Das wird an der Strategie der Unternehmensberatung deutlich, die sich in erster Linie an den Interessen ihrer mächtigen Auftraggeber nach schnellen Erfolgen orientiert. Sie begleitet und gestaltet den gesamten Reorganisationsprozess über mehrere Jahre hinweg mit und hat auch ohne formale Machtbefugnisse großen Einfluss auf die Entscheidungen, die in der Regelsetzungs- und Regelinterpretationsphase gefällt werden. Dies ist nur möglich, weil sie mit den wichtigsten und mächtigsten Veränderungspromotoren eine stabile und machtvolle Koalition eingeht und eine in dieser Reorganisation zentrale Unsicherheitszone (mit-)beherrscht: die Finanzen. Unter dem Druck der Sparauflagen signalisieren betriebswirtschaftliche Zahlen eine harte Entscheidungsrationalität und sind ein potentes Machtmittel, dem die anderen AkteurInnen und Agierende des Veränderungsprozesses wenig entgegenzusetzen haben. Weil die komplexen Zahlenwerke von den meisten Betriebsakteuren nicht kompetent analysiert werden können, bleiben sie unverständlich und schwer nachvollziehbar. Das hat zur Folge, dass die von den Veränderungspromotoren vorgelegten Zahlen und Kalkulationen nicht ernsthaft in Frage gestellt und damit zum Gegenstand eines sozialen Aushandlungsprozesses gemacht werden (können).
6.3.2 Der Kampf der Häuptlinge Auch in der Regelinterpretationsphase behält das Topmanagement einen Großteil der Definitionsmacht und bestimmt sowohl Zielrichtung als auch Partizipationsmöglichkeiten. Hinsichtlich der Beteiligung des gärtnerischen Personals und seiner Interessenvertretung an der Steuergruppe besteht zwischen Topmanagement und mittle-
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rem Management weitgehende Einigkeit, dass dies zu zeitaufwändig sei und eine Einigung verkompliziere oder gar gefährde. Wie bereits ausgeführt, zeigt sich hier m.E. die in Veränderungsprozessen nicht untypische Angst der Führungskräfte vor Kontrollverlust (vgl. Abschnitt 2.3.3). Aus mikropolitischer Sicht steckt dahinter die Frage nach der Definitionsmacht im Regelproduktionsprozess. In ihrer Funktion als bisherige Machthaber sind die Führungskräfte bestrebt, ihre Machtmittel zu erhalten oder sogar auszubauen. Zu diesem Zweck kanalisieren sie die Regelungskompetenz in Partizipationsverfahren, in denen sie die Definitionsmacht in der Konzeptionsphase unter sich aufteilen und die Beschäftigten auf das Feld der Korrektur- und Umsetzungsbeteiligung verweisen (vgl. Bogumil & Kißler 1998b, S. 307). Einen Hinweis darauf, dass sich die Leitbilder der beteiligten AkteurInnen bezüglich der Gestaltung des Reorganisationsprozesses unterscheiden und der Prozess keinesfalls ergebnisoffen ist, ergibt bereits der Vergleich der beiden Zielkataloge des Begleitprojekts (vgl. Abschnitt 5.3.1). Zum einen wurde bereits in der Auftaktveranstaltung die grobe Richtung für die Aufbau- und Ablauforganisation festgeschrieben und beide Ziele des Projekts zum Thema Führung ersatzlos gestrichen. Das kann mikropolitisch so interpretiert werden, dass sich an den Machtverhältnissen nie etwas ändern sollte. Damit kollidiert die partizipative Ausrichtung des Begleitprojekts augenscheinlich mit den Kontroll- und Machtverlustängsten der Führungskräfte. Während ich auch aus einer ideologischen Begründung heraus die „Betroffenen zu Beteiligten“ machen will,326 präferieren die Führungskräfte offensichtlich eher ein Vorgehen im Sinne einer Geschäftsprozessoptimierung, hinter der eine rein funktionale Begründung steht (vgl. Abb. 11).327 Sie benötigen die gärtnerischen Beschäftigten (inkl. der GärtnermeisterInnen) zwar als Informationsquelle, sind aber nicht bereit, sie am Entscheidungsprozess zu beteiligen. Aus Sicht der Veränderungspromotoren ist dies aufgrund des immensen Zeit- und Erfolgsdrucks sowie angesichts der sich verknappenden Ressourcen und der vorhersehbaren Verteilungskämpfe ein rationales Vorgehen. Folgerichtig wird das Vorgehen in diesem Sinne geändert und beschlossen, parallel zur Ist-Analyse zunächst in der Steuerungsgruppe das neue Organigramm festzulegen, um den Rahmen für die spätere Beteiligung der MitarbeiterInnen abzustecken (vgl. Abschnitt 5.3.1). Mit der Festlegung der Aufbauorganisation verengt sich allerdings der Entscheidungskorridor und damit auch der Handlungs- und Entscheidungsspielraum für die Ablauforganisation ganz erheblich.
326
327
Koalitionstheoretisch wird bei diesem Vorgehen der OE versucht, eine große Koalition herzustellen und dem Prozess eine breite Basis zu geben (vgl. vorheriger Abschnitt). Meine Versuche – ganz im Sinne von Trebesch (2007) – diese Unterschiede im Rahmen der Lenkungsgruppensitzung zu thematisieren (vgl. Abschnitt 2.3.3), stoßen auf wenig Resonanz.
280
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Schnell wird deutlich, dass sich die Führungskräfte zwar hinsichtlich der Partizipationsverfahren einig sind, nicht jedoch bei der Aushandlung der neuen Spielregeln. Bei der Erarbeitung des neuen Organigramms werden sowohl von Seiten des Topmanagements, als auch von Seiten der Abteilungs- und Gartenleitung zahlreiche Entwürfe bzw. Gegenentwürfe erarbeitet und im Rahmen der Lenkungsgruppensitzungen z.T. sehr kontrovers diskutiert. Nach dem vergeblichen Versuch, die nach dem Stellenabbau verbleibenden MitarbeiterInnen auf die vorhandenen Reviere und Arbeitsbereiche „gerecht“ zu verteilen, wird zunächst beschlossen, die Aufgaben der Techniker und Betriebsschlosser fremd zu vergeben. Diese Maßnahme reicht jedoch nicht aus, um die Einsparziele zu erreichen. Nach langem Ringen einigt man sich schließlich auf fünf Meisterbereiche bzw. diesen vergleichbare Säulen im Organigramm (eine davon ist der neu geschaffene Servicebereich) und einen vom gärtnerischen Bereich getrennten Wissenschaftsbereich, der direkt der Abteilungsleitung untersteht. Am Ende wird trotz massiver Proteste der Gartenleitung durchgesetzt, dass im überarbeiteten Entwurf für ein neues Organigramm der Servicebereich zwar unter der Fachaufsicht der Leitung des Cost Centers Garten stehen soll, diese aber aus arbeitsrechtlichen Gründen keine operative Weisungsbefugnis mehr über die dort arbeitenden MitarbeiterInnen haben kann. Auch bei der Erarbeitung des neuen Organigramms prallen m.E. wieder zwei unterschiedliche Akteursrationalitäten aufeinander, die sich systematisch in einem Wahrnehmungs- und Handlungszirkel verfestigen. Dabei wollen die Veränderungspromotoren so schnell wie möglich die Einsparziele erreichen und setzen dabei auf die Ausweitung von Fremdvergaben – notfalls auch gegen den Widerstand der betroffenen Führungskräfte. In diesem „Privatisierungsspiel“ sieht die Abteilungs- und Gartenleitung den Garten sowie die eigenen Interessen bedroht und hat das Gefühl, dass die Entscheidungen über ihre Köpfe hinweg gefällt werden. Der daraus erwachsende Unmut verstärkt das Interesse, die eigenen Besitzstände zu verteidigen und fördert eine bremsende Politik im „Gartenrettungsspiel“. Die Veränderungspromotoren sehen sich dadurch wiederum in ihrer Auffassung bestärkt und nehmen dies als „Blockadehaltung“ wahr, worauf sie den Druck erhöhen (vgl. Abb. 55). Auch hier gerinnen so die Normen, Handlungsorientierungen sowie Wahrnehmungs- und Deutungsmuster langsam aber sicher zu Regeln des Umgangs miteinander, die aufgrund ihrer beständige Reproduktion durch das Handeln der Beteiligten bald nicht mehr hinterfragt werden. Da sich Treiber und Bremser gegenseitig konstituieren, werden die Auseinandersetzungen verschärft und das Tempo beschleunigt. Und wieder schaffen es die Akteure nicht, ihre „Rationalitäten“ aufeinander abzustimmen oder zumindest so zu agieren, dass die Logik der einen Seite der anderen als vernünftiges
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Korrektiv dienen kann. Damit beginnt der „Kampf der Systeme“ schon in der Konzeptionsphase.
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Abbildung 55: Circulus vitiosus im Innovationsspiel (Quelle: eigene Darstellung, in Anlehnung an Ortmann et al. 1990, S. 470)
Beim Versuch, die eigenen Interessen mit Macht durchzusetzen, suchen die Konfliktparteien stattdessen vor allem die Koalition mit mächtigeren Akteuren, da die grundlegenden Entscheidungen zwar in der Steuergruppe vorbereitet, die ausschlaggebenden Verhandlungen aber in geheimen Machtzirkeln mit dem leitenden Direktor328 geführt werden. Darüber hinaus werden auch die Workshops und Besprechungen mit den Beschäftigten mehr oder weniger als machtpolitische Arenen genutzt. Da die Führungskräfte einen Großteil der Informations- und Kommunikationskanäle kontrollieren, versuchen sie jeweils ihre Sicht der Dinge so darzustellen, dass auch die Betriebsöffentlichkeit für ihre Interessen mobilisiert wird. Aus Sicht der Führungskräfte wird relativ viel Zeit in die Information über den Stand der Reorganisation und die Kommunikation von schon gefällten Entscheidungen investiert. Da allerdings in vielen Punkten keine Einigkeit über Ausmaß und Zielrichtung der Veränderungen erzielt wird, bleibt es letztlich den MitarbeiterInnen überlassen, welche Botschaften
328
im Konfliktfall auch unter Einschaltung des Topmanagements der FUB
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sie aufgrund der eigenen Interessen hören bzw. verstehen wollen. Da während der Entscheidungsfindung allerdings zunächst wenig Regelkommunikation stattfindet,329 wird in dieser Phase die Gerüchtebildung befördert. Auch dieser Sachverhalt wird offensichtlich von interessierten AkteurInnen durch gezieltes Streuen von Gerüchten für eigene Zwecke genutzt. Bei dem Streit um das neue Organigramm geht es allerdings nicht nur um Innovation und Routine, sondern auch um Macht und Einfluss, denn im Projektspiel werden auch die Karten für das zukünftige Routinespiel neu gemischt. Die Rechnung ist nachvollziehbar: Je kleiner die Stammbelegschaft, desto kleiner auch der Einflussbereich von Abteilungs- und Gartenleitung – komplementär dazu wächst der Einflussbereich der Verwaltung, je größer der privatisierte Bereich. Daraus ergeben sich die vom neuen Organigramm ausgelösten Machtverschiebungen zwischen den Führungsebenen. Auch in meinem Fallbeispiel wird die mittlere Führungsebene aufgrund ihrer Doppelrolle zwischen Innovations- und Routinearbeit nicht nur Dreh- und Angelpunkt der Projektarbeit, sondern auch der entstehenden mikropolitischen Konflikte. In diesem „double bind“ gefangen, verlieren sie Terrain und letztendlich setzt sich in der Regelinterpretationsphase die Seite durch, die in der bestehenden Herrschaftsstruktur mehr Macht hat. Während die disziplinarische Befugnis bei der Verwaltungsleitung der ZE BGBM verbleibt, wird die operative Weisungsbefugnis für den neu gegründeten ServiceBereich von der Gartenleitung auf die bereits im Botanischen Garten tätige Fremdfirma übertragen. Mit der Ausweitung der Fremdvergaben werden nicht nur die Kosten gesenkt, sondern auch der direkte Einfluss des Topmanagements auf den gärtnerischen Bereich deutlich vergrößert. Im Gegenzug wird der Einfluss der mittleren und unteren Führungsebene stark beschnitten. Die neuen Spielregeln betreffen nicht nur die vom Service-Bereich zu betreuenden Schmuckgärten, sondern – über die in den Service-Bereich verlagerten zentralen Dienstleistungen (z.B. Technik und Wegepflege) – auch Zuarbeiten für die wissenschaftlichen Lebendsammlungen. Bei genauer Betrachtung des ausgehandelten neuen Organigramms kann man jedoch zu dem Schluss kommen, dass auch diese Lösung kein eindeutiger Erfolg nur einer Seite ist. Es scheint, dass zwischen den beteiligten Führungskräften letztlich doch noch ein Kompensationsgeschäft abgeschlossen wurde. Denn die Gartenleitung muss zwar hinnehmen, dass ihr Einflussbereich geschmälert wird, dafür bekommt die Abteilungsleitung als Ausgleich einen ausgebauten und ihr direkt unterstellten wissenschaftlichen Bereich. Diese Neustrukturierung und der Umzug in das Gebäude des
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um keine Unruhe auszulösen, so die Begründung der Führungskräfte.
