Alfred Ribi Neurose – an der Grenze zwischen krank und gesund Eine Ideengeschichte zu den Grundfragen des Menschseins
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Alfred Ribi Neurose – an der Grenze zwischen krank und gesund Eine Ideengeschichte zu den Grundfragen des Menschseins
Alfred Ribi
Neurose – an der Grenze zwischen krank und gesund Eine Ideengeschichte zu den Grundfragen des Menschseins
1C
Dr. med. Alfred Ribi Rebstraße 19 8703 Erlenbach Schweiz
ISBN-13
978-3-642-16147-6
Springer-Verlag Berlin Heidelberg New York
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. SpringerMedizin Springer-Verlag GmbH ein Unternehmen von Springer Science+Business Media springer.de © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011 Produkthaftung: Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutzgesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürfen. Wir danken der Stiftung der Werke von C.G. Jung, Zürich, vertreten durch die Paul & Peter Fritz AG, Literatur Agentur in Zürich, für die freundliche Genehmigung, Zitate aus folgenden Werken zitieren zu dürfen: C.G.Jung, Gesammelte Werke, Walter Verlag, Bände 1–18, sowie C.G.Jung, Briefe I, 1906–1945, Briefe II, 1946–1955 und Briefe III, 1956.1961, Walter Verlag. Wir danken dem Reinhardt Verlag, für die freundliche Genehmigung, Zitate aus folgenden Werken zitieren zu dürfen: Heinz L Ansbacher/Rowena R.Ansbacher (Hrsg.): Alfred Adlers Individualpsychologie. Eine systematische Darstellung seiner Lehre in Auszügen aus seinen Schriften. Bearbeitung der Quellenangaben und der Adler-Bibliographie von Robert F. Antoch Aus dem Amerikanischen von Gerd Janssen. 415 Seiten. © 5. Auflage 2004 Ernst Reinhardt Verlag München/Basel, www.reinhardt-verlag.de Planung: Monika Radecki, Heidelberg Projektmanagement: Barbara Karg, Heidelberg Lektorat: Bettina Arndt, Weinheim Umschlaggestaltung: deblik Berlin Einbandabbildungen: © Photosani/shutterstock.com Satz: Crest Premedia Solutions (P) Ltd., Pune, India SPIN: 80023431 Gedruckt auf säurefreiem Papier
2126 – 5 4 3 2 1 0
V
Vorwort z
Lectori benevolentia
Der geneigte Leser hält ein kostbares Buch in seinen Händen. Doch was macht es so kostbar? Ist es deshalb, weil es nichts Vergleichbares über die Geschichte und Psychodynamik der Neurosen auf dem Büchermarkt gibt? Oder weil ich Jahrzehnte lang theoretisch und in der Arbeit mit meinen Patienten mit diesem Thema gerungen habe? Oder vielleicht deswegen, weil dieses Gebiet weitgehend kontrovers diskutiert oder gar verleugnet wird? Nein, das wären alles Äußerlichkeiten, die dieses Buch nur in bescheidenem Maße kostbar machen würden. Es ist insofern kostbar, weil es den Leser zum Nachdenken über seine eigene Neurose animiert. Nicht dass ich der Meinung wäre, alle Leser seien neurotisch, weil Neurosen so verbreitet sind. Vielmehr könnte das Buch ein Weg zur eigenen Seele sein, zur Introversion. Die Historie der Neurosenauffassung zeigt, wie dornig der Weg zur lebendigen Seele war. Nur wer einen Zugang zu seiner eigenen Seele gefunden hat, kann sich von der Beengung durch die Neurose befreien und das Leben vollumfänglich leben. Die Neurose entpuppt sich auf diesem Weg nicht als »handicap«, sondern als Chance zu einem vollständigen Leben. Das ist das Kostbarste, was einem zustoßen kann. Das geschieht wohl in dem Maße, wie sich der Leser auf den Inhalt des Buches einlässt und darin seiner lebendigen Seele begegnet. Das Buch ist darum nicht in erster Linie ein wissenschaftliches und ein Lehrbuch, sondern ein Appell an die schlafende Seele, zu erwachen. Es ist im Grunde ein Lebensbuch. Ich wünsche mir, dass es möglichst viele erweckt! Dieses Werk wurde tatkräftig unterstützt, indem Herr Ulrich Hoerni, von der Erbengemeinschaft C.G. Jung, mir großzügigerweise die Erlaubnis gab, aus den Werken und Briefen zu zitieren. Es wurde von meiner Sekretärin, Frau Annelie Some Kirschner, vom Manuskript in den Computer gesetzt, eine große Arbeit. Vom Springer-Verlag hat mich Frau Monika Radecki mit ihren Kommentaren stets ermutigt, die Einschränkungen des Verlags berücksichtigen zu können, ebenso Frau Barbara Karg. Frau Bettina Arndt hat dem Text ihre »schönheitschirurgischen Eingriffe« angedeihen lassen, damit er in der vorliegenden Fassung dem Leser unterbreitet werden kann. Allen diesen Mitarbeitern möchte ich meinen tief empfundenen Dank aussprechen. Erlenbach bei Zürich, am vierten Geburtstag meiner treuen Schäferhündin Kelly, 11. Februar 2011. Dr. Alfred Ribi
VII
Inhaltsverzeichnis 1
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
I
Erstes Buch: Der Neurosebegriff in den Anfängen
2
Der lange Weg und die Abenteuer auf der Suche nach der befreienden Erkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
1
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11
2.1
Vorläufer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14
2.1.1
Primitive Medizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14
2.1.2
Griechische Heilverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26
2.2
Wo entlang führt der Weg zur modernen Psychologie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29
2.2.1
Scholastik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29
2.2.2
Ärzte der Renaissance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29
2.2.3
Einskontinuum und Neuplatonismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30
2.2.4
Paracelsus und lumen naturae . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31
2.2.5
Aufschwung der Naturwissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33
2.2.6
Ernst Georg Stahl und der moderne Vitalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34
2.2.7
Moderne Frauenbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36
2.3
Der Begriff »Neurose« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37
2.3.1
Wichtige Vertreter und ihre Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37
2.3.2
Lehre vom Pneuma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41
2.3.3
Neurosenkonzept nach Cullen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42
2.3.4
Romantische Medizin und Naturphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44
2.4
Vom romantischen Vitalismus zur Aufklärung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47
2.4.1
Kants Einfluss auf die Medizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47
2.4.2
Neurosenkonzepte im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49
2.5
War es ein Rückfall in die »primitive Medizin«? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54
2.5.1
Religiöse Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54
2.5.2
Franz Anton Mesmer und der tierische Magnetismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56
2.5.3
Natur und Ich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69
2.5.4
Der Fall Hauffe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71
2.5.5
Der Fall Smith . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76
2.5.6
Spiritistische Experimente C.G. Jungs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80
2.5.7
Vertreter des Hypnotismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 3
William James und der Pragmatismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87
3.1
Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88
3.2
Wahrheit und ihre Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89
3.3
Experimentalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91
3.4
Psychologie der Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95
VIII
Inhaltsverzeichnis
4
Die Rolle des Traumas bei Entstehung der Neurose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
97
4.1
Traumatische Neurose. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
98
4.2
Hypochondrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
98
4.2.1
Spinalirritation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
98
4.2.2
Neurasthenie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
99
4.3
Simulation und Krankheitsgewinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100
4.4
Das kollektive Unbewusste bzw. Schwelle des Bewusstseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103
II
Zweites Buch: Beginn der neuzeitlichen Neurosenauffassung und Therapie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
105
5
Die Entdeckung des Unbewussten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107
5.1
Der Einfluss Schopenhauers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109
5.2
Die Entdeckung der Seele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110
5.3
Der Fall Nietzsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111
5.4
Psychophysischer Parallelismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118
6
Jean Martin Charcot (1825–1893) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121
6.1
Dreiteilung der Hypnose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122
6.2
Disposition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123
6.3
Suggestion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124
6.4
Unterscheidung Subjekt – Objekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124
6.5
Verdoppelung der Persönlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125
7
Die Frage der multiplen Persönlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127
7.1
Der Fall Wittman. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128
7.2
Dämmerzustand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128
7.3
Der Fall Reynolds . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131
7.4
Der Fall Estelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132
7.5
Berserkertum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133
7.6
Schock, krankhafte Verarbeitung und Umwandlung des Erlebens als Auslöser . . . . . . . . . 133 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136
III
Drittes Buch: Die großen psychodynamischen Systeme und ihre Begründer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
137
8
Pierre Janet (1859–1947) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139
8.1
Methodische Regeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140
8.2
Lebenslauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140
8.3
Wissenschaftliche Entdeckungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142
8.3.1
Einengung des Bewusstseinsfeldes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142
8.3.2
Tendenzen versus Trieb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142
Inhaltsverzeichnis
IX
8.3.3
Ablauf der höheren Handlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144
8.3.4
Fixe Ideen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145
8.3.5
Bewusstseinsfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 9
Sigmund Freud (1856–1939) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149
9.1
Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150
9.2
Der Fall Bertha Pappenheim alias Anna O . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150
9.2.1
Katharsis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151
9.2.2
Biografische Daten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152
9.2.3
Die Krankenberichte Josef Breuers (1842–1925) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152
9.3
Der Ursprung der Psychoanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156
9.3.1
Neurosenklassifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157
9.3.2
Metapsychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159
9.3.3
Ich und Es . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159
9.4
Psychoanalytische Neurosenlehre. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161
9.4.1
Triebbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161
9.4.2
Das Konzept von Libido bzw. psychischer Energie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162
9.4.3
Bewusstsein, Vorbewusstes und Unbewusstes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163
9.4.4
Konzepte des Narzissmus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164
9.4.5
Affektkonzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165
9.4.6
Affektkonzept in der Theorie der Interaktionsform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165
9.4.7
Bildung der Repräsentanzwelt und Entwicklung des Erlebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166
9.4.8
Abwehrmechanismen und Ersatzbildung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166
9.4.9
Strukturtheoretische Begriffe: Ich, Ich-Ideal und Über-Ich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169
9.4.10
Freuds spezifische Auffassung von Trauma und traumatischer Neurose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171
9.4.11
Verführungstheorie, Ödipuskomplex und Wiederholungszwang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172
9.4.12
Der wissenschaftstheoretische Status der Psychoanalyse und ihrer Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . 173
9.4.13
Grundbegriffe der psychoanalytischen Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173
9.4.14
Psychoanalytische Grundregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 10
Alfred Adlers (1870–1937) Individualpsychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181
10.1
Individualpsychologie – eine Begriffsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182
10.2
Leben und Einführung in sein Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183
10.3
Persönlichkeitstheorie und ihre Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185
10.3.1
Kompensation und Verschränkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185
10.3.2
Männlicher Protest und Kritik an Freud . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185
10.3.3
Fiktionalismus und Finalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186
10.3.4
Streben nach Überlegenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189
10.3.5
Gemeinschaftsgefühl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190
10.3.6
Lebensstil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190
10.3.7
Neurotische Disposition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192
10.3.8
Neurotisches Sicherungsverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193
10.3.9
Der Anfang der Neurose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195
X
Inhaltsverzeichnis
10.3.10 Dynamische Einheit der seelischen Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 10.3.11 Verstehen und Behandlung des Patienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 10.3.12 Erste Kindheitserinnerungen und Träume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 10.3.13 Ursprung von neurotischer Disposition. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 IV
Viertes Buch: Die Entwicklung der Neurosenauffassung bei Carl Gustav Jung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
205
11
Carl Gustav Jung (1875–1961). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207
11.1
Zur Literaturauswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208
11.1.1
Primärliteratur (Quellen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208
11.1.2
Empfehlungen zum Neurosenkonzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209
11.2
Zur Vorgehensweise und zum Verständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222
12
Abgrenzung zu Freud und Adler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223
12.1
Entwicklung einer eigenen analytischen Sichtweise – Jungs frühe Schriften . . . . . . . . . . . 224
12.1.1
Wider Freuds Libidotheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224
12.1.2
Kausalität und Finalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228
12.1.3
Über die Komplexe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229
12.1.4
»Der Rest ist Schweigen«. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235
12.2
Jungs Äußerungen in seinem späteren Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246
13
Erweiterung seiner Psychologie über die Perspektive der Neurose hinaus . . . . 249
13.1
Libidoauffassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250
13.2
Psychoenergetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254
13.3
Verdrängung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264
13.4
Dissoziation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270
13.5
Progression und Regression . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278
14
Die Rolle der Anpassung im psychischen Geschehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279
14.1
Sichtweisen der Anpassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280
14.2
Anpassung als Notwendigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284
15
Kompensation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285
16
Mann und Frau; Anima und Animus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291
16.1
Anima . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300
16.2
Animus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311
Inhaltsverzeichnis
XI
17
Projektion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313
17.1
Archaische Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314
17.2
Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315
17.3
Existenz des Unbewussten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315
17.4
Rücknahme von Projektionen (Individuation). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322
18
Schatten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323
18.1
Gegenwille . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324
18.2
Einsicht und Anerkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325
18.3
Autonomie des Gewissens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329
19
Komplexe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331
19.1
Begriffsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332
19.2
Der Fall Babette . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333
19.3
Konstellation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339
20
Das Ich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345
21
Das Selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353
22
Individuation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360
23
Archetypen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361
23.1
Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362
23.2
Wirkungsbeschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366
23.3
Funktion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376
24
Das Symbol . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384
25
Transzendente Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387
26
Das Problem der Gegensätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389
26.1
Hypothese eines Unbewussten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395
XII
Inhaltsverzeichnis
27
Trieb und Instinkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397
27.1
Trieb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 398
27.2
Instinkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 410
28
Materie und Körper: Synchronizität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413
28.1
Materie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414
28.2
Körper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 418
29
Bild, Abbild, Vorstellung, Phantasie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419
29.1
Bild und Abbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 420
29.2
Vorstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 422
29.3
Phantasie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 428
30
Typologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429
30.1
Apperzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 432
30.2
Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 442
31
Seele und Persona . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443
31.1
Seele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 444
31.2
Persona. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 450 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 454
32
Sexualität, Eros, Macht, Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 455
32.1
Sexualität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 456
32.2
Eros. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457
32.3
Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 458
32.4
Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461
33
Objekt, Subjekt, Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 463 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 468
34
Entwicklungspsychologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 469
34.1
Frühe Kindheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 471
34.1.1
Bewusstsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 471
34.1.2
Störungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 472
34.1.3
Eltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 476
34.1.4
Elternbild, Elternimago . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 479
34.2
Mutter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483
34.3
Vater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 486 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487
Inhaltsverzeichnis
XIII
35
Wert, Sinn, Zweifel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 489
35.1
Wert, Werturteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 490
35.2
Sinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 494
35.3
Zweifel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 497 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 501
36
Leiden, Krankheit, Neurose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 503 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513
37
Traum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 515
37.1
Traumdeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 516
37.2
Die Rolle des Unbewussten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 519
37.3
Traumphasen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 523
37.4
Telepathische Träume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 524
37.4.1
Deutungsstufen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 524
37.5
Initialträume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 526 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 527
38
Psychotherapie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 529
38.1
Grundsätzliches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 530
38.2
Spezifische Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 533
38.3
Psychotherapie als Berufung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 538 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 549
39
Übertragung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 551 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 561
40
Religiöse Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 563
40.1
Religion und Glauben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 564
40.2
Schuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 568
40.3
Gut und Böse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 569
40.4
»Ich weiß« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 572 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 576
41
Das Schöpferische . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 577
41.1
Stufen der Bewusstwerdung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 584 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 587
Epilog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 589 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 595
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Einleitung
A. Ribi, Neurose – an der Grenze zwischen krank und gesund, DOI 10.1007/978-3-642-16148-3_1, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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Kapitel 1 • Einleitung
Ich muss dem Leser zuerst eine Geschichte aus meinem Leben erzählen. Sie war zwar etwas peinlich, für mich jedoch sehr lehrreich – und sie bildet den Ausgangspunkt für meine intensive Beschäftigung mit der Neurose.
Ich war im achten Jahr nach dem medizinischen Staatsexamen Assistenzarzt an der Psychiatrischen Universitätsklinik Burghölzli (1965). Am C.G. Jung-Institut konnte ich das propädeutische Examen ablegen. Dafür musste ich unter acht Fächern eine Prüfung in »Neurosenlehre« bestehen. Ich hatte mich vorbereitet und noch am Vorabend überlegt, dass man eigentlich »Neurose« nicht definieren, sondern nur umschreiben könne. Als Assistent hatte ich schon einige Erfahrung mit Fällen von Neurose sammeln können. Mein Examinator war der damalige Präsident des Jung-Instituts, Franz Riklin, der auch mein Lehranalytiker und meine Vertrauensperson war. Die erste Frage lautete: »Was ist eine Neurose?« Ich antwortete: »Die kann man nicht definieren!« Und das war der Anfang der Konfusion, denn Riklin war Psychiater und wusste daher genau, was eine Neurose ist. Er konnte nicht verstehen, dass ich nicht wissen sollte, was eine Neurose sei, hatte ich doch in der Klinik wie in meiner Lehranalyse mit Neurose praktische Erfahrung. Ich konnte mich wohl auch nicht klar ausdrücken, denn meine Antwort war eine philosophische und keine psychologische. Jedenfalls endete die Prüfung in einem Chaos, und er musste mich durchfallen lassen. Das war die erste Prüfung in meinem Leben, in welcher ich durchgefallen war! Und ich war wütend! Meiner Lehranalytikerin, Marie-Louise von Franz, der ich von diesem Vorfall ganz aufgebracht erzählte, versicherte ich, dass ich das Studium am Jung-Institut aufgeben werde; als Arzt hätte ich es nicht nötig, mich von diesen Leuten heruntermachen zu lassen… Sie nahm es gelassen auf und sagte nur: »Dann wiederholen Sie eben die Prüfung beim nächsten Termin.«
Schließlich beruhigte ich mich und wiederholte die Prüfung mit Erfolg. Diese Geschichte hat mich noch einige Zeit beschäftigt: Warum wurde ich so wütend? Aus der zeitlichen Distanz erst konnte ich zugeben, dass mir der Stoß vom »hohen Ross« gut getan hatte. Die Überheblichkeit ist ohnehin eine große Gefahr für den Arzt und den Therapeuten (»Götter in Weiß«), die ihre ganze Arbeit zunichte machen kann. > Wir sind »Diener« am Kranken, Werkzeuge von Gott eingesetzt, der, wie Paracelsus sagt, die Krankheit geschaffen hat, aber auch den Arzt, um sie zu heilen (deo concedente!).
Diese Geschichte hat aber noch einen tieferen Sinn, denn man kann »Neurose« wirklich nicht rational-logisch definieren, sondern nur umschreiben. Die damaligen Examinatoren hatten gar nicht verstanden, dass ich ein ganz tiefes Grundsatzproblem angesprochen hatte. Die »Neurose« ist schwierig vom Gesunden abzugrenzen und trotzdem erkennt man in der Erfahrung, dass es deutliche Grenzen gibt. Den Examinatoren war der Begriff aus ihrer täglichen analytischen Erfahrung kaum zweifelhaft. Blickt man jedoch etwas tiefer und kennt seine historische Entwicklung, so versteht man die Perplexität heutiger Wissenschaftler angesichts dieses Begriffes. Schlägt man nämlich ein umfassendes philosophisches Werk auf wie das »Historische Wörterbuch der Philosophie« [7], so lässt sich ein Abriss der wechselvollen Geschichte dieses Konzeptes und die mannigfaltigen Beschreibungen je nach Zeitperiode finden. Daraus wird ersichtlich, dass man von »der« Neurose gar nicht reden kann, weil jede Zeit etwas anderes darunter versteht und auch jeder Wissenschaftler, entsprechend seiner Weltanschauung. > Die Neurose ist eine psychogene Erkrankung und darum aufs Engste mit der Entdeckung der Psyche verbunden.
3 Einleitung
Selbstverständlich war die Psyche, seit es Menschen gibt, ein Thema. Aber die empirische Erforschung derselben und besonders die Abgrenzung ihrer Tätigkeit von körperlichen Funktionen, respektive die Interaktion von Psyche und Soma, sind erst neueren Datums. Wir sind noch keineswegs an jenem Punkt angelangt, wo wir wirklich den Durchblick hätten. Wir können zwar Neurosen von Psychosen unterscheiden, wo bei letzteren die Kritikfähigkeit dem krankhaften Geschehen gegenüber verloren geht. Aber es gibt zahlreiche Zwischenformen, wie neurotische Vorstufen der Schizophrenie (K. Ernst). Das macht die heute so betonte Früherfassung und -behandlung der Schizophrenie (Basler Schule der Psychiatrie) als Krankheitsprävention so fraglich. Schadet man vielleicht mehr, wenn man bei neurotischen Symptomen im Kindesalter schon eine spätere psychotische Erkrankung befürchtet? Meiner Ansicht nach ist eine psychotische Erkrankung erst nach der Bildung eines Ichs in der Adoleszenz möglich, weil die Psychose eine Störung der bewussten Persönlichkeit darstellt. Die Neurose ist eine Dissoziation von bewusster und unbewusster Persönlichkeit, hat also gewisse Ähnlichkeiten
mit der Psychose. Sie muss aber streng von ihr unterschieden werden, was auch im Empfinden des Volkes verankert ist. > Die Neurose muss von somatischen Erkrankungen unterschieden werden.
Das ist nun gar nicht so einfach; schon in der Geschichte des Neurosenbegriffs hat man darunter Krankheiten subsumiert, die wir heute eindeutig zu den körperlichen zählen (Keuchhusten, Tollwut, Cholera). Doch die Neurose hat eine Tendenz zu »Mimikry«, zur Nachahmung gewisser körperlicher Krankheiten (Organneurosen). Das führt dazu, dass gewisse praktische Ärzte Neurosen lange nicht als solche erkennen, sie somatisch behandeln und erst auf die richtige Diagnose kommen, weil sie der Behandlung trotzt. Dort besteht dann die Gefahr, dass solche Patien-
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ten resigniert abgeschoben werden: »Ihnen fehlt ja nichts, Sie sind bloß ein bisschen neurotisch.« Der Hausarzt hat vielleicht zahlreiche Abklärungsuntersuchungen (Kosteneffizienz!) durchgeführt und keine Anhaltspunkte für eine von ihm erwartete körperliche Erkrankung gefunden. Deshalb ist er frustriert. Diese Verabschiedung ist die denkbar schlechteste Motivation für eine psychotherapeutische Weiterbehandlung. Da liegt meines Erachtens noch vieles im Argen hinsichtlich eines Verständnisses dessen, was Neurose heißt. Darum richtet sich dieses Buch nicht nur an Psychotherapeuten und Psychiater, sondern möchte dem somatisch tätigen Arzt Einblick in die Geheimnisse der Psyche vermitteln. Dieser kann sich oft nicht vorstellen, dass die vom Patienten beklagten körperlichen Beschwerden psychogenen Ursprungs sein könnten. Es sind nicht in erster Linie die klassischen psychosomatischen Erkrankungen (Colon irritabile etc.) darunter zu verstehen, sondern so »banale« wie Rückenschmerzen, Magensymptome, Herzweh usw., welche Anlass zu aufwendigen diagnostischen Abklärungen geben. Der somatisch tätige Arzt kann die psychogene Ursache nicht mit der Frage herausfinden, ob der Patient Probleme habe. Da liegt die Schwierigkeit der Diagnosestellung: Jedermann hat Probleme, wenn er ehrlich ist, aber nicht jeder, der Probleme hat, ist neurotisch oder hat diffuse Rückenschmerzen. Wie also kann man unterscheiden, wer ein körperliches und wer ein seelisches Leiden hat? Dafür braucht es ein vertieftes Wissen und viel Erfahrung. Die Beziehung Psyche – Soma kommt nirgends so deutlich zum Vorschein wie in diesem Grenzgebiet. Denkt man gar an die Hysterie, eine besondere Form der Neurose, die wie der griechische Proteus, sich in alle Symptome körperlicher Krankheiten verkleiden kann (Lähmungen, Parästhesien), so erhält man einen Eindruck, wozu die Psyche fähig ist, um ihr Anliegen kundzutun. Man wird dann aufhören, von »nur
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Kapitel 1 • Einleitung
psychisch« zu sprechen. Die Psyche ist für den Arzt ganz allgemein in seiner Tätigkeit das weit wichtigere Feld, selbst wichtiger als der Körper, über welchen er in seiner Ausbildung sehr viel erfahren hat. Bloß weiß er über sie so gut wie nichts. Es gibt keinen Röntgen- oder Magnetresonanzapparat, um die Seele und ihre Störungen sichtbar zu machen. Es gibt einige Psychotests, die keineswegs so signifikant sind wie chemische Laboruntersuchungen. Wir stecken in diesem Gebiet noch ganz in den Anfängen, verglichen mit der hochtechnisierten Spitzenmedizin. Doch dieser viel gepriesene Fortschritt der modernen Medizin geht gar nicht auf ihr Konto, sondern besteht aus Anleihen aus der hochentwickelten Technik und Chemie. In geisteswissenschaftlicher Hinsicht steckt die Medizin noch in den Kinderschuhen. Darum besteht ein krasses Ungleichgewicht zwischen dem, was die technische Medizin zu leisten vermag, und dem, was der Arzt von der Psyche des Menschen versteht. Ein weiterer Ausbau der technischen Medizin, wie er voraussehbar ist, wird das Ungleichgewicht nur noch verschärfen und die Gefahr eines Kollapses der Medizin heraufbeschwören! Es ist daher unabdingbar, dass die Kenntnis der Psyche erweitert wird, von der Medizinstudenten kaum etwas hören, außer über deren Krankheiten im Fach Psychiatrie. Selbst die Psychiater verstehen höchstens etwas von der kranken, aber nichts von der Funktion der Seele. Im Medizinstudium ist es selbstverständlich, dass man das normale Funktionieren des Körpers (Physiologie) studieren muss, um die Störungen derselben (Pathologie) zu verstehen. Ein Pathologe, der nur das Symptom »Herzerweiterung« bei der Autopsie feststellen und sich keine Gedanken über ihre funktionelle Entstehung machen würde, wäre ein schlechter Mediziner. Etwa so ist jedoch die derzeitige Situation in der Psychiatrie. Weil man nur Theorien, aber kein auf Erfahrung basiertes Wissen von der Psyche hat, konnte man sich für den internationalen Diagnoseschlüssel (ICD; DSM) nicht auf
eine psychodynamisch fundierte Einteilung der Neurosen einigen. Daher hat man sie gemäß der Symptomatik unterteilt, womit gar nichts über das Wesen der Störung ausgesagt ist; eine höchst unbefriedigende Situation. Sie führt sogar zu der absurden Annahme, dass die Störung »geheilt« sei, sobald das Symptom verschwunden ist. Jeder Arzt sollte wissen, dass Symptome bloß »Anzeichen« und noch lange nicht der Grund einer Krankheit sind (z. B. kann Fieber unzählige Ursachen haben, ebenso Angst oder Depression). Doch im Diagnoseschlüssel werden sie zur Charakterisierung der Unterform der Neurose verwendet. Bei Begutachtungen muss ganz genau differenziert werden anhand dieses Schlüssels, als ob dadurch etwas für das Verständnis der Problematik des Falles gewonnen wäre. Es ist eine reine Konzession an unsere »Statistikwut«. Alles (Bettenbelegung in den Spitälern, Fallkosten, Aufenthaltsdauer usw.) muss statistisch erfasst werden, um vergleichbar zu sein. In der Psychiatrie dient die Statistik auch der Evaluation von Medikamenten, wie auch in der übrigen Medizin. Bloß werden dann die Resultate als Heilungsquoten deklariert, was eigentlich nur Symptomänderung heißen dürfte (es gibt auch kritischere Ansichten in der Pharmaindustrie, was nicht verschwiegen werden soll!). Es gibt eigentlich nur die Diagnose »Psychoneurose« als Fehlentwicklung mit Dissoziation von Bewusstem und Unbewusstem in mannigfacher Symptomatik (Jung). Man könnte es sich also viel einfacher machen und das Symptom eher als Ausdruck der zugrunde liegenden Problematik verstehen, das uns zum Kern eines Verständnisses für Neurose führen würde. Viele somatische Symptome haben ja einen allgemein-verständlichen symbolischen Wert: »etwas liegt mir auf dem Magen«, »ich kann es nicht schlucken, dass…«, »mir tut das Herz so weh«, »ich habe »Schiss« (=Durchfall) vor dem Examen« usw.
5 Einleitung
> Das Symptom ist ein wichtiger Fingerzeig, um den Ursprung der Neurose aufzufinden, die via regia (Königsweg) zum eigentlichen pathogenen Konflikt. Der Konflikt allein macht noch keine Neurose, erst wenn er nicht erkannt und als eigene Aufgabe angenommen wird, entsteht die Neurose. Freuds Entdeckung von der Verdrängung ins Unbewusste ist für das Verständnis der Neurose zentral. Darum kann man den Neurotiker nicht fragen, ob er einen Konflikt habe. Darum kann man ihm auch nicht damit helfen, dass man ihm seinen Konflikt löst (z. B. durch einen Rat bei einer Entscheidung). Wenn er sich in einer Sache nicht entscheiden kann, sind bei ihm viele Faktoren daran beteiligt, welche nicht berücksichtigt werden, falls man einfach eine Münze wirft mit nur zwei Möglichkeiten: Ja oder Nein. Oft steckt ein moralischer Faktor in einer Entscheidung, die das Gewissen betrifft. Eine Entscheidung ist erst richtig, wenn sie mit dem Gewissen vereinbart werden kann. Das zeigt, dass man nur vom Bewusstsein her eine Neurose nicht enträtseln kann. Der Hausarzt ist von seiner Ausbildung her nicht in der Lage, eine Neurose zu behandeln. Der heutige Diagnoseschlüssel, zusammen mit der Pharmaindustrie, suggeriert ihm das Gegenteil. Stellt er eine depressive Verstimmung fest, so fühlt er sich zu deren Behandlung kompetent, denn es gibt Antidepressiva. Die tieferen Ursachen brauchen ihn nicht zu stören, denn das Symptom verschwindet in den meisten Fällen über kurz oder lang. Und damit kein Rezidiv auftritt, führt man gleich eine Dauermedikation durch. Für die Pharmaindustrie ist das ein lukratives Geschäft, darum auch wird auf diesem Gebiet so viel geforscht und investiert. Es gibt jedoch auf der ganzen Welt kein Medikament, das einen Konflikt zu lösen vermöchte! Es ist alles nur Symptombehandlung, deren Wert nicht geleugnet werden soll! Aber man muss es sich als Arzt eingestehen.
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Wenn ich hier dem praktischen Arzt die Legitimation zur eigentlichen Neurosentherapie abspreche, heißt das nicht, dass alle seine Fälle einer lange dauernden analytischen Behandlung zugeführt werden müssten. Erstens würde es gar nicht genügend Therapeuten geben, zweitens würde das das soziale Gesundheitssystem viel zu stark belasten und drittens sind nicht alle Neurotiker bereit und motiviert zu einer eingehenden Therapie. So wie es eine »kleine Chirurgie« gibt (für eingewachsene Zehennägel), gibt es auch eine »kleine Psychotherapie«, welche mit geringen Stundenzahlen ein praktisches Resultat (Arbeitsfähigkeit) erreichen kann. Ich wehre mich nur dagegen, dass sich wegen der Reklame der Pharmaindustrie jeder Praktiker in die Lage versetzt fühlt, Neurosen neuroleptisch zu behandeln. Damit verkennt er die Komplexität der Psyche. Es ist nicht einzusehen, weshalb ein Therapeut so viele Jahre am Jung-Institut studieren muss, um ein Diplom zu erlangen, und sich auch danach ständig weiterbilden muss, um dieser schwierigen Aufgabe gewachsen zu sein, wenn man durch Abgabe des richtigen Medikaments dasselbe erreichen kann. Ich spreche jetzt als Dozent und Examinator des Jung-Instituts, weil ich die Verhältnisse dort kenne. Das gilt aber für andere solide Ausbildungen ebenso. Wäre der praktische Arzt in Psychologie besser ausgebildet, könnte er entscheiden, in welchen Fällen eine Psychotherapie angezeigt ist und in welchen eine medikamentöse genügt. So ließe sich Geld für unnötige somatische Abklärungen einsparen, das besser für die Psychotherapie eingesetzt würde. Wenn wir schon bei ökonomischen Überlegungen sind, müsste man einmal ausrechnen, wie viel jene verschleppten Fälle das Gesundheitssystem belasten, die nach allen Regeln der Kunst und mit modernsten Techniken »abgeklärt« worden sind, ohne einen somatischen Befund und schließlich als chronisch eingestuft mit einer Invalidenrente abgespeist werden. Würde frühzeitig die richtige Diagnose gestellt und die
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Kapitel 1 • Einleitung
adäquate Therapie durchgeführt, ließe sich sehr viel Geld sparen, ganz abgesehen vom Nutzen für den Patienten. Ich habe meinen Patienten, die ich begutachten musste, oft gesagt: »Für die Versicherung wäre es am einfachsten, Ihnen eine Rente zu geben und den Fall abzuschließen. Aber Sie müssen ja weiterleben und einen neuen Sinn für Ihr Leben finden. Da hilft Ihnen eine Rente kaum, sie wäre höchstens ein Pflaster auf die eiternde Wunde.« Es geht mir nicht darum, dass die Versicherung eine Rente einsparen kann, sondern darum, dass der Patient wieder den Weg zurück in ein sinnvolles Leben findet. Mit einer Rente oder mit Medikamenten ist dafür noch lange nicht gesorgt. Der Umstand, dass ich durch die Prüfung in Neurosenlehre fiel, hatte das Gute, dass ich mich seither intensiv mit der Neurose befasst habe. Im Jahr 2002 erschien ein schmales Büchlein zu Jungs Auffassung der Neurosen [6], nachdem ich viele Jahre am Jung-Institut darüber vorgetragen hatte. Es wurde unter den Studierenden des Instituts zu einem »Bestseller«, weil es nichts Vergleichbares gab. Die Behandlung der Neurosen ist sozusagen das »tägliche Brot« des Psychotherapeuten. Aber nicht nur die Studierenden waren dankbar für die vielen Beispiele aus der Praxis, Lob erhielt ich auch von verschiedenen Seiten, weil das Thema so anschaulich dargestellt ist, dass es zu einer Art Lebenshilfe wurde. Mit zeitlichem Abstand sah ich jedoch, dass man jede Auffassung von Neurose nur aus ihrem geschichtlichen Werdegang richtig verstehen kann, sonst wird sie – wie das heute geschieht – zu einer Art »Glaubensbekenntnis«. Wo Glaube herrscht, da schleicht sich der Zweifel ein. Daraus entstehen die furchtbaren, blutigen Glaubenskämpfe, in welchen man die eigenen Zweifel in der Projektion auf den Gegner bekämpft. So reifte allmählich der Plan, die Darstellung der Neurose in den Verlauf ihrer Geschichte zu stellen. Man kann eine gegenwärtige Gegebenheit nur aus ihrer geschichtlichen Entwicklung verstehen. Um das Buch nicht ausufern zu las-
sen, musste ich mich auf die wesentlichen Linien dieses Geschehens beschränken. Ein zünftiger Medizinhistoriker hätte hier noch ein weites Betätigungsfeld. Ich bin ein Dilettant im wahrsten Sinne, ein Liebhaber der Seele, aber kein Spezialist auf historischem Gebiet. Ich musste mich in meiner Darstellung daher auf Kapazitäten wie Henry F. Ellenberger [3] oder Alan Gauld [5] stützen. Sie haben ihr Thema zwar aus einem völlig anderen Blickwinkel als meinem dargestellt, aber wertvolles Material dazu gesammelt, auf welches ich dankbar zurückgegriffen habe. Bei dieser Arbeit ist mir aufgefallen, wie viele Einsichten schon vor hunderten von Jahren den Forschern aufgedämmert sind, welche heute als »dernier cri« angepriesen werden. Wer die Historie kennt, fällt weniger auf Modeströmungen herein. Auch realisiert man, wo der jeweils aktuelle Mainstream der Zeit noch hinterherhinkt. In meinem geschichtlichen Abriss zur Auffassung der Neurose geht es mir darum, zu zeigen, welche tiefen Erkenntnisse schon unsere Altvorderen errungen haben. Man wird dadurch etwas bescheidener und erkennt sich selber als ein Glied in der »aurea catena« der Forscher durch die Jahrhunderte hindurch. Wir sind heute weder am Höhepunkt noch am Ende der langen Entwicklung. Unser Bemühen während unserer kurzen Lebensdauer ist bloß ein Stein im großen Gebäude der Wissenschaft oder ein Glied in der langen Kette. Doch würde das Glied fehlen, hätte die Kette keine Kontinuität. So bescheiden der Stein oder das Glied auch sein mag, so notwendig sind sie beide. Ich habe es daher vermieden, frühere Anschauungen polemisch darzustellen. Auch habe ich bei den »modernen Strömungen« manche nicht berücksichtigt, die meiner Ansicht nach nichts Neues bringen. Der eine Grund ist, dass sie keine Fortschritte gegenüber den klassischen zeigen, der andere, dass sie Teilaspekte von früheren verallgemeinern. Die Psychologie hat lange gerungen, bis sie ein ganzheitliches Bild vom Menschen als Geist und Seele wie als Seele und Körper erlangte.
7 Einleitung
Hinter diese Ganzheit sollte man nicht mehr zurückgehen, das wäre ein Rückschritt! Nicht jeder Therapeut kann den ganzen Menschen erfassen. Und deshalb habe ich gar nichts dagegen, dass es Spezialisten wie in der Medizin gibt. Soll doch der Körpertherapeut seinen Zugang zu den seelischen Problemen über die Behandlung des Körpers finden! Soll doch derjenige, der sich dem Psychodrama verschrieben hat, die seelischen Probleme dramatisch darstellen lassen! Ich habe nichts dagegen, außer wenn er seine Methode als allen anderen überlegen verkauft. Man sollte stets den ganzen Menschen im Auge behalten. Teilaspekte können je nach Symptomatik wichtig sein und ein spezielles Eingehen erfordern. Das ist jedoch noch kein Grund, ihr eine eigene Darstellung in dieser doch grundsätzlichen Beschreibung der Neurosenlehre einzuräumen. Die Auffassung C.G. Jungs von den Neurosen und deren Therapie kann man nur aus der ganzen Psychologie Jungs verstehen. Das heißt, es bedürfte einer Darstellung seiner umfassenden Psychologie sowie seiner einzigartigen Persönlichkeit. Eine derartige Aufgabe würde meine eigenen Fähigkeiten bei weitem übersteigen und den Rahmen meiner Beschreibung sprengen. Daher habe ich dankbar die Geschichte der Neurose zum Anlass genommen, einiges Allgemeine zu Jungs Psychologie einzuflechten. Damit sollte auch seine Neurosenauffassung verständlicher werden. Der Leser darf sich bloß nicht der Täuschung hingeben, er würde nun die Jungs Psychologie kennen. Ich habe auch dankbar von der ungeheuren Datensammlung von Deirdre Bair [2] zum Leben von C.G. Jung Gebrauch gemacht, worin man etwas zu seinem Werdegang erfährt. Was man daraus jedoch nicht entnehmen kann, ist das Gefühl für die Größe seines Genius. Bair hat mit Bienenfleiß alle erreichbaren Daten zu seinem Leben gesammelt und alle ihr erreichbaren Leute aus Jungs Umgebung interviewt. Doch ergibt das noch nicht das wahre Bild seiner Persönlichkeit, weil kleinere Geister immer nur einen Teil seiner
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Persönlichkeit erfassen und weil deren Schatten das Bild der großen Persönlichkeit trübt. Die Autorin ist von der irrigen Annahme ausgegangen, erst die Menge der befragten Menschen ergäbe ein objektives rundes Bild. Da das Kleinere nie das Größere zu erfassen vermag, ist die Fleißarbeit, welche Beachtung verdient, doch im Wesentlichen unvollständig geblieben. Ich selber bin mir sehr wohl bewusst, dass ich den anderen großen Geistern nicht gerecht werde, deren Beitrag zur Erforschung der Neurosen ich beleuchten wollte. Ich müsste mich viel tiefer in deren Werke und Persönlichkeit einarbeiten, als mein Alter und meine Zeit zuließen. So bleibt manches Bruchstück eines Ganzen oder nur Teilaspekt. Auch eine solche Schilderung, wenn sie den Anspruch auch nur auf annähernde Vollständigkeit erheben wollte, würde den Rahmen sprengen. Ich konnte mich dort auf bewundernswerte ausführliche Arbeiten wie jene von Fenichel [4], Ansbacher [1] und Zepf [8] stützen, was dem interessierten Leser wieder weiterhelfen kann. Ich wollte auch nicht den ganzen Freud oder Adler zu Wort kommen lassen, wofür mir die Kenntnisse abgingen, sondern jene Aspekte, welche für die weitere Entwicklung und für die Jungsche Auffassung entscheidend waren. Wenn ein Leser meine Darstellung über einen dieser Pioniere mangelhaft findet, gibt es genügend Literatur, diesen Mangel zu beheben. Dafür findet der Leser ältere vergessene Autoren, welche es verdienen, wieder ans Tageslicht gehoben zu werden. Neurosen sind wegen ihrer Häufigkeit ein Signal, dass etwas mit unserer Zivilisation nicht stimmt, dass wir eine falsche Einstellung haben, dass wir zu materialistisch sind, ja, dass man die Psyche sogar leugnet. Wen kann es da wundern, dass manches schief läuft. Statt sie als Mahnfigur zu beachten, bezeichnen wir sie als Krankheit und versuchen sie mit Drogen zu verscheuchen. Wir sind blind für die Zeichen der Zeit, welche uns eine Umkehr nahe legen. Man hört und liest viel von Psychologie. Doch kann man so viele
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Kapitel 1 • Einleitung
Bücher darüber gelesen haben, wie man will, wenn dem nicht ein Gesinnungswandel folgt, ist nichts geschehen. > Neurosen sind typische Zivilisationskrankheiten.
Bei Naturvölkern grassieren keine Neurosen, stattdessen stillen sie elementare Bedürfnisse. Neurosen treten erst auf, wenn diese gestillt sind. Sie sind eigentlich der Luxus der Zivilisation, einer höheren Bewusstseinsentwicklung, oder der Tribut an sie. Jeder Fortschritt fordert auch ein Opfer. Daher braucht sich niemand seiner Neurose zu schämen, falls er sie einsieht und bereit ist, daran zu arbeiten. Dann kann sie sich von Fluch zu Segen wandeln. Dem in Neurosenpsychologie gut ausgebildeten Arzt kommt heutzutage eine besondere Bedeutung zu, denn er allein sieht den ganzen Menschen und den Zusammenhang von Seele und Körper. Er ist der eigentliche Primärversorger unseres Gesundheitssystems. Leider sind die tatsächlichen Verhältnisse so, dass die Hausärzte in dieser Hinsicht schlecht ausgebildet sind und dem materialistischen Vorurteil des Zeitgeistes huldigen. > Die Psyche ist das größte Weltwunder, denn sie ist die Manifestation des Lebens.
Sie ist das größte Geheimnis, das uns noch weitgehend verborgen ist. In unserer Zeit scheint der Aufbau der Materie das geheimnisvollste Rätsel, für welches ungeheure Mittel zur Entzifferung aufgewendet werden. Es ist weder die weltweite Armut noch die »soziale Gerechtigkeit«, welche die meisten Mittel verschlingt. Doch wer steckt sich ein Ziel, wer will die Welträtsel lösen? Die Psyche des Menschen ist bestrebt, mehr zu erkennen. Und gerade dieses wertvolle Instrument, von welchem unser ganzes Dasein abhängt, vernachlässigt man in der schändlichsten Weise! Man sagt etwa, ein Leiden sei »bloß psychisch«. Die Psyche ist das zentralste, was wir kennen
und von welcher alles andere abhängt. Ohne sie könnten wir keinen Atemzug tun. Glück oder Unglück hängt nicht in erster Linie von materiellen Gütern ab, sondern von der Seele. Auch in der ärmsten Hütte könnte Seelenfrieden herrschen, wenn sie die ihr angemessene Pflege erhielte. Wo sitzt die Angst vor den Gefahren der Welt, vor Naturkatastrophen, Kriegen, Epidemien etc., wenn nicht in der Seele. Was bestimmt das Handeln des Menschen zum Guten wie zum Bösen, wenn nicht die Vorstellungen in der menschlichen Psyche. Von ihr gehen Segen und Verderben aus. Pflegen wir sie, bringt sie Segen, vernachlässigen wir sie, bringt sie Verderben. Es müsste demnach, wenn man das wirklich verstanden hätte, das wichtigste Anliegen der Menschen sein, ihr Sorge zu tragen. Doch wie kann man das? Man macht ja alle möglichen Meditations- oder Yogaübungen, Wellness und vieles andere, von dem man denkt, es tue ihr gut. Das ist alles gut und recht, doch noch nicht das Wichtigste. Das wäre nämlich eine völlig andere Einstellung, welche dem Seelischen das Primat gäbe und alles andere ihm unterordnen würde. Dafür müsste man seine Psyche besser kennen lernen. Man müsste lernen, auf die leise Stimme im Innern zu hören. Man müsste ihre Äußerungsformen (Träume, Synchronizitäten, Symptome) besser beachten, um mit ihr in Harmonie zu leben. Dann würde es nicht nur einem selbst, sondern der ganzen Umwelt besser gehen. Die Umwelt, um nur ein aktuelles Problem herauszupicken, leidet nicht an unseren Abgasen, sondern an unserer Einstellung zu ihr. Natur ist nämlich nicht nur außen, sondern vor allem innen. > Unser Unbewusstes ist reine Natur, unverfälscht, weder gut noch böse, unbeleckt von unserer Zivilisation. Sie hat uns seit jeher das Überleben ermöglicht und würde es auch weiterhin tun, wenn wir darauf hörten.
9 Literatur
Wir hätten daher eine ausgezeichnete Ausgangslage, wenn man nur die gebotenen Möglichkeiten nutzen würde. Daraus erkennt man, dass das Studium der Neurosen nahtlos in das viel weitere Feld der Psyche überhaupt mündet. Es geht jedoch nicht nur darum, die Neurose zu verstehen, sondern um eine völlig neue, dem materialistischen und aufklärerischen Zeitgeist entgegengesetzte Einstellung zur Seele zu finden. Die cura animarum obliegt heute weniger dem Pfarrer als dem Psychotherapeuten. Gewinnt dieser nicht durch seine Selbsterfahrung und sein Studium eine Hochachtung vor der Seele, ist alles verloren. Keine noch so ausgeklügelte Methode seiner Therapie kann sie ihm ersetzen. Auf seinen Patienten wirkt er nur mit dem, was er für seine eigene Seele getan hat. Darum ist ein wissenschaftliches Buch wie dieses letztlich nur ein Hilfsmittel und Wegweiser zum Medikament, das die Seele des Therapeuten darstellt, welcher Therapierichtung auch immer er anhängt.
Literatur 1
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Ansbacher HL, Ansbacher RR (Hrsg.) (2004) Alfred Adlers Individualpsychologie. Eine systematische Darstellung seiner Lehre in Auszügen aus seinen Schriften. Einführung von Bornemann E. 5. Auflage E. Reinhardt, München Basel Bair D (2005) C.G. Jung – Eine Biographie. A. Knaus, München Ellenberger HF (1973) Die Entdeckung des Unbewussten. Hans Huber, Bern Stuttgart Wien Fenichel O (1977) Psychoanalytische Neurosenlehre. 3. Bde. Walter, Olten Gauld A (1992) A history of hypnotism. Cambridge University Press Ribi A (2002) Der normal kranke Mensch. Neurose und Lebenssinn. Die Neurosen aus der Sicht C.G. Jungs. Stiftung für Jungsche Psychologie, Küsnacht Ritter J, Gründer, K (Hrsg.) (1984) Historisches Wörterbuch der Philosophie. Mo-O, VI. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt. S. 760–769 Zepf S (2006) Allgemeine psychoanalytische Neurosenlehre, Psychosomatik und Sozialpsychologie. 2. Auflage. Psychosozial, Gießen
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Erstes Buch: Der Neurosebegriff in den Anfängen Kapitel 2
Der lange Weg und die Abenteuer auf der Suche nach der befreienden Erkenntnis – 13
Kapitel 3
William James und der Pragmatismus – 87
Kapitel 4
Die Rolle des Traumas bei Entstehung der Neurose – 97
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13
Der lange Weg und die Abenteuer auf der Suche nach der befreienden Erkenntnis 2.1
Vorläufer – 14
2.1.1 2.1.2
Primitive Medizin – 14 Griechische Heilverfahren – 26
2.2
Wo entlang führt der Weg zur modernen Psychologie? – 29
2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.2.4 2.2.5 2.2.6 2.2.7
Scholastik – 29 Ärzte der Renaissance – 29 Einskontinuum und Neuplatonismus – 30 Paracelsus und lumen naturae – 31 Aufschwung der Naturwissenschaften – 33 Ernst Georg Stahl und der moderne Vitalismus – 34 Moderne Frauenbewegung – 36
2.3
Der Begriff »Neurose« – 37
2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.3.4
Wichtige Vertreter und ihre Theorien – 37 Lehre vom Pneuma – 41 Neurosenkonzept nach Cullen – 42 Romantische Medizin und Naturphilosophie – 44
2.4
Vom romantischen Vitalismus zur Aufklärung – 47
2.4.1 2.4.2
Kants Einfluss auf die Medizin – 47 Neurosenkonzepte im 19. Jahrhundert – 49
2.5
War es ein Rückfall in die »primitive Medizin«? – 54
2.5.1 2.5.2 2.5.3 2.5.4 2.5.5 2.5.6 2.5.7
Religiöse Dimension – 54 Franz Anton Mesmer und der tierische Magnetismus – 56 Natur und Ich – 69 Der Fall Hauffe – 71 Der Fall Smith – 76 Spiritistische Experimente C.G. Jungs – 80 Vertreter des Hypnotismus – 83
Literatur – 83 A. Ribi, Neurose – an der Grenze zwischen krank und gesund, DOI 10.1007/978-3-642-16148-3_2, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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Kapitel 2 • Der lange Weg und die Abenteuer auf der Suche nach der befreienden Erkenntnis
Im Folgenden werde ich keine Geschichte der Medizin schreiben. Daran haben sich Berufenere versucht. Die Wurzeln der Medizin reichen jedoch in undenkliche Vorzeiten zurück – vielleicht seit es Menschen gibt. Da ist es schwierig zu ermessen, wo eine Geschichte der Neurosen einsetzen soll. Ich habe mich entschieden, deren Geschichte mit Blick auf die heutige Neurosentherapie darzustellen, und werde polemische Töne nur dort anschlagen, wo sie zur Unterscheidung der Jungschen Auffassung von anderen dienen. Mehr Gewicht werde ich auf flüchtige Ansätze legen, die später ausgeformt Bedeutung erlangten. Mir geht es darum, die Fäden aufzuzeigen, welche zur heutigen Therapie führen. Die positiven Ansätze sind mir wichtig für das heutige Verständnis. So richtet sich der Blick selbst bei der Darstellung der Vergangenheit stets auf die Gegenwart. Die Geschichte lehrt uns, dass wir heute noch nicht am Ziel angekommen sind, sondern nur an einem vorläufigen Punkt. Jung sagt es so schön, dass jeder das Licht der Erkenntnis nur eine Strecke weit trage, bis es ihm ein anderer abnehme (GW 16, 157).
2.1
Vorläufer
Ich habe in der Einleitung (7 Kap. 1) behauptet, Neurosen seien eine Zivilisationskrankheit. Ich bin dem Leser jedoch die Begründung dieser Aussage zunächst schuldig geblieben, was ich hier nachholen möchte.
2.1.1
Primitive Medizin
Für meine Vorlesung über primitive Medizin am C.G. Jung-Institut Zürich habe ich die entsprechende ethnologische Literatur eingehend studiert. Vieles davon ist in mein leider vergriffenes Buch »Was tun mit unseren Komplexen? Über die Dämonen des modernen Menschen«
[114] eingeflossen. In der Medizin der Naturvölker wird nicht so scharf wie bei uns zwischen körperlichen und seelischen Krankheiten unterschieden, sondern bei beiden gemeinsame Ursachen angenommen. Beide können vom Heiler oder Schamanen auch mit Kräutern aus dem Medizinbeutel behandelt werden. Die Krankheiten kann man nur aus ihrer Krankheitsauffassung verstehen, welche von unserer rationalen beträchtlich abweicht. Daraus ergibt sich die Behandlungsmethode. Ihre Auffassung ist, versteht man sie psychologisch, uns gar nicht so fremd. Es gibt drei Arten von Ursachen ([114] S. 79f.). Primitive Krankheitsursachen 1.
Causa efficiens (auslösende Ursache): – Krankheiten hervorgerufen durch einen anderen Menschen – Krankheiten hervorgerufen durch sog. »übernatürliche Kräfte« 2. Letzte Ursache (warum die Krankheit auftritt): – Übertreten einer sozialen oder religiösen Norm – Wirkung von Zauberei oder Hexerei – Bosheit sog. »übernatürlicher Kräfte« 3. Causa instrumentalis (wie sie technisch entsteht): – Eindringen eines Fremdkörpers – Seelenverlust – Besessenheit
Das mag dem modernen Leser zunächst befremdlich erscheinen, weil man heute in ganz anderen Kategorien denkt. Daher müssen wir uns diese Einteilung genauer ansehen und in unsere moderne Sprache übersetzen:
Causa efficiens Anderer Mensch Als auslösende Ursache einer Erkrankung kommt zunächst ein anderer Mensch, wohl
15 2.1 • Vorläufer
jemand aus der sozialen Umgebung des Kranken infrage. Das leuchtet uns sofort ein, wenn wir bedenken, wie viele zwischenmenschliche Konflikte es gibt. Je näher die Beziehung, umso gefährlicher ist sie! Wie viele, sogar körperliche Krankheiten entstehen in einer konflikthaften Ehe. Manches Leben wurde durch den Einfluss der Eltern ruiniert. Ich spreche jetzt nicht von den Naturvölkern, sondern von unserer modernen Zivilisation! »Mobbing« ist eine moderne Form auslösender Krankheitsursachen außerhalb der Familie, am Arbeitsplatz meistens, welches dem Betroffenen das Leben zur Hölle machen kann. Ein Lehrer kann für den Schüler, den er nicht mag, zum Trauma werden. Übergriffe sexueller Natur kommen in der näheren oder weiteren Verwandtschaft vor, je abhängiger eine Person von einer anderen ist. Es brauchen jedoch gar keine Übergriffe zu sein, Konflikte unter Geschwistern, Neid und Eifersucht, sind grausame Quälgeister, welche Leben zu zerstören vermögen. Man erkennt, dass diese »primitive« Krankheitsauffassung durchaus modern ist, und wir daraus viel lernen können. Übernatürliche Kräfte Was aber ist mit den übernatürlichen Kräften gemeint, welche Krankheiten auslösen können? William James, dem wir später begegnen werden, hat sich mit dieser Frage beschäftigt und den engen medizinischen Blickwinkel auf diese ausgeweitet. Es geht hier um Geister in der Sprache der Naturvölker oder um autonome Komplexe in psychologischer Sprache. Solche Komplexe sind vom Bewusstsein unabhängig und verhalten sich wie Kobolde, d. h. irrational. Allen parapsychologischen Erscheinungen liegen sie zugrunde. Sie sind Teilpersönlichkeiten, wie die Figuren unserer Träume. Sie sind nicht eigentliche Ursachen, sondern Synchronizitäten, welche in einer Situation konstelliert sind. Synchronizitäten sind sinnvolle Zufälle, eine sinngemäße Übereinstimmung von äußeren mit inneren Ereignissen (GW 8, 905; das Kürzel »GW«
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steht im Folgenden für die Gesammelten Werke C.G. Jungs, 7 Literatur). In diese Kategorie gehören wohl die bösartigen Tumoren, deren Ursache ja meist unbekannt ist, welche aber in typischen Lebenssituationen auftreten (und auch verschwinden können). Es sind göttliche oder dämonische »Kräfte«, weil der Mensch alles auf eine Ursache zurückführt, wo man eigentlich gar nicht mehr von Kausalität sprechen kann. Doch akausale Ereignisse werden entweder kategorisch geleugnet oder sind zumindest gewöhnungsbedürftig. Sie sind allerdings im wissenschaftlichen Sinn so wenig »übernatürlich« (außerhalb der Natur stehend) wie Kontingenz zu den natürlichen Zusammenhängen gehört. Die Kausalität ist nur die eine Form, wie zwei Ereignisse zusammenhängen können, die andere Form ist jene des Sinnes. Dieser Zusammenhang ist noch viel zu wenig bekannt und wird deswegen zu wenig beachtet. Man schreibt dann unbekannten Erkrankungen irgendwelchen erfundenen Ursprung zu, um das Kausalitätsbedürfnis zu befriedigen. In unseren Breitengraden ist der plötzliche Kindstod ein solches rätselhaftes Geschehen. Ich habe einen eindrücklichen Fall einer Synchronizität bei plötzlichem Kindstod beschrieben, der von einem Traum angekündigt und von einem telekinetischen Ereignis begleitet war. Ich hatte einen sehr rationalen technischen Chemiker in Behandlung. In einem Traum sah er den Glastisch in der Stube spontan in der Mitte entzweibrechen. Ihn frappierte besonders, dass die beiden Stücke an der Bruchstelle wie Plastik gegeneinander bewegt werden konnten. Seine Frau war schwanger und gebar um die Weihnachtszeit ein Kind, das nach wenigen Tagen aus voller Gesundheit starb. Der Vater ließ eine Autopsie machen, welche keine pathologischen Befunde und keine Todesursache ergab. Kurz vor der Geburt brach der Glastisch in der Stube spontan, ohne Belastung, entzwei. Der Analysand berechnete, welche immensen Spannun-
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Kapitel 2 • Der lange Weg und die Abenteuer auf der Suche nach der befreienden Erkenntnis
gen in der Horizontalen dafür notwendig waren. Er war völlig verblüfft und erinnerte sich seines Traumes. Er schaute dessen Datum nach: Es entsprach dem Termin der Konzeption!
Das Springen von Glas ereignet sich oft im Zusammenhang mit Todesfällen. Wir haben nämlich damals am Sinn des Traumes herumgerätselt und konnten ihn nicht als prospektiv verstehen. Gebrochenes Glas weist auch auf gebrochenen Eros hin: In der Ehe bestanden große Spannungen, was er mir erst nach dem Tod des Kindes anvertraute. Dieser Fall vermag mehreres zu illustrieren: Erstens, dass der Traum, im Augenblick der Zeugung eines Kindes, schon in die Zukunft zu weisen vermag und dessen Tod voraussagt. Zweitens ist die Voraussage in symbolischer Sprache, was ich erst im Nachhinein verstehen konnte. Drittens gibt es einen Hinweis darauf, dass das Milieu, in welches das Kind geboren wurde, derart gespannt war, dass es keine Chance zu leben hatte. Die englische Society for Psychical Research (SPR) hat in einer groß angelegten Studie ähnliche Fälle untersucht [13]. Darin geht es um Erscheinungen von verstorbenen Personen, welche einer anderen vor deren Tod erschienen, was als Hinweis für das geistige Überleben nach dem Tode verstanden wurde [37]. In 53% der über 700 Fälle handelt es sich um Träume mit dem Thema »Tod« im Umkreis des Todes oder lebensbedrohlicher Situationen ([110] S. 761f.). z
Mehrleistungen der Psyche
In diesem Werk beschäftigt sich F.W.H. Myers mit den sog. »Mehrleistungen« der Psyche, Leistungen, welche über das hinausgehen, was das Bewusstsein leisten kann. Dies wurde seit eh und je als »übernatürlich« empfunden. Um sie zu verstehen, muss man allerdings die Äußerungen des Unbewussten in Betracht ziehen. Das hat C.G. Jung getan. So sind zunächst die Ergeb-
nisse der Parapsychologie, welche auch lange als »paranormal« oder »okkult« bezeichnet wurden. > Das Irrationale gehört unbedingt zur Psychologie, sonst wäre sie nicht vollständig.
Letzte Ursache Wir gelangen nun zur letzten Ursache von Erkrankungen: Übertreten religiöser oder sozialer Normen Das Übertreten sozialer oder religiöser Normen ist nicht nur bei Naturvölkern als Tabu bekannt, sondern auch bei uns eine häufige Ursache von psychischen Störungen. Es sind moralische Konflikte, welche nicht verarbeitet wurden. Ich kenne einen homosexuellen Mann, der sich ein ganzes Leben lang schwertat, seine Abweichung anzunehmen, und ständig zwischen schlechtem Gewissen und Trieb zerrissen wurde. Er konnte seiner Natur nicht entfliehen, sie aber wegen seines Ansehens auch nicht ausleben. Dieser Mann litt sogar an zwei Übertretungen von Normen: Zum einen wuchs er in einer Zeit auf, in welcher Homosexualität verpönt, ja sogar strafbar war. Als junger Mann war er für eine Nacht von der Polizei eingesperrt worden, weil er eine soziale Norm übertreten hatte. Zum anderen war er ein sehr religiöser Mensch. Sexuelle Handlungen außerhalb der Ehe und Masturbation waren in seinem Gebotenkatalog verpönt. Sein Gottesbild war das eines gestrengen strafenden Vaters. Wenn er eine Norm übertreten hatte, fürchtete er ständig eine »göttliche Strafe« als Krankheit oder Unfall. Meldete sich irgendein harmloses Körpersymptom, dann musste er sich fragen, welche Sünde jetzt wohl gerächt würde.
In der Therapie dieses Mannes ging es darum, dass sich sein Kinderglaube entwickeln konnte. Es ist viel zu wenig bekannt, dass sich nicht bloß
17 2.1 • Vorläufer
die Persönlichkeit entfaltet, sondern auch ihre Beziehung zur Transzendenz. Die Religionen betonen stets ihren Ursprung aus undenkbaren Vorzeiten und ihren gleichbleibenden Inhalt in alle Ewigkeit. In der irdischen Wirklichkeit wandeln sich die Religionen in größeren Zeiträumen und ebenso im Einzelnen während seines Lebens. > Es ist eine dialektische Beziehung zwischen dem Menschen und seinem Gott. Letztere tritt in der Jugend und im frühen Erwachsenenalter das Erbe der Vaterimago an: Was man am Vater erlebt hat, tritt nach Ablösung von ihm am Gottesbild auf.
Zunächst trägt es noch zu stark persönliche Züge, bis es sich mit zunehmender Reife ins Überpersönliche, Allgemeine wandelt. Diese Wandlung ist auch in der Kirchengeschichte sichtbar als Entfaltung dessen, was im Kern schon seit alters angelegt war. Was eine Wandlung des Kinderglaubens hemmt, ist die Insistenz der Religionen auf ihren konservativen Charakter. Das sollten auch die Kirchen zur Kenntnis nehmen, um ihren Dienern ebenfalls die Möglichkeit zur Entwicklung ihres Glaubens zu bieten. Man sollte stets an das arabische Wort der Weisheit denken: Frage: Welcher kommt schneller zu Gott; einer, der an Gott glaubt oder einer, der an ihm zweifelt? Antwort: Derjenige, der an ihm zweifelt, denn ob seiner Zweifel hadert er Tag und Nacht mit ihm! Wirkung von Zauberei oder Hexerei Die Wirkung von Zauberei oder Hexerei erscheint uns vollends dem Aberglauben des Mittelalters anzugehören. Schauen wir doch etwas näher hin! Unter einer Hexe verstehen wir eine gefährliche, negative Frau, vor der wir uns fürchten. Nebenbei: Hexen treten nur auf bei einem schwachen Ich, welches dem Weiblichen unterlegen ist. Wir begegnen oft Frauen, welche wir
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als feindlich erleben, vor denen wir uns sogar fürchten, sie könnten uns etwas antun. Wir getrauen uns bloß nicht, sie als Hexen zu bezeichnen. Sie wirken auf uns jedoch genauso wie auf die mittelalterlichen Menschen. Sie verzaubern uns, vielleicht sogar im positiven Sinn, sodass wir fasziniert sind. Jede Faszination ist eine Verzauberung: Wir sind nicht mehr wir selber, sondern einem fremden Willen ausgeliefert. Wir sagen und tun Dinge, von denen wir später verwundert feststellen: Wie konnte ich nur?! Wir sind in solchen Augenblicken nicht mehr »wir selber«, wir sind verwandelt, eine andere Person, wie hypnotisiert. Das ist nicht Aberglaube, das ist Alltagspsychologie. Das kann eine »liebende Mutter oder Ehefrau« sein, die unbewusste schlechte Gedanken oder Absichten über einen hat. Es gibt tausend Varianten, in denen sich die Hexe manifestieren kann. Ihr Geheimrezept besteht darin, dass wir nicht merken, dass wir ihr blindlings ausgeliefert sind. Vom Bewusstsein aus mag diese Person sehr freundlich scheinen, ja sie verbirgt ihre Absicht oft hinter einer harmlosen Fassade. Und schließlich ist es keine äußere Person, sondern eine innere Gestalt, welche uns krank macht, z. B. ein negativer Mutter- oder Vaterkomplex. Bosheit »übernatürlicher Kräfte« Auch die sog. »übernatürlichen Kräfte« sind nicht außerhalb der Natur, aber unsichtbar und können nicht auf rationale Ursachen zurückgeführt werden. Deshalb werden sie in der medizinischen Psychologie nicht anerkannt; man kann sie nicht direkt nachweisen, sondern nur aus Beobachtungen erschließen. Wir müssen sie wiederum im Bereich des »Okkulten«, der Parapsychologie suchen, wo Dinge ursachelos geschehen. Und wenn sie schädlich sind, nimmt man »böse Geister« an. Es gibt Phasen im Leben, in welchen man derartigen unterschwelligen Einflüssen mehr zugänglich, empfänglich ist, weil das Bewusstsein schwach ist. Die Schwelle des Bewusstseins kann durch Müdigkeit oder
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Kapitel 2 • Der lange Weg und die Abenteuer auf der Suche nach der befreienden Erkenntnis
körperliche Schwäche herabgesetzt sein (»abaissement du niveau mentale«). Was normalerweise abgewehrt werden kann, erreicht und vergiftet einen. Man ist dem hilflos ausgeliefert. Es können schlechte Gedanken sein, die jemand über uns hat, oder Rachegelüste, welche er nicht körperlich ausagiert. Wir sind für allerlei Einflüsse empfänglich, weil unsere Persönlichkeit nicht scharf gegen die Umwelt abgegrenzt ist. Da gibt es Schwachstellen, wo sich unsere Psyche mit unserer Umwelt vermischt, wo Subjekt und Objekt nicht klar geschieden sind. Hier ist die Einfallspforte, wo man sich an einem anderen Menschen infiziert. Dabei handelt es sich gerade um jene Menschen, denen wir am nächsten stehen. Und weil wir ihnen so nahe stehen, nehmen wir deren Aussagen so ernst, dass sie uns treffen. Mit den uns nahe stehenden Personen sind wir oft wie siamesische Zwillinge verwachsen (»participation mystique«). Wir geben uns zu wenig Rechenschaft darüber, was wir sind und was die andere Person ist. Wir meinen, das mache die Nähe der Beziehung aus (»ein Herz und eine Seele«). Doch das ist darum gefährlich, weil wir von unbewussten Problemen der anderen Person angesteckt werden. Im schlimmsten Fall entsteht eine »Folie à deux«. Eine Frau um die Fünfzig kam in meine Praxis mit folgender Geschichte: Sie und ihr Mann hatten Gäste bewirtet. Beim Abschied bemerkte der Mann des befreundeten Paares den großen, schönen Garten. Meine Patientin führte den Mann herum, während dessen Frau beim Gastgeber zurückblieb. Am nächsten Tag unterzog der Mann meine Patientin einem Verhör: Was sie mit dem Mann im Garten gemacht habe? Antwort: Sie habe den Garten gezeigt, wie er selber sehen konnte. Warum sie beide so lange hinter dem Busch verweilt hätten? Sie hätten das gar nicht getan. Doch, sie soll gestehen, ob sie sich geküsst hätten. Das Verhör zog sich über mehrere Tage.
Er klagte, er könne nicht mehr schlafen, bis sie nicht ein »Geständnis« abgelegt habe, er würde ihr vergeben, doch diese Ungewissheit verzehre ihn. Schließlich »gestand« sie ihm, sie hätten sich hinter dem Busch umarmt. Er meinte, das gäbe ihm Ruhe und Schlaf wieder. Die Ruhe währte kurz: Ob sie sich denn nur umarmt hätten, oder doch mehr? Sie schwor ihm, es sei nicht mehr gewesen. Er aber vermutete, dass es zu sexuellen Handlungen gekommen sei. Sie verneinte vehement. Er könne ihr alles verzeihen, doch diese Ungewissheit halte er nicht mehr aus. Um ihn zu beruhigen, »gestand« sie, was ihn wieder für kurze Zeit entlastete. Als sie zu mir kam, zappelte sie wie eine Fliege im Netz von Intrigen, die er gesponnen hatte. Hätte sie ihm gesagt, das sei nur erlogen, hätte er das als Leugnen verstanden. Sie konnte also weder vorwärts und noch mehr Erfundenes »gestehen«, noch rückwärts und alles ableugnen! Ich verabreichte ihm Medikamente, was er ungern annahm, weil er sich nicht als krank betrachtete. Aus meiner Sicht war er der primäre Fokus der Krankheit. Es gelang ihm zudem, seine Frau in sein Wahnsystem einzubinden.
Man weiß zu wenig, wie ansteckend Wahnkranke sind! Das Beispiel zeigt anschaulich, wie die Frau in den Wahn eingesponnen werden konnte, indem sie dem armen, geplagten Ehemann seine Beunruhigung abnehmen wollte. Ihre Schwäche war ihr unentwickeltes Gefühl. Statt sich entschieden von seinen Verdächtigungen zu distanzieren und sie als krankhaft zu qualifizieren, ließ sie sich darauf ein und tappte in die Falle. Sie wurde von seinem Wahn angesteckt, obwohl sie meinte, sie wüsste ja, dass alles erlogen sei. Doch sobald sie »gesteht«, befindet sie sich ebenfalls im Wahn, auch wenn sie meint, sie tue es um seinetwillen. Mit ihren »Geständnissen« hat sie nicht nur ihn, sondern auch sich selbst belogen. Ihre undifferenzierte Bezogenheit hat sie dazu verführt, gegen besseres Wissen zu lügen. Damit hat sie ihrem Mann nicht nur nicht geholfen – er
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war ja weiterhin von seinem Misstrauenswahn geplagt –, sondern im Gegenteil, ihn tiefer in den Wahn hineingeschoben. > Es ist ein Kunstfehler, einem Wahnkranken den Wahn zu bestätigen. Auch Wahnideen ausreden zu wollen, ist falsch, denn im Kranken streiten sich zwei Seiten: die kranke und die gesunde.
Stellt man sich auf die gesunde Seite und redet man ihm die Wahnideen aus, so wandert sein gesunder Teil aus und verkörpert sich in mir. Der Kranke hat seinen besten Teil verloren und bleibt allein mit dem kranken zurück. Dieser wird nun gegen die äußere Person kämpfen, welche den gesunden Teil verkörpert. Er ist noch unbelehrbarer geworden. Für den Therapeuten ist es schwierig, sich in solchen Situationen richtig zu verhalten. Wahnkranke suchen stets in ihrer Umgebung Bestätigung für ihren Wahn, weil sie von der gesunden Seite durch Zweifel geplagt werden. Diese Zweifel sind jedoch seine Chance, aus dem Wahn herauszukommen, nicht wohlgemeinte Leugnung des Wahnes. Die Zweifel sind der Heilungsversuch der gesunden Seite, und wir sollten uns auf ihre Seite stellen. Je mehr wir ihn in die Zweifel hineinstoßen, desto eher gelingt es ihm, aus dem Wahn herauszukommen. Wir haben soeben etwas über den Rand der Neurosen hinausgeschaut, was für die Abgrenzung Neurose – Psychose wichtig ist. Der Wahn des Ehemannes meiner Patientin trat plötzlich, ohne erkennbaren Grund auf. Der Eifersuchtswahn entsteht stets aus Mangel an Bezogenheit. Das dürfte sich wohl schon über längere Zeit bemerkbar gemacht haben, hätte man genauer nachgefragt. Möglicherweise hätte sich auch ein Auslöser gefunden, weshalb er sich gerade zu jenem Zeitpunkt manifestiert hat. Das Charakteristikum der Psychose für den Laien ist die Uneinfühlbarkeit des Geschehens, d. h., man kann es vom normalen Einfühlen her nicht verstehen.
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> Der Wahn allein ist zwar pathologisch, macht aber noch keine Krankheit, weil er auch beim Normalen vorkommen kann, dort jedoch korrigierbar ist. Solange ein Mensch Kritik annehmen und seinen Wahn, in dem er sich befindet, korrigieren kann, ist er nicht schizophren.
Causa instrumentalis Schließlich kommen wir zur causa instrumentalis, die Art und Weise, wie die Krankheit entsteht. In meinem »Dämonenbuch« ([114] S. 80f.) habe ich darauf bereits ausführlich Bezug genommen. Eindringen eines Fremdkörpers Das Eindringen eines Fremdkörpers scheint uns fremd, wir können uns nichts darunter vorstellen. Ich hatte vor über 40 Jahren einen Traum, in welchem ich eine Pustel am Kinn feststellte, ein infiziertes Barthaar, im Volksmund »Mitesser« genannt. Das kommt bei Männern häufig vor. Bei mangelnder Hautpflege und kleinen Verwundungen beim Rasieren dringen Bakterien in den Schaft eines Barthaares und rufen eine Entzündung hervor, welche sich als kleine Eiterpustel zeigt, wenn das umliegende Gewebe eingeschmolzen ist. Die Fremdkörper sind in diesem Fall die Bakterien, die vom Körper mittels Entzündungsreaktion abgewehrt werden. z
Projektion
Mein Traum machte mich darauf aufmerksam, dass ich eine Projektion eingefangen hatte. Nun muss man aber wissen, was man unter Projektion versteht. »Projektion bedeutet die Hinausverlegung eines subjektiven Vorganges in ein Objekt«, schreibt C.G. Jung (GW 6, 793–794). Das klingt noch sehr abstrakt, weshalb ich diesen fundamentalen Begriff der Psychologie näher erläutern muss. Wenn wir Gedanken über eine Person haben, glauben wir, das spiele sich in unserem Gehirn ab und die andere Person,
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das Objekt, merke nichts davon. Dass dem nicht so ist, merkt man im Alltag. Es ist mir schon oft passiert, dass ich im Konzert- oder Kinosaal vor mir eine Person sitzen sah, welche ich zu kennen vermeinte, aber nicht sicher war, ob sie es wirklich sei. Darum habe ich sie länger und intensiver von hinten beobachtet. Öfters geschah es, dass sich die unbekannte Person nach mir umschaute. Das kennt jedermann aus eigener Erfahrung als Objekt. Man spürt, dass jemand einen im Visier hat, man spürt es, wenn man fixiert wird. Die Gedanken dringen sozusagen in einen ein. Sie sind, weil wir sie spüren, nicht nichts. Darum können sie ungewollt in einen eindringen. Wir glauben an diesen Mechanismus, wenn wir jemandem »liebe Grüße« oder »unsere besten Wünsche« oder »alles Gute« schicken. Würden wir nicht damit rechnen, dass der Andere etwas davon merkt, dass wir für ihn gute Gedanken und Gefühle haben, wären das leere Floskeln. Doch wir können uns nur auf unsere Erfahrung mit sinngemäßen Zufällen (Synchronizitäten) verlassen, dass mehr dahinter ist, als wir rational verstehen können. Wir rechnen sogar mit Projektionen in unserem Alltag, wenn wir für Kranke beten oder einem Prüfling die Daumen drücken. Projektion ist zwar ein Rätsel, doch behandeln wir sie als ganz selbstverständlich. Wir sind durch »participation mystique« (Levy-Bruhl) mit unseren Mitmenschen, an welchen uns liegt, verbunden. Das geschieht nicht nur im positiven, wohlwollenden Sinn, sondern auch im negativen. Schlechte, feindselige Gedanken und Gefühle können uns schaden, sogar krank machen, wenn wir nicht eine starke, eigenständige Persönlichkeit sind. z
Projektil
Auf der ganzen Welt sind Ideen von krankheitsverursachenden Projektilen nachzuweisen [84]. Unsere Worte »Hexenschuss« oder »Herzschlag« resp. »Hirnschlag« weisen noch darauf hin. Im Norden sind es die »Iceicles« (Eiszapfen), in
Australien das »bone-pointing«, wo man mit spitzen Gegenständen in Richtung eines Feindes weist, dem man schaden will. Als Urheber des »Schlages« oder »Schusses« gelten Zauberer oder Hexen im Norden. Sie sind archetypische Figuren, was bedeutet, dass die Projektion nicht vom Ich ausgeht. Hiob klagt: »Die Pfeile des Allmächtigen stecken in mir, und mein Geist saugt ein ihr glühend Gift« (Hiob 6,4. Zürcher Bibel). Es ist stets eine göttliche, respektive dämonische Instanz, von welcher die verwundende Projektion ausgeht (Amor, Kama sind mit Pfeil und Bogen dargestellt). > Projektionen können nicht willkürlich erzeugt werden. Es sind die archetypischen Figuren im Menschen, unpersönlich, autonom, unerwartet, von denen sie ausgehen.
Man muss die Volksweisheit befragen, um das zu verstehen.
Seelenverlust Der Seelenverlust (»loss of soul«) ist eine bei Naturvölkern sehr gefürchtete Krankheit. Jedermann hat sie schon am eigenen Leibe erlebt, wenn ihm ein lieber Mensch gestorben ist oder ihn verlassen hat. Er hat das Gefühl, er sei seiner Seele beraubt worden oder seine Seele sei ins Jenseits abgewandert. Er empfindet sich als leer, ohne Gefühl, ohne Leben, gleichgültig, als Roboter, wie ein Zombie, eine seelenlose Maschine. Das Beste, was seine Vitalität und Bezogenheit ausmachte, ist verlorengegangen. Dieser Zustand ist einer Depression ähnlich, in welcher man sich selber nicht mehr spürt, keine Lust mehr hat am Leben, am Essen, weil alles fad schmeckt, man nur noch traurig, bedrückt und ohne Initiative ist. Es ist ein geheimnisvolles Vitalitätsprinzip, das der toten Materie Leben einhaucht. Daher sinkt die Energie auf den Nullpunkt. Derartige Zustände treten bei einer Schwächung des bewussten Standpunktes, der gefes-
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tigten Persönlichkeit, in einer Wandlungsphase ein, wo sich die alte Persönlichkeit auflöst und erst schwache Anzeichen einer neuen sichtbar werden. Bei Angehörigen eines Naturvolkes ist die bewusste Persönlichkeit so schwach, dass ihr leicht eine von mehreren Seelen zu entfliehen droht. Dann muss sich der Schamane ins Jenseits begeben, um die Seele wieder ins Diesseits zu locken. Das ist ein gefährliches Unterfangen, denn er riskiert, seine eigene Seele dort zu verlieren. Das heißt für unsere Verhältnisse, dass es Aufgabe des Therapeuten ist, bei einem Depressiven ins Unbewusste zu tauchen, um ihm zu helfen, seine Seele heraufzuholen. Wir sind viel zu naiv, wenn wir glauben, er könne das gefahrlos tun. Instinktiv merkt auch der moderne Therapeut, wie viel Anstrengung ihn das kostet. Viele Therapeuten umgehen diesen Kräfteverschleiß, indem sie Medikamente verordnen. Doch kein einziges Medikament auf der ganzen Welt vermag ein Problem zu lösen. Man begnügt sich damit, dass die Stimmung aufgehellt wurde, doch das Problem lässt man stehen, die Seele in der Unterwelt! Eine Frau kam zu mir, deren Mann unerwartet gestorben war. Der Hausarzt hatte ihr wegen Depressionen Valium gegeben. Sie klagte mir, sie fühle sich wie in Watte gepackt, ganz widernatürlich. Wir kamen überein, sie solle das Medikament absetzen und den natürlichen Trauerprozess zulassen. Denn Trauer nach einem Verlust ist ein natürlicher Heilungsprozess. Der sollte nicht mit Medikamenten unterbrochen werden. Die Seele hat ihre eigenen Heilkräfte, welche wir wenn möglich unterstützen sollen. Medikamente sind erst dort angezeigt, wo diese unzureichend sind.
Besessenheit Die letzte Krankheitsursache ist die Besessenheit. Auch hier meint man, das sei ein obsoleter Ausdruck, und weiß nicht, wie häufig sie ist. Bei jeder Emotion sind wir in Gefahr, besessen zu werden.
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Denn jede Emotion bedeutet ein »abaissement du niveau mentale« (Janet), eine Senkung der Bewusstseinsschwelle, wodurch unbewusste Inhalte (wie im Traum) leichter ins Bewusstsein einzubrechen vermögen. Jedermann hat schon erlebt, wie er unter einer Emotion Dinge gesagt oder getan hat, die ihm später unbegreiflich sind. Man ist nicht bei Sinnen, nicht zurechnungsfähig sowohl im positiven, euphorischen, übermütigen als auch im negativen, wütenden, enttäuschten, aggressiven Sinne. Emotionen gehen mit einem durch, man ist ihrer nicht Herr, sondern sie haben uns in ihrer Gewalt, kurz: Man ist besessen! Unterdrückt man die Emotion, so richtet sie sich nur gegen einen selber: Man schluckt den Ärger hinunter und kriegt Bauchweh. Emotionen sind natürliche Reaktionen, welche das Leben farbig machen und darum mitleben wollen. Sie haben eine Ursache und einen Sinn. Oft liegen beide nicht auf der Hand, müssen in der Introversion gesucht werden. Sie entspringen – besonders bei Frauen – oft einem gekränkten Gefühl, was man sich ungern zugibt, weil man scheinbar als Schwächling dasteht. Meine Freundin schimpfte mich manchmal eine »Mimose«, wenn ich mich über eine Verletzung des Gefühls beklagte. Es ist wichtig, sich klar zu werden, welche Ursache eine Emotion hat, denn sonst trägt man sie lange mit sich herum. Emotionen sind auch insofern natürliche Reaktionen, als sie stets dann auftreten, wenn ein Komplex oder ein Archetypus berührt wird. Sie machen das Hoch und Tief unseres Seelenlebens aus, unsere höchsten, seligsten und unsere tiefsten, abgründigsten Gefühle. Ich möchte schon an dieser Stelle darauf hinweisen, dass der Begriff »Gefühl«, bis C.G. Jung ihn scharf definiert hat als eine Bewusstseinsfunktion (GW 6, 595f.), sinngleich mit Emotion oder Affekt gebraucht wurde. Davon zeugt noch die Definition des Komplexes als »gefühlsbetont«, d. h. »lebhaft emotional betont« (GW 8, 201). Jung gebraucht Emotion synonym mit Affekt. Darunter versteht er einen seelischen
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Zustand, einerseits einer eigentümlichen Störung des Vorstellungsablaufes (GW 6, 681). Die Gefühlsfunktion bezeichnet er als einen Vorgang zwischen dem Ich und einem gegebenen Inhalt, durch den diesem ein gewisser »Wert im Sinne von Annehmen oder Zurückweisen (»Lust oder Unlust«) erteilt wird« (GW 6, 721). Sie ist eine Wertungsfunktion, also eine Art des Urteilens und damit eine rationale Funktion (GW 6, 722). Steigert sich diese Funktion, so können Körperinnervationen auftreten, worauf sie fließend in die Emotion übergeht. Man ist sich viel zu wenig bewusst, was Emotionen uns antun, dass sie unser Bewusstsein benebeln, uns in einen vermindert zurechnungsfähigen Zustand versetzen wie unter Drogen oder Alkohol. Das ist im Straßenverkehr ebenso gefährlich wie jene Substanzen, bloß gibt es keinen Test, um sie nachzuweisen. Sicher hat sich jedermann schon am Steuer furchtbar geärgert und ausgerufen »wie ein Wald voller Affen«, wenn sich ein anderer Straßenteilnehmer ihm gegenüber unkorrekt verhalten hat. Dann läuft er Gefahr, erst recht aufs Gaspedal zu treten, um es jenem »zu zeigen«! Wie dumm und gefährlich das ist, merkt man in diesem Augenblick nicht; vielleicht erst, wenn ein Unfall passiert ist. Ich erhielt bei meiner Arbeit im Spital die Nachricht vom Blasensprung meiner Frau. Ich fuhr sofort nachhause. Vor mir fuhren zwei Autos viel langsamer, als erlaubt war. Endlich konnte ich überholen und gab Gas. Doch da waren eine Baustelle und eine Umleitung, so dass ich ein riskantes Manöver machen musste. Es passierte nichts, doch im Rückspiegel sah ich wie ein Polizeiauto meine Verfolgung aufnahm. Jetzt musste ich mich nicht mehr beeilen! Die Geburt verlief trotzdem gut.
Manchmal geht es noch glimpflich aus und veranlasst uns, nicht weiter darüber nachzudenken, was ein Fehler ist. Mein Beispiel ist so banal, dass die Leser sich an Ähnliches aus ihrem Le-
ben erinnern und realisieren, dass Besessenheit in unterschiedlicher Intensität nicht nur bei psychisch Kranken vorkommt. Man sollte lernen, damit umzugehen. Pathologisch werden die Emotionen, wenn sie exzessiv sind und unbewusst, d. h. verdrängt werden. Im Unbewussten führen sie ein vom Bewusstsein unabhängiges, autonomes Dasein. Das ist gefährlich, weil sie sich auf andere Weise dem Bewusstsein bemerkbar zu machen versuchen. Die Körperinnervation der Emotion zeigt, dass sie sowohl einen psychischen als auch einen körperlichen Aspekt hat. Sie ist das Bindeglied zwischen Psyche und Körper. Verweigert ihr das Bewusstsein die Aufnahme, so versucht sie sich allenfalls über den Körper bemerkbar zu machen. Als körperliche Manifestation ist sie dem Willen völlig entzogen. Der Mensch ist dann der Emotion völlig ausgeliefert. Das kommt bei vielen Neuroseformen vor. Die Emotion tritt meist bei Traumen auf, weshalb solche oft Neurosen zugrunde liegen. Auf Emotionen zu achten und sie sich einzugestehen, sowie sich mit ihren Ursachen auseinanderzusetzen, bedeutet Neurosenprophylaxe und seelische Hygiene; das sollte man sich merken. Die primitive Krankheitsauffassung ist gar nicht so »primitiv«! (C.G. Jung verwendet das Wort primitiv nie im abschätzigen Sinn, sondern als »ursprünglich«). Sie zeigt uns gewisse allgemeine grundsätzliche seelische Vorgänge, welche zu seelischen (auch körperlichen) Krankheiten führen können (aber nicht müssen, weil sie auch beim Gesunden vorkommen). Die Persönlichkeit von Angehörigen von Naturvölkern ist noch anfälliger auf Störungen, hat aber den Vorteil, dass diese leichter zu heilen ist. So fallen Buschmänner der Kalahari leicht in Trance, eine Form von Besessenheit durch einen Geist. Sie können aber leicht von Stammesangehörigen wieder daraus befreit werden [98]. Ihre Persönlichkeit ist leichter dissoziierbar. Durch die Emotion wird ein Teil der Persönlichkeit abgesprengt und kann durch einen Ritus wieder ins Ganze eingefügt werden. In meinem Buch über
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die Komplexe [114] habe ich gezeigt, welch fragiles Gebilde eine Persönlichkeit ist. Zu gegebener Zeit werden wir darauf zurückkommen. z
Schamane und Medizinmann
Der Arzt der Naturvölker heißt Schamane oder Medizinmann [71]. Ich kann hier nur einige wichtige Charakteristika erwähnen: Der Schamane ist neben dem Häuptling der wichtigste und mächtigste Mann des Stammes. Mir scheint, dass das Prestige unserer Ärzte bis vor kurzem ein Erbe dieser Manapersönlichkeit war (jetzt arbeiten Medien und Sozialversicherungen intensiv daran, dieses abzubauen!) Der Schamane (oder Medizinmann) wird berufen, er wählt seinen Beruf nicht selber. Die Berufung geschieht meist in einer schweren Krankheit, welche den Initianten oft an den Rand des Todes führt. Dabei erlebt er Visionen, welche ihm seine künftige Aufgabe in symbolischer Form weisen. Diese Schamanenkrankheit hat eine vollständige Persönlichkeitsveränderung zur Folge, indem er mit der jenseitigen Welt, der Welt des Geister und der Toten in Kontakt tritt. Man hat oft diskutiert, ob der Schamane eine abnorme Persönlichkeit sei, denn manche tragen nachher Frauenkleider oder gebärden sich sonstwie merkwürdig. Wenn man jedoch das als Manifestation des Kontaktes mit dem Jenseits symbolisch versteht, erkennt man, dass es sich höchstens um eine vorübergehende Psychose handelt. Der Schamane ist eben jener, der nicht in der Unterwelt gefangen bleibt wie der Psychotiker, sondern sich daraus befreit. Damit wird er zu einer Brücke zwischen Diesseits und Jenseits für seine Stammesbrüder. Er steht mit den Geistern auf gutem Fuß, hat gar einen Paredros (einen dienstbaren Geist wie Mephistoteles im Faust). Wenn einem Kranken die Seele ins Jenseits entflogen ist, macht er sich auf die Jenseitsreise, eine Art aktive Imagination, um sie den dortigen Mächten zu entlocken oder zu entreißen. Die Jenseitsreise bedingt eine genaue Kenntnis des Jenseits, um nicht dort festzusitzen. Dem ent-
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spricht bei uns die Lehranalyse des Therapeuten. Er muss aus der eigenen Persönlichkeit erleben, was er von seinen Analysanden erwartet. Die Initiationskrankheit hat Jung in »Erinnerungen, Träume, Gedanken« im Kapitel: »Die Auseinandersetzung mit dem Unbewussten« [87] eindrücklich beschrieben. Das war seine Nekyia (Unterweltsfahrt). Alles, was er später geschrieben habe, so Jung, sei in nuce in den Visionen und Gesprächen mit den unbewussten Gestalten (den Geistern und Schamanen) vorgezeichnet gewesen. Das ist der Unterschied zu den übrigen Ärzten, dass ein Chirurg nicht erst selber eine Blinddarmoperation durchmachen muss, bevor er einen Blinddarm operieren darf. Der Schamane kann erst schamanisieren, wenn er den Kontakt zum Jenseits hergestellt hat. Heute verkommt die Lehranalyse immer mehr zu einer Anlehre, statt einer Initiation. Es geht schließlich nicht nur darum, eine Technik zu erlernen, sondern sich auf einen schmerzhaften Wandlungsprozess einzulassen. Denn dieser ist in der Schamanenkrankheit (wie in der Alchemie) ein Zerstückeltwerden [Auflösung (= Analyse) in die Persönlichkeitsteile] und Wiederzusammensetzung als Wiedergeburtsritus. Manche Borderline-Persönlichkeiten fühlen sich von diesem Beruf angezogen, sind aber in einer Tiefenanalyse gefährdet, völlig aufgelöst zu werden. Darum gibt es so viele verschiedene Richtungen in der Psychotherapie, weil auch diese Personen eine Funktion haben, ohne sich zu tief ins Unbewusste wagen zu müssen. Sie sind sozusagen das »medizinische Pflegepersonal«, ohne das es nicht gehen würde. Der Schamane geht oft bei der Schamanenkrankheit eine Ehe mit einer jenseitigen Gestalt ein, einer »soror mystica« (ein alchemistischer Begriff ). Überhaupt ist seine Krankheit von zahlreichen »übernatürlichen« Begebenheiten begleitet wie hilfreichen Tieren, was die Beziehung zur mythologischen Welt veranschaulicht. Er besitzt magische Attribute wie seine Trommel, seinen Fellmantel, seinen Beutel mit Kräutern und
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ähnlichem, was ihn bei der Durchführung seiner Zeremonien unterstützt.
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Magie
»Magie ist die Wissenschaft des Busches«, heißt es. Tatsächlich ist sie das wesentliche Heilverfahren des Medizinmannes. Wir sind geneigt, abschätzig über diese »primitive« Methode zu denken, weil wir uns wissenschaftlich darüber erhaben fühlen. Dabei vergessen wir, dass auch die moderne Medizin und Psychotherapie ohne Magie nicht auskommt. Unter Magie versteht man die Einwirkung auf den Kranken via Unbewusstes. Der Placeboeffekt von Medikamenten ist Magie, ist die unbewusste Wirkung des Arztes mit allem »drum und dran« ohne pharmakologische Wirkung. Man gibt sich nie Rechenschaft, welchen Anteil am ärztlichen Handeln diese Seite hat. Wir sind zu sehr bestrebt, die Medizin auf ein wissenschaftliches Fundament zu stellen. Doch der »ärztlichen Kunst« wird stets eine magische Komponente innewohnen, denn es handelt sich nie nur um ein rationales Geschehen. Deshalb ist es auch für den modernen Doktor wichtig, seinen schamanischen Kollegen zu verstehen. Magie hat mehrere Bedingungen, damit sie wirksam ist. kManapersönlichkeit
Gemeint ist die Manapersönlichkeit des Schamanen. Das wird durch die Tracht des Schamanen sichtbar; bei uns ist davon lediglich noch der weiße Kittel (»Götter in Weiß«) geblieben. Manapersönlichkeit bedeutet »der große Mann« (Anthropos), jener, der mit den Mächten des Jenseits in Verbindung steht (GW 7, 374). Er steht damit über dem gewöhnlichen Menschen, an dem die eigentliche Heilung geschieht, wie ich im weiteren Verlauf zeigen werde, durch den göttlichen Heiler. Der Arzt steht im Dienste, ist das Werkzeug, des göttlichen Heilers (Heiland). Das sollte er nie vergessen und nicht damit identisch werden. Die Überheblichkeit mancher Ärzte stammt
daher, dass sie sich diese Rolle selber zuschreiben, dass ihr Ich die Rolle des Selbst anmaßt. Das führt zu einem »aufgeblasenen Ich und einem verblasenen Selbst« (GW 8, 430). Ein derartiges Unglück passiert nur einem schwachen Ich, das nicht aus seinen eigenen Werten leben kann. kKollektiv
Sie braucht ein Kollektiv, Zuschauer oder unsichtbare Zustimmung. Primitive Medizin spielt sich nie im trauten Rahmen eines Konsultationsraumes ab, sondern in der Öffentlichkeit. Je mehr Leute dem Wunder einer Heilung beiwohnen, umso nachhaltiger wirkt sie. Das treffendste Beispiel ist das Gemälde von der Vorlesung Charcots über Hysterie. Dort fällt gerade die hysterische Dame in einem Anfall in die Arme des hinter ihr bereitstehenden Doktors zum Staunen des ganzen Publikums (7 Abb. 7.1). Die Seele des Naturmenschen ist noch nicht in seinem Inneren, er kennt noch keine Introspektion. Sie ist noch in seiner Umwelt (Animismus). Das muss man sich heute mehr denn je ins Gedächtnis rufen bei der Behandlung von Asylanten aus Entwicklungsländern oder dem Balkan. Ihre »Seele« ist nicht ein individuelles Problem, die ganze Sippe, der Clan hängt daran. Deshalb kann man sie nicht allein behandeln, sondern muss auch die Ehefrau, die Großmutter und die Kinder miteinbeziehen, sonst machen deren Intrigen jeden Fortschritt zunichte. Selbst beim modernen Patienten muss man das berücksichtigen und eventuell die nächsten Angehörigen in die Therapie einbeziehen. kWeltbild
Das Brimborium der Heilzeremonie muss dem Patienten und dem Kollektiv bis zu einem gewissen Grad verständlich sein und deren Weltbild entstammen. Ist es ihnen zu fremd, glauben sie nicht an dessen Wirkung. Selbstverständlich sind die komplizierten Apparate moderner Untersuchungsmethoden den Leuten im Einzelnen nicht einsichtig, doch glauben sie, dass derartig kom-
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plizierte Apparate für eine genaue Diagnostik viel effizienter seien, als wenn der Arzt nur den Puls fühlt. In der chinesischen Medizin dagegen liefert das Fühlen des Pulses so viel wertvolle Information, dass auf komplizierte Apparate verzichtet werden kann. Die gleiche diagnostische Handlung wird je nach Weltbild verschieden eingeschätzt. Homöopathie hilft nur dort, wo dem Patienten das Prinzip einleuchtet. kGlauben
Arzt und Kranker müssen an die jeweilige Heilmethode glauben. Als ich auf der psychiatrischen Poliklinik arbeitete, verschrieb ich oft Psychopharmaka. Doch plötzlich tauchten Zweifel auf, ob ich als Jungscher Analytiker nicht eher auf die psychischen Hilfskräfte als auf die chemische Industrie vertrauen sollte. Von diesem Augenblick an halfen die Medikamente nicht mehr oder hatten unangenehme Nebenwirkungen. Ich konnte nur noch in Notfällen Medikamente verschreiben. Den Glauben an das Heilverfahren kann man nicht mit dem Willen erzwingen; er muss sich aus dem Weltbild ergeben. Daher sollte man niemand seinen Glauben an eine Methode ausreden. Falls er wirklich daran glaubt, helfen die merkwürdigsten Verfahren. In Behandlung war eine depressive junge Frau. Einmal berichtete sie von einem merkwürdigen Traum. Ich fragte sie, was sie über das letzte Wochenende gemacht hätte. Sie erzählte, sie sei mit ihrem Mann auf dem Grab einer ehemaligen Ingebohler Frau-Mutter gewesen, welche im Geruch der Heiligkeit sei. Sie habe sich gesagt: »Nützt nichts, so schadet’s nichts!« Der Traum kritisierte diese Haltung: Wenn sie so was unternehme, soll sie es aus ganzem Herzen tun, sonst sollte sie es besser bleiben lassen! Dieser Vorfall hat mich recht beeindruckt, und ich habe ihn nie mehr vergessen, obwohl er etwa 40 Jahre zurückliegt.
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Magie spielt auch in unserer modernen Medizin, wie jetzt deutlich geworden sein dürfte, eine bedeutende Rolle, auch wenn man das nicht wahrhaben will. Man verleugnet das, weil es eine archaische Heilmethode ist, denn man möchte doch so aufgeklärt sein. Aber ich sehe nicht, was dagegen einzuwenden ist, wenn sie wirkt! [96] Ich finde die Haltung der modernen Medizin zur Magie so typisch, wenn man die Geschichte der Medizin nicht kennt: Das sei ein überholtes Stadium finsterer Vorzeit, das wir glücklicherweise überwunden haben! Davon kann keine Rede sein, im Gegenteil beweist eine solche Haltung, eine derartige Abwehr, dass sie uns noch zu nahe steht, und wir glauben, sie abwehren zu müssen. Man hat eine frühere Haltung erst überwunden, wenn man erkennt, welches ihre Vor- und Nachteile sind. Dann kann man das Positive in die Zukunft retten und das Negative abstreifen. Negativ ist die »schwarze Magie«, wo ein inflationiertes Ego seinen Willen gegen den Lauf des Schicksals durchdrücken will, was sich wieder negativ auf den Magier auswirkt. Ein derartiges Verhalten wird im Märchen der Gebrüder Grimm »Der Gevatter Tod« geschildert [82]. Darin macht der Tod das 13. Kind eines armen Bauern zu einem berühmten Arzt, indem er ihm ein Heilkraut (Lebenskraut) gegen alle Krankheiten gibt. Der Junge darf es jedoch nur verabreichen, wenn er den Tod zu Häupten des Kranken stehen sieht. Steht er aber zu seinen Füßen, muss er sagen: »Kein Arzt in der Welt könne ihn retten«. Er soll sich hüten, des Kraut »gegen seinen Willen zu gebrauchen, es könnte ihm schlimm ergehen.« Eines Tages wurde er zu einer schönen Königstochter gerufen, sah den Tod zu ihren Füßen, drehte aber, um ihr Gemahl zu werden, das Bett herum und gab ihr vom Kraut. Sie war geheilt. Der Gevatter aber packte den Arzt mit eisiger Hand und führte ihn in eine unterirdische Höhle, wo tausende Lebenslichter, große, halbgroße und kleine brannten, einige auslöschten, andere aufflammten. Er wies auf ein kleines Ende, das
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Kapitel 2 • Der lange Weg und die Abenteuer auf der Suche nach der befreienden Erkenntnis
eben auszulöschen drohte, als das Lebenslicht des Arztes. Dieser bat ihn, eine neues anzuzünden, damit er sein Glück noch genießen könne. Der Tod stellte sich, als ob er seinen Wunsch erfüllen wollte, tat es aber so ungeschickt, dass es verlosch, und der Arzt tot zu Boden sank [82].
wird recht deutlich bei den griechischen Heilgöttern und ihren Kultstätten.
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Griechische Heilverfahren
Asklepios, der berühmte griechische Heilgott z
Archetypus
Märchen sind die Weisheit des Volkes. In »Gevatter Tod« wird deutlich, dass es der Arzt immer mit archetypischen Mächten zu tun hat. Wie der Name sagt, sind es »Urformen« (GW 8, 274ff.) von Mächten. »Archetypen« sind typische Formen des Auffassens, und überall, wo es um gleichmäßige und regelmäßig wiederkehrende Auffassungen geht, handelt es sich um einen Archetypus, egal, ob dessen mythologischer Charakter erkannt wird oder nicht (GW 8, 280). »Man muss sich stets bewusst bleiben, dass das, was wir mit »Archetypus« meinen, an sich unanschaulich ist, aber Wirkungen hat, welche Veranschaulichungen, nämlich die archetypischen Vorstellungen, ermöglichen.« (GW 8, 417). Was der Tod an und für sich ist, wissen wir nicht. Der Moment des Todes ist nicht immer das Versagen der körperlichen Funktionen, sonst könnte man sich nicht über die Entnahme lebender Organe zur Transplantation streiten. Der Tod ist jedoch eine jedem Menschen bekannte Tatsache, weshalb sich jeder eine Vorstellung davon macht, respektive in jedem spontan eine Vorstellung davon entsteht, eine archetypische Vorstellung. Diese kann individuell verschieden sein, kann sich je nach Kultur oder Zeit unterscheiden und doch wird allen etwas Gemeinsames eigen sein über alle Grenzen hinweg. Auch der Arzt ist eine archetypische Gestalt, der in zahlreichen Formen auf der Welt zu allen Zeiten und in allen Kulturen zu finden ist, sei es als Zauberer, als Schamane oder Medizinmann, als Hexer, als gottähnlicher Priesterarzt, als Heiland, als Magier. Als archetypische Gestalt ist sie aus dem Kollektiv herausgehoben [102]. Das
auf Epidauros, ist der Sohn des Heilers Apollon. Nach einer Erzählung trug seine Mutter Koronis, die »Krähenjungfrau«, schon den Samen des Gottes in sich, als sie sich dem Ischys, dem »Fichtenmann«, hingab. Der Rabe, der damals ein weißer Vogel war, hinterbrachte den Verrat dem Apoll, durch dessen Zorn er schwarz und zum Unglücksraben wurde. Apoll beauftragte seine Schwester Artemis, die Ungetreue mit ihren Pfeilen zu töten. Als die Flammen des Scheiterhaufens bereits die tote Koronis umloderten, schnitt Apoll seinen Sohn aus ihrem Leibe und brachte ihn zum Kentauren Chiron, der ihn die Heilkunst lehrte. Nach einer anderen Geschichte gebar Koronis das göttliche Kind und setzte es auf einem Berg aus, wo es von einer Ziege gesäugt wurde. Ein Hirte fand seine Ziege nebst dem sie bewachenden Hirtenhund beim Kind, welches vom Glanz der Blitze umstrahlt wurde. Er erkannte das Göttliche und sofort verbreitete sich die Kunde vom Kind, das Heilmittel gegen alle Krankheiten finden und Tote erwecken werde. Es war ein richtiger Heiland. Seine heiligen Tiere waren die apollinische Schlange und der Hund. Die Erweckung eines Toten erregte den Zorn des Zeus, der den göttlichen Arzt mit seinem Blitz tötete [91]. Auf Kos und Epidauros hatte Asklepios ein Heiligtum, wo Kranke sich zum Inkubationsschlaf einfanden. Erschien ihnen der Gott beispielsweise als Schlange im Traum und biss in die kranke Stelle, so war er geheilt. Der Tempelschlaf war die Möglichkeit zur Heilung. Priesterärzte betreuten die Kranken und deuteten ihre Träume [70]. Das war die Kur! Natürlich trug das Ambiente das Seinige dazu bei, dass die Kur wirkte. Die ganze Tempelstätte in einer beruhi-
27 2.1 • Vorläufer
genden Landschaft mit den Tempeln von Apollon und Asklepios als Zentrum, umgeben von den Tempeln der Artemis, der Aphrodite und der Themis, der Göttin von Recht und Gerechtigkeit, mit einem Labyrinth und einem Theater, wo das ewige Drama des Lebens aufgeführt wurde. Alle diese heiligen Attribute trugen zur richtigen Gestimmtheit der Heilung Suchenden bei. In unserer Zeit machen viele Leute Meditationsübungen aus dem gleichen Grund. Der Konsultationsraum des Psychotherapeuten ist nicht steril wie in einer Arztpraxis, sondern strahlt etwas von dieser Ruhe und Zentriertheit aus. Damit werden die göttlichen Geister konstelliert, welche den Therapeuten bei seiner Arbeit unterstützen. z
Religiöse Dimension
Das zeigt auch, dass seine Arbeit ein religiöses Tun ist. Die religiöse Dimension spielt in Jungs Psychologie eine ganz zentrale Rolle, weil die »anima naturaliter – nicht nur »christiana« ist, wie Tertullian meint, sondern – »religiosa« (die Seele ist natürlicherweise religiös). Die Seele selber bringt die religiöse Dimension herein. Theologen haben Jung oft den Vorwurf gemacht, er greife in ihr Fachgebiet ein. Dagegen wehrte er sich mit der Bemerkung, er hätte das nicht gesucht, die Seele seiner Patienten habe das von ihm gefordert. Das war es wohl auch, was Jung an William James geschätzt hat, der über den engen Horizont der medizinischen Psychologie hinausgeschaut hat, indem er die religiöse Dimension hereinholte. Ohne eine solche Haltung kann man der Seele nicht gerecht werden. Die Heilung betraf, wie aus Inschriften deutlich wird, nicht nur psychische, sondern auch eindeutig körperliche Leiden [97]. In unserer Kultur drohen die medizinische und religiöse Komponente der Heilung auseinanderzufallen! Man fährt nach Lourdes, um Heilung zu suchen, wo die Medizin versagt. Im Grunde gehört beides zusammen, doch die modernen Ärzte erachten den Glauben als ihre Privatsache. Das ist
2
auch richtig so, selbst der Spitalseelsorger kann heute den Patienten nicht mehr mit der Bibel unter dem Arm besuchen, um ihm ein Kapitel daraus vorzulesen. Eine religiöse Haltung bedeutet etwas Allgemeines, nicht Bekehrung zu irgendeinem Glauben. > Religiöse Haltung bedeutet Offenheit gegenüber dem Transzendenten, dem, was unsere bewussten, willentlichen Absichten übersteigt. Es bedeutet eine Verarmung, wenn wir in der Medizin nicht mehr mit diesen Dimensionen rechnen.
Das Bewusstsein des Menschen und sein Wille sind nicht das Höchste und Stärkste im Leben. Die Frage stellt sich, wie sich eine religiöse Haltung in der Therapie zeigt. Es sind nicht, wie oft missverstanden wird, das Abbrennen von Räucherstäbchen oder das Aufstellen von Ikonen und anderen heiligen Dingen. z
Selbst
Es zeigt sich viel grundsätzlicher darin, dass der Analytiker dem Selbst den Vortritt lässt. Das heißt praktisch, dass nicht er zu wissen glaubt, wohin der Weg geht, dass er sorgfältig die Hinweise des Selbst beachtet, seien es Träume, Visionen, aktive Imaginationen, aber auch Neigungen, Talente, Vorlieben, Möglichkeiten des Patienten. Dass auch der Therapeut auf die Neigungen seines eigenen Unbewussten, seien es Träume, Inspirationen, Phantasien, achtet. Es ist nicht nötig, sofort nach Träumen zu fragen. Er soll dem spontanen Geschehen Raum geben, den spontanen Prozess hochachten, besonders die Überragung. Ob der Analysand sich frei fühlt, das zu äußern, was ihn belastet, frei von Scham und Hemmungen. Dass der Analytiker offen ist für alles, was ihm sein Gegenüber mitzuteilen hat, dabei seine eigene Persönlichkeit nicht aufgibt, sondern ein wirkliches Gegenüber als Mensch mit allen Reaktionen darstellt, und nicht nur ein Spiegel ist. Es gibt Analytiker, die dem Analysanden schon ihre eigene Intuition in den Mund legen,
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2
Kapitel 2 • Der lange Weg und die Abenteuer auf der Suche nach der befreienden Erkenntnis
bevor dieser seine Sache überhaupt formuliert hat. Da braucht es viel Geduld, da sollte nicht vorschnell mit der eigenen Phantasie eingegriffen werden. Man kann manchmal nachhelfen, um gemeinsam die richtige Formulierung zu finden, indem man fragt, ob er es so… meine. Diese Geduld, dieser Respekt vor der anderen Person, welche oft nicht gewohnt ist, ihr innerstes Geheimnis preiszugeben und in Worte zu fassen, gehört ebenso zur religiösen Haltung und zur Offenheit des Therapeuten. Der Übertragung, der Beziehung Arzt – Patient, wird später ein eigenes Kapitel gewidmet, weil sie das A und O jeder Therapie ist. Kommt zwischen den beiden kein Vertrauensverhältnis zustande oder wird dieses empfindlich gestört, so ist eine Behandlung nicht möglich. Ich habe 1983 bei den Assistenzärzten der Psychiatrie am Burghölzli in Zürich den Vortrag »Das Bild des Psychotherapeuten in der Jungschen analytischen Psychologie« gehalten ([107] S. 467). Darin habe ich vor allem die Qualitäten angeführt, welche für einen Therapeuten nötig sind, wie sie im Werk von Paracelsus auftauchen. Ich will mich nicht wiederholen, aber doch auf diese Voraussetzungen hinweisen, zu welchen ich nach wie vor stehe. Nach meiner Erfahrung ist der Beruf des Psychotherapeuten der schönste, allerdings auch der anspruchsvollste. Er stellt sowohl an das methodische Wissen und Können als auch an die charakterliche Reife große Anforderungen. Doch der seelische Gewinn aus dieser Tätigkeit ist großartig und zwar nicht so sehr die Dankbarkeit der Patienten, denen geholfen werden konnte, als vielmehr die Herausforderung, die er darstellt. Der Therapeut arbeitet stets am Limit seiner Fähigkeiten und seines Wissens. Wenn er sich nicht ständig weiterentwickelt, ist er seiner Aufgabe nicht gewachsen. Sie zwingt ihn, sich selber infrage zu stellen, seine Arbeit kritisch zu hinterfragen und nie auf den Lorbeeren auszuruhen. Das ist zwar mühsam, aber für jemand, der Herausforderungen liebt, eine dankbare Aufgabe.
Heute ist die ständige Fortbildung eine Forderung unserer Zeit. Doch das ist bloß außen; die »innere Unruhe«, welche einen antreibt, ist viel wichtiger. Weil die Psyche das größte Rätsel der Welt ist, sind wir diesem stets auf der Spur. Mein Konfirmationspfarrer, den ich sehr verehrte, pflegte die eindrücklichen Verse aus dem Philipperbrief 3, 12–14 zu rezitieren, die anscheinend für sein Leben charakteristisch waren:
» 12 Nicht dass ich es schon ergriffen hätte oder schon zur Vollendung gekommen wäre; ich jage ihm aber nach, ob ich es wohl ergreifen möge, weil ich auch von Christus Jesus ergriffen worden bin. 13 Ihr Brüder, ich halte noch nicht dafür, dass ich es ergriffen habe; eins jedoch [tue ich]; ich vergesse, was hinter mir ist, strecke mich nach dem aus, was vor mir ist, 14 und jage, das Ziel im Auge, nach dem Kampfpreis der Berufung nach oben durch Gott in Christus Jesus.
«
Jesus Christus ist für den Apostel Paulus ein Symbol des Selbst und gilt in dieser überkonfessionellen Form auch für jeden Therapeuten. Es gibt »christliche Psychotherapeuten«. Ich habe nichts gegen sie, wenn ein Therapeut in einer Weltanschauung verankert ist, weil seine eigenen unbewussten Voraussetzungen stets mit in die Therapie einfließen. Die Versuchung, den Anderen zu seiner eigenen Überzeugung zu »bekehren«, liegt allerdings gefährlich nahe. Die Lehranalyse hat den Sinn, dass sich der Therapeut seiner eigenen Präjudizien bewusst wird und sie allenfalls zu korrigieren vermag. Eine religiöse Haltung, welche ich vom Therapeuten erwarte, ist jedoch mehr als ein eigenes Glaubensbekenntnis (Konfession), etwas Allgemeines, das dem Patienten die Möglichkeit gibt, seine eigene Auffassung zu suchen. Ich musste meinen Analysanden oft den Unterschied klar machen zwischen einer kirchlichen Gläubigkeit und einer religiösen Haltung, weil man im Volk leicht Konfession für Religion ganz allgemein hält.
29 2.2 • Wo entlang führt der Weg zur modernen Psychologie?
Eine Patientin erzählte mir, sie habe sich sehr vor einer komplizierten Zahnbehandlung gefürchtet. Doch während der ganzen Behandlung sah sie hinter dem Zahnarzt eine unbekannte vertrauenserweckende Gestalt stehen. Sie hatte keine Schmerzen und alles lief gut.
Das ist es, was ich mit religiöser Haltung meine: Wir sind nur Werkzeuge in der Hand einer größeren Macht, welche hinter uns steht. Jene entscheidet letztlich darüber, ob die Behandlung gelingt. Sie gibt dem Therapeuten die nötigen Anweisungen. Sie stellt das Objekt des Vertrauens dar.
2.2
Wo entlang führt der Weg zur modernen Psychologie?
Der Weg zur modernen Psychologie ist kein gerader konsequenter. Mir scheint er ähnlich wie die Evolution oder der Individuationsprozess ein allmähliches Sich-Vorwärtstasten zu sein mit vielen Umwegen und Sackgassen. Man kann deshalb nicht unbedingt Parallelen zur übrigen Geschichte der Medizin ziehen.
2.2.1
2
übernahmen die Krankenpflege (Klöster, Hôtel Dieu). Salerno wurde ein medizinisches Zentrum nicht nur für die Krankenbehandlung, sondern auch für die Ausbildung von Ärzten. Später trat ihm Montpellier zur Seite. Im 13. Jahrhundert wurden die ersten Universitäten (Paris, Neapel, Bologna) gegründet. Die scholastische Methode bestimmte den Unterricht. Rückblickend kann man sagen, dass die Scholastik die Entdeckung des Denkens war, mit welchem man hoffte, alle Welträtsel zu lösen. Der Rationalismus unserer Tage ist ein Ausläufer davon ([111] S. 209ff.). In der Medizin spielte das analogisch-magische Denken die wesentliche Rolle. Die Verwendung von Träumen am Krankenbett dürfte persisch-ägyptisches und griechisches Erbe sein. Körperliche Veränderungen in den Säften und lokalen Krankheitsherden regten die Imagination zu bestimmten Träumen an, welche den Ärzten gewisse Hinweise gaben. Freuds Traumauffassung aus körperlichen Vorgängen ist davon ein letzter Ausläufer. Im 13. Jahrhundert begann man auch mit der Autopsie von Leichen. In der Renaissance blühten Kunst und Wissenschaften auf, man begann sich irdischen Dingen vermehrt zuzuwenden, baute botanische Gärten und regte die Erforschung der Natur an. Das Bildungswesen erfuhr eine neue Blüte.
Scholastik 2.2.2
Die Heilkunde der Griechen und Römer sowie das ärztliche Leben der Antike fanden ihre unmittelbarste Fortsetzung nach dem Untergang der antiken Kultur im oströmischen, byzantinischen Reich ([68] S. 162ff.). Bekanntlich beerbten die Araber ab dem 8. Jahrhundert dieses Reich und vermittelten dem europäischen Mittelalter das antike Wissen. Diese Vermittlung geschah in einer durchaus schöpferischen Form, indem die Araber das übernommene Wissen bereicherten. Es gibt viele berühmte arabische Ärzte (Razes, Ibn Sina). Im christlichen Europa war die Kirche die herrschende Macht und ihre Vertreter
Ärzte der Renaissance
Von den zahlreichen Renaissance-Ärzten, welche eine eingehende Schilderung verdienen würden, erwähne ich nur Kardinal Nikolaus von Kues (1401–1464), der kein Arzt war, aber für die Philosophie der Medizin wichtig ist, Marsilio Ficino (1433–1499), über welchen ich in »Magia naturalis als Ursprung der Homöopathie« ([107] S. 613) geschrieben habe, und Theophrastus Bombastus von Hohenheim, dessen Humanistenname Paracelsus (1493–1541) war (GW 13, 145–238). Nikolaus von Kues teilt mit den anderen Autoren die Auffassung, der Mensch sei
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2
Kapitel 2 • Der lange Weg und die Abenteuer auf der Suche nach der befreienden Erkenntnis
Mikrokosmos, der ein Abbild des Makrokosmos ist und damit an diesem teilhat. Gott ist das Zusammenfallen der Gegensätze (»coïncidentia oppositorum«): Er ist das schlechthin und absolut Größte (»simpliciter et absolute maius. De docta ignorantia« I, IV), wie auch das Kleinste, dem gegenüber ein Kleineres nicht möglich ist (»minimum, quo minus esse non potest«): Das Kleinste fällt somit mit dem Größten zusammen (»manifestum est minimum maximo coincidere«) [95]. Wichtig für unser Thema ist sein paradoxes Denken. Das ist die höchste Form des Denkens, welche den Gegensatz in sein Urteil miteinschließt. Dieses ist bei Jung so ausgesprochen und macht vielen Leuten bei seiner Lektüre Mühe, weil man ein derartig differenziertes Denken nicht gewohnt ist. Doch mit der Verdoppelung des Weltbildes durch die Entdeckung des Unbewussten, muss das bewusste Denken stets mit dem Gegensatz seiner Aussage seitens des Unbewussten rechnen. Deshalb kommt Jung zur Feststellung, eine psychologische Aussage sei nur dann ganz wahr, wenn man sie auch umkehren könne (GW 12, 18). Dass man die andere Seite, den Gegensatz einer Wahrheit, nicht gelten lassen kann, ist die häufige Ursache eines neurotischen Konfliktes. Das Christentum mit seinem Denken in Gegensätzen, schwarz-weiß, ist daran nicht unschuldig. Es liegt in seinem Grundcharakter (GW 9/II, 181ff.). Das ist ein Atavismus, welcher im angebrochenen Zeitalter überwunden werden sollte. Wir verweilen noch einen Augenblick bei von Kues, diesem großartigen Denker am Übergang von Mittelalter zur Neuzeit und seiner »De docta ignorantia« (Die belehrte Unwissenheit). Die Wahrheit, welche kein Mehr oder Weniger zulässt (excedens et excessum), ist Gott selber, ist daher unerreichbar (quiditas, quae est entium veritas, in sua puritate inattingibilis est). Sie wurde zwar von allen Philosophen gesucht, doch von keinem gefunden (per omnes philosophos investigata, sed per neminem uti est reperta).
Das scheint mir eine wichtige Einsicht bei der Suche nach einem Verständnis für Psyche. Viele Forscher haben darüber eine Theorie aufgestellt, die wenigsten waren sich aber bewusst, dass sie im Grunde nach der absoluten Wahrheit suchten, welche wir nur immer bruchstückweise erkennen können. Deshalb musste ihr Werk Fragment bleiben. C.G. Jung hat in Erkenntnis dieser Unmöglichkeit die Ganzheit der Psyche als Selbst bezeichnet, das mit dem Gottesbild übereinstimmt, von welchem wir jedoch die transzendentale Ursache nie zu erkennen vermögen. Wir müssen uns damit zufrieden geben, dass wir uns dem Geheimnis nur stückweise annähern können. Mit dieser Einsicht würde viel gehässige Polemik wegfallen. Ein anderer Gedanke des großen Kusaners ist für unser Thema noch wichtig: »Was in der Unendlichkeit Gottes eingefaltet ist (»complicatio«), wird in der Ausfaltung« (»explicatio«) zum Sein dem Menschen fassbar. Die unendliche Einheit ist demnach die Einfaltung von Allem« (»unitas igitur infinita est omnium complicatio«). »Gott ist die Einfaltung von allem, als alles in ihm ist (»Deus ergo est omnia complicans in hoc, quod omnia in eo«, II,III); »er ist die Ausfaltung von allem insofern, als er in allem ist« (»est omnia explicans in hoc, quod ipse in omnibus«). Diesen Gedanken expliziert er anhand der Zahlenreihe, welche die Entfaltung der Einheit darstellt (»numerus est explicatio unitatis«) [95].
2.2.3
Einskontinuum und Neuplatonismus
Das entspricht dem von Marie-Louise von Franz in Zahl und Zeit gefundenen Einskontinuum [77]. Diese Idee stammt aus dem Neuplatonismus des Plotin, wo es heißt: »So ist denn wohl das Seiende geeinte Zahl [vor der Existenz der Vielzahl der Dinge], die seienden Dinge entfaltete Zahl, der Geist Zahl, der in sich selber bewegt, das Lebewesen Zahl, die die andern in sich ent-
31 2.2 • Wo entlang führt der Weg zur modernen Psychologie?
hält«. ([45] S. 181). Aus der Einheit Gott – Selbst emanieren alle einzelnen Dinge. Das heißt auch, dass Gott in seiner Schöpfung sichtbar wird. Psychologisch bedeutet das die Entstehung des Bewusstseins aus dem Selbst. Der Individuationsprozess ist eine Entfaltung (»explicatio«) dessen, was im unsichtbaren Persönlichkeitskern eingefaltet war, das vorgeburtliche Gesicht der Person (Zen-Buddhismus). Diese archetypischen Vorstellungen finden sich weit verbreitet und sind die Projektion eines innerseelischen Geschehens. Alle drei genannten Geister gehören dem Platonismus an. Marsilius Ficinus hat eine Theologia Platonica, de immortalitate animorum geschrieben [73]. In typisch platonischer Manier ist Gott zuoberst an einer Pyramide, welche zuunterst an der Basis die Materie hat. Diese ist körperlich, unbestimmt aus vielen Teilen bestehend und passiv. Sie ist in dem Sinne gut, dass sie sich nach einer Form sehnt (ipsa tamen materia bona est quodammodo, quia boni, id est, formae appetens). Die zweite Stufe ist die Qualität oder das tätige Prinzip, durch welches die Form der Körper bewirkt wird. Die dritte Stufe nimmt die vernünftige Seele ein, welche weder Raum noch Zeit unterworfen ist. Die Engel sind eine Zwischenstufe vor der letzten und höchsten, der absoluten Einheit: Gott. Übersetzen wir das in tiefenpsychologische Sprache, so entspricht die »Materie« dem Unbewussten, welches so lange »formlos« ist, bis sich ihm ein Bewusstsein annimmt und ihm verstehbaren Ausdruck gibt. Dies geschieht, indem ein Traum erinnert und aufgeschrieben, eine Vision gemalt oder plastisch sichtbar gemacht wird. Das Bewusstsein »belebt« sozusagen den unbewussten Inhalt und assimiliert ihn sich, wodurch es selber erweitert und das Unbewusste verändert wird. Im neuplatonischen Sinn steht der Geist als Einheit unerkennbar an der Spitze der Pyramide: In Gottes Licht sehen wir das Licht.
2.2.4
2
Paracelsus und lumen naturae
Für Paracelsus spielt das lumen naturae (Licht der Natur) eine große Rolle. Dieser Begriff erscheint zuerst bei Cicero [9] in stoischem Kontext als Funke des göttlichen Glaubens. Der Begriff »lumen« im Zusammenhang mit Verstand, Vernunft oder Erkenntnis erscheint schon bei Aristoteles als tätiger erhellender Verstand. Es ist die dem Denken allgemein zukommende Spontaneität. Zwischen dem »leidenden« (nous pathetikos) und dem »tätigen« (nous poietikos) Geist besteht – ähnlich wie bei Ficino – die ontologische Relation von Materie und Form. Wie das Licht die Farben und Gegenstände sichtbar macht, so macht die dem Licht analoge (erhellende), formgebende Aktivität des Geistes sowohl Intelligibles als auch durch die Sinne empfangene Vorstellungen erst begreifbar. Der intellectus agens, der semper in actu ist bei Thomas von Aquin, muss den Akt der Abstraktion leisten. Er erleuchtet das der Sinnlichkeit im intellectus possibilis Gegebene (phantasmata, species sensibilis), indem er es »informiert«, und macht es so zu einem intelligibile actus. Im konkreten Vollzug des Erkennens wird dann das »Licht« der Vernunft zur Vollendung der Erkenntnis einer Sache. Da der Erkenntnisprozess wesenhaft »Erhellung« des Zuerkennenden ist, schließt das Erkannte das Licht des intellectus agens als »teilgehabtes« in sich; es ist als der Grund von Erkennbarkeit im Erkannten immer miterkannt [63]. Diese philosophischen Überlegungen finden ihre Fortsetzung in Jungs »Theoretischen Überlegungen zum Wesen des Psychischen« (GW 8, 390ff.), wo bei Paracelsus das lumen naturae aus dem »astrum« oder »sydus«, dem »Gestirn« im Menschen stammt. »Nun ist weiter das liecht der natur ein liecht, das angezünt ist aus dem heiligen geist und lischt nicht ab, dan es ist wol angezünt.« [40]
32
Kapitel 2 • Der lange Weg und die Abenteuer auf der Suche nach der befreienden Erkenntnis
Jung schreibt:
2
» Da das Bewusstsein seit alters durch Ausdrucke, die von Lichterscheinungen genommen sind, charakterisiert wird, liegt die Annahme, dass die multiplen Luminositäten [im Unbewussten] kleinen Bewusstseinsphänomenen entsprechen, meines Erachtens nicht zu fern. (GW 8, 396)
«
» Das lumen naturae weist auf im Unbewussten vorhandene Bewusstseinskeime hin, welche den Archetypen entsprechen dürften. Unsere drei Geistesgrößen haben demnach etwas Wesentliches ahnungsweise erfasst, das erst die moderne Tiefenpsychologie zu formulieren vermochte. Es hat mit dem Geheimnis des Bewusstwerdungsprozesses zu tun, dem zentralen Problem jeder Psychologie.
«
Natur Paracelsus schreibt in »Paragranum liber 1.
Tractat: Von der Philosophey«:
» So nun allein die Natur dasselbige weiß/so muss je auch dieselbige sein die das Recept componiert/unnd ihr kunst der componierung ligt augenscheinlich vor dem Artzt: Auss ihr geht die Kunst/nicht auss dem Artzt/darumb so muss der Artzt aus der Natur wachsen mit vollkommenem verstand. ([17] S. 23)
«
Das ist ein wesentlicher Aspekt, den Paracelsus in die Medizin gebracht hat, dass der Arzt sich nach der Natur richten soll. Die Natur weist ihn in seinem Handeln an. Das scheint so einfach und naheliegend, ist aber bis heute nicht verstanden worden.
» Die Natur ist der Artzt/du nicht: Auss ihr mustu/nicht auss dir: Sie setzt zusammen/nicht du: Schaw du das du lernest wo ihre Apotecken seyen/wo ihr Virtutes geschrieben standen/unnd in welchen Büchsen sie standen. ([17] S. 36)
«
Natur ist bei Paracelsus viel mehr als nur die Heilkräuter. Sie ist ein geheimes Prinzip, das alles Leben ermöglicht.
» Nun ligt die Erkandtnuss nit im Artzt/sondern in der Natur/und darumb in der Natur/sie kan die Natur in ihr wissen/der Artzt nit. Drumb so allein die Natur dieselbige weiß/so muss sie auch dieselbige sein die das Recept componirt. Dann auss der Natur kompt die krankheit/auss der Natur kompt die Artzney/und auss dem Artzt nit. Dieweil nuhn die Kranckheit auss der Natur/nit vom Artzt/und die Artzney auss der Natur/auch nit vom Artzt kompt: So muss der Artzt der sein/ der aus denen beyden lernen muss/unnd was sie ihn lernen/das muss er thun… [39]
«
Um das zu verstehen, muss man bedenken, dass die Medizin bis zu den Zeiten des Paracelsus darin bestand, dass man die Schriften der antiken Autoritäten interpretierte wie Hippokrates oder Galen. (Nebenbemerkung: Das ist, was die Theologie noch heute mit ihren Heiligen Schriften tut!) Erst seit kurzem öffnete man Leichen, und die Anatomie musste noch hundert Jahre auf die Entdeckung des Blutkreislaufes (William Harvey 1628) warten. Paracelsus war mit seiner Forderung nach genauer Naturbeobachtung seiner Zeit weit voraus. Er meinte Naturbeobachtung jedoch nicht nur in den damals aufkommenden Naturwissenschaften, sondern auch bei den unsichtbaren (»invisibilis«) Krankheiten, also auch den psychischen Störungen. Ich meine, solche seien erst verstehbar, wenn man die natürliche Funktion der Psyche kennt, so wie man körperliche Krankheiten erst aus der Physiologie der normalen Funktionen verstehen kann. Diese Erkenntnis ist noch nicht in die Psychiatrie eingedrungen. Die Psyche besteht nicht nur aus dem Bewusstsein, das Unbewusste ist ein unabsehbarer Bereich um das insuläre Bewusstsein herum. Bis heute werden psychische Störungen allein vom Standpunkt des Bewusstseins aus untersucht. Die Philosophie hat seit eh
33 2.2 • Wo entlang führt der Weg zur modernen Psychologie?
und je die Psychologie berücksichtigt, allerdings nur aus der Sicht des Bewusstseins. Im 18. bzw. 19. Jahrhundert wurde dann ein Unbewusstes postuliert, was nur ein philosophisches Postulat war. Die Empirie des Unbewussten ist eine späte, meist noch unausgereifte Frucht am Baum der Erkenntnis. > Der Ruf Paracelsus nach Erforschung der Natur, um die Krankheit und den Weg zu ihrer Heilung zu verstehen, hat nichts von seiner Aktualität eingebüßt. Für die Psychologie gilt die genaue Beobachtung unbewusster Äußerungen ebenso wie der Blick ins Mikroskop in der somatischen Medizin.
Die Tiefenpsychologie Jungs wird oft unter die »philosophische« Richtung rubriziert. Das ist völlig falsch. Die Daseinsanalyse, welche auf der Philosophie Heideggers basiert, ist eine philosophische Psychologie. Jung hat zwar die Philosophie in Kants Erkenntniskritik berücksichtigt. Er kannte auch die griechische Philosophie der Vorsokratiker und Platons, aber seine Psychologie fußt auf keiner der bekannten Philosophien, sondern auf der gewissenhaften Beobachtung der Psyche in allen ihren verschiedenen Manifestationen. Dass er die einzelnen Erkenntnisse zu einem Ganzen zusammenbauen wollte, ist das, was jeder ehrliche Forscher versucht. Das ergibt sich beim Nachdenken und Ordnen des beobachteten Materials. Das mag man im Endzustand als eine Lebensphilosophie im wortwörtlichen, platonischen Sinn bezeichnen, hat jedoch nichts mit der herkömmlichen Philosophie zu tun, sondern ist, wie Jung an vielen Stellen selber betont, Erfahrungswissenschaft (Empirie). Diese Erfahrung hat die Manifestationen der Natur zur Grundlage. In diesem Punkt unterscheidet sich Jungs Psychologie von jener vieler anderer, indem er sie auf das natürliche Funktionieren der Psyche, auf deren ureigenste Natur aufbaut. Darum hat er Paracelsus so geschätzt, ihn oft zitiert und in gewisser Hinsicht als Vorläufer
2
seiner eigenen Psychologie betrachtet. Er fühlt sich ihm in seiner von der Bergwelt geprägten Mentalität verwandt. Auch er suchte in der phänomenologischen Vielfalt den Sinn, der alles zusammenhält. Ich möchte es bei diesen skizzenhaften Bemerkungen bewenden lassen. Die Naturbeobachtung machte in den folgenden Jahrzehnten große Fortschritte in der Anatomie: Andreas Vesalius schuf mit seinem »De humani corporis fabrica« 1543 das erste Lehrbuch der Anatomie, Miguel Serveto beschrieb den Lungenkreislauf und brach mit der Tradition von Galen. Wie Vesal verließ sich der Franzose Ambroise Paré auf seine eigene Erfahrung als idealer Forscher, Chirurg und Arzt. Mit William Harvey, dem Entdecker des geschlossenen Kreislaufes (1628), den ich schon oben erwähnt habe, sollen nur einzelne Etappen der Entwicklung in der Medizin als Naturbeobachtung aufgezählt werden.
2.2.5
Aufschwung der Naturwissenschaften
Im 17. Jahrhundert, mit dem Niedergang der Alchemie, erlebte die Naturwissenschaft ihren Aufschwung, ja entstand erst die eigentliche Naturwissenschaft, indem sie die mystische Komponente der Alchemie abstreifte. »Die Alchemie ist im Laufe des 18. Jahrhunderts allmählich an ihrer eigenen Dunkelheit zugrunde gegangen. Ihre Erklärungsmethode: obscurum per obscurius, ignotum per ignotius (Dunkles durch Dunkleres, Unbekanntes durch Unbekannteres), vertrug sich schlecht mit der gegen Ende des Jahrhunderts sich läuternden Wissenschaftlichkeit der Chemie. Diese beiden neuen geistigen Mächte haben ihr aber nur den Gnadenstoß verpasst. Ihre innere Zerstörung begann schon reichlich ein Jahrhundert früher, in der Zeit Jacob Böhmes, wo viele Alchemisten Retorte und Schmelztiegel verließen und sich der (hermetischen) Philosophie ausschließlich ergaben. Da-
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Kapitel 2 • Der lange Weg und die Abenteuer auf der Suche nach der befreienden Erkenntnis
mals schied sich der Chemiker vom Hermetiker. Chemie wurde zur Naturwissenschaft; die Hermetik aber verlor den empirischen Boden unter den Füßen und verstieg sich zu ebenso schwülstigen wie inhaltsleeren Allegorien und Spekulationen…« (GW 14, 332). Physik und Metaphysik, für Paracelsus noch eine Einheit, trennten sich scharf. Unter dem Eindruck der neuen Kenntnisse von der Bedeutung des Nervensystems führte man Fieber, Schmerz und Krampf auf eine Störung der Saftbewegung in den hohl gedachten Nerven zurück, auf eine Verstopfung der Einmündung der Nerven in die Hautdrüsen. Daraus soll eine Schärfe des Nervensaftes (Dyskrasie) entstehen. Mit dem Mikroskop bestätigte man, was seit dem Altertum vermutet wurde, dass der ganze Körper, alle Organe aus Fasern aufgebaut sind. Besonders am Muskel wurde die Faser zum vitalen Element, dem »Irritabilität«, d. h. die Fähigkeit Reize aufzunehmen, mit Kontraktion zu reagieren und nach Aufhören des Reizes wieder in die Ausgangsstellung zurückzukehren, zugeschrieben wird. Die Faser selber soll aus unsichtbaren kleinsten Teilchen bestehen, welche in steter Bewegung sind. Diese ist dieselbe oszillierende Bewegung wie jene in der die Faser umgebenden Flüssigkeit. Dadurch wird der Körper zu einer geschlossenen physikalischen Einheit. Gesundheit ist das physikalische Gleichgewicht zwischen der oszillierenden Faser und den fließenden Säften. »Der ist der beste Arzt, der das Gleichgewicht zwischen der oszillierenden Faser und den fließenden Säften zu erhalten oder wiederherzustellen weiß.« (Giorgio Baglivi 1668–1707; [68] S. 297). Die vitalistische Richtung geht vom Dynamismus des Paracelsus aus. Ihr Führer ist Johann Baptist van Helmont (1577–1644), ein Paracelsist, Anhänger der Lehre von den Signaturen, der Sympathie ([113] S. 116), welche die ganze Welt durchzieht, und von der Belebung des ganzen Kosmos. Er bekämpft ihn dort, wo er nicht mit ihm übereinstimmte. Für ihn ist
der Archaeus eine gottgeschaffene Naturkraft, welche von aller Materie im Ursprung unabhängig, erst sekundär mit ihr in Verbindung tritt als feinstes, stofflich-körperliches Agens, Träger und Vermittler des Lebens. Gott hat dem Menschen zwei Arten dieses Archaeus verliehen, den Archaeus influus, der als Organ der Seele den ganzen Organismus lenkt, und den ihm untergeordneten Archaeus insitus, der jedem Organ sein spezielles Leben und seine spezifische Funktion erteilt. Das Wesen der Krankheit besteht in einer mangelhaften Funktion der Archaei, einem unbewussten Irrtum (»idea morbosa«). Hier finden wir wieder die krankmachende, falsche Idee, den Komplex, von welchem wir oben gesprochen haben (7 Abschn. 2.1.1.2.2). Durch den Archaeus werden die chemischen Vorgänge im Körper ausgelöst. Die einzelnen Archaei insiti verursachen wegen ihrer Spezifität die jeweilige Organkrankheit. Der Engländer Francis Glisson (1597–1677), der die Faser zum Element des Lebens erhoben hat, bindet die Kraft eng an die Materie, sodass die Funktion nicht unmittelbar von der Kraft, sondern von den Eigenschaften des lebendigen Stoffes als der »substantia energetica« abhängig ist. Die Seelenschichtung, welcher wir schon bei Marsilio Ficino begegneten, wird von ihm auf die Faser übertragen. Robur insitum (eingepfropfte Kraft) ist in der Faser selbst gelegen und verleiht ihr die Zähigkeit. Robur vitale (Lebenskraft) wird der Faser von den spiritus vitales (Lebensgeister) zugeführt.
2.2.6
Ernst Georg Stahl und der moderne Vitalismus
Hier begegnet uns erstmals der Ausdruck »Lebenskraft«. Robur animale (Seelenkraft) kommt vom Zentralnervensystem und die Faser ist für den Wechsel von Lebhaftigkeit und Trägheit verantwortlich. Damit wurde der überlieferte Kraftbegriff an das neu gefundene Formelement
35 2.2 • Wo entlang führt der Weg zur modernen Psychologie?
angebunden, um so vom Mechanismus zum Vitalismus zu kommen. Ernst Georg Stahl (1659–1734) vollzieht den Bruch mit der mechanisierten Auffassung des Lebens und der Krankheit vollständig. Gewiss ist bei ihm die unsterbliche Seele die Triebfeder des Denkens und Handelns. Seine Theorie aber war zum großen Teil der Ausfluss seiner ärztlichen Erfahrung und richtigen Beobachtung, wie körperliche Vorgänge oft von seelischen Affekten abhängig sind, Angst und Durchfall (»Schiss), Sorge und Herzkrankheit (Organneurose). Unter dem Begriff »Seele« verbirgt sich bei ihm die Vorstellung von dem unbewussten, sinn- und zweckvollen natürlichen Leben. Das Unbewusste wird nicht scharf vom Bewussten, von der denkenden, vernunftbegabten, unsterblichen Seele unterschieden. Diese denkende Seele kann offensichtlich nur aus den sinnlich wahrnehmbaren Handlungen des Körpers erschlossen werden. Das vermittelnde Agens zwischen dieser Anima rationalis und dem Körper ist weder ein materielles Substrat, der spiritus in der ältesten Medizin, noch eine Kraft von feinster stofflicher Verwirklichung wie der Archaeus des van Helmont, sondern eine immaterielle Bewegung, welche sich von der anima rationalis aus den niederen Seelenanteilen mitteilt und dadurch ins natürliche physiologische Geschehen der Faserbewegung des Körpers eingreift. Dadurch werden Leib und Seele zu einer Einheit, zu einer geschlossenen Ganzheit. In der grundsätzlichen Betonung der Autokratie des Lebens wird Stahl zum Begründer des modernen Vitalismus, der die Medizin im fortschreitenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert beherrschen wird. Die Gesundheit beruht auf dem normalen Ablauf der vitalen Bewegung. Der Krankheitsablauf ist rein körperlich: Spannungsanomalien (Tonus) der Faser und Zirkulationsstörungen spielen die Hauptrolle. Doch hinter alldem steht das sinnvolle vitale Prinzip, das vernünftig handelt. Es ist sowohl für die Wachstums- und Bildungsvorgänge als auch für
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die Wiederherstellung nach Verletzungen, bei Fieber und Entzündungen verantwortlich. Diese sind weniger Krankheiten als vielmehr Heilungsprozesse (s. Jungs Auffassung der Neurose als Heilungsvorgang!) Friedrich Hoffmann (1660–1742) hatte ursprünglich Stahls Berufung nach Halle bewirkt, distanzierte sich aber später von ihm. Er war Iatrophysiker, der im Spannungszustand der Fasern (Tonus) den Schutz des Körpers vor Fäulnis sah und nicht in der Bewegung der Faser. Auf der Grundlage der Philosophie von Leibniz, welche dessen Schüler Christian Friedrich Wolff (1679– 1754) in Halle vertrat, versuchte Hoffmann eine Synthese von Stahls Auffassung mit dem herkömmlichen Mechanismus.
Äther Die letzte Ursache, welche die vitale Bewegung der Faser in Gang setzt und alle Teile des Körpers zum zweckmäßigen Zusammenwirken bringt, ist der das ganze Weltall erfüllende Äther, ein Fluidum höherer Art, aus feinen Teilchen bestehend, welche die Idee des Zweckes und ihren eigenen Bewegungstrieb in sich tragen, Monaden höherer Ordnung. Der Äther ist eine uralte griechische Vorstellung, verbunden mit dem Himmelslicht und der Göttlichkeit. Er wird oft mit der Quintessenz gleichgestellt als fünftes neben den geläufigen vier Elementen. Für Parmenides ist es das ätherische Flammenfeuer, das milde, gar leichte, mit sich selber überall identisch, mit den anderen nicht identisch. Empedokles sieht in ihm vor allem göttliche Kraft, den »Titan Äther«, der rings den Kreis in seiner Gesamtheit umschnürt. Bei Anaxagoras ist er Kraft (dynamis) des göttlichen Feuers, das alles zusammenhält. Aristoteles lehrt, die Seelen seien von derselben Quintessenz wie die Sonne. Herakleides Pontikos erklärt den Seelenstoff für ätherisch und die Seele lichtartig. Synkretisten verschmelzen die Ätherlehren ihrer Vorgänger zu einer Art »doctrina communis«
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Kapitel 2 • Der lange Weg und die Abenteuer auf der Suche nach der befreienden Erkenntnis
und begreifen Äther wie Quintessenz als lichtartige, beseelte, himmlisch-astrale, überirdische, feinste Materie. Aus ihr bestehen nach den Neuplatonikern, insbesondere Porphyrios und Proklus, die Körper der Dämonen und Engel; sie dienen den Seelen als Vehikel; die Seelen nehmen von ihr die Umhüllung, einen »Leib«, welcher zwischen ihnen und den irdischen Leibern vermittelt. Im Mittelalter wirkt neben der aristotelischen Auffassung des Äthers als »materia caeli« auch die neuplatonische vom »corpus spirituale« weiter. David von Dinant gründet auf die aristotelische Ätherlehre seinen Pantheismus: Es gibt für Gott, Nois [=Nous] und Welt eine gemeinsame Materie, welche er Hyle nennt. In der Renaissance erscheint Äther als den anderen vier Elementen übergeordnete, himmlisch-astrale, unsichtbare Quintessenz und als Medium zwischen Geist und Körper. Für Paracelsus bestehen alle Wesen aus einem elementarischen, irdischen, sichtbaren und einem himmlischen, astralischen, unsichtbaren Leib (spiritus); er sei Substrat aller Materie. Nach Giordano Bruno ist der Äther unermesslich und beseelt, er erfüllt das Weltall und durchdringt als »spiritus universi« alle Körper ([115] S. 599f.). Damit sind wir genau bei der Vorstellung von Hoffmann gelandet. Sie steht exakt in der Reihe dieser archetypischen Idee. Ich habe mich bei ihr etwas länger aufgehalten, um den Umfang und die Tradition zu beleuchten. Sie spielt als Quintessenz in der Alchemie eine bedeutende Rolle. Das Auftreten bei einem nüchternen Renaissance-Arzt zeigt die mythopoetische Funktion des Geistes, wenn er an die Grenze des Wissbaren stößt. Hoffmann verwendet die Idee in seinem Sinne: Im Gehirn entwickelt sich daraus das »Nervenfluidum« als Träger der Bewegung und Empfindung, das sich durch Rückenmark und Nerven verbreitet. Jede Krankheit lässt sich auf eine Anomalie des Tonus der Faser im Sinne von zu starker oder zu schwacher Anspannung, Spasmus oder Atonie, zurück-
führen. Diese wiederum sind abhängig von Anomalien des im Nervenfluidum repräsentierten Äthers, die ihrerseits in Anhäufung, Stockung der Bewegung u. Ä. dieses Fluidums bestehen. Im Äther finden äußere Krankheitsursachen ihren Angriffspunkt, aber auch geheimnisvolle Sternwirkungen, durch den Teufel hervorgerufene »morbi diabolici« und durch Zauber verursachte Impotenz (vgl. die Popularität von Viagra!) kommen via Äther zur körperlichen Manifestation. Die leichte Fassbarkeit und Einfachheit seines Systems sowie die große persönliche Leistung als Arzt haben Hoffmann zahlreiche Anhänger gebracht (die »Hoffmannstropfen« sind noch heute gefragt). Die hohe Bewertung des Nervensystems führte zur Entstehung neuer Systeme. Thomas Sydenham (1624–1689), Arzt in London, sucht von den Symptomen her in das Wesen der Krankheit vorzudringen. Er tut das mit Hilfe seiner feinen Beobachtungsgabe und ärztlichem Instinkt, vermeidet dabei alle spekulative Theorie. Dafür waren sorgfältige Krankengeschichten nötig. Er sonderte Symptome, die ständig mit einer Krankheit verbunden sind, von jenen, welche nur gelegentlich vorkommen. Damit strebte er eine Klassifizierung in bestimmte Arten und nach innerer Verwandtschaft an. Dabei war ihm die botanische Einteilung der Pflanzen ein Vorbild (er war sozusagen ein Vorläufer von Carl von Linné, der sein Systema naturae 1735 veröffentlichte). Dadurch wurde er zum Begründer der »natürlichen Krankheitssysteme«, welche in der Nosologie des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts viele Anhänger fand.
2.2.7
Moderne Frauenbewegung
Im Barock entstand, von England ausgehend, eine moderne Frauenbewegung mit einer stärkeren Beteiligung der Frau am öffentlichen Leben. Das schlug sich nicht nur in der von Frauen verfassten Literatur, sondern auch in den Lehrbüchern der Gynäkologie nieder. Das Wesen der
37 2.3 • Der Begriff »Neurose«
Frau wurde aus ihrer Rolle bei der Fortpflanzung erklärt. Die besondere Neigung der Frau zu nervösen Allgemeinkrankheiten wurde darauf zurückgeführt, dass ein Wesen, welches in ständiger Unterordnung unter dem Manne lebt, einfach traurig und furchtsam sein und daher leichter erkranken musste. Es wurde erkannt, dass die Hysterie keine Organkrankheit des Uterus war, sondern ein Leiden, das nicht nur Frauen, sondern auch Männer treffen konnte und nur deshalb bei der Frau häufiger beobachtet wird, weil sie weniger widerstandsfähig ist. Stahl, der das Psychische hoch bewertete, sah die größere Anfälligkeit der Frau in ihrer stärkeren Emotionalität. Die Freude braucht sie zur Vorbereitung auf ihren eigentlichen Zweck, die Zeugung. Die Furcht stammt aus ihrer ständigen Sorge um das Kind. Die Unbeständigkeit und Neigung zum Müßiggang erklärt sich aus der Notwendigkeit, sich verschiedenen Kinderindividualitäten anzupassen und aus der Verbindung mit der Kinderstube, welche keine andere, ernstere Beschäftigung zulässt ([68] S. 315). Ich habe Sie, so hoffe ich, durch zahlreiche Irrungen und Wirrungen der Medizin hindurchgeführt bis zum Beginn der eigentlichen Geschichte der Neurosen. Die meisten Historiker blicken etwas herablassend auf die Anfänge jener Vorzeiten zurück, als ob wir heute am Endpunkt des Wissens angelangt wären. Für mich ist das Studium der Geschichte vielmehr ein Grund zur Bescheidenheit. Wir bemühen uns wie unsere Vorfahren um Erkenntnis und müssen uns gleichzeitig eingestehen, wie vorläufig alles menschliche Tun ist. Die Wissenschaft wird weiter fortschreiten und aus dem Rückblick kommender Zeiten unsere Auffassungen kritisch beurteilen. Darum versuche ich das Positive der Vergangenheit in die Gegenwart und Zukunft herüberzuretten. Aber auch zu zeigen, welche Irrtümer nötig waren, bis der Wein vergoren war und sich der Bodensatz gebildet hat. Wir sind mit unseren modernsten Vorstellungen nur ein
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Durchgangspunkt, dessen Wert erst die kommenden Generationen beurteilen können. > Aus den Irrtümern der Vergangenheit kristallisieren sich die Wahrheiten der Zukunft heraus.
Die vergangenen Etappen sind keine Fossilien, wie sie gerne verstanden werden, sondern lebendige Steine, aus denen das moderne Gebäude der Medizin gebaut wurde. Wenn wir jetzt zur rezenten Geschichte der Neurosen kommen, dürfen wir nicht vergessen, dass das Frühere auch im Heutigen weiterlebt. Im Volk leben noch uralte Vorstellungen, nicht weniger in »modernen« Forschern. Altes ist nicht ein für allemal überwunden und abgelegt. Um das kritisch beurteilen zu können, muss man die Geschichte kennen. Nur wer Geschichte hat, steht ganz in der Gegenwart mit dem Blick in die Zukunft.
2.3
Der Begriff »Neurose«
Der Begriff »Neurose« wurde vom schottischen Arzt William Cullen (1710–1790) geprägt. Er erschien erstmals in seiner »Synopsis nosologiae methodicae« (1769) und dann in den ersten Zeilen seiner »Practice of physick« (1777). Drei Nachfolger der Deutschen Romantik jedoch schreiben den Begriff dem Schweizer Arzt Felix Platter (1526–1614) zu [42].
2.3.1
Wichtige Vertreter und ihre Theorien
Für Cullen war der Terminus »Neurose« nichts mehr als ein praktischer Neologismus, um auf Nervenkrankheit hinzuweisen. In seiner »Synopsis« stellt er fest: »Seit der Zeit des Englischen Arztes Thomas Willis haben die Ärzte gewisse Erkrankungen in der Kategorie »nervös« zusammengefasst.« [10]. Der Schweizer Simon André
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Kapitel 2 • Der lange Weg und die Abenteuer auf der Suche nach der befreienden Erkenntnis
Tissot schrieb in seinem »Traité des nerves et de
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leurs maladies« der zehn Jahre zuvor geschrieben war: »Sydenham […] sei der erste gewesen, der den vielgestaltigen (protean) Charakter der Nervenkrankheiten bemerkt hat und vermutete, ihre Symptome könnten von einer Störung der Nervenfunktion herrühren« [53]. Um den Begriff zu verstehen, müssen wir auf die Vorläufer zurückblenden, welche wir oben erst kurz allgemein eingeordnet haben. Das ist zunächst Thomas Willis (1622–1675), einer der hauptsächlichen Vertreter der Iatrochemie in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Von den sechs Büchern seiner »Opera omnia« widmen sich vier dem Nervensystem und seinen Erkrankungen. Die Lebensgeister aus der allerfeinsten Materie, welche im Gehirn aus dem arteriellen Blut gewonnen werden, wandern den Nerven entlang zu allen Bereichen, wo sie für die Empfindung und die Bewegung verantwortlich sind [59]. Hysterie, die sog. Gebärmutterkrankheit, ist hauptsächlich eine Krampferkrankung (ähnlich der Epilepsie und anderer krampfartigen Anfällen), verursacht durch eine Veränderung der Nerven und des Gehirns. Hypochondrie ist eine krampfartige Beschwerde, ähnlich der Hysterie, welche die Milz befällt und ebenfalls mit einer Veränderung der Lebensgeister verbunden ist (»Pathologiae cerebri et nervosi generis specimen…«). Störungen der Lebensgeister und des Nervensystems können von der Milzverstopfung kommen, welche ihre normale Funktion behindert (»Pathologiae cerebri«). Willis schrieb ein Buch gegen Nathanael Highmore, worin er den »nervösen« und »krampfartigen« Ursprung von Hysterie und Hypochondrie verteidigte [60]. Die »anima sensitiva« (Sinnesseele) stammt vom feurigen und feinen Teil des Blutes und ist für jene Aspekte des animalischen Lebens wie Empfindung, Bewegung und Antrieb verantwortlich (»de anima brutorum quae hominis vitalis ac sensitiva est…«, 1672) [42]. Wir unterscheiden noch heute ein vegetatives Nervensystem, welches alle unwill-
kürlichen Organtätigkeiten bewirkt, von einem animalischen für die willkürlichen (Motorik und Sensorik). Thomas Willis war auch ein fein beobachtender Gehirnpathologe und hat im Gehirn den Kurzschluss der rechten mit der linken arteriellen Blutversorgung (circulus Willisi) erkannt. Wir kommen nochmals zu Thomas Sydenham (1624–1689), dem sorgfältigen Kliniker, zurück, der zum Eckstein moderner Nosologie (Krankheitssystem) wurde. Seine Haltung als Empiriker führte ihn zum Gegenspieler aller medizinischen Systeme und zur Entwicklung einer neuen Wissenschaft der Medizin. Diese beruhte auf: 4 einer ebenso sorgfältigen Klassifikation wie in der Botanik. Er beschrieb den Krankheitstypus, einen rückfälligen und typischen Modus des Krankwerdens, 4 einem Hintanstellen aller theoretischen Präjudizien während der Untersuchung des Patienten, 4 einer klaren Unterscheidung von primären und zusätzlichen Symptomen (Alter, Ansprechen auf Behandlung) [42]. Diese Pfeiler sind auch noch für die moderne Psychotherapie gültig, allerdings in dem Sinne, dass der Inhalt der Neurose viel wichtiger ist als der Name (GW 16, 196). Dadurch ergibt sich ganz natürlich, dass der Therapeut mehr Wert auf die Feststellung legt, woher seine Erkrankung kommt und wohin sie tendiert. Die Symptomatik vermag ihm einen Hinweis auf den Sinn der Neurose zu geben, wenn er sich nicht vom Bestreben des Patienten verführen lässt, sie so schnell wie möglich loszuwerden (GW 16, 218). Die Modellneurose, an welcher während langer Zeit die wesentlichen Entdeckungen gemacht wurden, waren Hysterie und Hypochondrie. In seiner »Dissertatio epistolaris« (1682) an William Cole schreibt Sydenham:
39 2.3 • Der Begriff »Neurose«
» Von allen chronischen Krankheiten ist die Hysterie […] die häufigste; wie Fieber – mit deren Begleitkrankheiten – zwei Drittel aller chronischen Krankheiten zusammengenommen ausmacht, sind hysterische Beschwerden (oder so bezeichnete) die Hälfte des verbleibenden Drittels. [52]
«
Er betonte ebenfalls die vielgestaltige Natur der Hysterie, welche Frauen befallen kann (hysteria sensu strictu) und Männer (wo sie Hypochondrie genannt wird) als Störungen der Nervenfunktion. Schon 1618 behauptete Charles Lepois (Carolus Piso 1593–1633), Hysterie könne beide Geschlechter befallen und stamme, wie die Epilepsie, aus einer Ansammlung von Serum im Gehirn. Der Beitrag von Lepois ist als Vorläufer für die Arbeiten Willis und Sydenhams, den wahren Urhebern des Konzeptes der »Nervenkrankheiten«, wichtig. Dafür gab es zwei grundlegende Bedingungen: 4 dass ein einheitliches Prinzip alle organischen Funktionen regelt, 4 dass die Nosologie im Wesentlichen zwar induktiv sein, aber auf klinischer Beobachtung beruhen muss. Schon die Medizin der Renaissance versuchte ein solches vereinigendes Prinzip zu finden, indem sie behauptete, alle traditionellen Systeme stünden unter einem höheren Regler. Durch die moderne »Physiologie« wurde er im 17. Jahrhundert mit dem Nervensystem identifiziert. Nervöse Störungen glaubte man als Resultat einer gestörten Funktion des vereinigenden Reglers zu verstehen. Das machte die Bestimmung einer Gruppe von Bedingungen möglich, welche sowohl als funktionaler als auch als allgemeiner Art zu betrachten sind ([42] S. 4). Es scheint auch uns heute so, dass dem zentralen Nervensystem eine zentrale Rolle für die meisten peripheren Funktionen zukommt. Allerdings hatte diese Medizin noch keinen Begriff von einer Psyche, sondern
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versuchte alles aus den körperlichen Funktionen abzuleiten. Das sollte sich in den folgenden Jahrhunderten als gewaltiger Hemmschuh für die Entwicklung eines psychologischen Verständnisses herausstellen. Wir haben in der allgemeinen Medizingeschichte einen wichtigen Zeitzeugen übergangen, um ihm hier einen Platz zu geben: Hermann Boerhaave (1668–1738), der zusammen mit anderen Celebritäten Leyden einen internationalen Ruf verschaffte. Die ganze europäische Jugend strömte zum Studium nach Leyden, eine solche Anziehung ging von seinem Namen aus. Nicht, dass er so aufsehenerregende Entdeckungen gemacht hätte. Doch hatte er die seltene Gabe mit seinem umfassenden Wissen in der Mathematik, Physik, Botanik und dank genauer Kenntnis der »neueren« Autoren die Medizin auf ein gesichertes Fundament, auf den Boden naturwissenschaftlicher Erfahrung zu stellen. Das vorhandene Wissen stellte er kritisch gesichtet in einem klassischen vielbenutzten Werk dar: »Institutiones medicae« (1708) [1], von welchem sich das englische »Institutes of Medicine« ableitet. Das Werk wurde in viele Sprachen übersetzt. Er befruchtete eine zahlreiche Schülerschar, darunter Cullen, Albrecht von Haller und Gerhard von Swieten, um nur wenige zu nennen [116]. In seiner Darstellung der Physiologie in den »Institutiones medicae« schildert Boerhaave die Nervenfaser als hohl, welche den als subtile Flüssigkeit gedachten Spiritus enthält, der in der Hirnrinde bereitet wird. Das Gehirn ist nach Auffassung von Marcello Malpighi (1628–1694) eine Drüse, welche den Spiritus produziert, eine Idee, die schon Aristoteles hatte. Malpighi, einer der ersten, der Untersuchungen an den Organen mittels Mikroskop durchführte, glaubte, die graue Substanz des Gehirns dafür verantwortlich. Bei anderen Organen war er wesentlich erfolgreicher, denn er entdeckte die Lungenbläschen, womit er das fehlende Stück für die Lehre von William Harvey (1578–1657) vom geschlossenen Blutkreislauf erbrachte. Er sah erstmals
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Kapitel 2 • Der lange Weg und die Abenteuer auf der Suche nach der befreienden Erkenntnis
die roten Blutkörperchen in den Kapillaren zirkulieren, hielt sie allerdings für Fettkügelchen, und beschrieb die Funktion und Struktur der Drüsen und der Leber; in der Niere entdeckte er die Gefäßknäuel (Glomeruli), welche nach ihm benannt wurden: »Malpighische Körperchen«. Die Muskelfasern dachte man sich als ebenfalls hohle Ausläufer der Nervenfasern. Ihre Kontraktion würde dadurch erzeugt, dass der Nervensaft in die Muskelfasern hineingedrückt wird ([116] S. 71, 66, 52). Malpighi erkannte aus der Läppchenstruktur der Leber, dass sie eine absondernde Drüse ist und nicht, wie man bis dahin glaubte, einen Succus nerveus aus den Nerven ausschied. Man glaubte aber weiterhin an die antike Lehre von den drei Arten der Galle, nämlich der schwarzen, welche der Milz zufließe (spleen → spleenig) und von dort wieder in den Magen gelange, der gelben Galle, welche vom Leberparenchym oder von der Gallenblase gebildet wurde, und des Blutes ([116] S. 26); zum Thema Galle – Melancholie ([116] S. 125ff.). Boerhaave unterschied zwischen »hypochondria cum materia«, der alten Humoraldoktrin der »atrabilis«, der schwarzen Galle, und der »hypochondria sine materia, der modernen Ansicht von der »nervösen Beweglichkeit«, d. h. der Neigung zur Bewegung der »Lebensgeister« (Aphorismi de cognoscendis et curandis morbis 1709). Er wurde der »Communis Europae Praeceptor« (Vorsteher der Europäischen Gemeinschaft) genannt und hatte, wie schon gesagt, viele Schüler. Darunter war der Holländer Gerhard van Swieten (1700–1772), der Gründer der »alten Wiener Schule«. Seine »Commentaria in Hermanni Boerhaave Aphorismos« (1742) wurde zum populärsten medizinischen Lehrbuch in Europa in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. An anderem Ort schreibt er:
» Solche Krankheiten wurden gewöhnlich hypochondrische genannt. Wenn sie eine Frau betraf, hieß sie hysterisch, weil sie einst als mit dem Uterus verbunden galt und sich während Menstruation und Schwangerschaft verschlimmerte. Doch dessen ungeachtet kann man sagen, dass sie nur von erhöhter Reizbarkeit der Nerven rührt und von ungeordneter Bewegung der Lebensgeister. Deshalb haben die Ärzte sie die hypochondrische Krankheit sine materia […] genannt. Sydenham gab die beste Beschreibung. [51]
«
Joannes Oosterdijk Schacht (1704–1755), der Nachfolger von Boerhaave in Leyden, klassi-
fizierte »hypochondrisch oder schwarzgallig« (atrabilis) und »nervöse« oder Melancholie »sine materia« in seinen »Institutiones medicinae practicae« (1747). Die Humoralpathologie des Hippokrates scheint in dieser Auffassung immer noch durch, der Blut – Schleim – schwarze Galle – gelbe Galle unterschied. Dem Phlegmatiker wurde Schleim und schwarze Galle, dem Melancholiker schwarze und gelbe Galle zugeordnet (vgl. den heutigen Ausdruck, jemand sei »gallig« = verbittert). Johannes de Garter (1689–1762) war Professor in Hardervijk und später Leibarzt der Elisabeth von Russland (1709–1762). Er schrieb ein längeres Konzept über die »nervöse Beweglichkeit« in seiner Praxis medicae systema (1750). Anne Charles Lorry (1726–1783) war ein erfolgreicher Kliniker im vorrevolutionären Paris. In seiner »De melancholia et de morbis melancholicis« (1753–57, 2 vols) beschreibt er die »nervöse Melancholie« als einen krampfartigen Zustand mit zahlreichen Ausprägungen wie die Hysterie bei Frauen und die Hypochondrie bei Männern. Er glaubte an die »humorale Melancholie« als Resultat der Wirkung von schwarzer Galle auf die Nerven. Friedrich Hoffmann (1660–1742) sind wir schon in der allgemeinen Medizingeschichte begegnet (s. »Hoffmannstropfen«, 7 Abschn. 2.2.6.1).
41 2.3 • Der Begriff »Neurose«
Seiner Ansicht nach waren Hysterie und Hypochondrie Zustände krampfartiger Natur, welche von einer Störung von Gebärmutter und Darm herrühren und sich über das Rückenmark durch den ganzen Körper verbreiteten [19]. Wie man sieht, bereitete den alten Ärzten die Abgrenzung der psychischen funktionellen Krampfanfälle von den körperlichen (Epilepsie) große Schwierigkeiten. Die Einführung der Elektroenzephalographie (EEG) durch Hans Berger 1924 war ein großer Fortschritt für die Differenzialdiagnose, hat jedoch bei einem negativen EEG-Befund auch nicht alle Zweifel auszuräumen vermocht. Georg Ernst Stahl (1660–1734) sind wir ebenfalls schon begegnet (7 Abschn. 2.2.6). Für ihn ist die »Anima« das aktive Prinzip aller vitalen Phänomene, sowohl in gesunden als auch in kranken Tagen. Er vermutete, dass Hysterie und Hypochondrie von einer Überfüllung der Portalvene (Vene von der Leber zum Herzen) herrühren, welche die Bewegung der »Lebensgeister« behindere und zu einer Veränderung der Anima (nicht im Jungschen Sinne!) führe [50]. Pierre Pomme soll hier erwähnt werden, weil er die alte Auffassung Galens von den Pneumata, dem Rauchig-Qualmigen des arteriellen Blutes, wieder aufleben lässt. Die Störung derselben führt zu nervösen Krankheiten allgemeiner oder besonderer Art, die Reizbarkeit sowie Krämpfe hervorrufen und bei Frauen hysterisch, bei Männern hypochondrisch heißen [46]. > Es ist bemerkenswert, wie sich gewisse Auffassungen über tausend Jahre gehalten haben. Es handelt sich bei ihnen um archetypische Vorstellungen, welche nie falsch sein, sondern nur am falschen Ort oder im falschen Zusammenhang auftreten können.
2.3.2
2
Lehre vom Pneuma
Die Lehre vom Pneuma, einem dampfartigen Stoff, durchzieht die ganze Geschichte der Medizin, bis sie sich in unseren Tagen von den körperlichen Vorgängen zurückgezogen und ins Psychische verlagert hat. Doch schon im Altertum war seine Funktion mit den psychischen Manifestationen, den Nervenfunktionen, verknüpft. Das Konzept der nervösen Störungen wurde Mitte des 18. Jahrhunderts durch eine Anzahl britischer Monografien gefestigt. Sie erreichen mit Robert Whytt ihren Höhepunkt, dem Vorgänger von Cullen auf dem Lehrstuhl in Edinburgh [56]. Die französische Übersetzung seiner »Oberservations on the nature« (1767) verwendete zwei Jahre vor jenem erstmals den Ausdruck »Neurose«. Er unterstützte die Lehre von der Sympathie. Wir wenden uns Robert Whytt (1714–1766) eingehender zu: Ausgebildet in Edinburgh, London und später Paris und Leyden, wurde er 1746 Professor für Medizin in Edinburgh. Er wies nach, dass das Rückenmark für die Reflexfunktion verantwortlich sei [56]. Er beschrieb den Pupillenreflex auf Licht, der durch Schädigung der vorderen corpora quadrigemina des Gehirns unterbrochen wird (1768). Seiner Ansicht nach stammen die nervösen Störungen von einer pathologischen Veränderung des Mechanismus der Sympathie, welche in der Beziehung der Organe untereinander besteht. Wegen Whytts Ruhm wurden die nervösen Störungen zu einer Modediagnose. Zusätzlich zu Hysterie und Hypochondrie, den späteren »großen Neurosen«, kam als dritte »die einfache nervöse Störung« dazu. Sie besteht darin, dass Personen in gutem Gesundheitszustand, aber von ungewöhnlicher Schwächlichkeit und Zartheit (»delicacy«) des Nervenapparates, oft zu starkem Tremor geneigt sind, Zucken, Ohnmacht, Krampfanfälle, Angst, Trauer, Erschrecken oder anderen Emotionen, und von allem, was stark reizt oder von unangenehmen Affekten auf die sensibleren Teile des Körpers ist. Der Ausdruck »nervöse Störung«
42
Kapitel 2 • Der lange Weg und die Abenteuer auf der Suche nach der befreienden Erkenntnis
bedeutete für Autoren vor Cullen etwas anders als »neurologisch« heute ([42] S. 11).
2 2.3.3
Neurosenkonzept nach Cullen
William Cullen (1710–1790) erhielt nach kargen
Collegejahren seinen Doktorgrad in Medizin von der Universität Glasgow, wo er 1751 Professor wurde. Sein Werk wurde durch die Übersetzungen in den meisten europäischen Ländern außerordentlich einflussreich. Er war kein schöpferischer Geist, aber ein heller Kompilator. Ausgebildet in den Prinzipien des Systems von Boerhaave, verwarf er später seine Erklärungen, war jedoch stark beeinflusst von Hoffmanns Ansichten über die Rolle des Nervensystems zur Aufrechterhaltung des »Tonus« in den Organfasern. Er war der beste Vertreter der Schule der Neuralpathologie, welcher die Identifikation des Vitalprinzips mit der Aktivität des Nervensystems vertrat. Die Entwicklung von begrifflichen Verbindungen zwischen der »vis nervosa« (Nervenkraft) und der »Reizbarkeit« führte zu einer Art von Vitalismus, welche das Nervensystem als die physiologische Grundlage des Körpers und des Lebens überhaupt ansah; alle Krankheiten konnten auf »nervöse Störungen« zurückgeführt werden. »Tonus« und »Reizbarkeit« stellen die hauptsächlichsten Manifestationen des Lebens dar. »Tonus« war für Cullen eine auf das Gewebe und vom Nervensystem übertragene Eigenschaft. Die Flüssigkeit, welche sie übertrug, stellte er sich ähnlich wie »Äther« (7 Abschn. 2.2.6.1) vor. Geringe Verfügbarkeit des Fluidums führt zur »Atonie« und ein Überschuss zu Krämpfen. In der Nachfolge von Sydenhams Anregung einer Taxonomie wie in der Botanik, publizierte er seine Synopsis »Nosologiae methodicae« fünf Jahre nach Linné (1763) und Vogel (1764)- Darin
kam der Begriff »Neurose« erstmals vor. Er kritisierte den häufigen Gebrauch bei Whytt und zog eine Taxonomie more botanico (nach Art der Botaniker) vor. Der Begriff »nervös« sollte nur für Krankheiten verwendet werden, welche aus einer Veränderung des Nervensystems stammen, aber er war dagegen, ihn nur für Hysterie und Hypochondrie zu verwenden. Cullen teilte die Systemkrankheiten in drei Klassen ein. Systemkrankheiten nach Cullen 1. Pyrexiae (fieberhafte) 2. Neurosen 3. Cachexiae
In seiner Synopsis werden die Neurosen definiert als »Sensus et motus laesi sine pyrexia et sine morbi locali« (Empfindung und Bewegung sind versehrt ohne Fieber und ohne lokale Erkrankung). Die ersten Linien seiner »Praxis der Physick« lauten:
» An dieser Stelle schlage ich vor, unter dem Begriff der Neurosen alle jene außernatürlichen Affektionen der Empfindung und der Bewegung zu verstehen, welche ohne Fieber als Teil der primären Krankheit einher gehen; und alle jene, welche nicht von einer lokalen Erkrankung der Organe abhängen, sondern auf einer eher allgemeinen Erkrankung des Nervensystems und jener Kräfte des Systems, auf welchen Empfindung und Bewegung im Speziellen beruhen. [10]
«
Die eigentliche Verwendung des anatomophysiologischen Prinzips kam erst 20 Jahre später mit Pinel auf. Die Klasse »Neurosen« unterteilte Cullen in vier Gruppen.
43 2.3 • Der Begriff »Neurose«
Vier Neurosengruppen nach Cullen 1.
Comata: verminderte willkürliche Bewegungen mit Schläfrigkeit oder Bewusstlosigkeit 2. Adynamiae: verminderte unwillkürliche Bewegungen, entweder vital oder natürlich 3. Spasmi: abnormale Bewegung von Muskeln oder Muskelfasern 4. Vesaniae: verändertes Urteilsvermögen ohne Coma oder Fieber
Es gibt eine Anzahl von Zuständen in der Kategorie Neurose unter: 4 Comata: Apolexie, Paralyse (Lähmung) 4 Adynamiae: Synkope (Ohnmacht), Dyspepsie (Verdauungsstörung), Hypochondrie, Chlorose (Bleichsucht) 4 Spasmi: Tetanus (Starrkrampf), Trismus (Krampf der Gesichtsmuskulatur), Zuckungen, Asthma, Keuchhusten, Kolik, Diarrhoe, Diabetes, Wassersucht, Hysterie 4 Vesaniae: Amentia (Verworrenheit), Melancholie, Manie, Somnolenz (Schläfrigkeit) Cullen definierte die Neurosen als Krankheits-
zustände durch pathologische Prozesse, welche sowohl physiologisch als auch allgemein sind, und beharrte darauf, dass sie von »allgemeinen Veränderungen des Nervensystems« herrühren, dem einheitlichen Ordner aller Organfunktionen und dem Lebensprinzip. Diese Definition stieß mit der anatomisch-klinischen Betrachtungsweise seiner Zeit zusammen, welche alle Krankheiten auf eine anatomische Läsion zurückführen zu können glaubte ([42] S. 15). Dieses »Axiom« einer anatomischen Störung zog sich bis ins 20. Jahrhundert hinein, verstärkt durch den Begriff des Traumas [75]. Es verhinderte auf lange Sicht, eine seelische Ursache der Neurosen anzuerkennen. Wie wir später, in 7 Kap. 6, sehen werden, glaubte man zur Zeit Charcots noch, es handle
2
sich einfach um eine mikroskopische Organstörung oder um eine Störung im Gleichgewicht der Säfte, weil man anatomisch-pathologisch nichts finden konnte. (Etwas Ähnliches spielt sich heutzutage bei der Schizophrenie ab, wo die Gelehrten noch immer nach einer anatomischen Störung suchen, besonders weil es neuere unspezifische Medikamente und das Magnetresonanzverfahren (MRI) gibt. Dieses »Axiom« einer körperlichen Funktionsstörung begrenzte nicht nur die alten Forscher, sondern auch alle modernen Darstellungen zur Geschichte der Medizin. Auch die neueren Autoren haben die »Wirklichkeit der Seele« noch nicht introjiziert, weshalb ihre Darstellung der medizinischen Psychologie einseitig ist. Sie sucht nur bei den Professoren der Medizin. Die Alchemisten, die C.G. Jung wieder ans Tageslicht beförderte, waren oft auch Ärzte, aber selten Professoren der Medizin, eher Leibärzte von Fürsten (z. B. Michael Maier), welche ihre Erkenntnisse auf unbewussten Pfaden fanden. Sie dachten nicht in den herkömmlichen Bahnen der akademischen Medizin. Sie suchten das Heilmittel für alle Krankheiten (Panazee), nicht nur für eine spezifische. Das ist eine ungeheure Idee! Das machte, dass sie nicht so sehr auf eine Nosologie von Krankheiten eingeschworen waren, sondern in den Krankheiten allgemein das Leiden der Menschen sahen, dem es zu begegnen gilt. In der Medizin gibt es – wie auf allen Spezialgebieten – zeitlich bedingte Modeströmungen, wie heutzutage etwa der soziale Aspekt von Krankheiten. Die Berechtigung ist solchen Teilaspekten nicht abzusprechen, aber sie sind nur Ausschnitte aus dem übergeordneten Ganzen. Die Alchemisten richteten ihren Blick auf den Makrokosmos, nicht nur den Mikrokosmos. Damit schlossen sie alle Teilaspekte mit ein, ohne sie speziell zu erwähnen. > Der Mensch umfasst viel mehr, als bloß die »kleine Welt« seines Bewusstseins. Seine Psyche ist unendlich, und der Arzt
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Kapitel 2 • Der lange Weg und die Abenteuer auf der Suche nach der befreienden Erkenntnis
wird sie nie in ihrem ganzen Umfang erfassen. Die Alchemisten, die sich ihres Tuns und dessen Voraussetzungen kaum bewusst waren, hatten das Ganze im Auge.
Darum kamen sie zu Erkenntnissen intuitiver Natur, welche erst William James für die Psychologie zusammen mit der Society of Psychical Research eröffneten. Man hat gegen Jung den Einwand der Unwissenschaftlichkeit dieser Nebengebiete erhoben. Dieser Einwand zeugt von einer zu engen naturwissenschaftlichen Definition von Wissenschaftlichkeit. Sie schließt die geistige Seite des Menschen aus und hat einen materialistisch-positivistischen Hintergrund. Der Geist ist eine ebenso wichtige Hälfte des Menschseins wie sein Körper. Er ist ebenso rätselhaft wie der Körper. Die Schwierigkeit besteht allerdings darin, dass zwar der Körper den Körper nicht verstehen will, aber der Geist den Geist. Da stoßen wir an eine Grenze unserer Erkenntnismöglichkeiten. Dass der Geist den Körper ergründen könne, glauben wir fest. Doch wie soll das Subjekt sich selber, das Werkzeug sich selber erkennen? Hierin liegt meines Erachtens der eigentliche Grund für die Begrenztheit des medizinischen Standpunktes. Die Medizin versucht seit der Neuzeit ihrer Wissenschaft ein naturwissenschaftliches Fundament zu geben, um all den mittelalterlichen Aberglauben und antike Quacksalberei von sich abzustreifen. Das ist die Haltung der Aufklärung, welche alles, was nicht rational begründbar ist, als Scharlatanerie abtat. Doch der Mensch besteht nicht nur aus seiner rationalen Seite, und ein Blick in die Welt zeigt uns, wie viel Irrationales sich dort ereignet. Die Integration dieser Seite nicht nur in der Welt, sondern auch im Forscher bereitet der klassischen Medizin größte Mühe. Wissenschaft ist nicht nur das, was sich im Experiment überall auf der Welt wiederholen und statistisch beweisen lässt. Kein Physiker hat je ein Atom vor Augen gesehen oder den »Big Bang« miterlebt. Trotzdem würde ihm niemand seine Wissenschaftlichkeit absprechen,
wenn er ein Atommodell ähnlich unserem Sonnensystem entwirft oder mit einem Milliardenaufwand versucht, hinter das Geheimnis der Antimaterie zu kommen. An der vordersten Front der Erkenntnis macht man sich stets Modellvorstellungen vom Unwissbaren. Auch wenn sie durch spätere Erkenntnisse überholt werden, sind sie ebenso wissenschaftlich, ob sie alchemistische Phantasien oder moderne physikalische Hypothesen sind, wenn sie nur harter Denkarbeit und kritischer Haltung entsprungen sind. Das ist der Geist, der sich selber sucht. Wir kehren wieder zu Cullens Konzept der Neurose bis zum Beginn der anatomo-klinischen Periode zurück. Sein Konzept fand in deutschen Landen Verbreitung durch verschiedene Auflagen und Übersetzungen seines Werkes. Das Wort »neurosis« wurde mit »Nervenkrankheit« (»nervous disease«) übersetzt, so dass beide bis zum frühen 19. Jahrhundert gleichbedeutend verwendet wurden. Die Universität Göttingen spielte für die Ausbreitung sowohl des Wortes als auch des Konzeptes der Neurose für Mitteleuropa eine große Rolle. Wie das Konzept in der deutschen Medizin zunehmend assimiliert wurde, verlor es seine neuropathologische Interpretation. Gottfried Ploucquet, Professor in Tübingen (1716–1790) war der erste, der den Terminus »Neurasthenie« verwendete ([42] S. 24). Pinel war der erste Übersetzer der Werke Cullens ins Französische (1785).
2.3.4
Romantische Medizin und Naturphilosophie
Die romantische Medizin Deutschlands ging andere Wege: Für sie waren die Arbeiten zum Neurosenkonzept nicht wichtig. Sie war mit der Naturphilosophie beschäftigt, welche von der Philosophie herkam und mit dem Problem der Vereinigung von Natur und Geist rang.
45 2.3 • Der Begriff »Neurose«
Ihr wichtigster Vertreter war Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775–1854). Ich habe oben angeführt, wie einseitig die medizinische Psychologie war, bevor sie neben der Materie den Geist in Betracht zog. Die Naturphilosophen versuchten mit rationalen Mitteln eine Synthese. Schelling verstand die Welt als einheitlichen lebendigen Organismus. Organismus heißt, dass alle seine Teile miteinander in Zusammenhang stehen. Lebendig heißt, dass sich das, was uns tot scheint, nur in einem Ruhestand der Potentialität befindet. Fichte, Schelling und Hegel versuchten je auf ihre Weise eine Lösung dieses schwierigen Problems, doch kam keiner zu einem befriedigenden Schluss. Vielleicht wichtiger als ein solcher war, dass das Problem überhaupt aufgeworfen wurde und starken Einfluss auf die damalige Medizin ausübte [81]. Aus meiner Darstellung dürfte nicht einzufühlen gewesen sein, weshalb sich die romantische Naturphilosophie wie ein Steppenbrand ausbreitete, nicht nur die Philosophie, sondern auch die Medizin, Literatur, Naturwissenschaften, ja das ganze Geistesleben in seinen Bann zog, so dass die wissenschaftlich experimentellen Fächer völlig unterdrückt wurden: Es war die Faszination des Archetypus. Der Anlauf zu einem einheitlichen Weltbild war schon oft unternommen worden. Neu an dem Versuch Schellings war, dass die Synthese von Gegensätzen in der hinter ihnen liegenden Idee steckt. Natur und Geist sind nur äußerliche Gegensätze, die Idee dahinter ist identisch. Durch Analogieschlüsse konnte scheinbar Disparates auf einen Nenner gebracht werden. Damit wurde über verschiedene Stufen das Weltbild eines einheitlichen Organismus errichtet. In meinem Buch »Anthropos« habe ich Beispiele ähnlicher Vorstellungen in verschiedenen Kulturen zu verschiedenen Epochen angeführt ([113] S. 75ff.). Hinter dieser Philosophie steht der Mythus vom kosmischen Menschen ([113] S. 35ff.), wie aus einer Stelle in Johann Jakob
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Wagners Schrift »Über die Natur der Dinge« hervorgeht:
» Die Atmosphäre ist gleichsam das arteriöse System der Erde, die Flüsse ihre Venen, das Meer ihr Herz und die Kreaturen sind die Gebilde ihres organischen Leibes, die Pflanzenwelt ihre Pfortader, die Tierwelt ihre Lunge, ihr Nerv das Licht und ihr Gehirn die Sonne. Man denke nicht, ich schwärme, wenn ich diese Parallele wage, es ist nicht Schwärmerei, sondern das allein ist Erkenntnis der Natur, das Große im Kleinen wiederfinden. ([116] S. 97)
«
Es gibt prinzipiell zwei Zugänge zur Erkenntnis: 1. Vom Grob-Sichtbaren immer mehr ins Detail, sogar mit Hilfsmitteln (Mikroskop), welche unsere Sinne erweitern (Röntgen) 2. Vom Einzelnen aufsteigend zum Allgemeinen bis zur absoluten Einheit = Gott Die experimentelle Naturwissenschaft bewegt sich auf der ersten Bahn und weiß schließlich immer mehr von immer weniger. Die Philosophie Schellings beschritt den zweiten Weg. Dieser ist in den Naturwissenschaften eher verpönt. Wir werden aber später sehen, dass es auch auf dem Gebiet der Neurosenforschung Leute gab, welche den zweiten (induktiven) Weg einschlugen, ohne sich allerdings dessen richtig bewusst zu sein. Die Gefahr bei der zweiten, induktiven Erkenntnisweise ist, dass die Spekulationen von der Wirklichkeit wegen deren wilden Analogieschlüssen wegführen. Das ist der romantischen Medizin passiert, so dass von ihrem positiven Ansatz einer Vereinigung der Gegensätze nicht viel übrig geblieben ist. Dennoch haben sie zwei zukunftsweisende Gedanken gehabt, welche erst die Jungsche Psychologie wieder aufgenommen hat: Natur und Geist sind miteinander identisch Der
gemeinsame Grund beider ist das Absolute, wir
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Kapitel 2 • Der lange Weg und die Abenteuer auf der Suche nach der befreienden Erkenntnis
würden heute sagen: der unus mundus (Einheitswirklichkeit).
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> Die Natur ist nur der äußere Anblick, ihr innerstes Wesen sind die Ideen, der mundus archetypus. In diesem Sinn ist die ganze Natur »begeistet«: Natur ist sichtbar gewordener Geist, Geist dagegen ist unsichtbare Natur.
Wir können nur ins Innere der Natur eindringen, indem wir hinter ihren äußeren Schein gelangen. Im Inneren hängen die Manifestationen wie die Organe eines Organismus sinnvoll untereinander zusammen. Polarität Zweites Prinzip ist jenes der Polarität.
Wie ich in meinem Buch »Die Suche nach den eigenen Wurzeln« [112] gezeigt habe, wurde Jung in seinen frühen Phantasien bei der Auseinandersetzung mit dem Unbewussten darauf aufmerksam. In den »Septem Sermones ad mortus« dämmert ihm die Erkenntnis, dass etwas nur auf dem Hintergrund seines Gegensatzes bewusst werden kann. Da das Bewusstsein Eindeutigkeit anstrebt, wird der Gegensatz ins Unbewusste abgeschoben. Mit dem Entstehen von Bewusstsein entsteht spiegelbildlich dazu eine Gegenwelt. Ich frage mich, ob die Idee einer Antimaterie in der Physik nicht auf dem gleichen Archetypus basiert? Für die Romantiker war diese Idee noch viel einfacher, nämlich wie die Gegensätze von Anziehung und Abstoßung, Sensibilität und Irritabilität, positiver und negativer Pol eines Magneten. Ich habe 1974 in der Humboldt-Gesellschaft unter dem Titel »Die Polarität in der Tiefenpsychologie« ([107] S. 331) anhand eines Kindertraumes das das ganze Christentum durchziehende Problem von gut und böse besprochen. Cullens Schüler, John Brown (1735–1788), stellte in seinen »Elementa medicinae« (1780) die Lehre auf, das Leben sei nur ein erzwungener Zustand durch zwei gegensätzliche Reize. Der Organismus reagiert dank seiner Erregbarkeit.
Bei normalem Reiz und normaler Erregbarkeit besteht Gesundheit. Zu schwache oder zu starke Reize und zu schwache oder zu starke Erregbarkeit bedingen Krankheiten mit den zwei Hauptformen Asthenie und Sthenie. Diese »Erregungslehre« Browns fand weite Verbreitung in Europa und löste eine Flut von Schriften für und wider aus ([116] S. 80). Die Polarität zeigt sich auch hier wieder. Schelling bevorzugte die Einteilung der Grundkräfte des Lebendigen in die Reproduktionskraft, Irritabilität und Sensibilität, was stärkste Nachahmung in Physiologie und Pathologie fand, indem in deren Lehrbüchern die Lebensfunktionen die Prinzipien der Einteilung bestimmten. Halle war zu jener Zeit ein geistiges Zentrum, aus welchem auch Johann Christian Reil (1759– 1813) hervorging, welcher neben Pinel Begründer der Psychiatrie genannt wurde. Pinel und er stehen an einem Übergang zwischen Aufklärung und neuer Medizin. Die von ihm geschaffene Sicht der Neurosen lebte bis zur anatomisch-klinischen Periode. Reil stand dem Höhepunkt des deutschen medizinischen Vitalismus des 18. Jahrhunderts und seinem allmählichen Übergang in die Naturphilosophie und den Eklektizismus vor. Er wandte Kants Theorie der Erkenntnis auf das Studium der Krankheiten und auf die grundlegenden Prinzipien der vitalistischen Theorie an. Die hauptsächlichen Konsequenzen aus Kants Einfluss auf Reils Vitalismus sind: Materie Materie wird definiert als das, »was in den Phänomenen enthalten ist, welche wir als Sinnesobjekte im Raum wahrnehmen«. Vorstellungen Vorstellungen »stellen eine spezi-
fische Klasse von Phänomenen dar, welche von der Materie unterschieden sind«. Kraft Kraft wird definiert als ein subjektives
Konzept, »durch welches die Beziehung zwischen Ursache und Wirkung und Eigenschaften
47 2.4 • Vom romantischen Vitalismus zur Aufklärung
der Materie und durch sie verursachte Phänomene erzeugt werden…« ([81] p. 81, A116). Vitalprinzip Forderung
eines »Vitalprinzips«, vereinbar mit den Ideen: »Lebenskraft« bezieht sich auf den Inhalt physikochemischer Kräfte, deren Wirkung die Ursache aller vitalen Äußerungen ist. »Reizbarkeit« ist ein Ausdruck oder Manifestation der »Lebenskraft«. Wir sind dem Vitalismus, der archetypischen Idee eines belebenden Prinzips in der Materie, bereits früher (7 Abschn. 2.2.6) begegnet. Er zieht sich vom 17. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts hin. Wir würden fehlgehen in der Annahme, damit sei er erloschen: Im Volkstum hat er sich weiterhin erhalten, ebenso scheint er bei moderneren wissenschaftlichen Theorien unter der Oberfläche hervor.
2.4
Vom romantischen Vitalismus zur Aufklärung
In den meisten Geschichtsbüchern über Medizin werden die romantischen Spekulationen als bedauerlicher Zwischenfall geschildert. Man übersieht dabei, dass diese Periode eine Gegenreaktion zur vorangehenden mechanistischen Heilkunde darstellt und viele bedeutende Gestalten (Carl Gustav Carus 1789–1869; 7 Abschn. 5.1) der bereits von unbewusstem Seelenleben sprach, hervorbrachte. Heutzutage hat das Pendel wieder nach der eher mechanistisch-materialistischen Seite ausgeschlagen und von da her werden die früheren Perioden gewertet, was jedoch zeitgebunden ist. Von einem übergeordneten Standpunkt aus haben beide ihre Berechtigung, sonst würde das Pendel nicht kompensatorisch auf die andere Seite ausschlagen.
2.4.1
2
Kants Einfluss auf die Medizin
In den Naturwissenschaften waren große Fortschritte gemacht worden (Entdeckung des Sauerstoffes durch Carl Wilhelm Scheele (1777) und Joseph Priestley (1774)), welche sich befruchtend auf die Medizin auswirkten. Von größtem Einfluss auf das Denken der deutschen Ärzte wurde die Philosophie Immanuel Kants (1724– 1804). In seiner »Kritik der reinen Vernunft« (1781) sagt er ganz klar, dass im Organismus das Ganze durch seine Teile und die Teile durch das Ganze bestimmt sind, dass in der Natur jeder Teil sich zu den übrigen als Mittel und zugleich Zweck verhält und durch alle übrigen und für alle übrigen da ist. Unter den philosophierenden Ärzten beschäftigte sich Johann Georg Zimmermann (1728–1795) mit den Grundfragen der ärztlichen Erkenntnis, die uns noch heute beschäftigen, und mit der Geltung von Erfahrung, Experiment, rationaler Überlegung und Intuition. Carl August Eschenmayer (1768–1852) sagt als begeisterter Anhänger des Kantschen Kritizismus (1797) gerade heraus, Chemie und Medizin würden so lange in der Luft hängen, als ihre Begriffe, wie Affinität, Reizbarkeit und anderes sich nicht aus der kritischen Naturmetaphysik würden beweisen lassen. So endete die »Naturmetaphysik« mit einer Nutzanwendung für die Praxis. Aus naturmetaphysischer Deduktion kam er zu Einwendungen gegen die im letzten Kapitel angeführte Reizlehre von John Brown [68]. Überall wohin man blickt, hat Kant die Medizin des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts beeinflusst. Er hat, wie kein anderer, die Ärzte jener Zeit zum scharfen kritischen Denken erzogen und die gesunde Empirie am Krankenbett erhalten helfen. Zwischen Naturphilosophie und Medizin entwickelte sich eine glückliche Partnerschaft, so lange man sich an die Grenzen der Erkenntnis hielt. C.G. Jung war stark von Kant beeinflusst, den er schon in seiner Studienzeit studiert hatte. Das unterschied ihn stark von Freud, der keinerlei
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Kapitel 2 • Der lange Weg und die Abenteuer auf der Suche nach der befreienden Erkenntnis
philosophische Interessen besaß ([78] S. 272). Jung hat sich Zeit seines Lebens streng an die Grenzen der Erkenntnis gehalten, obwohl man ihm gerade Grenzüberschreitung in Richtung der Metaphysik zum Vorwurf machte ([112] S. 23). Bei Kant kam ihm entgegen, dass er nicht nur ein »esse in intellectu« oder als Alternative das »esse in re« gelten lässt, sondern darüber hinaus ein »esse in anima« kennt (GW 6, 66). Damit spricht er nicht nur den äußeren Dingen (»res«), noch dem Verstand (»intellectus«) Realität zu, sondern auch seelischen Tatbeständen (»anima«).
» Ist das psychische System nun, wie es auch noch neuere Standpunkte haben wollen, koinzident und identisch mit dem Bewusstsein, so vermögen wir im Prinzip alles erkennen, was überhaupt erkenntnisfähig ist, d. h., was innerhalb der erkenntnistheoretischen Schranken liegt. In diesem Fall besteht kein Grund zu einer Beunruhigung, die weiter ginge als jene, welche die Anatomie und Physiologie hinsichtlich der Funktion des Auges oder des Gehörorganes empfinden. Sollte es sich aber erwahrheiten, dass die Seele nicht mit dem Bewusstsein koinzidiert, sondern darüber hinaus unbewusst ähnlich oder anders als ihr bewusstseinsfähiger Anteil funktioniert, dann müsste unsere Beunruhigung wohl einen höheren Grad erreichen. In diesem Fall nämlich handelt es sich nicht mehr um allgemeine erkenntnistheoretische Grenzen, sondern um eine bloße Bewusstseinsschwelle, die uns von den unbewussten psychischen Inhalten trennt. Die Hypothese der Bewusstseinsschwelle und des Unbewussten bedeutet, dass jener unerlässliche Rohstoff aller Erkenntnis, nämlich psychische Reaktionen, ja sogar unbewusste »Gedanken« und »Erkenntnisse« unmittelbar neben, unter oder über dem Bewusstsein liegen, nur durch eine »Schwelle« von uns getrennt und doch anscheinend unerreichbar. Man weiß zunächst nicht, wie dieses Unbewusste funktioniert, aber da es als ein psychisches System vermutet wird, so hat es
möglicherweise alles, was das Bewusstsein auch hat, nämlich Perzeption, Apperzeption, Gedächtnis, Phantasie, Willen, Affekt, Gefühl, Überlegung, Urteil usw., aber all dies in subliminaler Form. (GW 8, 362)
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Esse in anima
Das »esse in anima« ist ein wichtiger Kernsatz für Jung und sein Verständnis. Wenn er nämlich von »Gott« spricht, ist das ein Ausdruck für etwas, was die Menschen zu allen Zeiten und überall mit diesem Ausdruck bezeichneten, etwas Unsichtbares, nicht Definierbares, nicht Beweisbares. Er »setzt« nichts mit diesem Begriff. Es ist etwas, das aus der Seele, aus dem Unbewussten stammt. Jeder stellt sich darunter etwas anderes vor; es ist durch diesen Ausdruck nicht bestimmt, an keine Konfession oder Kultur gebunden, sondern eine Vorstellung im Menschen. Deshalb ist es kein Übergriff in die Theologie, denn er meint nicht den »christlichen« Gott, wenn er nicht ausdrücklich dieses Adjektiv davor setzt. Aber er muss davon reden, weil es eine Vorstellung aus dem Unbewussten ist, die spontan in Träumen, Visionen und Phantasien vorkommt und gewisse typische Qualitäten besitzt wie Numinosität, Faszination, ehrfurchterheischend, furchteinflößend, überwältigend, übermächtig, überdimensional, übermenschlich. Man ist viel zu schnell bereit, eine derartige Erfahrung in die eigene Konfession einzuordnen, statt sie als Primärerfahrung stehen zu lassen. Zugegeben, es ist die Aufgabe der Theologie, die Menschen vor der Primärerfahrung zu schützen, weil diese sie zersprengen könnte. Die Theologie gießt die Primärerfahrungen daher in feste geheiligte Normen und entkleidet sie damit ihrer Sprengkraft. Mir scheint, dass in der Psychiatrie wie in der Psychologie ein ähnlicher Prozess am Werk ist, indem durch gewisse Theorien die Sprengkraft der Psyche verharmlost wird.
49 2.4 • Vom romantischen Vitalismus zur Aufklärung
> Mir scheint die Psyche bildlich gesprochen ein Pulverfass, welches so lange nicht gefährlich ist, wie man verständnisvoll damit umgeht. Man geht damit jedoch nur so lange verständnisvoll um, wie man sich der Gefahr bewusst bleibt, welche darin lauert.
Bei Kant interessierte sich Jung für die »Träume eines Geistersehers« (1766) ([32] S. 919ff.) im Hinblick auf seine Experimente mit dem Medium, die er in seiner Dissertation darstellte »Zur Psychologie und Pathologie sogenannter okkulter Phänomene« (1902) (GW 1, 11ff.). Kant hat sich intensiv mit geistigen Strömungen beschäftigt ([68] S. 59). Aber ich will noch eine andere, allerdings umstrittene Persönlichkeit erwähnen, Franz Josef Gall (1758–1828), dem große Verdienste um die Anatomie und Physiologie des Zentralnervensystems zukommen. Durch vergleichendanatomische Beobachtungen zur Struktur und den Funktionen des Gehirns, sowie durch das Studium seiner Entwicklung beim menschlichen Fötus bereicherte er die Kenntnisse um wesentliche Stücke. Aus seinen vergleichend-anatomischen Studien konnte er nachweisen, dass spezifisch Menschliches schon beim Tier existiert und es keine scharfen Grenzen gibt. Aus den embryologischen Befunden, wonach sich nicht alle Hirnteile gleichzeitig entwickeln, schloss er, dass die höheren intellektuellen Funktionen im Frontallappen liegen müssen, der sich zuletzt differenziert. Seine Gehirnzergliederungen zeigten die faserartige Struktur der weißen Hirnsubstanz. Er konnte nachweisen, dass sich die Pyramidenbahnen in der Medulla oblongata (verlängertes Rückenmark) kreuzten, der Grund dafür, dass die Lähmungen auf der Gegenseite der Läsion auftreten. Reil sagt bewundernd von Gall: »Ich habe bei den anatomischen Demonstrationen des Gehirns durch Gall mehr gesehen, als ich mir vorstellte, dass ein Mann in seinem langen Leben entdecken könnte.« ([68] S. 14). Gall war auch
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ein exakt beobachtender Psychologe, der die einzelnen Funktionen spezifischen Arealen der Großhirnrinde zuschrieb. Die heutigen Untersuchungen umschriebener Funktionen und deren Störung mit der Methode der Magnetresonanzbildgebung (MRI) sind sozusagen die Fortsetzung der Gallschen Untersuchungen. In Verruf geriet er dadurch, dass er glaubte, aus der Schädelform den Menschen mit seinen guten und schlechten geistigen Eigenschaften beurteilen zu können (Phrenologie) ([68] S. 14–15).
2.4.2
Neurosenkonzepte im 19. Jahrhundert
Wir kehren wieder zur Entwicklung des Konzepts der Neurose zurück! Christoph Wilhelm Hufeland (1762–1836) war ein wichtiger Vertreter der deutschen Ärzte, der einen eklektischen Standpunkt vertrat und sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gegen die Naturphilosophie stellte. Er definierte die Neurose als eine »ungeordnete Aktivität von Sensibilität, Bewegung und Geist, welche entweder idiopathisch (ohne Ursache) oder primär für das Nervensystem ist und nicht bloß ein Symptom einer anderen Erkrankung oder, wenn sekundär auf eine andere Krankheit, als eine reine Erkrankung des Nervensystems erscheint« (Enchiridion medicum 1836) ([42] S. 31). Diese Definition unterscheidet zwischen idiopathischer, deren Genese unbekannt ist, und symptomatischer Neurose, wo diese nur ein Symptom einer Grundkrankheit ist. Er zählt einige kritische Aspekte auf wie unvorhersehbare Entwicklung und unbestimmter Ausgang; die wechselnde Häufigkeit der Symptome und die Leichtigkeit, mit welcher sie vom einen zum anderen wechseln. Diejenige nervöse Störung, welche von einem Schaden des Nervensystems rührt, wird idiopathische Neurose genannt, jene mit einer Störung irgendwo im Körper heißt symptomatische Neurose, weil sie auf einen ma-
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Kapitel 2 • Der lange Weg und die Abenteuer auf der Suche nach der befreienden Erkenntnis
teriellen Fehler zurückgeht. Die nervöse Konstitution ist ein prädisponierender Faktor für die Entwicklung einer Neurose. Das ist eine wichtige Erkenntnis, welche sich erst im 20. Jahrhundert durchsetzte. Im Konzept von W. Karst entsteht Krankheit aus dem Kampf zweier gegensätzlicher Kräfte: Autokratie ist die Erhaltung der Individualität und Physiokratie jene der Einheit der Natur. Der Kampf wird in allen drei organischen Systemen dargestellt: im nervösen oder empfindlichen, im reizbaren und im vegetativen oder reproduktiven. Johann Nepomuk von Reimann drückt sich in seinem Handbuch der speziellen Pathologie und Therapie (1815–17) folgendermaßen aus: »Neurosen oder Nervenkrankheiten, sensū strictō, sind Störungen einzelner Nerven oder des Nervensystems als Ganzem, welche sich primär oder hauptsächlich als Veränderungen der äußeren oder inneren Sinne, einer Störung der Muskelbewegung oder beiden äußert.
4 Somatische Neurosen, welche aus einer Veränderung der Aktivität der Nerven stammt, insofern sie das organische Leben betrifft. 4 Psychische Neurosen, welche von Störungen der Nervenaktivität stammt, insofern sie das psychische Leben betrifft. Doch auch diese beruhen auf gewissen somatischen Veränderungen und können daher ebenfalls als körperliche erklärt werden.
Neurosenkonzept im Übergang zwischen romantischer und anatomoklinischer Medizin
Während der Züricher Zeit vertrat Schönlein die Ansicht, dass die Neurosen von einer anatomischen Störung begleitet sein müssen. Ich habe schon oben (7 Abschn. 2.3.3) darauf hingewiesen, dass dieses »Axiom« einer anatomischen Störung der Neurosen einer psychologischen bis in unsere Zeit im Wege stand. Nachdem man erst seit der Renaissance genauere anatomische Kenntnisse besaß (7 Abschn. 2.2.6.1), stellte sich den Ärzten das Problem als Wahl 4 auf dem bisherigen erfolgreichen Weg in immer kleinere Dimensionen des pathologischen Prozesses vorzustoßen oder 4 in die primitive Medizin zurückzufallen.
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Naturwissenschaftliche Medizin
Der Übergang von der romantischen zur naturwissenschaftlichen Medizin spielt sich in Deutschland nach 1830 ab, unter der Ägide des Physiologen Johannes Müller und des Pathologen und Internisten Johann Lucas Schönlein (1793–1864) und seiner Schule. Zwei von Schönleins Publikationen über Neurose sind besonders erhellend: Die Vorlesungsnotizen von Zürich (1839) und die klinischen Vorträge an der Charité in Berlin (1842). Krankheit ist der Kampf zwischen dem Ich (unabhängigem Leben) und den Planetenkräften (dem schädlichen Prinzip, das das Leben bedroht). Er unterscheidet in:
Somatische Neurosen werden unterteilt in: 4 Intermittierende (periodisch aussetzende) Neurosen 4 Neuralgien (Nervenschmerzen) – einschließlich Spasmen (Krämpfe) und Schmerzen 4 Eigentliche Neurosen: Periphere Lokalisation des Krankheitsprozesses, episodischer Verlauf, Erregung des peripheren Nervensystems, isolierte paroxymale (höchste Steigerung) Episoden (Spasmen, Anfälle), die Nervenaktivität kann gestört oder normal sein, erhöht oder vermindert
Im nächsten Abschnitt werde ich zeigen, dass unerwarteterweise der zweite Weg weiterführte, während der erste, so aussichtsreich er bisher war, in einer Sackgasse endete.
51 2.4 • Vom romantischen Vitalismus zur Aufklärung
Im Ergänzungsband von Karl Canstatts Handbuch der medizinischen Klinik (1843–54), welcher posthum von E.H. Henoch herausgegeben wurde, heißt es: »Unter Nervenkrankheiten verstehen wir Zustände funktioneller Veränderungen des Nervensystems, in Bezug auf welche bisher noch keine strukturelle Veränderungen beschrieben wurden.« [7] In »Krankheiten des Nervenapparates« (1855) erklärt K.E. Hasse: »Diese Krankheiten werden in zwei Klassen geteilt, eine umfasst die eigentlichen Nervenkrankheiten ohne organische Veränderungen, die andere schließt Fälle wirklicher Veränderung der Organe der Nerventätigkeit ein.« [16] [42]
Neurosenkonzept der anatomoklinischen Medizin vor Charcot Die anatomische Läsion, bis dahin weniger wichtig als das Symptom, wurde zur Grundlage der Medizin. Philippe Pinels (1745–1826) Arbeit wurde zum Ausgangspunkt der anatomoklinischen Perspektive der Neurosen. Pinel ist vor allem als Begründer der Psychiatrie bekannt, aber viel weniger als jener, der eine Verbindung herstellte zwischen Aufklärung und anatomoklinischer Pathologie. Pinels Ehrgeiz wird gut in Bichats Ansicht ausgedrückt, nach welcher die Medizin eine »exakte Wissenschaft« werden soll. Pinel beschrieb die Neurosen als Veränderungen der Sensibilität und Beweglichkeit, welche nicht von primärem Fieber, Entzündung und strukturellen Störungen begleitet sind. »Die zahlreichen funktionellen Veränderungen bei Neurosen stellen, trotz ihrer Vielfalt, eine Klasse von Störungen dar, welche in enger Beziehung zum Nervensystem stehen. Dieses System beginnt im Großhirn, verbreitet sich über den ganzen Körper und vermittelt Empfindung und Bewegung, um die Organfunktionen zu aktivieren«. [43]. Das Neue an Pinels Ansicht ist der Ausschluss des Prinzips einer »strukturellen Störung«. Die vielen Editionen und Übersetzungen der Noso-
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graphie ebenso wie die vielen in den frühen Jahren des 19. Jahrhunderts publizierten Nosologien machten das Konzept der Neurose den meisten Europäischen Ärzten bekannt. Doch das Pendel schlug alsbald wieder um: Die neue Pathologie verließ ihre vitalistischen Grundlagen und ihre Betonung der Symptomatologie, um sich auf den anatomoklinischen Zugang zu beschränken. Das vergrößerte die Schwierigkeit mit dem Neurosenkonzept und das heutige Unbehagen geht auf diese Zeit zurück. Das weckte Hoffnungen, dass die allmähliche Entdeckung spezifischer Läsionen zu einem Verschwinden des Neurosenkonzepts führen würde. Wie die pathologische Forschung fortschritt, erwiesen sich viele der Bedingungen, welche als Neurosen galten als solche auf einer organischen Grundlage. Andererseits bestanden etliche vermeintliche Veränderungen wie Endometritis (Gebärmutterentzündung) und Oophoritis (Eierstockentzündung) als Ursache der Hysterie und Magen- oder Leberstörungen als Ursache der Hypochondrie eine genaue wissenschaftliche Prüfung nicht. Das Neurosenkonzept wurde als provisorisch und oft als vage und unwissenschaftlich erklärt. Eine grundsätzliche Revision des Konzepts war nötig, welche von Etienne Jean Georget (1795–1828), einem Mitglied der Schule von Esquirol unternommen wurde. Das Konzept konnte sich nur bei Autoren unter seinem Einfluss am Leben erhalten, was erklärt, dass es sich in der Französischen Medizin halten konnte, während es in Ländern wie Großbritannien verschwand. Georget entfernte viele Krankheiten als nicht zu den Neurosen gehörig (Myopie, Amaurose, Schwerhörigkeit, Apolexie, Idiotie, Wassersucht, Starrkrampf (Tetanus), Keuchhusten etc.) und behielt nur Krankheiten mit bekannten Veränderungen. Er schreibt: »Die Krankheiten, welche ich Neurosen nennen werde, sind chronisch, nicht gefährlich, intermittierend, ohne Fieber, aber manchmal können sie großes Leiden hervorrufen, so dass man glaubt, etwas Ernsthaftes
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Kapitel 2 • Der lange Weg und die Abenteuer auf der Suche nach der befreienden Erkenntnis
spiele sich ab; und sie sind von unbedeutenden oder keinen postmortalen Anzeichen eines organischen Schadens begleitet.« Die anatomo-klinische Methode erwies sich bei Neurosen als ungenügend! Sein Beitrag im Allgemeinen erstreckte sich bloß auf die Beibehaltung des Neurosenkonzepts in der europäischen Medizin.
Anatomoklinisches Neurosenkonzept von Georget bis Charcot Das anatomoklinische Neurosenkonzept von Georget bis Charcot brachte die »funktionale Lokalisation«. Das geschah auf Kosten des Prinzips einer anatomischen Lokalisation, einer Störung unter Beibehaltung der reinen Symptombeschreibung. Das empfand man jedoch als Mangel, weshalb man eines der Prinzipien doch beizubehalten suchte. Einen solchen Versuch unternahm Achille Louis Faville (1799–1878), ein anderes Mitglied der Schule Esquirols. In seinem Artikel von 1834 im Dictionnaire de Médicine et de Chirurgie pratique schreibt er: »Zu behaupten, Neurosen seien Krankheiten, welche nur durch spezifische Symptome, die auf das Nervensystem hinweisen, ausgezeichnet sind, was bisher unerkannt blieb, ist eine zu enge Ansicht… Ich glaube, es wäre besser, die Neurosen als Krankheiten zu definieren, welche, nach ihren Symptomen zu urteilen, im Nervensystem zu lokalisieren sind, aber keine sichtbaren Veränderungen zeigen.« In den Arbeiten nach 1860 fing man an, eine spezifische Lokalisation für die Neurosen zu vermuten und begnügte sich nicht länger mit ihren allgemeinen Aspekten. Die Medizin ist sich ihrer theoretischen Grundlagen nie unsicherer, als wenn sie mit gewissen nicht weiter reduzierbaren Tatsachen konfrontiert ist. Die klinisch-anatomische Ansicht fand in Jean Martin Charcots (1825–1893) Schriften den Höhepunkt und gleichzeitig ihre Lösung. Der Meister der Salpêtrière, von dem wir bald mehr hören werden, konzentrierte seine Anstrengung auf
die Hysterie, die »grande névrose«, weil sie das Neurosenproblem am schärfsten akzentuierte. Er übertrug das Konzept einer »funktionalen Lokalisation«, welches er übernommen hatte, in eine »transitorische Lokalisation.« Die Neuigkeit daran war, das »Funktionale« zu betonen, was von den großen französischen Autoren und ihren Nachfolgern vernachlässigt worden war. Der dynamische Prozess von alters her, befreit von allen spekulativen Elementen, bot sich von selbst für die neue Sicht an: Die Naturphilosophie wurde zu Naturwissenschaft. François Joseph Victor Broussais (1722– 1838) erklärte die Neurosen zu Artefakten der Beobachtung, welche durch Krankheiten mit vorwiegend »krankhaften Sympathien« hervorgerufen werden. Er bezeichnete die »Gastroenteritis« (Magendarmentzündung) als Ursprung aller neurotischen Prozesse. Das mag uns heute wunderlich erscheinen, bedenkt man aber den Stellenwert, den Purgativa und Klistiere in der damaligen Medizin innehatten, so ist es durchaus konsequent. Bemerkenswert an dieser Ansicht von Broussais, was ich sonst nirgendwo gefunden habe und was viel mehr zu berücksichtigen wäre, ist die Tatsache, dass die Beobachtung einen großen Einfluss auf die Symptomatologie der Neurosen hat. Wie in Frankreich und aus ähnlichen Gründen, wurde das Neurosenkonzept in Großbritannien unpopulär, das Wort verschwand für über ein halbes Jahrhundert aus dem medizinischen Schrifttum. In den Jahren nach 1830 bevorzugten viele die Ansicht, dass die meisten Nervenkrankheiten charakterisiert seien durch schmerzhafte Stellen (»tender spots«) an der Wirbelsäule und das Resultat von nicht-entzündlichen Dysfunktionen des Rückenmarks ohne anatomische Veränderungen. Die »spinal irritation« verlor ihre pathogenetische Rolle vor der Mitte des 19 Jahrhunderts. Sie zeigte sich weiterhin, allerdings mit einer anderen Bedeutung in der medizinischen Literatur. Das war die Zeit, als französische Autoren anfingen, die »spinal irritation« als eine
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spezifische Form der Neurosen aufzufassen. Die »spinal irritation« nahm danach einen Platz als spezifische Neurose zwischen Hysterie und Neuralgie ein. Der Einfachheit der Reflexdoktrin (»spinal irritation«) – man wusste, dass der Reflexbogen über das Rückenmark geht – verdankt sie ihre Popularität, was zu einer Ausweitung der therapeutischen Methoden führte. Eine Reihe chirurgischer Operationen zur Behandlung der nervösen Störungen wurde in dieser Periode vorgeschlagen und auch durchgeführt. Als die Doktrin in der Mitte der 1840er Jahre ihren Höhepunkt erklomm, wurde sogar die Nephrektomie (Entfernung der Niere) als eine angemessene Indikation für die Behandlung von Lähmungen und anderen Reflexstörungen renalen Ursprungs angesehen. Diese Ansicht rettete sich bis ins 20 Jahrhundert hinüber und trotz Kritik wurde sie für Hysterektomien (Entfernung der Gebärmutter) und Entfernung gesunder Zähne als Behandlung gewisser neurologischer Zustände angewandt. Zwischen 1850 und 1880 veränderten sich zwei Gruppen von Neurosen: Die Kategorie »major neurosis« wurde ein exklusiver Name für Hysterie. Hypochondrie wurde abgetrennt und unter andere psychiatrische Diagnosen aufsummiert. Die Neuralgien wurden nicht mehr als Neurosen betrachtet, sondern als eine eigene Gruppe definiert. Georg Miller Beard (1839–1883) glaubte, die Neurasthenie sei eine funktionelle Störung des Gehirns, verursacht durch Erschöpfung durch intellektuelle Überarbeitung und Spannung, welche hauptsächlich geschäftstüchtige intellektuelle Amerikaner zwischen 16 und 50 Jahren befalle. Doch die entscheidende Phase in der Entwicklung der Neurasthenie kam erst mit den Schriften Charcots und seiner Gruppe. Er stufte die Neurasthenie als große (»major«) Neurose ein, vergleichbar der Hysterie, der »grande névrose«. Von allen diesen Neuroseformen (Nervosität, asthenische Rückenmarkreizung, Hirnherz- und
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Hirndarmneurosen), welche in dieser komplexen Entwicklungsperiode geschaffen wurden, konnten sich nur Hysterie und Neurasthenie bis ins 20. Jahrhundert retten. Diese zwei Kategorien stellten das zentrale Problem während der sogenannten psychologischen Periode dar, welche mit der Konfrontation zwischen der Salpêtrière und der Schule von Nancy begann und in den Werken von Janet, Freud und anderen sich fortsetzte, wovon in den nächsten Kapiteln mehr zu lesen sein wird. Als die »vasomotorische und trophische« Neurose erstmals aufgestellt wurde (Akro-cyanosis Raynaud 1862, Erythromelalgie Weir-Mitchell 1872, angioneurotisches Oedem Quinke 1882) hatte der Ausdruck Neurose noch die Bedeutung einer »funktionellen Neurose«. Unter dem Druck der psychologischen Theorien während des ersten Teils des 20 Jahrhunderts änderte sich die Bedeutung grundlegend. Als Dubois den Begriff Psychoneurose prägte, hatte der Begriff Neurose bereits seine heutige Bedeutung erlangt ([42] S. 76). Die Geschichte des Begriffs »Neurose« zeigt, welche verschlungenen Wege er bis zur heutigen Klärung ging, heute, wo man ihn schon fast wieder abschaffen möchte wegen der Streitigkeiten unter den verschiedenen Schulen. > Der Begriff »Neurose« ist vielleicht heute kein glücklicher Ausdruck mehr, weil ihm noch das ehemalige anatomisch-pathologische Denken (Nervenkrankheit) anhängt. Mag sich dieses Denken in der übrigen Medizin vielleicht bewährt haben, so war mit der Entdeckung des Unbewussten ein neues Zeitalter angebrochen, welches ein fundamentales Umdenken erfordert, weg vom Denken in Organfunktionen zu einem den ganzen Menschen erfassenden Einheitsdenken.
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Kapitel 2 • Der lange Weg und die Abenteuer auf der Suche nach der befreienden Erkenntnis
2.5
War es ein Rückfall in die »primitive Medizin«?
Das, was wir etwas abschätzig als »primitive Heilkunst« bezeichnen, hat stets eine Rolle gespielt und ist auch heute noch von Bedeutung. Von manchen Heilmethoden kann man nicht sagen, sie seien primitiv. Denn, obwohl tausende von Jahren alt, bewähren sie sich noch heute.
2.5.1
men Bertha Pappenheim, sprach von »talking cure« oder »chimney sweeping« als ihre Therapie (7 Kap. 9). Sie empfand offensichtlich die Gesprächstherapie als entlastend. Jedermann, der das am »eigenen Leibe« erlebt hat, kann das nur bestätigen. Die Voraussetzungen für eine derartige Kur sind heute ganz andere als damals. Dazu gehören das Vertrauen in den Therapeuten und das ärztliche Geheimnis. Die Geheimhaltung ist auch in der kirchlichen Beichte unabdingbar (Beichtgeheimnis) und juristisch geschützt. Jung schreibt:
Religiöse Dimension
Beichte Eine Heilmethode ist die Beichte, durchaus nicht erst eine Erfindung der katholischen Kirche, sondern aus grauer Vorzeit bekannt. Beichte hat mit »Sünde« zu tun. In 7 Abschn. 2.1.1.1.2 habe ich darauf hingewiesen, dass Tabu-Verletzungen derartige »Sünden« bei Naturvölkern sind. In unserer Zivilisation sind es Übertretungen von Geboten und Verboten, dem Moralkodex. Sachlich kommt es auf dasselbe hinaus. Raffaele Pettazzoni, der Religionshistoriker, hat ein umfangreiches Werk über die Beichte geschrieben [104]. In unserer Zeit und für die Psychotherapie spielt sie noch immer eine bedeutende Rolle als Entlastung von einem »pathologischen Geheimnis«. Die Krankheit wird oft als göttliche Strafe für ein Vergehen verstanden. Wenn nun das Gewissen dadurch entlastet werden kann, dass man sich einer geeigneten Person anvertrauen kann, kann sich die Heilung in wunderbarer Weise vollziehen. C.G. Jung misst der Beichte ganz allgemein als Einrichtung und in der Psychotherapie im Besonderen eine große Bedeutung zu. Ganz allgemein ist sie eine Maßnahme der psychischen Hygiene. Sie leitet die Leute zu einer bewussteren Lebensführung an, wenn die Beichte bewusst und nicht schematisch nach einem Beichtspiegel durchgeführt wird. Schon eine der frühen Analysandinnen von Josef Breuer und Sigmund Freud, die »Anna O«, mit vollem Na-
» Sobald es dem menschlichen Geiste gelungen war, die Idee der Sünde zu erfinden, entstand das psychisch Verborgene, in analytischer Sprache: das Verdrängte. Das Verborgene ist Geheimnis. Der Besitz an Geheimnissen wirkt wie ein seelisches Gift, das den Träger des Geheimnisses der Gemeinschaft entfremdet. […] So fördernd ein mit mehreren geteiltes Geheimnis ist, so zerstörend wirkt eine Schuld, die den unglücklichen Besitzer von der Gemeinschaft mit anderen Menschen abschneidet. Ist man sich dessen bewusst, was man verbirgt, so ist die Schädigung entschieden geringer, als wenn man nicht weiß, dass und was man verdrängt. In diesem Fall wird der verborgene Inhalt nicht mehr bewusst geheim gehalten, sondern man verhehlt ihn sogar vor sich selbst; er spaltet sich als selbständiger Komplex vom Bewusstsein ab und führt im Gebiet der unbewussten Seele eine Art von Sonderdasein, unbelästigt von bewusster Einmischung und Korrektur. (GW 16, 124–125)
«
Im den vorherigen Abschnitten habe ich bereits auf die »religiöse Haltung« des Therapeuten und das religiöse Geschehen der Therapie generell hingewiesen. Mit der Beichte stoßen wir wieder auf eine religiöse Ader in der Psychotherapie.
»
Ich kann es kaum verschleiern, dass wir Psychotherapeuten eigentlich Philosophen oder philosophische Ärzte sein sollen oder vielmehr,
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55 2.5 • War es ein Rückfall in die »primitive Medizin«?
dass wir es schon sind, ohne es wahrhaben zu wollen, denn ein allzu krasser Unterschied klafft zwischen dem, was wir betreiben, und dem, was auf Hochschulen als Philosophie gelehrt wird. Man könnte es auch Religion in statu nascendi nennen, denn in nächster Nähe der großen Konfusion des Urlebendigen gibt es noch keine Sonderung, die einen Unterschied zwischen Philosophie und Religion erkennen ließe. […] Wie Ärzte, welche epidemische Krankheiten behandeln, setzen wir uns den bewusstseinsbedrohenden Mächten aus und müssen mit aller Kraft darauf bedacht sein, nicht nur unser Menschsein, sondern auch das des Kranken aus der Umklammerung des Unbewussten zu retten. Eine weise Selbstbeschränkung bedeutet noch kein philosophisches Lehrbuch und ein Stoßgebet in Lebensgefahr keinen theologischen Traktat. Aber beide sind Ausfluss einer religiös-philosophischen Haltung, wie sie dem Dynamismus des unmittelbaren Lebens angemessen ist. Die höchste Dominante ist immer religiös-philosophischer Natur. Sie ist an sich eine durchaus primitive Tatsache, die wir daher auch am Primitiven in reichster Entfaltung beobachten können. (GW 16, 181)
«
Der neurotische Konflikt besteht oft darin, dass wir die primitive Mentalität nicht mit unseren, ach so fortschrittlichen Auffassungen in Einklang bringen können. Wir haben den Kontakt zu unseren Instinkten, dem konservativsten in unserer Psyche, verloren. Wir glauben, das seien »archaische Reste«, deren wir uns schämen müssten. Da kann es hilfreich sein, sich religiöser Riten zu erinnern, welche über archaisch-instinktiven Handlungen aufgebaut sind.
» Nicht nur das Christentum mit seiner Heilsymbolik, sondern alle Religionen überhaupt bis zu den magischen Religionsformen der Primitiven sind Psychotherapien, welche das Leiden der Seele und die seelisch verursachten Leiden des
Körpers behandeln und heilen. Wie viel in der heutigen Medizin noch Suggestionstherapie ist, darüber möchte ich kein Urteil aussprechen. Ganz milde ausgedrückt ist ja die sog. Berücksichtigung des psychischen Faktors in der praktischen Heilkunde keine ganz schlechte Sache. Die Geschichte der Medizin ist gerade in dieser Hinsicht überaus aufschlussreich. (GW 16, 20)
«
Exorzismus In diesen Zusammenhang gehört ein Mann, stellvertretend für viele andere, an welchem sich ein grundsätzliches Problem darstellte: Johann Joseph Gassner (1727–1779). Er war in einem Vorarlberger Bauerndorf aufgewachsen, wurde 1750 zum Priester geweiht und übte sein geistliches Amt seit 1758 in einem kleinen Dorf der Ostschweiz aus. Nach einigen Jahren erkrankte er stets, wenn er die Messe zelebrieren, predigen oder die Beichte hören wollte, an heftigen Kopfschmerzen, Schwindelanfällen und anderen Leiden. Das erregte bei ihm den Verdacht, der »Teufel« könnte am Werk sein. Er nahm seine Zuflucht zu Exorzismus-Gebeten der Kirche, worauf die Beschwerden nach einer Weile verschwanden: Das war seine Initiationskrankheit. Er begann nun in seiner Pfarrgemeinde mit großem Erfolg kranke Menschen zu exorzisieren. Leute aus den angrenzenden Bezirken suchten ihn schon bald auf, und als er 1774 eine hochgeborene Gräfin Maria Bernardine von Wolfegg geheilt hatte, stieg sein Ruhm so, dass er von zahlreichen Orten Einladungen erhielt. Sein Tun war allerdings höchst umstritten. Er fand mächtige Beschützer in der Person des Fürstbischofs von Regensburg, Graf Fugger, der ihm ein Ehrenamt an seinem Hof gab. Er nahm Wohnsitz in der alten Kirchenstadt Ellwangen, wohin die Patienten strömten. Aber es gab auch einen Sturm der Polemik gegen ihn, Flugschriften in Deutschland, Österreich, der Schweiz und sogar Frankreich nahmen bald für, bald gegen ihn Stellung.
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Kapitel 2 • Der lange Weg und die Abenteuer auf der Suche nach der befreienden Erkenntnis
Es gibt zeitgenössische Schilderungen seiner Exorzismen. Gassner hat seine Methode in einem Buch beschrieben ([72] S. 90ff.). Die wesentlichen Punkte sind: 4 Er fragt die Patienten, ob sie an Jesus glauben = gleiches Weltbild. 4 Wenn die Krankheit eine natürliche Ursache hat, kann er die Symptome nicht hervorrufen: Abgrenzung gegen die ärztliche Kunst. 4 Falls er die Symptome hervorrufen kann, handelt es sich um eine Besessenheit, welche er mit seinem Exorzismus heilen kann, d. h. den »bösen Geist« austreiben. 4 Die Patientin, welche vor ihm kniet, vor ihm als »Stellvertreter Jesus«, führt alle seine Befehle pünktlich aus: Er ist Herr über die Dämonen! 4 Die Patientin ist in einem Zustand von Hypnose oder Trance und erinnert sich kaum, was mit ihr in der Séance passierte, verspürt auch keine Schmerzen. Der Exorzismus ist eine uralte, wirksame, schon von den Schamanen geübte Methode. Die wesentlichen Punkte hat Gassner selber beschrieben und bleiben sich überall gleich. Sogar in der Homöopathie kommt die Idee vor, dass sich die Symptome zuerst verstärken, was anzeigt, dass die Substanz wirkt. Die Zeit war Gassner nicht hold, denn Exorzismus rechnet noch mit Geistern und Dämonen, während die angebrochene Aufklärung diese abschaffte. Es erhob sich immer mehr Opposition gegen ihn, selbst seine treuesten Beschützer äußerten eine vorsichtige Haltung. Seine Tätigkeit wurde eingeschränkt, er durfte nur noch Patienten exorzisieren, welche ihm von Geistlichen geschickt wurden. Am kaiserlichen Hof in Wien wurde eine medizinische Nachprüfung angeordnet. Daraufhin forderte der kaiserliche Hof, dass Gassner in die kleine Gemeinde Pondorf versetzt wurde, wo er 1779 starb ([72] S. 94).
2.5.2
Franz Anton Mesmer und der tierische Magnetismus
Inzwischen war ein Mann namens Franz Anton Mesmer (1734–1815) aufgetreten, der ähnliche Heilungen erzielte und behauptete, jene Gassners würden auf der gleichen Methode wie seine, die er »tierischen Magnetismus« nannte, beruhen, nur sei er sich dessen nicht bewusst. In Demonstrationen berührte er bloß mit dem Finger den Patienten, worauf dessen Symptome auftraten oder nach Belieben verschwanden. In Gegenwart von Mitgliedern des Hofes und der Akademie rief er bei einem »Epileptiker« Anfälle hervor und behauptete, er könne ihn heilen. Wer war dieser neue Wundermann? Man hat ihn mit Christoph Columbus verglichen, der ebenfalls einen neuen Kontinent, eine neue Welt entdeckt hatte, aber Zeit seines Lebens über die wahre Natur seiner Entdeckung im Irrtum geblieben war. Beide Männer starben bitter enttäuscht. Kaum jemand hat sich zunächst für ihre Lebensgeschichte interessiert. Wir wollen uns diesem Pionier, der sogar als Begründer der Psychoanalyse bezeichnet wird, etwas eingehender widmen. Mesmer wurde 1734 in Iznang bei Radolfzell im Weiler auf der Höri geboren. Sein Vater war Venätor (Förster?). Franz sollte Priester werden, weshalb er ans Jesuiten-Gymnasium in Konstanz geschickt wurde. Mit 16 Jahren durfte er an der Jesuiten-Universität in Dillingen an der Donau Metaphysik und Theologie studieren. Hier wurde er wahrscheinlich mit den Werken des berühmten Jesuiten und Universalgelehrten Athanasius Kircher (1601–1660) bekannt, die noch heute in der reichen Bibliothek der alten Dillinger Universität zu finden sind. Kirchers Werk und Lehren sind für Mesmers späteres Wirken von besonderer Bedeutung. 1754 inskribierte er sich an der Universität Ingolstadt. Diese österreichische Universität war der neu entstehenden experimentellen Naturwissenschaft besonders aufgeschlossen. Im Jahr 1759 zog er
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nach Wien, um dort Medizin zu studieren; 1766 wurde er zum Doktor der Medizin promoviert. Seine Lehrer gehörten zu den berühmtesten Medizinern seiner Zeit. Da war Gerard von Swieten (1700–1772), dem wir schon als Schüler von Boerhaave und dessen Verbreiter seiner Werke begegnet sind, Anton de Haen (1704–1776) und Anton von Storck (1731–1803). Van Swieten war der Leibarzt der Kaiserin Maria Theresia und hat das umfangreiche Werk Boerhaaves mit einem ausführlichen Kommentar versehen. An derselben Universität lehrte damals der ungarische Jesuit Maximilian Hell (1720–1792) Astronomie, mit welchem sich Mesmer angefreundet hatte. Jedenfalls lautet der Titel von Mesmers Dissertation »De influxu planetarum in corpus humanum« (Der Einfluss der Planeten auf den menschlichen Körper). Die kosmische Dimension des Weltbildes Mesmers dürfte für seine spätere Erklärung seiner Methode entscheidend gewesen sein. Nach seiner Promotion ließ sich Mesmer als Arzt in Wien nieder, wo er sehr erfolgreich war. Er führte ein großes Haus, gab große Gesellschaften, schloss Bekanntschaft mit vielen Künstlern; Leopold Mozart (1719–1787) war dort mit seinem Sohn Wolfgang zu Gast, welche eine kleine Oper »Bastien und Bastienne« in seinem Garten aufführten. Er richtete sich neben einer Praxis und einem Laboratorium ein kleines Spital ein. Dort war die blinde Pianistin Maria Theresia Paradis untergebracht. Die Kleine Maria Theresia war als Vierjährige an einer »Lähmung des Sehnervs« erblindet, wie es damals hieß. Sie war ohne Erfolg von den besten Augenärzten behandelt worden. Aber sie war ein Wunderkind, das über Österreichs Grenzen hinaus wegen ihres Gesanges, ihres Komponierens und ihres Klavierspiels bekannt war. Kaiserin Maria Theresia (1717–1780) hatte ihr ein jährliches Gnadengehalt (die damalige Invalidenrente) ausgesetzt. Als sie 18-jährig war, bot sich Mesmer an, mit seiner neuen Heilmethode
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das Mädchen zu heilen. Ihm gelang die Heilung, aber die zurückgekehrte Sehfähigkeit erschreckte und verwirrte das Mädchen, wie der Vater in einem Brief schreibt, »wenn sie ihre Finger über die Claviere hinweggaukeln sieht, so dass sie meistens die Claves verfehlt«. Patientin und Eltern fürchteten um die künstlerische Zukunft – nicht zuletzt um das Ausbleiben der kaiserlichen Zahlungen. (Ein bekannter Widerstand bei der Heilung von Neurosen wegen des Verlustes des Krankheitsgewinns!). Es kam zu heftigen Auseinandersetzungen, mit dem Resultat, dass Mesmer seine Behandlung abbrechen musste, Paradis wieder in ihre Blindheit zurückfiel und Mesmer von der Ärzteschaft angefeindet wurde.
In den Jahren 1773 bis 1774 behandelte er in seinem Hause eine 27-jährige Patientin, welche an 15 schwerwiegenden Symptomen litt. Es war zu jener Zeit bekannt geworden, dass englische Ärzte bestimmte Krankheiten mit Magneten behandelten. William Maxwell hatte den Einfall, der Patientin ein eisenhaltiges Präparat zu verschreiben und befestigte an Bauch und Beinen eigens entworfene Magnete. Alsbald spürte die Patientin ein geheimnisvolles Fluidum durch ihren Körper abwärts fließen, und alle ihre Beschwerden waren für einige Stunden weggeschwemmt. Das geschah am 28. Juli 1774, einem historischen Datum. Mesmer war so selbstkritisch, dass er nicht die Magnete für die Wirkung allein verantwortlich hielt, sondern dass diese magnetischen Ströme in seiner Patientin durch ein Fluidum (vgl. Äther 7 Abschn. 2.2.6.1) hervorgerufen wurden, welches sich in seiner Person akkumuliert hatte. Das nannte er »tierischen Magnetismus«. Der Magnet wirkte nur als Verstärker und richtungsgebend. Den Rest seines Lebens verwendete er darauf, seine Entdeckung auszuarbeiten und in der Welt publik zu machen. Wie es so geht, stellten sich umgehend die Neider ein: Pater Hell, der Astronom, welcher ihm die Magnete verschafft hatte, reklamierte
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Kapitel 2 • Der lange Weg und die Abenteuer auf der Suche nach der befreienden Erkenntnis
die Entdeckung für sich, seine ärztlichen Freunde missbilligten seine neue Forschungsrichtung (cavete collegas!). Aber eine gewisse Berühmtheit verschafften ihm aristokratische Freunde. Die wunderlichsten Dinge sind, von ihm verbürgt, verzeichnet: So beschreibt Ellenberger [72], wie Mesmer Einfluss auf die Stimme einer singenden Frau habe nehmen können; einzig durch seine Berührung verlor sie ihre Stimme und erlangte sie durch einen Fingerzeig Mesmers wieder. Auch soll er Leute beeinflusst haben, die sich in einem anderen Raum befanden, indem er auf ihre Spiegelbilder zeigte. Und als er das Waldhorn eines Musikers berührte, habe das augenblicklich Einfluss auf eine Gruppe von Leuten gehabt, die Mesmer nicht sehen konnten, und ihre Symptome verschwanden, sobald er seine Hand wieder vom Instrument wegnahm. Menschen in seiner unmittelbaren Umgebung hätten Schmerzen oder eigenartige Gefühle im Körper verspürt. Er verließ Wien 1777, reiste nach München, wo er den Kurfürsten Maximilian III Josef (1727– 1777) von seinen Heilkünsten überzeugte und den Präsidenten der Bayrischen Akademie der Wissenschaften und schönen Künste von einer durch einen Schlaganfall verursachten Lähmung heilte. 1778 wurde er deshalb als Mitglied in diese respektable Akademie aufgenommen. Im Februar 1778 erreichte er Paris. Auch dort waren die Medizinische Fakultät und Medizinische Gesellschaft von seinen Behandlungsmethoden nicht zu überzeugen (Die zünftige Medizin wird auch in den folgenden Jahrhunderten der Erforschung der Psyche hinterherhinken!). Marie Antoinette, die mit Mesmer bekannt war, stellte ihm, als er schon aus Paris wieder abreisen wollte, ein staatliches Jahresgehalt in Aussicht, wenn er drei von der Regierung bezeichnete Ärzte in seine Methode einweihen würde, die sie überprüfen und überwachen könnten. Aber Mesmer wollte nicht überwacht, sondern
studiert werden. Seine Freunde erließen mit großem Erfolg einen öffentlichen Aufruf zur Gründung von Vereinen. Es entstanden 20 »Harmoniegesellschaften«. Wiederum rebellierte die Schulmedizin, so dass Ludwig XVI. die königliche Akademie der Wissenschaften und die Medizinische Gesellschaft mit der Überprüfung der Mesmerschen Heilmethode beauftragte. > Das 1784 veröffentlichte Urteil fiel negativ aus: Die Wirkung von Mesmers Methode beruhe auf Einbildung (Suggestion).
Der Professor für Philosophie an der Universität Konstanz, Gereon Wolters, hat die Argumentation des Pariser Gutachtens genau unter die Lupe genommen ([121] S. 127). Die zu beantwortenden Fragen waren: 1. die Existenz des animalischen Fluidums zu überprüfen und 2. den therapeutischen Wert der Heilung durch animalischen Magnetismus zu untersuchen. Dafür muss ich etwas weiter ausholen: Mesmer nannte seine Methode mit einem uns heute merkwürdig anmutenden Begriff des animalischen Magnetismus. Als er im Jahre 1775 der wissenschaftlichen Welt seine Methode als »tierischen Magnetismus« vorstellte, rief er einen regelrechten Skandal hervor. Mesmer war aber kein Scharlatan, sondern ein bestens ausgebildeter Arzt, erzogen im Geiste der Aufklärung und einer rationalistischen Naturphilosophie im Sinne Newtons anhängend (dabei soll nicht vergessen werden, dass Newton eifrig Alchemie betrieb und seine diesbezüglichen Werke noch heute nicht vollständig publiziert sind [69]). Mesmer wollte seine Methode nach den letzten wissenschaftlichen Entdeckungen benennen, nämlich als eine äußerst feine physikalische Substanz, als ein das ganze Weltall durchdringendes Fluidum. Daran hielt er zeitlebens fest, obwohl es naturwissenschaftlich nicht nachzuweisen war. Gewiss war er ein Magier, aber selber war er überzeugt, Wissenschaft zu betreiben. Als
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hingebungsvoller Arzt bemühte er sich, durch Anwendung seiner neuen Heilmethode seinen Mitmenschen zu helfen. Er wurde verehrt und verfolgt, bewundert von den einen, verachtet von den anderen. Seine Lehre verbreitete sich nicht nur in Europa, sondern auch in der Neuen Welt (Christian Science). > Es gibt zwei Arten von Naturbetrachtung und Naturforschung: die beschreibende, intuitive und die analytische, mathematisierende, messende. Beide ergänzen und begleiten einander. Die erstere erahnt Zusammenhänge, die zweite versucht diese numerisch zu beweisen. Zwischen beiden besteht ein natürliches Spannungsfeld, weil erstere vorwiegend irrational, letztere rational vorgeht, erstere ist beschreibend, letztere deduktiv.
Heute gelten die mathematisierenden Naturwissenschaften als valable Wissenschaften, als echte, weil die ersten Vertreter Mathematiker waren: René Descartes (1596–1650), Galileo Galilei (1564–1642), Johannes Kepler (1571–1630), Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) und Isaac Newton (1642–1727). Ihr Ziel ist die Beherrschbarkeit der Welt. Und doch ist die beschreibende Methode mit ihren unanschaulichen Begriffen wie Energie, Kraft, Elektrizität, Magnetismus, Gravitation, Masse etc. nicht weniger exakt. Die Phänomene des Lebens, was Leben ausmacht und beim Tod verschwindet, wurde über die Jahrhunderte verschieden zu fassen versucht, ohne dass es bis heute irgendwie befriedigend gelungen wäre. Ebenso steht es mit dem Begriff »Gesundheit«, um ihn gegen Krankheit abgrenzen zu können. Niemand würde solchem Bemühen die Wissenschaftlichkeit absprechen, obwohl es bis heute nicht gelungen ist, einen Konsens zu finden. Ebenso wenig ist das Verhältnis des Geistes zum Körper und der Psyche zur Materie geklärt, obwohl diese Zusammenhänge von ungeahnter praktischer Wichtigkeit sind und sich
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die besten Köpfe damit beschäftigt haben. Der Begriff der Synchronizität scheint etwas Licht in diesen dunklen Bereich zu bringen. Der Magnetismus, obwohl mit dem Magneteisenstein seit dem Altertum bekannt, ist eine so obskure Kraft wie die Lebenskraft. Dass man daraus eine Beziehung konstruierte, war darum naheliegend. Schon Paracelsus (1493–1541) sagte, »bei den Krankheiten muss man den Magnet auf das Centrum legen, von dem die Krankheit ausgeht. Der Magnet hat einen Bauch (anziehenden) und einen Rücken (abstoßenden Pol), und es ist nicht einerlei, wie man den Magneten auflegt« [39]. Für ihn war der Körper ein »magnes microcosmi« (mikrokosmischer Magnet), der aus dem Chaos des Weltalls oder eines kranken Körpers die Krankheit an sich zieht. Die magnetische Kraft wurde eben immer als etwas Faszinoses angesehen, dass von einem Körper eine Anziehung oder Abstoßung unsichtbar auf einen anderen ausgeht. Der Arzt und Alchemist Jan Baptista van Helmont (1579–1644) sah im Magnetismus einen ätherischen Geist, der rein und lebendig alle Dinge durchdringt und die Masse des Weltalls bewegt. In der Physik kommt wieder die Idee vom masselosen Äther auf, welcher das ganze Weltall durchdringt, Träger des Lichts und Vermittler der Fernkräfte ist. Der Äther hat seit Aristoteles durch alle Zeiten hindurch bis heute (Theosophie) als Inbegriff jener masselosen Geistmaterie eine Rolle gespielt. Mesmers Fluidum muss man sich in diesem Rahmen vorstellen. Es war darum nicht verwunderlich, dass die akademische Kommission ein solches in der archetypischen Idee vorkommendes Fluidum nicht nachweisen konnte. Man sollte nicht vergessen, dass man »Geist« stets als masselosen Hauchkörper verstanden hat. Man wollte damit die Wirklichkeit des Geistes wie er z. B. in parapsychologischen Erscheinungen vorkommt, ausdrücken. Denn, wenn man von »Einbildung« spricht, scheint das ein Phantom, ein Nichts, etwas Krankhaftes zu sein. Die Alchemie hat allerdings den Beweis er-
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bracht, dass Imaginationen sehr wirksam sein und einen ganzen Individuationsprozess hervorrufen können. Bei der Alchemie war es, im Gegensatz zur modernen Chemie, von untergeordneter Bedeutung mit welchen Substanzen hantiert wurde, sondern welche Imagination diese beim Alchemisten hervorrief. Dasselbe Prinzip gilt bei allen alternativ-medizinischen Verfahren noch heute, wobei die Imagination des Therapeuten entscheidend ist. In der Renaissance hat man dies als »magia naturalis«, als Abgrenzung zur schwarzen Magie, welche zu vermeiden war, bezeichnet. Magie bedeutet unbewusste Übertragung einer Intention auf eine andere Person. Wenn man ehrlich ist, kommt auch die moderne Psychotherapie und Medizin ohne »weiße Magie« nicht aus. Dem Magier haftet eine negative Bedeutung an, weil man sich die »Wirkung« vom Ich ausgehend (willkürlich) vorstellt. Bei der »magia naturalis« kann man nicht eigentlich von »Wirkung« reden, weil es synchronistisch geschieht, wie die Alchemisten sagen »deo concedente« (so Gott will!) ([107] S. 613). Beim Mesmerismus scheint sich etwas Ähnliches abzuspielen und sein »Fluidum« war lediglich eine Konzession an den Zeitgeist. Mesmer scheint der Praktiker gewesen zu sein, dem es mit seiner »wissenschaftlichen Theorie« lediglich darum ging, ernst genommen zu werden. Und wie es eben so geht, ist das Neueste immer auch das Uralte, das sich vom Verfahren der Schamanen und Medizinmänner nur unwesentlich unterscheidet. Doch hier trat einer in der Aufklärungszeit auf mit dem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit gegenüber seinen intuitiven Vorfahren. Das konnten die Gutachter nicht so sehen, denn Mesmer passte einfach nicht in ihr Konzept von Wissenschaftlichkeit. Warum habe ich mich länger bei diesem Thema aufgehalten? Weil heute die Effizienz verschiedenartiger Therapieformen wissenschaftlich nachgewiesen werden muss, um als Pflichtleistung von den Krankenkassen anerkannt zu
werden. Der Fehler bei diesen Wirksamkeitsprüfungen liegt darin, dass ein zu enger mathematisch-analytischer Maßstab angelegt wird und die intuitiv geisteswissenschaftliche Dimension ausgeblendet ist. Auch die ganze Medizin ist nicht nur rational wie etwa das Röntgenverfahren, sondern auch irrational, denn jedes Röntgenbild muss interpretiert werden, um eine Aussagekraft zu bekommen. Beide Aspekte ergänzen sich zu einem Ganzen. Gereon Wolters kommt in seinem Artikel über das Gutachten der Kommissionen zum Schluss, dass zwar Mesmers Theorie wissenschaftlichen Kriterien nicht genüge, dass »in seinen Augen das einzig überzeugende Argument für oder gegen eine Therapie darin bestehe, ob sie dem Kranken Erleichterung [oder Heilung] verschaffe […] Ob eine Therapie auch noch über eine ansprechende Theorie verfüge, sei demgegenüber zweitrangig« [121]. Den letzten Satz kann ich zwar nicht unterschreiben, weil wir bei jeder Therapie, selbst archaischen, eine Vorstellung davon haben, warum wir es so tun, wie wir es tun. Mesmer konnte man eigentlich nur vorwerfen, das von ihm geforderte Fluidum nicht nachweisen zu können, die Idee, dass die Magneten Krankheit abstoßen oder anziehen könnten, verstehen wir heute als psychisches Kontagion (Infektion). Das Fluidum ist nach seinen eigenen Worten:
» … keineswegs eine Substanz, sondern eine Bewegung, gleich dem Ton in der Luft, gleich dem Licht im Äther. […] Jedoch diese Flut […] ist nicht die des gewöhnlichen Feuers, noch die des Lichts, noch die im Magnet und bei der Elektrizität beobachtete, sondern sie ist von einer Ordnung, welche alle an Feinheit und Beweglichkeit übertrifft, wahrscheinlich ist es eine und dieselbe mit derjenigen, welche die Nervensubstanz durchdringt, und deren Gleichartigkeit und unmittelbare Fortgesetztheit sie mit der gesamten Natur in Wechselverhältnis bringen kann. [36]
«
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Was an diesem Text so bemerkenswert ist, ist die Vorstellung, dass in den Nerven ein »Fluidum« den Reiz vom Gehirn zur Peripherie und umgekehrt leite, was wir heute als Aktionsstrom verstehen. Der Name »Nervenkrankheiten« zeugt noch heute von dieser Vorstellung. Zudem erkennt man, wie schwierig es war, das psychische Phänomen auszudrücken. Man klammerte sich an sichtbare Tatsachen, weil es so schwerfällt, sich das Unsichtbare vorzustellen, weshalb es noch heute geleugnet wird. Mesmer und die Kontroverse um seine Therapieform sind eine wichtige Station auf dem geistesgeschichtlichen Weg zur modernen Psychologie. Doch worin bestand seine so erfolgreiche Methode eigentlich? Seine Vorstellung von Krankheit besteht darin, dass die Körpersäfte durch Verkrampfung der Muskeln stocken oder stauen. Das Heilmittel zur Überwindung dieser Stauung, dieses »krankmachenden Widerstandes« [36], ist die Übertragung der heilenden Energie, eben des »Fluidums« auf den Kranken. Das kann in diesem eine Krise auslösen, die das gestörte Gleichgewicht wiederherstellt. Diese Übertragung der Energie oder »Mitteilung des Lebensfeuers« [36] nennt er »Magnetisieren«. Sie geschieht durch unmittelbare oder mittelbare Berührung mit einem magnetischen Körper, dem Magnetiseur. Dieser entzündet beim Kranken durch bloßes Ausstrecken der Hand oder leitender Körper, selbst durch Blicke oder den bloßen Willen das »Lebensfeuer«. Aus einem »Brennpunkt« von konzentriertem Fluidum, dem Magnetiseur oder dem magnetischen Kübel (»baquet«), strahlt die Flutbewegung auf den Empfänger. Dieser Feuerstrahl wirkt durch Handauflegen (cf. Be-hand-lung) oder magnetisches Streichen (»passes«); er kann sogar Wände durchdringen und große Entfernungen überbrücken. Ein Spiegel soll das Fluidum reflektieren und verstärken. (»Wirkungen«, die unabhängig von der Distanz zwischen Quelle und Wirkungsort auftreten, sind nie physikalische.)
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Es lässt sich auch eine Art »Gruppentherapie« (was sich heute spezieller Beliebtheit erfreut, weil es doch so »sozial« ist) durchführen, indem viele Leute sich bei den Händen fassen, während sie an den »baquet« angeschlossen sind. Die dahinterliegende Vorstellung ist die, dass jeder durch eine gemeinsame Flut, eine Allflut, einen einzigen Ozean bewegt werde, in welchem er nur je ein einzelner Tropfen sei (es wird ein gemeinsames Unbewusstes hergestellt, wie es sich in jeder Masse konstelliert). Dadurch wird der Mensch unmittelbar wieder in die physische Ordnung und die Kette der Natur eingefügt. Damals gab es für Mesmers Weltbild noch kein Unbewusstes; das Einfügen des Kranken in die kollektive Weltordnung genügte anscheinend für seine Heilung. Mesmers »Fluidum« ist als einheitlicher Ozean gedacht, der die Welt innerlich zusammenhält, ein Strahlenmeer, von welchem alle Körper umflossen und in Schwingung versetzt werden. Mesmers Weltsicht ist ganz extravertiert. Eine Umkehr ereignete sich im Jahr 1785 mit der Entdeckung des (künstlichen) Somnambulismus. Dadurch richtet sich das Interesse nach innen, auf das tiefste Seelenleben der Somnambulen. Der »Rapport« zum Magnetiseur tritt in den Vordergrund, was wir heute als Übertragung bezeichnen. Der »Tagseite«, dem Wachbewusstsein, tritt die »Nachtseite«, das Schlafwandeln der Seele, gegenüber. Die Romantik interessiert sich für therapeutische Prophezeiungen, für Hellsehen, Visionen und Geistersehen. Das unbewusste Seelenleben wird nach und nach entdeckt. In der Mitte des 19. Jahrhunderts wird der Begriff der Hypnose in die Medizin eingeführt, um die magnetischen Phänomene neurophysiologisch zu erklären und den »animalischen Magnetismus« als Schwärmerei und Mystizismus abzutun. Der Begriff »Hypnose« wurde vom schottischen Chirurgen James Braid (1795–1860) eingeführt, auf den wir später zurückkommen werden. Mesmer selber wäre heute überrascht angesichts seiner Berühmtheit. Er hielt sich selber für den Entdecker einer physikalischen Kraft, mit-
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tels welcher körperliche Leiden geheilt werden konnten. Und weil das französische Gutachten ihm eine derartige Entdeckung absprach, starb er enttäuscht von dieser Welt. Schon seine medizinische Dissertation beschäftigte sich weniger mit Astrologie als der Titel vermuten lassen würde, sondern mit dem physikalischen Einfluss von Sonne und Mond auf die Organismen. Wenn diese Kräfte Ebbe und Flut erzeugen können, gibt es dasselbe Phänomen in den kleinsten Teilen des Organismus, eine Kraft, welche man »animalische Schwerkraft« nennen könnte. Wenn er nun bei seiner ersten jungen Patientin, Fräulein Oesterline, mit ihren zahlreichen verschiedenen Beschwerden, Magnete auf den Körper legte, so erzeugte er nach seiner Vorstellung Gezeiten, welche die in Unordnung geratenen der Patientin wieder normalisierten, d. h. mit den universalen in Harmonie bringen. Obwohl sein Jahrhundert der Aufklärung angehört, in welcher alles bezweifelt wurde, selbst die Existenz Gottes, war es für Wunder sehr empfänglich. Das sicherte ihm seine ersten Erfolge. Zudem war es mit Newton und anderen der Beginn naturwissenschaftlicher Entdeckungen, was dazu führte, dass das Publikum sehr empfänglich war für unerhörte neue Phänomene. Mesmer war anscheinend eine schwierige ambivalente Person, die einerseits die Akzeptanz seiner Methode suchte, sie aber andererseits als seine Entdeckung nicht der medizinischen Welt preisgeben mochte. Auch als er Schüler hatte, organisierte er sie in der »Loge der Harmonie« und erlaubte ihnen nur Behandlungen mit seinem Einverständnis. Sie mussten auch unterschreiben, dass sie seine Methode nicht weiterverbreiten würden. Trotzdem oder vielleicht gerade wegen dieser Geheimnistuerei verbreitete sich der Mesmerismus nicht nur in Frankreich, sondern in Europa und England, ja sogar in der Neuen Welt.
> Allen Vorläufern der Tiefenpsychologie gemeinsam ist, dass ihre Ideen Konkretisierungen oder Projektionen psychischer Phänomene sind. Daraus lässt sich ihre Akzeptanz und ihre Wirklichkeit verstehen. Denn auch die Religionen als psychotherapeutische Systeme konkretisieren ihre Wahrheiten und finden sie in einem Außen.
Daher befindet sich Mesmer in bester Gesellschaft und »wirkt« seine Methode. Typischerweise »wirkt« seine Methode bei Gesunden nicht, weil es keine Blockade zu lösen oder zu überwinden gibt. Seine Methode zu studieren, lohnt sich auch deshalb, weil wir in der Jungschen Therapie ähnliche Ziele anstreben, bloß auf psychologischem Weg. Die Gutachten haben der Tatsache der Suggestion in der Behandlung durch Mesmer ein besonderes Gewicht beigemessen: er fragt den Patienten ständig, was er spüre, und erklärt ihm auch, was er spüren sollte. Nun stellt sich die Frage nach der Verifizierbarkeit von Mesmers »Heilungen«. Wir verfügen selbstverständlich nur über Berichte von Einzelfällen und keine Langzeitverläufe. Aber diese Berichte zeugen schon von erstaunlichen Erfolgen, welche jenen moderner Schul- oder Alternativmedizin keineswegs nachstehen. Es entstand ein richtiger Glaubenskrieg zwischen den Anhängern von Mesmers Methode und ihren vehementen Gegnern, wie er sich in unserer Zeit zwischen Schul- und Alternativmedizin wieder abspielt. Die Befürworter waren meistens Patienten, welche an sich selber eine Mesmersche Wunderheilung erlebt hatten, während sich seine Gegner aus den vom Staat privilegierten Schulmedizinern rekrutierten, die um ihre Privilegien fürchteten, aus Neid und anderen niedrigen Motiven. Jedenfalls ließ Mesmers Bekanntheit und Reichtum niemand kalt, sondern forderte zur Stellungnahme heraus (wie heute die Managerlöhne). Die Kommissionen hatten auch nicht die Wirksamkeit seiner Methode zu beurteilen, wie
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man erwarten würde, sondern das physikalische Phänomen, dem Mesmer so viel Bedeutung zumaß. Allerdings unternahmen die Mitglieder der Kommissionen eigene Untersuchungen mit der Methode an sich selber, was enttäuschend war (Gesunde können nicht geheilt werden!) und an ausgewählten Patienten aus ihrem Krankheitsgut. Es gab sogar die Möglichkeit, bei verbundenen Augen eine Therapie zu suggerieren, die gar nicht ausgeführt wurde. Deshalb kamen sie zum Schluss, es handle sich lediglich um Suggestion (welche selbstverständlich schon längst als wirksam bekannt war). Ob das der Weisheit letzter Schluss war, darf füglich bezweifelt werden. Immerhin wiesen sie in ihrem ablehnenden Bescheid bereits auf die Gefahren der »Gegenübertragung« hin, wie wir heute sagen würden, welche durch die Berührung sensibler Körperstellen beim Gegengeschlecht entstehen kann. Das interessanteste Pamphlet zur Wirksamkeit von Mesmers Methode ist ein »Supplément aux deux rapports« von 1784, in welchem über 115 Fälle referiert wird. F. Podmore, ein Forscher der Society of Psychical Research, hat die Fälle vom medizinischen Standpunkt durchgesehen und ist zu Schlüssen gekommen, die jenen moderner Alternativmedizin gleichen: Krankheiten, die jeglicher schulmedizinischer Behandlung trotzten, heilten in kurzer Zeit aus, andere chronische Krankheiten besserten sich überraschend schnell, schwere Kinderleiden verschwanden im Nu, andere chronische Leiden besserten sich, dass der Patient wieder ein normales Leben führen konnte. Aber es gab auch Rückfälle und Versager [106]. Die stärkste Kritik der Gegner bestand in der Feststellung: Wenn das von Mesmer postulierte Fluidum, wie von der Kommission nachgewiesen, nicht existiert, dann kann es auch aus logischen Gründen keine Heilung geben! Hier führt der Weg der Forschung weiter. Jung schreibt (GW 10, 21), man könne das Reden vom Unbewussten nicht bloß der analytischen Psychologie zur Last legen:
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» Es hat überhaupt angefangen in der ganzen gebildeten Welt in der Zeit nach der französischen Revolution, und zwar fing es an mit Mesmer. Man sprach damals allerdings nicht vom Unbewussten, sondern vom »animalischen Magnetismus«, welcher aber nichts anderes ist als eine Wiederentdeckung des primitiven Seelenkraftstoffbegriffes aus dem Unbewussten, eben durch Wiederbelebung der in potentia vorhandenen ursprünglichen Vorstellungsmöglichkeiten.
