Erle Stanley Gardner
Perry Mason Die blinde Trödlerin
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Erle Stanley Gardner
Perry Mason Die blinde Trödlerin
scanned by AnyBody corrected by Yfffi Es verstieß gegen die Dienstvorschriften für Kellnerinnen, die Gäste zu belästigen (noch dazu so prominente Gäste wie Perry Mason und Della Street). Aber Katherine Ellis war nicht nur jung und hübsch, sie war auch sichtlich in Nöten. Und deshalb hinterließ ihr der berühmte Strafverteidiger eine Notiz: »Meine Beratungsgebühr beträgt zehn Dollar. Anbei elf Dollar Trinkgeld. « Hätte Perry Mason geahnt, welchen Streich ihm sein weiches Herz da spielte, er hätte fluchtartig das Lokal verlassen. Denn die Kellnerin kam wirklich in sein Büro - und mit ihr ein Alptraum von einem Mordfall. ISBN 3-548-10140-2 Ullstein, 1982 Original: The case of the worried waitress Übers. von Ingeborg Hebell
Auch wenn es weitgehend unbekannt geblieben ist, so spielt die Gerichtsmedizin doch eine weit größere Rolle im Zivilprozeß als in den Strafprozessen. Man schätzt, daß 75 bis 80 Prozent aller Fälle, die bis vor den Richter gelangen, auf ein medizinisches Problem hinauslaufen. Einer der Männer, die dann wertvolle Dienste leisten, ist Don Mills, Gerichtsmediziner in Los Angeles. Er verkörpert den neuen Typ des Gutachters, der sowohl Doktor der Rechte wie der Medizin ist; zu seinen Aufgaben gehört die Begutachtung der verschiedensten Arten von Körperverletzungen, sowohl vor wie im Prozeß. Und deshalb ist es mir eine Freude, dieses Buch einem hervorragenden Vertreter der Gerichtsmedizin zu widmen, nämlich DON HARPER MILLS, M. D., LL. B. ERLE STANLEY GARDNER (Aus dem Vorwort der Originalausgabe)
1 Perry Mason und Della Street saßen in Madisons’ Midtown Milestone beim Mittagsimbiß. Mason war im Begriff, seiner Sekretärin etwas zu sagen, als er einen Schatten über dem Tisch bemerkte. Er blickte auf und sah in die freundlich lächelnden Augen Kelsey Madisons, des Inhabers. »Wie sind Sie mit allem zufrieden, Mr. Mason?« fragte Madison. »Sehr«, erwiderte der Anwalt. »Das Essen entspricht durchaus der von Ihnen gewohnten Qualität.« »Wie ist die Bedienung?« »Großartig.« Madison warf einen raschen Blick über die Schulter und dämpfte die Stimme. »Ich meine besonders das letztere, Perry. Wie ist die Bedienung?« Mason schien überrascht. »Perfekt«, sagte er. »Ich frage nämlich deshalb«, erklärte Madison, »weil ich festgestellt habe, daß die Kellnerin, die Sie bedient, sich Ihren Tisch von einer Kollegin erkauft hat.« »Was wollen Sie damit sagen?« fragte Mason. »Sie werden vielleicht bemerkt haben, daß das Mädchen, das Ihnen Bestecke, Wasser, Butter und die Speisekarten brachte, nicht dieselbe Kellnerin war, die später Ihre Bestellung entgegennahm.« »Das ist mir nicht aufgefallen«, sagte Mason. »Della und ich waren ziemlich ins Gespräch vertieft.« »Ich habe es gesehen und störe ungern, aber wir fördern das Tischekaufen nicht.« »Was heißt denn das überhaupt?« fragte Mason. »Es ist in einigen Restaurants üblich«, erklärte Madison. »Die Oberkellnerin teilt einer Kellnerin einen Tisch zu. Wenn der Gast als großzügiger Trinkgeldverteiler bekannt ist, kommt es -3 -
vor, daß eine andere Kellnerin den Tisch kaufen möchte. Pflegt der Mann zum Beispiel zwanzig Prozent Trinkgeld zu geben, und wird seine Rechnung auf fünf Dollar oder mehr geschätzt was einen fast sicheren Dollar an Trinkgeld bedeutet -, dann bietet eine Kellnerin ihrer Kollegin vielleicht fünfzig Cents für den Tisch. Diese steckt die fünfzig Cents ein und kann sich ein wenig ausruhen. Das Mädchen, das den Tisch gekauft hat, übernimmt die Extraarbeit und hat fünfzig Cents dabei verdient. Die Frage ist eben, wie nötig die Mädchen gerade Geld brauchen.« »Und ich genieße also den Ruf, dicke Trinkgelder zu geben?« erkundigte sich Mason. »Allerdings, Perry. Wenn eine Kellnerin Sie gut bedient, geben Sie bis zu 25 Prozent, manchmal mehr. Irgendwie kommt es mir aber so vor, als ob Kit neben dem Trinkgeld noch an was anderem interessiert ist, und darum geht es mir.« »Was meinen Sie?« »Falls sie versuchen sollte, sich bei Ihnen eine Rechtsauskunft zu holen, würde ich darüber gern Bescheid wissen. Man weiß ja, wie’s Ärzten und Rechtsanwälten geht, ständig werden sie von Leuten belagert, die Extradienste verlangen, ohne dafür zu bezahlen.« »Machen Sie sich keine Gedanken darüber«, sagte Mason. »Es geht nur darum, daß Kit hier neu ist und ich wissen wollte, was sie vorhat.« »Kit?« fragte Mason. »Katherine Ellis. Sie wird ›Kit‹ genannt, oder manchmal ›Kitten‹. Sie ist noch nicht lange hier und keine voll ausgebildete Kellnerin. Dies ist ihr erster Job.« »Nun, vielen Dank für den Hinweis«, sagte Mason. »Es ist mehr als ein Hinweis, Perry. Werden Sie’s mir sagen, wenn sie was von Ihnen will?« Mason sah den Gastwirt ein paar Sekunden prüfend an und lächelte plötzlich. »Nein«, entgegnete er. »Nein?« -4 -
»Nein«, wiederholte Mason. »Ich bin kein Informant. Ich weiß Ihre Warnung zu schätzen, und gewarnt sein heißt gewappnet sein. Wenn Sie aber feststellen wollen, ob Kit versucht, fachliche Auskünfte von Ihren Gästen zu erhalten, müssen Sie sich das von anderen Leuten erzählen lassen.« »Okay«, sagte Madison, »aber ich werde aufpassen. Hier kommt sie jetzt mit Ihrer Bestellung.« Madison ging zwanglos weiter und schien nicht im geringsten auf die junge Kellnerin achtzugeben, die zwei Cornedbeefsandwiches, ein Glas Milch und eine Tasse Kaffee brachte. Sie stellte Mason und Della Street die Teller hin. »Sahne und Zucker zum Kaffee?« fragte sie Della. Della schüttelte den Kopf. »Ich trinke ihn schwarz.« Die Kellnerin setzte Mason den Karton mit der Milch und das Glas hin, worauf sie einen Augenblick stehenblieb und den Tisch überblickte. »Fehlt noch etwas?« fragte sie. »Ich glaube, das wär’s«, antwortete Mason. Wieder zögerte sie. Della Street warf Mason einen Blick zu und sah nach hinten zur Küche, wo Madison mit verschränkten Armen stand und scheinbar den gesamten Speiseraum im Auge hatte, während er in Wirklichkeit nur die Serviererin scharf beobachtete. »Alles bestens in Ordnung«, sagte Mason. »Danke«, murmelte Kit und wandte sich ab. Mason blickte Della Street an. »Was halten Sie davon, Della?« »Ganz entschieden hat sie was auf dem Herzen«, meinte Della, »nur weiß sie nicht, wie sie’s anbringen soll.« »Oder sie war sich bewußt, daß Madison da hinten stand und sie mit Argusaugen beobachtete«, sagte Mason. Er reichte Della das Senffaß. »Haben Sie eine Karte von mir greifbar?« fragte er. Della Street nickte, griff in ihre Handtasche und zog eine Geschäftskarte heraus. »Warum?« fragte sie. -5 -
Perry Mason grinste. »Mir kommt gerade eine Idee. Reichen Sie mir die Karte unterm Tisch.« Unauffällig schrieb er: Meine Beratungsgebühr beträgt zehn Dollar. Anbei elf Dollar Trinkgeld. Dann zog er heimlich einen Zehn- und einen Eindollarschein aus der Tasche und legte die elf Dollar mit der Karte unter das ovale Tablett, auf dem die Brote serviert worden waren. Della Street sah ihm amüsiert zu. »Angenommen, sie wollte nur ein Autogramm?« »Dann hat sie ihr Autogramm«, erwiderte Mason, »und die Anwaltskammer wird mir wahrscheinlich vorhalten, ich ginge auf Kundenfang aus.« Sie lachten und begannen mit dem Essen. Kaum waren sie mit dem Sandwich fertig, als auch schon Kit am Tisch stand. »Darf ich Ihnen noch etwas bringen?« erkundigte sie sich. »Danke, das genügt«, sagte Mason. Kit stand da und kritzelte auf einer Rechnung herum, die bereits ausgeschrieben war, wie Mason feststellte. »Wäre es möglich, Sie etwas zu fragen, Mr. Mason?« wandte sie sich an den Anwalt. »Gewiß«, antwortete Mason, »in meinem Büro.« Damit schob er seinen Stuhl zurück, gleichzeitig nach dem von Della Street greifend, und setzte sein entwaffnendes Lächeln auf. »Oh«, sagte Kit enttäuscht und gab ihm die Rechnung. »Das Trinkgeld«, bemerkte Mason, »liegt unter dem Tablett.« Des Mädchens Antwort klang eisig: »Besten Dank.« Mason nahm Della Street am Ellbogen und steuerte die Kasse an. Della warf einen Blick über die Schulter zurück. »Wütend?« fragte Mason. »Deutlich eingeschnappt«, stellte Della fest. »Oha! Jetzt hat sie unter dem Tablett nachgesehen.« »Reaktion?« -6 -
»Nicht sichtbar. Sie dreht uns den Rücken zu.« »Na ja«, meinte Mason, »falls Kelsey Madison aufgepaßt hat, ob eine seiner Kellnerinnen sich kostenlos beraten lassen wollte, kann er jetzt aufatmen. Wie war ihr Name, Della?« »Katherine Ellis«, gab Della Street Auskunft, »ich hab’s mir notiert.« »Wenn sie ins Büro kommt, sagen Sie mir bitte Bescheid.« »Wollen Sie denn mit ihr sprechen?« fragte Della. »Jederzeit. Und ich werde ihr zehn Dollar für den Besuch berechnen.«
2 Es war kurz nach zehn Uhr am nächsten Morgen, als Della Street ihrem Chef einen Anruf von der Empfangsdame aus dem Vorzimmer weitergab: »Miss Ellis ist da, Perry.« »Ellis?« fragte Mason, während er sich zu erinnern versuchte. »Kit Ellis, die Kellnerin.« »Oh...« Mason lächelte. »Holen Sie sie herein, Della.« Della Street ging zum Vorzimmer und kehrte wenige Augenblicke später mit einer strahlenden Kit Ellis im Schlepptau zurück. »Mr. Mason, ich weiß nicht, wie ich Ihnen jemals danken soll! Sie haben so viel Verständnis.« »Hoffentlich war das Trinkgeld angemessen?« fragte er schmunzelnd. Kit Ellis holte die zehn Dollar hervor und gab sie Della Street. »Ich zahle das Beratungshonorar gleich. Ich kann Ihnen einfach nicht sagen, wie sehr ich Ihre Methode zu schätzen weiß, mit der sie die Sache behandeln. Mr. Madison schien zu glauben, daß ich Ihnen lästig fiel und... Nun, ich finde es großartig von Ihnen, auf diese Art vorzugehen.« »Nehmen Sie Platz, Miss Ellis«, sagte Mason, »und erzählen Sie mir, was Sie beunruhigt.« -7 -
»Meine Tante Sophia.« »Was ist mit ihr?« fragte Mason. »Sie ist mir ein Rätsel.« »Viele Frauen sind ein Rätsel«, bemerkte Mason. »Da Sie in diesem Fall jedoch einen Anwalt konsultieren wollen, nehme ich an, irgend etwas hat Sie alarmiert?« »Nicht direkt alarmiert«, sagte Kit, »aber ich habe Grund zur Besorgnis.« »Am besten schildern Sie mir die Umstände.« »Ich bin zweiundzwanzig«, begann sie. »Wir wohnten drüben im Osten. Meine Eltern kamen vor einem halben Jahr bei einem Autounfall ums Leben. Meine Tante habe ich nur einmal gesehen, als ich ein kleines Mädchen war, aber ich pflegte ihr zweimal im Monat zu schreiben - nette Briefe über alles, was ich so tat und so weiter.« »Und was taten Sie?« fragte Mason. »Die meiste Zeit ging ich zur Schule. Mein Vater verdiente viel Geld, aber wie sich herausstellte, gab er auch viel aus. Ich hatte mir immer gewünscht, Juristin zu werden, und er wollte für mein Studium sorgen. Ich machte ein Vorsemester an der Universität, als er starb. Sein Tod war ein großer Schock für mich, aber ein noch größerer sollte mich erwarten, als es an die Regelung der Finanzen ging. Offenbar hatte Dad nach durchschnittlichem Maßstab ein wirklich enormes Einkommen gehabt, aber es war von der Sorte, die bei seinem Tod prompt ausblieb. Das Haus war mit einer ersten Hypothek und einer Sicherungsübereignung belastet; die neuen Wagen wurden immer auf Kredit gekauft; auf jedes Stück im Haus waren Raten fällig. Auf diese Art lebte Dad: wie gewonnen, so zerronnen. Er war Grundstücksmakler und konnte buchstäblich die Vögel von den Bäumen flöten. Aber er gab seine Kommissionen nicht nur ebenso schnell aus, wie er sie drin hatte - er belieh sie bereits, sobald die Verträge beim Treuhänder lagen... Na ja, als ich die Konten prüfte, stellte ich fest, daß ich arm wie eine Kirchenmaus war.« -8 -
»Ihre Mutter hatte nichts auf die Seite gebracht?« forschte Mason. Kit schüttelte den Kopf. »Mutter war selbst der Boden noch heilig, den Vaters Füße betraten. Sie überließ ihm alle Entscheidungen und meinte, er könnte nichts falsch machen. Das stimmte auch so ziemlich. Das einzige, was er falsch machte, betraf die Lebensversicherung. Davon hielt er nichts. Leben und leben lassen war seine Devise. Aber all das ist mehr oder weniger Nebensache, Mr. Mason.« »Die Hauptsache scheint mir zu sein«, sagte Mason, »daß Ihre Tante Sophia Ihnen anbot, zu ihr zu ziehen, und daß Sie sich entschlossen, das anzunehmen.« Kit Ellis nickte. »Warum?« fragte Mason. »Da es doch auf der Hand lag, daß Sie arbeiten gehen mußten, würde ich meinen, Sie hätten es vorgezogen, in Ihrer Heimatstadt zu bleiben, ein Apartment mit einem oder zwei Mädchen Ihres Alters zu teilen und...« Sie schüttelte den Kopf und unterbrach: »Ich hätte meinen Bekannten gar nicht gegenübertreten können, Mr. Mason. Dad war immer höchst großzügig zu mir gewesen. Ich hatte mein eigenes Geld, meinen eigenen Wagen, kannte keine finanziellen Schwierigkeiten. Für gewöhnlich war ich die Gastgeberin, wenn wir Mädchen von unserer Collegeverbindung ausgingen, und... Na ja, ich konnte den Gedanken an diesen abrupten Wandel einfach nicht ertragen. Diese Dinge werden mir in ein paar Jahren wahrscheinlich unwesentlich vorkommen, aber im Moment waren sie die größten Probleme meines Lebens; und sie türmten sich wahrhaftig haushoch. Vor allem wollte ich nicht bemitleidet werden. Entsetzlich war mir zum Beispiel der Gedanke, Kellnerin spielen zu müssen, während meine Klubschwestern mich süß anlächeln und mir ein übertriebenes Trinkgeld hinlegen würden, weil ich ihnen so leid tat.« »Warum mußten Sie denn ausgerechnet kellnerieren?« -9 -
»Weil ich nichts anderes konnte. Ich bemühte mich um eine Stellung. Hätte ich länger warten können, wäre ich wahrscheinlich zu einem angemessenen Job gekommen. Ich besaß aber nicht die geringste Erfahrung - weder was die Arbeit noch die Bewerbung betraf. Ich fürchte, bei der rechten Gelegenheit habe ich nie das rechte Wort gesagt. Jedenfalls bat Tante Sophia mich, nach hier zu kommen und bei ihr zu wohnen, zumindest eine Zeitlang. Sie war einsam. In ihrem Haus hat sie zwei unbewohnte Schlafzimmer, und sie sagte, sie würde sich freuen, wenn ich zu ihr zöge.« »Und so kamen Sie also hierher?« fragte Mason. Kit Ellis nickte wieder. »Hatten Sie die Absicht, sich Arbeit zu suchen?« »Nein. Wir hatten immer angenommen, Tante Sophia wäre finanziell gut gestellt. Das war auch der Fall gewesen, aber sie hatte selbst eine Tragödie erlebt und damit offenbar einen finanziellen Zusammenbruch.« »Weiter«, sagte Mason, und es klang interessiert. »Erzählen Sie, was dann geschah.« »Nun, ich kam her, zog bei Tante Sophia ein und glaubte, mein Studium vielleicht fortsetzen zu können - entweder indem ich während des Studiums arbeitete oder auch mit einem Job für ein Jahr, um Geld zu sparen und... Um ehrlich zu sein, Mr. Mason: Ich hatte gehofft, Tante Sophia würde mir vielleicht anbieten, die Collegegebühren zu zahlen, damit ich mein Studium fortsetzen konnte.« »Sie tat es nicht?« fragte Mason. »Sie tat es nicht. Statt dessen... Ich weiß kaum, wie ich’s erzählen soll.« »Wollten Sie mich wegen Ihrer Tante sprechen?« »In gewisser Weise ja.« »Was ist los mit ihr?« »Es ist eine lange Geschichte«, sagte Kit, »und schwierig zu erzählen, aber ich will Ihnen das Wesentliche schildern. Tante Sophia ist die Schwester meines Vaters. Sie war eine -1 0 -
