Erle Stanley Gardner
Perry Mason Die einäugige Zeugin
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Erle Stanley Gardner
Perry Mason Die einäugige Zeugin
scanned by AnyBody corrected by Yfffi Spät abends noch wird Perry Mason im Nachtklub Golden Goose ans Telefon gerufen, und mit angstbebender Stimme bittet eine Frau ihn um seine Hilfe. Der berühmte Verteidiger nimmt sich des Falles an und beginnt sofort mit seinen Ermittlungen. Damit setzen überraschende Ereignisse ein, die sich bald überstürzen, und Perry Mason - taub für die Warnungen Della Streets und seines zuverlässigen Freundes und Helfers Paul Drake - begibt sich in die Gefahr, selbst auf der Anklagebank zu landen. Er ist entschlossen, seiner Mandantin mit all seinen Kräften zu helfen, obwohl er selbst von ihrer Schuld fest überzeugt ist. Erst im letzten Augenblick, als alles schon hoffnungslos und verloren schein, gehen ihm selbst die Augen über die wahren Zusammenhänge auf. Überzeugend und unwiderlegbar beweist er die Unschuld seiner Mandantin und entlarvt den wahren Täter samt seinen Komplicen. ULLSTEIN TASCHENBÜCHER-VERLAG GMBH., 1960 Originaltitel: THE CASE OF THE ONE-EYED WITNESS Übersetzt von Günter Eichel Umschlagentwurf: Wolfgang Fischer
EINFÜHRUNG Erle Stanley Gardner ist einer der meistgelesenen Kriminalschriftsteller der Vereinigten Staaten von Nordamerika, und von Jahr zu Jahr erobert er sich mehr und mehr außeramerikanische Länder. Die Gesamtauflage seiner Romane liegt bei vierzig Millionen Exemplaren. Seine Romane erwecken vielfach den Eindruck von Tatsachenberichten, und ihre große Stärke nehmen sie aus der Berufserfahrung Gardners, der als Strafverteidiger und geschulter Kriminalist die Wirklichkeit nachgestaltet. Seine Hauptgestalt ist der Rechtsanwalt Perry Mason. Mit ihm schuf Gardner einen Strafverteidiger, für den der Zweck alle Mittel heiligt. Allerdings ist sein Ziel immer und ausnahmslos das Finden der Wahrheit und der Kampf gegen den blinden Paragraphengeist der Staatsanwaltschaft und der Polizei. Doch sosehr man menschlich die robuste Entschlossenheit dieses Strafverteidigers als zielbedingt berechtigt anerkennen, ja bewundern mag, so sehr muß man andererseits feststellen, daß er in seinem Bestreben, unschuldigen Menschen zu helfen, die Grenzen des unseres Erachtens Zulässigen überschreitet. Es ist auch unzweifelhaft, daß selbst in den härtesten Gerichtsszenen der USA nur sehr selten Methoden angewandt werden, wie sie Perry Mason nicht scheut. Mit dieser einschränkenden Klarstellung muß aber die Erscheinung eines für seine Schutzbefohlenen bis zum Äußersten und sogar darüber hinaus kämpfenden Rechtsfanatikers anerkannt werden. Daß im amerikanischen Recht vieles sowohl strafprozessual wie auch in der Vorbereitung durch die Anklagebehörde verschieden vom europäischen und besonders deutschen Recht ist, darf als bekannt vorausgesetzt werden. Besonders scharf tritt dieser Gegensatz durch das Kreuzverhör hervor, wobei überdies die Zeugen als »anklagefreundlich« oder »verteidigungsfreundlich« eingestuft werden, je nachdem, ob sie
der Staatsanwalt oder der Verteidiger geladen hat. Das Kreuzverhör selbst ist immer jenes, das »die andere Seite« vornimmt, also die Befragung eines Zeugen der Staatsanwaltschaft durch den Verteidiger und jene eines Zeugen der Verteidigung durch den Staatsanwalt.
PERSONEN DER HANDLUNG: PERRY MASON: sein Interesse an dem Fall beginnt mit einem Telefonanruf einer verängstigten Frau. PIERRE : Oberkellner in der Golden Goose. MEDFORD D. CARLIN : ein exzentrischer Junggeselle. Er gibt zu, daß sein Geschmack ungewöhnlich ist. DELLA STREET : als Perry Masons Sekretärin weiß sie, in welch mißlicher Lage ihr Chef steckt. PAUL DRAKE: seine Detektivagentur übernimmt alle Aufträge Perry Masons. Oft genug bedauerte er das. INSPEKTOR TRAGG: von der Mordkommission - grob, ehrlich und fähig. MYRTLE FARGO : ihr Alibi war zu fragwürdig, als daß ein Gericht es ihr abgenommen hä tte. ARTHMAN D. FARGO : ein Grundstücksmakler, der besonders begierig darauf war, sein eigenes Haus loszuschlagen. CELINDA GIBSON : die selbst zugab, die »Andere« zu sein. MRS. INGRAM: die hartnäckig behauptet, ihre Tochter Myrtle sage die Wahrheit. MRS. NEWTON MAYNARD : als Hauptzeugin der Anklage war sie sich völlig sicher, daß kein noch so gerissener Verteidiger ihre Aussage widerlegen könne. CARLTON B. RADCLIFF : ein Optiker und Uhrmacher, der auf seinen Beruf und seine Unbestechlichkeit sehr stolz ist. HAMILTON BURGER : der Staatsanwalt. Er war überzeugt, daß er Perry Mason diesmal in der Falle hatte.
1 Der Nachthimmel war mit tiefhängenden Wolken bedeckt. Ein kalter Sprühregen überzog die Bürgersteige mit Nässe, während die Straßenlampen einen Heiligenschein zu haben schienen und die Reifen der vorüberfahrenden Wagen leise singend über das nasse Pflaster rollten. Die meisten Häuser des Geschäftsviertels lagen im Dunkeln; lediglich der Drugstore an der Ecke warf einen hellen Schein auf die Straße. Auf der gleichen Straßenseite befand sich ungefähr in der Mitte des Häuserblocks ein Café, das die ganze Nacht über geöffnet war, und strahlte einladende Gastlichkeit aus. Ihm gegenüber befand sich ein Kino, dessen Foyerbeleuchtung zum größten Teil bereits ausgeschaltet war. Die zweite Vorstellung war in Kürze beendet, und in etwa fünf Minuten würden sich die Türen öffnen und die Besucher nach der letzten Szene des Films ausspeien. Drüben, im Drugstore, machte der Provisor in der ApothekenAbteilung irgendwelche Eintragungen in ein Buch. Die lange Sodabar lag verlassen, aber ein müde aussehendes Mädchen stellte Gläser zurecht und bereitete alles für das Stoßgeschäft vor, das mit dem Ende des gegenüber ablaufenden Filmes einsetzen würde. In noch nicht einmal sieben Minuten würde jeder Stuhl besetzt sein und die Leute in drei Reihen vor der Theke stehen. Aber die Kassiererin würde dann schon herüberkommen und helfen, und auch der Mann aus der Apotheken-Abteilung würde mit Hand anlegen. Bis dahin jedoch herrschte völlige Stille, und der Drugstore schien auf diesen letzten Ansturm zu warten, der die gesamte Tageseinnahme erheblich in die Höhe treiben würde. Die Frau, die mit schnellen Schritten die Vance Avenue herunter kam, verhielt einen Augenblick und sah sich ängstlich um, bevor sie in den Kramer Boulevard einbog. Das Licht, das -5 -
aus dem Schaufenster des Drugstore auf die Straße fiel, beleuchtete einen Augenblick lang ihr Gesicht und zeigte nicht nur die entschlossene Linie um den Mund, sondern auch die Angst in ihren Augen. Sie öffnete die Tür und betrat den Laden. Die Kassiererin, die ein aufgeklapptes Buch auf die kleine Tischplatte neben der Registrierkasse gelegt hatte, unterbrach ihre Lektüre. Das Mädchen an der Sodafontäne blickte fragend auf. Der Angestellte von der Apotheken-Abteilung legte seinen Federhalter hin und kam nach vorn. Dann merkten die drei jedoch, daß die Frau sich lediglich für die beiden Telefonzellen interessierte, die sich an der Rückwand des Ladens befanden. Später waren alle drei bei dem Versuch, sich an die äußere Erscheinung dieser Frau zu erinnern, der Meinung, daß sie etwa Anfang dreißig gewesen sei und eine gute Figur gehabt habe, die selbst der dunkle Wintermantel mit dem Pelzkragen nicht ganz verdecken konnte. Die Kassiererin erinnerte sich ferner, daß die Frau eine braune Handtasche aus Krokodilleder in der Hand getragen habe. Vielleicht hätten sie sich noch an andere Einzelheiten erinnern können, wenn sich in diesem Augenblick nicht die Pendeltüren des Kinos geöffnet und sich ein Strom Menschen über die Bürgersteige ergossen hätte. Die Kassiererin seufzte und klappte ihr Buch zu. Der Angestellte schob eine Reklame für Vitamintabletten nach vorn und rückte einen Karton mit Rasierklingen zurecht. Und das Mädchen von der Sodafontäne trocknete sich die Hände mit einem Handtuch ab und schaltete den elektrischen Mixer ein. Sie wußte schon im voraus, was in den nächsten neunzig Sekunden alles bestellt werden würde. Die Frau verschwand in einer der Telefonzellen, öffnete die Handtasche und holte ein Portemonnaie heraus. -6 -
Verärgert runzelte sie die Stirn. Vergebens suchte sie nach einem Fünfcentstück und rannte dann beinahe zu der Kassiererin. »Können Sie mir bitte ein paar Fünfcentstücke geben? Bitte schnell - bitte.« Bestimmt hätte die Kassiererin sich die Frau jetzt genauer angesehen, wenn nicht die Türen des Drugstore ausgerechnet in diesem Augenblick von einer Gruppe halbwüchsiger Schüler aufgestoßen worden wären, die sich geräuschvoll mit ihrer eigenen kleinen Welt beschäftigte, sich scherzende Worte zurief und ihre Bestellung aufgab. Die Kassiererin gab der Frau fünf Fünfcentstücke, blickte zu den vielen Menschen hinüber, die sich durch die Türen drängten, und ging dann zur Sodafontäne, um dort zu helfen. Mindestens zehn Minuten würde es noch dauern, bis die Lawine die Kasse erreichte. Die Frau verschwand wieder in der Telefonzelle. Danach wurde sie von niemandem mehr gesehen. Sie legte einen Zettel neben das Telefon auf die kleine Holzplatte, stapelte die fünf Münzen auf dem Papier auf, nahm die oberste, ließ sie in den schmalen Schlitz fallen und wählte eine Nummer. Die Hand, die den Hörer ans Ohr preßte, zitterte leicht. Ihre Augen blickten durch die Scheibe, die in die Tür der Telefonzelle eingelassen war, und überflogen suchend die Gesichter der vielen Menschen, die sich mittlerweile im Drugstore befanden. Die Frau lauschte ängstlich auf das Freizeichen; dann wurde der Hörer am anderen Ende der Leitung abgenommen, und Bruchstücke von Tanzmusik vermischten sich mit der künstlichen Süße einer Stimme, die darin sorgsam ausgebildet war. »Ja, bitte?« »Bitte schnell. Hören Sie zu - ich möchte Perry Mason -7 -
sprechen, den Rechtsanwalt. Holen Sie ihn bitte an den Apparat und...« »Perry Mason? Ich fürchte...« »Dann holen Sie Pierre, den Oberkellner. Mr. Mason sitzt mit einer jungen Frau zusammen an einem Tisch...« »Pierre ist leider sehr beschäftigt. Es wird etwas dauern. Wenn Sie so in Eile sind...« »Dann gehen Sie zu Pierre und lassen sich von ihm Perry Mason zeigen. Sagen Sie Mr. Mason, er möchte sofort an den Apparat kommen. Es ist wichtig. Sofort! Haben Sie verstanden?« »Ja - bleiben Sie am Apparat.« Etwa zwei Minuten mußte die Frau warten. Ungeduldig blickte sie auf ihre mit Brillanten besetzte Armbanduhr, starrte mit gefurchter Stirn auf das Telefon und sagte schließlich, teils zu sich, teils zu der Sprechmuschel: »Schnell, schnell. Oh, bitte - schnell!« Eine Ewigkeit schien vergangen zu sein, bis sie die leicht verärgerte Stimme Perry Masons hörte. »Hallo - hier ist Perry Mason.« Sie antwortete mit der schnellen Heftigkeit eines Maschinengewehrstoßes. »Es ist sehr dringend«, sagte sie. »Passen Sie genau auf, damit ich es nicht zu wiederholen brauche. Ich habe keine Möglichkeit, es...« »Wer ist denn am Apparat?« unterbrach der Rechtsanwalt sie. »Ich war es, die Ihnen das Päckchen geschickt hat«, sagte sie. »Bitte hören Sie jetzt genau zu. Haben Sie Papier und Bleistift?« »Ja.« »Dann schreiben Sie den Namen und die Adresse auf.« »Aber warum...« -8 -
»Bitte, Mr. Mason. Ich erkläre es Ihnen später. Jede Sekunde ist kostbar. Bitte, schreiben Sie Namen und Adresse auf.« »Also los.« »Medford D. Carlin, 6920 West Lorendo. Haben Sie verstanden?« »Einen Moment«, sagte Mason. »Carlin, C-a-r-l-i- n?« »Ja«, antwortete sie. »Die Anfangsbuchstaben sind genau wie die Abkürzung eines Arztes, M. D. Und die Adresse ist 6920 West Lorendo.« »Das habe ich bereits aufgeschrieben.« »Haben Sie das Geld schon bekommen?« »Welches Geld?« »Aber Mr. Mason - Sie müssen es doch bekommen haben! Das Päckchen, von dem ich vorhin schon sprach. Sagen Sie um Himmels willen nicht, Sie hätten es nicht bekommen. Oh, ich...« In ihrer Verzweiflung konnte sie nicht weitersprechen. »Wollen Sie mir bitte Ihren Namen nennen und nicht nur in Andeutungen reden«, sagte Mason ungeduldig. »Wieso soll ich Geld bekommen, und wer ist bitte am Apparat?« »Meinen Namen kann ich nicht nennen. Er würde Ihnen auch nichts sagen. Aber das Geld, fünfhundertsiebzig Dollar, steckte in dem Umschlag, den ich... Oh, Mr. Mason, ich bitte Sie, gehen Sie zu Mr. Carlin, zeigen Sie ihm den Zeitungsausschnitt, der mit dem Geld in dem Umschlag liegt, und...« »Ich habe Ihnen doch schon gesagt, daß ich kein Päckchen bekommen habe.« »Dann werden Sie es noch bekommen. Es ist unterwegs. Sagen Sie Mr. Carlin, daß er sich unter diesen Umständen nach einem anderen Partner umsehen soll. Mr. Mason, ich kann Ihnen jetzt nicht erst erklären, wie wichtig es ist. Es geht um Leben und Tod. Verlieren Sie keinen Augenblick, wenn... O Gott!« -9 -
Die Worte blieben ihr in der Kehle stecken, als sie mit ihren dunklen, verängstigten Augen einen großen Mann von Anfang Dreißig erblickte, der gerade den Drugstore betrat. Er hatte den langen, leichten Schritt eines Menschen, der bisher immer nur gesund gewesen ist; mit einem leise fragenden Ausdruck in den Augen blieb er stehen und musterte die Gesichter der Menschen, die jeden Stuhl des Drugstore besetzt hatten. Die Frau verlor nicht eine Sekunde. Der Hörer entfiel ihrer Hand, baumelte an dem Kabel, prallte ein paarmal gegen die Wand der Telefonzelle und schaukelte dann langsam hin und her. Sie glitt aus der Zelle, schob sich Zentimeter um Zentimeter hinter einen der Zeitschriftenständer und blieb dann, mit dem Rücken zur Sodafontäne, so stehen, als wäre sie völlig in den Anblick der hier ausliegenden Magazine versunken. Es gelang ihr sogar, wie erschrocken zusammenzufahren, als die Finger des Mannes ihren Ellbogen umfaßten. Ihr Kopf fuhr herum. Der Unwille auf ihrem Gesicht zerschmolz zu einem verführerischen Lächeln. »Ach«, sagte sie, »du bist es!« »Ich wollte nur wissen, ob du etwa hier wärest.« »Ich - bist du denn schon fertig?« »Ja. Es dauerte nicht so lange, wie ich geglaubt hatte.« »Hoffentlich hast du nicht auf mich gewartet. Ich brauchte eine Tube Zahnpasta, und da ich schon einmal hier war, habe ich mir die Maga zine angesehen. Ich wäre sowieso gleich...« Er legte seinen harten, muskulösen Arm um ihre Taille und drehte sie herum. »Komm jetzt. Kaufe deine Zahnpasta, und dann verschwinden wir.«
2 Perry Mason, der in der linken Hand den Telefonhörer hielt, -1 0 -
preßte mit dem Zeigefinger der rechten das rechte Ohr zu, um nicht durch die Musik der Nachtklub-Kapelle gestört zu werden. Della Street, Masons gewandte und tüchtige Sekretärin, war allein an dem Tisch sitzengeblieben. Jetzt bemerkte sie Masons Blick und deutete das schnelle Kopfnicken richtig. Sie kam zu ihm. »Was ist?« fragte sie, als sie neben ihm stand. »Irgend etwas ist an der Geschichte komisch«, sagte Mason. »Gehen Sie doch mal an einen der anderen Apparate, rufen Sie Ihren Freund von der Telefonaufsicht an und fragen Sie ihn, ob er feststellen kann, woher der Anruf kam. Aber er möchte sich bitte beeilen. Es handelt sich um eine Frau. Sie schien entsetzliche Angst zu haben.« Della Street zog ihr Notizbuch heraus, beugte sich zu dem Zelluloidschild mit der Nummer des Apparates, dessen Hörer Mason in der Hand hielt, und notierte sich die Nummer. Dann lief sie zu dem Telefon in der Damentoilette. Mason hielt den Hörer immer noch in der Hand, als sie zurückkam. »Von einem Münzfernsprecher, Chef; er gehört zu einem Drugstore Ecke Vance Avenue und Kramer Boulevard. Anscheinend ist der Hörer nicht eingehängt worden.« Mason legte seinen Hörer auf. »Was war denn?« fragte Della Street. Mason steckte sein Notizbuch in die Tasche. »Irgend jemand wollte, daß ich mich sofort mit einem M. D. Carlin in Verbindung setze. Seine Adresse ist 6920 West Lorendo. Sehen Sie doch bitte mal im Telefonbuch nach, Della.« Della Street blätterte die Seiten des Telefonbuches durch. »Ja - hier ist er: M. D. Carlin, 6920 West Lorendo, Telefon Riverview 3-2322.« »Schreiben Sie die Nummer gleich auf«, sagte Mason. »Wollen Sie ihn anrufen?« -1 1 -
»Noch nicht. Es ist schon spät. Ich muß über diese Geschichte erst noch einiges wissen, bevor ich etwas unternehme. Aber für diese Frau schien es ungeheuer wicht ig zu sein. Sie hätten ihre Stimme hören sollen, Della.« »War sie aufgeregt?« »Mehr als das - sie schien völlig aus dem Häuschen zu sein.« »Und was wollte sie von Ihnen?« »Ich möchte diesem Carlin sagen, er solle sich einen anderen Partner suchen.« »Hat sie denn irgendwie mit ihm zusammengearbeitet?« »Das weiß ich nicht. Sie sagte nur, was ich ausrichten solle und daß ein Päckchen mit Geld an mich unterwegs sei. Im allgemeinen habe ich zwar eine Abneigung gegen Aufträge anonymer Auftraggeber, aber über diesen verängstigten Ton in der Stimme der Frau komme ich nicht hinweg. Wenn sie mitten im Gespräch einfach weggelaufen sein sollte, hat sie sich so in diese Sache hineingesteigert, daß sie jetzt Todesängste aussteht. Man konnte ganz deutlich den Knall hören, als der Hörer hinunterfiel, und dann schlug er beim Pendeln mehrmals gegen die Wand. Ich dachte schon, sie wäre ohnmächtig geworden.« »Was tun wir also jetzt?« fragte Della Street. »Wir warten erst einmal ein paar Minuten, ob das von der Frau erwähnte Päckchen auftaucht.« »Und bis dahin?« Mason brachte Della Street zu dem Tisch zurück. »Bis dahin trinken wir noch einen Kaffee, tanzen vielleicht auch einmal und tun, als ob nichts geschehen wäre.« »Sehen Sie jetzt nicht hin, Chef«, sagte Della Street, »aber das Telefongespräch scheint Aufsehen erregt zu haben.« »Wieso?« »Drüben in der Ecke scheint man sich über uns zu unterhalten.« -1 2 -
»Wer?« »Das Garderobenfräulein, die Fotografin, die hier mit ihrem Apparat herumläuft, und das Zigarettenmädchen. Passen Sie auf - das Zigarettenmädchen kommt schon zu uns herüber.« Mason nippte an seinem Kaffee. Das Mädchen mit dem Tablett, auf dem Zigarren und Zigaretten aufgestapelt waren, blickte prüfend die am Nebentisch sitzenden Leute an und wandte sich dann an Perry Mason. »Zigarren, Zigaretten?« fragte es mit schmeichelnder, schmachtender Stimme. Mason blickte lächelnd hoch und schüttelte den Kopf. Della Street stieß ihn heimlich an. »Warten Sie - geben Sie mir ein Päckchen Raleigh«, sagte Mason. Das Mädchen riß eine Packung auf, klopfte eine Zigarette heraus, hielt sie Mason hin und beugte sich vor, um ihm Feuer zu geben. Das Mädchen hatte eine olivenfarbene Haut, sehr hohe Wangenknochen und eine gute Figur. Das Kostüm zeigte weiche, gerundete Schultern mit einer stolzen und trotzdem zarten Nackenlinie sowie hübsche Beine in seidenen Strumpfhosen. Mason bezahlte mit einem Dollar. Das Mädchen wollte darauf herausgeben. »Es stimmt so«, sagte Mason mit einem warmen Lächeln. »Oh, Sie sind aber - großzügig.« »Schon gut.« »Es ist wirklich sehr freundlich von Ihnen, mir so viel zu geben...« »Was ist denn los?« unterbrach Mason sie und blickte sie scharf an. »Bekommen Sie denn sonst nie ein Trinkgeld?« -1 3 -
»Doch, zehn Cents, fünfzehn und manchmal auch fünfundzwanzig«, sagte sie, und plötzlich füllten sich ihre Augen mit Tränen. »Nanu?« sagte Mason, »was haben Sie?« »Verzeihen Sie bitte, aber ich bin immer so außer mir und so nervös, wenn ich so freundlich behandelt werde, daß ich mich nicht mehr beherrschen kann. Ich bin nicht...« »Nun setzen Sie sich erst einmal hin«, sagte Della Street. »Bitte nicht, sonst verliere ich meine Stellung. Ich darf mich nicht zu den Gästen setzen. Ich...» Mason beobachtete ihr Gesicht, das vor Erregung zuckte, und bemerkte die Tränen, die langsam herunterliefen und Spuren in dem Make-up hinterließen. »Setzen Sie sich hin«, sagte Mason. Er stand auf und rückte einen Stuhl zurück, und nach kurzem Zögern drehte sie den Stuhl so, daß sie das Tablett auf den Schoß stellen konnte. Dann setzte sie sich an den Tisch. »Na, sehen Sie«, sagte Mason. »Jetzt brauchen Sie nur noch einen anständigen Kognak, und dann...« »Nein - bitte nicht. Das geht nicht. Ich verstoße gegen die Vorschriften, wenn ich mit einem Gast etwas trinke.« »Was ist eigentlich mit Ihnen los?« fragte Mason. Della Street warf ihm einen warnenden Blick zu. »Stimmt irgend etwas mit Ihrer Stellung nicht?« drängte Mason. »Nein, das ist in Ordnung. Es geht nur um eine Privatsache, und neu ist sie auch nicht. Aber eines Tages kommt es dann wieder wie eine Welle über mich...« Sie verstummte und wandte sich dann beinahe aufgebracht an Della Street. »Ihr Mann würde es doch nicht verstehen - aber Sie verstehen mich bestimmt. Sie können sich bestimmt vorstellen, was eine Frau ihrem Kind gegenüber empfindet.« -1 4 -
»Was ist denn mit Ihrem Kind?« fragte Mason. Sie schüttelte den Kopf. »Es ist unmöglich, wie ich mich Ihnen aufdränge. Wollen Sie bitte so tun, als suchten Sie sich etwas von meinem Tablett aus? Er - der Oberkellner kann sehr unangenehm sein.« Della Street beugte sich vor und betrachtete aufmerksam die verschiedenen kleinen Souvenirs. »Erzählen Sie weiter«, sagte Mason. »Es gibt nichts zu erzählen. Aber irgendwann wird sicher alles wieder gut. Wahrscheinlich ist mein Kind in guten Händen. Wenn ich es nur genau wüßte. Ach, wenn ich es nur wüßte.« »Wenn Sie was wüßten?« fragte Mason. »Wo meine kleine Tochter jetzt ist. Ach Gott, es ist alles so schwierig und verworren. Ich bin - ich habe nämlich eine Spur japanisches Blut.« »Wirklich?« »Ja. Vielleicht merkt man es nur, wenn man genau hinsieht, aber dann merkt man es an den Augen, an den Wangenknochen.« Mason blickte sie einen Augenblick prüfend an; dann nickte er und sagte: »Ja, jetzt sehe ich es. Ich dachte mir gleich, daß Sie einen gewissen orientalischen Einschlag haben. Aber jetzt sehe ich, was es ist. Ihr Gesicht hat ganz deutlich exotische Züge.« »Ich bin jedoch Amerikanerin«, sagte sie. »Ich bin eine genauso gute Amerikanerin wie irgend jemand sonst. Aber meinen Sie, daß auch andere davon überzeugt sind? O nein. Für die meisten Leute bin ich eine Japanerin, und daher bin ich für sie tabu, eine Ausgestoßene.« »Und was ist mit Ihrem Kind?« fragte Mason. »Ich hatte einmal ein Kind.« »Sind Sie verheiratet?« -1 5 -
»Nein.« »Erzählen Sie.« »Gerade das ist es. Ich hatte das Kind bei mir, und dann gelang es dem Vater, mir meine Tochter zu stehlen. Verkauft hat er sie. Als ich erfuhr, daß sie zur Adoption fortgegeben worden war, wurde ich beinahe wahnsinnig. Ich versuchte alles nur mögliche, um herauszubekommen, was geschehen war, um etwas dagegen zu unternehmen - aber ich konnte nichts ändern.« »War der Mann, der das Kind holte, tatsächlich der Vater des Kindes?« fragte Mason. Sie zögerte einen Augenblick, schlug die Augen nieder, blickte dann wieder auf und sah Mason offen an. »Nein«, erwiderte sie dann. »Der Vater ist - tot.« »Warum tun Sie denn nicht irgend etwas, um Ihr Kind wiederzufinden?« fragte Della Street. »Was kann ich denn schon tun? Ich habe japanisches Blut, und kein Mensch gibt sich die geringste Mühe, einer Japanerin zu helfen - es sei denn, sie hat viel Geld, und das habe ich nicht. Ich weiß noch nicht einmal, wo meine Tochter jetzt ist; mit Sicherheit weiß ich nur, daß sie zur Adoption fortgegeben worden ist. Der Mann, der sich als Vater des Kindes ausgab und damals unterschrieb, ist inzwischen verschwunden, und...« »Wie alt ist Ihre Tochter jetzt?« fragte Mason. »Vier Jahre alt wäre sie geworden. Sie war noch ganz klein, als...« Pierre, der Oberkellner, blickte sich in dem dichtbesetzten Speisesaal um und sah das Zigarettenmädchen plötzlich an einem Tisch sitzen. »Zigaretten!« rief er scharf. »Aber schnell!« »O Gott«, sagte sie. »Ich hätte es doch nicht tun sollen. Pierre ist jetzt böse.« Aus dem dreieckigen Ausschnitt ihres trägerlosen Kostüms zog sie ein Taschentuch, das schwerlich groß genug war, einer -1 6 -
Briefmarke genügend Platz zu bieten, betupfte sich damit die Augen und fuhr sich dann mit der Quaste ihrer Puderdose über das Gesicht. »Zigaretten!« rief Pierre, und seine Stimme klang vor Ungeduld fast heiser. Sie warf Della Street ein flüchtiges Lächeln zu, legte ihre Hand für einen kurzen Augenblick auf Perry Masons Arm, drückte ihn und sagte: »Manchmal überkommt es mich eben.« »Das darf es nicht«, sagte Della Street. »Sie sollten...« »Zigaretten! Hier! Ein bißchen dalli!« rief Pierre. »Vielen Dank für alles«, sagte sie, strich über Masons Schulter und war verschwunden. »Armes Mädchen«, sagte Della Street. Mason nickte. »Babys können viel einbringen«, meinte Della Street. »Wahrscheinlich hat der Mann, der sich als Vater ausgab und behauptete, die Mutter wäre verstorben oder verschwunden, von der Jugendbehörde die Genehmigung erhalten, das Kind an Adoptiveltern zu geben und vielleicht fünfhundert oder auch tausend Dollar dafür einkassiert.« »Für ein japanisches Kind?« fragte Mason. »Wer wußte denn schon, daß es japanische Vorfahren hat?« fragte Della Street. »Sie hätten doch auch nicht gemerkt, daß das Mädchen von Japanern abstammt, wenn sie es Ihnen nicht gesagt hätte. Ihre Augen haben irgend etwas Fremdartiges, und auch in ihrem Gesichtsschnitt liegt es. Aber sonst ist sie sehr viel mehr Amerikanerin als Japanerin.« Wieder nickte Mason. »Sie scheinen ziemlich ungerührt zu sein«, sagte Della Street gereizt. »Warum unternehmen eigentlich Sie nichts in der Sache? Sie könnten es doch, Chef. Sie könnten das Kind finden und für Gerechtigkeit sorgen.« -1 7 -
»Gerechtigkeit für wen?« »Für die Mutter, und auch für das Kind.« »Woher wollen Sie denn wissen, daß es auch für das Kind Gerechtigkeit bedeuten würde? Vielleicht lebt es jetzt in einem schönen Zuhause. Die Mutter dagegen arbeitet in einem Nachtklub und ist gerade noch ausreichend bekleidet, um nicht wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses festgesetzt zu werden...« »Was hat das damit zu tun? Sie liebt ihr Kind.« »Das ist möglich«, sagte Mason. »Aber ich finde es etwas merkwürdig, daß sie es so sehr liebt.« »Was wollen Sie damit sagen?« »Es muß mehr als drei Jahre zurückliegen, daß das Kind verschwand«, meinte Mason trocken. »In einem Nachtklub spricht diese Frau ein ihr völlig fremdes Paar an und verstößt überdies gegen die Vorschriften, indem sie sich hinsetzt und über ihren Kummer ausläßt.« »Das stimmt allerdings«, gab Della Street zu. »Wenn man es so betrachtet... Aber es kam doch so spontan! Ich zum Beispiel hatte das Gefühl, daß sie sich mit ihrem Kummer immer allein herumgeschlagen hatte, bis er so in ihr aufgestaut war, daß sie sich nicht mehr zurückhalten konnte.« »Sie übersehen die Bedeutung jener Unterhaltung, Della, die sich vorhin dort drüben an dem Ecktisch abspielte, nachdem ich ans Telefon geholt worden war.« »Das ist richtig. Demnach muß sie also gewußt haben, wer Sie sind.« Mason nickte. »Und anschließend versuchte sie alles, um sich von Ihnen irgendwie helfen zu lassen. Aber trotzdem wirkte es so überzeugend - und die Tränen waren auch echt, Chef.« Mason blickte auf seine Armbanduhr und sagte: »Wenn die -1 8 -
Geschichte noch weitergehen soll, dürfte bald etwas passieren. Sonst wird es zu spät, um heute abend noch irgend etwas zu unternehmen. Ich komme einfach nicht über diesen drängenden Ton, über das nackte Grausen in der Stimme der Frau am Telefon hinweg. Wenn ich nur wüßte, was am anderen Ende der Leitung passierte und...« »Der Oberkellner kommt her«, sagte Della Street. Der Oberkellner - ein ziemlich untersetzter, stämmiger Mann mittleren Alters - war mit einer entschuldigenden Verbeugung und bedauernder Miene an den Tisch getreten. Sein Blick dagegen verriet einen festen Entschluß. »Verzeihen Sie bitte die Störung, Monsieur«, sagte er mit einem Hochziehen der Schultern. »Ja?« sagte Mason. »Aber sind Sie vielleicht Perry Mason, der Rechtsanwalt?« Mason nickte. »Ich bitte um Vergebung, daß ich Sie nicht sofort beim Betreten des Lokals erkannt habe - man machte mich eben erst auf Sie aufmerksam. Ich habe zwar schon mehrmals Aufnahmen von Ihnen in der Zeitung gesehen, aber...« Er machte mit beiden Händen eine eindrucksvolle Geste. »... aber ich finde, daß Sie sehr viel jünger aussehen als auf den Bildern.« »Schon gut«, sagte Mason leicht ungeduldig. »Das Essen ist ausgezeichne t und die Bedienung sehr aufmerksam. Entschuldigen Sie sich bitte nicht dafür, daß Sie mich nicht erkannt haben, und verraten Sie bitte auch niemandem, daß ich hier bin.« Der Oberkellner blickte für den Bruchteil einer Sekunde zu Della Street hinüber. Sein Lächeln deutete an, daß er auch die Seele der Verschwiegenheit sein konnte. »Gewiß doch, Monsieur«, sagte er. »In diesem Lokal bleiben die Gäste unbelästigt. Was Monsieur geschäftlich tut, geht nur ihn an. Der -1 9 -
Grund für die Störung ist jedoch, daß mir von einem Boten ein Brief für den Rechtsanwalt Perry Mason übergeben wurde. Und es ist von größter Wichtigkeit, daß dieser Brief lediglich Monsieur Mason persönlich übergeben werden darf.« Seine Hände machten eine blitzschnelle Bewegung, und mit der Geschicklichkeit eines Zauberkünstlers, der ein Kaninchen aus seinem Zylinder hervorholt, legte er ein Kuvert auf den Tisch. Mason griff nicht sofort nach dem Umschlag. Er betrachtete ihn gründlich, Vorderseite und Rückseite. Es war ein langes Geschäftskuvert, und die Adresse war in großer Eile geschrieben worden. Schließlich blickte Perry Mason den höflichen und lächelnden Oberkellner mit einem kühlen, granitharten Blick an. »Woher haben Sie das?« fragte er. »Es wurde dem Portier von einem Boten übergeben.« »Und wie hieß der Bote?« »Oh, das weiß ich leider nicht. Die Namen der Boten erfährt man nie. Vielleicht weiß der Portier etwas. Wünschen Sie, daß ich ihn kommen lasse?« »Schicken Sie ihn zu mir.« Für einen kurzen Augenblick kreuzten sich ihre Blicke: der des Rechtsanwalts prüfend, nachdenklich und ungeduldig, der des Oberkellners lächelnd und vielleicht sogar mit einem Anflug von Spott. Dann schlug Pierre die Augen nieder. »Ich werde ihn sofort kommen lassen, Monsieur, und ich hoffe, daß Sie zufriedengestellt werden.« Der Mann verbeugte sich, drehte sich um und ging zum Eingang des Nachtklubs. »Ich weiß nicht«, sagte Mason und betrachtete nachdenklich den Rücken des Mannes, »aber wenn man nach einer Erklärung dafür sucht, daß unsere mysteriöse und eventuelle Klientin unseren Aufenthaltsort herausfand...« Er brach ab und riß den Umschlag auf. -2 0 -
»Das ist er also«, sagte Della Street, als sie die Banknoten und den Zeitungsausschnitt sah. Mason blätterte die Banknoten durch. »Eine Kollektion von Eindollarnoten bis zu Fünfzigdollarscheinen«, sagte er. Er hob das Bündel an die Nase und hielt es dann Della Street hin. Sie schnupperte und sagte: »Ein ziemlich starkes Parfüm.« »Bestimmt«, sagte Mason. »Dollars riechen immer gut.« »Dafür könnte ich Sie umbringen«, sagte Della Street lächelnd. »Und jedes Gericht würde auf Notwehr erkennen « »Na schön - reden wir also nicht vom Geld, sondern vom Parfüm.« Ihre Augen wurden ernst. »Ein schönes Parfüm«, sagte sie, »aber herb ist es. Wissen Sie was, Chef: Vielleicht hat die Frau sich das Geld zusammengespart, Dollar für Dollar, manchmal auch fünf Dollar auf einmal, und wenn sie sehr viel Glück hatte, war es sogar ein Fünfzigdollarschein. Und wahrscheinlich hat die Frau das ganze Geld in der gleichen Kommodenschublade aufbewahrt wie ihre Taschentücher, um es im Notfall gleich bei der Hand zu haben.« Mason nickte nachdenklich. »Allerdings«, sagte er schließlich, »könnten die Fünfzigdollarscheine auch bedeuten, daß sie die Möglichkeit hatte, einen großen Teil der kleineren Scheine einzuwechseln. Nachdem sie einiges Geld zusammengespart hatte, ging sie zur Bank und wechselte die vielen kleinen Scheine gegen einen größeren Schein ein, der weniger Platz brauchte, und dann... Moment, der Oberkellner kommt mit dem Portier. Tun Sie das Geld wieder in den Umschlag, Della.« »Steht denn nirgends der Absender drauf?« fragte sie. »Eben nicht«, sagte Mason. »Und ein Zettel liegt auch nicht bei - nur das Geld und ein Zeitungsausschnitt. Deswegen ließ sie -2 1 -
mich auch ans Telefon holen. Sie wollte mir sagen, was ich damit tun sollte. Anscheinend hatte sie keine Zeit mehr zum Schreiben. Sie stopfte das Zeug nur in den Umschlag und...« Er unterbrach sich, als der Oberkellner den Portier an ihren Tisch brachte. »Der Portier, Monsieur.« Pierre blieb abwartend vor ihnen stehen und schien etwas zu erwarten. Mason gab ihm einen Zehndollarschein. »Die Bedienung«, sagte er dabei, »war wirklich ausgezeichnet.« Kräftige Finger griffen nach der Banknote und knüllten sie zusammen. Es war, als hätte sich der Schein in ein Nichts aufgelöst. Die Augen des Mannes hatten jeden hämischen Spott verloren. Seine Haltung war ehrerbietig. »Es war uns ein Vergnügen, Ihnen dienlich sein zu können, Monsieur. Wenn Sie wieder einmal hierherkommen sollten, brauchen Sie nur nach Pierre zu fragen, Monsieur. Für Sie wird jederzeit ein Tisch reserviert sein.« Es war ihm gelungen, seine Worte wie eine ganz persönliche Mitteilung für Perry Mason klingen zu lassen, Della Street jedoch durch einen flüchtigen und beinahe heimlichen Blick ebenfalls einzubeziehen. Dann verneigte er sich bereits beflissen vor einem anderen Tisch. »Sind die Herrschaften zufrieden?« murmelte er. Der Portier, ein großer Mann in betreßter Uniform, schien möglichst schnell auf seinen Posten zurückkehren zu wollen; sein Blick hatte jedoch die Zehn auf der Banknote erfaßt, die Pierre eingesteckt hatte, obgleich der Geldschein sofort in Pierres Handfläche verschwunden war. Sie hatte einen tiefen Eindruck auf den Portier gemacht. »Ich habe eben diesen Umschlag bekommen«, sagte Mason. »Können Sie mir Näheres darüber sagen?« »Nicht viel«, erwiderte der Portier. »Der Wagen war nicht weiter auffallend und auch nicht mehr ganz neu. Ehrlich gesagt: -2 2 -
Ich habe auch nicht besonders darauf geachtet. Es war nämlich gerade ziemlich viel los, und die beiden Burschen, die die Wagen auf den Parkplatz fahren, hatten zu tun. Ich ging also zum Wagen, machte die Tür auf und sah vorn einen einzelnen Mann sitzen, der einen Eindruck machte, wie er nicht gerade unseren Gästen entspricht. In dem Augenblick, in dem ich den Schlag öffnete, erkannte ich sofort, daß er nicht aussteigen wollte. Ich hielt ihn zuerst für einen dieser merkwürdigen Leute, die einfach bei uns vorfahren und sich nach einem Lokal oder irgendeiner Straße erkundigen. Wenn man gerade nichts zu tun hat und die Leute nur das Fenster herunterkurbeln und gleich sagen, was sie wollen, habe ich gar nichts dagegen, aber wenn sie einfach sitzenbleiben und warten, bis man den Schlag aufmacht, werde ich immer sauer. Trinkgeld hat nämlich bisher noch keiner gegeben.« »Und dieser?« fragte Mason ungeduldig. »Wie ich schon sagte: Ich wußte gleich, daß er nicht aussteigen wollte. Ich machte also den Schlag auf, und er drückte mir den Umschlag in die Hand und sagte: Geben Sie das Perry Mason. Er sitzt drinnen.« »Und?« fragte Mason. »Ich erinnere mich jetzt, daß ich mich vorhin um Ihren Wagen gekümmert habe«, sagte der Portier, »erkannt hatte ich Sie aber nicht. Ihren Namen habe ich zwar schon oft gehört, Mr. Mason, aber - wahrscheinlich sind Sie heute zum erstenmal hier, oder?« Mason nickte. »Weiter. Was war mit dem Mann, der Ihnen den Umschlag gab?« »Mehr nicht. Wahrscheinlich habe ich ein ziemlich dummes Gesicht gemacht. Der Mann sagte noch: Los, los - nun machen Sie schon...« Der Portier überlegte einen Augenblick. »Genau das hat er gesagt: Geben Sie den Umschlag sofort weiter und sagen Sie, daß es sehr wichtig ist und daß er für Mr. Mason bestimmt ist. Und dann habe ich Pierre den Umschlag gegeben.« -2 3 -
»Was tat der Mann anschließend?« »Er knallte die Tür zu und fuhr weiter.« »Die Wagennummer oder sonst irgend etwas haben Sie sich nicht gemerkt?« »Nein«, sagte der Portier, »nichts. Meiner Ansicht nach war es ein Chevrolet - etwa fünf bis sechs Jahre alt. Dunkle Farbe, viertürige Limousine - aber mehr kann ich Ihnen beim besten Willen nicht sagen.« »Können Sie den Mann beschreiben?« »Hellgrauer Anzug, und der Hemdkragen war zerknittert. Er war vielleicht sechs oder auch acht Jahre älter als ich, und ich bin jetzt - warten Sie: ich bin jetzt dreiundfünfzig... Jedenfalls wußte ich gleich, daß es kein Gast war.« »Sah er wie ein Arbeiter aus?« »Nicht ausgesprochen - eher wie ein kleiner Geschäftsmann. Er sah aus - na eben, ein bißchen schäbig, aber ziemlich gerissen: wie ein Bursche, der zwar einiges Geld hat, es aber nicht für Kleidung oder für einen neuen Wagen ausgibt. Und diese Leute werfen ihr Geld schon gar nicht in - in...« »In Nachtklubs hinaus?« ergänzte Della Street. Der Mann grinste nur. Mason holte die zweite Zehndollarnote hervor. »Nun versuchen Sie mal, ob Ihnen nicht doch noch etwas einfällt«, sagte er. »Denken Sie nicht immer nur an die Trinkgelder, die Ihnen im Moment draußen entgehen. Den Verlust können Sie schnell wettmachen, wenn Sie sich jetzt etwas mehr Mühe geben. Das hier ist Miss Street, meine Sekretärin. Sie können morgen in meinem Büro zu jeder Zeit anrufen, wenn Ihnen noch etwas einfallen sollte, und nach ihr fragen; und Sie können ihr dann alles erzählen, falls Ihnen noch etwas einfallen sollte.« Das Benehmen des Portiers unterschied sich völlig von dem Benehmen Pierres, des Oberkellners. Statt den Geldschein -2 4 -
schnell in der Hand verschwinden zu lassen, sah der Portier ihn sich sehr genau an, nickte dann und verbeugte sich zustimmend. »Daß mir draußen Trinkgelder entgehen«, sagte er, »ist nicht so wichtig. Wenn Sie noch irgend etwas...« »Überlegen Sie sich die Sache erst noch einmal«, sagte Mason. »Aber vielleicht können Sie inzwischen meinen Wagen holen lassen. Es ist...« »Ich weiß, welches Ihr Wagen ist«, sagte der Portier. »Und wenn Sie das nächste Mal kommen, weiß ich auch, wer Sie sind, Mr. Mason. Falls Sie irgendeinen Wunsch haben...« »Schön, schön«, unterbrach Mason ihn. »Im Augenblick möchte ich nur möglichst viel über den Mann herausbringen, der diesen Umschlag hier abgab.« »Ich werde es mir durch den Kopf gehen lassen. Sollte mir noch etwas einfallen, rufe ich Sie morgen nachmittag an. Bis um zwei Uhr früh habe ich noch Dienst, und ich werde bestimmt nicht vor dem Mittagessen aufstehen. Vielleicht fällt mir noch was ein.« Mason nickte Della Street zu und sagte: »Kommen Sie, Della, wir werden jetzt Carlin anrufen.« »Wenn er schon schlafen sollte, wird er darüber nicht gerade begeistert sein«, meinte Della warnend. »Das weiß ich«, sagte Mason. »Aber versuchen können wir es trotzdem.« »Glauben Sie denn nicht, daß es bis morgen Zeit hat?« »Sie haben nicht die Stimme der Frau am Telefon gehört, Della. Um was es auch gehen mag - geschehen muß sofort etwas. Wenigstens will ich den Versuch machen.« Mason begleitete Della Street zum Telefon. Sie warf eine Münze in den Apparat, wählte die Nummer und sah Mason fragend an. »Wollen Sie von hier aus mit ihm sprechen?« »Nein«, sagte Mason grinsend. »Seien Sie zu ihm so reizend -2 5 -
wie nur möglich, Della, damit er seinen Groll über den späten Anruf wieder vergißt. Versuchen Sie, seine Gefühle zu besänftigen.« »Soll ich ihm sagen, wer wir sind und warum wir ihn anrufen?« »Nicht warum, sondern nur wer. Sie können...« Della Street deutete mit einer Kopfbewegung auf den Apparat und sagte: »Ja, guten Abend. Mr. Carlin selbst?« Sie wartete einen Augenblick, lächelte süß und sagte: »Mr. Carlin, hoffentlich können Sie mir verzeihen, daß ich Sie noch zu so später Stunde störe. Mein Name ist Della Street; ich bin die Privatsekretärin von Rechtsanwalt Mason, und es ist äußerst wichtig, daß wir Sie so bald wie nur möglich aufsuchen können... Bestimmt liegen Sie schon zu Bett... Oh, das ist ausgezeichnet... Ja. Wenn möglich... O ja, ich weiß, daß es etwas ungewöhnlich ist. Ich verbinde Sie jetzt mit Mr. Mason.« Sie bedeckte die Sprechmuschel und sagte: »Er war noch nicht im Bett. Scheint sehr höflich zu sein. Ich glaube, es wird klappen.« Mason nickte, nahm ihr den Hörer ab, hielt ihn an sein Ohr und sagte: »Hallo, hier ist Perry Mason. Es tut mir sehr leid, Mr. Carlin, daß ich Sie so spät noch belästigen muß.« »Das meinte Ihre Sekretärin auch schon«, erwiderte eine Männerstimme. »Aber darüber brauchen Sie sich keine Gedanken zu machen. Vor eins oder auch zwei gehe ich selten zu Bett. Ich lese nämlich sehr gern und bin eine aus gesprochene Nachteule.« »Ich hätte Sie gern wegen einer höchst wichtigen Angelegenheit gesprochen. « »Jetzt noch?« »Ja.« »Wie lange werden Sie bis zu mir brauchen?« -2 6 -
»Im Augenblick bin ich noch in der Golden Goose, und vor dem Besuch bei ihnen habe ich noch eine geringfügige Angelegenheit zu erledigen, so daß ich in etwa - sagen wir, in einer guten halben Stunde bei Ihnen sein könnte.« »Ich erwarte Sie also, Mr. Mason. Moment - sind Sie vielleicht der Rechtsanwalt Perry Mason?« »Der bin ich.« »Ich habe schon viel von Ihnen gehört, Mr. Mason. Ich freue mich, Sie kennenzulernen, und werde uns einen Kaffee machen.« »Das wäre wunderbar«, sagte Mason. »Ich habe zwar das Gefühl, daß ich Ihnen allerhand zumute und daß...« »Gar nicht - überhaupt nicht. Ich lebe wie ein ziemlich einsamer Junggeselle und habe gern Besuch. Es ist bestimmt keine Zumutung, Mr. Mason. Ich freue mich, Sie kennenzulernen. Bringen Sie Ihre Sekretärin auch mit?« »Ja, sie begleitet mich.« »Großartig«, sagte Carlin. »Ich freue mich sehr, Mr. Mason, und erwarte Sie also in etwa einer halben Stunde bei mir.« »Schön«, sagte Mason, »vielen Dank.« Und dann hängte er den Hörer ein. »Er klang ziemlich entgegenkommend«, sagte Della Street. »Da haben Sie recht.« »Und was ist mit dem Zeitungsausschnitt, Che f?« »Genau habe ich ihn mir noch gar nicht ansehen können«, sagte Mason. »Es sind nur ein paar Zeilen, anscheinend aus einer New Yorker Zeitung, in denen von einer Helen Hampton die Rede ist, die wegen Erpressung angeklagt und zu achtzehn Monaten Gefängnis verurteilt wurde. Anscheinend war sie zusammen mit einem ungenannten Komplicen in ein Unternehmen verwickelt, von dem nicht allzuviel an die Öffentlichkeit gedrungen ist. Sie bekannte sich schuldig, und in -2 7 -
der Urteilsbegründung erwähnte das Gericht, die Art der Erpressung wäre so teuflisch ausgeklügelt gewesen, daß man sie der Presse nicht bekanntzugeben wagte, weil damit die Möglichkeit bestünde, daß andere sie übernehmen würden.« »Ist das alles?« »Ja - das ist alles«, sagte Mason. »Und wann erschien diese Notiz?« »Der Zeitungsausschnitt hat kein Datum«, sagte Mason. »Er ist aus einem Blatt herausgeschnitten. Das Papier ist allerdings leicht vergilbt - und das könnte bedeuten, daß die Zeitung schon älter ist oder daß sie in der Sonne gelegen hat, da Zeitungspapier besonders schnell vergilbt.« »Wahrscheinlich werden wir etwas mehr wissen, wenn wir mit Carlin gesprochen haben«, meinte sie. »Was war eigentlich die andere Geschichte, die Sie noch erledigen wollten, Chef?« »Ich möchte mir die Telefonzelle ansehe n«, sagte Mason. »Der Drugstore wird vermutlich bis Mitternacht geöffnet sein. Ich will versuchen, etwas über die Frau zu erfahren, die mich angerufen hat.« »Ihr Freund Carlin machte immerhin einen recht ordentlichen Eindruck«, sagte Della Street. »Fast ge fällt er mir.« »Er scheint tatsächlich sehr höflich und sachlich zu sein«, meinte Mason. »Und außerdem zeigte er sich alles andere als neugierig.« »Das ist es«, bemerkte Della Street. »Die ganze Zeit versuche ich schon herauszufinden, was mir an ihm besonders auffiel. Er scheint völlig ungerührt zu sein. Jeder andere wäre wahrscheinlich vor Neugier gestorben oder hätte vielleicht ein schlechtes Gewissen verraten. Ich kann mir gut vorstellen, daß die meisten Menschen gesagt hätten: Wenn ich nur wüßte, warum mich dieser Mason ausgerechnet zu dieser späten Stunde noch sprechen will - wenn ich bloß wüßte, was er vorhat? Mr. -2 8 -
Carlin dagegen schien völlig anders zu reagieren.« Mason überlegte. »Freundlich und bar jeder Neugierde«, wiederholte er langsam. »Vielleicht hatte er mit dem Anruf gerechnet?« fragte Della Street und richtete sich auf. »So weit möchte ich nicht gehen«, erwiderte Mason. »Aber bestimmt kam mein Anruf nicht völlig überraschend. Los. Della - wir wollen jetzt gehen und feststellen, ob die Telefonzelle uns etwas verrät.«
3 Während sie zu dem Drugstore an der Ecke Vance Avenue und Kramer Boulevard fuhren, sagte Mason: »Della, woher kann die Frau Ihrer Meinung nach gewußt haben, daß ich in der Golden Goose war?« »Naja«, sagte Della Street, »eine so bekannte Persönlichkeit wie Sie...« »Dann müßte man aber annehmen, daß die Frau ebenfalls in der Golden Goose gewesen war.« »Nicht unbedingt. Sie - einen Moment - ja: Wahrscheinlich haben Sie damit doch recht.« »Sie könnte natürlich auch einen Bekannten gehabt haben, der sie anrief und sagte: Hör zu, Perry Mason ist in der Golden Goose - das ist für dich die Chance; du brauchst ihn nur dort anzurufen! Oder der Oberkellner...« »Ja, das wäre allerdings möglich.« »Aber irgendwie kommt es mir unwahrscheinlich vor«, sagte Mason. »Dann hätte nämlich ihre Stimme nicht so entsetzt, nicht so drängend geklungen... Nein, diese Frau muß selbst hiergewesen sein. Sie hat uns beide hier gesehen, ist dann hinausgegangen und hat angerufen.« »Und Sie glauben nicht, daß irgend jemand gewußt hat, Sie -2 9 -
würden später in die Golden Goose gehen?« »Das haben wir beide vorher doch selbst nicht gewußt«, sagte Mason. »Sie erinnern sich doch noch, daß wir nach der Unterhaltung mit dem Zeugen nach Hause fahren wollten. Dann fiel Ihnen plötzlich ein, daß Paul Drake Ihnen die Golden Goose empfohlen hatte. Er meinte, dort gäbe es ein ausgezeichnetes Essen und ein ganz nettes Programm, und...« »Das stimmt«, sagte Della Street. »Wir entschlossen uns ganz plötzlich dazu, und kein Mensch wußte, wo wir waren.« »Mit der einzigen Ausnahme der Drake Detective Agency«, sagte Mason. »Erinnern Sie sich nicht, daß wir Paul von dem Nachtklub aus anriefen und ihm mitteilten, wir hätten die Aussage des Zeugen und müßten ihn morgen sprechen? Und ich habe ihm, glaube ich, auch gesagt, daß wir den von ihm empfohlenen Nachtklub gerade ausprobierten.« »Richtig. Das haben Sie ihm gesagt.« »Aber Paul Drake hat es bestimmt niemandem verraten«, sagte Mason nachdenklich. »Schließlich ist er Detektiv und weiß, wann er seinen Mund zu halten hat. Ich glaube fast, daß wir eine ganze Menge erfahren werden, wenn wir uns mit diesem Carlin unterhalten, obgleich sich letzten Endes wohl doch herausstellen wird, daß die ganze Geschichte nur eine Routineangelegenheit ist, also kein Grund zur Aufregung besteht und schon gar keiner, mitten in der Nacht zu diesem Mann zu fahren. Trotzdem komme ich nicht von dem Gedanken los, daß die Frau sich für einen Notfall Geld zurückgelegt hatte, es in dem Augenblick aus seinem Versteck holte als der Notfall eintrat und... Da ist schon der Drugstore. Mal sehen, was wir hier entdecken. Kommen Sie mit?« Della Street hatte bereits die Wagentür geöffnet. »Wollen Sie mich vielleicht daran hindern?« Der Provisor war gerade dabei, die Auslagen wegzuräumen. Vier Jugendliche, die schwatzend vor ihren Eisbechern saßen, -3 0 -
wurden höflich, aber bestimmt auf die Zeit aufmerksam gemacht. Das Mädchen an der Sodabar tauchte erschöpft die benutzten Gläser in das heiße Spülwasser, und die Kassiererin war mit der Abrechnung beschäftigt. Der Provisor hörte gleichgültig zu. »Genau kann ich mich an die Frau nicht erinnern«, sagte er. »In der anderen Zelle ging dauernd das Telefon, aber es konnte niemand hingehen, weil wir zuviel zu tun hatten. Als ich schließlich den Hörer abna hm, meldete sich das Telefonamt und machte mich darauf aufmerksam, daß der Hörer in der anderen Zelle nicht eingehängt war. Ich sah nach und brachte die Sache in Ordnung. Mehr weiß ich auch nicht. Vielleicht fragen Sie einmal die Kassiererin?« Mason ging zu der Kasse hinüber. Doch, sie erinnerte sich dunkel an eine Frau; diese Frau hätte sich von ihr Geld wechseln lassen. Sie sei etwa dreißig oder fünfunddreißig Jahre alt gewesen, habe einen dunklen Mantel mit Pelzkragen getragen und eine Handtasche aus braunem Krokodilleder bei sich gehabt. Nein, genauer könne sie sie nicht beschreiben. Der Hörer sei nicht wieder eingehängt worden nein, sie habe nicht gesehen, wie die Frau den Drugstore verließ. Sie habe so viel zu tun gehabt... »In welcher Zelle telefonierte sie denn?« fragte Mason. »In der rechten, gleich neben dem Zeitschriftenstand.« »Ich werde sie mir selbst ansehen«, sagte Mason. Er ging zu der Telefonzelle hinüber, Della Street folgte ihm. »Der Provisor beobachtet Sie genau, Chef«, flüsterte sie. »Wahrscheinlich glaubt er, ich sei vom FBI«, sagte Mason. »Meiner Ansicht nach stehen die Chancen eins zu tausend, daß wir herausbekommen, was ihr so große Angst einjagte; aber trotzdem wollen wir uns doch genau umsehen. Wenn sie die Telefonzelle so überstürzt verlassen mußte, könnte sie vielleicht -3 1 -
irgend etwas vergessen haben: ein Taschentuch, das Portemonnaie oder...« »Auf dem Tischchen liegt ein Zettel - und Kleingeld«, sagte Della Street, die durch das längliche Glasfenster der Tür blickte. Mason zog die Tür auf. Della Street war mit einem Schritt in der Zelle. »Vier Münzen sind auf dem Papier aufgestapelt«, sagte sie. »Und was ist mit dem Zettel?« »Nur ein paar Ziffern stehen drauf, mit Bleistift geschrieben. Das hier scheint eine Telefonnummer zu sein: Main 9-6450.« »Rufen Sie die Nummer gleich an«, sagte Mason. »Mal sehen, wer sich meldet.« Della Street steckte eine Münze in den Apparat, wählte die Nummer und sagte dabei: »Um diese Zeit wird sich wahrscheinlich niemand mehr melden. Es - ja? Hallo? Wer is t dort, bitte? Entschuldigen Sie bitte - ich muß eine falsche Nummer gewählt haben.« Sie hängte den Hörer wieder ein und blickte Mason lächelnd an. »Das«, sagte sie, »war die Nummer der Golden Goose.« »Verdammt noch mal! Ich würde sehr viel darum geben, wenn ich herausfände, woher sie wußte, daß wir dort waren. Steht sonst noch etwas auf dem Zettel?« »Auf der Rückseite stehen noch ein paar Zahlen - fein säuberlich wie bei einem Buchhalter.« »Und welche Zahlen sind es?« »Es sieht aus wie eine etwas komplizierte Chiffre.« Zahlen und Buchstaben waren in einer Reihe hintereinander geschrieben: 59-4R-38-3L-19-2R-10L. Mit gefurchter Stirn blickte Mason auf den Zettel. Der Provisor kam mit schnellen Schritten herüber. »Haben Sie was gefunden?« fragte er. -3 2 -