«
Da sich seine Praxis inzwischen so erweitert hatte, dass er nicht mehr alle Patienten einzeln behandeln konnte, führte er kollektive Behandlungen, »baquet« (= Kübel) genannt, ein. 1779 legte er sein System dar, das wir kurz zusammenfassen können: 4 Ein subtiles physikalisches Fluidum erfüllt das Universum und stellt eine Verbindung zwischen dem Menschen, der Erde und den Himmelskörpern wie zwischen den Menschen her (vgl. Äther 7 Abschn. 2.2.6.1). 4 Krankheiten entstehen aus einer ungleichen Verteilung desselben im Körper. Sobald das Gleichgewicht wiederhergestellt ist, ist die Gesundheit erreicht. 4 Mittels bestimmter Techniken lässt sich dieses Fluidum kanalisieren, aufbewahren und an andere Personen übertragen. 4 Auf diese Weise lassen sich bei Patienten »Krisen« hervorrufen und Krankheiten heilen. Mesmer war ein Mann von intuitiver media-
ler Begabung. Sein geheimnisvolles Fluidum war der Ausdruck jener Epoche für eine genuine Beziehung zum Unbewussten, welche sich durch parapsychologische Phänomene bemerkbar machte. Viele große Heiler und Schamanen vor ihm verfügten über ähnliche geistige Kräfte, welche er tierischen Magnetismus, ein absonderlicher Ausdruck, nannte. Dieser kommt da-
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her, dass er in der Zeit der Aufklärung diesen okkulten Phänomenen einen wissenschaftlichphysikalischen, weniger anstößigen Ausdruck zu geben versuchte. Schon in seiner medizinischen Dissertation »Über den Einfluss der Planeten auf die menschlichen Krankheiten« hatte er von einem universellen Fluidum geschrieben, das er der Zeitströmung entsprechend »gravitatio universalis« nannte und das er sich ähnlich der Elektrizität dachte, welche damals entdeckt und in ihrer Wirkung auf den menschlichen Körper beschrieben wurde (Aloisius Galvani 1780, Alessandro Volta 1794). Die Theorie der »Krisen« leitete er, der kein großer Theoretiker war, als Beweis für die Krankheit und als Mittel zu ihrer Heilung ab. Wenn man die Krisen wiederholt auslöse, würden sie immer schwächer und verschwänden schließlich; eine Art »Desensibilisierung«. Für ihn gab es nur eine Krankheit und eine Heilung, und er hoffte, im tierischen Magnetismus die Panazee (Allheilmittel) gefunden zu haben, nach der die Alchemisten vergeblich suchten. Er pflegte, abgesehen vom magnetischen Wasser, wie oben beschrieben, seinem Patienten gegenüber zu sitzen, seine Knie berührten jene des Patienten, er hielt die Daumen fest in seinen Händen und sah ihm starr in die Augen. Dann berührte er seinen Oberbauch (hypochondrium) und strich ihm über die Glieder. Dabei empfanden viele eigenartige Sensationen oder fielen in eine Krise. Es gab immer wieder Intrigen gegen ihn. Puységur, einer seiner getreuesten Anhänger, versicherte, er habe den »magnetischen Schlaf« entdeckt, der der Bewegung eine neue Richtung gab. Davon werden wir gleich mehr hören. In Gegenwart des königlichen Hofes und der Elite der Gesellschaft trat 1784 eine junge blinde Musikerin aus Wien bei einem Konzert auf. Mesmer war so töricht, diesem Konzert beizuwohnen, wo er zum Mittelpunkt der Aufmerksamkeit wurde, weil seine Feinde alle alten Geschichten auftischten. Maria-Theresia verbrachte die folgenden
sechs Monate in Frankreich, was für ihn sehr beunruhigend gewesen sein muss. Tatsächlich verschwand er Anfang 1785 aus Paris. Über seine Wanderungen der nächsten 20 Jahre durch die Schweiz, Deutschland, Frankreich und Österreich soll man nichts Genaues wissen. Das stimmt nicht ganz, denn Bernhard Milt, der frühere Ordinarius für Medizingeschichte an der Universität Zürich, als ich da Medizin studierte, hat die Beziehungen Mesmers zur Schweiz und seine letzten Jahre anhand von gedruckten und vor allem noch ungedruckten Quellen (Briefen) erforscht. Darin weist er nach, dass der Mesmerismus die Schweizerärzte eine zeitlang fast leidenschaftlich bewegte. Dort, wo der Mesmerismus von der Seite der von Mesmer selber gegebenen theoretischen Begründung her angegangen wurde, stieß er durchweg auf vehemente Ablehnung, was mit den Schlussfolgerungen der königlichen französischen Akademie übereinstimmte, nämlich dass das hypothetische Fluidum kein neues Naturprinzip darstellte und auch nicht nachgewiesen werden konnte. Dort, wo man von den Heilerfolgen ausging, teilten sich die Untersucher in zwei Lager; die einen waren von den Erfolgen völlig verblüfft und überzeugt, die anderen skeptisch, ob die Heilung auch anhalte. Was auch die Skeptiker beunruhigte, war, dass diese eine Methode alle verschiedenen Krankheiten zu heilen vermochte. Besonders die Ärzte, die sorgfältig die Diagnosen stellten, sahen sich dadurch ihres Handwerks beraubt. Die Frage stellte sich, wie später bei der Psychoanalyse, ob auch Nichtärzte befugt seien, diese Heilmethode anzuwenden. Im Jahr 1775 reiste Mesmer für längere Zeit an den Bodensee, seine Heimat, und durch die Schweiz, vielleicht um den alten Albrecht von Haller (1708–1777) in Bern zu besuchen, den seine Theorien jedoch nicht zu beeindrucken vermochten. Eine zweite Schweizerreise im Jahr 1787 konnte nur einzelne Proselyten erzeugen, immerhin wurde seine Methode hier kontro-
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vers diskutiert. Schließlich verbrachte er, nachdem ihn Wien wegen Verdacht auf revolutionäre Tendenzen polizeilich ausgewiesen hatte, seine letzten fast 30 Jahre in der Schweiz, am Untersee, in Frauenfeld und bis zu seinem Tod am 5. März 1815 in Konstanz und Meersburg, wo er begraben liegt. Wenige Schweizer Ärzte aus seiner engeren Heimat betreuten den greisen Mesmer (z. B. Heinrich Hirzel von Gottlieben) und horchten seinen Geschichten. Eine große Genugtuung widerfuhr ihm, als ihm der bedeutende Berliner Kliniker und Physiologe Johann Christian Reil (1759–1813) ein Spital für magnetische Behandlungen in Berlin anbot. Mesmer fühlte sich für eine derartige Aufgabe zu alt, aber bereit, einem jüngeren seine Methode beizubringen, der sie statt seiner ausüben konnte. Der nachmalige Rektor der Zürcher Hochschule, Lorenz Oken (1779–1851), damals noch in Jena tätig, hatte dieses Angebot vermittelt. Anstelle von Reil meldete sich Karl Christian Wolfart (1778–1832) bei Mesmer, dem er seine Methode und Theorie beibrachte und der zu seinem wissenschaftlichen Testamentsvollstrecker wurde. B. Milt spricht von ihm eher mit Bedauern, weil er zwar Ordinarius für Heilmagnetismus in Berlin und ein Biograph Mesmers wurde, aber von manchen Schriftstücken und Gegenständen, welche er ihm hinterlassen hatte, jede Spur fehlt, während Hirzel sie getreulich aufbewahrt hat.
Weitere Modelle des Magnetismus Die weitere Entwicklung der von Mesmer angestoßenen Bewegung nahm einen völlig anderen Verlauf, als er sich je hätte träumen können. Darum erkennen wir heute die Größe dieses Mannes aus einer völlig anderen Perspektive als zu seiner Zeit und den ersten Jahrzehnten danach. Doch niemand konnte ahnen, welchen Weg die Forschung nehmen werde, weshalb noch heute seine Entdeckung unterbewertet wird. Merkwürdigerweise kann heute kaum jemand die damals
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erzeugten Symptome wiedererzeugen. Deshalb ist es schwierig, deren Wert einzuschätzen. Der einzige Fortschritt ist, dass wir heute ein besseres Verständnis für seine Phänomene wie das Fluidum haben. Ellenberger macht sich abschließend Gedanken über die Persönlichkeit Mesmers. Sicherlich war er eine widerspruchsvolle, zerrissene Persönlichkeit, welche von ihren Erfolgen in submanische Höhen, anderseits von ihren Anfeindungen in Depressionen gestürzt wurde, weil er sehr sensibel war. Die Gefahr bei diesen überragenden Heilern ist, dass sie mit dem Archetypus identisch werden, was eine gewisse Arroganz und unangenehme Züge mit sich bringt. Die Frage, ob er der Begründer der dynamischen Psychiatrie sei, möchte ich eher in den größeren Rahmen stellen, nämlich den, dass er ein Vorläufer der heutigen Psychotherapie sei, weil bei ihm schon wesentliche Elemente derselben, wie der Rapport (später Übertragung genannt), sichtbar werden. Ein Schüler Mesmers, Amand-Marie-Jacques de Chastenet Marquis de Puységur
(1751–1825), setzte sein Werk in seiner Weise fort. Er entstammt einer berühmten französischen Adelsfamilie, die viele hervorragende Männer hervorgebracht hatte. Seine beiden jüngeren Brüder betätigten sich ebenfalls als Magnetiseure. Einer seiner ersten Patienten war Victor Race, ein junger Bauer von 23 Jahren, dessen Familie seit Generationen im Dienst der Familie Puységur stand ([72] S. 114f.). Victor litt an einer leichten Erkrankung der Atemwege und war leicht zu magnetisieren. Im magnetisierten Zustand zeigte er eine sehr eigenartige »Krise«: Er verfiel in einen seltsamen Schlaf, in welchem er wacher und bewusster zu sein schien als im normalen Wachzustand. Er sprach laut, beantwortete Fragen und legte einen aufgeweckteren Verstand an den Tag als im Wachzustand. Nach Beendigung der Krise hatte er keine Erinnerung an das, was er während derselben gesagt oder getan hatte. Puységur, neugierig geworden, wiederholte den Ver-
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such bei Victor und anderen Personen. In diesem Zustand diagnostizierten sie ihre Krankheit und sahen deren Verlauf voraus, was Puységur als »pressentation« bezeichnete, und schrieben die geeignete Behandlung vor. z
Magnetischer Schlaf bzw. Somnambulismus
Auf dem Dorfplatz von Buzancy, unweit des Schlosses der Puységur, stand eine große, schöne, alte Ulme, an deren Fuß eine Quelle sprudelte, umgeben von Steinbänken. In die Äste und um den Stamm herum hängte man Seile. Die Patienten wickelten die Seilenden um die erkrankten Körperteile und bildeten eine Kette, indem sie einander bei den Daumen hielten. So fühlten sie das Fluidum sie durchströmen. Nach einer Weile befahl der Meister, die Kette aufzulösen und die Hände zu reiben. Dann wählte er einige aus, die er durch Berührung mit einem eisernen Stab (vgl. Aronstab 2. Mos 7,12) in eine »vollkommene Krise« versetzte. Diese Personen, nun »Ärzte« genannt, diagnostizierten ihre Krankheit und verordneten deren Behandlung. Um sie zu »entzaubern«, d. h. aus dem magnetischen Schlaf zu wecken, befahl er ihnen, den Baum zu küssen, worauf sie erwachten und sich an nichts erinnerten, was geschehen war. Puységur nahm Victor mit nach Paris, anfangs 1785, um ihn für Demonstrationen seiner Methode zu verwenden. Doch Victors Zustand verschlechterte sich. Im magnetischen Schlaf erklärte ihm dieser, es komme daher, dass er vor neugierigen und oft ungläubigen Leuten zur Schau gestellt werde, was Puységur zeigte, dass er den Magnetismus nur zu therapeutischen Zwecken verwenden durfte. Außerdem erkannte er, dass Mesmers Hypothese eines Fluidums unnötig war. Vor der Freimaurergesellschaft in Straßburg, die ihn gebeten hatte, sie in die Prinzipien des tierischen Magnetismus einzuweihen, lieferte Puységur eine prägnante Erklärung:
Er glaube an die Existenz einer Kraft in sich. Allein aus diesem Glauben heraus leite sich sein Wille ab, sie wirksam werden zu lassen. Kurz gefasst: »Glauben und Wollen.« [72] Er organisierte in Straßburg die »Société Harmonique des Amis Réunis«, welche Magnetiseure ausbildete und sie verpflichtete, ihre Behandlungen kostenlos durchzuführen und über alle Patienten genaue Berichte zu erstatten. So ist man über ihre Tätigkeit bestens informiert. In der Zeit der Revolution wurde ihre Tätigkeit abrupt unterbrochen, viele aristokratische Schüler Mesmers emigrierten, manche kamen aufs Schafott. Der Marquis de Puységur saß zwei Jahre im Gefängnis; nach seiner Entlassung untersuchte er, ob Geisteskrankheit eine Art somnambule Deformierung sei, welche man mit Magnetismus heilen könnte. Er behandelte einen 12-jährigen Knaben, der an Wutanfällen litt, indem er ihn Tag und Nacht nicht aus den Augen ließ, ein erster Versuch einer Therapie einer schweren Psychose. 1825 starb der Edelmann auf seinem Schloss. Man sagt ihm nach, er sei ein durch und durch ehrenhafter und großzügiger, wenn auch etwas unkritischer Mann gewesen, der sich immer respektvoll als Schüler Mesmers bezeichnet hat. Sein Name geriet allmählich in Vergessenheit. Puységurs Entdeckung ist jene des künstlichen Somnambulismus: Er beobachtete, dass manche Patienten in eine Art Wachschlaf in der Krisis verfielen, in welchem sie mit verbundenen Augen Gegenstände im Raum lokalisieren, bei sich und anderen die erkrankten Organe diagnostizieren, die nötigen Heilmittel nennen und den Zeitpunkt der Heilung bezeichnen konnten (s. Kerners Fall: 7 Abschn. 2.5.4). Typisch ist die retrograde Amnesie für alle Handlungen und Aussagen in diesem Zustand. Deshalb wurde dieser Zustand angestrebt, weil die Patienten »hellsichtig« wurden, ihre Diagnose und den
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Grund ihrer Krankheit selber bezeichneten, wie auch die nötigen Heilmittel und den Zeitpunkt ihrer Heilung. Damit konnte man kontrollieren, ob der Verlauf der Krankheit mit diesen Aussagen übereinstimmte. Die von Puységur initiierte »Société de Harmonie« in Straßburg publizierte nachfolgend in ihren Annalen sorgfältig geführte Krankengeschichten. In der Folge ist die weitere Entwicklung des Magnetismus nicht mehr an einzelne große Namen geknüpft. Die Idee eines physikalischen Fluidums wurde fallen gelassen, es gab ausgezeichnete Beschreibungen der Phänomene oder einzelner Fälle. Man bemerkte, dass die menschliche Psyche Gedanken und Schlüsse enthält, deren wir uns nicht bewusst sind, und die man nur an ihren Wirkungen erkennt. Man hatte begriffen, dass der Rapport das zentrale Phänomen von Magnetismus und Somnambulismus (wie man den magnetischen Schlaf jetzt nannte) war, dessen Einfluss weit über die Séance selbst hinausging. Wiederholte Versuche zur wissenschaftlichen Anerkennung der Methode wurden von den Kommissionen der Académie des Sciences abgelehnt, obschon eine große Erfahrung gesammelt war. In Deutschland war die Situation günstiger, weil die Romantiker, wie ich im 7 Abschn. 2.3.4 ausgeführt habe, sich von Mesmers Theorie eines individuellen Fluidums angezogen fühlten und wegen der außerordentlichen Luzidität im magnetischen Somnambulismus. Puységur hatte schon davon gesprochen: Der »sechste Sinn« verleihe dem Menschen die Fähigkeit, Ereignisse an entfernten Orten und in der Zukunft wahrzunehmen. Sie hofften, damit könne der Geist mit der Weltseele in Verbindung treten. Carl Alexander Ferdinand Kluge schrieb ein Lehrbuch über den animalischen Magnetismus, worin er sechs Stufen des magnetischen Zustands unterschied.
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Sechs Stufen des magnetischen Zustands 1. Wachsein mit Gefühl erhöhter Wärme 2. Halbschlaf 3. »Innere Dunkelheit«, d. h. Schlaf im eigentlichen Sinn und Unempfindlichkeit 4. »Innere Klarheit«, d. h. Bewusstsein innerhalb des eigenen Körpers, außersinnlich Wahrnehmung (ASW), Sehen durch das Epigastrium 5. »Selbstbeschauung« des Inneren ihres eigenen Körpers und von Menschen, mit denen sie in Rapport stehen 6. »Allgemeine Klarheit« ohne Zeit- und Raumdimension
Nur sehr wenige Versuchspersonen erreichten die drei letzten Stufen, besonders die sechste. Die Franzosen suchten »besonders luzide Somnambule« als Hilfsorgane für die ärztliche Praxis. Der künstliche Somnambulismus war ein sehr rätselhafter Zustand, in welchem parapsychologische Phänomene auftraten (Hellsehen, automatisches Schreiben, Präkognition, Wahrsagen u. a.), die die Neugier der Forscher erregten. > Es gibt keine scharfen Grenzen zwischen Schlaf, natürlichem Schlafwandeln und magnetischem Somnambulismus. Dieser war eine neue unerwartete Möglichkeit, die Seele zu erforschen.
Das größte Hindernis für die Ausbreitung des animalischen Magnetismus war zunächst Mesmers Theorie des »Fluidums«, welches niemand nachzuweisen vermochte. Bald erkannte man, dass der Magnetismus besonders bei Nervenkrankheiten wirksam war. Zu jener Zeit nahm man an, dass in den Nerven wie in kleinen Röhrchen eine Flüssigkeit zirkuliere, welche die Impulse vom Gehirn zur Peripherie und umgekehrt sandte. Diese Idee kam natürlich Mesmers Konzept entgegen, sodass es in dieser Form wissenschaftlich annehmbar wurde.
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Hatten sich anfänglich vor allem Laien in philantroper Absicht der Methode bedient, so wurde sie allmählich auch in der Welt der Mediziner annehmbar, wo sogar C.W. Hufeland, der renommierte Arzt und Herausgeber von medizinischen Zeitschriften, vom Gegner zum Befürworter mutierte. Als dann noch Luigi Galvani (1737–1798) an Froschschenkeln die elektrische Nervenreizung der Muskeln nachwies (ein Experiment, das jeder Medizinstudent im Physiologiepraktikum nachvollzieht), fand die Methode mit der Leitung aus dem »baquet« durch Eisenstäbe und andere Medien eine Plausibilität ([79] S. 107). Dadurch wurde der Magnetismus allmählich – zumindest in Deutschland – universitätsreif; Zeitschriften im medizinischen Bereich nahmen Artikel darüber auf oder versuchten sich sogar darauf zu spezialisieren. In zunehmendem Maße wurden auch Krankengeschichten publiziert, bei denen mit den gängigen Heilmitteln über Jahre nichts erreicht worden war und mit der neuen Methode in kurzer Zeit stupende Besserungen oder »Heilungen« (im Sinne moderner Verhaltenstherapie!) eintraten. Aber auch »Versager« wurden ehrlicherweise publiziert. Neu war damals die Auffassung von der »Lebenskraft« und sehr populär, der von Ernst Georg Stahl, dem wir früher begegnet sind, seinen Ausgang nahm. Es war der Vitalismus ein willkommenes metaphysisches Prinzip, um unerklärliche Phänomene zu begründen. Der Mesmerismus war nun ein willkommenes Feld vitalistische Modi der Erklärung zu benützen; statt eines Konfliktes der beiden Prinzipien kam es zu einer Vermengung, was der Akzeptanz des animalischen Magnetismus nur förderlich sein konnte: der Magnetiseur übertrug seine »Vitalkraft« auf den Patienten, was dieser als Sensation spüren konnte – als »Heilkraft« (Wienholt). Wienholt hat ein dreibändiges Werk darüber geschrieben, das umfassendste Werk über den »thierischen Magnetismus« (1802–1806). Er ist nicht bloß ein gewiegter Kliniker, sondern auch
bestrebt, die Phänomene theoretisch einzuordnen. Besonders die parapsychologischen Erscheinungen im künstlichen Somnambulismus gaben Rätsel auf: Wie sollte man augenblickliche Sympathien und Antipathien, die Empfindung einer sich nähernden Hand, den belebenden Effekt beim Kontakt eines Jüngeren mit einem Älteren, das Hellsehen und Unterscheiden von Objekten, das »Sehen« aus der Magengrube verstehen? Er schreibt:
»
Wenn ein Individuum optische Empfindungen ohne Unterstützung durch ein entsprechendes Organ entwickeln kann, sollte es auch fähig sein, ohne Unterstützung durch ein Gehirn zu denken und dass seine Imagination und sein Gedächtnis nicht unauflöslich an diese weiche und leicht zerstörbare Substanz eines Gehirns gebunden ist. [58]
«
Damit hat Wienholt bereits 1845 die Fragen gestellt, welche uns auch sog. »Nahtoderfahrungen« stellen. Seine Schriften wurden für die weitere Forschung wegweisend. Er nahm an, dass sich die Nervenfunktion weit über das anatomische Ende der Nerven hinaus erstrecke. Dafür verantwortlich machte er ein Etwas um den Nerven herum, das er »Lebensatmosphäre« nannte, das externalisierte Kräfte jenseits des Körpers zu entwickeln imstande ist. Diese paranormalen Phänomene lockten natürlich die Neugier der Leute in der Aufklärung kompensatorisch zum vorherrschenden Rationalismus zu allen außergewöhnlichen Erscheinungen. Deshalb wurde der Mesmerismus im Gegensatz zu den Intentionen seines Urhebers zunehmend zum mystischen Magnetismus. Im Vordergrund des Interesses der Magnetiseure stand nicht mehr das Verschwinden der Symptome, sondern die besonderen Erscheinungen im künstlichen Somnambulismus, das Hellsehen, die Visionen, deren Informationen und Lehren
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und ihre philosophische oder religiöse Bedeutung.
2.5.3
Natur und Ich
Zu jener Zeit erlebte die Naturphilosophie einen Aufschwung, verbunden mit den Namen Johan Gottlieb Fichte (1762–1814) und vor allem Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775–1854). Wir finden bei Letzterem viele Ideen erstmals formuliert, welche viel später bei C.G. Jung eine Rolle spielen. Letzterer zitiert Schelling gelegentlich, ohne dass er ihm die gleiche Bedeutung wie Arthur Schopenhauer zumessen würde. Für Schelling ist die Natur ein sich selbst organisierender (autopoietischer) Organismus. Das bedeutet auch, dass die Materie nicht tot ist, sondern ein sinnvolles Ganzes bildet. Dieses Ganze darf vom Menschen (Technik, Zivilisation) nicht ohne gravierende Folgen gestört werden. Mit anderen Worten: der Mensch hat nicht die freie Verfügungs- und Herrschaftsgewalt über die Natur. Neben dem Prinzip der Kausalität herrscht in ihr auch Finalität, was man aber oft erst im Nachhinein feststellen kann. Teilweise kompensiert seine Philosophie die Rationalität der aufstrebenden Naturwissenschaften und Technik. Das scheinbar Tote ist noch nicht zur Entfaltung erweckt, also »schlafend«. Der Naturprozess besteht in der immer neuen Entstehung von Gestalten und ihrer Aufhebung (»natura naturans«). Durch alle diese Gestaltungen hindurch geht ein Lebensstrom. Dieser ist zwar polar, doch die Gegensätze finden in der Synthese ein höheres Niveau der Entwicklung. Spaltung und Polarität sind der Urkraft immanent. Die ganze Natur ist ein hierarchisch geordnetes System. Im Individuum sind von Anfang an alle späteren Entwicklungen in nuce vorhanden, sodass Entwicklung lediglich die Entfaltung der bereits vorhandenen Möglichkeiten darstellt, wie die in der Biologie seit Albrecht von Haller (1708–1777) bekannte Präformationstheorie. Um zu einer Diversität
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und Differenzierung zu kommen, teilt sich das Eine ohne seine Einheitlichkeit zu verlieren in neue Elemente, d. h., es organisiert sich selber. Diese Idee hat in letzter Zeit wieder eine Renaissance erfahren. > Die höchste Stufe der Selbstdifferenzierung wird im Selbstbewusstsein des Menschen, der sich über sich selber klar wird, erreicht.
Man hat Schelling als Vorläufer der heute so aktuellen Selbstorganisation im Biologischen, Soziologischen und sonstigen Bereich (Chaostheorie) angesehen, dabei ist aber auch der Unterschied zu beachten: Während wir heute darunter einen realen genetischen oder evolutionären Prozess verstehen, in welchem die Materie oder die Gesellschaft oder ein sonstiges Subjekt von ungeordneten, chaotischen Verhältnissen zu geordneten, von niederen Strukturen zu höheren, von einfacheren zu komplexeren fortschreitet, handelt es sich bei Schelling um das organische intellektuelle Prinzip, das Ich mit seinen Wissensformen, das von Anfang an in der Natur realisiert und wirksam ist, wie auch die Gesamtheit seiner Stufen und Organisationsform. Selbst wenn die Natur als dynamischer Prozess gedacht wird, ist die Stufenleiter der Organisationsformen immer schon gegeben. Es handelt sich nicht um einen vorbewussten Entwicklungsprozess, der zum Bewusstsein bzw. Selbstbewusstsein führt, sondern um ein immer schon vorliegendes, im sukzessiven Diskurs zu explizierendes Ganzes, also um eine Rekonstruktion ([81] S. 93). Solche Ideen sind für die rätselhafte Entwicklung des Bewusstseins sehr erhellend. Schelling führte mit seinem Freund Fichte eine Diskussion, die schließlich zum Bruch führte: Ist das Ich das konstituierende Prinzip der Natur (Fichte) oder ist das konstituierende Prinzip die Natur selbst als das Andere des Ich (Schelling)? Oder gibt es neben diesen beiden Alternativen noch die dritte Möglichkeit eines real fundierten Selbstexplikationsprozesses des Ab-
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soluten (Hegel)? Während Fichte das Ich und seine Wissensstruktur zum allgemeinen Prinzip erhebt und die Natur davon abhängig macht, hält Schelling an der Selbständigkeit der Natur gegenüber dem Ich fest. Die von Fichte vorgetragene Variante hebt das »Götzenbild der Subjektivität« auf den Thron. Schelling dagegen anerkennt die Selbständigkeit und den Eigenwert der Natur. Da die Existenz als das Andere des Ich mit der Natur (dem Unbewussten im Sinne C.G. Jungs) zusammenfällt, werden in diesem Falle die organisierenden Strukturen des Ich (heute: des Bewusstseins) zu organisierenden Strukturen der Natur selbst. Wenn Natur und Geist auf der Basis des existierenden Ich eines sind, dann gilt, dass »die Natur… der sichtbare Geist, der Geist die unsichtbare Natur« ([48], [81] S. 92) ist. > Natur und Ich haben immer schon eine Einheit gebildet. Dabei handelt es sich nicht um die reale Entwicklung des Ich aus der unbewussten Natur, sondern um die begreifende Entfaltung einer immer schon vorliegenden Einheit von Natur und Ich. Schellings Naturphilosophie stellt eine Ein-
heitsphilosophie par excellence dar. Dieses Ich erkennt die Objekte nur durch seine unbewusste Tätigkeit. In Wahrheit ist das die interne Selbstbegrenzung des Subjekts, das was Jung später den subjektiven Faktor nennt. In Wahrheit ist es eine Grenze innerhalb des Ich, weil die bewussten, reflektierten Akte nicht alles ausmachen. Ich muss den Leser darauf aufmerksam machen, dass Schellings Ich (und auch das anderer Autoren) keineswegs identisch mit dem Jungs ist (weshalb ich dieser Frage bei Jung ein eigenes Kapitel widme!). Schelling war die bestimmende Figur der Romantik, welche sich durch den Unendlichkeitsbegriff und -sehnsucht auszeichnet, die ohne Ziel und Anhalt, ohne Grenze und Richtung ins Weite strebt. In der Dichtung ist sie ausgedrückt im Symbol der »blauen Blume« (Novalis). Als zweites Thema ist es die Organis-
musvorstellung: Die gesamte Natur ist beseelt, belebt, fühlt und empfindet und steht mit dem Menschen in einer Beziehung. Die Romantik ist die Entdeckerin der Gefühlsfunktion: Alles ist von einer einigenden kosmischen Kraft, einer allgemeinen Sympathetik wie Gefühle, Stimmungen, Regungen durchdrungen, welche zum romantischen Grunderlebnis von Einssein, von Verbindung und Verschmelzung, zur Aufhebung aller festen, endlichen Formen, zum IneinanderFließen führt, was seinen Ausdruck im Märchen, in der Traum- und Phantasiewelt findet. Die Romantik hat die Folklore (Achim von Arnim), die Märchenwelt (Grimm) und die Volkskultur entdeckt als jene »Nachtseite«, welche der klaren Tages- und Verstandesseite kompensatorisch gegenübersteht. Sie ist die in der Tiefe des Fühlens und Erlebens erschlossene jenseitige Welt der Nacht, des Todes und des Unbewussten. In diese sich vom Ende des 18. und Beginn des 19. Jahrhunderts erstreckende Welt fügte sich der mystische Mesmerismus ein, der nun eine neue, der Naturphilosophie verpflichtete Form, annahm. Schelling selber interessierte sich für den Magnetismus, doch einer seiner Schüler, Gotthilf Heinrich von Schubert (1780–1860), schrieb das vielbeachtete Werk »Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft« [117]. Er verstand die Phänomene des Somnambulismus, Hellsehens, der Vorgefühle, Selbstdiagnose und Heilmittelvorschriften, als Andeutungen einer höheren, noch bevorstehenden Daseinsform. Alle von ihm vorgebrachten Symptome und Erscheinungen eines höheren Einflusses vereinigen alle Dinge und führen sie zu einem guten Ende. Von Schubert beeinflusste auch Dichter wie Novalis, E.T.A. Hoffmann und Kleist. Friedrich Hufeland (1774–1839), der Bruder des berühmten C.W.E. Hufeland, Professor der Medizin in Berlin, schrieb ein Werk »Ueber Sympathie« [85], worin er das Leben als Spannung im Organismus zwischen der animalen und der vegetativen Aktivität, resp. dem zugrunde liegenden Nerven-
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system verstand. Die vegetative ist konstruktiv, regenerativ (Schlaf), die animalische intellektuell und empfindend. Beide wirken gleichzeitig, wobei bald die eine, bald die andere überwiegt. Bei einem Patienten überwiegt ein pflanzenähnlicher Zustand. Dieser wird durch den Magnetiseur auf ein höheres Niveau gehoben, wo das Bewusstsein erwacht, instinktive Fähigkeiten finden ihren Weg ins Bewusstsein. Die paranormalen Symptome im somnambulen Zustand wurden damals als instinktive Fähigkeiten und als Heilmittel für die Störungen gesehen. In den folgenden Jahren experimentierten viele Magnetiseure (meist Männer) mit ihren somnambulen Medien (meist jüngere Frauen). Die Berichte sind leider nach wissenschaftlichen Standards oft ungenügend. Somnambule konnten Szenen beschreiben, welche sich in großer Entfernung abspielten (als es noch keine Telekommunikation gab), den Inhalt verschlossener Pakete erkennen, zu anderen Planeten reisen oder in andere Welten (Engel, Verstorbene), zum Mond oder zur Sonne, fremden Völkern, Gebäuden, Szenerien oder Vegetationen. Aber keine astronomische Entdeckung wurde so vorausgesehen. Die Reise führte oft ins Reich der Geister, in den Himmel (2. Kor. 12.2) oder in die Hölle. Auf der Reise werden die Somnambulen oft von ihrem Schutzgeist geführt. Der Schweizer J.H. Jung-Stilling (1740–1817), Lehrer, Novellist, Arzt, Augenchirurg, Professor für Landwirtschaft, Technologie, Handel und Tierheilkunde etc., schrieb ein Buch »Theorie der Geisterkunde« (1808) von großem Einfluss für den Magnetismus.
2.5.4
Der Fall Hauffe
Ein Wendepunkt stellte Justinus Kerner (1786–1862) dar, welcher in seiner Person Autor, Dichter, Magnetiseur, Forscher der Psyche und Arzt verband. Sein Freundeskreis umfasste die Namen Eschenmayer, Schelling, Schubert,
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Schleiermacher, Bader und Görres. Mit zwölf Jahren wurde er von Eberhardt Gmelin magne-
tisiert. 1824 publizierte er die »Geschichte zweyer Somnambulen«. 1829 kam seine außerordentlich einflussreiche Studie von Fredericke Hauffe (1801–1829), der »Seherin von Prevorst« heraus. Man suchte nach ungewöhnlichen Medien, von denen in Deutschland Katharina Emmerich (1774–1824) und Fredericke Hauffe berühmt wurden. Die erste bemerkenswerte Beobachtung in Richtung einer empirischen Wissenschaft ist das Werk Justinus Kerners (1786–1862) über »Die Seherin von Prevorst«. Fredericke Hauffe wurde 1801 im kleinen Dorf Prevorst in Württemberg geboren. Sie war eine ungebildete Person, hatte aber schon als Kind Visionen und Vorahnungen. Mit 19 Jahren wurde sie von ihren Eltern mit einem Mann verlobt, den sie nicht liebte. Als Kind zeigte sie merkwürdige Angstzustände vor Gräbern. Ihr Großvater, Johann Schmidgall, kümmerte sich um die Erziehung und hatte das sog. zweite Gesicht. Ihm fiel auf, dass das Kind beim täglichen Spaziergang an gewissen Orten plötzlich von einem »Wehesein und Frieren« überfallen wurde. Er vermutete dort längst vergessene Gräber. Es entwickelte eine zunehmende Angst vor dem Unheimlichen und sah Geister an Spukorten (Schloss zu Löwenstein). Schließlich berichtete es von einem Geist im Hause der Großeltern, einer langen dunklen Gestalt, die mit einem Seufzer an ihm vorüberging und am Ende des Ganges stehen blieb und zu ihm hinsah. Es war keineswegs erschrocken, doch der Großvater bekam einen Schock, als es ihm das Erlebte berichtete, denn er hatte die gleiche Erscheinung an gleicher Stelle, dies aber stets geheim gehalten. Die Gabe des »zweiten Gesichts« ist kein pathologisches Phänomen. Doch mit der Verlobung begannen die pathologischen Symptome. Am Tage von Frederickes feierlichem ehelichen »Verspruchs« war das »Leichenbegräbnis« des sehr ehrwürdigen Stiftpredigers, eines Mannes, dessen Predigten, Lehren und persönlicher
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Kapitel 2 • Der lange Weg und die Abenteuer auf der Suche nach der befreienden Erkenntnis
Umgang großen Einfluss auf ihr Leben hatten. Bei der Beerdigung verfiel sie in einen merkwürdigen Zustand, sie wurde ganz ruhig, konnte aber von diesem Grabe fast nicht mehr scheiden. Sie sah in einer Vision den Verstorbenen als Lichtgestalt in himmlischer Verklärung. Von diesem Tag an war sie der sichtbaren Welt abgestorben. Sie heiratete mit 20 Jahren, hatte ein Kind und führte zunächst ein normales Leben. Das Kind starb ein halbes Jahr nach der Geburt. Zu dieser Zeit hatte sie einen schicksalshaften Traum: Es war ihr, als sollte sie sich zu Bette legen, aber da lag in demselben im Totenkleide die Leiche jenes teuren Verstorbenen, auf dessen Grabe sich ihr inneres Leben anfachte. Draußen hörte sie die Stimmen ihres Vaters und zweier Ärzte, die sich über eine schwere Krankheit beratschlagten, die sie befallen hatte. Sie rief hinaus: »Lasst mich nur ruhig bei diesem Toten, der heilt mich, mich heilt kein Arzt!« Da war es ihr, als wollte man sie von der Leiche reißen, aber ihre Totenkälte war ihr heilendes Gefühl, und sie genas nur durch diese. Sie sprach laut im Traume: »Wie wohl ist mir neben diesem Toten, nun werde ich ganz gesund.« (Sie war dazumal noch nicht krank). Am nächsten Tag wurde sie von einem heftigen Fieber gepackt, das zwei Wochen dauerte und von einer schweren Neurose gefolgt war, die zu ihrem Tod mit 29 Jahren führte. »Was ist hier geschehen? Die Seherin hat die Partei ihres Traumes ergriffen«, erklärt Jung [30]. Wir glauben, wir könnten nicht durch einen Traum in ein Schicksal verwickelt werden, aber Frau Hauffe hatte keine andere Wahl. Sie war so angelegt, dass der Traum ihre Wirklichkeit wurde. Sie war mit dem Toten identisch und starb während sie noch lebte, d. h., sie fiel mehr und mehr in ihren psychischen Hintergrund. Der Tod des alten Predigers machte ihr klar, dass sie mehr mit dem Toten als mit dem Lebenden lebte. Die Figuren der inneren Welt waren ihre Wirklichkeit, neben welcher Ehemann und Kind bloße Schatten waren. Wenn sie den Traum an-
nimmt, nimmt sie ihre innere Wirklichkeit an und fühlt sich wohl, doch dann muss sie ihm zu ihrem psychischen Hintergrund folgen, bis sie aufhört zu sein.
» Würde mir ein Patient einen Traum bringen, in welchem ein Toter und nicht der Arzt die Heilung bewirkt, würde ich fragen: Warum sind sie zu mir gekommen? Wenn er antwortet: »der Traum scheint mir merkwürdig, ich kann mir nicht vorstellen, weshalb ich glauben soll, dass mich ein Toter heilt«, dann würde ich die Behandlung annehmen. Aber wenn er mir die Antwort wie im Traum gäbe, wäre es tödlich, ich könnte nichts für ihn tun. Tatsächlich würde eine solche Person wahrscheinlich gar nie in Analyse kommen, und wenn sie käme, würde sie den Arzt auf die Seite des Todes ziehen, wenn er nicht große Erfahrung mit derartigen Fällen hätte. […] Es gibt Fälle, wo es besser ist, sich nicht einzumischen. Wir müssen unsere Aufgabe als Arzt erfüllen, aber die Tatsache besteht, dass gewisse Leute nicht geheilt werden können, sie sind nicht tauglich fürs Leben, und wenn man sich einmischt, wird sich das Schicksal am Arzt rächen. [30]
«
Es gibt Leute, denen die innere Welt wichtiger ist als der Alltag. Es ist, als wären diese Leute nie geboren worden. Man kann dem psychischen Hintergrund nicht entfliehen, mit welchem man ins Leben getreten ist. Man kann ihn nur annehmen. Wir sind darin gefangen, die Welt durch das uns angeborene Temperament zu erfahren. Frau Hauffe fühlte sich geheilt und normal, als sie in den psychischen Prozess zurückglitt, und krank, wenn sie versuchte, in die wirkliche Welt einzugehen, wo sie unüberwindlichen Konflikten begegnete. So ging sie immer weiter ins Unbewusste zurück. Wir kommen nun zu den mehr spezifischen Symptomen von Frau Hauffe: Eines der ersten war eine Überempfindlichkeit auf Licht, was auf eine Unerträglichkeit des Lichtes des Bewusstseins weist. Nachdem sie vom Fieber befreit
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war, erfasste sie ein Brustkrampf. Psychologisch verstanden war es eine Vorahnung ihres Schicksals, ein Schocksymptom ihres bevorstehenden frühen Todes. Sie zeigte mediumistische Phänomene somnambuler Art. Einmal sprach sie drei Tage lang nur in Versen. Ein anderes Mal sah sie drei Tage lang nichts als eine Feuermasse, die durch ihren ganzen Körper lief, wie auf lauter dünnen Fäden. Sie zeigte Phänomene von Exteriorisation, indem ihr ihr eigenes Bild von außen erschien. Sie saß weiß gekleidet vor sich auf einem Stuhle, während sie im Bette lag. Sie sah lange das Bild an, wollte schreien, aber konnte nicht. Endlich tat sie einen Schrei nach ihrem Manne und das Bild verschwand. Um diese Zeit sah sie erstmals hinter jeder Person eine andere, auch von menschlicher Gestalt, aber wie in Verklärung schweben, z. B. hinter ihrer jüngsten Schwester ihren verstorbenen Bruder, hinter einer Freundin die geistige Gestalt einer alten Frau. In einem nur halbwachen äußerst gesteigerten Gefühlsleben war insbesondere alles Geistige auf sie von größtem Einfluss. Ahnungsvolle Träume, Divinationen, Voraussehen in Glas- und Kristallspiegeln sprachen von ihrem aufgeregten inneren Leben. Einmal sah sie in einem Glas Wasser ein Gefährt mit zwei Menschen die Straße von B. (auf die man nicht sehen konnte) herfahren. Sie beschrieb die Art des Gefährtes, die in ihm Sitzenden, die Farbe der Pferde usw. aufs Genaueste, und nach einer halben Stunde fuhr dann das gleiche Gefährt mit den gleichen Menschen und Bespannung am Hause vorüber. Um diese Zeit hatte sie auch zum ersten Mal die Erscheinung eines sog. zweiten Gesichts: Eines Morgens sah sie auf dem Vorplatz einen Sarg stehen, in welchem ihr Großvater väterlicherseits als Leiche lag. Am andern Morgen stand der Sarg mit der Leiche vor ihrem Bette. Nach sechs Wochen starb dieser Großvater aus voller Gesundheit. Die Gabe, Geister zu sehen, hatte Frau Hauffe schon seit früher Jugend. Frau Hauffe hatte eine zweite Schwangerschaft, die besser als die erste verlief, doch das
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Kind musste wieder künstlich entbunden werden. Ihr Zustand besserte sich nicht, wie erhofft. Als Kerner sie 1826 kennenlernte, bot sie ein Bild des Todes, völlig ausgezehrt, unfähig sich zu heben und zu legen, fiel öfters in Ohnmacht oder Starrkrampf, ihr Zahnfleisch war skorbutisch geschwollen, ihre Zähne aus dem Munde gefallen, Krämpfe wechselten mit Nachtschweißen und blutigen Durchfällen. Der Geist aller Dinge war ihr fühlbar und von Einwirkung auf sie. Dies war besonders der Fall beim Geist der Metalle, der Pflanzen, der Menschen und Tiere. Frau Hauffe hatte den Kontakt zur Außenwelt zum größten Teil abgebrochen und nahm sie über die Innenwelt wahr. Sie konnte den Inhalt einer Mitteilung aus der Herzgegend wahrnehmen. Sie empfand in der Magengegend oder der Gegend des Solarplexus die Vision des Sonnenkreises, geteilt in zwölf Teile, darunter des Mond- oder Lebenskreises und weiter des Traumkreises, ebenfalls in zwölf geteilt. Geister wandern zwischen dem zweiten und dritten Kreis, den Tierseelen bewohnen. Die inneren Kreise bestehen aus dem Sternenkreis mit sieben Sternen, dem Mondring und zuinnerst dem Sonnenring, der so hell und leuchtend wie eine Sonne ist. In diesem Zentrum begegnet sie der Führerin. Diese Kreise befinden sich in rotierender Bewegung. Durch den äußersten, den Sonnenkreis, fühlt sie sich vor der Außenwelt geschützt, welcher sie misstraut. Vom Sonnenkreis sagt sie, das reale Tageslicht und die Leute seien außerhalb dieses Kreises. Sie spüre den Geist aller Leute, mit denen sie in Kontakt kommt, aber nicht deren Körper. Auch Kerner nehme sie nur als blaue Flamme auf dem äußeren Kreis und nicht als menschliches Wesen oder Körper wahr. Der äußere Ring mit seinen kreisenden Flammen sei eine Mauer, durch die nichts sie erreichen könne; sie sei innerhalb des Kreises. Sie wäre entsetzt, wenn sie aus ihm hinausgehen müsste. Sie fühle sich wie in diesem Kreis gefangen. Er stellt eine Art magischen Schutzkreis vor der Welt dar.
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Kapitel 2 • Der lange Weg und die Abenteuer auf der Suche nach der befreienden Erkenntnis
Über die drei inneren Ringe sagt die Seherin: »Im ersten, wo ich die sieben Sterne über mir sah, fühlte ich mich wohl; ich sprach zu der Welt, in der ich gewesen bin.« Sie identifiziert die äußere Welt mit ihrer Vergangenheit, weil sie verglichen mit der Wirklichkeit der inneren Welt eine Illusion sei. Im zweiten, dem Mondring, habe sie nicht gesprochen, sondern sei bloß darüber geschwommen. Mehrmals habe sie hineingeschaut, aber könne sich an nichts erinnern. Doch kriege sie Angst, wenn sie sich an ihn erinnere, denn er sei so kalt und entsetzlich. Er habe das Licht des Mondes. Der innerste Ring sei so hell wie die Sonne, aber der zentrale Punkt sei noch heller. Sie habe eine unauslotbare Tiefe gesehen, die umso heller wurde, je tiefer es ging. Sie durfte bloß hineinstarren, aber konnte sie nicht erreichen. Sie möchte diese die Sonne der Gnade nennen. Es scheine ihr, dass viele andere Geister hineinstarren und alles was lebt und sich bewegt aus Funken ihrer Tiefe stamme. Im klaren Licht des innersten Ringes, aber nicht im zentralen Punkt, sah sie immer ihre Führerin, eine Art Schutzengel. Der Lebenskreis sei der Sitz der Geisterwelt; dessen Zentrum entscheide über Zahlen und Worte und das sei der Geist, der dort am richtigen Platz sei, in der Wahrheit. Die Seherin hat eine Ursprache entwickelt, welche die seit Jakobs Zeiten vergessene Sprache der Menschheit gewesen sei. Diese Sprache wurde in einem Ziffernsystem geschrieben, in dem jede Ziffer auch eine Zahl bedeutet. In ihren magnetischen Trancezuständen verordnete sich die Seherin oft Heilmittel, die sie unfehlbar zu jenem Zeitpunkt heilten, den sie voraussagte. Es wird auch berichtet, sie habe mehrere andere Personen geheilt. Sie hatte präkognitive Träume und Visionen von Geistern. Sie sieht diese bei Tag und bei Nacht, solche, die keine Beziehung zu ihr haben, und solche, mit denen sie sich unterhält. Sie erscheinen als dünner Nebel und werfen keinen Schatten. Die guten Geister erscheinen hell, die schlechten dunkel. Sie verursachen die für Spuk typischen klopfen-
den, raschelnden, seufzenden und knirschenden Geräusche. Die Berührung durch die Geister ist unerträglich. Die Geister bekannter Leute haben deren Gestalt, doch sind sie grau und farblos ([30] S. 33–35). Frau Hauffe ist ein keineswegs einmaliger Fall, allerdings in seiner Einseitigkeit bemerkenswert. Aus den sorgfältigen Beschreibungen von Kerner lässt sich entnehmen, dass es sich nicht um einen Schwindel handelt. Manches an diesem Fall ist zeitbedingt mystifiziert, denn die Seherin erregte zu ihrer Zeit wegen der unerklärlichen und außergewöhnlichen Phänomene großes Aufsehen, so dass viele berühmte Leute sie besuchten. Jung hat in seinen ETH-Lectures ([30] S. 47) den Fall Hauffe zum Anlass genommen, die verschiedenen Kreise ihres Mandalas als verschiedene Schichten der Innenwelt zu interpretieren, weil die Seherin wie erwähnt ausschließlich durch das Unbewusste lebte. Klinisch muss sie als »borderline case« (Grenzfall) bezeichnet werden. Sie weist alle für das Unbewusste typischen Merkmale bei ihren Phänomenen auf: erstens die Relativität von Zeit und Raum bei ihren präkognitiven und telepathischen Erscheinungen; zweitens die Autonomie gewisser psychischer Inhalte bei ihren Geistererlebnissen; drittens die Erfahrung eines Symbols, das auf ein nicht mit dem Bewusstsein identisches Zentrum hinweist (Mandala), bei ihren Kreisen, deren Zentrum einer Gotteserfahrung entspricht (Sonne der Gnade). Dem Bewusstsein, das Subjektcharakter hat, am nächsten steht das persönliche Unbewusste, also der Schatten. Dieser ist stark mit dem Körper verbunden. Je enger das Feld des Bewusstseins, umso größer ist die Rolle, die der Körper spielt. Die psychischen Komplexe sind dann im Körper lokalisiert und äußern sich als körperliche Krankheiten. Solche Leute sind sehr egozentrisch und fühlen sich minderwertig. Dieses Gefühl von Minderwertigkeit ist ein Hinweis auf den Schatten. Wenn sie den zu erkennen anfan-
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gen, wird das Feld des Bewusstseins erweitert. Meist sind die Schattenanteile zunächst auf die Außenwelt projiziert. Erst durch die Kollision mit der äußeren Wirklichkeit werden sie als innere Realitäten aufgefasst, und die Projektionen können zurückgenommen werden. Dies ist zumeist ein schmerzhafter Prozess, weil eine Beleidigung des Bewusstseins, das sich naiverweise überlegen fühlt über die Mitwelt. Doch schließlich ist es eine Bereicherung, denn das »sentiment d’incomplétude«, das dem Minderwertigkeitsgefühl zugrunde lag, macht einer Erweiterung des Bewusstseins Platz. An diese Randzone des Bewusstseins (»fringe of consciousness«) schließt sich jener Bereich, wo die Autonomie der Innenwelt beginnt. Die Komplexe werden als fremd, nicht zum Ich gehörig empfunden, weil sie sich oft diesem entgegenstellen und seine Pläne durchkreuzen. Das ist eine Gelegenheit, sie wiederum, an der Mitwelt wahrzunehmen, die als widerlich, feindlich und allenfalls verschwörerisch erlebt wird. Doch der Feind ist nicht außen, sondern in der eigenen Brust als ein Gegenwille zum Ich. Das Ich spürt seine Machtlosigkeit, weil sich der Gegenwille nicht nur in hartnäckiger Schlaflosigkeit, sondern allenfalls in einem Symptom zeigt, das sich willentlich nicht unterdrücken lässt. Ein Symptom ist stets der Ausdruck, dass etwas bewusst sein sollte, was das Bewusstsein nicht annehmen kann. Das ist schon die Ursache zur Bildung von Komplexen ([114] S. 12f.). Die Konflikthaftigkeit, der »Bürgerkrieg in der eigenen Seele«, bewirkt ein Interesse an der eigenen Psychologie oder bringt den Betreffenden zum Therapeuten. Da ist es nun entscheidend, dass dieser dessen Symptome nicht verharmlost, sondern sie ernst nimmt und ihm zugleich den Mut vermittelt, durch Bewusstwerdung eine Lösung zu finden. Je weiter wir nun in die Innenwelt gelangen, desto unpersönlicher wird sie. Die Komplexe verlieren ihre subjektive Qualität und treten als eigene Persönlichkeit dem Ich gegenüber. Sie werden immer mehr als dem Subjekt entfrem-
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det empfunden, was nicht bloß zu Abwehr führen kann, sondern auch zu Faszination. Denn die inneren Figuren treten dem Ich als Gestalten entgegen, die den Umfang und das Maß des Menschlichen übersteigen. Das ist bei der nächsten Stufe noch ausgesprochener, der Stufe der Geister und Archetypen. Die Entfremdung vom Ich geht so weit, dass diese Inhalte nicht mehr nur als Personen, sondern als Ideen auftreten. Sie sind dem Ich dermaßen überlegen, dass dieses sich gerne mit ihnen »identifiziert«. Das ist eigentlich psychologisch unrichtig, denn die Aktivität geht nicht vom Ich aus, sondern vom Unbewussten. Das Subjekt verliert seinen individuellen Charakter und wird mit einem Inhalt des Inneren identisch, d. h. von ihm aufgesogen. Das scheint dem Subjekt eine größere Wichtigkeit zu verleihen, aber in Wirklichkeit ist es eine Anmaßung. Man ist als Mensch nie auf der Höhe des Archetypus, obwohl dieser auch durch uns hindurch lebt. Wir sind gewissermaßen sein Werkzeug, durch das er sich ausdrücken kann. Doch wenn wir unser menschliches Maß verlieren und glauben, als Übermenschen leben zu können, ist das nicht nur eine lächerliche Inflation, sondern eine Spaltung der Persönlichkeit in einen Windbeutel und einen jämmerlich unentwickelten unbewussten Wicht. Der Außenwelt mag eine derartige Persönlichkeit imponieren, solange sie ihre Schwächen verbergen kann. Doch sie selber zahlt einen hohen Preis in Form innerer Zerrissenheit. Die Besessenheit ist eine bei Primitiven wohlbekannte Krankheit, kommt jedoch bei uns nicht seltener vor, bloß wird sie nicht erkannt ([114] S. 87). Wir sind uns in den seltensten Fällen bewusst, dass wir vom Unbewussten versklavt, dass wir unfrei geworden sind. Man erkennt einen solchen Menschen daran, dass er nicht mehr über sich lachen kann, dass er nicht mehr spontan ist, dass sein Alltag als etwas wie eine Rolle auf dem Theater erscheint, dass er in einer ständigen Verkrampfung lebt, nicht aus der Rolle zu fallen.
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Kapitel 2 • Der lange Weg und die Abenteuer auf der Suche nach der befreienden Erkenntnis
Das kommt daher, dass er kein Subjekt mehr ist, sondern ein Typus. In der nächsten Stufe der Innenwelt wird diese Anziehung vollendet und die Persönlichkeit löst sich in Ekstase oder mystischer Verzückung vollständig auf. Sie hat den Rahmen des Menschlichen vollständig verlassen und ist Gott oder Teufel selber geworden. Solange derartige Zustände Ausnahmen bleiben und er sein menschliches Gehäuse nur zeitweise verlässt, ist der Mensch gesund. Wird diese Haltung habituell, so ist eine Psychose wahrscheinlich. Ich habe einst einen Patienten gehabt, einen Doktor »Allwissend«, der mich belehrte, wie rückständig und unwissend ich in medizinischen Belangen sei, und habe erfahren, wie klein und nichtsnutzig man sich neben einer solchen »Kapazität« fühlt. Derartige Individuen haben den Boden unserer Wirklichkeit bereits verlassen und sind der nächsten Stufe nahe, nämlich der Gottheit. Das ist der völlige Gegensatz zum Ich, zum Subjekt, welches Jung als Selbst bezeichnet. C.G. Jung hat den Fall zum Anlass genommen, mehr über die Struktur des Unbewussten zu erfahren. Ihre Zeitgenossen erblickten in ihr ein Wunder. Im Grunde war sie eine sehr gestörte, lebensuntüchtige Frau, aber sie bildete den Anlass für Einblick in eine unbekannte Wunderwelt. z
Hypnose
Der Mesmerismus breitete sich außerhalb der offiziellen Medizin weiter aus. James Braid (1795– 1860), der ihm zuerst ablehnend gegenüberstand, ein Chirurg aus Manchester, wiederholte die Versuche, lehnte die Theorie eines Fluidums ab, sondern stellte sie auf die Basis der Gehirnphysiologie, prägte als Ausdruck dafür Hypnose und machte sie gewissen Medizinerkreisen annehmbar. Die ersten Chirurgen führten bereits Operationen in Hypnose durch. In Nordamerika breitete sich der Mesmerismus von den Südstaaten her aus. Aus ihm gingen Mary Baker Eddy (1821–1910), die Begründerin
der Christian Science, und Andrew Jackson Davis (1826–1910) hervor, ein Wegbereiter des Spiritismus. Dieser verbreitete sich in diesem von Tradition wenig beeinflussten Land sehr schnell, wie auch andere psychische Epidemien. Es fanden »spiritistische Séancen« statt, in welchen mit wechselndem Erfolg okkulte Phänomene auftraten, denen man die unterschiedlichsten Erklärungen gab. 1852 überquerte eine Welle von Spiritismus den Atlantik zur Alten Welt, wo er sich rasch verbreitete. Die ganze Palette von parapsychologischen Erscheinungen wurde aus den Séancen und von den berühmten Medien berichtet. Allmählich entwickelte sich eine Wissenschaft, welche diese Phänomene ernsthaft zu erforschen begann. Myers und Gurney gründeten 1882 die in 7 Abschn. 2.1.1.1.2 erwähnte »Society for Psychical Research«, welche eine große, noch heute wertvolle Menge sorgfältiger Beobachtungen sammelte. In Genf tat sich Theodore Flournoy (1854–1920) mit seinen Untersuchungen an Medien hervor, den C.G. Jung als »väterlichen Freund« schätzte [120].
2.5.5
Der Fall Smith
Wir kommen nun zum Gegenbeispiel der »Seherin von Prevorst«, zu der vom Genfer Arzt, Philosophen und Psychologen Theodore Flournoy (1854–1920) beschriebenen Hélène Smith. 1894 wurde er zu Sitzungen mit Catherine-Elise Müller ([72] S. 441), einem jungen Medium, eingeladen. Er untersuchte ihre Herkunft genau: Ihr Vater war Ungar, gebildet und ein ausgezeichneter Sprachwissenschaftler, ihre Mutter war Schweizerin, eine überzeugte Spiritistin, die das zweite Gesicht hatte. Auch ihr Bruder hätte ein Medium sein können. Sie selber wuchs in bescheidenen ärmlichen Verhältnissen auf. Flournoy wurde ein regelmäßiger Gast bei den Sitzungen und von da an änderte sich das Verhalten des Mediums: Hélène fiel in vollständigen Trancezustand und zeigte Persönlichkeitsveränderungen, in-
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dem es angebliche Szenen aus seinem früheren Leben wiederholte. Der Kreis seiner Bewunderer betrachtete seine Äußerungen als Offenbarungen aus einer anderen Welt. Nach fünfjährigen Untersuchungen veröffentlichte Flournoy seine Ergebnisse unter dem merkwürdigen Titel: »Des Indes à la planète Mars« [76]. Im ersten Zyklus spielte Hélène ihr angeblich früheres Leben einer indischen Prinzessin aus dem 15. Jahrhundert. Im zweiten Zyklus waren es Szenen aus dem Leben der Königin Marie-Antoinette, deren Reinkarnation sie zu sein behauptete. Im »MarsZyklus« behauptete sie, mit dem Planeten Mars, seinen Landschaften, seinen Bewohnern und ihrer Sprache vertraut zu sein. Hélène hatte einen ausgezeichneten Charakter, und Flournoy hebt ihre Intelligenz und natürliche Würde hervor. Sie war in der Jugend eine gute Schülerin, wenn auch wegen ihres lebhaften Innenlebens oft unaufmerksam. Von Kindheit an neigte sie zu Tagträumen, die fast halluzinatorischen Charakter annahmen. Sie nahm daran lebhaften Anteil, zeichnete und stickte das Erlebte. Als sie 14 Jahre als war, hatte sie eine sehr eindrückliche Lichtvision und unbekannte Buchstaben erschienen ihr. Später hatte sie häufig Visionen eines Mannes in reichbesticktem Gewand, der neben ihrem Bett stand und sie erschreckte. Sie klagte darüber, auf der Straße von fremden Männern verfolgt zu werden, wobei nie klar wurde, ob es sich um objektive oder Phantasiegestalten handelte. Zunehmend hatte sie das Gefühl, von Geistern umgeben und von einem Schutzengel beschützt zu sein. Als sie zehnjährig war, wurde sie von einem Hund angefallen. Ein Mönch in brauner Kutte mit einem weißen Kreuz auf der Brust verscheuchte das Tier. Später erschien der Mönch ihr in allen bedrängenden Situationen. Mit zwölf Jahren lief sie, immer wenn die Hausglocke läutete, zur Türe, weil sie überzeugt war, ihre Phantasie würde Wirklichkeit und ein vornehmer Herr würde sie in einer wunderbaren Kutsche abholen, um sie in ein weitentferntes Land zu
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bringen, wohin sie gehöre. Sie hatte eine ausgesprochene Angst vor der Welt und mied die Leute. Sie war nie wirklich glücklich. Ihr Stolz und ihr Ehrgeiz rieben sich an der bescheidenen Umgebung wund, welche ihre starke Persönlichkeit unbefriedigt ließ. Sie heiratete nicht, weil der Mönch, ihr Schutzgeist, ihr stets zuflüsterte, es sei noch nicht der Richtige, womit er sie von der natürlichen Lebenserfahrung fernhielt. Sie verfügte allerdings über ein starkes Temperament, und die Aussicht, eine alte Jungfer zu werden, war eine der Ursachen ihres Unglücklichseins. Ihre starke Persönlichkeit musste irgendeinen anderen Ausdruck finden ([30] p. 52). 1892 kam Hélène erstmals mit einer spiritistischen Sitzung in Kontakt; sie wurde in eine Gruppe in Genf eingeführt, wo sie bald das führende Medium wurde. Die Geister übermittelten ihre Botschaften zuerst durch automatisches Schreiben. Nicht lange danach folgten bemerkenswerte Visionen in Trance: ein Ballon, der manchmal hell, mal dunkel war, aus dem Bänder kamen, die sich zu strahlenden Sternen wandelten. In späteren Séancen wandelten sich die Sterne in Grimassen einer Art von Teufeln mit roten Haaren, die sich in einen Rosenstrauß wandelten, aus dem sich eine kleine Schlange wand. Sie zeigte hellseherische Fähigkeiten an ihrem Arbeitsplatz. In den spiritistischen Sitzungen entwickelte sie einen hohen Grad an Somnambulismus, in welchem ihr Führer und Schattengeist mehr zum Zug kamen. Flournoy, der etwa an diesem Punkt tiefes Interesse an ihren Erscheinungen fasste, bemerkte eine einseitige Anaesthesie (Gefühllosigkeit) und eine Hyperaesthesie (Überempfindlichkeit) auf der anderen Seite. Ihr Kontrollgeist nahm Besitz von ihrem rechten Arm, später sprach er durch ihren Mund mit einer barschen männlichen Stimme. Wenn er sich durch ihre Schrift mitteilte, war diese von ihrer gewohnten völlig verschieden. Dieser Kontrollgeist war völlig autonom, verschwand für Wochen und gehorchte weder dem Medium noch den Zuschauern. Er hatte mehr
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Persönlichkeit als das Medium. Zuerst war sein Charakter etwas undefiniert, doch allmählich gewann er feste Züge, z. B. hatte er poetische Gaben und meldete sich als »Victor Hugo«, obwohl das sentimentale Zeug, das er schrieb, mit dem wirklichen Victor Hugo nichts zu tun hatte. Er beherrschte während fünf Monaten die Bühne, bis ein Rivale erschien, ein gewisser Leopold mit barscher Stimme und italienischem Akzent. Er war in Hélène verliebt, störte die Sitzungen mit seiner Eifersucht und wollte seinen Rivalen beseitigen. Er war arrogant und tyrannisch und entschlossen, das Medium allein zu dominieren. Als Hélène überredet wurde, diese Gruppe zu verlassen, verschwand er völlig. Noch während der Sitzungen in der Gruppe hatte Hélène die Vision eines Verräters, der einen Zauberstab über einen Wasserkrug schwang. Diese Figur wurde als Joseph Balsamo interpretiert, nach einer Novelle von Alexandre Dumas. Der Führer erklärte, Leopold sei ein Pseudonym, in Wirklichkeit sei er Joseph Balsamo oder eher Cagliostro, der berühmte Magier und Erzbetrüger, der im 18. Jahrhundert die Welt narrte. Hélène fantasierte sich als Balsamos Medium in einer früheren Existenz und als Reinkarnation seiner Lorenza Feliciani, was sie erst aufgab, als sie merkte, dass Lorenza eine Schöpfung von Dumas war und in Wirklichkeit nie existiert hatte. Danach erzählte ihr Leopold, sie sei Marie-Antoinette, welcher die berühmte Szene mit dem Wasserkrug passierte. In Dumas’ Novelle begegnet Marie-Antoinette auf ihrem Weg nach Paris im Château de Tavernay Joseph Balsamo. Er starrt in den Krug und sieht ihr Schicksal. Als er es ablehnt, ihr das Gesehene zu enthüllen, kniet sie nieder und schaut selber in den Wasserkrug, worauf sie ohnmächtig wird. Als Ergebnis dieser Geschichte setzte sich Hélène in den Kopf, sie sei eine Reinkarnation der Marie-Antoinette und habe eine Liebesaffäre mit Balsamo. Hélène fühlte sich oft identisch mit ihrem Führer, verlor aber nie ihre Identität. Die Identifikation mit Leopold geschah hauptsächlich
nachts und früh morgens. Leopold war eine Mehrzahl, der Mönch, Victor Hugo, Balsamo, Cagliostro und Leopold selber. »Der Animus erscheint nämlich nicht als eine Person, sondern vielmehr als eine Mehrzahl« (GW 7, 332). Er spielte sich als Autorität in allen Belangen auf, je weniger er auf direkte Fragen zu antworten wusste, desto autoritärer gebärdete er sich. Manchmal erschien er als Zauberer und Alchemist, im Besitz des Elixiers und geheimer Heilmittel, und spielte mit Erfolg die Rolle des Arztes. Diese männliche Figur in der weiblichen Psyche bezeichnet Jung als Animus, doch nur wenige Frauen werden sich bewusst, dass sie eine solche Figur in sich tragen, denn sie führt ihr Dasein im Dunkeln und zeigt sich nur indirekt. Hélènes Leopold unterscheidet sich grundsätzlich von der »Seherin von Prevorst« und ihrer Führerin. Er ist viel stärker subjektiv gefärbt; das psychologische Element hinter dieser Figur ist Flournoy, für den ein wirkliches Interesse bestand, während die Seherin Kerner bloß als Geist wahrnahm. Hélène war gut ans Leben angepasst und tüchtig bei ihrer Arbeit. Sie brachte es so weit, dass ihr eine reiche Amerikanerin so viel Geld fürs Alter gab, dass sie ganz als Medium leben konnte. Ihre unbewussten Manifestationen weisen einen stark subjektiven Charakter auf. Sie objektiviert ihre Komplexe, sie spricht unter der Maske des Unbewussten eigentlich von den verschiedenen Schichten des Bewusstseins. Flournoy konnte nachweisen, dass alle ihre Phantasiegeschichten auf früherer Lektüre beruhen. Die Mars-Sprache ist nach der französischen Grammatik konstruiert, während ein Linguist nachweisen konnte, dass das Vokabular sich aus entstellten ungarischen Worten (ihr Vater ist Ungar!) zusammensetzte. Sie liebte ihre Geister, die ihr Ruhm brachten, aber sie blieben subjektiv. Auf der Seite der Außenwelt unterscheidet Jung [30] zunächst das empirische Ich, das mit dem Körper identisch ist. Daran schließt sich die Region der äußeren Objekte an, die jener der inneren entspricht. Äußere Objekte berühren
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uns aktiv, aber unsere Wahrnehmung ist subjektiv gefärbt, sie erscheinen uns nicht, wie sie wirklich sind, sondern wie wir sie erleben. Dieser psychische Subjektivismus ist eine Art von Egozentrik und führt zu Schwierigkeiten, wenn wir naiv Leute und Dinge als jene Realität nehmen, wie wir sie erleben. In der nächsten Schicht wird der Schleier des Subjektivismus gelüftet, wir werden gewahr, dass die Leute nicht so sind, wie wir meinten oder wie wir wünschten, sie wären. Man gewinnt von sich ein persönlicheres Bild und unterscheidet sich von anderen. Im Stadium des Subjektivismus erwartet man, dass die anderen Leute so seien wie wir und denken, sie seien falsch, wenn dem nicht so ist. Doch schon in diesem Bereich des Persönlichseins (»personalism«) melden sich Zweifel an der absoluten Tatsächlichkeit des Konkretismus. Wir verschieben uns zur nächsten Region des Objektivismus (»objectivism«), wo das persönliche Weltbild verschwindet und durch unpersönliche Idealismen ersetzt wird. Wir sind nicht mehr am Individuum interessiert, auch wenn es von uns verschieden ist, sondern an Gruppen, an Verbindungen, Freunden, Fremden, Bekannten usw. Sie bilden Gesellschaften und Clubs und die Ideen oder Ideale, die ihnen zugrunde liegen, werden wichtig. Eine politische Partei erscheint als lockendes Ideal oder Patriotismus wird zur höchsten Verpflichtung. Die Idee der Pflicht nimmt lächerlichste oder erhabenste Form an. Man sollte nicht vergessen, dass alle diese allgemein-menschlichen Ideen und Ideale absurd sein können, dass trotzdem wirkliche Ideale existieren und zur Entstehung von Staat, Gesellschaft, Kirche, Religion usw. Anlass gegeben haben. In der fünften Stufe wird das »ganz Andere« (»totaliter aliter«) zur aktiven Kraft, das die Leute aus sich herausreißt und in einen Zustand der Depersonalisation bringt. Diese Pole (auch auf der Seite der Innenwelt) sind jenseits des menschlichen Verständnisses, ein Mystiker oder ein Dichter kann sie gelegentlich erreichen und aus einem derartigen
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Zustand der Ekstase zu uns sprechen, aber jede Einzelerfahrung eines derartigen Zustandes in unserem Leben ist so fremdartig, dass wir uns wundern, ob er nicht schon jenseits der Grenze der Gesundheit liege. Wir können das nicht als »Nichts-als«-Phänomen behandeln, allein schon wegen des Umstandes, dass Leute ihr Leben dafür opfern (Eugène Delacroix). Sie werden von einer Macht aus sich herausgerissen, die wir nicht verstehen. Man könnte (und sollte) lange über diese Stufen nachdenken. > Eines ist klar: Das menschliche Ich steht gewissermaßen zwischen zwei magnetischen Polen, die es ewig in entgegengesetzte Richtungen ziehen. Es steht ständig in Gefahr, seine Einheit zu verlieren und dissoziiert zu werden.
Das war die spiritistische Strömung, welche viel zur Kenntnis der unbewussten »Wunderwelt« beitrug, ohne dass man wirklich verstanden hätte, was man entdeckt hatte. Das »automatische Schreiben« wurde von den Spiritisten eingeführt und von Wissenschaftlern als eine Methode zur Erforschung des Unbewussten übernommen. Schon 1833 hatte Michel Eugène Chevreul nachgewiesen, dass die Bewegungen der Wünschelrute und des Pendels von unbewussten Gedanken des sie Handhabenden gelenkt wurden. Er nahm seine früheren Experimente wieder auf, um eine rationale Erklärung für das »Tischrücken« zu finden. Die Experimente mit Medien und deren Berichte über jenseitige Dinge, von welchen die Teilnehmer an den Séancen äußerst fasziniert waren, führte in der einen Linie zum Spiritismus, welcher der Bewegung um Swedenborg entgegenkam, und vor allem zu einem religiösen revival in Amerika. Der Spiritualismus wurde gar zu einem Gesellschaftsspiel (wie heute Invokationen in Amerika), wo man sich zum Tischrücken und zu Mitteilungen aus dem Jenseits zusammenfand. Dieses Thema wollen wir hier
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nicht weiter verfolgen, da es außerhalb unseres Rahmens liegt ([114] S 159ff., [107] S. 761ff.). Für uns ist die andere Linie interessanter, die zur Entdeckung des Unbewussten führt. Sieht man nämlich von der orthodoxen Methode Mesmers ab, so findet man in allen Kulturen und zu allen Zeiten dieselben Phänomene von Medien wie im Spiritismus. Dieser Erkenntnis stand leider lange die physikalische Erklärung des animalischen Magnetismus mit dem »Fluidum« im Wege. Das Kapitel »animalischer Magnetismus« scheint mir, obwohl das heute kaum mehr jemand kennt und der Name aus moderner Sicht völlig falsch ist, noch längst nicht abgeschlossen. Erstens gibt es verschiedene Stufen des Magnetisierens, welche nicht identisch sind mit Hypnose. Zweitens hat Gauld ([79] S. 247f.) Fälle aus der Literatur von bemerkenswerten Heilungen angeführt, die uns heute noch rätselhaft erscheinen. Man kann die ganze Bewegung auch nicht als Scharlatanerie abtun, die nur bei psychischen (sprich: hysterischen) Erkrankungen wirksam wäre. Sondern es handelt sich im Gegenteil bei den Fällen kaum je um neurotische Krankheitsbilder, sondern um somatische Erkrankungen, die auch heute schwierig zu heilen wären und die damals der gängigen Behandlung jahrelang widerstanden. Drittens scheint mir das theoretische Verständnis des Mesmerismus für die Beurteilung vieler alternativer Heilmethoden fruchtbar zu sein, bei welchen ebenso abstruse Vorstellungen über den Mechanismus der Heilung wie beim Fluidum von Mesmer bestehen, z. B. bei der Homöopathie. Zudem müssen wir, viertens, wohl unsere Kriterien der Erforschung von »Heilerfolgen« neu überdenken, d. h. dass unsere statistischen Methoden wohl in diesem Gebiet nicht adäquat sind. Damit einher müsste auch eine Revision der Nosologie gehen. Wir können die Diagnosen der alten Ärzte nicht automatisch mit unseren heutigen gleichsetzen, sondern müssen wieder zur Symptomatologie zurückgehen. Wir wissen noch viel zu
wenig, wozu das Unbewusste fähig ist, was es im Körper hervorzuzaubern vermag, weil wir noch viel zu wenig über die Beziehung von Psyche und Soma wissen (was einem späteren Kapitel vorbehalten ist). Es gibt zwar jede Menge interessanter Ansätze, aber keine wirklich wissenschaftlichen Untersuchungen darüber, weil man stets mit dem kausalen Ansatz kommt, welcher ihnen nicht adäquat ist. Es gibt auch jede Menge von Pseudoerklärungen, die einer echten wissenschaftlichen Erforschung nur im Wege stehen. Außerdem liegt eine derartige Forschung nicht auf der Linie des Mainstreams und der rationalmaterialistischen Einstellung der heutigen Zeit. So ist der Magnetismus nur noch als »undercurrent« vorhanden und teilt mit der Komplementärmedizin ein Schattendasein, obwohl wir aus ihm und seinen Heilungen noch sehr viel zu lernen hätten. Aber die Geistesgeschichte hat in der Medizin einen anderen Verlauf genommen. C.G. Jung hat allerdings gerade im Alter darauf hingewiesen, dass die paranormalen Phänomene mehr studiert werden sollten, denn dort geht der Weg zu neuen Erkenntnissen in der Forschung weiter. Doch wer will sich schon der Lächerlichkeit preisgeben, an »Wunderheilungen« zu glauben? Dabei geht es eben gerade nicht um Glauben, sondern um die Tatsächlichkeit des Irrationalen.
2.5.6
Spiritistische Experimente C.G. Jungs
C.G. Jung hat zwischen 1899 und 1900 mit einem spiritistischen Medium, seiner Nichte Helly Preiswerk, wie später bekannt wurde [124], ein
Experiment im Geiste dieser spiritistischen Strömung angestellt (GW18, S. 27–30). Er hat sich dafür in diese ganze Literatur vertieft, welche er in seiner Dissertation »Zur Psychologie und Pathologie sogenannter okkulter Phänomene« (1900) darstellte. Heute liest kaum ein Studierender des Jung-Instituts diese Arbeit und kaum ein Analy-
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tiker kennt sie. Dabei besteht ihr Wert darin, dass er zur Erhellung dieser »okkulten«, geheimnisvollen, unverständlichen Erscheinungen beitrug. Die Phänomene, welche sein Medium zeigte, waren damals vielfach beobachtet worden, doch niemand wusste sie zu deuten. Natürlich gab es – wie immer bei unverständlichen Ereignissen – eine große Zahl von Theorien. Doch nicht diese waren das, was Jung damals interessierte, sondern die genaue Beobachtung, unter welchen Bedingungen sie auftraten. Es gab damals eine Menge gut registrierter Fälle von Störungen des Bewusstseinsniveaus, von merkwürdigen Halluzinationen in somnambulen Zuständen und von Suggestionen. Diese waren psychischen Symptomen z. T. sehr ähnlich, mit dem Unterschied jedoch, dass sie unter Hypnose verschwanden. Heute macht man Versuche mit Drogen, um Modellpsychosen zu erzeugen, um tiefer in das Wesen der rätselhaften Geisteskrankheiten einzudringen ([109] S. 353). Zu Jungs Zeiten ging es um ein forschendes Eindringen in das Wesen des Unbewussten. Die Hypnose, der Somnambulismus und die Medien förderten eine Unmenge von Material aus dem Unbewussten ans Tageslicht, welches verstandesmäßig einzuordnen war. Die Medien berichteten von fremden Welten (Reise zum Mars bei Helène Smith), was damals völlig unverständlich war, eine »Geisterwelt«, in welcher unbekannte Personen auftauchten und rätselhafte Äußerungen machten. In seinen »Erinnerungen« sagt er, an seinem Medium hätte er »gelernt, wie eine Nr. 2 entstehe, wie es in ein kindliches Bewusstsein eintrete und dieses schließlich in sich integriere« ([87] S. 113f.). Er hatte in seiner Entwicklung erlebt, dass er aus zwei Persönlichkeiten besteht, einer Nr. 1, einer wenig sympathischen und mäßig begabten mit ehrgeizigen Ansprüchen, unkontrolliertem Temperament und zweifelhaften Manieren, bald naiv begeistert, bald kindisch enttäuscht, im innersten Wesen ein weltabgewandter Finsterling. Nr. 2 dagegen war kein Charakter, sondern eine
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»vita peracta«, geboren, lebend, gestorben, alles in einem, eine Totalschau der menschlichen Natur selber; »sich selber zwar mitleidlos klar, aber unfähig und wenig gewillt, wenn schon sehnsuchtsvoll, sich selber durch das dichte und dunkle Medium von Nr. 1 auszusprechen. Nr. 1 war, wenn Nr. 2 vorherrschte, in diesem enthalten und aufgehoben, wie umgekehrt Nr. 1 den anderen als ein finsteres Innenreich betrachtete. Nr. 2 empfand den möglichen Ausdruck seiner selbst als einen Stein, der vom Rande der Welt geworfen wurde und in nächtlicher Unendlichkeit lautlos versank« ([87] S. 91f.) Was Jung an den Experimenten mit seinem Medium wie an der eignen Bewusstseinsentwicklung klar wurde ist, dass die bewusste Persönlichkeit ein äußerst fragiles Gebilde ist, das leicht in Teilpersönlichkeiten zerfallen kann. Zu jener Zeit sprach man davon, dass »Geister« Besitz von einer Person ergriffen. Die Person zeigt dann ganz andere Züge als gewöhnlich. Im Fall seines Mediums war es der Geist des Großvaters, den dieses zu Lebzeiten nicht gekannt hatte. Später kamen andere Geister dazu. In somnambulen Zuständen nahm sie den Namen Ivenes an und verwandelte sich in einen Geist unter anderen Geistern. Nach dem Aufwachen fehlten dem normalen Ich (Nr. 1) alle Erinnerungen an die medialen Phänomene, soweit sie in den Bereich der ihrem Ich fremden Persönlichkeit fielen. Die Nr. 2 ist nicht bloß eine fremdartige, sondern meist auch eine bedeutendere, umfänglichere, zeitlose Persönlichkeit. z
Multiple Persönlichkeit (7 Kap. 7)
Diese Erscheinungen, später unter multiple Persönlichkeit bekannt, beschäftigten die Forscher im 19. Jahrhundert. Es gibt eine ganze Reihe von sorgfältig protokollierten Fällen, welche ich in meinem Buch »Was tun mit unseren Komplexen« ([114] S. 40ff.) beschrieben habe. Justinus Kerners »Die Seherin von Prevorst«, die ich oben geschildert habe, gehört auch dazu. Dabei gibt es nicht nur zwei, sondern auch mehr Teil-
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Kapitel 2 • Der lange Weg und die Abenteuer auf der Suche nach der befreienden Erkenntnis
persönlichkeiten, von denen die eine die andere kennen kann, aber diese von jener nicht weiß. Zu Unrecht hat man heute diese Fallgeschichten vergessen, an welchen man die Entstehung einer Komplexpersönlichkeit studieren kann, die Dissoziabilität der bewussten Persönlichkeit bemerkt und – was für die Psychologie der Neurosen von größter Tragweite ist – das Wesen der Verdrängung erkennt. Ein aus dem Bewusstsein als inkompatibel verdrängter Inhalt ist nicht gleichsam ein verworfener Stein am Rande eines Ackers, sondern er kann sich mit anderen unbewussten Inhalten zu einer Teilpersönlichkeit assoziieren, welche gegebenenfalls als Gegenspieler zur bewussten Persönlichkeit auftritt und deren Intentionen zunichte macht. Das ist bei allen Süchtigen deutlich! Das normale Nr. 1 versteht durchaus, dass die Sucht die Person sowohl seelisch wie körperlich zerrüttet, kann jedoch mit dem »besten Willen« damit nicht aufhören trotz aller Einsicht. »Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust« (Goethe, Faust) wird hier überdeutlich. Die Psychiater mit ihren wohlmeinenden Ratschlägen richten sich an die Nr. 1, welche – wenigstens am Beginn – gar nicht krank ist, erreichen aber die wirklich kranke Nr. 2 nicht. Es kommt nämlich darauf an, ob die beiden Teilpersönlichkeiten etwas voneinander wissen und eine Beziehung zueinander haben. Die Tatsache, dass die bewusste Persönlichkeit von Zerfall in Teilpersönlichkeiten bedroht ist, ja dass sogar jede Nacht uns die Träume die Teilpersönlichkeiten auf unserer inneren Bühne vorführen als die handelnden Personen, dreht unser bisheriges Weltbild um 180 Grad. Wir bilden uns ein, Herr im eigenen Haus zu sein, aber müssen nach einiger Zeit – wie oft in der Ehe – realisieren, dass wir bloß Diener sind und jemand anders das Zepter führt. Zudem ist es ohnehin fraglich, in welchem Maße auch ein normales Ich Herr im eigenen Hause ist oder ob nicht vielmehr eine gute Kooperation von Ich und Selbst die gesunde Persönlichkeit ausmacht. Das Selbst ist nicht unbedingt die
Nr. 2, stellt aber die unbewusste Seite der Persönlichkeit dar. z
Neurotische Spaltung
Als Teilpersönlichkeit kann sie aber auch nur einen gewissen Teilaspekt des Unbewussten, einen Komplex beinhalten, der, wie oben erwähnt, zum Opponenten der bewussten Persönlichkeit auswachsen kann. Das bedeutet dann die neurotische Spaltung, welche klar zu unterscheiden ist von der schizophrenen. Erstere ist nicht unumkehrbar wie letztere. Sie ist der »Bürgerkrieg in der eigenen Seele«, wie Jung schreibt, oder »die Rechte, die nicht weiß, was die Linke tut.« z
Neurotische Dissoziation
Diese neurotische Dissoziation ist die Crux der rationalen Behandlung. Oft scheint uns diese ganz einfach, wenn sich der Patient nur etwas bemühen würde, wenn er endlich einsähe, dass…, wenn er nur aufhören würde mit… Dabei unterschätzt man meist die Einsichtsfähigkeit, indem sich der Patient das nämlich schon längst selbst gesagt hat, aber es nicht konnte. Was nützt ihm der »gute Rat« des Therapeuten, wenn er es nicht kann? Und zwar kann er es nicht aus Mangel an Willen, sondern weil ihm ein unsichtbarer Gast alle Einsichten und Absichten sabotiert. > Bezieht der Therapeut diese Unbekannte nicht in seine Gleichung ein, so bleibt er so gut wie wirkungslos. Deshalb gehört die Behandlung einer Neurose in die Hand eines Fachmannes. Auch kann nur jemand als solcher bezeichnet werden, der sich in der Lehranalyse bemüht hat, seine Teilpersönlichkeiten zu vereinigen. Für die Behandlung von Neurosen bedarf es nicht nur Erfahrungen mit der eigenen Seele, sondern auch eines Wissens um die Struktur und Funktion derselben, weshalb wir diesen historischen Wurzeln nachgehen.
83 2.5 • War es ein Rückfall in die »primitive Medizin«?
2.5.7
Vertreter des Hypnotismus
Ich habe im Titel die Frage aufgeworfen, ob die weitere Entwicklung ein Rückschritt zur primitiven Medizin sei, weil sie sich außerhalb der anerkannten Medizin abspielte. Da kommen wir nochmals zu einer so unorthodoxen Figur, welche nicht in einen akademischen Rahmen passen will (so wenig wie Paracelsus). Zwischen 1860 und 1880 waren Magnetismus und Hypnotismus derart in Verruf geraten, dass sich kein Arzt dieser Methoden zu bedienen getraute, der nicht seinen guten Ruf riskieren wollte. Auguste Ambroise Liébeault (1823–1904) wagte es dennoch. Er war das zwölfte (!) Kind einer Bauernfamilie in Lothringen und hatte es durch harte Arbeit zum erfolgreichen praktischen Landarzt in der Nähe von Nancy gebracht. Man weiß nicht, warum er den Magnetismus anwandte, obwohl viele seiner Patienten dagegen Widerstände zeigten, so dass er auf den Trick verfiel, sie entscheiden zu lassen, ob sie kostenlos mit Magnetismus behandelt werden wollten oder gegen das übliche Honorar mit »offizieller Medizin«? So kam es, dass er in kurzer Zeit eine riesige Praxis hatte, die ihm fast nichts einbrachte. Er schloss seine Praxis für zwei Jahre und schrieb in dieser Zeit ein Buch über seine Methode, welches keinen Absatz fand. Er eröffnete seine Praxis wieder mit Sprechstunden von morgens sieben bis mittags und nahm nur die Honorare, welche ihm die Patienten, meist arme Leute aus der Stadt und Bauern aus der Umgebung, anboten. Er behandelte sie alle ohne Unterschied, an welcher Krankheit sie litten, mit Hypnose. 20 Jahren lang verlachten ihn seine Ärztekollegen als Quacksalber, weil er hypnotisierte, und als Narr, weil er keine Honorare forderte. Die Fama seiner Wunderheilungen gelangte bis zu Hippolyte Bernheim (1840–1919), einem Professor der Universitätsklinik in Straßburg, der sich 1882 aufmachte diesen alten Narren aufzusuchen und seine Methode zu erlernen. Er wurde in aller Öffentlichkeit ein Bewunderer, Schüler und
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treuer Freund Liébeaults, welcher damit unversehens ein berühmter Mediziner wurde. Bernheim gab nach der Annektion des Elsass 1871 seine Stellung in Straßburg auf und wurde an die neugegründete Universität der Hauptstadt Lothringens berufen. Im Gegensatz zu seinem Lehrer verwendete er ab 1882 die Hypnose nur bei ihm geeignet scheinenden Fällen. Er war ein sehr autoritärer Mann und wandte seine Methode bei Menschen an, die an passiven Gehorsam gewohnt waren (alte Soldaten, Fabrikarbeiter). Bernheim setzte die akademische Welt von Liébeaults Methode in Kenntnis, kurz nachdem Charcot seinen berühmten Vortrag über Hypnotismus an der Académie des Sciences gehalten hatte. Dies war der Beginn eines erbitterten Kampfes zwischen den beiden Männern. Bernheim, der 1886 sein Lehrbuch veröffentlicht hatte, das ein großer Erfolg war und ihn zum Führer der Schule von Nancy machte, behauptete im Widerspruch zu Charcot, Hypnose sei kein auf Hysteriker beschränkter pathologischer Zustand, sondern beruhe auf »Suggestion«. Suggestibilität sei eine Eigenschaft, welche alle Menschen in unterschiedlichem Maße besäßen. Er behauptete, die in der Salpêtrière vorgeführten Zustände seien künstlich hervorgebracht. Die Hypnose verbreitete sich als Methode in vielen europäischen psychiatrischen Kliniken (Auguste Forel, Burghölzli). Sigmund Freud besuchte ihn 1889 für ein paar Wochen. Um 1900 galt Bernheim als der hervorragendste Psychotherapeut Europas, doch kaum zehn Jahre später war er fast vergessen ([72] S. 142).
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Kapitel 2 • Der lange Weg und die Abenteuer auf der Suche nach der befreienden Erkenntnis
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112 Ribi A (1999) Die Suche nach den eigenen Wurzeln. Peter Lang, Bern 113 Ribi A (2002) Anthropos: Der ewige Mensch. Der ewige göttliche und kosmische Mensch in Geschichte, Politik und Tiefenpsychologie. Peter Lang, Bern 114 Ribi A (1989) Was tun mit unseren Komplexen? Über die Dämonen des modernen Menschen. Kösel, München. http://www.opus-magnum.de 115 Ritter J, Gründer K (Hrsg.) (1992) Historisches Wörterbuch der Philosophie. R-Sc. Wiss. Buchgesellschaft, Darmstadt 116 Rothschuh KE (1953) Geschichte der Physiologie. Lehrbuch der Physiologie. Springer, Berlin Göttingen Heidelberg 117 Schubert GH von (1808) Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft. Arnold, Dresden 118 Wagner M (2009) Exorzismus heute. Gütersloh 119 Wirz P (1941) Exorzismus und Heilkunde auf Ceylon. Hans Huber, Bern 120 Witzig J (1982) Analytical Psych. 27, 131–148 121 Wolters G (Hrsg.) (1988) Franz Anton Mesmer und der Mesmerismus. Wissenschaft, Scharlatanerie, Poesie. (Konstanzer Bibliothek; Bd. 12). UVK Universitäts-Verlag Konstanz, Konstanz 122 Wright JP (2004) Die Lebensseele. In: Die Philosophie des 18. Jahrhunderts. Bd. 1: Großbritannien und Nordamerika/Niederlande. In: Holzhey H, Mudroch V (Hrsg.) Grundriss der Geschichte der Philosophie. Schwabe, Basel 123 Zacharias G (1964) Satanskult und Schwarze Messe. Ein Beitrag zur Phänomenologie der Religion. Limes, Wiesbaden 124 Zumstein-Preiswerk S (1975) C.G. Jungs Medium. Die Geschichte der Helly Preiswerk. Geist und Psyche. Kindler Tb. Vorwort von H. Balmer. München
87
William James und der Pragmatismus 3.1
Definition – 88
3.2
Wahrheit und ihre Bedeutung – 89
3.3
Experimentalismus – 91
3.4
Psychologie der Religion – 94 Literatur – 95
A. Ribi, Neurose – an der Grenze zwischen krank und gesund, DOI 10.1007/978-3-642-16148-3_3, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
3
88
3
Kapitel 3 • William James und der Pragmatismus
C.G. Jung hielt viel von William James (1842– 1910). Er lernte ihn auf seiner Amerikareise mit Sigmund Freud zu den Feierlichkeiten an der Clark-University im Jahr 1909 kennen. In ihren zwei privaten Gesprächen interessierte Jung, inwiefern die Parapsychologie einen Zugang zum Unterbewusstsein zu eröffnen vermöchte ([15] S. 240f.). Parapsychologie, Spiritismus, Gesundbeten und Anwendungen der Psychotherapie für nicht-medizinische Zwecke waren ihre gemeinsamen Themen.
Freud dagegen stufte die amerikanisch-religiöse
Therapie als »gefährlich und unwissenschaftlich« ein [15]. Der Dritte im Bunde war Théodore Flournoy. Dieser bildete für Jung ein Gegengewicht zu Freud, dessen »abwertende Art, jenes Ausschnüffeln des Niederen und der Sexualität« er immer weniger mochte. Er schrieb Flournoy das Verdienst zu, ihm die liebevolle Betrachtung eines Falles beigebracht zu haben und auch die Dinge korrekt zu sehen als Ganzes. Nach Jungs Ansicht war Flournoy ein Philosophieprofessor, der seine Patienten über einen »wahrhaft objektiven approach« analysierte. Im weiteren Verlauf der Unterhaltung verstanden sich Jung und James ausgezeichnet, was die Einschätzung des religiösen Faktors der Psyche betraf. Er konnte mit Befriedigung feststellen, dass sowohl James als auch Flournoy seine »universalistische« Einstellung teilten, weil beide »zur Beobachtung neigten und viel zu feinfühlig waren, um in direkten Kontakt zum Objekt zu treten«. James beurteilte er als ein »bisschen trocken«, der seine »Sexualität in eine Dunkelkammer eingesperrt« hielt und dessen »participation« am Leben nur sehr gering war. Er war lang aufgeschossen und dünn, erwies sich als äußerst freundlich, aber blutleer. Letztlich erwies sich James jedoch als unfähig, Jung einige der klar umrissenen theoretischen Positionen an die Hand zu geben und jene Antworten zu liefern, welche er unbedingt brauchte, aber von Freud zu seiner wachsenden Bestürzung nie würde erwar-
ten können. Mit einem gewissen respektvollen Bedauern stufte Jung am Ende James als einen »bloßen Philosophen« ein. Leider konnte sich ihre Beziehung nicht weiter entwickeln, denn James war bereits schwer krank und starb im darauffolgenden Jahr (1910) [15]. Jung hat sich eingehend mit den Jamesschen Typen auseinandergesetzt (GW 6, 505ff.), aber dessen Charakterisierung als zu eindeutig, subjektiv präjudiziert entlarvt. Das ist das Großartige an Jungs Darstellung der Typen, dass er praktisch alle objektiv mit ihren Vorzügen und Schwächen darstellen konnte, was ihm nicht so schnell ein anderer gleichtun wird. Er hat auch den Pragmatismus, den er grundsätzlich bejahte, wegen seiner Einseitigkeit und Begrenztheit kritisiert (GW 6, 541):
» Der Pragmatismus kann darum nichts anderes sein als eine Übergangseinstellung, welche der schöpferischen Tat den Weg bereiten soll durch die Beseitigung von Vorurteilen.
«
Mit diesen Ausführungen über Jungs persönliche Begegnung mit James und seiner Beurteilung des Pragmatismus im Hintergrund können wir uns diesem etwas näher zuwenden.
3.1
Definition
Das Wort »Pragmatismus« leitet sich vom Griechischen Pragma = Tat, Praxis, Ding ab. Bei Kant hat »pragmatisch« die Bedeutung von »praktisch«, »nützlich«. In verschiedenen Zusammenhängen ist es der Gegenbegriff zu »spekulativ«, »theoretisch«, »schulmäßig«, »moralisch« im Sinne von »klug«, »geschickt«, »zweckorientiert« und »praxisbezogen«. Kants Verständnis und Verwendung des Wortes ist der prägende Ausgangs- und Bezugspunkt verschiedener Autoren für die Bestimmung dieses Begriffes ([19], S. 69). Der Pragmatismus ist eine von Charles Sanders Peirce (1839–1914) und William James begrün-
89 3.2 • Wahrheit und ihre Bedeutung
dete philosophische Strömung. Ersterer war der Philosoph, der die Denkarbeit für das System geleistet hat. Er stützt sich auf Roger Bacon (1214–1292), den »doctor mirabilis« der mittelalterlichen Erfahrungswissenschaft, der die Berufung auf Autoritäten verwarf und sich stattdessen auf die nachprüfbare Erfahrung stützte, um zur Wahrheit zu finden. Da Sein und Geschehen eine Einheit bilden, vermöge das Experiment die Geheimnisse der Natur zu erfassen. Die innere Erfahrung werde durch göttliche Erleuchtung bewirkt. Peirce sagt: »Der Reiz des Zweifels sei der einzige unmittelbare Beweggrund für unser Ringen um eine Überzeugung.« [14] Der Pragmatismus ist der Versuch einer Vermittlung von Theorie und Praxis, von Erkenntnis und Interesse. Dazu meint der Herausgeber von Peirce, »dass ein Begriff, d. h. der rationale Bedeutungsgehalt eines Wortes oder eines anderen Ausdrucks ausschließlich in seinem denkbaren Bezug auf die Lebensführung besteht… Für die Lehre erfand er [= Peirce] den Namen Pragmatismus… das auffallendste Merkmal der neuen Theorie [ist], dass sie eine untrennbare Verbindung zwischen rationaler Erkenntnis und rationalem Zweck anerkannte« ([14] S. 101). Pragmatismus ist eine Methode zur Klärung und Bestimmung der Bedeutung von Zeichen. Die pragmatische Maxime bedient sich der Methode der Übersetzung eines Zeichens in eine konditionale Aussage, d. h. in eine Handlungsanweisung, die eine Operation und deren Resultat (wenn… dann) vorschreibt (Peirce) [9]. James’ California Lecture, mit deren Erscheinen 1898 der Pragmatismus anfing bekannt zu werden, ist eine Wiederholung von Gedanken seines [James] psychologischen Hauptwerkes »The principles of psychology« (1890). Jedes Element der Realität hat für ein anderes Element einen Nutzen. Bewusstseinszustände bilden in ihrer Abfolge einen »stream of thought«. Das Denken ist an ein Subjekt gebunden: Es gibt nur ein personales Bewusstsein. Dieses ist ein Kontinuum, das mit unabhängigen Objekten zu tun hat. Es ist
3
keine konstante Größe, weil es unter der Bedingung der Zeit steht und nach seinen Interessen auswählt. Was für den Menschen Realität heißt, muss in Begriffen beschreibbar sein, welche für menschliche Erfahrung relevant sind.
3.2
Wahrheit und ihre Bedeutung
Für James ist Wahrheit etwas, das wir berücksichtigen müssen, um nicht unterzugehen. In diesem Zwang zur Wahrheit gründet die Autorität der Wahrheit. Wahrheit ist das Ergebnis menschlicher Tätigkeit, welche in der Unterscheidung von Begriff und Gegenstand, Gedanke und Sachverhalt, Satz und Tatsache besteht. Für ihn hat Wahrheit mehr den Charakter von Erfindung, d. h. einer Konstruktion, als von Entdeckung. »Wahrheit« ist in Wahrheit nur der Sammelbegriff für die vielen einzelnen Wahrheiten, die in einem langen, kritischen Prozess gefunden werden, in welchem die neuen Wahrheiten den alten Wahrheiten assimiliert werden. Keine Theorie ist eine vollkommene Übersetzung der Realität. Moralische und religiöse Annahmen, Hypothesen, sind wahr, wenn sie auf befriedigende Weise »arbeiten«. > James ist nicht an einem Gottesbeweis interessiert, sondern an den psychischen und moralischen Wirkungen des Glaubens, an die »hypothesis of God«, auf Menschen, für deren Leben dieser Glaube etwas Entscheidendes bedeutet und einen qualitativen Unterschied macht [9].
Das ist ein Florilegium der Auffassungen von James, welches zeigt, wie sehr Jung mit ihm
übereinstimmte, was nicht heißt, dass er von jenem beeinflusst war, denn in Jungs Bibliothek finden sich nur vier von seinen Büchern, darunter auch jenes, aus dessen Vorwort ich zitiert habe. Darum will ich dem Leser noch einige Kostproben aus dem Inhalt geben. Es handelt
90
Kapitel 3 • William James und der Pragmatismus
sich um Vorlesungen, welche James von November bis Dezember 1906 am Lowell-Institut in Boston und Januar 1907 an der Columbia Universität in New York hielt, also relativ kurz vor der Begegnung mit Jung:
3
» Chesterton sagt: Es gibt Leute – und ich gehöre zu ihnen –, die glauben, das praktisch bedeutsamste Ding an einem Menschen sei seine Weltanschauung. […] Die Philosophie, die in jedem von uns von so großer Bedeutung ist, sie ist nichts fachmännisch Formulierbares. […] Ein Weltbild, an das ein Professor glaubt, muss jedenfalls ein solches sein, das breitere Auseinandersetzungen verträgt. […] Die Geistesrichtung wird durch sein Temperament weit stärker beeinflusst als durch seine streng objektiven Prämissen. […] Er vertraut seinem Temperament [Typologie!]. ([9] S. 1–4)
«
» Im Pragmatismus ist die Handlungsweise die ganze Bedeutung eines Gedankens. […] eine andere als die praktische Bedeutung gibt es für uns nicht. […] Der Pragmatismus repräsentiert… die empirische Richtung, allein er repräsentiert sie in einer radikaleren und einwandfreieren Form als bisher. Ein Pragmatist wendet sich weg von Abstraktionen und Unzulänglichkeiten, weg von Problemlösungen, die nur Worte sind, weg von schlechten à priori-Begründungen, von festgelegten Prinzipien, von geschlossenen Systemen, weg von dem Absoluten und Ursprüngen. Er wendet sich vielmehr zu der Wirklichkeit und Angemessenheit, zu den Tatsachen, zum Handeln und zur Macht. Das bedeutet so viel als Herrschaft der empirischen Stimmung und ehrliches Aufgeben des rationalistischen Temperaments. Es bedeutet die freie Luft und die mannigfachen Gestaltungen der Natur, entgegengehalten dem Dogma, der Künstelei, dem Anspruch auf endgültige Wahrheit. ([9] S. 28–32)
«
Die Bücher von James, welche sich in der Bibliothek von Jung befinden, stammen alle aus der
Zeit nach ihrer Begegnung. Demnach dürfte der Einfluss der Ansichten von James doch größer gewesen sein, als aus den Notizen bei Deirdre Bair hervorgeht. Das Verwerfen aller Dogmatik in einer Wissenschaft dürfte Jung von dem, was wir von der zweiten Begegnung mit Freud in seinen »Erinnerungen« erfahren ([11]: »Mein lieber Jung […] Sehen Sie, wir müssen daraus [= Sexualtheorie] ein Dogma machen, ein unerschütterliches Bollwerk.«), so recht aus dem Herzen gesprochen sein. Selbstverständlich habe ich aus der Schrift von James nur jene Gedanken herausgezogen, welche für Jungs Weltsicht bestimmend sind.
» Sie müssen aus jedem solchen Wort [Gott, Materie, Vernunft, das Absolute, Energie] seinen praktischen Kassenwert (cash value) herausbringen, müssen es innerhalb des Stromes Ihrer Erfahrung arbeiten lassen. […] Als annehmbare Wahrheit gilt ihm [= dem Pragmatismus] einzig und allein das, was uns am besten führt, was für jeden Teil des Lebens am besten passt, was sich mit der Gesamtheit der Erfahrungen am besten vereinigen lässt. […] Wir haben Grund gefunden, ihm [= dem gesunden Menschenverstand] zu misstrauen, Grund zu vermuten, dass seine Kategorien trotz ihres ehrwürdigen Alters, trotz ihres allgemeinen Gebrauches, trotzdem, dass sie in den Bau der Sprache eingefügt sind, dennoch nichts anderes sein dürften, als eine Anzahl außerordentlich erfolgreicher Hypothesen… ([9] S. 33, 51, 121)
«
William James hatte in Amerika und England
einen großen Einfluss, während er bei uns beinahe vergessen ist. Mir scheint er im Zusammenhang mit der Entwicklung eines Verständnisses für Neurosen deshalb von nicht zu unterschätzender Bedeutung, weil er einen weiten Horizont hatte, welcher sich nicht nur auf die traditionellen Gebiete der Psychologie beschränkte, sondern auch die Parapsychologie und religiösen Phänomene einschloss. Endlich konnte die Enge
91 3.3 • Experimentalismus
der nur medizinischen Weltsicht durchbrochen werden. Daher möchte ich noch etwas länger bei diesem Mann verweilen, besonders da sich in der weiteren Entwicklung die Sicht wieder auf das rein Medizinische verengte. Sein opus magnum sind die 1890 publizierten »Principles of psychology«, von welchen er 1892 einen »Briefer course« veröffentlichte. Es fand an Universitäten und in Colleges weite Verbreitung und übte auf die akademische Bewegung einen gewaltigen Einfluss aus [2]. In seiner späteren Zeit bezeichnete er seine philosophische Richtung als »radikalen Empirismus« [7]; dieses Buch erschien posthum 1912. Die acht Aufsätze darin wurden in der kurzen Zeit zwischen Juli 1904 und Februar 1905 geschrieben. Darin werden Ideen formuliert, welche über 30 Jahre »gekocht« hatten. James stammt aus einer begüterten Familie und verbrachte einen großen Teil seiner Kindheit und Jugend in England, Frankreich und der Schweiz. Sein Vater, Henry James d. Ä., war selber Autor eines umfangreichen theologisch-philosophischen Werkes, in seiner Unabhängigkeit unkonventionell und provozierend. Sein Bruder Henry James war ein bekannter Romanschriftsteller. Von ihrem Einfluss sind die unabhängige Denkweise und der elegante Stil von William James geprägt. Zuerst wollte er Kunstmaler werden, studierte dann aber Medizin und erlangte an der Harvard-Universität (Cambridge/Mass.) den Doktorgrad. An dieser Universität spielte sich auch seine Karriere ab: 1872 wurde er Dozent für Anatomie und Physiologie, 1880 Professor für Physiologie und Philosophie, 1897 für Psychologie und Philosophie. Zu seinen bekanntesten Schülern gehört J.B. Watson, ein Hauptvertreter des Behaviorismus. Bis zuletzt war James mit Peirce befreundet, dem er im Alter finanziell zu helfen versuchte.
3.3
3
Experimentalismus
Nach diesem Lebenslauf will ich dem Leser einen Überblick über sein Werk geben. Im späten 19. Jahrhundert gab es in der Psychologie zwei Päpste: James in Amerika und Wilhelm Wundt in Leipzig. Wundt (1832–1920) war zunächst Mediziner, seit 1864 Professor der Physiologie in Heidelberg, seit 1874 Professor für induktive Philosophie in Zürich, seit 1875 Professor der Philosophie in Leipzig, wo er das erste Institut für experimentelle Psychologie gründete. Er war ein enzyklopädischer Geist und versuchte die Philosophie der Geistesgeschichte auf eine psychologische Grundlage zu stellen (10 Bde. Völkerpsychologie). Er interessierte sich auch für parapsychologische Erscheinungen. Wie Wundt befasste sich auch James mit psychologischen Experimenten, setzt sich aber recht kritisch mit jenem auseinander. Er nannte das Experimentalismus, radikalen Materialismus und reduktionistischen Positivismus, der nie zu einem Verständnis der ganzen Persönlichkeit führen könne. Die Experimentalisten lehnten James nach der Publikation seiner »Principles« (1890) wegen seiner Unterstützung der Geistheiler ab und klagten ihn an, er mache eine Flucht in die Theologie und verneinten jegliche Philosophie nach ihrer eigenen Definition ([22] S. 4). Um 1890 bekam das deutsche Wissenschaftsideal mit seiner Betonung des Determinismus, Materialismus und Reduktionismus auch an amerikanischen Universitäten mehr Gewicht. James bevorzugte dagegen die Psychologie neu zu definieren als eine personenzentrierte Disziplin, in lebendigem Kontakt sowohl mit Philosophie und den Humanwissenschaften als auch mit Physik und Naturwissenschaft. James nahm eine Vielfalt von Problemen auf, von experimenteller Psychopathologie, psychischer Forschung, sozialer Psychologie der Massen, der Psychologie des Malens, unseres Verständnisses von schöpferischen Genien, der Psychologie der Erziehung
92
3
Kapitel 3 • William James und der Pragmatismus
bis zur Erfahrung der Transzendenz bei religiöser Erweckung ([22] S. 15). Bei der Rezension eines Artikels von Thomas H. Huxley betonte James die Fähigkeit des Menschen, Veränderungen seiner physikalischen Umwelt hervorzurufen, welche bei weitem jene anderer Gattungen übertrafen, die die Umwelt zwangen, sich den menschlichen Bedürfnissen anzupassen statt umgekehrt. Bewusstsein wird folglich eine wirksame Kraft in der biologischen Evolution der Arten. Das schöpferische »brainstorming« war ebenso wichtig für eine Entscheidung wie eine Entscheidung selbst, weil die größtmögliche Zahl von Wahlmöglichkeiten die bestangepasste Lösung wählte ([22] S. 11). Angeregt von einer Arbeit Pierre Janets, dass ein Somnambuler mit doppelter Persönlichkeit während automatischem Schreiben kein Gefühl in Hand und Arm habe, wiederholte er die Versuche und bestätigte eine wirkliche Dissoziation des Bewusstseins ([22] S. 20). James’ größte Entdeckung war Leonora Piper, das wohl besterforschte Medium. Im Laboratorium in Harvard wurden zahlreiche Experimente von Hypnose und posthypnotischer Suggestion durchgeführt. Durch die britischen Psycheforscher wurden die ersten Arbeiten von Pierre Janet über Dissoziation und multiples Bewusstsein erstmals bestätigt und in den Vereinigten Staaten 1887 bekannt. James und seine Kollegen von Boston wurden der Weg, auf welchem die ersten Neuigkeiten der Werke von Breuer und Freud über Hysterie zur amerikanischen psychologischen Literatur gelangten ([22] S. 23). Mit seinen »Principles of psychology« (1890) nahm er den abstrakten Philosophen das Studium des geistigen Lebens weg und, indem er Denken und Fühlen als physiologische Funktionen definierte, befestigte er die Psychologie als eine eigene Disziplin innerhalb der Naturwissenschaften ([22] S. 25). Die Psychologie musste von der Metaphysik abgetrennt werden. Er versuchte ein allumfassendes Bild der Gesamtper-
sönlichkeit, sowohl in ihren abnormalen als auch in übernormalen Manifestationen zu entwerfen ([22] S. 27). Die Verbindung von Gehirn und Geist war ein wiederkehrendes metaphysisches Thema ([22] S. 31). Für James, wie für die französischen Experimentatoren, gab es kein hypostasiertes Unbewusstes, als ob das Unbewusste ein von anderen Zuständen unabhängiges Ding wäre. Es gibt bloß multiple Zustände von Bewusstsein, von denen jedes sich der anderen bewusst oder nicht bewusst ist ([22] S. 35). z
Bewusstseinsfeld
Kein Gedanke existiert unabhängig als eine isolierte Wesenheit im Bewusstseinsfeld. (James führte diesen Begriff ein.) Ein Gedanke ist immer durch einen Gefühlston gefärbt. Gefühle spezifizieren die Ideen als angenehm oder abstoßend, sie verbinden Ideen untereinander und sie weisen auf einen Halbschatten oder »fringe«. James war ein Leben lang von der »fringe of consciousness« fasziniert. »Fringe« heißt Franse, Besatz, Rand, Saum, Einfassung, Randbezirk, äußerer Bezirk, Rand(zone). Ungeachtet wie klar und konkret die gewohnte Bilderwelt eines gegebenen Geistes ist, die in ihm dargestellten Dinge erscheinen immer umgeben von ihrem »fringe« von Beziehungen und das ist ein ebenso integraler Teil des Objektes eines Geistes wie die Dinge selbst ([2] S. 212). Im Aufsatz »A world of pure experience« schreibt er, dass unser Feld der Erfahrung keine klaren Grenzen wie unser Gesichtsfeld habe. Beide sind für immer durch ein Mehr besetzt, das ständig sich entwickelt und einander fortlaufend überlappt, wie das Leben fortschreitet [7]. Jung hat diesen Begriff des »fringe of consciousness« dankbar aufgenommen. Das schlagendste Beispiel dafür sind meines Erachtens die Assoziationen zu irgendeinem Bewusstseinsinhalt, nach denen wir bei der Analyse von Träumen fragen. Sie sind zwar nicht im Traumbild enthalten, aber kommen nicht zufällig von
93 3.3 • Experimentalismus
irgendwoher, sondern sind eng mit dem Bild sinngemäß verbunden. Im späten Referat über »Die Schizophrenie« bezeichnet Jung die »fringe of consciousness« als normalerweise unbewusste Perzeptionsvariante, welche bei einem »abaissement du niveau mental« (Janet) (z. B. durch Meskalinwirkung) zustande kommt und dadurch die Apperzeption erstaunlich bereichert (GW 4, 569 A6). James hat verschiedene Fälle von multipler Persönlichkeit (Ansel Bourne, Mary Reynolds) nachgeprüft. Diese Fälle legen das Vorhandensein mehrerer Zustände von Bewusstsein jenseits des Wachzustandes nahe, bei denen die persönliche Identität nicht zusammenhängend in ein und derselben Person von einem Zustand zum nächsten ist ([22] S. 37). Er machte viele Experimente mit Hypnose. Die deutsche Wissenschaft ganz allgemein und daher auch die psychologischen Laboratorien bestritten die Beweise für die Wirklichkeit des Unterbewusstseins. Man hielt allein psychophysikalische Messungen, Reaktions-Zeit-Experimente und kontrollierte introspektive Analysen des Bewusstseins im Laboratorium für die einzigen legitimen Methoden, durch welche die Psychologie sich als Naturwissenschaft auswies. Aber nach der Ansicht von James standen die Deutschen im Widerspruch mit der funktionellen Psychologie, welche mit Forschungen auf dem Gebiet der französisch-schweizerisch-englisch-amerikanischen Psychotherapie beruhte ([22] S. 40). James machte sich zum stärksten Anwalt der Spiritisten und Geistheiler, nicht so sehr, was die Frage eines Lebens nach dem Tode, des Hellsehens oder der Telepathie betrifft, sondern Kraft der Tatsache, dass diese ungewöhnlichen Phänomene die einzigen waren, welche direkt mit den Problemen des Unterbewussten zu tun hatten ([22] S. 40). Er arbeitete eng mit Frederic William Henry Myers (1843–1901) und Edmund Guerney in der Society für Psychical Research zusammen ([22] S. 50). Er berichtete über Breuer
3
und Freuds »Über den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene«, worin die Kur im Herausziehen des psychischen Traumas unter Hypnose bestand und in der Durcharbeitung der emotionalen Wirkungen, wie heftig diese auch seien. Sie stellten damit eine neue Verbindung mit dem Bewusstsein her, wodurch der Bruch behoben war ([22] S. 54). James war stolz darauf, dass gewisse fernöstliche Kulturen eine geistig differenzierte Psychologie innerer Erfahrung entwickelt hatten, vor allem die Asiaten, welche Meditation und Yoga lehrten. Doch konnten ihre Methoden nicht direkt in die Sprache der wissenschaftlichen Empirie übersetzt werden. Er war auch in nahem Kontakt mit den Entwicklungen in vergleichender Religionskunde in Harvard, welche weltberühmt ist. Er regte James Houghton Wood an, die indische Philosophie zu studieren. Wood ging zum Studium nach Leipzig zu Paul Deussen und übersetzte die Yoga Sutras des Patañjalis für die Harvard Oriental Series ([22] S. 62). > Wandlung passiert durch Stärkung der individuellen Psyche, durch Erziehung und Anstrengung zur Entwicklung des Charakters und durch Gestaltung des kollektiven Geistes durch sozialen Zusammenhalt oder Zerstreuung je nach Bedarf ([22] S. 66).
In uns haben wir unzählige Bewusstseinsströme. Jeder von uns ist größer als wir wissen, was Myers behauptete, und dennoch haben wir in uns eine dunkle Seite, bestialisch und unentwickelt. Wir sind fähig, beide zu erfahren, sowohl in der Psychopathologie als auch in der Transzendenz ([22] S. 67). Myers Formulierungen waren für die Entwicklung der Psychologie von James und seine Philosophie in den 1890er Jahren zentral. Bis zu ihrer Zeit waren alle Psychologien nach klassischen und akademischen Richtlinien geschrieben. So war z. B. der Geist (»mind«) als Abstraktion behandelt, in welcher man nur die Züge des normalen Erwachsenen erkennen
94
Kapitel 3 • William James und der Pragmatismus
konnte: »Eine Art Terrasse im Sonnenlicht war vorgestellt, auf welcher er seine Tätigkeit ausübte. Aber, wo die Terrasse aufhörte, da hörte auch der Geist auf…« ([22] S. 80)
3
3.4
Psychologie der Religion
Am Anfang des 20. Jahrhunderts war die Psychologie der Religion als ungeliebtes Stiefkind der wissenschaftlichen Psychologie abgeschrieben worden. Seine Ingersoll Vorlesung von 1897 mit dem Titel »Immortality: two supposed objections to the doctrine« wurde 1898 in Harvard publiziert. Der erste Punkt war die Ansicht, dass das Gehirn der Überträger des Bewusstseins ist, dieses aufhört, wenn das Gehirn stirbt, doch nur in dem Sinne, dass mit diesem einzigartigen Organ nichts mehr übermittelt wird. Doch etwas existiert vor und etwas passiert auch nach dem Ableben des einmaligen Überträgers, auf welchem der Überträger das Leben und seine Erfahrungen seine Eindrücke hinterlässt. Dieses Etwas bezeichnet er als eine »infinite mother-sea« des Bewusstseins, welche uns jederzeit umgibt. Er betont, unser irdisches begrenztes Bewusstsein ist ein Ausschnitt aus der größeren wahren Persönlichkeit, welche sogar in der Gegenwart eine Wirklichkeit hinter der Szene ist. Das kleinere Selbst kann dennoch Eindrücke im größeren Bewusstsein hinterlassen ([22] S. 84). Jung hat das Bewusstsein als eine Insel im Meer aufgefasst. In einem Brief an John R. Smythies schreibt er:
» Das offensichtlich willkürliche Verhalten von Zeit und Raum bei außersinnlichen Wahrnehmungen scheint eine solche Hypothese zu fordern [nämlich die Elastizität von Zeit und Raum]. Anderseits kann man sich fragen, ob wir auch weiterhin, wie bisher, in Begriffen wie Zeit und Raum denken können, während die moderne Physik diese Begriffe allmählich fallenlässt zugunsten eines Zeit-Raum-Kontinuums,
in dem Raum nicht mehr Raum und Zeit nicht mehr Zeit ist. Die Frage lautet in Kürze: sollen wir die Zeit-Raum-Kategorien überhaupt aufgeben, wenn es um die psychische Realität geht? Es könnte sein, dass die Psyche als unausgedehnte Intensität aufzufassen wäre und nicht als ein in der Zeit sich bewegender Körper. Man könnte annehmen, dass die Psyche allmählich von kleinster Extensität zu unendlicher Intensität aufsteigt und den Körper irrealisiert, wenn sie z. B. Lichtgeschwindigkeit überschreitet. Das würde die »Elastizität« des Raumes bei außersinnlichen Wahrnehmungen erklären. Ohne einen im Raum bewegten Körper kann es keine Zeit geben, und das würde die »Elastizität« der Zeit erklären […] Von diesem Gesichtspunkt aus könnte das Hirn eine Umschaltstation sein, in der die relativ unendliche Spannung oder Intensität der Psyche an sich in wahrnehmbare Frequenzen oder »Ausdehnungen« gewandelt wird. Umgekehrt erklärt sich das Ausbleiben introspektiver Körperwahrnehmungen durch eine graduelle »Psychifizierung«, d. h. Intensivierung auf Kosten der Ausdehnung. Psyche = höchste Intensität auf kleinstem Raum. ([10] II, S. 253)
«
Diese etwas schwierigen Überlegungen von Jung habe ich angeführt, um zu zeigen, wie er an den gleichen parapsychologischen und synchronistischen Erscheinungen interessiert war und diese über James hinaus weitergeführt hat. Diese Erscheinungen sind nicht so sehr für das Verständnis der Neurosen als vielmehr für die Auffassung von der Psyche wichtig. Das Phänomen multipler Persönlichkeit hat die naive Vorstellung von Persönlichkeit und ihrem Bewusstsein erschüttert. Die Ausweitung der Untersuchung der Psyche von der Psychopathologie auf ihre Beziehung zur Transzendenz hat das Weltbild wesentlich erweitert, sogar über das Leben im Leib hinaus! Die Gifford-Vorlesungen über Naturreligionen wurden zuerst an der Universität Edinburgh
95 Literatur
gehalten und dann 1902 als »Varieties of religious experience« publiziert. Die zentrale These dreht sich darin um das Unterbewusste (»subconscious«) und seine Erforschung als Eingang zur Erweckung mystischer religiöser Erfahrung. Das religiöse Leben in uns wird durch tiefempfundene Emotionen bewusst, welche sich ausdehnen und zusammenziehen in uns und nicht durch rein abstrakte Vorstellungen [= Lehre] ([22] S. 86). Der deutsche Physiker Gustav Theodor Fechner (1801–1887), Ästhetiker und Begründer der modernen Psychophysik, schrieb ein kleines Büchlein vom Leben nach dem Tode, worin er den Panpsychismus predigt, eines der Materie einwohnenden Bewusstseins. Das gegenwärtige Bewusstsein ist der Träger für ein höheres, geistiges Leben nach dem Tode. James war so beeindruckt von seinem Problem des Einen in den Vielen, dass er eine Einführung zur englischen Übersetzung schrieb ([22] S. 137). > Sinn kommt ins Bewusstseinsfeld durch die Sprachsymbole und die Vorstellung abstrakter Gedanken [= Ideen], erwärmt durch Emotionen, und stets verändert durch ankommende Sinnesreize und den derzeitigen physiologischen Zustand des Organismus. Keine objektive äußere Welt kann bestehen, außer als eine Funktion eines gewissen Bewusstseins ([22] S. 142, 144).
Bei der Clark-Konferenz 1909 traf James auch Freud, den er auf einem Spaziergang begleitete. James erlitt einen Anfall von Angina pectoris und bestand darauf, dass Freud den Spaziergang fortsetzt, was dieser auch tat und den kranken James seinem Schicksal überließ. Er beschrieb Freud als einen »regular hallucine«. Gegenüber Theodor Flournoy äußerte er im Vertrauen, er denke Freud sei von »fixen Ideen« besessen ([22] S. 146).
3
Literatur Primärliteratur (Quellen) Werke von William James 1 James W (1986) Essays in psychical research, vol. 16. Harvard University Press, Cambridge (Mass.) London (England) 2 James W (1984): Psychology: Briefer course, vol. 14. Harvard University Press, Cambridge (Mass.) London (England) 3 James W (1983) The principles of psychology (1890). Harvard University Press, Cambridge (Mass.) London (England) 4 James W (1983) Dover Publications (1950), vol. 2. The works of essays in psychology, vol. 13. Harvard University Press, Cambridge (Mass.) London (England) 5 James W (1982) Essays in religion and morality: vol. 11. Harvard University Press, Cambridge (Mass.) London (England) 6 James W (1979) Die Vielfalt religiöser Erfahrung. Eine Studie über die menschliche Natur. (Original: The varieties of religious experience). Freiburg/Br. 7 James W (1976) Essays in radical empiricism. vol. 3. Harvard University Press, Cambridge (Mass.) London (England) 8 James W (1950) The correspondence of William James. McDermott J I. (ed) vol. 12. Dover Publications 9 James W (1907) Der Pragmatismus. Ein neuer Name für alte Denkmethoden. Philosophische Bibliothek (1977). 217. (Einleitung: Oehler K) Original: Pragmatism: A new name for some old ways of thinking. Longman’s Green and Co., New York Weitere Quellen 10 Jaffé A (Hrsg.) (1972/73) Briefe. Zweiter Band 1946–1955 (1972). Walter, Olten Freiburg. S. 253 11 Jaffé A (Hrsg.) (1971) Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G. Jung. Walter, Olten. S. 155 12 Jung CG (1995) Freud und die Psychoanalyse. GW 4 (§ 569 A6). 18 Bände. Gesammelte Werke. Walter, Solothurn Düsseldorf 13 Jung CG (1995) Psychologische Typen. Gesammelte Werke 6 (§ 505ff., 541). Gesammelte Werke. Walter, Solothurn Düsseldorf 14 Martens E (1975) Texte der Philosophie des Pragmatismus. Philipp Reclam Jun., Stuttgart Sekundärliteratur 15 Bair D (2005) C.G. Jung – Eine Biographie. A. Knaus, München 16 Breuer J, Freud S (1893) Über den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene. Leipzig und Wien 17 Corti WR (Hrsg.) (1976) The philosophy of William James. Meiner, Hamburg 18 Kamber R (2006) William James essays and lectures. (Auswahl der wichtigsten Schriften). New York, Pearson
96
Kapitel 3 • William James und der Pragmatismus
19 Kühne-Bertram G (Hrsg.) (1989) Historisches Wörterbuch der Philosophie, s.v. Pragmatisch Bd. 7. Sp. 1241–1244. Schwabe, Basel 20 Proudfoot W (ed) (2004) William James and a science of religions. Reexperiencing the varieties of religious experience. Columbia Series in Science and Religion. Columbia University Press, New York 21 Rowe SC (1996) The vision of James. Element Books, Rockport 22 Taylor E (1996) William James on consciousness beyond the margin. Princeton Univ. Press, New Jersey
97
Die Rolle des Traumas bei Entstehung der Neurose 4.1
Traumatische Neurose – 98
4.2
Hypochondrie – 98
4.2.1 4.2.2
Spinalirritation – 98 Neurasthenie – 99
4.3
Simulation und Krankheitsgewinn – 100
4.4
Das kollektive Unbewusste bzw. Schwelle des Bewusstseins – 102 Literatur – 103
A. Ribi, Neurose – an der Grenze zwischen krank und gesund, DOI 10.1007/978-3-642-16148-3_4, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
4
98
Kapitel 4 • Die Rolle des Traumas bei Entstehung der Neurose
Nun muss ich den Leser aus dieser unendlich weiten Geisteswelt, die ich in den vorherigen Kapiteln ausgebreitet habe und zu der es noch so manches zu ergänzen gäbe, wieder auf das normale Erdendasein zurückführen! Zurück also zur Neurose und zu einem interessanten Phänomen zu Beginn der Eisenbahnzeit.
4
Mit dem Aufkommen der Eisenbahn, welche von den Zeitgenossen als wutschnaubendes Ungeheuer erlebt wurde, gab es Unfälle, in welchem Reisende Stauchungen der Wirbelsäule erlitten. Diese »railway spine« wurde von John Eric Erichsen (1818–1896), einem berühmten Londoner Chirurgen, beschrieben, der von »spinal concussion« bei Eisenbahnunfällen schrieb, aber die Neurosenform einer »railway spine« ins Land der Mythen verbannte. In sechs Vorlesungen führte er sorgfältig seine Beobachtungen »On railway and other injuries of the nervous system« [2] aus. Erichsen war zwar nicht der erste, der Rückenmarkerschütterungen eine wesentliche Bedeutung zumaß. Doch hat er bereits auf »funktionelle« Störungen hingewiesen, bei welchen keine anatomisch nachweisbaren Störungen des Nervensystems vorlagen. Verschiedene psychische Veränderungen gehörten schon von Anfang an zur Symptomatologie dieses Leidens: Kopfschmerz und Druck im Kopf, Abnahme der Willenskraft und des Gedächtnis, Veränderungen der Gemütssphäre, Störungen im Bereich der Sinnesorgane etc. Diese wiesen eher auf eine Lokalisation im Gehirn hin. So entwickelte sich die »railway spine« allmählich zum Hirnleiden: »railway brain« ([8] S. 16–23).
4.1
Traumatische Neurose
Die traumatische Neurose kam 1860 bis 1920 epidemieartig auf, als Eisenbahnunfälle einklagbar wurden, eine Vorform der Begehrungsneurose. Ihren Höhepunkt erreichte sie im ersten Weltkrieg in Form der »Kriegsneurose« und des »shell
shocks«. Der Begriff der »Ursache« wurde immer wieder mit anderem assoziiert, zuerst mit einem pathologisch-anatomischen Substrat, dann mit Störungen der organischen Feinstruktur, dann mit der »Seele« oder dem »Willen«, schließlich mit soziologischen Gegebenheiten. Mit dem Haftpflichtgesetz von 1871 brach in Deutschland eine Lawine von »Kriegszitterern« los. Die Psychogenielehre stand im Zusammenhang mit der traumatischen Neurose, respektive traumatischen Hysterie. Die Idee eines psychischen Traumas stammt in der Frühzeit der psychologischen Neurosenlehre direkt vom physikalischen Trauma. Das ist ihm bis heute angehangen.
4.2
Hypochondrie
Im 18. Jahrhundert war die Hypochondrie sehr verbreitet, fast eine Modekrankheit. Im Laufe der Zeit wurde sie infrage gestellt, denn eine Ursache im Unterleib, wie der Name sagt, (hypo = unter, chondros = Knorpel, hypochondrion = der weiche Teil des Leibes unter dem Brustknorpel) hatte sich nicht bestätigt. Schon 1843 sprach Georg Hirsch (1799–1885), weil man pathologisch-anatomisch bei der Hypochondrie nichts fand, von »Spinalneurosen«. Wilhelm Griesinger (1817– 1868) suchte die »cerebralirritation« einzuführen. Ferner redete man von »reizbarer Schwäche«, der »Nervosität«, dem »Nervosismus«, von »Neurospasmie«.
4.2.1
Spinalirritation
Haupterbe der Hypochondrie wurde die sog. »Spinalirritation«, die Rückenmarkreizung oder -entzündung. Dazu führte nicht zuletzt die volle Kenntnis des spinalen Reflexes. Zwischen 1811 und 1822 erschienen verschiedene Publikationen über die Funktion des Rückenmarks (Charles Bell 1774–1842, Marshall Hall 1790–1857, Johannes Müller 1801–1858). Schon in den ersten
99 4.2 • Hypochondrie
Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts war Myelitis (Rückenmarkentzündung) eine ausgesprochen beliebte Diagnose. Neuburger spricht von »der Sucht vieler Ärzte, … auf Grund höchst vager Symptome die schwerwiegende Diagnose einer Rückenmarkentzündung zu stellen…« [9] Das erklärt sich aus dem Zustand der damaligen Medizin; bildeten doch die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts das Zeitalter, wo man fast in allen Krankheiten Entzündungsvorgänge sah, fast alle Affektionen als »Entzündungen« betrachtete. Der damalige Begriff »Myelitis« – gegründet auf das Phänomen einer Wirbelsäulenempfindlichkeit – bildete zum Teil die primitive Vorstufe des späteren Begriffs »Spinalirritation«.
4.2.2
Neurasthenie
In den 80er Jahren wurde die Neurasthenie, »American nervousness« von Georg M. Beard zum Erben der Spinalirritation. Alle diese Leiden liefen unter dem Überbegriff »Neurosen« ([8] S. 13–15). Die Idee, dass dem Nervenleiden, das sich an Unfälle anschließe, keine groben, sondern unsichtbar feine Läsionen des Nervengewebes zugrunde lägen, ist alt: Überspanntheit oder Schlaffheit der Nervenfaser und die neuroalchemistische Veränderung der »Spiritus animales« (Lebensgeister) sind keine pathologischanatomischen Begriffe. Die Leiden neurophysiologischer Natur gerieten im 19. Jahrhundert ins Spannungsfeld der pathologischen Anatomie. Es spaltete sich in zwei Gruppen: Die eine, bei welcher man Läsionen im Nervensystem fand, die anderen, bei welcher man keine fand. Sollte man letztere als wesentlichen Bestandteil der Neurose ansehen? Nicht, dass man damit die Neurose nicht als ein Leiden ohne körperliche Basis betrachtet hätte. Das wäre gegen den Geist des 19. Jahrhunderts gewesen, in welchem man die Ausweitung der naturwissenschaftlichen Erkenntnis für fortschrittlich ansah. Rudolf Virchow (1821–1902)
4
selbst, der berühmte Pathologe, räumte ein, »dass keineswegs alle Krankheiten ein anatomisches Wesen haben«. Die Natur der molekularen Veränderungen könnte der pathologische Anatom nicht erkennen. »Hier kann man dann allerdings einen gewissen Spielraum lassen für die Spekulation.« Tatsächlich wurde in der Folge im Gebiet der Neurose heftig spekuliert. Zunächst in molekular-mythologischer Art (Molekularmythologie Robert Wollenberg 1862–1942; [8] S. 24–27). Die Neurasthenie wurde von Beard und Alphonso David Rockwell (1840–1925) als Mangel an Nervenkraft im Zentralnervensystem betrachtet. Otto Nägeli (1871–1938) beschreibt noch 1917 die »Wirbelsäulenneurotiker« als »eine besonders gut bekannte Gruppe« der begehrungsneurotischen Motilitätsstörungen. Die Hysterie wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Neurose des weiblichen Geschlechts und dann als Neurose par excellence überhaupt erkannt. Diese hatte, wie oben dargestellt, eine lange Geschichte von unsicherer und nicht nachweisbarer Ätiologie hinter sich und war somit ein ausgezeichnetes Terrain für Spekulationen, auch molekular-mythologischer Natur. Eine fundierte Betrachtung der Hysterie wurde von Jean Martin Charcot (1825–1893) versucht (7 Kap. 6). Er war durch Entdeckungen auf dem Gebiet der disseminierten Sklerose, der Paralysis agitans, der Tabes dorsalis als Neurologe und Neuropathologe berühmt geworden und versuchte sich mit diesen Methoden an der Hysterie, einem Proteus, der beliebige Formen annehmen kann. Wegen des inkonstanten Auftretens pathologisch-anatomischer Veränderungen sprach er von einer Läsion »sine materia« im Nervensystem oder einer »lésion dynamique«. Für ihn war selbstverständlich, dass der Hysterie eine lokalisierbare nervliche Störung analog anderer neurologischer Krankheiten zugrunde liege. Hermann Oppenheim (1858–1919) gebrauchte in seinem Buch »Die traumatischen Neurosen« [10] erstmals diesen Ausdruck an Stelle von
100
4
Kapitel 4 • Die Rolle des Traumas bei Entstehung der Neurose
»railway brains« u. Ä. Herbert Page (1845–1926) setzte »traumatische Neurasthenie« anstelle von »railway spine« und »nervous shock« anstelle von »concussion of the spinal cord« und wies die Annahme von anatomisch-pathologischen Veränderungen zugunsten chemischer zurück. Außer George L. Walton (1883) und James Jackson Putnam (1883) wies auch Samuel Wilks (1824– 1911) 1883 auf die häufigen sensibel-sensorischen Störungen bei Unfallverletzten als hysterisch hin. Adolf Strümpell (1853–1925) kannte schon lange die traumatisch, namentlich psychotraumatisch ausgelösten Neurosen. Es ist Charcots Verdienst, die Auffassung des Wesens der traumatischen Neurosen als »zerebrale funktionelle Störungen, die ihren Sitz aller Wahrscheinlichkeit nach in der Großhirnrinde haben und die Psyche sowie die Zentren der Motilität, Sensibilität und Sinnesfunktionen betreffen« aufgefasst zu haben [10]. Auslösend wirken dabei das mechanische wie das psychische (= Schrecken) Trauma. Hermann Oppenheim lehnte jedoch eine ausschließlich psychologische Theorie der Hysterie, wie sie von P.J. Moebius (1853–1907) vertreten wurde, ab. Es ist interessant wie die Eisenbahn im mittleren Drittel des 19. Jahrhunderts aufgenommen wurde: Einerseits wurde sie bejubelt und froh begrüßt, anderseits von Weber als Evangeliumsengel mit eisernen Flügeln (Flügelrad!) und als Feuerdrache, von anderen als trojanisches Pferd, mit einer geheimnisvollen Zukunft schwanger, als dampfender Riese, ungeduldiges, lebendiges Riesentier einer fremden Welt und Ausgeburt einer sündhaften Erfindungslust des Menschengeistes angesprochen. Schreck und Schock begleiteten schon beim jungen praktischen Eisenbahnarzt Johannes Rigler typischerweise den Eisenbahnunfall. Bei den traumatischen, respektive Unfallneurosen, spielten zunächst Schreck und Aufregung, die mit dem Unfall verbunden sind, eine Rolle (Bruns 1908, [8] S. 40). Charcot erachtete die seelische Erschütterung als wichtigen Teilfaktor des hysterogenen Traumas. Page
bevorzugt die Bezeichnung »Schreckneurose« statt »traumatische Hysterie«, was von Emil Kraepelin (1856–1927) aufgenommen wurde. > Alle physiologischen Schocktheorien vermochten die Unlösbarkeit der Frage nach dem psychophysischen Zusammenhang auf die Dauer nicht zu verdecken. Viele Autoren lehnten eine Kausalität zwischen Trauma und Neurose ab, weil ein vorbestehendes Leiden verheimlicht und dann auf das Trauma zurückgeführt werden könnte. Das Trauma musste erheblich sein, um anerkannt zu werden.
4.3
Simulation und Krankheitsgewinn
Die Simulation war ein Tatbestand, der zur wichtigsten Frage wurde. Daraus ergab sich der Krankheitsgewinn. Der ethische Gedanke dürfte das seinige zur Entwicklung der Lehre von der traumatischen Neurose beigetragen haben, denn es lag im Interesse der Patienten, dass auch psychische, funktionelle, selbst durch bloßen Schrecken verursachte Störungen von der Versicherung anerkannt wurden. Die Simulationsfrage hat die Geschichte der traumatischen Neurose, sofern sie vorwiegend körperlich bedingt war, ununterbrochen durchzogen ([10] S. 54–61). Anfang der 1890er Jahre war die Zeit vorbei, in welcher die medizinisch-naturwissenschaftliche Betrachtungsweise der traumatischen Neurose dominierte – der Simulationsstreit kann als Wendepunkt angesehen werden. Die psychologische Betrachtungsweise übernahm nun die historische Leitlinie. Pierre Janet (1859–1947), Begründer der psychologischen Richtung der Hysterieforschung, wollte sich mit seiner Psychologie der Hysterie keineswegs in Gegensatz zu deren Somatologie stellen (7 Kap. 8). Auch Freud hoffte zuerst,
101 4.3 • Simulation und Krankheitsgewinn
mittels psychologischer Überlegungen zu naturwissenschaftlicher Erkenntnis zu gelangen. Das sexuelle Trauma, war für ihn zunächst weniger ein psychisches denn ein körperliches Trauma, das sich auf psychologischer Ebene zu erkennen gab. Wenn er sich auch später von den Aktualneurosen ab- und den psychoanalytisch besser erfassbaren Psychoneurosen zuwandte, so widerrief er doch seine Auffassung von ihrer sexual-toxischen Ätiologie nie. Die Sexualität sei ja keine bloß psychische Sache. Sie habe auch ihre somatische Seite, man dürfe ihr einen besonderen Chemismus zuschreiben. Er glaubte bis an sein Lebensende, »dass all unsere psychologischen Vorläufigkeiten einmal auf den Boden organischer Träger gestellt werden sollen. Es wird dann wahrscheinlich, dass es besondere Stoffe und chemische Prozesse sind, welche die Wirkungen der Sexualität ausüben« [10]. In »Zur Einführung in den Narzissmus« (1917) betont er in seinen »Vorlesungen«: »Das Lehrgebäude der Psychoanalyse, das wir geschaffen haben, ist in Wirklichkeit ein Überbau, der irgendeinmal auf sein organisches Fundament aufgesetzt werden soll.« [3] In der Folge ergaben sich zwei Auffassungen: Die eine führte zur Rückverwandlung der traumatischen Neurose in Schock, Commotio, Hirnerschütterung und Stresssyndrom. Die andere zur Umbenennung in »Unfall- »Begehrungs-, »Kriegs-, »Zweck- oder »Rentenneurose«. Charcot überschätzte die Heredität der Hysterie sehr. In 1893 erschien von Joseph Breuer (1842–1925) und Sigmund Freud eine »vorläufige Mitteilung« [1], in welcher das Trauma zur zentralen Ätiologie aufstieg. »Bei der traumatischen Neurose ist ja nicht die geringfügige körperliche Verletzung die wirksame Krankheitsursache, sondern der Schreckeffekt, das psychische Trauma.« Pathogen werden diese Traumen dann, wenn sie weder durch Reaktion (nach dem Reflexmodell) noch durch assoziative Verarbeitung erledigt werden können. 1894 wurde das Trauma in »Die Abwehr-Neuro-Psychosen«
4
erweitert von starken psychischen Erschütterungen auf Vorstellungen, welche einen peinlichen Affekt erwecken. Von 1895 an (Über die Berechtigung von der Neurasthenie…) gewinnt die Sexualität in der Ätiologie der Neurosen eine immer wichtigere Funktion. Je mehr Freud das Trauma durch psychologische Größen definierte, desto weniger blieb vom Trauma übrig. Als er endlich die Idee aufgeben musste, durch freie Assoziation etwas Sicheres vom Patienten erfahren zu können, blieb vom Trauma kein Gehalt mehr übrig. Das rief bei ihm eine Krise hervor. Rückblickend schreibt Freud:
» Unter dem Einfluss, der an Charcot anknüpfenden traumatischen Theorie der Hysterie, war man leicht geneigt, Berichte der Kranken für real und ätiologisch bedeutsam zu halten, welche ihre Symptome auf passive sexuelle Erlebnisse in den ersten Kindesjahren, also grob ausgedrückt: auf Verführung zurückleiteten. Als diese Ätiologie an ihrer eigenen Unwahrscheinlichkeit und an dem Widerspruche gegen sicher festzustellende Verhältnisse zusammenbrach, war ein Stadium völliger Ratlosigkeit das nächste Ergebnis. [4]
«
Freud hat die Möglichkeit, dass eine Neurose
traumatisch verursacht werden könne, nie negiert. »So wurde ich dazu geführt«, schreibt er in der Selbstdarstellung [4], »die Neurosen ganz allgemein als Störungen der Sexualfunktion zu erkennen, und zwar die sogenannten Aktualneurosen als direkten toxischen Ausdruck, die Psychoneurosen als psychischen Ausdruck dieser Störungen.« Im Ersten Weltkrieg, besonders in den ersten Jahren, kam es zu riesigen Epidemien von Neurosen durch Granatschock (»shell-shock«). Hauptsymptom war dabei meist das Zittern: Die Kriegszitterer gehörten in jenen Jahren zum Straßenbild. Der britische Militärarzt Charles Samuel Myers (1873–1946) brachte den Begriff »shell-shock« in der Zeitschrift Lancet (1915) in
102
4
Kapitel 4 • Die Rolle des Traumas bei Entstehung der Neurose
Das kollektive Unbewusste bzw. Schwelle des Bewusstseins
Umlauf, eine regelrechte traumatisch bedingte Neurose. Hugo Liepmann (1863–1925) schrieb:
4.4
» Dass ein heftiger Schreck, die höchste Angst,
C.G. Jung schreibt:
Entsetzen bei lebensbedrohenden Erlebnissen, auf quergestreifte und glatte Muskulatur, auf Sekretion und Exkretion usw. einen Einfluss übt (Erstarrung der Glieder, Zittern, vox faucibus haesit (die Stimme versagt) Erblassen, Harndrang usw. ist eine altbekannte physiologische Tatsache… ([10] S. 74–88)
«
> Zur Zeit der »railway spine« war der Begriff der Seele eng an den des Rückenmarks gebunden. Das Bestreben damals war, das Seelische in seinen physiologischen und anatomischen Aspekten zu fassen.
» Das kollektive Unbewusste scheint – soweit wir uns überhaupt ein Urteil darüber gestatten dürfen – aus etwas wie mythologischen Motiven oder Bildern zu bestehen, weshalb die Mythen der Völker die eigentlichen Exponenten des kollektiven Unbewussten sind. Die gesamte Mythologie wäre eine Art Projektion des kollektiven Unbewussten. Am deutlichsten sehen wir dies am gestirnten Himmel, dessen chaotische Formen durch Bildprojektion geordnet wurden. Daraus erklären sich die von der Astrologie behaupteten Gestirneinflüsse: Sie sind nichts als unbewusste introspektive Wahrnehmungen der Tätigkeit des kollektiven Unbewussten. (GW 8, 325)
«
z
Vorstellung
Charcots Geschichte der Suggestion und Hyp-
nose wurzelt tief im magischen und religiösen Denken. Die Auffassung, dass Vorstellungen Krankheiten verursachen können, ist aller magischen und praktischen Medizin geläufig, aber im Rahmen einer naturwissenschaftlichen Medizin problematisch. Denn der Begriff »Vorstellung« ist ein psychologischer. Dieser Begriff drang erst in die medizinische Theorie durch die französische Psychiatrie (Philippe Pinel 1745–1826, JeanEtienne Dominique Esquirol 1772–1840) und in den deutschen Sprachbereich (J. Friedrich Herbart 1776–1841, Wilhelm Griesinger 1817–1868). Herbart schrieb ([8] S. 107): »Die Gesetzmäßigkeit im menschlichen Geiste gleicht vollkommen der am Sternenhimmel.« Das ist eine archetypische Vorstellung, welche sich bei Paracelsus als astrum im Menschen findet und auf der Projektion des Seelenhintergrundes an den gestirnten Himmel beruht.
Herbart spricht von Schwellen des Bewusstseins, was Pierre Janet dann übernommen hat,
und kennt die Möglichkeit, dass Vorstellungen »aus dem Bewusstsein verdrängt werden«. Sein Einfluss auf die Psychologie war enorm. Er verwendet die Vorstellung als zentralen Begriff. Die Vorstellungen werden als einzelne Elemente des psychischen Lebens verstanden, die verschiedenen Schicksalen unterworfen sein können. Die Vorstellungen seien ständig in Bewegung, sie können sich anziehen oder abstoßen, unter die »Schwelle des Bewusstseins« absinken oder wieder ins Bewusstsein aufsteigen. Er unterscheidet zwischen klaren, das heißt oberhalb der Bewusstseinsschwelle liegenden, und dunklen Vorstellungen, deren »Klarheitsgrad« teilweise herabgesetzt (gehemmt) oder vollständig verloren gegangen ist (verdunkelt). Die schwächeren können von den stärkeren »verdrängt« werden. Vieles sei dunkel in der Frage der »paralysies psychiques«, schrieb Charcot. Man wisse zwar, dass eine Idee eine Lähmung hervorrufen und wieder zum Verschwinden bringen könne, wie dies aber vor sich gehe, sei noch weitgehend un-
4
103 Literatur
bekannt. In den von Freud übersetzten »leçons du Mardi« (1888) sagt Charcot, im somnambulen Zustand werde jede in das Gehirn eingeführte Vorstellung von diesem angenommen und setze sich in ihm gleich einem Parasiten fest, ohne vom betäubten Ich eine Anfechtung zu erfahren. Solche Vorstellungskomplexe, welche der Kritik des Ich entzogen sind, können eine außerordentliche Gewalt, eine fast schrankenlose Macht erreichen. Die Vorstellung einer Lähmung setzt sich in eine wirkliche Lähmung, jene von Gefühllosigkeit in Anästhesie um. Es ist ein Akt von Autosuggestion, welche die hysterotraumatischen Lähmungen zustande kommen lässt. Charcots traumatische Hysterie ist zum Ausgangspunkt der psychologischen Neurosenlehre geworden ([8] S. 110). In seiner Dissertation »Zur Psychologie sogenannter okkulter Phänomene« setzt sich Jung eingehend mit diesen Erscheinungen auseinander und schreibt:
» Pick führt als erstes Symptom der hysterischen Träumer eine intensive Autosuggestibilität an, welche die Realisierung der »Tagträume« ermöglicht. […] Dieses pathologische Träumen mit autosuggerierten Erinnerungsfälschungen bis zu eigentlicher Wahnbildung und Halluzination findet sich auch im Leben vieler Heiliger. Von den traumhaft, stark sinnlich gefärbten Vorstellungen zur eigentlich komplexen Halluzination ist nur ein Schritt. […] Der pathologische Lügner (pseudologia phantastica), der sich durch seine Phantasien hinreißen lässt, benimmt sich nicht anders als das Kind, das sich in seinem Spiel verliert, oder der Schauspieler, der ganz in seiner Rolle aufgeht. Der Unterschied zur somnambulen Persönlichkeitsspaltung ist kein prinzipieller, sondern bloß ein Grad-Unterschied und beruht bloß auf der Intensität der primären Autosuggestibilität oder Desaggregation der psychischen Elemente. Je mehr sich das Bewusstsein dissoziiert, desto
größer wird die Plastizität der erträumten Situationen, desto geringer wird auch der Anteil der bewussten Lüge und des Bewusstseins überhaupt. Dieses Mitgerissensein durch den interessierenden Gegenstand ist das, was Freud hysterische Identifizierung nennt. (GW 1, 117)
«
Auf die Entwicklung der traumatischen Neurose hatte die bis zur Identifizierung gehende Assoziation von Hysterie und Psychogenie bedeutende Rückwirkungen. Dies umso mehr, als die Entwicklung der Hysterie zum psychogenen Leiden ja von der traumatischen Neurose ihren Ausgang genommen hatte. Charcot hatte ja die traumatische Neurose als traumatische Hysterie bezeichnet und diese ideogen genannt. Ich möchte dem Leser abschließend ein einschlägiges Beispiel nicht vorenthalten: Adolf Hitler (1889–1945) hat sich als Kriegsfreiwilliger gemeldet und erkrankte an einer Blindheit, welche nach ihrer plötzlichen Heilung als traumatischhysterisch gedeutet worden ist. Die Zeit käme, »da jeder zu ringen hatte zwischen dem Trieb der Selbsterhaltung und dem Mahnen der Pflicht.« So sei auch ihm dieser Kampf nicht erspart geblieben. Machte der Tod, wie er formulierte, Jagd auf ihn, so versuchte ein »unbestimmtes Etwas zu revoltieren«. Dieses Etwas sei bemüht gewesen, »sich als Vernunft dem schwachen Körper vorzustellen und war aber doch nur die Feigheit, die unter solchen Verkleidungen den einzelnen zu umstricken versuchte.« [8]
Literatur Primärliteratur (Quellen) 1 Breuer J, Freud S (1922) Vorläufige Mitteilung, Studien über Hysterie. Leipzig und Wien 2 Erichsen JE (1866) On railway and other injuries of the nervous system. Collins, Philadelphia 3 Freud S (1917) Zur Einführung in den Narzissmus. Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Leipzig 4 Freud S (1914) Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung. Jahrbuch der Psychoanalyse. Gesammelte Werke, Bd. 10, S. 43 ff.
104
Kapitel 4 • Die Rolle des Traumas bei Entstehung der Neurose
5 Jung CG (1995) Zur Psychologie sogenannter okkulter Phänomene. GW 1 (§ 117). Gesammelte Werke. Walter, Solothurn Düsseldorf 6 Jung CG (1995) Die Dynamik des Unbewussten. GW 8 (§ 325). Gesammelte Werke. Walter, Solothurn Düsseldorf 7 Pick A (1896) Über pathologische Träumerei und ihre Beziehungen zur Hysterie. Jahrbuch für Psychiatrie und Neurologie XIV, S. 280–301
4
Sekundärliteratur 8 Fischer-Homberger E (1975) Die traumatische Neurose. Vom somatischen zum sozialen Leiden. Huber, Bern Stuttgart Wien 9 Neuburger M (1912) Streifzüge durch die ältere deutsche Myelitis-Literatur. Jahrbuch Psychiatr. Neurol. 33 10 Oppenheim H (1889) Die traumatischen Neurosen. Berliner Klinische Wochenschrift 483 11 Wollenberg R (1862–1942) Molekularmythologie
105
Zweites Buch: Beginn der neuzeitlichen Neurosenauffassung und Therapie Kapitel 5
Die Entdeckung des Unbewussten – 107
Kapitel 6
Jean Martin Charcot (1825–1893) – 121
Kapitel 7
Die Frage der multiplen Persönlichkeit – 127
II
107
Die Entdeckung des Unbewussten 5.1
Der Einfluss Schopenhauers – 109
5.2
Die Entdeckung der Seele – 110
5.3
Der Fall Nietzsche – 111
5.4
Psychophysischer Parallelismus – 116 Literatur – 118
A. Ribi, Neurose – an der Grenze zwischen krank und gesund, DOI 10.1007/978-3-642-16148-3_5, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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Kapitel 5 • Die Entdeckung des Unbewussten
Beim Leser mag es merkwürdig ankommen, dass wir nun von der Entdeckung des Unbewussten erzählen wollen, wo doch schon so viel vom Unterbewussten (James) und vom Unbewussten im Zusammenhang mit der Hypnose die Rede war. Das stimmt, und wir werden wieder hinter die Zeit zurückgehen müssen, bei welcher wir angelangt sind, und zu Autoren, von welchen wir schon gehört haben.
5
Die Idee, dass neben dem Bewusstsein noch eine andere geheimnisvolle Instanz bestehe, welche seine Intentionen durchkreuzen kann, ist uralt. Sie wurde mit den verschiedensten Namen belegt. Man kannte allenfalls ihre Auswirkungen, aber nicht dieses Etwas. Das Wort »unbewusst« kennt das 18. Jahrhundert nur in der Bedeutung von »unbekannt«, »ohne Wissen«, oder »ohne klare, deutliche Vorstellung«. Mit der Übersetzung von Leibniz’ »Petites perceptions« und »Perceptions insensibles« erhält das Wort »unbewusst« einen festen Referenzpunkt. Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) wird von Jung gelegentlich zitiert, z. B. ablehnend der allgemein axiomatische Satz: »Nempe nihit est in intellectu, quod non fuerit in sensu, nisi ipse intellectus« (Nämlich nichts ist im Verstand, das nicht vorher in den Sinnen war [sinnliche Empfindung], wenn nicht der Verstand selbst). Er nahm angeborene Ideen an, während die Sinne bloß wahrnehmen, was geschieht. Das bewegt sich schon in der Nähe der Archetypen, stammt aber bei Leibniz aus seinem Platonismus. Locke, gegen welchen sich seine Argumentation richtet, ist Aristoteliker, der annimmt, die Seele stelle ihre Denkfähigkeit im Schlaf ein, während Leibniz argumentiert, eine Substanz könne nie ohne Tätigkeit sein, der Körper nicht ohne Bewegung, die Seele nicht ohne Perzeption, obwohl die zahlreichen kleinen Perzeptionen in uns wegen ihrer Kleinheit und der mangelnden Unterscheidbarkeit einzeln nicht zum Bewusstsein kommen. Diese »Petites perceptions« würden aus unendlich vielen Eindrücken aus der Umgebung
und der Verknüpfung mit dem ganzen Universum stammen. Durch sie sei die Gegenwart mit der Zukunft schwanger und beladen mit der Vergangenheit (»plein de l’avenir et chargé du passé«). Die Seele ist »un petit monde« (Mikrokosmos), »où les idées distinctes sont une représentation de Dieu et où les confuses sont une représentation de l’univers« (Makrokosmos), also keine tabula rasa. Sie hat innerliche Bestimmungen und ihre Ideen. Sie hat stets eine unendliche Menge an »petites perceptions« ([23] S. 130f.). In seiner nach seinem Tode veröffentlichten Monadologie stellt er seine Idee von unbewussten Vorstellungen (»perceptions insensibles«) systematisch dar. Die Seele hat in sich einen unendlichen Inhalt, einen Spiegel der ganzen Welt ([23] S. 335). In Schellings »System des transzendentalen Idealismus« (1800) erscheint das verneinende Adjektiv »unbewusst« erstmals als Substantiv. »Da der Künstler zu Produktion »unwillkürlich« und »instinktmäßig« getrieben wird, in ihm neben einer erklärten Absicht eine bewusstlose Tätigkeit am Werke ist, steht er unter der Einwirkung einer Macht, die »ihn Dinge auszusprechen oder darzustellen zwingt, die er selbst nicht vollständig durchsieht, und deren Sinn unendlich ist.« Aufgrund dieser bewusstlosen Tätigkeit, die das Bewusstsein überschreitet, wächst dem wahren Kunstwerk eine unergründliche Tiefe zu, so dass es wiederum »einer unendlichen Auslegung fähig ist.« [18]
» Das Mächtigste im Dichter, welches seinen Werken die gute und die böse Seele einbläst, ist gerade das Unbewusste. Daher wird ein großer wie Shakespeare Schätze öffnen und geben, welche er sowenig wie sein Körperherz selber sehen konnte, da die göttliche Weisheit immer ihr All in der schlafenden Pflanze und im Tierinstinkt ausprägt und in der beweglichen Seele ausspricht. [17]
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5
109 5.1 • Der Einfluss Schopenhauers
Die Wirkweisen der Lebenskraft, von welcher wir früher hörten, und das Unbewusste sind unwillkürlich, ohne Bewusstsein und instinkthaft.
» Der Wille [jenes primum mobile] hingegen, als das Ding an sich, ist nie träge, absolut unermüdlich, seine Tätigkeit ist seine Essenz, er hört nie auf zu wollen, und wenn er, während des tiefen Schlafs, vom Intellekt verlassen ist und daher nicht, auf Motive, nach außen wirken kann, ist er als Lebenskraft thätig, besorgt desto ungestörter die innere Ökonomie des Organismus und bringt auch, als vis naturae medicatrix [die Heilkraft der Natur] die eingeschlichenen Unregelmäßigkeiten desselben wieder in Ordnung. Denn er ist nicht wie der Intellekt eine Funktion des Leibes, sondern der Leib ist seine Funktion. ([19] II. S. 276)
«
len leitet, und nicht immer ist diese Hand eine gütige zu nennen. (Anm. 8: »Inzwischen glauben wir unserer Taten in jedem Augenblick Herr zu sein. Allein, wenn wir auf unseren zurückgelegten Lebensweg zurücksehen und zumal unsere unglücklichen Schritte, nebst ihren Folgen, ins Auge fassen; so begreifen wir oft nicht, wie wir haben dieses tun und jenes unterlassen können; so dass es aussieht, als hätte eine fremde Macht unsere Schritte gelenkt. Deshalb sagt Shakespeare: »Fate, show thy force: ourselves we do not owe; what is decreed must be, and be this so!« (Jetzt kannst du deine Macht, o Schicksal, zeigen: Was sein soll, muss geschehen, und keiner ist sein eigen!) (»Twelfth night« act 1, scene 5!). ([20] S. 253)
«
Jung äußert sich wie folgt:
» Oft heißen wir sie die Hand Gottes oder des 5.1
Der Einfluss Schopenhauers
Arthur Schopenhauer (1788–1860) war für Jung
ein wichtiger philosophischer Vorläufer der Idee des Unbewussten. Schopenhauer schreibt:
» Wenn wir je eine dämonische Schicksalsmacht am Werke sehen wollen, so sehen wir sie hier in diesen düsteren und schweigsamen Tragödien, die sich langsam und qualvoll in den kranken Seelen unserer Neurotiker vollenden. Die einen befreien sich Schritt für Schritt unter beständigem Kampfe gegen die unsichtbaren Mächte aus den Klauen des Dämons, der die Ahnungslosen von einem brutalen Schicksal ins andere zwängt; die anderen bäumen sich auf und gewinnen das Freie, um später, von der Schlinge der Neurose eingefangen, auf ihren alten Pfade zurückgeführt zu werden. Niemand darf einwenden, dass diese Unglücksmenschen eben Neurotiker oder »Degenerierte« seien. Wenn wir Normale unser Leben durchforschen, so sehen auch wir, wie eine mächtige Hand uns unfehlbar zu Schicksa-
Teufels und drücken damit einen psychologisch höchst wichtigen Faktor unbewusst richtig aus, nämlich die Tatsache, dass der das Leben unserer Seele gestaltende Zwang den Charakter einer autonomen Persönlichkeit hat, bzw. als solcher Art empfunden wird, so dass seit jeher und auch noch im heutigen Sprachgebrauch die Quelle derartiger Schicksale als ein Dämon, als ein guter oder böser Geist erscheint. (GW 4, 727)
«
Es erscheint mir im Vergleich zu Eduard von Hartmann (1842–1906), der sich explizit um eine Klärung der Verwendung des Begriffes bemüht, nicht angebracht, bereits von einer »Philosophie des Unbewussten« bei Schopenhauer zu sprechen. Insbesondere kann der metaphysische Wille nicht ohne weiteres mit dem Unbewussten gleichgesetzt werden. Andererseits kann Schopenhauer als Wegbereiter nicht nur einer Philosophie, sondern auch einer Psychologie des Unbewussten angesehen werden.
110
Kapitel 5 • Die Entdeckung des Unbewussten
> Philosophiegeschichtlich kann man im 18. und 19. Jahrhundert zwei Pole unterscheiden, zwischen welchen sich das Pendel bewegt: Zentrierung auf das Ich – den Geist, die Vernunft, das Bewusstsein – und auf das Nicht-Ich – den Willen, das Irrationale, das Unbewusste.
5
Die Wende zum Leib besteht in der radikalen Umformung der neuzeitlichen Subjektphilosophie, die Schopenhauer vornimmt. Als wollendes Subjekt kann sich der Mensch nur erkennen, indem er die Aktionen seines Leibes als Objektivation seines Willens erfährt. Wenn der Leib als Ganzes die Objektivation des Willens ist, dann sind alle Vorgänge in und am Leib Äußerungen dieses Willens, auch die durch Reiz und Affekt hervorgerufenen, die unwillkürlichen und impulsiven. Alle Formen des Denkens und des Vorstellens unbewusster seelischer Vorgänge sind letztlich aus unbewussten Willensakten zu erklären, auch alle bewussten, insofern das Bewusstsein nur ein sekundäres Phänomen ist des an sich bewusstlosen Willens [25]. In dieser Hinsicht ist Schopenhauer ein Vorläufer Sigmund Freuds.
» Nach meinem unmaßgeblichen Dafürhalten ist der schöpferische Geist des Menschen keineswegs seine Persönlichkeit, sondern ein Zeichen oder »Symptom« einer zeitgenössischen Geistesströmung. Seine Person hat nur die Bedeutung eines Bekenners einer ihm aus unbewussten kollektiven Hintergründen aufgedrängten Überzeugung, die ihn unfrei macht und zu Opfern, Irrtümern und Fehlgriffen zwingt, die er bei jedem andern schonungslos kritisieren würde.
«
Zu Freud sagt er an gleicher Stelle:
» Freud ist getragen von einer eigentümlichen Geistesströmung, die sich bin ins Zeitalter der Reformation zurückverfolgen lässt und die sich in unserer Zeit aus zahllosen Verkleidungen
und Verhüllungen allmählich befreit und sich anschickt zu jener Psychologie zu werden, die Nietzsche mit seherischem Blick prophezeit hat – eine Entdeckung der Seele als einer neuen Tatsache. Es wird einmal klar zutage treten, auf welch verschlungenen Pfaden die moderne und übermoderne Psychologie aus obskuren alchymischen Laboratorien durch die Zwischenstufen des Mesmerismus und Magnetismus (Justinus Kerner, Ennemoser, Eschenmayer, Baader, Passavant und andere) ihren Weg in die philosophischen Antizipationen eines Schopenhauer, Carus und Hartmann gefunden hat und wie sie sich aus dem dunkeln Mutterboden der alltäglichen praktischen Erfahrung eines Liébeault und des noch älteren Phineas Parkhurst Quimby (1802–1866) (des geistigen Vaters der Christian Science) durch die Lehren der französischen Hypnotistenschule Freud erreicht hat. Aus vielerlei dunkeln Quellen floss dieser Geistesstrom zusammen, der – im Laufe des 19. Jahrhunderts rasch an Mächtigkeit gewinnend – viele Bekenner, in deren Reihe Freud kein Vereinzelter ist, hervorgebracht hat. (GW 4, 748)
«
5.2
Die Entdeckung der Seele
Carl Gustav Carus (1789–1869), welchen Jung
ebenfalls schätzte, war in Leipzig ein Schüler Platners. Dieser schrieb in seinen »Philosophischen Aphorismen« (1776) von dunklen Ideen. Für Carus ist die Lebenskraft ein »deus ex machina« (1846) und die Trennung von Seele und Lebenskraft nicht statthaft.
» Denn Lebenskraft oder Bildungstrieb, wie man nun dies Etwas nennen will, wird immer und in jeder Äußerung nicht ein von außen Bewegtes, sondern ein sich aus sich selbst Bewegendes sein müssen und wird eben dadurch ein des Göttlichen Theilhaftiges genannt werden müssen, da
5
111 5.3 • Der Fall Nietzsche
es diesem ja überall eigen ist, nicht bewegt zu werden, sondern aus sich selbst sich und Fremdes zu bewegen. [2]
«
Carus entwickelte eine monistische, ganzheitliche Anthropologie. Sein Hauptwerk eröffnet er mit dem Satz: »Der Schlüssel zur Erkenntnis vom Wesen des bewussten Seelenlebens liegt in der Region des Unbewusstseins.« Er war Direktor einer Entbindungsanstalt, was seine Auffassung einer Entwicklungsgeschichte der Seele nachhaltig beeinflusste. > Das Unbewusste ist Bildungskraft und Heilkraft, es ist das Primitive, welches nie erkrankt und nie ermüdet.
Im Todesjahr von Carus, 1869, erscheint Eduard von Hartmanns »Philosophie des Unbewussten« [24]. Der in Rostock promovierte Autor ist gerade 27 Jahre alt. Sein Werk erlebt bis 1923 zwölf Auflagen und trägt entschieden zur Popularisierung des Unbewussten bei. Das Unbewusste ist für ihn ein metaphysisches Prinzip, das AllEine, das sich im Leib und im Geist, in der organismisch-psychischen Individualität entfaltet. Dieses Unbewusste irrt, ermüdet und erkrankt niemals. Durch spontane psychische Akte des Unbewussten werden im Organismus Erscheinungen hervorgerufen, die man zwar Krankheit nennt, doch beugen sie tatsächlich einer gefährlicheren Krankheit vor. »Sie sind die Wahl eines absichtlich hervorgerufenen kleineren Übels zur Vermeidung eines größeren, sind also streng genommen nicht Krankheits-, sondern Heilungsprocesse.« [21]
mittelalterlichen Menschen war im Guten wie im Bösen noch der Geist Gottes, dem er diente. Die Erkenntniskritik war einerseits noch der Ausdruck der Bescheidenheit des mittelalterlichen Menschen, andererseits schon ein Verzicht auf oder eine Absage an den Geist Gottes, also eine moderne Erweiterung und Verstärkung des menschlichen Bewusstseins innerhalb der Grenzen der Vernunft. Wo immer der Geist Gottes aus der menschlichen Berechnung ausscheidet, tritt eine unbewusste Ersatzbildung auf.
«
» Bei Schopenhauer finden wir den bewusstlosen Willen als neue Gottesdefinition, bei Carus das Unbewusste und bei Hegel die Identifikation und Inflation, die praktische Ineinssetzung des philosophischen Verstandes mit dem Geist schlechthin, wodurch jene Bannung des Objektes anscheinend möglich wurde, welche in seiner Staatsphilosophie die schönste Blüte trieb. Hegel stellt eine Lösung des durch die Erkenntniskritik aufgeworfenen Problems dar, welche den Begriffen eine Chance gab, ihre unbekannte Eigenständigkeit zu erweisen. Sie verschafften dem Verstande jene Hybris, welche zum Übermenschen Nietzsches führte und damit zur Katastrophe, die den Namen Deutschland trägt. (GW 8, 359)
«
Jung führt weiter aus:
» Neben diesem elementaren Einbruch des Unbewussten in den abendländischen Bereich der Menschheitsvernunft hatten Schopenhauer sowohl wie Carus keinen Boden, auf dem sie weiterwachsen und ihre kompensatorische Wirkung entfalten konnten. (GW 8, 361)
«
» Die Carussche Hypothese des Unbewussten musste die damals vorherrschende Richtung der deutschen Philosophie um so härter treffen, als diese soeben die Kantsche Kritik anscheinend überwunden und die nahezu göttliche Souveränität des menschlichen Geistes – des Geistes schlechthin – nicht wiederhergestellt, sondern neu aufgestellt hatte. Der Geist des
5.3
Der Fall Nietzsche
Friedrich Wilhelm Nietzsche (1844–1900) ist
sicher eine der bedeutendsten Gestalten in der Geschichte der Entdeckung des Unbewussten.
112
5
Kapitel 5 • Die Entdeckung des Unbewussten
Seine terminologischen Vorbehalte gegen »das Unbewusste« lassen sich daraus erklären, dass er nicht in die Nähe einer Erlösungsteleologie à la Eduard von Hartmann gerückt werden wollte. Im »Zarathustra« nennt er den »Leib die große Vernunft, eine Vielheit mit Einem Sinne« »Werkzeug deines Leibes ist auch deine kleine Vernunft« »Ich« sagst du und bist stolz auf dies Wort […] dein Leib und seine große Vernunft: die sagt nicht Ich, aber thut Ich« [14]. In seinem Seminar »Nietzsches Zarathustra« [5] kommentiert Jung diese Stelle, dass etwas außerhalb ist, das nicht »Ich« ist, eine größere Intelligenz, von der man fürchtet, verrückt zu sein. Die menschliche Intelligenz ist nicht das letzte Wort, es gibt etwas hinter der Szene – wir sind nicht die Macher, wir sind gemacht. Dein Geist ist nicht der Schöpfergott, welcher die ganze Welt zur Erscheinung bringt aus dem Nichts. Vor dem Bewusstsein gibt es ein Unbewusstes, aus welchem das Bewusstsein einst entstanden ist und das ist eine Intelligenz, die sicher unsere Intelligenz überragt in unabsehbarem Maße. Es ist interessant, die Bedeutung des Leibes bei Schopenhauer mit jener in Nietzsches mittlerer Schaffensperiode zu vergleichen, in welcher die Triebe und der Leib den Leitfaden bildeten. Der vielschichtige »Wille zur Macht« und das Dionysische sind zentrale Orientierungspunkte des Frühwerks. Im Spätwerk gerät der Wille zur Macht wiederum in den Brennpunkt. Jung hat sich intensiv mit Nietzsche beschäftigt. Schon in seiner Studienzeit stieß er auf ihn, weil es in Basel noch Leute gab, die ihn persönlich gekannt hatten. Aber er war verfemt, entweder vermied man es, über ihn zu sprechen oder dann nur im ablehnenden Sinn. Jung merkte, dass Nietzsche offensichtlich an ein ähnliches Geheimnis gestoßen war wie er und fühlte sich ihm daher irgendwie »verwandt«.
» Trotz meiner Befürchtungen war ich neugierig und entschloss mich, ihn zu lesen. Es waren die »Unzeitgemäßen Betrachtungen«, die mir zu-
nächst in die Hände fielen. Ich war restlos begeistert, und bald las ich auch »Also sprach Zarathustra«. Das war, wie Goethes »Faust«, ein stärkstes Erlebnis. Zarathustra war der Faust Nietzsches, und Nr. 2 war meine Zarathustra, allerdings mit der angemessenen Distanz des Maulwurfshügels vom Montblanc; und Zarathustra war – das stand mir fest – morbid. War Nr. 2 auch krankhaft? Diese Möglichkeit versetzte mich in einen Schrecken, den ich lange Zeit nicht wahrhaben wollte, der mich aber trotzdem in Atem hielt und sich immer wieder zu ungelegener Zeit meldete und mich zum Nachdenken über mich selber zwang. Nietzsche hatte sein Nr. 2 erst später in seinem Leben entdeckt, nach der Lebensmitte, während ich Nr. 2 schon seit früher Jugend kannte.
«
Weiter heißt es:
» Nietzsche hat naiv und unvorsichtigerweise von diesem Arrheton, dem nicht zu Nennenden, gesprochen, wie wenn alles in Ordnung wäre. Ich aber habe sehr bald gesehen, dass man damit schlechte Erfahrungen macht. Er war aber andererseits so genial, dass er schon in jungen Jahren als Professor nach Basel kam, nichts ahnend von dem, was ihm bevorstand. Gerade vermöge seiner Genialität hätte er doch beizeiten merken müssen, dass etwas nicht stimmte. Das also, dachte ich, war sein krankhaftes Missverständnis: dass er Nr. 2 ungescheut und ahnungslos herausließ auf eine Welt, die von dergleichen Dingen nichts wusste, und nichts verstand. Er war von der kindischen Hoffnung beseelt, Menschen zu finden, die seine Ekstase mitfühlen und die »Umwertung aller Werte« verstehen könnten. Er fand aber nur Bildungsphilister, ja tragikomischerweise war er selber einer, der, wie alle anderen, sich selber nicht verstand, als er in das Mysterium und das Nichtzusagende fiel und dies einer stumpfen, von allen Göttern verlassenen Menge anpreisen wollte. Daher die Aufschwellung der Sprache, die sich übersteigernden Metaphern, die hymnische Begeisterung, die vergebens versuchte, sich
113 5.3 • Der Fall Nietzsche
dieser Welt, die sich dem zusammenhanglosen Wissenswerten verschrieben hatte, vernehmbar zu machen. Und er fiel – dieser Seiltänzer – sogar noch über sich selbst hinaus. Er kannte sich nicht aus in dieser Welt – »dans ce meilleur des mondes possibles« – und war darum ein Besessener, einer, der von seiner Umwelt nur mit peinlicher Vorsicht umgangen werden konnte… Wie mir der »Faust« eine Türe öffnete, so schlug mir »Zarathustra« eine zu, und dies gründlich und auf lange Zeit hinaus. [4]
«
Mir scheint das der Grund zu sein, weshalb sich Jung mit nahezu 60 Jahren zu einem Seminar
über Zarathustra herbeiließ, worin er sorgfältig trennte, was geniale Gedanken, was persönliche Problematik und was krankhaft war. Er hatte sich allerdings schon 1920 in einem Artikel »Das Apollinische und das Dionysische« mit Nietzsches Schrift »Die Geburt der Tragödie« eingehend auseinandergesetzt (GW 6, 223ff.). Außerdem hat er in der Schrift »Über die Psychologie des Unbewussten« den Gesichtspunkt: »Der Wille zur Macht« anhand von Nietzsche als Gegensatz zu Freud erörtert [9]. Dieser ist viel offensichtlicher der Antipode zu letzterem als Alfred Adler. »Hat man es sich klargemacht, was das heißt: zum Trieb Ja zu sagen?« (GW 7, 36). Nietzsche wollte und lehrte es, und es war ihm ernst damit. Ja, er hat mit seltener Leidenschaft sich selbst, sein ganzes Leben der Idee des Übermenschen geopfert, nämlich der Idee des Menschen, der, seinem Trieb gehorchend, auch noch über sich selbst hinausgeht. Und wie verlief sein Leben? Wie es sich Nietzsche im »Zarathustra« selber prophezeite: in jenem prämonitorischen Todessturz des Seiltänzers, des »Menschen«, der nicht »übersprungen« werden wollte. Zum Sterbenden sagt Zarathustra: »Deine Seele wird noch schneller tot sein als dein Leib!« Und später sagt der Zwerg zu Zarathustra: »O Zarathustra, du Stein der Weisheit, du warfst dich hoch; aber jeder geworfene Stein muss – fallen! Verurteilt zu dir selbst
5
und zur eigenen Steinigung: O Zarathustra, weit warfst du ja den Stein – aber auf dich wird er zurückfallen.« [14] Als er sein »Ecce homo« über sich rief, da war es, wie auch damals, als dies Wort entstand, zu spät, und die Kreuzigung der Seele begann, noch bevor der Leib gestorben war. Wer so das Jasagen lehrt, dessen Leben muss man kritisch anschauen, um die Wirkung einer solchen Lehre zu erforschen an dem, der die Lehre gab. Wenn wir aber sein Leben daraufhin betrachten, so müssen wir sagen: Nietzsche lebte jenseits des Triebes, in der Höhenluft des Heroismus, welche Höhe mit sorgfältigster Diät, mit ausgewähltem Klima und namentlich mit sehr viel Schlafmitteln zu halten war – bis die Spannung das Gehirn zerbrach. Er sprach vom Jasagen und lebte ein Nein zum Leben. Sein Ekel vor den Menschen, nämlich eben vor dem Menschentier, das aus Trieb lebt, war zu groß. Er konnte die Kröte, von der er öfters träumte, und von der er fürchtete, er müsse sie verschlucken, doch nicht herunterschlucken. Der zarathustrische Löwe brüllte alle die »höheren« Mensch, die nach dem Mitleben schrieen wieder in die Höhle des Unbewussten zurück. Darum überzeugt sein Leben uns nicht von seiner Lehre. Denn der »höhere« Mensch will auch schlafen können ohne Chloral, will auch in Naumburg und Basel leben trotz »Nebel und Schatten«, er will das Weib und die Nachkommenschaft, er will Geltung und Ansehen in der Herde, er will unzählige Gewöhnlichkeiten, nicht zum mindesten das Philisterhafte. Diesen Trieb lebte Nietzsche nicht, nämlich den animalischen Lebenstrieb. Nietzsche war, unbeschadet seiner Größe und Bedeutung, eine krankhafte Persönlichkeit. Aber woraus lebte er denn, wenn er nicht aus dem Triebe lebte? Darf man Nietzsche wirklich vorwerfen, dass er zu seinem Triebe praktisch Nein sagte? Er wäre damit wohl kaum einverstanden. Ja, er könnte sogar beweisen – und das ohne Schwierigkeiten –, dass er seinen Trieb in höchstem Sinne lebte. Aber wie ist es möglich,
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5
Kapitel 5 • Die Entdeckung des Unbewussten
werden wir erstaunt fragen, dass die Triebnatur des Menschen ihn gerade in die Menschenferne, in die absolute menschliche Vereinsamung, in ein von Ekel verteidigtes Jenseits der Herde führte? Man denkt doch, dass der Trieb gerade eben zusammenführe, dass er paare, zeuge, dass er nach Lust und Wohlleben, nach Befriedigung aller Sinneswünsche gehe. Wir haben aber ganz vergessen, dass dies nur eine der möglichen Triebrichtungen ist. Es gibt nicht nur den Trieb der Arterhaltung, sondern auch den Trieb der Selbsterhaltung. Nietzsche spricht offenbar von diesem letzteren Triebe, nämlich vom Willen zur Macht. Was es sonst Triebhaftes gibt, ist für ihn alles im Gefolge des Machtwillens: vom Standpunkt Freudscher Sexualpsychologie aus gesehen, ein stärkster Irrtum, ein Missverständnis der Biologie, ein Fehlgriff der dekadenten Neurotikernatur. Denn es wird jedem Anhänger der Sexualpsychologie ein Leichtes sein, nachzuweisen, dass all das Hochgespannte, das Heroische in Nietzsches Welt- und Lebensanschauung doch nichts anderes sei als eine Folge der Verdrängung und Verkennung des »Triebes«, nämlich jenes Triebes, den diese Psychologie als fundamental anerkennt. Der Fall Nietzsche zeigt einerseits, welches die Folgen der neurotischen Einseitigkeit, und andererseits, welches die Gefahren sind, die der Sprung über das Christentum hinaus in sich birgt. Nietzsche hat unzweifelhaft die christliche Verleugnung der Tiernatur aufs Tiefste empfunden und suchte nach einer höheren menschlichen Ganzheit jenseits von Gut und Böse. Jeder, der die Grundhaltung des Christentums ernsthaft kritisiert, entledigt sich auch des Schutzes, den ihm dieses gewährt. Es liefert ihn unweigerlich der Tierseele aus. Das ist der Augenblick des dionysischen Rausches, die überwältigende Offenbarung der »blonden Bestie«, die mit ungekannten Schauern den Ahnungslosen ergreift. Die Ergriffenheit wandelt ihn zum Heros oder zu einem gottähnlichen Wesen, zu einer mensch-
heitsüberlegenen Größe. Er fühlt sich ganz richtig »6000 Fuß jenseits von Gut und Böse« (GW 7, 36–40). Später kommt Jung in seinem Artikel »Über die Archetypen des kollektiven Unbewussten« (1934) nochmals auf Nietzsche zurück:
» Der Magier ist synonym mit dem alten Weisen, der in gerader Linie auf die Gestalt des Medizinmannes in der primitiven Gesellschaft zurückgeht. Er ist, wie die Anima, ein unsterblicher Dämon, welcher die chaotischen Dunkelheiten des bloßen Lebens mit dem Lichte des Sinnes durchdringt. Er ist der Erleuchtende, der Lehrer und Meister, ein Psychopompos (Führer der Seelen), dessen Personifikation selbst der »Zertrümmerer der Tafeln«, Nietzsche, nicht entgehen konnte, hat er doch dessen Inkarnation in Zarathustra, dem überlegenen Geiste eine beinahe homerischen Zeitalters, zum Träger und Verkünder seiner eigenen »dionysischen« Erleuchtung und Entzückung aufgerufen. Gott war ihm zwar tot, aber der Dämon der Weisheit wurde ihm zum sozusagen leibhaftigen Zweiten, wie er sagt: Da, plötzlich, Freundin! Wurde Eins zu Zwei – und Zarathustra gieng an mir vorbei…« Zarathustra ist für Nietzsche mehr als eine poetische Figur, er ist ein unwillkürliches Bekenntnis. Auch er hatte sich in den Dunkelheiten eines gottabgewandten, entchristlichten Lebens verirrt, und darum trat zu ihm der Offenbarende und Erleuchtende, als redender Quell seiner Seele. Daher stammt die hieratische Sprache des »Zarathustra«, denn das ist der Stil dieses Archetypus. (GW 9, 77f.)
«
In dem 1936 erschienenen Aufsatz »Wotan« kommt Jung nochmals auf prophetische antizipatorische Äußerungen Nietzsches zu sprechen:
» [Wotan] ist ein Sturm- und Brausegott, ein Entfessler der Leidenschaften und der Kampfbegier, und zudem ein übermächtiger Zauberer und Illusionskünstler, der in alle Geheimnisse okkulter Natur verwoben ist. Nietzsches Fall ist allerdings
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115 5.3 • Der Fall Nietzsche
besonderer Art. Er war ahnungslos in Germanicis, er hat den Bildungsphilister entdeckt, und als »Gott tot« war, begegnete Zarathustra ein unbekannter Gott in unerwarteter Gestalt, bald ihm feindlich gegenüber tretend, bald in Zarathustras eigene Gestalt verhüllt. So ist dieser selber Wahrsager, Zauberer und Sturmwind. […] Im Dithyrambus, genannt »Klage der Ariadne« ist er völligstes Opfer des Gott Jägers, woran auch Zarathustras gewaltsame Selbstbefreiung im letzten Grunde nichts mehr ändert. (GW 10, 371ff.)
«
Die bemerkenswerte Gestalt des Jäger-Gottes ist nicht bloß dithyrambische Sprachfigur, sondern ein Erlebnis des 15-jährigen Nietzsche in Schulpforta. Es findet sich aufgezeichnet in den von Elisabeth Förster-Nietzsche herausgegebenen »Autobiographischen Aufzeichnungen«. Dort schildert Nietzsche eine phantastische nächtliche Wanderung in düsterem Walde, wo er zuerst durch einen »grellen Schrei aus dem nahen Irrenhaus« erschreckt wurde und dann auf einen Jäger mit »wilden unheimlichen Gesichtszügen« traf. In einem Tal »von wildem Gestrüpp umgeben«, setzte der Jäger eine Pfeife an den Mund und »ließ einen schrillen Ton hören«, worauf Nietzsche das Bewusstsein verlor, aber in Pforta wieder erwachte. Es war ein Angsttraum gewesen. Es ist bezeichnend, dass der Träumer, der eigentlich nach Eisleben, der Luther-Stadt wollte, mit dem Jäger die Frage erörtert, statt dessen nach »Teutschental« zu gehen. Das schrille Pfeifen des Sturmgottes im nächtlichen Walde ist kaum missverständlich.« (GW 10, 375–382) Für Jung war Nietzsche weniger Philosoph als antizipierender Psychologe, bewegt von dem großen Weltgeist. Adler, dem wir uns in 7 Kap. 10 eingehend zuwenden werden, hat sich explizit auf Nietzsches »Wille zur Macht« bezogen. Er hat ihn aber einseitig im Sinne eines neurotischen Machtstrebens zur Kompensation von Minderwertigkeitsgefühlen aufgefasst. Wesentlich für ein adäquates Verständnis des Machtwillens bei
Nietzsche ist gerade, dass es sich um eine anth-
ropologische Grundstimmung handelt, bei der die Macht nicht als »böse« verstanden wird. Adler ist nach dem Ersten Weltkrieg am zentralen Kriterium des »Gemeinschaftsgefühls« orientiert und hat sich von der Machtpsychologie à la Nietzsche verabschiedet. Er hat es 1931 sogar als »Missverständnis« bezeichnet, dass man die Individualpsychologie »in die Nähe Nietzsches versetzt hat«! [22] In der nachgelassenen Schrift »Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne« schreibt Nietzsche:
» Was weiß der Mensch eigentlich von sich selbst! […] Verschweigt die Natur ihm nicht das Allermeiste, selbst über seinen Körper, um ihn, […] in ein stolzes gauklerisches Bewusstsein zu bannen und einzuschließen! Sie [die Natur] warf den Schlüssel weg: und wehe der verhängnisvollen Neubegier, die durch eine Spalte einmal aus dem Bewusstseinszimmer heraus und hinab zu sehen vermöchte und die jetzt ahnte, dass auf dem Erbarmungslosen, dem Gierigen, dem Unersättlichen, dem Mörderischen der Mensch ruht, in der Gleichgültigkeit seines Nichtwissens, und gleichsam auf dem Rücken eines Tigers in Träumen hängend. Woher, in aller Welt, bei dieser Constellation der Trieb zur Wahrheit! [16]
«
In der »Morgenröthe« heißt es:
» … der eigentliche »Kampf der Motive«: – etwas für uns völlig Unsichtbares und Unbewusstes […] der Kampf selber ist mir verborgen, und der Sieg als Sieg ebenfalls; denn wohl erfahre ich, was ich schließlich thue, – aber welches Motiv damit eigentlich gesiegt hat, erfahre ich nicht. Wohl aber sind wir gewohnt, alle diese unbewussten Vorgänge nicht in Anschlag zu bringen, und uns die Vorbereitung einer That nur so weit zu denken, als sie bewusst ist. [15]
«
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Kapitel 5 • Die Entdeckung des Unbewussten
> Warum Nietzsche nicht so sehr als Psychologe erkannt wird, liegt daran, dass er kein psychologisches Lehrgebäude entworfen hat. Aber praktisch jeder Abschnitt seines Werkes ist voller Psychologie. Dem Intuitiven liegt es fern, daraus eine Lehre zu machen. Er lehrte den Übermenschen – und ging an seiner eigenen Lehre zugrunde!
5
Er hat auf die Nachwelt einen tiefen Eindruck hinterlassen, doch wäre es schwierig, den im Einzelnen nachzuweisen, dazu war er viel zu unsystematisch. Seine Ideen haben meist aphoristischen Charakter. Er war ein fruchtbarer origineller Denker, welcher hinter die Kulissen der sichtbaren Welt einen tiefen Blick tat.
5.4
Psychophysischer Parallelismus
Von Gustav Theodor Fechner haben wir schon früher gesprochen. Er bewegt sich zwischen romantischer Naturphilosophie mit seinem Panpsychismus und exakter Naturwissenschaft. Für ihn ist die Beseeltheit nicht an die Eigenheiten des menschlichen oder tierischen Leibes gebunden und überhaupt nicht an die Bedingungen des Lebens im Sinne des organisch Lebendigen, sondern nur im allgemeinsten Sinne an das Vorhandensein von Körpern. Auch ein Himmelskörper ist in Fechners System (in einem höheren Sinne als der Mensch) beseelt, so wie auch die Pflanzen, entsprechend in einem niederen Sinne ein Seelenleben haben, eine typisch romantische Idee! Die Brücke zwischen diesen »Seelenlandschaften« in der Psychophysik bildet die Theorie des psychophysischen Parallelismus, nach der Psyche und Physis als zwei Seiten einer Medaille in striktem Parallelismus zueinander gedacht werden müssen und den er erstmals 1823 in seiner Habilitationsschrift formuliert hat. Diese Theorie ist wegen der Beziehung von Körper und
Seele in unserem Zusammenhang wichtig. Jung sagt dazu:
» Ich halte mit Busse die Wechselwirkung für denkbar und finde keinen Anlass, dieser Denkbarkeit die Hypothese eines psychophysischen Parallelismus entgegenzustellen, denn es erscheint gerade dem Psychotherapeuten, dessen eigentliches Arbeitsgebiet eben in der kritischen Sphäre der Wechselwirkung von Leib und Seele liegt, als höchst wahrscheinlich, dass das Psychische und das Körperliche nicht zwei nebeneinander herlaufende Prozesse, sondern durch Wechselwirkung verknüpft sind, obschon deren eigentliche Natur sich unserer Erfahrung sozusagen noch gänzlich entzieht. (GW 8, 34)
«
Im höheren Alter fand Jung ein anderes Prinzip eines Zusammenhanges von Leib und Seele. Empirisch ist es ganz klar, dass es keinen konstanten Zusammenhang im Fechnerschen Sinne gibt. Die Idee eines psychophysischen Parallelismus geht auf Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) zurück mit seiner Auffassung der »prästabilierten Harmonie«, nämlich eines absoluten Synchronismus der psychischen und der physischen Ereignisse. Für ihn ist Gott der Urheber der Anordnung. Er vergleicht Seele und Körper mit zwei synchronisierten Uhren, einer Idee, welche er möglicherweise vom flämischen Philosophen Arnold Geulincx (1625–1669) hatte [27].
» Man müsste sich hier, wie es scheint, die Frage vorlegen, ob nicht das Verhältnis der Seele zum Leibe unter diesem Gesichtswinkel zu betrachten, beziehungsweise ob nicht die Koordination der psychischen und der physischen Vorgänge im Lebewesen als ein synchronistisches Phänomen statt einer kausalen Relation zu verstehen wäre. Geulincx sowohl wie Leibniz betrachten die Koordination des Psychischen und des Physischen als einen Akt Gottes, also eines außerhalb der empirischen Natur stehenden Prinzips. Die
117 5.4 • Psychophysischer Parallelismus
Annahme einer Kausalrelation zwischen Psyche und Körper führt andererseits zu Schlüssen, die sich schlecht mit der Erfahrung vertragen: entweder sind es physische Vorgänge, welche Psychisches bewirken, oder es ist eine präexistente Psyche, welche den Stoff anordnet. Im ersterem Fall ist nicht abzusehen, wie chemische jemals psychische Vorgänge zu erzeugen und wie in letzterem Falle eine immaterielle Psyche jemals den Stoff in Bewegung zu setzten vermöchte.
«
5
> Man muss sich wirklich auf das Problem einlassen, um zu verstehen, dass hier ein völlig neues Prinzip von Zusammenhängen auftritt: Es ist die sinngemäße Koinzidenz oder die Gleichzeitigkeit eines psychischen und eines physischen Zustandes, die in keinem gegenseitigen Kausalverhältnis zueinander stehen, was, allgemeiner gefasst, eine akausale Modalität, ein ursacheloses Angeordnetsein bedeutet.
Jung führt in »Die Dynamik des Unbewussten« z
weiter aus:
» Es ist nicht nötig, an eine Leibnizsche »harmonia prästabilita« zu denken, die nämlich absolut wäre und sich in einer allgemeinen correspondentia und sympathia kundgeben müsste, etwa ähnlich wie die Schopenhauersche sinngemäße Koinzidenz der auf dem gleichen Breitengrad liegenden Zeitpunkte. Die Synchronizität besitzt Eigenschaften, welche für die Erklärung des Leib-Seele-Problems möglicherweise in Betracht kommen. Vor allem ist es die Tatsache der ursachelosen oder, besser, des sinnvollen Angeordnetseins, welche auf den psychophysischen Parallelismus ein Licht werfen könnte. Die Tatsache des »absoluten Wissens«, das heißt der durch keine Sinnesorgane vermittelten Kenntnis, welche das synchronistische Phänomen kennzeichnet, unterstützt die Annahme beziehungsweise drückt die Existenz eines an sich bestehenden Sinnes aus. Letztere Seinsform kann nur eine transzendentale sein, da sie sich, wie die Kenntnis zukünftiger oder räumlich distanter Ereignisse beweist, in einem psychisch relativen Raum und einer entsprechenden Zeit, das heißt in einem unanschaulichen Raum-Zeit-Kontinuum befindet. (GW 8, 938)
«
Solche Überlegungen sind so neuartig, dass sie vielen Menschen Mühe machen.
Psychophysische Schwelle
Auf der anderen Seite ist Fechner für unseren Zusammenhang wichtig wegen seinen sinnesphysiologischen Untersuchungen. Er stellte fest, dass Sinnesreize eine Schwelle haben, von welcher an sie bewusst wahrnehmbar sind. So gibt es auch unbewusste Empfindungen, welche zwar registriert werden, aber nicht zum Bewusstsein kommen. Der Begriff der »psychophysischen Schwelle« hat einen zentralen Stellenwert, weil er für den Begriff des Unbewusstseins überhaupt ein festes Fundament abgibt. Die Psychologie kann von unbewussten Empfindungen, Vorstellungen nicht absehen. Empfindungen oder Vorstellungen haben im Zustand des Unbewusstseins aufgehört, in unserer bewussten Wirklichkeit zu existieren, aber es geht etwas in uns weiter, die psychophysische Tätigkeit, deren Funktion sie sind, und woran die Möglichkeit des Wiedereintritts in das Bewusstsein hängt. Zusammen mit Ernst Heinrich Weber (1795– 1878) formulierte er das Gesetz (1834), nach dem das Verhältnis des Reizzuwachses, der nötig ist, um einen eben merklichen Empfindungszuwachs zu bewirken, zur Intensität des Ausgangsreizes konstant ist. Daraus leitete Fechner dann (1851) sein Gesetz ab, wonach die psychische Intensität einer Empfindung dem Logarithmus des Reizes proportional ist (E = k. log R). Der Begriff »Schwelle des Bewusstseins« wurde von Johann Friedrich Herbart (1816) geprägt (7 Abschn. 4.4). Fechner brauchte ihn im
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Kapitel 5 • Die Entdeckung des Unbewussten
physiologischen Sinn. Er schrieb [3]: »Ich vermuthe, dass auch der Schauplatz der Träume ein anderer, als der des wachen Seelenlebens ist.« Diesen Satz greift Freud in seiner Traumdeutung (1900) auf. Wir kehren noch zu einem älteren Autor, Joseph Ennemoser (1787–1854) zurück: Er versuchte dem zunehmenden Verlust der therapeutischen Wirksamkeit mit seinem Buch »Der Magnetismus im Verhältnis zur Natur und Religion« (1842) abzuhelfen. Als allgemeine Regel legte er dem Therapeuten nahe, niemals eine magnetische Behandlung ohne Einwilligung des Kranken oder seiner Angehörigen vorzunehmen; auch nicht, wenn der Patient zustimmt, aber die Angehörigen ablehnen; nicht, wenn eine Therapie nicht über einen langen Zeitraum gesichert ist. Für den Arzt sei es wichtig, den Mut nicht zu verlieren, wenn die Beschwerden hartnäckig seien, oder sich nicht durch einen schnellen Anfangserfolg verleiten zu lassen, die Therapie frühzeitig abzubrechen. Gegen Ende einer Behandlung, welche sich nicht selten über ein bis zwei Jahre erstrecken konnte, könnten bereits überwunden geglaubte Symptome mit alter Intensität wieder auftreten. Solche praktischen Ratschläge haben nichts von ihrer Aktualität verloren wie wir im Kapitel Therapie am Ende des Buches sehen werden.
Literatur Primärliteratur (Quellen) 1 Ennemoser J (1842) Der Magnetismus im Verhältnis zur Natur und Religion. Gotta, Stuttgart Tübingen 2 Carus CG (1846) Psyche: Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Flammer und Hoffmann, Pforzheim. S. 5f 3 Fechner GT (1907) Elemente der Psychophysik, 2 Bde. (1860). Die Tagesansicht gegenüber der Nachtansicht. Leipzig 4 Jaffé A (1993) Erinnerungen, Träume, Gedanken von C. G. Jung. Walter, Olten. S. 109f 5 Jung CG (1988) Nietzsches Zarathustra. In: Jarrett JL (ed) Notes on the seminar given in 1934–1939. 2 vols. Princeton University Press, New Jersey (Bollingen Series XCIX)
6 Jung CG (1995) Die Bedeutung des Vaters. GW 4 (§ 727). Gesammelte Werke. Walter, Solothurn Düsseldorf 7 Jung CG (1995) Einführung zu Kranefeldt WM »Die Psychoanalyse«. GW 4 (§ 748). Gesammelte Werke. Walter, Solothurn Düsseldorf 8 Jung CG (1995) Das Apollinische und das Dionysische. GW 6 (§ 223–242) Gesammelte Werke. Walter, Solothurn Düsseldorf 9 Jung CG (1995) Über die Psychologie des Unbewussten. GW 7 (§ 36–40). Gesammelte Werke. Walter, Solothurn Düsseldorf 10 Jung CG (1995) Über die Energetik der Seele. GW 8 (§ 34); Geist und Leben (§ 359, § 361); Synchronizität als ein Prinzip akausaler Zusammenhänge (§ 938). Gesammelte Werke. Walter, Solothurn Düsseldorf 11 Jung CG (1995) Über die Archetypen des kollektiven Unbewussten. GW 9/I (§ 77–78). Gesammelte Werke. Walter, Solothurn Düsseldorf 12 Jung CG (1995) Wotan. GW 10 (§ 375–382). Gesammelte Werke. Walter, Solothurn Düsseldorf 13 Jung CG (1995) Theoretische Überlegungen zum Wesen des Psychischen. GW 8 (§ 343–442). Gesammelte Werke. Walter, Solothurn Düsseldorf 14 Nietzsche FW (1988) Also sprach Zarathustra I–IV. In: Colli G, Montinari M (Hrsg.) Kritische Studienausgabe. Deutscher Taschenbuchverlag (DTV), de Gruyter, Berlin, New York. S. 39, 10 15 Nietzsche FW (1988) Morgenröthe. Kritische Studienausgabe. Colli G, Montinari M (Hrsg.) Deutscher Taschenbuchverlag (DTV), de Gruyter, Berlin, New York 16 Nietzsche FW (1988) Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne. Kritische Studienausgabe. Colli G, Montinari M (Hrsg.) Deutscher Taschenbuchverlag (DTV), de Gruyter, Berlin, New York 17 Paul J (1804/1805) Vorschule der Ästhetik: »Das Mächtigste im Dichter, welches seinen Werken die gute und die böse Seele einbläset, ist gerade das Unbewusste. Leipzig 18 Schelling FWJ (1800) Das System des transzendentalen Idealismus. Tübingen 19 Schopenhauer A (1960) Die Welt als Wille und Vorstellung. In: Löhneysen W von (Hrsg.) Sämtliche Werke Bd. II. Cotta-Insel, Frankfurt a.M. 20 Schopenhauer A (1963) Transzendente Spekulation über die anscheinende Absichtlichkeit im Schicksale des einzelnen. Bd. IV: Parerga und Paralipomena. Versuch über das Geistersehen und was damit zusammenhängt. Cotta-Insel, Frankfurt a.M. Sekundärliteratur 21 Althaus B, Zirfas J (2005) Die unbewusste Karte des Gemüts – Immanuel Kants Projekt der Anthropologie. In: Buchholz MB, Gödde G (Hrsg.) Macht und Dynamik des Unbewussten. Auseinandersetzungen in Philosophie, Medizin und Psychoanalyse. Gießen. S. 142–144 22 Buchholz MB, Gödde G (Hrsg.) (2005) Macht und Dynamik des Unbewussten. Bd. I: Auseinandersetzungen in
119 Literatur
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27
28
Philosophie, Medizin und Psychoanalyse. Psychosozial Verlag, Gießen Frischeisen-Köhler M, Moog W (1961) Die Philosophie der Neuzeit bis zum Ende des XVIII. Jahrhunderts. In: Holzhey H, Schmidt-Biggemann W (Hrsg.) Grundriss der Geschichte der Philosophie. Begründet von F. Ueberweg, 3. Teil. B. Schwabe, Basel Stuttgart. S. 330–335 Hartmann E von (1869) Philosophie des Unbewussten, 2 Bände. Berlin 1869 Kossler M (2005) Wege zum Unbewussten in der Philosophie Arthur Schopenhauers. In: Buchholz MB, Gödde G (Hrsg.) Macht und Dynamik des Unbewussten. Auseinandersetzungen in Philosophie, Medizin und Psychoanalyse. Gießen. S. 180–202 Förster-Nietzsche E (Hrsg.) (1924) Der werdende Nietzsche. Autobiographische Aufzeichnungen. Musarion, München Ribi A (2007) Eine akausale Welt… Ist das möglich? In (id.): Ein Leben im Dienst der Seele. Peter Lang, Bern. S. 717ff Schmidt-Biggemann W (2001) Gottfried Wilhelm Leibniz. In: Die Philosophie des 17. Jahrhunderts. Bd. 4: Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation/Nord- und Ostmitteleuropa. In: Holzhey H, Schmidt-Biggemann W (Hrsg.) Grundriss der Geschichte der Philosophie. Begründet von F. Ueberweg. Schwabe, Basel Stuttgart
5
121
Jean Martin Charcot (1825–1893) 6.1
Dreiteilung der Hypnose – 122
6.2
Disposition – 123
6.3
Suggestion – 124
6.4
Unterscheidung Subjekt – Objekt – 124
6.5
Verdoppelung der Persönlichkeit – 125 Literatur – 125
A. Ribi, Neurose – an der Grenze zwischen krank und gesund, DOI 10.1007/978-3-642-16148-3_6, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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122
6
Kapitel 6 • Jean Martin Charcot (1825–1893)
Hätte Sigmund Freud in 1885 nicht sechs Monate in Paris verbracht und nicht regelmäßig dem Meister der Salpêtrière Ehrerbietung bezeugt, so wäre der Name Charcot nur noch den Medizinhistorikern bekannt. Der »Grand maître«, nämlich »Cäsar« der Salpêtrière, der er war, drehte sich um die Hysterikerinnen, welche ihm auf Kommando und nach Maß die Symptome produzierten, die er zu isolieren vermeinte. Wir verfügen über keine Bibliographie und die »oeuvres complètes« sind nicht vollendet; ihre Publikation blieb stecken und weist beträchtliche Lücken auf. Man muss sich auf Zeitschriften jener Zeit, vor allem auf die medizinische Presse stützen. Sein großes didaktisches Talent, das anerkannt wird, ist auch die Frucht sorgfältiger Vorbereitung. [9]
Charcot begann seine Karriere 1856. Die Salpê-
trière war damals einerseits ein Hospiz für Alte und anderseits eine Irrenanstalt. Sie beherbergte fast 5000 Personen. 1882 schuf die politische Autorität eine Klink für Nervenkrankheiten für ihn. In den letzten Jahren des »Second Empire« war die Fakultät noch der Idee von »einer und unteilbaren« Medizin verpflichtet und wich davon nur langsam ab zu Gunsten der Spezialisierung. 1878 wurde die erste Lehrschule für Geisteskrankheiten errichtet. Das Werk Charcots ist das genaue Gegenteil eines Korpus einer geschlossenen Doktrin. Er wird der Mann der »Neurologisation« der Hysterie. Ausgehend vom Trauma versuchte er allmählich die psychische Dimension einzuführen, nie wirklich gewonnen, war es nicht Charcots Sorge, die materielle und physiologische Verankerung zu retten. Es braucht eine Zeit der geistigen Verarbeitung, bis ein Trauma Lähmungen, Kontrakturen oder Konvulsionen auslöst. Sein erster Artikel über Hysterie erscheint im März und April 1865 in der »Union médicale«, dem Mitteilungsblatt der Ärztegesellschaft der Spitäler. Es war einer der seltenen Autopsiefälle verbunden mit klinischer Beobachtung mit symmetrischer
Sklerose des Rückenmarks, vorher von Briquet in der Charité von 1850 bis 1852 beobachtet, dann von 1862 bis 1864 in der Salpêtrière. Seine ersten Vorträge über Hysterie gab er im Juni 1870. Die erste Umorganisation im Krankenhaus bescherte ihm 150 Epileptiker, unter denen eine gewisse Zahl von Hysterischen war. Seine Aufmerksamkeit wurde von der paradoxen Organähnlichkeit der hysterischen Symptome angezogen. > Hysterie zeichnet sich im Vergleich zum Bild neurologischer Erkrankungen durch folgende Merkmale aus: Sie kreuzt sie und gleicht ihnen, aber ohne sich ihnen anzugleichen. Im Namen Hysterie klingt das griechische Wort »hystera« = Gebärmutter mit.
In 1872 zeigt er sich als noch entschlossener Verfechter der gynäkologischen Tradition der Hysterie, als der Spezialist für Frauenkrankheiten. Briquet, sein Nachfolger an der Salpêtrière, hatte 1859 die letzte große Abhandlung über die Hysterie geschrieben. Ab 1877 hörte die Hysterie nicht mehr auf, einen immer größeren Platz im Leben Charcots einzunehmen. Der wohlbekannte große Hysterieanfall mit seinen vier Phasen, dessen Schema bereits 1872 skizziert wurde, gibt Paul Richer 1878 die einmalige Gelegenheit zu einem öffentlichen Vortrag. Mit dem Eintritt des Traumatismus einerseits und der Entdeckung der Reproduktionsfähigkeit der hysterischen Symptome im Experiment andererseits halten wir die Leitfäden des ganzen weiteren Werkes Charcots in den Händen ([9] S. 23–29). Man hat unter dem Namen »Neuromimésie« diese Eigenschaft der Krankheiten »sine materia« beschrieben, welche organische Krankheiten imitieren kann.
6.1
Dreiteilung der Hypnose
Die Entdeckung der Übertragung und jene der elektrischen Ströme führten direkt zur Hypnose.
123 6.2 • Disposition
Die Übertragung ist eine Übertragung der Anästhesie von der anästhetischen auf die gesunde Seite. Der Fall Pauline, einer 26-jährigen Nonne, welche eine hysterische Verkrampfung des linken Handgelenkes aufwies, markiert den Aufgang des Zeitalters der künstlichen Produktion von hysterischen Symptomen. Man brachte die Verkrampfung links zum Verschwinden, indem man eine künstliche Verkrampfung rechts hervorrief. Das wurden der spezifische Weg und der lebendige Quell der Salpêtrière. Die Ereignisse der Hypnose stellen eine wirkliche »experimentelle Neurose« dar, wie es Charcot 1882 formulierte. Die Hypnose ist kein einfaches Phänomen, sondern ein sehr vielschichtiges. Sie stellte eine Gruppe verschiedener nervöser Zustände und den Höhepunkt der offiziellen Anerkennung Charcots in diesem Feld dar (Académie des Sciences le 13 février 1882). Die Dreiteilung in Katalepsie, Lethargie und Somnambulismus ist im Prinzip seit den Vorlesungen vom Herbst 1878 angenommen: Katalepsie Katalepsie bedeutet Unbeweglichkeit
(und Anästhesie) des Körpers verbunden mit der Möglichkeit, die Lage der Glieder so zu bewahren, wie man sie ihnen aufgezwungen hat. Lethargie Lethargie heißt muskuläre Überreg-
barkeit und Möglichkeit zur Einführung von Verkrampfungen durch einfache mechanische Reizung. Somnambulismus Somnambulismus
verleiht dem Subjekt die Möglichkeit, Befehle, die man ihm gibt, mit geschlossenen Augen mit der gleichen Präzision wie im Wachzustand auszuführen. Er wird auch magnetischer Schlaf genannt. Für Charcot hatten die hypnotischen Eigenschaften eine physiologische Basis.
6.2
6
Disposition
Das Trauma hat, wie wir gesehen haben, die Entwicklung der Studien über Hysterie schon seit langer Zeit begleitet. Es drängte sich schon 1877 auf. Dazu kam noch der Gesichtspunkt der Disposition. Alle Fälle, auf welchen Charcot ab 1885 die psychische Seite des Traumas studierte, waren Fälle von männlicher Hysterie. Daraus entwickelte sich die Desexualisierung der Hysterie: Das bestimmte die Zentrierung auf das Nervensystem in der Neurosenauffassung: Die Eierstockentzündung, eines der häufigsten Symptome weiblicher Hysterie, fehlt beim Mann. Aber in gewissen Fällen wenigstens fand sich bei ihm eine Reizung der Hoden. Die Quetschung derselben führte zu einem Stillstand des Anfalls. Aber die Hysterie hörte niemals auf, wenn auch nur unterirdisch, einen sexuellen Beigeschmack zu haben. Unter den unzähligen Veröffentlichungen stach das Werk von Hippolyte Bernheim über die Suggestion im hypnotischen und wachen Zustand (1884) heraus. Bernheim stellt die Beziehung zwischen Hysterie und Hypnose infrage. Er schlägt einen viel weiteren Ausdruck vor, die Suggestibilität, ein Gesetz allgemeiner geistiger Tätigkeit, nämlich die Tendenz des Gehirns, eine erhaltene Idee in die Tat umzusetzen, was er »ideodynamisme« nannte. Diese ist in der Psyche lokalisiert: Die Wirkung des gegensätzlichen Standpunktes war vollständig. Man muss die Umorientierung im Laufe von 1884 verstehen und die Ankunft von experimentellen psychischen Lähmungen. Bernheim verwies zur Stützung seiner Behauptung auf die Möglichkeit, Lähmungen zu suggerieren. Dieses Vorkommen war schon 1869 vom britischen Arzt, Russell Reynolds, erwähnt worden, welcher von einer »von der Idee abhängigen Lähmung« sprach, was 1878 durch den deutschen Neurologen Erb bestätigt wurde [3]. Es ist die Wirkung einer Idee oder einer Gruppe von zusammenhängenden Ideen, welche ein äußerer Wille in den Geist eines
124
Kapitel 6 • Jean Martin Charcot (1825–1893)
Individuums eingeführt hat und die sich dort wie ein Parasit festsetzen und deren Folge das Hervorbringen einer Lähmung ist.
6.3
6
Suggestion
Man kann durch Suggestion die Idee eines krankhaften Zustandes einimpfen. Und der verwirklicht sich objektiv. Die Wirkung der Suggestion ist im somnambulen Zustand noch viel komplexer, wegen des »teilweisen Erwachens«, welches ihn kennzeichnet. Im März 1885 war die Zeit für den Knall gekommen, der Identität der »grande névrose« bei beiden Geschlechtern. > Die suggerierte Lähmung ist die Gleiche wie die hysterische! Sie wird als dynamische oder funktionelle Störung bezeichnet. Die Möglichkeit, die Symptome durch Suggestion zu erzeugen, ja durch Suggestion sogar den Mechanismus des Traumas durch Autosuggestion hervorzurufen, war ein Schlag gegen Charcots Theorie. Es genügte sogar ein Klaps auf die Schulter, um die gleiche Lähmung des Gliedes hervorzurufen.
6.4
Unterscheidung Subjekt – Objekt
Die Trennung zwischen der Seele, welche sieht, und dem Objekt, welches gesehen wird, erfolgte 1604 durch Kepler. Er entdeckte die Bedingungen der Abbildung auf der Retina. Mit dieser Entdeckung wurde die jahrtausendalte Idee eines empfangenden Sehens, welches die Seele in direkten Kontakt mit den Objekten dieser Welt brachte, aufgehoben zugunsten der umwerfenden Idee einer Unterscheidung zwischen physischem und psychischem Objekt, zwischen der Innenwelt der Seele und der Außenwelt der Dinge. Mit Kepler eröffnet sich das Zeitalter des
Subjekts in der Ordnung der Erkenntnis, zu welchem Descartes 1637 seinen ersten großen philosophischen Ausdruck beisteuerte. Die Ablösung der subjektiven Kausalität hinsichtlich der objektiven Wirklichkeit, die Charcot voranging, ist ein Ereignis ähnlicher Natur. Sie erlangt hier eine radikal neue Tragweite, die die ganze Seele umfasst. Die Subjektivierung des Ganzen einer Seele, die daraus eine Innenwelt macht, und die Subjektivierung einer anderen Welt, jener außen, aber ebensosehr einer Welt mit einer inneren Ordnung von Kausalität, ist das, was unsere Auffassung vom psychischen Bereich abdeckt. Die Lähmung durch Einbildung, der Simulant, erforderte die Abgrenzung gegen die Lähmung durch Ideen. Man beschäftigte sich mit der Rolle der geistigen Verarbeitung des Traumas im Unbewussten, der »Vergeistigung« desselben, der psychischen Durcharbeitung. Der Eindruck von Hilflosigkeit, nämlich das Gefühl des Fehlens der Glieder verursacht durch die Erschütterung beim Unfall, zusammen mit der geistigen Wiederherstellung der Szene, haben die »Idee der motorischen Unfähigkeit« geboren, welche im Unbewussten des Patienten genügend Kraft fand, um sich objektiv zu verwirklichen. Der Klient zeigte die gleiche »Vernebelung des Bewusstseins«, die gleiche »Dissoziation des Ich«, erleichterte Suggestibilität, welche einer Idee oder einer Gruppe von Ideen erlaubt, sich im autonomen Zustand in den psychischen Organen des Somnambulen festzusetzen und dort in der Art eines Parasiten zu leben und eine unbegrenzte Macht der Verwirklichung zu erlangen. Die bibliographische Übersicht zum persönlichen Gebrauch zeigt, dass Charcot die Änderung der Anschauung bewusst war und ihn veranlasste, sein begriffliches Werkzeug zu erweitern. Er sagt: »Es ist gegeben, anzunehmen, dass die Suggestion unbewusst geschieht. Ein Traum könnte in der gleichen Weise wirken.« [9] Diese letzte Anspielung auf den Traum trieb Charcot an, über die physiologische Wirkung
125 Literatur
des Unbewussten hinaus in Richtung einer Anerkennung der Stärke dieser unbewussten Verarbeitung zu forschen. Er sagt: »Die Verteilung der begleitenden Anästhesien stimmt nie mit den Lähmungen peripheren Ursprungs überein, weil die Verteilung der Nerven nie mit dieser Linie übereinstimmt.«[9] Es ist nicht das System der Innervation, das die hysterischen Lähmungen verursacht, sondern das Funktionssystem des Patienten in seiner ganzen Bewegungskapazität. Das öffentliche Interesse hatte sich verlagert. Bernheim hat wenigstens auf einem Gebiet gewonnen: Die Hypnose, welche fasziniert. Seither wird sie in großem Maßstab angewandt, unter der erweiterten Form der Suggestion für therapeutische Zwecke, einer Bewegung, aus welcher die Psychotherapie entstand. Die experimentelle Hypnose der Salpêtrière war veraltet. Die Abzweigung spielte sich um 1890 ab. Ribot publizierte 1885 sein »Les maladies de la personnalité«: Die Individualität, weit davon entfernt eine ursprüngliche und einfache Tatsache zu sein, ist ein kompliziertes Produkt von Zusammensetzung und Koordination, von Anhäufung und Kondensation des Großhirns, von elementaren Bewusstseinsinseln, anfänglich autonom und zerstreut. Henri Bergson (1859– 1941) definiert sie: »Die Persönlichkeit entsteht aus zwei grundlegenden Faktoren, der körperlichen Konstitution mit ihren Neigungen und den Gefühlen, welche diese übersetzen, und dem Gedächtnis.« [5]
6.5
Verdoppelung der Persönlichkeit
Der Begriff »Verdoppelung der Persönlichkeit« war schon von Azam 1876, in rein deskriptiver Art, eingeführt worden. 1887 gibt er eine Zusammenfassung seiner Beobachtungen an der berühmten Félida mit einem Vorwort von Charcot. Janet hatte den Begriff im Jahr zuvor in einem Artikel aufgenommen, welcher Anlass zu seiner Dissertation von 1889 »L’automatisme
6
psychologique« wurde. Von 1890 an verbrachte Janet, von dem wir in 7 Kap. 8 hören werden, einen guten Teil seiner Zeit im Dienste von Charcot. Janet schrieb hier das Vorwort zum Band »L’etat mental des hystériques« (Nov. 1892). Bourru und Burots »Variations de la personnalité« (1888) beschrieben den Fall von Louis Vivet, einem erstaunlichen hysterischen Vagabunden mit verschiedenen Identitäten, acht Persönlichkeiten, eine der anderen unbekannt, die sich folgten, der erste wahre Fall von multipler Persönlichkeit ([9] S. 173). Charcot sagt: »Man könnte in allgemeiner Art sagen, bei den Hysterischen gebe es eine gewisse Tendenz zur Zerrüttung der Persönlichkeit, zu einer Verdoppelung oder sogar zur Zerstückelung dieser Einheit, welche man das Ich nennt.« [9] Freud (vorläufige Mitteilung mit Breuer, Dezember 1892) und Janet haben vieles gemeinsam hinsichtlich der zentralen Wichtigkeit des emotionalen Faktors, der von Charcot nicht verkannt wurde. In seiner letzten Demonstration sagt Charcot: »Die Lähmung, an welcher der junge Simeon Penhoët leidet, ist, dass die Träume, ja, die Träume, die ungeheure Macht haben direkt somatische Erscheinungen hervorzurufen.« ([9] S. 97–203).
Literatur Primärliteratur (Quellen) 1 Bernheim H (1888) Die Suggestion und ihre Heilwirkung. 2 Bde. Freud S (Hrsg.) Leipzig, Deuticke (Original: L’hypnotisme et la suggestion (1897). O. Doin, Paris 2 Charcot JM (1888–1894) Oeuvres complètes, 9 vols, (1886–1890). Bureaux des progrès médical, Paris 3 Erb W (1876) Handbuch der Krankheiten des Nervensystems. Weigel, Leipzig Sekundärliteratur 4 Bannour W (1992) Jean-Martin Charcot et l’hysterie. Edition Métaillié, Paris 5 Bergson HL (1921) Schöpferische Entwicklung. Diederichs, Jena (Original: L’evolution créatrice, 1907. Alcan, Paris)
126
Kapitel 6 • Jean Martin Charcot (1825–1893)
6 Bourru H, Burot PF (1888) Variations de la personnalité. J.-B. Baillière & fils, Paris 7 Collot E (2008) Hypnose et pensée magique. Imago, Paris 8 Furst LR (2008) Before Freud: hysteria and hypnosis in later nineteenth-century psychiatric cases. Bucknell University Press, Lewisburg 9 Gauchet M, Swain G (1997) Le vrai Charcot. Les chemins inprévus des l’inconscient. Suivi de deux essais de Jaques Gasser et Alain Chevrier. Calmann-Lévy 10 Janet P (1889) L’automatisme psychologique: essay de psychologie expérimentale sur les formes inférieures de l’activité humaine. 71913. Alcan, Paris 11 Janet P (1893–1894) État mental des hystériques. 21911, 31931. Alcan, Paris
6
127
Die Frage der multiplen Persönlichkeit 7.1
Der Fall Wittman – 128
7.2
Dämmerzustand – 128
7.3
Der Fall Reynolds – 131
7.4
Der Fall Estelle – 132
7.5
Berserkertum – 133
7.6
Schock, krankhafte Verarbeitung und Umwandlung des Erlebens als Auslöser – 133 Literatur – 136
A. Ribi, Neurose – an der Grenze zwischen krank und gesund, DOI 10.1007/978-3-642-16148-3_7, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
7
128
Kapitel 7 • Die Frage der multiplen Persönlichkeit
Früher dachte man sich die Persönlichkeit als etwas ganz einfaches. Mit Hypnotismus und Somnambulismus wurde man mit Teilpersönlichkeiten und Mehrfach-Persönlichkeiten konfrontiert, so dass die Frage auftauchte: Was macht eigentlich die Persönlichkeit aus?
7.1
7
Der Fall Wittman
noch autoritär und launisch, leugnete ihre Vorgeschichte und wurde zornig, wenn man sie über diesen Abschnitt ihres Lebens befragte. Sie wurde eines der ersten Opfer des Radiologenkrebses, woran sie starb [3]. Mit diesem Fall verstehen wir besser, was Jung in seiner Jugend erlebte mit seiner Persönlichkeit Nr. 1 und Nr. 2. Das ist, wie bei Blanche Wittman, keine schizophrene Spaltung, sondern eine »double personalité«.
Dämmerzustand
Charcots berühmteste Hysterika war Blanche Wittman. Über ihre Vorgeschichte ist nichts be-
7.2
kannt. Sie war noch jung, als sie in die Salpêtrière aufgenommen wurde. Sie wurde rasch Charcots berühmteste Versuchsperson und bekam den Spitznamen »la Reine des Hystériques.« Sie wurde oft zur Demonstration der drei Stadien der Hypnose (7 Abschn. 6.1) verwendet, für die sie der Prototyp war. Auf dem berühmten Bild von Brouillet (. Abb. 7.1) ist sie in voller hysterische Krise zwischen Charcot und Gilles de la Tourette oder Babinski dargestellt, der bereit ist, sie aufzufangen. Für eine Weile verließ sie aus unbekannten Gründen die Salpêtrière und wurde im Hôtel Dieu von Jules Janet, dem Bruder Pierre Janets, untersucht. Nachdem er bei ihr das erste Stadium der Hypnose herbeigeführt hatte, modifizierte er seine Technik und bekam seine Patientin in einem ganz neuen Zustand zu sehen: Eine neue Persönlichkeit, »Blanche II«, tauchte auf, welche sich als viel ausgeglichener als »Blanche I« erwies. Diese neue Persönlichkeit teilte ihm mit, sie sei ständig vorhanden gewesen, verborgen hinter »Blanche I«, sie habe alles mitbekommen, was bei den vielen Demonstrationen vor sich gegangen sei, wenn sie die drei Stadien der Hypnose ausagiert habe und, wie man annahm, bewusstlos war. Jules Janet hielt Blanche Wittman mehrere Monate in ihrem zweiten Zustand und stellte eine Besserung fest. Später kehrte sie in die Salpêtrière zurück, wo man sie im Foto-, dann im Röntgenlabor beschäftigte. Sie war immer
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erschien eine Flut von Literatur zu diesem Thema, in spiritistischen Kreisen experimentierte man, was auch zum automatischen Schreiben von »geoffenbarten« Texten führte. In der schönen Literatur erschienen viele Erzählungen zu diesem Thema, u. a. E.T.A. Hoffmanns »Die Elixiere de Teufels«, Oscar Wildes »Das Bildnis des Dorian Gray« oder Dostojewskis »Der Doppelgänger«. Das Problem wurde auch wissenschaftlich experimentell angegangen. Die Fälle von Absenzen, in welchen der Patient geordnet lebt, aber völlig außerhalb seines »normalen« Lebens und sich daran überhaupt nicht erinnern kann, wenn er ins normale Bewusstsein zurückkehrt, sind gar nicht so selten. Man liest gelegentlich in den Zeitungen davon, dass eine Person plötzlich verschwindet ohne Angabe eine Grundes oder des Zieles. Psychiatrisch spricht man von einem Dämmerzustand, sozusagen die Übersetzung von Somnambulismus (Schlafwandel). Wie ich früher ausgeführt habe, ist das ein Stadium der Hypnose. Auguste Forel (1848–1931), der berühmte Ameisenforscher und Direktor des Burghölzli (1879–1906), beschreibt den Fall eines 32-jährigen Mannes. Der Mann saß in einem Zürcher Café und las in der Zeitung von einem gewissen Herrn N., der vor ein paar Monaten aus der Schweiz nach
129 7.2 • Dämmerzustand
. Abb. 7.1
7
Charcots Vorlesung mit Blanche Wittman (André Brouillet 1887)
Australien gefahren und seither verschwunden sei. Von dieser Nachricht aufgeschreckt, durchsuchte er in der Pension seine Kleidung, worin er einen Pass auf den Namen des Herrn N. fand. Der Gedanken, er könnte Herr N. sein, obwohl in seiner Erinnerung eine Lücke klaffte, beunruhigte ihn so sehr, dass er sich zu Dr. Forel in Behandlung begab. Dieser zog Erkundigungen ein, welche ergaben, dass tatsächlich ein Herr N. von der Schweizer Regierung auf einen offiziellen Posten in Australien versetzt worden war, dass er im November vorigen Jahres abgereist war, nachdem er seine Pflichten sechs Monate lang ganz normal erfüllt hatte. Im Mai habe er seinen Wohnort verlassen und eine Dienstreise in eine mittelaustralische Stadt angetreten. Dort sei er an einer epidemischen Krankheit erkrankt. Seither fehle von ihm jede Spur.
Der Patient war deprimiert, erschöpft und nervös. Die Versuche, eine Anamnese aufzunehmen, schlugen fehl: Er konnte sich weder an seine Vergangenheit noch an seine Angehörigen erinnern.
In der Hypnose, die Forel anschließend durchführte, kamen zuerst die jüngsten, dann immer ältere Erinnerungen herauf. Der Mann konnte seine Reise von der Schweiz nach Australien, seine Tätigkeit in diesem Land, seine Reise in die mittelaustralische Stadt und die schwierigen Probleme dort bis zu seiner fieberhaften Erkrankung schildern (anterograde Amnesie). Doch dann wurde es schwieriger: Es gab »Widerstände« in der Hypnose, die allmählich überwunden werden konnten, so dass die ganze Geschichte aufgerollt werden konnte (retrograde Amnesie). Es bildete sich keine zweite
130
Kapitel 7 • Die Frage der multiplen Persönlichkeit
Persönlichkeit, außer dass Herr N. für die Rückreise mit dem Schiff einen anderen Namen angenommen hatte ([3] S. 184f.).
7
Man könnte in diesem Fall von einem orientierten Dämmerzustand sprechen, wäre da nicht die Amnesie. Herr N. ist nicht plötzlich aus einer fremdartigen Traumwelt erwacht, nein, er musste mühsam mittels Hypnose mit seinen doch vorhandenen Erinnerungen konfrontiert werden. Offensichtlich war eine orientierte Persönlichkeit vorhanden, welche alles realitätsangepasst verrichtete, eine halbe Weltreise! Aber die gewöhnliche Persönlichkeit nahm von ihr nichts wahr. Zur Persönlichkeit gehört offensichtlich Bewusstsein, welches die Orientierung in der Realität ermöglicht. Dazu gehört auch die Erinnerung, denn er musste sich all dessen, was er einmal gelernt hatte, erinnern, um sich in der realen Welt zurechtzufinden. Über den Charakter derjenigen Person, die unter falschem Namen zurückreiste, wissen wir nichts. Sicher ist nach der fieberhaften Erkrankung und vielleicht unter dem Eindruck der schwierigen Probleme in der mittelaustralischen Stadt eine Spaltung der Persönlichkeit entstanden, so dass er nur noch in einem Teil seiner normalen Persönlichkeit lebte, welche von diesem Teil keine Notiz nahm. Durch die Wiedererinnerung in der Hypnose wurde eine Brücke zur Alltagspersönlichkeit hergestellt und der abgesprengte Teil eingegliedert. Es ist wohl nur eine Frage von Maß und Zeit, ob ein solcher abgesprengter Teil die Möglichkeit zur Ausbildung einer eigenen Persönlichkeit hat. Anscheinend besteht in der Psyche eine starke Tendenz, eigene Persönlichkeiten herauszubilden und wäre es nur um einen Komplex herum, wie uns unsere Träume so deutlich zeigen. Man könnte das Problem auch von der anderen Seite anschauen und sagen, die Persönlichkeit ist ein äußerst fragiles Gebilde und hat jederzeit die Tendenz in Teilpersönlichkeiten zu zerfallen, in Persona, Schatten, Animus/Anima u. a. Es ist als Wunder anzusehen, wenn jemand eine eini-
germaßen geeinte Persönlichkeit aufweist, denn diese wandelt sich wie ein Chamäleon und versucht sich so der Umgebung und ihren Erwartungen anzugleichen, dass es schwierig ist, einen kontinuierlichen Persönlichkeitskern zu fassen. Aus dieser Sicht bietet das Entstehen multipler Persönlichkeiten eigentlich keine Überraschung, sondern die Frage stellt sich, was hält eigentlich die Persönlichkeit zusammen? Anhand von Träumen lässt sich nachweisen, dass das Bewusstsein zunächst insulär ist, aus einzelnen Bewusstseinsinseln besteht. Diese haben keinen oder allenfalls einen lockeren Zusammenhang. Das ist der Grund, warum sich Kinder in einer Situation so und in einer anderen völlig anders aufführen. Man sagt dann, was ist heute in ihn gefahren. Das kann sich zeitlich oder nach Umständen ändern. Doch das ist auch dem Erwachsenen nicht gar so fremd. Im Laufe der Entwicklung wachsen immer mehr Inseln zu einem Archipel zusammen: Es bildet sich eine kontinuierliche Persönlichkeit heraus; ein Vorgang, der sich durch ein ganzes Leben hinzieht. Der Zusammenhalt der einzelnen, sich eventuell widerstrebenden Teile macht die Persönlichkeit aus. Je mehr sich ein Persönlichkeitscharakter gebildet hat, desto schwieriger wird es, diesem widersprechende Teile einzufügen, zu integrieren. Das ist ein Schutz gegen persönlichkeitsfremde Teile, welche z. B. durch Suggestion (7 Abschn. 6.3) eingepflanzt werden und sich wie Parasiten verhalten. Anderseits ist die erste Persönlichkeit ein Produkt des Kollektivs, von Eltern, Schule und Umgebung, was keineswegs den Anlagen entspricht. Diese wird im Laufe des Individuationsprozesses umgebaut, indem fremde Anteile abgestoßen und andere assimiliert werden. Letztere erscheinen oft mit der bestehenden Persönlichkeit inkompatibel, was Widerstände erzeugt. Es ist, als ob eine virtuelle Persönlichkeit vorhanden wäre – wohl ein pränatales Selbst –, das weiß, was zur wahren Persönlichkeit gehört und was ihr fremd ist. Von ihr stammt wohl die Kohäsion,
131 7.3 • Der Fall Reynolds
welche die verschiedenen widerstrebenden und widersprüchlichen Teile in der Persönlichkeit zusammenhält. > Bildlich gesprochen wäre der Defekt bei der Schizophrenie, die eine Persönlichkeitsstörung ist, der schlechte Mörtel zwischen den Bausteinen der Persönlichkeit. Die Mauer stürzt ein. Bei Neurosen ist der Mörtel gut, aber es gibt Risse in der Mauer.
Jeder Mensch hat wohl schon erlebt, dass »zwei Seelen, ach, in seiner Brust wohnen.« Da sind zwei Persönlichkeiten miteinander im Streit! Ja, man kann sich sogar fragen, ob die Bewusstwerdung nicht gerade durch diesen Zwiespalt gefördert wird? Im achten Buch seiner »Bekenntnisse« schildert Aurelius Augustinus seinen inneren Kampf zwischen dem »alten Adam« und dem neuen in Christo. Das ist keine pathologische Erscheinung, weil er darum ringt, die eine zugunsten der anderen zu überwinden. Zu jedem Zeitpunkt weiß die eine Persönlichkeit um die andere. Es gibt graduelle Unterschiede von diesem Seelenzwist bis zur eigentlichen Spaltung der Persönlichkeit. Ich habe in 7 Kap. 2 über die Besessenheit geschrieben, wo ebenfalls zwei Persönlichkeiten entstehen. So lange eine Spaltung reversibel ist, ist der Mensch »normal«. Doch die Übergänge sind fließend und jeder Komplex hat die Tendenz, eine autonome Existenz zu führen [4]. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass unsere Alltagspersönlichkeit jeden Abend im Schlaf versinkt und einer Traumpersönlichkeit Platz macht. Diese stimmt mit jener nur in begrenztem Grad überein, indem man sich im Traum oft ganz anders verhält als in der Tagespersönlichkeit. Und doch gehört sie zur selben Person. Ähnliches kommt auch am Tag als Tagtraum vor, wenn unsere Konzentration infolge von Müdigkeit oder wegen Krankheit nachlässt. Die Bewusstseinsschwelle sinkt ab (»abaissement du niveau mental«, Janet) und Inhalte des Un-
7
bewussten drängen herein. Im Gegensatz zum Traum im Schlaf, sind diese Fantasien oft oberflächlicher Natur. Das Unbewusste ist anscheinend nicht einfach ein Konglomerat, sondern hat die Statur einer Persönlichkeit. Diese hat – wie übrigens die bewusste auch – verschiedene Facetten. Diese unbewussten Facetten dürften von den archetypischen Inhalten bestimmt sein und kompensatorischen Charakter haben.
7.3
Der Fall Reynolds
Die meisten Fälle wurden im 19. Jahrhundert beschrieben, als man einfach erstaunt war, dass es so etwas wie multiple Persönlichkeiten gab. Man konnte sich noch nicht vorstellen, wie sie zustande kommen könnten, da man noch zu wenig vom Unbewussten wusste. Daher wurden die Fälle zwar gründlich, doch aus einem anderen Blickwinkel, beschrieben. Einer der berühmtesten Fälle ist jener von Mary Reynolds: Mary Reynolds ist die Tochter eines britischen Pastors, der in die Vereinigten Staaten ausgewandert war, in einen unerschlossenen, von Indianern besiedelten Landstrich in Pennsylvanien, wo noch wilde Tiere frei umherschweiften. Im Frühjahr 1811, mit 19 Jahren, war Mary mit einem Buch in die Felder hinausgegangen. Man fand sie am Boden liegend, anscheinend bewusstlos. Als sie wieder zu sich kam, war sie für fünf Wochen blind und taub. Das Gehör kehrte plötzlich, das Sehvermögen allmählich zurück. Drei Monate später fand man sie in einem tiefen Schlaf, der für viele Stunden anhielt. Als sie aufwachte, hatte sie das Gedächtnis verloren und konnte nicht mehr sprechen. Ihr verlorenes Wissen fand sie rasch wieder. Fünf Wochen darauf wachte sie in ihrem normalen Zustand auf und wunderte sich über die Jahreszeit, deren Wechsel sie nicht erlebt hatte. Einige Wochen später
132
Kapitel 7 • Die Frage der multiplen Persönlichkeit
fiel sie wieder in tiefen Schlaf und wachte wieder als Mary II auf und setzte ihr Leben dort fort, wo jenes der Mary II vor einiger Zeit aufgehört hatte.
Dieser Wechsel zwischen den beiden Zuständen setzte sich bis zu ihrem 35. Lebensjahr fort. Danach blieb sie dauernd im zweiten Zustand, bis sie mit 62 Jahren starb. Zu den Persönlichkeiten Mary I und Mary II:
7
Mary I war eine ruhige, nüchterne und nachdenkliche Person mit Neigung zu Depressionen, eine fantasielose. Mary II war fröhlich, lustig, extravagant, gesellig, zu Späßen und Streichen aufgelegt, machte Verse und Reime. Die Handschrift in den beiden Persönlichkeiten war sehr verschieden. Jeder Zustand wusste vom anderen und fürchtete, wieder in diesen zu verfallen. Mary II beurteilte Mary I als dumm und langweilig. Mary II machte der Familie große Sorgen, weil sie ruhelos und exzentrisch war, in den Wald hinauswanderte ohne Angst vor Wölfen und Bären und versuchte, eine Klapperschlange zu fangen.
Leider weiß man nichts darüber, was den Wechsel von einem in den anderen Zustand bewirkte. Ob es ein Trauma war?
7.4
Der Fall Estelle
Ein interessanter Fall kommt von Dr. Despine d. Ä ([3] S. 190ff.): Estelle ist 1825 geboren, verlor mit 7 Jahren ihren Vater, wuchs in Neuchâtel mit Mutter und Tante auf. Mit 9 Jahren fiel sie, als sie mit einem anderen Kind spielte, durch einen leichten Stoß aufs Gesäß. Seither klagte sie über unerträgliche Schmerzen, welche als schwere Paralyse diagnostiziert wurden. Als alle Behandlungsmethoden versagten, suchte man Despine in Aix auf. Die fünf Tage dauernde Reise in der Kutsche ver-
brachte sie in einem gepolsterten Weidenkorb auf dem Rücken liegend. Niemand außer ihrer Mutter und Tante konnte sie anfassen, ohne dass sie laut schrie. Estelle war von Tagträumen, fantastischen Visionen und Halluzinationen so absorbiert, dass sie nicht realisierte, was um sie herum geschah. Despine entwickelte sofort eine starke Über-
tragung auf seine junge Patientin, die er zuerst hydrotherapeutisch und elektrisch behandelte. Als ihm die Mutter berichtete, dass Estelle jeden Abend von einem Engelchor getröstet werde, machte er sich das zunutze, um sie zu magnetisieren. Nach anfänglichem Widerstand ließ sie das unter der Bedingung zu, dass man ihr wiederhole, was sie im somnambulen Zustand sage. Diese Behandlung begann, als Estelle 21 Jahre alt war. Im magnetischen Schlaf, auf welchen völlige Amnesie folgte, erschien ein tröstender Engel, den sie Angelina nannte, mit dem sie lebhafte Gespräche führte und der die Leitung der Behandlung übernahm. Dieser ordnete einen Speisezettel an, der alle Nahrung verbot, die Estelle verabscheute, und anordnete, alles, was sie gern aß. Der Engel sagte: »Lasst sie so handeln, wie sie es wünscht, sie wird es nicht ausnützen.« Vom 22. Altersjahr an führte sie ein Doppelleben: Im »normalen« Zustand war sie noch immer gelähmt und hatte unerträgliche Schmerzen bei der geringsten Bewegung, die Mutter musste ständig bei ihr sein, sie war in Kissen, Wolldecken und Daunendecken eingebettet. Im magnetischen Zustand konnte sie sich bewegen, begann zu gehen und konnte die Gegenwart der Mutter nicht ertragen. Sie verfiel spontan in magnetische Zustände, welche sich alle 12 Stunden mit dem »Normalzustand« abwechselten. Im magnetischen Zustand konnte sie gehen, laufen und ohne Ermüdung Kutsche fahren.
133 7.6 • Schock, krankhafte Verarbeitung und Umwandlung des Erlebens als Auslöser
Als Despine für ein paar Tage abwesend war, litt sie, wie sie es vorhergesagt hatte, an Halluzinationen und Störungen. Sie sagte voraus, im April werde eine große Kugel platzen, worauf eine große Besserung eintreten werde. Tatsächlich konnte Estelle erste Schritte machen. In den folgenden Monaten verschmolzen ihr »normaler« mit dem magnetischen Zustand, und sie konnte entlassen werden.
Mir scheint, das kleine Trauma des Sturzes hätte eine massive Regression ausgelöst, doch weiß man zu wenig Details, um die Psychodynamik zu verstehen. Nach ihrer Heilung brachte Estelle den größten Teil ihres Lebens in Frankreich zu, heiratete und starb mit 37 Jahren in Le Havre. Typisch an dieser Geschichte ist, was bei ähnlichen ebenfalls vorkommt (z. B. Die Seherin von Prevorst; 7 Abschn. 2.5.4), dass die Nr. 2 der Patientin die Heilung übernimmt und voraussagt, wann sich welche Wendung ereignen werde, welche Therapie hilfreich sei und Vorschriften macht.
7.5
Berserkertum
Andere Formen doppelter Persönlichkeit sind das Berserkertum, wo die Mannen des Wotan im Gefecht rechts und links alles niedermetzeln, selber unverletzlich erscheinen, ihr Körper aber zuhause wie tot daliegt, und die Lykanthropie (Wolfsmenschen). Die Psychiatrie hat es versäumt, solche Fälle genau zu untersuchen, wohl weil sie die in den Bereich der Fabel verwiesen hat. Marie-Luise von Franz hat mir von einem solchen Fall erzählt, den von Zeit zu Zeit der Drang überfiel, sein Motorrad zu nehmen und ziellos herumzufahren: Das »Ausfahren« des Berserkers. In diesen Zusammenhang gehören wohl auch jene Erlebnisse von Leuten, die von ihren Erlebnissen in einer früheren Inkarnation erzählen (Reinkarnation). Ich habe in »Was tun mit
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unseren Komplexen« [4] eine Serie von Träumen einer 33-jährigen Lehrerin aus der Nachbarschaft angeführt, welche stark historisierend wirkte. Erst auf meine Nachforschungen hin stellte sich heraus, dass sie nicht nur von der Vaterseite, sondern besonders von der Mutterseite einem berühmten Geschlecht entstammte, welches viele bedeutende Persönlichkeiten hervorgebracht hat. Die Ahnen leben in uns mit. Bei diesem Fall habe ich erwogen, ob es konkrete Erinnerungen früherer Inkarnationen oder Ahnenleben in der modernen Frau seien, was wir nicht entscheiden können ([3] S. 100ff.). Es gibt Fälle, in denen sich ein Künstler oder ein Schauspieler derart mit einer Rolle oder einer anderen Person identifiziert, dass er sich fast nicht mehr in seiner Alltagspersönlichkeit zurechtfindet. Das ist sogar eine häufige Erscheinung, dass jemand mit seiner Funktion zusammenwächst und sein profanes Menschsein verliert, besonders wenn sie ihm viel Prestige bringt. Psychologisch gesprochen handelt es sich in derartigen Fällen auch um multiple Persönlichkeit, aber durchaus noch im Rahmen des Alltäglichen. Wie schon erwähnt, sind die Grenzen fließend. Etwas Ähnliches geschieht bei der Pseudologia phantastica, wo der Patient mit seinen Funktionen identisch wird. Die Einteilung in Persönlichkeiten, welche voneinander wissen oder solche, welche nichts voneinander wissen, ist nur von relativem Wert. Im 19. Jahrhundert wunderte man sich sehr über die »Launen der Natur«, Fälle für das »Curiositätenkabinett«.
7.6
Schock, krankhafte Verarbeitung und Umwandlung des Erlebens als Auslöser
Man müsste wohl die ganze Literatur über multiple Persönlichkeiten durchforsten, um die Psychologie oder Psychodynamik solcher Fälle zu verstehen. Ich will noch einen solchen Fall schildern; von einer 29-jährigen Frau, die sich nach
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Kapitel 7 • Die Frage der multiplen Persönlichkeit
dem Suizid ihres Vaters, was sie als schweren Schock erlebte, in ein »A« und ein »B« geteilt hatte:
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Bei der Frau traten zuerst Störungen der Motorik, Halluzinationen und Stimmungsschwankungen auf. Als sie eines Abends am Klavier saß, war ihr, als ob ihr jemand befehle, tief Atem zu holen und zu singen. Es dauerte mehrere Wochen, bis die Persönlichkeit B sich ganz geformt hatte und von ihrem Körper Besitz ergriff. Seither wechselten sich A und B ab, jede weiß von der anderen. »A« blieb die gewohnte Persönlichkeit mit ihrem üblichen Charakter: Eine gescheite, kultivierte Frau guter Herkunft, schüchtern und gehemmt, die nicht gut singen kann. Sie genoss zuhause und in der Klosterschule eine strenge Erziehung, Sexualität war mit strengem Tabu belegt. »B« ist eine gereiftere, mutigere, würdige, ernsthaft dreinblickende Frau, die angebliche Reinkarnation einer spanischen Sängerin. Sie singt sicher und gut, spricht Englisch mir stark spanischem Akzent. Manchmal spricht sie eine angeblich spanische Sprache, die aber in Wirklichkeit nur mit spanischen Brocken untermischt ist. Sie ist äußerst egozentrisch, leidenschaftlich mit starkem sexuellem Interesse. Sie behauptet, sie sei eine üppige, faszinierende Schönheit, die früher Tänzerin, Kurtisane und Mätresse eines Edelmannes gewesen sei. A und B kommen miteinander wie Freundinnen aus. Jede kennt die andere, soweit sie es wünscht, und erinnert sich an das, was sie getan hat. »B« schläft nie und behauptet, »A«s früheres Leben besser zu kennen, als diese selbst. Sie versichert, sie sei »A«s Schutzengel und habe sie einmal hypnotisiert.
Es gelang dem Untersucher, jede der beiden einzeln zu hypnotisieren. Dabei stellte er fest, dass »A« sich in der Hypnose an Dinge erinnert, von denen sie im Normalzustand keine Ahnung hatte, welche aber »B« wusste. Einmal verfiel »B« in der Hypnose in ein Delirium von Angst und
Leiden: Sie hatte die Leiche eines Liebhabers gesehen, der Selbstmord begangen hatte. »Tief in ihrem Unbewussten ist ein Haus des Schreckens.« ([3] S. 196f.) »Die Leiche im Keller« ist die verdrängte Emotion über den Suizid des Vaters. Sie hat sich ihr aus Angst nie gestellt, sondern sie abgewehrt, was zur Spaltung der Persönlichkeit führte. Das Trauma des Suizids, der Schock, ist der Auslöser, aber nicht der Grund zur Spaltung. Es bestand eine Disposition zur Spaltung, indem sie ein sehr einseitiges Leben führte mit der strengen, triebfeindlichen Erziehung der Klosterschule. In der Spaltung fordert die andere, verdrängte Seite ihr Recht. »B« ist die andere Seite ihrer Tagträume, welche alles das lebt, was »A« unterdrücken muss. In der Klosterschule waren drei kleine Mädchen aus Mexiko, welche spanisch sprachen. Bei den meisten Medien, welche eine Sprache sprechen, die sie nie gelernt haben, kann man ähnliche Einflüsse feststellen (z. B. Flournoys Helèn Smith). Kurz nach dem Tode ihres Vaters hatte die Patientin einen viel älteren Mann kennen gelernt, der wie ein Spanier aussah und dessen Mutter Spanierin war. Nach dem Suizid des Vaters geriet die Patientin »aus dem Gleichgewicht«, wurde emotional labil, unausgeglichen, verlor ihr Gleichgewicht auch motorisch. In jener Zeit bildete sich ihre zweite Persönlichkeit aus, bis sie die »normale« überwältigen konnte: »von ihrem Körper Besitz ergriff«. Hätte sich die Patientin ihrem Schock gestellt und das Grässliche bewusst verarbeitet, wäre wohl keine Spaltung eingetreten. Sie hatte allerdings eine starke Bindung an den Vater, er war »ihr Liebhaber«, was eine Verarbeitung zusätzlich erschwert. Solche Fälle von Verdoppelung der Persönlichkeit bilden das Modell für die Entstehung einer traumatischen Neurose. Selbstverständlich ist es unangenehm, schmerzlich, sich dem Trauma zu stellen, an ihm zu leiden, es durchzuleiden, aber es kann nicht heilen ohne diese bewusste Trauerarbeit. Wenn man denkt, man könne einfach »vergessen« und weiterleben, so
135 7.6 • Schock, krankhafte Verarbeitung und Umwandlung des Erlebens als Auslöser
verdrängt man das Schmerzende ins Unbewusste. Dieses »vergisst« nicht und bringt es lange Zeit in Träumen wieder hoch (»seelisches Rülpsen«). Und wenn das Bewusstsein die Warnung noch immer nicht hören will, erfindet es sekundäre Mittel, welche dann nicht mehr so durchsichtig sind. Daraus entwickelt sich dann eine handfeste Neurose. Es lohnt sich also in psychohygienischer Hinsicht, auch unangenehme, schmerzliche Erlebnisse, die oft als Niederlage empfunden werden, bewusst zu halten, daran zu leiden, zu trauern, zu weinen, etc. Schöpferische Menschen finden einen kreativen Ausdruck für ihre Verzweiflung, doch jeder Mensch hat schöpferische Fähigkeiten, mittels denen er seinem Schmerz Ausdruck geben kann. Gerade die schönsten und ergreifendsten Werke der Kunst verdanken wir solchen Situationen! Der oben erwähnte Etienne Eugène Azam (1822–1899), Professor für Chirurgie an der Medizinischen Fakultät in Bordeaux, war zu einer Zeit schon an Hypnose interessiert, als sie noch verpönt war. Er beobachtete von 1858 bis 1893 eine Félida, die Tochter eines frühverstorbenen Kapitäns der Handelsmarine, und prägte den Ausdruck »dédoublement de la personnalité«. Er veröffentlichte seine Beobachtungen 1887 mit einer Einführung von Charcot: Félida musste schon als Kind ihren Lebensunterhalt mit Nähen verdienen. Ab dem 13. Lebensjahr entwickelte sie schwere hysterische Symptome. Sie war ein arbeitsames, mürrisches, schweigsames Mädchen, das ständig über Kopfweh, Neuralgien und eine Palette anderer Symptome klagte. Fast jeden Tag hatte sie eine »Krise«, in der sie in den Schläfen plötzlich einen scharfen Schmerz empfand und in einen minutenlangen lethargischen Zustand verfiel. Wenn sie daraus aufwachte, war sie ein anderer Mensch: fröhlich, lebhaft, frei von Beschwerden. Dieser Zustand hielt gewöhnlich für einige Stunden an, bis sie wieder in ihren gewohnten Zustand verfiel. In diesem war sie durchschnitt-
7
lich intelligent, im »Sekundärzustand« dagegen brillant, wusste genau Bescheid über ihr ganzes Leben. Im »Normalzustand« wusste sie nichts von jenem anderen. Seltener erlebte sie einen dritten Zustand mit Anfällen von schrecklicher Angst und entsetzlichen Halluzinationen. Einst suchte Félida Azam wegen Übelkeit und geschwollenem Bauch auf. Er stellte eine Schwangerschaft fest, wogegen sie protestierte, das sei gar nicht möglich. Darauf wechselte sie in ihren Sekundärzustand und gab lachend zu, sie wisse, dass sie schwanger sei und mache sich darüber keine Sorgen. Sie heiratete ihren Freund, brachte das Kind zur Welt und ihr Gesundheitszustand besserte sich merklich. Bei der zweiten Schwangerschaft kehrten alle ihre früheren Symptome wieder.
Mit 32 Jahren wurden die Perioden der sekundären Persönlichkeit bei Félida viel länger und die primäre immer unangenehmer. Das äußerte sich wie folgt: Im sekundären fühlte sie sich wohl, freier, achtete mehr auf ihre äußere Erscheinung, war sensibel und zärtlich gegen ihre Familie. In der primären arbeitete sie fleißig, war aber gegen ihren Mann verdrießlich. Ihre elf Geburten fanden alle im primären, d. h. dem schlechten Zustand statt. Bis zum Ende der Beobachtungszeit wurde der sekundäre Zustand noch vorherrschender, aber der primäre verschwand nie ganz. Sie litt unter merkwürdigen, unerklärlichen Blutungen aus Lunge oder Magen, was sich im Alter verstärkte. ([3] S. 201ff.)
In diesem Fall ist die sekundäre Persönlichkeit die lebenstauglichere, die primäre scheint mit den Verletzungen ihrer harten Jugend retardiert worden zu sein. Dieser Fall ist so einfühlbar, dass man ihn mit verschiedenen Zuständen heutiger Menschen vergleichen könnte, wäre da nicht die völlige Abspaltung des Sekundärzustandes vom primären. Der Sekundäre hat stets starke Kom-
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Kapitel 7 • Die Frage der multiplen Persönlichkeit
ponenten des Unbewussten, ist umfänglicher und reifer, während der primäre der neurotische ist. Die Frage stellt sich, weshalb wir heute kaum mehr solche Fälle beobachten? Kommen sie nicht mehr vor? Oder hat sich das Bewusstsein so gefestigt, dass es keine derartige Abspaltungen mehr gibt, wo die eine Person die andere ignoriert? Die Situation, würde ich vermuten, ist komplexer geworden. Wie ich beim vorhergehenden Fall gezeigt habe, liegt der Neurose eine krankhafte Verarbeitung und Umwandlung des Erlebens zugrunde. Im Normalfall wird jedes Er-
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lebnis in eine Form umgewandelt, in welcher es in die bisherige Persönlichkeit integriert werden kann. Die Persönlichkeit besteht neben ihrem Charakter aus allen Erfahrungen der Jugend von Schule und Elternhaus. Diese bilden eine »Weltanschauung«. Nun stellt sich das Problem, eine neue Erfahrung in eine solche Form zu bringen, dass sie in die »Weltanschauung« passt. Wenn das nicht gelingt, wird sie »abgestoßen«, d. h., ins Unbewusste verdrängt. Dort führt sie ein vom Willen der bewussten Persönlichkeit unabhängiges, autonomes Dasein, als ein Fremdkörper (Komplex). Es ist möglich, dass das Wissen in Psychologicis heute so weit in der Bevölkerung zugenommen hat, dass derartige einfache Abspaltungen seltener vorkommen. Sicher hat das Interesse an derartigen Fällen, die nicht unbedingt in ärztliche Behandlung kommen, nachgelassen, weil sie ihren Reiz verloren haben. Mit den Psychopharmaka und der operationalisierten Diagnostik ist man nicht mehr an der Psychodynamik interessiert, welche vom Ende des 19. Jahrhunderts bis weit ins 20. Jahrhundert hinein die großen Systeme der Neurosen hervorbrachte, denen wir uns im Folgenden zuwenden. Das ist eine Verarmung der ärztlichen Kunst, wie als ob man wieder zum Schamanismus und Medizinmann, der alle Krankheiten nach der gleichen Methode behandelt, zurückgekehrt wäre. Dabei differenziert sich die technische Medizin immer mehr, so dass zwischen dieser und jener
eine zunehmend größere Lücke klafft. Die »Verrohung« der Psychologie stammt nicht zuletzt daher, dass jede Richtung immer sektiererischer wurde und ihr System als das »allein seligmachende« ansah und keine Notiz mehr nahm von anderen Auffassungen.
Literatur Primärliteratur (Quellen) 1
Forel A (2006) Nachlassverzeichnis im medizinischen Archiv des medizinhistorischen Instituts und Museums, Zürich
Sekundärliteratur 2 3 4
5
Augustinus A (1997) Bekenntnisse. Wilhelm Thieme (Übersetzer). dtv, München Ellenberger HF (1973) Die Entdeckung des Unbewussten. The discovery of the unconscious. Hans Huber, Bern Ribi A (1989) Was tun mit unseren Komplexen? Über die Dämonen des modernen Menschen. Kösel, München. (http://www.opus-magnum.de) S. 39 Völker K (1972) Von Werwölfen und anderen Tiermenschen. Dichtungen und Dokumente. C. Hanser, München
137
Drittes Buch: Die großen psychodynamischen Systeme und ihre Begründer Kapitel 8
Pierre Janet (1859–1947) – 139
Kapitel 9
Sigmund Freud (1856–1939) – 149
Kapitel 10
Alfred Adlers (1870–1937) Individualpsychologie – 181
III
139
Pierre Janet (1859–1947) 8.1
Methodische Regeln – 140
8.2
Lebenslauf – 140
8.3
Wissenschaftliche Entdeckungen – 142
8.3.1 8.3.2 8.3.3 8.3.4 8.3.5
Einengung des Bewusstseinsfeldes – 142 Tendenzen versus Trieb – 142 Ablauf der höheren Handlungen – 144 Fixe Ideen – 145 Bewusstseinsfeld – 145
Literatur – 147
A. Ribi, Neurose – an der Grenze zwischen krank und gesund, DOI 10.1007/978-3-642-16148-3_8, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
8
140
8
Kapitel 8 • Pierre Janet (1859–1947)
Pierre Janet haben wir im Vorangehenden schon oft erwähnt, weil er auf verschiedenen Gebieten eine Rolle spielte und in gewissem Maße die früheren Bestrebungen zusammenfasste. Er kannte seine Vorgänger, beurteilte ihre Leistungen, welche er in seinen eigenen experimentellen Untersuchungen zusammenfasste, kritisch und brachte sie zu einem Abschluss. Es ist merkwürdig, dass seine Richtung keine Nachfolge fand, und er heute fast vergessen ist, obwohl sich eine Renaissance anbahnt, indem sowohl im französischen als auch im deutschen Sprachbereich seine Werke neu aufgelegt werden. Möglicherweise bildet er eine Sackgasse, weil sein Ausgangspunkt zu einseitig klinisch beschreibend und naturwissenschaftlich experimentell ist. Ihm fehlt die intuitive, integrative Systematik. Er war ein sorgfältiger Beobachter, scheute sich jedoch davor, darüber hinauszugehen. Er scheute sich vor dem Konzept des Unbewussten, weil dieses nicht direkt nachweisbar, sondern nur indirekt erschließbar ist.
8.1
Methodische Regeln
Janet wollte streng wissenschaftlich sein und nur das als erwiesen gelten lassen, was er durch Beobachtung oder Experiment nachweisen konnte. Er hatte – was noch heute für die Psychiatrie und die kollektive Psychologie gilt – eine zu enge Auffassung von Wissenschaftlichkeit, welche den Geist nicht einschloss. Er ging mit einer an der Physiologie geschulten Einstellung an die psychologischen Phänomene heran. Das hat bis zu einem gewissen Grad seine Richtigkeit – Sigmund Freud tat dasselbe auf seine Art –, aber blieb im Biologistischen stecken. Man kann die geistigen Phänomene gewiss auf ihr körperliches Fundament reduzieren, doch ist damit soviel gewonnen, wie wenn man den Kölner Dom in der Mineralogie abhandeln würde, weil er aus Steinen gebaut ist.
C.G. Jung arbeitete 1902 während eines »Sabbaticals« eine gewisse Zeit bei Janet in Paris, besuchte seine Vorlesungen, aber auch die Diskussionsrunden in Janets eleganter Wohnung in der Rue de Varenne. Er hat etliche Ausdrücke Janets in seine Psychologie übernommen. Janet hatte drei methodische Regeln.
Methodische Regeln nach Janet 5 Den Patienten allein untersuchen 5 Alles genau aufschreiben (Füllhaltermethode) 5 Die ganze Lebensgeschichte und frühere Behandlungen überprüfen
Fortschritte in der Psychologie wurden möglich, als man begann, genaue Lebens- und Krankengeschichten zu führen. Janet war ein äußerst aktiver Typ, wohl ein extravertierter Empfindungstyp mit Denken als zweiter Funktion, Emotionen dagegen waren ihm lästige Störungen seines Handelns. Im 18. Jahrhundert herrschte die Theorie, die Empfindung (»sensation«) sei die Ursubstanz, aus welcher sich das ganze Seelenleben entwickle. Janet hatte in seiner Jugend tiefe religiöse Gefühle gehegt und machte mit 15 Jahren eine religiöse Krise durch.
8.2
Lebenslauf
Pierre Janet ist der älteste von drei Geschwistern und wuchs in und um Paris auf. Er besuchte das berühmte Collège Sainte-Barbe in Paris, eine der ältesten und angesehensten Schulen Frankreichs. Nach seiner Krise mit 15 Jahren wurde er ein hervorragender Schüler und beschloss, Philosophie zu studieren. Er besuchte nach Vorbereitungsklassen die École Normale Supérieure, welche den Studenten einen hochqualifizierten Unterricht verschaffte, ihnen aber auch viel Freiheit zu selbständigem Denken gab. Er erhielt seine Li-
141 8.2 • Lebenslauf
cence ès Lettres. Im Jahr 1882 hielt Charcot einen Vortrag an der Académie des Sciences, welcher der Hypnose die Rehabilitation brachte. Janet war ein Leben lang mit seinem Kommilitonen Henri Bergson, dem gefeiertsten französischen Philosophen, befreundet. In diesem Jahr bestand er als Zweitbester die Agrégation de Philosophie. Er wurde mit 23 Jahren nach einem kurzen Intermezzo in Châteauroux ans Lycée in Le Havre berufen. Einen Teil seiner Freizeit verbrachte er im Krankenhaus von Le Havre mit psychiatrischen Forschungsarbeiten. Léonie, eine bemerkenswerte Versuchsperson, wurde nach Le Havre geholt, wo Janet über mehrere Jahre mit ihr arbeitete. Die Resultate trug sein Onkel Paul der Société de Psychologie Physiologique, deren Vorsitz Charcot führte, vor. Der Vortrag rief eine Sensation hervor. Aus allen Gegenden kamen Gelehrte, um Léonie kennen zu lernen. Die Existenz der Suggestion aus der Ferne wurde bestätigt, was in der Welt der Wissenschaft großes Aufsehen erregte. Aus seinen Erfahrungen mit den Wissenschaftlern, die ihn nur nach dem Hörensagen zitierten, blieb ihm ein lebenslanges Misstrauen gegen die parapsychologische Forschung. Ihm wurde am Krankenhaus von Le Havre ein Raum zur Verfügung gestellt, wo er Patienten untersuchen konnte, die nicht wie in der Salpêtrière schon hundertfach von Ärzten und Studenten hypnotisiert worden waren. Bei Léonie stellte er fest, dass sie schon früher magnetisiert worden war, was ihn veranlasste, die Schriften früherer Generationen zu erforschen. Darin stieß er auf die erstaunliche Tatsache, dass das, was als Neuigkeit gepriesen wurde, schon längst genau beschrieben war. Mit 30 Jahren verteidigte er in Paris seine Dissertation mit Bravour. Während der großen Weltausstellung von 1889 in Paris trafen sich Wissenschaftler aus der ganzen Welt zum »Ersten Internationalen Kongress für experimentelle und therapeutische Hypnose«. Dort bot sich ihm Gelegenheit, Berühmtheiten der psycho-
8
logischen und psychiatrischen Welt kennen zu lernen (Myers, William James, Freud). Er beschloss, Medizin zu studieren, um seine psychopathologischen Forschungen fortsetzen zu können. Nach vier Jahren bestand er die Abschlussprüfungen (1893), nachdem er schon seit drei Jahren auf Charcots Stationen in der Salpêtrière viel Zeit mit der Untersuchung von Patienten verbracht hatte. Aufgrund seiner Untersuchungen arbeitete er seine Theorie für die medizinische Doktorarbeit aus. Auf dem »Internationalen Kongress für Experimentelle Psychologie« 1892 in London trug er seine Ergebnisse über die Beziehung zwischen Amnesie und unbewussten fixen Ideen vor. Charcot vertraute ihm das neugegründete Laboratorium an der Salpêtrière von der Société de Psychologie an. Charcot verstarb unerwartet drei Wochen später (1893). Bis 1902 konnte Janet an der Salpêtrière relativ frei arbeiten. Bis 1898 hatte er noch seine Lehrtätigkeit am Collège Rollin und am Lycée Condorcet in Paris in Philosophie ausgeübt. Dann wurde er an die Sorbonne berufen. 1894 veröffentlichte er sein Lehrbuch der Philosophie, an welchem er zwölf Jahre gearbeitet hatte. Nach Abschluss seines Medizinstudiums eröffnete er seine Praxis. Er genoss den Ruf eines Neurosenspezialisten. Am Internationalen Kongress 1896 in München hielt er einen Vortrag über den »somnambulen Einfluss«, eine Neubearbeitung der alten Vorstellung vom Rapport. 1902 wurde er ans Collège de France gewählt, wo sich vor allem ausländische Gäste einfanden. 1910 war der Nachfolger Charcots gestorben. Die Nachfolger waren somatisch neurologisch interessiert, so dass er sein Laboratorium an der Salpêtrière aufgeben musste. Sein Ruhm verbreitete sich immer mehr im Ausland, wo er öfters zu Vorträgen eingeladen wurde. Am Internationalen Kongress 1913 in London griff er Freud an, der die kathartische Methode als seine eigene Erfindung ausgab, und übte scharfe Kritik an seiner symbolischen Traumdeutung. Von 1910 an vervollkommnete er sein System der »hier-
142
Kapitel 8 • Pierre Janet (1859–1947)
archischen Funktionen des Psyche«. Von 1925 an entwickelte er ein neues System der »Psychologie des Verhaltens«. In Frankreich waren nicht mehr viele Menschen bereit, seinen neuen Theorien zu folgen, obwohl sein Ruf im Ausland ungebrochen war. Obwohl er sich immer neuen Interessengebieten zuwandte, nahm man von ihm immer weniger Notiz. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde er 1946 ans Burghölzli für Vorträge eingeladen. 1947 starb er in Paris: Er hatte seine Zeit überlebt ([20] S. 453–472).
8.3
8
Wissenschaftliche Entdeckungen
Von den physiologischen Experimenten gelangte er zum Studium der Verhaltensweisen als Handlungsweisen. Sie bilden den Mittelpunkt seiner Psychologie: »Das wissenschaftliche Studium der Psychologie kann nur vorgenommen werden, wenn man alle geistigen Vorgänge als Handlungen oder als Stufen derselben auffasst« (Médications). Dieses Zitat zeigt meines Erachtens die Begrenzung, in welcher Janet als Kind der Aufklärung und des 19. Jahrhunderts befangen war. Er hat, das darf darüber nicht vergessen werden, die Psychologie mit zahlreichen Entdeckungen bereichert.