Karrierefrau. Wir alle hielten sie für recht gut gestellt; und ich nehme an, sie war es auch. Sie besaß dieses Haus und ein Vermögen. Aber vor etwa zwei Jahren trat Gerald Atwood in ihr Leben, und irgendwie entwickelte sich wohl alles zu einem Skandal, glaube ich. Atwood war mit Bernice verheiratet, hatte sich aber von ihr getrennt. Bernice ist eine dieser hundsgemeinen Frauen - entschuldigen Sie den Ausdruck -, herzlos, kaltblütig, habgierig und ein typisches Beispiel für die klassische Behauptung: ›Es raset nicht die Höll’ gleich einer Frau, die Schmach erfuhr.‹ Als Gerald Atwood und seine Frau sich trennten, gab er ihr Geld, damit sie in Nevada die Scheidung betreiben sollte. Dann lernte Gerald Tante Sophia kennen und wollte sie heiraten. Er verlangte die Scheidungspapiere von Bernice. Sie hielt ihn hin, und schließlich fuhren Gerald und Tante Sophia eine Zeitlang nach Mexiko und behaupteten dann, sie hätten geheiratet. Falls aber überhaupt irgendwelche Zeremonien stattgefunden haben, waren sie nicht mal das Papier wert. Ich schätze, Gerald Atwood war ein Spekulant. Er hatte mit Bernice in Palm Springs gewohnt. Da er in seinem Haus ein Büro besaß, behielt er es und verbrachte dort eine Menge Zeit. Es war so ungefähr das einzige an Vermögen, was er nicht auf Bernice übertragen hatte. An einem Wochenende fuhr Gerald nach Palm Springs, um einiges zu erledigen. Er wollte mehrere Tage dort bleiben. Es war schon fast Hochsommer und begann heiß zu werden. Er ging zum Golfspielen, bekam einen Hitzschlag und starb auf dem Platz. Aus der alten Mitgliederkartei im Klub ging hervor, daß Bernice seine Frau war. Da sie in Palm Springs wohnte, fand man im Golfklub ihre Telefonnummer und verständigte sie von Geralds Tod. Bernice leistete ganze Arbeit. Sie fuhr zum Golfplatz und verfügte prompt über die Leiche. Sie traf die Vorbereitungen für die Bestattung, nahm die Schlüssel zum Haus in Palm Springs -1 1 -
an sich, zog dort ein und riß sich offenbar alles unter den Nagel. Tante Sophia wußte zunächst nichts von Geralds Tod und wurde unruhig, als er sich nicht meldete. Sie rief in dem Haus in Palm Springs an. Bernice war am Apparat und sagte ihr, sie habe alle ›Pflichten‹ übernommen und Maßnahmen zur Bestattung getroffen. Sie meinte, um den Anstand zu wahren, sollte Tante Sophia nicht daran teilnehmen.« »War es denn tatsächlich nicht zur Scheidung gekommen?« fragte Mason. »Offenbar nicht. Bernice hatte Gerald zwar versprochen, die Scheidung in Nevada durchzusetzen, aber anscheinend hatte sie nicht einmal die Papiere eingereicht.« »Keine Vermögensregelung?« »Oh, gewiß bestand eine Abmachung darüber, aber nur mündlich. Sehen Sie, fast alles lief ja auf Bernices Namen. Sie hatte es einfach behalten und war praktisch mit Geralds Vermögen abgezogen. Er wollte damals ganz von vorn anfangen. Tante Sophia sagte ihm, er solle sein Geld vergessen, sie würde seinen neuen Start schon finanzieren. Und dann versilberte sie offenbar alles, was sie besaß, und gab Gerald das Geld.« »Kann sie etwas davon zurückverlangen?« fragte Mason. »Anscheinend nicht; jedenfalls jetzt nicht mehr, weil Gerald nicht mehr lebt und Bernice wohl seine rechtmäßige Witwe ist. Tante Sophia hat Gerald das Geld ohne Vorbehalt als Geschenk gegeben. Er nahm alle Investierungen in seinem eigenen Namen vor, und Tante Sophia drückt sich immer sehr unbestimmt aus, wenn man von ihrer Ehe spricht. Ich nehme an, Gerald fürchtete bereits damals, als ihre Heirat in Aussicht stand, daß Bernice die Scheidung überhaupt nicht eingereicht hatte. Bei einer Heirat hätten die beiden sich daher der Bigamie schuldig gemacht, und Bernice konnte Gerald dafür einsperren lassen. Also wollte Gerald in dieser Hinsicht keine Angriffspunkte bieten. -1 2 -
Ich glaube, er und Tante Sophia reisten kurz nach Mexiko, kamen zurück und erzählten Freunden, sie hätten dort geheiratet. Und jeder nahm das für bare Münze. Aber Tante Sophia wurde immer sehr, sehr vage, wenn ich sie nach der mexikanischen Heirat fragte. Sie hat auch zugegeben, die Ehe sei wahrscheinlich sowieso nicht gültig. Aber ich glaube, daß überhaupt keine Heirat in Mexiko stattgefunden hat.« »In solchen Fällen ist es manchmal möglich«, sagte Mason, »ein gemeinsames Risiko in Form einer Partnerschaft nachzuweisen. Dann hätte Ihre Tante Anspruch auf die Hälfte des Vermögens, das Gerald bei seinem Tod besaß. Es ist ein kniffliges juristisches Kunststück und hängt völlig davon ab, in welcher Form das Geld übertragen wurde; ob es eine Handschenkung war, ob es als Teil eines gemeinsamen Risikos angelegt wurde oder wie sonst. Wissen Sie nicht irgend etwas über die finanzielle Seite der Sache?« »Nicht das geringste«, sagte Kit. »Nur das, was ich Ihnen berichtet habe. Und Tante Sophia weigert sich, mit Bernice in Verbindung zu treten. Sie sagt, Bernice könnte ihr Geld behalten, Geld mache nicht glücklich. Bernice sei nichts weiter als eine habgierige, kaltherzige, geldsüchtige Schmarotzerin; und wenn sie es so nötig hätte, könnte sie den ganzen Kram behalten.« »Aber damit wäre Ihre Tante doch ruiniert?« »Das ist es eben, worüber ich mit Ihnen sprechen wollte, Mr. Mason. Jedenfalls eins der Dinge.« »Erzählen Sie weiter«, bat Mason. »Nachdem ich hergekommen war und mit meiner Tante gesprochen hatte, entdeckte ich also, daß sie Gerald Atwood ihr gesamtes Bargeld gegeben hatte und daß sein Tod ihren finanziellen Ruin bedeutete. Sie sagte nichts über die Fortsetzung meines Studiums, und ich selbst erwähnte es auch nicht. Dann ereigneten sich gewisse Dinge, und... Also, offen gesagt, Mr. Mason, will ich in diesem Haus nicht länger bleiben als unbedingt nötig. Und um herauszukommen, muß ich einen Beruf haben und unabhängig sein.« -1 3 -
»Was für Dinge ereigneten sich?« fragte Mason. »Mysteriöse«, sagte Kit, »Dinge, die mich beunruhigen und erschrecken.« »Erzählen Sie.« »Tante Sophia ist eine der knauserigsten Frauen, die mir jemals begegneten - in gewisser Hinsicht.« »Ihnen gegenüber?« »Mir und auch anderen gegenüber. Ich habe ein Zimmer, eine Bleibe; ich habe meine Verpflegung - und damit hat sich’s. Ich konnte das College nicht weiter besuchen, weil mir das Fahrgeld fehlte, weil ich keine Garderobe besitze außer der mitgebrachten. Mit anderen Worten - ohne fremde Hilfe war es für mich unmöglich, das Studium fortzusetzen.« »Weiter«, drängte Mason. »Anfangs hatte ich den Eindruck, als ob Tante Sophia sich recht gut stünde. Das Haus ist wirklich geräumig und gut eingerichtet. Sie hat einen Gärtner; mit dem Haushalt wird sie allein fertig. Sie will keine Wirtschafterin, denn sie sagt, solche Frauen verrichten in einem halben Tag keine ganze Stunde wirkliche Arbeit.« »Also begannen Sie, im Haushalt mitzuhelfen?« fragte Mason. Kit nickte. »Und dann?« »Dann kam ich um vor Hunger.« »Wieso das?« »Tante Sophia pflegte die Zeitungen nach Sonderangeboten der großen Lebensmittelgeschäfte durchzusuchen. Wenn sie in einem Laden drei Cents bei einem Pfund Butter, in einem anderen fünf Cents bei einem Pfund Speck sparen konnte, lief sie von einem zum nächsten und kaufte die Sonderangebote. Was sie an Essen auf den Tisch brachte, reichte gerade aus, um einen Vogel am Leben zu erhalten. Ich war die meiste Zeit entsetzlich hungrig.« »Also beschlossen Sie, sich Arbeit zu suchen?« fragte Mason.
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»Das tat ich, und damit hatte ich eine Ausrede, mittags außerhalb zu essen, so daß ich wenigstens eine gute Mahlzeit am Tag bekam.« »Weiter«, ermunterte Mason sie. »Ich begegnete hier den gleichen Schwierigkeiten wie drüben im Osten. Ich besaß eine gute Schulbildung, aber absolut keine Erfahrung.« »Die meisten Mädchen lügen betreffs ihrer Erfahrung, wenn’s um den ersten Job geht«, stellte Mason fest, während er Kit scharf beobachtete. »Ich lüge nicht, Mr. Mason.« »Sie erzählten etwaigen Arbeitgebern die buchstäbliche Wahrheit?« Kit nickte. »Weiter bitte.« »Ich sagte ihnen die Wahrheit, und es blieb mir nichts erspart. Ich erwähnte, daß ich mich willig in die Stellung einarbeiten wollte, aber genug verdienen müßte, um Autobus, Mittagessen und allgemeine Ausgaben zu bestreiten; und wenn man gut gepflegt sein will - Frisur, Strümpfe, Kleider, Schuhe -, na ja, das kostet eben einiges.« Mason nickte. »So landete ich schließlich als Kellnerin bei Madison«, fuhr sie fort, »und freute mich mächtig, daß ich diesen Job bekommen hatte. Ich kenne noch nicht alle Kniffe in diesem Gewerbe, ich weiß noch nicht, wie man aus dem Durchschnittsgast ein gutes Trinkgeld herauskriegt, aber ich gebe mir Mühe, gute Arbeit zu leisten, und ich zeige es den Leuten. Eine feine Sache dabei sind natürlich die Mahlzeiten. Ich kann mich richtig vollstopfen, wenn ich will. Und glauben Sie mir, in den ersten paar Tagen wollte ich es. Noch nie im Leben war ich so hungrig.« »Madison ist zufrieden mit Ihnen?« forschte Mason. »Himmel, ich weiß gar nicht, ob er überhaupt merkt, daß ich vorhanden bin. Aber der Oberkellner, der den Speiseraum -1 5 -
beaufsichtigt, ist in Ordnung. Ich habe nur das scheußliche Gefühl, daß er früher oder später einen Annäherungsversuch machen wird und daß mein Job von Dingen abhängen könnte, an die ich nicht gern denke; aber im Moment ist alles okay.« »Das gehört zu den Berufsrisiken«, sagte Mason augenzwinkernd, »bei denen ein Anwalt nicht viel ausrichten kann. Zu welchem Zweck suchen Sie mich nun auf, Miss Ellis?« »Eigentlich war es nur eine Art Eingebung. Als Sie und Miss Street gestern das Restaurant betraten und eines der Mädchen mich auf Sie aufmerksam machte... Nun, da kaufte ich Sie. Ich gab der Kellnerin, die Ihren Tisch hatte, fünfundsiebzig Cents für die Übernahme.« »Und was hatten Sie dabei im Sinn?« »Weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß jemand es bei Mr. Madison ausquatschte und er anfing, mich mit Luchsaugen zu beobachten. Ich nehme an, Kellnerinnen sollen die Gäste nicht mit persönlichen Anliegen belästigen, und der Grund dafür ist natürlich leicht einzusehen.« Mason nickte wieder. »Aber Sie durchschauten gleich alles und waren so wundervoll... Ich weiß nicht, wie ich Ihnen dafür danken soll.« »Das ist schon in Ordnung«, sagte Mason. »Mich interessiert, was hinter alldem steckt.« »Dahinter steckt, daß Tante Sophia irgendwie eine tolle Hochstaplerin ist, die mit einer Lüge lebt; das quält mich.« »Einer Lüge?« drängte Mason. »Sie geht von einem Lebensmittelgeschäft zum anderen und sucht sich die Sonderangebote heraus, um einige Cents zu sparen. Der springende Punkt dabei ist aber, daß sie per Taxi von einem Geschäft zum anderen fährt und den Fahrer warten läßt, während sie einkauft. Ihre Taxirechnungen müssen einfach enorm sein.« Masons Augen blitzten in plötzlichem Interesse auf. »Davon abgesehen erscheint sie aber normal?« fragte er.
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»Auch das nicht«, erwiderte Kit »In ihrem Schlafzimmer hat sie einen Schrank, und auf dem obersten Bord steht eine Reihe Hutschachteln. Die Tür zu diesem Schrank hält sie verschlossen und... Mir ist scheußlich dabei zumute, Mr. Mason.« Mason lächelte. »Sie meinen, Ihre Neugier war geweckt, und Sie wollten nachsehen, was in diesem Wandschrank steckte?« »Nachdem ich die Sache mit den Taxis herausgebracht hatte«, fuhr Kit fort, »war ich schrecklich neugierig wegen dieses Schrankes. Er hat ein Schnappschloß, das sie immer verschlossen hält. Wie Sie wissen, half ich bei der Hausarbeit. Als ich vor einigen Tagen morgens ihr Schlafzimmer saubermachte, während sie fort war, fand ich die Schranktür unverschlossen.« »Und Sie guckten hinein?« »Ich guckte nicht, ich fuhr gleich mit dem Staubsauger hinein. Unten fiel mir nichts auf, aber oben auf dem Bord standen haufenweise Hutschachteln, und ich fragte mich, warum Tante Sophia eine derartige Hutkollektion hatte. Meine weibliche Neugier siegte, ich öffnete die Schachtel in der Ecke, um zu sehen, was für ein Hut drin war. Die Schachtel war voller Geld.« »Wieviel Geld?« »Ich weiß es nicht; eine Menge. Die Scheine waren Fünfziger und Hunderter.« »Was war mit den übrigen Schachteln?« »Weiß ich nicht. Ich setzte den Deckel wieder auf und ging hinaus. Dabei schloß ich die Tür, und das Schnappschloß sprang zu. Das ist es, Mr. Mason, was mich so beunruhigt: In dem Haus könnte ein Vermögen an Bargeld versteckt sein, und wenn Einbrecher das herauskriegen - bei zwei alleinlebenden Frauen... Und dann mache ich mir Gedanken wegen Tante Sophia. Sie wissen, was es heißt, wenn jemand auf diese Art Geld spart. Gewöhnlich bedeutet es Steuerhinterziehung. Wenn Tante Sophia gut gestellt ist und große Beträge angesammelt hat, ohne sie zu versteuern, wird man ihr früher oder später beikommen.« -1 7 -
»Bei einer älteren Frau«, sagte Mason, »würde die Steuerbehörde wohl Rücksicht nehmen. Viele ältere Leute sind...« »Aber das trifft bei ihr nicht zu; sie ist nicht ältlich. Sie ist erst fünfundfünfzig, und zwar eine sehr attraktive Fünfundfünfzigerin. Nach ihrem Gesicht würde man sie auf Vierzig schätzen, aber sie kleidet sich alt.« »Wie stellten Sie die Sache mit den Taxis fest?« fragte Masori. »Ich war in einer der Lebensmittelabteilungen; denn als Tante Sophia in der Zeitung von einem billigen Speckverkauf las, hatte ich gleichzeitig etwas in der Einrichtungsabteilung entdeckt, das ich kaufen wollte. Ich stieg aus meinem Bus und wollte gerade das Geschäft betreten, als ein Taxi mit Tante Sophia vorfuhr. Dabei sagte sie dem Fahrer offenbar, er sollte warten.« »Und was taten Sie?« »Ich drückte mich in den Hintergrund und wartete ab. Tante Sophia war gut zehn Minuten fort und kam dann mit einem einzigen Päckchen heraus, wahrscheinlich einem Pfund Speck. Das legte sie ins Taxi und fuhr ab. Das Taxi fuhr so dicht an mir vorbei, daß ich noch andere Päckchen auf dem Sitz entdecken konnte.« »Benutzt sie für die Hin- und Rückfahrt keine Taxis?« fragte Mason. »Aber nein, sie fährt im Bus ab und kommt mit der vollen Einkaufstasche im Bus zurück.« »Ist dies alles, über das Sie mit mir sprechen wollten?« »Mr. Mason«, sagte Kit, »ich brauche Ihren Rat. Ich möchte nicht, daß Tante Sophia denkt, ich lasse sie im Stich. Unter all diesen Umständen glaube ich aber, ich sollte in dem Haus nicht wohnen bleiben.« »Wieso sollte Ihre Tante denn meinen, Sie ließen sie im Stich, Katherine?« forschte Mason.