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botanischen Museums erwecken den Eindruck, als positioniere sich die Abteilungsleitung deutlicher als bisher im rein wissenschaftlichen Bereich der ZE BGBM.
6.3.3 Die Beschäftigten und ihre Interessenvertretung Mit den getroffenen Entscheidungen bezüglich des Partizipationsverfahrens – den Beschäftigten und ihrer Interessenvertretung die Teilnahme an der Steuergruppe zu verwehren – werden die Beschäftigten auf das Feld der Korrektur- und Umsetzungsbeteiligung verwiesen. Am Modernisierungsgeschehen sind sie damit formell zunächst nur über den Einbezug in die Analysephase (und damit lediglich als Informationsquelle) involviert. Sie werden von den wissenschaftlichen BegleitforscherInnen zu ihrer Arbeit und ihren Arbeitsbedingungen befragt. Dies wird mit Skepsis aufgenommen, denn ein Großteil der Belegschaft betrachtet die Reorganisation aufgrund früherer Erfahrungen als Rationalisierungsmaßnahme, in der es wenig zu gewinnen, aber viel zu verlieren gibt. Vor diesem Hintergrund ist die ganze Begleitforschung mikropolitisch betrachtet eine Bedrohung ihrer Ungewissheitszonen und damit ihrer Machtbasen. Sie befürchten bzw. vermuten, dass die Ergebnisse dazu genutzt werden könnten, ihr Erfahrungswissen in objektivierbares Planungswissen zu transformieren und den Management- und Planungsprozessen – auf die sie mangels Definitionsmacht keinen Einfluss haben – zugänglich zu machen. Diese Sicht der Dinge erklärt sowohl die Vorbehalte als auch die Kommentare und die Ergebnisse der Subjektiven Arbeitsanalyse sowie last but not least die Interventionen des Personalrats. Angesichts drohender und realer Leistungsverdichtungen durch Personalabbau und zunehmend aufkommender Ängste um die Sicherheit des Arbeitsplatzes ist es rational, die bisherigen Arbeitsbedingungen zu idealisieren und zu verteidigen. Insbesondere die (angehenden) ReviergärtnerInnen haben kein Interesse an der Veränderung des Status quo und tun sich daher im Kampf gegen die anstehende Reorganisation als Meinungs- und WortführerInnen hervor. Da die formellen Wege verschlossen sind, kann das gärtnerische Personal zunächst nur versuchen informell Einfluss zu nehmen. Ihre aktiven Versuche ihre Interessen zu artikulieren und aktiv Einfluss zu nehmen, scheitern zumeist.330 Daher werden die wenigen Kommunikationsgelegenheiten mit den Führungskräften von den Beschäftigten als willkommene Anlässe für Interessenauseinandersetzungen genutzt. Auch hier stehen sich die Spielerinnen des Innovationsspiels und die SpielerInnen des Routinespiels gegenüber. Während die Veränderungspromotoren versuchen, den 330
So wird beispielsweise ein Brief der ReviergärtnerInnen mit der Bitte um ein Treffen mit der Abteilungs- und Gartenleitung aufgrund der unsicheren Informationslage monatelang nicht beantwortet.
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Druck zu erhöhen, um den Veränderungswillen zu steigern, beschwichtigen die Routinespieler, um allzu große Unruhe und Demotivation zu vermeiden und dadurch die Arbeits- und Leistungsfähigkeit zu erhalten. So wird z.B. die Präsentation der Zwischenergebnisse zu den Leistungsverzeichnissen von den „BremserInnen“ genutzt, um die zugrundeliegenden (geschätzten) Zahlen für die Kosten der Eigenerstellung in Frage zu stellen. Damit liefern sie wiederum den unter Zeitdruck stehenden Veränderungspromotoren Argumente gegen eine Beteiligung der „veränderungsresistenten“ Beschäftigten und tragen unbeabsichtigt dazu bei, dass die Kommunikation zwischen den Akteuren und den Betroffenen in dieser Phase immer spärlicher wird.331 Angesichts dieser zunehmend eskalierenden machtpolitischen Dynamik sind unsere fortgesetzten Bemühungen, den Prozess zumindest auf informellem Wege auf eine breitere Basis zu stellen, nicht erfolgreich. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass das gärtnerische Personal die lange versprochene Gelegenheit zur Mitsprache im Rahmen der Workshops Ende 2004 nutzt. Da weder die Beschäftigten selbst, noch ihre Interessenvertretung aufgrund fehlender Mitbestimmungsmöglichkeiten bis zu diesem Zeitpunkt die Gelegenheit hatten, Definitions- und Gestaltungsmacht auszuüben, nutzen sie ihre Chance und artikulieren ihre Interessen. Das erklärt sowohl, warum insbesondere die hierarchieübergreifende Kommunikation als positiv begrüßt wird, als auch, warum die abschließenden Meinungsbilder fast unisono das Fazit erbringen, dass an der vertrauten Arbeitsorganisation nichts geändert werden soll. Wenn man dieses Ergebnis als mikropolitische Strategie betrachtet, kann man entweder davon ausgehen, dass die Beschäftigten auch für die Zukunft keine Definitionsmacht erwarten und daher versuchen mit Hilfe von Blockademacht das Schlimmste zu verhindern oder sie nehmen die „beteiligungsorientierte Reorganisation“ ernst und versuchen ihre Interessen aktiv durchzusetzen. Für letztere Interpretationsmöglichkeit spricht, dass sich die meisten Beschäftigten in der Phase der IST-Analyse trotz Skepsis kooperativ verhalten und die gewünschten Informationen geliefert haben. Vielleicht auch deshalb, weil sie das Projekt und die „beteiligungsorientierte Reorganisation“ als Symbol einer signalisierten Gesprächsbereitschaft seitens des Managements interpretiert haben. Für die erste Interpretationsmöglichkeit spricht die bereits im Rahmen der Auswertung der Ergebnisse der Subjektiven Arbeitsanalyse (vgl. Abschnitt 5.3.3.1) diskutierte Vermutung, dass die gelieferten Informationen bereits interessengeleitet ausgewählt, gefiltert und dargestellt wurden, um auf diesem Wege die Entscheidungsprozesse zumindest indirekt mit zu beeinflussen.
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Es unterbleibt beispielsweise die öffentliche Präsentation der Endergebnisse zu den Leistungsverzeichnissen.
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Auch die Interessenvertretung wird in der Regelinterpretationsphase formell nicht beteiligt und zieht sich in Folge dessen auf das sichere Terrain der Schutzaufgaben zurück. Der Personalrat beschränkt sich – gestützt auf seine formellen Rechte – im Wesentlichen darauf, den Status quo zu sichern und Gefahren abzuwehren, die die Besitzstände gefährden könnten. Damit versäumt es die Interessenvertretung allerdings eigenständige Reformvorstellungen zu entwickeln und Mitgestaltungsansprüche einzuklagen. In dieser „defensiven Beteiligungspraxis“ (Greifenstein & Kißler 2000) wird der Personalrat durch die zuständige Gewerkschaft unterstützt. Im Rahmen von Personalversammlungen wird auch von Gewerkschaftsseite die Front der RoutinespielerInnen bedient, indem zum einen die mangelhafte Beteiligung angeprangert und zum anderen gefordert wird, die Besitzstände der bisherigen Beschäftigten zu bewahren sowie soziale Härten abzufedern. Zur Verteidigung der Besitzstände wird im Bedarfsfall der Gesamtpersonalrat als einflussreicher Koalitionär eingeschaltet, der zusammen mit dem Topmanagement der FUB bei der Lösungsfindung unterstützend eingreift (z.B. um die durch den Wegfall der Schichtzulagen entstehenden finanziellen Einbußen der Techniker abzufedern). Für diese Strategie gibt es verschiedene Erklärungsansätze, die auf unterschiedlichen Ebenen ansetzen. Da der tatsächliche Einfluss von Personalvertretungen auch von ihrem Selbstverständnis abhängt und davon, wie sie ihre Rolle definieren (vgl. Greifenstein & Kißler 2000), kann hier eine der Ursachen vermutet werden. Auf der damit zusammenhängenden Ebene der Zusammenarbeit könnte die Interessenvertretung angesichts der kaum ausgeprägten gesetzlichen Beteiligungsrechte bei der Konzeptentwicklung von Maßnahmen und vor dem Hintergrund der negativen Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit der Verwaltung (vgl. Abb. 51) aber auch keine andere realisierbare Handlungsoption für sich erkennen. Angesichts der Rahmenbedingungen, die wenig Handlungsspielraum für Kompensationsgeschäfte offen lassen, kann es darüber hinaus auch eine strategische Entscheidung sein, auf Einflusschancen zu verzichten. In einer Reform, die offensichtlich dabei ist, in eine Rationalisierungsfalle zu geraten, ist Mitgestaltung und damit auch Mitverantwortung für den Prozess und die erzielten Ergebnisse – vor allem kurz vor der anstehenden Personalratswahl Ende 2004 – für die Interessenvertretung nicht erstrebenswert. Last but not least könnte eine der Erklärungen auch auf der Kompetenzebene gesucht werden, denn neben dem (politischen) Interesse am Modernisierungsspiel ist als subjektiv-personengebundener Anteil die Partizipationskompetenz der Beteiligten notwendig. Nur wer in kognitiver Hinsicht über Sach- und Handlungswissen verfügt und in motivationaler Hinsicht ein Beteiligungsinteresse hat, wird Definitionsmacht ausüben wollen und können (vgl. Bogumil & Kißler 1998b).
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Unter individuell eigenen (begrenzten) Rationalitätskriterien ist das Verhalten der MitspielerInnen bzw. GewinnerInnen des alten Hierarchiespiels also durchaus rational. Deren Gewinnaussichten würden sich unter den neuen (drohenden) Spielregeln wesentlich verschlechtern. Auf der motivationalen Ebene fühlen sich fast alle MitarbeiterInnen durch die Sparvorgaben von Anfang an als Opfer einer übergeordneten Instanz und auf der organisationalen Ebene ist die Verteilmasse für die Kompensation von Verlusten gering. Die ReviergärtnerInnen selbst verlieren durch die neue Arbeitsorganisation Macht, Status, Einfluss und ihre Vorarbeiterzulagen. Die Chancen der AnwärterInnen auf diese Stellen werden schlechter, da sowohl die Anzahl der Reviergärtnerstellen reduziert werden soll, als auch die Qualifizierungs- und Spezialisierungsmöglichkeiten für diese Stellen durch das Schaffen von revierübergreifenden Arbeitsgruppen erschwert wird. In dieser aussichtslosen Situation werden auch „Guerillataktiken“ eingesetzt. Gezielt gestreute Gerüchte (z.B. dass die Reorganisation – wahlweise: das Begleitprojekt – nur gemacht werde, um die Vorarbeiterzulagen zu streichen) fallen auf fruchtbaren Boden und werden für einige Beschäftigte zur festen Überzeugung.332
Auch in der Regelinterpretationsphase kann also abschließend festgestellt werden, dass lediglich die oberen und mittleren Führungskräfte Definitionsmacht hatten. Die Entscheidungen verlaufen weiterhin in den Bahnen etablierter innerbetrieblicher Entscheidungswege, auf denen das gärtnerische Personal keine Definitionsmacht besitzt und daher keinen Akteursstatus erlangt. Die unteren Führungskräfte und das sonstige gärtnerische Personal durften zwar Mitreden (wobei im Rückblick deutlich wird, dass der Fokus auf dem Abschöpfen von Erfahrungswissen lag), hatten aber keine Definitionsmacht und wurden bezüglich Mitwirkung auf die Umsetzungs- und Korrekturphase verwiesen. Sie erhalten weder ein Angebot, noch erkämpfen sie sich die Chance zur Mitbestimmung, sind also höchstens Agierende oder einfach nur Betroffene. Weil sie weder allokative noch autoritative Ressourcen für die Entwicklung von Definitionsmacht mobilisieren können, bleiben sie ohnmächtig. Zwar versuchen insbesondere die ReviergärtnerInnen – die durch die (drohenden) neuen Spielregeln am meisten verlieren und daher ein starkes politisches Interesse an der Beeinflussung des Reorganisationsprozesses haben – Einfluss zu nehmen, in dieser Phase aber ohne Erfolg. Im Gegensatz zu den GärtnerInnen, die als (potentielle) angehende ReviergärtnerInnen ebenfalls Interesse am Erhalt des Status quo haben, halten sich die GartenarbeiterInnen weitgehend zurück und bleiben (nur) Betroffene. Auch der Personalrat hat offensichtlich nur dann Gestaltungsmacht, wenn er sich mit einer 332
Das führt beispielsweise dazu, dass ich auf der Weihnachtsfeier 2004 – zu der ich vom Personalrat eingeladen bin – von einer Mitarbeiterin mit den Worten begrüßt werde: „Sie trauen sich noch hierher?“.