8.3.1
Einengung des Bewusstseinsfeldes
Bereits in »Automatisme psychologique« gelangte er zum Begriff der Einengung des Bewusstseinsfeldes, was für das Verständnis der Hysterie wichtig ist. Später, in »État mental des hystériques«, kommt er zur Hypothese der geistigen Spannung, einer Idee, welcher wir schon anlässlich des »fasrigen Aufbaus« des Organismus begegneten (7 Abschn. 2.2.5). Das wurde in »Obsessions« weiter ausgebaut. In »Névroses« findet sich eine Zusammenfassung seiner Auffassungen. In den 1920er Jahren war es der Aus-
bau der Lehre von den Tendenzen (Trieben) und ihrer Aktivierung, der Beziehungen zwischen der geistigen Spannung und der Kraft, bei Hervorhebung der asthenischen Zustände gegenüber den Spannungstiefständen. Er befasste sich mit der Regulation der Handlungen in ihrer Beziehung zu den Gefühlen unter Einbezug der Evolution sowie der Glaubensfunktionen. Jetzt wurde es möglich, die Einwirkungen von Persönlichkeit, Gedächtnis und sozialer Verhaltensweisen besser zu beleuchten und eine umfassendere Erklärung für die Emotionen aufzustellen. Die geistigen Kräfte erfuhren in »Force et faiblesse«, (1932) eine gründlichere und übersichtlichere Darstellung, welche für das Verständnis der Neurosen von eminenter Wichtigkeit ist. In den letzten 15 Jahren befasste er sich mit den Glaubensfunktionen, auf welche wir schon bei William James stießen, und konnte damit zahlreiche psychiatrische Probleme erklären.
8.3.2
Tendenzen versus Trieb
Janet vermeidet das Wort Trieb und spricht von Tendenzen als einer Disposition des Organis-
mus zur Ausführung einer bestimmten Handlung, welche durch eine gewisse Zahl von Bewegungen eines beliebigen Organs charakterisiert wird. Diese Bewegungen erfolgen in einer bestimmten Ordnung und bilden eine Reaktion auf einen gewissen Reiz auf die Peripherie des Organismus. Das Charakteristische eines Triebes ist die regelmäßige Entwicklung einer Funktion. Diese schwerfällige Definition tönt, als stammte sie aus einem Lehrbuch der Physiologie. »Tiere (und Menschen) sind nicht ReflexAutomaten, die einzig auf Reize hin reagieren«, schreibt Irenäus Eibl-Eibesfeldt. »Man kann vielmehr beobachten, dass sie auch aus innerem Antrieb handeln. […] Der Begriff »Trieb« ist heute keineswegs mehr ein mystischer Begriff […] er bezeichnet beschreibend ein Funktions-
143 8.3 • Wissenschaftliche Entdeckungen
prinzip, nämlich die Tatsache, dass ein Verhalten auch auf inneren antreibenden Ursachen beruht.« ([19] S. 66f.) Der Trieb, so Jung, hat:
» … zwei Aspekte: einerseits wird er als physiologische Dynamik erlebt, andererseits treten seine vielfachen Gestalten als Bilder und Bildzusammenhänge ins Bewusstsein und entfalten numinose Wirkungen, die im strengsten Gegensatz zum physiologischen Triebe stehen oder zu stehen scheinen. […] Für den Kenner religiöser Phänomene ist es ja kein Geheimnis, dass physische und geistige Leidenschaft zwar feindliche, aber eben doch Brüder sind und es darum oft nur eines Momentes bedarf, um das eine in das andere umschlagen zu lassen. […] Wie das »Psychisch-Infrarote«, d. h. die biologische Triebseele, allmählich in die physiologischen Lebensvorgänge und damit in das System chemischer und physikalischer Bedingungen übergeht, so bedeutet das »Psychisch-Ultraviolette«, d. h. der Archetypus, ein Gebiet, das einerseits keine Eigentümlichkeiten des Physiologischen aufweist, andererseits und in letzter Linie auch nicht mehr als psychisch angesprochen werden kann, obschon es sich psychisch manifestiert. Das tun aber auch die physiologischen Vorgänge, ohne dass man sie deshalb als psychisch erklärt. (GW 8, 414, 420)
«
Zur Arbeitsmethode Janets müsste man noch das folgende kontrastierende Zitat von Jung anführen:
» Ich habe selber mehrere Jahre lang experimentelle Arbeit geleistet [Assoziationsexperimente]; durch meine intensive Beschäftigung mit Neurosen und Psychosen musste ich aber einsehen, dass – so wünschenswert quantitative Bestimmung ist – es ohne die qualitativ beschreibende Methode nicht geht. Die medizinische Psychologie hat erkannt, dass die entscheidenden Tatbestände außerordentlich kompliziert
8
sind und nur durch kasuistische Beschreibung erfasst werden können. Diese Methode aber setzt Freiheit von theoretischer Voreingenommenheit voraus. Jede Naturwissenschaft ist da, wo sie nicht mehr experimentell vorgehen kann, beschreibend, ohne damit aufzuhören, wissenschaftlich zu sein. (GW 9/I, 113)
«
Die Gruppe der Instinkthandlungen gilt Janet als »allzu verschwommen«. Neuestens rechnet er die angeborenen Triebe als zu den Instinkten gehörend. Die Unterscheidung der beiden ist Jung ein Anliegen. Er definiert Instinkte als
» … typische Formen des Handelns, und überall, wo es sich um gleichmäßige und regelmäßig sich wiederholende Formen des Reagierens handelt, handelt es sich um Instinkt, gleichgültig, ob sich eine bewusste Motivierung dazu gesellt oder nicht. (GW 8, 273)
«
Für Janet sind Triebe ein durchaus hypothetischer Begriff. Sie bilden den Ausgangspunkt sowohl für Handlungen und Verhaltensweisen als auch von Ideen und Begriffen. Ihre Zahl ist bei höher stehenden Menschen unendlich groß. Sie konstituieren den menschlichen Geist überhaupt. Sie sind zielstrebig. Es gibt eine Hierarchie der Triebe. Die neueren Triebe sind weniger widerstandfähig als die älteren: den Urinstinkten sind durch die Kultur leicht zerstörbare altruistische Gefühle aufgepfropft. Triebe sind vererbt. Andere Triebe (Nachahmung) werden, weil noch nicht voll organisiert, von den Eltern auf die Kinder übertragen. Einmal konstituierte Triebe werden längere oder kürzere Zeit beibehalten als sog. Gewohnheiten. Zur Anpassung an neue Situationen, können neue Triebe durch »trial and error« geschaffen werden. Die Triebe haben eine Kraftladung, eine Intensität. Es gibt Triebkraftreserven, d. h. nicht aktivierte, in Latenz verharrende Triebe, was er Sparkasseneinlagen nennt [23].
144
8
Kapitel 8 • Pierre Janet (1859–1947)
Drainage heißt die Umleitung der Triebkräfte, wobei der erste Trieb geschwächt (drainiert) bzw. gehemmt, der zweite dagegen verstärkt wird. Dieses Prinzip findet sich bei den Psychoanalytikern als Sublimierung. Die Drainage erfolgt häufig zugunsten höherer Triebe. Wenn ein Trieb infolge eines Reizes sich zu aktivieren bestrebt ist, so stößt er dabei auf andere, gegensätzliche Triebe (»lutte des tendances«). Er zählt Schmerz, Angst, Zorn, Liebe zu den Trieben, welche wir als Affekte bezeichnen. Ein Hemmungsmechanismus ist auch die Verdrängung, eine pathologische Erscheinung. Der Widerstreit der Triebe spielt bei den Überlegungsvorgängen eine Rolle. Bei Abnahme der höheren Tendenz infolge ihrer größeren Fragilität zugunsten tieferer, resistenter Triebe entsteht Psychasthenie. Eine große Zahl von Tendenzen kann bei Demenz völlig verschwinden. Die Akquisition neuer Tendenzen ist bei den meisten Neurosen unmöglich. Bei der Asthenie ist es eine quantitative Abnahme der Triebkräfte, bei starker Beanspruchung der Kraftreserven kommt es zur Erschöpfung. In der Melancholie können die Tendenzen nicht mobilisiert werden und bleiben in Latenz. Schwache höhere Tendenzen fallen weg, wenn sie nicht durch Drainage und Anstrengung reguliert werden, wie bei Zwangserscheinungen und traumatischen Reminiszenzen. > Wenn sich ein Trieb realisiert, so gebiert er eine Handlung. Die Handlungen sind nichts anderes als eine Aktivierung der mit mehr oder weniger Kraft geladenen Triebe. Ohne Trieb keine Handlung. Das Ziel der Handlung ist die Umgestaltung der Außenwelt im Sinne einer Unterdrückung des Störenden und einer Vermehrung des Vorteilhaften. Die inneren Handlungen werden von der Umgebung (»socii«) nicht wahrgenommen, weil sie keine äußerlich sichtbare Bewegung veranlassen.
Immerhin sind sie intensiv genug, um Reaktionen beim Subjekt selbst auszulösen. Diese Reaktionen auf eigene Handlungen nennt man Bewusstsein. Die Gedankenwelt besteht aus inneren Redeweisen. Die äußeren Handlungen sind externe, körperliche, materielle, motorische, explizite und primäre Handlungen, die inneren, internen und impliziten, während die verbalen und sekundären Akte einen speziellen Begriff darstellen. Die Handlungen sind final (wie die Triebe), zielen nach dem Objekt und stellen uns dieses Ende in Form einer Idee vor. Eine erfolgreiche Handlung benötigt eine gewisse Dauer (Aus-dauer!). > Pathologische Abweichungen sind die Enthusiasten, welche aus eigenem Antrieb lange arbeiten, die Zwangsneurotiker, welche mit unlösbaren Problemen nicht zuende kommen, die Starrköpfigen, deren Wille pathologisch ist und die Zerstreuten.
8.3.3
Ablauf der höheren Handlungen
Die Wahrnehmung eines Objektes ist nichts anderes als eine primäre perzeptive Handlung, die im Erektionsstadium aufgehalten ist. Die Kenntnis und das Erkennen der Objekte stehen in naher Beziehung zu den Glaubensfunktionen. Diese Funktion ist selektiv: nützlicher – schädlicher Gegenstand, wertvoll – wertlos, gut – schlecht. Diese Funktion ist synthetisch und koordiniert mit dem Ich (Aufmerksamkeit). Aus Jungs Sicht ist die Wahrnehmung eine irrationale Sinnesfunktion, welche lediglich feststellt, wie das Objekt beschaffen ist, und dies dem Bewusstsein vermittelt. Die urteilenden Funktionen (Denken, Gefühl) stehen unterhalb der konkreten Tatsache der Empfindung und haben die Eigenschaft der minderdifferenzierten Funktion, d. h. also eine gewisse Negativität mit infantil-archaischen Zügen (GW 6, 604f.).
8
145 8.3 • Wissenschaftliche Entdeckungen
> Wahnideen und Halluzinationen beruhen nach Janet auf einer permanenten und unvermeidlichen Falschwertung, Unterbewertung und Entwertung bei asthenischen Trübsinnigen und Melancholikern, Überbewertung bei pathologischen Optimisten.
Mit der Wahrnehmung treten verschiedene Gefühle in Beziehung: Interesse, Ekel, Abneigung. Aus dem Interesse entsteht das Wirklichkeitsgefühl. Es gibt verschiedene Wirklichkeitsgrade je nach Interesse am Objekt, abhängig von Anstrengung oder Ermüdung (»perception desintéressée«), Abnahme der geistigen Spannung. Bei der Neuformung von Tendenzen und der Anpassung an neuartige, schwierige und komplizierte Situationen sind intellektuelle Leistungen zusätzlich zur Wahrnehmung nötig. Der innere Widerstand gegenüber einem Reiz verursacht eine Verzögerung der Handlung. Das Konzept des Unterbewussten nimmt bei Janet Bezug auf die »petites perceptions« von Leibniz. Unbewusste Handlungen, Träume und kleine Empfindungen sind als ganz und gar ohne Bewusstsein beschrieben worden, als Unbewusstes. Das ist nur richtig, sagt er, wenn man dem Wort Bewusstsein einen absoluten Sinn gibt und wenn man mit dem Wort das klarste Persönlichkeitsbewusstsein (»l’idée de la personalité«) meint. Uns scheint es richtiger, sie unterbewusste Phänomene zu nennen, bei denen das elementare Bewusstsein vorhanden ist, aber das Persönlichkeitsbewusstsein fehlt (1904). Das Unterbewusste erscheint als Ausdruck eines geschwächten Bewusstseins, wenn traumatische Erfahrungen zur Dissoziation von Gedächtnisinhalten führen.
8.3.4
Fixe Ideen
Fixe Ideen sind psychologische Sachverhalte, die sich nicht wie die Suggestion experimentell, sondern auf natürliche Weise autonom und außerhalb des Willens und des persönlichen Bewusst-
sein in der Psyche entwickeln. Sie sind häufig Folge eines psychischen Traumas. Sie entwickeln sich außerhalb der Kontrollfunktion der anderen Gedanken, herausgelöst. Das ist ein Vorläufer von dem, was Jung Komplex nennt. Für ihn ist er:
» … das Bild einer bestimmten psychischen Situation, die lebhaft emotional betont ist und sich zudem als inkompatibel mit der habituellen Bewusstseinslage oder -einstellung erweist. Dieses Bild ist von starker innerer Geschlossenheit, es hat seine eigene Ganzheit und verfügt zudem über einen hohen Grad von Autonomie, d. h. es ist den Bewusstseinsdispositionen in nur geringem Maße unterworfen und benimmt sich daher wie ein belebtes »corpus alienum« (Fremdkörper) im Bewusstseinsraume. (GW 8, 201)
«
8.3.5
Bewusstseinsfeld
Janet hat vorgeschlagen, es Bewusstseinsfeld
oder größte Ausdehnung des Bewusstseins, die größte Anzahl einfacher oder verhältnismäßig einfacher Phänomene, zu nennen, die in jedem Augenblick vereinigt sein können, die gleichzeitig mit unserer Person in Verbindung gebracht werden können. So verstanden ist das Bewusstseinsfeld sehr variabel (1894). Zur Ausbildung des Bewusstseinsfeldes ist die Fähigkeit zur Synthese erforderlich. Die Synthese ist eine wichtige psychische Funktion zur Assimilierung elementarer psychischer Phänomene an die Person wie Empfindungen, motorische Bilder und Erinnerungsbilder. Innerhalb des Bewusstseinsfeldes gibt es einen Rand- (»fringe of consciousness«) und einen Kernbereich; letzterer ist die Aufmerksamkeit. Suggestible, leicht hypnotisierbare Personen haben ein eingeengtes Bewusstseinsfeld. »Wir wissen, dass unser Bewusstsein nicht alle psychologischen Phänomene erfasst, die in uns vorkommen, und dass es in unserem Geis-
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8
Kapitel 8 • Pierre Janet (1859–1947)
te viele Sachverhalte gibt, die wir nicht wissen.« (1885) Janet unterscheidet ein quasi-apersonales oder Bewusstsein im weiteren Sinn von der Synthese, welche das personale Bewusstsein im engeren Sinne hervorbringt. Die unbekannten psychischen Sachverhalte sind vom normalen Ich getrennt. Sie werden in einer neuen Synthese zusammengefasst und haben den Anschein einer selbständigen Person. Die Verdoppelung der Persönlichkeit (»dédoublement de la personnalité«) ist Folge einer Schwäche der »psychischen Synthese« (7 Kap. 7). »Der Somnambulismus ist für uns eine zweite psychologische Existenz, klar unterschieden von der ersten und mit ihr abwechselnd« (1894). Nach Janet sollte unbedingt ein Unterbewusstsein vermieden werden, dessen Inhalte man niemals feststellen kann [18]. Die Phänomene des Somnambulismus analysierte und beschrieb Janet an der berühmten Lucie. Die Serie von Artikeln darüber machten ihn mit Jean Martin Charcot bekannt [21]. »Man hat bemerkt, dass psychologische Phänomene nicht von anderen abgeleitet werden können. Es gibt eine Diskontinuität zwischen zwei psychologischen und auch zwischen einem psychologischen und einem physiologischen Phänomen.« ([21] S. 239) Ich will noch einige Gedanken Janets zu den Neurosen anfügen. Er definiert sie als »Störungen der verschiedenen Funktionen des Organismus, charakterisiert durch die Sistierung ihrer Entwicklung ohne Zerstörung der Funktion selber.« Ihm war der Entwicklungsstillstand das wichtigste Merkmal der Neurosen. Gegen Charcot, welcher aus der Hysterie eine nosologische Einheit machen wollte, schreibt er, bei den Neurosen ließen sich keine scharfen Grenzen ziehen. Sehr viele Symptome seien allen gemeinsam, und es gäbe Übergänge. Er teilt sie aufgrund der Spannungsabsenkung ein. »Die Mehrzahl der geistigen Erkrankungen, abgesehen von denen, welche die primären Tendenzen zerstören, wird durch eine Verbindung der geis-
tigen Kräfte determiniert, die bald die Quantität, bald die Spannung beeinflusst.« Die Hysteriker, eine Varietät der Psychastheniker, weisen eine besondere Einengung des Bewusstseinsfeldes auf elementare und körperliche Funktionen auf ([23] S. 371–429). Bei der Hysterie lehnt er die neurologische Theorie ab und sieht sie als eine rein psychogene Krankheit an, wie die Psychasthenie auch, zu welcher er auch Zwangsneurosen und Phobien rechnet. Die andere Gruppe, die Neurasthenie, welche auf eine neurophysiologische Theorie zurückging, gab er auf. Mittels Suggestion brachte er Symptome zum Verschwinden, doch kaum war eines verschwunden, trat ein anderes auf. Durch Krisen trat eine allgemeine Besserung ein. > Janet unterstrich, dass in der menschlichen Seele niemals etwas verloren geht.
Eine starke Suggestibilität ist ein Zeichen von geistig-seelischer Schwäche. Solche Patienten haben ständig das Bedürfnis, sich dem Psychiater anzuvertrauen und von ihm gelenkt zu werden. Das ist der Grund, weshalb Jung die Patienten in der Therapie lehrt, sich selber wahrzunehmen und Verantwortung für ihre eigenen Entscheidungen zu tragen. In Janets Neurosenkonzept gibt es sowohl einen psychogenetischen Prozess als auch eine organische Prädisposition zur Neurose, worunter konstitutionelle wie hereditäre Faktoren zählen. Die psychische Spannung ist die Fähigkeit, seine psychische Energie auf einer mehr oder weniger hohen Ebene der »Hierarchie der Tendenzen« einzusetzen. Das Verhältnis zwischen Kraft und Spannung manifestiert sich in verschiedener Weise: Unruhe (»agitation«) entsteht, wenn die Kraft gleich bleibt, aber die Spannung abnimmt. Zwischen Kraft und Spannung sollte ein Gleichgewicht bestehen, aber es gibt gewisse Schwankungen (»oscillations«), welche in der Psychopathologie eine Rolle spielen. Das asthenische Syndrom ist ein Mangel an Kraft. Bei sozialen Asthenien besteht ein Gefühl der
147 Literatur
Leere (»sentiment du vide«), was oft zum Alkoholismus führt. Schwere Asthenie findet sich bei schizophrenen Zuständen. Beim hypotonischen Syndrom besteht ein Mangel an Spannung. Das grundlegende Symptom ist ein »Gefühl der Unvollständigkeit« (»sentiment d’incomplétude«). Die sekundären Symptome werden im typischen Fall durch Ausruhen verstärkt und nehmen bei Anstrengung ab. Er nahm an, dass die psychische Kraft physiologischer Natur sei. Die Kraft bildet sich z. B. im Schlaf und kann aufbewahrt werden; psychische Einsparungen erfolgen besonders in der sozialen Umwelt und der Berufsarbeit (»économies psychologiques«). Es gibt auch den plötzlichen Zusammenbruch der Spannung in Form einer Energie»Entladung« bei der psycholeptischen Krise der Psychastheniker oder bei welcher Handeln und Wahrnehmung plötzlich verschwommen werden und die »fonction du réel« verloren geht. Bei Menschen, die ihre Handlungen unvollendet und unbeendet lassen, nimmt die Spannung ständig ab. Jedesmal sind sie weniger fähig, sich anzupassen, wodurch sie in einen circulus vitiosus geraten, dessen Abschluss ein asthenischhypotonisches Syndrom ist und dessen Extremform die Hebephrenie. Jedes Ereignis, jeder Konflikt, jede Krankheit, jede Lebensphase sollte zu einem bestimmten Zeitpunkt abgeschlossen (liquidiert) sein, sonst können sie zu einem ständigen Energieverlust führen. Wenn ein Patient eine Zeitlang auf Kosten latenter Reserven gelebt hat und diese erschöpft sind, muss er »Schuldentilgung« machen. Personen, welche Arbeiten auf einer Ebene unter ihrer eigentlichen ausführen müssen, z. B. Einwanderer oder Arbeitslose, können in ein hypotonisches Syndrom geraten ([20] S. 485–526). Man sieht, dass Janet viele beherzenswerte Dinge, oft in der Form von Populärpsychologie, gesagt hat, die einleuchten und nachvollziehbar sind. Sein Weg wurde darum zur Sackgasse, weil in der Zwischenzeit dem Unbewussten ein wesentlicher Platz in der Psychologie und Psycho-
8
pathologie eingeräumt wurde. Dadurch veränderte sich das Weltbild grundlegend.
Literatur Primärliteratur (Quellen) Werke von Pierre Janet 1 Janet P (1889) L’automatisme psychologique: essay de psychologie expérimentale sur les formes inférieures de l’activité humaine. F. Alcan, Paris 2 Janet P (1898) Nérvoses et idées fixes… F. Alcon, Paris 3 Janet P (1893–1894) État mental des hystériques I. 2 vols, Rueff, Paris 4 Janet P (1903) Les obsessions et la psychasthénie I. Alcan, Paris 5 Janet P (1919) Les medications psychologiques, vol. I– III. Alcan, Paris 6 Janet P (1913) L’automatisme psychologique. Alcan, Paris 7 Janet P (1929) L’évolution psychologique de la personalité. Maloire, Paris 8 Janet P (1932) La force et la faiblesse psychologiques. Maloire, Paris 9 Janet P (1909) Les névroses. Flammarion, Paris 10 Janet P (1919) Les obsessions et la psychasthénie. Alcan, Paris Weitere Quellen 11 Jones E (1982) Das Leben und Werk von Sigmund Freud. 3 Bde., Huber, Bern 12 Jung CG (1995) Psychologische Typen. GW 6 (§ 604– 605). Gesammelte Werke. Walter, Solothurn Düsseldorf 13 Jung CG (1995) Allgemeines zur Komplextheorie. GW 8 (§ 201). Gesammelte Werke. Walter, Solothurn Düsseldorf 14 Jung CG (1995) Instinkt und Unbewusstes. GW 8 (§ 273). Gesammelte Werke. Walter, Solothurn Düsseldorf 15 Jung CG (1995) Theoretische Überlegungen zum Wesen des Psychischen. GW 8 (§ 414, § 420). Gesammelte Werke. Walter, Solothurn Düsseldorf 16 Jung CG (1995) Die Archetypen und das kollektive Unbewusste. GW 9/1 (§ 113). Gesammelte Werke. Walter, Solothurn Düsseldorf 17 Nicolas S (1896) Collection encyclopédie psychologique dirigée par S.N. (Réproduction en fac simile de l’édition originale) Sekundärliteratur 18 Bühler KE, Heim G (2005) Konzeption des »Unterbewussten« und des psychischen Automatismus bei Pierre Janet. In: Buchholz MB, Gödde G (Hrsg.) Macht und Dynamik des Unbewussten. Bd. I. Auseinandersetzung in Philosophie, Medizin und Psychoanalyse. Psychosozial Verlag, Gießen. S. 296–414
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Kapitel 8 • Pierre Janet (1859–1947)
19 Eibl-Eibesfeldt I (1973) Der vorprogrammierte Mensch. Deutscher Taschenbuchverlag (DTV), Wissenschaftliche Reihe, Wien München Zürich 20 Ellenberger HF (1973) Die Entdeckung des Unbewussten. 2 Bde. Hans Huber, Bern Stuttgart Wien (Original: The discovery of the unconscious. The history and evolution of dynamic psychiatry P. Janet S. 449–560) 21 Nicolas S (2006) Introduction. Philosophie et psychologie. Pierre Janet. L’Harmattan, Paris 22 Schäfer ML (1972) Der Neurosenbegriff. Ein Beitrag zu seiner historischen Entwicklung. Das wissenschaftliche Taschenbuch. Abt. Medizin. Goldmann, München 23 Schwartz L (1951) Die Neurosen und die dynamische Psychologie von Pierre Janet. Benno Schwabe, Basel. S. 371–429
8
149
Sigmund Freud (1856–1939) 9.1
Vorbemerkungen – 150
9.2
Der Fall Bertha Pappenheim alias Anna O – 150
9.2.1 9.2.2 9.2.3
Katharsis – 151 Biografische Daten – 152 Die Krankenberichte Josef Breuers (1842–1925) – 152
9.3
Der Ursprung der Psychoanalyse – 156
9.3.1 9.3.2 9.3.3
Neurosenklassifikation – 157 Metapsychologie – 159 Ich und Es – 159
9.4
Psychoanalytische Neurosenlehre – 161
9.4.1 9.4.2 9.4.3 9.4.4 9.4.5 9.4.6 9.4.7 9.4.8 9.4.9 9.4.10
Triebbegriff – 161 Das Konzept von Libido bzw. psychischer Energie – 162 Bewusstsein, Vorbewusstes und Unbewusstes – 163 Konzepte des Narzissmus – 164 Affektkonzepte – 165 Affektkonzept in der Theorie der Interaktionsform – 165 Bildung der Repräsentanzwelt und Entwicklung des Erlebens – 166 Abwehrmechanismen und Ersatzbildung – 166 Strukturtheoretische Begriffe: Ich, Ich-Ideal und Über-Ich – 169 Freuds spezifische Auffassung von Trauma und traumatischer Neurose – 171 Verführungstheorie, Ödipuskomplex und Wiederholungszwang – 172 Der wissenschaftstheoretische Status der Psychoanalyse und ihrer Begriffe – 173 Grundbegriffe der psychoanalytischen Therapie – 173 Psychoanalytische Grundregeln – 175
9.4.11 9.4.12 9.4.13 9.4.14
Literatur – 178
A. Ribi, Neurose – an der Grenze zwischen krank und gesund, DOI 10.1007/978-3-642-16148-3_9, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
9
150
Kapitel 9 • Sigmund Freud (1856–1939)
Die seltsame Krankheit, welche Freud von 1894 bis 1900 durchmachte, während er sich der Selbstanalyse unterzog, hat verschiedene Deutungen erfahren. Er selber glaubte mit der Veröffentlichung der »Traumdeutung« (1900) von seiner Neurose geheilt zu sein. Er erwähnt darin viele Einzelheiten seiner Biografie. Der Titel »Traumdeutung« war damals anrüchig (etwas wie Sterndeuterei). Vom 23. zum 24. Juli 1895 hatte er den Traum von Irmas Injektion, welchen er mit Hilfe seiner neuen Assoziationstechnik vollständig analysierte. Damit hatte er den Eindruck, das Rätsel der Träume gelöst zu haben (Traumdeutung [8] S. 98ff.). Seine Traumdeutung brachte nicht nur eine neue Traumtheorie, sondern die Grundlage einer neuen Psychologie.
9
9.1 z
Vorbemerkungen Zur Darstellung
Mir ist bewusst, dass die folgende Darstellung von Freuds Auffassung lückenhaft ist bzw. lückenhaft bleiben muss. Es geht mir in diesem Beitrag in erster Linie darum, schlaglichtartig gewisse Punkte zu erhellen und dabei Freud selber aphoristisch zu Wort kommen zu lassen, statt einfach seine »Lehre« zu resümieren. Das lebendige Wort des »Meisters« scheint mir stets viel eindrücklicher als die beste Zusammenfassung. Daher kann meine Darstellung den Leser auch nicht der Notwendigkeit einer Lektüre der originalen Schriften entheben. Die Angabe der Literaturstellen in den Gesammelten Werken Sigmund Freuds mit Band und Seitenangabe soll den Leser zur Vertiefung in ein ihn speziell interessierendes Gebiet führen. C.G. Jung hat sich mit dem Freudschen Gedankengut intensiv auseinandergesetzt. Ich habe mich darum entschieden, seine Ansicht gleich auch als Ergänzung oder als Kontrast zu jener Freuds kurz anzuführen. Mir scheint dadurch
die spezifische Statur der beiden deutlicher herauszukommen. > Zur besseren Unterscheidung der verschiedenen Ansichten habe ich im weiteren Verlauf folgende Kennung vorgenommen: Zitate von Sigmund Freud sind mit dem Kürzel »GW/F« versehen, Zitate von Carl Gustav Jung mit »GW«. z
Zur Literaturauswahl
Die Sekundärliteratur über Sigmund Freud ist in ihrer Fülle so ungeheuer, dass man sich nur ein wirklich eigenes Bild verschaffen kann, wenn man einige Hauptschriften von ihm gelesen hat. Es gibt zahlreiche Biografien und verschiedene Pathografien, so dass sich der Leser dort gründlich über Freud orientieren kann. Ich werde daher hier nur ganz allgemein auf die Gesammelten Werke Freuds (7 Literatur) hinweisen, aber nur jene Werke auflisten, welche man meines Erachtens gelesen haben sollte. Des Weiteren setze ich voraus, dass der Leser die wesentlichen Daten kennt, und erwähne sie nur, soweit sie dem Verständnis des Werkes dienlich sind ([28] II S. 616).
9.2
Der Fall Bertha Pappenheim alias Anna O
Während des ganzen 19. Jahrhunderts wurden Gehirnanatomie und -physiologie auf wissenschaftlich experimenteller Basis betrieben. Daneben verlief eine parallele Linie spekulativer Anatomie und Physiologie, welche man in der 2. Hälfte des Jahrhunderts »Hirnmythologie« nannte. Ernst Wilhelm Ritter von Brücke (1819– 1892) reduzierte die Psychologie auf Neurologie und erklärte das Funktionieren des Nervensystems als eine Kombination von Reflexen. Nach 1900 verlor die Medizin ihr Interesse an der Hysterie, man glaubte nicht mehr an Charcots Stigmata, und die Krankheit wurde sehr viel seltener.
9
151 9.2 • Der Fall Bertha Pappenheim alias Anna O
In einem Brief an Wilhelm Fließ vom 14.08.1897 schreibt Freud: »Der Hauptpatient, der mich beschäftigt, bin ich selbst«. Am 21.09.1897 machte er Fließ gegenüber das Geständnis, dass seine Geschichte von einer frühen Verführung durch den Vater, wie sie alle seine hysterischen Patienten erzählten, bloße Fantasien seien, wodurch seine ganze Hysterie-Theorie erschüttert wurde. Er gab die Hoffnung auf eine Klärung des Geheimnisses der Neurose auf. Bis dahin hatten nämlich Breuer und Freud die Enthüllungen ihrer hypnotisierten Patienten für bare Münze genommen und auf dieser Grundlage ihre Theorie aufgebaut. Freud kam, als eine Zeiterscheinung, von der Neuro-Anatomie zur anatomisch-klinischen Neurologie und von dort zur dynamischen Neurosenauffassung, ähnlich wie Charcot, Forel und Adolf Meyer.
9.2.1
Katharsis
Im Jahr 1880 erschien das Buch von Jacob Bernays (zwei Abhandlungen über die aristotelische Theorie des Dramas). Es löste ein großes Interesse, besonders in den Wiener Salons, aus. Man hatte nicht etwas Neues, sondern etwas in der Religionsgeschichte längst bekanntes wiederentdeckt: die Katharsis (gr.). Das Wort bedeutet Reinigung im ganz allgemeinen Sinn in den Bereichen von Kult, Medizin, Musik und Philosophie [37]. In Aristoteles‘ Ausführungen über die Tragödie heißt es abschließend: »Die Tragödie (bewirkt) […] im Durchgang durch Jammer und Schauder schließlich eine Reinigung von derartigen Leidenschaften« [23]. Zur Bedeutung dieser Aussage gab es unendlich viele Erklärungsversuche. Die medizinische Analogie kommt in seiner Politika (VIII, 7, 42a) deutlicher zum Ausdruck. Hier schreibt er über die seelische Wirkung von Musik:
» Ein Erlebnis nämlich, das in einigen Seelen besonders stark anklingt, ist in allen vorhanden und nur gradmäßig verschieden, z. B. Mitleiden und Furcht und Begeisterung. Auch auf diese Regung sind manche ja versessen, und man beobachtet, dass solche Menschen nach heiligen Gesängen, wenn sie sich Liedern hingegeben haben, die die Seele in hohe Erregung versetzen, wieder zu sich kommen wie geheilt und gereinigt.
«
Im griechischen Kult gibt es die Katharmoi, die Reinigungsvorschriften, Formen der religiösen Reinheit für jede Kultbegehung. Sie können Waschungen und Festkleidung bis zu Enthaltsamkeitsgeboten beinhalten, aber auch Reinigung von individueller Schuld, besonders Blutschuld oder apotropäische Bedeutung haben gegen Zauber oder schlechte Einflüsse. Mich beeindruckt in diesem Zusammenhang, dass man in Japan vor dem Besuch eines Schreins nicht nur die Schuhe ausziehen, sondern auch den Mund am Brunnen ausspülen muss, weil er oft schlechte Rede führt. Von Empedokles (um 485–425 v. Chr.) ist ein Buch »Katharmoi« (Reinigungen) überliefert. Darin beschreibt er das Schicksal seiner eigenen Seele, was für jenes der menschlichen Seele überhaupt gilt, also eine Art Psychologie. Die Seele ist ein gefallener »Daimon« oder Gott, der einst unter dem Einfluss des Hasses gesündigt hat. Zur Strafe ist sie in einen Leib verbannt worden. Sie geht auf einer langen Reise in alle mögliche Arten von Lebewesen ein. Erst nachdem sie am Ende ihrer Strafzeit ein sittlich gutes Leben geführt hat, findet sie zum einstigen glückseligen Götterdasein zurück. Auf das Zeitalter der Liebe ist jenes des Hasses, der verdorbenen heutigen Zeit gefolgt. Auf den zeitweiligen Sieg des Hasses folgt ein sich steigernder Einfluss der Liebe. Es besteht ein ständiger Kampf zwischen Hass und Liebe. Das goldene Zeitalter könnte wieder erstehen, wenn sich die Menschen besserten [36].
152
Kapitel 9 • Sigmund Freud (1856–1939)
Katharsis hat also einen durchaus moralischen Aspekt. Sigmund Freud und Josef Breuer werden später den Begriff »kathartische Behandlung« als Methode zur Behandlung hysterischer Krankheitserscheinungen einführen und der Fall Pappenheim wird der Nachwelt als Prototyp einer kathartischen Heilung bekannt bleiben (s. dazu auch den Kommentar Brentzels weiter unten).
9.2.2
9
Biografische Daten
Durch eine Fußnote in Ernest Jones’ »Das Leben und Werk von Sigmund Freud« (3 Bde.) wurde 1953 die Identität der Patientin Anna O in den »Studien über Hysterie« von Freud und Breuer (1895) bekannt. Dieser Fall gilt als der Ursprung der Psychoanalyse (7 Abschn. 9.3). Ihm kommt daher eine besondere Bedeutung zu. Und durch die Publikationen von Marianne Brentzel wissen wir etwas mehr über das weitere Leben der Bertha Pappenheim alias Anna O. (1859–1936). (Um die wahre Identität zu verheimlichen, ging man in jener Zeit im Alphabet einen Buchstaben zurück). Bertha Pappenheim alias Anna O wuchs in orthodox-jüdischem Milieu in Wien auf. Insbesondere zu ihrem Vater, einem wohlhabenden Getreidekaufmann, hatte Bertha eine innige Beziehung, während zur Mutter ein gespanntes Verhältnis bestand. Der Vater trauerte noch um den Verlust seiner zweiten, um sechs Jahre jüngeren Tochter, die im Alter von zwei Jahren verstarb. Eineinhalb Jahre nach Bertha wurde ihr Bruder Wilhelm geboren, der rund elf Jahre jünger war als die älteste Schwester, Henriette. Mit sechs Jahren kam Bertha, wie in den wohlhabenden jüdischen Familien üblich, in eine katholische Privatschule. Dort wies sie zwar eine schwache Intelligenz, aber gute Sprachbegabung auf. Zuhause half ihr eine Gouvernante, das Wissen zu vertiefen. In ihrem achten Lebensjahr starb die älteste Schwester an »galoppierender
Schwindsucht«, der sog. »Wiener Krankheit«. Eine ständige Traurigkeit soll über ihrer Kindheit gelastet haben. Vielleicht nahm hier das »In-zwei-Welten-Leben«, das Bertha später ihr »Privattheater« nannte, seinen Ausgang. Ihre Sommerferien verbrachte die Familie im Juni 1880 wie gewohnt in Bad Ischl in der Nähe von Wien. Dort erkrankte ihr Vater an einer hochfiebrigen Brustfellentzündung. Die notwendige intensive Pflege übernahmen Mutter und Tochter selbst, Bertha nachts, die Mutter tagsüber. In der Nacht vom 17. auf den 18. Juli war Bertha mit dem hochfiebrigen Vater und ihrer Angst allein. Während sie döste, wurde sie von Halluzinationen überfallen. Schwarze Schlangen krochen an den Wänden und wollten den Vater töten. Ihr Arm, der über der Stuhllehne hing, wurde taub, ihre Finger verwandelten sich in kleine Schlangen mit Totenköpfen. In ihrer Angst wollte sie beten. Doch ihre Sprache versagte, bis sie nur noch einen englischen Kindervers sagen konnte. So beschrieb später Josef Breuer, der behandelnde Arzt, ihren Zustand in jener Nacht. Sie selber erzählte niemand davon, leistete weiter ihren Pflegedienst, entwickelte aber einen Ekel gegen jegliche Nahrung. Die Zustände mit Halluzinationen häuften sich und jedesmal wurde ihr Arm völlig steif, wenn sie schwarze Schlangen sah. Wenn sie ängstlich horchte, wurde sie ganz taub und erlitt nach einem Streit mit dem Bruder einen Sprechkrampf. C.G. Jung schilderte den Fall ebenfalls nach den Breuer-Freudschen »Studien über Hysterie« (1895) (GW 7, 4–8).
9.2.3
Die Krankenberichte Josef Breuers (1842–1925)
Der Internist Josef Breuer, 38-jährig, ein aufgeklärter, assimilierter Jude, wurde 1880 zu Bertha Pappenheim gerufen. Er besuchte sie täglich, denn die Mutter fürchtete, Bertha könnte sich bei ihrem Vater mit Tuberkulose angesteckt
153 9.2 • Der Fall Bertha Pappenheim alias Anna O
haben. Breuer fand eine von Angstvisionen gepeinigte, durch unklare Ursachen gelähmte und fast blinde junge Frau. Als er beruhigend mit ihr zu sprechen begann, antwortete sie ihm auf Englisch. Zu seinem Erstaunen verschwanden einige Symptome, z. B. das gelähmte linke Bein wurde wieder beweglich, nachdem sie von ihrem Vater gesprochen hatte. In den folgenden Wochen erzählte sie immer flüssiger ganze Geschichten und fühlte sich nach dem Erwachen beruhigt. Breuer unterstützte ihre Erzähllaune mit hypnotischen Formeln, die ihr das Stichwort für neue Geschichten gaben. Es war nur natürlich, dass ihr die weitere Pflege des Vaters nicht mehr zugemutet werden konnte. Manchmal fürchtete Breuer, seine Patientin könnte an chronischer Meningitis (Hirnhautentzündung) leiden, aber die Tatsache, dass die Symptome sich unter dem Sprechen unter leichter Hypnose abschwächten, bewog ihn, an der Diagnose Hysterie festzuhalten. Er war fest davon überzeugt, dass die Beschwerden keine eingebildeten Krankheiten waren, denn sie hinderten sie gerade an dem, was ihr wichtigstes Anliegen war, nämlich den schwerkranken Vater zu besuchen. Anfang März 1881 gingen die Störungen allmählich zurück. Sie sprach fließend Englisch, war sich dessen aber nicht bewusst, verstand problemlos Deutsch. Breuer hatte sich in seiner Klinikzeit mit der therapeutischen Verwendbarkeit von Hypnose vertraut gemacht. Bei Bertha Pappenheim erwies sie sich als nützlich, um die Widerstände gegen das Erinnern traumatischer Momente, wie sie bei traumatischen Neurosen häufig vorkommen, zu überwinden. Bertha bezeichnete denn auch die Sitzungen, nach denen sie sich jedesmal wohler fühlte, nicht nur als »talking cure«, sondern als »chimney sweeping«. Am 5. April 1881 starb der Vater. In den letzten zwei Monaten vor seinem Tod hatte man Bertha jede Information über seinen Zustand vorenthalten. Breuer traf seine Patientin am Todesabend in heftigster Erregung. Als er zu ihr kam, ließ sie
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sich von ihm ins Bett führen und sagte: »Lügen Sie nicht mehr. Ich weiß, mein Vater ist tot«. Als er ihr dies bestätigte, beruhigte sie sich. In den folgenden zwei Tagen fiel sie in völlige Starre und verweigerte jegliche Nahrung. Als sie daraus erwachte, schienen die Angstgefühle wesentlich gebessert. Sie war ganz ruhig, doch die rechte Seite blieb gelähmt und infolge der Sehstörung konnte sie von Leuten und Gegenständen nur einen Teil wahrnehmen; sie musste die Einzelheiten bewusst zusammensetzen, was sie als »recognizing work« bezeichnete. Die Hysterie war damals eine Modekrankheit wohlbehüteter junger Frauen. Charcot hatte, wie ich in 7 Kap. 6 beschrieben habe, mit den Hysterikerinnen an der Salpétrière gearbeitet; seine Favoritinnen wussten genau, was er bei den Demonstrationen von ihnen erwartete und fielen sofort in Trance. Seine Resultate hatten in den Augen der Nachwelt darum auch keinen wissenschaftlichen Wert mehr. Es ist merkwürdig, dass die Hysterie ihre Symptomatik wechselte, seit ihre psychogene Ursache, im Gefolge der psychoanalytischen Aufklärungsarbeit ausgehend von unserem Fall, erkannt war. Hysterie gibt es auch heute noch, obwohl unter dem weniger präjudierten Namen Konvensions(-Neurose) oder dissoziative Störung. Bei Bertha kann man die Dissoziation besonders deutlich sehen, sie spricht von ihrem »Privattheater«. In dieser Phase, nach dem Tod des Vaters, kamen ihr die Menschen wie Wachsfiguren vor. Nur Breuer erkannte sie immer und reagierte aktiv auf ihn. Nachdem sie drei Tage lang die Nahrung verweigert hatte, ließ sie sich nur noch von Breuer füttern. Sie hatte offensichtlich eine regressive Phase. Breuer, der sich ihrer so liebevoll und aufopfernd annahm, war offensichtlich tief von ihr beeindruckt. Wie am Beispiel der Hysterie deutlich wird, hängt die Änderung von Krankheitsbildern offensichtlich mit dem Zeitgeist, einem unbewussten geistigen Zustand im Kollektiv, zusammen. Im 19. Jahrhundert stellte man – wie man bei Dostojewski nachlesen
154
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Kapitel 9 • Sigmund Freud (1856–1939)
kann – seine Emotionen viel ungehemmter zur Schau: Männer umarmten sich und weinten. Frauen fielen bei Emotionen leicht in Ohnmacht, wo man heutzutage einfach verstimmt wäre. Dafür sind wir heute mit verschiedenen Formen von Essstörungen konfrontiert, wie wenn der Hunger in der Welt auch die Wohlstandsgesellschaft in Mitleidenschaft ziehen würde. Tagsüber war Bertha nun wieder von Halluzinationen gehetzt, doch nach Sonnenuntergang mutierte sie zum ruhigen, heiteren Nachtmenschen. Sie lebte in zwei getrennten Zuständen: der kranke wusste nichts vom gesunden. Sie unternahm, nachdem sich ihr Zustand im Sommer 1881 verschlimmert hatte, mehrere Suizidversuche (allerdings geht nichts Genaues aus Breuers Krankengeschichte, 1882 und 1895, hervor). Sie wurde ins Sanatorium Inzersdorf verlegt. Weil sie sich vom Arzt des Sanatoriums nicht behandeln ließ, kam Breuer zwei- bis dreimal wöchentlich abends. Er schätzte sie als sehr intelligent ein, von erstaunlicher Kombinationsgabe und scharfsichtiger Intuition. Für seine therapeutische Technik, die er an ihr entwickelt hatte, verwendete er den Begriff »kathartische Methode«, da sie eine seelische Reinigung bewirkte. Um die Arbeit zu intensivieren und die Heilung voranzutreiben, zog Bertha auf Breuers Wunsch im Herbst 1881 wieder nach Wien. Er war überzeugt, dass sie nur so lange leiden würde, bis die Ereignisse erinnert und erzählt waren. Er besuchte sie daher sogar zweimal am Tag. Ob die Bewegungseinschränkung der Beine, die Verkrampfung des rechten Armes oder die Sehstörungen, immer lag dem ein kränkendes, unerwünschtes Ereignis zugrunde, das sie vergessen oder verdrängt hatte. Daher bekam die Auffassung vom Trauma als Ursache der Neurose neuen Auftrieb. Im Winter 1881, nachdem sie vorübergehend wieder im Sanatorium gewesen war, ihr jedoch die Atmosphäre zuhause auch nicht bekömmlich war, erwog Breuer einen Aufenthalt bei Dr. Binswanger im Sanatorium Bellevue in Kreuzlingen am Bodensee.
Hier endet der erste (interne) Krankenbericht von Breuer, den sein Biograf Albrecht Hirschmüller [32] im Bellevue gefunden hatte. Über den weiteren Verlauf der Behandlung berichten die »Studien über Hysterie«, die Breuer 13 Jahre später auf Drängen seines Freundes Sigmund Freud verfasst hatte. Den Jahreswechsel nach 1882 erlebte sie wie im Winter 1880–1881 und alles später Vorgefallene war darin »vergessen«, außer dass der Vater gestorben war. Ihre Mutter hatte ein geheimes Tagebuch geführt, anhand dessen sich Breuer vergewissern konnte, dass Bertha das vergangene Jahr exakt nochmals durchlebte. Aus ihren Erfahrungen entwickelten sie eine therapeutisch-technische Methode, in welcher retrograd alle Vorkommnisse durchgenommen wurden. Diese Erinnerungsarbeit erforderte unendlich viel Geduld und ließ sich nirgends abkürzen. Meist steigerte sich die Störung nochmals während des Erzählens, bis das Symptom ganz verschwand. Trotz aller Probleme fühlte Bertha den Abschluss der Behandlung nahen und legte ihn auf den Tag genau fest (was man aus zahlreichen ähnlichen Fällen kennt!). Von nun an sprach sie wieder Deutsch und war von ihren zahlreichen Störungen befreit. Sie verließ Wien für eine Reise und brauchte noch längere Zeit, um ihr psychisches Gleichgewicht wieder zu finden. »Seitdem erfreut sie sich vollständiger Gesundheit«, heißt es abschließend bei Breuer. Also eine gelungene Heilung!? Freuds Verlobte, Martha Bernay, war mit Bertha befreundet und Vater Pappenheim war der Vormund der Bernay-Kinder gewesen. Auch die Familien Breuer und Bernay waren gut miteinander bekannt. Als Freud an einem heißen Sommerabend bei Breuers zum Nachtessen war, erzählte ihm Breuer sehr persönliche Dinge aus der Behandlung von Bertha, wovon er in Briefen an Martha Bernay berichtet. Er schreibt ihr, Breuer habe die Behandlung aufgegeben, weil seine glückliche Ehe darüber »aus dem Leim zu gehen« drohte. Seine arme Frau
155 9.2 • Der Fall Bertha Pappenheim alias Anna O
hielt es nicht länger aus, dass er von einer Frau, von der er offenbar mit viel Interesse sprach, so in Anspruch genommen wurde. Sie erkrankte, wurde verstimmt, bis er den Grund bemerkte und sich ganz von der ärztlichen Tätigkeit bei Bertha zurückzog. Im Antwortbrief an Freuds Verlobte meint sie, sie hätte sich auch schon über den Abbruch der Behandlung gewundert, wo doch der armen Bertha nie ein anderer Mann nähergekommen sei, als ihr Arzt. Als Frau meint sie, Bertha hätte in gesunden Tagen schon das Zeug, dem vernünftigsten Mann den Kopf zu verdrehen. Über den jähen Abbruch der Behandlung wurde in der Folge viel spekuliert, auch Freud gab die verschiedensten Interpretationen. Er bezeichnete dieses Phänomen als »Übertragung« bzw. »Übertragungsliebe« (GW/F 8, 54). Hier bringt die Patientin dem Arzt ein Ausmaß von zärtlichen, teils mit Feindseligkeit vermischten Regungen, entgegen, welche in keiner realen Beziehung begründet sind (GW/F 8, S. 54). Breuer verfolgte das Ergehen von Bertha nur noch aus der Ferne, war aber in den folgenden Jahren immer genau über ihre Entwicklung informiert. Offensichtlich befand er sich in der Lage von Goethes Zauberlehrling: »Herr, die Not ist groß!/Die ich rief, die Geister/Wird ich nun nicht los.« [30] Die Krankengeschichte wurde 13 Jahre nach Abschluss der Behandlung in den »Studien« (1895) als »Fräulein Anna O« veröffentlicht. Zu jenem Zeitpunkt lebte Bertha bei guter Gesundheit mit ihrer Mutter in Frankfurt, wo sie ein jüdisches Waisenhaus leitete. Diese Zwischenzeit ist nur bruchstückhaft bekannt und gab wegen der Lücken zu Spekulationen Anlass. Breuer hatte, wie erwähnt, schon 1882 bei Dr. Binswanger im Bellevue Kreuzlingen angefragt. Die Briefe geben ein deutlich anderes Bild, als in den »Studien« entworfen. Bertha litt seit März an quälender Trigeminusneuralgie sowie Schüttelkrämpfen und erhielt dagegen hohe Dosen Morphin, wodurch sie zur
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Morphinistin geworden war. Zudem hatte ihr Breuer seit einem Jahr Chloralhydrat zum Ein-
schlafen gegeben. Als sie wünschte, dass man es absetze, erlitt sie über vier Nächte Entzugsdelirien. Am 12.07.1882 trat Bertha ins Bellevue ein. Dort blieb sie bis Ende Oktober. In der ersten Zeit konnte das Morphin ausgeschlichen werden, jedoch verschlimmerte sich die Neuralgie wieder, so dass sie hohe Dosen brauchte. Mitte September verfasste sie in englischer Sprache einen Krankheitsbericht, das einzige Dokument, das von ihr über ihre Krankheit überliefert ist. Im Oktober wurde sie als »gebessert« aus dem Bellevue entlassen. Sie wollte nicht ins Familienmilieu zurückkehren, sondern fuhr nach Karlsruhe, wo sie sich neu zu orientieren suchte. In den Jahren 1883 bis 1888 lebte sie hauptsächlich in Wien bei ihrer Mutter, besuchte aber insgesamt dreimal für einige Monate das Sanatorium Inzersdorf. Breuer äußerte sich im Sommer 1883 Freud gegenüber, sie sei sehr krank und ihr Leben so zerrüttet, dass er ihr die Erlösung durch den Tod wünschte. Anfang 1884 dagegen schrieb er an Dr. Binswanger, sie sei ganz gesund und ohne Schmerzen. Martha Bernay, jetzt mit Freud verheiratet, schrieb 1887, Bertha fühle sich recht wohl tagsüber, werde aber abends noch immer von halluzinatorischen Zuständen überfallen. Bertha Pappenheim wurde gesund und lebte seit 1888 in Frankfurt, wo sie als soziale Pionierin ein höchst aktives Leben führte, als hätte es die Patientin Anna O. nie gegeben. Marianne Brentzel hat ihr weiteres Leben mit viel Einfühlungsvermögen und Sympathie nachgezeichnet. Doch gehört das nicht mehr zu unserem Thema. Interessant jedoch in ihrer Biografie der Bertha Pappenheim ist das Kapitel »Anna O. im Spiegel der psychoanalytischen Deutungen«.
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Kapitel 9 • Sigmund Freud (1856–1939)
9.3
Der Ursprung der Psychoanalyse
> Für Freud blieb Breuers Bericht über Anna O. zeitlebens der Beginn der Psychoanalyse. Aus ihm konnte er die Lehre von Verdrängung und Widerstand, vom Einsetzen der infantilen Sexualität und von der Deutung der Träume weiterentwickeln.
9
Zwischen Breuer und Freud lag ein Altersunterschied von 14 Jahren. Eine lange Zeit tiefer Freundschaft und das Interesse an der Hysterie verband die beiden. Die Hypnose diente Breuer dazu, an das Material aus dem Unbewussten heranzukommen. Freud lag das Hypnotisieren nach eigenem Geständnis nicht. So kam er erst auf das Phänomen des Widerstandes und, davon abgeleitet, der Verdrängung. Noch 1909 nennt Freud in seiner Vorlesung über die Anfänge der Psychoanalyse an der Yale University in New York Breuer als den Initianten der Psychoanalyse und widmete die gesamte erste Vorlesung der Krankengeschichte der Anna O. Im Laufe seines Lebens beurteilte auch Breuer den Fall unterschiedlich und sprach 1907 von einem Ordal (Gottesurteil), das er nicht nochmals auf sich nehmen würde, da es seine Tätigkeit und Lebensführung zerstört hätte. Später sah er sein Verdienst darin, in aufmerksamer, treuer Beobachtung ausgeharrt und nicht durch vorgefasste Meinungen das Experiment gestört zu haben. Ungelöst scheint mir nicht die Gesundung der Bertha Pappenheim zu sein, sondern das rätselhafte Phänomen der Übertragung, dem sich Breuer entzogen und das Freud ungenügend rationalistisch beschrieben hat. Über der Bedeutung des Falles Anna O. als Beginn der Psychoanalyse droht die Gestalt des Josef Breuer (1842–1925) jedoch in den Hintergrund zu treten, obschon er an diesem Fall Pionierarbeit geleistet hat. Und diese war für die weitere Entwicklung der Psychoanalyse wichtig. Er stammt aus einer jüdischen Familie, die sich aus dem
Ghetto in Pressburg über Generationen ins moderne Wien emanzipiert hatte. Nach seinem Medizinstudium in der Blütezeit der zweiten Wiener medizinischen Schule ließ er sich 1871 als praktischer Arzt in Wien nieder. Er hat bedeutende Forschungen auf dem Gebiet der Physiologie – Entdeckung der Funktion der Bogengänge – vorzuweisen und verkehrte zeitlebens mit den Mitgliedern der medizinischen Fakultät, nachdem er seine Dozentur zurückgelegt hatte. Zum großen Kreis seiner Freunde, denen er oft auch Hausarzt war, zählte u. a. die Dichterin Marie von Ebner-Eschenbach (1830–1916). Breuer verkehrte in den Wiener Salons; es war die Spätblüte des kulturellen Liberalismus, die dem Geistigen unbedingt Achtung zollte. Außerdem führte er den Lebensstil einer wohlhabenden Wiener Familie mit einer großen Wohnung an zentraler Lage, mehreren Dienstboten und jährlichem mehrmonatigem Sommerurlaub als Symbol des sozialen Aufstiegs. Als Arzt war er für seine Vielseitigkeit und Individualität sowie seine therapeutische Behutsamkeit bekannt. Geschätzt wurde er für die Art seines Denkens, seine Aufrichtigkeit, Uneigennützigkeit und natürliche Herzensgüte ([32] S. 53). Auch unterstützte er den 14 Jahre jüngeren Freud zu Beginn seiner Laufbahn finanziell. > Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war die Psychologie bloß eine Hilfswissenschaft der Physiologie. Die Phänomene des Bewusstseins galten als Funktionen der materiellen Veränderungen der organischen Substanz. Unter Physiologen herrschte der materialistische Optimismus, mit ihren Methoden in absehbarer Zeit das Rätsel der Seele auflösen zu können. In der Anatomie des Gehirns hatte man entdeckt, dass Funktionen von bestimmten Hirnarealen abhängig sind und gründete darauf den programmatischen Satz: Geisteskrankheiten sind Gehirnkrankheiten.
157 9.3 • Der Ursprung der Psychoanalyse
In seinem berühmten Akademie-Vortrag ließ sich der bekannte Physiologe Ewald Hering (1870) folgendermaßen vernehmen:
» Mit Hilfe der Hypothese des funktionellen Zusammenhangs zwischen Geistigem und Materiellem sei nunmehr die heutige Physiologie im Stande, die Erscheinungen des Bewusstseins mit Erfolg in den Kreis ihrer Untersuchungen zu ziehen, ohne den sicheren Boden naturwissenschaftlicher Methode zu verlassen. ([32] S. 65)
» Es ist wahrhaftig paradox, dass die nicht erfolgreiche Behandlung der Anna O. für die Nachwelt zum Prototypen einer kathartischen Heilung geworden ist. Heute ist man auch allgemein der Ansicht, Charcots Experimente mit traumatischer Paralyse und ihrer Wiederholung in der Hypnose hätten keinen wissenschaftlichen Wert gehabt, denn mit so suggestiblen und mythomanischen Probanden hätte jedermann alles demonstrieren können. [27]
«
«
Auf derselben Linie liegt Freuds »Entwurf einer Psychologie« von 1895. Die Psychiatrie im Wien von 1870 war von Theodor Meynert, einem Schüler des berühmten Pathologen Carl Rokitansky (1804–1878), bestimmt. Von Kraepelin wurde er der ungesicherten Spekulationen ohne Wissenschaftlichkeit, der »Hirnmythologie«, bezichtigt ([32] S. 124). Durch die Forschungen von A. Hirschmüller kamen Dokumente zum Fall Anna O. zum Vorschein, die ein deutlicheres Licht auf diesen »Pionierfall« zu werfen vermögen. So war Bertha Pappenheim nach Abbruch der Behandlung bei Breuer noch jahrelang nicht geheilt, obwohl in den »Studien« der Eindruck einer vollständigen Genesung erweckt wird. Über den ganzen späteren Verlauf war Breuer genau informiert, obwohl er keine therapeutische Funktion mehr wahrnahm. Seine Funktion für die »Studien« umschreibt er so:
» Mein Verdienst bestand wesentlich darin, dass ich erkannte, welch ungemein lehrreichen wissenschaftlich wichtigen Fall mir der Zufall zur Bearbeitung zugewiesen hatte, und dass ich in aufmerksamer treuer Beobachtung ausharrte und nicht durch vorgefasste Meinungen die einfache Auffassung des wichtigen Gegebenen störte. ([32] S. 177)
«
9
Man beachtete damals das Übertragungsgeschehen zu wenig, obwohl man seit Mesmers Zeiten vom Rapport gesprochen hat.
9.3.1 z
Neurosenklassifikation
Abwehr
Hysterische Symptome stehen manchmal deutlich, manchmal in symbolischer Verkleidung mit einem bestimmten psychischen Trauma in Verbindung (Breuer und Freud 1893). 1894 erschien in seinen Schriften das Konzept von Abwehr (Die Abwehr-Neuropsychosen). Er gab der »Abwehr« die Bedeutung von »Vergessen« peinlicher Erinnerungen oder Ideen. Die Abwehr ist ein bei Neurosen allgemein vorhandener Zug. 1895 erscheint sein Beitrag über die Angstneurose, charakterisiert durch eine ständige diffuse Angst oder/mit akuten Angstanfällen ohne Grund, auf einer ätiologischen Theorie von sexueller Frustration. 1895 erscheinen Breuer und Freuds »Studien über Hysterie«, worin Freud in Abweichung von Breuer über die neue Methode der »freien Assoziation« schreibt, die ihm die Patientin Elisabeth von R. selbst nahegelegt hatte. Im Jahr 1896 schließlich erscheint eine Neurosenklassifikation (. Abb. 9.1). z
Widerstand und Übertragung
Zur »Etiologie der Hysterie« (1896) kommen Traumata in der Kindheit sexueller Natur infrage als Verführung durch Erwachsene der nächsten Umgebung, sexuelle Erlebnisse mit Gleichalt-
158
Kapitel 9 • Sigmund Freud (1856–1939)
Aktualneurose Ursache im gegenwärtigen Sexualleben des Partners
Psychoneurose Ursprung im früheren Sexualleben
. Abb. 9.1
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Neurasthenie: Ursache Masturbation Angstneurose: Ursache frustrierte sexuelle Erregung Hysterie: Ursache sexuelle Verführung in der Kindheit Zwangsneurose: Ursache aktive Rolle bei der Vorführung
Neurosenklassifikation
rigen, welche in der Pubertät durch triviale Erlebnisse aktiviert werden. Ein Jahr später stellte Freud fest, dass es unmöglich ist, unbewusste Fantasien von Erinnerungen zu unterscheiden. Daher fing er an, die Fantasien zu untersuchen, was einen Schlüssel zur Erforschung des Unbewussten wurde. Die Methode der freien Assoziation wurde ein neuer Zugang. Hemmungen oder innere Schwierigkeiten dabei nannte er »Widerstand«, irrationale Gefühle der Liebe oder Feindseligkeit »Übertragung«. Die Analyse von Widerstand und Übertragung wurde zum Grundwerkzeug der Therapie. In den »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie« (1905) vertritt er eine grundsätzliche Bisexualität des Menschen. In der Sexualität des Neurotikers gibt es drei Varianten: 4 Kraftvolle Verdrängung eines starken Sexualtriebes 4 Sexualität perverser Qualität (Neurosen sind das Negativ der Perversion) 4 Infantile Merkmale (unverschmolzene Partialtriebe lokalisiert in erogenen Zonen) Die zweite Abhandlung gilt der kindlichen Sexualität. »Die infantile Amnesie macht für jeden Einzelnen seine Kindheit zu einer gleichsam prähistorischen Vorzeit«. Die darauffolgende Latenzzeit befähigt zur Sublimierung sexueller Triebe zum Wohl der Gesellschaft.
z
Kindliche Sexualität
Die kindliche Sexualität entwickelt sich in den Stufen: Autoerotisch Jeder
Körperteil kann erogene Zone sein, normalerweise ist es der Mund: orale Phase.
Anale Phase Befriedigung durch Zurückhalten
des Stuhls. Genitale Phase Masturbation. Das Kind wird als
»polymorph pervers« bezeichnet, weil die Möglichkeiten zu allen Perversionen latent vorhanden sind. Als »Urszene« bezeichnet Freud das Beobachten des Kindes der Erwachsenen beim Geschlechtsverkehr. Die dritte Abhandlung widmet sich der Umgestaltung der Sexualität in der Pubertät: Von der Autoerotik kommt sie zu sexuellen Objekten, von den Partialtrieben zum Primat der genitalen Zone, von der individuellen Lust zum Dienst der Fortpflanzung. Ein außergewöhnliches Interesse an sexuellen Problemen gehörte zum Zeitgeist und war schon vor Freud weit verbreitet. z
Sublimierung und Narzissmus
Auch Begriff und Konzept der Sublimierung sind keine Erfindung Freuds. Sie werden in einem 1785 veröffentlichten Roman (Jung-Stilling: Theobald) als zeitgenössische Idee erwähnt und von Novalis, Schopenhauer und besonders Nietzsche verwendet. Naeke führte den Ausdruck Narzissmus ein. Wenn das Ich sich zu differenzieren beginnt, konzentriert sich die bis dahin diffuse Libido auf das Ich, wodurch der primäre Narzissmus entsteht. Dann richtet sie sich auf die Mutter und Objekte, kann aber von diesen wieder zurückgezogen werden: sekundärer Narzissmus. Bei Neurotikern und Homosexuellen bleibt mehr vom primären Narzissmus
159 9.3 • Der Ursprung der Psychoanalyse
zurück. Liebesgefühle gehen direkt aus der Objektlibido hervor. > Freuds Originalität bestand darin, dass er die meisten verstreuten oder nur teilweise organisierten Gedanken und Konzepte systematisierte. Schon Nietzsche sagte, jedermann trage ein Bild des Weibes von der Mutter her in sich: davon werde er bestimmt, die Weiber überhaupt zu verehren oder sie geringzuschätzen oder gegen sie im Allgemeinen gleichgültig zu sein. Derartige Ideen »lagen in der Luft«. Es ist daher interessant zu sehen, was die Pioniere daraus machten: Freud hat es ganz konkret genommen und kam zum Ödipuskomplex, Jung dagegen entwickelte das Anima-Konzept.
Derartige Vergleiche führen meines Erachtens viel weiter als die Suche nach Traditionen.
9.3.2
Metapsychologie
9
Diese Umwandlung im Unbewussten habe ich bei einer Frau beobachtet, welche ihren Vater im Krieg verloren hatte. Die Frau interessierte sich stark für kirchliche und spirituelle Dinge.
z
Melancholie
Die Melancholie wird bei Freud so umschrieben, als ob ein Objekt verloren wäre, für welches ambivalente Gefühle bestehen. Infolge der Einverleibung »fällt der Schatten des Objektes auf das Ich«, was zu Selbsthass und Suizidtendenzen führt. Das berühmte Bild der »Melancholia« von Albrecht Dürer scheint mir noch mehr auszudrücken, nämlich den Inkubationsprozess der Melancholie, in welchem alle Libido nach innen fließt, wo sie neue schöpferische Inhalte konstelliert [35]. Für seine Arbeit »Jenseits des Lustprinzips« (1920) wurde Freud von Fechners Ansicht inspiriert, nach welcher Unlust das Anwachsen der Spannung, und Lust die Abnahme bis auf eine optimale Stufe ist. Auch Janet hat der »tension« eine große Bedeutung im psychischen System zugemessen.
Freud definierte Metapsychologie (1915) als ein
System, innerhalb dessen psychische Vorgänge nach ihren topischen, dynamischen und ökonomischen Beziehungen beschrieben werden. Topisch bedeutet die Unterscheidung von unbewusst – vorbewusst – bewusst. Dynamisch meint die Kräfte, die im Konflikt miteinander stehen. Ökonomisch bezieht sich auf die Regulierung der Kräfte durch das Lust-Unlust-Prinzip. Bei der Trauerarbeit löst sich die Gefühlsbindung an das verlorene Objekt allmählich, indem das idealisierte Bild dem Subjekt einverleibt wird. Vom Jungschen Standpunkt aus geschieht eine Umwandlung im Unbewussten in eine geistige Figur.
z
Wiederholungszwang
Gabriel Tarde hat schon 1890 den Wiederho-
lungszwang bei Kriminellen beschrieben. Das Prinzip der Spannung, verantwortlich für Lust und Unlust, wurde durch das ältere Prinzip des Wiederholungszwanges von unangenehmen Erlebnissen ersetzt. Bei Neurosen wie im normalen Leben finden sich bestimmte Patienten immer wieder in der gleichen Situation.
9.3.3
Ich und Es
»Das Ich und das Es« (1923) ändert die bisherige Einteilung der Seelen-Schichten in: Ich Ich: Zusammenhängende Organisation see-
lischer Vorgänge in einer Person: Bewusster An-
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Kapitel 9 • Sigmund Freud (1856–1939)
teil: Wahrnehmung und Motorik. Unbewusster Anteil: Traumzensor und Verdrängung. Sprache ist eine Ich-Funktion. Es Es ist das Unbewusste, Sitz der Triebe und des verdrängten Materials, der Schuldgefühle. Der Ausdruck soll von Nietzsche stammen, findet sich in seinem Werk jedoch nicht, sondern ist von Georg Groddeck geborgt. Über-Ich Das Über-Ich ist wachsame, urteilen-
9
de, strafende Instanz, Ursprung sozialer und religiöser Gefühle der Menschheit. Es ist aus dem Introjekt der Vaterfigur als Lösung des Ödipuskomplexes entstanden. Seine Energie bezieht es vom Es. Das Ich als koordinierende Instanz erinnert an Janets Funktion der Synthese (7 Kap. 8). Es ist der Ort der Realangst, der hervorgerufenen Furcht, der Triebangst vom Es her und der Schuldangst vom Über-Ich. Das Ich wird später als ein System definiert, das mit eigener, desexualisierter Energie arbeitet; es hat ererbte Eigenschaften und dient der Selbsterhaltung. Der letzte Schritt zur modernen Ich-Analyse ist Heinz Hartmanns Monographie von 1939. In »Jenseits des Lustprinzips« deutet Freud die Übertragung als Wiederholungszwang. Die Abwehrmechanismen des Ichs müssen vorsichtig aufgedeckt und durchgearbeitet werden. Dadurch lehrt er den Patienten, angemessene Abwehrmechanismen einzusetzen und ermöglicht eine bessere Anpassung. Die Therapie verlagert sich von der Analyse der Triebkräfte auf die Ich-Analyse, vom Verdrängten auf das Verdrängende. Neurotische Symptome werden verstärkt, wenn man dem pathogenen Kern nahe kommt. Die Übertragung ist eine allgemeine Erscheinung. Die Übertragungsneurose ist der Übergang von der Neurose zur Gesundheit. Die Übertragungsliebe ist eine Form des Widerstandes. Der Arzt soll als Spiegel dienen, daher für den Patienten undurchsichtig sein. Er soll emotionale Kühle bewahren wie
ein Chirurg. Eine eigene Lehranalyse ist wichtig (1912). Jede Behandlungsstunde muss im Voraus bezahlt werden, ob der Patient erscheint oder nicht, um ihn zu hindern, durch Fortbleiben oder Zahlungsverweigerung den Therapeuten zu bestrafen. Jede Art von Ausagieren ist verboten, ebenso jeder Kontakt mit dem Therapeuten außerhalb der Behandlungsstunden. Die Genesung hängt vom eigenen Bemühen ab. In »Die Zukunft einer Illusion« definiert Freud Religion als Glaube an die Allmacht des Gedankens einer inspirierten Illusion, eine universelle Neurose (1927). In »Totem und Tabu« legt er eine umfassende Theorie für die gemeinsame Grundlage neurotischer Symptome, gesellschaftlicher und kultureller Manifestation primitiver Völker und des Ursprungs der Zivilisation aus der Urhorde vor. Die Idee allerdings vom despotischen Männchen, das die Horde führt, stammt von Darwin. In »Massenpsychologie und Ich-Analyse« (1921) führt er aus, die Libido binde den Einzelnen an den Führer und veranlasse ihn, seine Individualität aufzugeben. In »Der Mann Moses und die monotheistische Religion« (1937/8) behauptet er, Moses sei ein Ägypter gewesen unter Echnaton, der unter dessen Nachfolgern den Mondtheismus nicht ablegen wollte. Deswegen wurde er ausgestoßen und erkor die Hebräer als Volk. Freuds Philosophie ist materialistisch, konkretistisch, atheistisch und positivistisch. Religion sei eine kollektive Zwangsneurose. z
Positivismus
Positivismus ist ein vieldeutiger Begriff. In der Regel wird er als eine überholte Wissenschaftsgläubigkeit verstanden, als der sog. ältere Positivismus:
» Jede echte Erkenntnis [muss] prinzipiell intersubjektiv nachprüfbar und in einer Begriffssprache formuliert sein, die intersubjektiv auch verständlich ist. Wirklichkeitserkenntnis durch reines
161 9.4 • Psychoanalytische Neurosenlehre
Denken ist unmöglich, denn sie basiert allein auf der Wahrnehmung unserer Sinne. […] Wahre Wissenschaft hat die exakte Beschreibung des in der Erfahrung Gegebenen und die Erklärung von Zusammenhängen mit Hilfe allgemeiner Gesetze und Theorien zum Ziel. [37]
«
Eine klare Begriffsbestimmung halte ich deshalb für so wichtig, weil Freuds unmittelbare Lehrmeister streng positivistisch, naturwissenschaftlich eingestellte Männer waren, welche jedoch dem zeitgenössischen Zug zur »Hirnmythologie« folgten, einer späten Wiederauferstehung der Naturphilosophie. Er war dem nach 1850 in Europa herrschenden philosophischen Denken ausgesetzt, das vorgab jegliche Metaphysik abzulehnen und die Welt nur unter naturwissenschaftlichem Blickwinkel zu studieren. In Wirklichkeit war es ein Wissenschaftsglauben (Scientismus), nach welchem man Kenntnis der Welt nur durch Naturwissenschaften erwerben könne. Das führte zur Auferstehung der Naturphilosophie in neuem Kleid. > Die Verfechter des Positivismus verstießen die Seele aus der Psychologie, den Vitalismus aus der Biologie und die Finalität aus der Evolution.
Die Auffassungen Freuds haben sich im Verlaufe seines Lebens stets verändert. Soll eine Darstellung seiner Neurosentheorie entworfen werden, so müsste sie den zeitlichen Rahmen berücksichtigen. Das habe ich im Vorangehenden in groben Zügen zu tun versucht. Otto Fenichel [29] hat das in brillanter klassischer Weise getan. Im Folgenden werde ich mich an die modernere Darstellung von Siegfried Zepf [40] halten. Sein Verdienst ist es, die Entwicklungen der Psychoanalyse über Freud hinaus berücksichtigt und die Begriffe sauber definiert und kritisch beleuchtet zu haben.
9.4
Psychoanalytische Neurosenlehre
9.4.1
Triebbegriff
9
Freuds Triebkonzept ist kein einheitliches.
Es reicht von der Auffassung, dass es bei den Trieben um konkrete Motivationen – Bedürfnisse oder Wünsche – handelt, die das Subjekt in Beziehung zur Umwelt setzen, bis zur Überzeugung, dass die Triebe »mythische Wesen, großartig in ihrer Unbestimmtheit« sind (1933), Kräfte, die wir hinter den Bedürfnisspannungen des Es annehmen« (1940) ([40] S. 29). z
Archaische Erbschaft
Körperliche Reize werden erst durch ihre psychische Repräsentanz als Trieb – genauer: als Triebwunsch wahrgenommen. Denn »der Kern des Unbewussten besteht aus Triebrepräsentanzen […] also aus Wunschregungen« (1915) – subjektiv wirksam. Die Triebwünsche sind präexistent und werden der »archaischen Erbschaft«, den »Niederschlägen frühmenschlicher Entwicklung« entnommen (1937, GW/F 16, 86). »Die archaische Erbschaft des Menschen (umfasst) nicht nur Dispositionen, sondern auch Inhalte, Erinnerungsspuren an das Erlebte früherer Generationen« (1939, GW/F 16, 206) ([40] S. 31). Dazu schreibt Jung in seinem letzten Artikel (1961) in »Der Mensch und seine Symbole (1968):
» Diese sind was Freud als »archaische Überreste« bezeichnet hat; das sind geistige Formen, deren Vorhandensein nicht durch persönliche Erfahrung erklärt werden kann und die urtümliche, angeborene und ererbte Formen des menschlichen Geistes darstellen. So wie der menschliche Körper ein ganzes Museum von Organen mit einer langen Evolutionsgeschichte im Hintergrund repräsentiert, so muss man auch vom Geist erwarten, dass er ähnlich organisiert ist, statt ein Produkt ohne Geschichte zu sein. (GW 18, 521f.)
«
162
Kapitel 9 • Sigmund Freud (1856–1939)
Freud sagt:
» Man kann am Trieb Quelle, Objekt und Ziel unterscheiden. Die Quelle ist ein Erregungszustand im Körperlichen, das Ziel die Aufhebung dieser Erregung, auf dem Weg von der Quelle zum Ziel wird der Trieb psychisch wirksam. (1933a, GW/F 15, 103; 1940a, GW/F 17, 73)
«
9
Er begreift die »zwei Grundtriebe«, »Eros« und »Todestrieb«, als jene »Kräfte, die wir hinter den Bedürfnisspannungen des Es annehmen« (GW/F 17, 70f.). Das Es, so wird angenommen, »sei am Ende gegen das Somatische offen, nehme da die Triebbedürfnisse [Hunger und Durst] in sich auf, die in ihm ihren psychischen Ausdruck« in Gestalt von »Wunschregungen« finden (GW/F 15, 80) ([40] S. 36). Für die Reduktion der menschlichen Natur auf diese beiden Grundtriebe [Eros/Thanatos] gibt es keine wissenschaftliche Begründung. Thomas Benecke (1973) schreibt: »Death is innate to life, but there is no death instinct.« ([40] S. 37 A10)
9.4.2
Das Konzept von Libido bzw. psychischer Energie
Die Bezeichnung Libido kann als gleichbedeutend mit psychischer Energie überhaupt gebraucht werden (GW/F 15, 109). Ist das eine Konzession an Jungs Auffassung? Applegarth (1971) schreibt: »Psychic energy […] may be defined as the energy which is assumed to be at work in the mental apparatus, but which has no defined relationship to the physical energies assumed to be operating in the brain.« ([40] S. 45 A1) Das Konzept von »psychischer Energie« offenbart gewisse Probleme. In der von Charles Brenner vertretenen Konzeption wird die psychische Energie als qualitativ verschieden aufgefasst – sie kann libidinösen und aggressiven Cha-
rakter haben. Und es wird ihr ein intentionaler Charakter insofern zugeschrieben, als sie auf Befriedigung ausgeht. Freud meint, die Psychoanalyse lehre uns, mit einer einzigen Libido auszukommen, die allerdings aktive und passive Ziele, also Befriedigungsarten, kennt (GW/F 14, 534), ([40] S. 47 A5) »… dass die Menschen neurotisch erkranken, wenn ihnen die Möglichkeit versagt wird, ihre Libido zu befriedigen« (GW/F 11, 357), die auf Abfuhr hin konzipiert ist. Ferner geht die Annahme einer konstanten Energiemenge mit der Implikation eines geschlossenen Systems einher. Die Auffassung, dass die Energie abgeführt werden kann, bezieht sich jedoch auf ein offenes System ([40] S. 47). Durchgängig wird der Libido eine somatische Quelle unterstellt:
» … dass die Libido eine somatische Quelle hat. […] Man sieht dies am deutlichsten an jenem Anteil der Libido, der nach seinem Triebziel als Sexualerregung bezeichnet wird. Die hervorragendsten der Körperstellen, von denen diese Libido ausgeht, zeichnet man durch den Namen erogene Zonen aus, aber eigentlich ist der ganze Körper eine solche erogene Zone. (GW/F 17, 73)
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Die Libido löst sich nicht von ihrer somatischen Grundlage und wird nicht zu einer psychischen Energie; sie ist eine psychische Erscheinung der körperlichen Energie. Zum Problem der psychischen Energie hat sich Jung (GW 8) in »Über die Energetik der Seele« (1928) erschöpfend geäußert. Er betrachtet die Psyche als ein relativ geschlossenes, energetisches System (GW 8, 11).
» Der Begriff einer Lebens-Energie hat nun nichts zu tun mit einer sogenannten Lebenskraft [Vitalismus, der wir früher oft begegnet sind], denn diese wäre als Kraft nichts anderes als eine Spezifikation einer universalen Energie, womit das Sonderrecht einer Bioenergetik gegenüber
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der psychischen Energetik unter Übergehung der bis jetzt noch unausgefüllten Kluft zwischen dem physischen Prozess und dem Lebensprozess aufgehoben wäre. Ich habe vorgeschlagen, die hypothetisch angenommene Lebens-Energie mit Rücksicht auf den von uns beabsichtigten psychologischen Gebrauch als Libido zu bezeichnen und sie so von einem universalen Energiebegriff zu unterscheiden, in Wahrung des biologischen und psychologischen Sonderrechtes eigener Begriffsbildung. (GW 8, 32)
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Im weiteren Verlauf geht Jung auf das Äquivalenzprinzip ein:
» Das Äquivalenzprinzip besagt, dass für jede Energie, die irgendwo zur Erzeugung eines Zustandes aufgewandt, verbraucht wird, anderswo ein gleich großes Quantum der gleichen oder einer anderen Energieform auftritt; das Konstanzprinzip dagegen, dass die Gesamtenergie sich stets gleich bleibt, also keiner Vermehrung und keiner Verminderung fähig ist. (GW 8, 34)
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» Wer selber praktisch auf diesem Gebiete tätig ist, der weiß, dass das Äquivalenzprinzip auch in der Neurosenbehandlung von großem heuristischem Wert ist; […] z. B. wenn sich eine Übertragung mindert oder gar verschwindet, so »sucht man sofort nach der Ersatzbildung, in der Erwartung, irgendwo einen äquivalenten Wert auftauchen zu sehen. (GW 8, 35)
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Bewusstsein (GW/F 2/3, 621) ([40] S. 67). Freud geht davon aus, »dass jedem Übergang von einem System zum nächst höheren […] eine neue Zensur entspreche.« Substantivisch gebraucht, bezieht sich die Bezeichnung Vorbewusstes auf ein solches System, als Adjektiv verweist vorbewusst auf die Inhalte und Prozesse in diesem System ([40] S. 82). Freud sah sich 1923 veranlasst, statt dem in der Traumdeutung verwendeten typischen Modell, Ich, Es, in ein sog. Strukturmodell zu gliedern ([40] S. 83; 7 Abschn. 9.4.9). Die formale Beschreibung des Traumgeschehens lautet, dass hier eine »Umleerung des Gedankeninhalts in eine andere Form« (GW/F 2/3, 349), »in anschaulich-plastische Bilder« stattfindet (GW/F 2/3, 52) und vorwiegend in »visuellen Bildern« gedacht wird. Im Unterschied zum wachen Zustand werden aber die »Gedanken durch Halluzinationen ersetzt« und die Vorstellungen gewinnen den Charakter von »Zeichen […] einer Bilderschrift«, die nicht in »ihrem Bilderwert«, sondern in »ihrer »Zeichenbeziehung« zu lesen und »einzeln in die Sprache der Traumgedanken zu übertragen sind« (GW/F 2/3, 283f). Beim Thema Traum entfernen sich Jung und Freud am weitesten voneinander. Davon zeugen insbesondere Jungs Beiträge »Allgemeine Gesichtspunkte zur Psychologie des Traumes«, 1916, (GW 8, 443–529), »Vom Wesen der Träume«, 1945, (GW 8, 538–569) und »Die praktische Verwendbarkeit der Traumanalyse«, 1931, (GW 16, 294–312).
» Wir können dieses Thema überhaupt nur auf 9.4.3
Bewusstsein, Vorbewusstes und Unbewusstes
Um bewusst zu werden, muss eine unbewusste Vorstellung nicht nur »mit den ihr entsprechenden Wortwendungen überbesetzt« werden (GW/F 10, 300). Sie bedarf noch einer weiteren »Überbesetzung«, etwa in Gestalt einer »Aufmerksamkeitsbesetzung« vonseiten des Systems
der Grundlage der Anerkennung des Unbewussten behandeln, denn der vorgestellte Zweck der Traumanalyse ist nicht irgendwelche Denkübung, sondern die Auffindung und Bewusstmachung bisher unbewusster Inhalte, die für die Erklärung oder Behandlung einer Neurose als belangreich angesehen werden. (GW 16, 294)
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Kapitel 9 • Sigmund Freud (1856–1939)
Denken
Für Freud wird ein unbewusster Inhalt durch sprachliches Formulieren bewusst und das geschieht mittels Denkens. Er war wahrscheinlich ein extravertierter Gefühlstyp, sehr intelligent. Das Denken aber war seine minderwertige Funktion, von welcher er fasziniert war:
» Sowohl im abstrakt-theoretischen, wie auch im anschaulichen Denken wird in Begriffen gedacht, beide Denkformen verdanken ihre Bewusstheit der Verbindung mit Zeichen – im Falle abstrakt-theoretischen Denkens sind es sprachliche, im Falle des anschaulichen Denkens sind es ikonische Zeichen. ([40] S. 93)
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Jung schreibt:
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» Das gerichtete oder, wie wir es vielleicht auch nennen könnten, das sprachliche Denken ist das offenkundige Instrument der Kultur, und wir gehen wohl nicht fehl, wenn wir sagen, dass die gewaltige Erziehungsarbeit, die die Jahrhunderte dem gerichteten Denken haben angedeihen lassen, eben durch die eigenartige Herauswicklung des Denkens aus dem Subjektiv-Individuellen ins Objektiv-Soziale, eine Anpassungsleistung des menschlichen Geistes erzwungen hat, der wir moderne Empirie und Technik, dieses absolut Erstmalige in der Weltgeschichte, verdanken. […] Das gerichtete Denken unserer Zeit ist eine mehr oder weniger moderne Errungenschaft, die früheren Zeiten fehlt. (GW 5, 17)
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» … was nämlich geschieht, wenn wir nicht gerichtet denken: dann fehlt nämlich unserem Denken die Obervorstellung und das hieraus emanierende Richtungsgefühl…Dieses Denken ist mühelos, führt von der Realität weg in Phantasien der Vergangenheit und Zukunft. Hier hört das Denken in Sprachformen auf, Bild drängt sich an Bild, Gefühl an Gefühl, immer deutlicher wagt sich eine Tendenz hervor, die alles so schafft
und stellt, nicht wie es wirklich ist, sondern wie man vielleicht wünschen möchte, dass es wäre. (GW 5, 19)
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9.4.4
Konzepte des Narzissmus
Nach dem Erscheinen der Arbeiten von Kohut (1973) und Kernberg (1975) hat der Narzissmusbegriff kurzzeitig eine Renaissance erfahren und die psychoanalytische Diskussion eine Zeitlang dominiert. Der Narzissmusbegriff wird von Freud 1910 in einer Fußnote in den »Drei Abhandlungen« eingeführt. Hiernach seien Homosexuelle meist an die Mutter fixiert, identifizierten sich mit dem Weib und liebten sich im Sexualobjekt selbst, so wie die Mutter sie geliebt hat; Subjekt- und Objektanteil sind in charakteristischer Weise vertauscht. Narzissmus ist auch ein Entwicklungsstadium zwischen Autoerotismus und der Objektliebe (GW/F 8, 297). Im Autoerotismus beziehen sich die Sexualtriebe ausschließlich auf den eigenen Körper, im Stadium des Narzissmus ist die Objektwahl bereits erfolgt. Das Objekt aber fällt noch mit dem Ich zusammen (GW/F 8, 446). Die animistische Denkweise entspricht einer mangelnden Unterscheidung von Subjekt und Objekt, wodurch es sich um ein narzisstisches Phänomen handelt. > Nach 1914 wird der Narzissmus zur libidinösen Ergänzung des Egoismus des Selbsterhaltungstriebes (primärer Narzissmus) (GW/F 10, 154). Jung schreibt in »Zur gegenwärtigen Lage der Psychotherapie« (1934):
» Weil die Persönlichkeit und die Einstellung des Arztes für die Therapie von ausschlaggebender Wichtigkeit ist – ob nun dieser Umstand vom einzelnen eingesehen wird oder nicht – so tritt auch die persönliche Meinung des Arztes in der
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Geschichte der Psychotherapie so unverhältnismäßig stark hervor und veranlasst scheinbar unvereinbare Spaltungen. Freud gründet sich mit fantastischer Einseitigkeit auf die Sexualität, die Begehrlichkeit, auf das »Lustprinzip«, mit einem Wort: Alles dreht sich um die Frage, ob man könnte, wie man möchte. »Verdrängung«, »Sublimierung«, »Regression«, »Narzissmus«, »Inzest«, »Wunscherfüllung« usw. sind lauter Begriffsfassungen und Anschauungen, die sich auf das Drama des »Lustprinzips« beziehen. Es hat fast den Anschein, als ob in dieser Lehre die Begehrlichkeit der menschlichen Natur zum Grundprinzip ihrer Psychologie erhoben wäre. (GW 10, 340)
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Freud sagt:
» Es scheint, dass unsere gesamte Seelentätigkeit darauf gerichtet ist, Lust zu erwerben und Unlust zu vermeiden. (GW/F 11, 369f.)
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9.4.5
Affektkonzepte
Freud sieht in der »Erweckung der Gefühle« (zum Begriff »Gefühl« als Ausdruck für Emotion: 7 Kap. 2, Besessenheit) das »Wesentliche der ganzen Veränderung«, welche durch die Therapie bewirkt werden kann. (GW/F 7, 118) Es bestehen drei Verwendungsformen: 4 Konversion bei der Hysterie, wo die »Erregungssumme … der unverträglichen Vorstellung … ins körperliche umgesetzt wird«. (GW/F 1, 63) 4 Umwandlung der »somatischen Sexualerregung« in Angst (GW/F 1, 334) 4 Bei Zwangsvorstellungen, wo die peinliche Vorstellung vom Affekt getrennt wird (GW/F 1, 65f.)
Affekte können als körperliche Erregungen Vorstellungen besetzen und über motorische Aktionen abgeführt werden. Im Traum können Vor-
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stellungsinhalte Verschiebungen und Ersetzungen erfahren, während die Affekte unverrückbar und von Entstellung frei bleiben (GW/F 2/3, 254). Sie können unterdrückt oder verdrängt werden. Mienenspiel und Affektausdruck gehorchen eher dem Unbewussten als dem Bewusstsein und sind für ersteres verräterisch (GW/F 5, 219). »Beim Menschen und ihm verwandten Geschöpfen hat der Geburtsakt als das erste individuelle Angsterlebnis [Geburtstrauma] dem Ausdruck des Angstaffekts charakteristische Züge geliehen.« (GW 14, 120f.). Diese Feststellung ist insofern umstritten, als die Großhirnrinde bei der Geburt noch nicht so funktionstüchtig ist, dass auf ihr Informationen in Form von Affekten strukturiert abgebildet werden könnten ([40] S. 160). Nichtsdestoweniger hat Otto Rank seine psychoanalytische Theorie ganz auf dieses Trauma aufgebaut, was allerdings von Freud abgelehnt wurde.
9.4.6
Affektkonzept in der Theorie der Interaktionsform
Der Symbolbegriff ist bei Freud mehrheitlich die mystifizierte Darstellung unbewusster Inhalte im Bewusstsein. Er ist ein Zeichen für die Beziehung zwischen Zeichen und begreiflicher Struktur, für die Beziehung von Begriff und Referent, von Symbol und Symbolisiertem ([40] S. 217–220). Gefühle haben ([40] S. 223): 4 Eine kognitive Komponente: Bewertung von Umweltereignissen 4 Eine körperliche Komponente: vegetativ, muskulär, averbal, Mimik, Körperhaltung, Gestik, Erröten, Blässe, Zittern, Stimme 4 Die Wahrnehmung körperlicher Prozesse 4 Eine motivationale Komponente 4 Das Erleben der Gefühle Affektivität ist ein Begriff, den Eugen Bleuler geprägt hat. Affektivität bezeichnet und fasst zu-
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Kapitel 9 • Sigmund Freud (1856–1939)
sammen »nicht nur die Affekte im eigentlichen Sinne, sondern auch die leichten Gefühle oder Gefühlstöne der Lust und Unlust.« [25] Bleuler unterscheidet von der Affektivität einerseits die Sinnesempfindungen und die Körperempfindungen, anderseits die »Gefühle«, insofern sie innere Wahrnehmungsvorgänge (z. B. Gefühl der Gewissheit, der Wahrscheinlichkeit) und insofern sie unklare Gedanken oder Erkenntnisse sind (GW 6, 682). Freuds Konzept lehnt sich anscheinend eher an Bleuler an.
9.4.7
Bildung der Repräsentanzwelt und Entwicklung des Erlebens
»Affektsymbole sind die ersten seelischen Inhalte, die ein Erleben ermöglichen.« ([40] S. 249)
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> Freud unterscheidet sorgfältig zwischen dem Affekt an sich und seiner Repräsentanz im Bewusstsein.
9.4.8
Abwehrmechanismen und Ersatzbildung
»Als »traumatisch« bezeichnet Freud (GW/F 14, 168) eine innere Gefahr, deren »eigentlicher Kern« eine »Situation der Unbefriedigung ist, in der die Reizgrößen eine unlustvolle Höhe erreichen«, während die Gefahrsituation eine äußere darstellt, »in der die Bedingung« für diese traumatische innere Lage »enthalten ist« (GW/F 14, 199). Freuds Traumatheorie leitet sich von jener Charcots her, wie ich früher dargelegt habe. Das Neue an seiner Theorie ist die Auflösung und Ersetzung des Begriffes der Autosuggestion. Das war die ursprüngliche dynamische Größe, durch detaillierte Vorstellungen über die vom Schock ausgehenden psychologischen und psychophysischen Wirkungen. Der Schock oder das Trauma bewirkt eine gewisse Erregung, die unter norma-
len Umständen geäußert (»abreagiert«) wird. Bei Neurotischen ist das Erleben des Traumas ein unvollständiges. Deshalb tritt eine sog. »Retention der Erregung« oder eine »Affekteinklemmung« ein. Durch den Mechanismus der Konversion wird die beständig bereitliegende, »potentielle« Erregungsenergie ins Körperliche überführt. Die Therapie hat, dieser Auffassung entsprechend, die Aufgabe, die retinierte Erregung auszulösen, d. h. aus den Symptomen gewissermaßen loszulösen. Sie heißt daher passenderweise »reinigend« oder »kathartisch« (7 Abschn. 9.2.1). Ihr Ziel ist es, die eingeklemmten Affekte »abreagieren« zu lassen (GW/F 4, 207). > Ob ein Trauma eine Neurose zur Folge hat, hängt von der persönlichen Vorgeschichte ab, welche dadurch ebensoviel Gewicht bekommt wie das Trauma selbst. Konversion bedeutet einen Vorgang, in dem »die durch die Verdrängung einer Triebvorstellung entbundene Libido […] aus dem Seelischen heraus zu einer körperlichen Innervation verwendet« wird, wodurch »die unbewussten Fantasien körperlich zur Darstellung gebracht« werden (GW/F 7, 194). Für die »Verarbeitung« eines Traumas spielen verschiedene, bei Freud oft erwähnte Mechanismen eine Rolle. Eine klare Begrifflichkeit ist daher wichtig. Introjektion bezeichnet den Vorgang, in welchem mit der »Objektbesetzung« (GW/F 10, 437) auch die »libidinöse Objektbindung (GW/F 13, 257) aufgelassen wird. »Durch den Prozess der Verschiebung kann eine Vorstellung den ganzen Betrag ihrer Besetzung an eine andere abgeben, durch den der Verdichtung die ganze Besetzung mehrerer anderer an sich nehmen« (GW/F 10, 285f.). Die Reaktionsbildung ist ein Prozess der Verdichtung, wodurch ein verdrängter Triebwunsch in Form seines Gegenteils wieder Bewusstsein gewinnt. Mit »primärer Identifizierung« wird die »ursprüngliche Form der Gefühlbindung an ein
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Objekt« bezeichnet (GW/F 13, 259). Bei der Sublimierung werden Triebregungen für kulturelle Leistungen in Dienst genommen (GW/F 7, 150). Der Primärfunktion entspricht später das sog. Konstanz-, Trägheits- oder Lustprinzip, demzufolge jede Energiequantität nach sofortiger Abfuhr drängt. Die Sekundärfunktion korrespondiert dem Realitätsprinzip, das nicht eine sofortige, sondern eine spezifische, den inneren und äußeren Umständen angepasste Abfuhr einfordert. Am Ende seines Lebens spricht Freud (GW/F 17, 90) den Primärvorgang eindeutig dem Es zu. z
Regression
Regression ist die »Rückkehr von einer höheren
zu einer niedrigeren Stufe der Entwicklung« und insbesondere die Rückkehr der Libido zu früheren Stationen ihrer Entwicklung« (GW/F 11, 355). Jung sagt dazu in »Ätiologie der Neurose«:
» Die[se] Benutzung von Reminiszenzen zur Inszenierung eines Krankheitsbildes oder einer scheinbaren Ätiologie nennt man eine Regression der Libido. Die Libido [= psychische Energie] geht zurück auf Erinnerungen und aktiviert sie, so dass dadurch eine scheinbare Ätiologie vorgetäuscht wird. […] Regressiv wiederbelebte Reminiszenzen auch ganz phantastischer Natur sind so wirklich wie Erinnerungen an erlebte Wirklichkeiten. Wie der Terminus »Regression der Libido« andeutet, denkt man sich diesen retrograden Anwendungsmodus der Libido als ein Zurückweichen der Libido auf frühere Stationen. […] Der Regressionsvorgang lässt sich sehr schön durch ein Bild verdeutlichen, welches Freud dafür anwendet. Die Libido ist einem Strom zu vergleichen, der, wenn er in seinem Laufe auf ein Hindernis stößt, sich aufstaut und dadurch eine Überschwemmung verursacht. Wenn der Strom in seinem Oberlaufe sich früher noch andere Läufe gegraben hat, so werden nun durch die Aufstauung diese aufgefüllt, so dass
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sie gewissermaßen wieder wie früher angefüllte Strombetten sind, jedoch zugleich auch von unwirklicher und nur vorübergehender Existenz. (GW 4, 366–367)
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Spaltung
Spaltung bezeichnet Produkte der Abwehr seelischer Konflikte. Sie wird als deskriptiver Begriff verwendet, der sich auf unterschiedliche Identifizierungen, auf das beobachtende Über-Ich, auf Konflikte, die aus dem bewussten Seelenleben entlassen wurden, oder auf die Wahrnehmung äußerer Gefahr bezieht ([40] S. 86). Jung hat dem Heilen der Spaltung in seinem kurz vor seinem Tod beendeten Aufsatz »Symbole und Traumdeutung« (»Approaching the unconscious«) in »Der Mensch und seine Symbole« ein eigenes Kapitel gewidmet (GW 18, 578–607). Sie ist ein zentrales Thema des Kollektivs unserer Zeit und nicht nur auf die Psychologie der Neurosen beschränkt. Außer man würde sagen, unsere Zivilisation leide unter einer Neurose. Dieser Ausdruck ist ein terminus technicus der Psychologie, deshalb sollte man ihn nur in diesem Bereich verwenden. In der Regel nimmt die Mutter das Kind als Ersatz für ein vollgültiges Sexualobjekt. Dass Kinder mit der Ödipuseinstellung häufig auf eine Anregung der Eltern reagieren, die sich in ihrer Liebeswahl oft genug vom Geschlechtsunterschied leiten lassen, zeigt sich darin, dass der Vater die Tochter, die Mutter den Sohn bevorzugt. Oder, falls die Liebe der Ehepartner erkaltet ist, nimmt man das Kind als Ersatz für das entwertete Liebesobjekt (GW 11, 212): »dass es für neurotische Eltern direktere Wege als den der Vererbung gibt, ihre Störung auf die Kinder zu übertragen.« (GW 5, 125) Das ist eine wichtige Feststellung und der Grund, warum Eltern die moralische Verpflichtung haben, sich mit ihrer eigenen Neurose so weit wie möglich auseinanderzusetzen. »Vaters Tochter« oder »Mutters Söhnlein« sind ja volks-
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Kapitel 9 • Sigmund Freud (1856–1939)
tümliche Psychologie. Die Libido fließt, falls der Ehepartner nicht mehr so attraktiv ist oder die Erwartungen an ihn enttäuscht wurden, zum nächsten gegengeschlechtlichen Objekt. Dieses wiederum wird unnatürlich stark aufgewertet – liegt doch der Abstand einer Generation dazwischen – und zur »herzigen kleinen Anima des Vaters«, oder zum »treuherzigen, beschützenden, verständnisvollen Animus der Mutter«. Das geschieht unausweichlich, wenn sich die Eltern weder ihren Konflikt bewusst machen noch daran arbeiten. z
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scheint charakteristisch zu sein. […] Die außerordentlich starke Wirkung des Kernkomplexes [Ödipus-, resp. Elektrakomplex] im Unbewussten von Neurotikern führte Freud zu der Annahme, dass der neurotische Mensch in besonderem Maße auf ihn fixiert sei. Nicht die bloße Existenz dieses Komplexes – den im übrigen jeder Mensch in seinem Unbewussten hat –, sondern die ausgesprochen starke Fixierung auf ihn ist typisch für den Neurotiker. Er wird von diesem Komplex wesentlich stärker beeinflusst als der normale Mensch. (GW 4, 560–562)
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Fixierungen
Fixierungen sind das Resultat eines neurotischen Konflikts, in welchem durch die Abwehr Triebwünsche aus dem Bewusstsein ausgeklinkt und damit von der weiteren Entwicklung abgekoppelt werden. Sie können sich dann nur noch in Ersatz- oder Symptombildungen präsentieren ([40] S. 100). Jung diskutiert Freuds Auffassung, »dass der neurotische Mensch auf einen bestimmten Zeitabschnitt seiner frühen Kindheit »fixiert« sei, weil er, mehr oder weniger deutlich, eine Spur davon in seinem geistig-seelischen Verhalten zu bewahren scheine. Freud unternimmt auch den Versuch, die Neurosen […] zu klassifizieren oder zu unterscheiden, und zwar »entsprechend demjenigen Stadium der kindlichen Entwicklung, in welchem die Fixierung stattgefunden hat.« Jung dagegen gibt zu bedenken:
» Welches ist die Ursache dieser Fixierung der Libido an die infantilen Phantasien und Gewohnheiten? Wir dürfen nicht vergessen, dass fast jeder Mensch irgendwann einmal solche Phantasien und Gewohnheiten gehabt hat, die genau denen eines Neurotikers entsprechen; doch er wird nicht auf sie fixiert und deshalb später auch nicht neurotisch. Das Geheimnis des Ursprungs der Neurose liegt also nicht in der bloßen Existenz infantiler Phantasien, sondern in der sogenannten Fixierung. […] Nur die Fixierung selbst
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Ich-dyston
Ich-dyston sind Ereignisse im Subjekt, deren begriffliche Fassung nicht in Gänze in das bestehende Begriffssystem integriert werden kann, die aber als szenische Auslösereize für unlustvolle Affekte wirksam bleiben ([40] S. 110). z
Konflikt
Ein neurotischer Konflikt ist ein Konflikt zwischen der triebhaften und narzisstischen Bedürftigkeit des Subjekts, indem die narzisstische Bedürftigkeit obsiegt ([40] S. 111).
» Jedoch ist es nicht etwa so, dass der Inzestkomplex nur dem neurotischen Individuum angehört, sondern er erweist sich als ein Bestandteil auch der normalen infantilen Psyche. Er lässt also durch seine Existenz allein nicht erkennen, ob er zum Ursprung einer Neurose wird oder nicht. Um pathogen zu werden, bedarf es des Konfliktes, das heißt der an sich unwirksame Komplex muss aktiviert und dadurch zum Konflikt erhöht werden. (GW 4, 353)
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Infantiler Autismus
Der infantile Autismus, der heute mehr Syndrom denn einheitliches Krankheitsbild ist, kommt bei Kindern in 1–2% der Fälle vor. Der durchschnittliche Intelligenzquotient (IQ) liegt
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um 50. Die Kernsymptome können sich in qualitativer und quantitativer Hinsicht in unterschiedlicher Weise manifestieren. Verstanden als Entwicklungshemmung wird das Krankheitsbild häufig erst am Übergang vom 2. zum 3. Lebensjahr diagnostiziert, obwohl es schon gleich nach der Geburt, in jedem Fall aber vor dem 2. Lebensjahr auftritt, wenn die Eltern durch die verzögerte sprachliche Entwicklung ihres Kindes beunruhigt werden. Sehr häufig wird dann berichtet, dass die Kinder praktisch von Anfang an keinen Blickkontakt vor allem mit ihrer Mutter gesucht haben ([40] S. 127).
9.4.9
Strukturtheoretische Begriffe: Ich, Ich-Ideal und Über-Ich
Ich > Unter dem Ich wird eine Organisation verstanden, in der verschiedene Funktionen zusammengefasst sind. Sie haben die Aufgabe, zwischen den Ansprüchen der Realität, den Triebwünschen des Es und den Interessen des Über-Ich zu vermitteln (GW/F 15, 84; 17, 69; 97). Zu ihnen werden u. a. Realitätsprüfung, Gedächtnis, Sprache, Wahrnehmung, Fantasieren, prälogisches vorstellungsmäßiges und logisch-begriffliches Denken gerechnet ([40] S. 142).
In der Jungschen Auffassung ist das Ich definitionsgemäß dem Selbst als der unanschaulichen Gesamtpersönlichkeit
» … untergeordnet und verhält sich zu ihm wie ein Teil zum Ganzen. Es hat in der Reichweite des Bewusstseinsfeldes […] Willensfreiheit […] Wie aber unsere Willensfreiheit sich an den Notwendigkeiten der Umwelt stößt, so findet sie auch ihre Grenzen jenseits des Bewusstseinsfeldes in der subjektiven Innenwelt, d. h. dort, wo sie mit den Tatsachen des Selbst in Konflikt gerät. Wie
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äußere Umstände uns zustoßen und uns beschränken, so verhält sich auch das Selbst dem Ich gegenüber als objektive Gegebenheit, an der die Freiheit unseres Willens nicht ohne weiteres etwas zu ändern vermag […] Es liegt in der Natur der Sache, dass man vom Ich keine andere allgemeine Beschreibung zu geben vermag als eine formale. Jede andere Betrachtungsweise müsste der Individualität, welche als eine hauptsächliche Eigenschaft dem Ich anhaftet, Rechnung tragen. Obschon die zahlreichen Elemente, die diesen komplexen Faktor zusammensetzen, an sich überall die gleichen sind, so variieren sie doch ins Endlose, was ihre Klarheit, emotionale Tönung und ihren Umfang betrifft. Das Resultat ihrer Zusammensetzung, eben das Ich, ist daher, soweit sich das überhaupt feststellen lässt, eine individuelle Einmaligkeit, die in einem bestimmten Maße sich selber identisch bleibt. Diese Dauerhaftigkeit ist relativ, indem in gewissen Fällen tiefgreifende Wandlungen der Persönlichkeit eintreten können…
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Zu soeben Gesagtem sei auf 7 Kap. 3, insbesondere 7 Abschn. 3.4, und 7 Kap. 7 verwiesen. Weiter heißt es:
» Als Bezugspunkt des Bewusstseinsfeldes ist das Ich das Subjekt aller Anpassungsleistungen, soweit diese überhaupt vom Willen vollzogen werden. In der seelischen Ökonomie spielt daher das Ich eine bedeutungsvolle Rolle. Seine Stellung darin ist dermaßen wichtig, dass das Vorurteil, das Ich sei das Zentrum der Persönlichkeit, oder das Bewusstseinsfeld sei die Psyche überhaupt, keineswegs guter Gründe ermangelt. (GW 9/II, 9–11)
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Über-Ich und Ich-Ideal Über-Ich und Ich-Ideal nehmen Bezug auf 4 Idealisierte Vorstellung der eigenen Person 4 Idealisierte Eltern
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Kapitel 9 • Sigmund Freud (1856–1939)
4 Psychische Repräsentanzen der bestrafenden Eltern der ödipalen Phase 4 In genetischer Hinsicht gibt es das Ich-Ideal vor dem Über-Ich, welches sich erst mit der Bewältigung der ödipalen Phase konstituiert. 4 Das Über-Ich wird normalerweise in der Entwicklung zunehmend unpersönlicher.
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Idealisierung nennt Freud einen »Vorgang mit dem Objekt, durch welchen dieses ohne Änderung seiner Natur vergrößert und psychisch erhöht wird« (GW/F 10, 161). Die Über-IchBildung ist das Resultat narzisstischer Identifizierungen. Das dynamisch wirksame Über-Ich ist im Wesentlichen das Resultat einer Internalisierung von Inhalten des elterlichen Über-Ich, die aufgrund der neurotischen Struktur der Eltern entsteht. Schuldgefühle sind ein besonderes Missbehagen, können Abwehroperationen veranlassen und selbst verdrängt und unbewusst werden. Scham ist ein besonderes Missbehagen, das durch besondere Bedingungen entsteht. z
Ich-Ideal versus Persona
Um Gemeinsamkeiten, aber auch die Unterschiede besser zu erkennen, vergleiche man Freuds Ich-Ideal mit Jungs Persona. Diese ist ein Ausschnitt aus der Kollektivpsyche. Das Wort »Persona« bedeutet ursprünglich die Maske, die Larve des griechischen Schauspielers, welche den ganzen Kopf bedeckte und je nach darzustellendem Charakter in der Rolle verschieden war, resp. diese ausdrückte (»personam induere«). Sie ist eine Maske, die Individualität vortäuscht, denn sie ist ein mehr oder weniger zufälliger Ausschnitt aus der Kollektivpsyche. Im Grunde ist sie nichts »Wirkliches«, sondern ein Kompromiss zwischen Individuum und Sozietät über das, als was einer erscheint. »Er nimmt einen Namen an, erwirbt einen Titel, stellt ein Amt dar, und ist dieses oder jenes… Die Persona ist ein Schein, eine zweidimensionale Wirklichkeit, wie man sie scherzweise bezeichnen könnte« (GW 7, 245f.).
Die gänzlich verschiedenen Arten, mit den Regungen des Unbewussten als »innerem Objekt« umzugehen, sind ebenso habituell wie die Einstellungen zum äußeren Objekt. Die innere Einstellung entspricht daher einem ebenso bestimmten Funktionskomplex wie die äußere Einstellung. »Ich bezeichne die äußere Einstellung, den äußeren Charakter als Persona, die innere Einstellung bezeichne ich als Anima, als Seele« (GW 6, 804f.). z
Gewissen
Freuds Über-Ich wird von Jung erweitert
um das »Gewissen in psychologischer Sicht« (GW 10, 825–857). Es ist ein Wissen um oder Gewissheit über den emotionalen Wert jener Vorstellungen, welche wir von den Motiven unseres Handelns haben. Nach dieser Definition ist das Gewissen ein komplexes Phänomen, das einesteils aus einem elementaren Willensakt oder aus einem bewusst nicht begründeten Antrieb zum Handeln, anderenteils aus einem Urteil des vernünftigen Gefühls besteht. Dieses ist ein Werturteil, das sich dadurch von einem intellektuellen Urteil unterscheidet, dass es neben einem objektiven, allgemeinen und sachlichen Charakter auch die Eigenschaft der subjektiven Bezugnahme erkennen lässt. Das Werturteil impliziert immer das Subjekt, indem es voraussetzt, dass etwas schön und gut »für mich« sei. Wenn der Satz dagegen lautet: Es ist für gewisse andere schön oder gut, so ist dies nicht notwendigerweise ein Werturteil, sondern kann eine intellektuelle Feststellung sein. > Das komplexe Phänomen des Gewissens besteht gewissermaßen aus zwei Stockwerken, von denen das eine als Grundlage ein gewisses psychisches Geschehen enthält, das andere aber ein Art von Überbau darstellt, nämlich das annehmende oder verwerfende Urteil des Subjektes ([17] § 825).
171 9.4 • Psychoanalytische Neurosenlehre
Die moralische Bewertung des Handelns, die sich im spezifischen Gefühlston der entsprechenden Vorstellung ausdrückt, ist nicht immer eine Angelegenheit der conscientia, des Bewusstseins, sondern funktioniert auch ohne diese. Freud hat allerdings die Hypothese aufgestellt, dass in einem derartigen Fall eine »Verdrängung« vorliege, welche von einem gewissen psychischen Faktor, dem sog. Über-Ich, ausgehe. Damit das Bewusstsein aber den Willensakt der Verdrängung vollziehen kann, muss vorausgesetzt werden, dass irgendwie um die moralische Anstößigkeit des zu verdrängenden Inhaltes gewusst wird. Denn ohne dieses Motiv kann der entsprechende Willensimpuls nicht ausgelöst werden. (Es handelt sich im von Jung zitierten Beispiel um einen Geschäftsmann, dem eine anscheinend ehrenhafte Offerte gemacht wurde und den erst ein Traum darauf aufmerksam machte, dass er sich bei diesem Handel die »Hände schmutzig« machen würde; GW 10, 826–828.)
» Das Freudsche Über-Ich ist nun nicht ein natürlicher und vererbter Strukturteil der Psyche, sondern vielmehr der vom Bewusstsein erworbene Bestand an traditionellem Brauchtum, der sogenannte Sittenkodex, wie er sich z. B. im Dekalog verkörpert hat. Das Über-Ich ist ein patriarchales Überkommnis, das als solches eine bewusste Erwerbung und einen ebenso bewussten Besitz bedeutet. […] Der Begriff Über-Ich enthält im großen und ganzen nichts, was an sich nicht als allgemeines Gedankengut bekannt wäre. […] Es muss auch erwähnt werden, dass Freud das Vorhandensein von gewissen »archaischen Resten« im Über-Ich zugibt, also Gewissensakte, die durch archaische Motive beeinflusst sind. […] Es ist daher wahrscheinlich, dass die »archaischen Reste« im Über-Ich eine gewisse uneingestandene Konzession an die Archetypenlehre und somit einen prinzipiellen Zweifel an der absoluten Abhängigkeit unbewusster Inhalte vom Bewusstsein bedeuten. (GW 10, 830f.)
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9.4.10
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Freuds spezifische Auffassung von Trauma und traumatischer Neurose
Trauma »Trauma« bezeichnet zu Zeiten Freuds eine den Organismus schädigende Gewalteinwirkung von außen (7 Kap. 4). Vermutlich von Oppenheim (1889) in die Psychiatrie eingeführt, wurde das Trauma als ein Zustand körperlicher und seelischer Veränderungen als Folge eines Schocks, einer plötzlichen körperlichen und/oder seelischen Erschütterung gefasst. Von Breuer und Freud (1892) wurde es als präpubertäre genitalsexuelle Stimulation des Kindes durch einen Erwachsenen angenommen. Diese objektiv »sexuellen Traumen der frühen Kindheit« erleben durch assoziative Verknüpfung mit einem auxiliären aktuellen Ereignis eine »Wiederbelebung« als Erinnerung. (GW/F 1, 380f.) Die damals unerkannt gebliebene und nun wieder einsetzende Reizüberflutung wird auch subjektiv als sexuelle erkannt und entfaltet ihre traumatische Kraft, welche zur Symptombildung führen kann (GW/F 11, 284). Freud sagt:
» Die früh erlebten, später vergessenen Eindrücke, denen wir eine so große Bedeutung für die Ätiologie der Neurosen zuschreiben, heißen wir Traumen. (GW/F 16, 177)
«
Psychoneurosen sind das Resultat der Versuche, durch den Einsatz von Abwehrmechanismen das Wiederauftreten traumatischer Zustände zu verhindern. Traumatische Neurosen hingegen sind durch »das Fehlen der Angstbereitschaft« (GW/F 13, 31) gekennzeichnet. > Die qualitative Differenzierung von Psychoneurosen und traumatischen Neurosen ist eine unabdingbare Voraussetzung, wenn man am Begriff der
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Kapitel 9 • Sigmund Freud (1856–1939)
»traumatischen Neurose« als einer nosologischen Krankheitseinheit festhalten will ([40] S. 194f.).
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Sexuelle Kindheitstraumen Die Theorie von sexuellen Kindheitstraumen stieß auf erbitterten Widerstand, nicht allein aus theoretischen Gründen, die sich gegen eine Traumatheorie überhaupt erhoben, sondern gegen das Moment Sexualität. »In erster Linie empörte der Gedanke, dass die Kinder sexuell sein sollten, so dass derartige sexuelle Gedankengänge in ihnen eine Rolle spielen könnten…« Die Nachprüfung dieser Beobachtungen führte überall da, wo sie wirklich ernsthaft und gründlich gemacht wurde, zu einer absoluten Bestätigung der psychologischen Zusammenhänge, nicht aber zur Bestätigung der ursprünglichen Annahme Freuds, dass es sich um wirkliche traumatische Szenen handelte. Auch Freud musste aufgrund vermehrter Erfahrung bald nach dieser ersten Formulierung seiner Sexualtheorie der Neurose die ursprüngliche Annahme von der absoluten Realität des Sexualtraumas aufgeben. Jene Szenen ausgesprochenen Sexualcharakters, sexueller Missbrauch des Kindes oder vorzeitige sexuelle Betätigung des Kindes, waren also zu nicht geringem Teil unwirklich.
» Wir sind daher genötigt, zunächst anzunehmen, dass viele von jenen frühinfantilen Traumata rein phantastischer [und symbolischer] Natur sind, bloße Phantasien, während andere Traumata von objektiv konstatierter Realität sind. […] Die Erfahrung lehrt uns, dass Phantasien quasi ebenso traumatisch wirken können wie wirkliche Traumata. […] Das Trauma hat daher ceteris paribus keine unbedingt ätiologische Bedeutung, sondern das Trauma wird, ohne dauernden Effekt zu hinterlassen, vorübergehen…das Individuum (muss) eine ganz bestimmte innere Vorbereitung dem Trauma entgegenbringen, um ihm zur Wirk-
samkeit zu verhelfen. Diese innere Vorbereitung ist nun nicht im Sinne einer ihrer Substanz nach gänzlich dunkeln hereditären Disposition zu verstehen, sondern als eine psychologische Entwicklung, welche mit dem traumatischen Moment zum Höhepunkt und zur Manifestation gelangt. (Frühere Hypothesen. GW/F 4, 215–217)
«
9.4.11
Verführungstheorie, Ödipuskomplex und Wiederholungszwang
Der Ödipuskomplex ist der Kernkomplex jeder Neurose (1910) (GW/F 8, 50). In drei Aufsätzen (1896) (GW/F 1) hatte Freud noch die »Verführungstheorie« vertreten, wonach bei jeder Hysterie »sexuelle Erfahrungen der Kindheit« mit »Reizungen der Genitalien, koitusähnlichen Bewegungen« usw. (GW/F 1, 445) vorkommen und »von Seiten erwachsener fremder Individuen, Kindermädchen, Kindsfrau, Gouvernante, Lehrer, naher Verwandter, Geschwister ausgeführt werden« (GW/F 1, 444). Diese realen infantilen Szenen werden abgewehrt und als unbewusste Erinnerungen erhalten. »Die hysterischen Symptome sind Abkömmlinge unbewusst wirkender Erinnerungen«. (GW/F 1, 448). Im Brief vom 21.09.1897 an Wilhelm Fließ gesteht Freud ein – was die Geburtsstunde einer »kopernikanischen Wende« von der praktischen hin zur psychischen Realität war –, dass die Annahme, reale sexuelle Erfahrungen in der Kindheit gehörten zur Hysterie, ein Irrtum war. In 1933 gesteht er (GW/F 15, 128), dass ihm fast alle seiner weiblichen Patienten erzählten, sie seien vom Vater verführt worden. Er habe zur Einsicht kommen müssen, »dass die hysterischen Symptome sich von Phantasien, nicht von realen Begebenheiten ableiten« würden. Nimmt man Freuds Äußerungen zusammen, dann wurde 1897 nicht
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die Verführungstheorie, sondern der Anspruch auf allgemeine Gültigkeit aufgegeben.
» Jedem menschlichen Neuankömmling ist die Aufgabe gestellt, den Ödipuskomplex zu bewältigen, wer es nicht zustande bringt, ist der Neurose verfallen. (GW/F 5, 127)
«
Der Ödipuskomplex kann 4 als natürliche Entwicklung verschwinden, 4 aus schmerzhafter Enttäuschung über das Ausbleiben der erhofften Befriedigung, 4 unter dem Schock der Kastrationsdrohung zerschellen (GW/F 13, 29) »Was nicht befriedigt worden ist, strebt nach Befriedigung« – als Zwang in Gestalt von Ersatzhandlungen.
9.4.12
Der wissenschaftstheoretische Status der Psychoanalyse und ihrer Begriffe
Die Psychoanalyse wird von den einen als Naturwissenschaft, den anderen als hermeneutisch und den dritten als beides aufgefasst. Für Charles Brenner (1980) ist sie eine Naturwissenschaft, weil psychische Probleme eine Funktion des Gehirns sind: »Mind is but an aspect of brain functioning«. Mit dieser Auffassung ist es nur konsequent, das Erkenntnisinteresse auf kausale Zusammenhänge somatischer Abläufe zu richten. Die Daten, auf die sich die Diagnose stützt, sind objektiv und reproduzierbar. Eine kausale Erklärung subsumiert das Explanandum unter ein allgemeines Gesetz, eine intentionale Erklärung kann sich gerade nicht auf ein solches berufen; z. B. »Ich habe Sie besucht, um Ihnen eine Freude zu machen« ist intentional, denn nicht jede Person, welche eine andere aufsucht, will ihr eine Freude machen. Intentionale Erklärungen gelten dem inneren Aspekt von Handlungen und geben Antwort auf die Frage, was eine Person
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erreichen wollte, als sie dies oder jenes tat. Der intensionalen Erklärung fehlt eine empirische Absicherung, weshalb man der Wahrheit der genannten Gründe nicht sicher sein kann. > Jung hat dazu beigefügt, dass die Psyche auch eine geistige Dimension hat!
9.4.13
Grundbegriffe der psychoanalytischen Therapie
Übertragung und Übertragungsneurose Die Übertragung auf den Arzt geschieht durch falsche Verknüpfung (1895) (GW/F 1, 308f.). Zehn Jahre später wandelt sie sich von einem Hindernis in der Psychoanalyse »zum mächtigsten Hilfsmittel derselben, wenn es gelingt, sie jedes Mal zu erraten und dem Kranken zu übersetzen« (GW/F 5, 281). Auf die Frage »Was sind Übertragungen?« antwortet Freud:
» Neuauflagen, Nachbildungen von den Regungen und Phantasien, die während des Vordringens der Analyse entdeckt und bewusst gemacht werden sollten, mit einer […] charakteristischen Ersetzung einer früheren Person durch die Person des Arztes. Um es anders zu sagen: Eine ganze Reihe früherer psychischer Erlebnisse wird nicht als vergangen, sondern als aktuelle Beziehung zur Person des Arztes wieder lebendig. (GW/F 5, 279f.)
«
Diese Übertragungen sind kein Spezifikum der analytischen Behandlung, sondern ein Phänomen, das sich »in allen menschlichen Beziehungen sowie im Verhältnis des Kranken zum Arzt spontan herstellt« (GW/F 8, 55; 14, 68). Ralph Greenson (1967) versteht sie als das Erleben von Gefühlen einer Person gegenüber, die zu dieser Person gar nicht passen und die sich in Wirklichkeit auf eine andere Person beziehen. Im Wesentlichen wird auf eine Person in der Gegenwart reagiert, als sei sie eine Person in der Vergangen-
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Kapitel 9 • Sigmund Freud (1856–1939)
heit. Übertragung ist eine Wiederholung, eine Neuauflage einer alten Objektbeziehung. Sie ist ein Anachronismus, ein Irrtum in der Zeit. Dies ist in erster Linie ein unbewusstes Phänomen, und die Person, die mit Übertragungsgefühlen reagiert, ist sich weitgehend der Verzerrung nicht bewusst ([31] I, S. 163). Übertragungen sind nicht nur eine bewusstlose Wiederholung des Vergangenen in der Gegenwart, sondern die Wiederholung eines widersprüchlichen und deshalb bewusstlos gewordenen Vergangenen. Die »Übertragung ist ambivalent, sie umfasst positive, zärtliche, wie negative, feindselige Einstellungen gegen den Analytiker, der in der Regel an die Stelle eines Elternteils, des Vaters oder der Mutter, gesetzt wird«, und die Koexistenz ambivalenter Gefühle erklärt uns am besten die Fähigkeit der Neurotiker, ihre Übertragungen in den Dienst des Widerstandes zu stellen. (GW/F 8, 373). Die Übertragung wird so zum »eigentlichen Träger der therapeutischen Beeinflussung« (GW/F 8, 55; 14, 68).
» Wenn der Patient nur soviel Entgegenkommen zeigt, dass er die Existenzberechtigungen der Behandlung respektiert, gelingt es […] regelmäßig, allen Symptomen der Krankheit eine neue Übertragungsbedeutung zu geben, seine gemeine Neurose durch eine Übertragungsneurose zu ersetzen. […] Der neue Zustand hat alle Charaktere der Krankheit übernommen, aber er stellt eine artifizielle Krankheit dar, die überall unseren Eingriffen zugänglich ist. Er ist gleichzeitig einem Stück realen Erlebens, aber durch besonders günstige Bedingungen ermöglicht«, näher gekommen. (GW/F 10, 134f.)
«
Für den Arzt gilt:
» Den Kranken wegzuschicken, sobald sich die Unannehmlichkeiten seiner Übertragungsneurose herstellen, ist nicht sinnreicher und
außerdem eine Feigheit; es wäre ungefähr so, als ob man Geister beschworen hätte und dann davon gerannt wäre, sobald sie erschienen… (GW/F 14, 258f.)
«
» Wir sind auf die »Gegenübertragung« aufmerksam geworden, die sich beim Arzt durch den Einfluss des Patienten auf das unbewusste Fühlen des Arztes einstellt, und sind nicht weit davon, die Forderung zu erheben, dass der Arzt diese Gegenüberstellung in sich erkennen und bewältigen müsse. […] Jeder Analytiker kommt nur soweit, als seine eigenen Komplexe und inneren Widerstände es gestatten. (GW/F 8, 108)
«
Als »a blessing in disguise« wird Freuds Gegenübertragung erstmals im Brief an C.G. Jung vom 07.06.1909 erwähnt ([2] S. 255). Im Unterschied zur Übertragung, welche zum Hauptinstrument psychoanalytischer Arbeit wurde, blieb Freuds Verständnis für die Gegenübertragung als Resultat ungelöster Konflikte auf Seiten des Analytikers, welche sein therapeutisches Handeln beeinträchtigen, unverändert. Nach 1937 (GW/F 16, 94) heißt es, dass der Analytiker durch seine Gegenübertragung, »durch seine eigenen Defekte wirklich darin gestört wird, die Verhältnisse des Patienten richtig zu erfassen und in zweckdienlicher Weise darauf zu reagieren.« > Erst etwa 40 Jahre nach Freuds Formulierungen gewann auch die Gegenübertragung den Status eines wirksamen und unverzichtbaren Instruments in der psychoanalytischen Arbeit. 1960 schrieb Little [34], dass es ohne unbewusste Gegenübertragung weder Empathie noch Analyse geben könne. Freud, der zuerst dieses Phänomen erkannte und beschrieb, hat dafür den Terminus »Übertragungsneurose« geprägt.
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175 9.4 • Psychoanalytische Neurosenlehre
Diese Bindung nun ist des Öfteren von solcher Intensität, dass man von einer Verbindung sprechen könnte. Wenn zwei chemische Körper sich verbinden, so werden beide alteriert. Das ist auch bei der Übertragung der Fall. Freud hat richtig erkannt, dass diese Bindung therapeutisch von hoher Bedeutung ist, indem dadurch ein »mixtum compositum« der geistigen Gesundheit des Arztes mit der gestörten Gleichgewichtslage des Kranken entsteht. Die Freudsche Technik versucht zwar, sich von diesem Geschehen so viel wie möglich zu distanzieren, was menschlich durchaus begreiflich ist, der therapeutischen Wirkung gegebenenfalls aber erheblichen Abbruch tut. Eine gewisse Beeinflussung des Arztes ist unvermeidlich und ebenso eine gewisse Störung bzw. Schädigung seiner nervösen Gesundheit. Er »übernimmt« ja recht eigentlich das Leiden des Patienten und teilt es mit ihm. Darum ist er prinzipiell gefährdet und muss es sein. Was für eine hohe Bedeutung Freud dem Übertragungsphänomen beimaß, wurde mir bei unserer ersten persönlichen Begegnung im Jahre 1907 klar. Nach einer vielstündigen Unterredung trat eine Pause ein. Plötzlich fragte er mich unvermittelt: »Und was denken Sie von der Übertragung?« Ich antwortete aus tiefster Überzeugung, dass sie das A und das O der analytischen Methode sei. Worauf er entgegnete: »Dann haben Sie die Hauptsache verstanden.«
» Die große Bedeutung der Übertragung hat vielfach Anlass zu dem Irrtum gegeben, zur Heilung sei die Übertragung unbedingt erforderlich. Sie müsse daher sozusagen gefordert werden […] Wer meint, Übertragung fordern zu müssen, vergisst, dass dieses Phänomen ja nur einer der therapeutischen Faktoren, und dass überdies Übertragung die Verdeutschung von Projektion ist, ein Phänomen, das unmöglich gefordert werden kann. Ich persönlich bin jedesmal froh, wenn die Übertragung milde verläuft und praktisch sich nicht bemerkbar macht. Man ist dann viel
weniger persönlich in Anspruch genommen und kann sich mit anderen therapeutisch wirksamen Faktoren begnügen. (GW 16, 357–359)
«
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Einfühlung
Der Begriff »Einfühlung« erscheint bei Freud erstmals 1905 (GW/F 5, 222) im Sinne des »Sichhineinversetzens, Verstehenwollens« (GW/F 6, 214). Er nimmt 1921 mit diesem Begriff auf den »Mechanismus« Bezug, der »uns überhaupt eine Stellungnahme zu einem anderen Seelenleben ermöglicht« (GW/F 13, 121) und »der den größten Anteil an unserem Verständnis für das Ichfremde anderer Personen hat.« (GW/F 13, 119) In der Folgezeit wird das in der angloamerikanischen und deutschsprachigen Literatur als »Empathie« bezeichnet.
9.4.14
Psychoanalytische Grundregeln
Freies Assoziieren (GW/F 2/3, 105) Traum-, Symptom- bzw. Ersatzbildungen sowie die von ihnen ausgehenden, im freien Assoziieren auftretenden Einfälle unterliegen gemeinsam dem »das Seelenleben beherrschenden Determinismus« (GW 11,104), insofern, als sie eine »Abhängigkeit von affektmächtigen Gedanken- und Interessenkreisen, Komplexen, erkennen lassen, deren Mitwirkung im Moment nicht bekannt, also unbewusst ist« (GW/F 11, 106f.; 13, 410f.).
Determinierung Unter dem Einfluss der Naturwissenschaften entsteht in der Philosophie des 17. Jahrhunderts die Vorstellung, dass alles, was in der Welt geschieht, auch menschliche Handlungen, durch unabänderliche Naturgesetze bestimmt sei. Geht man davon aus, dass menschliche Handlungen ausschließlich von Naturgesetzen bestimmt und
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Kapitel 9 • Sigmund Freud (1856–1939)
damit erklärbar seien, so kann der Mensch in seinen Entscheidungen nicht frei und für seine Taten nicht wirklich verantwortlich sein. Während im Allgemeinen die Vorstellung einer mechanischen Determiniertheit aufgegeben wurde, nicht zuletzt unter dem Einfluss der modernen Physik, gibt es in der neueren Philosophie Richtungen, die, durch die Psychoanalyse inspiriert, eine neue Art von Determinismus repräsentieren [37]. Das Verfahren der freien Assoziation ist nicht auf die Deutung von Träumen beschränkt.
» Die Traumdeutung ist die via regia zur Kenntnis des Unbewussten im Seelenleben. (GW/F 2/3, 613)
«
» Ich rechne es zu den vielen Verdiensten der 9
Zürcher analytischen Schule, dass sie die Bedingungen verschärft und in der Forderung niedergelegt hat, es solle sich jeder, der Analysen an anderen ausführen will, vorher selbst einer Analyse bei einem Sachkundigen unterziehen. (GW/F 8, 382)
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Gleichschwebende Aufmerksamkeit heißt, dass
» … sich der Analytiker seiner eigenen unbewussten Geistestätigkeit überlasse, Nachdenken und Bildung bewusster Erwartungen möglichst vermeide, nichts von dem Gehörten sich besonders im Gedächtnis fixieren wolle, und solcher Art das Unbewusste des Patienten mit seinem eigenen Unbewussten auffange. (GW/F 13, 215)
«
Abstinenz Abstinenz meint, dass jedweder Übertragungsliebe, die in der analytischen Situation auftritt, »die verlangte Befriedigung zu versagen« ist und der Analysand auch außerhalb der analytischen Situation auf »voreilige Ersatzbefriedigungen
verzichten soll, zu denen er aufgrund der Erschütterung des status quo seiner Neurose durch die Analyse neigt.« (GW/F 12,189) In der nachfolgenden Literatur wurde von der in der Freudschen Formulierung enthaltenen Forderung, der Analysand sollte auch außerhalb der Analyse auf die Realisierung von Ersatzbildungen verzichten, abgesehen und die Abstinenz mit wenigen Ausnahmen meist unter dem Begriff der »Neutralität« diskutiert ([40] S. 345). Freud »empfiehlt sich während der psychoanalytischen Behandlung den Chirurgen zum Vorbild zu nehmen, der alle seine Affekte und selbst sein menschliches Mitleid beiseite drängt«, rechtfertigt diese »vom Analytiker geforderte Gefühlskälte« damit, »dass sie für beide Teile die vorteilhaftesten Bedingungen schafft, für den Arzt die wünschenswerte Schonung seines eigenen Affektlebens, für den Kranken das größte Ausmaß an Hilfeleistung, das uns heute möglich ist« und fordert, der »Arzt soll undurchsichtig für den Analysierten sein und wie eine Spiegelplatte nichts anderes zeigen, als was ihm gezeigt wird.« (GW/F 8, 380–384) Freud kritisiert in einem Brief vom 22.10.1927 an Oskar Pfister »die verdrossene Indifferenz« einiger seiner Schüler, welche die »Neigung […] haben, Vorschriften wörtlich zu nehmen oder zu übertreiben«, und welche dadurch »die Wirkung der Analyse« verderben.
Durcharbeiten Durcharbeiten erscheint schon 1895 als die »Durcharbeitung« einer »einzelnen Erinnerung« durch den Analysanden, damit diese »ins IchBewusstsein eintreten« kann (GW/F 1, 295) und zum andern das »Durcharbeiten« einer »oft unglaublichen Menge von anderem Erinnerungsmaterial« durch den Analytiker, das sich um den »Kern […] von solchen Erinnerungen […] abgelagert hat, »in denen […] die pathogene Idee ihre reinste Ausbildung gefunden hat.« (GW/F 8, 291f.)
9
177 9.4 • Psychoanalytische Neurosenlehre
> Freuds Auffassung des Durcharbeitens bedeutet die gemeinsame Arbeit von Analytiker und Analysand an der Übertragung. Notwendig wird sie, weil der Analysand seine unbewusste Vergangenheit auf den Analytiker überträgt, anstatt sie in der analytischen Situation zu erinnern.
Widerstand Als Widerstand wird all das bezeichnet, was sich im Patienten den Beeinflussungsversuchen des Arztes, die auf Erinnern zielen, widersetzt. »Je größer der Widerstand ist, desto ausgiebiger wird das Erinnern durch das Agieren (Wiederholen) [in der Übertragungsneurose] ersetzt.« (GW/F 10, 130). Der Widerstand wird 1926 in verschiedene Widerstände aufgeteilt, die vom Ich, Über-Ich und Es ausgehen: Der Es-Widerstand ist die »Macht des Wiederholungszwanges« (GW/F 14, 192), jener des Über-Ich-Widerstandes sind unbewusste Schuldgefühle oder ein Strafbedürfnis, wodurch ein Fortschritt in der Behandlung aktiv verhindert wird. Die Ich-Widerstände richten sich ([40] S. 369): 4 Gegen die Aufhebung von Verdrängungen 4 Gegen den Verlust des Krankheitsgewinnes 4 Übertragungswiderstand Jeder »Widerstand … [setzt] das voraus, was ich als Gegenbesetzung bezeichnet habe (GW/F 14, 189f.).
Symptomhandlungen
» Symptomhandlungen nenne ich jene Verrichtungen, die der Mensch […] automatisch, unbewusst, ohne darauf zu achten […] vollzieht, denen er jede Bedeutung absprechen möchte, und die er für gleichgültig und zufällig erklärt. […] Sorgfältige Beobachtung zeigt […], dass solche Handlungen […] unbewussten Gedanken und Impulsen Ausdruck geben… (GW/F 5, 238f.)
«
Symptomhandlungen sind ich-dyston, Agieren ist ich-synton. Der Begriff »enactment« meint das Mitagieren des Analytikers. Alle Aussagen von Freud bezüglich »agieren« gelten auch für das Mitagieren des Analytikers ([40] S. 387).
Deuten Freuds erste Äußerung über das Deuten bezieht sich auf das Deuten des im manifesten Trauminhalt enthaltenen latenten.
» Sie begehen einen schweren Fehler, wenn Sie […] dem Patienten Ihre Deutung an den Kopf werfen, sobald Sie sie gefunden haben. Sie erzielen damit bei ihm Äußerungen von Widerstand, Ablehnung, Entrüstung erreichen aber nicht, dass sein Ich sich des Verdrängten bemächtigt. (GW/F 14, 250f.)
«
An anderer Stelle heißt es:
» Deutung bezieht sich auf das, was man mit Agieren Der Begriff »Agieren« erscheint bei Freud 1905. Die Inszenierung »ist die Art des Patienten zu erinnern, denn auch in dieser Form »reproduziert« er/sie das Vergangene »nicht als Erinnerung […], sondern er agiert es […] er wiederholt es, ohne natürlich zu wissen, dass er es wiederholt.« (GW/F 10, 129f.)
einem einzelnen Element des Materials, einem Einfall, einer Fehlleistung und dgl. vornimmt. Eine Konstruktion ist aber, wenn man dem Analysierten ein Stück seiner vergessenen Vorgeschichte … vorführt, [die] in der Erinnerung des Analysierten enden [sollte]. (GW/F 16, 47, 53)
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Kapitel 9 • Sigmund Freud (1856–1939)
Psychoanalytischer Prozess
Es ist heute noch strittig, ob sich dieser Begriff auf etwas bezieht, das zwischen Patient und Analytiker oder alleine im Patienten stattfindet. Der psychoanalytische Prozess bezeichnet die »differentia specifica« des psychoanalytischen Behandlungsverfahrens ([40] S. 402–409). Freud hat den einzelnen Neurosen eine spezifische Psychodynamik und spezifische Konflikte zugeschrieben, was ich nicht anführen will, weil das meiste überholt ist. Wir werden anlässlich der Besprechung der Jungschen Auffassung (7 Viertes Buch) aktuell Gültiges erwähnen.
Literatur Primärliteratur (Quellen) Werke von Sigmund Freud
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1 Breuer J, Freud S (1907) Studien über Hysterie. Gesammelte Werke I. S. Fischer, Frankfurt 2 Freud S, Jung CG (1974) Briefwechsel. McGuire W, Wolfgang Sauerländer W (Hrsg.) Buchclub Ex Libris, Zürich (amerikanische Ausgabe: Princeton Univ. Press, New Jersey) 3 Freud S (1909) Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben (der »kleine Hans«). Gesammelte Werke VII. S. Fischer, Frankfurt 4 Freud S (1910) Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. Gesammelte Werke V. S. Fischer, Frankfurt 5 Freud S (1920) Jenseits des Lustprinzips. Gesammelte Werke. S. Fischer, Frankfurt 6 Freud S (1923) Das Ich und das Es. Gesammelte Werke. S. Fischer, Frankfurt 7 Freud S (1913) Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker. Gesammelte Werke IX. S. Fischer, Frankfurt 8 Freud S (1911) Die Traumdeutung. Gesammelte Werke II/III. S. Fischer, Frankfurt 9 Freud S (1912) Zur Psychopathologie des Alltagslebens. Über Vergessen, Versprechen, Vergreifen, Aberglaube und Irrtum. Gesammelte Werke IV. S. Fischer, Frankfurt Weitere Quellen 10 Jones E (1982) Das Leben und Werk von Sigmund Freud. 3 Bde., Huber, Bern 11 Jung CG (1995) Freud und die Psychoanalyse. GW 4 (§ 353, § 560–562). Gesammelte Werke. Walter, Solothurn Düsseldorf 12 Jung CG (1995) Symbole der Wandlung. Analyse des Vorspiels zu einer Schizophrenie. GW 5 (§ 17, 19, 125). Gesammelte Werke. Walter, Solothurn Düsseldorf
13 Jung CG (1995) Psychologische Typen. GW 6 (§ 804f.). Gesammelte Werke. Walter, Solothurn Düsseldorf 14 Jung CG (1995) Die Beziehungen zwischen dem Ich und dem Unbewussten. GW 7 (§ 245–246). Gesammelte Werke. Walter, Solothurn Düsseldorf 15 Jung CG (1995) Die Dynamik des Unbewussten. GW 8 (§ 1–130). Gesammelte Werke. Walter, Solothurn Düsseldorf 16 Jung CG (1995) Aion. Beiträge zur Symbolik des Selbst. GW 9/II (§ 9–11). Gesammelte Werke. Walter, Solothurn Düsseldorf 17 Jung CG (1995) Zivilisation im Übergang. GW 10 (§ 340, § 825–857). Gesammelte Werke. Walter, Solothurn Düsseldorf 18 Jung CG (1995) Zur Psychologie westlicher und östlicher Religion. GW 11 (§ 212). Gesammelte Werke. Walter, Solothurn Düsseldorf 19 Jung CG (1995) Praxis der Psychotherapie. GW 16 (§ 294, § 357–359). Gesammelte Werke. Walter, Solothurn Düsseldorf 20 Jung CG (1995) Das symbolische Leben. GW 18 (§ 578– 607). Gesammelte Werke. Walter, Solothurn Düsseldorf 21 Kohut H (1973) Narzissmus. Frankfurt 22 Kernberg OF (1976) Borderline conditions and pathological narcissism. New York: Aronson Sekundärliteratur 23 Aristoteles (1959) Poetik. In: Gohlke P (Hrsg.) Über die Dichtkunst. Bd. 4. Schöningh, Paderborn. S. 56ff. 24 Bernays J (1857) Grundzüge der verlorenen Abhandlung des Aristoteles über Wirkung der Tragödie. Breslau 25 Bleuler E (1904) Affektivität, Suggestibilität, Paranoia. In: Psychiatrisch-neurologische Wochenschrift VI, 249–269 26 Brentzel M (2004) Sigmund Freuds Anna O – das Leben der Bertha Pappenheim. Reclam, Leipzig 27 Brentzel M (2002) Anna O – Bertha Pappenheim, Biographie. Wallstein, Göttingen 28 Ellenberger HF (1973) Die Entdeckung des Unbewussten. 2 Bde. Hans Huber, Bern Stuttgart Wien (über S. Freud: 2. Bd. S. 567–765) 29 Fenichel O (1977) Psychoanalytische Neurosenlehre. 3. Bde. Walter, Olten 30 Goethe JW von (1977) Sämtliche Werke in 18 Bänden, Bd. 1. Artemis, Zürich. S. 149 31 Greenson RR (1973) Technik und Praxis der Psychoanalyse. Klett, Stuttgart 32 Hirschmüller A (1978) Physiologie und Psychoanalyse im Leben und Werk Josef Breuers. Jahrbuch der Psychoanalyse. Beiheft Nr. 4, Bern 33 Hoessly F (2001) Katharsis. Vandenhoek und Ruprecht, Göttingen 34 Little M (1960) Brit. J. Med. Psychol. 33, 29–31 35 Klibansky R, Panofsky E, Saxl F (1990) Saturn und Melancholie. Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst. Suhrkamp, Frankfurt a.M.
179 Literatur
36 Mansfield J (Hrsg.) (1987) Die Vorsokratiker (gr./dt., Auswahl mit Erläuterungen). Reclam, Stuttgart 37 Ritter J, Gründer K (Hrsg.) (1992) Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2 (s.v. Determinismus), 4 (s.v. Katharsis), 7 (s.v. Positivismus). Wiss. Buchgesellschaft, Darmstadt 38 Schäfer ML (1972) Der Neurosenbegriff. Ein Beitrag zu seiner historischen Entwicklung. Das wissenschaftliche Taschenbuch. Abt. Medizin. Goldmann, München 39 Wyss D (1977) Die tiefenpsychologischen Schulen von den Anfängen bis zur Gegenwart. Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen 40 Zepf S (2006) Allgemeine psychoanalytische Neurosenlehre, Psychosomatik und Sozialpsychologie. Zweite erweiterte und aktualisierte Auflage. Psychosozial-Verlag, Gießen
9
181
Alfred Adlers (1870–1937) Individualpsychologie 10.1
Individualpsychologie – eine Begriffsbestimmung – 182
10.2
Leben und Einführung in sein Werk – 183
10.3
Persönlichkeitstheorie und ihre Entwicklung – 185
10.3.1 10.3.2 10.3.3 10.3.4 10.3.5 10.3.6 10.3.7 10.3.8 10.3.9 10.3.10 10.3.11 10.3.12 10.3.13
Kompensation und Verschränkung – 185 Männlicher Protest und Kritik an Freud – 185 Fiktionalismus und Finalität – 186 Streben nach Überlegenheit – 189 Gemeinschaftsgefühl – 190 Lebensstil – 190 Neurotische Disposition – 192 Neurotisches Sicherungsverhalten – 193 Der Anfang der Neurose – 195 Dynamische Einheit der seelischen Störungen – 196 Verstehen und Behandlung des Patienten – 198 Erste Kindheitserinnerungen und Träume – 199 Ursprung von neurotischer Disposition – 201
Literatur – 203
A. Ribi, Neurose – an der Grenze zwischen krank und gesund, DOI 10.1007/978-3-642-16148-3_10, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
10
182
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Kapitel 10 • Alfred Adlers (1870–1937) Individualpsychologie
Alfred Adlers zentrale Bedeutung liegt darin begründet, dass er den Menschen vom Streben, nicht vom Trieb her erfasste. Den Sinn des Lebens deutete er einerseits in einer steten Vervollkommnung und andererseits in der Verantwortung für die menschliche Gemeinschaft. Das Konzept seiner Persönlichkeitstheorie ist das eines »einheitlichen, zielgerichteten schöpferischen Individuums, welches im gesunden Zustand in einer positiven, konstruktiven ethischen Beziehung zu seinen Mitmenschen steht.« ([13] S. 21–29). Adlers Ideen spiegeln sich in der Wortschöpfung »Lebensstil«. Dabei orientiert er sich an den Theorien Max Webers und Wilhelm Diltheys. Für ihn bestand das eigentliche Anliegen der Therapie nicht in der Analyse von Konflikten, sondern im Verstehen des unzweckmäßigen Stiles und dessen Abänderungen zur sozial nützlichen Seite hin. Adlers Individualpsychologie ist im Grunde gar keine »Tiefenpsychologie«, weil er das Unbewusste im Sinne eines scharfen Gegensatzes zum Bewusstsein leugnet. Vielmehr bestehen Verbindungen zwischen der Charakterologie Ludwig Klages (1872–1956) und der Individualpsychologie [13].
10.1
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Individualpsychologie – eine Begriffsbestimmung
Lebensplan
» Die vergleichende Individualpsychologie erblickt in jedem psychischen Geschehen den Abdruck, sozusagen ein Symbol des einheitlichen gerichteten Lebensplanes, der in der Psychologie der Neurosen und Psychosen nur deutlicher zutage tritt. [1]
«
Adler sieht in dem »gut entwickelten Gemeinschaftsgefühl den Mut zur Unabhängigkeit, zur Bekämpfung gesellschaftlicher Übelstände und das Streben nach einer besseren Zukunft im Interesse der Menschheit« ([13] S. 37).
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Minderwertigkeitsgefühl und Gemeinschaftsgefühl
Im Vorwort zur zweiten Auflage (1919) »Über den nervösen Charakter« wird das noch deutlicher:
» Zwischen den beiden Auflagen dieses Buches liegt der Weltkrieg mit seinen Fortsetzungen, liegt die furchtbarste Massenneurose, zu der sich unsere neurotisch-kranke Kultur, zerfressen von ihrem Machtstreben und ihrer Prestigepolitik entschlossen hat. […] (Der entsetzliche Gang der Zeitereignisse) entschleiert sich als das dämonische Werk der allgemein entfesselten Herrschsucht, die das unsterbliche Gemeinschaftsgefühl der Menschheit drosselt oder listig missbraucht. […] In unserem Sinne einen Menschen schauen und erkennen heißt: ihn den Verirrungen seines wunden aufgepeitschten, aber ohnmächtigen Gottähnlichkeitsstrebens entreißen und der unerschütterlichen Logik des menschlichen Zusammenlebens geneigt machen, dem Gemeinschaftsgefühl. […] Ein Rückblick auf die Entwicklung meiner Individualpsychologie ergibt den ununterbrochenen Ausbau eine Seelenforschung auf drei ineinandergreifenden Ebenen: dem kindlichen Minderwertigkeitsgefühl entsprießt ein gereiztes Streben nach Macht, das an den Forderungen der Gemeinschaft und an den Mahnungen des physiologisch und sozial begründeten Gemeinschaftsgefühls seine Schranken findet und in die Irre geht […] jede Menschenseele im einheitlichen Fortschreiten nach einem Ziel der Überlegenheit zu erblicken, so dass Bewegungen, Charakterzüge und Symptome unweigerlich über sich hinausweisen. Die gewonnenen Erkenntnisse werden (den ernsten Leser) dann freilich mit einer Lebensaufgabe belasten: vorauszugehen bei dem Abbau des Strebens nach Macht und bei der Erziehung zur Gemeinschaft. [1]
«
183 10.2 • Leben und Einführung in sein Werk
> Die Individualpsychologie Adlers ist das erste aufgezeichnete, einheitliche und vollständige System der Menschenkenntnis.
10
als ein bemitleidenswertes Individuum, das sich durchsichtiger Tricks bedient, um seinen Lebensaufgaben auszuweichen. Wilhelm Stekel behauptete, die Neurose ent-
10.2
Leben und Einführung in sein Werk
Adlers Verwandtschaft mütterlicherseits ist
zahlreich vertreten. Zum Vater bestand eine gute Beziehung, mit der Mutter hatte er jedoch Schwierigkeiten. Sein älterer Bruder war hochintelligent und begabt, von ihm fühlte sich der junge Alfred in den Schatten gestellt. Als Kind litt Adler an Rachitis und war deshalb lange Zeit bandagiert, was ihn wohl zur Idee der Organminderwertigkeit führte. Ließen seine mathematischen Kenntnisse lange zu wünschen übrig, verblüffte er eines Tages seinen Lehrer, indem er als einziger der Klasse eine schwierige Aufgabe zu lösen vermochte. Seither galt er als »mathematisches Wunderkind«. Nach seinem Studium der Medizin an der Universität Wien promovierte Adler 1895. In Wien lernte er auch seine spätere Frau Raissa Timofejewna Epstein kennen, die der russischen Intelligenzija entstammte. Adler und Freud begegneten sich 1902. Er besuchte fortan die Diskussionsrunden der Mittwochabendgesellschaft, verließ aber 1911 den psychoanalytischen Kreis. Im gleichen Jahr erwarb er die österreichische Staatsbürgerschaft und gründete seine Gesellschaft für Individualpsychologie. Im Jahr 1907 veröffentlichte er seine »Studie über Minderwertigkeit von Organen«. In 1912 erschien, wie oben erwähnt, »Über den nervösen Charakter«, in 1927 schließlich »Menschenkenntnis«. Bislang existiert noch keine Gesamtausgabe seiner Werke. > Freud als Pessimist sah den Neurotiker als Opfer einer grandiosen und tragischen Selbsttäuschung der Menschheit. Adler als Optimist sah den Neurotiker
stehe oft aus der Verdrängung von Religion und Moral. In seiner Schrift über den telepathischen Traum schreibt Stekel: Träume suchen immer die Zukunft zu ergründen; sie zeigen uns die Einstellung zum Leben, die Lebenswege und Lebensziele (1920). Das Kind setzt sich selbst, nach Stekel, unerreichbare Ziele und der heranwachsende Mensch sagt sich allmählich von ihnen los. Der Neurotiker ist dazu nicht fähig und seine Krankheit ist die Folge dieses zerbrochenen Strebens. Das zentrale Problem der Selbsterziehung ist der »Mut zu sich selbst«. z
Organminderwertigkeit psychischer Hermaphroditismus
Unter Klinikern war die Organminderwertigkeit längst bekannt als »locus minoris resistentiae«. Sie hat ihren Ursprung in einem Mangel der fötalen Entwicklung, funktioneller Minderwertigkeit oder Störung der normalen Entwicklung der Funktion eines Organs. Sie kann mit Hilfe von Kompensation zu günstigen Ergebnissen führen. Freud hat immer behauptet, die Neurose entwickle sich auf der Grundlage einer Prädisposition. Adler behauptet, es gebe keine Organminderwertigkeit ohne sexuelle Minderwertigkeit. 1910 entwarf er eine Theorie des psychischen Hermaphroditismus. Neurotische Patienten entdecken bei sich sekundäre Geschlechtsmerkmale des Gegengeschlechts. Daraus entstehen Minderwertigkeitsgefühle, welche in der Form des »männlichen Protestes« kompensiert werden. z
Frühkindliche Situation, Fiktionalismus, Teleologisch
Nach 1911 formulierte er seine Auffassung zur Neurose neu: Er behielt von Freud die Bedeutung der frühkindlichen Situation bei. Die soziale Pathogenese und die Rolle der Organ-
184
10
Kapitel 10 • Alfred Adlers (1870–1937) Individualpsychologie
minderwertigkeit, die Aggressionstriebe und den psychischen Hermaphroditismus behielt er ebenfalls bei. Hans Vaihingers (1852–1933) Philosophie des »Als-Ob« (Fiktionalismus), eine eigenständige Form des Pragmatismus, gab ihm Inspiration für seine neuen Ideen. Jedes Symptom zeigt gleichzeitig Merkmale der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft. Das Seelenleben ist teleologisch orientiert. Die Dinge laufen ab, als ob der menschlichen Tätigkeit eine Idealnorm (fiktive) gesetzt wäre, welche die absolute Wahrheit oder absolute Logik des sozialen Lebens wäre. Der Grad der Abweichung gilt als Abnormität. Der Ursprung der Neurosen liegt, gemäß »Über den nervösen Charakter« 1912, in den aus der Organminderwertigkeit entstehenden Gefühlen. Diese setzt einen komplizierten Prozess der Selbstbehauptung in Gang, welcher zu einem Dauerfaktor der psychischen Entwicklung wird. Minderwertigkeitsgefühle werden nicht nur durch Organminderwertigkeit, sondern auch durch den Konkurrenzkampf unter den Geschwistern und die Stellung in der Geschwisterreihe hervorgerufen. z
Streben nach Überlegenheit
Allen Neuroseformen gemeinsam ist eine gesteigerte Aufmerksamkeit sich selbst und seinen Beziehungen gegenüber, eine Herabsetzung der Erregungsschwelle und eine Schärfung der Voraussicht. Subjektiv wird das als Streben nach Überlegenheit und Furcht, übertroffen zu werden, erlebt. Der Neurotiker nimmt Zuflucht zu einer Leitlinie und neurotischer Lebenstechnik. Diese Hilfsmittel werden mit der Zeit zum Selbstzweck. Der Neurotiker lebt in einer fiktiven Welt, die um Gegensatzpaare herum angeordnet ist. Gegensatzpaare eines Neurotikers (Leitlinie) 5 Minderwertigkeitsgefühl versus Inflation 5 Unten versus oben
5 Weiblich versus männlich 5 Niederlage versus Triumph
Im Seelenleben geschieht alles, als ob… bestimmte Axiome wahr wären. z
Männlicher Protest
Der »männliche Protest« ist die Reaktion der Frau auf ihre untergeordnete Stellung, beim Mann Kompensation des Zweifels an seiner Geschlechtsrolle oder Furcht, sie im Leben nicht verwirklichen zu können. Er betont den symbolischen Charakter sexuellen Verhaltens. Der soziale Faktor oder soziale Defekt liegt am Ursprung der Neurose. Der Neurotiker spielt mit Fantasien herum und glaubt schließlich, sie seien Realität: Substantiation. Wenn sich die substantiierte Fiktion der Realität stellen muss, entsteht die kritische Konfrontation. Sein Buch »Menschenkenntnis« (1927) ist eine pragmatische oder konkrete Psychologie, welche dem Menschen Prinzipien und Methoden, praktisches Wissen über sich selbst zu erlangen, zur Verfügung stellt. > Die Individualität manifestiert sich sehr früh. Das Spielen ist eine spontane Vorbereitung auf die Zukunft, aber auch Ausdruck schöpferischer Aktivität, des Gemeinschaftsgefühls und des Willens zur Macht. Das Fehlen von Berufswünschen weist auf eine schwere Störung im Unbewussten. Adler hat nie eine detaillierte Darstellung sei-
ner psychotherapeutischen Technik gegeben. Franz Joseph Gall (1758 – 1828), der Begründer der Phrenologie (7 Abschn. 2.4.1), habe die Adlersche Methode schon 1825 beschrieben ([15] S. 858). Karen Horney gab wie Adler die tradi-
tionelle Neurosenklassifikation auf und konzentriert sich stattdessen auf nur eine allgemeine Neurose mit mehreren Arten der Entwicklung: die nachgiebige (unterwürfige), die aggressive,
185 10.3 • Persönlichkeitstheorie und ihre Entwicklung
vom Willen zur Macht gelenkte, und die sich zurückziehende Art. Das Streben nach Selbstverwirklichung sei der Haupttrieb des Menschen, der durch das idealisierte Bild des Individuums von sich selbst behindert werde. Erich Fromm meint dazu: Ziel der menschlichen Entwicklung ist die Freiheit. Neurose ist ein Missbrauch der Freiheit oder eine Flucht vor ihr ([15] S. 865). Ich erwähne solche Ansätze, weil darin stets ein Funken Wahrheit zum Verständnis der Seele liegt.
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Adler den Aggressionstrieb dem allgemeinen
Streben nach Überwindung unter ([13] S. 51–58). Zärtlichkeitsbedürfnis (1908) Ist der Vorläufer des
Begriffes »Gemeinschaftsgefühl«. Sublimieren heißt bei ihm, zum Nutzen der Gemeinschaft verwenden.
10.3.2
Männlicher Protest und Kritik an Freud
Minderwertigkeitsgefühl und männlicher Protest
10.3
Persönlichkeitstheorie und ihre Entwicklung
Im Folgenden vertraue ich gern der sorgfältigen Darstellung des Ehepaares Ansbacher ([13] S. 44ff.).
10.3.1
Kompensation und Verschränkung
Kompensation Organminderwertigkeit und Kompensation (1907)
Minderwertigkeit ist ein relativer Begriff. Die Kompensationstheorie ist der Homöostase (Walter B. Cannon) ähnlich. Der Begriff des Minderwertigkeitsgefühls erscheint erst drei Jahre später. Triebverschränkung und Triebverwandlung Im Verlauf der Verschränkung ergeben ein oder mehrere Triebe die »Hauptachse«, ein Begriff, der schließlich zu dem des Lebensstils entwickelt wurde.
(1910) Die sexuellen Termini Adlers sind nicht
wörtlich zu nehmen: männlich und weiblich sind Metaphern für Stärke und Schwäche. Psychologischer Hermaphroditismus heißt, »dass ein Mensch gewöhnlich sowohl unterwürfige als auch aggressive Züge hat«. Männlicher Protest bedeutet einige Jahre später Streben nach Überlegenheit und Überwindung ([13] S. 64). »Die Neurose setzt nun ein beim Scheitern des männlichen Protestes auf einer Hauptlinie. Die weiblichen Züge erhalten scheinbar das Übergewicht, allerdings nur unter fortwährenden Steigerungen des männlichen Protestes und unter krankhaften Versuchen eines Durchbruchs auf männlichen Nebenlinien« ([13] S. 68). Der männliche Protest ist bei Freud der Kastrationskomplex, bei Knaben die Penisangst und bei Mädchen der Penisneid. Minderwertigkeitsgefühl – Trotz und Gehorsam (1910) Der männliche Protest ist die Überkom-
pensation eines Minderwertigkeitsgefühls. Letzteres bezeichnet er als Einstellung. Kritik an Freuds Sexualtheorie (1911) Die Kritik
Aggressionstrieb (1908) Gemeint ist der Trieb
Adlers an der Sexualtheorie gilt als Ausgangs-
zur Erkämpfung einer Befriedigung. Die Triebe sind in einem Feld organisiert. Freud anerkannte einen Aggressionstrieb erst 1920–1923 als Destruktions- oder Todestrieb. Schließlich ordnete
punkt für die Entfremdung der beiden. Kritik an weiteren Begriffen Freuds (1911) Freud
hoffte im Gegensatz zu Adler, jegliche Psychologie auf Physiologie und Chemie zurückführen
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Kapitel 10 • Alfred Adlers (1870–1937) Individualpsychologie
können ([13] S. 77). Die Frage lautet: ist das treibende Moment in der Neurose die Verdrängung, wie Freud meint, oder die andersartige irritierte Psyche nach Adler? Nach Freud entsteht Kultur aus der Verdrängung. Erst 1920 erkannte Freud den Ich-Trieben den gleichen libidinösen Charakter zu wie dem Sexualtrieb. Soziale Werteanstelle von Trieben (1911) »Das Ge-
fühl des Neurotikers spricht es deutlich aus: Ich will die Frau durch den Sexualverkehr entwerten, herabsetzen. Er lässt sie dann auch leicht stehen und wendet sich anderen zu. Ich habe dies den Don-Juan-Charakter des Neurotikers genannt, es ist nichts anderes als Freuds »Liebesreihe«, die er phantastisch deutet.« Der scheinbare »Ödipuskomplex« ist ein kleiner Teil der überstarken Dynamik des männlichen Protestes. Diskussion über Adlers Ideen (1911) Adler hat die
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meisten Freudschen Beobachtungen anerkannt, aber seine Interpretationen abgelehnt. Er ging über die wörtlichen Interpretationen Freuds hinaus und betrachtete sie als symbolische Ausdrucksformen ([13] S. 88).
10.3.3
Fiktionalismus und Finalität
Hans Vaihinger war ein bedeutender Schüler Kants und Anhänger Schopenhauers. Er ent-
wickelte seinen idealistischen Positivismus als deutsche Form des Pragmatismus. 1911 erschien seine »Philosophie des Als Ob«. Diese Idee übte einen großen Einfluss auf Adler aus. Fiktionen sind Ideen, welche in der Wirklichkeit kein Gegenstück haben, aber die nützliche Funktion ausüben, uns zu befähigen, mit der Wirklichkeit besser fertig zu werden. So ist z. B. »All men are created equal« eine Fiktion, eine Feststellung im Gegensatz zur Wirklichkeit, jedoch als Ideal von großem praktischem Wert im Alltagsleben. Während sich die Hypothese einer Probe auf die Wirklichkeit unterwirft und den
Nachweis ihrer Richtigkeit verlangt, ist die Fiktion ein bloßes Hilfsgebilde, ein Gerüst, das abgebrochen wird, wenn es nicht weiter gebraucht wird. Nach Vaihinger ist das Subjektive fiktiv. Im Verlauf ihres Wachstums schafft sich die Seele aus ihrer eigenen Natur, aber nur auf äußere Reize hin, die Formen des Anschauens und Denkens, gewisse Begriffe und logische Gebilde. Fictio kommt von fingere, bilden, formen, gestalten, bearbeiten, darstellen, sich vorstellen, denken, einbilden, annehmen, entwerfen, ersinnen, erfinden. Das freigestaltende Moment ist das hervorstechendste Merkmal. Im Grunde ist es eine schöpferische Funktion zur Lebensgestaltung, doch Adler verwendet das Wort eher im negativen Sinn des »Als Ob«. Der Nominalismus erklärt alle Allgemeinbegriffe für ficta, fictiones. »Unter Nominalismus versteht man jene Richtung, welche behauptet, dass die sog. Universalia, nämlich die Gattungs- oder Allgemeinbegriffe, wie z. B. die Schönheit, das Gute, das Tier, der Mensch usw. nichts seien als Nomina (Namen) oder Wörter, spöttisch auch »flatus vocis« genannt« (Jung, Gesammelte Werke 6, 40; im weiteren Verlauf »GW«). Positiven Sinn der Fiction nennen wir die Einsicht, dass eine Fiction einen hohen praktischen Wert hat, indem sie als Erkenntnismittel dient. Eine Fiktion ist nicht nur der »normale Durchschnittsmensch«, auch der absolut gesunde Mensch, oder willkürliche Bestimmungen in der Wissenschaft wie die Meridiane, der Nullbreitengrad, Wasser als Maßstab des spezifischen Gewichts, die Himmelsbewegung als Maß der Zeit, welche willkürlich fixiert wurden. Licht und Finsternis, Schwarz und Weiß, Leben und Tod sind lauter Kunstprodukte denkender Abstraktion, notwendig als bloßer Anhalt, und in der Anwendung aufs Wirkliche mit Vorsicht zu gebrauchen. Alles Erkennen ist Apperzipieren durch ein anderes. Es handelt sich also stets um eine Analogie beim Begreifen. Nach Adler (nervöser Charakter) ist analogisches Denken ein Kunstgriff, Probleme zu vereinfachen, um sie besser zu be-
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187 10.3 • Persönlichkeitstheorie und ihre Entwicklung
wältigen. Der Begriff der menschlichen Freiheit ist eine praktische, ethische Fiktion, um menschliche Handlungen als verantwortlich zu betrachten. Der Begriff widerspricht nicht nur der beobachtbaren Wirklichkeit, sondern auch sich selbst, denn eine absolute, freie, zufällige Handlung ist sittlich so wertlos wie eine absolut notwendige. Dieses wichtige Begriffsgebilde hat sich mit immanenter Notwendigkeit im Laufe der Entwicklung gebildet, weil nur auf seiner Grundlage höhere Kultur und Sittlichkeit möglich ist. Das Ideal ist eine praktische Fiktion. Das Atom ist eine Fiktion. Die ästhetische Fiktion dient dem Zweck, in uns gewisse erhebende Empfindungen zu wecken. Die Fiktion ist nur ein bewusster, praktischer, fruchtbarer Irrtum. Wahrheit ist nur der zweckmäßigste Grad des Irrtums, und Irrtum der zweckmäßigste Grad der Vorstellung, der Fiktion ([13] S. 92ff.). > »Große Irrtümer können Neurosen hervorrufen, kleine Irrtümer dagegen einen fast normalen Menschen.« ([3] 1929 b) Jung hat dem Streit zwischen Nominalismus und
Realismus eine wichtige Abhandlung gewidmet. Der Realismus behauptet »die Existenz der Universalia ante rem (vor der Sache), nämlich dass die Allgemeinbegriffe ihre Existenz für sich nach Art der platonischen Ideen hätten.« (GW 6, 41) Der Nominalismus ist eine skeptische Strömung, welche die dem Abstrakten eigentümliche Sonderexistenz bestreiten will. Es ist eine Art von wissenschaftlichem Skeptizismus. Sein Realitätsbegriff fällt notwendigerweise zusammen mit der sinnenfälligen Realität der Dinge, deren Individualität das Reale darstellt gegenüber der abstrakten Idee. Das hilft uns, die Psychologie Adlers, welche mit seiner persönlichen identisch ist, besser zu verstehen. Der Nominalismus drückt seine Wahrheit durch Sprache (Worte) aus. Ein Ding ist in Wirklichkeit niemals etwas Allgemeines, sondern immer ein Gesondertes, eine individuelle Tatsache. Die Macht der Illusion ist nichts
anderes als die primitive magische Macht des Wortes, die dem Begriff heimlicherweise innewohnt.
» Es hat einer langen Entwicklung bedurft, bis die Menschen einmal gründlichst einsahen, dass das Wort, der flatus vocis, nicht auch jedesmal eine Realität bedeute und bewirke. Aber die Tatsache, dass gewisse Menschen dies einsahen, hat noch lange nicht vermocht, die abergläubische Macht, die dem formulierten Begriff innewohnt, in allen Köpfen auszurotten. (GW 6, 65)
«
Psychologie der Phantasie In »Psychologische Typen« (GW 6) schreibt Jung:
» Wie die Psychologie die Phantasie bewertet, solange sie bloß Wissenschaft ist, zeigen uns die bekannten Ansichten Freuds und Adlers. Die Freudsche Deutung reduziert die Phantasie auf die kausalen elementaren Triebprozesse. Die Adlersche Auffassung dagegen reduziert sie auf die elementaren finalen Absichten des Ich. Erstere ist eine Trieb-Psychologie, letztere eine Ich-Psychologie. Der Trieb ist ein unpersönliches biologisches Phänomen. Eine darauf basierte Psychologie muss naturgemäß das Ich vernachlässigen, denn das Ich verdankt seine Existenz dem principium individuationis, der individuellen Differenzierung, die kein allgemeines biologisches Phänomen ist wegen ihrer Vereinzelung. Obschon allgemeine biologische Triebkräfte auch die Persönlichkeitsbildung ermöglichen, so ist doch eben gerade das Individuelle essentiell verschieden vom allgemeinen Trieb, steht dazu sogar im striktesten Gegensatz, wie das Individuum als Persönlichkeit sich immer von der Kollektivität unterscheidet. Sein Wesen besteht genau in dieser Unterscheidung…
«
188
Kapitel 10 • Alfred Adlers (1870–1937) Individualpsychologie
Er weist jedoch darauf hin:
Zu Adler hingegen sagt er:
» Damit ist nun keineswegs gesagt, dass z. B.
» Umgekehrt ist Adlers Psychologie charakteri-
die Triebpsychologie nicht auch eine Theorie des Ichprozesses aufstellen könnte. Sie kann das sehr wohl tun, aber in einer Art und Weise, die dem Ichpsychologen wie ein Negativ zu seiner Theorie erscheint. Daher kommt es, dass bei Freud die »Ichtriebe« zwar gelegentlich auftauchen, in der Hauptsache aber ein bescheidenes Dasein fristen. Umgekehrt erscheint bei Adler die Sexualität beinahe wie ein bloßes Vehikel, das den elementaren Machtabsichten in dieser Weise dient. Das Adlersche Prinzip ist die Sicherung der persönlichen Macht, die sich dem Trieb superponiert. Bei Freud ist es der Trieb, der sich das Ich dienstbar macht, so dass das Ich nur als eine Funktion des Triebes erscheint.
siert durch den zentralen Begriff der »Ichsuperiorität«. Der Mensch erscheint in erster Linie als ein Ichpunkt, der unter keinen Umständen dem Objekt unterliegen darf. Während bei Freud das Begehren nach dem Objekt, die Bindung an das Objekt und die dem Objekt gegenüber unmögliche Art gewisser Begehren eine bedeutende Rolle spielen, richtet sich bei Adler alles nach der Superiorität des Subjektes. Freuds Triebverdrängung gegenüber dem Objekt ist bei Adler zur Sicherung des Subjektes geworden. Das Heilmittel ist bei ihm die Aufhebung der isolierenden Sicherung, bei Freud die Aufhebung der Verdrängung, welche das Objekt unerreichbar macht…
» Bei beiden Autoren geht die wissenschaftliche
Und fasst schließlich zusammen:
«
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Tendenz dahin, alles auf das eine Prinzip zu reduzieren und daraus wieder zu deduzieren…
«
Zu Freud führt Jung aus:
» Die Freudsche Psychologie ist charakterisiert durch den zentralen Begriff der »Verdrängung« inkompatibler Wunschtendenzen. Der Mensch erscheint als ein Bündel von Wünschen, die dem Objekt gegenüber nur teilweise anpassbar sind. Seine neurotischen Schwierigkeiten bestehen darin, dass Milieueinfluss, Erziehung und objektive Bedingungen ein Ausleben der Triebe teilweise verhindern. Von Vater und Mutter stammen teils moralisch erschwerende Einflüsse, teils infantile, das spätere Leben kompromittierende Bindungen. Die ursprüngliche Triebveranlagung ist ein unabänderlich gegebenes Etwas, das hauptsächlich durch Objekteinflüsse störende Modifikationen erleidet; daher erscheint ein möglichst ungestörtes Ausleben der Triebe gegenüber passend gewählten Objekten als das nötige Heilmittel…
«
«
»
Das Grundschema ist daher bei Freud die Sexualität, welche die stärkste Beziehung zwischen Subjekt und Objekt ausdrückt; bei Adler dagegen die Macht des Subjektes, welche am wirksamsten gegen die Objekte sichert und dem Subjekt eine jede Beziehung aufhebende und unangreifbare Isolierung gibt. Freud möchte das ungestörte Herausfließen der Triebe an ihre Objekte gewährleisten. Adler aber möchte den feindseligen Bann der Objekte durchbrechen, um das Ich von der Erstickung im eigenen Panzer zu erlösen. Die Freudsche Ansicht dürfte daher im Wesentlichen extravertiert, die Adlersche dagegen introvertiert sein. Die extravertierte Theorie gilt für den extravertierten Typus, die introvertierte Theorie gilt für den introvertierten Typus.
«
»
Freuds sowohl wie Adlers Standpunkt ist einseitig und nur charakteristisch für einen Typus. (GW 6, 88ff.)
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189 10.3 • Persönlichkeitstheorie und ihre Entwicklung
Das fiktive Endziel Freud hielt daran fest, dass »auf dem Gebiet der Psychologie der biologische Faktor der eigentliche Grundfels sei.« ([13] S. 100) Vaihingers Fiktionsbegriff kommt dem sehr nahe, was wir heute den subjektiven oder persönlichen Bezugsrahmen oder das phänomenale Feld nennen. Fiktive Gebilde sind Schöpfungen des Einzelnen. Das Individuum ist sich weitgehend des Zieles nicht bewusst. Das fiktive Endziel… 4 wurde für Adler zum Prinzip der inneren, subjektiven Kausalität der psychischen Ereignisse. 4 stellt eine Schöpfung des Individuums dar und ist weitestgehend unbewusst. 4 wurde auch zum Prinzip der Einheitlichkeit der Persönlichkeitsstruktur. 4 wurde als Basis für die Orientierung in der Welt für das Subjekt genommen. 4 galt als ein Aspekt der Kompensation für empfundene Minderwertigkeiten.
Schließlich gab Adler den Ausdruck fiktiv überhaupt auf, die wesentlichen Komponenten des Adlerschen Zielbegriffs blieben: das Subjektive, das Geschaffene und das Unbewusste. Die wichtigste Frage des gesunden und kranken Seelenlebens lautet nicht; woher, sondern wohin? ([13] S. 100–103) »Wir betrachten den Menschen so, als ob nichts in seinem Leben kausal bedingt wäre und jede Erscheinung in seinem Leben auch hätte anders sein können.« (1923) Persönlichkeitsideal »Das Seelenleben des Men-
schen richtet sich wie eine von einem guten dramatischen Dichter geschaffene Person nach ihrem V. Akt.« (1924) »Die Person trägt dann die durch ihr fiktives Ziel geforderten Charakterzüge, so wie die Charaktermaske – persona – des antiken Schauspielers zum Finale der Tragödie passen musste.« (1912) »Das Persönlichkeitsideal ist als Richtungspunkt von der Sicherungstendenz geschaffen und trägt alle Leistungen und
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Gaben fiktiv in sich, um die sich das disponierte Kind verkürzt glaubt.« Das Endziel […] ist die Gottheit im weitesten Sinne. Wir könnten aus diesen speziellen Zielen [= Haltung zum Mitmenschen, zum Beruf, als Mitglied der Gemeinschaft, in der gewählten Laufbahn, zum anderen Geschlecht] immer schließen, welchen Sinn das Individuum in seinem Dasein gefunden hat und wie es diesen Sinn zu realisieren beabsichtigt ([13] S. 107).
10.3.4
Streben nach Überlegenheit
Es war der Neurotiker, den Adler darstellte, wie er nach Erhöhung oder nach Sicherung des Persönlichkeitsgefühls strebt. Wenn er vom Neurotiker ausgehend verallgemeinert, beschreibt er den Normalen, als ob er sich ebenso benehme. Der Neurotiker war der Bezugsrahmen, die Norm für jeglichen Vergleich. Später bekam »oben« die Bedeutung von Vollkommenheit, Vollendung oder Überwindung, alles Zielpunkte, die […] nicht mehr den Neurotiker als Bezug nehmen, sondern den Menschen im Allgemeinen, das geistig gesunde Individuum. Auch der Abnormale strebt nach Vollkommenheit, obwohl dies kaum zu erkennen ist. Der Wandel trat zwischen 1920 und 1930 ein: Der ideale Normale hat einen idealen Betrag von Gemeinschaftsgefühl, während sich der Neurotiker mehr mit seinem Persönlichkeitsgefühl befasst und ein persönliches Ziel der Überlegenheit besitzt. Der Neurotiker ist auf seine private Intelligenz und im Streben auf sich selbst ausgerichtet, wogegen der Normale »common sense« orientiert ist. Das Streben nach Vollkommenheit »Der Auftrieb
von minus nach plus endet niemals. Der innere Bezug von unten nach oben hört niemals auf.« »Der Beginn der Menschheit und der sich immer wiederholende Beginn eines menschlichen Lebens drückt mit jeder psychologischen Handlung aus: »Leiste! Erhebe Dich! Erobere!« […]
190
Kapitel 10 • Alfred Adlers (1870–1937) Individualpsychologie
Das unaufhörliche Suchen nach Wahrheit, das immer unbefriedigte Streben nach einer Lösung der Probleme des Lebens, gehört zu dieser Sehnsucht nach irgendeiner Art von Vollkommenheit.« ([13] S. 114) »Es ist gar keine Frage, dass der Gottesbegriff eigentlich jene Bewegung nach Vollkommenheit in sich schließt als ihr Ziel, und dass er dem dunklen Sehnen des Menschen, Vollkommenheit zu erreichen, als konkretes Ziel der Vollkommenheit am besten entspricht.« (1933) ([13] S. 117) Triebbefriedigung »Was wir unter Trieb verstehen, ist richtungslos…« »Das Gefühl der Unzulänglichkeit ist ein positives Leiden und währt mindestens so lange, als eine Aufgabe, ein Bedürfnis, eine Spannung nicht gelöst ist.« ([13] S. 128f.)
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10.3.5
Gemeinschaftsgefühl
Das gesamte Individuum muss innerhalb eines umfassenden Ganzen, der Gruppe, gesehen werden. Soziales Eingebettetsein Das soziale Eingebettet-
sein des Individuums wird als »absolute Wahrheit« bezeichnet, d. h. die nützliche Fiktion oder Arbeitshypothese besteht in der eisernen Logik des menschlichen Zusammenlebens. »Ein Idealbild, nach dem wir den Einzelnen messen, kommt nur unter Berücksichtigung seines Wertes, seines Nutzens für die Allgemeinheit zustande.« (1927) ([13] S. 134f.) Das Gemeinschaftsgefühl »Ist die angeborene
Fähigkeit, durch die das Individuum die Wirklichkeit, d. h. die soziale Situation, beantworten kann. Das Gemeinschaftsgefühl ist eine angeborene latente Kraft, welche bewusst entwickelt werden muss. Die Aufgabe der Mutter ist es, die Möglichkeit zu entwickeln und das Gemeinschaftsgefühl auf größere Kreise auszudehnen.
»Identifizierung ist unumgänglich notwendig, um zu einem Gemeinschaftsleben zu kommen.« (1928) ([13] S. 140) Gemeinschaftsgefühl und Intelligenz »Diejeni-
ge Intelligenz ist Vernunft, in der das Gemeinschaftsgefühl enthalten ist.« »Die private Intelligenz ist scharf zu unterscheiden von dem, was man Vernunft, »common sense«, nennen muss.« ([13] S. 154)
10.3.6
Lebensstil
»Für uns sind Menschen keine Typen, weil jede Person für sich einen individuellen Lebensstil hat.« (1929) ([13] S. 174f.) Die Definition von 1929 (Minderwertigkeitsgefühl führt zu Bewegung und Handlung: Lebensstil) wurde in späteren Schriften verschiedentlich mit dem Ich gleichgesetzt (1931), der einem Menschen eigenen Persönlichkeit (1931), der Einheit der Persönlichkeit (1931), der individuellen Form der schöpferischen Aktivität (1935), der Methode, Problemen ins Auge zu sehen (1931), der Meinung von sich selbst und den Lebensproblemen (1933), der ganzen Einstellung zum Leben (1929) u. a. 1927 finden wie Lebensschablone und Bewegungslinie als Synonyme. »Der Lebensstil verfügt über alle Ausdrucksformen, das ganze über die Teile.« (1933) »Was häufig als Ich bezeichnet wird, ist nichts anderes als der Lebensstil des Individuums.« (1935) »Es ist das Ich, das ins Leben hineinwächst, das wir später als schöpferische Kraft ersehen.« (1932) »Wer bewegt das Seelenleben und in welche Richtung bewegt er? Immer handelt es sich um das Ich.«
191 10.3 • Persönlichkeitstheorie und ihre Entwicklung
Einmaligkeit und Subjektivität > Adler betrachtet das Individuum als Ganzes, nicht einzelne Merkmale, als die Variante ([13] S. 180).
»In dem Moment, wo wir den konkreten Zielbegriff besser fassen können, da taucht eine ungeheure Schwierigkeit auf: dass wir es mit tausend Varianten zu tun haben, immer mit einem einmaligen Fall, mit einer einmaligen konkreten Zielsetzung.« (1932) »Ein klassisches Beispiel für dieses Spiel subjektiver Ideen im menschlichen Handeln liefert uns Cäsars Landung in Ägypten: Als Cäsar vom Schiff ans Ufer sprang, stolperte er und fiel zu Boden. Die römischen Soldaten hielten dies für ein schlechtes Omen. Trotz ihres Mutes hätten sie sich sicherlich umgedreht und wären zurückgegangen, wenn nicht Cäsar seine Arme ausgebreitet und gerufen hätte: »Ich umarme dich, Afrika!« Hieraus können wir erkennen, wie wenig kausal die Struktur der Wirklichkeit ist, und wie ihre Auswirkungen durch die einheitliche Persönlichkeit geformt und bestimmt werden können.« (1930) Die Einheit der Persönlichkeit, ihr besonderer Lebensstil und ihr Ziel bauen sich nicht auf der objektiven Wirklichkeit auf, »sondern auf der subjektiven Anschauung, die der Mensch aus den Tatsachen des Lebens gewinnt.« (1929) Durch sein Apperzeptionsschema lebt jeder Mensch in einer subjektiven Welt. Durch diesen Begriff vom Apperzeptionsschema ist die Individualpsychologie als eine subjektivistische, phänomenologische und auf Wahrnehmung beruhende Psychologie bestimmt. »Die aus der Schablonisierung erwachsende Perspektive ist die Grundlage dessen, was man als Komplex bezeichnet.« (1935) »Es kann sehr wohl sein, dass sich in das ärztliche Streben oder in der Berufswahl des Geistlichen der Erlöserkomplex hineinschleicht.« (1935)
10
Entwicklung des Lebensstils, Bedeutsamkeit der frühen Kindheit Hier nimmt Adler wieder die Stellung des »weichen« Determinismus ein, indem er den Ursprung des Bewegungsgesetzes der »freien schöpferischen Kraft« des Kindes zuschreibt.« Die Betonung der Bedeutsamkeit der frühen Kindheit (bis 5 Jahre) für die spätere Entwicklung ist augenscheinlich derjenigen Freuds ähnlich. Freud nahm jedoch an, dass auf dieser Altersstufe gewisse objektive Ereignisse das Kind prägen, wohingegen Adler glaubte, dass das Kind auf dieser Altersstufe aus eigener schöpferischer Kraft heraus sich seine subjektive Meinung von der Welt und von sich bildet, obwohl es dabei seine, ihn dabei umgebende, objektive Situation verwendet. »Was bei dieser Ausschaltung der Lebensstil übrig lässt, bleibt im Seelenleben bestehen und wirkt sich aus »unbewusst«, wie die Autoren zu sagen pflegen, besser unverstanden, weil der betreffende Lebensstil die von ihm gemodelten Eindrücke einer weiteren Kritik sorgfältig entzieht. Sein Weltbild kann der Neurotiker nur mit Hilfe solcher der Kritik entzogenen Hilfskräfte aufrechterhalten.« (1936) »Jeder trägt eine »Meinung« von sich und den Aufgaben des Lebens in sich, eine Lebenslinie und ein Bewegungsgesetz, das ihn festhält, ohne dass er es versteht, ohne dass er sich darüber Rechenschaft gibt.« (1933) Adler erzählt von sich: »Mit fünf Jahren erkrankte ich an einer Lungenentzündung und wurde vom Arzt aufgegeben. Ein zweiter Arzt schlug doch eine Behandlung vor, und ich war in wenigen Tagen gesund. […] Seit dieser Zeit entsinne ich mich, dass ich mir stets meine Zukunft als Arzt vorgestellt habe…« (1924) ([13] S. 188f.)
Organdialekt, Sprache des Körpers Die Organminderwertigkeit war 1907 der Ursprung gewisser körperlicher und seelischer Vorgänge kompensatorischer Art. Später wurde
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Kapitel 10 • Alfred Adlers (1870–1937) Individualpsychologie
sie zum bedeutenden Faktor für die Entwicklung des Individuums. Dann wurde sie zum bevorzugten Mittel, mit dessen Hilfe die Seele sich durch den Körper ausdrückt. »… eine Sprache des Körpers, die ich Organdialekt genannt habe.« (1933) »Jede Emotion findet bis zu einem gewissen Grad irgendwie Ausdruck im körperlichen Bereich.« (1931) ([13] S. 217f.) Schon 1907 machte Jung zusammen mit Frederick W. Peterson Untersuchungen mit dem Galvanometer, einem Instrument zur Messung des Hautwiderstandes. Damit konnten sie nachweisen, dass Emotionen stets mit körperlichen Innervationen verbunden sind. Die Verminderung des Hautwiderstandes wurde eine Zeitlang sogar als »Lügendetektor« in der Kriminologie verwendet. Die Emotion ist die Brücke, über welche Psyche und Soma zusammenhängen (GW 2, 1048ff.).
10
10.3.7
Neurotische Disposition
Neurose oder Verhaltensstörung Ein Individuum,
das eine falsche Meinung von sich und der Welt hat, d. h. ein Mensch mit falschen Zielen und einem falschen Lebensstil. Es greift nach verschiedenen Formen von abnormalem Verhalten, um seine Meinung von sich zu sichern, wenn er sich Situationen gegenüber sieht, von denen er glaubt, dass er ihnen aufgrund seiner falschen Anschauungen und der sich daraus ergebenden unzulänglichen Vorbereitung nicht erfolgreich begegnen kann. Der Fehler liegt darin, dass er sich mit sich beschäftigt, statt die menschliche Zusammengehörigkeit in Betracht zu ziehen. Das Individuum ist sich dieser Vorgänge nicht bewusst. »In der Neurose findet man stets das meist hochgesteckte Ziel einer persönlichen Überlegenheit.« (1935) »Die Neurose ist die natürliche, folgerichtige Entwicklung eines wenig aktiven, von persönlichem, egozentrischem Streben erfüllten, daher in der Entwicklung des Gemeinschaftsgefühls zurückgebliebenen Kin-
des.« (1935) »Der Neurotiker zeigt von Beginn seines Lebens den »verzärtelten Lebensstil«, der den sozialen Aufgaben des Lebens nicht gewachsen ist.« (1935) ([13] S. 231f.) Unterentwickeltes Gemeinschaftsgefühl Das unter
entwickelte Gemeinschaftsgefühl ist der Schlüssel in Adlers Theorie der psychischen Störungen, weil es auf die Wahrnehmung, die Vernunft und die Wertbildung einen negativen Einfluss ausübt. »Deshalb wird man in der Neurose stets das aus der frühesten Kindheit stammende verstärkte Minderwertigkeitsgefühl wieder finden, demzufolge der Patient immer nach Erleichterungen (gesellschaftlich, beruflich, in der Sexualität) sucht, seinen Aktionskreis erheblich einschränkt und nicht selten im Todeswunsch diese Sehnsucht nach Erleichterung zum Ausdruck bringt. Aber auf der unnützlich, gemeinschaftswidrigen Seite des Lebens peitscht ihn sein verstärktes Minderwertigkeitsgefühl einem Ziel der freilich nur persönlichen Überlegenheit zu oder dem Schein einer Überlegenheit, die meist auf Kosten der Anderen gesucht wird.« (1929) Minderwertigkeits- und Überlegenheitskomplex
Adler benutzte den Terminus erstmals 1926
in Amerika, was so populär wurde, dass der Spitzname »Minko« aufkam. Zuerst benutzte er es als synonym für Minderwertigkeitsgefühl (1925–1930). Dann verwendete er ihn – weil das Wort »Komplex« inzwischen Allgemeingut geworden war – für abnorm gesteigerten Minko, dann als Ausdruck dafür, »nicht stark genug zu sein, ein gegebenes Problem auf sozial nützliche Weise zu lösen.« (1935) Ein Mensch, der sein Minderwertigkeitsgefühl nicht durch Leistung überwinden kann, »wird versuchen, sich selbst zu hypnotisieren oder sich selbst zu betäuben, und zwar mit einem Überlegenheitsgefühl.« (1929) Der Minderwertigkeitskomplex führt zu keiner Kompensation, da er ein bewusstes Symptom ist und als solches selbst Kompensation,
193 10.3 • Persönlichkeitstheorie und ihre Entwicklung
wenn auch eine unbefriedigende.« Wir sollten nicht überrascht sein, wenn wir in den Fällen, wo wir einem Minderwertigkeitskomplex sehen, mehr oder weniger versteckt einen Überlegenheitskomplex finden.« (1929) »Wir müssen uns immer vergegenwärtigen, dass das Wort »Komplex« als Beifügung zu Minderwertigkeit(sgefühl) und Überlegenheit bloß einen übertriebenen Zustand des Gefühls der Minderwertigkeit und des Strebens nach Überlegenheit bezeichnet.«(1929) »Wenn ein Mensch ein Prahlhans ist, so ist er dies nur, weil er sich minderwertig fühlt, um mit anderen auf der nützlichen Seite des Lebens zu wetteifern.« (1929) ([13] S. 245)
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Unvereintes, Unassimiliertes, Konflikthaftes besteht, ein Hindernis vielleicht, aber auch ein Anreiz zu größeren Anstrengungen, und damit vielleicht sogar eine neue Erfolgsmöglichkeit. Komplexe sind daher in diesem Sinne geradezu Brenn- oder Knotenpunkte des seelischen Lebens, die man gar nicht missen möchte, ja, die gar nicht fehlen dürfen, weil sonst die seelische Aktivität zu einem fatalen Stillstand käme. Aber sie bezeichnen das Unerledigte im Individuum, den Ort, wo es zum mindesten vorderhand eine Niederlage erlitten, wo es etwas nicht verwinden oder überwinden kann, also unzweifelhaft die schwache Stelle in jeglicher Bedeutung des Wortes! (GW 6, 924f.)
«
Komplex Über das Entstehen der Komplexe, sagt
Jung, existierten verschiedene Theorien.
» Abgesehen davon steht erfahrungsgemäß fest, dass Komplexe immer etwas wie einen Konflikt enthalten, oder einen solchen wenigstens verursachen oder aus einem solchen hervorgehen. Jedenfalls ist die Eigenschaft des Konfliktes, des Schocks, der Erschütterung, der Peinlichkeit, der Unvereinbarkeit den Komplexen eigentümlich. Es sind sogenannte »wunde Punkte« [seelische Hühneraugen], französisch »bêtes noires«, englisch »skeletons in the cupboard«, an die man sich selber nicht gern erinnert und noch weniger von anderen will erinnern lassen, die sich aber häufig in unwillkommenster Weise selber in Erinnerung bringen. Sie enthalten stets Erinnerungen, Wünsche, Befürchtungen, Verpflichtungen, Notwendigkeiten oder Einsichten, mit denen man irgendwie nicht recht fertig werden kann, weshalb sie sich immer störend und meist auch schädlich in unser bewusstes Leben einmischen.
«
» Offenbar sind Komplexe eine Art von Minderwertigkeiten in weitestem Sinne, wozu ich gleich bemerken muss, dass ein Komplex oder Komplexe-Haben nicht ohne weiteres Minderwertigkeit bedeutet. Es will nur besagen, dass
10.3.8
Neurotisches Sicherungsverhalten
Nach Adler besteht die gemeinsame Funktion des neurotischen Verhaltens in all seinen mannigfachen Formen darin, Sicherungen für das Persönlichkeitsgefühl zu liefern, das mit dem verborgenen Ziel der Überlegenheit verbunden ist ([13] S. 251). z
Funktion der neurotischen Symptome ([13] S. 252f.)
kVerdrängung und Sicherung (1913)
Nach Adlers Sicherungstheorie hatte das Symptom seinen Ursprung in der Persönlichkeit oder dem »Ich«, während es für Freud die Verdrängung als »Vorbedingung der Symptombildung« ist, ein Ersatz für etwas, was durch die Verdrängung verhindert wurde. Das Symptom stammt vom Verdrängen ab. Das war einer der wesentlichen Streitpunkte, welcher zur Trennung von Freud 1911 führte. Fünfzehn Jahre später revidierte Freud seine Theorie: 4 Verdrängung ist nicht immer und notwendigerweise Voraussetzung für die Symptombildung.
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Kapitel 10 • Alfred Adlers (1870–1937) Individualpsychologie
4 Verdrängung selbst ist eine Abwehrmaßnahme des »Ich« und 4 Alle Symptome sind eine Form der Abwehr. Freud hat 1905 den von ihm bis dahin gebrauchten Ausdruck »Abwehr« durch »Verdrängung« ersetzt. Als er in den 20er Jahren den Ausdruck »Abwehr« wieder verwendete, bedeutete er »alle Techniken, deren sich das Ich in seinen eventuell zur Neurose führenden Konflikten bedient.« Die Sicherung bei Adler besteht gegen Drohungen von außen und durch Lebensprobleme, während bei Freud gegen Triebansprüche: Extravertierte – introvertierte Haltung. kRechtfertigungen (1929, 1936)
»Wir dürfen niemals den Gebrauch, den der Patient von seinen Symptomen macht, übersehen«. (1929)
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kPreis der Symptome (1930, 1933, 1936)
»Wir sehen nur, was eigentlich Nervosität ist: ein Versuch, dem größeren Übel auszuweichen [=Wertlosigkeit], ein Versuch, den Schein des Wertes um jeden Preis aufrecht zu erhalten, alle Kosten zu zahlen, aber gleichzeitig zu wünschen, dieses Ziel zu erreichen, auch ohne Kosten zu zahlen.« (1933) Wenn der Patient sich vergegenwärtigen würde, dass seine »Barrikade« von ihm selbst errichtet wurde […] oder dass er seine Symptome nur anwandte, um eine Prüfung, die er fürchtet, hinauszuschieben, so würde der Zweck des Symptoms – als Rechtfertigung zu dienen – automatisch zunichte gemacht werden. Deshalb bleibt all dies unbewusst. Adler vermied den Ausdruck unbewusst, um eine Vergegenständlichung des Unbewussten zu vermeiden, und ersetzte ihn durch »verborgen«, oder »unverstanden« ([13] S. 254). »Das Unbewusste ist weiter nichts als das, was wir nicht fähig waren in klare Begriffe zu formulieren. Es handelt sich […] um Teile unseres
Bewusstseins, deren Bedeutung wir nicht ganz verstanden haben.« (1932) ([13] S. 226) z
Sicherung durch Aggression
Der Begriff »Aggressionstrieb« geht auf Adler nicht auf Freud zurück. Adler ordnete die Aggression unter das Streben nach Überwindung ein, wenn das Gemeinschaftsgefühl unterentwickelt bleibt. Die Entwertungstendenz, die offene Anklage anderer, die Selbstanklage oder Schuld sind subtile Formen der Aggression zur Sicherung des Persönlichkeitsgefühls. »Der Fuchs und die sauren Trauben« sind dafür ein lehrreiches Beispiel. Statt sich seiner eigenen Minderwertigkeit bewusst zu werden, entwertet der Fuchs die Trauben – und bleibt bei guter Laune.« (1924) »Die Entwertung des Partners ist die regelmäßigste Erscheinung bei Nervösen«. (1924) »Eine weitere interessante Art der Herabsetzung fand ich bei Nervösen in ihrer Fürsorge, in ihrem ängstlichen Gehabe und in ihren Befürchtungen um das Schicksal anderer Personen. Sie benehmen sich, als wären andere unfähig ohne ihre Hilfe für sich zu sorgen.« (1912) „…Deshalb ist die Neurose die Waffe des Feiglings und des Schwachen. Wir können das dicht verschleierte aggressive oder rachsüchtige Element in den meisten Neurosen nicht ignorieren.« (1929) ([13] S. 256) »Unter den Formen des neurotischen Gebarens zwecks Sicherung der Überlegenheitsfiktion treten in auffälliger Stärke die Regungen der Selbstverwünschung, der Selbstvorwürfe, der Selbstquälerei und des Selbstmordes hervor, […] dass die Neurose ein selbstquälerischer Kunstgriff ist, der bezweckt, das Persönlichkeitsgefühl zu heben und die nähere Umgebung zu drücken.« (1912) ([13] S. 258) »Die Wahrheit ist sehr häufig eine furchtbare Waffe der Aggression. Man kann mit Hilfe der Wahrheit lügen und sogar morden.« (1929) ([13] S. 263f.)
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195 10.3 • Persönlichkeitstheorie und ihre Entwicklung
z
Sicherung durch Distanz
Der Lebensstil des Neurotikers und »sein Weltbild sind ein einziges Bezugssystem. Er sieht alles nur mit seinen eitlen, selbstgefälligen Augen. Er bezieht sich zu jeder Frage des Lebens mit der ängstlichen Erwartung, ob auch sein Prestige gesichert sei, findet dies selten und ist so genötigt sich von den Lebensaufgaben unter Festhalten der Schockwirkung zurückzuziehen.« (1936) ([13] S. 264) »Der Lebensstil selbst kann nur zustande kommen durch Ausschaltung weniger passender Ausdrucksformen, durch Akte der Abstraktion.« (1936)
10.3.9 z
Der Anfang der Neurose
Der subjektive Faktor
»Wir werden die Symptomwahl nur verstehen, wenn wir sie als ein Kunstwerk betrachten. Wir müssen uns unseres richterlichen Urteils entschlagen und nur bewundernd betrachten, wie jeder Mensch ein Künstler ist auf seinem Lebenswege. In dieser schöpferischen Leistung, deren Meister immer der betreffende Patient […] ist, findet sich immer ein Zug, der nach einer Art von Vollendung strebt, findet sich ein Werden, niemals ein Sein…« (1936) > Den Ausdruck neurotisches »Arrangement« verwendet Adler, um den entscheidenden Faktor X in der Neurosenformel (1924) zu beschreiben: Individuelles Schema der Einschätzung (Individuum + Erlebnisse + Milieu) + X = Persönlichkeitsideal der Überlegenheit
In der Freudschen Formel setzt eine äußere Kraft, das Trauma, die Störung, welche durch konstitutionelle Faktoren und infantiles Erleben gefördert wird, in Gang.
Unterstützende Faktoren sind: 4 Organminderwertigkeit 4 Erfahrung der Vergangenheit 4 Überempfindlichkeit Jung schreibt:
» Als subjektiven Faktor bezeichne ich jene psychologische Aktion oder Reaktion, welche sich mit der Einwirkung des Objektes zu einem neuen psychischen Tatbestand verschmilzt. Insofern nun der subjektive Faktor seit ältesten Zeiten und bei allen Völkern der Erde in einem sehr hohen Maße sich selber identisch bleibt – indem elementare Wahrnehmungen und Erkenntnisse sozusagen überall und zu allen Zeiten dieselben sind –, so ist er eine ebenso fest gegründete Realität wie das äußere Objekt. Wenn dem nicht so wäre, so könnte von irgendeiner dauerhaften und im wesentlichen sich gleichbleibenden Wirklichkeit gar nicht gesprochen werden, und eine Verständigung mit Überlieferungen wäre ein Ding der Unmöglichkeit. Insofern ist daher der subjektive Faktor etwas ebenso unerbittlich Gegebenes wie die Ausdehnung des Meeres und der Radius der Erde. Insofern beansprucht auch der subjektive Faktor die ganze Würde einer weltbestimmenden Größe, die nie und nirgends aus der Rechnung ausgeschlossen werden kann. Er ist das andere Weltgesetz, und wer sich auf ihn gründet, gründet sich auf ebensoviel Sicherheit, auf ebensoviel Dauer und Gültigkeit, wie der, der sich auf das Objekt beruft. (GW 6, 622)
«
Adler als Introvertierter versucht, alle die
Schwierigkeiten der Anpassung an die Welt zu meistern. Aber er geht zu weit und schüttet das Kind mit dem Bad aus: Die Einpassung in die soziale Umwelt ist ihm so wichtig, dass er den subjektiven Faktor völlig abwertet.
196
Kapitel 10 • Alfred Adlers (1870–1937) Individualpsychologie
10.3.10
Dynamische Einheit der seelischen Störungen
Einheit und Verschiedenheit z
Minderwertigkeit
Die Psychoneurose ist durch die Eitelkeit erzwungen und hat den Endzweck, einen Menschen vor dem Zusammenprall mit seinen Lebensaufgaben, mit der Wirklichkeit, zu sichern, ihn davor zu bewahren, dass sich das düstere Geheimnis seiner Minderwertigkeit enthüllt. (1912) ([13] S. 281) Jung pflegte das seinen Patienten mit folgender Geschichte vom Bergsteigen klar zu machen (GW 4, 378–381):
» Wenn ein Liebhaber des Bergsports sich vorge10
nommen hat, einen gewissen Gipfel zu ersteigen, so kann ihm geschehen, dass er auf seinem Wege zu einem unüberwindlichen Hindernis kommt, z. B. einer senkrecht abfallenden Felswand, deren Überwindung ein Ding der Unmöglichkeit ist. Der Mann wird, nachdem er versucht hat, einen Weg zu finden, umkehren und mit Bedauern darauf verzichten, diesen Gipfel zu ersteigen. Er wird sich sagen: »Mit meinen Mitteln kann ich dieses Hindernis nicht bezwingen, ich werde also einen anderen, leichteren Berg besteigen. In diesem Fall sehen wir eine normale Libidobetätigung: Der Mann kehrt an der Unmöglichkeit um und verwendet die Libido, welche dort das Ziel nicht erreichte, zu einer neuen Bergbesteigung. Setzen wir nun aber den Fall, dass jene Felswand nicht wirklich unübersteigbar für die physischen Mittel des Mannes war, sondern dass er bloß aus Ängstlichkeit vor dem etwas schwierigen Unternehmen zurückgewichen ist…
«
Für Jung stehen in diesem Fall zwei Möglichkeiten offen:
» 1. Der Mann wird sich über seine Feigheit ärgern und sich vornehmen, bei nächster Gelegenheit weniger ängstlich zu sein, und er wird
sich vielleicht auch sagen, dass er bei seiner Ängstlichkeit nicht allzu gewagte Besteigungen unternehmen sollte. Jedenfalls wird er anerkennen, dass sein moralisches Vermögen nicht ausreicht, um die Schwierigkeiten zu bezwingen. Er verwendet daher die Libido, die ihr ursprüngliches Ziel nicht erreicht hat, zu nützlicher Selbstkritik und zur Entwerfung eines Planes, wie er unter Berücksichtigung seiner moralischen Umstände doch seinen Wunsch, einen Gipfel zu besteigen, verwirklichen könnte.
«
»
2. Die zweite Möglichkeit ist, dass der Mann seine Feigheit nicht anerkennt und die Felswand rundweg als physisch unübersteiglich erklärt, obschon er eigentlich sehr wohl sehen könnte, dass das Hindernis zu bezwingen wäre, wenn man den Mut dazu hätte. Er zieht aber die Selbsttäuschung vor. Dadurch wird nun die psychologische Situation geschaffen, die für unser Problem von Bedeutung ist.
«
» Im Grunde genommen weiß der Mann eigentlich, dass es physisch möglich wäre, über das Hindernis hinwegzukommen, und dass er bloß moralisch unfähig dazu ist. Letzteren Gedanken weist er aber wegen dessen unangenehmen Charakters a limine ab. Er ist so eingebildet, dass er sich seine Feigheit nicht eingestehen kann. Er posiert mit seinem Mut vor sich selbst und erklärt lieber die Dinge für unmöglich als seinen Mut. Er setzt sich mit diesem Vorgehen in Widerspruch zu sich selber: Auf der einen Seite hat er die richtige Erkenntnis der Sachlage, auf der anderen Seite versteckt er sich vor dieser Erkenntnis hinter der Illusion seines unbezweifelbaren Mutes. Er verdrängt die richtige Einsicht und sucht der Wirklichkeit gewaltsam sein subjektives, illusionäres Urteil aufzudrängen…
«
Zum Widerspruch führt er aus:
197 10.3 • Persönlichkeitstheorie und ihre Entwicklung
» Dieser Widerspruch bewirkt, dass die Libido gespalten und die beiden Hälften gegeneinander gerichtet werden: Er stellt seinem Wunsch, den Gipfel zu ersteigen, das von ihm selbst erfundene und künstlich gestützte Urteil entgegen, die Passage sei unmöglich. Er kehrt nicht an der wirklichen Unmöglichkeit um, sondern an einer künstlichen und selber erfundenen Schranke. Dadurch ist er uneins mit sich selber geworden. Von diesem Moment an kämpft er innerlich mit sich selber. Bald möchte die Einsicht in seine Feigheit die Oberhand gewinnen, bald Trotz und Stolz. Auf jeden Fall ist jetzt die Libido festgelegt in einem nutzlosen Bürgerkrieg, weshalb dieser Mann untauglich geworden ist zu neuen Unternehmungen. Er wird seinen Wunsch, einen Gipfel zu erreichen, nicht verwirklichen können, da er sich in Bezug auf seine moralischen Qualitäten gründlich irrt. Damit ist er vermindert leistungsfähig, nicht voll angepasst, d. h. – wenn man so sagen darf – neurotisch krank. Die Libido, die vor dem Hindernis zurückwich, hat weder zu einer ehrlichen Selbstkritik geführt noch zu verzweifelten Versuchen, des Hindernis um jeden Preis Herr zu werden, sondern sie lockte bloß die billige Behauptung heraus, die Passage sei überhaupt unmöglich, wogegen aller Heroenmut nichts nütze.
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Sicherungsverhaltens oder der Furcht, wertlos befunden zu werden oder vor einer Niederlage: »Alle neurotischen Patienten schließen den Teil des Lebens aus, bei dem sie sich zum Sieger nicht stark genug fühlen.« (1931) z
Zwangsneurose
»Eigentlich besitzt jeder Mensch irgendeinen Anteil in seinem psychischen Wesen, der an die Zwangsneurose erinnert, der, verschiedentlich ausgebildet, gelegentlich zu Störungen nicht unbeträchtlicher Art führt.« (1924) ([13] S. 285) »Bei einem Menschen, der unter einer Zwangsneurose leidet, ist die rationale Seite überbetont. Diese Tendenz zu rationalisieren und formulieren, formalen Schablonen und peinlicher Ordnung Aufmerksamkeit zu schenken, beschränkt sich nicht nur auf fixe Ideen, sondern wird auch in anderen Lebensphasen des Patienten sichtbar.« (1931) »Der Zauberglaube, der Glaube an die Allmacht der Gedanken, das Aufgreifen des primitiven, archaischen Denkens, das nicht als Atavismus aus dem »kollektiven Unbewussten« stammt, sondern einen allgemein zugänglichen, kindlichen Kunstgriff zur Herbeiführung von Machtgefühl darstellt.« (1931)
«
z
Nach Adler ist neurotisches Verhalten »… stets ein Verhalten, das durch zwei Wörter ausgedrückt werden kann »Ja – aber«. Dieses ist zugleich die beste und leichteste Definition, weil sie sowohl eine Neurose von allen anderen Fehlschlagtypen unterscheidet als auch einen Neurotiker von einem Normalen. […] In diesem »aber« findet man die ganze Stärke der neurotischen Symptome. Sie sind viel stärker als die Kraft, die das »ja« darstellt.« (1934). z
Angstneurose
Adler gebraucht das Wort Angst für ein bewuss-
tes Symptom, wie Phobie oder als eine Form des
Psychosomatische Störungen ([13] S. 290)
»Die Wirkung von Strukturveränderungen im Fall einer seelischen Erregung, sieht man besonders deutlich bei den Skolioseschmerzen [Wirbelsäulenverkrümmung]. Fälle, die ich gesehen habe, hatten die Bedingungen für diese Schmerzen in sich; sie hatten sie nicht immer, sondern erst von irgendeiner Zeit an, gewöhnlich, wenn der Betreffende die Haltung verlor, in einer Situation, in der er das Vertrauen zu sich eingebüßt hatte.« (1934) »Wenn man herauszubekommen wünscht, wie das Symptom der Schlaflosigkeit zur Gesamtpersönlichkeit passt, frage man den Patienten: »Was würden sie tun, wenn sie schla-
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Kapitel 10 • Alfred Adlers (1870–1937) Individualpsychologie
fen könnten?« Dann wird er erzählen, wovor er Angst hat.« (1944) »Der Dialekt der Geschlechtsorgane ist besonders ausdrucksstark und führt den Patienten sehr häufig zum Arzt. Jeder Fall hat seine Besonderheiten, aber praktisch drückt der Patient durch die Störung des Sexualapparates eine Hemmung, ein Zögern oder eine Flucht angesichts der drei Lebensprobleme [Beruf, Ehe, Liebe] aus.« (1929) »Das neurotische Ziel der Überlegenheit wird immer – mehr oder weniger – mit der männlichen Rolle identifiziert, der sowohl reale als auch imaginäre Privilegien eingeräumt werden, mit denen unsere derzeitige Kultur den Mann belehnt hat.« (1929) »Diese Proteststellung der Frau gegen ihre Geschlechtsrolle, die ich als erster unter »männlichem Protest« beschrieben habe, gibt vielfach den Anlass zu Menstruationsstörungen und Funktionsstörungen in der Sexualsphäre, stammt immer aus der Unzufriedenheit mit einer Geschlechtsrolle, die schon in der Familie als untergeordnet aufgefasst wurde, wird aber durch die Unvollkommenheit unserer Kultur wesentlich gefördert.« (1929) z
Melancholie und verwandte Störungen
»Der kategorische Imperativ des Melancholischen lautet: »handle, denke und fühle so, als ob das schreckliche Schicksal, das du an die Wand malst, bereits über dich hereingebrochen und unabwendbar wäre.« (1924) ([13] S. 301)
10.3.11
z
Verstehen und Behandlung des Patienten
Einmaligkeit
In dem Moment als Adler die Einheit der Neurosen voraussetzte, worunter er die dynamische Ähnlichkeit aller Fehlschläge im Leben verstand, verlor für ihn notwendigerweise die kategoria-
le Diagnose ihre Bedeutung, und es wurde für ihn wesentlich, jeden individuellen Fall in seiner Einmaligkeit zu erfassen. Der Therapeut muss dem Patienten das Erlebnis eines »Mitmenschen« und das Gefühl von Kooperation bei der gemeinsamen Aufgabe der Behandlung vermitteln. Dieses neu erweckte Gemeinschaftsgefühl muss er auf andere übertragen: »verspätete Übernahme der Funktion der Mutter.« Von allem Anfang an muss der Berater danach trachten, die Verantwortung für die Heilung als Sache des Beratenen klarzustellen, denn, wie ein englisches Sprichwort richtig sagt: »Du kannst ein Pferd zum Wasser führen, aber du kannst es nicht trinken machen.« Man soll sich strikt daran halten, die Behandlung und Heilung nicht als Erfolg des Beraters, sondern als Erfolg des Beratenen zu sehen. Der Berater kann nur die Irrtümer zeigen, der Patient muss die Wahrheit lebendig machen.« (1933) ([13] S. 313) »Eine 27-jährige Frau, die, nachdem sie fünf Jahre gelitten hatte, mich konsultierte, sagte: »Ich habe so viele Ärzte aufgesucht, dass Sie meine letzte Hoffnung im Leben sind.« »Nein«, antwortete ich, »nicht die letzte. Vielleicht die vorletzte. Es gibt sicherlich andere, die Ihnen auch helfen könnten.« Ihre Worte waren eine Herausforderung an mich; sie forderte mich heraus, sie nicht zu heilen, indem sie mich fühlen ließ, dass ich verpflichtet sei, sie zu heilen.« (1929) ([13] S. 316) »Meine eigene Praxis geht auch dahin, niemals zur Ehe oder zu freien Beziehungen zu raten. Ich finde, dass dies immer zu schlechten Ergebnissen führt.«(1929) »Psychotherapie ist eine Übung in Kooperation und eine Prüfung der Kooperation. Wir können nur dann Erfolg haben, wenn wir aufrichtig am anderen interessiert sind. Wir müssen in der Lage sein, mit seinen Augen zu sehen und mit seinen Ohren zu hören.« (1931) »Als erste Regel in der Kur – [schlage ich vor:] Tun Sie niemals etwas, das sie nicht gern tun.« Dies scheint eine sehr bescheidene Forderung zu
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199 10.3 • Persönlichkeitstheorie und ihre Entwicklung
sein, ich glaube aber, dass sie den Kern der ganzen Beschwerden trifft. Wenn ein Mensch tun und lassen kann, was er will, wen kann er dann beschuldigen? Was ihm getan worden, wofür er sich rächen müsste?« (1931) ([13] S. 323)
10.3.12
Erste Kindheitserinnerungen und Träume
Adler hielt folgende für die »am besten bewähr-
ten Zugänge zur Erforschung der Persönlichkeit«: 4 Erste Kindheitserinnerungen 4 Träume 4 Position in der Geschwisterreihe 4 Kinderfehler 4 Beschaffenheit des exogenen Faktors, der die Krankheit veranlasst Erinnerungen sind nach Adler Erzeugnisse des Individuums, weil sie eine Auslese, Entstellung oder Erfindung vergangener Ereignisse sind, der Stimmung, dem Ziel und Interesse angepasst. Sie spiegeln die innere Welt, seinen Lebensstil, ganz besonders die »erste Erinnerung«. Der Projektionscharakter sowohl der Erinnerung wie der Träume besteht in der eigenen Schöpfung, obwohl das Subjekt fest glaubt, es handle sich um objektive Ereignisse. »Im Lebensstil, der im Alter von vier oder fünf Jahren ausgebildet wird, finden wir die Verknüpfung von Erinnerungen der Vergangenheit mit Handlungen der Gegenwart.« (1929) ([13] S. 327) »Die Entdeckung der Bedeutung der ersten Erinnerungen ist eine der bedeutendsten Errungenschaften der Individualpsychologie. Hierdurch ist die Zweckgerichtetheit anschaulich gemacht worden, die in der Wahl dessen liegt, was am längsten in der Erinnerung bleibt, obwohl die Erinnerung selbst ganz bewusst ist…« (1937) Zu diesem Thema sagt Jung:
» Wer Libido introvertiert, d. h. vom äußeren Objekt wegnimmt, der verfällt zunächst den notwendigen Folgen der Introversion: die Libido, die nach innen, ins Subjekt gewendet ist, greift zurück auf die individuelle Vergangenheit und holt aus dem Schatzhaus der Erinnerungen jene früh geschauten Bilder herauf, welche die Zeit, wo die Welt noch voll und rund war, wiederbringen. Zuallererst und an oberster Stelle sind es die Erinnerungen der Kindheit und darunter Vater- und Mutterbild. Sie sind die Einzigartigen und Unvergänglichen, und es braucht darum im Leben des Erwachsenen nicht viel an Schwierigkeiten, um jene Erinnerungen wieder wachzurufen und wirksam zu machen. (GW 5, 134)
«
An anderer Stelle heißt es:
» Die Verwundung durch den eigenen Pfeil bedeutet also zunächst einen Introversionszustand […]: die Libido sinkt in ihre »eigene Tiefe« (ein bekanntes Gleichnis Nietzsches) und findet dort unten in der Dunkelheit den Ersatz für die Oberwelt, die sie verlassen hat, nämlich die Welt der Erinnerungen (»zwischen hundert Erinnerungen«), worunter die stärksten und einflussreichsten die frühen Erinnerungsbilder sind. Es ist die Welt des Kindes, jener paradiesische Zustand früher Kindheit, aus dem uns das Gesetz der rollenden Zeit vertrieben hat. In diesem unterirdischen Reich schlummern Heimatgefühle und die Hoffnung alles Werdenden«. (GW 5, 448)
«
In »Das Opfer« schreibt er:
» Diese Worte zeigen an, dass die Libido nun eine Tiefe erreicht hat, wo »die Gefahr groß« ist (Faust). Dort ist »der Gott nahe«: dort fände der Mensch das mütterliche Gefäß der Wiedergeburt, die Keimstätte, an der sich sein Leben wieder erneuern könnte. Denn das Leben geht weiter, trotz dem Verlust an Jugendlichkeit, ja, es kann mit größter Intensität gelebt werden,
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Kapitel 10 • Alfred Adlers (1870–1937) Individualpsychologie
wenn nicht das Zurückschauen auf Untergehendes den Schritt lähmt. Das Zurückschauen wäre ja ganz in der Ordnung, wenn es sich nicht bei den Äußerlichkeiten, die doch nicht mehr zurückgebracht werden können, aufhielte, sondern sich Rechenschaft gäbe, woher die Faszination des Gewesenen eigentlich herrührt. Der goldene Schimmer früher Kindheitserinnerungen beruht weniger auf den bloßen Tatsachen, als vielmehr auf der Beimischung zauberhafter, mehr geahnter als wirklich bewusster Bilder. […]
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Man versinkt in die Kindheitserinnerung und entschwindet damit der gegenwärtigen Welt. Man gerät anscheinend in die tiefste Finsternis, hat aber dann unerwartete Visionen einer jenseitigen Welt. Das »mysterium«, das man wahrnimmt, stellt jenen Schatz an Urbildern dar, den jeder als Menschheitsangebinde mit sich ins Dasein bringt, jene Summe von angeborenen Formen, die den Instinkten eignen. Ich habe diese »potentielle« Psyche als das kollektive Unbewusste bezeichnet. Wird diese Schicht durch die regredierende Libido belebt, so entsteht die Möglichkeit einer Erneuerung des Lebens und zugleich eine Zerstörung desselben. Eine konsequente Regression bedeutet eine Rückverbindung mit der Welt der natürlichen Instinkte, welche auch in formaler, d. h. ideeller Hinsicht Urstoff darstellt. Kann dieser vom Bewusstsein aufgefangen werden, so wird er eine Neubelebung und Neuordnung bewirken. Erweist sich das Bewusstsein dagegen als unfähig, so entsteht eine bedrohliche Lage, indem dann die neuen Inhalte ihre ursprüngliche, chaotische und archaische Gestalt beibehalten und damit die Einheit des Bewusstseins sprengen. Die daraus resultierende geistige Störung heißt darum bezeichnenderweise Schizophrenie, »Spaltungsirresein«. (GW 5, 631)
«
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Traum
»Ein Traum ist eine Brücke, die das Problem, dem der Träumer gegenübersteht, mit dem zu erreichenden Ziel verbindet. Auf diese Weise wird ein Traum sich häufig bewahrheiten, weil der Träumende für seine Rolle während des Traumes zu trainieren pflegt und somit die Vorbereitungen trifft, dass er wahr wird.« (1929) ([13] S. 333) »Der Traum strebt danach, den Weg zur Lösung eines Problems durch einen metaphorischen Ausdruck desselben, durch einen Vergleich »als ob«, zu ebnen, und hierin liegt ein Anzeichen, dass der Träumende sich nicht in der Lage fühlt, das Problem durch common sense allein zu lösen. Natürlich versteht der Träumende seine eigene Metapher nicht. […] Im wesentlichen ist es ein Selbstbetrug, im Interesse seines eigenen individuellen Ziels.« (1936) ([13] S. 334) »Eines Tages kam ich darauf, dass die wahre Bedeutung des Traumes vielleicht darin liegt, nicht verstanden zu werden; dass es vielleicht eine dynamische Kraft das Geistes gibt, die daran arbeitet, uns zu täuschen; und dass wir uns nicht durch die Gedanken täuschen, sondern durch die Affekte und Gefühle, die durch die Gedanken und Bilder eines Traumes hervorgerufen werden.« (1936) »Wir müssen uns davor hüten, einen Traum zu deuten, ohne dass wir sein Verhältnis zu den anderen Teilen der Persönlichkeit kennen. Wir können auch keine festen und starren Regeln für die Traumdeutung aufstellen. Die goldene Regel der Individualpsychologie lautet: »Alles kann auch anders sein.« (1936) Traummotive 5 Flugträume: Der Schlüssel zu solchen Träumen ist in den Gefühlen zu finden, die sie hervorrufen. Sie lassen eine Stimmung der Heiterkeit und des Mutes zurück; sie führen von unten nach oben; sie stellen die Überwindung von Schwierigkeiten und das Streben nach dem Ziel
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Jung sagt darüber in seinem Seminar über Kinderträume am 25.10.1938:
die Selbsterkenntnis nicht auftritt.« (1929) ([13] S. 340) »Jedes verzärtelte Kind wird zu einem gehassten Kind. Unsere Kultur ist eben so: weder die Gesellschaft noch die Familie ist gewillt, den Vorgang der Verzärtelung unbegrenzt fortwähren zu lassen.« (1931) »Das vernachlässigte Kind ist ein Kind, das niemals einen ganz vertrauenswürdigen Menschen gefunden hat.« (1931) »Es gibt Menschen, die meinen, ihre Kinder sollten nicht glücklicher sein, als sie es als Kinder waren. Ein solcher Standpunkt entspringt keiner bösen Absicht. Er spiegelt nur die Mentalität jener wider, die selber hart erzogen worden sind.« (1930) ([13] S. 383) Zur Entwicklung des Kindes sagt Jung:
» Der Traum ist, wie Sie wissen, ein natürliches
» Eine gewisse Änderung tritt ein, wenn das
Phänomen. Er entspringt nicht einer Absicht. Man kann ihn nicht mit einer Psychologie erklären, die dem Bewusstsein entnommen ist. Es handelt sich um ein bestimmtes Funktionieren, das nicht vom Wollen und Wünschen, von Absicht oder Zielsetzung des menschlichen Ichs abhängig ist. Es ist ein absichtsloses Geschehen, wie eben alles Geschehen in der Natur. Wir können ja auch nicht annehmen, dass der Himmel sich mit Wolken bedeckt, um uns zu ärgern, sondern es ist einfach so. Die Schwierigkeit ist aber, dies natürliche Geschehen aufzufassen. […] Man kann aber der Meinung sein, dass jede Sinngebung, wo es nur immer sei, eine menschliche Annahme über das Geschehende sei, und dennoch versuchen, den wahren Sachverhalt zu treffen. Man ist allerdings nie sicher, ob man dieses Ziel erreicht. ([11] S. 16)
Kind anfängt, sein Ichbewusstsein zu entwickeln, was sich äußerlich etwa in der Tatsache dokumentiert, dass es anfängt »ich« zu sagen. Diese Veränderung tritt normalerweise zwischen dem dritten und dem fünften Lebensjahr ein, kann aber auch schon früher erfolgen. Von diesem Moment an können wir von der Existenz einer Individualpsyche reden. Normalerweise erreicht aber die Individualpsyche erst nach der Pubertät eine relative Selbständigkeit, bis dahin ist sie in hohem Maße ein Spielball der Triebe und der Umweltbedingungen. Man könnte daher vom Kinde bis zum Pubertätsalter sagen, dass es selber psychisch noch gar nicht eigentlich existiere. Sicherlich ist das Kind, das mit sechs Jahren in die Schule eintritt, noch nichts anderes als ein Produkt seiner Eltern in jedem Sinne, allerdings mit einem keimhaften Ichbewusstsein begabt, aber noch keineswegs fähig, seine Individualität in irgendwelchem Maße zu behaupten. Man ist allerdings öfters in der Versuchung, besonders eigenartige und störrische, unfolgsame oder schwer zu erziehende Kinder als besonders individuell und mit eigenem Willen begabt aufzufassen…
der Überlegenheit als leicht hin. […] Die angedeutete Antwort lautet: »Mir steht nichts im Wege. Ich kann tun, was andere nicht tun können« (1936) ([13] S. 337) 5 Träume von mangelhafter Bekleidung: gefolgt vom Erschrecken darüber lassen sich meist auf die Furcht zurückführen, bei einer Unvollkommenheit ertappt zu werden.« (1936) 5 »Ein wiederholter Traum ist eine wiederholte Antwort auf ein wiederholt konfrontiertes Problem.« (1936)
«
10.3.13
z
Ursprung von neurotischer Disposition
Kind
»Der Lebensstil eines Kindes sowie seine Selbsteinschätzung bleiben solange konstant, solange
«
202
Kapitel 10 • Alfred Adlers (1870–1937) Individualpsychologie
Dies sei aber eine Täuschung. Denn, so Jung weiter:
» In solchen Fällen sollte man nämlich immer das elterliche Milieu und dessen psychologische Bedingungen untersuchen, und man würde fast ausnahmslos dort, nämlich bei den Eltern, die einzig gültigen Gründe für die Schwierigkeiten des Kindes entdecken. Seine störenden Eigenarten sind weit weniger der Ausdruck seines eigenen Wesens als vielmehr die Widerspiegelung von störenden Einflüssen seitens der Eltern. Wenn der Arzt es mit einer nervösen Störung bei einem Kindes dieses Alters zu tun hat, so wird es das Richtige sein, zunächst einmal die Eltern in Behandlung zu nehmen… (GW 17, 107)
«
10
»Die Mutter«, schreibt Adler, »verkörpert das größte Erlebnis der Liebe und Kameradschaft, das das Kind je hat. Ihre Aufgabe ist es, eine seelische Verbindung zwischen ihr und dem Kind herzustellen, wie sie vordem körperlich mit ihm verbunden war.« (1929) ([13] S. 344) »Da in der ersten Phase der sozialen Beziehungen des Kindes immer ein enger Kontakt zur Mutter besteht, muss der enge Kontakt zum Vater stets als eine zweite Phase verstanden werden, und ist ein Zeichen dafür, dass die Mutter im Konkurrenzstreit mit dem Vater um die Liebe des Kindes verloren hat.« (1930) ([13] S. 346) »Bleibt ein Kind als verwöhntes Kind an der Mutter haften, so wird es sich mehr oder weniger wie ein Parasit entfalten, der alle Bedürfnisbefriedigungen, gelegentlich auch sexuelle, von der Mutter erwartet. […] Was Freud als Ödipuskomplex bezeichnet hat, […] ist nichts als eine der vielen Erscheinungsformen im Leben eines verwöhnten Kindes, das der widerstandslose Spielball seiner aufgepeitschten Wünsche ist.« (1933) ([13] S. 347)
Bei Jung heißt es:
» Solange sich das Kind in jener unbewussten Identität mit der Mutter befindet, ist es noch eins mit der Tierseele, d. h. so unbewusst wie diese. Die Entwicklung des Bewusstseins führt unabwendbar nicht nur zur Unterscheidung von der Mutter, sondern von den Eltern und der Familie überhaupt, und damit zu einer relativen Abtrennung vom Unbewussten und der Instinktwelt. Die Sehnsucht nach dieser verlorenen Welt besteht aber weiter und verlockt immer wieder, wenn schwierige Anpassungsleistungen verlangt werden, zum Aus- und Zurückweichen, zur Regression in die infantile Vorzeit, wodurch dann die inzestuöse Symbolik verursacht wird. Wäre diese Versuchung eindeutig, so könnte sich ein energischer Wille ohne zu große Anstrengung davon befreien. Sie ist aber nicht eindeutig, weil eine neue Anpassung und Orientierung von vitaler Bedeutung nur dann erfolgreich geleistet werden kann, wenn sie in einer Art und Weise erfolgt, welche den Instinkten entspricht. Fehlt diese Entsprechung, so entsteht nichts Haltbares, sondern ein krampfhaft gewolltes Kunstprodukt, das sich auf die Dauer als lebensunfähig erweist. Der Mensch kann sich nicht zu irgendetwas aus bloßer Vernunft wandeln, sondern nur zu dem, was als Möglichkeit in ihm schon angelegt ist. Wird eine solche Veränderung notwendig, so wird der allmählich zerfallende bisherige Anpassungsweg unbewusst kompensiert durch den Archetypus einer anderen Anpassungsform. Wenn es nun dem Bewusstsein gelingt, den konstellierten Archetypus in sinn- und zeitgemäßer Weise zu deuten, dann entsteht eine lebensfähige Wandlung. So wird die wichtigste Beziehungsform der Kindheit, nämlich die Beziehung zur Mutter durch den Archetypus der Mutter kompensiert, wenn die Ablösung von der Kindheit angezeigt ist. Aus der Deutung entsteht z. B. die Mutter Kirche, die sich bisher als erfolg-
203 Literatur
reich erwiesen hat. Insofern aber auch an dieser Form Alterserscheinungen auftreten sollten, so wäre mit der Zeit eine neue Deutung unvermeidlich. (GW 5, 351)
«
z
Geschwisterreihe
Adler war der erste, der auf die Stellung des Kindes in der Geschwisterreihe aufmerksam machte, welche für die typische Entwicklung des Kindes bestimmend ist. »Meine Gepflogenheit, eine Klassifikation nach der Stellung in der Familie vorzunehmen, ist in mancherlei Hinsicht missverstanden worden. Natürlich beeinflusst nicht die Zahl, die das Kind in der Geburtenfolge trägt, seinen Charakter, sondern die Situation, in die es hineingeboren wird, und die Art, in der es diese Situation deutet.« (1929) ([13] S. 348) »Der Erstgeborene wird im allgemeinen sehr beachtet und verwöhnt. Es passiert zu häufig, dass er sich ganz plötzlich und abrupt aus seiner Position vertrieben sieht. Ein anderes Kind kommt zur Welt, und er ist nicht mehr einmalig. Jetzt muss er die Beachtung des Vaters und der Mutter mit einem Rivalen teilen.« (1931) ([13] S. 349) »Bei einer größeren Kinderzahl findet man den Erstgeborenen in einer einzigartigen Situation, die keines der anderen Kinder erlebt. Er ist eine Zeit lang einziges Kind und erfährt Eindrücke, wie dieses. Verschiedene Zeit später wird er »entthront«. […] Im allgemeinen vertragen verwöhnte Kinder diesen Wechsel ebenso schlecht wie etwa die Entwöhnung von der Mutterbrust. Ich muss aber feststellen, dass selbst ein einziges Jahr des Intervalls genügt, um die Spuren der Entthronung durch das ganze Leben sichtbar zu machen. […] Diese wortlosen Eindrücke, deren es im frühen Kindesleben viele gibt, würden von Freud und Jung, falls sie einmal darauf stießen, anders gedeutet werden, nicht als Erlebnisse, sondern in ihren Folgerungen als unbewusste
10
Triebe oder als atavistisches soziales Unbewusstes.« (1933) »Unter solchen ältesten Kindern finden wir Individuen, die ein Streben entwickeln, andere zu beschützen und ihnen zu helfen. Sie üben sich in der Nachahmung ihre Vaters oder ihrer Mutter, oft spielen sie die Rolle des Vaters oder der Mutter, wenn sie mit ihren jüngeren Geschwistern spielen, sie kümmern sich um sie, lehren sie und fühlen sich für ihr Wohl verantwortlich. Manchmal entwickeln sie ein großes Organisationstalent.« (1931) ([13] S. 350)
Literatur Primärliteratur (Quellen) Werke von Alfred Adler 1 Adler A (1928) Über den nervösen Charakter. Grundzüge einer vergleichenden Individualpsychologie und Psychotherapie. Bergmann, Wiesbaden 2 Adler A (1930) Praxis und Theorie der Individualpsychologie. Bergmann, München 3 Adler A (1930) Die Technik der Individualpsychologie. Erster Teil: Die Kunst, eine Lebens- und Krankengeschichte zu lesen, 1928. Zweiter Teil: Die Kunst, das Schulkind zu verstehen. Bergmann, München 4 Adler A (1927) Studie über Minderwertigkeit von Organen. Bergmann, München 5 Adler A (1954) Menschenkenntnis. Kramer, Frankfurt am Main Weitere Quellen 6 Jung CG (1995) Experimentelle Untersuchungen. GW 2. Gesammelte Werke. Walter, Solothurn Düsseldorf 7 Jung CG (1995) Freud und die Psychoanalyse. GW 4. Gesammelte Werke. Walter, Solothurn Düsseldorf 8 Jung CG (1995) Symbole der Wandlung. Analyse des Vorspiels zu einer Schizophrenie. GW 5. Gesammelte Werke. Walter, Solothurn Düsseldorf 9 Jung CG (1995) Psychologische Typen. GW 6. Gesammelte Werke. Walter, Solothurn Düsseldorf 10 Jung CG (1995) Über die Entwicklung der Persönlichkeit. GW 17. Gesammelte Werke. Walter, Solothurn Düsseldorf 11 Jung CG (1987) Seminare, Kinderträume. Zur Methodik der Trauminterpretation. Psychologische Interpretation von Kinderträumen. Walter, Olten Freiburg 12 Vaihinger H (1911) Philosophie des »Als Ob«. Reuther und Reichard, Berlin
204
Kapitel 10 • Alfred Adlers (1870–1937) Individualpsychologie
Sekundärliteratur 13 Ansbacher HL, Ansbacher RR (Hrsg.) (2004) Alfred Adlers Individualpsychologie. Eine systematische Darstellung seiner Lehre in Auszügen aus seinen Schriften. Einführung von Bornemann E. 5. Auflage E. Reinhardt, München Basel 14 Asanger R, Wenninger G (1983) Handwörterbuch der Psychologie. Beltz, Weinheim Basel 15 Ellenberger HF (1973) Die Entdeckung des Unbewussten. Hans Huber, Bern Stuttgart Wien (über A. Adler: 2 Bd. S. 766–878) 16 Klages L (1910) Prinzipien der Charakterologie. Später: Die Grundlagen der Charakterkunde (1951); Zur Ausdruckslehre und Charakterkunde, (1926); Vorschule der Charakterkunde (1942) 17 Klages L (1960) Der Geist als Widersacher der Seele. 3 Bde. München 18 Vogt K (1855) Köhlerglaube und Wissenschaft : eine Streitschrift gegen Hofrath Rudolph Wagner in Göttingen. Gießen 19 Ziehen T (1924) Leitfaden der physiologischen Psychologie. Fischer, Jena
10
205
Viertes Buch: Die Entwicklung der Neurosenauffassung bei Carl Gustav Jung Kapitel 11
Carl Gustav Jung (1875–1961) – 207
Kapitel 12
Abgrenzung zu Freud und Adler – 223
Kapitel 13
Erweiterung seiner Psychologie über die Perspektive der Neurose hinaus – 249
Kapitel 14
Die Rolle der Anpassung im psychischen Geschehen – 279
Kapitel 15
Kompensation – 285
Kapitel 16
Mann und Frau; Anima und Animus – 291
Kapitel 17
Projektion – 313
Kapitel 18
Schatten – 323
Kapitel 19
Komplexe – 331
Kapitel 20
Das Ich – 341
Kapitel 21
Das Selbst – 347
Kapitel 22
Individuation – 355
Kapitel 23
Archetypen – 361
IV
Kapitel 24
Das Symbol – 377
Kapitel 25
Transzendente Funktion – 385
Kapitel 26
Das Problem der Gegensätze – 389
Kapitel 27
Trieb und Instinkt – 397
Kapitel 28
Materie und Körper: Synchronizität – 413
Kapitel 29
Bild, Abbild, Vorstellung, Phantasie – 419
Kapitel 30
Typologie – 429
Kapitel 31
Seele und Persona – 443
Kapitel 32
Sexualität, Eros, Macht, Liebe – 455
Kapitel 33
Objekt, Subjekt, Identität – 463
Kapitel 34
Entwicklungspsychologie – 469
Kapitel 35
Wert, Sinn, Zweifel – 489
Kapitel 36
Leiden, Krankheit, Neurose – 503
Kapitel 37
Traum – 515
Kapitel 38
Psychotherapie – 529
Kapitel 39
Übertragung – 551
Kapitel 40
Religiöse Dimension – 563
Kapitel 41
Das Schöpferische – 577
207
Carl Gustav Jung (1875–1961) Vorbemerkungen
11.1
Zur Literaturauswahl – 208
11.1.1 11.1.2
Primärliteratur (Quellen) – 208 Empfehlungen zum Neurosenkonzept – 209
11.2
Zur Vorgehensweise und zum Verständnis – 211 Literatur – 222
A. Ribi, Neurose – an der Grenze zwischen krank und gesund, DOI 10.1007/978-3-642-16148-3_11, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
11
208
Kapitel 11 • Carl Gustav Jung (1875–1961)
Überblickt man das abgeschlossene Gesamtwerk C.G. Jungs, so erkennt man darin deutlich seine eigene Individuation. In den ersten Werken setzt er sich mit seinen großen Zeitgenossen, hauptsächlich Sigmund Freud und Alfred Adler, auseinander und grenzt sich von ihnen durch seine eigene Auffassung ab. War es anfänglich die Krankheit der Neurose und ihre Symptome, welche den Patienten zum Psychiater oder Psychologen führten, trat bei Jung immer mehr der ganze Mensch mit seiner Psyche ins Blickfeld. Seine späteren Arbeiten handeln von der Struktur der Psyche mit ihren allfälligen Gefahren. So hat Jung allmählich den rein medizinischen Standpunkt zugunsten eines Verständnisses für die Funktion der Psyche als ganzer verlassen.
11.1
11
Zur Literaturauswahl
Indem ich die »Historische Einführung« (7 Erstes bis Drittes Buch) beträchtlich erweitert habe, hängt Jungs Auffassung von der Neurose nun nicht mehr in der Luft. Es ist jetzt deutlich geworden, dass er in seiner Person viele historische Fäden zusammenfasst, ganz gleichgültig, ob durch Überlieferung oder als Bündelung von Ideen, welche »in der Luft« lagen. Seine Neurosenauffassung kann man nur aus seiner ganzen Psychologie verstehen. Ich müsste demnach ein Resümee seiner Psychologie folgen lassen. Abgesehen davon, dass man eine so reichhaltige und vielfältige Psychologie nicht auf einige wenige Seiten komprimieren kann, möchte ich dem Leser eine Lektüre gewisser Originalschriften aus den Gesammelten Werken (GW), den Briefen oder den Seminarberichten ans Herz legen. Zudem habe ich im vorangehenden Teil Zitate aus Jungs Werk einfließen lassen, um des Vergleichs mit anderen Auffassungen willen. Die Seminarberichte geben ein lebendiges Bild von Jungs Persönlichkeit, doch gilt es zu beden-
ken, dass sie Mitschriften sind, welche vielleicht Jungs Ausführungen nicht ganz getreu wiedergeben, da er sie aus zeitlichen Gründen nie kontrolliert hat. In den Gesammelten Werken musste er sich auf den anonymen Leser einstellen, weshalb sie etwas trocken scheinen mögen. In seinen Briefen konnte er sich freier entfalten, wenn er den Adressaten kannte.
11.1.1
Primärliteratur (Quellen)
Jungs Gesammelte Werke (GW) sind 1958 bei
Rascher, Zürich und Stuttgart (Bd. 16) erschienen. Nach Raschers Tod übernahm der WalterVerlag die Herausgabe der noch unvollendeten Edition (Olten und Freiburg i. Br.). Dieser gab 1995 eine Paperback Sonderausgabe heraus (Solothurn und Düsseldorf). > Im Folgenden zitiere ich nach der Sonderausgabe des Walter-Verlags von 1995: Band und Paragraph stehen in Klammern.
Zudem sind drei Bände Briefe bei Walter, Olten und Freiburg i. Br. 1972–1973 erschienen unter der Ägide von Aniela Jaffé, der Sekretärin Jungs bis zu seinem Tode. Sie hat auch die Erinnerungen – Träume – Gedanken von C.G. Jung (Rascher, Zürich und Stuttgart, 1962) aufgezeichnet und herausgegeben. Die nachfolgende Darstellung der Neurosenauffassung von Jung berücksichtigt diese authentischen Quellen. In den letzten Jahren sind Seminarberichte erschienen und es werden auch künftig weitere erscheinen. Weil sie, wie eben erwähnt, auf Mitschriften von Seminarteilnehmern beruhen, und daher cum grano salis zu genießen sind, habe ich sie hier nicht berücksichtigt, obwohl sich Jung darin oft freimütiger geäußert hat, weil er sein Publikum kannte. Auch die Gesammelten Werke sind noch keine historisch-kritische Ausgabe sämtlicher Wer-
209 11.1 • Zur Literaturauswahl
ke, was wohl noch Jahrzehnte dauern wird. Von den Gesammelten Werken gibt es auch kürzere Separateditionen, welche sich der Gunst des Publikums erfreuen.
11.1.2
Empfehlungen zum Neurosenkonzept
Da die Therapie von Neurosen zum täglichen Brot des Psychotherapeuten gehört, hat er sich an mehreren Stellen seines Werkes eingehend darauf eingelassen. Wer sich eingehender mit Jungs Neurosen-Konzept befassen will, dem seien die folgenden Literaturangaben empfohlen: Nach seiner Trennung von Freud (1912) versuchte er seine eigene Auffassung in »Versuch einer Darstellung der Psychoanalytischen Theorie« (1913) zu formulieren (GW 4 § 203–
522). Viele der darin niedergelegten Ansichten hat er später neu oder umformiert, besonders nach seiner »Initiationskrankheit« (1916). In der Schrift »Über die Psychologie des Unbewussten« (1912) setzt er sich, ursprünglich unter dem Titel »Neue Bahnen der Psychologie« mit den verschiedenen Auffassungen Freuds und Adlers vom Unbewussten anhand von Fällen auseinander, die er aus den verschiedenen Perspektiven interpretiert (GW 7 § 1–201). In der zweiten Schrift dieses Bandes, »Die Beziehung zwischen dem Ich und dem Unbewussten« (1928), gibt er eine Darstellung seiner Psychologie insbesondere des Individuationsprozesses. Beide Schriften erfuhren mehrere Umformungen seit ihrem ersten Erscheinen (GW 7 § 202–406). Freud und Jung gerieten sich über der Frage der psychischen Energie, der Libido, in die Haare, was zum Bruch führte. Deshalb ist es sehr wertvoll, sich in der Schrift »Über die Energetik der Seele« (1928) eingehend über Jungs Auffassung der psychischen Energetik zu orientieren, welche für das Verständnis der Psychodynamik der Neurosen eine große Rolle spielt. (GW 8 § 1–130).
11
Die Schrift »Die psychologischen Aspekte des Mutterarchetypus« (1938) ist darum für das Verständnis der Neurosen wichtig, weil es um den Mutterkomplex des Sohnes (GW 9/I § 162– 166), einem »Kernkomplex« Freuds, und um den Mutterkomplex der Tochter (GW 9/I § 167–198) geht. Der Mutterkomplex des Sohnes kommt an vielen Stellen in »Symbole der Wandlung« (1911/12) (GW 5) zur Darstellung. Im Buch »Aion« (GW 9/II) sind die Kapitel »Das Ich«, »Der Schatten«, »Die Syzygie: Anima und Animus« und »Das Selbst« wichtig, um die Psychologie von Jung mit ihren Fachausdrücken zu verstehen. Der Aufsatz »Über das Unbewusste« (1918) (GW 10 § 1–48) ist sehr hilfreich, weil Jung darin auch seine Vorläufer zitiert. Außerdem sind »Das Liebesproblem des Studenten« (1924) (GW 10 § 197–235) und »Die Frau in Europa« (1927) (GW 10 § 236–275) wichtig für das Verständnis des Eros Problems in Europa. [11]. Die beiden Vorträge »Die Bedeutung des Psychologie für die Gegenwart« (1933) (GW 10 § 276–332) und »Zur gegenwärtigen Lage der Psychotherapie« (1934) (GW 10 § 333–369) betreffen unser Thema ganz direkt. Am Rande, aber deswegen nicht weniger wichtig für die moralische Dimension der Neurose, betrifft »Das Gewissen in psychologischer Sicht« (1957/58) (GW 10 § 825–857) unser Thema, ebenso wie der wichtige Vortrag »Gut und Böse in der analytischen Psychologie« (1958) (GW 10 § 858–886). Als Ergänzung zum Kapitel über William James (7 Kap. 3) empfiehlt sich »Psychologie und Religion« (1939) (GW 11 § 1–55), »Über die Beziehung der Psychotherapie zur Seelsorge« (1932) (GW 11 § 488–538) und »Psychoanalyse und Seelsorge« (1928/29) (GW 11 § 539–552). Die »Traumsymbole des Individuationsprozesses« (1944) (GW 12 § 44–331) schließt an »Die Beziehung zwischen dem Ich und dem Unbewussten« (1928) (GW 7 § 202–406) an zur Illustration des Individuationsprozesses, einem
210
11
Kapitel 11 • Carl Gustav Jung (1875–1961)
zentralen Thema der Jungschen Psychologie. Dazu gehört auch der zuerst englisch erschienene Aufsatz »Bewusstsein, Unbewusstes und Individuation« (The meaning of individuation) (1939) (GW 9/I § 489–524) und »Zur Empirie des Individuationsprozesses« (1933/1950) (GW 9/I § 525–626). Reichhaltiges Material zum Thema liefern die beiden Seminarbände »Traumanalyse« (1928–1930) und »Kinderträume« (1936–1941). Wichtige Beiträge finden sich im Bd. 17 der GW: »Über Konflikte der kindlichen Seele« (1910) (GW 17 § 1–79), »Die Bedeutung des Unbewussten für die individuelle Erziehung« (1925) (GW 17 § 253–283), »Vom Werden der Persönlichkeit« (1932) (GW 17 § 284–323) und »Die Ehe als psychologische Beziehung« (1925) (GW 17 § 324–345). Ebenfalls einen Überblick über die analytische Psychologie vermitteln »Über Grundlagen der analytischen Psychologie«: Tavistock Lectures (1935) (GW 18 § 1–415), »Symbole und Traumdeutung« (aus: »Man and his symbols) (1964) (GW 18 § 416–607). Besonders bereichernd für unsere Thematik ist GW 16 »Praxis der Psychotherapie«, im ersten Teil über »Allgemeine Probleme der Psychotherapie« (1929–1951) (GW 16 S. 1–133). Im zweiten Teil über »Spezielle Probleme der Psychotherapie« (1921–1946) (GW 16, S. 137–345) über »Der therapeutische Wert des Abreagierens« (1921), »Die praktische Verwendbarkeit der Traumanalyse« (1931) und »Die Psychologie der Übertragung« (1946), die wichtigste Arbeit über die Beziehung in der Psychotherapie. Manches zum Verständnis der Neurosen findet sich auch im Bd. 6 der GW »Psychologische Typen« und in den drei Bänden Briefe [1]. Der Leser erkennt aus dieser umfangreichen Liste, dass sich Jung ein Leben lang mit dem Rätsel »Neurose« beschäftigt hat, selbst noch in seinem opus magnum, dem »Mysterium coniunctionis« (1954) (GW 14/I–III) finden sich viele wertvolle Äußerungen. Man wird wohl nie mit diesem
Thema ein für allemal fertig werden. Von der Hysterie haben die alten Forscher (Charcot) gesagt, sie sei eine »proteusartige« Erkrankung. Ich meine, das gilt für alle Neurosen. Es bedarf in der Regel keiner geringen Anstrengungen vonseiten des Patienten wie von jener des Therapeuten über lange Zeit, um ihr einigermaßen beizukommen. > Das abgeschlossene Gesamtwerk offenbart eindrücklich Jungs Individuation. In seinen frühen Werken setzt er sich hauptsächlich mit Sigmund Freud und Alfred Adler auseinander und grenzt sich zugleich von ihnen durch seine eigene Auffassung ab.
Es sind das vor allem »Versuch einer Darstellung der psychoanalytischen Theorie« (1912) als »Extension Courses der Fordham University in New York gehalten, worin er seine eigene »Methode« sehr übersichtlich beschreibt. In »Über die Psychologie des Unbewussten« geht er nochmals systematisch auf seine Zeitgenossen ein, indem er die Berechtigung ihrer spezifischen Auffassungen anhand eines Falles darlegt. Diesen analysiert er abschließend in seinem Sinne, woraus deutlich wird, dass die anderen Anschauungen jeweils eine der möglichen Perspektiven darstellen. In der zweiten Arbeit von Bd. 7 »Die Beziehungen zwischen dem Ich und dem Unbewussten« stellt er bereits den seelischen Entwicklungsprozess dar, welchen er als Individuation bezeichnet. Dieser weist eindeutig auf die Zielgerichtetheit (Finalität) des psychischen Geschehens hin. Wo sich dieser spontanen Entwicklung Hindernisse in den Weg stellen, da können sich Neurosen entwickeln. Der Umschwung in der Blickrichtung wird hier deutlich: War es anfänglich die Krankheit der Neurose und ihre Symptome, welche den Patienten zum Psychiater oder Psychologen führten, trat immer mehr der ganze Mensch mit seiner Psyche ins Blickfeld. Krankheit ist aus diesem
11
211 11.2 • Zur Vorgehensweise und zum Verständnis
Blickwinkel nur noch ein – allerdings häufiges und eventuell schwerwiegendes – Störungsprodukt eines allgemeinen Lebensprozesses. In den späteren Arbeiten steht die Struktur der Psyche mit ihren allfälligen Gefahren im Mittelpunkt des Interesses. So hat Jung allmählich den rein medizinischen Standpunkt zugunsten eines Verständnisses der Funktion der Psyche als ganzer verlassen. Diese Neuorientierung scheint mir bemerkenswert.
11.2
Zur Vorgehensweise und zum Verständnis
Ich habe mich bemüht, das Gesamtwerk für meine Darstellung heranzuziehen. Dennoch musste ich mich bei meiner Auswahl um des Themas und des Rahmens willen beschränken. Die Traumanalyse ist zwar ein wesentlicher Teil für das Verständnis der Neurosen. Zudem spielt die Typologie sowohl beim Entstehen als auch für die Behandlung der Neurosen eine wichtige Rolle. Gleichwohl konnte ich beide Themenkreise nur streifen. Der Leser erkennt daraus, welche Beschränkungen ich mir auferlegen musste. > Grundsätzlich gilt: Die Lektüre dieses Buches ersetzt nicht die Lektüre seiner Schriften. Im Gegenteil: Mit dieser Darstellung möchte ich den Leser hinführen zum Verständnis der Jungschen Ansichten.
Ich habe bei Jolande Jacobis »Die Psychologie C.G. Jungs« (1939) bemerkt, dass die Studenten diese systematische Darstellung benutzen, um die Lektüre der Originalschriften zu umgehen, weil sie ihnen zu schwierig erscheint. Jung wurde wiederholt gebeten, seine Psychologie systematisch und allgemeinverständlich darzustellen. Er hat das stets mit der Begründung abgelehnt, er habe sich so einfach wie der Stoff es erlaube ausgedrückt. Die Psyche ist das größte Geheimnis, das wir kennen, besonders noch wegen des
Umstandes, dass sie sowohl Objekt ihrer Erforschung als auch Subjekt aller Aussagen über sie ist. Sie entzieht sich deshalb jeder Popularisierung und Simplifizierung. > Es gibt keine »Psychologie light«, welche Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben könnte!
So muss ich den Leser warnen, dass er auch hier keine »süffige« Darstellung des Themas finden wird, sondern sich anstrengen muss, das Dargestellte zu verstehen. Ich werde es anhand von Zitaten aus seinem Werk tun. Aus Platzgründen war ich gezwungen, sie aus dem Zusammenhang zu reißen. Ich musste sie also so umformulieren, dass ein einigermaßen fließender Text entsteht. Das ist zwar wissenschaftlich nicht ganz korrekt, doch kann jeder den genauen Wortlaut in der angegebenen Textstelle selber auffinden. Außerdem hat Jung eine interessante Bemerkung gemacht, die ich sinngemäß schon bei Freud fand:
» Neue Anschauungen sind im Geiste des Schöpfers viel flüssiger als im Geist der Nachfolger. (4, 375)
«
Dieser Satz bewahrheitet sich auf Schritt und Tritt, weil sich die Dinge im Geist ihres Schöpfers im Zustand des »Auskristallisierens« befinden und noch nicht zur unumstößlichen Wahrheit geworden sind. Das erklärt auch viele verzeihliche Holprigkeiten in Jungs Schreibstil, sagt er doch selber:
» Einen harmonischen Fluss der Darstellung kann man nur dort erwarten, wo man über Dinge schreibt, die man schon weiß. (7, 200)
«
Das zeigt einmal mehr, dass wir es in seinen Schriften mit Gedanken zu tun haben, welche erstmals bewusst formuliert wurden. Daher ist es verständlich, dass er sie nicht in die Form eines Lehrbuches bringen konnte, noch wollte. In ein Lehrbuch gehören bewährte Wahrheiten. Das,
212
Kapitel 11 • Carl Gustav Jung (1875–1961)
was er schrieb, war, nach seinen eigenen Worten, eben erst »erstarrte Lava«. Jungs schöpferischer Geist wurde durch eine Thematik angeregt und sprudelte lebhaft. Das wird deutlich in den thematischen Seminarberichten. Er konnte schon, wie man aus den ETH-Lectures sieht, systematisch sein. Doch so richtig in seinem Element war er, wenn er neue Einsichten zu formulieren suchte. Das Neuland lockte Jung, wie es jeden echt schöpferischen Geist fordert. Er brauchte lange Jahre, um sich aus der Enge einer medizinischen Psychologie oder seiner psychiatrischen »Lehrund Wanderjahre« zu befreien. Er schreibt selber:
empirische Material dazuzugeben. Ich verwende das Beobachtungsmaterial höchstens beispielsweise. (4, 685)
» Ich täuschte mich selber, wenn ich dachte, ich
Marie-Louise von Franz erzählte mir, dass, wenn immer sie Jung über etwas Unverständliches sei-
«
Das heißt für den Leser, dass hinter den Formulierungen mannigfaltige Erfahrungen stehen. Das ist Empirie und keine Philosophie, wie man manchmal seiner Psychologie nachsagt.
» Die Aufstellung eines psychologischen Gesetzes ist nichts als ein abgekürzter Ausdruck für mannigfaltige und doch als irgendwie einheitlich erfasste Prozesse. (6, 9)
«
Jungs Psychologie ist, das muss man sich stets
vor Augen halten, eine Erfahrungswissenschaft. sei Praktiker. Ich bin in erster Linie Forscher. (4, 601)
«
11
Mag es da verwundern, dass er kein Lehrbuch schreiben konnte? In seinem letzten Aufsatz »Zugang zum Unbewussten« in »Der Mensch und seine Symbole« (GW 18/I) hat er sich herbeigelassen, seine Psychologie so allgemeinverständlich wie möglich zu präsentieren, unterstützt durch zahlreiche Bilder. Das Bild gehört unbedingt zum Verständnis des psychischen Prozesses, der selber in seiner ersten Form aus dem Unbewussten bildhaft aufsteigt. Es mangelt dem vorliegenden Buch an Bildern, die das Gesagte zu veranschaulichen vermöchten. Zu seiner Arbeitsweise schreibt er:
»
Ich beschränke mich bei meiner täglichen Arbeit für lange Zeit aufs Beobachten. Aus den jeweiligen Beobachtungen abstrahiere ich mir eine möglichst allgemeine Formulierung, die ich dann so lange als Gesichtspunkt in der praktischen Arbeit verwende, bis sie sich entweder bestätigt oder gänzlich verändert hat. Hat sie sich bestätigt, so veröffentliche ich sie in der Form einer allgemeinen Anschauungsweise, ohne das
ner Lehre fragte, er stets Beispiele aus der Praxis zur Hand hatte, anhand welcher er die Unklarheit erhellte.
» Alles an dieser Psychologie ist, im Grunde genommen, Erlebnis; selbst die Theorie – auch da, wo sie sich am abstraktesten gebärdet – geht unmittelbar aus dem Erlebten hervor. (7, 199)
«
Daraus wird die Warnung verständlich:
» Ein bisschen Neurosenpathologie und -theorie ist (zur Kenntnis der Seele) völlig unzureichend, denn dieses medizinische Wissen hat bloß Kenntnis von einer Krankheit, weiß aber nichts von der Seele, die krank ist. (5, S. 15)
«
Das zeigt wiederum, dass für Jung das Lebendige im Vordergrund stand und keine Theorie darüber. Für viele ist die Theorie ein Schutz gegen die unmittelbare eigene Erfahrung wie die Dogmatik in der Theologie. Die eigene Erfahrung kann mein Buch nicht vermitteln, im besten Fall kann es dazu hinführen:
213 11.2 • Zur Vorgehensweise und zum Verständnis
» Niemand kann diese Dinge wirklich begreifen, der sie nicht selber erfahren hat. (7, 340) « Die Erfahrung ist das A und O nicht nur des Verständnisses der Jungschen Psychologie, sondern auch jeder Neurosentherapie.
» Psychologisch besitzt man nichts, was man nicht wirklich erfahren hat. (9/II, 61) « » [Denn] nur das, was einer wirklich ist, hat heilende Kraft. (7, 258) « Man kann daher jeder Menge Bücher über Neurosenlehre lesen oder unzählige »Methoden« der Neurosenbehandlung erlernen und erreicht dennoch keine heilende Wirkung. Aus der Erfahrung leitet der Forscher seine psychologischen Gesetzmäßigkeiten ab. Das sind allerdings keine unumstößlichen Dogmen, weil jedes Individuum einzigartig ist. Deshalb wäre es falsch, psychologische Gesetze schematisch auf den Einzelfall anzuwenden. Diese »Gesetze« sind Modelle:
» Ein Modell sagt nicht, es sei so, sondern es veranschaulicht nur einen bestimmten Betrachtungsmodus. (8, 381)
«
Wegen der Gegensatzstruktur der Psyche ist jedes psychologische Gesetz nur wahr, wenn man es auch umkehren kann.
» Es gibt keine allgemeinen psychologischen Sätze, die man nicht auch ebenso gut umkehren könnte, und eben gerade dadurch erweisen sie ihre Gültigkeit. (9/I, 483)
«
Das ist allerdings keine Wahrheit für schwache Hirne. Denn die Jungsche Psychologie ist geprägt von seinem paradoxen Denken. Dieses ist die höchstentwickelte Form des Denkens, welche den Gegensatz einschließt. Viele Menschen haben Mühe, dieses Denken zu verstehen und
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ziehen es daher vor, ein »Lehrbuch« über seine Psychologie zu lesen, statt sich um das Verständnis seiner eigenen Schriften zu bemühen. Denn:
» Es gibt Dinge, die heute noch nicht wahr sind, vielleicht noch nicht wahr sein dürfen, aber vielleicht morgen. (7, 201)
«
> Wir müssen stets bedenken, dass Jung unserer Zeit so weit voraus war, dass manches, das uns noch unverständlich scheint, erst in der Zukunft entdeckt werden wird.
Für dieses Buch habe ich systematisch das Oeuvre von Jung nochmals vollständig von GW 1–18 und die drei Briefbände durchgelesen. Das war hochinteressant, indem es mir nicht nur zahlreiche Perlen bescherte, sondern auch die Entwicklung Jungs eröffnete. Sein schöpferischer Genius (von welchem man nichts hört in Deirdre Bairs Biografie) entzündet sich an einer Fragestellung, umkreist das Problem von allen Seiten und lotet es in seinen Tiefen aus. Da habe ich verstanden, als mir diese Einsicht kam, dass er kein Lehrbuch schreiben wollte und konnte, obwohl er viel didaktisches Geschick aufweist, wie seine Seminarberichte zeigen. Seine Schriften sind Pionierarbeiten, und es ist den Epigonen überlassen, ihren Inhalt zu systematisieren. Dabei besteht die Gefahr, daraus eine Theorie oder ein Dogma zu machen und damit die lebendige Seele totzuschlagen. Jung hat diese Gefahr kommen sehen. So schreibt er in einem Brief an Baronin Vera von der Heydt vom 22.XII.1958:
» Man kann die wirkliche Situation nicht durch bloße Begriffe klären, sondern nur durch die entsprechende innere Erfahrung. Mit den Begriffen gerät man immer daneben, denn sie sind keine philosophischen Ideen, sondern bloß Namen für Erfahrungen. Deshalb werden die Sachen, die vorher konfus schienen, plötzlich klar, wenn man von der Seite der Erfahrung spricht. […] Von
214
Kapitel 11 • Carl Gustav Jung (1875–1961)
solchen Diskussionen (über Begriffe) sehen wir, was meiner wartet, wenn ich einmal postum geworden bin. Dann wird alles, was ehedem Feuer und Wind war, in Spiritus gesetzt und zu toten Präparaten gemacht. So werden die Götter in Gold und Marmor bestattet und die gewöhnlich Sterblichen wie ich in Papier. ([1] III, S. 210)
physische Hypothese die geistige Entwicklung meines Patienten entwerten, hindern oder gar zerstören. Gehe ich aber nur und in letzter Linie nach geistigen Richtpunkten, so werde ich den natürlichen Menschen in seiner physischen Daseinsberechtigung verkennen und vergewaltigen. (8, 678)
Man muss sich wieder daran erinnern, wie die Psychologie im 20. Jahrhundert entstanden ist und warum. Warum gab es nicht schon früher eine Tiefenpsychologie, wo doch Ansätze dafür – wie ich im ersten Teil ausgeführt habe – vorhanden gewesen wären? Sie ist eine Antwort auf die Krisen des 20. Jahrhunderts – aber nur, wenn sie lebendige Erfahrung ist!