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»Nun, sie steht ganz allein. Mein Vater war ihr Bruder, ihr einziger Angehöriger außer mir. Nun hat sie nur noch mich. In ihrem Leben hat es große Tragödien gegeben, und sie tut mir leid.« »Was wurde aus dem Haus in Palm Springs?« fragte Mason unvermittelt. »Bernice bewohnt es. Als überlebende Witwe beantragte sie die Nachlaßverwaltung.« »Es gab kein Testament?« »Oh, natürlich gab es eins«, sagte Katherine Ellis. »Aber es lag im Büro des Hauses in Palm Springs. Bernice nahm es an sich und verbrannte es.« »Hinterließ Gerald Atwood keine sonstigen Verwandten?« »Nein. Bernice hat einen Sohn aus einer früheren Ehe, Hubert Deering. Weitere Kinder oder sonstige Angehörige gibt es nicht, und Bernice ist fest entschlossen, alles an sich zu reißen. Sie schwört, sämtliche Sachen - die in Wirklichkeit von Gerald Atwood mit Sophias Geld angeschafft wurden gehörten zum gemeinschaftlichen Vermögen.« »Hat Sophia das nicht angefochten?« »Sophia verhält sich mucksmäuschenstill«, sagte Katherine, »und das gefällt mir nicht. Sie tut, als hätte sie noch irgendwo einen Trumpf, führt aber ihr trübsinniges Leben unentwegt fort, sagt nichts und wohnt weiter in diesem zweieinhalbstöckigen Spukhaus.« »Spukhaus?« wiederholte Mason. Katherine Ellis schlug die Augen nieder. »Davon wollte ich überhaupt nichts sagen.« »Spukhäuser sind mein Hobby«, sagte Mason, wobei seine Augen vor Interesse leuchteten. »Wenn es in dem Haus spukt, muß ich es wissen. Was hören Sie - Stöhnen, Ächzen, knarrende nächtliche Schritte, oder...« »Nächtliche Schritte.« »Was für Schritte?« -1 9 -
»Gehschritte, wo einfach niemand gehen kann.« »Warum nicht?« »Die Treppen hinauf und hinab«, berichtete Katherine Ellis, »mit sicheren Schritten durch stockdunkle Korridore, alles ohne den leisesten Schimmer von Licht. Dann Geflüster; dann wieder Schritte und...« »Vielleicht hat Ihre Tante Sophia einen heimlichen Besucher«, warf Mason ein. »Nicht mitten in der Nacht und im Stockdunkeln. Ich habe meine Tür immer unauffällig etwas geöffnet und sehe, daß alles in völliger Dunkelheit liegt.« Mason überlegte einen Augenblick. »Ganz offen gesagt, Katherine«, erklärte er dann, »mir gefällt das nicht. Nichts an der ganzen Situation, in der Sie sich befinden, gefällt mir. Ich glaube, Sie ziehen besser aus.« »Wann?« »Sofort. Solange die Gelegenheit noch günstig ist.« »Und was erzähle ich Tante Sophia? Soll ich ihr sagen, ich hätte festgestellt, daß sie eine Riesensumme gehortet hat und...« »Sagen Sie ihr nichts dergleichen«, empfahl Mason. »Setzen Sie sie einfach davon in Kenntnis, daß Sie sich entschlossen haben, mit einem Mädchen Ihres Alters ein Apartment zu teilen.« »Aber das wird seine Zeit dauern und möglicherweise mehr kosten, als ich verdiene. Schließlich stammt der größte Teil unserer Einnahmen aus Trinkgeldern, und glauben Sie mir, es ist ein Kunststück, ein anständiges Trinkgeld aus einem Kunden herauszuholen.« »Das hat alles Zeit«, sagte Mason, »aber ich will Sie jetzt dort heraus haben.« »Was meinen Sie mit ›jetzt‹?« »Wann gehen Sie zur Arbeit?«
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»Heute fange ich um 11.30 Uhr an und arbeite bis nachmittags 3.30 Uhr. Dann habe ich bis 5 Uhr frei und arbeite anschließend bis 9 Uhr weiter.« »Während der kurzen Freizeit nachmittags fahren Sie doch nicht nach Hause?« »Nein, wir haben eine Art Aufenthalts- und Ruhezimmer, da können wir auf Gesundheitsliegen unserer Füße hochpacken, duschen, uns entspannen oder ein Schläfchen halten.« »Wenn Sie um 9 Uhr fertig sind, gehen Sie nach Hause. Packen Sie Ihre Sachen zusammen und ziehen Sie aus.« »Wohin soll ich denn? Ich kann nicht...« »Ziehen Sie in ein Motel. Verlassen Sie dieses Haus«, wiederholte Mason. »Es ist gefährlich. Es ist nicht nur gefährlich, weil das versteckte Geld Außenstehende anlocken könnte: Sollte etwas damit passieren, wären Sie die Hauptverdächtige. Ganz offensichtlich ist Ihre Tante Sophia alles andere als aufrichtig gegen Sie gewesen. Sie war nett zu Ihnen, und Sie schulden ihr eine gewisse Loyalität. Ich glaube aber, Sie haben sich Ihrer Pflicht entledigt. Auf jeden Fall müssen Sie auch an sich selbst denken.« »Ich habe schon überlegt, ob ich mir einen Detektiv nehmen soll, um festzustellen, wohin Tante Sophia geht, und vielleicht herauszufinden...« Mason schüttelte den Kopf. »Ein Detektiv würde Sie fünfzig Dollar pro Tag plus Spesen kosten, das können Sie sich nicht leisten. Ebensowenig können Sie es sich leisten, daß Ihre Tante Sophia jemals erfährt, wie Sie... Nein, ziehen Sie aus. Erklären Sie Ihrer Tante telefonisch, Sie hätten sich zu einer anderen Regelung entschlossen und würden heute abend ausziehen. Ich nehme an, Sie haben nicht sehr viele persönliche Sachen?« »Nur sehr wenige. Ich verließ unser Haus mit buchstäblich nichts außer der Kleidung, die ich trug, und etwas simplem Reisezubehör. Ic h besitze zwei Koffer und eine Reisetasche. Absichtlich habe ich mich auf das Nötigste beschränkt, damit ich bequem reisen konnte. Ein paar Kartons mit -2 1 -
Familiensachen habe ich per Fracht schicken lassen, und bis sie hier eintreffen, kann ich die Lagerung bezahlen. Ich habe mich damit abgefunden, daß ich mich künftig daran gewöhnen muß, ohne Geld und große Habe zu leben.« »Verlassen Sie dieses Haus, sobald es Ihnen auf passende Art möglich ist. Geben Sie Miss Street hier Namen und Anschrift Ihrer Tante; und wenn Sie irgendwo untergekommen sind, voraussichtlich für die Nacht in einem Motel, rufen Sie mich an, und geben Sie mir Nachricht, wo Sie sich aufhalten.« »Kann ich Sie nach Büroschluß erreichen?« Mason überlegte einen Augenblick und sagte dann: »Sie können mich über die Detektei Drake erreichen. Der Chef ist Paul Drake. Er und seine Mannschaft führen alle Ermittlungen für mich durch. Die sitzen hier im selben Gebäude mit uns, auf derselben Etage, und...« »Ja, ich habe den Namen an der Tür bemerkt, als ich aus dem Lift stieg. Das brachte mich nämlich auf die Idee mit dem Detektiv.« »Lassen Sie’s«, sagte Mason. »Sie haben mir Ihr Problem anvertraut und werden meinen Rat befolgen. Rufen Sie Ihre Tante an, sagen Sie ihr, daß Sie heute abend ausziehen. Wenn Sie dann vom Dienst nach Hause gehen, packen Sie Ihre Sachen zusammen, nehmen ein Taxi und fahren zu einem Motel. Wie ist die Adresse?« Katherine Ellis reichte Mason eine Karte. »Die ließ ich mir drucken«, erklärte sie, »als ich mich um Stellungen bewarb.« Mason las die Anschrift. »Es gibt einige sehr gute Motels etwa eine oder eine halbe Meile weiter an der Hauptstraße. Ich glaube, die Buslinie führt direkt an ihnen vorbei. Aber halten Sie sich nicht mit einem Bus auf. Sie haben Gepäck, und es ist abends. Stellen Sie sich nicht an die Straßen. Nehmen Sie ein Taxi. Haben Sie Geld dafür?« »O ja.« »Wie sieht Ihre Tante aus?« fragte Mason beiläufig.
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»Sie ist 1,58 Meter groß; Mitte Fünfzig, könnte aber für fünfundvierzig durchgehen; mittlere Größe; gute Figur; stahlgraue Augen; kastanienfarbenes Haar; Gewicht etwa hundertdreiundzwanzig Pfund; eine apartaussehende Frau, wenn sie sich entsprechend kleidet, aber sie macht sich mit Vorliebe alt und führt ebensolche Reden.« »In Ordnung«, sagte Mason, »rufen Sie mich an, wenn Sie umgezogen sind, damit ich weiß, wo Sie sich aufhalten.«
3 Als Katherine Ellis das Büro verlassen hatte, warf Mason Della Street einen prüfenden Blick zu. »Warum in aller Welt«, fragte er, »studiert wohl eine Frau die Zeitungen, um drei Cents beim Pfund Butter oder fünf beim Pfund Speck zu sparen, und fährt dann von Laden zu Laden per Taxi, das sie für drei bis vier Dollar pro Stunde warten läßt, während sie billig einkauft? Und warum läßt sie sich vom Taxi an ihrer Buslinie absetzen, um das letzte Stück im Bus zu fahren?« Della Street schüttelte den Kopf. »Kapiere ich nicht.« »Für mich liegt es auf der Hand«, sagte Mason, »daß diese Sophia Atwood ein höchst verdächtiges Spiel treibt. Rufen Sie bitte Paul an, er möchte herüberkommen.« »Chef«, protestierte Della Street, »Sie wollen doch nicht etwa...« »Doch, ich will«, unterbrach Mason. »Unsere Mandantin steckt in einer undurchsichtigen, möglicherweise gefährlichen Sache. Nach allem, was wir wissen, kann es sich bei dem ganzen Theater, sie herzuholen und bei Tante Sophia wohnen zu lassen, nur darum gehandelt haben, sich einen Sündenbock zu beschaffen oder den ›Lackierten‹, wie die Gauner es nennen. Es gehört zu den unerfreulichen Begleiterscheinungen, wenn jemand zu seinem Recht kommen will, daß es Geld kostet, das Getriebe in Gang zu setzen. Katherine Ellis besitzt nicht das Geld, um zu ihrem eigenen Schutz das Notwendige zu veranlassen. Einiges davon wollen wir deshalb für sie -2 3 -
übernehmen. Ein Anwalt hat Pflichten gegenüber seinen Mandanten. Ich kann es mir leisten, einen Detektiv zu beschäftigen, Kit Ellis kann es nicht.« »Chef, Sie waren ja schon zu all dem entschlossen«, sagte Della Street, »als Sie von Katherine Ellis die genaue Beschreibung ihrer Tante verlangten.« Mason grinste. »Es ist sinnlos, vor einer Sekretärin Geheimnisse haben zu wollen. Na gut, Sie haben meine Gedanken gelesen. Bestellen Sie Paul nun her.« Della rief die Detektei Drake an, und wenige Augenblicke später ertönte Paul Drakes geheimes Klopfzeichen an Masons Bürotür. Della ließ ihn eintreten. »Tag, Perry. Tag, Schönste. Was gibt’s heute Erfreuliches? Habt ihr einen Job für mich?« fragte er. »Habe ich«, sagte Mason. »Ich brauche eine Beschattung, und dein Mann darf sich nicht erwischen lassen, selbst wenn er die Person darüber verlieren sollte.« »Wer ist die Person?« »Eine gewisse Sophia Atwood«, erklärte Mason. »Hier ist ihre Adresse.« Er gab Paul Drake die Karte von Katherine Ellis. »Ist es ein Apartmenthaus?« fragte der Detektiv. »Ein zweieinhalbstöckiges privates Wohnhaus, wahrscheinlich ziemlich alt und verkommen.« »Und die Beschreibung der Person, die ich beobachten soll?« fragte Drake. »Um die Fünfzig; beträchtlich jünger wirkendes Gesicht, aber älter gekleidet; elegante Figur; kastanienfarbenes Haar; Größe 1,58 Meter, Gewicht etwa hundertdreiundzwanzig Pfund; stahlgraue Augen. Und jetzt gebe ich dir einen Tip. Sie pflegt das Haus zu verlassen, zur Bushaltestelle zu gehen, einen Bus zu nehmen - ich weiß nicht, wie weit -, dann in ein Taxi umzusteigen und eine Menge Einkäufe per Taxi zu machen. Danach läßt sie sich zur Bushaltestelle fahren, bezahlt das Taxi, steigt in einen vollgestopften Bus, fährt ein paar Blocks -2 4 -
weit, steigt aus und marschiert noch anderthalb Blocks bis zu ihrem Haus.« »Kaum zu glauben«, bemerkte Drake. »Eben«, pflichtete Mason bei. »Und welchen Zweck soll all das haben?« »Eben das will ich herausfinden«, erwiderte Mason. »Kannst du mir irgendwas über deine Mandantin erzählen?« »Was dich betrifft, so habe ich keine Mandantin; ich will nur meine Neugier befriedigen, und du sollst die Spesen nicht zu phantastischer Höhe anwachsen lassen. Andererseits brauche ich eine zuverlässige Beschattung, und die Person soll keine Ahnung haben, daß sie verfolgt wird.« »Okay«, grinste Drake, »du bist an der richtigen Adresse. Meinst du, der Idiotismus wird auch heute fortgesetzt?« »Wenn nicht, werde ich dir deine Tagesspesen streichen«, sagte Mason. »Ich soll die Sache unmittelbar in Angriff nehmen?« »Sofort«, bestimmte Mason. »Okay. Mein Mann ist in wenigen Minuten auf dem Weg.«
4 Es war nach fünf Uhr nachmittags, als Paul Drake wieder an Masons Tür trommelte. Della Street öffnete. »Hallo, Paul«, sagte Mason, »wir sind gerade dabei, Feierabend zu machen.« »Ich wollte dich noch erwischen, bevor du weggehst«, erwiderte Drake. »Bin da auf was gestoßen, das mir sonderbar vorkommt.« »Was denn?« fragte Mason. »Die Sache mit Sophia Atwood. Mein Mann hat was Komisches entdeckt. Er berichtete vor kurzem telefonisch, und ich hielt es für besser, bei dir vorbeizugehen.« »Von wo aus hat er angerufen?« -2 5 -
»Aus seinem Wagen«, sagte Drake. »Wir haben mehrere Wagen mit Telefon. Er befand sich vor dem zweieinhalbstöckigen Wohnhaus.« »Okay, was ist also los?« »Rate mal, womit die Tante ihren Lebensunterhalt verdient.« »Du meinst, sie arbeitet?« »Tut sie«, bestätigte Drake. »Was denn?« »Sie verkauft Bleistifte.« »Bleistifte?« »Genau. Sie hat ein Luftkissen, einen dunklen Kittel, dunkle Brille, einen Vorrat an Bleistiften, und sie gehört zum festen Bestand vor dem Bürohaus der Gillco Manufacturing Company draußen an der Alvareno Street.« »Dahin geht sie jeden Tag?« fragte Mason, »Mit gelegentlichen Unterbrechungen.« »Hat die Firma nichts dagegen?« »Anscheinend nicht. Einer der großen Aktionäre der Gesellschaft deutete an, daß man sie nicht wegscheuchen will.« »Wieviel Zeit verbringt sie mit dem Bleistiftverkaufen?« »Ich habe die Story nicht vollständig«, sagte Drake. »Mein Mann wollte nicht zu viele Fragen stellen, aber zeitweise ist sie fast den ganzen Tag da. Dann wieder taucht sie nur für eine oder zwei Stunden auf.« »Wie kommt sie hin und zurück?« »Per Taxi.« »Wird nicht darüber geredet, daß eine Trödlerin, die Bleistifte verkauft, im Taxi erscheint?« »Es ist immer dasselbe Taxi«, erklärte Drake, »und es heißt, sie hat mit dem Fahrer eine Art Abmachung auf Monatsbasis, nach der er sie fahren muß, wohin sie will.« »Hast du auch ihre Einkauferei untersucht?« fragte Mason. »Ja, sie geht von einem Geschäft zum anderen und sucht sich die Sonderangebote heraus. Sie fährt im Taxi, und in diesem Fall ist es offenbar nicht immer dasselbe. Auf jeden Fall ist es nicht dasselbe, mit dem sie zu ihrem Stand vor der Gillco Manufacturing Company fährt.« »Was konntest du über die Gillco Manufacturing Company feststellen?« -2 6 -
»Elektronische Geräte, Apparätchen, dieses moderne technische Zeug. Sie produzieren selbst und sind nebenbei Alleinimporteure für eine japanische Fabrik. Sie...« Das Telefon schrillte. Della Street blickte fragend zu Mason hin. Der Anwalt zuckte die Schultern und sagte: »Na gut, Della, diesen letzten Anruf nehmen wir noch.« Della, die nach Dienstschluß der Telefonistin direkt mit dem Klappenschrank verbunden war, nahm den Hörer ab. »Büro Perry Mason... Ja, hier spricht Della Street... Wer...? Um was handelt es sich...? Oh, ich verstehe. Einen Augenblick bitte. Ich will sehen, ob ich ihn noch erreichen kann, er verläßt gerade das Büro.« Sie hielt die Hand über die Sprechmuschel und berichtete Mason: »Es ist Ihre Mandantin, Kit Ellis, und sie hat ernste Schwierigkeiten. Sie will wissen, ob Sie sofort zu ihr kommen können.« Mason zögerte einen Augenblick und wechselte einen Blick mit Paul Drake. »Okay, Della«, entschloß er sich dann, »ich will mit ihr reden.« Er nahm das Telefon auf seinem Schreibtisch ab. »Mr. Mason«, sagte Kit Ellis, »ich weiß, welch schreckliche Belästigung dies für Sie bedeutet, aber bei mir geht’s beinahe um Leben oder Tod. Könnten Sie herkommen?« »Wohin?« fragte Mason. »Wo ich wohne, zu Tante Sophias Haus. Sie kennen die Adresse.« »Was ist denn los?« »Ich werde des Diebstahls beschuldigt.« »Von wem? Von Ihrer Tante?« »Nicht direkt. Von so einem Angeber, der sich als Freund der Familie bezeichnet. Sein Name ist Smart Baxley. Man sollte diesen aufgeblasenen...«
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»Reden Sie nicht so«, unterbrach Mason, während seine Augen sich verengten. »Also, dieser Baxley ist hier und bearbeitet Tante Sophia, mich einsperren zu lassen. Dann ist noch ein Detektiv da und...« »Haben Sie irgend etwas gesagt?« fragte Mason. »Was heißt, ob ich was gesagt habe? Sie wären verrückt, habe ich ihnen gesagt. Ich...« »Haben Sie etwas von den Dingen erwähnt, von denen Sie mir berichteten?« »Bisher nicht, nein.« »Sagen Sie keinen Ton, nur, Sie hätten nichts gestohlen. Darüber hinaus erzählen Sie niemandem das geringste. Beantworten Sie Fragen nur dahingehend, daß Ihr Anwalt auf dem Weg zu Ihnen sei und alle Gespräche führen wird. Haben Sie das verstanden?« »Ja.« »Ich nehme an«, fuhr Mason fort, »Ihre Tante hat einen Geldverlust erlitten?« »Anscheinend.« »Von dem gehorteten Geld?« »Oh, es ist eine lange, sehr verwickelte Geschichte.« »Sagen Sie nichts«, wiederholte Mason. »Beantworten Sie keine Fragen. Sie seien keiner Straftat schuldig und wollten alles mir überlassen. Wenn ich eintreffe, folgen Sie meinen Anweisungen.« Mason warf den Hörer zurück und nickte Della Street zu. »Gehen wir, Della«, sagte er, bereits auf dem Weg zur Tür. »Und bleib am Ball, Paul. Ich melde mich. Ruf aber deinen Schatten ab, er könnte da draußen jetzt auffallen. Kommen Sie, Della.« Della Street griff nach ihrer Handtasche, riß den Mantel vom Haken und ließ sich von Mason hineinhelfen. Sie hasteten den Flur hinunter, wobei Dellas Absätze einen Trommelwirbel -2 8 -