Mason sah ihn lächelnd an und schüttelte den Kopf. »Ich habe mir nur eine Nummer aufgeschrieben.« »Ach so«, sagte der Angestellte. Mason steckte den Zettel in die Tasche, gähnte ostentativ und sagte: »Es ist aber nicht so wichtig. Ich habe nämlich eine Kusine, die an Gedächtnisschwund leidet. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund scheint sie sich selbst dann an meine Telefonnummer zu erinnern, wenn sie nicht einmal mehr weiß, wo sie sich gerade befindet, wie ich heiße oder wo ihre Familie wohnt.« »Jetzt verstehe ich«, sagte der Provisor in einem Ton, der andeutete, daß er gar nichts verstand. Mason ging mit Della Street zur Tür. Der Sprühregen war mittlerweile zu einem kalten, unangenehmen Dauerregen geworden. Della Street ließ sich in den Wagen fallen und rutschte ein ganzes Stück zu Mason hinüber. »Brrrrr«, sagte sie. »Ich friere. Eigentlich braucht man für seine Beine mehr als nur ein Paar dünner Nylonstrümpfe, um bei solchem Wetter warm zu bleiben. Können Sie sich unter den Zahlen auf dem Zettel etwas vorstellen, Chef?« »Die Zahlenreihe mit den Buchstaben«, sagte Mason und zog dabei den Zettel aus der Tasche, »ist die Kombinationszahl eines Safes: viermal nach rechts bis neuundfünfzig, dreimal nach links bis achtunddreißig, zweimal nach rechts bis neunzehn und schließlich nach links bis zehn.« »Der Provisor kommt geradezu auffallend unauffällig zur Tür«, sagte sie. »Wahrscheinlich interessiert er sich für Ihr Nummernschild, falls...« Mason trat auf das Gaspedal. Der Wagen zog plötzlich an, und die Scheibenwischer summten monoton vor sich hin, während der prasselnde Regen in Bächen an der Scheibe herunterlief. »Der Oberkellner im Nachtklub wußte wahrscheinlich sehr -3 3 -
viel mehr, als er uns gesagt hat«, meinte Mason. »Hoffentlich erkundigt er sich nach Ihnen und stellt dann fest, daß Sie Junggeselle sind und daher das Recht haben, mit Ihrer Sekretärin einen Nachtklub zu besuchen«, sagte Della Street. »Wer Sie waren, wußte er vielleicht - nicht aber, wer ich war. Er hielt Sie für einen Ehemann, der sich heimlich einen vergnügten Abend macht.« »Und Sie?« fragte Mason. »Mich hielt er für eine Sirene, für die wollüstige Versucherin der Tugend.« »Und das ist wiederum vielleicht nur das Ergebnis seiner Bewertung meiner Person.« »Da haben wir's wieder mal«, sagte Della Street erbittert. »Nur nichts einer Frau zugute halten. Männer wollen immer die erste Geige spielen.« »Es gibt allerdings noch eine andere Möglichkeit«, sagte Mason. »Pierre kam zu dem Ergebnis, daß Sie eine ausgekochte Blutsaugerin sind, mich dagegen hielt er für einen sich unablässig abrackernden Geschäftsmann, den ihr Glanz und Zauber einfach...« »Hören Sie auf!« unterbrach Della Street ihn lachend. »Aber da ich auch für ihre Buchführung verantwortlich bin: Wie soll ich eigentlich diese fünfhundertsiebzig Dollar verbuchen?« »Meiner Meinung nach«, sagte Mason, »müssen Sie sie als Guthaben von Mrs. X eintragen, bis wir Näheres über unsere Klientin wissen. Aber jetzt wollen wir erst einmal sehen, was dieser Mister Carlin zu erzählen hat. Vielleicht kann er uns einen Tip geben.« »Was wollen Sie ihm eigentlich sagen, Chef - über unsere Klientin, meine ich.« »Nicht ein Wort«, erwiderte Mason. »Meine einzige Hoffnung ist, daß er uns mit dem heißen Kaffee nicht auf den -3 4 -
Arm genommen hat.« Gedankenversunken schwiegen sie, bis Mason in die West Lorendo Street einbog und feststellte, daß sich hier der sechstausendachthundertste Block befand. »Zu früh eingebogen, Della«, sagte er. »Jetzt sind wir auf der falschen Straßenseite.« Er fuhr über die nächste Kreuzung, verlangsamte das Tempo, um die Nummern lesen zu können, und sagte dann: »Da ist es schon, genau gegenüber.« »Das ist aber ein sehr altmodisches Haus!« rief Della Street. Mason nickte. »Wahrscheinlich wohnte dort ein Mann, dem vor fünfundzwanzig Jahren ein schönes Stück Land hier gehörte. Dann fing die Stadt an, sich auszudehnen, und der Mann entschloß sich, das Land in Parzellen zu verkaufen; immerhin hat er sich noch genügend Ellenbogenfreiheit gelassen. Das Grundstück hat an beiden Seiten etwa zehn Meter Spielraum. Vermutlich gehört es irgendeinem Privatmann; man sieht es daran, daß das Haus leicht heruntergekommen ist. Es müßte schon lange wieder einmal gestrichen werden, und auch sonst wirkt es beinahe wie ein Märchenhaus. Aber sehen wir es uns einmal an.« Mason wendete den Wagen und hielt unmittelbar vor dem Haus. »Was machen Ihre Beine, Della?« »Sie sind immer noch naß.« »Und ich hatte gehofft, daß sie durch die Heizung getrocknet wären. Holen Sie sich nur keine Erkältung!« »Das tue ich schon nicht. Haben Sie denn keine nassen Füße?« »Ich habe feste Schuhe an.« Mason schaltete die Scheinwerfer aus, stellte den Motor ab und ging um den Wagen herum, um Della Street die Tür aufzuhalten. -3 5 -
»Kommen Sie, Della«, sagte er, »das Rennen beginnt.« Sie eilten über den gepflasterten Weg zu dem windschiefen, von zwei geschnitzten Holzsäulen gestützten Vorbau, von dem die Farbe abgeblättert war. Mason wollte gerade läuten, als sich die Haustür öffnete. Die ruhige Stimme eines Mannes sagte: »Verzeihen Sie, aber der Vorbau hat kein Licht. Sie sind Mr. Mason?« »Richtig, und Sie sind vermutlich Mr. Carlin?« »Stimmt, Sir. Wollen Sie und die junge Dame bitte eintreten?« Carlin stieß die Tür des Windfangs auf, und gefolgt von Perry Mason betrat Della Street das Haus. »Ein scheußliches Wetter«, sagte Carlin, »und dazu der eiskalte Regen.« »Es ist tatsächlich ziemlich abscheulich«, gab Mason zu, noch sehr zurückhaltend, und sah sich den Mann und die Umgebung flüchtig an. Das fahle Licht in der Halle fiel auf einen Mann von vielleicht Anfang Sechzig mit rundem Schädel, ruhiger Stimme, hervorquellenden grauen Augen hinter dicken Brillengläsern, die seine Besucher mit merkwürdiger Gelassenheit betrachteten. Der Anzug des Mannes war genauso altmodisch und schäbig wie das Äußere des Hauses. Das einreihige Jackett war nach einer längstvergangenen Mode geschnitten; die Hose mußte dringend aufgebügelt werden. Nach vielen Monaten ständigen Tragens war das Leder der Schuhe rissig geworden, um sich den kurzen, breiten Füßen besser anpassen zu können. »Ich habe einen Junggesellenhaushalt«, sagte der Mann. »Ich wohne hier völlig allein. Einmal in der Woche kommt eine Putzfrau, aber ich selbst habe keine Lust, aufzuräumen, zu fegen oder staubzuwischen. Sie müssen also mit dem vorliebnehmen, was Sie vorfinden.« -3 6 -
»Aber ich bitte Sie«, sagte Mason. »Wir müssen uns überhaupt entschuldigen, daß wir zu so später Stunde noch bei Ihnen eindringen. Es liegt jedoch in der Art der ganzen Angelegenheit, daß ich nicht bis morgen warten konnte.« Carlin rückte seine Brille zurecht und blickte Mason nachdenklich an. Die linke Seite seines Gesichtes war lang und ruhig; die rechte dagegen war zwischen dem leicht hochgezogenen Mundwinkel und dem Winkel des Auges, das irgendeinen fragenden Ausdruck hatte, leicht verzerrt. Alles in allem hatte man das Gefühl, daß dieser Mann die Welt mit nur einseitiger Billigung betrachtete. »Mein Haus«, sagte er, »steht zu Ihrer Verfügung. Ich weiß nur zu genau, wie besetzt Ihre Zeit sein muß, Mr. Mason. Kommen Sie bitte in das Wohnzimmer. Den Kaffee habe ci h bereits aufgesetzt.« »Das«, sagte Mason, »ist im Augenblick gerade das Richtige.« »Nehmen Sie Sahne und Zucker, oder trinken Sie ihn schwarz?« »Mit Sahne und Zucker«, erwiderte Mason. Das Wohnzimmer spiegelte Carlins Persönlichkeit sehr deutlich wider. Es enthielt drei altmodische, gepolsterte Schaukelstühle und zwei Holzstühle mit runden Armlehnen, die ebenfalls sehr alt sein mußten; in die hölzernen Sitzflächen waren Löcher gebohrt, die in Form eines Sternes angeordnet waren. Stehlampen fehlten, desgleichen Steckdosen. In die Fassungen des Lüsters, der in der Mitte des Raumes an der Decke hing, waren jedoch Verbindungsstecker eingedreht. Das Ergebnis war ein Spinnennetz von Leitungsschnüren und mehrere Hängelampen mit Schirmen aus Karton, deren Außenseite grün und deren Innenseite weiß war. Auf einem kleinen Tisch in der Mitte des Raumes stapelten sich Bücher, Zeitschriften und Zeitungen; auch auf dem -3 7 -
Fußboden lagen sie, und ein weiterer Packen neben einem der Schaukelstühle deutete darauf hin, daß der Mann, der dort üblicherweise saß, sehr viel las und das Gelesene dann einfach zu Boden fallen ließ. »Machen Sie es sich bequem«, forderte Carlin seine beiden Besucher auf. »Ich hole nur eben den Kaffee.« Carlin verschwand in Richtung Küche. Mason und Della Street sahen sich in dem Zimmer um. Della lächelte Mason zu. »Ungeheuer schwer, den Lieblingsplatz dieses Knaben zu finden!« Sie deutete auf den Schaukelstuhl neben dem Durcheinander von Büchern, Zeitungen und Zeitschriften. Mason lächelte und ging zu dem vom Alter nachgedunkelten Bücherschrank aus Mahagoni hinüber, um die Bücher genauer zu betrachten. »Sehen Sie sich das einmal an, Della. Einiges ist äußerst interessant. Und vor allem die Einbände.« »Na und?« sagte Della Street. »Versuchen Sie bloß nicht, mich wegzulocken, Chef. Ich habe die Luftheizung entdeckt, und die warme Luft ist eine reine Wohltat.« Mason drehte sich nach ihr um. Della Street stand auf einem Ziergitter. Die Warmluft, die durch das Gitter aufstieg, blähte sanft ihren Rock, hob ihn dadurch einige Zentimeter höher und blies ihn zu einer runden Halbkugel auf. Mason lachte. »Wenn Sie bei einem solchen Wetter ein Kleid trügen, wüßten Sie, wie gut es tut«, sagte sie. »Was ist mit den Büchern?« »Die Themen sind zwar verschieden«, sagte Mason, »aber ganz offensichtlich sind es Sonderausgaben mit schönen Einbänden, und...« Schlurfende Schritte kamen aus der Richtung der Küche, und dann kam Carlin mit einem großen Tablett herein, auf dem eine gewaltige Kaffeekanne, Tassen mit Untertassen, eine ha lbvolle -3 8 -
Literflasche mit Sahne und eine große geschliffene Zuckerschale standen. Beinahe ein bißchen verstört blickte er auf den Tisch. »Einen Moment«, sagte Della Street. »Vielleicht kann ich Ihnen helfen.« Sie legte Bücher und Zeitschriften auf einen Stapel. Carlin lächelte dankbar, stellte das Tablett auf der Tischplatte ab und goß die Tassen voll. Die Tassen hatten verschiedene Formen und zeigten Merkmale häufigen Gebrauchs. »Daß die Tassen an einigen Stellen abgestoßen sind, läßt sich wohl nicht ändern«, sagte Carlin um Nachsicht bittend, »aber Sie werden bestimmt nichts dagegen haben, daß die henkellose Tasse für den Gastgeber bestimmt ist. Und das ist im übrigen die letzte Entschuldigung, die Sie von mir zu hören bekommen. Sie befinden sich im Heim eines Junggesellen. Wenn Sie alles so nehmen, wie es ist, soll es mir recht sein. Aber jetzt wollen wir erst einmal Kaffee trinken und uns etwas näher kennenlernen.« Mason rührte in seiner Tasse, blickte Della Street an, nippte an dem heißen Getränk und nickte anerkennend. »Kaffee können Sie tatsächlich kochen!« »Danke - ich freue mich, daß er Ihnen schmeckt.« »Kochen Sie immer allein für sich?« fragte Della Street und fügte dann schnell hinzu: »Verzeihen Sie - ich wollte nicht neugierig sein.« »Sie haben völlig recht«, sagte Carlin. »Ich koche gern. Essen tue ich ziemlich unregelmäßig, und mein Geschmack ist etwas ausgefallen. Wenn ich Hunger bekomme, mache ich mir schnell irgend etwas zurecht; habe ich keinen Hunger, esse ich auch nicht. Zu dem Fluch unserer sogenannten Zivilisation gehört auch, daß wir uns von der Uhr beherrschen lassen. Wir haben das Rad erfunden, das sich um sich selbst dreht, und von der -3 9 -
Drehung dieses Rades wird unser Leben beherrscht. Unzählige Menschen, die viel zuviel wiegen, sind lediglich Sklaven des Brauches, zu bestimmten Zeiten zu essen. Vielleicht sind sie gar nicht hungrig, aber da sie nicht unzivilisiert wirken wollen, setzen sie sich mit ihrer Familie oder mit Freunden an den Tisch und schaufeln das Essen in sich hinein.« »Sie besitzen ein paar sehr interessante Bücher«, sagte Mason. Carlins Gesicht verzog sich zu einem unbeholfenen Lächeln. »Mr. Mason, halten wir uns nicht unnötig mit Ausflüchten und Höflichkeiten auf. Ich weiß, daß Sie nicht hierhergekommen sind, um sich mit mir über das Wetter, meinen Kaffee oder meine Bücher zu unterhalten. Sie möchten etwas wissen. Ich werde also Ihre Neugierde befriedigen - und dann können Sie meine Neugierde stillen. Ich bin Witwer. Seit fünf Jahren wohne ich hier. Ich habe ein kleines Einkommen, das mich von wirtschaftlichen Sorgen einigermaßen bewahrt - vorausgesetzt, daß ich meine Ausgaben nach meinem Einkommen richte. Ferner habe ich das, was man ein Hobby nennt. Im Keller habe ich eine kleine Druckerei eingerichtet und ein kleines Lager besonders ausgesuchter Papiersorten. Wenn ich, was hin und wieder vorkommt, in der Literatur etwas entdecke, das mich besonders anspricht, setze ich den Text in der mir geeignet scheinenden Schrifttype, drucke ihn und binde das Buch in feines Leder. Wenn ich, was ebenfalls gelegentlich vorkommt, ein Buch entdecke, das diese Behandlung verdient, entferne ich den alten Einband und binde das Buch in handbearbeitetes Leder. Ich bin auch so etwas wie ein Fotograf. Ich verfüge über eine Dunkelkammer und einen sehr guten Vergrößerungsapparat. Es macht mir Spaß, mit meiner Kamera herumzuziehen und solche Aufnahmen zu machen, die mir gefallen: interessante Studien von Licht und Schatten, die verschiedenen Launen der Natur, das Licht der Morgensonne, das durch das Laub einer Eiche -4 0 -
fällt, den Gischt einer brechenden Welle, die nach einem Sturm gegen den Strand läuft. Meiner Ansicht nach ist es allen Menschen gegeben, sich am Schönen zu erfreuen. Ich gebe zu, daß diese Freude am Schönen sich in meiner Jugend mit lebendigeren Dingen beschäftigte.« Carlin lächelte wehmütig. »Aber mittlerweile neige ich mehr zu der Haltung eines Philosophen und freue mich an einer etwas unpersönlichen Schönheit. Sie sehen, Mr. Mason, ich bin Ihnen gegenüber sehr offen.« »Ich bin Rechtsanwalt«, sagte Mason. »Ich bin Sachwalter der Geheimnisse meiner Klienten. Viele Dinge, über die ich gern sprechen würde, muß ich verschweigen.« »Das verstehe ich«, sagte Carlin. »Sprechen Sie also von Dingen, über die Sie reden dürfen.« »Ich möchte Ihnen ganz offen sagen, daß ich meine Klientin gar nicht kenne.« »Das können Sie mir doch nicht einreden!« »Es stimmt aber.« »Und Sie übernehmen auch unter diesen Umständen einen Auftrag?« »Eigentlich nicht. Dieser Fall liegt jedoch anders. Ich habe Ihnen etwas aus zurichten.« »Und das wäre?« Mason holte den Zeitungsausschnitt aus der Tasche. »In erster Linie wurde mir aufgetragen, Ihnen diesen Artikel zu zeigen.« Carlin erhob sich von seinem Stuhl, kam durch das Zimmer, griff nach dem Zeitungsausschnitt und sagte: »Das sagt mir nichts. Mal sehen, was wir hier haben - aha... Es scheint sich um eine junge Frau zu handeln, die wegen Erpressung verurteilt wurde.« »Kennen Sie diese Frau?« fragte Mason. »Um Himmels willen - nein!« -4 1 -
»Oder hatten Sie vielleicht irgendwann mit - verzeihen Sie, Mr. Carlin, aber hat man auch bei Ihnen irgendwann versucht, Sie zu erpressen?« »Niemals. Vielleicht aber bringt die Nachricht, die Sie mir übermitteln sollen, etwas Klarheit in die Angelegenheit, Mr. Mason?« »Die Nachricht«, sagte Mason, »lautet, daß Sie sich unter den gegenwärtigen Umständen nach einem neuen Partner umsehen sollten.« Carlin zog die Stirn in Falten. »Wer läßt mir dies ausrichten?« »Das kann ich Ihnen leider nicht verraten.« »Können oder wollen Sie es nicht?« »Das dürfen Sie auslegen, wie Sie wollen.« »Und das ist die Nachricht, die Sie mir überbringen sollten?« »Fast wörtlich.« »Schriftlich?« »Nein.« »Die Worte ›unter den gegenwärtigen Umständen‹ - was ist damit gemeint?« »Das weiß ich nicht.« »Sie gehörten jedoch zu der Nachricht?« »Gewiß.« Nachdenklich starrte Carlin mit gefurchter Stirn vor sich hin und schüttelte dann den Kopf. »Mr. Mason, ich habe keine Partner.« »Vielleicht handelt es sich um ein gemeinsames Unternehmen, irgendein...« Carlin unterbrach ihn. »Mr. Mason, ich habe weder einen Partner noch irgendwelche Geschäftsfreunde oder Teilhaber.« »Vielleicht«, sagte Mason, »bezieht sich die Nachricht auf irgendeine geschäftliche Abmachung, auf...« Er brach ab, als er -4 2 -
sah, daß Carlins Augen sich plötzlich veränderten. »Sie sind also eine geschäftliche Abmachung eingegangen?« fragte Mason. Carlin zögerte einen Atemzug lang. »Nein.« Mason beobachtete den Mann. »Das wissen Sie genau?« »Ja.« »Also gut«, sagte Mason, »dann hätte ich meinen Auftrag erfüllt.« »Ich verstehe allerdings nicht, was daran so dringend war«, meinte Carlin. »Die Umstände waren so, daß er mir dringend erschien«, sagte Mason. »Welche Umstände?« Mason lächelte. »Ich sagte bereits, daß ich Rechtsanwalt bin und daß mir als solchem die Geheimnisse meiner Klienten anvertraut sind.« »Bei Ihnen sind sie wahrhaftig gut aufgehoben!« »Da Sie mir jedoch nicht mehr sagen wollen oder können, bin ich lediglich auf Vermutungen angewiesen.« »Bitte sehr.« Carlin, der die henkellose Tasse in seiner kurzfingrigen Hand hielt, sagte unvermittelt: »Vielleicht dauert es noch einige Zeit, aber die Antwort finde ich bestimmt.« »Und dann?« fragte Mason. Carlin lächelte nur. »Werden Sie uns die Antwort verraten?« fragte Della Street. »Das weiß ich noch nicht! Zuerst muß ich die Ant wort überhaupt finden.« Er nippte an der Tasse. Unvermittelt sagte er schließlich: »Der menschliche Geist ist ein wunderbares Instrument. Wir wären zweifellos imstande, viele Geheimnisse zu enträtseln, wenn wir uns nur konzentrieren würden. Wir könnten das Rätsel von Leben und Tod lösen, wenn wir es -4 3 -
wirklich versuchten, aber wir haben Angst, Mr. Mason; wir haben entsetzliche Angst. Unser ganzes Leben wird von der Angst beherrscht.« »Meinen Sie die Angst vor dem Tod?« fragte Della Street, und der Blick, mit dem sie Mason ansah, zeigte, daß sie versuchen wollte, Carlin auszuhorchen. »Ich meine die Angst vor uns selbst«, sagte Carlin. »Der Mensch fürchtet sich vor sich selbst viel mehr als vor irgend etwas anderem, was ihm begegnen könnte. Er fürchtet, mit sich selbst allein zu sein, sich selbst kennenzulernen, sich selbst zu suchen.« »Das habe ich noch nicht bemerkt«, sagte Della Street. Carlin betrachtete sie nachdenklich. »Wenn Menschen für einen Abend zusammenkommen, greifen sie nach einem Kartenspiel und spielen Bridge oder Canasta, oder sie stellen das Radio an, setzen sich vor den Fernsehapparat oder gehen gemeinsam ins Kino.« »Glauben Sie denn nicht, daß die Menschen sich nach Gesellschaft sehnen?« fragte Della Street. »Doch - nur ist es nicht das Sehnen nach Gesellschaft, sondern die Furcht des Menschen, mit sich selbst allein zu sein. Aus diesem Grunde drängen die Menschen zueinander. Das Stimmengewirr schläfert die Gedanken ein. Ich schweife jedoch ab, obgleich auch dies ein Versuch war, Ihre Frage zu beantworten. Ich werde mich jetzt auf bestimmte, zum Thema gehörende Tatsachen beschränken, die zu Ihrer Nachricht gehören. Am Ende werde ich, wenn die Nachricht mich tatsächlich angeht - was ich bezweifle -, auch jene Dinge wissen, die mir mitzuteilen Sie, Mr. Mason, nicht die Freiheit haben.« »Sie haben immer noch das Gefühl, daß die Nachricht für Sie bedeutungslos ist?« fragte Mason. »Ja. Genaugenommen glaube ich, daß Ihr Klient einen -4 4 -
anderen Carlin gemeint hat, Mr. Mason.« »Das ist unmöglich«, sagte Mason, »weil ich genaue Angaben bekam: Ihren Namen, Ihre Adresse...« »Sicher«, unterbrach Carlin ihn. »Ich behaupte gar nicht, daß Sie sich bei Ihrer Rolle geirrt haben könnten. Der Fehler liegt allein bei Ihrem Klienten.« »Inwiefern?« »Nehmen wir an, Ihr Klient hatte eine Nachricht, die an einen gewissen Carlin weitergeleitet werden sollte. Ihr Klient ist sich über den Vornamen nicht ganz klar, schlägt also im Telefonbuch nach, und auf Grund irgendwelcher Zusammenhänge, die Sie im Augenblick noch gar nicht erkennen, erwischt er den falschen Carlin. Auf diese Weise wird der Fehler, wenn man so sagen will, an Sie weitergegeben, und Sie... Sie sind zweifellos ein ehrbarer Mann und ein willkommener Besuch, Mr. Mason, der mir die Gelegenheit, eine erfreuliche halbe Stunde zu verbringen, Sie kennenzulernen und mich mit Ihnen zu unterhalten, gab. Darüber hinaus fürchte ich jedoch, daß Ihr Besuch im übrigen für beide Teile fruchtlos gewesen ist.« Und mit ernstem Gesicht gab Carlin den Zeitungsausschnitt an Mason zurück. »Ich hatte die Hoffnung«, sagte Mason, »daß Sie mir vielleicht ein paar Informationen über...« »Etwa über Ihren Klienten geben könnte?« fragte Carlin lächelnd, als Mason zögerte. »Vielleicht.« »Ich vermute, daß Ihr Auftrag - wenn man das Verhältnis zwischen Anwalt und Klient so bezeichnen kann - noch ziemlich neu sein muß«, sagte Carlin. »Offensichtlich hatten Sie noch keine Gelegenheit, sich mit diesem Klienten zu unterhalten; aus diesem Grunde muß die Nachricht Ihnen also zugestellt worden sein. Berücksichtigt man die späte Stunde Ihres Besuches, muß man zu dem Schluß kommen, daß Sie diese Nachricht nicht in -4 5 -
Ihr Büro bekamen. Da Miss Street Sie begleitet, nehme ich an, daß die Nachricht Sie zu einem Zeitpunkt erreichte, zu dem Sie sich noch nicht wieder in Ihrer Wohnung befanden. Daher muß die Nachricht Sie folglich in der Golden Goose erreicht haben, da Sie sich dort vor kurzem noch, wie Sie selbst sagten, aufhielten.« Mason lächelte. »Die Entwicklung logischer Folgerungen scheint Ihnen Spaß zu machen.« »Stimmt«, sagte Carlin. »Schließlich hat der Mensch einen Verstand mitbekommen. Warum soll er ihn also nicht gebrauchen?... Darüber vernachlässige ich jedoch meine Pflichten als Hausherr. Darf ich Ihnen noch Kaffee eingießen?« Munter ging er umher, füllte die Kaffeetassen, reichte Sahne und Zucker, setzte sich dann wieder hin und rückte seine Brille zurecht. Sein Gesicht verzog sich zu einem vergnügten Lächeln. »Wenn ich so sagen darf: Ich finde Sie beide äußerst bemerkenswert«, meinte er schließlich. »Sie würden sich bestimmt gut fotografieren lassen. Gewöhnlich befasse ich mich zwar nicht mit Porträt-Aufnahmen; ich drücke die Dinge lieber in den Begriffen von Licht und Schatten aus. Ich liebe die langen Schatten des Morgenlichts, die schrägen Sonnenstrahlen am Nachmittag - aber hin und wieder fotografiere ich auch Porträts. Mir macht es Spaß darzustellen, wie die Schatten und das grelle Licht die Eigenarten eines Mannes ausdrücken können, wie ein Beleuchtungseffekt den feinen Charme einer Frau hervorzaubern kann. Ich würde Sie gern einmal fotografieren, wenn sich eine Gelegenheit dazu ergibt und es nicht gerade so - so spät ist.« Mason blickte zu Della Street hinüber. Sie tranken den Kaffee aus, und Mason sagte: »Wir müssen jetzt gehen. Es ist spät, und...« »Am liebsten hätte ich mich auf die Zunge gebissen, als es heraus war«, sagte Carlin zerknirscht. »Ich weiß gar nicht, -4 6 -
warum man so häufig Dinge sagt, die einer Erklärung bedürfen, und dann auf einmal merkt, daß die Erklärung den Fehler wahrscheinlich nur noch vergrößern wird. Für mich ist es noch gar nicht so spät. Ich dachte nur an Sie, und - verzeihen Sie bitte, aber ein Fotograf, der vom Retouchieren nicht sehr viel hält, und der den wahren Charakter in seinen Aufnahmen darstellen möchte, sieht es lieber, wenn die Betreffenden morgens ausgeruht zu ihm kommen, nicht jedoch am Ende eines langen und anstrengenden Tages. Ich hasse jede Retouche, Mr. Mason, weil ich fühle, daß man alles mit Licht und Schatten ausdrücken kann.« Mason blickte auf seine Armbanduhr. »Glauben Sie bitte nicht, daß ich mich auf Ihre Bemerkung bezog. Es ist schon nach Mitternacht. Wir müssen also wirklich aufbrechen, weil wir sonst für eine Aufnahme am frühen Morgen nicht genügend ausgeruht wären, und...« »Sie wollen damit sagen, daß Sie morgen früh kommen und mir die Möglichkeit geben wollen...?« Mason lachte. »Das war nur so dahingesagt. Vielleicht ein andermal, Mr. Carlin. Jedenfalls danke ich Ihnen für Ihre Gastfreundlichkeit. Zu einem anderen Zeitpunkt hätte ich mich gern mit Ihnen länger über Ihre Lebensphilosophie unterhalten und mir ein paar Ihrer Aufnahmen angesehen.« »Es wird mir ein Vergnügen sein«, sagte Carlin und verneigte sich leicht im Sitzen, als wartete er darauf, daß seine Gäste endlich aufstünden. Mason erhob sich. »Ich danke Ihnen, daß Sie mich aufgesucht haben«, sagte Carlin und fügte dann mit einem Lächeln für Della Street hinzu: »Ausgerechnet dann, wenn ein Mann glaubt, daß seine maskuline Welt für ihn völlig ausreicht, und wenn er endlich gelernt hat, daß die Schö nheit in der Natur sehr viel angenehmer ist als in belebteren Formen, passiert immer irgend etwas, das -4 7 -
ihm beweist, wie unrecht er damit hat.« »Danke«, sagte sie lächelnd, erhob sich von ihrem Sessel und ging in die Halle hinaus. »Ich glaube, Sie werden sich ausgezeichnet fotografieren lassen«, sagte Carlin hoffnungsvoll. »Und ich hoffe, daß Sie und Mr. Mason in nicht allzu ferner Zeit trotz der vielen Arbeit einmal bei mir hereinschauen werden. Es wird bestimmt nicht länger als vielleicht eine halbe Stunde dauern. Fünfzehn Minuten pro Aufnahme sind bestimmt ausreichend. Aber dann müssen Sie sich auch mein Studio und meine Aufnahmen ansehen. Ich verstehe völlig, daß es dafür heute schon zu spät ist, zumal Sie sicherlich einen anstrengenden Tag hinter sich haben. Das Leben eines prominenten und vielbeschäftigten Anwalts ist, wie ich es mir vorstelle, bestimmt nach Minuten eingeteilt.« Carlin öffnete die Haustür. »Na bitte! Es fängt an aufzuklaren. Man sieht schon die einzelnen Wolken, die am Himmel entlang jagen, und - da, sehen Sie den Mondschein auf der einen Wolke? Den silbernen Glanz? Als Fotograf beklage ich immer wieder, daß es weder Objekte noch Filme gibt, mit denen man den Zauber des Mondlichtes tatsächlich festhalten kann. Aber lange wird es damit wohl nicht mehr dauern. Sie werden natürlich wissen, daß sämtliche Mondaufnahmen bisher lediglich sehr kurz belichtete Aufnahmen der Sonne sind. Die Kamera wird direkt auf die Sonne gerichtet; man nimmt die kleinste Blende und die kürzeste Belichtung. Aber eines Tages werden wir auch in der Lage sein, ein wirkliches Bild des sanften Zaubers aufzunehmen, den das Mondlicht nun einmal hat - und nicht die harten Effekte des Sonnenlichts. Aber jetzt will ich Sie nicht länger aufhalten. Es wird kälter, und sicher möchten Sie jetzt möglichst schnell nach Hause. Fahren Sie jedoch vorsichtig. Um diese Zeit jagen immer wieder betrunkene Fahrer über die Kreuzungen.« -4 8 -
»Wir werden schon aufpassen«, versprach Mason ihm. »Und Sie müssen mich unbedingt einmal aufsuchen und mir... Aber ich möchte Ihnen kein Versprechen abverlangen, weil ich mir denken kann, wie schwierig es manchmal ist, ein Versprechen auch einzuhalten; die Einladung besteht jedoch nach wie vor, und außerdem steht mein Name in jedem Telefonbuch - aber das wissen Sie auch so, weil Sie mich vorhin doch angerufen haben. Gute Nacht also. Es war mir wirklich ein Vergnügen, Sie kennengelernt zu haben.« Mason und Della Street wünschten ihm ebenfalls eine gute Nacht, dankten ihm noch einmal für seine Gastfreundlichkeit, sahen, wie die Tür langsam geschlossen wurde, und gingen dann über den Betonweg langsam zu Masons Wagen. »Na?« fragte Mason. »Ich habe Angst vor ihm«, sagte Della Street. »Und warum?« »Das kann ich nicht genau sagen.« »Also weibliche Intuition?« »Wahrscheinlich.« Bevor Mason ihr zuvorkommen konnte, hatte Della Street die Wagentür geöffnet und war mit wirbelnden Röcken, die einen winzigen Augenblick ihre Beine freigaben, im Wagen verschwunden. Sie zog die Tür wieder zu und sagte: »Los, damit wir hier wegkommen!« Mason ging um den Wagen herum, setzte sich hinter das Lenkrad und sagte: »Erzählen Sie noch mehr über die weibliche Intuition, Della.« »Ich glaube, daß er ebenfalls Angst gehabt hat.« »Sie meinen, daß die Nachricht ihn betroffen hat?« »Sehr sogar!« Mason startete den Motor, fuhr an und sagte: »Ein einziges -4 9 -
Mal hat er sich verraten.« »Wann denn? Ich habe nichts gemerkt.« »Als ich ihm den Zeitungsausschnitt gab«, sagte Mason, »warf er nur einen flüchtigen Blick darauf und sagte sofort, daß er nichts damit anfangen könnte. Wenn er wirklich versucht hätte, sich einen Vers daraus zu machen, hätte er ihn gründlich durchlesen müssen, bevor er etwas sagte. So aber nahm er den Zettel und sagte fast sofort, daß er ihm nichts sagte. Wenn er uns jedoch etwas vorgespielt haben sollte, muß man zugeben, daß er es großartig gemacht hat.« Della Street nickte. »Mit keiner Wimper hat er sich verraten. Auch später wirkte er weder nervös noch aufgeregt; und trotzdem schaffte er es, uns loszuwerden, indem er uns auf die späte Stunde hinwies.« »Sie meinen jedoch, daß er verstört war?« »Chef, ich glaube, der Mann hat so große Angst, wie er überhaupt nur haben kann.« »Na schön«, sagte Mason. »So weit würde ich allerdings nie gehen, aber ich bin auch der Ansicht, daß die Nachricht doch für ihn bestimmt war und daß sie für ihn eine ganze Menge bedeutete.« »Warum fahren Sie eigentlich so langsam, Chef?« »Ich suche eine Telefonzelle.« »Dann fahren Sie doch am besten zum Boulevard«, sagte Della Street. »Bestimmt haben dort ein paar Cafés wegen des Durchgangsverkehrs die ganze Nacht geöffnet, und fast jedes hat mindestens einen Münzfernsprecher. Wen wollen Sie denn anrufen?« »Die Drake Detective Agency«, erwiderte Mason. »Mal sehen, ob Paul zufällig im Büro ist. Wenn nicht, werde ich ihn zu Hause anrufen, ihn aus dem Bett holen und ihn auf die Fährte setzen.« -5 0 -
»Und was soll er dabei?« »Ich möchte wissen, was hinter diesem M. D. Carlin eigentlich steckt.« Mason bog in den Boulevard, und nach der vierten Kreuzung entdeckte er ein Café, von dem aus er Paul Drake anrufen konnte. »Nun sei doch nicht so unbarmherzig, Perry«, protestierte der Detektiv. »Ich bin hundemüde. Gerade eben erst habe ich einen Fall abgeschlossen, seit zwei Stunden freue ich mich, endlich in mein Bett kriechen zu können, und jetzt liege ich endlich drin.« »Persönlich sollst du dich auch gar nicht damit beschäftigen«, sagte Mason. »Hast du ein paar Leute, die du sofort auf diesen Fall ansetzen kannst?« »Was heißt sofort?« »Jetzt gleich.« »Nein - oder warte mal. Einer meiner Leute, der auch bei dem letzten Fall beschäftigt war, wird es vielleicht übernehmen. Er hat nur drei oder vier Stunden zu tun gehabt.« »Gut, Paul«, sagte Mason. »Schreib es dir auf: Medford D. Carlin, 6920 West Lorendo. Telefon Riverview 3-2322. Der Mann ist etwa sechzig und hat einen kugelrunden Schädel; Gesicht völlig ausdruckslos, abgesehen wenn er lächelt. Größe etwa einen Meter fünfundsechzig bis achtundsechzig, Gewicht schätzungsweise hundertfünfundsechzig bis hundertsiebzig Pfund, alleinstehend. Ich möchte, daß das Haus beobachtet wird. Besonders interessiert mich, von wem er eventuell besucht wird.« »Sonst noch was?« »Falls er das Haus verläßt, möchte ich wissen, wohin er geht.« »Du glaubst, daß er weggehen wird?« »Ich könnte es mir vorstellen. Wann kann dein Mann dort sein?« -5 1 -
»Wie war noch die Adresse - 6920 West Lorendo. Moment, das dauert... Wenn der Mann den Fall übernimmt, könnte er in fünfzehn bis siebzehn Minuten da sein, Perry. Aber er hat gerade einen Auftrag erledigt, und...« »Schön, Paul. Dann schicke ihn gleich hin. Wie lange wird es dauern, bis du noch einen deiner Leute aufgetrieben hast?« »Das wird nicht leicht sein«, sagte Drake. »Bleib mal einen Augenblick am Apparat.« Mason konnte genau hören, wie Paul sich mit jemandem unterhielt, der dicht neben dem Telefon sitzen mußte; dann sagte Drake: »Hallo, Perry - ich habe bereits einen Mann losgeschickt. Er hat den Auftrag, Carlin zu folgen, falls er sein Haus verläßt. In Ordnung?« »In Ordnung.« »Bei solchen Unternehmen«, fuhr Drake fort, »lassen wir die Haustür gewöhnlich von einem Mann überwachen, während der zweite die Hinterfront des Hauses beobachtet und ein dritter in Reserve bleibt. Falls jemand das Haus betritt und es durch die Haustür wieder verläßt, folgt ihm einer der Männer. Wenn jemand das Haus durch die Hintertür verläßt, folgt ihm derjenige, der die Rückfront beobachtet. In diesem Fall übernimmt der dritte Mann, der bisher in Reserve war, seinen Posten, und falls noch jemand...« »Die Einzelheiten interessieren mich nicht«, unterbrach Mason ihn. »Es ist jetzt zwölf Uhr fünfzig, und ich möchte, daß endlich etwas geschieht. Wahrscheinlich wird Carlin verschwinden; ich fürchte, daß er weg ist, bevor deine Leute dort sind.« »Wir beeilen uns so sehr, wie wir können, und einer meiner Leute ist ja auch bereits unterwegs. Der Mann ist ein guter Fahrer, und der Verkehr ist ziemlich abgeflaut. Eigentlich müßte er gleich da sein. Sobald du aufgelegt hast, werde ich die anderen anrufen.« -5 2 -
»Also gut«, sagte Mason. »Schicke mir morgen früh einen Bericht.« Er hängte den Hörer ein und sagte zu Della Street: »Wie wäre es jetzt mit einem kleinen Happen?« Sie schüttelte den Kopf. »Für mich nicht. Aber wie ist es mit Ihnen?« »Das ist nicht wichtig.« »Ich glaube, für mich wäre es das beste, wenn ich mich hinlegte«, sagte Della Street. »Der Tag war ziemlich anstrengend. Falls es Sie interessiert: Sie haben Ihre Unterhaltung mit Paul Drake genau um zwölf Uhr zweiundfünfzig beendet.« »Notieren Sie es sich.« »Ist bereits geschehen«, sagte sie lächelnd.
4 Mason hörte noch im Schlaf in rhythmischen Abständen das Klingeln seines Telefons, dessen Nummer in keinem Telefonbuch stand. Er kämpfte sich ins Bewußtsein zurück, griff nach der Kette der Lampe, schloß die Augen vor der grellen Helligkeit, nahm den Hörer ab und sagte: »Ja?« Paul Drakes Stimme klang nüchtern und sachlich. »Tut mir leid, daß ich dich stören muß, Perry«, sagte er, »aber mich hat man auch aus dem Schlaf geholt, und warum soll es dir besser gehen als mir.« »Was ist denn los?« »Carlins Haus brennt.« »Ein gefährlicher Brand?« »Anscheinend ja. Fünf Minuten vor drei war eine Art Explosion zu hören, und dann...« »Wie spät ist es jetzt?« -5 3 -
»Drei Uhr zwanzig.« »Das Haus brennt also bereits seit einer Viertelstunde«, sagte Mason, »ohne daß...?« »Immer langsam, Perry«, sagte der Detektiv. »Einer meiner Leute mußte fast einen Kilometer fahren, bis er eine Tankstelle mit Nachtdienst fand. Er alarmierte sofort die Feuerwehr, holte mich dann aus dem Bett, gab seinen Bericht durch, und ich rief dich dann an. Das alles brauchte seine Zeit.« »Also gut«, sagte Mason. »Ich fahre sofort hin.« »Ich komme auch«, sagte Paul Drake noch und legte auf. Der Anwalt sprang aus dem Bett und hatte den Pyjama schon fast ausgezogen, bis er auf dem Boden stand. Er riß den Kleiderschrank auf, schlüpfte in eine Hose und Golfschuhe, zog einen dicken Rollkragenpullover über, sah nach, ob er Schlüssel und Brieftasche eingesteckt hatte, und nahm sich beim Verlassen seiner Wohnung nicht einmal die Zeit, das Licht auszuknipsen. Etwa zehn Minuten später tauchte ein Streifenwagen neben Masons dahinrasendem Auto auf. Ein erboster Beamter kurbelte das Seitenfenster herunter. »He!« brüllte er, »wo brennt's?« Mason blickte weder zur Seite noch nahm er den Fuß vom Gaspedal. »6920 West Lorendo.« Der Polizeibeamte blickte auf seine Karte mit den Feuermeldungen. »Die Adresse stimmt«, sagte er zu seinem Begleiter. Der Fahrer schüttelte verwundert den Kopf. »In meinen zwölf Dienstjahren«, sagte er, »ist das das erstemal, daß einer dieser Burschen auf diese Frage die richtige Antwort gab.« Als Mason noch etwa zwölf Querstraßen von der Lorendo Street entfernt war, entdeckte er einen hellroten Schimmer am Himmel; als er dann jedoch am Brandort eintraf, erkannte er, daß die Feuerwehr sehr schnell Kontrolle über das Feuer -5 4 -
gewann. Paul Drake, der bereits Verbindung zu den Beamten aufgenommen und alles geregelt hatte, so daß Mason durch die Absperrung hindurchgelassen wurde, ging mit dem Anwalt einige Meter beiseite. Gedeckt von einem der Löschfahrzeuge, mit einem Ohr auf das Zischen horchend, mit dem das Wasser auf die glühende Asche traf, auf das rhythmische Pochen der Pumpmotoren und auf das Klatschen der dicken Wasserstrahlen gegen die Mauern, blickte Mason fragend Paul Drake an. »Jetzt gleich?« fragte Drake. Mason zog den Rollkragen seines Pullovers hoch. »Mensch, ist es kalt geworden. Okay, Paul - schieß los!« Der Detektiv blickte sich sorgsam um, damit sie von niemandem belauscht wurden. »Es war unmöglich, alle meine Leute zur gleichen Zeit herzuschicken. Ich hatte das Gefühl, daß du Ergebnisse sehen wolltest, und deshalb schickte ich die Männer los, sobald ich sie erwischt hatte.« Mason nickte. »Der erste, der hier erschien, kam um sieben Minuten nach eins an. Er übernahm sofort die Beobachtung der Haustür. Das ganze Haus lag im Dunkeln. Kurz vor ein Uhr dreißig - nach Angabe dieses Mannes genau um achtundzwanzig nach eins bog eine Frau um die Ecke, kam auffallend schnell die Straße entlang, lief die Stufen hinauf und betrat das Haus.« »Hat sie geläutet?« »Allem Anschein nach besaß sie einen Schlüssel, oder aber die Tür stand offen. Genau war es nicht zu beobachten.« »Wie sah die Frau aus?« »Zwischen dreißig und fünfunddreißig, anscheinend mit einer netten Figur; aber das war wegen ihres Regenmantels nicht genau festzustellen.« -5 5 -
»Sie ging also in das Haus?« »Ja.« »Wann kam sie wieder heraus?« »In diesem Punkt«, sagte Paul Drake, »haben Sie uns an der Nase herumgeführt. Niemand hat gesehen, daß sie wieder herausgekommen ist.« »Weiter. Was passierte dann?« »Um ein Uhr fünfzig traf der zweite Mann hier ein, und um fünf nach zwei - vielleicht war es auch zwei Minuten früher der dritte. Notiert hat er zwei Uhr drei. Der zweite bezog einen Posten, von dem aus er die Straße und die Hinterfront des Hauses beobachten konnte, während der dritte im Hintergrund blieb und jeden, der das Haus verließ, beschatten sollte; außerdem sollte er wichtige Beobachtungen weitergeben. Dieser Mann nahm noch die Verbindung mit den beiden anderen auf, bevor er sich vorerst wieder verzog. Er wußte, daß sie schon vor ihm eingetroffen waren, und wollte sich eine Beschreibung von Carlin holen. Er entdeckte eine Tankstelle, die etwa einen Kilometer entfernt war und die ganze Nacht geöffnet war, und wie es das Glück manchmal will, stellte er dabei fest, daß Carlin zu den Kunden dieser Tankstelle gehört. Carlin fährt einen alten Chevrolet.« »Die Personenbeschreibung?« »Etwa einundsechzig bis zweiundsechzig, hohe Wangenknochen, kugelrunder Schädel, trägt Brille, schiefes Lächeln, etwa einen Meter dreiundsechzig groß, Gewicht etwa hundertfünfundfünfzig Pfund.« »Das ist er«, sagte Mason. »Und weiter?« »Der dritte meldete sich dann wieder bei den beiden anderen. Das Haus stand also völlig unter Beobachtung. Der Mann vorn berichtete, daß eine Frau in das Haus gegangen sei, die vielleicht ebenfalls dort wohne. Die drei Männer legten verschiedene -5 6 -
Signale fest, so daß jeder, der das Haus verließ, sofort beschattet werden konnte.« »Die Frau tauchte aber nicht mehr auf?« »Es besteht nur die Möglichkeit, daß sie das Haus verließ, bevor der zweite meiner Leute hier eintraf.« »Und sonst schien niemand im Haus zu sein?« fragte Mason. »Ich meine, als das Feuer ausbrach?« »Weder vorher noch nachher.« »Das ist schlecht«, sagte Mason. Drake nickte. »Wie war das nun mit dem Feuer?« »Etwa fünf Minuten nach drei war so etwas wie eine gedämpfte Explosion zu hören, und zwar im Innern des Hauses. Zwei oder drei Sekunden lang passierte nichts, und dann wurde hinter den Fenstern ein Feuerschein sichtbar. Der dritte meiner Leute rannte zu seinem Wagen, fuhr schnell zur Tankstelle, alarmierte die Feuerwehr, rief dann mich an und fuhr anschließend hierher zurück. Die beiden anderen waren auf ihren Posten geblieben. Herausgekommen ist niemand. Natürlich mußten sie sich verstecken, um nicht aufzufallen, aber nachdem der Brand sichtbar geworden war und Neugierige aus den Nachbarhäusern angelockt hatte, war es nicht mehr so schwierig.« »Deine Leute sind überzeugt, daß die Frau nicht herausgekommen ist?« »Sie muß noch im Haus sein, wenn sie es nicht vor ein Uhr fünfzig durch den Hintereingang wieder verlassen hat.« »Hat die Polizei schon mit dir geredet?« fragte Mason. »Noch nicht. Aber tun wird sie es bestimmt.« »Gut«, sagte Mason. »Sage also deinen Leuten, daß sie freiwillig mit keiner Information herausrücken sollen.« -5 7 -
»Das werden sie sowieso nicht.« »Ich meine: wie lange sie schon hier sind.« »Meine Leute werden überhaupt nichts sagen, Perry. Darauf kannst du dich schon verlassen.« Mason schwieg und überlegte. »Ob sie das Feuer unter ihre Kontrolle bekommen, Paul?« »Ziemlich schnell sogar«, sagte der Detektiv. »Vor zehn Minuten sah es noch so aus, als würde das Haus bis auf die Grundmauern abbrennen; aber jetzt werden sie nicht nur die Außenmauern erhalten, sondern wahrscheinlich sogar das ganze Erdgeschoß.« »Wo hat es denn zuerst gebrannt?« »Anscheinend im ersten Stock. Das Haus brannte sofort wie Zunder; wenn meine Leute nicht hiergewesen und sofort Alarm gegeben hätten, wäre nichts mehr übriggeblieben. In vielleicht fünf Minuten werden die Feuerwehrleute das Haus betreten können. Sie überschwemmen den ganzen Laden mit Wasser. Auf dem Dach sind sie schon - ein Zeichen, daß sie das Feuer im Innern bereits eingedämmt haben und nicht glauben, daß es noch mal hochkommen wird. Die Ostseite des Daches ist ziemlich abgebrannt, aber die Westseite ist intakt geblieben. Hauptsächlich scheint es also in der östlichen Hälfte gebrannt zu haben.« Nachdenklich sagte Mason: »Ich würde mir das Haus gern von innen ansehen.« »Da wird es ziemlich bunt aussehen«, warnte Drake. »Das Wasser hat alles durchtränkt, und du wirst nur verbrannte Balken und ähnliches Zeug vorfinden. Wenn du jetzt reingehst, stinkt dein Zeug wochenlang nach Qualm. So leicht kriegt man den Gestank nicht wieder raus.« »Das macht nichts«, sagte Mason. »Ich gäbe was drum, wenn ich hinein könnte.« -5 8 -
»Das läßt sich sicher machen«, sagte Drake. »Wir brauchen nur eine gute Geschichte zu erfinden. Wenn wir sagen würden, du seist der Anwalt des Hausbesitzers, der sein Testament machen...« »So geht es nicht«, unterbrach Perry Mason ihn. »Dann mußt du dir schon selbst eine Geschichte ausdenken.« »Das versuche ich doch schon die ganze Zeit. Leicht ist es nicht.« »Warum erzählst du den Leuten nicht ausnahmsweise einmal die Wahrheit?« fragte Drake. »Die Wahrheit ist, daß eine geheimnisvolle Frau mir den Auftrag gab, diesem Carlin etwas auszurichten. Und ich möchte nicht, daß die Polizei davon etwas erfährt - zumindest jetzt noch nicht.« »Warum denn nicht?« »Weil ich noch nicht weiß, was wir drinnen vorfinden werden.« »Ist das denn so wichtig?« »Vielleicht.« »Und noch andere Gründe?« »Ich weiß nicht genau, ob meine Klientin einverstanden ist, wenn die Polizei erfährt, daß sie mit diesem Carlin in Verbindung stand.« »Wer ist denn diese Klientin?« »Das weiß ich nicht.« »Dann wird die Polizei es auch nicht wissen.« »Die Polizei könnte es jedoch herausbekommen, und dann würde sie unangenehme Fragen stellen.« »Also gut«, sagte Drake. »Wenn du immer noch an einer Geschichte brütest, dann sorge wenigstens dafür, daß sie auch einigermaßen glaubhaft klingt. Da drüben steht übrigens der -5 9 -
Deputy Chief. Wir müssen uns also beeilen. Wenn er sich umdreht, uns hier herumstehen sieht und - ach du liebes Lieschen, jetzt kommt er.« Der Deputy Chief kam langsam auf die beiden Männer zu. »Tag, Chef«, sagte Drake, »wie geht's? Kennen Sie Perry Mason schon?« »Den Rechtsanwalt?« »Genau den«, sagte Mason und gab ihm die Hand. »Mich laust der Affe. Was wollen denn Sie hier?« »Ich sehe mir nur das Feuer an. Es sieht so aus, als wäre es jetzt unter Kontrolle.« »Das Feuer ist bereits erledigt. Man muß nur alles gründlich durchweichen, damit auch die letzte Glut gelöscht wird. Wenn die Decken einstürzen, wird manchmal ein versteckter Brandherd frei, so daß der ganze Rummel wieder von vorn losgeht. Deswegen haben wir es uns zur Regel gemacht, jeden Brand mit Unmengen von Wasser zu überschütten und dann nachzusehen, ob es irgendwo noch kokelt.« »Gehen Sie nachher auch hinein?« »In wenigen Minuten.« »Suchen Sie etwas Besonderes?« »Leichen.« »Ach«, sagte Mason, und seine Stimme deutete sein Interesse an. »Haben Sie denn einen bestimmten Verdacht?« Der Deputy Chief sah ihn scharf an. »Wenn ein Wohnhaus um diese Nachtzeit brennt und keiner der Bewohner herausgekommen ist, besteht immer die Möglichkeit, daß jemand ein paar Gläser zuviel getrunken hatte, sich noch eine Zigarette anzündete, einschlief und sein Bett in Brand setzte. Das ist bisher schon unzählige Male passiert und wird noch unzählige Male passieren.« -6 0 -
Mason blickte Paul Drake flüchtig an und sagte: »Es interessiert mich sehr, einmal mitzuerleben, wie man so etwas macht. Soweit ich begriffen habe...« »Das ist nur eine technische Frage«, unterbrach der Deputy Chief ihn, »ähnlich wie Verfahrensfragen vor Gericht; nur hat man dabei nicht so viel Zeit, einen Entschluß zu fassen. Was mich an der ganzen Sache interessiert, ist, wieso ausgerechnet Sie zufällig hier aufgetaucht sind - besonders im Hinblick auf die Tatsache, daß wir keine Ahnung haben, wer die Feuerwehr alarmiert hat.« »Doch wohl eine r der Nachbarn«, sagte Mason. »Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet.« »Wenn Sie es genau wissen wollen: Präzise kann ich Ihre Frage gar nicht beantworten«, sagte Mason. »Und warum nicht?« Mason lächelte leutselig. »Nehmen wir einmal an, ich hätte einen Klienten, der dieses Grundstück kaufen wollte und der mich gebeten hat, mir die Geschichte vorher anzusehen. Der Brand könnte dabei eine sehr wichtige Rolle spielen - und trotzdem wäre er keine stichhaltige Ausrede für mein Interesse.« »Sie haben eine n Klienten, der dieses Grundstück kaufen will?« »Nun werden Sie nicht albern. Ich habe lediglich gesagt, daß ich selbst bei dieser Möglichkeit kaum einen triftigen Grund für mein Hiersein hätte.« »Dann liegt also, soweit ich Sie verstehe, dieser Fall nicht vor.« »Ich habe auch nicht gesagt, daß diese Möglichkeit überhaupt bestand.« »Ich habe nicht gefragt, ob sie bestand, sondern ob sie besteht.« »Na schön«, sagte Mason grinsend, »sie besteht nicht. Sie -6 1 -
hätten am besten Rechtsanwalt oder Detektiv werden sollen.« Die aufmerksamen Augen des Mannes studierten Masons Gesicht, das so ausdruckslos wie das eines Pokerspielers war. »In meinem Beruf muß man häufig auch Detektiv spielen«, sagte der Deputy Chief. »Weshalb sollte ich sonst wohl hier sein?« »Um den Brand zu löschen.« »Dafür ist die Feuerwehr zuständig. Ich bin nur hierhergekommen, weil dem Headquarter gemeldet wurde, daß Brandstiftung vorläge - eine Explosion im Hausinnern, vermutlich durch Benzin oder etwas Ähnliches. Deshalb möchte ich mir das Haus von innen ansehen.« »Ich auch«, sagte Mason. »Und ich auch«, wiederholte Paul Drake. »Das kommt gar nicht in Frage. Es ist viel zu gefährlich. Wer weiß, was noch passiert. Balken sind durchgekohlt und stürzen ein, Böden und Treppen brechen durch. Nein, ich gehe allein.« »Natürlich können Sie uns einen Helm aufsetzen«, meinte Drake. »Das könnte ich schon«, sagte der Deputy Chief, »aber ich tue es nicht.« Einer der Feuerwehrmänner blinkte mit einer Lampe, und der Deputy Chief sagte: »Es ist soweit. Bleiben Sie lieber draußen. Ich möchte mir die Geschichte doch gründlicher ansehen.« Und damit ging er. »So ein Quatsch«, knurrte Drake. »Aber ich kenne den Führer des Löschzuges. Wenn dieser Bursche nicht aufgetaucht wäre, hätte uns nichts passieren können. Da er jetzt jedoch weiß, daß du hier bist, daß ich ebenfalls hier bin und daß es sich vermutlich um Brandstiftung handelt, ist er natürlich mehr als mißtrauisch.« »Paul«, sagte Mason, »deine Leute könnten jetzt die -6 2 -
Nachbarn ein bißchen aushorchen und sehen, was sie herausbekommen.« »Wie sollen sie denn bei den vielen Menschen die Nachbarn herausfinden?« »Ganz einfach - du bist mir schon ein feiner Detektiv. Die Nachbarn haben höchstens Regenmäntel über den Schlafanzügen und reden aufgeregt miteinander. Nachbarn kennen sich meistens. Die Leute aus den übrigen Straßenteilen sind ihnen fremd. Deine Leute sollen sich um die Gruppen kümmern, die sich unterhalten, und...« »Gut, gut«, sagte Paul Drake, »ich gehe schon. Warte hier auf mich.« Mason beobachtete das Haus, das jetzt von den großen Scheinwerfern der Löschfahrzeuge angestrahlt wurde. Vom Brand war nichts mehr zu sehen. Nur eine Qualmsäule stieg aus dem Gebäude, und es roch nach nassem, verkohltem Holz und verbranntem Stoff. Im Augenblick lief das Wasser nicht mehr an den Außenwänden herunter. Zwei Schlauchleitungen waren durch die Fenster gelegt, und im Innern des Hauses blitzten Lampen auf. Der Regen hatte aufgehört; es war sehr kalt geworden. Mason, der in der frischen Luft des heraufziehenden Morgens stand, dachte voller Sehnsucht an seinen warmen Mantel. Da das wärmende Feuer erloschen war, gingen auch die Zuschauer langsam wieder nach Hause. Drake tauchte wieder neben Perry Mason auf und sagte: »Ich habe meinen Leuten genaue Instruktionen gegeben. Alle drei versuc hen jetzt herauszubekommen, was die Leute wissen, und sobald der Deputy Chief wieder auftaucht, verschwinden sie unauffällig. Vielleicht wäre es gar keine schlechte Idee, wenn wir beide ebenfalls verschwänden, damit man uns nicht mehr verhören kann. Ich habe Bescheid gegeben, daß die Berichte in -6 3 -
meiner Wohnung abgegeben werden, und außerdem habe ich einiges zu Hause, was dich vielleicht interessieren wird.« »Was denn?« »Heißes Wasser, Nelken, ein bißchen Zucker und einen Rest Rum - und so ein anständiger Grog...« »Worauf warten wir hier eigentlich noch?« fragte Mason. »Das«, erwiderte Drake, »ist eine Frage, an der ich schon lange herumrätsele.« »Du kennst doch die Antwort!« sagte Mason.