Natur und Geist als Erklärungsgründe sind bloße Herkunftsbezeichnungen für die psychischen Inhalte, die sich in mein Bewusstsein drängen. (8, 681)
«
» Die Entdeckung der Psychologie war ganz den
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letzten Jahrzehnten vorbehalten, obschon frühere Jahrhunderte Introspektion und Intelligenz genug besaßen, um psychologische Tatsachen erkennen zu können. […] Es brauchte die seelische Not unserer Zeit, um uns zur Entdeckung der Psychologie zu veranlassen. […] Heute geht es nicht mehr ohne die Seele. (10, 159)
«
Man kann nur hoffen, dass die Psychologie in den Herzen der Menschen lebendig bleibt, womit weitere seelische Not vermieden werden könnte. Das ist jedoch, soweit ich sehe, weder in der Medizin noch in der Bevölkerung der Fall. Obwohl unser ganzes Leben primär psychologisch ist, wird der psychologische Aspekt scheu umgangen. Man verwechselt Psychologie zu oft mit einer psychologistischen Erklärung, welche nichts anderes als ein Missbrauch der Psychologie darstellt, die für alles eine »Erklärung« ad hoc zur Hand hat.
» Wir brauchen eine praktische Psychologie, die praktisch richtig ist, d. h. diejenigen Erklärungen liefert, die sich in ihren praktischen Ergebnissen bestätigen müssen. […] Kenne ich nur natürliche Werte, so werde ich durch meine
«
»
«
» Nachdem die bisherige Entwicklung der Psychologie ein Hauptgewicht auf die physische Bedingtheit der Seele gelegt hat, wird die zukünftige Aufgabe der Psychologie die Erforschung der geistigen Bedingtheit des seelischen Prozesses sein. (8, 687)
«
Jung hat das in einem Vortrag 1931 in Wien wohl im Hinblick auf den Materialismus von Freud
gesagt. Doch gilt es heute sogar noch mehr angesichts der technischen Fortschritte der Neurobiologie mit ihren bildgebenden Verfahren. Sie sind so verlockend eindrücklich, dass man glaubt, den Geist in einzelnen Hirnarealen fassen zu können. Dabei ist:
» Der Konflikt zwischen Natur und Geist ein Abbild des paradoxen seelischen Wesens: es hat einen physischen und einen geistigen Aspekt, der wie ein Widerspruch erscheint […] Psyche ist das allerrealste Wesen, weil es das einzig Unmittelbare ist […] die Realität des Psychischen. […] Der Konflikt zwischen physischem und geistigem Aspekt beweist nur, dass das Psychische ein in letzter Linie unerfassbares Etwas ist. (8, 680)
«
Alle Aussagen, die ich mache, mein Bild von der Welt, alles, was ich körperlich empfinde, alle meine Freuden und mein Leiden sind mir von der Psyche primär vermittelt.
215 11.2 • Zur Vorgehensweise und zum Verständnis
» Mit dieser Idee gewinnen wir die Möglichkeit, jener Seite des Seelischen, das sich in Aberglauben und Mythologie, in Religionen und Philosophie ausdrückt, gerecht zu werden. Und dieser Aspekt der Seele ist wahrlich nicht zu unterschätzen. (8, 683)
«
Die Idee der Realität des Psychischen ist noch längst nicht durchgedrungen, obwohl sie so einfach wie einleuchtend ist. Es gibt eben nicht nur die vernünftigen, sondern auch die Kräfte des Gemütes, welche in letzter Linie im Guten wie im Bösen entscheiden. Sie müssen unserer Vernunft zu Hilfe kommen, damit diese nicht ohnmächtig ist. Haben etwa Vernunft und gute Absicht vermocht, fragt Jung, die Weltkriege oder anderen katastrophalen Unsinn oder die größten geistigen und sozialen Umwälzungen oder die explosionsartige Ausbreitung des Islams zu verhindern? Zweifellos sind noch äußere Faktoren für solche Ereignisse verantwortlich, doch steht der psychische Primat stets an erster Stelle. Dasselbe gilt für unsere Arbeit als Ärzte und Psychotherapeuten.
» Wenn es schon das Vorurteil der bisherigen Medizin war, man könnte und sollte die Krankheit an und für sich behandeln und heilen, so werden doch in neuester Zeit Stimmen laut, welche diese Ansicht für Irrtum erklären und nicht die Behandlung der Krankheit, sondern die des kranken Menschen befürworten. Diese selbe Forderung drängt sich uns in der Behandlung der seelischen Leiden auf. Wir wenden unseren Blick mehr und mehr von der sichtbaren Krankheit weg und richten ihn auf den ganzen Menschen, denn wir haben eingesehen, dass gerade seelische Leiden nicht lokalisierte, eng begrenzte Phänomene sind, sondern an sich Symptome einer gewissen falschen Einstellung der Gesamtpersönlichkeit. Eine gründliche Heilung kann deshalb nie von einer auf das Leiden selber be-
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schränkten Behandlung, sondern nur von einer Behandlung der ganzen Persönlichkeit erhofft werden. (8, 684)
«
Der heutige Mainstream ist dem gerade entgegengesetzt. Die allgemein gebräuchlichen Diagnoseschlüssel (ICD, DSM) stellen das Symptom in den Mittelpunkt, und die Behandlung ist Symptombekämpfung. Jung ist deswegen so unpopulär, weil er sich dem kollektiven Mainstream entgegenstellt. Versteht man jedoch die Gründe für seine Auffassung, geboren aus der lebendigen Erfahrung, so kann man sie nachvollziehen. > Jung betonte immer wieder, dass es ihm nicht um eine Theorie gehe, sondern um die Formulierung von Erfahrungen.
Es steht jedermann frei, dieselben Erfahrungen zu machen. Erst dann ist er befugt, ihn zu kritisieren. Meist werden jedoch seine Begriffe oder sein System kritisiert ohne entsprechende Erfahrungen beizubringen, als ob es sich um eine Philosophie handeln würde. Bei dieser grundsätzlichen Diskussion über Materie und Psyche oder Körper und Psyche als Gegensätze vergisst man allzu leicht, dass der »Stoff uns genauso unbekannt ist wie der Geist. Über die letzten Dinge wissen wir nichts.« (8, 657) Wir müssen die Dinge im Großen sehen, um zu erkennen, dass wir Kinder unserer Zeit sind.
» Das Mittelalter dachte vom Geist aus, während wir stets von der Materie ausgehen. (18/I, 1787)
«
Wir sollten uns darum von der zeitbedingten Beschränkung lösen, um der Wahrheit näher zu kommen.
» Die Psychologe ist für mich eine ehrliche Wissenschaft, die ihre eigenen Grenzen kennt, und ich bin kein Philosoph oder Theologe, der an sei-
216
Kapitel 11 • Carl Gustav Jung (1875–1961)
ne Fähigkeit glaubt, die erkenntnistheoretischen Schranken überschreiten zu können. […] Der menschliche Geist kann sich nicht selbst übersteigen, obwohl die göttliche Gnade uns zumindest flüchtige Durchblicke in eine transzendentale Ordnung der Dinge erlauben kann und auch wohl erlaubt. […] Für die geistige Gesundheit des Patienten ist es von größter Wichtigkeit, dass er eine angemessene Erklärung für die Numina des kollektiven Unbewussten erhält. […] Ich halte dafür, dass Metaphysik kein Gegenstand der Wissenschaft sein kann. (18/II, 1591)
«
Mit dem letzten Satz des Zitates sind wir an ein zentrales Problem der Psychologie Jungs gestoßen, nämlich sein Verhältnis zur Metaphysik. In einem Brief an Dr. B. Lang von 08.VI.1957 zur Kontroverse Martin Buber und C.G. Jung ([10] S. 16ff.) schreibt dieser:
» Buber ist der irrigen Meinung, dass eine 11
metaphysische Behauptung entweder wahr sei oder unwahr, und er versteht nicht, dass ich als Psychologe und Psychiater das, was gesagt und geglaubt wird, zunächst einmal als eine Aussage betrachte, die zwar an sich eine Tatsache ist, von der aber nicht behauptet werden kann, sie sei wahr oder unwahr … Man kann von allen metaphysischen Behauptungen sagen, dass ihre Tatsächlichkeit darin bestehe, dass sie ausgesagt werden; man kann aber von keiner einzigen beweisen, dass sie wahr oder unwahr sei. Es liegt schon gar nicht in der Reichweite einer Naturwissenschaft, wie der Psychologie, dass sie die Wahrheit metaphysischer Behauptungen oder ihr Gegenteil auszumachen imstande sei. Es ist ein gänzlich antiquierter Standpunkt, und zwar schon seit den Zeiten Immanuel Kants, zu meinen, es stehe in der Macht des Menschen, eine metaphysische Wahrheit zu behaupten.
«
» Das ist und bleibt eine Prärogative des Glaubens. Dass man es glaubt, ist wiederum eine psychologische Tatsache, die aber nicht von
ferne einen Beweis bedeutet. Sie sagt bestenfalls aus, dass ein solcher Glaube existiere und dass er einem gewissen psychischen Bedürfnis entspreche. Da kein Bedürfnis des Menschen ohne Grund ist, so dürfen wir auch nicht erwarten, dass das Bedürfnis nach metaphysischen Aussagen auf einem entsprechenden Grund beruhe, auch wenn uns dieser Grund unbewusst sein sollte. Damit ist nichts behauptet und nichts geleugnet. ([1] III, S. 100f.)
«
Es ist natürlich schon den antiken Autoren des Sophistik und Skepsis nicht entgangen, dass der Wahrheitsanspruch der Philosophie grundsätzlich infrage zu stellen ist. Im Islam des 11. Jahrhunderts war es al-Ghazali mit der Lehre von der doppelten Wahrheit. Im Spätmittelalter der Nominalismus Ockhams und seiner Schule, welche die Metaphysikkritik förderten [12]. Diese Kritik ist bis in die neueste Zeit nicht mehr verstummt. Aber – sie hat seit der Aufklärung nicht nur die Religionen infrage gestellt, sondern auch alle irrationalen Phänomene überhaupt als Aberglaube abgetan. Erst der psychologische Standpunkt Jungs, wie er im zitierten Brief zum Ausdruck kommt, hat den Rationalismus beseitigt, in welchen die Aufklärung abgeglitten war, und dem Irrationalen in der Psyche und im Leben einen Platz bereitet. Damit wurde ein neuer Zugang zum Religiösen und zur Parapsychologie, um nur zwei wichtige Gebiete des Irrationalen zu nennen, geschaffen, die beide eine wichtige Rolle in der modernen Tiefenpsychologie spielen. Wie im Brief erwähnt, geht es bei der Religion nicht um die Frage »wahr oder unwahr«, welche wissenschaftlich nicht zu entscheiden ist, sondern um die Tatsache ihrer Aussagen, welche es zu verstehen gilt. Die Domäne des Glaubens bleibt außerhalb wissenschaftlicher Kritik. Wir werden uns später eingehend diesem Kapitel zuwenden, weil es in der Behandlung der Neurosen einen großen Stellenwert besitzt. Es ging mir an dieser Stelle
217 11.2 • Zur Vorgehensweise und zum Verständnis
bloß darum, Jungs Standpunkt klarzustellen für alles weitere.
» Dies mag eine déformation professionelle, die Voreingenommenheit eines naturwissenschaftlichen Gewissens, sein. Die Naturwissenschaft ist ein ehrlicher Versuch, hinter die Wahrheit zu kommen, und es gilt für sie die Regel, niemals mehr zu behaupten, als sich innerhalb vernünftiger und vertretbarer Grenzen beweisen lässt. Mit dieser Einstellung gehe ich auch an das Problem religiöser Erfahrung heran. (18/II, 1671)
«
Jung ist ein typischer Exponent jener großarti-
gen Bewegung, welche die modernen Naturwissenschaften, das saubere Durchdenken ihrer Resultate und alle damit verbundenen Fortschritte hervorbrachte. Doch im Gegensatz zum Rationalismus, in welchem diese Richtung steckenblieb, war er für alle Phänomene offen, auch wenn sie obskurer Natur schienen. So hat er uns die naturphilosophische Bewegung der Alchemie, jener verachteten Disziplin, entschlüsselt als Vorläufer der Tiefenpsychologie. Man hatte bloß nicht verstanden, dass die Alchemie eine Projektion des kollektiven Unbewussten in die unbekannten chemischen Prozesse war. Ähnliches war schon den Gnostikern passiert, welche unwissentlich Tiefenpsychologie in der Projektion in die Theologie betrieben. Heute glauben wir, dem Wesen des Unbewussten in der Psychologie eher auf der Spur zu sein. Allerdings drückt schon der Begriff des »Un-bewussten« unsere Zweifel über dessen wahre Natur aus. Es ist möglich, dass spätere Generationen uns nachweisen werden, welchen Projektionen wir aufgesessen sind. In dieser Hinsicht leisten wir, die wir uns um das Verständnis unbewusster Phänomene bemühen, ständig Pionierarbeit. Wir tasten uns, wie es alle großen Entdecker getan haben, die wir bewundern, sorgfältig ins Unbekannte vor. »Ich täuschte mich selber, wenn ich dachte, ich sei Praktiker« (4, 601), schreibt Jung am
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04.II.1913 in einem Brief an Dr. R. Loÿ vom Sanatorium L’Abri in Montreux. In diesem Briefwechsel hat er erstmals seine eigene Auffassung der psychoanalytischen Methode in knapper, leicht fasslicher Form beschrieben. Unsere Aufgabe als Analytiker ist eigentlich viel eher diejenige eines Forschers als die eines Praktikers. Der praktische Arzt erlernt eine Methode oder erwirbt sich in der Weiterbildung eine solche, um sie in seiner täglichen Arbeit anzuwenden. Damit fühlt er sich sicher, auch in juristischer Hinsicht. Der Forscher dagegen experimentiert ständig, um seine Erfahrungen zu sammeln, wobei ihm der Zweifel zur Seite steht. Das bewahrt ihn vor der Routine.
» Wir sollten endlich einmal aus der Geschichte der Medizin lernen, was alles schon einmal geholfen hat, dann kämen wir vielleicht einmal auf die wirklich nötige Therapie, nämlich auf die Psychotherapie. (4, 585)
«
Indem wir uns bei jedem neuen Fall ins Unbekannte vortasten, bleiben wir Forscher im besten Sinne. Dann kann uns sogar das Unbekannte selber Tipps geben, wie es behandelt werden will, um wieder ins Lot zu kommen. Man lernt aus einem Fall, der gut ging, nichts, sondern nur aus nicht gelungenen Fällen. Darum hat der Zweifel seinen Platz an der Seite des Analytikers. Das nicht etwa im Sinne einer generellen Unsicherheit, sondern im Sinne der Skepsis gegenüber der eigenen Leistung.
» Ich habe mir Guillaume Ferreros [italienischer Historiker und Soziologe 1871–1943] Wort zur Warnung dienen lassen: Ceux qui sont doués d’un esprit assez sérieux pour ne pas croire que tout ce qu’ils écrivent est l’expression de la vérité absolue et éternelle, approuveront cette théorie qui place les raisons de la science bien au-dessus de la misérable vanité et du mesquin amour propre du savant. (7, 200 A3)
«
218
Kapitel 11 • Carl Gustav Jung (1875–1961)
Die Bescheidenheit ist daher eine wichtige Tugend des Analytikers. Das ist die tägliche Erfahrung auch des Arztes, dass wir nie genug wissen und speziell, dass wir das nicht wissen, was wir gerade in diesem Falle brauchen würden. Wir kämpfen stets an der Grenze unseres Wissens, und wenn es trotzdem gut geht, ist es nicht einmal unser eigenes Verdienst, sondern das Deo concedente (Wille Gottes).
» Die Absicht der Forschung besteht ja nicht darin, sich im Besitz der alleinrichtigen Theorie zu wähnen, sondern durch Bezweiflung aller Theorien der Wahrheit allmählich näherzukommen. (8, 569)
«
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Eine Theorie ist immer ein verfängliches Ding: Man fühlt sich allzu sicher und fällt bei der nächsten Ausnahme von der Regel hinein. Der Leser soll daher keine Theorie über Neurosen und deren sichere Behandlung erwarten, sondern er muss mit diesem Wissen seine eigenen Erfahrungen machen. Das aus diesem Buch gewonnene Wissen wird ihm helfen, seine Erfahrung in den großen Zusammenhang einzuordnen zu einem Ganzen.
» Der Schatten, die Syzygie und das Selbst sind psychische Faktoren, von denen man sich nur auf Grund einer mehr oder weniger vollständigen Erfahrung ein genügendes Bild machen kann. (9/ II, 63)
«
Das ist eine der Schwierigkeiten mit der Psychologie, dass ihre Begriffe bloße Zeichen für eine innere Wirklichkeit sind, die man nur selber erleben kann, um sie zu verstehen. Jung hat deshalb eher bildhafte Ausdrücke wie »Schatten« statt abstrakte Begriffe gewählt. Erstere sind weniger klar abgegrenzt wie logische Begriffe, dafür entsprechen sie in ihrem bildhaften Reichtum dem Wesen der Psyche. Immer wieder stellt sich die Frage nach der psychischen Wirklichkeit. Ist z. B. Aberglaube oder Glaube überhaupt psychisch wirklich oder bloße Einbildung, Illusion, ein »Für-Wahrhalten«? Besonders aktuell stellt sich die Frage auch bei parapsychologischen, paranormalen Erscheinungen, die sogar in der Außenwelt auftreten können.
» Alles was ist, wirkt, sonst ist es nicht wirklich. Es kann nur sein vermöge seiner Energie. Das Seiende ist ein Kraftfeld. (10, 139)
«
» Die Psychologie, als eine der vielen Lebensäußerungen der Seele, arbeitet mit Vorstellungen und Begriffen, die ihrerseits wieder von archetypischen Strukturen abgeleitet sind und dementsprechend einen bloß etwas abstrakten Mythus erzeugen. Die Psychologie übersetzt die archaische Sprache des Mythus in ein modernes, als solches noch nicht erkanntes Mythologem, das ein Element des Mythus »Wissenschaft« bildet. (9/I, 302)
«
Der Mythus ist nicht, wie man heute meint, eine antiquierte Geschichte, sondern, wie ich später noch ausführlicher darlegen werde, die lebendige Form seelischer Aussage. Er spricht in Bildern wie das Unbewusste und nicht rational wie das Bewusstsein:
Jung behandelte daher derartige Phänomene als
psychisch wirklich, unabhängig von der Wahrheitsfrage. Derentwegen hat man sich bisher um diese Phänomene herumgedrückt, was einer unvoreingenommenen und offenen wissenschaftlichen Einstellung widerspricht. Auch hier bedarf es einer bescheidenen Haltung.
» Es hat schon allzu viele gegeben, die an der Größe ihrer eigenen Worte umgefallen sind. (10, 148)
«
Unter diesen Phänomenen gibt es natürlich sehr viel Bluff, Betrug und Wichtigtuerei. Die Wertungsfunktion des Gefühls ist daher ganz be-
11
219 11.2 • Zur Vorgehensweise und zum Verständnis
sonders gefragt, um Wertvolles vom wertlosen Plunder sondern zu können.
derjenigen der sogenannt Normalen nur unbedeutend verschieden, denn – wer ist heutzutage todsicher nicht neurotisch? (8, 667)
«
» [Der moderne Mensch] ist erst dann ganz modern, wenn er zum äußersten Rande der Welt gelangt ist, hinter ihm Abgefallenes und Überwundenes, vor ihm das zugestandene Nichts, aus dem noch alles werden kann. (10, 150)
«
Jungs Psychologie ist modern im besten Sinne,
d. h. dem aktuellen Zeitgeist weit voraus, der noch aufklärerischen Rationalismus und Materialismus mit sich schleppt. Man kann daher seine Psychologie nur auf dem Hintergrund der Geschichte verstehen und erkennen, was sie alles hinter sich gelassen, von was sie sich emanzipiert hat. Denn die vergangenen Geisteszustände kleben an uns, werden unbewusst mitgeschleppt und verbauen uns die Sicht aufs Neue, Revolutionäre.
» Die Menschheit ist in der großen Hauptsache psychologisch noch in einem Kindheitszustand [indem sie der Autorität, der Führung und des Gesetzes bedarf ]. (7, 401)
«
Daran lässt sich nicht viel ändern, weil der kollektive Geist sich erst mit einer Verzögerung von Jahrhunderten den Fortschritten anpasst. Der Psychotherapeut hat es aber oft mit intelligenten, gebildeten Menschen zu tun. Diesen genügt der Zeitgeist nicht, ja sie kranken sogar am Zeitgeist, weil etwas in ihnen darüber hinaus drängt. Ihnen ist nur ein Therapeut gewachsen, der sich vom Zeitgeist emanzipiert hat, also wirklich modern ist.
» Wenn man die Psychologie Neurotischer studiert, so kommt es einem direkt lächerlich vor, dass es überhaupt Psychologen gibt, welche Psyche mit Bewusstsein gleichsetzen. Und die Psychologie Neurotischer ist bekanntlich von
Das Revolutionäre der Pioniere der Tiefenpsychologie ist die Entdeckung der Funktion des Unbewussten [8]. Nur bei Jung wurde dieses jedoch in seinem ungeahnten Umfang und seiner zentralen Rolle im Leben erkannt. Für alle anderen begnügte es sich damit, den Störenfried und Spielverderber für psychopathologische Phänomene zu spielen.
» Psychologie ist weder Biologie noch Physiologie noch irgendeine andere Wissenschaft als eben das Wissen um die Seele. (9/I, 63)
«
Man kann die Psyche nicht als Epiphänomen des Körpers noch des Geistes verstehen. Sie ist ein Urprinzip, welches sich nicht auf bloße Triebe oder auf ein extramundanes Geistwesen reduzieren lässt. Da muss uns die Definition der Wirklichkeit, wie ich sie oben angeführt habe, zu Hilfe kommen. Dass wir auch von transzendentalen Faktoren noch zusätzlich bestimmt sein könnten, ist dabei nicht ausgeschlossen, bloß wissen wir darüber nichts Sicheres, insofern:
» … neurotische Prozesse nichts anderes sind als Übertreibungen normaler Ereignisse, so ist es weiter nicht erstaunlich, wenn ganz ähnliche Dinge auch in der Breite des Normalen vorkommen. (9/I, 244)
«
Daher ist die Abgrenzung zwischen dem Normalen und dem Neurotischen oft nicht einfach. Diese Tatsache ermöglicht es uns andererseits, uns in den Neurotiker einfühlen zu können, was uns beim Psychotiker viel schwerer fällt. Bei diesem kommen archetypische Bilder und archaische Verhaltensweisen an die Oberfläche, die uns eher fremd sind.
220
Kapitel 11 • Carl Gustav Jung (1875–1961)
» Archaisch heißt anfänglich, ursprünglich. Von heutigen, zivilisierten Menschen etwas Gründliches zu sagen, gehört zu den schwierigsten und undankbarsten Aufgaben, die man sich denken kann, weil einer spricht, der durch dieselben Voraussetzungen beschränkt und durch dieselben Vorurteile geblendet ist wie die, über welche er Überlegenes aussagen sollte. (10, 104)
«
> Es ist einfacher, Symptome zu beschreiben, die von der Norm abweichen, als zu definieren, was normal ist. Das birgt die Gefahr, dass man überall eher das Pathologische wittert, als das Gesunde. Das aber ist verheerend für die Therapie, denn sie sollte die gesunden Ressourcen fördern, statt auf die Pathologie fixiert zu bleiben.
» Vor allem meint jeder, dass Psychologie das 11
sei, was er am besten kenne – Psychologie ist doch immer seine Psychologie, und die kennt nur er, und zugleich ist seine Psychologie doch die Psychologie überhaupt. (10, 276)
«
Jeder nimmt naiverweise sich zum Maßstab, an welchem er die anderen misst, unter der stillschweigenden, d. h. unbewussten Voraussetzung, dass er normal und »das Maß aller Dinge« sei. Dabei ist er viel mehr als das, was er von sich weiß. Darum erlebt er in der Lehranalyse die wunderlichsten Dinge, welche dazu angetan sind, ihn von seiner Naivität gründlichst zu heilen. Dasselbe gilt nicht nur für den Therapeuten, sondern in noch höherem Maße für den Neurotiker. Er verstrickt sich mit dieser Mentalität nur umso mehr in seine Pathologie.
» Die Patienten haben sowieso die Neigung, in verderblichster Weise mit den alten Methoden weiterzuwursteln und damit ihre Lage nur zu verschlimmern. (10, 297)
«
Wir sehen nicht über den Rand unserer Subjektivität hinaus. Sobald sich pathologische Zeichen in einer Situation melden, versuchen wir sie mit doppelter Anstrengung zu überwinden. Wir geben uns aber nicht Rechenschaft, dass wir das in der gleichen falschen Haltung tun, welche uns zum Verhängnis wurde. Die doppelte Anstrengung führt uns deshalb nur noch mehr in die Symptomatik hinein. Es würde einer Neuorientierung bedürfen, um aus dem Teufelskreis herauszukommen. Doch haben wir diesen Überblick gar nicht, weil wir in unserer Subjektivität befangen sind.
» In der Neurose tritt dem Arzt nicht ein abgeschlossenes Krankheitsgebiet entgegen, sondern ein kranker Mensch, der nicht aus einem einzelnen Mechanismus oder einem isolierten Krankheitsherd heraus krank ist, sondern vielmehr aus dem Ganzen seiner Persönlichkeit. […] Die Persönlichkeit des Kranken fordert die Persönlichkeit des Arztes auf den Plan und nicht technische Kunstgriffe. (10, 338)
«
Der Arzt als Spiegel ermöglicht dem Patienten, aus seiner Einseitigkeit herauszukommen, in welche er sich verrannt hat.
» Der gewöhnliche Arzt kann alle möglichen medizinischen Techniken anstandslos verwenden, ob er nun diese oder jene Meinung über seinen Patienten, diese oder jene psychologischen Theorien oder gar philosophischen oder religiösen Voraussetzungen hat. Psychotherapie kann aber nicht so verwendet werden. Nolens volens ist der Arzt mit allen seinen Voraussetzungen dabei, so gut wie der Patient. […] Nicht die Neurose ist das Objekt der Therapie, sondern der, der eine Neurose hat. (10, 337)
«
Der Therapeut ist das Heilmittel! Das beinhaltet eine große Verantwortung. Der Patient braucht ein Gegenüber, einen Menschen wie er selber, mit welchem er sich auseinandersetzen kann.
11
221 11.2 • Zur Vorgehensweise und zum Verständnis
Das ist etwas, was unter der Macht der Pharmaindustrie zunehmend verloren zu gehen droht.
» Solange Psychotherapie in Hypnotismus, Suggestion, Persuasion, »rééducation de la volonté«, Couéismus und anderem bestand, konnte jedermann die Kunst auswendig lernen und seinen Spruch an passender oder unpassender Stelle hersagen. (10, 333)
«
Die Versuchung, zu diesen Methoden zurückzukehren, ist anscheinend übermächtig, indem heute wieder ähnliche (wie Verhaltenstherapie) Triumphe feiern, nur weil sie nicht so große Ansprüche an die Persönlichkeit des Arztes stellen.
» Geht nicht gerade aus dieser Vielfalt (der Techniken und Standpunkte) und Gegensätzlichkeit schlagend hervor, dass es sich um weit mehr als bloß um eine »Technik« handelt? […] Nur allzu viele verschanzen sich hinter Lehrsätzen, die sie mit dem nicht zu berührenden Heiligenschein des Dogmas umgeben. […] Fanatismus ist der nie fehlende Bruder des Zweifels. (10, 335)
«
Viele Kämpfe unter den verschiedenen »Schulen« würden sich vermeiden lassen, wenn man diesen Satz beherzigen würde.
» Ich habe es erlebt, dass sogar elementare und für die praktische Behandlung ungemein wichtige Unterscheidungen wie Subjekt- und Objektstufe der Deutung, Ich und Selbst, Zeichen und Symbol, Kausalität und Finalität usw. sich als allzu hohe Anforderungen an die Denkfähigkeit herausstellten. Aus dieser Schwierigkeit ist das zähe Festhalten an rückständigen und längst revisionsbedürftigen Auffassungen zu erklären. (8, 526)
«
Eingangs habe ich darauf hingewiesen, dass die Jungsche Psychologie keine leichte Kost ist. Man muss sich schon darauf einlassen. Ich erinnere mich, dass ich bei der ersten Lektüre eines Textes
in »Gestaltungen des Unbewussten« gar nichts verstand. Der Jung ist ein berühmter Mann, dachte ich mir, also muss der Text doch etwas bedeuten. Ich las ihn wieder und wieder. Allmählich und mit der eigenen Erfahrung hat sich mir sein Sinn eröffnet. Die Seele ist das größte Rätsel, das wir zu ergründen uns anschicken. Daher ist nicht zu erwarten, dass ihre Beschreibung einfach sein könnte.
» Ich glaube in der Tat, dass Erfahrung ohne reflektierende Überlegung gar nicht möglich ist, weil »Erfahrung« ein Assimilationsprozess ist, ohne welchen es überhaupt kein Verstehen gibt. Aus dieser Feststellung folgt, dass ich von einem naturwissenschaftlichen und nicht von einem philosophischen Standpunkt aus an die psychologischen Tatbestände herangehe. (11, 2)
«
Die Jungsche Psychologie wird in den Lehrbüchern oft unter »philosophischer Psychologie« abgehandelt. Dieses Missverständnis stammt von einem falschen Verständnis von Naturwissenschaft. Physik müsste mit noch viel größerem Recht als Philosophie gelten, weil sie höchste Ansprüche an die Denkfunktion stellt. Ihr Objekt ist aber eindeutig die Gesetzmäßigkeit der Natur wie jene der Psychologie. Die Geheimnisse der Natur eröffnen sich nicht jedem blöden Verstand so wenig in der Physik wie in der Psychologie.
» Das ist das schicksalsmäßige Glück und Unglück der empirischen Psychologie, dass ihr Standort zwischen allen Fakultäten liegt, was eben davon herrührt, dass die menschliche Seele an allen Wissenschaften teilhat, weil sie mindestens die halbe Voraussetzung zur Existenz aller bildet. (16, 209)
«
» Während sich die allgemeine Medizin auf Anleihen bei den Naturwissenschaften beschränken kann, braucht die Psychotherapie dagegen auch die Hilfe der Geisteswissenschaften. (16, 210)
«
222
Kapitel 11 • Carl Gustav Jung (1875–1961)
Das hat gewisse Leute verführt, die Jungsche Psychologie als philosophisch einzustufen. Sie umfasst jedoch nicht nur die Geistes-, sondern alle Wissenschaften, denn es gibt keine Aussage, die nicht von der Psyche gemacht würde. Die Schwierigkeit mit der Psyche ist ihre Tricksternatur. Sie entzieht sich dem Erfassen letztlich, weil sie nicht nur das einigermaßen rationale Bewusstsein, sondern ebenso sehr das irrationale Unbewusste umfasst.
» Das Unbewusste des einen projiziert sich auf den anderen, d. h. was der eine bei sich übersieht, wirft er dem anderen vor. (10, 39)
«
Das bedeutet, dass man jede psychologische Aussage sehr genau daraufhin prüfen muss, ob sich darin nicht eine Projektion verbergen könnte. Zudem ist die Psyche nichts Statisches.
» Die Natur enthält nicht nur einen Wandlungsprozess – sie ist die Wandlung selber. (13, 198) « 11
Sie ist eine Art Proteus, der sich in der griechischen Mythologie in verschiedene Wesen verwandeln kann, wodurch er sich dem Zugriff ständig entziehen kann. Er gibt aber letzten Endes doch bereitwillig aus seiner Weisheit Auskunft auf alle Fragen. Dieser Meergreis ist ein sprechendes Symbol für das Wesen des Psychischen. Wer es sich nicht verdrießen lässt, unentwegt diesem versatilen Wesen nachzuspüren, findet sich letztendlich auf dem Wege der Individuation. Er hat zwar nicht den Mercurius der Alchemisten eingefangen, aber seinem Leben Ziel und Sinn verliehen.
» Jeder trägt die Leuchte der Erkenntnis nur eine Strecke weit, bis sie ihm ein anderer abnimmt. (16, 157)
«
Literatur Primärliteratur (Quellen) 1 Jaffé A (Hrsg.) (1972/73) Briefe. Erster Band 1906–1945 (1972); Zweiter Band 1946–1955 (1972); Dritter Band 1956–1961 (1973 mit Nachtrag neu aufgefundener Briefe). In Zusammenarbeit mit Adler G, London. Walter, Olten Freiburg 2 Jung CG (1995) Gesammelte Werke. Paperback Sonderausgabe. Gesammelte Werke. Walter, Solothurn Düsseldorf 3 Jung CG (1955) Versuch einer Darstellung der psychoanalytischen Theorie (1912), englisch gehalten an einem »Extension Course« der Fordham University, New York. Zweite leicht bearbeitete Auflage. GW 4, S. 107–255 4 Jung CG (1943) Über die Psychologie des Unbewussten; zuerst erschienen als »Neue Bahnen der Psychologie« (1912), dann »Die Psychologie der unbewussten Prozesse« (1917), dann »Das Unbewusste im normalen und kranken Seelenleben« (1926). GW 7, S. 18–125 5 Jung CG (1926) Die Beziehungen zwischen dem Ich und dem Unbewussten, hervorgegangen aus einem Vortrag »La structure de l’inconscient« (1916), dann als »The conception of the unconscious« englisch in den Collected Papers on Analytical Psychology (1920) erschienen, schließlich stark bearbeitet und erweitert 1934. GW 7, S. 129–247 6 Jung CG (1968) Zugang zum Unbewussten, erschienen als »Approaching the unconscious« in »Man and his symbols (1964), für die englische Ausgabe stark bearbeitet und in Kapitel aufgeteilt, die der deutschen Übersetzung in den Gesammelten Werken (GW) Bd. 18/I, S. 199–285 zugrunde liegt Sekundärliteratur 7 Bair D (2005) C.G. Jung – Eine Biographie. Knaus, München. (Originalausgabe: Jung. A biography) 8 Ellenberger HF (1973) Die Entdeckung des Unbewussten. Hans Huber, Bern Stuttgart Wien 9 Jacobi J (1939) Die Psychologie von C.G. Jung (mit einem Geleitwort von Jung) 10 Ribi A (1999) Die Suche nach den eigenen Wurzeln. Die Bedeutung von Gnosis, Hermetik und Alchemie für C.G. Jung und Marie-Louise von Franz und deren Einfluss auf das moderne Verständnis dieser Disziplin. Peter Lang, Bern 11 Ribi A (2005) Eros und Abendland: Geistesgeschichte der Beziehungsfunktion. Peter Lang Bern 12 Ritter J, Gründer K (Hrsg.) (1980) Historisches Wörterbuch der Philosophie. R-Sc. Wiss. Buchgesellschaft, Darmstadt, s.v. Metaphysikkritik: H.J. Cloeren. S. 1280ff.
223
Abgrenzung zu Freud und Adler 12.1
Entwicklung einer eigenen analytischen Sichtweise – Jungs frühe Schriften – 224
12.1.1 12.1.2 12.1.3 12.1.4
Wider Freuds Libidotheorie – 224 Kausalität und Finalität – 228 Über die Komplexe – 229 »Der Rest ist Schweigen« – 235
12.2
Jungs Äußerungen in seinem späteren Werk – 236 Literatur – 246
A. Ribi, Neurose – an der Grenze zwischen krank und gesund, DOI 10.1007/978-3-642-16148-3_12, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
12
224
Kapitel 12 • Abgrenzung zu Freud und Adler
12.1
Entwicklung einer eigenen analytischen Sichtweise – Jungs frühe Schriften
Die meisten Jungianer sind beim »Versuch einer Darstellung der psychoanalytischen Theorie« stehen geblieben, weil sie so übersichtlich ist. Sie haben kaum bemerkt, dass sie sich weiterentwickelt hat. Man kann seinen Standpunkt aber nur verstehen, wenn man die Abweichungen von Freud und Adler beachtet. Es heißt ständig, Jung sei ein Schüler Freuds gewesen. Das stimmt nur bedingt: Aus seinen frühen Schriften (GW 1 und 3) wird ersichtlich, dass er von Anfang an seine eigenen Ideen hatte, lange bevor er mit Freud (1907) zusammentraf. Durch diese Schriften ist Freud erst auf Jung aufmerksam geworden, besonders über dessen Assoziationsstudien (GW 2), welche bahnbrechende Erkenntnisse im Bereich der Komplexe hervorbrachten.
12
Ich kann natürlich den Leser nicht davon befreien, Jungs frühe Schriften selber zu lesen. Aber ich kann ihn in diesem Zusammenhang auf das Wesentliche hinweisen. Da ist zunächst der Hinweis auf die Psychogeneität, den psychischen Ursprung, der Neurosen in Anlehnung an die Studien von Breuer und Freud, wichtig (4, 207). Früher war man sich insbesondere bei der Hysterie unsicher, wo körperliche Symptome, eine Art Mimikry, vorkommen. Auch heutzutage spielt die Abgrenzung zwischen psychogenen und körperlichen Erkrankungen eine nicht zu unterschätzende Rolle, besonders bei Migranten. Die scharfe Abgrenzung des Begriffes »psychogen«, der uns heute so selbstverständlich scheint, verdanken wir Paul Julius Möbius (1853–1907), einem deutschen Neurologen, der auch Freud beeinflusst hat (2, 661). Wichtig zur Beurteilung, ob eine Krankheit psychogen oder körperlich ist, ist der Begriff der »Simulation«, dem bewussten Imitieren einer Störung, besonders von Schmerzzuständen (1, 301 u. 356).
Wie ich in 7 Kap. 4 über das Trauma, die seelische Verwundung, ausgeführt habe, spielte es in dieser Pionierphase eine große Rolle (4, 205). Nach der Entdeckung der Komplexe (3, 77) war es so einleuchtend, dass ein einschneidendes Erlebnis im Leben eines Patienten eine Wunde in Form eines Komplexes zurücklassen würde. Deshalb wurde die Lebensgeschichte nach solchen, meist unbewussten, Traumata durchforstet – und siehe da, man fand sie in jeder nur wünschbaren Anzahl, zurück bis zum »Geburtstrauma« (Otto Rank). Derartige Traumata können unbewusst in körperliche Symptome verwandelt werden: Konversionsneurosen.
12.1.1
Wider Freuds Libidotheorie (7 Kap. 13)
Wie aber ist das möglich, fragt man sich? Freud hat zunächst, alle Traumata als sexueller Natur aufgefasst, was heute – o Wunder! – wieder höchste Aktualität als »Missbrauch« genießt (7 Kap. 10). Jung hat schon von Anfang an Bedenken gegen eine derartige Einschränkung auf einen einzelnen Trieb angemeldet. Der Schock würde eine Erregung, einen Affekt, auslösen, der sich im Normalfall mit einem Wutausbruch o. Ä. Luft verschafft: Abreaktion. Dem Neurotiker ist dieser Weg versperrt und die Energie der Wut muss sich andere Wege suchen, weil sie zurückgehalten wird: Freud spricht vom eingeklemmten Affekt. Diese Energie, was Jung als Libido bezeichnet, wird in ein körperliches Symptom umgewandelt. > Am Streit über den Begriff der Libido ist die Freundschaft zwischen Freud und Jung 1912 zerbrochen ([1] S. 171).
In der Freudschen Verwendung bedeutet Libido sexuelles Bedürfnis oder sexuelles Wollen. In der medizinischen Terminologie ist das noch heute so. Der klassische Gebrauch dieses Wortes (Cicero, Sallust) ist jedoch viel allgemeiner
225 12.1 • Entwicklung einer eigenen analytischen Sichtweise – Jungs frühe Schriften
im Sinne von leidenschaftliches Begehren (4, 252). Damit bezeichnet er die psychische Energie ganz allgemein, welche verschiedenster Anwendungen fähig ist. Sie kann eben eine unterdrückte, d. h. verdrängte, Emotion in ein körperliches Symptom umwandeln. Dabei spielt das Gesetz von der Erhaltung der Energie auch in der Psyche, ohne dass man psychische mit der physikalischen Energie gleichstellen dürfte (8, 26f.). Ich werde später noch ausführlich auf den energetischen Gesichtspunkt eingehen. Freud musste nämlich mit vermehrter Erfahrung seine Sexualtheorie der Neurose aufgeben, denn es stellte sich heraus, dass viele der von den Patienten angegebenen sexuellen Übergriffe auf Suggestion vonseiten des Analytikers beruhten (s. Fall Pappenheim 7 Abschn. 9.2). Es handelt sich zwar nicht um plumpe Betrügereien, sondern um Phantasieprodukte der Patienten unter der Erwartung des Analytikers. Das bedeutet aber nicht, dass keine sexuellen Übergriffe in der Kindheit vorkommen, ja sie sind sogar sehr häufig, aber – und das ist der springende Punkt – in den seltensten Fällen traumatisierend (Die Dunkelziffer ist sehr hoch!). Damit fällt Freuds Theorie vom sexuellen Jugendtrauma in sich zusammen. Das heißt, das Trauma wird in den meisten Fällen, ohne dauernden Schaden zu hinterlassen, verarbeitet. Das ist der Normalfall. Wo das nicht geschieht, sondern das Trauma – und nun kann es irgendein Trauma sein – Spuren hinterlässt und zur Neurose im Erwachsenenalter führt, kommt ihm etwas vonseiten der Persönlichkeit des Patienten entgegen. Das kann eine besondere Sensibilität oder ein Mutter- resp. Vaterkomplex u. Ä. sein. Diese Instinktstörung ist dafür verantwortlich, dass das Trauma nicht natürlich verarbeitet wird. Es gibt wohl kaum ein Leben, in welchem nicht zahlreiche Traumata vorkommen und doch entwickeln sich die meisten Menschen zu lebenstüchtigen Individuen. Der Abweg in die Neurose ist daher die Ausnahme. Man hat der Disposition, der Bereitschaft der Persönlichkeit, ein Trauma
12
nicht normal zu verarbeiten, die größere Bedeutung eingeräumt. Die Ubiquität der Traumata hat deren Gewicht vermindert zugunsten einer, wie man früher glaubte, degenerativen Heredität oder wie wir heute eher denken, einer neurotischen Entwicklung. z
Verdrängung
Was von diesen frühen Studien sicher bleibt, ist das Konzept der Verdrängung. Unangenehme Erinnerungen werden »vergessen«. Nun kann man in der Psyche Unliebsames nicht einfach »ausradieren«. Hier bestätigt sich die energetische Betrachtungsweise: Jede emotionale Vorstellung besitzt einen gewissen Libidobetrag, der, ebensowenig wie physikalische Energie, vernichtet werden kann. Wenn sie im Bewusstsein keine Repräsentanz mehr hat, ist sie ins Unbewusste abgewandert, wo sie archaische Vorstellungen beleben kann, etwa inzestuöse Phantasien. Das ist die Quelle der von Freud beobachteten Geschichten vom frühkindlichen Missbrauch! Diese einfachen Tatsachen, welche etwa vor hundert Jahren geklärt wurden, sind noch heute nicht Allgemeingut. z
Traumauffassung
Verdrängte psychische Inhalte sind im Unbewussten verloren, d. h. sie können vom Bewusstsein nicht mehr abgerufen werden wie gewöhnliche Erinnerungen. Das macht die Sache insofern schwierig, als der Therapeut nicht einfach nach diesen Inhalten in der Anamnese forschen kann, sondern einen anderen Weg beschreiten muss, um an diese verschütteten Erlebnisse heranzukommen. Anfänglich hat man geglaubt, in der Hypnose, die Charcot so erfolgreich verwendet hat, einen Zugang gefunden zu haben, bis sich das als Suggestion herausstellte. Freud war der erste, der die uralte Methode der Traumanalyse zur via regia zum Unbewussten erkor. Er hat die Träume als die großen Verwandlungskünstler verstanden, welche unliebsame, peinliche Inhalte so kaschieren, dass sie das Traumbewusstsein
226
Kapitel 12 • Abgrenzung zu Freud und Adler
erreichen und ihre Botschaft in verschlüsselter Form diesem überbringen können. > Jung hat Freuds Traumauffassung von Anfang an als willkürlich abgelehnt. Für ihn ist der Traum ein Naturprodukt, das weder etwas verfälschen noch verheimlichen muss.
12
Natur ist ruchlos und ungeschminkt. Wenn das Bewusstsein etwas nicht annehmen kann, so liegt das Problem nicht bei der Natur, sondern bei diesem. Es hat sich von seinen natürlichen Grundlagen entfremdet. Wir können nicht die Natur verklagen, sie sei schamlos und unverblümt. Sie ist das unumstößliche Sosein, und wir müssen uns nach ihr richten, um nicht unnatürlich zu werden. Wer etwas Erfahrung mit Träumen hat, ist immer wieder erstaunt, wie unverschämt sie manchmal sein können. Wir machen uns wohl heute keine Vorstellung mehr, wie schockierend Freuds Ideen von der Tragweite der Sexualität für die psychologische Entwicklung des Menschen wirkten, und insbesondere wenn er dem Kind eine polymorph-perverse Sexualität attestierte. Seine Ideen haben ihre Wirkung auf das prüde viktorianische Zeitalter nicht verfehlt. Er hat die Menschen aufgerüttelt, weil sie nun eine dunkle Seite haben, welche sie vor der Welt, aber oft auch vor sich selber verbergen. Freud hatte hier eine aufklärerische Kulturfunktion. Mit der heutigen Freizügigkeit in sexualibus würde man denken, sei diese Funktion abgeschlossen. Doch es wird weiter »aufgeklärt«: Nicht nur, dass sich heute Homosexuelle in der Öffentlichkeit sogar getrauen, sich zu »outen«, dass jede Menge und Art von Pornographie öffentlich zugänglich ist, selbst für Minderjährige, dass diese schon in zartem Alter ausprobieren müssen, was diese Industrie ihnen als letzten Kitzel vorgaukelt. Trotzdem bleibt eine Leere, ein Unbefriedigtsein, ein Mangel an sexueller Revolution zurück. Die bisherige, von Freud inaugurierte bis Wilhelm Reich und darüber hinaus
reichende Aufklärung war eben einseitig biologisch, ein »nichts als«. Man hat die numinose, geistige Seite der Sexualität übersehen. Sicher ist die rein biologische Funktion, wenn man sie physiologisch genauer untersucht (Masters und Johnson), ein Wunder der Natur. Aber sie ist auch bloß »natürlich«, was ihre emotionale Ladung nicht erklärt. Ihre biologische Funktion ist heute weitestgehend bekannt, ihre geistige Funktion steckt noch in den Kinderschuhen. Vielleicht hindert sogar der Konkretismus der biologischen Erkenntnisse das symbolische Verständnis des geistigen Aspektes. Jung hat da einen bedeutsamen Schritt mit seinem späten Werk »Mysterium coniunctionis« gemacht, aber wenig Verständnis gefunden. Die Sexualität scheint so aufdringlich konkret, dass man ihren faszinierenden psychologischen Aspekt übersieht. Das ist sogar dem Pionier selber passiert, indem sich Freud nie gefragt hat, weshalb er ständig von der Sexualität reden musste! Diese hatte für ihn einen religiösen Wert und der unterliegt dem Geheimnis und der Geheimhaltung. Damit schließt sich der Kreis: Freud ist ausgezogen, diese verlogene viktorianische Welt, welche vorgab, der Mensch bestehe nur aus dem »Schönen, Wahren, Guten« (Platon) auf seine untermenschliche tierische Seite aufmerksam zu machen. Er stieß bei dieser verschämt verhüllten Seite auf die Sexualität, zog sie aus ihrem verstaubten Winkel ans Licht, um schließlich zu erklären, dass es gar keinen Grund gebe, sich ihrer zu schämen. Denn das alles sei vollkommen natürlich, auch die lieben Tiere würden es tun, so dass der Ausdruck »tierisch« nichts Abschätziges beinhalte. Er hat sich nicht gefragt, weshalb denn etwas so Selbstverständliches, bloß Natürliches versteckt und mit Scham belastet sein sollte. Da muss doch noch etwas Wesentliches dahinterstecken. Aus ethnologischer Sicht betrachtet, ist »das große Geheimnis« stets mit dem Tabu umgeben. Ethnologen haben alles daran gesetzt, dieses Verborgene zu entdecken und waren höchst erstaunt, wenn man ihnen
227 12.1 • Entwicklung einer eigenen analytischen Sichtweise – Jungs frühe Schriften
12
nach langem Zögern und unter allen möglichen Vorsichtsmaßnahmen schließlich einen »Stein« (lapis) zeigte. In ihrer Aufgeklärtheit verstanden die Ethnologen gar nicht, weshalb man um einen gewöhnlichen Stein ein derartiges Tam-Tam machen konnte. Etwas Ähnliches ist Freud passiert, nur war er einerseits vom Geheimnis fasziniert, andererseits aber glaubte er es als natürliche Funktion entlarvt zu haben.
le mehr findet. Doch der Mechanismus ist derselbe: Die Libido ist ins Unbewusste abgesunken, vielleicht einfach noch tiefer als im ersten Fall. Dort muss man sie aufspüren, d. h. man muss »im Unbewussten fischen«. Dagegen erheben sich oft Widerstände, welche man mit viel Geduld überwinden muss in der festen Überzeugung, an die Libido heranzukommen.
» Wissenschaftliche Theorien sind nur Vorschlä-
Das gilt besonders für schöpferische Inhalte, welche sich dem Bewusstsein nähern. Da stellt sich oft eine Melancholie ein [20], indem der neue Inhalt, der im Unbewussten konstelliert ist, die ganze Libido aus dem Bewusstsein an sich zieht. Wenn das »Kind« dann geboren ist, zeigt sich sogar eine Belebung im Bewusstsein, weil dieses ja durch den neuen Inhalt bereichert wurde. Es kann aber auch der Fall eintreten, dass die Libido aus dem Bewusstsein verschwunden ist, das Unbewusste aber auch nicht belebt wurde. Man muss sich stets fragen, wohin die Libido entschwunden ist. Sie kann sich ja nicht in Nichts auflösen! Oft steckt sie dann in einem neurotischen Symptom (z. B. Stereotypie oder Zwang). Daraus ersieht man, wie fruchtbar der energetische Gesichtspunkt ist. Die Libido ist vielfältiger Anwendung fähig. Sie ist neutral. Doch was bestimmt die Richtung, das Anwendungsgebiet der Libido? Zweifellos können wir sie nur in sehr geringem Maße dirigieren. Denn welcher Anstrengung bedarf es, die Erstklässler dazu zu erziehen, still zu sitzen, nicht aus dem Fenster zu schauen, aufzupassen, sich zu konzentrieren, nicht mit dem Nachbarn zu schwatzen etc.? Das alles dient dazu, die Libido auf ein Ziel zu richten: Aufmerksamkeit. Die Libido folgt meist dem natürlichen Gefälle, d. h. vom höheren zum niedrigen Niveau. Das merkt man, wenn man müde ist. Man kann sich nicht mehr konzentrieren und ein anspruchsvolles Buch lesen. Darum schauen die meisten Leute abends fern. Man kann sogar dabei einschlafen,
ge, wie man die Dinge betrachten könnte. (4, 241)
«
Sie sind keine unumstößlichen Dogmen und sie können jederzeit neuen Tatsachen angepasst werden. Beim Streit unter den Schulen geht es meist nicht um neue Fakten, sondern um andere Gesichtspunkte, andere Blickwinkel. Sie haben mehr mit den subjektiven Voraussetzungen als mit den Forschungen zu tun. Ich werde im Zusammenhang mit der Therapie auf diese Frage eingehen. Die Libidotheorie, als heuristischer Gesichtspunkt, bewährt sich für das Verständnis für die Dynamik der Neurose glänzend. Wenn der Neurotiker in der Anpassung an die äußere Welt eine Niederlage einsteckt und sich in den Schmollwinkel verkriecht, so fließt seine Libido ins Unbewusste und belebt dort zahlreiche Phantasien kompensatorischer Natur. Statt seine ungenügende Anpassung zu verbessern zu versuchen, träumt er sich als Held, der von der bösen undankbaren Welt verkannt wird. Das ist Adlersche Psychologie in Reinkultur. Die Libido hat sich offensichtlich von der Welt zurückgezogen, aber sie besteht weiterhin, indem sie die Innenwelt belebt. Das ist ein Beispiel, das jedermann geläufig sein dürfte. Wenn der Neurotiker im Schmollwinkel depressiv wird, steht dem Bewusstsein keine Energie mehr zur Verfügung, er verliert das Interesse am Leben und an seiner Umgebung. Das sieht dann schon bedenklicher aus, weil man nirgends eine Spur von Lebenswil-
> Wo Libido ist, da ist Leben!
228
Kapitel 12 • Abgrenzung zu Freud und Adler
so entspannend ist es. Es appelliert an die niedrigsten psychologischen Funktionen. Die Libido ist die Lebenstätigkeit überhaupt (4, 290). Für unsere tägliche Tätigkeit stellt uns das Unbewusste in der Regel die nötige Energie einfach zur Verfügung. Tut es das einmal nicht, entsteht eine Hemmung oder Blockade. Wir nehmen es als selbstverständlich, dass wir unsere tägliche Arbeit verrichten können. Wir merken erst, wenn das nicht so einfach geht oder wenn es besonders leicht von der Hand geht (Heinzelmännchen helfen), dass das von einer Instanz außerhalb des Ichs gesteuert wird. Wenn die Libido aus dem Unbewussten stammt, stellt sich die Frage, woher dieses seine unerschöpflich scheinende Energie nimmt. Das ist nun ein so weites Gebiet, dass wir die eingehende Betrachtung auf später verschieben müssen.
» Die psychische Energie erscheint, wenn aktu-
12
ell, in den spezifischen dynamischen Seelenphänomenen, wie Trieb, Wünschen, Wollen, Affekt, Aufmerksamkeit, Arbeitsleistung usw., welche eben psychische Kräfte sind. Wenn potentiell, erscheint die Energie in den spezifischen Errungenschaften, Möglichkeiten, Bereitschaften, Einstellung usw., welche Konditionen sind. (8, 26)
«
Ohne schon hier auf Details einzugehen, erkennt man, dass es viele verschiedene Verwendungsformen der Energie gibt. Sie ist unanschaulich, nicht den Dingen inhärent, sondern wie der Zeitbegriff eine unmittelbare, a priori gegebene, archetypische Anschauungsform, andererseits aber auch ein aus der Erfahrung abgeleiteter empirischer Begriff (8, 52).
12.1.2
Kausalität und Finalität
Die energetische Betrachtung lässt uns Dynamismen der Psyche verstehen, welche für die Entstehung einer Neurose wesentlich sind. Ganz
allgemein kann man sie unter dem Gesichtspunkt der Kausalität, wie Freud, verstehen oder unter dem Gesichtspunkt der Finalität, wie Adler (8, 59). Im ersten Fall entsteht aus A→B und aus B→C, d. h. A ist die Ursache von B und dieses wiederum der Grund für C. Derartige Kausalketten können unendlich lang sein. Es ist die Aufgabe des Physikers, solche gesetzmäßigen Abläufe in der Natur zu beschreiben. Der andere, ebenso einleuchtende, doch viel zu selten verwendete Gesichtspunkt, der sich besonders in der Biologie bewährt, ist der finale, der auf ein Ziel (»finis«) oder einen Zweck C hin ausgerichtet ist. Dieser wird erreicht, indem A→B führt und B→C. Beide Male ist es dieselbe Reihenfolge A.B.C, wobei im ersten Fall der Pfeil → Kausalität, im zweiten Fall energetischer Ablauf bedeutet. Beide Betrachtungsweisen haben ihre Berechtigung. Die Pioniere der Neurosenbehandlung haben, wie angedeutet, beide Prinzipien zur Erklärung der Entstehung einer Neurose benutzt. > Die Schule von Freud hat sich der Kausalität verschrieben und sucht die Ursache der Neurose in immer früheren Stadien der Kindheit, sogar vor der Geburt in der Schwangerschaft.
Der Vorteil dieser Suche liegt darin, dass Frauen heutzutage viel achtsamer in der Schwangerschaft sind. Auch wenn kaum nachzuweisen ist, dass ein Trauma schon in der Schwangerschaft die Quelle für eine spätere Neurose (z. B. als Disposition) ist, kann ein behutsameres Umgehen mit sich und dem werdenden Leben im Bauch, sowie das bewusste Wahrnehmen des Wunders von Schwangerschaft und Geburt, gewiss nicht schaden. > Die Schule von Adler hat den finalen, zielgerichteten Vorgang, ein Kennzeichen alles Lebendigen, in den Mittelpunkt gerückt. Das Leben hat ein Ziel, auf welches hin es angelegt ist.
229 12.1 • Entwicklung einer eigenen analytischen Sichtweise – Jungs frühe Schriften
Auch wenn sich Jung von den Adlerschen Leitlinien entfernt hat, so spielt für ihn trotzdem die finale Sicht eine große Rolle, weil das Leben ein sinnvolles Ganzes ist und zu seiner Erfüllung kommen möchte. Dabei spielt die Idee der Kompensation durch das Unbewusste eine große Rolle, um die Entwicklung auf die optimale Linie zu bringen. Das Leben hat ein Ziel.
12.1.3
Über die Komplexe
In Jungs »Darstellung der psychoanalytischen Theorie« nimmt seine Auseinandersetzung mit der Rolle der Sexualität bei Freud einen großen Raum ein. Wichtig war deswegen auch die Darstellung der frühkindlichen sexuellen Entwicklung. Heute messen diesen Fragen nur noch die Ewiggestrigen eine solche zu. Das Trauma hat seine kausale Rolle in der Entwicklung einer Neurose weitgehend verloren, so gerne die Patienten auf dieses zurückgreifen würden, weil es ihre eigene Verantwortung entlasten würde. Es ist das alte Lied, dass man stets lieber andere für sein eigenes Versagen verantwortlich machen möchte, als sich selber eine Predigt zu halten. Solange ich die Umstände oder andere für mein Versagen belange, ändert sich aber nichts, denn diese kann ich nicht verändern. Erst wenn mir das Pulver für Projektionen ausgegangen ist, bin ich auf mich selber zurückgeworfen. Selbst wenn zum Trauma ein Elternkomplex dazukommen muss, um aktiviert zu werden, kann ich dafür nicht die Eltern verantwortlich machen, selbst wenn es die schlechtesten Rabeneltern wären. Denn den Komplex habe ich, nicht sie. Die Introversion ist der erste und wichtigste Schritt in der Therapie. Der Elternkomplex entsteht nicht, weil die Eltern besonders gut oder schlecht waren, sondern weil sie nicht meinen Erwartungen entsprachen.
12
> Der Komplex ist Ausdruck einer mangelnden Anpassung an die Realität, selbst beim positiven Komplex, wo man allzu lange in kindlicher Abhängigkeit vom Elternteil verharrt. In jedem Fall verpasst man, zu sich selber als Einmaligkeit und Einzigartigkeit zu kommen.
Der Elternkomplex bereitet das ungünstige Milieu vor, auf welchem ein Trauma erst seine Wirkung entfalten kann. Das fällt unter den Begriff Disposition. Dieser suggeriert eben auch etwas, das man schicksalsmäßig mitbekommen hat und das unabänderlich sei. Sicher betritt jeder Mensch die Bühne dieser Welt mit gewissen Voraussetzungen. Das gehört jedoch auch zu den Tatsachen, an welche man sich anzupassen hat, um nicht neurotisch zu werden. Wie viele Menschen streben ein Ziel an, das jenseits ihrer Möglichkeiten liegt, und versagen? Die größere Zahl von Menschen aber wird neurotisch, weil sie unter ihrem Niveau leben. Das elterliche Milieu spielt zweifellos eine wesentliche Rolle beim Entstehen einer Neurose, besonders wenn man sich nie daraus befreien konnte. Der Mensch hat nicht die Aufgabe, ein treues, anhängliches Kind seiner Eltern zu bleiben aus lauter Dankbarkeit für das, was diese ihm auf den Lebensweg mitgegeben haben. Im Gegenteil ist die schönste Anerkennung für die Erziehungsarbeit, wenn die Eltern das einstige Kind sehen, wie es dem eigenen Leben entgegenblüht. In unserer Wohlstandsgesellschaft werden viele Kinder verwöhnt. Man denkt, ihnen das Beste mit ins Leben zu geben, wenn man dem Kind jeden Wunsch erfüllt.
» Solche Menschen treten ins Leben mit denselben inneren Ansprüchen an Entgegenkommen, Zärtlichkeit und raschem Erfolgt, der ohne Mühe erworben ist, wie sie es in ihrer Jugend von der Mutter gewohnt waren. Auch sehr intelligente Kranke sind dabei nicht imstande, von vornherein einzusehen, dass sie ihre Schwierigkeiten im
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Kapitel 12 • Abgrenzung zu Freud und Adler
Leben, und ihre Neurose dazu, dem Mitschleppen der infantilen Gefühlseinstellung verdanken. (4, 312)
«
12
Dieser infantilen Gefühlseinstellung entsprechen Phantasien, welche im Hintergrund der Seele, also unbewusst, ablaufen. Das beste Mittel, das zu veranschaulichen, ist der Traum. Er ist sozusagen die Fortsetzung des Phantasierens im Schlaf. Daher kommt der Traumanalyse eine hohe Bedeutung in der Behandlung von Neurosen zu, insbesondere weil er kompensatorisch zum Bewusstsein ist. Ich werde später mehr zur Traumdeutung sagen, so gründlich indes, wie es der Rahmen erlaubt. Gerade in der Traumdeutung hat sich Jung, wie oben angedeutet, stark von Freud abgesetzt. Da sich Jung in dieser Darstellung gegen die Opposition gegen die Psychoanalyse ins Zeug legt, mag es stellenweise scheinen, er würde Freuds Standpunkt teilen. Heute müssen wir uns nicht mehr so gegen die Kritiker wehren, wie vor hundert Jahren, weil nur noch Ignoranten die Tatsache eines Unbewussten bestreiten, meist mit guten persönlichen Gründen. Diese Leute soll man auch nicht ins Boot holen wollen. Eine andere Methode, den unbewussten Phantasien auf die Spur zu kommen, ist das von Jung inaugurierte Assoziationsexperiment, mit dessen Hilfe er die Komplexe entdeckt hat [21]. Die Komplexe sind die Störenfriede, wie Freud in seiner »Zur Psychopathologie des Alltagslebens« veranschaulicht hat. Aber sie sind nicht bloß Kobolde, welche uns narren. Sie liegen jeder Neurose zugrunde. Warum werden dann nicht alle Menschen neurotisch, sind doch die Komplexe die Bausteine unserer Psyche? Das Vorhandensein von Komplexen allein bedeutet noch keine Neurose. Erst wenn ein Komplex aktiviert wird, entsteht daraus ein Konflikt, der zur Neurose führen kann.
» Um pathogen zu werden, bedarf es des Konfliktes, d. h. der an sich unwirksame Komplex muss aktiviert und dadurch zum Konflikt erhöht werden. (4, 353)
«
Endogame und exogame Libido
Der Konflikt ist ein Auseinanderklaffen von bewusster Einstellung und unbewusster Tendenz. Freud war der Meinung, dass es ganz spezifische Komplexe seien, welche diesen Konflikt hervorrufen (Ödipus- resp. Elektrakomplex). Indem er Figuren aus der griechischen Mythologie heranzog, hat er sich auf ein Feld begeben, welches Jung als archetypisch bezeichnet. Das würde heißen, dass dem Komplex eine archetypische Vorstellung zugrunde liegt – dies wäre durchaus in Jungs Sinne. Unwillkürlich hat sich Freud hier der Jungschen Auffassung sehr angenähert. Allerdings mit dem gewaltigen Unterschied, dass für Freud der Ödipuskomplex aus einer moralischen Verdrängung wegen des Inzesttabus erst entsteht, obwohl er unbewusst ist (4, 351). Jung misst dem Inzest nicht dieselbe Bedeutung bei wie Freud, welcher ihn sehr konkret versteht. Für Jung spielt die endogame Libido, die emotionale Bindung in der Familie, in symbolischer Form beim Zustandekommen der Elternkomplexe eine große Rolle. Der junge Erwachsene steht im Konflikt zwischen endogamer Libido, welche das herkömmliche Familiensetting zu erhalten trachtet, und der exogamen Libido, welche sich der großen Welt öffnen möchte. Diese möchte die Welt für sich und eine Partnerin, respektive einen Partner, erobern, um eine neue Zelle zu bilden. Das ist eine schwierige Übergangsphase, in welcher es gilt, ein Gleichgewicht beider Libidoformen zu finden (5,226). Gelingt der Übergang nicht, entwickelt sich eine Neurose. Überhaupt sind es diese Übergangsphasen im Leben des Menschen, die kritisch und oft Ausgangspunkt von Neurosen sind (Adoleszenz, Heirat, Midlife, Pensionierung, Geburt
12
231 12.1 • Entwicklung einer eigenen analytischen Sichtweise – Jungs frühe Schriften
eines Kindes etc.). Diese waren früher durch Übergangsriten gesichert [19]. Die Alten wussten, dass das menschliche Leben gefährliche Phasen bereithält, in denen ein Teil der Persönlichkeit zurückbleiben und sich vom triebhaft Vorwärtsdrängenden abtrennen kann (»loss of soul«). Schon die Naturvölker haben daher mit Riten dem Individuum den Übergang erleichtert (7 Abschn. 2.1). Wir haben die meisten dieser Riten inzwischen verloren oder verstehen sie nicht mehr und werden deshalb neurotisch. Jedes Alter birgt die Gefahr, neurotisch zu werden, durch das ganze Leben hindurch gibt es Wandlungsphasen und schwierige Übergänge, in denen die Libido statt in die unbekannte neue Phase nach rückwärts ins Bekannte fließt: Regression. Aus dieser Regression stammt der infantile »touch« der Neurose und nicht aus der Kindheit. Der Konflikt liegt daher nicht in der Vergangenheit, sondern in der Gegenwart (4, 373).
» Hauptsächlich in der Gegenwart liegen die wirksamen Gründe und die Möglichkeiten, sie zu beheben. (4, 373)
«
Die Patienten haben natürlich die Tendenz, die Ursache in die Vergangenheit zu verlegen. Denn diese ist nicht mehr zu ändern, sodass man einfach das Opfer ist. Die Fabel Äsops vom »Fuchs und den Trauben« veranschaulicht schlaglichtartig den Fehltritt, der zur Neurose führt. Die Geschichte, die Neurotiker von ihrer Erkrankung erzählen, ist daher mit viel Skepsis entgegenzunehmen. Sie sind eben schon eine neurotische Verdrehung der wirklichen Ursachen, welche sich der Kranke nicht einzugestehen vermag, weil sie mit seinen Schwächen zu tun hat. Er kuriert selber die eine Schwäche – Versagen vor dem Hindernis – durch eine andere Schwäche – die Flucht in die Illusion.
» Denn alles, was die Libido berührt, wird belebt, dramatisiert und systematisiert. (4, 394) «
So entsteht oft der Eindruck, Neurotiker seien eben besonders sensible Menschen, welche der Brutalität des Lebens nicht gewachsen seien und daran zerbrechen.
» Empfindlichkeit innerhalb psychogener Neurosen ist immer ein Symptom des Uneinsseins mit sich selber, ein Symptom des Widerstreites zweier divergierender Tendenzen. (4, 396)
«
Die Empfindsamkeit als solche ist nicht eo ipso als ein krankhafter Bestandteil eines Charakters zu werten. Einzig, wenn schwierige und ungewohnte Situationen kommen, pflegt sich das, was sonst den Charme der Persönlichkeit ausmachte, in einen recht großen Nachteil zu verkehren. Empfindsame Menschen verarbeiten schon in der Jugend starke Eindrücke weniger leicht, sodass sie bleibende Spuren hinterlassen, welche den Boden für eine spätere regressive Reaktion vorbereiten. Das ist die subjektive Disposition für eine neurotische Reaktionsweise.
» Wie beim normalen Menschen die Libido sich an einem Hindernis aufstaut und ihn zur Introversion und zum Nachdenken zwingt, so entsteht auch beim Neurotiker unter denselben Umständen eine Introversion und eine vermehrte Phantasietätigkeit, worin er aber stecken bleibt, weil er den infantilen Anpassungsmodus als den leichteren bevorzugt. (4, 405)
«
Es wäre allerdings falsch, diesen infantilen Phantasien jeden Wert abzusprechen, denn oft finden sich darunter Ansätze zur Vergeistigung oder zum Auffinden neuer Anpassungsmodi, welche zu einem neuen Lebensplan führen können. Man hat die infantilen Phantasien zu lange abschätzig kritisiert und dabei übersehen, dass sie auch schöpferische Keime enthalten. Für die Therapie der Neurose muss sich der Therapeut zuerst fragen: »Welche Aufgabe will der Patient nicht erfüllen? Welcher Schwierigkeit des Lebens
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Kapitel 12 • Abgrenzung zu Freud und Adler
sucht er auszuweichen?« (4, 409). In der Regel hat er seit der Kindheit eine falsche Haltung, welche sich um die Pflichten und Anpassungen des Lebens drückt. Er hat sich in unzähligen Regressionen vor Schwierigkeiten ein Luftschloss konstruiert. Die Realität entschwindet ihm zunehmend, wird wertlos, banal.
» Wie jede Krankheit, ist aber auch die Neurose ein Kompromiss zwischen den krankmachenden Ursachen und der normalen Funktion. (4, 415)
«
Sie ist ein missglückter Heilungsversuch der Natur. In ihr liegt deshalb auch ein Sinn. Diesem soll man in den Symptomen nachgehen.
» Nämlich jene Stelle, wo der Patient hineinfällt, ist keine zufällige. Dort liegt ein versunkener Schatz. Aber nur ein Taucher kann ihn heben. (4, 417)
«
12
Er soll sich absichtlich seinem Innenleben zuwenden, während er früher unabsichtlich phantasierte und grübelte. Er soll seine Pflichten sich selber und der Umwelt gegenüber wahrnehmen. Die an die Phantasien gebundene Libido soll dem Bewusstsein zugeführt werden. Die Produktion von Phantasien hört natürlich niemals auf, aber das Ende der Phantasien bedeutet, dass keine Libido mehr für die Regression vorhanden ist. Dann wendet sich diese den aktuellen realen Aufgaben zu. Ein längeres Stehenbleiben im Strom der Phantasien ist stets ein Zeichen dafür, dass die momentane Anpassungsleistung nicht vollzogen wird (4, 424). z
Übertragung und Gegenübertragung
Es kann aber auch geschehen, dass die Phantasien weitergehen, indem sie sich mit der Person des Therapeuten beschäftigen. Das hat Freud als Übertragung bezeichnet. Da der Neurotiker typischerweise ein gestörtes Verhältnis zur Wirklichkeit hat, kann die Übertragung auf den Arzt eine Brücke bilden, auf welcher er aus der Fami-
lie herauskommt, d. h. erwachsen wird. Das ist der positive Aspekt der Übertragung: Die Libido, welche noch an die Eltern gebunden war, wird auf den Arzt übertragen. Weil es sich um endogame Libido handelt, besteht die Gefahr, dass der Therapeut zu einem Familienmitglied wird. Das schmeichelt nach meiner Erfahrung vielen Analytikern, weil sie eine »erhöhte« Stellung erhalten. Sie gewinnen eine intimere und bedeutendere Stellung. Statt sich durch die Übertragung aus der Familienzwangsjacke zu befreien, wird der Analysand durch die Gegenübertragung in die Anhängigkeit des Therapeuten gepresst. Wegen der familiären Nähe zum Therapeuten, glaubt der Analysand, die »wahre Liebe« gefunden zu haben. Doch Übertragung hat nichts mit Liebe, allenfalls noch mit menschlicher Nähe zu tun. Das Setting verhindert eben gerade eine Liebesbeziehung und das ist gut so, denn der Analysand soll sich ja entwickeln, bewusster, reifer, selbständiger und verantwortlich werden. Bleibt er in der Übertragung stecken, so ist der Erfolg infrage gestellt. Das hat Freud als Übertragungsneurose bezeichnet: Die eine Neurose wird durch eine andere »geheilt«. > Übertragung heißt Projektion; das Elternbild wird unbewusst auf den Therapeuten übertragen, damit einhergehend auch alle ehemals an die Eltern gerichteten Erwartungen. Erwartung heißt Projektion.
Das kann eine vorübergehende wohltuende Erscheinung sein, indem man vom Analytiker jenes Eingehen und Verständnis erfährt, das man im Elternhaus vermisste. Übertragung kann eine warme Atmosphäre in der Begegnung von Analysand und Analytiker schaffen, in welcher die Entwicklung sich vollziehen kann. Positive Gefühle auf beiden Seiten sind das Feuer, das die Wandlung vollzieht. Negativ wird die Übertragung erst, wenn sie anhält und den Analysanden daran hindert, zu sich selber zu finden. Es gibt Analytiker, die es darauf abgesehen haben, einen
233 12.1 • Entwicklung einer eigenen analytischen Sichtweise – Jungs frühe Schriften
Klon von sich zu erzeugen, statt den Analysanden zu dem werden zu lassen, was er werden muss, selbst wenn er als ein Krimineller oder sie als eine Prostituierte angelegt ist. Jung hatte eine Prostituierte in Analyse, deren Träume eindeutig darauf hinwiesen, dass das Dasein als Prostituierte ihr Schicksal sei. Er versuchte nicht, die Frau »aus dem Milieu zu retten« (solche Rettungsphantasien sind bei Männern sehr häufig!), sondern riet ihr, ihre Kunden mehr auszulesen.
12
er die moralische Verantwortung selber übernehmen muss und sich nicht auf den Zeitgeist verlassen kann.
» Der analysierende Arzt kennt seine eigene Unvollkommenheit zu gut, als dass er noch glauben könnte, imstande zu sein, Vater und Führer zu spielen. Sein höchstes Streben kann nur darin bestehen, dass er seine Patienten zu selbständigen Persönlichkeiten erzieht, indem er sie von unbewussten Bindungen an infantile Grenzen befreit. (4, 435)
«
» Der erste Teil der Analyse die KomplexaufVon Kriminellen weiß man, dass sie einen »Füdlibürgerschatten« haben. Deshalb geben sie sich »stink normal«. Die sollten in der Analyse mehr ihren Schatten leben, um mehr Verantwortlichkeit zu finden. Durch die Analyse soll der Patient nicht zu einem kollektiv angepassten Menschen werden, womit er alle seine Ecken und Kanten verlieren würde, welche doch seine Einmaligkeit ausmachen. Das Übertragungsproblem stellt also hohe Anforderungen an die moralische Integrität des Analytikers. Wenn man in einer Übertragung oder Gegenübertragung stecken bleibt, ist es die moralische Pflicht, daran so lange zu arbeiten, bis die Libido wieder vorwärtsfließen kann. Nur so ist gewährleistet, dass der Analysand sein individuelles Ziel findet. Die Analyse ist, wie man sieht, ein sehr subtiles Instrument, einem chirurgischen Eingriff vergleichbar, das hohe ethische Anforderungen stellt. Früher nahm die Kirche die Aufgabe wahr, den Schwachen zu führen, dem Wankenden eine Orientierung zu geben und dem Belasteten ein offenes Ohr in der Beichte zu leihen. Die Kirchen entleeren sich zusehends, die Leute finden das Hilfreiche nicht mehr dort. Der Therapeut muss nolens volens diese Lücke füllen. Der moderne Mensch möchte echten Geist erhalten, nicht die alten Phrasen hören. Er möchte selber ein erwachsener Mensch werden, der seinem Leben die richtige Richtung zu verleihen vermag. Der Gebildete unserer Zeit spürt immer mehr, dass
findung, ist eher leicht und einfach - dank dem Umstand, dass sich jedermann gern seiner schmerzhaften Geheimnisse entledigt. […] Das Gefühl, verstanden zu werden, hat einen besonderen Charme für alle vereinsamten Seelen unter den Kranken, welche unersättlich sind in ihrem Verlangen, »verstanden« zu werden. (4, 436)
«
» Der Anfang der Analyse ist aus diesen entgegenkommenden Dispositionen in der Regel relativ einfach. Die zu dieser Zeit der Analyse bisweilen vorkommenden, oft beträchtlichen therapeutischen Effekte sind leicht gewonnen und können eben darum den Anfänger in der Psychoanalyse zu einem gewissen TherapeutenOptimismus und zu einer analytischen Oberflächlichkeit verführen. (4, 437)
«
Trotz aller Erfolge sollte stets bewusst sein, »dass der therapeutische Erfolg schließlich weitaus in der Hauptsache von der Mitarbeit der Natur und des Patienten selber abhängt« (4, 437). Dieser erste leichte Erfolg hat den Sinn, dass der Analysand anfängliche Hemmungen und Widerstände, wie Vorurteile, ablegen und sich öffnen kann. Schließlich schmilzt auch der stärkste Widerstand, »so dass der Patient nicht mehr zögert, den Arzt unter die Götter seiner Familie zu versetzen, d. h. ihn an das familiär-infantile Milieu zu assimilieren« (4, 438).
234
Kapitel 12 • Abgrenzung zu Freud und Adler
Weil es so angenehm ist, jederzeit einen verständigen, geduldigen Menschen um sich zu haben, würden es viele Analysanden vorziehen, ständig mit dem Arzt vereint zu sein. Plötzlich schleichen sich erotische Phantasien in die Übertragung ein, um dieses Ziel zu erreichen.
» Wir dürfen nun allerdings nicht vergessen, dass für den Neurotiker die Erwerbung einer außerfamiliären Beziehung Lebenspflicht ist – wie für jeden anderen Menschen – und zwar eine Pflicht, die sie bisweilen entweder gar nicht oder nur beschränkt erfüllt hatten. […] Der Neurotiker hat jene höhere Anpassung zu lernen, welche die Kultur vom erwachsenen Menschen verlangt. (4, 440)
«
Die Befreiung seiner Libido führt daher nicht zum Libertinismus, wie man befürchten könnte, weil die Psychoanalyse jenseits traditioneller Moralität steht (4, 441).
» 12
Das Stärkersein der sozialen Persönlichkeit ist eine der unerlässlichen Existenzbedingungen. […] In Wirklichkeit ist der normale Mensch »staaterhaltend und moralisch«, er schafft die Gesetze und beobachtet sie. (4, 442)
«
Wollte man die Übertragung auflösen, wird von Analysanden ein großes Maß an Selbstüberwindung erwartet. Der Infantile versteht unter »Liebe«, vom anderen Geschenke zu erhalten. Diese Haltung muss durch ein hohes Maß von Selbsterziehung überwunden werden. Er muss seine infantilen Wünsche an den Therapeuten, dass er jederzeit und ausschließlich für ihn dazusein habe, aufgeben.
» Intelligente Patienten lesen in der Seele des Arztes, um dort die Bestätigung der heilenden Formel zu suchen. […] Die Persönlichkeit lehrt mehr als dicke Folianten voll Weisheit. (4, 447)
«
Damit kommen wir zum Therapeuten selber, welcher das wirksamere Medikament als jedes Kraut der Erde ist.
» Er sieht sich vor die unerbittliche Forderung gestellt, die Prinzipien der Psychoanalyse auch an sich selber wahr zu machen. Er wird erstaunt sein, zu sehen, wie viele scheinbar technische Schwierigkeiten in der Analyse dadurch verschwinden. (4, 447)
«
Ein Analysand, dem ich zum Jahresende einige meiner Träume erzählte, welche mich verpflichteten, an diesem Manuskript zu arbeiten, meinte mit einem Seufzer, es sei ermunternd für ihn, dass auch ich an meinen Träumen arbeite! Über diese Bemerkung war ich sehr erstaunt.
» Es gibt Erfahrungen, die man nur machen, aber nie durch Vernunft ersetzen kann. (4, 446)
«
Die eigene Erfahrung nicht nur als Therapeut, sondern im voll gelebten Leben ganz allgemein lässt sich durch keine Lektüre ersetzen. Dass zum Erleben die Nachdenklichkeit sich gesellen muss, habe ich oben schon erwähnt. Vom Analytiker wird ebenso eine analytische Durchbildung erwartet wie von seinem Analysanden. Das Bemühen um die eigene Charakterbildung beim Arzt kennt kein Alterslimit. Nur damit kann er dem Patienten und dessen eigenen Regungen den Vortritt und die Führung lassen, selbst wenn es dem Arzt ein Irrweg zu sein scheint, denn der Irrtum ist eine ebenso wichtige Lebensbedingung wie die Wahrheit (4, 451). Bei einer wichtigen Einsicht über mich selbst habe ich mich in der Vergangenheit oft gefragt, warum mir das meine Analytikerin nicht schon längst gesagt hat. Sie hat mich vielleicht schon längst darauf hingewiesen, aber ich habe es nicht verstanden. Oder, was auf ’s Gleiche hinausläuft, erst wenn sich mir selber eine Wahrheit eröffnet, ist sie echt. Alles, was man einen Analysanden
12
235 12.1 • Entwicklung einer eigenen analytischen Sichtweise – Jungs frühe Schriften
lehrt, läuft an ihm herunter, wenn es nicht etwas trifft, das bei ihm bereitlag. > In der sog. Lehranalyse erlernt man kein Handwerk, sondern sie ist eine Lebensschulung. Sie lehrt den Arzt, voll im Leben zu stehen. Erst dann ist er fähig, seine Patienten auch ins Leben hineinzuführen.
Nicht jeder Arzt bringt auch die angeborenen erzieherischen und psychologischen Fähigkeiten zu diesem Beruf mit (4, 455) [24].
» Die Analyse ist eine verfeinerte sokratische Mäeutik (Geburtshilfe), die sich nicht scheut, auch den dunkelsten Wegen der neurotischen Phantasien nachzugehen. (4, 519)
«
12.1.4
weniger theoretisches Verständnis auf. Für ihre Einstellung fand sich die knappe Formel: »Sie wollen wissen, wie man es macht, nicht was es bedeutet.« ([18] S. 327) Diese Umstände erklären den Stil des »Versuchs einer Darstellung der psychoanalytischen Theorie«. Er verteidigt Freuds Auffassung mit sehr viel Wohlwollen. So lobte Jung sowohl die Leistungen des Wieners als auch dessen theoretische Beiträge zu Teilgebieten, wann immer diese zur Sprache kamen. Zugleich aber skizzierte er auf ebenso ruhige und bedachte Weise die unterschiedlich stark ausgeprägte Divergenz ihrer jeweiligen Standpunkte. ([18] S. 328f.) Dabei muss man sich bewusst sein, dass der Bruch mit Freud schon vollzogen war nach etlichen gehässigen Briefen beiderseits. Das Ende besiegelte der letzte Brief vom 06.I.1913:
»Der Rest ist Schweigen«
» Ich werde mich Ihrem Wunsche, die persönJung war von Dr. Smith Ely Jelliffe nach New
York zu den jährlich stattfindenden Eröffnungsvorträgen des »International Extension Course« eingeladen worden, wo er zu einer Gruppe von herausragenden Fachwissenschaftlern aus London, Madrid, Montreal, Albany und Washington sprach. Daneben befanden sich 88 Psychiater und Neurologen aus 21 Bundesstaaten der USA. Die Themen betrafen den Umgang mit Erkrankungen des Nervensystems. Jung registrierte das große Interesse, dass unter den Anwesenden herrschte, so Bair in ihrer Biografie [18]. Sie wollten von ihm wissen, inwiefern sich seine von Freuds Technik unterscheidet. Während dieses Besuchs in New York gewann Jung einen Eindruck von amerikanischen Klinikern, den er zeitlebens beibehalten sollte. Seiner Ansicht nach brachten sie im Gegensatz zu ihren europäischen Kollegen
liche Beziehung aufzugeben, fügen, denn ich dränge meine Freundschaft niemals auf. Im übrigen werden Sie wohl am besten selber wissen, was dieser Moment für Sie bedeutet. »Der Rest ist Schweigen«[…] Ihr ergebener Jung.« [2]
«
Da die Polemik heute nur noch aus historischen Gründen zu interessieren vermag, habe ich diese Abschnitte nicht referiert. Der Leser kann sich selber ein Bild machen über die Differenzen der beiden Anschauungen aus dem Abschnitt über Freud (7 Kap. 10) und den Bemerkungen Jungs über ihn in seinem Gesamtwerk. Er hat sich lebenslänglich immer wieder mit dieser Frage, die im nächsten Abschnitt wiedergegeben wird, beschäftigt und dabei seine Differenz stärker theoretisch untermauert und seine eigene Auffassung zunehmend begründet.
236
Kapitel 12 • Abgrenzung zu Freud und Adler
» Den offenkundigsten Bruch mit der Theorie Freuds vollzog er in dem Unterabschnitt, in dem er das »Inzest-Problem« behandelte (Kap. VI. Der Oedipuskomplex). Indem er die Erörterung seiner Auffassung von »der Opferphantasie« [aus »Wandlungen und Symbole der Libido«, Kap. VIII. Das Opfer] fortsetzte, wies er auf »religionsgeschichtliche Parallelen« hin und sagte, »dass dieses Problem gerade in der Religion eine bedeutende Rolle spielt, ist keineswegs erstaunlich, indem die Religion ja eine der beträchtlichsten Hilfen im psychologischen Anpassungsprozess darstellt. […] Direkt im Anschluss an diese – in den Augen der Freudianer ketzerische – Aussage schlug Jung dann wirklich seine Thesen ans Tor: Das, was der Neuerwerb in der psychologischen Anpassung am meisten hindert, ist das konservative Festhalten des Alten respektive der früheren Attitüde. (4, 350)
«
12
Trotz erheblicher Unterschiede in den Ansichten ist die Behandlung des Freudschen Standpunktes keineswegs polemisch, sondern von großem Respekt über dessen Pioniertaten getragen. Deshalb will ich mich auch nicht in den Details ihrer Differenzen verlieren, sondern Jung selber zu Wort kommen lassen. > Ungeachtet aller Differenzen zwischen den beiden konnte Jung seine eigene Auffassung auf dem Hintergrund von Freuds Werk entwickeln.
12.2
Jungs Äußerungen in seinem späteren Werk
Jung hat nicht nur versucht, seine eigene Auffassung von Neurose von jener Freuds und Adlers abzugrenzen, sondern sich auch gefragt – und das ist eine Kernfrage der gesamten Tiefenpsychologie –, wie es, da die Psyche universal identisch ist, möglich sei, verschiedene Psychologien
geben könne, ohne dass die eine richtig und die anderen falsch sei? Der ewige Streit unter den Schulen ist nämlich ein Pseudoproblem und ein Dogmenstreit ähnlich der Religionen. Nur Jung selber konnte eine Psychologie wie die seine hervorbringen, weil er seine Psychologie ganz und gar selber war. Darum soll er gesagt haben: »Gott sei Dank, bin ich der Jung und kein Jungianer!«
Die Jungianer haben sich nämlich untereinander bekämpft, wer des »Meisters« Lehre nun richtiger verstanden habe. Jeder kann nur jene Psychologie vertreten, welche seiner eigenen entspricht. Umgekehrt hat mich selber Jungs Psychologie deshalb überzeugt, weil er sie ganz und gar selber lebt, nachdem ich vorher etliche Philosophen gelesen hatte, die jeweils ihr eigenes System entwickelt haben. Aber am Ende fragte ich mich immer: Und was lebt er nun selber? Das waren alles sehr schöne, teils einander widersprechende Systeme. Doch ob sie auch lebbar und nicht einfach Denkgebäude seien, blieb mir fraglich. Jung blieb nicht bei dieser allgemeinen Wahrheit des subjektiven Faktors stehen, sondern fragte weiter, weshalb die Psychologie der verschiedenen Pioniere derartigen Erfolg haben konnte? Wäre ein psychologisches System nur und ausschließlich persönlich, würde es bloß eine kleine Gruppe von Menschen mit ähnlicher Psychologie ansprechen; je persönlicher je weniger. > Freud und Adler vermochten eine kleine Kulturrevolution auszulösen, was darauf hindeutet, dass sie in ihrer je eigenen Psychologie etwas formulierten, was vielen Menschentypen gemeinsam war. Es geht also gar nicht darum, welcher die richtige Psychologie hat, sondern dass jeder eine typische, für viele Menschen gültige entworfen hat. Jung beschäftigt danach die Typologie ihrer
Gründer oder die Psychologie der verschiede-
12
237 12.2 • Jungs Äußerungen in seinem späteren Werk
nen Psychologieentwürfe. Dabei entdeckte er die Typologie ganz allgemein [22], wovon später die Rede sein wird. Die Typologie ist die subjektive Voraussetzung jedes Menschen, seine ihm eigene spezielle Weltauffassung. Jung hat nun beobachtet, dass es gar nicht unbegrenzt viele, sondern nur relativ wenige Typen gibt, und dass die Pioniere zwei gegensätzliche Typen waren, welche eine große Klasse von Menschen anzusprechen vermochten. Nicht jeder Psychologe, der sein eigenes System entwirft, vermag die Wahrheit einer großen Gruppe von Menschen auszudrücken. Damit entwickelte sich in der Auseinandersetzung mit der Freudschen und Adlerschen Psychologie Jungs eigene. > Jung gelang es, seine eigene Psychologie zu begründen, indem er auf individuelle Axiome bei Freud und Adler hinwies.
Die Auseinandersetzung mit Freud und Adler ist in diesem Sinn und nicht als Polemik zu verstehen. Man spürt bei allen Bemerkungen den Respekt vor ihrer Leistung, besonders für Freud, der ihm lange Zeit ein väterlicher Freund war. Jung hat 1932 einen Aufsatz in der Vierteljahresschrift »Charakter« mit dem Titel »Sigmund Freud als kulturhistorische Erscheinung« verfasst. Darin äußert er sich ausführlicher zu seiner Person (15, S. 43–51). Nach Freuds Tod verfasste er für das Sonntagsblatt der Basler Nachrichten (01.10.1939) einen Nachruf, worin er sein Werk in die Zeitgeschichte stellt (15, S. 53–62). Das sind die einzigen zwei Schriften, in denen er sich ausführlich zu Person und Werk Freuds äußert. Ich will dem Leser davon keine Zusammenfassung geben, sondern ihn ermuntern, die beiden kurzen Schriften zu lesen. In einem kurzen Abriss der Geschichte zur psychologischen Vorbildung des Arztes, die vor bald 50 Jahren [geschrieben 1942] entstand, stand es noch recht schlimm.
» Es ist Freud gewesen, dem das unsterbliche Verdienst zukommt, die Grundlagen zu einer Neurosenpsychologie gelegt zu haben. (7, 2)
«
In den »Definitionen«, einem Anhang in Band 6 der Gesammelten Werke (GW), zu welchen Jung gedrängt wurde, um seine vielen Begriffe näher zu erläutern, heißt reduktiv »zurückführend«.
» Die reduktive Methode ist rückwärts orientiert, im Gegensatz zur konstruktiven Methode, entweder im historischen Sinn oder im übertragenen einer Rückführung einer komplexen und differenzierten Größe auf Allgemeineres und Elementareres. Die Freudsche so wie die Adlersche Deutungsmethode ist reduktiv, indem beide auf elementare Wunsch- oder Strebungsvorgänge, in letzter Linie infantiler oder physiologischer Natur reduzieren. (6, 798)
«
Beide Neurosentheorien sind auflösend und reduktiv, indem sie zu einer jeden Sache sagen: »Du bist nichts als…«
» Sie erklären dem Kranken, dass seine Symptome von da und dort herkommen, und nichts seien als dies und das. Es wäre sehr ungerecht, behaupten zu wollen, dass diese Reduktion im gegebenen Fall verfehlt sei; aber zur allgemeinen Anschauung von Wesen einer kranken Seele, wie auch einer gesunden, erhoben, ist eine reduktive Theorie allein unmöglich. Denn die menschliche Seele, sei sie nun krank oder gesund, kann nicht bloß reduktiv erklärt werden. Gewiss ist der Eros [Freud] immer und überall da, gewiss durchdringt der Machttrieb alles Höchste und Tiefste der Seele; aber die Seele ist nicht bloß das eine oder das andere oder meinetwegen beide zusammen, sondern auch das, was sie daraus gemacht hat und machen wird. (7, 67)
«
Man kann sich fragen, was in aller Welt kann der Wert einer Neurose sein?
238
Kapitel 12 • Abgrenzung zu Freud und Adler
» Ein »Wert« ist eine Möglichkeit, durch welche Energie zur Entfaltung gelangen kann. […] In der Neurose sehen wir erhebliche Energiemanifestationen –, so ist sie (nicht nur ein Unwert), sondern eigentlich auch ein Wert, aber ein solcher, der unnütze und schädliche Energiemanifestationen vermittelt. Energie an sich ist nämlich weder gut noch böse, weder nützlich noch schädlich, sondern indifferent, da alles abhängt von der Form, in welche die Energie eingeht. Die Form gibt der Energie die Qualität. […] In der Neurose befindet sich die psychische Energie zweifellos in einer minderwertigen und nicht verwendbaren Form. Die Auffassung der beiden reduktiven Theorien dienen nun dazu, diese minderwertige Form aufzulösen. Sie bewähren sich an dieser Stelle als Ätzmittel. Damit gewinnen wir freie, aber indifferente Energie. (7, 71)
«
» Die Neurosen junger Leute entstehen in der
12
Regel aus einem Zusammenstoß zwischen den Mächten der Realität und einer ungenügenden, infantilen Einstellung, welche kausal durch eine abnorme Abhängigkeit von den realen oder imaginären Eltern, final durch unzulängliche Fiktionen, das heißt, Zweckabsichten und Strebungen, charakterisiert ist. Hier sind Freudsche oder Adlersche Reduktionen durchaus am Platz. (7, 88)
«
Die beiden gegensätzlichen Neurosentheorien sind, wie ich eingangs erwähnte, Manifestationen gegensätzlicher Typen. Um über diesen Gegensatz emporzusteigen, war eine Theorie zu schaffen, die beiden gleicherweise gerecht wird.
» Beide Theorien sind geeignet, ein hochgespanntes Ideal, eine heroische Einstellung, ein Pathos oder eine Überzeugung in schmerzhafter Weise auf eine banale Realität zurückzuführen, wenn man sie nämlich auf dergleichen Dinge anwendet. […] In der Hand eines guten Arztes,
eines wirklichen Kenners der menschlichen Seele, der – um mit Nietzsche zu sprechen – »Finger für nuances« hat, und angewandt auf das wirklich Krankhafte einer Seele, sind beide Theorien heilsame Ätzmittel, hilfreich in auf den einzelnen Fall abgemessener Dosierung, schädlich und gefährlich in der Hand, die nicht zu messen und zu wägen versteht; es sind kritische Methoden, die das mit jeder Kritik gemeinsam haben, dass sie da, wo etwas zerstört, aufgelöst und reduziert werden darf und muss, Gutes stiften, die aber überall dort, wo aufgebaut werden sollte, nur Schaden anrichten. (7, 65)
«
Freud geht mit Jung einig, dass »Die Persönlich-
keit des Kranken die Persönlichkeit des Arztes auf den Plan ruft und nicht technische Kunstgriffe. Denn in der Neurose tritt dem Arzt nicht ein abgeschlossenes Krankheitsgebiet entgegen, sondern ein kranker Mensch, der nicht aus einem einzelnen Mechanismus oder aus einem isolierten Krankheitsherd heraus krank ist, sondern vielmehr aus dem Ganzen seiner Persönlichkeit. Damit ist »Technik« inkommensurabel« (10, 338). Daher haben beide schon frühzeitig die Forderung erhoben, dass der Arzt selber analysiert sein müsse. Jung hat sich vorgestellt, wie er Freud aus dessen Psychoanalyse heraus analysieren würde.
» Sollte ich Freud analysieren, so täte ich ihm ein großes und nicht wieder gutzumachendes Unrecht, wenn ich die historische Wesenhaftigkeit der Kinderstube, die Wichtigkeit der Verwicklungen des Familienromans, die Bitterkeit und Ernsthaftigkeit früh erworbener Ressentiments und ihre kompensatorische Begleitung durch (leider) unerfüllbare Wunschphantasien nicht ausführlich in Rechnung setzte und ihr Sosein nicht als vollendete Tatsache hinnähme. Freud wäre gewiss nicht zufrieden, wenn ich ihm sagen würde, dass Ressentiments doch nichts seien als ein »Ersatz« für nicht betätigte Nächstenliebe
12
239 12.2 • Jungs Äußerungen in seinem späteren Werk
oder etwas ähnliches. So wahr diese Feststellung in anderen Fällen sein mag, so unrichtig wäre sie hier, auch wenn es mir gelingen würde, Freud von der Wahrheit meiner Idee zu überzeugen. Zweifellos meint Freud was er sagt, infolgedessen muss er als der genommen werden, der solches sagt. Erst dann ist sein eigenartiger Fall angenommen, und mit ihm sind auch jene anerkannt, deren Psychologie ähnlich beschaffen ist. (10, 352)
«
Die Rückanwendung der Psychologie auf deren Autor enthüllt seine Persönlichkeit, und ich möchte mich nicht anheischig machen, das mit den Theorien jener Kollegen zu tun, die glaubten, über Jung hinausgegangen zu sein (PostJungians!). Das Experiment, Freud »beim Wort zu nehmen« und ihn zu analysieren, ist keineswegs weither geholt, haben beide sich doch auf der Reise nach Amerika (1909) gegenseitig Träume analysiert, wie beispielsweise in New York: Sie spazierten zusammen im Central Park und diskutierten über ihre Spannungen. Da ereignete sich ein Missgeschick [18]:
» Freud pinkelte sich in die Hosen, als sie, uneins miteinander, Seite an Seite nebeneinander standen und auf den Hudson schauten. Im Versuch, der Situation etwas von ihrer Peinlichkeit zu nehmen, schubste Jung Freud in eine Mietdroschke und brachte ihn so schnell wie möglich ins Hotel zurück…
«
Jung war sich der »Neurose« seines Freundes seit Herbst des vergangenen Jahres bewusst gewesen. Freud hatte ihm damals aus London über den Harndrang in einem Brief berichtet. Er verspüre diesen Drang immer dann, wenn er sich an einem öffentlichen Ort ohne Toilette in der Nähe befand. Der Drang, sich zu erleichtern, werde dann so heftig, so Freud, dass er ihn nicht mehr kontrollieren könne. Er hatte Jung in die-
sem Brief gefragt, was wohl eine solche Neurose verursachen könne. Die Geschichte geht weiter. Beide bestiegen nach diesem Missgeschick eine Droschke. Bei dieser Gelegenheit brachte er Freud diesen Brief wieder in Erinnerung und schilderte seine Sichtweise, nämlich:
» … dass es sich in der Tat um »eine wirkliche Neurose« handle, dass dieser neurotische Harndrang sich wahrscheinlich einstelle, weil Freud offensichtlich die Liebe unterdrücke und entwerte und auf diese Weise der Macht zum Opfer falle. Das Streben nach Macht sei pathologisch geworden. Lange Zeit danach erinnerte sich Jung: »Ich verstand es damals nicht, doch [später] erkannte ich, dass, wenn eine systematische Entwertung des Unbewussten vorgenommen wird, dieses Unbewusste nicht mehr vollständig mit der Person zusammenarbeitet, sondern gegen sie. »Als sie jedoch damals den Broadway hinunterrollten, lief ihr Gespräch – Jungs Erinnerung zufolge ungefähr folgendermaßen ab: Freud: Warum sollte es eine Neurose sein? Es handelt sich um eine Paralyse! Jung: Herr Professor, lassen Sie mich mit dem größten Respekt sagen […], jeder weiß doch, dass Sie äußerst ehrgeizig sind. Freud: Was, ich? Ehrgeizig! Alles andere als das! Jung: Ja, und daher: blind! Schrecklich blind! Dies ist eine psychogene Neurose, weil Sie – Sie – Sie haben die falsche Einstellung! Ich werde dahinter kommen. Ich werde Sie analysieren! Freud: Ich wäre überaus erfreut! Gut! Also los, versuchen Sie es…
«
Als die beiden schließlich im Hotel eintrafen, seien beide in höchster Erregung gewesen. Freud ging rasch auf sein Zimmer und wechselte die Kleidung; im Anschluss daran begannen sie unverzüglich damit, ihre Träume zu analysieren. In Jungs Bericht heißt es weiter:
» Ich vermochte es zu tun, weil ich letztlich doch der Kronprinz war und von außerhalb kam. Ich war keiner seiner persönlichen Schüler.
240
Kapitel 12 • Abgrenzung zu Freud und Adler
Und dann analysierte ich ihn, und das übliche Material wurde aufgedeckt, und es gab da sehr persönliche Dinge, sehr heikle Sachen. ([18] S. 235f.)
«
» Wenn bei Nietzsche das Unbewusste als Fak-
Die Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit, welche der Analytiker von seinen Analysanden erwartet, muss er selber bereit sein aufzubringen in der eigenen Analyse.
» Umso höhere Bedeutung kommt der allgemeinen Einstellung des Arztes zu, welcher über sich selber so weit orientiert sein muss, dass er die dem ihm anvertrauten Kranken eigentümlichen Werte, – worin diese immer bestehen mögen – nicht zerstört. Wenn Alfred Adler seinen alten Lehrer Freud um eine analytische Behandlung ersuchen würde, so müsste sich Freud dazu bequemen, Adlers eigenartige Psychologie zu sehen und sogar in ihrer kollektiven Daseinsberechtigung anzuerkennen. Es gibt ja unzählige Leute, welche die Psychologie des geltungsbedürftigen Sohnes haben. (10, 352)
«
12
welche man sogar sich selber verheimlicht, weil sie alle jene Peinlichkeiten enthält, deren man sich schämt.
Jung nimmt sich dabei mit seiner eigenen Psychologie nicht aus.
» Insofern man nun nicht wohl annehmen kann, dass Freud oder Adler allgemein gültige Vertreter europäischen Menschentums seien, so besteht für mich die Hoffnung, dass auch ich eine eigenartige Psychologie besitze und mit mir alle jene, welche sich ebenfalls weder dem Primat der infantil-perversen Wunschphantasien noch dem des Geltungsdranges subsumieren können. (10, 253)
«
» Freud und Adler haben den Schatten, der alle begleitet, sehr deutlich gesehen. (10, 353) « Der Schatten gehört zum persönlichen Unbewussten und stellt jene Kehrseite der Persönlichkeit dar, welche von der Welt abgewandt ist, ja,
tor wenigstens deutlich wahrnehmbar und bei Freud zu einer conditio sine qua non wird, ohne allerdings je den Charakter einer zweitrangigen Größe und der »nichts als« – Verdrängtheit je abzustreifen, schränkt sich bei Adler das Gesichtsfeld auf eine subjektive »Gerne-groß«-Psychologie (»Individualpsychologie!«) ein, wobei das Unbewusste als eine gegebenenfalls entscheidende Größe überhaupt unter den Tisch fällt. Dieses Schicksal hat auch die Freudsche »Psychoanalyse« in der Schülergeneration ereilt. (10, 658)
«
Dies schreibt Jung in seinem späten (1958) Aufsatz »Ein moderner Mythus« und fährt fort:
»
Die Evidenz des sexuellen Instinktes ist im Fall des Inzestkomplexes dermaßen einleuchtend, dass ein weltanschaulich beschränktes Verständnis sich befriedigt erklären konnte. Das Gleiche gilt auch für den subjektiven Machtanspruch bei Adler. Beide verfangen sich in einer instinktiven Voraussetzung, welche der jeweils anderen keinen Raum lässt und daher unweigerlich in die spezialistische Sackgasse der Fragmenterklärung führt. Freuds hoffnungsvoller Ansatz dagegen weist auf die wohldokumentierte Geschichte der psychischen Phänomenologie hin, die uns ein annäherndes Ganzheitsbild der Psyche vermittelt. Die Psyche äußert sich ja nicht bloß im subjektiven Umkreis der Person, sondern noch weit darüber hinaus in den kollektiv-psychischen Erscheinungen, die Freud im Prinzip richtig geahnt hat, wie z. B. der Begriff des »Über-Ich« dartut. Methode und Theorie blieben zunächst und zu lange in der Hand des Arztes, der es notgedrungenerweise immer mit Individuen mit dringlichen persönlichen Problemen zu tun hat. Eine Grundlagen-
12
241 12.2 • Jungs Äußerungen in seinem späteren Werk
forschung mit ihren unvermeidlicherweise historischen Bedürfnissen liegt ihm zunächst und natürlicherweise fern, und seine naturwissenschaftliche Vorbildung sowie seine praktische Tätigkeit kommen ihm nicht zuhilfe, wenn er sich von den allgemeinen Voraussetzungen der psychologischen Erkenntnis Rechenschaft geben will. Freud hat sich deshalb veranlasst gesehen, die allerdings mühsame Stufe einer vergleichenden psychologischen Wissenschaft zu überspringen und sich an die konjekturenreiche [= reich an Vermutungen] und unsichere Urgeschichte der menschlichen Psyche heranzuwagen. Er hat damit den sicheren Boden verlassen, indem er sich von dem Wissen der Ethnologen und Historikern nicht belehren ließ, sondern die vom modernen Neurotiker in der Sprechstunde gewonnenen Einsichten unmittelbar auf das weite Gebiet der primitiven Psychologie übertrug. […] Die Freudsche Schule blieb bei dem Ödipusmotiv, das heißt dem Archetypus des Inzestes und damit bei einer vorwiegend sexualistischen Auffassung stehen, in völliger Verkennung des Umstandes, dass der Ödipuskomplex eine ausschließlich männliche Angelegenheit, die Sexualität nicht die einzig mögliche Dominante des psychischen Geschehens und der Inzest, infolge der Implikation des religiösen Instinktes, mehr ein Ausdruck für diesen als umgekehrt dessen Ursache ist. […] Es ist ihnen nicht zu verdenken, da selbst Freud trotz des »Ödipuskomplexes« außerstande war, die Berechtigung meines Standpunktes einzusehen. […] Die Sexualhypothese besitzt allerdings eine beträchtliche Überzeugungskraft, weil sie mit einem Hauptinstinkt zusammenfällt. Das gleiche gilt von der Machthypothese, welche sich auf Triebe berufen kann, die nicht nur einzelne Individuen kennzeichnen, sondern auch politischen und sozialen Bestrebungen zugrunde liegen. Eine Auseinan-
dersetzung oder gar eine Einigung der beiden Standpunkte ist nirgends in Sicht, es sei denn, dass die eigentümliche Natur das Selbst, welche das Individuum sowohl wie die Gemeinschaft umfasst, anerkannt werde. (10, 659–660)
«
z
Zur Numinosität der Seele
Nach diesem Überblick wollen wir uns wieder den einzelnen Fragen zuwenden. Wir haben gesehen, dass beider Psychologien auf den Schatten zielen.
» Freud und Adler erklären im Wesentlichen nur aus der infantilen Ecke. Eine umfassendere Erklärung müsste auch Anpassungswillen mitberücksichtigen. (10, 343)
«
» Es ist doch klar, dass jeder Mensch möglichst alles genießen und zugleich noch »oben-auf« sein möchte, und es ist ebenso klar, dass er, solange er in der Hauptsache eine solch primitivinfantile Einstellung hat, um eine Neurose gar nicht herum kommt, wenn er überhaupt den Versuch macht, sich an seine Umwelt anzupassen. (10, 342)
«
Bedenklich findet Jung, dass
» …weitaus die meisten Psychotherapeuten Anhänger Freuds oder Adlers sind. Das bedeutet, dass weitaus die meisten Patienten notwendigerweise dem geistigen Standpunkt entfremdet werden. Das kann einem, dem das Schicksal der Seele am Herzen liegt, nicht gleichgültig sein. (11, 507)
«
Das letzte Zitat stammt aus dem 11. Band der Gesammelten Werke mit dem Titel »Zur Psychologie westlicher und östlicher Religion«. Schon im ersten größeren Werk »Symbole der Wandlung« hat sich Jung mit religiösen Symbolen und ihrer Funktion in der Psyche befasst. Ab etwa 1930 wird die Numinosität der Seele für ihn zunehmend wichtig, was seiner bald darauf
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Kapitel 12 • Abgrenzung zu Freud und Adler
einsetzenden Bekanntschaft mit der Alchemie zugute kam. In einem Brief an P.W. Martin von 28.VIII.1945 schreibt Jung:
» Sie haben ganz recht: das Hauptinteresse meiner Arbeit liegt nicht in der Behandlung von Neurosen, sondern in der Annäherung an das Numinose. Es ist jedoch so, dass der Zugang zum Numinosen die eigentliche Therapie ist, und insoweit man zu den numinosen Erfahrungen gelangt, wird man vom Fluch der Krankheit erlöst. Die Krankheit selbst nimmt numinosen Charakter an. ([2] I, S. 465)
«
Setzte er sich früher in medizinischer Manier mit der Behandlung der Neurosen auseinander, distanziert er sich zunehmend von der medizinischen Sicht.
» Der Freudschen sowohl wie der Adlerschen
12
Theorie erwächst kein Vorwurf daraus, dass sie Triebpsychologien, sondern daraus, dass sie einseitig sind. Es ist Psychologie ohne Seele, geeignet für jedermann, der keine geistigen Ansprüche oder Bedürfnisse zu haben glaubt. Hierin allerdings täuschen sich sowohl Arzt wie Patient. (11, 496)
«
» Die Freudsche Psychoanalyse […] versucht, die Inhalte des Unbewussten dem Bewusstsein zuzuführen mit der Absicht, dadurch die Wurzeln der Störungen respektive der Symptome zu zerstören. Freud sucht daher durch eine Art von Untergrabung der Symptome und nicht durch Behandlung des Bewusstseins die Anpassungsstörung zu beseitigen. (11, 540)
«
Freud spräche ständig von der Sexualität. Er müsse sich einmal fragen, ob sie nicht etwas Numinoses für ihn bedeute, statt nur, wie er meint, etwas Biologisches.
» Wenn man geneigt ist, zu verstehen, was Freud alles in den Begriff der Sexualität hineingeheimnisst, so wird man sehen, dass er die Grenzen dieses Begriffes über alles zulässige Maß hinaus erweitert hat, sodass man für das, war er eigentlich meint, besser »Eros« sagen würde, in Anlehnung an antike philosophische Vorstellungen eines Pan-Eros, der schöpferisch zeugend lebende Natur duchwaltet. (10, 5) [23]
«
Freuds Tragik besteht darin, dass er ständig von
etwas Faszinosem sprach, von dem er gebannt war, was er aber als eine physiologische Funktion abwertete, statt eine religiöse Haltung dazu zu finden.
»
Freud steht auf dem Standpunkt eines rationalistischen Materialismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts (seine Schrift »Die Zukunft einer Illusion« ist in dieser Hinsicht von jeder nur wünschenswerten Deutlichkeit). (11, 541)
«
» Freuds Schrift »Die Zukunft einer Illusion« datiert später, gibt eine für die frühen Jahre erst recht gültige Darstellung seiner Anschauungsweise, welche sich innerhalb der Grenzen des für das ausgehende 19. Jahrhundert charakteristischen Rationalismus und Wirtschaftsmaterialismus bewegt… (5, S. 12)
«
So schreibt Jung 1950 in der Vorrede zur vierten Auflage von »Symbole der Wandlung« (GW 5). Im bereits erwähnten Briefwechsel mit Dr. R. Loÿ vom 18.II.1913 heißt es:
»
Neben der beinahe rein kausalen Auffassung Freuds hat sich die rein finale Anschauung Adlers entwickelt, in scheinbar absolutem Gegensatz zu Freud; in Wirklichkeit ist sie aber eine wesentliche Ergänzung der theoretischen Ansichten Freuds. (4, 638)
«
Oder an anderer Stelle:
12
243 12.2 • Jungs Äußerungen in seinem späteren Werk
» Das Schicksal wollte es, dass gerade einer der ersten Schüler Freuds, Alfred Adler, eine Ansicht vom Wesen der Neurose begründete, welche ausschließlich auf dem Machtprinzip aufgebaut ist. Es ist von nicht geringem Interesse und sogar von einem besonderen Reiz, zu sehen, wie so ganz verschieden dieselben Dinge in der gegensätzlichen Beleuchtung aussehen. Um den Hauptgegensatz vorwegzunehmen, möchte ich gleich erwähnen, dass bei Freud alles streng kausale Abfolge aus vorangegangenen Tatbeständen ist, bei Adler hingegen alles final bedingtes Arrangement. (7, 44)
«
Anhand des Beispiels »Nietzsche contra Wagner« erörtert Jung, dass jene chronischen Idiosynkrasien, jene hochgradigen, über das normale Maß hinausgehenden Abneigungen oder Widerwillen gegenüber einer Person, das »andere« in uns ist, zunächst projiziert auf den anderen. »Ein ganzer Mann aber weiß, dass auch sein bitterster Gegner…, den einen schlimmsten Widerpart bei weitem nicht aufwiegt, nämlich den eigenen »anderen«, der »ihm im Busen wohnt«, wie Saulus und Paulus (7, 45).« Wagner ist eben ein Vertreter jenes anderen Grundtriebes, den Nietzsche übersah, und auf dem Freuds Psychologie aufgebaut ist. Wenn wir bei Freud nachforschen, ob jener andere Trieb, der Machttrieb, nicht bekannt sei, so finden wir, dass Freud ihn unter dem Namen »Ich-Trieb« gefasst hat«, vergleiche jenes Gespräch zwischen Jung und ihm in New York, das ich oben erzählt habe.
» Aber Ich-Triebe« fristen in seiner Psychologie ein etwas kümmerliches Dasein neben der breiten, allzu breiten Entfaltung des Sexualmomentes. In Wirklichkeit aber ist die menschliche Natur die Trägerin eines grausamen Kampfes zwischen dem Prinzip des Ich und dem Prinzip des Triebes: das Ich ganz Schranke, der Trieb grenzenlos und beide Prinzipien von gleicher Macht. (7, 43)
«
Außer diesem Urprinzip von Sexualität und Macht spielen noch typologische Unterschiede eine große Rolle im Gegenspiel der beiden.
» Freud sieht seinen Patienten in steter Abhängigkeit von und in Beziehung zu bedeutsamen Objekten. Vater und Mutter spielen eine große Rolle; was etwa noch von bedeutsamen Einflüssen oder Bedingungen im Leben des Patienten eintreten mag, geht in direkter Kausalität auf diese Urpotenzen zurück. Eine »pièce de résistance« seiner Theorie ist der Übertragungsbegriff, das heißt die Beziehung des Patienten zum Arzt. Immer wird ein bestimmt qualifiziertes Objekt begehrt oder einem solchen Widerstand geleistet, und dies stets in Übereinstimmung mit dem in frühester Kindheit erworbenen Modell der Beziehung zu Vater und Mutter. Was vom Subjekt kommt, ist im Wesentlichen blindes Begehren nach Lust. Seine Qualität aber erhält dieses Begehren stets von spezifischen Objekten. Bei Freud sind die Objekte von größter Bedeutung und haben fast ausschließlich determinierende Kraft, während das Subjekt merkwürdig bedeutungslos bleibt und eigentlich nichts ist als die Quelle des Lustbegehrens und eine »Stätte der Angst. (7, 58)
«
» Adler sieht, wie ein sich unterlegen und minderwertig fühlendes Subjekt mit »Protesten«, »Arrangement« und anderen zweckdienlichen »Kunstgriffen« sich eine illusorische Überlegenheit zu sichern sucht, gleichgültig ob gegen Eltern, Erziehern, Vorgesetzte, Autoritäten, Situationen, Institutionen oder sonstige Dinge. Sogar die Sexualität figuriert unter den Kunstgriffen. Dieser Ansicht liegt eine ungewöhnliche Betonung des Subjektes zugrunde, wogegen die Eigenart und Bedeutung der Objekte ganz verschwindet. (7, 57)
«
244
Kapitel 12 • Abgrenzung zu Freud und Adler
» Der Anblick dieses Dilemmas hat mich vor die Frage gestellt, gibt es mindestens zwei verschiedene Menschentypen, von denen der eine sich mehr für das Objekt, der andere sich mehr für sich selber interessiert?« (7, 61)
«
» Ich habe mich mit dieser Frage lange be-
12
schäftigt und bin schließlich auf Grund vieler Beobachtungen und Erfahrungen zur Aufstellung zweier Grundhaltungen oder Einstellungen gelangt: nämlich der Introversion und der Extraversion [22]. Erstere Einstellung ist, wenn normal, gekennzeichnet durch ein zögerndes, reflexives, zurückgezogenes Wesen, das sich nicht leicht gibt, vor Objekten scheut, sich immer etwas in der Defensive befindet und sich gern versteckt hinter misstrauischer Beobachtung. Letztere ist, wenn normal, charakterisiert durch ein entgegenkommendes, anscheinend offenes und bereitwilliges Wesen, das sich leicht in jede gegebene Situation findet, rasch Beziehungen anknüpft und sich oft unbekümmert und vertrauensvoll in unbekannte Situationen hinaus wagt, unter Hintansetzung etwaiger möglicher Bedenken. Im Fall der Introversion ist offenkundig das Subjekt, in jenem der Extraversion das Objekt ausschlaggebend. (7, 62; [7] S. 353–436)
«
Die Diskrepanz und scheinbare Unversöhnlichkeit der beiden Standpunkte führte Jung zur Entwicklung seiner Typenlehre; dazu später, in den Folgekapiteln, mehr. Sie zeigt jedenfalls, dass es nicht nur eine Auffassung von der Neurose, sondern mehrere Aspekte gibt. Zudem spielt der Typus bei der Entstehung einer Neurose eine Rolle. Die Neurosenform ist stark vom Einstellungstyp abhängig. Die Entdeckung der typischen Einstellung war daher in vielfacher Hinsicht bedeutsam.
» Unsere medizinische Psychologie […] betont die persönliche Natur der Psyche. Ich meine in erster Linie die Ansichten Freuds und Adlers. Es ist eine Psychologie der Person, und ihre ätio-
logischen oder kausalen Faktoren werden fast ganz als ihrer Natur nach persönlich angesehen. (9/I, 91)
«
Es war Zeit, dass sich das Verständnis der Neurose aus der nur persönlichen Form emanzipierte und in die großen historischen Zeiträume einordnete, denn
» … für Freud ist die Neurose eine Ersatzbefriedigung. Also etwas Uneigentliches, ein Irrtum, ein Vorwand, eine Entschuldigung, ein Nichtsehenwollen, kurz etwas wesentlich Negatives, das besser nicht wäre. Man wagt es kaum, für die Neurose ein gutes Wort einzulegen, denn sie ist anscheinend nichts als eine sinnlose und darum ärgerliche Störung. Das Kunstwerk, das sich anscheinend wie eine Neurose [von Freud] analysieren und auf die persönlichen Verdrängungen des Dichters zurückführen lässt, gerät damit in die bedenkliche Nachbarschaft der Neurose, wo es sich aber insofern in guter Gesellschaft befindet, als die Freudsche Methode die Religion, Philosophie und anderes ebenfalls in ähnlicher Weise betrachtet. […] Wenn von der Freudschen Schule die Meinung vertreten wird, dass jeder Künstler eine infantil-autoerotisch beschränkte Persönlichkeit besitze, so mag dieses Urteil für diesen als Person gelten, es ist aber ungültig für den Schöpfer in ihm. (15, 156)
«
Wenden wir uns noch Jungs Aussagen über Adler zu! In seinem Aufsatz »Der Gegensatz Freud und Jung« (1929) schreibt er:
» Man sieht so, wie man ist. Da andere eine andere Psychologie haben, sehen sie auch anders und drücken anderes aus. Das zeigt zu allernächst einer der frühesten Schüler Freuds, nämlich Alfred Adler: Er stellt dasselbe Erfahrungsmaterial von einem ganz anderen Gesichtspunkt dar, und seine Art zu sehen, ist zum mindesten ebenso überzeugend wie die Freuds, weil eben auch Adler einen Typus von Psychologie reprä-
245 12.2 • Jungs Äußerungen in seinem späteren Werk
sentiert, dem man häufig begegnet. Ich weiß, dass die Vertreter beider Schulen mir zwar unbedenklich unrecht geben, aber die Geschichte und alle Billig-denkenden werden mir recht geben. Ich kann beiden Schulen den Vorwurf nicht ersparen, dass sie den Menschen zuviel aus der pathologischen Ecke und aus seinen Defekten erklären. (4, 773)
«
In einem Aufsatz »Psychoanalyse und Seelsorge« (1928/29) definiert Jung die Psychoanalyse als
» … ärztlichen Eingriff, eine psychologische Technik, deren Absicht es ist, die Inhalte des Unbewussten bloßzulegen und dem Bewusstsein einzufügen. Diese Definition der Psychoanalyse kennzeichnet aber nur die Methoden der Freudschen Schule und meiner. Die Adlersche Methodik ist ein diesem Sinn keine Analyse, […] sondern sie ist hauptsächlich pädagogisch und wirkt sozusagen ohne Berücksichtigung des Unbewussten direkt auf das Bewusstsein. Sie ist die Weiterbildung der französischen »rééducation de la volonté« und der Duboisschen psychischen Orthopädie. (11, 539)
«
So viel zum Vergleich und zur Kritik der beiden Schulen aus der Sicht Jungs, was seine eigene Anschauung deutlicher hervortreten lässt, besonders wenn er betont, dass
» … es wahr ist, dass die neurotischen Symptomenkomplexe auch raffinierte »Arrangements« seien, die mit unglaublicher Hartnäckigkeit und mit einer Schlauheit sondergleichen unerbittlich ihre Ziele verfolgen. Die Neurose ist final orientiert. Mit diesem Nachweis hat sich Adler ein beträchtliches Verdienst erworben. (7, 554)
«
In einem Brief, datiert am 26.VIII.1941, äußert sich Jung sehr persönlich über die Psychologie dieser beiden Pioniere. Er ist an R.H. Loeb gerichtet, der zwischen 1920 und 1923 bei ihm analytisch gearbeitet hatte. In Anmerkung 4
12
schreibt die Herausgeberin: »Die Sätze über Freuds Neurose wären aus Gründen der Diskretion ausgelassen worden, wenn nicht Jungs Brief an Hanhart, der eine ähnliche Äußerung enthält, entgegen seinem Wunsch und ohne Erlaubnis seiner Erben bereits publiziert worden wäre.«
» Wenn Sie meinen Artikel über den Künstler lesen [siehe oben], sehen Sie, dass ich zwischen dem gewöhnlichen Ich-Bewusstsein des Menschen und seiner schöpferischen Persönlichkeit unterscheide. Sehr oft besteht ein auffallender Unterschied. Ein schöpferischer Mensch kann im Persönlichen ein Introvertierter, in seinem Werk jedoch ein Extravertierter sein und umgekehrt. Ich kannte Freud und Adler beide persönlich. Freud lernte ich kennen, als er bereits ein Mann von über fünfzig war. Sein Lebensstil war ausgesprochen introvertiert, während mir Adler, den ich als jungen Mann kennenlernte, den Eindruck eines neurotischen Introvertierten machte, und in einem solchen Fall ist man über den genauen Typus nie ganz sicher. Wie Sie wissen, war Freud selber sein Leben lang neurotisch. Ich selber analysierte ihn wegen eines bestimmten, sehr unangenehmen Symptoms, das im Laufe der Behandlung verschwand. Das brachte mich auf den Gedanken, dass sowohl bei Freud wie bei Adler der persönliche Typus eine Wandlung erfahren hatte. Als schöpferische Persönlichkeit vertrat Freud einen ausgesprochen extravertierten Standpunkt. Anderseits hat sich im Verlauf seines Lebens eine entscheidende Wandlung seiner persönlichen Psychologie vollzogen: ursprünglich war er ein Fühltypus und begann später das Denken zu entwickeln, das bei ihm nie gut war. Seine primäre Introversion kompensierte er durch eine Identifikation mit seiner schöpferischen Persönlichkeit, in dieser Identifikation fühlte er sich jedoch immer unsicher, und zwar so sehr, dass er sich nie auf Ärztekongressen zu zeigen wagte. Seine Angst, gekränkt zu werden, war zu groß. Adler war, meiner Auffassung nach, nie
246
Kapitel 12 • Abgrenzung zu Freud und Adler
ein echter Introvertierter; deshalb begann er ein extravertiertes Verhalten zu entwickeln, sobald er etwas Erfolg hatte. Aber in seiner schöpferischen Arbeit hatte er eine introvertierte Einstellung. Der Machtkomplex, den beide hatten, zeigte sich bei Freud legitimerweise in seiner persönlichen Haltung. Bei Adler wurde er illegitimerweise zur Theorie. Das schadete seiner schöpferischen Seite. Selbstverständlich war Freud ein weit größerer Geist als Adler. Freud ist eine wirkliche [Erleuchtung], Adler ein Streiflicht, wenn auch von beachtlicher Bedeutung.
12
Die Diagnose eines Typus ist außerordentlich schwierig, wenn eine Neurose vorliegt. Gewöhnlich beobachtet man in einem solchen Fall sowohl Introversion als auch Extraversion. Aber die eine Einstellung gehört zur Ich-Persönlichkeit, die andere zur Schatten- oder Sekundär-Persönlichkeit. Häufig geschieht es, dass im Lauf des Lebens diese zwei Persönlichkeiten aufeinander folgen. Entweder beginnt man sein Leben mit dem Schatten (indem man den falschen Fuß voransetzt) und lebt später mit der echten Persönlichkeit oder umgekehrt. ([2] I, S. 375f.)
«
Mit diesen gesammelten Aussagen über Freud und Adler sollte das nun Folgende, die Entwicklung von Jungs eigener Psychologie, verständlicher werden. Jung sagte, er habe sich zunächst die Erkenntnisse Freuds, des Erfahrenen und Älteren, aneignen müssen, bevor er sich seine eigene Ansicht zutraute. > Weil schon in Jungs frühen Schriften (GW 1 und 3) gewisse Vorbehalte gegenüber Freuds Theorien deutlich werden, kann man ihn nicht gemeinhin als »Schüler« Freuds bezeichnen, obwohl er von ihm sehr viel gelernt hat.
Literatur Primärliteratur (Quellen) 1 Jaffé A (Hrsg.) (1971) Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G. Jung. (Rascher, Zürich Stuttgart 1962). Walter, Olten 2 Jaffé A (Hrsg.) (1972/73) Briefe. Erster Band 1906–1945 (1972); Zweiter Band 1946–1955 (1972); Dritter Band 1956–1961 (1973 mit Nachtrag neu aufgefundener Briefe). In Zusammenarbeit mit Adler G, London. Walter, Olten Freiburg 3 Jung CG (1981) Psychiatrische Studien. GW 1 (1966, 31981). Rascher, Zürich Stuttgart 4 Jung CG (1995) Experimentelle Untersuchungen. GW 2 (1979) Walter, Olten Freiburg 5 Jung CG (1979) Psychogenese der Geisteskrankheiten. GW 3 (1966, 21979). Rascher, Zürich Stuttgart 6 Jung CG (1911/12) Symbole der Wandlung. Analyse des Vorspiels zu einer Schizophrenie. GW 5 (1952, 1973, 31983). Zuerst erschienen als: Wandlungen und Symbole der Libido. Beiträge zur Entwicklungsgeschichte des Denkens. F. Deutike, Leipzig und Wien, 1911/1912. Jahrbuch für psychoanalytische Forschung. III:1 und IV:1 7 Jung CG (1995) Psychologische Typen. GW 6. (erstmals 1921 erschienen). Walter, Olten Freiburg 8 Jung CG (1967) Die Dynamik der Unbewussten. GW 8 (vollst. rev. 1976, 41982). Walter, Olten Freiburg 9 Jung CG (1995) Die Archetypen und das kollektive Unbewusste. GW 9/I. Walter, Olten Freiburg 10 Jung CG (1958) Ein moderner Mythus. Von Dingen, die am Himmel gesehen werden. GW 10. Rascher, Zürich Stuttgart. S. 589–824 11 Jung CG (1934) Zur gegenwärtigen Lage der Psychotherapie. Erschienen in: Zentralblatt für Psychotherapie und ihre Grenzgebiete VII/1, Leipzig. GW 10. S. 333–370 12 Jung CG (1995) Zivilisation im Übergang. GW 10. Walter, Olten Freiburg 13 Jung CG (1995) Zur Psychologie westlicher und östlicher Religion. GW 11. Walter, Olten Freiburg 14 Jung CG (1932) Sigmund Freud als kulturhistorische Erscheinung. Erstmals erschienen in: Charakter. Eine Vierteljahresschrift für psychodiagnostische Studien und verwandte Gebiete I/1. Berlin. GW 15. S. 43–51 15 Jung CG (1939) Sigmund Freud, als Nachruf in: Sonntagsblatt der Basler Nachrichten XXXIII/40, Basel, 1. Okt. 1939 erschienen. GW 15. S. 53–62 16 Jung CG (1995) Über das Phänomen des Geistes in Kunst und Wissenschaft. GW 15. Walter, Olten Freiburg 17 McGuire W, Sauerlander W (Hrsg.) (1974) Briefwechsel Sigmund Freud/C.G. Jung. Fischer, Frankfurt a.M. (Ungekürzte Lizenzausgabe für den Buchclub Exlibris, Zürich, 1976) Sekundärliteratur 18 Bair D (2005) C.G. Jung – Eine Biographie. Knaus, München. (Originalausgabe: Jung. A biography)
247 Literatur
19 Gennep A van (1986) Übergangsriten (französische Ausgabe: Les rites de passage. Picard, Paris, 1981. Erstmals erschienen 1909). Campus, Frankfurt New York 20 Klibansky R, Panofsky E, Saxl F (1992) Saturn und Melancholie. Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst. (Engl. 1964) Suhrkamp, Frankfurt a. M. 21 Ribi A (1989) Was tun mit unseren Komplexen? Über die Dämonen des modernen Menschen. Kösel, München (Buch vergriffen. Im Internet abrufbar: http://www. opus-magnum.de) 22 Ribi A (1993) Die feindlichen Brüder. Introversion – Extraversion. Zwei komplementäre Seiten eines einseitigen Weltbildes. Kundschafter, Brugg 23 Ribi A (2005) Eros und Abendland. Geistesgeschichte der Beziehungsfunktion. Peter Lang, Bern 24 Ribi A (2007) Das Bild des Psychotherapeuten in der Jungschen analytischen Therapie. Vortrag für die Ausbildung der Psychiater in Psychotherapie im Burghölzli, 2. Februar 1983. In: Ein Leben im Dienst der Seele. Gesammelte Aufsätze und Vorträge, Teil 1, S. 467, Peter Lang, Bern
12
249
Erweiterung seiner Psychologie über die Perspektive der Neurose hinaus 13.1
Libidoauffassung – 250
13.2
Psychoenergetik – 254
13.3
Verdrängung – 264
13.4
Dissoziation – 270
13.5
Progression und Regression – 274 Literatur – 278
A. Ribi, Neurose – an der Grenze zwischen krank und gesund, DOI 10.1007/978-3-642-16148-3_13, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
13
250
Kapitel 13 • Erweiterung seiner Psychologie über die Perspektive der Neurose hinaus
Was hat es denn auf sich mit dieser Libido, an der eine Freundschaft zerbrechen musste, weil man nicht auf den gleichen Nenner kommen konnte? Wir widmen uns dieser Frage und ebenso ausführlich der Abhandlung über Energetik als einem Meilenstein in Jungs Bestreben, sich von der akademischen medizinischen Psychologie zu trennen und sein eigenes Gebäude aufzubauen.
Jung schreibt in seinen Erinnerungen über jene
dramatische Zeit:
» Als ich bei meiner Arbeit an »Wandlungen und
13
Symbole der Libido« [GW 5] gegen den Schluss an das Kapitel über das »Opfer« kam, wusste ich zum voraus, dass es mich die Freundschaft mit Freud kosten würde. Es sollten darin meine eigene Auffassung des Inzestes, die entscheidende Wandlung des Libidobegriffes und noch andere Gedanken, in denen ich mich von Freud unterschied, zur Sprache kommen. Für mich bedeutet der Inzest nur in den allerseltensten Fällen eine persönliche Komplikation. Meist stellt er einen hochreligiösen Inhalt dar, weshalb er auch in fast allen Kosmogonien und zahlreichen Mythen eine entscheidende Rolle spielt. Aber Freud hielt an der wortwörtlichen [konkreten] Auffassung fest und konnte die geistige Bedeutung des Inzestes als eines Symbols nicht fassen. Ich wusste, dass er dies alles niemals würde annehmen können. […] Zwei Monate lang konnte ich keine Feder anrühren und war von dem Konflikt gequält: Soll ich verschweigen, was ich denke, oder soll ich die Freundschaft riskieren? Schließlich entschloss ich mich, zu schreiben, und es hat mich Freuds Freundschaft gekostet. ([1] S. 171)
«
13.1
Libidoauffassung
Wir nehmen uns am besten jenes ominöse Werk vor, das zum Zerwürfnis führte, heute allerdings nur in überarbeiteter Form vorliegt:
» Unsere Gedankengänge zeigen, dass der von Freud eingeführte Terminus »Libido« zwar der sexuellen Konnotation keineswegs entbehrt, dass aber eine ausschließlich und einseitig sexuelle Definition dieses Begriffes abgelehnt werden muss. Appetitus und compulsio sind Eigenschaften aller Triebe und Automatismen. Wie man die Sexualmetaphern der Sprache nicht wortwörtlich nehmen kann, so auch nicht die entsprechenden Analogien in Triebvorgängen, Symptomen und Träumen. Die Sexualtheorie der psychischen Automatismen ist ein unhaltbares Präjudiz. Schon die einfache Tatsache, dass die Gesamtheit der psychischen Phänomene unmöglich aus einem Trieb abgeleitet werden kann, verbietet eine einseitige Definition der Libido. Ich gebrauche diesen Begriff in jener allgemeinen Anwendung, welche ihm schon die klassische Sprache verliehen hat. (5, 185)
«
Wir sehen, wie Jung sich vorsichtig dem Begriff nähert, ihn zwar in der Freudschen Prägung akzeptiert, aber unter Hinweis auf den antiken Sprachgebrauch als zu eng kritisiert und ihn erweitert. Das konnte Freud nicht annehmen, weil ihm die Sexualität so wichtig schien. Heute jedoch akzeptieren wir Jungs Erweiterung als durchaus einleuchtend.
» Die Libido ist ein natürliches penchant; sie ist wie das Wasser [vgl. chinesisch Dao], das ein Gefälle haben muss, um fließen zu können. (5, 337)
«
Aus dem Vergleich mit dem chinesischen Dao wird ersichtlich, dass der Ort, wo sich das Wasser sammelt, die Stelle geringster Energie ist.
» Die vorsexuelle, frühinfantile Stufe, auf welche die Regression zurückgreift, ist charakterisiert durch zahlreiche Anwendungsmöglichkeiten, weil die Libido dort ihre ursprüngliche undifferenzierte Polyvalenz wieder erlangt. Es scheint
13
251 13.1 • Libidoauffassung
daher verständlich, dass ein Libidobetrag, der regressiv diese Stufe wieder »besetzt«, sich mannigfacher Anwendungsmöglichkeiten gegenüber sieht. (5, 226)
«
» Erfahrungsgemäß kann aber dem Unbewussten die Energie nur zum Teil entzogen werden; es bleibt stets wirksam, denn es enthält und ist sogar die Libidoquelle selber, aus der uns die psychischen Elemente zufließen. (7, 258)
«
Das niedrigste Niveau der Libido enthält die größte potentielle Verwendungsmöglichkeit. Zieht sich die Libido in einer Depression in die Tiefe des Unbewussten zurück, so steht sie zwar vorerst dem Bewusstsein nicht zur Verfügung, was zu allen jenen unliebsamen Symptomen des »loss of soul« führt, sie ist aber gleichzeitig als undifferenzierte Libido die Chance für einen Neubeginn. In der Physik spricht man von einer Zunahme der »Entropie«. Hier aber unterscheidet sich die psychologische von der physikalischen Energievorstellung, indem es in der Psyche keine »wertlose« Energie gibt.
Kommen wir wieder zur Definition der Libido zurück! Wie ich früher gezeigt habe, ist die Freudsche Sexualität im uneigentlichen Sinn, nämlich als Eros, gemeint. Die Liebe aber ist eine göttliche Macht, die dem Willen entzogen ist. Sie ist
» … die klassische psychische Triebkraft des
» Wenn man der Libido den natürlichen Lauf
Menschen […] einerseits eine Beziehungsfunktion [20], andererseits ein gefühlsbetonter [=emotionaler] psychischer Zustand, der … mit dem Gottesbild sozusagen in eins fällt. Die Liebe hat unzweifelhaft eine triebhafte Determinante. (5, 97)
lässt, so findet sie von selbst den Weg zu dem ihr bestimmten Objekt. (7, 95)
» Die Libido als Kraft des Begehrens und Stre-
«
Die große Kunst ist es, der Libido den natürlichen Lauf zu lassen, ohne sich mit dem Bewusstsein einzumischen. Das Bewusstsein kann kaum glauben, dass die Libido ihr selbstgewähltes Objekt findet und
» … ihrem Gefälle hinunter in die Tiefe des Unbewussten folgt und dort belebt, was bisher schlummerte. Sie hat den verborgenen Schatz entdeckt, aus dem die Menschheit je und je schöpfte, aus dem sie ihre Götter und Dämonen emporhob und alle jene stärksten und gewaltigsten Ideen, ohne welche der Mensch aufhört, Mensch zu sein. (7, 105)
«
Im Unbewussten gibt es kein »burn out«, nur das Bewusstsein verfügt über keine Libido mehr, um seinen Alltag zu bewältigen.
«
bens, im weitesten Sinn als psychische Energie, steht dem Ich zum Teil zur Disposition, zum Teil aber verhält sie sich ihm gegenüber autonom und letzteres gegebenenfalls dermaßen bestimmt, dass es entweder in eine unfreiwillige Notlage versetzt wird, oder dass sie demselben eine unerwartete zusätzliche Kraftquelle erschließt. (5, 98)
«
In einem englisch gehaltenen Vortrag am 17. Internationalen Ärztekongress in London befürwortete Jung statt des sexuellen Standpunktes in der Psychoanalyse eine energetische Betrachtungsweise für die Neurosenpsychologie. Subjektiv und psychologisch denkt er sich diese Energie als Verlangen oder Wunsch, die er Libido nennt. Darunter versteht er lebenswichtige Energie im Allgemeinen oder das, was Henri Bergson »élan vital« nennt. Diese Energie macht mit der Entwicklung des Kindes einen Wandlungsprozess bis zum Erwachsenenalter durch und passt sich ständig an die Außenwelt an.
252
Kapitel 13 • Erweiterung seiner Psychologie über die Perspektive der Neurose hinaus
» Immer, wenn die Libido bei diesem Anpassungsvorgang auf ein Hindernis trifft, entsteht eine Akkumulation, die gewöhnlich eine verstärkte Anstrengung zum Überwinden des Hindernisses bewirkt. Wenn aber das Hindernis unüberwindbar scheint und der Mensch darauf verzichtet, es zu bezwingen, regrediert die aufgestaute Libido […] und fällt in ein früheres und primitiveres Stadium zurück. (4, 568) [vgl. das Beispiel vom Bergsteiger: 7 Kap. 10]
«
Ein typisches Beispiel für eine solche Regression ist jegliche Art von Enttäuschung, weil man sich entmutigen lässt, statt einen neuen Anlauf zu nehmen. Die Ursache der Neurose liegt daher in der Gegenwart und nicht in der Vergangenheit, auch wenn der Patient eine lange Liste von infantilen Phantasien präsentiert, welche bloß durch die regressive Libido hochgespült wurden. Die psychologische Störung bei einer Neurose und diese selbst kann man als misslungenen Anpassungsversuch bezeichnen.
13
> Die Neurose ist gewissermaßen ein Versuch der Selbstheilung. Mit Hilfe der Psychoanalyse wird die Verbindung zwischen dem Bewusstsein und der Libido im Unbewussten wiederhergestellt. Die unbewusste Libido wird unter die Kontrolle des Willens gebracht und die abgespaltene Energie wieder für die Bewältigung der notwendigen Lebensaufgaben verfügbar gemacht (4, 574–575).
Das war eine frühe vorsichtige Formulierung seiner sich allmählich abzeichnenden eigenen Ideen.
» Aus dem Gegensatzgemälde, als welches ich die Welt sehe, ergibt sich mir die Idee der psychischen Energie, die ebenso aus Gegensätzen hervorgehen muss wie die Energie des physischen
Geschehens, die immer ein Gefälle, das heißt die Existenz von Gegensätzen wie warm-kalt, hochtief usw. voraussetzt«, (4, 779)
«
schreibt Jung in einem Aufsatz mit dem Titel »Der Gegensatz Freud und Jung« in der Kölnischen Zeitung vom 7. Mai 1929. Man sieht, dass seine Auffassung aus einem Gesamtkonzept der Psyche entsteht. Auch für die Bewusstwerdung ist die Gegensätzlichkeit zentral, indem ein Inhalt nur auf dem Hintergrund seines Gegensatzes bewusst werden kann. Zwar schließen sie sich logisch aus, was für das Bewusstsein wichtig ist, aber heimlich, d. h. im Unbewussten, sind sie identisch. Man versteht von hier aus den Satz des »dunklen« Heraklit: »Krieg [d. h. Gegensatz] ist von allem der Vater, von allem der König, denn die einen hat er zu Göttern, die anderen zu Menschen, die einen zu Sklaven, die anderen zu Freien gemacht«. ([18] S. 259) Diese Gegensätzlichkeit, in welche die Ureinheit mit der Bewusstwerdung zerfällt, ist ganz zentral.
» Mit dem Begriff der Energie ist auch der Begriff der Gegensätzlichkeit gegeben, indem ein energetischer Ablauf notwendig die Existenz eines Gegensatzes, das heißt zweier verschiedener Zustände voraussetzt, ohne welche überhaupt kein Ablauf stattfinden kann. […] Die Untrennbarkeit des Energiebegriffes vom Gegensatzbegriff haftet auch dem Libidobegriff an. Die Libidosymbole mythologischer oder philosophisch-spekulativer Natur sind daher entweder durch Gegensätze direkt dargestellt, oder lösen sich zu allernächst in Gegensätze auf. (6, 337)
«
Für das Verständnis der Neurosen und ihrer Entstehung ist das energetische Modell außerordentlich erhellend.
»
Die Frage des Gefälles ist ein eminent praktisches Problem, das sich in den meisten Analysen stellt. (7, 77)
«
253 13.1 • Libidoauffassung
13
» Es ist mir hinlänglich klar geworden, dass nur
» Das Unbewusste ist beständig tätig und
dort, wo das Gefälle liegt, der Pfad des Lebens weiterführt. Es gibt aber keine Energie, wo keine Gegensatzspannung besteht; daher muss der Gegensatz zur Einstellung des Bewusstseins aufgefunden werden. (7, 78)
schafft Kombinationen seiner Materialien, die der Bestimmung der Zukunft dienen. […] Das Unbewusste kann daher ein Führer sondergleichen für den Menschen sein, wenn dieser der Verführung standzuhalten vermag. (7, 197)
» Die psychische Energie ist eben ein wähle-
Wir sind schon bei verschiedenen Gelegenheiten auf die Typenfrage gestoßen. Ganz einfach stellt sie sich im Lichte der Libido dar. Die Grundauffassung ist
«
risches Ding, das seine eigenen Bedingungen erfüllt haben will. Es kann noch so viel Energie vorhanden sein; dennoch können wir sie nicht nutzbar machen, so lange es nicht gelingt, ein Gefälle herzustellen. (7,76)
«
Um das Gefälle zu finden, hilft die Traumanalyse, welche die Tendenz der Libido aufzeigen kann. Es kann besonders die teleologische oder prospektive Bedeutung des Traumes hilfreich sein. Unter den subliminalen Materialien sind auch jene Zukunftskombinationen aufzufinden, welche nur darum subliminal sind, weil sie noch nicht jene energetische Besetzung haben, welche sie dem Bewusstsein deutlich werden lassen. Es sind oft undeutliche Ahnungen. Davon soll mehr im Kapitel über die Träume (7 Kap. 37) gesagt werden.
» Die negative Einstellung zum Unbewussten, respektive die Abspaltung desselben, ist insofern nachteilig, als dessen Dynamik mit der Energie der Instinkte identisch ist. Unverbundenheit mit dem Unbewussten bedeutet soviel wie Instinkt- und Wurzellosigkeit. (7, 195)
«
» Das Unbewusste gibt nämlich alle jene Förderung und Hilfe, welche eine gütige Natur in überquellender Fülle dem Menschen vermitteln kann. Es hat ja Möglichkeiten, die dem Bewusstsein verschlossen sind; denn es verfügt über alle unterschwelligen (subliminalen) psychischen Inhalte, über all das Vergessene und Übersehene und zudem über die Weisheit der Erfahrung ungezählter Jahrtausende, die in seinen archetypischen Strukturen niedergelegt ist. (7, 196)
«
«
» … eine Bewegung des Interesses auf das Objekt hin in dem einen Fall, und eine Bewegung des Interesses vom Objekt weg zum Subjekt und zu dessen eigenen psychologischen Vorgängen im anderen Fall. Im ersten Fall wirkt das Objekt wie ein Magnet auf die Tendenzen des Subjektes, es zieht sie an und bedingt das Subjekt in hohem Maße, ja es entfremdet sogar das Subjekt sich selber und verändert dessen Qualitäten im Sinne einer Angleichung an das Objekt so sehr, dass man meinen könnte, das Objekt sei von höherer und in letzter Linie von ausschlaggebender Bedeutung für das Subjekt, und als sei es gewissermaßen eine absolute Bestimmung und ein besonderer Sinn vom Leben und Schicksal, dass sich das Subjekt ganz an das Objekt aufgebe. Im zweiten Fall dagegen ist und bleibt das Subjekt das Zentrum aller Interessen. Es scheint, als ob in letzter Linie alle Lebensenergie das Subjekt suche und darum stets verhindere, dass das Objekt einen irgendwie übermächtigen Einfluss erhalte. Es scheint, als ob die Energie vom Objekt wegfließe, als ob das Subjekt der Magnet sei, der das Objekt an sich ziehen wolle. (6, 4)
«
Das Bild vom Magneten, der im einen Typus, respektive in der einen Einstellung, im Objekt, im anderen im Subjekt zu liegen scheint, ist so suggestiv, dass es sofort einleuchtet. In der allgemeinen Beschreibung der Typen ist es viel wissenschaftlich nüchterner ausgedrückt:
254
Kapitel 13 • Erweiterung seiner Psychologie über die Perspektive der Neurose hinaus
» Der Introvertierte verhält sich (zum Objekt) abstrahierend; er ist im Grunde genommen immer darauf bedacht, dem Objekt die Libido zu entziehen, wie wenn er einer Übermacht des Objektes vorzubeugen hätte. Der Extravertierte dagegen verhält sich positiv zum Objekt. Er bejaht dessen Bedeutung in dem Maße, dass er seine subjektive Einstellung beständig nach dem Objekt orientiert und darauf bezieht. (6, 557)
«
13
In 7 Kap. 30 (Typologie) werden wir diese Überlegungen noch vertiefen, ohne dass ich dem Interessierten die Lektüre der »Psychologischen Typen« (GW 6) zu ersparen vermöchte. So viel mag im Zusammenhang mit der Libidotheorie zu diesem Thema erhellend sein. Eine andere Frage stellt sich: Was passiert, wenn die Libido keine Anwendung findet? Die Nichtanwendung macht die Libido herrenlos. Dadurch verfällt sie dem Unbewussten, von wo sie sehr unangenehme Wirkungen in Form eines Libidozwanges auf das Bewusstsein ausübt. Ein faules und tatenloses Leben wird von allen möglichen Ängsten und unfreiwilligen Verpflichtungen heimgesucht. Zahlreiche Neurasthenien aus Überarbeitung sind darauf zurückzuführen, dass der Libido nicht jene Anwendungsmöglichkeit geboten wird, die sie sich selber sucht. Die innere Reibung schafft dann die nervöse Erschöpfung (4, 474). Die Libidotheorie erwies sich, wie wir gesehen haben, in verschiedenen Bereichen als ein hilfreiches Instrument. Die Bereiche waren noch mehr oder weniger zufällige Ausschnitte. Man spürt immer noch den Einfluss Freuds im Hintergrund, besonders in der Psychodynamik der Psychoanalyse. Es sind erst verstreute Ansätze zu einer energetischen Gesamtkonzeption. Erst mit »Über die Energetik der Seele«, 1928 bei Rascher in Zürich erschienen, schuf er eine einheitliche Psychoenergetik
13.2
Psychoenergetik
» Ich selber hatte den großen Vorteil gegenüber Freud sowohl wie Adler nicht innerhalb der Neurosenpsychologie und deren Einseitigkeit aufgewachsen zu sein, sondern ich kam von der Psychiatrie her, von Nietzsche für moderne Psychologie wohlvorbereitet, und hatte neben der Freudschen Auffassung das Werden der Adlerschen Anschauungen vor Augen. Dadurch war ich sozusagen von Anfang an in den Konflikt hineingestellt und gezwungen, nicht nur die vorgefundenen Meinungen, sondern auch meine eigenen als relativ, respektive als Äußerungen eines gewissen psychologischen Typus anzusehen. (7, 199)
«
> Die Abhandlung über Energetik ist ein Meilenstein in Jungs Bestreben, sich von der akademischen medizinischen Psychologie zu trennen und sein eigenes Gebäude aufzubauen.
Der primitive Libidobegriff (8, 114) existiert bei allen Naturvölkern und ist den Ethnologen seit langem unter den verschiedensten Bezeichnungen bekannt gewesen. Es ist die Idee, dass Menschen, aber auch Gegenstände, auch die Geisterwelt, sowie alles Magische, Unbekannte, Unbegreifliche und Unerwartete, aber auch gewisse Orte eine geheimnisvolle Wirkung haben.
» Man kann sich dem Eindruck nicht verschließen, dass die primitive Mana-Anschauung eine Vorstufe unseres psychischen Energiebegriffes ist und höchst wahrscheinlich auch des Energiebegriffes überhaupt. (8, 128)
«
Physische Phänomene kann man aus zwei verschiedenen Blickwinkeln beschreiben, nämlich vom mechanistischen, kausalen aus, was die Aufgabe der Physik ist, um daraus Gesetzmäßigkeiten abzuleiten, und vom energetischen, finalen, welche ein biologisches zielgerichtetes, irre-
255 13.2 • Psychoenergetik
versibles Geschehen beschreibt. Man kann sich unmöglich beide Determinierungen gleichzeitig denken, denn es sind zwei Betrachtungsweisen, von denen die eine die Umkehr der anderen ist. Kausal – Final 5 Kausal A→B→C A ist die Ursache von B und B jene von C 5 Final A→B→C A strebt energetisch zu B und dieses zum Ziel C
» Die Energie ist keine Anschauung einer im Raume bewegten Substanz, sondern ein aus den Bewegungsbeziehungen abstrahierter Begriff. (8, 3)
«
Die Grundlage des mechanistischen Begriffs ist der sich im Raum bewegende Körper. Ob diese oder jene Betrachtungsweise vorwiegt, hängt von der psychologischen Einstellung des Wissenschaftlers ab: Einfühlung führt zur mechanistischen, Abstraktion zur energetischen Interpretation. Beide Richtungen sind geneigt, den gleichen Denkfehler zu begehen und das Verhalten der Dinge als identisch mit ihrer subjektiven Anschauung anzunehmen. Dieser Irrtum führt zu unaufhörlichen Konflikten. Es ist ein Parallelfall zum alten Universalienproblem: In der sinnlichen Anschauung ist nur das Einzelding gegeben und darum das Universale ein bloßes Wort (Nominalismus), zugleich ist durch die Beziehung der Dinge auch ihre Ähnlichkeit gegeben, was zum Universalen in der Realität führt (Realismus).
» Erklärungsprinzipien sind eben nur Betrachtungsweisen, das heißt Phänomene der psychologischen Einstellung und der aprioristischen Bedingungen des Denkens überhaupt. (8, 5)
«
13
Ob sich psychische Energieprozesse ins physische System einordnen lassen, ist eine schon lange kontrovers diskutierte Frage, nämlich die psychophysische. Wir sind schon früher darauf gestoßen, ohne Sicheres darüber sagen zu können. Wir werden in 7 Kap. 28 über die Synchronizität darauf zurückkommen. Eine andere Frage ist von unmittelbar praktischer Bedeutung: Kann man die Psyche als ein relativ geschlossenes System betrachten? Man erinnert sich aus der Physik, dass die Gesetze nur für geschlossene Systeme gelten, nämlich das Gesetz von der Erhaltung der Energie (erster thermodynamischer Hauptsatz; Robert Mayer 1842). Und dass gewisse Prozesse irreversibel sind, nämlich die final ablaufenden, wie eingangs dargelegt, welche vom höheren Energieniveau zum niedrigeren verlaufen (zweiter thermodynamischer Hauptsatz: Zunahme der Entropie). Die Entropie ist das Maß der Nichtumkehrbarkeit eines Vorganges, das Maß der Wahrscheinlichkeit. Doch wie kann man psychische Energie messen? Da ist zunächst das subjektive Wertsystem, nämlich die kollektiven moralischen und ästhetischen Werte. Doch die lassen sich nur subjektiv schätzen vom einzelnen Individuum. Allerdings beschränkt sich diese Schätzung nur auf Bewusstseinsinhalte.
» Bei dem bekannten kompensatorischen Verhältnis von Bewusstsein und Unbewusstem ist es aber gerade von großem Belang, die Möglichkeit von Wertbestimmungen für das Unbewusste aufzufinden. (8, 17)
«
Die bewussten Schätzungen des Wertes sind eine Funktion, welche wir von Kindsbeinen an eingeübt haben. Das spielt bei jeder Entscheidung, was wir lieber machen oder was uns mehr bedeutet etc., eine große Rolle. Es ist die Gefühlsfunktion, die, je differenzierter, umso objektiver ist. Gegenüber unbewussten Inhalten versagt diese
256
Kapitel 13 • Erweiterung seiner Psychologie über die Perspektive der Neurose hinaus
Einschätzung. Das wird als »Verdrängung« oder »Verschiebung des Affektes« bezeichnet. Die objektive Quantitätsschätzung kann mit dem Assoziationsexperiment vorgenommen werden. Die Störungen der Reaktionen zeigen die Wertquantität an. Ich will nicht auf Einzelheiten eingehen, sondern nur anmerken, dass das Experiment zum Auffinden der Komplexe taugt, weil diese jene beträchtliche affektive Intensität besitzen, welche gegen den Willen Assoziationen zu stören vermag. > Die affektive Intensität gehört zur Definition des Komplexes, der aus dem Unbewussten heraus die Absichten des Bewusstseins zu durchkreuzen vermag.
13
Für Beispiele konsultiere man Freuds »Psychologie des Alltagslebens«, wo Beispiele für Versprechen, Vergessen, Fehlleistungen und Symptomhandlungen in reicher Auswahl geboten werden. Das Kernelement eines Komplexes besitzt jenen energetischen Wert, den ihm sein Affekt erteilt. Dieses Kernelement hat deshalb konstellierende Kraft, die seiner Wertintensität, d. h. seiner Energie, entspricht. Komplexe äußern sich nicht nur in den erwähnten Fehlhandlungen, sondern wie jede Emotion auch in körperlichen Symptomen (Erröten, Erblassen, Nachlassen des Muskeltonus = »weiche Knie«, Blutdruckanstieg oder -abfall, Tremor, Schweißausbruch, Stupor (Examen!) usw.), welche man messen kann.
» Wir nehmen aber auch schon die leisesten Schwankungen emotionaler Natur an anderen wahr und haben ein sehr feines Gespür für Qualität und Quantität der Affekte der Nebenmenschen. (8, 25)
«
In der Erfahrung ist die Energie stets spezifisch als Bewegung oder Kraft gegeben, wenn aktuell, als Lage oder Bedingung, wenn potentiell. Die Energie erscheint als aktuelle in den spezifischen Seelenphänomenen, wie Trieb, Wunsch, Wille, Affekt, Aufmerksamkeit, Arbeitsleistung usw.,
wenn potentiell in spezifischen Errungenschaften, Möglichkeiten, Bereitschaften, Einstellungen usw., welches Konditionen sind. Mit der energetischen Betrachtung ist automatisch eine andere wichtige Größe gegeben, nämlich jene der Bewusstseinsschwelle. Damit ein Inhalt aus dem Unbewussten ins Bewusstsein treten kann, braucht er eine gewisse Ladung. Nähert sich ein Inhalt aus dem Unbewussten dieser Schwelle, so wird er mit Energie angereichert, um vom subliminalen in den bewussten Zustand überzutreten. Das sieht man besonders deutlich an den Träumen: Manchmal weiß man noch beim Aufwachen, dass man geträumt hat, aber kann sich des Traumes nicht mehr erinnern. Der unbewusste Inhalt hatte nur eine solche energetische Ladung, dass er die Schwelle nur beim »abaissement du niveau mental« des Schlafzustandes zu überschreiten vermochte, nicht aber im Wachzustand, in welchem die Schwelle viel höher ist, die das Bewusstsein vom Unbewussten trennt. Die Idee einer Schwelle stammt aus der Sinnesphysiologie. Bietet man einen sensorischen Reiz (Schmerz, Licht, Ton usw.), so muss er eine gewisse Stärke haben, um wahrgenommen zu werden, die Reizschwelle zu überschreiten. Vorher ist er subliminal. Subliminale Reize erreichen also das Bewusstsein nicht. Erfahrungsgemäß können sie dennoch vom Unbewussten registriert werden. Wenn wir statt von der unbewussten Seite von der bewussten her an die Schwelle kommen, so können wir verschiedene Stufen der Bewusstseinsklarheit wahrnehmen. An der Schwelle hört zwar die Klarheit auf, es setzen aber verschiedene Grade von Dämmerhaftigkeit bis zur absoluten Finsternis ein. Darin sind bloß geahnte oder erst konstellierte Inhalte. In der absoluten Finsternis unbewusster Inhalte geht das Psychische ins Körperliche über. Das ist die kritische Sphäre, wo die Wechselwirkungen zwischen Leib und Seele stattfinden. Denn es gilt als höchst wahrscheinlich, dass das Psychische und das Körperliche nicht einfach zwei neben-
13
257 13.2 • Psychoenergetik
einander herlaufende Prozesse sind, sondern erfahrungsgemäß in vielfältiger Wechselbeziehung zueinander stehen. > Wenn die Psyche ein relativ geschlossenes System ist, muss für jede Energie, die irgendwo zur Erzeugung eines Zustandes aufgewendet wurde, anderswo ein gleich großer Betrag der gleichen oder einer anderen Energieform auftreten: das Äquivalenzprinzip.
Dieses Prinzip ist gerade in der Neurosenpsychologie von einem großen praktischen Wert. Wenn dort irgendein bewusster Wert sich mindert oder gar verschwindet, muss man sich die Frage stellen, durch welche Ersatzbildung er vertreten wird, wo ein äquivalenter Wert auftaucht. Diesen Ersatz zu finden ist nicht schwer, wenn er im Bewusstsein auftaucht.
» Es kommt aber auch vor, dass ein beträchtlicher Libidobetrag dermaßen verschwindet, als ob er vom Unbewussten völlig aufgeschluckt wäre, ohne eine daraus entstehende neue Wertposition. (8, 35)
«
In einem solchen Fall findet man oft Anzeichen gesteigerter unbewusster Aktivität, sei es eine Steigerung gewisser Symptome oder ein neues Symptom oder besondere Träume oder vorbeihuschende Phantasiefragmente. Gelingt es der Analyse, diese unbewussten Manifestationen bewusst zu machen, so kann man die Ähnlichkeit ihrer Struktur mit dem verschwundenen Inhalt feststellen. Dabei ist zu bedenken, dass im psychischen Bereich eine Entwicklung, d. h. eine Wandlung auch der Substanz, möglich ist. Das kann eine nur kausale Begründung niemals zugeben.
» Die finale Auffassung versteht die Ursache als Mittel zum Zweck. (8, 43) «
» Was der kausalen Betrachtung Tatsache ist, ist der finalen Symbol, und umgekehrt. Alles, was der einen Ansicht eigentlich ist, ist der anderen uneigentlich. (8, 45)
«
» Es ist ohne weiteres einleuchtend, dass die seelische Entwicklung nicht durch bewusste Absicht und Willen geschehen kann, sondern des attraktiven Symbols, eines Wertquantums bedarf, das jenes der causa übersteigt. (8, 47)
«
Diese etwas theoretischen, abstrakten Überlegungen möchte ich durch ein Fallbeispiel beleben. Ein Professor der Hochschule, der mit einem meiner langjährigen Analysanden befreundet ist, suchte mich auf dessen Rat wegen hartnäckiger Magenschmerzen auf. Er hatte selber schon verschiedene Mittel versucht und auch vom Hausarzt erhalten, ohne dass sich eine Besserung abzeichnete. Ein Problem schien ihm »auf dem Magen zu liegen«. Da er ein sehr intelligenter Mann war, fand sich das »corpus delicti« denn auch relativ schnell: Eine junge hübsche Studentin, welche bei ihm ihre Dissertation schrieb, hatte es ihm angetan. Nun könnte man sich sagen, das sei ein einfaches Problem: Er müsste diese Beziehung aufgeben, was auch seine Ehefrau verständlicherweise forderte, von der er sich nicht scheiden lassen wollte. Der nächstliegende Rat, den man versucht dem armen Mann zu geben, wäre, er solle doch die Beziehung zu seiner »kleinen Freundin« aufgeben und in den »Schoß der Familie« zurückkehren! Das tönt so einfach, dass er sich das selber schon längst gesagt hat, abgesehen davon, dass sich seine Frau nichts sehnlicher wünschte als das.
Doch warum geht dieser vernünftige Weg nicht? Seine Energie ist in dieser Liaison gebunden! Würde er sie bewusst auflösen, käme das einer
258
13
Kapitel 13 • Erweiterung seiner Psychologie über die Perspektive der Neurose hinaus
Amputation gleich, wie wenn man an einer Mauer angekettet wäre und sich ein Bein abhacken würde, um zu entfliehen. Außerdem muss uns der Umstand, dass sein Problem körperliche Dimensionen angenommen hatte (Magenschmerzen), darauf hinweisen, dass eine Verschiebung vom Psychischen ins Körperliche stattgefunden hat. Das geschieht dort, wo dem Bewusstsein das Problem so unannehmbar ist, dass es in den Körper abgeschoben wird: Man leidet nicht mehr am peinlichen Konflikt, sondern leidet körperliche Pein. Doch diese lässt sich psychologisch nicht angehen. Die Energie des Konfliktes hat sich im körperlichen Unbewussten festgekrallt. Es gibt keine einfache Lösung, um sie aus ihrem Versteck hervorzulocken! Jetzt kommt die Traumanalyse zum Zug, welche uns allein die Wege aufzeigen kann, diese Energie auf verschlungenen Wegen wieder dem Bewusstsein zuzuführen. Wie man sich denken kann, war die Beziehung eines Mannes von 45 Jahren zu einer knapp 25-jährigen Frau ein Jungbrunnen, eine wohltuende Belebung, die man ohne Not nicht aufgibt. Zudem war der Mann ein ausgesprochen einseitiger rationaler Denktyp. Hier öffnet sich noch eine andere Dimension des Problems: Als Denktyp ist das Gefühl seine minderwertige Funktion, sein schwacher Punkt. Im Alltag kommt diese Seite zu kurz, denn die wissenschaftliche Arbeit erheischt seine Hauptfunktion. Die Psyche hat jedoch die Tendenz, ganzheitlich gelebt zu werden. Die Beziehung zu dieser jungen attraktiven Frau ermöglichte der minderwertigen Funktion mitzuleben, zu erwachen. Das bindet natürlich sehr viel Energie, weil diese Funktion eine sinnvolle Anwendung gefunden hat. Wenn sich der Patient die Frage vorlegt, ob er die Beziehung aufgeben soll, ist der Energiebetrag auf der bewussten Seite bloß die rationale Überlegung, aber auf der unbewussten viel gewichtiger mit der Aussicht auf ein sinnvolles erfüllendes Leben. Ein Aufgeben der Beziehung war daher kein gangbarer Weg.
Es blieb nur, vorerst die außereheliche Beziehung zu akzeptieren, was auch für die Ehefrau Leiden bedeutete. In dieser Zeit war der Patient aber nicht untätig, sondern arbeitete an seinem minderwertigen Gefühl, zu dem die alltäglichen Schwierigkeiten und Enttäuschungen einer solchen ménage à trois reichlich Anlass boten. Davon profitierten alle Beteiligten: Dem Patienten wurde seine vernachlässigte und im Beruf verachtete Funktion bewusster. Seine Beziehung zu Frau und Kind, welche sich bisher nicht über den kollektiven Alltagsrahmen erhoben hatte, belebte sich. Die junge Frau, die wohl einen positiven Vaterkomplex hatte, musste sich von ihrem väterlichen Liebhaber ablösen, um für eine altersgemäße Beziehung frei zu werden. So konnte die körperlich gebundene Libido befreit und ihrem eigentlichen Ziel zugeführt werden. Dieser Verlauf war für alle Beteiligten sinnvoll. Die Magenschmerzen waren längst verschwunden, und der Patient konnte »geheilt« entlassen werden. Ehrlicherweise muss ich eingestehen, dass mir diese theoretischen Zusammenhänge erst jetzt, 30 Jahre später, bewusst geworden sind. Während der Behandlung selber hat man nicht den Überblick; erst aus der zeitlichen Distanz.
»
Die Energie ist, wie ihr Korrelat, der Zeitbegriff, eine unmittelbar, a priori gegebene Anschauungsform einerseits [z. B. das mana], andererseits aber ein konkreter, angewandter oder empirischer Begriff, der aus Erfahrung abstrahiert ist, wie alle wissenschaftlichen Erklärungsbegriffe. (8, 53)
«
Jung hat schon 1912 den Begriff Libido verallgemeinert und ihn als Lebenstrieb verstanden. Aus historischer Gerechtigkeit hat er dafür das Wort Libido beibehalten, welches Freud eingeführt hat, es aber von der Freudschen sexuellen Konnotation gereinigt.
13
259 13.2 • Psychoenergetik
» Die kausale Betrachtung abstrahiert [wie bei Freud] aus dem Stoff der Erfahrung den dynamischen Begriff, während die finale Betrachtung ihren reinen Energiebegriff in der Anschauungssphäre anwendet und gleichsam zu einer Dynamis werden lässt. (8, 59)
«
In der kausalen Betrachtungsweise ist die Angabe der Wirkung (Kausalität. Ursache) eine Qualitätsbezeichnung. Die finale dagegen sieht die Energieumsetzung ursachelos von einem unwahrscheinlichen, entropisch in einen wahrscheinlicheren Zustand. Statt der Ursachewirkung setzt sie die Wirkungsintensität. Beide Male entsteht die Tatsachenreihe: A→B→C.
» Die Psychiatrie ist, wie bekannt, gegenüber der Psychologie rein deskriptiv und hat sich bis vor kurzem um die psychologische Kausalität gar nicht gekümmert, ja sie sogar geleugnet. (8, 51)
«
Jung betont an unzähligen Stellen, dass
» … Energie die Spannung zwischen Gegensätzen sei. Dieses Prinzip beherrscht die gesamte Naturwissenschaft, und unsere Psychologie bildet keine Ausnahme. (Brief an J.F. Rychlak vom 27.IV.1959)
«
» Je weiter die Spannung der Gegensätze, desto größer ist die daraus hervorgehende Energie; und je größer die Energie, desto stärker die konstellierende, attraktive Kraft. (8, 49)
«
Das ist der Grund für die Tatsache, dass
» … schwerste Konflikte, wenn überwunden, eine Sicherheit und Ruhe oder Gebrochenheit hinterlassen, die kaum mehr zu stören, beziehungsweise kaum mehr zu heilen ist. (8, 50)
«
Jung kommt in seiner bedeutenden Arbeit
»Theoretische Überlegungen zum Wesen des
Psychischen«, ursprünglich als »Geist der Psychologie« im Eranos Jahrbuch 1946 erschienen, nochmals auf die Frage der Bewusstseinsschwelle zu sprechen:
» Sollte es sich erwahrheiten, dass die Seele nicht mit dem Bewusstsein koinzidiert, sondern darüber hinaus unbewusst ähnlich oder anders als ihr bewusstseinsfähiger Anteil funktioniert, dann müsste unsere Beunruhigung wohl einen höheren Grad erreichen. In diesem Falle nämlich handelt es sich nicht mehr um allgemeine erkenntnis-theoretische Grenzen, sondern um eine bloße Bewusstseinsschwelle, die uns von den unbewussten psychischen Inhalten trennt. Die Hypothese der Bewusstseinsschwelle und des Unbewussten bedeutet, dass jener unerlässliche Rohstoff aller Erkenntnis, nämlich psychische Reaktionen, ja sogar unbewusste »Gedanken« und »Erkenntnisse« unmittelbarer neben, unter oder über dem Bewusstsein liegen, nur durch eine »Schwelle« von uns getrennt und doch anscheinend unerreichbar. (8, 362)
«
» Wie nur ein Reiz von einer gewissen Stärke Überschwelligkeit besitzt, so müssen auch, wie man mit einer gewissen Berechtigung annehmen kann, sonstige psychische Inhalte eine bestimmte höhere Energie besitzen, um die Schwelle überschreiten zu können. (8, 363)
«
Mit der energetischen Betrachtung und der Idee einer Schwelle ist es nun möglich zu sehen, dass Inhalte ins Bewusstsein aus dem Unbewussten aufsteigen oder umgekehrt bewusste Inhalte ins Unbewusste absinken.
» Wenn es an und für sich wohl richtig ist, dass Bewusstseinsinhalte durch Energieverlust unterschwellig und damit unbewusst, und umgekehrt, durch Energiezuwachs unbewusste Vorgänge bewusst werden, so müsste, wenn z. B. unbewusste Willensakte möglich sein sollten, doch er-
260
Kapitel 13 • Erweiterung seiner Psychologie über die Perspektive der Neurose hinaus
wartet werden, dass diese eine Energie besitzen, welche sie zur Bewusstheit befähigt. […] Dieser Vorgang müsste sogar notwendigerweise jenen Energiebeitrag besitzen, welcher zur Bewusstheit unbedingt erforderlich ist. (8, 366)
«
Damit ist die Frage der Dissoziation der Persönlichkeit aufgeworfen, nämlich dass es sozusagen ein zweites Subjekt gibt, dem subliminale Inhalte zugeführt, statt ins Bewusstsein gehoben werden.
» Eine solche Dissoziation hat zwei Aspekte: im einen Fall handelt es sich um einen ursprünglich bewussten Inhalt, der aber um seiner inkompatiblen Natur willen durch Verdrängung unterschwellig wurde; im anderen Fall besteht das sekundäre Subjekt in einem Vorgang, der noch keinen Eingang ins Bewusstsein gefunden hat, weil dort keine Möglichkeiten seiner Apperzeption bestehen, das heißt das Ichbewusstsein kann ihn infolge Mangels an Verständnis nicht rezipieren, weshalb er in der Hauptsache subliminal bleibt, obschon er, energetisch betrachtet, wohl bewusstseinsfähig wäre. (8, 366)
«
13
Für das Verständnis der Neurose ist das Konzept der Dissoziation äußerst fruchtbar. Bei der Neurose besteht primär eine Dissoziation durch, wie schon Freud erkannt hat, Entzug von Energie für dem Ich unwillkommene Vorstellungen; er nannte es Verdrängung. In diesem Feld musste sich Jung gegen die einflussreiche Schule um Wilhelm Wundt mit ihrer physiologischen Psychologie, welche die Hypothese des Unbewussten in Abrede stellte, durchsetzen. Seine Wortwahl erinnert in diesen Belangen noch stark an Wundts, von welcher er sich eben zu unterscheiden bemühte. Für Wundt ist ein aus dem Bewusstsein verschwundener Inhalt nur dann als unbewusst bezeichnet, wenn er die Möglichkeit zum Wiedereintritt hat. Auf mehr als diese Möglichkeit bezieht sich seine Kenntnis nicht. »Annahmen über den Zustand des »Unbewussten« oder über
irgendwelche »unbewussten Vorgänge« sind deshalb für die Psychologie durchaus unfruchtbar« (8, 348). Wundt übte nicht nur durch seine Tätigkeit 1874–1875 in Zürich, bevor er nach Leipzig berufen wurde, sondern durch eine große Schule bestimmenden Einfluss auf die deutsche Psychologie aus. Es war daher keine kleine Sache, sich von seinem Einfluss abzusetzen.
» Alles, was der menschliche Geist je schuf, ist aus Inhalten hervorgegangen, welche in letzter Linie unbewusste Keime waren. […] Obschon es nicht unwesentlich ist, dass der Mensch alles Unangenehme umgeht und möglichst zu vermeiden sucht und darum gerne vergisst, was ihm nicht passt [verdrängt!], so erscheint […] die positive Tätigkeit des Unbewussten doch viel wichtiger […] denn es ist die Gesamtheit aller in statu nascendi begriffenen seelischen Inhalte. […] Das Unbewusste ist […] ein natürliches Organ mit einer ihm spezifischen produktiven Energie. […] Wenn infolge Verdrängungen seine Produkte im Bewusstsein keine Aufnahme finden, so entsteht eine Art von Rückstauungen, eine unnatürliche Hemmung einer zweckmäßigen Funktion. […] Infolge der Verdrängung entstehen falsche psychische Abläufe. […] Der verdrängte Inhalt irradiiert in andere seelische und physiologische Gebiete. In der Hysterie werden besonders physiologische, in anderen Neurosen, wie Phobien, Obsessionen und Zwangsneurosen, hauptsächlich seelische Funktionen gestört. (8, 702)
«
Kommen wir zum früheren Zitat (8, 366) zurück: Hier haben wir erst den ersten Teil untersucht, die Verdrängung, über welche später noch mehr zu sagen ist. So müssen wir uns dem zweiten Teil zuwenden.
» Es ist also möglich, dass das Unbewusste Inhalte beherbergt, welche eine so große energetische Spannung besitzen, dass sie unter anderen Umständen dem Ich wahrnehmbar werden
261 13.2 • Psychoenergetik
müssten. Meist handelt es sich dabei keineswegs um verdrängte, sondern um noch nicht bewusste, das heißt als subjektiv realisierte Inhalte. […] Dieser Zustand ist weder pathologisch noch sonst wie absonderlich, sondern der ursprüngliche Normalzustand, während die in der Einheit des Bewusstseins zusammengefasste Ganzheit der Psyche ein ideales und nie erreichtes Ziel darstellt. (8, 366)
«
Damit unterscheidet sich Jungs Auffassung vom Unbewussten ganz wesentlich von derjenigen Freuds. Letzterer lässt nur den ersten Teil, die Verdrängung, für die Inhalte des Unbewussten gelten, übersieht aber die schöpferische Funktion desselben.
» Ziehen wir die Hypothese des Unbewussten ernstlich in Betracht, […] so wird am Subjekt des Wahrnehmens und Erkennens eine so grundlegende Veränderung wie die einer ungleichen Verdoppelung vollzogen, wodurch ein Weltbild entstehen muss, das von dem bisherigen verschieden ist. (8, 370)
«
In einem Nachwort zu den »Theoretischen Überlegungen zum Wesen des Psychischen« kommt Jung auf die Archetypen zu sprechen (7 Kap. 23). Sie sind
» … typische Verhaltensformen, die, wenn sie bewusst werden, als Vorstellungen erscheinen, wie alles, was Bewusstseinsinhalte sind. (8, 435)
«
13
»
Sie haben eine Natur, die man nicht mit Sicherheit als psychisch bezeichnen kann. (8, 439)
«
Parapsychologische Phänomene hören in dem Moment auf, in welchem ein unbewusster Inhalt ins Bewusstsein übertritt, was bei Adoleszenten oft zu beobachten ist [21]. Umgekehrt können durch Versetzen des Subjektes in einen unbewussten Zustand (Trance) synchronistische Phänomene hervorgerufen werden. Die Gebrüder Siber in Aathal Zürich zeigten in einem Film einen einfachen Mann auf Ceylon, heute Sri Lanka, den jüngeren zweier Brüder. Anlässlich eines Festes wird er durch viel »Drums« in Tanz und Trance versetzt. Sie gaben ihm ein verschlossenes Couvert mit einem Zettel darin. Darauf stand die Frage: Wo ist unsere Bohrmaschine? Die Gebrüder Siber sind Strahler, die in den Alpen Mineralien suchen, um sie in ihrem Laden zu verkaufen. Bei einer ihrer Exkursionen wurde ihnen der Bohrer gestohlen. Der Trancetänzer konnte nun die Frage durch das geschlossene Couvert hindurch lesen und antwortete darauf: »On the Grimselpass!« Dabei hatte er wohl noch nie vom Grimselpass gehört, noch wusste er, wo sich ein solcher befindet. Zwischen dem Bewusstsein und dem unbewussten Zustand besteht ein Komplementaritätsverhältnis. Das lässt sich ebenso gut in jenen referierten Fällen beobachten, wo unter Hypnose gewisse klinische Symptome verschwinden oder erzeugt werden können (Charcot, 7 Kap. 6), wenn die entsprechenden Inhalte bewusst werden (8, 440).
Sie erscheinen in der Beobachtung und Erfahrung erst, indem sie Vorstellungen anordnen, was unbewusst geschieht und darum immer erst nachträglich erkannt wird.
» Gewisse Anzeichen sprechen dafür, dass
» Sie assimilieren Vorstellungsmaterial, dessen
» Diese Hypothese fordert aber eine Psyche,
Herkunft aus der Erscheinungswelt nicht bestritten werden kann, und werden dadurch sichtbar und psychisch. (8, 440)
welche irgendwie die Materie berührt, und umgekehrt, eine Materie mit latenter Psyche, von
«
psychische Vorgänge in einer energetischen Relation zu der physiologischen Grundlage stehen. (8, 441)
«
262
Kapitel 13 • Erweiterung seiner Psychologie über die Perspektive der Neurose hinaus
welchem Postulat gewisse Formulierungen der modernen Physik nicht mehr allzu weit entfernt sind. (8, 441)
«
Damit kommt man dem psychophysischen Problem bedeutend näher, welches in der Psychosomatik eine große Rolle spielt. Der Leser wird aber auch erkannt haben, wie vorsichtig sich der Empiriker ausdrückt. Der Begriff »abaissement du niveau mental« stammt von Pierre Janet (7 Kap. 8). Jung verwendet ihn oft, um ein Nachlassen der Bewusstseinsspannung, vergleichbar einem niedrigen Barometerstand, der schlechtes Wetter verkündet, zu bezeichnen.
» Der Tonus hat nachgegeben, was auch subjektiv empfunden wird als Schwere, Unlust und Trübsinn. Man hat die »Lust« verloren und keinen Mut, sich an den Tag und sein Werk heranzuwagen. Man fühlt sich selber wie Blei, weil sich nichts bewegen will. Das rührt daher, dass man keine disponible Energie mehr hat. (9/I, 213)
«
13
Das »abaissement« kann die Folge von physischer oder psychischer Ermüdung sein, was wohl jeder kennt. Es kann auch bei körperlichen Krankheiten (hohes Fieber), bei heftigen Affekten und Schock auftreten, wo man seine Selbstsicherheit, sein Selbstvertrauen und die Unternehmungslust verliert. Die Gesamtpersönlichkeit wird eingeengt, der geistige Horizont durch zunehmenden Egoismus beschränkt.
Das »abaissement du niveau mental« ist, wie man sieht, nicht etwas Negatives, sondern hat zu seiner Zeit auch sein Gutes (darüber später mehr).
»
Obschon der Gottesbegriff ein geistiges Prinzip par excellence ist, will es das kollektive Bedürfnis doch haben, dass er zugleich auch eine Anschauung der ersten schöpferischen Ursache sei, aus der alle jene dem Geistigen widerstrebende Triebhaftigkeit hervorgeht. Damit wäre Gott der Inbegriff nicht nur des geistigen Lichtes, das als späteste Blüte am Baum der Entwicklung erscheint, nicht nur das geistige Erlösungsziel, in welchem alle Schöpfung gipfelt, nicht nur das Ende und der Zweck, sondern auch dunkelste, unterste Ursache aller naturhaften Finsternisse. (8,105)
«
Vom naturwissenschaftlichen Standpunkt aus ist dem nichts entgegenzusetzen, doch der Konflikt tut sich auf, weil der Mensch auch eine moralische Funktion hat. Es ist ja merkwürdig, dass auf keinem anderen Triebgebiet der Konflikt so bewusst ist wie auf jenem der Sexualität. Freuds theoretische Einseitigkeit ist hier wenigstens symptomatisch bedeutsam.
» Der Zusammenstoß von infantiler Triebhaftigkeit und Ethos kann nie vermieden werden. Er ist sogar, wie mir scheint, die conditio sine qua non der psychischen Energie. (8, 105)
«
Freud hat hier ein Zeitproblem aufgegriffen, ob
»
Da der Traum aus dem Schlaf stammt, trägt er alle Merkmale des »abaissement du niveau mental« an sich, nämlich der geringen energetischen Spannung: die logische Diskontinuität, das Fragmentarische, die Analogiebildungen, die oberflächlichen Assoziationen sprachlicher, klanglicher und bildlicher Natur, die Kontaminationen, die Irrationalität des Ausdrucks, das Verworrene usw. (8, 152)
«
unsere sittliche Auffassung der Sexualität ihrer Natur noch entspricht. Dafür musste man noch tiefer dem Wesen der Sexualität nachforschen [20].
» Das geistige Prinzip kollidiert streng genommen nicht mit dem Trieb, sondern mit der Triebhaftigkeit, als welches ein ungerechtfertigtes Überwiegen der Triebnatur gegenüber
263 13.2 • Psychoenergetik
dem Geistigen zu verstehen ist. Das Geistige erscheint in der Psyche auch als ein Trieb« (Leidenschaft). (8, 108)
«
Wie wir in der äußeren Natur nur einen sehr geringen Teil der energetischen Abläufe als praktisch verwertbare Energie nutzen können, so gelingt es uns auch nur einen kleinen Teil der gesetzmäßigen Abläufe in disponible Energie umzuwandeln. Die Energie ist in die verschiedenen Funktionssysteme investiert, welche unseren Alltag ausmachen. Die Kulturgeschichte lehrt uns aber, dass ein gewisser Überschuss an Libido vorhanden ist, der nicht einfach in naturgemäßer Form, sondern als Libidoüberschuss auftritt.
» Aus dem Libidoüberschuss ergeben sich gewisse psychische Prozesse, die durch bloße Naturbedingungen nicht oder nur sehr ungenügend zu erklären sind. Es sind dies religiöse Prozesse, deren Natur wesentlich symbolisch ist. […] Sie sind zugleich Übergänge zu neuen Tätigkeiten, die man spezifisch als Kulturtätigkeiten bezeichnen muss, im Gegensatz zu den gesetzmäßig ablaufenden instinktiven Funktionen. (8, 91)
«
Im Zusammenhang mit dem Mutterarchetypus, einem der wichtigsten Archetypen, führt Jung, aus, dass es diese Urbilder sind, aus welchen uns im Alltag ständig die Libido zufließt. Sie dürfen darum als höchste und natürlichste Werte nicht ins Unbewusste versinken.
» Fallen diese nämlich ins Unbewusste, so ist damit die ganze elementare Kraft ursprünglicher Erlebnisse entschwunden, an deren Stelle tritt die Fixierung an die Mutterimago, und wenn diese genügend zurechtvernünftelt worden ist, so sind wir ganz und gar an die menschliche ratio gebunden und von da an dazu verurteilt, ausschließlich an das Vernünftige zu glauben. (9/I, 173)
«
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Das ist einerseits Vorteil und Tugend, aber andererseits, wo es zum ausschließlichen Prinzip wird, eine Verarmung in der Öde des Doktrinarismus und der »Aufklärung«. Denn je selbständiger sich die Vernunft gebärdet, desto mehr wird sie zum reinen Intellekt, welcher Lehrmeinungen an die Stelle der Wirklichkeit setzt.
» Die Welt der Archetypen muss, ob er sie begreift oder nicht, dem Menschen bewusst bleiben, denn in ihr ist er noch Natur und mit seinen Wurzeln verbunden. […] Bleiben die Urbilder in irgendeiner Form bewusst, so kann die Energie, welche diesen entspricht, dem Menschen zufließen. […] Nie sollte er vergessen, dass die Welt darum besteht, weil sich ihre Gegensätze die Waage halten. So ist auch das Rationale durch das Irrationale, und das Bezweckte durch das Gegebene aufgewogen. (9/I, 174)
«
Immer, wenn ein bestimmter Energiebetrag kein ihm zusagendes Ziel findet, verursacht er eine Störung des seelischen Gleichgewichts. Diese Energie, die kein bewusstes Ziel hat, verstärkt das Unbewusste, wodurch Unsicherheit und Zweifel entstehen (10, 253).
» Durch Unterlassung aller Art, Nichterfüllen von Pflichten, Hinauszögern von Aufgaben, geflissentliche Trotzhaltung usw. kann die Lebenstätigkeit so angehalten werden, dass gewisse Energiebeträge, die im Bewusstsein keine Anwendung mehr finden, ins Unbewusste abströmen und dort gewisse (kompensierende) Inhalte dermaßen aktivieren, dass diese eine zwingende Wirkung auf das Bewusstsein auszuüben beginnen. (16, 372)
«
> Jungs Auffassung steht besser im Einklang mit der naturwissenschaftlichen ganz allgemein. Sie spielt eine praktische Rolle zum Verständnis zahlreicher psychischer Phänomene, insbesondere bei der Neurosenpsychologie.
264
Kapitel 13 • Erweiterung seiner Psychologie über die Perspektive der Neurose hinaus
Wir werden im Folgenden immer wieder auf derartige Beispiele stoßen, ja die energetische Betrachtung ist zu einer Selbstverständlichkeit geworden, welche aus der praktischen Tätigkeit nicht mehr wegzudenken ist, insofern der Analytiker sich auch bemüht, zu verstehen, was sich im analytischen Prozess ereignet.
Verdrängung in verschiedenen Formen, um die lästigen Eindringlinge loszuwerden. Dabei gilt die Regel, dass, je negativer das Bewusstsein eingestellt ist, das heißt je mehr es widerstrebt, entwertet und Angst empfindet, desto widerwärtiger, aggressiver und furchterregender der Ausdruck wird, welchen der dissoziierte psychische Inhalt annimmt. (13, 464)
«
13.3
Verdrängung
Wir sind bereits oben auf das Problem der Verdrängung im Zusammenhang mit der Dissoziation gestoßen. Beide gehören eng zusammen und spielen für das Wesen einer Neurose eine zentrale Rolle. Wir wollen uns nun etwas eingehender mit dieser Frage befassen, obwohl wir ihr nicht nur im Zusammenhang mit der Energetik, sondern auch sonst noch begegnen werden. Doch soll hier einiges Grundsätzliches dazu beigebracht werden.
» Psychische so gut wie somatische Störungen
13
sind sehr komplexe Erscheinungen, die sich mit einer rein ätiologischen Theorie allein nicht erklären lassen. Neben der Ursache und dem X der individuellen Disposition muss auch der finale Aspekt der biologischen Zweckmäßigkeit, die auf psychischem Gebiet als Sinn formuliert werden muss, in Betracht gezogen werden. Bei den psychischen Störungen genügt das bloße Bewusstmachen der vermutlichen oder wirklichen Ursachen längst nicht immer, sondern es handelt sich bei der Therapie um eine Integration von Inhalten, die vom Bewusstsein dissoziiert sind, und zwar keineswegs immer durch Verdrängung, welche sehr häufig ein bloß sekundäres Phänomen darstellt. Gewöhnlich sogar ist es so, dass im Laufe der Entwicklung anschließend an die Pubertät sich affektive Inhalte, Tendenzen, Impulse und Phantasien zum Worte melden einem Bewusstsein gegenüber, das aus vielerlei Gründen nicht gewillt oder unfähig ist, sie zu assimilieren. Es reagiert dann mit
»
Das Unbewusste ist kein dämonisches Ungeheuer, sondern ein moralisch, ästhetisch und intellektuell indifferentes Naturwesen, das nur dann wirklich gefährlich wird, wenn unsere bewusste Einstellung dazu hoffnungslos unrichtig ist. In dem Maße, wie wir verdrängen, steigt die Gefährlichkeit des Unbewussten. In dem Moment aber, wo der Patient beginnt, seine unbewusst gewesenen Inhalte zu assimilieren, vermindert sich auch die Gefährlichkeit des Unbewussten. Die Persönlichkeitsdissoziation, die ängstliche Trennung von Tag- und Nachtseite, hört mit fortschreitender Assimilation auf. (16, 329)
«
» Jede Form der Verständigung mit dem abgespaltenen Seelenteil ist therapeutisch wirksam. Dieser Effekt hat eine bloß vermutliche wie ein wirkliches Auffinden der Ursachen. Auch wenn sie eine phantastische Annahme sein sollte, so wirkt sie wenigstens suggestiv heilsam, nämlich wenn der Arzt selber daran glaubt und sich ernstlich um ein Verständnis bemüht. (13, 465)
«
Ohne Verdrängung kommt man natürlich nicht durchs Leben. Es kommt aber darauf an, was verdrängt wird und wie bewusst es verdrängt wird.
»
Es ist normal für einen Mann, seiner Anima Widerstand zu leisten, weil sie […] das Unbewusste mit all jenen Tendenzen und Inhalten darstellt, die bis dahin vom bewussten Leben ausgeschlossen waren. (11, 129)
«
265 13.3 • Verdrängung
Ich habe einen deutschen Philosophen gekannt, der sich für die Jungsche Psychologie interessierte und auch einiges gelesen hatte. Er bat mich, ihm zu erklären, was er mit dem Ausdruck »Anima« meine. Ich versuchte es einen ganzen Nachmittag lang bei ihm zu Hause bei Tee und Kuchen – ohne Erfolg. Seine Abwehr war zu groß, um offen zu sein für das Verständnis, zudem war er identisch mit seinem Denken, ein sehr gescheiter Kopf!
» In der Regel werden jene Tendenzen, die den Betrag antisozialer Elemente in der psychischen Struktur des Menschen darstellen – ich nenne sie den »statistischen Verbrecher« in jedermann – unterdrückt, das heißt sie werden bewusst und absichtlich eliminiert. Aber Tendenzen, die lediglich verdrängt sind, sind gewöhnlich zweifelhaften Charakters. […] Die Verdrängung ist eine Art von halbbewusstem und unentschiedenem Gehenlassen der Dinge, oder ein In-die-andereRichtung-Blicken, um der eigenen Wünsche nicht ansichtig zu werden. […] Die Unterdrückung dagegen entspricht einer bewussten moralischen Entscheidung, während die Verdrängung eine ziemlich unmoralische Neigung, unangenehme Entscheidungen loszuwerden, darstellt. (11, 129)
«
Hier unterscheidet er zwischen Unterdrücken von gewissen asozialen Tendenzen, was nötig ist, und Verdrängen von Dingen, welche dem Bewusstsein unangenehm sind. Diese Unterscheidung kommt in seinem Werk selten mehr so klar vor, scheint aber ein Sous-entendu zu sein. Im Zusammenhang mit dem Kindarchetypus schreibt Jung ([8] S. 163–195), dass mit
» … zunehmender Ausbildung des Willens eine umso größere Gefahr der Verirrung ins Einseitige und der Abschweifung ins Gesetz- und Wurzellose besteht. […] Das differenzierte Bewusstsein ist immer von Entwurzelung bedroht, weshalb es
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der Kompensation durch den noch vorhandenen Kindheitszustand bedarf. Die Symptomatik der Kompensation wird vom Fortschrittsstandpunkt aus allerdings mit wenig schmeichelhaften Ausdrücken formuliert. […] Das retardierende Ideal ist immer primitiver, natürlicher (im guten wie im bösen Sinne) und »moralischer«, insofern es treu zum überlieferten Gesetz hält. Das fortschrittliche Ideal ist immer abstrakter, unnatürlicher und insofern »unmoralischer«, als es Untreue gegenüber der Tradition erfordert. Der vom Willen erzwungene Fortschritt ist immer Kampf. […] Es ist nun ein psychologischer Grundsatz, dass ein vom Bewusstsein abgespaltener Seelenteil nur scheinbar inaktiviert wird, in Wirklichkeit aber zu einer Besessenheit der Persönlichkeit führt. […] Wenn also der kindhafte Zustand der Kollektivseele bis zum gänzlichen Ausschließen verdrängt wird, so bemächtigt sich der unbewusste Inhalt der bewussten Zielsetzung, wodurch deren Verwirklichung gehemmt, verfälscht oder geradezu zerstört wird. Ein lebensfähiger Fortschritt aber kommt nur zustande durch die Kooperation beider. (9/I, 276–277)
«
Im einleitenden Votum zur Diskussion an der Tagung für Psychologie ([13] S. 86–93) führt er aus,
» … dass man die Psyche nicht behandeln kann, ohne ans Ganze und damit an Letztes und Tiefstes zu rühren. (16, 175)
«
Das sollte man vielen »modernen«, ach so fortschrittlichen Richtungen in der Psychologie ins Stammbuch schreiben, weil durch die zunehmende Spezialisierung (Essstörungen, Traumatologie, Depressionsklinik) nur noch die jeweilige Störung behandelt wird.
» Je »psychischer« ein Zustand ist, desto komplexer ist er, und desto mehr bezieht er sich auf das Ganze. Gewiss sind elementare psychische Gebilde aufs engste mit physiologischen Körper-
266
Kapitel 13 • Erweiterung seiner Psychologie über die Perspektive der Neurose hinaus
vorgängen verschwistert, und es besteht nicht der mindeste Zweifel darüber, dass der physiologische Faktor zum mindesten den einen Pol des psychischen Kosmos bedeutet. Wenn schon die Trieb- und Affektvorgänge sowie die ganze neurotische Symptomatologie, die aus deren Störung hervorgeht, klar auf physiologischer Grundlage beruhen, so […] gehört der Störungsfaktor, eben das Verdrängende, einer »höheren« psychischen Ordnung an. Es ist […] in der Regel eine hochkomplexe Bedingung, wie z. B. rationale, ethische, ästhetische, religiöse oder sonstwie traditionsgebundene Vorstellungen. […] Diese Sphäre hochkomplexer Dominanten bildet den anderen Pol der Psyche. (16, 176)
«
Das sind nun schon sehr subtile Überlegungen zu unserem Problem. Doch schon in »Symbole der Wandlung« sagt er, man dürfe den Terminus »Verdrängung«
» … eigentlich nur dann verwenden, wenn ein
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voluntaristischer Akt, der als solcher nur bewusst sein kann, vorliegt. Nervöse Personen können dergleichen Willensentscheide bis zu einem gewissen Grad sich selber verheimlichen, so dass es aussieht, als ob der Verdrängungsakt vollkommen unbewusst verlaufen wäre. […] Die Verdrängung bedeutet aber ein illegitimes Loswerden eines Konfliktes; das heißt man täuscht sich über dessen Existenz hinweg. (5, 91–92)
«
Die Verdrängung führt dazu, dass die Libido nicht in die Zukunft, sondern in der Vergangenheit fließt und dort regressiv die Elternimago belebt. In der Erfahrung weiß man, dass bewusste Inhalte durch Verlust ihres energetischen Wertes leicht ins Unbewusste absinken können: Der normale Vorgang des Vergessens. Dort sind sie jedoch nicht verloren, sondern können von einem Traum, in der Hypnose oder durch Auffrischung wieder ins Bewusstsein zurückgeholt werden.
» Bewusste Inhalte können ohne allzu erhebliche Werteinbuße durch intentionelles Vergessen – was Freud als Verdrängung eines peinlichen Inhaltes bezeichnet – unter die Bewusstseinsschwelle geraten. Eine ähnliche Wirkung entsteht durch Dissoziation der Persönlichkeit, das heißt eine Auflösung der Geschlossenheit des Bewusstseins infolge heftigen Affektes oder infolge eines nervous shock oder durch Persönlichkeitszerfall in der Schizophrenie. (6, 839)
«
Man spricht so schnell von Verdrängung, denkt aber kaum daran, dass es ein ziemlich komplizierter Vorgang ist. So stellt sich die Frage: Wer oder was ist der Motor einer Verdrängung? Es ist ziemlich einfach, zu sehen, welche unliebsamen Inhalte verdrängt werden. Man versteht auch, dass alles verdrängt wird, was zu einem Konflikt führen kann. Doch warum will man Konflikte meiden, kommen sie doch oft im Alltag vor, wo sie unvermeidlich sind. Jung hat sehr recht, wenn er schreibt, der verdrängende Faktor gehöre einer höheren psychischen Ordnung an. Es sind geistige Funktionen wie Scham, Moral, Ästhetik, Tradition usw. Im kommunistischen Ex-Jugoslawien war der Schatten, wie mir ein Kollege, der dort aufgewachsen und in die Schweiz gekommen war, erzählte, viel weniger schambesetzt als hier. Alle verdienten etwa gleich viel. Wenn sich einer ein Häuschen am Meer bauen konnte, wo er die Ferien verbrachte, so wusste jedermann, dass das nicht mit rechten Dingen zugehen konnte. Doch nahm man das einfach als systemimmanent hin, niemand hätte mit dem Finger auf ihn gezeigt. Darum brauchte er sich auch nicht vor anderen Leuten zu schämen. Bei uns versteckt man sich sofort, sobald man etwas tut, von dem man weiß, dass es im Kollektiv, d. h. in der Öffentlichkeit nicht sanktioniert würde. Dort wie hier ist demnach nicht das eigene Gewissen für die Entscheidung, etwas zu tun oder zu lassen, ausschlaggebend, sondern wie man in der Öffentlichkeit dasteht.
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267 13.3 • Verdrängung
> Die Scham ist viel weniger etwas Moralisches als Konventionelles.
Das realisierte man im Westen erst nach dem vielbejubelten Fall des Eisernen Vorhangs. Man glaubte, jetzt würde sich im Osten, wie nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland, ein »Wirtschaftswunder« ereignen. Nichts dergleichen ereignete sich, denn die Gleichschaltung durch das Regime hatte die Bürger moralisch verkümmern lassen. Alle Verantwortung hatte ihnen der Staat entzogen. Verantwortung gedeiht nur, wo es Freiheit gibt. Erziehung von verantwortlichen Menschen ist nur dort möglich, wo der Staat seinen Bürgern die Freiheit der Entscheidung überlässt. Dort, wo er alles reguliert, züchtet er amoralische Schafsköpfe. »Der Staat übernehme die Verantwortung«, heißt es etwa dort, wo man wieder ein Regelwerk einführen will. Ja, wer entscheidet denn in letzter Instanz? Der Staat ist doch eine Fiktion; die Menschen, die Administration, die Politiker, die Wirtschaftsführer, die Bevölkerung machen ihn aus. Letztlich läuft es stets auf das Individuum hinaus, das allein fähig ist, Verantwortung für sein Handeln zu übernehmen. Keine noch so raffinierte oder globale Institution kann und darf sie ihm abnehmen. Es ist ein Hohn, wenn sich nach einem Bombenanschlag irgendeine Organisation bereiterklärt, die Verantwortung zu übernehmen. Vielleicht hat diese Organisation den Bombenleger oder Selbstmordattentäter für ihre Zwecke manipuliert. Trotzdem ist er selber verantwortlich für seine Tat. Mir scheint in der heutigen Zeit die Moral eine ganz große Bedeutung zu besitzen. Und zwar beginnt die von Kindsbeinen an, nicht erst beim homo politicus. Die Massenmedien suggerieren, dass »wenn man mit den Wölfen heule«, alles wohlstehe. Die Norm der Mehrzahl gilt nur für die Schwachen, die anderen müssen ihr Inneres befragen. Solange man unangenehmen Fragen und Konflikten auszuweichen gesonnen ist, gibt es kein verantwortungsbewusstes tapferes Leben.
Der Neurotiker ist jener, der sich um diese Verantwortung drückt und damit das Leben verpasst.
» Die energetische Ladung der verdrängten Inhalte addiert sich bis zu einem gewissen Grad zu der des verdrängenden Faktors, wodurch dessen wirkungsmäßige Bedeutung entsprechend zunimmt. Je höher dessen Ladung steigt, desto mehr erhält die verdrängende Einstellung fanatischen Charakter und nähert sich damit dem Umschlag ins Gegenteil, der sogenannten Enantiodromie. Je größer die Ladung des kollektiven Bewusstseins, desto mehr verliert das Ich seine praktische Bedeutung. Es wird von den Meinungen und Tendenzen des kollektiven Bewusstseins gewissermaßen aufgesogen, und dadurch entsteht der Massenmensch, der stets einem -ismus verfallen ist. (8, 425)
«
» Erst vor etwas mehr als tausend Jahren sind wir aus den krudesten Anfängen des Polytheismus in eine hochentwickelte orientalische Religion hineingefallen, welche den imaginativen Geist des Halbwilden auf eine Höhe hob, die dem Grade seiner geistigen Entwicklung nicht entsprach. Um diese Höhe einigermaßen zu halten, war es unvermeidlich, dass die Instinktsphäre weitgehend unterdrückt werden musste. Deshalb nahmen die Religionsübung und die Moral einen ausgesprochen gewalttätigen, ja fast bösartigen Charakter an. Das Unterdrückte wird natürlich nicht entwickelt, sondern vegetiert in ursprünglicher Barbarei im Unbewussten weiter. (13, 70)
«
Diese Erklärung hat mir verständlich gemacht, warum in unserer Kultur die Moral irgendwie immer außen vor steht und nicht harmonisch mit dem Leben verbunden ist. > Moral sollte nicht etwas Lebensfeindliches sein, sondern ein inneres Regulativ, welches erst das kulturelle Zusammenleben ermöglicht.
268
Kapitel 13 • Erweiterung seiner Psychologie über die Perspektive der Neurose hinaus
» Es scheint, als ob eine stärkere Gefühlsentwicklung beim westlichen Menschen jene Entscheidung, welche die Gottheit moralisch entzweischnitt, erzwungen hätte. […] (Die Madonna) hat den Schatten gänzlich eingebüßt. Er ist in die Vulgärhölle gefallen, wo er ein kaum bemerktes Dasein als »Großmutter des Teufels« führt. […] Man hat sogar den Teufel beinahe oder ganz abgeschafft, wodurch diese metaphysische Gestalt, die früher einen integralen Teil der Gottheit bildete, im Menschen introjiziert wurde, so dass dieser zum eigentlichen Träger des mysterium iniquitatis wurde. […] Diese Entwicklung kehrt sich in neuerer Zeit infernalisch um, indem der Wolf im Schafsgewand herumgehend überall in die Ohren flüstert, das Böse sei eigentlich nichts als ein Missverständnis des Guten und ein taugliches Instrument des Fortschrittes. (9/I, 189)
«
» Gut und Böse sind Kategorien unserer moralischen Urteilskraft und somit menschlich relativ. […] Das moralische Urteil ist für den menschlichen Geist eine Notwendigkeit. (18/II, 1657)
«
13
Die Moral ist eine transzendente, d. h. Bewusstsein und Unbewusstes verbindende Funktion. Ihre kollektive Komponente hat z. B. zum Dekalog geführt. Der ist nicht nur einmal auf steinernen Tafeln vom Berg Sinai heruntergebracht worden, sondern in den Herzen der Menschen eingeschrieben. Dieses »Du sollst« und »Du sollst nicht« ist eine selbstverständliche Grundlage des sozialen Zusammenlebens.
» Das, was das sogenannte Über-Ich zusammensetzt […] sind auf mythologischen Urmotiven beruhende Allgemeinvorstellungen und Wertkategorien, welche das psychische und soziale Leben der Primitiven [gemeint: Angehörige von Naturvölkern] so regulieren und gestalten, wie die für uns gültigen allgemeinen Überzeugungen, Auffassungen und ethischen Werte, mittels
welcher wir erzogen werden und uns in Welt und Leben orientieren. Sie greifen, wie allbekannt, beinahe automatisch in alle unsere Wahl- und Entscheidungsakte sowohl wie in unsere Auffassungsbildung ein. […] Die neurotischen Fehlschlüsse und -entscheidungen, welche pathogen wirken, bestehen in der Regel in einem Konflikt mit diesen Prämissen. (16, 247)
«
Mit anderen Worten, Neurotiker sind nicht sozial angepasst, sie nehmen sich Freiheiten und Spezialerlaubnis heraus, welche vom Kollektiv nicht geduldet werden, aber auch nicht von ihrer inneren Stimme, weil Nichtanpassung infantilen Charakter aufweist. Selbstverständlich ist das Gegenteil der Nichtanpassung, die Überanpassung ebenso schädlich, weil sie zum Konflikt mit den Anforderungen des Selbst führt, der inneren Anpassung. Wie man es dreht und wendet kann sich der Mensch dem Konflikt nur zum Preis einer Neurose entziehen. Es wird von ihm eine Anpassung sowohl an die Außen- als auch an die Innenwelt erwartet.
» Das Christentum zerteilte den germanischen Barbaren in seine untere und obere Hälfte, und so gelang es ihm – nämlich durch Verdrängen der dunklen Seite – die helle Seite zu domestizieren und für die Kultur geschickt zu machen. Die untere Hälfte aber harrt der Erlösung in einer zweiten Domestikation. (10, 17)
«
Darin liegt genügend Konfliktstoff für Neurosen. Es zeigt, dass man stets das Ganze des Menschen im Auge zu behalten hat. Denn jeder Neurotiker, der an dieser Problematik erkrankt und sich in der Therapie damit auseinandersetzt, hat auch einen, zwar infinitesimalen Beitrag zu diesem kollektiven Problem geleistet. Dieses kann nicht anders gelöst werden als durch die individuellen Beiträge. In einem seiner letzten Interviews sagt Jung zu Georg Gerster am 7. Juni 1960:
269 13.3 • Verdrängung
» Man begegnet überall dieser Unterbewertung der menschlichen Seele. Natürlich, wenn man sagt: »Ja, die menschliche Seele«, da fällt einem dann alles bei. Das machen dann die anderen. Aber selber, und was ich mache, das fällt gar nicht in Betracht. […] Der Einzelne ist in einem Maße überzeugt von seiner Nichtigkeit, dass er sich auch gar keine Mühe gibt, irgendwo mit sich selber hinzukommen, sich innerlich irgendwie zu entwickeln. Es ist zu hoffnungslos. Der einzelne ist nichts. Das ist natürlich eine ganz falsche Auffassung. Der einzelne ist der Lebensträger. Jeder einzelne trägt das Leben, und das Leben ist nur von einzelnen getragen. ([16] S. 315f.)
«
Im gleichen Interview führt er aus, seine Neurosenfälle hätten die gleiche verniedlichende Auffassung von der Seele, aber sie würden bald umlernen! Ich setze das hierher, weil man keine Neurosentherapie erfolgreich durchführen kann mit einer derartigen Auffassung von der Seele. Man kann alles auswendig lernen, was Jung dazu gesagt hat, aber es bleibt außen, es dringt nicht in die Seele.
» Der Rationalismus des modernen Lebens hat alles Irrationale entwertet und dadurch die Funktion des Irrationalen ins Unbewusste versenkt. Befindet sich die Funktion aber einmal im Unbewussten, so wirkt sie von dort aus verheerend und unaufhaltsam, wie eine unheilbare Krankheit, deren Herd nicht ausgerottet werden kann, weil er unsichtbar ist. (7, 150)
«
Es ist keineswegs so, dass das Irrationale keinen Platz hätte in unserem Alltag. Im Gegenteil, je rationaler wir leben wollen, desto irrationalere Dinge ereignen sich. Aber oft bemerken wir sie nicht einmal, weil sie in unserem Weltbild keinen Platz haben. Der alter Prof. Alfred Meier lernte von seiner Großmutter, er müsse dreimal sagen: »Tüfel tue de Taape drab!« (Teufel nimm deine Pfote weg!), wenn er etwas nicht finden könne.
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Ich habe mir den weisen Spruch gemerkt. Vor wenigen Jahren suchte ich etwas und konnte es nicht finden. Als ordnungsliebender Mensch wusste ich, wo ich es in der Regel versorgte. Ich schaute nach – ich fand es nicht. Ich suchte den Gegenstand an allen möglichen und unmöglichen Orten – nirgends aufzufinden. In meiner Not rief ich den Teufel an und sagte dreimal den magischen Spruch. Dann schaute ich am Ort nach, wo ich ihn zuerst gesucht hatte: Da lag er ganz offen. Ich konnte mir nicht erklären, weshalb ich ihn beim ersten Mal nicht gesehen hatte. Der Teufel verhinderte das, indem er seine Pfote draufgelegt hatte! Jung hat viele solche »Großmuttergeschichten« ernst genommen und sich danach gerichtet. Es sind alte Volksweisheiten, denen der aufgeklärte Verstand ihre Berechtigung zum eigenen Schaden abspricht.
» Sobald es dem menschlichen Geiste gelungen war, die Idee der Sünde zu erfinden, entstand das psychisch Verborgene, in analytischer Sprache: das Verdrängte. Das Verborgene ist Geheimnis. Der Besitz an Geheimnissen wirkt wie ein seelisches Gift, das den Träger des Geheimnisses der Gemeinschaft entfremdet. Dieses Gift in kleiner Dosis zwar kann ein unschätzbares Heilmittel sein, sogar eine unerlässliche Vorbedingung für alle individuelle Differenzierung. […] So fördernd ein mit mehreren geteiltes Geheimnis ist, so zerstörend wirkt ein nur persönliches Geheimnis. Es wirkt wie eine Schuld, die den unglücklichen Besitzer von der Gemeinschaft mit anderen Menschen abschneidet. (16, 124–125)
«
Wir haben nun manches dazu gehört, wie es zu einer Verdrängung, respektive Unterdrückung eines Gegensatzkonfliktes kommen kann. Das Bewusstwerden kann nur so geschehen, dass sich ein Inhalt aus dem Unbewussten herauslöst und alles ihm Widersprechende von sich abschüttelt. Was im Unbewussten zurückbleibt ist alles das, was im Bewusstsein keine Aufnahme findet, weil
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Kapitel 13 • Erweiterung seiner Psychologie über die Perspektive der Neurose hinaus
es ihm widerspricht. Normalerweise »weiß« das Bewusstsein, dass es seinen »Zwillingsbruder« zurückgelassen hat und unterhält eine lockere freundschaftliche Verbindung mit ihm. Das zeigt sich darin, dass wir nicht so apodiktisch sind, wenn wir etwas aussprechen, dass wir nicht auch dem Gegensatz ein Türchen offen halten. In der Regel sind wir auch von unseren Taten nicht so überzeugt, dass sie nicht in anderer Hinsicht falsch sein könnten. Um zu einer Entscheidung zu kommen, müssen wir uns stets auf eine Seite schlagen, wohl wissend, dass die Entscheidung nicht 100 zu 0% steht, sondern vielleicht 60 zu 40%. Was geschieht aber mit den 40%, die auch berechtigt wären? Sie müssen unterdrückt werden als Opfer für die eigene Sicherheit. Psychologisch verfallen sie der unbewussten Seite und üben von dorther eine kompensatorische Wirkung auf das Bewusstsein aus und halten dieses im Gleichgewicht. Das heißt, sie schützen das Bewusstsein davor, fanatischer Einseitigkeit zu verfallen. Diese balancierende Funktion zwischen Bewusstsein und Unbewusstem geschieht in der Regel unbemerkt. Wir bemerkten sie erst, wenn sie nicht spielt. Dann kommt es zu einer Dissoziation.
13 13.4
> Die Bausteine der Persönlichkeit sind Komplexe, unter denen der Ichkomplex eine bevorzugte Stellung einnimmt. Ist der Mörtel, welcher die Bausteine zusammenhält, schlecht, so zerfällt die Persönlichkeit leichter.
Das könnte die vieldiskutierte »Disposition« für eine neurotische Entgleisung sein. Dabei bin ich mir bewusst, dass das keine Erklärung, sondern nur ein Bild für ein bestimmtes Phänomen ist.
» Die Neurose ist eine auf die Existenz von Komplexen zurückzuführende Dissoziation der Persönlichkeit. Komplexe zu haben, ist an und für sich normal; wenn aber die Komplexe inkompatibel werden, dann wird jener Teil der Persönlichkeit, der dem bewussten Teil allzu sehr entgegengesetzt ist, abgespalten. […] Da die abgespaltenen Komplexe unbewusst sind, können sie sich nur auf indirektem Weg ausdrücken, nämlich durch die neurotischen Symptome. Statt unter einem persönlichen Konflikt zu leiden, leidet man an einer Neurose. Jede charakterliche Inkompatibilität kann eine Dissoziation bewirken; eine zu starke Spaltung zwischen der Denk- [als Hauptfunktion] und der Fühlfunktion [als minderwertiger Funktion] z. B. ist schon eine leichte Neurose. (18/I, 382–383)
«
Dissoziation
In meinem Buch »Was tun mit unseren Komplexen« habe ich beschrieben, welch fragiles Gebilde die Persönlichkeit ist. Sie besteht schon in sich selbst aus gegensätzlichen Anteilen. Dazu kommt, dass sie von ihrem Gegenpart, dem Unbewussten, ständig infrage gestellt wird. Eine »starke Persönlichkeit« ist nämlich nicht eine, die keinen Widerspruch erträgt, sondern im Gegenteil einen solchen auffangen und integrieren kann, ohne aufgelöst zu werden. Die Plastizität macht die Stärke der Persönlichkeit. Schwächere Naturen sind so mit einer Position identisch, dass sie vom Gegensatz zersplittert werden.
Die abgespaltenen Persönlichkeitsteile haben die Tendenz Persönlichkeitscharakter anzunehmen, was man in jedem Traum erleben kann. Dort sind die handelnden Personen unbewusste Persönlichkeitsteile.
»
Die Janetschen wie die Freudschen Befunde zeigen, dass im unbewussten Zustand (des abgesprengten Persönlichkeitsteils) alles so weiterfunktioniert, wie wenn es bewusst wäre. Es wird wahrgenommen, gedacht, gefühlt, beabsichtigt, wie wenn ein Subjekt vorhanden wäre. […] Gefühlsbetonte Komplexe verändern sich aber im Unbewussten nicht in demselben Sinne wie im Bewusstsein. Sie können sich zwar mit Assozia-
271 13.4 • Dissoziation
tionen anreichern, werden aber nicht korrigiert, sondern in ursprünglicher Form konserviert, was sich leicht an ihrer beständigen und gleichmäßigen Wirkung auf das Bewusstsein feststellen lässt. Ebenso nehmen sie den unbeeinflussbaren Zwangscharakter eines Automatismus an, den man ihnen erst abstreifen kann, wenn man sie bewusst macht. Letztere Prozedur gehört daher mit Recht zu den wichtigsten therapeutischen Faktoren. Schließlich nehmen solche Komplexe, vermutlich proportional ihrer Distanz vom Bewusstsein durch Selbstamplifikation, einen archaisch-mythologischen Charakter und damit Numinosität an. […] Diese Eigentümlichkeiten des unbewussten Zustandes stehen im Gegensatz zum Verhalten der Komplexe im Bewusstsein. Hier werden sie korrigiert, sie verlieren ihren automatischen Charakter und können wesentlich umgestaltet werden. (8, 383–384)
«
Der abgesprengte Persönlichkeitsteil macht also eine ungünstige Entwicklung durch, die ihn wegen seines zunehmend archaischen Charakters dem Bewusstsein zunehmend entfremdet. Dadurch wird eine Vereinigung mit und Integration immer schwieriger.
» Neurosen bedeuten, wie alle Krankheiten, verminderte Anpassung, das heißt man weicht infolge irgendwelcher Hinderungsgründe (konstitutive Schwäche oder Mängel, falsche Erziehung, ungeeignete subjektive Einstellung, schlechte Erfahrungen usw.) vor den Schwierigkeiten, die das Leben mit sich bringt, aus und gerät damit in die infantile Vorwelt zurück. Das Unbewusste kompensiert diese Regression durch Symbole, welche, wenn objektiv, das heißt durch das Mittel der vergleichenden Forschung, verstanden, jene allgemeinen Vorstellungen, die allen natürlich gewachsenen Systemen dieser Art zugrunde liegen, wieder ins Leben rufen. Dadurch kann jene Einstellungsveränderung, welche die Dissoziation
13
zwischen dem Menschen, wie er ist, und dem, wie er sein sollte, überbrückt, zustande kommen. (13, 473)
«
» Der Neurotiker leidet im Grunde (und mit ihm viele Normale) an einer Dissoziation des Unbewussten vom Bewussten […] so bedeutet die Abtrennung vom Unbewussten durch neurotische Dissoziation nichts anderes als die Abtrennung von der Lebensquelle schlechthin, im gutem wie in bösem Sinne. (4, 761)
«
Dem Bewusstsein erscheinen Komplexe nichtig, allenfalls peinlich. Deshalb möchte es sie ignorieren.
» Der Ausbruch der Neurose bezeichnet dann den Moment, wo es nicht mehr mit den primitiven magischen Mitteln der apotropäischen Geste und des Euphemismus zu schaffen ist. Von diesem Moment an hat sich der Komplex an der bewussten Oberfläche etabliert; er kann nicht mehr umgangen werden und assimiliert nun Schritt für Schritt das Ichbewusstsein, wie dieses es früher mit ihm versucht hat. Daraus entsteht schließlich die neurotische Dissoziation der Persönlichkeit. (8, 207)
«
Unbewusst versucht sich das Bewusstsein gegen den Komplex mittels seiner Entwertung zu erwehren; das geschieht durch apotropäische Gesten und Euphemismus: »Es ist wohl nur Einbildung« oder »Es wird wohl nichts Ernsthaftes sein« etc. Der Komplex nimmt Persönlichkeitscharakter an und verfolgt konsequent sein Ziel, sich anstelle des Ichbewusstseins zu etablieren. Im Grunde ist es ein Machtkampf um die Vormachtstellung. Die Verbindung von Bewusstsein und Unbewusstem, welche durch die Dissoziation unterbrochen wurde,
» … kann weder intellektuell noch bloß praktisch vollzogen werden, weil in ersterem Falle die Instinktsphäre rebelliert, und in letzterem Vernunft und Moral sich sträuben. Jede Dissoziation
272
Kapitel 13 • Erweiterung seiner Psychologie über die Perspektive der Neurose hinaus
innerhalb des Gebietes der psychogenen Neurosen beruht auf einem derartigen Gegensatz, welcher nur durch das Symbol geeint werden kann. (11, 285)
«
«
Nur das Symbol hat Anteil an beiden Seiten, der Instinktsphäre und der Vernunft, so dass es die Kluft zu überbrücken vermag.
» Die durch Affekte veranlassten Störungen nennt man technisch Dissoziations- oder Spaltungserscheinungen. (10, 286)
«
Man darf das allerdings nicht mit Schizophrenie verwechseln, wo die Dissoziation die physiologische Ebene erreicht.
» Was in der neurotischen Dissoziation dem Kranken entgegentritt, ist ein nicht anerkannter, fremder Teil seiner eigenen Persönlichkeit, der seine Anerkennung zu erzwingen versucht, und zwar mit den gleichen Mitteln, mit denen ein hartnäckig geleugneter Körperteil seine Abwesenheit kundtäte. (10, 362)
«
13
wenn die entsprechenden unbewussten Inhalte zu gleicher Zeit bewusstgemacht werden. […] Das führt zu Ungehorsam und Empörung, aber auch zur nötigen Selbständigkeit, ohne welche die Individuation undenkbar ist. (11, 292)
Wir sind oben schon auf die Tatsache gestoßen, dass die minderwertige Funktion sich recht autonom verhält. Wie wir im Kapitel über die Typen (7 Kap. 30) noch sehen werden, ist die Bezeichnung »minderwertig« so ein Euphemismus, weil sie sich nicht den Absichten des Bewusstseins unterordnet, da sie immer mit dem Unbewussten verbunden bleibt. Objektiv gesehen ist sie ebenso wertvoll wie die übrigen Funktionen. Da wir es gewohnt sind, alles möglichst unserem Willen unterzuordnen, verhält sie sich in dieser Hinsicht rebellisch.
» Es ist die vierte, sogenannte minderwertige Funktion, welche dem Bewusstsein gegenüber autonom ist und sich nicht in den Dienst bewusster Absichten einspannen lässt. Sie liegt jeder neurotischen Dissoziation zugrunde und kann dem Bewusstsein nur angeschlossen werden,
Wir sind oben schon dem traumatischen Affekt als Auslöser einer Dissoziation begegnet.
»
Es stimmt mit der Erfahrung überein, dass ein traumatischer Komplex zu einer Dissoziation der Psyche führt. Der Komplex untersteht nicht der Kontrolle des Willens, sondern er besitzt psychische Autonomie. […] Der Ausbruch eines Affektes ist gleichsam ein Totalangriff auf die Persönlichkeit. […] Ich habe des öfteren die Beobachtung gemacht, dass der typische traumatische Affekt im Traum als ein wildes und gefährliches Tier dargestellt wird, […] wenn er vom Bewusstsein abgespalten ist. (16, 266–267)
«
» Diese Dissoziationen haben die Eigentümlichkeit, dass die abgespaltene Persönlichkeit nicht irgendeine ist, sondern zur Ichpersönlichkeit in einem komplementären oder kompensatorischen Verhältnis steht. (9/I, 468)
«
Daraus sieht man, dass die Natur die Ganzheit erreichen will, auch wenn sie es nur auf krummen Wegen kann. Darum sagt Jung, die Neurose sei auch ein missglückter Heilungsversuch. Im Kapitel über »Die Dissoziabilität der Psyche« (8, 365) sagte er, was die »akademische« Psychologie nicht kennt, dass die »Eigentümlichkeit darin besteht, dass der Zusammenhang der psychischen Vorgänge unter sich nur ein sehr bedingter ist«. Das ist das, was ich oben als Mörtel bezeichnet habe. Die neurotische Dissoziation allerdings ist systematisch, die psychotische dagegen ein »physiologischer« oder unsystematischer Zerfall der psychischen Elemente (3, 544). Im Beitrag über Freud und Adler (7 Kap. 12) zeigt der am Schluss zitierte Brief, dass man
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273 13.4 • Dissoziation
»
… bei neurotischen Individuen häufig nicht weiß, ob man es mit einer bewussten oder unbewussten Einstellung zu tun hat, indem, wegen der Persönlichkeitsdissoziation, bald die eine Hälfte, bald die andere in Erscheinung tritt und dadurch das Urteil verwirrt. Aus diesem selben Grund ist auch das Zusammenleben mit neurotischen Personen so schwierig. (7, 63)
wird meistens verhindert durch den bewussten Widerstand gegen die Unterwerfung des Ich unter die unbewusste Tatsächlichkeit, unter die bedingende Realität des unbewussten Objektes. Der Zustand ist eine Dissoziation, mit anderen Worten eine Neurose mit dem Charakter der inneren Aufreibung und der zunehmenden Gehirnerschöpfung, der Psychasthenie. (6, 631)
Dissoziierte Fragmente können, wie eingangs erwähnt, Persönlichkeitscharakter annehmen. Dabei kommt es anscheinend nicht auf die Größe des Fragments an.
Die mangelnde Bereitschaft des Bewusstseins, eine Botschaft aufzunehmen, kann ebenfalls zur Dissoziation führen wie wir das schon bei der minderwertigen Funktion sahen.
» Es war mir nie möglich, etwas wie eine Persön-
» Wenn Engel [von angelus = Bote] etwas sind,
lichkeit im Unbewussten zu entdecken, die mit unserem Ich verglichen werden könnte. Obgleich ein »zweites Ich« nicht auffindbar ist (außer in den seltenen Fällen doppelter Persönlichkeit), zeigen die Manifestationen des Unbewussten doch zumindest Spuren von Persönlichkeiten. […] Bei fast allen wichtigen Dissoziationen nehmen die Manifestationen des Unbewussten starken Persönlichkeitscharakter an. (9/I, 507)
so sind sie personifizierte Übermittler unbewusster Inhalte, die sich zum Worte melden. Wenn aber im Bewusstsein keine Bereitschaft vorhanden ist, unbewusste Inhalte aufzunehmen, so fließt die Energie derselben in das Gebiet der Affektivität respektive in die Triebsphäre ab. Daraus entstehen Affektausbrüche, Gereiztheit, Launen und sexuelle Erregungen, wodurch das Bewusstsein gründlichst desorientiert zu werden pflegt. Wird der Zustand chronisch, so entwickelt sich eine Dissoziation […] mit allen ihren bekannten Folgen. (13, 108)
«
«
Haben sich andere Persönlichkeiten etabliert, verliert das Individuum seinen eindeutigen Charakter; je nach Situation reagiert es mal so, mal anders. Die Verlässlichkeit und Voraussagbarkeit leiden für seine Umwelt darunter. Es wird zum »Schwierigen«, aber nicht wegen der Reichhaltigkeit der Persönlichkeit, sondern wegen ihrer Widersprüchlichkeit. Das Versprechen wird von dieser Persönlichkeit gemacht, gebrochen wird es von der anderen. Das macht es so schwierig, mit solchen Leuten auszukommen. Ist dieser Mensch gar introvertiert und vom Denken bestimmt, so
» … glückt unter gewöhnlichen Umständen nicht einmal der Übergang nach der »anderen Seite«, geschweige denn der erlösende Durchgang durch das Unbewusste. Der Übergang
«
«
Damit dürfte klarer geworden sein, was bei einer Verdrängung und der folgenden Dissoziation geschieht. Mit jedem Inhalt wird Energie verschoben und wenn sie ihren Bestimmungsort nicht erreicht, wird sie lebensfeindlich. Wir müssen noch bei einem anderen wesentlichen Energietransfer verweilen.
13.5
Progression und Regression
In meinem Büchlein »Die feindlichen Brüder« habe ich einiges über die normale Funktion von Progression und Regression gesagt. Entgegen der verbreiteten Meinung nimmt Jung beide Bewegungen der Libido als notwendige normale
274
Kapitel 13 • Erweiterung seiner Psychologie über die Perspektive der Neurose hinaus
Funktionen, vergleichbar der Systole und Diastole. > Progression bedeutet Anpassung an die Außenwelt, Regression dagegen an die Innenwelt.
Wenn die Anpassung an die Außenwelt gelungen ist, kehrt sich die Libido nach innen. Das äußere Leben hat seinen Reiz verloren. Jetzt sucht sie sich im Unbewussten neue Möglichkeiten in der Regression. Sobald sie diese gefunden hat, will sie sie in der Außenwelt verwirklichen, was zu neuer Progression führt. Anpassung nach außen heißt also nicht nur an die Außenwelt, sondern neue Inhalte mit der Außenwelt in Einklang zu bringen. Daraus versteht man, dass für den Fortschritt des Lebens und der Individuation beide Phasen gleich wichtig sind. Denn Leben heißt Wandel. Das einmal Erreichte muss hinter sich gelassen werden, um zu neuen Ufern aufbrechen zu können. Im Aufsatz »Über die Energetik der Seele« hat Jung der Progression und Regression einen eigenen Abschnitt eingeräumt (8, 43f.)
» Die Progression der Libido bestände somit in 13
einer fortlaufenden Befriedigung der Anforderung der Umweltbedingungen. (8, 61)
«
Diese Einstellung stößt irgendwann mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln an Grenzen, wodurch die Libido rückläufig wird. Sie muss sich im Unbewussten neue Mittel holen, um sich anders und besser anpassen zu können, z. B. eine andere Funktion. Das Bewusstsein möchte jedoch die gewohnte Progression fortsetzen, wodurch eine Stauung der Libido entsteht, die sich im Zerfall in Gegensätze Bahn bricht.
» Es gehört daher zum Wesen der Progression, welche die geglückte Anpassungsleistung ist, dass Impuls und Gegenimpuls, Ja und Nein, zu gleichmäßiger gegenseitiger Einwirkung gelangt sind. (8, 61)
«
Ist dieser Ausgleich nicht möglich, hält die Libidostauung an, dann erhöht sich die Gegensatzspannung zu einem Konflikt.
»
Die Spannung führt zum Konflikt; der Konflikt führt zu gegenseitigen Verdrängungsversuchen, und wenn die Verdrängung der Gegenpartei gelingt, dann ist die Dissoziation, die »Spaltung der Persönlichkeit«, das Uneinssein mit sich selber, eingetreten und damit eine Möglichkeit der Neurose geschaffen. (8, 61)
«
» Der Kampf der Gegensätze ginge in nutzloser Weise immer weiter, wenn nicht mit dem Ausbruch des Konfliktes der Prozess der Regression, die rückläufige Bewegung der Libido einsetzte. (8, 62)
«
Bei oberflächlicher Betrachtung könnte man meinen, die Regression würde nur Grundschlamm zutage fördern. Doch bei genauerer Betrachtung
»
… wird man entdecken, dass darin nicht bloß inkompatible und deshalb verworfene Reste des Tageslebens oder unbequeme und verwerfliche Urtendenzen des animalischen Menschen zu erblicken, sondern dass es auch Keime neuer Lebensmöglichkeiten sind. (8, 63)
«
» Die durch Regression aktivierten unbewussten Inhalte sind wertvolle Keime: sie enthalten nämlich die Elemente zu jener anderen Funktion, welche durch die bewusste Einstellung ausgeschlossen war und die befähigt wäre, die versagende bewusste Einstellung wirksam zu ergänzen oder zu ersetzen. (8, 65)
«
» Die Regression führt zur Notwendigkeit der Anpassung an die Seele, die psychische Innenwelt. (8, 66)
«
13
275 13.5 • Progression und Regression
» Gleichermaßen, wie die Anpassung an die Umwelt versagen kann durch die Einseitigkeit der Anpassungsfunktion, so kann auch die Anpassung an die Innenwelt versagen durch die Einseitigkeit der Funktion, die sich mit ihr beschäftigt. (8, 67)
«
» Die Regression bedeutet nicht notwendigerweise einen Rückschritt im Sinne einer Rückentwicklung oder Degeneration, sondern vielmehr eine notwendige Phase in der Entwicklung, in der aber dem Menschen das Bewusstsein einer Entwicklung mangelt, da er sich in einer Zwangslage [im Walfischbauch!] befindet, welche sich so darstellt, als ob er sich in einem frühinfantilen, ja sogar embryonalen Zustand im Mutterleib selber befände. (8, 69)
«
» Ebenso ist Progression nicht etwa mit Entwicklung zu verwechseln. (8, 70) « » Es ist ohne weiteres deutlich, dass es sich bei Progression und Regression um Kraftvorgänge handelt. (8, 72)
«
» So sind Progression und Regression spezifische Vorgänge, die man als dynamische Prozesse auffassen muss und die als solche durch Qualitäten der Substanz bedingt sind. (8, 73)
«
» Die Regression als eine Anpassung an die Bedingungen der eigenen Innenwelt ist begründet in der vitalen Notwendigkeit, den Anforderungen der Individuation zu genügen. (8, 75)
«
» Die Progression und die aus ihr resultierende Anpassungsleistung als ein Mittel der Regression, nämlich zur Manifestation der Innenwelt in der Außenwelt, wodurch ein neues Mittel geschaffen ist zu einer Progression veränderter Art, stellt eine bessere Anpassung an die Umweltbedingungen dar. (8, 76)
«
Womit sich der Kreis schließt, in welchem sich die beiden ergänzen. Soviel als Resümee dessen, was zur normalen Funktion der beiden zu sagen ist. Es ist erstaunlich, wenn man Jungs Lebenswerk überblickt, wie wenig er zurücknehmen musste von dem, was er früher einmal gesagt hat. Bei der Anlage dieses Buches habe ich mir nämlich überlegt, ob ich die Zitate nicht chronologisch anordnen sollte. Ich muss allerdings gestehen, dass ich nicht weiß, wie viel er selber bei der Neubearbeitung früherer Fassungen korrigiert und à jour gebracht hat. Mir ist aufgefallen, dass er viele seiner Artikel immer wieder für Neuausgaben überarbeitet hat. Ich habe mich daher entschlossen, die Chronologie der Arbeiten weitgehend unberücksichtigt zu lassen. In diesem frühen englisch gehaltenen Vortrag »Über Psychoanalyse« (On Psychoanalysis, 1913) in London schreibt er:
» Immer, wenn die Libido bei diesem Anpassungsvorgang auf ein Hindernis trifft, entsteht eine Akkumulation, die gewöhnlich eine verstärkte Anstrengung zur Überwindung des Hindernisses bewirkt. Wenn aber das Hindernis unüberwindbar scheint und der Mensch darauf verzichtet, es zu bezwingen, regrediert die aufgestaute Libido […] und fällt in ein früheres und primitiveres Stadium zurück. (4, 568)
«
Ich habe an früherer Stelle (7 Kap. 10) ein längeres Zitat über einen Bergsteiger gebracht (4, 378), der vor dem Hindernis umkehrt, sich aber seine Feigheit, sein Versagen nicht eingesteht. Stattdessen möchte er mit einer faulen Ausrede das Gesicht wahren. Das Zitierte macht das sehr anschaulich.
» Das wirkliche Handeln wird durch eine kindliche Illusion ersetzt. (4, 383) «
276
Kapitel 13 • Erweiterung seiner Psychologie über die Perspektive der Neurose hinaus
Bei der Frage, welche Rolle traumatische Ereignisse in der Jugend für die Entstehung einer Neurose spielen, kann man ruhig sagen
handelt es sich nie um einen wirklichen Realitätsverlust, sondern nur um eine Verfälschung der Wirklichkeit. (5, 200)
» … dass es sogar nicht einen Fall von Neurose
Ein schönes Beispiel für die Zeremonie zum Libidoaufstauen der Sexualität, um sie in das Gebiet der Aggression überzuleiten, sind die Watschandies (5, 226). Die fehlerhafte Ausführung des Ritus, der die Libido aus der Domäne des Triebes in jene der Emotionalität überführen sollte, hat die umgekehrte Wirkung. Sie führt zu einer Regression der Libido und verstärkt automatisch das Unbewusste (5, 248). Wir sind nun mit der Tatsache vertraut geworden, dass
gibt, wo nicht der Gefühlswert des präzedierenden Erlebnisses durch Libidoregression erheblich verstärkt wäre, oder wo nicht große Stücke der infantilen Entwicklung als von außerordentlicher Bedeutung erschienen, die aber fast nur noch Regressionswert hat (z. B. das Verhältnis zu den Eltern). (4, 401)
«
Wir haben kein Kriterium für die Wirkungsmöglichkeit eines Traumas. Was normalerweise verschmerzt werden und verschwinden sollte, dürfte auch für die Neurose keine Rolle spielen. > »Je früher ein Eindruck in der infantilen Vorzeit stattgefunden haben soll, desto verdächtiger ist seine Wirksamkeit.« (4, 403)
Auf jeden Fall darf den Ereignissen vom fünften Lebensjahr an rückwärts nur noch Regressivbedeutung beigemessen werden.
13
> »Im späteren Verlauf einer Neurose arbeiten akzidentelles Erleben und Regression auf dem Weg des circulus vitiosus zusammen: Das Zurückweichen vor dem Erleben führt zur Regression, und die Regression erhöht die Widerstände gegen das Erleben.« (4, 403)
Schlägt eine neue Anpassung fehl, so wird sie durch einen alten Anpassungsweg ersetzt, nämlich durch eine regressive Wiederbelebung der Eltern-Imago.
» In der Neurose ist das Ersatzprodukt eine Phantasie individueller Provenienz und Tragweite, und es fehlen, bis auf Spuren, jene archaischen Züge, die für die Phantasien der Schizophrenie charakteristisch sind. Bei den Neurosen
«
» … wenn immer der Mensch vor einem scheinbar unüberwindlichen Hindernis steht, er zurückweicht. (7, 117)
«
Er regrediert. Nun stellt sich die Frage, wohin diese Regression führt. In die Kindheit, um dort alte Wege zur Überwindung des Hindernisses zu finden, meinen die Patienten. Doch wenn man die Regression unterstützt
» … setzt sie sich bis in die Kindheit fort (daher das Kindischwerden vieler alter Neurotiker) und schließlich bis in die Zeit vor der Kindheit. (7, 117)
«
Was soll das heißen?
» Die persönliche Schicht erreicht ihr Ende mit den frühesten Infantilerinnerungen; das kollektive Unbewusste dagegen enthält die Präinfantilzeit, das heißt die Reste des Ahnenlebens: während die Erinnerungsbilder des persönlichen Unbewussten gewissermaßen ausgefüllte, weil erlebte Bilder sind, sind die Archetypen des kollektiven Unbewussten unausgefüllte, weil vom Individuum nicht persönlich erlebte Formen. Wenn die Regression der psychischen Energie, selbst über die frühinfantile Zeit hinausgehend,
277 13.5 • Progression und Regression
in die Spuren oder Hinterlassenschaften des Ahnenlebens einbricht, dann erwachen mythologische Bilder: die Archetypen. A 15: Dies bedeutet eine absichtliche Erweiterung des Archetypus durch den in der indischen Philosophie so wichtigen karmischen Faktor. Der Aspekt des Karma ist unerlässlich zu einem tieferen Verständnis des Wesens eines Archetypus. (7, 118)
«
Das ist eine wichtige Bemerkung in der Fußnote zum Verständnis dessen, was Jung mit dem Ausdruck »Archetypus« bezeichnet. Er hat Karma nur darum nicht verwendet, weil es ein intuitives, unscharf definiertes Konzept ist, wie viele andere in der indischen Religionsphilosophie. In »Symbole der Wandlung« (GW 5) hat er noch viele Ausdrücke aus dem Indischen verwendet, weil er die entsprechenden Phänomene unseres Kulturkreises noch nicht entdeckt und seine eigenen Begriffe noch nicht ausgebildet hatte. In einem englischen Vortrag, den er 1929 gehalten hatte, wehrt er sich gegen die meist abwertende Begrifflichkeit Freuds und setzt ihr seine optimistischere, positivere Sicht entgegen.
» Die Regressivtendenz besagt lediglich, dass der Patient in seinen Kindheitserinnerungen sich selber sucht, manchmal zu seinem Nutzen, oft aber auch zu seinem Schaden. (16, 59)
«
Das ist es, was mir Jung sympathisch macht und an ihm mich überzeugt: dass er auch den krankhaften Manifestationen etwas Gutes, etwas Zukunftsträchtiges oder etwas Aufbauendes abgewinnen kann, ohne euphoristisch zu werden. Diese Sicht scheint mir für den Patienten so außerordentlich hilfreich. Denn nur wenn er sich mit seinen Problemen auseinandersetzt und diesen Prozess als sinnvoll begreift, führt ihn das wieder ins Leben zurück. Es ist die bekannte Geschichte vom Glas, das dem einen schon halb leer, dem anderen jedoch noch halb voll erscheint. Der Neurotiker, der ohnehin zum Pessimismus neigt, kann so eher Hoffnung schöpfen
13
und gesund werden. Die Arbeit an seinen Problemen kann ihm jedoch niemand abnehmen. Ich habe wiederholt erfahren, dass das Selbst der beste Pädagoge ist, indem es dem Ich die Aufgabe so schmackhaft machen kann, dass man mit frischem Mut daran geht.
» Alles ursprünglich Seelische hat ein doppeltes Gesicht. Das eine schaut vorwärts, das andere zurück. Es ist zweideutig und darum symbolisch, wie alle lebendige Wirklichkeit. (12, 70)
«
» Regression bedeutet Auflösung in die geschichtlichen, hereditären Determinanten deren Umklammerung man sich nur mit größter Mühe entziehen kann. (12, 79)
«
» Kehrt man aus späteren Jahren wieder zur Kindheitserinnerung zurück, so findet man dort noch lebendige Stücke der eigenen Persönlichkeit, die sich umklammernd an einen anschließen und einen mit dem Gefühl der früheren Jahre wieder durchströmen. Jene Stücke sind aber noch im Kindheitszustand und deshalb stark und unmittelbar. Nur wenn sie mit dem erwachsenen Bewusstsein wieder verbunden werden, können sie ihren infantilen Aspekt verlieren und korrigiert werden. (12, 81)
«
Das ist die positive Seite der Regression! Ob sie positiv oder als negativ sich entpuppt, hängt von der Einstellung des Patienten ab. Es kann ein »tempelschänderischer Griff »rückwärts« sein oder:
» Diese Möglichkeiten eines »geistigen« oder »symbolischen« Lebens und Fortschreitens, welche letztes, aber unbewusstes Ziel der Regression bilden. (5, 510)
«
Die Regression ist daher auch eine positive Möglichkeit, welche die Natur anbietet. Packt man sie
278
Kapitel 13 • Erweiterung seiner Psychologie über die Perspektive der Neurose hinaus
in der richtigen Weise, so führt sie die Individuation weiter. 9
» In den meisten Fällen hört die Produktion von Phantasien nach einiger Zeit auf, woraus man natürlich nicht schließen darf, dass die Möglichkeiten der Phantasie erschöpft wären; sondern das Ende der Produktion bedeutet, dass keine Libido mehr auf dem Regressionsweg ist. (4, 423)
10 11 12
«
Umgekehrt heißt das, dass die Libido wieder progressiv geworden ist und deshalb nicht mehr für Regression zur Verfügung steht. Die Progression der Libido aber heißt Erweiterung der Persönlichkeit ins Leben hinein. Der Abweg in der Neurose war ja eben eine Verweigerung gegen das Leben. Deshalb floss die Libido zu ihrer Quelle zurück. Das ist jedoch erst im Alter legitim, wenn man das Leben voll gelebt hat.
13
14
15
16
Literatur Primärliteratur (Quellen)
13
1 Jaffé A (Hrsg.) (1971) Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G. Jung. Walter, Olten 2 Jung CG (1950) Der Gegensatz Freud und Jung. GW 4, S. 383–393, 5. Auflage. Rascher, Zürich. Erstmals erschienen in: Kölnische Zeitung. Köln, 07.05.1929 3 Jung CG (1972) On Psycho-Analysis. Transactions of the Psycho-Medical Society IV:2. 1913. Übersetzung 1972. GW 4. Walter, Olten Freiburg. S. 273–286 4 Jung CG (1967) Psychologische Typen, 1921. GW 6, 10. Auflage. Walter, Olten Freiburg 5 Jung CG (1971) Nominalismus und Realismus. In: Psychologische Typen. GW 4. Das Typenproblem in der antiken und mittelalterlichen Geistesgeschichte, GW 6, Walter, Olten Freiburg. S. 25–65 6 Jung CG (1982) Über die Energetik der Seele. Zuerst erschienen in: Über psychische Energetik und das Wesen der Träume. 1948. Erstausgabe. Über die Energetik der Seele. 1928. GW 8, S.11–78. 1967, 4. Auflage. Walter, Olten Freiburg 7 Jung CG (1965) Theoretische Überlegungen zum Wesen des Psychischen. GW 8, S. 183–261. Ursprünglich als »Geist der Psychologie« erschienen im Eranos Jahrbuch 1946. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Walter, Olten Freiburg 8 Jung CG (1951) Zur Psychologie des Kindarchetypus. Zuerst erschienen mit K. Kerényi: Einführung in das
Wesen der Mythologie. Das göttliche Kind. Das göttliche Mädchen. GW 9/I, 4. Auflage. Rascher, Zürich. S. 163–220 Jung CG (1981) Zivilisation im Übergang. GW 10, 2. Auflage. Walter, Olten Freiburg Jung CG (1980) Psychologie und Alchemie. 1972. Erstpublikation 1944, 31980, GW 12. Walter, Olten Freiburg Jung CG (1982) Studien über alchemistische Vorstellungen, 1978, 21982 GW 13. Walter, Olten Freiburg Jung CG (1979) Praxis der Psychotherapie. Beiträge zum Problem der Psychotherapie und zur Psychologie der Übertragung. GW 16. 1958, 31979. Auflage. Walter, Olten Freiburg Jung CG (1979) Psychotherapie und Weltanschauung. Zuerst erschienen in: Aufsätze zur Zeitgeschichte. 1943, 1946, Neuausgabe 1954, 31979. GW 16. Walter, Olten Freiburg. S. 86–93 Jung CG (1975) Über Grundlagen der Analytischen Psychologie. Die Tavistock Lectures. 1975. In: Das symbolische Leben. GW 18/I, S. 13–198, stark revidierte Neuausgabe. Walter, Olten Freiburg Jung CG (1958) Jung und der religiöse Glaube. 4. Antwort auf einen Brief von Reverend David Cox vom 25. Sept. 1957. In: Philip HL (1958) Jung and the problem of evil, London 1958, S. 239–250. GW 18/II, S. 786–796 McGuire W (Hrsg.) (1986) C.G. Jung im Gespräch, Interviews, Reden, Begegnungen. Daimon, Zürich. (Originalausgabe: C.G. Jung speaking, 1977)
Sekundärliteratur 17 Freud S (1961) Zur Psychopathologie des Alltagslebens, 1904. Mit einem Vorwort von Alexander Mitscherlich. Fischer, Frankfurt a. M. 18 Mansfeld J (Übers.) (1987) Die Vorsokratiker. griechisch/ deutsch. Auswahl der Fragmente. Th. Reclam jun., Stuttgart 19 Neff WD (1960) Sensory discrimination. In: Handbook of physiology. Section I: Neurophysiology, vol. III, American Physiological Society, Washington, D.C. p. 1447–1470 20 Ribi A (2005) Eros und Abendland. Geistesgeschichte der Beziehungsfunktionen. Peter Lang, Bern 21 Ribi A (2007) Kann man echte parapsychologische Phänomene von unechten unterscheiden? In (id.): Ein Leben im Dienst der Seele. Peter Lang, Bern, S. 737 22 Ribi A (1993) Die feindlichen Brüder. Introversion – Extraversion. Zwei komplementäre Seiten eines einseitigen Weltbildes. Kundschafter, Brugg
279
Die Rolle der Anpassung im psychischen Geschehen 14.1
Sichtweisen der Anpassung – 280
14.2
Anpassung als Notwendigkeit – 282 Literatur – 284
A. Ribi, Neurose – an der Grenze zwischen krank und gesund, DOI 10.1007/978-3-642-16148-3_14, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
14
280
Kapitel 14 • Die Rolle der Anpassung im psychischen Geschehen
Anpassung scheint eine allgemeine biologische Forderung an alle Organismen zu sein. Es ist daher kein Zufall, dass Charles Darwin (1809–1882) in seiner Theorie der Evolution diesem zentralen Bedürfnis eine wichtige Rolle zumisst. Während diese aber bei ihm eher mechanisch gedacht wird, hat die moderne Tiefenpsychologie sie als regulierendes System auch im Psychischen entdeckt.
der jeweiligen Anpassung unserer a priori gegebenen urtümlichen Vorstellungsform, welche bestimmter Modifikationen bedürfen, weil sie in ihrer Urform einer archaischen Lebensweise entsprechen. […] Soll der Zufluss der instinktiven Dynamik unserem Gegenwartsleben gewahrt bleiben, […] dann ist es auch erforderlich, dass wir die uns verfügbaren archetypischen Formen zu Vorstellungen umgestalten, welche der Gegenwartsforderung entsprechen. (10, 548)
«
14.1 z
14
Sichtweisen der Anpassung
Instinkt und Trieb (7 Kap. 27)
In Darwins System führt eine äußere Anpassung einseitig zu Vorteilen den Rivalen gegenüber. Wir wissen allerdings so wenig über psychische Adaptation bei Lebewesen vor den höheren Säugern, dass wir nichts wissenschaftlich Gesichertes darüber aussagen könnten. Man versteht die niedrigen Lebewesen immer noch nur als taktisch oder reflexbestimmt, also vorwiegend als eine Art Automaten. Diese Ansicht galt lange Zeit auch in der medizinischen Psychologie für menschliche Reaktionen. Selbst für Freud und Adler war der Mensch im Wesentlichen instinktgesteuert. Instinkt und Trieb sind ebenfalls noch automatische, dem Willen weitgehend entzogene Mechanismen zur Erhaltung der Art. Ist es nicht vielleicht unsere beschränkte Sichtweise in der Biologie, welche die Dimension des Psychischen unterschätzt?
» Für die menschliche Psychologie bedeutet [die Tatsache; dass der Besitz von Bewusstsein, Willen und Vernunft nicht aus dem Rahmen der allgemeinen Biologie herausfällt und] unsere Bewusstseinstätigkeit auf dem Fundament des Instinktes ruht und aus ihm ihre Dynamik sowohl wie die Grundzüge ihrer Vorstellungsformen bezieht, in keinerlei Weise anders, als wir es bei allen tierischen Lebewesen beobachten. Die menschliche Erkenntnis besteht wesentlich in
Damit drückt Jung aus, dass auch unser Bewusstsein sich den neuzeitlichen Erkenntnissen anzupassen hat, sofern die Anpassung mit den Instinkten konform geschieht. Das psychische System scheint mir nicht eine Neuerfindung auf irgendeiner Stufe der Evolution, sondern dem Wesen des Lebendigen inhärent zu sein. Diese Seite ist vielleicht in der traditionellen Evolutionslehre zu wenig berücksichtigt worden. Die Idee des »Kampfes ums Dasein« scheint mir noch eine typische, vielleicht sogar archetypische Idee der Aufklärung. Denn, wenn man die Frage nach Anpassung stellt, kommt sofort die nächste auf: wozu? In der Jungschen Sicht ist es nicht ein eugenischer Gesichtspunkt (»the fittest«), sondern dass das Seelische ein selbstregulierendes System darstellt, das zum Lebensoptimum und der Verwirklichung aller im Organismus angelegten Möglichkeiten tendiert. Letztlich geht es auch um das Überleben, aber nicht nur und nicht in erster Linie. Das Leben soll nicht à tout prix erhalten werden, sondern sich entfalten und verwirklichen können. Die Homeostase, das Gleichgewicht der Seele, scheint das oberste Ziel.
» Man kann die Seele einerseits als ein ursachelos schöpferisches (himmlisches) Wesen betrachten, anderseits als ein aus Ursachen gewordenes und aus Wirkungen aufgebautes (irdisches) Wesen […] das heißt, sie wäre als ein aus den irdischen Umweltbedingungen hervorgehendes Anpassungssystem zu verstehen. (10, 49)
«
281 14.1 • Sichtweisen der Anpassung
z
14
Wir verstehen nur einen Teil der Psyche, den irdischen, wenn man so will, den man wissenschaftlich untersuchen kann. Den anderen, den die Chinesen als den himmlischen (Schen) Teil bezeichnen, finden wir einfach vor und können darüber nur spekulieren, aber nichts Sicheres wissen, z. B. was mit ihm nach dem Tode geschieht.
Das trifft auch für die beiden Einstellungstypen zu, dem extravertierten, der sich dem Objekt angleichen will und dem introvertierten, der sich des Objektes bemächtigen will. Beide Modi der Beziehung zum Objekt haben ihre Berechtigung und sind erfolgreich [4].
» Als Bezugspunkt des Bewusstseinsfeldes ist
» Es hat sich nämlich bei näherer Nachforschung
das Ich das Subjekt aller Anpassungsleistungen, soweit diese überhaupt vom Willen vollzogen werden. (9/II, 11)
herausgestellt, dass die beiden Typen sich mit Vorliebe heiraten, und zwar – unbewussterweise – zur gegenseitigen Ergänzung. Das reflexive Wesen des Introvertierten veranlasst ihn, stets nachzudenken und sich zu besinnen, bevor er handelt. Dadurch wird natürlich sein Handeln verlangsamt. Seine Scheu und sein Misstrauen vor Objekten verführen ihn zum Zögern, und so hat er immer Schwierigkeiten mit der Anpassung an die äußere Welt. Umgekehrt hat der Extravertierte ein positives Verhältnis zu den Dingen. Er wird sozusagen von ihnen angezogen. Neue, unbekannte Situationen locken ihn. Um etwas Unbekanntes kennenzulernen, springt er sogar mit beiden Füßen hinein. Er handelt in der Regel zuerst und denkt dann darüber nach. Dadurch ist sein Handeln rasch und keinen Bedenklichkeiten und Zögerungen unterworfen. Die beiden Typen sind daher für eine Symbiose wie geschaffen. […] Denn der Wert des einen ist der Unwert des anderen. (7, 80)
«
Da stellt sich sofort die Frage, ob es auch unwillkürliche, d. h. unbewusste Anpassungsvorgänge gibt. Dabei müsste es sich wohl um instinktive Adaptationen handeln. Das ist tatsächlich der Fall, insofern der Instinkt nicht Situationen begegnet, an die er nicht angepasst ist (6, 179). Das kommt daher, dass die Gegensätzlichkeit erst mit dem Bewusstwerden eines Inhaltes auftritt. Im Unbewussten stoßen sich die Gegensätze nicht, d. h. sie sind noch gar nicht manifest.
» Es ist eine vitale Bedingung für den bewussten Anpassungsprozess, stets klare und eindeutige Ziele zu haben. (6, 667)
«
Das ist jedoch nur für eine bewusste Funktion möglich.
Extravertierter und introvertierter Typus
«
» Die Beziehung zwischen Subjekt und Objekt
z
ist, biologisch betrachtet, immer ein Anpassungsverhältnis, indem jede Beziehung zwischen Subjekt und Objekt modifizierende Wirkungen des einen auf das andere voraussetzt. Diese Modifikationen machen die Anpassung aus. Die typischen Einstellungen zum Objekt sind daher Anpassungsprozesse. (6, 559)
Man kann nicht gleichzeitig beide Einstellungen einnehmen, denn sie schließen sich gegenseitig aus. Deshalb ist es praktisch, in einer Beziehung die fehlende Seite an den Partner zu delegieren. Als Paar ist man dann ein Ganzes. Früher oder später macht sich jedoch die Einseitigkeit bemerkbar.
«
Kompensation (7 Kap. 15)
» Durch einseitige (»typische«) Einstellung bleibt ein Fehlbetrag in der psychologischen Anpassungsleistung, der sich im Laufe des Lebens
282
Kapitel 14 • Die Rolle der Anpassung im psychischen Geschehen
aufhäuft, wodurch sich früher oder später eine Anpassungsstörung entwickelt, welche das Subjekt zu einer Kompensation drängt. (6, 28)
vitiosus ein vermehrtes Zurückweichen, das zum Infantilismus und »in die Mutter« zurück führt. (5, 456)
Das ist eben der Sinn der Kompensation, dass in der Psyche kein Ungleichgewicht durch Einseitigkeit entsteht. Sie sorgt für das Lebensoptimum, das in einem Gleichgewicht der Kräfte besteht. Denn
» Die Angst vor dem Leben ist kein imaginäres
«
» Was immer von der bewussten Übung und Anpassung ausgeschlossen wird, bleibt notwendigerweise in einem ungeübten, unentwickelten, infantilen respektive archaischen und minder- bis gänzlich unbewussten Zustand. (8, 258)
«
» Denn keine Anpassung ist ein für allemal geleistet. […] Der Mensch bedarf der Schwierigkeiten, sie gehören zu seiner Gesundheit. (8, 143)
«
Das brachte mir einst ein Traum nahe, den ich bis heute nicht vergessen habe, obwohl er nun bald 50 Jahre zurückliegt.
14
Ich lebte fünf Jahre mit Frau und Kindern im Haus der Schwiegereltern. Das war sehr praktisch: Meine Frau arbeitete in der Praxis ihres Vaters, um ihn zu entlasten. Wollten wir ins Theater, Konzert oder in die Ferien, immer war die Schwiegermutter da, um nach den Kindern zu schauen, was uns sehr beruhigte. Da träumte ich, ich säße am Meer auf einem Felsvorsprung, wo viele rote Ameisen waren, die mich in den Hintern stachen. Meine Analytikerin sagte damals, mein Leben sei zu bequem und habe zu wenig Aufreizendes.
«
Gespenst, sondern eine sehr reale Panik, die nur deshalb so unverhältnismäßig aussieht, weil ihre wirkliche Quelle unbewusst und daher projiziert ist: Der junge Persönlichkeitsanteil, der am Leben verhindert und zurückgehalten wird, erzeugt Angst und verwandelt sich in Angst. […] Natürlich ist es nicht die wirkliche Mutter, obschon auch diese durch ihre krankhafte Zärtlichkeit, mit der sie ihr Kind bis ins erwachsene Alter verfolgt, und dieses durch nicht mehr zeitgemäße Infantilhaltung sogar schwer schädigen kann; es ist vielmehr die Mutter-Imago, die zur Lamia wird. Die Mutter-Imago aber repräsentiert das Unbewusste, dessen Lebensnotwendigkeit es ebenso sehr ist, ans Bewusstsein angeschlossen zu sein, wie es für letzteres unerlässlich ist, den Zusammenhang mit dem Unbewussten nicht zu verlieren. (5, 457)
«
Das ist die Problematik der ersten Lebenshälfte, in welcher sich der Mensch dem Drachenungeheuer, dem verschlingenden Mutterdrachen, entwinden muss.
»
Der infantile Begriff des Liebens ist: von andern Geschenke erhalten. (4, 443)
«
»
Das Grundübel in der Neurose ist, dass der Patient an Stelle einer besonderen und eigenartigen Anpassungsleistung, die ein hohes Maß von Selbsterziehung erfordert, seine infantilen (regressiv belebten) Ansprüche setzt. (4, 444)
«
» Je mehr sich der Mensch von der Anpas-
» Der Neurotiker hat jene höhere Anpassung
sungsleistung zurückzieht, desto größer wird seine Angst, die ihn auf seinem Weg dann überall und in zunehmendem Maße hindernd befällt. Die Angst vor Welt und Menschen verursacht natürlich auf dem Wege des circulus
zu lernen, welche die Kultur vom erwachsenen Menschen verlangt. (4, 440)
«
283 14.2 • Anpassung als Notwendigkeit
Anpassung als Notwendigkeit
14.2
Jung betont an vielen Stellen, dass die fehlende
Anpassung nicht ein Problem nur der Kindheit ist, sondern, dass die Neurose unterhalten wird, indem die Fehlhaltung nie korrigiert wird. Der Patient realisiert nicht, »welche momentane Anpassungsleistung« er zu vollziehen hat (4, 424).