vollführten, als sie sich Masons langen Schritten anzupassen versuchte. Paul Drake folgte ihnen in weniger rasantem Tempo. »Du lieber Himmel, Chef«, sagte Della, als Mason den Fahrstuhlknopf drückte, »wenn diese Tante das ganze Geld in den Hutschachteln losgeworden ist, könnte es sich um ein Vermögen handeln. Wieviel wissen wir überhaupt über unsere Mandantin?« »Wissen können wir natürlich nicht, was in den Hutschachteln ist«, entgegnete Mason, »wir können nur...« Der Lift hielt, die Tür öffnete sich. Mason schob Della Street in den Korb und bedeutete ihr mit einem Wink zu schweigen. Sie eilten zum Parkplatz. Mason holte seinen Wagen heraus. Nach zügiger Fahrt durch den Verkehr - mit Zeitgewinn, wo immer es möglich war - erreichte er das große ZweieinhalbEtagenhaus. Er parkte und half Della heraus. Zusammen liefen sie die Verandatreppen hinauf. Mason läutete an der vorderen Tür. Unmittelbar darauf öffnete ihnen ein breitschultriger, offensichtlich aggressiver Mann, der in den Vierzigern sein mochte. »Sie können jetzt nicht herein«, kündigte er barsch an. »Erlauben Sie, daß ich mich vorstelle«, sagte Mason. »Ich bin Perry Mason, Rechtsanwalt. Ich vertrete Katherine Ellis, die zu Haus ist, wie ich glaube. Dies ist Miss Street, meine Sekretärin. Ich wünsche meine Mandantin zu sprechen.« »Sie können aber nicht herein!« »Wer sagt das?« »Ich«, ertönte eine zweite Stimme, und der Breitschultrige trat zur Seite, um einem aufgeregten Mann Platz zu machen, der jetzt den Eingang versperrte. »Ich bin Stuart Baxley«, erklärte er, »ein Freund der Familie. Sophia wurde das Opfer einer scheußlichen, hinterhältigen Straftat, begangen von Katherine Ellis, und ich werde dafür sorgen, daß Miss Ellis für diese Untat büßt. Wenn Sie mit Ihrer
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Mandantin reden wollen, können Sie das auf dem Polizeirevier tun.« »Sie haben die Polizei verständigt?« fragte Mason. »Wir sind im Begriff.« »Gehören Sie zur Polizei?« »Natürlich nicht. Ich habe Ihnen gesagt, wer ich bin.« Mason hob die Stimme: »Kommen Sie heraus, Katherine! Sie gehen mit mir!« »Sie geht nicht mit Ihnen«, erklärte Baxley. »Wollen Sie Miss Ellis daran hindern?« »Jawohl.« »Gewaltsam?« »Falls nötig. Der Herr hier hinter mir ist Privatdetektiv, Mr. Levering Jordan von der Detektei Moffatt & Jordan. Er schließt soeben seine Ermittlungen ab. Wenn er fertig ist, werden wir Katherine Ellis durch die Polizei festnehmen lassen oder die vorläufige Festnahme selbst durchführen.« »Ich will mir den Einlaß in Ihr oder Sophia Atwoods Haus nicht erzwingen«, entgegnete Mason, »aber ich werde mit meiner Mandantin sprechen.« Hastige Schritte wurden hörbar. Aus dem Hintergrund rief Katherine Ellis: »Hier bin ich, Mr. Mason.« Stuart Baxley drehte sich um und ging auf sie zu. »Rühren Sie meine Mandantin an, Baxley«, warnte Mason mit erhobener Stimme, »und ich breche Ihnen das Genick! Kommen Sie, Katherine, Sie gehen mit uns.« »Dazu sind Sie nicht berechtigt!« fauchte Baxley. Levering Jordan schaltete sich ein: »Nicht so hastig, Mr. Baxley, Mason ist ein sehr bekannter Anwalt.« »Trotzdem darf er keinem das Genick brechen.« Mason grinste. »Ich kann’s aber versuchen.« »Wir sind zu zweit«, wandte Baxley sich an Jordan, »und Sie sehen mir ganz schön robust aus.« -3 0 -
»Hier sind rechtliche Gesichtspunkte zu bedenken«, warnte Jordan. Mason stellte sich Katherine Ellis gegenüber. »Kommen Sie, Katherine, gehen Sie einfach auf mich zu. Falls jemand Sie hindern will, machen Sie sich los, ich komme Ihnen zu Hilfe. So, meine Herren, und jetzt zu den gesetzlichen Formalitäten. Will jemand Katherine Ellis vorläufig festnehmen?« »Ich«, sagte Baxley. »Überlegen Sie sich das lieber, Mr. Baxley«, riet Jordan. »Nun denn, Sie sind Staatsbürger und berufen sich auf Ihr Recht zur vorläufigen Festnahme«, sagte Mason. »Dies ist meine Mandantin. Nachdem Sie sie festgenommen haben, ist es jetzt Ihre Pflicht, sie dem nächsten Untersuchungsrichter vorzuführen. Ich werde Sie begleiten. Kommen Sie, Katherine.« »Moment, Moment«, schaltete Jordan sich ein. »Wir sind noch nicht ganz fertig mit unseren Ermittlungen. Miss Ellis hat uns große Schwierigkeiten gemacht.« »In welcher Hinsicht?« fragte Mason. »Sie weigert sich, uns ihre Fingerabdrücke zu geben. Ich habe ihr erklärt, daß wir ihre Abdrücke ohnehin erhalten, sobald sie erst auf einem Polizeirevier ist.« »So kommen Sie doch, Katherine«, sagte Mason. »Worauf warten Sie noch?« Baxley machte eine Bewegung, um ihr den Ausgang zu versperren, doch Katherine Ellis schlängelte sich um ihn herum und rannte zur Tür. Jordan machte keinen Versuch, sie aufzuhalten. »Verdammt noch mal, Jordan«, rief Baxley, »zurück mit ihr! Fassen Sie zu!« Mason legte einen Arm um Katherines Taille, schob sie weiter zu Della Street. Dann stellte er sich Baxley und Jordan gegenüber. »Miss Ellis steht jetzt unter meinem Schutz«, erklärte er. Baxley stürzte zur Tür. »Sie werden sie keinesfalls aus dem Haus holen!« -3 1 -
»Wetten?« fragte Mason. »Tun Sie was, Jordan! Zum Teufel, so tun Sie doch was!« schnaubte Baxley. »Mr. Jordan scheint sich im Moment nicht besonders wohl in seiner Haut zu fühlen«, stellte Mason fest. Jordan trat zurück und flüsterte Baxley etwas zu. »Kommen Sie mit, Katherine«, sagte Mason, während er umkehrte und Della Street mit Katherine Ellis zu seinem Wagen führte. »Ich kann hier so nicht weg, Mr. Mason«, wandte Katherine ein. »Ich habe nicht ein Stück aus meinem Zimmer, nicht einmal die Zahnbürste. Ich...« »Sie kommen mit«, bestimmte Mason. »Es stehen weitaus wichtigere Dinge auf dem Spiel als eine Zahnbürste. Sie haben ja Ihre Handtasche, wie ich sehe.« »Ja, an die habe ich mich geklammert in all dem Tumult.« »Wie weit ging der Tumult?« »Bis zu dieser beleidigenden Beschuldigung.« »Und was haben Sie dazu gesagt?« »Nichts weiter, als was Sie mir aufgetragen haben. Ich hätte kein Geld weggenommen, würde Fragen nur in Gegenwart meines Anwalts beantworten, denn ich hätte keine Straftat begangen; und ich wäre der Ansicht, sie hätten überhaupt kein Recht, mir irgendwelche Fragen zu stellen. Das alles habe ich dauernd wiederholt.« »Braves Mädchen«, lobte Mason. »Sie zittert ja wie ein Blatt im Wind«, bemerkte Della Street, die Katherine Ellis den Arm um die Schultern legte. »Natürlich«, sagte Mason. »Und jetzt fahren wir irgendwohin, wo wir reden können.« »Wohin? Zu Ihrem Büro?« fragte Katherine. »Das ist zu weit. Nein, die Straße hinunter bis zum ersten guten Motel. Dort tragen wir uns ein, und dann kümmern wir -3 2 -
uns um die Sachen, die Sie brauchen. Sie arbeiten heute nicht, Katherine?« »Heute abend nicht. Als ich Mr. Madison erzählte, ich wollte umziehen, gab er mir den Abend frei, damit ich alles regeln konnte.« »In Ordnung«, sagte Mason. »Jetzt suchen wir ein Motel.« Mason half Della Street und Katherine Ellis auf den Vordersitz seines Wagens. »Wir sitzen zu dritt vorn«, bestimmte er. »Ich will während der Fahrt mit Ihnen reden.« Er ließ den Motor an und ordnete sich langsam in den Verkehrsstrom ein. »Hören Sie, Katherine«, begann er, »ich habe vielleicht keine Zeit mehr, Einzelheiten mit Ihnen zu besprechen, denn die Leute werden möglicherweise die Polizei verständigen, und ein Streifenwagen könnte uns abfangen. Alle Angaben, die Sie mir als Ihrem Anwalt machen, auch in Gegenwart von Miss Street, sind vertraulich. Der Grund für meine Anweisung an Sie, jede Aussage zu verweigern, ist der, daß Sie - wie wir alle drei wissen - Dinge taten, die Sie nicht hätten tun dürfen. Sie konnten Ihrer Neugier nicht widerstehen und stöberten in dem Wandschrank herum, wozu Sie kein Recht hatten. Im Moment, als Sie jenen Hutkarton berührten, wurden Sie angreifbar. Wieviel behauptet Ihre Tante zu vermissen?« »Hundert Dollar.« »Was?« rief Mason erstaunt. »Einhundert Dollar.« »Aus der Hutschachtel, die voller Geld war?« »Mr. Mason, an der Sache ist etwas merkwürdig. Der Hutkarton ist nicht mehr voll Geld. Er ist leer.« »Und die anderen Hutkartons auf dem Bord?« »Alle weg.« »Und angesichts eines Verlustes von vielleicht mehreren hunderttausend Dollar behauptet Ihre Tante Sophia, ihr fehlten nur ganze hundert?« -3 3 -
»Ja.« »Kaum zu fassen«, murmelte Mason. »Stuart Baxley besuchte sie heute nachmittag«, berichtete Katherine. »Sie lud ihn zum Abendessen ein und mich ebenfalls. Es kam mir fast so vor, als wollte sie ein bißchen Fortuna spielen. Sie ging nach oben in ihr Zimmer und ließ uns zehn oder fünfzehn Minuten allein. Und plötzlich kreischte sie los, man hätte sie beraubt. Baxley rannte nach oben, um zu sehen, was los war. Ich folgte ihm etwas weniger hastig. Sie stand an der Tür ihres Wandschranks, zeigte auf das leere Bord und wiederholte unentwegt: ›Ich bin beraubt worden.‹ Schließlich konnte Baxley sie beruhigen, und - na, Sie können sich vorstellen, wie mir war. Panische Angst beschlich mich.« Mason hielt an einem Stoppzeichen. »Weiter«, sagte er. »Baxley fragte sie, wieviel ihr fehle, worauf sie sofort antwortete, hundert Dollar; sie habe heute morgen hundert Dollar in die Hutschachtel gelegt, und die sei jetzt leer.« »Was sagte sie über die übrigen Hutschachteln?« »Nichts.« »Und wie benahm Baxley sich?« »Oh, dieser verflixte Baxley!« explodierte Katherine. »Der hatte offenbar schon immer etwas gegen mich. Und natürlich spielte er als erster darauf an, daß ich im Hause gewesen war und Gelegenheit hatte, das Geld aus dem Schrank zu holen.« »Seit wann waren Sie denn im Haus gewesen?« »Ich hatte den Nachmittag frei und nutzte einen guten Teil für Besorgungen aus. Dann ging ich nach Hause und packte. Tante Sophia kam und lud mich zum Abendessen ein, was ich annahm.« »Was geschah dann?« »Tante Sophia erzählte mir, daß auch Stuart Baxley zum Abendessen käme.« »Sie kannten ihn schon?« »Ja, ziemlich flüchtig.« -3 4 -
»Was wissen Sie über ihn?« »Nicht das geringste.« »Er behauptet, ein Freund der Familie zu sein.« »Der ist er nicht, denn es gibt keine Familie. Das heißt, es gibt jetzt keine mehr, seitdem meine Eltern bei dem Autounfall starben. Ich glaube aber nicht, daß meine Leute Baxley jemals gekannt haben. Dad war überhaupt kein Briefschreiber, und Tante Sophia war eigentlich nur ein Name für uns. Ich schrieb ihr alle paar Wochen und teilte ihr kleine Neuigkeiten mit, die sich bei uns taten, denn sie sollte sich nicht einsam fühlen. Sie antwortete mit kurzen Briefen, in denen sie aber immer betonte, wie gern sie von mir höre und was es ihr bedeutete; und dann berichtete sie über verschiedene Kleinigkeiten, über eindrucksvolle Musik, die sie im Rundfunk gehört hatte. An sich erzählte sie mir sehr wenig über sich selbst, und auch dann erwähnte sie niemals den Namen Stuart Baxley.« »Was erfuhren Sie im Lauf Ihrer Unterhaltung über ihn?« fragte Mason. »Nicht sehr viel. Wir unterhielten uns zehn oder fünfzehn Minuten, während Tante Sophia oben war. Er schien mir ziemlich undurchsichtig.« »Sagte er Ihnen, was er beruflich macht?« »Mit Investitionen und gelegentlichen kleinen Finanzierungen befaßt er sich angeblich. Ic h glaube, er vermied es bewußt, mir genauere Informationen über seine Person zu geben.« »Sie haben ihn nicht gefragt, wie lange er Ihre Tante Sophia schon kennt?« »Aber nein; ich habe ihn nichts ausgesprochen Persönliches gefragt. Es war alles mehr oder weniger Geschwätz. Er fragte mich, wie es mir hier gefiele, und er hätte gehört, ich sei berufstätig. Als ich das bejahte, wollte er wissen, warum. Ich sagte, daß ich meinen Lebensunterhalt verdienen müsse. Das schien er als ziemlich wichtige Information aufzunehmen. Wieso, weiß ich nicht.«
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»Ich glaube«, meinte Mason gedankenvoll, »wir müssen ein wenig mehr über Stuart Baxley feststellen. Er könnte nämlich so etwas wie ein Schnüffler sein.« »In welcher Hinsicht?« »Möglicherweise hat er entdeckt, daß Ihre Tante eine dürftige Außenseite zeigt, aber versteckte Vermögenswerte besitzt. Schließlich ist eine Frau, die zum Einkaufen per Taxi fährt und es warten läßt, während sie nach billigen Sonderangeboten sucht, ein recht willkommenes Ziel für Typen, die von solchen Dingen profitieren wollen. Es gibt nämlich Leute, die der Steuerbehörde Tips geben, und wenn auf Grund solcher Tips Steuerhinterziehungen entdeckt werden, erhalten sie eine Belohnung.« »Na«, sagte Katherine, »nach dem Eindruck, den Baxley macht, könnte er genau von dieser Sorte sein. Irgendwie kommt er mir hinterhältig vor, besonders durch seine Art, alle persönlichen Fragen zu übergehen und das Thema zu wechseln. Er fragte mich tatsächlich, wie mir Tante Sophias Kocherei gefiele. Ich sagte, sie wäre eine wundervolle Köchin, aber seitdem ich arbeite, würde ich auswärts essen. Vielleicht wollte er mich aushorchen, was sie auf den Tisch bringt. Allerdings dachte ich, er sei früher schon einmal zum Essen dagewesen.« »Wissen Sie, ob Ihre Tante heute etwas Besonderes zum Abendessen geplant hatte?« »Nein. Sie kam mit dem Bus zurück und hatte ein paar Einkaufstaschen bei sich. Sie war in Lebensmittelgeschäften gewesen. Was sie auf den Tisch bringen wollte, weiß ich nicht.« »Was gab es gewöhnlich abends bei ihr?« »Alles war immer sehr, sehr knapp. Zum Beispiel hatte sie drei Frankfurter Würstchen. Die machte sie heiß und gab mir zwei, weil ich im Entwicklungsalter sei und reichlich essen müsse. Dazu gab es Butterbrote und eine Art Dosengemüse, und damit hatte sich’s. In meinem Leben bin ich nicht so hungrig gewesen wie an manchen Abenden dort im Haus, bevor ich losging und mir den Job suchte.« -3 6 -
»Na schön«, sagte Mason. »Nachdem Ihre Tante nun den Verlust entdeckt und verkündet hatte, sie sei beraubt worden, was geschah anschließend?« »Da fing Baxley an, Tante Sophia zu drängen, sie sollte die Polizei rufen. Als sie erklärte, sie wollte nicht, daß die Polizei sich in ihre Angelegenheiten mischte, sagte Baxley, er kenne einen Privatdetektiv, der Fingerabdrücke von den Hutschachteln sichern könnte.« »Die Hutschachteln waren verschwunden?« fragte Mason. »Alle bis auf eine. Eine leere Schachtel stand auf dem Fußboden.« »Und dann?« »Rief Stuart Baxley diese Detektei an. Ich hörte den Namen, es war Moffatt & Jordan. Dann versuchte ich, Sie zu erreichen, aber die Nummer war besetzt. Danach passierte alles Schlag auf Schlag. Dieser Kerl, Jordan, kam an und benahm sich äußerst grob und beleidigend. Er verlangte Fingerabdrücke von mir, was ich verweigerte. Ich sagte ihm, ich wollte Sie anrufen. Darauf erklärten die beiden mir, sie würden die Polizei holen. Ich sagte, das sollten sie ruhig tun. Dann erreichte ich Sie am Telefon und - na, den Rest kennen Sie.« Mason, der nach dem Einbiegen in die Hauptstraße langsam und vorsichtig gefahren war, hielt am Wolverine Motel. Er ließ für Katherine Ellis ein Zimmer buchen, wies sich bei dem Manager aus und sagte: »Miss Ellis ist eine Mandantin von mir. Dies ist meine Sekretärin, Della Street. Wir werden uns eine Weile bei Miss Ellis aufhalten.« »Schon recht«, erwiderte der Manager. »Ich erkannte Sie sofort, als Sie hereinkamen, Mr. Mason. Es wäre mir ein Vergnügen, wenn ich Ihnen in einem Ihrer Fälle behilflich sein könnte.« »Vielen Dank«, sagte Mason. Sie gingen zu dem für Katherine Ellis gemieteten Zimmer, nahmen etwas linkisch Platz, und Mason erklärte: »Ich könnte Ihnen etwas Neues mitteilen, Katherine, eine Kleinigkeit über -3 7 -
den Hintergrund Ihrer Tante. Indessen scheint es mir am besten, Ihnen das noch vorzuenthalten - zumindest für eine Weile. Wahrscheinlich werde ich bald mehr darüber erfahren. Ich glaube, über kurz oder lang wird die Polizei sich mit der Sache befassen, und man wird Sie verhören. Ich möchte nicht, daß Sie lügen; daher halte ich es für besser, daß Ihnen gewisse Dinge gar nicht bekannt sind. Nun denn, unser schwacher Punkt ist, daß Sie den Hutkarton voll Geld fanden. Wenn Sie das gegenüber der Polizei oder sonst jemandem zugeben, wird man im selben Augenblick folgern, daß Sie Ihrer Tante einen Haufen Geld stahlen; daß Ihre Tante dieses Geld versteckt hatte und nur nicht einzugestehen wagt, wieviel es war; daß sie deshalb sagt, es seien nur hundert Dollar gewesen. Die Polizei wird zwar lediglich Indizienbeweise haben, man kann Sie aber als die Schuldige hinstellen und es dabei bewenden lassen. Weitere Ermittlungen werden sie nicht anstellen, weil sie glauben, den Fall gelöst zu haben. Sie sollen daher keinem Menschen erzählen, was Sie in diesem Wandschrank fanden, aber trotzdem nicht die Unwahrheit sagen. Das bringt Sie in eine sehr schwierige Lage. Sie müssen erklären, daß Sie keinerlei Angaben machen wollen - außer durch mich und in meiner Gegenwart. Natürlich wird diese Haltung Verdacht erregen; ich will darum versuchen, sie logischer erscheinen zu lassen, indem ich erkläre, Sie seien eine sehr sensible junge Frau aus bestem Hause, nicht vertraut mit der Schattenseite des Daseins und jetzt von Stuart Baxley und seiner Detektei des Diebstahls beschuldigt; Sie hätten die Absicht, beide wegen Verleumdung zu verklagen; der Grund, weshalb die Klage nicht sofort eingereicht wird und weshalb ich keine Aussagen Ihrerseits wünsche, sei der, daß Sie noch nicht wüßten, ob Sie auch Ihre Tante verklagen wollen. Bis zu dieser Entscheidung hätte ich Sie angewiesen, absolut keine Angaben zu machen.« Katherine Ellis nickte. »Ob Sie damit fertig werden?« fragte Mason.