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mächtigen und einflussreichen Akteursgruppe (hier: dem Gesamtpersonalrat) verbündet. Die Akteurslandkarte sieht in der Regelinterpretationsphase daher wie folgt aus:
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P/K FF WB GPR UB D VL AL/GL PR Gä RG GM GA
Präsidium/Kanzler Fremdfirma Wiss. Begleitprojekt Gesamtpersonalrat Unternehmensberatung Leitender Direktor Verwaltungsleitung Abteilungs-/Gartenleitung Personalrat GärtnerInnen ReviergärtnerInnen GärtnermeisterInnen GartenarbeiterInnen
Abbildung 56: Die Akteurslandkarte in der Regelinterpretationsphase (Quelle: eigene Darstellung)
Die Regelinterpretation findet im kleinen Kreis statt, in dessen Zusammensetzung sich die heterogenen Anforderungen an das Reorganisationsvorhaben wiederfinden. Der leitende Direktor (D) sowie die Verwaltungsleitung (VL) und Unternehmensberatung (UB) sorgen für die legitimatorische und machtpolitische Rückendeckung (da VL und UB – zumindest in der Außenwirkung – in dieser Phase den größten Einfluss haben, sind ihre Kreise am größten). Das wissenschaftliche Begleitprojekt (WB) mit seinen vielfältigen informellen Beziehungen soll die benötigten Informationen liefern sowie an den Lösungsvorschlägen mitarbeiten. Die Abteilungs- und Gartenleitung (AL/GL) – primär für den möglichst reibungslosen Verlauf des Implementationsprozesses verantwortlich – stellt die Schnittstelle zum gärtnerischen Personal dar. Der Personalrat (PR) und die Beschäftigten sind noch immer Agierende oder nur Betroffene. Da aber in dieser Phase deutlich wird, dass das gärtnerische Personal keine homogene Gruppe ist, sondern aus diversen Interessengruppen besteht, wird dies in der Akteurslandkarte entsprechend dargestellt (GM steht für GärtnermeisterInnen, RG steht für ReviergärtnerInnen, Gä steht für GärtnerInnen und GA steht für Garten-
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Reorganisation als Machtspiel
arbeiterInnen). Auch die Fremdfirma (FF) ist zunächst (zumindest nach außen) eher Betroffene als Agierende. Das Präsidium bzw. der Kanzler (P/K) sowie der Gesamtpersonalrat (GPR) sind zwar aufgrund ihres Einflusses Akteure, bleiben aber „im Hintergrund“, da sie in dieser Phase nicht selbst aktiv werden, sondern nur im Konfliktfall hinzugezogen werden. Die Beziehungen zwischen den Beteiligten werden wieder durch Linien und Pfeile symbolisiert.333
6.4
Die Regelumsetzungsphase
Von den Vorbehalten der Beschäftigten können und wollen sich die unter Zeit- und Erfolgsdruck stehenden Veränderungspromotoren anscheinend nicht aufhalten lassen und schaffen Tatsachen. Mit dem Inkraftsetzen der neuen Aufbau- und Ablauforganisation am 01.01.2005 werden die neuen formellen Spielregeln für alle davon Betroffenen verbindlich eingeführt. Damit scheint für das Topmanagement das Ziel erreicht. Die Verwaltungsleitung verlässt die Steuergruppe und überlässt ihren Platz für die nun anstehende Implementation der erarbeiteten Expertenlösungen einem Gärtnermeister und einem Reviergärtner (der gleichzeitig Mitglied des Personalrats ist). Damit entsteht der Eindruck, dass jetzt in der Umsetzungsphase das Expertenwissen, die soziale Phantasie und Kreativität der betroffenen Beschäftigten erschlossen und im Sinne einer Korrekturpartizipation als Modernisierungspotential genutzt werden soll (vgl. Greifenstein et al. 1993, S. 29 f.). Doch es stellt sich schnell heraus, dass viele MitarbeiterInnen nicht mitreden wollen, wenn sie nichts zu sagen haben. Sowohl in der Vergangenheit, als auch in der bisherigen Projektlaufzeit haben sie die Erfahrung machen müssen, dass weder ihre Verbesserungsvorschläge noch ihre Vorbehalte so ernst genommen wurden, dass sie Wirkung gezeigt hätten. Daher sind in der Regelumsetzungsphase neben der erwünschten aktiven Mitarbeit und der passiven Duldung auch offene Ablehnung und hierarchieübergreifender Widerstand zu beobachten. Statt die neuen Regeln in die Praxis umzusetzen, wird auf den ausführenden Ebenen vielfach weitergemacht wie bisher, worauf das Management mit Druck in Form von Anordnungen und Dienstanweisungen reagiert (z.B. um die Durchführung der gemeinsamen Arbeitsbesprechungen durchzusetzen). Nach der Spiele-Typologie Mintzbergs (1983) sind das Widerstandsspiele und Konterrevolutionäre Spiele (vgl. Abb. 16).
333
Zur Erinnerung: Eine durchgezogene Linie steht für eine enge Beziehung bezüglich Informationsaustausch, Frequenz der Kontakte, Interessenübereinstimmung, Koordination, gegenseitiges Vertrauen etc.; ein Pfeil steht für die Richtung eines Unterstellungsverhältnisses; ein Doppelpfeil steht für eine Vertragsbeziehung, eine durch einen Blitz unterbrochene Linie steht für Beziehungsspannungen, Interessengegensätze und konflikthaltige Beziehungen; eine gestrichelte Linie steht für schwache oder informelle Beziehungen.
Die Regelumsetzungsphase
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6.4.1 Widerstand als politischer Abstimmungsprozess Aus mikropolitischer Sicht ist es nachvollziehbar, dass sich Beschäftigte in Veränderungsprozessen nur engagieren, wenn sie gewisse Garantien erhalten und wenn sie das Gefühl haben, dass sich das Ganze für sie lohnt. Denn Partizipation bringt – als politischer Prozess betrachtet – nicht nur Vorteile, sondern auch Risiken mit sich. Partizipatives Handeln ist risikoreich, weil es erfordert Kritik- und Widerstandsfähigkeit abzuschwächen und gleichzeitig Fachwissen, Kunstgriffe, Arrangements und Geheimnisse offen auf den Tisch zu legen. „Sich zu beteiligen“ bedeutet auch, sich auf Lösungen festzulegen, die gemeinsam gefunden und erarbeitet werden (vgl. Friedberg 2003, S. 120). Kurz gesagt: es geht (auch) darum, aktiv daran mitzuarbeiten, die eigenen Ungewissheitszonen und Handlungsspielräume zu verkleinern. Darüber hinaus spielt als subjektiv-personengebundener Anteil die Partizipationskompetenz der AkteurInnen eine wesentliche Rolle. Der bisher vorherrschende (eher autoritäre) Führungsstil und der streng hierarchische Aufbau haben einen Großteil der Beschäftigten eher in Richtung Gehorchen statt zum Mitdenken und Mitgestalten hin sozialisiert. Aber nur wer in kognitiver Hinsicht über Sach- und Handlungswissen verfügt und in motivationaler Hinsicht ein Beteiligungsinteresse hat, wird überhaupt Definitionsmacht ausüben wollen und können. Wer hingegen kein (politisches) Interesse am Modernisierungsspiel hat oder weder Gelegenheit noch Kompetenz zum „Mitspielen“, wird stattdessen in apathisch-resignative Abstinenz verfallen oder auf dem Status quo beharren (vgl. Bogumil & Kißler 1998b, S. 304). Damit ist klar, dass in erster Linie die (angehenden) ReviergärtnerInnen die Grundvoraussetzungen zum Mitspielen erfüllen. Für die Motivation, sich aktiv am Regelproduktionsprozess zu beteiligen, ist allerdings wesentlich, welche Gewinne für wen winken. Da die ReviergärtnerInnen keine berechtigten Hoffnungen haben, ihre Gewinnmöglichkeiten mit Hilfe der neuen Spielregeln zu steigern, werden sie auch nicht motiviert sein, sich und ihr Wissen einzubringen (vgl. Abschnitt 6.1.1). Im Gegenteil: sie befürchten, dass mit der neuen Ablauforganisation und den damit verbundenen Arbeitsbesprechungen „alle zu kleinen Reviergärtnerinnen gemacht werden sollen“ – eine aus ihrer Sicht wenig unterstützenswerte Entwicklung. Die Handlungsspielräume der Beschäftigten haben sich zwar aufgrund der mit den Fremdvergaben weggefallenen Aufgaben verkleinert, aber sie haben nach wie vor große fachliche Unsicherheitszonen, die sie in ihren Arbeitsbereichen beherrschen. Nach der „Theorie strategischer Abhängigkeiten“ (vgl. Abschnitt 3.3.3.5) hängt die Macht jeder Organisationseinheit darüber hinaus von ihrer Ersetzbarkeit (hier: durch die Fremdfirma) ab. Insbesondere die hochqualifizierten GärtnerInnen, die die wissenschaftlichen Lebendsammlungen betreuen, sind in absehbarer Zeit nur schwer ersetzbar. Diese Machtressourcen werden jetzt eingesetzt, um die – die Status-quo-
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Reorganisation als Machtspiel
Interessen bedrohenden – Reorganisationsinitiativen auf der operativen Ebene „kleinzuarbeiten“ (vgl. Schirmer 2000, S. 257; Thomas & Davies 2005, S. 701). Gründe dafür gibt es aus subjektiver Sicht des gärtnerischen Personals genug: In der ZE lösen der Personalabbau und die Fremdvergaben Ängste und Unsicherheiten bei den Beschäftigten aus. Die widersprüchlichen Aussagen hinsichtlich des Ausmaßes und der Ziele der Reorganisation befördern eine selektive Informationsverarbeitung und das Entstehen falscher Erwartungen. Nicht zu unterschätzen sind die Grenzen, die jahrelange Gewohnheiten und angelernte – weil in der Vergangenheit bewährte – Sichtweisen den Beteiligten setzen. Insbesondere bei den ReviergärtnerInnen spielen auch handfeste wirtschaftliche Faktoren eine Rolle, da der drohende Wegfall der Vorarbeiterzulagen eine nicht unerhebliche Gehaltseinbuße (9% bzw. 12%) bedeuten würde. Die neue Aufbau- und Ablauforganisation gefährdet sowohl bestehende Machtbeziehungen und bisher gültige Gruppennormen in den Arbeitsgruppen, als auch den Erhalt und die Kontrolle der bisherigen Ungewissheitszonen und damit das Machtpotenzial vieler MitarbeiterInnen. Last but not least bewirken alle bisher stabilitätssichernden Mechanismen eine strukturelle Trägheit, die als Gegengewichte zum Wandel fungiert. Dazu gehören auch die Regelungen, die nicht geändert werden und dadurch eine neue Aufgabenverteilung erschweren oder gar verhindern, wie z.B. der Geschäftsverteilungsplan und die bisherige Beförderungspraxis (vgl. Abschnitt 5.2.2.2). Den neuen Anforderungen stehen damit alte Hürden statt neue Anreize gegenüber. Die Reaktionen des gärtnerischen Personals in dieser Situation können als mikropolitische Taktiken interpretiert werden, mit denen sie sowohl ihren Unmut über die für sie nicht zufriedenstellende Zielrichtung und Gestaltung des Reorganisationsprozesses ausdrücken, als auch ihre Interessen einbringen.334 Wer das Gefühl hat, dass seine Interessen und Bedürfnisse weder bei der Regelsetzung, noch bei der Regelinterpretation berücksichtigt werden, wird versuchen, die Top down beschlossenen und in Kraft gesetzten Beschlüsse bei der Regelumsetzung zu unterlaufen. Macht, gegen die nicht offen vorgegangen werden kann, provoziert das Verhalten von „BremserInnen“ – das sind immer die Betroffenen, deren Interessen nicht berücksichtigt wurden (vgl. Ortmann et al. 1990). Auch der Reorganisationsprozess in der Umsetzungsphase ist ein (politischer) Abstimmungsprozess, durch den die Expertenlösungen via Abstimmung zwischen allen von der Veränderung Betroffenen in konkrete Handlungsweisen übersetzt werden. Da die Beschäftigten in der Konzeptionsphase keine Definitionsmacht hatten, erfolgt diese Abstimmung nun „stillschweigend“ in der Umsetzungsphase. Von den Veränderungspromotoren wird sie als Widerstand gegen 334
vgl. Fleming & Spicer (2007)
Die Regelumsetzungsphase
291
Wandel erfahren und interpretiert, aber sie ist im Grunde nur eine (unbewusste und versteckte) Verhandlungstechnik, bei der das neue Organisationskonzept durch Unterlaufen, abweichendes Verhalten, Hinhalten u.a.m. aufgeweicht wird, um für die Interessen der von der Veränderung Betroffenen Platz zu schaffen. Was sich letztendlich daraus ergibt, ist dann sehr wohl das Produkt eines Abstimmungsprozesses. Obwohl keiner der Beteiligten das Gefühl hatte, an einem solchen teilgenommen zu haben: Bewusst wahrgenommen werden nur die Konflikte und die (versteckten) Abweichungen von der offiziellen Lösung (vgl. Friedberg 2003, S. 101 f.).