5 Die Dampfheizung in Drakes Wohnung war zwar abgestellt, aber nachdem in der Eßnische der kleine Gasofen und eine kleine elektrische Heizsonne angestellt waren, wurde es wenigstens dort schnell warm. »Das ist mein einziger Einwand gegen Kalifornien«, beklagte sich Paul Drake. »Hier friert man mehr als in anderen Gegenden. Die Leute reiten auf dem warmen Klima herum, heizen daher erst ab sechs Uhr morgens, stellen die Heizung um halb neun wieder ab, schalten sie von halb fünf bis halb zehn wieder an und machen dann endgültig Schluß... Hier, probier mal.« Er goß den dampfenden Grog in ein Glas, gab es Mason und goß dann sein eigenes Glas voll. Sie zündeten sich Zigaretten an, rauchten, tranken und warteten auf das Läuten des Telefons. Mason setzte sich bequemer auf dem gradlehnigen Stuhl hin, und schließlich sagte er: »Das ist genau das Richtige, Paul.« »Das kann man wohl behaupten«, meinte der Detektiv, »wenn man vorher so gefroren hat. Andere Sachen trinke ich nicht besonders gern, aber ein anständiger Grog ist schon ein Lebenswecker. Komm, ich gieße dir noch mal nach.« -6 4 -
Er griff nach dem Krug, füllte Masons Glas und dann sein eigenes. »Hast du eigentlich ein Geheimrezept?« fragte Mason. »Nein, das mache ich immer so über den Daumen«, erwiderte Drake. »Eine Prise Zimt, Zucker, viel Rum, Wasser, und dann nehme ich noch...« Das Telefon läutete. Sofort stellte Drake den Krug auf die Abstellplatte des Abwaschbeckens, ging in das Zimmer hinüber, nahm den Hörer ab und sagte: »Hallo?« Er wartete einen Augenblick, nickte Mason zu und sagte dann in die Sprechmuschel: »Sehr schön, Pete - weiter.« Ungefähr eine Minute lang hörte Drake wortlos zu, bis er sagte: »Hat dich niemand erkannt?... Naja, mehr wirst du jetzt doch nicht herausbekommen... Wo bist du jetzt?... Okay, ich rufe in zehn Minuten zurück. Warte auf meinen Anruf, in zehn Minuten. Ich weiß nur nicht, ob ich die richtige Nummer habe. Kannst du sie mir noch einmal durchgeben?« Drake schrieb die Nummer auf einen Notizblock, der am Telefon befestigt war, und sagte dann: »Gut, danke.« Er legte den Hörer auf, kam in die Küche zurück und sagte zu Mason: »Man hat einen Toten gefunden.« »Tot durch Verbrennung?« fragte Mason. »Das«, sagte Drake, »ist die Frage. Wahrscheinlich nicht.« »Woher weiß man das?« »Dank unseren Leuten war die Feuerwehr schneller am Brandort, als es sonst der Fall gewesen wäre. Die Burschen von der Feuerwehr sind zwar keine ausgesprochenen Leuchten, aber sie glauben nicht, daß der Tote an seinen Verbrennungen gestorben ist. Das Feuer scheint im angrenzenden Zimmer ausgebrochen zu sein, und der Tote hat zwar Verbrennunge n, ist jedoch nicht verkohlt.« -6 5 -
»Kennst du den Deputy Chief eigentlich gut?« »Klar«, sagte Drake. »Ein gescheiter Kerl.« »Glaubst du, daß er mit seiner Behauptung recht haben könnte?« »Ich nehme es mit Sicherheit an.« »Das kompliziert die ganze Situation«, sagte Mason nachdenklich. »Obgleich es vorerst nur seine eigene Meinung ist«, meinte Paul Drake. »Warten wir ab, was die Ärzte sagen.« »Und trotzdem sieht das Ganze mehr als merkwürdig aus. Ob die Feuerwehrleute die Lage des Toten verändert haben?« »In diesem Fall wohl kaum«, sagte Drake. »Die Feuerwehr hat sofort die Mordkommission benachrichtigt. Inspektor Tragg war bereits unterwegs, als meine Leute sich davonmachten.« »Wo stecken sie jetzt - ich meine den, der eben anrief?« »In einem Café, das die ganze Nacht geöffnet ist.« »Haben sie irgend etwas von den Nachbarn erfahren?« fragte Mason. »Nur das übliche Getratsche. Der genaue Bericht liegt morgen früh auf meinem Schreibtisch.« »Irgendwelche Angaben über den Toten?« »Etwa sechzig Jahre alt, alles übrige scheint mit der Beschreibung dieses Carlin übereinzustimmen.« »Genau das habe ich befürchtet«, knurrte Mason. »Bisher habe ich nur das Wichtigste erfahren«, fuhr Drake fort. »Alles andere wollen meine Leute erst schriftlich abliefern; den Bericht bekomme ich morgen früh um halb neun. Die Sache mit der Brandstiftung soll aber stimmen; ausgelöst wurde das Feuer durch eine Zeitbombe. Die Polizei nimmt an, daß sie mit einer elektrischen Uhr gekoppelt war, die sich im Erdgeschoß befindet.« -6 6 -
»Im Erdgeschoß?« fragte Mason. »Ja - wahrscheinlich eine Uhr, mit der man das Radio einschalten kann. Du kennst sie sicher: Die Uhr wird eingestöpselt, dann stellt man den Zeiger auf eine beliebige Zeit, und pünktlich schaltet sich das Radio ein. Abstellen muß man es allerdings mit der Hand.« »Weiter«, sagte Mason. »Im Erdgeschoß wurde eine derartige Uhr gefunden, deren Kabel offensichtlich nach oben geführt worden waren. Die Uhr war auf drei Uhr eingestellt.« »Aha«, bemerkte Mason, und nach kurzer Pause fügte er hinzu: »Wo aber ist eure Besucherin geblieben?« »Wahrscheinlich genau in der Mitte einer sehr komplizierten Situation!« »Wann tauchte sie noch auf?« »Um ein Uhr achtundzwanzig.« »Und keiner weiß, wie lange sie im Hause war?« »Länger als ein Uhr fünfzig kann es nicht gewesen sein. Dann nahm nämlich der zweite meiner Leute seinen Posten in der Nähe der Hintertür ein. Von diesem Zeitpunkt ab wurde das Haus sowohl von vorn als auch von hinten beobachtet.« »Was hatte sie eigentlich bei sich, als sie das Haus betrat? Einen Koffer, oder sonst irgend etwas?« »Überhaupt nichts.« »Dann hat sie wohl auch kaum eine Uhr, einen Kanister Benzin und das ganze übrige Zeug mitgebracht.« »Das stimmt.« »Andererseits muß sie, als sie das Haus betrat, alles fix und fertig vorgefunden haben, um den Brand zu entzünden.« Drake nickte. »Sie war die Letzte im Hause.« »Folglich muß sie es durch die Haustür betreten und durch die -6 7 -
Hintertür wieder verlassen haben.« »Auch das stimmt... Was ist eigentlich mit meinen Leuten? Sie warten immer noch in dem Café.« »Rufe sie an und sage ihnen, daß sie nach Hause gehen und ihre Berichte aufsetzen sollen. Und dann sollen sie bleiben, wo sie sind, und mit niemandem reden.« »Wir sollten wohl lieber der Polizei Bescheid sagen«, meinte Drake. »Vergiß nicht, daß ich einen Klienten vertrete.« »Und ich muß an meine Lizenz denken«, gab Drake zurück. »Du arbeitest in meinem Auftrag, Paul.« »Trotzdem sollten wir der Polizei mitteilen, was passiert ist.« »Womit willst du denn erklären, daß deine Leute sich dort aufhielten?« »Damit würde ich schon klar kommen«, sagte Drake. »Ich könnte mich zum Beispiel weigern, den Namen meines Klienten zu nennen.« Mason grinste und sagte: »Das wäre genauso, wie bei einem Wahlkandidaten, der die Wahlkabine verläßt und sich weigert anzugeben, wen er gerade gewählt hat.« »Willst du noch einen Grog, Perry?« »Nein, danke. Ich glaube, wir sollten uns jetzt lieber etwas hinlegen. Inspektor Tragg wird unsere Spur bereits aufgenommen haben. Er wird dann feststellen, daß wir vorhin draußen waren, und hinter uns her hetzen. Menschenskind, war mir vorhin kalt!« »Hat dich der Grog nicht gewärmt?« »Ein bißchen. Ich mache dir einen Vorschlag, Paul: Wir gehen jetzt in den Club und nehmen ein türkisches Bad.« »Unmittelbar nach einem heißen Grog soll man kein türkisches Bad nehmen.« -6 8 -
»Bis wir dort sind, ist die Wirkung schon wieder verflogen. Außerdem wird kein Mensch auf die Idee kommen, uns ausgerechnet dort zu suchen.« »Tragg hat seine Leute überall.« »Soll er!« »Na schön«, sagte Paul Drake. »Dann werde ich jetzt meine Leute anrufen. Übrigens war da noch eine Sache, Perry.« »Was denn?« »Du weißt doch, daß es ein altes, baufälliges und schäbiges Haus war«, sagte Drake. »Möbliert war es äußerst kärglich, aber im Erdgeschoß stand ein großer feuersicherer Safe, ein ausgesprochenes Monstrum von Safe.« Masons Augen leuchteten auf. »Menschenskind, Paul, diesen Safe muß ich mir unbedingt von innen ansehen.« »Den gleichen Wunsch wird vermutlich die Polizei haben.« »Ich überlege gerade, wie es sich machen ließe, daß ich dabei bin, wenn die Polizei ihn öffnet.« »Das ist ein hoffnungsloser Fall.« »Aber nehmen wir einmal an, jemand könnte der Polizei die Zahlenkombination nennen?« Drake sah ihn gespannt an. »Die Kombination für diesen Safe?« »Genau die.« »Du nimmst mich doch nicht auf den Arm?« Mason schob das halbvolle Glas von sich. »Keine Sorge, Paul«, meinte er, »rufe jetzt erst einmal deine Leute an und bestelle ihnen, daß sie sich dünn machen. Und dann gehen wir beide in den Club, um ein türkisches Bad zu nehmen. Dort wird uns Inspektor Tragg bestimmt nicht suchen.« »Ich habe etwas dagegen, einen guten steifen Grog in den Ausguß zu schütten, Perry. Ich...« -6 9 -
»Du sollst ihn auch gar nicht wegschütten«, meinte Mason. »Laß ihn stehen, damit wir Tragg beweisen können, daß ich tatsächlich bis auf die Knochen durchgefroren war. Und erst als der Grog wirkungslos blieb, schlug ich vor, ein türkisches Bad zu nehmen. Auf diese Weise klingt die Geschichte ausgesprochen plausibel.« »Meinst du?« fragte Drake mißtrauisch und ging dann nach nebenan, um seine Leute anzurufen. Er wählte die Nummer des Cafés und sagte dann doppelsinnig über die Schulter: »Wenn du die Kombination für den Safe tatsächlich kennst, Perry, dann reicht die Zeit bis morgen mittag kaum aus, um eine Geschichte auszudenken, die Inspektor Tragg... Hallo... Ja, Pete. Hier ist Drake. Geht jetzt nach Hause, schreibt einen ausführlichen Bericht und schickt ihn mir bis um acht ins Büro. Hat euch eigentlich jemand gesehen oder erkannt?... Kennt ihr einen der Feuerwehrmänner?... Gut... Klar werden sie merken, daß ihr zu mir gehört, aber keiner wird wissen, wer es nun war. Verkrümelt euch, bis ihr wieder von mir hört... Wiedersehen!« Drake legte den Hörer auf und sagte müde zu Mason: »Komm jetzt. Ich weiß gar nicht, warum du dich über die Kälte beschwerst. Du stehst nämlich mit beiden Beinen in einer ziemlich heißen Suppe, und sie dürfte noch um einiges heißer werden!«
6 Mason und Paul Drake waren die einzigen, die um diese frühe Stunde in dem erhitzten Raum saßen. Sie räkelten sich auf hölzernen Liegestühlen, die mit Laken bedeckt waren, hatten sich nasse Handtücher wie Turbane um den Kopf gewickelt und hielten die Füße in Schüsseln mit warmem Wasser. Eine ganze Batterie von Heizkörpern hielt die Temperatur so hoch, daß der Schweiß ausbrach, sobald man den Raum betrat. Das Holz der Liegestühle war beinahe nicht anzufassen -7 0 -
abgesehen von den Stellen, an denen es von den schweißnassen Tüchern abgekühlt wurde. »Das«, sagte Mason, »bringt einen wieder zu sich. Menschenskind, ist mir auf dem nassen Pflaster vielleicht kalt geworden. Meine Füße waren schon ganz abgestorben.« »Meine Füße sind immer schön warm«, sagte Drake mürrisch. »Wenn ich nur wüßte, was das für eine Geschichte ist, in die du mich da hineinziehen willst.« »Ich verstehe dich nicht«, sagte Mason. »Meine Karten liegen offen auf dem Tisch, Paul. Ich habe dir bereits gesagt...« »Was ist mit der Zahlenkombination des Safes«, unterbrach Paul ihn. »Davon hast du bisher noch kein Wort gesagt.« Mason zögerte. »Ach so - naja, das war... Nanu?« Drake folgte Masons Blick durch die dicken Scheiben der Schwingtüren. Ein großer, gutgebauter Mann, dessen Schultern unverkennbar den trainierten Boxer verrieten, unterhielt sich mit dem Badewärter und hatte ihnen den Rücken zugekehrt. Der Badewärter deutete mit dem Daumen auf die Glastüren, worauf der Mann sich umdrehte, die beiden nackten und schwitzenden Gestalten betrachtete, grinste und die Türen aufstieß. »Na?« sagte er. »Ihr scheint euch aber gar nicht zu freuen, daß ich hier bin!« »Und warum sollten wir uns so besonders darüber freuen?« fragte Mason. Inspektor Tragg schlüpfte aus dem Mantel. »Ihr habt einen taktischen Fehler begangen. Als ihr letztes Mal plötzlich spurlos verschwandet, bin ich die Spur wieder zurückgegangen, um festzustellen, wo ihr gewesen sein könntet, und das war hier. Demnach dachte ich mir...« »Ich war völlig durchfroren«, unterbrach Mason ihn. »Ich war heute nacht bei einem Brand, und in meinem ganzen Leben habe -7 1 -
ich noch nicht so gefroren. Ich hatte nämlich keinen Mantel übergezogen, und...« »Das weiß ich bereits«, sagte Tragg. »Sie hatten lediglich einen dicken Pullover an. Sie scheinen demnach ziemlich schnell aus dem Bett gesprungen zu sein und sich etwas überstürzt angezogen zu haben.« Er zog ein Taschentuch hervor, wischte sich den Schweiß von der Stirn und sagte: »Wie wäre es, wenn wir uns draußen weiter unterhielten?« »Das ist völlig unmöglich«, erwiderte Mason und warf Paul Drake einen Blick zu. »Wir würden uns bestimmt erkälten. Wir fangen gerade an zu schwit zen. Wie wäre es, wenn Sie sich auszögen und ebenfalls ein türkisches Bad nähmen, Inspektor?« »Ich habe zu tun. Außerdem wissen Sie ganz genau, daß ich mir bestimmt eine Erkältung hole, wenn ich noch länger hier bleibe und wieder ins Freie gehe, ohne mich abzukühlen.« »Das wäre wirklich übel«, sagte Mason. »Aber erzählen Sie, was Sie von uns wollen, Inspektor. Wir wollen Ihre Fragen gern beantworten.« Gereizt sagte Tragg: »Verdammt noch mal - aber hier kann ich nicht bleiben.« »Und wir können nicht hinaus«, meinte Mason nur. Tragg fuhr mit dem Taschentuch an der Innenseite seines Kragens entlang und wischte sich wieder die Stirn ab. »Was hatten Sie und Drake bei dem Brand zu suchen?« »Wir haben ihn uns angesehen.« »Reden Sie keinen Unsinn. Woher wußten Sie, daß das Haus brannte?« »Paul Drake hatte mich angerufen«, erwiderte Mason. »Und woher wußte Paul Drake es?« »Einer seiner Leute hatte es ihm gesagt.« »Welcher?« -7 2 -
»Der, der das Haus beobachtete«, sagte Mason. »Und warum hatten Sie - wenn ich mir die Frage erlauben darf - das unwahrscheinliche Glück, das Haus beobachten zu lassen, auf den Ausbruch des Feuers zu warten und...« »Oh, darauf haben wir wirklich nicht gewartet«, sagte Mason. »Es kam auch für uns völlig überraschend.« »Meinetwegen«, sagte Tragg gereizt. »Aber irgend etwas stimmt mit euch beiden nicht. Drake ließ das Haus von einem seiner Leute beobachten - ich will wissen, was los war. Ich will wissen, wie lange der Bursche schon da war. Und besonders will ich wissen, wer das Haus betreten und wer es verlassen hat.« »Der Mann hat seinen Bericht noch nicht abgeliefert«, sagte Drake. »Also länger halte ich es hier nicht mehr aus«, sagte Tragg. »Außerdem habe ich noch mehr zu tun. Sagen Sie mir, wie der Mann heißt. Wo kann ich ihn jetzt finden?« »Das kann ich Ihnen leider nicht sagen«, erwiderte Drake. »Er macht bei mir immer Nachtdienst. Irgendwo wird er jetzt wahrscheinlich den Bericht schreiben. Wenigstens habe ich ihm vorhin gesagt, daß er nach Hause gehen könnte. Aber den Bericht muß er erst noch abliefern.« »Wann bekommen Sie ihn? Los, los! Und überlegen Sie jetzt genau. Irgend etwas Wichtiges wird er Ihnen doch schon gesagt haben.« Drake sah Mason fragend an. Mason sagte freundlich: »Drake handelt nach meinen Anordnungen. Die Verantwortung für alles trage ich.« »Aber nicht für Dinge, die die Polizei angehen«, sagte Tragg grimmig. »Paul Drake ist Inhaber einer Detektei. Er hat eine Lizenz. Ich könnte mir vorstellen, daß er diese Lizenz auch weiterhin behalten möchte. Wir haben auch gar nichts dagegen aber wenn er Informationen über einen Mord besitzt...« -7 3 -
»Über einen Mord?« unterbrach Mason ihn. »Ja - Mord«, sagte Lieutenant Tragg. »Hören Sie genau zu: Ich möchte wissen, was hier gespielt wird, und zwar sofort.« »Das ist eine lange Geschichte«, sagte Mason. Tragg zog wütend die Stirn kraus. »Sie wissen genau, daß ich hier nicht länger bleiben kann. Sie kommen daher jetzt hinaus.« »Ich habe Ihnen bereits gesagt, daß wir nicht können. Wir haben gerade angefangen zu schwitzen.« Tragg wischte sich mit dem feuchten Taschentuch wieder den Schweiß von der Stirn, fuhr wieder an der Innenseite des Kragens entlang und sagte: »Also gut. Ich kann Sie nicht zwingen, aber ich kann auch nicht völlig durchschwitzen und dann in den eiskalten Wind hinaus. Wann werden Sie den Bericht haben, Drake?« »Früh.« »Um welche Zeit?« Drake blickte Mason an. »Gegen acht«, sagte Mason. »Wenn Sie irgend etwas wissen, was mir helfen könnte, den Mörder dieses Medford D. Carlin zu finden, will ich es jetzt gleich erfahren«, forderte Inspektor Tragg. »Ich kann Ihnen versichern, daß ich auch nicht weiß, wer der Mörder ist«, sagte Mason. »Wie ich Ihnen bereits sagte, Inspektor: Meine Beziehung zu Carlin ist eine lange Geschichte, und...« »Meinetwegen«, unterbrach Tragg ihn. »Morgen früh um acht bin ich in Ihrem Büro, Mason. Sie werden dann auch dort sein, Drake. Und falls einer Ihrer Leute Carlins Haus überwachte, wird dieser Mann ebenfalls erscheinen. Sollten Sie und Ihre Leute nicht kommen, werde ich Sie in das Büro des District Attorneys vorladen lassen. Und sollte auch das keinen Erfolg haben, lasse ich Sie der Grand Jury vorführen. Ich habe keine -7 4 -
Lust, mich länger an der Nase herumführen zu lassen.« Unvermittelt machte Tragg kehrt und verließ den Raum. Mason sah Drake an. »Von der Polizei ist man es schon gewöhnt, daß sie die Leute zum Schwitzen bringt - aber diesmal haben wir es umgekehrt gemacht.« »Drei Stunden Zeit haben wir noch«, sagte Drake nachdenklich, »und dann wird man uns das Fell über die Ohren ziehen.« »Du wirst dich wundern, was du in drei Stunden alles tun kannst«, meinte Mason. »Immer langsam, Perry. Du weißt genau, daß man nicht ein Schwitzbad nehmen und dann in diesen eisigen Wind hinaus kann, ohne...« »Man kann jedoch ein Schwitzbad nehmen, sich kalt abbrausen, sich dann an ein Telefon setzen und eine Menge telefonieren«, sagte Mason. Drake schüttelte den Kopf. »Er hat uns ziemlich festgenagelt, Perry. Wir beide wissen genau, daß er im Recht ist. Er kann mich zwingen, meine Leute herbeizuschaffen, und dann wird er ihnen Fragen stellen, die sie beantworten müssen. Deinen Klienten kannst du in Schutz nehmen; das ist dein berufliches Privileg als Anwalt. Aber ich kann niemanden und nichts in Schutz nehmen. Ich muß meine Karten offen auf den Tisch legen.« »Du hast völlig recht«, sagte Mason, »und zwar alle Karten, die du gerade in der Hand hast.« »Was heißt gerade?« fragte Drake. »Was meinst du damit?« »Wir müssen uns noch ein paar Trümpfe verschaffen, die wir ausspielen können, sobald wir die Unterhaltung mit Tragg hinter uns haben.« »Zum Beispiel?« »Da gibt es verschiedene Möglichkeiten. Meine -7 5 -
geheimnisvolle Klientin rief mich an, als ich in der Golden Goose war - in dem Nachtklub, den du mir so warm empfohlen hattest.« »Ahja«, sagte Drake. »Gutes Essen, ganz nette Tanzmusik und sehr ordentliche Vorführungen. Ein kleines Lokal, aber...« »Ich weiß«, unterbrach Mason ihn. »Der Haken an der ganzen Geschichte ist, daß du mir das Lokal empfohlen hast. Auf Grund dieser gewichtigen Empfehlung gingen Della und ich dorthin. Wir faßten unseren Entschluß ganz plötzlich. Irgend jemand wußte jedoch, daß wir in diesem Lokal waren. Wie kann der Betreffende es erfahren haben?« »Sicher hat man euch beobachtet.« »Das glaube ich nicht, Paul. Vorher waren wir der Teufel weiß wo alles, um die Aussage eines Zeugen zu bekommen. Meiner Ansicht nach hätten wir es bemerken müssen, wenn wir verfolgt worden wären.« »Dann hatte im Lokal irgend jemand den Auftrag zu telefonieren, sobald ihr dort eintraft, und...« Mason schüttelte den Kopf. »Das ist kaum wahrsche inlich, weil niemand wußte, daß ich überhaupt dorthin gehen würde. Nicht einmal ich selbst habe es vorher geahnt.« »Woher wußte dann aber dein Klient, daß du dort warst?« »Es muß jemand gewesen sein, der vorher in der Golden Goose war, Paul - irgend jemand, der gesehen hat, wie ich das Lokal betrat, der auf mich aufmerksam gemacht wurde und dann erst das Lokal verließ, um mich anzurufen.« »Das klingt sehr logisch.« »Und«, sagte Mason, »derjenige, der mich erkannte, könnte der Oberkellner gewesen sein.« »Ob er es zugeben wird?« »Das nehme ich nicht an. Aber die Frau wußte Bescheid. Vermutlich verließ sie sofort das Lokal, fuhr nach Hause, zog -7 6 -
die Schublade mit den Taschentüchern auf, in der sie das Geld vielleicht versteckt hielt, das sie sich für einen Notfall gespart hatte, verpackte diesen Notgroschen in einen Umschlag und schickte ihn mir durch Boten unverzüglich in den Nachtklub. Dann ging sie in eine Telefonzelle und rief von dort an.« »Aber warum hat sie es getan? Warum kam sie nicht einfach zu dir an den Tisch und...« »Weil eine Frau nicht ohne Begleitung in die Golden Goose gehen kann«, unterbrach Mason ihn. »Diese Frau wollte vermeiden, daß ihr Begleiter von ihrer Absicht erfuhr, mit mir in Verbindung zu treten. Sie erfand also irgendeinen Vorwand und fuhr nach Hause. So muß es gewesen sein.« Drake nickte. »Und weiter?« »Sie muß in Begleitung ihres Mannes gewesen sein.« »Das verstehe ich nicht ganz. Genausogut kann sie auch irgendeinem Freund gesagt haben, sie hätte Kopfschmerzen...« »Aber nicht, wenn sie ihn sofort loswerden wollte. Und wenn es tatsächlich nur ein Freund gewesen wäre, hätte sie mich anschließend von ihrer Wohnung aus in der Golden Goose angerufen, hätte sich mit mir verabredet oder hätte versucht, mich dort herauszuholen. Ich wette, daß sie mit ihrem Mann zusammen war. Irgend etwas muß ihr fürchterliche Angst eingejagt haben. Jemand hat ihr meinen Namen genannt, und dadurch kam sie auf diesen Einfall.« Drake rieb sich mit einem Handtuch ab. »Möglich ist es«, gab er zu. »Diese Frau«, fuhr Mason fort, »erfand einen Vorwand: daß sie einen Topf nicht vom Feuer genommen oder die Haustür nicht abgeschlossen hätte. Auf diese Weise konnte sie den Nachtklub verlassen und nach Hause fahren. Ihr Mann begleitete sie natürlich. Zuhause fiel ihr dann angeblich noch etwas ein, daß sie vergessen hatte einzukaufen und das sie noch schnell holen wollte, bevor der Laden zumachte. Meine Klientin ist eine -7 7 -
verheiratete Frau, Paul, und wohnt ganz in der Nähe des Drugstores. Ich möchte, daß deine Leute sie bis um halb neun ausfindig gemacht haben - aber nicht eine einzige Minute früher.« »Ein großartiger Auftrag«, sagte Drake und kratzte sich. »Aber das kann ich nicht von hier aus erledigen, Perry.« »Wir müssen noch hierbleiben«, sagte Mason, »bis wir Gewißheit haben, daß Inspektor Tragg tatsächlich verschwunden und anderweitig beschäftigt ist. Dann kannst du dich meinetwegen hinter dein Telefon setzen. Bis um halb neun möchte ich wissen, wer meine Klientin ist.« »Aber um acht kommt Tragg doch schon zu dir ins Büro, Perry!« »Eben«, sagte Mason grinsend. »Solange Tragg bei mir ist, will ich es gar nicht wissen; aber sobald er weg ist, kannst du mich benachrichtigen.« Drake wand sich das Handruch wie einen Turban um den Kopf. »Manchmal kannst du einen mit deinen Terminen wirklich verrückt machen«, sagte er gereizt.
7 Pünktlich um acht Uhr betrat Tragg Masons Privatbüro, in dem er Perry Mason, Della Street und Paul Drake vorfand, die sich unterhielten. Mason machte einen recht gutgelaunten Eindruck, Drake schien irgendwelche Sorgen zu haben, und Della Street, die an ihrem Schreibtisch saß, einen Bleistift quer über den aufgeschlagenen Stenogrammblock gelegt, blickte Inspektor Tragg zur Begrüßung mit einem Lächeln an, das irgendwie gezwungen wirkte. »Guten Tag, Della«, sagte Inspektor Tragg. »Den feierlichen Vorbereitungen nach scheint die kommende Unterhaltung doch -7 8 -
noch wichtiger zu sein, als ich glaubte.« »Bin ich etwa eine feierliche Vorbereitung?« fragte Della Street. »Sind Sie es etwa nicht?« erwiderte Tragg, setzte sich und verlor in dem Augenblick, in dem er sich an Mason und Drake wandte, seine spaßhafte Art. »Es handelt sich also um Mord. Ich stelle fest, daß Sie beide, kurz nach drei Uhr morgens, am Schauplatz des Verbrechens waren. Wie kam das?« Masons Stimme klang beiläufig, seine Worte waren jedoch sorgsam überlegt, als hätte er eine schriftliche Aussage zu machen, die von größter Wichtigkeit sein könnte. »Soweit Paul Drake betroffen ist, Inspektor, nehme ich die gesamte Verantwortung für sein Auftauchen auf mich. Er hielt sich dort auf, weil ich es gewünscht und weil ich ihm die entsprechenden Anordnungen gegeben hatte.« »Und was interessierte Sie an dieser Angelegenheit?« »Mein Interesse an Carlin wurde durch einen Klienten ausgelöst.« »Durch welchen Klienten?« »Das kann ich Ihnen nicht sagen.« »Wir spielen also immer noch Verstecken«, sagte Tragg gereizt, »und das gefällt mir gar nicht. Ich weiß, daß es zu Ihren Aufgaben gehört, Ihre Klienten...« »Verstehen Sie mich bitte richtig«, unterbrach Mason ihn. »Ich sagte eben, daß ich es Ihnen nicht sagen könne, Inspektor aber nicht, daß ich es nicht wolle.« »Und warum können Sie es nicht?« »Weil ich es nicht weiß.« »Den Teufel wissen Sie nicht.« »Ganz recht.« »Wie hat sich dieser Klient mit Ihnen in Verbindung gesetzt?« -7 9 -
»Telefonisch.« »Mann oder Frau?« »Ganz im Vertrauen: eine Frau. Ich möchte jedoch, daß dies vorerst unter uns bleibt. Ich möchte es nachher nicht gerade in den Zeitungen lesen.« »Und was hat diese Frau gesagt, daß Sie sich Hals über Kopf mit Paul Drake zusammen auf den Fall stürzten?« »Das hingegen ist eine Frage, die ich Ihnen nicht beantworten will.« Tragg überlegte einen Augenblick und wandte sich dann an Paul Drake. »Ich habe etwas gegen diese Anwälte mit ihren Vorrechten und dem ganzen Zeugs. Nehmen wir einmal an, Drake, wir beide unterhielten uns ganz vertraulich: Ihre Leute waren auf diesen Fall angesetzt - wann geschah das?« Drake zog ein Notizbuch aus der Tasche. »Der erste war um sieben Minuten nach eins dort.« »Es waren also mehrere da?« »Ja - der zweite ab ein Uhr fünfzig.« »Hatten Sie nur diese beiden oder noch andere Leute hingeschickt?« »Drei im ganzen.« »Und was war mit dem dritten?« »Er traf dort um zwei Uhr drei ein.« »Warum hatten Sie gleich drei hingeschickt?« »Um jeden, der das Haus verließ, beschatten zu können.« »Und warum diese großartigen Vorsichtsmaßnahmen?« »Ich hatte die entsprechenden Anordnungen bekommen.« »Hat also jemand das Haus nach dem Eintreffen Ihrer Leute verlassen?« »Nach ein Uhr sieben hat niemand das Haus durch die vordere Haustür verlassen.« -8 0 -
»Und durch die Hintertür?« »Nach ein Uhr fünfzig nicht.« »Das Feuer brach kurz nach drei aus?« »Ja.« »Wo steckten Ihre Leute, als das Feuer ausbrach?« »Sie waren auf ihren Posten.« »Warum hat keiner Alarm gegeben?« »Die Feuerwehr wurde von ihnen alarmiert.« »Warum wurde mir nicht Bescheid gesagt?« »Sie hatten mich nicht darum gebeten.« »Also gut«, sagte Tragg. »Ich stelle Ihnen jetzt noch ein paar Fragen. Besonders möchte ich jede Einzelheit wissen, die wichtig sein könnte. Hat einer Ihrer Leute einen Bericht angefertigt?« »Ja.« »Wo ist der Bericht?« »Ich habe ihn bei mir.« »Ich möchte ihn sehen.« Drake zog den zusammengefalteten Bericht aus der Tasche und reichte ihn Inspektor Tragg. Tragg blätterte die mit Maschine beschriebenen Seiten durch und sagte beiläufig zu Mason: »Diese Burschen tun immer so, als wäre jeder einzelne ein ganzer Secret Service. Ihre Berichte sind immer recht eindrucksvoll. Manchmal könnte man direkt neidisch werden. Hören Sie sich das hier an: ›Da ich wußte, daß die beiden Kollegen ihre Posten eingenommen hatten und das Grundstück absicherten, wollte ich mir eine Personalbeschreibung des Betreffenden und des ganzen Falles in der Nachbarschaft verschaffen; aus diesem Grunde fuhr ich zu der Tankstelle, deren Kunde der Betreffende mittels einer Kreditkarte war, und durch vorsichtige Fragen erhielt ich die Information, daß...‹« -8 1 -
Tragg blickte wieder auf und grinste. »Und wissen Sie, was das bedeuten soll? Ein paar Straßen weiter entdeckte er zufällig eine Tankstelle, die noch geöffnet hatte. Er hielt und fragte, ob hier ein Mister Carlin bekannt wäre. Das war der Fall, und der Detektiv machte dem Tankwart anschließend in fünf oder sechs Minuten klar, daß er mit einem Mann namens Carlin zusammen das College besucht hätte und daß er wisse, dieser Carlin müsse hier irgendwo wohnen - aber eben nicht ganz genau wo. Und im Telefonbuch hätte er zwar Namen und Adresse gefunden, aber er wollte den Mann nur dann stören, wenn es tatsächlich sein College-Freund wäre. Als dann der Tankwart erzählte, daß dieser Carlin es schlecht sein könne, da er vielleicht dreißig Jahre älter sei als der Detektiv, fragte dieser noch ein bißchen weiter und...« »Machen Sie mich nicht wahnsinnig!« unterbrach Drake ihn grinsend. »Sie verraten Geschäftsgeheimnisse in Anwesenheit eines barzahlenden Kunden. Vielleicht hat er bis jetzt geglaubt, meine Leute wären mit einem feinzinkigen Kamm durch die ganze Gegend gezogen, um Carlins Tankstelle zu finden, und...« »Lassen wir das«, unterbrach Tragg ihn. »Was ist aber mit diesem Mädchen, das das Haus um ein Uhr achtundzwanzig betrat?« »Das ist es doch gerade«, sagte Drake. »Sie muß das Haus in der Zeit bis zehn vor zwei durch die Hintertür wieder verlassen haben.« »Und später ist niemand mehr gekommen?« »Es gibt noch eine andere Möglichkeit«, sagte Drake, »aber eben auch nur eine Möglichkeit. Diese Frau könnte das Haus vor ein Uhr vierzig verlassen haben; kurz darauf könnte ein Dritter das Haus durch die Hintertür betreten haben, könnte sich zehn Minuten im Haus aufgehalten und es dann wieder durch die Hintertür verlassen haben - und alles, bevor der zweite meiner Leute seinen Posten um ein Uhr fünfzig einnahm.« -8 2 -
»Warum hatten Sie es eigentlich so eilig, Mason?« fragte Tragg. »Ich versuchte, die Interessen meiner Klientin zu schützen.« »Wie kommen Sie aber dazu, Geld für diesen kostspieligen Überwachungsdienst auszugeben, wenn Sie Ihre Klientin noch nicht einmal kennen?« »Ich bekam von ihr eine Vorschußzahlung.« »Und wie?« »Durch Boten.« »Wohin?« »In den Nachtklub, in dem wir zu Abend aßen.« »Wie hieß der Nachtklub?« »The Golden Goose.« »Um welche Zeit?« »Gegen zehn nach elf - ungefähr.« »Und wann erfolgte der Anruf?« »Ziemlich genau um elf; es kann auch etwas später gewesen sein.« »Schön«, sagte Tragg, »das war gestern abend. Haben Sie heute schon etwas von ihr gehört?« Mason schüttelte den Kopf. »Das können Sie mir nicht weismachen, Mason. Sie wissen selbst genau, daß die Frau bestimmt schon die Morgenzeitungen gelesen und damit erfahren hat, daß Carlin tot aufgefunden wurde. Und da soll sie noch nicht angerufen haben?« Mason schüttelte den Kopf. »Ich habe noch keinen Ton von ihr gehört.« »Das wird dann sicher noch kommen.« »Vielleicht.« »In diesem Fall möchte ich den Namen dieser Frau erfahren. -8 3 -
Ich möchte nämlich selbst mit ihr sprechen.« »Das«, meinte Mason, »wird ganz davon abhängen, ob sie den Wunsch hat, sich von Ihnen sprechen zu lassen.« »Immerhin handelt es sich um einen Mord, Mason.« »Wie kommen Sie eigentlich darauf?« Tragg grinste. »Der Chef ist in diesen Dingen etwas beschränkt, Mason. Er hat nämlich die altmodische Auffassung, daß es bei einem Mord Aufgabe der Polizei ist, Informationen zu sammeln - nicht, sie zu verteilen.« »Kaum zu fassen!« wunderte sich Mason. »Ich weiß, aber zufälligerweise leitet er die Abteilung.« Sehr beiläufig meinte Mason: »Übrigens hörte ich, daß sich in Carlins Haus ein ziemlich teurer Safe befinden soll.« Tragg schwieg und betrachtete den Anwalt sehr aufmerksam. »Was soll diese Bemerkung?« fragte er schließlich. »Vielleicht könnte ich Ihnen in diesem Fall behilflich sein«, sagte Mason. »Wie meinen Sie das?« »Wie sieht der Safe aus? Ist er durch das Feuer beschädigt worden? Ich meine, ist er sehr heiß geworden?« »Nein - er steht im Erdgeschoß. Den größten Schaden hat das Feuer im ersten Stock und im Dachgeschoß angerichtet. Was wissen Sie von dem Safe?« »Vielleicht gar nichts«, sagte Mason, »vielleicht liegt hier aber eine Möglichkeit, Tragg. Es besteht eine winzige Chance, daß ich die Zahlenkombination zu dem Safe kenne.« »Jetzt hören Sie aber auf!« »Ich meine, daß ich vielleicht in der Lage wäre, die richtigen Zahlen...« »Reden Sie keinen Unsinn. Ich möchte jetzt erst einmal wissen, wie Sie zu der Kombination gekommen sind.« -8 4 -
»Ich weiß doch noch gar nicht, ob ich sie überhaup t habe!« Ärgerlich sagte Tragg: »Passen Sie auf, Mason. Dieser Safe spielt eine wichtige Rolle in dieser Affäre. Wir müssen ihn möglichst schnell öffnen. Einer meiner Leute tut seit vier Uhr nichts anderes, als in der Gegend herum zu telefonieren.« Tragg grinste. »Seit vier Uhr sind die Angestellten der Firma, die diesen Safe gebaut hat, nicht mehr zum Schlafen gekommen, sondern sitzen in den Büros und blättern sämtliche Akten durch. Und der hiesige Vertreter wird mit einem gewaltigen Brummschädel wahrscheinlich bald draußen sein. Aber Zeit ist wichtig. Wenn wir hier nur herumsitzen und Sie kennen die Kombination...« »Ich weiß doch noch gar nicht, ob ich sie kenne!« »Das muß sich doch feststellen lassen?« »Ja - man müßte es am Safe ausprobieren.« »Wie sind Sie überhaupt dazu gekommen? Wo? Und wann? Und warum hat man sie Ihnen genannt?« »Sie komplizieren die ganze Affäre nur noch mehr, Inspektor.« »Diesmal haben Sie sogar recht.« »Also, Inspektor«, sagte Mason, »wenn Sie die Kombination tatsächlich erfahren sollten, würde ich mich gern mit Ihnen darüber unterhalten. Wenn sich zum Beispiel herausstellen sollte, daß die erste Ziffer die Neunundfünfzig, viermal nach rechts, sein sollte - dann wäre ich vielleicht in der Lage, Ihnen helfen zu können.« »Und wie stellen Sie sich vor, daß wir es herausbekommen sollen?« »Wie wäre es mit Ihrem einschlägigen Fachmann?« Tragg knurrte. »Ich habe keine Ahnung, ob er die Kombination kennt. Wahrscheinlich wird er das Schloß anbohren und das ganze Ding in die Luft jagen müssen. Und -8 5 -
kein Mensch weiß, wie lange es dauern wird. Los, Mason - wir fahren sofort hin.« »Wohin?« »Aller Wahrscheinlichkeit nach werde ich den Safe nur schwer hierher bringen und Ihnen in den Schoß legen können«, sagte Tragg. »Folglich müssen wir uns leider zu ihm bemühen.« »Und dann?« »Dann werden Sie mir die Kombination nennen, und ich werde versuchen, ob sie stimmt.« »Das kann ich leider nicht. Dazu bin ich nicht berechtigt. Ich bekam sie vertraulich.« »Also gut«, sagte Tragg, »dann werden Sie Ihre Kombination selbst am Safe ausprobieren. Kommen Sie, wir vergeuden nur unsere Zeit.« »Was ist eigentlich mit den Leuten, die in Drakes Büro warten?« fragte Mason. »Zum Teufel mit ihnen«, knurrte Tragg. »Ich habe Wichtigeres zu tun.« Mason erhob sich, und jede seine r Bewegungen verriet sein Widerstreben. »Wie Sie wollen«, sagte er. »Aber das kommt davon, wenn man anderen Leuten helfen will: Jetzt verliere ich einen ganzen Vormittag dadurch, daß ich für die Polizei einen Safe öffnen muß.« Er sah zu Della Street hinüber und kniff das rechte Auge leicht zu. Das Innere des Hauses war finster und trübe. Der Geruch von verkohltem Holz und einem Brand, der mit Unmengen von Wasser gelöscht worden war, hing über dem ganzen Anwesen. Der große Safe stand in einer Ecke jenes Raumes, der offensichtlich das Arbeitszimmer gewesen war. Der Raum enthielt Möbel, die schon schäbig gewesen sein mußten, bevor das von verkohltem und halb verbranntem Holz -8 6 -
verschmutzte Wasser durch die Löcher der Decke heruntergelaufen war und alles ruiniert hatte. Tragg deutete auf den Safe und sagte: »Also bitte - öffnen Sie den Safe.« Mason holte eine winzige Lampe in Form eines Federhalters aus der Tasche und trat vor den Safe. Inspektor Tragg blieb dicht hinter ihm. »Pusten Sie mir nicht dauernd in den Nacken«, sagte Mason. »Es macht mich nervös.« »Ich möchte gern sehen, was Sie tun.« »Dann kann ich nicht arbeiten.« »Dann tun Sie es, so gut es dabei geht.« Mason drückte sich so dicht an das Schloß und schirmte das Licht seiner Taschenlampe so weit mit der Hand ab, daß es für Inspektor Tragg unmöglich war, die Einstellung der einzelnen Zahlenkombinationen mitzubekommen, die Mason auf dem Zettel aus der Telefonzelle gefunden hatte. Der Anwalt drehte an dem letzten Rädchen - zweimal die Neunzehn nach rechts und dann nach links, bis die Kombinationszahl bei der Zehn stand. Unmerklich stieß er mit der Hand gegen den Griff. Die Tür rührte sich nicht. »Fertig?« fragte Tragg. »Ich habe noch gar nicht angefangen«, sagte Mason. »Ich kann mich nicht konzentrieren, wenn Sie so dicht hinter mir stehen und mich dauernd in die Seite stoßen, um besser sehen zu können.« »Strengen Sie sich ruhig ein bißchen an. Ist Ihnen nicht gut?« »Ich glaube, ich habe die eine Ziffer vergessen.« »Sie haben noch gar nicht versucht, ob der Safe aufgeht.« »Ich weiß aber genau, daß ich die eine Ziffer vergessen -8 7 -
habe.« »Machen Sie mir nichts vor«, sagte Tragg. »Weil ich Sie beobachte, um die Kombination herauszubekommen, wollen Sie jetzt Theater spielen.« Eine Sirene heulte. Tragg und Mason traten an das Fenster. Ein Streifenwagen hielt vor dem Haus, und zwei Beamte begleiteten einen hochgewachsenen, hageren Mann von etwa sechzig Jahren durch die Tür. »Das ist Mister Corning von der Firma, die den Safe gebaut hat«, sagte einer der Beamten. »Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Corning. Können Sie dieses Ding aufmachen, ohne es in die Luft zu jagen?« fragte Inspektor Tragg. »Das nehme ich an.« »Wollen Sie so lange am Schloß herumspielen?« »Das wird wahrscheinlich gar nicht nötig sein, Inspektor.« »Wieso nicht?« »Dieser Safe hat eine Nummer. Bevor er die Fabrik verließ, wurde das Schloß auf eine bestimmte Kombination eingestellt. Wir haben inzwischen den ganzen Vorgang gefunden, einschließlich des Grossisten und des Einzelhändlers. Dieser Safe wurde vor etwa sechs Monaten an Carlin verkauft. Die Zahlenkombination des Schlosses wurde damals von der Firma notiert. Wir haben zwar dafür gesorgt, daß die Zahlenkombination der verkauften Safes jederzeit geändert werden kann, aber der Käufer dieses Safes hat eine Änderung nicht verlangt. Ich glaube also nicht, daß sie geändert worden ist.« »Versuchen Sie es doch mal«, forderte Inspektor Tragg ihn auf. Vorsichtig stieg Corning über das kohlschwarze Durcheinander, das den Boden bedeckte. »Ich habe immer -8 8 -
Angst, daß ich mir einen Nagel in den Fuß trete«, sagte er. »Ich hatte einmal einen Freund, der...« »Ich weiß«, unterbrach Inspektor Tragg ihn. »Er starb an Blutvergiftung. Aber jetzt probieren Sie erst einmal, ob der Safe sich öffnen läßt.« Schweigend sahen sie zu, wie Corning ein kleines, ledergebundenes Notizbuch aus der Tasche zog, vorsichtig an den Rädern des Schlosses drehte und dann mit langen, sensiblen Fingern die Kombination einstellte. Der Schloßmechanismus klickte leise. Corning faßte mit beiden Händen nach dem Doppelgriff, trat einen Schritt zurück und zog die Tür auf. Die Beamten drängten nach vorn. »Verdammt noch mal!« knurrte Inspektor Tragg enttäuscht. Mason trat näher und blickte über die Schultern der Beamten in den Safe. Er enthielt lediglich ein Häufchen verkohlten Papiers. »Das scheint mir ein großartiger Safe zu sein«, sagte Tragg. »Das hätte eine Blechbüchse auch ausgehalten. Dieses bißchen Feuer...« »Reden Sie keinen Unsinn«, sagte Corning. »Das Feuer hat nicht einmal dem Lack etwas ausgemacht. Das Papier wurde erst verbrannt und dann in den Safe getan, es sei denn...« »Was wollten Sie sagen?« fragte Tragg. »Es sei denn, das Papier wurde vor dem Hineinlegen in den Safe mit einer chemischen Lösung getränkt, die es selbsttätig in Brand setzte, oder aber es gelang, eine Behandlung vorzunehmen, durch die...« Unvermittelt gab Tragg dem Mann ein Zeichen zu schweigen, um sich dann an Mason zu wenden. »Ich glaube, wir brauchen Sie nicht länger, Herr Rechtsanwalt«, sagte er. »Ich bin fest überzeugt, daß wir Sie nicht mehr brauchen.« -8 9 -
9 Von einem Drugstore aus rief Mason bei Paul Drake an. »Nun, Paul«, fragte er, als der Detektiv sich meldete. »Was habt ihr herausbekommen? Wer ist meine Klientin?« »Was ist mit dem Safe?« fragte Drake. »Hast du...« »Nein«, unterbrach Mason ihn. »Eben nicht. Aber das hat jetzt Zeit. Was ist mit meiner Klientin?« »Ich habe meine Leute in die Golden Goose geschickt«, sagte Drake. »Das Personal des Nachtklubs kommt erst gegen drei Uhr morgens ins Bett und steht erst nachmittags wieder auf. Es war ein ganz schönes Stück Arbeit, sie zu wecken und irgend etwas von ihnen zu erfahren. Von einigen konnten wir nicht einmal die Adresse herausbekommen, und...« »Wie schwer es war, interessiert mich nicht«, unterbrach Mason ihn. »Das kannst du mir ausführlich erzählen, wenn du mir die Rechnung vorlegst. Ich möchte lediglich wissen, wer meine Klientin ist.« »Meiner Meinung nach sind bei den Nachforschungen Dinge aufgetaucht, die du ebenfalls wissen solltest«, sagte Drake. »Als erstes: Pierre, der Oberkellner, den wir uns besonders genau ansehen sollten. Er ist Schweizer, etwa sechzig - und ich bekomme keinen Kontakt mit ihm.« »Will er nicht reden?« »Ich finde ihn nirgends.« »Glaubst du, daß er abgehauen ist?« »Er hat den Klub gegen Mitternacht verlassen und ist seitdem nicht mehr gesehen worden. Er ist nirgends aufzutreiben - das ist alles. Kein Mensch weiß, wo er wohnt. Der Nachtklub hat zwar eine Adresse, an die auch seine Post geschickt wird, aber dabei handelt es sich um eines dieser Büros, die ihre Anschriften als Deckadresse für alles mögliche vermieten, Telefongespräche annehmen und was weiß ich.« -9 0 -
»Schön - und was war mit den anderen?« »Der einzige Hinweis stammt vom Garderobenfräulein. Ich habe dem Mädchen erzählt, daß mich jene Pärchen interessierten, die zu den regelmäßigen Gästen gehören, Pierre näher kennen, wahrscheinlich verheiratet sind und gestern abend schon zeitig weggegangen wären. Nachdem wir uns gebührend wegen der Störung ihres Schönheitsschlafes entschuldigt und ihr - zur Besänftigung ihrer beleidigten Gefühle und als Aufmunterung ihres Gedächtnisses - zwanzig Dollar auf den Tisch gelegt hatten, erfuhren wir, daß zwei Paare das Lokal ziemlich eilig verlassen haben. Die Beschreibung war zwar mehr oder weniger verschwommen, aber wir bekamen heraus, daß die beiden Paare, die fast schon zur Stammkundschaft gehören, ungefähr zu dem erwähnten Zeitpunkt aufgebrochen sind. Ich will dich jetzt nicht mit den Einzelheiten aufhalten. Wenigstens kannte das Mädchen die Namen der beiden Paare nicht; es wußte nur, daß der eine Mann mit ›Doktor‹ angeredet wird und vielleicht Arzt ist. Vom Portier und den Jungens, die die Wagen auf den Parkplatz fahren, habe ich dann noch ein paar Autonummern erfahren und die Namen und Anschriften bereits heraus gesucht. Bei einem handelt es sich übrigens tatsächlich um einen Arzt.« »Wohnt er zufällig in der Nähe des Drugstore an der Ecke Kramer Boulevard und Vance Avenue?« »Nein. Er wohnt genau am anderen Ende der Stadt.« »Ah so«, sagte Mason. »Wenn meine Überlegung stimmt, muß die Frau zu Fuß zu dem Drugstore gegangen sein vorausgesetzt, daß das Ehepaar nicht zwei Wagen besitzt und sie den einen benutzen konnte, ohne daß es auffiel. Aber selbst dann wird sie sich beeilt und vom nächstgelegenen Telefon aus angerufen haben. Gib mir doch mal die Adresse durch, Paul.« »Dr. Robert Afton; er wohnt in 2270 Evenrude.« Mason schrieb sich Name und Anschrift auf. »Hast du die -9 1 -
Angaben schon nachgeprüft, Paul?« »Nur die Adresse. Sie steht im Telefonbuch.« »Gut. Und was ist mit dem anderen?« »Bei dem bin ich mir nicht ganz sicher«, sagte Drake. »Der Mann kommt immer allein in die Golden Goose, und zwar ziemlich selten. Das Garderobenfräulein hat ihn mehrere Male gesehen und glaubt, daß die Frau, die gestern bei ihm war, seine Frau ist. Der Wagen ist auf den Namen Myrtle Fargo zugelassen. Die Adresse habe ich nicht feststellen können, weil der Name auch nicht beim Wahlamt verzeichnet ist. Im Telefonbuch stehen zwar eine ganze Menge Fargos, aber keine Myrtle. Der Wagen ist ein Cadillac - Cabriolet. Demnach scheint die Dame zwar Geld zu haben, aber finden kann ich sie trotzdem nicht. Bei der Zulassungsstelle ist als Wohnort dieser Myrtle Sacramento verzeichnet. Sie muß also innerhalb des vergangenen Jahres umgezogen sein. Wenn du die Sache bezahlen willst, Perry, kann ich meine Leute in Sacramento nachforschen lassen. Ich weiß jedoch nicht, ob es sich für dich lohnt.« »Der Haken an der ganzen Geschichte ist, daß ich es selbst nicht weiß, Paul«, sagte Mason. »Sie heißt also Myrtle Fargo?« »Ja. Mehr haben wir bisher nicht herausgebracht - aber vergiß nicht, daß es noch früh am Morgen ist. Vielleicht ist sie erst vor kurzem hierhergezogen. Vielleicht wohnt sie auch in einem Apartmenthotel, so daß sie keine eigene Telefonnummer braucht. Der Mann, der sie begleitete, war vielleicht ihr Mann oder ein Freund, und vielleicht haben sie sich nur in der Golden Goose verabredet gehabt.« »Überprüfe doch mal sämtliche Fargos, die im Telefonbuch stehen - besonders die Adressen. Vielleicht wohnt einer in der Nähe des Drug-Stores.« »Eines der Mädchen ist gerade dabei«, sagte Drake. »Einen Moment. Ich glaube, ich kann es dir schon gleich sagen. Bleib -9 2 -
bitte am Apparat...« Für kurze Zeit war das Telefon stumm. Dann meldete Drake sich wieder. »Gleich zwei wohnen ziemlich in der Nähe, Perry. Ein Arthman D. Fargo wohnt 2281 Livingdon Drive, und ein Ronald F. Fargo wohnt 2830 Montcrief.« »Sieh doch mal auf dem Stadtplan nach«, sagte Mason, »wer von den beiden näher am Drugstore wohnt.« »Arthman D. Fargo wohnt drei, Ronald F. Fargo etwa acht Querstraßen entfernt.« »Gut«, sagte Mason, »dann werde ich mir diesen Arthman D. einmal ansehen.« »Willst du etwa zu ihm gehen und ihm reinen Wein einschenken?« »Das weiß ich noch nicht, Paul. Zumindest werde ich ihn mir einmal ansehen und ihm ein bißchen auf den Zahn fühlen. In etwa einer Stunde komme ich bei dir vorbei.« Mason hängte den Hörer auf, stieg in den Wagen und fuhr zum Livingdon Drive. Vor dem hübschen Haus lag ein kleiner, aber sehr gepflegter Rasen, und am Tor stand in großen Metallbuchstaben ARTHMAN D. FARGO, REALTOR. Der Mann war also Grundstücksmakler. Mason parkte den Wagen, ging über die Einfahrt zum Haus und klingelte. Es dauerte einen Augenblick, bis er Schritte hörte, die Tür geöffnet wurde und ein Mann - der fast so groß wie Mason, jedoch erheblich kräftiger gebaut war - »Guten Morgen« sagte. Der Gesichtsausdruck des Mannes veränderte sich dabei um keinen Deut. »Ich hätte gern Mr. Fargo gesprochen«, sagte Mason. »Der bin ich.« »Ich würde mich mit Ihnen gern über Grundstücksangelegenheiten unterhalten.« -9 3 -
»Kommen Sie bitte herein.« Der Mann hielt die Tür weit offen, und Mason betrat das Haus. Mason bemerkte sofort den abgestandenen Geruch nach Tabak und Küche. Das Wohnzimmer war einfach, jedoch geschmackvoll möbliert. An der Weise, wie die Zeitungen aufgeschlagen herumlagen, konnte man entnehmen, daß noch vor ganz kurzer Zeit jemand in diesem Zimmer gewesen war. »Mein Büro ist dort hinten«, sagte Fargo. »Ein kleiner Raum, den ich mir eingerichtet habe.« Er bog nach links, öffnete die Tür und wies in ein winziges Büro, das offensichtlich ursprünglich als Schlafzimmer bestimmt war und in dem sich eine Couch, ein Tisch, ein Safe, ein paar Stühle, zwei Aktenschränke und eine Schreibmaschine an der Seite des Tisches befanden. Der Raum war kalt und dunkel, und die Fensterläden waren geschlossen. Fargo beeilte sich mit seiner Entschuldigung. »Ich habe heute morgen ein paar Aufstellungen durchgesehen, und das Zimmer ist immer noch nicht warm geworden. In der vergangene n Nacht hat es geregnet, und es war ausgesprochen kühl. Aber ich werde schnell den elektrischen Ofen anstellen - dann ist es in kurzer Zeit warm.« Er drehte an einem Schalter, und fast im gleichen Augenblick fing ein versteckter Ventilator an, wärmere Luft in das Zimmer zu blasen. »Nur noch einen Augenblick«, entschuldigte sich Fargo noch einmal. »Bitte, nehmen Sie Platz und erzählen Sie mir, was Sie sich vorstellen.« »Ich habe etwas flüssiges Kapital«, sagte Mason. »Ich möchte ein bebautes Grundstück kaufe n - falls ich ein günstiges Angebot bekomme.« -9 4 -
Fargo nickte. »Ich denke dabei an ein Grundstück, dessen Preis weit unter dem Durchschnitt liegt. Außerdem möchte ich die Sicherheit haben, daß es nicht wegen der Nachbarschaft, wegen Termiten, wegen Schwamm oder ähnlicher Dinge verkauft wird.« »Wie hoch wollen Sie gehen, und an welche Art von Grundstück denken Sie im besonderen?« »Ich möchte das Grundstück aus spekulativen Gründen kaufen. Die Höhe des Betrages spielt keine besondere Rolle; wichtiger ist für mich, daß das Grundstück erheblich unter seinem Preis verkauft wird. Andernfalls habe ich kein Interesse.« »Das, was Sie suchen, ist natürlich nicht ganz leicht zu finden«, sagte Fargo, »obgleich ich ein paar äußerst günstige Gelegenheiten an der Hand habe. Wollen Sie das Anwesen vermieten oder bis zum Wiederverkauf selbst bewohnen?« Fargo setzte sich an den Tisch und blätterte ein paar Karten durch. »Ich habe hier zwar ein paar sehr günstige Objekte, aber nichts, was Ihren Wünschen entspräche. Wann hätten Sie die Möglichkeit, sich die Grundstücke, sobald ich die Unterlagen zusammengestellt habe, persönlich anzusehen?« Mason sah auf seine Uhr und erwiderte: »Zufällig habe ich heute morgen gerade etwas Zeit. Üblicherweise bin ich ziemlich beschäftigt.« »Ich verstehe. Darf ich wissen, mit wem ich das Vergnügen habe?« »Jetzt noch nicht«, sagte Mason. »Später vielleicht. Das hat mit Ihnen nichts zu tun, aber im Grundstückhandel...« »Das verstehe ich vollkommen«, sagte Fargo sofort. Er blickte auf das Telefon, das auf dem Tisch stand. »Würden Sie mich bitte einen Augenblick entschuldigen, Sir, aber ich würde -9 5 -
gern in einer Liste nachsehen, die ich in einem anderen Zimmer habe.« »Bitte sehr«, sagte Mason. Fargo erhob sich. »Es dauert nicht lange. Machen Sie es sich bitte bequem - ich bin gleich wieder zurück.« Damit verließ er eilig das Zimmer. Mason trat an das Fenster und schob die Fensterläden so weit auseinander, daß er seinen Wagen sehen konnte. Fargo hatte das Haus anscheinend durch den Hintereingang verlassen und näherte sich vorsichtig dem Wagen, dessen Zulassungsbescheinigung Mason vorher jedoch entfernt hatte. Mason selbst drehte sich um und stand mit einem Schritt neben dem Safe. Der Safe war verschlossen. Mason stellte das Schloß auf die Zahlenkombination ein, die auf dem in der Telefonzelle gefundenen Zettel stand. Dann zog er vorsichtig am Türgriff. Die Sperre war gelöst. Im gleichen Augenblick hörte er Schritte und hatte gerade noch Zeit, sich wieder auf seinen Stuhl zu setzen, bevor Fargo das Zimmer betrat und dabei sagte: »Ich habe eben in meinen anderen Unterlagen nachgesehen. Ein Objekt, an das ich gedacht hatte, wird leider nicht mehr angeboten. Es tut mir leid.« »Schade, schade«, sagte Mason. Fargo sah ihn an. »Und wenn ich Ihnen dieses Grundstück verkaufte?« »Gehört es Ihnen?« »Ja.« Mason schüttelte den Kopf. »Ich sagte vorhin schon, daß ich ein Geschäft dabei machen will. Dieses Haus können Sie kaum zu den Bedingungen verkaufen, die ich mir vorstelle.« »Wie kommen Sie darauf?« -9 6 -
»Weil Sie selbst Grundstücksmakler sind.« »Sie könnten es für ein Butterbrot bekommen - bei Barzahlung.« »Wieviel?« »So, wie es steht, einschließlich der Möbel: achtzehntausend. Ich will sowieso ausziehen.« »Das ist zuviel. Das Grundstück ist diese Summe bestimmt wert, aber ich suche eine Gelegenheit, deren Preis so niedrig ist...« »Siebzehntausend - mit Möbeln.« »Der Preis ist nicht schlecht, aber...« »Sechzehntausendfünfhundert - aber keinen Cent weniger!« »Kann ich es mir einmal ansehen?« »In etwa einer Stunde könnte ich es Ihne n zeigen, und...« »Ich bin jetzt gerade hier. Warum geht es denn nicht jetzt?« Fargo zögerte. »Zu diesem Preis wären Sie also interessiert?« »Möbliert - ja.« Fargo zögerte immer noch. »Meine Frau ist in Sacramento und besucht ihre Mutter. Zum Haushalt tauge ich nicht sehr. Ich...« »Ich bin an dem Haus interessiert - nicht an Ihrer Tüchtigkeit als Hausfrau«, sagte Mason. »Also schön - Sie können es sich ansehen. Kommen Sie.« Fargo ging voraus. Sie kamen durch das Wohnzimmer und in die Küche. »Eine schöne große Küche«, sagte er. »Ganz modern. Ein tadelloser Eisschrank, elektrischer Herd, elektrische Abwaschmaschine...« Mason unterbrach ihn. »Ihre Frau ist also verreist?« »Ja. Sie ist heute morgen nach Sacramento geflogen - mit der Maschine um sechs. Ich habe sie noch zum Flugplatz gefahren.« -9 7 -
»Und sind Sie überzeugt, daß Ihre Frau mit dem Verkauf einverstanden ist?« »O ja. Zufällig haben wir schon einige Male darüber gesprochen, und ihre Unterschrift habe ich bereits.« »Müßten Sie die Unterschrift nicht notariell beglaubigen lassen?« »Das kann ich leicht erledigen«, sagte Fargo. »Gehen wir weiter.« Fargo zeigte Mason das Erdgeschoß, ging dann die Treppe hoch und sagte dabei: »Eines der Zimmer kann ich Ihnen leider nicht zeigen.« »Und warum nicht?« »Es ist das Schlafzimmer meiner Frau; es sieht ziemlich unordentlich aus.« »Was hat das mit dem Zimmer zu tun?« fragte Mason kühl. »Ich möchte das ganze Haus sehen, bevor ich mich entscheide.« »Gewiß, gewiß«, sagte Fargo zuvorkommend. »Das ist völlig berechtigt. Aber dieses eine Zimmer müssen Sie sich leider etwas später ansehen. Es ist - meine Frau mußte sich beim Packen beeilen. Sie wissen doch, wie es manchmal ist, besonders morgens. Ihre Wäsche und andere Dinge liegen... Ich bin überzeugt, daß es ihr gar nicht recht wäre, wenn ein Fremder das Zimmer in diesem Zustand sähe. Vielleicht könnten Sie später noch einmal vorbeikommen? Aber jetzt werde ich Ihnen erst noch die übrigen Räume zeigen.« Mit einer abschließenden Bewegung drehte Fargo sich um und zeigte Mason die beiden Badezimmer sowie drei der vier Schlafzimmer. Nachdenklich blieb Mason vor der einzigen Tür stehen, die ihm nicht geöffnet wurde, aber Fargo blieb fest. Die Tür war geschlossen und blieb geschlossen. »So, und jetzt werden wir es uns von außen ansehen«, sagte -9 8 -
Mason. »Ich finde es sehr hübsch. Vielleicht werde ich Ihnen ein Angebot machen.« »Auf Angebote kann ich leider nicht eingehen«, sagte Fargo und versuchte, seiner Stimme einen sicheren Klang zu geben. »Ich habe Ihnen bereits den äußersten Preis genannt. Jetzt ist es nur noch die Frage, ob Sie kaufen oder nicht.« »Darüber können wir uns unterhalten, wenn ich mir alles angesehen habe«, sagte Mason. Er stieg die Treppe hinunter, ging - gefolgt von Fargo - in den Hintergarten hinaus, stieg in den Keller und kam dann über die Anfahrt zu der Doppelgarage, in der ein Cadillac-Cabriolet stand. »Ich habe nur einen Wagen«, sagte Fargo, »aber der Platz reicht für zwei.« »Das sehe ich«, sagte Mason. »Diese Cadillacs sind großartig, nicht wahr? Das ist wahrscheinlich Ihrer?« »Ja - ja, natürlich. Er ist auf den Namen meiner Frau zugelassen, gehört jedoch mir. Wenn Sie mit dem Kauf ein Geschäft machen wollen, können Sie wohl kein besseres Angebot als meins bekommen.« »Ich bin nicht allein«, sagte Mason. »Das heißt, es ist sehr gut möglich, daß ich selbst hier wohnen werde. In diesem Fall...« »Sie meinen, daß Ihre Frau es sich ebenfalls ansehen müßte?« »Nicht meine Frau«, sagte Mason. »Eine junge Dame, die naja...« »Ich verstehe«, sagte Fargo. »Davon bin ich nicht ganz überzeugt.« »Wäre der Unterschied denn so groß, wenn ich nicht verstünde?« »Nein.« Fargo lächelte. -9 9 -
»Ich könnte später mit der Dame vorbeikommen«, sagte Mason. »Dann bin ich vielleicht gerade nicht da«, sagte Fargo. »Ich bin sonst nämlich den ganzen Tag unterwegs.« »Also gut. Dann werde ich Sie wegen des Termins anrufen.« »Einverstanden. Aber würden Sie mir jetzt vielleicht Ihren Namen nennen?« »Noch nicht«, sagte Mason. »Bei Transaktionen dieser Art ist es meiner Erfahrung nach sehr angebracht, erst einmal anonym zu bleiben.« »Aber wie soll ich denn wissen, daß Sie mich anrufen...« »Nennen Sie mich Mr. Cash«, sagte Mason. »Die Anfangsbuchstaben meiner Vornamen sind C. H.« »Mr. C. H. Cash also«, sagte Fargo. »Genau, und die beiden Buchstaben bedeuten cold und hard. Der vollständige Name lautet also Mr. Cold Hard Cash.« Er reichte Fargo die Hand, ging mit schnellen Schritten zu seinem Wagen, fuhr zu dem Drugstore an der Ecke Vance Avenue und Kramer Boulevard, und von der gleichen Zelle aus, von der er den mysteriösen Anruf in der vergangenen Nacht erhalten hatte, rief er jetzt Paul Drake an. »Hallo, Paul«, sagte Mason mit gedämpfter Stimme sehr schnell sprechend, »hast du noch ein paar Leute zur Verfügung?« »Natürlich - hier im Büro, als Reserve.« »Ich habe in ein Wespennest gestochen.« »Bei Fargo?« »Ja.« »Bei welchem?« »Dem Makler, 2281 Livingdon Drive.« »Seine Frau ist deine Klientin?« -1 0 0 -
»Anscheinend. Gesehen habe ich sie nicht.« »Woher weißt du dann, daß sie deine Klientin ist?« »Weil«, sagte Mason, »ich die Kombination für den Safe in Fargos Büro habe.« »Ach so.« »Schicke sofort ein paar deiner Leute her«, sagte Mason. »Ich möchte, daß Fargos Grundstück überwacht wird. Außerdem möchte ich, daß jeder, der das Haus verläßt, beschattet wird. Aber beeile dich, Paul.« »Glaubst du denn, daß jemand das Haus verlassen wird?« »O ja! - Fargo selbst.« »Und weißt du, wohin er fährt?« »Weg«, sagte Mason. »Er ist sogar bereit, Haus, Möbel und alles andere dafür zu opfern, nur damit er noch weg kommt. Ich habe mich ihm gegenüber wie ein Vollidiot aufgeführt, und er ist darauf reingefallen. Er glaubt, er kann mir das ganze Zeug verkaufen.« »Dann wird er doch nicht eher fahren, bis du dich entschieden hast«, sagte Drake. »Gerade das weiß ich nicht genau. Er schlich nach draußen und wollte sich die Zulassungsbescheinigung meines Wagens ansehen. Als er sie nicht fand, schrieb er die Wagennummer auf. Wahrscheinlich wird er inzwischen nachfragen, und wenn er die Auskunft bekommt, wird er aller Voraussicht nach verschwinden.« »Nur eins, Perry: Wenn man dich ihm im Nachtklub gezeigt hat, muß er doch wissen, wer du bist, und...« »Wer sagt denn, daß man gerade ihm gesagt hat, wer ich bin?« sagte Mason. »Seine Frau hat man auf mich aufmerksam gemacht. Ich könnte beschwören, daß er mich nic ht kennt. Sein Gesicht blieb völlig unverändert, als er mir die Tür aufmachte und ich plötzlich vor ihm stand.« -1 0 1 -