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»Aber natürlich. Ich bin nicht dumm, Mr. Mason, und schließlich besitze ich einige Vorbildung. Ich werde einfach erklären, die Sache läge in Ihren Händen; Sie haben die Absicht, Klage zu erheben; im Zusammenhang mit dieser Klage bestehen aber noch technische Probleme, und wir wissen noch nicht, ob meine Tante einbezogen werden soll. Sie haben mich angewiesen, keinerlei Aussagen irgendwelcher Art und vor wem auch immer zu machen, bis Sie mir Erlaubnis geben.« »Tüchtiges Mädchen«, lobte Mason. Er ging zum Schreibtisch, fand Briefpapier und forderte Katherine Ellis auf: »Jetzt schreiben Sie einen Brief an Sophia Atwood. Teilen Sie ihr mit, daß ich Ihr Anwalt bin; daß Sie das Haus verließen, weil Sie bedroht wurden; daß Sie über meine Adresse zu erreichen sind; daß Della Street berechtigt ist, in Ihr Zimmer zu gehen, Ihre Sachen zusammenzupacken und sie Ihnen zu bringen; daß sie später noch einmal zurückkehren wird, falls sie nicht alles mit einem Weg schafft; für heute brauchten Sie aber dringend Ihr Nachtzeug.« »Du lieber Himmel«, sagte Katherine, »man wird Sie rausschmeißen. Die lassen Sie doch nicht...« »Rausschmeißen werden sie mich nicht«, entgegnete Mason. »Sie könnten uns am Eintreten hindern, was ich jedoch nicht glaube.« Katherine Ellis zögerte einen Augenblick und bekritzelte dann das Papier. Als sie fertig war, gab sie Perry Mason das Blatt. »Genügt das?« fragte sie. Mason las die Mitteilung sorgfältig und nickte. »Setzen Sie ein Datum darauf.« Katherine datierte das Schreiben. »Haben Sie zu Abend gegessen?« fragte Mason. »Nein.« Er gab ihr einen Zwanzigdollarschein. »Sie brauchen etwas Geld für Ausgaben«, sägte er. »Hier im Motel gibt es ein Restaurant. Gehen Sie dort essen.«
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»Ich könnte gar nichts essen, Mr. Mason; ich bin zu aufgeregt.« »Das ist gut«, meinte Mason, »eine ganz normale Reaktion. Dann strecken Sie sich einfach aus, entspannen Sie sich, versuchen Sie, sich zu beruhigen. Wir sind wahrscheinlich in einer Stunde zurück.« Mason stand auf, nickte Della Street zu und ging mit ihr aus dem Zimmer. Vom nächsten Telefon aus rief er Paul Drake an. »In Sophia Atwoods Haus hat sich einiges ereignet, Paul«, informierte er den Detektiv. »Ich kann dir schon mitteilen, daß meine Mandantin Katherine Ellis beschuldigt wird, aus einer Hutschachtel im Wandschrank oben im Haus Geld gestohlen zu haben. Und jetzt brauche ich ein paar Auskünfte.« »Schieß los«, sagte Drake. »Was weißt du über Moffatt & Jordan, die Detektei?« »Eine respektable Firma. Etwas über dem Durchschnitt, was ihre Geschicklichkeit betrifft.« »Ist Jordan geschickt genug, um Fingerabdrücke von einer Hutschachtel zu sichern, Paul?« »Das bezweifle ich«, antwortete Drake. »Von Papier kann man keine Fingerspuren abheben - höchstens mit Joddämpfen, und auch dann mußt du noch Glück haben. Aber es ist ein Job fürs Labor.« »Da habe ich Neuigkeiten für dich, Paul. Die Firma Macdonell Associates in New York hat eine neue Technik ausgearbeitet, bei der ein schwarzer Magnetstaub so leicht auf eine Fläche aufgetragen wird, daß nur dieser Staub sie tatsächlich berührt. Dann wird der Staub magnetisch entfernt. Bei diesem raffinierten Verfahren erscheinen identifizierbare Fingerabdrücke auf Pappkartons, auf Papier - sogar auf Kleenex-Taschentüchern.« »Donnerwetter«, staunte Drake. »Das ist mir völlig neu, und ich bin absolut sicher, daß Jordan erst recht keine Ahnung davon hat.« -4 0 -
»Er hat aber versucht, ihr Fingerabdrücke abzunehmen«, entgegnete Mason. »Reine Routine. Wahrscheinlich ein Versuch, sie kleinzukriegen und ihr Eingeständnisse abzulocken. Das ist Jordans Fehler: Er wird leicht etwas plump. Außerdem übernimmt er Aufträge als Leibwache, und wie ich höre, soll er gelegentlich ein bißchen grob sein.« »Na schön«, sagte Mason, »ich habe nur einige Fakten gebraucht. Unter Umständen muß ich die Agentur wegen Beleidigung auf hunderttausend Dollar verklagen.« »Das ist nicht mein Bier«, erwiderte Drake. »Soll ich wegen Sophia Atwood noch mehr unternehmen?« »Nicht jetzt, Paul. Ruf deinen Mann ab und schick mir die Rechnung.« »Gemacht«, sagte Drake und legte auf. Mason ging zu seinem Wagen zurück, wo Della Street wartete.
5 Stuart Baxley öffnete die Tür und starrte ungläubig Mason und Della Street an. »Sie schon wieder?« rief er. Mason lächelte. »Persönlich. Wir möchten Sophia Atwood sprechen.« »Sophia Atwood kann zur Zeit niemanden empfangen.« »Sprechen Sie in ihrem Auftrag?« »Ich sage Ihnen, daß sie nicht zu sprechen ist.« »Dann hat sie selbst Ihnen nicht gesagt, daß sie nicht zu sprechen ist?« »Selbstverständlich hat sie mir das gesagt.« »Sie stehen also mit ihr in Verbindung?« »Na gut, ich stehe mit ihr in Verbindung.«
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»Della Street, meine Sekretärin«, erklärte Mason ihm, »ist von Katherine Ellis beauftragt, bestimmte Sachen und Kleidungsstücke aus dem von ihr bewohnten Zimmer abzuholen.« »Sie kann aber nicht ins Haus«, antwortete Baxley. »Ich würde diese Weigerung gern von Mrs. Atwood persönlich hören«, sagte Mason. »Irgendeine Befugnis Ihrerseits erkenne ich nicht an.« »Versuchen Sie, dieses Haus zu betreten, und Sie werden meine Befugnisse feststellen«, schnaubte Baxley. »Soll das heißen, daß Sie Miss Street gewaltsam daran hindern werden, diese Kleidungsstücke abzuholen?« »Das werde ich«, kündigte Baxley streitlustig an. Der Privatdetektiv Jordan, alarmiert durch die Stimmen an der Tür, kam heran und sagte: »Mr. Baxley, kann ich Sie einen Moment sprechen?« »Später«, erwiderte Baxley. »Meine Mandantin«, begann Mason zu erklären, »ist belästigt und beleidigt worden. Sie wurde fälschlich einer Straftat beschuldigt. Aus dem Haus, in dem sie wohnt, wurde sie vertrieben, und zwar ohne ihre Privatsachen. Die wünscht sie nun. Wenn man mir die Herausgabe verweigert, wird das ein erschwerender Umstand bei der Schadensersatzforderung sein. Wird mir die Mitnahme der Sachen gestattet, könnte es aber als mildernder Umstand bei der Festsetzung der Schadenshöhe erwogen werden. Ich glaube, Mrs. Atwood sollte hiervon Kenntnis erhalten.« »Einen Augenblick noch«, sagte Jordan. »Warten Sie bitte.« Er nahm Baxley am Arm und führte ihn außer Hörweite. Zwei oder drei Minuten besprachen sie sich leise, worauf sich Baxley offensichtlich verärgert zurückzog und Jordan zur Haustür ging. »Kommen Sie bitte herein, Mr. Mason«, sagte er. »Wenn Sie hier in der Bibliothek warten wollen, werde ich Miss Street das Zimmer von Katherine Ellis zeigen. Sie kann mitnehmen, was sie wünscht, vorausgesetzt, die Vollmacht ist in Ordnung. -4 2 -
Selbstverständlich übernehmen wir keine Verantwortung für die Sachen, die Sie beide hier abholen.« »Gut, gut«, erwiderte Mason. »Hier ist die Vollmacht.« Jordan studierte das Papier einige Augenblicke und steckte es dann in die Tasche. »Die Vollmacht ist an Mrs. Sophia Atwood gerichtet«, machte Mason ihn aufmerksam. »Wir vertreten sie. Kommen Sie herein.« »Ich nehme an, Ihre Bereitwilligkeit, Miss Street das Abholen der Sachen zu gestatten, ist darauf zurückzuführen, daß Sie Katherine Ellis’ Zimmer bereits durchsucht haben?« Der Detektiv grinste. »Es steht Ihnen frei, Ihre Schlüsse zu ziehen.« Sie traten ein. Während Mason sich in der Bibliothek nieder ließ, führte Jordan Della Street die knarrende altmodische Treppe hinauf. Baxley hatte sich in einen anderen Teil des Hauses verzogen. Wenige Augenblicke später vernahm Mason leichte Schritte auf der Treppe. Er erhob sich, als eine attraktive Frau das Zimmer betrat. »Sie sind Mr. Mason?« fragte sie. Er verbeugte sich. »Ich bin Sophia Atwood.« »Es freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte Mason. »Da wir jedoch entgegengesetzte Interessen vertreten und ich Anwalt bin, wäre es mir lieber, Sie hätten Ihren Rechtsvertreter hier anwesend, wenn ich...« »Ach, dummes Zeug«, unterbrach sie. »Nehmen Sie Platz, Mr. Mason, ich möchte mit Ihnen sprechen.« »Ich bin in meiner Eigenschaft als Katherine Ellis’ Anwalt hier.« »Weiß ich, weiß ich. Sie bereiten eine Schadensersatzklage wegen Beleidigung vor und so weiter. Versuchen Sie aber
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nicht, mich für irgend etwas verantwortlich zu machen, das Stuart Baxley Ihnen gesagt hat.« »Er ist nicht Ihr Vertreter?« fragte Mason überrascht. »Das heißt, er wurde von Ihnen mit dieser Sache gar nicht beauftragt?« »Er versucht, als mein Bevollmächtigter aufzutreten. Erteilt mir Ratschläge, sagt mir, was ich tun und was ich lassen soll. Ich tue aber, was mir paßt und nicht, was jemand anderer von mir erwartet.« »Sind Sie wirklich der Meinung, daß Katherine Ellis Ihnen Geld gestohlen hat?« forschte Mason. »Nun, das würden Juristen eine Suggestivfrage nennen«, erwiderte sie lächelnd. »Und ich werde Ihnen darauf keine sofortige Antwort geben. Es macht ohnehin keinen Unterschied, welcher Meinung ich bin.« »Es ist natürlich eine Frage der Beweise«, sagte Mason. »Jeder Bürger hat verfassungsmäßige Rechte, besonders wenn er einer strafbaren Handlung beschuldigt wird.« »Mr. Mason, ich will Ihnen folgendes sagen. Ic h lebe seit langer Zeit allein, und dadurch bin ich wohl etwas mißtrauisch gegen Leute geworden, benehme mich vielleicht auch ein wenig geheimnisvoll. Ich hatte hundert Dollar in einer Hutschachtel in meinem Schrank. Diesen Schrank halte ich verschlossen. Jemand öffnete ihn und nahm die hundert Dollar aus der Schachtel. Ich fürchte, zunächst habe ich Stuart Baxley beschuldigt. Er war natürlich empört und wies als erster darauf hin, daß im Falle eines Diebstahls Katherine es sei, die dazu die beste Gelegenheit hatte.« »Mit anderen Worten, er lenkte den Verdacht auf Katherine und erhob eine Beschuldigung?« fragte Mason. »Also, jetzt stellen Sie schon wieder Suggestivfragen«, wich sie aus. »Ich lege keinen Wert darauf, die Sache zu diskutieren. Aber ich will meine hundert Dollar zurück. Für eine Frau in meinen Verhältnissen sind hundert Dollar eine große Summe.« Ihre scharfen grauen Augen fixierten den Anwalt durch -4 4 -
stahlgefaßte Brillengläser. »Eine sehr große Summe«, betonte sie. »Es waren genau hundert Dollar?« fragte Mason. »Genau hundert Dollar.« »Hatten Sie die schon einige Zeit gespart?« »Nun, ich habe nicht vor, über meine Finanzen zu sprechen, will Ihnen aber sagen, daß ich sie tatsächlich seit einiger Zeit gespart hatte. Ich besitze ein Sparkonto bei meiner Bank. Hin und wieder zahle ich fünf Dollar ein, und ich habe ungefähr zweihundertfünfzig auf diesem Konto. Ich beschloß, groß einkaufen zu gehen und mir ein paar Kleidungsstücke zu leisten, und hob einen hübschen steifen Hundertdollarschein ab. Weil ich diesen Betrag nicht bei mir in der Handtasche tragen wollte, legte ich ihn in die Hutschachtel im Wandschrank, wo ich ihn sicher glaubte.« »Und als Sie ihn heute abend suchten, war er verschwunden?« »Genau. Die Hutschachtel war heruntergestoßen worden und lag auf dem Boden. Soviel ich aber höre, kann dieser Detektiv, den Stuart Baxley für mich kommen ließ, Fingerabdrücke auf der Hutschachtel feststellen. Das heißt, er will’s versuchen.« »Wie viele Leute haben die Schachtel schon berührt?« fragte Mason. »Ich - falls Sie das meinen.« »Und als Sie Baxley den Diebstahl mitteilten, berührte er sie auch?« »Er hob sie auf und untersuchte sie auf Anhaltspunkte, ja.« »Und der Detektiv, Mr. Jordan, hat sie ebenfalls berührt?« »Nein, Mr. Jordan nicht. Der nahm sie mit einer Zange auf.« »Sie wissen also, daß Stuart Baxleys Fingerabdrücke auf der Hutschachtel sind«, sagte Mason. »Ja.«
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»Wenn Sie Katherine Ellis’ Abdrücke finden sollten, werden Sie daher berücksichtigen, daß Baxleys Abdrücke sich ebenfalls auf der Schachtel befinden?« »Nun, seine sind natürlich gerechtfertigt, weil er die Schachtel aufhob. Katherine dagegen hat in meinem Wandschrank absolut nichts zu suchen.« »Wäre aber Katherine zur Stelle gewesen, um die Hutschachtel aufzuheben, und Sie hätten dann Stuart Baxleys Fingerabdrücke darauf gefunden, so würde das Baxley zum Dieb stempeln?« fragte Mason. Sophia Atwood betrachtete ihn einen Augenblick mit ihren durchdringenden grauen Augen. »Ihr Juristen dreht einem wahrhaftig das Wort im Mund um. Ich wollte Ihnen nur klarmachen, daß ich versuche, fair zu sein, Mr. Mason. Und bisher habe ich gegen Katherine keine Beschuldigungen erhoben. Ich habe Ihnen nur die Tatsachen berichtet.« »Darf ich fragen, wieso Stuart Baxley als Ihr Vertreter fungiert?« erkundigte sich Mason. »Er ist nicht mein Vertreter.« »Das behauptete er aber.« »Es ist sein Wunsch, nichts weiter. Ich vertrete mich selbst.« »Sie kennen ihn schon seit einiger Zeit, nehme ich an?« »Seit einiger Zeit, ja.« »Was heißt ›einige Zeit‹?« »Eben einige Zeit.« »Ein Jahr?« »So lange noch nicht.« »Einen Monat?« »Vielleicht.« »Und Ihnen fehlen nur hundert Dollar?« »Ja.« »Sind Sie sicher, daß es genau hundert Dollar waren?« beharrte Mason. -4 6 -
»Völlig sicher. Ein einzelner, ganz frischer Hundertdollarschein.« »Und die Bankunterlagen werden das bestätigen?« »Natürlich. Wenn ich Ihnen etwas sage, Mr. Mason, dann ist es die Wahrheit. Ich halte nichts von Lügen.« Schritte auf der Treppe waren zu hören. Della Street kam herunter, gefolgt von Levering Jordan. Er trug einen Koffer, Della eine Reisetasche. »Ich habe einiges ausgesucht, das sie sofort brauchen wird«, sagte Della Street, »dazu genügend Kosmetika und Nachtzeug für ein paar Tage.« »Nun, sie kann jederzeit kommen und den Rest ihrer Sachen abholen«, bemerkte Sophia Atwood. »Dies ist meine Sekretärin, Miss Street, Mrs. Atwood«, stellte Mason vor. Sophia Atwood erhob sich, ging zu Della hinüber und fixierte sie eingehend. »Sehr erfreut, Sie kennenzulernen, Miss Street«, sagte sie und streckte die Hand aus. Della Street setzte die Reisetasche ab, um Sophia Atwoods Hand zu nehmen. »Danke, ganz meinerseits«, erwiderte sie. »Ich hatte erwartet, Sie - nun, in einer gewissen seelischen Erregung zu finden.« »Erregt bin ich allerdings«, stimmte Sophia Atwood zu, »hoffe aber, daß es meinen gesunden Menschenverstand oder meine Haltung nicht beeinflußt. Sie sind eine reizende junge Dame, Miss Street, in der Erscheinung wie im Gespräch.« »Oh, vielen Dank«, sagte Della Street. Mrs. Atwood wandte sich an Mason. »Sie sind also Katherines Anwalt, Mr. Mason.« Er nickte schweigend. »Ich wußte gar nicht, daß Katherine hier einen Anwalt kennt.« »Sie kennt mich.« »Sie kannte Sie schon, bevor Sie herkamen?« -4 7 -