6.4.2 Der Kampf der Systeme Statt sich wie von der Steuergruppe vorgesehen – im Sinne der Korrekturpartizipation – aktiv an der Optimierung der in Kraft gesetzten Expertenlösung zur neuen Arbeitsorganisation zu beteiligen, steigt das gärtnerische Personal jetzt auch in das „Gartenrettungspiel“ der Abteilungs- und Gartenleitung (vgl. Abb. 55) ein. Den Veränderungspromotoren und Entscheidungsträgern soll anscheinend mit vereinten Kräften bewiesen werden, dass die Privatfirma vielleicht kostengünstiger, aber dafür qualitativ schlechter arbeitet und das hohe Niveau der gärtnerischen Betreuung der Flächen auf diesem Weg nicht gesichert werden kann. Daher wird die Arbeit der MitarbeiterInnen des Service-Bereichs beobachtet und bewertet – was diese ihrerseits auch tun, um das Gegenteil zu beweisen. Mit der Umsetzungsphase entflammt der „Kampf der Systeme” (Privatwirtschaft versus öffentlicher Sektor), in dem sich PrivatisierungsbefürworterInnen und -gegnerInnen auf (fast) allen Hierarchieebenen zunächst anscheinend unversöhnlich gegenüber stehen. So entwickelt sich beispielsweise der „Italienische Garten“ zu einem beliebten Streitobjekt, bei dem es darum geht, welches System ihn für die BesucherInnen attraktiver gestalten kann. Mintzberg (1983) nennt dieses Spiel, in dem sich die Beteiligten in Nullsummen-Spielen gegenseitig bekämpfen, in seiner Spiele-Typologie das Rivalisierende-Lager-Spiel (vgl. Abb. 16). Da es in meinem Fallbeispiel auch darum geht, für die in der Umsetzungsphase auftretenden Pannen und Probleme jeweils die andere Seite verantwortlich zu machen, wird hier zudem das „Schwarze-Peter-Spiel“ gespielt. Mit der Entscheidung der ZE, den eigenen Personalbestand auf eine möglichst kleine (qualifizierte) Stammbelegschaft für die wissenschaftlichen Lebendsammlungen zu reduzieren und die Serviceaufgaben fremd zu vergeben, werden vor allem zwei Ziele verfolgt: die Personalkosten zu senken und die Flexibilität zu erhöhen – das sind die intendierten Handlungsfolgen. Mikropolitisch betrachtet kommen damit allerdings auch neue AkteurInnen und neue Interessen mit in das Spiel, die die Politisierung des Reorganisationsprozesses noch komplexer und damit noch unübersichtlicher
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Reorganisation als Machtspiel
machen, was zusätzliche nicht-intendierte Handlungsfolgen nach sich zieht. Die Beschäftigten der ZE BGBM müssen sich jetzt nicht nur mit den ihnen schon bekannten – und damit zumindest teilweise einschätzbaren – KollegInnen auseinandersetzen, sondern darüber hinaus mit neuen MitspielerInnen, die z.T. völlig andere Spiele (u.a. das „Gewinnmaximierungsspiel“) mit anderen Spielregeln spielen. Dies gilt in erster Linie für die ausführenden Ebenen, die sich auf der Arbeitsebene mit zunächst schwer einschätzbaren neuen MitspielerInnen auseinandersetzen müssen, die mit den revierübergreifenden Dienstleistungen eine wichtige und zentrale Ungewissheitszone besetzen, die ihnen viel Macht verleiht.335 Hier wird ein Mechanismus sichtbar, auf den schon Ortmann et al. (1990, S. 457 f.) hinweisen: den Veränderungspromotoren fallen riskante Innovationsspiele leicht, da sie die „externen Kosten“ ihrer Entscheidungen – die Folgeprobleme und Auswirkungen auf die Arbeit im Garten (z.B. Arbeitsverdichtung und monotonere Arbeit in den Revieren, Abstimmungs- und Koordinationsprobleme mit dem Servicebereich) – in der Regel nicht selbst zu tragen brauchen. Sie können die ihnen verfügbaren Machtmittel nutzen, um den Druck zu erzeugen, mit dem sie das Risiko auf hierarchisch niedriger angesiedelte Bereiche oder Personen (d.h. die RoutinespielerInnen) abwälzen. Da von höheren Hierarchieebenen erwartet wird, Innovationsspiele zu spielen, sichern sie damit ihre eigene Position und induzieren gleichzeitig das Verhalten der RoutinespielerInnen, die sich gegen diese Zumutungen wehren. Damit produziert die Struktur aus Regeln und Ressourcen eine hierarchische Verteilung von Risiko- und Innovationsbereitschaft oben und induzierter Sicherheitspolitik unten, die auf den ersten Blick als persönliche Tugend der Veränderungspromotoren und Reformresistenz der breiten Masse erscheint. Obwohl mit dessen Risiken zunächst in erster Linie das gärtnerische Personal konfrontiert wird, lässt sich auch das Topmanagement der ZE BGBM auf ein riskantes neues Spiel ein, bei dem es nicht nur viel zu gewinnen, sondern auch viel zu verlieren gibt. Die gegenseitigen Abhängigkeiten der SpielerInnen in diesem speziellen Innovationsspiel werden deutlich, wenn man den besonderen Charakter von Outsourcing-Beziehungen eingehender analysiert. Verschiedene Eigenschaften von Outsourcing-Transaktionen (z.B. Langfristigkeit, Spezifität der Bindung, Intensität des Informationsaustausches, Vertrauensatmosphäre) sind eher für unternehmensinterne 335
Für die in den Service-Bereich versetzten MitarbeiterInnen ergeben sich im Gegensatz dazu „Migrationsprobleme“, denn für sie fand ein plötzlicher Systemwechsel statt, den sie sich weder gewünscht, noch durch eigene Entscheidung herbeigeführt haben. Sie sind passiv Betroffene, die sich in der neuen Situation zurechtfinden und diese bewältigen müssen und zwar sowohl hinsichtlich ihrer neuen Rolle bzw. Identität als MitarbeiterIn (inkl. ihren Zukunftsplänen), als auch in Bezug auf ihre Beziehungen zu neuen und alten KollegInnen und Vorgesetzten (vgl. Seewald 2003, S. 44).
Die Regelumsetzungsphase
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als für marktliche Beziehungen typisch (vgl. Hecker 2007, S. 3 ff.). Dieser hybride Charakter von Outsourcing-Beziehungen beinhaltet eine Verzahnung von kooperativen und kompetitiven Elementen.336 Einerseits haben die Outsourcing-Partner nach Hecker (2007) ein gemeinsames Interesse daran, die Kooperationserträge in Form von Produktions- und Transaktionskostenvorteilen zu maximieren, andererseits bewegt sich die Verteilung dieser Kooperationserträge im Spannungsfeld gegenläufiger Interessen. Bevor es allerdings zu Konflikten um die Verteilung des „Kooperationsrentenkuchens“ kommen kann, muss dieser zunächst erarbeitet werden. In einer Outsourcing-Beziehung kann nur dann eine Netto-Kooperationsrente erzielt werden, wenn die Brutto-Kooperationserträge höher sind, als die spezifischen (Transaktions)Kosten der Beziehung. Kooperationsvorteile ergeben sich vor allem aufgrund von Kosteneinsparungen durch die Nutzung von Größen- bzw. Spezialisierungsvorteilen sowie die Reduzierung von Faktorkosten (insbesondere von Löhnen und Lohnnebenkosten) und aufgrund von Kostenflexibilisierungen durch effizientere Adaption an Nachfrageschwankungen. Diese Brutto-Kooperationserträge werden durch die anfallenden Transaktionskosten geschmälert. Neben einmaligen Transaktionskosten bei der Anbahnung (Such-, Verhandlungs- und Setup-Kosten) entstehen desweiteren Transaktionskosten zur Aufrechterhaltung einer Outsourcing-Beziehung: kooperationsinduzierte (Kooperationssicherungsmaßnahmen in Form von Anreiz- und Kontrollsystemen), koordinationsinduzierte (Koordinationsaufwendungen, die aufgrund von Interdependenzen und Komplementaritäten erforderlich werden) und innovationsinduzierte (Aufwendungen für den Schutz innovativen Wissens oder Maßnahmen, die aufgrund von Wissensdiffusion erforderlich werden). Nur wenn diese Transaktionskosten kleiner sind, als die Brutto-Kooperationserträge, können beim Outsourcing Netto-Kooperationsrenten generiert werden. Damit wird klar, inwiefern die oben aufgezeigten Eigenschaften von OutsourcingTransaktionen zur Maximierung der Kooperationsrente beitragen: Auf der einen Seite erhöht die mit zunehmender Arbeitsteilung und Spezialisierung einhergehende Beziehungsspezifität die Produktionskostenvorteile. Auf der anderen Seite minimiert eine langfristige und vertrauensvolle Vertragsbeziehung (d.h. die gemeinsame Transaktionshistorie ist geprägt durch einen hohen Grad an Informationsaustausch und Verhaltenstransparenz und hat geteilte Verhaltensnormen sowie Reputationsund Vertrauensmechanismen zur Folge) die Transaktionskosten. Dies funktioniert nur, wenn sich die PartnerInnen in einer Outsourcing-Beziehung nicht wie auf neoklassischen Märkten opportunistisch verhalten. Während die kooperativen Bemühungen der Outsourcing-Partner ein Positiv-Summen-Spiel darstellen, ist die Vertei336
Diese Verknüpfung von „Cooperation“ und „Competition“ wird mit dem Neologismus „Coopetition“ (Nalebuff & Brandenburger 1996) treffend benannt.