» Der Zeitpunkt des Ausbruches einer Neurose ist kein zufälliger; in der Regel ist es ein äußerst kritischer Punkt. Er ist normalerweise der Moment, in dem eine neue psychologische Haltung, das heißt eine neue Anpassung verlangt wird. (4, 563)
«
Im Gegensatz zu Freud, der die Ursache der Neurose in der Kindheit sucht, kann die Neurose in Jungs Sicht in jedem Lebensabschnitt ausbrechen, denn die Forderung nach Anpassung durchzieht das ganze Leben. Eine meiner ältesten Patientinnen, eine wohlhabende, rüstige Dame in den Siebzigern, die mich wegen einer Depression mit den üblichen Symptomen aufsuchte, klagte, sie sei nicht mehr so unternehmungslustig wie früher. Tatsächlich war sie eine außergewöhnliche Dame, die sehr extravertiert gelebt, ein großes Haus geführt, viele Reisen unternommen und auch sportlich Beachtliches geleistet hatte. So hatte sie noch im Sommer zuvor den Zürichsee durchschwommen. Sie konnte sich nicht damit abfinden, dass sie dazu nun nicht mehr in der Lage war. Ihre Libido haftete mehr an diesen extravertierten Dingen. Es war nötig geworden, dass sie sich als Vorbereitung auf den Tod ihrer Seele zuwandte.
» Weitaus in den meisten Fällen gibt die Anpassung an die Realität so viel Arbeit, dass die Anpassung nach innen, an das kollektive Unbewusste, auf lange hinaus nicht in Betracht
14
kommt. […] Es gibt nicht selten Fälle, wo man vom Unbewussten überhaupt kein Wort zu sagen hat. (7, 252)
«
Der geschilderte Fall ist insofern einfach, als es für den Kenner ganz offensichtlich war, dass die Patientin nur ihre extravertierte Haltung als wertvoll anerkennen konnte. Die Depression wollte sie ihrem Inneren zukehren, doch davon verstand sie gar nichts. Sie lebte in der kollektiven Auffassung, man müsse sich auch im Alter »fit« und jugendlich erhalten. Das größte Kompliment sei: »Man sieht dir das Alter gar nicht an!« Unsere Kultur hat ein Problem mit dem Altwerden. An diesem Beispiel erkennt man auch, dass die Problematik der Neurose nicht nur eine persönliche ist, sondern auch an den kollektiven Problemen teilhat.
» Das Bewusstsein ermöglicht geordnete Anpassungsleistung, das heißt (im speziellen Fall) Triebhemmungen, und kann darum nicht vermisst werden. (8, 412)
«
» Das »Infantile« ist etwas, das nicht eindeutig ist. Erstens kann es genuin oder bloß symptomatisch sein, und zweitens kann es bloß rückständig oder keimhaft sein. Es ist nämlich ein gewaltiger Unterschied zwischen etwas, das infantil geblieben, und etwas, das im Entstehen begriffen ist. Beides kann infantile oder embryonale Form haben. […] Es wäre besonders angezeigt, wenn man die »infantil-perversen« Phantasien mehr auf ihren schöpferischen Gehalt untersuchte […] und wenn man die Neurose überhaupt mehr im Sinne eines Anpassungsversuches als im Sinne einer missglückten oder sonstwie verdrehten infantilen Wunscherfüllung verstände. (10, 345)
«
Ein alter Satz lautet, »Krankheit ist verminderte Anpassung« (10, 483). Jung hatte zunächst Schwierigkeiten mit Patienten vorgerückten Alters. Denn sowohl Freud als auch Adler haben
284
Kapitel 14 • Die Rolle der Anpassung im psychischen Geschehen
die Tendenz, die Patienten zu normalisieren, d. h. an kollektive Standards angepasst zu machen, was für junge Menschen meist richtig ist.
» In der Regel steht das Leben des jugendlichen Menschen im Zeichen einer allgemeinen Expansion mit dem Erstreben sichtbarer Ziele, und seine Neurose scheint hauptsächlich auf dem Zögern oder dem Zurückweichen vor dieser Richtung zu beruhen. Das Leben des alternden Menschen dagegen steht im Zeichen der Kontraktion, dem Behaupten des Erreichten und dem Abbau der Ausdehnung. Seine Neurose beruht im Wesentlichen auf einem unzeitgemäßen Verharren in der jugendlichen Einstellung. […] Demgemäß müssen wohl auch die Ziele der Therapie modifiziert werden. (16, 75)
«
> In seiner späteren Phase wurde die Therapie älterer Menschen nach der Lebensmitte für Jung immer wichtiger, weil er sah, dass es sich in jenem Alter immer um ein religiöses Problem handelt. Die Anpassung ist dann nicht mehr eine an die äußere, sondern an die innere Welt, ans kollektive Unbewusste.
14
Davon soll in 7 Kap. 40 die Rede sein. In einem Brief vom 05.V.1941 an Dr. Olga von Koenig-Fachsenfeld schreibt er:
innen, letzterer nicht an die Mitwelt angepasst. Eine Mutter, die nur für ihre Kinder gelebt, ihnen jeden Wunsch von den Augen abgelesen hat, ist in Gefahr, ins Gegenteil zu verfallen, weil sie ihr Leben den Kindern geopfert hat. Umgekehrt werden jene erfolgsverwöhnten Manager im Alter plötzlich zu Wohltätern der Unterprivilegierten, setzen ihr großes Vermögen in Stiftungen für humanitäre Zwecke usw. ein. Man fragt sich bei solchen Meldungen, ob dieser Mensch nicht von einer Einseitigkeit in eine andere mutiert habe? > Das Leben will ein Gleichgewicht zwischen innen und außen. Man kann seine »Jugendsünden« nicht damit kompensieren, dass man dem Gegenteil verfällt.
» Der wahre Grund zur Neurose liegt im Heute, denn die Neurose existiert in der Gegenwart. Sie ist beileibe kein aus der Vergangenheit herüberhängendes caput mortuum, sondern wird täglich unterhalten, ja sozusagen neu erzeugt. Und nur im Heute, nicht aber im Gestern wird eine Neurose »geheilt«. (10, 363)
«
Literatur Primärliteratur (Quellen) 1
» In Bezug auf die Ätiologie der Neurosen könnte ich nur sagen, dass immer dann, wenn die innere psychische Bedingung mit der äußeren nicht übereinstimmt und infolgedessen beim Anpassungsversuch die eine oder andere in ungehörigem Maße übergangen wird, eine Neurose entsteht. ([1] I S. 374)
«
Das ist nun die Synthese von Jungs Erfahrung mit der Neurose. Nämlich jener, der nur kollektiv angepasst lebt, wie jener, der sich nur nach seinen eigenen Bedürfnissen richtet, kann in eine Neurose abgleiten. Ersterer ist nicht nach
2
Jaffé A (Hrsg.) (1972) Drei Bände Briefe von C.G. Jung. In Zusammenarbeit mit G. Adler, dem Herausgeber der englischen Briefbände. Erster Band 1906–1945 (1972), Zweiter Band 1946–1955 (1972), Dritter Band 1956–1961 (1973 mit Nachtrag neu aufgefundener Briefe). S. 374 Jung CG (1983) Aion; Beiträge zur Symbolik des Selbst.1976, 51983. GW 9/II. Walter, Olten Freiburg
Sekundärliteratur 3
4
5
Darwin CR (1859) On the origin of species by means of natural selection, or the preservation of favoured races in the struggle for life. John Murray, London Ribi A (1993) Die feindlichen Brüder. Introversion – Extraversion. Zwei komplementäre Seiten eines einseitigen Weltbildes. Kundschafter, Brugg Ribi A (2002) Der normal kranke Mensch. Neurose und Lebenssinn. Die Neurosen aus der Sicht C.G. Jungs. Stiftung für Jungsche Psychologie, Küsnacht
285
Kompensation
A. Ribi, Neurose – an der Grenze zwischen krank und gesund, DOI 10.1007/978-3-642-16148-3_15, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
15
286
Kapitel 15 • Kompensation
»Kompensation bedeutet Ausgleichung oder Ersetzung. Der Begriff der Kompensation wurde eigentlich von Adler in die Neurosenpsychologie eingeführt, […] während Adler seinen Begriff der Kompensation auf die Ausgleichung des Minderwertigkeitsgefühles einschränkt, fasse ich den Begriff der Kompensation allgemein als funktionelle Ausgleichung, als Selbstregulierung des psychischen Apparates auf. In diesem Sinne fasse ich die Tätigkeit des Unbewussten als Ausgleichung der durch die Bewusstseinsfunktion erzeugten Einseitigkeit der allgemeinen Einstellung auf.« (6, 763–764)
Die Kompensation ist sozusagen die innere Anpassung zwischen Bewusstsein und Unbewusstem.
» Unter normalen Bedingungen regt jeder
15
Konflikt die Psyche zur Aktivität an, damit eine möglichst befriedigende Lösung zustande gebracht werde. Gewöhnlich […] entscheidet der bewusste Standpunkt willkürlich gegen das Unbewusste. […] Zuerst erscheint keine Lösung möglich, und diese Tatsache muss mit Geduld ertragen werden. Der so eingetretene Stillstand »konstelliert« das Unbewusste. […] Diese Reaktion […] wird nun ihrerseits zur bewussten Realisierung gebracht. Das Bewusstsein wird so mit einem neuen Aspekt der Psyche konfrontiert, wodurch ein anderes Problem aufgeworfen oder ein bereits vorhandenes auf unerwartete Weise modifiziert wird. Diese Prozedur dauert an, bis der ursprüngliche Konflikt in befriedigender Weise gelöst ist. Der ganze Prozess wird »die transzendente Funktion« genannt. Es ist zugleich ein Prozess und eine Methode. Die Produktion von unbewussten Kompensationen ist ein spontaner Prozess; die bewusste Realisierung ist eine Methode. (11, 780)
«
An der transzendenten Funktion, die hiermit gleich eingeführt sein soll, kann man das kompensatorische Wechselspiel zwischen Bewusst-
sein und dem Unbewussten sehr schön ablesen. Durch diese Funktion wird ein Übergang von der einen Einstellung in eine andere geschaffen (6, 833). Die Seele als ein selbstregulierendes System ist balanciert wie das Leben des Körpers. […] In diesem Sinne kann man die Kompensationslehre als eine Grundregel für das psychische Verhalten überhaupt erklären. Das Zuwenig hier erzeugt ein Zuviel dort. So ist auch das Verhältnis zwischen Bewusst und Unbewusst ein kompensatorisches (16, 330). Mit der Kompensation sind wir auf ein allgemeines biologisches Gesetz gestoßen, das überall gilt, wo ein Gleichgewichtszustand zu erhalten ist, sowohl in der Physiologie als auch in der Psychologie. > Jede Einseitigkeit ist eine Störung des Gleichgewichts und wird durch eine Gegenreaktion der anderen Seite ausgeglichen. Dadurch wird eine optimale Mittellage erzeugt.
Die Kompensation vonseiten des Unbewussten geschieht meistens durch Träume.
» Das Verständnis der in den Träumen geleisteten biologischen Kompensation ist für die Neurosentherapie sowohl wie für die Entwicklung des Bewusstseins überhaupt von einer gewissen Bedeutung. (13, 90)
«
Da Träume eine der wichtigsten Mitteilungen des Unbewussten sind, kommt ihnen für die Kompensation von einseitigen Haltungen eine wichtige Stelle zu.
»
Das Unbewusste ist an sich indifferent und funktioniert normalerweise als Kompensation zum Bewusstsein. Im Unbewussten schlummern die Gegensätze beieinander; sie werden erst durch das Bewusstsein auseinandergerissen, und je einseitiger und verkrampfter der Standpunkt des Bewusstseins ist, desto peinlicher und gefährlicher wird die Reaktion
15
287 Kompensation
des Unbewussten. Für ein solid gegründetes, bewusstes Leben gibt es keine Gefahr vonseiten des Unbewussten. (14/I, 178)
«
» Die unbewusste Kompensation zielt immer auf die am stärksten verteidigten, weil fragwürdigsten, Bewusstseinspositionen, wobei ihre scheinbar feindselige Einstellung bloß jenes unliebenswürdige Gesicht widerspiegelt, welches das Ich dem Unbewussten zuwendet. In Wirklichkeit aber ist die Kompensation durch das Unbewusste keineswegs als feindlicher Akt beabsichtigt, sondern im Gegenteil als notwendige und daher im Grunde genommen hilfreiche Ergänzung und als Versuch, das Gleichgewicht wieder herzustellen. (14/I, 308)
«
> »In der Neurose tritt das Unbewusste in so starken Kontrast zum Bewusstsein, dass die Kompensation gestört wird.« (6, 765)
» Die unbewusste Kompensation einer neurotischen Bewusstseinslage enthält alle jene Elemente, welche die Einseitigkeit des Bewusstseins wirksam und heilsam korrigieren könnten, wenn diese bewusst, das heißt verstanden und als Realitäten dem Bewusstsein integriert wären. […] Die Behandlung bemüht sich infolgedessen, Träume und sonstige Manifestationen des Unbewussten tunlichst zu verstehen und zu würdigen: einerseits um die Bildung einer mit der Zeit gefährlich werdenden, unbewussten Opposition zu verhindern, andererseits um den Heilfaktor der Kompensation möglichst zu benützen. (7, 187)
«
einbrechen, müssten eigentlich der Beginn eines Heilungsprozesses sein, weil durch sie die vorherige isolierte Haltung aufgehoben werden sollte. In Wirklichkeit geschieht dies aber (bei seelisch unausgeglichenen Menschen) nicht, weil die unbewussten korrigierenden Impulse sich dem Bewusstsein auf eine Art bemerkbar machen, die das Bewusstsein nicht annehmen kann. (3, 458) [2]
«
Diese Feststellung gilt für schwer psychisch Kranke, die sich unbewusst bereits in eine solch abwegige Einseitigkeit begeben haben, dass sich die Kompensation als zwanghaft durchsetzt (z. B. Stimmen und andere Symptome).
» Soweit unsere heutige Erfahrung reicht, können wir die Behauptung aufstellen, dass die unbewussten Vorgänge in einer kompensatorischen Beziehung zum Bewusstsein stehen. Ich gebrauche ausdrücklich das Wort »kompensatorisch« und nicht das Wort »kontrastierend«, weil Bewusst und Unbewusst nicht notwendigerweise in einem Gegensatz zu einander stehen, sondern sie ergänzen sich gegenseitig zu einem Ganzen, zum Selbst. (7, 274)
«
Wie schon erwähnt, ist der Traum die vorzüglichste Äußerung der unbewussten Kompensation. Obschon wir uns in 7 Kap. 37 dem Traum zuwenden werden, sind doch schon hier einige Bemerkungen notwendig.
» Ich möchte die prospektive Funktion des
» Die korrigierenden Impulse oder Kompensa-
Traumes unterscheiden von seiner kompensatorischen Funktion. […] Die Kompensation ist, im Sinne der Selbststeuerung des psychischen Organismus, als zweckmäßig zu bezeichnen. Die prospektive Funktion dagegen ist eine im Unbewussten auftretende Antizipation zukünftiger bewusster Leistungen. (8, 491–493)
tionen, die (bei erheblichem Mangel an Übereinstimmung zwischen den bewussten und den unbewussten Tendenzen) in das Bewusstsein
Die Einseitigkeit des Bewusstseins ist nichts Krankhaftes, sondern hat damit zu tun, dass es
In einem 1914 in Aberdeen gehaltenen Vortrag über die Bedeutung des Unbewussten in der Psychopathologie sagt Jung:
«
288
Kapitel 15 • Kompensation
eindeutig sein muss. Es muss daher alles, was ihm gegensätzlich ist, unterdrücken, d. h. ins Unbewusste abschieben. Daher sammelt sich dort alles an, was im Bewusstsein fehlt.
» Die Kompensation ist, wie der Terminus besagt, ein Gegeneinanderhalten und Vergleichen verschiedener Daten oder Standpunkte, wodurch ein Ausgleich oder eine Berichtigung entsteht. (8, 545)
«
» Mit zunehmender Ausbildung des Willens besteht eine umso größere Gefahr der Verirrung ins Einseitige und der Abschweifung ins Gesetz- und Wurzellose. […] Das differenzierte Bewusstsein ist immer von Entwurzelung bedroht, weshalb es der Kompensation durch den noch vorhandenen Kindheitszustand bedarf. (9/I, 276)
«
» Das Unbewusste lässt sich bekanntlich nicht ein für allemal sozusagen »erledigen«. Es ist sogar eine der wichtigsten Aufgaben der seelischen Hygiene, den Symptomen unbewusster Inhalte und Vorgänge eine gewisse stetige Aufmerksamkeit zu schenken, und zwar darum, weil das Bewusstsein immer wieder Gefahr läuft, einseitig zu werden, eingefahrene Geleise zu benützen und sich in Sackgassen festzurennen. Die komplementierende beziehungsweise kompensierende Funktion des Unbewussten aber sorgt in einem gewissen Grade dafür, dass diese Gefahren, die bei der Neurose besonders groß sind, vermieden werden können. (9/2, 40)
«
In »Die Dynamik des Unbewussten« schreibt er:
15
» Da alles Lebende nach seiner Ganzheit strebt, so findet gegenüber der unvermeidlichen Einseitigkeit des Bewusstseinslebens eine beständige Korrektur und Kompensation vonseiten des allgemein menschlichen Wesens in uns statt, mit dem Ziel einer schließlichen Integration des Unbewussten im Bewusstsein oder besser, einer Assimilation des Ich an eine umfangreichere Persönlichkeit. (8, 557)
«
Diese Kompensation spielt insbesondere bei den Typen eine wichtige Rolle.
»
(Die »minderwertige« oder »inferiore« Funktion) ist erfahrungsgemäß immer die die Hauptfunktion kompensierende, komplementierende und balancierende Gegenfunktion. […] Die minderwertige Funktion ist diejenige, von welcher bewusst am wenigsten Gebrauch gemacht wird. (9/I, 541)
«
» Die Mitarbeit des Unbewussten ist klug und zielgerichtet, und selbst wenn es sich gegensätzlich zum Bewusstsein verhält, ist sein Ausdruck immer noch in intelligenter Weise kompensatorisch. (9/I, 505)
«
In 7 Kap. 30 über die Typologie werden wir das Thema noch ausführlicher behandeln.
» Sollte die Ansicht richtig sein, (dass die Bedeutung des Unbewussten für die Gesamtleistung der Psyche ebenso groß ist wie die des Bewusstseins) dann dürfte nicht bloß die Funktion des Unbewussten als kompensatorisch und relativ zum Bewusstseinsinhalt betrachtet werden, sondern auch der Bewusstseinsinhalt als relativ zum momentan konstellierten unbewussten Inhalt. (8, 491)
«
» Da die neurotische Bewusstseinshaltung unnatürlich einseitig ist, wird sie deshalb durch komplementäre oder kompensatorische Inhalte des Unbewussten ausgeglichen. (16, 12)
«
Im weiteren Verlauf heißt es dazu:
289 Kompensation
15
» Die menschliche Psyche ist etwas ungeheuer
» Je einseitiger und je weiter wegführend vom
Zweideutiges. In jedem einzelnen Fall muss man sich die Frage vorlegen, ob eine Einstellung oder ein sogenannter Habitus eigentlich sein, oder vielleicht bloß eine Kompensation des Gegenteiles. (16, 81)
Optimum der Lebensmöglichkeit die bewusste Einstellung ist, desto eher ist die Möglichkeit vorhanden, dass lebhafte Träume von stark kontrastierendem, aber zweckmäßig kompensierendem Inhalt als Ausdruck der psychologischen Selbststeuerung des Individuums auftreten. (8, 488)
«
» Diese subjektiven Urteilstrübungen sind darum so häufig, weil jedem ausgesprochenen Typus eine besondere Tendenz zur Kompensation der Einseitigkeit seines Typus innewohnt, eine Tendenz, die biologisch zweckmäßig ist, da sie das seelische Gleichgewicht zu erhalten strebt. (6, 3)
«
In »Die Archetypen und das kollektive Unbewusste« schreibt Jung:
»
Die Begegnung mit sich selber gehört zu den unangenehmeren Dingen, denen man entgeht, solange man alles Negative auf die Umgebung projizieren kann. […] Der Schatten ist ein lebendiger Teil der Persönlichkeit und will darum in irgendeiner Form mitleben. […] Man muss es sich schon eingestehen: es gibt Probleme, die man mit den eigenen Mitteln schlechthin nicht lösen kann, […] man ist dann geneigt, einem hilfreichen Einfall Gehör zu schenken oder Gedanken wahrzunehmen, die man vordem nicht zu Worte kommen ließ. Man wird vielleicht auf Träume achten, die sich in solchen Momenten einstellen, oder gewisse Ereignisse bedenken, die sich gerade zu dieser Zeit in uns abspielen. […] So können hilfreiche Kräfte, die in der tieferen Natur des Menschen schlummern, erwachen und eingreifen. (9/I, 44)
«
> »Nach meiner Erfahrung sind weitaus die meisten Träume kompensatorischer Natur.« (7, 170). Und: »Die Träume verhalten sich kompensatorisch zur jeweiligen Bewusstseinslage.« (8, 487)
«
> »Traum- und Phantasiebilder überhaupt sind Symbole, das heißt bestmögliche Formulierungen noch unbekannter beziehungsweise unbewusster Tatbestände, welche sich meist kompensatorisch zum Bewusstseinsinhalt oder zur bewussten Einstellung verhalten.« (14/2, 427)
Das Gesagte verdeutlicht, welche Rolle die Kompensation spielt. Sie ist nicht nur in gewissen Situationen einer Einseitigkeit des Bewusstseins, sondern ständig unmerklich am Werk. Ein deutliches äußeres Beispiel dafür ist die Beziehung zwischen Mann und Frau.
» Die Frau ist durch männliches Wesen kompensiert, deshalb hat ihr Unbewusstes sozusagen männliches Vorzeichen. […] Wie die Anima dem mütterlichen Eros entspricht, so der Animus dem väterlichen Logos, […] der statt aus Überlegungen, aus Meinungen besteht. Darunter verstehe ich apriorische Annahmen mit sozusagen absolutem Wahrheitsanspruch. […] Gewiss können auch Männer sehr weiblich argumentieren, nämlich dann, wenn sie animabesessen sind und dadurch in den Animus ihrer Anima verwandelt werden. Ihnen geht es dabei hauptsächlich um die persönliche Eitelkeit und Empfindlichkeit; den Frauen aber geht es um die Macht der Wahrheit oder der Gerechtigkeit oder anderer »-heiten« und »-keiten«. […] Kein Mann kann sich mit einem Animus auch nur die kürzeste Zeit unterhalten, ohne sofort seiner Anima zu verfallen. (9/II, 29)
«
290
Kapitel 15 • Kompensation
» Man kann direkt von einem Animusdenken reden, das stets recht und das letzte Wort hat und immer mit einem »eben gerade darum« aufhört. Die Anima ist irrationales Gefühl, der Animus irrationale Meinung. (10,80)
«
Weil jedes Individuum in sich auch das gegengeschlechtliche Verhalten trägt, dieses aber zunächst in minderwertiger Form, da es zum Bewusstsein in Gegensatz steht, wird es einfach auf den Partner projiziert.
anzustreben, muss ich dennoch dem Leser die nötigen Informationen bieten.
Literatur Primärliteratur (Quellen) 1
2
» Wie der Mann seine Anima normalerweise nur in projizierter Form kennenlernt, so auch die Frau ihren dunklen Sol. Ist ihr Eros in Ordnung, so wird ihr Sol nicht zu dunkel sein, und der entsprechende Projektionsträger wird vielleicht sogar eine nützliche Kompensation bedeuten. Stimmt es dagegen nicht mit ihrem Eros (Untreue an der Liebe selber!), so entspricht der Dunkelheit ihres Sol eine männliche Person, die animabesessen ist und minderwertigen Geist verzapft, der bekanntlich so berauschend wie starker Alkohol ist. (14/I, 225)
«
» So ist in der Regel das Bewusstsein der Frau
15
auf den einen Mann eingeschränkt, während das Bewusstsein des Mannes eine über das Persönliche hinausgehende Erweiterungstendenz besitzt, der unter Umständen alles Persönliche zuwider sein kann. Im Unbewussten dürfen wir daher eine Kompensation durch das Gegenteil erwarten. (10, 81)
«
Mit den letzten Zitaten ist klar geworden, dass sich Jung aus dem Rahmen der Neurosentherapie gelöst hat. Der Kosmos der Psyche tritt immer mehr in den Vordergrund, worin die Neurose einen zwar wichtigen, aber nicht mehr exklusiven Platz einnimmt. Auch ich müsste den Blick auf die Jungsche Psychologie erweitern und eigentlich das Ganze darstellen, ließe es der Rahmen dieses Buches zu. Ohne Vollständigkeit
3
Jung CG (1990) Mysterium coniunctionis. Untersuchung über die Trennung und Zusammensetzung der seelischen Gegensätze in der Alchemie. GW14. Teil I: 1955; Teil II: 1956; in zwei Bänden. Walter, Olten Freiburg Jung CG (1979) On the importance of the unconscious in psychopathology. Brit. Med. J. II, 964–966. Vortrag gehalten in Aberdeen at the Annual Meeting of the British Medical Association, Section of Neurology and Psychological Medicine. Collected Papers on Analytical Psychology. CW 3, 5. (Übersetzung aus dem Englischen 1973, GW 3) Jung CG (1972) Definitionen s.v. Kompensation, GW 6, 763–765. Walter, Olten Freiburg
291
Mann und Frau; Anima und Animus 16.1
Anima – 300
16.2
Animus – 305 Literatur – 311
A. Ribi, Neurose – an der Grenze zwischen krank und gesund, DOI 10.1007/978-3-642-16148-3_16, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
16
292
Kapitel 16 • Mann und Frau; Anima und Animus
Die Beziehung zwischen Mann und Frau ist ein Gebiet größten Konfliktpotentials, weil die beiden so gegensätzlich sind, »dass Gott die Liebe schaffen musste, damit sie überhaupt zusammenkommen«, sagt Jung im privaten Gespräch. Die Schwierigkeit besteht nicht bloß darin, dass Mann und Frau so gegensätzliche Persönlichkeiten sind. Das wäre auch eine Chance, weil alle Gegensätze heimlich identisch sind. Sie suchen sich daher, wie im Platonischen Mythus vom runden Urmenschen, der in zwei Hälften zersägt wurde, um wieder ganz zu werden. Zusätzlich verursacht der Umstand, dass jedes Geschlecht das Gegengeschlecht auch noch in sich trägt, Schwierigkeiten (Femina circumdabit virum, Jer. 31, 22).
16
Weil sich das Individuum mit der einen Geschlechterrolle identifiziert, bleibt die andere Seite unterentwickelt im Unbewussten. Die Tatsache ihrer Unterentwicklung sorgt für zusätzliche Schwierigkeiten. Wäre diese Seite entwickelt, könnte sie zur gegenseitigen Verständigung der beiden Geschlechter beitragen. Seit der Entdeckung einer unbewussten gegengeschlechtlichen Seite im Menschen hat sich die Situation im Kollektiv nochmals kompliziert. Der Jugendliche macht kurz vor der Pubertät eine hermaphroditische Phase durch. Normalerweise ist es eine romantische sensitive Phase mit homosexuellem Anstrich. In dieser Phase entstehen oft schwärmerische Freundschaften zu Altersgenossen. Ich beobachte immer häufiger, dass Junge darin stecken bleiben und sich nicht für ihre eigentliche Identität entscheiden können, obwohl sie nicht homosexuell sind. Die eigentliche Homosexualität ist das definitive Steckenbleiben in der bisexuellen Phase. Doch diese Jünglinge, welche ich beschreibe, sind effeminierte junge Männer. Sie verhalten und kleiden sich weibisch. Man hat den Eindruck, sie fürchteten, etwas zu verlieren, wenn sie sich klar entscheiden würden. Seit die Homosexualität nicht mehr ausgegrenzt wird, fühlen
sich diese Leute nicht mehr anrüchig, wenn sie einen Zopf tragen. Dabei sind es eben gerade nicht die Homosexuellen, die sich öffentlich so weibisch geben. Diese versuchen sich eher an die kollektiven Normen anzupassen, um nicht sofort aufzufallen. Die Geschilderten dagegen sind stolz darauf, zu zeigen, dass sie auch das andere Geschlecht zur Schau tragen. Es sind Männer, die nie ganz Mann geworden sind und sich von der Mutter abgenabelt haben. Anscheinend hat das auf junge Frauen einen anziehenden und beruhigenden, besänftigenden Effekt: Er ist kein Macho, er hat eine gefühlvolle Seite! Der Macho ist nämlich kein starker Mann, sondern ein Bluffer, der mit seiner physischen Kraft protzt. Ein wirklich starker Mann hat gar nicht nötig, auf seine Stärke zu pochen, weil er stark ist. Denn die Stärke eines Mannes liegt nicht am Muskelapparat, der womöglich mit Anabolika und Muskeltraining »aufgepusht« wurde. Genauso wenig ist eine Frau femininer, weil sie einen Push-up-BH trägt. Es herrscht meines Erachtens eine völlige Orientierungslosigkeit darüber, was männlich und was weiblich heißt. Wenn natürlich eine Schriftstellerin vom Range einer Simone de Beauvoir glaubt, das Mädchen werde durch die Erziehung in ihre weibliche Rolle gezwängt, ist die Konfusion perfekt. Dann wäre nämlich der Begriff »männlich« oder »weiblich« von der jeweiligen Kultur abhängig. Im Menschen, in seiner Natur, die sich über Millionen von Jahren bewährt hat, gibt es ein klares »pattern«, das nicht vom Zeitgeist abhängig ist, so wie jedes Neugeborene durch seine Gene sexuell bestimmt ist. In diesem überzeitlichen Sinn verwendet Jung diese Begriffe, wie A.B. Ulanov in ihrem Buch »The feminine in Jungian psychology and in christian theology« [8] sehr klar gezeigt hat. z
Eros und Erotik
Jung schrieb 1927 in der Europäischen Revue
III/7 (Berlin) einen Aufsatz »Die Frau in Euro-
293 Mann und Frau; Anima und Animus
pa«, welcher sehr viele Auflagen erlebte und auch heute nicht überholt ist. Darin schreibt er viel Beherzenswertes zur Beziehung der Geschlechter und zum Wesen von Frau und Mann (10, 236–275).
» Die Psychologie der Frau gründet sich auf das Prinzip des Eros, des großen Binders und Lösers, während dem Manne seit alters der Logos als oberstes Prinzip zugedacht ist. Man könnte den Begriff des Eros in moderner Sprache als seelische Beziehung und den des Logos als sachliches Interesse ausdrücken. […] Aber die meisten Männer sind erotisch blind, indem sie das unverzeihliche Missverständnis begehen, den Eros mit der Sexualität zu verwechseln. […] Für die Frau ist die Ehe eine Beziehung mit der Beigabe der Sexualität. (10, 255) [5]
«
> Es ist ein »unverzeihlicher Irrtum«, Eros mit Sexualität zu verwechseln. Eros ist viel weiter, eigentlich eine kosmische Größe [12].
Der Mann verwechselt Eros mit Erotik, was zu vielen Missverständnissen und Konflikten führt. Viele Ehescheidungen, die in den letzen Jahrzehnten deutlich angestiegen sind, haben darin ihre Ursache.
» Aber selbst Gott kann nicht gedeihen in einer seelisch unterernährten Menschheit. Auf diesen Hunger reagiert die Seele der Frau, denn es ist der Eros, der verbindet, wo der Logos scheidet und klärt. (10, 275)
«
Die Bedeutung des weiblichen Eros geht also weit über den engen Rahmen der Familie hinaus. Das war auch die Erwartung, als man den Frauen das Stimm- und Wahlrecht zugestanden hat. Der weibliche Eros sollte auch in der Politik Einzug halten, einer bisher ausschließlich männlichen Domäne. Jedenfalls hat die Frau in weitem Maße im Berufsleben Einzug gehalten. Das kommt einer unerhörten Emanzipation der Frau gleich,
16
die den engen Rahmen der »Drei K« (Kinder, Küche, Kirche) gesprengt hat. z
Kindererziehung
Für das Volkswohl insgesamt war das eine Bereicherung. Mit der bewussten Steuerung der Fortpflanzung wurden wertvolle Kräfte für die Öffentlichkeit frei. Anderseits trat das Problem der Kinderbetreuung in öffentlichen Institutionen (Krippe, Mittagstisch) auf. Ein Teil der persönlichen Erziehung ging damit verloren. Die Erfahrungen aus dem früheren Ostblock mit staatlicher Betreuung sind nicht gerade ermutigend. So ist die Frau in zunehmendem Maße zwischen Beruf und Familie hin- und hergerissen. Ein anderes Zeichen zunehmender Orientierungslosigkeit hinsichtlich der Geschlechterrolle ist die mangelnde Erziehung der Kinder. Ist die Mutter berufstätig, so stellt sich die Frage, wer für die Erziehung zuständig ist, die Familie oder die Schule? Auch darin liegt ein großes Konfliktpotential, denn die Lehrer fühlen sich außerstande, die Kinder neben dem Unterricht auch noch zu erziehen und schieben diese Aufgabe den Eltern zu. Ist die Frau berufstätig, erwartet sie von ihrem Gatten, dass er seinen Teil der Erziehungsarbeit übernimmt. Der ist oft im Beruf so gefordert, dass er nicht die Geduld für eine ruhige Erziehung aufbringt, was wiederum Konfliktstoff in sich trägt.
» Jede kindliche Neurose ist in erster Linie im Lichte der elterlichen Psychologie zu betrachten. (10, 62)
«
Die Eltern haben so viele Aufgaben zu bewältigen, auf die sie nicht vorbereitet worden sind. Die einzige Vorbereitung ist eine gesunde Herkunftsfamilie, in welcher jeder seine Rolle voll und ganz erfüllt hat.
» Das unmittelbarste Urbild ist wohl die Mutter, denn sie ist in jeder Beziehung das nächste und stärkste Erlebnis, das überdies noch im bild-
294
Kapitel 16 • Mann und Frau; Anima und Animus
samsten Lebensalter des Menschen stattfindet. […] Da im kindlichen Alter das Bewusstsein noch überaus schwach entwickelt ist, so kann von einem individuellen Erleben überhaupt nicht die Rede sein: Die Mutter ist im Gegenteil ein archetypisches Erlebnis; sie wird in mehr oder weniger unbewusstem Zustand erlebt, nicht als diese bestimmte, individuelle Persönlichkeit, sondern als die Mutter, ein Archetypus voll von unerhörten Bedeutungsmöglichkeiten. (10, 64)
«
Realisiert eine Frau, welch entscheidender Faktor sie für das Leben ihres Kindes ist, so muss es sie einerseits mit Stolz erfüllen, andererseits auch mit Angst, ob sie ihm gewachsen ist. Dann nützt es ihr gar nichts, noch so viele Bücher über Kindererziehung zu lesen. > Nicht das, was die Eltern verkünden, wirkt beim Kind, sondern das, was sie sind.
Deshalb ist es entscheidend, dass die Eltern an der Entwicklung ihrer eigenen Persönlichkeit arbeiten und nicht meinen, sie müssten in erster Linie die Kinder zu richtigen Menschen erziehen.
» So ist auch der Vater ein mächtiger Arche-
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typus, der in der Seele des Kindes lebt. Auch der Vater ist zunächst der Vater, ein allumfassendes Gottesbild, ein dynamisches Prinzip. […] (Erst allmählich wird er als) Staat, Gesetz, Pflicht, Verantwortlichkeit und Geist entdeckt. […] An die Stelle des Vaters tritt die Gesellschaft der Männer, anstelle der Mutter die Familie. (10, 66)
«
Der Einfluss des Elternhauses wirkt weit über den familiären Rahmen hinaus. Die unbewussten Eindrücke von diesen gewaltigen Archetypen können bestimmend sein für ein ganzes Leben. Ich sage absichtlich »Eindrücke von den Archetypen«, weil es weniger die individuellen Menschen sind, welche tiefe Spuren hinterlassen, als die Konfrontation des Eindruckes von den
Eltern mit den Erwartungen an sie. Die Archetypen sind auch ein unbewusstes Bild von Erwartungen an diese göttlichen Figuren. Je jünger das Kind, desto archetypischer ist seine Elternimago.
» Die wärmende, schützende, nahrungsspendende Mutter ist auch der Herd, die schützende Höhle oder Hütte und die umgebende Pflanzung. Die Mutter ist auch der nahrungsspendende Acker und ihr Sohn der göttliche Weizen, der Bruder und Freund des Menschen. Die Mutter ist die milchgebende Kuh und die Herde. Der Vater […] lässt seine schlechten Launen los wie ein Gewitter, aus unsichtbaren Gedanken heraus verändert er wie plötzlicher Sturmwind die ganze Situation. Er ist der Kampf und die Waffe, die Ursache aller Veränderungen, er ist der Stier von gereizter Gewalttätigkeit oder apathischer Faulheit. (10, 67)
«
Die Elternimagines tragen zuerst solch archetypische Formen und erst viel später persönliche Züge. Im Rückblick als Erwachsener, wenn die »participation mystique« mit der archetypischen Welt verloren gegangen ist, wird das Erlebte ins Persönliche projiziert. Man meint sich dann in persönlicher Form an das Wesen der Eltern zu erinnern. Wären es jedoch bloß persönliche Eindrücke gewesen, hätten sie niemals jenen bestimmenden Einfluss auf das ganze Leben gehabt, wie sie es tatsächlich haben. »Participation mystique« (dt. mystische Teilhabe) ist ein Ausdruck, den Jung von Lucien Lévy-Bruhl, einem französischen Philosophen und Soziologen (1857–1939) übernommen hat. Er bezeichnet in der analytischen Psychologie ein Einssein in gemeinsamer Unbewusstheit. Diese »participation« besteht zwischen Eltern und Kindern (10, 70). Bei der Entwicklung des Kindes geht dieses unersetzliche Gefühl der unmittelbaren Verbundenheit und Einheit mit den Eltern verloren.
295 Mann und Frau; Anima und Animus
» Infolge der Geschlechtsreife entsteht nun die Möglichkeit einer neuen, persönlichen participation mystique, und damit auch die Möglichkeit einer Ersetzung des verloren gegangenen, persönlichen Anteils der Identität mit den Eltern. Ein neuer Archetypus wird konstelliert: beim Mann der der Frau, bei der Frau der des Mannes. Auch diese beiden Figuren waren hinter der Maske des Elternbildes versteckt und treten nunmehr unverhüllt hervor. (10, 71)
«
Die Bilder von Anima und Animus können noch längere Zeit mit der Elternimago kontaminiert sein. Aber es ist trotzdem nicht richtig, wenn man sagt, »jemand habe seine Mutter oder seinen Vater geheiratet«. Erstens ist die Elternimago nicht identisch mit den persönlichen Eltern, sondern das Bild, das sich ein Kind vom Elternteil durch seine Erfahrungen gemacht hat. Der subjektive Faktor spielt dabei eine ganz große Rolle. Daher kann das eine Kind in einer Geschwisterreihe positiv auf die Mutter reagieren, das andere hingegen negativ auf die gleiche Mutter. Mütter, die bemerken, dass sie von einem Kind abgelehnt werden, sollten das weniger im Persönlichen, als vielmehr in unpersönlichen Umständen suchen. Ein Kind, das den eigenen Erwartungen entspricht, dem man sich wesensverwandt fühlt, ist meist »pflegeleicht«. Darum fühlt man sich ihm näher, schätzt es mehr und meint, man liebe es. Dabei »liebt« man bloß sein Ebenbild, das man in ihm sieht. Ein Kind dagegen, das den eigenen Erwartungen nicht entspricht, ist ein »schwieriges Kind«. Man hat Mühe, zu ihm einen Zugang zu finden. Vielleicht lehnt man es sogar ab, es wird zum »schwarzen Schaf« der Familie, einfach, weil man es nicht versteht, weil es »aus der Art schlägt«. Es bereitet ständig Schwierigkeiten, weil es auf der unbewussten, der Schattenseite der Eltern lebt, welche diese nicht sehen wollen. Jung sagt an einer Stelle, das Kind sei manchmal so typisch für die Eltern, wie der Tannzapfen für den
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Apfelbaum. Es würde eben den Eltern schmeicheln, wenn sie sich bei einem wohlgeratenen Kind sagen können: »Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm!« Doch wenn ein Tannzapfen darunter liegt, fragt man sich verblüfft: »Wo kommt denn der her?«, in unserer Familie hat es so etwas noch nie gegeben. Oft müssen Kinder gerade Einseitigkeiten in der Familie unbewusst kompensieren. Aus diesen Tatsachen ersieht man, dass die Kinder nur sehr bedingt das Produkt ihrer Eltern sind. Man darf dabei nicht vergessen, dass dieser Satz nur darum wahr ist, weil man ihn auch umkehren kann:
» Die weitgehende Beeinflussung durch das Elternbild ist kein abnormes, sondern im Gegenteil ein sehr normales und deshalb sehr allgemeines Phänomen. […] Ein Kind, das seine Kindheit nicht ins Erwachsenenleben hinübernehmen kann, bleibt unbewusst ein Kind, was die beste Grundlage für eine spätere Neurose ist. […] Es ist in einem gewissen Sinne normal, dass Kinder quasi ihre Eltern wieder heiraten. […] Dadurch entsteht Kontinuität, ein vernünftiges Weiterleben des Vergangenen im Gegenwärtigen. (10, 72–73)
«
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Pubertät
Der Übergang vom Kind zum Erwachsenen beschränkt sich nicht nur auf die Zeit der Pubertät, sondern dauert darüber hinaus. Die Pubertät ist die Zeit erwachender Sexualität, das ist allgemein bekannt. Weniger bekannt ist, dass sich in dieser Zeit das Ich als Zentrum der bewussten Persönlichkeit ausbildet. Diese Zeit ist oft sowohl für die Eltern als auch für die Kinder sehr schwierig, denn dann zerbricht die »participation mystique« mit den Eltern. Der Jugendliche beginnt eigene Wege zu gehen, hat eigene Vorstellungen von der Welt und ihren Werten, hat eigene Neigungen. Die Harmonie des Familienlebens wird jäh zerstört. Der Wein gärt! Viele Eltern verstehen gar nicht, wohin ihr früher so »liebes Kind«
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Kapitel 16 • Mann und Frau; Anima und Animus
geraten ist und reagieren falsch aus Unverständnis. Doch auch für den Jugendlichen ist es eine schwierige Zeit, denn er versteht gar nicht, wie ihm geschieht. Überall eckt er an, »tritt in Fettnäpfchen«, macht sich unbeliebt. Es kommt ihm vor, als sei er in eine unbekannte lieblose Welt verstoßen worden. Er ist »weder Fisch noch Vogel«, weder reif noch unreif und beides zugleich. Er weiß nicht, was er ist, und muss mit Lärm und Allotria auf sich aufmerksam machen, weil er sich sonst selber nicht spürt.
» Der Einbruch der Sexualität beim Mann bedingt eine gewaltige Veränderung seiner Psychologie. Er hat bald die Sexualität des erwachsenen Mannes und daneben noch die Seele eines Kindes. […] Die psychische Assimilation des Sexualkomplexes bereitet ihm die größten Schwierigkeiten, auch wenn er sich des Problems nicht bewusst ist. […] Seine Psyche ist erschüttert und aus dem Gleichgewicht geworfen. […] In diesem Alter experimentiert er noch mit dem Leben. Er muss damit experimentieren, um sich richtige Urteile bilden zu können. […] Im Pubertätsalter sind es oft homosexuelle Erlebnisse, die viel häufiger sind, als man gemeinhin annimmt. (10, 217)
«
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Weil der junge Mensch sich sozusagen in einem Niemandsland befindet, besteht die Gefahr, dass er sich, statt ins Unbekannte zu wagen, nach der »verlorenen Heimat« zurücksehnt. Diese scheint ihm bekannt und kein »Engel mit flammendem Schwert« (Gn 3, 24) scheint ihm den Rückweg abzuschneiden. Das ist der entscheidende Moment, in welchem sich der junge Mensch als mutig oder feige entpuppt.
» Die mütterliche Zärtlichkeit ist das ärgste Gift für den, der sich anschicken muss, in den harten und erbarmungslosen Kampf des Lebens zu treten. (10, 224)
«
Das Problem liegt nämlich nicht nur beim jungen Menschen, sondern ebenso sehr bei der Mutter, deren Instinkt ihr zuflüstert, sie könnte den Sohn verlieren. Darum wird der mit allen Mitteln dagegen kämpfen, besonders wenn es der Jüngste ist. Für sie bedeutet das Ausziehen der Kinder aus dem Elternhaus ebenfalls eine Neuorientierung, welche nur um weniges einfacher ist als jene des Sohnes. Man vergisst die elterliche Problematik leicht, weil sich nicht so schöne Mythen darum herum gebildet haben wie für den Jugendlichen. Für ihn weist
» … das Umhüllende, Um- und Verschlingende unweigerlich auf die Mutter hin, das heißt auf die Beziehung des Sohnes zur wirklichen Mutter, zu deren Imago und zu der Frau, die ihm Mutter werden soll. Sein Eros ist passiv wie der eines Kindes: er hofft eingefangen, aufgesogen, verhüllt und verschlungen zu werden. Er sucht gewissermaßen den schützenden, nährenden Bannkreis der Mütter, den jeder Sorge enthobenen Säuglingszustand, in welchem die Umwelt zu ihm kommt und ihm sogar sein Glück aufzwingt. Kein Wunder daher, dass ihm die wirkliche Welt entschwindet. (9/2, 20)
«
Es ist auch hier wieder nicht in erster Linie die persönliche Mutter, die den Sohn umgarnt, sondern eine viel stärkere, archetypische Gewalt, der sich weder Sohn noch Mutter so leicht entwinden können. Jedenfalls genügt ein bloß vernünftiges Wissen darum keinesfalls.
» Der projektionsbildende Faktor im Falle des Sohnes ist identisch mit der Mutterimago, und diese wird daher für die wirkliche Mutter gehalten. Die Projektion kann nur aufgelöst werden, wenn er einsieht, dass es in seinem seelischen Bereich ein Imago der Mutter gibt, und nicht nur dieser, sondern auch der Tochter, der Schwester und der Geliebten, der himmlischen Göttin und der chthonischen Baubo, überall gegenwärtig als
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297 Mann und Frau; Anima und Animus
altersloses Bild, und dass jede Mutter und jede Geliebte die Trägerin und Verwirklicherin dieser gefährlichen Spiegelung ist, welche dem Wesen des Mannes zutiefst eignet. (9/2, 24)
«
Die Projektion geschieht unbemerkt und narrt uns in zahllosen Gestalten, die wir für die äußere Wirklichkeit halten. Die Inder bezeichnen sie als Māyā, die Spinnerin, die uns mit einem ganzen Netz von Illusionen eine Welt vorgaukelt. Man darf nicht meinen, sie existiere nicht. Sie ist Wirklichkeit, bloß nicht dort, wo wir sie zu sehen vermeinen, sondern in unserer Seele. Wir werden in 7 Kap. 17 genauer auf das Wesen der Projektion einzugehen haben. Gerade in der Beziehung der Geschlechter spielt sie eine kaum zu überschätzende Rolle.
» Jedermann war bisher überzeugt, dass die Vorstellung »mein Vater«, »meine Mutter« usw. nichts als das mit der Vorlage aufs getreueste übereinstimmende Abbild des wirklichen Vaters usw. sei, so dass, wenn einer »mein Vater« sagt, er durchaus nichts anderes meine, als was sein Vater in Wirklichkeit an und für sich ist. (9/2, 37)
«
Mit der Einführung des Begriffes der Imago hat sich Jung endgültig von der personalistischen Psychologie seiner Vorgänger gelöst. Wir können des subjektiven Faktors nie entraten. Die Welt scheint uns so, wie wir sie einmalig subjektiv erleben. Dass wir das für die Welt halten, wie jedermann auch sie sehen muss, führt zu unendlichen Konflikten und Schwierigkeiten. Wir glauben viel zu sehr an unsere Illusionen, denen wir unkritisch vertrauen.
» Die Frau mit ihrer der männlichen so unähnlichen Psychologie ist (und war stets) eine Quelle der Information über Dinge, für die der Mann keine Augen hat. (7, 29)
«
Die Gegensätzlichkeit von Mann und Frau ist nicht nur Quelle unendlicher Spannungen, son-
dern auch der Komplementarität. Würde man diese Seite mehr sehen, statt zu erwarten, der andere sollte sich meinen Erwartungen konform verhalten, könnte man Gott danken, seine eigene Einseitigkeit durch den Partner ausgeglichen zu sehen.
» Kein Mann nämlich ist so ganz nur männlich,
«
dass er nicht Weibliches in sich besäße. (7, 297)
Das ist ein weiterer Grund, weshalb sich Mann und Frau ergänzen, denn durch die Beziehung zum Gegengeschlecht wird die eigene gegengeschlechtliche unbewusste Seite konstelliert.
»
Als Quelle der Projektionen figuriert nicht mehr der gleichgeschlechtliche Schatten, sondern das entgegengesetzte Geschlecht. Hier begegnet man dem Animus der Frau und der Anima des Mannes, zwei einander entsprechenden Archetypen, deren Autonomie und Unbewusstheit die Hartnäckigkeit ihrer Projektionen erklärt. (9/2, 19)
«
Das Problem der Projektion bei der Begegnung von Mann und Frau entstammt der Unbewusstheit von Animus und Anima. Dazu kommt noch, dass
» … die Männlichkeit der Frau und die Weiblichkeit des Mannes minderwertig sind, und es ist bedauerlich, wenn dem vollen Wert noch etwas Minderwertiges angehängt wird. (10, 261)
«
Die Minderwertigkeit hat immer damit zu tun, dass ein Persönlichkeitsteil unbewusst und damit von Leben und Entwicklung ausgeschlossen bleibt.
» Gefühl ist eine spezifisch weibliche Tugend, und weil ein Mann zum Erreichen seines Ideals von Männlichkeit alle weiblichen Züge, die er ebenso sehr besitzt wie eine Frau männliche,
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Kapitel 16 • Mann und Frau; Anima und Animus
unterdrückt, so verdrängt er auch gewisse Gemütsbewegungen als weibliche Schwäche. (10, 79)
«
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Was ist männlich?
Das hat mit einem falschen Verständnis dessen zu tun, was männlich heißt.
» Männlichkeit heißt: Wissen, was man will, und das Nötige tun, um das Ziel zu erreichen. (10, 260)
«
Viele Männer verstehen aber darunter Kraft, Stärke, Mut, Entschlossenheit, Selbstsicherheit usw. Deshalb haben Männer Mühe, sich Schwächen einzugestehen, deshalb kommen sie mit ihren Problemen seltener zum Therapeuten, denn sie meinen, es sei eine Schwäche, damit nicht selber fertig zu werden. Darum begehen Männer, die wegen der Unbewusstheit ihres Problems damit nicht fertig werden, öfters den sog. »Bilanz-Selbstmord«, einen kalt berechneten, meist gelingenden Suizid, der seine ganze Umgebung schockiert, weil sie nichts von seinen Problemen wusste. Der zeigt, wie sehr der Mann in seiner nur männlichen Bewusstseinswelt eingesponnen sein kann.
» Die überwältigende Mehrheit der Männer auf
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heutiger Kulturstufe bleibt bei der mütterlichen Bedeutung der Frau stehen, weshalb auch die Anima niemals über die infantil-primitive Stufe der Hure sich hinausentwickelt. (10, 76)
«
Da sich Männer mehr für sachliche Werte interessieren, haben sie weniger Zugang zur Psychologie. Daher steht es oft mit ihrer seelischen Entwicklung im Argen, auch wenn sie im Beruf sehr tüchtig sind oder vielleicht gerade deswegen. Der Bereich der Beziehung ist für sie kein Thema und bleibt darum unentwickelt. Jung hat einen bemerkenswerten Aufsatz »Die Ehe als psychologische Beziehung« (17, S. 213–227)
(1925) geschrieben, der den meisten unbekannt ist. Der Mann hält die Ehe für eine praktische Einrichtung, eine Familie zu gründen, worin für die Kinder gesorgt ist, aber kommt selten auf die Idee, dass sie von ihm ebensoviel »Fortbildung« verlangt wie der Beruf.
»
Man kann die Anima definieren als Imago oder Archetypus oder Niederschlag aller Erfahrungen des Mannes am Weibe. Darum ist das Animabild auch in der Regel in die Frau projiziert. (13, 58)
«
» Die weibliche Psychologie weist ein Gegenstück zur Anima des Mannes auf, das primär nicht affektiver Natur ist, sondern ein quasiintellektuelles Wesen, welches mit dem Wort »Vorurteil« am allerpassendsten charakterisiert ist. […] Der Animus der Frau besteht aus einer Vielzahl vorgefasster Meinungen und ist daher weit weniger durch eine Figur personifizierbar als vielmehr durch eine Gruppe oder Menge. Der Animus auf niederer Stufe ist ein minderwertiger Logos, eine Karikatur des differenzierten männlichen Geistes, wie die Anima auf niederer Stufe eine Karikatur des weiblichen Eros ist. […] Eros ist die Verflechtung, Logos die scheidende Erkenntnis, das klärende Licht. Eros ist Bezogenheit, Logos ist Diskrimination und Unbezogenheit. (13, 60)
«
Jedes der beiden Geschlechter hat seine schwache Seite da, wo der Partner steht. Was ist einfacher, statt sich seine Schwäche eingestehen zu müssen, sie auf den anderen zu projizieren? So kommt es zwischen den Geschlechtern zu unseligen Missverständnissen. Kein Wunder, dass man dann sogleich die »Flinte ins Korn wirft«, um sich bei der nächsten Beziehung wieder mit den gleichen Schwierigkeiten konfrontiert zu sehen. Wie viel einfacher wäre doch das Königreich der Amazonen, wo es keine derartigen Gegensätze gab!
299 Mann und Frau; Anima und Animus
Im ganzen Leben hat die Natur für den Konflikt zwischen den Gegensätzen als einzigem Ziel gesorgt, dass der Mensch daran bewusst werde. Allein aus diesem Grunde wurde er aus dem so bequemen Paradies verjagt, er wäre darin im Stadium eines Kindergartenschülers verblieben.
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aber uns mit ganzer Kraft dafür eingesetzt haben, ist es nicht umsonst gewesen. Wir stoßen hier in unserem bescheidenen persönlichen Leben an kosmische Dimensionen, welche unser Wollen weit übersteigen.
» Wenn man versteht und fühlt, dass man schon
»
Der Mensch ist vermöge seines reflektierenden Geistes aus der Tierwelt herausgehoben und demonstriert durch seinen Geist, dass die Natur in ihm eine hohe Prämie eben gerade auf die Bewusstseinsentwicklung gesetzt hat. Durch sie bemächtigt er sich der Natur, indem er das Vorhandensein der Welt erkennt und dem Schöpfer gewissermaßen bestätigt. Damit wird die Welt zum Phänomen, denn ohne bewusste Reflexion wäre sie nicht. Wäre der Schöpfer Seiner selbst bewusst, so brauchte Er keine bewussten Geschöpfe. […] Das Wunder des reflektierenden Bewusstseins (ist) eine zweite Kosmogonie. Die Bedeutung des Bewusstseins ist so groß, dass man nicht umhin kann zu vermuten, es läge in all der ungeheuren, anscheinend sinnlosen biologischen Veranstaltung irgendwo das Element des Sinnes verborgen, welcher endlich den Weg zur Manifestation auf der Stufe der Warmblütigkeit und eines differenzierten Hirns wie zufällig gefunden hat, nicht beabsichtigt und vorgesehen, sondern aus »dunkelm Drange« erahnt, erfühlt, ertastet. ([1] S. 341–342)
«
Unzählige unglückliche Ehen und geschädigte Sprösslinge zahlen den Tribut für das kosmische Anliegen des Schöpfers nach Entwicklung des Bewusstseins. Jeder Mann und jede Frau, die sich mit dem Einsatz ihrer letzten Kräfte darum bemühen, dass die so schwierige Beziehung zwischen den Geschlechtern gelingt, haben ein Wesentliches dazu beigetragen. Gerade die Schwierigkeiten auf unserem Lebensweg, die wir nicht feige umschiffen, sind ein individueller Beitrag zu diesem Menschheitsproblem. Es geht nicht so sehr um unser eigenes Wohl, als um eine säkulare Aufgabe. Selbst wenn wir scheitern sollten,
in diesem Leben an das Grenzenlose angeschlossen ist, ändern sich Wünsche und Einstellung. Letzten Endes gilt man nur wegen des Wesentlichen, und wenn man das nicht hat, ist das Leben vertan. Auch in der Beziehung zum anderen Menschen ist es entscheidend, ob sich in ihr das Grenzenlose ausdrückt oder nicht. ([1] S. 328)
«
Für die Therapie des Neurotikers ist es äußerst wichtig, ihm diese Einstellung zu vermitteln. In der Regel fühlt er sich von seiner Umwelt und den Mitmenschen abgeschnitten und verlassen. Wenn er realisiert, dass das nicht nur seine Schuld ist, sondern dass er wie ein Großteil der Menschheit vereinsamt, weil keine echte Beziehung zum Mitmenschen zustande kommt, und er sich dann aufrafft, seinen, zwar kleinen, aber umso wertvolleren Beitrag zu leisten, dann wird seine Krankheit sinnvoll. Dann fühlt er sich nicht mehr als isoliertes Staubkorn im All, sondern als integrierender Bestandteil am großen Ganzen. Die Schwierigkeit jedoch liegt im Detail und im Alltag, zu dem wir nun zurückkehren wollen!
» Eine Frau mit zwanzig Jahren ist in der Regel älter als ein Mann mit fünfundzwanzig, was die Reife des Urteils über Personen anbetrifft. Bei vielen Männern ist die geistige Pubertät mit fünfundzwanzig Jahren noch nicht abgeschlossen. (10, 216)
«
In diesem Alter wächst der Mann allmählich in seinen Beruf hinein, lebt aber immer noch in zahlreichen Illusionen. Während die Mädchen schon vor der Pubertät gewisse psychische Subtilitäten entwickeln, ist der Knabe noch ganz kindhaft.
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Kapitel 16 • Mann und Frau; Anima und Animus
» In diese Kindhaftigkeit des Knaben bricht oft stürmisch und brutal die Sexualität ein, während sie beim Mädchen, trotz eingetretener Geschlechtsreife, noch lange schlummert, bis die Leidenschaft der Liebe sie weckt. Es gibt aber überraschend viele Frauen, bei denen die wirkliche Sexualität trotz Heirat noch lange virginal bleibt und vielleicht erst bewusst wird, wenn sich die Frau in einen anderen als ihren Mann verliebt. […] Selten ist einer, der dem peinlichen und ängstigenden Problem der Onanie entgeht, während Mädchen oft jahrelang onanieren können, ohne zu wissen, was sie tun. (10, 216)
«
Der Weg ins Erwachsenenleben ist voller Stolpersteine und doch wird selten einer neurotisch am Eingang ins Leben. Die Natur hat das sehr sinnreich gemacht, dass sie den jungen Menschen zuerst Fuß fassen lässt im Leben, bevor sie ihm die unbeglichenen Rechnungen präsentiert. Er kann ja seine Fehler erst verstehen, wenn er erlebt hat, was das Leben von ihm will. Mir ist aufgefallen, dass die Neurosen erst mit Beginn des 30. Lebensjahres auftreten, um den Patienten aufmerksam zu machen, dass er mit seiner Einstellung in eine Sackgasse geraten ist und sich neu orientieren muss. Leider sind diese Fakten viel zu wenig bekannt, und der junge Mensch tappt in alle Fallen, wenn ihn nicht ein hilfreicher Instinkt leitet.
16.1
16
Anima
einen Fotografen zu uns nach Hause kommen, zog ihr schönstes Kleid an, setzte sich in den Sessel, meine Schwester auf die eine Armlehne und mich auf die andere. Ich fühle noch heute nach, wie ich damals fand, meine Mutter sei die schönste Frau, die es gäbe. Ich nahm damals, ich war etwa 11-jährig, erstmals bewusst weibliche Schönheit wahr, und diese war voll und ganz in meiner Mutter verkörpert. Dabei stand mir sonst die Mutter gefühlsmäßig nicht sehr nahe. Dieser Moment war eine einmalige Idylle. Der Vater stellte das Foto lange Zeit mit Stolz auf seinen Arbeitsplatz.
Dieser Vorfall ist nicht so zu interpretieren, ich sei in die Mutter verliebt gewesen. Vielmehr war ich stolz, die schönste Frau zur Mutter zu haben. Kinder können sehr wohl Männer und Frauen unterscheiden. In der Psyche des Kindes ist das eine nüchterne Tatsache ohne Gefühlswert. Auf der anderen Seite merke ich seit den letzten Jahren, dass ich im Kontakt zu mir eigentlich gleichgültigen Frauen plötzlich ein warmes Gefühl von Vertrautheit hatte. Ich habe mich sehr darüber gewundert, bis ich merkte, dass sie den Körperhabitus meiner Mutter in jenem Alter hatten, in welchem das Foto aufgenommen wurde (ca. 40-jährig). Das Animabild ist deutlich von jenem ersten Eindruck der Weiblichkeit geprägt im Unbewussten und über 65 Jahren unverändert aufbewahrt worden.
» Meine Auffassung unterscheidet sich prinzi-
Der Archetypus der Anima
» … ist in der männlichen Psychologie zunächst stets mit dem Bilde der Mutter vermischt. (9/I, 158)
«
Ich erinnere mich sehr wohl, dass meine Mutter dem Vater zu Weihnachten ein Bild von sich und den beiden Kindern schenken wollte. Sie ließ
piell von der psychoanalytischen Theorie, dass ich der persönlichen Mutter nur bedingte Bedeutung zuspreche. (9/I, 159)
«
Jung hat sich darin deutlich von seinen Vor-
gängern abgegrenzt, die nur eine persönliche Psychologie kannten, dass er der unpersönlichen Schicht des Unbewussten eine viel wichtigere Rolle zumaß. In meinem Beispiel musste ich mich nämlich fragen, weshalb jener kurze Moment der Fotoaufnahme in mir einen le-
16
301 16.1 • Anima
benslangen Eindruck hinterließ? Damals wurde etwas Wesentliches, Prägendes in meiner Seele berührt!
Fällen definitive Störungsursachen bei den Eltern, insbesondere bei der Mutter, nachzuweisen sind. (9/I, 159)
» Die Mutter ist das erste weibliche Wesen, das
Selbstverständlich sind das harmlose Vorfälle in meinen Beispielen, welche nicht zu einer neurotischen Entwicklung führen. Es sind nicht so sehr einzelne Vorkommnisse, wie Missbrauch, als anhaltende Missbräuche oder ein neurotisches familiäres Milieu, welche nachhaltig auf die Kinder wirken.
dem zukünftigen Manne begegnet und laut oder leise, grob oder zart, bewusst oder unbewusst, nicht umhin kann, stets auf die Männlichkeit des Sohnes anzuspielen; wie auch der Sohn im zunehmenden Maße der Weiblichkeit der Mutter inne wird oder, unbewussterweise wenigstens, instinktiv darauf antwortet. (9/I, 62)
«
Das gilt anscheinend nicht nur für die Mütter von Söhnen, sondern für die Eltern allgemein. Einst waren wir bei der Schwester meiner Schwiegermutter zu Besuch, während ihre Tochter im Bad saß. Sie erzählte allen, dass die Tochter jetzt knospende Brüstchen habe, worauf alle der Reihe nach das ahnungslose Töchterlein im Bad zu begrüßen gingen. Ich hatte eine instinktsichere Freundin, deren jüngerer Sohn 3-jährig war. Als er einmal im Bad saß, holte sie mich, ich sollte sehen, dass er eine spontane Erektion habe. Der kleine dünne, aber stramme Penis faszinierte sie unendlich!
«
» Typische Wirkungen (des Mutterkomplexes) auf den Sohn sind die Homosexualität und der Don Juanismus, gelegentlich auch die Impotenz. In der Homosexualität haftet die heterosexuelle Komponente in unbewusster Form an der Mutter, im Don Juanismus wird unbewussterweise die Mutter »in jedem Weibe« gesucht. (9/I, 162)
«
» Der heranwachsende Jüngling muss sich von der Animafaszination der Mutter befreien können. […] Die Homosexualität ist in der Regel durch eine Identität mit der Anima gekennzeichnet. […] Es handelt sich um eine unvollständige Ablösung vom hermaphroditischen Archetypus, verbunden mit einem ausgesprochenen Widerstand, sich mit der Rolle eines einseitigen Geschlechtswesens zu identifizieren. (9/I, 146)
Wenn in Familien Missbräuche an kleinen Kindern vorkommen, so ist wohl auch die Neugier der Erwachsenen ein wesentliches Motiv. Wir verschweigen solche peinlichen Vorkommnisse nur allzu gern, um lieber vom allmählichen Erwachen der kindlichen Sexualität zu schwatzen. Es ist eine gegenseitige Faszination, und in meinen Beispielen war die Sexualität des Kindes noch schlummernd.
Das sind Beispiele für eine verfehlte Anpassung der Anima und einer Ablösung von der Mutterimago. Die Anima bildet sich aus der Mutterimago nur zum Teil heraus, der andere Teil stammt aus Lebenserfahrungen und angeborenen Dispositionen.
» Ich suche den Grund infantiler Neurosen in
» Der Archetypus im ruhenden, nicht proji-
allererster Linie bei der Mutter, indem ich aus Erfahrung weiß, dass erstens das Kind sich viel wahrscheinlicher normal entwickelt als neurotisch, und dass zweitens in weitaus den meisten
zierten Zustand hat keine bestimmbare Form, sondern ist ein formal unbestimmbares Gebilde, dem aber die Möglichkeit zukommt, vermöge der Projektion in bestimmten Formen zu erscheinen. (9/I, 142)
«
«
302
Kapitel 16 • Mann und Frau; Anima und Animus
Der Archetypus an sich ist lediglich ein Bereitschaftssystem, das erst durch die Erfahrung einen bestimmten Inhalt und eine Form erhält. Er ist nicht ein bestimmter Typus, keine bestimmte Form, sondern besteht aus »psychischen Elementen von unbestimmt schillernder Vielgestaltigkeit, welche menschliches Vorstellungsvermögen schlechthin übersteigt.« (9/I, 143)
Kürzlich hörte ich folgenden Traum von einem über 60-jährigen Mann: »Ich komme in eine große Halle voller alter Gegenstände. Ich bin ganz begeistert davon. Es sind alles liebgewordene Dinge, Sachen von Hand mit viel Geschick und Liebe gefertigt, alte Gebrauchsgegenstände, wie man sie früher hatte, roh gezimmert, vom Gebrauch leicht abgenutzt. Ich möchte mich darin stundenlang umtun!«
» In der Projektion hat die Anima stets weibliche Form mit bestimmten Eigenschaften. Diese empirische Feststellung will aber keineswegs bedeuten, dass der Archetypus an sich ebenso beschaffen sei. (9/I, 142)
«
Der Archetypus an sich ist daher unanschaulich. Das ist das, was vererbt wird. »Gefühlt«, wenn man so sagen darf, wird er durch die Erfahrung, und dann nennt man es archetypische Vorstellung. Diese ist zeitlich und kulturell begrenzt, der Archetypus dagegen universal und ewig.
» Es handelt sich also nicht um vererbte Vorstellungen, sondern um vererbte Möglichkeiten von Vorstellungen. (9/I, 136)
«
Wir reden meistens vom Archetypus, wenn wir archetypische Vorstellungen meinen, weil es aus dem Zusammenhang klar ist, dass nicht der Archetypus an sich gemeint sein kann (zum Archetypus: 7 Kap. 23). Doch zurück zum Archetyp des Weiblichen:
16
» Der Begriff der »Anima« ist ein reiner Erfahrungsbegriff, der nicht mehr bezweckt als einer Gruppe von verwandten oder analogen Erscheinungen einen Namen zu geben. (9/I, 114)
«
Anima heißt Seele. Wir verwenden diesen geläufigen Begriff im Alltag, ohne dass wir genau anzugeben wüssten, was wir damit meinen, denn um die Seele verstehen zu können, müssen wir die ganze Welt einbeziehen.
Mit dem Traum war ein tiefes Gefühl von Befriedigung und Glück verbunden, keine eigentliche Handlung, und darum glaubte der Träumer, der Traum sei unbedeutend. Es stellt sich die grundsätzliche Frage, ob es überhaupt »unbedeutende« Träume gibt? Dieser Traum ist jedenfalls nicht unbedeutend! Vielleicht gibt es bloß »unbedeutende« Leute, die die Träume nicht verstehen. Der Traum stellt, und die Faszination des Träumers weist schon darauf hin, das Schatzhaus (gazophylacium) der Seele dar mit ihrer exquisit historischen Dimension. Jemand, der den Wert nicht erkennt, würde es vielleicht als »alten Plunder« bezeichnen. > Wer tiefer schaut, merkt, dass in der Seele alle jenen Bilder und Formen aufbewahrt sind, welche uns die Erkenntnis der Objekte überhaupt erst ermöglichen.
Wir glauben naiverweise die Welt erkennen zu können. Doch da ist eine große Kluft zwischen der äußeren Welt der physischen Objekte und dem psychischen Aufnahmesystem. Beide sind so grundverschieden, dass eine Übersetzung im Sinne einer Gleichheit unmöglich erscheint. Die Seele kommt uns da mit ihren Bildern zuhilfe und entwirft für uns ein Bild der Welt.
» Der seelische Faktor muss daher ex hypothesi vorderhand als eine autonome Wirklichkeit rätselhaften Charakters gelten, und zwar darum in
16
303 16.1 • Anima
erster Linie, weil er aller tatsächlichen Erfahrung nach als von physico-chemischen Vorgängen wesensverschieden erscheint. (9/I, 118)
«
Die Anima ist daher, wie oben erwähnt, die Māyā, die Spinnerin, die uns eine Welt vorgaukelt, in welcher wir nicht zu unterscheiden vermögen, was Illusion und was Wirklichkeit ist. Die Anima erscheint daher auch in vielen illusionären Gestalten, als zauberisches Wesen, berückend, verführerisch wie Nixen, Sirenen, Melusinen, Waldfrauen, Huldinnen und Erlkönigstöchter, Lamien und Succuben, welche Jünglinge betören und ihnen das Leben aussaugen (9/I, 53).
» Gelegentlich verursacht sie Faszinationen, die es mit der besten Behexung aufnehmen können, oder Angstzustände, die sich von keiner Teufelserscheinung übertrumpfen lassen. Sie ist ein neckisches Wesen, das in vielen Verwandlungen und Verkleidungen uns über den Weg läuft, uns allerhand Streiche spielt, selige und unselige Täuschungen, Depressionen und Ekstasen, unbeherrschte Affekte usw. verursacht. Auch im Zustand vernünftiger Introjektion hat die Nixe ihr Schalkwesen nicht abgelegt. Die Hexe hat nicht aufgehört, ihre schmutzigen Liebes- und Todestränke zu mischen, aber ihr magisches Gift ist zur Intrige und Selbsttäuschung verfeinert, unsichtbar zwar, aber nicht weniger gefährlich. (9/I, 54)
«
Aus dem Gesagten mag man erkennen, dass es deutlich sichtbare Äußerungen der Anima gibt, dass ihre Gestalt jedoch so proteushaft wandelbar ist, dass es schwerfällt, sie zu fassen.
» Ist die Auseinandersetzung mit dem Schatten das Gesellenstück, so ist diejenige mit der Anima das Meisterstück. Denn die Beziehung zur Anima ist wiederum eine Mutprobe und ein Feuerordal für die geistigen und moralischen Kräfte des Mannes. (9/I, 61)
«
Die Anima widerstrebt ausgesprochen einer Introjektion. Sie entzündet ihre Leidenschaften an der Außenwelt und will den Ursprung à tout prix außen behalten. Denn das ist wiederum eines ihrer Ablenkungs- und Täuschungsmanöver. > Die Anima ist ein Naturwesen, das noch von keiner Zivilisation beleckt worden ist.
Je rationaler der Mann lebt, desto irrationaler benimmt sich die Anima. Umso mehr versucht sie der Mann zu unterdrücken, damit sie ihm seinen wohlgeordneten Alltag nicht durcheinander bringt.
» Seele ist das Lebendige im Menschen, das aus sich selbst Lebende und Lebenverursachende. […] Die Seele verführt die nicht lebenwollende Trägheit des Stoffes mit List und spielerischer Täuschung zum Leben. (9/I, 56)
«
Man sollte eigentlich erwarten, die Seele empfinge mit Begeisterung, es könnte einem nichts Besseres begegnen, als dass das Leben einem entgegenkommt. Aber:
» … Seele zu haben, ist das Wagnis des Lebens, denn die Seele ist ein lebenspendender Dämon, der sein elfisches Spiel unterhalb und oberhalb der menschlichen Existenz spielt. (9/I, 56)
«
Das Leben ist ein Wagnis; das weiß niemand besser als der Sohn, der sich nicht aus dem Bannkreis der Mutter hinauswagt. Er realisiert, dass was immer er im Leben tut, nichts ungeschehen gemacht werden kann und nichts umkehrbar ist. Jeder Unsinn und jede Sackgasse, in welche er gerät, spiegelt ihm sein eigenes Wesen.
» Für den Sohn steckt in der Übermacht der Mutter die Anima, welche manchmal zeitlebens eine sentimentale Bindung hinterlässt und das
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Kapitel 16 • Mann und Frau; Anima und Animus
Schicksal des Mannes aufs schwerste beeinträchtigt oder umgekehrt seinen Mut zu kühnsten Taten beflügelt. (9/I, 61)
nen, Impulsen und was es sonst noch an psychischen Spontaneitäten gibt. Sie ist ein Lebendes aus sich, das uns Leben macht. (9/I, 57)
Daher ist es allesentscheidend für den Sohn, zu seiner eigenen Anima zu finden und sie aus sentimentalen Bindungen zu lösen. Denn:
» Mit diesem lateinischen Ausdruck soll etwas
«
» Die Anima tritt uns nicht mehr als Göttin entgegen, sondern unter Umständen als unser allerpersönlichstes Missverständnis oder unser bestes Wagnis. (9/I, 62)
«
Als Naturwesen ist sie, wie die Alchemisten sagen, »utriusque capax« (beiderlei fähig).
» Indem die Anima das Leben will, will sie Gutes und Böses. […] Alles, was die Anima berührt, wird numinos, das heißt unbedingt, gefährlich, tabuiert, magisch. (9/I, 59)
«
Der rational bestimmte Mann sucht sich daher von diesem zweideutigen Wesen fernzuhalten, sehr zu seinem eigenen Schaden.
» (Die Anima) liefert die überzeugenden Gründe gegen die Beschäftigung mit dem Unbewussten. (9/I, 59)
«
Jetzt wird auch verständlich, weshalb der Professor der Philosophie in unserem Beispiel (7 Abschn. 3.2) nicht verstehen konnte, was mit der Anima gemeint ist.
16
» Die Anima ist keine dogmatische Seele, keine anima rationalis, welche ein philosophischer Begriff ist, sondern ein natürlicher Archetypus, der in befriedigender Weise alle Aussagen des Unbewussten, des primitiven Geistes, der Sprachund Religionsgeschichte subsumiert. […] Sie ist immer das Àpriori von Stimmungen, Reaktio-
«
gekennzeichnet sein, das man mit keinem christlich-dogmatischen und auch mit keinem der bisherigen philosophischen Seelenbegriffe verwechseln möge. (9/I, 119)
«
Die Anima ist kein intellektueller Begriff, sondern eine innere Erfahrung. Wer diese nicht hat, kann nicht verstehen, was damit gemeint ist.
» Die Anima ist eine bipolare Figur wie die »übergeordnete Persönlichkeit« und kann daher bald positiv, bald negativ erscheinen; bald alt, bald jung; bald Mutter, bald Mädchen; bald gütige Fee, bald Hexe; bald Heilige, bald Hure. […] Sie hat auch immer eine merkwürdige Beziehung zur Zeit. (9/I, 356)
«
Im zitierten Traum ist die unbestimmte Beziehung zur Zeit ganz deutlich. Jung zitiert in diesem Zusammenhang gern das Gedicht Goethes »Warum gabst du uns die tiefen Blicke?« an Frau von Stein: »Ach, du warst in abgelebten Zeiten meine Schwester oder meine Frau« [11]. Sie hat einen eminent historischen Charakter.
» Dem Knaben erscheint eine bestimmte Animaform in der Mutter und verleiht dieser den Schimmer der Macht und Überlegenheit oder eine dämonische Aura von womöglich noch größerer Faszination. Infolge der Ambivalenz kann die Projektion aber auch gänzlich negativer Natur sein. Ein großer Teil der Angst, den das weibliche Geschlecht den Männern einflößt, beruht auf der Projektion des Animabildes. (9/I, 357)
«
»
Weisheit und Narrheit erscheinen im elfischen Wesen nicht nur als eines und dasselbe, sondern sind eines und dasselbe, solange sie
305 16.2 • Animus
durch die Anima dargestellt werden. Das Leben ist närrisch und bedeutend. Und wenn über das eine nicht gelacht und über das andere nicht spekuliert wird, dann ist das Leben banal; dann hat es kleinstes Ausmaß. […] Bedeutung hat nur das Unverständliche. […] So sind die Anima und damit das Leben insofern bedeutungslos, als sie keine Deutung anbieten. Sie haben aber ein deutbares Wesen, denn in allem Chaos ist Kosmos und in aller Unordnung geheime Ordnung, in aller Willkür stetiges Gesetz, denn alles Wirkende beruht auf dem Gegensatz. Um dies zu erkennen, bedarf es des diskriminierenden Menschenverstandes, der alles in antinomische Urteile auflöst. […] Man ist in ziellosem Erleben verstrickt und verwirrt, und das Urteil mit allen seinen Kategorien erweist sich als machtlos. (9/I, 66)
«
Es wird jetzt klar, wieso die Auseinandersetzung mit der Anima das Meisterstück ist: Diese Antinomie, diese Paradoxie, dieses Ja und Nein, richtig und falsch zugleich bedarf einer festen bewussten Haltung, die sich durch Widersprüche nicht verunsichern lässt und fest in der Realität verankert ist, seine eigenen Qualitäten und Grenzen kennt. Alle bisherigen Maßstäbe versagen, eigenes Können gilt nicht mehr, der völlige moralische Zusammenbruch, bis sich aus der bedeutungsschweren Sinnlosigkeit der in der Anima verborgene Sinn zu erkennen gibt.
»
Es ist der Archetypus des Sinnes, wie die Anima den Archetypus des Lebens schlechthin darstellt. (9/I, 66)
«
Das ist dann die »hohe Schule« der analytischen Psychologie, die schließlich zur Einheit der Persönlichkeit, zum Selbst führt.
»
Die Frau hat keine Anima, sondern einen Animus. Die Anima hat einen erotisch-emotionalen, der Animus einen räsonierenden Charakter. (17, 338)
«
16.2
16
Animus
Wir kommen nun zum männlichen Pendant des Unbewussten in der Frau. Diese männliche Seite entsteht ebenfalls in der Entwicklung, indem sich die werdende Frau einseitig mit ihren weiblichen Eigenschaften identifiziert, sodass alles Männliche dem Unbewussten anheimfällt.
» Wie die Anima Launen, so bringt der Animus Meinungen hervor. (7, 331) « Ähnlich der Anima kann man den Animus verstehen als
» … eine Art Niederschlag aller Erfahrungen der weiblichen Ahnen am Mann – und nicht nur das: er ist auch ein zeugendes schöpferisches Wesen, allerdings nicht in der Form des männlichen Schaffens, sondern er bringt etwas hervor, das man einen logos spermatikos, ein zeugendes Wort, nennen könnte. (7, 336)
«
Diese schöpferischen Keime können das Weibliche des Mannes befruchten, zur »femme inspiratrice«, sofern die Frau nicht dem Machtprinzip verfällt.
» Eine vom Animus besessene Frau ist immer in Gefahr, ihre Weiblichkeit, ihre angepasste weibliche Persona zu verlieren, genau wie ein Mann unter den gleichen Umständen Effeminiertheit riskiert. Solche psychischen Geschlechtsverwandlungen rühren einzig und allein daher, dass eine Funktion, die nach innen gehört, nach außen gekehrt wird. (7, 337)
«
Genauso wie die Anima die Seele des Mannes, ist der Animus der Geist der Frau, die Beziehung zum Unbewussten.
» Der autonome Komplex der Anima wie des Animus ist im Grunde genommen eine psychologische Funktion, die nur dank ihrer Auto-
306
Kapitel 16 • Mann und Frau; Anima und Animus
nomie und Unentwickeltheit Persönlichkeit usurpiert. […] Ihre Personifikation wird bereits durch die Möglichkeit zerstört, durch Bewusstmachen zu Brücken gemacht zu werden, die ins Unbewusste hinüberführen sollen. […] Sobald eine genügende Bekanntschaft des Bewusstseins mit den in der Anima abgespiegelten Vorgängen des Unbewussten vorhanden ist, wird die Anima auch wirklich als bloße Funktion empfunden. (7, 339)
«
» Niemand kann diese Dinge wirklich begreifen, der sie nicht selber erfahren hat. (7, 340) « Das sagt Jung, weil er oft wegen dieses sehr emotionalen Themas angegriffen und kritisiert wurde, von Leuten, welche völlig ahnungslos waren. Auch heute sind diese Dinge selbst in Jungschen Kreisen sehr umstritten unter Analytikern, welche nicht genügend eigene Analyse hatten. Ursprünglich beruht das Denken auf der Selbstoffenbarung des Unbewussten und wurde als eine Manifestation einer außerbewussten Instanz empfunden (z. B. Inspiration = »Einhauchung«).
» Werden Gedanken, insbesondere Urteile und Erkenntnisse, durch unbewusste Tätigkeit dem Bewusstsein übermittelt, so wird hierzu oft merklich der Archetypus einer gewissen weiblichen Gestalt, nämlich der Anima, der Mutter-Geliebten, verwendet. (11, 240)
«
16
Hier erhält die Anima eine geistige Dimension, während sie primär Emotion ist.
» Affekte haben autonomen Charakter, deshalb sind die meisten Menschen ihnen unterworfen. Affekte aber sind abgrenzbare Inhalte des Bewusstseins, Teile der Persönlichkeit. Als Persönlichkeitsteile haben sie Persönlichkeitscharakter, sie können daher leicht personifiziert werden und werden es auch noch heutzutage. (13, 58)
«
Es gibt offensichtlich verschiedene Stufen der beiden hier diskutierten Archetypen. Der affektive Aspekt scheint der primitivste, der Geistige der höchste. Jung erwähnt an der oben genannten Stelle, dass der Heilige Geist in der Trinität Tendenz zur weiblichen Natur hat. Doch nicht nur in der Gnosis ist die Sophia weiblich und in der mittelalterlichen Alchemie die sapientia, sondern schon in der jüdisch-christlichen Ostkirche war »die Heilige Geist« weiblich, was durchaus zusammenpasst mit ihrem Charakter der Inspiration. Damit bezeichnen wir eine Quelle rettender, hilfreicher oder schöpferischer Gedanken, die nicht aus dem Bewusstsein stammen, ja die oft helfen, ein Steckenbleiben im Bewusstsein zu überwinden. Wir werden später auf die verschiedenen Stufen der Animaentwicklung stoßen, welche für die Beziehung der Geschlechter so wesentlich ist.
» So haben Anima und Animus Persönlichkeitscharakter, was man nicht anders als mit dem Worte »Seele« ausdrücken kann. (10, 83)
«
Das führt dazu, dass sie als autonome unbewusste Gestalten die Tendenz haben, das Ich zu verdrängen. Jeder Komplex hat diese Tendenz, sich an die Stelle des Ich-Komplexes zu setzen. Das geschieht jedesmal, wenn das Ich durch eine Emotion ein »abaissement du niveau mental«, also eine Schwächung erfährt. Dann wird es zur Seite gedrückt und der unbewusste Komplex spricht und handelt. Im Grunde ist die Person in diesem Zustand vermindert oder ganz unzurechnungsfähig. Das kann man nur so kühl und sachlich von außen beurteilen wegen der irrationalen Argumentation und Handlung. Leider sieht das Ganze völlig anders aus, wenn man selber »in der Tinte sitzt«. Dann sind alle Perspektiven verzerrt und verschoben und das Recht aufgehoben.
307 16.2 • Animus
» Wenn sich Animus und Anima begegnen, zückt der Animus das Schwert seiner Macht, und die Anima spritzt das Gift ihrer Täuschung und Verführung. (9/2, 30)
«
» In positiver wie negativer Hinsicht ist die Anima-Animus-Beziehung stets »animos«, das heißt emotional und daher kollektiv. (9/2, 31)
«
Eine sachliche Auseinandersetzung zwischen den beiden ist meist darum nicht möglich, weil heftigste Emotionen die Vernunft trüben. Die Diskussion wird völlig irrational, denn der Animus ist gar nicht an einer Wahrheitsfindung, sondern nur am Rechthaben interessiert. Zudem werden von beiden Seiten nur kollektive Gemeinplätze vorgebracht. Marie-Louise von Franz riet solchen Streithähnen, sie sollten ihr Gespräch auf Tonband festhalten und es später in Ruhe wieder anhören, um darüber entsetzt zu sein, wie eine Diskussion der anderen gleicht und welchen Unsinn man in diesen Momenten verzapft! Die Undiskutierbarkeit solcher Launen und Meinungen lassen sich aus der Eigenschaft des Archetypus erklären.
16
wieder Oberhand gewonnen hat. In derartigen Auseinandersetzungen wird sehr viel an Werten zerbrochen. Kein Wunder, wenn schließlich eine Ehe daran zerbricht. Ich habe einen Freund, der seine Freundin, wenn sie wieder einmal vom Animus geritten ist, eiskalt gegen die Wand rennen lässt: »Bitte schön!« Ich finde das auch keine gute Reaktion, weil die Frau die emotionale Beteiligung des Mannes braucht als Beweis seiner Liebe. Doch das ist wiederum nur möglich, wenn sich der Mann durch die Affekte nicht überschwemmen lässt, sondern die Kontrolle darüber behält. Die Sticheleien des Animus wollen ihn aber oft dazu verführen, dass er seine Kontrolle verliert. Er hat dann den Triumph, dass der Mann ebenfalls eine moralische Niederlage erlitten hat.
» Mit Animus und Anima verhält es sich keineswegs so einfach (wie mit der Einsicht des Schattens); erstens gibt es keine moralische Erziehung in dieser Hinsicht, und zweitens hat man sich meist mit dem Rechthaben begnügt und sich lieber gegenseitig verunglimpft (wenn nicht Schlimmeres!), als dass man die Projektion anerkannt hätte. (9/2, 35)
«
»
Die notorische Unbeeinflussbarkeit (von irrationalen Launen und Meinungen) dürfte in der Hauptsache darauf beruhen, dass vom Archetypus eine starke suggestive Wirkung ausgeht. Nicht selten hat dabei das Ich ein leises Gefühl der moralischen Niederlage und gebärdet sich dann umso abweisender, trotziger und rechthaberischer, womit es auf dem Weg des circulus vitiosus sein Minderwertigkeitsgefühl noch erhöht. (9/2, 34)
«
Nach kürzester Zeit endet die Diskussion zwischen Animus und Anima in einer Sackgasse, welche auch physische Gewalt heißen kann. Auf jeden Fall gelangt man nicht an ein einvernehmliches Ende, sodass es meist besser ist, man beendet die Spiegelfechterei, trennt sich, bis sich die Emotionen abgekühlt haben und die Vernunft
Aus dem Teufelskreis kommt man nur heraus, wenn man die Projektionen erkennt, welche sich darin eingeschlichen haben. Das ist aber darum so schwierig einzusehen, weil man ja à tout prix rechthaben und den Gegner zum Urheber der Misere erklären will. Da erweist es sich dann, ob mindestens einer der Kontrahenten die moralische Integrität besitzt, seinen Beitrag zum Debakel einzusehen.
» Öfters umgibt (die beiden Archetypen) eine Atmosphäre von Empfindlichkeit, Unberührbarkeit, Geheimnis, peinlicher Intimität und sogar von Unbedingtheit. (9/2, 53)
«
Alles das verhindert, dass man sich freundschaftlich die Hand reichen könnte. Man hört darum
308
Kapitel 16 • Mann und Frau; Anima und Animus
1 Mann
Frau 5
6 3
2
Anima
. Abb. 16.1
4
Animus
Unbewusste Ebene
Dialogschema Mann und Frau (14/II, 279)
selten eine Predigt über das Wort bei Lukas 12, 49–52: (Jesus sagt:) »Ein Feuer auf die Erde zu bringen, bin ich gekommen, und wie sehr wünschte ich, es wäre schon entfacht! […] Meint ihr, dass ich gekommen sei, Frieden auf der Erde zu schaffen? Nein, sage ich euch, sondern Entzweiung. Denn von jetzt an werden fünf in einem Haus entzweit sein, drei mit zweien und zwei mit dreien« [10]. Der Sinn in der ewigen Feindschaft zwischen Animus und Anima ist die Lösung aus der »participation mystique«. Da der Mann, wie oben zitiert, oft einen minderwertigen Eros hat, möchte er sich in der Ehe bequem zurücklehnen und die Frau für den Eros sorgen lassen. Dabei wird ihm nicht selten durch den Animus seiner Xanthippe ein Strich durch die Rechnung gemacht.
» An der schwachen Seite des Mannes ist die Frau sogar an der richtigen und sinngemäßen Stelle. (9/I, 440)
«
16
Bewusste Ebene
Sie sorgt dafür, dass sich die zurückgebliebene Anima entwickeln muss. > Viele Schwierigkeiten im Dialog zwischen Mann und Frau stammen daher, dass man nicht versteht, wer mit wem redet.
Da hilft das Schema (. Abb. 16.1), das Jung aus der Alchemie abgeleitet hat. In der Regel nehmen wir an, dass die bewusst männliche zur bewussten weiblichen Person spricht (1). In unkomplizierten Fällen ist das so.
Der Mann ist innerlich auf seine Anima (2) bezogen, wie die Frau auf ihren Animus (3). In einem Streit fällt der Mann in seine Anima und die Frau in ihren Animus, welche dann miteinander händeln (4). Es kann aber auch vorkommen, dass es ein Mann mit einer Frau zu tun hat, die im Animus ist (5). Dann stehen sich im Turnier zwei Bewaffnete gegenüber, die sich messen wollen. Es kann jedoch auch das Umgekehrte eintreten, dass es die Frau mit einem Mann in der Anima zu tun hat (6). In den drei letztgenannten Fällen ist eine vernünftige Auseinandersetzung meist nicht möglich, weil mindestens der eine Kontrahent vom Unbewussten bestimmt ist. Dieses Schema ist oft hilfreich, wenn sich Schwierigkeiten zwischen Mann und Frau ergeben. Sobald man versteht, wo die schwache Seite ist, lässt sich der Knäuel oft entwirren, denn wo immer auch nur eine Seite im Unbewussten ist, entstehen Missverständnisse, in denen es heißt: »Das habe ich nie gesagt!«, obwohl man nachweislich solche Dinge gesagt hat. Deshalb ist der Dialog unfruchtbar. Um aus diesem Dilemma herauszufinden, müssen Anima und Animus zuerst erzogen und dann entwickelt werden.
» Es handelt sich um vier Stufen des heterosexuellen Eros, respektive des Animabildes, und damit auch um vier Stufen der Kultur des Eros. Die erste Stufe des Chawwa, Eva, Erde ist bloß biologisch, wo Weib = Mutter nichts darstellt als das Zubefruchtende. Die zweite Stufe betrifft einen noch vorherrschend sexuellen Eros, aber
309 16.2 • Animus
auf ästhetischem und romantischem Niveau, wo die Frau schon einige individuelle Werte besitzt, Helena von Troja als eine Animafigur. Die dritte Stufe erhöht den Eros zur höchsten Wertschätzung und zur religiösen Devotion und vergeistigt ihn damit zur Maria als Personifikation der himmlischen, der christlich-religiösen Beziehung. Im Gegensatz zur Chawwa handelt es sich um geistige Mutterschaft. Die vierte Stufe endlich verdeutlicht etwas, das unerwarteterweise die kaum zu überbietende dritte Stufe noch überschreitet: Es ist die Sapientia. Worin vermöchte wohl die Weisheit das Heiligste und Reinste zu übertreffen? Vermutlich nur in der Wahrheit, dass etwas weniger nicht selten mehr bedeutet. Diese Stufe stellt eine Vergeistigung der Helena, also des Eros schlechthin dar (Sulamitin im Hohenlied). (16, 361)
«
Es gäbe dazu noch sehr viel zu sagen. Man wird sich wohl aus der kurzen Beschreibung einen Reim machen können, wenn man sie mit der eigenen Erfahrung konfrontiert. Es nützt jedoch nicht zur Entwicklung der eigenen Anima, bloß um diese Stufen zu wissen. Lediglich die eigene Arbeit an der Differenzierung bringt Gewinn.
» Das Selbst des matriarchalen Mannes ist noch verhüllt in seinem unbewussten Weiblichen, das heißt unbewusst, wie man auch heutzutage bei allen männlichen Mutterkomplexen sehen kann. (Im Navajomythus von Arizona ist es die Frau aus Türkis, die sich verjüngt und verwandelt,) die als matriarchale Frau jene Animafigur ist, welche die Mutterkomplexe aller Männer einfängt und diese damit ihrer Selbständigkeit beraubt (wie Omphale den Herakles). (13, 131)
«
Die Türkisfrau im Mythus ist eine typische »Animafrau«, eine Frau, welche alle Animaprojektionen der Männer mit Mutterkomplex auf sich zieht. Sie ist so schillernd und wandelbar, dass sie keine eigene feste Statur hat und deshalb als Projektionsschirm für die verschiedensten An-
16
imabilder taugt. Die Gefahr für eine derartige Frau ist, dass sie spürt, welche Macht sie über die Männer hat. Sie merkt gar nicht, dass nicht sie persönlich geliebt wird, sondern das auf sie projizierte Götterbild. Ist sie sensibel, so spürt sie, dass ein Flecken im Herzen leer bleibt. Denn Projektion ist keine Liebe, sondern nur Faszination durch den Archetypus.
» (Wenn der Mann wirklich wagen will, der Frau entgegenzukommen,) so wird er sich gezwungen sehen, ein Stück Weiblichkeit zu entwickeln, das heißt psychologisch und erotisch sehend zu werden. (10, 259)
«
Das tönt einfach und ist so schwierig, obwohl im Unbewussten des Mannes alles bereitläge. Sein Widerstand besteht in der Furcht, seinen bewussten Standpunkt zu verlieren. Das ist eben das, was vielen Männern durch die Animafrau passiert (Circe in der Odyssee).
» Denn die Frau steht immer dort, wo der Mann seinen Schatten hat, weshalb er sie nur allzu leicht mit diesem verwechselt, und wenn er dieses Missverständnis wieder gutmachen will, so überschätzt er die Frau und traut ihr Desiderata zu. (10, 236)
«
Das schreibt Jung im ersten Abschnitt seines Aufsatzes »Die Frau in Europa« (1927). Es ist daher fast unmöglich für einen Mann, etwas Objektives über die Frau auszumachen. Nolens volens ist er mit seiner eigenen Psychologie im Problem gefangen. Er hat keinen Standpunkt außerhalb, von welchem aus er die Dinge ruhig sachlich beschreiben könnte. Seine persönliche Beziehung zum Weiblichen wird seiner Optik den Stempel aufdrücken. Man kann sich fragen, ob es überhaupt nötig sei, das Weibliche objektiv wissenschaftlich zu beschreiben? Denn die Anima drückt unbedingtes Leben aus (14/I, 307), und wenn man sich auf ihre Seite stellt, so ist die eigene Einstellung wie bei Jung heilend.
310
Kapitel 16 • Mann und Frau; Anima und Animus
» Es ist ein Kennzeichen der Frau, dass sie alles aus Liebe zu einem Menschen tun kann. (10, 143)
«
» Das ganze Wesen des Mannes setzt die Frau
Diese Einstellung habe ich als Assistent in der Dermatologischen Klinik beobachten können. Als mein früherer Chef zum Leiter der Klinik gewählt wurde, brachte er seine Praxishilfe mit. Er war verheiratet. Sie sorgt wie ein hilfreicher Geist im Stillen und ohne aufzufallen für die tausend Kleinigkeiten, die im Alltag nicht untergehen dürfen. Man merkte sofort, dass sie das aus Liebe zu ihm tat, ohne dass man eine sexuelle Beziehung vermutet hätte. Ihre Haltung war keineswegs devot, sondern von einem gesunden Selbstbewusstsein geprägt. Ich habe nie mehr etwas Ähnliches in meinem ganzen Leben gesehen.
» Die Frau weiß in zunehmendem Maße, dass nur die Liebe ihr völligere Gestalt gibt, so wie der Mann zu ahnen beginnt, dass nur der Geist seinem Leben höchsten Sinn verleiht, und beide suchen im Grunde die seelische Beziehung zueinander, weil die Liebe des Geistes und der Geist der Liebe zur Vollendung bedürfen. (10, 269)
«
Das zeigt, dass sich Mann und Frau im Grunde gegenseitig ergänzen, wie sich im Mythus des Platon die beiden Hälften des runden Urmenschen ständig suchen. Jedoch nicht, weil sie ohne einander nicht leben könnten, sondern weil sie sich komplementieren.
16
wenn sie genügend Freiraum hat. Dafür braucht es die Erfahrung eines Lebensalters.
»
Beziehung ist nur möglich bei seelischer Distanz, wie Moralität auch immer Freiheit voraussetzt. (10, 273)
«
Der junge Erwachsene sucht in der Beziehung Verschmelzung und Nähe (»ein Herz und eine Seele«). Der Mensch in der zweiten Lebenshälfte hat realisiert, dass Beziehung nur gedeihen kann,
voraus, sowohl körperlich wie geistig. […] Die Form der Welt, in die er geboren wird, ist ihm bereits als virtuelles Bild eingeboren. […] Es besteht ein ererbtes kollektives Bild der Frau im Unbewussten des Mannes, mit dessen Hilfe er das Wesen der Frau erfasst. (7, 300–301)
«
Selbstverständlich ist das Bild der Frau selber nicht angeboren, wie Jung das noch 1934 formuliert hat, sondern die Disposition dazu. Diese wird dann durch die Erfahrungen mit dem Bild der Frau ausgestattet.
» Von rein psychologischen Erwägungen ausgehend habe ich […] das männliche Bewusstsein mit dem Begriff des Logos und das weibliche mit dem des Eros zu kennzeichnen versucht. Ich habe dabei unter »Logos« das Unterscheiden, Urteilen und Erkennen verstanden und unter »Eros« das In-Beziehung-Setzen. Beide Begriffe galten mir als intuitive Anschauungen, welche nicht genau oder erschöpfend definiert werden können, was vom wissenschaftlichen Standpunkt aus zwar bedauerlich, vom praktischen aus dagegen eher wertvoll war, da beide Begriffe ein ebenso schwer zu definierendes Erfahrungsgebiet einigermaßen kennzeichneten. (14/I, 218)
«
Jung verwendet lieber anschauliche als abstrakte
Begriffe, weil jene zum Herzen und zum Unbewussten, diese jedoch nur zum Verstand sprechen. Weil Psychologie keine Philosophie ist, lassen sich ihre Gebiete oft eher umschreiben als definieren.
»
Das weibliche Bewusstsein leistet sich normalerweise so viel Dunkelheit wie Licht, sodass, wie das erstere nicht ganz hell, das letztere, nämlich das Unbewusste, nicht ganz dunkel sein kann. (14/I, 223)
«
311 Literatur
> Das Verhältnis von Bewusstsein zum Unbewussten ist beim Mann ein absoluter Gegensatz wie Licht und Finsternis, bei der Frau dagegen bloß ein gradueller Unterschied von mehr oder weniger.
Literatur Primärliteratur (Quellen) 1 Jaffé A (Hrsg.) (1971) Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G. Jung. (Erstausgabe: Rascher, Zürich Stuttgart 1962). Walter, Olten 2 Jung CG (1981) Anima und Animus. In: Die Beziehungen zwischen dem Ich und dem Unbewussten. GW 7, S. 197–219 3 Jung CG (1983) Die Syzygie [= Paarungsmotiv]: Anima und Animus. In: Aion. Beiträge zur Symbolik des Selbst. GW 9/II, S. 20–31 4 Jung CG (1984) Die Konjunktion, in: Mysterium coniunctionis. GW 14/2, S. 228–331 5 Jung CG (1971) Die Frau in Europa. Europäische Revue III/7, 21929, 1971 481–499 6 Jung CG (1982) Die Ehe als psychologische Beziehung. In: Keyserling H (Hrsg.) Das Ehebuch, S. 294–307, 1925, 21931, 1972, 41982. GW 17, S. 213–227 Sekundärliteratur 7 Beauvoir S de (1951) Le deuxième sexe. 1949. dt. Das andere Geschlecht. Rowohlt, Reinbek 8 Ulanov AB (1971) The feminine in Jungian psychology and christian theology. Northwestern University Press, Evanston 9 Lévy-Bruhl L (1926/59) Les functions mentales dans les sociétes inférieures (1919), dt. Das Denken der Naturvölker (1926). La menalité primitive (1921), dt. Die geistige Welt der Primitiven (1959) 10 Die Heilige Schrift des Alten und des Neuen Testaments. Verlag der Zürcher Bibel, Zürich, 1982 11 Goethe JW von (1977) Sämtliche Werke, Bd. 2. Sämtliche Gedichte, Zweiter Teil: Gedichte aus dem Nachlass. Artemis, Zürich 12 Ribi A (2005) Eros und Abendland. Geistesgeschichte der Beziehungsfunktion. Peter Lang, Bern
16
313
Projektion 17.1
Archaische Identität – 314
17.2
Aufklärung – 315
17.3
Existenz des Unbewussten – 315
17.4
Rücknahme von Projektionen (Individuation) – 321 Literatur – 322
A. Ribi, Neurose – an der Grenze zwischen krank und gesund, DOI 10.1007/978-3-642-16148-3_17, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
17
314
Kapitel 17 • Projektion
Nicht nur in der Beziehung der Geschlechter zueinander, nein, im ganzen Leben spielen Projektionen, das Gespinst der Māyā, eine große Rolle. Und die Bewusstwerdung geht dahin, sich daraus zu befreien und zu seiner eigentlichen Persönlichkeit zu kommen (Individuation). Dabei gibt es verschiedene Stufen der Bewusstwerdung. Diese sind nicht nur für das Verständnis des Entwicklungsprozesses des Bewusstseins wichtig, sondern ebenso sehr dafür, dass nicht alle Anteile der Persönlichkeit das gleiche Niveau erreicht haben.
Wie der Leser in 7 Kap. 16 bemerkt haben wird, ist die Beziehung der Geschlechter durch Projektionen unendlich kompliziert. Dabei wären diese gerade die Kompensation der Einseitigkeit des Partners. Und meistens bezichtigen sich beide bei einem Konflikt gegenseitig der Projektion. Wohl noch viel häufiger aber kommt es vor, dass man mit einem Partner ein Leben lang zusammenlebt, den man eigentlich gar nicht kennt, über den man zwar jede Menge von Illusionen hat, aber keine bewusste Anschauung. Um nun zur Individuation zu gelangen, gibt es verschiedene Stufen der Bewusstwerdung.
17.1
17
Archaische Identität
> Prinzipiell gilt, dass das, was unbewusst ist, in einem archaischen Zustand, dem Naturzustand verbleibt. Nur das, was bewusst mitleben kann, wird entwickelt. Entwicklung heißt Differenzierung, also Aufspaltung in Gegensätze. Der primordiale Zustand ist jener der Einheit, der Ununterschiedenheit oder des Chaos (»massa confusa«) je nach Blickwinkel.
In diesem Zustand sind noch alle Möglichkeiten offen. Er besteht aus lauter schöpferischen Keimen (»logoi spermatikoi«), eine Welt in nuce, in der Nussschale, vor dem ersten Schöpfungstag,
ein unus mundus. Lebt ein Mensch auf dieser Stufe, so lebt er in archaischer Identität, was ein anderer Ausdruck für die wiederholt erwähnte »participation mystique« ist. Sie ist ein Überbleibsel der uranfänglichen psychischen Ununterschiedenheit von Subjekt und Objekt, also des primordialen unbewussten Zustandes (6, 740).
»
Lévy-Bruhl hat mit genialem Griff das, was er »participation mystique« nannte, als das Kennzeichen primitiver Geistesart herausgehoben. Was er bezeichnete, ist einfach der unbestimmt große Rest von Ununterschiedenheit zwischen Subjekt und Objekt, der bei Primitiven noch solche Dimensionen besitzt, dass er dem europäischen Bewusstseinsmenschen unbedingt auffallen muss. Insofern der Unterschied zwischen Subjekt und Objekt nicht bewusst wird, herrscht unbewusste Identität. Dann ist das Unbewusste ins Objekt projiziert [siehe unten!] und das Objekt ins Subjekt introjiziert, das heißt psychologisiert. Dann benehmen sich Tiere und Pflanzen wie Menschen, Menschen sind zugleich Tiere [Werwölfe], und alles ist von Spuk und Göttern belebt. Der Kulturmensch glaubt sich natürlich himmelweit erhaben über diese Dinge. Aber er ist dafür oft für sein ganzes Leben mit den Eltern identisch; er ist identisch mit seinen Affekten und Vorurteilen und behauptet schamlos vom anderen, was er bei sich selber nicht sehen will. Er hat eben auch noch einen Rest von anfänglicher Unbewusstheit, das heißt von Ununterschiedenheit von Subjekt und Objekt. (13, 66)
«
Jung berichtet die Geschichte von einem Eingeborenen in Nigeria, der sich von einem Baum rufen hörte und deswegen aus der Kaserne auszubrechen versuchte, um zum Baum zu eilen. Ich habe in der ethnologischen Literatur den Fall gefunden, dass ein Baum von Zeit zu Zeit ein neues Kleid verlangt, worauf ihm die Ureinwohner ein Band um den Stamm und Gaben an die Wurzeln legen. Für diese Leute ist es ganz selbstverständ-
17
315 17.3 • Existenz des Unbewussten
lich, dass Bäume sich so äußern. Sie leben noch in einer archaischen Identität mit den Bäumen und ihrer Umwelt ganz allgemein.
Man darf streng genommen noch nicht von Projektion sprechen (wie im obigen Zitat!), weil noch keine Zweifel herrschen an der Tatsache der Stimme des Baumes, sie ist ein fragloses Phänomen. Erst in einer zweiten Stufe, wo die Identität von Stimme und Baum nicht mehr selbstverständlich ist, werden die beiden voneinander unterschieden. Der eingetretene Zweifel ist das Kriterium, welches uns berechtigt, von Projektion zu sprechen. In einer dritten Bewusstseinsstufe erhält der projizierte Inhalt eine moralische oder Gefühlsqualität von gut und böse. Es kann ein Dämon aus dem Baum rufen oder ein guter Geist, z. B. der Geist eines Neugeborenen darin verkörpert sein. Noch anlässlich der Geburt meines Vaters (1900) hat man hinter dem Bauernhaus einen Baum gepflanzt, seinen Lebensbaum. Viele Leute leben heute noch in einer mystischen Teilhabe mit Bäumen, und wenn der Mensch stirbt, geht auch der Baum ab.
17.2
Aufklärung
Die nächste Stufe der Bewusstseinsentwicklung ist jene der Aufklärung, wo man das alles als Aberglauben abtut: Es gibt keine Geister, keine Hexen, keine Gespenster und anderen Spuk. Es gibt nur die vernünftigen Dinge und ein vernünftiges Leben, alles andere ist verdächtig oder gar krankhaft. Man lebt identisch mit seiner Vernunft (»déesse raison«!). Auch diese Stufe muss noch überwunden werden, um in der Moderne anzukommen.
» Eine fünfte Stufe der Bewusstseinsentwicklung, welche sich nolens volens als quintessentialisch vorkommen muss, wundert sich über diesen zyklischen Verlauf vom anfänglichen Wunder bis zur sinnlosen Selbsttäuschung, über
die Schlange, die sich in den eigenen Schwanz beißt. […] Die fünfte Stufe ist der Meinung, etwas sei doch passiert, und wenn der psychische Inhalt schon nicht der Baum, und kein Geist im Baume und überhaupt kein Geist sei, so sei er doch ein aus dem Unbewussten sich hervordrängendes Phänomen, dem die Existenz nicht abgesprochen werden könne, insofern man gesonnen sei, der Psyche irgendwelche Wirklichkeit beizumessen. […] Die fünfte Stufe nimmt an, dass das Unbewusste eine Existenz sei, die an Wirklichkeit keiner anderen nachsteht. (13, 248–249)
«
17.3
Existenz des Unbewussten
Auf der fünften und damit letzten Stufe ist erst ein kleiner Teil der Persönlichkeit und der westlichen Menschheit überhaupt angekommen. Da klafft z. B. eine große, schier unüberwindbare Kluft zwischen Psychiatrie, welche bei der rationalen Phänomenologie der vierten Stufe stehen geblieben ist, und der Jungschen Psychologie. > Die ganze Diagnostik der Psychiatrie schließt die Existenz des Unbewussten nur zur Beschreibung der Symptome ein, nicht aber zum Verständnis der Psychodynamik. Mit der Diagnostik wird dem Patienten lediglich ein Etikett angehängt, aber nicht geholfen, seine Krankheit zu verstehen und zu überwinden.
Diese Lücke schließen zu helfen ist das Ziel dieses Buches, geschrieben von einem Autor, der ein mit der Klinik vertrauter Psychiater ist und zugleich als Jungscher Analytiker lebenslang in der Ambulanz tätig war. Damit hoffe ich, beide Gebiete einander wieder anzunähern zum Wohl der Patienten. Denn schließlich geht es um den ganzen Menschen und nicht um »den Fall«. Die Psyche und ihre Äußerungen kann nur verstehen, wer die Hypothese des Unbewussten ernsthaft in Betracht zieht. Und die ganze Psy-
316
Kapitel 17 • Projektion
chodynamik der Neurosen kann nur verstehen, wer das Unbewusste als unsichtbaren Gegenspieler des Bewusstseins begreift. Nicht umsonst habe ich die Geschichte der Entdeckung des Unbewussten (7 Erstes Buch) mit ihren Irrungen und Wirrungen darstellen müssen, um dem Leser zu zeigen, welcher Anstrengungen es bedurfte, in der Moderne anzulangen. All dies wird heute von einer rationalistischen und von ökonomischen Gesichtspunkten verleiteten Mentalität infrage gestellt, die ein mehr und mehr unbezahlbar zu werden drohendes Gesundheitssystem mit äußerst fragwürdigen Kurztherapien zu sanieren sucht. Der Patient ist kein Automotor, dessen Defekt man mit einem Ersatzteil aus dem Lager beheben kann. Der Mensch ist ein Ganzes, und seine Krankheit zieht den ganzen Menschen mitsamt seiner Umwelt in Mitleidenschaft. Es gilt nicht nur ein Symptom zum Verschwinden zu bringen, auch nicht bloß eine Depression zu kurieren oder bei einer Anorexie Normalgewicht wiederherzustellen. Es geht darum, den Patienten zu einem sinnvollen ganzheitlichen Leben zu führen mit oder ohne Symptome. Die Ganzheit muss stets im Auge behalten werden, sowohl für das Verständnis der Psychodynamik als auch für jenes der Therapie (Genaueres dazu in 7 Kap. 38). Das Ganze besteht eben nicht nur aus dem Bewusstsein, was viel einfacher wäre, sondern auch aus dem Zusammenspiel mit dem Unbewussten, was uns noch viele Rätsel aufgibt. In einem Brief vom 10.III.1950 an Marie Ramondt erklärt Jung:
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» Beim Primitiven verschwimmt das Unbewusste mit der Außenwelt, was wir deutlich an den zahllosen Projektionen des primitiven Bewusstseins sehen. Man kann beim Primitiven nicht wohl von einem Ich-Umwelt-Verhältnis sprechen, da ein Ich in unserem Sinn noch kaum vorhanden ist. Sein Bewusstsein ist ein Eingetauchtsein in einen
Ereignisstrom, in welchem Umwelt und Innenwelt nicht oder sehr undeutlich unterschieden sind. ([1] II S. 179)
«
Besonders der Schluss scheint mir bedeutungsvoll, um die archaische Lebensweise verstehen zu können. Sie kommt meines Erachtens nicht nur bei den Buschmännern in der Kalahari, sondern auch bei modernen Menschen vor. Sie sind nicht in dem Sinne unbewusst, dass sie nicht wüssten, was sie tun. Im Gegenteil können sie sehr intelligente Dinge tun, geführt von ihren Instinkten. Sie sind durchschnittlich bestens an die Situationen angepasst, welche sie antreffen. Sie leben den Moment, die »durée creatrice«, um einen Ausdruck von Henri Bergson zu verwenden, voll und ganz. Aber wenn eine Situation sich ändert, stellt sich der Angehörige eines Naturvolkes darauf vollständig neu ein. Die vorangehende Einstellung klingt schnell ab. Die Gegenwart ist allein wichtig mit ihren Anforderungen. Deshalb sind diese Kulturen geschichtslos. Man erinnert sich vielleicht eine oder zwei Generationen zurück, doch davor liegt die mythische Zeit der Ahnen (Alcheringa-Zeit bei den Ureinwohnern Australiens). Das heißt jedoch nicht, dass sie kein Gedächtnis hätten, denn sie lernen aus Fehlern, erinnern sich an die lebenswichtigen Wasserplätze in der Wüste, alles was für ihr Überleben wichtig ist. Sie leben darum nicht, wie man oft gemeint hat, wie Kinder, sondern wie erwachsene Menschen auf der Stufe der Instinkte, welche ihnen das zum Leben nötige Wissen vermitteln. Die Einschätzung, ob diese Menschen glücklich seien oder nicht, hängt mehr von der Kultur des Beobachters ab, als dass es sich eindeutig beantworten ließe. Sie stellen sich diese Frage gar nicht, weil sie völlig an den Augenblick angepasst sind; sie lassen außer Acht, ob man es anders oder besser haben könnte. Für uns scheint so ein sorgloses In-den-Tag-Hineinleben am Strand auf einer Südseeinsel das höchste Glück. Doch nur, weil es in der Phantasie das Gegenteil dessen, was wir im Alltag leben, darstellt. Die Ange-
317 17.3 • Existenz des Unbewussten
hörigen eines Naturvolkes nehmen ihr Leben als gegeben und haben keine Vergleichsmöglichkeit. Es ist so und war immer so! Es ist wichtig zu verstehen, was archaische Identität heißt. Wir haben keine Ahnung, in welchem Maß wir ihr unterworfen sind, denn wir merken nichts davon. Es fällt uns erst auf, wenn wir z. B. etwas verloren haben oder uns etwas gestohlen wurde und wir »todtraurig« über den Verlust sagen: »Ich hing so daran!« Es ist als ob wir ein Stück von der eigenen Persönlichkeit verloren hätten, nein, wir haben ein derartiges Stück verloren, denn wir waren mit ihm identisch. Unsere Persönlichkeit hört nicht an der Hautoberfläche auf, sie erstreckt sich in unbekanntem Maße in unsere Umwelt, in die Gegenstände und Personen, welche uns umgeben. Es ist ja nicht nur der materielle Wert des Gegenstandes, der uns abhanden kam, sondern der Gefühlswert desselben, der uns traurig über den Verlust macht. z
Übertragung (7 Kap. 39)
Diese Dinge spielen eine große Rolle, wenn wir später von der Übertragung handeln, welche bei der Therapie wichtig ist. Wir sind ja nicht nur an Gegenstände gebunden, sondern in viel stärkerem Maße an Personen. So kann es sein, dass man mit einem Partner zusammenlebt in schönster Harmonie (ein Herz, eine Seele), ohne zu merken, dass man identisch ist. Identität ist nämlich keine Beziehung, sondern Ununterschiedenheit. Eine Beziehung kann nur dort entstehen, wo zwei verschiedene Individuen aufeinander bezogen sind und ihre spezifische Eigenart bewahren. Eine Mutter, die zum Kind sagt: »Ich würde dich lieben, wenn du nicht so unartig wärest!«, liebt ihr Kind nicht wirklich. Bezogenheit stellt keine Bedingungen, sondern nimmt das Objekt in seiner Realität. Wer seine Beziehungen daraufhin prüft, wird erkennen, wie viel noch fehlt, um vollständig zu sein.
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> Von Projektion kann man erst sprechen, wenn Zweifel aufkommen. Denn diese betreffen die Zugehörigkeit des Objektes zum Subjekt und damit ist schon der Unterschied zwischen den beiden hergestellt und die Identität zerstört. Marie-Louise von Franz hat in ihrem Buch
»Spiegelungen der Seele« ([6] S. 9) die Projektion im Alltag erläutert. Meine Ausführungen können diese lediglich ergänzen von einem anderen Blickwinkel aus.
» Der projektionsbildende Faktor ist von nicht zu leugnender Wirklichkeit. (9/II, 44) « Niemand ist davor gefeit, Projektionen auf den Leim zu gehen. In einem Streit kann keiner behaupten, für seine Position seien Projektionen ausgeschlossen.
» Das Projizierende ist bekanntlich nicht das bewusste Subjekt, sondern das Unbewusste. Man findet daher die Projektion vor und macht sie nicht. Der Erfolg der Projektion ist eine Isolierung des Subjektes gegenüber der Umwelt, indem statt einer wirklichen Beziehung zu derselben nur eine illusionäre vorhanden ist. (9/II, 17)
«
Das ist gar nicht selbstverständlich, dass nicht das Bewusstsein die Projektionen macht! Wie oft hört man doch von Leuten, welche etwas an der Jungschen Psychologie geschnuppert haben: »Jetzt projizierst du doch wieder […] auf mich!« Dieser Irrtum ist leicht verständlich, weil das Wort »Projektion« eine aktive Handlung suggeriert. Aber man »wirft« nichts aktiv hinaus. Dennoch ist der Begriff insofern richtig, als Projektion ein Dissimilationsvorgang ist, bei welchem ein Stück der Psyche an die Umwelt verloren geht. Die Introjektion, das Gegenstück dazu, ist ein Assimilationsvorgang, bei welchem ein Stück der Psyche angefügt wird (6, 752).
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Kapitel 17 • Projektion
Wer sich in einem Disput darüber streitet, welcher von beiden etwas auf den anderen projizierte, muss stets bedenken, dass
» … alle Projektionen da Gegenprojektionen bewirken, wo dem Objekt die vom Subjekt projizierte Eigenschaft unbewusst ist, so wie eine »Übertragung« vom Analytiker mit einer »Gegenübertragung« beantwortet wird, wenn die Übertragung einen Inhalt projiziert, der dem Arzt selber unbewusst, aber trotzdem bei ihm vorhanden ist. (8, 519)
«
» Insofern ein solcher Inhalt zur Ganzheit der Persönlichkeit gehört und durch Projektion nur scheinbar aus dem Zusammenhang gelöst ist, findet zwischen dem Bewusstsein und dem projizierten Inhalt stets eine Anziehung statt. Diese zeigt sich meist in der Form der Faszination. (12, 436)
«
Das ist nicht nur für die Faszination in der gegenseitigen Übertragungssituation wichtig, sondern im Alltag bei allen Faszinationen. Dort, wo ich eine andere Person beneide, weil sie etwas besser kann als ich, ist eine latente Möglichkeit bei mir vorhanden, die ich nicht verwirklicht habe, entweder weil ich darum nicht weiß oder, viel häufiger, weil ich zu faul bin, sie zu trainieren. Wenn eine andere Person etwas besser kann als ich, was sehr häufig vorkommt, kann ich sie neidlos bewundern und anerkennen.
» Dem bewussten Vertrauensverhältnis von Arzt 17
und Patient steht der konstellierte unbewusste Inhalt dadurch entgegen, dass er vermittelst seiner Projektion eine illusionäre Atmosphäre erzeugt, die entweder zu beständigen Missdeutungen und Missverständnissen Anlass gibt oder umgekehrt eine geradezu verblüffende Harmonie vortäuscht, wobei dies noch bedenklicher ist als jenes. (16, 383)
«
Konstellierte Inhalte im Unbewussten werden vom Bewusstsein oft nur als Erwartungen wahrgenommen. Es braucht große Aufmerksamkeit vonseiten des Analytikers, diese wahrzunehmen, besonders wenn, wie Jung sagt, alles so harmonisch verläuft, »zu gut geschmiert läuft«.
» Die unbewussten Inhalte sind tatsächlich von hoher Bedeutsamkeit, denn schließlich ist das Unbewusste die matrix des menschlichen Geistes und dessen Erfindungen. So schön und sinnreich diese ganz andere Seite ist, so trägt sie gerade wegen ihres numinosen Charakters gegebenenfalls in gefährlichster Weise zur Täuschung bei. (16, 384)
«
Das gilt natürlich für jede Beziehung zwischen Menschen, doch spielt eine illusionäre Atmosphäre meist keine Rolle, im Gegenteil kommt sie der »Harmoniesucht« entgegen, welche besonders Gefühlstypen auszeichnet. Hier scheinen Projektionen wohltätig zu sein. Der wohltätige Aspekt von Projektionen scheint nach meiner Erfahrung in den ersten Analysestunden häufig, wo noch Widerstände, Zweifel und Ängstlichkeit der analytischen Beziehung im Wege stehen. Die Projektionen können da eine erste Brücke bilden, um die Hindernisse zu umgehen. Man muss sich nur bewusst sein, dass es sich sozusagen erst um einen »Notsteg« und keine solide Steinbrücke handelt. Diese baut sich erst allmählich auf, wenn man sich wirklich kennenlernt. Meist sind dann auch die anfänglichen Hindernisse verschwunden, und die Projektionen erübrigen sich.
» Die Übertragung ist an sich nichts anderes als eine Projektion unbewusster Inhalte. (7, 98) « Man meint noch weitherum in Kreisen Jungscher Analytiker, eine Übertragung sei, nachdem man die gröbsten Projektionen bewusst gemacht und damit aufgelöst hat, eine Liebesbeziehung. Dabei wird vergessen, dass die Analyse ein ganz spezifisches Setting ist mit Arzt und Patient
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319 17.3 • Existenz des Unbewussten
oder zumindest Analytiker und Analysand. Es herrscht ein Niveauunterschied, und der eine erwartet etwas ganz Bestimmtes vom anderen. Das sind ganz andere Voraussetzungen als jene, aus denen eine Liebesbeziehung entsteht. Zudem kennt der Analytiker intime Details der Analysandin, die diese am Anfang einer Liebesbeziehung nicht sogleich preisgeben würde.
Archetypen sind daher äußerst wichtige Dinge von bedeutender Wirkung, denen man alle Aufmerksamkeit schenken muss. (7, 152)
» Ein Mensch, den ich hauptsächlich durch mei-
Es wäre daher völlig falsch zu sagen, »das ist ja bloß eine Projektion«. »Man muss, wenn etwas als Projektion erkannt worden ist, sehr sorgfältig ausleuchten, was dahinter steht.«
ne Projektionen wahrnehme, ist eine Imago, oder ein Imago- oder Symbolträger. (8, 507)
«
Den Begriff Imago kennen wir bereits, aber noch nicht, was es genau damit auf sich hat. Wir haben schon von den Elternimagines gehört, von den Bildern, die sich die Kinder von ihren Eltern machen. Dass diese nie vollständig sein können, hängt nicht nur damit zusammen, dass sie bloß einen Ausschnitt des elterlichen Lebens erfahren haben, sondern auch mit den zahlreichen Erwartungen, die sie an die Eltern haben. Aber Erwartungen sind Projektionen. Ich bin immer wieder erstaunt, wie wenig bekannt das allgemein ist! Wenn jemand jammert, er habe dieses oder jenes von den Eltern nicht erhalten, frage ich, mit welcher Berechtigung er denn solches erwarte? Er entgegnet, von einer Mutter oder einem Vater dürfte man doch erwarten, dass… Das zeigt deutlich, dass im Kind ein kollektives Bild der Eltern unbewusst besteht, das mit den individuellen Eltern nicht koinzidiert. Wenn diese Diskrepanz zwischen Erwartung und Realität nicht verarbeitet wird, kann ein negativer Mutter- respektive Vaterkomplex entstehen.
» Wegen ihrer Verwandtschaft mit den physischen Dingen treten die Archetypen meistens projiziert auf, und zwar erscheinen die Projektionen, wenn sie unbewusst sind, an den Personen der jeweiligen Umgebung, in der Regel als abnorme Unter- oder Überschätzungen, als Erreger von Missverständnissen, Streit, Schwärmereien und Tollheit jeglicher Art. […] Die
«
> Projektionen treten fast ausschließlich im Umkreis der Archetypen auf. Sie sind energetisch geladene unbewusste Inhalte, welche sich durch die Projektion dem Bewusstsein bemerkbar machen.
» Man kann die Elternimagines zwar aus dem Projektionszustand herauslösen und aus der Außenwelt zurückziehen, aber sie bleiben, wie alle frühinfantilen Erwerbungen, in ursprünglicher Frische erhalten. Durch die Zurücknahme der Projektion fallen die in die eigene Seele zurück, von wo sie ja zum größten Teil ihren Ursprung genommen haben. (16, 212)
«
Mit der Rücknahme der Projektionen ist es nicht getan. Es muss noch verstanden werden, was hinter ihnen war, um diese unbewussten Inhalte zu integrieren. Die Projektionen werden so zu Wegweisern im Individuationsprozess.
» Ein sehr wesentlicher Teil der psychotherapeutischen Arbeit besteht eben im Bewusstmachen und Ablösen der Projektionen, welche das Weltbild des Patienten verfälschen und seine Selbsterkenntnis verhindert haben. (14/II, 356)
«
Die Projektionen sind besonders bei Neurotikern häufig. Sie leben oft in einer illusionären Welt und lernen nicht aus den Schwierigkeiten mit ihrer Umgebung. Oder sie sind im Gegenteil nur kollektiv angepasst und merken nicht, dass ihre Seele leidet, weil sie unterdrückt ist.
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Kapitel 17 • Projektion
» Projektion ist immer indirekte Bewusstwerdung, und sie ist indirekt, weil vom Bewusstsein aus eine Hemmung ausgeübt wird, und zwar stets durch Vorstellungen (traditioneller Art), die an Stelle wirklicher Erfahrung stehen und damit deren Zustandekommen verhindern. Man fühlt sich im Besitze einer gültigen Wahrheit über das Unbekannte, und damit verunmöglicht man eine wirkliche Erkenntnis desselben. (14/II, 151)
«
Es ist eben einfacher, sich eine Meinung selber zusammenzuschustern, als sie unter das Rad der Erfahrung zu legen, um zu sehen, ob sie standhält. Zweifel sind nicht jedermanns Sache, nicht einmal in der Wissenschaft. Es lässt sich viel besser in der Illusion leben, man sei im Besitz der Wahrheit.
» Wo immer der Mensch etwas Geheimnisvolles antrifft, projiziert er seine Annahmen ohne die geringste Selbstkritik hinein. (12, 95)
«
» Die individuelle Erfahrung ist, gerade in ihrer Armseligkeit, unmittelbares Leben, sie ist das warme rote Blut, das heute pulsiert. […] Unmittelbares Leben aber ist immer individuell, denn das Individuum ist der Lebensträger. (12, 88)
«
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Es ist erschreckend, wie oft sich manche Menschen Meinungen bilden aus unbewussten Annahmen und nicht die Geduld aufbringen, auf die Erfahrung zu warten. Das ereignet sich besonders im religiösen und esoterischen Gebiet. Die ganze Esoterik ist Projektion, indem sie Pseudoerklärungen ohne empirische Grundlagen für unbekannte Dinge bietet. Ebenso
wundern, dass immer mehr Leute nicht mehr verstehen, was sie glauben sollen, und deshalb aus der Kirche austreten. Und das sind gar nicht die »Lauwarmen«, sondern jene, die sich dabei etwas denken! Die Kirchenleute merken gar nicht, dass sie damit der Kirche in der heutigen Form das Grab schaufeln.
» Alles Unbekannte und Leere wird durch psychologische Projektion erfüllt; es ist, wie wenn sich im Dunkeln der Seelenhintergrund des Betrachtenden spiegelte. (12, 332)
«
In der Naturwissenschaft kennt man den »horror vacui«, eine Vorstellung, dass die Natur einen Abscheu vor einem leeren Raum besitze und mit allen Mitteln und aller Kraft den auszufüllen suche. Vielleicht entstand dieses Gesetz eben aus der psychologischen Wahrnehmung, dass jede Leere im Bewusstsein automatisch durch das Unbewusste aufgefüllt wird. Je weniger etwas bekannt ist, umso mythologischer ist der auffüllende Inhalt. Nur so ist die Alchemie als eine Pseudochemie, welche Inhalte des kollektiven Unbewussten in den unbekannten Stoff projizierte, zu verstehen.
» Die Projektion ist […] ein unbewusster, automatischer Vorgang, durch welchen sich ein dem Subjekt unbewusster Inhalt auf ein Objekt überträgt, wodurch dieser erscheint, als ob er dem Objekt zugehöre. (9/I, 121)
«
» … erhält der Glaube die Überzeugung auf-
Da es sich um einen automatischen Vorgang handelt, wird er vom Bewusstsein nicht bemerkt, und man glaubt der Illusion. Die engagierten Alchemisten waren bis zum Beginn der Neuzeit keine Betrüger.
recht, die Projektion stelle eine Realität dar. (18/ II, 1635)
» Die Tendenz zur Autonomie ist eine mehr oder
«
Die eigene religiöse Erfahrung wird dabei völlig ausgeklammert. Wenn der Protestantismus gar auf der »fides« insistiert, muss man sich nicht
weniger allgemeine Eigentümlichkeit des Unbewussten. […] Die Tendenz zur Autonomie verrät sich vor allem in Affektzuständen, auch in denen
321 17.4 • Rücknahme von Projektionen (Individuation)
Normaler. […] Emotionen sind instinktive, unwillkürliche Reaktionen, welche […] geschehen. (9/I, 496–497)
«
Der illusionäre Bereich unserer Weltsicht ist unabsehbar. Wir nehmen sie für die Realität, weil wir keine Alternative haben. Keine Alternative, solange sich keine Konflikte mit der Mitwelt ergeben. Ich habe mich oft gefragt, wie es Extravertierte machen, die gut an die Welt angepasst sind. Ihre »Introspektion« besteht darin, dass sie sorgfältig darauf achten, wo sie mit ihrer Umwelt in Konflikt geraten. Davon hängt alles ab, ob jemand den Grund des Konfliktes nicht nur beim Kontrahenten sucht oder bei sich anklopft. Es kann ja sein, dass nicht bloß der eine, sondern beide in Projektionen befangen sind. Wenn wenigstens ich meine Projektionen einsehe, ist schon sehr viel für die Entspannung im Konflikt getan. Die Träume sind natürlich in erster Linie die Wegweiser zur Auflösung der Projektionen. Die Projektionen verhindern die Anpassung an die Realität.
» Jede längere Beschäftigung mit einem unbekannten Gegenstand bewirkt eine fast unwiderstehliche Anlockung des Unbewussten, sich in die Unbekanntheit des Gegenstandes zu projizieren und die daraus resultierende (präjudizierte) Wahrnehmung und abgeleitete Deutung für objektiv zu halten. (13, 253)
«
Darum habe ich oben behauptet, die Alchemisten seien in der Hauptsache keine Betrüger gewesen, weil sie in ihren Projektionen lebten. Diese werden so lange nicht bemerkt, wie sich keine Diskrepanz mit dem Verhalten des Objektes ergibt.
» Der Projektion klebt immer etwas vom Projektionsträger an, und wenn wir schon versuchen, das als psychisch Erkannte unserem Bewusstsein zu integrieren und uns dies auch in einem gewissen Maß gelingen wird, so werden wir damit doch etwas vom Weltall und dessen Stofflichkeit integrieren, oder vielmehr werden wir, da der Kosmos so unendlich viel größer ist als wir, vom Unbelebten assimiliert. (13, 286)
«
» Psychologische Erkenntnis durch Reduktion der Projektionen scheint von jeher eine ungemein schwierige Angelegenheit gewesen zu sein. (13, 117)
«
Wahrscheinlich ist sie darum eine so schwierige Aufgabe, weil jede Einsicht in eine Projektion eine heimliche moralische Niederlage ist: Jetzt hast du so lange an das geglaubt und jetzt stellt sich das als Irrtum heraus! Daraus entsteht im Bewusstsein ein Widerstand, sich nicht unterkriegen zu lassen.
» Jede Projektion hat etwas Unfassbares, Faszinierendes, Irritierendes und Evasives an sich, (weshalb das Quecksilber, der Mercurius in der Alchemie ein passendes Symbol dafür wurde für jenen Geist des Unbewussten, der sie veranlasst). (13, 259)
«
17
17.4
Rücknahme von Projektionen (Individuation)
Die Rücknahme von Projektionen ist, wie eingangs erwähnt, ein Assimilationsvorgang, eine Bereicherung der bewussten Persönlichkeit. Andererseits bewirkt sie eine qualitative Veränderung derselben im Sinne einer Konkretisierung, einer zunehmenden Verkörperlichung (Inkarnation). Diese führt zu einer Festigkeit der Persönlichkeit. Das ist der Sinn der Individuation. Der jugendliche Mensch lebt noch in einer illusionären Welt, seine Persönlichkeit ist noch nicht gefestigt, noch schwankend, schillernd. Er ist sozusagen erst teilweise geboren und lebt noch teilweise im Jenseits. Das wissen die Völker, bei welchen die Kindersterblichkeit hoch ist: das
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Kapitel 17 • Projektion
Kind steht erst mit einem Bein im Diesseits und wenn es stirbt, hat es eben dieses eine Bein wieder aus dem Diesseits zurückgezogen. So können sie leichter über die Trauer des Verlustes hinwegkommen. Die Rücknahme der Projektionen entreißt der Dunkelheit des Unbewussten immer mehr Inhalte. Normalerweise wird das Bewusstsein dadurch gestärkt.
» Die Helligkeitsvergrößerung des Bewusstseins bringt es notwendigerweise mit sich, dass das weniger Helle und weniger Bewusstseinsfähige der Seele in einem solchen Maße verdunkelt wird, dass früher oder später ein Riss im psychischen System eintritt, der zunächst als solcher allerdings nicht erkannt und darum projiziert wird, das heißt in einer weltanschaulichen Projektion erscheint: nämlich in der Form einer Spaltung zwischen den Mächten des Lichtes und denen der Finsternis. (13, 291)
«
17
Dieser Riss entsteht, wenn sich in der Rücknahme der Projektionen das Bewusstsein moralisch nur mit der einen Seite identifiziert. Bei der Individuation ist die Auseinandersetzung mit der dunklen, mangelhaften Schattenseite äußerst wichtig. Hell und Dunkel sind im Unbewussten noch vereint. Von Seiten des kollektiven Bewusstseins besteht die Tendenz, die helle Seite höher zu schätzen als die dunkle. Mit der hellen Seite zeigen wir uns gerne im Rampenlicht der Welt. Mit ihr finden wir dort Anerkennung. Durch sie bauen wir unsere Persona auf, jene vorteilhafte Larve, welche wir der Mitwelt zeigen möchten. Sie soll von unserer hellen, glänzenden Seite beeindruckt werden. So weit, so gut ist es verständlich, dass wir nicht darauf erpicht sind, ihr unsere Schwächen und unvorteilhaften Seiten zu demonstrieren, dies würde wohl zur Ablehnung führen. In diesem Sinne ist die Persona eine Anpassung ans Kollektiv. Es ist das, was jedem Kind durch die Erziehung mitgegeben wird, nämlich wie man sich benimmt und spricht. Als
Erwachsener muss man darüber hinauskommen und realisieren, dass man nicht mehr das »brave Kind« ist, sondern eine dunkle Seite hat, welche nicht an die Öffentlichkeit gehört. Damit entgeht man der Gefahr, mit der Person identisch zu werden, d. h., zu meinen, man sei nur der geachtete, wohlanständige Bürger. Wer mit seiner Persona identisch wird, erleidet den oben geschilderten Riss in der individuellen Seele. Durch die christliche Welt geht dieser Riss, weil sie sich einseitig nur für das »Gute, Wahre, Schöne« (Platon) entschieden hat, und von da aus ist der einzelne gefährdet, als guter Christ ebenfalls zerrissen zu werden. Denn die Neurose ist nie nur individuell, sondern hat auch am kollektiven Zeitproblem teil.
Literatur Primärliteratur (Quellen) 1
2 3 4 5
Jaffé A (Hrsg.) (1972/73) Briefe. Erster Band 1906–1945 (1972); Zweiter Band 1946–1955 (1972); Dritter Band 1956–1961 (1973 mit Nachtrag neu aufgefundener Briefe). In Zusammenarbeit mit Adler G, London. Walter, Olten Freiburg. Briefe II S. 179 Jung CG (1981) Definitionen s.v. Projektionen. GW 6, 793. Walter, Olten Freiburg Jung CG (1981) Definitionen s.v. participation mystique (Lévy -Bruhl). GW 6, 780. Walter, Olten Freiburg Jung CG (1981) Definitionen s.v. Identität. GW 6, 740–741. Walter, Olten Freiburg Jung CG (1942) Der Geist Mercurius. Eranos Jahrbuch. S. 179–236. Revidiert und erweitert in: Symbolik des Geistes. Studien über psychische Phänomenologie, S. 69–149, 1948. GW 13, S. 211–269, 1978; D. Die Beziehung des Geistes zum Baum, S. 219–221
Sekundärliteratur 6
Franz ML von (2005) Spiegelungen der Seele: Projektion und innere Sammlung in der Psychologie C.G. Jungs. Verlag Stiftung für Jung’sche Psychologie, Küsnacht
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Schatten 18.1
Gegenwille – 324
18.2
Einsicht und Anerkennung – 325
18.3
Autonomie des Gewissens – 328 Literatur – 329
A. Ribi, Neurose – an der Grenze zwischen krank und gesund, DOI 10.1007/978-3-642-16148-3_18, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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324
Kapitel 18 • Schatten
»Die Anfänge der Psychoanalyse sind im Grunde nichts anderes als die wissenschaftliche Wiederentdeckung einer alten Wahrheit; selbst der Name, der der ersten Methode gegeben wurde, nämlich Katharsis = Reinigung, ist ein geläufiger Begriff der antiken Einweihungen. […] Denn das Minderwertige und selbst das Verwerfliche gehört zu mir und gibt mir Wesenheit und Körper, es ist mein Schatten. […] Auch das Dunkle gehört zu meiner Ganzheit, und indem ich mir meines Schattens bewusst werde, erlange ich auch die Erinnerung wieder, dass ich ein Mensch bin wie alle anderen…« (16, 134)
Wir sind wiederholt dem Ausdruck »Schatten« begegnet, so dass es an der Zeit ist, ihn etwas genauer unter die Lupe zu nehmen. Jung fährt in den oben begonnenen Ausführungen fort:
» … Durch das Bekenntnis aber werfe ich mich der Menschheit wieder in die Arme, befreit von der Last des moralischen Exils. Die kathartische Methode bezweckt das völlige Bekenntnis, und zwar nicht nur die intellektuelle Feststellung eines Tatbestandes durch den Kopf, sondern auch das Auslösen der zurückgehaltenen Affekte, das Feststellen des Tatbestandes durch das Herz. (16, 134)
«
» Es ist, wie wenn die Menschheit ein unaus-
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löschliches Anrecht auf das Dunkle, Unvollkommene, Dumme und Schuldhafte des Mitmenschen hätte, denn solcherart sind ja die Dinge, die zum Selbstschutz geheimgehalten werden. […] Es scheint eine Art von Menschheitsgewissen zu geben, das jeden empfindlich bestraft, der nicht irgendwo und irgendwann den Tugendstolz seiner Selbstbehaltung und Selbstbehauptung aufgibt und das Bekenntnis seiner fehlbaren Menschlichkeit ablegt. (16, 132)
«
18.1
Gegenwille
Mir scheint, dass man das in der Politik sehr schön beobachten kann: Wird jemand emporgejubelt und mit großem Mehr gewählt, so hat ein Kollektiv, das gar nicht die Gegenpartei sein muss, nichts Eiligeres zu tun, als irgendwelche früheren Verfehlungen aufzudecken. Oft wird dieser Jemand dann vom Sockel gestoßen und ein anderer statt seiner dort platziert, dem es womöglich ebenso ergeht. Die unbewusste Idee dabei ist wohl nicht, dass der eine besser sei als der andere, sondern dass jeder sich nur von seinen besten Seiten darstellt und seine dunkle unbekannte Seite für die Zukunft das Risiko ist. Er will alles gut machen, doch ein unbewusster Gegenwille macht ihm den Strich durch die Rechnung.
» Der Schatten und der Gegenwille sind die unvermeidlichen Bedingungen jeder Verwirklichung. (11, 290)
«
Der Gegenwille ist vom Schatten verschieden. Er richtet sich sogar gegen unsere besten, sublimsten Absichten, nämlich gegen Gott und das Selbst. Ich habe einen Aufsatz geschrieben mit dem Titel »Der Stein, dem widersprochen wird« [5], worin ich zahlreiche Stellen aus der Bibel und der Alchemie beibringen konnte zu diesem weitherum unbekannten Thema. Man glaubt, wenn man nur intensiv das Gute, Gott dienen oder sich vervollständigen, wolle, geschehe es auch. Weit gefehlt – nicht bloß der Schatten, sondern auch ein Gegenwille macht unsere schönsten Pläne zunichte. Wäre dem nicht so, lebten wir schon längst in einer glückseligen Utopia. Das Selbst hat nicht nur eine helle, sondern auch eine dunkle Seite. Man muss also den Schatten von diesem Gegenwillen unterscheiden, jener ist persönlich, dieser überpersönlich, göttlich.
» Die Konfrontation mit dem Unbewussten beginnt meist im Bereich des persönlichen Unbewussten, nämlich der persönlich erworbenen
325 18.2 • Einsicht und Anerkennung
Inhalte, welche den (»moralischen«) Schatten ausmachen, und setzt sich fort durch archetypische Symbole, welche das kollektive Unbewusste repräsentieren. Dies bedeutet nicht nur ein Bewusstmachen des Gegensatzes, sondern auch ein Erlebnis besonderer Art, nämlich die Anerkennung eines fremden anderen in mir, nämlich eines objektiv vorhandenen Anderswollenden. (13, 481)
«
Der Gegenwillen, der objektiv Anderswollende, ist der dunkle Gegenspieler, der dunkle Mercurius, der auch die besten Absichten durchkreuzt. Man könnte ihn den archetypischen Schatten nennen. Unser Thema hier ist jedoch der persönliche Schatten.
stets eine Mittellage zwischen den Gegensätzen angestrebt wird.
» Es ist mir hinlänglich klargeworden, dass nur dort, wo das Gefälle liegt, der Pfad des Lebens weiterführt. Es gibt aber keine Energie, wo keine Gegensatzspannung besteht; daher muss der Gegensatz zur Einstellung des Bewusstseins aufgefunden werden. […] Vom einseitigen Standpunkt der Bewusstseinseinstellung aus gesehen, ist der Schatten ein minderwertiger Persönlichkeitsanteil und daher verdrängt durch intensiven Widerstand. Das Verdrängte muss aber bewusst werden, damit eine Gegensatzspannung entstehe, ohne welche keine Weiterbewegung möglich ist. […] Nur am Gegensatz entzündet sich das Leben. (7, 78)
«
» So fängt unsere Psychologie, die Bekanntschaft mit unserer Seele, in jeder Beziehung am widerwärtigsten Ende an, nämlich bei allem, was wir nicht sehen wollen. (10, 186)
«
Weshalb soll man seine dunkle Seite, seine Rückseite sehen wollen? Tatsächlich schreckt sie nicht wenige schon von Beginn an davon ab, mit der Seele bekannt zu werden. Wer aber erlebt hat, wie befreiend die Einsicht in den Schatten sein kann, nachdem man sich im Leben vergeblich bemüht hat, ihn zu unterdrücken, um ein »guter Mensch« zu sein, wird sie begrüßen. Das war das Exil von der Menschheit, in welchem man sich befunden hat.
» Einen Menschen seinem Schatten gegenüberstellen, heißt ihm auch sein Licht zeigen. […] Wer zugleich seinen Schatten und sein Licht wahrnimmt, sieht sich von zwei Seiten, und damit kommt er in die Mitte. (10, 872)
Das Gefälle kann nur zwischen zwei Inhalten entstehen. Da das Bewusstsein die Tendenz zur Eindeutigkeit hat und haben muss, siedelt sich alles dazu Gegensätzliche im Unbewussten an. In der Auseinandersetzung der beiden, welche Jung die transzendente Funktion nennt, verläuft die psychische Energie.
» Die psychischen Vorgänge verhalten sich daher wie eine Skala, welcher das Bewusstsein entlanggleitet. Bald befindet es sich in der Nähe der Triebvorgänge und gerät unter deren Einfluss, bald nähert es sich dem anderen Ende, wo der Geist überwiegt. […] Dieses »gleitende« Bewusstsein ist für den Menschen heutzutage noch durchaus charakteristisch. Die dadurch bedingte Einseitigkeit kann aber behoben werden durch das, was ich als Realisieren des Schattens bezeichnet habe. (8, 408–409)
«
«
Hell und Dunkel sind im Gleichgewicht, und der Mensch zwischen ihnen. Ich habe in 7 Kap. 15 über die Kompensation darauf hingewiesen, dass es ein universelles Gesetz zu sein scheint, dass
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18.2
Einsicht und Anerkennung
Das Bewusstsein gleitet von einem Pol zum anderen, weil es noch keine Festigkeit hat, es pendelt sozusagen hin und her. Es merkt, dass es
326
Kapitel 18 • Schatten
einseitig ist, und wird kompensatorisch auf die andere Seite verschoben. Zwar gravitiert es so um eine Mittellage, aber es ist nicht stabil. Es erreicht seine Stabilität erst durch das Realisieren des Schattens.
welche man viel eher in seiner Umwelt entdecken möchte, um sich darüber entrüsten zu können. Man muss sich schon eine Fastenpredigt halten, um ihm näher zu kommen.
» Der Schatten ist ein moralisches Problem, wel-
»
Die »lebende Gestalt« bedarf tiefer Schatten, um plastisch zu erscheinen. Ohne den Schatten bleibt sie ein flächenhaftes Trugbild oder – ein mehr oder weniger wohlerzogenes Kind. (7, 400)
ches das Ganze der Ichpersönlichkeit herausfordert, denn niemand vermag den Schatten ohne einen beträchtlichen Aufwand an moralischer Entschlossenheit zu realisieren. (9/2, 14)
«
«
> Erst der Schatten verleiht der Persönlichkeit Dreidimensionalität und Festigkeit. Dadurch hört das Bewusstsein auf zu gleiten, denn mit dem Schatten ist es in die Gegensätze ausgespannt.
Es muss die Spannung aushalten und »gleitet« nicht mehr zwischen ihnen hin und her.
» Sowohl beim Schatten wie bei der Anima genügt es nicht, um diese Begriffe zu wissen und sie nachzudenken. Auch kann man durch Einfühlung oder Anempfinden ihren Inhalt nie erleben. (9/I, 62)
«
Realisieren des Schattens tönt so einfach und viele Analytiker meinen, wenn sie öffentlich zugeben, dass sie auch einige Schönheitsfehler hätten, sei die Sache erledigt. So banal ist der Schatten nicht, dass er nur einige oberflächliche Unzulänglichkeiten umfassen würde.
» Die Figur des Schattens personifiziert alles, was das Subjekt nicht anerkennt und was sich ihm doch immer wieder – direkt oder indirekt – aufdrängt. (9/I, 513)
«
18
Das, was das Subjekt nicht anerkennt, ist wohl das, was ihm peinlich ist, was es nicht sein möchte, was es als abscheulich von sich weist, was ein »Konstruktionsfehler« des Schöpfers ist. Man drückt sich um diese scheinbar negative Seite,
Das Realisieren des Schatten stellt nämlich die ganze bisherige Persönlichkeit infrage, denn man ist nicht so edel, so tüchtig, so selbstlos, so intelligent, so überlegen usw., wie man bisher angenommen hat. Und doch ist man das alles nach wie vor auch. Hinzu kommt nur alles das, was man eben nicht ist, nicht sein möchte. Niemand wird daher jemals stolz auf seinen Schatten blicken. Dass er jedoch nicht einfach ein Nichts, »Abwesenheit von Licht« ist, wird deutlich, indem man ein merkwürdiges Gefühl hat, wenn einen jemand auf den Schatten tritt. Bei Naturvölkern ist es tabu, dem Häuptling oder Medizinmann auf den Schatten zu treten. Er fühlt sich beleidigt, wenn nicht schlimmer. Die Einsicht in den Schatten, dass man nicht nur jene vorteilhafte, der Welt darbietende Persönlichkeit ist, führt zur Bescheidenheit.
» Einsicht in den Schatten führt zu jener Bescheidenheit, die zur Anerkennung der Unvollkommenheit notwendig ist. (10, 579)
«
Auch mit dieser Einsicht kehrt der Mensch aus dem Exil wieder in den Schoß der Menschheit zurück. Er legt seine Überheblichkeit und seinen Dünkel ab. Im Exil hat er der kollektiven Illusion gehuldigt, nur etwas zu gelten, wenn er über den anderen stehe. Durch die Anerkennung des Schattens verschiebt sich sein Wert vom kollektiven Äußeren auf das einmalige Innere, dorthin wo er wirklich liegt.
327 18.2 • Einsicht und Anerkennung
Damit wird er vom Urteil seiner Umwelt unabhängiger.
» Der Schatten ist in der Regel nur etwas Niedriges, Primitives, Unangepasstes und Missliches, und nicht absolut böse. Er enthält auch kindische oder primitive Eigenschaften, die in gewisser Weise die menschliche Existenz beleben und verschönern würden. (11, 134)
«
Einer der Widerstände gegen das Bewusstwerden des Schattens ist der Eindruck von der Erziehung her und vom Kollektiv, es sei das Böse, man sei dann böse. Oder man misst sich am Postulat der christlichen Vollkommenheit und entdeckt, dass man weit davon entfernt ist.
» Der Anblick der Dunkelheit (des Schattens) bedeutet Erleuchtung, das heißt Erweiterung des Bewusstseins durch die Integration von bisher unbewussten Persönlichkeitselementen. […] Der Schatten ist der noch lebendige und wirkliche Primitive im zivilisierten Menschen, und unsere kultürliche Vernunft bedeutet ihm nichts. […] Der Schatten hat eine gefährliche Faszination, und darum schützt dagegen nur ein anderes Faszinosum. Der primitiven Geistesverfassung des Schattens ist mit Vernunft nicht beizukommen, auch nicht beim vernünftigsten Menschen, sondern nur mit einer Erleuchtung, deren Art und Maß dem Grad der Verdunkelung in einer eigentümlichen Weise, nämlich im völligen Gegensatz entspricht. Der Primitive ist besiegt, wenn er verblüfft ist. (14/I, 335)
«
> In seinem Spätwerk, dem Mysterium coniunctionis (GW 14), sieht Jung den Schatten nicht mehr nur als Problem des einzelnen, sondern im Kollektiv, dessen Bestandteil der einzelne ist und von dem er infiziert wird.
Er kann sich dessen Einfluss nicht entziehen und trägt sogar seinen Teil dazu bei. In einem viel früheren Werk, über die Psychologie des Unbewussten, schreibt er:
18
» Es hat eben etwas Furchtbares an sich, dass der Mensch auch eine Schattenseite hat, welche nicht nur etwa aus kleinen Schwächen und Schönheitsfehlern besteht, sondern aus einer geradezu dämonischen Dynamik. Der einzelne Mensch weiß selten davon; denn ihm, als Einzelmenschen, kommt es unglaubwürdig vor, dass er irgendwo und irgendwie über sich selber hinausragen sollte. Lassen wir diese harmlosen Wesen aber Masse bilden, so entsteht daraus gegebenenfalls ein delirierendes Ungeheuer, und jeder einzelne ist nur noch kleinste Zelle im Leibe des Monstrums, wo er wohl oder übel schon gar nicht mehr anders kann, als den Blutrausch der Bestie mitzumachen und sogar nach Kräften zu unterstützen. (7, 35)
«
Ohne in die jüngste Weltgeschichte zurückzublenden, schaue man sich nur einmal die politischen Demonstrationen an! Da nützen alle wohlmeinenden Versprechen der Organisatoren für eine friedliche Kundgebung gar nichts, denn der Mob entwickelt eine Eigendynamik. In der Masse entzündet sich der Schatten des einzelnen an jenem der anderen zu einem Flächenbrand. Deshalb sind derartige Zusammenrottungen so gefährlich. Der einzelne ist nicht mehr sich selber und macht Dinge, die er sonst nie tun würde. > Die Masse vereinigt sich immer auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner und das ist der Primitive.
» Was Victor White über die Assimilation des Schattens schreibt, ist nicht ernst zu nehmen. Als katholischer Priester ist er an Händen und Füßen durch die Doktrin seiner Kirche gebunden und muss jeden Irrtum verteidigen. Die Kirche kennt sich bestens mit der »Assimilation« des Schattens aus, das heißt, wie man ihn und das Böse verdrängt. In meiner Eigenschaft als Arzt bin ich mir meiner moralischen Urteile nie ganz sicher. Allzu oft stelle ich fest, dass was bei dem einen eine Tugend ist, bei dem andere als Laster gelten muss, und was für den einen gut, für den ande-
328
Kapitel 18 • Schatten
ren Gift ist. Andererseits haben fromme Gefühle den Begriff der felix culpa erfunden, und Christus hat dem Sünder den Vorzug gegeben. Selbst Gott scheint kein besonderes Wohlgefallen an den bloß Gerechten zu haben. (18/II, 1594)
«
18.3
Autonomie des Gewissens
Mit diesen Äußerungen Jungs zum Problem des Schattens und von gut und böse gegen Ende seines Lebens wird es komplizierter, indem man nicht zum Vornherein festlegen kann, was gut und was böse ist. Durch die Auseinandersetzung mit dem Schatten musste sich diese Komplikation ergeben! Der Schatten selber ist ja dadurch entstanden, dass ein christliches Bewusstsein gewisse Impulse als schlecht abgelehnt hat. Die große Frage stellt sich beim Zusammenstoß damit: Woher weiß das Bewusstsein so genau, dass etwas schlecht ist? Meist stellt sich dieses Urteil des Bewusstseins als sehr oberflächlich und sehr kollektiv heraus. Darum wird es herausgefordert, sein vorschnelles Urteil genauer unter die Lupe zu nehmen. Neben dem kollektiven Katalog, der ebenso schematisch ist wie unsere Gesetze, gibt es eine je individuelle Wertung, welche das Gewissen vornimmt. Aber eben nicht das anerzogene Gewissen, sondern das was Jung im Aufsatz »Das Gewissen in psychologischer Sicht« (1957/58) als die vox Dei bezeichnet hat.
» Das Gewissen ist an sich ein autonomer Faktor. (10, 842) « » Das Gewissen bringt die stets und notwendi18
gerweise vorhandenen Gegensätze zur bewussten Wahrnehmung. (10, 844)
«
Die Autonomie des Gewissens erlebt man immer dann, wenn man mit ihm nicht im Reinen ist. Man kann alle möglichen rationalen Argumente dagegen anführen und trotzdem lässt es einen nicht in Ruhe. Es trotzt allen logischen Begründungen und beharrt auf seinem Standpunkt. In der Regel ist es ein vergeblicher Kampf, außer es gelingt, das Gewissen zum eigenen Nachteil zu unterdrücken, zu verdrängen. Der Kampf mit dem Gewissen, das stur an seinem Standpunkt festhält, hat dagegen den Vorteil, dass uns der eigentliche Konflikt, das Für und Wider, bewusst wird. Es ist natürlich immer angenehmer, keinen Konflikt zu haben, doch bewusst werden wir nur in der Auseinandersetzung. Das Auftreten des Schattens mit seinem Anspruch, verwirklicht zu werden, entpuppt sich schließlich als Motor der Bewusstseinsentwicklung.
»
Es gibt immer noch Teile unserer Persönlichkeit, die unbewusst, die noch im Werden sind; wir sind unvollendet, wir wachsen und verändern uns. Und doch ist die Persönlichkeit, die wir im nächsten Jahr sein werden, heute schon anwesend, nur liegt sie noch im Schatten. (18/I, 38)
«
> Der Schatten ist deshalb eine positive Herausforderung, weil er unsere Entwicklung der Persönlichkeit vorantreibt. Ob wir wollen oder nicht, führt er uns in Konflikte mit der Umwelt oder unserer Innenwelt.
» Das Getriebensein stammt aus zwei Quellen: aus dem Schatten einerseits und aus dem Anthropos andererseits. (14/I, 148)
«
Jung spricht hier in seinem Alterswerk nicht
» Das Gewissen selber, wenn objektiv betrachtet, das heißt ohne rationale Voraussetzungen, benimmt sich in bezug auf Anspruch und Autorität wie ein Gott und sagt damit aus, dass es eine vox Dei sei. (10, 853)
«
mehr von Trieb, sondern von Getriebensein, einem viel allgemeineren Begriff psychischer Dynamik, wie ich früher dargelegt habe (aktuelle Energie). Wie sich dieses Getriebensein auswirkt, ob als blinder Zwang oder schöpferische Dyna-
329 Literatur
mik, hängt von der Einstellung des Bewusstseins ab.
» Es gibt Patienten, die sich eben gerade des Umstandes rühmen, dass die Schattenseite für sie nicht existiere; sie versichern, keinen Konflikt zu haben; sie sehen aber nicht, dass ihnen dafür andere Dinge unbekannter Herkunft im Weg stehen, wie hysterische Launen, Schikanen, die sie sich selbst und ihren Nächsten antun, ein nervöser Magenkatarrh, Schmerzen da und dort, Gereiztheit ohne Grund und das ganze sonstige Heer nervöser Symptome. (7, 27)
Das ist der Grund, warum früher am Jung-Institut die Regel galt, man müsse sowohl bei einem männlichen als auch bei einem weiblichen Analytiker analysieren. Bei beiden werden unterschiedliche Probleme konstelliert. Aus unerfindlichen (wohl Bequemlichkeits-) Gründen wurde diese weise Regelung abgeschafft.
» Im individuellen Fall wird das durch den Schatten aufgeworfene Problem auf der Stufe der Anima, das heißt der Beziehung, beantwortet. (9/I, 487)
«
«
Man kommt doch wohl nicht um die Anerkennung des eigenen Schattens herum oder dann zu einem hohen Preis. Die schlechten Launen der Frommen oder ihre psychosomatischen Beschwerden sind wohlbekannt. Eine andere und wohl die häufigste Art, sich um die Einsicht in den Schatten zu drücken, ist die Projektion auf seine Umwelt. Das ist eine geläufige Art von Umweltverschmutzung, von der niemand redet. Der Schaden, der durch diese Art Umweltverschmutzung angerichtet wird, ist unendlich viel größer als der äußere, von dem alle Medien voll sind. Doch, weil unsere Kultur extravertiert ist, begnügt man sich mit dem äußeren Schaden. Dabei wird übersehen, dass mit der Integration des eigenen Schattens auch das Umweltproblem erledigt wäre. Den eigenen »Schweinehund« bewusst zu machen, bedeutet nämlich auch zur Natur Sorge zu tragen. Solange sich kein moralisches Problem ergibt, kann ich unbedenklich mit der Umwelt umgehen. Ich schaue dann nur auf das, was mir nützt, und nicht darauf, was der Umwelt oder dem Nächsten schaden könnte. Der Egoismus ist heutzutage ein großes Problem.
» Der Schatten kann nur durch die Beziehung zu einem Gegenüber realisiert werden, und Animus und Anima nur durch die Beziehung zum Gegengeschlecht, weil ihre Projektionen nur dort wirksam sind. (9/II, 42)
«
18
Das demonstriert wiederum, wie wichtig die Beziehung für die Bewusstwerdung ist, denn alles Unbewusste ist projiziert. Ich kann es bei mir zunächst nicht finden, weil ich meinen »blinden Fleck« nicht sehen kann. Entweder macht mich ein Traum darauf aufmerksam oder eben eine Projektion, welche zweifelhaft geworden ist.
Literatur Primärliteratur (Quellen) 1
2 3
4
Jung CG (1954) Zur Psychologie der Tricksterfigur, zuerst erschienen mit Paul Radin und Karl Kerényi: Der Göttliche Schelm. Ein indianischer Mythen-Zyklus, Zürich. GW 9/I: Die Archetypen und das kollektive Unbewusste, S. 271–290 Jung CG (19) Aion. Beiträge zur Symbolik des Selbst. II. Der Schatten, 13–19 Jung CG (1947) Der Kampf mit dem Schatten. Vortrag in der BBC am 03.11.1946. Veröffentlicht in: The Listener XXXVI/930, London 1946; nachgedruckt als Einführung zu Essays on Contemporary Events, London. GW 10, 444–457 Jung CG (1958) Das Gewissen in psychologischer Sicht. In: Das Gewissen, S. 185–207. Studien aus dem C.G. Jung-Institut, Zürich, 7. Universitas (Juni). GW 10, S. 475–495
Sekundärliteratur 5
Ribi A (2007) Der Stein, dem widersprochen wird. In: Ein Leben im Dienst der Seele. Gesammelte Aufsätze und Vorträge, Teil 1, Peter Lang, Bern. S. 507
331
Komplexe 19.1
Begriffsbestimmung – 332
19.2
Der Fall Babette – 333
19.3
Konstellation – 335 Literatur – 339
A. Ribi, Neurose – an der Grenze zwischen krank und gesund, DOI 10.1007/978-3-642-16148-3_19, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
19
332
Kapitel 19 • Komplexe
In seinen ersten Jahren an der Psychiatrischen Klinik Burghölzli in Zürich betrieb Jung neben der klinischen Arbeit experimentelle Forschung. Mit den daraus resultierenden Erkenntnissen brachte Jung die Erforschung der Komplexe und ihrer Wirkung in der menschlichen Psyche erst richtig in Gang.
verhindern. Diese sind bereits als Komplexe bekannt gewesen. Doch Jung hatte nun die Erforschung der Komplexe und ihrer Wirkung richtig in Gang gebracht.
» Den Einfluss des Komplexes auf das Denken und Handeln bezeichnet man als Konstellation. (2, 733)
«
»
Wilhelm Wundt hat unter Anregung von Francis Galton (1822–1911) ein einfaches Experiment in die deutsche Psychologie eingeführt, das wir »Assoziationsexperiment« nennen wollen. Das Experiment besteht im Wesentlichen darin, dass der Experimentator der Versuchsperson ein beliebiges Wort zuruft, worauf die Versuchsperson so rasch wie möglich das nächste ihr einfallende Wort zu antworten hat. […] Das zugerufene Wort bezeichnet man als »Reizwort«, das geantwortete als »Reaktion«. […] Als ein zweites Resultat ergab sich, dass der Inhalt der geäußerten Reaktionen kein bloß zufälliger, sondern ein notwendiger ist; das heißt das, was den Versuchspersonen einfiel, war nicht ein gleichgültiges und zufälliges Material, sondern gesetzmäßig determiniert durch den individuellen Vorstellungsinhalt der Versuchsperson. (2, 730–731)
«
19
So beschreibt Jung in einer Arbeit von 1905 »Die psychologische Diagnose des Tatbestandes« seine Methode. Diese war weder neu noch originell, man konnte sie für verschiedene Fragestellungen anwenden. Das Bahnbrechende an Jungs Experimenten war seine Erkenntnis, dass in den Störungen des Experiments der Wert verborgen lag. Denn er fragte sich, warum es möglich war, dass Versuchspersonen auf derart gewöhnliche Reizwörter entweder überhaupt nicht oder erst nach längerer Zeit reagieren konnten. Das war das, was das Genie ausmacht, nämlich die richtige schöpferische Frage zu stellen! Er merkte, dass die Störungen durch stark emotionale Vorstellungen hervorgerufen werden, welche eine einfache direkte Assoziation
19.1
Begriffsbestimmung
Der Begriff stammt in diesem Sinn von Georg Theodor Ziehen (1862–1950) (2, 733 A10). Doch zuerst muss man wissen, was unter einem Komplex zu verstehen ist.
»
Vielleicht geht mein Begriff des gefühlsbetonten Komplexes noch etwas über den Umfang der Freudschen Anschauungen hinaus. (3, 77)
«
Die oberste psychische Instanz ist der Ichkomplex, worunter man die Vorstellungsmasse des Ichs versteht, welche für uns stets mit dem lebendigen Gefühl des eigenen Körpers verbunden ist. Der Gefühlston, was wir heute eher Emotion nennen, ist ein von körperlichen Innervationen begleiteter affektiver Zustand. Unsere Komplexe sind von Gefühlstönen bestimmt, welche auch unsere Taten und Stimmungen als deren Abwandlung begleiten. > Die eigene Persönlichkeit ist der festeste und stärkste Komplex und behält durch alle psychologischen Stürme hindurch im Normalfall seine Kontinuität.
Affekte haben einen Einfluss auf die Konstellation der Komplexe, der Ichkomplex verliert an Aufmerksamkeit (»abaissement du niveau mental«) und andere Komplexe, die zuvor im Hintergrund waren, gewinnen an Stärke. Umgekehrt hinterlassen Affekte umfangreiche Komplexe je nach ihrer Stärke und Dauer. Das spielt eine
333 19.2 • Der Fall Babette
19
große Rolle bei der posttraumatischen Belastungsstörung. Die affektive Wirkung ist in der Jugend besonders groß, von dieser Zeit werden die mächtigsten und dauerhaftesten Eindrücke für ein ganzes Leben mitgenommen. Umgekehrt übt ein florider Komplex eine bestimmende Wirkung auf die ganze Persönlichkeit aus. Ein Komplex ist erst dann erledigt, wenn seine affektive Kraft erlischt. An der komplexhaften Affektivität prallt alle Logik ab. Freud hat den Begriff der Symptomhandlung in seiner »Psychopathologie des Alltagslebens« als Spezialfall der Komplexkonstellation aufgestellt, wo man eigentlich eher von »Symptomdenken« und »Symptomhandeln« reden müsste, weil der Komplex diese Funktion stört. Die Komplexe befinden sich meist im Hintergrund, weil sie vom dominierenden Ichkomplex zurückgedrängt werden. In dieser Phase seiner Entwicklung betrachtet Jung die Komplexe noch als die Störenfriede des seelischen Geschehens, die dem Ichkomplex nur bei Gelegenheit ein Schnippchen schlagen. Später hat er die umfassendere Funktion in der psychischen Ökonomie entdeckt. Jung sprach von einer Kranken, die 35 Jahre lang eine Insassin des Burghölzlis war, die jahrzehntelang im Bett lag:
de Bewegungen der Arme über dem rechten Knie; man sagte damals von ihr, »sie nähe Schuhe«, später »sie bürste Schuhe«. Im Laufe der Jahrzehnte wurden die Bewegungen allmählich reduziert, bis schließlich nur noch eine kleine reibende Bewegung stattfand und nur noch Daumen und Zeigefinger die Nähstellung beibehielten. […] Als zum Begräbnis der siebzigjährige Bruder der Kranken erschien, fragte ich ihn, ob er sich noch erinnere, was die Ursache gewesen war zur Erkrankung seiner Schwester, worauf er mir mitteilte, sie hätte eine Bekanntschaft gehabt; die Sache hätte sich aber aus verschiedenen Gründen zerschlagen, was sich das Mädchen so zu Herzen genommen hatte, dass sie darüber trübsinnig geworden sei. Wer war der Geliebte? Er war ein Schuhmacher.« (3, 358)
»Sie […] sprach nie, reagierte auf gar nichts, hatte immer den Kopf vorgebeugt, den Rücken gekrümmt, die Knie angezogen. Mit den Händen machte sie immer sonderbare reibende Bewegungen, so dass sich an den Reibflächen der Hände im Laufe der Jahre dicke Hornhautschwielen entwickelten. Daumen und Zeigefinger der rechten Hand hielt sie aneinander, wie beim Nähen. Als diese Patientin vor etwa zwei Jahren starb, interessierte es mich, zu erfahren, wie sie früher war. Niemand in der Anstalt erinnerte sich, sie je außer Bett gesehen zu haben. Nur unsere alte Oberwärterin erinnerte sich noch, dass sie die Kranke sitzen gesehen hatte in derselben Stellung, wie sie später im Bett lag. Damals machte sie rasche und weit ausgreifen-
19.2
Der eine Komplex, die enttäuschte Liebe und das Bild der Geliebten, werden ein ganzes Leben lang unentwegt festgehalten und als Symptomhandeln dargestellt. An Schizophrenen, die früher die chronischen Abteilungen psychiatrischer Anstalten füllten, konnte man derartige Krankheitsbilder studieren.
Der Fall Babette
Der berühmte Fall, durch den Jung mit Freud bekannt wurde, ist »Babette«. Sie war seit 20 Jahren in der Anstalt und für die Ärzte ein großes Rätsel wegen der Unsinnigkeit ihrer Wahnideen, welche alles übertrafen, was sich auch die kühnste Phantasie erträumen mochte. Sie war von Beruf Schneiderin, stammte aus einer sehr armen Familie, führte ein arbeitsames, anständiges und zurückgezogenes Leben. Mit 29 Jahren erkrankte sie an Wahnideen und Halluzinationen, welche bald derart unsinnig wurden, dass niemand mehr ihre Klagen und Wünsche verstehen konnte. Seit Jahren wurde
334
Kapitel 19 • Komplexe
sie deshalb als klassisches Beispiel für »unsinnige Wahnideen« vielen hundert Medizinstudenten vorgeführt und als Beispiel der Verblödung bei »Dementia praecox«, wie die Schizophrenie damals hieß.
Stimmen oder Träume – ganz vernünftige Bemerkungen und Einwände machen, und es kann sogar vorkommen, dass sie z. B. bei physischer Erkrankung wieder in den Vordergrund rückt und den Patienten fast normal erscheinen lässt. ([1] S. 132)
«
Jung machte sich nun die Mühe, alle diese »un-
sinnigen« Aussagen zu analysieren und symbolisch statt konkret zu verstehen – mit dem erstaunlichen Resultat, dass sie alle »archetypisch« sinnvoll sind. Selbstverständlich konnte er damals noch nicht von »archetypisch« reden, da er die Archetypen erst viel später entdeckte. Es handelt sich um einen Mutterkomplex, in welchem die Kranke kompensatorisch zur wirklichen Armut über unbegrenzte Reichtümer als Archetypus der Großen Mutter (Erich Neumann) verfügt. Sie bezeichnet sich als »das Notenmonopol«, »Neapel und ich müssen die Welt mit Nudeln versorgen« (3, 365), sie ist »Germania und Helvetia aus lauter süßer Butter«, »Ich bin die Arche Noah, das Rettungsboot und die Achtung« (3, 366), »Ich bin die feinste Professur und die feinste Künstlerwelt«, d. h. die beste Schneiderin (3, 371), »Ich bin das Monopol«, d. h. sie hat das Banknotenmonopol (3, 380), sie ist die Inhaberin der Welt, sogar »dreifache Weltinhaberin«, sie besitzt die »Schlüssel des Himmels«, ist die Himmelskönigin, die Mutter Gottes (3, 382). Anhand dieses nur summarisch dargestellten Falles würde sich die ganze weitere Entwicklung der analytischen Psychologie aufzeigen lassen, aber ich will nicht vorgreifen, sondern Schritt für Schritt weitergehen.
» Die Beschäftigung mit Babette und anderen
19
ähnlichen Fällen überzeugte mich, dass vieles, was wir bis dahin bei den Geisteskranken als sinnlos angesehen hatten, gar nicht so »verrückt« war, wie es schien. Ich erfuhr mehr als ein Mal, dass bei solchen Patienten im Hintergrund eine »Person« verborgen ist, die als normal bezeichnet werden muss und die gewissermaßen zusieht. Gelegentlich kann sie auch – meist via
Obwohl wir uns hier nicht mit der Schizophrenie beschäftigen, außer als Abgrenzung zur Neurose, ist diese Bemerkung Jungs außerordentlich wichtig. Sie illustriert nämlich das, was die Psychiater als doppelte Buchführung bezeichnen. Sie besteht in einer Spaltung der Persönlichkeit in eine krankhafte bei Bestehenbleiben der gesunden, daher der Name »Schizo-phrenie«, gespaltenes Irresein. Das geschieht auf der Basis einer, anscheinend körperlich fixierten Dissoziation. Im Grunde kann von »Verblödung« keine Rede sein, wie der alte Name »Dementia praecox« suggerierte. Deshalb hat ihn Eugen Bleuler durch den neuen treffenderen Namen ersetzt.
» Als Freud mich 1909 in Zürich besuchte, demonstrierte ich ihm den Fall der Babette. Nachher sagte er zu mir: »Wissen Sie, Jung, was Sie bei dieser Patientin herausgefunden haben, ist ja sicher interessant. Aber wie haben Sie es bloß aushalten können, mit diesem phänomenal hässlichen Frauenzimmer Stunden und Tage zu verbringen?« – Ich muss ihn etwas entgeistert angeschaut haben, denn dieser Gedanken war mir überhaupt nie gekommen. Mir war sie in einem gewissen Sinne ein freundliches altes Ding, weil sie so schöne Wahnideen hatte und so interessante Sachen sagte. Und schließlich trat auch bei ihr aus einer Wolke von groteskem Unsinn die menschliche Gestalt hervor. ([1] S. 134)
«
Freud hat sich für Jungs Forschungen interes-
siert und den Begriff Komplex für seinen Ödipuskomplex (4, 340) übernommen. In seiner »Darstellung der psychoanalytischen Theorie« beschreibt er ihn als »die kindlichen Liebesan-
335 19.3 • Konstellation
sprüche an Vater und Mutter insofern sie eine solche Intensität erlangen, dass sie mit Eifersucht das Objekt verteidigen (4, 343). Die erste Liebe gehört der Mutter, gleichviel ob das Kind männlich oder weiblich ist. Der Vater wird allenfalls als Konkurrent ferngehalten. In diesem frühen Alter hat die Mutter natürlich keinerlei nennenswerte Sexualbedeutung, so dass der Terminus eigentlich unpassend ist (4, 345).
»
Um pathogen zu werden, bedarf es des Konfliktes, das heißt der an sich unwirksame Komplex muss aktiviert und dadurch zum Konflikt erhöht werden. (4, 353)
«
Der Konflikt liegt eigentlich nicht, wie Jung nicht müde wird zu betonen, in der Vergangenheit, sondern in der Gegenwart (4, 373).
» Der erste Teil der Analyse dient dem Auffinden der Komplexe. […] Für den Patienten ist es ein eigenartig angenehmes Gefühl, verstanden zu werden. […] Das Gefühl, verstanden zu werden, hat einen besonderen Charme für alle vereinsamten Seelen unter den Kranken. (4, 436)
«
Dieses Gefühl führt zur Übertragung (7 Kap. 39). Im positiven Fall führt es zu jener Vertrauensbeziehung zwischen Arzt und Patient, die notwendig ist, damit sich dieser jenem öffnen kann. In seiner Antrittsvorlesung an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich am 5. Mai 1934 sprach Jung über »Allgemeines zur Komplextheorie«. Darin fasst er seine Erfahrungen von 30 Jahren zusammen. Es wird sichtbar, welche Fortschritte seine Psychologie gemacht hat.
19.3
Konstellation
» Mit dem Begriff Konstellation wird die Tatsache ausgedrückt, dass durch die äußere Situation ein psychischer Vorgang ausgelöst wird, welcher in einer Sammlung und Bereitstellung gewisser
19
Inhalte besteht. […] Die konstellierten Inhalte sind bestimmte Komplexe, die ihre eigene spezifische Energie besitzen. (8, 198)
«
Die Konstellation ist eine abwartende Bereitschaftsstellung, welche automatisch und unbemerkt eintritt.
» Jedermann weiß heutzutage, dass man »Komplexe hat«. Dass aber die Komplexe einen haben, ist weniger bekannt, aber theoretisch umso wichtiger. […] In der Tat versetzt uns ein aktiver Komplex momentan in einen Zustand der Unfreiheit, des Zwangsgedankens und -handelns, wofür unter Umständen der juristische Begriff der »beschränkten Zurechnungsfähigkeit« in Frage käme. (8, 200)
«
Wird der Kern eines Komplexes getroffen, was der Animus oft sehr präzise kann, so tritt eine Art »black-out« auf. Einem »bleibt die Spucke weg«, man findet keine Antwort, tausend Gedanken wirbeln durch den Kopf oder überhaupt keine. Ein »psychisches Hühnerauge« ist getroffen. Die Frau sagt vielleicht: »Ich habe ja nur […] gesagt!« Aber diese Bemerkung saß wie ein Pfeil im Herzen. Man ist sprachlos oder kriegt einen Wutanfall. Jedenfalls ist man »außer sich«.
» Ein »gefühlsbetonter Komplex« ist das Bild einer bestimmten psychischen Situation, die lebhaft emotional betont ist und sich zudem als inkompatibel mit der habituellen Bewusstseinslage oder -einstellung erweist. Dieses Bild ist von starker innerer Geschlossenheit, es hat seine eigene Ganzheit und verfügt zudem über einen relativ hohen Grad von Autonomie, das heißt es ist den Bewusstseinsdispositionen in nur geringem Maße unterworfen und benimmt sich daher wie ein belebtes corpus alienum [=Fremdkörper] im Bewusstseinsraum. (8, 201)
«
336
Kapitel 19 • Komplexe
» Die Komplexe benehmen sich wie cartesiani-
» Furcht und Widerstand sind die Wegweiser, die
sche Teufelchen und scheinen sich an koboldartigen Streichen zu ergötzen. (8, 202)
an der via regia zum Unbewussten stehen. […] Jeder Dialog, der in jene von Angst und Widerstand verteidigten Gebiete vorstößt, zielt aufs Wesentliche. (8, 212–213)
«
Ich wusste nicht, was »cartesianische Teufel« sind. Da hat mir ein Bekannter einen solchen geschenkt, den ich seither als »memento« in meinem Konsultationszimmer habe. Durch Druck auf die Plastikflasche, in welcher er sitzt, beginnt er sich wie wild zu drehen und auf und ab zu tanzen.
» Komplexe sind abgesprengte Teilpsychen. Die Ätiologie ihres Ursprungs ist ja häufig ein sogenanntes Trauma, ein emotionaler Schock und ähnliches, wodurch ein Stück Psyche abgespalten wurde. (8, 204)
«
» Im Grunde genommen gibt es keinen prinzipiellen Unterschied zwischen einer Teilpersönlichkeit und einem Komplex. (8, 202)
«
In meinem Buch »Was tun mit unseren Komplexen« habe ich die sorgfältigen früheren Beobachtungen von multiplen Persönlichkeiten beschrieben. Jeder Komplex hat die Tendenz, Persönlichkeitscharakter anzunehmen und sogar den Ichkomplex zu verdrängen und
» … sogar das Ich zu assimilieren, woraus eine momentane und unbewusste Persönlichkeitsveränderung entsteht, die als Komplexidentität bezeichnet wird. (8, 204)
«
Sie sind auch die handelnden Personen unserer Träume, denen wir so machtlos gegenüberstehen (8, 202). Sie sind die Bausteine unserer Psyche und, wenn der Mörtel sie nicht genügend fest zusammenkittet, fallen sie in der Dissoziation auseinander.
19
» Die via regia zum Unbewussten sind allerdings nicht die Träume, wie Freud meinte, sondern die Komplexe, welche die Verursacher der Träume und Symptome sind. (8, 210)
«
«
Trotz der überwältigenden Fülle von Erfahrungen, dass Komplexe normale Bausteine der Psyche sind, verbindet man mit dem Gedanken daran immer etwas Negatives. Niemand bei gesunden Sinnen lässt sich einreden, dass die Kräfte des Komplexes irgendetwas Gutes bedeuten könnten. Diese Komplexfurcht ist ein stärkstes Vorurteil, eine abergläubische Furcht vor dem Ungünstigen. Das Bewusstsein ist davon überzeugt, dass Komplexe etwas Ungehöriges darstellen, das besser eliminiert werden sollte. Erst wenn man einen Analysanden offen mit z. B. seinem Geldkomplex konfrontiert, kann man darüber reden. Dann kann er ziemlich nüchtern sehen, wo und in welcher Weise ihn derselbe in den Klauen hält. Dann erkennt er, wie unfrei ihn der Komplex macht und erst dann beginnt die Arbeit am Komplex und seinen Emotionen. Es ist ein ähnliches Problem wie jenes mit dem Schatten, wo man auch fürchtet, eine Welt würde zusammenstürzen. Mit ihrer Komplexforschung hat die Tiefenpsychologie einen psychischen Tabubezirk erschlossen, von welchem allerhand Befürchtungen und Hoffnungen ausgehen. Das Komplexgebiet ist tatsächlich ein seelischer Unruheherd, ein noch aktives Vulkangebiet, dessen Explosion verheerend sein kann. Die Aussicht ist jedoch nicht so trübe wie sie jetzt scheinen mag, solange die Komplexe unbewusst bleiben.
» Diese Eigentümlichkeiten des unbewussten Zustandes stehen im Gegensatz zum Verhalten der Komplexe im Bewusstsein. Hier werden sie korrigierbar, sie verlieren ihren automatischen Charakter und können wesentlich umgestaltet werden. (8, 384)
«
337 19.3 • Konstellation
» Ein Komplex wird bekanntlich in Wirklichkeit nur dann überwunden, wenn er durch das Leben bis in die letzte Tiefe ausgeschöpft wird. Was wir uns aus Komplexgründen ferngehalten haben, das müssen wir dann mitsamt der Hefe zurücktrinken, wenn wir darüber hinauskommen wollen. (9/I, 184)
«
Der Komplex hält uns vom vollständig gelebten Leben fern oder in einer Illusion gefangen. Heutzutage fürchten viele Leute mit der Nahrung toxische oder allergene Stoffe einzunehmen. Sie müssen deshalb auf der Packung genau die Hilfsstoffe prüfen. Ich hörte einst am Radio die Ausführungen einer Expertin darüber, welche deklarierten und nichtdeklarierten Stoffe in der Nahrung schon Allergien, besonders bei Kleinkindern, ausgelöst haben! Eine um ihr Kind besorgte Mutter muss ja neurotisch werden, wenn sie es nicht schon ist, bei solchen Aussichten. Die Medien hämmern uns unentwegt ein, wie schlecht die Qualität der Luft durch unsere Zivilisationsabfälle geworden sei, so dass man die Kinder zuzeiten nicht mehr auf den Spielplatz schicken darf, um Asthma vorzubeugen. Dabei ist meines Erachtens gerade Asthma eine psychosomatische Erkrankung, hervorgerufen durch eine zu ängstliche Mutter: Der Hund jagt dem eigenen Schwanz nach! Im Brief vom 23.I.1960 an Dr. J.A.F. Swoboda schreibt Jung:
» Die durch Komplexe bedingte oberflächliche Atmung ist charakterisiert durch öfters sich wiederholende tiefe Inspirationen (Seufzer). Ich habe auch beobachtet, dass eine ganze Anzahl meiner neurotischen Patienten, die zugleich tuberkulös waren, durch die psychotherapeutische Beeinflussung von ihren Komplexen »befreit«, wieder richtig atmen lernten und auf die Dauer geheilt wurden. Ich habe daher in der Folge die Tuberkulose […] als »pneumatische Krankheit«
19
bezeichnet, indem die Befreiung der Psyche eine gründliche Änderung der geistigen Einstellung bedeutet. ([2] III, S. 283)
«
Damals war Tuberkulose noch häufiger als heute. Dasselbe gilt aber auch für Asthma, ebenfalls eine »pneumatische Krankheit«, bei welcher ein Bronchospasmus vorliegt.
» Die eigentliche Noxe (einer Neurose) ist im Komplex zu erblicken, welcher eine relativ autonome psychische Größe darstellt. […] Psychoneurosen und Psychosen sind Possessionen, denn gerade dem naiven Beobachter drängt sich der Eindruck auf, dass der Komplex etwas wie eine Nebenregierung zum Ich darstellt. (16, 196)
«
Das kommt von der Autonomie des Komplexes her, der sich den Dispositionen des Bewusstseins nicht einordnet.
» Ein Komplex wäre gar kein Komplex, wenn er nicht eine gewisse, sogar beträchtliche, affektive Intensität besäße. (8, 19 A17)
«
Mit dieser Intensität vermag er sogar den Ichkomplex zu verdrängen, der schließlich nur ein Komplex unter anderen darstellt, wenn auch den wichtigsten.
» Der Besitz von Komplexen hingegen bedeutet an sich keine Neurose, denn Komplexe sind normalerweise Brennpunkte des psychischen Geschehens, deren Schmerzhaftigkeit keine krankhafte Störung beweist. Leiden ist keine Krankheit, sondern der normale Gegenpol des Glücks. Krankhaft wird ein Komplex erst dann, wenn man meint, man hätte ihn nicht. (16, 179)
«
» Es ist gerade so, als wäre der Komplex ein selbständiges Wesen, das fähig ist, die Absichten des Ichs zu stören. (11, 21)
«
338
Kapitel 19 • Komplexe
» Der kirchliche Begriff der Besessenheit ist
» Gewisse Komplexe entstehen durch schmerzli-
auf höchst seltene Fälle beschränkt, während ich diesen Begriff als Bezeichnung eines häufig vorkommenden psychischen Symptoms in viel weiterem Umfang gebrauche: jeder relativ autonome Komplex, der sich dem bewussten Willen nicht unterwirft, übt proportional seiner Selbständigkeit eine Obsession auf das Bewusstsein aus, und beschränkt dessen Freiheit. (11, 242 A107)
che oder peinliche Erfahrungen im individuellen Leben. Es sind Lebenserfahrungen affektvoller Art, welche langdauernde psychische Wunden hinterlassen. (8, 594)
«
» Ein autonomer Komplex ist immer nur zum Teil bewusst, da er nur bedingt sich dem Ich assoziiert, das heißt niemals so, dass das Ich ihn ganz umfassen könnte, denn dann wäre er nicht mehr autonom. (6, 421)
«
> Für das Entstehen einer Neurose und ihren Unterhalt spielen die Komplexe die entscheidende Rolle, obwohl sie normalerweise einfach die Bausteine der Psyche darstellen.
Etwas in der Ökonomie dieser Bausteine muss also geschehen, dass einer aus der Reihe zu tanzen beginnt. Das braucht nicht ein pathologischer Vorgang zu sein.
» Ähnlich wie Komplexe verhalten sich auch neue, noch nicht ans Bewusstsein assimilierte Inhalte, welche sich im Unbewussten konstelliert haben. (8, 254)
«
Das ist eine neue Geburt, die ebenfalls autonom ins Bewusstsein drängt und allenfalls sein Gleichgewicht stört.
»
Psychologisch würden wir sagen, jeder Affekt hat die Neigung, zu einem autonomen Komplex zu werden, sich von der Hierarchie des Bewusstseins loszutrennen. (8, 628)
19
«
Darum kann ein Trauma, das nicht verarbeitet wird, einen traumatischen Komplex hinterlassen.
«
Ein Teil der autonomen Komplexe entsteht aus derartigen persönlichen Erfahrungen. Das ist jedermann einsichtig, weil wir gewohnt sind, auf äußere Ereignisse zu achten. Der andere Teil besteht aus inneren Ereignissen, welche die Tendenz haben unbemerkt abzulaufen.
» Der Archetypus liegt seiner Instinktnatur gemäß den gefühlsbetonten Komplexen zugrunde und nimmt teil an deren relativer Autonomie. (10, 847)
«
Hinter dem Komplex steht der Archetypus oder umgekehrt entstehen die Komplexe nicht irgendwo im Feld des kollektiven Unbewussten, sondern im Umkreis der Archetypen, die selber Brennpunkte des psychischen Geschehens sind. Jung ist beim Verfolgen und weiteren Erforschen so auf die Archetypen gestoßen. Im Fall »Babette« ist das sehr anschaulich, dass die Wahnideen nicht beim Mutterkomplex stehen bleiben, sondern zum Archetypus der Großen Mutter weiterschreiten.
» In Träumen, Visionen, krankhaften Halluzinationen und Wahnideen treten die autonomen Komplexe der Psyche am deutlichsten hervor. Weil sie dem Ich unbewusst, also fremd sind, erscheinen sie zunächst immer projiziert. Im Traum sind sie durch andere Personen dargestellt, in der Vision gewissermaßen in den Raum projiziert, wie in der Geistesstörung die Stimmen, insofern diese nicht von den Kranken direkt den Personen ihrer Umgebung zugeschrieben werden. Die Verfolgungsideen richten sich bekanntlich häufig auf bestimmte Personen, welche mit den Qualitäten des unbewussten Komplexes ausgestattet
339 Literatur
werden. Sie werden vom Kranken als feindlich empfunden, weil sein Ich dem unbewussten Komplex feindlich gegenübersteht, etwa wie Saulus seinem nichtanerkannten Christuskomplex. (8, 584)
«
Alles, was unbewusst ist, ist projiziert, weil es dem Ich als fremd erscheint. Wir können uns nicht vorstellen, dass Inhalte, welche nicht mit dem Ich assoziiert sind, auch zu uns gehören könnten. Tatsächlich kann man eigentlich von unbewussten Inhalten gar nicht sicher sagen, zu wem sie gehören. > Das Ich ist das Zentrum des Bewusstseins, nichts kann bewusst sein ohne ein Ich. Dieses ist eine Kontinuität von Vorstellungen über die eigene Person, von Erinnerungen und von Wahrnehmungen des eigenen Körpers. Diese psychischen Fakten bilden den Ichkomplex.
unser Interesse anzieht. Bewusst werden kann nur ein Inhalt, der mit dem Ich in Verbindung tritt. Es gibt also kein »kosmisches Bewusstsein«. Wir müssen uns mit diesem Thema noch eingehender befassen, weil es für das Verständnis der Neurose so ungeheuer wichtig ist.
Literatur Primärliteratur (Quellen) 1
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» Dieser Komplex besitzt eine große Anziehungskraft, wie ein Magnet; er zieht Inhalte aus dem Unbewussten an, aus jenem dunklen Gebiet, von dem wir nichts wissen; er zieht auch Eindrücke aus der Außenwelt an, und was von all dem in Verbindung mit dem Ich tritt, wird bewusst. (18/I, 18)
«
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sich alle Bewusstseinsinhalte beziehen, zu verstehen. Er bildet gewissermaßen das Zentrum des Bewusstseinsfeldes, und insofern dieses die empirische Persönlichkeit umfasst, ist das Ich das Subjekt aller Bewusstseinsakte. (9/II, 1)
«
» Das Ich ist definitionsgemäß dem Selbst, der nicht völlig erfassbaren Gesamtpersönlichkeit, untergeordnet und verhält sich zu ihm wie ein Teil zum Ganzen. (9/II, 9)
«
Das Ich ist das Zentrum des Bewusstseinsfeldes. Es ist ein Feld, weil seine Ausdehnung ja nach dem wechselt, was unsere Aufmerksamkeit und
Jaffé A (Hrsg.) (1971) Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G. Jung. (Erstveröffentlichung: Rascher, Zürich Stuttgart 1962). Walter, Olten Jaffé A (Hrsg.) (1972/73) Briefe. Erster Band 1906–1945 (1972); Zweiter Band 1946–1955 (1972); Dritter Band 1956–1961 (1973 mit Nachtrag neu aufgefundener Briefe). In Zusammenarbeit mit Adler G, London. Walter, Olten Freiburg Jung CG (1979) Experimentelle Untersuchungen. I. Diagnostische Assoziationsstudien. 1904–1910. GW 2. Walter, Olten Jung CG (1982) Allgemeines zur Komplextheorie (Kultur- und staatswissenschaftliche Schriften der ETH, 12). Aarau 1934. Über psychische Energetik und das Wesen der Träume. 1948, 3, leicht revidiert. GW 8, 3., 1967, vollst. revidiert 1976, 41982. Walter, Olten Jung CG (1981) Über Grundlagen der analytischen Psychologie. Die Tavistock Lectures. Zürich, 1969. Olten 1975; stark revidierte Neuauflage in: Das symbolische Leben. GW 18, 1. Walter, Olten
Sekundärliteratur 6
» Unter »Ich« ist jener komplexe Faktor, auf den
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Das Ich
A. Ribi, Neurose – an der Grenze zwischen krank und gesund, DOI 10.1007/978-3-642-16148-3_20, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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Kapitel 20 • Das Ich
Das Ich erscheint auf den ersten Blick eine einfache Sache, doch entpuppt es sich bei genauer Untersuchung als etwas recht Kompliziertes. Das ist insoweit nicht verwunderlich, weil es sowohl Objekt der Forschung als auch Subjekt aller Aussagen ist.
keine Erinnerung an ihre eigene Person birgt. Wir müssen zugeben, dass wir, wenn wir »ich« sagen, kein absolutes Kriterium dafür haben, ob wir dieses »Ich« voll erfahren oder nicht…
«
Das gibt Jung zum Ich zu bedenken und fährt fort:
In den Tavistock Lectures von 1935 heißt es:
» Psychologie ist zunächst einmal eine Wissenschaft vom Bewusstsein. Sodann ist sie eine Wissenschaft von den Erzeugnissen dessen, was wir das unbewusste Seelenleben nennen. Wir können das Unbewusste nicht direkt erforschen – eben weil es unbewusst ist und wir keinen Zugang zu ihm haben. Wir können uns nur mit den bewussten Gegebenheiten befassen, von denen wir annehmen, dass sie ihre Wurzeln in dem Bereich haben, den wir das Unbewusste nennen. […] Was immer wir über das Unbewusste aussagen, wird vom Bewusstsein ausgesagt. Das Bewusstsein ist eine seltsame Sache. Es ist ein intermittierendes Phänomen. Ein Fünftel oder ein Drittel, oder vielleicht sogar die Hälfte des menschlichen Lebens spielt sich in einem unbewusst-bewussten Zustand ab. Unsere erste Kindheit verläuft unbewusst. Jede Nacht sinken wir ins Unbewusste, und nur zu bestimmten Zeiten zwischen Wachen und Schlaf besitzen wir ein mehr oder weniger klares Bewusstsein. Man kann sich sogar fragen, wie klar dieses Bewusstsein überhaupt ist. So könnte man z. B. annehmen, dass ein zehnjähriges Kind bereits bewusst ist, aber es wäre leicht zu zeigen, dass es sich dabei um ein Bewusstsein merkwürdiger Art handelt, nämlich vermutlich um ein Bewusstsein ohne jede Ichbewusstheit. Ich weiß von vielen Kindern, die mit elf, zwölf, vierzehn Jahren oder noch später plötzlich erleben: »Ich bin«. Zum ersten Mal in ihrem Leben spüren sie, dass sie selbst erleben, dass sie in eine Vergangenheit zurückblicken können, die Erinnerung an Dinge, aber
»
Das Bewusstsein ist wie die Oberfläche oder eine Haut über einem ausgedehnten unbewussten Gebiet, dessen Umfang wir nicht kennen. Da wir nichts vom Unbewussten wissen, können wir auch seinen Herrschaftsbereich nicht abstecken. Über etwas, das man nicht kennt, kann man keine Aussagen machen. […] Wir haben lediglich indirekte Anhaltspunkte dafür, dass es ein psychisches Gebiet unterhalb der Bewusstseinsschwelle gibt. […] Aus den Inhalten, welche das Unbewusste hervorbringt, können wir gewisse Schlüsse auf sein Wesen ziehen. Wir dürfen aber in unseren Schlussfolgerungen nicht allzu anthropomorph vorgehen, denn es wäre durchaus möglich, dass die Dinge in Wirklichkeit ganz anders sind, als unser Bewusstsein sie sieht. […] Es geht immer um ein »als ob«. […] Das Bewusstsein ist überdies durch eine gewisse Enge charakterisiert. Es kann in einem gegebenen Augenblick immer nur einige wenige Inhalte gleichzeitig festhalten. Alles übrige ist dann unbewusst. […] Es ist uns nicht möglich, die Ganzheit ins Bild zu bekommen – dafür ist unser Bewusstsein zu begrenzt. […] Es ist, wie wenn wir die Welt durch einen schmalen Spalt beobachten würden, der nur die Sicht auf einen kleinen Ausschnitt freigibt; alles andere liegt im Dunkeln und ist unserer Wahrnehmung entzogen. Das Reich des Unbewussten ist riesengroß und kontinuierlich, während das Reich des Bewusstseins einem begrenzten Feld dauernd wechselnder, momentaner Einblicke gleicht. Das Bewusstsein beruht weitgehend auf der
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343 Das Ich
Wahrnehmung und der Orientierung in der Außenwelt. Es ist vermutlich im Großhirn lokalisiert. […]
dass eine »Selbsterkenntnis«, die nur auf dem beruht, was das Ich weiß, keine wirkliche Erkenntnis ist.
Ich möchte es umgekehrt ausdrücken. Ich würde sagen, dass offensichtlich zuerst das Unbewusste da ist und dass das Bewusstsein sich aus einem unbewussten Zustand entwickelt. In der frühen Kindheit leben wir unbewusst; die wichtigsten Instinktfunktionen laufen unbewusst ab, und das Bewusstsein muss erst vom Unbewussten hervorgebracht werden. […] Bewusst leben ist mühsam. […] Das Bewusstsein zu entwickeln, ist eine fast unnatürliche Anstrengung. […] Wesentlich am Bewusstsein ist, dass nichts bewusst sein kann ohne ein Ich, auf das es sich bezieht. Was nicht ans Ich angeschlossen ist, ist nicht bewusst. […] Was aber ist das Ich? […] Meiner Vorstellung nach ist das Ich eine Art von Komplex. […] Es steht dauernd im Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit und unserer Wünsche, und es ist das absolut unumgängliche Zentrum des Bewusstseins. (18/I, 8–19) [4]
» Das Ich kennt seine eigenen Inhalte, nicht aber das Unbewusste und dessen Inhalte. (10, 491) «
«
Wir wollen es bei dieser schönen summarischen Beschreibung belassen. Mir fällt auf, wie vorsichtig Jung formuliert, was wir wissen können und was wir nicht wissen können. Das Unbewusste ist eine Hypothese, und wir können nur indirekt darüber etwas erfahren. Alle unsere Aussagen darüber sind Aussagen des Bewusstseins, das ein völlig anderes Medium ist. Das merkt man deutlich, wenn man beim Erwachen aus einem Traum versucht, sich diesen in Erinnerung zu rufen.
» Wenn kein Ich existiert, ist niemand da, dem etwas bewusst werden kann. Das Ich ist deshalb unentbehrlich für den Bewusstwerdungsprozess. (11, 374)
«
Das klingt zwar selbstverständlich, aber im gegebenen Fall vergisst man das Selbstverständliche immer wieder. Das Ich ist ebenso beschränkt,
Es ist also eine sehr begrenzte Größe und doch setzt es sich aus wesentlichen Funktionen zusammen.
» Bei aller Einheit des Ichs handelt es sich um eine mannigfaltig zusammengesetzte Größe. Es beruht auf den Abbildern der Sinnesfunktionen, welche Reize von innen nach außen vermitteln, und es beruht des ferneren auf einer ungeheuren Ansammlung von Bildern vergangener Vorgänge. […] Das Bewusstsein scheint damit die unerlässliche Vorbedingung des Ich zu sein. […] Das Ich ist auch Abbild […] sehr vieler Vorgänge und ihres Zusammenspielens, […] nämlich aller jener Vorgänge und Inhalte, die das Ichbewusstsein zusammensetzen. […] Ich spreche daher nicht bloß von dem Ich, sondern von einem Ichkomplex. (8, 611)
«
In »Zur Psychologie westlicher und östlicher Religion« äußert er sich folgendermaßen:
» Ich denke mir das Ichbewusstsein als eine Zusammensetzung der verschiedenen »Sinnesbewusstseine«, wobei die Selbständigkeit des einzelnen Bewusstseins in der Einheit des übergeordneten Ich untergegangen ist. (11, 614)
«
Das Ich entpuppt sich, wie eingangs gesagt, bei genauer Untersuchung als etwas recht Kompliziertes.
» Das Ich beruht erfahrungsgemäß auf zwei anscheinend verschiedenen Grundlagen, nämlich erstens auf einer somatischen und zweitens auf einer psychischen. […] Ein großer Teil der endosomatischen Reizvorstellungen sind schlechter-
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Kapitel 20 • Das Ich
dings bewusstseinsunfähig. […] Ich habe darum vorgeschlagen, den Begriff des Psychischen nur in jener Sphäre anzuwenden, wo nachweisbar ein Wille den reflexmäßigen respektive instinktiven Vorgang zu verändern vermag. […] Einerseits beruht das Ich auf dem gesamten Bewusstseinsfeld, andererseits auf der Gesamtheit unbewusster Inhalte. Diese zerfallen in drei Gruppen: Erstens temporär subliminale, das heißt willkürlich reproduzierbare (Gedächtnis), zweitens nicht willkürlich reproduzierbare, unbewusste, und drittens überhaupt nicht bewusstseinsfähige Inhalte. […] Wenn ich […] sage, das Ich beruhe auf dem gesamten Bewusstseinsfeld, so meine ich damit nicht, dass es daraus bestehe. (9/II, 3–5)
«
Das gibt dem Leser einen noch tieferen Einblick in das, was Jung unter dem Ich versteht, aus einer späteren Schaffensperiode, aus dem Buch Aion. Aion gehört zu den großen Werken über Alchemie, die ihm einen weiteren Horizont des kollektiven Unbewussten und der Synchronizität erschlossen.
wird vom Unbewussten automatisch ausgeglichen, um das Lebensoptimum herzustellen.
» Das Ich ist dem Unbewussten gegenüber als gleichwertig festzuhalten, und vice versa. (8, 183)
«
Dieses subtile Wechselspiel zwischen den beiden, diese Wechselwirkung, die normalerweise nur gelingen kann, wenn beide als gleichwertig anerkannt werden, erhält das seelische Gleichgewicht.
» Unter Psyche verstehe ich die Gesamtheit aller psychischen Vorgänge, sowohl der bewussten wie der unbewussten. Unter Seele dagegen verstehe ich einen bestimmten, abgegrenzten Funktionskomplex, den man am besten als eine »Persönlichkeit« charakterisieren könnte. (6, 799)
«
» Das Ich ist ein arbiträres Fragment, das Selbst
Das schreibt Jung in den Definitionen, wo er einige seiner oft verwendeten Begriffe klar umschreibt, weil sie dem Leser seiner Werke oft Mühe bereiten. Die Seele ist ohnehin ein so allgemeiner Begriff, dass man stets fragen muss, was der, der ihn verwendet, damit meint. Bei Jung hat er eine leicht andere Bedeutung als im christlichen Sprachgebrauch, die berücksichtigt werden muss. Ohne das Selbst hätte das Ich in seiner Subjektivität keinen Standpunkt außerhalb, keinen archimedischen Punkt, auf welchen es sich beziehen könnte.
aber die ungewollte Ganzheit. (18/II, 1792; Kommentar zu einem Bild von 1959)
» Ohne die Objektivation des Selbst bliebe das
» Die eigentlich dem Subjekt zugrunde liegende Größe, nämlich das Selbst, ist bei weitem umfangreicher als das Ich, indem jenes auch das Unbewusste umfasst, während dieses im Wesentlichen der Mittelpunkt des Bewusstseins ist. (6, 623)
«
«
Zwischen dem Unbewussten und dem Ich besteht, wie ich in 7 Kap. 15 dargelegt habe, eine enge Zusammenarbeit. Weil alles zwei Seiten hat, gegensätzlich ist, das Bewusstsein jedoch Eindeutigkeit, Widerspruchsfreiheit, anstrebt, steht es ständig in Gefahr, der Einseitigkeit zu verfallen. Im Normalfall ist diese nicht gravierend und
Ich in hoffnungsloser Subjektivität befangen und könnte sich nur um sich selbst drehen. (11, 428)
«
Es war daher in der Wissenschaft eine kopernikanische Wende als das Unbewusste als eine Tatsache anerkannt wurde. Vorher drehte sich das Erkennen nur um sich selber, ähnlich dem geo-
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zentrischen System. Jetzt hat man realisiert, dass es einen höheren Mittelpunkt gibt, das Selbst, in dessen System das Ich nur ein Komplex ist unter anderen und dass dieses die Stabilität der Vielfalt in der Einheit verbürgt.
Menschen erscheinenden Bewusstseins innegeworden. Der Westen dagegen hat die Kleinheit, Schwäche und Sündhaftigkeit des Ich betont, obschon er den einen Menschen zur Gottheit erhoben hat. (14/I, 127)
» Es ist leicht möglich, dass die Betonung der
Es kommt also darauf an, aus welchem Hintergrund man die Dinge betrachtet.
Ichpersönlichkeit und der Bewusstseinswelt ein solches Ausmaß annimmt, dass die Figuren des Unbewussten psychologisiert und damit das Selbst an das Ich assimiliert werden. (9/II, 47)
«
Dadurch erhält das Ich eine viel zu große Bedeutung: Inflation. Das Ich löst sich im kollektiven Unbewussten auf. Was äußerlich nach einem Zuwachs von Bedeutung aussieht, ist im Grunde eine Katastrophe, eine Anmaßung, ein Größenwahn. Die Bewusstseinswelt wird zugunsten der Realität des Unbewussten abgebaut, das Leben wird zum Traum, die Anpassung an die Realität ist nicht mehr möglich.
» Diese überhebliche Haltung entspringt einer Inflation, die dadurch entstanden ist, dass der Erleuchtete sich mit seinem Licht identifiziert, das heißt sein Ich mit seinem Selbst verwechselt und sich daher über seine Dunkelheit erhaben wähnt. Er vergisst, dass Licht nur dort Sinn hat, wo es eine Dunkelheit erleuchtet, und dass seine Erleuchtung ihm nur dann ihre Dienste leistet, wenn sie ihm hilft, seine eigene Dunkelheit zu erkennen. (11, 438)
«
> Die Erkenntnis des Ichs ist nur ein Spalt, der sich auf eine gigantische Dunkelheit öffnet. Eine wirkliche Erleuchtung kommt stets vom Selbst, welches allein fähig ist, die Pforte ganz aufzureißen.
» Es ist die übliche Überzeugung des Okzidents, dass Gott und Ich das Allerverschiedenste seien. Indien dagegen hält deren Identität für selbstverständlich. Der indische Geist ist in seiner Art der weltschöpferischen Bedeutung des im
«
Literatur Primärliteratur (Quellen) 1
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Jung CG (1981) Die Beziehungen zwischen dem Ich und dem Unbewussten. GW 7. 2. 1964, 31981. Erstmals erschienen: Darmstadt 1928. Nachdruck: 1933, 1935, 1938 Jung CG (1983) Aion. Beiträge zur Symbolik des Selbst. GW 9/II. 1976, 51983. Erstmals erschienen: Aion. Untersuchungen zur Symbolgeschichte. Zürich 1951, 1954 I. Kapitel: Das Ich Jung CG (1981) Über Grundlagen der Analytischen Psychologie. Die Tavistock Lectures. Zürich 1969. Olten 1975. Stark revidierte Neuausgabe GW 18, 1. 1981. Vortrag an der Tavistock-Klinik in London (1935)
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Das Selbst
A. Ribi, Neurose – an der Grenze zwischen krank und gesund, DOI 10.1007/978-3-642-16148-3_21, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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Kapitel 21 • Das Selbst
Jung fasst es in einer prägnanten Formel zusammen: »Das Ich ist ein arbiträres Fragment, das Selbst aber die ungewollte Ganzheit.« (18/ II, 1792)
» Psychologisch ist das Selbst definiert als die psychische Ganzheit des Menschen. (11, 232) « Das tönt so einfach und ist doch ein großes Geheimnis!
» Das Selbst als ein Symbol der Ganzheit ist eine coïncidentia oppositorum, enthält also Licht und Finsternis zugleich. (5, 576)
«
Hier nun stößt unsere Vernunft schon an ihre Grenzen, denn wir können uns zwar einen »lieben Gott« und einen »dunklen Teufel« vorstellen, aber nicht beides in einem, was coïncidentia aussagt. Das Selbst, als Wort eine so handliche Münze, ist etwas Transzendentales, was unser bewusstes Fassungsvermögen weit übersteigt.
» Ich bezeichne die »übergeordnete Persönlichkeit« gewöhnlich als »Selbst«. (9/I, 315) « Weil es dem Bewusstsein übergeordnet ist, ist es umfänglicher als dieses; der kleinere Kreis kann den größeren nicht umgreifen.
» Das Selbst, das mich umfasst, umfasst auch viele andere. […] Es ist paradoxerweise Quintessenz des Individuums und doch zugleich ein Kollektivum. (13, 226)
«
Naive Gläubige können sich nicht vorstellen, dass Gott sich gleichzeitig um alle Menschen kümmern könne; da müsste er doch wohl viel zu tun haben, da es nur einen Gott gebe. Gott ist eben nicht der Gottesvorstellung der Jugendzeit entsprechend, sondern einem reiferen Verständnis, unfassbar, unvorstellbar.
» Durch die paradoxe Natur des Lichtes in der Physik ermutigt, darf sich daher der Psychologe an die Lösung dieses widerspruchsvollen Problems heranwagen, ohne das Gefühl zu haben, mit seinem Abenteuer aus der Welt des naturwissenschaftlichen Geistes herauszufallen. Es handelt sich ja nicht darum, eine Behauptung [z. B. »das Selbst sei Gott«] aufzustellen, sondern vielmehr ein Modell zu entwerfen, welches eine mehr oder weniger nützliche Fragestellung verspricht. Ein Modell sagt nicht, es sei so, sondern es veranschaulicht nur einen bestimmten Betrachtungsmodus. (8, 381)
«
Das musste gesagt werden, wenn man wissenschaftlich etwas über das Unbewusste oder das Selbst aussagen möchte, weil, wie oben erwähnt, alle Aussagen vom Bewusstsein, dem kleineren Kreis, über den größeren gemacht werden.
» Ich habe das Selbst […] als die Ganzheit der bewussten und unbewussten Psyche, das Ich dagegen als zentralen Bezugspunkt des Bewusstseins definiert. Es ist ein wesentlicher Teil des Selbst, welcher pars pro toto für dasselbe eintreten kann, wenn man die Bedeutung des Bewusstseins im Auge hat [z. B. in Indien]. Wenn man dagegen die psychische Ganzheit hervorheben möchte, so würde man sich eher des Ausdruckes »Selbst« bedienen. Es handelt sich also keineswegs um eine widersprüchliche Definition, sondern bloß um einen veränderten Standpunkt der Betrachtung. (14/I, 129)
«
Man kann über transzendentale Gegenstände nur in Antinomien aussagen. So sagt die indische Spekulation vom Wesen des Atman, er sei »kleiner als klein« als individuelle Erscheinung und »größer als groß« als Äquivalent der Welt.
» Das Selbst als der Gegenpol, als das absolut »andere« der Welt, ist die conditio sine qua non der Welterkenntnis und des Bewusstseins von
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349 Das Selbst
Subjekt und Objekt. […] Identität ermöglicht nämlich kein Bewusstsein, nur die Trennung, die Loslösung und das leidensvolle In-GegensatzGestelltsein, kann Bewusstsein und Erkenntnis erzeugen. (9/I, 289)
«
wegen seiner transzendentalen Natur tun, welche über den Gegensätzen von innen und außen steht.
» Wir stehen wohl mit unserer Seele zwischen
» Obgleich das Ich-Bewusstsein zunächst iden-
bedeutenden Wirkungen von innen und außen, und irgendwie müssen wir beiden gerecht werden. […] Daher müssen wir uns auf uns selber besinnen, nicht auf »was man sollte«, sondern was man kann und was man muss. […] Dieses »Etwas« ist uns fremd und doch so nah, ganz uns selber und doch unerkennbar, ein virtueller Mittelpunkt von solch geheimnisvoller Konstitution, dass es alles fordern kann, Verwandtschaft mit Tieren und mit Göttern, mit Kristallen und Sternen, ohne uns in Verwunderung zu versetzen, ja ohne unsere Missbilligung zu erregen. […] Die Anfänge unseres ganzen seelischen Lebens scheinen unentwirrbar aus diesem Punkt zu entspringen, und alle höchsten und letzten Ziele scheinen auf ihn hinzulaufen. (7, 397–399)
tisch ist mit der Persona – jenem Kompromissgebilde, als das einer vor der Kollektivität erscheint und insofern eine Rolle spielt –, so kann das unbewusste Selbst doch nicht dermaßen verdrängt werden, dass es sich nicht bemerkbar machen würde. […] Die rein persönliche Einstellung des Bewusstseins bewirkt Reaktionen vonseiten der Unbewussten, welche neben persönlichen Verdrängungen Ansätze zur Individualentwicklung, unter der Hülle von kollektiven Phantasien, enthalten. (7, 247)
Für mich ist das die schönste Beschreibung des Selbst. Die Definition ist zwar einleuchtend, aber zu abstrakt. Man muss es beschreiben, umschreiben, damit es lebendig wird. Es ist uns »so nah, uns selber« und doch so fremd, weil es auch unmenschlich, übermenschlich, unbelebt, kosmisch, elementar und doch der Ursprung und das Ziel des Lebens ist. Es wird vom kleineren Kreis einfach nicht erfasst, es entzieht sich jeder Beschreibung und jedem Verstehen.
» Das Selbst könnte charakterisiert werden als
» Wenn wir daher den Begriff eines Gottes ge-
eine Art von Kompensation für den Konflikt zwischen Innen und Außen. (7, 404)
brauchen, so formulieren wir damit einfach eine bestimmte, psychologische Tatsache, nämlich die Unabhängigkeit und Übermacht gewisser psychischer Inhalte, die in ihrer Fähigkeit, den Willen zu durchkreuzen, das Bewusstsein zu obsedieren und die Stimmungen und Handlungen zu beeinflussen, sich ausdrückt. (7, 400)
In 7 Kap. 33 werde ich ausführen, dass Erkenntnis erst möglich sei, wenn die Identität aufgehoben ist. Das Selbst als die Gegenwelt zum Ich, regt diese Unterscheidung an. Damit führt es zur Bewusstwerdung. Die Identität ist das, woran wir hängen, was wir nicht wegzugeben bereit sind. Darum bedarf es des Opfers. Man kann jedoch nur etwas opfern, das man hat. Durch das Opfer besitzt man es jedoch erst, weil man nicht mehr damit identisch ist, wenn man es weggeben kann. Durch das Opfer verliert man nicht etwas, sondern man wird reicher. Denn man hat etwas erst, wenn es einem objektiv gegenübersteht [9].
«
«
Die Einstellung nach Innen und jene nach Außen sind zwei feindliche Brüder [8], welche einander verdrängen und bekämpfen. Dennoch sind beide gleichwertig, denn sie ermöglichen sowohl die Anpassung nach innen wie nach außen. Das Selbst hebt den Konflikt auf, indem es nach beiden Seiten eine Brücke bildet. Das kann es nur
«
«
Jung sagt nicht, das Selbst sei Gott.
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Kapitel 21 • Das Selbst
> Das Selbst ist eine psychologisch-empirische Größe, welche im psychischen Raum alle jene Merkmale aufweist, die man für die Bezeichnung eines Gottes verwendet hat.
Dabei ist Gott ein allgemeiner Begriff, welcher nicht einen bestimmten Gott bezeichnet.
» Im wissenschaftlichen Sprachgebrauch weist das »Selbst« weder auf Christus noch auf Buddha hin, sondern auf die Gesamtheit entsprechender Gestalten, und jede dieser Gestalten ist ein Symbol des Selbst. […] Es ist überhaupt undenkbar, dass es irgendeine bestimmte Figur geben könnte, welche archetypische Unbestimmtheit ausdrückte. (12, 20)
«
Das ist eine wichtige allgemeine Regel, dass der Archetypus immer umfassender ist als ein Bild, eine Imago, eben wegen der Unbestimmtheit des Archetypus. Dieser ist nur eine Disposition und bedarf der Form, um real zu werden. Dadurch büßt er aber seinen Umfang ein und wird ein Bestimmtes.
» Einheit und Ganzheit stehen auf der höchsten Stufe der objektiven Wertskala, denn ihre Symbole lassen sich nicht mehr von der imago Dei unterscheiden. […] Der Intellekt ist zwar in seinem eigenen Gebiet von unbezweifelbarer Nützlichkeit, aber darüber hinaus ist er ein großer Betrüger und Illusionskünstler, nämlich dort, wo er Werte zu handhaben versucht. (9/2, 60)
«
In diesem Gebiet, das ins Theologische und in den Glauben hinübergreift, ist die Gefahr besonders groß, dass sich der Intellekt einmischt. Die zahlreichen »Gottesbeweise« sind ein historisches Denkmal dafür. Man kann Gott nicht beweisen, sondern nur erleben. Was man erlebt hat, braucht man nicht hinterher zu beweisen; Erleben ist die Tatsache selber, welche keines Beweises bedarf. In diesem Gebiet war Jung sehr offen: Selbst Wahnideen sind für ihn zunächst
nicht ein Irrtum, sondern eine psychische Tatsache, welche es wert ist, genauer untersucht zu werden. Ähnlich verhält es sich mit dem »Aberglauben«. Der ist ebenfalls in erster Linie eine psychische Aussage, welche auf ihren Sinn hin zu untersuchen ist. Werturteile von richtig und falsch sind voreilig. Man kann daher seine Psychologie und insbesondere religiöse Phänomene nicht nur intellektuell verstehen.
» So lange ein geistiger oder überhaupt ein psychischer Vorgang unbewusst ist, steht er unter dem Gesetz archetypischer Dispositionen, welche zum Selbst angeordnet sind. (11, 238)
«
Phantasien, die spontan im Unbewussten ablaufen und vom Bewusstsein sekundär aufgenommen werden, zielen letztlich auf die Bewusstwerdung des »ganzen Menschen«. Sie sind nicht beliebig, sondern gerichtet, weil sie vom Selbst angeordnet werden. Sie sind ein Teil des göttlichen Lebensprozesses; mit anderen Worten:
» Gott wird offenbar im menschlichen Reflexionsakt. (11, 238) « Das schreibt Jung bei der Erläuterung des Trinitätsdogmas, wenn die Phantasien nicht wild durcheinander gehen, sondern ein Ziel haben: Die Erkenntnis des Höchsten. Dann ist das Selbst konstelliert und ordnet die Phantasien im Unbewussten an.
» Der geistige Mensch ist dadurch gekennzeichnet, dass er Selbst- und Gotteskenntnis sucht. (13, 126)
«
Die natürliche Entwicklung des Menschen geht auf dieses Ziel: die Individuation (7 Kap. 22). Da sich das Selbst als der größere Kreis der Beschreibung durch ein Bewusstsein entzieht, wird es in erster Linie symbolisch dargestellt.
351 Das Selbst
» Es scheint, als ob der Mensch, der vergeblich seine Existenz sucht und daraus eine Philosophie macht, nur durch das Erlebnis symbolischer Wirklichkeit den Rückweg in jene Welt, in der er kein Fremdling ist, wieder findet. (9/I, 198)
«
Das Bewusstsein ist in seiner Begrifflichkeit gefangen, die bildhafte Ausdrucksweise des Symbols sprengt diese Enge und weist in ahnungsvolle Weiten. Die Symbole des Selbst sind so vielfältig, weil sie nicht bloß das Leben, sondern das Weltall umfassen.
» Die Symbole des Selbst entstehen in der Tiefe des Körpers und drücken dessen Stofflichkeit ebensosehr aus wie die Struktur des wahrnehmenden Bewusstseins. […] Die tieferen »Schichten« der Psyche verlieren mit zunehmender Tiefe und Dunkelheit die individuelle Einzigartigkeit. (9/I, 291)
«
» Obschon die Symbole des Selbst durch unbewusste Aktivität hervorgebracht werden und sich am ehesten in Träumen manifestieren, sind die Tatsachen, welche die Idee umfasst, nicht nur seelisch. Sie schließen auch Aspekte der physischen Existenz ein. (11, 808)
«
» Die Wurzeln des Lebensbaumes reichen in die Welt des Unbelebten, ins Mineralreich hinunter. Ins Psychologische übersetzt würde das heißen, dass das Selbst im Körper (= Erde), und zwar in dessen chemischen Elementen wurzle. (13, 242)
«
Es ist einleuchtend, dass jeder lebende Organismus auch aus anorganischen Elementen besteht. Die Tatsache, dass die Symbole des Selbst darauf hinweisen, scheint mir einen noch tieferen Grund zu haben, nämlich dass die Psyche sich bis in jede Körperzelle, ja sogar bis in die chemischen Elemente erstreckt. Nur so sind unwillkürliche synchronistische körperliche Veränderungen (Wunderheilungen usw.) verständ-
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lich. Als Arzt sollte man daher nie behaupten, eine körperliche Wende zum Besseren oder Schlechteren sei unmöglich. Man muss mit unbegrenzten Möglichkeiten rechnen, Deo concedente! würden die Alchemisten sagen. Denn ihr Wunderstein stammt auch von dorther, wo ihn niemand erwarten würde. Darum sind im Selbst innen und außen vereint. Deshalb ereignen sich Synchronizitäten im Umkreis des Selbst, das jenseits der Dichotomie von Körper und Seele steht.
» Wenn nämlich die natürlicherweise vorhandene Identität mit dem Selbst erkennbar wird, so bietet sich eine Möglichkeit zur Befreiung aus einem Zustand der Unbewusstheit. […] Es handelt sich bei dieser Erkenntnis […] nicht bloß um einen intellektuellen Akt, sondern darüber hinaus auch um eine moralische Tat, neben welcher das Erkenntnismäßige in den Hintergrund treten kann. (13, 332)
«
Die Beziehung zwischen dem Ich und dem Selbst ist ein heikles Problem. Naiverweise bemerkt man keinen Unterschied, so lange die Kooperation glatt läuft. Es schmeichelt sogar dem Ich, sich gewisse Erfolge, die es dem Selbst verdankt, selber zuzuschreiben. Das braucht noch keine Inflation zu sein; es scheint einfach eine Aufwertung des ständig von Minderwertigkeit bedrohten Ichs. Doch allen Gefühlen von Minderwertigkeit liegt auf der Gegenseite eine Überheblichkeit zugrunde. Man erwartet von sich Höheres, als einem zukommt. Das wird manchmal auch erreicht, aber nur mit Hilfe des Selbst. Da ist es so verführerisch, den Erfolg seinem Ich zuzuschreiben.
» Psychologisch will dies soviel bedeuten, als dass die erste Begegnung mit dem Selbst alle jene negativen Eigenschaften aufweisen kann, welche für den unvorbereiteten Zusammenstoß mit dem Unbewussten fast in der Regel charakteristisch sind. Die Gefahr besteht in der Möglichkeit einer fatalen Überschwemmung, welche im schlimmen Falle psychotischer Natur ist, nämlich
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Kapitel 21 • Das Selbst
dann, wenn das Bewusstsein weder intellektuell noch moralisch den Einbruch unbewusster Inhalte auffangen kann. (13, 428)
Betrachtung und Beurteilung unserer Handlungen, zu einem anderen Teil aus der Beurteilung durch andere. (17, 111)
Das Selbst ist eine derartige Macht, dass das Ich, falls es nicht eine religiöse Haltung hat, überwältigt und überschwemmt wird. Überhaupt ist die Berührung des Unbewussten keine harmlose Sache. Jung widmet ein Kapitel im Aufsatz »Der philosophische Baum« der »Gefährlichkeit der Kunst« (13, 429ff.); es sei auch verwiesen auf »Der Stein, dem widersprochen wird« [7].
Wer genügend Selbstdisziplin hat, wird den geschilderten Irrwegen nicht verfallen. Und für diesen sind das Unbewusste oder das Selbst keine Gefahr.
«
» Seelische Erfahrungen haben, je nachdem sie richtig oder unrichtig verstanden werden, sehr verschiedene Effekte auf die weitere Entwicklung. […] Das Charakteristikum der pathologischen Reaktion ist in erster Linie die Identifikation mit dem Archetypus. […] In allen Fällen bedeutet die Identifikation mit dem Unbewussten eine gewisse Schwäche des Bewusstseins, und hierin liegt die Gefahr. (9/I, 621)
«
Das Unbewusste an sich ist für ein gefestigtes Bewusstsein keine Gefahr. Leider fühlen sich gerade Leute mit einer fragilen psychischen Konstitution von der Tiefenpsychologie besonders angezogen. Diese Anziehung aber ist im Grunde sinnvoll, denn sie heißt, diese Leute sollten sich ihrer Seele annehmen. Unglücklicherweise tun sie es oft in einer ungeeigneten Weise, indem sie sich einfach vom Unbewussten oder vom Selbst faszinieren lassen, statt es zu verstehen suchen. Für ein Verständnis braucht es eine ausdauernde Beschäftigung mit der Psyche und ein großes Wissen darum. Meist scheuen sie diesen hercules labor und wollen lieber die ästhetische Seite genießen. Die Seele ist jedoch nicht billig zu haben. Diese falsche Haltung kann in die Katastrophe führen.
» Zur Selbsterziehung bedürfen wir als unerlässlicher Basis der Selbsterkenntnis. Die Selbsterkenntnis gewinnen wir zum Teil durch kritische
«
» Das Selbst hat nur dann einen funktionellen Sinn, wenn es als Kompensation eines Ichbewusstseins wirken kann. Wird nämlich das Ich durch Identifikation mit dem Selbst aufgelöst, so entsteht daraus eine Art von vagem Übermenschen mit einem aufgeblasenen Ich und einem verblasenen Selbst. (8, 430)
«
Die wahren philosophischen Alchemisten haben sich um die richtige Einstellung bemüht.
» Wenn sich der Adept selber, das heißt den »wahren Menschen«, in seinem Werk erfährt, so tritt ihm damit […] die Analogie des »wahren Menschen«, nämlich Christus, in neuer und unmittelbarer Gestalt entgegen, und er erkennt in der ihm geschehenden Wandlung eine Ähnlichkeit mit der passio Christi. Es ist eben keine »imitatio« Christi mehr, sondern das Umgekehrte, nämlich eine Assimilation des Christusbildes an das eigene Selbst, eben den »wahren Menschen«. Es ist nicht mehr die Anstrengung und absichtsvolle Bemühung der imitatio, sondern das unwillkürliche Erlebnis der Wirklichkeit dessen, was durch die heilige Legende dargestellt ist. Diese Wirklichkeit stößt ihm in seiner Arbeit zu. (14/II, 157)
«
Wäre das dem Alchemisten bewusst gewesen, dass er das Erlösungswerk an Christi Stelle weiterführt, so wäre die Versuchung nahegelegen sich mit ihm zu identifizieren und als großer Heiler der Welt ein neues Licht aufzusetzen, wie vor ihm zahlreiche Illuminaten [6] es getan haben. Dank seiner Unbewusstheit und seines reinen Herzens entging er dieser Versuchung.
353 Literatur
uns so klein erscheinen, dass wir kompensatorisch des Selbst bedürfen, das uns den wirklichen ewigen Wert erteilt.
» Weil der Mikrokosmos mit dem Makrokosmos identisch ist, so zieht ersterer den letzteren an, wodurch eine Art von Apokatastasis, eine Wiederherstellung alles Vereinzelten zur ursprünglichen Ganzheit, bewerkstelligt wird. So wird »jegliches Korn zum Weizen und alles Metall zu Gold«, wie der Meister Eckhart sagt, und der kleine, einzelne Mensch wird zum »großen Menschen«, zum »homo maximus« oder Anthropos, das heißt zum Selbst. Was im »physischen« Sinn die alchemische Transmutation zum Gold ist, das bewirkt im moralischen Sinn die Selbsterkenntnis, welche eine Wiedererinnerung des ganzheitlichen Menschen bedeutet. (13, 371)
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Jung schreibt in seinen Erinnerungen:
» In dieser Begrenztheit erfahre ich mich zugleich als begrenzt und ewig, als das Eine und das Andere. Indem ich mich einzigartig weiß in meiner persönlichen Kombination, das heißt letztlich begrenzt, habe ich die Möglichkeit, auch des Grenzenlosen bewusst zu werden. Aber nur dann. ([1] S. 328)
«
«
Der Mensch erwacht im Laufe seines Lebens aus der vorgeburtlichen Ganzheit zu seiner bewussten Individualität. Diese umfasst jedoch nur einen Teil des Menschen, nämlich das Bewusstsein. Im Laufe der weiteren Entwicklung muss der andere Teil wieder an den emanzipierten angeschlossen werden, um die Ganzheit auf höherer Stufe wieder herzustellen.
» Wachsende psychologische Einsicht verhindert mehr und mehr die Projektion des Schattens, und die Zunahme an Erkenntnis führt logischerweise zum Problem der Gegensatzvereinigung, denn man versteht zuerst, dass man seinen Schatten nicht auf andere projizieren kann, und hernach, dass es keinen Vorteil hat, auf der Schuld des anderen zu insistieren, da es so viel wichtiger ist, seine eigene Schuld zu kennen und zu besitzen, denn sie ist Teil des eignen Selbst und eine Bedingung, ohne welche sich nichts in dieser sublunaren Welt verwirklichen kann. (14/I, 196)
«
> Die eigene Schuld zu kennen macht uns menschlich und demütig und damit ist die Gefahr gebannt, sich mit dem Selbst zu identifizieren. Die eigene Unvollkommenheit und Schwäche zu kennen lässt
Literatur Primärliteratur (Quellen) 1 2
3
4
5
Jaffé A (Hrsg.) (1971) Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G. Jung. Walter, Olten Jung CG (1995) Aion. Beiträge zur Symbolik des Selbst. IV. Das Selbst. GW 9/2. Erstmals erschienen: Über das Selbst. Eranos Jahrbuch 1948, S. 285–315. (Vortrag im Psychologischen Club 1948). Dann in: Aion 1951 Jung CG (1995) Das Wandlungssymbol in der Messe. GW 11, 391–396, 397–401, 953–961. Walter, Solothurn Düsseldorf Jung CG (1995) Die Gefährlichkeit der Kunst. In: Der philosophische Baum. GW 13, S. 271 f. Walter, Solothurn Düsseldorf Jung CG (1995) Das Selbst und die erkenntnistheoretische Beschränkung. GW 14/II, 431–444. Walter, Solothurn Düsseldorf
Sekundärliteratur 6
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Frick KRH (1973) Die Erleuchteten. Gnostisch-theosophische und alchemistisch-rosenkreuzerische Geheimgesellschaften bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Geistesgeschichte der Neuzeit. Akademische Druck- und Verlagsanstalt Graz Ribi A (2007) Der Stein, dem widersprochen wird. In: Ein Leben im Dienst der Seele, S. 502 Ribi A (1993) Die feindlichen Brüder. Extraversion – Introversion. Zwei komplementäre Seiten eines einseitigen Weltbildes. Kundschafter, Brugg Ribi A (2002) Anthropos. Der ewige Mensch. Der ewige göttliche und kosmische Mensch in Geschichte, Politik und Tiefenpsychologie. Peter Lang, Bern. (Kap. 3: Das Opfer)
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Individuation
A. Ribi, Neurose – an der Grenze zwischen krank und gesund, DOI 10.1007/978-3-642-16148-3_22, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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Kapitel 22 • Individuation
»Am deutlichsten und sinnvollsten manifestiert sich das Kindmotiv in der Neurosentherapie bei dem durch die Analyse des Unbewussten hervorgerufenen Reifungsprozess der Persönlichkeit, den ich als Individuationsprozess bezeichnet habe.« (9/I, 270)
Im Unbewussten werden die Bilder und Motive der Träume um ein Zentrum hin angeordnet. Dieses tritt allmählich immer deutlicher hervor.
» Die Integration des Unbewussten vollzieht sich wahrscheinlich nur in seltenen Fällen spontan. In der Regel bedarf es hierzu besonderer Bemühungen, um die vom Unbewussten spontan produzierten Inhalte dem Verständnis zu erschließen. (13, 477)
«
Dieser spontane Prozess des Unbewussten bedarf einer Unterstützung durch das Bewusstsein, das sein Verständnis dazu beitragen muss. Erst dadurch werden die Inhalte dem Leben zugeführt.
» In Wirklichkeit ist der Individuationsprozess jener je nachdem einfache oder komplizierte biologische Vorgang, mit dem jedes lebende Wesen zu dem wird, wozu es von Anfang an zu werden bestimmt ist. (11, 460)
«
Der Prozess wird in der Alchemie als ludus puerorum (Kinderspiel) bezeichnet, also als einfach, weil er ganz natürlich ist. Andererseits ist er sehr kompliziert, weil das Bewusstsein, das sich in Sackgassen verrannt hat, nur mühsam versteht, wie das Unbewusste dieses auf den rechten Weg führen will. Je weiter das Bewusstsein abgewichen ist, umso schwieriger ist es, den Rückweg zu finden.
» Der Weg der sukzessiven Assimilation reicht weit über den speziell ärztlich interessanten Heilerfolg hinaus und führt schließlich zum fernen Ziel, das vielleicht als erste Ursache das Leben
veranlasste, nämlich zur völligen Verwirklichung des ganzen Menschen, zur Individuation. (16, 352)
«
Wir Ärzte haben es meist nur mit den Irrungen zu tun, wo dieser Prozess auf Abwege geraten ist. Und wenn diese Störung behoben ist, verlieren wir den Patienten aus den Augen. Deshalb erkennen wir den darunter liegenden zielgerichteten Prozess nur selten. Man würde wohl die Träume besser verstehen, wüsste man um das Ziel der Entwicklung. Im Brief an Robert C. Smith vom 16.VIII.1960 schreibt Jung:
» Der therapeutische Vorgang ist ein Lebensprozess, den ich als »Individuationsprozess« bezeichne. Es ist ein objektives Geschehen. […] Das Beste, was der Analytiker tun kann, ist, die natürliche Entwicklung dieses Prozesses nicht zu stören. ([1] III S. 330)
«
Smith hatte Jung gefragt, ob der Analytiker dem
Analysanden eine bestimmte Auffassung beibringen müsse, eine kollektive. Das machte Jung ziemlich wütend, weil jener nicht begriffen hatte, dass es sich um einen spontanen natürlichen Vorgang handelt, welchen der Therapeut unterstützen, aber nicht stören soll.
» Der Sinn und das Ziel des Prozesses sind die Verwirklichung der ursprünglich im embryonalen Keim angelegten Persönlichkeit mit allen ihren Aspekten. Es ist die Herstellung und Entfaltung der ursprünglichen, potentiellen Ganzheit. […] Diesen Vorgang habe ich als Individuationsprozess bezeichnet. (7, 186)
«
Das leuchtet unmittelbar ein, denn auch der Kern im Gehäuse des Apfels enthält schon alles, was er braucht, um ein neuer Apfelbaum zu werden. Das meint er, wenn er in einem früheren Exzerpt sagt, es sei die erste Tatsache des Lebens. Als Ärzte denken wir zu ausschließlich an die
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357 Individuation
körperliche Entfaltung zu einem vollständigen menschlichen Organismus. Warum, so muss man sich fragen, soll das nicht auch in der Psyche geschehen? Vielleicht ist das sogar noch wichtiger, weil es den Menschen nicht bloß zu einem Lebewesen wie andere, sondern spezifisch zum Menschen macht.
» Jeder Kulturfortschritt ist psychologisch eine Erweiterung des Bewusstseins, eine Bewusstwerdung, welche gar nicht anders als durch Unterscheidung zustande kommen kann. Ein Fortschritt beginnt daher immer mit Individuation, das heißt damit, dass ein Einzelner, seiner Vereinzelung bewusst, einen neuen Weg durchs bisher Unbetretene bahnt. (8, 111)
«
Jeder Individuationsprozess ist ein schöpferischer Vorgang, denn er hat sich bei dieser Persönlichkeit noch nie vorher ereignet, und es ist kein Lernvorgang, den ein Lehrer lehren könnte. Deshalb bedeutet er jedesmal, in jedem Leben einen, zwar infinitesimalen Zuwachs an kollektivem Bewusstsein. > Jeder, der sich um seine Individuation bemüht, trägt zur Bewusstwerdung der Menschheit bei.
Das scheint der Sinn der Menschwerdung in der Evolution zu sein.
» Der Weg der Individuation bedeutet: Zum Einzelwesen werden, um, insofern wir unter Individualität unsere innerste, letzte und unvergleichliche Einzigartigkeit verstehen, zum eigenen Selbst werden. (7, 266)
«
Jeder Mensch wird mit einer einmaligen Kombination von Möglichkeiten geboren. Man könnte sagen, jeder sei ein einmaliges Experiment der Natur, welche anscheinend ein Interesse hat zu sehen, was dieser Mensch mit seinen Talenten mit seinen Wechselfällen im Leben macht. In der Sprache der Physik sind die Möglichkeiten die
»Randbedingungen«, über welche das Individuum nicht hinaus kann und mit denen es die unvorhersehbaren Aufgaben des Lebens zu meistern versuchen muss. Die Individuation, den Werdeprozess, in diesem Licht zu sehen, scheint mir sinnvoll.
» Insofern die Individuation eine heroische oder tragische, das heißt eine schwerste Aufgabe darstellt, bedeutet sie Leiden, eine Passion des Ich, nämlich des empirischen, gewöhnlichen, bisherigen Menschen, dem es zustößt, in einen größeren Umfang aufgenommen und seiner sich frei dünkenden Eigenwilligkeit beraubt zu werden. (11, 233)
«
Im Individuationsprozess stößt das Ich an seine Grenzen und realisiert, dass es von etwas Gewaltigerem gelebt wird. Es ist ständiger Bedrohung ausgesetzt. Im Brief vom 13.VI.1955 an Pfarrer Walter Bernet schreibt Jung:
» Im Individuationsprozess steht das Ich stets an der Schwelle einer unbekannten Übermacht, die dem Ich den Boden zu entreißen und das Bewusstsein zu zerstückeln droht. Der Archetypus ist nicht bloß eine formale Bedingung der Aussage, sondern zugleich eine Ergriffenheit, der ich nichts Ähnliches an die Seite zu stellen wüsste. Ob dem Schrecken dieser Konfrontation würde es mir nicht einfallen, dieses ständig drohende und faszinierende Gegenüber mit dem vertraulichen »Du« anzureden, obschon paradoxerweise auch dieser Aspekt vorkommt. ([1] II S. 492)
«
Die Schwierigkeit des Individuationsprozesses ist die Orientierung. Weil es das Unbetretene und außerhalb der kollektiven Norm Liegende ist und weil das Unbewusste oft mehrdeutig interpretiert wird, verliert man leicht die Orientierung. Das ist die Bedrohung durch das Unbewusste und deshalb sollte niemand diesen Weg wählen, der nicht muss.
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Kapitel 22 • Individuation
» Die Individuation befindet sich immer mehr
» Gegenüber der gefährlichen Auflösungsten-
oder weniger im Gegensatz zur Kollektivnorm, denn sie ist Abscheidung und Differenzierung vom Allgemeinen und Herausbilden des Besonderen, jedoch nicht einer gesuchten Besonderheit, sondern einer Besonderheit, […] die a priori schon in der Anlage begründet ist. (6, 747)
denz (durch das kollektive Unbewusste) erhebt sich aus demselben kollektiven Unbewussten eine Gegenwirkung in der Form eines durch eindeutige Symbole gekennzeichneten Zentrierungsvorganges. Dieser Prozess schafft nichts Geringeres als ein neues Persönlichkeitszentrum, welches zunächst durch Symbole als dem Ich überlegen gekennzeichnet ist und sich später empirisch auch als überlegen erweist. […] Den Prozess, der zu dieser Erfahrung führt, habe ich Individuationsprozess benannt. […] Die Hilfe, welche die Alchemie beim Verstehen der Symbole des Individuationsprozesses gewährt, ist meines Erachtens von größter Bedeutung. (16, 219)
«
Die Individuation kann sich an keiner Norm orientieren, aber sie steht auch nicht im Gegensatz zur kollektiven Norm, im Sinne, dass sie eine gegensätzliche Norm wäre. Das sind jene »Aussteiger«, welche sich so viel auf ihren Individualismus einbilden. Individuation ist streng zu unterscheiden von Individualismus, der zur Gesellschaft im Gegensatz steht.
» Individuation schließt die Welt nicht aus, sondern ein. (8, 432) « Der Aussteiger lässt die Welt hinter sich, er verachtet sie, weil sie nicht seinen Erwartungen entspricht. In der Individuation geht es um eine genaue Anpassung an die Welt, ohne, und da liegt die Schwierigkeit, ohne seine Eigenart aufzugeben. Sie ist genaueste Anpassung nach außen wie nach innen.
» Im Gegensatz (zum unzulänglichen Kollektivismus) bringt der natürliche Individuationsprozess eine Bewusstheit menschlicher Gemeinschaft hervor, weil er eben das alle Menschen verbindende und allen Menschen gemeinsame Unbewusste zur Bewusstheit führt. Die Individuation ist ein Einswerden mit sich selbst und zugleich mit der Menschheit, die man ja auch ist. (16, 227)
«
Man vergisst allzu leicht, dass man nicht nur als Individuum ein vereinzeltes, sondern als Mensch unter Menschen ein soziales Wesen (»zoon politikon«) ist. Als Einzelwesen wären wir gar nicht überlebensfähig.
«
Für das herkömmliche Ich ist das kollektive Unbewusste eine ebenso große Gefahr wie das Kollektiv für das Individuum. Der gewaltige Unterschied jedoch besteht darin, dass in letzterem Fall das Individuum in der Masse aufgelöst wird, während sich im ersten Fall an seiner Stelle ein neues, übergeordnetes und umfänglicheres Zentrum bildet.
» Die Angst vor dem Selbstopfer lauert in und hinter jedem Ich, denn diese Angst ist der oft nur mühsam zurückgehaltene Anspruch der unbewussten Mächte, zur völligen Auswirkung zu kommen. Keiner Selbstwerdung (Individuation) ist dieser gefährliche Durchgang erspart, denn zur Ganzheit des Selbst gehört auch das Gefürchtete, die Unter- oder Überwelt der seelischen Dominanten, aus der sich das Ich einst mühsam und nur bis zu einem gewissen Grad zu einer mehr oder weniger illusionären Freiheit emanzipiert hat. (11, 849)
«
> Die Angst ist der große Widerstand gegen den Individuationsprozess. Wo Angst ist, da ist die Aufgabe.
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359 Individuation
So lange das Ich seine Funktion genügend wahrnimmt, besteht keine Angst. Doch wenn es infrage gestellt wird, weil der Gesamtumfang der Psyche ansteht, dann tritt sie in den Vordergrund. Das ist eine normale Erscheinung und nichts Pathologisches. Jung schreibt im schon oben zitierten Brief an Bernet vom 13.VI.1955:
» Ich zog damals als junger Mensch den Schluss, dass man offenbar sein Schicksal erfüllen müsse, um dorthin zu gelangen, wo einem ein donum gratiae (Gnadenakt) zustoßen könnte. Ich war aber keineswegs gewiss, sondern fasste auch die Möglichkeit ins Auge, auf diesem Weg eventuell in ein schwarzes Loch zu geraten. Diese Haltung ist mir durch mein ganzes Leben treu geblieben.
«
» Hieraus können Sie unschwer den Ursprung meiner Psychologie erkennen: nur wenn ich das Meine tat, das heißt meine Möglichkeiten sozusagen blindlings integrierte und damit gewissermaßen eine Basis schuf, konnte von irgendwoher etwas hineingegeben oder darauf gestellt werden, von dem ich einigermaßen sicher sein könnte, dass es nicht bloß eine meiner eigenen vernachlässigten Möglichkeiten war. […] Mit zunehmender Annäherung an die Mitte ergibt sich eine entsprechende Depotenzierung des Ich zugunsten des Einflusses der »leeren« Mitte. […] Wenn ich dieses Unerkennbare »Selbst« nenne, so ist damit nichts geschehen, als dass die Wirkungen des Unerkennbaren einen gesamthaften Namen erhalten haben, aber inhaltlich ist dadurch nichts präjudiziert. ([1] II S. 495f.)
«
Da ihm die Gnade des Glaubens nicht beschieden gewesen sei, habe er sich seiner Erfahrung anvertrauen müssen. Darin sei ihm das Damaskuserlebnis des Paulus (Apg. 9, 3–4) Vorbild gewesen, nämlich, dass wenn man auch blind seinen Weg gehe, der Gnadenakt geschehen könne, der einen weise. Das ist das Vertrauen, das einen
die Angst überwinden hilft. Es ist die Erfahrung einer höheren Macht, die in unser Leben lenkend eingreift.
» Die Individuation in ihrer psychologischen Bedeutung ist ein Opus contra naturam, welches in der Kollektivschicht den horror vacui erzeugt und allzuleicht dem Anprall der kollektiven seelischen Mächte erliegt. (9/I, 256)
«
Das Kleinod, das Selbst, ist wie das »göttliche Kind« von den kollektiven Mächten bedroht. Es muss daher geschützt werden vor der profanen neidischen Welt, die nicht versteht, dass einer seinen eigenen Weg zu seiner Einzigartigkeit gehen muss.
» Wenn man eine sich über viele Hunderte erstreckende Serie von Träumen vor Augen bekommt, dann drängt sich dem Beobachter allmählich ein Phänomen auf. […] Es ist dies eine Art von Entwicklungsvorgang in der Persönlichkeit. […] Bei tieferer Einsicht und Erfahrung ordnen sich diese […] einer Art von Plan ein. Sie scheinen unter sich zusammen zu hängen und in tieferem Sinn einem gemeinsamen Ziel untergeordnet zu sein, so dass eine lange Traumserie nicht mehr als ein sinnloses Aneinanderreihen inkohärenter und einmaliger Geschehnisse erscheint, sondern als ein wie in planvollen Stufen verlaufender Entwicklungs- oder Ordnungsprozess: Individuationsprozess. (8, 550)
«
Dieser Prozess beginnt nicht an einem bestimmten Punkt, sondern ist der Lebensprozess selber. In verschiedenen Lebensphasen hat er unterschiedliche Aspekte, aber das Ziel bleibt sich durchweg gleich. In der Jugend und im frühen Erwachsenenalter ist es die soziale Anpassung, in der zweiten Lebenshälfte jene nach innen. Immer aber ist es die ganzheitliche Entfaltung der Anlagen einer Persönlichkeit. Diese kann nur durch Bewusstwerdung geschehen, d. h. durch
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Kapitel 22 • Individuation
bewusste Kooperation des Bewusstseins mit dem Unbewussten. In einer Diskussion mit Theologen sagt Jung zu deren besserem Verständnis könne man
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So versteht man, dass »die Furcht des Herrn der Anfang der Erkenntnis ist.« (Spr. 1,7) Damit ist die Bedeutung dieses Prozesses erst ins richtige Licht gerückt.
» … statt Gott auch »das Unbewusste« sagen, statt Christus »das Selbst«, statt Inkarnation »Integration des Unbewussten«, statt Errettung oder Erlösung »Individuation«, statt Kreuzigung oder Opfertod am Kreuz »Bewusstmachen der vier Funktionen« oder »Ganzheit«. Ich glaube, es ist für die religiöse Tradition nicht von Nachteil, wenn wir feststellen können, inwieweit sie sich mit der psychologischen Erfahrung deckt. (18/ II, 1664)
«
Literatur Primärliteratur (Quellen) 1
2
3
Jung weist mit Recht daraufhin, dass gewisse Glaubensinhalte einer Neuinterpretation bedürfen, um wiederbelebt zu werden. Sie verlieren damit nichts von ihrem ursprünglichen Wert, im Gegenteil.
4
» Weiß ich aus praktischer Erfahrung, dass psychologisches Verständnis die wesentlichen christlichen Ideen sofort wiederbelebt und sie mit Lebendem erfüllt. (18/II, 1666)
5
«
Mir scheint ein großes Verdienst der Jungschen Psychologie zu sein, durch ihre Offenheit für das Religiöse vielen Menschen, deren Glaube leer geworden war, geholfen zu haben. Da der Mensch für sein Leben die religiöse Dimension braucht, ist der zu beobachtende Zerfall des Christentums keine kleine Sache. Kein Rationalismus und keine Wissenschaft können den Verlust ausgleichen, sosehr sie sich auch dafür anbieten. Noch weniger kann dies irgendeine politische Ideologie. > Es ist so wichtig zu realisieren, dass die Individuation nicht bloß ein psychologischer, sondern noch viel mehr ein religiöser Prozess, nämlich die Auseinandersetzung mit dem lebendigen Gott, ist.
6
Jaffé A (Hrsg.) (1972/73) Briefe. Erster Band 1906–1945 (1972); Zweiter Band 1946–1955 (1972); Dritter Band 1956–1961 (1973 mit Nachtrag neu aufgefundener Briefe). In Zusammenarbeit mit Adler G, London. Walter, Olten Freiburg Jung CG (1995) Individuation. In: Definitionen GW 6, 743–748. Gesammelte Werke. Walter, Solothurn Düsseldorf Jung CG (1995) Bewusstsein, Unbewusstes und Individuation. GW 9/I, 489ff.–524. Erste Fassung: The meaning of individuation. In: The integration of personality. New York und Toronto, 1939 und London 1940. Vom Verfasser persönlich umgearbeitete deutsche Version im Zentralblatt für Psychotherapie und ihre Grenzgebiete XI/5, Leipzig. S. 257–270. Walter, Solothurn Düsseldorf Jung CG (1995) Zur Empirie des Individuationsprozesses. GW 9/I, 525–626. Erste Publikation der Vorlesung im Eranos Jahrbuch 1933, S. 201–214. Vollständig neu geschrieben und erweitert in: Gestaltungen des Unbewussten, Zürich 1950. S. 93–186 Jung CG (1995) Traumsymbole des Individuationsprozesses. GW 12, 44–331. Erste Publikation: Eranos Jahrbuch 1935, 13–133, revidiert und erweitert: Psychologie und Alchemie, Zürich 1944, S. 65–305 Jung CG (1995) Die Konjunktion. In: Die Paradoxa GW 14/II, 320–444. Gesammelte Werke. Walter, Solothurn Düsseldorf
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Archetypen 23.1
Definition – 362
23.2
Wirkungsbeschreibung – 366
23.3
Funktion – 369 Literatur – 376
A. Ribi, Neurose – an der Grenze zwischen krank und gesund, DOI 10.1007/978-3-642-16148-3_23, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
23
362
23
Kapitel 23 • Archetypen
Die Archetypen sind die große Entdeckung C.G. Jungs, so dass seine Psychologie auch als »archetypische Psychologie« bezeichnet worden ist. Dennoch ist der Archetypus vielen Jungschen Analytikern nur vage bekannt. In der Gelehrtenwelt ist der Begriff auf vielfache Kritik gestoßen, dagegen wird er heute von Leuten außerhalb der Psychologie richtig benützt (z. B. Kunstgeschichte).
23.1
Definition
Es scheint, dass sich der Begriff, wie übrigens die Psychologie Jungs überhaupt, durch eine Art »Diffusion« verbreitet, statt durch Tradition. In der Wissenschaft ist man gewohnt, seine Quellen zu nennen, bei der »Diffusion« dagegen nicht. Es besteht noch immer eine gewisse Scheu in wissenschaftlichen Kreisen, sich zur Jungschen Psychologie zu bekennen, so unerhört neu und revolutionär ist sie. Sie ist dem Zeitgeist so weit voraus, dass es beinahe unanständig ist, öffentlich zu ihr zu stehen. Aber Pioniere werden meist erst postum verehrt. Jung schreibt in einem Brief vom 05.III.1959 an Stephen I. Abrams:
» Der Archetypus hat die gleiche eigentümliche Qualität wie die natürlichen Zahlen, die einerseits subjektive psychische Phänomene sind und anderseits objektive Existenz besitzen. Wie es Gleichungen gibt, die a posteriori mit archetypischen Vorstellungen übereinstimmen, so gibt es auch Naturtatsachen, die a posteriori mit archetypischen Vorstellungen übereinstimmen. […] Um das besondere Phänomen des Archetypus zu erfassen, braucht es sehr viel praktische Erfahrung: z. B. ist die zu seinem Verständnis unerlässliche Qualität des Numinosen ein undefinierbares Imponderabile. […] Die archetypische Vorstellung ist mit dem Archety-
pus selbst nicht identisch und muss als symbolische Formulierung des Instinktes verstanden werden. […] Der Archetypus gehört zum menschlichen Instinktleben und funktioniert somit in einer vornehmlich unbewussten Sphäre; er besitzt daher alle Qualitäten einer Psyche jenseits jener Kategorien, die Bewusstsein überhaupt erst ermöglichen; er ist weder hier noch dort, weder jetzt noch vergangen, noch künftig. Er ist überhaupt nicht lokalisiert, woraus sich ergibt, dass er außen wie innen (endopsychisch) in Erscheinung tritt. In beiden Erscheinungsformen ist er ein und derselbe, und doch [bei synchronistischen Phänomenen] in zwei oder mehrere Ereignisse getrennt, wobei jedes Ereignis den gleichen Sinn aufweist. Es geht um eine Größe, die offenbar jenseits aller traditionellen Erwartungen unseres rationalen Denkens liegt. ([1] III, S. 234f.)
«
Das ist zwar keine Definition, sondern Jungs Beschreibung des Archetypus am Ende seines Lebens. Man sollte nicht vergessen, dass ein großer Teil seiner zweiten Lebenshälfte dem Studium des Wesens des Archetypus gewidmet war. Das war Neuland, welches es fruchtbar zu machen galt, und dabei kam ihm die Alchemie zuhilfe. Sie ist die Projektion des kollektiven Unbewussten in die noch unbekannte Materie. Die frühen Alchemisten waren noch völlig unbefangen, denn sie glaubten noch naiv an ihr Tun und waren vom Numinosum völlig fasziniert, das sie entdeckt hatten. Sie sind darum als Vorläufer der Tiefenpsychologie besonders wichtig. Das Wesen des Archetypus ist auch eng mit der religiösen Frage verbunden, die in seiner Psychologie eine zentrale Rolle spielt. Außerdem betont er immer wieder, welche Rolle die Übertragung in der Alchemie mit dem Adepten und seiner soror mystica spielt, was sich auch in der Psychotherapie spiegelt. Es ist das große Problem der Gegensatzvereinigung! Damit ist auch der Rahmen
363 23.1 • Definition
abgesteckt für die noch folgenden weiteren Kapitel.
» Die Archetypen sind etwas wie Organe der prä-rationalen Psyche. (11, 845) « » Ein Archetypus ist etwas wie ein alter Stromlauf, in welchem die Wasser des Lebens lange flossen und sich tief eingegraben haben. Und je länger sie diese Richtung behielten, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie früher oder später wieder dorthin zurückkehren. (10, 395)
«
Dieses Bild des Archetypus scheint mir so sprechend. Jung hat es schon früher für das Verständnis der Neurosen verwendet, als er noch nicht von Archetypen sprach. Wenn die Anpassung an die Erfordernisse des Lebens nicht gelingt, werden ältere, kindliche Verhaltensformen wiederbelebt, welche eigentlich längst verlassen waren. Obwohl es sich nicht um das Gleiche handelt, ist das Auftauchen dieses Bildes in einer späteren Phase der Entwicklung seiner Psychologie bemerkenswert. Über den Begriff »archetypus« und seine Geschichte berichtet er im Aufsatz »Über die Archetypen des kollektiven Unbewussten.« (1934) (9/I, 5). Man muss zwischen »Archetypus« und »archetypischen Vorstellungen« unterscheiden.
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Anscheinend kam es anfänglich zu Schwierigkeiten und Verwirrungen um den Begriff des Archetypus, wenn Jung sagte, er sei uns angeboren, und es keine angeborenen Vorstellungen gibt. Er musste daher zwischen dem Archetypus an sich und den archetypischen Vorstellungen unterscheiden. Angeboren ist nur die Matrix, welche die Vorstellungen in ihrer Weise formt.
» Die Archetypen sind Bereitschaftssysteme, die zugleich Bild und Emotion sind. (10, 53) « Sie vererben sich mit der Hirnstruktur, sie sind deren psychischer Aspekt.
» Es gibt so viele Archetypen, als es typische Situationen im Leben gibt. Endlose Wiederholung hat diese Erfahrungen in die psychische Konstitution eingeprägt, nicht in Form von Bildern, die von einem Inhalt erfüllt wären, sondern zunächst beinahe nur als Formen ohne Inhalt, welche bloß die Möglichkeit eines bestimmten Typus der Auffassung und des Handelns darstellen. Wenn sich im Leben etwas ereignet, was einem Archetypus entspricht, wird dieser aktiviert, und es tritt eine Zwanghaftigkeit auf, die, wie eine Instinktreaktion, sich wider Vernunft und Willen durchsetzt oder einen Konflikt hervorruft, der bis zum Pathologischen, das heißt zur Neurose, anwächst. (9/I, 99)
«
»
Der Archetypus stellt an sich eine hypothetische, unanschauliche Vorlage dar, wie das in der Biologie bekannte »pattern of behaviour. (9/I, 6A8)
«
» Der Begriff »Archetypus« […] bezeichnet nur jene psychischen Inhalte, welche noch keiner bewussten Bearbeitung unterworfen waren, mithin also eine noch unmittelbare seelische Gegebenheit darstellen. (9/I, 6)
«
» Der Archetypus […] ist ein seelisches Organ, das sich bei jedem findet. (9/I, 271) «
» Die Archetypen sind nicht inhaltlich, sondern bloß formal bestimmt, und letzteres nur in sehr bedingter Weise. […] Der Archetypus ist ein an sich leeres, formales Element, das nichts anderes ist, als eine »facultas praeformandi«, eine a priori gegebene Möglichkeit der Vorstellungsform. Vererbt werden nicht die Vorstellungen, sondern die Formen, welche in dieser Hinsicht genau den ebenfalls formal bestimmten Instinkten entsprechen. (9/I, 155)
«
Es gibt einen engen Zusammenhang zwischen dem Archetypus und dem Instinkt.
364
Kapitel 23 • Archetypen
» Seit alters wird die angeborene Art des Handelns als »Instinkt« bezeichnet, die Art oder Form der psychischen Erfassung des Objektes habe ich als »Archetypus« zu bezeichnen vorgeschlagen. (6, 624)
«
23
Der Instinkt ist das körperliche Pendant zum geistigen Bild davon. Genau definiert sind
» … Instinkte typische Formen des Handelns, und überall, wo es sich um gleichmäßige und regelmäßige sich wiederholende Formen des Reagierens handelt, handelt es sich um Instinkt, gleichgültig, ob sich eine bewusste Motivierung dazu gesellt oder nicht. (8, 273)
«
Der Instinkt ist die nächsthöhere, komplizierte Organisationsform körperlicher Aktivität des Reflexes. Er teilt mit diesem den Automatismus nach der sensorischen Auslösung. Er ist ebenfalls angeboren und läuft, einmal ausgelöst, vollständig ab ohne die Möglichkeit, unterbrochen zu werden (Husten, Schlucken etc.). Man weiß nicht, wie viele Instinkte der Mensch besitzt [8], ebensowenig weiß man, wie viele Archetypen es gibt. Wir sind uns so gewohnt, im Nachhinein alle unsere Handlungen rational zu begründen, dass wir glauben, Instinkte würden kaum mehr eine Rolle spielen beim Menschen. Dabei täuschen wir uns gründlich, weil unsere Handlungen nur zum geringsten Teil bewusster Entscheidungen entspringen. Ohne uns lange zu besinnen, handeln wir. Nachträglich können wir ohne Hemmung unsere Handlung rational begründen, wobei diese Begründung meist allzu fadenscheinig ist. Für unsere Ökonomie ist es allerdings richtig, dass wir uns nicht erst lange zu besinnen brauchen, bevor wir handeln können. Instinkte sind der jeweiligen Situation im Durchschnitt auch angepasst. Darum funktionieren wir meist richtig, ohne lange Überlegungen anzustellen. Die Instinkte betreffen die am häufigsten vor-
kommenden Lebenssituationen, so dass wir mit ihnen meistens unbewusst gut an die Realitäten angepasst sind. Gut angepasst, bis eine unerwartete, ungewohnte Situation auftritt, welche im Inventar der Instinkte nicht vorgesehen war. Ein Mensch, der mit seinen Instinkten im Einklang lebt, lebt bis auf wenige Ausnahmen richtig. In diesen Ausnahmesituationen hat er jedoch noch die Hilfe des Selbst.