»O ja.« »Seit wann kennen Sie Katherine?« »Seit einiger Zeit.« Sophia Atwood lachte. »Sehr geschickt. Dann frage ich Sie jetzt: wie lange ist ›einige Zeit‹?« »Einige Zeit.« »Und sie rief unmittelbar bei Ihnen an«, sagte Sophia Atwood, »sobald sie die Möglichkeit zum Telefonieren hatte.« »Bei mir rufen viele Leute an, zu jeder Stunde«, erwiderte Mason. »Offenbar. Nun, Mr. Mason, ich verstehe Ihre Lage. Sie wollen nicht offen mit mir reden, weil ich möglicherweise die Gegenpartei in einem Prozeß sein werde, bei dem Sie Katherine vertreten. Ich will Ihnen nur sagen, daß ich Katherine zu keiner Zeit einer Straftat beschuldigt habe. Ich habe einfach Tatsachen festgestellt. Ich besaß hundert Dollar, die ich von meinem Sparkonto abgehoben und in eine Hutschachtel im Wandschrank gelegt hatte. Als ich den Schrank öffnete, stand die Hutschachtel nicht mehr oben auf dem Bord, sondern lag am Boden, und das Geld war weg. Weiter will ich Ihnen sagen, daß die Beschuldigungen seitens Stuart Baxleys oder Mr. Jordans ausschließlich deren eigene Meinung darstellten und daß die beiden völlig unabhängig von mir handeln.« »Stuart Baxley handelt nicht in Ihrem Auftrag?« wiederholte Mason. »Er fungiert nicht in Ihrer Vertretung?« »Himmel, nein!« »Vielen Dank«, sagte Mason. Sophia Atwood lächelte. »Nun, ich habe Ihnen jetzt genug erzählt, Mr. Mason. Nur soviel will ich Ihnen noch sagen: Ich hatte nichts mit den Ereignissen zu tun, die zu Katherines Auszug führten. Sie kann ihre Sachen jederzeit abholen. Ich nehme an, für die nächsten Tage wird sie jetzt ausreichend versorgt sein, Miss Street?« »Ich glaube, ja.« -4 8 -
»Denn Katherine hat eine Stellung, und ich halte es für wichtig, daß sie diesen Job behält. Nach meiner Ansicht ist Arbeit die beste Medizin der Welt. Ich wollte, daß sie sich irgendeine Arbeit suchte, und habe dabei wohl einen sanften Druck auf sie ausgeübt. Ich kann mir vorstellen, wie unglücklich Kit sich fühlt. Richten Sie ihr bitte herzliche Grüße und alle guten Wünsche von Tante Sophia aus.« »Und kann ich ihr auch ausrichten, Sie seien überzeugt, mit dem Gelddiebstahl aus der Hutschachtel habe sie nichts zu tun?« fragte Mason. »Das können Sie nicht«, entgegnete Sophia Atwood schnippisch. »Ich fälle über niemanden ein vorschnelles Urteil, weder was Schuld noch was Unschuld angeht. Tatsachen sind Tatsachen, wie ich immer sage; und über Tatsachen läßt sich nicht streiten. Sie dürfen aber völlig sicher sein, daß ich keine Beschuldigungen ausgesprochen habe. Das würde ich niemals tun, ohne sie beweisen zu können.« »Wurde der Privatdetektiv auf Stuart Baxleys Veranlassung beauftragt?« fragte Mason. »Sie werden meine Aussage hören, wenn Sie mich in den Zeugenstand holen, junger Mann«, antwortete Sophia Atwood augenzwinkernd. »Vorläufig habe ich Ihnen erst mal gesagt, was Sie Kit erzählen können. Und jetzt wollen Sie mich entschuldigen; denn schließlich war dies ein anstrengender Tag, und ich bin keine junge Frau mehr.« Sie verbeugte sich lächelnd, sagte: »Hier entlang bitte«, und führte Mason und Della Street zur Tür. »Na?« fragte Della, während Mason den Koffer im Auto verstaute. »Schlau wie ein Fuchs«, stellte Mason fest. »Man kann sich vorstellen, was da passiert war. Sie hatte ein Vermögen an Bargeld in diesem Wandschrank gestapelt. Entweder wurde es gestohlen, oder sie hatte Grund zur Annahme, daß Kit es entdeckte und möglicherweise der Steuerbehörde melden würde. Was tut sie also? Sie räumt das gesamte Bargeld aus. Dann holt sie von der Bank, wo sie ein Sparkonto über -4 9 -
zweihundertundfünfzig Dollar unterhält, einhundert ab, so daß die Entnahme zu belegen ist. Anschließend schmeißt sie die offene Hutschachtel auf den Boden und schreit los, sie sei beraubt worden.« »Dann glauben Sie nicht, daß jemand - vielleicht Stuart Baxley - das Geld aufstöberte und alles wegnahm?« »In dem Fall«, erklärte Mason, »hätte Sophie Atwood sich völlig anders benommen. Eine Frau würde schwerlich den Verlust ihres gesamten Barvermögens feststellen, ohne nach der Polizei zu schreien, um wenigstens etwas von dem Geld zu retten.« »Selbst auf die Gefahr hin, Krach mit der Steuer zu kriegen?« »Selbst bei Aussicht auf schlimmste Scherereien mit der Steuerbehörde. Sie würde versuchen, soviel wie möglich zu retten und dann über die Einkommensteuer zu diskutieren.« »Mit anderen Worten, Sophia spielt Theater?« »Die Umstände lassen das vermuten«, sagte Mason, »vorausgesetzt natürlich, daß Katherine Ellis uns die Wahrheit gesagt hat.« »Es gab ja schon Mandanten, die uns belogen haben«, betonte Della Street. »Wie wahr.« Sie fuhren zurück zum Motel, wo Mason Katherine Ellis seine Unterredung berichtete. Katherine hörte aufmerksam zu, während sie ihre Sachen auspackte. »Haben Sie auch den Schottenrock mit der rosa Bluse auf dem Bügel gesehen?« fragte sie Della Street plötzlich. »Oh, wollten Sie den? Hätte ich ihn mitbringen sollen?« »Ich hatte es an sich gehofft. Fast wollte ich Sie noch anrufen, ließ es aber dann doch. Ich - ich hätte das morgen gern angezogen; macht aber nichts, ich habe andere Kleider hier. Allerdings könnte ich meine Krokodillederschuhe dringend gebrauchen. Es sind meine Arbeitsschuhe... Ist aber auch nicht so wichtig, ich kann schon mit diesen schwarzen hier auskommen, die ich jetzt trage.« -5 0 -
»Wie gesagt, Sophia Atwood selbst war sehr liebenswürdig«, bemerkte Mason, »sie läßt Ihnen ausrichten, Sie könnten Ihre restlichen Sachen jederzeit abholen kommen. Allerdings würde ich Ihnen raten, einen Zeugen mitzunehmen, wenn Sie hingehen. Sie können mich zu jeder Nachtstunde über die Detektei Drake erreichen, die täglich 24 Stunden geöffnet ist. Und jetzt vergessen Sie die ganze Sache, und versuchen Sie zu schlafen.« »Ich werde zu schlafen versuchen«, versprach Katherine. »Vergessen werde ich das niemals.« »Tun Sie Ihr möglichstes«, empfahl Mason, ihr leicht auf die Schulter klopfend, »und halten Sie Verbindung mit uns.« Er wandte sich mit einem Kopfnicken an Della Street und ging.
6 Es war kurz vor dem Mittag des nächsten Tages, als Paul Drakes Klopfzeichen an Masons Bürotür ertönte. Della Street öffnete ihm. »Ich habe ein paar Einzelheiten, Perry«, sagte Drake. »Dachte, sie würden dich interessieren.« »Schieß los.« »Erstens«, begann Drake, »hat Sophia Atwood die Wahrheit gesagt. Sie entnahm hundert Dollar bei der Sunset National Bank, wo sie ein Sparkonto besitzt. Darauf zahlt sie monatlich fünf Dollar ein. Als sie die hundert abhob, verlangte sie einen hübschen neuen Hundertdollarschein.« Mason zog die Stirn in Falten. »Danach scheint es«, mutmaßte Drake, »daß Sophia Atwood diesen Diebstahl in Szene gesetzt hat, wobei es sich um einen bestimmten Betrag handeln sollte.« »Das ist eine Erklärung«, sagte Mason. »Und was ist dein zweiter Punkt, Paul?«
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»An dem ist vielleicht nicht viel dran, da könnte Voreingenommenheit im Spiel sein. Ich habe nämlich mit der Empfangsdame bei der Gillco Manufacturing Company gesprochen.« »Weiter«, bat Mason. »Es ist nicht immer dieselbe Frau.« Mason richtete sich in seinem Stuhl auf. »Was?« »Das hat mir jedenfalls die Empfangsdame erzählt«, bestätigte Drake. »Natürlich kann meine Informantin sich nicht dafür verbürgen, aber sie scheint ziemlich scharf zu beobachten. Es sind zwei Frauen, die Bleistifte verkaufen, sagt sie. Beide sehen gleich aus und kleiden sich gleich; sie tragen tiefdunkle Brillen, geben vor, blind zu sein, und tappen mit einem Stock herum. Sie erscheinen im Taxi zur Arbeit. Dieses Mädchen behauptet aber, die beiden würden sich durch ihre Schuhe verraten: eine hätte einen vergrößerten Ballen am rechten großen Zeh und müßte einen besonders geschnittenen Schuh tragen, wogegen die andere tadellose und hübsch geformte Füße besäße. ›Mrs. Ballenfuß‹ und ›Mrs. Schönfuß‹ hat sie die beiden getauft.« »Hat sie ihre Beobachtungen schon sonst jemandem erzählt?« fragte Mason. »Der Telefonistin am Klappenschrank.« »Hast du mit der auch gesprochen?« »Das war nicht zu machen. Sie haben demnächst Hauptversammlung, und einer der Aktionäre versucht querzuschießen. Deshalb sind alle Leitungen dauernd besetzt.« »Paul«, sagte Mason, »du mußt da unten bei der Gillco Manufacturing Company einen Mitarbeiter ansetzen und feststellen, wer diese zweite Person ist. Eine kennen wir, jetzt brauchen wir die Identität der zweiten. Mach aber nicht den Fehler, mit den Taxifahrern zu reden, denn die könnten es weitergeben. Ich glaube, es wird sich herausstellen, daß jede Frau ihren festen Chauffeur hat, der sie zur Arbeit fährt und abholt. Möglicherweise ist es auch derselbe Fahrer für beide. -5 2 -
Ich brauche einen guten Detektiv mit Auto, der dem Taxi folgt, wenn eine Frau nach Hause fährt. Gibt es zwei, wollen wir sehen, wo die zweite wohnt... Warum grinst du denn?« »Weil das schon erledigt ist.« »Wann?« »Vor etwa einer Stunde. Sowie ich von der Doppelgängerin bei diesem Bettelhandel hörte, rief ich mein Büro an und ließ einen Mann mit Wagen kommen. Ich instruierte ihn, auf seinem Posten zu bleiben, bis die blinde Trödlerin aufkreuzte, und ihr dann nach Hause zu folgen. Diese junge Frau, die bei Mrs. Atwood wohnt, eine Nichte namens Katherine Ellis - ist das unsere Mandantin?« Mason überlegte einen Augenblick. »Katherine Ellis - kurz Kit genannt - ist Kellnerin in einem der Madison MilestoneRestaurants, dem Midtown Milestone. Sie ist meine Mandantin, nicht deine. Die Sache geht auf meine Rechnung, vorläufig wenigstens.« »Ist sie Klasse?« erkundigte sich Drake. »Große Klasse«, bestätigte Della Street. »Dieser Fall liegt möglicherweise sehr viel komplizierter, als es scheint, Perry«, meinte Drake. »Ich halte es für besser, daß ich deine Mandantin kennenlerne.« Mason grinste. »Du wirst es, Paul. Das heißt, sofern sich die Dinge noch weiter entwickeln.« Als Paul Drake das Büro verlassen hatte, sagte Mason zu Della Street: »Rufen Sie bitte Madisons Midtown Milestone an und fragen Sie nach Kit Ellis. Sagen Sie, es sei geschäftlich und ob sie ans Telefon kommen könne. Falls nicht, lassen Sie ihr ausrichten, sie möchte Masons Büro anrufen.« Della wählte die Nummer, stellte ihre Frage und sagte kurz darauf: »Ich verstehe. Vielen Dank. Bestellen Sie ihr doch bitte, sie möchte Mr. Masons Büro anrufen... Das können Sie nicht?... Verstehe... Danke sehr.«
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Della ließ den Hörer auf die Gabel fallen und wandte sich an Mason: »Kellnerinnen können im Dienst keine Anrufe entgegennehmen und auch keine Mitteilungen erhalten.« »Ich will Ihnen sagen, was wir jetzt tun, Della«, meinte Mason. »Wir fahren zum Essen dorthin und bitten den Oberkellner, Kit unseren Tisch zuzuteilen. Dabei werden wir sehen, was sich tut. Und Sie könnten Tracy anrufen, Della. Sie wissen schon, Tracy, der den Gebrauchtwagenpark hat. Sagen Sie ihm, eine Mandantin von mir würde ein Fahrzeug brauchen und wahrscheinlich innerhalb der nächsten dreißig Tage einen Wagen kaufen; er möchte ihr aber bitte für fünf oder sechs Tage einen Gebrauchtwagen überlassen, damit sie nicht zu jeder Tageszeit mit dem Bus hin- und herzufahren braucht. Es ist ja nicht ganz ungefährlich für eine Frau, zu mitternächtlicher Stunde auf Autobusse zu warten.« Della Street nickte. »Ich gebe dieser Sache die Aktennummer 90-60-90«, sagte sie. »Warum?« Della lächelte. »Weil ich gerade feststelle, daß manche Leute es leichter haben als andere.« »Oh«, feixte Mason, »jetzt geht’s mir auf. Ja, da können Sie vielleicht einen Punkt für sich buchen, Della.« »Nicht nur einen, eine ganze Serie«, versetzte sie. »Soll ich Paul Drake fragen, ob er mit uns essen will?« Mason zögerte, sagte dann schmunzelnd: »Lieber nicht, Della. Wir wollen mal sehen, ob Paul nicht auch im Midtown Milestone ißt. Ich fände es lustig, wenn er uns dort ganz zufällig über den Weg liefe.«
7 »Wir möchten essen«, sagte Mason zum Oberkellner im Midtown Milestone. »Können wir einen Tisch haben, an dem Kit Ellis bedient?«
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Der Oberkellner überlegte. »Nur wenn Sie warten, bis einer ihrer Tische frei ist. Im Moment sind alle besetzt... Sie sind Perry Mason, nicht wahr?« »Ganz recht.« »Ich weiß, ein Freund vom Chef. Mal sehen, was ich tun kann, Mr. Mason. An sich teilen wir aber den Kellnerinnen ihre Tische zu, nicht den Gästen ihre Kellnerin. Auf diese Art konzentrieren wir die Arbeit der Mädchen auf einen bestimmten Umkreis, während sie sonst kreuz und quer durch den Speisesaal laufen und sich gegenseitig ausweichen müssen.« »Natürlich«, sagte Mason. »Und die Tische der Ellis sind alle besetzt?« »Zur Zeit, ja. Vor ein paar Minuten kam ein Herr und wünschte einen ihrer Tische, und das war der letzte, den wir hatten.« »Also warten wir«, entschied Mason sich. »In Ordnung. Ich schiebe Sie ein, wenn der nächste Tisch bei ihr frei ist. Es kann aber zehn bis fünfzehn Minuten dauern.« »Wir setzen uns solange in die Bar. Geben Sie uns bitte Bescheid, wenn Sie einen Tisch haben.« »Okay«, sagte der Oberkellner. Mason ging voraus zur Bar. »Keinen Cocktail.« Della Street schüttelte den Kopf. »Sonst schlafe ich heute nachmittag an der Schreibmaschine ein.« Mason nickte. »Nehmen wir eine saure Zitrone mit Sodawasser.« »Meine bitte ›gemogelt‹, mit etwas Zucker«, bat Della. »Also beide mit Zucker.« Sie setzten sich, und Mason gab die Bestellung auf. Als sie ihre Zitrone kaum zur Hälfte getrunken hatten, ertönte der Lautsprecher: »Der Tisch für Mr. Mason ist bereit.« Della Street äugte sehnsüchtig nach ihrem Zitronensaft, fischte dann mit dem Strohhalm die Kirsche und die Orangenscheibe heraus. Mason leerte sein Glas und führte -5 5 -