»Dann hat man also seine Frau auf dich aufmerksam gemacht?« »Ja.« »Und wo ist sie jetzt?« »Fargo erzählte mir, daß er sie heute morgen zum Flugplatz gefahren hat, damit sie noch die Sechs-Uhr-Maschine nach Sacramento bekäme. Sie wollte irgendwelche Verwandten besuchen.« »Und du glaubst ihm nicht?« »Ich glaube nicht, daß er sie hingefahren hat.« »Warum denn nicht?« »Weil es bis Mitternacht leicht geregnet hat. Auf der Straße hat er seinen Wagen bestimmt nicht stehengelassen; von der Garage führt nämlich eine Tür direkt in die Küche.« »Was willst du damit sagen? Er hat den Wagen also doch nicht in die Garage gefahren?« »Doch - aber nur einmal«, sagte Mason. »Zu der Garage führt ein Kiesweg, der ziemlich weich ist. Der Wagen stand zwar in der Garage, aber auf dem Kies war nur eine Spur. Wenn er sie also mit dem Wagen zum Flugplatz gefahren hätte, müßten drei Spuren zu sehen sein.« »Wo wird denn seine Frau deiner Meinung nach sein?« »Vielleicht ist sie tot.« »Und liegt im Haus?« »Möglich ist es«, sagte Mason. »Ich überredete ihn, mir das Haus zu zeigen. Eine einzige Tür war geschlossen; als wir jedoch vor dieser Tür standen, hörte ich deutlich, daß irgend jemand jenseits der Tür atmete - irgendwer, der sein Ohr an das Schlüsselloch gepreßt hatte.« »Also seine Frau?« fragte Drake. »Möglich - aber trotzdem glaube ich es nicht«, sagte Mason. -1 0 2 -
»Gut, ich schicke meine Leute sofort los.« »Ich fahre gleich wieder zurück, um selbst ein bißchen aufzupassen, Deine Leute sollen so schnell wie möglich kommen. Ich stelle meinen Wagen so hin, daß ich Fargo sofort folgen kann, falls er wegfährt. Wir müssen uns sehr beeilen. Noch weiß er nicht, wer ich bin, aber durch das Nummernschild kann er es ziemlich schnell herausbringen.« »In Ordnung«, sagte Paul Drake. »Ich werde meinen Leuten sagen, daß sie nach dir Ausschau halten sollen.«
10 Mason fuhr den Wagen um die Ecke und hielt am Bordstein. Die Tür von Fargos Garage konnte er zwar nicht beobachten, dafür jedoch die Auffahrt. Mason zündete sich eine Zigarette an und wartete darauf, daß Pauls Leute auftauchten. Er hatte kaum einmal an der Zigarette gezogen, als ein Wagen ziemlich schnell rückwärts über die Auffahrt hinaus fuhr. Als der Wagen dann in die Straße einbog, zeigte er mit der Rückseite zu Mason; der Auspuff qualmte leicht, und dann fuhr der Wagen, sehr schnell werdend, davon. Mason drückte auf den Starter, gab Gas und folgte dem Cadillac, Dabei war er sich völlig klar, daß er lediglich den Wagen verfolgte. Als Mason seinen Wagen beschleunigte, fuhr auch der vor ihm fahrende Wagen schneller, bis sie mit etwa hundert Kilometer Geschwindigkeit durch das Wohnviertel brausten; der Fahrer des Cadillac hatte also den ihm folgenden Wagen bemerkt und versuchte zu entkommen. Das Verdeck des Cabriolets war geschlossen, und das kleine Rückfenster bot Mason nur ein undeutliches Bild des Fahrers. Ohne sein Tempo zu verlangsamen, überfuhr der Cadillac -1 0 3 -
eine Stopstraße. Mason machte es ihm nach. Er hörte noch das Kreischen von Reifen, als ein anderer Wagen scharf bremste und ins Schleudern geriet. Mason wandte seinen Blick nicht von dem vor ihm fahrenden Wagen. In diesem Augenblick schob sich ein Polizist auf einem Motorrad neben ihn. Eine Sirene knurrte geheimnisvoll. »Anhalten.« »Hören Sie - ich bin hinter einem Wagen her und...« »Anhalten.« »Ich verfolge einen Wagen, der...« »Anhalten!« Mit wutgerötetem Gesicht fuhr der Anwalt seinen Wagen an den Bordstein. Der Polizist stellte seine Maschine quer vor den Wagen, kam zu Mason und sagte: »Sie können nicht so tun, als ob Sie allein auf der Straße wären. Ich habe Sie beobachtet...« »Ich habe einen Wagen verfolgt. Vielleicht...« »Wer saß drin?« »Einer, der in einen Fall verwickelt ist, den ich aufzuklären versuche.« »Sind Sie Detektiv?« »Nein. Ich...« »Haben Sie mit der zuständigen Abteilung zu tun?« »Nein.« »Dann zeigen Sie mir bitte Ihren Führerschein.« Müde hielt Mason dem Polizisten seinen Führerschein hin und sagte dabei: »Ich bin Rechtsanwalt.« »Ach - Perry Mason? Unter diesen Umständen will ich Sie mit einer Verwarnung davonkommen lassen, Mr. Mason, aber ungeachtet aller Umstände haben Sie an Kreuzungen vorsichtiger zu fahren. Ein ziemliches Durcheinander haben Sie vorhin angerichtet. Die Leute mußten auf die Bremsen steigen, -1 0 4 -
um nicht mit Ihnen zusammenzustoßen. Sorgen Sie dafür, daß es nicht mehr vorkommt.« »Danke«, sagte Mason. »Kann ich hier wenden?« »Sagten Sie nicht, Sie hätten einen Wagen verfolgt?« »Das war vorhin«, sagte Mason mit deutlichem Sarkasmus. »Ich könnte Ihnen immer noch einen Strafzettel anhängen«, meinte der Polizist. »Das weiß ich«, sagte Mason. Einen Augenblick lang herrschte gespanntes Schweigen; dann drehte der Beamte sich um, bestieg sein Motorrad und fuhr dröhnend davon. Mason wendete und kehrte zu Fargos Haus zurück. Als er über die Kreuzung fuhr, entdeckte er ohne jede Schwierigkeit einen von Pauls Leuten, der seinen Wagen an der gleichen Stelle abgestellt hatte, an der Mason vorhin gestanden hatte. Mason hielt unmittelbar vor dem Wagen des Detektivs und ging das Stück zurück. Es war eine unauffällige Limousine. Der Fahrer kurbelte sein Fenster herunter. »Sind Sie einer von Drakes Leuten?« Nachdenklich schweigend betrachtete der Mann Perry Mason. Mason holte seinen Führerschein hervor. »Ich bin Perry Mason, der Anwalt. Ich habe der Agentur den Auftrag gegeben, das Haus zu überwachen.« »In Ordnung«, sagte der Mann. »Wie lange sind Sie schon hier? »Ungefähr fünf Minuten.« »Haben Sie irgend etwas beobachtet?« »Nein - nichts.« »Der Wagen, der beschattet werden sollte, ist mittlerweile weg. Ich versuchte, ihn zu verfolgen, hatte dabei jedoch Pech.« »Das kommt vor«, sagte der Mann betrübt. »Wenn man merkt, daß man verfolgt wird, kann man den anderen fast immer loswerden. Man braucht sich nur in den Verkehr einzureihen und so lange weiterzufahren, bis ein Signal auf Gelb umspringt. -1 0 5 -
Wenn man dann Gas gibt, läßt man den anderen einfach stehen.« »In meinem Fall«, sagte Mason, »ließ eine Streife mich stehen.« Die Augen des Mannes blickten ihn mitfühlend an. »Immerhin haben Sie dabei noch einen Vorteil.« »Und der wäre?« fragte Mason. »Sie brauchen Paul Drake hinterher nicht zu erklären, wie es gekommen ist, und brauchen sich auch nicht anzuhören, wie verdammt schwer es wäre, das dem Kunden klarzumachen.« »Ja, damit haben Sie recht«, gab Mason lächelnd zu. »Ich glaube zwar, daß der Gaul gestohlen wurde, aber den Stall können wir uns trotzdem einmal ansehen.« Er fuhr wieder zu dem Drugstore, rief in seinem Büro an, und als Della Street sich meldete, sagte er: »Wollen Sie mit einem Taxi herkommen?« »Wo sind Sie denn?« »In dem Drugstore an der Ecke Vance Avenue und Kramer Boulevard.« »Sofort?« »Ja - möglichst schnell.« »In zehn Minuten bin ich da«, sagte sie. »Gut. Ich trinke inzwischen einen Kaffee. Sonst etwas Neues?« »Nichts von Bedeutung.« »Also gut. Holen Sie mich hier ab.« Mason hängte ein, kaufte sich eine Zeitschrift, ging zur Theke, bestellte sich eine Tasse Kaffee und schlug die Zeit tot, bis ein Taxi Della Street vor der Tür des Drugstores absetzte. Mason zahlte und ging zu seiner Sekretärin hinaus. »Was ist denn los?« fragte sie. »Ich will nur ein Haus kaufen. Sie müssen Braut spielen.« »Ach so!« »Wahrscheinlich würden Sie gar keine gute Ehefrau -1 0 6 -
abgeben«, sagte Mason. »Sie unterschätzen mich! Was stört Sie denn an mir?« Mason grinste. »Sie sind mir zu kritisch.« »Was meinen Sie damit? In welcher Hinsicht bin ich zu kritisch?« »In jeder.« »Ich finde es gar nicht schön, wie Sie mich begutachten. Außerdem ist es für einen Bräut igam ausgesprochen unpassend.« »Ich weiß«, sagte Mason. »Sie wollen mich so lange auf den Arm nehmen, bis Sie mich sicher haben. Sie wollen geheiratet werden, sind jedoch viel zu aufgeregt, verdrossen und gereizt. Da wir beide jedoch nur verlobt sind, müssen Sie sich noch zusammennehmen, wenn Ihnen etwas nicht paßt, und mit einer eleganten Handbewegung darüber hinweggehen. Wenn wir erst verheiratet sind, können Sie ruhig anfangen zu nörgeln. Was ich auch immer tue, wird völlig verkehrt sein. Können Sie diese Art von jungen Frauen eine Zeitlang spielen?« »Nicht einmal vorstellen mag ich sie mir.« »Falls nun eines der Schlafzimmer verschlossen sein sollte«, fuhr Mason lächelnd fort, »müssen Sie ausgesprochen verärgert tun. Bevor Sie sich endgültig entschließen, müssen Sie unbedingt auch dieses letzte Zimmer gesehen haben.« »Wir wollen also tatsächlich ein Haus kaufen?« »Ja.« »Wem gehört es denn?« »Einem gewissen Arthman D. Fargo. Wir werden es mit den Möbeln kaufen, und wir werden es billig kaufen.« »Und daher wollen wir es uns jetzt ansehen?« »Genau das - vorausgesetzt, wir kommen hinein. Vor ganz kurzer Zeit ist ein Wagen von dem Haus fortgefahren. Vielleicht -1 0 7 -
war es Fargo, vielleicht auch jemand anderes, zum Beispiel seine Freundin. Das müssen wir noch feststellen.« »Ist er verheiratet?« »Ja.« »Und wo ist seine Frau?« »Er behauptet, sie besuche ihre Mutter in Sacramento. Trotzdem kann ihre Leiche auch im Kofferraum des Cadillacs gelegen haben, der vorhin wegfuhr.« »Ein ganz bezauberndes Haus für ein jungvermähltes Paar!« rief Della Street bewundernd aus. »Ich bin jetzt schon völlig hingerissen. Los, los!« Sie fuhren zu Fargos Haus. Mason stellte den Wagen direkt vor das Haus und sagte zu Della Street: »Vergessen Sie nicht, daß wir uns noch im Stadium der Höflichkeit und Versprechung befinden. Noch werfen wir uns keine bösen Worte an den Kopf, es sei denn aus Versehen. Und außerdem zeigen wir immer noch, wie sehr wir uns lieben. Bleiben Sie also immer schön im Hintergrund und warten Sie, bis ich Ihnen die Tür aufhalte.« Mason sprang aus dem Wagen, rannte um das Heck des Wagens herum, riß die Tür auf und war Della Street beim Aussteigen behilflich. Sie lächelte ihn an und legte ihre Hand in seine. Hand in Hand gingen sie dann zum Haus. »Wir müssen uns erst ein bißchen umsehen, Della, bevor wir hineingehen«, sagte Mason. »Sonst wissen wir doch gar nicht, wie schön es hier ist. Außerdem kann ich mir dabei die Wagenspuren auf dem Kiesweg vor der Garage ansehen.« Mason führte Della Street über den Kiesweg. »Direkt vor der Garage ist der Boden ziemlich weich«, sagte er. »Vorhin war nur eine einzige Spur zu sehen. Ah ja - da ist jetzt eine zweite. Ich fürchte, der Vogel ist ausgeflogen.« »Welcher Vogel?« fragte Della Street. -1 0 8 -
»Sagen wir vorerst: Fargos Freundin.« »Er bringt sie hierher, in sein Haus?« »Das nehme ich wenigstens an. Er sagte vorhin, daß seine Frau mit der Sechs-Uhr-Maschine nach Sacramento geflogen wäre.« »Wenn die Katze aus dem Hause ist, verlieren die Mäuse nicht unnötig Zeit«, philosophierte Della Street. »Aber die Wagenspuren deuten darauf hin, daß er seine Frau nicht zum Flugplatz gefahren hat. Außerdem gefällt mir etwas an diesem Mr. Fargo nicht. Er macht auf mich den Eindruck eines Mannes, der einen großen Coup vorhat. Aber gehen wir jetzt wieder zum Haus, Della. Wir werden läuten, und vielleicht haben Sie dann Gelegenheit, sich selbst ein Urteil über diesen Fargo zu bilden.« Mason legte seinen Arm um ihre Taille und sagte plötzlich: »Della, ich weiß eigentlich gar nicht, warum wir diese Rolle nur spielen. Warum tun wir es denn nicht tatsächlich?« Ihr Lachen hatte einen sehnsüchtigen Ton. »Und dann müßte ich immer zu Hause sitzen, während der Herr Rechtsanwalt Tag für Tag ins Büro geht, sich eine neue Sekretärin engagiert und...« »Nein«, sagte Mason, »Sie würden meine Sekretärin bleiben.« »Quatsch! Das geht nicht, und das wissen Sie genau!« »Warum sollte es nicht gehen?« »Woher soll denn ich das wissen«, erwiderte sie. »Aber es stimmt. Wahrscheinlich kann ein Mann seiner Sekretärin Dinge sagen, die er seiner Frau nicht zu sagen wagt, und... Sie wissen selbst, daß es nicht geht. Wollen Sie jetzt nicht endlich läuten, oder wollen wir hier noch eine Weile stehenbleiben und... Chef, die Tür ist nicht zu. Sie steht einen ganzen Spalt weit auf.« Mason nickte, drückte auf den Klingelknopf und läutete nach fünf Sekunden noch einmal. Nach weiteren fünf Sekunden ließ -1 0 9 -
er den Knopf gar nicht wieder los. Sie hörten, daß die Glocke im Hause schrillte. Mason zog die Stirn kraus. »Das merkwürdigste an der Geschichte, Della, ist die Tatsache, daß ich die Kombination zu dem Safe, der in seinem Büro steht, kenne.« »Was Sie nicht sagen!« »Natürlich würde ich das Haus in Abwesenheit von Mr. Fargo nie betreten«, sagte Mason. »Da jedoch die Tür einen Spalt offensteht, könnten wir doch wenigstens einen Blick hineinwerfen und sehen, ob...« Mason schob seinen Kopf an den Türspalt, zuckte plötzlich zusammen und drückte mit der Schulter gegen die Tür. Sie bewegte sich nur wenige Millimeter und stieß dann gegen ein Hindernis. »Was ist denn?« fragte Della Street. »Es scheint der Fuß eines Mannes zu sein, der auf dem Rücken liegt und keinen ausgesprochen lebendigen Eindruck mehr macht. Vielleicht ist es am besten, wir ziehen die Tür wieder zu, Della.« Hinter ihnen sagte eine vergnügte Stimme: »Nanu? Haben Mamas Lieblinge vielleicht Ärger? Etwa Schwierigkeiten beim Einbrechen?« Inspektor Tragg, der ihre Beschäftigung mit der teilweise offenen Tür ausgenutzt hatte, um unbemerkt heranzukommen, trat langsam auf sie zu. »Was zum Teufel haben denn Sie hier zu suchen?« fragte Mason gereizt. »Es ergab sich gerade«, sagte Tragg lächelnd, »daß ich mit Ihnen Verbindung aufnehmen wollte, und da Sie nirgends zu entdecken waren, ließ ich Miss Street etwas überwachen - für den Fall, daß sie auffallend eilig das Büro verließe. Als mir dann berichtet wurde, sie führe mit einem Taxi anscheinend zu einer -1 1 0 -
Verabredung, ließ ich das Taxi verfolgen und mir die Richtung laufend durchgeben. Der Sprechfunk in unseren Streifenwagen ist wirklich eine großartige Erfindung. Und jetzt habt ihr also Schwierigkeiten, in das Haus hineinzukommen. Was ist denn los? Will der Mann auf der anderen Türseite euch nicht hineinlassen? Oder habt ihr Angst, wegen Einbruchs angezeigt zu werden?« Tragg schob sich neben Mason, legte seine Hand auf den Türgriff, blickte durch den Spalt - und war plötzlich erstarrt. »Verdammt noch mal!« »Wir sind auch gerade erst gekommen, Tragg«, sagte Mason, »und...« »Das weiß ich selbst«, sagte Tragg. »Ich bin Ihnen nämlich vom Drugstore an, vor dem Sie sich mit Miss Street trafen, bis hierher gefolgt. Mein Wagen steht gleich um die Ecke. Haben Sie geläutet?« »Wir haben geläutet«, sagte Mason, »bevor Miss Street merkte, daß die Tür offen war. Ich habe sie nur ein Stückchen aufgeschoben, um zu sehen...« »Um was zu sehen?« fragte Tragg, als Mason zögerte. »Ich wollte mich vergewissern, daß die Klingel auch anschlug«, sagte Mason. »Und ich wollte wissen, ob jemand zu Hause war.« »Jaja!« sagte Tragg. »Sehr interessant. Was meinen Sie, Mason: Sollen wir es bei der Hintertür versuchen?« »Soll ich Sie begleiten?« »Natürlich, Mason. Ich möchte Sie im Moment nicht aus den Augen verlieren. Es sieht tatsächlich so aus, als läge ein Toter hinter der Tür und blockiere sie.« »Vielleicht auch nur ein Ohnmächtiger«, sagte Mason. »Das scheint mir durchaus möglich«, sagte Tragg. »Vielleicht ist der Mann auch nur ganz zufällig eingeschlafen. Aber sicher -1 1 1 -
haben Sie den Wagen bemerkt, Mason, der um die Ecke steht. Einer meiner Männer hat sich gerade den Fahrer vorgeknöpft. Es würde mich nicht überraschen, wenn sich herausstelle, daß es einer von Paul Drakes Leuten ist. Als wir vorhin an ihm vorüberfuhren, dachte ich schon, er käme mir irgendwie bekannt vor. Und er gab sich verzweifelte Mühe, Sie auf sich aufmerksam zu machen, als er mich erkannt hatte; erst winkte er mit beiden Händen, dann blinkte er mit seinen Scheinwerfern. Aber da Sie in Ihre Unterhaltung mit Miss Street vertieft waren, bemerkten Sie es leider nicht. Nachher werde ich ihn doch wohl fragen, was er vorhatte, als er Ihne n das Notsignal gab. Wissen Sie, Mason: In letzter Zeit haben Sie die verdammte Gewohnheit entwickelt, Paul Drakes Leute zum Überwachen von Häusern zu engagieren, und fast unvermeidbar stirbt der Bewohner des betreffenden Hauses, sobald die Leute eintreffen. Wenn es so weitergeht, werden wir uns mit den Versicherungen in Verbindung setzen müssen. Entweder müssen sie dann ihre Statistiken, die Aufstellung der Sterbefälle oder was weiß ich ändern... Warten Sie, ich glaube, wir müssen hier entlang. Die Garage haben Sie sich also auch angesehen, Mason. Was hatten Sie denn vor?« »Ich wollte mir nur das Grundstück näher ansehen«, sagte Mason. »Ich hatte nämlich vor, es zu kaufen.« »Wirklich? Sie haben aber mit keinem Wort angedeutet, daß Sie sich hier draußen ankaufen wollten.« »Das tut mir leid«, sagte Mason, »sehr, sehr leid. Wir hatten im Büro so viel zu erledigen; deswegen habe ich es wohl vergessen, Ihnen Bescheid zu sagen. Und um das Versäumte nachzuholen: Ich habe übrigens auch daran gedacht, ein paar Eisenbahnaktien zu kaufen, und außerdem werden wir eine bestimmte Summe wahrscheinlich in Pfandbriefen der Regierung anlegen. Halten Sie es für richtig? Wäre es eine gute Anlage?« -1 1 2 -
»Ihr Sarkasmus stört mich nicht im geringsten«, erwiderte Tragg. »Er gefällt mir sogar. Aber lassen wir jetzt den Spaß beiseite, Mason. Sie wollten dieses Haus also kaufen?« »Ja.« »Hatten Sie schon mit dem Besitzer gesprochen?« »Ja.« »Wann?« »Heute morgen.« »Um welche Zeit?« »Kurz nachdem wir beide uns verabschiedet hatten.« »Aha. Sie hatten sich mit mir verabredet, um einen Mord zu diskutieren, und anschließend brausten Sie hierher, um dieses Grundstück zu kaufen.« »Ich suchte eine Geldanlage.« »Dann sind Sie also auch in diesem Haus gewesen?« »Ja.« »Und der Hausbesitzer hat sich mit Ihnen unterhalten?« »Ja.« »Wollen Sie mich jetzt auf den Arm nehmen?« »Nein.« »Er war also die ganze Zeit, die Sie sich im Haus aufhielten, mit Ihnen zusammen?« »Ja.« »War er ein Klient von Ihnen? Hatte er Ihnen eine Nachricht geschickt oder Sie um Ihr Kommen gebeten?« »Nein. Ich bin von mir aus zu ihm gefahren. Ich habe ihm erzählt, daß ich mein Geld anlegen wolle. Ich habe ihm gegenüber nicht einmal meinen Namen genannt. Er wußte nicht, wer ich bin.« »Nun, das klingt alles ziemlich faul, Mason, aber im -1 1 3 -
Augenblick wollen wir es dabei belassen. Jetzt sehen wir uns erst einmal die Garage an. Vielleicht können wir auf diesem Weg ins Haus hinein.« Sie gingen die Auffahrt entlang, und Tragg meinte: »Vor kurzer Zeit ist hier ein Wagen gefahren - entweder in die Garage oder aus der Garage.« »Woher wollen Sie das wissen?« fragte Della Street. »Das ist doch völlig klar, meine liebe Miss Street. Vielleicht bemerken Sie in der Auffahrt, und zwar fast genau vor Ihnen, die leichte Vertiefung. Der Kies liegt an dieser Stelle ziemlich dünn, so daß man schon von einer Schlammpfütze sprechen kann, und Sie sehen sicher selbst, daß das Wasser der Pfütze trübe ist. Wären nicht erst vor kurzem Räder durch diese Pfütze gerollt, müßte das Wasser völlig klar sein, zumal es schon um Mitternacht aufgehört hat zu regnen. Jetzt wollen wir einmal weitersehen, Mason. Aha - die Tür gehört zu dem Typ, der sich nach einer bestimmten Zeit automatisch wieder schließt. Anscheinend muß man auf diesen Knopf drücken, damit sie sich öffnet, und nach einer Pause von vielleicht zwei Minuten geht sie wieder nach unten und schließt sich. Bei den Garagentüren kommen die Leute doch immer auf neue Kniffe.« Tragg drückte auf den Knopf; die Garagentür wurde von ihrem Gegengewicht hochgekippt und gab den Blick in die leere Garage frei. »Unter den gegebenen Umständen«, sagte Tragg und trat zur Seite, »werde ich wohl den Hausherrn spielen müssen. Gehen Sie bitte voraus.« Sie betraten die Garage. Tragg sah sich um und sagte: »Für zwei Wagen - aber allem Anschein nach nur von einem benutzt. Auf dem zweiten Platz steht allerlei herum. Und die Tür dort dürfte vermutlich ins Haus führen. Versuchen wir es einmal... Sieh da, nicht abgeschlossen.« -1 1 4 -
Tragg blieb kurz stehen und überblickte noch einmal die Garage; in diesem Augenblick klickte irgendein Mechanismus. Die Garagentür senkte sich langsam und verdunkelte den Raum fast völlig. Tragg öffnete die Küchentür und sagte: »Von jetzt an, Mason, wird es wohl besser sein, wenn Sie und Miss Street hinter mir bleiben. Nehmen Sie sich bitte in acht und fassen Sie nichts an. Haben Sie mich verstanden?« »So, wie die Sache im Augenblick steht, Inspektor...« »Wir wollen uns jetzt nicht streiten, Mason, wenn Sie nichts dagegen haben. Ich möchte erst einmal nach vorn zur Diele, um mir anzusehen, wer oder was die Tür blockiert.« Tragg stieß die Pendeltür auf, die von der Küche in das Eßzimmer führte, ging dann zum Wohnzimmer weiter und blieb plötzlich stehen, als er durch die offenstehende Tür in jenes Schlafzimmer blickte, das als Büro eingerichtet war. »Na ja!« sagte er, »hier scheint einer irgend etwas gesucht zu haben.« Mason blickte an Tragg vorbei und sah, daß die Tür des Safes weit geöffnet war. Unmengen von Papieren und Büchern lagen in einem Haufen auf dem Fußboden, während Karteikarten und eingelöste Schecks über den ganzen Boden verstreut waren. »Wirklich hochinteressant«, sagte Tragg. »Ganz offensichtlich war es jemand, der irgend etwas suchte und sich sehr beeilen mußte. Seine Zeit war zu knapp, um alles wieder in Ordnung zu bringen.« Plötzlich wandte Tragg sich an Mason. »Vielleicht können Sie mir überhaupt verraten, was hier gesucht wurde. Mason!« Der Anwalt schüttelte den Kopf. »Na schön, dann wollen wir jetzt weitersehen«, meinte Tragg. »Im Augenblick scheint der Herr, der in der Diele liegt und die Tür blockiert, Vorrang zu haben. Er... Aha, sehen Sie sich die -1 1 5 -
Treppe an, Mason.« Sie standen in der Diele. Auf den Stufen der Treppe war deutlich eine Blutspur zu erkennen - Blut, das erst anfing zu trocknen und rot leuchtete, noch nicht bräunlich und dunkel wie später. »Ich glaube, Sie und Miss Street bleiben jetzt besser dort stehen«, sagte Tragg. »Aber fassen Sie um Himmels willen nichts an.« Tragg ging einen Schritt weiter und blickte auf den Mann hinunter, der auf dem Rücken la g, Arme und Beine von sich gestreckt. »Sie scheinen ihn doch etwas bewegt zu haben, Mason, als Sie die Tür zu öffnen versuchten. Der linke Arm ist verschoben, und nach den verschmierten Blutspuren zu urteilen, haben Sie auch den Körper um ein paar Zentimeter verrückt.« Tragg beugte sich hinunter und fühlte den Puls. »Bei einem solchen Blutverlust dürfte er kaum mehr leben... Was ich vermutete: Er ist tot - aber noch nicht lange. Erkennen Sie ihn wieder, Mason? Kommen Sie ruhig näher, damit Sie sein Gesicht sehen können.« Mason blickte in das totenblasse Gesicht von Arthman D. Fargo. »Es ist der Herr, der hier zu wohnen schien«, sagte er schließlich. »Nach eigenen Angaben hieß er Arthman D. Fargo.« Tragg blickte die Treppe hoch, und seine Augen folgten der Blutspur. »Anscheinend ist er oben niedergestochen worden. Hier unten ist keine Waffe zu sehen. Ein üblicher Stich in den Nacken. Vermutlich wollte er die Haustür aufreißen und um Hilfe rufen oder auch fliehen, stolperte jedoch auf der obersten Stufe und war vermutlich tot, ehe er hier unten ankam. Es tut mir zwar leid, Mason, aber ich fürchte, wir haben hier -1 1 6 -
noch einiges zu erledigen. Wenn Sie und Ihre geschätzte Sekretärin vielleicht nach rechts gehen und nichts berühren, werde ich Sie auf dem gleichen Wege wieder hinausbringen, den wir hereingekommen sind. Vielleicht darf ich Sie auch bitten, in Ihrem Wagen auf mich zu warten, damit ich Ihnen noch ein paar Fragen stellen kann. Vorher möchte ich mich hier jedoch noch ein bißchen umsehen. Außerdem muß ich das Headquarters informieren und die Fotografen sowie den Deputy Coroner kommen lassen. Und dann müssen wir vor allen Dingen noch Mr. Drakes Beauftragten befragen, der - wie der Zufall es so will ausgerechnet hier um die Ecke parkt. Sagen Sie, Mason: Arrangieren Sie diese Morde eigentlich nach einem ganz bestimmten Plan? Ein merkwürdiges Zusammentreffen - finden Sie nicht auch?« »Sehr merkwürdig«, stimmte Mason zu. »Und Sie hatten also die Absicht, dieses Haus zu kaufen?« fuhr Tragg fort, und seine Stimme verriet, wie groß sein Interesse an dieser Frage war. »Wahrscheinlich riefen Sie Paul Drake an und baten ihn, einen seiner Leute in die Nähe des Hauses zu schicken, damit kein anderer Interessent Ihren Preis hochtreibt. Meiner Ansicht nach haben Sie, Mason, der Sie nicht einmal wissen, wer Ihre Klientin ist, die unheimliche Begabung zu bestimmen, wo der nächste Mord verübt wird. Hier entlang, bitte. Ich will meinem Fahrer nur ein paar Anordnungen geben. Anschließend werden wir ein nettes, intimes Plauderstündchen einlegen, Mason. Aber zuerst muß ich versuchen, genauer festzustellen, was in diesem Hause passiert ist. Ich hoffe, daß Sie nichts dagegen haben.« »Nicht das geringste!« sagte Mason. »Es gibt immer wieder Tage, in denen ich auf meinem Büro nichts zu tun habe - auch nicht die kleinste Kleinigkeit.« »Das kann ich mir lebhaft vorstellen«, sagte Tragg. »Aus -1 1 7 -
diesem Grunde amüsieren Sie sich wohl auch damit, die verschiedenen Örtlichkeiten auszusuchen an denen dann ein Mord verübt wird, und Paul Drakes Leute dort aufmarschieren zu lassen. Sie haben dafür anscheinend eine Nase wie ein Jagdhund, Mason.«
11 Mason hatte die Möglichkeit, mit Della Street ein paar Worte zu wechseln, während Inspektor Tragg mit dem Beamten, der mit ihm Fargos Haus durchsucht hatte, ein Stück weiterging und diesem einige geheime Anweisungen gab. »Sollen wir alles sagen?« fragte Della Street. »Jetzt noch nicht«, sagte Mason. »Er will herausbekommen, wie Sie dieses Haus ausfindig gemacht haben; er will wissen...« »Das kann ich ihm nicht sagen - zumindest jetzt noch nicht.« »Warum denn nicht?« »Allem Anschein nach ist Mrs. Fargo meine Klientin. Ich habe das dunkle Gefühl, daß sie demnächst als vermißt gemeldet wird - aber genau weiß ich es natürlich nicht.« »Sie glauben also, er hat sie umgebracht?« »Das habe ich bisher tatsächlich angenommen. Jetzt bin ich nicht mehr so fest überzeugt. Es kann genausogut sein, daß seine Frau herausbekam, er wolle sie umbringen, und daß sie ihm zuvorkam. In diesem Fall war es Notwehr, aber es wird verdammt schwer sein, das auch zu beweisen. Oder er hat seine Frau doch umgebracht, hat dann seine Freundin zu sich bestellt und ihr gebeichtet, was geschehen war, und sie gefragt, ob sie mit ihm fliehen wolle. Unter diesen Umständen war sie dann vielleicht nicht ganz damit einverstanden. Vielleicht hat sie ihm sogar gesagt, daß sie überhaupt nichts mehr mit ihm zu tun haben wolle, und gedroht, zur Polizei zu gehen. Daraufhin -1 1 8 -
wurde er grob und wurde von ihr niedergestochen - ebenfalls in Notwehr. Aber das alles weiß niemand, oder richtiger: noch niemand.« »Können Sie Tragg denn nicht wenigstens etwas erzählen?« »Wenn ich mich nun geirrt haben sollte?« »Was dann?« »Ich kann Tragg nicht Dinge erzählen, die meine Klientin mir vertraulich mitgeteilt hat.« »Ist die Frau denn Ihre Klientin?« »Von irgend jemandem haben wir Geld angenommen, vermutlich von dieser Frau. Sie... Still jetzt, Della, er kommt.« Als Tragg herangekommen war, sagte er: »Wenn Sie nichts dagegen haben, steigen Sie beide doch zu dem Beamten in den Wagen, Mason. Wir werden alles tun, um Sie nicht länger aufzuhalten, als unbedingt nötig ist. Es gibt noch ein paar Fragen, die ich klären möchte, sobald ich hier fertig bin.« »Ich freue mich immer, wenn ich Ihnen behilflich sein kann, Inspektor«, sagte Mason fröhlich. Mason und Della Street setzten sich in den Wagen. Sie mußten ziemlich lange warten. In der Zwischenzeit kamen verschiedene Polizeifahrzeuge mit heulenden Sirenen, Reporter tauchten auf, Fotografen machten eine Menge Aufnahmen, ein Krankenwagen traf ein, um die Leiche fortzuschaffen, und dann kam Inspektor Tragg eilig aus dem Haus. Der Kies knirschte unter seinen energischen Schritten. »Tut mir leid, daß Sie warten mußten«, sagte er kurz, »aber ich mußte noch einiges erledigen. Wenn Sie nichts dagegen haben, fahren wir jetzt zum Headquarters.« »Warum können Sie uns nicht hier fragen, Tragg; wir würden dadurch...« »Geht leider nicht, Mason. Im Headquarters wird es für alle Teile besser sein. Wir können dann alles sofort stenographisch -1 1 9 -
aufnehmen, falls Sie eine Aussage machen wollen.« »Ich werde auch hier aussagen.« »Zum Headquarters«, entschied Tragg und nickte dem Beamten zu, der den Wagen fuhr. Dann stieg er ein und knallte die Tür zu. Mason wußte, daß jeder Protest sinnlos war. Deshalb machte er es sich bequem, während die Sirene ihnen einen Weg durch den Verkehr bahnte. Tragg führte seine Besucher in das Büro der Mordabteilung und ließ einen Stenographen kommen. »Nehmen Sie Platz und machen Sie es sich bequem«, sagte er. »Vor allen Dingen, Mason, möchte ich jetzt wissen, was passiert ist.« »In großen Umrissen habe ich es Ihnen bereits vorhin geschildert.« »Auch über Carlin?« »O ja! - daß ich einen Auftrag bekam.« »Richtig - die Sache mit der geheimnisvollen Klientin. Sie wollen also nicht verraten, wer es war. Eine Frau, nicht wahr? Könnte es nicht, rein zufällig, Mrs. Fargo sein?« »Das weiß ich nicht.« »Wie kam es eigentlich, daß Sie dort draußen waren, Mason? Wie kam es ferner, daß einer von Drakes Leuten ebenfalls dort war?« »Ich versuchte, Näheres über meine Klientin herauszufinden«, sagte Mason. »Über die Person, die mich angerufen hat.« »Und hatten Sie Erfolg?« »Offen gestanden: ich weiß es noch nicht.« »Warum nicht?« »Ich hatte keine Möglichkeit, meine Information auf ihre Richtigkeit zu überprüfen.« -1 2 0 -
»Aber Sie gingen in diesem Zusammenhang zu Fargo?« »Ja.« »Wie kam es dazu?« »Ein bißchen Detektiv-Arbeit.« »Würden Sie mir vielleicht erzählen, wie Sie auf die Spur stießen, die zu Fargo führte?« »Reine Überlegung, Inspektor. Mit dem Telefonanruf ließ sich nichts mehr anfangen; ich kam jedoch auf eine andere Art, diese Spur zu verfolgen, und - naja, Fargo war eben eine dieser Möglichkeiten.« »Fargo persönlich?« »Eventuell seine Frau.« »Und wo befindet sich Fargos Frau jetzt?« »Wenn ich es mir genau überlege«, sagte Mason, »wird sie wohl tot sein.« Traggs Augen waren einen Moment hart wie Stahl. »Also noch ein Mord?« »Ja.« »Sie scheinen heute vormittag eine Fährte von Morden hinter sich zu lassen, Mason.« »Ich bin auf der Fährte eines Mordes, Inspektor.« »Gut - einverstanden. Erzählen Sie mir einiges über Mrs. Fargo.« »Ich habe vorhin noch mit Fargo gesprochen«, sagte Mason. »Ich gab vor, mich für sein Haus zu interessieren. Um die Wahrheit zu sagen: Della und ich wollten als Verlobte auftreten, die ein Haus suchten, um dann heiraten zu können.« »Sehr empfehlenswert«, meinte Tragg. »Darf man schon gratulieren?« »Noch nicht. Bisher konnte ich Della für diese Idee noch nicht erwärmen.« »Es gibt Schlimmeres«, sagte Tragg zu Della Street. »Aber trotzdem würde ich Ihnen empfehlen, ihm Ihr Jawort nicht eher -1 2 1 -
zu geben, bis Sie das Ergebnis seiner letzten Dummheit erfahren haben; er scheint nämlich in etwas größeren Schwierigkeiten zu sitzen, als er annimmt.« Mason zündete sich ohne zu antworten eine Zigarette an. »Wie kommen Sie eigentlich auf die Idee, Mrs. Fargo könnte tot sein, Mason?« »Fargo erzählte mir, daß seine Frau um sechs Uhr nach Sacramento geflogen sei. Und das glaube ich nicht.« »Warum nicht?« »Meiner Ansicht nach war der Wagen nicht aus der Garage gefahren worden.« »Der Wagen ist vormittags hinausgefahren worden.« »Sicher«, sagte Mason. »Der Wagen ist weg. Also mußte er auch hinausgefahren werden.« »Folglich hat aber auch irgend jemand am Steuer sitzen müssen.« »Stimmt.« »Wissen Sie, wer es war?« »Genau nicht. Aber wenn Sie eine Vermutung hören wollen?« »Nämlich welche?« »Fargos Freundin vielleicht.« In diesem Augenblick betrat ein Sergeant das Büro, legte ein zusammengefaltetes Papier auf den Tisch des Inspektors, drehte sich wortlos um und verschwand wieder. Tragg faltete das Papier auseinander und las mit gerunzelter Stirn. »Fargos Freundin also«, wiederholte er langsam. »Und jetzt wollen Sie diese Frau suchen, wie?« »Ja.« Traggs Blick war kalt, hart und durchdringend. »Hatte Fargo eigentlich irgend etwas in der Hand, das Sie haben wollten, -1 2 2 -
Mason?« »Was denn?« »Irgendein Schriftstück - zum Beispiel.« Mason schüttelte den Kopf. »Wissen Sie genau, daß Sie mich jetzt nicht an der Nase herumführen?« »Ich erzähle Ihnen alles, was ich Ihnen sagen darf.« »Und das bedeutet: was Sie erzählen wollen.« »Na ja! - vielleicht.« »Wäre es nicht auch möglich, daß Mrs. Fargo Sie beauftragte, Ihre Angelegenheiten zu regeln, daß Sie besonderes Interesse an einem Papier hatten, das sich in Fargos Händen befand, und...« Mason schüttelte nur den Kopf. »Sehen Sie sich vor«, sagte Tragg. »Vielleicht könnte ich Ihnen das Gegenteil beweisen.« »Das ist unmöglich«, sagte Mason. »Das ist gar nicht möglich.« »Er erzählte Ihnen also, sie sei nach Sacramento geflogen, was?« »Ja.« »Und Sie glauben, daß es nicht stimmt?« »Eben.« »Sie glauben auch nicht, daß sie überhaupt das Haus verlassen hatte?« »Ich habe nicht den leisesten Beweis dafür, Inspektor«, erwiderte Mason. »Deswegen möchte ich mich in diesem Punkt nicht festlegen. Ich wäre auch keineswegs erfreut, wenn Sie an die Presse eine Mitteilung herausgäben, in der angedeutet würde, daß ich etwas Derartiges gesagt hätte. Wenn ich allerdings an Ihrer Stelle säße und in der Mordabteilung etwas zu sagen hätte, würde ich mir die Nummer von Arthman D. -1 2 3 -
Fargos Wagen beschaffen - der übrigens zufälligerweise auf den Namen seiner Frau zugelassen ist - und würde eine Großfahndung einleiten. Ich würde versuchen, den Wagen so schnell wie möglich zu finden, und wenn ich ihn dann hätte, würde ich einmal in den Kofferraum gucken.« »Vielen Dank für Ihren Rat«, sagte Tragg. »Angenommen! Er beweist, daß Sie sich langsam zu einem Fachmann entwickeln, Mason. Aber das alles haben wir bereits getan. Wenn Sie jedoch schon an meiner Stelle säßen - was würden Sie dann mit einem gewissen Perry Mason anfangen, der bestimmte Informationen zu besitzen scheint, ohne mit ihnen herauszurücken?« »Was verschweige ich denn Ihrer Ansicht nach?« fragte Mason. »Das, was Sie mir nicht erzählen.« »Im wesentlichen habe ich meine Karten restlos auf den Tisch gelegt, Inspektor. Das einzige, was ich Ihnen nicht erzählen kann, sind bestimmte vertrauliche Dinge, die mit meiner Klientin in Zusammenhang stehen.« »Sie haben mir also alles erzählt?« »Alles.« »Dann«, sagte Tragg plötzlich und beugte sich weit vor, während seine Stimme eine gewisse Schärfe bekam, »dann wollen Sie mir bitte freundlichst erklären, wie - diesem Bericht nach - Ihre Fingerabdrücke auf das Kombinationsschloß des Safes gekommen sind! Vielleicht können Sie mir erklären, wie es zufälligerweise kam, daß Sie beim Versuch, Carlins Safe zu öffnen, die Kombination viermal nach rechts drehten und bei der Zahl Neunundfünfzig anhielten - und wie es kommt, daß Fargos Safe zufälligerweise eine Zahlenkombination hat, die mit der Zahl Neunundfünfzig, viermal nach rechts, beginnt!« Mason zog tief an seiner Zigarette. »Nun?« sagte Tragg. »Ich warte auf eine Antwort.« -1 2 4 -
»Ich fürchte«, meinte Mason, »daß ich Ihnen nicht mehr sagen kann, als ich schon gesagt habe.« »Haben Sie Fargos Safe geöffnet oder nicht, vor oder nach dem Mord?« »Ich habe nicht einmal in den Safe hineingesehen«, erwiderte Mason. »Aber der ganze Einstellmechanismus ist mit Ihren Fingerabdrücken übersät.« »Das kann ich nicht ändern.« »Vielleicht wären Sie irgendwann sehr glücklich, wenn Sie es könnten«, sagte Tragg. »Ich gebe Ihnen noch eine Chance, Mason. Wenn Sie im Auftrag einer Frau handelten, die gewisse Dokumente aus Fargos Besitz haben wollte, ist es jetzt noch Zeit, es zu sagen.« »Das ist nicht der Fall - zumindest nicht nach dem, was ich weiß.« »Ich glaube, daß Sie ein Papier aus dem Safe genommen haben, Mason.« »Ich habe vorhin bereits gesagt, daß ich nicht einmal in den Safe hineingesehen habe«, sagte Mason mit kalter Stimme. »Bitte - beweisen Sie mir das Gegenteil!« »Ich glaube, ich kann es«, sagte Tragg. »Das wäre im Augenblick alles. Sie können jetzt gehen.«
12 Ganz in der Nähe des Headquarters hielt Mason, um Paul Drake anzurufen. »Bist du über das Neueste im Fall Fargo informiert, Paul?« »Klar«, sagte Drake. »Der Mann, den ich hingeschickt hatte, konnte mich noch anrufen, bevor die Polizei ihn schnappte. Für alle Fälle habe ich ein paar andere Leute angesetzt. Wo bist du jetzt, Perry?« -1 2 5 -
»Ziemlich dicht bei den Headquarters. Della und ich sind vorhin ziemlich in die Mangel genommen worden.« »Mißlich«, sagte Drake. »Aber komme sofort her. Ich habe ein paar Informationen für dich.« »Gut - aber du mußt noch mehr beschaffen«, sagte Mason. »Ich möchte wissen, wie Fargos Freundin heißt. Ich möchte...« »Das meiste liegt bereits hier«, sagte Drake. »Die Nachforschungen, die wir in diesem Fall vornahmen, führten direkt zu...« »Wie heißt das Mädchen«, unterbrach Mason ihn. »Celinda Gilson«, erwiderte Drake. »Sie wohnt in den Farlowe-Apartments. In der Golden Goose hat sie die Konzession, Aufnahmen von Leuten zu machen, die gern einmal berühmt spielen oder ein Foto von einem anständigen Saufabend mit nach Hause nehmen möchten.« »In den Farlowe-Apartments?« »Ja.« »Alles andere hat noch Zeit«, sagte Mason. »Ich schicke Della jetzt ins Büro. Gib ihr dann einen ausführlichen Bericht. Sie kann alles schon ordnen und für mich bereitlegen. Ich will versuchen, der Polizei bei Celinda Gibson zuvorzukommen.« »Glaubst du denn, daß die Polizei sie sucht?« »Ich halte für möglich, daß sie Fargo umgebracht hat, als sie merkte, daß Fargo seine Frau ermordet hatte - und vorher noch Medford Carlin. Tief genug stecke ich in dieser Geschichte jetzt schon drin. Deswegen möchte ich mich umsehen, bevor die Polizei mir alles wegschnappt. Dummerweise habe ich eine ganze Serie von Fingerabdrücken auf Fargos Safe hinterlassen, und gerade das kann für mich ausgesprochen peinlich werden.« »Wie zum Teufel sind denn deine Fingerabdrücke auf Fargos Safe gekommen?« fragte Drake. »Ich probierte gerade meine Kombination aus, Paul, um -1 2 6 -
festzustellen, ob Mrs. Fargo tatsächlich meine Klientin ist.« »Und hast du den Safe aufbekommen?« »Jetzt mache bloß nicht den gleichen Fehler wie Inspektor Tragg«, sagte Mason. »Er hat mich schon genug damit belästigt, ob ich den Safe geöffnet habe. Das habe ich nicht. Ich habe das Schloß entriegelt - und das ist etwas völlig anderes. Tragg kam nicht auf die Idee, mich danach zu fragen.« »Also schön«, sagte Drake. »Soll ich diese Gibson beschatten lassen?« »Um Himmels willen - nein!« sagte Mason. »Wenn wir sie beschatten und die Polizei kommt dahinter, würdest du dein Leben lang keine Lizenz mehr bekommen. Es sind schon genügend merkwürdige Zufälle passiert, Paul. Ich fahre selbst hin.« »Glaubst du denn, daß sie zu Hause ist?« fragte Drake zweifelnd. »Es ist die einzige Chance, die ich habe. Wenn sie irgendwo in der Gegend herumfährt, wird die Polizei sie bald schnappen. Eine Beschreibung von Fargos Wagen ist über den Funk gegeben, und deshalb kann es nur noch Minuten dauern, bis man ihn gefunden hat. Hör zu, Paul: Ich möchte möglichst viel über diese Mrs. Fargo wissen. Ihre Familie wird tatsächlich in Sakramento leben. Stelle also fest, um wen es sich handelt und wo die Leute wohnen. Aber beeile dich damit, weil wir der Polizei noch um eine Nasenlänge voraus sind und ich diesen Vorsprung nicht verlieren möchte. Es besteht irgendeine Verbindung zwischen Carlin und den Fargos - und ich möchte es gern genau herausbekommen... Also, Paul, an die Arbeit. Ich fahre jetzt los.« Mason hängte den Hörer auf und sagte zu Della Street: »Haben Sie genügend Geld bei sich, Della?« Sie nickte. -1 2 7 -
»Dann fahren Sie sofort mit einem Taxi ins Büro«, sagte Mason. »Paul Drake ist auch da. Er hat ein paar neue Informationen. Lassen Sie sich von ihm über alles genau unterrichten und trennen Sie dann den Weizen von der Spreu. Er soll außerdem möglichst schnell herausfinden, wie Mrs. Fargos Verwandte in Sacramento heißen. Die Chancen, daß sie tatsächlich mit der Maschine um sechs geflogen ist, stehen eins zu zehntausend; aber überprüfen sie den Fall trotzdem. Ich bin so schnell wie möglich wieder im Büro. Und falls diese Gibson bereit ist auszusagen, müssen Sie mit dem nächsten Taxi hinkommen und es aufnehmen. Und sorgen Sie dafür, daß wir ausreichend Geld in der Hand haben. Vielleicht müssen wir für einige Zeit verschwinden.« »Ich erledige schon alles«, sagte Della Street. »Wo wohnt denn die Gibson?« »In den Farlowe-Apartments.« »Wissen Sie, wo die liegen?« »Nein.« »Warten Sie, ich werde schnell nachsehen.« »Sie machen jetzt, daß Sie ins Büro kommen«, sagte Mason. »Das kann ich auch allein. Nehmen Sie sich ein Taxi. Dahinten stehen welche.« »Ich gehe schon!« sagte Della Street. Mason blätterte im Telefonbuch, fand die gesuchte Adresse, lief dann zu seinem Wagen und fuhr so schnell wie möglich durch den dichten Verkehr, bis er die Farlowe-Apartments erreicht hatte: ein mittelgroßes, unauffälliges Apartmentshaus, dessen Tür verschlossen war. An der linken Seite der Tür waren kleine Schilder mit den Namen der verschiedenen Bewohner angebracht; links neben jeder Karte befand sich der jeweilige Klingelknopf, rechts die Sprechanlage. Mason entdeckte einen Namen, der aus einer Visitenkarte ausgeschnitten war. -1 2 8 -
»Celinda Gibson Larue«. Zwei Tintenstriche waren durch das letzte Wort gezogen, so daß nur die Wörter »Celinda Gibson« stehengeblieben waren. Mason drückte auf den Knopf neben diesem Schild. Dreimal mußte er läuten, bis es in der Sprechanlage knackte und eine verschlafene Frauenstimme sagte: »Wer ist denn da?« »Ein Freund«, erwiderte Mason. »Wer denn? Und was wollen Sie?« »Ich möchte schnell mit Ihnen sprechen, bevor die Polizei kommt«, sagte Mason. »Wovon reden Sie denn eigentlich?« fragte die Stimme in der Sprechanlage. Mason schwieg. Darauf folgte eine Pause von mehreren Sekunden und schließlich das Summen des elektrischen Türöffners. Mason vergewisserte sich, das es das Apartment 325 war, stieß die Tür auf, betrat das Haus und wartete nicht erst auf den Lift, sondern lief die Treppe hoch und nahm immer zwei Stufen auf einmal. Der Korridor des dritten Stocks erinnerte an Tausende von Korridoren in ähnlichen Apartmenthäusern. Mason hatte Mühe, seine Augen an das Dämmerlicht zu gewöhnen, aber schließlich fand er das gesuchte Apartment und klopfte an die Tür. Die junge Frau, die ihm öffnete, rieb sich verschlafen die Augen und gähnte, während sie Mason mit einem gewissen, fragenden Humor anblickte. Sie trug einen Morgenmantel und Pantoffeln. Ihr Gesicht war ohne jedes Make-up. »Sie wollen also ein Freund sein«, sagte sie. »Und dann wecken Sie mich um diese Zeit?« »Lassen wir das«, sagte Mason. »Es ist schon ziemlich spät.« »Aber nicht für mich. Was wollen Sie von mir?« »Ich möchte mit Ihnen reden.« -1 2 9 -
»Also bitte!« »Ich habe keine Lust, hier draußen stehenzubleiben.« »Mein Apartment hat nur ein Zimmer, und ich lag noch im Bett.« »Ich habe aber keine Lust, hier im Korridor zu stehen und zu reden.« »Und weil Sie mit mir reden wollen, kommen Sie einfach her und drängeln sich in meine Wohnung... Worüber wollen Sie eigentlich mit mir reden?« »Über Fargo«, erwiderte Mason. Es war nicht hell genug, um den Ausdruck ihrer Augen erkennen zu können. Sie blickten Mason jedoch einen Augenblick starr an; dann trat die junge Frau von der Tür zurück und sagte: »Bitte, kommen Sie herein.« Mason trat ein, und sie schloß die Tür hinter ihm. Es war ein einfaches, kleines, möbliertes Apartment, mit Kochnische und Bad. Besonders deprimierend wirkte der Mangel an Individualität und die einzigartige Unbehaglichkeit, die vorwiegend dadurch entstand, daß fast sämtliche Möbel zur Seite gerückt werden mußten, um das Wandbett herunterlassen zu können. Eine einzelne Stehlampe gab ein nicht allzu helles, fast trübes Licht. »Die Stühle habe ich an die Wand stellen müssen«, sagte sie. »Der Sessel ist auch nicht allzu bequem. Aber suchen Sie sich einen aus und setzen Sie sich.« Sie streifte die Pantoffeln von den Füßen, sprang auf das Bett, zog die Beine unter sich und baute die Kissen um sich auf. »Also los, fangen Sie an«, sagte sie dann. »Wußten Sie, daß Fargo verheiratet war?« fragte Mason. Sie zögerte einen Augenblick, blickte ihn dann an und sagte: »Ja.« »Wann haben Sie ihn zum letztenmal gesehen?« -1 3 0 -
»Gestern abend.« »Um welche Zeit?« »Gegen zehn. Er war in dem Lokal, in dem ich arbeite.« »In der Golden Goose?« »Ja. Sie waren auch da. Ich sah Sie, mit einer jungen Frau. Ich weiß, wer Sie sind. Sie sind Perry Mason. Reden wir also nicht länger um den heißen Brei herum. Was wollen Sie von mir? Sie sind Rechtsanwalt. Vertreten Sie seine Frau?« »Darauf kann ich Ihnen im Augenblick keine Antwort geben.« »Was wollen Sie von mir?« »Eine Auskunft.« »Worüber?« »Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mir eine Zigarette anzünde?« »Nein«, sagte sie und deutete auf eine Messingschale, die als Aschenbecher dienen mußte und zur Hälfte mit Zigarettenstummeln gefüllt war. »Wollen Sie auch rauchen?« fragte Mason. »Ich... ja, gern.« Mason zog sein Etui aus der Tasche, bot ihr eine Zigarette an, nahm dann selbst eine und hielt ihr das Streichholz hin. Sie nahm einen schnellen Zug, legte die Zigarette dann in den Aschbecher, atmete den Rauch in winzigen Stößen aus und sagte: »Also jetzt weiter mit der Inquisition.« »Sind Sie mit Fargo befreundet?« fragte Mason. Wieder zögerte sie, bis sie ihn ansah. »Ja.« »Sehr befreundet?« »Intim, wenn Sie es gena u wissen wollen.« »Und wie lange sind Sie mit ihm - intim?« -1 3 1 -
»Geht Sie das etwas an?« »Ich glaube schon.« »Ungefähr seit sechs Monaten.« »Hat er Ihnen irgendwann gesagt, daß er Sie heiraten würde?« »Nun werden Sie bitte nicht albern. Schließlich ist er bereits verheiratet.« »Was hat das mit Ihnen zu tun?« »Sie sind doch Anwalt. Dann können Sie diese Frage selbst beantworten.« »Sie sind wohl sehr klug - oder nicht?« »Sehe ich so aus?« »Was versprachen Sie sich dann von dieser Verbindung?« fragte Mason. »Langsam wird Ihre Fragerei lästig.« »Irgend etwas müssen Sie doch von ihm erwartet haben.« »Darüber mußte er entscheiden.« »Haben Sie sich jemals mit ihm darüber unterhalten?« »Nein.« »Ist er glücklich verheiratet?« »Nein.« Ganz beiläufig sagte Mason: »Sie wissen doch, daß er tot ist?« Als hätte ein Blitz sie getroffen, sprang sie auf, und sie atmete tief, um sich wieder zu beruhigen. »Wußten Sie es?« wiederholte Mason. »Wollen Sie mich bluffen? Oder wollen Sie sich aufspielen?« »Er ist tot«, sagte Mason. »Und ich glaube, daß er ermordet wurde.« »Dann hat sie es getan«, sagte Celinda Gibson, und ihre Stimme klang endgültig. -1 3 2 -
»Warum behaupten Sie das so sicher?« »Weil sie es schon immer wollte. Er - er hatte immer damit gerechnet.« »Und woher wissen Sie das?« »Er hat es mir selbst gesagt.« »Dann hatte er also Unstimmigkeiten mit seiner Frau?« »Ja.« »Welcher Art?« »Das weiß ich nicht«, sagte sie müde. »Wie nennt man denn Unstimmigkeiten, die nur daraus entstehen, daß die Menschen verheiratet sind und zusammenleben, bis sie einander so über sind, daß sie am liebsten auseinanderrennen würden - wenn sie die Möglichkeit hätten? Man fällt sich gegenseitig auf die Nerven, gähnt sich an, obgleich man den Burschen vielleicht einmal geliebt hat - aber das ist schon lange vorüber, und jetzt kann man ihn einfach nicht mehr sehen, weil er den ganzen Tag und die ganze Nacht nicht aus der Nähe geht -, und ihm geht es auch nicht anders. Man sagt sich Dinge, die die Gefühle verletzen, und er mäkelt dauernd an einem herum, so daß man das Gefühl hat, man könnte doch nichts tun, was ihm recht wäre. Man nimmt alles hin, aber dann kommt die Selbstachtung, und man schlägt zurück. Zuerst läuft man, wie Hund und Katze, immer umeinander herum. Dann springt man sich an, und das Ende ist die Sche idung.« »So haben Sie es bereits einmal gemacht. nicht wahr?« »Genauso war es«, sagte sie. »Deswegen ist auch der Name Larue auf der Karte, die Sie unten gesehen haben, ausgestrichen, Mr. Mason. Ich habe den Kerl aus meinem Leben hinausgeworfen und seinen Namen von der Liste gestrichen.« »Wie lange ist das her?« »Acht Monate.« »Sind Sie geschieden?« -1 3 3 -
»Noch nicht. Ich habe nur den Namen gestrichen.« »Warum sind Sie noch nicht geschieden?« »Weil er die Gerichtskosten nicht bezahlen will und weil ich mich hüten werde, mein schwerverdientes Geld dafür aus dem Fenster zu werfen, daß er seine Freiheit erhält. Jetzt tändelt er noch so herum, aber eines Tages wird schon so ein süßer Schmetterling kommen und die Angel nach seinem Geld auswerfen. Todsicher wird er darauf hereinfallen, und dann braucht er auch seine ›Freiheit‹ wieder. Aber dann soll er zu mir kommen und mich bitten, in die Scheidung einzuwilligen.« »Und was werden Sie dann tun?« »Wahrscheinlich werde ich ihn zappeln lassen und Geld verlangen«, sagte sie. »Schließlich habe ich fünf Jahre mit ihm vertan. Das gibt mir eine gewisse Berechtigung. Vor fünf Jahren hatte ich noch eine Menge zu bieten, heute - heute sind die Blüten zum Teil schon welk.« »Sie scheinen ziemlich philosophisch veranlagt zu sein.« »Ich versuche, es zu sein. Erzählen Sie von Arthman. Das soll doch kein Scherz sein, nicht wahr?« »Nein. Er ist tot.« »Ermordet?« »Ich nehme es an.« »Und wo ist seine Frau?« »Angeblich zu Besuch bei ihrer Mutter.« »Wann ist sie abgefahren?« »Heute früh.« »Und wann wurde Arthman getötet?« »Vor eineinhalb oder zwei Stunden.« »Prüfen Sie nach, wo seine Frau zu der Zeit war«, sagte sie. »Dann werden Sie feststellen, daß sie es getan hat.« »Sie wußten wirklich noch nichts von der Geschichte?« -1 3 4 -
»Nicht ein einziges Wort!« »Um welche Zeit gingen Sie zu Bett?« »Gegen fünf Uhr früh.« »Und Sie schliefen noch, als ich klingelte?« »Ja.« »Sie sind auch seit fünf Uhr früh ständig im Bett geblieben?« »Ja.« »Wo waren Sie heute vormittag gegen zehn Uhr?« »Immer hier, den Kopf auf diesem Kissen. Aber warum fragen Sie? Hat jemand versucht, mir etwas anzuhängen?« »Um welche Zeit schließt die Golden Goose?« »Gegen zwei Uhr.« »Und wo waren Sie zwischen zwei und fünf Uhr?« Sie schüttelte den Kopf und sagte: »Das geht Sie nichts an, denn dann würden noch andere in diese Geschichte verwickelt. Ich versuche immer, ehrlich zu sein. Ich erzähle Ihnen das, was nur mich angeht. Wenn andere auch hineingezogen werden, ist es etwas ganz anderes.« »Sie waren also nicht allein?« fragte Mason. »Nein«, sagte sie spöttisch. »Ich war nicht allein. Ich habe in meinem Leben viel gehabt, für das ich auch bezahlt habe; und ich werde auch noch vieles haben, für das ich ebenfalls bezahlen werde. Aber ich lebe mein eigenes Leben und habe mir meine Unabhängigkeit ehrlich verdient.« »Kommen wir also zur Hauptsache«, sagte Mason. »Ich dachte, da wären wir schon die ganze Zeit?« »Heute vormittag gegen halb elf waren Sie wohl nicht in Arthman Fargos Haus, 2281 Livingdon Drive, und zwar in einem der Schlafzimmer, dessen Tür abgeschlossen war?« »Nein.« -1 3 5 -
»Wo waren Sie zu diesem Zeitpunkt?« »Hier.« »Können Sie Auto fahren?« »Selbstverständlich.« »Aber Sie haben vor zwei Stunden Arthman Fargos Cadillac nicht aus der Garage gefahren und sind...« »Werden Sie bitte nicht albern.« »Haben Sie es getan?« »Nein.« »Was wissen Sie von Mrs. Fargo?« »Ich habe sie nie kennengelernt. Gesehen habe ich sie - in der Golden Goose. Gestern abend hatte er sie mitgebracht.« »Was wissen Sie von ihr?« »Ich glaube, darüber brauchen wir nicht zu reden, es sei denn... Nur dann, wenn es stimmt, daß Arthman ermordet worden ist.« »Es stimmt.« »Wie kann ich es feststellen?« »Das werden Sie schon sehr bald können. Wenn ich die Intelligenz von Inspektor Tragg von der Mordabteilung nicht erheblich unterschätze, wird man Sie in Kürze sehr gründlich verhören.« »Das kann mir egal sein«, sagte sie. »Ich bin ein freier Mensch, weißer Rasse, volljährig und führe mein eigenes Leben.« »Und was war mit seiner Frau?« »Wenn Arthman Fargo wirklich tot ist, Mr. Mason, dann hat Myrt ihn umgebracht.« »Wer ist Myrt?« »Seine Frau, Myrtle.« -1 3 6 -
»Sie scheinen davon überzeugt zu sein.« »Das bin ich auch.« »Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn Sie mir erzählten, warum Sie davon überzeugt sind?« »Sie ist ein unnützes kleines Biest. Sie will ihn gar nicht. Viel lieber wäre sie irgendwo anders.« »Wo? Wissen Sie das?« fragte Mason. »Ich verstehe Sie nicht.« »Wo Mrs. Fargo lieber wäre?« Sie schüttelte den Kopf. »Sie ist sehr verschwiegen.« »Sie glauben aber, daß es einen anderen gibt?« »Selbstverständlich. « »Wie kommen Sie darauf?« »Aus verschiedenen Gründen.« »Aber Sie haben keine Idee, wer es sein könnte?« »Nicht die leiseste, und Arthman wohl auch nicht.« »Lassen wir das erst einmal«, sagte Mason. »Nun folgendes: Ich habe Grund zu der Annahme, daß Sie heute vormittag in dem Schlafzimmer in Fargos Haus waren. Ich habe Grund zu der Annahme, daß Sie Fargos Cadillac genommen und ziemlich schnell in einem Bogen um die Stadt gefahren sind, um einen anderen Wagen, der Sie verfolgte, abzuschütteln. Ich glaube ferner, daß Sie den Wagen irgendwo stehengelassen haben, und zwar in der Hoffnung, daß er nicht mit Ihnen in Zusammenhang gebracht wird. Ich habe außerdem Grund zu der Annahme, daß sich die Leiche von Myrtle Fargo im Kofferraum dieses Wagens befindet. Das ist eine lange Reihe wilder Vermutungen. Sie könnten etwas mit dem Mord an Myrtle Fargo zu tun haben, aber vielleicht wußten Sie auch nichts davon. Haben Sie dazu irgend etwas zu sagen?« »Ich habe keine Lust mehr, überhaupt etwas zu sagen. Sie -1 3 7 -
spielen Ihre Karten sehr schnell hintereinander aus, mein Lieber. Ich habe versucht, Ihnen zu folgen. Bisher ist es mir einigermaßen gelungen. Die Schwierigkeit liegt für mich allerdings darin, daß Sie die Trümpfe kennen, ich aber nicht.« »Wenn die Polizei den Wagen findet«, sagte Mason, »wird man Ihre Fingerabdrücke auf dem Lenkrad finden.« »Woher wissen Sie das?« »Weil die Polizei bereits nach einer Frau fahndet.« »Etwa nach mir?« »Ja - nach Ihnen, und man wird den Wagen sehr gründlich nach Fingerabdrücken untersuchen.« »Das finde ich reizend.« »Und«, fuhr Mason fort, »wenn Sie Arthman Fargo tatsächlich umgebracht haben, wäre es wahrscheinlich besser, Sie gäben es von Anfang an zu und sagten, Sie hätten in Notwehr gehandelt, da Sie den Mord an seiner Frau herausbekommen hätten, als daß Sie versuchten, sich irgendwie herauszuwinden und plötzlich zu merken, daß Sie in der Falle sitzen. Ich lege keinen Wert darauf, Ihre Verteidigung zu übernehmen. Ich bin nicht einmal in der Lage, Ihnen einen Rat zu geben; und daher gebe ich ihnen diesen Rat auch nicht als Anwalt. Aber vielleicht überlegen Sie es sich noch einmal. Es wäre nicht mehr als vernünftig.« Sie glitt von ihrem Bett herunter. Der Morgenmantel verschob sich dabei. Ihre nackten Beine vor dem dunklen Untergrund des Stoffes ließen erkennen, daß sie darunter nichts trug. Dann stand sie auf, strich den Morgenmantel glatt und sagte: »Sehen Sie mich an, Mister Mason.« »Das tue ich bereits.« »Sie halten mich für ziemlich hartgesotten. Sie glauben, ich hätte alles bereits hinter mir. Sie glauben, weil ich in einem Nachtklub arbeite, sei ich nur auf Geld aus. Meinetwegen -1 3 8 -
können Sie von mir glauben, was Sie wollen! Ich bin siebenundzwanzig. Ich habe bereits eine Menge von der Welt gesehen. Jeder Mann, den ich kenne ngelernt habe, wollte möglichst viel verdienen. Wie oft habe ich mir schon gesagt: ›Warum eigentlich nicht, Celinda? Warum stellst du dich nicht endlich auf eigene Füße?‹ Und dann habe ich es doch nicht getan. Ich habe immer versucht weiterzukommen. Ich habe Arthman Fargo gern. Wenn er wirklich tot sein sollte, ist es für mich ein schrecklicher Schlag. Aber ich werde es überleben. Ich habe in meinem Leben schon anderes überstehen müssen. Man hat mir den Boden unter den Füßen weggezogen, als ich gerade glaubte, endlich gut zu sitzen. Wenn Sie nachher weg sind, werde ich mir erst einmal die Augen ausheulen und wie eine Eule aussehen. Aber dann werde ich den Kopf wieder hochnehmen. Ich weiß, daß Sie keine Interesse für meine Gefühle und meinen Kummer haben. Wahrscheinlich hatten Sie einen Grund, hierherzukommen. Was der Grund auch gewesen sein mag wahrscheinlich versuchen sie, irgend etwas durch einen Taschenspielertrick herauszubekommen, zum Nutzen Ihrer Klientin, aber nicht zu meinem Nutzen. Wahrscheinlich sollte ich in Ihnen den Gegner sehen. Dabei sehen Sie. so vertrauenerweckend aus und stehen in dem Ruf, tüchtig zu sein. Ja, das war also meine Geschichte, und ich...« Sie unterbrach sich, als der Summer nachdrücklich ertönte. »Was ist das?« fragte Mason. »Der Türsummer«, sagte sie. »Von der Haustür?« »Nein, von der Apartmenttür. Wahrscheinlich irgendein Bettler. Kümmern Sie sich nicht darum. Wenn die Leute eine Weile geklingelt haben, gehen sie meistens wieder weg und...« Wieder war der Summer zu hören; dann klopfte es an der Tür. »öffnen Sie!« sagte eine Stimme. -1 3 9 -
Mason erhob sich und meinte: »Ich danke Ihnen für die Unterredung. Ich glaube, es ist besser, wenn Sie öffnen. Die Stimme kam mir nämlich sehr bekannt vor.« Sie ging zur Tür und öffnete. Im Korridor standen Inspektor Tragg und ein Kriminalbeamter in Zivil. Mason sagte: »Wenn ich bekannt machen darf - Celinda Gibson, Inspektor Tragg. Inspektor Tragg gehört der Mordkommission an, Celinda. Er will Ihnen sicher ein paar Fragen über Fargo stellen.« Es gelang Tragg nicht ganz, seine Überraschung zu verbergen. »Was haben Sie denn in dieser Gegend zu suchen, Mason?« fragte er. »Ist diese Dame etwa Ihre Klientin?« Mason schüttelte nur den Kopf. »Dann wollen wir Ihrem so gedrängt vollen Tagesplan nicht in die Quere kommen«, sagte Tragg mit ungewöhnlicher Höflichkeit. »Dieses Mal brauchen wir Sie tatsächlich nicht aufzuhalten.« »Vielen Dank«, sagte Mason ironisch und ging hinaus.