» Man könnte das Urbild passend als Anschauung des Instinktes von sich selbst oder als Selbstabbildung des Instinktes bezeichnen, nach Analogie des Bewusstseins, welches auch nichts anderes ist als eine innere Anschauung des objektiven Lebensprozesses. (8, 277)
«
» Die Art und Weise, wie sich der Mensch innerlich die Welt abbildet, ist, trotz aller Verschiedenheiten in den Einzelheiten ebenso gleichmäßig und regelmäßig wie sein instinktives Handeln. (8, 277)
«
Diese Gleichmäßigkeit und Regelmäßigkeit finden wir ebenfalls bei den Urbildern. Nicht nur bei den Naturvölkern, wo Vorstellungen trotz geographischer Unterschiede immer gleicher geistiger Ideen vorkommen, sondern auch bei den großen Religionen der Erde, welche allerdings philosophisch verbrämt sind. Es wäre reizvoll, die immer gleichen Urbilder am Boden moderner wissenschaftlicher Theorien zu untersuchen [10].
» In Wirklichkeit kommt man von der archetypischen Grundlage legitimerweise nie los, wenn man nicht gewillt ist, eine Neurose in Kauf zu nehmen, sowenig als man sich ohne Selbstmord des Körpers und seiner Organe entledigen kann. (9/I, 267)
«
» Man darf sich keinen Augenblick der Illusion hingeben, ein Archetypus könne schließlich erklärt und damit erledigt werden. […] Die »Er-
365 23.1 • Definition
klärung« sollte immer so ausfallen, dass der funktionale Sinn des Archetypus erhalten bleibt, das heißt dass eine genügende und sinnentsprechende Verbindung des Bewusstseins mit dem Archetypus gewährleistet ist. […] Er repräsentiert oder personifiziert gewisse instinktive Gegebenheiten der primitiven, dunklen Psyche, der eigentlichen, aber unsichtbaren Wurzeln des Bewusstseins. (9/I, 271)
«
Die Archetypen sind daher ubiquitär.
Archetypen haben nur so lange eine bestimmte Form, als man
» … versucht, sie in ihren Beziehungen zu anderen archetypischen Formen zu untersuchen, dann erweitern sie sich zu dermaßen weitläufigen symbolgeschichtlichen Zusammenhängen, dass man zum Schluss kommt, die grundlegenden psychischen Elemente seien von einer unbestimmt schillernden Vielgestaltigkeit, welche menschliches Vorstellungsvermögen schlechthin übersteigt. (9/I, 143)
«
» Beim Individuum erscheinen die Archetypen als unwillkürliche Manifestationen unbewusster Vorgänge, deren Existenz und Sinn nur indirekt erschlossen werden kann. (9/I, 260)
«
» Inhalte eindeutig unbekannten Ursprungs, mit typisch mythologischem Charakter, gehören der Menschheit ganz allgemein und sind kollektiver Natur: Ich habe sie Archetypen genannt, das unpersönliche oder kollektive Unbewusste. (18/I, 80)
«
z
Märchen
Die Archetypen sind das, was die Phantasien anordnet. Marie-Louise von Franz hat ein umfassendes Werk über die Märchen der Weltliteratur in tiefenpsychologischer Sicht geschrieben [9], das unter dem Namen von Hedwig von Beit erschienen ist. Ich fragte sie einmal, ob sie damit die weltweite Anordnung der Phantasien durch die Archetypen nachweisen wollte. Sie gab keine Antwort, sondern lächelte nur verschmitzt.
» Gleichgültig worauf sich Phantasievorstellungen beziehen, immer sind sie von denselben psychischen Gesetzen angeordnet, nämlich von den Archetypen. (13, 357)
«
In der ganzen Vielfalt dieser Märchen sind es immer wieder dieselben Archetypen, die auftreten, ohne dass der Märchenstoff eintönig würde. Die
23
Das ist die Umkehr der Aussage, dass die Archetypen Formen seien ohne Inhalt. Ebenso geht daraus hervor, dass man nicht sagen kann, wie viele Archetypen es gibt. Denn sie sind aus dem kollektiven Unbewussten, das ein Kontinuum ist, schwer abgrenzbar und hängen miteinander zusammen oder gehen ineinander über.
» Die Archetypen sind formale Faktoren, welche unbewusste seelische Vorgänge anordnen: Sie sind »patterns of behaviour«. […] Sie entwickeln numinose Wirkungen, die sich als Affekte äußern. […] Mit den Archetypen scheinen unter gewissen Umständen Gleichzeitigkeits-, das heißt Synchronizitätsphänomene verbunden zu sein. (8, 841)
«
Die Numinosität ist ein unabdingbares Kennzeichen des Archetypus (s. unten). Die Archetypen weisen eine starke affektive Ladung auf. Ich würde vermuten, dass die Komplexe, die stets im Umkreis der Archetypen auftreten, ihre emotionale Ladung von ihnen beziehen, obwohl sie zum persönlichen Unbewussten gehören.
» Archetypen sind typische Formen des Auffassens, und überall, wo es sich um gleichmäßige und regelmäßige wiederkehrende Auffassungen handelt, handelt es sich um einen Archetypus, gleichviel ob dessen mythologischer Charakter erkannt wird oder nicht. (8, 280)
«
366
Kapitel 23 • Archetypen
23.2
Wirkungsbeschreibung
Diese kürzeste Formel zur Definition wäre ohne die Beschreibung der Wirkung von Archetypen nicht verständlich.
»
23
Es gibt in jedem einzelnen, außer den persönlichen Reminiszenzen, die großen »urtümlichen« Bilder, wie sie Jacob Burckhardt einmal passend bezeichnete, das heißt die vererbten Möglichkeiten menschlichen Vorstellens, wie es von jeher war. […] Damit behaupte ich keineswegs, dass die Vorstellungen vererbt würden, vererbt wird nur die Möglichkeit des Vorstellens, was ein beträchtlicher Unterschied ist. […] Ich habe diese Bilder oder Motive als Archetypen (etwa auch als »Dominanten«) bezeichnet. (7,101–102)
«
Jung hat den Ausdruck »urtümliche« Bilder bei Jacob Burckhardt (1818–1897) gefunden. Er ver-
wendet ihn gelegentlich synonym mit Archetypus.
» Die urtümlichen Bilder sind die ältesten und allgemeinsten Vorstellungsformen der Menschheit. Sie sind ebensowohl Gefühl als Gedanke; ja, sie haben sogar etwas wie ein eigenes, selbständiges Leben, etwa wie das von Partialseelen. (7, 104)
«
Diese Bilder habe etwas Archaisches an sich. Das ist wohl der Grund, weshalb liturgische Texte in einer altertümlichen Sprache verfasst sind; damit drücken sie eine »ewige« Wahrheit aus.
» Die größten und besten Gedanken der Menschheit formen sich über den urtümlichen Bildern wie über einer Grundzeichnung. […] Der Archetypus ist eine Art Bereitschaft, immer wieder dieselben oder ähnliche mythische Vorstellungen zu reproduzieren. […] Immer, wenn ein Archetypus im Traum, in der Phantasie oder im Leben erscheint, bringt er einen besonderen
»Einfluss« oder eine Kraft mit sich, vermöge welcher er numinos, respektive faszinierend oder zum Handeln antreibend wirkt. (7, 109)
«
» Die Wirkung der unbewussten Bilder hat etwas von Schicksal an sich. Vielleicht – wer weiß! – sind diese ewigen Bilder das, was man Schicksal nennt. (7, 183)
«
Die Bedeutung der archetypischen Bilder in der Seele kann man wohl nicht überschätzen. Wegen ihrer Numinosität bestimmten sie die Richtung des seelischen Geschehens.
» Die allergewöhnlichsten und ewig wiederholten Tatsachen erzeugen die mächtigsten Archetypen, deren beständige Tätigkeit auch in unserer rationalistischen Zeit noch überall unmittelbar erkennbar ist. (8, 336)
«
»
Das kollektive Unbewusste ist die gewaltige geistige Erbmasse der Menschheitsentwicklung, wiedergeboren in jeder individuellen Hirnstruktur. […] Alle stärksten Ideen und Vorstellungen der Menschheit gehen auf Archetypen zurück. (8, 342)
«
» Vermöge ihrer spezifischen Energie (die urtümlichen Bilder verhalten sich nämlich wie kraftgeladene, autonome Zentren) üben sie eine faszinierende, ergreifende Wirkung auf das Bewusstsein aus und können infolgedessen das Subjekt weitgehend alterieren. (7, 110)
«
Daraus erkennt man, welche Umwälzung die Entdeckung der Archetypen in der Tiefenpsychologie gebracht hat. Freud mochte etwas davon geahnt haben, als er von »archaischen Resten« sprach. Doch erst mit der Erforschung der Archetypen, welche die ganze zweite Lebenshälfte Jungs in Anspruch nahm, wurde klar, welche kollektiven Mächte im Unbewussten die Schicksalsfäden spinnen (Moiren). Bis zu Jung
23
367 23.2 • Wirkungsbeschreibung
sah man das in persönlichen Verwicklungen (Ödipuskomplex), obwohl man schon damals die Mythologie zur Erklärung heranzog.
eine Art von zeitlosem, gewissermaßen ewigem Weltbild, das unserem momentanen Bewusstseinsweltbild gegenübergestellt ist. (8, 729)
» Ich habe diese Motive Archetypen genannt
Wir sind ständig mit zwei Anschauungen der Wirklichkeit im Alltag konfrontiert: Einerseits mit der banalen äußeren, andererseits mit der hinter ihr stehenden numinosen. Diese verleiht den Dingen in der Kindheit, wo der zweite Aspekt noch viel stärker ist, ihren Glanz. Die Sehnsucht im späteren Leben nach der Kindheit zurück, gilt dieser Sicht auf die Dinge, welche nicht nur die banale Realität spiegelte. Deshalb sind Märchen für Kinder so bedeutsam. Sie erzählen ihnen nicht von der gewöhnlichen Alltäglichkeit der Welt, sondern von deren Abgründen und Bedeutsamkeit.
und verstehe darunter Formen und Bilder kollektiver Natur, welche ungefähr auf der ganzen Erde als Konstituenten der Mythen und gleichzeitig als autochthone, individuelle Produkte unbewussten Ursprungs vorkommen. […] Aber trotz alledem ist die individuelle Erfahrung, gerade in ihrer Armseligkeit, unmittelbares Leben, sie ist das warme rote Blut, das heute pulsiert. […] Unmittelbares Leben aber ist immer individuell, denn das Individuum ist der Lebensträger. (11, 88)
«
Die Beziehung zwischen dem persönlichen individuellen Leben und den kollektiven urtümlichen Bildern ist für viele Analytiker noch unverständlich. Die Lösung des Rätsels ist ganz einfach: Wir vergessen immer wieder, dass wir nicht nur individuell, sondern auch Teil der Menschheit sind. Auch unser Körper ist allgemein menschlich, obwohl wir uns in einzelnen Zügen voneinander unterscheiden. So ruht auch unser individuelles Bewusstsein auf einer allgemein-menschlichen Basis, durch welche wir uns mit den Menschen fremder Kulturen verständigen können.
» Das Bewusstsein kennt nur individuell erworbene Inhalte, infolgedessen kennt es nur die individuelle Mutter und weiß nichts davon, dass diese zugleich auch die Trägerin und Repräsentantin des Archetypus, sozusagen der »ewigen« Mutter ist. (8, 723)
«
» Weil das kollektive Unbewusste ein in letzter Linie in der Hirn- und Sympathikus-Struktur sich ausdrückender Niederschlag des Weltgeschehens ist, so bedeutet es in seiner Gesamtheit
«
» Wie die Archetypen als Mythen völkergeschichtliches Vorkommen haben, so finden sie sich auch in jedem Individuum und wirken immer dort am stärksten, das heißt anthropomorphisieren die Wirklichkeit am meisten, wo das Bewusstsein am engsten oder schwächsten ist und wo daher die Phantasie die Gegebenheiten der Außenwelt überwuchern kann. […] Niemand weiß besser als der Psychotherapeut, dass die Mythologisierung der Eltern oft bis weit in das erwachsene Alter fortgesetzt und nur mit größtem Widerstand aufgegeben wird. (9/I, 137)
«
Wenn man meint, Archetypen nur in Mythen und Märchen und nicht im Alltag aufzufinden, so hat man sich gründlich getäuscht. Achtet man auf die Faszinationen, die uns täglich begegnen, und die damit verbundenen Übertreibungen, so erkennt man, welche Rolle sie auch im gewöhnlichen Leben spielen.
» Der Archetypus hat, wo immer er erscheint, vom Unbewussten her zwingenden Charakter, und wo seine Wirkung bewusst wird, ist er durch Numinosität gekennzeichnet. (11, 222)
«
368
23
Kapitel 23 • Archetypen
Wir machen uns diese Faszinationen im Alltag zu selten bewusst. Sie sind so lange angenehm belebend, wie sie nicht zu Schwierigkeiten und Missverständnissen führen. Wenn diese auftreten, so muss der Grund der Faszination bewusst gemacht werden. In der Beziehung zwischen Mann und Frau spielt das eine besonders wichtige Rolle.
» In den Erfahrungen des Liebeslebens des Mannes offenbart sich die Psychologie des Archetypus der Anima in der Form grenzenloser Faszination, Überschätzung und Verblendung oder in der Form der Misogynie mit allen ihren Stufen und Abarten, die sich aus der wirklichen Natur der jeweiligen »Objekte« keineswegs erklären lassen, sondern nur durch eine Übertragung des Mutterkomplexes. Dieser aber entsteht einmal durch die an sich normale und überall vorhandene Assimilation der Mutter an den präexistenten, weiblichen Teil des Archetypus eines »mann-weiblichen« Gegensatzpaares [Syzygie] und sodann durch ein abnormes Hinauszögern der Abtrennung des Urbildes von der Mutter. (9/I, 141)
«
In diesem Auszug wird auch klar, wie der Mutterkomplex mit dem Mutterarchetypus zusammenhängt. Der Archetyp der Anima bildet sich aus dem Archetyp der Mutter. Doch dazu kommt noch die Erfahrung an der realen Frau. Der Mutterarchetyp ist sozusagen der Boden, auf welchem sich die Anima bildet. Dahinter steht der umfassendere und ubiquitär vorkommende Archetyp der Paarung (Syzygie), des MannWeiblichen.
» Im Gegensatz zu und unabhängig von ihrer jeweiligen äußeren Gestaltung stellen die Archetypen vielmehr das Wesen und das Leben einer nicht-individuellen Seele dar, welche zwar jedem Individuum eingeboren ist und doch von dessen Persönlichkeit weder modifiziert noch in Besitz genommen werden kann. (16, 354)
«
Neben oder unter- respektive oberhalb des Bewusstseins spielt sich ein geheimnisvolles Leben ab. Während jenes mit den Tagesgeschäften ausgefüllt ist, lebt dieses in großen Zeiträumen von Jahrhunderten, ja sogar von Jahrtausenden. Jung nennt diesen den zwei Millionen Jahre alten Menschen in einem Interview mit der New York Times ([7] p 99). > Mehr oder weniger unberührt von den Tagesproblemen lebt ein archaischer Mensch ein Leben, wie es immer war. Er ist von der modernen Zivilisation praktisch unberührt. Er stellt das Rhizom dar, auf das sich die individuelle Existenz aufbaut. Er ist der unterirdische, fast unsichtbare Teil, während das Bewusstsein sozusagen der oberirdische saisonale Teil ist.
Dieser Vergleich ist insofern relevant, als mit den Archetypen ein Hauch von Ewigkeit in unser Leben kommt. z
Archetypische Ideen
Die archetypischen Ideen von Wiedergeburt und ewigem Leben nehmen darin ihren Ursprung.
» »Wiedergeburt« ist eine Aussage, die zu den Uraussagen der Menschheit überhaupt gehört. Diese Uraussagen beruhen auf dem, was ich als »Archetypus« bezeichne. Alle das Übersinnliche betreffenden Aussagen sind im tiefsten Grund stets vom Archetypus bestimmt, so dass es kein Wunder ist, wenn übereinstimmende Aussagen über die Wiedergeburt bei den verschiedensten Völkern angetroffen werden. (9/I, 207)
«
Wir können über metaphysische Dinge nichts Sicheres aussagen, weil sie unsere Erfahrung transzendieren. Die Aufklärung hat sie daher kurzerhand alle als ungültig verworfen. Jung ist da viel vorsichtiger, indem er zwar bestätigt, dass wir darüber nichts Sicheres aussagen können, aber die Tatsache, dass es eine auf der ganzen Welt
23
369 23.3 • Funktion
vorkommende Idee, also eine archetypische Idee, ist, auch etwas bedeutet. Sie gehört zum Inventar der Menschheit! Überall auf der Welt findet sich die Gottesidee, was aber nicht beweist, wie Pater Wilhelm Schmidt (1868–1954) es wollte, dass ein Urmonotheismus existiere, sondern es beweist bloß die Existenz der Uridee. Dass eine solche Idee überall und seit Urzeiten vorkommt, hat eine Bedeutung, doch wissen wir nicht, ob ihr eine äußere Realität zugrunde liegt. Wir müssen uns mit den Grenzen unserer Erkenntnis abfinden. Was darüber hinaus spekuliert wird, ist dem einzelnen unbenommen und gehört zu seinem Glauben. Für die seelische Gesundheit ist es sogar von Vorteil, wenn er sich eine Meinung über das Unwissbare macht; er darf es bloß nicht als eine allgemeine Wahrheit ausgeben. Es gibt eigentlich kein Problem zwischen Wissenschaft und Glauben. Wenn die Wissenschaft ihre erkenntnistheoretischen Grenzen einhält, wird sie sich nicht anmaßen, das Unwissbare zu erklären. Das ist heute eine Gefahr bei der Neurophysiologie, welche glaubt, aufgrund physiologischer Reaktionen im Gehirn psychische Funktionen zu erklären. Wobei selbstverständlich alle unsere psychischen Funktionen auf einer somatischen Grundlage beruhen. Darum gibt es wohl kein »kosmisches Bewusstsein«, losgelöst von der Person. Dass die Inder von einem »kosmischen Bewusstsein« reden, hat ganz andere Gründe, wie ich früher in einem Exzerpt aus Jungs Werken, dargelegt habe, wo er das Wunder der Bewusstwerdung als ausschlaggebend betrachtet.
23.3
Funktion
Mit der Betrachtung der Funktion von Archetypen kommen wir an die Grenzen des Erkennbaren.
» Ich habe die kongenitale und präexistente Instinktvorlage, das »pattern of behaviour«, als Archetypus bezeichnet. […] Die Macht des
Archetypus wird aber nicht von uns kontrolliert, sondern wir selber sind ihr in unerwartetem Maß ausgeliefert. Es gibt viele, welche diesem Einfluss oder Zwang widerstehen, aber auch ebenso viele, welche sich mit dem Archetypus identifizieren, z. B. mit der patris potestas oder mit der Ameisenmutter. […] Als Faszinierter übe er die gleiche Wirkung auf seine Umgebung aus, ohne sich dessen bewusst zu sein. Das Gefährliche ist eben diese unbewusste Identität mit dem Archetypus: sie hat nicht nur suggestiv-dominierenden Einfluss auf das Kind, sondern bewirkt in diesem Unbewusstheit, so dass es einerseits dem äußeren Einfluss erliegt und andererseits sich von innen nicht dagegen wehren kann. (4, 729)
«
Archetypen sind sozusagen »göttliche« Mächte, und es ist daher gefährlich mit ihnen identisch zu werden. Denn sie übersteigen menschliches Maß, wodurch der Betreffende aufgeblasen wird.
» Es ist eine psychologische Regel, dass ein Archetypus, der seine metaphysische Hypostase verloren hat [z. B. die Verharmlosung und Vermenschlichung des Teufels], mit dem individuellen Bewusstsein identisch wird und dieses in seinem Sinne beeinflusst und umgestaltet [z. B.: Omne bonum a Deo, omne malum ab homine]. Und da ein Archetypus immer eine gewisse Numinosität besitzt, so bewirkt die Integration letzterer in der Regel eine Inflation des Subjektes. (11, 472)
«
» Jeder Archetypus ergreift nämlich bei seinem Auftreten, und solange er unbewusst ist, den ganzen Menschen und veranlasst diesen, die entsprechende Rolle zu leben. (12, 558)
«
z
Faszination
Die Faszination, die vom Archetypus auf das Bewusstsein ausgeht, veranlasst dieses aus der Enge seiner Alltäglichkeit auszubrechen und sich die bedeutende Rolle anzumaßen.
370
Kapitel 23 • Archetypen
» Da jeder Archetypus psychologisch ein fascinosum ist, das heißt einen die Phantasie zugleich bannenden und erregenden Einfluss hat, so bekleidet er sich gerne mit religiösen Vorstellungen (die an sich schon archetypischer Natur sind). (13, 207)
«
23
Die richtige Einstellung zu den Archetypen ist wegen deren Numinosität eine religiöse als Ausdruck des Respektes vor dem Übermenschlichen. Die Versuchung, sich dessen Macht und Bedeutung in die, ach so banale, Bewusstseinswelt herunterzuholen, übersieht die kosmogonische Bedeutung des Bewusstseins. Sein Auftreten mit der Homoiothermie und der Zerebralisation in der Evolution bedeutete eine entscheidende Wende. Dadurch war die Schöpfung nicht mehr nur absolutes Sein, sondern ein Gewusstsein. In einem Brief vom 25.VI.1946 an Dr. Robert Eisler schreibt Jung:
» Was ich in den »Two Essays« über Archetypen in der Tierpsyche gesagt habe, war nur eine Seitenbemerkung. Ich habe nämlich die Vermutung, die sich auf gewisse Erfahrungen gründet, dass die untersten Gründe unserer Psyche noch Tiercharakter haben. Infolgedessen es höchst wahrscheinlich ist, dass auch das Tier ähnliche oder gleiche Archetypen besitzt. ([1] II, S. 36)
«
» Nichts hindert uns, anzunehmen, dass gewisse Archetypen schon bei den Tieren vorkommen, dass sie mithin in der Eigenart des lebendigen Systems überhaupt begründet und somit schlechthin Lebensausdruck sind, dessen So-sein weiter nicht mehr zu erklären ist. (7, 109)
«
In einem anderen Brief vom 13.II.1954 an Prof. G.A. van den Bergh von Eysinga heißt es:
» Kein Tier wird ohne seine Instinktstruktur geboren; so besteht auch kein Grund zur Annahme, dass der Mensch ohne spezifische, physiologische und psychologische Reaktionsformen
geboren wird. In der ganzen Welt zeigen artgleiche Tiere die gleichen Instinktphänomene, ebenso zeigt der Mensch, wo er auch lebt, die gleichen archetypischen Strukturen. Instinkthandlungen müssen dem Tier nicht beigebracht werden; ebenso eignen dem Menschen seine psychischen Grundformen, die er spontan wiederholt, ohne sie je gelernt zu haben. Insofern der Mensch bewusst ist und die Fähigkeit der Introspektion besitzt, ist ihm auch die Möglichkeit gegeben, seine Instinktstrukturen in Gestalt archetypischer Bilder wahrzunehmen. Wie zu erwarten, sind diese Darstellungen annähernd universal. […] Es kann auch vorkommen, dass Überlieferungen spontan in der Psyche des Menschen wieder auftauchen, nachdem sie vollständig vergessen waren. ([1] II, S. 374)
«
Das scheint mit sehr einleuchtend und mit den Beobachtungen übereinzustimmen. Es wäre auch unverständlich, wenn der Archetypus mit dem Menschen in der Evolution neu erfunden worden wäre. Neu kommt mit ihm das Bewusstsein auf, obwohl man schon bei höheren Säugern ein rudimentäres Bewusstsein beobachten kann.
» Die Triebdynamik liegt gewissermaßen im infraroten [= biologisch-körperlichen], das Triebbild aber im ultravioletten [= geistigen] Teil des Spektrums. […] Der Archetyp wird mit violett genauer charakterisiert: Er ist eben nicht nur Bild an sich, sondern zugleich auch Dynamis, welche in der Numinosität, der faszinierenden Kraft, des archetypischen Bildes sich kundgibt. […] (Der Trieb) hat zwei Aspekte: Einerseits wird er als physiologische Dynamik erlebt, andererseits treten seine vielfachen Gestalten als Bilder und Bildzusammenhänge ins Bewusstsein und entfalten numinose Wirkung. […] Für den Kenner religiöser Phänomenologie ist es ja kein Geheimnis, dass physisch und geistige Leidenschaft zwar feindliche, aber eben doch Brüder sind und es darum oft nur eines Momentes bedarf, um das eine in das andere umschlagen zu lassen. (8, 414)
«
371 23.3 • Funktion
Wir bewegen uns hier an zwei Grenzen, der unteren, wo die Psyche ins Körperliche übergeht, und der oberen, wo sie in den Geist übergeht.
» Der Archetypus an sich ist ein psychoider [= psycheähnlicher] Faktor, der sozusagen zu dem unsichtbaren, ultravioletten Teil des psychischen Spektrums gehört. Er scheint als solcher nicht bewusstseinsfähig zu sein. (8, 417)
«
» Wie das »Psychisch-Infrarote«, das heißt die biologische Triebseele, allmählich in die physiologischen Lebensvorgänge und damit in das System chemischer und physikalischer Bedingungen übergeht, so bedeutet das »PsychischUltraviolette«, das heißt der Archetypus [an sich], ein Gebiet, das einerseits keine Eigentümlichkeiten des Physiologischen aufweist, und andererseits und in letzter Linie auch nicht mehr als psychisch angesprochen werden kann, obschon es sich psychisch manifestiert. (8, 420)
«
Soviel zum Archetypus als solchem, einem großen Rätsel der Psyche, das an der Grenze der Erkennbarkeit liegt. Die archetypische Vorstellung liegt dagegen diesseits der Erkennbarkeit. Wegen ihres allgemeinen Vorkommens kann man induktiv auf den angeborenen Archetypus per se als eine Art Matrix für die Vorstellung schließen. Er drückt der Vorstellung jenen von Zeit und Ort unabhängigen allgemeinen Stempel auf.
» Der Archetypus vermittelt zwischen den unbewussten Grundlagen und dem Bewusstsein gegensatzvereinigend. Er schlägt eine Brücke zwischen dem von Entwurzelung bedrohten Gegenwartsbewusstsein und der naturhaften, unbewusst-instinktiven Ganzheit der Vorzeit. (9/I, 293)
«
» Das, was die Psychologie als Archetypus bezeichnet, ist nichts anderes als ein gewisser häufig vorkommender formaler Aspekt des Instinktes, und ebenso a priori gegeben wie dieser. (9/I, 714)
«
23
» Diesen selben Motiven (wie in Mythen und Märchen der Weltliteratur) begegnen wir in Phantasien, Träumen, Delirien und Wahnideen heutiger Individuen. Diese typischen Bilder und Zusammenhänge werden als archetypische Vorstellungen bezeichnet. Sie haben, je deutlicher sie sind, die Eigenschaft, von besonders lebhaften Gefühlstönen begleitet zu sein. […] Sie gehen hervor aus dem an sich unanschaulichen Archetypus, einer unbewussten Vorform, die zur vererbten Struktur der Psyche zu gehören scheint und sich infolgedessen überall auch als spontane Erscheinung manifestieren kann. (10, 847)
«
Wenn man diese allgemeinen Charakteristika archetypischer Vorstellungen auf die Heilige Schrift anwendet, werden viele Leute Widerstände haben und das allenfalls als Psychologismus abtun wollen.
» Obschon unsere ganze religiöse Vorstellungswelt aus anthropomorphen Bildern besteht, die als solche einer rationalen Kritik niemals standhalten könnten, so darf man darüber doch nicht vergessen, dass sie auf numinosen Archetypen beruhen, das heißt auf einer emotionalen Grundlage, welche sich für die kritische Vernunft als unangreifbar erweist. […] Die Aussagen der Seele gehen immer über unseren Kopf hinweg, indem sie auf bewusstseinstranszendente Wirklichkeiten verweisen. Diese entia sind die Archetypen des kollektiven Unbewussten. […] Vorstellungen dieser Art werden nicht erfunden. […] Es sind spontane Phänomene, die unserer Willkür entzogen sind, und man ist daher berechtigt, ihnen eine gewisse Autonomie zuzuschreiben. Sie sind nicht nur als Objekte zu betrachten, sondern auch als eigengesetzliche Subjekte. […] Zieht man ihre Autonomie in Betracht, so müssen sie notgedrungenerweise als Subjekte gehandhabt werden, das heißt es muss ihnen Spontaneität und Absichtlich-
372
Kapitel 23 • Archetypen
keit, beziehungsweise eine Art von Bewusstsein und von liberum arbitrium, von freiem Willen, zuerkannt werden. (11, 556–557)
«
» Der Archetypus ist eine psychische Struktur, die bis zu einem gewissen Grad ein Eigenleben hat. (18/II, 1679)
«
23
Jung sagt das im Zusammenhang mit göttlichen Figuren, von denen wir selbstverständlich glauben, dass unser Wohl oder Weh abhänge, zu denen wie beten, als wären sie Subjekte, mit denen wir uns in Beziehung setzen. Tatsächlich hat sich der Mensch von diesen Mächten stets Bilder in Stein gemacht, um sie zu verehren. Denn er fühlte, dass er von ihrem Wohlwollen abhängig ist.
» Wäre die Psychologie konfessionsgebunden, so könnte und dürfte sie dem Unbewussten des Individuums nicht jenes freie Spiel gewähren, welches zur Produktion der Archetypen unerlässliche Vorbedingung ist. Es ist nämlich gerade die Spontaneität der archetypischen Inhalte, welche überzeugt. (12, 19)
«
Die alte Auffassung ist noch ein Relikt der Aufklärung, welche alle Götter ohnehin zu Phantasiegespinsten erklärte. Die Jungsche Psychologie wertet die Phantasie nicht ab, sondern auf. Sie ist die schöpferische prima materia, aus welcher sich alle bestimmenden Mächte unseres Lebens ausformen. Ein Mann am Übergang zur dritten Lebensphase träumte: »Ich schlendere dem Meeresstrand entlang. Da finde ich im Sand schöne Jadefiguren, die das Meer offensichtlich angespült hat«. Assoziationen: Der Träumer schätzt die chinesische geistige Kultur sehr hoch, in welcher Jade höchsten Wert darstellt. Er verbringt seine Ferien gerne an einem südlichen Strand, wo man im Sand allerlei merkwürdige und überraschende Dinge angeschwemmt findet. Deutung: Der Strand ist die Grenze zwischen dem Festland, einem Symbol des Bewusstseins, und dem Meer mit seiner Unergründlichkeit, einem Symbol für das kollektive Unbewusste. Erst an dieser Grenze werden die Inhalte des kollektiven Unbewussten fassbar.
»
Es gibt also keine christliche oder buddhistische Tiefenpsychologie in dem Sinn, dass sie konfessionsgebunden wäre. Deshalb werden alle Religionen der Welt geachtet und der ewige Streit um den alleinigen Besitz der Wahrheit, der die Menschheit unendlich viel Blut und Geld gekostet hat, ist hinfällig geworden. Je unvoreingenommener ein Mensch sich dem Unbewussten öffnen kann, umso freier kann es sich in seinen archetypischen Dimensionen entfalten.
» Was das Unbewusste ausspricht, ist nämlich keine Willkürlichkeit und keine Meinung, sondern es ist ein Geschehen oder ein So sein, wie das irgendeines Naturwesens. (12, 20)
«
Die Objektivität des Unbewussten kann nicht genügend betont werden.
Jeder Archetypus ist unendlicher Entwicklung und Differenzierung fähig. (12, 12)
«
» Die Urbilder sind unendlicher Wandlung fähig und bleiben doch stets dieselben, aber nur in neuer Gestalt können sie aufs Neue begriffen werden. (16, 396)
«
Daher ist es nötig, dass die herkömmlichen Religionen und ihre Bilder in immer neue Zusammenhänge gestellt werden. Das heißt aber nicht, wie man oft heutzutage hört: »Wenn Jesus heute leben würde, würde er das Problem so lösen. […] Das sind keine archetypischen Aussagen, sondern Projektion in den banalen Alltag, Man muss die Phantasien befragen, welche dazu aus dem Unbewussten aufsteigen. Das Bewusstsein kann diese Aufgabe nicht übernehmen, sondern ist nur Empfänger der Botschaft.
23
373 23.3 • Funktion
» Man hat mir »Vergottung der Seele« vorgeworfen. Nicht ich – Gott selbst hat sie vergottet! (12, 14)
«
Das Problem der Archetypen kann nur mit einer religiösen Einstellung verstanden werden oder umgekehrt ausgedrückt:
» In religiösen Dingen kann man bekanntlich nichts verstehen, was man nicht innerlich erfahren hat. (12, 15)
«
» Solange die Religion nur Glaube und äußere Form und die religiöse Funktion nicht eine Erfahrung der eigenen Seele ist, so ist nichts Gründliches geschehen. (12, 13)
«
Ich habe oben beschrieben, wie verheerend es für die Kinder von Eltern sein kann, welche mit einem der Elternarchetypen identisch werden. Das Schlimmste an einer derartigen Identität ist die Tatsache, dass man sich selber völlig im Recht fühlt, das zu tun, was man eben tut und sei es auch das größte Verbrechen. In der Identität kommen keine Zweifel auf, denn der Archetypus ist eine göttliche Macht, ja sogar Allmacht, welche sich der mit ihm identisch gewordene Mensch anmaßt. Das ist das Gefährliche an der Besessenheit, dass das Menschliche, die Gefühle, die Unsicherheit, die Liebe verschwinden. Nur so sind gewisse Gräueltaten zu verstehen, welche das Publikum sprachlos werden lassen.
» Jeder Archetypus enthält Tiefstes und Höchs-
Mit der Entdeckung der Archetypen stieß Jung auf die religiöse Funktion der Seele, was von größter Tragweite war. Denn nicht in der Triebdynamik allein sind die Kräfte zu suchen.
»
Da Neurosen in den meisten Fällen nicht nur Privatangelegenheiten sind, sondern soziale Erscheinungen, müssen wir auch das Vorhandensein von Archetypen in den meisten Fällen annehmen: die Art Archetypus, die der Situation entspricht, ist wiederbelebt, und als Ergebnis treten jene explosiven und daher so gefährlichen Triebkräfte, die im Archetypus verborgen sind, in Aktion, was oft unabsehbare Ergebnisse zeitigt. Ja, es gibt nichts Böses, dem Menschen unter der Herrschaft eines Archetypus nicht anheimfallen können. (9/I, 98)
tes, Böses und Gutes und ist darum der gegensätzlichsten Wirkung fähig. (10, 474)
«
» Der Archetypus ist an sich weder gut noch böse. Er ist ein moralisch indifferentes Numen, welches erst durch den Zusammenstoß mit dem Bewusstsein zu dem einen oder dem anderen, oder zu einer gegensätzlichen Zweiheit wird. Diese Entscheidung zum Guten oder zum Bösen wird wissentlich oder unwissentlich von der menschlichen Einstellung herbeigeführt. (15, 160)
«
Die Triebkräfte des Archetypus erweisen sich besonders in jenen Fällen als destruktiv, wo jemand mit dem Archetypus identisch wird.
Der Archetypus als Bereitschaftssystem enthält bloß die extremen Möglichkeiten. Das Bewusstsein ist stets jene Instanz, die polarisiert. Es reißt die Gegensätze auseinander und wird mit dem einen identisch. Das moralische Gewissen als mittlere Instanz sollte eigentlich jede einseitige Identifikation mit einem der Gegensätze verhindern.
» Die Besessenheit durch einen Archetypus
» Angesichts dieser für das religiöse Gefühl
macht den Menschen zu einer bloß kollektiven Figur, zu einer Art Maske, hinter der das Menschliche sich nicht mehr entwickeln kann, sondern zunehmend verkümmert. (7, 390)
unerträglichen Paradoxie (der Urform des Gewissens) möchte ich daher vorschlagen, die vox Dei-Auffassung (des Gewissens) auf die uns erreichbare und verständliche Hypothese des Archetypus zu reduzieren. (10, 846)
«
«
«
374
Kapitel 23 • Archetypen
Die vox Dei ist jenes Gewissen, das außerhalb aller Konventionen steht. Wird der Mensch mit dem Archetypus identisch, so funktioniert die vox Dei nicht mehr, die sonst selbst in außerordentlichen Situationen rettend einzugreifen vermag.
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regulative Prinzipien seiner Gestaltung, das heißt nur durch Rückschluss aus dem vollendeten Kunstwerk vermögen wir die primitive Vorlage des urtümlichen Bildes zu rekonstruieren. (15, 126)
«
» Jede Beziehung auf den Archetypus, sei sie er-
» Die archetypischen Ideen gehören zu den unzerstörbaren Grundlagen des menschlichen Geistes. (11, 195)
«
» Ich verstehe unter Archetypus eine strukturelle Eigenschaft oder Bedingung, welche der mit dem Gehirn irgendwie verbundenen Psyche eigentümlich ist. (11, 165)
«
» Die allen (Traum-) Motiven zugrunde liegen-
lebt oder bloß gesagt, ist »rührend«, das heißt sie wirkt; denn sie löst eine stärkere Stimme in uns aus als die unsrige. Wer mit Urbildern spricht, spricht wie mit tausend Stimmen, er ergreift und überwältigt. (15, 129)
«
Die schöpferische Phantasie ist recht eigentlich das positive Betätigungsfeld der Archetypen. Hier finden sie ihren Ausdruck und ihre Form.
den Ideen sind anschauliche Vorstellungen von archetypischem Charakter, das heißt symbolische Urbilder, über denen sich der menschliche Geist aufgebaut und differenziert hat. (16, 15)
» Die einer archetypischen Vorstellung zugrun-
Die Archetypen begleiten unser Leben auf Schritt und Tritt. Ob sie sich darin positiv oder negativ bemerkbar machen, hängt von unserer Einstellung zu ihnen ab. Dort, wo sich Machtambitionen einschleichen, werden sie gefährlich, denn sie spiegeln dem Bewusstsein eine Machtfülle vor, welche diesem gar nicht zugehört.
Alle Bewusstwerdung, alle Kunstwerke und alle tiefsten Ideen des Menschen stammen aus seiner schöpferischen Phantasie, welche von den Archetypen Form und Gestalt erhält.
«
» Der schöpferische Prozess […] besteht in einer unbewussten Belebung des Archetypus und in einer Entwicklung und Ausgestaltung desselben bis zum vollendeten Werk. (15, 130)
«
» Es gibt keine angeborenen Vorstellungen, wohl aber angeborene Möglichkeiten von Vorstellungen, welche auch der kühnsten Phantasie bestimmte Grenzen setzen, sozusagen Kategorien der Phantasietätigkeit, gewissermaßen Ideen a priori, deren Existenz ohne die Erfahrung aber nicht ausgemacht werden kann. Sie erscheinen nur im gestalteten Stoff als
de liegende psychoide Form behält ihren Charakter auf allen Stufen bei, obgleich sie empirisch unendlicher Variationen fähig ist. (13, 350)
«
» Die Introspektion, die in die psychischen Hintergründe eindringt, stößt baldigst mit dem Unbewussten zusammen, welches im Gegensatz zum Bewusstsein bestimmte Inhalte nur mehr ahnen lässt und auf Schritt und Tritt mit einer verwirrenden Fülle von Beziehungen, Parallelen, Kontaminationen und Identitäten überrascht. Obschon man aus Erkenntnisgründen eine unbestimmte Menge unterschiedlicher Archetypen anzunehmen gezwungen ist, so befällt einen doch immer wieder der Zweifel, inwiefern sie irgendwie klar voneinander zu trennen wären. Sie überschneiden sich dermaßen und haben eine solche Kombinationsfähigkeit, dass alle Versuche zu einer Begriffsisolierung als hoffnungslos erscheinen. (11, 440)
«
375 23.3 • Funktion
Darüber, wie viele Archetypen es gibt, lässt sich, wie erwähnt, nichts Sicheres aussagen. Immerhin gibt es einige häufig vorkommende Archetypen. Sie lassen sich aber nicht streng abgrenzen von benachbarten, weil das kollektive Unbewusste ein Kontinuum ist.
» Je ferner und unwirklicher die persönliche Mutter, desto tiefer greift die Sehnsucht des Sohnes in die Tiefen der Seele und erweckt jenes urtümliche und ewige Bild der Mutter, um dessentwillen alles Umfassende, Hegende, Nährende und Hilfreiche uns Muttergestalt annimmt, von der alma mater der Universität bis zur Personifikation von Städten, Ländern, Wissenschaften und Idealen. (13, 147)
«
Hier kann man sehr deutlich erkennen, wie hinter der Imago stets der Archetypus mitschwingt. > Die Imago ist noch persönlich, der Archetypus kollektiv. Das eine gleitet ins andere hinüber.
Die Archetypen des Schattens und der Syzygie habe ich früher ausführlich erörtert. Sie treten meist personifiziert auf, wie auch der Archetypus des alten Weisen, beziehungsweise des Sinnes (9/I, 79) und der Erdmutter, der chthonischen Mutter (9/II, 42).
23
Pfeiler derselben sind, auf deren Fundamenten der ganze Überbau beruht.
» Obschon wir keine Physik der Seele besitzen, auch nicht imstande sind, dieselbe von einem archimedischen Punkt außerhalb zu beobachten und zu beurteilen, daher nichts Objektives über sie wissen, und da zudem alles Wissen über die Seele eben diese selber ist, so ist sie doch unsere unmittelbare Lebens- und Daseinserfahrung. Sie ist sich selber die einzig und unmittelbare Erfahrung und die conditio sine qua non der subjektiven Weltwirklichkeit überhaupt. Sie schafft Symbole, deren Grundlage der unbewusste Archetypus ist und deren erscheinende Gestalt aus den Vorstellungen, welche das Bewusstsein erworben hat, hervorgeht. […] Die Symbole funktionieren als Umformer, indem sie Libido aus einer »niedereren« in eine höhere überleiten. Diese Funktion ist so bedeutsam, dass ihr vom Gefühl die höchsten Werte zuerkannt werden. Das Symbol wirkt suggestiv, überzeugend, und drückt zugleich den Inhalt der Überzeugung aus. Es wirkt überzeugend vermöge des Numens, das heißt der spezifischen Energie, die dem Archetypus eignet. Das Erlebnis des letzteren ist nicht nur eindrucksvoll, sondern geradezu »ergreifend«. Es erzeugt natürlicherweise Glauben. Der »legitime« Glaube geht immer auf das Erlebnis zurück. (5, 344)
«
»
Der Entwicklungsprozess stellt sich in einer anderen Art von Archetypus dar, den man allgemein als solchen der Wandlung bezeichnen könnte. Das ist keine Persönlichkeit, sondern vielmehr eine typische Situation, Ort, Mittel, Weg usw., welche die jeweilige Art der Wandlung symbolisiert. […] Die Grundprinzipien (árchaí) des Unbewussten sind wegen ihres Beziehungsreichtums unbeschreibbar, trotz ihrer Erkennbarkeit. (9/I, 80)
«
Es stellt sich, je länger man sich mit den Archetypen beschäftigt, immer mehr heraus, dass sie nicht nur Organe der Psyche, sondern sogar die
Das Unbewusste drückt seine Inhalte stets symbolisch aus, darum insistiert der Katholizismus auf dem »Symbolum«. Dieses ist jedoch ein vom Bewusstsein bearbeitetes Symbol. Man vergisst allzu leicht, dass ihm ursprünglich ein spontanes Symbol zugrunde liegt. Die Gefühlsqualität des Symbols ist natürlicherweise mit dem spontan erzeugten verbunden. Zum Verständnis des Symbols ist das Gefühl unverzichtbar.
376
Kapitel 23 • Archetypen
Literatur Primärliteratur (Quellen) 1
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Jaffé A (Hrsg.) (1972/73) Briefe. Erster Band 1906–1945 (1972); Zweiter Band 1946–1955 (1972); Dritter Band 1956–1961 (1973 mit Nachtrag neu aufgefundener Briefe). In Zusammenarbeit mit Adler G, London. Walter, Olten Freiburg Jung CG (1995) Die Archetypen des kollektiven Unbewussten. GW 7, 141–191. Gesammelte Werke. Walter, Solothurn Düsseldorf Jung CG (1995) Die Archetypen und das kollektive Unbewusste. GW 9/I. Gesammelte Werke. Walter, Solothurn Düsseldorf Jung CG (1995) Die Hypothese des Archetypus GW 11, 222–225. Gesammelte Werke. Walter, Solothurn Düsseldorf Jung CG (1995) Der Archetypus in der Traumsymbolik. GW 18/I, 521–559. In: Symbole und Traumdeutung. Gesammelte Werke. Walter, Solothurn Düsseldorf Jung CG (1995) Die Hypothese des kollektiven Unbewussten. GW 18/II, 1223–1225. Gesammelte Werke. Walter, Solothurn Düsseldorf McGuire W, Hull RFC (eds.) (1980) C.G. Jung speaking. Interviews and encounters. Picador edition. Princeton Univ. Press 1977, Thames and Hudson 1978
Sekundärliteratur 8 Eibl-Eibesfeldt I (1976) Der vorprogrammierte Mensch. Das Ererbte als bestimmender Faktor im menschlichen Verhalten. dtv, München 9 (Franz ML von), Beit H von (1965) Symbole des Märchens/Gegensatz und Erneuerung im Märchen. Francke, Bern München 10 Sambursky S (1975) Der Weg der Physik. 2500 Jahre physikalischen Denkens. Texte von Anaximander bis Pauli. Artemis, Zürich München 11 Schmidt PW (1912–1955) Der Ursprung der Gottesidee. Eine historisch-kritische und positive Studie. Vol. 1–12. Aschendorff, Münster
377
Das Symbol
A. Ribi, Neurose – an der Grenze zwischen krank und gesund, DOI 10.1007/978-3-642-16148-3_24, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
24
378
Kapitel 24 • Das Symbol
Der Mensch braucht für das Wohlbefinden seiner Seele den Zugang zu Symbolen und Riten. Diese machen die Symbole erfahrbar. Es sind jedoch nicht irgendwelche Riten, sondern solche, die das menschliche Drama in ewiggültige Bilder übersetzt. Sie stellen den einzelnen wieder in den kosmischen Zusammenhang, wodurch er aus seiner Einsamkeit herauskommt.
nis des anderen, insofern er nicht wegen seines Unvermögens des »Verständnisses« bedarf. ([2] I, S. 54)
«
Diese Ausführungen richten sich nicht zuletzt auch gegen die Freudsche Deutung der Symbole, die »so afterwahr« ist, wie Jung schreibt.
» Der Kern des Individuums ist ein Mysterium 24
Bevor wir uns an das Verständnis zur Sprache des Unbewussten heranwagen, möchte ich dem Leser erst etwas Allgemeines zitieren, zum »Verstehen«. Im Brief vom 06.XI.1915 schreibt Jung an seinen Freund Dr. med. Hans Schmid-Guisan:
» Jedes Verstehen, das ein Angliedern an allgemeine Gesichtspunkte ist, hat das Teufelselement in sich und tötet. Es ist ein Herausreißen des fremden Lebens aus seiner ihm eigenen Bahn, ein Hinüberzwingen in ein Fremdes, in dem es nicht leben kann. Darum müssen wir im späteren Stadium der Analyse den Menschen helfen, zu jenen verborgenen und nicht aufzuschließenden Symbolen zu gelangen, innerhalb deren der Keim geborgen ist wie der zarte Samen in der harten Schale. Darüber darf es recht eigentlich gar keine Verständigung geben, auch […] wenn eine möglich wäre. […] Darum ist uns im unaufschließbaren und unaussprechbaren Symbol das Heil gegeben, denn es schützt uns davor, dass der Teufel den Samen des Lebens verschluckt. Darin liegt das Bedrohliche und Gefährliche der Analyse, dass der Mensch anscheinend verstanden wird: der Teufel frisst seine Seele weg, die nackt und bloß, der schützenden Hülle beraubt, als ein Kind ans Licht geboren wurde. Dies ist der Drache, der Mord, der immer den neugeborenen Gottessohn bedroht. Er ist wiederum zu verbergen vor dem »Verständnis« der Menschheit. […] Wir müssen das Göttliche in uns verstehen, aber nicht den anderen, insofern er fähig ist, selber zu gehen und zu verstehen. […] Man soll ein Mitwisser seiner eigenen Geheimnisse sein, aber seine Augen keusch verhüllen vor dem Geheim-
des Lebens, welches erlischt, wenn es »begriffen« wird. Darum wollen die Symbole auch geheimnisvoll sein. ([2] S. 53)
«
In »Das symbolische Leben« heißt er:
»
Der Mensch braucht nämlich ein symbolisches Leben. […] Wo leben wir symbolisch? Nirgends, außer wo wir am Ritual des Lebens teilhaben. (18/I, 625)
«
»
Nur das symbolische Leben kann den Bedürfnissen der Seele Ausdruck verleihen – den täglichen Bedürfnissen der Seele, wohlgemerkt! […] Im Ritual sind die Leute der Gottheit nahe; die sind sogar göttlich. […] Alles ist banal, alles ist »nichts als«; und aus diesem Grund sind die Leute neurotisch. […] Sie wollen sogar einen Krieg; sie wollen alle einen Krieg. Sie freuen sich alle, wenn es Krieg gibt: sie sagen: »Gott sei Dank, endlich passiert etwas – etwas, das größer ist als wir! (18/I, 627)
«
»
Das gibt inneren Frieden, wenn Menschen das Gefühl haben, dass sie das symbolische Leben führen, dass sie Schauspieler im Göttlichen Drama sind. Das ist das einzige, was dem menschlichen Leben einen Sinn verleiht. (18/I, 630)
«
» Die Seele ist einsam geworden; sie ist extra ecclesiam und im Zustand der Unerlöstheit. […] Aber es ist neurotisches Geschwätz, wenn man sagt, das sei eine Neurose. In Wirklichkeit ist es etwas ganz anderes: es ist die furchtbare Angst vor der Einsamkeit. (18/I, 632)
«
24
379 Das Symbol
z
Kosmischer Zusammenhang
Es geht, wie man sieht, nicht einmal in erster Linie darum, Symbole zu verstehen. Es verhält sich vielmehr so, wie ich eingangs sagte, dass der Mensch für das Wohlbefinden seiner Seele den Zugang zu Symbolen und Riten braucht. Der einzelne wird in einen kosmischen Zusammenhang gestellt. Auf seiner Reise zu den Indianern Neu-Mexikos traf Jung auf den Häuptling Ochwiä Biano (Gebirgs-See).
» Als ich mit Ochwiä Biano auf dem Dach saß, und die Sonne mit blendendem Licht höher und höher stieg, sagte er, auf die Sonne deutend: »Ist nicht der, der dort geht, unser Vater? Wie kann man anderes sagen? Wie kann ein anderer Gott sein? Nichts kann ohne die Sonne sein«. Seine Erregung, die bereits merklich war, steigerte sich noch, er rang nach Worten und rief endlich aus: »Was will ein Mann allein in den Bergen? Er kann ja nicht einmal sein Feuer bauen ohne ihn. […] Ich bemerkte, dass die PuebloIndianer, so ungern sie von etwas sprachen, das ihre Religion betraf, mit großer Bereitwilligkeit und Intensität von ihrem Verhältnis zu den Amerikanern redeten. »Warum«, sagte Mountain Lake, »lassen uns die Amerikaner nicht in Ruhe? […] Wir tun doch nichts gegen die Amerikaner! […] Was wir tun, tun wir doch nicht nur für uns, sondern auch für die Amerikaner. Ja, wir tun es für die ganze Welt. Es kommt ja allen zugute.« Und mit einer andeutungsvollen Geste zeigte der Sprecher auf die Sonne. […] »Wir sind doch ein Volk«, sagte er, »das auf dem Dach der Welt wohnt, wir sind die Söhne des Vaters Sonne, und mit unserer Religion helfen wir unserem Vater täglich über den Himmel zu gehen. Wir tun dies nicht nur für uns, sondern für die ganze Welt. Wenn wir unsere Religion nicht mehr ausüben können, dann wird bis in zehn Jahren die Sonne nicht mehr aufgehen. Dann wird es für immer Nacht werden«.
Da wurde mir deutlich, worauf die »Würde«, die gelassene Selbstverständlichkeit des einzelnen Mannes, beruht: Er ist der Sonnensohn, sein Leben ist kosmologisch sinnvoll, hilft er doch dem Vater und Erhalter allen Lebens in seinem täglichen Auf- und Abstieg. ([1] S. 250–255)
«
Das ist ein schönes Beispiel für das oben Gesagte. Diese Indianer haben eine überpersönliche Aufgabe mit ihrer Religion, welche der ganzen Welt zugute kommt. Unser Egoismus, der die ganze Welt zu zerstören droht, kommt daher, dass wir kein solches symbolisches Leben mehr haben. Auch die Häufung neurotischer Erkrankungen stammt aus dieser Quelle. Wer sich als Schauspieler des »Großen Welttheaters« erlebt, ist weniger gefährdet, denn er hat eine überpersönliche Aufgabe gefunden. Aus diesem Grund betont Jung immer wieder, dass die Religionen die ältesten psychotherapeutischen Systeme seien. Sie stellen den Menschen in den Zusammenhang des größeren Ganzen.
» Das Symbol ist weder abstrakt noch konkret, weder rational noch irrational, weder real noch irreal. Es ist jeweils beides. (12, 400)
«
Das ist der Grund, weshalb das Symbol vereinigende Funktion hat.
» Ich bin nämlich der Ansicht, dass die Vereinigung der rationalen und irrationalen Wahrheit weniger in der Kunst, als vielmehr im Symbol zustande komme, denn das Symbol hat in seinem Wesen die zwei Seiten, das Rationale (das Vernunftgemäße) und das Irrationale (das Nichtvernunftgemäße). Es drückt im einen auch zugleich ein anderes aus, so dass es beide zugleich umfasst, ohne aber das eine oder das andere zu sein. (10, 24)
«
Es gibt Jungianer, welche von einem »Dazwischen« sprechen, wenn das Symbol weder das
380
Kapitel 24 • Das Symbol
eine noch das andere und doch beide zugleich ist. Sie verstehen eben nicht, dass die Gegensätze zueinander gehören.
» An sich sind Geist und Materie neutral oder
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besser »utriusque capax«, das heißt fähig zu dem, was der Mensch gut oder böse nennt. […] Es gibt keine Position ohne ihre Negation. Trotz oder gerade wegen des extremen Gegensatzes kann das eine nicht ohne das andere sein. […] In der Materie wäre daher der Keim des Geistes und im Geiste der Keim der Materie zu entdecken [Synchronizitätsphänomene!]. […] Das Symbol hat den großen Vorteil, dass es heterogene, ja inkommensurable Faktoren in einem Bild zusammenzufassen vermag. (9/I, 197)
amplifizieren das Symbol und erreichen den Boden der Realität nicht mehr. > Das richtige Verständnis eines Symbols ist daher eine hohe Kunst, bei der das Gefühl mitzureden hat.
» Das Symbol setzt immer voraus, dass der gewählte Ausdruck die bestmögliche Bezeichnung oder Formel für einen relativ unbekannten, jedoch als vorhanden erkannten oder geforderten Tatbestand sei. (6, 819)
«
» Das lebendige Symbol stellt Unaussprech-
Das Symbol ist jedem bewussten Ausdruck überlegen, weil es eben sowohl rational als auch irrational, bildhaft und auch keines von beiden ist.
liches in unübertrefflicher Weise dar. Für jede esoterische Erklärung ist das Symbol tot, denn es ist durch die Esoterik auf einen – sehr oft vermeintlich – besseren Ausdruck gebracht, wodurch es zum bloßen konventionellen Zeichen […] wird. Lebendig ist das Symbol immer nur für den exoterischen Standpunkt. (6, 821)
» Es gibt keine festen Symbolbedeutungen. […]
Im weiteren Verlauf heißt es:
«
Jedes Symbol hat mindestens zwei Bedeutungen. (4, 539)
«
Besonders Anfänger, welche noch wenig Symbolkenntnis haben, verfallen dem Fehler, einem Symbol eine bestimmte Bedeutung zuzumessen.
» Mit dem Begriff Symbol ist ein unbestimmter, beziehungsweise vieldeutiger Ausdruck, der auf eine schwer definierbare, nicht völlig erkannte Sache hinweist, gemeint. […] Das Symbol besitzt daher zahlreiche analoge Varianten, und über je mehr es verfügt, desto völliger und zutreffender ist das Bild, das es von seinem Zustand entwirft. (5, 180)
«
Das führt bei manchen Analytikern zu unterschiedlichen Reaktionen, weil es für das Bewusstsein, das nach Eindeutigkeit strebt und Paradoxa fast nicht aushält, ein Stein des Anstoßes ist. Die einen messen ihm, wie erwähnt, eine feste Bedeutung zu, die anderen, die Intuitiven,
«
»
Des weiteren ist jede psychologische Erscheinung ein Symbol unter der Annahme, dass sie noch ein mehreres und anderes besage oder bedeute, das sich der gegenwärtigen Erkenntnis entziehe. Diese Annahme ist schlechterdings überall möglich, wo ein Bewusstsein ist, das auf weitere Bedeutungsmöglichkeiten der Dinge eingestellt ist. (6, 822)
«
»
Lebendig heißt ein Symbol nur dann, wenn es ein best- und höchstmöglicher Ausdruck des Geahnten und noch nicht Gewussten auch für den Betrachtenden ist. (6, 824)
«
» Das Ahnungsreiche und Bedeutungsschwangere des Symbols spricht ebensowohl das Denken wie das Fühlen an, und seine eigenartige Bildhaftigkeit, wenn zu sinnlicher Form gestaltet, erregt die Empfindung sowohl wie die Intuition. (6, 828)
«
24
381 Das Symbol
Das mag für den Leser vielleicht etwas viel auf einmal sein. Deshalb rate ich ihm, den Abschnitt über das Symbol in den Definitionen ganz zu lesen, wo Jung besonderen Wert auf die Unterscheidung von Zeichen (wie etwa das Flügelrad vom Bahnpersonal) und Symbol legt. Gerade heute gibt es wegen der Vielsprachigkeit Hinweistafeln, die allgemeinverständlich sein müssen. Man spricht dort von »Symbolen«, was im Jungschen Sinn in Wirklichkeit bloß Zeichen für eine klare, nicht vieldeutige Sache sind. Sie sind semiotisch, damit es jedermann verstehen kann. Man könnte sie aber jederzeit in jede Sprache übersetzen. Sie haben nichts Geheimnisvolles an sich.
» Die symbolbildende Funktion des Unbewussten ist vorhanden und nicht vorhanden, je nachdem. (10, 27)
«
» Zur Entschleierung ihrer symbolischen Eigenschaft bedarf es einer bestimmten bewussten Einstellung, nämlich des Willens, den Trauminhalt als symbolisch zu verstehen. (10, 29)
«
» Das Unbewusste hat für uns nur dann eine symbolbildende Funktion, wenn wir gewillt sind, in der Funktion des Unbewussten ein symbolisches Element zu erkennen. (10, 34)
«
z
Traum
Wenn man den Traum auf der sog. Objektstufe betrachtet, nimmt man die in ihm vorkommenden Bilder konkret und nicht symbolisch. Besonders zu Beginn einer Therapie kann das sinnvoll sein. Es geht dann oft um eine bessere Anpassung an die Realität, welche vom Unbewussten unterstützt wird. Gewisse parapsychologische Träume müssen ebenfalls so verstanden werden. In der Regel ist jedoch ein symbolisches Verständnis adäquater und bringt für den Sinn der Träume mehr. Die Schwierigkeit besteht darin, dass
» … das Symbol eine unbekannte, schwer erkennbare und in letzter Linie nie ganz bestimmbare Größe bezeichnet. (16, 340)
«
Das ist irritierend für das Bewusstsein, besonders das männliche, und erzeugt Widerstände gegen das Unbewusste. Für dieses sollten die Aussagen eine eindeutige Bedeutung haben. Da die Psyche jedoch nicht nur aus dem klaren Bewusstsein, sondern auch aus der Dunkelheit des Unbewussten besteht, müssen diese beiden Gegensätze irgendwie auf einen Nenner gebracht werden können.
» Das Symbol vermittelt nicht nur eine Anschauung des Vorgangs (der Vereinigung von Licht und Finsternis), sondern auch – was vielleicht ebenso wichtig ist – ein Mit- und Nacherleben des Vorganges, dessen Zwielicht nur durch ein inoffensives Mitfühlen und niemals durch den groben Begriff der Deutlichkeit verstanden werden kann. […] Hier hilft nur das Symbol, welches, seiner paradoxen Natur gemäß, das tertium darstellt, welches es nicht gibt – nach dem Dafürhalten der Logik –, welches aber das lebendig Wahre ist nach der Wirklichkeit. (13, 199)
«
Das Symbol hat teil an allen vier Funktionen. Was der einen versagt bleibt, schafft eine andere, besonders die minderwertige, welche mit dem Unbewussten kontaminiert ist. Man kann ein Symbol daher nur richtig verstehen, wenn man es mit allen Funktionen betrachtet. In einem Brief vom 17.III.1951 an einen Herrn Dr. H schreibt Jung:
» Ich kämpfe für die Belebung des Symbolgedankens wegen seiner therapeutischen Wichtigkeit, und gegen die anmaßliche Unterschätzung des Mythus, den die wenigsten Leute überhaupt nur einigermaßen verstehen (im Christentum). ([2] II, S. 212)
«
382
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Kapitel 24 • Das Symbol
Mythen
Gerade in einer vom rationalen Denken der Naturwissenschaften und Technik geprägten Welt ist es für die Seele wichtig, dass es auch Symbole und Mythen gibt. Die drücken nämlich die Hinter- und Abgründe des Lebens viel besser aus als jede Philosophie. Das Leben ist paradox, und ein Bewusstsein kann seine Paradoxie nicht fassen, nur der Mythus oder ein Symbol. Ich las kürzlich den Artikel eines Naturwissenschaftlers, der sich als »bekennender Atheist« bezeichnet. Was für ein Blödsinn! Entweder hat er als Atheist keinen höchsten Wert, dann kann er nur seine Erbärmlichkeit »bekennen« oder, was viel wahrscheinlicher ist, sein herkömmlicher Glaube ist abgestorben und sein höchster Wert ist die »déesse raison«. Dann kann er nur »bekennen«, dass er noch in der Zeit der Aufklärung und der Französischen Revolution, also noch rund zweihundert Jahre vor der Jetztzeit lebt! Wir werden alle von einem Mythus gelebt. Wenn der christliche gestorben ist, dann wohl von einem primitiveren. Ein Symbol, das nicht mehr einen wesentlichen Tatbestand des Unbewussten auszudrücken vermag, ist tot.
» Kein Symbol ist »einfach«. Einfach sind nur Zeichen oder Allegorien. Das Symbol aber deckt immer einen komplizierten Tatbestand, welcher dermaßen jenseits der Sprachbegriffe steht, dass er eindeutig überhaupt nicht auszudrücken ist. (11, 385)
«
Das ist die zentrale Eigenschaft des Symbols. Es ist so kompliziert, dass es einen weiteren Assoziationshorizont abdeckt, Verbindung zu weiten Bedeutungsfeldern hat und diese in seinem Ausdruck zusammenfasst. Damit wird verständlich, dass es keinen adäquaten Sprachbegriff geben kann, der diesen Umfang abzudecken vermöchte.
» Das Problem der Symbolbildung lässt sich ohne Einbeziehung der Triebvorgänge überhaupt nicht behandeln, denn aus diesen stammt
die bewegende Kraft des Symbols. Das Symbol selber verliert jeden Sinn, wenn es nicht den Trieb als Widerstand gegen sich hat, wie auch die ungeordneten Triebe nur zum Verderben des Menschen gereichen würden, wenn das Symbol ihnen keine Form gäbe. (5, 338)
«
Der erwähnte Naturforscher gehört zu jenen
»
… vielen kleinen Denkern, die nur vernünfteln können und dann einmal aufdecken, wie irrational alle religiösen Behauptungen sind. Mit dem Unverstandenen ist man dann bald fertig, und damit gehen die hohen Werte der symbolischen Wahrheit unwiederbringlich verloren. (5, 339)
«
» In einer Zeit, wo ein großer Teil der Menschheit anfängt, das Christentum wegzulegen, lohnt es sich wohl, klar einzusehen, wozu man es eigentlich angenommen hat. Man hat es angenommen, um der Rohheit und Unbewusstheit der Antike zu entkommen. Legen wir es weg, so steht schon wieder die ursprüngliche Rohheit da, von der uns ja die zeitgenössische Geschichte einen nicht mehr zu überbietenden Eindruck gegeben hat. Der Schritt dorthin ist kein Fortschritt, sondern ein Rückschritt. (5, 341)
«
Ich musste hier Jung das Wort zur Erklärung des obigen Exzerpts überlassen, der es viel gründlicher kann als ich. Der Fall des »bekennenden Atheisten« ist nämlich kein Einzelfall, sondern typisch für viele Intellektuelle, die meinen, wie fortschrittlich sie seien. Sie merken gar nicht, dass der Mensch aus viel mehr besteht, als bloß aus vernünftelndem Denken. Nur das Symbol des Anthropos [14] verhindert, dass der Mensch zur statistischen Einheit reduziert wird, mit welcher man nach Belieben verfahren kann, wie das der Kommunismus vorgelebt hat.
» Ein Symbol umfasst nicht und erklärt nicht, sondern weist über sich selbst hinaus auf einen noch jenseitigen, unerfasslichen, dunkel geahn-
383 Das Symbol
ten Sinn, der in keinem Worte unserer derzeitigen Sprache sich genügend ausdrücken könnte. […] Ein Geist, der ein Symbol zu seinem Ausdruck erfordert, ist ein seelischer Komplex, der schöpferische Keime von noch unabsehbaren Möglichkeiten enthält. (8, 644)
«
Wenn man ein Symbol mit einem Begriff ebenso treffend ausdrücken kann, dann ist das Symbol tot. Das kann sich im Laufe der Entwicklung ereignen. Das Gegenteil tritt ein, wenn ein Geist das Symbol beseelt, dann ist es schöpferisch für die Zukunft.
24
Man hat lange von phantastischen Traditionswegen, welche Mythenmotive oder Symbole durchwandert haben sollen, gefabelt. Heute, mit vermehrter Erfahrung mit dem Unbewussten, ist es ganz klar, dass es jederzeit und überall seine Symbole hervorbringt ohne auch nur die entfernteste Spur von Tradition. Das gehört offensichtlich einfach zur Sprachgestaltung des Unbewussten. Ihm stehen eine Vielzahl von Bildern zur Verfügung, mittels derer es seine Aussage formulieren kann. Und das ist ein angeborenes Muster wie der Archetypus.
» Die Symbole wurden nie bewusst ersonnen,
»
» Durch die geistige Not meiner Patienten bin
sondern wurden vom Unbewussten produziert auf dem Wege der sogenannten Offenbarung oder Intuition. […] Ein großer Teil der historischen Symbole wurde direkt durch den Traum angeregt oder stammt aus dem Traum. (8, 92)
ich gezwungen worden, den ernsthaften Versuch zu machen, wenigstens einige der vom Unbewussten erzeugten Symbole zu verstehen. (11, 106)
Das Symbol ist nicht nur als Ausdruck des Unbewussten wichtig, sondern es hat eine wichtige Funktion im Unbewussten.
Zur Aufklärung der Spontanprodukte des Unbewussten wurde vergleichende Symbolforschung unumgänglich. (13, 352)
«
«
» Nur durch das Symbol kann das Unbewusste erreicht und ausgedrückt werden, deshalb wird auch die Individuation des Symbols nie entraten können. Das Symbol ist einerseits primitiver Ausdruck des Unbewussten, andererseits ist es Idee, die der höchsten Ahnung des Bewusstseins entspricht. (13, 44)
«
> Das Symbol ist die Sprache des Unbewussten.
Will man seine Aussagen verstehen, muss man sich einige Kenntnis der Symbolforschung aneignen. Das spielt eine große Rolle für das Verständnis der Träume.
» Das psychologisch Wesentliche ist, dass in Träumen, Phantasien und geistigen Ausnahmezuständen auch die entferntesten mythologischen Motive und Symbole jederzeit autochthon wieder entstehen können. (8, 229)
«
«
» Die psychologische Maschine, welche Energie verwandelt, ist das Symbol. (8, 88) « Die Energie läuft im Unbewussten von einem Symbol zum nächsten entlang des Gefälles. Das geht mit einer Wandlung der Persönlichkeit einher. Man kann sich deshalb nicht bewusst zu etwas wandeln. Ähnlich wie in der Biochemie ist die Wandlung nur in kleinen, dem Gefälle entsprechenden Schritten möglich. In meiner Studienzeit wurde der sog. »Krebszyklus«, der Zitronensäurezyklus zur chemischen Energiegewinnung aus Glukose als Brennstoff, entdeckt. Hans Krebs, ein Schüler von Otto Warburg, erhielt für diese Entdeckung und seine Arbeiten über Atemfermente zusammen mit Fritz Albert Lipmann den Nobelpreis für Medizin. Ich war damals fasziniert, wie die Natur über viele Stufen sorgfältig ihre Energie gewinnt. Einer meiner Kollegen, der auch Biochemiker war, bevor
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Kapitel 24 • Das Symbol
er die Ausbildung zum Jungschen Analytiker machte, hat in seiner Thesis für das Diplom am C.G. Jung-Institut den Zitronensäure-Zyklus auch symbolisch analysiert, was hoch interessant ist [13]. Dieser Parallelismus zwischen den Stoffwechsel- und psychischen Wandlungsvorgängen scheint mir sehr bemerkenswert! Es ist hier nicht der Ort, auf einzelne Symbole einzugehen. Von Mann und Frau, König und Königin, sowie vom Kind war schon die Rede, weil sie sowohl Symbole als auch Archetypen sind.
» Das Meer ist das beliebte Symbol des Un-
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bewussten, der Mutter alles Lebendigen. (9/I, 298)
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» Das »ewige Kind« im Menschen ist eine unbe-
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schreibliche Erfahrung, eine Unangepasstheit, ein Nachteil und eine göttliche Prärogative, ein Imponderabile, das den letzten Wert und Unwert darstellt. (9/I, 300)
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» Das Tier in seiner fast gänzlichen Unbewusst-
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heit ist seit jeher das Symbol jener psychischen Sphäre im Menschen, welche in der Dunkelheit des körperlichen Trieblebens verborgen ist. (9/I, 444)
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«
«
«
Das ist nur eine kleine Auswahl geläufiger Symbole. Eine eingehendere Behandlung würde den Rahmen sprengen. Zudem scheint mir noch viel Geheimnisvolles im Symbol zu stecken, wie z. B. eine psychische Verwandtschaft mit dem Tier, welches im Traum als Symbol auftritt. Wir verstehen wohl erst wenig von dem, was ein Symbol wirklich ist.
Literatur Primärliteratur (Quellen) 1 Jaffé A (Hrsg.) (1971) Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G. Jung. Walter, Olten 2 Jaffé A (Hrsg.) (1972/73) Briefe. Erster Band 1906–1945 (1972); Zweiter Band 1946–1955 (1972); Dritter Band
1956–1961 (1973 mit Nachtrag neu aufgefundener Briefe). In Zusammenarbeit mit Adler G, London. Walter, Olten Freiburg Jung CG (1995) Definitionen, s.v. Symbol. GW 6, 819– 833. Gesammelte Werke. Walter, Solothurn Düsseldorf Jung CG (1995) Beispiel einer Symbolreihe, den Wandlungsprozess illustrierend. In: Über Wiedergeburt. GW 9/I, 240–258. Gesammelte Werke. Walter, Solothurn Düsseldorf Jung CG (1995) Über Mandalasymbolik. In: Gestaltungen des Unbewussten, 1950. GW 9/I, 627–711. Gesammelte Werke. Walter, Solothurn Düsseldorf Jung CG (1995) Christus, ein Symbol des Selbst. GW 9/II, 68–126. Gesammelte Werke. Walter, Solothurn Düsseldorf Jung CG (1995) Gnostische Symbole des Selbst. GW 9/II, 287–346. 351–354. Gesammelte Werke. Walter, Solothurn Düsseldorf Jung CG (1995) Dogma und natürliche Symbole. GW 11, 56–107. Gesammelte Werke. Walter, Solothurn Düsseldorf Jung CG (1995) Geschichte und Psychologie eines natürlichen Symbols. GW 11, 108–168. Gesammelte Werke. Walter, Solothurn Düsseldorf Jung CG (1995) Das symbolische Leben. Seminarvortrag vom 5. April 1939 in der Guild of Pastoral Psychology, London. Guild Lecture Nr. 80. (London 1954). GW 18/I, S. 289–314. Gesammelte Werke. Walter, Solothurn Düsseldorf Jung CG (1995) Der Archetypus in der Traumsymbolik. GW 18/I, 521–559. Gesammelte Werke. Walter, Solothurn Düsseldorf Jung CG (1995) Die Funktion religiöser Symbole GW 18/I, 560–577. Gesammelte Werke. Walter, Solothurn Düsseldorf
Sekundärliteratur 13 Bolliger W (1978) Die Vergleichbarkeit der Struktur energetischer Abläufe in Psychologie und Biochemie. Thesis am C.G. Jung-Institut Zürich 14 Ribi A (2002) Anthropos. Der ewige Mensch. Der ewige göttliche und kosmische Mensch in Geschichte, Politik und Tiefenpsychologie. Peter Lang, Bern
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Transzendente Funktion
A. Ribi, Neurose – an der Grenze zwischen krank und gesund, DOI 10.1007/978-3-642-16148-3_25, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
25
386
25
Kapitel 25 • Transzendente Funktion
»Die Auseinandersetzung mit dem Unbewussten ist ein Prozess oder je nachdem auch ein Erleiden oder eine Arbeit, die den Namen transzendente Funktion erhalten hat, da sie eine Funktion darstellt, die sich auf reale und imaginäre oder rationale und irrationale Daten gründet und damit die klaffende Lücke zwischen dem Bewussten und dem Unbewussten überbrückt.« (7, 121)
(rationaler) mit bis dahin unbewussten (irrationalen) Daten notwendigerweise eine Modifikation des Standpunktes überhaupt ergibt. Änderung aber ist nur möglich, wenn das »andere« zugelassen wird, und zwar mindestens bis zur bewussten Kenntnisnahme. (14/I, 251)
So ist z. B. die Nachtmeerfahrt (7, 160) eine transzendente Funktion: Der Held wird vom Meerungeheuer verschluckt (wie Jonas 2, 1f.). Im Inneren des Ungeheuers schneidet er ein wertvolles Stück, z. B. das Herz des Ungetüms, ab, wodurch es getötet wird und ans Land zum Sonnenaufgang im Osten schwimmt. Dort tritt der Held neugeboren aus dem Ungeheuer ans Land. Dem Unbewussten ist die dominierende Potenz entzogen und das Bewusstsein erneuert worden.
» Die Tendenz des Unbewussten und die des
«
Bewusstsein und Unbewusstes sind gegensätzlich, weil dieses jenes kompensiert.
Bewusstseins sind jene zwei Faktoren, welche die transzendente Funktion zusammensetzen. Sie heißt transzendent, weil sie den Übergang von einer Einstellung in eine andere organisch ermöglicht, das heißt ohne Verlust des Unbewussten. (8, 145)
«
» Ich habe daher die Vereinigung der Gegensätze als »transzendente Funktion« bezeichnet. (9/I, 524)
«
» Ich habe diese Veränderung, die durch die
» Die transzendente Funktion offenbart sich als
Auseinandersetzung mit dem Unbewussten erzielt wird, als transzendente Funktion bezeichnet. Diese merkwürdige Verwandlungsfähigkeit der menschlichen Seele, die sich eben in der transzendenten Funktion ausdrückt, ist der vornehmste Gegenstand der spätmittelalterlichen alchemistischen Philosophie, wo sie durch die bekannte alchemistische Symbolik ausgedrückt wurde. (7, 360)
eine Eigenschaft angenäherter Gegensätze. (8, 189)
«
» Die psychologische »transzendente Funktion« geht aus der Vereinigung bewusster und unbewusster Inhalte hervor. (8, 131)
«
Es ist also nicht, wie der Name vermuten lassen könnte, etwas Geheimnisvolles, sozusagen Übersinnliches oder Metaphysisches, sondern
» … die fortlaufende Auseinandersetzung mit der jeweiligen Gegensatzposition des Unbewussten, […] indem die Konfrontation bewusster
«
Die transzendente Funktion ist natürlich keine automatisch sich ereignende, sondern eine aktive Arbeit des Bewusstseins, wie etwa in der aktiven Imagination (8, 167f; 7, 322f; 9/II, 39).
» Alles, was die Finsternis von sich aus erfasst, denkt und begreift, ist finster, darum wird sie nur erhellt durch das ihr Unerwartete, Ungewollte und Unbegreifliche. Die psychotherapeutische Methode der Aktiven Imagination liefert treffliche Beispiele in dieser Hinsicht; gelegentlich sind es auch ein numinoser Traum oder ein äußeres Ereignis, welche ähnliche Wirkung haben. (14/I, 337)
«
Es würde zu weit führen, hier die Details der aktiven Imagination zu erklären (7 Sekundärliteratur).
387 Literatur
» In der zweiten Lebenshälfte sind die Bilder des kollektiven Unbewussten die Quelle, aus der man Hinweise auf die Lösung des Gegensatzproblems schöpfen kann. Aus der bewussten Bearbeitung dieser Daten ergibt sich die transzendente Funktion als eine durch Archetypen vermittelte, die Gegensätze vereinigende Auffassungsbildung. Mit »Auffassung« meine ich nicht bloß ein intellektuelles Verstehen, sondern ein Verstehen durch Erleben. Ein Archetypus ist, wie schon gesagt, ein dynamisches Bild, ein Stück der objektiven Psyche, das man nur dann richtig versteht, wenn man es als ein autonomes Gegenüber erlebt. (7, 184)
«
Wir begegnen hier wieder dem Archetypus, der eine Art Brückenfunktion bei der transzendenten Funktion hat. Einerseits ist er ein Inhalt des Unbewussten, andererseits setzt sich das Bewusstsein mit ihm auseinander.
» Der Weg der transzendenten Funktion ist ein individuelles Schicksal. […] Die Phantasien (in der Aktiven Imagination) sind nicht Ersatz für Lebendiges, sondern Früchte des Geistes, die dem zufallen, der dem Leben seinen Tribut zahlt. (7, 369)
«
Die Phantasien und Symbole, die in der Auseinandersetzung zwischen Bewusstem und Unbewusstem auftauchen, gehören der objektiven Psyche an, d. h. der inneren Wirklichkeit. Diese beansprucht vor allem in der zweiten Lebenshälfte ihren Platz, wenn die Anpassung an die äußere Wirklichkeit vollzogen ist.
Literatur Primärliteratur (Quellen) 1
Jung CG (1958) Die transzendente Funktion (1916). Als Privatdruck 1957 in englischer Übersetzung. Vom Autor bearbeitet als Festschrift für Daniel Brody. In: Geist und Werk aus der Werkstatt unserer Autoren. Rhein, Zürich
2 3
4 5
6
25
Jung CG (1995) Definitionen, s.v. Symbol. GW 6, 833. Gesammelte Werke. Walter, Solothurn Düsseldorf Jung CG (1995) Zwei Schriften über Analytische Psychologie. GW 7. Gesammelte Werke. Walter, Solothurn Düsseldorf Jung CG (1995) Die Dynamik des Unbewussten. GW 8. Gesammelte Werke. Walter, Solothurn Düsseldorf Jung CG (1995) Die Archetypen und das kollektive Unbewusste. GW 9/I. Aion. Beiträge zur Symbolik des Selbst. GW 9/II. Gesammelte Werke. Walter, Solothurn Düsseldorf Jung CG (1995) Die Komponenten der Coniunctio. GW 14/I. Gesammelte Werke. Walter, Solothurn Düsseldorf
Sekundärliteratur 7 8
Hannah B (1971) Striving towards wholeness. Putnam’s Sons, New York Marjula A (1961) The healing Influence of active imagination in a specific case of neurosis. A human document with an introduction by Barbara Hannah (Privatdruck)
389
Das Problem der Gegensätze 26.1
Hypothese eines Unbewussten – 391 Literatur – 395
A. Ribi, Neurose – an der Grenze zwischen krank und gesund, DOI 10.1007/978-3-642-16148-3_26, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
26
390
26
Kapitel 26 • Das Problem der Gegensätze
Das Problem der Gegensätze ist die Ursache kat´ exochen der seelischen und äußeren Konflikte. Wir können es bedauern, dass unser Leben nicht friedfertiger ist, es wäre viel bequemer und einfacher. Wir leiden daran, dass unsere Welt so zerrissen ist. Wir wünschen uns Frieden für unser Leben, aber auch für die Welt, in welcher durch Krieg und Gezänke so viel Leid entsteht. Wir möchten uns bei allen entschuldigen, denen wir Unrecht zugefügt haben. Alle Politiker versichern ihren Wählern, dass sie sich für eine bessere, friedfertige Welt einsetzen wollen, für Verminderung des Waffenarsenals und der Militärausgaben. Das ist es, was die Leute hören wollen vom valablen Politiker. Alle reden vom Frieden und schaffen Organisationen weltweit, um ihn zu erhalten. Dennoch rüstet alle Welt für den Krieg. Alle Menschen versichern, dass sie für den Frieden und gegen den Krieg einstehen und trotzdem kann man ihn nicht verhindern. Wenn sich etwas entgegen allen bewussten Beteuerungen durchsetzt, muss es einen tieferen Grund haben. Dass der Mensch sich so sehr nach Frieden sehnt, hat seinen Grund in seiner gegensätzlichen Struktur.
Der Mensch selber ist von Gegensätzen zerrissen. Darum ist alles was er tut und sagt von Gegensätzen durchzogen. Meist merkt er selber das am wenigsten, viel eher merkt seine Umgebung, wie widersprüchlich er ist. Er sagt das eine und tut ein anderes. Er redet heute so und morgen das Gegenteil. Er vertritt diese Meinung und handelt ganz gegensätzlich. Daher ist es kein Wunder, dass seine Welt so zerrissen ist. Jeder Politiker verspricht das Blaue vom Himmel, seine Tätigkeit sieht ganz anders aus. Es wäre zu simpel, alle als Lügner abzustempeln. Lügen heißt, das Gegenteil von dem zu behaupten, was man als Tatsache bewusst weiß. Die meisten Menschen sind sich ihrer Widersprüchlichkeit nicht einmal bewusst. In guten Treuen reden sie so und handeln gegensätzlich. Nur der Partner realisiert den Widerspruch, weil seine Erwartungen ent-
täuscht werden. Daraus entstehen manche Konflikte in Partner- und Freundschaften, welche das Positive haben könnten, uns erst unserer Widersprüchlichkeit bewusst zu machen. Wir sind hier offensichtlich auf ein zentrales menschliches Problem gestoßen, denn wir können nicht sagen, alle seien neurotisch, welche so widersprüchlich sind. Wir können nur feststellen, dass das ein allgemeines Charakteristikum des Menschen ist. Es hat wohl damit zu tun, dass der Mensch aus dem Paradies vertrieben wurde (Gn 3, 24). Man mag es bedauern, dass der Mensch seinen Unschuldszustand verloren hat, aber ein so gravierender Einschnitt in der Menschheitsgeschichte wird wohl einen tieferen Sinn haben. Wären wir nämlich nackt und unschuldig im Paradies verblieben und hätten nicht vom Baum der Erkenntnis gegessen, so hätten wir uns seelisch nicht entwickelt. Wir wären auf dem naiven Bewusstseinsstand der Ureltern stehen geblieben! Es hätte keinen Ansporn zur Differenzierung des Bewusstseins gegeben, denn wir hätten ohne Anstrengung alles erhalten, wessen wir bedurften. Kommunismus und Sozialismus gaukeln uns vor, es sei möglich, den Paradieszustand wiederherzustellen, als ob das wünschenswert wäre! Alle Ideen eines Wohlfahrtsstaates versuchen sich mit dieser Utopie. Als wäre das eine neue Idee und als hätte man sie nicht schon unzählige Male ohne Erfolg zu verwirklichen versucht. Man lernt bekanntlich nicht aus der Geschichte und merkt nicht, dass die Sehnsucht nach dem Paradies und nach Frieden ein inneres und kein äußeres Ziel ist. Wir mussten aus dem Paradies, man könnte sagen »Kinderparadies«, vertrieben werden, um unsere Aufgabe als Menschen zu erfüllen. Die Bewältigung unserer Gegensätzlichkeit ist eine Aufgabe für ein ganzes Leben. Das Leiden daran ist der Motor für unsere Beschäftigung mit diesem Problem. Leiden ist bekanntlich keine Krankheit, sondern der normale Gegensatz des Glücks (16, 179). Das Leiden an seiner eigenen Zerrissenheit spornt den Menschen an, diesen
391 26.1 • Hypothese eines Unbewussten
unseligen Zustand anzugehen (18/II, 1661). Jeder, der sich damit auseinandersetzt, trägt etwas zum Weltfrieden bei. Nicht die großen Worte und Versprechen der Staatsmänner sind die wirklichen Heilmittel für unsere zerstrittene Welt, sondern das, was jeder im stillen Kämmerlein bei sich selber in Ordnung gebracht hat. Ein zentrales Gesetz des Lebens ist das Paradoxon. Cicero übersetzt die paradoxen Sätze, deren Figur wir ständig begegnen, wenn wir etwas über das Unbewusste aussagen, mit »auffallende und der Meinung aller zuwiderlaufender Sätze« (quae sunt mirabilia contraque opinionem omnium) (Cicero, parad. prooem. § 4). > Bewusstsein heißt Unterscheidung.
Im Unbewussten gibt es die nicht, alles ist mit sich selber identisch. Sobald etwas bewusst wird, zerfällt es in Gegensatzpaare [4]. Etwas kann gar nicht bewusst werden, wenn nicht auch sein Gegensatz bekannt ist. Das ist das in der Alchemie bekannte Gesetz der Trennung. Was nicht fein säuberlich in seine beiden Gegensätze aufgetrennt worden ist, kann nicht gründlich bewusst werden. Jung ist in seinen »Septem Sermones ad Mortuos« auf dieses Gesetz gestoßen. Seither verstehen wir viele Regeln der Bewusstwerdung besser. Er brauchte bekanntlich ein ganzes Leben, um das, was ihm mit den »Septem Sermones« zustieß, in wissenschaftliche Form zu gießen.
» Solange das Bewusstsein nicht dazutritt, bleiben die Gegensätze des Unbewussten latent. (12, 440)
«
Weil das Unbewusste ein völlig anderes Medium ist, das keine Eigenschaften hat, respektive nur durch das ausgedrückt werden kann, was es nicht ist, hat es auflösende Wirkung auf das Bewusstsein. Erst diesem gelingt es, einen Inhalt zu fassen, sozusagen »dingfest« zu machen, wobei er sofort in sein Gegensatzpaar zerfällt. Wir schließen stets rückwärts aus dem bewussten Inhalt auf
26
seinen Zustand im Unbewussten. Das ist jedoch nur eine Vermutung, weil das Unbewusste seiner völlig anderen Natur gemäß andere Eigenschaften, respektive überhaupt keine Eigenschaften hat. Hier erkennen wir wieder, dass alle unsere Aussagen, auch jene über das Unbewusste, solche des Bewusstseins und in dessen Anschauungsweise sind. Wir können uns nicht über unseren Kopf steigen und sind mit unserem Bewusstsein als Organ des Erkennens in engen Grenzen gefangen. Man wüsste sonst gar nicht, warum man überhaupt vom Un-bewussten reden sollte. Tatsächlich gibt es nicht wenige Menschen, welche die Tatsache des Unbewussten leugnen, weil man es nicht so einfach mit dem Bewusstsein einfangen und beweisen kann.
26.1
Hypothese eines Unbewussten
Zweifellos gibt es aber in unserer Psyche Phänomene, welche nicht unser Bewusstsein hervorgebracht hat, sondern die aus einer unserem Willen unzugänglichen Quelle stammen. Es sind autonome Phänomene, die wir weder erzeugen noch verhindern können. Aus derartigen Erfahrungen leitet sich die Hypothese eines Unbewussten ab.
» Das Zeitalter der Entdeckungen, dessen Abschluss wir vielleicht mit der völligen Erderkundung erreicht haben, wollte nicht mehr glauben, dass die Hyperboreer [fabelhaftes Volk, dessen Wohnsitze man in den äußersten Norden setzte] einfüßig seien, oder dergleichen, sondern es wollte wissen und selber gesehen haben, was jenseits der Grenzen der bekannten Welt vorhanden war. Unser Zeitalter schickt sich an, zu erkunden, was das Psychische jenseits des Bewusstseins ist. (10, 172)
«
Wer die Hypothese eines Unbewussten bestreitet, gehört offensichtlich nicht zu den Neugierigen, die über den Tellerrand des Bewusstseins hinausschauen möchten.
392
Kapitel 26 • Das Problem der Gegensätze
» Wir nennen das Unbewusste bloß darum so, weil uns unbewusst ist, was es ist. (10, 311) « Um ermessen zu können, welcher Anstrengungen und Gedankenarbeit es bedurfte, soweit zu kommen, muss man die Vorgeschichte kennen (7 Erstes Buch).
» Die experimentelle Psychologie gebärdete sich
26
eine Zeitlang – und zwar mit einem gewissen Recht – als die einzig wissenschaftliche Psychologie und stand dem Begriff des Unbewussten ablehnend gegenüber, indem sie von der Anschauung ausging, alles Psychische sei bewusst, und das Bewusstsein allein verdiene den Namen Psyche. Es wurde zwar zugegeben, dass es »heller« und »dunkler« bewusste psychische Inhalte gebe, aber die Existenz eigentlich unbewusster Inhalte wurde geleugnet. (10, 1)
«
Wir erinnern uns, dass Jung seine Laufbahn ebenfalls in der experimentellen Psychologie begonnen hat und sich daher bestens auskannte. Der Leser wird sich erinnern, dass Wilhelm Wundt im 19. Jahrhundert der »Papst« der experimentellen Psychologie war. Die Leugnung eines Unbewussten dürfte seinen Grund in der Tatsache haben, dass »alles Unbewusste projiziert ist« (7, 314). Man merkt es bei sich selber nicht, sondern vermutet es bei anderen. Dabei ist das Unbewusste in der Entwicklung des Menschen (Ontogenese) zuerst da.
» Die Tatsache lässt sich nicht übersehen, dass, ebenso wie das Bewusstsein aus dem Unbewussten aufdämmert, auch das Ichzentrum einer dunklen Tiefe entsteigt, in der es irgendwie enthalten war, während es in potentia existierte. (7, 503)
«
» Das Unbewusste ist die Mutter des Bewusstseins. (7, 501) «
Für die Erforschung des Unbewussten war das eine unerwartete Überraschung, dass es ja offensichtlich älter ist als das Bewusstsein. Das Weltbild vom Primat des Bewusstseins drehte sich um 180 Grad. Das Bewusstsein ist sozusagen bloß der Frucht- und Blütenständer unserer Lebenspflanze, der vorübergeht, während unsichtbar unter der Erde das Rhizom (der Wurzelstock) weiterwächst, um neue Blütenstände zu entfalten. Neben den Umwelteinflüssen und den psychischen Funktionen
» … ist die dunkle Welt der Psyche, das Unbewusste, eine dritte Quelle für Bewusstseinsinhalte. (18/I, 77)
«
Das Unbewusste versorgt das Bewusstsein während eines ganzen Lebens mit neuen Inhalten, wodurch die psychische Entwicklung nie stillsteht.
» Wir haben Grund zu vermuten, dass das Unbewusste keineswegs ruhend ist, in dem Sinne, dass es inaktiv wäre, sondern es ist anhaltend beschäftigt mit der Gruppierung und Umgruppierung seiner Inhalte. Diese Aktivität wäre nur in pathologischen Fällen als gänzlich unabhängig zu denken; normalerweise ist sie mit dem Bewusstsein koordiniert im Sinne einer kompensatorischen Beziehung. (7, 204)
«
Ich habe in 7 Kap. 15 Grundsätzliches über die kompensatorische Aktivität des Unbewussten gesagt. Dort habe ich auch darauf hingewiesen, dass wir
» … ein feindliches oder rücksichtsloses Verhalten des Unbewussten gegenüber dem Bewusstsein nur dort finden, wo das Bewusstsein eine falsche und anmaßende Einstellung hat. (7, 346)
«
So viel musste zu »dem Unbewussten« ganz allgemein gesagt werden, bevor wir mit unserem
393 26.1 • Hypothese eines Unbewussten
Thema der Gegensätze am Übergang von unbewusst zu bewusst fortfahren können.
26
» Das Leben als ein energetischer Prozess bedarf
Das Bewusstsein hat die Tendenz, das zu perpetuieren, was sich als erfolgreich oder angenehm erwiesen hat. Dadurch gerät es in eine Einseitigkeit.
der Gegensätze, ohne welche Energie bekanntlich unmöglich ist. (11, 291)
» Der Mensch vergisst nämlich immer wieder,
«
dass etwas, das einstmals gut war, nicht für immer und ewig gut bleibt. (6, 313)
«
Energie entsteht nur durch ein Gefälle von einem höheren zu einem tieferen Niveau. Das erzeugt, wie ich in 7 Abschn. 13.2 ausgeführt habe, einen unumkehrbaren Ablauf (»final«) des psychischen Prozesses.
Damit, dass eine gute Handlung immer wiederholt wird, wird sie nicht immer besser, sondern schlägt ins Gegenteil um.
» Gegensatz bedeutet energetisch ein Potential,
» Dem grausamen Gesetz der Enantiodromie
und wo sich ein Potential findet, das ist die Möglichkeit eines Ablaufes und eines Geschehens, denn die Spannung der Gegensätze strebt nach Ausgleich. (9/I, 426)
entrinnt nur der, der sich vom Unbewussten zu unterscheiden weiß, nicht etwa dadurch, dass er es verdrängt – denn sonst packt es ihn einfach von hinten –, sondern dadurch, dass er es sichtbar vor sich stellt als etwas von ihm Unterschiedenes. (7, 112)
«
Schon das Kind befindet sich keineswegs in einem paradiesischen Unschuldszustand. Wie seine Träume zeigen, steht es bereits im Gegensatz zwischen seiner unerfahrenen Natürlichkeit und einer Geistigkeit seiner Vorfahren.
«
» Dieser Gegensatz ist Ausdruck und vielleicht
Der größte Gegensatz, dem der Mensch zunächst begegnet, ist der von bewusst und unbewusst. Das Bewusste ist das, was er mit seinem Willen anstrebt, das Unbewusste ist allenfalls das, was ihn daran hindert.
auch Grundlage jener Spannung, die wir als psychische Energie bezeichnen. (8, 98)
» Der Patient muss unterscheiden lernen, was
«
Naiverweise meinen wir, Kinder ständen noch nicht wie Erwachsene in einem Gegensatzkonflikt. Er ist dem Kind noch viel weniger bewusst als dem Erwachsenen, obwohl auch erst Träume ihn auf seine Konflikte aufmerksam machen müssen.
» Der alte Heraklit, der wirklich ein großer Weiser war, hat das wunderbarste aller psychologischen Gesetze entdeckt: nämlich die regulierende Funktion der Gegensätze. Er nannte dies Enantiodromia, das Entgegenlaufen, worunter er verstand, dass alles einmal in sein Gegenteil hineinlaufe. (7, 111)
«
Ich und was Nicht-Ich, das heißt Kollektivpsyche, ist. Dadurch gewinnt er den Stoff, mit dem er sich von diesem Moment an auf lange Zeit hinaus auseinandersetzen muss. […] Es gehört zur Unterscheidung des Ich und des Nicht-Ich, dass der Mensch in seiner Ich-Funktion auf festen Füßen stehe, das heißt seine Pflicht gegenüber dem Leben erfülle, so dass er in jeder Hinsicht ein lebensfähiges Glied der menschlichen Gesellschaft ist. (7, 113)
«
Die Gegensätzlichkeit von Ich und Nicht-Ich entsteht dadurch, dass das Bewusstsein sich bei jeder Handlung und jedem Gedanken für den einen der beiden auftretenden Gegensätze entscheiden muss, um handlungsfähig und eindeu-
394
Kapitel 26 • Das Problem der Gegensätze
tig zu werden. Der Gegensatz, der meist weniger originell und individuell ist, verfällt dem Unbewussten und bildet den Schatten (7 Kap. 18). Wenn dieser, das vom Bewusstsein Verdrängte, bewusst geworden und integriert worden ist, stellt sich das Gegensatzproblem zwischen dem Ich und dem kollektiven Unbewussten.
» Zwischen dem kollektiven Bewusstsein und dem kollektiven Unbewussten besteht ein beinahe unüberbrückbarer Gegensatz, in welchen sich das Subjekt hineingestellt sieht. (8, 423)
«
26
Dabei ist zu beachten, dass hier vom kollektiven Bewusstsein die Rede ist, also von einem, dessen Schatten noch projiziert ist. Es ist der Gegensatz zwischen äußeren und inneren Wertsystemen, welche so inkongruent wie nur möglich sind. Die Anpassung an die äußeren, kollektiven Werte bringt die Persona hervor, die Anpassung an die kollektiven inneren die Seele (7 Kap. 31). Darum schreibt Jung, wer mit seiner Persona identisch sei, ermangle der Seele und umgekehrt. Das Problem kann sich im Alter verschärft stellen.
» … wer sich vor dem Neuen, Fremden schützt und zum Vergangenen regrediert, ist in der gleichen neurotischen Verfassung wie derjenige, der, mit dem Neuen sich identifizierend, der Vergangenheit davonläuft. […] Beide tun prinzipiell dasselbe: sie retten ihre Bewusstseinsenge, anstatt sie durch den Kontrast der Gegensätze zu sprengen und dadurch einen weiteren und höheren Bewusstseinszustand aufzubauen. (8, 767)
«
Im Alter ist diese Gefahr besonders groß, weil man sich außer den veränderten Zuständen der äußeren Welt, keine Neuigkeiten von Bedeutung vorstellen kann. Diese sind aber innen, nicht außen zu suchen.
»
Als was immer die Gegensätze im individuellen Fall erscheinen mögen, im Grunde genommen handelt es sich immer um ein in Einseitigkeit verirrtes und verbohrtes Bewusstsein, konfrontiert mit dem Bilde instinktiver Ganzheit und Freiheit. (8, 190)
«
» Da die Auseinandersetzung mit der Gegenposition ganzheitlichen Charakter hat, so ist nichts davon ausgeschlossen. (8, 193)
«
Im Zusammenprall mit den Mächten des kollektiven Unbewussten ist der Mensch in einem ganz anderen Maße vom Problem der Gegensätze gefordert. Es sind die wahren Götter oder Dämonen, denen er begegnet.
» Die Enantiodromie ist das Auseinandergerissensein in die Gegensatzpaare, die dem Gott eignen und so auch dem vergöttlichten Menschen, der die Gottähnlichkeit der Überwindung seiner Götter verdankt. (7, 113)
«
Dieser heroische Kampf ist zugleich der Sinn und das Ziel des Gegensatzproblems: Der Mensch wird sich bewusst, dass die Götter, die über Krieg und Frieden entscheiden, in ihm selber wohnen. Er selber ist berufen, zum »Friedensfürst« (Jes. 9, 5) zu werden, indem er seine eigene Zerrissenheit überwunden hat.
» Aus dem Zusammenprall der Gegensätze erschafft die unbewusste Psyche immer ein Drittes irrationaler Natur, welches dem Bewusstsein unerwartet und unbegreiflich ist. […] Das Bewusstsein weiß nämlich nie über die Gegensätze hinaus und erkennt darum auch das diese Vereinigende nicht. (9/I, 285)
«
Die Erlösung aus dem Leiden an den Gegensätzen ist daher ebenfalls paradox: einerseits das Leiden und das Bemühen an den Gegensätzen, andererseits das Auftreten der erlösenden Sym-
395 Literatur
bole aus dem Unbewussten. Wie man sieht, ist der Mensch, der seiner Gegensätzlichkeit bewusst wird, tatsächlich ans Kreuz geheftet.
» Der Konflikt verlangt eine wirkliche Lösung und fordert ein Drittes, in welchem sich die Gegensätze einigen können. Hier pflegt der Intellekt mit seiner Logik zu versagen, denn in einem logischen Gegensatz gibt es kein Drittes. Das Lösende kann nur irrationaler Art sein. Der Ausgleich von Gegensätzen ist in der Natur stets ein Prozess, das heißt ein energetischer Vorgang: es wird symbolisch in des Wortes eigentlicher Bedeutung gehandelt. (14/II, 365)
«
Es treten Träume oder Phantasien auf, welche die Spannung und die Art der Gegensätze veranschaulichen, womit sie ihre Synthese einleiten und in Gang bringen. Dieser Prozess kann durch die Kunsthilfe der aktiven Imagination unterstützt werden. Ein solches vereinigendes Symbol ist der Hermaphrodit.
» Der Hermaphroditus bedeutet nichts anderes als eine Vereinigung der stärksten und auffallendsten Gegensätze. […] Die Urvorstellung ist (z. B. in der Alchemie) zum Symbol der konstruktiven Vereinigung von Gegensätzen geworden, zu einem eigentlichen »vereinigenden Symbol«. […] Das zwiegeschlechtlige Urwesen wird im Laufe der Kulturentwicklung zum Symbol der Einheit der Persönlichkeit, des Selbst, in welchem der Konflikt der Gegensätze zur Ruhe kommt. Das Urwesen wird auf diesem Wege zum fernen Ziel der Selbstverwirklichung menschlichen Wesens, indem es von Anfang an schon eine Projektion der unbewussten Ganzheit war. (9/I, 292–294)
«
sammenhang stets in den Sinn kommt. Der »rosegarden« war, wie sich jetzt herausstellt, eine Vorwegnahme des Zieles menschlicher Entwicklung. Das »Rosarium« kommt in der Alchemie als dessen Symbol sehr häufig vor. Die Antizipation des Zieles am Anfang der Menschheit zeigt: »Anfang und Ende reichen sich die Hände«.
» Das Gewissen bringt die stets und notwendigerweise vorhandenen Gegensätze zur bewussten Wahrnehmung. (10, 844)
«
Das ist eine Notwendigkeit in diesem Prozess. Man kann sich nur wundern, wie die Natur das Problem der Gegensätze benutzte, um den Menschen seinem Ziel zuzuführen. Einerseits vergällte sie ihm damit die Freude an einem sorgenfreien Leben, andererseits ist das Leiden an der Zerrissenheit gerade der Motor, der die Individuation ihrem Ziel zutreibt. Der Rosengarten steht erst als erlösendes Ende vor Augen.
Literatur Primärliteratur (Quellen) 1
2
Jung CG (1995) Psychologische Typen. Zürich 1921. VIII. Das Typenproblem in der Philosophie; Die Jamesschen Typen. GW 6. Zürich 91960, 101967, 141981. Gesammelte Werke. Walter, Solothurn Düsseldorf. S. 319 Jung CG (1995) Mysterium coniunctionis. Untersuchungen über die Trennung und Zusammensetzung der seelischen Gegensätze in der Alchemie. Zürich 1955 und 1956. 2 Bde. 1968. Vollständige revidierte Neuausgabe mit Übersetzung der lateinischen und griechischen Textstellen 31978. 3 Bde. unter Mitarbeit von Marie-Louise von Franz. GW 14, I-III. 1984. Walter, Solothurn Düsseldorf
Sekundärliteratur 3 4
Damit hat die Natur ihr Ziel erreicht, was zunächst nur nach unsinnig und »Blut und Tränen« aussah und auch auf weite Stecken Leiden bedeutet. »I never promised you a rosegarden«, heißt es in einem Song, der mir in diesem Zu-
26
Ribi A (1993) Die feindlichen Brüder. Extraversion – Introversion. Kundschafter, Brugg Ribi A (1999) Die Suche nach den eigenen Wurzeln. Peter Lang Bern. S. 178
397
Trieb und Instinkt 27.1
Trieb – 398
27.2
Instinkt – 405 Literatur – 410
A. Ribi, Neurose – an der Grenze zwischen krank und gesund, DOI 10.1007/978-3-642-16148-3_27, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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398
Kapitel 27 • Trieb und Instinkt
Für Freud ist der zentrale Anlass zu psychischen Konflikten und neurotischen Krankheiten der Trieb. Nach seiner Ansicht spielen sie im Leben des Menschen eine bedeutende Rolle im Sinne von Antrieb zu Denken, Handeln und Erlebnisweisen. Zwischen den Trieben und den kulturellen Anforderungen entstehen nach seiner Auffassung unweigerlich Konflikte.
27.1
27
Trieb
Freud versteht unter Trieben Kräfte somatischen Ursprungs. Der Trieb ist ein Grenzbegriff zwischen dem Körperlichen und dem Seelischen. Er manifestiert sich nur in seinen Abkömmlingen, in Vorstellungen und Affekten, welche eine dranghafte Qualität haben. Das Ziel des Triebimpulses ist immer die Befriedigung, d. h. die Aufhebung des Reizzustandes an der Triebquelle. Für das Aufheben des unlustvollen Reizzustandes ist der Mensch auf ein Objekt angewiesen, welches aus Teilen des eigenen Körpers oder einem anderen Menschen bestehen kann. Diese Objekte werden libidinös besetzt. Freud hat im Laufe seines Lebens verschiedene Trieb-Dualismen entworfen: den Ich- oder Selbsterhaltungstrieb und den Sexualtrieb, die narzisstische und Objektlibido, Libido und Aggression [10], »Eros« und Todestrieb [11]. In der Zwischenzeit wurde einerseits von psychoanalytischer Seite Freuds Triebtheorie kritisiert und erweitert. So viel ich beurteilen kann, betrifft sie psychologische Beobachtungen an Kindern und Eltern, aber keine tiefenpsychologischen Neuheiten. Andererseits wurden in der Verhaltensforschung (Ethologie) neue Befunde erhoben (Tinbergen, Lorenz, von Holst u. a.). Besonders die Forschung an Primaten ist vom vergleichenden Standpunkt aus sehr interessant (Jane Goddal, Dian Fossey, Hans Kummer). Im Rahmen unseres Themas ist es unmöglich, auf diese neuen Befunde einzugehen,
sie würden eines Spezialstudiums bedürfen. Sie relativieren allerdings die Jungschen Befunde kaum, weil es stets das Bewusstsein ist, das die Aussagen macht. Dieses ruht auf seiner Instinktund Triebgrundlage, aus welcher es sich mit dem tierischen Verhalten vergleicht.
»
Die Neurologie ist eigentlich die Wissenschaft der organischen Nervenkrankheiten, während die psychogenen Neurosen keine organischen Krankheiten im gewöhnlichen Sinne sind, wie sie auch nicht zur Domäne des Psychiaters gehören, welche ausschließlich das Gebiet der Psychosen begreift. […] Vielmehr konstituieren sie ein merkwürdiges Sondergebiet ohne allzu scharfe Grenzen, in dem zahlreiche Übergangsformen nach beiden Seiten zur Geisteskrankheit sowohl wie zur Nervenkrankheit vorkommen. (11, 489)
«
» Das unverkennbare Charakteristikum der Neurosen besteht in der Tatsache, dass sie aus seelischen Ursachen hervorgehen und mit ausschließlich seelischen Mitteln geheilt werden können. Die Abgrenzung und Erforschung dieses Sondergebietes […] hat zu einer Entdeckung geführt, die der wissenschaftlichen Medizin äußerst unbequem war, nämlich zur Entdeckung der Seele als eines ätiologischen, krankheitserregenden Faktors. (11, 490)
«
Jung äußert sich sodann zu den Ergebnissen.
»
Die Erforschung der Psychoneurosen ergab nun als unzweideutiges Resultat, dass der psychische Faktor die Noxe, das heißt die wesentliche Ursache des Krankseins war. […] Alle Versuche, die Natur des psychischen Faktors auf andere, körperliche Faktoren zu reduzieren, erwiesen sich als verfehlt. Schon mehr Glück hatte der Versuch, den psychischen Faktor auf den der Biologie entliehenen Begriff des Triebes zu reduzieren. Triebe sind bekanntlich sehr wahrnehmbare, auf Drüsenfunktionen basierende
399 27.1 • Trieb
physiologische Nötigungen, die erfahrungsgemäß die psychischen Vorgänge bedingen und beeinflussen. (11, 491)
«
» Der Begriff »Trieb« ist weit davon entfernt, wissenschaftlich geklärt zu sein. Er betrifft ein biologisches Phänomen von ungeheurer Komplexität und stellt recht eigentlich ein X dar, das heißt einen bloßen Grenzbegriff von ganz unbestimmtem Gehalt. (11, 493)
«
In den 1920er Jahren hatten die Versuche Eugen Steinachs (1861–1944) mit Keimdrüsen zur Verjüngung großes Aufsehen erregt. Das ist wohl der Grund, weshalb man in der Folge den Drüsensekreten mirakulöse Wirkungen, u. a. auch für die Triebe, zuschrieb. Heute weiß man viel mehr über die Funktion von Hormonen im Stoffwechsel des Körpers. Zweifellos sind psychologische Funktionen von körperlichen abhängig.
» Die Psychologie muss eine weitgehende Koinzidenz ihrer Tatsachen mit biologischen Gegebenheiten anerkennen, auch wenn sie Anspruch auf die Autonomie ihres Forschungsgebietes erhebt. (8, 232)
«
Man hat sich immer wieder gefragt, wie sich ein Mensch entwickeln würde, dessen Triebe durch keinerlei kulturelle Einflüsse gehemmt würden. Man wollte sich so dem »Urmenschen« oder dem »natürlichen Menschen« nähern, da man glaubte, alle psychischen Störungen seien durch die restriktiven Einflüsse auf die natürlichen Triebansprüche verursacht. In der Folge richtete sich das Interesse auf sog. »Kaspar-Hauser-Kinder«, Kinder, welche aus irgendeinem Grund allein und fern menschlicher Beziehung aufwuchsen. Zur großen Enttäuschung der Forscher waren es sprachlose, minderintelligente Halbmenschen, denen die wesentlichen Merkmale fehlten. Um zum wirklichen Menschen zu werden, braucht es offensichtlich den zwischenmenschlichen Kon-
27
takt. Das ungehemmte Ausleben der Triebe erzeugt nicht den »natürlichen Menschen«.
» Der »natürliche« Mensch, wie er sich als Gegebenheit vorfindet, ist nicht gut und nicht rein, und sollte er sich per vias naturales entfalten, so würde dabei ein vom Tier nicht wesentlich verschiedenes Gewächs herauskommen. Die bloße Triebhaftigkeit und die durch kein Schuldbewusstsein getrübte, naive Unbewusstheit des Naturwesens würden vorherrschen. […] Da es ohne Schuld kein moralisches und ohne wahrgenommene Unterschiedenheit überhaupt kein Bewusstsein gäbe. (13, 244)
«
Man ist auf diese Frage deshalb gekommen, weil die Triebe dem Menschen so viel Beschwer verursachen. Bei Freud ist das Triebproblem ganz zentral. Der Mensch zerbricht fast daran. Das kann doch nicht die Absicht der Natur sein, sagt man sich, und schiebt die Schuld der Kultur zu, welche den Menschen derart einengt und verkümmern lässt, dass er neurotisch wird. Auch Freud hat darüber phantasiert und ist zur Idee der Urhorde gekommen, wo die Triebe frei ausgelebt werden könnten und keinerlei Einschränkung unterlägen. Dem ist aber in Wirklichkeit nicht so. Überall auf der Welt hatte man die Idee vom Urmenschen, von einem Menschen ante lapsum. Das ist jedoch keine Vorstellung vom wirklichen prähistorischen Menschen, sondern die Idee vom natürlichen Menschen wie er eigentlich geschaffen wäre [15]. Er ist die archetypische Idee vom Menschen und das Ziel seiner Individuation. Dort geht es keineswegs um die Freiheit von Triebbeschränkung.
» Die Triebbeschränkung ist ein normativer, oder genauer gesagt, ein nomothetischer (Gesetze schaffender) Prozess, dessen Gewalt aus der unbewussten Tatsache der vererbten Bahnungen stammt. (8, 101)
«
400
Kapitel 27 • Trieb und Instinkt
Kein Moses hat die Gesetzestafeln vom Sinai heruntergebracht und den Menschen als »code pénal« vorgesetzt. Mit den Trieben ist dem Menschen auch deren Beschränkung angeboren. Darum setzt sich die Triebbeschränkung durch geistige archetypische Prozesse beim Einzelnen wie bei den Völkern mit derselben Macht und demselben Erfolg durch. Weshalb der Trieb für viele Menschen ein Problem darstellt, ist die Tatsache, dass er »eine Nötigung zu gewissen Tätigkeiten.« (6, 834) ist. Der Mensch fühlt sich nicht frei in seiner Entscheidung, ob er dem Trieb nachgeben soll oder nicht, denn:
27
» Unter den Begriff Trieb fallen meines Erachtens alle diejenigen psychischen Vorgänge, über deren Energie das Bewusstsein nicht disponiert. Nach dieser Auffassung gehören also die Affekte ebensowohl zu den Trieb-Vorgängen, wie auch zu den Gefühlsvorgängen. (6, 834); 7 Kap. 30
«
in ein übergeordnetes Ganzes einordnet, wissen wir nicht. Jedenfalls hat er eine gewisse Freiheit, welche dem organischen nicht zukommt.
» Das Leben hat eine Eigengesetzlichkeit, die aus den bekannten physikalischen Naturgesetzen nicht abgeleitet werden kann. (8, 375)
«
Man könnte das, was den reinen physikalischchemischen Gesetzen widerspricht, z. B. der Aufbau der Zelle, als primitivste Form des Psychischen, welche mit dem Begriff des Lebendigen zusammenfiele, bezeichnen.
» Die psychische Kondition oder Qualität beginnt dort, wo sich die Funktion von ihrer äußeren und inneren Bedingtheit zu lösen beginnt und erweiterter und freierer Anwendung fähig wird, das heißt, wo sie dem aus anderen Quellen motivierten Willen als zugänglich zu erweisen sich anschickt. (8, 377)
«
Der Trieb ist nicht bloß ein automatischer Ablauf. Er wird durch innere oder äußere Reize ausgelöst oder verstärkt. Er kann aber auch willentlich hervorgerufen werden beim Menschen.
Die »partie supérieure« ist jene, die sich von der bloßen Triebhaftigkeit zu befreien vermag. Sie erlangt damit eine geistige Form. Der Wille, der auf die Funktion modifizierend einzuwirken vermag, »bedeutet ein beschränkter Energie-
» Die Differenzierung der Funktion von der
betrag, welcher dem Bewusstsein zu freier Verfügung steht« (8, 397).
zwangsläufigen Triebhaftigkeit zur willkürlichen Verwendbarkeit ist von eminenter Bedeutung hinsichtlich der Daseinserhaltung. (8, 378)
«
z
Der Trieb ist trotz einer gewissen Autonomie dennoch einer Veränderung durch den Willen fähig.
» Wohl bedarf der Wille, wegen seiner empiri-
Ebenen
Der Trieb hat nämlich zwei Ebenen.
» Als partie inférieure (Janet) erweist sich der relativ unveränderliche, automatische [physiologische], als partie supérieure der willkürliche und veränderliche Teil der Funktion. (8, 375)
«
Die »partie inférieure« sind Vorgänge, welche an ein organisches Substrat irgendwie gebunden sind. Wie der Organismus diese Aktivitäten
schen Wahlfreiheit, einer übergeordneten Instanz, etwas wie ein Bewusstsein seiner selbst, um die Funktion zu modifizieren. […] Was ich als eigentliche Psyche bezeichnen möchte, reicht so weit, als Funktionen durch einen Willen beeinflusst werden. […] Von dieser Seite betrachtet, ist Psyche wesentlich Konflikt zwischen blindem Trieb und Wille, respektive Wahlfreiheit. Wo der Trieb vorherrscht, beginnen die psychoiden
27
401 27.1 • Trieb
Vorgänge, welche zur Sphäre des Unbewussten als bewusstseinsunfähige Elemente gehören. (8, 380)
«
nicht bedenkend, dass auch das Glück vergiftet ist, wenn sich das Maß des Leides nicht erfüllt hat. So oft verbirgt sich hinter der Neurose all das natürliche und notwendige Leid, das man zu ertragen nicht gewillt ist. (16, 185)
«
z
Das Geistige im Trieb
Wir sind bei diesen Überlegungen auf den unerwarteten Befund gestoßen, dass der Trieb keineswegs nur etwas Körperliches und Starres ist, sondern im Gegenteil sozusagen auch seinen Gegensatz, das Geistige, enthält.
» Er führt stets archetypische Inhalte geistigen Aspektes mit sich, durch welche er sich einesteils begründet, anderenteils beschränkt. Mit anderen Worten, der Trieb paart sich stets und unvermeidlich mit etwas wie einer Weltanschauung, so archaisch, unklar dämmerhaft diese auch sein mag. Der Trieb gibt einem zu denken, und wenn man nicht freiwillig darüber denkt, so entsteht ein Zwangsdenken, denn die beiden Pole der Seele, der physiologische und der geistige, sind unlöslich miteinander verknüpft. Darum gibt es auch keine einseitige Triebbefreiung, wie auch der Geist, losgelöst von der Triebsphäre, zum Leerlauf verdammt ist. (16, 185)
«
Man möchte sich gerne ein harmonisches Miteinander und einen reibungslosen Ablauf derselben wünschen:
» Sie ist aber im Gegenteil konflikthaft und bedeutet Leiden. Darum ist es das vornehmste Ziel der Psychotherapie, den Patienten nicht in einen unmöglichen Glückszustand zu versetzen, sondern ihm Festigkeit und philosophische Geduld im Ertragen des Leidens zu ermöglichen. Die Ganzheit und Erfüllung des Lebens erfordert ein Gleichgewicht von Leid und Freude. Weil das Leiden aber positiv unangenehm ist, so zieht man es natürlicherweise vor, nie zu ermessen, zu wieviel Angst und Sorge der Mensch geschaffen ist. Darum spricht man stets begütigenderweise von Verbesserung und größtmöglichem Glück,
I never promised you a rosegarden! Es ist aber daher entscheidend, nicht einfach in Resignation zu verfallen, sondern den Sinn darin zu suchen.
» Der Trieb besitzt zwei hauptsächliche Aspekte, nämlich einerseits den des dynamischen Faktors und den des spezifischen Sinnes, beziehungsweise den des Getriebenseins und den der Intention. […] Wo sich eine gewisse Lernfähigkeit zu entwickeln beginnt, wie z. B. bei den höheren Affen oder beim Menschen […] unterliegt der Trieb […] mannigfachen Modifikationen und Differenzierungen, die beim zivilisierten Menschen schließlich einen Zustand erzeugen, in welchem die Triebe eine derartige Aufspaltung erfahren, dass man mit einiger Sicherheit nur noch wenige Grundtriebe in ihrer ursprünglichen Gestalt erkennen kann. Dies sind in erster Linie die beiden Grundtriebe [Sexualität und Machttrieb] und ihre Derivate, mit denen sich die ärztliche Psychologie bisher beschäftigt hat. […] Die Perplexität (zwischen der Theorie nur des einen Triebes) bedeutet nun keineswegs, dass etwa der eine oder der andere Standpunkt oder beide zusammen ein Irrtum wären. Beide sind vielmehr relativ gültig und erlauben daher, im Gegensatz zu gewissen einseitigen dogmatischen Neigungen, die Existenz und Konkurrenz noch anderer Triebe. (10, 556)
«
z
Sublimation
Wie lässt sich nun die Energie des Triebes umformen? Freud hat dafür den Begriff »Sublimation« geprägt, der vom Publikum gierig aufgenommen wurde. Er ist eine so einfache Münze, mit der man glaubt vieles erklären zu können.
402
Kapitel 27 • Trieb und Instinkt
Im Brief von 18.IX.1934 an Hermann Hesse, der den Begriff Subliminierung so schätzt, schreibt Jung:
» Es ist nicht aus Ressentiment, dass ich diesen
27
Begriff bekämpfe, sondern aus der massenhaften Erfahrung von Patienten (wie auch Ärzten), die jedesmal an der Schwierigkeit auskneifen und »sublimieren«, das heißt, einfach verdrängen. Sublimatio gehört zur königlichen Kunst, wie das wahre Gold gemacht wird. […] Diese aber ist ungefähr das Gegenteil von dem, was Freud als Sublimierung versteht. Es ist keine gewollte und gewaltsame Überführung eines Triebes in ein uneigentliches Anwendungsgebiet, sondern eine alchymische Wandlung, zu der das Feuer und die schwarze materia prima nötig sind. Sublimatio ist ein großes Geheimnis. Freud hat sich dieses Begriffes bemächtigt und ihn für die Willenssphäre und das bürgerliche, rationalistische Ethos usurpiert. Anathema sit!« ([1] I, S. 221, 7 Brief vom 01.X.1934, S. 224/5)
«
z
Wandlung
Die Wandlung ist ein ganz zentraler psychologischer Prozess. Solange man sich wandelt, lebt man. Man kann jedoch nicht selber bestimmen, wozu man sich wandeln möchte. Wandlung ist ein spontaner, natürlicher Prozess. Man kann jedoch diesen Prozess durch bewusste Anteilnahme beschleunigen. Die Alchemisten kamen auf das wunderbare Bild, dass die Sonne jeden Tag einen goldenen Faden bei ihrem Lauf um die Erde spinne: Das ist das natürliche Gold, das sich selten im Erdinneren findet. Die Alchemisten jedoch stellen in ihrem opus das Gold in viel kürzerer Zeit her. Sie stellen dasselbe echte Gold wie die Sonne her (daher ist das Symbol für Gold das Gleiche wie für Sonne Ȟ), aber sozusagen ein Zeitraffer! Bei den Trieben möchte man, z. B. in der Askese, die Energie auf ein anderes Gebiet, z. B. ins Geistige, umwandeln. Diese Triebe sind einem
lästig, halten einen von »wichtigeren« Betätigungen ab. Deshalb hat man immer wieder danach gesucht, wie man sie verschieben könnte. Denn unterdrücken lassen sie sich kaum. Der Trieb muss nämlich in erster Linie energetisch betrachtet werden. Energie kann man weder vernichten noch erneuern. Die Frage einer Umwandlung des Triebes ist eine energetische.
»
Die Umwandlung der Triebenergie geschieht durch Überleitung auf ein Analogon des Triebobjektes. (8, 83)
«
Ein Kunstmaler fühlte sich jeweils so sexuell getrieben, dass er fast einen ganzen Tag ziellos mit dem Tram in der Stadt herumfuhr, um junge Mädchen anzuschauen, bis er dann merkte, dass er ein Bild malen musste. Sobald er sich im Atelier vor der Staffelei befand, war dieser sexuelle Drang weg.
Der konstellierte Trieb war das Schöpferische. Die Sexualität ist die einfachste biologische Stufe des Triebes. Das Malen eines Bildes ist eine höhere kultürliche Stufe desselben Triebes. Es bedarf einer Willensanstrengung, um die Energie auf das kultürliche Niveau zu heben. Der biologisch körperliche Vollzug des Triebes ist stets das Niveau der geringsten Energie, denn die Natur begünstigt diesen Weg, um ihr Ziel zu erreichen. Der Mensch ist jedoch fähig, den Trieb einer anderen, kultürlichen Verwendung zuzuführen. Das tut er jedoch nicht freiwillig, sondern weil auch ein Kulturtrieb in ihm am Werk ist. Zur Überleitung des Triebes auf die kultürliche Stufe bedarf es allerdings einer bewussten Entscheidung, die das Abfließen der Energie auf der biologischen Ebene verhindert und durch einen Zuschuss willentlicher Energie diese auf das kultürliche Niveau hebt. Ich habe dasselbe Phänomen auch im Bereich der Beziehung beobachtet.
403 27.1 • Trieb
» Die »Liebe« ist einerseits göttlich, aber andererseits ein Anthropomorphismus par excellence und, neben dem Hunger, eine klassische Triebkraft des Menschen. Sie ist, psychologisch gesehen, einerseits eine Beziehungsfunktion, andererseits ein gefühlsbetonter psychischer Zustand, der […] mit dem Gottesbild sozusagen in eins fällt. (5, 97)
«
Es gibt nun ganz verschiedene Stufen der Liebe (wie ich früher erwähnt habe). Auf der biologischen Stufe ist es die Erotik, welche zur sexuellen Vereinigung und zur Befruchtung nötigt (chawwa). Für die höheren Stufen bedarf es der willentlichen Entscheidung oder in der seelischen Entwicklung des Symbols.
» Die psychologische Maschine, welche Energie verwandelt, ist das Symbol. (8, 88) « Denn die seelische Entwicklung (Individuation) geht vom niedrigeren zum höheren Energieniveau, also ist sie ein opus contra naturam, bei welchem die Entropie nicht zunimmt, wie bei den physikalisch-chemischen Vorgängen, sondern abnimmt.
» Dem Polymorphismus der primitiven Triebnatur steht regulierend das Individuationsprinzip gegenüber; der Vielheit und widerspruchsvollen Zerrissenheit tritt eine kontraktive Einheit entgegen, deren Macht ebenso groß ist wie die der Triebe. Ja, beide Seiten bilden sogar ein für die Selbstregulierung notwendiges Gegensatzpaar, das schon oft als Natur und Geist gekennzeichnet wurde. (8, 96)
«
Diese beiden Triebe verursachen einen Konflikt, in welchen das Bewusstsein hineingestellt ist.
» Zwischen Ideenwelt und Triebwelt herrscht ein dermaßen gespannter Gegensatz, dass in der Regel nur der eine Pol bewusst wird. Der andere
27
Pol regiert dann das Unbewusste. Wenn also jemand im Bewusstsein ganz unter der Vorstellung und Suggestion des Triebes steht, dann stellt sich das Unbewusste ausgesprochen auf die Seite der Idee. (10, 38)
«
Das Bewusstsein strebt Eindeutigkeit an und entzieht sich wenn immer möglich der Gegensatzspannung. Damit begibt es sich allerdings der Willensentscheidung, denn der Gegensatz wird in der Zukunft aus dem Unbewussten sein Recht einfordern.
» Es gibt keinen amorphen Trieb, indem jeder Trieb die Gestalt seiner Situation hat. Er erfüllt stets ein Bild, das feststehende Eigenschaften besitzt. (8, 398)
«
Der Trieb ist daher nicht nur Dynamik, Nötigung zu einer Tätigkeit, sondern ebenso sehr geistig, Bild einer Situation. Die Pornoindustrie benützt das Bild, um die Dynamik zu wecken.
» In Wirklichkeit ist die menschliche Natur die Trägerin eines grausamen und endlosen Kampfes zwischen dem Prinzip des Ich und dem Prinzip des Triebes: das Ich ganz Schranke, der Trieb grenzenlos und beide Prinzipien von gleicher Macht. (7, 43)
«
Darum sei es klug, wie es im Faust Goethes heißt, sich nur des einen Triebes bewusst zu sein, wenn man den inneren Konflikt vermeiden will.
» Es gibt nicht nur den Trieb der Arterhaltung, sondern auch den Trieb der Selbsterhaltung. (7, 38)
«
Freud und Adler, welche je einen dieser Trie-
be behandelt haben, sind einseitig. Sie haben je einen wichtigen Aspekt des Trieblebens des Menschen herausgepflückt. Die geistige bildhafte Seite zeigt sich in der Produktion von Phantasien.
404
Kapitel 27 • Trieb und Instinkt
» Der Phantasiegehalt des Triebes lässt sich reduktiv, das heißt semiotisch als Selbstdarstellung desselben deuten, oder symbolisch als geistiger Sinn des naturhaften Instinktes. Im ersten Fall ist der Triebvorgang als eigentlich, im zweiten als uneigentlich aufgefasst. (16, 362)
«
27
Es ist nicht immer leicht, sowohl für den Neurotiker als auch für den Therapeuten zu sagen, um welche Auffassung es sich in den Phantasieinhalten handelt. Diese Perplexität machte ja schon dem Patienten Schwierigkeiten. Und der scheinbar unbeteiligte Zuschauer wird seiner Richterrolle auch nicht gerecht. In der Übertragung, von der 7 Kap. 39 handeln wird, ist das ein ganz heikles Problem. Wann wird das Triebproblem in der kindlichen Entwicklung überhaupt zum Problem? Freud hat das bekanntlich sehr früh angesetzt.
»
Ohne Bewusstsein gibt es keine Probleme. (8, 754)
«
Denn im frühesten Kindesalter lebt der Mensch aus seinen Instinkten und in »participation mystique« mit den Eltern. Treten Konflikte auf, so sind es Störungen bei den Eltern, die dem Kind unbewusst sind. Von bewusstem Erkennen kann man erst dort sprechen, wo ein Stück Wahrnehmung an bereits bestehende Inhalte angegliedert wird.
» Die erste Bewusstseinsform, die unserer Beobachtung und Erkenntnis zugänglich ist, scheint also der bloße Zusammenhang zweier oder mehrerer psychischer Inhalte zu sein. (8, 755)
«
Auf dieser Stufe ist das Bewusstsein ein Archipel, der aus vielen einzelnen Bewusstseinsinseln besteht. Diese Erinnerungsinseln erhalten erst später ein Subjekt, welchem sie vorgestellt werden. Das Kind spricht in dieser Phase von sich noch in der dritten Person. Mein kleiner Sohn ging in
dieser Phase auf den Estrich, wo ich ihn zu sich sagen hörte: »Dunkel isch, gsesch nüt, Äde!« (Es ist dunkel, du siehst nichts, André!) Allmählich, wahrscheinlich durch Einüben, bildet sich eine Ichreihe, der sog. Ichkomplex, wodurch das Gefühl des Subjekt- oder Ichseins entsteht. Von diesem Moment an spricht das Kind von sich in der Ich-Form. Von hier an dürfte die Gedächtniskontinuität ihren Anfang nehmen. Bis zu diesem Zeitpunkt ist das Kind als eigenes Wesen sozusagen noch gar nicht geboren. Die seelische Geburt und die Auflösung der »participation« mit den Eltern ziehen sich noch bis zur Pubertät hin. Mit dieser physiologischen ist auch eine geistige Revolution (Flegeljahre!) verbunden.
» Bis zu dieser Epoche ist die Psychologie des Individuums wesentlich triebmäßig und daher unproblematisch. Auch wenn den subjektiven Trieben äußere Schranken entgegenstehen (Trotzphase). […] Es kennt die Selbstgespaltenheit des problematischen Zustandes noch nicht. Dieser Zustand kann erst eintreten, wenn die äußere Schranke zu einer inneren wird, das heißt wenn ein Trieb sich gegen den anderen auflehnt. Psychologisch ausgedrückt, würde das heißen: der problematische Zustand, die innere Entzweiung tritt dann ein, wenn neben der Ichreihe eine zweite Inhaltsreihe von ähnlicher Intensität entsteht, […] sozusagen ein anderes, zweites Ich, das gegebenenfalls die Führung dem ersten Ich sogar abnehmen kann. Daraus geht die Entzweiung mit sich selbst, der problematische Zustand, hervor. […] Die erste Bewusstseinsform, die des bloßen Erkennens, ist ein anarchischer oder chaotischer Zustand. Die zweite Stufe, nämlich die des ausgebildeten Ichkomplexes, ist eine monarchistische oder monistische Phase. Die dritte Stufe bringt wiederum einen Bewusstseinsfortschritt, nämlich das Bewusstsein der Zweiheit, eines dualistischen Zustandes. (8, 757–758)
«
405 27.2 • Instinkt
Ich musste an dieser Stelle ein Stück Entwicklungspsychologie bringen, obwohl diese 7 Kap. 34 vorbehalten ist, um die Rolle der Triebe für die Entstehung der Neurose zu schildern. Diese mag ihre Wurzeln wohl in der frühen Kindheit haben, allerdings als ungünstiger Einfluss des elterlichen Milieus. Das Kind ist zu diesem Zeitpunkt noch Opfer. Die eigentliche Neurose entsteht erst im problematischen Stadium, wenn sich dem Ichkomplex ein rivalisierender Komplex zugesellt. Die Natur ist wie die Gottheit als deren Repräsentanz ambivalent. In der Alchemie ist es Mercurius, von welchem das »utriusque capax« ausgesagt wird.
»
Die Macht der Gottheit offenbart sich nicht nur im Geiste, sondern auch in der wilden Triebhaftigkeit der Natur innerhalb und außerhalb des Menschen. Die Gottheit ist ambivalent, solange der Mensch im Naturzusammenhang steht. Die Eindeutigkeit Gottes als »summum bonum« ist deutlich contra naturam. (12, 547)
«
Das zeigt, dass die Konflikthaftigkeit im Trieb selber angelegt ist, welche den Menschen in unseliges Leiden führt. Der Naturzustand ist nicht, wie man sich gerne vorstellen möchte, ein harmonischer. Die Naturvölker sind nicht die »edlen Wilden«, die noch im Paradieszustand leben. Man kommt mit den Triebkonflikten nicht dadurch zurecht, dass man sich in die Wüste zurückzieht. Im Gegenteil, wie die frühchristlichen Anachoreten in Ägypten zeigen [16], werden sie erst recht virulent. Wenn die Triebe einfach unterdrückt werden, nehmen sie bösartige Formen an. Das ist offensichtlich keine Möglichkeit, sie loszuwerden. Die einzige ist, wie ich oben ausführte, ihre Energie auf ein Analogon umzuleiten. Das bedeutet allerdings, dass der Trieb angenommen und bewusst gemacht wird.
27.2
27
Instinkt
War schon das Problem der Triebe ein schwer fassbares, so ist das der Instinkte beim Menschen noch viel schwieriger. Beim Trieb kam unserem Verstehen die Tatsache, dass er bis in den physiologischen körperlichen Teil reicht, entgegen. Wir sind uns als Ärzte gewohnt, solche Reaktionen zu beobachten. Der Trieb hat ja ähnlich dem Komplex noch eine reflexartige Organisation. Eine solche kommt teilweise auch dem Instinkt zu. Es ist die sog. »Alles-oder-Nichts-Reaktion«, d. h., dass sie, einmal ausgelöst, nicht mehr unterbrochen werden kann, sondern automatisch bis zu ihrem Ziel abläuft. Diese Reaktion ist umso starrer, je einfacher die Organisation (z. B. ein Reflexbogen) ist. Komplexreaktionen (z. B. ein Wutausbruch, wenn der »sore spot« berührt wird) und Triebfunktionen (z. B. die Fortpflanzung) sind schon kompliziertere Organisationen, welche nicht mehr so starr ablaufen, wenn sie ausgelöst werden. Die Instinkte haben an diesem reflektorischen Modus ebenfalls teil, was sich an überschießenden Abläufen zeigt, die zur auslösenden Ursache in keinem Verhältnis stehen. Die Schwierigkeit, Instinkte beim Menschen zu beschreiben, besteht im Umstand, dass beschreibendes Subjekt und zu beschreibendes Objekt dasselbe sind. Außerdem begründet der Mensch, wenn er danach befragt wird, seine Handlungen, obwohl ihm der Impuls dazu unbewusst war. > Instinkte sind angeborene Reaktionen, welche überall gleich ablaufen.
Der Mensch interferiert mit seinem Willen, so dass es schwierig ist, den natürlichen Ablauf zu beobachten. Man streitet sich daher noch immer, wie viele Instinkte der Mensch hat. Beim Tier ist die Beobachtung viel einfacher, weil kein Bewusstsein modifizierend dazwischen tritt. Es steht jedoch außer Zweifel, dass sich auch beim Menschen, und zwar nicht nur beim Säugling, überall gleichmäßige und regelmäßig wieder-
406
Kapitel 27 • Trieb und Instinkt
kehrende unbewusste Handlungen zu beobachten sind. Ja, wir rechnen sogar damit bei unserem Gegenüber, sodass wir seine Reaktion voraussehen können. Dabei ist diese ohne bewusste Motivation zwar völlig irrational, aber trotzdem zweckmäßig. Sie zwingt den Menschen zu einer spezifisch menschlichen Lebensführung. Instinkte sind wie Archetypen angeboren. Jene als typisch menschliche Formen des Handelns, diese typische Formen des Wahrnehmens und der Anschauung. Die Frage des Instinkts kann psychologisch ohne die der Archetypen nicht behandelt werden. Sie sind sozusagen das Spiegelbild des anderen, jenes im Handeln, dieses in der Auffassung. Beide gehören zum kollektiven Unbewussten, d. h. sie gehören zum Menschsein.
27
» Instinkte sind typische Formen des Handelns, und überall, wo es sich um gleichmäßige und regelmäßig sich wiederholende Formen des Reagierens handelt, handelt es sich um Instinkt, gleichgültig, ob sich eine bewusste Motivierung dazu gesellt oder nicht. (8, 273)
«
Wir wissen nichts über den Ursprung der Instinkte, wie sie entstanden sind, jedenfalls sind sie wie ein a priorisches Wissen der Psyche um zweckmäßiges, lebenserhaltendes Handeln. Viele Instinkte im Tierreich sind von einer derartigen Zielgerichtetheit, dass es sich nicht um ein Einüben handeln kann. Dieses a priorische Wissen kommt auch bei der Intuition vor, welche ebenfalls ein unbewusster Vorgang ist, als dessen Resultat ein Inhalt, ein Einfall ins Bewusstsein einbricht.
» Die Intuition ist ein dem Instinkt analoger Vorgang, nur mit dem Unterschied, dass der Instinkt ein zweckmäßiger Antrieb zu einer oft höchst komplizierten Tätigkeit, die Intuition aber die zweckmäßige unbewusste Erfassung einer oft höchst komplizierten Situation ist. Die Intuition wäre also eine Art von Umkehrung des Instinktes. (8, 269)
«
Instinkt und Intuition, ebenso Instinkt und Archetypus sind Pole, welche sich in ihre unerkennbaren Enden verlieren.
» Wie die Seele sich nach unten in die organischstoffliche Basis verliert, so geht sie nach oben in eine sogenannte geistige Form über, die uns in ihrem Wesen genau so wenig bekannt ist, wie die organische Grundlage des Triebes. (8, 380)
«
Der Instinkt ist eine wichtige psychische Funktion, die meist unbemerkt abläuft. Er sorgt dafür, dass das Leben optimal läuft.
» Der Instinkt ist eben nicht nur ein blinder und unbestimmter Antrieb, sondern erweist sich auch als auf eine bestimmte äußere Situation abgestimmt. Dieser Umstand gibt ihm seine spezifische und unabdingbare Form. (10, 547)
«
Nun gibt es allerdings zahllose verschiedene Lebenssituationen, auf welche je ein spezifischer Instinkt abgestimmt ist.
» Vom psychologischen Standpunkt aus können fünf Hauptgruppen instinktiver Faktoren unterschieden werden: der Hunger, die Sexualität, die Aktivität, die Reflexion und der schöpferische Faktor. Triebe sind im letzten Grunde wohl außerpsychische Dominanten. (8, 246)
«
Im Vorwort zur dritten Auflage des Aufsatzes »Die Bedeutung des Vaters für das Schicksal des Einzelnen« (1948) schreibt Jung:
» Zu den individuell erworbenen Ursachen der Komplexe gesellte sich eine universale menschliche Vorbedingung, nämlich die vererbte und angeborene biologische Struktur, die jedem menschlichen Wesen als Instinktgrundlage eignet. […] Ein verdrängter Inhalt könnte tatsächlich ins Leere verschwinden, wenn er nicht durch die prästabilierte Instinktgrundlage aufgefangen und gehalten würde. Hier nämlich liegen jene
27
407 27.2 • Instinkt
Kräfte, welche der Vernunft und dem Willen hartnäckig Widerstand leisten und dadurch die Konflikthaftigkeit des Komplexes überhaupt ermöglichen. (4, S. 348–349)
«
Ich wollte diese Stelle zitieren, weil Jung einen ungewohnten, wohl von Leibniz entliehenen, Ausdruck verwendet: prästabiliert.
» Im System der prästabilierten Harmonie sind
» Das Bild stellt den Sinn des Triebes dar. (8, 398) « » Die unbewusste Psyche, die aller Menschheit gemeinsam ist (kollektives Unbewusstes), besteht nicht etwa aus bewusstseinsfähigen Inhalten, sondern aus latenten Dispositionen zu gewissen identischen Reaktionen. Die Tatsache des kollektiven Unbewussten ist einfach der psychische Ausdruck der Identität der Gehirnstruktur jenseits aller Rassenunterschiede. (13, 11)
alle Ereignisse durch das regelmäßige Sichdurchsetzen der »inclination prévalente« nach dem Prinzip des zureichenden oder determinierenden Grundes prädeterminiert. [17]
» Es handelt sich – rein psychologisch genom-
Jung wollte, indem er diesen fremdartigen Aus-
men – um gemeinsame Instinkte des Vorstellens (Imagination) und des Handelns. (8, 12)
«
druck verwendete, darauf hinweisen, dass wir eine Instinktgrundlage vorfinden, ohne zu wissen, woher sie stammt. Und dass diese unserem Handeln ihren Stempel aufdrückt.
» Das Instinktleben als das Allerkonservativste im Menschen drückt sich in den traditionsmäßigen Gebräuchen aus. Althergebrachte Überzeugungen und Gebräuche wurzeln zutiefst in den Instinkten. (16, 216)
«
Anhand der komplizierten Triebe bei Tieren, welche ein ganzes Setting von einzelnen Bildern zum ganzen Bild brauchen, damit der Trieb ausgelöst wird (Blattschneiderameise), hat auch der Mensch
» … a priori Instinkttypen in sich, welche Anlass und Vorlage seiner Tätigkeit bilden, insofern er überhaupt instinktiv funktioniert. Als biologisches Wesen kann er überhaupt nicht anders als sich spezifisch menschlich verhalten und sein pattern of behaviour erfüllen. (8, 398)
«
Der Willkür sind dadurch enge Grenzen gesetzt, je enger, je unbewusster er lebt. Dieses »pattern of behaviour« ist schon immer vorhanden und ein Regulator der Triebsphäre.
«
«
Wie ich oben erwähnte, gehören Instinkte zum Konservativsten der Psyche. Das ist der Grund, weshalb sich der prähistorische Mensch jahrhunderttausende lang auf der gleichen Kulturstufe hielt. Die Instinkte sind auf die statistisch häufigsten Situationen zugeschnitten. Deshalb stemmt sich der Angehörige eines Naturvolkes gegen jede Veränderung seiner Lebensbedingungen. An diese ist er bestens angepasst und sein Überleben weitgehend gesichert. Eine neue Umweltsituation ist vielleicht in seinem Inventar der Instinkte nicht enthalten. Dann müsste eben das Bewusstsein einspringen, das bei ihm erst noch rudimentär funktioniert.
» Nichts entfremdet den Menschen von dem Grundplan seiner Instinkte mehr als seine Lernfähigkeit, welche sich als ein eigentlicher Drang zu fortschreitender Wandlung der menschlichen Verhaltensweise entpuppt. […] Sie ist auch die Quelle jener zahlreichen psychischen Störungen und Schwierigkeiten, welche die fortschreitende Entfernung des Menschen von seiner Instinktgrundlage, nämlich seine Entwurzelung und seine Identifikation mit der
408
Kapitel 27 • Trieb und Instinkt
bewussten Kenntnis seiner selbst, nämlich mit dem Bewusstsein unter Ausschluss des Unbewussten, verursacht. (10, 557)
«
» Die Trennung von seiner Instinktnatur führt den zivilisierten Menschen unweigerlich in den Konflikt zwischen Bewusstsein und Unbewusstem, Geist und Natur, Wissen und Glauben hinein, das heißt in eine Spaltung seines Wesens, die in jenem Moment pathologisch wird, in dem das Bewusstsein die Instinktnatur nicht mehr vernachlässigen oder unterdrücken kann. (10, 558)
«
» Wer die Instinkte übersieht, der wird von ihnen 27
aus dem Hinterhalt überwältigt, und wer sich nicht selbst erniedrigen kann, der wird erniedrigt, wobei er auch die Freiheit, sein kostbarstes Gut, mit einbüßt. (9/I, 620)
«
Die Instinkte bezeichnet Jung an anderer Stelle auch als die Wahrheiten des Blutes. Sie vermitteln uns Einsichten (Imagination), welche wir mit der Vernunft nicht finden, aber auch nicht beweisen können. Es genügt, sie zu berücksichtigen, was uns vor Entwurzelung, Desorientierung und Sinnlosigkeit schützt. Sie stellen einfach eine Neigung der Seele zu einer gewissen Auffassung oder Einstellung dar, die nicht zu rechtfertigen oder zu beweisen ist. Es handelt sich um »ewige« Wahrheiten, welche im Wesen der Psyche verankert sind.
» Das Abgleiten von den Wahrheiten des Blutes erzeugt neurotische Rastlosigkeit, etwas, von dem man heutzutage nachgerade genug haben könnte. (8, 815)
«
So wichtig es ist, im Einklang mit den Instinkten zu leben, sind dem Menschen doch auch ein Bewusstsein und die Lernfähigkeit gegeben. Diese stammt aus einem ebenso wichtigen Trieb, dem Schöpferischen, der ihn veranlasst, neue Wege zu beschreiten.
»
Aus der Lebensquelle des Instinktes fließt auch alles Schöpferische, so dass das Unbewusste nicht nur historische Bedingtheit ist, sondern zugleich den schöpferischen Impuls hervorbringt. (8, 339)
«
Auch die Natur hebt in ihren Schöpferakten ihren Konservatismus selber auf. Hätte sich das Bewusstsein nie vom Unbewussten abgespalten [14], so wäre dieses Problem nie entstanden. > »Das Abweichen vom und das Sich-inGegensatz-Setzen zum Instinkt schafft Bewusstsein.« (8, 750)
Dort, wo wir noch Natur sind, sind wir unbewusst und leben in der Sicherheit des Instinktes. Der Zweifel jedoch ist die Teufelssaat, die diese Sicherheit zerstört und die Möglichkeit verschiedener Wege aufzeigt.
»
Die Instinkte sind die vitalen Grundlagen, die Lebensgesetze überhaupt. (5, 263)
«
» Und jeder, der Häuser oder Brüder oder Schwestern oder Vater oder Mutter oder Weib oder Kinder oder Äcker um meines Namens willen verlassen hat, der wird es vielfältig empfangen und das ewige Leben ererben. (Math. 19, 29)
«
Das ist die andere Seite, welche zur Bewusstwerdung strebt. Sie lässt alles hinter sich, was ihr wohlvertraut ist, um neue Wege zu erproben und das Leben zu erringen.
» Es gibt heutzutage zahllose Neurotische, die es einfach darum sind, weil sie nicht wissen, warum sie eigentlich nicht auf ihre eigene Façon selig werden dürfen; sie wissen auch nicht einmal, dass es ihnen daran fehlt. (5, 342)
«
Die Religionen waren dem Menschen bisher Orientierung. Wenn sich immer mehr Menschen
409 27.2 • Instinkt
von der Konfession abwenden, besteht die Gefahr, dass sie orientierungslos werden.
» Die Religion als eine sorgsame Beobachtung und Inbetrachtziehen gewisser unsichtbarer und unkontrollierbarer Faktoren ist eine dem Menschen eigentümliche instinktive Haltung. (10, 512)
«
Sie dient offensichtlich der Erhaltung des psychischen Gleichgewichts. Sie soll das Individuum vor äußeren und inneren Gefahren schützen.
» Wird ein Instinkt beschränkt oder gehemmt, so entsteht eine Aufstauung und Regression desselben; genauer gesagt: tritt z. B. eine Hemmung der Sexualität ein, so besteht eine eventuell erfolgende Regression darin, dass die Energie der Sexualität dieses Anwendungsgebiet verlässt und die Funktion eines anderen Gebietes belebt, beziehungsweise diesem sich mitteilt. (5, 226)
«
Ich habe oben darauf hingewiesen, dass nicht nur der Trieb, sondern auch ein Instinkt in ein neues Flussbett umgelenkt werden kann. Das Symbol ist der Umformer, der ihn auf ein Analogon umzulenken vermag. Die Religionen vermitteln dem Individuum alle jene Symbole, welche es für die Erhaltung des seelischen Gleichgewichtes benötigt.
» Das Unbewusste enthält die dunklen Quellen des Instinktes und der Intuition, es enthält das Bild des Menschen, wie er von jeher, seit undenkbaren Zeiten war [13]], es enthält alle jene Kräfte, welche die bloße Vernünftigkeit, Zweckmäßigkeit und Ordentlichkeit eines bürgerlichen Daseins nie zu lebendigem Wirken zu erwecken vermag, jene schöpferischen Kräfte, welche immer wieder das Leben des Menschen zu neuen Entfaltungen, neuen Formen und neuen Zielen emporzuführen vermögen. (10, 25)
«
27
Geht der Kontakt zu dieser Quelle verloren, so entsteht für das Gleichgewicht der Seele ein empfindlicher Verlust.
» Die Grundwahrheit aller Neurosen […] besteht in letzter Linie in einer Instinktentfremdung, in einer Abspaltung des Bewusstseins von gewissen seelischen Grundtatsachen. Aufklärerische Meinungen […] sind in der Tat, wie diese, verbogenes Denken, das anstelle des psychologisch richtigen Denkens steht. (8, 808)
«
Es ist erstaunlich, wie weit verbreitet dieses rationalistische Denken ist, besonders bei unbekannten Dingen (z. B. parapsychologischen Phänomenen). Da ist man mit billigen Pseudoerklärungen sehr schnell bei der Hand, obwohl diese seit über hundert Jahren sorgfältig beobachtet werden.
» Die Kindheit ist nicht nur darum von Bedeutung, weil dort einige Instinktverkrüppelungen ihren Anfang genommen haben, sondern auch darum, weil dort jene weitausschauenden Träume und Bilder, welche ein ganzes Schicksal vorbereiten, erschreckend oder ermutigend vor die kindliche Seele treten, zugleich mit jenen rückblickenden Ahnungen, die weit über den Umfang der kindlichen Erfahrung in das Leben der Ahnen hinausgreifen. (8, 98)
«
Wir unterschätzen meistens, welche gewaltigen Mächte in der Kinderseele am Werk sind, weil sich das Kind darüber nicht bewusst ist und nicht äußert. Noch wichtiger aber, weil wir als Erwachsene ihm solches gar nicht zutrauen. Das 20. Jahrhundert galt als »Jahrhundert des Kindes«. Vielleicht wurde in diesem Jahrhundert die Persönlichkeit des Kindes erstmals wahrgenommen. Es bleibt aber noch viel zu entdecken von dem, was im kollektiven Unbewussten des Kindes im Hinblick auf das spätere Leben geschieht.
410
Kapitel 27 • Trieb und Instinkt
» Wo die individuelle Mutter in diesem oder jenem Sinne fehlt, entsteht ein Verlust, das heißt ein Anspruch des kollektiven Mutterbildes auf Erfüllung. Ein Instinkt ist sozusagen zu kurz gekommen. Daraus entstehen sehr häufig neurotische Störungen oder wenigstens charakterologische Eigentümlichkeiten. (8, 720)
«
Das Kind steht der Mutter immer am nächsten und deshalb ist ihr Einfluss auch stärker als jener des Vaters.
» Beim Sohn verletzt der Mutterkomplex den
27
männlichen Instinkt durch unnatürliche Sexualisierung. […] Der Mutterkomplex ist nur bei der Tochter ein reiner und unkomplizierter Fall. Hier handelt es sich einerseits um eine von der Mutter ausgehende Verstärkung der weiblichen Instinkte, andererseits um eine Abschwächung bis Auslöschung derselben. (9/I, 163)
«
Man kann wohl die Bedeutung der Instinkte für das menschliche Leben kaum überschätzen, auch wenn gegenüber dem Tier das Bewusstsein eine neue Akquisition ist. In den Instinkten ist eine Unsumme an Erfahrung vorhanden, welche nicht erst durch »trial and error« angeeignet werden muss. Sie garantiert für die häufigsten Lebenssituationen die richtigen, oft lebensrettenden Reaktionen. Jeder Mensch wird schon mit dem ganzen Schatz geboren und kann im Laufe seines Lebens darauf seine individuelle bewusste Persönlichkeit bauen. Er dient ihm auch im weiteren Leben als Korrektur, sollte er sich mit seiner Lernfähigkeit zu weit von seinen Fundamenten entfernen. Die Instinkte wirken ständig, meist unmerklich vom Unbewussten her, auf das bewusste Leben, um diesem Ausgewogenheit zu verleihen.
Literatur Primärliteratur (Quellen) 1 Jaffé A (Hrsg.) (1972/73) Briefe. Erster Band 1906–1945 (1972); Zweiter Band 1946–1955 (1972); Dritter Band 1956–1961 (1973 mit Nachtrag neu aufgefundener Briefe). In Zusammenarbeit mit Adler G, London. Walter, Olten Freiburg 2 Jung CG (1995) Symbole der Wandlung. Analyse des Vorspiels zu einer Schizophrenie. GW 5. Gesammelte Werke. Walter, Solothurn Düsseldorf 3 Jung CG (1995) Psychologische Typen. GW 6. Gesammelte Werke. Walter, Solothurn Düsseldorf 4 Jung CG (1995) Psychologische Determinanten des menschlichen Verhaltens. GW 8, 232–262. Vorlesung auf Englisch gehalten an der Harvard University Tercentenary Conference 1936, erschienen als »Psychological Factors Determining Human Behaviour« in Harvard University Press, Cambridge, Massachusetts, 1937. Gesammelte Werke. Walter, Solothurn Düsseldorf 5 Jung CG (1995) Instinkt und Unbewusstes. GW 8, 263–282. Beitrag zum Symposium der Aristotelian Society, der Mind Association und der British Psychological Society in Bedford College, Universität London, Juli 1919. Deutsch in: Über die Energetik der Seele, Zürich 1928. Bearbeitet in: Über psychische Energetik und das Wesen der Träume, Zürich 1948. Gesammelte Werke. Walter, Solothurn Düsseldorf 6 Jung CG (1995) Trieb und Wille. GW 8, 371–380. Gesammelte Werke. Walter, Solothurn Düsseldorf 7 Jung CG (1915) Triebe und Triebschicksale. GW 10. Rascher, Zürich Stuttgart 8 Jung CG (1940) Abriss der Psychoanalyse. GW 17. Rascher, Zürich Stuttgart Sekundärliteratur 9 Alverdes F (1932) Die Wirksamkeit von Archetypen in den Instinkthandlungen der Tiere. In: Zoologischer Anzeiger CXIX 9/10, Leipzig, S. 235–236 10 Freud S (1982) Triebe und Triebschicksale (1915). In (ders.): Psychologie des Unbewussten, Studienausgabe, GW 10, Band III. Fischer, Frankfurt am Main 11 Freud S (1982) Abriss der Psychoanalyse (1940). Studienausgabe Ergänzungsband GW 17. Fischer, Frankfurt am Main 12 Frisch K von (1965) Tanzsprache und Orientierung der Bienen. Springer, Berlin, Heidelberg, New York 13 Lorenz K (1937/1954) Über tierisches Verhalten. Aus dem Werdegang der Verhaltenslehre. Gesammelte Abhandlungen Band I. Über die Bildung des Instinktbegriffes, S. 283. Band II: Psychologie und Stammesgeschichte, S. 201. Heberer, Jena 14 Tinbergen N (1964) Instinktlehre. Vergleichende Erforschung angeborenen Verhaltens P. Parey, Berlin Hamburg (Originalausgabe: The study of instinct, New York, 1947)
411 Literatur
15 Ribi A (2002) Anthropos. Der ewige Mensch. Der ewige göttliche und kosmische Mensch in Geschichte, Politik und Tiefenpsychologie. Peter Lang, Bern 16 Ribi A (2007) Der Engelsturz. In (ders.): Ein Leben im Dienst der Seele: Gesammelte Aufsätze und Vorträge. Peter Lang, Bern. S. 387 und 403 17 Ribi A (2002) Der Urmensch und der Held. In (ders.): Anthropos. Der ewige Mensch. Der ewige göttliche und kosmische Mensch in Geschichte, Politik und Tiefenpsychologie. Peter Lang, Bern. S. 219 18 Ribi A (1989) Die Dämonen der frühen Christen. In (ders.): Was tun mit unseren Komplexen? Über die Dämonen des modernen Menschen. Kösel, München, S. 31 19 Ritter J, Gründer K, Gabriel G (2001) Historisches Wörterbuch der Philosophie Gesamtwerk Bd. 1–13 (Bd. 7). Schwabe. Sp. 1222
27
413
Materie und Körper: Synchronizität 28.1
Materie – 414
28.2
Körper – 415 Literatur – 418
A. Ribi, Neurose – an der Grenze zwischen krank und gesund, DOI 10.1007/978-3-642-16148-3_28, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
28
414
Kapitel 28 • Materie und Körper: Synchronizität
Der Materialismus ist ein typisches Kind der Aufklärung. Doch während man sich in der modernen Physik bewusst geworden ist, dass die herkömmliche Vorstellung der Materie im Newtonschen nicht mehr haltbar ist und durch den Begriff der Energie ergänzt werden muss, steckt der Materialismus noch im alten Konzept. Wir müssen uns heute eingestehen, dass »Geist und Materie wohl Formen eines an sich transzendentalen Seins sind« (9/I, 392).
28.1
Materie
» Es wäre an der Zeit, dass die akademische 28
Psychologie sich einmal zur Wirklichkeit bekehrte und von der wirklichen Menschenseele hören wollte, und nicht bloß von Laboratoriumsexperimenten. Es sollte nicht mehr so sein, dass Professoren ihren Schülern die Beschäftigung mit analytischer Psychologie verbieten oder ihnen den Gebrauch analytischer Begriffe untersagen, oder dass man unserer Psychologie den Vorwurf macht, dass sie in unwissenschaftlicher Weise »Alltagserfahrungen berücksichtige«. […] Die Überschätzung des Somatischen ist auch in der Psychiatrie einer der wesentlichsten Gründe, warum die Psychopathologie keine Fortschritte macht, insofern sie nicht direkt von der Analyse befruchtet ist. Das Dogma »Geisteskrankheiten sind Gehirnkrankheiten« ist ein Überbleibsel des Materialismus der Siebzigerjahre des vorigen [= 19.] Jahrhunderts. Es ist zu einem durch nichts zu rechtfertigenden Vorurteil geworden, das jeden Fortschritt hemmt. Selbst wenn es wahr wäre, dass alle Geisteskrankheiten Gehirnkrankheiten sind, so wäre das noch lange kein Gegengrund gegen die Erforschung der psychischen Seite der Krankheit. […]
«
Jung gibt jedoch Folgendes zu bedenken:
» Der Beweis, dass alle Geisteskrankheiten Gehirnkrankheiten sind, ist aber nie erbracht worden, kann auch gar nie erbracht werden, sonst müsste auch bewiesen werden können, dass der Mensch so oder so denkt oder handelt, weil die oder jene Eiweißkörper in den und jenen Zellen zerfallen sind oder sich gebildet haben. […] So müsste man die Zellvorgänge denken können, wenn man Anspruch erheben wollte auf die Gültigkeit der materialistischen Anschauung. Damit hätte man aber bereits den Materialismus überwunden, indem man das Leben nie als eine Funktion des Stoffes, sondern nur als einen an und für sich selbst bestehenden Prozess, dem Kraft und Stoff suborientiert sind, denken kann. […] So sehr man sich entrüstet über »metaphysische Phantome«, wenn jemand den Zellvorgang vitalistisch erklärt, so sehr gilt die physische Hypothese als »wissenschaftlich«, obschon sie nicht minder phantastisch ist. Sie passt aber ins materialistische Vorurteil, und darum ist jeder Unsinn, sobald er nur Psychisches in Physisches zu verkehren verspricht, wissenschaftlich geheiligt. (8, 529)
«
Der Materialist glaubt mit seinem Begriff der Materie etwas Allbekanntes zu benennen, während ihm Geist als Gegensatz davon etwas höchst Unklares darstellt. In Wirklichkeit sind beide Grenzbegriffe, die jenseits rational bewussten Erkennens stehen [9]. Mit der Anerkennung dieser Tatsache konnte die Psychologie weiter in die rätselhafte Beziehung zwischen den beiden, d. h. zur Synchronizität vorstoßen. Das Konzept der Synchronizität könnte ein wichtiger Impuls für die Psychosomatik werden.
» Da Psyche und Materie in einer und derselben Welt enthalten sind, überdies miteinander in beständiger Berührung stehen und schließlich beide auf unanschaulichen transzendentalen Faktoren beruhen, so besteht nicht nur die Möglichkeit, sondern sogar auch eine gewisse
415 28.2 • Körper
Wahrscheinlichkeit, dass Materie und Psyche zwei verschiedene Aspekte einer und derselben Sache sind. Die Synchronizitätsphänomene weisen, wie mir scheint, in diese Richtung, indem ohne kausale Verbindung sich Nicht-Psychisches wie Psychisches et vice versa verhalten kann. Unsere gegenwärtigen Kenntnisse erlauben uns allerdings nicht viel mehr, als die Beziehung der psychischen und der materiellen Welt mit zwei Kegeln zu vergleichen, deren Spitzen sich in einem unausgedehnten Punkt, einem eigentlichen Nullpunkt, berühren und nicht berühren. (8, 418)
«
Das ist einleuchtend. Das Steckenbleiben im kausalen Denken hat bislang verhindert, dass die medizinische Psychologie nicht längst diese Möglichkeit aufgenommen und weiterentwickelt hat. Man versucht ohne Erfolg kausale Beziehungen zwischen psychischen Konstellationen und psychosomatischen Erkrankungen aufzufinden. Dabei wäre statt der causa der Sinn das verbindende Band. Das könnte für das tiefere Verständnis von Psyche und Soma viel mehr hergeben. Beide sind völlig autonome Prinzipien, welche aber in Wechselwirkung stehen. Diese kann verschiedene Formen aufweisen. Sie kann sogar kausal sein (aber nicht immer), bald kann der Körper für ein psychisches Leiden die Ursache sein, bald umgekehrt. Oft sind keine derartigen Zusammenhänge sichtbar, sondern eine Gleichsinnigkeit des körperlichen wie des seelischen Geschehens feststellbar. > Körperliche Krankheiten können von seelischen Leiden begleitet sein, als ob der kranke Körper die Seele in Mitleidenschaft ziehen würde und umgekehrt.
Schwer psychisch Kranke erkranken viel seltener an den endemischen Krankheiten der gewöhnlichen Bevölkerung. Schwer psychisch Kranke werden beim Ausbruch einer schweren körperlichen Krankheit gebessert, was man sich in der
28
Psychiatrie mit der Malariakur (Wagner von Jauregg 1917) oder Insulinkur (Sakel 1935) zunutze machte.
» Atheismus und Materialismus sind unvermeidliche Konsequenzen der grundlegenden Spaltung zwischen Geist und Materie in der christlichen Philosophie, welche die Erlösung des Geistes vom Leibe und seinen Fesseln verkündete. (18/II, 1658)
«
Wir leben in einer von oben bis unten in zwei Teile zerrissenen Welt. Der Mensch hat die Aufgabe, diese Spannung eines ambivalenten Gottes auszuhalten, wenn er sich nicht durch Einseitigkeit selbst zerstören will.
28.2
Körper
» Es ist kein Wunder, dass der Körper, welcher so lange der Minderschätzung gegenüber dem Geiste unterlag, wieder entdeckt wird. […] Kann man sich mit dem Mysterium aussöhnen, dass die Seele das innerlich angeschaute Leben des Körpers und der Körper das äußerlich geoffenbarte Leben der Seele ist, dass die beiden nicht zwei, sondern eins sind, so versteht man auch, wie das Leben nach Überwindung der heutigen Bewusstseinsstufe durch das Unbewusste zum Körper führt, und umgekehrt, wie der Glaube an den Körper nur eine Philosophie zulässt, die den Körper nicht zugunsten eines reinen Geistes negiert. (10, 195)
«
Man würde meinen, die Zeit sei reif für eine ausgeglichene Anerkennung der beiden Pole. Doch der Mensch ist ständig in Gefahr, sich auf eine Seite zu schlagen, weil er Mühe hat, die beiden gleichzeitig zusammenzuschauen. Ich realisierte erst in meiner Lehranalyse, dass ich die materialistische Anschauung aus dem Medizinstudium überwinden müsse. Sie war so selbstverständlich und meine Kollegen teilten sie auch, dass vorher
416
Kapitel 28 • Materie und Körper: Synchronizität
keine Notwendigkeit bestand, sie zu revidieren. Wenn alle Welt die gleichen Irrtümer teilt, ist man in »bester Gesellschaft« und bemerkt sie nicht.
» Wie »lebendiges Wesen« ein Inbegriff des Lebens im Körper ist, so ist »Geist« ein Inbegriff des seelischen Wesens. […] Als solcher ist »Geist« in demselben Jenseits wie das »lebendige Wesen«, das heißt in derselben nebelhaften Ununterscheidbarkeit. Und der Zweifel, ob Seele und Körper nicht am Ende ein und dasselbe Ding sind, gilt auch dem scheinbaren Gegensatz von Geist und lebendigem Wesen. Sie sind wohl ebenfalls ein und dasselbe Ding. (8, 621)
«
28
Diese Vermutungen wurden später aufs Schönste bestätigt durch den unus mundus, der hinter der Synchronizität steht. In der gewöhnlichen bewussten Erfahrung fallen die Phänomene in ihre Gegensätze auseinander. Doch hinter der Szene unserer Welt sind sie eine Einheitswirklichkeit. Die Physiker sind es, die sich für diese Erkenntnisse interessieren [7], aber leider nicht die Ärzte, die es am meisten angehen sollte. Ich weiß nicht, woran das liegt. Ob die Ärzte zu denkfaul sind, um sich in einige Überlegungen der modernen Physik einzuarbeiten? Auf jeden Fall liegt hier noch ein großes Feld brach, das dem ganzen medizinischen Denken neue, überraschende und umstürzlerische Impulse zu vermitteln vermöchte.
» Es existiert wohl kaum eine Krankheit des Körpers, bei der nicht psychische Faktoren mit hineinspielen, wie bei so vielen psychogenen Störungen auch körperliche Momente in Frage kommen. […] Man darf sich von der modernen rationalistischen Angst vor Aberglauben nicht dermaßen verblenden lassen, dass man den Blick für die noch wenig bekannten, unser derzeitiges wissenschaftliches Begreifen übersteigenden psychischen Phänomene überhaupt verliert. (13, 195)
«
Gerade die Ärzte sind es sonst, welche bei unbekannten körperlichen oder seelischen Reaktionen nicht zögern, die abenteuerlichsten Erklärungen zu geben. Wir sollten uns mehr bewusst sein, dass wir immer an der Grenze des Wissbaren arbeiten müssen. Gerade das, was wir zu wissen bräuchten, weiß man noch nicht, sondern erst in der Zukunft. Gerade deshalb sollte man sich das nicht entgehen lassen, was man schon heute wissen könnte. Es ist erstaunlich, wie wenig wissenschaftliche Neugier unter Akademikern vorhanden ist (Les savants ne sont pas curieux!). Ich bin mir sehr bewusst, dass dieses Buch etliche Anforderungen an den Leser stellt. Das ist jedoch weiter nicht verwunderlich, geht es doch bei unserem Thema um das größte Rätsel der Menschheit. Da kann man nicht sorgfältig genug damit umgehen.
» Die Symbole des Selbst entstehen in der Tiefe des Körpers und drücken dessen Stofflichkeit ebensosehr aus wie die Struktur des wahrnehmenden Bewusstseins. Das Symbol ist lebender Körper. […] Die tieferen »Schichten« der Psyche verlieren mit zunehmender Tiefe und Dunkelheit die individuelle Einzigartigkeit. (9/I, 291)
«
In den untersten physiologischen Schichten der Psyche sind wir mit allem Lebendigen verbunden. Dort sind wir noch das Tier, von dem wir träumen, oder der Kristall. Wir kommen ja von dorther und darum ist es uns nicht fremd, auch wenn wir die Erinnerung daran längst vergessen haben.
»
Wenn die Mandalasymbolik die psychologische Entsprechung zur metaphysischen Idee des »unus mundus« darstellt, so ist die Synchronizität die parapsychologische. (14/II, 327)
«
» Das Mandala symbolisiert durch seinen Mittelpunkt die letzthinnige Einheit aller Archetypen sowohl wie die Vielfalt der Erscheinungswelt und
417 28.2 • Körper
28
bildet daher die empirische Entsprechung zum metaphysischen Begriff eines »unus mundus«. (14/II, 326)
Diese Aussage ergänzt in wissenschaftlicher Weise und in seiner vorsichtigen Art das, was ich oben angetönt habe.
Das Mandala ist ein Ganzheitssymbol. Heute ist es zu einem bekannten Begriff geworden, den Jung aus dem Indischen wiederentdeckt hat, wo es »Kreis« bedeutet. Er hat das spontane Auftreten bei westlichen Analysanden beobachtet. Es stellt eine rationale gar nicht formulierbare Einheitsschau dar. Heute ist es Mode geworden, Mandalas zu malen. Wenn sie nicht spontan auftreten, ist ihr Wert fraglich, denn dann ist es durch die bewussten Einflüsse gestört. Parapsychologische Phänomene hat Jung seit seiner Dissertation (1902) »Zur Psychologie und Pathologie sogenannter okkulter Phänomene« (1, 1–150) sehr sorgfältig beobachtet. Damals rechnete man sie noch dem Okkultismus zu, später haben sie sich zu einer akademisch anerkannten Wissenschaft entwickelt.
» Gewisse Anzeichen sprechen dafür, dass psy-
«
» Man müsste sich hier […] die Frage vorlegen, ob nicht das Verhältnis der Seele zum Leib unter diesem Gesichtswinkel zu betrachten, beziehungsweise ob nicht die Koordination der psychischen und der physischen Vorgänge im Lebewesen als ein synchronistisches Phänomen statt einer kausalen Reaktion zu verstehen wäre. […] Die Synchronizität besitzt Eigenschaften, welche für die Erklärung des Leib-Seele-Problems möglicherweise in Betracht kommen. Vor allem ist es die Tatsache der ursachelosen Anordnung oder, besser, des sinnvollen Angeordnetseins, welche auf den psychologischen Parallelismus ein Licht werfen könnte. Die Tatsache des »absoluten Wissens«, das heißt der durch keine Sinnesorgane vermittelten Kenntnis, welche das synchronistische Phänomen kennzeichnet, unterstützt die Annahme beziehungsweise drückt die Existenz eines an sich bestehenden Sinnes aus. Letztere Seinsform kann nur eine transzendentale sein. (8, 958)
«
chische Vorgänge in einer energetischen Relation zu den physiologischen Grundlagen stehen. […] Die archetypische Anschauung der Libido [7 Kap. 23] ist keineswegs nur primitiv, sondern unterscheidet sich vom physikalischen Energiebegriff dadurch, dass sie nicht quantitativ, sondern hauptsächlich qualitativ ist. An die Stelle der exakten Messung von Quantitäten tritt in der Psychologie eine schätzungsweise Bestimmung von Intensitäten, wozu die Gefühlsfunktion (Wertung) benützt wird. Letztere vertritt in der Psychologie die Stelle des Messens in der Physik. […] Wenn man in bezug auf physisches und psychisches Geschehen nicht direkt eine prästabilierte Harmonie postulieren will, so kann es nur eine interaktio sein. Letztere Hypothese fordert aber eine Psyche, welche irgendwie die Materie berührt, und umgekehrt, eine Materie mit latenter Psyche, von welchem Postulat gewisse Formulierungen der modernen Physik nicht mehr allzu weit entfernt sind. (8, 441)
«
Man ist leicht versucht, gerade beim Energiebegriff die Brücke zwischen Psyche und Physis zu vermuten. Obwohl man in beiden Gebieten den Begriff verwendet, kann man nicht einfach physikalische mit psychischer Energie gleichsetzen. Die Parameter der beiden sind denn doch, aller Ähnlichkeit zum Trotz, zu verschieden. Jung hat sich schon seit 1916 mit der Frage der Finalität psychischer Prozesse beschäftigt. Die Kausalität ist nur eines der möglichen Prinzipien zum Verständnis psychischen Geschehens. In der Vorrede zur ersten Auflage der »Collected papers in analytical psychology« schreibt er:
» Die psychische Finalität beruht auf einem »präexistenten« Sinn, welcher erst dann problematisch wird, wenn es sich um ein unbewusstes
418
Kapitel 28 • Materie und Körper: Synchronizität
Arrangement handelt. In diesem Fall muss nämlich eine Art »Wissen« vorgängig aller Bewusstsein angenommen werden. (8, 843 Anm. 34)
«
Wie verstehen Träume oder psychische Abläufe nicht nur kausal, sondern auch final, ohne uns Rechenschaft zu geben, dass im letzten Fall irgendwo ein Wissen des Zieles, auf welches hin der Prozess abläuft, vorhanden sein muss. Allgemein ausgedrückt ist dieses Ziel die Ganzheit und Vollständigkeit der Persönlichkeit.
Literatur Primärliteratur (Quellen)
28
1 Jung CG (1995) Wirklichkeit und Überwirklichkeit. GW 8. Erschienen in: Der Querschnitt XII/12, Berlin 1932, S. 742–748. Gesammelte Werke. Walter, Solothurn Düsseldorf 2 Jung CG (1952) Synchronizität als ein Prinzip akausaler Zusammenhänge. GW 8, 816–958. Zuerst erschienen in: Naturerklärung und Psyche, zusammen mit einem Beitrag von W. Pauli. Rascher, Zürich 3 Jung CG (1995) Über Wiedergeburt. GW 9/I, 199–239. Gesammelte Werke. Walter, Solothurn Düsseldorf 4 Jung CG (1995) Psychologie und Alchemie. Der Geist im Stoff. GW 12, 405–413. Gesammelte Werke. Walter, Solothurn Düsseldorf 5 Jung CG (1995) Mysterium coniunctionis II. Die Konjunktion. GW 14/II, S. 228–331. Gesammelte Werke. Walter, Solothurn Düsseldorf 6 Jung CG (1995) Das symbolische Leben. GW 18/II. Gesammelte Werke. Walter, Solothurn Düsseldorf Sekundärliteratur 7 Anrich E (1980) Die Einheit der Wirklichkeit. Moderne Psyche und Tiefenpsychologie. Bonz, Fellbach 8 Franz ML von (1987) Wissen aus der Tiefe. Über Orakel und Synchronizität. Kösel, München 9 Meier CA (1992) Wolfgang Pauli und C.G. Jung: Ein Briefwechsel 1932–1958. Springer, Heidelberg Berlin 10 Peat FD (1989) Synchronizität. Die verborgene Ordnung. (Original: Synchronicity, 1987). Scherz, Bern München 11 Ribi A (1989) Was tun mit unseren Komplexen? Über die Dämonen des modernen Menschen. 2. Der Geist in der Materie. Kösel, München. S. 148 12 Ribi A (2007) Ein Leben im Dienst der Seele: Gesammelte Aufsätze und Vorträge. Das Problem von Psyche und Materie. Peter Lang, Bern. S. 707–736
419
Bild, Abbild, Vorstellung, Phantasie 29.1
Bild und Abbild – 420
29.2
Vorstellung – 422
29.3
Phantasie – 423 Literatur – 428
A. Ribi, Neurose – an der Grenze zwischen krank und gesund, DOI 10.1007/978-3-642-16148-3_29, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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420
Kapitel 29 • Bild, Abbild, Vorstellung, Phantasie
Gestern hatte ich folgenden rätselhaften Traum: »Das Unbewusste wird mit einer Kamera photographiert, die sich ständig um ihre eigene Achse dreht. Bald zeigt es die eine, bald die andere Seite, bald löscht es das Bild überhaupt aus.« (24./25.04.2009)
29.1
29
Bild und Abbild
Assoziationen Im ersten Moment konnte ich gar nichts mit dem Traum anfangen. Die Kamera war nämlich viel größer als eine normale, etwa 50 × 50 × 50 cm. Sie photographierte das Unbewusste, das man gar nicht sah, denn sie photographierte sich selber, d. h. Objekt und Subjekt sind identisch. Ich sah aber ständig Bilder von dem, was die Kamera sah, am Schluss sogar, dass sie das Bild selber löschte. Sie drehte sich dabei um die eigene Achse, sozusagen um es von allen Seiten aufzunehmen.
Als ich auf diese Stelle stieß, wurde mir der rätselhafte Traum blitzartig klar: Wir können das Unbewusste gar nicht erfahren, außer es bilde sich in unserem Bewusstsein durch Bilder ab. Es zeigt sich von allen möglichen Seiten, ja es kann sich sogar selber auslöschen. Es ist völlig irrational und kann vom Bewusstsein nicht mittels der Vernunft, sondern nur als Bild aufgefasst werden. Das Bewusstsein versucht dann diese Bilder durch Verstehen den Inhalten des Bewusstseins anzugleichen. Das heißt Integration des Unbewussten.
»
Die Art des Seelischen besteht aus Abbildern einfacher Vorgänge im Gehirn und aus Abbildern solcher Abbilder in fast unendlicher Reihenfolge. Diese Abbilder haben die Eigenschaft des Bewusstseins. Das Wesen des Bewusstseins ist ein Rätsel, dessen Lösung ich nicht kenne. […] Ein seelisches Etwas gilt dann als bewusst, wenn es mit dem Ich in Beziehung tritt. (8, 610)
«
»
Bewusste Situation Ich hatte mir vorgenommen, heute das Thema dieses Kapitels zu schreiben. An den Abenden der vergangenen Tage versuchte ich, aktive Imagination zu machen, hatte aber das enttäuschende Gefühl, die Phantasien seien spärlich und nicht aus der Tiefe geflossen.
Wir nehmen nur Bilder wahr, die uns indirekt durch einen komplizierten nervösen Apparat vermittelt sind. (8, 745)
Synchronizität Als ich am Tag nach dem Traum
die Exzerpte zu diesen Stichworten aus den Gesammelten Werken (GW) Jungs, die ich mir im vorigen Jahr angelegt hatte, zusammensuchte, stieß ich auf die folgende Stelle:
In einem Brief an Valentine Brooke vom 16.XI.1959 schreibt Jung auf kritische Hörerbriefe zu seiner Antwort im Face-to-face-Interview auf Freemans Frage, ob er an Gott glaube: »I don‘t need to believe, I know!«:
» Das Prinzip des Unbewussten ist die Autono-
» Alles, was ich außen und innen wahrnehme,
mie der Psyche selbst, welche im Spiele ihrer Bilder nicht die Welt, sondern sich selber spiegelt, wenngleich sie die Vorstellungsmöglichkeiten, die ihr die Sinneswelt gibt, zur Verdeutlichung ihrer Bilder gebraucht. (12, 186)
ist Vorstellung oder Bild, eine psychische Größe, die, wie ich zu Recht oder Unrecht annehme, auf einem entsprechenden »realen« Objekt beruht. ([1] III, S. 272)
«
«
» Wir leben unmittelbar nur in der Bilderwelt. (8, 624) = esse in anima. «
«
Fragen von Theologen beantwortete er wie folgt:
29
421 29.1 • Bild und Abbild
» Es liegt mir fern, irgendwelche aussagen über Gott selber zu machen. Ich spreche von Bildern, und es ist wichtig, über diese nachzudenken, zu reden und an ihnen Kritik zu üben, weil so viel von der Natur unserer vorherrschenden Ideen abhängt. (18/II, 1615)
«
» Man findet zahllose Bilder Gottes, das Original aber ist unauffindbar. (18/II, 1589) « Jung versuchte immer wieder mit den Theolo-
gen ins Gespräch zu kommen, aber mit wenig Erfolg. Sie sind ihrem altertümlichen Denken so verhaftet, dass sie fürchten, ihr Gottesbild werde demontiert. Doch die Leute treten aus der Kirche aus, weil sie nicht mehr nur glauben können, sondern verstehen wollen. Jung versucht ihnen einen Weg zu zeigen. Gott ist nämlich nicht nur eine philosophische Idee, sondern im Gegenteil in erster Linie eine Erfahrung. Glaube sei eine Antizipation für etwas, das ich noch nicht erfahren habe.
» Entweder weiß ich etwas, und dann brauche ich nicht daran zu glauben; oder ich glaube daran, weil ich nicht sicher bin, dass ich es weiß. (18/ II, 1589)
«
Die Theologen fürchten, Gott werde zu etwas »nur« Psychischem degradiert. Doch die Psyche ist eben das Allerrealste, das Einzige, das uns ermöglicht, etwas über die Wirklichkeit zu wissen. Man kann daher nicht vom »nur« Psychischen sprechen.
» Wir haben Weltanschauung nicht für die Welt, sondern für uns. Wenn wir nämlich kein Bild von der Welt als Ganzem erschaffen, so sehen wir auch uns nicht, die wir doch getreue Abbilder eben dieser Welt sind. […] Nur in unserer schöpferischen Tat treten wir völlig ins Licht und werden uns selber als Ganzes erkennbar. Nie setzen wir der Welt ein anderes Gesicht auf als unser eigenes. […] Nirgends stehen wir näher
dem vornehmsten Geheimnis aller Ursprünge als in der Erkenntnis des eigenen Selbst, das wir immer schon zu kennen wähnen. Aber die Tiefen des Weltraumes sind uns bekannter als die Tiefen des Selbst, wo wir das schöpferische Sein und Werden fast unmittelbar belauschen können, allerdings ohne es zu verstehen. (8, 737)
«
Wie könnte man von »nur psychisch« reden, wenn man diese Tragweite verstanden hat. Die Psyche ist das einzige Organ, welches uns ein Abbild von der Welt liefert.
» Wie viele Gegebenheit der Seele in das Unbekannte der äußeren Erscheinung projiziert wird, das ist jedem Kenner der alten Naturwissenschaft und Naturphilosophie bekannt. Es ist in der Tat so viel, dass wir überhaupt nicht imstande sind, jemals anzugeben, wie die Welt an sich überhaupt beschaffen ist, da wir ja gezwungen sind, das physische Geschehen in einen psychischen Prozess umzusetzen, wenn wir überhaupt von Erkenntnis reden wollen. Wer garantiert aber, dass bei dieser Umsetzung ein irgendwie zulängliches »objektives« Weltbild herauskomme? […] Wir müssen uns mit der Annahme begnügen, dass die Seele jene Bilder und Formen liefert, welche die Erkenntnis des Objektes überhaupt erst ermöglichen. (9/I, 116)
«
In dieser Frage dürfen wir nicht allzu optimistisch sein, denn:
»
Die Phantasiebilder überwiegen den Einfluss der Sinnesreize und gestalten diese im Sinne eines vorgängigen seelischen Bildes. (9I/I, 135)
«
So wenig wir visuell Wellenlängen, sondern Farben empfinden, nehmen wir die Sinneseindrücke nicht als physikalische Reize, sondern als psychische Phänomene wahr.
422
Kapitel 29 • Bild, Abbild, Vorstellung, Phantasie
» Dem geistigen Wesen eignet erstens ein spontanes Bewegungs- und Tätigkeitsprinzip, zweitens die Eigenschaft der freien Bilderzeugung jenseits der Sinneswahrnehmung, und drittens die autonome und souveräne Manipulation der Bilder. (9/I, 392a)
«
> Bilder sind in der Psyche nicht nur Abbilder von etwas, sondern aktive Entitäten.
» Bild drückt nicht nur die Form der auszuüben-
» Wir dürfen […] unsere Phantasie nicht konkre-
den Tätigkeit, sondern auch zugleich die typische Situation aus, in welcher die Tätigkeit ausgelöst wird. (9/I, 152)
tisieren. Der Mensch hat aber eine unheimliche Neigung dies zu tun, und all die Abneigung gegen die Phantasie und all die kritische Entwertung des Unbewussten entspringt im tiefsten Grunde nur der Angst vor dieser Neigung. (7, 352)
«
29
Daher sollen im analytischen Prozess auftretende eindrückliche Bilder gemalt und meditiert werden. Beim Malen setzt man sich geduldig mit allen Einzelheiten des Bildes auseinander. Indem es »objektiviert« wird, kann man sich mit ihm auseinandersetzen. Gerade bei außerordentlich faszinierenden Bildern ist es wichtig, sich aus der Umklammerung des Bildes durch das Malen zu befreien.
Man möge sich das in Erinnerung rufen, was ich in 7 Kap. 27 über die Instinkte dazu gesagt habe. Die Bilder sind nicht nur das, was uns von der Außenwelt entgegenkommt. Sie haben aus der Innenwelt herkommend sogar eine besondere Funktion.
» Immer waren die Gestalten des Unbewussten durch schützende und heilende Bilder ausgedrückt und damit hinausgewiesen in den kosmischen, außerseelischen Raum. […] Fast scheint es so, als ob diese Bilder bloß gelebt hätten, und als ob ihre lebendige Existenz einfach hingenommen worden wäre, ohne Zweifel und ohne Reflexion. (9/I, 21–22)
«
Das ist die religiöse Funktion der Bilder, welche sogar als solche eine Wirkung haben, ganz abgesehen davon, ob sie verstanden werden oder nicht. Sie sind als Symbole wirksam.
» Der symbolische Prozess ist ein Erleben im Bild und des Bildes. Sein Fortgang zeigt in der Regel enantiodromische Struktur, wie der Text des I Ging, und stellt darum einen Rhythmus dar von Negation und Position, von Verlust und Gewinn, von Hell und Dunkel. (9/I, 82)
«
«
Malen und Meditieren des Bildes sind Möglichkeiten, einen Abstand zwischen Bild und Autor des Bildes zu legen. Das Verstehen macht das Bild erst reif zur Integration im Bewusstsein.
» Der Schein, eben das Phantasiebild, ist nicht das dahinterliegende Wirkende, […] nicht die Sache selber, sondern bloß ein Ausdruck. (7, 353)
«
Es ist etwas hinter dem Schleier des Bildes, das fasziniert. Dieses Wirkende muss in seiner Lebensäußerung ernst genommen werden. Solange man im Erleben der Phantasie begriffen ist, kann man sie nicht wörtlich genug nehmen, doch um sie zu verstehen, muss man den Schleier zerreißen.
29.2
Vorstellung
» Man darf sich nicht mit der Vernunft selber identifizieren; denn der Mensch ist nicht bloß vernünftig und kann und wird es nie sein. […] Stets vereinigt irgendein Trieb oder Vorstellungskomplex die größte Summe von psychischer Energie auf sich, wodurch er das Ich in seine Dienste zwingt. (7, 111)
«
29
423 29.3 • Phantasie
Bilder oder Vorstellungskomplexe sind gefährliche Rivalen unserer Vernunft, weil sie irrational und daher inkommensurabel zur rationalen Vernunft sind. Sie können nur zeitweise unterdrückt oder verdrängt, aber nicht erledigt werden.
» Soweit wir Kunde vom Menschen haben, wissen wir, dass er immer und überall unter dem Einfluss dominierender Vorstellungen steht. (9/I, 128)
«
Bedürfnis und befriedigen auch ein solches. Es ist, wie wenn die bis ins Primitive zurückreichende Psyche sich in diesen Bildern ausdrückte und dadurch eine Möglichkeit bekäme, mit unserem ihr fremdartigen Bewusstsein zusammen zu funktionieren, wodurch ihre das Bewusstsein störenden Ansprüche wegfallen, das heißt gesättigt würden. (16, 111)
«
29.3
Und weil er sich bewusst war, dass sie stärker sind als sein Verstand, hat er zu ihnen eine religiöse Haltung eingenommen, wodurch sie in seiner psychischen Ökonomie eine Repräsentanz erhielten. Es ist entscheidend, ihnen ihr Recht einzuräumen.
» Am Anfang ist das Bewusstsein schwach und wird leicht vom Unbewussten überwältigt, und so geschah es auch in der seelischen Geschichte der Menschheit. Diese Kämpfe haben ihre Spuren hinterlassen. Naturwissenschaftlich ausgedrückt: es haben sich instinktive Abwehrmechanismen herausgebildet, die, wenn die Not aufs höchste steigt, automatisch intervenieren; es sind dies hilfreiche Vorstellungen, die, unausrottbar, der menschlichen Seele eingeboren sind und von sich aus handelnd eingreifen, wenn die Not es erfordert. (11, 533)
«
Das Unbewusste ist mit seinen Einbrüchen eine Gefahr für das Bewusstsein. Gleichzeitig stellt es aber auch jene heilenden Bilder dem Bewusstsein zur Verfügung, welche dieses vor dem Zusammenbruch bewahren.
» Unter dem kollektiven Unbewussten verstehe ich ein unbewusstes, allgemein menschliches, seelisches Funktionieren, welches nicht nur Anlass zu unseren modernen symbolistischen Bildern, sondern auch Anlass zu all den ähnlichen Produkten der menschlichen Vergangenheit war. Solche Bilder entspringen einem natürlichen
Phantasie
» Phantasie ist ja überhaupt die Selbsttätigkeit der Seele, die überall da durchbricht, wo die Hemmung durch das Bewusstsein nachlässt oder überhaupt aufhört, wie im Schlaf. Im Schlaf erscheint die Phantasie als Traum. (16, 125)
«
Dabei sollte man nicht vergessen, dass
» … die Libido nie anders fassbar ist, als in einer bestimmten Form, das heißt sie ist identisch mit Phantasiebildern. (7, 345)
«
Daraus ist verständlich, dass
» … der Lebensdrang, der sich im Aufbau und in der individuellen Gestaltung eines Lebewesens ausdrückt, im Unbewussten einen Prozess erzeugt oder ein solcher ist, der bei seinem partiellen Bewusstwerden sich als fugenartige Bilderfolge darstellt. (16, 13)
«
Denn:
» Das Bild ist ein konzentrierter Ausdruck der psychischen Gesamtsituation, nicht etwa bloß oder vorwiegend der unbewussten Inhalte schlechthin. […] Dementsprechend ist das Bild ein Ausdruck sowohl der unbewussten wie der bewussten momentanen Situation. (6, 690)
«
424
Kapitel 29 • Bild, Abbild, Vorstellung, Phantasie
» Könnten wir die Gedanken eines jungen Menschen direkt beobachten und registrieren, wenn er Zeit und Muße zum Träumen hat, so würden wir neben einigen Erinnerungsbildern wohl in der Hauptsache Phantasien, die sich mit der Zukunft beschäftigen, feststellen können. Tatsächlich besteht weitaus der größte Teil der Phantasien aus Antizipationen. Die Phantasien sind daher größtenteils vorbereitende Handlungen oder gar psychische Einübungen auf gewisse zukünftige Wirklichkeiten. (8, 808)
nichtpassende Wirklichkeit übermalt. Ich erwähne das hier, weil ich der Auffassung bin, dass das nicht nur bei Freud vorkommt, sondern sehr häufig ist.
» Immer wenn eine psychologische Theorie etwas gewalttätig vorgeht, so besteht der begründete Verdacht, dass ein archetypisches Phantasiebild die Wirklichkeit zu entstellen versucht. (9/I, 140, Anm. 29)
«
«
Die Phantasien und Bilder spielen daher nicht nur in der Analyse der Träume, sondern in der Therapie überhaupt eine wichtige Rolle.
» Ich strenge mich sogar an, mit dem Patienten
29
zu phantasieren. Ich denke nämlich nicht gering von der Phantasie. Sie ist mir in letzter Linie die mütterliche Schöpferkraft des männlichen Geistes. Im letzten Grund sind wir nie erhaben über die Phantasie. […] Alles Menschenwerk entstammt der schöpferischen Phantasie. (16, 98)
«
Allgemein wird die Phantasie noch unterschätzt. Nur der Neurotiker, der vor dem Leben flieht, setzt die Phantasie weitgehend an die Stelle der Wirklichkeit. Unbewussterweise zieht er das Träumen und Phantasieren der Wirklichkeit vor (4, 420). Die Phantasien von Geisteskranken sind an sich keine pathologischen Ausgeburten.
» Das pathologische Element liegt nicht in der Existenz dieser Vorstellungen, sondern in der Dissoziation des Bewusstseins, welches das Unbewusste nicht mehr beherrschen kann. (9/I, 83)
«
Freuds Studie »Eine Kindheitserinnerung des
Leonardo da Vinci« [6], welche das archetypische Motiv der »doppelten Geburt« darstellt, wird von Freud persönlich fehlinterpretiert. Jung meint, seine Phantasie habe einfach die
Etwas Ähnliches ereignet sich, wenn sich Inzestphantasien erst im Laufe der Analyse durch entsprechende Erwartungen des Analytikers entwickeln (4, 389). Solche angeblich ätiologischen Phantasien erscheinen nur als Ersatzbildungen, Bemäntelungen und Scheinbegründungen für nicht geleistete Arbeit der Realität gegenüber (4, 411).
» Während die kathartische Methode im wesentlichen bewusstseinsfähige Inhalte […] dem Ich wieder zurückbringt, holt die Aufklärung der Übertragung Inhalte herauf, die in solcher Form kaum je bewusstseinsfähig waren. (16, 141)
«
Nicht alle Phantasien sind gleich wertvoll.
» Die Belebung unbewusster Phantasien ist ein Vorgang, der mit einer Notlage des Bewusstseins zusammenhängt. (10, 545)
«
Daher belebt sich bei Neurotikern das Unbewusste, sei es durch viele Träume, sei es durch aufdringliche Phantasien. Sie zeigen einen Stau im Unbewussten an, das seine kompensatorische Funktion nicht normal ausdrücken kann. Eine völlig andere, normale Funktion hat die Phantasietätigkeit beim Angehörigen eines Naturvolkes.
» Dieser erfährt die Welt als allgemeine Erscheinung nur dämmerhaft innerhalb des erfüllenden Phantasiestromes, wo Subjektives und Objektives ununterschieden sich gegenseitig durchdringen. (9/I, 187)
«
425 29.3 • Phantasie
Er lebt ja noch in einem Ereignisstrom, in welchem innen und außen nicht geschieden sind. Oder anders ausgedrückt erlebt er seine Seele in seiner Umgebung, in den belebten Objekten. Ich erwähne das hier, weil wir noch gar nicht so weit von dieser Mentalität weg sind. Eine andere normale Phantasietätigkeit findet man beim Begabten.
» Dort entpuppt sich Unaufmerksamkeit, Zerstreutheit und Verschlafenheit als eine sekundäre Abwehr äußerer Einflüsse, um inneren Phantasievorgängen ungestört nachhängen zu können. […] Aber an der Beschaffenheit der Phantasien lässt sich die Begabung erkennen. […] Wegleitend bei der Beurteilung ist die Originalität, die Konsequenz, die Intensität und die Feinheit der Phantasiegestaltung sowie deren latente Möglichkeit einer späteren Verwirklichung. (17, 237)
«
Nicht jeder »Träumer«, nicht jedes verträumte Kind ist ein hochbegabtes. Seit die Möglichkeit besteht, begabte Kinder zu fördern, ist die Unterscheidung zwischen wirklich begabten und Kindern ehrgeiziger Eltern sehr wichtig geworden. Nun stellt sich die Frage: Wie setzt man sich praktisch mit dem Unbewussten auseinander? Jung schreibt dazu im Vorwort zur englischen Ausgabe von »Die transzendente Funktion« (1959):
» Sinn und Wert dieser Phantasien offenbaren sich je erst in deren Integration in die Gesamtpersönlichkeit, nämlich in dem Moment, wo man mit ihnen sinngemäß und auch moralisch konfrontiert ist. (8, S. 83)
«
Er hat eine eigene Technik entwickelt, um sich mit dem Unbewussten in Beziehung zu setzten: die aktive Imagination.
29
> Die aktive Imagination ist eine Methode für die zweite Lebenshälfte, in der man seine äußeren Aufgaben erledigt hat und sich den inneren Konflikten zuwenden kann. Es handelt sich um ein inneres Zwiegespräch, eine Meditation, in welcher nicht nur das Unbewusste zu Worte kommt, sondern das Bewusstsein aktiv dazu Stellung nimmt.
» Ich arbeite stets mit der temperamentmäßigen Überzeugung, dass es, im Grunde genommen, keine unlösbaren Probleme gebe. Und die Erfahrung gab mir insofern recht, als ich des öfteren sah, wie Menschen ein Problem einfach überwuchsen, an dem andere völlig scheiterten. Dieses »Überwachsen« […] stellte sich bei weiterer Erfahrung als eine Niveauerhöhung des Bewusstseins heraus. Irgendein höheres und weiteres Interesse trat in den Gesichtskreis, und durch diese Erweiterung des Horizontes verlor das unlösbare Problem seine Dringlichkeit. Es wurde nicht in sich selber logisch gelöst, sondern verblasste gegenüber einer neuen und stärkeren Lebensrichtung. […] Was auf tieferer Stufe Anlass zu den wildesten Konflikten und zu panischen Affektstürmen gegeben hätte, erschien nun, vom höheren Niveau der Persönlichkeit betrachtet, wie ein Talgewitter, vom Gipfel eines hohen Berges aus gesehen. […] Gewiss empfindet man den Affekt, gewiss ist man erschüttert und gequält, aber zugleich ist auch eine jenseitige Bewusstheit fühlbar vorhanden, eine Bewusstheit, die verhindert, dass man mit dem Affekt identisch wird, eine Bewusstheit, die den Affekt zum Objekt nimmt, die sagen kann: Ich weiß, dass ich leide. (13, 17)
«
Seine Einsicht zu den wichtigsten Problemen des Lebens:
» Ich hatte nämlich inzwischen einsehen gelernt, dass die größten und wichtigsten Lebensprobleme im Grunde genommen alle unlösbar
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29
Kapitel 29 • Bild, Abbild, Vorstellung, Phantasie
sind; sie müssen es auch sein, denn sie drücken die notwendige Polarität aus, welche jedem selbstregulierenden System immanent ist. […] Ich fragte mich daher, ob diese Möglichkeit des Überwachsens, nämlich der weiteren seelischen Entwicklung, nicht überhaupt das normal Gegebene und darum das Steckenbleiben an oder in einem Konflikt das Krankhafte sei. Jeder Mensch müsste eigentlich jenes höhere Niveau wenigstens als Keim besitzen und diese Möglichkeit unter günstigen Umständen entwickeln können. […] Das Neue trat (beim normalen Entwicklungsvorgang) aus dem dunklen Felde der Möglichkeiten von außen oder von innen an sie heran; sie nahmen es an und wuchsen daran empor. […] Kam es von außen, so wurde es innerstes Erlebnis. Kam es von innen, so wurde es äußeres Ereignis. Nie aber war es absichtlich und bewusst gewollt herbeigeschafft worden, sondern es floss vielmehr herbei auf dem Strom der Zeit. (13, 18)
«
» Es hat mir nämlich den tiefsten Eindruck gemacht, dass das schicksalhafte Neue selten oder nie der bewussten Erwartung entspricht. (13, 19)
«
> »Man muss psychisch geschehen lassen können.« (13, 20)
»
Diese Übungen müssen so lange fortgesetzt werden, bis der Bewusstseinskrampf gelöst, bis man, mit anderen Worten, geschehen lassen kann, was der nächste Zweck der Übung ist. Dadurch ist eine neue Einstellung geschaffen. (13, 23)
«
»
Und wie es das Lebensgesetz will, wird der eine von außen nehmen, was er zuvor nie von außen angenommen, und der andere von innen, was er zuvor stets ausgeschlossen hätte. Diese Umkehrung des Wesens bedeutet eine Erweiterung, Erhöhung und Bereicherung der Persönlichkeit. […] Der Weg ist nicht ohne Gefahr. […] Es handelt sich um das Jasagen zu sich selber – sich selbst als ernsthafteste Aufgabe sich vorsetzen. (13, 24)
«
» Der ästhetische oder intellektuelle Flirt mit Leben und Schicksal kommt hier zu jähem Ende. Der Schritt zu höherem Bewusstsein führt aus allen Rückendeckungen und Sicherungen heraus. Der Mensch muss sich ganz darangeben, denn nur aus seiner Integrität kann er weitergehen. (13, 25)
«
» Ob er nun sein Schicksal von außen oder von innen empfange, die Erlebnisse und Ereignisse des Weges bleiben die gleichen. (13, 26)
«
Doch sollte man dabei bedenken:
» Die Aufgabe wäre ja einfach genug. (Wenn nur nicht Einfachheit das Allerschwierigste wäre!) Sie besteht einzig und allein darin, dass zunächst einmal irgendein Phantasiefragment in seiner Entwicklung beobachtet wird. […] Das Bewusstsein erhebt ausgiebige Einwände. […] Zuweilen besteht ein förmlicher Bewusstseinskrampf. (13, 20)
«
» Nach vollbrachter getreuer Beobachtung kann man der Ungeduld des Bewusstseins ruhig die Zügel schießen lassen, muss es sogar, sonst entstehen hinderliche Widerstände. (13, 21)
«
Das ist eine äußerst erleuchtende allgemeine Beschreibung der Konfrontation vom Bewusstsein mit dem Unbewussten.
» Der Ausgleich von Gegensätzen ist in der Natur stets ein Prozess, das heißt ein energetischer Vorgang: es wird symbolisch in des Wortes eigentlichster Bedeutung gehandelt. […] Im Zustand des offenen und unentschiedenen Konfliktes treten Träume und Phantasien auf, welche […] die Spannung und die Art der Gegensätze veranschaulichen, womit sie die Synthese einleiten und ingang bringen. Dieser Prozess kann […] spontan eintreten oder durch Kunsthilfe
29
427 29.3 • Phantasie
veranlasst werden. In letzterem Fall wählt man zweckmäßigerweise einen Traum oder ein sonstiges Phantasiebild und konzentriert sich darauf, indem man es einfach festhält und anschaut. Man kann auch eine affektive Verstimmung als Ausgangspunkt benützen. In diesem Fall empfiehlt es sich, herauszufinden, was für ein Phantasiebild aus dieser Stimmungslage hervorgeht, beziehungsweise was für ein Bild diese ausdrückt. Man hält dann dieses Bild fest, indem man seine Aufmerksamkeit darauf fixiert. In der Regel verändert es sich, indem es durch die bloße Tatsache der Betrachtung belebt wird. Die Veränderungen müssen sorgfältig und fortlaufend notiert werden. Sie spiegeln nämlich die psychischen Vorgänge im unbewussten Hintergrund wider, und zwar in Bildern, die aus bewusstem Erinnerungsmaterial bestehen. Auf diese Weise einen sich Bewusstes und Unbewusstes…
«
Daraus entwickelt sich eine Kette von Phantasievorstellungen,
» … die allmählich dramatischen Charakter annehmen: aus dem bloßen Vorgang wird Handlung. Diese ist zunächst an projizierten Figuren dargestellt. […] Man träumt mit offenen Augen. […] Wenn der Beobachter versteht, dass auf dieser inneren Bühne sein eignes Drama aufgeführt wird, dann können ihm die Peripetie und die Lysis nicht gleichgültig bleiben. […] Er fühlt sich deshalb gedrängt oder wird von seinem Arzt dazu ermahnt, sich selber in das Schauspiel zu mengen und aus dem anfänglichen Theaterstück eine wirkliche Auseinandersetzung mit seinem eigenen Gegenüber zu machen. […] Die Auseinandersetzung mit dem anderen in uns lohnt sich, denn auf diese Weise lernt man Seiten seines Wesens kennen, die man sich nie von einem anderen hätte zeigen lassen und die man sich selber nie zugegeben hätte. (14/II, 365)
«
Wie eingangs erwähnt, kann man auch von einer rätselhaften bedrückenden Emotion ausgehen.
» Um der an falscher Stelle befindlichen Energie habhaft zu werden, nimmt man den affektiven Zustand als Basis oder Ausgangspunkt der Prozedur. Man macht sich die Stimmungslage möglichst bewusst, indem man sich rückhaltlos darein versenkt und alle auftauchenden Phantasien und sonstigen Assoziationen schriftlich fixiert. Der Phantasie muss völlig freier Spielraum gelassen werden, jedoch nicht so, dass sie den Umkreis ihres Objektes, nämlich des Affektes, verlässt. […] Aus dieser Beschäftigung ergibt sich ein mehr oder weniger vollständiger Stimmungsausdruck, der den Inhalt der Verstimmung irgendwie umfänglich konkret oder symbolisch wiedergibt. […] Die Prozedur stellt eine Art von Anreicherung und Verdeutlichung des Affektes dar, und dadurch nähert sich dieser mit seinen Inhalten dem Bewusstsein an. Er wird eindrücklich und dadurch auch verständlich. […] Der vorher beziehungslose Affekt ist zu einer mehr oder weniger deutlichen und artikulierten Vorstellung geworden. (8, 167)
«
Die Phantasiebilder haben selber oft schon eine erlösende Wirkung, die affektive Spannung lässt nach, man weiß jetzt woran man ist. Ihren eigentlichen Sinn erhalten jedoch erst die Folgen von Phantasien, welche eine Entwicklung darstellen.
» Aus diesen Bildern zieht der Weise die »höheren Eingebungen«, das heißt alles Sinn- und Wertvolle; er zieht es heraus wie in einem Destillationsprozess und fängt die köstlichen Tropfen des liquor Sophiae im bereitwilligen Gefäß seiner Seele auf, wo sie seinem Verstand ein »Fenster auftun«, das heißt diesen erleuchten. […] Der kritische Urteilsvorgang, welcher die Spreu vom Weizen trennt, ist ein unerlässlicher Teil der Auseinandersetzung mit dem Unbewussten! Närrisch zu werden, ist keine Kunst; aber aus der Narrheit die Weisheit auszuziehen, ist wohl die ganze Kunst. Narrheit ist die Mutter der Weisen, aber niemals die Klugheit. (13, 222)
«
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Kapitel 29 • Bild, Abbild, Vorstellung, Phantasie
Damit haben wir uns von der personalistischen Psychologie der Pioniere der Psychoanalyse entfernt und in die Abgründe der Seele geschaut, wo das eigentliche Schicksal des Menschen sich entscheidet.
Literatur Primärliteratur (Quellen) 1
2 3
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Jaffé A (Hrsg.) (1972/73) Briefe. Erster Band 1906–1945 (1972); Zweiter Band 1946–1955 (1972); Dritter Band 1956–1961 (1973 mit Nachtrag neu aufgefundener Briefe). In Zusammenarbeit mit Adler G, London. Walter, Olten Freiburg Jung CG (1995) Definitionen s.v. Bild. GW 6, 688–699. Gesammelte Werke. Walter, Solothurn Düsseldorf Jung CG (1950) Zur Empire des Individuationsprozesses. Zürich. GW 9/I, 525–626. Erstmals erschienen: Eranos Jahrbuch 1933, S. 201–214. Völlig neu geschrieben und erweitert in: Gestaltung des Unbewussten, 4 Jung CG (1930) Über Mandalasymbolik. GW 9/I, 627 ff. Bilder für Berlinerseminar 1930 gesammelt: Bericht über das Deutsche Seminar 6.-11. Oktober 1930. Stuttgart 21931. Privatausgabe für die Seminarteilnehmer. Zusammen mit Richard Wilhelm: Das Geheimnis der Goldenen Blüte. Zürich 1938 als: Beispiele europäischer Mandalas Gestaltungen des Unbewussten, 5. Zürich, 1950
Sekundärliteratur 5
6 7
Franz ML von (1990) Die aktive Imagination in der Psychologie C.G. Jungs, S. 141. Bemerkungen zur aktiven Imagination, S. 159. in: Psychotherapie. Erfahrungen aus der Praxis. Daimon, Einsiedeln Freud S (2006) Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci. 3. Auflage. Fischer, Frankfurt a. M. Telle J (1980) Sol und Luna. Literatur- und alchemiegeschichtliche Studien zu einem altdeutschen Bildgedicht. Hürtgenwald (Schriften zur Wissenschaftsgeschichte, Bd. 2). Enthält die Holzschnitte des Rosarium Philosophum, welche in »Die Psychologie der Übertragung« abgebildet sind. GW 16, 353–539
429
Typologie 30.1
Apperzeption – 432
30.2
Funktionen – 433 Literatur – 442
A. Ribi, Neurose – an der Grenze zwischen krank und gesund, DOI 10.1007/978-3-642-16148-3_30, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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Kapitel 30 • Typologie
Die psychologische Typologie ist, neben der Lehre von den Komplexen und Archetypen, eines der Herzstücke der Jungschen Psychologie. Dieses Buch hat auch die größte Auflage erlebt, d. h. es ist bei einem breiteren Publikum angekommen. Begriffe wie Intro- und Extraversion (irrtümlich oft als Extroversion) sind zum Allgemeingut geworden. Die Feinheiten der Typologie dagegen haben noch nicht Eingang in die breite Öffentlichkeit gefunden.
30
Ja, so weit ich weiß, forscht kein Jungianer auf diesem Gebiet außer meinem Freund Ueli Müller. Er hat sich mit den Typen von Malern beschäftigt und herausgefunden, dass die einzelnen Stilrichtungen der Moderne vom Typus bestimmt sind. Die ganzen Kämpfe darum, welcher Stil der einzig richtige sei, wären unnötig, wenn man verstehen würde, dass jeder den Stil malt, der seinem Typus entspricht. Er hat auch herausgefunden, dass Künstlern dann Höchstleistungen gelingen, wenn die Hauptfunktion nicht in Gegensatz zur minderwertigen Funktion steht, sondern kooperativ mit ihr zusammenarbeitet. Er konnte das an einigen Malern schlagend aufzeigen [5]. Marie-Louise von Franz hat darauf hingewiesen, dass C. G. Jung der Gefühlsfunktion wieder zu ihrem Recht verholfen hat. In die gleiche Richtung zielt die folgende Bemerkung Jungs:
» In der Regel bekämpfen sich die Parteien rein äußerlich, indem sie auf Lücken in der individuellen Rüstung des Gegners zielen. Ein solcher Streit ist in der Regel von geringer Fruchtbarkeit. Von erheblich höherem Werte wäre es, wenn der Gegensatz auf das psychologische Gebiet verschoben würde, woher es auch ursprünglich stammt. […] Eine wirkliche Verständigung kann meines Erachtens nur dann erreicht werden, wenn die Verschiedenheit der psychologischen Vorbedingungen anerkannt wird. (8, 846)
«
» Eine Basis zur Schlichtung des Streites der Auffassung könnte nach meiner Überzeugung die Anerkennung von Typen der Einstellung sein, aber nicht nur der Existenz solcher Typen, sondern auch der Tatsache, dass jeder in seinem Typus bis zu dem Grade befangen ist, dass er des völligen Verständnisses eines anderen Standpunktes unfähig ist. (8, 847)
«
Es ist fast unfassbar, wie sehr sich Jung außerhalb des eigenen Typus stellen konnte, um der Schilderung der anderen gerecht zu werden. Seine Darstellung im Kapitel X des Typenbuches ist so meisterhaft und lehrbuchmäßig übersichtlich, dass ich das hier nicht besser darstellen kann, sondern den Leser animieren möchte, sich darein zu vertiefen. Ich werde dagegen Bemerkungen zu den Typen zusammentragen aus seinem Gesamtwerk, welche er in anderen Thematiken machte, weil sie manche Ergänzung zu GW 6 enthalten. Ueli Müller hat auch das äußerst wichtige Thema der Typologie in der Pädagogik, im Schulunterricht erforscht. Dort besteht nämlich die Gefahr, dass ein Lehrer Schüler des gleichen Typus oder des Gegentypus fördert, weil er jenen wegen der Ähnlichkeit versteht und von diesem wegen der Gegensätzlichkeit fasziniert ist. Es besteht die Gefahr, dass er mit Schülern der beiden anderen Typen nicht viel anzufangen weiß, sie unterschätzt und nicht fördert. Das sind naheliegende Probleme von großer Tragweite, die noch gar nicht erkannt sind. Stattdessen »pröbelt« man an allen möglichen obsoleten didaktischen Kleinigkeiten herum und demotiviert die engagierten Lehrer. Dabei ist das Schulsystem für die heranwachsende Generation sehr wichtig. Den Pädagogen sollte vielmehr praktische Psychologie vermittelt werden, aber nicht psychologische Theorien. > Die empirische Psychologie muss sich im Leben bewähren.
431 Typologie
Die Typologie wäre noch ein weites Forschungsgebiet. Man weiß nicht, ob der Typus angeboren oder in früher Kindheit erworben ist, ersteres ist wahrscheinlicher. Man hat die Art der Typen bei Angehörigen von Naturvölkern noch nie untersucht. Wahrscheinlich sind die Funktionen mehr von den konkreten Objekten bestimmt, denn:
» Der Konkretismus ist ein Archaismus. (6, 767) « Das kann man bei den Funktionen einfacher ungebildeter Leute beobachten. Bei minderintelligenten ist das ähnlich, dafür ist die Gefühlsfunktion wichtiger. Weil der Intellekt eine geringere Rolle spielt, tritt an seine Stelle die Gegenfunktion. Die irrationalen Funktionen sind weniger betroffen, weil ein »just – so« festzustellen sei. Die Entwicklung jeder Funktion geht vom sinnlich Gegebenen aus.
» Die gleichmäßige Bewusstheit und Unbewusstheit (zweier gegensätzlicher) Funktionen ist daher ein Kennzeichen primitiven Geisteszustandes. (6, 767)
«
Die Differenzierung der Funktionen besteht in einer zunehmenden Abstrahierung vom Konkreten.
»
Die Abstraktion bedeutet mir eine energetische Objektentwertung. […] Wenn ich mich zum Objekt abstrahierend einstelle, so lasse ich das Objekt nicht als Ganzes auf mich wirken, sondern ich hebe einen Teil desselben aus seinen Verknüpfungen heraus, indem ich die nichtzugehörigen Teile ausschließe. (6, 679)
«
» Je abstrakter ein Inhalt ist, desto unvorstellbarer ist er. (6, 680) « Die primitive Einstellung muss sich stets am sinnlich Gegebenen orientieren. Die irrationalen Funktionen als Wahrnehmungen sind viel
30
stärker an die Sinne gebunden als die rationalen. Diese sind ohnehin psychische Verarbeitungen der Sinneswahrnehmungen. Man darf sich jedoch nicht täuschen, denn alle unsere Wahrnehmungen sind psychisch verarbeitet. Wir nehmen keine Wellenlängen mit dem Auge wahr, sondern Farben. Wir hören keine Schwingungen (mit Ausnahme sehr tiefer), sondern Töne. Schon diese simplen Beispiele weisen auf die psychische Verarbeitung jeglicher Reize aus der Umwelt hin. > Für die Psychologie der Neurosen spielt die Typologie eine große Rolle hinsichtlich der Anpassung nach außen, aber auch nach innen. Die Neurose ist ganz allgemein eine mangelhafte Anpassung. Die Typen sind die Modi, mit welchen sich das Individuum mit dem Bewusstsein in seiner Welt orientiert.
Die Anpassung hat die Orientierung zur Voraussetzung. Selbstverständlich spielen dabei auch unbewusste Faktoren mit. Wenn man von Typen spricht, stellen sich bei manchen Leuten die Nackenhaare auf, weil sie denken, da werde man einfach in eine Schublade gesteckt und angeschrieben wie eine Sammlung von Schmetterlingen.
» Typen sind nicht Einzelfälle, was jeder Gebildete wissen sollte. Auch ist »Typus« kein erfundenes Schema, in welches alle vorkommenden Fälle hineingepresst werden müssen. »Typen« sind ideale Konstruktionen, Durchschnittsbilder der Erfahrung, womit sich nie ein Einzelfall identifizieren lässt. (9/I, 167 Anm. 8)
«
Die Aufstellung von Funktionstypen ist wie ein Raster, in welchem man gewisse, häufig vorkommende Muster ausmachen kann. Es gibt ganz verschiedene Raster, mit welchen sich Jung im ersten Teil des Typenbuches (I–IX) auseinandersetzt und erklärt, warum er es für seine Bedürfnisse als nicht geeignet erachtet. Zu allen Zeiten sind Versuche gemacht worden, die Menschen
432
Kapitel 30 • Typologie
in Typen aufzuteilen – mit wechselndem Erfolg. Meistens versuchte man den Körperbau mit der typischen Psychologie zu korrelieren. Einzelne Ansätze haben sich sogar bis zu einem gewissen Grad eingebürgert (z. B. Ernst Kretschmers Körperbau und Charakter, 1921). Jung wollte eine rein psychologische Einteilung vollziehen. Das ist ihm auch geglückt, indem er zunächst zwei grundsätzliche Einstellungen zur Welt unterscheidet, nämlich jenen, der die Welt »umarmt«, auf Objekte zugeht, ja sie sich sogar zueigen macht: der Extravertierte, und der, der von der inneren Welt angetan, ihr sogar bis zu einem gewissen Grad verfallen ist: der Introvertierte. > Beim Extravertierten fließt seine Libido dem Objekt zu, dieses fühlt sich im Wert erhöht. Beim Introvertierten fließt die Energie in die Innenwelt ab und das Objekt fühlt sich entwertet, kaum wahrgenommen oder wenn schon wahrgenommen, dann subjektiv verfremdet.
30
z
Subjektiver Faktor
Der subjektive Faktor spielt hier eine bedeutende Rolle.
ebensoviel Sicherheit, auf ebensoviel Dauer und Gültigkeit, wie der, der sich auf das Objekt beruft. (6, 622)
«
Der Extravertierte, der sich am Objekt orientiert, ist in Gefahr, den subjektiven Faktor als bloß »subjektiv« herunterzuspielen. Er empfindet nur das Objekt als real.
» Wie ich mich durch äußerliche und objektive soziale Einflüsse geformt vorfinde, so auch durch innere, zunächst unbewusste Gegebenheiten, die ich als den subjektiven Faktor schlechthin bezeichnet habe. Der eine, nämlich der extravertiert Eingestellte, gründet sich hauptsächlich auf die sozialen Beziehungen, der andere, der introvertiert Eingestellte, hauptsächlich auf den subjektiven Faktor. (16, 241)
«
Ich habe oben darauf hingewiesen, dass die Sinnesreize nicht als solche, sondern in einer psychologischen Verarbeitung wahrgenommen werden. Letztere besteht u. a. darin, dass die Wahrnehmung mit früheren Erfahrungen verglichen und so als bekannt oder unbekannt, als angenehm oder unangenehm usw. beurteilt wird.
» Als subjektiven Faktor bezeichne ich jene psychologische Aktion oder Reaktion, welche sich mit der Einwirkung des Objektes zu einem neuen psychischen Tatbestand verschmilzt. Insofern nun der subjektive Faktor seit ältesten Zeiten und bei allen Völkern der Erde in einem sehr hohen Maße sich selber identisch bleibt – indem elementare Wahrnehmungen und Erkenntnisse sozusagen überall und zu allen Zeiten dieselben sind –, so ist er eine ebenso fest gegründete Realität wie das äußere Objekt. […] Insofern beansprucht auch der subjektive Faktor die ganze Würde einer weltbestimmenden Größe, die nie und nirgends aus der Rechnung ausgeschlossen werden kann. Er ist das andere Weltgesetz, und wer sich auf ihn gründet, gründet sich auf
30.1
Apperzeption
Dieser Vorgang des Erkennens eines Sinnesreizes und der Einordnung in den Erfahrungsschatz nennt man Apperzeption.
» Die Tatsache der Apperzeption besteht aus zwei Phasen: erstens die Wahrnehmung des Objektes und zweitens die Assimilation der Wahrnehmung in das schon vorhandene Bild oder in den Begriff, mittels dessen das Objekt »verstanden« wird. […] Die unbewusste Disposition, von welcher die Qualität des Eindrucks abhängig ist, nenne ich den »subjektiven Faktor. (11, 776)
«
30
433 30.2 • Funktionen
Die unbewusste Disposition, welche der Wahrnehmung die Qualität verleiht, kann z. B. ein Komplex sein. Ist er positiv, so besteht die Tendenz alle Eindrücke als positiv zu werten, ist er negativ, so werden sie eher abgewertet oder kritisiert. Das ist eine Eigenschaft, welche schließlich dem Objekt angehängt wird, obwohl sie mit der Sinnesempfindung gar nichts zu tun hat.
» Das meiste hängt ja doch schließlich davon ab, wie wir die Dinge betrachten, und nicht davon, wie sie an sich sind. Kleinstes mit Sinn ist immer lebenswerter als Größtes ohne Sinn. (16, 96)
«
Das heißt, dass selbst die Empfindungsfunktion, welche die Objekte wahrnimmt, nie objektiv ist. Das zeigt sich allenfalls grotesk, wenn sie es mit einem unbekannten Objekt zu tun hat. Dort tritt sofort die Phantasie auf den Plan und gibt ihren Zuschuss zur reinen Wahrnehmung. Das ist eigentlich sinnvoll, denn ein unbekanntes Objekt wird dann von der explorierenden Phantasie so lange umkreist, bis es in bekannte Kategorien eingeordnet werden kann. Falls das gar nicht gelingt, kommt die mythopoietische Funktion zum Zug. Diese ist insofern sinnvoll, als sie dem unbekannten Objekt dann Inhalte des kollektiven Unbewussten anhängt. Ein unbekanntes Objekt wird nie einfach als »unbekannt« stehen gelassen, sondern mit dem generell Unbekannten, dem Unbewussten, verbunden und so in einem gewissen Sinn integriert. Der Sinn der bewussten Orientierungsfunktionen ist es, Umwelt oder Innenwelt dem Subjekt einzugliedern.
30.2
Funktionen
namisch, dass man sich nicht eingehend genug damit auseinandersetzen kann. Man entdeckt immer wieder neue Aspekte. Deshalb genügt ein kurzer Überblick niemals.
» Unter Ektopsyche verstehe ich das Verbindungssystem zwischen den Inhalten des Bewusstseins und den Umwelteindrücken. Es ist ein Orientierungssystem für den Umgang mit den Gegebenheiten der Außenwelt, die mir durch die Sinnesfunktionen übermittelt werden. Die Endopsyche auf der anderen Seite ist das Beziehungssystem zwischen den Inhalten des Bewusstseins und den Prozessen, die unserer Vermutung nach im Unbewussten ablaufen. (18/I, 20)
«
Die Begriffe Ekto- respektive Endopsyche hat Jung nur in den Tavistock-Lectures (1935), aus welchen das Zitat stammt und den etwa gleichzeitigen ETH-Lectures (1933), verwendet. Offensichtlich hat sich diese Bezeichnung nicht eingebürgert.
» Wir sprechen zuerst von den ektopsychischen [= extravertierten] Funktionen: Unter Empfindung verstehe ich das, was die Franzosen »la fonction du réel« nennen, also die Gesamtsumme der von mir wahrgenommenen äußeren Fakten, die mir durch meine Sinnesfunktionen [inklusive Körpersinn] vermittelt werden. […] Die Empfindung sagt mir, dass etwas ist. (18/I, 21)
«
» In seiner einfachsten Form sagt mir das Denken, was etwas ist. Es gibt dem Ding einen Namen. Es fügt einen Begriff hinzu, da Denken Wahrnehmung plus Urteil ist (=Apperzeption). (18/I, 22)
«
Jetzt ist der Moment gekommen, wo ich dem Leser einen kurzen Überblick über die Funktionen geben muss. Einen kurzen Überblick, weil ich dem Leser die Lektüre von Jungs Typenbuch nicht ersparen will und kann. Seine Typologie ist das Gegenteil von schematisch und so dy-
» Das Fühlen sagt mir, […] ob etwas annehmbar, beziehungsweise angenehm ist oder nicht. Es sagt mir, was mir etwas wert ist. Es ist wie das Denken eine rationale Funktion. (18/I, 23)
«
434
Kapitel 30 • Typologie
Denken = Hauptfunktion Rationale
Empfindung = Irrationale Achse 2. Hilfsfunktion
Achse
ICH
Intuition = 1. Hilfsfunktion
Fühlen = minderwertige Funktion . Abb. 30.1
Funktionendiagramm (beispielhaft)
Er kommt zur Definition von Intuition.
» Es gibt noch die Kategorie der Zeit, Dinge
30
kommen von irgendwoher und gehen irgendwohin, man kann es nicht wissen, aber man kann davon eine Ahnung haben. Die Intuition ist eine Art prophetischer, unerklärlicher Eigenschaft. (18/I, 24)
«
» Die Intuition ist eine Funktion, mit der man um die Ecken sehen kann. (18/I, 25) « »
Intuition ist meines Erachtens eine Art Wahrnehmung, die nicht eigentlich durch die Sinne vermittelt wird, sondern mehr über das Unbewusste. […] So gehören z. B. prophetische Träume, telepathische Phänomene und ähnliches ins Gebiet der Intuition. (18/I, 26)
«
» Die Hauptfunktion verleiht jedem Menschen seine spezifische Psychologie. (18/I, 28) « Das sind nun die vier Funktionen, welche jedermann in unterschiedlichem Maß und unterschiedlicher Differenzierung besitzt. Außerdem schließen sich je zwei Funktionen derselben Art (rational/irrational) gegenseitig aus oder besser, sie konkurrenzieren sich. Deshalb sind die Funk-
tionen bei einem bestimmten Typ nicht gleichwertig. Die eine wird im Alltag bevorzugt und stellt die Hauptfunktion dar. Die Gegenfunktion auf der gleichen Achse wird dadurch zur minderwertigen Funktion, d. h. sie wird weniger differenziert und bleibt mit dem Unbewussten kontaminiert. Auch die beiden verbleibenden Hilfsfunktionen sind unterschiedlich bewertet, so dass die eine von ihnen der Hauptfunktion näher steht. Daraus ergeben sich gewisse habituelle Typen, d. h. Menschen, welche in der Regel eine bestimmte Funktion benutzen. Am einfachsten vergegenwärtigt man sich einen solchen Menschen als Funktionendiagramm (. Abb. 30.1).
» Von diesem einfachen Diagramm aus können Sie nun eine Menge sehr wichtiger Schlüsse auf die Struktur des Bewusstseins eines Menschen ziehen. (18/I, 31)
«
Der Denktypus in unserem Beispiel orientiert sich im Alltag mit seinem Denken und lässt die Gefühle nicht zu. Das heißt keineswegs, dass er keine Gefühle hätte, aber das Denken ist schneller und hat die Sache schon entschieden, bevor die Gefühle, sozusagen aus dem Keller, aufgestiegen sind. Deswegen kommen diese immer
435 30.2 • Funktionen
zu kurz und bleiben unentwickelt, archaisch. Die Denkfunktion andererseits nutzt sich durch den ständigen Gebrauch gewissermaßen ab, wird selbstverständlich, leblos und profan. Die minderwertige Funktion dagegen behält ihre Frische, ihre Unverbrauchtheit und ihre Schöpferkraft, weil sie mit dem Unbewussten verbunden bleibt. Die Hilfsfunktionen unterstützen die Hauptfunktion, weil man sich nicht auf eine Funktion allein verlassen sollte, man braucht gleichsam noch ein zweites Standbein. Die Hilfsfunktionen sind meist kooperativ mit der Hauptfunktion, unterstützen und ergänzen diese durch andere Aspekte.
» Keine psychologische Grundfunktion lässt sich durch eine andere völlig ausdrücken. (6, 725) « Ich vergleiche die Funktionen verschiedener Werkzeuge (Hammer, Zange, Schraubenzieher; Feile), welche je für bestimmte Verrichtungen geeignet sind und sich nur schwer durch andere ersetzen lassen, sollten sie nicht zur Hand sein. Der Intuitive als Gegentyp zum Empfindungstyp fühlt sich stets von der Realität der Dinge bedrängt. Er übersieht die Realitäten, weil er hinter die Dinge sehen will. Da von außen betrachtet die Wahrnehmung der Dinge das Allerselbstverständlichste scheint, wird er oft verkannt. Er ist der »Mister Pief mit dem Perspektiv« bei Wilhelm Busch, der meint, »schön ist es auch anderswo und hier bin ich sowieso!« Er stolpert über den Stein, der vor seinen Füßen liegt, weil sein Interesse meilenweit davon weg ist. Der Empfindungstypus ist dagegen in unserer Kultur geschätzt. Er macht seine Arbeit zu aller Zufriedenheit, genau, zuverlässig, rasch, effizient. Ihm liegen die Objekte am Herzen, er liebt sie und ist im Umgang mit ihnen geschickt, kurzum ist er ein geschätzter Mitarbeiter. Seine Schwäche ist, dass er nicht über das Naheliegende hinaussieht. Er hat keine »Visionen«. Er bleibt allenfalls der biedere Handwerker. Aber ich be-
30
wundere stets ihre Fähigkeit, ein Werkstück in die Hand zu nehmen und es zu bearbeiten bzw. zu wissen, wie es bearbeitet sein will.
» Fühlen läuft ohne körperliche oder fassbar physiologische Manifestation ab, während die Emotion durch einen veränderten physiologischen Zustand gekennzeichnet ist. […] Emotionen sind sehr ansteckend, […] die eigentlichen psychischen Bazillenträger. […] Gefühle anderer Menschen hingegen berühren uns überhaupt nicht. Aus diesem Grund wirkt der differenzierte Fühltyp eher abkühlend auf seine Umgebung, während der emotionale Typ einen aufheizt, da er dauernd Feuerstrahlen aussendet. (18/I, 46)
«
Zum Unterschied zwischen Affekt und Gefühl:
» Zwischen Affekten und Gefühlen besteht ein Gradunterschied. Wird eine Wertvorstellung überwältigend stark, dann wird sie in einem bestimmten Augenblick […] zur Emotion. (18/I, 48)
«
Alle diese Funktionen können nun entweder in der extravertierten oder in der introvertierten Einstellung erscheinen. Das macht einen beträchtlichen Unterschied. Weil unsere Kultur extravertiert eingestellt ist, bevorzugt man den extravertierten Modus. Das gibt aber ein falsches Bild, denn im Grunde sind alle gleich wertvoll. Es kommt eher auf die ausübende Tätigkeit an, ob dieser Typus am rechten Platz ist. Man muss auch in Betracht ziehen, dass jeder nicht nur alle vier Funktionen, sondern auch beide Einstellungen aufweist. Ein Introvertierter kann bei Bedarf auch extravertieren; es kostet ihn einfach mehr Energie. Er wird es vielleicht nicht so gut machen wie der Extravertierte. Die Typen sind jene Funktion, welche einer bevorzugt lebt. Das Diagramm der Funktionen verdoppelt sich daher, indem die Wertigkeit eine Skala von der Hauptfunktion in der habituellen Einstellung
436
Kapitel 30 • Typologie
(8) Introvertiertes Denken (1) Extravertiertes Denken = Hauptfunktion Rationale
(3) Extravertierte Empfindung = Irrationale Achse 2. Hikfsfunktion (6) Introvertierte Empfindung
ICH
Achse
(2) Extravertierte Intuition = 1. Hikfsfunktion (7) Introvertierte Intuition
(4) Extravertiertes Gefühl = minderwertige Funktion (5) Introvertiertes Fühlen . Abb. 30.2
30
Funktionendiagramm 2 (beispielhaft)
über acht Stufen bis zu dieser entsprechenden Funktion in der entgegengesetzten führt. Die minderwertige Funktion ist nur die vierte oder fünfte, aber nicht die am wenigsten differenzierte (. Abb. 30.2). Marie-Louise von Franz pflegte zu sagen, dass diese achte Funktion bei ihr etwa so gut sei wie bei einem Regenwurm.
» Um ein annähernd vollständiges Bild eines psychisch reflektierten Objektes zu gewinnen, genügt eine ausschließlich intellektuelle Operation keineswegs. Dazu gehören außer den drei Aspekten des Gefühls (Wertung), der Empfindung (fonction du réel, Wirklichkeit) und der Intuition (Wahrnehmung der Möglichkeiten) auch die Reaktion des Unbewussten, nämlich das Bild des unbewussten assoziativen Kontextes. Das ist die Gesamtschau. (10, 626)
«
Die Reaktion des Unbewussten erfolgt hauptsächlich als Traum (mehr dazu 7 Kap. 37). Vorläufig geht es um die Orientierungsfunktionen des Bewusstseins. Soll man den Typus eines anderen Menschen bestimmen, so gelingt das meist relativ leicht. Schwierig wird es, wenn man von sich selber den Typus angeben soll. Erstens muss man bedenken, dass er nicht etwas ist, das das ganze Leben hindurch gleich bleibt. Mit der psy-
chischen Entwicklung verschiebt er sich von in Richtung ཷ. Zweitens ist in der ersten Lebenshälfte die Hauptfunktion dominierend, während sich in der zweiten Lebenshälfte die zweite oder dritte Funktion an deren Stelle schiebt, aber nie eine derartig monarchische Herrschaft erreicht wie die Hauptfunktion zuvor, sondern mehr ausgleichend mehrere Funktionen teilnehmen lässt. Die früher einseitige extra- oder introvertierte Einstellung wird ebenfalls gemildert, indem das früher Verdrängte mehr Mitspracherecht erhält. Dadurch ist der Typus nicht mehr so prononciert. Drittens erscheint einem selber die Hauptfunktion unproblematisch, weshalb sie einem selber gar nicht auffällt. Die minderwertige Funktion dagegen, weil sie teilweise autonom funktioniert, fällt einem eher auf. Darum bezeichnen sich die meisten Menschen, wenn sie gefragt werden, als den Typus, welcher der minderwertigen Funktion entspricht. Es bedarf oft einer längeren Auseinandersetzung mit den Funktionen bei sich selber, um seinen eigenen Typus zu diagnostizieren. Viertens ist die Dominanz nur einer Hauptfunktion nicht die Regel. Oft ist die erste Hilfsfunktion fast ebenso tüchtig, so dass es aussieht, als ob zwei Hauptfunktionen zwei minderwertigen Funktionen gegenüberständen. Um herauszu-
437 30.2 • Funktionen
finden, welches wirklich die Hauptfunktion sei, kann man sich besser fragen, welche einem am meisten Mühe mache. Die Gegenfunktion ist dann die Hauptfunktion. Es ist schwieriger, zu ermessen, welche besser ist, als zu beurteilen, welche unentwickelter ist. Der Leser sieht daraus, dass das Problem des Typus etwas äußerst Lebendiges ist und keineswegs etwas Schematisches. > Die verschiedenen Funktionen stehen ständig miteinander in Wechselwirkung und funktionieren nicht isoliert.
» Die gegensätzlichen Einstellungen (von Extraund Introversion) sind zunächst nichts anderes als gegensätzliche Mechanismen. […] Eine rhythmische Abwechslung beider psychischen Tätigkeitsformen dürfte dem normalen Lebensverlauf entsprechen. […] Wird das Überwiegen des einen Mechanismus in irgendeiner Weise chronisch, so entsteht daraus ein Typus, nämlich eine habituelle Einstellung. […] Eine typische Einstellung bedeutet Überwiegen des einen Mechanismus. (6, 6)
«
Der Typus ist daher stets nur relativ, d. h. eine Einstellung oder Funktion ist prominenter als die andere. Es entsteht nur eine relative Einseitigkeit.
» Alles, was normalerweise in der äußeren Einstellung sein sollte, dort aber auffallenderweise fehlt, findet sich unzweifelhaft in der inneren Einstellung. Dies ist eine Grundregel, die sich mir immer wieder bestätigte. (8, 808)
«
Wir wollen nun auf einzelne Details der Typen eingehen, nachdem ich diese in ihrer Gesamtheit skizziert habe.
» Der Introvertierte entdeckt die unbewussten Inhalte in sich selber, der Extravertierte aber als Projektion im menschlichen Objekt. (7, 373)
«
30
Wenden wir uns dem Denktypus zu, so ist die Richtung des Denkens verschieden.
» Wie ein Darwin etwa den normalen extravertierten Denktypus darstellen könnte, so könnte man beispielsweise Kant als den gegenüberstehenden, normalen introvertierten Denktypus bezeichnen. Wie jener in Tatsachen spricht, so beruft sich dieser auf den subjektiven Faktor. Darwin drängt nach dem weiten Feld objektiver Tatsächlichkeit, Kant dagegen reserviert sich eine Kritik des Erkennens überhaupt. (6, 632)
«
» Beim introvertierten Typus tendiert alles zum Verschwinden und zur Verborgenheit. (6, 633) « Darum ist die Beschreibung des introvertierten Typus recht schwierig. Er wird von seiner Umgebung als undurchsichtig eingeschätzt. Besteht eine positive Beziehung zu ihm, wird er als tiefsinniger Denker, Mystiker, Philosoph oder ähnlich überschätzt. Besteht eine negative Beziehung zu ihm, wird er als Eigenbrödler, Langweiler, unsozial unterschätzt.
» Als persönlicher Lehrer hat er geringen Einfluss, da ihm die Mentalität seiner Schüler unbekannt ist. […] Er ist ein schlechter Lehrer, da er während des Lehrens über den Lehrstoff denkt und sich nicht mit dem Vorstellen desselben begnügt. (6, 634)
«
Dem steht der extravertierte Denktypus gegenüber, dessen
» … Denken positiv ist, das heißt es erschafft. […] Sein Urteil ist im allgemeinen synthetisch. […] Sein Gedanke ist progressiv, erhält zeugenden Charakter. (6, 592)
«
Das beschreibt natürlich nicht den ganzen Typus, sondern bloß gewisse Eigenheiten.
438
Kapitel 30 • Typologie
» Ein Gedachtes hat nur Sinn, wenn es sich auf eine mögliche oder aktuelle Wirklichkeit bezieht. (11, 280)
«
Das Denken hat unterschiedliche Qualitäten.
» Während das gerichtete Denken ein durchaus bewusstes Phänomen ist, lässt sich dasselbe vom Phantasiedenken nicht behaupten. (5, 39)
«
Letzteres stellt sich bei einem »abaissement du niveau mental« ein, z. B. vor dem Einschlafen, bei Übermüdung, unter Drogen. In archaischen Zeiten hat man noch gar nicht gedacht, sondern nahm Gedanken wie Objekte einfach wahr.
» Gedanke war Objekt der inneren Wahrneh-
30
mung, nicht gedacht, sondern als Erscheinung empfunden, sozusagen gesehen oder gehört. Gedanke war wesentlich Offenbarung, nichts Erfundenes, sondern Aufgenötigtes oder durch seine unmittelbare Tatsächlichkeit Überzeugendes. Das Denken geht dem primitiven Ichbewusstsein voraus, und dieses ist eher dessen Objekt als dessen Subjekt. (9/I, 69)
«
In seinen Erinnerungen erzählt Jung, dass ihm im Alter die Gedanken ähnlich als Objekte zukamen.
» Ich habe auch eingesehen, dass man das in einem selbst sich ereignende Denken als etwas tatsächlich Vorhandenes annehmen muss, jenseits aller Bewertung. Die Kategorien von wahr und falsch sind zwar stets vorhanden, stehen aber als unverbindlich daneben; denn das Vorhandensein der Gedanken ist wichtiger als ihre subjektive Beurteilung. Als vorhandene Gedanken sind aber auch Urteile nicht zu unterdrücken, da sie mit zur Erscheinung der Ganzheit gehören. ([1] S. 301)
«
Hier schließt sich der Kreis: Dem archaischen Menschen war der Gedanke Objekt, das er von innen wahrnahm, weil es noch kein Ichbewusstsein gab, das Gedanken zu produzieren vermochte; sie waren das objektiv Gegebene. Dem alten Menschen, der mehr im objektiven Selbst als im Ich lebt, kommen die Gedanken wieder als Objekte entgegen, als nicht von einem Ich hervorgebrachtes Denken. Jung hat sich oft gefragt, ob es außer dem Ichbewusstsein ein Zentrum gebe, das eine Art Denken, Absicht, Wille und Vorstellungen habe. Vielleicht ist es das Selbst. Es ist doch merkwürdig, dass wir dem Selbst zutrauen, dass es uns in eine gewisse Richtung bringen will, dass es mit uns gewisse Absichten hat, dass wir es in der Projektion personalisieren, dass es Persönlichkeit hat, mit welcher wir uns in Beziehung setzen. Wir begegnen ihm als einer übergeordneten Persönlichkeit, welche unser Leben zu bestimmen vermag. Wir wenden uns mit unseren Sorgen und Nöten an das Selbst in der Hoffnung, es gnädig und hilfreich zu stimmen. Wir trauen ihm zu, dass es unser Schicksal zum Guten oder zum Gegenteil wenden kann. Kurzum, wir behandeln es und verhalten uns zu ihm als einer mächtigeren Persönlichkeit, einer dem Ichbewusstsein weit überlegenen Instanz. Ob ihr und inwieweit ihr Bewusstsein eigen ist, haben z. B. die Gnostiker sich gefragt. Ist es das »blinde Walten der Natur« oder ist ein Bewusstsein vorhanden, das je nach Bedarf von seinen Regeln abweichen kann? In meinem Buch »Zeitenwende« [6] habe ich versucht, die Frage »Ist sich der Schöpfer seiner Schöpfung bewusst?« anhand gnostischer Texte zu erörtern. Jung hat sich eingehend mit dieser Frage in »Antwort auf Hiob« (11, S. 363) und in seinen Erinnerungen ([1] S. 337) auseinandergesetzt. Wir kehren wieder zum Thema Denken zurück!
30
439 30.2 • Funktionen
» Das Vermögen des gerichteten Denkens bezeichne ich als Intellekt, das Vermögen des passiven oder nicht gerichteten Denkens bezeichne ich als intellektuelle Intuition. […] eine irrationale Funktion. (6, 702)
«
Diese intellektuelle Intuition ist deshalb irrational, will sie nicht über das bewusste Denken verläuft, das die Vorstellungsinhalte nach vernünftigen Normen unter Begriffen anordnet, sondern mehrheitlich über das Unbewusste verläuft, das die Inhalte nach seinen eignen, mir irrational scheinenden Prinzipien anordnet. Man sieht an diesem Beispiel, dass die erste Hilfsfunktion oder sogar die minderwertige Funktion mit der Hauptfunktion verschmolzen sein kann, so dass diese nicht rein in Erscheinung tritt. So gibt es sogar ein gefühlsmäßiges Denken, besonders bei Frauen des Gefühlstypus, das von der Hauptfunktion, dem Fühlen, »verunreinigt« ist. Sie kann etwa sagen: »Ich kann doch nicht etwas denken, das ich nicht fühle!«
» Das introvertierte Bewusstsein sieht zwar die äußeren Bedingungen, erwählt aber die subjektive Determinante als die ausschlaggebende […] und zwar in Form eines Reservates des Ich. […] Die Welt ist nicht nur an und für sich, sondern auch so, wie sie mir erscheint. (6, 621)
«
Die Unterschätzung des Introvertierten in unserer Kultur hat stets auch damit zu tun, dass man vergisst, dass jede Funktion nicht nur ein Objekt, sondern ebenso unerlässlich ein Subjekt hat (6, 622). Es gibt keine Welt, wenn nicht einer sagt: »Ich erkenne…«, womit er die subjektive Beschränkung aller Erkenntnis ausspricht.
»
Der Intuitive sieht das Objekt, das jedermann sehen kann, einfach nicht und geht darüber hinweg, ähnlich wie der Empfindungstypus; nur sieht dieser die Seele des Objektes nicht. Dafür rächt sich später das Objekt und zwar in Form
von hypochondrischen Zwangsideen, Phobien und allen möglichen Körperempfindungen. (6, 615)
«
Für den Intuitiven ist es typisch, dass er von allerlei Körperleiden geplagt ist, die keine somatische Ursache haben, um ihn auf seine körperliche Existenz hinzuweisen, die er leicht vergisst.
» Die Empfindung oder das Empfinden ist diejenige psychologische Funktion, welche einen physischen Reiz der Wahrnehmung vermittelt. Empfindung ist daher identisch mit Perzeption. (6, 711)
«
Das Empfinden ist meist Sinnesempfindung, und man könnte meinen, das sei nur in der extravertierten Einstellung möglich.
» Die introvertierte Empfindung vermittelt ein Bild, welches weniger das Objekt reproduziert, als dass es das Objekt überkleidet mit dem Niederschlag uralter und zukünftiger subjektiver Erfahrung. Dadurch wird der bloße Sinneseindruck entwickelt nach der Tiefe des Ahnungsreichen, während die extravertierte Empfindung das momentane und offen zutage liegende Sein der Dinge erfasst. […] Das introvertierte Empfinden erfasst daher mehr die Hintergründe der physischen Welt als ihre Oberfläche. (6, 649)
«
Man sieht, dass beim introvertierten Typus der primäre Sinneseindruck sehr stark durch den subjektiven Faktor modifiziert wird. Das geschieht nicht nur beim Empfindungstyp, sondern in starkem Maße auch beim Intuitiven.
» Während die extravertierte Intuition jene charakteristische Findigkeit, die »gute Nase« für alle Möglichkeiten der objektiven Wirklichkeit besitzt, hat die unbewusste, archaische Intuition ein Witterungsvermögen für alle zweideutigen, düsteren, schmutzigen und gefährlichen Hintergründe der Wirklichkeit. […] Sie hat etwas
440
Kapitel 30 • Typologie
geradezu gefährlich Untergrabendes, das oft in grellem Kontrast steht zu der wohlwollenden Harmlosigkeit des Bewusstseins. (6, 654)
«
Der subjektive Faktor verändert die äußeren Objekte, die wir naiverweise als so zu sein erachten, wie sie uns erscheinen. Wir glauben fest an die Erscheinungswelt, wo mehr Skepsis durchaus angebracht wäre.
» Wie die äußeren Objekte nur ganz relativ so sind, wie wir sie perzipieren, so sind auch die Erscheinungsformen der inneren Objekte relativ, Produkte ihrer uns unzugänglichen Essenz und der Eigenart der intuitiven Funktion. (6, 655)
«
30
Der Extravertierte unterdrückt den subjektiven Faktor so viel wie möglich, während der Introvertierte ihn so viel wie möglich frei entfalten lässt. Für ihn hat der subjektive Faktor etwas Schöpferisches. Er bleibt nicht beim Eindruck stehen, den die äußere Welt erzeugt, sondern belebt ihn durch eigene schöpferische Züge. Von einem extravertierten, vernünftigen Standpunkt aus ist das völlig unnütz. Von einem höheren Standpunkt dagegen ist das belebend, bewegend und bereichernd. Menschen mit einer solchen Einstellung sind Kulturförderer und Erzieher besonderer Art. Denn die Eltern wirken nicht durch das, was sie den Kindern predigen, und ebenso die Lehrer nicht durch eine Methode, sondern durch das, was sie leben und sind. Und man möchte anfügen, dass das genauso für den Analytiker gilt.
» Aber man glaubt so sehr an die Methoden, dass, wenn nur die Methode gut ist, auch der Lehrer, der sie ausübt, dadurch geheiligt erscheint. […] Der Schüler lernt schon bald, dass der leerste Kopf, der eine Methode gut nachbeten kann, der beste Schüler ist. (6, 665)
«
Die Typologie zu kennen und zu verstehen wäre daher für die Didaktik äußerst wichtig, aber sie
wird einstweilen noch nicht zur Kenntnis genommen, weil sie nicht aus Lehrsätzen besteht, die man auswendig lernen kann, sondern ein lebendiges System darstellt, das jedermann zuerst bei sich selber kennen lernen muss.
» Eine der Fähigkeiten des Bewusstseins ist, […] die Feststellung der raumzeitlichen Zusammenhänge wenigstens annähernd zu erkennen, die Intuition. Diese ist eine Wahrnehmungsfunktion, welche das Subliminale erfasst, nämlich die mögliche Beziehung zu Objekten, die nicht im Blickfeld erscheinen, und deren möglichen Wandlungen in Vergangenheit und Zukunft, über welche das Objekt keine Aussagen macht. Intuition ist ein unmittelbares Innewerden von Zusammenhängen, welche von den drei anderen Funktionen im Moment der Orientierung nicht festgestellt werden können. (8, 257)
«
Ahnung oder Intuition ist
» … die Wahrnehmung der in einer Situation liegenden Möglichkeiten. (8, 292) « Die Intuition ist eine derart rätselhafte Funktion, dass sich Jung mit ihr durch sein ganzes Werk hindurch beschäftigt hat und immer aufs Neue dieses Rätsel zu formulieren versuchte.
» Das Bewusstsein unterliegt nur allzu leicht unbewussten Einflüssen, und diese sind oft genug wahrer und klüger als das bewusste Denken. […] Ich habe die Intuition als »Wahrnehmung via Unbewusstes« definiert. (9/I, 504)
«
Das Unbewusste weiß mehr als das Bewusstsein, sowohl von der Vergangenheit, eine Art absolutes Gedächtnis, als auch für die Zukunft wegen der Teleologie der Individuation. Das ist der Grund, weshalb die Intuition rückblickend die Zukunft vorausahnen kann.
30
441 30.2 • Funktionen
» Ein Arzt, der den Körper behandelt, muss den Körper kennen; ein Arzt, der die Seele behandelt, muss die Seele kennen. Wer die Seele nur unter dem Gesichtswinkel der Sexualität oder dem der persönlichen Machtgier betrachtet, kennt nur einen Teil der menschlichen Seele. […] Das Unbewusste hat eine kräftige, bilderreiche Sprache. Unsere Träume beweisen es. Das ist aber die primitive Sprache, wie sie von jeher war – ein getreues Bild der reichen, farbenfrohen Welt. Von dieser Beschaffenheit ist auch das Unbewusste; es ist kompensatorisch, ein ergänzendes Spiegelbild der Welt. […] Das Unbewusste ist auf jeden Fall wirklich, denn es wirkt. […] Es ist daher so, wie wenn unser Bewusstsein zwischen zwei Welten oder Wirklichkeiten stünde. […] Die eine Hälfte der Wahrnehmungen fließt ihm zu durch die Sinne, die andere durch die Intuition, die Anschauung innerer, vom Unbewussten angeregter Vorgänge. Das äußere Weltbild lässt uns alles verstehen als Wirkung der treibenden physikalischen und physiologischen Kräfte, das innere Weltbild aber lässt uns alles verstehen als Wirkung geistiger Wesen. […] Die beiden Weltbilder ertragen einander nicht, und es gibt keine Logik, die sie vereinigen könnte: das eine Bild beleidigt unser Gefühl, das andere unseren Verstand. (10, 23)
«
Das ist der Grund, weshalb Extra- und Introversion nicht nur in unserer Seele, sondern vor allem in der Bevölkerung einander nicht vertragen, wo jede Seite die Wahrheit für sich in Anspruch nimmt, wie wenn es eine ausschließliche Wahrheit gäbe.
» Der Geist besitzt »intuitive (schnell erfassende) Weisheit. (heißt es im tibetischen Buch der großen Befreiung) Hier wird der »Geist« als unmittelbares Innewerden des »ersten Eindruckes« aufgefasst, der die ganze Summe der früheren, auf instinktiven Grundlagen beruhenden Erfah-
rung übermittelt. […] Der intuitive Geist ist dafür bekannt, dass er die Tatsachen nicht beachtet, wohl aber die Möglichkeiten. (11, 804)
«
Ich muss hier noch ein paar Bemerkungen zum Gefühl anfügen, das als rationale Funktion oft nicht verstanden wird. Rational heißt hier, dass sie, wie das Denken, urteilt. Ihr Urteil beruht aber nicht auf logischen Kriterien, sondern anscheinend subjektiven, weshalb man glaubt, ein Denkurteil sei objektiv, das Gefühlsurteil dagegen subjektiv. Ein derartiges Missverständnis stammt von der eigenen unentwickelten Gefühlsfunktion des Denktypus. Doch gerade dieser Typus müsste einsehen, dass eine Einsicht ohne Gefühlsbeteiligung noch keine echte Einsicht ist.
» Es fällt dem »Geist« (der neben anderem auch ein großer Betrüger wie Mercurius ist) nicht schwer, in überzeugender Weise ein Heer von Sünden zuzugeben und damit auch noch das gefälschte Gefühl einer ethischen Haltung zu verbinden, ohne im geringsten einer wirklichen Einsicht nahezukommen, welche nämlich nie ohne Beteiligung des Gefühls erlangt werden kann. Dieses wird eben vom Intellekt nur da zugelassen, wo es ihm passt. (14/I, 326)
«
Dass sein Gefühl aber autonom ist, merkt er spätestens bei einer Enttäuschung. Dann kann er sich lange vorsagen, es sei nicht der Rede wert, es lohne sich um diese Person nicht, das Gefühl belehrt ihn eines Besseren.
» Die Enttäuschung, als ein Schock für das Gefühl [hier Emotion], ist nicht nur die Mutter der Bitterkeit, sondern auch die mächtigste Triebfeder der Gefühlsdifferenzierung. Das Versagen eines Lieblingsplanes, das der Erwartung nicht entsprechende Benehmen einer geliebten Person usw. bildet den Anstoß entweder zu einem mehr oder weniger brutalen Affektausbruch oder zu einer Modifikation und Anpassung des
442
Kapitel 30 • Typologie
Gefühls, und damit zu einer höheren Entwicklung desselben. Diese gipfelt in der Weisheit, und zwar dann, wenn sich zum Gefühl auch die Nachdenklichkeit und die verstandesmäßige Erkenntnis gesellen. Weisheit ist nie gewalttätig, und darum tut in ihr das eine dem anderen auch keine Gewalt an. (14/I, 328)
Literatur
In dieser tiefsinnigen und beherzenswerten Passage scheint es, als ob Jung ständig die Fühlfunktion und den Affekt durcheinander werfe. Tatsächlich stehen sie nahe beieinander und können ineinander übergehen, wie ich oben schon erläutert habe.
Sekundärliteratur
Primärliteratur (Quellen) 1 2
«
» Unter Affekt [= Emotion] ist ein Gefühlszu-
30
stand zu verstehen, der einerseits durch merkbare Körperinnervation, anderseits durch eine eigentümliche Störung des Vorstellungsablaufes gekennzeichnet ist. […] Ich unterscheide […] das Gefühl vom Affekt, obschon sein Übergang zum Affekt fließend ist, indem jedes Gefühl, wenn es eine gewisse Stärke erlangt, Körperinnervationen auslöst und damit zum Affekt wird. (6, 681)
«
Jung ist zu einer derartigen, von seinem damaligen Chef Bleuler abweichenden Auffassung deswegen berechtigt, weil er Assoziationsstudien mit Frederick Peterson zusammen mit dem Galvanometer, welches den Hautwiderstand misst, und dem Pneumographen, welcher die Atmung aufzeichnet, durchgeführt hat (2, S. 512–575). Mit diesen Apparaturen konnten sie die Reaktionen des sympathischen Nervensystems bei psychischen Reaktionen nachweisen. Das führt mittels des Assoziationsexperiments zur vertieften Erkenntnis der Funktionsweise der Komplexe, welche stets von Körperreaktionen begleitet sind. Mit diesen Apparaturen konnten sie eben auch Reaktionen des Körpers nachweisen, die noch nicht die Schwelle einer Sinnesempfindung erreicht hatten, also subliminal waren. Darum kann er behaupten, es bestehe nur ein gradueller Unterschied zwischen Gefühl und Emotion.
3
4
5 6 7
Jaffé A (Hrsg.) (1971) Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G. Jung. Walter, Olten Jung CG (1921) Psychologische Typen. GW 6. Zürich. Ergänzt durch Index 1930. Gesammelte Werke 6, 1960. Revidierte Auflage 91960, revidierte Auflage 101967, 141981
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443
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Seele – 444
31.2
Persona – 450 Literatur – 454
A. Ribi, Neurose – an der Grenze zwischen krank und gesund, DOI 10.1007/978-3-642-16148-3_31, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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Kapitel 31 • Seele und Persona
Warum habe ich hier die Seele mit der Persona zusammengestellt? Während ich Animus und Anima vom Beziehungsaspekt her, unter dem Thema Syzygie (Paarungsmotiv), bereits beleuchtet habe (7 Kap. 16), gehe ich hier nur dem Begriff »Seele« nach. Die Frage sollte im Laufe meiner Ausführungen beantwortet werden, indem die Seele das Antlitz darstellt, das wir dem Unbewussten, und die Persona jenes, das wir der Sozietät zeigen.
zusammenhängt. Daher kommt es wohl auch, dass die primitive Anschauung der Seele einen unsichtbaren Hauchkörper gibt. (8, 664)
«
» Das Psychische erscheint als Lebensquelle, als primum movens, als eine geisterhafte, aber objektive Gegenwart. […] Das Psychische ist für die Urerfahrung nicht der Inbegriff alles Subjektiven und Willkürlichen, wie für uns, sondern es ist ein Objektives, aus sich selbst Lebendes und auf sich selbst Beruhendes. (8, 666)
«
31.1
Im Kapitel »Über die Archetypen des kollektiven Unbewussten« (1934) kommt er nochmals auf diese Thematik zurück.
Seele
Jung hat sich in zwei verschiedenen Zusammenhängen der Etymologie des Wortes »Seele« zugewandt. Im Aufsatz »Das Grundproblem der gegenwärtigen Psychologie« (1931) schreibt er:
» Die alte Anschauung war, dass die Seele es-
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sentiell das Leben des Körpers sei, der Lebenshauch, eine Art Lebenskraft, die während der Schwangerschaft oder Geburt oder Zeugung in die Physis, in die Räumlichkeit, eintrete und mit dem letzten Atemzug den sterbenden Körper wieder verlasse. Die Seele ist an und für sich ein unräumliches Wesen, und weil sie vor dem körperlichen Dasein und nach ihm ist, so ist sie auch zeitlos und das heißt praktisch unsterblich. Diese Anschauung ist natürlich, vom Standpunkt der modernen wissenschaftlichen Psychologie aus betrachtet, reine Illusion. (8, 662)
«
Er zitiert diese, weil die Namengebung der Menschen ihre Erfahrungen mit einer Sache recht anschaulich wiedergeben. Das möchte ich dem Leser ersparen.
» Diese Zusammenhänge zeigen deutlich, wie im Lateinischen, Griechischen und Arabischen die Namengebung für Seele mit der Vorstellung von bewegter Luft, dem »kalten Geisterhauch«,
» Anima heißt doch Seele und bezeichnet etwas sehr Wunderbares und Unsterbliches. […] Man darf nicht vergessen, dass diese Art Seele eine dogmatische Vorstellung ist, welche den Zweck hat, etwas unheimlich Selbsttätiges und Lebendiges zu bannen und einzufangen. (9/I, 55)
«
Es ist daher sorgfältig zu beachten, dass Jungs Begriff der Seele ein empirischer ist und in wesentlichen Punkten vom allgemein bekannten und theologischen abweicht.
»
Seele ist das Lebendige im Menschen, das aus sich selbst Lebende und Lebensverursachende. […] Die Seele verführt die nicht lebenwollende Trägheit des Stoffes mit List und spielerischer Täuschung zum Leben. […] Seele zu haben, ist das Wagnis des Lebens, denn die Seele ist ein lebenspendender Dämon, der sein elfisches Spiel unterhalb und oberhalb der menschlichen Existenz spielt. (9/I, 56)
«
» Die Anima ist keine dogmatische Seele, keine anima rationalis, welche ein philosophischer Begriff ist, sondern ein natürlicher Archetypus, der in befriedigender Weise alle Aussagen des Unbewussten, des primitiven Geistes, der Sprachund Religionsgeschichte subsumiert. […] Sie ist
445 31.1 • Seele
immer das Apriori von Stimmungen, Reaktionen, Impulsen und was es sonst an psychischen Spontaneitäten gibt. Sie ist ein Lebendes aus sich, das uns leben macht. (9/I, 57)
«
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welche uns den Kosmos in fast unvorstellbarem Maße nähergerückt hat. […] Alle Wissenschaft jedoch ist Funktion der Seele, und alle Erkenntnis wurzelt in ihr. Sie ist das größte aller kosmischen Wunder und die conditio sine qua non der Welt als Objekt. (8, 357)
«
Das sind nun bedeutungsschwere Sätze, die es zu beherzigen gilt, will man wirklich verstehen, was Jung mit Anima (groß geschrieben!) meint. Selbstverständlich genügt auch ein intellektuelles Verstehen oder ein Nachempfinden nicht, sondern erst die eigene seelische Erfahrung. Das gilt nota bene für alles in diesem Buch Beschriebene.