Della zurück zum Restaurant, wo der Oberkellner ihnen einen Tisch zuwies. Kit Ellis näherte sich, um die Bestellung entgegenzunehmen. »Nanu, guten Tag«, sagte sie und reichte beiden die Speisekarte. »Die Muscheln sind besonders gut«, bemerkte sie. »Ich kann sie empfehlen.« »Dann sollen’s Muscheln sein«, beschloß Mason, als Della nickte. Sie rückte näher, sobald Kit sich entfernt hatte. »Ist Ihnen etwas aufgefallen, Chef?« fragte sie. »Zum Beispiel?« »Schuhe.« »Was ist mit den Schuhen?« »Sie trägt Krokodillederschuhe«, sagte Della Street. »Erinnern Sie sich, gestern abend trug sie schwarze Lederschuhe und fragte mich, ob ich ihre Krokodilschuhe wohl mitgebracht hätte; das seien ihre Arbeitsschuhe. Ich hatte sie nicht mit, worauf sie meinte, das schade nichts; sie könne auch in ihren schwarzen Schuhen arbeiten, wenn die auch nicht so bequem seien. Sie muß aber danach im Haus gewesen sein und die Krokoschuhe geholt haben.« »Das wäre eine Weiterentwicklung«, stellte Mason stirnrunzelnd fest. »Dann müßte sie zurückgegangen sein und mit ihrer Tante gesprochen haben; was die Sache erheblich beeinflussen könnte.« »Werden Sie Kit danach fragen?« Mason sah finster vor sich hin. »Wir wollen abwarten und sie erzählen lassen«, beschloß er. Kit eilte mit einem Tablett am Tisch vorbei. Masons Augen blieben an den Krokodillederschuhen hängen. Della erriet seine Gedanken und meinte: »Madison stellt ihnen offenbar die Kittel mit dem eingestickten Namen des Restaurants zur Verfügung. Die ziehen sie über ihre Straßenkleidung. Ihr eigener Name wird auf ein Stoffstück appliziert und an den Kittel genäht.« Mason nickte. -5 6 -
»Weiter geht die Uniformierung natürlich nicht«, fuhr Della fort. »Sie dürfen ihr eigenes Zeug unter dem Kittel tragen oder die Oberbekleidung ausziehen; Schuhe und Strümpfe sind offenbar dieselben, mit denen sie zur Arbeit kommen.« »Ich nehme an, sie haben Schließfächer«, sagte Mason. »Diese Kittel sind zu schwer, um darunter noch Straßenkleidung zu tragen.« Della Street blickte an Mason vorbei. »Oha, da kommt Paul«, berichtete sie. »Ich wette, der sucht unsere Akte 90-60-90.« Mason grinste. »Nein, er sucht uns«, sagte Della. »Er hat uns entdeckt und kommt her.« »Hallo, Paul«, grüßte Mason, als der Detektiv ihren Tisch erreicht hatte. »Setz dich. Schon gegessen?« »Noch nicht«, antwortete Drake. »Dacht’ ich mir’s, daß ihr hier zu finden seid.« »Was Neues?« erkundigte sich Mason. »Mein Mann bei der Gillco Company hat mir eben berichtet. Er sagt, die blinde Bleistiftverkäuferin sei jetzt im Dienst. Ich hatte ihn angewiesen, besonders auf ihre Füße zu achten. Er behauptet, dies sei ›Mrs. Ballenfuß‹. Sie hat einen ausgesprochenen Ballen am rechten großen Zeh.« »Dann ist es eine andere Frau«, sagte Della. »Ich hatte gestern Gelegenheit, mir Sophia Atwood anzusehen, und sie hat sehr hübsche Füße und Knöchel.« »Paul«, fragte Mason, »wie hältst du bei einem Job dieser Art mit deinen Leuten Verbindung?« »Einige Wagen haben wie gesagt Telefon, und der Mann kann sich direkt in meinem Büro melden. Meistens nehmen wir aber für Beschattungszwecke gewöhnliche Verschleißwagen, die sich sowenig wie möglich vom Durchschnitt unterscheiden. Wir kaufen einen, der schon drei bis vier Jahre zählt und nicht auffällt. Nach etwa zwei Jahren tauschen wir ihn gegen einen anderen ein. Ersatzkäufe tätigen wir bei Tracys Gebrauchtwagenpark.« -5 7 -
»Ich habe meinen Freund Tracy beauftragt, für meine neue Mandantin ein gebrauchtes Fahrzeug bereitzustellen«, bemerkte Mason. »Sie soll nicht nachts durch die Stadt laufen und auf Autobusse warten.« Drake musterte ihn kurz. »Du setzt dich in der Tat für deine Mandanten ein«, sagte er. »Und was wird das Finanzamt davon halten?« Mason lachte. »Damit kann Della sich befassen, Paul. Sie hat eine Zahlenreihe, mit der sie diesen Posten treffend erläutert.« Drake zog fragend die Augenbrauen hoch. »Neun-null, sechs-null, neun-null«, sagte Della Street. Paul Drake warf den Kopf zurück und lachte. Als Kit Ellis mit den Muscheln erschien, bat Mason: »Ich möchte ein gutes Ketchup, Kit, nicht diese synthetische Soße, die gewöhnlich zu Muscheln serviert wird. Und dies ist Paul Drake, Chef der Detektei Drake. Er ißt mit uns.« Mit einem Blick auf Katherine Ellis, der offensichtlich Beifall ausdrückte, bestätigte Paul Drake die Vorstellung. »Was haben Sie Gutes an fertigen Gerichten?« erkundigte er sich. »Ich würde die Muscheln empfehlen oder auch warmes Cornedbeefsandwich«, sagte sie. »Beides ist gut. Schneller fertig ist das Sandwich.« »Dann bringen Sie mir bitte das.« Als Kit mit dem Ketchup zurückkam, sagte Mason: »Ich besorge Ihnen für einige Tage einen Wagen, Kit. Ich habe einen Bekannten im Gebrauchtwagenhandel, der Ihnen etwas Vernünftiges aussuchen wird. Nichts Extravagantes, aber ein gutes Fahrzeug. Sie sollen es benutzen, solange Sie im Motel wohnen. Ihr Weg zur Bushaltestelle ist länger, als mir lieb ist, das besonders bei Ihren Spätschichten.« »Oh, Mr. Mason, wie kann ich das denn jemals wieder... Ich glaube wirklich nicht, daß ich mir einen eigenen Wagen leisten kann. Ich...« »Es ist auch nicht Ihr eigener«, erklärte Mason. »Sie erhalten ihn leihweise und vollgetankt von mir. Sie fahren doch?« -5 8 -
»Natürlich, ich hatte meinen eigenen Wagen bis... Na ja, ich mußte ihn verkaufen«, sagte sie, sich hastig abwendend. Sie eilte zum Büfett, kam mit Drakes Sandwich zurück und entschwebte wieder. »Deine Leute, Paul, die kein Telefon im Wagen haben«, fragte Mason, »wie melden die sich im Büro?« »Na, jeder kann nur so und so lange im Auto sitzen«, sagte Drake. »Dann muß er auf Suche nach einem WC gehen, und bei der Gelegenheit telefoniert er. Dabei besteht natürlich die Möglichkeit, daß er die beobachtete Person verliert. Wie die menschliche Natur aber nun mal eingerichtet ist, läßt sich ein Job dieser Art nicht anders durchführen. Will man eine narrensichere Beschattung, braucht man zwei Leute mit zwei Wagen, und das kostet was. Man wundert sich aber, wie selten es vorkommt, daß ein Mitarbeiter sein Beschattungsobjekt aus den Augen verliert. Das Sandwich ist übrigens ausgezeichnet.« Mason nickte. »Madison tut, was er kann. Ist dein Mitarbeiter jetzt derselbe Mann, der gestern Sophia Atwood beobachtete?« »So ist es«, sagte Drake. »Hat er einen Verdacht, daß es nicht dieselbe Frau ist?« »Danach habe ich ihn ausdrücklich gefragt. Er hält sie für dieselbe. Ich sagte ihm, er solle sich die Füße ganz genau ansehen. Er hat ein Fernglas bei sich und behauptet, sie habe einen stark vergrößerten Ballen am rechten Fuß.« »Dann ist es nicht Sophia Atwood«, sagte Della Street in bestimmtem Ton. »Also, Paul, schick noch einen anderen Mann hin. Wir können es uns nicht leisten, diese Frau aus den Augen zu verlieren. Setzen wir zwei Leute auf den Fall an, um ganz sicherzugehen, wer die Person ist und wohin sie fährt.« Drake aß hastig den Rest seines Sandwichs und sagte: »Die Rechnung überlasse ich dir, Perry. Ich fahre schnellstens zum Büro und besorge den zweiten Mann.« »Wir werden Kit von Ihnen auf Wiedersehen sagen«, versprach Della Street lächelnd. -5 9 -
Drake zog einen halben Dollar aus der Tasche und legte ihn unter den Teller. »Ich sage es ihr auf diese Art und setze es auf die Spesenrechnung«, gab er zurück. Della Street und Mason beschlossen die Mahlzeit mit einem Sorbett und fuhren zum Büro. Wenige Minuten nach ihrer Rückkehr meldete sich Paul Drake. Della Street ließ ihn eintreten. »Es hat sich einiges getan, Perry«, kündigte Drake ernsten Tones an. »Was?« »Ich erfuhr es gerade eben: Sophia Atwood liegt in kritischem Zustand im Krankenhaus.« »Was ist denn passiert?« »Gestern nacht ist jemand in ihr Haus eingedrungen, vielleicht gegen Mitternacht, hat sie mit einer Stablampe k. o. geschlagen - so einem großen Apparat mit fünf Batterien - und ohnmächtig liegenlassen. Die Polizei entdeckte die Tat vor einer halben Stunde, als Stuart Baxley ins Haus kam. Weil sich auf sein Klingeln am Vordereingang niemand meldete, ging er zur Hintertür. Er sagt, die hätte weit offengestanden und deshalb seinen Verdacht erregt. Er wäre hineingegangen und hätte Mrs. Atwood im Schlafzimmer bewußtlos am Boden gefunden. Die Taschenlampe lag mit zersplittertem Glas neben ihr. Die Ärzte sagen, sie hat einen Bluterguß im Gehirn.« »Sie lebt aber noch?« fragte Mason. »Anscheinend, aber sie liegt in tiefer Bewußtlosigkeit.« »Wie hast du das erfahren?« »Ich muß dir was gestehen, Perry«, sagte Drake. »Nachdem ich wußte, daß die Frau vor der Gillco Manufacturing Company nicht Mrs. Atwood war, schickte ich sofort einen Mann los, um Sophia Atwood zu überprüfen. Ich gab ihm Auftrag, sich an der Tür als Kundenwerber vorzustellen, der ihren Namen von einer Nachbarin erfahren hätte. Er sollte versuchen, ihr ein Lexikon oder ähnliches zu verkaufen. Unsere Leute sind alle mit einem Satz Bücher ausgerüstet und können bei solchen Anlässen -6 0 -
überzeugend quasseln. Du würdest dich wundern, Perry - wir kriegen sogar manchmal einen Auftrag.« »Und was passierte also?« »Mein Mann kam an, als die Ambulanz gerade abfuhr. Ein paar Polizisten strichen aber noch herum, und er konnte ihnen die ganze Geschichte aus der Nase ziehen. Dann ging er zum nächsten Telefon und rief mich an.« »Nun gut«, sagte Mason. »Diese Sache ist schwerwiegender, als ich mir vorgestellt hatte. Ich hätte es wissen müssen, als die Diskrepanz in der Summe ans Licht kam, die...« Er brach plötzlich ab. »Irgendwas, wovon ich nichts weiß?« fragte Drake. »Wovon du allerdings nichts weißt«, bestätigte Mason. »Und du sollst es auch nicht wissen. Mich beschleicht das unangenehme Gefühl, daß uns Ärger bevorsteht, und zwar jede Menge. Komm, Paul, wir fahren zur Gillco Manufacturing Company und interviewen die Bleistiftverkäuferin. Du hast doch noch keine Nachricht, daß sie weggegangen ist?« Drake schüttelte den Kopf. »Sie halten hier die Stellung, Della«, wandte Mason sich zu Della Street. »Rufen Sie bitte Tracy an, er soll den Wagen heute abend um 7.30 Uhr zur Auslieferung bereithalten. Und erzählen Sie keinem Menschen etwas über Schuhe. Ich bin so schnell wie möglich zurück.« »Schuhe?« wunderte sich Drake. »Wieso Schuhe?« »Pferdeschuhe, sprich Hufeisen«, sagte Mason. »Als Glücksbringer. Komm, Paul, wir gehen.«
8 Die Gillco Manufacturing Company lag in einem Außenbezirk, wo es genügend Platz gab, um den Angestellten umzäunte Parkplätze zur Verfügung zu stellen. Das Gebäude war dreigeschossig und für Gewerbezwecke konstruiert. Nachdem Paul Drake am Randstein eine Parklücke gefunden hatte, ging -6 1 -
er mit Mason in die Empfangshalle. Am Schreibtisch saß eine gutaussehende Frau in den Dreißigern. Hinter ihr am Klappenschrank schaltete eine Telefonistin hektisch mit Stöpseln und Tasten. »Hallo«, grüßte Drake, »ich bin wieder da, und diesmal habe ich einen Freund mitgebracht.« Die Dame am Empfang lächelte. »Noch immer interessiert an der blinden Bleistiftverkäuferin? Was sind Sie eigentlich - ein Polizeibeamter, der sie wegen Bettelei einsperren will?« »Nein«, sagte Mason, »wir sind nur neugierig.« »Ja, natürlich«, erwiderte sie. »Nichts weiter als blanke Neugier ist es, die zwei hochbezahlte Spitzenkräfte herführt, um... Sagen Sie mal, sind Sie nicht Perry Mason, der Anwalt?« Mason nickte. »Du meine Güte! Sie wollen mir doch nicht erzählen, diese Frau hätte irgendwas mit einem Mordfall zu tun?« »Sie könnte Zeugin sein«, entgegnete Mason. »Wo ist sie?« »Sitzt sie nicht da draußen?« Drake schüttelte den Kopf. »Dann muß sie weggegangen sein. Ich weiß, daß sie vor einer halben Stunde noch da war.« »An der Straße?« fragte Mason. »Ein kleines Stück vom Gehweg entfernt und bereits auf dem Gelände der Gillco Manufacturing Company. Da ist die Stadtverwaltung nicht mehr zuständig, das ist Privatbesitz. Mr. Gillman hat bestimmt, daß sie dort bleiben kann - als Glücksbringerin.« »Wie kann sie denn mit Bleistiftverkaufen ihren Lebensunterhalt verdienen?« fragte Mason. »Weil es gute Bleistifte sind. Sie hat auch ein paar Kugelschreiber dabei, wirklich gutes Material. Allerlei Angestellte bleiben stehen und kaufen von ihr, Sie würden staunen. Ich glaube, manchmal macht sie recht gute Geschäfte;
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wenn auch sicher nicht in einem Umfang, der ihre Taxifahrten rechtfertigen würde.« »Wie sollte sie aber sonst hier herauskommen?« fragte Mason. »Den Bus könnte sie kaum nehmen. Als Blinde kann sie die Strecke auch nicht zu Fuß gehen. Und es ist billiger, ein Taxi zu nehmen, als einen Wagen mit Fahrer zu mieten.« »Ich weiß«, sagte die Frau. »Als ich sie einmal fragte, warum sie im Taxi käme, antwortete sie mir ungefähr das gleiche. Sie erzählte mir auch, die Taxiunternehmen würden Blinden einen Sonderpreis machen. Jedenfalls behauptet sie, verbilligt zu fahren.« »Seit wann kommt sie schon hierher?« »Seit etwas über zwei Wochen.« »Wie Mr. Drake mir erzählt, sind Ihnen die Füße der Frau aufgefallen«, sagte Mason. »Das stimmt. In Wirklichkeit sind es nämlich zwei Frauen. Die eine hat sehr gutgeformte Füße. Bei der anderen ist der linke Fuß in Ordnung, aber am rechten hat sie einen vergrößerten Ballen.« »Wie kam es, daß Sie das bemerkten?« »Oh, mir fallen solche Dinge eben auf. Aber hören Sie, ich gebe Ihnen hier lauter Auskünfte und weiß gar nicht, ob es Mr. Gillman recht wäre. Möchten Sie vielleicht kurz mit ihm sprechen und fragen, ob er etwas dagegen hat? Ich will doch nicht... Na, Mr. Gillman sähe es wahrscheinlich ungern, daß ich Dinge erzähle, die Aufmerksamkeit auf die Firma lenken.« »Klarer Fall«, sagte Mason. »Können wir in sein Büro hinaufgehen?« »Einen Augenblick.« Sie griff zum Telefonhörer. Als nach gut dreißig Sekunden eine Leitung frei war, sagte sie: »Bitte das Büro von Mr. Gillman... Hallo, könnte Mr. Gillman Mr. Perry Mason empfangen, den Rechtsanwalt?« Im nächsten Moment teilte sie Mason lächelnd mit: »Tut mir leid, Mr. Gillman ist mit Leuten beschäftigt, die schon auf ihn warten, und in den nächsten beiden Stunden hat er noch eine -6 3 -