13 Es war bereits zwei Uhr vorbei, als Mason die Tür seines Privatbüros aufschloß und dort Paul Drake und Della Street vorfand, die sich mit gedämpfter Stimme unterhielten. »Hallo!« sagte Mason fröhlich. »Ihr seht aus wie ein paar Verschwörer.« »Das sind wir auch«, sagte Della Street. »Ich glaube«, meinte Mason, »daß wir endlich den Faden in der Hand haben, Paul. Diese Celinda Gibson ist es. Sie versuchte, so zu tun, als hätte sie bis zu meinem Läuten tief geschlafen, aber dann hat sie sich doch verraten. Sie raucht sehr stark, aber während sie sich kräftig die Augen rieb und -1 4 0 -
sämtliche Stadien eines eben geweckten Menschen durchspielte, hatte sie gar kein Verlangen nach einer Zigarette. Jeder starke Raucher greift jedoch nach dem Aufwachen zuerst nach einer Zigarette. Der Aschenbecher bewies, daß sie sehr viel raucht. Ich bot ihr also eine Zigarette an, aber sie war gar nicht scharf darauf und zögerte sogar einen Augenblick, bis sie sie nahm. Ich glaube, um ein Haar hätte sie sogar gesagt, sie hätte schon zuviel geraucht, oder so ähnlich, und... Aber was ist denn los?« »Deine Theorie ist leider im Eimer, Perry.« »Welche Theorie?« »Daß Fargo seine Frau umgebracht hat.« »Wieso?« »Weil er es nicht getan hat.« »Los - erzähle!« »Endgültige Anhaltspunkte über die Fargos bekamen wir, als wir ihre Heiratsurkunde ausgegraben hatten. Auf diese Weise erfuhren wir auch Name und Anschrift ihrer Mutter. Sie wohnt tatsächlich in Sacramento. Anschließend haben wir dort gleich angerufen, ohne Einzelheiten zu verraten, natürlich.« »Na - großartig!« sagte Mason. »Und was meinte sie?« »Daß ihre Tochter nach Sacramento unterwegs sei, und zwar mit einem Greyhound-Bus. Gegen Abend käme sie an.« »Persönlich glaube ich kaum, daß es stimmt«, sagte Mason. »Wenn es jedoch wirklich so ist, sitzen wir in einem entsetzlichen Durcheinander.« »Wieso? Wenn sie deine Klientin und in Sicherheit ist und...« »Und ihr Mann mit einem sauberen Stich in den Hals ermordet wurde. Wann ist der Greyhound-Bus hier abgefahren.« »Wahrscheinlich war es der, der um acht Uhr fünfundvierzig geht.« Mason fing an, langsam auf und ab zu wandern. »Irgendwie -1 4 1 -
müssen wir sie warnen.« »Wieso?« fragte Drake. »Weil sie dringend ein Alibi brauchen wird, Paul!« »Aber die Tatsache, daß sie mit diesem Bus gefahren ist, dürfte doch ein gutes Alibi sein.« »Sie wird nicht nur ein gutes - sie wird ein ganz ausgezeic hnetes Alibi brauchen«, sagte Mason. »Immerhin geht es hier um Mord. Und man weiß nie, ob Tragg nicht zu dem Entschluß kommt, ihr die ganze Geschichte anzuhängen. Dann wird sie die Namen ihrer Mitreisenden brauchen, die bezeugen können, daß... Della, bestellen Sie sofort eine Privatmaschine, und zwar eine schnelle. Paul, besorge sofort einen Fahrplan der Greyhound. Della, Sie begleiten mich. Nehmen Sie sämtliche Angaben mit, die wir haben, einschließlich Drakes Berichten und der Anschrift von Mrs. Fargos Mutter. Nehmen Sie alles mit, was überhaupt in Frage kommen könnte. Wir müssen die Beweise für ein stichhaltiges und einwandfreies Alibi zusammenstellen, und zwar möglichst schnell.« Della Street nahm den Hörer jenes Apparates ab, der mit der Vermittlung verbunden war, und sagte: »Gertie, ich brauche ganz schnell unseren Flugtaxidienst. Sagen Sie den Leuten gleich, daß wir die schnellste Maschine haben müssen, die sie haben, und zwar nach Sacramento...« »Nach Stockton«, verbesserte Mason. »Wir fliegen nach Stockton.« »Nach Stockton also«, sagte Della Street in das Telefon. »Sobald der richtige Mann am Apparat ist, stellen Sie bitte gleich durch.« »Warum denn Stockton?« fragte Drake. »Weil du dich jetzt an dein Telefon setzt«, sagte Mason, »deinen Kollegen in Sacramento anrufst und ihm sagst, er soll ein paar seiner Leute zu Myrtles Mutter schicken und sie -1 4 2 -
veranlassen, uns bis Stockton entgegenzufahren. Dort werden wir auf den Bus warten. Die Leute deines Kollegen können sich dann bis Sacramento mit den Fahrgästen unterhalten und deren Namen und Adressen feststellen. Wir brauchen nämlich Zeugen - Unmengen von Zeugen!« »Findest du die Lage so ernst?« fragte Drake. »Woher zum Teufel soll denn ich das wissen?« sagte Mason. »Wenn sie sich jedoch als ernst herausstellen sollte, dürfen die Zeugen nicht in alle vier Himmelsrichtungen verstreut sein. Los jetzt - damit wir keine Zeit verlieren!«
14 Gerade wurde die Ankunft des Busses 320 von Modesto nach Sacramento bekanntgegeben, als sich ein dünner, wie ein Gelehrter aussehender Mann von etwa fünfundfünfzig Jahren neben Mason stellte; dieser Mann war so unauffällig angezogen, daß es schon beinahe altmodisch wirkte. Nachdem er den Anwalt ein paarmal fragend angesehen hatte, sagte er: »Mr. Mason?« Mason nickte. »Ich komme im Auftrag der Drake Detective Agency aus Sacramento. Wir haben Mrs. Ingram mitgebracht. Wollen Sie jetzt schon mit ihr sprechen? Die Ankunft des Greyhounds ist gerade bekanntgegeben worden. Er scheint ziemlich besetzt zu sein. Es ist nämlich ein Schnellbus, der nur selten hält, und unterwegs werden nur so viele Plätze verkauft, wie gerade frei sind. Wir haben zwei Karten bekommen - mehr war nicht zu machen.« »Wie lange hält der Bus hier?« »Fünf Minuten.« »Sind Sie allein?« »Nein, ich habe noch einen Kollege n mitgebracht.« -1 4 3 -
»Gut«, sagte Mason. »Dann nehmen Sie die beiden Fahrkarten. Schreiben Sie die Namen und Adressen sämtlicher Fahrgäste auf. Sie müssen dabei sehr taktvoll vorgehen und...« »Selbstverständlich. Darin kennen wir uns aus, Mr. Mason.« »Ausgezeichnet - also beschaffen Sie uns die Namen und Anschriften«, sagte Mason. »Besonders interessieren mich die Passagiere, die die ganze Fahrt mitgemacht haben. Alle, die mit der jungen Frau gesprochen haben, werden wir ihnen noch besonders angeben.« »Da kommen die Fahrgäste bereits«, sagte der Detektiv. »Machen Sie mich bitte mit Mrs. Ingram bekannt«, sagte Mason. Mason ging hinüber und begrüßte eine schmallippige Frau von Mitte Fünfzig, die völlig aufgelöst zu sein schien. »Sie sind also Mr. Mason«, sagte sie. »Der Himmel weiß, was das alles soll; mir ist es völlig schleierhaft. Man hat mir gesagt, Sie wären Anwalt, und zwar ein guter, und ich hoffe nur, daß Sie auch genau wissen, was Sie tun. Meine Tochter ist ein gutes Kind, Mr. Mason, eine brave Tochter. Wenn Sie nur keinen Fehler begehen! Sie kann unmöglich in irgendwelche Dinge verwickelt sein. Ich weiß gar nicht, was dieses ganze Durcheinander eigentlich soll, aber Sie sind mir gegenüber für alles verantwortlich. Einfach hergefahren zu werden und...« Mason unterbrach sie. »Ist denn Ihre Tochter nicht mit diesem Bus gefahren?« »Aber selbstverständlich. Sie hat es mir doch selbst gesagt.« »Es sind ein paar ungewöhnliche und völlig unerwartete Dinge eingetreten, Mrs. Ingram. Es besteht die Möglichkeit, daß Ihre Tochter...« »Mutter, was machst denn du hier?« Mrs. Ingram drehte sich um. Ihr Blick wurde etwas sanfter, aber ihr schmallippiger Mund blieb verbissen und hart. -1 4 4 -
»Myrtle! Um Himmels willen, was ist denn bloß los! Du...« »Wieso los? Das könnte ich dich fragen! Was tust denn ausgerechnet du hier?« »Ich habe mit der ganzen Geschichte nichts zu tun«, erwiderte Mrs. Ingram. »Das hier ist Mr. Perry Mason, und das Fräulein ist seine Sekretärin.« Myrtle Fargos Blick ruhte auf Masons Gesicht. Für einen Moment verlor ihr Gesicht jede Farbe, und ihre Augen wurden groß und rund. »Mr. Mason?« sagte sie mit einer Stimme, die kaum mehr als ein erstauntes Flüstern war. »Sie kennen mich, Mrs. Fargo?« fragte Mason. »Ja. Ich... Man machte mich auf Sie aufmerksam... Was tun Sie denn hier?« »Wir haben jetzt keine Zeit zu langen Erklärungen«, erwiderte Mason. »Die Sache ist sehr ernst. Wo haben Sie Ihre Fahrkarte?« Myrtle Fargo kramte in ihrer Handtasche und zog eine kleine Karte hervor. »Hier, Mr. Mason. Aber warum die ganze...« Mason drehte die Karte um und betrachtete den in Los Angeles aufgedrückten Stempel. »Können Sie mir sagen, warum die Karte mit dem gestrigen Datum abgestempelt worden ist?« »Warum denn nicht«, erwiderte Myrtle Fargo, ohne zu überlegen. »Ich habe die Karte doch gestern gekauft. Ich kaufe sie immer vorher, damit es bei der Abfahrt keine unnötigen Verzögerungen gibt, und...« »Lassen wir das jetzt«, sagte Mason. »Wo haben Sie im Bus gesessen?« »Ich - einen Moment, ich muß mal überlegen. In der zweiten Reihe von vorn, auf der linken Seite.« »Am Fenster oder am Gang?« »Am Fenster.« -1 4 5 -
»Wissen Sie, wer neben Ihnen gesessen hat?« »Doch, eine sehr reizende Frau. Sie...« »Wo ist diese Frau zugestiegen?« »Ach, das weiß ich nicht genau. Irgendwo.« »Saß sie bereits im Bus, als Sie in Los Angeles zustiegen?« »Um Himmels willen, das kann ich Ihnen nicht sagen! Mir ist sie erst vor kurzem aufgefallen.« »Haben Sie sie hier schon gesehen?« »Doch - ja. Vorhin stand sie dort drüben am Zeitschriftenkiosk.« Laut dröhnte die Stimme des Lautsprechers: »Bus Nr. 320 fährt weiter nach Sacramento. Bitte einsteigen.« »Was soll das alles eigentlich?« fragte Mrs. Fargo. »Mutter, fährst du auch mit dem Bus? Kannst du...« »Sie fahren mit mir«, sagte Mason. »Ich habe einen Mietwagen, der uns nach Sacramento bringt. Wir sind dann vor dem Bus dort und können uns noch mit einigen Passagieren unterhalten.« Die Fahrgäste drängten sich in den Bus. Als Mason durch die Fenster hineinsah, erkannte er den Detektiv und dessen Kollegen, die bereits an der Arbeit waren, sich mit einem freundlichen Lächeln an die Passagiere wandten und nach Namen und Adressen fragten. »Würden Sie mir endlich verraten, was das alles soll?« fragte Myrtle Fargo. »Das finde ich auch!« sagte Mrs. Ingram. »So was! Ich bin völlig durcheinander. In meinem ganzen Leben habe ich so etwas noch nicht erlebt. Irgendwelche Leute tun und lassen mit einem, was ihnen gerade einfällt! Myrt, was hast du bloß angestellt?« »Aber auch nicht das geringste, Mam.« -1 4 6 -
»Vielleicht können wir das alles bis nachher aufschieben«, sagte Mason. »Unsinn, Mr. Mason! Ich habe vor meiner Mutter überhaupt nichts zu verbergen.« »Sie sagten vorhin, Sie wären auf mich aufmerksam gemacht worden?« »Ja.« »Wo war das?« »In einem Nachtklub. Warten Sie - es war... Richtig, gestern abend war es! Und Miss Street war in Ihrer Begleitung. Das stimmt doch, nicht wahr, Miss Street?« »Beabsichtigten Sie ursprünglich, heute früh das Flugzeug zu nehmen, Mrs. Fargo?« fragte Mason. »Das Flugzeug?« »Ja.« »Aber nein! So kostbar ist meine Zeit nun auch wieder nicht. Ich fahre gern mit dem Bus. Man trifft eine Menge interessanter Menschen...« »Hatten Sie Ihrem Mann gesagt, daß Sie fliegen würden?« »Nein.« »Hat er Sie heute früh zum Flugplatz gefahren?« »Mein Mann und mich zum Flugplatz gefahren? Seien Sie doch nicht albern! So früh? Seinetwegen könnte passieren, was da wolle - er würde niemals so zeitig aufstehen und auch nur eine Stunde Schlaf opfern. Ich bin ganz leise aufgestanden, habe mir mein Frühstück gemacht, bin zur Straßenbahn gegangen und dann mit dem Bus um fünf vor neun gefahren.« »Er behauptete allerdings, daß er Sie zum Flugplatz gebracht hätte.« »Und das soll er tatsächlich gesagt haben?« »Ja.« -1 4 7 -
»Wann denn?« »Heute vormittag gegen neun Uhr.« Sie schüttelte nur den Kopf und sagte: »Dann muß er Sie angeschwindelt haben. Er wußte ganz genau, daß ich mit dem Bus gefahren bin. Ich reise immer mit dem Bus - nicht wahr, Mam?« »Ja, doch - wahrscheinlich. Meistens. Natürlich bist du auch schon einmal mit dem Flugzeug gekommen...« »Und fast die ganze Zeit war ich luftkrank. Damals habe ich mich entschlossen, nie mehr zu fliegen. Seitdem fahre ich immer mit den Greyhounds und genieße es richtig.« »Ja, ja, das mag schon sein - aber würde mir bitte endlich jemand verraten, was das Ganze eigentlich soll. Da wird man von wildfremden Leuten irgendwo hingeschleppt, und schließlich bin ich kein junges Mädchen mehr...« begann Mrs. Ingram. »Mrs. Fargo«, unterbrach Mason sie, »wir wollen das eine festhalten: Sie brauchen mir nur zu erzählen, was Sie für richtig finden - aber sind Sie gestern abend im Drugstore an der Ecke Vance Avenue und Kramer Boulevard gewesen und haben von dort telefoniert?« Sie schüttelte den Kopf, und nach einem kurzen Augenblick sagte sie: »Was soll denn das mit der übrigen Geschichte zu tun haben?« Ungeduldig erwiderte Mason: »Lügen Sie mich nicht an. Es ist ungeheuer wichtig!« »Mr. Mason«, fuhr Mrs. Ingram dazwischen, »vergessen Sie nicht, daß Sie mit meiner Tochter sprechen! Sie ist ein gutes Kind. Unterstehen Sie sich, zu behaupten, daß sie lügt. Niemals würde sie so etwas tun. Sie hat es auch gar nicht nötig. Sie ist eine anständige, geachtete, verheiratete Frau und...« »Schon gut«, unterbrach Mason sie. »Aber wir haben nicht -1 4 8 -
die Zeit, auch noch taktvoll zu sein: Ihr Mann ist tot.« »Was?« schrie Mrs. Ingram. Myrtle Fargo schwankte leicht. Ihre Augen wurden groß und rund. »Arthman - tot?« »Ja«, sagte Mason, »und ich schlage vor, daß wir im Augenblick auf sämtliche dramatischen Posen verzichten. Ich habe das Gefühl, daß sich die Polizei innerhalb der nächsten Stunde mit dem Fall beschäftigen wird. Wir müssen also weiterkommen, und zwar möglichst schnell. Hören wir also auf, den Schwarzen Peter an andere weiterschieben zu wollen.« »Arthman... Das ist unmöglich! Er war doch völlig gesund. Er...« »Er wurde ermordet«, unterbrach Mason sie. »Wie denn?« »Durch einen Stich in den Hals. Anscheinend hat sich das Ganze heute vormittag zwischen zehn und zehn Uhr dreißig im ersten Stock Ihres Hauses abgespielt. Er hat noch versucht, aus dem Haus zu laufen, kam jedoch nur bis zur Treppe, verlor offensichtlich das Bewußtsein, stürzte die Treppe hinunter und blieb genau vor der Haustür liegen. Wissen Sie etwas davon?« »Wie soll ich etwas wissen? Was soll Ihre Frage bedeuten, Mr. Mason? Von Ihnen habe ich es doch eben erst erfahren! Ich... Hast du es schon gewußt, Mutter?« Mrs. Ingram schüttelte den Kopf. »Also gut«, sagte Mason. »Man wird Sie nachher vernehmen. Die Polizei möchte nämlich genau wissen, wo Sie zu der fraglichen Zeit waren.« »Wann ist es noch passiert?« »Wahrscheinlich zwischen zehn und halb elf.« »Für diese Zeit kann ich Gott sei Dank nachweisen, wo ich war. Um halb zehn saß ich nämlich bereits im Bus.« -1 4 9 -
»Haben Sie in dem Bus mit irgend jemandem gesprochen?« Nachdenklich zog sie die Stirn kraus und sagte: »Doch, das habe ich - mit einem reizenden älteren Herrn, der irgendwie mit Öl zu tun hatte und über alles gut informiert zu sein schien. In Bakersfield ist er ausgestiegen. Neben mir saß ein Betrunkener, und zwischen Bakersfield und Fresno habe ich mich mit einer Frau unterhalten. Wie sie hieß, weiß ich nicht. In Fresno habe ich dann meinen Platz gewechselt und saß dann neben einer Frau, die nach Sacramento fuhr, um in der Scheidungssache ihrer Tochter auszusagen. Soweit ich mich erinnern kann, hieß sie Olanta. Der Name war so komisch. Aber ich glaube, so hieß sie - Mrs. Olanta. Ihre Tochter heißt Pelham, und die Verhandlung findet morgen vormittag statt. Ich weiß noch, daß sie nur von Scheidungen und Eheproblemen sprach und wie schwierig eine Ehe doch wäre.« Mason blickte auf seine Armbanduhr, wandte sich zu Della Street um und sagte: »Wenn wir rechtzeitig in Sacramento sein wollen, müssen wir los.« Della Street nickte und ging zu dem Fahrer, der neben seinem Wagen stand. Mason wandte sich wieder an Mrs. Fargo und deren Mutter. »Wenn ich bitten darf«, sagte er. »Wir müssen den Mietwagen nehmen, und der Fahrer wird uns bestimmt zuhören. Sie haben also nur noch jetzt die Möglichkeit, Mrs. Fargo: Haben Sie mich gestern abend angerufen oder nicht?« Offen blickte sie ihn an. »Nein«, sagte sie. »Kommen Sie«, sagte Mason nur. Impulsiv sagte Myrtle: »Ich habe Sie gestern abend bestimmt nicht angerufen, Mr. Mason; aber wenn mein Mann tatsächlich tot ist und wenn ich verdächtigt werden sollte - wenn ich vielleicht doch ein Alibi vorweisen oder nachweisen müßte, wo ich war oder was ich zu der Zeit tat, dann möchte ich, daß Sie meine Verteidigung übernehmen. Ich habe schon sehr viel von Ihnen gehört und... Ich kann es einfach nicht glauben, Mr. -1 5 0 -
Mason, daß...« »Ich an deiner Stelle würde mich jetzt bei allem, was ich sagte, sehr vorsehen«, warnte Mrs. Ingram ihre Tochter. »Du brauchst keinen Anwalt. Ich weiß gar nicht, wie du darauf kommst, einen Anwalt zu beauftragen und...« »Madam«, sagte Mason, »kein Mensch versucht, Ihrer Tochter irgend etwas aufzuzwingen. Ich tat bisher alles unter der falschen Voraussetzung, im Auftrag Ihrer Tochter zu handeln.« »Kennen Sie denn Ihre Klientin nicht?« hakte Mrs. Ingram ein. »Anscheinend nicht«, erwiderte Mason. »Jetzt haben Sie also meine Tochter aus dem Bus herausgeholt und mich hierherschleppen lassen; folglich müssen Sie uns sofort nach Sacramento bringen lassen. Dazu sind Sie verpflichtet. Außerdem habe ich das Gefühl, daß es irgendeinen Paragraphen gibt, nach dem Sie uns Schadensersatz schulden, da Sie uns einen Haufen Detektive auf den Hals schickten und uns gegen unseren Willen aufhielten.« »Sie haben vollkommen recht«, sagte Mason. »Zuerst werde ich Sie nach Sacramento bringen - wenn Sie vielleicht aussteigen wollen.« Sie gingen zu dem großen, siebensitzigen Wagen hinüber, der auf sie wartete. Zu dem Fahrer sagte Mason: »Ich möchte vor dem Bus, der eben abfuhr, in Sacramento sein. Glauben Sie, daß wir es schaffen?« »Leicht - der Bus hält doch ein paarmal.« »Gut«, sagte Mason, »dann also los.« Mason unterband während der Fahrt nach Sacramento alle Versuche, eine Unterhaltung in Gang zu bringen. Der Fahrer, der anscheinend ziemlich neugierig war, versuchte immer wieder, sie auf die Sehenswürdigkeiten der Gegend aufmerksam zu machen, und am liebsten hätte er seine Fahrgäste wohl -1 5 1 -
ausgefragt; schließlich gab er jedoch seine Bemühungen auf, als er merkte, daß sie erfolglos blieben. Mehrmals flüsterte Myrtle Fargo mit ihrer Mutter; Mason und Della Street dagegen schwiegen mit verkniffenem Mund. Schließlich wurde der Wagen langsamer, als sie sich den Vororten Sacramentos näherten und hielten schließlich vor dem Autobus-Bahnhof der Stadt. Mason gab dem Fahrer fünfzig Dollar und fünf Dollar Trinkgeld. Es dauerte noch etwa fünf Minuten, bis der Bus eintraf. Zu Myrtle Fargo sagte Mason: »Ich sehe eigentlich keinen Grund, daß Sie Ihre Zeit hier vertrödeln. Ich warte nämlich auch nur auf meine Leute. Erwarten Sie mich bei Ihrer Mutter. Ich werde mir ein Taxi nehmen.« Mrs. Ingram und Tochter stiegen aus, ohne sich um den Fahrer zu kümmern. Mrs. Fargo sagte nur: »Hoffentlich halten Sie uns nicht für undankbar, Mr. Mason.« »Das ist nicht so wichtig«, erwiderte Mason. »Eine Zeitlang war ich in dem Glauben, Ihr Anwalt zu sein, Mrs. Fargo. Ich wollte dafür sorgen, daß Sie ein einwandfreies Alibi hätten, und wollte verhindern, daß die Polizei den falschen Baum ansägte.« »Aber jetzt ist es Ihnen egal, ob sie den falschen Baum ansägt?« fragte Myrtle Fargo. »Vielleicht.« »Wollen Sie eigentlich gar nicht wissen, wer der Täter ist, Mr. Mason?« »Es könnte mir ein Stückchen weiterhelfen.« »Seine Freundin. Arthman konnte es gar nicht erwarten, bis ich aus dem Hause war und er wieder mit ihr zusammen sein konnte. Ehrlich gesagt, Mr. Mason : Ich bin zwar sehr großzügig, aber schließlich gibt es doch Grenzen.« »Der Tod Ihres Mannes scheint Sie im Grunde nicht sonderlich zu berühren«, sagte Mason. -1 5 2 -
»Das ist wahr«, sagte sie, »wenn ich ganz ehrlich bin. Mehr als einmal waren wir schon soweit, uns zu trennen. Ich bin auch nur hierhergefahren, um abzuwarten, was geschieht. Ich hoffe, daß er wieder zu sich kommen würde, wenn ich ihn verließe; statt dessen betrachtet er meine Abreise als Gelegenheit, das Mädchen in unser Haus zu holen. Seit einiger Zeit hatte ic h schon das Gefühl, daß er alles zu Geld machen und mit dieser Frau weglaufen wollte. Jetzt weiß ich, daß ich recht hatte.« »Kennen Sie eigentlich diese Frau?« fragte Mason. »Nicht genau. Ich weiß nur, daß er verrückt nach ihr ist. Im letzten Monat war er kaum einen Abend zu Hause. Immer hatte er irgendwelche Entschuldigungen bei der Hand. Immer sagte er, so wäre es nun einmal in seinem Beruf: Er müsse sich mit den Kunden treffen und sich die verschiedenen Grundstücke ansehen. Natürlich ist auch diese Sache nicht von Dauer. Gestern abend, im Nachtklub, hat er bereits der Fotografin schöne Augen gemacht, und die Art, wie er sie ansah, war so, daß ich dachte, jetzt würde er sie einfach packen und nach Hause schleppen. Immer starrte er auf ihre Hüften, auf ihre Beine, und...« »Myrtle!« fuhr Mrs. Ingram dazwischen. »Wie redest du nur vor einem wildfremden Mann!« Mrs. Ingram drehte sich entrüstet um und marschierte auf den Fahrer des Mietwagens los, blieb dann jedoch in Hörweite, um auch nicht ein Wort zu verlieren. »Mögen Sie persönlich fühlen, wie Sie wollen«, sagte Mason, »trotz allem ist es nötig, auch die Reaktion anderer Leute zu berücksichtigen. Man wird Sie ausfragen, die Polizei wird Sie vernehmen, und vielleicht kommen auch noch Zeitungsreporter zu Ihnen - je nachdem, was sich aus diesem Mord herausschlagen läßt und wie man ihn aufbauschen kann.« »Ich verstehe«, sagte sie. »Ich werde also einen entsprechend gramvollen Eindruck machen, aber die Sache auch nicht -1 5 3 -
übertreiben. Mir liegt es nicht zu heucheln, Mr. Mason.« »In einer Stunde werde ich Sie im Hause Ihrer Mutter aufsuchen«, sagte Mason, »bewaffnet mit Namen und Adressen von Bestätigungszeugen und vielleicht sogar mit einer schriftlichen Erklärung oder zwei. Das will ich noch für Sie tun. In der Zwischenzeit können Sie sich noch einmal gründlich überlegen, ob Sie mich gestern abend um meine Hilfe gebeten haben oder nicht.« »Das war ich nicht - bestimmt nicht«, sagte sie. »Überlegen Sie es sich trotzdem noch einmal.« »Gut. Und wenn man mir in der Zwische nzeit irgendwelche Fragen stellt - was soll ich sagen?« »Sagen Sie den Leuten, was Sie wollen. Da Sie nicht meine Klientin sind, kann ich Ihnen auch keinen Rat geben.« »Auch nicht als Freund?« »Nein. Die Freundschaft scheint mir etwas zu einseitig zu sein.« »Soll ich überrascht tun, wenn man mir erzählt, daß er...« »Stellen Sie sich nicht so dumm an«, sagte Mason scharf. »Ich habe Sie in Stockton aus dem Bus geholt und Ihnen bereits gesagt, daß Ihr Mann tot ist.« »Was soll ich aber antworten, wenn man mich fragt, warum Sie es getan haben.« »Dann sagen Sie, ich hätte eben ein weiches Herz. Gehen Sie jetzt zu Ihrer Mutter. Der Bus kommt schon.« Als Mason sie einfach stehenließ, zögerte sie einen Augenblick, ob sie ihm folgen oder zu ihrer Mutter gehen sollte. Schließlich drehte sie sich um. Mit ihrer Mutter bestieg sie wieder den Mietwagen und fuhr davon. Mason spürte Della Street neben sich, die sich an ihn drängte. »Wollen Sie Beweisgegenstand A haben?« fragte sie. -1 5 4 -
»Was denn?« Sie steckte ihm unauffällig ein Stück Stoff zu. »Das ist Myrtle Fargos Taschentuch. Ich nahm es aus ihrer Tasche; es hat den gleichen Duft wie das Geld in dem Umschlag.« »Also stimmt es doch!« rief Mason aus. Er fuhr herum und suchte Myrtle Fargo. Sie saß jedoch bereits in dem Wagen, der gerade anfuhr. Mason ergriff Della Streets Oberarm und geleitete sie zu dem Ausgang, durch den die angekommenen Fahrgäste den Bahnhof verlassen mußten. Ohne die geringste Andeutung eines Lächelns auf dem Gesicht kam der Detektiv an der Spitze der übrigen Passagiere näher. Als er Masons Blick sah, winkte er den Anwalt zur Seite. »Haben Sie die Namen der Zeugen?« fragte Mason. Der Mann nickte. »Gut, dann wollen wir schnell versuchen, noch eine schriftliche Erklärung zu bekommen. Glauben Sie, daß einige der Passagiere dazu bereit sind, wenn wir ihnen eine Entschädigung für die verlorene Zeit zahlen und...« »Ein halbes Dutzend schriftlicher Aussagen habe ich bereits in der Tasche«, sagte der Detektiv. »Wegen der Fahrerei im Autobus sind sie zwar nicht vorbildlich schön geschrieben, aber sonst sind sie in Ordnung und unterzeichnet. Hier!« »Großartig«, sagte Mason und schob die Aussagen in die Seitentasche. »Möglicherweise war es aber doch anders.« »Wie meinen Sie das?« »Der Bus ist morgens um Viertel vor neun abgefahren«, sagte der Detektiv. »Wir haben Leute gefunden, die von Fresno an neben ihr gesessen haben; wir haben eine Frau gefunden, die sich von Bakersfield an mit ihr unterhalten hat. Aber wir haben niemanden gefunden, der schon in Los Angeles im Bus war -1 5 5 -
und...« »Ich weiß«, sagte Mason. »Sie hat sich mit einem Mann unterhalten, der in Fresno ausstieg, und...« »Einen Moment«, unterbrach der Detektiv ihn ruhig und höflich, jedoch mit einer Art grimmiger Entschlossenheit. »Wir haben eine Frau gefunden, der sie zufällig besonders aufgefallen ist und die bereit ist zu beschwören, daß Mrs. Fargo in Los Angeles nicht im Bus saß, daß sie jedoch in Bakersfield mit einem Taxi angerast kam und den Bus um Haaresbreite verpaßt hätte.« »Das muß ein Irrtum sein.« »Die Zeugin gehört zu jenem Typ Frauen, der sich nicht irrt.« »Verdammt noch mal«, sagte Mason, »das könnte Schwierigkeiten geben. Haben Sie die Aussage dieser Frau schriftlich!« »Ja. Ich habe sie Ihnen eben mit den anderen gegeben.« »Wo wohnt sie?« »In Los Angeles. Die genaue Adresse steht in meinem Bericht.« »Ihr Büro ist hier in Sacramento?« »Ja.« »Geben Sie mir eine Ihrer Karten. Ich habe zwar keine Ahnung, wie die Geschichte nun weitergehen wird - aber reden Sie bitte mit keinem Wort über die Sache. Verstehen Sie?« Der Mann nickte. »Schicken Sie Ihre Rechnung eigentlich an mich oder an die Drake Detective Agency?« »An die Drake Detective Agency.« »Können Sie sich auf Ihre Leute verlassen?« »Natürlich! Aber damit wir uns nicht mißverstehen, Mr. Mason: Wenn die Polizei mir ein paar ganz spezifische Fragen -1 5 6 -
stellt, werde ich ihr auch die entsprechenden, ganz spezifischen Antworten geben.« »Das ist völlig klar«, sagte Mason. »Ich darf übrigens doch voraussetzen, daß Sie den Passagieren Ihren Namen nicht genannt haben?« »Ich habe den Auftrag, Informationen zu sammeln, aber nicht, welche zu verteilen.« »Sehr schön.« »Natürlich wird die Polizei sehr schnell herausbekommen, daß irgend jemand im Bus mitfuhr und Fragen gestellt hat - das heißt, falls man überhaupt nachforscht.« »Ich verstehe.« Mason brachte Della Street zum Taxistand zurück und sagte dabei: »Ich glaube, wir waren ein bißchen zu optimistisch, Della.« »Haben Sie denn keine schriftlichen Aussagen?« »Doch.« »Es wäre vielleicht gar nicht so schlecht, wenn Sie sie mir gäben«, sagte Della Street, »denn falls man Sie danach fragt, können Sie immer sagen, Sie wüßten nicht, wo sie wären.« Wortlos wechselten die Papiere ihren Besitzer. Dem Taxichauffeur nannte Mason die Adresse von Mrs. Ingram. Der Fahrer klappte das Freizeichen herunter und fuhr los. Della Street drückte Masons Hand, während das Taxi sich durch den Verkehr zwängte. »Immerhin hat sie bestritten, eine Klientin von Ihnen zu sein, Chef.« Mason nickte, ohne ein Wort zu sagen. Erst als sie vor einem netten Bungalow hielten, sagte Della Street ruhig: »Vor ihrer Mutter wird sie nichts sagen.« »Das ist nur die eine Seite«, sagte Mason und gab dem Fahrer einen Geldschein. »Kommen Sie, Della.« -1 5 7 -
Sie liefen die Stufen hoch. Der Taxichauffeur sah sich die Banknote an, grinste zufrieden und schaltete den Motor aus, um zu warten. Mason drückte auf den Klingelknopf. Mrs. Ingram öffnete. »Da sind Sie also«, sagte sie. »Allzuviel haben Sie scheinbar nicht zu bieten.« »Was wollen Sie damit sagen?« »Ich dachte immer, Anwälte müßten ihren Klienten mit Rat und Tat beistehen?« »Und?« »Sie waren jedoch nicht hier, als die Polizei kam. Meine Tochter stand diesen Leuten ganz allein gegenüber.« »Die Polizei war bereits hier?« »Man hat sogar auf sie gewartet.« »Und wohin sind sie jetzt?« »Das weiß ich nicht. Weggefahren sind sie.« »Sehr schön«, sagte Mason. »Ich möchte jetzt Ihre Tochter sprechen und...« Verärgert sagte Mrs. Ingram: »Genau das versuche ich Ihnen die ganze Zeit schon klarzumachen.« »Daß die Polizei Ihre Tochter mitgenommen hat...?« »Die Polizisten haben Myrtle einfach mitgenommen. Diesen Brief soll ich Ihnen von ihr geben.« Sie gab Mason einen versiegelten Briefumschlag, auf den mit Bleistift »Perry Mason, Esq.« geschrieben war. Mason riß ihn auf und nahm den Bogen heraus, auf dem lediglich stand: Es tut mir leid, Mr. Mason. Ich hatte keine Ahnung, daß es soweit kommen würde. Ich hoffe, Sie verstehen mich. Myrtle Fargo Mason schob den Brief in die Tasche. »Diese Zeilen hat Ihre Tochter geschrieben, Mrs. Ingram?« »Aber natürlich. Wenn ich bloß wüßte, was das alles soll. Wenn ich nur wüßte...« Das Telefon unterbrach diese Vorboten eines langen Monologes. Sie sagte »Einen Augenblick, bitte«, drehte sich um -1 5 8 -
und ging zum Apparat. Gleich darauf erschien sie bereits wieder und sagte: »Ein Ferngespräch für Sie. Anscheinend sehr dringend.« Sie begleitete ihn zum Telefon und blieb dicht daneben stehen, so daß sie die Unterhaltung mithören konnte. Mason sagte »Hallo!« und hörte am anderen Ende der Leitung Drakes besorgte Stimme. »Gott sei Dank habe ich dich endlich«, sagte Drake. »In dem Fall Fargo hat sich mittlerweile einiges getan.« »Was denn?« »Die Polizei hat Myrtle Fargos Wagen gefunden.« »Wo?« »Auf dem Parkplatz des Union Terminal Depots. Und wie es so kommt, kann sich der Parkwächter genau an die Person erinnern, die den Wagen dort abstellte - er glaubt es zumindest.« »Hat er eine gute Personenbeschreibung gegeben?« »Nicht nur eine gute, sondern eine ausgezeichnete«, sagte Drake, »oder eine ganz miserable - wie man es nennen will. Nach einer Fotografie hat er Mrs. Myrtle Fargo, die Witwe des Toten, als diejenige wiedererkannt, die aus dem Wagen stieg. Besonders aufgefallen ist sie ihm nämlich dadurch, daß sie versuchte, ein Taxi anzuhalten. Der Fahrer erklärte ihr jedoch, daß er vor dem Bahnhof keine Fahrgäste einladen dürfte, und der Zeuge zeigte ihr noch den Taxistand an der Südseite des Bahnhofs. Die Polizei stellte ferner fest, daß ein männlicher Begleiter ein Flugzeug für sie charterte mit dem Bemerken, sie müsse noch vor ein Uhr in Bakersfield sein. Die Maschine hatte Rückenwind und kam sehr schnell nach Bakersfield. Am Flugplatz stieg die Frau sofort in ein Taxi und sagte dem Fahrer, sie müsse unbedingt den Autobus bekommen, der von Bakersfield um zehn nach eins weiterführe. Zwei Minuten vor Abfahrt des -1 5 9 -
Greyhounds kam sie dann an der Abfahrtstelle an.« »Die Polizei«, sagte Mason, »hat offensichtlich ziemlich schnell gearbeitet.« »Das kann man wohl sagen. Aber ich wollte dir nur Bescheid geben, damit du dir nicht die Füße naß machst.« »Das habe ich bereits.« »Wie naß?« »Wie es überhaupt nur möglich ist«, sagte Mason und legte den Hörer auf; dann sah er die weitaufgerissenen, kugelrunden Augen der Mrs. Ingram auf sich gerichtet. »Mr. Mason«, sagte sie, »ich bin die Mutter dieses Mädchens. Vielleicht wäre es das beste, wenn wir beide ganz offen miteinander reden! Was wollen Sie jetzt eigentlich unternehmen, um meiner Tochter zu helfen?« »Wenn Ihre Tochter jetzt vor mir stünde«, sagte Mason wütend, »würde ich ihr den Hals umdrehen!«
15 Weit zurückgelehnt in seinem Drehstuhl saß Perry Mason an seinem Schreibtisch und las die Zeitungsausschnitte, die Della Street sorgfältig aus den verschiedenen Zeitungen ausgeschnitten hatte. Übereinstimmend schien festzustehen, daß ein gewisser Anwalt versucht hatte, für Myrtle Fargo ein Alibi aufzubauen, und daß es ihm ziemlich mißglückt war. Insofern schien die Polizei sämtliche Trümpfe in der Hand zu haben und eine vollständige Aufklärung des Mordes an Arthman D. Fargo, Grundstücksmakler, vorweisen zu können, der in seiner Wohnung, 2281 Livingdon Drive, erstochen worden war. Insofern waren auch die Gesichter der Beamten von der Mordabteilung in einmaliger Weise frei von jeden Kummerfalten. -1 6 0 -
Der Bericht einer Zeitung stellte schließlich fest: Das Gesic ht eines gutbekannten Verteidigers hat sich genaugenommen keineswegs zu einem Lächeln verzogen. Es ist sehr schwierig festzustellen, was vom Standpunkt des Anwaltes aus geschehen ist, weil er jede Frage mit der Phrase »Kein Kommentar« abwehrt. Es hat jedoch den Anschein, daß dieser Verteidiger fest davon überzeugt war, Mrs. Fargo hätte den Greyhound-Bus Nr. 320 genommen, der Los Angeles um acht Uhr fünfundvierzig verläßt und in Sacramento planmäßig um zweiundzwanzig Uhr fünf eintrifft. So überzeugt war er, daß dies der Fall sei oder man es so drehen könne, daß er die Frau in Stockton aus dem Bus holte, sie in einem Mietwagen nach Sacramento brachte und Detektive an Bord des Greyhounds schickte, um »Beweise« zu sammeln. Auftragsgemäß beschafften die Detektive die Beweise. Sie wiesen darauf hin, daß die Frau den Bus nicht in Los Angeles, sondern erst um zehn Minuten nach eins in Bakersfield bestiegen hatte. Die Polizei beschlagnahmte die von den Detektiven zusammengetragene Liste von Namen und Anschriften. Der Ermordete hinterläßt eine Witwe, Myrtle Fargo, und einen zehnjährigen Sohn, Stephen L. Fargo. Der Knabe besucht ein bekanntes Internat in der Nähe von Sacramento und ist bei Schülern wie Lehrern sehr beliebt. Er gilt als hochintelligent, fleißig und fügsam. Mrs. Fargo scheint sich in erster Linie um die Auswirkungen zu sorgen, die ihre Festnahme auf ihren Sohn haben wird. Stephen L. Fargo war gestern noch ein glücklicher Junge: vom Lehrkörper wurde er zum Präsidenten seiner Klasse vorgeschlagen und von dieser auch gewählt. Heute erfährt er, daß sein Vater ermordet worden ist, daß sich seine Mutter unter Mordverdacht in Gewahrsam der Polizei befindet und sowohl er als auch das Internat unfreiwillig in die Spalten der Presse -1 6 1 -
geraten sind. Mitglieder des Lehrerkollegiums haben alles veranlaßt, um den Jungen so zu verbergen, daß er für die Presse unerreichbar ist. Sie machen kein Hehl aus ihrer Verärgerung über die Tatsache, daß sowohl Schüler als auch Schule auf diese Weise in einen schlechten Ruf gekommen sind. Andere Schüler jedoch, und zwar die Freunde des Stephen Fargo, die für die Presse erreichbar waren, sind der Ansicht, daß Fargos persönliche Beliebtheit unbeeinträchtigt ist und daß seine Freunde - sowohl Lehrer als auch Mitschüler - hinter ihm stehen. Mason schob die Ausschnitte auf die eine Seite seines Schreibtisches, erhob sich und wanderte langsam und nachdenklich auf und ab. Die Daumen in die Armlöcher seiner Weste eingehakt, ging er mit eintöniger Gleichmäßigkeit in seinem Büro hin und her. Della Street, die in ihrem kleinen Zimmer saß, hämmerte weiter auf ihrer Schreibmaschine und blickte nur selten zu ihrem Chef hinüber, ohne jedoch etwas zu sagen. Leise surrte der Apparat auf Della Streets Schreibtisch. Sie nahm den Hörer ab und hörte die Stimme des Mädchens, das an der Vermittlung saß und eine Nachricht durchgab. Dann sagte Della Street: »Gut, Gertie. Ich habe es notiert danke.« Sie legte den Hörer auf, stand von ihrem Schreibtisch auf und blieb abwartend in der Tür zu Masons Büro stehen. Beinahe eine Minute lang wanderte Mason noch auf und ab, bis er sie plötzlich bemerkte; dann riß er sich zusammen und blickte sie mit stirnrunzelnder Konzentration an - die Folge jener Überlegungen, in denen er sich mit dem Fall auseinandersetzte. »Was ist denn, Della?« »Mrs. Fargo ist in das Gefängnis eingeliefert worden.« »Das«, sagte Mason, »bedeutet, daß man sie bis zum letzten -1 6 2 -
ausgequetscht hat, daß man ihr ein paar schriftliche Geständnisse aus der Nase gezogen hat und daß man das, was von ihr noch übriggeblieben ist, wieder freigibt, so daß irgendein Anwalt sie auf die sogenannten verfassungsmäßigen Rechte hinweisen kann.« Della Street, die Mason kannte und Verständnis für seine Launen hatte, sagte darauf nichts. »Alles nahm natürlich seinen gewohnten Gang«, sagte er verbittert. »Man stellt einen Haftbefehl für jene Person aus, die in Sacramento festgenommen wird. Wenn die Verhaftete nicht reden will, brauchen die Burschen höchstens zehn Tage, bis der Häftling in das hiesige Gefängnis übergeführt wird.« »Hier ist die erste Ausgabe der Nachmittagszeitungen«, sagte Della Street. »Sie kam schon vor ein paar Minuten; ich wollte Sie jedoch nicht stören.« Mason griff nach der Zeitung, blieb mit leicht gespreizten Beinen stehen, faltete das Blatt auseinander und sah ein Bild von Myrtle Fargo, das die ganze erste Seite einnahm, sowie Aufnahmen des Hauses, in dem Fargo ermordet worden war, einen Grundriß des Hauses und eine Innenaufnahme des Büros: die Tür des Safes stand weit offen, und der Boden war mit Papier bedeckt. Mason überflog den Artikel, blickte dann auf und sagte zu Della Street: »Hören Sie genau zu! Die Polizei sucht nach einem männlichen Komplicen - nach einer Person, die mit Mrs. Fargo so befreundet war, daß sie es riskierte, in einen Mord verwickelt zu werden. Der Pilot, der jene Frau nach Bakersfield flog, von der er behauptet, es sei Mrs. Fargo gewesen, sagte aus, daß er von einem Mann in mittlerem Alter engagiert wurde. Sein weiblicher Passagier habe im Wagen gewartet, bis sämtliche Fragen erledigt gewesen seien. Dann habe der Mann bar bezahlt und der Frau ein Zeichen gegeben. -1 6 3 -
Erst als die Maschine im Freien stand, der Motor warmgelaufen und der Pilot startklar war, sei die Frau, die einen dichten Schleier getragen habe, aufgetaucht und habe hinter dem Piloten Platz genommen. Während des ganzen Fluges habe sie geschwiegen. Der Taxifahrer, der die Frau vom Flugplatz von Bakersfield zum Greyhound-Bus-Depot fuhr, berichtete ebenfalls, daß auf der ganzen Fahrt nicht ein einziges Wort gefallen sei und daß die Frau, die dicht verschleiert war, im Fond Platz genommen habe. Er habe angenommen, daß die Frau eine Todesnachricht bekommen habe, und aus diesem Grunde habe er ihr Schweigen auch respektiert. Interessant ist dabei die Feststellung, daß sie den dichten Schleier auf dem Weg vom Taxi zum Bus abgenommen haben muß. Angestellte des Autobus-Bahnhofs von Bakersfield berichten, daß sie einen Hut mit einem dichten schwarzen Schleier in einem Abfallbehälter fanden. Da Hut und Schleier sich noch in einem ausgezeichne ten Zustand befanden, wurden sie dem Fundbüro übergeben, und erst als die Polizei ihre Untersuchungen durchführte, wurde die Bedeutung von Hut und Schleier erkannt. Das Beweisstück wurde herausgesucht und sichergestellt dank der ausgezeichneten Arbeit der Polizei von Bakersfield in Zusammenarbeit mit Inspektor Tragg von der Mordabteilung in Los Angeles. Die Polizei ist im Besitz einer Personalbeschreibung des männlichen Komplicen, der in den Fall verwickelt zu sein scheint. Er ist etwa sechzig Jahre alt, hat sich auffallend gut gehalten, besitzt eine wohlklingende Stimme und hat graue Augen. Er ist untersetzt und war gut gekleidet. Die Polizei nimmt an, daß dieser Mann für den Plan mit dem falschen Alibi verantwortlich ist. Merkwürdigerweise wäre dieses Alibi vielleicht anerkannt -1 6 4 -
worden, wenn nicht der Eifer eines prominenten Verteidigers die wahren Zusammenhänge unfreiwillig aufgedeckt hätte; sein Versuch, Beweise zusammenzutragen, schlug nicht nur fehl, sondern lieferte der Polizei eine Aufstellung mit Namen und Anschriften verschiedener Personen, die ebenfalls mit dem betreffenden Bus gefahren sind. Mrs. Newton Maynard, 31, wohnhaft 906 South Gredley Avenue, ist völlig überzeugt, daß Mrs. Fargo erst in Bakersfield zugestiegen ist. ›Ich sehe noch ganz deut lich vor mir, wie sie in einem Taxi angefahren kam‹, sagte Mrs. Maynard vor der Polizei aus. ›Und der Eindruck war besonders nachdrücklich, weil sie einen schwarzen Hut mit einem dichten schwarzen Schleier trug, dem Fahrer einen Geldschein gab und sich nicht das Wechselgeld geben ließ, sondern sofort im Warteraum des Bus-Depots verschwand. Ich hatte das Gefühl, daß diese Frau gerade einen schweren Verlust erlitten haben mußte und daß die Trauer sie einfach übermannt hatte. Deshalb war ich fest entschlossen, mich um sie zu kümmern, wenn sich während der Fahrt eine Möglichkeit bieten sollte. Stellen Sie sich jedoch meine Verblüffung vor, als diese Frau den Warteraum wieder verließ und zu den Passagieren ging, die vor dem Bus auf das Einsteigen warteten. Irgend wie wirkte sie zwar aufgeregt, aber keinesfalls bedrückt. Hut und Schleier waren verschwunden. Statt dessen trug sie jetzt eine kleine schwarze Samtkappe, die sich leicht in eine Handtasche stecken ließ. Ich bemerkte außerdem, daß sie sich bemühte, vor unserer Ankunft in Fresno mit verschiedenen Passagieren ins Gespräch zu kommen. Diese Frau war Mrs. Fargo. Das weiß ich genauso sicher wie die Tatsache, daß ich jetzt hier stehe. Ich habe ein sehr gutes Gedächtnis für Gesichter, und besonders neugierig war ic h -1 6 5 -
dadurch geworden, daß ich diese Frau gesehen hatte, als sie in einem Taxi dicht verschleiert angekommen war. Ich sah sie mir sehr aufmerksam an und überlegte, was von der unvermittelten Verwandlung aus einer verschleierten, stillen Frau in die lebhafte und gesellige Frau übriggeblieben war, die es deutlich darauf anlegte, möglichst viele Mitreisende in kurzer Zeit kennenzulernen. Außerdem gehöre ich zu den wenigen Passagieren, die in Los Angeles einstiegen. Einige sind in Bakersfield ausgestiegen. Andere in Fresno und Stockton. Als der Bus in Los Angeles abfuhr, befand sich Mrs. Fargo nicht unter den Fahrgästen. Wenn ich reise, unterhalte ich mich gern mit den verschiedenen Leuten, und deshalb habe ich mir die in Los Angeles zugestiegenen Leute sehr genau angesehen. Auch im Bus habe ich mich noch einmal genau umgesehen und ich bin völlig sicher, daß sich Mrs. Fargo bei der Abfahrt nicht im Bus befand, daß sie jedoch in Bakersfield zustieg.‹« Mason faltete die Zeitung zusammen, warf sie auf seinen Schreibtisch und sagte: »Bitte - da haben Sie es, Della.« »Da hat Mrs. Fargo es, Chef.« »Della, ist Ihnen die Beschreibung des Mannes aufgefallen, der das Flugzeug charterte? Kommt er Ihnen nicht irgendwie bekannt vor?« Sie überlegte. »Meinen Sie etwa Pierre, den Oberkellner in der Golden Goose?« »Davon habe ich kein Wort gesagt«, meinte Mason. »Aber die Beschreibung trifft zu.« »Das stimmt, Chef«, gab sie zu. »Glauben Sie etwa...« Wieder surrte Della Streets Apparat. Sie nahm den Hörer ab, sagte »Hallo« und schließlich: »Bleiben Sie bitte am Apparat, Mr. Seilers. Ich glaube, er möchte Sie persönlich sprechen.« Zu Mason sagte sie: »Clark Seilers mit dem Bericht über die -1 6 6 -
Handschriften.« Mason ging zu ihr hinüber, nahm ihr den Hörer ab und sagte: »Ja, Clark - was ist?« Der Schriftexperte erwiderte: »Ich habe die Schrift auf dem Umschlag, den Sie mir gaben, sehr sorgfältig mit den Schriftproben von Myrtle Fargo verglichen. Beide stammen von der gleichen Person.« Mason zögerte einen kurzen Augenblick. »Das würde also bedeuten, daß Myrtle Fargo die Adresse auf dem Umschlag geschrieben hat?« »Falls die anderen Schriftproben auch von ihr stammen, ja. Der Schreiber ist jedenfalls immer der gleiche. Für die Identität der Person kann ich natürlich keine Verantwortung übernehmen, nur für die Identität der Schrift. Können Sie damit etwas anfangen, Perry?« »Ich fürchte, das gibt mir den Rest«, sagte Mason und hängte ein. »Schlecht?« fragte Della Street. »Das kann man wohl sagen«, meinte er. »Jedenfalls stecken wir jetzt bis zum Hals in der Fargo-Affäre. Das Geld stammt von ihr.« »Sie hätten es nicht annehmen sollen!« Mason schüttelte den Kopf. »Die entsetzte Stimme hatte mich gepackt. Sie war in Schwierigkeiten - und jetzt sitzt sie in noch größeren. Es ist mein Beruf, Menschen zu vertreten, die in eine derartige Lage geraten sind, und mein Bestes für sie zu tun.« »Was meinen Sie damit? Sie können es sich nicht leisten, sie vor Gericht zu vertreten. Sie ist schuldig, sie...« »Woher wissen Sie denn, daß sie schuldig ist?« »Sehen Sie sic h doch die Beweise an«, sagte Della Street. »Genau das ist es«, sagte Mason. »Sehen wir uns also die Beweise an und vergessen wir dabei die ganze Geschichte. -1 6 7 -
Angenommen, sie hatte sich in das Schlafzimmer eingeschlossen, als ich im Hause war. Sie hatte die Absicht, mit dem Bus um Viertel vor neun zu fahren. Ihr Mann hatte Streit mit ihr. Sie sagte ihm klar und deutlich, daß sie die Affäre mit seiner Freundin kenne. Er versuchte, sie zu erwürgen. Sie floh in das Schlafzimmer und schloß sich ein. Nachdem ich wieder gegangen war, versuchte sie zu entkommen. Er packte sie am Hals und würgte sie wieder. Darauf stach sie ihn nieder. Das ist der Ablauf, auf den die Tatsachen hindeuten. Sie glaubte allerdings, sie könne alles vertuschen. Sie rannte also zu dem Wagen, fuhr mit ihm zum Depot, ließ ihn dort stehen, rief irgendeinen Bekannten an und veranlaßte ihn, eine Maschine für sie zu chartern.« »Ihren Freund?« fragte Della zweifelnd. »Das bezweifele ich. Wahrscheinlich war es derselbe Mann, der auch das Geld in die Golden Goose gebracht hat... Wenn man alles betrachtet, scheint sie einen Mord begangen zu haben. Die Fakten weisen jedoch auf eine Frau hin, die vor ihrem Mann entsetzliche Angst hatte, in Notwehr handelte und dann den Fehler beging, sich vor der Öffentlichkeit zu scheuen. Wir werden Paul beauftragen, diesen ominösen Boten zu finden. Da Clark Seilers sagt, daß die Handschrift auf dem Umschlag, der das Geld enthielt, mit der Handschrift der Notiz, die sie mir hinterließ, übereinstimmt, bleibt keine andere Wahl: Sie ist meine Klientin. Ich habe sie bereits vertreten, und dabei bleibe ich.« Er schwieg einen Augenblick und sagte dann: »Am interessantesten ist, daß Myrtle Fargos Alibi wahrscheinlich in Ordnung gewesen wäre, wenn ich nicht so verdammt tüchtig gewesen wäre. Die Passagiere hätten sonst sicher gesagt, sie wäre in Los Angeles zugestiegen, und die Polizei hätte sowieso nur einen winzigen Teil der Passagiere ausfindig machen -1 6 8 -
können und...« »Ob sie sich nicht gemeldet hätten, wenn sie durch die Presse dazu aufgefordert worden wären?« fragte Della Street. »Vielleicht zehn Prozent«, sagte Mason. »Nehmen wir einmal an, ausgerechnet Sie hätten in dem Bus gesessen. Der Durchschnittsbürger rechnet nie damit, in einen Mord verwickelt zu werden oder im Kreuzverhör einem Menschen gegenübergestellt zu werden, den er identifizieren soll. Angenommen also, Sie wären mit dem Bus gefahren. Wahrscheinlich könnten Sie sich an ihren unmittelbaren Nachbarn erinnern, mit dem Sie sich unterhalten haben - aber könnten Sie einen anderen Mitreisenden wiedererkennen, der Ihnen gar nicht besonders aufgefallen ist? Wenn Sie glauben, es doch zu können: Würden Sie so sicher sein, ihn wiederzuerkennen, daß Sie Ihre Behauptung auch im Kreuzverhör durch einen Anwalt, der Ihre Aussage erschüttern will, aufrechterhalten könnten? Angenommen zum Beispiel, er würde sagen: ›Schön, Miss Street, da Sie in der Lage waren, den Beschuldigten als einen Fahrgast jenes Autobusses wiederzuerkennen, beschreiben Sie mir doch bitte sämtliche Passagiere, die ebenfalls im Bus saßen. Beginnen Sie bitte mit den beiden auf den Vordersitzen der linken Reihe, und dann immer eine Reihe weiter zurück. Ich bitte jedoch um eine vollständige Beschreibung.‹ Was würden dann Sie wohl machen?« »Wahrscheinlich würde ich ohnmächtig werden.« »Und bereits zu Anfang würden Sie erheblich in die Zwickmühle geraten«, sagte Mason. »Dann würde sich der Verteidiger an das Gericht wenden und sagen: ›Da haben Sie es. Sie hat sich selbst eingeredet, sich der Beklagten zu erinnern, weil sie die Aufnahmen in der Zeitung gesehen hat, weil sie die Beklagte im Gefängnis identifizieren sollte, und weil andere Zeugen es ebenfalls getan hatten. In Wirklichkeit weiß sie nicht -1 6 9 -
einmal mehr, wie die übrigen Passagiere aussahen. Nehmen Sie zum Beispie l den Mann, der unmittelbar hinter ihr saß. Sie erinnert sich nur, daß er irgendwie merkwürdig ausgesehen und einen grauen Anzug getragen hätte. Sie weiß jedoch nicht, ob er einen Schnurrbart hatte, ob er eine Brille trug, ob sein Haar grau oder schwarz war, ob er rauchte, welche Farbe sein Oberhemd hatte und wie seine Krawatte aussah. Die Frau, die direkt vor ihr saß, hatte ihren Angaben nach rotgefärbtes Haar - mehr weiß sie nicht. Und trotzdem erscheint sie hier vor Gericht und identifiziert die Beklagte, die doch nur eine von vielen Mitreisenden war, die sie genauso gründlich gesehen hat...‹« »Hören Sie auf«, sagte Della Street, als Mason fast automatisch auch noch zu gestikulieren anfing. »Sie haben mich bereits überzeugt.« Mason grinste. »Einen Augenblick war ich der Meinung, ich stünde vor Gericht. Aber das ist die Antwort, Della. Viele der Passagiere wären wieder an ihr Tagewerk gegangen und hätten nicht gewagt, sich einem Kreuzverhör auszusetzen. Viele hätten die Beklagte nur als Mitreisende wiedererkannt, hätten jedoch niemals beschwören können, wo sie zustieg.« »Hatte die Polizei denn nicht vor, sämtliche Passagiere bei der Ankunft in Sacramento zu verhören?« fragte Della Street. »Anscheinend nicht. Bis dahin waren sie lediglich auf die Idee gekommen, Myrtle Fargo zu verhaften. Inspektor Tragg hatte telegrafisch einen Haftbefehl durchgegeben, und demnach sollte sie beim Aussteigen bereits festgenommen werden. Die Vorstellung, daß sie sich ein Alibi verschaffen könnte, war der Polizei noch gar nicht gekommen.« »Aber was wollen Sie jetzt eigentlich noch tun, Chef?« Mason griff nach seinem Hut. »Ich werde meine Klientin besuchen und sehen, was aus diesem Schiffbruch noch zu retten ist... Sehr viel dürfte es nicht sein.« -1 7 0 -