Man gibt sich zu wenig Rechenschaft, dass alle sog. »objektiven Wissenschaften« die Seele zur Grundlage haben. Selbst die experimentellen Naturwissenschaften fußen auf ihren Voraussetzungen.
» In der archaischen Welt hat alles Seele: die
» Endliches wird niemals Unendliches erfassen.
Seele des Menschen, oder besser gesagt, die Seele der Menschheit, das kollektive Unbewusste; denn der Einzelne hat noch keine Seele. (10, 136)
[…] Die Seele ist die einzige unmittelbare Welterscheinung und daher auch die unerlässliche Bedingung einer allgemeinen Welterfahrung. […] Die einzigen unmittelbar erfahrbaren Dinge der Welt sind die Inhalte des Bewusstseins. (8, 283 und 284)
«
Der archaische Mensch lebt noch in einer »participation mystique« mit seiner Umwelt. Daher ist diese belebt, beseelt. Doch erst mit Unterscheidung von seiner Umwelt, mit dem Entstehen von Subjekt und Objekt, erhält der Mensch eine Seele. Dieser Moment wird in der Taufe rituell wiederholt: der Mensch löst sich aus den Banden der Natur und wird ein eigenständiges Wesen [6].
» Von der Seele geht schlechthin alle menschliche Erfahrung aus, und zu ihr kehren in letzter Linie alle gewonnenen Erkenntnisse zurück. Die Seele ist Anfang und Ende jeglichen Erkennens. Ja, sie ist nicht nur das Objekt ihrer Wissenschaft, sondern auch ihr Subjekt. (8, 261)
«
Das gibt der Psychologie eine Sonderstellung unter den Wissenschaften, denn sie ist sozusagen die Mutter aller anderen Wissenschaften, deren Basis, doch gleichzeitig ist sie die zweifelbehaftetste, weil sie sich nicht experimentell verifizieren lässt.
» Die Versuche zur Erfassung der Seele in den letzten drei Jahrhunderten gehören mit zu jener gewaltigen Ausdehnung der Naturerkenntnis,
«
Unsere abendländische Kultur ist dermaßen extravertiert, dass man diese elementaren Tatsachen völlig übersieht.
» Mit der Entdeckung der Möglichkeit eines unbewussten seelischen Bereiches war die Gelegenheit zu einem großen Abenteuer des Geistes geschaffen, und man hätte erwarten können, dass ein leidenschaftliches Interesse sich dieser Möglichkeit zuwenden würde. […] Niemand zog den Schluss, dass, wenn tatsächlich das Subjekt des Erkennens, nämlich die Seele, auch eine dunkle, dem Bewusstsein nicht unmittelbar zugängliche Existenzform besitzt, alle unsere Erkenntnis in einem unbestimmbaren Grade unvollständig sein muss. (8, 358)
«
Es ist wirklich erstaunlich, dass gerade die Wissenschaften, welche sich um Genauigkeit und Vollständigkeit bemühen, noch weitgehend der Tiefenpsychologie abwehrend gegenüber stehen. Eine Ausnahme machen vielleicht einzelne Physiker, die sich mit Elementarteilchen beschäftigen.
446
Kapitel 31 • Seele und Persona
» Ziehen wir die Hypothese des Unbewussten
» Die Seele ist nicht von heute! Ihr Alter zählt
ernstlich in Betracht, so müssen wir einsehen, dass unser Weltbild nur als vorläufig gelten darf; denn wenn man am Subjekt des Wahrnehmens und Erkennens eine so grundlegende Veränderung wie die einer ungleichen Verdoppelung vollzieht, so muss ein Weltbild, das von dem bisherigen verschieden ist, entstehen. (8, 370)
viele Millionen Jahre. Das individuelle Bewusstsein aber ist nur der saisongemäße Blüten- und Fruchtständer, der aus dem perennierenden unterirdischen Rhizom emporwächst, und dieser befindet sich in besserer Übereinstimmung mit der Wahrheit, wenn er die Existenz des Rhizoms mit in seine Rechnung einbezieht, denn das Wurzelgeflecht ist aller Mutter. (5, S. 13)
«
Da die Seele ein umfassendes System ist, in welchem auch das Bewusstsein bloß einen Teil darstellt,
» … wird keine einfache Triebtheorie jemals imstande sein, die menschliche Seele, dieses gewaltige und geheimnisvolle Ding, zu erfassen und daher auch nicht ihren Ausdruck, den Traum. (8, 527)
«
» Ich denke bei der Psychologie immer an den ganzen Umfang der Seele, und da ist Philosophie und Theologie und so vieles andere mit dabei. (8, 525)
«
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» Man hat meiner Richtung das »Philosophische« (gar »Theologische«) direkt zum Vorwurf gemacht, in der Meinung, dass ich »philosophisch« erklären wolle und dass meine psychologischen Auffassungen »metaphysisch« seien [z. B. die Archetypen]. Ich gebrauche aber gewisse philosophische, religionswissenschaftliche und historische Materialien ausschließlich zur Darstellung seelischer Zusammenhänge. […] Die Ideen des moralischen Gesetzes und der Gottheit gehören zum unausrottbaren Bestand der menschlichen Seele. (8, 528)
«
Man unterschätzt immer noch die Bedeutung der Seele; einerseits ist man fasziniert, wenn man von »der Seele« oder gar der »unsterblichen Seele« spricht, andererseits missversteht man sie als identisch mit dem Umfang des Bewusstseins.
«
Wir täuschen uns leicht über die Zeiträume menschlicher Geschichte: Die frühesten Hochkulturen entstanden vor etwa 5000 Jahren. Damals sprang der Mensch vom prähistorischen Stadium fast über Nacht in einen zivilisierten Zustand; und das wohl auch nur eine dünne soziale Oberschicht, während die breite Masse im früheren Zustand verblieb. Davor lagen hunderttausende von Jahren Steinzeit, in welcher die Menschen wohl ebenso klug und angepasst an ihre Umwelt waren wie die zivilisierten.
» Die Kulturschicht, diese sympathische Patina, dürfte also ganz außerordentlich dünn und delikat sein im Verhältnis zu den mächtig ausgebildeten primitiven Schichten der Seele. (10, 16)
«
Der prähistorische Mensch brauchte keine Schrift, denn:
» Die Seele ist eine Bilderfolge in weitestem Sinne, aber nicht ein zufälliges Neben- und Nacheinander, sondern ein über alle Maßen sinnreicher und zweckmäßiger Aufbau, eine in Bildern ausgedrückte Anschaulichkeit der Lebenstätigkeiten. Und ebensosehr nun, wie der lebensbereite Stoff des Körpers des Seelischen bedarf, um lebenstätig zu sein, so muss auch die Seele den lebendigen Körper voraussetzen, damit ihre Bilder leben können. (8, 618)
«
447 31.1 • Seele
» (Sind Seele und Körper vielleicht nur) eine für die Erkenntnis unerlässliche Unterscheidung eines und desselben Tatbestandes in zwei Ansichten?« (8, 619)
«
Wer dächte bei dem Bilderreichtum der Seele und der Schriftlosigkeit dieser Menschen nicht an die Höhlenmalereien und Felszeichnungen der prähistorischen Menschen! Das waren wohl ihre Möglichkeiten, dem Seelischen sichtbaren Ausdruck zu geben.
» Kann man sich mit dem Mysterium aussöhnen, dass die Seele das innerlich angeschaute Leben des Körpers und der Körper das äußerlich geoffenbarte Leben der Seele ist, dass die beiden nicht zwei, sondern eins sind, so versteht man auch, wie das Streben nach Überwindung der heutigen Bewusstseinsstufe durch das Unbewusste zum Körper führt, und umgekehrt. (10, 195)
«
> Die Seele lebt in Bildern und die Bilder sind der Ausdruck der Seelentätigkeit. Daher hat der Mensch seit undenklichen Zeiten sich in Bildern mitgeteilt. Sie sind die Nahrung der Seele.
» Nur die lebendige Gegenwart der ewigen Bilder vermag der Seele jene Würde zu verleihen, die es dem Menschen wahrscheinlich macht und ihm moralisch ermöglicht bei seiner Seele auszuharren und überzeugt zu sein, dass es sich lohnt, bei ihr zu bleiben. Nur dann wird ihm einleuchten, dass der Konflikt ihm gehört, dass der Zwiespalt sein leidensvoller Reichtum ist, den man nicht weggibt, indem man andere angreift, und dass, wenn das Schicksal von ihm Schuld verlangt, es Schuld an ihm selber ist. Damit anerkennt er den Wert seiner Seele. (14/II, 175)
«
Es geht also nicht um irgendwelche Bilder, sondern um die urtümlichen Bilder. Die sind es wohl auch, die schon der prähistorische Mensch
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an seinen Wänden verewigt hat, so wie man später die Kirchenwände damit zierte, weil sie aus seiner Seele stammen und zu ihr sprechen. Jung schreibt in einem Brief vom 25.IV.1952 an Vera von Lier-Schmidt Ernsthausen:
» Ich kann nichts erzwingen, sondern mich nur bemühen, alles dafür und nichts dagegen zu tun. Die Seele ist für mich etwas Objektives, von dem Wirkungen auf mein Bewusstsein ausgehen. Das Unbewusste (die objektive Psyche) gehört nicht mir, sondern ich gehöre ihm zu Recht oder zu Unrecht. Durch das Bewusstmachen desselben trenne ich mich von ihm, und indem ich es objektiviere, kann ich es bewusst integrieren. Damit wird meine Persönlichkeit vervollständigt. ([1] II, S. 268)
«
Das zeigt den großen Respekt, den er der Seele zollt, was auch seine therapeutische Haltung bezeugt.
» Der Nährboden der Seele ist das natürliche Leben. […] Von der Lebensmitte an bleibt nur der lebendig, der mit dem Leben sterben will. […] Werden und Vergehen ist dieselbe Kurve. (8, 800)
«
Da muss man sich wieder an das Rhizom, den Wurzelstock, erinnern, dem die Wechselfälle des Lebens nichts anzuhaben vermögen. Wir behandeln hier nicht den Körper, sondern die Seele. Und darum müssen wir auch eine andere [bildhafte] Sprache reden als die der Körperzellen und Bakterien, und ebenso müssen wir eine Haltung haben, welche die Gefahr ermisst und sich ihr gewachsen erweist. Sobald man nämlich die Seele berührt, werden die in ihr latenten Kräfte aktiv. Betreibt man Psychotherapie ohne Seele, z. B. nach einer Methode oder Theorie, so ist sie meistens wirkungslos. Betreibt man aber eine Psychotherapie, welche die Seele berührt, so besteht die Gefahr einer Auflösung oder der Überschwemmung des Bewusstseins.
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Kapitel 31 • Seele und Persona
» Die Seele ist die Mutterstätte alles Handelns und damit alles von Menschen gewollten Geschehens! Es wäre nicht nur schwierig, sondern geradezu unmöglich, ein beliebig begrenztes Stückchen aus dem unendlich weiten Lebensgebiet der Seele herauszuschneiden und zum Privatspielplatz einer sogenannten Psychotherapie zu erklären. […] Es ist in der Tat unmöglich, die Seele und die menschliche Persönlichkeit überhaupt in bloßen Ausschnitten zu behandeln. Bei allen seelischen Störungen wird es vielleicht noch deutlicher als bei körperlichen Erkrankungen, dass die Seele ein Ganzes ist, wo alles an allem hängt. Der Kranke bringt uns mit seiner Neurose keine Spezialität, sondern eine ganze Seele und damit auch ein ganzes Stück Welt, an welchem diese Seele hängt und ohne welches sie nie genügend verstanden werden könnte. […] Die Welt ist eine überpersönliche Gegebenheit, der eine wesentlich personalistisch eingestellte Psychologie nie gerecht werden kann. […] Insofern aber der Mensch auch ein Stück Welt ist, trägt er Welt, das heißt Überund Unpersönliches in sich. (16, 212)
«
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» Die Seele ist ein weit umfänglicheres und dunkleres Erfahrungsgebiet als der engbegrenzte Lichtkegel des Bewusstseins. Zur Seele gehört auch das Unbewusste. (10,12)
«
» Wir definieren nämlich die Seele einerseits als Beziehung zum Unbewussten, andererseits aber auch als eine Personifikation der unbewussten Inhalte. (6, 420)
«
Die Einstellung zum Unbewussten, vor allem die richtige Einstellung dazu ist eine schwierige Sache. Es braucht ein Gleichgewicht zwischen dem Bewusstsein und dem Unbewussten, eine Offenheit letzterem gegenüber. Der Eindruck, Jung überschätze den Wert des Unbewussten, stammt daher, dass er den Wert des Unbewussten gegen eine Mauer von Widerständen verteidigen musste in einer Zivilisation, welche sich mit dem Bewusstsein identifiziert.
» Die Erlangung der Seele bedeutet in Wirklichkeit ein opus von Geduld, Opferwillen und Hingebung. (9/I, 433)
«
Man darf es sich nicht verdrießen lassen, ein Leben lang, die richtige Einstellung zu suchen. Das ist die Suchwanderung, von der zahlreiche Mythen und Märchen erzählen.
»
(Freudsche oder Adlersche Theorie) sind Psychologie ohne Seele, geeignet für jedermann, der keine geistigen Ansprüche oder Bedürfnisse zu haben glaubt. Hierin allerdings täuschen sich Arzt sowohl wie Patient. […] Nur das Bedeutende erlöst. (11, 496)
«
»
Die Psychoneurose ist im letzten Verstande ein Leiden der Seele, die ihren Sinn nicht gefunden hat, […] und der Grund des Leidens ist der geistige Stillstand, die seelische Unfruchtbarkeit. (11, 497)
«
»
Die Beziehung zum Unbewussten zeigt sich als innere Persönlichkeit.
Der Kranke sucht das, was ihn ergreift und der chaotischen Verworrenheit seiner neurotischen Seele sinnvolle Gestalt verleiht. (11, 498)
» Die innere Persönlichkeit ist die Art und Weise,
» Man kann sich auch schlechterdings kein
wie sich einer zu den inneren, psychischen Vorgängen verhält, sie ist die innere Einstellung, der Charakter, den er dem Unbewussten zukehrt. (6, 805)
System und keine Wahrheit ausdenken, welche das gäben, was der Kranke zum Leben braucht, nämlich Glaube, Hoffnung und Erkenntnis. (11, 500)
«
«
«
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449 31.1 • Seele
» Diese vier höchsten Errungenschaften menschlichen Strebens sind ebensoviele Gnade, die man weder lehren noch lernen, weder geben noch nehmen, weder vorenthalten noch verdienen kann, denn sie sind an eine, menschlicher Willkür entzogene, irrationale Bedingung geknüpft, nämlich an das Erlebnis. Erlebnisse aber können nie »gemacht« werden. Sie geschehen, aber nicht absolut, sondern glücklicherweise relativ. Man kann sich ihnen nähern. […] Der Weg zum Erlebnis ist nichts weniger als ein Kunstgriff, sondern vielmehr ein Wagnis, das den unbedingten Einsatz der ganzen Persönlichkeit fordert. (11, 501)
vorurteilslose Objektivität. […] Der wahrhaft religiöse Mensch hat diese Einstellung. Er weiß, dass Gott allerhand Wunderliches und Unbegreifliches erschaffen hat und auf den allerabsonderlichsten Wegen der Menschen Herz zu erreichen sucht. Deshalb fühlt er in allen Dingen die dunkle Gegenwart des göttlichen Willens. Unter »vorurteilsloser Objektivität« meine ich diese Einstellung. […] Man kann nichts ändern, was man nicht annimmt. […] Will der Arzt einem Menschen helfen, so muss er ihn in seinem Sosein annehmen können. Er kann dies aber nur dann wirklich tun, wenn er zuvor sich selber in seinem Sosein angenommen hat. (11, 519)
Diese Sätze sind zentral für den therapeutischen Zugang.
Zu Sinn und Zweck von Lebensproblemen sagt er:
» Die Tatsache, dass aus dem dunklen Reich der
» Die großen Lebensprobleme sind nie auf
Seele dem Kranken etwas Fremdes, das nicht Ich ist und deshalb jenseits aller ichhaften Willkür steht, gegenübertritt, wirkt wie eine große Erleuchtung. (11, 534)
immer gelöst. Sind sie es einmal anscheinend, so ist es immer ein Verlust. Ihr Sinn und Zweck scheint nicht in ihrer Lösung zu liegen, sondern darin, dass wir unablässig an ihnen arbeiten. […] Es ist ein Kampf nach innen und nach außen, vergleichbar dem Kampf des Kindesalters um die Existenz des Ich. (8, 771)
«
«
In »Zivilisation im Übergang« heißt es:
«
«
»
In der von der Seele ausgehenden Faszination des modernen Bewusstseins erblicke ich den Kern des heutigen Seelenproblems. (10, 191)
«
» Wenn wir vom Seelenproblem sprechen, so reden wir eigentlich von Dingen an der Sichtbarkeitsgrenze, von intimsten und zartesten Dingen, von Blüten, die sich nur in der Nacht öffnen. (10, 194)
«
> Wie das Auge der Sonne, so entspricht die Seele Gott. (12, 11)
Die Seele ist, wie man diesen Aussagen entnehmen kann, ein sehr kostbares Gut.
» Will der Arzt die Seele eines anderen führen oder sie auch nur begleiten, so muss er mit ihr Fühlung haben. […] Fühlung entsteht nur durch
» Man schränkt sich auf das Erreichbare ein, was psychologisch einen Verzicht auf alle anderen seelischen Möglichkeiten bedeutet. (8, 770)
«
Seelische Leiden brauchen seelische Mittel zu ihrer Besserung oder Heilung und das kann nur in der Zuwendung des Arztes zum einzelnen bestehen.
» Es wird so bald nicht gelingen, komplexe seelische Tatbestände auf eine chemische Formel [Psychopharmaka!] zu bringen; der seelische Faktor muss daher ex hypothesi vorderhand als eine autonome Wirklichkeit rätselhaften Charakters gelten, und zwar darum in erster Linie, weil er aller tatsächlichen Erfahrung nach als von physico=chemischen Vorgängen wesensverschieden erscheint. (9/I, 118)
«
450
Kapitel 31 • Seele und Persona
Es ist viel zu wenig bekannt, dass man seine Seele auch verlieren kann.
» Wenn einen seine Seele verlässt, ist man plötzlich in anderer Stimmung; man hat eine Einbuße erlitten, man leidet an einem Selbst-Verlust. […] Überwältigende Emotionen zu haben, ist nicht pathologisch, sondern nur unerwünscht. (18/I, 43)
«
Emotionen, welche einen überschwemmen, sind der häufigste Anlass zum Seelenverlust, seien es Enttäuschungen oder Trauer. Die Lust vergeht einem, man fühlt sich freudlos, orientierungslos, ohne Kontakt mit sich selber, ein recht unangenehmer Zustand.
Einer meiner Patienten, der in der Jugend von seinem Vater furchtbar misshandelt und erniedrigt worden war, träumte, er müsse in die Kirche gehen und sich von der Empore herab aufhängen, damit alle Leute sehen könnten, was an ihm Schlechtes getan worden war. Der negative Vaterkomplex verfolgt ihn über den Tod des leiblichen Vaters hinaus und will ihn in den Suizid treiben. Hinter vielen Suizidimpulsen steht ein autonomer Komplex. Die Menschen sind ihnen so lange ausgeliefert, als sie sich davon nicht unterscheiden und ihn in den dämonischen Bereich des Unbewussten zurückweisen können.
31.2
Persona
» Gewisse Komplexe entstehen durch schmerzliche oder peinliche Erfahrungen im individuellen Leben. Es sind Lebenserfahrungen affektvoller Art, welche langdauernde psychische Wunden hinterlassen. […] Der Primitive würde in diesem Fall von Seelenverlust [loss of soul] sprechen. (8, 594)
«
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> »Die Seelen der Primitiven entsprechen den Komplexen des persönlichen Unbewussten, die Geister dagegen den Komplexen des kollektiven Unbewussten.« (8, 591)
» Der Seelenverlust entspricht dem Losreißen eines Teiles des eigenen Wesens, dem Verschwinden und der Emanzipation eines Komplexes, der dadurch zum tyrannischen Usurpator des Bewusstseins wird, das Ganze des Menschen unterdrückt, ihn aus seiner Bahn wirft und zu Handlungen zwingt, deren blinde Einseitigkeit die Selbstzerstörung zur unvermeidlichen Gefolgschaft hat. (6, 384)
«
Hierzu passend folgt ein Beispiel zum Thema negativer Vaterkomplex:
Der Kontrapunkt zum Seelenverlust, aber wenn möglich noch schlimmer, ist die Identität mit der Persona.
» Wie ihr Name sagt, ist die Persona nur eine Maske der Kollektivpsyche, eine Maske, die Individualität vortäuscht, die andere und einen selber glauben macht, man sei individuell, während es doch nur eine gespielte Rolle ist, in der die Kollektivpsyche spricht. (7, 245)
«
Die Persona an sich ist nicht negativ, sondern im sozialen Leben notwendig. Die Rolle soll mit der sozialen Situation übereinstimmen, in welcher man sich gerade befindet. Sie wird also wechseln je nach der Situation. Sie dient dazu, einen Menschen im Kollektiv einordnen zu können und schafft dadurch das notwendige Vertrauen. > Persona wurde im griechischen Theater die Maske genannt, die der Schauspieler trug, nachdem er sich dem Publikum als gewöhnlicher Mensch vorgestellt hatte. Damit drückte er aus, dass er in diesem Theaterstück diese Rolle spielen werde.
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451 31.2 • Persona
Wir spielen im Alltagsleben alle eine bestimmte Rolle. Wir nehmen an, dass das Kollektiv gewisse Erwartungen an uns hat, wie wir uns in dieser oder jener Funktion aufzuführen haben, und tatsächlich erhebt das Kollektiv auch gewisse Ansprüche an einen Menschen, der diese oder jene Funktion ausübt. Beides, die Annahme des Subjektes und die Erwartungen der Sozietät, sind natürlich Projektionen, welche keineswegs übereinzustimmen brauchen. Aber sie gehören zu den unbewussten Spielregeln des gesellschaftlichen Lebens. Die Persona gibt den Menschen ein »Ansehen«. Darin liegt aber auch die Gefahr, nämlich, dass einer den Wert seiner Persönlichkeit nicht aus sich selber bezieht, sondern aus seiner sozialen Rolle. Dann muss er diese in allen Situationen spielen und kann sie nicht modulieren. Dann ist er mit der Persona identisch geworden, was eine Erstarrung der Persönlichkeit zur Folge hat.
» Je mehr man mit der Persona identisch ist, desto mehr bleibt das Gegenstück der Persona, die Anima, völlig im Dunkeln und wird zunächst projiziert, wodurch der Held unter den Pantoffel seiner Frau kommt. (7, 309)
«
Wie erwähnt, ist die Seele die Anpassung nach innen, dem Unbewussten, und die Persona, ihr Gegenstück, die Anpassung nach außen, an die soziale Umwelt. Zwischen beiden sollte ein gewisses Gleichgewicht bestehen, denn eine Anpassung konkurrenziert die andere.
» Die Widerstandslosigkeit außen, gegenüber der Lockung der Persona, bedeutet eine ähnliche Schwäche innen, gegenüber den Einflüssen des Unbewussten. (7, 308)
«
Die Versuchung, sich mit der Persona zu identifizieren, besteht darin, dass man meint, sie gebe einem einen »Status«, man ist wer. Doch das ist trügerisch und nicht aus dem Wert der eigenen Persönlichkeit erwachsen. Wie mancher, der plötzlich seine Funktion verloren hat, stand auf einmal leer da, als »mister nobody«. Die Identifikation mit der Persona entpuppt sich plötzlich als Scheinwert, als ungedeckter Wechsel, weil ihm kein realer Wert im Hintergrund, kein Goldstandard, gegenübersteht.
» Hinter der Maske entsteht dann das, was man »Privatleben« nennt. Diese sattsam bekannte Trennung des Bewusstseins in zwei oft lächerlich verschiedene Figuren ist eine einschneidende psychologische Operation, die nicht ohne Folgen für das Unbewusste bleiben kann. (7, 305)
«
Es kommt zu einer »Spaltung« der Persönlichkeit. Im Außen ist sie die honorable Person mit tadellosen Manieren, auf einer versteckten Ebene lebt sie all das aus, was dort keinen Platz hat, nämlich den Schatten. Je galanter seine Persona erscheint, umso schmutziger ist sein vor der Öffentlichkeit sorgfältig verborgenes Intimleben. Die Boulevardblätter leben davon, bei Personen des öffentlichen Interesses, diese geheime Seite publik zu machen, damit sich alle Leser die Hände reiben können, dass ihr eigner Schatten denn doch nicht so schwarz sei! > Die Persona hat eine positive Funktion nach einem psychischen Zusammenbruch. Für diese Menschen, vor allem Psychotiker, ist die regressive Wiederherstellung der Persona die Möglichkeit, in der realen Welt wieder Fuß zu fassen.
» Diese Identifikationen mit der sozialen Rolle
» Ein Zusammenbruch der bewussten Ein-
sind überhaupt ergiebige Neurosenquellen. Der Mensch kann sich eben nicht ungestraft seiner selbst zugunsten einer künstlichen Persönlichkeit entledigen. (7, 307)
stellung ist keine kleine Sache. Es ist immer ein kleiner Weltuntergang, bei dem alles wieder zum anfänglichen Chaos zurückkehrt. […] In Wirklichkeit ist man auf das kollektive Unbewusste
«
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Kapitel 31 • Seele und Persona
zurückgefallen, das nunmehr die Führung übernimmt. […] Gelangen die unbewussten Inhalte bis ins Bewusstsein und füllen es mit ihrer beinahe unheimlichen Überzeugungskraft, so erhebt sich die Frage, wie das Individuum darauf reagieren wird. […] Widerwärtige Schicksale hat wohl jeder, aber es sind meistens Wunden, die heilen und die keine Verstümmelungen hinterlassen. (7, 254)
«
Er gibt mehrere Möglichkeiten, auf einen Zusammenbruch zu reagieren. Wird er von den unbewussten Inhalten überwältigt, bedeutet das Psychose. Wird er sie bloß glauben, so kann er zum prophetenhaften Sonderling oder zum Sektierer werden. Lehnt er sie einfach ab, so bedeutet das regressive Wiederherstellung der Persona, mit anderen Worten, er tut so, als wäre gar nichts passiert, und er könnte dort fortfahren, wo er vor dem Zusammenbruch war. Die einzige Reaktionsweise, die einen weiterbringen würde, wäre das kritische Verständnis dessen, was ihm zugestoßen ist. Bei der regressiven Wiederherstellung ist er
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» … infolge des Schreckens auf eine frühere Entfaltungsstufe seiner Persönlichkeit zurückgerutscht, er hat sich verkleinert und gibt sich den Anschein, als ob er noch vor dem kritischen Erlebnis stünde. (7, 254)
«
Er wird alle mit dem Erlebnis verbundenen Hoffnungen und Erwartungen aufgeben und ein eingeschränktes, rationalistisches Leben führen. Das braucht nicht in jedem Falle negativ zu sein, denn es gibt Menschen, deren Seele derart fragil ist, dass sie dafür Sorge tragen müssen, ihr Gleichgewicht nicht zu verlieren. In einem solchen Fall ist es sinnvoll, ein gutbürgerliches Leben zu führen und jegliche Exzesse zu vermeiden. Für robustere Naturen wäre das gerade falsch, denn für sie gilt es, das Leben bis zum Rand auszukosten.
»
Die Eröffnung des Zugangs zur Kollektivpsyche bedeutet eine Erneuerung des Lebens für das Individuum, gleichgültig, ob diese Erneuerung als angenehm oder unangenehm empfunden wird. (7, 260)
«
> Die Identität mit der Persona verschließt den Zugang zum kollektiven Unbewussten und zur Erneuerung des Lebens.
Solche Menschen wirken daher seelenlos, steif, reiten auf Prinzipien herum, sind kleinlich im familiären Rahmen, während sie nach außen eine imponierende, undurchdringliche, geschliffene Persona zur Schau tragen, an welcher alle Gegenargumente abprallen. Im Normalfall, wenn man weder mit der Kollektivpsyche noch mit der Persona identisch geworden ist, besteht man aus zwei Persönlichkeiten, welche sich die Waage halten.
» Die Tatsache, dass ich dann eigentlich zwei Persönlichkeiten habe, ist insofern nicht merkwürdig, als jeder autonome oder auch nur relativ autonome Komplex die Eigentümlichkeit hat, als Persönlichkeit respektive personifiziert aufzutreten. (7, 312)
«
So lange die Seele unbewusst ist, wird sie vom Mann wegen ihrer weiblichen Qualität auf eine Frau und von der Frau wegen ihrer männlichen Eigenschaften auf einen Mann projiziert.
» In jenen Fällen, wo die Individualität unbewusst und darum mit der Seele assoziiert ist, hat das Seelenbild gleichgeschlechtlichen Charakter. In allen jenen Fällen, wo eine Identität mit der Persona vorliegt, und daher die Seele unbewusst ist, ist das Seelenbild in eine reale Person verlegt. Diese Person ist der Gegenstand einer intensiven Liebe oder eines ebenso intensiven Hasses (oder auch der Furcht) Die Einflüsse dieser Person haben den Charakter der Unmittelbarkeit und des unbedingt Zwingenden, indem sie stets affektiv
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453 31.2 • Persona
beantwortet werden. Der Affekt rührt daher, dass eine wirkliche bewusste Anpassung an das das Selbstbild vorstellende Objekt unmöglich ist. (6, 810)
«
Aus der Tatsache, dass die meisten Männer ihr Seelenbild auf ihre oder eine Frau projizieren und die jeweilige Frau diese Projektion dankbar annimmt, weil sie damit eine gewisse Abhängigkeit des Mannes von ihr spürt, wird die Seele in den wenigsten Fällen bewusst gemacht. Umso eher kann sich der Mann mit der Persona identifizieren, was ihm im Geschäftsleben sogar Vorteile einbringt.
» Wird das Seelenbild projiziert, so tritt eine unbedingte affektive Bindung an das Objekt ein, Wird es nicht projiziert, so entsteht ein relativ unangepasster Zustand, den Freud als Narzissmus [Verliebtheit in sich selbst] beschrieben hat. (6, 812)
«
Das projizierte Seelenbild bleibt unbewusst und kann sich daher nicht entwickeln. Eine Ehe, welche auf gegenseitigen Projektionen aufgebaut ist, mag nach außen hin als ideale Beziehung erscheinen (nach dem Motto: Ein Herz und eine Seele), ist aber zur Stagnation verurteilt. Diese hält oft nur so lange, bis sie durch eine noch attraktivere Projektion abgelöst wird und dann ist diese ganze scheinbare Idylle »im Eimer«.
» Der verkommene Mann ist für idealistische Frauen öfters ein Träger des Seelenbildes, daher die in solchen Fällen häufige »Rettungsphantasie«; dasselbe ist der Fall bei Männern, wo die Prostituierte mit dem Glorienschein der zu rettenden Seele umgeben ist. (6, 813)
«
Daraus kann man viele Fälle von »mésalliance« verstehen, denn das Seelenbild ist stets kompensatorisch zur bewussten Einstellung. Der Seele kommt eine mittlere Stellung zwischen außen und innen, aber auch eine vermit-
telnde Stellung zwischen beiden Welten zu. Sie ist die Mittlerin, ein Gefäß, das von der einen Seite gefüllt wird und ihren Inhalt (z. B. Bilder) an die andere Seite vermittelt. Sie enthält Libido aus dem Unbewussten, welche sie dem Bewusstsein weitergibt und umgekehrt. Sie nimmt unbewusste Inhalte auf, die sie als Symbole, als geformte Energie, als Kräfte, d. h. determinierende Ideen ans Bewusstsein übermittelt.
» Sie muss daher als eine Funktion angesprochen werden zwischen dem bewussten Subjekt und den dem Subjekt unzugänglichen Tiefen des Unbewussten. Die aus diesen Tiefen wirkende determinierende Kraft (Gott) wird durch die Seele abgebildet, das heißt sie schafft Symbole, Bilder, und ist selbst nur Bild. (6, 425)
«
Wir haben jetzt sehr viel über die Eigenschaften der Seele, ihre Funktion und was Jung darunter versteht, gesagt. Aber was ist sie denn eigentlich? Die Tatsache, dass historisch und ethnographisch die allerverschiedensten und oft sich widersprechenden Aussagen gemacht wurden, weist daraufhin, dass sie ein transzendentaler Faktor ist, größer als das Bewusstsein, das diesen nie vollgültig zu fassen vermöchte.
» Die Seele, dieser vieldeutige und vielgedeutete Begriff, entspricht – historisch genommen – einem Inhalt, dem eine gewisse Selbständigkeit innerhalb der Bewusstseinsgrenzen zukommen muss. Denn wenn dies nicht der Fall wäre, so wäre man nie auf den Gedanken gekommen, der Seele ein selbständiges Wesen zuzuschreiben, wie wenn sie ein objektiv wahrnehmbares Ding wäre. Sie muss ein Inhalt sein, dem Spontaneität zukommt und damit notwendigerweise auch partielle Unbewusstheit, wie jedem autonomen Komplex. (6, 419)
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»
Wie die »Seele« eine Personifikation unbewusster Inhalten ist, so ist […] auch Gott ein unbewusster Inhalt, eine Personifikation, inso-
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Kapitel 31 • Seele und Persona
fern er als persönlich gedacht ist, ein Bild oder Ausdruck, insofern er bloß oder hauptsächlich dynamisch gedacht ist, also im wesentlichen dasselbe wie die Seele, insofern sie als Personifikation eines unbewussten Inhaltes gedacht wird. (6, 421)
Literatur Primärliteratur (Quellen) 1
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Meister Eckhart, den Jung in diesem Zusam-
menhang zitiert, weil er durchaus psychologisch denkt, sagt:
2
3
» Es ist ein höherer Stand, dass Gott in der Seele ist, denn dass die Seele in Gott ist: dass sie in Gott ist, davon ist sie noch nicht selig, wohl aber davon, dass Gott in ihr ist. (6, 418)
«
4
Sekundärliteratur 5
Dazu führt Jung aus:
» Wer sich Gott von außen holt, der wird ge-
31
stört durch die Objekte. Wer nämlich den Gott außen hat, der hat ihn notwendigerweise projiziert im Objekt, wodurch das Objekt einen Überwert erhält, […] einem solchen sei »Gott noch nicht zur Welt geworden«, weil ihm die Welt die Stelle Gottes vertritt. (6, 417)
«
» Gott, das heißt der Hauptwert, muss aus den Objekten zurückgezogen werden, dadurch kommt Gott in die Seele, was ein »höherer Stand« ist und für Gott »Seligkeit« bedeutet. Psychologisch heißt das: Wenn die Gottes-Libido […] als Projektion erkannt wird, […] dann wird dieser als zum Individuum gehörig gerechnet, und damit entsteht ein erhöhtes Lebensgefühl, das heißt ein neues Gefälle. Der Gott, also die höchste Lebensintensität, befindet sich dann in der Seele, im Unbewussten. (6, 421)
«
Es lohnt sich, das bei Jung nachzulesen, was er anhand der Eckhart-Zitate darüber ausführlicher erörtert.
Jaffé A (Hrsg.) (1972/73) Briefe. Erster Band 1906–1945 (1972); Zweiter Band 1946–1955 (1972); Dritter Band 1956–1961 (1973 mit Nachtrag neu aufgefundener Briefe). In Zusammenarbeit mit Adler G, London. Walter, Olten Freiburg Jung CG (1995) Das Typenproblem in der Dichtkunst. Carl Spittelers Prometheus und Epimatheus. GW 6, 275–317; 810–813; 961–969, 419–433. Gesammelte Werke. Walter, Solothurn Düsseldorf Jung CG (1995) Die Persona als ein Ausschnitt aus der Kollektivpsyche. GW 7, 243–265. Gesammelte Werke. Walter, Solothurn Düsseldorf Jung CG (1995) Die Dynamik des Unbewussten. GW 8. Gesammelte Werke. Walter, Solothurn Düsseldorf
6
Ribi A (2007) Persona. Ein Ausschnitt aus der Kollektivpsyche. In (ders.): Ein Leben im Dienst der Seele: Gesammelte Aufsätze und Vorträge. Peter Lang, Bern. S. 235–239 Ribi A (2002) Anthropos. Der ewige Mensch. Der ewige göttliche und kosmische Mensch in Geschichte, Politik und Tiefenpsychologie. Peter Lang, Bern
455
Sexualität, Eros, Macht, Liebe 32.1
Sexualität – 456
32.2
Eros – 457
32.3
Macht – 458
32.4
Liebe – 459 Literatur – 461
A. Ribi, Neurose – an der Grenze zwischen krank und gesund, DOI 10.1007/978-3-642-16148-3_32, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
32
456
Kapitel 32 • Sexualität, Eros, Macht, Liebe
Diese Dämonen spielen im Leben des Menschen eine große Rolle. Niemand kann sich ihnen entziehen. Darum auch spielen viele unbewusst diese Rolle mit. Sie haben so viele Facetten, dass man sie von verschiedenen Seiten beleuchten muss, um ihre Funktion zu verstehen. Aus diesem Grund kehre ich hier erneut zu diesen Themen zurück.
Sexualität
32.1
» Die Sexualität ist ein Grundtrieb, der, wie jedermann weiß, am meisten mit Heimlichkeit und Peinlichkeit umgeben ist, der als Liebe die Ursache der mächtigsten Affektstürme, der stärksten Sehnsüchte, der tiefsten Verzweiflungen, der heimlichsten Sorgen und der peinlichsten Eindrücke sein kann. (10, 5)
«
» Es wird aber nie zu beweisen sein, dass die Sexualität der Grundtrieb und das Wesen der menschlichen Seele sei. […] Man hat gelernt, einen bescheidenen Begriff, genannt Energie, als Fundament aller quantitativen Veränderungen einzusetzen. (10, 6)
«
32
In 7 Kap. 12 habe ich Freud und Adler einander gegenübergestellt:
» Freud gründet sich mit fanatischer Einseitigkeit auf die Sexualität, die Begehrlichkeit, auf das »Lustprinzip«, mit einem Wort. Alles dreht sich um die Frage, ab man wohl könnte, wie man möchte. (10, 340)
«
» Es ist klar, dass jeder Mensch möglichst alles genießen und zugleich noch »oben-auf« sein möchte, und es ist ebenso klar, dass er, solange er in der Hauptsache eine solch primitiv-naiv-infantile Einstellung hat, um eine Neurose gar nicht herumkommt, wenn er überhaupt den Versuch macht, sich an seine Umwelt anzupassen. (10, 342)
«
Soweit ist die Einseitigkeit der Freudschen Auffassung schon besprochen worden. Doch die Sexualität ist eine Macht, darin ist Freud Recht zu geben, welche sich nicht einfach zur Seite schieben lässt. Daher stellt sich die Frage, wie man mit ihr umgehen soll.
» Mit dem Abweg in die Sexualität wird zwar nicht immer, jedoch recht häufig, das eigentliche Problem verdeckt. Man macht sich selber und anderen weis, es handle sich um ein Sexualproblem, das schon lange schief gegangen sei und dessen Ursachen in der Vergangenheit lägen. Damit hat man glücklich den Aus- und Abweg aus dem Gegenwartsproblem gefunden. (5, 220)
«
Das neurotische Problem liegt in der Gegenwart. Selbstverständlich gibt es in der Lebensgeschichte Katastrophen. Doch diese werden meist verarbeitet. Werden sie perpetuiert, so ist das Gegenwartsproblem ihre Überwindung und nicht das Beklagen derselben.
» Ein beliebtes neurotisches Missverständnis ist es, dass die rechte Anpassung an die Welt im Ausleben der Sexualität zu finden sei. (4, 440)
«
Allen diesen neurotischen Abwegen gemeinsam ist es, dass man das Problem nicht in der Gegenwart sehen will, wo man es beheben müsste, sondern in der Vergangenheit, wo man sich als hilfloses Opfer vorkommt.
» Die Erlösung liegt aber für den Patienten nicht darin, dass er wieder in die primitive Sexualität hinuntergedrückt wird. (4, 550)
«
Das ist die Gefahr bei der Freudschen Auffassung. Das ist darum keine Lösung, weil der Neurotiker auch die höhere Anpassung an die Erfordernisse der Kultur zu leisten hat. Meist besteht nämlich noch eine infantile Auffassung der Liebe, die durch die Sexualität erfüllt wird.
457 32.2 • Eros
» Der infantile Begriff der Liebe ist: von anderen Geschenke erhalten. (4, 444) « Sexuelle Ideen meinen nämlich oft nicht die konkrete Sexualität.
» So wie Sexualität sich uneigentlich in Phantasie, so kann auch schöpferische Phantasie sich uneigentlich in Sexualität ausdrücken. (8, 709)
32
Wenn man nämlich Freud richtig lesen würde, so erkennte man, dass er zwar ständig von »Sexualität« spricht, aber damit keineswegs die konkrete Betätigung derselben meint. Er war von einem Numinosum fasziniert, das er »Sexualität« nannte. Dieses ist aber, wie alle Archetypen, eine ewige weltumspannende Macht, die dem Begriff »Eros« nahe kommt.
«
Man weiß dann nie sicher, was gemeint ist, denn das Unbewusste verwendet die Bildsprache, welche auch die Emotion dahinter ausdrückt. Für den durchschnittlichen Menschen ist das Schöpferische weniger faszinierend als die Sexualität. Doch das Schöpferische ist die eigentliche Tätigkeit des Unbewussten, bloß realisieren wir es nicht. In meinem Buch »Eros und Abendland« bin ich der historischen Wandlung der Auffassung von Sexualität nachgegangen. So sehr die Abwehr der kruden Sexualität durch das aufkommende Christentum sinnvoll war, hat es die Kirche versäumt, ihre Auffassung weiter zu entwickeln.
» Die Erzsünde, welche die katholische Kirche ewig verfolgt, ist die Sexualität, und das von ihr angestrebte Ideal par excellence ist die Jungfräulichkeit, die das Leben entschieden zum Stillstand bringt. (18/II, 1684)
«
Man hat sich von Seiten der Kirche zu sehr auf die sexuelle Betätigung als dem Grundübel der Menschheit gestürzt, so dass ein Sigmund Freud hervorgebracht werden musste, der in ihr den Ursprung der Neurosen beschrieb. So wahr viele sexuelle Deviationen neurotischen Ursprungs sind, so wahr sind auch viele ekklesiogene Neurosen aus der Unterdrückung der Sexualität hervorgegangen. Man ist zu sehr auf die konkrete Sexualität fixiert, als dass man ihre symbolische Funktion hätte verstehen können.
32.2
Eros
In der zweiten Lebenshälfte tritt eine gewisse Persönlichkeitsveränderung ein.
» Es handelt sich um eine teilweise Verweichlichung des Mannes und eine Vermännlichung der Frau. Diese Veränderung geht oft unter sehr dramatischen Umständen vor sich, indem die Stärke des Mannes, sein »Logos«-Prinzip, sich gegen ihn wendet und ihn sozusagen verrät. Das gleiche geschieht mit dem entsprechenden »Eros« der Frau. Jener verholzt und versteift sich in schädlichster Weise in seiner bisherigen Einstellung. Diese bleibt in ihren Gefühlsbindungen hängen und versäumt es, Verstand und Vernunft zu entwickeln, die durch »Animus«, das heißt durch ebenso eigensinnige wie untaugliche Meinungen ersetzt werden. Der Fossilierungsprozess des Mannes umgibt sich dementsprechend mit Launen, lächerlichen Empfindlichkeiten, Misstrauensgefühlen und Ressentiments, welche seine Versteifung rechtfertigen sollen. (5, 458)
«
Wie ich in »Animus und Anima« (7 Kap. 16) dargelegt habe, verliert die konkrete Sexualität für Jung sehr bald ihre Bedeutung als autonome Funktion und wird in den größeren Zusammenhang des »Eros« aufgenommen.
» Eros ist Verflechtung, Logos die scheidende Erkenntnis, das klärende Licht. Eros ist Bezogenheit, Logos ist Diskrimination und Unbezogenheit. (13, 60)
«
458
Kapitel 32 • Sexualität, Eros, Macht, Liebe
Sie sind je charakteristisch für das männliche respektive das weibliche Prinzip. Sie kommen bei beiden Geschlechtern vor und wandeln ihre Bedeutung im Laufe des Lebens.
Wie nahe Liebe und Macht beisammen sind, ja dass jene in diese abgleiten kann, sieht man oft beim mütterlichen Eros.
» Ein unbewusster Eros äußert sich immer als 32.3
Macht. Anm. 9: Wo Liebe fehlt, besetzt die Macht den leeren Platz. (9/I, 167)
Macht
«
» Sicherlich ist der Machtwille ein ebenso großer Dämon wie der Eros und ebenso alt und ursprünglich wie dieser. (7, 42)
«
» »Adler hat überzeugend nachgewiesen, dass zahlreiche Neurosenfälle viel besser und befriedigender aus dem Machttrieb erklärt werden können, als aus dem Lustprinzip. […] Es ist die Psychologie des Unterdrückten oder sozial Erfolglosen, dessen einzige Leidenschaft das Geltungsbedürfnis ist. (16, 151)
«
Diese beiden Prinzipien, Eros und Macht, sind nicht zufällig von den Pionieren der Tiefenpsychologie beschrieben worden, denn sie stellen einflussreiche Mächte im Leben ganz allgemein dar.
32
» Man wird mit (dem großen Dämon Eros) nie ganz fertig, oder man wird nur zum eigenen Schaden mit ihm fertig. (7, 33)
«
Diese beiden Dämonen sind ein Gegensatzpaar, das sich gegenseitig bedingt und ausschließt. Jung betont immer wieder:
» … wo die Liebe herrscht, da gibt es keinen Machtwillen, und wo die Macht den Vorrang hat, da fehlt die Liebe. (7, 78)
«
» Wo die Liebe aufhört, beginnen die Macht, die Vergewaltigung und der Terror. (10, 580) « » Wo Macht herrscht, da ist keine Liebe, und wo Liebe herrscht, gilt keine Macht. (17, 309) «
Die blinde Liebe vieler Mütter ist schon längst in Macht gekippt, ohne dass sie es gemerkt hätten. Denn die Liebe allein ist noch nicht das höchste der Gefühle.
» Die Liebe allein nützt nichts, wenn sie nicht auch Verstand hat. […] Die Funktion des letzteren ist, Bezirke, die noch dunkel sind, zu erhellen, und dem Bewusstsein durch »Begreifen« zuzuführen, und zwar sowohl außen, in der Umwelt, wie auch innen, in der Innenwelt der Seele. Je blinder die Liebe, desto triebhafter ist sie und droht mit destruktiven Folgen, denn sie ist eine Dynamis, welche der Form und der Richtung bedarf. Deshalb ist ihr ein kompensatorischer Logos zugesellt, als ein Licht, das in der Finsternis leuchtet. (13, 391)
«
Die Alchemie hat sich mit diesem Problem in symbolischer Form auseinandergesetzt, weil es ihr in pseudochemischer Form begegnete.
» (Das Salz stellt die Weltseele dar, die alles durchdringt.) Es stellt das weibliche Prinzip des Eros, der alles zueinander in Beziehung setzt, in nahezu vollkommener Weise dar. Es wird in dieser Hinsicht nur vom Mercurius übertroffen, und die Ansicht, dass es vom Mercurius abstamme, ist daher begreiflich. Gerade als anima, als scintilla animae mundi, ist sal sozusagen die Tochter des spiritus vegetativus der Schöpfung. (14/I, 316)
«
32
459 32.4 • Liebe
» Das Salz ist hier (Matth. 5, 13 und seit Jacob
» So wenig man Christus anklagt, dass er mit
Böhme) unzweifelhaft die Einsicht, das Verständnis und die Weisheit. […] Um es scharf zu halten, […] ist wohl eine Pflege des Geistes erforderlich. (14/I, 319)
dem Bösen fraternisiere, sowenig soll man sich den Vorwurf machen, dass die Liebe zum Sünder, der man selber ist, ein Freundschaftspakt mit dem Bösen sei. Durch Liebe bessert man, durch Hass verschlechtert man, auch sich selber. (12, 37)
«
In »Das symbolische Leben« heißt es:
» Tränen, Leid und Enttäuschung sind bitter, die Weisheit aber ist die Trösterin in jedem seelischen Schmerz; ja, Bitterkeit und Weisheit bilden eine Alternative: wo Bitterkeit, da fehlt die Weisheit, und wo Weisheit, da gibt es keine Bitterkeit. Der weiblichen Natur also ist das Salz als der Träger dieser schicksalshaften Alternative zugeordnet. (18/I, 324)
«
32.4
«
» Jede wahre, tiefe Liebe ist ein Opfer. (10, 231) « » Und wie nur der Gläubige, der sich seinem Gotte ganz ergibt, der Erscheinung der göttlichen Gnade teilhaftig wird, so enthüllt auch die Liebe ihre höchsten Geheimnisse und Wunder nur dem, der der unbedingten Hingebung und Treue des Gefühls fähig ist. (10, 232)
«
Liebe
Zum Thema Sexualität und Liebe fasst er schließlich zusammen:
Im Vortrag vor der Studentenschaft der Universität Zürich, 1924, sagte Jung:
» Die Liebe ist immer ein Problem, um welche Altersstufe des Menschen es sich auch immer handeln mag. […] Die Liebe ist eine der großen Schicksalsmächte, die vom Himmel bis in die Hölle reichen. (10, 198)
«
Man kann darüber entweder zu wenig oder zu viel sagen. Deshalb habe ich in meinem Buch »Eros und Abendland« [6] nur versucht, das Thema an einigen typischen Beispielen zu beleuchten. Man kann auch nie »objektiv« diese Macht darstellen, nicht nur, weil sie jeden Umfang des Bewusstseins übersteigt, sondern weil man selber darin befangen ist. > Die Liebe ist sowohl der Motor der Bewusstwerdung als auch der Antrieb jeglicher Psychotherapie.
» Die Sexualität, als Sexualität erledigt, ist tierisch. Als Ausdruck der Liebe aber ist die Sexualität geheiligt. Fragen Sie darum nie, was einer tut, sondern wie er es tut. Tut er es aus Liebe und im Geiste der Liebe, so dient er einem Gott, und was er auch immer tun mag, so ist es nicht unsere Sache, es zu beurteilen, denn es ist geadelt. (10, 234)
«
> Sexualität und Liebe gehören zusammen. Man kann nicht von der Sexualität allein sprechen, das wäre unvollständig.
Ich habe gesagt, dass der Eros, die Liebe zu den Menschen, der Antrieb für die Psychotherapie sei. Bei dieser kann sie jedoch auch eine Komplikation darstellen als sexuelle Übertragung. In 7 Kap. 39 soll mehr zu diesem Thema beigebracht werden. Hier nur soviel:
» Unter solchen Umständen (dass die Sexualität als kompensatorische Funktion in einen zu schwachen Rapport von Arzt und Patient eingreift,) kann die Übertragung wohl zum größten
460
Kapitel 32 • Sexualität, Eros, Macht, Liebe
Hindernis einer erfolgreichen Behandlung werden. […] (Statt einer einseitig sexuellen Deutung von Träumen und Phantasien) finden sich darin immer auch schöpferische Elemente, mit deren Hilfe der Weg aus der Neurose gestaltet werden kann. Dieser natürliche Ausweg ist in der Neurose blockiert. (16, 277)
«
Das zeigt einmal mehr, dass sexuelle Motive sowohl in Träumen wie in Phantasien nicht eigentlich, sondern symbolisch zu verstehen sind. Die Sexualität ist ein stärkster Ausdruck für das Schöpferische, das Zeugende, das Schaffen von neuem Leben, auch wenn heute sexuelle Aktivität mehr den Sinn von Beziehung erhalten hat. Doch diese ist verglichen mit der jahrtausendelangen als Fruchtbarkeit unbedeutend. Würde man die Sexualität in diesem symbolischen Sinn verstehen, käme man der Seele entgegen. Selbst der übelbeleumdete Egoismus des Neurotikers erhält einen Sinn, wenn man ihn auch von der anderen Seite sehen kann.
» Der Moderne weiß es nicht, aber er benimmt 32
sich so, wie wenn sein individuelles Leben ein besonderer Gotteswille wäre, der einzig erfüllt werden müsste – daher sein Egoismus, eines der tastbaren Laster des neurotischen Zustandes. (11, 524)
«
»
(Dieser »sacro egoismo«) aber muss ihm gelassen werden, denn es ist seine stärkste und gesündeste Kraft, wie ich sagte, ein wahrer Gotteswille, der ihn in eine oft gänzliche Vereinsamung treibt. […] Denn darin allein kann sich der Kranke selbst erkennen, kann ermessen lernen, was für ein unschätzbares Gut die Liebe anderer Menschen ist, und überdies ist es nur in der Verlassenheit und tiefsten Einsamkeit mit sich selbst, wo hilfreiche Mächte erfahren werden. (11, 525)
«
Diesen einsamen Seelen ist dann die Psychotherapie eine willkommene Bereicherung. Dadurch
dass sich ein Mitmensch für ihre Probleme und ihre Persönlichkeit interessiert, kommt ihnen das Bewusstsein, dass sie sich selber der Nächste sind, den es zuerst anzunehmen gilt. Oft geht dieser Weg über den Umweg der Übertragung, indem das anzunehmende Objekt nicht als die eigene Person in ihrem Sosein, sondern der Analytiker geliebt wird.
» Natürlich sollte Übertragung nicht als Liebe missverstanden werden; sie hat überhaupt nichts mit Liebe zu tun. Die Übertragung missbraucht die Liebe nur. (18/I, 328)
«
Die Übertragung ist darum keine Liebe, weil sie in einem künstlichen Setting entsteht und in unabsehbarem Maße aus Projektionen besteht. Vonseiten des Analytikers ist es Zuwendung. Der Begriff Liebe ist so diffus und wird für so vieles verwendet, dass man im einzelnen Fall genau unterscheiden muss, was hier wirklich damit bezeichnet wird. Eros ist der umfassendere Begriff, wie ich in »Eros und Abendland« dargelegt habe. Die Macht kann auch sehr subtile Formen annehmen. Die Frau übt sie aus, wenn sie im Animus ist und keine Argumente mehr zulässt (7 Kap. 16).
» Den Frauen geht es aber um die Macht der Wahrheit oder der Gerechtigkeit oder anderer -heiten und -keiten. (9/2, 29)
«
Das ist darum Machtausübung, weil die Wahrheit selber eine Macht ist, auf deren Wirkung wir uns verlassen können, sodass wir nicht »nachdoppeln« müssen. Eine andere Art von Macht ist jene des Bewusstseins über das Unbewusste. Dieses ist ein Naturereignis. Doch gibt es Leute, die mit »luzidem Träumen« dem ein Schnippchen schlagen wollen, indem sie das Geschehen im Traum lenken.
461 Literatur
» Wenn ich mir Macht über das Unbewusste anmaße, so ist das ein psychischer Diätfehler, eine unbekömmliche Einstellung, die man im Interesse der eigenen Wohlfahrt besser vermeidet. (7, 392)
«
Von jenem Analysanden mit dem luziden Träumen hörte ich, dass er später an einer schweren invalidisierenden Krankheit erkrankt war.
» Was von der Menschheit im allgemeinen gesagt werden muss, das gilt auch für jeden einzelnen; denn aus lauter einzelnen besteht die ganze Menschheit. Und was die Psychologie der Menschheit ist, das ist auch die Psychologie des einzelnen. […] Was man »Willen« heißt beim einzelnen, heißt »Imperialismus« bei den Nationen, denn der Wille ist Bekundung der Macht über das Schicksal, das heißt Ausschließen des Zufälligen. […] Wie der Gedanke einer allgemeinen Kulturorganisation [Völkerbund, UNO, EU] durch den Weltkrieg eine grausame Richtung erfahren hat, so muss es auch der einzelne in seinem Leben öfters erfahren, dass sogenannte »disponible« Energien [= Wille] nicht über sich disponieren lassen. (7, 74)
«
Wir sind Glieder der Menschheit und werden von dem tangiert, was bei ihr schief läuft. Und was bei uns schief läuft, kann auch bei der Menschheit nicht gebessert werden, weil sie aus uns einzelnen besteht. Was wir bei uns verbessert haben, haben wir auch der Menschheit zugute getan. Das ist der tiefere Sinn der Individuation. Sie ist nicht ein »sacro egoismo«, wie das scheinen könnte, wo einer seine Arbeit im »stillen Kämmerlein« verrichtet und nicht auf der Weltbühne auftritt. Seine Probleme und Fehler sind die gleichen wie jene der Menschheit, aber er hat die Möglichkeit, sie individuell zu korrigieren oder zu lösen, deo concedente! Es besteht noch weitherum das Missverständnis, die Individuation sei ein Weg nur für Introvertierte;
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die Extravertierten müssten eine Aufgabe in der Weltöffentlichkeit erfüllen. Das Limitierende ist für jeden, wo er auch seine Aufgabe sieht, seine »persönliche Gleichung«, sein unbewusster Hintergrund, auf welchem sich seine Tätigkeit abspielt.
Literatur Primärliteratur (Quellen) 1 2
3
4
Jung CG (1995) Symbole der Wandlung. GW 5. 204–250 Gesammelte Werke. Walter, Solothurn Düsseldorf Jung CG (1995) Das Liebesproblem des Studenten. Vortrag vor der Studentenschaft der Universität Zürich, 1924. Erstmals veröffentlicht 1928 (engl). Deutsche Originalfassung in: Der Einzelnen in der Gesellschaft, Olten, 1971. GW 10, 197–235 Jung CG (1995) Die Frau in Europa. Erstmals veröffentlicht in: Europäische Revue III/7, Berlin, 1927. Verlag der Neuen Rundschau, Zürich, 1929. Neuausgaben: Rascher, Zürich 1932, 1948, 1959, 1965. Zuletzt in: Der Einzelne in der Gesellschaft. Olten, 1971. GW 10, 236–275 Jung CG (1925) Die Ehe als psychologische Beziehung. In: Keyserling H (Hrsg.) Das Ehebuch, S. 294–307 Celle. Neuherausgabe in: Seelenprobleme der Gegenwart, Zürich 1931, 1969, 1973. GW 17, 324–345
Sekundärliteratur 5
6
Ribi A (2007) Der Liebestrank. Zur Psychologie des Beziehungsproblems bei Tristan und Isolde. In: Ein Leben im Dienst der Seele. Gesammelte Aufsätze und Vorträge. Peter Lang, Bern. S. 295 Ribi A (2005) Eros und Abendland. Geistesgeschichte der Beziehungsfunktion. Wann kommt Tannhäuser aus dem Venusberg? Altera pars. Peter Lang, Bern 2005. S. 421 u. S. 453
463
Objekt, Subjekt, Identität
A. Ribi, Neurose – an der Grenze zwischen krank und gesund, DOI 10.1007/978-3-642-16148-3_33, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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Kapitel 33 • Objekt, Subjekt, Identität
Der Wahrheit, dass man sich eines Objektes nur dann bewusst werden kann, wenn man sich von ihm unterscheidet, ist der Leser schon wiederholt begegnet. Das Bewusstsein ist das Wunder, das diese Unterscheidung zustande bringt und damit Welt schafft. Die Welt kann erst durch das Opfer des kosmischen Menschen entstehen [2]. Das Bewusstsein ist recht eigentlich das weltschöpferische Prinzip. Solange der Mensch mit seiner Umwelt identisch ist, existiert diese für ihn noch nicht, genauer gesagt kann er keine Aussage darüber machen, ob sie überhaupt existiert. Darum kann Nietzsche mit Blick zum Himmel ausrufen: »Du großes Gestirn, ohne mich würdest du nicht sein!« Alle Wunder dieser Welt wären nicht, wenn nicht ein Bewusstsein ihrer gewahr würde.
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In 7 Kap. 16 habe ich die Bedeutung von »participation mystique« (Lévy-Bruhl) erklärt, was Jung archaische Identität nennt. Es ist, wie der Name sagt, die ursprüngliche Nichtunterschiedenheit von seiner Umwelt, welche sowohl für die archaische Mentalität der Menschheit als auch für jene der Kindheit bezeichnend ist. Auch hier wiederholt sich die Phylogenese in der Ontogenese. Natürlich ist auch der archaische Mensch an seine Umwelt angepasst, ja er hat die nötigen Werkzeuge und Waffen geschaffen, die ihm das Überleben sichern. Aber er kennt und lebt nur in der Gegenwart, sogar nur im gegenwärtigen Augenblick, den er ausgezeichnet meistert. Er ist jedoch geschichtslos. Seine Vergangenheit hört nach zwei Generationen auf und mündet bei den mythischen Ahnen. Das ist beim Kleinkind ganz ähnlich. Es erinnert sich nur an das, wofür es Interesse hat oder was ihm vom Unbewussten her zustößt. Es lebt ganz im Augenblick und vergisst seine Umgebung. Es lebt auch ganz für den Augenblick aus dem, was ihm spontan aus dem Unbewussten an Impulsen zufließt. Nicht dass es kein Gedächtnis hätte, aber das ist ausschließlich von seinen Interessen bestimmt.
Diese archaische Mentalität lebt neben einem erwachsenen modernen Bewusstsein in uns weiter und zeigt sich bei jedem »abaissement du niveau mental«.
» Die Zughörigkeit aller Dinge, die den Stempel des »Meinseins« tragen, zu meiner Persönlichkeit, hat Lévy-Bruhl sehr passend als »participation mystique« formuliert. Es handelt sich um eine irrationale, unbewusste Identität, welche davon herrührt, dass alles, was mit uns in Berührung steht, nicht nur es selber, sondern auch zugleich ein Symbol ist. […] Das Unbekannte im Menschen und das Unbekannte in der Sache fallen in eines. Es entsteht eine psychische Identität. (11, 389)
«
In seinen ersten Lebensjahren lebt das Kind in einem Zustand von »participation mystique« mit seinen Eltern (17, 107). Diese schwärmen dann etwa, dass die Kinder zu dieser Zeit »einem noch ganz gehören«. Sie sind noch nicht ganz geboren, sondern hängen über eine seelische Nabelschnur an den Eltern. Aus diesem Zustand primitiver Identität muss sich das Individualbewusstsein allmählich befreien.
» In diesem Befreiungskampf spielt die Schule keine geringe Rolle, ist sie doch das erste Milieu, welches das Kind außerhalb der Familie findet. (17, 107)
«
Ich will das Thema »Entwicklungspsychologie« erst in 7 Kap. 34 erweitern. Hier ging es lediglich um die Parallelen zwischen archaischer und frühkindlicher Mentalität. Wir kehren wieder zurück zum Thema der Identität!
» (Ein Alchemist sagt: »Das Ding (res) [der göttlichen Kunst], aus dem die Dinge werden, ist der unsichtbare und in sich ruhende Gott«) Dieser Schluss war auch psychologisch unvermeidlich, insofern als das Unbewusste wegen seiner Un-
465 Objekt, Subjekt, Identität
bekanntheit überall mit sich selbst koinzidieren muss; denn mangels erkennbarer Eigenschaften kann kein Unbewusstes von einem andern Unbewussten unterschieden werden. Es handelt sich hierbei um keine logische Spitzfindigkeit, sondern um ein sehr reales und praktisch wichtiges Phänomen: nämlich um die Identitäts- und Identifikationserscheinungen im sozialen Leben, welche auf der Gemeinsamkeit (der Nichtunterscheidbarkeit) unbewusster Inhalte beruhen. (12, 431)
«
Wie Jung sagt, handelt es sich um ein sehr häufiges und praktisch bedeutsames Phänomen. Wo immer mehrere Menschen zusammenkommen, bildet sich ein gemeinsames Unbewusstes. Die Gemeinsamkeit findet stets auf dem kleinsten gemeinsamen Niveau statt. Darum ist das Niveau umso primitiver, je mehr Leute sich versammeln. Jeder steckt den anderen an und ist nicht mehr sich selber. Hinterher greift man sich oft ob seines Verhaltens an den Kopf: Man ist von der gemeinsamen Unbewusstheit fortgeschwemmt worden.
» Auf Identität beruht ferner die Möglichkeit der Suggestion und der psychischen Ansteckung. (6, 741)
«
33
so klingt das so, als ob man die Projektion machen würde. Doch ist sie noch ein Stück ursprüngliche Identität oder wird wieder zu einem solchen wegen der Ähnlichkeit des Objekts mit dem unbewussten Inhalt.
» Ohne Bewusstsein wäre es nie bekanntgeworden, dass es überhaupt eine Welt gibt, und ohne Psyche bestünde schlechterdings keine Erkenntnismöglichkeit, indem nämlich das Objekt zuerst einen verwickelten physiologischen und psychischen Wandlungsprozess durchlaufen muss, um schließlich zu einem psychischen Bild zu werden. Erst dieses ist das unmittelbare Objekt der Erkenntnis. Die Existenz der Welt hat zwei Bedingungen: die eine ist ihr Sein, die andere ihr Erkanntsein. (16, 201)
«
Man sollte sich stets bewusst sein, dass wir von den Objekten bestenfalls ein psychisches Bild haben. Das ist meist bei den äußeren Objekten kein Problem, indem eine allgemeine Übereinstimmung eine Sicherheit darstellt. Aber gerade bei den Objekten, die uns eigentlich am meisten vertraut sind, nämlich den Angehörigen, ist das Bild oft unbewusst und sehr subjektiv geprägt. In 7 Kap. 16 habe ich dargelegt, dass
» … empirisch (das Bewusstseinsfeld) stets seine
Was würden viele (die meisten?) Psychotherapeuten ohne Suggestion tun? Mit der Suggestion hat die ganze Psychotherapie angefangen, wie ich im historischen Teil erläutert habe. Doch die »Infektion« geht nicht einseitig vom Psychotherapeuten, sondern auch vom Kranken auf den Therapeuten, was sein Berufsrisiko darstellt (7 Kap. 38). Wenn man sagt,
» Die unbewusste Identität entsteht durch eine Projektion unbewusster Inhalte in ein Objekt, wobei diese als Qualitäten, scheinbar dem Objekt zugehörig, dem Bewusstsein zugänglich werden. (13, 122),
«
Grenze am Gebiet des Unbekannten findet. […] Das Unbekannte zerfällt in zwei Gruppen von Objekten, nämlich die sinnlich erfahrbaren, äußeren, und zweitens die unmittelbar erfahrbaren, inneren Tatbestände. (9/2, 2)
«
Im Umgang mit anderen Menschen, vor allem jenen, die uns nahe stehen, mischt sich in die Wahrnehmung des äußeren Bildes ein wechselnder Zuschuss von innen, vom subjektiven Faktor.
» Ein Mensch, den ich hauptsächlich durch meine Projektion wahrnehme, ist eine Imago, oder ein Imago- oder Symbolträger. […] Da aber die frühere Identität auf der Projektion
466
Kapitel 33 • Objekt, Subjekt, Identität
subjektiver Inhalte beruht, so kann eine völlige und restlose Loslösung nur dann erfolgen, wenn die Imago, die sich im Objekt darstellte, samt ihrer Bedeutung dem Subjekt zurückerstattet wird. (8, 507)
«
» In Wirklichkeit ist es ein Komplex psychischer Faktoren, der sich – allerdings unter gewissen äußeren Anregungen – selber gebildet hat und deshalb hauptsächlich im Subjekt aus subjektiven Faktoren besteht, die für das Subjekt charakteristisch sind und mit dem realen Objekt öfters sehr wenig zu tun haben. (8, 508)
«
33
Naiverweise ist man sich dieser Tatsache nicht bewusst. Jedermann ist überzeugt, seine nächsten Angehörigen am besten zu kennen, so lange bis Missverständnisse und Streit entstehen. Diese könnten uns belehren, dass wir Illusionen zum Opfer gefallen sind. Meist hat man diese Demut jedoch nicht, sondern beginnt sich dann für seine Auffassung zu wehren, womit der Streit unvermeidlich wird. Man sollte mit seiner Wahrnehmung anderen Menschen gegenüber viel skeptischer sein. Unsere Auffassung ist nicht einfach falsch, sondern unsere, nicht eine allgemeingültige, sondern für uns typische. Um zu einer gütlichen Übereinkunft zu kommen, müsste aus der Imago zuerst der subjektive Anteil ausgeschieden werden. Erst dann ist eine vernünftige Diskussion möglich. Das wäre für viele Ehezwiste zu beherzigen! Ich habe früher (7 Kap. 30) erwähnt, was Jung unter dem subjektiven Faktor versteht, der sich unvermeidlich in alle unsere Wahrnehmungen einschleicht. Wäre man etwas kritischer eingestellt, würde man ihn nie aus den Augen lassen. Der subjektive Faktor erhält dort eine überdimensionale Bedeutung, wo das Ich unbewussterweise mit dem Selbst identisch geworden ist. Dadurch wird das Selbst auf Null reduziert, und das Ich schwillt maßlos an.
» Die unzweifelhaft, weltbestimmende Macht des subjektiven Faktors wird dann in das Ich hineingepresst, wodurch ein ungemessener Machtanspruch und eine geradezu läppische Egozentrizität erzeugt wird. Jede Psychologie, welche das Wesen des Menschen auf den unbewussten Machttrieb reduziert, ist aus dieser Anlage geboren. (6, 625)
«
Man sollte nie vergessen, was der Introvertierte leider viel zu oft tut, dass der subjektive Faktor aus dem Selbst stammt und deshalb ebenso bedeutsam ist wie das äußere Objekt, nach welchem sich der Extravertierte richtet. Die Minderwertigkeitsgefühle des Introvertierten kommen daher, dass er seinen extravertierten Gegenpart so sicher und an die Welt angepasst erlebt. Er vergisst dabei, dass er selber dafür an die Innenwelt angepasst ist, welche ebenso wirklich ist wie die äußere.
» Selbst und Welt sind kommensurable Größen, daher eine normale introvertierte Einstellung ebensoviel Daseinsberechtigung und Gültigkeit hat, wie eine normale extravertierte Einstellung. (6, 626)
«
Pathologisch werden diese beiden Einstellungen, die »feindlichen Brüder«, nur, wenn sich das Ich mit dem Selbst oder dem Objekt identifiziert. Da beginnt der Machtanspruch, weil man aus dem »menschlichen Rahmen« herausgefallen ist. Hinter dem Machtwillen steht in jedem Fall eine Inflation.
» Vereinzelt ist nur das subjektive Bewusstsein. Wenn dieses aber auf seine Mitte bezogen ist, dann ist es dem Ganzen integriert. (11, 427)
«
Das Bewusstsein, das sich von seinem Ursprung gelöst hat, steht vereinzelt da.
467 Objekt, Subjekt, Identität
» Psychologische Existenz ist subjektiv, insoweit eine Idee nur in einem Individuum vorkommt. Aber sie ist objektiv, insoweit sie durch einen consensus gentium von einer größeren Gruppe geteilt wird. (11, 4)
«
33
Wir machen uns ein Bild von der Welt, d. h. der größere Anteil unserer Weltanschauung ist gar nicht das Werk unseres Bewusstseins, sondern wird vom Unbewussten erzwungen.
» Dass die Weltanschauung mit dem Wohl-
Eine Idee kann daher sowohl subjektiv als auch objektiv sein. Subjektiv ist sie als meine Idee, wird sie jedoch auch von anderen Menschen geteilt, so ist sie eine objektive. Diese Unterscheidung spielt eine wichtige Rolle für die Abgrenzung des Normalen gegen Krankhaftes. Nicht die Ideen des Psychotikers sind so absurd, verworren, uneinfühlbar, unverständlich, abstoßend, sondern ihnen fehlt der consensus. Religiöse Aussagen können ebenso irrational sein, wenn man an Tertullians Ausspruch denkt: »Credo quia absurdum est« (Ich glaube es, weil es unmöglich ist), so hat er eben doch den consensus. Das heißt, die Idee berührt etwas Tieferes im Einzelnen.
» Im Gegensatz zum Subjektivismus des Bewusstseins ist das Unbewusste objektiv, indem es sich hauptsächlich in der Form von widerstrebenden Gefühlen, Phantasien, Emotionen, Impulsen und Träumen manifestiert, die man allesamt nicht absichtlich macht, sondern von denen man objektiv befallen wird. (10, 562)
«
» Das kollektive Unbewusste ist alles weniger als ein abgekapseltes, persönliches System, es ist weltweite und weltoffene Objektivität. Ich bin das Objekt aller Subjekte in völliger Umkehrung meines gewöhnlichen Bewusstseins, wo ich stets Subjekt bin, welches Objekte hat. (9/I, 46)
«
Das ist dem Neurotiker der Stein des Anstoßes. Er möchte mit seinem Bewusstsein das Leben meistern und gerät immer wieder in Fallen.
» Ein objektives Psychisches, ein Fremdes, nicht zu Bewältigendes steht unverrückbar mitten in unserer Willkürherrschaft drin. (10, 309)
«
befinden der Psyche direkt zusammenhängt, können wir schließlich schon daran sehen, dass die Art und Weise des Auffassens, nämlich die Anschauung, für den Menschen und sein seelisches Befinden von geradezu gewaltiger Bedeutung ist, so sehr nämlich, dass man beinahe sagen könnte, die Dinge seien viel weniger so, wie sie sind, als vielmehr, wie wir sie sehen. (16, 218)
«
> Anschauung ist die Art und Weise des Auffassens. Erfüllt unsere Anschauung die Bedürfnisse der Seele, so fühlen wir uns wohl und dann ist sie für uns richtig. Es gibt kein objektives Kriterium für die wahre Weltanschauung.
Aber man spürt, welche falsch ist und die Seele nicht befriedigt. Eine bloß wissenschaftliche Anschauung genügt der Seele nicht, denn
» … die empirische Wissenschaft setzt rational beschränkte Objekte, indem sie durch beabsichtigten Ausschluss des Zufälligen das wirkliche Objekt als Ganzes nicht in Betracht kommen lässt, sondern immer nur einen für die rationale Betrachtung desselben hervorgehobenen Teil. (6, 759)
«
Der Individuationsprozess besteht darin, sich aus der Verflechtung mit der Umwelt zu lösen. Denn die meisten Konflikte entstehen aus dieser Nichtunterschiedenheit.
» Das individuierte Ich empfindet sich als Objekt eines unbekannten und übergeordneten Subjektes. (7, 405)
«
468
Kapitel 33 • Objekt, Subjekt, Identität
» In den letzten Stadien einer Analyse tritt häufig die Objektivierung von Bildern an die Stelle von Träumen. […] Die Analyse ist ein Prozess beschleunigter Reifung. (18/I, 399)
«
> Man könnte den Individuationsprozess eine Objektivierung der eigenen Existenz nennen.
Literatur Primärliteratur (Quellen) 1
Jung CG (1995) Der archaische Mensch. Europäische Revue VII/3, Berlin 1931. In: Seelenprobleme der Gegenwart, Zurück 1931, 1933, 1946, 1950, 1969. GW 10, 104–147
Sekundärliteratur 2
3
33
Ribi A (2002) Anthropos. Der ewige Mensch. Der ewige göttliche und kosmische Mensch in Geschichte, Politik und Tiefenpsychologie. Peter Lang, Bern. Kap. 2. S. 35 Ribi A (1993) Die feindlichen Brüder. Extraversion – Introversion. Kundschafter, Brugg
469
Entwicklungspsychologie 34.1
Frühe Kindheit – 471
34.1.1 34.1.2 34.1.3 34.1.4
Bewusstsein – 471 Störungen – 472 Eltern – 476 Elternbild, Elternimago – 479
34.2
Mutter – 483
34.3
Vater – 486 Literatur – 487
A. Ribi, Neurose – an der Grenze zwischen krank und gesund, DOI 10.1007/978-3-642-16148-3_34, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
34
470
Kapitel 34 • Entwicklungspsychologie
Das Thema Entwicklungspsychologie allein würde ein ganzes Buch füllen, weil die jugendliche Entwicklung den Grundstein zur Persönlichkeit legt, weil der Mensch schon mit einer Grundzeichnung seines Schicksals im Leben antritt und weil in dieser plastischen Phase Einflüsse der Umwelt von ungleich stärkerer Wirkung sind als später. Darum ist diese Phase auch ungleich anfälliger auf Störungen als später. Ja, es gibt Psychologien, welche alle späteren Persönlichkeitsstörungen als in der Jugend entstanden verstehen wollen.
34
Daraus ergibt sich für jedermann einsichtig, dass der Kindheit eine große (die größte?) Bedeutung in der psychologischen Entwicklung des Menschen zukommt, sie ist am meisten störanfällig. Gehen wir – nach dieser Erkenntnis – auch genügend sorgfältig mit unseren Kindern um? Eine Einsicht ist erst dann eine wirkliche Einsicht, wenn wir daraus die nötigen Konsequenzen ziehen. Es kann hier daher nicht bloß darum gehen, die normale Entwicklung des Kindes darzustellen, sondern auch gleichzeitig auf die möglichen Störungen aufmerksam zu machen. Damit wird das Thema nicht nur die Kinder betreffen, sondern ebenso die Erwachsenen, welche Einfluss auf die Kinder haben. Wir können nämlich die besten Bücher über Erziehung lesen, sie werden nicht verhindern können, dass wir unsere Probleme den Kindern unbewusst weitergeben. Es nützt uns darum nicht, alles über Entwicklungspsychologie zu wissen, wenn wir nicht gleichzeitig an uns arbeiten. > Das Wissen um die Psychologie des Kindes hilft uns, unsere eigene Kindlichkeit besser zu verstehen.
»
Im Erwachsenen steckt nämlich ein Kind, ein ewiges Kind, ein immer noch Werdendes, nie Fertiges, das beständiger Pflege, Aufmerksam-
keit und Erziehung bedürfte. Das ist der Teil der menschlichen Persönlichkeit, der sich zur Ganzheit entwickeln möchte. (17, 286)
«
Die Infantilität hat nämlich zwei Gesichter: das eine schaut nach vorne, in die Zukunft und ist positiv, das andere schaut zurück, in die eigene Vergangenheit, ist regressiv und negativ. Wenn man glaubt, in der eigenen Jugend sei etwas schief gelaufen und man wolle das bei den eigenen Kindern korrigieren, so ist der Vorsatz zwar löblich, aber psychologisch unmöglich. Bevor man nicht bei sich das, was schief war, behoben hat, kann man seine Kinder davor nicht bewahren.
»
Alles, was wir an den Kindern ändern wollen, sollten wir zunächst wohl aufmerksam prüfen, ob es nicht etwas sei, was besser an uns zu ändern wäre, so z. B. unser pädagogischer Enthusiasmus. (17, 287)
«
> Mein Thema der Entwicklungspsychologie ist keine abstrakte Schilderung der Entwicklung des Kindes, sondern ebenso sehr ein Appell an die Erzieher zur Selbstprüfung.
Man kann sich relativ leicht in den Gesammelten Werken darüber orientieren, was Jung zu unserem Thema zu sagen hat. Im Band 17 »Über die Entwicklung der Persönlichkeit« sind alle wichtigen Aufsätze beisammen. Ich will aber keine Zusammenfassung davon hier geben, das kann der Interessierte im Original nachlesen. Außerdem findet man vieles vom psychodynamischen Standpunkt her in den Vorlesungen, welche er 1912 an der Fordham University New York gehalten hat, jetzt in Band 4 unter dem Titel »Versuch einer Darstellung der psychoanalytischen Theorie«. Darin stellt er seine Auffassung der Neurose und ihrer Behandlung dar und grenzt sich teilweise von Freud ab. Ich werde vielmehr das zusammentragen, was er dazu in seinem Werk verlauten ließ. Diese Perlen sind schwieriger zu finden.
471 34.1 • Frühe Kindheit
34.1
Frühe Kindheit
Die Lebensgeschichte eines Menschen beginnt nicht mit seiner Geburt; auch nicht mit der Eheschließung seiner Eltern, sondern viel früher.
» Der Mensch ist nämlich »im Besitze« vieler Dinge, die er sich nie erworben, sondern die er von seinen Ahnen ererbt hat. Er wird ja nicht als tabula rasa, sondern bloß als unbewusst geboren. Er bringt aber spezifisch menschlich organisierte, funktionsbereite Systeme mit, welcher er den Millionen Jahren menschlicher Entwicklung verdankt. […] und so bringt der Mensch bei seiner Geburt die Grundzeichnung seines Wesens und zwar nicht nur seiner individuellen, sondern auch seiner kollektiven Natur mit. (17, 728)
«
Aus diesen angeborenen, typisch menschlichen Anlagen ergibt sich auch das psychogenetische Grundgesetz, dass die individuelle Entwicklung einer Wiederholung der Stammesgeschichte darstellt.
» Die Vermutung, dass auch in der Psychologie die Ontogenese der Phylogenese entspreche, ist gerechtfertigt. (5, 26)
«
» In unserer Kindheit wiederholt sich nach dem phylogenetischen Grundgesetz noch ein Anklang an die Prähistorie der Rasse und der Menschheit überhaupt. (10, 55)
«
Die Pioniere der Psychoanalyse glaubten noch, unter dem Eindruck der Aufklärung, der Mensch müsse nach der Geburt alles lernen, was er zum Leben brauche; eben er komme als tabula rasa in die Welt. Doch ist es wenig wahrscheinlich, dass alle Tiere mit einem angeborenen Programm antreten würden, das sie typischerweise zu dem werden lässt, was ihrer Art entspricht, nur ausgerechnet der Mensch als »Krönung der Schöpfung« nicht! Die Ethologie hat diese Ansicht von
34
Jung nicht nur für die Tierwelt tausendfach bestätigt (Lorenz, Kummer, Tinbergen u. a.), sondern auch für den Menschen (Eibl-Eibesfeldt).
Das ist eine wichtige Feststellung nicht allein aus wissenschaftlichen Gründen, sondern für die Erziehung. Mit der »Tabula rasa«-Vorstellung würde der Mensch als »Wilder« zur Welt kommen, dem die Erziehung zuerst »Manieren« beibringen müsste, um ihn zu einem zivilisierten Wesen zu machen (etwa so wie Robinson Crusoe den »Freitag« zu einem menschlichen Wesen machte). Mit der neuen Auffassung wird jene Erziehungsmethode die beste sein,
» … welche einen Baum aufzuziehen versteht, der alle von der Natur in ihn gelegten Wachstumsbestimmungen am vollkommensten erfüllt. (4, 442)
«
34.1.1
Bewusstsein
Wenn wir uns nun der eigentlichen kindlichen Entwicklung zuwenden, so ist der große Unterschied gegenüber jeglicher Entwicklung eines Tieres die Ausbildung des Bewusstseins. Dieses tritt allerdings erst nach einigen Jahren insulär auf.
» Der seiner selbst unbewusste Zustand der ersten zwei bis drei Lebensjahre kann dem psychischen Zustand des Tieres verglichen werden [was nicht negativ zu verstehen ist!]. Es ist ein Zustand des völligen Verschmolzenseins mit den Umweltbedingungen. Wie das Kind im embryonalen Zustand fast nichts anderes ist als ein Teil des mütterlichen Körpers und ganz von dessen Zustand abhängig, so ist auch die frühinfantile Psyche gewissermaßen nur ein Teil der mütterlichen Psyche. […] Der erste psychische Zustand ist ein Verschmolzensein mit der elterlichen Psychologie. Daher kommt es, dass die nervösen und psychischen Störungen der Kinder bis
472
Kapitel 34 • Entwicklungspsychologie
weit ins schulpflichtige Alter hinein sozusagen ausschließliche auf Störungen der psychischen Sphäre der Eltern beruhen. (17, 106)
«
Wir müssen uns fragen, wie es denn in diesem Stadium um die Bewusstheit steht. Warum hat der Mensch in offenkundigem Gegensatz zur Tierwelt überhaupt Probleme?
»
Probleme gibt es keine ohne Bewusstsein. (8, 764)
«
Ohne Bewusstsein lebt das Kind aus seinen Instinkten (7 Kap. 27). Es kennt noch keine Probleme, weil noch nichts vom Subjekt abhängt, indem das Kind noch ganz in der seelischen Atmosphäre der Eltern lebt, wie wenn es noch gar nicht völlig geboren wäre. Die seelische Geburt und damit die bewusste Unterscheidung von den Eltern erfolgt erst mit dem Einbruch der Pubertät. Mit dieser physiologischen Revolution ist auch eine geistige verbunden: Flegeljahre.
» Bis zu dieser Epoche ist die Psychologie des
34
Individuums wesentlich triebmäßig und daher ohne Probleme. […] Es unterwirft sich (allfälligen Schranken) oder umgeht sie, völlig eines mit sich selber. Es kennt keine Selbstgespaltenheit. […] Dieser Zustand kann erst eintreten, wenn die äußere Schranke zu einer inneren wird, das heißt wenn ein Trieb sich gegen den anderen auflehnt: Der problematische Zustand, die innere Entzweiung tritt dann ein, wenn neben der Ichreihe eine zweite Ichreihe von ähnlicher Intensität entsteht, […] sozusagen ein anderes, zweites Ich, das gegebenenfalls die Führung dem ersten Ich sogar abnehmen kann. Daraus geht die Entzweiung mit sich selbst, der problematische Zustand hervor. (8, 757)
«
34.1.2
Störungen
Für Jung beginnt die neurotische Spaltung nicht schon in der frühen Kindheit, weil noch kein Subjekt vorhanden ist. Damit unterscheidet er sich von den meisten anderen Schulen. Daher wird in der Psychotherapie auch nicht die ganze Jugendzeit »umgeackert«. Bei Störungen im Kindesalter ist zuerst bei den Eltern nachzuforschen. Wegen der »participation«, in welcher das Kind lebt, übertragen sich die Schwierigkeiten der Eltern, welche diese nicht sehen wollen, auf das Kind als dem schwächsten Glied der Kette.
» Schwierigkeiten in der Beziehung der Eltern zueinander spiegeln sich unfehlbar in der Psyche des Kindes wider und können dort geradezu krankhafte Störungen veranlassen. Auch bezieht sich der Inhalt der Träume kleiner Kinder oft weit mehr auf die Eltern als auf das Kind selbst. (17, 106)
«
Da die Eltern für Störungen im Kindesalter eine so wichtige Rolle spielen, kommt ihre Psychologie viel mehr ins Spiel als jene des Kindes selbst.
» Das Kind ist normalerweise noch (selber) problemlos, wohl aber ist es mit seiner komplizierten Psyche den Eltern, Erziehern und Ärzten ein Problem erster Ordnung. Erst der erwachsene Mensch kann sich selber zweifelhaft sein und daher auch mit sich selber uneins werden. (8, 760)
«
z
Trauma, Missbrauch
Am Anfang der Psychoanalyse hat man dem Trauma für die Ätiologie der Neurose in der Jugend eine große Bedeutung zugemessen (4, 294ff.). Jung dreht den Spieß um und meint: Welches Kind hat sicher nie ein Trauma erlebt? Demnach müssten die meisten neurotisch geworden sein, wenn das Trauma für die Entste-
473 34.1 • Frühe Kindheit
hung der Neurose kausal wäre. (Diskussion über die Traumatheorie; 7 Erstes Buch, 7 Kap. 4). Dasselbe gilt auch für den Missbrauch jeglicher Art in der Jugend. Das Kind hat anscheinend eine normale Heilungstendenz für solche Wunden in der Jugend, damit sie nicht ins Erwachsenenalter mitgeschleppt werden.
» Wir besitzen kein Kriterium für die Wirkungsmöglichkeit eines Traumas, da dies ein höchst relativer Begriff ist. (4, 403)
«
Glücklicherweise sind wir heute vom Thema der Traumata bis auf einige Ewiggestrige weggekommen.
» Wir verdanken der falschen Hypothese eine vorher nie erreichte Höhe der Einsicht in die Determination des neurotischen Symptoms, eine Höhe, die wir nie erreicht hätten, wenn nicht die Forschung diesen Weg, den eigentlich die irreführende Tendenz des Kranken gewiesen hat, beschritten hätte. (4, 302)
«
Im Laufe der Entwicklung der Psychoanalyse hat es sich herausgestellt, dass die meisten Phantasien von Missbrauch und Trauma durch entsprechende Erwartungen des Analytikers zustande kamen. Die meisten Geschichten von Traumata in der Jugend scheinen bloß als Erlebnis wichtig, nicht aber als Wirklichkeit. Denn außer der Tatsache, was wirklich passiert, kommt ebensoviel darauf an, wie das Erlebnis verarbeitet wird. Früher versuchte man, in der Vergangenheit der Eltern den »Kernkomplex« der Neurose (Freud) zu suchen. Auch diese Suche war größtenteils ein Irrweg, weil er noch die konkreten Eltern meinte. Heute weiß man, dass die Elternimagines, also das, wie jemand seine Eltern sieht, viel wichtiger sind.
» Der Komplex der Elternimagines ist die Summe der auf die Eltern sich beziehenden Vorstellungen. (4, 306)
«
34
So sehr der Einfluss der Elternimagines nicht zu unterschätzen ist, gibt es auch Fälle, wo die konkreten Eltern durch eigenes widerspruchsvolles Gebaren die Kinder dermaßen unsinnig behandeln, dass sie krank werden. In solchen Fällen sollten die Kinder aus dem schädigenden Milieu entfernt werden, um sich von selbst ohne Behandlung normalisieren zu können. Die Elternimagines spielen viel eher bei der Erwachsenenneurose eine Rolle.
» Die Beurteilung von Reminiszenzen zur Inszenierung […] einer scheinbaren Ätiologie nennt man eine Regression der Libido. Die Libido geht zurück auf Erinnerungen und aktiviert sie, so dass dadurch eine scheinbare Ätiologie vorgetäuscht wird. (4, 365)
«
Die Reminiszenz ist nicht nur ein Täuschungsmanöver, sondern lenkt auch von der wirklichen Problematik ab. Statt sich mit dem eigentlichen Problem auseinanderzusetzen, kann man endlos Zeit vertun mit den Einzelheiten des früheren Traumas.
» Je früher ein Eindruck der infantilen Vorzeit stattgefunden haben soll, desto verdächtiger ist seine Wirksamkeit. […] Je früher ein eindrucksvolles Erlebnis angesetzt wird, desto phantastischer und regressiver ist es, […] vom fünften Lebensjahr an rückwärts kann ihm wohl nur Regressivbedeutung beigemessen werden. (4, 403)
«
Versteht man mit Freud die Neurose als einen missglückten Heilungsversuch, so muss man den Phantasien einen doppelten Charakter beimessen: einerseits als krankhafte, widerstrebende Tendenz und andererseits als fördernde und einübende Tendenz, die ihn zum Nachdenken und zur Introversion bewegt. Er muss ja eine neue Anpassung und einen neuen Lebensplan finden.
474
Kapitel 34 • Entwicklungspsychologie
> Statt in der Vergangenheit zu bohren, gilt es, den Aktualkonflikt aufzufinden.
Der Patient ist uneins mit sich selber und seine Neurose ist eine Reaktion auf den Aktualkonflikt.
» Welche Aufgabe will der Patient nicht erfüllen? Welcher Schwierigkeit des Lebens sucht er auszuweichen?« (4, 409)
«
Letztlich liegt die Ursache der Neurose nicht im Gestern, sondern im Heute und zwar in einem Nichterfüllen der Anpassungsleistung, sei es nach außen oder nach innen. Der Patient steht wegen seiner Krankheit partiell oder total außerhalb des Lebens. Oft tritt seine Phantasie an die Stelle der Wirklichkeit. Der Therapeut hat die darin gebundene Libido zu befreien, denn oft befinden sich darin schöpferische Keime. Jetzt bin ich nur scheinbar vom Thema in die Psychologie der Neurose des Erwachsenen abgeschweift. Das geschah, um dem Leser deutlich zu machen, inwiefern der Kindheit nach heutiger Ansicht nicht mehr jene zentrale Bedeutung für das Verständnis der Neurosen zukommt als früher.
» Werfen wir hier einen kurzen Blick zurück
34
Der Konflikt kann daher schon in einer disharmonischen Anlage vorgezeichnet sein.
» Die Kindheit ist nicht nur darum von Bedeutung, weil dort einige Instinktverkrüppelungen ihren Anfang genommen haben, sondern auch darum, weil dort jene weitausschauenden Träume und Bilder, welche ein ganzes Schicksal vorbereiten, erschreckend oder ermutigend vor die kindliche Seele treten, zugleich mit jenen rückblickenden Ahnungen, die weit über den Umfang der kindlichen Erfahrung in das Leben der Ahnen hinausgreifen. (8, 98)
«
Diese neuen Erkenntnisse lassen unser Bild von der Bedeutung der Kindheit, das wir bisher hatten, antiquiert erscheinen und uns erahnen, dass sich da Dinge in ganz anderen als persönlichen Dimensionen abspielen.
» Das Kind lebt in einer prärationalen und vor allem vorwissenschaftlichen Welt, in der Welt jener Menschheit, die vor uns war. In jener Welt liegen unsere Wurzeln, und in diesen Wurzeln wächst jedes Kind empor. Seine Reife entfernt es von den Wurzeln, und seine Unreife verhaftet es daran. (17, 250)
«
auf das Gesagte: Die erste Bewusstseinsform, die des bloßen Erkennens (beim Kleinkind), ist ein anarchischer oder chaotischer Zustand. Die zweite Stufe, nämlich die des ausgebildeten Ichkomplexes, ist eine monarchistische oder monistische Phase. Die dritte Stufe bringt wiederum einen Bewusstseinsfortschritt, nämlich das Bewusstsein der Zweiheit, eines dualistischen Zustandes. (8, 758)
Wir können das Neue nur erfassen, wenn wir auf die Menschheitserfahrung unserer Altvorderen zugreifen können.
» Jedes Kind wird eigentlich mit einer ungeheu-
Der Mensch schreckt anscheinend derart vor dem Neuen zurück, dass es ihn Jahrhunderttausende kostete, um in der Prähistorie nur die kleinsten Fortschritte zu machen. Die Instinktgrundlage des Menschen ist äußerst konservativ.
«
ren Inkongruenz geboren; einerseits ein sozusagen tierähnliches, unbewusstes Wesen, andererseits die letzte Verkörperung einer uralten und unendlich komplizierten Erbsumme. (8, 97)
«
» Das Neue ist immer fragwürdig und bedeutet ein Zu-Erprobendes. […] Ein wohlabgewogenes Urteil aber verlangt einen festen Standpunkt, der nur auf einer gründlichen Kenntnis des Gewordenen beruhen kann. (17, 251)
«
34
475 34.1 • Frühe Kindheit
» So wird die bewusste Persönlichkeit, ohne
Später hätte Jung diesen Einfluss wohl dem Selbst zugeschrieben. Hier ist es noch eine frühe Formulierung (1909), in welcher er sich sehr zurückhaltend ausdrückt:
»weder Fisch noch Vogel«, weder Kinder, die am Schürzenzipfel der Mutter hängen, was sie so gerne tun würden, noch Erwachsene, als welche sie sich gerne gebärden mit Rauchen, Drogen und Sich-Besaufen, was sie noch gar nicht sind. Sie leiden daher unter Minderwertigkeitsgefühlen und müssen durch unflätiges Benehmen auf sich aufmerksam machen, weil man sie sonst übersehen könnte. Wenn man versteht, was in ihnen vorgeht, kann man ihr Verhalten eher akzeptieren. Ich habe damals, als wir in Zürich Jugendunruhen hatten, einen Artikel für die Neue Zürcher Zeitung geschrieben [8]. Darin warb ich für mehr psychologisches Verständnis für diese Entwicklungsphase. Die Eidgenössische Jugendkommission lud daraufhin insgesamt nur zwei Autoren, mich eingeschlossen, zur Diskussion ein; angesichts der Fülle an Artikeln, die damals veröffentlicht wurden, bemerkenswert. Das hat mich natürlich auch gefreut, dass die Jungsche Psychologie ein bisschen auch Eingang ins politische Geschehen gefunden hat. Wir sind der kindlichen Entwicklung vorausgeeilt; wir sind bei der frühinfantilen Phase stehen geblieben.
» Es ist ein mehr oder weniger deutliches Fest-
» Eine gewisse Änderung tritt ein, wenn das
halten an der Bewusstseinsstufe der Kindheit, ein Sträuben gegen die Schicksalsmächte in uns und um uns, die uns in die Welt verwickeln wollen. Etwas möchte Kind bleiben, ganz unbewusst, oder doch wenigstens nur seines Ich bewusst sein, alles Fremde ablehnen oder es dann wenigstens seinem eigenen Willen unterjochen, nichts tun oder dann doch wenigstens seine eigene Lust oder Macht durchsetzen. […] Der Widerstand richtet sich gegen die Erweiterung des Lebens, welche das wesentliche Kennzeichen dieser Phase ist. (8, 764–765)
Kind anfängt, sein Ichbewusstsein zu entwickeln, was sich äußerlich etwa in der Tatsache dokumentiert, dass es anfängt »ich« zu sagen. Diese Veränderung tritt normalerweise zwischen dem dritten und dem fünften Lebensjahr ein. […] Von diesem Moment an können wir von der Existenz einer Individualpsyche reden. Normalerweise erreicht aber die Individualpsyche erst nach der Pubertät eine relative Selbständigkeit, bis dahin ist sie in hohem Maße ein Spielball der Triebe und der Umweltbedingungen. (17, 107)
es zu merken, als eine Figur unter anderen auf das Schachbrett eines unsichtbaren Spielers geschoben. Und es ist dieser, der die Schicksalspartie entscheidet, nicht das Bewusstsein und seine Absicht. (7, 251)
«
» Wenn das Kind heranwächst, so beginnt der Kampf der infantilen Einstellung mit der fortschreitenden Bewusstheit; der aus vorhistorischer (infantiler) Zeit datierende Elterneinfluss wird verdrängt und gerät ins Unbewusste, ist damit aber nicht eliminiert, sondern leitet mit unsichtbaren Fäden die scheinbar individuellen Schöpfungen des reifenden Geistes. Wie alles, was ins Unbewusste geraten ist, schickt auch die ursprüngliche infantile Situation noch dunkle, ahnungsreiche Gefühle ins Bewusstsein, nämlich Gefühle geheimer Lenkung und jenseitigen Einflusses. (17, 739)
«
«
Die Pubertät, um die es sich hier handelt, ist eine schwierige Übergangsphase vom Kindeszum Erwachsenenalter: Die Pubertierenden sind
«
476
Kapitel 34 • Entwicklungspsychologie
34.1.3
Eltern
In dieser Phase spielen die realen Eltern und die Erzieher eine gewisse Rolle.
» Kinder werden durch das erzogen, was der Erwachsene ist, und nicht durch das was er schwatzt. (9/I, 293)
«
Kinder sind nämlich oft gute Psychologen, die ihre Erzieher durchschauen. Die Mutter eines siebenjährigen Jungen, erzählte mir, dass ihr Sohn, wenn er von der Schule komme, sich vor sie hinstelle und sie von unten mustere, dabei überlegt er, ob er sein Anliegen anbringen soll oder nicht, ob die Mutter in einer günstigen Stimmung sei oder eben nicht.
» Die Kinder reagieren in verschiedener Weise auf die Eltern. Sie besitzen demnach individuelle Determinanten. (5, 263)
«
In dieser Zeit geschehen lebensbestimmende Dinge, wie etwa die spielerische Einübung eines Berufes. Das kann man auch an jungen Tieren beobachten, deren Spiel eine Vorwegnahme ihres späteren Verhaltens ist (Adolf Portmann). Das Spiel ist darum für das Kind eine ernste Sache.
34
Der Einfluss der Eltern wird von diesen meist außerordentlich überschätzt. Sie glauben, das Kind zu einem wertvollen, korrekten, angepassten Menschen erziehen zu müssen. Zum Teil stimmt das, doch sehen sie die Möglichkeiten der Einflussnahme oft am falschen Ort. Wie oben zitiert, ist es mehr ihre Persönlichkeit, die wirkt, als ihre pädagogischen Bemühungen.
»
Je »eindrucksvoller« die Eltern sind und je weniger sie sich ihrer eigenen Problematik (oft direkt um der Kinder willen!) annehmen, desto länger und desto mehr haben die Kinder das nichtgelebte Leben der Eltern zu tragen und das zwanghaft zu erfüllen, was diese verdrängt und unbewusst gehalten haben. (17, 252)
«
»
Ungelebtes Leben ist eine vernichtende, unwiderstehliche Macht, die leise, aber unerbittlich wirkt. (10, 252)
«
Eine Frau beschrieb in ihrer Biografie, dass ihre Mutter nach der Heirat mit einem wohlanständigen Mann, ihrem Vater, den »Mann ihres Lebens«, die »große Liebe« kennenlernte, aber, wie das Anfang des 20. Jahrhunderts noch üblich war, sich nicht scheiden lassen wollte. Sie trauerte im Stillen ein Leben lang diesem Mann nach, führte währenddessen als »Hausmütterchen« eine konventionelle Ehe. Der Mann machte eine großartige wissenschaftliche Karriere. Die beiden Kinder hingegen verhungerten seelisch.
» In der Regel ist die Neurose eine pathologisch einseitige Entwicklung der Persönlichkeit, deren kaum wahrnehmbare Anfänge bis in die früheste Kindheit zurückverfolgt werden können. (16, 257)
«
Das muss man cum grano salis verstehen.
» Die bewusste Fähigkeit zur Einseitigkeit ist ein Zeichen höchster Kultur. Die unwillkürliche Einseitigkeit aber, das heißt das Nichtanderskönnen als Einseitigkeit, ist ein Zeichen von Barbarei. (6, 346)
«
Das Leben ist uns geschenkt, und wir können dieses Geschenk nicht verschleudern, weil es uns nicht das gebracht hat, was wir erwartet haben. Ich meine damit keineswegs, dass sich diese Frau hätte scheiden lassen müssen, um ihre »große Liebe« zu heiraten, sondern sie hätte sich eingestehen müssen, dass es da ein »höllisches« (im wörtlichen Sinn!) Problem gibt.
34
477 34.1 • Frühe Kindheit
» Wir wissen zunächst nicht, welche Taten oder Untaten, welches Schicksal, welches Gutes und welches Böse wir enthalten; und erst der Herbst wird zeigen, was der Frühling gezeugt hat, und erst am Abend wird deutlich sein, was der Morgen begann. (17, 290)
«
Wir können nicht darüber entscheiden, was wir vom Schicksal annehmen oder ablehnen wollen. Eine religiöse Einstellung wird das Schicksal nicht blindlings annehmen, sondern nach dem Sinn fragen, warum es mir diese Aufgabe stellt. Auch sie wird allenfalls mit dem Schicksal hadern, immer aber mit der Absicht im Hintergrund, sich ihm schlimmstenfalls zu beugen.
» Ohne Not verändert sich nichts, am wenigsten die menschliche Persönlichkeit. […] Nur schärfste Not vermag sie aufzujagen. (17, 293)
«
Ich habe mir in meinem Leben nie eingebildet, ich hätte durch mein Bemühen meine Persönlichkeit geformt. Ich spürte stets eine vis a tergo, die mich unter Todesdrohung zwang, voranzugehen.
» Die Entwicklung der Persönlichkeit ist ein solches Glück, dass man es nur teuer bezahlen kann. (17, 294)
«
Man kann nicht wissen, wie weit man in seiner Entwicklung schon gekommen ist. Das ist aber ein Glück, denn jene, die es zu wissen meinen, verfallen sofort der Inflation – im positiven wie im negativen Sinn! Wichtig ist es, einfach zu wissen, dass man unterwegs ist und sein Bestes gibt.
psychologische Entwicklungsmöglichkeiten erkannt, welche die religiöse Sphäre berühren, wo das kritische Urteil sein Ende erreicht. (17, 343)
«
Das ist durchaus kein egoistisches Werk, keine narzisstische Eigenliebe, sondern ein Leiden, das man als eigenes Kreuz auf sich genommen hat für die Kinder und letztlich für die ganze Menschheit.
» In der Regel wird all das aus künstlichen Motiven verhinderte Leben, welches die Eltern leben könnten, in umgekehrter Form auf die Kinder vererbt, das heißt letztere werden unbewusst in eine Lebensrichtung gezwungen, welche das Unerfüllte im Leben der Eltern kompensieren soll. (17, 328)
«
Das sind sehr häufige Ereignisse, wo die Mutter der Tochter einen Mann empfiehlt, der ihr gefällt, in welchen sie mehr verliebt ist als die Tochter. Oder wo der Vater den Sohn in einen Beruf drängt, den er nicht ergreifen konnte oder den er verpasst hat. Natürlich wird das alles unter dem Titel »fürsorglicher Liebe zu den Kindern« gemacht.
» Wer sich vor dem Neuen, Fremden schützt und zum Vergangenen regrediert, ist in der gleichen neurotischen Verfassung wie derjenige, der, mit dem Neuen sich identifizierend, der Vergangenheit davonläuft. […] Beide tun prinzipiell dasselbe: sie retten ihre Bewusstseinsenge, anstatt sie durch Kontrast der Gegensätze zu sprengen und dadurch einen weiteren und höheren Bewusstseinszustand aufzubauen. (8, 767)
«
» Es ist, wie wenn jedes Individuum ein spezifisches Gewicht hätte, dem entsprechend es steigt oder sinkt zu jener Stufe, wo es seine Grenze erreicht. […] Auf höherer Stufe werden neue
z
Ödipuskomplex
Die »Erzsünde« bei Freud ist, wie allgemein bekannt, der Inzest. Der Ödipuskomplex, das tragische Verhängnis, dass Ödipus in der griechischen Mythologie die Mutter freite und den Vater erschlug, scheint der einzige Rückgriff
478
Kapitel 34 • Entwicklungspsychologie
Freuds auf die Mythologie. Das »Sündhafte« besteht darin, dass der Sohn bei der Mutter bleiben möchte und eifersüchtig auf den Vater ist, der ihn aus dem »warmen Nest« vertreiben will. Das Inzestuöse besteht im Verharren im kindlichen Zustand, wo er doch seinen Bewusstseinshorizont erweitern müsste. Freud hat den Mythus konkretistisch verstanden und bei seinen Zeitgenossen viel Ärger ausgelöst, dass ein »unschuldiges Kind« derart perverse Absichten hegen könnte. Wenn man ihn jedoch symbolisch nimmt und nicht nur einseitig vom Sohn ausgehend, so macht er sehr viel Sinn. Auch die Mutter möchte sich von ihren Kindern, denen sie ihre ganze Liebe, Aufopferung und ihre besten Jahre geschenkt hat, nicht trennen, denn sie gaben ihrem Leben Inhalt und Sinn. Die Regressionstendenz ist wie erwähnt eine Angst vor dem Neuen. Das Alte ist bekannt, man kennt seine Licht- und Schattenseiten. Das Neue ist ein Abenteuer, ein Wagnis, dessen Ausgang noch offen ist.
» Die Angst vor dem Schicksal ist nur zu verständlich: er ist ein Unabsehbares und Grenzenloses; es birgt unbekannte Gefahren, und das Zögern des Neurotischen, das Leben zu wagen, erklärt sich unschwer aus dem Wunsche, abseits stehen zu dürfen, um nicht in den gefährlichen Kampf verwickelt zu werden. (5, 165)
«
34
Die Familie hat eine ambivalente Funktion in diesem Problem der endogamen Libido.
» Wenn es schon einerseits ein Unglück ist für ein Kind, keine elterliche Familie zu haben, so ist es andererseits auch wieder eine Gefahr für das Kind, zu fest an die Familie gekettet zu sein. […] Der heranwachsende Mensch ist aber für die Welt bestimmt und nicht dazu, stets ein Kind seiner Eltern zu bleiben. Es gibt nun leider sehr viele Eltern, die ihre Kinder stets als Kinder halten, weil sie selber nicht alt werden noch auf ihre elterliche Autorität und Macht verzichten wollen.
[…] Diese schädliche Methode erzeugt entweder unselbständige Menschen oder solche, die ihre Selbständigkeit nur auf Schleichwegen erzwingen können. (17, 107a)
«
Die Erziehung der Kinder ist eine anspruchsvolle Aufgabe und eine große Kunst.
»
Die kollektive Erziehung (z. B. die Volksschule) ist unerlässlich und kann durch nichts anderes ersetzt werden. (17, 256)
«
»
Alle diejenigen Kinder oder Zöglinge, welche der kollektiven Erziehung erfolgreichen Widerstand entgegensetzen, bedürfen der individuellen Berücksichtigung. (17, 257)
«
» Es kommt relativ häufig vor, dass nicht nur einzelne Erziehungsregeln, sondern die erzieherische Beeinflussung überhaupt auf unüberwindlichen Widerstand stößt. Häufig sind dies sogenannt neurotische Kinder. (17, 258a)
«
Es kommt oft vor, dass Eltern stolz verkünden, ihr Sprössling schlage ganz diesem oder jenem Glied in der Verwandtschaft nach. Oder sie taxieren ihn als schwarzes Schaf, welches ganz aus der Art schlage. Dann fragen sie sich, woher er diese Eigenschaften bloß habe, sie seien bisher in der Familie noch nie vorgekommen.
»
Vieles, was als Heredität in engerem Sinne gedeutet wird, ist vielmehr eine Art von psychischer Kontagion [Ansteckung], die in einer Anpassung der kindlichen Psyche an das Unbewusste der Eltern besteht. (8, 248)
«
» Von jeder unbewussten Vermischung und Unabgetrenntheit geht nämlich ein Zwang aus, so zu sein und zu handeln, wie man selber nicht ist. (7, 373)
«
Der Einfluss der Eltern und Erzieher auf das Kind ist ein gewaltiger. Dennoch darf man ihn
479 34.1 • Frühe Kindheit
nicht überschätzen, besonders wenn man ihn persönlich sieht.
» Die weitgehende Beeinflussung durch das Elternbild (Imago!) ist kein abnormes, sondern im Gegenteil ein sehr normales und deshalb sehr allgemeines Phänomen, […] (wenn die Eltern nicht in den Kindern wiedergeboren würden, ginge die Elternimago gründlich verloren, womit alle Kontinuität im Leben des Individuums aufhören würde). Ein solches Kind kann seine Kindheit nicht in sein erwachsenes Leben hinübernehmen; infolgedessen bleibt es unbewusst ein Kind, was die beste Grundlage für eine spätere Neurose ist. (10, 72)
«
» Es ist in einem gewissen Sinne normal, dass Kinder quasi ihre Eltern wieder heiraten. […] Dadurch entsteht Kontinuität, ein vernünftiges Weiterleben des Vergangenen im Gegenwärtigen. (10, 73)
«
34.1.4
34
Elternbild, Elternimago
Die Elternimagines spielen nicht so sehr in der Jugend, sondern noch viel mehr im Erwachsenenalter eine bestimmende Rolle. Zunächst gilt es aus der Illusion herauszukommen, die Eltern seien so, wie wir sie uns vorstellen. Darum spricht Jung vom Elternbild, der Elternimago.
» Der naive Mensch ist natürlich des Glaubens, dass die Eltern so sind, wie er sie sieht. (7, 294)
«
» Der Schein, eben das Phantasiebild […] ist nicht die Sache selber, sondern bloß ein Ausdruck. (7, 353)
«
Die Elternimago kann jedoch nicht einfach als Irrtum oder Illusion abgetan werden, denn darin steckt der subjektive Faktor.
» Die Integrierung der in den Elternimagines
Es kommt immer darauf an, ob man die Eltern eines Kindes zu beurteilen hat, das in Behandlung kommt, oder ob es sich um das Elternbild einer erwachsenen Person handelt.
» Alles, was man z. B. infantilerweise den Eltern zutraut oder zuschreiben möchte, wird durch diesen heimlichen Zuschuss (der Verdrängungslibido) ins Phantastische übertrieben, und darum bleibt es eine offene Frage, wieviel von der berüchtigten Inzestphantasie ernst zu nehmen ist. (9/I, 130)
«
abgespaltenen Inhalte hat auf das Unbewusste einen aktivierenden Einfluss, denn diese Imagines sind mit jener Energie geladen, die sie schon anfänglich in der Kindheit besaßen und mit der sie auch im erwachsenen Alter stets schicksalsbestimmend wirkten. (16, 218)
«
Die Integration der Elternimagines ist eine lebenslange Aufgabe in dem Sinne, dass an die Stelle der Eltern andere Inhalte treten, welche diese vollgültig ersetzen.
» Vater und Mutter werden, ob wir dies selbst
Die Syzygie (7 Kap. 16) ist, wie ich früher erwähnt habe, ein archetypisches Bild, das überall und immer wieder auftaucht.
» Der Inhalt ist das Syzygiemotiv, welches ausdrückt, dass mit einem Männlichen zugleich auch immer ein entsprechendes Weibliches gegeben sei. (9/I, 134)
«
wissen oder nicht, durch ihnen Entsprechendes ersetzt, wenn uns die Ablösung von ihnen gelingt. […] Der Mensch braucht eine weitere Gemeinschaft als die Familie, in deren allzu enger Umschnürung er geistig und moralisch verkümmert. Ist er aber mit dieser zu sehr belastet, das heißt ist er noch zu sehr an die Eltern gebunden,
480
Kapitel 34 • Entwicklungspsychologie
dann wird er seine Elternbindung einfach in seine von ihm gegründete Familie übertragen. (17, 158)
«
In der katholischen Kirche wird das ganz deutlich, denn dort ersetzen der »Heilige Vater« und die »Mutter Kirche« die konkreten Eltern. Falls der Mensch diesen nahe liegenden Weg des Gläubigen nicht gehen kann, stellt sich ihm die Aufgabe der Kulturentwicklung.
» Die Vereinigung der Gegensätze auf höherem Niveau ist […] keine rationale Angelegenheit und ebensowenig eine Sache des Wollens, sondern ein psychischer Entwicklungsprozess, der sich in Symbolen ausdrückt. (13, 31)
«
In der Alchemie kehren die Inzestphantasien auf höherem Niveau wieder, weil sie archetypisch sind.
» Der tabuierte Inzest wird (im Hierosgamos)
34
zur Aufgabe gemacht, und zwar, wie die reich entwickelte Allegorik zeigt, immer in irgendwelcher symbolischen Form und nie eigentlich. Man gewinnt den Eindruck, als ob dieser »sakrale« Akt, dessen inzestuöse Natur den Alchemisten keineswegs unbewusst war, […] sich schon (in der cucurbita oder im Glashaus) befände. Wer also diesen Akt eigentlich begehen wollte, müsste schon außer sich und ins Glashaus als in ein Jenseits von ihm selber geraten, wo die runde, gläserne cucurbita eben gerade den mikrokosmischen Raum der Seele selber darstellt. […] Demgegenüber ist festzustellen, dass nur den wenigsten Menschen ein erwähnenswertes Besitztum an inzestuösen Phantasien bewusst ist oder jemals bewusst war. Sind solche Phantasien überhaupt vorhanden so sind sie noch nicht bewusst, wie das kollektive Unbewusste überhaupt. Es braucht schon eine Analyse der Träume und sonstigen Produkte des Unbewussten, um
solche Phantasien sichtbar zu machen. […] Insoweit die Psyche einen unräumlichen Aspekt hat, kann es ein seelisches »Außerhalb-des-Körpers« geben, das heißt eine Region so verschieden von meinem Seelenraum, dass man schon außer sich geraten [Trance] oder sich sonstwie mit Zuhilfenahme einer Technik [Aktive Imagination] bemühen muss, um dorthin zu gelangen. Besteht eine solche Auffassung irgendwie zu Recht, so könnte der alchemistische Vollzug der königlichen Hochzeit im Kolben als ein synthetischer Vorgang im seelischen »Außer-Ich« verstanden werden. (14/ II, 70)
«
Dieses Zitat aus Mysterium coniunctionis zeigt deutlich, dass der Inzest in der psychischen Entwicklung eine zentrale Rolle als vereinigendes Symbol spielt. Er ist eine archetypische Idee, was seine Numinosität und Faszination verständlich macht. Er tritt in den späteren Phasen der Individuation auf, während er in der ersten Lebenshälfte mit einem Tabu belegt ist. Immer jedoch, ob erste oder zweite Lebenshälfte, ist es innerpsychisch und nicht konkret gemeint. Und zwar ist er in der ersten Lebenshälfte darum tabuiert, weil ihre Aufgabe die Entfaltung und Öffnung zur Welt ist und nicht das Beibehalten des bisherigen Zustandes. In der zweiten Lebenshälfte dagegen ist er das Bild der Vereinigung der supremsten Gegensätze, weil ihr Ziel die Sammlung und Einigung ist.
» Am Morgen des Lebens trennt sich der Sohn mit Schmerzen von der Mutter und dem heimatlichen Herde, um sich zu der ihm bestimmten Höhe emporzuringen, seinen schlimmsten Feind oft vor sich wähnend und ihn doch in sich tragend, jene gefährliche Sehnsucht nach dem eigenen Abgrund, nach dem Ertrinken in der eigenen Quelle, nach dem Hinabgezogenwerden in das Reich der Mütter. Sein Leben ist ein beständiges Ringen mit dem Ausgelöschtwerden, eine gewaltsame und vorübergehende Befreiung von der stets lauernden Nacht. Dieser Tod ist kein
34
481 34.1 • Frühe Kindheit
äußerer Feind, sondern ein eigenes und inneres Sehnen nach der Stille und der tiefen Ruhe eines gewussten Nichtseins, dem hellsehenden Schlafe im Meere des Werdens und Vergehens. Selbst in seinem höchsten Streben nach Harmonie und Ausgeglichenheit, nach philosophischer Vertiefung und künstlerischer »Ergriffenheit« sucht er den Tod, die Bewegungslosigkeit, die Erfülltheit und die Ruhe. […] Alles Junge wird einmal alt, alle Schönheit verwelkt, alle Wärme erkaltet, jeder Glanz erlischt, und jede Wahrheit wird schal und flach. (5, 553)
«
Zu diesen poetischen, fast hymnischen Sätzen habe ich nichts beizufügen.
» Der Sohn lässt die Mutter, die Quelle seines Lebens, hinter sich, getrieben von einer unbewussten Sehnsucht, sie wieder zu finden, um in ihren Schoss zurückzukehren. Jedes Hindernis, das sich auf seinem Lebenspfad türmt und seinen Aufstieg bedroht, trägt schattenhaft die Züge der furchtbaren Mutter, die mit dem Gifte des heimlichen Zweifels und des Zurückweichens seinen Lebensmut lähmt, und in jeder Überwindung gewinnt er die lächelnde liebe- und lebensspendende Mutter wieder – dieses Bild ist, als sozusagen musikalische Figur, als kontrapunktische Wandlung des Gefühls, unendlich einfach und unmittelbar einleuchtend. (5, 611)
«
Das Leben des Sohnes ist von der furchtbaren Mutter bedroht. Die Mutterimago ist paradox: einerseits ist sie das lockende Leben, andererseits ist sie Abgrund und Tod.
» Der »Sohn« nämlich ist ein Übergang, ein intermediärer Zustand, einesteils noch Kind, anderenteils schon erwachsen. […] Die vermehrte Diskrimination erzeugt Gegensätzlichkeiten, die früher unbewusst waren, jetzt aber unumgänglich sind, da ohne klare Erkenntnis derselben keine wirklichen moralischen Entscheidungen gefällt werden können. Der Zustand des »Soh-
nes« ist daher ein Konfliktzustand par excellence: die Wahl der möglichen Wege ist von ebenso vielen Abwegen bedroht. (11, 272)
«
Doch wann ist der Sohn erwachsen? Das kann man nicht mit Jahren angeben, denn es gibt solche, die ein Leben lang nicht aus dem Sohn-Zustand herausfinden (»puer aeternus«).
» Die Erwachsenheit ist dann erreicht, wenn der Sohn seinen eigenen Kindheitszustand dadurch wieder herstellt, dass er sich einer väterlichen Autorität unterwirft, entweder in psychologischer Form oder faktisch, in projizierter Form. […] Der Übergang in diese dritte Phase ist von ungewöhnlichen geistigen Gefahren bedroht, welche hauptsächlich in instinktwidrigen, rationalistischen Abwegen besteht. Es handelt sich bei dieser Wandlung darum, […] dass ein Erwachsener genügend ehrliche Selbstkritik und Demut aufbringt, um einsehen zu können, wo oder in Beziehung wozu er sich als Kind, das heißt als irrational und unreflektierter Empfangender verhalten muss. (11, 273)
«
Jede dieser drei Lebensphasen beinhaltet einen schwierigen Übergang. Dafür gab es früher gewisse Riten (Übergangsriten), die dem Menschen in symbolischer Form halfen, diesen Übergang eher zu bewerkstelligen.
» Die sehr häufigen neurotischen Störungen des erwachsenen Alters haben alle das eine gemeinsam, dass sie nämlich die Psychologie der Jugendphase über die Schwelle des berühmten Schwabenalters hinüberretten wollen. (8, 776)
«
Das »Schwabenalter« ist eine sprichwörtliche Redensart: »40 Jahre alt werden und endlich zu Verstand kommen!«
482
Kapitel 34 • Entwicklungspsychologie
» In dieser Lebensphase, eben zwischen fünfunddreißig und vierzig, bereitet sich nämlich eine bedeutende Veränderung der menschlichen Seele vor. (8, 773)
«
Wir haben die meisten dieser Übergangsriten inzwischen aufgegeben und uns damit einen Zustand der geistigen Armut eingehandelt. Der moderne Mensch weiß gar nicht mehr, welche gewaltigen Mächte in seiner Brust wesen.
» Wir leben in einer Welt, die von oben bis unten in zwei Teile zerrissen ist. […] Wir müssen unserem Schatten ins Auge sehen. Offenbar will Gott nicht, dass wir kleine Kinder bleiben, die nach Eltern Ausschau halten, welche ihnen die Aufgabe abnehmen. […] Gott will wirklich Mensch werden, selbst wenn es ihn auseinanderreißt. (18/II, 1661)
«
Jung schrieb im Aufsatz »Die Lebenswende«
(1930):
» Im modernen Geschäftsleben z. B., besonders in Amerika, ist das sogenannte break-down, der nervöse Zusammenbruch, nach dem vierzigsten Jahr ein ungemein häufiges Ereignis. (8, 783)
«
34
Inzwischen hat diese Neurose den Atlantik überquert und ihren Namen gewechselt. Bei uns hat sie sich als »burn-out« eingebürgert. Das ist die Folge unserer Aufgeklärtheit, welche glaubt auf Übergangsriten verzichten zu können.
und Wiedergeburt. Der Papst als Pater patrum und die Ecclesia mater sind die Eltern einer Familie, welche die ganze Christenheit umfasst, insofern diese nicht dagegen protestiert. […] So ist ein Platz gefunden für die stets aktiven Elternimagines sowohl wie für das nicht auszulöschende Kindheitsgefühl, das sinnvoll im Schosse dieser Ordnung geborgen ist. […] Die Kommunion ist recht eigentlich der Familientisch, an dem sich die Angehörigen versammeln und im Beisein der Gottheit das Mahl einnehmen, nach weit in die christliche Vorzeit zurückreichendem, heiligem Gebrauch. (16, 215)
«
Leider sind dieser Symbole für viele verblasst und haben ihren Sinn als Ersatz der Elternimagines nach der Ablösung verloren.
» Wir können den Nachmittag des Lebens nicht nach demselben Programm leben wie den Morgen, denn was am Morgen viel ist, wird am Abend wenig sein und was am Morgen wahr ist, wird am Abend unwahr sein. (8, 784)
«
»
Der Sinn des Morgens ist unzweifelhaft die Entwicklung des Individuums, seine Festsetzung und Fortpflanzung in der äußeren Welt und die Sorge für die Nachkommenschaft. Das ist der offensichtliche Naturzweck. (8, 787)
«
» Kindheit und hohes Alter sind zwar äußerst verschieden, aber haben das eine gemeinsam, nämlich das Eingetauchtsein in unbewusst Seelisches. (8, 795)
«
»
Schon auf primitivster Stufe finden wir in der Tat gewisse einschneidende Maßnahmen in allen jenen Lebensmomenten, wo psychische Übergänge zu bewerkstelligen sind. (16, 216)
«
» Auf höherer, zivilisierter Stufe sehen wir die großen Religionen am selben Werk. […] Eine patriarchale Ordnung nimmt den Erwachsenen auf in eine neue Kindschaft durch geistige Zeugung
Wir haben von den Elternimagines gesprochen und damit zum Ausdruck gebracht, dass
» … auch der Mensch, den wir am besten zu kennen vermeinen, und der uns selber bestätigt, dass wir ihn restlos verstehen, uns im Grunde genommen fremd ist. Er ist anders. (7, 363)
«
483 34.2 • Mutter
Darüber gibt man sich selten Rechenschaft, oft nicht einmal dann, wenn Missverständnisse auftreten.
» Die Neurosen junger Leute entstehen in der Regel aus einem Zusammenstoß zwischen den Mächten der Realität und einer ungenügenden, infantilen Einstellung, welche kausal durch eine abnorme Abhängigkeit von den realen oder imaginären Eltern, final durch unzulängliche Fiktionen, das heißt Zweckabsichten und Strebungen, charakterisiert ist. Hier sind Freudsche und Adlersche Reduktionen durchaus am Platz. (7, 88)
«
» Der Neurotiker ist ein Mensch, welcher der Illusion zum Opfer fällt. Wer aber getäuscht wird, täuscht selber. (17, 202)
«
Man täuscht sich am meisten, wenn man sagt: »mein Vater« oder »meine Mutter«. Man glaubt sie ja von Kindheit an zu kennen wie niemand sonst. Gerade weil man mit ihnen von Kindesbeinen an verbunden ist, hat sich ihr Bild viele Male mit der Entwicklung des Kindes gewandelt. Zudem steht hinter diesen Personen, worüber man sich ebenfalls selten Rechenschaft gibt, der Archetypus, so dass es nahezu unmöglich ist, von ihnen ein objektives Bild zu entwerfen. Ich kann von ihnen immer nur sagen: so habe ich sie erlebt. Doch im Grunde sind sie mir ein Rätsel. Wie ich sie erlebe, hat jedoch weitreichende Konsequenzen auf mein Leben. Und zwar sind es mehr die archetypischen Züge in der Imago als die persönlichen. Zu Beginn meiner Lehranalyse träumte ich oft von Menschen auf den Straßen, welche so hoch wie zweistöckige Häuser waren. Ich habe mich gewundert, dass es so große Menschen gibt, die fast wie die Figuren von Alberto Giacometti aussahen. Ich verstehe erst jetzt, was mir die Träume damals sagen wollten: Hinter den realen Eltern stehen die ihnen »haushoch« überlegenen archetypischen.
34
Mutter
34.2
Man sollte sich deshalb in der Analyse nicht zu lange bei den realen Eltern aufhalten, sondern von den »wirklichen« reden, wobei wirklich ist, was wirkt.
» Die Trägerin des (Mutter-)Archetypus ist in erster Linie die persönliche Mutter, weil das Kind zunächst in ausschließlicher Partizipation, das heißt in unbewusster Identität mit ihr lebt. Die Mutter ist nicht nur die physische, sondern auch die psychische Vorbedingung des Kindes. […] Je weiter der Archetypus vom Bewusstsein entfernt wird, desto klarer wird dieses, und umso deutlichere mythologische Gestalt nimmt jener an. (9/I, 188)
«
» Je ferner und unwirklicher die persönliche Mutter, desto tiefer greift die Sehnsucht des Sohnes in die Tiefen der Seele und erweckt jenes urtümliche und ewige Bild der Mutter, um dessentwillen alles Umfassende, Hegende, Nährende und Hilfreiche uns Muttergestalt annimmt, von der alma mater der Universität bis zur Personifikation von Städten, Ländern, Wissenschaften und Idealen. (13, 147)
«
Das schreibt Jung über Paracelsus, der zwei Mütter hatte: die mater ecclesia und die mater natura. Nun war ja Paracelsus ein sehr schöpferischer Mensch, aber es geschieht auch »gewöhnlich Sterblichen«, dass ihre Mutter unter der Geburt oder im Wochenbett stirbt und dem Sohn eine Wunde, ein »Muttermal« hinterlässt. Ich hatte zwei derartige Männer in der Analyse, die beide in der mater ecclesia einen Ersatz fanden. Die Priester zeigen mit ihrem »hermaphroditischen Habitus« auch nach außen, dass sie Söhne der Großen Mutter sind.
» Für die Frau ist die Mutter der Typus ihres bewussten, geschlechtsgemäßen Lebens. (9/I, 192)
«
484
Kapitel 34 • Entwicklungspsychologie
» Während beim Mann die Mutter ipso facto
» Der Schutz gegen das Unbewusste, den dem
symbolisch ist, wird sie bei der Frau anscheinend erst im Verlauf der psychologischen Entwicklung zum Symbol. […] In einer Phase, wo der Archetypus erscheint, tritt in der Regel eine mehr oder weniger völlige Identität mit dem Urbilde ein. (9/I, 193)
Manne die Mutter bedeutete, ist dem Modernen nicht ersetzt worden, weshalb er sein Eheideal unbewusst so gestaltet, dass seine Frau womöglich die magische Mutterrolle übernehmen muss. (7, 316)
«
«
» Die Beziehungen zur Erde und zur Materie sind eine unabdingbare Eigenschaft des Mutterarchetypus. (9/I, 195)
«
» In jedem Falle (von Mutterkomplex) ist die Ins-
Das ist eine allgemeine Gesetzmäßigkeit, dass man sich, sobald der Archetypus in Erscheinung tritt, mit ihm identifiziert. Kein Vater kann sich dem Machtzuwachs entziehen, welcher ihm das Erscheinen des Vaterarchetypus verheißt.
»
So wie das Urbild der Mutter ein Gesamtbild aller Mütter der Vorzeit ist, so ist auch das Bild der Anima ein überindividuelles Bild, das bei vielen, individuell sehr verschiedenen Männern genau übereinstimmende Züge aufweist, so dass man beinahe einen bestimmten Typus Frau daraus rekonstruieren könnte. (10, 75)
«
Tatsächlich gibt es diesen Typus, den eine sog. Animafrau verkörpert, den Esther Harding in ihrem Buch »Der Weg der Frau« als »die Frau für jeden« bezeichnet.
34
Der Archetypus der Mutter bildet die Grundlage des Mutterkomplexes, wobei offen ist, inwieweit die persönliche Mutter daran mitbeteiligt ist.
» Für den Sohn steckt in der Übermacht der Mutter die Anima, welche manchmal zeitlebens eine sentimentale Bindung hinterlässt und das Schicksal des Mannes aufs schwerste beeinträchtigt oder umgekehrt seinen Mut zu kühnsten Taten beflügelt. (9/I, 61)
«
Anderseits wird die Anima in Form der Mutterimago auf die Frau übertragen.
tinktsphäre des Kindes gestört, und damit sind Archetypen konstelliert, welche als ein fremdes und oft angsterregendes Element zwischen Kind und Mutter treten. (9/I, 161)
«
Weil der Einfluss von den Elternimagines ausgeht, hört er mit dem Tod der Eltern nicht auf.
»
Die psychologischen Nachwirkungen der Eltern sind so stark, dass sich, […] bei vielen Völkern ein ganzes System des Totenkultes herausgebildet hat. (8, 575)
«
» Es besteht sozusagen immer ein gewisser Unterschied zwischen der Psychologie eines Mannes, dessen Vater noch am Leben ist, und eines Mannes, dessen Vater tot ist. Solange nämlich eine participation mystique mit den Eltern besteht, kann ein relativ infantiler Lebensstil beibehalten werden. (10, 70)
«
Bis zum Alter von vier bis sechs Jahren leben die Kinder noch in einer mythologischen Welt des kollektiven Unbewussten. Sie nehmen Inhalte des kollektiven Unbewussten wahr, was in einigen östlichen Religionen als Erinnerung an frühere Existenzen gedeutet wird.
» Die Vorstellung einer früheren Existenz ist eine Projektion der frühkindlichen psychologischen Situation. (18/I, 204)
«
485 34.2 • Mutter
Wenn diese mythologischen Bilder zu lange im Bewusstsein des Kindes bleiben, besteht die Gefahr, dass es sich nicht an die äußere Realität anpassen kann, weil es dauernd von der Sehnsucht nach seinen Visionen verfolgt wird. Von Dichtern und Mystikern kennt man solche Erfahrungen. Im Alter von vier bis sechs Jahren legt sich dann gewöhnlich der Schleier des Vergessens darüber. Ein besonderes Problem stellt das begabte Kind dar.
» Nicht zu übersehen ist die Tatsache, dass begabte Kinder durchaus nicht immer frühreif sind, sondern vielmehr einen langsamen Entwicklungsgang haben, so dass die Begabung lange Zeit latent bleibt. Unter solchen Umständen ist die Begabung nur schwierig zu erkennen. (17, 236)
«
» Im Gebiete der Begabung herrscht unter Umständen abnorme Frühreife vor, während außerhalb desselben die geistigen Funktionen noch unterhalb der normalen Schwelle des betreffenden Alters liegen. (17, 238)
«
» Genau wie die intellektuelle Sensitivität und Frühreife übersehen oder unterschätzt wird, so auch die moralische und Gefühlskritik des begabten Kindes. (17, 240)
«
» Begabung ist nicht unbedingt ein Wert, sie ist es nur dann, wenn die übrige Persönlichkeit insofern Schritt mit ihr hält, als das Talent auch zu nützlicher Verwendung gebracht werden kann. (17, 244)
«
34
von Jung im Original zu studieren, den anderen mögen gegebenenfalls die beigebrachten Zitate genügen. > Begabte haben heute die Möglichkeit, Schulklassen zu überspringen, damit einher geht die Gefahr, dass der Ehrgeiz der Eltern das zu ergänzen versucht, was an Begabung noch fehlt.
» Das Genie wird sich gegen alles durchsetzen, denn das Unbedingte und nicht zu Bändigende gehört zu seiner Natur. […] Das Talent hingegen kann verhindert, verkrüppelt, pervertiert, oder es kann gefördert entwickelt und verbessert werden. (17, 248)
«
In meiner Behandlung war einmal ein Genie, zugewiesen von einem Kollegen nach einem schweren Suizidversuch. Da habe ich ermessen können, welche Last eine derartige Begabung ist. Seine Träume waren so reichhaltig und voller Beziehungsfäden, dass ich sie nur teilweise verstehen konnte. Seine Persönlichkeit war so reich, aber ebenfalls kompliziert, dass ich sie kaum erfassen konnte, obwohl ich sie nach dem Rat von Marie-Luise von Franz aus der »Froschperspektive« zu betrachten suchte. In seiner Familie wimmelte es nur so von Akademikern und Berühmtheiten. Ich fühlte mich schlicht nicht auf der Höhe und tat einfach mein Bestes. Da er mir vertraute, hatten wir ein gutes Einvernehmen. Er begann dann seine akademische Karriere, vor seiner Heirat verlor ich ihn schließlich aus den Augen.
» Die Begabung hat den moralischen Nachteil, dass sie einem ein Überlegenheitsgefühl und damit eine gewisse Inflation verursacht, welche durch eine entsprechende Demut kompensiert sein sollte. (17, 246)
«
Denjenigen meiner Leser, die mit Kinderpsychologie zu tun haben, empfehle ich die Aufsätze
34.3
Vater
Ich habe ausführlich über die Mutter und den Mutterkomplex geschrieben. Doch wo bleibt der Vater, wird sich der Leser fragen, der doch auch zur Syzygie (Paarungsmotiv) gehört? Ja, er
486
Kapitel 34 • Entwicklungspsychologie
würde tatsächlich dazugehören, doch ist er oft abwesend. Vor allem in den süd- und mittelamerikanischen Staaten ist er als »Macho« nur noch der Erzeuger und überlässt die Aufzucht der Brut der Mutter, die oft sowohl physisch als auch finanziell überfordert ist. Ich frage mich, ob der »Machismo« nur für Latinoländer ein typisches Phänomen ist oder ob das nicht auch auf unseren Kontinent überschwappen wird.
Wie bei der Bindung an die Mutter gibt es auch beim Vater ein Hängenbleiben und nicht auf die eigenen Füße kommen, speziell bei der Tochter. Die Vaterimago, das idealisierte Bild des Vaters, hindert dann oft, dass die Tochter einen zusagenden Mann findet, weil keiner »dem Vater das Wasser zu reichen vermag«. Oder sie heiratet das Gegenteil des Vaters und ist ein Leben lang unglücklich.
» Der Vater als Vertreter des traditionellen Geis-
» Eine gewisse Art von Vaterkomplex hat einen
tes, wie er sich in Religion und allgemeiner Weltanschauung äußert« (12, 59),
sozusagen »geistigen« Charakter, das heißt vom Bilde des Vaters gehen Aussagen, Handlungen, Tendenzen, Antriebe, Meinungen usw. aus, denen man das Attribut »geistig« wohl nicht verwehren kann. Bei Männern führt ein positiver Vaterkomplex nicht selten zu einer gewissen Autoritätsgläubigkeit und zu einer ausgesprochenen Unterwerfungsbereitschaft gegenüber allen geistigen Satzungen und Werten, bei Frauen zu lebhaften geistigen Aspirationen und Interessen. (9/I, 396)
«
hat nämlich eine ebenso wichtige Funktion wie die Mutter. Selbstverständlich steht das Kind der Mutter immer näher als dem Vater, sagt Jung im Freeman-Interview »face to face«. In der Jugend
» … bedeutet der Vater für den Sohn die Antizipation der eigenen Männlichkeit. (4, 737) « Für den Erwachsenen
» … bedeutet der Vater im allgemeinen den
34
früheren Bewusstseinszustand, in welchem man noch Kind ist, das heißt abhängig von einer bestimmten, vorgefundenen Lebensform, einem Habitus, der Gesetzescharakter hat. Es ist ein hingenommener, unreflektierter Zustand, ein bloßes Wissen um ein Gegebenes ohne intellektuelles oder moralisches Urteil. (11, 270)
«
» Die legitime Lösung besteht in einer bewussten Unterscheidung vom Vater und dem von ihm repräsentierten Habitus. Dazu ist ein gewisses Maß an Erkenntnis der eignen Individualität erforderlich, zu welcher man ohne moralische Entscheidung nicht gelangen und welche man ohne ein gewisses Verständnis des Sinnes nicht festhalten kann. Der Habitus wird ersetzt durch eine bewusst gewählte und erworbene Lebensform. (11, 271)
«
«
Aus all dem, was in diesem Kapitel leider nur allzu kurz dargestellt werden konnte, dürfte immerhin deutlich geworden sein, welche lebensbestimmenden Mächte hier am Werk sind. Das ist nur darum so, weil es nicht die persönlichen Verstrickungen allein, sondern archetypische Mächte im Hintergrund sind, welche die Fäden des Schicksals spinnen. Ihnen entgeht keiner, und ihr Gewebe lässt sich weder mit Vernunft noch mit guten Ratschlägen auflösen. Dazu braucht es sowohl einen rationalen wie einen irrationalen Zugang.
Literatur Primärliteratur (Quellen) 1 2
Jung CG (1913) Versuch einer Darstellung der Psychoanalytischen Theorie. 21955, GW 4, 203–522 Jung CG (1909) Die Bedeutung des Vaters für das Schicksal des Einzelnen, 1914, 1917, 1927, 31949, 41962. GW 4, 693–744
487 Literatur
3
4
5 6
Jung CG (1930) Die Lebenswende. 1931 In: Seelenprobleme der Gegenwart, 1933, 1939, 1946, 1950, 1969. GW 8, 749–795 Jung CG (1995) Über die Entwicklung der Persönlichkeit. GW 17. Gesammelte Werke. Walter, Solothurn Düsseldorf Jung L, Meyer Grass M (Hrsg.) (1987) C. G. Jung: Seminar: Kinderträume. Walter, Olten Freiburg Jung CG (1986) C.G. Jung im Gespräch: Interviews, Reden, Begegnungen (C.G. Jung’s historic face to face interview with John Freeman for BBC 1959). Daimon, Zürich. S. 264–280
Sekundärliteratur 7 8
Harding E et al. (1943) Der Weg der Frau. Mit einer Einleitung von. C.G. Jung. Rhein, Zürich Ribi A (2007) Psychologische Aspekte der Jugendunruhen. Neue Zürcher Zeitung vom 22. Juli 1980. In: Ein Leben im Dienst der Seele: Gesammelte Aufsätze und Vorträge. Peter Lang, Bern, S. 923
34
489
Wert, Sinn, Zweifel 35.1
Wert, Werturteil – 490
35.2
Sinn – 494
35.3
Zweifel – 497 Literatur – 501
A. Ribi, Neurose – an der Grenze zwischen krank und gesund, DOI 10.1007/978-3-642-16148-3_35, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
35
490
Kapitel 35 • Wert, Sinn, Zweifel
Das Gefühl, die Funktion des Fühlens, ist jene psychologische Instanz, welche den Dingen ihren Wert zumisst (7 Kap. 30). Die Gefühlsfunktion teilt den Phänomenen ihren Wert und damit auch einen Libidobetrag mit. Sie funktioniert ebenso »objektiv« wie die intellektuelle Funktion. Das wird allgemein nicht so anerkannt, weil sie im Kollektiv eine wenig anerkannte Funktion ist. C.G. Jung war es, der ihr zur verdienten Anerkennung verhalf.
35.1
Wert, Werturteil
» Das psychische Phänomen wird als Ganzes durch den Intellekt nicht erfasst, denn es besteht nicht nur aus Sinn, sondern auch aus Wert, welch letzterer auf der Intensität der begleitenden Gefühlstöne beruht. (9/2, 52)
«
35
Wie ich früher ausführte, ist es ein gradueller Übergang vom Gefühl zur Emotion. Diese ist die Brücke zum Körper. Das Gefühl dagegen funktioniert ohne Körperbeteiligung. Deshalb macht es oft einen kühlen bis kaltherzigen Eindruck. Es stellt einfach den Wert einer Sache fest – basta. Das steht oft im Gegensatz zur Erwartung, dass Gefühl doch etwas Warmes, Liebevolles sein sollte. Aber das sind Projektionen eines unentwickelten Gefühls. Diesem begegnen wir viel häufiger als dem differenzierten. Darum existiert dieses Missverständnis. Sentimentalität ist nämlich primitives Gefühl. Gefühlstypen finden sich besonders unter Frauen. Weil Männer nicht wissen, wie ein Fühltyp funktioniert, ergeben sich in Beziehungen oft Schwierigkeiten. Das Gefühl stellt einfach den Wert einer Sache fest. Männer wollen dann eine Begründung. Aber wehe der Frau, wenn sie sich auf eine Diskussion einlässt: sie wird ihrem Gefühl untreu. Denn so wenig ein logischer Schluss eine Begründung braucht, so wenig ein Werturteil. Sicher kann ein differenzierter bewusster Fühl-
typ auch erklären, weshalb er zu seinem Urteil gekommen ist. Doch dafür muss seine Fühlfunktion sehr sicher und bewusst sein. Doch im Grunde braucht das Werturteil des Gefühls keine Begründung. Es funktioniert einfach. Dabei ist es eine äußerst komplizierte Funktion im Inneren, welche sehr viele feine Beobachtungen zu einem Gesamturteil vereinigt. Man muss sich bewusst sein, dass Empfindung und Intuition primäre Orientierungsfunktionen des Bewusstseins sind. Die beiden rationalen Funktionen sind abgeleitete Funktionen, denn sie basieren auf den Informationen der irrationalen Funktionen. > Das Denken stellt Zusammenhänge unter den Dingen her, das Gefühl erteilt ihnen ihren Wert.
Dieser ist jedoch nicht absolut, es kommt stets auf die Situation an, in welcher ein Wert zugeteilt wird. Deshalb kann der Wert in der einen Situation so, in einer anderen gegensätzlich sein. Das treibt Männer oft zur Verzweiflung und führt zum Vorwurf der Inkonsequenz, der jedoch ungerechtfertigt ist. Das ist ja ein Fortschritt in der Juristerei, dass nicht nur die Tat beurteilt wird, sondern die Umstände, unter welchen sie begangen wurde, berücksichtigt werden: Das ist das Werturteil. Wir wollen hier nicht nochmals das Problem der Typen aufrollen; es ging mir darum, dem Leser die Bedeutung der Bewertung vor Augen zu führen. Das häufigste Werturteil, das wir im Alltag fällen, ist das von gut und böse.
» Gut und Böse sind Wertgefühle des menschlichen Bereiches, welche wir über diesen hinaus schlechterdings nicht ausdehnen können. (11, 291)
«
Doch gerade bei diesen so alltäglichen Urteilen können wir sehen, wie relativ unsere Beurteilung sein kann.
35
491 35.1 • Wert, Werturteil
» Das Böse ist relativ, teils vermeidbar, teils Ver-
» Es sind Theorien oder – besser gesagt – Hypo-
hängnis; das gilt auch für die Tugend, und oft weiß man nicht, was schlimmer ist. (11, 291)
thesen, die uns erklären, worin das krankmachende Moment besteht. Sie beschäftigen sich dementsprechend nicht mit den Werten eines Menschen, sondern mit seinen Unwerten, die sich störend bemerkbar machen. (7, 70)
«
» Vieles nämlich, was sich in seiner Auswirkung als abgrundtief böse erweist, stammt keineswegs aus einer entsprechenden Bosheit des Menschen, sondern aus Dummheit und Unbewusstheit. […] Eine der stärksten Wurzeln allen Bösen ist die Unbewusstheit. (11, 291)
«
Auf der anderen Seite ist es wichtig, dass das Werturteil die Gegensätze auseinanderreißt.
» Das Leben als ein energetischer Prozess bedarf der Gegensätze, ohne welche Energie bekanntlich unmöglich ist. Gut und Böse sind nichts anderes als die moralischen Aspekte dieser natürlichen Gegensätze. (11, 291)
«
Man ersieht die Bedeutung der Wertungsfunktion, welche nicht bloß eine Orientierungsfunktion des Bewusstseins ist, sondern viel grundsätzlichere Bedeutung hat. Der Mensch lebt aus seinen Werten.
» Ein »Wert« ist eine Möglichkeit, durch welche Energie zur Entfaltung gelangen kann. (7, 71) « > Die Feststellung »Krankheit« oder »Neurose« ist die Feststellung eines Unwertes.
Aber auch ein Unwert ist eine erhebliche Energiemanifestation und damit eigentlich auch ein Wert. Das erkennt man bei der Behandlung von Neurosen. Sie kann man nicht als Nichtigkeit »wegblasen«, nur ein höherer Wert, als jener, der in der Neurose selber steckt, kommt gegen sie an. Die Theorien von Freud und Adler decken schonungslos die Schattenseite des Menschen auf.
«
Die Energie als solche ist wertneutral. Es ist die Form, in welcher sich die Energie zeigt, die ihr
die Qualität verleiht.
» In der Neurose befindet sich die psychische Energie zweifellos in einer minderwertigen und nicht verwertbaren Form. Die Auffassungen der beiden reduktiven Theorien dienen nun dazu, diese minderwertige Form aufzulösen. (7, 71)
«
Diese minderwertige Form manifestiert sich offensichtlich, wenn die linke Hand nicht weiß, was die rechte tut. Die eine ist aufbauend, schöpferisch und die andere zerstört das Werk wieder durch Zweifel oder Kritik. Das führt schließlich zur nervösen Erschöpfung (Neurasthenie). Viele Neurotiker klagen über mangelnde Libido, über fehlende Lust und Müdigkeit, weil die Energie, die zur Verfügung steht, sich in einem circulus vitiosus »totläuft«. Der Mensch lebt aus seinen Werten. Aber die ändern sich im Laufe des Lebens. Wir können sie nicht willkürlich festlegen. Im Unbewussten wird vom Selbst entschieden, welches die aktuellen Werte sind, in denen die Energie steckt.
» Was die Jugend außen fand und finden musste, soll der Mensch des Nachmittags innen finden. (7, 114)
«
Die Jugend ist die Expansionsphase, in der der Mensch sich seinen Platz und seinen Sinn in der Welt finden und erobern muss. Der Nachmittag, die zweite Lebenshälfte, ist die Kontraktionsphase, in welcher er die Schätze verarbeiten und integrieren muss.
492
Kapitel 35 • Wert, Sinn, Zweifel
» Der Übergang vom Morgen zum Nachmittag ist eine Umwertung früherer Werte. […] Nicht wenige, die in die Konflikte des Gegensatzproblems hineingeraten sind, werfen alles, was ihnen früher für gut und erstrebenswert galt, über Bord und versuchen, im Gegensatz zu ihrem früheren Ich weiterzuleben. Berufsänderungen, Scheidungen, religiöse Wandlungen, Apostasien [Abfall von einer Überzeugung] aller Art sind die Symptome dieses Hinüberschwingens ins Gegenteil. […] Wie früher vielleicht neurotische Störungen bestanden infolge der Unbewusstheit gegensätzlicher Phantasien, so entstehen jetzt wiederum Störungen durch die Verdrängung früherer Idole. Es ist natürlich ein Grundirrtum zu glauben, wenn wir den Unwert in einem Wert oder die Unwahrheit in einer Wahrheit einsehen, dass dann der Wert oder die Wahrheit aufgehoben sei. Sie sind nur relativ geworden. Alles Menschliche ist relativ, weil alles auf innerer Gegensätzlichkeit beruht, denn alles ist energetisches Phänomen. (7, 115)
rum kann sich eine Neurose in jedem Alter entwickeln. Das Leben verlangt Wandlung, ja der Mensch lebt eigentlich aus der Wandlung, indem er sich ständig erneuert.
» Durch die Analyse des Unbewussten werden Tendenzen der weltanschaulichen Wertkategorien bloßgelegt, die bald fördernd, bald hemmend in den Lebensplan des Patienten eingegliedert werden sollen. […] Hinsichtlich der Therapie und des unerlässlichen Wiederaufbaues der Persönlichkeit kommt der Untersuchung der sogenannten weltanschaulichen Faktoren eine große Bedeutung zu. […] Ein wichtiger Teil dieser Prämissen ist das, was Freud das »Über-Ich« genannt hat, nämlich die Summe aller bewusst übermittelten kollektiven Überzeugungen und Werte, welche, wie die Thora für den orthodoxen Juden, ein dem Ich übergeordnetes, konsolidiertes psychisches System darstellen, von welchem für das Ich konflikterregende Wirkungen ausgehen. (16, 245)
«
«
» Nicht um eine Konversion ins Gegenteil,
35
sondern um eine Erhaltung der früheren Werte zusammen mit einer Anerkennung ihres Gegenteils, darum handelt es sich. Das bedeutet Konflikt und Entzweiung mit sich selbst. Es ist begreiflich, dass man sich davor scheut, philosophisch sowohl wie moralisch; daher wird noch öfter als eine Konversion ins Gegenteil eine krampfhafte Versteifung auf dem bisherigen Standpunkt als Ausweg gesucht. […] Das, was (die alten Männer) erstarren macht, ist im Grunde genommen die Angst vor dem Gegensatzproblem. […] Deshalb darf es nur eine Wahrheit und nur eine Richtschnur des Handelns geben, die absolut sein muss. (7, 116)
«
Dort, wo sich der Mensch der neuen Situation und den gewandelten Werten nicht mehr anpassen kann, verholzt und versteinert er. Da-
Ich weiß nicht, ob Jung bewusst Widerstand vermeiden wollte, dass er nicht bei dieser Gelegenheit auch die ekklesiogene Neurose mancher Theologen erwähnt hat, welche ebenfalls darauf beruht, dass die dominanten Wertvorstellungen nicht mit den menschlichen Instinkten übereinstimmen. Oft versteht man nicht mehr, was mit den christlichen Werten ausgedrückt wird, dem dahinterliegenden Geist, und hält sich stur an das »Du sollst« und »Du sollst nicht!« Das kann mit der lebendigen Seele gar nicht übereinstimmen, denn:
» Wenn größter Wert (Christus) und größter Unwert (Sünde) draußen sind, so ist die Seele entleert: es mangelt ihr Tiefstes und Höchstes. (12, 9)
«
Das ist in frommen Kreisen noch weitgehend so. Man kann sich nicht vorstellen, dass die Seele
493 35.1 • Wert, Werturteil
eine religiöse Funktion hat. Man wertet sie ab, indem man von »Einbildung« redet und bedenkt gar nicht, dass nicht wenige Kriege um einer Idee, um einer »Einbildung«, um eines »eingebildeten« Wertes willen geführt wurden. Sogenannte »Einbildungen« sind oft archetypische Ideen voller Sprengkraft. Man kann also seelische Phänomene nur unter-, aber kaum überschätzen. Das will jedoch diesen Frommen nicht in den Schädel, weshalb die Psychologie noch weitgehend keinen Zugang erhalten hat; man fürchtet »Psychologismus«, eine falsche aufklärerische Anwendung der Psychologie, welche alle heiligen Werte zerstören könnte. > Der Therapeut sollte geübt sein, keine für die Persönlichkeit wichtigen Werte zu zerstören.
» Für die Assimilation der Trauminhalte ist es von überragender Wichtigkeit, dass keine wirklichen Werte der bewussten Persönlichkeit verletzt oder gar zerstört werden, denn sonst ist niemand da, der assimilieren könnte. (16, 358)
«
Die Psychotherapie ist nach einer ersten analytischen Phase, im Wesentlichen synthetisch, aufbauend. Die falschen Auffassungen, die einer gesunden Lebensführung im Wege stehen, müssen abgebaut werden. Aber danach geht es um den Aufbau einer starken, umfassenden Persönlichkeit, die automatisch das die Entfaltung Hindernde eliminiert. Die wirklichen Werte haben darin eine wichtige Stellung. Nicht alles, was jemand erlebt, wird ihm bewusst. Weil sich das Bewusstsein konzentrieren, auf eine Hauptsache fokussieren muss, bleibt manches unterschwellig, d. h. gelangt nicht bis zum Bewusstsein. Das verfällt dem persönlichen Unbewussten.
» Wenn etwas ins Unbewusste gerät, dann wird es in die Assoziationszusammenhänge des unbewussten Materials aufgenommen, wodurch
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gegebenenfalls Verbindungen von hohem Wert zustande kommen, die als »Einfälle« ins Bewusstsein hinübertreten oder hinaufsteigen. (10, 10)
«
Subliminale Wahrnehmungen gehen daher nicht verloren, sondern führen im persönlichen Unbewussten ein Eigenleben, was sich zu gegebener Zeit als »Einfall« manifestieren kann. Wer sich Rechenschaft gibt, wie oft er in kritischen Momenten auf den rechten Einfall angewiesen ist, kann deren Wert ermessen. Psychische Prozesse kann man aus zwei verschiedenen Blickwinkeln beschreiben, wie ich an anderer Stelle bereits erwähnt habe. Der gewohnte, man könnte fast sagen banale, ist der kausale. Der viel raffiniertere und dem Wesen biologischer Abläufe besser entsprechende ist der finale. Nun muss man ergänzend beifügen, dass das Wunderbare bei dieser Betrachtung darin besteht, dass das System gleichsam schon im Vornherein sein Ziel kennt. Das scheint eine allgemeine Gesetzmäßigkeit biologischer Systeme überhaupt zu sein, welche bisher vor lauter Kausalitätssuche übersehen worden ist. Biologischen Systemen scheint vor allem das Erreichen eines sinnvollen Zieles wesentlich zu sein. Die Auffassung von der Evolution ist in ihrem Kausalismus steckengeblieben. Vielleicht wäre auch dort der finale Gesichtspunkt fruchtbarer, wie ihn C.G. Jung in seinen Erinnerungen angedeutet hat:
» Die Naturgeschichte erzählt uns von einer zufälligen und beiläufigen Wandlung der Arten durch Hunderte von Millionen Jahren und von Fressen und Gefressenwerden. Von letzterem berichtet auch die biologische und politische Menschheitsgeschichte in überreichem Maß. Die Geistesgeschichte aber steht auf einem andern Blatt. Hier schiebt sich das Wunder des reflektierenden Bewusstseins ein, der zweiten Kosmogonie. Die Bedeutung des Bewusstseins ist so groß, dass man nicht umhin kann zu vermuten, es läge in all der ungeheuren, anscheinend sinn-
494
Kapitel 35 • Wert, Sinn, Zweifel
losen biologischen Veranstaltung irgendwo das Element des Sinnes verborgen, welcher endlich den Weg zur Manifestation auf der Stufe der Warmblütigkeit und eines differenzierten Hirns wie zufällig gefunden hat, nicht beabsichtigt und vorgesehen, sondern aus »dunkelm Drange« erahnt, erfühlt, ertastet. ([2] S. 341f.)
«
Mich besticht in dem Gesagten, dass die Evolution das Ziel nicht schon a priori weiß, sondern es »erahnt, erfühlt, ertastet«. Es ist wirklich ein schöpferischer Prozess dessen Resultat nicht von Anfang an feststeht – was der öden Uhrwerkphantasie entspräche –, sondern das gesucht werden muss. Aber eben nicht einfach dem blinden statistischen Zufall überlassen, sondern aus »geheimem Drang«. Im Brief vom 10.III.1959 an Erich Neumann präzisiert Jung seine Gedanken noch:
» Wir wissen durchaus nicht anzugeben, woraus
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der aufbauende Faktor der biologischen Entwicklung besteht. Wir wissen aber wohl, dass Warmblütigkeit und Gehirndifferenzierung für die Entstehung des Bewusstseins notwendig waren und damit auch für das Offenbarwerden eines Sinnes. Durch was für Zufälligkeiten und Risiken der durch Jahrmillionen sich erstreckende Aufbau eines lemurischen Baumbewohners zum Menschen hindurchgegangen ist, lässt sich nicht erträumen. In diesem Zufallschaos waren wohl synchronistische Phänomene am Werke, welche gegen die bekannten Naturgesetze, und mit Hilfe derselben, in archetypischen Momenten Synthesen, die uns wunderbar erscheinen, vollziehen konnten. Kausalität und Teleologie versagen hier, denn synchronistische Phänomene verhalten sich wie Zufälle. […] Sinnhaftigkeit scheint immer zunächst unbewusst zu sein und kann deshalb nur post hoc entdeckt werden. ([1] III, S. 239f.)
«
Sinn
35.2
Das Problem ist, was es heißt, dass das biologische System sein Ziel antizipiert. Bei der Evolution scheint mir klar, dass es sein Ziel nicht a priori weiß, kennt. Es »erahnt, ertastet, erfühlt« es. Es ist fast unmöglich, das mit Worten auszudrücken. Ja, aber der Individuationsprozess, über den ich in 7 Kap. 22 geschrieben habe. Ersichtlich wird: es ist die Ganzheit. Aber was ist die Ganzheit? Sie ist nicht bei jedem Individuum dasselbe. Sie ist als Prozess ebenfalls eine »Suchwanderung«, weil jedes Individuum seine ihm mögliche und ihm eigene Ganzheit sucht. Das drückt sich darin aus, dass man das Ziel nur symbolisch bezeichnen kann, respektive die Träume oder Visionen es so bezeichnen. Das System scheint das Ziel als Symbol oder in symbolischer Form zu antizipieren. Wenn wir sagen, es sei die Ganzheit, ist das schon zu intellektuell und zu bewusst.
» Das Ziel ist nur als Idee wichtig, wesentlich aber ist das opus, das zum Ziel hin führt: es erfüllt die Dauer des Lebens mit einem Sinn. (16, 400)
«
Die Alchemisten waren sehr bemüht, diesem Ziel Ausdruck zu geben, konnten es aber auch nur in symbolische Form kleiden als lapis philosophorum, Panazee (Allheilmittel), aurum potabile (trinkbares Gold), salvator (Erlöser), filius makrokosmi (Sohn der großen Welt), elixir vitae (Lebensessenz), aqua permanens (ewiges Wasser), Deus terrestris (irdischer Gott) usw. Alle Alchemisten, die ihr Werk nicht um eines materiellen Gewinnes verrichteten, waren ergriffen von einem Prozess, der auf ein Ziel hinführte, das sie selber kannten und nicht kannten. Sie kannten es als symbolische Idee, aber »wussten« eigentlich nicht, wie sie dorthin gelangen konnten. Verlaufen nicht viele schöpferische Prozesse ähnlich? Wenn das Ziel einmal gefunden ist, läuft der teleologische Prozess auf ein klares Ziel hin; doch dann ist er nicht mehr schöpferisch? Dann
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495 35.2 • Sinn
dient er eher der Konsolidierung des Erreichten, mit anderen Worten: der Mensch muss von der Evolution nicht nochmals erfunden werden! Bei dieser Gelegenheit möchte ich für Kenner der Materie noch auf eine Subtilität hinweisen: Jung schrieb im oben genannten Brief an Neumann, dass »in archetypischen Momenten Synthesen vollzogen werden konnten, die uns wunderbar erscheinen mögen«. Was meint er mit diesem kryptischen Satz? Zum Beispiel dauerte es viele Millionen von Jahren bis sich das Leben, das zweifellos im Wasser entstanden und daran bestens angepasst war (Osmose), sich das feste Land erobern konnte. Da gab es riesige Kontinente als Lebensraum, wenn man, ja wenn man an der Luft leben könnte mit dem Risiko, auszutrocknen. Das war ein kritischer Augenblick in der Evolution! Mit welchen Organen würde es einem Organismus gelingen, den Sauerstoff statt durch Kiemen aus dem Wasser, irgendwie aus der Luft, die viel mehr davon enthielt (20%), direkt aufzunehmen. Das scheint mir eine solche archetypische Situation gewesen zu sein, in welcher die Evolution einen Sprung machte. Ein Axiom der Biologie lautet: natura non fecit salta (die Natur macht keine Sprünge). Sie macht aber offensichtlich Sprünge (nicht nur mit dem Planckschen Wirkungsquantum) in archetypischen Momenten der Entwicklung, genauso wie wir Sprünge machen in der Individuation, wenn wir ein großes Aha-Erlebnis hatten. Dann sind wir mit einem Schlag auf einer völlig neuen Ebene. Ich weiß selbstverständlich nicht, ob die Dinge sich in der Evolution wirklich so abgespielt haben, obschon es zahlreiche Hinweise dafür gibt, oder ob es eine Projektion vom Individuationsprozess auf die Evolution ist oder ob beide tatsächlich ähnlich ablaufen und das ein Charakteristikum des Lebendigen ist.
» Finalität ist eine Anschauungsweise, welche rein empirisch dadurch gerechtfertigt ist, dass es Ereignisreihen gibt, deren kausale Verknüpfung
zwar evident ist, deren Sinn aber nur durch den Endeffekt verständlich wird. (Vorrede zur zweiten Auflage der »Collected Papers«, 1917, 4, 687)
«
Das Besondere der Finalität scheint mir eben darin zu liegen, dass sich die Ereignisse entlang einem »penchant« entwickeln, und dass der Prozess nicht umkehrbar ist. Kausale Prozesse sind im Prinzip reversibel mit genügendem Energieaufwand. Das Leben und die Zeit sind irreversible Vorgänge. Könnte das der Grund dafür sein, dass die teleologische Anschauung ihm angemessen ist?
» Die psychische Finalität beruht auf einem »präexistenten« Sinn, welcher erst dann problematisch wird, wenn es sich um ein unbewusstes Arrangement handelt. In diesem Fall muss nämlich eine Art »Wissen« vorgängig aller Bewusstheit angenommen werden. (8, 843 A34)
«
Dieses präexistente Wissen könnte mit dem absoluten Wissen des Unbewussten zu tun haben.
» Die sogenannten finalen Ursachen verlangen – man kann es drehen, wie man will – ein Vorauswissen irgendwelcher Art. Es ist sicherlich keine Kenntnis, die mit dem Ich verbunden wäre, also kein bewusstes, wie wir es kennen, sondern vielmehr ein an sich bestehendes oder vorhandenes »unbewusstes« Wissen, das ich als absolutes Wissen bezeichnen möchte. Es ist darunter keine Erkenntnis zu verstehen, sondern, wie Leibniz treffend formuliert, ein Vorstellen, das aus subjektlosen »simulacra«, aus Bildern besteht, oder – vorsichtiger ausgedrückt – zu bestehen scheint. Diese postulierten Bilder sind vermutlich dasselbe wie die von mir angenommenen Archetypen, die sich als formale Faktoren bei spontanen Phantasiebildungen nachweisen lassen. (8, 921)
«
496
Kapitel 35 • Wert, Sinn, Zweifel
Die Finalität hat uns unerwarteterweise zu tiefen und letzten Fragen des Lebendigen geführt, weil der Mensch ein Glied im großen Zusammenhang des Lebens ist.
» Ein konkretes Ereignis allein kann keine Bedeutung erzeugen, sondern hierfür hängt es in hohem Maße von der Art und Weise ab, wie es verstanden wird. […] Mit den nackten Tatsachen allein ist an sich kein Sinn gegeben. (11, 431)
«
Der Sinn als verbindendes Band von psychischem und physischem Ereignis spielt bei der Synchronizität die entscheidende Rolle. Wahrscheinlich ereignen sich in unserem Leben viel mehr Synchronizitäten als wir bewusst wahrnehmen, und sie spielen wohl eine viel wichtigere Rolle als wir meinen. Oft sind es merkwürdige Kombinationen von Ereignissen, welche wir kaum beachten. Die frühen Chinesen haben ihnen nicht nur viel mehr Aufmerksamkeit geschenkt, sondern auch in diesen Kategorien gedacht.
» Alle natürlichen Erscheinungen dieser Art (Wunder) sind einmalige höchst kuriose Zufallskombinationen, die unmissverständlich durch den gemeinsamen Sinn ihrer Teile als Ganzes zusammengehalten sind. (8, 985)
«
35
Erlebt man derartige Ereignisse, so fühlt man sich plötzlich aus der engen Welt des nur Persönlichen hinausgehoben und in einen kosmischen Zusammenhang gestellt. Denn plötzlich verhält sich die Umwelt sinngemäß zum Mikrokosmos. Das kann ein überwältigendes Erlebnis sein.
» Der Moderne, des Streites der Meinungen müde, will daher erkunden, was eigentlich an den Dingen ist. Und diese Tendenz, die zwar gefährlichsten Möglichkeiten Tür und Tor öffnet, ist ein mutiges Wagnis, dem man die Sympathie nicht ganz versagen kann. Dieses Wagnis ist kein mutwilliges Abenteuer, sondern ein aus tiefster seelischer Not geborener Versuch, auf Grund
einer unpräjudizierten Urerfahrung die Einheit von Leben und Sinn wieder zu entdecken. (11, 529)
«
Der Neurotiker ist ein Mensch, der den Sinn seines Daseins nicht erkannt hat.
» Man sollte nicht suchen, wie man die Neurose erledigen kann, sondern man sollte in Erfahrung bringen, was sie meint, was sie lehrt und was ihr Sinn und Zweck ist. Ja, man sollte lernen, ihr dankbar zu werden, sonst hat man sie verpasst und damit die Möglichkeit verloren, mit dem, was man wirklich ist, bekannt zu werden. Eine Neurose ist dann wirklich »erledigt«, wenn sie das falsch eingestellte Ich erledigt hat. Nicht sie wird geheilt, sondern sie heilt uns. Der Mensch ist krank, die Krankheit aber ist der Versuch der Natur, ihn zu heilen. (10, 361)
«
Die Neurose bedeutet deshalb eine Chance, tiefer in das Wesen von Welt und Seele einzudringen. Gewöhnlich lebt man sehr oberflächlich. Aber wenn einen eine Neurose gepackt hat, kommt diese Oberflächlichkeit zu ihrem Ende.
» Beim Zusammenstoß mit Leben und Welt gibt es Erlebnisse, welche imstande sind, ein langes und gründliches Nachdenken zu erzeugen, woraus mit der Zeit Einsichten und Überzeugungen emporwachsen (was die Alchemisten eben mit ihrer arbor philosophica ausdrücken). Die Abfolge dieser Erscheinungen ist gewissermaßen geordnet durch zwei Archetypen, nämlich den der Anima, der unbedingtes Leben ausdrückt, und den des Alten Weisen, der den Sinn personifiziert. (14/I, 307)
«
Der Mensch ist nicht bloß dem chaotischen Lebensdrang der Anima ausgeliefert, darin enthüllt sich auch Sinn.
497 35.3 • Zweifel
» (Die Anima) ist zwar chaotischer Lebensdrang, aber daneben haftet ihr ein seltsam Bedeutendes an, etwas wie geheimes Wissen oder verborgene Weisheit, in merkwürdigstem Gegensatz zu ihrer irrationalen elfischen Natur. […] Gerade das zunächst Unerwartete, das beängstigend Chaotische enthüllt tiefen Sinn. […] Die Kraft des Chaos wird durch die Entnahme von Sinn und Unsinn geschwächt, und der Sinn mit der Kraft des Sinnes und der Unsinn mit der Kraft des Unsinnes ausgerüstet. (9/I, 64)
«
Im Chaos sind Wert und Unwert durcheinander gemischt. Es ist die Aufgabe, die beiden auseinanderzuhalten, wodurch Ordnung entsteht. > Ordnung bedeutet Sinn. Chaos bedeutet Auflösung des Bewusstseins.
Deshalb ist die Wertungsfunktion gerade hier, bei einem Einbruch des Unbewussten, wichtig. Das ist die oben erwähnte Situation, wo den Möglichkeiten »Tür und Tor geöffnet« werden. Doch die Seele hat auch die nötigen Mechanismen geschaffen, dem Chaos nicht hilflos ausgeliefert zu sein. Der Osten hat längst vor dem Westen entdeckt, dass die Erlösung auf dem Werk beruht, das einer an sich selbst tut. Der Westen ordnet sich der überlegenen göttlichen Person Christi unter in Erwartung der Gnade.
dieser Idealfigur keine persönlichen Details bekannt sind, denn diese wären allgemeinmenschlich. Was an ihr wesentlich ist, ist das Archetypische, was sie eben zu einer göttlichen macht. Überhaupt sind metaphysische Aussagen nicht in den Bereich des Persönlichen zu ziehen. Sie sind transzendental und nur insofern Gegenstand einer empirischen Psychologie, als der Erfahrungsgehalt dahinter hervorgehoben werden kann.
» Ich halte diese Parallelisierung (mit Figuren der vergleichenden Mythologie) insofern für etwas Wichtiges, als es dadurch gelingt, sogenannte metaphysische Vorstellungen, die ihre natürliche Erfahrungsgrundlage verloren haben, auf ein lebendiges, universal vorhandenes psychisches Geschehen zu beziehen, wodurch sie ihren eigentlichen und ursprünglichen Sinn wiedererlangen. (9/2, 65)
«
Sogenannte »metaphysische Vorstellungen« bezeichnen Inhalte, die weder als äußere Realität bewiesen noch als solche verworfen werden können, sie sind indiskutabel. Sie gehören daher in den Bereich des Glaubens (z. B. die Auferstehung Christi). Wer die Gnade des Glaubens hat, findet darin Genüge.
Zweifel
35.3
» Die Imitatio Christi wird auf die Dauer den
35
Nachteil haben, dass wir einen Menschen als göttliches Vorbild verehren, der höchsten Sinn verkörpert, und vor lauter Nachahmung vergessen, unseren eigenen höchsten Sinn zu verwirklichen. (13, 80)
» Wo der Glaube herrscht, da lauert immer der
Das »Leben Christi« ist uns ohnehin nur durch die archetypischen Aussagen und nicht als persönliche Biographie überliefert. Darum kann sich jeder mit der imitatio seine eigene Auffassung zurechtlegen. Es ist auch richtig, dass von
Vielen modernen Menschen ist die Gnade des Glaubens abhanden gekommen. Sie bedürfen deshalb der Hilfe der Empirie, um den »Sitz im Leben« von diesen metaphysischen Vorstellungen wieder zu finden. Die metaphysischen Vorstellungen sind gerade für die Suche nach dem
«
Zweifel. Dem denkenden Menschen dagegen ist der Zweifel willkommen, denn er dient ihm als wertvollste Stufe zu verbesserter Erkenntnis. (11, 170)
«
498
Kapitel 35 • Wert, Sinn, Zweifel
Sinn wesentlich und sollten nicht verworfen werden.
» Wo noch Vater- und Mutterbild überwunden werden sollten, wo noch ein Stück äußeres Leben, das der Durchschnittsmensch natürlicherweise besitzt, zu erobern wäre, da sprechen wir besser gar nicht vom kollektiven Unbewussten und vom Gegensatzproblem, […] (wo das überwunden ist,) stehen wir vor der Aufgabe, jenen Sinn zu finden, der überhaupt die Fortsetzung des Lebens ermöglicht. (7, 113)
«
Das kollektive Unbewusste, aus welchem jene metaphysischen Vorstellungen stammen, spielt eigentlich erst in der zweiten Lebenshälfte eine Rolle. Dann gilt es, die überpersönlichen Dimensionen der Existenz zu entdecken.
» Es ist ein großer Irrtum, anzunehmen, dass der
35
Sinn des Lebens mit der Jugend- und Ausdehnungsphase erschöpft […] sei. Der Nachmittag des menschlichen Lebens ist ebenso sinnreich wie der Vormittag; nur sind sein Sinn und seine Absicht ganz andere. Der Mensch hat zweierlei Zwecke: der erste ist der Naturzweck, die Erzeugung von Nachkommenschaft und alle Geschäfte des Brutschutzes, wozu Gelderwerk und soziale Stellung gehören. Wenn dieser Zweck erschöpft ist, beginnt eine andere Phase: der Kulturzweck. […] Man sieht (wie schwierig der Übergang ist) namentlich bei Müttern, die ihren einzigen Sinn in ihren Kindern sehen und in ein bodenloses Nichts zu fallen glauben, wenn sie ihre Kinder aufzugeben haben. Kein Wunder daher, dass viele schwere Neurosen zu Beginn des Lebensnachmittags auftreten. (7, 114)
«
Die Werte des Lebensnachmittags sind keineswegs geringer als jene des Vormittags, bloß liegen sie nicht so offensichtlich da wie diese. Es geht beim Kulturzweck um die Suche nach dem Sinn jenseits der biologischen Aufgabe. Ich erinnere mich sehr gut, als nach der Geburt des ältes-
ten Kindes, eines Sohnes, spontan das Gefühl als Gedanke kam, »jetzt braucht es dich nicht mehr, jetzt hast du deinen Zweck des Daseins erfüllt!« Der biologische Naturzweck ist so stark, dass man Mühe hat, dahinter noch einen weiteren zu finden. In einem Brief an Father Victor White vom 10.IV.1954 schreibt Jung:
» Auf der Suche nach Bewusstheit gibt es nirgends absolute Sicherheit. Zweifel und Unsicherheit sind unerlässliche Komponenten eines vollständigen Lebens. Nur wer sein Leben wirklich verlieren kann, wird es gewinnen. Ein »vollständiges« Leben besteht nicht in theoretischer Vollständigkeit, sondern darin, dass man vorbehaltlos gerade das Schicksalsgewebe akzeptiert, in das man sich verflochten sieht, dass man versucht, einen Sinn hineinzubringen und aus dem chaotischen Durcheinander, in das man geboren ist, einen Kosmos zu erschaffen. ([1] II, S. 394)
«
Jungs Briefe sind eine Schatztruhe für die ver-
schiedensten Themen, weil sie kurz und prägnant formulieren; zu unserem Thema gibt es eine Fülle. So z. B. der Brief vom 16.III.1943 an Arnold Künzli:
» Neurose ist ein berechtigter Zweifel an sich selbst und stellt stets die letztliche Vertrauensfrage an Mensch und Gott. Der Zweifel ist schöpferisch, wenn er durch die Tat beantwortet wird, ebenso die Neurose, die sich dadurch exkulpiert, dass sie Stufe gewesen ist – eine Krisis, die nur krankhaft ist, wenn chronisch. Neurose ist verschleppte, zur Gewohnheit degenerierte Krisis, die alltägliche gebrauchsfertige Katastrophe. ([1] I, S. 412)
«
Im Brief an den jungen Walter Robert Corti vom 02.V.1955 steht am Schluss:
» Erkenntnis besteht aus lauter Zweifeln und hat darum nicht zu bekennen. Sie hat teil an der Natur des Geheimnisses. ([1] II, S. 487)
«
499 35.3 • Zweifel
Zum Thema Religion und Glaube schrieb er einen langen Brief an Pfarrer Tanner vom 12.II.1959, der seine abschließenden Auffassungen eines langen Lebens darstellt:
» Unter Religion verstehe ich demnach eine gewisse Haltung, welche gewisse numinose Gefühle, Vorstellungen und Vorkommnisse sorgfältig und gewissenhaft berücksichtigt und überlegt, unter »Glauben« oder Konfession dagegen eine organisierte Gemeinschaft, die kollektiv einen bestimmten Glauben oder eine bestimmte ethische Verhaltensweise bekennt. […] Wo ein Glauben hervorgehoben, verlangt oder erwartet wird, da gewinnt auch ohne Weiteres der Zweifel an Macht und damit entsteht eine Verwundbarkeit des Glaubens an bestimmte Vorstellungen. […] Soll der christliche Mythus nicht schließlich obsolet werden – was einen in seiner Tragweite nicht abzusehenden Ausverkauf bedeuten würde, so drängt sich der Gedanke einer mehr psychologisch orientierten Interpretation auf, welche Sinn und Bestand des Mythus retten könnte. ([1] III, S. 230–232)
«
In dem Brief vom 10.III.1959 an Erich Neumann gibt er ihm eine Lektion über die Synchronizität (es ist die Fortsetzung des bereits oben zitierten Briefes):
» Wir brauchen die synchronistischen Erfahrungen, um die Hypothese eines latenten Sinnes, der vom Bewusstsein unabhängig ist, begründen zu können. Da eine Schöpfung ohne das reflektierende Bewusstsein des Menschen keinen erkennbaren Sinn hat, so wird mit der Hypothese des latenten Sinnes dem Menschen eine kosmogonische Bedeutung zugedacht, eine wahrhafte raison d’être. Wenn dagegen dem Schöpfer der latente Sinn als bewusster Schöpfungsplan zugeschrieben wird, dann entsteht die Frage: warum sollte der Schöpfer dieses ganze Weltphänomen veranstalten, da er ja bereits darum weiß, worin
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er sich spiegeln könnte, und warum sollte er sich spiegeln, da er ja bereits seiner selbst bewusst ist? Wozu sollte er neben seiner omniscientia [Allwissenheit] ein zweites minderwertiges Bewusstsein erschaffen? Gewissermaßen Milliarden von trüben Spiegelchen, von denen er ja schon zum voraus weiß, wie das Bild sein wird, das sie wiedergeben können. Nach all diesen Überlegungen bin ich zum Schluss gekommen, dass die Ebenbildlichkeit nicht nur für den Menschen gilt, sondern auch für den Schöpfer: er ist dem Menschen ähnlich oder gleich, das heißt u. a. so unbewusst wie er oder noch unbewusster, da er entsprechend dem Mythus der incarnatio sich sogar veranlasst fühlt, Mensch zu werden und sich den Menschen zum Opfer anzubieten. ([1] III, S. 240f.)
«
Synchronistische Ereignisse weisen auf einen Geist in der Materie hin, dem schon die Alchemisten unbewussterweise auf der Spur waren. Wenn aber die Materie nicht – wie die Physik annimmt – tot, sondern durch einen latenten Sinn »belebt« ist, dann ergeben sich daraus ungeahnte Konsequenzen, denen wir in unserem Rahmen nicht weiter nachgehen können [7]. Wir sind von der Frage der Finalität auf sehr tiefe Aspekte gestoßen und wollen wieder zu dieser Frage zurückkehren. In einem Brief vom 28.VI.1956 an eine nicht genannte Frau in der Schweiz schreibt er:
» Eine ausschließlich kausale Betrachtung ist nur statthaft im Bereich rein physischer bzw. anorganischer Vorgänge. In der biologischen Sphäre kommt der finalen Betrachtungsweise die größere Bedeutung zu, ebenso im psychologischen Gebiet, wo die Antwort erst dann sinnvoll wird, wenn sie das »Wozu« erklärt. Es lohnt sich darum nicht, sich an die Ursachen zu hängen, denn daran lässt sich nichts ändern. Es ist viel richtiger, zu wissen, was mit den Folgen zu tun ist resp. was für eine Einstellung man zu ihnen hat oder haben sollte. Da erhebt sich
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Kapitel 35 • Wert, Sinn, Zweifel
dann sofort die Frage: hat das Geschehen eine Sinn? War eine verborgene Schicksalsabsicht resp. ein Gotteswille dabei im Spiel, oder war es nichts anderes als ein übler »Zufall«? War es eine Prüfungsabsicht Gottes, warum muss dann ein unschuldiges Kind darunter leiden? Mit dieser Frage ist ein Problem angeschnitten, welches schon im Buch Hiob deutlich beantwortet ist. Die Amoralität Jahwes resp. dessen notorische Ungerechtigkeit verwandelt sich erst mit der Inkarnation in die ausschließliche Güte Gottes.
Briefe so kostbare Zeugnisse seiner Altersweisheit. Diese besteht vor allem darin, dass er die Antinomie jeder Wahrheit betont.
» Denn jede einseitige Überzeugung ist begleitet von der Stimme des Zweifels, der jede bloß geglaubte Sicherheit in Unsicherheit verwandeln möchte, welche der Wahrheit besser entspricht. (14/I, 308)
«
In »Zivilisation im Übergang« schreibt er:
»
Diese Wandlung hängt mit seiner Menschwerdung zusammen und besteht daher nur, insofern sie durch die bewusste Erfüllung des Gotteswillens im Menschen verwirklicht wird. Wo dies nicht vorhanden ist, offenbart sich nicht nur die Amoralität des Schöpfers, sondern auch dessen Unbewusstheit, d. h. es geschieht unreflektiert Gutes und Böses, oder mit anderen Worten, es gibt kein Gutes und Böses, sondern nur ein indifferentes Geschehen, also das, was die Buddhisten die Nidana-Kette nennen, nämlich die ununterbrochenen Kausalbrücken, die zum Leiden, zu Alter, Krankheit und Tod führen. Die Einsicht Buddhas einerseits und die Inkarnation in Christo andererseits unterbrechen die Kette durch den Eingriff des erleuchteten menschlichen Bewusstseins, das hiermit metaphysische und kosmische Bedeutung erlangt. […]
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Das Leiden, wie Meister Eckhart sagt, ist das »schnellste Ross, das euch zur Vollkommenheit trägt«. Das Heil höherer Bewusstheit ist die genugtuende Antwort auf das Leiden, das sonst sinnlos und daher unerträglich bleiben würde. ([1] III, S. 37f.)
«
Jung benutzte im Alter die Korrespondenz, um auf allgemeine Fragen ausführlich zu antworten, was er nicht mehr in einem speziellen Aufsatz zu bearbeiten vermochte. Darum sind die späten
Nur allzu viele verschanzen sich hinter Lehrsätzen, die sie mit dem nicht zu berührenden Heiligenschein des Dogmas umgeben. […] Fanatismus ist der nie fehlende Bruder des Zweifels. (10, 335)
«
» Ein gewissenhafter Arzt muss an allen seinen Künsten und Theorien zweifeln können, sonst verfällt er dem Schema. […] Neurose – darüber darf kein Zweifel mehr herrschen – ist alles andere, nur nicht »nichts als«. Neurose ist das Leiden einer menschlichen Seele mit ihrer ganzen, weltweiten Kompliziertheit, die so ungeheuerlich ist, […] (dass nur jene Theorie, die) ein gigantisches Bild der Seele (entwirft), welches zu ermessen auch ein hundertfacher Faust nicht genügte. (10, 357)
«
» Ich für meine Person ziehe die köstliche Gabe des Zweifels vor, weil dieser die Jungfräulichkeit der unermesslichen Erscheinung unberührt lässt. (12, 8)
«
» Jeder trägt die Fackel der Erkenntnis nur eine Strecke weit, und keiner ist vor Irrtum gefeit. Der Zweifel allein ist der Vater der wissenschaftlichen Wahrheit. (15, 70)
«
Das Akzeptieren des Zweifels, ja sogar seine positive Funktion zu erkennen, eröffnet neue Dimensionen und befreit vom Zwang der Einseitigkeit. Es geht schließlich nicht darum, Jung nachzube-
501 Literatur
ten und ihn auf Schritt und Tritt zu zitieren, sondern jenen Erfahrungen nachzuspüren, welchen er in seinen Worten Ausdruck gab. Die Worte an sich sind unwichtig, sie sind aber unser einziges Mittel, unseren Mitmenschen das Geschaute näher zu bringen. Den Schritt zum eigenen Erlebnis muss jeder selber machen. Alle diese Zitate und Zwischentexte haben den einzigen Sinn, den Leser zum eigenen Erlebnis hinzuführen. Es sind keine »heiligen Texte«, die man auswendig lernen muss, sondern sie wollen zu jenen »heiligen« numinosen Erfahrungen hinführen, welche hinter den Worten stecken. Jung hat sich oft über seine Kritiker geärgert, die seine Wortwahl kritisieren. Er gab ihnen freie Wahl, die Dinge nach ihrem Gusto zu benennen, weil es ihm um das mit den Worten Gemeinte geht. Man kann ihn daher erst kritisieren, wenn man die entsprechenden Erfahrungen selber gemacht hat. Doch bis dahin ist meist ein langer Weg, und es lohnt sich eher, diesen zunächst zu gehen und seine Kritik so lange zurückzuhalten.
Literatur Primärliteratur (Quellen) 1
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4
Jaffé A (Hrsg.) (1972/73) Briefe. Erster Band 1906–1945 (1972); Zweiter Band 1946–1955 (1972); Dritter Band 1956–1961 (1973 mit Nachtrag neu aufgefundener Briefe). In Zusammenarbeit mit Adler G, London. Walter, Olten Freiburg Jaffé A (Hrsg.) (1971) Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G. Jung. Walter, Olten Jung CG (1995) Experimentelle Untersuchungen. Über die psychologischen Begleiterscheinungen im Assoziationsexperiment. GW 2, 1015–1035. Psychophysische Untersuchungen mit dem Galvanometer und dem Pneumographen bei Normalen und Geisteskranken von F. Petersen und C.G. Jung. GW 2, 1036–1179. Weitere Untersuchungen über das galvanische Phänomen, Pneumonographen und die Respiration bei Normalen und Geisteskranken von Ch. Ricksher und C.G. Jung. GW 2, 1180–1311. Gesammelte Werke. Walter, Solothurn Düsseldorf Jung CG (1995) Das Fühlen. GW 6, 595–596; Der extravertierte Fühltypus. GW 6, 597–600; Das Fühlen. GW 6, 638–639, Der introvertierte Fühltypus. GW 6, 640–643. Gesammelte Werke. Walter, Solothurn Düsseldorf
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35
Jung CG (1995) Über Grundlagen der Analytischen Psychologie. GW 18, 46–50. Gesammelte Werke. Walter, Solothurn Düsseldorf
Sekundärliteratur 6
7
Franz ML von (1991) C.G. Jungs Rehabilitation der Gefühlsfunktion in unserer Zivilisation. Jungiana Reihe A. Stiftung für Jungsche Psychologie, Küsnacht Franz ML von (1987) Wissen aus der Tiefe. Über Orakel und Synchronizität. Kösel, München (Originalausgabe: On divination and synchronicity. 1980, Toronto)
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Leiden, Krankheit, Neurose
A. Ribi, Neurose – an der Grenze zwischen krank und gesund, DOI 10.1007/978-3-642-16148-3_36, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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Kapitel 36 • Leiden, Krankheit, Neurose
Jung stellt in seinen Aussagen vielerlei Bezüge her. Vielleicht ist es deshalb sogar von Vorteil, wenn auch unser jetziges Thema mit anderen verknüpft ist, die ich bereits im Vorangehenden behandelt habe. Das ergibt ein dichtes Netz und macht die Inhalte umso plastischer. Je mehr Assoziationen ein Inhalt aufweist, umso durchdringender ist sein Verständnis. So ist das, was in diesem Kapitel zur Sprache kommt, als Ergänzung zu verstehen. Denn die einzelnen Themen hängen nicht zuletzt deshalb zusammen, weil sie schlussendlich den Menschen beschreiben, der eine leibseelische Einheit ist oder sein sollte, falls er in der Neurose dissoziiert ist.
» Die Neurose zwingt uns, den Begriff der »Krankheit« über die Vorstellung eines in seinen Funktionen gestörten Einzelkörpers hinaus zu erweitern und den neurotischen Menschen als ein erkranktes soziales Beziehungssystem zu betrachten. (16, 37)
«
Anlässlich eines Vortrags bei der Deutschen Psychotherapeutischen Gesellschaft sagte Jung 1929:
» Heutzutage besteht noch keine allseitig be-
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friedigende Auffassung weder vom Wesen der Neurosen noch von den Prinzipien der Behandlung. […] Es ist mir nie gelungen, die Berechtigung abweichender Meinungen auf die Dauer nicht zu sehen. Solche Meinungen könnten ja gar nicht entstehen und sogar eine Gefolgschaft um sich sammeln, wenn sie nicht einer besonderen Psychologie, einem besonderen Temperament, einer mehr oder weniger allgemein vorkommenden psychischen Grundtatsache entsprächen. (16, 66)
«
Deshalb habe ich in den vorangehenden Büchern auch die Hauptexponenten anderer Psychologien dargestellt, sofern sie wesentlich neue Gesichtspunkte einbrachten. Ich nehme an, Jung
würde die Vielfalt der Auffassungen und deren Unvereinbarkeit zu einer einheitlichen Theorie der Neurosen auch heute, 80 Jahre später, betonen. Die Vielfalt hat wohl noch zugenommen, indem auch kleinere Geister sich berufen fühlen, ihre eigene Psychologie zu verkünden, welche oft eine Eintagsfliege oder Modeerscheinung ist. Es ist nicht meine Intention, diese alle zu erörtern. Ich bin mir durchaus bewusst, dass man mir daraus den Vorwurf machen könnte, mein Buch lasse gewisse moderne Strömungen vermissen. Wer diesen Mangel empfindet, sei auf die jeweilige Originalliteratur verwiesen oder auf Kindlers Enzyklopädie der Psychologie des 20. Jahrhunderts [10]. Meine Darstellung legt besonderen Wert auf die historischen Wurzeln der modernen Neurosentheorien. »Plus ça change, plus ça reste la même chose“. In den modernen Strömungen kann ich keine Ansätze erkennen, die nicht schon vor hunderten von Jahren ihre Blüte hatten. Die Kenntnis der Geschichte macht uns gegenüber Modetorheiten kritischer, sei es Narkotika- oder Drogentherapie o. Ä. Man hat das unter anderen Titeln schon längst ausprobiert und ist davon wegen gewisser Mängel wieder abgekommen. Die Jungsche Auffassung scheint mir die modernste und umfassendste zu sein und daher endet meine Darstellung mit ihr, auch weil sie in die Zukunft völlig offen ist.
» Mit einer Kenntnis subjektiver Bewusstseinsinhalte weiß man von der Psyche und ihrem wirklichen unterirdischen Leben noch längstens nichts. Wie in jeder Wissenschaft gehören auch in der Psychologie ziemlich ausgedehnte Kenntnisse zu den Requisiten der Forschungsarbeit. Ein bisschen Neurosenpathologie und -theorie ist hierzu völlig unzureichend, denn dieses medizinische Wissen hat bloß Kenntnis von einer Krankheit, weiß aber nichts von der Seele, die krank ist. (5, S. 15; Vorrede zur vierten Auflage)
«
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505 Leiden, Krankheit, Neurose
In Ärztekreisen sind diese Kenntnisse meist nicht vorhanden, weil sie weder im Medizinstudium noch in der Fortbildung vermittelt werden. Zudem sind Ärzte so auf das Feststellen von Defiziten und Abweichungen trainiert, dass sie die brachliegenden Potenziale übersehen.
» Meine Beschränkung liegt darin, dass ich Arzt bin. Ich kann es nicht lassen, Arzt zu sein. Ein Arzt sieht immer Krankheiten, aber ein wesentlicher Teil seiner Kunst besteht darin, sie nicht da zu sehen, wo sie nicht sind. (10, 156)
«
Ich verstehe das so, dass nicht die Symptome die Krankheit sind, sondern das, was sie hervorruft. Mit anderen Worten: die Krankheit ist nicht erledigt, wenn ich eines ihrer Symptome eliminiert habe. Das gilt vor allem für die Verhaltenstherapie, die heute so en vogue ist. Jung sagt ironisch in diesem Zusammenhang, »Enthauptung wäre die beste Therapie gegen Kopfweh«.
» Nicht nur die allgemeine Auffassung der Neurose, sondern auch die der komplexen psychischen Funktionen, wie z. B. die Funktion des Traumes, bedarf einer gründlichen Revision. Es sind in diesem Gebiete ganz erhebliche Missgriffe geschehen, indem z. B. die an sich normale Funktion des Träumens der gleichen Auffassung wie die Krankheit unterworfen wurde. […] In Sachen der Seele haben wir noch längst nicht ausgelernt, und was uns heute in besonderem Maße not tut, das ist die Befreiung von überholten Gesichtspunkten, welche den Blick fürs Ganze in bedenklicher Weise eingeschränkt haben. (10, 369–370)
«
Die heutige Medizin ist noch weitgehend in der Aufklärungszeit mit ihrem Glauben an die Vernunft befangen. Der Hausarzt glaubt noch mit gutem Zureden und entsprechenden Pillen, die Krankheit beheben zu können. Die Pharmaindustrie ist ihm bei dieser Illusion aus Eigennutz eine kräftige Unterstützung.
» In der Tat braucht es nicht mehr als eine Neurose, um eine Macht heraufzubeschwören, die mit vernünftigen Mitteln nicht zu bewältigen ist. (11, 26)
«
» Es gibt eine Unzahl von magischen Riten zu dem einzigen Zweck, sich gegen die unerwarteten, gefährlichen Tendenzen des Unbewussten zu verteidigen. (11, 32)
«
» Wenn man eine Neurose heilen will, muss man etwas riskieren. (11, 36) « » Wir haben guten Grund, anzunehmen, dass die Träume eben gerade die unterirdischen Prozesse der Psyche spiegeln. Und wenn wir in dieses Rhizom kommen, kommen wir buchstäblich an die »Wurzel« der Krankheit. (11, 37)
«
Viele »moderne« Therapieansätze versuchen mit apotropäischen Methoden der Neurose zurechtzukommen. Man gibt sich kaum Rechenschaft davon, dass es uralte archaische Methoden sind und damit auch die Dämonie des Unbewussten anerkannt ist, die sonst vom Bewusstsein geleugnet wird.
» Wenn wir die Psychologie Neurotischer untersuchen, so bewegen wir uns inmitten der paradoxesten Störungen. Es entstehen fabelhafte Krankheitssymptome, und doch ist kein Organ krank. Ohne die leiseste Störung des Körpers schnellt die Temperatur auf 40 Grad empor, erstickende Angstzustände von gänzlicher Grundlosigkeit, Zwangsvorstellungen, deren Unsinnigkeit selbst der Patient einsieht. Hautausschläge, die kommen und gehen und sich weder um Gründe noch um Therapie kümmern. (8, 639)
«
Schon Charcot (7 Kap. 6) hat auf den proteusartigen Charakter neurotischer, in seinen Fällen hysterischer Erkrankungen aufmerksam gemacht. Symptome kommen und gehen, nehmen diese Form an und bald eine andere. Was hat hier
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Kapitel 36 • Leiden, Krankheit, Neurose
eine Symptombehandlung zu suchen? Sie narrt uns bloß.
» Gewiss ist das Unbewusste nicht unter allen Umständen gefährlich; aber sobald eine Neurose auftritt, so ist dies ein Zeichen, dass im Unbewussten eine besondere Energieanhäufung vorhanden ist, nämlich eine Art von Ladung, die explodieren kann. Hier ist Vorsicht geboten. […] Wenn neurotische Symptome vorhanden sind, so muss man behutsam vorgehen. Aber die neurotischen Fälle sind noch lange nicht die gefährlichsten. […] Diese latenten Psychosen sind leider nicht allzu selten. (7, 192)
«
Zu den Gefahren schreibt er:
» Eine der allergewöhnlichsten Formen der Gefahr besteht in der Veranlassung von Unglücksfällen. Eine weit größere Anzahl von Unfällen jeglicher Art, als das Publikum etwa vermuten würde, sind psychisch veranlasst, angefangen mit kleinen Unfällen, Stolpern, Sich-Stoßen, Sich-die-Finger-Verbrennen usw. bis zu Automobilunfällen und Katastrophen in den Bergen: alles kann psychisch verursacht und bisweilen schon für Wochen oder Monate vorbereitet sein. […] Man weiß ja, dass einem nicht nur kleinere oder größere Dummheiten passieren, wenn man aus irgendwelchen Gründen nicht gut zusammengestellt ist, sondern auch gefährlichere Dinge, die in einem psychologisch passenden Moment dem Leben sogar ein Ende setzen können. […]
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In gleicher Weise können körperliche Krankheiten zum Entstehen oder zum Fortdauern gebracht werden. Ein unrichtiges Funktionieren der Psyche kann den Körper weitgehend schädigen, wie umgekehrt ein körperliches Leiden die Seele in Mitleidenschaft zu ziehen vermag; denn Seele und Körper sind nichts Getrenntes, vielmehr ein und dasselbe Leben. So gibt es selten eine kör-
perliche Krankheit, die nicht seelisch kompliziert ist, auch wenn sie nicht psychisch verursacht ist. (7, 194)
«
Dem engen Zusammenhang von Seele und Körper begegnen wir hier nochmals aus einer anderen Perspektive.
» Alle unbewussten Inhalte, die sich der Bewusstseinsschwelle entweder von unter annähern oder nur wenig darunter gesunken sind, pflegen auf das Bewusstsein zu wirken. […] Die meisten sogenannten Fehlleistungen des Bewusstseins gehen auf solche Störungen zurück, ebenso alle sogenannten neurotischen Symptome, die insgesamt – wie sich die Medizin ausdrückt – psychogener Natur sind. […] Die mildesten Neuroseformen sind die Fehlleistungen des Bewusstseins – z. B. das Versprechen, das plötzliche Entfallen von Namen und Daten, unerwartete Ungeschicklichkeit, die zu Verletzungen und ähnlichem führen, Missverständnisse und sogenannte Erinnerungshalluzinationen – man meint, man habe so gesagt oder getan –, unrichtige Auffassungen von Gehörtem und Gelesenem und so fort. (16, 126)
«
Es wird ersichtlich, dass der Übergang von einer Fehlleistung des Bewusstseins zu einer Neurose und von einer Ungeschicklichkeit zu einem Unfall oder zur Katastrophe ein gleitender ist. Wie oft bemerken wir nicht selber im Alltag: »da haben wir wieder einmal Glück gehabt«! Es sind Alltäglichkeiten, denen wir kaum Beachtung schenken. Und doch würde es sich lohnen, dem nachzusinnen, was sich da störend aus dem Unbewussten bemerkbar macht.
» Das Problem der Neurose reicht von der gestörten Triebsphäre bis zu letzten weltanschaulichen Fragen und Entscheidungen. Die Neurose ist kein abgekapseltes und genau umschriebenes Phänomen, sondern eine Reaktion des ganzen Menschen. (11, 450)
«
507 Leiden, Krankheit, Neurose
Heute besteht auch in der Psychotherapie die Tendenz, sich auf einzelne Unterformen der Neurosen zu spezialisieren, weil das in der somatischen Medizin mit viel Erfolg durchgeführt wurde. Die Gefahr besteht darin, dass nur das Hauptsymptom ins Auge gefasst wird, nicht aber der Mensch als Ganzes.
» Das Unbewusste hat es durchaus in der Hand, allerlei unliebsame Störungen durch oft folgenschwere Fehlhandlungen zu verursachen oder neurotische Symptome zu erzeugen. […] Tatsache ist es, dass (Nichtübereinstimmungen von »bewusst« und »unbewusst«) sehr häufig besteht, und dies ist der Grund zu einer unabsehbaren Vielzahl psychogener Unzuträglichkeiten, von schweren Unglücksfällen und Krankheiten bis zum harmlosen lapsus linguae. (8, 546)
«
Bis hierhin hat uns Jung auf die Gefahren einer Dissoziation von »bewusst« und »unbewusst« hingewiesen. Sie dürfen keinesfalls verharmlost werden.
» Die Neurose ist keineswegs nur ein Negatives, sondern auch ein Positives. Nur ein seelenloser Rationalismus kann und hat diese Tatsache übersehen, unterstützt durch die Beschränktheit einer bloß materialistischen Weltanschauung. In Wirklichkeit enthält die Neurose die Seele des Kranken, oder zum mindesten einen ganz wesentlichen Teil derselben, und wenn ihm, der rationalistischen Absicht entsprechend, die Neurose wie ein kranker Zahn ausgezogen werden könnte, so hätte er damit nichts gewonnen, sondern etwas sehr Wesentliches verloren, nämlich soviel wie ein Denker, dem der Zweifel an der Wahrheit seiner Schlüsse, oder wie ein moralischer Mensch, dem die Versuchung, oder wie ein Mutiger, dem die Angst abhanden gekommen wäre. Eine Neurose verlieren bedeutet soviel wie gegenstandslos werden, ja das Leben verliert seine Spitze und damit den Sinn. Es war keine Heilung, sondern eine Amputation…
«
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Das heißt:
» Man hat sehr viel mehr verloren, denn in der Neurose steckt in Wirklichkeit ein Stück noch unentwickelter Persönlichkeit, ein kostbares Stück Seele, ohne welches der Mensch zur Resignation, zur Bitterkeit und sonstigen Lebensfeindlichkeiten verdammt ist. Die Neurosenpsychologie, die nur das Negative sieht, schüttet das Kind mit dem Bade aus, indem sie den Sinn und Wert der »infantilen«, das heißt schöpferischen Phantasie vernachlässigt. (10, 355)
«
Das ist nicht bloß ein Trost für Neurotiker, sondern eine Tatsache, die sich tausendfach bestätigt hat, dort wo sich einer ernsthaft mit seiner Neurose auseinandersetzt. Die große Gefahr ist die Selbstgerechtigkeit, die den Balken im eigenen Auge nicht sehen kann.
» Die neurotische Symbolik ist zweideutig, sie weist im Gleichen vorwärts und zurück, hinunter und hinauf. Im allgemeinen ist das Vorwärts wichtiger als das Rückwärts. […] Gerade in dem, was der Neurotiker zu vermeiden sucht, liegt aber die Aufgabe seiner Persönlichkeit. […] Nicht wie man eine Neurose los wird, hat der Kranke zu lernen, sondern wie man sie trägt. Denn die Krankheit ist keine überflüssige und darum sinnlose Last, sondern er ist sie selber, er selber als der »andere«, den man immer auszuschließen versuchte. […] Wo das Ich eine Angststätte ist, da läuft noch jemand vor sich selbst davon und will’s nicht dafür haben. (10, 360)
«
> Für den Neurotiker ist es wichtig, den Sinn seiner Krankheit einzusehen. Denn eine sinnlose Krankheit kann man fast nicht ertragen. Doch das, was für einen Sinn macht, kann man als Lebensaufgabe annehmen.
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Kapitel 36 • Leiden, Krankheit, Neurose
» Was man leichthin als »Einbildungen« glaubte abtun zu können, das war nur eine der möglichen Manifestationen eines spezifischen Krankheitszustandes, dessen Symptomatologie von proteusartiger Mannigfaltigkeit und Wandelbarkeit ist. Kaum hatte man das eine oder andere Symptom unterdrückt, so war auch schon ein anderes da. An den Kern der Störung war man eben (mit der Suggestion) nicht herangelangt. (16, 32)
«
Suggestionstherapie ist das Beispiel einer längst überholten Therapieform, welche aber nie aufhörte aktuell zu bleiben.
» Neurosen gelten – sehr zu Unrecht – immer noch als leichte Krankheiten. […] Man »stirbt« ja nicht an einer Neurose – wie wenn bei einer körperlichen Krankheit stets ein letales Ende drohte! Man vergisst aber völlig, dass Neurosen – ungleich körperlichen Krankheiten – gelegentlich äußerst deletär sind in ihren psychischen und sozialen Konsequenzen. […] Wenn man die Neurosen nicht bloß vom klinischen, sondern vielmehr vom psychologischen und sozialen Standpunkt aus betrachtet, so kommt man zu dem Schluss, dass es eigentlich schwere Erkrankungen sind, namentlich in Hinsicht ihrer Wirkungen auf die Umgebung und auf die Lebensgestaltung des einzelnen. (16, 37)
«
Um dem Leser das zu veranschaulichen, will ich ihm einen Fall aus meiner Praxis schildern.
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Ein 20-jähriger Mann suchte mich auf Geheiß seiner Mutter (!) auf, weil er zu wenig Kontakt habe. Er findet sich selber lustlos, zeigt keine Freude am Studium. Vor einem Jahr machte er die Matura und begann ein Studium in Mathematik, weil sein älterer Bruder eben mit dem Studium der Biochemie begonnen hatte. Doch dieses Studium behagte ihm nicht und so wechselte er an eine andere Hochschule zum
Studium der Biologie. Sein jüngerer Bruder ist eher praktisch begabt und hat jetzt ein eigenes gutgehendes Geschäft. Als ich unseren jungen Mann erstmals sah, war er von femininem Aussehen, dandyhaft gekleidet, bleich, parfümiert, gehemmt, scheu, depressiv, unentschlossen, ganz das Gegenteil des jüngeren Bruders. Sein Vater war der Typus von Mann in gehobener Position, der zu Hause regieren möchte, indem er manchmal in Zorn gerät, aber unmerklich von seiner Frau manipuliert wird. Die Mutter arbeitet als Gemeindekrankenschwester (zur spezifischen Problematik dieser Berufsgattung: [9]). Als ich ihn nach einer Woche wiedersah, brachte er folgenden Initialtraum mit: »Es ist Krieg: Bombenangriffe von fremden Flugzeugen. Ich schaue aus dem Fenster, sehe einen Schweizer Bomber abstürzen und höre den Piloten schreien. »Er berichtet, dass er häufig vom Fliegen und von Militärflugzeugen träume.«
Die Lektüre von Marie Luise von Franz: »Der ewige Jüngling« [8] wird Ihnen das Motiv der Höhenflüge erklären. Das Motiv vom Krieg ist ein Charakteristikum der Neurose, nämlich des »Bürgerkrieges in der eigenen Seele« oder des »Uneinsseins mit sich selbst« (GW 8, 381). Den jungen Mann schicke ich zu einer Diplomkandidatin, die mit ihm 95 Stunden arbeitet und dann einem anderen Kandidaten übergibt, der mit ihm vier Jahre und 162 Stunden lang analysierte. Trotz seiner ihn tagsüber befallenden bleiernen Müdigkeit und Angstgefühlen, in denen er sich wie ein zum Tode Verurteilter vorkam, und seiner Resignation, er sei ein hoffnungsloser Fall, schloss er sein Studium nach einigen verfehlten Examina mit gutem Erfolg ab. Seine Beziehungsstörung, die ein allgemeines Symptom der Neurosen ist (Eros!), zeigte sich in der Schul- und Studienzeit daran, dass er ein verschlossener Einzelgänger war.
509 Leiden, Krankheit, Neurose
Fortsetzung: Nach seinem zweiten Vorexamen kam er mit einer gleichaltrigen Sekretärin in Kontakt, deren Vater(!) eine Zeitungsannonce »Tennispartner gesucht« aufgegeben hatte. Er verliebte sich erstmals mit 24 Jahren in diese Frau, konnte sich aber nicht erklären. In dieser Zeit hatte er sein erstes sexuelles Erlebnis, als ihn eine Prostituierte ansprach, und ehe er es sich versah, war er mitgegangen. Das gab ihm Mut, sich zu erklären, worauf sie mit »Jein« antwortete. Diese Frau hatte einen starken Vaterkomplex und behandelte ihn nicht besser als ihren Pudel. Zwar jammerte er, konnte sie aber nicht lassen, geschweige denn sich wehren. Später »verliebte« sich eine Institutionskollegin in ihn und nahm ihn in Beschlag. Dieser Frau war er völlig hilflos ausgeliefert. Etwas älter als er und kinderlos von einem Alkoholiker geschieden, war sie einige Zeit vorher wegen eines »Nervenzusammenbruchs« in einer psychiatrischen Klinik gewesen.
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Diesen Fall habe ich über 25 Jahre verfolgen können. Er illustriert, wie eine schwere Neurose zwar keinen nennenswerten sozialen Abstieg, aber auch nicht den gewöhnlichen Aufstieg bedeutet, wie aus drei Geschwistern der Mittlere zum Versager wird und wie die Störung der Beziehung sein ganzes Leben durchzieht. An diesem Beispiel sieht man sehr deutlich:
» Die Neurose ist stets ein Ersatz für legitimes Leiden. (11, 129) « Dieser Fall zeigt auch, wie sich der Patient dem Leben verweigert und durch die Neurose nur umso brutaler ins Leiden verwickelt wird.
» Eine Neurose oder eine neurotische Disposition ist nichts Unehrenhaftes, sie ist ein Handicap, und gelegentlich eine façon de parler. Sie ist keine Krankheit zum Tode, sondern verschlimmert sich nur in dem Maße, als man nichts von ihr wissen will. (10, 427)
«
Unser junger Mann aus dem Beispiel ließ sich von dieser submanischen Frau emotional überfahren und heiratete sie, trotz der Warnung des Diplomkandidaten, mit 27 Jahren. Doch die Ehe währte nicht lange: Die Ehe war von Anfang an zerstritten und wurde nach einem Jahr geschieden. Als er sich nach der Scheidung von ihr zurückziehen wollte, traten wieder Angstzustände mit Träumen vom Krieg auf. Er befürchtete einen Weltkrieg, was ihn so lähmte, dass er kaum mehr arbeiten mochte. Inzwischen hatte er umgesattelt und arbeitete als Programmierer. Als der Vater der Frau starb, begann diese zu trinken, war wiederholt zu Entzugskuren in Kliniken, wurde entmündigt. Dennoch wohnte er zeitweise bei ihr. Sie wiederum lebt bei ihrer Mutter, die sie terrorisiert und mit Alkohol versorgt. Als er einmal längere Zeit keinen Kontakt mit ihr hatte, war sie darüber so schockiert, dass sie das Trinken aufgab (!). Er bezahlte ihre Eskapaden, weil er zwanghaft an sie gebunden war.
Freud meinte, jedermann sei ein bisschen neuro-
tisch.
» Bei der Neurose bestehen zwei Tendenzen, die zueinander in striktem Gegensatz stehen, und von denen die eine unbewusst ist. […] Das Uneinssein mit sich selbst ist überhaupt ein Kennzeichen des Kulturmenschen. Der Neurotiker ist nur ein Spezialfall des mit sich selbst uneinigen Menschen, welcher Natur und Kultur in sich vereinigen sollte. (7, 16)
«
» Der Neurotiker nimmt, ohne dessen bewusst zu sein, an den herrschenden Zeitströmungen teil und bildet diese im eigenen Konflikte ab. (7, 17)
«
» Die Neurose ist innigst mit dem Problem der Zeit verknüpft und stellt eigentlich einen missglückten Versuch des Individuums dar, in sich selber das allgemeine Problem zu lösen. Neurose
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Kapitel 36 • Leiden, Krankheit, Neurose
ist Entzweiung mit sich selbst. Der Grund der Entzweiung ist bei den meisten Menschen der, dass das Bewusstsein sich an sein moralisches Ideal halten möchte, das Unbewusste aber nach seinem (im gegenwärtigen Sinne) unmoralischen Ideal strebt, was das Bewusstsein ableugnen möchte. Diese Art Menschen sind solche, die anständiger sein möchten als sie es im Grunde genommen sind. (7, 18)
«
Da das Unbewusste nicht nur als Kompensation im Gegensatz zum Bewusstsein steht, sondern außerdem seine eigenen Ziele verfolgt, ist ein Konflikt unvermeidlich. Normalerweise gleicht er sich wegen der transzendenten Funktion mehr oder weniger unbewusst aus. Nur dort, wo das Bewusstsein hartnäckig nichts von den Gegentendenzen wissen will, z. B. ein schwaches Bewusstsein, kommt es zum virulenten Konflikt.
» Die Struktur der Psyche ist in der Tat dermaßen kontradiktorisch oder kontrapunktisch, dass es wohl keine psychologische Feststellung oder keinen allgemeinen Satz gibt, zu dem man nicht sofort auch das Gegenteil behaupten müsste. (16, 177)
«
Diese kontrapunktische Struktur der Psyche ist auch die Ursache der in ihr auftretenden Konflikte. Denn kaum hat das Bewusstsein seine Anpassung gefunden und glaubt, damit für lange Zeit auf der richtigen Schiene zu fahren, hat sich im Unbewussten die Situation wieder geändert und erfordert eine neue Anpassung.
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> Das Bewusstsein hat die Tendenz zur Statik, das Unbewusste zur Dynamik, denn Wandlung bedeutet Lebendigkeit.
» Da jede Neurose mit dem allerintimsten Leben des Menschen verbunden ist, wird der Patient immer gewisse Hemmungen haben, wenn er eine genaue Beschreibung all der Umstände und Verwicklungen geben soll, welche ihn ursprünglich krank gemacht haben. […] Und
selbst wenn er seinem Arzt vertraut, wenn er sich vor ihm nicht mehr schämt, wird er zögern oder sich sogar fürchten, sich selbst gewisse Dinge zu gestehen, als ob es gefährlich wäre, seiner selbst bewusst zu werden. […] Wir dürfen nicht vergessen, dass jede Neurose von einer gewissen Demoralisierung begleitet ist. Insoweit der Mensch neurotisch ist, hat er das Vertrauen zu sich selbst verloren. Eine Neurose ist eine demütigende Niederlage und wird als solche auch gefühlt von jenen Menschen, die ihrer eigenen Psychologie nicht ganz bewusst sind. Und man hat diese Niederlage erlitten durch etwas, was »unwirklich« ist. Wohl schon lange haben die Ärzte dem Patienten versichert, dass ihm nichts fehle, dass er keine wirkliche Herzkrankheit, kein wirkliches Karzinom habe. Seine Symptome sind nur eingebildete. Je mehr er glaubt, dass er ein »malade imaginaire« sei, umso mehr durchdringt ein Gefühl von Minderwertigkeit seine ganze Persönlichkeit. (11, 12)
«
Das ist wohl einer der häufigsten Gründe, weshalb Neurotiker lange Zeit nicht in die rechten Hände gelangen, und die Ärzte selber sind daran schuld.
»
Die Medizin fühle eine starke Abneigung gegenüber allen Symptomen psychischer Natur – entweder ist der Körper krank, oder es fehlt einem überhaupt nichts. (11, 13)
«
»
Wir wissen nicht, ob bei der Neurose eine wirkliche Störung der organischen Gehirnprozesse vorliegt oder nicht, und wenn es sich um Störungen endokriner Natur handelt, ist es unmöglich zu sagen, ob sie nicht viel eher Wirkungen sind als Ursachen. (11, 14)
«
»
Auf der anderen Seite ist es unzweifelhaft, dass die Neurosen psychische Ursachen haben. (11, 15)
«
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511 Leiden, Krankheit, Neurose
» Wenn die Neurose überhaupt keine andere Ursache hätte als die Einbildung, so wäre sie trotzdem eine sehr reale Sache. (11, 17)
«
Das sind alles Überlegungen, die sich die Ärzte machen sollten, welche auf Neurose und Neurotiker herabschauen, ebenso wie die Patienten selber. Denn letzten Endes steckt dahinter die gleiche Verachtung, welche man der Seele entgegenbringt.
Selbstverständlich ist die Anamnese, die Lebensgeschichte, wichtig, um die Psychologie des Patienten zu verstehen. Doch in der Therapie tritt sie zurück, weil es darum geht, eine veraltete, frühere Einstellung der Gegenwart anzupassen.
» Der Grund, warum einer neurotisch wird oder ist, ist im Heute so gut vorhanden wie im Gestern. Nur ein aktuell vorhandener Grund kann eine Neurose am Leben erhalten. (11, 517)
«
» Die Berührung seelischen Materials erfordert
» Neurose ist innere Spaltung, Entzweiung mit
den größten Takt und eine beinahe künstlerische Feinfühligkeit. Ohne diese ist es nur sehr schwer möglich, das Wertlose vom Wertvollen zu unterscheiden. […] Diese »andere« verborgene Persönlichkeit (im Neurotiker) ist aber gerade das, was er nie aus den Augen verlieren sollte; nämlich sein eigener innerer Gegensatz, der Konflikt, welcher immer wieder gelöst werden muss und dadurch Leben schafft. […] Gegensatzlosigkeit ist Stillstand, soweit die Gegensatzlosigkeit reicht. […] In der Neurose steckt unser eigener bester Feind oder Freund. (10, 359)
sich selbst. Neurose ist in letzter Linie Persönlichkeitsspaltung. (11, 522)
«
Dieser »andere« ist eben das, was man bis dahin nicht sehen und akzeptieren wollte. Er widerspricht eben der kollektiven Einstellung, gemäß welcher man sich stets im besten Licht zu zeigen hat.
» Eine Neurose oder irgendein seelischer Konflikt hängt viel mehr von der persönlichen Einstellung des Patienten als von seiner Kindheitsgeschichte ab. […] Die Einstellung ist von größter Bedeutung. […] Die Aufgabe der Psychotherapie besteht darin, die bewusste Einstellung zu wandeln, und nicht darin, versunkenen Kindheitserinnerungen nachzujagen. […] Oft besteht seine Neurose eben gerade im Verhaftetsein an die Vergangenheit und darin, dass er alles mit der Vergangenheit zu erklären und zu entschuldigen sucht. (16, 53)
«
«
Die Änderung der Einstellung ist eine allgemeine hinsichtlich der seelischen Wirklichkeit. Sie hat aber auch ihre Grenzen, was der feinfühlige Therapeut merken sollte.
» Ich bin geneigt, tiefsitzende Widerstände zunächst ernst zu nehmen – so paradox dies klingen mag. (16, 76)
«
Das ist eine weise Warnung nicht nur wegen der »bêtes noires«, sondern weil es eine Vielzahl von Temperamenten gibt, die in kein Schema passen wollen.
» Es sind häufig angeborene Leidenschaften, die keine Kritik und keine Überredung auszurotten vermag, ja es gibt Fälle, wo ein scheinbar ausgesprochener Materialismus im Grunde genommen ein Ausweichen vor einem religiösen Temperament ist. (16, 79)
«
Die letzte Bemerkung scheint mir auf der Erfahrung mit Sigmund Freud zu beruhen, aber anscheinend machte er noch andere ähnliche Erfahrungen. Das zeigt, wie wenig doktrinär Jung in seiner therapeutischen Haltung war. Jeder Patient soll zu dem werden können, was in ihm angelegt ist.
512
Kapitel 36 • Leiden, Krankheit, Neurose
» Die Wirkung, auf die ich hinziele, ist das Hervorbringen eines seelischen Zustandes, in welchem mein Patient anfängt, mit seinem Wesen zu experimentieren, wo nichts mehr für immer gegeben und hoffnungslos versteinert ist, ein Zustand der Flüssigkeit, der Veränderung und des Werdens. […] So und so viele Neurosen beruhen in allererster Linie darauf, dass z. B. die religiösen Ansprüche der Seele infolge des kindischen Aufklärungswahns nicht mehr wahrgenommen werden. (16, 99)
geschränkt, deren man oft überdrüssig ist. Man hat keine geistige Dimension mehr, sondern lebt nur vordergründig vom Konkreten.
» Religiöse Erfahrung ist absolut. Man kann darüber nicht disputieren. […] Das, was eine Neurose heilt, muss so überzeugend sein wie die Neurose; und da letztere nur allzu real ist, muss die hilfreiche Erfahrung von gleichwertiger Realität sein. (11, 167)
«
«
Bei mir hat die Idee, dass man »mit seinem Wesen experimentieren soll«, wie ein Blitz eingeschlagen. Man kann seine Möglichkeiten nach allen Seiten ausloten und merkt dann selber, was für einen zuträglich ist und was nicht. Auf jeden Fall verhindert das, dass man – wie viele Neurotiker – unter seinem Niveau lebt. Die eigenen Möglichkeiten sollen ja voll ausgeschöpft werden. Das hat natürlich weder mit Ehrgeiz noch mit Ruhm zu tun, welche bloß für ein aufgeputztes kollektives Ansehen wären. Es ist auch keine Maxime für Anfänger auf dem Weg zur Individuation. Es geht eher um geistige Dimensionen, welche in der zweiten Lebenshälfte wichtig werden.
» Jeder krankt in letzter Linie daran, dass er das verloren hat, was lebendige Religionen ihren Gläubigen zu allen Zeiten gegeben haben, und keiner ist wirklich geheilt, der seine religiöse Einstellung nicht wieder erreicht, was mit Konfession oder Zugehörigkeit zu einer Kirche natürlich nichts zu tun hat. (11, 509)
«
36
» Es scheint mir, als ob parallel mit dem Niedergang des religiösen Lebens die Neurosen sich beträchtlich vermehrt hätten. […] Wir leben unleugbar in einer Epoche von Rastlosigkeit, Nervosität, Verwirrung und weltanschaulicher Desorientiertheit größten Ausmaßes. (11, 514)
Die religiöse Erfahrung kann irgendein Gebiet betreffen: Ich habe Freunde, die das als Berggänger erleben; mein verstorbener Vater erlebte es an seinem Forellenbach. Ein Witz im Volk sagt, »Gott sei aus seiner Kirche ausgetreten« und formuliert damit die Tatsache, dass immer mehr Menschen ihr religiöses Erlebnis extra muros haben, wie einer meiner Analysanden, der »Hühnerhaut kriegt«, wenn er eine seiner Lieblingsbands live spielen hört und sieht, wie tausende junger Menschen in Trance geraten. Jeder muss hier experimentieren und suchen, wo er ergriffen wird.
» Religionen sind große Heilsysteme für seelische Leiden. […] Ein Mensch, der nicht mehr glaubt, dass ein Gott, der das Leiden kennt, helfend, tröstend und sinngebend sich seiner erbarmt, ist schwach und fällt seiner Schwäche zum Opfer und wird neurotisch. (4, 751)
«
Jeder sucht nach dem Wert seiner Person und seines Daseins. Allzu viele klammern sich an Pseudowerte, welche im entscheidenden Augenblick versagen.
»
«
Diese Verwirrtheit geht so weit, dass man nicht einmal mehr versteht, was es heißt, eine religiöse Haltung zu haben. Religion wird auf Kirche ein-
Die christliche Doktrin von der Erbsünde einerseits und vom Sinn und Wert des Leidens andererseits ist von eminenter therapeutischer Bedeutung. […] Ebenso gibt der Unsterblichkeitsglaube dem Leben jenes ungestörte Fließen in die Zukunft, dessen es zur Vermeidung von Stockungen und Regressionen bedarf. […] Psychologisch besehen, handelt es sich (nicht
513 Literatur
um arbiträre, intellektuelle Doktrin,) vielmehr um Gefühlserfahrungen indiskutabler Natur. […] Es gibt eine Gefühlstatsache der Erbsünde, des Leidenssinnes und der Unsterblichkeit. Sie zu erfahren ist aber ein Charisma, das keine menschliche Kunst erzwingen kann. Nur vorbehaltlose Hingabe kann solches Ziel erhoffen. (16, 186)
«
» Gerade die allerheilsamsten und seelisch nötigsten Erfahrungen bedeuten eine »schwer erreichbare Kostbarkeit«, die zu erlangen ein Außergewöhnliches vom gewöhnlichen Menschen verlangen. (16, 187)
36
heit als Aufgabe mit auf den Weg zu geben, so will ich versuchen, sie um seinetwillen anzunehmen, mitsamt dem damit verbundenen Leiden.
» Die Bearbeitung der prima materia des unbewussten Inhaltes, erfordert endlose Geduld, Ausdauer, aequanimitas [Gleichmut], Wissen und Können vom Arzt, vom Patienten aber Anstrengung seiner besten Kräfte und eine Leidensfähigkeit, die auch den Arzt nicht unbeteiligt lässt. (16, 385)
«
«
Literatur
Hierbei muss man genau beachten, dass es nicht um eine anempfundene Ergriffenheit geht, wie z. B. bei der Teilnahme an einer religiösen Veranstaltung, sondern um ein spontanes individuelles Erlebnis, das möglicherweise für jemand, der unbeteiligt ist, gar nicht spektakulär zu sein braucht.
» Die Bedürfnisse der Psychotherapie haben mir die ungeheure Bedeutung einer religiösen Haltung bewiesen, die ohne umfassendes Verständnis für die religiöse Tradition ebenso wenig erzielt werden kann, wie die Leiden eines Individuums sich ohne gründliches Wissen um seinen biographischen Hintergrund verstehen und heilen lassen. (18/II, 1686)
«
Zum Abschluss dieses wichtigen Kapitels möchte ich dem Leser noch eine Aussage des altersweisen Jung im Dialog mit Theologen 1957 mit auf den Weg geben:
» Das Leiden des Menschen rührt nicht von seinen Sünden her, sondern von dem, der ihn mit seinen Unvollkommenheiten erschaffen hat, dem paradoxen Gott. (18/II, 1681)
«
Wir haben uns nicht selber erschaffen und wenn es Gott gefallen hat, mir meine Unvollkommen-
Primärliteratur (Quellen) 1 Jung CG (1995) Freud und die Psychoanalyse. GW 4. Gesammelte Werke. Walter, Solothurn Düsseldorf 2 Jung CG (1995) Zwei Schriften über Analytische Psychologie. GW 7. Gesammelte Werke. Walter, Solothurn Düsseldorf 3 Jung CG (1995) Die Dynamik des Unbewussten. GW 8. Gesammelte Werke. Walter, Solothurn Düsseldorf 4 Jung CG (1995) Zivilisation im Übergang. GW 10. Gesammelte Werke. Walter, Solothurn Düsseldorf 5 Jung CG (1995) Zur Psychologie westlicher und östlicher Religion. GW 11. Gesammelte Werke. Walter, Solothurn Düsseldorf 6 Jung CG (1995) Praxis der Psychotherapie. GW 16. Gesammelte Werke. Walter, Solothurn Düsseldorf 7 Jung CG (1995) Das symbolische Leben. GW 18/II. Gesammelte Werke. Walter, Solothurn Düsseldorf Sekundärliteratur 8 Franz ML von (1970) Der ewige Jüngling. Der Puer Aeternus und der kreative Genius im Erwachsenen. Stiftung für Jung’sche Psychologie, Küsnacht 9 Guggenbühl-Craig A (1971) Macht als Gefahr beim Helfer. Karger, Basel 10 Strube G (1987) Die Psychologie des 20. Jahrhunderts: 15 Bände und 1 Registerband. Kindler, Reinbek
515
Traum 37.1
Traumdeutung – 516
37.2
Die Rolle des Unbewussten – 519
37.3
Traumphasen – 523
37.4
Telepathische Träume – 524
37.4.1
Deutungsstufen – 524
37.5
Initialträume – 526 Literatur – 527
A. Ribi, Neurose – an der Grenze zwischen krank und gesund, DOI 10.1007/978-3-642-16148-3_37, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
37
516
Kapitel 37 • Traum
Den meisten Lesern wird bekannt sein, dass Jung den Träumen und ihrem Verständnis eine große Bedeutung zumisst. Doch die Deutung von Träumen ist eine große Kunst: »Es gibt auf jeden Fall bis jetzt keinen Passe-partout für Träume, keine unfehlbare Methode und keine absolut genügende Theorie.« (17, 282) Dazu braucht es Erfahrung mit der Interpretation der eigenen Träume, Wissen und Fingerspitzengefühl. Darum bildet der Traum auch eines der gewichtigsten Kapitel zu unserem Thema.
37.1
37
Traumdeutung
Dabei muss ich mich jedoch hüten, nicht ein »abstract« von dem zu bieten, was Jung zum Thema »Traum« zu sagen hat. Der Interessierte kann sich an der Liste der Primärliteratur orientieren, dafür ist sie da, so vollständig wie möglich. Ich folge dagegen unserem bewährten Schema und zitiere Auszüge aus seinem Werk. Selbstverständlich wird der Kenner dabei auf Lücken stoßen, welche ich in Kauf nehmen muss, um mein Buch nicht zu überladen. Wie viel zitiert und wie viel weggelassen werden soll, ist eine Ermessenssache; und zu meiner Vorgehensweise für das 7 Vierte Buch habe ich in der Einführung (7 Kap. 11) bereits ausführlich Stellung bezogen. Weil das Deuten von Träumen also Erfahrung, Wissen und Fingerspitzengefühl erfordert, hat man ein Leben lang nicht ausgelernt. Auch wenn man gewisse Typen von Träumen und deren Bedeutung kennt, ist jeder Traum wieder ein neues Problem, weil das Unbewusste enorm schöpferisch und vielgestaltig ist. Ja, es gilt sogar die Regel, dass, wenn die Traumdeutung eintönig wird, sie sich im Dogmatismus totgelaufen hat. Diese Gefahr entsteht auch, wenn der Analytiker sich zu sicher in der Deutung von Träumen ist. Der Traum kann einem das sehr liebevoll und witzig, aber unverblümt unter die Nase reiben, wie es mir erging:
Traum: »Ich sehe eine Fasnachts-Clique in blaugrauen Anzügen, in der rechten Hand etwas wie einen Taktstock, den sie auf- und abschwenken und dazu singen: »C’est moi, moi, moi Piccard«. Auguste Piccard (1884–1962) ist durch seine
Tiefseetauchversuche berühmt geworden. Der Traum nimmt mich, wegen meiner Inflation, wie tief ich ins Unbewusste getaucht sei, auf die »Schippe«. Dieser Traum hat mich sehr beschämt, aber er tat das in einer so humorvollen Weise, dass ich die Kritik annehmen konnte. Ich habe so manches Mal erfahren, dass er mir unangenehme Wahrheiten »unterjubelte« auf eine Weise, wie ich sie annehmen konnte. > Für mich ist der Traum der beste Pädagoge: »Wie sag’ ich es meinem Kinde!«
Selbst von einem Freund hätte ich mir manches nicht sagen lassen, was ich vom Traum annehmen konnte.
» Das große Werk (eines Künstlers) ist wie ein Traum, der trotz aller Offenkundigkeit sich selbst nicht deutet und auch niemals eindeutig ist. Kein Traum sagt: »Du sollst« oder »das ist die Wahrheit«; er stellt ein Bild hin, wie die Natur eine Pflanze wachsen lässt, und es ist uns überlassen, daraus Schlüsse zu ziehen. (15, 161)
«
Mein Traum verdeutlicht das: Er sagt nicht: »schäme dich!« oder »sieh’ mal deine Aufgeblasenheit!«, nein, er bringt diese fröhlichen Fasnächtler mit ihrem Song. An der Fasnacht kann man ja Kritik üben an Dingen, welche einen im Alltag das Jahr hindurch geärgert haben. Diese Kritik soll eben mit feinem, nicht verletzendem Humor unterfüttert sein. Jeder kann sich dann das ihm zukommende Stück selber abschneiden. > »Ich nehme den Traum als das, was er ist.« (11, 41)
37
517 37.1 • Traumdeutung
Der Traum ist ein Naturereignis und es gibt keinen Grund, dass er uns irgendwie zu täuschen beabsichtigt.
» Man muss annehmen, dass der Traum gerade das ist, was er sein soll, nicht mehr und nicht weniger. Die Natur ist zwar oft dunkel und undurchsichtig, aber nicht listig wie der Mensch. […] Der Traum selber will nichts; er ist nur ein sich darstellender Inhalt, eine bloße Naturtatsache. (7, 162)
«
Man könnte ihn mit einer Blume am Wegrand vergleichen: Sie ist nicht unseretwegen da, sie ist einfach da. Der eine sieht sie gar nicht und läuft achtlos vorüber. Der andere freut sich daran, pflückt sie sogar. Der Botaniker kennt gar ihren Namen, ihr Vorkommen und ihre Lebensbedingungen. So reagiert jeder wieder anders auf dasselbe Objekt.
» Aber auch mit Kenntnissen allein kann man noch keinen Traum deuten. Diese Kenntnisse dürfen nämlich kein totes Gedächtnismaterial sein, sondern sie müssen die Qualität des Erlebnisses in dem, der sie handhabt, besitzen. […] Man kann schlechterdings in nichts mehr sehen, als was man selber ist. (10, 324)
«
» In jedem von uns ist auch ein anderer, den wir nicht kennen. Er spricht zu uns durch den Traum und teilt uns mit, wie anders er uns sieht, als wir uns sehen. (10, 325)
«
» Tatsächlich sind Träume unparteiische, der Willkür des Bewusstseins entzogene, spontane Produkte der unbewussten Seele. Sie sind reine Natur und deshalb von unverfälschter, natürlicher Wahrheit. (10, 317)
«
Wir sind stets in unserer Subjektivität befangen, wir können uns so viel um unsere eigene Achse drehen, wie wir wollen, wir sehen unsere Rückseite einfach nicht. Wir haben mit dem Bewusst-
sein allein keine Möglichkeit der Selbsterkenntnis. Nun kann man sich fragen, weshalb wir zur Selbsterkenntnis überhaupt kommen sollen. Es gibt Menschen, die irgendwie steckenbleiben in ihrer Entwicklung oder die in eine Krise geraten, ohne weiterzuwissen.
» Ich habe mich durch vielfache Erfahrung davon überzeugt, dass in allen schwierigen Fällen die Träume des Patienten dem Seelenarzt ganz unschätzbare Dienste leisten können, als Informationsquelle sowohl wie als therapeutisches Instrument. (17, 262)
«
Es ist so frustrierend zu sehen, wie Patienten mit dem Bewusstsein versuchen, den Gordischen Knoten zu lösen und wie sie gleich einem Fisch an der Angel zappeln, weil es unmöglich ist. Denn die falsche Haltung des Bewusstseins hat eben diesen Knoten verursacht und wird ihn deshalb auch nicht lösen können.
» Das Steckenbleiben ist ein typisches Ereignis, das wohl auch typische Reaktionen und Kompensationen im Laufe der Zeiten veranlasst hat. (16, 85)
«
» Ich weiß, dass fast in der Regel etwas dabei herauskommt, wenn man lange und gründlich genug einen Traum recht eigentlich meditiert, das heißt mit sich herumträgt. (16, 86)
«
Man muss sich hüten, den Traum sofort verstehen zu wollen. Wenn ich den Eindruck habe, dieser Traum sei ja sonnenklar, so stimmt mich das vorsichtig. Denn der Traum steht immer dort, wo ich meinen »blinden Flecken« habe. Wenn ich sehr schnell glaube, ihn verstanden zu haben, frage ich mich: »Was bringt er Neues, das ich noch nicht wusste?« Denn es kommt selten vor, dass er etwas sagt, das mir schon bekannt ist. Darum gehe ich sehr behutsam an einen Traum heran als ein zunächst unbekanntes und unverständliches Objekt.
518
Kapitel 37 • Traum
» Wir sagen (statt wie Freud »Traumfassade«)
» Die Herstellung eines lesbaren Textes, nämlich
besser, es handle sich um etwas wie einen unverständlichen Text, der überhaupt keine Fassade hat, sondern von uns einfach nicht gelesen werden kann. Dann brauchen wir auch nicht zu deuten, was dahinter sein könnte, sondern müssen ihn zuerst lesen lernen. (16, 319)
die eigentliche Interpretation des Traumes, ist in der Regel eine anspruchsvolle Aufgabe. Sie setzt psychologische Einfühlung, Kombinationsfähigkeit, Intuition, Welt- und Menschenkenntnis und vor allem ein spezifisches Wissen voraus, bei dem es ebenso sehr auf ausgedehnte Kenntnisse wie auf eine gewisse »intelligence du coeur« ankommt. (8, 543)
«
Bevor man also an eine Interpretation eines Traumes gehen kann, muss man einen lesbaren Text erstellen. Was heißt das? Zu jedem Ausdruck im Traum brauche ich die Assoziationen des Träumers. Da kommt z. B. ein Tisch vor, und wenn ich den Träumer frage, was ihm dazu einfalle, will er mir erklären, was ein Tisch sei. Das weiß ich selber. Aber was ich wissen will ist, was ihm dieser Tisch des Traumes sagt, sind Erinnerungen damit verbunden? Damit gewinnt der Traum Konturen und kommt dem Erleben des Träumers näher.
» Der Traum beschäftigt sich oft mit anscheinend läppischen Details, wodurch er einen lächerlichen Eindruck macht, oder er ist äußerlich dermaßen unverständlich, dass wir uns höchstens über ihn wundern können, weshalb wir immer einen gewissen Widerstand zu überwinden haben, ehe wir uns ernsthaft dahintersetzen, das verworrene Gefüge durch geduldige Arbeit aufzulösen. (7, 24)
«
37
Ich sage mir darum in einem solchen Fall: »Ich verstehe überhaupt nichts!« Damit verhindere ich, dass meine Intuition auf den Traum losspringt und eine oberflächliche assoziative »Deutung« produziert, welche bestenfalls halbrichtig ist. Nein – nach dem Eingeständnis des Nichtverstehens muss ich halt geduldig meine Assoziationen zusammenkratzen. Meistens dämmert im Verlauf dieser Arbeit allmählich ein objektives Verständnis für etwas, das ich vorher nicht wusste.
«
Manchmal bringen einem Analysanden, die von einem gewissen Interesse an ihren Träumen gepackt worden sind, Träume von ihrer Großmutter oder einem Freund und fragen nach ihrer Deutung. Cavete!
» Wenn wir einen Traum richtig deuten wollen, so bedürfen wir einer gründlichen Kenntnis der momentanen Bewusstseinslage, denn der Traum enthält deren unbewusste Ergänzung, nämlich das Material, das durch die momentane Bewusstseinslage im Unbewussten konstelliert ist. (8, 477)
«
Am besten ist es auch hier, den Träumer vor sich zu haben, um ihn selber fragen zu können und auch seine Reaktionen dabei zu beobachten. Wir nehmen sehr viel averbal wahr, was für die Beurteilung äußerst wichtig ist.
» Das Verstehen der Träume ist nämlich eine so schwierige Sache, dass ich es mir schon längst zur Regel gemacht habe, wenn mir jemand einen Traum erzählt und nach meiner Meinung fragt, vor allem einmal zu mir selber zu sagen: »Ich habe keine Ahnung, was dieser Traum bedeutet. (8, 533)
«
Das Eingeständnis des Nichtverstehens eröffnet einem neuen Inhalt den Zutritt zum Bewusstsein, während das Zu-verstehen-Meinen diese gerade blockiert.
519 37.2 • Die Rolle des Unbewussten
» Aber weitaus die meisten Träume und beson-
37
ders die im Anfang einer analytischen Behandlung sind oberflächlich. (10, 99)
len, welche am Tage ungenügend oder gar nicht gewürdigt wurden, das heißt relativ unbewusst waren. (8, 469)
Der Patient hat meist noch keine Beziehung zum unbewussten Material, darum kann er eine vollständige Interpretation auch nicht richtig schätzen.
Der Traum ist in dieser Hinsicht gewissermaßen die Fortsetzung des Tagesbewusstseins. Tatsächlich verfolgen uns manchmal Probleme des Alltags in die Nacht hinein.
» Im Beginn einer Analyse führen wir nicht unter
» Ein Traum kann ohne Kenntnis der bewussten
allen Umständen eine ideale vollständige Traumanalyse aus, sondern pflegen das Material zum Traum soweit aufzunehmen, bis das Problem, das uns der Patient verschweigt, so deutlich wird, dass es auch der Patient selber erkennen kann. Dann wird dieses Problem der bewussten Durcharbeitung unterzogen, bis es womöglich so weit geklärt ist, dass wir wieder an einer unbeantwortbaren Frage stehen. (4, 534)
Situation überhaupt nie auch nur mit annähernder Sicherheit gedeutet werden. […] In Wirklichkeit besteht zwischen dem Bewussten und dem Traum strengste Kausalität und ein aufs feinste abgewogenes Beziehungsverhältnis. (16, 334)
«
«
«
37.2
Die Rolle des Unbewussten
«
Am Anfang der Analyse ist das Herstellen einer Beziehung zur anderen Seite viel wichtiger als eine Interpretation »lege artis«. Meist liegt das Problem darin, dass zu dieser anderen, fremden Seite keine Verbindung besteht. Ich gehe sogar so weit, nur die positiven aufmunternden Seiten der Träume hervorzuheben und die kritischen auszublenden. Es besteht zunächst wohl eine Angst vor dieser anderen Seite, die abgebaut werden muss.
» Der Traum bringt zu der jeweiligen bewussten psychologischen Situation alle diejenigen Aspekte bei, die für einen total verschiedenen Standpunkt der Betrachtung wesentlich wären. […] Wie es im bewussten Überlegungsprozess unerlässlich ist, dass wir uns möglichst alle Seiten und Konsequenzen eines Problems klarmachen, um die richtige Lösung zu finden, so setzt sich dieser Prozess auch automatisch in den mehr oder weniger bewusstlosen Schlafzustand fort, wo […] all diejenigen Gesichtspunkte, wenigstens andeutungsweise, dem Träumenden einfal-
In 7 Kap. 31 haben wir die Selbstregulation von Psyche und Körper kennengelernt. Das ist ein fundamentales biologisches Prinzip. In der Psyche werden alle bewussten Einseitigkeiten durch das Unbewusste ausgeglichen. Der Traum ist neben der transzendenten Funktion die wichtigste kompensatorische Regulierungsmöglichkeit.
» Die Reaktion des Unbewussten ist eine Naturerscheinung, die sich nicht wohlwollend oder richtend um den persönlichen Menschen kümmert, sondern ausschließlich von den Bedürfnissen des psychischen Gleichgewichtes reguliert wird. So kann gegebenenfalls auch ein unverstandener Traum kompensatorisch wirken. (10, 732)
«
In der Regel ist es nötig, dass das Bewusstsein den Traum versteht, damit dieser seine kompensatorische Wirkung entfalten kann. Doch gibt es verschiedene Grade des Verstehens. Wir sind nie sicher, in welchem Maße wir einen Traum verstanden haben. Das zeigt sich daran, dass wenn
520
Kapitel 37 • Traum
wir viel später frühere Träume und deren Interpretationen anschauen, sie viel tiefer verstehen. Ein Traum ist vom Bewusstsein gar nie auszuschöpfen. Das geht ebenso mit dem Verständnis der Psyche: Sie ist ein derart abgründiges Phänomen, dass man damit nie fertig wird. Diese Erkenntnis hält die Individuation ständig im Fluss. Das Ich als Abkömmling des Unbewussten, genauer des Selbst, ist diesem nie gewachsen, ein Zwerg neben dem Riesen, den es nie vollständig zu erschauen vermag. Im Schlafzustand gar steht ihm nur noch ein rudimentäres Ich gegenüber.
» So hat man in den meisten Träumen noch ein relatives Bewusstsein seines Ich, allerdings eines sehr beschränkten und eigentümlich veränderten Ich, das man als Traum-Ich bezeichnet. […] Bewusstsein besteht nur insofern, als ein psychischer Inhalt mit dem Ich assoziiert ist. Das Ich stellt einen psychischen Komplex von besonders fester innerer Bindung dar. Da der Schlaf selten ganz traumlos ist, so kann man auch annehmen, dass der Ichkomplex selten als Tätigkeit ganz erlischt. […] An dieses Ich assoziieren sich im Traume psychische Inhalte, die so an das Ich herantreten wie […] die realen äußeren Umstände, weshalb wir auch im Traume meistens in Situationen versetzt sind, welche keine Ähnlichkeit mit dem wachen Denken, sondern vielmehr mit Wirklichkeitssituationen haben. Wie die realen Menschen und Dinge in unser Blickfeld treten, so treten auch die Traumbilder wie eine andere Art von Realität in das Bewusstseinsfeld des TraumIch. (8, 580)
«
37
Das scheinen mir wesentliche Bemerkungen zu sein: Im Traum erscheint eine Realität, welche ihr Bild aus der äußeren Welt bezieht, und wir leben im Traum in ihr wie im Alltag. Doch ist sie nur scheinbar identisch mit der äußeren Wirklichkeit; bei genauem Hinsehen bemerkt man Inkonsistenzen, welche mit der Wirklichkeit nicht übereinstimmen, die wir im Alltag erleben: Es ist eine eigene und eigenartige Wirklich-
keit, nämlich jene, auf der der subjektive Faktor gründet. Im Traum nehmen wir sie als die Wirklichkeit wahr und passen uns ihr an. Erst beim Aufwachen oder, wenn im oberflächlichen Morgenschlaf das Bewusstsein an Stärke gewinnt, realisieren wir, dass wir geträumt haben und in einer anderen Welt waren.
»
So sehr man auf der einen Seite die psychologische Bedeutung des Traumes unterschätzt, so groß ist auch die Gefahr für den, der sich viel mit Traumanalyse beschäftigt, dass er das Unbewusste in seiner Bedeutung für das reale Leben überschätzt. […] Nur bei einer offenkundig ungenügenden und defekten bewussten Einstellung hat man ein Recht, dem Unbewussten einen höheren Wert zuzubilligen. […] Das Individuum ist bekanntlich keineswegs allein durch sich selbst bestimmt, sondern ebenso sehr auch durch seine kollektive Bezogenheit. (8, 494)
«
» Die Erfahrung hat mir gezeigt, dass bei einiger Kenntnis der Traumpsychologie sich leicht eine Überschätzung des Unbewussten einstellt, welche die bewusste Entschlusskraft beeinträchtigt. Das Unbewusste funktioniert aber nur befriedigend, wenn das Bewusstsein seine Aufgaben bis zum Rande der Möglichkeit erfüllt. (8, 568)
«
Das ist eine Erfahrung, welche ich auch bei gewissen Kollegen mache. Sie nehmen das Unbewusste ständig in Anspruch für Dinge, die sich in erster Linie mit dem Bewusstsein lösen lassen. Der Nachteil einer solchen Haltung ist, dass man nicht sich selber die Schuld zuweisen muss, wenn man falsch entschieden hat und daraus etwas lernen könnte.
» Es kommt selten vor, dass Träume ausschließlich positiv oder ausschließlich negativ sind. (11, 53)
«
Die Analysanden fragen oft ängstlich, ob der Traum, den sie eben erzählt haben, ein guter oder
37
521 37.2 • Die Rolle des Unbewussten
ein schlechter war. Da der Traum eine Naturtatsache ist und kompensatorische Funktion hat, ist er meiner Meinung nach immer gut, selbst ein Albtraum. Denn er muss nur zum Holzhammer greifen, wenn ein Bewusstsein so verstockt ist, dass es nicht begreifen kann, oder wenn eine große Gefahr droht. > Je massiver der Traum, umso größer die Kluft zwischen Bewusstsein und Unbewusstem.
» Es gibt einen Traum, den man einfach als Reaktionstraum bezeichnen könnte, […] als die Reproduktion eines bewussten affektvollen Erlebnisses, wenn nicht die Analyse solcher Träume den tieferen Grund aufdeckte, warum diese Erlebnisse so getreu im Traume reproduziert werden. Es stellt sich nämlich heraus, dass das Erlebnis noch über eine symbolische Seite verfügt, welche dem Individuum entgangen war. Diese gehören aber nicht hierher, sondern nur jene objektiven Vorgänge, welche ein psychisches Trauma gesetzt haben, […] das zugleich eine physische Läsion des Nervensystems bedeutet. Diese Fälle von schwerem Schock hat der Krieg reichlich erzeugt, […] wo das Trauma die mehr oder weniger ausschlaggebende Determinante darstellt. (8, 499)
«
eine richtige Deutung sofort zum Aufhören gebracht wird, während die reaktive Reproduktion sich durch die Traumanalyse nicht stören lässt. (8, 501)
«
Jung hatte aus dem Ersten Weltkrieg Fälle von
Granatschock zu behandeln. Heute gibt es wieder mehr derartige Fälle von Flüchtlingen aus Kriegsgebieten, wo furchtbare Gräueltaten verübt wurden. Es gibt sogar spezialisierte Zentren und Psychologen für Opfer von derartigen Traumen. Da scheint mir die Unterscheidung zwischen reaktiver, d. h. körperlich verankertem Schock und psychischem Trauma neue Aktualität zu gewinnen (Zur Rolle des Traumas bei der Entstehung der Neurose: 7 Kap. 4). In einem derartigen Fall bringt die Methode der Abreaktion von Breuer und Freud eine Besserung (16, 255–293). Solche Patienten haben die Tendenz, die fürchterlichen Szenen ihrer Träume zu verdrängen, was gerade das Gegenteil bewirkt. Die Träume »ruminieren« sozusagen das Unverdauliche, bis es verdaut, d. h. assimiliert werden kann. Die ständige Wiederholung durch den Traum ist ein sinnvoller Prozess.
» Träume, welche die Wirklichkeit zu nachdrücklich wiederholen oder zu deutlich auf einer antizipierten Wirklichkeit insistieren, benützen den Bewusstseinsinhalt als Ausdrucksform. (5, 261)
«
» Die bewusste Assimilation des vom Traum reproduzierten Stückes bringt die traumdeterminierende Erschütterung keineswegs zum Verschwinden. Der Traum »reproduziert« ruhig weiter, das heißt, der autonom gewordene Inhalt des Traumas wirkt von sich aus, und zwar so lange, bis der traumatische Reiz völlig erloschen ist. (8, 500)
«
»
Es ist im praktischen Fall nicht leicht zu entscheiden, ob ein Traum wesentlich reaktiv ist oder bloß symbolisch eine traumatische Situation reproduziert. Die Analyse kann aber die Frage entscheiden, indem in letzterem Fall die Reproduktion der traumatischen Szene durch
Wenn der Traum auf Projektionen hinweisen will, benützt er oft Szenen aus dem Alltagsleben.
» Der Traum ist eigentlich ein höchst objektives, sozusagen ein Naturprodukt der Psyche, weshalb man von ihm zum mindesten Hinweise und Anspielungen auf gewisse Grundtendenzen des seelischen Prozesses erwarten darf. (7, 210)
«
Er ist eine Selbstabbildung des psychischen Lebensprozesses, wenn man ihn richtig versteht. Da liegt nämlich das große Problem. Viele Analytiker reden davon, man müsse auf die Träume
522
Kapitel 37 • Traum
schauen, sie berücksichtigen, sie bei einem Problem, bei einer Entscheidung konsultieren.
» Die Beschäftigung mit den Träumen ist eine Art von Selbstbesinnung. (10, 318) «
» Die Träume beleuchten die Situation des
Das ist viel wichtiger als vom Traum als Orakel einfach zu erwarten, dass er einem die Entscheidung abnimmt. In einem früheren Zitat sagt Jung selber, dass dadurch die bewusste Entscheidungsfähigkeit geschwächt wird (8, 568). Weil das Verstehen eines Traumes eine so schwierige Sache ist (8, 533), hilft es
» …am besten, einen Traum so zu behandeln
«
Der Traum ist keine einfache Sache, man kann sich arg verrennen. Darum sollte man nicht sofort nach Träumen fragen, sondern erst, wenn man sonst nicht weiterkommt. Besonders zu Anfang einer Analyse kann die Arbeit an den Träumen ein »Corrosivum« sein.
» Es ist nicht anders zu erwarten, als dass (mit der Traumanalyse) für viele Menschen, die sich falsche Vorstellungen von sich selber machen, die Behandlung zunächst ein supplicium [= Demütigung vor Gott] ist, indem sie, nach dem antiken Satz »Gib los von dir, was du hast; dann wirst du empfangen«, so ziemlich alle innigst-geliebten Illusionen dranzugeben haben, um etwas Tieferes, Schöneres, Umfänglicheres in sich erstehen zu lassen. (7, 26)
«
Patienten in einer Art und Weise, die überaus gesundheitsfördernd sein kann. Sie bringen Erinnerungen, Einsichten, Erlebnisse, sie wecken Schlafendes in der Persönlichkeit und decken Unbewusstes in den Beziehungen auf, so dass selten einer, der es sich nicht verdrießen ließ, seine Träume während längerer Zeit mit berufenem Beistand zu verarbeiten, ohne Bereicherung und Erweiterung seines Horizontes geblieben ist. (8, 549)
«
wie einen gänzlich unbekannten Gegenstand: man besieht ihn von allen Seiten, man nimmt ihn in die Hand, trägt ihn mit sich herum, hat allerhand Phantasien über ihn und spricht von ihm zu anderen Leuten. […] Es wird viel von der Gewissenhaftigkeit und Ehrlichkeit des Suchenden abhängen, ob er durch die Auslegung des Traumes etwas gewinnt oder vielleicht nur noch tiefer in seine Irrtümer verstrickt wird. (10, 320)
37
Dieses Opfer der eigenen Illusionen ist heilsam, weil sich damit die Wertvorstellungen verschieben.
Und wenn sich die Traumanalyse über viele hunderte von Träumen erstreckt, bemerkt man, dass die Serie nicht bloß, wie der einzelne Traum, die Einseitigkeit des Bewusstseins kompensiert, sondern eine Entwicklung der Persönlichkeit (Individuation) darstellt.
» (Die Träume einer längeren Serie) scheinen unter sich zusammenzuhängen und in tieferem Sinne einem gemeinsamen Ziel untergeordnet zu sein, so dass eine lange Traumserie nicht mehr als ein sinnloses Aneinanderreihen inkohärenter und einmaliger Geschehnisse erscheint, sondern als ein wie in planvollen Stufen verlaufender Entwicklungs- oder Ordnungsprozess. (8, 550)
«
Das ist der schöpferische Prozess, man könnte gar sagen »Schöpfungsprozess«, weil durch ihn eine neue Welt entsteht, die es vorher so noch nicht gegeben hat. Dieser Prozess unterscheidet sich grundsätzlich von einem Lernprozess, bei welchem ein Lehrer, der das Resultat des Prozesses schon besitzt, seine Schüler über Stufen dahin zu bringen versucht. Die Individuation durchläuft jeder zum ersten Mal und in unverwechselbarer Einmaligkeit. Kein Lehrer kann ihm den Weg weisen und seine Umwege vermeiden. Natürlich ist berufene Hilfestellung nütz-
37
523 37.3 • Traumphasen
lich, besonders um die Winke aus dem Unbewussten zu verstehen.
» Dieser Vorgang ist nämlich die spontane Verwirklichung des ganzen Menschen. (8, 557) « Das Unbewusste weiß um das Ziel der Entwicklung. Deshalb ist die finale Deutung von Träumen, neben der kausalen, sinnvoll.
37.3
Traumphasen
Die Vielfalt der Träume ist unendlich; es wäre also eine missliche Sache, sie in ein Schema pressen zu wollen. Aus didaktischen Gründen mag es für den Anfänger vielleicht gehen, wenn man es nicht zu sehr strapaziert. Ich selber greife auf dieses Schema zurück, wenn ich einen Traum gar nicht verstehe. Dann kann es sinnvoll sein, dadurch eine gewisse Ordnung in den verworrenen Traumtext zu bringen. Schematisch lassen sich die meisten »durchschnittlichen« Träume, analog einem Drama, in vier Phasen einteilen. Vier Phasen des Traums 5 Exposition: Ortsangabe, handelnde Personen, Zeit der Handlung und Ausgangslage (8, 561). Es ist sozusagen der Theaterzettel. 5 Verwicklung: Die Situation wird kompliziert, es tritt eine gewisse Spannung ein, da man nicht weiß, was es jetzt geben wird (8, 562). Der Knoten wird geschürzt. 5 Kulmination oder Peripetie: Entscheidendes geschieht oder schlägt um (8, 563), auch eine Katastrophe kann sich anbahnen. 5 Lysis (Lösung) oder Resultat (8, 564). Sinnvoller Abschluss, Kompensation.
An dieser Stelle muss ich darauf aufmerksam machen, dass im Seminar Kinderträume ([16] S. 41) ein etwas anderes Schema gegeben wird. Das verbindliche ist obiges. Ich habe erst hier, nach vielen allgemeinen Bemerkungen zum Traum, dieses Schema erwähnt, um der Annahme entgegenzuwirken, man könne Träume schematisch deuten. Es gehören aber noch andere Gesichtspunkte dazu.
» Wir wissen, dass jedes psychische Gebilde, vom Kausalstandpunkt aus betrachtet, die Resultate vorausgegangener psychischer Inhalte ist. Wir wissen ferner, dass jedes psychische Gebilde, vom finalen Standpunkt aus betrachtet einen ihm eigentümlichen Sinn und Zweck im aktuellen psychischen Geschehen hat. (8, 451)
«
Die Entscheidung, ob ein Traum kausal oder final zu deuten ist, ist eine prinzipielle. Die zum Traum beigebrachten Assoziationen werden zeigen, ob er eher eine Folge aus der Lebensgeschichte des Träumenden oder eher zukunftsweisend ist. Im Allgemeinen sind die Träumer bereit, eine kausale Deutung zu bevorzugen, weil sie in ihrem Alltag in dieser Kategorie leben. Fruchtbarer ist aber oft die finale, sinnweisende Auffassung! Es antwortet auf die Frage: Wozu dieser Traum? Was soll er bewirken? Meist kann man den Traum aus beiden Blickwinkeln betrachten; es kommt nur darauf an, welcher mehr hergibt. Ich müsste jetzt das Gesagte mit zahlreichen Beispielen erläutern, was ich darum nicht tun werde, weil jede einleuchtende Interpretation unendlich viel Platz einnimmt und Jung genügend Beispiele gegeben hat, um es anschaulich zu machen (8, 457–466). Die Träume bei körperlichen Krankheiten stellen ein eigenes Problem dar. Sie begleiten nicht bloß eine floride Erkrankung, nein, sie wissen sogar um eine latente Krankheit.
524
Kapitel 37 • Traum
» Nicht selten ergeben die Träume eine merkwürdige innere symbolische Verbindung zwischen einer zweifellos körperlichen Krankheit und einem bestimmten seelischen Problem, wobei die psychische Störung geradezu als mimischer Ausdruck der psychischen Lage erscheint. […] Mir scheint, dass zwischen physischen und psychischen Störungen ein gewisser Zusammenhang existiert, dessen Bedeutung man im allgemeinen unterschätzt, allerdings andererseits auch wieder maßlos überschätzt. (8, 502)
«
Wir sind diesem wichtigen Problem der Psychosomatik bereits früher begegnet. In einem Brief an Dr. Wilhelm Bitter vom 17.IV.1959 nimmt Jung zum Problem der Wunderheilung Stellung. Neben den hypnotischen und suggestiven Heilungen (7 Erstes Buch), die damals als wunderbar galten, gibt es auch Fälle von Lungentuberkulose und bösartigen Tumoren mit reichlichen Metastasen, die während einer analytischen Behandlung abheilten,
» … ohne dass mich diese Beobachtungen dazu vermocht hätten, an die Möglichkeit psychotherapeutischer Heilung von Tumoren zu glauben. Im Fall einer derartigen Behandlung kann die Berührung der Sphäre der Archetypen jene Konstellation bewirken, die der Synchronizität zugrunde liegt. ([1] III, S. 245)
«
Die Beschränkung, welche Jung hier ausspricht, finde ich sehr weise, weil jede Heilung eigentlich nur deo concedente zustande kommt. Aus meinem Erfahrungsschatz kann ich dem vollständig zustimmen.
37
37.4
Telepathische Träume
und Podmore [15], welche derartige Phänomene als Beweis für das körperliche Leben nach dem Tode sammelten.