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lung der so generierten Kooperationsrente allerdings ein (potentiell konfliktträchtiges) Nullsummen-Spiel (vgl. Hecker 2007, S. 18 ff.). Es kann also davon ausgegangen werden, dass die neuen MitspielerInnen zunächst ein großes Interesse an einer engen und reibungslosen Zusammenarbeit haben, wofür sie auf die Kooperationsbereitschaft der Beschäftigten der ZE BGBM angewiesen sind. Aber auch Outsourcing-Partner entwickeln bzw. haben Eigensinn und nutzen die ihnen – mit den Ungewissheitszonen, die sie nach und nach beherrschen – zufallenden Machtpotentiale, um ihr Spiel zu spielen und ihre Macht auszubauen. Hier kommt ebenfalls die „Theorie strategischer Abhängigkeiten“ zum tragen (vgl. Abschnitt 3.3.3.5), die besagt, dass die Macht einer Organisationseinheit u.a. von ihrer Ersetzbarkeit und Zentralität abhängt. Da der Service-Bereich hinsichtlich des Arbeitsflusses an vielen Stellen eine zentrale Funktion einnimmt und die Reviere von diesen Vorleistungen z.T. abhängig sind, kann ihr Ausfall die Arbeit in den wissenschaftlichen Lebendsammlungen massiv beeinträchtigen. Die MitarbeiterInnen des Service-Bereichs können sich also unvorhersehbar für die anderen verhalten und die davon ausgehende Unsicherheit kann an einigen Stellen von der ZE bereits nicht (mehr) bewältigt werden (z.B. ist inzwischen der ganze Fuhrpark unter der Regie der Fremdfirma). Daraus entstehen zahlreiche Ungewissheitszonen, die der Fremdfirma Macht verleihen. Ihre Ersetzbarkeit ist zwar rein theoretisch gegeben – u.a. da die Verträge befristet sind – aber dies nimmt Zeit in Anspruch und es entstehen nicht unerhebliche Transaktionskosten bei der Anbahnung einer alternativen OutsourcingBeziehung. Diese Konstellation führt dazu, dass bei den MitarbeiterInnen im Cost Center Garten im Verlauf der Umsetzungsphase verschiedene Reaktionsweisen beobachtet werden können. Während sich die einen mit den MitarbeiterInnen des Servicebereichs – die z.T. frühere KollegInnen aus den Revieren der ZE BGBM sind – arrangieren und gut zusammenarbeiten, treten andere in eine Art Wettbewerb hinsichtlich Qualität und Quantität der Arbeit. Wieder andere versuchen entweder, möglichst viele Aufgaben zur eigenen Entlastung an den Servicebereich abzugeben oder reagieren mit Widerstand und einer gewissen Blockadehaltung. Der „Kampf der Systeme“ wird eben auch personalisiert und auf der Ebene der Beschäftigten ausgetragen. Beide Seiten tendieren dazu, der jeweils anderen Seite Fehler, Versäumnisse und unprofessionelles Verhalten nach zu weisen. Da im Service-Bereich eine gemischte Belegschaft Seite an Seite arbeitet, bleibt es nicht aus, dass sich die Beschäftigten aus der Fremdfirma und aus der Stammbelegschaft miteinander vergleichen. Den einen werden dadurch ihre schlechteren Arbeitsbedingungen bewusst und den anderen die
Die Regelumsetzungsphase
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Konkurrenzsituation, in der sie sich befinden. Dabei wird offensichtlich auch der „subtile Droheffekt“ von Fremdpersonaleinsatz wirksam. Da die Beschäftigten bereits die Erfahrung gemacht haben, dass einzelne Arbeitstätigkeiten, Arbeitskräfte oder Unternehmensbereiche prinzipiell disponibel sind, schwebt die permanente Bedrohung, als nächstes durch Fremdpersonal ersetzt zu werden bzw. in den (als unsicher eingeschätzten) Service-Bereich „abgeschoben“ zu werden, über vielen StammarbeitnehmerInnen (vgl. Abschnitt 2.3.4). Diese ganze Gemengelage führt in der Umsetzungsphase auf beiden Seiten zu Unzufriedenheiten und hat zumindest an einigen Stellen Wissenstransferprobleme, Qualitätsverschlechterungen und steigenden Kontrollaufwand zur Folge. Diese Beobachtungen können im Zusammenhang mit den obigen Ausführungen m.E. auch mikropolitisch gedeutet werden. Denn mit dem Inkraftsetzen der neuen formellen Spielregeln ist für das Topmanagement das Ziel noch nicht erreicht. Wie erläutert, ist das Management zur Erzielung einer Kooperationsrente auf die Beschäftigten angewiesen, da sie eine Schlüsselstellung bei der Minimierung der Transaktionskosten innehaben. Eine vertrauensvolle Zusammenarbeit und geteilte Verhaltensnormen können nur durch einen hohen Grad an Informationsaustausch und das Eröffnen von spontanen Lernund Adaptionsprozessen erreicht werden. Die Voraussetzungen dafür sind allerdings unter den geschilderten Rahmenbedingungen nicht besonders gut. Die zahlreichen negativen Überlagerungen der in den neuen Regeln enthaltenen positiven Reformansätze durch Haushaltskonsolidierungsmaßnahmen haben m.E. dazu geführt, dass das Doppelziel der Organisationsentwicklung in der Umsetzungsphase mehr oder weniger in Richtung Rationalisierung aufgelöst wurde. Aber nicht, weil dies von Anfang an so geplant war, sondern weil die Logik der RoutinespielerInnen es bis dahin nicht geschafft hat, sich als vernünftiges Korrektiv zur Logik der InnovationsspielerInnen durchzusetzen. Das führt zu einem tiefen Misstrauen gegen den gesamten Reorganisationsprozess und wirkt sich negativ auf die Kooperationsbereitschaft der Beschäftigten aus. Die von der Begleitforschung schon im Vorfeld angemahnten Maßnahmen zu einer aktiven und konstruktiven Gestaltung der Schnittstellen zwischen Cost Center Garten und Servicebereich werden nie ernsthaft in Angriff genommen. Stattdessen vermehren sich die Konflikte und damit auch die Transaktionskosten. Dies wird beispielsweise an den z.T. erbittert geführten Diskussionen um die zur Minimierung und Dokumentation der Qualitätsprobleme eingeführten „Qualitätssicherungsliste“ deutlich sowie an den negativen Folgewirkungen auf Motivation, Commitment und Leistungsbereitschaft der MitarbeiterInnen, die sich u.a. an den Aussagen im Rahmen der Kompetenzprofilerhebung ablesen lassen. In der Umsetzungsphase wird das wissenschaftliche Begleitprojekt (als unsicherer Koalitio-
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Reorganisation als Machtspiel
när) m.E. von beiden Seiten mehr und mehr isoliert und auf „Nebenschauplätzen“ beschäftigt. Im Kampf der Systeme scheinen die Parteien (noch) nicht ernsthaft an einer (Kompromiss-)Lösung interessiert zu sein. Mikropolitisch betrachtet kann man zu dem Schluss kommen, dass sowohl die Erhebung der Kompetenzprofile als auch das Programm zur betrieblichen Gesundheitsförderung zu diesem Zeitpunkt mehrere Funktionen haben. Sie dienen als Kompensationsangebote für die Belegschaft der ZE BGBM auch zur Beruhigung der erhitzten Gemüter und werden ganz in diesem Sinne von den Beschäftigten aufgrund der damit verbundenen Hoffnung auf Personalentwicklung auch prinzipiell positiv aufgenommen. In der Diskussion mit den Führungskräften wird allerdings deutlich, dass bei der konkreten Umsetzungsplanung vor allem Wert gelegt wird auf die aufgrund des Personalabbaus ohnehin notwendig gewordene betriebliche Anpassungsqualifizierung. Nachdem die wissenschaftlichen BegleitforscherInnen den Garten bereits verlassen haben, wächst gegen Ende der in der Regelsetzungsphase vereinbarten zwei Jahre der Erfolgsdruck. Nachträgliche Recherchen haben ergeben, dass die GegenspielerInnen nach Einschaltung von GPR und Topmanagement der FUB doch noch eine Kompromisslösung finden, mit der offensichtlich alle Beteiligten (mehr oder weniger gut) leben können. Die ReviergärtnerInnen erhalten eine finanzielle Kompensation für den Wegfall ihrer Vorarbeiterzulagen und es wird ein Gemeinschaftsbetrieb (d.h. eine Betriebsgesellschaft als hundertprozentige Tochter der FUB) gegründet, in dem unter einer gemeinsamen Leitung das gärtnerische Personal des Cost Centers Garten und die MitarbeiterInnen des Service-Bereichs zusammenarbeiten werden. Die Beschäftigten dieses „Konzerns“ sollen von einer gemeinsamen Interessenvertretung – zusammengesetzt aus örtlichem Personalrat und dem bereits gegründeten Betriebsrat – vertreten werden (vgl. Botschafter 2008, S. 4 f.). Damit kann am (vorläufigen) Ende der Reorganisation postuliert werden, dass die RoutinespielerInnen in der Umsetzungsphase – zwar nicht direkt, aber über ihre Interessenvertretung – doch noch Definitionsmacht erstritten haben. Es konnte eine Kompromisslösung gefunden werden, die sich (hoffentlich) positiv auf die Zusammenarbeit und das Betriebsklima auswirken wird. Trotz der unterschiedlichen Machtmittel, die die jeweilige mikropolitische Lobby der bestehenden Herrschaftsstruktur entnehmen konnte und der sich daraus ergebenden Dominanz der Managementlogik, hat keine Partei den alleinigen Sieg errungen. Aufgrund des „Zwangs zum mikropolitischen Arrangement“ stellt auch diese Lösung ein subtiles und kompliziertes Abkommen dar, in dem beide Logiken in unterschiedlichem Ausmaß aufgehoben sind (vgl. Ortmann et al. 1990, S. 421). Damit ergibt sich folgende Akteurslandkarte für die Umsetzungsphase:
Die Regelumsetzungsphase
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ĞƚƌŽĨĨĞŶĞ
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P/K FF WB GPR UB D VL AL/GL PR Gä RG GM GA
Präsidium/Kanzler Fremdfirma Wiss. Begleitprojekt Gesamtpersonalrat Unternehmensberatung Leitender Direktor Verwaltungsleitung Abteilungs-/Gartenleitung Personalrat GärtnerInnen ReviergärtnerInnen GärtnermeisterInnen GartenarbeiterInnen
Abbildung 57: Die Akteurslandkarte in der Regelumsetzungsphase (Quelle: eigene Darstellung)
Durch das Inkraftsetzen der Expertenlösungen wird unser wissenschaftliches Begleitprojekt (WB) in der Regelumsetzungsphase zur „Akteurin wider Willen“, was uns insbesondere die ReviergärtnerInnen übelnehmen. In dieser Phase nehmen die Interessenkonflikte zu bzw. werden jetzt sichtbar und im „Kampf der Systeme“ offen ausgetragen. Zwar sind weiterhin in erster Linie die alten und neuen Machthaber (d.h. das Topmanagement unterstützt von der Unternehmensberatung) die wichtigsten Akteure, aber letztendlich schaffen es die ReviergärtnerInnen (RG) mit Hilfe des örtlichen Personalrats (PR) und unter Einschaltung des GPR sowie des Topmanagements der FUB (P/K) Akteursstatus und eine Kompromisslösung zu erstreiten. Auch hier werden die Beziehungen zwischen den Beteiligten(-gruppen) wieder durch Linien und Pfeile symbolisiert.337
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Eine durchgezogene Linie steht für eine enge Beziehung, ein Pfeil steht für die Richtung eines Unterstellungsverhältnisses, ein Doppelpfeil steht für eine Vertragsbeziehung, eine durch einen Blitz unterbrochene Linie steht für Beziehungsspannungen und eine gestrichelte Linie steht für schwache oder informelle Beziehungen.
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Schlussbetrachtungen und Ausblick
7 Schlussbetrachtungen und Ausblick 7.1
Rückblickende Betrachtung der Vorgehensweise
Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit zur Reorganisation einer universitären Zentraleinrichtung in Berlin war die Erkenntnis, dass die Evaluation der Verwaltungsmodernisierung in Deutschland zu ernüchternden Ergebnissen kommt (vgl. Jann et al. 2006). Ein Blick auf die empirischen Erfahrungen zeigt, dass die deutschen Reformprozesse lange Zeit von einer engen, buchhalterischen Kostensenkungsperspektive beherrscht waren, was aber meist nur zu Leistungsabbau und nicht zu Effizienzsteigerungen geführt hat (vgl. Naschold & Bogumil 2000). Es gibt zwar eine breite Verwaltungsmodernisierungsbewegung, aber ein umfassender „Paradigmenwechsel“ der deutschen Verwaltung vom weberianischen Bürokratiemodell zum New Public Management ist noch nicht feststellbar (vgl. Bogumil et al. 2007). Obwohl die Reformen in Deutschland von z.T. gravierenden Implementationsproblemen geprägt sind, stehen in der betreffenden Reformliteratur bislang die inhaltliche Gestaltung des Reformprozesses sowie Übertragungs- und Anwendungsfragen im Mittelpunkt. Viele Fragen nach dem Verlauf von Reformprozessen, nach den Reformakteuren und nach den relevanten Einflussfaktoren sind dagegen noch offen (vgl. Hoon 2003), nicht zuletzt weil das Ausmaß an begleitender Reflexion äußerst bescheiden ist (vgl. Naschold & Bogumil 2000). Ich bin mit dem Anspruch angetreten, mit der theoretischen Reflexion in Form einer mikropolitischen Analyse eines Reformprozesses im öffentlichen Sektor an dieser Forschungslücke anzusetzen. Ziel war es, zum besseren Verständnis von Reorganisationsprozessen sowie den Ursachen von Reformdefiziten im öffentlichen Sektor beizutragen. Dabei ging es zum einen um die Analyse des Reorganisationsprozesses (Prozessebene) und zum anderen um die im Prozess verhandelten bzw. neu ausgehandelten Spielregeln und deren Auswirkungen auf die Machtverhältnisse (Inhaltsebene) im untersuchten Bereich: •
Wer ist im Reorganisationsprozess und damit im Produktionszyklus des Regelsystems AkteurIn und wer nur Agierende/r oder Betroffene/r?