16 Grinsend stellte sich Perry Mason den Zeitungsreportern. »Bleiben Sie so!« rief einer der Fotografen. Der grelle Blitzlicht blendete Mason für den Bruchteil einer Sekunde. »Verlassen Sie sich nicht allzusehr auf Ihre Nase, Herr Anwalt?« fragte einer der Reporter. »Macht das einen sehr großen Unterschied?« fragte Mason zurück. »Ich habe meine Nase bereits vor einiger Zeit in diese Geschichte gesteckt - warum soll ich mich also nicht auf sie verlassen?« »Wir möchten eine genaue Antwort auf folgende Frage haben«, sagte ein anderer Reporter. »Haben Sie nun die Verteidigung von Myrtle Fargo übernommen oder nicht?« »Kein Kommentar.« »Wollen Sie sie jetzt besuchen?« »Ja.« »Nach den Gefängnisvorschriften müssen Sie demnach der Verteidiger der betreffenden Person sein.« »Falsch.« »Aber Sie müssen Anwalt sein.« »Das bin ich.« »Schön, lassen wir es dabei. Sie fuhren doch nach Stockton, um Mrs. Fargo zu beraten, nicht wahr?« »Kein Kommentar.« »Haben. Sie Detektive beauftragt, Zeugen unter den Fahrgästen des Busses ausfindig zu machen?« »Ja.« »Zu diesem Zeitpunkt waren Sie doch überzeugt, daß Myrtle Fargo Sie um Ihre Dienste gebeten hatte, nicht wahr?« »Kein Kommentar.« -1 7 1 -
»Sie hatten doch beträchtliche Ausgaben für die Reise nach Stockton?« »Das stimmt.« »Haben Sie die Detektive aus eigener Tasche bezahlt?« »Ja.« »Haben Sie irgendwann von Myrtle Fargo einen Geldbetrag als Vorschußzahlung bekommen?« »Nicht daß ich wüßte.« »Haben Sie von dritter Seite Geld für ihre Verteidigung erhalten?« »Nicht daß ich wüßte.« »Es ist doch nicht Ihre Gewohnheit, sich ohne Zahlung eines Vorschusses für einen Fall zu interessieren, nicht wahr?« »Richtig.« »Können Sie uns dann Ihr ungewöhnliches Interesse an dem Fall Fargo erklären?« »Nein.« »Wissen Sie es selbst nicht oder wollen Sie es nicht erklären?« »Kein Kommentar.« »Sie sind wirklich nicht sehr hilfsbereit.« »Ich kann Ihnen doch gar nicht viel helfen!« »Werden Sie Mrs. Fargos Verteidigung übernehmen, wenn Sie darum gebeten werden?« »Sie hat mich bisher nicht darum gebeten.« »Wollen Sie jetzt mit ihr sprechen, um festzustellen, ob Sie Mrs. Fargos Vertretung übernehmen sollen?« »Ich habe doch keine Werbeagentur - wenn Sie das damit meinen.« »Sie wissen genau, daß wir das nicht so gemeint haben.« -1 7 2 -
»Wie denn?« »Ich habe die Frage bereits gestellt.« »Dann habe ich sie auch bereits beantwortet.« »Wissen Sie etwas über Mrs. Fargos Komplicen?« »Meiner Meinung nach kann sie nur dann einen Komplicen gehabt haben, wenn sie schuldig ist, nicht wahr?« »Angenommen, sie ist schuldig: Wissen Sie irgend etwas über Mrs. Fargos Komplicen?« »Ein Verteidiger kann niemals annehmen, daß sein Mandant schuldig ist. Genauso könnte man einen Zeitungsreporter, der als erster eine Sensationsmeldung erfährt und sie dann nicht veröffentlichen will, vorher fragen, was er im Falle des Falles mit ihr machen würde.« »Sie nehmen also niemals an, daß Ihr Mandant schuldig ist?« »Warum sollte ich?« »Aber man kann doch schließlich eine Meinung haben, nicht wahr?« »Viele Menschen mißverstehen die Pflichten eines Verteidigers«, sagte Mason. »Oberste Pflicht des Verteidigers ist es, darauf zu achten, daß in einem ordentlichen Verfahren über den Beklagten Gericht gehalten wird. Wenn der Verteidiger zu der Ansicht gelangt, daß sein Mandant schuldig ist, und er seinen Mandanten aus diesem Grunde nicht verteidigen sollte, verlangt man damit von einem Verteidiger, daß er sein eigenes Vorurteil und seine eigene Beurteilung an die Stelle eines Gerichtsurteils setzt.« »Angenommen, Sie wissen jedoch tatsächlich, daß Ihr Mandant schuldig ist?« »Das ist etwas ganz anderes.« »Wissen Sie, ob Mrs. Fargo schuldig ist?« »Nein, und ich nehme an, daß sie unschuldig ist.« -1 7 3 -
»Wissen Sie, daß sie unschuldig ist?« »Ich weiß nur, daß man sie eines Verbrechens beschuldigt, daß sie das Recht auf ein unvoreingenommenes Gerichtsverfahren hat und daß sie zu dessen Durchführung einen Verteidiger braucht. Wenn sich in einem Verfahren kein Anwalt findet, der die Verteidigung des Angeklagten übernimmt, kann das Verfahren nicht ordnungsgemäß durchgeführt werden.« »In diesem Fall könnte das Gericht dem Beklagten jedoch einen Offizialverteidiger zuteilen, nicht wahr?« »In diesem Fall würde der Betreffende dann einen Anwalt haben.« »Dreht sich unsere Unterhaltung nicht im Kreise, Mr. Mason?« Masons Lächeln war entwaffnend. »Das finde ich auch.« Die Reporter machten noch ein paar Aufnahmen von ihm; dann ließen sie ihn in Ruhe. Mason setzte sich langsam auf einen Stuhl vor dem Gitter, das den Tisch in zwei Hälften teilte. Eine ältere Beamtin führte Myrtle Fargo herein, die sich auf den zweiten Stuhl fallen ließ. Ihr Gesicht war blaß und zeigte scharfe Falten. Ihre Augen lagen tief in den Höhlen. Ihre Lippen waren ungeschminkt und schienen zu zittern. »Wahrscheinlich haben Sie kaum geschlafen«, sagte Mason. »Die ganze Nacht hindurch hat man mich verhört, hat mich eingeschüchtert, damit ich alles erzähle, hat mich beschwatzt, damit ich unterschriebe. Dann hat man mich in ein Flugzeug gesetzt und hierher gebracht. Und dann fing das Ganze wieder von vorn an. Nicht eine Sekunde habe ich schlafen können.« »Haben Sie mich angerufen und mich gebeten, Medford Carlin etwas auszurichten?« fragte Mason. Sie sah ihn an. »Nein.« »Haben Sie Ihren Mann umgebracht?« -1 7 4 -
»Nein.« »Haben Sie mir Geld geschickt?« »Nein.« »Haben Sie eigentlich begriffen, daß Sie wegen Mordes angeklagt sind?« »Ja.« »Haben Sie auch begriffen, daß Sie zu Ihrer Verteidigung nicht viel vorzuweisen haben?« »Anscheinend nicht. Zuerst glaubte ich es, aber jetzt nehme ich an, daß es nicht so ist.« Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort: »Mr. Mason, ich bin in einer schrecklichen Lage. Mit dem Tod meines Mannes habe ich wirklich nicht das geringste zu tun. Ich kann mir meine Situation zwar klarmachen - aber mehr als alles andere quält mich der Gedanke an das, was Steve, mein Sohn, jetzt wohl auszuhalten hat.« Masons Nicken verriet sein Mitgefühl. »Ich habe alles für ihn getan«, sagte sie. »Ich habe - ich kann gar nicht sagen, was ich alles getan habe, um es ihm leicht zu machen. Aber die Vorstellung, was jetzt mit ihm geschieht, ist mehr, als ich ertragen kann.« »Die Frage ist jetzt, ob Sie möchten, daß ich Ihre Verteidigung übernehme.« »Mr. Mason, dafür habe ich kein Geld. Mein Onkel starb kürzlich und hinterließ mir eine kleinere Summe, die mein Mann anlegen wollte und zu einem Teil bereits angelegt hat. Ich glaube jedoch, daß er die Belege gefälscht hat. Was ich an Geld besitze, ist für die Ausbildung meines Sohnes bestimmt. Außerdem besteht doch eine Versicherung, aber an das Geld kann ich so lange nicht heran, wie ich... wie ich unter Mordverdacht stehe.« »Irgendwelches Bargeld haben Sie nicht bei sich?« »Ganz wenig. Als ich verhaftet wurde, hatte ich fünfhundert -1 7 5 -
Dollar bei mir, aber das Geld wurde mir abgenommen.« »Fünfhundert Dollar hatten Sie bei sich, als Sie verhaftet wurden?« »Ja - das Geld gehörte mir.« »Wollen Sie also, daß ich Ihre Verteidigung übernehme?« »Ich habe doch schon gesagt, daß ich dafür kein Geld habe.« »Wollen Sie, daß ich Ihre Verteidigung übernehme?« »Ja.« »Also gut«, sagte Mason. »In verschiedenen Punkten lügen Sie mich an. Sie haben mich doch angerufen - Sie haben nämlich in der Telefonzelle einen Zettel liegenlassen, auf dem die Kombination für den Safe ihres Mannes stand. Sie haben mir doch Geld geschickt - die Anschrift auf dem Kuvert stammt nämlich von Ihnen.« »Nein, nein«, sagte sie dumpf. »Aber selbst wenn ich Sie nicht dazu bringen kann, die Wahrheit zu sagen, werde ich Ihre Verteidigung übernehmen. Jetzt müssen Sie erst einmal stumm bleiben und überhaupt nichts mehr sagen. Wahrscheinlich wird man Sie allein lassen, und wahrscheinlich wird man Sie auch nicht mehr viel fragen, weil man Sie bereits festgenagelt hat. Haben Sie irgendwelche Aussagen unterschrieben?« »Ja.« »In Gegenwart eines Notars?« »Ja.« »Und Sie haben Aussagen gemacht, die mitstenographiert wurden?« »Ja. Ich habe alles gesagt.« »Also gut«, meinte Mason. »Dafür werden Sie jetzt eine Zeitlang überhaupt nichts mehr sagen. Wissen Sie vielleicht irgend etwas, was mir bei Ihrem Fall helfen könnte?« -1 7 6 -
»Nein.« »Ihr Mann war Grundstücksmakler?« »Ja.« »Nur Grundstücksmakler?« »Ja - sonst nichts.« »Hatte er Erfolg? Verdiente er gut?« »Doch - nur in letzter Zeit war das Geschäft etwas ruhiger.« »Aha. Ich möchte jetzt einmal ganz offen zu Ihnen sprechen, Mrs. Fargo. Ich möchte Ihnen etwas als Ihr Verteidiger sagen, und zwar werde ich Ihnen jetzt erzählen, was meiner Ansicht nach passiert ist.« »Bitte.« »Ich glaube«, sagte Mason, »daß Sie mich in der Golden Goose angerufen haben. Ich glaube ferner, daß Sie mir einen Auftrag gaben und...« Sie unterbrach ihn, indem sie langsam den Kopf schüttelte. »Lassen Sie mich bitte ausreden«, sagte Mason. »Ich glaube, daß Sie mir Ihr gesamtes Geld geschickt haben - Geld, das Sie für einen eventuellen Notfall zurückgelegt hatten. Ich glaube, daß dieser Notfall für Sie eingetreten war. Ich glaube, daß Ihr Mann irgendwie dahinterkam, was passiert ist, und ich glaube, daß Sie am nächsten Morgen - statt, wie vorgesehen, mit dem Bus nach Sacramento zu fahren - in eine entscheidende Auseinandersetzung mit Ihrem Mann verwickelt wurden. Ich glaube, daß Sie Angst vor ihm bekamen und sich in Ihr Schlafzimmer einschlössen. Ich glaube, daß Ihr Mann Sie schließlich überreden konnte, die Tür zu öffnen, und ich glaube, daß er dann versuchte, Sie zu erwürgen. Ich glaube, daß Sie ein Messer hatten und ihn in Notwehr niederstachen. Und dann glaube ich, daß Sie von der Panik übermannt wurden, weil Sie das Gefühl hatten, daß es für Sie und Ihren Sohn ungeheuer schwierig werden würde, wenn die Geschichte in die Presse -1 7 7 -
käme, und daß Sie deshalb versuchten, sich ein Alibi zu schaffen. Ursprünglich hatten Sie beabsichtigt, mit dem Bus früh um acht Uhr fünfundvierzig zu fahren. Sie wußten, daß Ihre Mutter Sie mit diesem Bus erwartete, und Sie hatten das Gefühl, daß alles gut gehen würde, wenn Sie eine Möglichkeit fänden, irgendwo in den Bus zu steigen und planmäßig in Sacramento anzukommen. Ich glaube, daß Sie Ihren Mann töteten, ich glaube jedoch nicht, daß Sie ihn ermordeten. Ich glaube, daß Sie in Notwehr handelten. Und ich glaube, daß die Geschichte, die Sie der Polizei erzählt haben, Ihnen von niemandem abgenommen wird. Das alles sind meine Überlegungen zu Ihrem Fall.« Immer noch schüttelte sie den Kopf. »Habe ich recht?« Sie wich seinem Blick aus. »Mr. Mason, ich - ich wollte... Ach Gott, wenn ich mich nur traute, Ihnen zu erzählen, was...« »Wovor haben Sie Angst?« fragte Mason. »Alles, was Sie Ihrem Verteidiger sagen, ist vertraulich. Hat es sich denn nicht so abgespielt, Mrs. Fargo?« »Ich... Nein!« »Wirklich nicht?« »Nein.« »Wie denn?« »Ich habe doch schon gesagt, wie es war. Ich bin morgens...« »Haben Sie Ihren Mann in Notwehr getötet?« »Nein.« »Warum geben Sie dann nicht zu, mich in der Golden Goose angerufen und...« »Das war ich nicht!« »Sie machen es mir wirklich sehr schwer, Sie zu verteidigen«, sagte Mason. -1 7 8 -
»Ich habe bereits gesagt, was ich weiß.« »Meinetwegen«, sagte Mason. »Ich werde also Ihre Verteidigung übernehmen. Ich möchte jedoch, daß Sie sich über eines völlig klar sind.« »Was denn?« »Wenn ich Ihre Verteidigung übernehme, werde ich mein möglichstes tun, daß Sie freigesprochen werden.« »Natürlich.« »Aber kein Gericht auf dieser Welt wird die Geschichte glauben, die Sie bisher erzählt haben.« »Das tut mir leid - aber ich kann es nicht ändern.« »Aus diesem Grunde«, sagte Mason, »werde ich dem Gericht eine Geschichte beizubringen versuchen, die es wenigstens glauben kann.« »Dabei kann ich Ihnen nicht behilflich sein, Mr. Mason. Ich kann nicht...« »Natürlich können Sie nicht«, sagte Mason. »Sie haben sich bereits festgelegt; Sie haben unter Eid ausgesagt, haben Ihre Aussagen unt erschrieben und haben sich damit in eine Situation gebracht, in der Sie an Händen und Füßen völlig gebunden sind. Sie haben eine ganze Folge von Umständen erfunden, die genügen werden, Sie lebenslänglich einzusperren, wenn man Sie nicht sogar in die Gaskammer schickt. Aber meine Hände sind nicht gebunden!« »Was wollen Sie damit sagen?« »Was ich tue, geschieht allein zu Ihrem Besten.« »Aber Mr. Mason, Sie können doch nicht - nach allem, was ich gesagt habe, können Sie Ihre Verteidigung doch nicht auf eine Lüge aufbauen!« »Ich kann meine Verteidigung auf dem aufbauen, was mir paßt«, sagte Mason. »Und dabei ist es nicht einmal eine Lüge es sei denn, Sie behaupteten es. Jedenfalls haben Sie sich in eine -1 7 9 -
feine Lage gebracht. Aber ich werde versuchen, Sie wieder herauszuholen. Vergessen Sie nicht, daß die Anklagebehörde nach dem Gesetz Ihre Schuld unanzweifelbar beweisen muß, bevor das Gericht Sie überhaupt verurteilen kann. Verstehen Sie?« »Ja.« »Und ich werde dafür sorgen, daß das Gericht seine Zweifel hat.« »Wie wollen Sie das tun?« »Ich werde es so darstellen, daß Sie Ihren Mann in Notwehr umgebracht haben.« »Das habe ich doch gar nicht.« »Doch. Sie haben nur Angst, es zuzugeben, und zwar wegen gewisser Tatbestände, die Sie vor der Öffentlichkeit geheimhalten, weil sie Ihrem Sohn vielleicht schaden könnten.« »Nein, Mr. Mason, bestimmt nicht. Ich kann nur wiederholen...« »Ich werde versuchen, daß Sie nicht in den Zeugenstand brauchen. Soll man dem Gericht meinetwegen sämtliche eidesstattlichen Aussagen vorlegen - ich kann doch nichts daran ändern. Aber ich werde dafür sorgen, daß die Geschworenen am Tatablauf zweifeln. Mehr kann ich nicht tun, und die einzige Möglichkeit dazu besteht darin, die Zeugen der Anklage und deren Aussagen zweifelhaft zu machen. Ich möchte also, daß Sie ab sofort den Mund halten. Haben Sie mich verstanden?« »Ja.« »Und können Sie es auch?« »Ich glaube.« »Versuchen Sie es wenigstens«, sagte Mason und gab der Wärterin durch ein Kopfnicken das Zeichen, daß die Unterhaltung beendet wäre. Mit dem Fahrstuhl fuhr Mason in das Erdgeschoß der Hall of -1 8 0 -
Justice hinunter, verschwand in einer Telefonzelle und rief Paul Drake an. »Paul«, sagte er, »jetzt bin ich in die Geschichte mit der Fargo doch hineingeraten.« »Merkst du das erst jetzt?« fragte Drake. »Ich bin endgültig festgenagelt«, sagte Mason. »Laß es bleiben, Perry - sieh zu, daß du wieder loskommst. Lasse deine Finger von der ganzen Sache. Zu retten ist doch nichts mehr!« »Trotzdem, Paul«, sagte Mason, »und jetzt brauche ich dringend Munition, die ich vor Gericht verfeuern kann.« »Es wird doch nur so klingen wie Knallfrösche gegen schwere Mörser«, meinte Drake. »Kümmere dich nicht darum, Paul. Ich habe den Fall so übernommen, wie er ist. Am wichtigsten von allen Zeugen ist diese Mrs. Maynard. Bitte versuche herauszubekommen, was mit ihren Augen los ist.« »Was soll denn mit denen los sein?« »Sie ist Anfang Dreißig. Auf dem Bild, das die Zeitung veröffentlicht hat, trägt sie keine Brille. Dagegen besteht jedoch die Chance, daß sie sonst eine Brille trägt. Vielleicht tut sie es nur, wenn ihr ziemlich egal ist, welchen Eindruck sie macht. In der Öffentlichkeit dagegen nimmt sie ihre Brille vielleicht ab.« »Das tun viele Frauen«, sagte Drake. »Wenn jedoch eine Zeugin meine Mandantin wiedererkennen will, und ihre Brille nicht auf der Nase, sondern in der Handtasche gehabt hat, werde ich daraus einen gewaltigen Wirbel machen.« »Das würde ich an deiner Stelle auch«, sagte Drake. »Die meisten Frauen gehen nämlich von der völlig idiotischen Voraussetzung aus, sie sähen mit Brille einfach grauslich aus, und manche Frauen haben in diesem Punkt direkt einen -1 8 1 -
Komplex. Und ich habe das dunkle Gefühl, daß Mrs. Maynard auch zu diesen Frauen gehört.« »Das werde ich feststellen.« »Außerdem möchte ich alles über sie wissen, was nur zu erfahren ist: über ihre Vergangenheit, über ihr gegenwärtiges Leben, über ihren Geschmack, über das, was sie mag und nicht mag, wohin sie geht, was sie tut...« »So schwer würde ich es mir nicht machen, Perry«, sagte Drake. »Du weißt doch selbst, was dann passiert. Man wird dir vorwerfen, die Zeugen der Anklage lächerlich zu machen.« »Das ist mir völlig egal«, sagte Mason. »Ich will von ihr doch gar nichts. Ich möchte nur endlich die Tatsachen herausbekommen. Also geh an die Arbeit und sieh zu, was sich machen läßt. Sie muß übrigens wieder hier in Los Angeles sein. Ich würde mich zuerst bei den Nachbarn erkundigen. Wir müssen einen allgemeinen Eindruck von ihr bekommen.« »Aber besonders wegen ihrer Brille?« fragte Drake. »Ganz besonders deswegen!« bestätigte Mason.
17 Am frühen Nachmittag des nächsten Tages hatte Drake seinen Bericht über die Kronzeugin der Anklage fertig und brachte ihn Mason. »Diese Mrs. Maynard«, sagte Drake und blätterte in den Seiten des Berichtes, »ist eine Frau, die sehr zurückgezogen lebt. Kein Mensch weiß viel von ihr. Sie ist Witwe und lebt anscheinend von einer kleinen Versicherungsrente, so daß sie niemanden um eine Gefälligkeit zu bitten braucht. Sie ist sehr verschlossen, besitzt einen kleinen Wagen, ist immer ganz gut angezogen und geht viel von zu Hause fort.« »Arbeitet sie irgendwo?« fragte Mason. »Nein, arbeiten tut sie nicht, weil sie immer zu verschiedenen -1 8 2 -
Zeiten weggeht, und manchmal bleibt sie auch mehrere Tage fort. Außerdem hat sie Telefon, und zwar einen Einzelanschluß, aber...« »Kümmere dich doch mal darum, wo sie hingeht«, sagte Mason. »Lasse jeden ihrer Schritte überwachen.« »Das tun wir bereits«, sagte Drake, »aber seit meine Leute sie beobachten, ist sie nicht viel unterwegs gewesen. Allerdings ist hier eine Sache, die du eventuell verwenden kannst, Perry.« »Und das wäre?« »Gestern hat ein Optiker ihr eine Brille geliefert.« »Woher weißt du das? Gestern wurde sie doch noch gar nicht überwacht?« »Das stimmt - aber einer meiner Leute, der sich mit den Nachbarn der gleichen Etage unterhielt, erfuhr, daß gestern ein Bote bei Mrs. Maynard klingelte. Als ihm nicht aufgemacht wurde, hat die Nachbarin ihm das Päckchen abgenommen und aufbewahrt. An den Absender konnte sie sich so genau erinnern, weil sie den Namen des Optikers kennt, dessen Geschäft nur ein paar Straßen weiter liegt.« »Das ist allerdings eine Sache, Paul.« »Eben. Sollte ihre Brille nun kaputt gewesen sein, als sie diese Fahrt machte, und sie...« »Das ist immerhin ein Ansatz«, rief Mason aus. »Dieser Spur müssen wir sofort nachgehen. Wie heißt der Optiker?« »Dr. Carlton B. Radcliff. Er hat ein kleines Geschäft.« »Was ist er für ein Mensch?« »Älter, gegen Siebzig, würde ich sagen. Seine Wohnung hat er über seinem Laden. Anscheinend kommt er ganz gut zurecht ein stiller, geduldiger Mensch, der sich mit seinem Geschäft das, was er braucht, verdient. Soll ich versuchen, noch mehr über ihn...« »Das tue ich selbst«, sagte Mason. »Diese Sache könnte sehr -1 8 3 -
wichtig sein.« »Dann habe ich noch etwas für dich«, sagte Drake. »Was denn?« »Ich sollte mich doch noch um Celinda Gibson kümmern.« »Und was hast du festgestellt?« »Auf der Visitenkarte neben der Klingel steht ›Celinda Gibson Larue‹. Das Larue ist durchgestrichen...« »Das weiß ich alles bereits«, sagte Mason. »Mit seinem Familiennamen heißt der Oberkellner in der Golden Goose ebenfalls Larue.« »Wer - Pierre?« »Ja.« »Pierre Larue«, wiederholte Mason nachdenklich. »Ja.« »Um Himmels willen, Paul - soll das etwa heißen, daß er ihr Mann ist?« »Anscheinend ist er es. Ich habe nirgends feststellen können, daß die beiden rechtmäßig geschieden sind; sie leben getrennt und - na ja! Das war es also, was ich dir sagen wollte. An Stelle irgendeiner finanziellen Regelung hat Larue seiner Frau anscheinend die Fotokonzession in der Golden Goose verschafft. Wenn man nun alles zusammen betrachtet - welche Antwort ist deiner Ansicht nach möglich?« »Eine Antwort, die auf keinen Fall zu der Frage paßt.« »Dann würde ich die Frage anders stellen«, sagte Paul Drake. »Tatsachen sind nun einmal widerspenstig.« »Das kann man wohl behaupten«, gab Mason zu. »Hast du herausbekommen, wo Pierre wohnt?« »Kein Mensch weiß es«, sagte Drake. »Wenn er die Golden Goose verläßt, ist er spurlos verschwunden.« »Das werden wir schon herausfinden«, sagte Mason. »Wenn er tatsächlich mit dem Fall Fargo zu tun hat und er der Mann der -1 8 4 -
Gibson ist, dann lasse ihn überwachen. Wir müssen wissen, wo er hingeht, wenn er mit der Arbeit fertig ist.« »Du gibst aber eine ganze Menge Geld für diese Affäre aus«, sagte Drake warnend. »Das laß nur meine Sorge sein. Ich brauche Resultate! Jetzt sehen wir uns erst einmal den Optiker an.« »Nehmen wir deinen Wagen oder meinen?« »Meinen. Wenn du fährst, sind wir morgen früh noch nicht da.« »Wie du willst«, sagte Drake. »Mit dir zu fahren, ist immer ein Erlebnis. Also fahren wir!« Mason unterrichtete Della Street noch über seine Absicht, und dann fuhr er mit Paul Drake zu dem Optiker. Ungeachtet seines Berufes schien Carlton B. Radcliff in seinem Laden in erster Linie seine Ruhe zu suchen. An der Wand hinter dem Ladentisch hing ein Schild, das jedem, der den Laden betrat, sofort auffallen mußte: »Ich lasse mich weder unter Druck setzen noch antreiben!« Im Laden befand sich eine kleine Ecke, in der Uhren repariert wurden, und als Mason und Drake den Laden betraten, saß Dr. Radcliff in dieser Ecke, eine Lupe in das Auge geklemmt, und sortierte die verschiedenen Teile einer Uhr. »Einen Augenblick«, rief er, ohne sich umzudrehen, und arbeitete weiter, griff mit einer Pinzette nach einem winzigen Rädchen und setzte es wieder in das Uhrwerk ein. Kurze Zeit später schob er seinen Stuhl zurück, trat an den Ladentisch und betrachtete die beiden Männer mit seinen geduldigen Augen, in denen ein gewisser skeptischer Humor lag. »Womit kann ich dienen, meine Herren?« fragte er. Mason sah ihn lächelnd an. »Wir hätten gern eine Auskunft.« -1 8 5 -
»Da sind Sie leider an der falschen Stelle.« »Ich glaube eher, daß Sie in unserem Fall der Richtige sind«, sagte Mason. »Ich bin ein alter Mann. Ich weiß nur sehr wenig von dieser Welt, die sich so schnell weiterentwickelt und auf der es so viele Dinge gibt, die ich nicht kenne.« »Wir hätten gern eine Auskunft über Brillen«, sagte Mason. »Das ist natürlich etwas ganz anderes«, gab der Mann zu. »Bei Brillen und Uhren weiß ich Bescheid. Ein ganzes Leben lang habe ich mich mit ihnen beschäftigt, wenn auch das noch nicht genügt. Was möchten Sie wissen?« »Wir möchten etwas über Mrs. Maynards Brille wissen«, erwiderte Mason. »Maynard - Mrs. Maynards Brille... Ah ja, sie war zerbrochen. Ich habe sie ihr bereits zugeschickt. Es war sehr eilig.« »Ich hätte gern gewußt, was mit den Gläsern war«, sagte Mason. »Waren sie gesprungen?« »Nur das eine - außerdem waren beide sehr stark verschrammt, und zwar durch - aber warum wollen Sie es wissen?« »Ich möchte nur wissen, ob Mrs. Maynard ohne Brille sehen kann.« »Wer - Mrs. Maynard?« »Ja.« »Meine Herren, wozu brauchen Sie denn diese Auskunft?« »Es ist dringend nötig, daß wir es wissen.« »Sind Sie mit Mrs. Maynard befreundet?« Mason zögerte mit der Antwort. Drake erklärte: »Ja.« Der Optiker lächelte freundlich. »Dann ist die Geschichte doch ganz einfach. Fragen Sie sie selbst!« -1 8 6 -
»Mr. Radcliff, ich bin Rechtsanwalt«, sagte Mason. »Ich versuche, bestimmte Dinge zu klären. Und ich möchte...« Der Mann schüttelte den Kopf, bevor Mason zu Ende gesprochen hatte. »Auskünfte über Patienten oder Kunden gebe ich nicht. Leider!« »Aber diese Auskunft«, sagte Mason, »könnte äußerst wichtig sein. Sie könnte bedeuten, daß ein Zeuge...« »Ein Zeuge, ja. Sie sind Anwalt und kennen die Gesetze. Ich bin nur Optiker und Uhrmacher. Die Gesetze kenne ich nicht. Aber eines glaube ich zu wissen: Wenn Sie mich als Zeugen brauchen, schicken Sie mir ein Papier, und ich werde vor Gericht erscheinen, so daß Sie mich in den Zeugenstand stellen können; ich werde dann schwören, nur die Wahrheit zu sagen, und auch nur das tun. Dann wird der Richter verlangen, daß ich Fragen beantworte. Aber jetzt beantworte ich keine Fragen. Ich brauche es auch nicht. Verstehen wir uns?« Lächelnde Höflichkeit stand in den Augen des Mannes, aber in seinem Gebahren lag etwas, das hart wie Granit war. »Wir verstehen uns. Und ich danke Ihnen«, sagte Mason. »Komm, Paul.« Sie drehten sich um und gingen hinaus. Als sie wieder in Masons Wagen saßen, meinte Drake: »Glaubst du nicht, daß wir noch etwas mehr erfahren hätten, wenn...« »Nein«, sagte Mason. »Bestenfalls hätten wir ihn nur mißtrauisch gemacht. Aber eins wissen wir jetzt: Mrs Maynard hat eine defekte Brille mit zerkratzten Gläsern hingebracht. Wenn sie also im Zeugenstand steht, werde ich sie im Kreuzverhör nach ihren Augen und nach ihrer Brille fragen, ob sie ohne Brille gut sehen könne - und dann werde ich zu beweisen versuchen, daß sie die Brille während der Fahrt nicht aufgesetzt haben konnte, weil sie sie in der Handtasche hatte, die Gläser dadurch verschrammten und die Brille selbst kaputt -1 8 7 -
ging.« »Glaubst du, daß sie sie vor Gericht aufsetzen wird?« »Ich glaube, daß sie ihre Brille von jetzt an gar nicht mehr absetzen wird«, sagte Mason. »Ich glaube jedoch nicht, daß sie sie während der Busfahrt trug.« »Das wird verdammt schwer zu beweisen sein«, sagte Drake. »Aus diesem Grund habe ich Radcliff auch nicht weiter gefragt.« »Das verstehe ich nicht ganz.« »Wenn weitergefragt hätte, wäre er bestimmt zu Mrs. Maynard gegangen, um ihr zu erzählen, daß wir bei ihm nachgefragt hätten. So aber steht es eins zu eins, daß sie von unserem Besuch nichts erfährt. Wir haben keine Staatsaktion aus der Angelegenheit gemacht, und die Brille wurde bereits zugeschickt - also wird er wieder Uhren reparieren. Er gehört nicht zu den Männern, die viel reden; er ist ein schweigsamer, fleißiger Mann, der mit seiner Arbeit in Ruhe gelassen werden will.« Drake nickte. »Wahrscheinlich hast du recht, Perry.« »Wir werden ihm jedoch eine Vorladung zuschicken, sobald der Termin für die Vorverhandlung feststeht«, sagte Mason. »Und wann wird das sein?« »Das kann schon bald sein«, erwiderte Mason. Drake war sehr ernst geworden. »Perry, du hast in dieser Sache auch nicht die leiseste Chance, und das weißt du selbst. Warum trittst du nicht zurück?« »Zurücktreten liegt mir nicht«, sagte er. »Ich werde die Staatsanwaltschaft zwingen, jede Einzelheit dieses Falles so zu beweisen, daß kein Zweifel mehr bleibt. Die Wahrheit und Mrs. Fargos Geschichte mögen zwei grundverschiedene Dinge sein aber erst soll man beweisen, Paul, daß sie tatsächlich schuldig ist.« -1 8 8 -
»Das kann man«, sagte Drake. »Ich wünschte, du wärst aus der ganzen Geschichte heraus, Perry.« »Erst wollen wir einmal abwarten, ob man es beweisen kann«, sagte Mason und fügte dann noch hinzu: »Ich bin selbst nicht sehr glücklich, daß ich in dieser Sache drinstecke, Paul, aber es ist nun einmal nicht zu ändern. Damit wir uns nicht mißverstehen: nicht erst seit heute!«
18 Die Vorverhandlung in Sachen Myrtle Fargo, angeklagt wegen Mordes an ihrem Ehemann, hatte nur wenig allgemeines Interesse gefunden. Einige Leute, die regelmäßig die Verhandlungen besuchten und die besonders erfolgreiche Laufbahn Perry Masons verfolgt hatten, hielten es für möglich, daß das Kreuzverhör der Mrs. Maynard den Höhepunkt der Verhandlung bilden und daß es sich sicherlich lohnen würde zu beobachten, wie der dafür schon berühmte Anwalt ihre Aussage erschüttern würde; andere dagegen, die mit dem Büro des District Attorney zu tun hatten, wetten zwanzig zu eins, daß die Aussage der Zeugin in keinem wesentlichen Punkt durchlöchert werden könnte. Mrs. Maynard wurde als eine entschlossene, geschickte und scharfzüngige Zeugin angesehen, die jedem Anwalt gewachsen zu sein schien. Nach Ansicht der Zuhörer war Mrs. Fargo schuldig, und damit war kein Wort mehr über diese Seite zu verlieren. Sie hatte versucht, sich nachträglich ein Alibi zu schaffen und war dabei auf frischer Tat ertappt worden. Eigentlich lohnte es sich gar nicht, mit diesem Fall auch noch Zeit zu verlieren. Was in seiner ganzen Laufbahn nur selten vorgekommen war: Mason stellte fest, daß der Gerichtssaal aus diesem Grunde nicht wie sonst zum Brechen voll war; nur die ersten vier oder fünf Bankreihen für Zuhörer waren besetzt. Besonders ärgerte sich darüber Hamilton Burger, der District -1 8 9 -
Attorney, der diesen Fall persönlich übernommen hatte. Die Eingeweihten wußten, daß Burger dies nicht getan hatte, weil er diesen Fall etwa als besonders wichtig betrachtete, sondern weil er endlich seinen langjährigen Wunsch befriedigen wollte, einmal einen für Mason niederschmetternden Sieg auszukosten. Und weil dieser Sieg besonders süß für einen District Attorney sein würde, der bereits eine Serie von Niederlagen hinnehme n mußte, ließ Burger die Verhandlung möglichst langsam ablaufen. Geduldig lud er einen Zeugen nach dem anderen vor, um die Anklage aufzubauen; gleichzeitig versuchte er jedoch auch, möglichst nicht zu viele Informationen bekanntwerden zu lassen. Burger legte einen genauen Plan des Hauses vor, in dem der Mord verübt worden war, sowie Aufnahmen jedes einzelnen Zimmers. Ein Pathologe gab sein Gutachten über die Todesursache ab. Die Mordwaffe war gefunden worden und wurde als Beweisgegenstand vorgelegt. Es handelte sich um ein Küchenmesser, scharf geschliffen und mit Blut befleckt, aber ohne einen einzigen Fingerabdruck. Burger hatte sogar einen Zeugen aufgestöbert, der aussagte, daß er dem Arthman D. Fargo am Abend vor dem Mord fünfhundert Dollar in bar gegeben hätte, daß Fargo das Geld in seiner, des Zeugen, Gegenwart in den Safe gelegt und ihm, dem Zeugen, eine Quittung ausgestellt hätte. Daraufhin wurde der Zeuge nach der Art des Geldes befragt. Die Scheine, so erklärte er, seien Fünfzigdollarnoten gewesen, und zwar zehn Stück im Gesamtwert von eben fünfhundert Dollar. Das Geld habe er am gleichen Nachmittag von der Bank abgehoben. Anschließend kam Burger dann zu dem geöffneten Safe, zu dem auf dem Boden verstreuten Inhalt des Safes. Und als Krönung des ganzen bezeugte ein Polizeibeamter, daß Mrs. Fargo bei ihrer Verhaftung zehn Fünfzigdollarscheine in ihrer -1 9 0 -
Handtasche gehabt habe. Dann begann der Aufmarsch der dramatischen Zeugen, jener Zeugen, die die Flucht der Beklagten vom Schauplatz des Verbrechens schildern sollten. Zuerst rief Burger den Parkplatzwächter des Union Terminal, Percy R. Danvers, auf. Danvers sagte aus, daß am Morgen des Mordtages gegen elf Uhr ein Kraftwagen auf seinem Parkplatz abgestellt worden sei, und zwar von einer Frau. Diese Frau habe den üblichen Parkzettel in Empfang genommen; den anderen Teil dieses Zettels habe er unter den einen Scheibenwischer des Wagens geklemmt. Sein Dienst habe zwei Stunden vor dem Zeitpunkt aufgehört, zu dem die Polizei den Wagen entdeckte. Der Zeuge gab die Wagennummer, die Motornummer sowie den Namen an, auf den der Wagen laut Bescheinigung zugelassen war. Der Name lautete Myrtle Ingram Fargo. Dann folgte die dramatische Frage: »Können Sie die Frau wiedererkennen, die den Wagen auf Ihrem Parkplatz abstellte?« »Jawohl, das kann ich, Sir.« »Haben Sie die Frau später einmal gesehen?« »Jawohl, Sir.« »Wo?« »Im Headquarters der Polizei.« »Wie viele Frauen wurden Ihnen gegenübergestellt?« »Fünf.« »Und alle ungefähr gleich groß, von gleicher Figur, gleichem Alter und gleichem Aussehen?« »Ja.« »Und haben Sie die Frau, die bei Ihnen den Wagen abgestellt hatte, unter diesen fünf Frauen wiedererkannt?« »Ja.« »Wer war es?« -1 9 1 -
Der Zeuge deutete hochdramatisch mit dem Finger: »Mrs. Fargo, die Beklagte dort.« »Kreuzverhör!« sagte Burger triumphierend. Ermutigend lächelte Mason den Zeugen an. »Mr. Danvers, das haben Sie eben sehr schön gemacht«, sagte er. »Was denn?« »Das Hinzeigen mit dem Finger.« »Ach so.« »Wie kam es eigentlich, daß Sie mit dem Finger direkt auf die Beklagte deuteten, als Sie sie identifizierten?« »Weil ich sie damals gesehen habe.« »Aber dazu brauchten Sie doch nicht mit dem Finger zu zeigen. Sie hätten zum Beispiel auch nur sagen können: Die Frau, die ich damals gesehen habe, ist die Beklagte.« »Ja - ich wollte keinen Irrtum aufkommen lassen. Deswegen.« »Aha. Aber sagen Sie: Wer hat Ihnen gesagt, daß Sie mit dem Finger hinzeigen sollten?« Dem Mann schien es plötzlich unbehaglich zu werden. »Immer langsam, Mr. Danvers«, sagte Mason. »Ihre Geste war alles andere als spontan. Irgendwie wirkte sie einstudiert als hätten Sie sie vorher geübt. Ich möchte Sie an Ihren Eid erinnern. Hat Ihnen irgend jemand gesagt, Sie sollten mit dem Finger hinzeigen, wenn Sie aufgefordert würden, die Beklagte zu identifizieren?« »Ja.« »Wer?« »Euer Gnaden«, sagte Hamilton Burger, und seine Stimme klang sorgsam moduliert, um zu zeigen, daß seine Langmut weit über das gewöhnliche Maß hinaus beansprucht worden war, »dieses ganze Herumstochern in unwesentlichen Einzelheiten gehört meiner Ansicht nach wirklich nicht zu einem -1 9 2 -
Kreuzverhör. Der Zeuge hat die Frau wiedererkannt. Die Frage ist nur, ob die Beklagte es war oder nicht; um die Sache mit dem Hinzeigen geht es doch gar nicht... Im übrigen bin ich bereit zuzugeben, daß ich es war, der dem Zeugen in meinem Büro im Verlauf unserer Unterhaltung gesagt hat, daß er mit dem Finger auf die Beklagte deuten solle, falls sie die Frau sei, die er damals gesehen hatte, damit keine Mißverständnisse entstünden. Die Verantwortung für das Verhalten des Zeugen nehme ich voll und ganz auf mich.« Und Hamilton Burger blickte die Zuhörer strahlend an, als wollte er sagen: »Seht ihr, Perry Masons Bombe war nur ein Blindgänger.« »Vielen Dank«, sagte Mason zu Hamilton Burger. »Ich bin überzeugt, daß Sie dem Zeugen sagten, er solle mit dem Finger hinzeigen, und genauso überzeugt bin ich, daß Ihr verzweifelter Versuch, diese Geschichte als völlig nebensächlich hinzustellen und alltäglich, niemanden überrascht hat.« Mason wandte sich dann wieder an den Zeugen. »Der District Attorney hat Ihnen also gesagt, wie Sie Ihre Aussage wirkungsvoll vorbringen sollen. Hat er Ihnen vielleicht auch erzählt, was Sie dabei sagen sollen?« »Euer Gnaden!« rief Hamilton Burger dazwischen, »diese Frage ist völlig ungehörig. Sie ist unsachlich, unerheblich und unwesentlich. Sie gehört keineswegs zu einem Kreuzverhör!« »Einspruch abgelehnt. Beantworten Sie die Frage.« »Er sagte nur, daß ich auf diese Frau deuten sollte, wenn ich sähe, daß sie es wäre.« Mit hochrotem Gesicht ließ sich Hamilton Burger langsam nieder, blieb jedoch auf der Kante seines Stuhles sitzen und deutete damit an, daß er jederzeit bereit sei, die Rechte des Volkes und die Würde des District Attorney notfalls durch persönlichen Einsatz zu schützen. »Welche Farbe hatten die Strümpfe der Frau?« fragte Mason. -1 9 3 -
»Das weiß ich nicht. Ich habe mir überhaupt nicht gemerkt, wie Sie angezogen war.« »Wie sah ihr Rock aus?« »Ich habe doch eben schon gesagt, daß ich darauf nicht geachtet habe, aber ich glaube - ich glaube, daß er irgendwie dunkel war. Aber genau weiß ich es nicht.« »Welche Farbe hatten ihre Schuhe?« »Das weiß ich nicht.« »Trug die Frau einen Hut?« »Doch - ich glaube.« »Erinnern Sie sich noch an die Farbe des Hutes?« »Nein.« »Sehr genau haben Sie sich die Frau also nicht angesehen, nicht wahr?« »Auf ihre Kleidung habe ich allerdings nicht geachtet - aber ihr Gesicht habe ich genau gesehen. Sie stellte den Wagen ab, und dann suchte sie ein Taxi, und das war etwas ungewöhnlich, so daß ich mich aus diesem Grund genau an sie erinnere. Gewöhnlich gehen nämlich die Leute, die ihren Wagen bei mir abstellen, direkt in den Bahnhof.« »Wissen Sie, wie hoch der Prozentsatz jener Leute ist, die ihren Wagen auf Ihrem Parkplatz abstellen und dann ein Taxi nehmen?« »Nein. Ich weiß nur, daß diese Frau mich sogar gefragt hat, wo sie ein Taxi bekommen könnte.« »Ist Ihnen vielleicht die Tatsache bekannt, daß eine sehr große Zahl von Autofahrern, die den dichten Verkehr gern meiden, die Parkplätze am Union Terminal zum Abstellen ihrer Fahrzeuge benutzen und sich für ihre weiteren Stadtfahrten ein Taxi nehmen?« »Doch - ja, das kann ich mir vorstellen.« -1 9 4 -
»Aber genau wissen Sie es nicht?« »Ich - also ich weiß es nicht genau, weil ich nie weiß... Ich frage die Leute nicht danach.« »Als die Beklagte Sie nach einem Taxi fragte, machte sie einen ungewöhnlichen Eindruck auf Sie, nicht wahr?« »Ja.« »Und da sahen Sie zum erstenmal jene Person ganz deutlich, die Sie eben als die Beklagte wiedererkannten?« »Jawohl, Sir.« »Als sie gerade den von Ihnen betreuten Parkplatz verließ, nicht wahr?« »Jawohl, Sir.« »Kamen zu diesem Zeitpunkt keine anderen Fahrzeuge?« »Doch, Sir. Es ging gerade etwas lebhafter zu.« »Soweit ich orientiert bin«, sagte Mason, »fahren die Fahrzeuge vor dem Parkplatz vor. Sie geben dann einen Parkschein aus, dessen einen Teil der Fahrer erhält, während der andere Teil unter den Scheibenwischer geklemmt wird. Dann kassieren Sie die Parkgebühr, und der Kunde fährt auf den Parkplatz, sucht sich einen freien Platz, stellt seinen Wagen dort ab, verschließt ihn und verläßt dann den Parkplatz zu Fuß.« »Genauso ist es.« »Es vergeht also eine kleine Zeitspanne zwischen dem Augenblick, in dem Sie dem Fahrer des jeweiligen Fahrzeuges den Parkschein aushändigen und dem Augenblick, in dem der Fahrer den Platz zu Fuß verläßt?« »Vielleicht eine Minute oder zwei.« »Dauert es manchmal nicht auch etwas länger?« »Doch, sicher.« »Zum erstenmal haben Sie also die Frau, die Sie eben als die Beklagte identifizierten, in dem Augenblick gesehen, als sie den -1 9 5 -
Parkplatz verließ und fragte, wo sie ein Taxi bekommen könnte. Ist das richtig?« »Jawohl, Sir.« »Und in diesem Augenblick haben Sie sich die Frau auch genau angesehen?« »Nicht so genau, daß ich sagen könnte, was sie anhatte - aber doch genau genug, um ziemlich genau zu wissen, daß die Beklagte diese Frau ist.« »Ach - Sie wissen es ziemlich genau?« fragte Mason. »Jawohl, Sir.« »Sie wissen es aber nicht ganz genau?« »Doch - ich glaube schon.« »Warum sagen Sie es dann nicht? Warum sagen Sie nur, daß Sie es ziemlich genau wissen?« »Ja nun - ich weiß es eben ziemlich genau.« »Aber nicht ganz genau?« »Doch, das glaube ich.« »Was meinen Sie nun: ziemlich oder ganz?« »Wahrscheinlich meine ich ganz.« »Wahrscheinlich?« »Ich weiß es genau, ganz genau.« »Warum sagten Sie aber vorhin, Sie wüßten es ziemlich genau?« »Ich wollte der Beklagten immer noch die Möglichkeit eines Zweifels zugute kommen lassen.« »Aha! Dann bestehen also noch Zweifel?« »Nein. Ich habe auch nicht gesagt, daß ich persönlich Zweifel hätte. Ich habe nur gesagt, daß ich der Beklagten die Möglichkeit eines Zweifels zugute kommen lassen wollte.« »Welches Zweifels?« -1 9 6 -
»Irgendeines Zweifels.« »Soweit ich Sie verstehe, hatten Sie also tatsächlich Zweifel, und um diesen Zweifel zugunsten der Beklagten zu klären, sagten Sie, daß Sie es nur ziemlich genau wüßten. Ist es so richtig?« »Ich nehme es an - doch.« »Wenn Sie jedoch«, sagte Mason, »nur ziemlich genau wissen, daß die Beklagte den Parkplatz verließ, und falls Sie sich die Frau in diesem Augenblick zum erstenmal genauer ansahen, können Sie doch nicht ganz genau wissen, daß die Beklagte den Wagen der Mrs. Fargo auf den Parkplatz gefahren hat, nicht wahr?« »Es ist doch logisch, daß sie es war.« »Ich rede hier nicht von Dingen, die logisch sind«, sagte Mason. »Ich frage lediglich, ob Sie es genau wissen!« »Wenn Sie es so ausdrücken wollen, nehme ich an, daß es die gleiche Frau ist. Sie muß es gewesen sein.« »Aber Sie wissen es nicht?« »Nein, wissen tue ich es nicht.« »Sie wissen es folglich auch nicht genau?« »Nein, ganz ge nau weiß ich es bestimmt nicht.« »Wissen Sie es vielleicht ziemlich genau?« »Ich - ich ging von der Annahme aus, daß...« »Das habe ich bereits gemerkt«, sagte Mason. »Sie gingen von der Annahme aus, daß die Frau den Wagen der Mrs. Fargo abgestellt haben mußte; aber als der Wagen neben ihnen hielt, haben Sie sich den Fahrer nicht genau angesehen, nicht wahr?« »Nein, nicht genau.« »Sie taten nur, was Sie bei jedem einfahrenden Fahrzeug tun: Sie gaben dem Fahrer den Parkschein, kassierten die Parkgebühr und klemmten den anderen Teil des Parkscheines unter den -1 9 7 -
Scheibenwischer. Habe ich recht?« »Ja.« »Und unter diesen Umständen sehen Sie sich die einzelnen Fahrer nicht genau an, nicht wahr?« »Doch - manchmal.« »Schön, Mr. Danvers«, sagte Mason, »dann beschreiben Sie mir doch einmal die Fahrer der beiden Wagen, die unmittelbar vor und nach der Beklagten kamen.« »Daran kann ich mich jetzt nicht mehr erinnern.« »Wissen Sie denn noch, ob es Männer oder Frauen waren?« »Nein.« »Hatten Sie denn einen besonderen Grund, sich jene Frau genau anzusehen, die Ihrer Behauptung nach hier als Beklagte sitzt. Hatte sie etwas getan oder gesagt, was Ihre Aufmerksamkeit besonders erregt haben könnte?« »Nein.« »Die fragliche Person hielt sich also mehrere Minuten lang auf dem Parkplatz auf. Während dieser Zeit kamen doch auch andere Fahrzeuge, nicht wahr?« »Ich glaube - ich nehme es an.« »Können Sie sich nicht genau erinnern?« »Nein.« »Dann sahen Sie plötzlich diese Frau, die von den parkenden Wagen her kam und Sie dann nach einem Taxi fragte.« »Das stimmt.« »Und der District Attorney sagte dann zu Ihnen, wenn Sie im Zeugenstand ständen, sollten Sie auf die Beklagte zeigen und sagen: Das ist die Frau.« »Ja«, sagte der Zeuge, bevor Burger etwas einwenden konnte. »Euer Gnaden«, sagte Burger, »ich beantrage, daß diese Antwort wieder gestrichen wird, damit ich meinen Einspruch -1 9 8 -
vorbringen kann. Hier handelt es sich um eine Annahme, nicht aber um einen Beweis. Es ist die falsche Deutung des vorhergegangenen Beweises.« »Der Zeuge hat meine Frage bereits beantwortet«, sagte Mason. »Und ich beantrage, die Antwort zu streichen, damit das Gericht zu meinem Einspruch Stellung nehmen kann.« »Der Zeuge hat mit ja geantwortet«, sagte Mason. »Er stand dabei unter Eid. Wollen Sie behaupten, daß seine Antwort unrichtig war?« »Ich möchte lediglich, daß die Antwort gestrichen wird, weil sie eine Annahme, nicht aber ein Beweis ist.« »Ich bin der Ansicht, daß die Vorschriften des Kreuzverhörs nicht verletzt wurden«, sagte der Richter. »Ich werde die Antwort stehenlassen.« »Aber sie stimmt nicht mit den Tatsachen überein«, sagte Hamilton Burger. »Das ist...« »Wenn Hamilton Burger seinem eigenen Zeugen widersprechen will, würde ich vorschlagen, daß er vereidigt wird und dann seine Aussagen macht«, meinte Mason. »Die Sache ist sowieso unwichtig.« Burger setzte sich wütend. Masons Stimme verlor wieder jede Förmlichkeit und nahm den Ton einer freundschaftlichen Unterhaltung an. »Sehen wir jetzt einmal weiter«, sagte er beiläufig. »Zuerst kam also die Polizei zu Ihnen und ließ sich eine Personalbeschreibung der Frau geben, nicht wahr?« »Ja, das stimmt.« »Sie gaben der Polizei auch die Beschreibung?« »Ja - so gut ich konnte.« »Und dann zeigte man Ihnen verschiedene Aufnahmen der Beklagten?« -1 9 9 -
»Ja.« »Haben Sie sich die Aufnahmen sorgfältig angesehen?« »Ja.« »Nicht nur flüchtig?« »Nein. Ich habe sie mir sehr gründlich angesehen.« »Erzählten Sie der Polizei anschließend, daß es Aufnahmen jener Frau wären, die den Wagen abgestellt hatte?« »Ich sagte nur, daß das Gesicht eine gewisse Ähnlichkeit hätte.« »Und sonst?« »Ich sagte, daß sie es eventuell gewesen sein könnte eventuell!« »Sie haben aber nicht gesagt, daß sie es bestimmt war?« »Nein.« »Als Sie die Beklagte dann später in einer Reihe mit den übrigen sahen, erkannten Sie sie sofort nach den Aufnahmen, die man Ihnen gezeigt hatte, nicht wahr?« »Natürlich.« »Sie wissen jedoch nicht ganz genau, ob Sie sie wiedererkannten, weil Sie sich von der Begegnung auf dem Parkplatz her an ihr Gesicht erinnerten, oder weil Sie vorher die Bilder gesehen hatten, nicht wahr?« »Ich habe...« »Ja oder nein!« »Wahrscheinlich kam beides zusammen.« »Richtig, und selbst dann erkannten Sie sie nicht genau wieder, nicht wahr?« »Ich habe auch nur gesagt, daß sie mir irgendwie bekannt vorkäme.« Mason sah den Zeugen lächelnd an. »Das genügt«, sagte er. -2 0 0 -
»Hat die Anklage noch Fragen?« sagte der Richter. »Um noch einmal auf das zurückzukommen, was ich zu Ihnen gesagt habe«, meinte Hamilton Burger. »möchte ich Sie fragen: Ist es wahr, daß ich Ihnen nur sagte, Sie sollten auf die Beklagte zeigen, wenn Sie sie wiedererkannten?« »Ja.« »Das ist alles.« »Einen Augenblick«, sagte Mason, als der Zeuge den Zeugenstand verlassen wollte. »Ich hätte noch eine Frage.« Der Zeuge setzte sich wieder hin. »Wie lange waren Sie in Hamilton Burgers Büro, als er Ihnen sagte, Sie sollten auf die Beklagte zeigen?« »Ungefähr eine halbe Stunde.« »Und worüber haben Sie sich unterhalten?« »Einen Moment, Euer Gnaden, einen Moment!« sagte Hamilton Burger. »Diese Frage gehört nicht zum Kreuzverhör. Sie ist unsachlich, unerheblich und unwesentlich. Mit der Aussage des Zeugen hat sie nicht das geringste zu tun.« »Euer Gnaden«, sagte Mason, »gerade eben hat Hamilton Burger den Zeugen noch gefragt, was damals genau gesagt wurde. Nach der Prozeßordnung hat die Verteidigung, wenn der Staatsanwalt die Frage nach einem Teil einer Unterhaltung stellt, das Recht, nach der gesamten Unterhaltung zu fragen. Und ich möchte alles wissen, was im Verlauf dieser Unterhaltung gesagt wurde.« Hamilton Burgers Gesicht war mittlerweile krebsrot geworden. »Euer Gnaden«, rief er, »ich lehne es ab, daß eine vertrauliche Unterhaltung auf diese Art und Weise zerpflückt wird! In meiner Eigenschaft als District Attorney habe ich das Recht, alle Phasen eines Falles zu untersuchen und...« »Sie fragten jedoch gerade nach einem Teil einer Unterhaltung«, sagte der Richter, »und dieser Mann ist kein -2 0 1 -
Mandant, sondern nur Zeuge. Der Einspruch ist abgelehnt.« »Also bitte«, sagte Mason. »Worüber haben Sie sich unterhalten?« »Über meine Aussage.« »Und wie ging die Unterhaltung vor sich?« »Ich - ich habe Mr. Burger erzählt, was ich hier vorhin auch gesagt habe.« »Und was erzählte Mr. Burger Ihnen?« »Er sagte, daß ich mit dem Finger hinzeigen sollte - mehr nicht.« »Hat er Ihnen nicht vielleicht auch gesagt, daß Sie bestimmte Dinge nur dann erwähnen sollten, wenn Sie danach gefragt würden?« »Eh - ja.« »Und um was handelte es sich?« fragte Mason. »Darum, daß die Frau keine Reisetasche bei sich hatte.« »Aha«, sagte Mason. »Als die Frau den Parkplatz verließ, hatte sie also keine Reisetasche bei sich?« »Nein, Sir.« »Sie hatte überhaupt nichts bei sich?« »Nur eine kleine Lederhandtasche.« »Das wissen Sie genau?« »Ja.« »Und Hamilton Burger sagte, daß Sie diesen Punkt nicht erwähnen sollten, nic ht wahr?« »Nur wenn ich danach gefragt würde.« »Ich danke Ihnen, Mr. Danvers«, sagte Mason sarkastisch. »Das genügt.« »Keine Fragen«, knurrte Hamilton Burger, und dann versuchte er sein Unbehagen dadurch zu vertuschen, daß er -2 0 2 -
sofort den nächsten Zeugen aufrief. Dieser Zeuge war der Pilot, der ausgesagt hatte, er wäre von einem Mann gechartert worden, um eine Frau nach Bakersfield zu fliegen, da sie mittags um ein Uhr unbedingt am Pacific Greyhound Bus Depot sein müsse. Er habe zugesagt, sie rechtzeitig hinzubringen, und diese Zusage auch eingehalten. Die Frau habe einen dichten Schleier getragen, und ihr Gesicht habe er nicht gesehen; er könne sich jedoch an die Art ihrer Kleidung erinnern. Darauf habe er besonders geachtet, weil der Schleier sehr auffällig gewesen sei. Die Figur und die allgemeine Erscheinung der Frau habe er sich also genau angesehen. »Befindet sich jemand in diesem Gerichtssaal, dessen Gestalt und allgemeine Erscheinung jener Frau ähneln, die Sie mit dem Flugzeug nach Bakersfield gebracht haben?« fragte Hamilton Burger. »Doch, Sir.« »Und wer ist es?« »Falls Mr. Burger Ihnen gesagt hat, mit dem Finger auf die betreffende Person zu zeigen, dann tun Sie es ruhig«, warf Mason ein. »Er hat mir nicht gesagt, daß ich mit dem Finger auf die Betreffende zeigen soll«, sagte der Zeuge. »Ich soll nur ›die Beklagte‹ sagen.« Darauf folgte bei den Zuhörern lautes Gelächter. Ärgerlich rief Hamilton Burger: »Aber Sie hatten sie doch schon vorher im Büro gesehen und mir gesagt, sie sähe wie jene Frau aus. Stimmt das nicht?« »Einen Augenblick«, unterbrach Mason ihn. »Gegen diese Frage erhebe ich Einspruch, weil sie suggestiv wirkt, daneben einen Versuch darstellt, den eigenen Zeugen ins Kreuzverhör zu nehmen, und schließlich auch einen Versuch des District -2 0 3 -