» Gewöhnlich werden in der Literatur der telepathischen Träume nur diejenigen erwähnt, in denen eine besonders affektvolle Angelegenheit räumlich und zeitlich »telepathisch« antizipiert wird. […] Eine Minderzahl dagegen zeichnet sich durch die merkwürdige Tatsache aus, dass der manifeste Trauminhalt eine telepathische Konstatierung enthält, die sich auf etwas gänzlich Belangloses bezieht. (8, 504)
«
Man hört so wenig von solchen telepathischen Träumen, weil sie nur »zufällig« in einer Analyse zur Sprache kommen, da sie eben im Gegensatz zu den anderen unspektakulär sind.
» Der Traum benützt kollektive Figuren, weil er ein ewiges, unendlich sich wiederholendes menschliches Problem und nicht eine persönliche Gleichgewichtsstörung auszudrücken hat. (8, 556)
«
37.4.1
Deutungsstufen
Allerdings muss man hier genau unterscheiden, auf welcher Ebene der Traum Sinn macht:
»
Wenn ich also von einem Menschen träume, mit dem mich ein vitales Interesse verbindet, dann wird gewiss die Deutung auf der Objektstufe näher liegen als die andere. Wenn ich dagegen von einem mir in Wirklichkeit fernstehenden und indifferenten Menschen träume, dann liegt die Deutung auf der Subjektstufe näher. (8, 510)
«
Telepathische Träume sind besonders spektakulär. Eine große Sammlung einschlägiger Erlebnisse findet man bei den Gründungsvätern der Society of Psychical Research, Gurney, Myers
» Ich nenne jede Deutung, in der die Traumausdrücke als mit realen Objekten identisch gesetzt werden können, eine Deutung auf der Objekt-
37
525 37.4 • Telepathische Träume
stufe. Dieser Deutung gegenüber steht diejenige, welche jedes Traumstück, z. B. alle handelnden Personen, auf den Träumer selbst bezieht. Dieses Verfahren bezeichne ich als Deutung auf der Subjektstufe. Die Deutung auf der Objektstufe ist analytisch, denn sie zerlegt den Trauminhalt in Reminiszenzkomplexe, welche auf äußere Situationen bezogen sind. Die Deutung auf der Subjektstufe dagegen ist synthetisch, indem sie die zugrundeliegenden Reminiszenzkomplexe von den äußeren Anlässen loslöst und als Tendenzen oder Anteile des Subjektes auffasst und dem Subjekt wiederum angliedert. […] Das synthetische oder konstruktive Interpretationsverfahren besteht also in der Deutung auf der Subjektstufe. (7, 150)
«
Am Anfang einer Analyse kommt die Deutung auf der Objektstufe zum Zug. Wird diese eintönig und nichtssagend, so ist jene auf der Subjektstufe vorzuziehen. Ist der Analysand noch nicht eingeweiht, so schockiert ihn der Gedanke, dass eine Person, die er nicht mag, auch etwas in ihm selbst sein soll, das er nicht ausstehen kann.
» Um den Traumsinn zu verstehen, muss ich mich möglichst eng an die Traumbilder halten. (16, 320)
«
Die Assoziationen zum Traum sollen nicht von diesem wegführen, sondern die Traumbilder umkreisen.
» Erscheinen sie uns unsinnig, so sind bloß wir unsinnig und besitzen offenbar den Witz nicht, die rätselhafte Botschaft unserer Nachtseite richtig zu lesen. (16, 325)
«
»
Wie die Seele eine Tagesseite, das Bewusstsein, hat, so hat sie auch eine Nachtseite, das unbewusste Funktionieren, das man als traumhaftes Phantasieren auffassen könnte. […] Undurchsichtige Träume sollte der Arzt immer als
Novum betrachten, als eine Information über Bedingungen unbekannter Natur, über die er so viel zu lernen hat wie der Patient. (16, 317)
«
» Ja das Unbewusste scheint sogar eine gewisse Tendenz zu haben, den Arzt in seine eigene Theorie bis zum Ersticken einzuwickeln. Ich sehe darum gerade bei der Traumanalyse soviel wie möglich ab von Theorie, nicht ganz allerdings, denn etwas Theorie brauchen wir immer, um die Dinge klar erfassen zu können. (16, 318)
«
Der Arzt soll so viel wie möglich über Trauminterpretation lernen und vor dem aktuellen Traum alles vergessen, um den Traum auf ihn wirken zu lassen, ein weiser Rat Jungs.
» Es ist selbstverständlich, dass jede Ansicht, die dem Unbewussten in der Ätiologie der Neurose eine ausschlaggebende Rolle zumisst, auch dem Traum, als der unmittelbaren Äußerung dieses Unbewussten, eine wesentliche, praktische Bedeutung zuerkennt. (16, 294)
«
Das ist der Grund, weshalb die Jungsche Psychologie dem Traum diese Bedeutung zumisst. Aus dem Bewusstsein allein kann die Neurose weder versanden noch behandelt werden, obwohl das heute noch weitherum versucht wird. Der Patient hat das doch schon längst selber versucht und dabei, wie eingangs erwähnt, wie ein Fisch an der Angel gezappelt. Diese einfache Logik hat in der Psychotherapie noch nicht eingeschlagen. Meines Erachtens liegt das Problem bei der Interpretation der Träume. Viele Therapeuten stehen ihnen verständnislos gegenüber.
» Der Traum schildert die innere Situation des Träumers, deren Wahrheit und Wirklichkeit das Bewusstsein gar nicht oder nur widerwillig anerkennt. (16, 304)
«
Das ist schön und recht – aber auch der Therapeut hat ein Bewusstsein, das dem Unbewussten
526
Kapitel 37 • Traum
des Analysanden Widerstand entgegensetzen kann, so dass er den Traum nicht versteht. > Wann ist dann ein Traum wirklich verstanden? Was ist das Kriterium, dass der Traum richtig verstanden wurde? Gibt es überhaupt für den Interpreten eine Sicherheit, den Traum richtig gedeutet zu haben?
Nichtverstehen beizeiten einzusehen, denn nichts ist dem Patienten unzuträglicher, als immer verstanden zu werden. (16, 313)
«
Denn mit dem Eingeständnis des Therapeuten, es nicht zu verstehen, wird bei einer positiven Übertragung der Patient zur Mitarbeit angespornt.
» Eine relative Sicherheit erreicht die Deutung
» Der Patient muss nämlich nicht von einer
erst in der Traumserie, wobei die nachfolgenden Träume die Irrtümer in der Deutung der vorangehenden berichtigen. Auch lassen sich in der Traumserie die zugrunde liegenden Inhalte und Motive viel besser erkennen. (16, 322)
Wahrheit belehrt werden – so wendet man sich nämlich nur an seinen Kopf –, sondern er muss sich vielmehr zu dieser Wahrheit entwickeln – und so erreicht man sein Herz, was tiefer greift und stärker wirkt. (16, 314)
«
37.5
«
Das Verstehen des Patienten ist nicht bloß ein intellektuelles, sondern beruht auf allen vier Funktionen, dem logos und dem eros.
Initialträume
Wie schon erwähnt, sind die ersten Träume in einer Analyse relativ oberflächlich und einfach zu verstehen. Allerdings stellen die Initialträume, d. h. die ersten einer Behandlung, ein besonderes Problem dar.
»
Initialträume, dass heißt solche aus dem unmittelbaren Beginn der Behandlung, heben nicht selten den ätiologisch wesentlichen Faktor unmissverständlich ans Licht. (16, 296)
«
37
» Es ist therapeutisch ungemein wichtig, sein
Sie schildern nicht nur die Problematik, sondern oft auch den Verlauf der Behandlung und die Übertragung. Sie sind für den behandelnden Arzt wichtiger als für den Patienten. Ich sagte, die anfänglichen Träume seien relativ einfach zu deuten, doch schon bald werden sie undurchsichtiger.
» In der Regel werden die Träume bald nach Beginn der Behandlung undurchsichtiger und verwischter, wodurch ihre Deutung erheblich erschwert wird. (16, 313)
«
» Das Verständnis sollte daher vielmehr ein Einverständnis sein, ein Einverständnis, das die Frucht gemeinsamer Überlegung ist. (16, 314)
«
Das ist nicht einfach ein Nicken des Analysanden angesichts der Autorität des Analytikers, sondern eine seelische Übereinstimmung. In einem Brief vom 29.IX.1934 an Dr. James Kirsch schreibt Jung:
»
Was die Patientin anbetrifft, so ist es ganz richtig, dass ihre Träume von Ihnen veranlasst sind. Der weibliche Geist ist Erde, welche des Samens harrt. Das ist der Sinn der Übertragung. Der Unbewusstere empfängt die geistige Befruchtung immer vom Bewussteren. Deshalb der Guru in Indien. Das ist uralte Wahrheit. Sobald gewisse Patienten zu mir in Behandlung treten, ändert der Typus der Träume. Im tiefsten Sinne träumen wir alle nicht aus uns, sondern aus dem, was zwischen uns und dem andern liegt. ([1] I, S. 223)
«
527 Literatur
Das bedeutet nun, dass das Heilende nicht nur im ausgetauschten Gespräch zwischen Analysand und Analytiker liegt, sondern ebenso in dem, was der Analytiker aus seiner Individuation gemacht hat. Sehr anschaulich schildert dies der Beitrag von Käthe Bügler; darin heißt es:
» Meine eigenen Träume waren sofort verändert. Ich träumte dunkel und inhaltsschwer, wie ich es bisher nicht kannte. Nach 14 Tagen wollte ich aus Angst nach Hause fahren. Aber ich tat es nach einigem Kampf Gottseidank nicht, sondern blieb eine längere Zeit in Zürich. Jetzt erst begann die eigentliche Analyse, nachdem Jung mich aufgerüttelt hatte. Sein schockhaftes Eingreifen am Anfang – von dem ich später oft hörte – bewirkte die richtige Orientierung. [13]
«
Offensichtlich brauchte sie diese initiale Erschütterung damit sich das richtige Verständnis des Unbewussten einstellen konnte.
» Jeder Schein von falscher Größe und Wichtigkeit zerfließt vor dem reduzierenden Bilde des Traumes, der mit unbarmherziger Kritik und unter Heraufführen eines vernichtenden Materials, das sich durch eine vollendete Registrierung aller Peinlichkeiten und Schwächen auszeichnet, die bewusste Einstellung analysiert. (8, 497)
«
Das ist das, was ich oben als »corrosivum« bezeichnet habe. Die Alchemisten sagen: »comburit omnes superfluitates« (es verbrennt alle Überflüssigkeiten). Wir hängen naiverweise viel zu sehr an falschen Werten. > Falsche Werte korrigiert der Traum unbarmherzig, um uns auf den Boden der wahren Werte zu stellen. Denn dieses sind die ewigen Werte, welche ein Leben überdauern.
37
» Der Traum ist die kleine verborgene Türe [Mt. 7, 14], im Innersten und Intimsten der Seele, welche sich in jene kosmische Urnacht öffnet, die Seele war, als es noch längst kein Ichbewusstsein gab, und welche Seele sein wird, weit über das hinaus, was ein Ichbewusstsein je wird erreichen können. […] Alles Bewusstsein trennt; im Traume aber treten wir in den tieferen, allgemeineren, wahreren, ewigeren Menschen ein, der noch im Dämmer der anfänglichen Nacht steht, wo er noch das Ganze, und das Ganze in ihm war, in der unterschiedslosen, aller Ichhaftigkeit baren Natur. (10, 304)
«
Als ich mir in der meditativen Stille der Insel Oléron diese Stelle aus Jungs Werk notierte, klopfte es ans Haus, als ob jemand Einlass begehrte. Mir lief es kalt den Rücken hinunter!
Literatur Primärliteratur (Quellen) 1 Jaffé A (Hrsg.) (1972/73) Briefe. Erster Band 1906–1945 (1972); Zweiter Band 1946–1955 (1972); Dritter Band 1956–1961 (1973 mit Nachtrag neu aufgefundener Briefe). In Zusammenarbeit mit Adler G, London. Walter, Olten Freiburg 2 Jung CG (1906) Assoziation, Traum und hysterisches Symptom. Erstveröffentlichung: Journal für Psychologie und Neurologie VIII/1–2, p. 25–60; dann: Diagnostische Assoziationsstudien II, VIII, p. 31–66, 1909. GW 2, 793–862 (823–844) 3 Jung CG (1910/11) Ein Beitrag zur Psychologie des Gerüchtes. Erstveröffentlichung: Zentralblatt für Psychoanalyse I/3, p. 81–90, GW 4, 96–100 4 Jung CG (1995) Symbole der Wandlung. Analyse des Vorspiels zu einer Schizophrenie. GW 5. Gesammelte Werke (Bd. 1–20 in 24 Teilbänden). Walter, Solothurn Düsseldorf 5 Jung CG (1995) Über die Psychologie des Unbewussten. GW 7. Die Archetypen des kollektiven Unbewussten. GW 7, 141–191. Gesammelte Werke. Walter, Solothurn Düsseldorf 6 Jung CG (1916) Allgemeine Gesichtspunkte zur Psychologie des Traumes. Erstveröffentlichung: The psychology of dreams. In: Collected papers on analytical psychology, p. 299–311. Stark erweitert und übersetzt: Über die Energetik der Seele, S. 112–184, 1928; dann:
528
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8
9
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Kapitel 37 • Traum
Über psychische Energetik und das Wesen der Träume. S. 145–225, 1948. GW 8, 443–529 Jung CG (1945) Vom Wesen der Träume. Erstveröffentlichung: Ciba Zeitschrift IX/99 Basel, Juli. Bearbeitet und erweitert: Über psychische Energetik und das Wesen der Träume, S. 227–257; Neuausgabe 1954. Ciba Zeitschrift 1952 GW 8, 530–569 Jung CG (1964) Das UFO im Traum. In: Ein moderner Mythus. Erstveröffentlichung: als Broschüre bei Rascher, Zürich 1958. Paperback. GW 10, 626–723 Jung CG (1995) Traumsymbole des Individuationsprozesses GW 12, S. 59–260. Gesammelte Werke. Walter, Solothurn Düsseldorf Jung CG (1931) Die praktische Verwendbarkeit der Traumanalyse. Referat am Kongress der Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie, Dresden. Erstveröffentlichung: Kongressbericht und Wirklichkeit der Seele, S. 68–103, 1934. GW 16, 294–352 Jung CG (1961) Symbole und Traumdeutung. In: Man and his symbols, London 1964. Übersetzung: Der Mensch und seine Symbole, Olten, 1968. GW 18/I, 416–443: Die Bedeutung der Träume; Die Sprache der Träume, 18/I, 461–494 Jung CG (1901) Vortragsmanuskript 25.01.1901: Sigmund Freud: »Über den Traum«. GW 18/I, 841–870
Sekundärliteratur 13 Bügler K (1963) Die Entwicklung der Analytischen Psychologie in Deutschland. In: Fordham M (ed) Contact with Jung. London. Tavistock Publications, London. S. 25 14 Walder P (1970) Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft als Elemente der Traumdeutung. Diplomthesis C.G. Jung-Institut. Signatur KT 67 15 Gurney E, Myers FWH, Podmore F (1886) Phantasms of the living. (Facsimile: Florida, 1970) Seminare von C. G. Jung 16 Jung L, Meyer-Grass M (Hrsg.) (1987) Kinderträume. Walter, Olten Freiburg 17 McGuire W (Hrsg.) (1991) Traumanalyse. Nach Aufzeichnungen des Seminars 1928–1930. Walter, Olten und Freiburg
37
529
Psychotherapie 38.1
Grundsätzliches – 530
38.2
Spezifische Methoden – 533
38.3
Psychotherapie als Berufung – 538 Literatur – 549
A. Ribi, Neurose – an der Grenze zwischen krank und gesund, DOI 10.1007/978-3-642-16148-3_38, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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530
Kapitel 38 • Psychotherapie
Wie steht es heute mit der Psychotherapie? Das müssen wir uns fragen, denn die Anzahl von Psychotherapien hat sich ins Unermessliche gesteigert, so dass sich der Laie darin nicht mehr zurechtfindet. Jede Richtung preist sich als die erfolgreichste an. Jede beruft sich auf einen »verklärten« Gründer, ohne dass man wüsste, wieso er so verklärt sein sollte. Erfolgsstatistiken der einzelnen Methoden sind unerheblich, weil Heilung nur deo concedente, also synchronistisch, stattfindet. Zudem ist fraglich, was Heilung eigentlich heißt. Ist es das Verschwinden der Symptome, das die Verhaltenstherapie anstrebt? Ist es eine subjektive Verbesserung in Richtung eines Wohlbefindens? Gibt es überhaupt objektive Kriterien dafür? Kurzum, wir haben keine Möglichkeit, zu sagen, die eine Methode sei objektiv besser als die andere.
Grundsätzliches
38.1
Im Aufsatz »Grundfragen der Psychotherapie« (1951) schreibt Jung:
» Es ist noch nicht so lange her, dass man in medizinischen Veröffentlichungen unter dem Titel »Therapie« nach einer Reihe von Heilverfahren und Rezepten auch noch »Psychotherapie« lesen konnte. Was hierunter etwa zu verstehen wäre, blieb in vielsagendes Dunkel gehüllt. Was war damit gemeint? Hypnose, Suggestion, »persuasion«, kathartische Methode, Psychoanalyse, Adlersche Erziehungskunst, Autogenes Training usw.? Diese Aufzählung veranschaulicht die ganz unbestimmte Vielfalt der Meinungen und Auffassungen, Theorien und Methoden, die allesamt unter dem Namen »Psychotherapie« gehen. (16, 230)
«
38
Zur Persönlichkeit des Psychotherapeuten meint er:
»
Jeder Psychotherapeut hat nicht nur seine Methode: Er selber ist sie. »Ars requirit totum hominem« [Die Kunst erfordert den Menschen mit Leib und Seele], sagt ein alter Meister. Der große Heilfaktor der Psychotherapie ist die Persönlichkeit des Arztes, die nicht a priori gegeben ist, sondern eine Höchstleistung darstellt, aber nicht ein doktrinäres Schema. Theorien sind unvermeidlich, aber bloße Hilfsmittel. […] Die Psyche kann man ebenso wenig wie die Welt in eine Theorie einfangen. […] Für die Psychoneurosen gilt nur der Grundsatz, dass ihre Behandlung eine psychische sein müsse. Jeder Psychotherapeut, wenn er etwas kann, wird bewusst oder unbewusst, Theorie hin oder her, gegebenenfalls auch alle Register spielen lassen, die in seiner Theorie überhaupt nicht vorkommen. (16, 198)
«
» Man kann auf alle möglichen Arten Psychotherapie treiben, von Psychoanalyse oder etwas dergleichen bis zu Hypnotismus und hinunter bis zu Honig äußerlich und Taubenmist innerlich. […] Sieht man genauer zu, so versteht man, dass nicht bei dieser Neurose, sondern bei diesem Menschen das vielleicht an sich absurde Heilmittel eben gerade das Richtige war, während es bei einem anderen Menschen das Allerverkehrteste gewesen wäre. […] Die Psychotherapie vor allem weiß es, […] dass ihr Objekt nicht die Fiktion der Neurose, sondern die gestörte Ganzheit eines Menschen ist. […] Trotz ihrer unbestreitbaren Jugendlichkeit als wissenschaftlich vertretbare Methode, ist sie doch so alt wie die Heilkunst überhaupt und hat stets, bewusst oder unbewusst, mindestens die Hälfte des Feldes der Medizin behauptet. Ihre wirklichen Fortschritte hat sie allerdings erst im letzten halben Jahrhundert gemacht und sich dabei wegen der nötigen Spezialisierung auf das engere Gebiet der Psychoneurosen zurückgezogen. (16, 199)
«
531 38.1 • Grundsätzliches
Wenn Jung gefragt wurde, welche Methode er in der Therapie verfolge, so antwortete er: Keine! Manchmal könne man ihn »freudianisch«, manchmal »adlerianisch« und manchmal noch anders reden hören, das hänge ganz vom Menschen ab, mit dem er es zu tun habe. Das ist der Grund, weshalb der Therapeut auch die anderen Methoden kennen muss. Das zeigt aber auch die Offenheit und Flexibilität des Therapeuten. Seine Methode sollte sich ganz nach dem Menschen richten, der ihn aufsucht.
» Die Klassifikation der Neurosen ist eine sehr unbefriedigende Angelegenheit. […] Im allgemeinen genügt die Diagnose »Psychoneurose« im Gegensatz zu organischer Störung und mehr als dies bedeutet sie nicht. (16, 195)
«
» Ob jemand an Hysterie, Angstneurose oder Phobie leidet, will wenig bedeuten neben der viel wichtigeren Feststellung, dass er z. B. »fils à papa« ist. Mit dieser Diagnose ist nämlich etwas Grundlegendes ausgesagt über den Inhalt der Neurose und über die zu erwartenden Schwierigkeiten in der Behandlung. (16, 196)
«
Das scheint mir heute ein großes Problem, wo die Pharmaindustrie und die Statistik genaue psychiatrische Diagnosen verlangen, um weltweit vergleichen zu können. Der Mensch wird so zur statistischen Einheit degradiert. Dagegen muss man sich wehren, denn der einzelne ist der Lebensträger und nicht die Erfolgsstatistik.
38
letzten Endes weder verglichen noch erkannt werden kann. […] Wenn ich daher den Einzelmenschen verstehen will, so muss ich alle wissenschaftliche Erkenntnis vom Durchschnittsmenschen zur Seite legen können und auf alle Theorie verzichten, um mir eine neue und unpräjudizierte Fragestellung zu ermöglichen. (10, 495)
«
» Ist der in Frage stehende Psychologe vollends ein Arzt, der seinen Patienten nicht nur wissenschaftlich einordnen, sondern auch menschlich verstehen will, so droht ihm unter Umständen eine Pflichtenkollision zwischen den beiden einander entgegengesetzten und sich gegenseitig ausschließenden Einstellungen, der Erkenntnis einerseits und des Verständnisses andererseits. Dieser Konflikt löst sich nicht durch ein Entweder-Oder, sondern nur durch eine Zweigleisigkeit des Denkens: das eine tun und das andere nicht lassen. (10, 496)
«
» Am allerehesten dürfte dem Arzt dieser Widerspruch zum Problem werden. Einerseits ist er ausgerüstet mit den statistischen Wahrheiten seiner naturwissenschaftlichen Bildung, und andererseits steht er der Aufgabe gegenüber, einen Kranken zu behandeln, welcher, besonders im Falle eines psychischen Leidens, ein individuelles Verständnis erfordert. Je schematischer die Behandlung verfährt, desto mehr wird sie berechtigte Widerstände beim Patienten auslösen und desto mehr wird die Heilung infrage gestellt. (10, 497)
«
»
Die statistische Methode vermittelt zwar die ideale Durchschnittlichkeit eines Sachverhaltes, nicht aber ein Bild von dessen empirischer Wirklichkeit. (10, 494)
«
» Es ist nicht das Allgemeine und Regelmäßige, sondern vielmehr das Einmalige, welches das Individuum kennzeichnet. Es ist nicht als eine sich wiederholende Einheit, sondern als eine einmalige Einzelheit zu verstehen, welche
Die Statistik ist ein Teufelsinstrument: auf der einen Seite braucht man sie als Kontrolle, auf der anderen degradiert sie das Individuum zur Zähleinheit. Sobald die Patienten zu bloßen »Fällen« werden, ist der Therapeut in die Routine abgeglitten und wird dem Menschen nicht mehr gerecht.
532
Kapitel 38 • Psychotherapie
» Die Psychotherapie ist nicht eine einfache und eindeutige Methode, als welche man sie zuerst verstehen wollte, sondern es hat sich allmählich herausgestellt, dass sie in gewissem Sinne ein dialektisches Verfahren ist, das heißt ein Zwiegespräch oder eine Auseinandersetzung zwischen zwei Personen. […] Eine Person ist ein psychisches System, welches, im Falle der Einwirkung auf eine andere Person, mit einem anderen psychischen System in Wechselwirkung tritt. […] Wir sind also in der Psychotherapie mit einer Situation konfrontiert, die vergleichbar ist derjenigen der modernen Physik, welche z. B. zwei kontradiktorische Lichttheorien aufweist [Welle-Korpuskel]. Und wie die Physik diesen Widerspruch nicht unüberbrückbar findet, so sollte auch die Existenz vieler psychologischer Standpunktmöglichkeiten kein Anlass zur Annahme sein, dass die Widersprüche unüberbrückbar und die Auffassungen restlos subjektiv und daher inkommensurabel seien. Widersprüche in einem Wissenschaftsgebiet beweisen nur, dass der Gegenstand der Wissenschaft Eigenschaften aufweist, welche zur Zeit nur durch Antinomien erfasst werden können, wie z. B. die Wellen- und Korpuskularnatur des Lichtes. […] Eine der grundlegenden Antinomien (der Psyche) ist der Satz: Die Psyche hängt vom Körper ab und der Körper hängt von der Psyche ab. […] Der zweite fundamentale Gegensatz der Psychologie lautet: Das Individuelle bedeutet nichts gegenüber dem Allgemeinen, und das Allgemeine bedeutet nichts gegenüber dem Individuellen. (16, 1)
«
38
»Eine psychologische Wahrheit ist nur wahr, wenn man sie auch umkehren kann«, sagt Jung. Jetzt versteht man diesen Satz erst richtig aus der Antinomie der Psyche. Mir ist beim Lesen seiner Werke aufgefallen, wie sorgfältig er bei jeder Aussage deren Gegensatz berücksichtigt. Manchmal scheint er fast an den Haaren aus seinem Versteck hervorgeholt zu werden, aber
erst dann stimmt es. Ich hatte einen bekannten Kollegen, der jede Aussage seinerseits oder von anderen aufhob, indem er das Gegenteil davon behauptete. Das ist eben gerade nicht das, was Jung meint. Den Kollegen konnte man nämlich nie fassen, nie auf etwas behaften, weil er eben auch das Gegenteil behauptet hätte: er war schlüpfrig wie ein Fisch, aalglatt, aber pathologisch. Das, was Jung tut, ist paradoxes Denken, die höchste Form des Denkens, was den Horizont von Gefühlstypen in der Regel übersteigt. Im Vorwort zur »Praxis der Psychotherapie« (1957) schreibt Jung:
» Es ist in der Tat die ärztliche Bemühung um das psychologische Verständnis seelischer Leiden, welche mich in mehr als fünfzig Jahren psychotherapeutischer Praxis zu allen meinen späteren Erkenntnissen und Schlussfolgerungen geführt und umgekehrt mich veranlasst hat, meine Einsichten wiederum in der unmittelbaren Erfahrung zu überprüfen und zu modifizieren. […] Die seelischen Verhaltensweisen sind eminent historischer Natur. (16, 1)
«
Zur Dialektik (D): »Die Erfahrung der »hori-
zontweitenden D. motiviert die Forderung einer engeren Verbindung natur- und geisteswissenschaftlicher Forschung. Wirklichkeit bestimmt sich als dialektisches Spiel von Subjekt und Objekt, von Theorie und Erfahrung. Das spekulative, subjektive Moment in der dialektischen Denkweise wird korrigiert durch Experiment, Iterierung, maximale Selbstkontrolle, Wechsel der Voraussetzungen und Einbettung des jeweils anstehenden Problems in dessen Vorgeschichte und Zweckbestimmung [Finalität]. Außer dem synthetischen wird […] der experimentelle Charakter der D. betont.« [24] Die Antinomie der Psyche ist daher keine metaphysische Aussage, sondern eine peinliche und schmerzhafte Erfahrung. Diese Antinomie ist das, was man immer wieder vergisst, wodurch man eben in Konflikte oder das Uneinssein mit
38
533 38.2 • Spezifische Methoden
sich selber gerät. Der Gegensatz, das Gegenteil dessen, was man sagt, schwingt untergründig immer irgendwo mit und wird auch vom Gegenüber so wahrgenommen.
» Ich muss daher wohl oder übel, insofern ich überhaupt einen individuellen Menschen psychisch behandeln will, auf alles Besserwissen, auf alle Autorität und alles Einwirkenwollen verzichten. Ich muss notwendigerweise ein dialektisches Verfahren einschlagen, welches nämlich in einer Vergleichung der wechselseitigen Befunde besteht. Dies wird aber erst möglich dadurch, dass ich dem anderen Gelegenheit gebe, sein Material möglichst vollständig darzustellen, ohne ihn durch meine Voraussetzungen zu beengen. Durch diese Darstellung wird sein System auf das meinige bezogen, wodurch eine Wirkung in meinem eigenen System erzeugt wird. Diese Wirkung ist das einzige, was ich in individueller Hinsicht und legitimerweise meinem Patienten gegenüberstellen kann. (16, 2)
«
» Diese grundsätzlichen Überlegungen bewirken eine ganz bestimmte Haltung des Therapeuten, welche mir in allen Fällen individueller Behandlung unerlässlich, weil einzig wissenschaftlich verantwortbar erscheint. Jedes Abweichen von dieser Haltung bedeutet Suggestivtherapie deren Grundsatz lautet: Das Individuelle bedeutet nichts gegenüber dem Allgemeinen. (16, 3)
«
» Es kommt nur darauf an, an welche Methode der Therapeut jeweils glaubt. Sein Glaube an die Methode ist ausschlaggebend. Glaubt er wirklich, so wird er mit Ernst und Ausdauer sein Möglichstes für den Kranken tun, und diese freiwillige Anstrengung und Hingabe hat heilende Wirkung – soweit das psychische Hoheitsgebiet des kollektiven Menschen reicht. Die Grenzen aber sind festgesetzt von der Antinomie individuell – allgemein. (16, 4)
«
Es gibt Leute, die wollen kollektiv angepasst sein. Es wäre sogar ein Kunstfehler, diese nicht mit einer technischen Methode zu behandeln. Andererseits gibt es Leute, welche nur kollektiv angepasst und deshalb neurotisch sind, weil das Individuelle in ihnen unterdrückt ist. Da wäre es völlig verkehrt, sie technisch zu behandeln, weil sie zu kollektiv sind. Der Therapeut muss darum erkennen, wo das Defizit liegt, das zum Problem geworden ist.
» Wie bekannt, gibt es auch eine Überschätzung des Individuellen auf Grund der Antithese: Das Allgemeine bedeutet nichts gegenüber dem Individuellen. So kann man die Psychoneurosen vom psychologischen (also nicht vom klinischen) Standpunkt aus in zwei große Gruppen teilen; die eine enthält Kollektivmenschen mit unterentwickelter Individualität, die andere Individualisten mit atrophischer Kollektivanpassung. Danach scheidet sich auch die therapeutische Einstellung, denn es ist ohne weiteres klar, dass ein neurotischer Individualist gar nicht anders gesunden kann, als dass er den Kollektivmenschen in sich und damit die Notwendigkeit der kollektiven Anpassung anerkennt. Es ist darum gerechtfertigt, ihn auf die Stufe der kollektiv gültigen Wahrheit zu reduzieren. (16, 5)
«
38.2
Spezifische Methoden
Damit ist Grundsätzliches zur Art der Therapie gesagt. Unterschiedliche Methoden können in der einen oder anderen Art ausgeübt werden. Die allgemeine Richtung ist jetzt gegeben, doch nun kommt das Spezifische einer Therapie.
» Man glaubt, man müsse es einem »nur sagen«, was er tun »sollte«, um auf den richtigen Weg zu kommen. Aber ob er es tun kann oder will, steht auf einem anderen Blatt geschrieben. Demgegenüber hat die ärztliche Kunst eingesehen, dass
534
Kapitel 38 • Psychotherapie
mit Sagen, Überreden, Ermahnen, Ratschläge erteilen nichts Tüchtiges erreicht wird. Der Arzt will und muss auch die Einzelheiten kennen und sich ein authentisches Wissen um das psychische Inventar seiner Patienten erwerben. (10, 555)
«
Es ist auch unmittelbar einleuchtend, warum »gute Ratschläge« nur bedingt wirksam sind, denn intelligente Patienten haben sich die längst schon selber gegeben ohne Nutzen. Und es ist lächerlich, in einer Therapie dem Patienten etwas angeben zu wollen, was er selber schon längst weiß. Das ist auch der Grund, weshalb das »sollte« verboten ist. Wenn er etwas nicht kann, nützt ihm das »sollte« nichts, sondern nur die Suche nach der Ursache des Nichtkönnens und die liegt meist tiefer. Der wirkliche Grund des Versagens aller dieser gutgemeinten Methoden liegt in der Tatsache, dass das eigentliche Problem im Unbewussten liegt. Dafür muss der Arzt alle diese oft sehr intimen Details der Lebensumstände kennen.
» Es sind gerade die abnormen psychischen
38
Vorgänge, welche die Existenz eines Unbewussten am deutlichsten dartun, weshalb es auch gerade Ärzte und vor allem Spezialisten auf dem Gebiet der psychischen Erkrankungen sind, welche die Hypothese des Unbewussten am eifrigsten befürworteten und verteidigten. Während in Frankreich auf diese Weise die Psychologie durch die Psychopathologie erheblich bereichert und dadurch zum Annehmen des Begriffes »unbewusster« Vorgänge gebracht wurde, hat in Deutschland die Psychologie die Psychopathologie befruchtet und ihr eine Reihe wertvoller experimenteller Methoden zugeführt, ohne aber von der Psychiatrie das Interesse für pathologische Vorgänge zu übernehmen. […] Auf diese Weise entstand jener Komplex von theoretischen und praktischen Auffassungen, die man als »Psychoanalyse« bezeichnet. Diese Richtung hat den Begriff des psychologischen Unbewussten breit entwickelt, und zwar
in viel höherem Maße als die französische Schule, die sich mehr mit den Erscheinungsformen unbewusster Vorgänge als mit deren Kausalität und individuellem Inhalt beschäftigte. (10, 2)
«
»
Infolge dieser zunächst nur medizinischen Entwicklung hat der Begriff des Unbewussten eine naturwissenschaftliche Färbung angenommen. In dieser Form ist der Begriff in der Freudschen Schule stehengeblieben. (10, 3)
«
> Die Anerkennung des Unbewussten ist für die Behandlung der Psychoneurosen eine zentrale Voraussetzung.
Das ist aber nicht einfach ein Glaubensbekenntnis, sondern eine persönliche Erfahrung.
» Ein Psychotherapeut, der selber neurotisch ist, wird unfehlbar seine eigene Neurose am Patienten behandeln. Therapie, abgesehen von der Beschaffenheit der ärztlichen Persönlichkeit, ist allenfalls noch denkbar im Gebiet der rationalen Techniken, im Gebiet eines dialektischen Verfahrens hingegen wird sie zur Undenkbarkeit, denn dort muss der Arzt aus seiner Anonymität heraustreten und Rechenschaft über sich selber geben, genau das, was er von seinen Patienten verlangt. […]
«
Das ist mit Risiken verbunden.
» In Wirklichkeit handelt es sich um einen schwierigen und nicht ungefährlichen Beruf. Wie der Arzt überhaupt Infektionen und anderen Berufsgefahren ausgesetzt ist, so riskiert der Psychotherapeut psychische Infektionen, die nicht minder bedrohlich sind. So ist er einerseits vielfach in Gefahr, in die Neurosen seiner Patienten verwickelt zu werden, andererseits muss er sich persönlich dermaßen gegen den Einfluss seiner Patienten abschirmen, dass er sich der therapeutischen Wirkung beraubt. Zwischen dieser Skylla und Charybdis liegt das Risiko, aber auch der heilende Effekt. (16, 23)
«
38
535 38.2 • Spezifische Methoden
Die richtige Einstellung des Therapeuten ist stets eine Gratwanderung. Viele Übergriffe von Therapeuten stammen daher, dass ihm diese nicht geglückt ist, dass er von der Krankheit seines Patienten angesteckt wurde.
» Unter allen Umständen ist oberste Regel eines dialektischen Verfahrens, dass die Individualität des Kranken dieselbe Würde und Daseinsberechtigung wie die des Arztes hat, und dass darum alle individuellen Entwicklungen im Patienten als gültig zu betrachten sind, insofern sie sich nicht selbst korrigieren. […] Insofern »Heilung« bedeutet, dass ein Kranker in einen Gesunden verwandelt wird, so bedeutet Heilung Veränderung. […] Wo aber ein Patient einsieht, dass Heilung durch Veränderung ein zu großes Opfer an Persönlichkeit bedeuten würde, kann und soll der Arzt auf Veränderung respektive Heilenwollen verzichten. Entweder muss er die Behandlung ablehnen oder sich zum dialektischen Verfahren bequemen. […] In meiner eigenen Praxis habe ich stets eine größere Anzahl von hochgebildeten, intelligenten Menschen von ausgesprochener Individualität, welche jeden ernstlichen Veränderungsversuch aus ethischen Gründen den stärksten Widerstand entgegensetzen würden. In allen diesen Fällen muss der Arzt den individuellen Heilungsweg offen lassen, […] es wird ein Prozess sein, den man als Individuation bezeichnet, das heißt der Patient wird zu dem, was er eigentlich ist. Er wird sogar, schlimmstenfalls, seine Neurose mit in Kauf nehmen, weil er den Sinn seiner Krankheit verstanden hat. Mehr als ein Kranker hat mir gestanden, dass er gelernt habe, seinen neurotischen Symptomen dankbar zu sein, denn sie hätten ihm stets wie ein Barometer gezeigt, wann und wo er von seinem individuellen Weg abgewichen sei, oder wann und wo er wichtige Dinge unbewusst gelassen habe. (16, 11)
«
Beim dialektischen Verfahren stellt sich natürlich die Frage, was der Therapeut eigentlich tue. Zunächst ist es die einfache Präsenz des Therapeuten, dass sich jemand hingebungsvoll für die Probleme und das Material des Patienten interessiert. Meist bringt nämlich erst der Therapeut die Emotionen zum Material des Patienten. Dieser nimmt es gewöhnlich als selbstverständlich und erkennt die Bedeutungsschwere nicht. Der Therapeut vermag, dank seines umfänglichen Wissens, die größeren Zusammenhänge aufzuzeigen. Sein Interesse bringt die Libido, die unbewusste Energie, welche im Material steckt, hervor und belebt die Dinge. Damit kommt ein innerer Prozess im Patienten in Gang, die Individuation. Der Therapeut braucht diesem nicht die Richtung zu weisen, die »weiß« er selber. Vielmehr muss er dem Patienten Mut machen, durchzuhalten, Geduld zu üben, nicht zu verzagen, sich nicht beirren zu lassen. Er begleitet ihn durch alle diese Wirrnisse und Hindernisse hindurch. Aber er muss sie ihm nicht aus dem Wege räumen, höchstens auf sie aufmerksam machen. Kurzum gibt es für die Anwesenheit des Therapeuten genügend Gründe, auch wenn der Analysand selbständig geworden ist. Dann ist es auch klar, das die »Kranken«-Kasse nicht mehr zu zahlen verpflichtet ist, obwohl seine Neurose vielleicht nicht »geheilt« ist, sondern weil er auch dort unabhängig geworden ist und auf eigenen Füßen steht. Oft bedeutet das finanzielle Einschränkungen in manchen Lebensbereichen. Das ist ihm das aber wert, denn er ist jetzt an seine Lebensquelle angeschlossen.
» Bei einer psychologischen Entwicklung nämlich sollte der Arzt aus Prinzip die Natur walten lassen und es tunlichst vermeiden, im Sinne seiner eigenen philosophischen, sozialen und politischen Voraussetzungen den Patienten zu beeinflussen. […] Erst wenn der Mensch auf seine Art existiert, ist er verantwortlich und handlungsfähig, sonst wäre er ein bloßer Mit- und Nachläufer ohne eigene Persönlichkeit. (16, 42)
«
536
Kapitel 38 • Psychotherapie
Oben habe ich als wesentliche Aufgabe des Therapeuten erwähnt, dass er seinem Patienten Geduld und Zuversicht vermitteln muss, die er auch selber braucht.
» Die Neurosen sind nämlich meistens durch viele Jahre hindurch aufgebaute Fehlentwicklungen, welche nicht durch einen kurzen und intensiven Prozess [Kur!] redressiert werden können. Die Zeit ist darum ein nicht zu ersetzender Heilfaktor. (16, 36)
«
z
Synthetische Behandlung
Das sind Gesichtspunkte der synthetischen Behandlung für welche entweder der Patient schon über die Anfangsgründe der Behandlung hinausgekommen ist oder dessen Leiden nicht sehr schwer ist.
» Es gibt Patienten, zu deren Heilung nichts als
38
eine mehr oder weniger gründliche Beichte, ein sogenanntes Abreagieren genügt. Schwerere Neurosen bedürfen in der Regel einer reduktiven Analyse ihrer Symptome und Zustände. […] Augustin unterscheidet zwei Hauptsünden, die eine ist die concupiscentia, die Begehrlichkeit, und die andere die superbia, die Überheblichkeit. […] Diejenigen, deren Charakteristikum das infantile Lustsuchen ist, sind meistens solche, denen die Befriedigung inkompatibler Wünsche und Triebe mehr am Herzen liegt als die soziale Rolle, die sie spielen könnten; darum sind es oft wohlsituierte, sogar erfolgreiche Leute, die sozial angekommen sind. Diejenigen aber, welche »oben« sein wollen, sind meist Leute, die entweder in Wirklichkeit unten sind oder sich wenigstens einbilden, nicht die Rolle zu spielen, welche ihnen eigentlich zukäme. Es sind darum häufig Menschen, welche Schwierigkeiten mit der sozialen Anpassung haben und deshalb mit Machtfiktionen ihre Unterlegenheit zu bemänteln versuchen. […] Ich empfehle den Patienten,
etwas von Freud und Adler zu lesen. In der Regel finden sie bald heraus, wer von beiden ihnen mehr liegt. (16, 24)
«
Wie schon erwähnt, richtet sich die Form der Behandlung ganz nach der Art der Erkrankung und nach der Persönlichkeit des Patienten. Manchmal sagen Leute, sie hätten eine Jungsche Therapie hinter sich. Das heißt gar nichts oder alles Mögliche, denn es hängt außerdem von der Arbeit des Analytikers ab.
»
Die persönliche autoritäre Einwirkung ist zwar ein wichtiger Heilfaktor [vor allem beim Kader von Kliniken], aber bei weitem nicht der einzige, und auf keinen Fall stellt er das Wesen der Psychotherapie dar. Heutzutage ist sie Wissenschaft und wissenschaftliche Methodik geworden, während früher »Psychotherapie« in jedermanns Bereich zu liegen schien. […] Freud wusste schon, dass durch die Unterdrückung des Symptoms die Ursache der Krankheit nicht beseitigt war und dass das Symptom vielmehr eine Art Wegweiser ist, der direkt oder indirekt auf die Krankheitsursache hinweist. (16, 29)
«
> Cave Verhaltenstherapie!, die dem Patienten und der Krankenkasse vorgaukelt, die Krankheit bestehe im Symptom, und wenn dieses aufgehoben sei, sei sie geheilt. Das ist nicht nur ein Rückschritt um etwa 300 Jahre, sondern eine glatte Lüge. Denn jeder ausgebildete Arzt muss wissen, dass das Symptom bloß Wegweiser zur Krankheitsursache, aber nicht das Übel selber ist. z
Suggestion
»
Die Suggestionsbehandlung (Hypnose und andere) ist nicht leichtsinnigerweise aufgegeben worden, sondern darum, weil ihre Resultate wirklich unbefriedigend waren. […] Sie ist an ihrem eigenen Ungenügen eingegangen. (16, 30)
«
537 38.2 • Spezifische Methoden
Man könnte daher meinen, die Suggestionstherapie sei kein Thema mehr, doch dem ist nicht so. Das schließt jedoch nicht aus, dass Suggestionen nicht gelegentlich in einer gewöhnlichen Therapie angebracht sind. Wichtig ist dabei, dass sich der Therapeut dessen bewusst ist.
» Unter dem Einfluss von Breuer und Freud galt längere Zeit die sogenannte traumatische Neurosentheorie, und dementsprechend versuchte die sogenannte kathartische Methode dem Patienten die ursprünglichen traumatischen Momente wieder bewusst zu manchen. […] Die kathartische Methode aber verlangte ein sorgfältiges individuelles Eingehen auf den Einzelfall und eine geduldige, forschende Einstellung, die sich auf die möglichen traumatischen Momente richtete. (16, 33)
«
z
38
» Das alles hindert natürlich nicht, dass man mit Normalisieren und Rationalisieren zunächst so weit geht wie möglich. […] Genügt der Erfolg aber nicht, so hat sich die Therapie wohl oder übel nach den irrationalen Gegebenheiten des Kranken zu richten. Hier müssen wir der Natur als Führerin folgen, und was der Arzt dann tut, ist weniger Behandlung als vielmehr Entwicklung der im Patienten liegenden schöpferischen Keime. (16, 82)
«
» In allen deutlichen Neurosefällen ist eine gewisse Umerziehung und Umwandlung der Persönlichkeit unerlässlich, denn es handelt sich stets um eine in der Regel bis in die Kindheit zurückreichende Fehlentwicklung des Individuum. […] Auf alle Fälle sollte zur Ausübung dieser Tätigkeit ein gründliches psychiatrisches Wissen vorausgesetzt werden. (16, 44)
«
Abreagieren von Emotionen
Der Sinn des Bewusstmachens von traumatischen Situationen lag im anschließenden Durcharbeiten und Abreagieren der damit verbundenen Emotionen. Diese Emotionen sind die eigentliche Noxe des Traumas.
» Freud selber hat bald die Stufe der Traumatheorie überholt und ist mit der Verdrängungstheorie hervorgetreten. […] Die Verdrängungstheorie trug der Tatsache weit mehr Rechnung, dass typische Neurosen im eigentlichen Sinne Entwicklungsstörungen sind. (16, 34)
«
Alle diese Theorien haben ihre Verdienste, aber auch ihre Gefahr, die darin besteht, dass der Therapeut blindlings ihr zu folgen versucht und nicht merkt, was die Natur des Patienten verlangt.
» Jeder hat wohl seine Lebensform in sich, eine irrationale Form, die durch keine andere überboten werden kann. (16, 81)
«
z
Umwandlung
Für eine Umwandlung ist eine gewisse Stabilität der Persönlichkeit nötig. Bei latenten Psychosen kann es zu einem psychotischen Zusammenbruch kommen, wenn etwas an ihrer Persönlichkeit verändert wird. Darum heißt es in Laienkreisen manchmal, Analyse sei gefährlich. Sie ist nur dort gefährlich, wo sie an der falschen Persönlichkeit ausgeführt wird, nämlich an einer labilen. Der Therapeut muss darum diese »bêtes noires« erkennen.
» Mit einer unzulänglichen Theorie kann man es bekanntlich sehr lange aushalten, nicht aber mit unzulänglichen therapeutischen Methoden. In meiner beinahe dreißigjährigen psychotherapeutischen Praxis [geschrieben 1929] habe ich mir eine beträchtliche Sammlung von Misserfolgen zugelegt, die mir eindrücklicher waren als meine Erfolge. […] Aus Erfolgen lernt der Psychotherapeut wenig oder nichts, denn sie bestätigen ihn hauptsächlich in seinen Irrtümern. Misserfolge sind dagegen überaus kostbare
538
Kapitel 38 • Psychotherapie
Erfahrungen, denn in ihnen tut sich nicht nur der Weg zu einer besseren Wahrheit auf, sondern sie zwingt uns auch zur Veränderung unserer Auffassung und Methode. (16, 73)
«
38.3
Psychotherapie als Berufung
> Vom Therapeuten wird eine Ehrlichkeit sich selber und seiner Tätigkeit gegenüber erwartet, damit er sein Tun fortlaufend kritisch hinterfragen kann.
Eine therapeutische Inflation macht ihn blind, was sehr gefährlich ist.
» Durch die Neurosenbehandlung wird ein Problem angeschnitten, das weit über das Nurärztliche hinausgeht und dem ein nurmedizinisches Wissen unmöglich gerecht werden kann. (12, 4)
«
» Unsere moderne Schulmedizin sowohl wie die akademische Psychologie und Philosophie geben dem Arzt weder die nötige Bildung noch die nötigen Mittel in die Hand, um den oft sehr dringenden Anforderungen der psychotherapeutischen Praxis wirksam und verständnisvoll zu begegnen. […] Obschon wir die Spezialisten par excellence sind, so zwingt uns unser Spezialgebiet merkwürdigerweise zum Universalismus und zur gründlichen Überwindung des Spezialistentums, wenn anders die Ganzheit von Körper und Seele nicht leeres Gerede bleiben soll. […] Wichtig ist nicht mehr die Neurose, sondern wer die Neurose hat. Beim Menschen haben wir einzusetzen, und dem Menschen müssen wir gerecht werden können. (16, 190)
«
38
Das hat Folgen, indem nicht mehr eine Methode vom Therapeuten zu erlernen ist, sondern das unabsehbare Feld der ganzen Psyche und des Körpers in Betracht kommen.
» Trotz der großen Gleichförmigkeit der Konflikte oder Komplexe ist jeder Fall sozusagen ein Unikum. (4, 458)
«
Jede Falldarstellung, soll sie nicht bloß aphoristisch sein, benötigt daher die Ausbreitung der ganzen Lebensgeschichte, der aktuellen Konfliktsituation, der Persönlichkeit und der Reaktionen des Unbewussten, was uns zu viel Platz kosten würde. Zudem birgt sie die Gefahr, dass man das auf den nächsten eigenen Fall überträgt, der wieder ein Unikat ist. Trotzdem werde ich einige Fälle von Jung anführen, die nicht zu lang sind. Er hat einen Fall ausführlich dargestellt und analysiert, was ich dem Leser im Original nachzulesen empfehle (4, 218–221, 297–301, 355–363; 7, 8–13, 417–421, 425).
»
Der Therapeut ist nicht mehr das handelnde Subjekt, sondern ein Miterlebender eines individuellen Entwicklungsprozesses. (16, 7) [im dialektischen Verfahren]
«
» Worüber man selber keine klare Einsicht besitzt, weil man es sich selber nicht zugeben möchte, das versucht man auch beim Patienten am Bewusstwerden zu verhindern, natürlich zu dessen größtem Nachteil. Die Forderung, dass der Analytiker selber analysiert sein müsse, gipfelt in der Idee des dialektischen Verfahrens, wo der Therapeut nämlich sowohl als Fragender wie als Antwortender in Beziehung zu einem anderen psychischen System tritt, nicht mehr als Übergeordneter, Wissender, Richter und Ratgeber, sondern als ein Miterlebender. (16, 8)
«
Das heißt: Der Arzt als Person ist beteiligt.
» Es ist dem einsichtigen Psychotherapeuten schon lange bewusst, dass jede komplizierte Behandlung einen individuellen, dialektischen Prozess darstellt, an dem der Arzt als Person ebenso sehr beteiligt ist wie der Patient. Bei
38
539 38.3 • Psychotherapie als Berufung
einer solchen Auseinandersetzung bedeutet die Frage, ob der Arzt ebensoviel Einsicht in seine eigenen psychischen Vorgänge besitzt, als er sie vom Patienten erwartet, natürlich sehr viel, und zwar besonders in Hinsicht auf den sogenannten Rapport, das heißt das Vertrauensverhältnis, von dem in letzter Linie der therapeutische Erfolg abhängt. Denn gegebenenfalls kann der Patient seine eigene innere Sicherheit nur aus der Sicherheit seiner Beziehung zur menschlichen Person des Arztes gewinnen. […] Schwere Fälle bedeuten daher für den Patienten sowohl wie für den Arzt nichts weniger als eine menschliche Bewährungsprobe. […] Keine Analyse wäre je imstande, alle Unbewusstheiten auf immer aufzuheben. […] Man könnte ohne allzu viel Übertreibung sagen, dass jede tiefgreifende Behandlung etwa zur Hälfte in der Selbstprüfung des Arztes besteht, denn nur was er in sich selber richtig stellt, kann er auch beim Patienten in Ordnung bringen. Es ist kein Irrtum, wenn er sich vom Patienten betroffen und getroffen fühlt: nur im Maße seiner eigenen Verwundung vermag er zu heilen. (16, 239)
«
Zur Kunst der Psychotherapie gibt Jung zu bedenken:
» Die Frage der Maßstäbe, mit denen gemessen werden soll, und die der ethischen Kriterien, die unser Handeln bestimmen sollen, muss irgendwie beantwortet werden, denn gegebenenfalls erwartet der Patient Rechenschaft über unsere Urteile und Entscheidungen. […] Mit anderen Worten fordert die Kunst der Psychotherapie, dass sich der Therapeut im Besitz einer angehbaren, glaub- und verteidigungswürdigen, letztlich umfassenden Überzeugung befinde, die ihre Tüchtigkeit dadurch bewiesen hat, dass sie auch bei ihm selber neurotische Dissoziationen entweder aufgehoben hat oder nicht aufkommen lässt. Der Besitz an Neurose dementiert den Therapeuten. Man kann nämlich keinen Patienten weiterbringen als man selber ist. (16, 179)
«
» Die Weltanschauung ist, als komplexestes Gebilde, der Gegenpol der physiologisch gebundenen Psyche, und als oberste psychische Dominante entscheidet sie unumgänglich über deren Schicksal. Sie leitet das Leben des Therapeuten und bildet den Geist seiner Therapie. […] Eine feste Überzeugung beweist sich in ihrer Weichheit und Nachgiebigkeit, und wie jede hohe Wahrheit gedeiht sie am besten auf ihren zugegebenen Irrtümern. (16, 180)
«
» Der Psychotherapeut kennt nicht nur die Unzulänglichkeit der Zeugenaussage, sondern darüber hinaus noch die besonderen Fehlerquellen der Aussage in eigener Sache, nämlich der Aussage des Patienten, der wissentlich und unwissentlich Tatsachen in den Vordergrund zu schieben versteht, die an sich glaubwürdig aussehen, aber hinsichtlich der Pathogenese ebenso irreführend sein können. […] Auf alle Fälle muss man darauf vorbereitet sein, dass man das Allerwichtigste eben gerade nicht zu hören bekommt. Der Psychotherapeut wird sich daher bemühen, Fragen zu stellen über Dinge, die mit dem vorliegenden Krankheitsfall überhaupt nichts zu tun zu haben scheinen. Dabei braucht er nicht nur sein Fachwissen, sondern ist auch auf Intuitionen und Einfälle angewiesen, und je weiter er sein Fangnetz spannt, desto eher wird es ihm gelingen, die komplexe Natur des Falles einzufangen. Wenn es nämlich je eine Krankheit gegeben hat, die nicht lokalisiert werden kann, weil sie aus der Ganzheit des Menschen hervorgeht, so ist es die Psychoneurose. […] Sie hat mit Gehirnsymptomen nichts zu tun. Im Gegenteil, je mehr der Psychotherapeut sich von vorhandener Heredität und der Möglichkeit psychotischer Komplikationen beeindrucken lässt, desto gelähmter wird er in seiner therapeutischen Aktion sein. (16, 194)
«
Wie man sieht, werden an den Psychotherapeuten nicht nur in fachlicher, sondern vor allem in charakterlicher Hinsicht bedeutende Anforderungen gestellt. Dafür braucht es eine gewisse
540
Kapitel 38 • Psychotherapie
Reife und Lebenserfahrung, aber eigentlich eine Berufung.
» Es ist das, was man Bestimmung nennt; ein irrationaler Faktor, der schicksalshaft zur Emanzipation von der Herde und ihren ausgetretenen Wegen drängt. Echte Persönlichkeit hat immer Bestimmung und glaubt an sie, hat pistis zu ihr, wie zu Gott, obschon es, wie der gewöhnliche Mann sagen würde, nur ein individuelles Bestimmungsgefühl ist. […] Die Tatsache, dass sehr viele an ihrem eignen Weg zugrunde gehen, bedeutet dem, der Bestimmung hat, nichts. Er muss dem eigenen Gesetz gehorchen, wie wenn es ein Dämon wäre, der ihm neue, seltsame Wege einflüstert. Wer Bestimmung hat, hört die Stimme des Inneren, er ist bestimmt. (17, 300)
«
Nur der Therapeut, der selber Bestimmung hat, kann den Analysanden im synthetischen Verfahren in seiner Reifung fördern.
» Der analytische Eingriff steht in Hinsicht auf die Reifung der Persönlichkeit beträchtlich höher als die Suggestion, welche eine Art von Zaubermittel ist, das im Dunkeln wirkt und niemals einen ethischen Anspruch an die Persönlichkeit erhebt. (16, 315)
«
» Die therapeutische Methode der komplexen Psychologie besteht einerseits in einem möglichst vollständigen Bewusstmachen der konstellierten unbewussten Inhalte und andererseits in einer Synthese derselben mit dem Bewusstsein durch den Erkenntnisakt. (9/I, 84)
«
In »Zwei Schriften über Analytische Psychologie« heißt es:
38
» Ich musste zuerst gründlich einsehen, dass die »Analyse«, insofern sie nur Auflösung ist, notwendigerweise von einer Synthese gefolgt sein muss, und dass es seelische Materialien gibt, die so gut wie nichts bedeuten, wenn sie bloß aufge-
löst werden, die aber eine Fülle von Sinn entfalten, wenn man sie nicht auflöst, sondern in ihrem Sinne bestätigt und mit allen bewussten Mitteln noch erweitert (sogenannte Amplifikationen). Die Bilder oder Symbole des kollektiven Unbewussten geben nämlich nur dann ihren Wert von sich, wenn sie einer synthetischen Behandlung unterworfen werden. (7, 122)
«
Die synthetische Behandlung mit ihrer Amplifikation der archetypischen Bilder übersteigt das nur medizinische Wissen des Arztes. Hier gerät er nolens volens auf das Gebiet der Geisteswissenschaften, wo er sich ein reichliches Repertoire an Kenntnissen zu Symbolen, Mythen und Märchen sowie Religionsgeschichte erwerben muss. > Die Psyche umfasst das Ganze und hält sich nicht an unsere Abgrenzungen von Disziplinen.
Der Psychotherapeut bedarf nicht nur dieses umfassenden Wissens und seiner Bestimmung, er gerät noch in unerwartete moralische Nöte.
» Wo sich Abwege auftun, bedarf es des Führers und Lehrmeisters und sogar des Arztes. Der verführende Irrweg ist das Gift, das zugleich Heilmittel sein könnte, und der Schatten des Erlösers ist ein teuflischer Zerstörer. Diese Gegenkraft wirkt sich zunächst am mythischen Arzt selber aus: der wundenheilende Arzt ist selber der Träger einer Wunde, wofür Chiron das klassische Beispiel ist. (15, 159)
«
Die Idee des »wounded healers« hat bei den Studenten am C.G. Jung-Institut sehr eingeschlagen, ohne dass sie genau wussten, was damit gemeint war. Zunächst denkt man, dass Menschen, die im Leben »verwundet« worden sind, sich besonders zum Beruf des Psychotherapeuten hingezogen fühlen, weil sie mehr Einfühlung in den kranken Menschen haben. Es meint aber vor allen, dass der Arzt vom Leiden des Kranken »berührt« wird.
38
541 38.3 • Psychotherapie als Berufung
» Die Verletzungen der Ärzte sind meist Pfeilschüsse. Auch Asklepios erleidet dasselbe Schicksal, getroffen vom Geschosse des Zeus, und zwar wegen eines »excès de zèle et de pouvoir«; er hatte nämlich nicht bloß Kranke geheilt, sondern auch Tote zurückgerufen, was dem Pluto zuviel wurde. (14/I, 140, Anm. 157)
«
Pfeilschuss oder penetrierende Lanze der Melusine in Christi Seite in einer Abbildung der Pandora (13 Bild V) weisen auf Projektionen hin, durch welche sich der Arzt verwunden lässt in der Übertragung. Ich selber hatte zu diesem Problem der ärztlichen Compassio einen eindrücklichen Traum: Traum: »Ich komme zu meiner Patientin ans Bett. Da merke ich, dass Jung neben ihr liegt und mit ihr ganz selbstverständlich im Unterhaltungston spricht. Am Schluss sagt er: »So jetzt habe ich Ihren letzten Sommer gefressen«, was heißt, er habe die drückenden Erinnerungen vom letzten Sommer von ihr genommen. Erst jetzt realisiere ich, was ich erlebt habe, mir wird warm ums Herz, ich umarme Jung und sage, diesen Moment, ihn in meinem Leben zu begegnen, hätte ich lange herbeigesehnt«.
psychischen Ursache geheilt war. Und wie sollten wir Fälle von offensichtlichen physischen Erkrankungen erklären, die beeinflusst und sogar geheilt werden durch bloßes Besprechen gewisser schmerzhafter seelischer Konflikte? Ich habe einen Fall von Psoriasis gesehen, die sich praktisch über den ganzen Körper erstreckte und nach einigen wenigen Wochen psychologischer Behandlung zu neun Zehntel abgeheilt war. In einem anderen Fall hatte ein Patient wegen Erweiterung des Dickdarms eine Operation durchgemacht. Vierzig Zentimeter waren herausgenommen worden, aber es erfolgte bald eine erhebliche Erweiterung des noch verbleibenden Dickdarms. Der Patient war verzweifelt und verweigerte die Erlaubnis zu einer zweiten Operation, obwohl der Chirurg sie für unumgänglich nötig hielt. Sobald gewisse intime psychologische Tatsachen aufgedeckt worden waren, begann der Dickdarm normal zu funktionieren. (11, 15)
«
Derartige »Wunder« können sich – deo concedente – ereignen, wenn ein Patient sich aufrichtig und engagiert mit seinen Problemen auseinandersetzt und auf einen Therapeuten trifft, der sich seiner ebenso hingebungsvoll annimmt.
Marie-Louise von Franz, mit der ich damals den Traum besprochen habe, sagte, Jung habe eine ungeheure »compassio«, Einfühlung in das Leiden der Menschen gehabt. Das ist im Traum dadurch ausgedrückt, dass er neben der Patientin im Bett liegt, als wäre er der Leidende. Aber er kann das Bedrückende verarbeiten dank größerer Bewusstheit. Er ist nicht der Arzt im weißen Mantel, der Ärzte Persona, sondern spricht mit ihr von gleich zu gleich [21]«. Jung nennt in »Zur Psychologie westlicher und östlicher Religion« eindrückliche Fälle:
» Der »ganze seelische Mensch« […] stellt
» Ich habe einen Fall von hysterischem Fieber
» Daraus ergibt sich als wesentlicher Schluss,
gesehen mit einer Temperatur von 39 Grad, das in wenigen Minuten durch die Beichte der
dass die eigentliche Psyche das Unbewusste ist, während das Ich-Bewusstsein nur als temporäres Epiphänomen gelten kann. (16, 205)
nichts weniger als eine Welt dar, das heißt einen Mikrokosmos, wie schon die Alten ganz richtig meinten, aber unrichtig begründeten. Die Psyche spiegelt das Sein schlechthin und erkennt es, und alles wirkt in ihr. (16, 203)
«
» Das Vorhandensein einer unbewussten Psyche ist etwa so wahrscheinlich wie die Existenz eines noch unentdeckten Planeten, auf den aus den Störungen einer bekannten Planetenbahn geschlossen wird. (16, 204)
«
«
542
Kapitel 38 • Psychotherapie
» Mit dem Unbewussten ist es aber eine andere Sache. Dieses kann nämlich per definitionem und effektiv nicht umschrieben werden. Es muss daher als etwas Grenzenloses gelten, im Kleinen oder im Großen. (16, 206)
«
In einem Brief an Dr. Cappon vom 15.III.1954 schreibt Jung:
In unserer Zeit wird allzu sehr auf der therapeutischen Methode insistiert. Jede hat, um von der Krankenkasse anerkannt zu werden, den Nachweis von Wissenschaftlichkeit und Wirksamkeit zu erbringen. Das ist ein typisches Symptom unserer Wissenschaftsgläubigkeit. Sie kennt die wahre Geschichte der Psychotherapie nicht. z
» Ich persönlich bin von einer Entsprechung zwischen Geist und physiologischem Leben des Körpers überzeugt, doch ist die Frage, auf welche Weise der Geist mit dem Körper verbunden sei, aus naheliegenden Gründen nicht zu beantworten. […] Die Frage der Hirnlokalision ist äußerst heikel; denn die Zerstörung einer bestimmten Hirnpartie bewirkt die Zerstörung einer Funktion, doch weiß man nicht, ob die Funktion selbst zerstört wurde oder nur ihr Übermittler – einen Telephonapparat entfernen heißt noch nicht, seinen Eigentümer umgebracht zu haben. Es steht sogar nicht einmal fest, ob die Psyche vom Hirn abhängt, denn wir kennen Tatsachen, welche beweisen, dass die Seele fähig ist, Raum und Zeit zu relativieren [Synchronizitäten]. […]
38
Man hat Neurosen auf erstaunlichste Weise geheilt, lange vor unserer modernen Psychologie. Fehlt dem Arzt eine bestimmte Technik, so helfen Aufrichtigkeit der Einstellung und Hilfsbereitschaft, die verletzte Ganzheit des Patienten zu heilen; wird aber ein besseres methodisches Wissen zurückgehalten, dann kommt das weniger Gute nie zu einem positiven Ergebnis. Eine erfolgreiche therapeutische Haltung setzt immer voraus, dass Sie Ihr Bestes tun, ganz gleich wie gut oder schlecht es an sich ist, oder welche Technik Sie anwenden. Sie müssen nur sicher sein, dass Sie das Beste tun, dessen Sie fähig sind. ([13] II, S. 383–384)
«
Beichte
» Der Uranfang aller analytischen seelischen Behandlung liegt im Vorbild des Beichtbekenntnisses. (16, 125)
«
» So fördernd ein mit mehreren geteiltes Geheimnis ist, so zerstörend wirkt ein nur persönliches Geheimnis. Es wirkt wie eine Schuld, die den unglücklichen Besitzer von der Gemeinschaft mit anderen Menschen abschneidet. (16, 124)
«
» Alles persönliche Geheimnis wirkt wie Sünde und Schuld, ob es nun solche ist oder nicht, gesehen vom Standpunkt allgemein geglaubter Moral. (16, 129)
«
Zu den Anfängen der Psychoanalyse erläutert Jung:
»
Die Anfänge der Psychoanalyse sind im Grunde nichts anderes als die wissenschaftliche Wiederentdeckung einer alten Wahrheit; selbst der Name, der der ersten Methode gegeben wurde, nämlich Katharsis = Reinigung, ist ein geläufiger Begriff der antiken Einweihungen. (16, 124)
«
» Alle sind von allen durch Geheimhaltung irgendwie getrennt, und die Abgründe zwischen den Menschen sind überspannt von der trügerischen Brücke der Meinungen und Illusionen als leichtfertigem Ersatz für die standhafte Brücke des Bekenntnisses. (16, 135)
«
38
543 38.3 • Psychotherapie als Berufung
Die Beichte ist nicht nur ein Test für die Ehrlichkeit; als Institution, welche Jung hochgeachtet hat, zwingt sie den Menschen, sich seiner Handlungen mehr bewusst zu werden.
Das sind rationale analytische Vorgehensweisen, die durchaus ihren Wert behalten haben. Aber sie sind nicht für jedermann richtig. Neben dem Alter spielt der Charakter eine große Rolle.
» Die (Psychotherapie) verkündet die Absicht,
» Es gibt komplizierte, bewusstseinsstarke Na-
den Menschen zur Selbständigkeit seines Wesens und zur sittlichen Freiheit zu erziehen, in Übereinstimmung mit den durch vorurteilslose, wissenschaftliche Forschung gefundenen Erkenntnissen. (16, 223)
turen, die […] können die heftigsten Widerstände gegen jeden Versuch des Zurückdrängens des Bewusstseins entwickeln, sie wollen mit dem Arzt bewusst reden und ihre Schwierigkeiten verstandesmäßig darstellen und erörtern. (16, 137)
«
«
Das Adjektiv »vorurteilslos« ist insofern wichtig als Hautfarbe, Konfession, Parteizugehörigkeit usw. kein Präjudiz darstellen.
» Für den jugendlichen, noch unangepassten, erfolglosen Menschen ist es von größter Wichtigkeit, sein bewusstes Ich so wirkungsvoll wie möglich zu gestalten, das heißt seinen Willen zu erziehen. (16, 109)
«
» (Der Mensch der zweiten Lebenshälfte) empfindet seine schöpferische Tätigkeit, deren soziale Unnützlichkeit ihm völlig klar ist, als Arbeit und als Wohltat an sich selbst. (16, 110)
«
» (Die Erziehung zum normal angepassten Menschen) geschieht offenbar auf der Grundlage der Überzeugung, dass die soziale Anpassung und Normalisierung das erstrebenswerte Ziel, das unbedingt Nötige und die wünschenswerte Erfüllung menschlichen Wesens sei. […] Für den Forscher kann die Pfütze eine Welt voller Wunder bedeuten, für den gewöhnlichen Menschen aber ist sie [der moralische Sumpf ] ein Ding, das man besser [hinter sich] lässt. […] Die falschen neurotischen Wege werden zu ebenso vielen hartnäckigen Gewohnheiten, die trotz aller Einsicht so lange nicht verschwinden, als sie nicht durch andere Gewohnheiten, die nur durch Einüben erzielt werden können, ersetzt sind. (16, 152)
«
» Bei der Erziehung zum sozialen Menschen […] sind es gerade wieder geistig differenzierte Menschen, die zwar die Wahrheit einer reduktiven Erklärung einsehen, sich aber mit einer bloßen Entwertung ihrer Erwartungen und Ideale nicht begnügen können. (16, 150)
«
In »Zur Psychologie westlicher und östlicher Religion« kommt er auf die Ichhaftigkeit zu sprechen:
» Das Ziel ist die Wandlung, und zwar eine nicht vorausbestimmte, sondern vielmehr unbestimmbare Veränderung, deren einziges Kriterium das Verschwinden der Ichhaftigkeit ist. […] Auch bei uns kommt es nicht allzu selten vor, dass zuallererst einmal durch die Therapie ein bewusstes Ich und ein bewusster, kultivierter Verstand hergestellt werden muss, bevor man überhaupt daran denken kann, eine Ichhaftigkeit oder einen Rationalismus aufzuheben. (11, 904)
«
» Der »Normalmensch« ist das ideale Ziel für die Erfolglosen, für alle die, die noch unterhalb des allgemeinen Anpassungsniveaus stehen. […] Es gibt ebenso viele Neurotiker, die erkrankt sind, weil sie bloß normal sind, wie es solche gibt, die krank sind, weil sie nicht [bloß] normal werden können. (16, 161)
«
544
Kapitel 38 • Psychotherapie
» Es ist eine Sache zum Verzweifeln, dass es in der wirklichen Psychologie keine allgemein gültigen Rezepte oder Normen gibt. […] Darum ist auch für das Resultat einer seelischen Behandlung die Persönlichkeit des Arztes (sowie des Patienten) oft so unendlich viel wichtiger, als das, was der Arzt sagt und meint, obschon dieses mit ein nicht zu unterschätzender Störungs- oder Heilfaktor sein kann. Das Zusammentreffen von zwei Persönlichkeiten ist wie eine Mischung zweier verschiedener chemischer Körper: tritt eine Verbindung überhaupt ein, so sind beide gewandelt. […]. Einfluss haben ist synonym mit Affiziertsein. (16, 163)
«
Jetzt versteht man, wieso Jung, wenn er nach seiner Behandlungsmethode gefragt wurde, sagte, er habe keine. Es gibt keine, weil sie sich nach den jeweiligen Erfordernissen richtet. Gäbe es eine, so wäre sie rigide und würde den variierenden Bedürfnissen nicht genügen. Die letzte, nicht zu vernachlässigende Stufe der Therapie
» … verlangt die Rückanwendung des jeweilig geglaubten Systems auf den Arzt selber, und zwar mit derselben Schonungslosigkeit, Konsequenz und Ausdauer, die der Arzt dem Patienten gegenüber an den Tag legt. (16, 168)
«
» Der Schritt von der Erziehung zur Selbsterziehung ist ein logischer Fortschritt, der alle früheren Stufen ergänzt. (16, 170)
«
» Was am Patienten geschah, soll am Arzt geschehen, damit dessen Persönlichkeit nicht ungünstig auf den Patienten zurückwirke. (16, 172)
«
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» Den Ausschlag gibt nicht mehr das ärztliche Diplom, sondern die menschliche Qualität. […] (Die seelenärztliche Kunst) schreitet über sich selbst hinaus und tritt in jene große Lücke, wel-
che bisher der seelische Nachteil der abendländischen gegenüber den östlichen Kulturen war. Wir kannten nur seelische Unterwerfung und Bändigung, aber keine methodische Entwicklung der Seele und ihrer Funktionen. […] Auf höherer Kulturstufe aber muss und wird die Entwicklung den Zwang ersetzen. […] Mit dem Augenblick, wo eine ursprüngliche ärztliche Psychologie den Arzt selber zum Gegenstand nimmt, hört sie auf, bloße Behandlungsmethode für Kranke zu sein. (16, 174)
«
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Alchemie
Von hier führte die befruchtende Bekanntschaft Jungs mit der Alchemie weiter. Man versteht von diesem Punkt aus, dass sie ihm die willkommene Fortsetzung seiner Bemühungen um eine autochthone Möglichkeit der seelischen Weiterentwicklung war. Er kannte und schätzte die östlichen Techniken, zu welchen er auch Seminare und Kommentare verfasst hatte, doch das »missing link« fand er erst in der mittelalterlichen Alchemie. Nach jahrzehntelangem Studium derselben hat er seine Einsichten im Mysterium coniunctionis zusammengefasst. Der VI. Abschnitt des zweiten Bandes »Die Konjunktion« enthält die Fortsetzung des oben genannten seelischen Entwicklungsprozesses in alchemistischer Sicht mit den nötigen psychologischen Erläuterungen (14/II, S. 228–331). Das ist die Krönung von Jungs Lebenswerk. Zugleich hat es die Psychotherapie aus ihren medizinischen Fesseln und ihrer Bindung ans ärztliche Konsultationszimmer befreit. Trotzdem gibt es noch Neurotiker, welche eine Therapie lege artis benötigen, aber das Ende einer Therapie ist völlig offen.
» Psychische Behandlungen kommen in allen möglichen Stadien der Entwicklung zu einem Ende, ohne dass man bei einem solchen immer das Gefühl hätte, es sei damit auch ein Ziel erreicht. Typische, temporäre Beendigungen [7 Übersicht] finden statt: … (12, 3)
«
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545 38.3 • Psychotherapie als Berufung
Typische, temporäre Beendigungen (12, 3) 1. »Nach Empfang eines guten Rates; 2. nach Ablegen einer mehr oder weniger vollständigen, jedoch genügenden Beichte; 3. nach der Erkenntnis eines bisher unbewussten, aber wesentlichen Inhalts, dessen Bewusstmachen einen neuen Lebens- oder Tätigkeitsanstoß im Gefolge hat; 4. nach einer durch längere Arbeit geleisteten Ablösung von der Kindheitspsyche; 5. nach Herausarbeiten einer neuen rationalen Anpassung an vielleicht schwierige oder ungewöhnliche Umweltbedingungen; 6. nach dem Verschwinden quälender Symptome; 7. nach Eintreten einer positiven Wendung des Schicksals, wie Examen, Verlobung, Heirat, Scheidung, Berufswechsel usw.; 8. nach Wiederentdecken der Zugehörigkeit zu einem religiösen Bekenntnis oder Konversion; 9. nach begonnenem Aufbau einer praktischen Lebensphilosophie (»Philosophie« im antiken Sinn!)«
Es heißt manchmal in Laienkreisen, die Jungsche Analyse sei eine lebenslange. Das stimmt insofern als man nie »ausanalysiert« ist wie bei der Analyse Freuds. Die seelische Entwicklung ist eine lebenslange und manche frühere Patienten arbeiten für sich alleine oder mit gelegentlicher Unterstützung weiter daran.
» In späteren Stadien lasse ich die Patienten die Deutung der Träume selber ausarbeiten. Auf diese Weise lernt es der Patient, auch ohne Arzt mit seinem Unbewussten richtig zu verfahren. (16, 322)
«
Es geht ja darum, den Patienten zur Selbständigkeit zu erziehen (16, 223), dass er mit seinem Bewusstsein ans Unbewusste angeschlossen bleibt. Dann hat er eine neue Einstellung gefunden, welche ihm eine Ausgeglichenheit ermöglicht und die Integration neuer Impulse.
» Im menschlichen Leben gibt es Augenblicke, wo eine neue Seite aufgeschlagen wird. Neue, bisher nicht gepflegte Interessen und Tendenzen treten auf, oder eine Veränderung der Persönlichkeit (eine sogenannte Charakterveränderung) meldet sich zum Wort. (16, 373)
«
Mit der neu gewonnenen Einstellung zum Unbewussten nach einer Periode von Psychotherapie, sei sie jetzt kurz oder lang gewesen, kann die seelische Entwicklung im voll gelebten Alltag weitergehen.
» Ich brauche […] wohl nicht hervorzuheben, dass nicht jede psychische Behandlung automatisch zum Bewusstwerden des entscheidenden Konfliktes führt, so wie nicht jeder chirurgische Eingriff eine Operation vom Rang einer Magenresektion bedeutet. Wie es eine sogenannte kleine Chirurgie gibt, so gibt es auch eine kleine Psychotherapie, deren Operationen sich durch Harmlosigkeit auszeichnen. […] Es handelt sich um eine Minderzahl von Patienten mit gewissen geistigen Ansprüchen, die eine Entwicklung durchlaufen, welche dem Arzt Probleme der geschilderten Art aufgeben. (14/II, 178)
«
» Die Probleme […] stellen sich im Gebiete der sogenannten »kleinen« Psychotherapie nicht. Man kann dort mit Suggestion, mit einem guten Rat, mit einer treffenden Aufklärung schon auskommen. Neurosen oder psychotische Grenzzustände bei komplizierten und intelligenten Leuten hingegen verlangen öfters das, was man »große« Psychotherapie nennt, nämlich das dialektische Prozedere. (16, 240)
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Kapitel 38 • Psychotherapie
Es wäre ein völlig falsches Bild, zu meinen, ein Jungscher Therapeut mache nur noch lange Analysen. Ich habe mich in einem Vorort der Stadt Zürich niedergelassen und mich stets als »Feld-, Wald- und Wiesen-Psychiater« verstanden, der alle Arten von seelischen Leiden zu behandeln hat. Es kamen aber nicht nur Leute mit einer psychiatrischen Erkrankung würdigen Leiden, sondern mit dem Bedürfnis nach seelischer Entwicklung. z
Das Schöpferische
» Das schöpferische Leben ist immer jenseits der Konvention. Daher kommt es, dass, wenn die bloße Routine des Lebens in der Form althergebrachter Konventionen vorherrscht, ein zerstörerischer Ausbruch der schöpferischen Kräfte erfolgen muss. Dieser Ausbruch ist aber nur katastrophal als Massenerscheinung, niemals aber im Einzelnen, der sich bewusst diesen höheren Kräften unterordnet und sein Können in ihren Dienst stellt. Der Mechanismus der Konventionen hält die Menschen unbewusst. (17, 305)
«
Nichtgelebte schöpferische Möglichkeiten führen zu Störungen, welche nicht mit einer psychiatrischen Diagnose übereinstimmen. Ich habe in »Der normal kranke Mensch« [23] einen derartigen Fall beschrieben. Dieser litt allerdings an einer schweren Depression. Es ist viel zu wenig bekannt, dass unterdrückte schöpferische Anlagen zu erheblichen Störungen führen können. Man glaubt, solche Interessen auf eine zusagende Zeit im Leben verschieben zu können, was sich als Irrtum erweist. Jung schildert den Fall eines etwa 45-jährigen Geschäftsmannes aus Amerika:
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» Es handelte sich um einen typischen amerikanischen Selfmademan, der sich ganz von unten emporgearbeitet hatte. Er war sehr erfolgreich gewesen und hatte ein Geschäft von gewaltigem
Umfang gegründet. Es war ihm auch gelungen, es allmählich so zu organisieren, dass er an seinen Rücktritt von der Leitung denken konnte. Zwei Jahre bevor ich ihn sah, hatte er auch seinen Abschied genommen. Bis dahin hatte er nur seinem Geschäft gelebt und alle Energie darauf konzentriert, mit jener unglaublichen Intensität und Einseitigkeit, wie sie dem amerikanischen Geschäftsmann eigentümlich ist. Er hatte sich einen prachtvollen Landsitz gekauft, wo er zu »leben« gedachte, worunter er sich Pferde, Automobile, Golf, Tennis, »parties« usw. vorstellte. Aber er hatte die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Die »disponibel« gewordene Energie ging auf alle diese lockenden Perspektiven nicht ein, sondern kaprizierte sich auf etwas ganz anderes: nämlich wenige Wochen nach Beginn des ersehnten glückhaften Lebens begann er, eigentümlichen, vagen Empfindungen im Körper nachzusinnen, und ein paar weitere Wochen genügten, um ihn in eine unerhörte Hypochondrie hineinzustürzen…
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Mit dem Ergebnis:
» Er brach nervös völlig zusammen. Er, ein gesunder, physisch ungemein kräftiger, überaus energischer Mann, wurde zu einem weinerlichen Kinde. Und damit nahm die ganze Herrlichkeit ein Ende. Er fiel von einer Angst in die andere und quälte sich mit hypochondrischen Schikanen fast zu Tode. Er konsultierte nun einen berühmten Spezialisten, der sofort richtig erkannte, dass dem Mann gar nichts fehle als die Arbeit. Das leuchtete dem Patienten auch ein, und er begab sich wieder in seine frühere Stellung. Aber – zu seiner ungeheuren Enttäuschung – kein Interesse für sein Geschäft wollte sich einstellen. Weder Geduld noch Entschluss halfen. Die Energie ließ sich mit keinem Mittel mehr auf das Geschäft zurückzwingen. Da wurde sein Zustand natürlich noch schlimmer als zuvor. Alles, was zuvor lebendig schaffende Energie in ihm gewesen war, wandte sich nun mit furchtbar destruktiver
547 38.3 • Psychotherapie als Berufung
Gewalt auf ihn selber zurück. Sein schöpferischer Genius empörte sich gewissermaßen gegen ihn, und so, wie er vorher große Organisationen in der Welt geschaffen hatte, so schuf sein Dämon ebenso raffinierte Systeme von hypochondrischen Trugschlüssen, die ihn ganz vernichteten. Als ich ihn sah, war er bereits eine hoffnungslose moralische Ruine. Immerhin versuchte ich ihm klarzumachen, dass man eine solche Riesenenergie zwar schon aus dem Geschäft zurückziehen könne, aber die Frage sei: worauf? …
«
Aus diesem Fall zieht Jung das Fazit:
» Es geht eben im Leben irrational zu, und unpassenderweise verlangt die Energie ein ihr zusagendes Gefälle, sonst staut sie sich einfach auf und wird destruktiv. Sie regrediert in frühere Situationen. (7, 75)
«
Das Schöpferische ist je nach dem wie sich das Bewusstsein dazu einstellt, eine segensreiche oder eine zerstörerische Macht.
Mitteln endlich einmal unterzukriegen. Unter diesen Umständen kommt es meist zu gewissen Symptomen, unter denen auch eine besondere Sprache figuriert: man will eindrucksvoll reden, um dem Gegner zu imponieren; deshalb verwendet man einen besonderen Kraftstil mit Wortneubildungen, sogenannten Neologismen, die man als »Machtwörter« bezeichnen könnte. (13, 155)
«
Die Tatsache, dass man sich selber sabotiert wegen des Uneinsseins mit sich selber, führt schnell in einen Teufelskreis, der das Alarmzeichen sein sollte.
» Man muss doch voraussetzen, dass der Kranke zum Arzt kommt, um sich aus seiner krankhaften Denk- und Auffassungsweise zu befreien, und man dürfte deshalb wohl annehmen, […] dass in der Krankheitserscheinung selber auch die Heilungsbestrebungen des erkrankten Systems gegeben sind. (10, 356)
«
» Wir müssen den Grundsatz berücksichtigen,
» Bei der Analyse der Persönlichkeit ergibt es sich beim Extravertierten, dass er seine Eingliederung in die Beziehungswelt durch eine Unbewusstheit über sein Subjekt, beziehungsweise durch Illusionen über sich selber erkauft; beim Introvertierten dagegen, dass er bei der Verwirklichung seiner Persönlichkeit in der Sozietät ahnungslos die gröbsten Fehler und die absurdesten Ungeschicklichkeiten begeht. (16, 242)
«
Die andere Seite einer Einstellung ist stets unterentwickelt. Ihre Differenzierung ist dann die Aufgabe der zweiten Lebenshälfte. Das verbirgt sich oft hinter dem äußeren Erfolg.
»
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So äußert sich jeder unbewusste Konflikt: man hindert und unterminiert sich selbst, […] wo man aber sich selber unbewusst entgegenarbeitet, entstehen Ungeduld, Reizbarkeit und ein ohnmächtiges Verlangen, den Gegner mit allen
dass die Symptomatologie einer Krankheit zugleich einen natürlichen Heilungsversuch darstellt. (8, 312)
«
» Dies entspricht genau der Situation in der modernen Psychologie des Unbewussten: die persönliche Problematik wird nicht übersehen (dass sie nicht übersehen wird, dafür sorgt in der Regel der Patient am allermeisten selber), aber der Arzt behält die symbolischen Aspekte im Auge, denn nur das, was den Patienten über sich und seine Ichbefangenheit hinausführt, bringt Heilung. (13, 397)
«
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Archetypen
Die Archetypen und archetypischen Symbole sind in erster Linie das, was über die Ichbefangenheit hinausführt, weshalb der Therapeut auf ihr Auftreten achten wird.
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Kapitel 38 • Psychotherapie
» Als ein numinoser Faktor bestimmt der Archetypus die Art und den Ablauf der Gestaltung mit einem anscheinenden Vorwissen oder im apriorischen Besitze des Zieles, welches durch den Zentrierungsvorgang umschrieben wird. (8, 411)
«
Wenn die Natur des Patienten einer Kollektivlösung widerstrebt, muss der Therapeut mit ihm auf die Suche nach der Wahrheit gehen.
» Will er ihn weiter behandeln, so muss er ohne Voraussetzung wohl oder übel mit ihm auf die Suche gehen, um die den emotionalen Zuständen entsprechenden religiös-philosophischen Gedanken zu entdecken. Diese präsentieren sich in archetypischer Gestalt, frisch jenem Mutterboden entsprossen, aus dem überhaupt alle religiös-philosophischen Systeme einstmals herausgewachsen sind. (16, 184)
«
Die Schwierigkeit dieses Vorgehens besteht darin, dass die archetypischen Gestaltungen dem Patienten fremd oder gar unsinnig erscheinen. Er bedarf dann der amplifikatorischen Erläuterungen des Therapeuten, um die bizarren Formen zu entziffern.
» Je intelligenter und gebildeter man ist, desto raffinierter kann man sich selber belügen. (17, 154)
«
Es braucht dazu im Grunde eine gewisse Naivität und Unvoreingenommenheit.
» Wir Psychotherapeuten sollten eigentlich
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Philosophen oder philosophische Ärzte sein oder vielmehr, dass wir es schon sind, ohne es wahrhaben zu wollen. […] Man könnte es auch Religion in statu nascendi nennen, denn in nächster Nähe der großen Konfusion des Urlebendigen gibt es noch keine Sonderung, die einen Unterschied zwischen Philosophie und Religion erkennen ließe. (16, 181)
«
»
Unsere Patienten leiden an der Unfreiheit der Neurose, sie sind Gefangene des Unbewussten. […] Eine weise Selbstbeschränkung bedeutet noch kein philosophisches Lehrbuch und ein Stoßgebet in Lebensgefahr keinen theologischen Traktat. Aber beide sind Ausfluss einer religiös-philosophischen Haltung, wie sie dem Dynamismus des unmittelbarsten Lebens angemessen ist. (16, 182)
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» Die höchste Dominante ist immer religiös-philosophischer Natur. Sie ist an sich eine durchaus primitive Tatsache, die wir daher auch am Primitiven in reichster Entfaltung beobachten können. Jede Schwierigkeit, Gefahr oder kritische Lebensphase lässt ohne weiteres das Hervortreten dieser Dominante erkennen. (16, 183)
«
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Widerstand
Bisher haben wir stillschweigend die Mitarbeit des Patienten vorausgesetzt, der ja mit seinem Leiden Hilfe sucht. Aber es kann unvermittelt zu Schwierigkeiten kommen, wenn der Patient Widerstände hat. Diese können ganz verschiedene Ursachen haben.
»
Im allgemeinen dürfte die Regel gelten, dass die Schwäche des bewussten Standpunktes proportional der Stärke des Widerstandes ist. (16, 381)
«
»
Die Minderbewertung der Psyche und andere Widerstände gegen psychologische Durchleuchtung beruht in hohem Maße auf Furcht, ja panischer Angst vor den möglichen Entdeckungen im Gebiete des Unbewussten. (10, 530)
«
» Angeborene Empfindlichkeit kann die Ursache für erste Widerstände gegen Anpassung sein. (4, 572)
«
549 Literatur
Jung nimmt solche Widerstände sehr ernst und
versucht ihre Ursache zu eruieren, denn es kann sich dahinter eine latente Psychose verbergen, die ausbrechen könnte, würde man den Widerstand zu forsch angehen.
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» Jeder Analysand missbraucht die neugewonnenen Erkenntnisse unbewusst zunächst im Sinne seiner abnormen neurotischen Einstellung, wenn er nicht gleich im Anfangsstadium schon von seinen Symptomen derart befreit wird, dass er der weiteren Therapie entraten kann. (7, 223)
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In »Der normal kranke Mensch« [23] erwähne ich den Fall jenes jungen Alkoholikers, der seinen Zechkumpanen Jungsche Psychologie predigte, nachdem er ein bisschen an ihr geschnuppert hatte.
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» Der Inhalt einer Neurose kann nie durch eine
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ein- oder mehrmalige Untersuchung festgestellt werden. Er manifestiert sich erst im Verlauf der Behandlung. Dadurch entsteht das Paradox, dass sozusagen erst am Schluss der Behandlung die wirkliche psychologische Diagnose offenbar wird. (16, 197)
«
Literatur Primärliteratur (Quellen) 1 Jung CG (1995) Praxis der Psychotherapie. Beiträge zum Problem der Psychotherapie und zur Psychologie der Übertragung. GW 16. Gesammelte Werke. Walter, Solothurn Düsseldorf GW 16: Erster Teil: Allgemeine Probleme der Psychotherapie; Vorträge und Erstveröffentlichungen 2 Jung CG (1935) 2. Grundsätzliches zur praktischen Psychotherapie. Vortrag vor der Medizinischen Gesellschaft, Zürich. Publiziert in: Zentralblatt für Psychotherapie VIII: 2, 66–82 3 Jung CG (1935) 3. Was ist Psychotherapie? Beitrag zu einem Symposium der Allgemeinen ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie, »Psychotherapie in der
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Schweiz«. Publiziert in: Schweizerische Ärztezeitung für Standesfragen XVI: 26, 335–339 Jung CG (1972) 4. Einige Aspekte der modernen Psychotherapie. Studienausgabe. Olten Jung CG (1929) 5. Ziele der Psychotherapie. Vortrag am Kongress in Bad Nauheim. Publiziert in: Bericht über den IV. allgemeinen ärztlichen Kongress für Psychotherapie, 1–14. Seelenprobleme der Gegenwart, 1931, 87–114. Das C.G. Jung Lesebuch. Ausgewählt von Franz Alt. Olten, 1983 Jung CG (1929) 6. Die Probleme der modernen Psychotherapie. Vortrag vor dem ärztlichen Verein und vor der Psychotherapeutischen Gesellschaft, München. Publiziert in: Schweizerisches medizinisches Jahrbuch, 1929, 74–86. Seelenprobleme der Gegenwart, 1931, 1–39 Jung CG (1942) 7. Psychotherapie und Weltanschauung. Beitrag zur Tagung für Psychologie, Zürich. Schweizerische Zeitschrift für Psychologie I:3, 157–164, 1943. Aufsätze zur Zeitgeschichte, Zürich 1946, 57–72. Welt der Psyche. Eine Auswahl zur Einführung (Hrsg.) (1954) Jaffé A, Zacharias GP. Zürich, 63–73 Jung CG (1945) 8. Medizin und Psychotherapie. Vortrag an einer wissenschaftlichen Tagung des Senats der Akademie, Zürich. Bulletin der schweizerischen Akademie der medizinischen Wissenschaften I:5, 315–328, 1945, Probleme der Psychotherapie, Olten. 1972, 71–88 Jung CG (1941) 9. Die Psychotherapie in der Gegenwart. Eröffnungsvortrag vor der Kommission für Psychotherapie, Schweizerische Gesellschaft für Psychiatrie, Zürich. Schweizerische Zeitschrift für Psychologie IV:I, 3–18, 1945, Aufsätze zur Zeitgeschichte, Zürich, 1946, 25–55 Jung CG (1951) 10. Grundfragen der Psychotherapie. Dialectica V:1, 8–24. Probleme der Psychotherapie, Olten. 1973. 7–22
GW 16: Zweiter Teil: Spezielle Probleme der Psychotherapie; Vorträge und Erstveröffentlichungen 11 Jung CG (1921) 11. Der therapeutische Wert des Abreagierens. (Original: The question of the therapeutic value of »Abreaction«). British Journal of Psychology (Medical Section) II:1, 13–22. Contributions to Analytical Psychology, New York, London, 1928, 282–294. Probleme der Psychotherapie. Olten, 1972, 60–70 12 Jung CG (1946) 13. Die Psychologie der Übertragung. Erstpublikation: Die Psychologie der Übertragung. Erläutert anhand einer alchemistischen Bilderserie. Für Ärzte und praktische Psychologen. Zürich, pp. 283 Sonstige Quellen und Zitate aus den Gesammelten Werken 13 Jaffé A (Hrsg.) (1972/73) Briefe. Erster Band 1906–1945 (1972); Zweiter Band 1946–1955 (1972); Dritter Band 1956–1961 (1973 mit Nachtrag neu aufgefundener Briefe). In Zusammenarbeit mit Adler G, London. Walter, Olten Freiburg 14 Jung CG (1913) Versuch einer Darstellung der psychoanalytischen Theorie. GW 4, S. 107–255. Erstpublikation:
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Kapitel 38 • Psychotherapie
Jahrbuch für psychoanalytische und psychopathologische Forschung V:1, 307–441. Zürich 1955, pp. 195 Jung CG (1964) Zwei Schriften über Analytische Psychologie. GW 7. 31981 Jung CG (1931) Das Grundproblem der gegenwärtigen Psychologie. Vortrag vor dem Kulturverband, Wien: »Die Entschleierung der Seele«. Europäische Revue VII:7, 504–522. GW 8. Wirklichkeit der Seele. Anwendungen und Fortschritte der neueren Psychologie, Zürich 1934, 1–31. Olten, 1969. Das C.G. Jung Lesebuch. Ausgewählt von Franz Alt. Olten, 1983, GW 8,13 Jung CG (1928) Das Seelenproblem des modernen Menschen. GW 10, S. 91–113. Vortrag an der Tagung des Verbandes für intellektuelle Zusammenarbeit, Prag. Publiziert in: Europäische Revue IV:9, 700–715, 1928. Allgemeine Neueste Nachrichten, 1929, Seelenprobleme der Gegenwart, Zürich, 1931, 401–435. Zur gegenwärtigen Lage der Psychotherapie. Erstpublikation: Zentralblatt für Psychotherapie VII:1, 1–16, 1934 Jung CG (1932) Über die Beziehung der Psychotherapie zur Seelsorge. GW 11, S. 355–376. Vortrag an der Elsässischen Pastoralkonferenz, Straßburg, und im Psychologischen Club Zürich. Die Beziehung der Psychotherapie zur Seelsorge, Zürich, pp. 30, 1932, 1948. Psychotherapie und Seelsorge, GW 11, S. 377–383. Erstpublikation: Ethik (Sexual- und Gesellschaftsethik) (Halle) V:1, 7–12 1928 Jung CG (1980) Traumsymbole des Individuationsprozesses. GW 12, S. 57–269, 31980. Ursprünglich als Vortrag an der Eranos-Tagung, Ascona. »Zur Empire des Individuationsprozesses«: Eranos Jahrbuch 1933, S. 201–214. »Traumsymbole des Individuationsprozesses«: Eranos Jahrbuch 1935, S. 13–133. In: Psychologie und Alchemie, Zürich, 1944, S. 65–305; Zürich, 21952, Olten 31975
Sekundärliteratur 20 Franz ML von (1990) Beruf und Berufung. In: Psychotherapie, Erfahrungen aus der Praxis. Daimon, Einsiedeln. S. 273 21 Ribi A (2007) Ein Leben im Dienst der Seele: Gesammelte Aufsätze und Vorträge. Peter Lang, Bern. I, S. 150 22 Ribi A (2007) Das Bild des Psychotherapeuten in der Jungschen analytischen Therapie. In: Ein Leben im Dienst der Seele: Gesammelte Aufsätze und Vorträge. Peter Lang, Bern. S. 467–482 23 Ribi A (2002) Der normal kranke Mensch. Neurose und Lebenssinn. Die Neurosen aus der Sicht C. G. Jungs. Verlag Stiftung für Jung’sche Psychologie, Küsnacht. S. 50 24 Ritter J, Gründer K, Gabriel G (2001) Historisches Wörterbuch der Philosophie, 12 Bde. u. 1 Reg.-Bd. Schwabe. Basel. Bd. 2, Sp. 221
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Übertragung
A. Ribi, Neurose – an der Grenze zwischen krank und gesund, DOI 10.1007/978-3-642-16148-3_39, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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Kapitel 39 • Übertragung
Übertragung ist ein von Freud geprägtes neues Wort für eine uralte Sache. In der Hypnose war es unter dem Begriff »Rapport« bekannt. Und je besser der Rapport, umso größer die Wirkung der Hypnose.
»
Es ist wohl nicht übertrieben, wenn man annimmt, dass sozusagen alle Fälle, die längerer Behandlung bedürfen, um das Phänomen der Übertragung gravitieren, und dass es zum mindesten so scheint, als ob der Erfolg oder Misserfolg der Behandlung ganz wesentlich damit zu tun hätte. Die Psychologie kann daher diese Erscheinung nicht wohl übersehen und umgehen; auch sollte sich die Therapeutik nicht den Anschein geben, als ob die sogenannte »Auflösung der Übertragung« eine klare, einfache und selbstverständliche Sache sei. […] Die Diskussion gibt sich oft den Anschein, als ob es sich um Phänomene handle, denen mit Vernunft, resp. Intellekt und Willen beizukommen wäre, oder denen Geschicklichkeit und Kunst des Arztes mit überlegener Technik abzuhelfen verstünde…
«
Im Gegensatz zu Freud wandelt sich Jungs Sichtweise zur Übertragung:
»
Obschon ich ursprünglich mit Freud der Übertragung eine kaum zu überschätzende Bedeutung beimaß, habe ich doch mit vermehrter Erfahrung einsehen müssen, dass auch diese Wichtigkeit relativ ist. Die Übertragung kann man jenen Medikamenten vergleichen, die beim einen als Heilmittel, beim andern als pures Gift wirken. Ihr Erscheinen bedeutet im einen Fall die Wendung zum Guten, im andern Verhinderung und Beschwernis, wenn nicht Schlimmeres, im dritten endlich ist sie relativ unwesentlich. […] Da sie eine Beziehungsform ist, setzt sie immer ein Du voraus. Wo sie negativ ist oder gar fehlt, da spielt das Du eine unbedeutende Rolle. Die negative Form der Übertragung in der Gestalt von Widerstand, Ab-
neigung und Hass gibt dem Du von vornherein eine zwar große, aber negative Bedeutung. (16, Anm. 2; Vorrede zur »Psychologie der Übertragung«)
«
Eine ca. 30-jährige Frau wurde mir von ihrem Hausarzt wegen depressiver und psychosomatischer Symptome geschickt. Sie war verheiratet, hatte einen kleinen Sohn, eine unscheinbare intakte Allerweltsfamilie in einem Nachbardorf. Sie war etwas schüchtern, gehemmt, weil sie sich nicht vorstellen konnte, wie eine psychiatrische Behandlung ablaufen werde. Ich mochte sie, denn sie war aufgeweckt und interessiert. Sie erledigte die ihr aufgegebenen Aufgaben prompt und gut. Sie machte Fortschritte. Doch eines Tages kam sie plötzlich ganz depressiv verstört. Als ich fragte, was geschehen sei, meinte sie vorwurfsvoll, ich wisse es doch, und senkte den Kopf; auf meine Nachfrage verwies sie auf das, was ich beim letzten Mal vor einer Woche gesagt hätte! Ich konnte mir nicht vorstellen, Böses gesagt zu haben. Am Ende entpuppte es sich als harmlose Bemerkung meinerseits, die sie völlig verdreht negativ interpretiert hatte. Davon ließ sie sich schließlich überzeugen. Doch kurz danach wiederholte es sich. So ging es mehrere Wochen. Einmal kam sie nicht nachhause. Nach ihrer Rückkehr erklärte sie, dass sie sich in den See stürzen wollte. Das Merkwürdige war, dass sie nie erwog, nicht mehr zu kommen, wie das bei einer negativen Übertragung der Fall ist. Sie kam jedes Mal todverzweifelt, weil ihr etwas in den »falschen Hals« geraten war. Ich denke, das war ihre Rettung, denn erst nach einiger Zeit stellte sich heraus, dass sie einen furchtbar negativen Mutterkomplex hatte.
Das Besondere an diesem Fall war, dass ich in der Behandlung ihre Mutter anschwärzen musste. Und das ging so:
553 Übertragung
Sie erzählte mir Müsterchen von dem, was sie in der Vergangenheit oder später auch mit ihrer Mutter erlebte, wovon sie in der Lebensgeschichte nichts erwähnt hatte. Darüber musste ich meine Emotion äußern. Sie nahm ihre Mutter ständig in Schutz, auch wenn diese ihr wehgetan hatte: Es war doch »ihre Mutter!« Daran durfte keine Kritik geübt werden, diese stand so hoch unerreichbar über ihr. Ich musste sie in menschliche Gefilde herunterholen. Sie war nicht eigentlich böse, erzählte sie mir. Ich hatte keine Wut gegen die Mutter, aber die Patientin hatte eine Sklavenmentalität, die alles mit sich geschehen ließ. Deshalb sagte ich, es sei eigentlich ihr negativer Mutterkomplex, ihre Lämmchenmentalität, welche ihr die therapeutische Beziehung zerstören wollte, um sie in ihrer Abhängigkeit zu behalten. Etwas Gesundes in der Patientin veranlasste sie, durchzuhalten. Ich kann den Leser beruhigen: es gab ein Happyend. Nach Jahren zähen Ringens fing sie sich auf, arbeitete als Zahnarztgehilfin und verdiente ihr eigenes Geld, wodurch sie finanziell von ihrem Mann unabhängig wurde, der nämlich die Mutter gar nicht so schlimm gefunden und die Frau finanziell tyrannisiert hatte.
» Das gewalttätige Abschneiden der Übertragung kann völlige Rückfälle und Schlimmeres veranlassen, weshalb das Problem mit sehr viel Takt und Vorsicht angefasst werden muss. (7, 255)
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» Es ist einfach ein Stück unbeherrschter und zunächst nicht beherrschbarer, ursprünglicher Triebnatur, die im Übertragungsphänomen zu Tage tritt. (7, 256)
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Dass Erotik mit Macht verbunden sein kann, habe ich als Assistent an einer Privatklinik mit einer etwa 40-jährigen depressiven Frau erlebt: Die Frau war mir wegen Depression zur Behandlung zugeteilt. Sie litt seit Jahren unter Depressionen, welche jahreszeitabhängig waren; zu
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gewissen Zeiten ging es ihr schlecht, zu anderen normal. Sie war schon in den verschiedensten Behandlungen gewesen, die – nach ihren Aussagen – allesamt nichts gebracht hatten. In ihren guten Zeiten spielte sie leidenschaftlich gern Tennis. Sie brüstete sich damit, dass sie alle Männer, mit denen sie zu tun hatte, verführt habe, obwohl sie nebenbei verheiratet war. Sie war keine Schönheit, aber eine attraktive reife Frau. Wir arbeiteten an ihrem Problem, sie machte intelligent und aktiv mit. Sie war mir sehr sympathisch, es herrschte ein warmes gutes Arbeitsklima. Als Erstklassepatientin bekam sie ein ruhiges Einzelzimmer im Dachgeschoss zugewiesen. Ich besuchte sie dort zur Therapie. Eines Tages machte sie mir eine eindeutig zweideutige Offerte. Ich hatte nach der Anamnese schon etwas erwartet und mir vorgenommen, nicht darauf hereinzufallen. Ihr Angebot lehnte ich ab. Sie wusste trotz meiner gegenteiligen Beteuerungen meine Ablehnung so zu drehen, als hätte ich ihren weiblichen Stolz verletzt. Sie drohte mir deshalb sich umzubringen, sollte ich mich weigern, mit ihr zu schlafen. Daraufhin ließ ich sie in den Wachsaal verlegen. Dort zeigte sie mir mit einem zynischen Lächeln Rasierklingen, die sie auf die Wachstation geschmuggelt hatte. Sie triumphierte, meine Maßnahmen hätten nichts genützt. Sie habe gar nicht im Sinn gehabt, sich wirklich umzubringen, sondern gehe jetzt nachhause. Sie ließ ihren Mann kommen, der sie auf eigene Verantwortung mitnahm.
In ihren Augen hatte sie den Machtkampf gewonnen! An diesem Fall sieht man deutlich die neurotische Spaltung: sie verhinderte eine Reifung ihres Eros, indem sie jeden Mann sozusagen ins Bett zerrte, um »oben auf zu sein«. Sie sabotierte sich selber und bezahlte dafür mit einer chronischen Depression. Der Fall endete für mich mit einer Synchronizität:
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Kapitel 39 • Übertragung
Mehr als ein Jahr später absolvierte ich das letzte Jahr der Ausbildung zum Facharzt an der Psychiatrischen Poliklinik. Eines Nachmittags musste ich dem Chefarzt ein Schriftstück bringen; er war nicht in seinem Büro, weshalb ich es ihm auf seinen Schreibtisch legte. Da lag der Bericht eines mir unbekannten Kollegen an meinen Chef über eine Frau, deren Namen mir bekannt war. Er schrieb, sie sei weiterhin depressiv und in mehreren Behandlungen gewesen. Am meisten habe ihr der Aufenthalt in der Privatklinik unter der Behandlung eines gewissen Dr. Ribi gebracht. Warum, blieb ihr und mein Geheimnis.
Bei den Leuten, die Hypnose verwendeten, hieß es Rapport (7 Kap. 2). Die Wirkung der Hypnose korrelierte mit der Qualität des Rapports. In der Kirche war die moralische Bindung des Individuums an den Beichtvater bekannt, weil die Beichte bisweilen eine wahre Erlösung darstellt (4, 432–433).
» Der Patient ist anscheinend durch das Bekenntnis an den Arzt gebunden. Wird diese anscheinend unsinnige Bindung gewaltsam abgeschnitten, so gibt es einen bösen Rückfall. (16, 138)
«
» Es hat sich herausgestellt, dass die fragliche Bindung in ihrem Wesen etwa der Beziehung zwischen Vater und Kind entspricht. […] Da die Bindung ein Vorgang ist, der außerhalb des Bewusstseins verläuft, kann das Bewusstsein des Patienten nichts darüber aussagen. […] Das unverkennbare äußere Kennzeichen der Lage ist, dass das gefühlsbetonte Erinnerungsbild des Vaters auf den Arzt übertragen wurde, wodurch der Arzt nolens volens als Vater erscheint, und als solcher den Patienten gewissermaßen zum Kind macht. (16, 139)
«
»
Es ist heute unzweifelhaft nachgewiesen, dass die Bindung durch die Existenz unbewusster Phantasien verursacht wird. Diese Phantasien haben in der Hauptsache einen sogenannten inzestuösen Charakter. (16, 140)
«
» Die Übertragung holt bei ihrer Aufklärung Inhalte herauf, die in solcher Form kaum je bewusstseinsfähig waren. (16, 141)
«
Eine ca. 45-jährige schizophrene Patientin hatte eine lange Krankheitsgeschichte mit zahlreichen Aufenthalten in psychiatrischen Kliniken und nachfolgenden psychiatrischen Betreuungen. Sie war Buchhalterin gewesen, konnte aber seit dem Ausbruch der Krankheit nicht mehr arbeiten und lebte von einer Invalidenrente. Sie interessierte sich für die Jungsche Psychologie und war jahrelang bei einer bekannten Analytikerin in Behandlung gewesen, bevor sie zu mit kam. Sie kannte mich aus einem Zirkel von Jungianern, den ich damals präsidierte. Sie war etwas resigniert von all den Therapien, die nichts gebracht hatten. Sie lebte unauffällig, zurückgezogen und in einer einfachen Zweizimmerwohnung allein. In meiner Behandlung entwickelte sich eine starke Übertragung, sie blühte auf, wurde lebendiger, entwickelte Initiativen, arbeitete intensiv mit. Das schönste Lob war, dass der Ehemann der früheren Therapeutin, der sie kannte, erstaunt fragte, was mit ihr passiert sei, sie sei wie verwandelt gegenüber früher und aufgeblüht, wie er sie noch nie gesehen habe. Er wusste nicht, dass sie zu mir in Behandlung gekommen war. Wir wollen an dieser Stelle kurz unterbrechen.
» Eine geglückte Übertragung kann – wenigstens temporär – die ganze Neurose zum Verschwinden bringen, weshalb die Übertragung von Freud sehr richtig als ein Heilfaktor ersten Ranges erkannt worden ist, zugleich aber auch als ein bloß provisorischer Zustand, welcher die Heilungsmöglichkeit zwar verspricht, aber noch keineswegs die Heilung selber ist. (7, 206)
«
555 Übertragung
Das musste ich in diesem Fall erfahren. Lange Zeit ging es gut. Die Frau entwickelte sich erfreulich. Wir analysierten ihre Träume und, da sie Jungs Schriften kannte, arbeitete sie kreativ mit, […] bis sie sich der heftigen Übertragung auf mich bewusst wurde. Sie fand sie nun ganz unsinnig und fühlte auch kein Begehren, mich zu heiraten. Sie lehnte sich zunehmend gegen ihre »blöden« Liebesgefühle auf. Sie stieß auf jenen Fall, den Jung beschreibt, wo er in einer Vision eine Patientin über einem Kornfeld im Wind als Riese in seinen Armen wiegt. So wolle sie sich auf keinen Fall in meinen Armen sehen, dieser Blödsinn müsse ein Ende haben, fand sie.
Obwohl ich ihr die Bedeutung der Übertragung und den positiven Effekt, den sie in ihrer Behandlung hatte, versuchte bewusst zu machen, ließ sie sich nicht von ihrer Ansicht abbringen. Da hatte sie einen eindrücklichen Traum: Traum: »In der Schule. Ich bin allein im Klassenzimmer. Ich will die Leinwand herunterlassen, weil wir sie für den Projektionsapparat brauchen. Ich gehe damit unvorsichtig um und reiße die ganze Leinwand herunter. Einen Moment lang will ich einfach davonlaufen, weil ich sicher bin, dass ich das ohnehin nicht mehr zurechtbringe. Dann probiere ich es doch, eine Frau kommt mir zu Hilfe. Gemeinsam klemmen wir die Leinwand wieder in die Halterung hinein, wo ich sie heruntergerissen habe. Auf der Leiste steht etwas geschrieben, ziemlich klein. Ich frage die Frau: »Können Sie das lesen?« Sie kann es. Es steht darauf: »Geh’ sorgfältig um damit, du Hornochse!« (Übertragung: [3], S. 17)
Der Traum nimmt also die Projektion noch in Schutz. Man darf sie nicht einfach herunterreißen. Selbstverständlich sollte die Übertragung aufgelöst werden, denn sie ist noch eine illusionäre Beziehung und eine Abhängigkeit von der
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Persönlichkeit des Arztes. Doch sie muss sanft aufgelöst werden, weil damit wertvolle Inhalte aus dem Unbewussten integriert werden können, z. B. der Archetypus des Hierosgamos. Freud sah darin inzestuöse Motive, wenn z. B. die Vaterimago am Analytiker wiederbelebt wird. Doch ist das nur so lange inzestuös, wie es sich auf der konkreten Ebene abspielt. Erkennt man jedoch den symbolischen Aspekt, dann ist man mit dem zentralen Archetypus der Beziehung überhaupt, mit jenem universalen Archetypus der Syzygie konfrontiert. Er ist an jeder Gegensatzvereinigung, jedem »mysterium coniunctionis« beteiligt, respektive ermöglicht dieses erst. Trotz des eindrücklichen Traumes hat die Patientin die Behandlung abgebrochen. Die mit der Übertragung verbundene Emotion war mehr, als ihre fragile Persönlichkeit ertragen konnte.
» Es kann unmöglich in der Absicht des Arztes liegen, den Patienten überall in seinen natürlichen Funktionen zu unterstützen, aber an der einen und entscheidenden Stelle, nämlich da, wo es den Arzt selber betrifft, möglichst im Dunkeln und damit in hoffnungsloser Abhängigkeit, das heißt »Übertragung« zu halten. (10, 339)
«
» Die Intensität der Übertragungsbeziehung entspricht jeweils der Bedeutung ihrer Inhalte für das Subjekt. […] Nach Auflösung der Übertragung fällt die ganze projizierte Emotion in das Subjekt zurück, und der Patient ist dann selber im Besitz des Schatzes, den er vorher, in der Übertragung, einfach verschleudert hatte. (18/I, 327)
«
Die Übertragung, besonders die erotisch-sexuelle, kann noch einen anderen Sinn haben: Ich habe bemerkt, dass Patientinnen, die keinen eigentlichen Eros hatten, oft recht aufgeputzt in die Therapie kamen. Mir war das anfänglich sehr angenehm, denn es löste einen sexuellen Kitzel bei mir aus. Schließlich verstand ich, dass das
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Kapitel 39 • Übertragung
Unbewusste, wenn anders keine echte Beziehung zustande kommt, auf die biologische Ebene ausweicht. Es ist dies die primitivste, direkteste Ebene. Aber sie sollte für eine therapeutische Arbeit überwunden werden und einen geistigen, aber ebenso intensiven »Level« erreichen. Das analytische Setting ist ein ganz spezielles, welches den auftauchenden Emotionen nicht erlaubt, konkretisiert, sondern in symbolischer Form dem Heilungsprozess des Patienten zugeführt zu werden.
» Wenn der Rapport zwischen Analytiker und Patient wegen Persönlichkeitsunterschieden schwierig herzustellen ist, oder falls andere psychologische Divergenzen die therapeutische Wirkung behindern, […] versucht ein leidenschaftliches Gefühl oder eine erotische Phantasie in die Lücke zu springen. (18/I, 331)
«
Dazu kann ich dem Leser den Traum einer meiner Patientinnen erzählen: Traum: »Ich bin mit Beatocello befreundet. Er ist Kinderarzt und arbeitet im Kinderspital. Das I Ging hat gesagt, dass wir zusammengehören. Wir sind zusammen in einem Hotel. Ich möchte ihm eine gute Freundin und Geliebte sein, merke aber, dass ich Mühe habe, mich auf seine Wellenlänge einzustellen, weil ich so lange allein gelebt habe. Ich möchte ihn auf keinen Fall verlieren. […] Der Traum geht dann noch weiter. Beatocello, Sie kennen ihn wahrscheinlich, ist dieser menschenfreundliche Kinderarzt, der mit seinem Cellospiel und als Clown Geld sammelt, um ein Kinderspital in Kambodscha zu betreiben, und er ist eine gute Identifikationsfigur, um jene Heilerseite zu personifizieren, derer die Patientin zu ihrer eigenen Ganzwerdung bedarf.« [4]
Der Arzt sollte sich bei der Übertragung nicht täuschen lassen: er wird meist in archetypischer Überhöhung dargestellt, was ihm natürlich schmeichelt, solange er es persönlich auffasst.
Aber es ist vom Selbst keineswegs persönlich, sondern symbolisch gemeint. Wenn man das einmal verstanden hat, begreift man, wieso der Übertragung eine derart große Bedeutung im Heilungsprozess zukommt: > Die Übertragung ist das Vehikel, über welches die heilenden Inhalte aus dem Unbewussten ins Bewusstsein des Patienten gelangen.
Weil das Unbewusste ein Kontinuum ist, kann man nur schwer unterscheiden, ob es aus dem Unbewussten des Arztes oder des Patienten komme. Das alchemistische Bildgedicht personifiziert sie zwar als König und Königin, doch im Bade vereinigen sie sich zu einem »mixtum compositum«. Jung vergleicht das mit einer chemischen Synthese, in welcher die beiden Ausgangsstoffe im Endprodukt auch nicht mehr zu unterscheiden sind. Wir sprechen davon, eine Verbindung sei entstanden, was die Alchemisten den lapis, das philosophische Gold oder das Allheilmittel (Panazee) nannten. Und es ist nicht gesagt, wo sie entsteht, im Arzt oder im Patienten oder sogar in beiden. In einem Seminar über Übertragung habe ich am C.G. Jung-Institut Zürich in den 1970er Jahren über eine Traumserie berichtet, in welcher die Patientin zu mir in die Stunde kommen wollte, aber immer wieder wie von einem Gummiseil zurückkatapultiert wurde. Sie war eine Mittvierzigerin, mit mir von der Mutterseite her verwandt, aber wir kannten uns nicht, bis wir zufällig merkten, dass wir einige Dörfer auseinander wohnten. Da sie gewisse neurotische Schwierigkeiten hatte, kamen wir, auf Betreiben des Ehemannes überein, sie soll in meine Behandlung kommen. Nach anfänglichem Zögern kam sie längere Zeit regelmäßig. Aber ihre Träume redeten eine andere Sprache: Physisch war sie zwar anwesend und schrieb wie verlangt ihre Träume auf, aber seelisch war sie nicht angekommen.
557 Übertragung
Ihre Beschwerden besserten sich, so dass sie froh war, dass sie nicht mehr kommen musste. Ihre Seele blieb jedoch unberührt.
Jung erzählt von einem gegenteiligen Fall: Eine Dame bat um einen Termin bei Jung, ihrem Gatten begegnete er bei einem gesellschaftlichen Anlass. »Sie kam, und als sie an der Tür meines Sprechzimmers war, sagte sie: »Ich will nicht hereinkommen«. Ich antwortete: »Sie brauchen nicht hereinzukommen. Sie können natürlich ebenso gut wieder fortgehen! Es liegt mir gar nichts daran, Sie hier zu haben, wenn Sie nicht kommen wollen.« Dann sagte sie: »Ich muss aber!« Ich antwortete: »Ich zwinge Sie nicht.« »Aber Sie haben mich gezwungen, zu kommen.« »Inwiefern habe ich das getan?« »Ich dachte, sie sei verrückt, aber sie war gar nicht verrückt, sie hatte nur eine Übertragung, die sie zu mir zog. In der Zwischenzeit war eine Projektion entstanden, und diese Projektion hatte für sie einen derart hohen emotionalen Wert, dass sie ihr nicht widerstehen konnte; ihr inneres »Gummiband« zog sie magisch zu mir. Im Laufe der Analyse fanden wir natürlich heraus, welches die Inhalte dieser nicht provozierten Übertragung waren.« (18/I, 330)
Man muss sich bewusst werden, dass keine Übertragung der anderen gleicht, und vor allem, dass der Sinn, der in ihr steckt, immer wieder überraschend anders ist. Oft hat man den Eindruck, sie sei eine unnötige Komplikation, aber oft ist sie eine gottgesandte Hilfe in der Therapie. Darum gibt es kaum eine allgemeine Regel, wie mit ihr umzugehen ist. Am meisten belasten einen Übertragungen, die sich einfach nicht auflösen lassen. Eine etwa 30-jährige Frau, Kindergärtnerin von Beruf, hochintuitiv, sehr lebhaft und unternehmungslustig, kam wegen gewisser neurotischer Schwierigkeiten. Sie war sofort an den Träumen
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interessiert und arbeitete verständnisvoll mit. Das ist bei Intuitiven oft der Fall (weshalb es unter den Jungschen Analytikern viele Intuitive gibt). So segelten wir mit leichtem Rückenwind durch die Gefilde ihres Unbewussten. Plötzlich begann sie sich in sehr aufdringlicher Art für mein Befinden zu interessieren. Zuerst verstand ich das als fürsorgliches Interesse und gab ehrlich Auskunft, weil sich der Therapeut nicht hinter einer Persona verstecken soll. Doch allmählich nahm das inquisitionsartige Formen an: Es war mir, als würde sie mir unter die Haut kriechen. Und wenn sie fragte, ob es so gewesen sei, mochte ich nicht lügen. Kurzum, eine äußerst unangenehme Form der Übertragung. Selbstverständlich war ich in ihren Augen der Größte, der gerade nach dem »lieben Gott« kam, der Heiland und weiß ich nicht was alles. Doch darüber konnte man mit ihr gar nicht reden, denn das war nur so leichthin gesagt, aber natürlich von einem »vernünftigen« Menschen niemals ernst gemeint. Es gab auch keine warme Atmosphäre zwischen uns wie sonst bei einer starken Übertragung.
Allmählich wurde mir klar, dass die Dame ein Grenzfall zur Schizophrenie war. Sie hatte schon am Anfang der Behandlung merkwürdig bizarre Ideen geäußert, denen ich keine Aufmerksamkeit schenkte, weil das auch bei normalen Intuitiven vorkommt. Aber jetzt wurde das immer aufdringlicher. Daher bestellte ich sie in immer größeren Abständen ein und brach die Behandlung schließlich ab. Allerdings hatte ich die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Denn: Nach Abbruch der Behandlung benutzte sie mein Praxistelefon, rief mich ständig mit nichtssagenden Mitteilungen mitten in der Arbeit an, bis ich ihr das verbot. Daraufhin benutzte sie das Band, das ich für Anrufe in der Zeit meiner Abwesenheit eingeschaltet habe, und schwatzte es mit Belanglosigkeiten voll. Als ich ihr auch das verbot, schrieb sie mir auf dem Giroabschnitt
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Kapitel 39 • Übertragung
des Einzahlungsscheines mit mikroskopischer Schrift jedes Detail auf, was sich in der letzten Zeit in ihrem Leben getan hatte.
Hier ist die Übertragung anscheinend die Nabelschnur für jemand, der nicht aus eigenen Kräften leben kann. Man muss als Arzt manchmal auch chronisch Kranke tragen, die man nicht bessern kann.
Wenn man eine Übertragung provoziert, weiß man doch nie, was für Schwierigkeiten man sich damit einhandelt. Ein Analytiker begann mit seiner Analysandin, die eine heftige Übertragung hatte, ein intimes Verhältnis. Als sie wieder in die neue Welt zurückkehrte, schickte er ihr unvorsichtigerweise Liebesbriefe, die von ihrem Ehemann abgefangen wurden, der Anzeige erstattete, worauf es zu Gerichtsverhandlungen kam und er seine Stelle verlor.
» Es gibt noch einen weiteren Grund für die Überkompensation durch Übertragung bei Patienten mit gänzlich autoerotischer Haltung, das heißt bei Patienten, die in einer autoerotischen Isolierung eingeschlossen sind und einen dicken Panzer oder dicke Mauern mit einem Burggraben darum um sich haben. Diese Menschen haben ein verzweifeltes Bedürfnis nach menschlichem Kontakt, und sie sehnen sich natürlich nach einem menschlichen Wesen außerhalb der Mauern. Sie tun aber nichts dafür. Sie rühren keinen Finger, und ebenso wenig erlauben sie irgend jemandem, an sie heranzukommen. Aus dieser Haltung heraus entsteht eine enorme Übertragung. Solche Übertragungen darf man nicht berühren, weil die Patienten sich zu gut von allen Seiten her verteidigen. […] Daher muss man diese Leute in ihrem eigenen Saft schmoren lassen, bis sie genug haben und freiwillig aus ihrer Festung herauskommen. (18/I, 338)
«
Man muss sich stets bewusst sein, dass die Übertragung kein einseitiges Problem ist, dass nur den Patienten betreffen würde.
» Es gibt, wie ich leider zugeben muss, Analytiker, die bewusst auf Übertragung hinarbeiten, da sie aus mir unerfindlichen Gründen der Meinung sind, die Übertragung sei ein nützlicher und sogar notwendiger Teil der Behandlung, die Patienten sollten daher eine Übertragung haben. Das ist natürlich eine ganz falsche Vorstellung. (18/I, 350)
«
» Die Gefahr der Analyse besteht darin, sich durch Übertragungsprojektionen infizieren zu lassen, besonders durch solche archetypischer Natur. (18/I, 353)
«
Ich habe schon oben auf diese Gefahr hingewiesen, welche darum groß ist, weil sie das geringe Selbstwertgefühl aufpoliert. > Jedes Defizit, jeder Mangel in der Lebensführung des Analytikers stellt für ihn eine Gefahr dar. Bei der Behandlung der Übertragung gilt es, dem Patienten die überpersönliche Bedeutung jener Figur aufzuzeigen, der seine Liebe gilt.
»
Man muss den Patienten dazu bringen, den subjektiven Wert der persönlichen und unpersönlichen Inhalte seiner Übertragung zu erkennen, denn er projiziert nicht nur persönliches Material. (18/I, 358)
«
»
Es ist klar, dass die Projektion dieser unpersönlichen Bilder [Heiland, göttlicher Arzt, Held, Retter, Teufel usw.] auf den Analytiker zurückgezogen werden muss. Damit löst man aber lediglich den Projektionsakt auf; die Inhalte darf und kann man eigentlich nicht auflösen. (18/I, 369)
«
» Die (letzte) Stufe der Übertragungsbehandlung nenne ich die Objektivierung unpersönlicher Bilder. Sie ist ein wesentlicher Teil des Individuationsprozesses. (18/I, 377)
«
559 Übertragung
Daraus erkennt man, dass eine geglückte Übertragung und ihre Auflösung wesentlicher Bestandteil des Individuationsprozesses sein können.
» Wenn ich praktizierende Katholiken behandle, so trete ich beim Übertragungsproblem, kraft meines Amtes als Arzt, zurück und leite das Problem über in die Kirche. Behandle ich aber einen Nichtkatholiken, so ist mir dieser Ausweg versperrt, und ich kann, kraft meines Amtes als Arzt, nicht zurücktreten, denn es ist in der Regel dann niemand und nichts da, worauf ich die Vaterimago passenderweise überleiten könnte. (16, 218)
«
Wenn keine anderen Schwierigkeiten als eine gewöhnliche Vaterübertragung bestehen, schickte er praktizierende Katholiken in die hierarchisch organisierte Kirche zurück. Ich hatte viele Kirchenleute, welche durch die Jungsche Psychologie ein neues Verständnis für das Religiöse bekommen haben. Es ist also nicht, wie es missverstanden werden könnte, ein Abschieben der Verantwortung, sondern die Leute werden an den richtigen Platz gestellt.
» Eine der bekanntesten Erscheinungen (der professionellen, seelischen Störungen oder geradezu Schädigungen beim Arzt) ist die durch die Übertragung bewirkte Gegenübertragung. […] (Es ist etwas wie) die alte Idee der Übertragung einer Krankheit auf einen Gesunden, der dann mit seiner Gesundheit den Krankheitsdämon bezwingen muss, und dies nicht ohne negativen Einfluss auf das eigene Wohlbefinden. (16, 163)
«
Das typische Beispiel ist der Schamane, der in seiner Initiationskrankheit beweisen muss, dass er den Dämonen, d. h. den Mächten des Unbewussten standhalten kann. Erst dann kann er auch die vom Kranken übertragenen Dämonen bezwingen. Psychologisch verstanden heißt das,
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dass der Therapeut zuerst in seiner Lehranalyse seine eigenen Probleme aufarbeiten muss. Das wird leider, wie ich gestehen muss, viel zu wenig gründlich gemacht. Die Gefahr ist dabei, dass der Therapeut am Patienten seine eigenen Probleme behandelt. Und vor allem geht es darum, dass der Therapeut auch weiterhin die Reaktionen seines Unbewussten aufnimmt.
» Die Übertragung stellt den Versuch des Patienten dar, einen psychologischen Rapport zum Arzt herzustellen. Er braucht diese Beziehung, wenn er die Dissoziation überwinden soll. Je schwächer der Rapport ist, das heißt, je weniger Arzt und Patient sich verstehen, umso intensiver wird die Übertragung gefördert, und zwar hauptsächlich in ihrer sexuellen Form. (16, 276)
«
» Unter solchen Umständen kann die Übertragung zum wohl größten Hindernis einer erfolgreichen Behandlung werden. […] (Im psychischen Material des Patienten finden sich nicht bloß sexuelle Phantasien), es finden sich darin immer auch schöpferische Elemente, mit deren Hilfe der Weg aus der Neurose gestaltet werden kann. Dieser natürliche Ausweg ist in der Neurose blockiert. (16, 277)
«
Zum Übertragungsphänomen sagt er:
» Das Übertragungsphänomen ist das unausweichliche Kennzeichen jeder tiefergehenden Analyse; denn es ist absolut notwendig, dass der Arzt in eine möglichst nahe Beziehung zu der psychologischen Entwicklung des Patienten tritt. (16, 283)
«
» Wenn die Projektionen als solche in einer reduktiven Analyse erkannt sind, nimmt diese spezielle Art des Rapportes, nämlich die Übertragung, ein Ende, und das Problem der individuellen Beziehung muss aufgenommen werden. […] Aber das Recht weiterzugehen hat
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Kapitel 39 • Übertragung
nur derjenige Arzt, der selber eine Lehranalyse durchgemacht hat oder der für seine Arbeit ein solches Maß an Wahrheitsliebe aufbringt, dass es ihm gelingt, sich selber durch seinen Patienten zu analysieren. (16, 287)
erzeugt, die entweder zu beständigen Missdeutungen und Missverständnissen Anlass gibt oder umgekehrt eine geradezu verblüffende Harmonie vortäuscht, wobei dies noch bedenklicher ist als jenes. (16, 383)
» In dieser psychologischen Situation steht der
Zu den soeben erwähnten Missverständnissen sei auf das 7 1. Fallbeispiel verwiesen.
«
Patient dem Arzt als Gleichberechtigter und mit derselben unbarmherzigen Kritik gegenüber, die er selber im Laufe der Behandlung durch den Arzt erfahren musste. (16, 289)
«
» Diese Form der persönlichen Beziehung entspricht einer freiwillig eingegangenen Verpflichtung oder Verbindung, die der Fessel der Übertragung entgegengesetzt ist. […] Er entdeckt nun den Wert seiner eigenen, einmaligen Persönlichkeit; (der frühere Patient) sieht, dass er so wie er ist, angenommen wird, und dass er imstande ist, sich den Forderungen des Lebens anzupassen. (16, 290)
«
» Rein persönliche Anteilnahme kann dem Patienten niemals jenes objektive Verständnis seiner Neurose vermitteln, das ihn aus seiner Abhängigkeit vom Arzt löst und ein Gegengewicht zur Übertragung darstellt. (16, 292)
«
Die letzte Bemerkung bezieht sich auf jene Therapieformen, die versuchen, mit Empathie die Neurose zu heilen. Zum Gefühl muss sich eben stets auch der Logos gesellen, um ein Ganzes zu bilden.
» Die Fälle, in denen das archetypische Problem der Übertragung akut wird, sind keineswegs immer sogenannte »schwere« Fälle, das heißt schlimme Krankheitszustände. (16, 382)
«
» Dem bewussten Vertrauensverhältnis von Arzt und Patient steht der konstellierte unbewusste Inhalt dadurch entgegen, dass er vermittelst seiner Projektion eine illusionäre Atmosphäre
«
»
Die unbewussten Inhalte sind tatsächlich von hoher Bedeutsamkeit, denn schließlich ist das Unbewusste die matrix des menschlichen Geistes und dessen Erfindungen. So schön und sinnreich diese ganz andere Seite ist, sie trägt gerade wegen ihres numinosen Charakters gegebenenfalls in gefährlichster Weise zur Täuschung bei. (16, 384)
«
> Die Übertragung ist das Herzstück der Psychotherapie.
Im harmlosen Fall ist es die Frage, ob Patient und Arzt zusammenpassen, sich verstehen und eine Vertrauensbeziehung entsteht. Im komplizierten Fall sind in den Projektionen verwickelte unbewusste Inhalte enthalten, welche es aus ihrer Projektion herauszuschälen und sorgfältig zu integrieren gilt.
» Es lohnt sich daher, allen Grenzerscheinungen, so dunkel sie auch erscheinen mögen, sorgsam nachzugehen, um die Keime möglicher neuer Ordnungen darin aufzufinden. […] Vermöge seiner kollektiven Inhalte und Symbole greift (das Übertragungsphänomen) weit über die Person hinaus in die Sphäre des Sozialen und erinnert an jene höheren menschlichen Zusammenhänge, welche unsere heutige Gesellschaftsordnung oder besser -unordnung aufs schmerzlichste vermissen lässt. (16, 539)
«
Mit diesem letzten Satz weist Jung auf die Tatsache hin, dass in der Übertragung oft der homo altus, homo maximus auf den Arzt projiziert wird.
561 Literatur
» Wenn der Patient die Persönlichkeit des Arztes von diesen Projektionen nicht unterscheiden kann, dann geht schließlich jede Verständigungsmöglichkeit verloren, und die menschliche Beziehung wird unmöglich. […] Hierin zeigt sich die charakteristische Wirkung des Archetypus: er ergreift die Psyche mit einer Art Urgewalt und nötigt zur Überschreitung des menschlichen Bereiches. Er veranlasst Übertreibung, Aufgeblasenheit (Inflation!), Unfreiwilligkeit, Illusion und Ergriffenheit im Guten wie im Bösen. (7, 110)
«
Es handelt sich um den Archetypus des Anthropos, der jegliche Form menschlichen Zusammenlebens reguliert und darum weit über die persönliche Beziehung hinausgeht [5].
Literatur Primärliteratur (Quellen) 1
2
Jung CG (1995) Die Psychologie der Übertragung erläutert anhand einer alchemistischen Bildserie. GW 16, S. 173–345. Zuerst als Einzelpublikation: Für Ärzte und praktische Psychologen erschienen, Zürich, 1846.) Gesammelte Werke. Walter, Solothurn Düsseldorf Jung CG (1995) Über Grundlagen der Analytischen Psychologie. 5. Vorlesung. GW 18/I, 305–318, 327–331. 336–339, 356–360. Gesammelte Werke. Walter, Solothurn Düsseldorf
Sekundärliteratur 3 4 5
6
7
Psychologischer Club (1997) Übertragung. Vortrags-Reihe 1995/96. Schippert, Ebmatingen Ribi A (2007) Ein Leben im Dienst der Seele: Gesammelte Aufsätze und Vorträge. Peter Lang, Bern. S. 249 Ribi A (2002) Anthropos. Der ewige Mensch. Der ewige göttliche und kosmische Mensch in Geschichte, Politik und Tiefenpsychologie. Peter Lang, Bern Telle J (Hrsg.) (1992) Rosarium Philosophorum. Ein alchemisches Florilegium des Spätmittelalters. 2 Bde. VCH, Weinheim Telle J (1980) Sol und Luna. Literar- und alchemiegeschichtliche Studien zu einem altdeutschen Bildgedicht. Hürtgenwald
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563
Religiöse Dimension 40.1
Religion und Glauben – 564
40.2
Schuld – 568
40.3
Gut und Böse – 569
40.4
»Ich weiß« – 572 Literatur – 576
A. Ribi, Neurose – an der Grenze zwischen krank und gesund, DOI 10.1007/978-3-642-16148-3_40, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
40
564
40
Kapitel 40 • Religiöse Dimension
Die religiöse Dimension spielt nicht darum in der Jungschen Psychologie eine so große Rolle, weil Jung Sohn eines Pfarrers ist, wie oft spekuliert wurde, sondern weil diese Dimension der Seele inhärent ist. Im Gegenteil hat Jung an seinem Vater erlebt, wie er am Nicht-glauben-Können zerbrochen ist und wie er den Unterschied zwischen Glauben und Religion nicht verstanden hat.
40.1
Religion und Glauben
bunden, sondern ubiquitär. Bloß die jeweiligen Vorstellungen, welche darin auftreten, sind von den kulturellen Voraussetzungen mitbestimmt.
» Im modernen Menschen ist ein unausrottbarer Widerstand gegen hergebrachte Meinungen und bisherige Wahrheiten vorhanden. (11, 516)
«
Man kann den Satz auch umkehren und sagen, ein Mensch sei nur insofern modern als er aus den ausgetretenen Pfaden ausgebrochen sei und seinen eigenen einmaligen Weg gesucht habe.
» Das moderne Bewusstsein perhorresziert den
»
Man hat mir »Vergottung der Seele« vorgeworfen. Nicht ich – Gott selbst hat sie vergottet!« (12, 14)
«
» Wie das Auge der Sonne, so entspricht die Seele Gott. (12, 11) «
Glauben und darum auch die darauf basierten Religionen. Es lässt sie bloß gelten, insofern ihr Erkenntnisgehalt mit erfahrenen Hintergrundphänomenen anscheinend übereinstimmt. Es will wissen, das heißt Urerfahrung haben. (10, 171)
«
» Religion ist, wie das lateinische Wort religere meint, eine sorgfältige und gewissenhafte Beobachtung dessen, was Rudolf Otto treffend das »Numinosum« genannt hat, nämlich eine dynamische Existenz oder Wirkung, die nicht von einem Willkürakt verursacht wird. (11, 6)
«
> »Konfessionen sind kodifizierte und dogmatisierte Formen ursprünglicher religiöser Erfahrungen.« (11, 10)
Wir sprechen im Folgenden von Religion, dem Allgemeineren, das nicht an eine bestimmte Konfession gebunden ist. Mir scheint diese Unterscheidung gerade heute bedeutsam, wo eine Konfession sich erdreistet, die Weltherrschaft anzustreben.
» Mein Verhältnis zu allen Religionen ist ein positives. (4, 777) « Das setzt voraus, dass man überhaupt über Religiosität sprechen kann, denn die religiöse Funktion der Seele ist an kein Glaubensbekenntnis ge-
Darum hat Jung über das Trinitätsdogma, das Wandlungssymbol in der Messe oder das Buch Hiob geschrieben, um den Menschen einen Erfahrungszugang zu diesen Dingen zu eröffnen. Er wollte damit nicht den Theologen ins Handwerk pfuschen, sondern im Gegenteil, den Leuten einen Zugang zu diesen »ewigen Wahrheiten« weisen.
» Als verantwortungsvoller Wissenschaftler werde ich über meine persönlichen und subjektiven Überzeugungen, die ich nicht beweisen kann, keine Predigten halten. […] Es ist reine Bosheit, mich einer atheistischen Einstellung zu beschuldigen, nur weil ich versuche, ehrlich und diszipliniert zu sein. […] Entweder weiß ich etwas, und dann brauche ich nicht daran zu glauben; oder ich glaube daran, weil ich nicht sicher bin, dass ich es weiß. (18/II, 1589)
«
» Wo der Glaube herrscht, da lauert immer der Zweifel. Dem denkenden Menschen ist der Zweifel willkommen, denn er dient ihm als wertvollste Stufe zu verbesserter Erkenntnis. (11, 170)
«
40
565 40.1 • Religion und Glauben
Jung verwirft den Glauben nicht ganz und gar, wie er in einem Brief an den Dichter Upton Sinclair vom 07.I.1955 schreibt:
» Ist Glaube echt und lebendig, dann wirkt er. Ist er aber nur Einbildung und Willensanstrengung ohne Verständnis, dann achte ich seinen inneren Wert gering. Leider ist dieser unbefriedigende Zustand in unserer Zeit sehr verbreitet, und da dem, der nicht glauben kann, sondern verstehen möchte, nur Zweifel und Skepsis bleiben, wird die ganze christliche Überlieferung als bloße Phantasie über Bord geworfen. Darin sehe ich einen ungeheuren Verlust, für den wir einen schrecklichen Preis zu zahlen haben werden. Die Wirkung zeigt sich in der Auflösung ethischer Werte und einer totalen Desorientierung unserer »Weltanschauung«. Die »Wahrheit« von Naturwissenschaft und »Existentialphilosophie« ist ein schwacher Ersatz. »Naturgesetze« sind vor allem reine Abstraktionen (als statistische Durchschnittswerte) und keine Realität; sie annullieren die individuelle Existenz als bloße Ausnahme. Das Individuum ist von ausschlaggebender Bedeutung, denn es ist Träger von Leben und Existenz. Weder durch eine Gruppe noch durch Masse ist es zu ersetzen. Und doch nähern wir uns mit großer Geschwindigkeit einem Zustand, da niemand mehr individuelle Verantwortung übernehmen will. Dieses odiose Geschäft überlässt man lieber Gruppen und Organisationen, in seliger Unbewusstheit der Tatsache, dass die Gruppen- oder Massenpsyche die eines Tieres und durch und durch inhuman ist. ([1] II, S. 437)
«
Dem brauche ich nichts beizufügen!
» Wie Erkenntnis kein Glaube ist, so ist auch Glauben keine Erkenntnis. (10, 853) « » Der »legitime« Glaube geht immer auf das Erlebnis zurück. (5, 345) «
» Da es sich beim (legitimen) Glauben um zentrale und lebenswichtige »Obervorstellungen«, welche dem Leben allein den notwendigen Sinn verleihen, handelt, stellt sich dem Psychotherapeuten zuallererst die Aufgabe, selber die Symbole neu zu begreifen, um seinen Patienten in dessen unbewussten kompensatorischen Streben nach einer Einstellung, welche das Ganze der menschlichen Seele ausdrückt, zu verstehen. (5, 346)
«
Schaut man genauer hin, warum Religionen psychotherapeutische Systeme sind, so erkennt man dass
» … das Unbewusste auch die dunklen Quellen des Instinktes und der Intuition enthält, sowie das Bild des Menschen, wie er von jeher, seit undenkbaren Zeiten war, es enthält alle jene Kräfte, welche die bloße Vernünftigkeit, Zweckmäßigkeit und Ordentlichkeit eines bürgerlichen Daseins nie zu lebendigem Wirken zu erwecken vermag, jene schöpferischen Kräfte, welche immer wieder das Leben des Menschen zu neuen Entfaltungen, neuen Formen und neuen Zielen emporzuführen vermögen. (10, 25)
«
» Es sind hauptsächlich die Religionen gewesen, welche diese Arbeit auf mannigfaltige Weise besorgt haben. Sie kamen mit einer gewissen Auffassung oder Anschauung dem Unbewussten entgegen, indem sie die Erscheinungen des Unbewussten als göttliche oder dämonische Fingerzeige oder Offenbarungen oder Warnungen bezeichneten. […] Indem die Religionen aber so mit bewusster Aufmerksamkeit dem Unbewussten entgegenkamen, ermöglichten sie ein Überfließen unbewusster Inhalte und Kräfte in das bewusste Leben, wodurch dieses beeinflusst und verändert wurde. […] Wenn die unbewussten Inhalte infolge ständiger Nichtbeachtung sich aufstauen, dann erzwingen sie sich schließlich einen Einfluss auf das Bewusstsein, und zwar einen krankhaften. (10, 26)
«
566
Kapitel 40 • Religiöse Dimension
Jetzt versteht man, weshalb die religiöse Dimension in der Psychotherapie eine wesentliche Rolle spielt:
40
> Die Prozesse des kollektiven Unbewussten haben faszinosen Charakter. Oder anders ausgedrückt, das kollektive Unbewusste ist die Quelle des Religiösen. Die Religion fasst und formt diese Primärerfahrung, gibt ihr Ausdruck und Gestalt. Das kollektive Unbewusste hat eine auflösende Wirkung auf das Bewusstsein. Die religiösen Vorstellungen wirken dem entgegen.
» Religion ist eine lebendige Beziehung zu den seelischen Vorgängen, die nicht vom Bewusstsein abhängen, sondern jenseits davon, im Dunkel des seelischen Hintergrundes sich ereignen. (9/I, 261)
«
» Religiöse und philosophische Triebkräfte sind in der analytischen Arbeit positiv zu berücksichtigen. (4, 554)
«
» Wir müssen den Neurotiker dazu bringen, tätige Anteilnahme am schmerzvollen Werk der Kulturentwicklung zu nehmen, das ergibt jenes köstliche Gefühl getaner Arbeit und erfüllter Pflicht. (4, 556)
«
Zum Libidoüberschuss sagt er:
» Nicht alle Libido legt sich in naturgesetzmäßige Form fest, die ihren regelmäßigen Ablauf erzwingt, sondern ein gewisses Quantum an Energie bleibt übrig, das man als Libidoüberschuss bezeichnen könnte. […] Aus dem Libidoüberschuss ergeben sich gewisse psychische Prozesse, die durch bloße Naturbedingungen nicht oder nur sehr ungenügend zu erklären sind. Es sind dies religiöse Prozesse, deren Natur wesentlich symbolisch ist. […] Sie sind zugleich Übergänge zu neuen Tätigkeiten, die man spezi-
fisch als Kulturtätigkeiten bezeichnen muss, im Gegensatz zu den gesetzmäßig ablaufenden instinktiven Funktionen. (8, 91)
«
Denn, so Jung in »Praxis der Psychotherapie«:
» Es gibt nämlich ein Gleichgewicht zwischen seelischem Ich und Nicht-Ich, eine religio, das heißt eine sorgfältige Berücksichtigung der präsenten unbewussten Mächte, die man nicht ohne Gefahr vernachlässigt. (16, 395)
«
Betty Grover Eisner aus Los Angeles schrieb Jung, für sie sei LSD eine »fast religiöse Droge«,
worauf er in einem Brief vom 12.VIII.1957 antwortet, er wisse, dass
» … sie eine Schicht des Unbewussten freilege, in die man sonst nur unter besonderen psychischen Bedingungen dringen könnte. In der Tat ergeben sich Wahrnehmungen und Erfahrungen, wie sie auch bei mystischen Erlebnissen oder in der Analyse des Unbewussten oder bei orgiastischen und Rauschzuständen der Primitiven vorkommen. Ich bin nicht glücklich über diese Drogen, denn die Menschen geraten einfach an Erfahrungen, die sie doch nicht integrieren können. Das Resultat ist eine Art Theosophie, aber keine moralische und keine geistige Bereicherung. Es ist der ewig primitive Mensch mit der Erfahrung seines Geisterlandes, aber kein Fortschritt unserer kulturellen Entwicklung. Diese sogenannt religiösen Visionen haben mit Physiologie zu tun, aber nichts mit Religion. […] Religion ist Lebensform und Devotion und Unterwerfung unter bestimmte überlegene Kräfte – eine geistige Einstellung, die nicht mit einer Spritze injiziert noch als Pille geschluckt werden kann. ([1] III, S. 117)
«
Dieser Brief ist von höchster Aktualität angesichts des Drogenproblems unserer Jugendlichen. Sucht ist Sucht, doch muss man fragen, was diese Menschen in der Droge suchen, die
40
567 40.1 • Religion und Glauben
sie in einem Alter von der Anpassung an Leben und Welt abhält, in dem das die Hauptaufgabe ist. Es ist der »Kick«, die Suche nach dem Außerordentlichen, dem was die Banalität des Alltäglichen übersteigt, dem Transzendenten. Sie finden das nicht mehr wie die Altvorderen in der Kirche. Diese ist zu rational geworden. Und sie wollen sich nicht mehr lange darum bemühen müssen, sondern in unserer schnelllebigen Zeit sofort und auf einmal! Das bringt der DrogenKick, aber er hinterlässt nur negative Spuren. Das Bedürfnis wäre ein legitimes, aber die Erfüllung desselben ist völlig verkehrt. Nicht nur das Elend mit den lebensuntauglichen Jungen, sondern die weltweite Drogenkriminalität, Korruption und Kriege um den Drogenanbau und -handel zerstören die Kulturen. Das ist eines der am wenigsten beherrschbaren Probleme unserer Zeit, von welchem man kaum mehr etwas hört in den Medien – weil alle resigniert haben. Dabei steht an seiner Wurzel ein legitimes Bedürfnis. Doch fehlt es an Geduld und Wissen, es in richtiger Weise zu befriedigen. Deshalb kommt der religiösen Dimension in der Psychotherapie eine derart große Bedeutung zu. Jeder Patient, der in seiner Therapie den richtigen Zugang zum Religiösen gefunden hat, ist eine Zelle, von welcher ein anderer, gesunder Umgang damit ausgeht.
» Religion ist eine Beziehung zu dem höchsten oder stärksten Wert, sei er nun positiv oder negativ. Die Beziehung ist sowohl eine freiwillige, als auch eine unfreiwillige, das heißt man kann von einem »Wert«, also einem energiegeladenen psychischen Faktor, auch unbewusst besessen sein, oder man kann ihn bewusst annehmen. (11, 137)
«
» Alle Religionen sind Therapien für die Leiden und Störungen der Seele. […] Mit dem bequemen Nachäffen wird immer eine unsichere Situation geschaffen, die jederzeit vom Unbewussten über den Haufen geworfen werden kann. Eine sichere Grundlage entsteht nur dann,
wenn die instinktiven Prämissen des Unbewussten die gleiche Berücksichtigung erfahren wie die Gesichtspunkte des Bewusstseins. (13, 71)
«
» Solange die Religion nur Glaube und äußere Form und die religiöse Funktion nicht eine Erfahrung der eigenen Seele ist, ist nichts Gründliches geschehen. (12, 13)
«
In »Mysterium coniunctionis« äußert sich Jung folgendermaßen:
» Die großen Religionen sind psychische Heilsysteme, die all denen einen Halt ermöglichen, die sich nicht allein tragen können, und ihrer sind die überwältigende Mehrzahl. Trotz der unzweifelhaft »häretischen Methode« beweisen die Alchemisten mit ihrer positiven Einstellung zum kirchlichen Christentum mehr Klugheit als gewisse moderne Aufklärer. (14, 338)
«
» Alle Religionen überhaupt bis zu den magischen Religionsformen der Primitiven sind Psychotherapien, welche das Leiden der Seele und die seelisch verursachten Leiden des Körpers behandeln und heilen. (16, 20)
«
> Die Religionen sind psychotherapeutische Systeme in des Wortes eigentlichster Bedeutung und im allergrößten Ausmaß. Sie drücken den Umfang des seelischen Problems in mächtigen Bildern aus. (10, 367)
» Religion bedeutet Abhängigkeit von und Unterwerfung an irrationale Gegebenheiten, welche sich nicht direkt auf soziale und psychische Bedingungen beziehen, sondern vielmehr auf die psychische Einstellung des Individuums. (10, 505)
«
» Die Konfession bekennt eine bestimmte Kollektivüberzeugung, während das Wort Religion eine subjektive Beziehung zu gewissen metaphysischen, das heißt extramundanen Faktoren ausdrückt. (10, 507)
«
568
Kapitel 40 • Religiöse Dimension
»
Das Individuum schließlich,
40
» … das nicht in Gott verankert ist, vermag der physischen und moralischen Macht der Welt aufgrund seines persönlichen Dafürhaltens keinen Widerstand zu leisten. Dazu bedarf der Mensch der Evidenz seiner inneren, transzendenten Erfahrung, welche ihn allein vor dem sonst unvermeidlichen Abgleiten in die Vermassung bewahren kann. (10, 511)
«
Sobald es dem menschlichen Geiste gelungen war, die Idee der Sünde zu erfinden, entstand das psychisch Verborgene, in analytischer Sprache: das Verdrängte. Das Verborgene ist Geheimnis. Der Besitz an Geheimnissen wirkt wie ein seelisches Gift, das den Träger des Geheimnisses der Gemeinschaft entfremdet. Dieses Gift in kleiner Dosis kann zwar ein unschätzbares Heilmittel sein, sogar eine unerlässliche Vorbedingung für alle individuelle Differenzierung. (16, 124)
«
Ich kann hierzu weder Fälle noch eigene Erfahrungen beisteuern, nicht etwa weil es sie nicht gäbe, sondern weil sie so subtiler Natur sind, dass man sich scheut, sie der Allgemeinheit auszusetzen. Zudem sind die damit verbundenen Gefühle so zart, dass sie sich einer Profanierung widersetzen. Solche Erfahrungen gehören zum Intimsten, was Therapeut und Analysand gemeinsam teilen. Sie rühren an jenes Geheimnis der Persönlichkeit, das eigentlich gar nicht ausgeplaudert werden kann.
» Das Heldenmotiv hat nicht nur mit der allgemeinen Einstellung zum Leben, sondern auch mit dem religiösen Problem zu tun. Eine absolute Einstellung ist immer eine religiöse Einstellung, und wo immer ein Mensch absolut wird, da erscheint seine Religion. (10, 101)
«
»
» Im allgemeinen sind die Schädigungen durch ein unbewusstes Geheimnis größer als durch ein bewusstes. (16, 128)
«
40.2
Schuld
Die Sünde als Geheimnis, besonders als persönliches, neurotisches Geheimnis, haben wir in einem früheren Kapitel behandelt. Hier geht es um etwas Subtileres, um die Schuld.
»
Wenn der Mensch nur wüsste, was für einen Gewinn es bedeutet, seine eigene Schuld gefunden zu haben, was für eine Würde und seelische Rangerhöhung! (10, 416)
«
» Das Bewusstsein der Schuld hat nämlich den
Der Held verkörpert immer das höchste und stärkste Streben, oder was dieses Streben wenigstens sein sollte, und darum zugleich das, was man am ehesten verwirklichen möchte. (10, 100)
Vorteil, dass man damit in der Lage ist, etwas daran zu ändern und zu verbessern. Was im Unbewussten bleibt, verändert sich bekanntlich nie, nur im Bewusstsein lassen sich psychologische Korrekturen anbringen. (10, 440)
Der Held ist die typische Figur der ersten Lebenshälfte, der sich »die Erde untertan macht« (Gn. 1, 28). Es ist jene archetypische Kraft, die den Menschen sich seinen Platz in der Welt erobern lässt. Ich habe die folgende Stelle schon in einem früheren Kapitel zitiert, doch muss ich sie für das Folgende nochmals als Einführung erwähnen:
Der psychologische Schuldbegriff
«
«
» … beschreibt das irrationale Vorhandensein eines subjektiven Schuldgefühls (oder einer Schuldgewissheit) oder einer objektiv zugemuteten Schuld (oder einer imputierten Teilnahme an einer Schuld). (10, 403)
«
569 40.3 • Gut und Böse
» Es hat keinen Vorteil auf der Schuld des anderen zu insistieren, da es so viel wichtiger ist, seine eigene Schuld zu kennen und zu besitzen, denn sie ist Teil des eigenen Selbst und eine Bedingung, ohne welche sich nichts in dieser sublunaren Welt verwirklichen kann. (14/I, 196)
«
» Was immer die Eltern und Voreltern am Kind gesündigt haben, erklärt der erwachsene Mensch als seine Gegebenheit, mit der er zu rechnen hat. Nur einen Dummkopf interessiert die Schuld des anderen, an der sich nichts ändern lässt. Nur von der eigenen Schuld lernt der Kluge. (12, 153)
«
» Nur die lebendige Gegenwart der ewigen Bilder vermag der Seele jene Würde zu verleihen, die es dem Menschen wahrscheinlich macht und ihm moralisch ermöglicht, bei seiner Seele auszuharren und überzeugt zu sein, dass es sich lohnt, bei ihr zu bleiben. Nur dann wird ihm einleuchten, dass der Konflikt ihm gehört, dass der Zwiespalt sein leidensvoller Reichtum ist, den man nicht weggibt, indem man andere angreift, und dass, wenn das Schicksal von ihm Schuld verlangt, es Schuld an ihm selber ist. Damit anerkennt er den Wert seiner Seele, weil an einem Nichts niemand schuld(ig) werden kann. (14/II, 175)
«
Man darf dabei nicht vergessen, dass Schuld aufgeladen wird nicht nur dadurch, dass man Unrecht begeht, sondern auch durch Pflichtenkollisionen, durch Verwerfen des weniger Tauglichen in einer Entscheidung und vor allem durch »Gutmeinen«. > Etwas, das einmal gut war, ist es nicht für alle Zeiten und unter allen Umständen.
Man perpetuiert eine Haltung, ohne sich Rechenschaft zu geben, dass sie sich längst ins Gegenteil umgekehrt hat.
40
Es gibt eine amüsante Geschichte in der Familie meiner geschiedenen Frau: Ihre Eltern besuchten als angehendes Paar ihre Verwandtschaft, um die bevorstehende Heirat anzuzeigen. Es gab auch eine fromme Tante, die sie besuchen mussten. Diese war hocherfreut und sagte, sie mache jedem ein Spiegelei. Die junge Braut erklärte ihr, sie möge keine Spiegeleier, ihr werde davon übel. Die fromme Tante insistierte und meinte, mit Gottes Hilfe werde sie das Spiegelei schon vertragen und stellte es trotz Protest vor sie hin. Sie musste sich beinahe übergeben, und als die Tante für kurze Zeit den Raum verließ, schmiss sie das Spiegelei aus dem Fenster. Als die Tante zurückkam, stellte sie mit Befriedigung, als ein Exempel fest, dass Gott ihr geholfen habe, das Spiegelei zu mögen. Man verabschiedete sich in herzlicher Eintracht! Als das junge Paar unten auf der Straße war und zurückschaute, bemerkte es, dass sich das Spiegelei in den Blumen vor dem Fenster im Stock unter der Tante verfangen hatte. Es verlautete nichts darüber, wie die Tante dann diese »göttliche Fügung« interpretiert hat.
40.3
Gut und Böse
» Wir wissen nie, welches Böse notwendig ist, um durch Enantiodromie ein Gutes herbeizuziehen, und welches Gute zum Bösen führen wird. (9/I, 397)
«
Das Gesetz der Enantiodromie, des »Entgegenlaufens«, der Umkehr ins Gegenteil, ist ein ganz wichtiges psychologisches Gesetz. Es hat mit der Paradoxie zu tun, dass Gegensätze heimlich identisch sind. Das ist so, weil es im Unbewussten keine Gegensätze gibt oder diese latent sind. Die Aufgabe des Bewusstseins ist es, diese auseinanderzureißen, weil das Wesen des Bewusstseins Unterscheidung ist. Etwas kann nur bewusst werden, wenn es von seinem Hintergrund abgehoben wird.
570
Kapitel 40 • Religiöse Dimension
» Gut und Böse sind Wertgefühle des mensch40
lichen Bereiches, welche wir über diesen hinaus schlechterdings nicht ausdehnen können. […] Vieles nämlich, was sich in seiner Auswirkung als abgrundtief böse erweist, stammt keineswegs aus einer entsprechenden Bosheit des Menschen, sondern aus Dummheit und Unbewusstheit. […] Eine der stärksten Wurzeln alles Bösen ist die Unbewusstheit. (11, 291)
«
Das haben schon die Gnostiker klar erkannt, weshalb die Überwindung der »agnosia« die zentrale Aufgabe im Leben des Menschen ist.
»
Das Böse ist relativ, teils vermeidbar, teils Verhängnis; das gilt auch für die Tugend, und oft weiß man nicht, was schlimmer ist. (11, 291)
«
» Neben jedem Guten steht sein entsprechendes Böses, und es kann schlechterdings nichts Gutes in die Welt kommen, ohne dass es das ihm zugehörige Böse geradewegs erzeugt. (10, 154)
«
» In der Frage des Guten und Bösen kann man als Therapeut immer nur hoffen, man sehe die Sachen richtig, darf aber nie allzu sicher sein. (10, 866)
«
» Wenn ich nicht a priori urteile, sondern auf diese konkrete Gegebenheit hinhorche, dann weiß ich nicht schon von vornherein, was nun für den Patienten gut oder böse ist. (10, 866)
«
» Das Böse, wenn man es tut, auch wenn man es wissend tut, ist das Böse und wirkt so. (10, 868)
«
» Die herkömmliche Moral ist genau wie die klassische Physik: eine statistische Wahrheit und Weisheit. (10, 871)
«
> »Der Anblick des Bösen zündet Böses in der Seele an.« (10, 410)
»
Wir können beim besten Willen kein Paradies auf Erden errichten, und wenn es uns doch gelänge, so würden wir in kürzester Frist und in jeglicher Hinsicht degenerieren. Wir würden mit Lust unser Paradies zerstören und uns nachher ebenso blöde über die Zerstörung wundern. (10, 415)
«
» Es ist die prometheische Sünde; unhistorisch zu sein. Der Moderne ist in diesem Sinne sündhaft. Höhere Bewusstheit ist daher Schuld. (10, 152)
«
Erich Neumann, der Analytiker in Tel Aviv, schrieb das Buch »Tiefenpsychologie und Neue Ethik«. Jung war darüber nicht sehr glücklich und schrieb ihm am 03.VI.1957 einen Brief. Darin heißt es:
» Es handelt sich ja nicht wirklich um eine »neue« Ethik. Das Böse ist und bleibt immer das, von dem man weiß, dass man es nicht tun sollte. Der Mensch überschätzt sich aber leider in diese Hinsicht: er meint, es stehe ihm frei, das Böse oder das Gute zu beabsichtigen. Er kann sich zwar solches einbilden, aber in Wirklichkeit ist er in Ansehung der Größe dieser Gegensätze eben doch zu klein und zu ohnmächtig, als dass er das eine oder das andere freiwillig und unter allen Umständen wählen könnte. Es ist vielmehr so, dass er das Gute, das er möchte, aus übermächtigen Gründen tut oder nicht tut und dass ihm ebenso das Böse wie ein Unglücksfall zustößt. Ethik ist das, was es ihm unmöglich macht, Böses absichtlich zu tun, und ihn dazu anhält – und zwar öfters mit geringem Erfolg –, das Gute zu tun. Das heißt, er kann das Gute tun und kann das Böse nicht vermeiden, obschon ihn seine Ethik veranlasst, die Kräfte seines Willens in dieser Hinsicht zu erproben. ([1] III, S. 96)
«
Jung ist sehr zurückhaltend bei der Frage, wie
viel Willensfreiheit dem Menschen zur Verfü-
40
571 40.3 • Gut und Böse
gung steht, denn die Kräfte des Unbewussten, die er nicht kennt, machen ihren Einfluss unkontrollierbarerweise geltend. Das kennt niemand besser als der Süchtige, der gegen seine Sucht tapfer und mit besten Vorsätzen kämpft und dennoch ständig unterliegt.
» Gott erfüllt uns mit Gutem und mit Bösem, sonst wäre er ja nicht zu fürchten, und weil er Mensch werden will, muss die Einigung seiner Antinomie im Menschen stattfinden. (11, 747)
«
Die Differenzierung des alttestamentlichen Gottesbildes musste, sobald von einem »summum bonum« die Rede war, notwendigerweise zu einem »infimum malum«, personifiziert im Teufel, führen.
» Dazu bedurfte es keines logischen Schlusses, sondern bloß der natürlichen und unbewussten Tendenz zum Gleichgewicht und zur Symmetrie. (11, 470)
«
(luziferisch), war, in Wirklichkeit aber ein Bringer des Heils und der Erleuchtung. […] Deshalb stellt (die innere Stimme) den Menschen vor letzte moralische Entscheidungen, ohne die er eben nie zur Bewusstheit gelangen und zur Persönlichkeit werden kann. In unergründlicher Weise ist oft Niedrigstes und Höchstes, Bestes und Verruchtestes, Wahrstes und Verlogenstes in der Stimme des Inneren gemischt, einen Abgrund von Verwirrung, Täuschung und Verzweiflung aufreißend. (17, 319)
«
Die vielbeschworene »innere Stimme« ist darum – es ist zum Verzweifeln – eben auch keine Sicherheit in der moralischen Frage, man muss sie in jedem Fall selber erwägen und entscheiden, selbst auf die Gefahr hin, in die Irre zu gehen, denn nur so wird man bewusst und Gott im Menschen inkarniert: Siehe, der Mensch ist geworden wie unsereiner, dass er weiß, was gut und böse ist. (Gn. 1, 22)
» Die Problematik der inneren Stimme ist voll
So entstand der Teufel erst mit dem Neuen Testament, mit welchem eine gewisse Einseitigkeit des Gottesbildes verbunden ist.
» Je christlicher das Bewusstsein ist, desto heidnischer gebärdet sich das Unbewusste. (11, 713)
«
» Die Stimme des Inneren ist die Stimme eines volleren Lebens, eines weiteren, umfänglicheren Bewusstseins. (17, 318)
«
Die innere Stimme bringt laut Jung
» … das zum Bewusstsein, woran das Ganze, das heißt das Volk, zu dem man gehört, oder die Menschheit, deren Teil wir sind, leidet. […] Unterliegt das Ich nur zum Teil (dem Bösen) und kann es sich vor dem gänzlichen Verschlungenwerden durch Selbstbehauptung retten, dann kann es die Stimme assimilieren, und dann stellt sich heraus, dass das Böse nur ein böser Schein
heimlicher Fanggruben und Fußangeln. Gefährlichstes, schlüpfrigstes Gebiet, genau so gefährlich und abwegig wie das Leben selber, wenn es auf Geländer verzichtet. […] Das Werden der Persönlichkeit ist ein Wagnis, und es ist tragisch, dass gerade der Dämon der inneren Stimme höchste Gefahr und unerlässliche Hilfe zugleich bedeutet. (17, 321)
«
» Darum wollen moderne Menschen nichts mehr von Schuld und Sünde hören. Sie haben an ihrem eigenen bösen Gewissen genug und wollen vielmehr wissen, wie man sich mit seinen eigenen Tatsachen aussöhnen, wie man den Feind im eigenen Herzen lieben und zum Wolf »Bruder« sagen kann. (11, 523)
«
» Es ist das große Lebensgesetz der Enantiodromie, der Verkehrung ins Gegenteil, welches die Vereinigung der feindlichen Hälften der Persönlichkeit ermöglicht und damit den Bürgerkrieg beendet. (11, 526)
«
572
40
Kapitel 40 • Religiöse Dimension
> »Man bedenke, was es heißt, die Daseinsberechtigung des Unvernünftigen, des Sinnlosen und des Bösen anzuerkennen!« (11, 528)
» Im Protestantismus stehen sich Gut und Böse schroff und unversöhnlich gegenüber. (11, 547)
«
er gar nicht ist. Das Licht kann die ihm eigentümliche Dunkelheit nicht sehen. Nimmt es aber ab, und folgt der Mensch auch seiner Dämmerung, wie er seinem Lichte folgte, so wird er in seine Nacht gelangen. Nimmt das Licht nicht ab, so wäre er ein Narr, wenn er nicht darin verharren würde. ([1] II, S. 242)
«
» Für den Kirchenvater kann es nicht anders sein, als dass dieser dunkle Grund (limus profundi) das Böse selber ist [schmutzige Gedanken und trübe Überlegungen], und wenn ein König darin stecken sollte, so ist er infolge seiner Sündhaftigkeit hineingefallen. Die Alchemisten aber huldigen einer optimistischeren Auffassung: Der dunkle Seelenhintergrund enthält nicht nur das Böse, sondern auch den erlösungsfähigen und -bedürftigen König. (13, 183)
«
» Die Seele ist ein autonomer Faktor, und religiöse Aussagen sind seelische Bekenntnisse, die in letzter Linie auf unbewussten, also transzendentalen Vorgängen fußen. (11, 555)
«
Im Brief an Erich Neumann, der Jung auf seine »Antwort auf Hiob« seine Reaktionen beschrieb, schreibt er am 05.I.1952:
» Was die nigredo [Anfangszustand im alchemistischen Prozess] anbelangt, so ist es sicher, dass keiner von einer Sünde erlöst ist, die er nie begangen hat, und dass einer, der auf einem Gipfel steht, diesen nicht erklimmen kann. Jedem ist diejenige Erniedrigung, die ihm bekommt, in seinem Charakter mitgegeben. Sucht er seine Ganzheit ernstlich, so wird er unvermutet in das ihm eigentümliche Loch treten, und aus dieser Dunkelheit wird ihm ein Licht aufgehen; das Licht kann nicht erleuchtet werden. Wenn einer sich im Lichte fühlt, so würde ich ihn nie zur Dunkelheit überreden, denn er würde sonst mit seinem Lichte etwas Schwarzes suchen und finden, das
40.4
»Ich weiß«
Man muss über die nur christliche Auffassung von gut und böse hinauskommen, welche bloß in einer Sackgasse endet. Die Antwort der Seele selber ist hier wichtiger. In einem Brief vom 03.V.1958 an Rev. Morton T. Kelsey schreibt er:
» Die furchtbare Unvollkommenheit des Gottesbildes muss erklärt oder verstanden werden. Die nächstliegende Analogie ist unsere Erfahrung des Unbewussten: Das Unbewusste ist eine Psyche, deren Wesen nur aus Paradoxa umschrieben werden kann: es ist persönlich und unpersönlich, moralisch und unmoralisch, gerecht und ungerecht, ethisch und unethisch, von einer schlauen Intelligenz und gleichzeitig blind, überaus stark und äußerst schwach etc. Dies ist die psychische Grundlage, welche den Baustoff zu unseren Begriffsstrukturen liefert. Das Unbewusste ist ein Stück Natur, das unser Geist nicht erfassen kann. Er kann nur auf Grund einer möglichen und begrenzten Erkenntnis Modelle entwerfen. Das Ergebnis ist höchst unvollständig, obwohl wir uns rühmen, in die innersten Geheimnisse der Natur »gedrungen« zu sein. Die eigentliche Natur der Objekte menschlicher Erfahrung ist immer noch in dunkel gehüllt. Der Naturwissenschaftler kann der Theologie keine tiefere Erkenntnisfähigkeit zubilligen als irgendeinem anderen menschlichen Wissenszweig. Wir wissen ebenso wenig über ein höchstes Wesen wie über die Materie. Aber ebenso wenig besteht ein Zweifel an der Existenz eines höchsten Wesens wie an
40
573 40.4 • »Ich weiß«
der Existenz der Materie. Die Welt jenseits [bewussten Erfahrens] ist eine Wirklichkeit, eine Erfahrungstatsache. Wir verstehen sie nur nicht. ([1] III, S. 117)
ob ich mich selber, meinen Nachbarn, den Teufel oder ein höchstes Wesen für die Quelle des Guten oder des Bösen halte. (18/II, 1615)
«
«
Im Interview von John Freeman »Face to Face« der British Broadcasting Corporation (BBC) vom März 1959 wurde Jung über seine Jugend befragt, ob sein Vater, der Pfarrer war, ihn angehalten habe, regelmäßig zur Kirche zu gehen, was ganz selbstverständlich war, weil jedermann sonntags zur Kirche ging. Dann kam die entscheidende Frage:
» Und glaubten Sie an Gott?« Oh, ja. Glauben Sie heute noch an Gott? Heute? (Längere Pause.) Ich weiß (I know). Ich brauche nicht zu glauben. Ich weiß. [11]
«
In »Antwort auf Hiob«, die vor obigem Interview entstanden ist, schreibt Jung:
» Man hat mich oft gefragt, ob ich an die Existenz Gottes glaube oder nicht, dass ich einigermaßen besorgt bin, man könne mich, viel allgemeiner als ich ahne, für einen »Psychologisten« halten. Was die Leute meist übersehen oder nicht verstehen können, ist der Umstand, dass ich die Psyche für wirklich halte. […] Gott ist eine offenkundige psychische und nichtphysische Tatsache, das heißt sie ist nur psychisch, nicht aber physisch feststellbar. (11, 751)
«
Fragen von Theologen beantwortete Jung später folgendermaßen:
» Es liegt mir fern, irgendwelche Aussagen über Gott selber zu machen. Ich spreche von Bildern, und es ist wichtig, über diese nachzudenken, zu reden und an ihnen Kritik zu üben, weil so viel von der Natur unserer vorherrschenden Ideen abhängt. Es ist ein himmelweiter Unterschied,
In einem Brief an den jungen Gelehrten Zwi Werblowsky vom 17.VI.1952 schreibt Jung:
» Ich weiß z. B. nicht, wie Gott, losgelöst von der menschlichen Erfahrung [»absolutus«], je erfahren werden könnte. Wenn nicht ich Ihn erfahre, wie kann ich dann sagen, dass Er sei? Meine Erfahrung ist aber sehr eng und klein, und so ist auch das Erfahrene trotz der bedrückenden Ahnung der Unermesslichkeit klein und menschenähnlich, was man am besten sieht, wenn man es auszudrücken versucht. In der Erfahrung gerät alles in die Doppelsinnigkeit der Psyche. Die größte Erfahrung ist auch die kleinste und engste, und deshalb scheut man sich, allzu laut davon zu reden oder gar darüber zu philosophieren. Dazu ist man denn doch zu klein und zu untauglich, als dass man sich solche Vermessenheit leisten könnte. Deshalb ziehe ich die zweideutige Sprache vor, denn sie wird in gleichem Maße der Subjektivität der archetypischen Vorstellungen wie der Autonomie des Archetypus gerecht. »Gott« z. B. bedeutet einerseits ein nicht auszudrückendes ens potentissimum, andererseits eine höchst untaugliche Andeutung und einen Ausdruck menschlicher Impotenz und Ratlosigkeit, also ein Erlebnis paradoxester Natur. ([1] II, S. 284 u. [2] S. 376)
«
Auf seine Äußerung im Interview mit John Freeman erhielt Jung zahlreiche Zuschriften. In seiner Antwort vom 05.XII.1959 an Mr. Leonhard schreibt er:
» Wohlbemerkt sagte ich nicht: »Es gibt einen Gott«. Ich sagte: »Ich muss nicht an Gott glauben, ich weiß«. Das bedeutet nicht: ich weiß von einem bestimmten Gott (Zeus, Jahwe, Allah, dem trinitarischen Gott etc.), sondern: Ich weiß,
574
40
Kapitel 40 • Religiöse Dimension
dass ich offenbar mit einer an sich unbekannten Größe konfrontiert bin, die ich in consensu omnium »Gott« nenne (»quod semper, quod ubique, quod ab omnibus creditur«) Ich gedenke Seiner, ich rufe Ihn an, wann immer ich mich seines Namens bediene, in Zorn oder Angst, und wann immer ich unwillkürlich sage: »O Gott«. Das geschieht dann, wenn ich jemandem oder etwas begegne, die stärker sind als ich. Es ist eine passende Bezeichnung für alle überwältigenden Emotionen in meinem eigenen psychischen System, Emotionen, die meinen bewussten Willen überwältigen und die Gewalt über mich an sich reißen. Es ist das Wort, mit dem ich alles benenne, was meinen vorsätzlich geplanten Weg gewaltsam und rücksichtslos durchkreuzt, alles, was meine subjektiven Anschauungen, Pläne und Absichten umstürzt und meinen Lebenslauf auf Gedeih und Verderb in andere Richtung drängt. Insofern der Ursprung dieser Schicksalsmacht meinem Einfluss entzogen ist, nenne ich sie in ihrem negativen wie in ihrem positiven Aspekt, der Tradition entsprechend, »Gott«. ([1] III, S. 276)
«
In einem früheren Brief vom 13.II.1951 an Heinrich Boltze fasst er es so:
» Was die Menschheit seit unvordenklicher Zeit »Gott« nennt, erfahren Sie jeden Tag. Sie geben ihm nur einen anderen sogenannt »vernünftigen« Namen, z. B. nennen Sie ihn »Affekt«. Er ist seit jeher das seelisch Stärkere, das Ihre bewusste Absicht aus dem Geleise zu werfen imstande ist, sie fatal durchkreuzt und gelegentlich auseinanderreißt. Es gibt darum nicht wenige, die Angst vor »sich selber« haben. Gott heißt in diesem Fall »Ich selber«, usw. Umwelt und Gott sind die beiden primitiven Erfahrungen und die eine so groß wie die andere, und beide haben tausend Namen, die allesamt an den Tatsachen nichts ändern. Unbekannt sind die Wurzeln beider.
Die Seele spiegelt beide. Sie ist wohl der Punkt, in welchem das eine das andere berührt. ([1] II, S. 208)
«
Ich zitiere an dieser Stelle noch eine ganz gefährliche Aussage Jungs, die man lange meditieren muss:
» Wer Gott kennt, wirkt auf ihn. (11, 617) « » Wo der Gott nicht anerkannt wird, entsteht selbstische Sucht, und aus der Sucht wird die Krankheit. (13, 55)
«
» Wenn ich annehme, dass ein Gott absolut und jenseits aller menschlichen Erfahrung sei, dann lässt er mich kalt. Ich wirke nicht auf ihn, und er nicht auf mich. Wenn ich dagegen weiß, dass ein Gott eine mächtige Regung meiner Seele ist, dann muss ich mich mit ihm beschäftigen; denn dann kann er sogar unangenehm wichtig werden, sogar praktisch, was ungeheuer banal klingt, wie alles, was in der Sphäre der Wirklichkeit erscheint. (13, 74)
«
Die Auseinandersetzung mit dem Religiösen ist die kulturelle Aufgabe der zweiten Lebenshälfte. Denn in dieser Phase geht es darum, den engen Horizont des Persönlichen zu überwinden. In einem späten Brief vom 16.XI.1959 an Valentine Brooke schreibt Jung, ebenfalls als Antwort auf eine Flut von Briefen zu seiner Bemerkung im »Face-to-Face«-Interview: »I dont need to believe, I know«:
»
Alles, was ich außen oder innen wahrnehme, ist Vorstellung oder Bild, eine psychische Größe, die, wie ich zu Recht oder zu Unrecht annehme, auf einem entsprechenden »realen« Objekt beruht. Ich weiß aber, dass mein subjektives Bild nur grosso modo mit dem Objekt übereinstimmt, was jeder Porträtmaler unterschreiben wird. […] Der Unterschied zwischen Bild und
575 40.4 • »Ich weiß«
realem Objekt zeigt, dass die wahrnehmende Psyche das Objekt verändert: gewisse Einzelheiten fügt sie hinzu oder schließt sie aus [subjektiver Faktor!]. […] Beim Versuch, die als »Gott« bezeichnete Tatsache als Bild zu gestalten, hängen wir in hohem Maße von jenen angeborenen präexistenten Wahrnehmungsmodi ab, und zwar umso mehr, als es sich um eine innere Wahrnehmung handelt. […] Deshalb ist »Gott« in erster Linie ein seelisches Bild, das eine natürliche »Numinosität« besitzt, das heißt eine Gefühlsqualität verleiht dem Bild die für die Emotion typische Autonomie. […] Die Tatsache, dass wir von der Welt ein Bild besitzen, heißt nicht, dass es nur das Bild gäbe und nicht die Welt. Aber das ist genau das Argument jener, die annehmen, wenn ich vom Gottesbild spreche, sei ich der Auffassung, Gott existiere nicht, da Er nur Bild sei. ([1] III, S. 272f.)
«
In 7 Kap. 29 habe ich über »Bild, Abbild, Vorstellung« geschrieben, so dass jedem verständlich sein sollte, was Jung hier schreibt.
» Es gibt sonderbare Leute, welche meinen, man könne einen anderen als einen begrifflichen Unterschied machen zwischen der individuellmenschlichen Erfahrung Gottes und Gott selber. (11, 482)
«
Die Theologen scheuen sich genau aus diesem Grund noch immer, die Erkenntnisse der Jungschen Psychologie einzubeziehen. Denn sie glauben, wenn Gott ein seelisches Bild sei, löse sich seine objektive Wirklichkeit in Luft auf: er sei dann »bloß« noch eine »Einbildung«. Das lässt einerseits auf eine Geringschätzung der von Gott »vergotteten« Seele (12, 14), andererseits auf eine schwächliche Überzeugung von seiner Existenz (11, 170) schließen. Als Nietzsche sagte: »Gott ist tot«, sprach er eine Wahrheit aus, die für den größeren Teil von Europa gültig ist. Nicht weil er solches feststellte, waren die Völker beeinflusst, sondern es handelte
40
sich um die Feststellung einer allgemein verbreiteten psychologischen Tatsache. Die Folgen stellten sich auch ohne Zögern ein: die Umnachtung und Benebelung durch -ismen und die Katastrophe« (11, 145). Trotz dieser erkenntnistheoretischen Beschränkungen verspürte die Menschheit stets ein Bedürfnis, Antworten auf die unbeantwortbaren Fragen des Daseins zu finden: Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Was ist der Sinn unserer Existenz? Genausowenig wie die Existenz Gottes zu beweisen ist, sind diese Fragen zweifelsfrei zu beantworten. Und genauso wie die Lebensführung von der Einstellung zu Gott, hängt sie von dem Inhalt der Antwort auf diese Fragen ab. Im »Face-to-Face«-Interview sagte er:
» Es ist beispielsweise möglich, dass ich nicht weiß, warum der Mensch Salz braucht; aber wir essen gerne gesalzen, weil wir uns dabei wohl fühlen. Genauso fühlt man sich wesentlich wohler, wenn man in einer bestimmten Weise denkt, und ich glaube, dass wir dann die richtigen Vorstellungen haben, wenn wir den Bahnen der Natur folgen. ([11] S. 280; teils nach dem Original vom Autor übersetzt)
«
Hier setzt die mythenbildende Funktion des Unbewussten ein. Sie ist wie der Traum die »innere Wahrheit« einer bestimmten psychischen Situation. Sie ist nicht eine kausale Erklärung,
» … sondern ein vom Unbewussten veranlasster und daher teleologisch zu verstehender Versuch«, das Bewusstsein zu kompensieren. (4, 738)
«
» Den Menschen weiß (das kollektive Unbewusste), wie er immer war, und niemals wie er in diesem Augenblick ist, es weiß ihn als Mythus. Darum bedeutet auch der Zusammenhang mit dem überpersönlichen oder kollektiven Unbewussten eine Erweiterung des Menschen über sich selbst hinaus. (10, 13)
«
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Kapitel 40 • Religiöse Dimension
Mit den »unbeantwortbaren« Fragen sprengt der Mensch den engen Horizont seines Bewusstseins und dringt in die zeitlosen Räume des allgemeinen Menschseins vor.
» Der religiöse Mythus tritt uns als eine der größten und bedeutsamsten Errungenschaften entgegen, welche dem Menschen die Sicherheit und Kraft geben, vom Ungeheuren des Weltganzen nicht erdrückt zu werden. (5, 343)
«
Ist es nicht merkwürdig, dass uns gerade etwas Irrationales und absolut nicht Beweisbares solchen Halt vermitteln kann? Das kann nur darum geschehen, weil es die Formulierung einer archetypischen, numinosen, kompensatorischen Wirklichkeit ist. Diese stammt aus einer inneren Ganzheit, welche dem Weltganzen ebenbürtig ist. Wesen und Funktion des Mythus sind noch weitherum nicht verstanden. Meist spricht man von ihm wie vom Märchen in abschätzendem Ton. > Märchen und Mythen sind die beiden Formulierungen des universalen Unbewussten.
Von ihm können wir auf keine andere Weise Kunde erhalten als mittels seiner eigenen schöpferischen Phantasie. Auch diese wird oft zu wenig geschätzt, obwohl sie der Mutterboden allen Bewusstseins ist. Sie ist auch die Quelle aller religiösen Aussagen, womit sich der Kreis schließt.
Literatur Primärliteratur (Quellen) 1 Jaffé A (Hrsg.) (1972/73) Briefe. Erster Band 1906–1945 (1972); Zweiter Band 1946–1955 (1972); Dritter Band 1956–1961 (1973 mit Nachtrag neu aufgefundener Briefe). In Zusammenarbeit mit Adler G, London. Walter, Olten Freiburg
2 Jaffé A (Hrsg.) (1971) Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G. Jung. Walter, Olten 3 Jung CG (1937) Psychologie und Religion. Die Terry Lectures. GW 11/1. Gehalten an der Yale University. Zürich 1940. Ursprünglich englisch geschrieben und 1938 publiziert, vorgetragen als 15. Reihe von »Lectures on religion in the light of science and philosophy«, Yale University, New Haven, Connecticut). 4 Jung CG (1940/41) Versuch einer psychologischen Deutung des Trinitätsdogmas. GW 11/2. Zuerst: Zur Psychologie der Trinitätsidee. Eranos Jahrbuch 1940/41. Auch als Vortrag gehalten im Psychologischen Club Zürich, 1940. Dann: Symbolik des Geistes. Zürich 1948 5 Jung CG (1941) Das Wandlungssymbol in der Messe. GW 11/3. Zuerst: Als Vortrag gehalten im Psychologischen Club Zürich, 1941 und an Eranos Tagung Ascona. Eranos Jahrbuch 1940/41. Dann von den Wurzeln des Bewusstseins. Studien über den Archetypus, Zürich 1954 6 Jung CG (1952) Antwort auf Hiob. GW 11/9. Zürich 1952, 1953, 1961, 1967 7 Jung CG (1995) Über die Beziehung der Psychotherapie zur Seelsorge, GW 11/7, 488–538. Psychoanalyse und Seelsorge. GW 11/8, 539–552 8 Jung CG (1939) Das tibetische Buch der großen Befreiung. Erstmals auf englisch erschienen in: The Tibetan book of the Great Liberation, W.Y. Evans-Wentz (Hrsg.) 1954. Deutsch: Zürich, 1955, 21957 9 Jung CG (1958) Gut und Böse in der analytischen Psychologie. GW 10, 858–886. Diskussionsbeitrag in der Wochenendtagung »Arzt und Seelsorger« Herbst 1958, veröffentlicht in: Gut und Böse in der Psychotherapie (1959), Stuttgart 10 Jung CG (1995) Einleitung in die religionspsychologische Problematik der Alchemie. GW 12/I, 1–43. Die Erlösungsvorstellungen in der Alchemie. GW 12/III, 332–554 11 Jung CG (1986) C.G. Jung im Gespräch: Interviews, Reden, Begegnungen. Hrsg. von Hinshaw R, Fischli L S. 267–268. Daimon, Zürich (C.G. Jung‘s historic face to face interview with Freeman J for BBC 1959, S. 264–280) Sekundärliteratur 12 Evans-Wentz WY (Hrsg.) (1955) Das tibetische Buch der großen Befreiung, 1939. (Original: The Tibetan book of the Great Liberation, 1954). Zürich 13 Neumann E (1949) Tiefenpsychologie und Neue Ethik. Zürich 14 Thödol B (1955) Das tibetanische Totenbuch. In: EvansWentz WY (Hrsg.) Das tibetische Buch der großen Befreiung. Zürich
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Das Schöpferische 41.1
Stufen der Bewusstwerdung – 584 Literatur – 587
A. Ribi, Neurose – an der Grenze zwischen krank und gesund, DOI 10.1007/978-3-642-16148-3_41, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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578
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Kapitel 41 • Das Schöpferische
In der analytischen Psychologie ist so oft die Rede von der Natur. Den Alchemisten schon war die Natur die Führerin in ihrem opus. Und der Individuationsprozess ist ein natürlicher Schöpfungsprozess und – si parva licet comparare magni – parallel der Evolution; beide streben einem unbekannten Ziel zu.
» Der (nur) natürliche Mensch ist kein Selbst, sondern Massenpartikel und Masse, ein Kollektivum bis zu dem Grade, dass er seines Ich nicht einmal sicher ist. (12, 104)
«
» Der Untergrund der Seele ist Natur, und Natur ist schöpferisches Leben. (10, 187) «
Der »natürliche« Mensch wird heute so gepriesen, weil er so natürlich lebt, sich mit Bio-Produkten ernährt und sich in jeder Hinsicht natürlich trimmt. Doch ist er deswegen kein Vorbild, sondern ahmt nur nach, was alle machen.
» Aus Bedürfnissen und Nöten entstehen neue
» Die Natur darf das Spiel nicht gewinnen; aber
Daseinsformen, und nicht aus idealen Forderungen oder bloßen Wünschen. (10, 190)
sie kann es nicht verlieren. Und wenn immer sich das Bewusstsein auf bestimmte, allzu scharf umrissene Begriffe festlegt und sich in selbstgewählten Regeln und Gesetzen fängt – was unvermeidlich ist und zum Wesen eines kultürlichen Bewusstsein gehört –, dann tritt die Natur mit ihren unumgänglichen Forderungen hervor. […] Das Bewusstsein kann sich bekanntlich ebenso wohl in die Natürlichkeit wie in die Geistigkeit verirren, was eine logische Folge der relativen Freiheit desselben ist. (13, 229)
«
Im Verlauf unserer ganzen Erörterungen sind wir wiederholt auf die Tatsache gestoßen, dass Leben Bewegung und Veränderung bedeutet.
»
Das Geheimnis ist, dass nur das Leben hat, was sich auch selber wiederum aufheben kann. (12, 93)
«
«
Dass sich das Leben selber wieder aufhebt, macht die Dynamik aus. Es ist jedoch ein schmerzliches Loslassen dessen, wessen man glaubt, endlich habhaft geworden zu sein. So ist das Leben paradoxerweise zugleich Gewinn und Verlust.
» Nicht dass das Leben an und für sich geschieht, sondern dass es auch gewusst werde, das ist wirkliches Leben. (12, 105)
«
> Das Entstehen eines Bewusstseins ist das eigentliche Wunder der Menschwerdung.
» Jeder Akt der Bewusstwerdung ist ein Schöpferakt. (12, 30) « Alle Schöpfungsgeschichten erzählen eigentlich das Wunder der Bewusstwerdung.
Der Mensch steht immer zwischen den beiden Polen von Natur und Geist. Er soll sich keinem der beiden einseitig verschreiben.
» Der natürliche und einzige Lebensträger ist das Individuum, und das gilt in der ganzen Natur. (16, 224)
«
Gerade in unserer Zeit ist das Individuum wegen der Übervölkerung bedroht, in der Masse unterzugehen. Es wird zur bloßen Zähleinheit degradiert, während man von den großen Zahlen fasziniert ist.
» Die großen Ereignisse der Weltgeschichte sind, im Grunde genommen, von tiefster Belanglosigkeit. Wesentlich ist in letzter Linie nur das subjektive Leben des Einzelnen. Dieses allein macht Geschichte, in ihm allein finden alle gro-
579 Das Schöpferische
ßen Wandlungen zuerst statt, und alle Zukunft und alle Weltgeschichte stammen als ungeheure Summation doch zuletzt aus diesen verborgenen Quellen der Einzelnen. (10, 315)
Naturexperiment der Bewusstwerdung, das auch die getrenntesten Kulturen als gemeinsame Aufgabe verbindet. (13, 83)
«
«
Man müsste daher die ganze Weltgeschichte neu schreiben, bloß sind diese innersten, subjektivsten, privatesten Quellen nirgends aufgezeichnet, weil sich nie jemand dafür interessierte. > Unsere westliche Kultur hat das Individuum aus einer extravertierten Mentalität heraus in sträflichster Weise vernachlässigt.
» Die Natur ist aristokratisch, und ein wertvoller Mensch wiegt zehn andere auf. (7, 236) « Das könnte leicht falsch verstanden werden. Aber es ist eine Tatsache, dass das kollektive Bewusstsein immer nur von einzelnen überragenden Individuen erweitert wurde.
» Da große Neuigkeiten immer in der unwahrscheinlichsten Ecke anfangen, so könnte z. B. die Tatsache, dass man sich heute seiner Nacktheit längst nicht mehr so schämt wie früher, einen Anfang zur Anerkennung des Soseins bedeuten. […] Die moralische Selbstenthüllung bedeutet nur einen Schritt mehr in derselben Richtung, und schon steht einer in der Wirklichkeit, wie er ist, und bekennt sich zu sich selbst. […] Äußerliches Gesetz wird im Laufe der Entwicklung zu innerer Gesinnung. So könnte es gerade dem protestantischen Menschen leicht geschehen, dass die im historischen Raume außen befindliche Person Jesu zum höheren Menschen [Anthropos] in ihm selbst werden könnte. (13, 81)
«
» Es ist die alten Kulturmenschen gemeinsame Atmosphäre des Leidens, Suchens und Strebens, es ist das der Menschheit auferlegte, ungeheure
41
Die Betonung des Wertes des Individuums bedeutet nicht eine Verzettelung, denn in jedem von uns west auch die ganze Menschheit. Und obwohl wir es nicht bewusst wissen, sind wir als Einzelne mit ihr stets verbunden. In einem früheren Brief vom 10.I.1929 an Kurt Plachte schreibt Jung:
» Symbol ist für mich der sinnlich wahrnehmbare Ausdruck für ein innerliches Erlebnis. Das religiöse Erlebnis drängt nach Ausdruck und kann nur »symbolisch« ausgedrückt werden, da es den Verstand übersteigt. Es muss so oder so ausgedrückt werden, denn darin offenbart es seine ihm innewohnende Lebenskraft. Es will ins sichtbare Leben übertreten, konkrete Gestalt gewinnen. […] Ich bin tatsächlich überzeugt, dass schöpferische Einbildungskraft das uns einzig zugängliche Urphänomen ist, der eigentliche seelische Wesensgrund, die einzige unmittelbare Wirklichkeit. Daher spreche ich von »esse in anima«, dem einzigen Sein, das wir unmittelbar erfahren können. […] Alle andern Wirklichkeiten sind daraus abgeleitet und indirekt erschlossen, sogar mit Kunsthilfe, genannt Naturwissenschaft. ([1] I S. 85–86)
«
Die Tiefenpsychologie gehört in der Tat zur Naturwissenschaft, aber nicht nur! Das ist das Handicap der medizinischen Psychologie, dass sie ihr Gesichtsfeld nur auf die Biologie eingeengt hat.
» Man kann das Wesen der Seele nicht aus den Prinzipien anderer Wissenschaften ableiten, sonst vergewaltigt man die eigentümliche Natur des Psychischen. […] Die Phänomenologie der Seele erschöpft sich darum nicht mit naturwissenschaftlich erfassbaren Tatsachen, sondern
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Kapitel 41 • Das Schöpferische
begreift auch das Problem des menschlichen Geistes in sich, welcher der Vater aller Wissenschaften ist. (16, 22)
der Phantasie werden die »Urbilder« sichtbar, und hier findet der Begriff des Archetypus seine spezifische Anwendung. (9/I, 153)
Es gibt natürlich Stimmen, die meinen, nur die Naturwissenschaft sei eine exakte Wissenschaft mit statistisch beweisbaren Resultaten.
Wir sollten nicht vergessen, dass das Unbewusste der Mutterboden jeglicher Phantasietätigkeit ist.
«
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» Die medizinische Psychologie hat erkannt, dass die entscheidenden Tatbestände außerordentlich kompliziert sind und nur durch kasuistische Beschreibung erfasst werden können. […] Jede Naturwissenschaft ist da, wo sie nicht mehr experimentell vorgehen kann, beschreibend, ohne damit aufzuhören, wissenschaftlich zu sein. (9/I, 113)
«
» Bei der schöpferischen Phantasie handelt es sich um einen Vorgang, bei dem psychische Inhalte aus dem Bereich des Unbewussten ins Bewusstsein dringen. Es sind Eingebungen, also etwas, das sich dem bedächtigen Denkprozess des Bewusstseins in keiner Weise vergleichen lässt. So kann das Unbewusste als schöpferischer Faktor betrachtet werden, sogar als kühner Neuerer, doch ist es zugleich eine Hochburg des Konservatismus. (7, 62)
«
Wie ich früher ausgeführt habe, wird die analytische Psychologie in den Lehrbüchern sehr zu Unrecht unter der philosophischen Richtung aufgeführt. Als Erfahrungswissenschaft ist sie eindeutig den Naturwissenschaften zuzuordnen.
» Die dem wissenschaftlichen Standpunkt gebührende erkenntnistheoretische Beschränkung bringt es mit sich, dass die religiöse Gestalt wesentlich als ein psychologischer Faktor erscheint. […] Das Unbewusste ist Natur, welche nie täuscht: nur wir täuschen uns. (5, 95)
«
Als Naturwissenschaft hat es die Psychologie bei religiösen Aussagen – wie übrigens bei allen anderen Aussagen der Seele – nie mit der Frage nach wahr oder unwahr zu tun, sondern mit der Frage nach dem Sinn der Aussage. Das ist ein völlig anderer Zugang zum Religiösen, was die wenigsten Theologen verstehen.
»
«
Da alles Psychische präformiert ist, so sind es auch dessen einzelne Funktionen, insbesondere jene, welche unmittelbar aus unbewussten Bereitschaften hervorgehen. Dazu gehört vor allem die schöpferische Phantasie. In den Produkten
Man sollte nicht vergessen, dass das Bewusstsein ein Abkömmling des Unbewussten ist. Dieses ist stets der größere Kreis, der den kleineren füttert.
» Jeder schöpferische Mensch weiß, dass Unwillkürlichkeit die wesentliche Eigenschaft des schöpferischen Gedankens ist. (7, 292)
«
Jedermann ist selbstverständlich davon überzeugt, der Urheber seiner Gedanken zu sein. Das ist naiv. Denn wenn man etwas genauer hinschaut, bemerkt man, dass Gedanken sich aufdrängen, völlig außerhalb des aktuellen Kontextes auftreten, wie ein »Blitz aus heiterem Himmel« kommen (Ein-fall), unterschwellig nebenherlaufen etc. Das sind Merkmale für ihre Autonomie. Es kann gar noch schlimmer kommen, wenn ein unbewusster Inhalt konstelliert ist.
» Das ungeborene Werk in der Seele des Künstlers ist eine Naturkraft, die entweder mit tyrannischer Gewalt oder mit jener subtilen List des Naturzweckes sich durchsetzt, unbekümmert um das persönliche Wohl und Wehe des Menschen, welcher der Träger des Schöpferischen ist. (15, 115)
«
581 Das Schöpferische
41
Es gibt unzählige Beispiele, in denen der schöpferische Dämon den Menschen rücksichtslos als Werkzeug benutzt, um sich zu gestalten. Jung unterscheidet, wie ich in 7 Kap. 30 (Typologie) anhand von Freud und Adler ausgeführt habe, zwischen der schöpferischen Seite der Persönlichkeit und der gewöhnlichen. Beide können sehr auseinanderklaffen, meist auf Kosten der Alltagspersönlichkeit. Das ist wiederum ein Beispiel dafür, wie aristokratisch die Natur ist. So kann sich der schöpferische Dämon auf Kosten der Gesundheit einer Person verwirklichen, weil die Bedeutung der Person auf der Seite des Schöpferischen liegt, unbekümmert darum, ob sie ein glückliches oder eher unglückliches Leben führte.
Diese Paradoxie des Unbewussten ist geeignet, manchen schon beim ersten Kontakt damit in die Flucht zu schlagen. Paradoxes Denken, die Gegensätze zusammenzusehen, ist nicht die Sache von Gefühlstypen, weshalb diese die analytische Psychologie oft nicht verstehen. Dabei ist das die am meisten differenzierte Form des Denkens und C.G. Jung in ausgesprochenem Maße eigen.
» Das Geheimnis des Schöpferischen ist, wie das
» … es ja schließlich kein Gutes gibt, aus dem
der Freiheit des Willens, ein transzendentes Problem, welches die Psychologie nicht beantworten, sondern nur beschreiben kann. (15, 155)
nichts Übles, und kein Übel, aus dem nicht Gutes hervorgehen könnte. (12, 36)
» Die Paradoxie gehört sonderbarerweise zum höchsten geistigen Gut, […] denn nur das Paradox vermag die Fülle des Lebens annähernd zu fassen. (12, 18)
«
Das zeigt sich schon daran, dass
«
«
Das Schöpferische ist ein unergründliches Geheimnis, viel abgründiger als wir uns je vorstellen können. Wie »weiß« das Unbewusste die Struktur des Benzolringes (Kékulé), die Lösung mathematischer Probleme (Poincaré) und von vielem anderen weniger Spektakulärem? Es »weiß« es und teilt sich dem Menschen mit, der es ausgestalten muss. Mozart schreibt in einem Brief an seinen Vater Leopold, dass er jeweils eine neue Symphonie in einem Punkt zusammengefasst höre und sie nur noch ausschreiben müsse.
» Die Inhalte des Unbewussten sind samt und sonders paradox oder antinomisch in sich selber, die Kategorie des Seins nicht ausgenommen. (9/I, 419)
«
» Irgendwo ist der Starke schwach, der Gescheite dumm, der Gute schlecht usw. und das Umgekehrte ist auch wahr. (9/I, 430)
«
Die Paradoxie liegt eben der Enantiodromie zugrunde, weil die Gegensätze heimlich identisch sind, denn sie verdanken ihre Existenz der Unterscheidungsfunktion des Bewusstseins, das sie auseinanderreißt.
» Wenn eine den Geist verherrlichende Religion zu schwinden beginnt, wird dafür ein Urbild des schöpferischen Stoffes im inneren Erlebnis bewusst. (15, 13)
«
Das ist, was wir heute mit der christlichen Religion erleben. Ihre Geistigkeit wird nicht mehr verstanden, Christus als Symbol des Anthropos wird ins Persönliche gewandelt und ein kruder Materialismus greift immer mehr um sich. Jede Einseitigkeit läuft Gefahr, sich ins Gegenteil zu wenden. Das ist ein spontaner kompensatorischer Prozess im Unbewussten.
» Ideen, die von einer größeren Gefolgschaft gebilligt werden, gehören nicht einmal ihrem sogenannten Schöpfer zu eigen, vielmehr ist
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Kapitel 41 • Das Schöpferische
er selber ein Höriger seiner Idee. Ergreifende, sogenannte wahre Ideen haben etwas Sonderliches an sich; sie entstammen einer Zeitlosigkeit, einem Immer-Dagewesensein, einem mütterlichen, seelischen Urgrunde, aus dem der ephemere Geist des einzelnen Menschen emporwächst wie eine Pflanze, die Blüten trägt, Frucht bringt und Samen, dahinwelkt und stirbt. Ideen entstammen einem Größeren als dem persönlichen Menschen. Nicht wir machen sie, sondern wir sind durch sie gemacht. (4, 769)
«
Dieses Zitat stammt aus einem 1929 geschriebenen Aufsatz »Der Gegensatz Freud und Jung«. Man spürt, wie sich das Konzept der archetypischen Idee und des Rhizoms zu bilden beginnen, aber noch nicht verfügbar sind. Die archetypische Welt transzendiert den engen Kreis des Bewusstseins und damit auch der Naturwissenschaft im engeren Sinne.
» Während sich der naturwissenschaftliche Standpunkt bestrebt, auf Grund sorgfältiger Empirie die Natur aus sich selbst zu erklären, setzt sich die hermetische Philosophie zum Ziele, eine die Psyche miteinbegreifende Beschreibung und Erklärung, das heißt eine ganzheitliche Anschauung der Natur herzustellen. […] Der hermetische Philosoph […] ist vom Objekt noch nicht dermaßen in Anspruch genommen, dass er die fühlbare Gegenwart seiner psychischen Voraussetzungen in Gestalt der als real empfundenen ewigen Ideen außer acht lassen könnte [wie der nominalistische Naturwissenschaftler]. (13, 378)
«
Im Grunde ist die hermetische Einstellung primitiver, die naturwissenschaftliche dagegen moderner.
»
Ich möchte bemerken, dass ich den Begriff »primitiv« im Sinne von »ursprünglich« gebrauche, und damit nicht etwa ein Werturteil meine. (8, 218)
«
Aber der primitive Standpunkt ist ganzheitlicher, denn er bezieht die psychischen Voraussetzungen mit ein. Unsere modernen Naturwissenschaften konnten darum einen gewaltigen Aufschwung nehmen, weil sie den psychischen »Ballast« über Bord geworfen haben. Das wird sich jedoch auf lange Sicht gesehen rächen, denn es ist nicht ganzheitlich. > Der subjektive Faktor gehört als persönliche Voraussetzung zu jeder wissenschaftlichen Aussage dazu.
» Der Primitive hat, bei einem Minimum an Selbstbesinnung, ein Maximum an Bezogenheit aufs Objekt, das sogar einen direkt magischen Zwang auf ihn ausüben kann. (8, 516)
«
Der moderne Wissenschaftler ist in dieser Hinsicht wie der Primitive: er ist vom Objekt derart fasziniert und dringt mit Akribie in immer größere Tiefen vor, dass er sich selber und seine psychischen Voraussetzungen völlig vergisst. Erst die moderne Physik hat sie ihm wieder in Erinnerung gerufen, indem dort der Beobachter wieder eine Rolle spielt. Im Brief vom 26.V.1923 an Oskar A. H. Schmitz schreibt Jung:
» Die germanische Rasse war, als sie vorgestern mit dem römischen Christentum zusammenstieß, noch im Ausgangszustand der Polydämonie mit Ansätzen zum Polytheismus. Es bestand aber noch kein richtiges Priestertum und kein richtiger Kult. Wie die Wotanseichen, so wurden die Götter gefällt, und auf die Stümpfe wurde das inkongruente Christentum, entstanden aus einem Monotheismus auf weit höherer Kulturebene, aufgepfropft. Der germanische Mensch leidet an dieser Verkrüppelung. Ich habe gute Gründe zur Annahme, dass jeder Schritt über das Gegenwärtige hinaus dort unten bei den abgehauenen Naturdämonen anzusetzen hat. Das heißt, es ist ein ganzes Stück Primitivität
583 Das Schöpferische
nachzuholen. […] Es ist unmöglich, von unserem heutigen Kulturstand direkt weiter zu gehen, wenn wir nicht aus unseren primitiven Wurzeln Kraftzuschüsse erhalten. Diese letzteren erhalten wir nur, wenn wir hinter unsere gegenwärtige Kulturstufe in gewissem Sinne zurückgehen, um dem unterdrückten Primitiven in uns eine Gelegenheit zu geben, sich zu entwickeln. ([1] I, S. 61)
«
Diese primitive unterdrückte Seite ist, wie wir wissen, in der Zwischenzeit ausgebrochen, weil sie mit dem modernen Kultürlichen nicht verbunden war. Ich habe diesen Brief jedoch nicht darum zitiert, sondern weil Primitivität durchaus nicht etwas Negatives zu sein braucht, sondern etwas Naturnahes, Unverfälschtes, Spontanes, Schöpferisches sein kann. Die Höherentwicklung setzt nicht beim schon Entwickelten an, sondern beim noch nicht Entwickelten. Viele Leute scheuen zurück, wenn sich bei ihnen Primitives manifestiert. Dabei liegen gerade darin die größten Möglichkeiten zur weiteren Entwicklung. Diese strebt nicht Vollkommenheit an, sondern Vollständigkeit.
»
Jenseits des Bewusstseins muss eine dem Individuum unbewusste Disposition von sozusagen universaler Verbreitung vorhanden sein, eine Disposition nämlich, die zu allen Zeiten und an allen Orten im Prinzip die gleichen oder wenigstens sehr ähnliche Symbole zu produzieren vermag. […] Die Kenntnis vom gemeinsamen Ursprung der unbewusst präformierten Symbolik war uns ganz verloren gegangen. Um diese wieder an den Tag zu bringen, müssen wir alte Texte lesen und alte Kulturen erforschen, um dort das Verständnis dafür zu finden, was unsere Patienten uns heute zur Erläuterung ihrer seelischen Entwicklung bringen. Wenn wir etwas tiefer unter die Oberfläche der Seele dringen, stoßen wir auf historische Schichten, die nicht etwa toter Staub sind, sondern in jedem Menschen weiter wirken und leben. (9/I, 711)
«
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Das Ganzheitssymbol ist das Mandala, in welchem alle Gegensätze vereinigt sind, also auch das Primitive mit dem Modernen, wie das Helle mit dem Dunkeln und was der Gegensätze mehr sind. Das Mandala ist ein Höhepunkt und birgt die Gefahr der Stagnation in sich, wenn nicht die Gegensätze selber für Dynamik sorgen würden. Ich habe früher (7 Kap. 21) etwas über das Ziel der Individuation gesagt. Jetzt, nachdem wir einen weiten Weg gegangen sind, kann ich das durch die Aussagen der Alchemisten ergänzen. Diese waren nämlich »Materialisten« im positiven Sinn, indem sie die christliche Geistreligion durch die Erlösung des in der Materie gefangenen Geistes zu komplementieren trachteten. Das ist natürlich eine Wahrheit, welche sich nur noch symbolisch ausdrücken lässt. Es ist ihr berühmter »Stein, der kein Stein ist«, der »lapis philosophorum«, von dem sie die allerwidersprüchlichsten Aussagen machten. Die Widersprüchlichkeit ist ein Indiz dafür, dass es sich um etwas Irrationales, für das Bewusstsein kaum Fassbares handelt.
» Der Stein [lapis philosophorum] ist mehr als eine »Inkarnation« Gottes, er ist eine Konkretisierung, ein Stoffwerden, das bis in den anorganischen, dunkelsten Bereich der Materie hinunter reicht oder geradezu daraus entsteht, und zwar aus jenem Teil der Gottheit, der sich in Widerspruch zum Schöpfer gesetzt hat, weil er, wie sich die Basilidianer ausdrückten, in der Panspermia (Allbesamung) latent verharrte als ein bildnerisches Prinzip der Kristalle, der Metalle und der Lebewesen. Dabei waren auch Gebiete einbegriffen, wie der ignis gehennalis (Höllenfeuer), die dem Bereiche des Teufels zugehören. Der trizephale serpens mercurialis ist sogar eine der göttlichen Trinität gegenüberstehende Dreieinigkeit im Stoff (die sogenannte »untere Triade«). (14/II, 309)
«
Basilides war ein im zweiten Jahrhundert leben-
der Gnostiker, wohl der bedeutendste Theologe
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Kapitel 41 • Das Schöpferische
unter den Gnostikern. Jung spielt hier auf eine Stelle bei Hippolytus: Refutatio omnium haereses VII, 27, 12 an, wo es vom System des Basilides heißt, er habe eine dreifache Sohnschaft angenommen: Der erste »Sohn« Gottes ist von feinstofflicher Beschaffenheit und bleibt beim Vater. Psychologisch dürfte das dem Geist des Menschen entsprechen. Der zweite Sohn ist von gröberer Natur, erhält aber Flügel wie die Seele bei Plato und die dritte Sohnschaft bedarf der Reinigung und fällt zutiefst in die »Formlosigkeit« (9/II, 118). Diese entbehrt des Lichtes, ist schwer, dunkel und unrein wie der Körper, enthält aber den göttlichen Keim in unbewusster Gestaltlosigkeit.
befangen noch im Materialismus des vorangegangen Jahrhunderts. Der Positivismus allein war ihr Hindernis, das ihnen eine religiöse Haltung zu den Problemen verunmöglichte, mittels welcher sie die wahre Dimension hätten erahnen können. Hierin liegt die große schöpferische Aufgabe für die Zukunft, die in der Materie gefangene Weltseele zu befreien. Die Befreiung besteht zunächst darin, dass man sich aus der archaischen Identität mit der Materie löst und sie als ein eigenständiges Gegenüber anerkennt. Die Materie scheint uns nur deshalb tot, weil wir mit ihr noch in einer »participation mystique« leben. Wir achten sie nicht, sondern beuten sie bloß aus.
» Dieser Keim wird von Jesus gleichsam geweckt, gereinigt und zum Aufsteigen befähigt. (9/II, 118)
«
Jesus stellte als Vorbild den inneren geistigen Menschen (»ésó ánthrópos pneumatikós«) dar, der den im Dunkeln des Körpers harrenden Teil des Menschen und der Menschheit erweckt.
41.1
Damit das Gesagte verständlich wird, muss ich etwas über die Stufen der Bewusstwerdung sagen (12, 248): z
» Dieses Bild der dritten Sohnschaft hat eine gewisse Analogie mit dem mittelalterlichen filius philosophorum und dem filius macrocosmi, der ebenfalls die im Stoffe schlafende Weltseele darstellt. […] Das heißt nichts anderes, als dass vom Stoffe eine beträchtliche Numinosität ausgesagt wird, worin ich eine Vorausnahme jener »mystischen« Bedeutung der Materie erblicke, welche dann in der Alchemie und – last but not least – in der Naturwissenschaft erscheint. (9/II, 120)
«
Damit verstehen wir den heute grassierenden Materialismus besser: er stellt die Numinosität und Faszination der im Körperlichen und Stofflichen gebundenen Weltseele dar, welche danach ruft und sich sehnt, erlöst zu werden. Es ist darum vielleicht nicht zufällig, dass die Pioniere der Tiefenpsychologie, Freud und Adler, sich vor allem den körperlichen Störungen zuwandten,
Stufen der Bewusstwerdung
Archaische Identität oder »participation mystique«
Solange der Mensch auf dieser Stufe steht, gibt es keine Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt; er ist mit seiner Umgebung identisch. Das ist die typische Mentalität des Angehörigen eines Naturvolkes. Dieser erlebt seine Seele nicht inwendig, sondern außen. Darum ist ihm die ganze Umwelt belebt (Animismus). Das ist nicht nur beim Primitiven so, sondern auch wir leben in unabsehbarem Maße noch so: wir können das Ausmaß nicht abschätzen, weil wir in völliger Identität mit den Dingen uns dessen überhaupt nicht bewusst sind. Lediglich wenn wir sagen: »Ich hänge so an …«, sollte uns auffallen, dass wir uns von diesem Gegenstand oder dieser Person nicht unterscheiden, sondern sozusagen wie siamesische Zwillinge damit zusammengewachsen sind. Es fällt uns darum schwer, das loszu-
585 41.1 • Stufen der Bewusstwerdung
lassen, denn es ist wie der gute Kamerad, »ein Stück von mir«. Diese Mentalität ist uns gar nicht so fremd, wenn man einmal begriffen hat, worum es geht. Man lebt mit seinen nächsten Angehörigen in archaischer Identität, mit Vater und Mutter, mit seinen Kindern, aber auch mit seinem Partner und glaubt – und das ist das Paradox – sie bestens zu kennen. Dabei kann man etwas, mit dem man identisch ist, gar nicht kennen. Das ist der Grund, weshalb man gewisse Fehler bei den eigenen Kindern gar nicht sieht (z. B. körperliche Behinderungen), dafür glaubt man Fehler dort zu sehen, wo gar keine sind. Ganz verheerend wirkt sich das in Beziehungen aus, weil man überzeugt ist, den anderen genau zu kennen und nicht merkt, dass man ziemlich blind herumtappt. Man kann eben seinen Zustand in dieser Phase gar nicht erkennen. Diese Phase ist so lange uneinsehbar, wie sich die Umgebung den Erwartungen gemäß verhält. So lange ist die Welt noch heil! Wenn Diskrepanzen zwischen Erwartung und äußerer Wirklichkeit auftreten, ist sie nicht mehr heil, denn jetzt tritt ein Konflikt auf zwischen den beiden. z
Projektion
Von einer Projektion, der nächsten Stufe, kann man erst reden, wenn sich die Wirklichkeit nicht mehr erwartungsgemäß verhält. Zuerst meint man natürlich, der Fehler läge bei der anderen Person, was der häufigste Grund ehelicher Schwierigkeiten ist. Doch auch die meisten Probleme in anderen zwischenmenschlichen Beziehungen beruhen auf Projektionen. Jemand mit einem negativen Elternkomplex ist höchst erstaunt, wenn ich auf seine enttäuschte Erwartung hinweise: »aber das kann man doch von einem Vater oder einer Mutter erwarten«, ruft er ganz naiv und unschuldig aus. Dabei merkt er nicht, dass jede Erwartung vom Subjekt ausgeht und zunächst gar nichts mit dem Objekt zu tun hat. Sie beweist lediglich, dass das Subjekt das Objekt verkannt hat. Daher rate ich zerstrittenen
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Paaren, den andern als die »große Unbekannte« anzusehen, auch wenn man nach jahrzehntelanger Ehe glaubt, den Partner »in- und auswendig« zu kennen. Dieser Glaube ist ja eben der Grund für die Erwartung. Der Konflikt zwischen äußerer Realität und unerfüllter Erwartung hat das Positive, dass die Projektion jetzt zurückgezogen werden kann. Das ist eine außerordentlich schmerzhafte Prozedur, weil ich alle meine Illusionen aufgeben muss. Es war doch so viel einfacher, alles Schöne und alles Böse vom Mitmenschen zu erwarten und ihn dafür verantwortlich zu machen. Jetzt bin ich dafür selber verantwortlich. Das ist aber zugleich eine Bereicherung der Persönlichkeit, indem Inhalte, welche man in der Umwelt glaubte gefunden zu haben, im Subjekt selber zu suchen und zu finden sind. Man projiziert nie etwas, das nicht in einem selbst vorhanden wäre. Aber auch der Haken, an welchem eine Projektion aufgehängt wird, ist wichtig: Etwas im Objekt ist der Projektion entgegengekommen, eine der Erwartung angemessene Eigenschaft des Objektes hat die Erwartung angelockt. Die Rücknahme der Projektion ist erst abgeschlossen, wenn auch das erkannt ist. Damit sind Subjekt und Objekt säuberlich gesondert und die Voraussetzung jeglicher Erkenntnis geschaffen. Vorher ist keine Erkenntnis möglich. Die Rücknahme der Projektion löst diese, wie jetzt klar geworden sein sollte, nicht in »Luft« auf. Der psychische Inhalt bleibt erhalten, bloß wird er ins Subjekt zurückgenommen, von wo er ausgegangen ist. Projektion ist nicht, wie das Wort suggerieren könnte, ein bewusster, sondern ein völlig unbewusster Vorgang, der unbemerkt verläuft: man findet die Projektion vor. Soll ein psychischer Inhalt integriert werden, so stellt sich stets die Frage der Wertung des psychischen Inhalts, der Qualität in moralischer Hinsicht von gut und böse, annehmbar oder unannehmbar. Um einen Inhalt in das System der bereits vorhandenen einordnen zu können, muss er vom Gefühl auf seinen Wert geprüft werden.
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Kapitel 41 • Das Schöpferische
Die Objekte werden so differenziert. Es ist möglich, dass dabei Inhalte gefunden werden, welche keineswegs ins System zu passen scheinen und a limine verworfen werden. Das ergibt eine eigenartige Mentalität, welche vom Spektrum der Wirklichkeit nur einen bestimmten Sektor gelten lässt: z
Aufklärung
Die Stufe der Aufklärung verwirft alles Irrationale, was nicht in ihren rationalen Rahmen passt. Dazu gehört z. B. die objektive Existenz eines »Geistes«. Die modernen Naturwissenschaften stecken noch weitgehend in dieser Mentalität: Was nicht experimentell reproduziert werden kann, existiert nicht (z. B. Zufälle). Etwas muss seine Existenz durch die Statistik beweisen, sonst ist es nicht gültig. Parapsychologische Phänomene existieren nur insofern sie sich unter objektiver Beobachtung wiederholen lassen. Der Positivismus ist damit verschwistert, nämlich die Überzeugung, dass sich alle Rätsel des Lebens früher oder später rational werden erklären lassen. Diese Haltung prägt noch einen Großteil der heutigen Menschheit. Und da werden die abenteuerlichsten Erklärungen konstruiert, nur weil man das Irrationale nicht gelten lassen will. Aus diesem Geist stammen viele Erklärungen Freuds, für den parapsychologische Phänomene zur »schwarzen Schlammflut des Okkultismus« gehörten, gegen welche man ein Bollwerk errichten musste ([2] S. 155). Wir können dem Irrationalen und Religiösen nie entrinnen. Wenn es in der einen Form geleugnet wird, erscheint es nur in einer anderen umso obsessiver. Freud hat die oberste Dominante seiner Väter, Jahwe, verleugnet und wurde darum vom dunklen unteren Gott, der Sexualität obsediert. Als Motto seiner 1900 erschienenen Traumdeutung wählte er aus Vergils »Aeneis« den Vers:
» Fléctere si nequéo superos, acherónta movébo (7, 312) (Wenn ich die oberen Götter nicht zu beugen vermag, werde ich dafür die unterirdischen bewegen.)
«
Freud hat damit mit hellseherischem Sinn die Aufgabe der Zukunft vorausgeahnt. Sein Unglück war nur, dass er keine religiöse Haltung dazu gefunden hat. Er glaubte sein Leben lang, dass auch die ihn faszinierende Sexualität schließlich als ein bloß physikochemisches Phänomen erklärt werden könne, so stark war seine Furcht vor dem Irrationalen. Jung musste erst diese Zusammenhänge verstehen, um Freuds Psychologie gerecht zu werden. z
Quintessenz
Die Aufklärung ist noch nicht die letzte Stufe der Erkenntnis, denn sie blendet ja Phänomene der Wirklichkeit noch aus, welche unbedingt für eine ganzheitliche Schau dazugehören. Auf der quintessentialischen Stufe wird auch einem sich aus dem Unbewussten hervordrängenden Phänomen Realität zuerkannt. Das umfasst nicht nur parapsychologische Phänomene, sondern alle schöpferischen Produkte des Unbewussten wie religiöse, künstlerische und antizipatorische, alle synchronistischen Phänomene wie Orakel, Astrologie, Horoskop, Alchemie, paramedizinische Methoden, alle intuitiven Methoden der Medizin und Psychotherapie, wie Handlesen etc., Gnosis und viele andere, das umfasst, last but not least, die Traumanalyse selber. Damit ist vorläufig und soweit absehbar ein ganzheitliches Bild der Wirklichkeit erreicht, in welchem alle Autonomien vereinigt sind wie rational – irrational, kausal – final, kausal – akausal (kontingent), Raum – Zeit, äußere – innere Wirklichkeit (subjektiver Faktor), begrenzt – unbegrenzt, irdisch – himmlisch, geistig – physisch (körperlich), materiell – immateriell, sterblich – unsterblich, oben – unten, horizontal – vertikal, real – irreal, einfach – komplex u.a.m.
587 Literatur
Der einzelne Mensch mag im Wesentlichen auf einer dieser Stufen stehen. Doch seine verschiedenen Funktionen können sich auf ganz verschiedenen Stufen befinden. Der sog. »moderne Mensch« ist noch längst nicht mit allen seinen psychischen Anteilen an vorderster Front angekommen. Seine inferiore Funktion verharrt noch auf der primitivsten Stufe. Das muss er sich eingestehen, denn erst von diesem Eingeständnis aus kann sie sich entwickeln. Dort befindet sich die dritte Sohnschaft in Formlosigkeit, welche das größte schöpferische Potenzial darstellt. Das ist die zukünftige Aufgabe der Menschheit. Die Entwicklung dieses schöpferischen Keimes wird vom Archetypus des Anthropos angestoßen, nicht etwa vom menschlichen Willen. Das heißt, das Bild des größeren, des göttlichen, kosmischen Menschen ist im Unbewussten konstelliert und möchte bewusst werden. Dieses umfasst alle Lebensbereiche [3]. Das bedeutet eine vollständige Neuorientierung, in welcher die bisherigen Werte eine Umwertung und die bisherige Perspektive eine Änderung erfahren. Heutige vereinzelte und verstreute Ansätze in diese Richtung werden zu einer einheitlichen neuen geistigen Ausrichtung im Sinne des »teleios anthropos« (vollständigen Menschen) zusammengefasst. Das bedeutet einen gewaltigen schöpferischen Aufbruch und eine ebensolche Veränderung unserer gesamten Lebenseinstellung. > Die Psychologie Jungs wird für die Menschen eine große Hilfe sein in den dunklen Zeiten des Zerfalls der bisherigen Werte, der Orientierungslosigkeit bis zur Dämmerung einer neuen Ordnung. Erst in dieser schwierigen Zeit, welche von vielen Abwegen bedroht ist, wird man ermessen und verstehen, was sie zu leisten vermag.
Heute stehen wir erst am Anfang dieser Entwicklung, und die Jungsche Psychologie hat noch längst nicht die ihr gebührende Anerken-
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nung gefunden. Doch die Zeit arbeitet in ihrem Sinne, wenn auch unsichtbar. Darum müssen wir das tun, was uns unser Gewissen aufträgt, ohne uns um Anerkennung oder Nichtanerkennung durch die Welt zu bekümmern. So lange wir schöpferisch sind und nicht einer Routine verfallen, sind wir auf dem richtigen Weg. Das Glücksgefühl, das mit dem schöpferischen Akt verbunden ist, stellt die wirkliche Belohnung dar.
Literatur Primärliteratur (Quellen) 1
2
Jaffé A (Hrsg.) (1972/73) Erster Band 1906–1945 (1972); Zweiter Band 1946–1955 (1972), Dritter Band 1956–1961 (1973 mit Nachtrag neu aufgefundener Briefe). In Zusammenarbeit mit Adler G, London. Walter, Olten Freiburg Jaffé A (Hrsg.) (1971) Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G. Jung. Walter, Olten
Sekundärliteratur 3
Ribi A (2002) Anthropos. Der ewige Mensch. Der ewige göttliche und kosmische Mensch in Geschichte, Politik und Tiefenpsychologie. Peter Lang, Bern
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Epilog
A. Ribi, Neurose – an der Grenze zwischen krank und gesund, DOI 10.1007/978-3-642-16148-3, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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Epilog
Wer dieses Buch von der ersten bis zur letzten Seite durchgearbeitet hat, hat Ausdauer und Sitzleder bewiesen, was zu bewundern ist. Ich kann diesem Leser nur gratulieren, dass er sich so viel Wissen und Zusammenhänge mit Bienenfleiß eingeheimst hat. Dennoch muss ich ihn darauf aufmerksam machen, dass er sich noch nicht brüsten kann, ein guter Psychotherapeut zu sein. Jung sagte in einem Seminar, man solle so viel Wissen wie möglich sammeln und dann vor dem Patienten alles wieder vergessen, um freien und offenen Sinnes das entgegenzunehmen, was er uns zu sagen hat. > Der Patient steht immer im Mittelpunkt, und er wird nicht nach einer Methode oder einer Theorie beurteilt. In diesem Sinn sind alle Theorien lediglich Orientierungshilfen. Wenn sie etwas taugen, sind sie auch bloß statistische Wahrheiten, welche aus einer großen Anzahl von Erfahrungen abstrahiert wurden.
Der individuelle Fall bildet stets die Ausnahme von der Regel. Nur so kann man dem einzelnen Fall gerecht werden. Das ist jedoch auch für den Therapeuten wichtig, damit er nie einer Routine verfällt. Auch wenn dieser auf eine lange große Erfahrung verweisen kann, ist sein nächster Fall doch für ihn eine nie dagewesene Überraschung. Zwar mögen sich gewisse typische Probleme wiederholen, doch der Mensch, der mit ihnen konfrontiert ist, ist immer wieder ein anderer. Jeder bringt seine je eigenen Voraussetzungen, seine eigene Begabung, sein eigenes Herkommen, seine eigene Weltanschauung, seinen eigenen Charakter und so fort, mit. Das macht den Beruf des Psychotherapeuten so spannend, so abwechslungsreich, aber auch so anspruchsvoll. Es ist der schönste Beruf, den es gibt, weil er den ganzen Menschen und den Kosmos dazu umfasst. Es ist aber auch der anspruchsvollste Beruf, weil die ganze Persönlichkeit des Therapeuten gefordert ist. Er kann sich weder durch seine Autorität noch durch sein Wissen, noch
durch irgendwelche akademischen Titel davor schützen, sich seinem Gegenüber zu stellen. Darum ist es auch der ehrlichste Beruf, wenn er sich auf gleicher Augenhöhe, von Angesicht zu Angesicht dem Patienten und seinem Problem gegenüber sieht. Oft schickt ihm nämlich das Schicksal genau jene Patienten, welche ein Problem haben, das den wunden Punkt des Therapeuten trifft. Wehe, wenn er dann Reißaus nimmt! Denn diese Koinzidenz ist sinnvoll, damit auch der Therapeut an seiner Aufgabe wächst. Dieser kann sich nämlich auch nie auf seinen Lorbeeren ausruhen, sondern muss, um auf der Höhe seiner Aufgabe und lebendig zu bleiben, sich ständig weiterentwickeln. > Der Therapeut hat nie ausgelernt; er steht nie über seiner Aufgabe.
Im konkreten Fall sollte er immer gerade das wissen, was er nicht weiß. Es ist daher nicht nur der schönste, sondern zugleich der forderndste Beruf. Es gibt heutzutage viele Therapeuten, welche eine Ausbildung nach der anderen und eine Fortbildung nach der anderen machen. Wenn das nicht aus einem echten Gefühl des Ungenügens, des Ständig-an-seiner-Grenze-Seins entspringt, bringt alles nichts, ist alles bloß das Erfüllen gesetzlicher Vorschriften. Darum ist es auch der leidvollste Beruf, weil man stets sein Ungenügen gespiegelt erhält. Ist eine Therapie erfolgreich, so stellt sich die Frage: wie viel ist es das Verdienst des Therapeuten und wie viel waren es die Umstände, wie die intelligente Mitarbeit des Patienten, die glückliche Zusammenarbeit, der gesunde Kern im Patienten, die Gnade Gottes (Deo concedente)? War die Therapie gescheitert, so stellen sich die Fragen: was hat der Therapeut falsch gemacht, wo muss er noch an sich arbeiten, wo stimmte die Übertragung nicht, war dieser Patient überhaupt für diesen Therapeuten gemeint, fanden sie auf gemeinsamer Wellenlänge zusammen, wo hat der Therapeut den Patienten nicht verstanden, war
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dieser überhaupt motiviert, gesund zu werden? Gerade aus Fällen, die misslungen sind, lernt der Therapeut oft am meisten, wenn er sich über das Misslingen Rechenschaft gibt. Das fordert den Therapeuten zur Ehrlichkeit zu sich selber und seinem Tun heraus. Da entscheidet sich, ob er eine integere Persönlichkeit ist oder nicht. Aus diesen Gründen lässt sich wissenschaftlich statistisch nicht ermitteln, ob eine therapeutische Methode wirksam ist, wie das heute von den Krankenkassen fälschlicherweise gefordert wird. Das könnte man nur, wenn Psychotherapie eine rationale Methode wäre, welche mittels einer rationalen Prüfung evaluiert werden könnte. Da jedoch Psychotherapie, selbst in der am stärksten standardisierten Methode, einen unmessbaren irrationalen Anteil hat (Placebo-Effekt), ist sie auch in Gänze nicht messbar. Jede zwischenmenschliche Intervention besteht nicht nur aus der objektiven Aktion, sondern in unabsehbarem Ausmaß auch aus dem subjektiven Faktor. Dieser ist nicht abschätzbar und nicht dem Willen untergeordnet. Er kann darum weder gemessen noch eliminiert werden. Dieser subjektive Faktor, der Einsatz und Persönlichkeit des Therapeuten, ist sogar viel wichtiger als jede Methode (7 Kap. 38). Der Anspruch, die Effizienz einer Therapiemethode erheben zu wollen, stammt aus dem naturwissenschaftlichen Denken der Medizin. Diese hat sich während Jahrhunderten und besonders in der letzten Vergangenheit krampfhaft bemüht, sich ein naturwissenschaftliches Fundament zu geben, allerdings nur mit mäßigem Erfolg. Denn die Heilkunst bleibt seit Hippokrates eine Kunst, die auch in unserer technisch-rationalen Zeit nicht messbar ist. Auch die Bestrebungen in der Psychotherapie, sie zu einer »modernen« rationalen Methode zu machen, sind zum Scheitern verurteilt, weil sie bloß eine seelenlose Psychologie hervorbringen. Somit liegt es in der Natur der Sache und im Umstand, dass weder Psychotherapie noch Medizin je »reine« Naturwissenschaft werden können. Gott behüte!
Es entstehen fortwährend neue Psychotherapien, so viele, dass sich der Laie darin gar nicht mehr zurechtfinden kann. Prüft man sie aber näher, so findet man, dass sie gar nichts Neues bringen, sondern längst bekannte Teilaspekte zum zentralen Prinzip erheben. Überblickt man die Geschichte der Psychotherapie, so kann man solchen »Neuigkeiten« mit der nötigen kritischen Distanz begegnen. Mir scheint der Umstand, dass ständig neue Therapiemethoden auf den Markt kommen, damit zu tun zu haben, dass man die wirkliche Auseinandersetzung mit dem Unbewussten so sehr scheut wie der Teufel das Weihwasser. Jede »neue« Methode gibt einem ein Alibi, um sich nicht dieser Auseinandersetzung stellen zu müssen. Man kennt dieses feige Verhalten schon von den Neurotikern her, welche »alles« tun, um sich vor der Konfrontation mit ihrem Problem zu drücken: Man hat mit Rauchen aufgehört, isst nur noch Bio-zertifizierte Nahrung, macht Jogging und Wellness, trinkt nur noch mäßig Alkohol, dafür viel Wasser, kurzum man lebt »gesund«, als ob die Neurose eine körperliche Krankheit wäre. Man scheut sich, dorthin zu schauen, wo die Ursache der Krankheit liegt. Dasselbe Verhalten weisen die vielen Psychologen auf, welche stets »neue« Methoden erproben. Sie finanzieren das Überangebot an Ausbildungsmöglichkeiten, die meist in kurzer Zeit einen Abschluss mit Diplom zu einem recht ansehnlichen Preis anbieten. Das Gewissen jedoch lässt sich auch nicht mit der größten Anzahl von Diplomen beruhigen, es flüstert einem mit zwar leiser, aber unüberhörbarer Eindringlichkeit zu, man habe sich vor der eigentlichen Aufgabe gedrückt. Das ist auch der Grund, weshalb die Jungsche Psychologie weltweit viel zu wenig zur Kenntnis genommen wird: Man kann sie nicht nur auswendig lernen, sie ist gleichzeitig eine Verpflichtung zur Wandlung seiner Einstellung und seiner Lebensführung. Das hat weitreichende Konsequenzen! Davor fürchtet man sich. Diese Psychologie kann man nur verstehen, wenn man sie lebt. Sie ist keine
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Epilog
Philosophie, über welche man disputieren kann. Man muss sich ihr »mit Haut und Haar« verschreiben oder die Finger davon lassen, sonst verbrennt man sich daran. Menschen, die nicht dafür geschaffen sind, sollen sich das eingestehen und davon fernbleiben. Für sie sind alle anderen Psychologien da. Dort finden diese ihre Berechtigung und ihren Sinn, um diese Menschen nicht in den Abgrund stürzen zu lassen. > Die Psychologie ist ein sehr gefährliches Metier, geht es doch um den Kern des Menschseins.
Wenn dieser berührt wird, ist es ähnlich wie mit dem Atom: Es kommt zu einer grauenhaften Zerstörung oder zu einer kontrollierbaren Energiegewinnung, welche unsere Zivilisation erst ermöglicht. Das ist die Schicksalsfrage, und deshalb ist die Hemmung vieler Leute verständlich, sich darauf einzulassen. Jung selber war nicht allzu optimistisch über die Zeitdauer, welche die Aufnahme seiner Psychologie bei den Menschen brauchen werde. Er wies daraufhin, dass es 500 Jahre gebraucht hat, bis Paracelsus von der Welt zur Kenntnis genommen wurde. Es sieht ganz danach aus, dass dieser Vergleich stimmen könnte. Darum braucht man sich über die geringe Akzeptanz der Jungschen Psychologie bei den Fachkollegen und an den Universitäten nicht zu ärgern. Es ist noch stets Pionierarbeit zu leisten und erst die Wenigen sind »auserwählt«. Als in einem Gespräch ein Pfarrer zu Jung sagte, mit der Einzelseelsorge käme er nirgends hin, er müsse zur Menge predigen (Medien!), antwortete ihm dieser: »Ja, wie hat denn das Christentum begonnen?« Es kommt auf den Einzelnen an. Wenn bei ihm etwas zündet in der Begegnung mit der Jungschen Psychologie, dann trägt er das Feuer weiter. Auch das Christentum breitete sich nur so aus, dass Einzelne ergriffen wurden, wie man in der Eingangsgeschichte von Justinus’ Dialog mit dem Juden Tryphon nachlesen kann. Das Christentum wurde weder von Universitä-
ten noch von Kaiserhöfen aus verbreitet, sondern aus dem Untergrund (Katakomben!). > Eine neue Wahrheit verbreitet sich nie über die offiziellen und lautesten Kanäle. Sie ist eine geistige Bewegung, welche dem Zeitgeist entgegensteht und diesen wandelt.
Doch das braucht gewaltige Zeiträume und eine Bewegung der Massen. Diese sind jedoch etwas vom Trägsten. Sie lassen sich zwar von archetypischen Ideen zur richtigen Zeit plötzlich mobilisieren. Meistens jedoch erlischt ein derartiges Feuer relativ schnell und zurück bleiben Millionen von Toten. Wirkliche Umwälzungen brauchen viel länger. Deshalb soll man nicht ungeduldig auf Erfolg schielen. Das ist eine gerade für unsere Zeit so beherzenswerte Maxime, wo man stets Aufwand gegen Nutzen abwägt. Der lange Zeitraum hat den Vorteil, dass Strohfeuer in ihm erlöschen und nur »the firetryed stone« Bestand hat, wie die Alchemisten sagen würden. »Ein Feuer auf die Erde zu bringen, bin ich gekommen, und wie sehr wünschte ich, es wäre schon entfacht! Mit einer Taufe aber muss ich getauft werden, und wie ist mir so bange, bis sie vollendet ist! Meint ihr, dass ich gekommen sei, Frieden auf der Erde zu schaffen? Nein, sage ich euch, sondern Entzweiung« (Luk. 12, 49–51). Aus eigener Erfahrung kann ich den Leser nur bestätigen, der Mühe bekundet, die Jungschen Schriften zu verstehen. Wie sollte auch das leicht verständlich sein, was vom tiefsten Geheimnis des Lebens handelt. Täte es das, und es gibt derartige Tendenzen zu »C.G. Jung light«, so könnte es nicht anders als oberflächlich sein. > Die Seele erschließt sich nur dem, der sich ihr mit Hingebung widmet – und nur ganz allmählich.
Das ist nicht verwunderlich, haben sich doch die besten Geister der Menschheit mit ihr auseinandergesetzt, ohne ihr Rätsel gelöst zu haben. Da
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muss man schon in eine andere Dimension vordringen, nämlich die religiöse. Paulus schreibt:
» Denn der Geist erforscht alles, auch die Tiefen Gottes. Denn wer von den Menschen weiß, was im Menschen ist, als nur der Geist des Menschen, der in ihm ist? So hat auch niemand erkannt, was in Gott ist, als nur der Geist Gottes. […] Ein natürlicher Mensch nimmt die Dinge, die des Geistes Gottes sind, nicht an; denn Torheit sind sie ihm, und er kann sie nicht erkennen, weil sie geistlich [=symbolisch] beurteilt werden müssen. Der Geistbegabte dagegen beurteilt zwar alles, er selbst aber wird von keinem beurteilt. (1. Kor. 2, 10–15)
«
Übersetzt heißt das, wer mit einer rationalen, nur naturwissenschaftlichen Einstellung an die Rätsel der Seele herangeht, wird sie nie verstehen, denn er ist bloß der natürliche, kreatürliche Mensch. Ihm fehlt die Taufe mit dem Feuer, welches ihn zum geistigen machen würde. Jung hat die Theologie aus ihrer verstaubten Studierstube befreit und ihr gezeigt, wo Religion in nuce geschieht. Er hat das Wort Tertullians dahin abgeändert, dass anima nicht naturaliter Christiana, sondern naturaliter religiosa sei (die Seele sei natürlicherweise religiös). Er beklagt, man habe ihm »Vergottung der Seele« vorgeworfen.
»
Nicht ich – Gott selbst hat sie vergottet! (12, 14)
«
Wer die religiöse, numinose Qualität der Seele nicht begreift, kommt an ihr Rätsel nicht heran. Und weil sie eben von dem Göttlichen zeugt, wird man sich scheuen, ihr Rätsel auflösen zu wollen. Das war noch die Einstellung der Aufklärung, welche glaubte, mit der Vernunft alle Welträtsel lösen zu können. Wir können nicht über unseren Kopf springen und müssen uns eingestehen, dass es Dinge gibt, für die wir zu klein sind. Wir
müssen unsere Beschränkung erkennen und ehrfürchtig staunen vor dem großen Mysterium der Seele. Dazu bedarf es einer religiösen Haltung, welche zwar die Grenzen respektiert, sich aber trotzdem nicht davon abhalten lässt, sich mit dem Unwissbaren auseinanderzusetzen. Das ist der Geist, der in die Tiefen Gottes vorzudringen sucht, ohne zu meinen, ihrer wirklich habhaft werden zu können. In diesem Sinne sollte die Jungsche Psychologie verstanden werden. Dazu braucht es eine menschliche Reife, welche das Leben bis zur Neige in allen seinen Dimensionen gekostet hat.
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Stichwortverzeichnis
A. Ribi, Neurose – an der Grenze zwischen krank und gesund, DOI 10.1007/978-3-642-16148-3, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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Stichwortverzeichnis
A Abbild 419, 420 Abgrenzung – Carl Gustav Jung zu Sigmund Freud und Alfred Adler 223 Abreaktion 224 Abstinenz 176 Affekt – eingeklemmter 224 Aggressionstrieb 184, 185, 194 Aktualkonflikt 474 Aktualneurose 101 Albtraum 521 Alchemie 36, 59, 60, 217, 242, 308, 344, 356, 362, 395, 458, 480, 544 Alchemist 33 Alchemisten 43, 60, 64, 320, 494, 578, 583 American nervousness 7 Neurasthenie 99 Amnesie – retrograde 66 Anatomie – pathologische 99 Angst 358 Angstneurose 197 Anima 290, 291, 295, 300, 301, 303, 304, 445, 497 Animafrau 484 Anima-Konzept 159 Animus 289, 291, 295, 305, 335 Anpassung 279 Antizipation – philosophische 110 Apperzeption 432 Äquivalenzprinzip 163, 257 Archaeus influus 34 Archaeus insit 34 Archetypen 32, 261 Archetypus 26, 45, 65, 75, 143, 277, 294, 302, 307, 319, 338, 350, 361, 363, 365, 366, 370, 373, 387, 406, 457, 483, 547 – Anima 300, 368 – Anthropos 561, 587 – Definition 362 – Funktion 369 – Große Mutter 334, 338 – Hierosgamos 555 – Kind 265 – Mutter 263, 368, 484 – Paarung 368 – Syzygie 479, 555 – Vater 484 Arterhaltung – Trieb zur 114
Assoziationsexperiment 230, 256, 442 Asthenie 46 Äther 35, 36, 42, 59 Aufklärung 47, 56, 315, 368, 372, 414, 586 Autismus – infantiler 168 Autoerotik 158 Autoerotismus 164 Autoerotisch 158 Autosuggestion 166
B Behandlung – synthetische 540 Behaviorismus 91 Beichte 54, 543 Belastungsstörung – posttraumatische 333 Beserkertum 133 Besessenheit 21 Bewusstes 387 Bewusstsein 31, 286, 319, 386, 391, 403, 423, 464, 466, 471, 578 – Entwicklungsprozess 314 – kollektives 394 – Schwelle des 102, 117 Bewusstseinsfeld 92, 95 – Einengung 142 Bewusstseinsschwelle 256, 259, 266 Bewusstwerdung 391 – Stufen 584 Bild 419, 420, 423, 447 Bilder – urtümliche 366 Borderline case 74 Böse – versus Gut 569 Burnout 482
C C.G. Jung-Institut 2 causa efficiens 7 Ursache, auslösende 14 causa instrumentalis 14, 19
D Dämmerzustand 128 Daseinsanalyse 33 Denken – paradoxes 30, 532 Denktypus 434, 441 Depression 20 – chronische 553 Dimension – religiöse 27, 563 Disposition 225, 229 – neurotische 192 – neurotische, Ursprung 201 Dissoziation 264, 270, 272, 334, 336 – der Persönlichkeit 260, 266 – neurotische 82 Drainage 144 Dynamismus 34
E Einfühlung 175 Einskontinuum 30 Eklektismus 46 Ektopsyche 433 Elektroenzephalographie 41 Elternbild 479 Elternimago 294, 295, 473, 479, 482 Elternkomplex 229 – negativer 585 Emanzipation 293 Emotion 21, 442 Empathie 560 Empfindung 490 Empfindungstypus 435, 439 Empirismus – radikaler 91 Enantiodromie 569, 581 Endopsyche 433 Energie 414 – psychische 162 Entfremdung – vom Ich 75 Entwicklungspsychologie 469 Erkenntniskritik 111 Eros 293, 308, 455, 457, 458, 553 – weiblicher 293 Erotik 293 Erregungslehre – nach Brown 46 Erwartungen 319 Erziehung 293 Es 160, 177 Evolutionstheorie, Darwin 280
597
Stichwortverzeichnis
Exorzismus 55, 56 Experimentalismus 91 Extraversion 430, 441 Extravertierter 321, 432, 435, 440, 466
Große Mutter 484 Gut – versus Böse 569
H F Faktor – subjektiver 432 Fiktionalismus 184, 186 Finalität 186, 228 Flegeljahre 472 Fluidum 57–60, 67, 76 Fremdkörper – Eindringen von 19 fringe of consciousness 92, 145 Frühe Schriften – Carl Gustav Jungs 224 Fühltypus 490 Füllhaltermethode 140 Funktion – mythopoietische 433 – transzendente 325, 385, 386, 519
G
Gebärmutterkrankheit 7 Hysterie 38 Gefühl 21, 441, 442, 490 Gegensätze – Problem 389 Gegensatzpaare 391 Gegensatzvereinigung 362 Gegenübertragung 232 Gegenwille 324 Geister 75 Geistheiler 93 Gemeinschaftsgefühl 182, 190 – unterentwickeltes 192 Geschlechter – Beziehung der 293 Geschlechterrolle 292 Geschwisterreihe 203 Gesicht – zweites 73 Getriebensein 328 Gewissen – Autonomie 328 Glauben 564 Gottesbild 30 Granatschock 101 grande névrose 124
Halluzination 145 Handauflegen 61 Heilmethode – archaische 25 Hellsehen 70 Hermaphroditismus – psychischer 183 Hexen 17 Hexerei 17 Homeostase 280 Homosexualität 292 Humoralpathologie – Hippokrates 40 Hygiene – psychische 54 Hypnose 61, 76, 80, 81, 83, 141, 153, 225, 266, 552 – Dreiteilung 122 – Stadien 128 Hypnotismus 83, 128 Hypochondrie 38, 40–42, 98 Hysterie 3, 37, 38, 40–42, 99, 103, 150, 505 – Desexualisierung 123 – Natur der 39 – Neurologisation 122 – Psychologie 101 – traumatische 98, 100
A–K
Ideen – archetypische 368 Identifizierung – primäre 166 Identität 463 – archaische 314, 315, 317, 464, 584 Imagination 60 – aktive 386, 395, 420, 425 Imago 319, 350, 375 – Begriffseinführung 297 – Eltern 276 Individualbewusstsein 464 Individualität 184 Individualpsychologie – Adler 115 – Begriffsbestimmung 182 Individuation 321, 350, 355, 357, 358, 360, 395, 399, 403, 441, 461, 480, 495, 520, 522 Individuationsprozess 31, 319, 357, 358, 467, 494, 559 Individuum 578 Initialtraum 526 Initiationskrankheit 23, 55 Instinkt 280, 363, 364, 397, 405, 406, 472 Introjektion 166, 317 Introversion 229, 430, 441, 473 Introvertierter 432, 435, 439, 466 Intuition 440, 441, 490 – intellektuelle 439 Inzest 230, 478, 480 Irrationale 16
K I Ich 110, 159, 169, 177, 295, 306, 339, 341, 342, 344, 345, 357–359, 393, 394, 438, 466, 520 – Beziehung zum Selbst 351 – empirisches 79 – rudimentäres 520 Ichbewusstsein 438 Ich-dyston 177 Ich-Ideal 169 Ichkomplex 332, 333, 336, 337, 343, 404, 405 Ich-synton 177 Ichtrieb 398 Idee – archetypische 399, 480, 582
Kastrationskomplex 185 Katalepsie 123 Katharsis 151 Kausalität 228 Kind – begabtes 485 Kinderträume 201 Kindheit 470 – frühe 471 – Störungen 472 Kindheitserinnerungen 199 Kindheitstrauma – sexuelles 172 Kindlichkeit 470 Kompensation 185, 229, 281, 285 – Lehre 286 Komplex 74, 75, 193, 229, 230, 256, 270, 271, 365, 405, 433, 442 – Definition 332
598
Stichwortverzeichnis
– gefühlsbetonter 335 – traumatischer 338 Komplexe 331 – Entdeckung 224 Komplexpersönlichkeit 82 Konflikt 585 Konstanzprinzip 163 Konstellation 335 Kontagion – psychisches 60 Kontroverse – Martin Buber und Carl Gustav Jung 216 Konversion 166 Konversionsneurose 224 Körper 413, 415 Kräfte – übernatürliche 15, 17 Krankheit 503 Krankheitsgewinn 100 Krankheitssysteme – natürliche 36 Krankheitsursachen – Primitive 14 Kriegsneurose 98 Krise 65, 66
L Lebensfeuer 61 Lebensgeister 34, 38, 40, 41, 99 Lebenskraft 34, 47, 68 Lebensplan 182 Lebensstil 190 Leiden 503 Lethargie 123 Libido 162, 168, 224, 227, 228, 250, 258, 453, 474 – Definition 250 – endogame 230, 232, 478 – exogame 230 – Freud versus Jung 224 – Regression 276 – Stauung 274 – Theorie 254 – Überschuss 263 – Zwang 254 Licht der Natur 7 lumen naturae 31 Liebe 455, 459 Literaturempfehlungen – Neurosenkonzept Carl Gustav Jungs 209 Lumen naturae 31 Lust-Unlust-Prinzip 159
M Macht 455, 458 Magia naturalis 60 Magie 24 Magnetisieren 61 Magnetismus 59, 67, 71, 83, 110 – animalischer 58, 61, 63, 67, 80 – animalischer 7 Magnetismus, tierischer 58 – mystischer 68 – tierischer 56–58, 64, 66 Manapersönlichkeit 23, 24 Mandala 416, 417, 583 Märchen 25, 26, 365, 367, 576 Materialismus 414 – radikaler 91 Materie 31, 413, 414 Medium 92 Medizin – Primitive 14 – Renaissance 39 Medizinmann 23 Melancholie 198 – humorale 40 – nervöse 40 Mesmerismus 60, 62, 64, 68, 76, 110 Metaphysik 216 Methode – kathartische 154 Minderwertigkeit 196 Minderwertigkeitsgefühl 182 Minderwertigkeitskomplex 192 Missbrauch – sexueller 301 Mitteilung des Lebensfeuers 61 Moral 267, 268 Moralkodex 54 Mundus archetypus 46 Mutterimago 301, 481 Mutterkomplex 309, 334, 338, 368, 484 – negativer 319, 553 Mythus 218, 382, 576
N Nahtoderfahrung 68 Narzissmus 164 Natur 33 – Prinzip 69 Naturbeobachtung 33 Naturkraft 34 Naturphilosophie 46, 69, 70 – romantische 44 Naturwissenschaft 33 – experimentelle 45
Naturwissenschaften – moderne 217 Naturzustand 314 Nervenkrankheit – \nervous disease\ 44 Neuplatonismus 30 Neuralpathologie 42 Neurasthenie 44, 99, 491 – traumatische 100 Neurose 2, 3, 8, 38, 99, 109, 131, 151, 183, 192, 195, 227, 252, 260, 264, 268, 272, 283, 284, 338, 431, 472, 482, 492, 496, 503, 505, 507, 509, 560 – Begriff 37 – ekklesiogene 457, 492 – experimentelle 123 – Psychodynamik 316 – traumatische 98, 100, 101, 103, 134, 171 – Ursache 474 – weibliche 7 Hysterie 99 Neurosen – Einteilung nach Cullen 42 – traumatische 100 Neurosenauffassung – Carl Gustav Jung 208 Neurosenlehre – psychologische 103 Neurosenprophylaxe 22 Neurosenpsychologie 251 Nicht-Ich 110, 393 Normen – Übertreten sozialer oder religiöser 16 Nosologie 38 Numinosität 365, 366, 370
O Objekt 463, 465, 466 Objektivismus 79 Objektliebe 164 Ödipuskomplex 172, 173, 202, 230, 334, 367, 478 Organminderwertigkeit 183, 185 Organneurose 3, 35 Orientierungsfunktionen – primäre 490
P Panazee 64 Pantheismus 36 Paradoxon 391
599
Stichwortverzeichnis
Parallelismus – psychophysischer 116 Parapsychologie 88, 90 participation mystique 464, 584 partie inférieure 400 partie supérieure 400 perception desintéressée 145 Perceptions insensibles 108 Persona 443, 450, 453 – Identität mit 451, 452 Persönlichkeit 317, 321, 418, 470 – bewusste 81, 82 – multiple 81, 93, 125, 130, 336 – Verdoppelung 125 Persönlichkeitsideal 189 Persönlichkeitstheorie 182 – Entwicklung 185 Perzeptionen – kleine 108 – petites perceptions 108, 145 Phantasie 316, 387, 403, 419, 423, 424, 427, 433, 473 – Psychologie der 187 Phantasiebilder 427 Phase – anale 158 – genitale 158 – hermaphroditische 292 – orale 158 Phlegmatiker 40 Phrenologie 49 Pneuma – Lehre vom 41 Pneumata 41 Positivismus 584 Präformationstheorie 69 Pragmatismus – Definition 88 – William James 87 Progression 274 Projektil 20 Projektion 19, 175, 297, 307, 309, 313–315, 317, 318, 321, 329, 362, 451, 453, 465, 521, 541, 585 Psyche 8 – Mehrleistung der 16 Psychiatrie – dynamische 65 Psychoanalyse 56, 173, 471, 472 – Ursprung 152 Psychodynamik 254 Psychoenergetik 254 Psychologie – analytische 305, 578, 580 – archetypische 362 – der Religion 94 – experimentelle 392
– moderne 61 Psychologie des Verhaltens 142 Psychoneurose 101, 539 Psychophysik – moderne 95 Psychose 452 Psychotherapie 493, 507, 529, 566 – Berufung 538 – moderne 38 Pubertät 295, 299, 472, 475
R railway brain 98 railway spine 98, 102 Rapport 61, 65, 67, 141, 157, 552 Reaktionsbildung 166 Reflex 364 Regeln – methodische, nach Pierre Janet 140 Regression 167, 231, 252, 274 Reizbarkeit 42 Religion 564 Religiosität 564 Rhizom 582 Romantik 70
S Scham 267 Schamane 14, 23, 24, 56 Schamanenkrankheit 23 Schatten 74, 233, 240, 266, 323, 324, 328, 336, 451 – archetypischer 325 – persönlicher 325 Schizophrenie 3, 43, 131, 272, 334 Schlaf – magnetischer 66 Scholastik 29 Schöpferische 402, 546, 547, 577, 589 Schöpfungsgeschichten 578 Schöpfungsprozess 578 Schreckneurose 100 Schwelle – psychophysische 117 Séance 67, 76 Seele 9, 35, 102, 302, 443, 444, 446, 447, 450, 451, 453, 506 – Bedeutung 446 Seelenkraft 34 Seelenverlust
K–S
– (\loss of soul\) 20 Selbst 324, 344, 345, 347–350, 359, 466, 491, 520 – Beziehung zum Ich 351 – objektives 438 Selbsterhaltung – Trieb zur 114, 398 Selbsterhaltungstrieb 398 Sexualität 402, 455, 456 – erwachende 295 – kindliche 158, 301 – Pubertät 158 – Rolle 229 Sexualität, kindliche – Stufen 158 Sexualpsychologie – Sigmund Freud 114 Sexualtrieb 398 shell shocks 98 Sicherungsverhalten – neurotisches 193 Simulation 100, 224 Sinn 489, 494 Somnambulismus 61, 66, 67, 70, 77, 81, 123, 128, 146 – künstlicher 66, 68 – magnetischer 67 7Schlaf, magnetischer Spaltung – neurotische 82 spinal concussion 98 Spinalirritation 98, 99 Spinalneurose 98 Spiritismus 76, 79, 80 Spiritisten 79, 93 Spiritualismus 80 Spiritus animales 7 Lebensgeister 99 Sprachsymbole 95 Sthenie 46 Störung – seelische 196 Störungen – psychosomatische 197 Subjekt 326, 463 Subjektivismus 79 Subjektphilosophie 110 Sublimation 401 Sublimierung 144, 167 Substantiation 184 Suggestion 58, 63, 83, 124, 141, 225, 465, 537 Suggestionstherapie 508 Symbol 351, 375, 377, 379–383, 387, 395, 403, 409, 422, 453, 482 – archetypisches 547
600
Stichwortverzeichnis
– des Selbst 351 – vereinigendes 480 Symbolforschung 383 Symptomdenken 333 Symptome – neurotische, Funktion 193 Symptomhandeln 333 Synchronizität 59, 117, 344, 414, 496, 553 – Konzept 414 Synchronizitäten 15 Systemkrankheiten – nach Cullen 42 Syzygie 444
T Tagespersönlichkeit 131 Teilpersönlichkeit 15, 82 Teilpersönlichkeiten 81, 82 Tendenzen 142 Tiefenpsychologie 32, 33, 217, 219, 336, 352, 366, 445, 458, 579, 584 – Vorläufer 362 Tonus 42 Traum 163, 199, 200, 230, 256, 266, 286, 287, 302, 321, 329, 356, 381, 383, 418, 420, 436, 505, 515 – Phasen 523 – telepathischer 524 Trauma 43, 101, 122, 123, 171, 229, 472, 521 – Entstehung der Neurose 97 – hysterogenes 100 – physikalisches 98 Traumanalyse 225, 230, 258, 522, 586 Traumatismus 122 Traumauffassung 29 Traumdeutung 150, 516 – Objektstufe 525 – Sigmund Freud 118 – Stufen 524 – Subjektstufe 525 Träumen – luzides 460 Traummotive 200 Traumpersönlichkeit 131 Traumpsychologie 520 Trennung – Gesetz der 391 Trieb 142–144, 280, 328, 397, 398, 400, 403, 405 – konstellierter 402 Triebbeschränkung 400 Triebe
– Hierarchie 143 Triebverschränkung 185 Triebverwandlung 185 Typologie 288, 429, 431 – psychologische 430 Typus – intuitiver 435
U Übergangsriten 481 Über-Ich 160, 169, 177 Überlegenheit 189 Überlegenheitskomplex 192 Übertragung 160, 173, 175, 232, 317, 460, 526, 541, 551, 556, 560 – erotisch-sexuelle 555 Übertragungsliebe 160 Übertragungsneurose 160, 173, 175, 232 Unbewusste 352, 356, 386, 387, 391, 423, 519 – Hypothese 391 – kollektives 358, 394, 498 Unbewussten 225 Unbewusstes 8, 31, 33, 111, 217, 286, 315, 345 – Bedeutung in Psychopathologie 287 – Entdeckung 80, 107 – kollektives 102, 320 – Philosophie 109 Unbewusstsein 117 Unfallneurose 100 Unterbewussten 88, 95 – Konzept 145 Uridee 369 Urmensch 399 Ursache – auslösende 14 – letzte 14
V Vater 486 Vaterimago 486 Vaterkomplex – negativer 319 Verdrängung 5, 144, 225, 264, 266, 270 Verdrängungstheorie 537 Verführungstheorie 172 Verhaltenstherapie 505 Verschränkung 185
Vitalismus 34, 42, 47, 68 – medizinischer 46 – moderner 35 – Prinzipien 46 – romantischer 47 Vitalprinzip 47 Vorstellung 419, 422 – archetypische 302, 371 Vorstellungen – archetypische 363, 371 – metaphysische 497
W Wahn 18 Wahnidee 145 Wahnkranke 18 Wahrheit – Bedeutung 89 Wandlung 402 Wandlungssymbol 564 Wert 489, 490 Werte 350 – soziale 186 Werturteil 490 Wesen der Verdrängung 82 Wiederholungszwang 159, 172 Wille zur Macht 112, 114 Wirbelsäulenneurotiker 99
Z Zarathustra 113, 114 Zärtlichkeitsbedürfnis 185 Zauberei 17 Zeichen 381 Zonen – erogene 162 Zustand – magnetischer, Stufen 67 – primordialer 314 Zwangsneurose 197 Zweifel 489, 497