•
Welche AkteurInnen haben in welcher Phase des Produktionszyklus des Regelsystems (im Fallbeispiel: die Aufbau- und Ablauforganisation) Definitionsmacht und hat dies Auswirkungen auf die Inhaltsebene?
•
Welche Strategien verfolgen die von der Reorganisation betroffenen Individuen und Gruppen? Welche Interessenbetroffenheiten und -konflikte liegen dem zugrunde?
•
Über welche Machtmittel verfügen die Beteiligten und (wie) werden sie eingesetzt?
Rückblickende Betrachtung der Vorgehensweise
•
299
Wie werden (welche) Interessenkonflikte gehandhabt und welche Rolle spielen dabei die Machtbeziehungen?
Um diesem Anspruch gerecht zu werden, habe ich in Kapitel 2 ausgehend vom tradierten Bürokratiemodell und seinen potentiellen Dysfunktionalitäten zunächst die in diesem Bereich als Modernisierungsleitbilder fungierenden dominierenden Reformansätze dargestellt und reflektiert. Die Erkenntnis, dass das New Public Management und das Neue Steuerungsmodell eher konzeptionelle Orientierungsrahmen darstellen (vgl. Budäus 1994), machte den Rückgriff auf betriebswirtschaftliche Konzepte zur Gestaltung erfolgreicher Reformprozesse notwendig. Damit wurde deutlich, dass mit den aktuellen Reformbestrebungen nicht nur betriebswirtschaftliche Instrumente zur ziel- und ergebnisorientierten Steuerung der Arbeitsabläufe, sondern auch zur Gestaltung von Innovationsprozessen Einzug in den öffentlichen Sektor halten – was angesichts der Unterschiedlichkeit der Systeme durchaus kritisch diskutiert wird (vgl. Kißler et al. 2000, Brunner-Salten 2003). Gleichzeitig entstanden an vielen Stellen Eindrücke, die auf den politischen Charakter von Reorganisationen hinwiesen. Eine wesentliche Ursache für Implementationsprobleme scheint in diesem Zusammenhang die den Reformkonzepten inhärente Planungsrationalität zu sein, die dem mikropolitischen Handeln der Akteure naiv gegenüber steht (vgl. Bogumil & Kißler 1998a): Die Gestaltung der Modernisierungsprozesse wird in erster Linie als Steuerungs- oder Implementationsproblematik betrachtet und damit weniger als soziales denn als technisches Problem. Diese Betrachtungsweise greift allerdings zu kurz, da Reorganisationen auch eine politisch-prozessuale Dimension haben, zu deren Wesensmerkmalen nicht nur Macht- und Interessenkonflikte, sondern auch deren emergenter Charakter gehören. Das heißt, dass politische Prozesse aus dem Zusammenwirken intendierter und nicht intendierter Handlungen und Handlungsfolgen einer Vielzahl von Akteuren und Handlungsgelegenheiten entstehen, deren Verläufe und Ergebnisse für die Beteiligten nur begrenzt planbar und z. T. höchst überraschend sind (vgl. Schreyögg 1996). Am Ende des Kapitels 2 stand daher die Feststellung, dass die Kosten fehlgeschlagener oder nur unzureichender Implementierung von Reorganisationskonzepten auch Kosten der Fehleinschätzung der politischen Phänomene in Wandelprozessen bzw. von Kontrollillusionen hinsichtlich deren Beherrschbarkeit sind (vgl. Schirmer 2000). Wenn Organisationen als politische Arenen betrachtet werden, muss auf der Suche nach den Ursachen von Reformdefiziten die Dynamik von Reorganisationen und damit auch die politisch-prozessuale Dimension dieses vielschichtigen Geschehens eingehender untersucht werden. Ein zu diesem Zweck bereits mehrfach angewandter und inzwischen konzeptionell verfeinerter Ansatz ist die strategische Organisati-
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Schlussbetrachtungen und Ausblick
onsanalyse von Crozier & Friedberg (1993), die ich nach Einführung der wichtigsten Politik-Begriffe in Kapitel 3 als zentrales Konzept meines theoretischen Bezugsrahmens vorstellte. Hier wurde konkretisiert, dass Organisationen als soziale Handlungssysteme nur über und durch die ihnen angehörenden Akteure bestehen und sich entwickeln. Da die Akteure aber immer in diesen Systemen handeln, ergibt sich daraus eine wechselseitige Konstitution von organisationalem Handeln und Organisationsstrukturen. Zentraler Integrationsmechanismus ist dabei das Spiel, das Freiheit und Zwang vereint. Obwohl die strukturellen Merkmale der Organisation die (Macht-) Ressourcen ungleichmäßig verteilen, behält jeder Akteur immer einen Freiheits- und Verhandlungsspielraum, der für die anderen Mit- oder Gegenspieler und die Organisation eine Ungewissheitsquelle – und damit ein gewisses Machtpotential – darstellt. Ihre Position ist also eine dialektische: Freiheit gibt es nur in und gegen Strukturen, die sozial (re)produziert werden und lediglich Korridore des Handelns festlegen, aber das Geschehen nicht lückenlos determinieren (vgl. Neuberger 1995). Da die fehlende Operationalisierung ihrer zentralen Konzepte (Macht, Strategien und Spiele), etliche forschungspraktische Fragen offen lässt, mussten meine Ausführungen zur strategischen Organisationsanalyse um einige konzeptionelle Weiterentwicklungen ergänzt werden (vgl. Ortmann et al. 1990, Mintzberg 1983, Neuberger 1995). Diese Ergänzungen waren die Grundlage für eine mikroskopische Analyse der wechselseitigen Konstitution von organisationalem Handeln und Organisationsstrukturen. Zur Spezifizierung meines Analyserahmens konnte ich auf einschlägige empirische Befunde der Verwendungsforschung zurückgreifen. Mein Grundverständnis von Organisationen als Kampfarenen konfligierender Rationalitäten (vgl. Bogumil & Kißler 1998a) wurde um die spezifischen Merkmale von Reorganisationen ergänzt. Die Basisbausteine zur Rekonstruktion von Reorganisationsprozessen lieferte dabei das Modell von Veränderungsprozessen nach Schirmer (2000). Präzisiert wurde dieser analytische Blick auf Reorganisationen durch die in Anlehnung an Greifenstein et al. (1993) übernommene Definition als Regelproduktionsprozess (mit den Phasen Regelsetzung, Regelinterpretation und Regelimplementation), an dem unterschiedliche Akteure interessenorientiert und unter Ausübung ihrer Regelungskompetenz teilnehmen. Daher gilt nur als Akteur, wer in diesem Produktionszyklus von Regelsystemen über Definitionsmacht verfügt – die anderen Beteiligten sind Agierende oder Betroffene. Damit sind die sensitivierenden Konzepte meines Analyserahmens umrissen, die im anschließenden Methodenkapitel neben grundsätzlichen methodischen Hinweisen zur Datenerhebung und -auswertung konkretisiert wurden. Bei der Erhebung selbst handelte es sich um einen Fallstudienansatz mit Bezügen zur Aktionsforschung. Um
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die Qualität der Fallstudienergebnisse zu sichern, wurden im Sinne einer systematischen Perspektiven-Triangulation (vgl. Flick 1995) verschiedene methodische Zugänge zum Untersuchungsfeld kombiniert, die unterschiedliche Perspektiven eröffnen. In Kapitel 4 legte ich meinen Forschungsansatz und mein methodisches Vorgehen offen, das nach Friedberg (1995) zunächst eine Reise in die Innerlichkeit der AkteurInnen und des Feldes beinhaltet. In der Feldforschungsphase kamen neben der teilnehmenden Beobachtung, Befragungen und Gruppendiskussionen vor allem die Dokumentenanalyse sowie offene bzw. halbstrukturierte Interviews zum Einsatz. Den Schwerpunkt der Auswertungsphase bildete ein auf den Bezugsrahmen aufbauender Vergleich der verschiedenen Perspektiven und Sichtweisen sowie der Einsatz der sensitivierenden Konzepte als Strukturierungsdimensionen (vgl. Mayring 1995). Mit Hilfe des aus der Theorie und empirischen Befunden abgeleiteten Bezugsrahmen war es möglich, in der Analysephase Abstand zu gewinnen und die Komplexität der Geschehnisse im untersuchten Reorganisationsprozess aus einer höheren Warte zu reflektieren, nachdem die eigentliche Projektarbeit längst abgeschlossen war. Aus diesen Arbeitsschritten resultierten in der vorliegenden Arbeit sowohl eine dichte Beschreibung des Reorganisationsprozesses, als auch ein mikropolitisch begründetes Modell des untersuchten Handlungssystems. In Kapitel 5 sollte meine Einzelfallstudie in einer feldnahen Darstellung zunächst für sich sprechen – nicht zuletzt, um die anschließende Rekonstruktion der Reorganisation als Machtspiel transparent(er) zu machen. In Kapitel 6 konnte mit Hilfe des zuvor erarbeiteten Analyserahmens gezeigt werden, dass sich die Machtverhältnisse im Verlauf des Regelproduktionsprozesses zwar nicht grundsätzlich, aber doch soweit änderten, dass interessierte AkteurInnen es unter Zeit- und Einigungsdruck schafften, Definitionsmacht zu erstreiten, was letztlich zu einer Kompromisslösung führte.