Attorney, selbst auszusagen.« »Die Frage ist eindeutig suggestiv«, stellte der Richter fest. »Sie könnte auch ein Versuch sein, den eigenen Zeugen ins Kreuzverhör zu nehmen. Die Zurückweisung der Frage erfolgt jedoch auf Grund der Tatsache, daß die Frage eindeutig suggestiv ist.« »Also gut. Haben Sie die Beklagte schon einmal gesehen?« fragte Burger. »Ja.« »Und war sie diese Frau?« »Sie sah ihr ähnlich.« »Kreuzverhör!« sagte Burger wütend. »Wie oft haben Sie die Beklagte schon gesehen, bevor Sie sie heute vor Gericht sahen?« »Einmal.« »Das genügt - danke«, sagte Mason. »Einen Moment«, rief Burger. »Der Zeuge hat die Frage falsch verstanden. Er meinte, daß er sie ein einziges Mal zwecks Identifizierung gesehen hat. Tatsächlich hat er sie jedoch zweimal gesehen: einmal bei der Identifizierung, das zweite Mal anläßlich des Fluges. Das stimmt doch, nicht wahr?« sagte Burger und wandte sich an den Zeugen. Die völlige Ruhe in Masons Stimme stand in krassem Gegensatz zu der des District Attorney. »Ich erhebe Einspruch, Euer Gnaden«, sagte er, »da es sich hier wiederum um eine Suggestivfrage handelt, da es sich um eine nicht bewiesene Tatsache handelt und da es sich ganz offensichtlich um einen Versuch von seiten des District Attorney handelt, dem Zeugen die Antwort auf eine gerade vom District Attorney gestellte Frage in den Mund zu legen.« »Der District Attorney wird gebeten, seine Äußerungen auf unmittelbare Fragen an den Zeugen zu beschränken«, entschied -2 0 4 -
das Gericht. »Gut«, sagte Hamilton Burger, der sich nur mühsam beherrschte. Er wandte sich an den Zeugen. »Als Sie vorhin aussagten, Sie hätten die Frau bisher nur einmal gesehen, meinten Sie damit... Nein, sagen Sie uns lieber, was Sie damit eigentlich gemeint haben.« »Ich bin bereit festzustellen, daß der Zeuge nicht so einfältig ist, um die deutlichen Hinweise des District Attorney nicht bereits begriffen zu haben. Ich bin ferner bereit festzustellen, daß der Zeuge mit seiner Aussage meinte, er hätte die Beklagte nur einmal zwecks Identifikation gesehen.« »Das stimmt wohl«, sagte der Zeuge. »Das genügt«, sagte Burger. »Noch einen Augenblick«, sagte Mason. »Bevor Sie den Zeugenstand verlassen, sollten wir uns vielleicht noch etwas ausführlicher über den Mann unterhalten, der die Sache mit dem Flugzeug erledigte. Würden Sie ihn wiedererkennen, wenn Sie ihn sähen?« »Ja.« »Haben Sie ihn jemals wiedergesehen?« »Nein.« »Können Sie ihn etwas ausführlicher und genauer beschreiben?« »Doch. Er war etwa sechzig, ein bißchen rundlich, und seine Bewegungen wirkten irgendwie unsicher. Er - ich dachte zuerst, er wäre betrunken, aber nach Alkohol roch er überhaupt nicht. Vielleicht war er süchtig oder so ähnlich. Es sah so aus, als tastete er sich vorwärts, und - wenigstens habe ich genau gesehen, wie er ging und wie er aussah, und das alles wirkte irgendwie unsicher.« »War er groß?« »Nein. Er war untersetzt und rundlich - immerhin war er auch -2 0 5 -
schon ein älterer Mann. Allzugenau kann ich mich auch nicht mehr an ihn erinnern. Ich nahm aber mit Sicherheit an, daß er der Vater der Frau war.« »Um noch einmal auf die Identifizierung zu kommen: Haben Sie die Beklagte gesehen, während andere Frauen neben ihr standen?« »Nein. Sie war allein im Gefängnisbüro.« »Und hat Mr. Burger sie Ihnen gezeigt?« »Antworten Sie mit Ja oder Nein«, warf Burger dazwischen. »Nein.« »Und die Polizei?« »Eigentlich nicht.« »Was meinen Sie damit?« »Man hat mir nur gesagt, daß ich die Frau identifizieren sollte. Dann hat man mich in das Büro gebracht, und dort saß nur diese eine Frau - abgesehen von der Wärterin.« »Sehr schön«, sagte Mason. »Hat man Ihnen nicht auch gesagt, daß es - ohne den leisesten Zweifel - die Frau sei, die Sie nach Bakersfield geflogen hatten, daß Sie sie also jetzt nur zu identifizieren brauchten und daß Sie sich lediglich vorsehen müßten, heute keinen Fehler zu machen?« »Doch - so ähnlich war es. Man sagte mir, ich sollte bloß nicht ängstlich werden oder einen unsicheren Eindruck machen, weil mir dann irgendein gerissener Anwalt die Knochen einzeln zerbrechen würde.« »Aber Sie sagten, Sie wären sicher.« »Nein, das sagte ich nicht. Ich habe gesagt, ich könne mir vorstellen, daß sie es gewesen sei. Genaugenommen dauerte es bis zum nächsten Tag; dann war ich ganz sicher.« »Und in der Zwischenzeit hat die Polizei auf Sie eingeredet?« »So kann man es nennen.« -2 0 6 -
»Das genügt«, sagte Mason. »Keine weiteren Fragen«, sagte Burger. »Ich rufe jetzt meinen nächsten Zeugen auf.« Der nächste Zeuge war der Taxichauffeur aus Bakersfield, der die tiefverschleierte Frau vom Flugplatz zum Pacific Greyhound Bus Terminal gefahren hatte. Er gab jedoch zu, daß er sie nicht identifizieren könne, da sie tief verschleiert gewesen sei, und er ihr Gesicht deswegen nicht habe sehen können, und daß er sich auch gar nicht darum gekümmert habe, wie sie gekleidet gewesen sei. Er wußte nur, daß sie etwa einen Meter zweiundsechzig oder vierundsechzig groß war und vielleicht hundertzehn oder hundertfünfzehn Pfund wog. »Haben Sie die Beklagte, Myrtle Ingram Fargo, sprechen gehört?« fragte Hamilton Burger. »Doch, Sir.« »Und haben Sie irgendeinen Unterschied zwischen der Stimme von Mrs. Fargo, der Beklagten, und jener Frau festgestellt, die Sie in Bakersfield zum Bus-Depot brachten?« »Nein, Sir.« »Wenn Sie irgendwelche Fragen haben«, sagte Burger, an Mason gewandt. »Irgendeinen Unterschied haben Sie also nicht festgestellt?« fragte Mason. »Nein, Sir.« »Können Sie mir jedoch die Besonderheiten nennen, in denen die beiden Stimmen sich ähnlich sind?« »Die beiden Stimmen klangen ganz ähnlich.« »Nach der Stimme können Sie die Beklagte aber nicht eindeutig identifizieren?« »Nicht genau.« »Im Grunde genommen können Sie sie der Stimme nach -2 0 7 -
überhaupt nicht identifizieren? Oder doch?« »Ich habe doch schon gesagt, daß ich keine besonderen Unterschiede bemerkt habe. Das kann ich beschwören!« »Mit anderen Worten«, sagte Mason, »auch Sie haben sich mit Hamilton Burger unterhalten, nicht wahr?« »Ich habe ihm nur gesagt, was ich wußte.« »Und er hat Sie gefragt, ob Sie die Beklagte an der Stimme wiedererkennen könnten, nicht wahr? Und Sie haben erwidert, Sie könnten es nicht?« »Ja, das stimmt.« »Und darauf hat er gesagt: ›Ich werde Sie in den Zeugenstand rufen und Sie fragen, ob zwischen den beiden Stimmen irgendwelche Unterschiede bestünden, und dann können Sie erwidern, daß Sie keinen besonderen Unterschied festgestellt hätten.‹ War es so?« »So genau kann ich mich daran nicht mehr erinnern.« »Der Vorschlag, daß Sie aussagen sollten, es bestünden keine besonderen Unterschiede, stammt aber von Hamilton Burger, nicht wahr?« »Ja.« »Das genügt«, sagte Mason. »Keine weiteren Fragen«, sagte Hamilton Burger. »Meine nächste Zeugin ist Mrs. Newton Maynard, und ich hoffe, Mr. Mason, daß Ihr Kreuzverhör dieses Mal etwas ausführlicher sein wird.« »Der District Attorney sollte sich jeder Nebenbemerkung enthalten«, tadelte der Richter. Mason blickte lächelnd zu dem wütenden Burger hinüber. Als Mrs. Maynard vortrat, wurde ganz deutlich, daß sie irgendeine Verletzung erlitten haben mußte. Ihr linkes Auge war verbunden. Mrs. Maynard hob die rechte Hand und machte es -2 0 8 -
sich dann bequem. Hamilton Burger stellte ihr erst ein paar einleitende Fragen und sagte schließlich: »Wo waren Sie am 22. September dieses Jahres?« »Zuerst in Los Angeles, dann in Sacramento, und zwar noch am gleichen Tag.« »Und wie sind Sie von Los Angeles nach Sacramento gekommen, Mrs. Maynard?« »Mit dem Pacific Greyhound Bus.« »Wissen Sie noch, wann der Bus in Los Angeles abfuhr?« »Doch, Sir - um dreiviertel neun.« »Und wann kamen Sie in Sacramento an?« »Abends gegen zehn nach zehn. Eigentlich sollte der Bus fünf nach zehn ankommen, aber er hatte fünf Minuten Verspätung.« »Hatten Sie am 22. September Gelegenheit, sich mit der in diesem Verfahren Beklagten zu unterhalten?« »Doch, das hatte ich, Sir.« »Wann haben Sie die Beklagte Myrtle Fargo zum erstenmal gesehen?« »Zum erstenmal habe ich sie gesehen, als sie in Bakersfield aus einem Taxi stieg.« »Haben Sie sie früher schon einmal gesehen?« »Nein, Sir.« »Aber Sie sind die Strecke zwischen Los Angeles und Bakersfield mit dem Bus gefahren?« »Das bin ich, Sir.« »Befand sich die Beklagte auch in dem Bus?« »Eben nicht!« »Das wissen Sie ganz genau?« »Das weiß ich todsicher!« -2 0 9 -
»Hätten Sie sie denn sehen müssen, wenn sie ebenfalls im Bus gewesen wäre?« »Dann wäre sie mir bestimmt aufgefallen. Zwischen Los Angeles und Sacramento ist die Frau nicht im Bus gewesen. Sie stieg erst in Bakersfield zu, und zwar kam sie mit einem Taxi an und trug einen dichten Schleier. Das Taxi wurde von dem Mann gefahren, der eben als Zeuge ausgesagt hat.« In selbstgerechter Sicherheit preßte Mrs. Maynard ihre Lippen zu einem schmalen Strich zusammen und blickte Mason an, als wollte sie sagen: »Na - mal sehen, ob du meine Aussage auch erschüttern kannst.« »Haben Sie mit der Beklagten gesprochen?« fragte Burger. »Das habe ich, Sir.« »Länger?« »Ja, Sir.« »Wollen Sie dem Gericht erklären, wie es dazu kam, Mrs. Maynard?« »Wahrscheinlich bin ich etwas neugierig - vielleicht, aber ich bin eben kein Mensch, der für sich allein sein kann. Auf Reisen möchte ich etwas erleben, und das kann man nicht, wenn man sich einfach in irgendeine Ecke zurückzieht und...« »Das ist klar«, sagte der District Attorney, »aber kommen wir jetzt bitte zur Hauptsache, Mrs. Maynard. Können Sie uns vielleicht berichten, wie es kam, daß...« »Das will ich doch die ganze Zeit«, fauchte sie. »Bitte, unterbrechen Sie mich nicht dauernd.« Einige Zuhörer kicherten, und der Richter schmunzelte breit. »Dann erzählen Sie weiter«, sagte Hamilton Burger etwas lahm, »aber versuchen Sie, sich so kurz wie möglich zu fassen.« »Wir würden sehr viel mehr Zeit sparen, wenn Sie mich nicht dauernd unterbrechen«, sagte sie bissig. »Was wollte ich eigentlich sagen? Ach ja. Ich erzählte gerade, daß es mich -2 1 0 -
neugierig machte, als ich die Frau tief verschleiert aus dem Taxi steigen sah. Ich beobachtete sie, wie sie in den Warteraum ging; und als sie wieder herauskam, hatte sie den Schleier abgenommen. Dann wurden wir durch den Lautsprecher aufgefordert, wieder einzusteigen, und als ich sah, wie die Frau zum Bus ging, lief ich hinterher, setzte mich hinter sie und fing ein Gespräch mit ihr an. In Fresno stiegen einige Reisende aus. So bekam ich Gelegenheit, mich neben sie zu setzen, und dann haben wir uns unterhalten. Ich gebe zu, daß ich neugierig war und sie ausfragen wollte. Ich wollte zum Beispiel wissen, warum sie vorher einen Schleier getragen hatte.« »Haben Sie sie danach gefragt?« erkundigte sich Hamilton Burger. »Ich versuchte es, hatte jedoch kein Glück. Das heißt, ich stellte ihr die Frage, aber sie behauptete, schon in Los Angeles eingestiegen zu sein, und da dachte ich noch: Lüg doch nicht so, du Schwindlerin, du...« »Was Sie dabei dachten, ist im Augenblick nicht so wichtig«, unterbrach Burger sie, aber in seiner Stimme schwang Siegesgewißheit und Befriedigung mit. »Uns interessiert nur, was die Frau sagte.« »Na schön. Ich fing also damit an, sie nach ihrer Reise zu fragen, und wollte herausbekommen, warum sie den Schleier getragen hatte und warum sie so eilig mit dem Taxi angekommen war, und...« »Vielleicht erzählen Sie uns so genau wie möglich, wie es zu der Unterhaltung kam«, sagte Burger. »Soweit ich mich erinnern kann, sagte ich ungefähr, daß sie hoffentlich nicht annehme, ich interessiere mich für ihre Privatangelegenheiten, aber natürlich sei ich neugierig - und sie unterbrach mich und meinte, daß sie es mir gar nicht übelnehme -2 1 1 -
und sich freue, sich mit jemand zu unterhalten. Bisher habe sie neben einem Mann aus Los Angeles gesessen, der ein bißchen angeheitert gewesen sei, und daß sie Angst gehabt habe, ihr würde schlecht, weil er so nach Alkohol gerochen habe.« »Sonst noch etwas?« »Ja, Sir. Ich wollte sie auf die Probe stellen und sagte: ›Wo ist der Mann denn geblieben? Ich habe ihn gar nicht bemerkt!‹ Sie sah sich daraufhin um und sagte: ›Vielleicht ist er in Bakersfield ausgestiegen.‹ In Bakersfield ausgestiegen!« Mrs. Maynard schnaufte verächtlich. »Er ist überhaupt nicht im Bus gewesen. Ich muß es schließlich wissen. Von Los Angeles an bin ich im Bus gefahren, und ich habe keinen Mann gesehen, der einen Rausch gehabt hätte. Und sie - sie ist auch nicht im Bus gewesen!« »Das wissen Sie genau?« »Ganz genau!« »Was ist auf der Fahrt sonst noch geschehen?« »Von Fresno bis Stockton haben wir die ganze Zeit nebeneinandergesessen, und dann ist sie ausgestiegen. Dafür sind zwei Männer zugestiegen. Einer der Männer versuchte, mir einzureden, sie hätte schon seit Los Angeles im Bus gesessen. Ich merkte jedoch sofort, daß da etwas faul war, und...« »Ihre Ansichten interessieren uns im Augenblick nicht«, sagte Hamilton Burger, »genausowenig wie jede Unterhaltung, an der die Beklagte nicht beteiligt war. Auch die beiden Männer sind unwichtig. Vielleicht dürfen wir Sie später um Einzelheiten bitten, aber im Moment möchte ich nur wissen, wie lange Sie unmittelbar neben der Beklagten gesessen haben.« »Die ganze Zeit bis Stockton. Natürlich sind wir an den Haltestellen ausgestiegen; manchmal dauerte der Aufenthalt länger, manchmal kürzer. Aber wenn der Bus fuhr, habe ich von Fresno an immer neben ihr gesessen, und die ganze Zeit haben wir uns unterhalten.« -2 1 2 -
»Können Sie sich noch an die Kleidung der Beklagten erinnern?« »Bei dieser Frau kann ich mich an jede Einzelheit erinnern«, sagte Mrs. Maynard mit der Entschiedenheit eines Menschen, der seiner Sache völlig sicher ist. »Was trug die Beklagte auf dieser Reise?« »Sie war sehr schlicht angezogen, genauso wie ich, und ich glaube fast, daß ich sogar gesagt habe, wir wären beinahe gleich angezogen, und sie fand es auch und meinte, sie zöge auf Reisen immer ganz einfache Sachen an, aber elegant müßten sie schon sein, und dann machte sie mir auch ein Kompliment über mein Kleid. Was sie genau sagte, weiß ich nicht mehr - nur daß es sehr geschmackvoll wäre. Doch eines mißfiel mir: sie meinte, daß ich wohl schon älter sei. Vielleicht bin ich wirklich ein Jahr oder höchstens zwei älter als sie, aber das ist doch nicht viel, und man sagt mir immer wieder, daß ich im Grunde sehr viel jünger aussehe, als ich tatsächlich bin, und...« »Davon bin ich überzeugt«, sagte Hamilton Burger, und mit einer angedeuteten, leicht spöttischen Verbeugung zu Mason sagte er: »Wollen Sie jetzt vielleicht das Kreuzverhör übernehmen, Mr. Mason?« »Sehr gern«, sagte Mason, erhob sich von seinem Platz am Anwaltstisch und ging, der Zeugin leutselig zulächelnd, um den Tisch herum, bis er wenige Meter von ihr entfernt stehen blieb. »Sie sehen tatsächlich sehr viel jünger aus, Mrs. Maynard«, sagte er. »Woher wollen Sie das wissen?« fauchte sie zurück. »Ich habe Ihnen bisher nicht gesagt, wie alt ich bin.« »Richtig«, sagte Mason lächelnd, »aber trotzdem sehen Sie jünger aus!« »Darauf gebe ich gar nichts«, sagte Mrs. Maynard. »Wahrscheinlich soll es doch nur eine Frechheit sein.« -2 1 3 -
»So hatte ich es wirklich nicht gemeint«, sagte Mason. »Haben Sie Kummer mit Ihrem Auge, Mrs. Maynard?« »Ja, Sir. Ich habe eine Infektion am Auge. Irgendwie habe ich es mir verletzt, und dann hat es sich entzündet. Deswegen muß ich auch einen möglichst eng anliegenden Verband tragen.« »Warum denn eng anliegend?« fragte Mason. »Damit ich meine Brille tragen kann«, erwiderte sie. »Bei einem dicken Verband könnte ich die Brille gar nicht aufsetzen. Aber der Verband ist mit Leukoplast festgeklebt, und deshalb kann ich meine Brille doch tragen.« »Aha«, sagte Mason, »Sie müssen also eine Brille tragen.« »Müssen nicht - ich brauche sie nur.« »Aber Sie tragen eine Brille?« »Gewiß, Sir.« »Wie lange denn schon?« »Seit etwa zehn Jahren.« »Tragen Sie die Brille ständig?« »Nein, Sir.« »Nicht?« »Nein.« »Und wann nicht?« »Beim Schlafen und beim Waschen.« Die Zuhörer lachten. Mason wartete, bis das Lachen verstummt war. »Sie haben jedoch festgestellt, daß Sie mit Brille besser sehen können?« fragte er. »Ich trage sie doch nicht, damit meine Nase gerade bleibt!« Der Richter klopfte mit dem Hammer an die Tischplatte. »Die Zeugin«, sagte er, »sollte sich auf die Beantwortung der Fragen beschränken und Bemerkungen dieser Art unterlassen.« »Dann soll er mir auch vernünftige Fragen stellen, Euer -2 1 4 -
Gnaden«, fauchte die Zeugin verärgert den Richter an. »Fahren Sie fort, Mr. Mason«, sagte der Richter und lächelte leise. »Mit Ihrer Brille können Sie also gut sehen, Mrs. Maynard?« »Gewiß.« »Und wie ist es ohne Brille?« »Dann sehe ich natürlich nicht so gut.« »Sind Sie durch Ihre Augen sehr behindert?« »Überhaupt nicht. Ich sehe ohne Brille fast genauso gut wie mit.« »Sehen Sie zum Be ispiel die Uhr«, sagte Mason, »die an der Rückwand des Gerichtssaales hängt, und können Sie sehen, wie spät es ist?« »Natürlich.« »Jetzt nehmen Sie bitte Ihre Brille ab und versuchen, ob Sie es jetzt auch noch können.« »Einen Moment«, sagte Hamilton Burger. »Euer Gnaden, ich glaube, ich weiß, was der Verteidiger mit diesen Fragen bezweckt. Aber meiner Ansicht besteht für diese Art von Fragen nicht die geringste Begründung. Wenn er dieses Schauspiel weiterführen will, müßte er erst einmal beweisen, daß die Zeugin während des Zeitraums, über den sie gerade ausgesagt hat, ihre Brille nicht aufgesetzt hatte!« »Auf der Reise habe ich die Brille aufgehabt«, sagte Mrs. Maynard. »Die ganze Zeit über hatte ich sie auf, und...« »Wenn das Gericht erlaubt«, sagte Mason, »bin ich meiner Ansicht nach berechtigt, der Zeugin diese Fragen zu stellen. Ich halte es für wichtig, das Ausmaß ihres Sehfehlers genau festzustellen.« Der Richter zögerte. »Mrs. Maynard, hätten Sie etwas dagegen, ihre Brille für kurze Zeit abzunehmen?« -2 1 5 -
»O nein!« Sie nahm die Brille ab, behielt sie in der Hand und blickte zum Richter hoch. »Also bitte«, sagte Mason, »können Sie mir sagen, wie spät es auf der Uhr an der Wand des Gerichtssaales ist?« Sie plinkerte mit dem nicht verbundenen Auge. »Wenn Sie es unbedingt wissen wollen - ohne Brille bin ich blind wie eine Fledermaus! Warten Sie - ich bin vereidigt worden: Ich will also lieber nicht sagen, daß ich tatsächlich blind bin, aber ich kann nicht sehr viel sehen. Ich möchte jedoch betonen, daß ich die Brille während der ganzen Fahrt aufgesetzt hatte, von Los Angeles bis Sacramento.« »Ich verstehe«, sagte Mason. »Setzen Sie Ihre Brille wieder auf, Mrs. Maynard. Da Sie von Ihrer Brille so abhängig sind, nehme ich doch an, daß Sie nicht nur diese eine Brille besitzen?« »Was meinen Sie damit?« »Sie haben sicher eine Reservebrille in der Handtasche, die Sie auf dem Schoß haben, so daß Sie für den Fall, daß Ihre Brille kaputt geht...« »Wieso sollte meine Brille kaputtgehen?« fragte sie. »Bestimmt nicht. Eine Brille ist kein Autoreifen. Sie bekommt kein Loch, so daß man dauernd eine zweite mit sich herumschleppen muß.« »Sie meinen, Sie besitzen nur diese eine Brille?« »Ja, und das genügt auch. Mit zwei Brillen sieht man auch nicht besser als mit einer - vielleicht sogar schlechter.« »Aber hin und wieder springt doch mal ein Glas, oder es bekommt Kratzer?« »Meine nicht!« »Auch am 22. September war Ihre Brille völlig in Ordnung?« »Ja.« -2 1 6 -
»Ist dies die gleiche Brille, die Sie auf der Reise getragen haben?« Die Zeugin zögerte. »Antworten Sie!« »Warum denn nicht?« »Das weiß ich nicht«, sagte Mason. »Deswegen habe ich Sie auch gefragt, Mrs. Maynard. Ist es die gleich Brille?« »Ja.« »Dann«, sagte Mason beiläufig, »wundere ich mich, warum Sie um den 20. September herum zu dem Optiker Carlton B. Radcliff gingen und sich neue Gläser einsetzen ließen?« Für einen Augenblick wirkte die Zeugin so verwirrt, als hätte Mason sie geschlagen. »Los!« sagte Mason, »beantworten Sie meine Frage.« Die Zeugin blickte sich um, als suchte sie eine Möglichkeit, aus dem Zeugenstand zu fliehen. Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und sagte schließlich: »Das war eine andere Brille.« »Da Sie nur diese eine Brille besitzen«, sagte Mason, »würde ich gern erfahren, wem die andere Brille gehört, Mrs. Maynard?« »Einen Moment, Euer Gnaden«, sagte Hamilton Burger schnell und versuchte, Zeit zu gewinnen, damit die Zeugin sich fassen konnte. »Ich glaube, diese Dinge gehören nicht zum Kreuzverhör. Schließlich spielte die Brille bisher keine Rolle und...« »Einspruch abgelehnt«, unterbrach der Richter ihn. Ohne den Blick von der Zeugin zu nehmen, forderte er Burger mit einer Handbewegung auf, sich hinzusetzen. »Wir wollen doch einmal sehen, was die Zeugin auf diese Frage zu antworten hat - ohne dauernde Unterbrechungen. Können Sie diese Frage beantworten, Mrs. Maynard?« -2 1 7 -
»Natürlich kann ich sie beantworten.« »Dann tun Sie es bitte.« »Ich - ich - muß ich denn für alles, was ich tue, Rechenschaft ablegen?« »Die Frage«, sagte Richter Keith, »lautete, welche Brille Sie zum Optiker brachten, wenn Sie keine zweite besitzen.« »Sie gehörte einem Freund.« »Wie heißt der Freund?« fragte Mason. »Ich - das geht Sie nichts an.« »Sie wollen also meine Frage nicht beantworten?« meinte Mason. Hamilton Burger war aufgesprungen. »Euer Gnaden«, sagte er, »ich finde, daß diese Frage erheblich zu weit geht. Die Zeugin hat unmißverständlich versichert, daß sie ihre Brille zu dem Zeitpunkt, zu dem sie der Beklagten begegnete, aufgehabt habe; ferner sagte sie aus, daß sie die Brille während der ganzen Zeit, über die sie hier berichtet, getragen habe. Der Verteidiger hat jetzt nachzuweisen versucht, was geschehen wäre, wenn die Zeugin ihre Brille nicht aufgesetzt gehabt hätte. Und jetzt geht er sogar noch weiter, um zu erfahren, was na ch der fraglichen Zeitspanne geschehen ist.« »Weil ich damit nachweisen will, daß die Zeugin ihre Brille gar nicht getragen haben kann«, sagte Mason. »Ich glaube«, sagte Richter Keith, »daß die Verteidigung ihren Standpunkt klargelegt hat, und sollte sich tatsächlich beweisen lassen, daß die Zeugin ihre Brille zu jener Zeit nicht getragen haben kann, hat die Verteidigung die Möglichkeit, diesen Beweis als Teil dieser Verhandlung vorzutragen.« »Genau dasselbe meinte ich«, sagte Hamilton Burger. »Die Zeugin hat gesagt, was zu diesem Fall zu sagen war.« »Ich glaube, ich werde mich dem Einspruch anschließen, soweit er diesen Teil des Kreuzverhöres betrifft«, sagte Richter -2 1 8 -
Keith. »Sie haben Ihren Standpunkt dargelegt, Mr. Mason, und wenn Sie beweisen können, daß die Zeugin ihre Brille in der fraglichen Zeit gar nicht getragen haben kann oder nicht getragen hat, liegt der Fall natürlich anders.« »Ich habe lediglich die Absicht, die Aussage der Zeugin in Frage zu stellen«, sagte Mason. »Das können Sie nur in den Punkten, die in einer direkten Beziehung zu ihrer Aussage stehen - mit anderen Worten: in der Frage, ob die Zeugin die Brille in der fraglichen Zeit, nicht aber zu einem späteren Zeitpunkt getragen hat oder nicht. Fahren Sie fort.« »Als Sie die Beklagte zum erstenmal sahen, war sie tief verschleiert, nicht wahr?« fragte Mason. »Ja, Sir.« »Verhinderte der Schleier, daß man das Gesicht erkennen konnte?« »Ja, Sir. Das sollte er auch. Deshalb trug sie ihn doch!« »Als sie dann den Warteraum wieder verließ, trug sie den Schleier also nicht mehr?« »Nein.« »Und damit hatten Sie das Gesicht der Beklagten zum erstenmal gesehen?« »Ja, Sir.« »Woher wußten Sie dann, daß die Person, die Sie in diesem Augenblick sahen, die gleiche war, die den Warteraum mit einem Schleier vor dem Gesicht betreten hatte?« »Ja - wahrscheinlich an ihrer Kleidung.« »Können Sie die Kleidung beschreiben?« »Nicht in allen Einzelheiten. Ich - ich wußte nur, daß es die gleiche Frau war, die herauskam. Mehr nicht.« »Wissen Sie, wie viele Frauen sich im Warteraum -2 1 9 -
aufhielten?« »Natürlich nicht.« »Sie sahen nur eine Frau den Warteraum betreten, die einen Schleier vor dem Gesicht trug, und dann sahen Sie die Beklagte herauskommen, und an Hand irgendeines Denkvorganges kamen Sie zu der Vermutung, daß es die gleiche Person war?« »Aber ich weiß genau, daß es die gleiche Person war.« »Woher?« »Weil ich sie wiedererkannte.« »Woran?« »An ihrer Kleidung.« »Was trug die betreffende Person?« »Genau kann ich es Ihnen heute nicht mehr aufzählen, aber doch ungefähr. Ich kann Ihnen nämlich genau aufzählen, was ich anhatte, und ich weiß, daß sie fast genauso angezogen war. Wir unterhielten uns noch darüber...« »Das habe ich bereits begriffen«, sagte Mason. »Diese Aussage machten Sie vorhin schon. Aber können Sie uns ganz genau aufzählen, wie die Beklagte gekleidet war?« »Ich weiß genau, daß sie etwas Dunkles trug, fast die gleiche Farbe wie ich, und daß wir uns noch darüber unterhielten, und ich weiß genau, was ich damals trug... « »Ich frage Sie noch einmal, ob Sie uns aus Ihrer Erinnerung heraus genau berichten können, wie die Beklagte gekleidet war?« »Und wenn ich es täte, würden Sie mich doch nur fragen, wie die Frau, die hinter mir saß, angezogen war, oder was die Frau, die vor mir saß, getragen hat, und wenn ich diese Fragen nicht beantworten kann, machen Sie sich über mich lustig.« Der Gerichtssaal dröhnte vor Lachen. Richter Keith schlug mit dem Hammer auf den Tisch, um die -2 2 0 -
Ruhe wiederherzustellen. Er lächelte jedoch unverhohlen, als er zu Mason sagte: »Fahren Sie fort.« »Sie können sich also nicht erinnern, was die Beklagte trug?« »Ich kann mich nur daran erinnern, wie wir uns darüber unterhielten, daß wir die gleiche Farbe trugen. Wenn Sie aber wissen wollen, was ich trug...« »Das interessiert mich nicht«, sagte Mason. »Ich versuche lediglich, Ihr Erinnerungsvermögen zu prüfen und herauszubekommen, ob Sie sich erinnern können, wie die Beklagte gekleidet war.« »Das kann ich nicht sagen.« »Wie wissen Sie dann aber so genau, daß es die Beklagte war, die den Warteraum betrat und dabei einen dichten schwarzen Schleier trug?« »Es ist doch nur logisch, daß sie es war. Sie war die einzige, die herauskam - ich weiß nicht mehr, wie ihre Kleidung aussah, aber ich weiß, daß die Frau, die den Warteraum ohne Schleier verließ, jene Frau war, die ihn mit einem Schleier vor dem Gesicht betreten hatte. Das kann ich beschwören!« »Wenn Sie sich nun jedoch geirrt haben und Ihre Brille doch nicht aufgesetzt hatten, hätten sie die Betreffende gar nicht genau sehen können, nicht wahr?« »Ich hatte meine Brille aber aufgesetzt!« »Wenn Sie sie jedoch nicht aufgesetzt hatten, hätten Sie die Frau nicht genau erkennen können, nicht wahr?« »Nein.« »Danke«, sagte Mason, »das genügt.« »Und damit ist die Zeugenvernehmung der Anklage abgeschlossen«, sagte Hamilton Burger. Richter Keith schien von dieser Wendung deutlich überrascht zu sein, und genauso erging es den meisten Zuhörern. -2 2 1 -
»Das Gericht zieht sich für zehn Minuten zurück«, sagte Richter Keith. »Anschließend beginnt die Vernehmung der von der Verteidigung benannten Zeugen.« »Mensch, Perry«, sagte Paul Drake während der Pause mit leiser Stimme zu dem Anwalt, »meiner Meinung nach solltest du die Sache ein bißchen ernster nehmen. Immerhin geht es um einen Mord!« »Warum soll ich es denn nicht einmal auf diese improvisierte Art versuchen?« erwiderte Mason. »Solange ich keine Handhabe zur Verteidigung besitze, kann Burger meine Mandantin mit Leichtigkeit des Mordes überführen, und wir stehen dann vor der Wahl, Mrs. Fargo entweder in den Zeugenstand zu schicken, oder aber es zu lassen.« »Und beides ist übel?« fragte Drake, »Entsetzlich wäre es!« sagte Mason. »Stellen wir sie nicht in den Zeugenstand, wird das Gericht sie verdonnern, tun wir es jedoch, und versucht sie, ihr Alibi durchzupauken, ist sie fix und fertig. Unsere einzige Chance besteht darin, daß man dem Gericht erzählt, was ich für wahr halte - eine Geschichte, die sie aus irgendwelchen Gründen nicht erzählen will.« »Und die wäre?« fragte Drake. »Sie hatte die Absicht, mit dem Bus zu ihrer Mutter zu fahren, bekam dann aber Ärger mit ihrem Mann. Er hatte einen Teil ihres Vermögens investiert, das sie von einem reichen Onkel geerbt hatte. Ich halte es für ziemlich erwiesen, daß Fargo Kontoauszüge fälschte und Schulden in Höhe von fünfundzwanzigtausend, vielleicht auch dreißigtausend Dollar hatte. Ich nehme demnach an, daß Mrs. Fargo ihn durchschaut hatte, und das scheint mir auch ein verständliches Argument zu sein. Ich nehme ferner an, daß sie ihm mit der Polizei drohte, und ich könnte mir vorstellen, daß er sie daraufhin in ihr Schlafzimmer einschloß und sie gefangenhielt. Ich halte es für möglich, daß sie im Schlafzimmer war, als ich das Haus -2 2 2 -
besichtigte, um es angeblich zu kaufen, und ich glaube, daß Fargo die Absicht hatte zu verschwinden.« »Und dann kam es deiner Ansicht nach zu einem Kampf?« fragte Drake. »Ich nehme an, daß Fargo die Tür aufschloß und wahrscheinlich versuchte, sie zu erwürgen, daß sie jedoch ein Messer in der Hand hatte und auf ihn einstach, ohne ihn gleich töten zu wollen, sondern nur in Notwehr, blindlings. Sie traf Fargos Hals, verletzte eine Schlagader, sah, was sie angerichtet hatte, und rannte in panischer Angst aus dem Haus, sprang in den Wagen und brauste los - immer mit dem Gefühl, daß sie ein einwandfreies Alibi hätte, wenn sie den Bus noch erreichte. Ich nehme sogar an, daß sie wirklich mit dem Flugzeug um sechs fliegen wollte und daß der Bus nur eine Notlösung war, um ein Alibi zu haben. Ich glaube schließlich, daß sie ihre Mutter anrief, die die Geschichte mit dem Bus bestätigen mußte.« »Angenommen, du bringst sie in den Zeugenstand und läßt sie diese Geschichte selbst erzählen?« fragte Drake. »Es wäre Notwehr gewesen und...« »Schon die Tatsache, daß sie versuchte, sich ein falsches Alibi zu besorgen und daß sie bei ihrer Vernehmung falsch ausgesagt hat, um ihr Alibi aufrechtzuerhalten, würde die Öffentlichkeit hoffnungslos gegen sie einnehmen. Sie muß irgendeinen Grund haben, daß sie die wahre Geschichte nicht erzählt. Wenn ich diesen Grund nur herausbekäme und vorbringe n könnte, hätte ich vielleicht eine Chance.« »Ob es nicht ein Versuch ist, ihren Sohn zu schützen?« »Nein. Eine Weile glaubte ich das auch, aber jetzt nicht mehr. Es ist irgend etwas anderes - ein sehr überzeugender und triftiger Grund.« »Kannst du sie denn nicht zwingen, endlich die Wahrheit zu sagen?« »Nein.« -2 2 3 -
»Und kannst denn du dem Gericht nicht erzählen, was sich tatsächlich abgespielt hat?« »Wenn ich den Grund wüßte, der ihr den Mund versiegelt, könnte ich es. Aber ohne diesen Grund würde ich sie nur noch tiefer hineinreiten, als sie bereits ist. Die Leute würden sofort glauben, daß die Geschichte nur von mir erfunden ist, daß sie in Wirklichkeit jedoch ihren Mann umgebracht hat, um die Versicherungssumme zu bekommen.« »Wie hoch ist sie denn?« »Fünfundzwanzigtausend Dollar. Sie genügt gerade, um die Schulden ihres Mannes zu bezahlen.« »Läuft die Versicherung auf ihren Namen, oder kommt die Summe zum Vermögen?« »Sie ist Begünstigte.« »Du steckst wirklich in einer üblen Sache, Perry«, sagte Drake. »Das weiß ich selbst«, sagte Mason. »Die einzige Genugtuung ist für mich, daß wir erst in der Vorverhandlung sind. Wenn es mir gelingt, die Aussage der Maynard zu erschüttern, werde ich bis zur Hauptverhandlung wahrscheinlich sehr viel mehr wissen.« »Willst du versuchen, daß deine Mandantin nach der Vorverhandlung freigelassen wird?« »Nein«, erwiderte Mason. »Soll das Gericht mit ihr machen, was es will. Ich wage nicht, sie in den Zeugenstand zu bringen; ich kann einfach nichts tun, bis ich sie so weit habe, daß sie mit der Wahrheit herausrückt.« »Und du bist überzeugt, daß ihr Alibi falsch ist?« »Es ist bestimmt falsch«, sagte Mason. »Der District Attorney hat es ziemlich durchlöchert. Aber vielleicht gelingt es mir doch, die Maynard in Mißkredit zu bringen, wenn wir die Sache mit der Brille geklärt haben. Da sie nur eine Brille besitzt, schaffen -2 2 4 -
wir es vielleicht. Dazu müssen wir jedoch abwarten, was der Optiker Radcliff zu sagen hat.« Della Street trat dicht an Mason heran und sagte: »Chef, ich habe wieder etwas erfahren.« »Was denn?« »Mrs. Ingram benutzt das gleiche Parfüm wie ihre Tochter.« Mason überlegte. »Ich sehe zwar nicht, daß es uns weiterbringt, aber interessant ist es auf jeden Fall. Clark Seilers meint jedoch, daß die Adresse auf dem Umschlag, der das Geld enthielt, einwandfrei von Myrtle geschrieben wurde. Sie aber schwört immer noch, daß sie die Adresse nicht geschrieben hat, daß sie mir auch kein Geld geschickt und... Das Gericht kommt zurück.« Richter Keith, der wieder seinen Platz eingenommen hatte, sagte zu Mason: »Die Verteidigung hat das Wort.« »Euer Gnaden, ich möchte nur einen Zeugen aufrufen.« Das Gesicht des District Attorney erhellte sich bei der Vorstellung, Mrs. Fargo ins Kreuzverhör nehmen zu können, aber Mason sagte: »Den Optiker Carlton B. Radcliff.« Ein würgender, fast erstickter Schrei drang durch die Stille des Gerichtssaales. Alles drehte sich zu Mrs. Maynard um, die aufgesprungen war. »Das dürfen Sie nicht!« rief sie. »Sie dürfen mein Privatleben nicht an die Öffentlichkeit zerren und...« Richter Keith benutzte seinen Hammer. »Ruhe!« dröhnte seine Stimme. »Die Zuhörer haben Ruhe zu bewahren. Die Rechte der Parteien werden von den jeweiligen Anwälten geschützt!« Mrs. Maynard wankte leicht, bekam dann einen Hustenanfall und sank schließlich auf ihren Platz zurück. Mason betrachtete Radcliff nachdenklich mit gerunzelter Stirn, während er ihm die üblichen einleitenden Fragen stellte, -2 2 5 -
und sagte endlich: »Sie sind also geprüfter und amtlich zugelassener Optiker, Mr. Radcliff. »Ja - das bin ich, Sir.« »Und Sie sind mit Mrs. Newton Maynard, der vorhin vernommenen Zeugin, bekannt?« »Ja, Sir.« »Zu Ihrem Beruf gehört auch die Verschreibung und Anpassung von Brillen?« »Ja, Sir.« »Haben Sie Mrs. Maynard am 21. September dieses Jahres gesehen?« »Leider nicht, Sir.« »Sie haben Mrs. Maynard nicht gesehen?« fragte Mason. »Nein, Sir.« »Vielleicht aber am zwanzigsten?« »Nein, Sir.« »Ich dachte, sie hätte Ihnen eine Brille zur Reparatur übergeben?« »Doch - das stimmt, Sir.« »Wann denn?« »Am 22. September.« »Am 22. September?« rief Mason aus. Dann wandte er sich an den Richter. »Ich muß das Gericht um Nachsicht bitten. Dieser Zeuge ist keineswegs übelwollend; er hatte sich jedoch bisher geweigert, irgend etwas auszusagen, weil er der Ansicht ist, daß er damit die Interessen seiner Patientin verletzen würde. Er war dazu nur bereit, wenn er vorgeladen und in den Zeugenstand gerufen würde.« »Ich verstehe«, sagte Richter Keith, beugte sich nach vorn und zeigte damit sein Interesse. »Wann war es am 22.?« fragte Mason den Zeugen. -2 2 6 -
»Morgens gegen acht Uhr.« »Ist Ihr Geschäft um diese Zeit schon geöffnet?« »Nein, Sir, aber ich wohne unmittelbar über dem Laden und habe in der Wohnung einen Nebenanschluß des Geschäftstelefons. Sie rief mich um acht Uhr an und sagte, sie hätte eine sehr eilige Reparatur, und wie lange ich brauche, um neue Gläser in eine Brille einzupassen.« »Und was haben Sie darauf erwidert?« »Ich erwiderte, daß ich diese Reparatur erst am nächsten Tage fertig haben könne, und sie bat mich daraufhin, die Brille in ihre Wohnung zu schicken, sobald sie fertig sei.« »Und dieses Gespräch fand um acht Uhr morgens statt?« »Ja. Es dauerte vielleicht eine Minute oder zwei. Ich hatte gerade mit meinem Frühstück angefangen, und ich frühstücke immer Punkt acht.« »Hat sie Ihnen die Brille persönlich gebracht?« »Das hat sie nicht. Wenige Minuten nach dem Gespräch wurde die Brille durch einen Boten bei mir abgeliefert.« »Wer war der Bote?« »Ein Junge. Ich hatte ihn noch nie gesehen. Die Brille befand sich in einem kleinen Päckchen.« »Und wann wurde Mrs. Maynard die Brille wieder zugeschickt?« »Am 23. - wie ich es versprochen hatte.« »Soweit ich Sie also verstehe«, sagte Mason siegessicher, »schickte Mrs. Maynard Ihnen ihre Brille am 22. September gegen acht Uhr morgens zu und erhielt sie erst am darauffolgenden Tag zurück. Wenn Mrs. Maynard keine zweite Brille besitzt, kann sie folglich während des ganzen 22. September ihre Brille nicht getragen haben. Ich glaube, Sie können Ihre Fragen stellen, Mr. Burger.« -2 2 7 -
»Eine Sekunde«, sagte der Zeuge. »Ich weiß nicht, ob es eine Frage von Ihnen war, aber Mrs. Maynard konnte ihre Brille auch am 22. aufsetzen. Die mir zur Reparatur zugeschickte Brille war nämlich nicht die Ihre.« »Es war nicht Mrs. Maynards Brille?« fragte Mason und versuchte, seine Enttäuschung zu verbergen. Der District Attorney lächelte äußerst zufrieden. »Nein, Sir«, sagte Radcliff, »die Gläser waren völlig andere.« »Wissen Sie das genau?« »Natürlich. Es waren Gläser für eine etwa sechzigjährige Person. Mrs. Maynard konnten sie unmöglich passen.« »Wollen Sie damit sagen«, fragte Mason, »daß Sie Mrs. Maynards Brillenstärke kennen?« »Ich kenne sie nicht, aber ich weiß, daß diese Brille ihr nicht gehörte.« »Wie können Sie so etwas behaupten, wenn Sie ihre Brillenstärke nicht kennen?« »Weil ich mir ihre Augen nur einmal anzusehen brauche und dann weiß, welche Gläser ungefähr passen würden. Mrs. Maynard hat die charakteristisch großen Pupillen und das sehr klare Weiß des Augapfels, wie man es bei Kurzsichtigen findet. Die Gläser der mir zur Reparatur übergebenen Brille waren jedoch für einen Weitsichtigen, der ungefähr sechzig Jahre alt sein mochte.« »Sie können also das Alter des Betreffenden von der Brillenstärke ablesen?« »Im allgemeinen - ja. An Hand einer Brille kann man tatsächlich eine Menge über ihren Träger erzählen. Die Brille gehörte vermutlich einem Menschen vom slawischen Typus. Auf Grund des Nasenbügels würde ich außerdem sagen, daß sie eher einem Mann als einer Frau gehörte. Der Betreffende muß eine etwas knollige Nase haben, und...« -2 2 8 -
»Würden Sie uns freundlicherweise erklären«, sagte Mason, dem der Sieg, den er bereits in der Tasche zu haben glaubte, plötzlich wieder entrissen war, und der seiner Verwirrung freien Lauf ließ, »würden Sie uns freundlicherweise erklären, wieso Sie auf Grund der Brille feststellen können, daß der Träger dem slawischen Typus angehört?« »Genau kann man es natürlich nicht - deswegen sagte ich auch ›vermutlich‹«, berichtigte der Zeuge. »Und was brachte Sie zu der Ansicht, daß es sich um einen Menschen vom slawischen Typus handelte?« »Brillen können eine Menge erzählen«, erläuterte Radcliff. »Da ist nicht nur die Stärke der Gläser, da sind auch noch Form, Art und Bau des Gestells. Bei der fraglichen Brille zum Beispiel war der Nasenbügel sehr breit, was auf eine knollige Nase hinweist, während die Seitenbügel vom Scharnier bis zum Beginn der Biegung nur etwa acht und einen halben Zentimeter lang waren. Dies wiederum weist auf eine Person hin, deren Schädelform man gewöhnlich beim slawischen Typus findet. Die normale Länge der Bügel beträgt zwischen zehn und zwölf, seltener zwölfeinhalb Zentimeter. Bei anderen Typen stehen die Augen weiter auseinander. Abgesehen von dieser Feststellung deutete verschiedenes darauf hin, daß das linke Ohr schätzungsweise einen Zentimeter höher angesetzt war als das rechte. Ferner befanden sich an den Vorderseiten der Gläser parallel verlaufende Schrammen, die darauf schließen ließen, daß die Person, der die Brille gehörte, diese häufig abnahm und sie mit den Büge ln nach oben ablegte. Gewöhnlich greifen feine Partikel optische Gläser nicht an. Wenn die Brille jedoch auf eine harte Fläche gelegt wird, auf der sich sehr feine Sandkörner oder ähnliche Substanzen befinden, besteht natürlich die Möglichkeit, daß die Gläser verkratzt werden. Dies gilt besonders für die betreffende Brille, deren Gläser auffallend stark nach außen gewölbt waren, so daß sie beim Ablegen auf eine Tischplatte naturgemäß leicht verschrammt werden -2 2 9 -
konnten.« »Und das alles haben Sie an Hand der Brille festgestellt?« »Ja, Sir - an den Gläsern und an den Bügeln.« »Warum haben Sie sich so gründlich für die Brille interessiert?« fragte Mason. »Weil es zu meinem Beruf gehört.« »Und was haben Sie mit der Brille gemacht?« »Ich habe die Gläser ersetzt und die Brille am Vormittag des 23. September an die Adresse von Mrs. Maynard in Los Angeles durch einen Boten überbringen lassen.« »Ich glaube, das ist alles«, sagte Mason. »Ich glaube auch«, sagte der District Attorney mit breitem Grinsen. »Keine Fragen mehr!« »Weitere Zeugen?« wurde Mason von Richter Keith gefragt. Mason schüttelte den Kopf. »Unter den vorliegenden Umständen, Euer Gnaden, werden wir wahrscheinlich auf jede weitere Verteidigung verzichten. Wir verzichten auch auf jeden Einspruch, wenn das Gericht die Beklagte weiterhin in Haft behalten will. Da es inzwischen jedoch schon spät geworden ist, würde ich die Verhandlung gern bis morgen vertagen, um den Fall noch einmal zu überdenken.« Im gleichen Augenblick sprang der District Attorney auf. »Wir erheben Einspruch dagegen, daß ein weiterer Tag für diese Verhandlung... « »Vielleicht entschließe ich mich morgen, die Beklagte in den Zeugenstand zu rufen«, unterbrach Mason ihn. Hamilton Burger räusperte sich. »Unter diesen Umständen ziehe ich den Einspruch wieder zurück. Wir sind mit einer Vertagung bis morgen früh einverstanden.« »Also schön - dann bis morgen vormittag um zehn«, sagte Richter Keith. »Die Verhandlung ist damit vertagt.« -2 3 0 -
19 Perry Mason, Paul Drake und Della Street saßen in Masons Büro zusammen. »Was«, fragte Drake, »machen wir jetzt?« Mason war aufgestanden, wanderte durch das Zimmer und erwiderte: »Es ist zum Wahnsinnigwerden, Paul - aber wir drehen uns ununterbrochen im Kreise.« »Und wie kommt das?« »Ich richte mich nach dem, was meine Mandantin sagt, und meine Mandantin lügt wie gedruckt - wahrscheinlich, um ihr Kind zu schützen.« »Ihr Alibi stimmt nicht«, sagte Della Street. »Das steht fest. Wir wissen jedoch nicht, ob sie auch...« »Sie lügt, wenn sie behauptet, mir nicht das Geld geschickt zu haben«, unterbrach Mason sie. »Aber wenn sie diese Sache zugäbe«, sagte Drake, »würde sie sich damit doch keinesfalls schaden. Sie steckt jetzt in einer Situation, in der sie unsere Hilfe dringend braucht. Daß sie bereits einen Vorschuß geleistet hat, erleichtert die ganze Angelegenheit doch erheblich!« Ungeduldig schüttelte Mason den Kopf und sagte : »Eben nicht, Paul. Wir suchen nach Motiven, ohne die Tatsachen zu kennen. Versuchen wir also, die Tatsachen herauszubekommen dann werden wir auch die Motive finden.« »Und was sind nun die Tatsachen?« »Die Tatsachen hängen mit einem Durcheinander von Ereignissen zusammen, und unsere Aufgabe besteht jetzt darin, dieses Durcheinander zu ordnen, um dann festzustellen, wohin die einzelnen Ereignisse gehören. Wenn man dabei immer bedenkt, daß sie ein Beweis für menschliches Leben, menschlichen Haß und menschliche Ängste sind, gelingt es vielleicht auch, das ganze Problem zu begreifen.« -2 3 1 -
»Wo aber sollen wir anfangen?« fragte Della Street. »Anfangen kann man überall«, sagte Mason. »Soweit wir allerdings selbst in die Angelegenheit verwickelt sind, müssen wir mit dem Augenblick anfangen, in dem wir die Golden Goose betraten. Fangen wir also damit an, die Ereignisse von diesem Moment an zusammenzusetzen. Erstens müssen diese Frau und ihr Mann in der Golden Goose gewesen sein. Irgend jemand hat zwar die Frau, nicht aber ihren Mann auf mich aufmerksam gemacht. Ich möchte beschwören, daß Arthman Fargo keine Ahnung hatte, wer ich war, als ich ihn am nächsten Morgen anr ief und so tat, als wollte ich ein Grundstück kaufen.« »Gut«, sagte Drake, »dann muß es dieser Pierre gewesen sein, der die Fargo auf dich aufmerksam gemacht hat. Je mehr wir über Pierre herausbekommen, desto genauer werden wir merken, daß er in irgendeine undurchsichtige Sache verwickelt ist. Im Augenblick ist er allerdings spurlos verschwunden. Er hat den Nachtklub kurz nach der Unterhaltung mit dir verlassen und ist seitdem nicht wieder aufgetaucht.« »Damit hätten wir also die erste wichtige Tatsache«, sagte Mason. »Als ich dann mit der Fargo telefonierte, hatte sie aus irgendeinem Grund entsetzliche Angst.« Drake nickte. »Und kurze Zeit nach diesem Gespräch«, fuhr Mason fort, »und auch kurz nach einem Gespräch, das ich mit Pierre führte, kam eine uns völlig fremde Frau an unseren Tisch und erzählte uns die Geschichte von ihrem Kind, das ihr gestohlen und dann von Fremden adoptiert worden wäre.« »Aber warum, zum Teufel, willst du denn zwischen diesen beiden Ereignissen eine Verbindung herstellen?« fragte Drake. Mason, der immer noch im Zimmer auf und ab ging, schnalzte plötzlich mit den Fingern seiner rechten Hand. »Das ist die Lösung«, sagte er. »Das ist der Angelpunkt, den ich bisher übersehen habe. Das muß es sein!« -2 3 2 -
»Ich verstehe kein Wort«, sagte Drake. »Paul!« Mason war auf einmal erregt. »Ich brauche nähere Einzelheiten über die Erpressungsgeschichte, in die damals Helen Hampton verwickelt war - du weißt doch: der Zeitungsausschnitt, der ebenfalls in dem Umschlag lag. Ich brauche die Fingerabdrücke... Nein, einen Moment. Dazu langt die Zeit nicht mehr. Wir wissen nicht einmal, was damals eigentlich passiert ist. Ich muß mir eine kurze Zusammenfassung besorgen... Moment, jetzt müssen wir ganz genau überlegen. Wir müssen irgendeinen Punkt finden, an dem wir einhaken können. Wir können es uns nicht leisten, einfach weiter herumzurätseln. Mal sehen!« Mason unterbrach seine Wanderung und blieb nachdenklich stehen. »Helen Hampton, Helen Hampton«, wiederholte er laut vor sich hin. »Die Brille«, sagte er schließlich fast versonnen. »Mrs. Maynard wäre am liebsten im Erdboden versunken, als ich von der Brille anfing... Und Arthman Fargos Freundin arbeitet in der Golden Goose, war jedoch früher mit Pierre verheiratet...« Wieder schnalzte Mason mit den Fingern. »Ich habe es!« sagte er triumphierend. »Bei Gott - ich habe es!« »Darf man vielleicht erfahren, was du hast?« fragte Drake. Mason zog ein Notizbuch aus der Tasche. »Hier ist die Telefonnummer von Celinda Gibson, Della. Rufen Sie sie gleich an. Und wenn sie selbst am Apparat ist, lassen Sie Ihre Stimme möglichst aufgeregt klingen. Es muß sich anhören, als seien Sie gerannt, als hätten Sie keine Puste mehr, als hätten Sie fürchterliche Angst und versuchten, ihr nur schnell noch etwas durchzusagen. Glauben Sie, daß Sie es schaffen?« »Versuchen kann ich es«, sagte Della Street. »Warten Sie, bis Celinda Gibson selbst am Apparat ist. Und dann erzählen Sie ihr, daß Sie eine Freundin von Helen Hampton wären, daß die Polizei ihr unter dem Vorwand, eine -2 3 3 -
Blutprobe zu machen, irgendein Wahrheitsserum eingespritzt hätte und daß sie jetzt redete. Dann legen Sie den Hörer einfach wieder auf - aber mit einem leisen Aufschrei, als wären Sie am Telefon überrascht worden oder als müßten Sie die Zelle überstürzt verlassen.« »Ach du meine Güte!« sagte Della Street. »Vielleicht hätte ich mich lieber zur Schauspielerin ausbilden lassen sollen.« »Das sind Sie auch ohne Ausbildung, und dazu noch eine verdammt gute!« meinte Mason. »Also los. Aber probieren wir es lieber erst einmal.« »Mit einem Manuskript geht es sicher besser«, sagte Della Street. »Schön, dann schreiben Sie eins. Die Worte müssen nur so heraussprudeln. Und es muß klingen, als wäre der Teufel los. Sie dürfen weder stottern noch zögern; es muß klingen, als hätten Sie entsetzliche Angst!« »Ich verstehe gar nichts mehr«, sagte Paul Drake. »Was willst du denn mit der Sache erreichen, Perry.« Mason grinste. »Ich versuche, den Mann zu finden, dem die Brille gehört.« Della Street spannte einen Bogen in die Schreibmaschine, und dann hämmerten ihre Finger auf die Tasten. Mason stand hinter ihr, blickte ihr über die Schulter, nickte ein paarmal und sagte schließlich: »Das ist sehr gut, Della!« Della Street nahm den Bogen aus der Maschine, blieb neben dem Telefon stehen und überflog das eilig niedergeschriebene Manuskript noch einmal. »Das hier klingt ziemlich schwach«, sagte Mason, der einen Bleistift in der Hand hielt und das Manuskript ebenfalls las. »Es ist nicht eindringlich genug.« Er veränderte einige Wörter und strich einen ganzen Satz; dann schrieb er noch etwas hinein. »So, und jetzt versuchen wir -2 3 4 -
es.« Della Street überflog das Manuskript noch einmal. »Jetzt ist es gut«, sagte Mason und deutete auf das Telefon. »Rufen Sie gleich an.« Gespannt und schweigend beobachteten sie, wie Della Street die Nummer wählte. »Wenn sie sich nur meldet!« sagte Mason fast tonlos. »Wenn sie sich um Himmels willen nur meldet!« Unvermittelt fing Della Street an zu sprechen. »Hallo Celinda Gibson?... Mein Name spielt keine Rolle. Ich bin eine Freundin von Helen Hampton, eine sehr gute Freundin. Ich bin in alles eingeweiht, wir haben keine Geheimnisse voreinander. Hören Sie genau zu. Kein Mensch sieht, daß ich telefoniere, und es darf auch niemand erfahren. Die Polizei kam vorhin in ihre Wohnung, unter irgendeinem Vorwand. Genaueres weiß ich nicht, weil ich nicht im Zimmer war. Man hat ihr eine Spritze gegeben; die Arme hat es sich einfach gefallen lassen, weil sie glaubte, es handelte sich um eine Blutprobe. Dabei war es Sodiumamytal - Wahrheitsserum. Und jetzt fängt sie an zu reden. Ich habe keine Ahnung, was sie alles erzählt, aber sie redet ununterbrochen. Es klingt, als redete sie im Schlaf, und sie scheint gar nicht mehr aufzuhören. Ich dachte, daß Sie es unbedingt sofort wissen müssen... Ich... Oh!« Della Street dämpfte ihre Stimme zu einem Flüstern. »Ich muß hier weg...« Vorsichtig legte sie den Hörer auf die Gabel. »Das war großartig!« sagte Mason, ging zur Garderobe, griff nach seinem Hut und verließ das Zimmer.