7.2
Zusammenfassung der Ergebnisse
Die eingangs gestellte Frage nach möglichen Ursachen von Reformdefiziten im öffentlichen Sektor kann ich mit meinen Untersuchungsergebnissen zwar nicht allgemeingültig, aber am Beispiel der Reorganisation der ZE BGBM exemplarisch beantworten. Eine zu rationalistische Sicht auf Reformprozesse vernachlässigt die Erkenntnis, dass auch öffentliche Organisationen als „Kampfarenen konfligierender Rationalitäten“ (vgl. Bogumil & Kißler 1998a) betrachtet werden können und geht damit m.E. das Risiko ein, nicht nur „psychologische Kolateralschäden“ zu verursachen, sondern auch Transaktionskosten zu produzieren, die mit Hilfe eines politikbewussteren Vorgehens voraussichtlich verringert werden könnten. Meine Analyse hat gezeigt, dass die Reorganisation der ZE BGBM nicht nur eine Sachfrage, sondern auch ein umkämpftes Politikfeld war, auf dem bereits die Rahmenbedingungen einen
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Schlussbetrachtungen und Ausblick
idealen Nährboden für mikropolitisches Handeln bildeten: Abhängigkeiten im Arbeitsprozess und die damit verbundenen Koordinationsprobleme; Mehrdeutigkeiten, Inkonsistenz und Intransparenz von Zielen, (Rollen-)Anforderungen und Situationsdefinitionen sowie die aus der Knappheit begehrter Ressourcen erwachsende Konkurrenzsituation sowie Zeitdruck (vgl. Dick 1992). Die mächtigen Veränderungspromotoren folgten zunächst einer synoptisch-rationalen Reorganisationsstrategie, nach deren Logik Widerstand gegen Wandel irrational ist bzw. als Störfaktor betrachtet wird und überwunden werden muss. Folgerichtig wurden die interessenpolitischen Konflikte, die aufgrund heterogener Interessenlagen der am betrieblichen Wandel beteiligten potentiellen AkteurInnen entstanden, zunächst nicht proaktiv bearbeitet, sondern so weit wie möglich ignoriert. Von den Vorbehalten der Beschäftigten konnten und wollten sich die unter Zeit- und Erfolgsdruck stehenden Innovationsspieler nicht aufhalten lassen und schafften stattdessen mit Hilfe ihrer autoritativadministrativen und allokativen Ressourcen (vgl. Ortmann et al. 1990) Tatsachen. Mit dem Inkraftsetzen der neuen formellen Spielregeln wurde zwar eine Organisationsänderung auf der sachlichen Ebene erzielt, aber noch keine Verhaltensänderung auf der psychologischen Ebene. Daher begann in der Implementationsphase ein „stillschweigender“ politischer Abstimmungsprozess, in dem das neue Organisationskonzept aufgeweicht wurde, um für die Interessen der Betroffenen Platz zu schaffen (vgl. Friedberg 1995). Damit sind meine Forschungsfragen zu den AkteurInnen bzw. Akteursgruppen und Strategien im Reorganisationsprozess als Regelproduktionsprozess schon teilweise beantwortet. Die AkteurInnen im Regelproduktionsprozess waren in erster Linie die alten und neuen Machthaber, d.h. die oberen und mittleren Führungskräfte der ZE BGBM. Sie ließen sich in der Konzeptionsphase nicht auf den partizipativen Anspruch des Begleitprojekts ein, sondern teilten die Definitionsmacht unter sich auf und verwiesen die Beschäftigten auf eine Korrektur- und Umsetzungspartizipation (die allerdings anders verlief, als geplant). Mit diesen auf die spezifische betriebliche Macht- und Handlungskonstellation gestützten Weichenstellungen verengte sich der Entscheidungskorridor, womit sich die „Beteiligungsorientierte Reorganisation“ von der geplanten Organisationsentwicklung zunehmend zur Geschäftsprozessoptimierung wandelte. Dabei ging es in erster Linie darum, informelles Produktionswissen in formalisiertes Planungswissen zu transformieren, um die im öffentlichen Sektor inzwischen weitverbreitete und damit offensichtlich legitimierte Problemlösung – Teile der ZE BGBM zu privatisieren und die Stammbelegschaft zu verkleinern – in die Tat umzusetzen. Davon profitierte zunächst vor allem das Topmanagement: Erstens konnten damit wesentliche Teile der notwendigen Einsparungen erreicht werden, zweitens konnten die bisher bindenden tarifvertraglichen Regelungen des öffentli-
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chen Dienstes z.T. umgangen werden, drittens konnte über die Vertragsgestaltung direkt Einfluss auf die Fremdfirma genommen und damit die eigene Machtbasis vergrößert werden, und viertens verkleinerten sich die Ungewissheitszonen des gärtnerischen Personals und damit die Macht der RoutinespielerInnen und deren Interessenvertretung (vgl. Behrens & Kädtler 2008). Gegen die geplanten Machtverschiebungen versuchten sich die Betroffenen zu wehren und infolgedessen taten sich auch in meiner Fallstudie die potentiellen GewinnerInnen als VeränderungspromotorInnen („Treiber“) hervor, während aus den potentiellen VerliererInnen die VeränderungsgegnerInnen („Bremser“) wurden (vgl. Ortmann et al. 1990). Mit den Fremdvergaben ließ sich die ZE BGBM allerdings auf ein riskantes neues Spiel ein, bei dem es nicht nur viel zu gewinnen, sondern auch viel zu verlieren gab. Denn es kamen neue Akteure (die andere Spiele spielten) und neue Interessen mit in das Regelproduktionsspiel. Das machte die Politisierung des Reorganisationsprozesses noch komplexer und damit noch unübersichtlicher und es begann ein „Kampf der Systeme“. Da die VeränderungspromotorInnen über Machtmittel verfügten, mit denen sie das Risiko des Innovationsspiels auf die hierarchisch niedriger angesiedelte RoutinespielerInnen abwälzen konnten, induzierten sie gleichzeitig das Verhalten der RoutinespielerInnen, die sich gegen diese „Zumutungen“ wehrten. Während die höheren Hierarchieebenen mit dem Spielen des Innovationsspiels ihre eigene Position sicherten, konnten sie die damit induzierte Sicherheitspolitik der breiten Masse als Reformresistenz anprangern (vgl. Ortmann et al. 1990). Doch in Anbetracht dieser Bedrohungen und in Ermangelung von Partizipationsmöglichkeiten war „Widerstand“ aus Sicht der Beschäftigten eine rationale Strategie, um den eigenen Interessen Gehör zu verschaffen. Da weder die Beschäftigten noch ihre Interessenvertretung spürbare Gestaltungsmacht ausüben konnten, versuchten sie zunächst via Stör- und Blockademacht ihre Besitzstände zu verteidigen. Denn die für das gärtnerische Personal (in Ansätzen vorhandenen) positiven Reformansätze im Reorganisationsprozess wurden durch die negativen Folgen der Haushaltskonsolidierungsmaßnahmen überlagert. Wie häufig im öffentlich Sektor zu beobachten (vgl. Naschold & Bogumil 2000), war auch in der ZE BGBM die Reform in erster Linie ein Kind der kommunalen Haushaltskrise und daher zwar ursprünglich als Modernisierungsprozess konzipiert, aber als Rationalisierungsprozess umgesetzt. Da Macht und Einflussmöglichkeiten ungleich verteilt waren, führte die Rationalisierung dazu, dass Personalabbau und Kostensenkungsmaßnahmen vor allem im unteren Arbeiter- und Angestelltenbereich durchgeführt wurden – die „Rationalisierungsfalle“ (vgl. Gerstlberger et al. 1999) schnappte zu.
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Schlussbetrachtungen und Ausblick
Paradoxerweise bekam das gärtnerische Personal der ZE BGBM in der Regelumsetzungsphase aber gerade durch das Outsourcing des Service-Bereichs einen Zuwachs an Macht und Einfluss. Da in einer Outsourcing-Beziehung eine Kooperationsrente nur erzielt werden kann, wenn die Brutto-Kooperationserträge höher sind, als die spezifischen (Transaktions-)Kosten der Beziehung, bekamen die Beschäftigten mit ihrem dafür erforderlichen Erfahrungswissen eine Schlüsselstellung. Denn die zur Minimierung der Transaktionskosten notwendige vertrauensvolle Zusammenarbeit und geteilten Verhaltensnormen können nur durch einen hohen Grad an Informationsaustausch und spontane Lern- und Adaptionsprozesse erreicht werden (vgl. Hecker 2007). Stattdessen vermehrten sich in der ZE BGBM zunächst die Konflikte und damit auch die Transaktionskosten. Obwohl es in diesem „Kampf der Logiken“ bzw. „Kampf der Systeme“ zunächst keine Seite schaffte, für die andere zum vernünftigen Korrektiv zu werden, wuchs gegen Ende der in der Regelsetzungsphase vereinbarten zwei Jahre der Erfolgs- und damit Einigungsdruck. Aber erst nach Einschaltung von Gesamtpersonalrat und Topmanagement der FUB (vgl. Botschafter 2008) konnten offensichtlich die zuvor vorherrschenden „Gewinner-Verlierer-Spiele" zumindest zum Teil durch „Gewinner-Entschädigter-Spiele" (vgl. Kieser & Bomke 1995) ersetzt und damit die unternehmensnotwendigen Veränderungen und persönlichen Betroffenheiten ein Stück weit entkoppelt werden. Damit haben sich die RoutinespielerInnen in der Umsetzungsphase – zwar nicht direkt, aber über ihre Interessenvertretung – doch noch ein Stück Definitionsmacht erstritten. Zwar dominiert offensichtlich die mächtigere Managementlogik die gefundene Kompromisslösung, aber aufgrund des „Zwangs zum mikropolitischen Arrangement“ (Ortmann et al. 1990) stellt sie trotzdem ein subtiles und kompliziertes Abkommen dar, in dem beide Logiken in unterschiedlichem Ausmaß aufgehoben sind. Die ReviergärtnerInnen erhalten letztlich doch eine finanzielle Kompensation für den Wegfall ihrer Vorarbeiterzulagen und es wird eine Betriebsgesellschaft als hundertprozentige Tochter der FUB gegründet, in dem unter einer gemeinsamen Leitung das gärtnerische Personal des Cost Centers Garten und die MitarbeiterInnen des Service-Bereichs zusammenarbeiten. Die Beschäftigten dieses „Konzerns“ sollen von einer gemeinsamen Interessenvertretung – zusammengesetzt aus örtlichem Personalrat und noch zu gründendem Betriebsrat – vertreten werden. An dieser Stelle muss noch einmal einschränkend darauf hingewiesen werden, dass die in meiner Arbeit dargelegten Zusammenhänge nicht auf der Grundlage von Kausalitätskonstruktionen zu analysieren sind. Stattdessen müssen sie als plausible Zuschreibungen durch die Forschungsbeteiligten und damit als „doppelt gefilterte Wirklichkeit“ betrachtet werden. Damit ist gemeint, dass sämtliche Forschungsaussagen auf meinen Interpretationen einer von den Befragten bereits vorinterpretierten Wirk-
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lichkeit beruhen. Ziel war die mikroskopische Analyse der wechselseitigen Konstitution von Handlungen und Strukturen (vgl. Abschnitt 3.5 und 4.1) und nicht die Suche nach Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen oder nach dem innerorganisatorischen Kleinkrieg von Machiavellisten. Mit dem theoretisch geleiteten Vorgehen bei der Datenauswertung wurde der Versuch unternommen, einen wissenschaftlichen Beitrag zur Verwaltungsreform zu leisten, der über eine beschreibende oder normative bzw. praxeologische Ebene hinausgeht. Wer jedoch ohne zu überprüfende Hypothesen, aber mit einer empathischen Haltung Feldforschung betreibt, muss sich als WissenschaftlerIn berechtigterweise die Frage nach der Subjektivität der Beobachtungen und Rekonstruktionen stellen lassen. Nicht nur aus forschungsethischen, sondern auch aus forschungspraktischen Gründen gestaltet sich die Erforschung von Machtprozessen m.E. äußerst schwierig. Wie bereits erläutert (vgl. Abschnitt 4.2), kann (tabuisiertes) mikropolitisches Handeln nicht einfach explizit erfragt, sondern nur – forschungsethisch allerdings bedenklich: „verdeckt“ – beobachtet werden. In diesem Sinne halte ich meinen Feldzugang als Aktionsforscherin nach wie vor für geeignet, da mir dadurch Einblicke gewährt wurden, die ich durch andere Zugänge nicht hätte gewinnen können. Da in meinem Fall im Feld die Fragen der Organisationsentwicklung im Vordergrund standen und die mikropolitische Analyse erst nach Abschluss der Projektarbeit durchgeführt wurde, wurden die Beforschten nicht willentlich getäuscht. Diese Analyse war jedoch nur möglich, weil im Rahmen der Feldforschung multimethodisch reichhaltiges Datenmaterial erhoben wurde, bei deren Erhebung allerdings nicht davon ausgegangen werden kann, dass die Voraussetzungen nicht-strategischer Kommunikation (vgl. Flick 1995) gegeben waren. Aus dem Aktionsforschungsansatz ergaben sich einige Probleme, die der Akteursstatus mit sich brachte: erstens waren die Informationen, auf die ich Zugriff hatte, (strategisch) gefiltert; zweitens musste ich nach Abschluss der Datenerhebung zunächst meine Externalität zurückgewinnen und drittens innerhalb der Analyse auch das eigene Handeln (selbst-)kritisch hinterfragen. Während sich das erste Problem338 aufgrund des langen Beobachtungs- und Erhebungszeitraums und der Kombination mehrere Methoden sowie der Möglichkeit, diese Erkenntnis auch mikropolitisch zu deuten, relativiert, ist die Frage nach der Kontrolle der eigenen Subjektivität schwerer zu beantworten. Hier war zum einen die bereits während der Projektlaufzeit eingeführte sekundäre Forschungsebene (vgl. Nieder 1993) hilfreich und zum anderen die im Rahmen der Analysephase durchgeführte regelgeleitete Reflektion des empirischen Materials in theoretischen Begriffen (vgl. Kelle & Kluge
338
Mit dem sich ohnehin alle ForscherInnen in gewisser Weise auseinandersetzen müssen, da sich immer die Frage stellt, aus welchen Gründen und mit welchem Interesse sich die Befragten/Beobachteten als Forschungsobjekte zur Verfügung stellen (vgl. Nienhüser 1993).
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Schlussbetrachtungen und Ausblick
1999). Dadurch konnten die für eine mikropolitische Analyse relevanten Daten identifiziert und die Handlungslogiken sowie spezifischen Zwänge im Handlungssystem rekonstruiert werden. Wie die Forderung nach intersubjektiver Nachvollziehbarkeit der Prozesse, die zu den Forschungsergebnissen geführt haben, erfüllt werden soll, bleibt m.E. ein ungelöstes Problem qualitativer Forschung339 (vgl. Flick 1995). Insbesondere die im Rahmen einer Dissertationsschrift alleine zu erarbeitenden Interpretationsleistungen bleiben daher trotz Verfahrensdokumentation und kommunikativer Validierung zwangsläufig subjektiv. Auch Friedberg (1995) weist darauf hin, dass die im Rahmen einer strategischen Organisationsanalyse wissenschaftlich erarbeiteten Erkenntnisse im Vergleich zu den einzelnen subjektiven Sichtweisen zwar einen höheren Allgemeinheitsgrad besitzen, aber immer ein provisorisches Teilergebnis bleiben. Eine – über die im Projektverlauf bereits erfolgte – kommunikative Validierung (vgl. Kvale 1995), d.h. in meinem Fall eine dialogförmige Überprüfung meiner Untersuchungsergebnisse mit den Beforschten ist zwar geplant, aber voraussichtlich nur von denjenigen gewünscht, die im Nachhinein (noch) ein (Verwertungs-)Interesse daran haben. Wenn Arrangements erst einmal mühsam zustande gekommen sind, ist es nicht unwahrscheinlich, dass nachträgliche Kontrolle bzw. Reflektion auf den geschlossenen Widerstand der Beteiligten stößt – der „Frieden“ soll nicht noch einmal gestört werden (vgl. Ortmann et al. 1990, S. 408).
7.3
Folgerungen für die Praxis und weiterer Forschungsbedarf
Zum Abschluss stellt sich auch die Frage: Welchen praktischen und theoretischen Nutzen kann man aus diesen Erkenntnissen ziehen? Nach Neuberger (1995) ist der Zweck einer politischen Analyse in pragmatischer Hinsicht, die Spielräume für realistische Handlungsmöglichkeiten auszuloten. Die Frage: Hätte der Reorganisationsprozess erfolgreicher, reibungsloser, schneller oder auf eine andere Art „besser“ verlaufen können? ist aber aus mikropolitischer Perspektive schwer zu beantworten. Die Aussage, dass die Kosten fehlgeschlagener oder nur unzureichender Implementierung von Reorganisationskonzepten auch Kosten der Fehleinschätzung der politischen Phänomene in Wandelprozessen bzw. von Kontrollillusionen hinsichtlich deren Beherrschbarkeit sind, legt nahe, dass man politische Phänomene zumindest richtig (oder vielleicht etwas bescheidener: realistischer) einschätzen sollte. Andere Autoren kommen zwar zu ähnlichen Analyseergebnissen,340 aber zu anderen Schlussfolgerungen und Handlungsempfehlungen: Ortmann et al. (1990) sind der Auffassung, dass es gelänge, den durch mikropolitische Auseinandersetzungen erzeugten zeitli339
340
Die intersubjektive Nachvollziehbarkeit kann m.E. zwar durch den Einsatz eines ForscherInnen-Teams verbessert, aber nicht vollständig erreicht werden. vgl. Abschnitt 3.4
Folgerungen für die Praxis und weiterer Forschungsbedarf
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chen und finanziellen Mehraufwand zu reduzieren, wenn die Innovationsspieler mit mikropolitischer Qualifikation ausgestattet wären. Die Veränderungspromotoren müssten sich dann als „Spielmacher“ verstehen, die darauf achten müssen, dass die Interessen der Beteiligten und Betroffenen berücksichtigt sowie Motivation und Commitment erzeugt wird. Sie schränken dann allerdings ein, dass diese Überlegungen in einen „mikropolitischen Regress“ führen (könnten), da auch das Handeln der Führungskräfte als ein Produkt mikropolitischer Konstellationen und Prozesse betrachtet wird. Wenn die Vernachlässigung der mikropolitischen Konstellationen in Wandelprozessen selbst mikropolitisch erklärbar ist – d.h. im Interesse der Führungskräfte ist – wird man an dieser Tatsache nicht so leicht etwas ändern können. Denn Macht wird stillschweigend ausgeübt, Reflexion ist ihr zuwider und mikropolitische Analysen sind Gift für sie (vgl. Ortmann et al. 1990, S. 402 ff.). Im Gegensatz zu den m.E. eher pessimistischen Schlussfolgerungen von Bogumil & Kißler (1998a) hinsichtlich der Reformfähigkeit des öffentlichen Sektors bin ich der Überzeugung, dass gerade angesichts der bestehenden Rahmenbedingungen341 in meinem Fallbeispiel eine „politikbewusstere“ Steuerung der Reorganisation von Vorteil gewesen wäre. Damit hätten aller Voraussicht nach nicht nur Transaktionskosten gesenkt werden können, sie hätte sich auch positiv auf die Motivation der Beschäftigten und das Betriebsklima ausgewirkt. Meiner Einschätzung nach zeigt die mikropolitische Analyse der Reorganisation der ZE BGBM, dass die Behauptung von Crozier & Friedberg (1993) – menschliches Verhalten sei auf keinen Fall das mechanische Produkt des Gehorsams oder des Drucks struktureller Gegebenheiten, sondern immer Ausdruck und Verwirklichung einer wenn auch noch so geringen Freiheit – auch (oder gerade) im öffentlichen Sektor ihre Berechtigung hat. Damit werden die vielfach propagierten Allmachts- und Simplifizierungsphantasmen von Managern und deren technokratisches und/oder autoritäres Herangehen an Wandelprozesse (vgl. Abschnitt 2.3) als kurzsichtig entlarvt. Daher bin ich mit Crozier & Friedberg (1993) und anderen (vgl. Klimecki 1995, Schreyögg & Noss 2000, Trebesch 2004) der Meinung, dass die einzige Alternative zum bisherigen Mainstream (vgl. Abschnitt 2.3), die Organisierung der Bedingungen ist, die kollektives und institutionelles Lernen auf allen Ebenen ermöglichen. In eine ähnliche Richtung gehen die Überlegungen von Kißler (2007), der zu dem Schluss kommt, dass das Gelingen der weiteren Modernisierungsvorhaben im öffentlichen Sektor davon abhängt, ob es gelingt, die Beschäftigten für eine „strukturinno-
341
d.h. weitgehende Arbeitsplatzsicherheit, das Beamtenrecht, der BAT, die Personalvertretungsgesetze, die spezifische Ausbildung und Mentalität der Beschäftigten, die spezifische Personalrekrutierung, Probleme der Effizienzkontrolle etc.
308
Schlussbetrachtungen und Ausblick
vative Gestaltungspartnerschaft“ zu gewinnen. Sie seien es leid, sich in Rationalisierungsprozesse einbinden zu lassen, auf deren Richtung sie keinen Einfluss haben, deren Risiken sie aber ausgesetzt sind. Eine solche Partnerschaft wäre auch in meinem Fallbeispiel eine Chance gewesen, um mit der Neuorganisation der Arbeitsverrichtung in Gruppen nicht nur Rationalisierungseffekte (neben Kostenreduktion auch mehr Arbeitsbelastung und Stress etc.) sondern auch Modernisierungseffekte (neben neuen Lernchancen und Kooperationsformen auch eine Steigerung der Arbeitszufriedenheit etc.) zu erzielen. In Kenntnis der Spielmechanismen und bestehenden Konstrukte kollektiven Handelns sowie deren Rolle und Bedeutung im sozialen System hätte man in der ZE BGBM vor allem den zentralen Integrationsmechanismus (das gemeinsame Renommee-Erhaltungsspiel) und den hohen Identifikationsgrad mit Arbeit und Arbeitsplatz für die Reorganisation stärker nutzbar machen können (vgl. Abschnitt 3.2.5). Ein solches Vorgehen setzt allerdings nicht nur mikropolitisch qualifizierte, kommunikationsfreudige und verhandlungsbereite AkteurInnen voraus, sondern auch Zeit und Durchhaltevermögen für die Begleitung und (Mit-)Gestaltung von langwierigen politischen Prozessen. Denn die politischen Dynamiken in Reorganisationsprozessen können nicht deterministisch beherrscht, sondern lediglich durch die Gestaltung des Kontextes in bestimmte Bahnen gelenkt werden. Um Reorganisationen erfolgreich zu beenden, sollen den Beteiligten einerseits Verhandlungsgelegenheiten und Optionen der Interessenrealisierung eröffnet und andererseits Verhandlungsgrenzen gesetzt werden (vgl. Schirmer 2000). In diesem Zusammenhang darf die mikropolitische Analyse allerdings nicht als weiteres Reorganisationstool betrachtet werden – die „Steuerungslücke“ kann nicht überwunden werden, man kann höchstens lernen besser mit ihr umzugehen (vgl. Muhr 2004). Meine mikropolitische Analyse einer Reorganisation unter dem Motto „Insourcing durch Outsourcing“ hat meiner Ansicht nach einen explorativen Charakter, da die mit Privatisierungsmaßnahmen verbundenen Steuerungsprobleme zwar bereits erkannt, aber noch nicht systematisch untersucht wurden. Dies gilt auch für die bereits erwähnten Steuerungsprobleme, die sich im öffentlichen Sektor durch Privatisierungsund Outsourcing-Maßnahmen ergeben. Insbesondere die in der ZE BGBM praktizierte direkte Zusammenarbeit von gemischten Belegschaften ist ein bisher weitgehend unerforschtes Phänomen und wirft neben der Steuerungsproblematik auch zahlreiche neue Forschungsfragen auf. Die Gründung einer „Konzernarbeitnehmervertretung“ ist – von Fragen der Legitimationsgrundlagen einmal ganz abgesehen – beispielsweise eine notwendige, aber sicher keine hinreichende Bedingung für die Verhinderung einer Polarisierung und Entsolidarisierung der Beschäftigten. Um zu klären, welche Folgen in Form von Chancen und Risiken sich für welche AkteurInnen
Folgerungen für die Praxis und weiterer Forschungsbedarf
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bzw. Akteursgruppen aus dieser Konstellation ergeben, sollten beispielsweise folgende Fragen in zukünftigen Forschungsvorhaben eingehender untersucht werden: •
Welche neuen Spiele und Spielregeln etablieren sich in der neu gegründeten Betriebsgesellschaft?
•
Wie sind die Ressourcen in der Betriebsgesellschaft verteilt und wer hat an welchen Stellen Definitionsmacht?
•
Verändern sich die Machtverhältnisse im Laufe der Zeit?
•
Mit welchen Integrationsmechanismen kann eine Polarisierung und Entsolidarisierung der Belegschaft(en) verhindert bzw. abgebaut werden?
•
Welche Lösungen werden für die Schnittstellenprobleme gefunden?
•
Wie werden Interessengegensätze der Belegschaft(en) in der gemeinsamen Arbeitnehmervertretung verhandelt?
Da privates Kapital und Know-how aus dem öffentlichen Sektor nicht mehr fortzudenken sind, sondern aufgrund der Finanzkrise zunehmend an Bedeutung gewinnen (vgl. Budäus 2004, Killian et al. 2006), wären die Erkenntnisse aus diesen und ähnlichen Forschungsvorhaben sicher sowohl für WissenschaftlerInnen als auch für PraktikerInnen interessant.
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GABLER RESEARCH „Betriebliche Personalpolitik“ Herausgeber: Prof. Dr. Gertraude Krell und Prof. Dr. Barbara Sieben
zuletzt erschienen:
Andrea-Hilla Carl, Anna Krehnke Geschlechterdiskriminierung bei der betrieblichen Grundentgeltfindung Positionen und Perspektiven von Management, Betriebsrat und Beschäftigten 2004. XXV, 422 S., 49 Abb., Br. € 59,90 ISBN 978-3-8244-8085-2 Monika Huesmann Arbeitszeugnisse aus personalpolitischer Perspektive Gestaltung, Einsatz und Wahrnehmungen 2008. XV, 282 S., 37 Abb., 24 Tab., Br. € 49,90 ISBN 978-3-8349-0979-4 Thomas Lührmann Führung, Interaktion und Identität Die neuere Identitätstheorie als Beitrag zur Fundierung einer Interaktionstheorie der Führung 2006. XV, 376 S., 24 Abb., 6 Tab., Br. € 55,90 ISBN 978-3-8350-0339-2 Renate Ortlieb Betrieblicher Krankenstand als personalpolitische Arena Eine Längsschnittanalyse 2003. XVI, 227 S., 30 Abb., 9 Tab., Br. € 59,90 ISBN 978-3-8244-7786-9 Karin Reichel Reorganisation als politische Arena Eine Fallstudie an der Schnittstelle zwischen öffentlichem und privatwirtschaftlichem Sektor 2010. XVII, 340 S., 57 Abb., Br. € 59,95 978-3-8349-2517-6
Änderungen vorbehalten. Stand: Juli 2010. Erhältlich im Buchhandel oder beim Verlag. Gabler Verlag . Abraham-Lincoln-Str. 46 . 65189 Wiesbaden . www.gabler.de