20 Leise klopfte Mason an die Tür von Celinda Gibsons Apartment. »Wer ist da?« rief sie. »Ich«, erwiderte Mason mürrisch. -2 3 5 -
»Seit wann bist du denn so schüchtern? Die Tür ist nicht abgeschlossen, und...« Mason stieß die Tür auf und betrat das Apartment. Celinda Gibson, die nackt vor einem großen Spiegel stand, drehte ihm langsam das Gesicht zu. Das Lächeln, das auf ihrem Gesicht lag, erstarrte und verzerrte sich vor Entsetzen. »Gemeiner Schuft!« schrie sie, und mit einem blitzschnellen Schritt stand sie neben dem Sessel, über dessen Rückenle hne ein Kleid hing. Sie hielt es sich vor den Körper und sagte mit funkelnden Augen: »Eine Frechheit, einfach hier hereinzukommen...« »Immerhin haben Sie mich aufgefordert«, sagte Mason. »Ich dachte, es wäre jemand anderes.« »Wer denn?« »Das geht Sie nichts an.« Mason ging zu dem Sessel, von dessen Rückenlehne sie das Kleid gerissen hatte, setzte sich bequem hin und nahm eine Zigarette aus seinem Etui. »Darf ich Ihnen auch eine anbieten?« fragte er. »Für was halten Sie mich eigentlich?« »Für eine ausgesprochen attraktive junge Frau«, erwiderte Mason. »Irgendwelche Hemmungen scheinen Sie nicht zu haben!« »Ich kenne keine Hemmungen«, bestätigte Mason. »Sondern?« »Ich bin nur grenzenlos neugierig.« Mason zündete die Zigarette an. »Wollen Sie ganz bestimmt nicht rauchen?« »Vielleicht verraten Sie mir lieber, was Sie hier wollen?« »Da Sie bisher mit mir Verstecken gespielt haben, werde ich so lange suchen, bis ich den Richtigen gefunden habe. Dann werden wir weitersehen.« -2 3 6 -
»Und wenn ich nun nicht mitspiele?« »Sie spielen bestimmt mit«, sagte Mason und schlug die Beine übereinander. »Etwas anderes bleibt Ihnen nämlich gar nicht übrig.« »Wollen Sie mir jetzt freundlicherweise verraten, was Sie hier eigentlich wollen?« »Ich verstecke mich.« »Sie verstecken sich?« »Erraten!« »Vor wem?« »Ob Sie es glauben oder nicht«, sagte Mason, »aber ich verstecke mich vor der Polizei.« »Wirklich?« »Ja.« »Dann sind Sie genau an die falsche Adresse geraten.« »Das glaube ich nicht einmal.« »Aber ich. Wahrscheinlich sind Sie sich gar nicht darüber klar, Mr. Mason, daß Sie sich mir jetzt völlig ausgeliefert haben?« »Wirklich?« »Tun Sie doch nicht so!« »Wieso?« »Dadurch, daß Sie mir verraten haben, Sie müßten sich vor der Polizei verstecken. Ich brauche nur zum Telefon zu gehen, den Hörer abzunehmen und mich mit dem Headquarters verbinden zu lassen - und damit wäre für mich alles in bester Ordnung.« »Dann tun Sie es doch«, forderte Mason sie auf. »Wahrscheinlich tue ich es aber nicht.« »Ich kann mir gar nicht vorstellen, was Sie daran hindert. -2 3 7 -
Also bitte!« »Ich hasse es, andere zu verraten.« »Ich verstehe«, sagte Mason. »Sie sind es nicht gewohnt, die Polizei zu rufen.« »Warum verstecken Sie sich eigentlich? Was hat denn die Polizei ausgerechnet gegen Sie?« »Ich habe eine Sache gedreht und bin dabei gestolpert«, sagte Mason. »Was denn?« »Ich hatte nur eine etwas verrückte Idee, von der ich glaubte, daß sie sich bezahlt machte. Leider war es ein Irrtum.« »Weshalb?« »Weil ich damit zu lange gewartet habe. Durch Privatdetektive hatte ich Verbindung zu einem Mädchen, von dem ich ein paar Informationen haben wollte.« »Wie heißt sie?« »Helen Hampton. Wir hatten gewartet, bis wir sie beim Autofahren erwischten, hielten sie an und behaupteten, sie wäre betrunken. Sie bestritt es. Wir gaben uns als Polizei in Zivil aus und verlangten von ihr eine Blutprobe. Da sie stocknüchtern war, willigte sie ein. Auf diese Weise konnten wir genau das tun, was wir uns vorgenommen hatten.« Sie beobachtete ihn mit Augen, die voller verblüffter Neugierde waren. »Und was hatten Sie sich vorgenommen?« »Wir haben ihr statt dessen eine Spritze Sodiumamytal gegeben«, sagte Mason, »und - na ja, Sie werden das Zeug ja kennen. Es ist ein Wahrheitsserum. « »Was, Sie - Sie...« »Eben«, sagte Mason. »Es war zwar ein gemeiner Trick, aber schließlich mußte ich die Wahrheit herausbekommen.« Ihre Augen waren eiskalt und auf der Hut. »Und was haben -2 3 8 -
Sie herausbekommen?« »Eben nichts!« sagte Mason wütend. »Der Schuß ist nach hinten losgegangen. Sie fing gerade an zu reden, als eine ihrer Freundinnen auftauchte, die wahrscheinlich mit ihr zusammenwohnt. Diese Freundin merkte anscheinend sofort, daß etwas nicht stimmte, rannte nach unten und telefonierte. Wir erwischten sie noch und setzten sie unter Druck, und dadurch erfuhren wir, daß sie die Polizei angerufen hatte.« »Und was war dann?« »Was soll dann wohl schon gewesen sein!« sagte Mason. »Wir sind abgehauen! Wir konnten doch nicht mehr dableiben. Aber auf diese Weise bin ich in eine ziemlich üble Situation geraten, wenn mir auch an sich nichts anderes mehr übriggeblieben war.« »Und warum haben Sie es gemacht?« »Weil ich glaubte, ihre Aussage würde uns den wesentlichsten Punkt in dieser Mordsache zuspielen, hinter dem wir schon lange her sind.« »Aber wieso Helen Hampton? Was kann denn sie scho n darüber wissen?« »Nach allem, was sie bis zu unserem etwas plötzlichen Aufbruch erzählt hat, scheint mir, daß sie eine ganze Menge weiß«, sagte Mason. »Und ich soll Ihnen also glauben, daß Sie ausgerechnet in diesem Augenblick einfach weggelaufen sind?« »Immerhin sind wir so lange geblieben, wie es überhaupt möglich war«, erwiderte Mason. »Außerdem war sie auch schon ziemlich schläfrig geworden; vielleicht war die Dosis, die wir ihr gaben, etwas zu groß. Jedenfalls habe ich jetzt einen Anhaltspunkt, mit dem sich etwas anfangen läßt - vorausgesetzt, ich kann der Polizei aus dem Wege gehen.« Celinda Gibson betrachtete ihn nachdenklich. »Aber hier -2 3 9 -
können Sie nicht bleiben.« »Machen Sie keine Witze«, sagte Mason. »Hier könnte ich mich ausgezeichnet verstecken.« »Soll das heißen, daß Sie für länger hierbleiben wollen?« »Bis die Aufregung sich gelegt hat, bis ich...« »Das wäre reiner Wahnsinn, wenn Sie... « »Schließlich«, unterbrach Mason sie, »sind Sie an der Sache doch auch interessiert.« »Wieso soll ich daran interessiert sein?... Sagen Sie, was haben Sie eigentlich mit mir vor? Wollen Sie mich etwa bluffen?« Mason lächelte nur und blies den Rauch seiner Zigarette aus. Unvermittelt sagte sie: »Es geht nicht. Ich erwarte Besuch. Oder ich müßte ihm absagen.« Sie ging zum Telefon. Mason packte ihr Handgelenk. »Lassen Sie mich los!« sagte sie und versuchte, ihre Hand freizubekommen. »Oder ich schreie, oder rufe die Polizei, oder...« »Genau das wollten Sie doch gerade«, sagte Mason. »Wenn Sie erst einmal den Hörer abgenommen haben, rufen Sie die Polizei und...« »Nein, bestimmt nicht - das schwöre ich. Vielleicht kann ich Ihnen doch noch helfen, aber der Besuch, den ich erwarte, darf nicht wissen, daß Sie in meinem Apartment sind. Ich...« »Telefonieren kommt nicht in Frage«, sagte Mason. »Sie werden ihm öffnen und dann sagen, Sie hätten zu tun.« »Dann schlägt er Sie einfach zusammen!« »Wirklich?« »Ja.« »Dann werde ich aufpassen, welche Nummer Sie wählen«, -2 4 0 -
sagte Mason. »Sollte es die Nummer der Polizei sein, reiße ich das Kabel aus der Wand!« »Gut - einverstanden«, sagte sie. Sie ging zum Telefon. Mason folgte ihr. Dann blieb sie plötzlich stehen und sagte nachdenklich: »Irgendwie klingt die ganze Geschichte komisch.« »Wieso?« »Die Sache mit dem Wahrheitsserum, das Sie Helen Hampton gegeben haben wollen. So in die Enge getrieben konnten Sie gar nicht sein. Und Helen wäre bestimmt nicht darauf hereingefallen. Sie... Sagen Sie, woher wußten Sie eigentlich, daß sie Helen Hampton heißt? Wessen Briefe haben Sie denn gelesen? Sie...« Es klopfte leise an die Tür. Wie ein in die Falle geranntes Tier blickte sie Mason an. Mason war mit zwei Schritten an der Tür und riß sie auf. Vor ihm stand Medford D. Carlin, auf dem Gesicht ein albernes Grinsen, das allerdings zu verblüffter Überraschung wurde, als seine blinzelnden Augen den vor ihm Stehenden wiedererkannten. Carlin griff mit der rechten Hand in die Seitentasche seines Jacketts, aber Mason traf ihn blitzschnell an der empfindlichsten Stelle des Kiefers.
21 Mit einem Griff klappte Mason das Wandbett herunter, schleuderte die Decke zur Seite, zerrte das Laken herunter, riß es in lange Streifen und knebelte sorgfältig die bewußtlose Gestalt, die er in das Zimmer gezogen hatte. Dann schnürte er Hände, Arme und Füße mit den Leinenstreifen des Lakens zusammen und bemühte sich sehr, daß auch nicht der geringste Spielraum blieb und die Knoten hielten. -2 4 1 -
Celinda Gibson stand in der jenseitigen Ecke ihres Apartments und biß auf ihren Fingerknöcheln herum. Zweimal setzte sie zum Sprechen an, doch beide Male hatte sie sich wieder gefangen, bevor sie ein einziges Wort gesagt hatte. Mason erhob sich vom Teppich und klopfte sich den Staub von den Knien. »Und was wollen Sie damit nun erreichen?« fragte sie. Mason grinste. »Das kann ich nicht so ohne weiteres sagen. Vielleicht gelingt es mir jetzt doch noch, einen Mord aufzuklären.« »Nun werden Sie nicht albern. Das hier hat mit dem Mord überhaupt nichts zu tun. Dieses Biest von Frau hat ihn umgebracht - das wissen Sie ganz genau!« Nachdenklich betrachtete Mason die verschnürte Gestalt, die sich zu rühren anfing, da Carlin langsam das Bewußtsein zurückgewann. »Und wie paßt der hier in das Bild?« »Es ist ein völlig anderes Bild!« »Oder«, sagte Mason überlegend, »vielleicht auch nur ein anderer Rahmen.« Nach und nach kam der auf dem Fußboden liegende Carlin wieder ganz zu sich und stöhnte leise. Durch den Knebel hörte es sich wie ein erstickter, unartikulierter Laut an. Er schlug die Augen auf, zwinkerte ein paarmal und versuchte plötzlich, sich von den Fesseln zu befreien. Mason beobachtete ihn dabei ziemlich gleichgültig, bis er sah, daß keiner der Knoten nachgab. Dann wandte er sich wieder an Celinda Gibson. »Sie dürfen jetzt natürlich nicht mehr damit rechnen«, sagte er, »daß Carlin zu Ihnen hält. Er ist gerissen. Die ganze Zeit hat er sich schon einen Ausweg freigehalten. Ein ziemlich kluges Kerlchen, dieser Carlin!« Carlin versuchte, etwas zu sagen. Er brachte nur ein -2 4 2 -
unartikuliertes Gurgeln heraus. Mason ging zum Telefon, nahm den Hörer ab, wählte die Nummer der Vermittlung und sagte dann: »Verbinden Sie mich bitte mit dem Headquarters der Polizei.« Das genügte. Celinda stand auf einmal hinter ihm und hatte ihre Arme um seinen Hals gelegt. »Bitte, Mr. Mason - bitte! Tun Sie es nicht. Geben Sie mir doch bitte noch eine Chance! Sie...« »Ich an Ihrer Stelle würde mich jetzt anziehen«, sagte Mason, ohne sich umzudrehen. »Inzwischen können Sie sich überlegen, ob Sie reden wollen oder nicht.« »Ich habe nichts getan, Mr. Mason«, sagte sie. »Ich habe nur schließlich muß man doch irgendwie sein Geld verdienen.« »Haben Sie wenigstens gut verdient?« »Nein.« »Das habe ich auch nicht angenommen«, sagte Mason. »Sie sind zu gutmütig und zu hilfsbereit. Man hat Sie gebraucht und Ihnen wahrscheinlich nur so viel dafür gegeben, daß Sie davon leben konnten.« »Mehr wollte ich wahrscheinlich auch gar nicht.« »Ziehen Sie sich jetzt besser an.« Die auf dem Fußboden liegende Gestalt stieß wieder gurgelnde, unartikulierte Laute aus und rollte den Kopf hin und her, als wollte sie irgend etwas verneinen. »Er bringt mich um, wenn ich etwas sage«, meinte sie. »Wie Sie wollen«, sagte Mason. »Noch haben Sie eine Chance. Er hat einen Knebel zwischen den Zähnen und kann vorerst kein Wort sagen. Wenn Sie Ihre Geschichte zuerst erzählen, kann es Ihnen passieren, daß Inspektor Tragg sie sogar glaubt.« »Wer ist Inspektor Tragg?« -2 4 3 -
»Mordkommission. Sie haben ihn kürzlich kennengelernt.« »Aber ich habe doch schon gesagt, daß ich mit dem Mord nichts zu tun habe!« »Mit welchem?« fragte Mason. »Wieso? Es gibt doch nur einen.« Wieder zerrte Carlin wütend an seinen Fesseln. »Tun Sie doch nicht so«, sagte Mason. »Es waren zwei.« »Zwei was?« »Zwei Morde.« »Ich weiß, aber der eine war - der eine...« »Was?« »Fargo«, sagte sie. »Natürlich.« »Nein, nein. Ich meine...« »Was meinen Sie?« »Ach - nichts.« »Ziehen Sie sich jetzt endlich an«, sagte Mason. Sie ging zum Kleiderschrank, drehte sich dann jedoch plötzlich um. »Also gut«, sagte sie. »Sie haben gewonnen. Es war kein Mord, sondern ging um Kinder, die von Ehepaaren adoptiert wurden - genau wie damals.« Carlin, der immer noch auf dem Fußboden lag, hob beide Füße hoch und ließ sie dann laut auf den Boden fallen. Mason ging zu ihm hinüber, stieß ihm einige Male die Fußspitze kräftig in die kurzen Rippen und sagte: »Man unterbricht eine Dame nicht, Carlin. Wenn Sie sich nicht anständig benehmen, wird Ihnen bald die Luft ausgehen. Weiter, Celinda. Was wollten Sie sagen?« »Es war eine Abwandlung der früheren Erpressung«, sagte sie. »Carlin beschaffte die Babys - uneheliche Kinder. Ich weiß -2 4 4 -
zwar nicht, woher er sie sich besorgte, aber seine Kontakte haben gut funktioniert. Dann wartete er, bis die neuen Eltern das Kind in ihr Herz geschlossen hatten, und sorgte dafür, daß sie irgendwie erfuhren, die wirkliche Mutter wäre in der Golden Goose beschäftigt. Mehr hatte er dabei nicht zu tun. Sobald die Leute ein Kind adoptiert und sich daran gewöhnt haben, entsteht bei ihnen der fast unwiderstehliche Wunsch, die Mutter zu sehen - besonders dann, wenn sie glauben, daß die Mutter es gar nicht merkt. Aus diesem Grunde kamen die Leute in die Golden Goose, und Carlin gab Pierre einen Wink. Pierre machte seine Sache völlig unauffällig. Ein winziges Zeichen, wenn er irgendwann in die Nähe des Tisches kam, und wenig später tauchte Helen Hampton mit Zigarren und Zigaretten am Tisch auf. Immer endete es dann damit, daß sie zusammenbrach, anfing zu weinen und schließlich schluchzend die Geschichte von ihrem Kind erzählte, daß ihr gestohlen worden wäre und daß sie selbst eine Halbjapanerin wäre.« »Stimmt die Geschichte eigentlich?« »Glauben Sie das nur nicht. Sie ist genausowenig Japanerin wie ich. Sie hat nur die auffallend hohen Wangenknochen und dunkle Augen - und den Rest besorgt das richtige Make-up. Wenn man sie sich bei ganz hellem Licht genau ansieht, merkt man auch, wie gerissen sie ihre Augen so geschminkt hat, daß sie leicht geschlitzt wirken.« »Und was kam dann?« fragte Mason. »Dann wurde den Leuten gegenüber gerade so viel angedeutet, daß sie überzeugt waren, man hätte ihnen Helens angeblich gestohlenes Kind untergeschoben. Sie waren dann überzeugt, daß die Adoptionspapiere gefälscht waren, und von da an verlief alles ganz glatt.« »War denn niemand bereit, die Adoption aufzugeben, nachdem die Geschichte mit den japanischen Vorfahren herausgekommen war?« -2 4 5 -
»Davon habe ich nur ein einziges Mal gehört. Die Geschichte war nämlich sehr raffiniert ausgedacht: nur ein winziger Bruchteil japanisches Blut. Niemand würde es jemals merken und brauchte es jemals zu erfahren. Aber trotzdem verlief die Geschichte immer völlig sicher. Mit der angeblich wirklichen Mutter konnten die neuen Eltern nie vor Gericht gehen, weil dann die Zukunft des Kindes ein für allemal zerstört worden wäre. Nach Ansicht der Eltern hätte Helen dann bestimmt ausgesagt, daß das Kind von Japanern abstammte und damit - na ja, das alles wissen Sie wohl allein. Kein Mensch hat den Wunsch, daß sein Sohn eine Eurasierin heiratet, und kein nettes Mädel wünscht sich einen Mischling zum Mann. Alles war so klug ausgedacht und eingefädelt, daß keiner mit einer Panne rechnete.« »Aber bezahlt haben die Eltern?« »Natürlich haben sie bezahlt - wenn auch die großen Summen erst nachher kamen, wenn die Eltern die angebliche Herkunft erfahren hatten.« »Sie sagten vorhin, daß es ein einziges Mal nicht geklappt hätte; wann war das?« »Sie waren damals an den Falschen geraten. Vor vier Jahren versuchten sie es bei den Fargos.« »Bei den Fargos?« »Ja. Das Kind der Fargos ist auch adoptiert. Vor drei Jahren versuchten sie, Fargo zu erpressen, der die Sache aber sofort durchschaute. Doch statt sich an die Polizei zu wenden, zwang er Carlin, ihn zu beteiligen, so daß die beiden seitdem zusammengearbeitet haben. Fargo, der so tat, als sei er Privatdetektiv und als spiele er den Grundstücks-makler nur zur Tarnung, fuhr dann in die Gegend, in der die jeweiligen Adoptiveltern wohnten, erkundigte sich bei den Nachbarn nach dem Kind, und in Kürze waren die Eltern überzeugt, daß die wirkliche Mutter den Aufenthaltsort ihres Kindes -2 4 6 -
herausbekommen hätte. Von diesem Augenblick an holten Fargo und Carlin an Geld heraus, was nur herauszuholen war, und ein erheblicher Teil ging angeblich für Anwälte und Privatdetektive drauf, die in dem Fall benötigt wurden.« »Und Mrs. Fargo?« »Weiß von nichts. Als Fargo das Spiel durchschaut hatte, hielt er den Mund. Sie glaubt immer noch, daß ihr Kind japanische Vorfahren hat. Das war auch eines der Druckmittel, die Fargo seiner Frau gegenüber hatte.« »So ist das also!« brach es aus Mason heraus. »Deswegen will sie nicht reden! Aber sie muß doch gewußt haben, daß Fargo irgendwie mit Carlin zu tun hatte?« Celinda zuckte mit den Schultern. »Wahrscheinlich wußte sie, daß er in irgendeine krumme Sache verwickelt war - aber Genaueres weiß sie bestimmt nicht!« Ihre Augen wurden zu schmalen Schlitzen. »Oder vielleicht hat sie es doch herausbekommen! Wenn Sie immer noch nach einem Motiv für den Mord suchen, den Myrtle an ihrem Mann...« »Das tue ich nicht mehr«, sagte Mason grimmig. »Waren Sie eigentlich tatsächlich Fargos Freundin, oder nur seine Komplicin?« »Angefangen habe ich als Komplicin«, sagte sie. »Aber dann - verdammt noch mal, jetzt habe ich doch alles verraten!« »Und waren Sie am Morgen des 22. September in Fargos Haus?« »Werden Sie jetzt nicht noch albern.« »Waren Sie nicht in jenem Schlafzimmer der ersten Etage, das er nicht zu öffnen wagte, als ich das Haus besichtigte?« »Sind Sie taub?« »Ja oder nein?« »Nein«, antwortete sie. »Außerdem möchte ich jetzt von der ganzen Geschichte auch nicht ein Wort mehr hören. Ich weiß -2 4 7 -
zwar nicht, was Sie mir noch anhängen wollen - aber es paßt mir nicht. Und jetzt werde ich mich erst einmal anziehen!«
22 »Was ist denn hier los?« fragte Inspektor Tragg. Mason deutete auf die gefesselte und zusammengeschnürte Gestalt, die auf dem Fußboden lag: »Noch eine Leiche.« »Ich finde, daß sie noch einen ziemlich lebendigen Eindruck macht«, sagte Tragg. Mason ging zu dem Gefesselten und nahm den Leinenstreifen ab, der den Knebel im Mund hielt. Carlin spuckte das nasse Knäuel aus und sagte zu Mason: »Du Schwein!« »Wer ist denn das?« fragte Tragg. »Unser verehrter Freund Medford D. Carlin«, erwiderte Mason. »Jetzt soll ich wohl den Überraschten mimen, was?« sagte Tragg. »Sind Sie es etwa nicht?« Tragg grinste nur; schließlich sagte er: »Ja, Mr. Carlin, von Ihnen weiß ich mittlerweile eine ganze Menge - vorausgesetzt, Sie sind tatsächlich Mr. Carlin.« »Vielleicht nehmen Sie versuchsweise die Fingerabdrücke ab?« schlug Mason vor. »Oh, ich danke Ihnen tausendmal«, sagte Tragg sarkastisch. »Wenn Sie es nicht gesagt hätten - von allein wäre ich niemals auf diese Idee gekommen!« »Gar nichts wissen Sie von mir«, sagte Carlin. »Ich bin vorbestraft - mehr nicht.« »Darauf wäre ich auch jede Wette eingegangen«, sagte Tragg. »Aber vielleicht können Sie uns mittlerweile erklären, wer die -2 4 8 -
angekohlte Leiche war, die sich passenderweise in Ihrem Schlafzimmer befand?« »Woher soll ich das wissen? Fragen Sie Mason! Er weiß doch in allem so genau Bescheid!« »Was hat eigentlich das Mädel mit der Sache zu tun?« fragte Tragg und deutete mit dem Daumen auf Celinda Gibson. »Celinda, was haben Sie mit der ganzen Sache zu tun?« fragte Mason sie. »Gar nichts«, erwiderte sie. »Würde Ihnen vielleicht eine kleine Autofahrt passen?« fragte Mason. »Ist das vielleicht der Dank für meine Gastfreundlichkeit?« »Nur eine kleine Fahrt«, sagte Mason, »mehr nicht wenigstens jetzt noch nicht.« »Damit wir uns nicht mißverstehen, Mason«, sagte Tragg, »noch leite ich die Untersuchungen.« »Selbstverständlich«, sagte Mason, »aber sicher wollen Sie den Fall doch möglichst schnell geklärt haben, nicht wahr?« »Ich fahre jetzt zum Headquarters. Wir nehmen dem Burschen jetzt die Fesseln ab und legen ihm Handschellen an. Mason, ich verlasse mich auf Sie, daß dieser Mann auch tatsächlich Carlin ist. Bis dahin spiele ic h noch mit - aber dann nicht mehr!« »Ich würde ihn etwas im Auge behalten«, sagte Mason warnend. »Ich könnte mir nämlich vorstellen, daß er bei der ersten Gelegenheit aus dem Fenster springt.« Tragg legte Carlin Handschellen an und sagte als Entschuldigung: »Sonst tue ich es zwar nicht, aber Masons wegen nehme ich Ihre Hände nach hinten.« »Hören Sie nur brav zu, was Mason Ihnen zu erzählen hat«, sagte Carlin. »Warum zum Teufel glauben Sie eigentlich ausgerechnet ihm jedes Wort? Warum fragen Sie mich denn -2 4 9 -
überhaupt nicht?« »Ich habe Sie bereits gefragt«, sagte Tragg. »Aber Ihre Antwort war nicht viel wert.« »Weil Mason die ganze Zeit geredet hat.« »Mason hat mir die nötigen Informationen gegeben«, sagte Tragg. »Sicher«, meinte Carlin sarkastisch. »Mason versucht nur, Ihnen eine Beförderung zu verschaffen. Nur daran denkt er die ganze Zeit. Seine Mandantin, die ihn engagiert hat, damit er ihren Hals rettet, ist ihm völlig schnuppe. Mason will einzig und allein, daß der gute alte Tragg endlich den Mord aufklären kann - ganz egal, wer der Schuldige ist.« »Reden Sie ruhig weiter«, sagte Tragg. »Mason hat mich niedergeschlagen, hat mich gefesselt und mir einen Knebel in den Mund gestopft, damit ich nicht reden konnte; und dann hat er Sie geholt. Damit hatte er eine großartige Gelegenheit, Sie auf seine Seite zu ziehen!« »Wie sieht denn Ihre Seite aus?« fragte Tragg. »Ich habe mein Haus verlassen«, sagte Carlin, »und habe eine Geschäftsreise gemacht. Irgend jemand hat, nachdem ich weg war, mein Haus betreten, hat es angesteckt und anscheinend eine Leiche hineingeschafft, damit es so aussähe, als wäre ich verbrannt. Was tut eigentlich die Polizei, um mir bei der Aufklärung dieser Angelegenheit zu helfen? Nichts - gar nichts!« »Ich wußte bisher auch nicht, daß Sie beim Headquarters um Unterstützung gebeten hatten.« »Sobald ich gewußt hätte, was passiert ist, wäre ich hingegangen.« »Und sind sofort zu Ihrer Freundin gefahren?« fragte Tragg. »Werden Sie eigentlich nie erwachsen?« sagte Carlin streitsüchtig. -2 5 0 -
»Seit einiger Ze it darf ich schon lange Hosen tragen«, erwiderte Tragg. »Aber los jetzt! Wir können uns auch nachher noch unterhalten.« »Ich verlange, daß Sie mir die Handschellen abnehmen!« »Auf dem Ohr bin ich schwerhörig«, sagte Tragg und schob ihn in den Korridor hina us. »Wenn Sie besondere Wünsche haben sollten, müssen Sie schon etwas mitteilsamer werden.« »Nur keine Angst«, sagte Carlin, »wenn ich anfange zu reden, werden Ihnen die Augen übergehen.« Mason machte eine Bewegung, als wollte er Celinda Gibson den Arm bieten. »Nein - vielen Dank«, sagte sie. »Auf Ihre Hilfe kann ich ganz gut verzichten.« »Wie Sie wollen«, murmelte Mason. Sie drängten sich in den kleinen Lift, fuhren in den ersten Stock hinunter, und mit den Händen auf dem Rücken ging Carlin vor ihnen zu dem auf der Straße wartenden Streifenwagen hinunter. Zu dem Fahrer sagte Tragg: »Setz dich nach hinten, Joe. Ich fahre selbst. Und paß auf den Knaben auf. Wenn er irgend etwas anstellt, kannst du ihm eine runterhauen.« »Das wird Ihnen noch leid tun«, sagte Carlin warnend. »Nehmen Sie mir endlich die Handschellen ab. Wenn Sie mich so ins Headquarters bringen, können Sie morgen Ihre Uniform ausziehen.« »Falsch, Carlin«, sagte Tragg. »Ich werde von den Steuerzahlern dafür bezahlt, daß ich jede lebendige Leiche, die ich finde, ins Headquarters schaffe. Offiziell sind Sie ermordet worden, und daher gehören Sie bereits ins Reich der Seelen. Bei Menschen, die ermordet und dann wieder lebendig werden, müssen wir besondere Vorsichtsmaßnahmen ergreifen - so verlangt es wenigstens die Vorschrift.« -2 5 1 -
»Dann fahren Sie endlich los, Sie Idiot«, sagte Carlin. »Im Headquarters werde ich schon dafür sorgen, daß Sie ein höchst dämliches Gesicht machen.« »Bitte nicht«, sagte Tragg. »Wenn Sie mich zum Weinen bringen, bekomme ich bestimmt ganz rote und verschwollene Augen - und ich muß doch noch so viel herumfahren.« Tragg wartete, bis alle im Wagen saßen, schaltete dann das rote Blinklicht sowie die Sirene ein und fuhr los. Mit quietschenden Reifen raste er durch den erstarrten Verkehr, schlängelte sich geschickt durch schmale Zwischenräume, ohne das Tempo zu vermindern, und nahm den Fuß nicht einmal vom Gaspedal. »Wie wäre es, wenn wir noch einmal anhielten?« fragte Mason. »Wo?« wollte Tragg wissen. »Wo Sie einen Zeugen antreffen, der...« »Lassen Sie sich doch nicht immer an der Nase herumführen«, sagte Carlin. »Fahren Sie ins Headquarters, wenn Sie unbedingt wollen, und hören Sie sich endlich an, was ich zu sagen habe. Dann können Sie selbst urteilen. Bis jetzt lassen Sie sich von Perry Mason die Kerzen anstecken, und dabei hat kein Mensch Geburtstag!« »Ihre Geschichte hat doch nur Löcher wie ein Schweizer Käse«, meinte Tragg. »Glauben Sie etwa, ich werde alle Einzelheiten erzählen, solange dieses aalglatte Großmaul dabeisitzt?« gab Carlin zurück. Tragg warf Mason einen fragenden Blick zu, schaltete dann plötzlich die Sirene ab und bremste, bis der Wagen nur noch ganz langsam weiterrollte. »Was haben Sie vor?« fragte Mason. »Ruhig!« sagte Tragg. »Ich überlege.« -2 5 2 -
»Ich weiß gar nicht, warum Sie sich ausgerechnet jetzt damit abmühen«, sagte Carlin. »Bisher haben Sie ihn doch für sich denken lassen. Geben Sie ihm einfach Ihr Dienstabzeichen und...« »Ruhe!« befahl Tragg. »Ich habe schon mal gesagt, daß ich überlege.« Der Beamte, der auf dem Rücksitz saß, langte mit der Hand zu Carlin hinüber und legte den Daumen auf die Stelle des Halses, in der der Nervenstrang zum Kiefer verläuft. Dann drückte er kräftig zu. Carlin schrie auf. »Der Inspektor wünscht, daß Sie den Mund halten«, sagte der Beamte. Tragg fuhr langsam weiter, achtete auf jedes Verkehrszeichen und hielt, wenn es nötig war, sogar an den Kreuzungen. Zweimal wollte Carlin etwas sagen; aber jedesmal hinderte der Beamte ihn daran. Mason rauchte eine Zigarette. Celinda Gibson war völlig verstummt, und ihr Gesicht war blaß und ausdruckslos. Hin und wieder warf Inspektor Tragg ihr, wenn er an einer Verkehrsampel halten mußte, einen nachdenklichen Blick zu. Aber Celinda Gibson schien gar nicht zu merken, daß ein Inspektor Tragg überhaupt existierte. Unvermittelt brachte Inspektor Tragg den Wagen zum Stehen und deutete auf die andere Straßenseite, an der ein gelbes Taxi hielt. »Sehen Sie, Mason?« fragte er. »Was?« »Das Taxi.« »Ja. Was ist damit?« Tragg lächelte. »Sie sind ein Mann, der sehr viel zu tun hat, Mason. Sie haben einen Haufen Eisen im Feuer und haben -2 5 3 -
ungeheuer viel zu erledigen. Ich möchte Sie nicht von Ihrer Arbeit abhalten. Sie haben sowieso schon sehr viel Zeit meinetwegen vertan; Sie waren wirklich ungeheuer großzügig. Aber mehr kann ich von Ihnen einfach nicht annehmen.« »Und was soll das bedeuten?« fragte Mason. »Daß das Taxi Sie zu Ihrem Büro oder sonstwohin fahren wird.« »Langsam scheinen Sie vernünftig zu werden«, sagte Carlin. »Sie...« »Mund halten«, sagte der Beamte und drückte mit dem Daumen fest zu. Carlin schrie vor Schmerz auf und schwieg dann. »Wollten Sie nicht die Lösung für den Fall finden, Tragg?« fragte Mason. »Ich bin gerade dabei.« »Angenommen, es wäre nun Notwehr gewesen?« »Was meinen Sie damit?« »Angenommen, Fargo war mit Carlin in die Angelegenheit verwickelt. Angenommen ferner, daß Mrs. Fargo dahintergekommen war. Angenommen, daß die Sache eine ziemlich üble Angelegenheit war, und angenommen schließlich, Fargo erfuhr, daß seine Frau orientiert war, und daher versuchte, sie umzubringen.« »Meinetwegen«, sagte Tragg, »aber wie wollen Sie es beweisen?« »Ich bin überzeugt, daß es so war.« »Jetzt ist genau der richtige Zeitpunkt, um mit solchen Überlegungen anzufangen«, sagte Tragg. »Mitten in einem Strom kann man sein Pferd nicht wechseln.« »Ich bin auch gar nicht mitten im Strom.« »Vielleicht nicht«, sagte Tragg, »aber trotzdem schlägt das -2 5 4 -
Wasser bereits über Ihrem Kopf zusammen.« »Der Kerl ist blöd«, sagte Carlin. Der Beamte hatte die Hand immer noch an Carlins Hals. »Wollen Sie ihn reden lassen, Inspektor?« »Später«, sagte Tragg. »Mason ist ein vielbeschäftigter Mann. Er hat jetzt keine Zeit, sich auch noch Carlins Geschichte anzuhören. Das ist zwar sehr schade, aber er hat wirklich sehr viel zu tun und muß wieder in sein Büro. Wir denken nicht einmal im Traum daran, ihn noch länger aufzuhalten.« »Würden Sie mich weiter mitnehmen, Tragg, wenn ich die Lösung kennen würde und wenn es tatsächlich Notwehr gewesen wäre?« fragte Mason. »Weder Sie noch irgendeinen anderen«, erklärte Tragg. »Die Angelegenheit liegt allein bei Ihnen, bei dem District Attorney und beim Gericht. Ich kümmere mich nur um die Beweise.« »Und wenn ich recht habe, werden Sie mir keine Knüppel zwischen die Beine werfen?« »Ich bin immer für das Recht.« »Es ist die einzige Lösung, die zu allem paßt«, sagte Mason. »Myrtle Fargo versuchte, das Kind zu schützen. Sie hatte gemerkt, daß ihr Mann in eine Erpressungsgeschichte verwickelt war. Sie wollte den Fall auf ihre Art lösen. Sie wollte, daß Fargo damit aufhörte, daß er auf das Sorgerecht an dem Kind verzichte und sich aus irgendwelchen Gründen von ihm scheiden lassen...« »Der Kerl macht mich ganz krank«, sagte Carlin. Tragg deutete auf das Taxi und sagte: »Drüben warten Ihr Wagen, Mason.« »Weil ich Ihren Häftling krank mache?« fragte Mason. »Weil Sie viel zuviel reden«, erwiderte Tragg. »Sparen Sie sich Ihre Argumente für die Verhandlung auf.« Der Beamte griff über Mason hinweg und öffnete die Tür. -2 5 5 -
Mason stieg aus, und im gleichen Augenblick schlug die Tür wieder zu. Mason blickte hinter dem Wagen her, der in schnellem Tempo davonfuhr, und ging dann zu dem Taxi hinüber, dessen Fahrer den Streifenwagen neugierig beobachtet hatte.
23 Die Morgenzeitungen hatten bereits die Entdeckung gebracht, daß es sich bei der Leiche, die in Carlins Haus gefunden worden war, nicht um Carlin selbst gehandelt hatte, daß aber im Augenblick niemand wisse, wer es sein könne. Carlin, den man sehr lebendig aufgegriffen habe, sei seinen Aussagen nach auf einer Geschäftsreise gewesen. Zwecks weiterer Verhöre würde er in Polizeigewahrsam gehalten. Und im Gerichtsgebäude lief das Gerücht um, daß die Brandstiftung und der Mord an Fargo möglicherweise zusammenhingen. All das hatte plötzlich das Interesse an dem Fall Myrtle Fargo geweckt, und als Mason den Verhandlungssaal betrat und darauf wartete,, daß die Beklagte hereingebracht wurde, stellte er fest, daß die Bänke dicht besetzt waren. Eine Wärterin brachte Mrs. Fargo bis an die Tür des Verhandlungssaales; von dort geleitete ein Gerichtsdiener sie an ihren Platz. Mason beugte sich vor und flüsterte ihr zu: »Carlin lebt.« »Das hat man mir bereits gesagt.« Ihre Stimme war tonlos, verzagt und ohne jedes Interesse. »Sie haben mir das Geld geschickt«, sagte Mason. »Nein.« »Sie haben Ihren Mann umgebracht.« »Nein.« »Es war Notwehr - oder weil Sie es herausbekommen hatten?« -2 5 6 -
»Ich weiß gar nicht, wovon Sie reden.« »Sie wissen, daß Ihr Mann mit Medford Carlin in eine Erpressungsgeschichte verwickelt war.« »Nein.« »Sie versuchen nur, Ihren Sohn zu schützen«, sagte Mason. »Es wäre sehr viel besser, wenn...« »Nein - bitte nicht. Mr. Mason. Ich habe Ihnen alles gesagt.« Entschlossen wandte sie sich von ihm ab. Richter Keith betrat den Saal. »Euer Gnaden«, sagte Mason, »gestern habe ich das Kreuzverhör einer Zeugin der Anklage durchgeführt. Es handelt sich um Mrs. Newton Maynard. Dieses Kreuzverhör würde ich heute gern wieder aufnehmen, und zwar besonders im Hinblick auf die Tatsache, daß sich seit der Vertagung der Verhandlung ziemlich verblüffende Dinge herausgestellt haben.« »Dinge, die für diesen Fall aber auch nicht die geringste Bedeutung haben«, fiel District Attorney ein. »Das«, sagte Mason mit Nachdruck, »bleibt abzuwarten.« »Mrs. Maynard wird aufgefordert, den Zeugenstand zu betreten«, ordnete Richter Keith an. Mrs. Maynards Haltung hatte eine gewisse Veränderung erfahren. Sie war vorsichtig, bedächtig und genauso aufmerksam wie ein Boxer in der ersten Runde. Sie nahm im Zeugenstand Platz, legte die Fingerspitzen gegen den Verband, der ihr eines Auge bedeckte, und wandte sich dann Perry Mason zu. »Mrs. Maynard«, sagte Mason, »ich würde gern Näheres über die Erkrankung Ihres rechten Auges erfahren.« »Was hat das mit dem Fall hier zu tun?« fragte sie. »Euer Gnaden«, sagte Hamilton Burger, »diese Frage erscheint mir ziemlich belanglos. Ich glaube, daß von allen Betroffenen anerkannt wird, daß die Verletzung erst nach dem -2 5 7 -
22. September eintrat. Zu jenem Zeitpunkt verfügte die Zeugin also über das Sehvermögen beider Augen, und demnach ist offenbar, daß sie heute auch mit nur einem Auge sehen kann.« »Es gibt Menschen«, sagte Mason, »die zwar mit einem Auge, nicht jedoch mit zwei Augen sehen können.« »Was wollen Sie damit sagen?« fragte Burger. »Es handelt sich um einen Mangel an Übereinstimmung«, erwiderte Mason. »Und ich glaube, daß dies durch einen Fachmann sehr leicht nachgewiesen werden kann.« »Hat es irgend etwas mit der Verhandlung zu tun?« fragte Richter Keith. »Davon bin ich überzeugt«, sagte Mason. »Ich glaube, Euer Gnaden werden feststellen, daß diese Zeugin unfähig ist, mit beiden Augen zu sehen, obgleich sie mit nur einem Auge gut sehen kann; aus Gründen der äußeren Erscheinung mißfällt es ihr natürlich, in der Öffentlichkeit mit einem verdeckten Auge herumzulaufen.« »Das stimmt nicht«, fuhr Mrs. Maynard dazwischen. »Ich sehe ausgezeichnet.« »Davon bin ich nicht überzeugt«, sagte Mason und lächelte zuversichtlich. »Natürlich tue ich es! So etwas habe ich noch nie gehört. Der Augenverband ist nur die Folge einer Infektion. Der Arzt hat mir ausdrücklich gesagt, ich dürfe den Verband nicht abnehmen.« »Welcher Arzt?« fragte Mason. »Ein - ein Arzt, den ich aufgesucht habe.« »Aber das geht doch alles viel zu weit«, warf Burger dazwischen. »Ich halte es für völlig unwichtig.« Richter Keith betrachtete die Zeugin nachdenklich. »Ich bin bereit, mich von der Zeugin eines Besseren belehren zu lassen«, sagte Mason. »Ich wage sogar zu behaupten, daß die Zeugin mit beiden Augen einen Menschen nicht wiedererkennen -2 5 8 -
kann, den sie bereits gesehen hat und der im Zuhörerraum aufstehen wird. Auch die Anklage kann mich gern eines Besseren belehren.« »Das ist doch Wahnsinn!« sagte Burger. »Ich soll aber den Verband nicht abnehmen«, sagte Mrs. Maynard. »Auch nicht für kurze Zeit?« fragte Richter Keith mißtrauisch. »Für kurze Zeit wird es dem Auge vielleicht nicht schaden aber ich finde es ausgesprochen dumm. Wenn ich mit einem Auge sehen kann, werde ich es wohl doch auch mit beiden können.« »Euer Gnaden«, meldete Burger sich wieder, »ich habe den Eindruck, daß dies offensichtlich ein verzweifelter Versuch der Verteidigung ist, für sich Vorteile aus einer unglücklichen Situation zu schlagen, in der die Zeugin sich augenblicklich befindet. Sie leidet an einer Infektion des rechten Auges, das verbunden bleiben soll. Es wird von keiner Seite in Frage gestellt, daß sie deutlich genug sehen konnte, um allein mit dem Bus zu fahren...« »Um allein mit dem Bus zu fahren«, sagte Mason, »was aber notwendigerweise noch nicht bedeutet, daß sie auch die einzelnen Personen erkennen konnte.« »Ach?« fragte Hamilton Burger sarkastisch. »Nicht deutlich genug, um jene Personen zu erkennen, die unmittelbar neben ihr saßen? Machen Sie sich bitte nicht lächerlich, Mr. Mason.« Masons Gesicht verzog sich zu einem vergnügten Grinsen. Er blickte auf seine Uhr und sagte: »Euer Gnaden, mit diesem Einspruch haben wir wiederum mehrere Minuten vertan. Dabei wäre es nur nötig, daß Mrs. Maynard den Verband für kurze Zeit abnimmt und daß sie versucht, eine Person zu identifizieren, die auf ein Zeichen hin im Zuhörerraum aufstehen wird.« -2 5 9 -
»Ist die Person der Zeugin bereits bekannt?« fragte Richter Keith. »Ich bin überzeugt, daß die Zeugin die Person unter Begleitumständen gesehen hat, die jenen zumindest ähneln, unter denen sie die Beklagte gesehen haben will.« »Besteht irgendein Grund, diesen Versuch nicht machen zu lassen?« fragte Richter Keith »oder können wir damit anfangen?« »Meinetwegen können wir anfangen«, sagte Mrs. Maynard. »Aber wenn Sie glauben, Mr. Mason, Sie könnten mir damit eine Falle stellen, dann werden Sie die größte Überraschung Ihres Lebens erleben. Ich kann jeden wiedererkennen, den ich einmal gesehen habe. Für Gesichter habe ich ein sehr, sehr gutes Gedächtnis. Darauf bin ich immer wieder stolz. Wenn ich einen Menschen nur ein einziges Mal genau gesehen habe, vergesse ich ihn mein Lebtag nicht mehr.« »Einen Augenblick, bitte«, sagte Mason. Er flüsterte mit Della Street, die auf einer Zuhörerbank jenseits der MahagoniBarriere, aber unmittelbar hinter dem Platz des Verteidigers saß. Della Street nickte und verschwand zwischen den Zuhörern. »Ich kann dem Gericht versichern«, sagte Mason schließlich, »daß ich diesen Versuch nicht unüberlegt durchführe. Ich glaube vielmehr, daß die Zeugin unfähig ist, mit beiden Augen zu sehen, obgleich sie mit nur einem Auge dazu in der Lage sein kann.« »Aber das ist doch völlig absurd«, fuhr Mrs. Maynard dazwischen. »Jedenfalls bin ich bereit, es zu beweisen!« »Würden Sie dann bitte den Verband abnehmen«, sagte Mason. Della Street drängte sich durch die Reihen der Zuhörer und gab dem Parkwächter einen Zettel. Percy R. Danvers saß auf einer der Seitenbänke. -2 6 0 -
Im Zeugenstand fingerte Mrs. Maynard einen Augenblick an ihrem Verband herum. »Kann ich Ihnen behilflich sein?« fragte Hamilton Burger, der besorgt um sie herumstrich. »Ja, bitte«, sagte sie, »ich will nämlich meine Brille aufbehalten, weil ich sonst blind wie eine Fledermaus bin. Das habe ich auch bereits gesagt. Wenn ich jedoch meine Brille aufhabe, kann ich tadellos sehen.« »Schön«, sagte Burger, »ich werde solange ihre Brille halten, Mrs. Maynard. Im Protokoll wird jetzt vermerkt, daß der Verband abgenommen wird. Hier ist Ihre Brille, Mrs. Maynard. Das Protokoll hält jetzt fest, daß die Zeugin ihre Brille wieder aufgesetzt hat. Jetzt sind Sie an der Reihe, Mr. Mason.« Ein Lächeln triumphierender Genugtuung lag auf dem Gesicht des District Attorney. Mason nickte in Richtung der Zuhörer und hob eine Hand. Percy Danvers erhob sich. »Wer ist diese Person?« fragte Mason die Zeugin. Mrs. Maynard starrte einen Augenblick sehr aufmerksam hinüber und sagte dann: »Den Namen kenne ich nicht, aber es ist der Park-Wächter vom Union Terminal.« »Sind Sie sicher?« fragte Mason. »Ganz sicher!« gab sie wütend zurück. »Sie haben ihn dort gesehen?« »Ja.« »Und Sie erkennen ihn als jene Person wieder, die Sie auf dem Parkplatz gesehen haben?« »Aber ja, ich - ich...« Unvermittelt erstarb ihre Stimme. »Weiter!« sagte Mason. »Ich - ich habe mich eben geirrt«, sagte sie. »Ich wollte eigentlich sagen, daß man mich im Korridor auf diesen Mann -2 6 1 -
aufmerksam gemacht und mir gesagt hat, er wäre ebenfalls als Zeuge zu dieser Verhandlung geladen und sollte bezeugen, daß...« »Danvers«, wandte sich Mason plötzlich an den Parkwächter, »ich möchte Ihnen eine Frage stellen, die Sie von dort aus beantworten können. Ist dies hier vielleicht die Frau, die ihren Wagen am Morgen des 22. September geparkt hat? Ist sie vielleicht die Person, die Sie nach dem Taxistand gefragt hat? Überlegen Sie genau und...« »Das war ich nicht«, unterbrach Mrs. Maynard ihn. »Ich bin nicht auf dem Parkplatz gewesen. Vor dieser Verhandlung habe ich den Mann noch nie gesehen! Und er hat mich auch noch nie gesehen. Ich...« »Warum haben Sie dann gerade eben behauptet, Sie hätten ihn auf dem Parkplatz gesehen?« fragte Mason. »Weil ich - ich war etwas durcheinander. Ich - und außerdem habe ich früher einmal meinen Wagen auf dem Parkplatz abgestellt. Dabei oder bei anderen Gelegenheiten habe ich ihn gesehen - lange vor dem 22. September.« Mason wandte sich wieder an Danvers. »Ist das die Frau, die Sie gesehen haben?« »Also das kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen«, platzte Danvers heraus. »Aber aussehen tut sie so ähnlich.« »Sie könnte es demnach sein?« fragte Mason. »Doch, Sie könnte es schon sein.« »Einen kleinen Moment«, rief Hamilton Burge r. »Jetzt geht hier alles durcheinander. Der Verteidiger verhört zwei Zeugen gleichzeitig. Damit kommen wir nicht weiter. Wir.. « »Ganz im Gegenteil«, unterbrach Mason ihn und sprach sehr laut, um Hamilton Burgers Stimme zu übertönen. »Damit kommen wir nämlich zur Aufklärung des gesamten Falles, Euer Gnaden - zu der einzigen Lösung, die mit den vorliegenden -2 6 2 -
Tatsachen übereinstimmt.« Richter Keith ließ seinen Hammer auf die Tischplatte fallen. »Ich bitte, das Verfahren ordnungsgemäß durchzuführen. Wir...« Mrs. Maynard versuchte mit fliegenden Händen, den Verband wieder über das Auge zu schieben. »Einen Augenblick, bitte«, sagte Mason. »Lassen Sie doch den Verband noch unten, Mrs. Maynard. Zufälligerweise befindet sich unter den Zuhörern ein guter Augenarzt. Vielleicht sind Sie einverstanden, daß Mr. Radcliff sich Ihr Auge einmal ansieht?« »Ich brauche keinen Arzt.« »Aber ich habe kein Anzeichen einer Augenentzündung feststellen können«, sagte Mason. »Diese Feststellung hat nun wirklich nichts mit dieser Verhandlung zu tun«, sagte Hamilton Burger. Mason lachte. »Ganz im Gegenteil, Euer Gnaden. Die Zeugin hat unter Eid ausgesagt, daß sie an einer Entzündung des rechten Auges litte, und zwar an einer Infektion. Ich glaube, das Gericht hatte Gelegenheit, das Auge zu sehen. Das gleiche gilt für Mr. Radcliff, und ich glaube, jeder muß zugeben, daß aber auch nicht die Spur einer Rötung oder einer Entzündung zu sehen war, gar nichts...« »Die Entzündung ist abgeheilt. Es ist schon sehr viel besser geworden!« sagte Mrs. Maynard. In der Stille, die diesen Worten folgte, sagte Percy Danvers ganz ruhig: »Wenn ich es mir genau überlege, glaube ich sicher, daß es diese Frau gewesen ist.«
24 Mason, der sein Büro betrat, schleuderte seinen Hut in Richtung der Garderobenhaken, faßte Della Street um die Taille und wirbelte mit ihr vergnügt durch das Zimmer. -2 6 3 -
»Was ist denn passiert?« fragte sie. »Jetzt haben wir die ganze Geschichte endlich herausbekommen«, erwiderte Mason, »und sie ist so verdammt simpel, daß ich eigentlich schon lange hätte dahinterkommen müssen.« »Ich verstehe von dem Ganzen kein Wort«, sagte Della. »Folgendes ist passiert«, berichtete Mason. »Carlin, Fargo und Pierre Larue hatten gemeinsam diese Erpressungssache aufgezogen. Helen Hampton war zwar ebenfalls beteiligt, aber die ganze Geschichte war sehr viel verwickelter, als sie wußte. Am Anfang stand die Beschaffung unehelicher Kinder, die gegen ein saftiges Honorar an Adoptiveltern vermittelt wurden. Wenn die neuen Eltern das Kind nach einiger Zeit in ihr Herz geschlossen hatten, wurden sie in die Golden Goose gesteuert, und dann trat Helen Hampton in Erscheinung. Ihre Anweisungen bekam sie von Pierre. Sie spielte nur ihre Rolle und veränderte das Alter des Kindes und die übrigen Einzelheiten entsprechend der jeweiligen Situation. Myrtle Fargo bekam heraus, daß ihr Mann - zusammen mit Carlin - in eine Erpressungsgeschichte verwickelt war. Sie ist jedoch nie auf die Idee gekommen, daß die Sache mit jener Erpressung zusammenhängen könnte, die vor drei Jahren bei den Fargos selbst versucht worden war. Bis zum heutigen Tag hat sie fest geglaubt, daß ihr Adoptivsohn japanisches Blut in den Adern hätte. Sie nahm den Zeitungsausschnitt mit dem Bericht über Helen Hampton an sich und war so einfältig zu glauben, daß sie Carlin damit zwingen könnte, ihren Mann freizugeben - das arme Mädchen hatte gar keine Ahnung, wie tief ihr Mann drinsteckte.« »Und Carlin hat also Fargo ermordet?« fragte Della Street. »Dazu mußte erst Carlins Freundin auf der Szene erscheinen«, sagte Mason. »Um das aber zu verstehen, muß man genau wissen, was im einzelnen passierte. Mrs. Fargo hat endlich den -2 6 4 -
Mund aufgemacht und die verschiedenen Lücken ausgefüllt. Myrtle Fargo war entschlossen, die Geschichte auffliegen zu lassen. Sie wußte nur noch nicht, wie sie es anstellen sollte, weil sie nichts an die Öffentlichkeit dringen lassen wollte. An jenem Abend in der Golden Goose sagte ihr das Mädchen in der Damentoilette, wer ich wäre. Myrtle fand sofort einen Grund, um nach Hause zu fahren, holte ihre Ersparnisse heraus und schickte mir das Geld, zusammen mit dem Zeitungsausschnitt. Dieser Zeitungsausschnitt war ihr Trumpf-As. Sie holte ihn aus dem Safe ihres Mannes und verließ dann heimlich das Haus. Einem Mann, der in der Nähe ein Delikatessengeschäft besitzt und den sie nicht nur kannte, sondern dem sie auch vertraute, gab sie den Umschlag mit der Bitte, ihn in der Golden Goose abzuliefern, und lief dann zu dem Drugstore, um mich anzurufen. Fargo war nach oben in sein Schlafzimmer gegangen, weil er angeblich einen wichtigen Vertrag vorbereiten mußte. Als seine Frau jedoch nicht heraufkam, wurde er mißtrauisch. Er stellte fest, daß sie heimlich das Haus verlassen hatte. Als er in seinem Safe nachsah, war das Geld zwar noch vorhanden, aber der Inhalt lag unordentlich durcheinander und der Zeitungsausschnitt über Helen Hampton fehlte. Er nahm sofort an, daß sie versuchen würde, von dem Drugstore aus zu telefonieren - mit ihrer Mutter, vielleicht auch mit der Polizei -, und bekam es mit der Angst. Er hatte keine Ahnung, wie lange sie schon fort war, und als er sie im Drugstore fand, glaubte er, daß sie noch gar nicht zum Telefonieren gekommen sei. Auf dem Heimweg kam es dann zu einer Auseinandersetzung, und Fargo informierte nicht nur Carlin, sondern auch Pierre, daß seine Frau ihnen wahrscheinlich Schwierigkeiten machen würde. Aus irgendwelchen Gründen hatte Helen Hampton einen Wink Pierres völlig falsch verstanden; man erwartete die Eltern -2 6 5 -
eines Adoptivkindes, und sie war irrtümlich der Ansicht, wir wären die neuen Opfer!« »Wie reizend!« sagte Della Street. »Nicht wahr? Wenigstens können Sie sich selbst ausmalen, was daraufhin passierte. Pierre holte Helen Hampton sofort von unserem Tisch weg, als er merkte, daß etwas drohte, schiefzugehen, stellte aber sehr bald fest, daß er zu spät gekommen war. Pierre hielt uns für fähig, zwei und zwei zusammenzählen zu können, sobald uns die Tatsachen bekannt würden. Folglich verließ er, sobald er konnte, den Nachtklub und fuhr zu Carlin. Er befand sich in panischer Furcht, wollte, daß das Geld sofort aufgeteilt würde und alle sofort verschwinden sollten. Carlin dagegen war überzeugt, daß er die Entwicklung abwarten könne. Darüber gerieten die beiden sich in die Haare, und nach allem, was Carlin bisher erzählt hat, schlug er Pierre mit der Faust nieder. Anscheinend war Pierre jedoch ziemlich verkalkt. Der Schlag hatte jedenfalls eine Gehirnblutung zur Folge, und Pierre starb.« »Er war also bereits tot, als wir Carlin aufsuchten?« fragte Della Street. »Er war bereits tot und lag im ersten Stock auf dem Bett, während Carlin Kaffee für uns kochte und über die Schönheit der Natur plauderte.« Ein Frösteln überlief Della. »Wenigstens wußte Carlin jetzt, daß er verschwinden mußte. Er rief seine Freundin, Mrs. Maynard, an. Sie sollte sofort zu ihm kommen, ihren Wagen jedoch außer Sichtweite des Hauses stehenlassen. Dann bastelte er eine Zeitbombe zusammen, die einen Benzinkanister entzünden und das ganze Haus vernichten sollte. Sie erinnern sich vielleicht, daß Pierre Larue ein gedrungener -2 6 6 -
Mann von etwa sechzig Jahren war - also genauso alt wie Carlin und von fast gleicher Statur. Carlin kam nun zu der Überlegung, daß man ihn für tot halten würde, wenn die Polizei Pierres Leiche fände. Sie erinnern sich vielleicht auch, daß Pierre keine Brille trug. Carlin dagegen trug nicht nur eine Brille, sondern durch sein etwas schiefes Gesicht war das eine Ohr rund zwei bis drei Zentimeter höher als das andere. Er nahm also seine Brille und setzte sie Pierre auf in der Hoffnung, daß von der Leiche nach dem Brand nur noch so viel übrigbliebe, daß man sie für Carlin halten würde. Dann verließen die beiden das Haus durch die Hintertür, und zwar vor dem Eintreffen von Pauls zweitem Mann. Carlin hielt sich dann irgendwo verborgen. Mrs. Maynard besaß noch eine Brille, die Carlin früher getragen hatte, und sorgte dafür, daß neue Gläser eingesetzt wurden.« »Was aber ist mit Fargo?« »Fargo war für einen Mord nicht zu haben«, sagte Mason. »Erpressungen machten ihm zwar nicht das geringste aus - aber vor einem Mord schrak er zurück. Er wollte ebenfalls verschwinden, und zwar möglichst schnell. Seine Frau war bereits abgereist, und nach den Ereignissen der vergangenen Nacht hatte er keine Ahnung, was sie nun unternehmen würde. Außerdem hatte sie morgens noch die fünfhundert Dollar aus dem Safe genommen. Carlin schickte Mrs. Maynard zu ihm, um das Notwendige zu besprechen. Sie war es auch, die sich im Schlafzimmer eingeschlossen hatte, als ich das Haus besichtigte. Nachdem ich wieder gegangen war, gerieten auch diese beiden aneinander, und während ihrer Auseinandersetzung stach sie ihn nieder. Als sie sah, was sie angerichtet hatte, war sie zunächst ratlos. Fargo hatte mir erzählt, daß seine Frau mit der Maschine um sechs nach Sacramento geflogen wäre, weil er nicht wollte, daß andere ihren Aufenthaltsort erführen. Mrs. Maynard hatte er jedoch die Wahrheit gesagt - daß sie mit dem Frühbus gefahren -2 6 7 -
wäre. Mrs. Maynard kam nun auf die Idee, Myrtle Fargo zu spielen; dadurch würden alle Spuren auf Fargos Frau als Täterin hinweisen, die versucht hatte, sich ein falsches Alibi zu verschaffen. Zweimal hätten wir Carlins Plan fast zum Scheitern gebracht: das erstemal, als Pauls Leute, die das Haus beobachteten, so schnell die Feuerwehr alarmierten, daß das Feuer gelöscht werden konnte, bevor die Beweisstücke vernichtet waren - und so war es auch ein ausgesprochener Fehler, daß Carlin den Safe ausgeräumt und statt dessen verbranntes Papier hineingetan hatte; das zweitemal gefährdeten wir seinen Plan, als wir unsere Detektive auf den Greyhound-Bus ansetzten. Der bloße Zufall spielte den beiden insofern in die Hände, als keine Passagiere mehr in dem Bus waren, die in oder vor Los Angeles zugestiegen waren, und nur aus diesem Grunde konnte Mrs. Maynard mit ihrer falschen Aussage so weit kommen. Das war natürlich ein ausgesprochener Zufall, aber andererseits war die Tatsache, daß unsere Detektive mit dem Bus fuhren, ebenfalls ein glücklicher Zufall. Wäre der Plan der beiden ungestört abgelaufen, hätten wir erst auf die Suche nach Zeugen gehen können, nachdem die Passagiere in alle Himmelsrichtungen zerstreut waren.« »Wie aber konnten Sie Carlin in die Falle locken?« fragte Della Street. »Carlin«, sagte Mason, »stand immer mit Celinda Gibson, Larues früherer Frau, in Verbindung. Von den beiden Morden hatte sie nicht die geringste Ahnung, und an den Erpressungen war sie persönlich auch nicht beteiligt. Mit Carlin hatte sie übrigens ebenfalls herumgetändelt, ohne etwas von Mrs. Maynard zu ahnen. Als Carlin sich nach dem Brand versteckte, glaubte sie, er versteckte sich vor einer Frau, und deswegen half sie ihm bereitwillig. Als Sie, Della, bei Celinda Gibson anriefen und sagten, daß Helen Hampton alles verrate, gab sie diese Nachricht sofort an Carlin weiter. Carlin fuhr daraufhin zu -2 6 8 -
Celinda, um genau zu erfahren, was los wäre, und stieß dort auf mich. Wenn ich ihn nicht sofort niedergeschlagen hätte, hätte er mich wahrschein- lich mit seiner Pistole umgelegt.« »Woher aber wußten Sie eigentlich, daß nur Mrs. Maynard in Bakersfield zugestiegen sein konnte?« fragte Della Street. Mason lachte. »Das war so einfach, daß ich schon viel früher hätte draufkommen müssen! Ich hatte jedoch Scheuklappen vor den Augen, weil ich immer annahm, Myrtle Fargo hätte ihren Mann in Notwehr umgebracht. Erstens war Mrs. Maynard genauso groß, hatte die gleiche Figur und das gleiche Alter wie Myrtle Fargo; außerdem wiederholte sie immer wieder, daß sie ziemlich gleich angezogen gewesen wären. Die Aussage des Piloten über den Mann, der die Maschine gechartert hatte, und über dessen unsicheren, tastenden Bewegungen deuteten auf einen Menschen hin, der nicht gut sehen konnte; außerdem lag die Verbindung zu der von Mrs. Maynard in Reparatur gegebenen Brille nahe, zumal die Art der Brille auf Carlin hinwies. Die Frau, die in Bakersfield zustieg, trug einen Schleier, und als Mrs. Maynard vor Gericht erschien, war das eine Auge verbunden; dabei waren die Heftpflasterstreifen so angelegt, daß sie die Haut der Stirn verzogen, so daß sich der Ausdruck des freien Auges völlig verändert hatte. Ich hätte sofort merken müssen, daß sie versuchte, von niemandem erkannt zu werden! Den Verband nahm sie nur ab, weil ich mich darauf versteifte, daß sie mit beiden Augen gleichzeitig gar nicht sehen könne; und endgültig verriet sie sich, als sie auf meinen Bluff hereinfiel und den Park-Wächter identifizierte.« Della Streets Augen funkelten. »Aber genausogut hätte es doch auch schiefgehen können, Chef«, sagte sie. Mason schnitt eine Grimasse. »Ich habe lediglich meinen Scharfsinn gebraucht, um meine Mandantin aus der Patsche herauszubekommen. Aber Scharfsinn allein und als Ersatz für -2 6 9 -
polizeiliche Untersuchungen ist genauso, als wollte man ohne Balancierstange auf einem Seil den Niagarafall überqueren. Außer Scharfsinn braucht man auch Glück und darf sich vor keiner Mühe scheuen.« »In diesem Fall scheinen die polizeilichen Untersuchungen nicht allzuviel ergeben zu haben«, sagte Della Street. Mason grinste. »Jetzt hat sich herausgestellt, daß es Tragg gelungen ist, der in Carlins Haus vorgefundenen Leiche Fingerabdrücke abzunehmen. Dabei ergab sich, daß der Tote tatsächlich John Lansing alias Pierre Larue ist, der seinerzeit mit Helen Hampton zusammen vor Gericht gestellt worden war.« »Sie meinen also«, sagte Della Street, »daß er alles gewußt und trotzdem zugelassen hat, daß Myrtle Fargo wegen Mordes angeklagt wurde?« »Er wußte nicht genau, ob der Name Medford D. Carlin nicht ebenfalls falsch war. Außerdem nahm er an, daß ich Fargos Safe geöffnet und Dokumente, die meine Mandantin belasten konnten, herausgenommen hätte. Aus diesem Grund vergeudete er sehr viel Zeit damit, eine völlig sinnlose Spur zu verfolgen.« »Aber Sie müssen doch zugeben, daß Sie den Safe geöffnet haben!« »Vorsichtig«, sagte Mason. »Sie müssen Ihre Worte sorgfältiger wählen. Ich habe lediglich das Schloß des Safes aufgeschlossen.« »Verzeihung«, sagte Della Street demütig. »Menschenskind - wenn ich die Geschichte mit den Fingerabdrücken nur früher erfahren hätte!« »Was wollen Sie eigentlich?« meinte Della Street, »schließlich mußten Sie wenigstens etwas tun, um die fünfhundertsiebzig Dollar zu verdienen.«
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