ganze Latte von Telefonaten zu erledigen. Es ist eine sehr betriebsame Jahreszeit für ihn.« Sie legte auf und blickte neugierig zu Paul Drake hinüber. »Sind Sie auch Anwalt, Mr. Drake?« »Er ist Privatdetektiv und überprüft eine Sache für mich«, schaltete Mason sich ein. »Die blinde Trödlerin betreffend?« »Das wissen wir noch nicht«, sagte Mason. »Wir hatten nur einige Hinweise in dieser Richtung, das ist alles. Bitte lassen Sie ihr gegenüber aber nicht verlauten, daß wir nachforschen.« »Du meine Güte, ist das mysteriös!« Plötzlich erspähte sie hinter den beiden einen jungen Mann, der mit einer Aktentasche im Arm heraneilte. »Mr. Gil...«, begann der Mann, wurde jedoch von ihr unterbrochen: »Gehen Sie direkt hinauf, Mr. Deering. Er wartet auf Sie.« Die Empfangsdame wandte sich Mason wieder zu, während der junge Mann zum Fahrstuhl eilte. »Handelt es sich denn um etwas Wichtiges?« fragte sie weiter. Mason verbeugte sich lächelnd. »Nur eine Routinesache. Haben Sie vielen Dank, Ihre Auskünfte waren mir äußerst nützlich.« »Und jetzt lassen Sie mich in der Luft hängen«, protestierte sie. »Seien Sie unbesorgt, wir werden Sie als Zeugin laden.« »Dann erschieße ich Sie«, drohte sie mit einer Grimasse übertriebenen Abscheus. Mason und Drake wechselten einen bedeutungsvollen Blick, während sie den Empfangsraum verließen. »Was nun?« fragte Paul Drake. »Offenbar ist sie weggegangen, und deine beiden Mitarbeiter sind ihr gefolgt. Wir wollen telefonieren, Paul. Vielleicht haben sie schon berichtet.« -6 4 -
»Na, mir scheint, die Sache kriegt jetzt wirklich einen sonderbaren Anstrich«, bemerkte Drake. »Hör mal, Perry, du weißt noch etwas, das ich nicht weiß. Dir ist was über Geld bekannt?« »Kann sein«, sagte Mason. »Wirst du’s mir erzählen?« »Nein.« »Warum nicht?« »Ich halte es für das beste, daß du über den Fall nicht mehr weißt, als ich dir sage«, erklärte Mason. »Aber folgendes sollst du wissen: Das Mädchen am Empfang sprach den hereinkommenden Jüngling mit Deering an. Sollte sein Vorname zufällig Hubert lauten, könnte das von großer Bedeutung sein. Also werden wir beide jetzt kurz die Nummern der hier vorn geparkten Wagen notieren, deren Inhaber du später feststellen kannst. Sobald wir die Zulassungsnummern haben, wollen wir dein Büro anrufen und hören, was es Neues gibt.« Arn Randstein stand etwa ein Dutzend Wagen. Mason begann an einem Ende, Drake am anderen. Sie notierten rasch die Zulassungsnummern und fuhren anschließend zu einer Tankstelle, wo Drake sein Büro anrief. Er kehrte nachdenklich zum Auto zurück. »›Mrs. Ballenfuß‹ haben wir aufgestöbert«, berichtete er. »Sie hat eine Wohnung in einem alten Bezirk, draußen in der Gegend von Santa Monica. Sie ist blind und lebt allein, schon seit mehr als zwei Jahren. Übrigens heißt sie auch Gillman.« »Gillman?« wiederholte Mason. »Ist sie irgendwie mit Gillman von der Gillco Company verwandt?« »Ich kann dir nur meine Informationen weitergeben«, sagte Drake. »Ihr Name ist Gillman, und sie ist exzentrisch. Manchmal sehen die Leute sie zwei oder drei Tage überhaupt nicht, dann wieder kommt sie die Straße daher, schwingt ihren Stock und macht Einkäufe im Eckgeschäft. Man kennt sie gut in diesem Laden. Sie bezahlt bar. Häufig werden ihr die Sachen -6 5 -
ins Haus geschickt. Eine blinde Frau, die ganz allein wohnt und selbst kocht - da scheint mir ein Problem zu liegen.« »Dazu können wir uns gleich ein paar Fragen stellen«, sagte Mason. »Was tätest du, Paul, wenn du blind wärst und nur ein bescheidenes Einkommen hättest? Würdest du essen gehen? Könntest du dir eine Köchin halten? Nein.« »Das ist schon mal ein Gesichtspunkt«, gab Drake zu. »Was tun wir also?« »Wir lassen deine Leute weiter am Ball. Wenn die Blinde herauskommt, will ich wissen, wohin sie geht. Ich muß soviel wie möglich über sie feststellen.« »Mein Detektiv meint allerdings, sie wußte Bescheid, daß sie verfolgt wurde«, sagte Drake. »Wie kommt er darauf?« wunderte sich Mason. »Eine Blinde zu beschatten, sollte doch schließlich nicht...« »Nicht die Frau entdeckte den Schatten, sondern der Taxifahrer«, erklärte Drake. »Manche Fahrer kriegen mit der Zeit erhebliche Routine, und dieser hier war offenbar tüchtig. Meine Leute hatten ihn in der Zange; das heißt, einer war dem Taxi vorausgefahren und beobachtete es im Rückspiegel, während der andere sich dahinter gesetzt hatte. Ein- oder zweimal tauschten sie unterwegs ihre Positionen. Das ist die richtige Methode, auf diese Art kriegt der Fahrer der verfolgten Person nicht mit, daß ein Fahrzeug ihn beschattet.« »Dieser Fahrer hat’s aber doch gemerkt?« fragte Mason. »Hat er. Das heißt, mein Mann nimmt es an, weil der Fahrer sich umdrehte und seinem Fahrgast etwas sagte. Danach saß die Frau kerzengerade und wie erstarrt da.« »Also laß deine Leute weiter auf ihrem Posten«, sagte Mason. »Wir fahren jetzt zu meinem Büro. Ich brauche aber die Namen der Eigentümer jener Wagen vor der Gillco-Anlage.« Nachdem Drake seinen Mitarbeiter entsprechend verständigt hatte, fuhren sie schweigend und gedankenversunken zu Masons Büro.
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»Rufen Sie bitte Kelsey Madison im Madisons’ Midtown Milestone an, Della«, sagte Mason bei seiner Rückkehr. »Ich muß wegen der Kellnerin mit ihm sprechen.« Della Street nickte und meldete wenige Augenblick später: »Mr. Madison am Apparat, Chef.« Mason nahm sein Telefon ab. »Hallo, Kelsey. Viel zu tun da draußen bei Ihnen?« »Wie üblich«, antwortete Madison. »Wir haben den Mittagsansturm hinter uns, warten auf Hochbetrieb an der Cocktailbar und dann auf ein paar verfrühte Abendgäste.« »Sie haben da eine Kellnerin, Katherine Ellis«, fuhr Mason fort, »die ich gern mal sprechen würde. Läßt es sich machen, daß sie eine Stunde frei bekommt? Es kann während der betriebsarmen Zeit sein.« »Für Sie, Herr Rechtsanwalt, wäre mir das ein Vergnügen«, sagte Madison. »Wo soll sie sich melden?« »In meinem Büro.« »Ich schicke sie Ihnen.« »Sie kommen bestimmt nicht in Verlegenheit?« »Keineswegs. Was es jetzt zu tun gibt, können wir alles verkraften... Sagen Sie, das war doch die Kellnerin, die Sie neulich bedient hat?« »Genau.« Madisons Stimme wurde plötzlich streng. »Sie hat Sie doch nicht belästigt, Perry, oder?« »Nein«, beruhigte Mason ihn. »Ich habe sie belästigt.« Madison lachte. »Dann ist alles okay. Das ist das Vorrecht des Kunden. Also, ich schicke sie hin.« »Besten Dank.« Mason legte auf, erhob sich vom Schreibtisch und ging hinüber zum Fenster. Mißmutig starrte er auf die Straße. »Sind Sie sicher wegen der Schuhe, Della?« fragte er schließlich. »Das bin ich.«
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»Alles, was Sie als meine Sekretärin hören«, sagte Mason, »sind vertrauliche Mitteilungen, für die Schweigepflicht besteht. Alles, was Sie mit eigenen Augen sehen, ist etwas anderes: Es macht Sie zur Zeugin. Was Sie gesehen haben, ist ein Beweis. Beweise zu unterdrücken, ist gegen das Gesetz, aber - wir müssen erst mächtig sicher sein, daß es ein Beweis ist.« Er wandte sich vom Fenster ab und begann im Büro hin und her zu marschieren, den Kopf leicht nach vorn gebeugt, die Augen am Teppich. Della Street, die mit solchen Anzeichen intensiver Konzentration vertraut war, saß mäuschenstill an ihrem Platz und vermied jede Ablenkung.
9 Es war 3.30 Uhr, als Della einen Anruf aus dem Vorzimmer entgegennahm und Mason meldete: »Katherine Ellis ist da.« »Soll hereinkommen«, sagte Mason. Katherine Ellis betrat das Büro mit einem Lächeln für Della Street, blieb dann vor Perry Masons Schreibtisch stehen. »Worum geht es, Mr. Mason?« fragte sie. »Mr. Madison hat mich hergeschickt.« Mason nickte. »Setzen Sie sich, Katherine. Wir sind gerade von einer kleinen Forschungsreise zurück, Paul Drake und ich.« »Im Zusammenhang mit meinem Fall?« »Ja.« »Haben Sie denn etwas erfahren?« »Lassen Sie mich Ihnen zunächst einige Fragen stellen«, sagte Mason. »Haben Sie heute etwas von Ihrer Tante gehört?« Katherine Ellis schüttelte den Kopf. »Hörten Sie etwas über sie?« »Über sie? Wieso? Gibt es denn etwas, das ich wissen müßte?« -6 8 -
»Ihre Tante«, sagte Mason, »wurde in der letzten Nacht überfallen, offenbar von einem Eindringling, der ihr mit einer großen fünfzelligen Stablampe über den Kopf schlug und...« »Die große Taschenlampe!« rief sie aus. »Aber - das ist ja meine Lampe!« Mason fixierte sie gedankenvoll. »Was ist mit Tante Sophia, Mr. Mason? Ist sie schwer verletzt? Mein Gott, ich muß hin zu ihr. Ist sie zu Hause, oder...« »Sie liegt im Unfallkrankenhaus, soweit ich hörte, und zwar im Koma. Offenbar war sie schon einige Stunden bewußtlos gewesen. Die Ärzte sprechen von einem Bluterguß im Gehirn, bekannt als subdurales Hämatom. Ein solches Blutgerinnsel führt recht häufig zum Tod und kann - besonders bei älteren Menschen - durch einen Schlag auf den Kopf entstehen. Es bildet sich unter der harten Hirnhaut und übt Druck auf das Gehirn aus. Handelt es sich überdies um venöses Blut, kann die Verletzung von Zeit zu Zeit wieder aufbrechen, womit weiteres Blut in das Gerinnsel einfließt.« Katherine Ellis starrte Mason mit schreckgeweiteten Augen an. »Nun denn«, fuhr er fort, »wann haben Sie Ihre Tante zuletzt gesehen?« »Aber das wissen Sie doch: als ich ihr Haus verließ.« Mason schüttelte stumm den Kopf. »Was wollen Sie mit Ihrem Kopfschütteln sagen?« fragte sie. »Sie blieben allein im Motel. Nachdem wir Sie verlassen hatten, kehrten Sie in das Haus Ihrer Tante zurück.« »Woher wissen Sie das? Haben Sie... Hat der Taxifahrer...?« »Ich weiß es«, sagte Mason, »und wahrscheinlich wird die Polizei es auch bald wissen, wegen Ihrer Schuhe und der Kleidung, die Sie da tragen - wegen des Schottenrocks. Sie fragten Della Street insbesondere nach den Krokodillederschuhen. Das waren Ihre Arbeitsschuhe. Weil Sie im Restaurant ständig auf den Beinen sind und sich an den Job -6 9 -
als Kellnerin noch nicht gewöhnt haben, leiden Sie unter Fußbeschwerden. Als Della Street Ihnen Ihre Sachen holen wollte, vergaßen Sie, ihr etwas von den Schuhen zu sagen, und fragten sie später ausdrücklich nach den Krokodillederschuhen. Della sagte, sie hätte sie nicht mitgebracht. Heute mittag aber, als Sie bedienten, trugen Sie diese Schuhe. Das bedeutet ohne jeden Zweifel, daß Sie vor dem Dienst ins Haus Ihrer Tante gingen, um die Schuhe zu holen. Also, war das heute früh oder gestern am späten Abend?« »Gestern spätabends«, gestand sie. »Oh, Mr. Mason, es ist entsetzlich!« »Schön, gestern am späten Abend. Wie spät?« »Nachdem Sie das Motel verlassen hatten, etwa zwei Stunden danach. Ich versuchte zu schlafen. Es ging mir aber dauernd im Kopf herum, daß meine Füße mich umbringen würden, wenn ich mit meinen schwarzen Schuhen servieren mußte. Und dann fiel mir ein, daß ich ja einen Schlüssel zum Haus hatte, schnell nach oben laufen, meine Schuhe holen und verschwinden konnte, alles in wenigen Minuten; zumal falls Tante Sophia schon schlief.« »Den Schlüssel geben Sie lieber mir, Katherine«, sagte Mason. Sie öffnete ihre Handtasche und gab Mason einen Schlüssel. »Und jetzt berichten Sie mir, was Sie im einzelnen taten.« »Ich nahm das Geld, das Sie mir gegeben hatten, und rief ein Taxi. Das ließ ich vor dem Haus meiner Tante warten. Ich schloß auf und ging hinein. Alles war dunkel und still. Ich schlüpfte aus den Schuhen und lief auf Strümpfen nach oben. Ich hörte keinen Laut.« »Wie konnten Sie denn sehen?« »Ich tastete mich die Treppe hoch und durch den oberen Flur, bis ich zu meinem Zimmer kam. Da machte ich Licht, schnappte meine Krokodilschuhe, diesen Schottenrock und ein paar Sachen, die ich vielleicht noch brauchte, und machte das Licht wieder aus. Dann tappte ich vorsichtig zur Korridorecke, -7 0 -
wieder treppabwärts und zur Vordertür hinaus. Alles in allem war ich nicht länger als drei bis vier Minuten im Haus.« »Sie sagen, die große Taschenlampe gehört Ihnen?« »Ja, ich besaß eine große Taschenlampe mit fünf Batterien, die jemand vor mir in dem Zimmer benutzt hatte, in dem ich schlief. Ich nahm damals die alten Batterien heraus, legte neue ein und gebrauchte die Lampe nachts, wenn Tante Sophia zu Bett gegangen war. Auf diese Weise mußte ich im Flur kein Licht machen und Tante Sophia nicht wecken. Können Sie denn nicht feststellen, wie es ihr geht, Mr. Mason?« Die Tür zum Vorzimmer wurde geöffnet, und herein trat Polizeileutnant Tragg. »Tag, Della«, sagte er. »Hallo, Perry. Sie werden mir verzeihen, wenn ich unangemeldet hier eintrete; aber bei Anwälten besteht immer die Neigung, mich im Vorzimmer zu vergessen, wenn ich mich ankündige. Die Steuerzahler möchten nicht, daß ich meine Zeit verschwende, und ich möchte nicht mit einer Verdachtsperson reden, die bereits eingepaukt ist. Aus einer Beschreibung, die mir vorliegt, schließe ich, daß dies Katherine Ellis ist. Leider muß ich Ihnen mitteilen, Miss Ellis, daß ich einen Haftbefehl gegen Sie habe. Ich möchte Sie hiermit belehren, daß alle Aussagen, die Sie eventuell machen, Ihnen vorgehalten werden; daß Sie nicht zur Aussage verpflichtet sind; daß Sie in jedem Stadium des Verfahrens das Recht auf einen Anwalt haben.« »Und wie lautet die Beschuldigung?« fragte Mason. Leutnant Traggs Gesicht wurde ernst. »Die Beschuldigung«, verkündete er, »lautet auf versuchten Mord, und es könnte eine Mordanklage daraus werden. Sophia Atwoods Zustand hat sich verschlechtert, man rechnet nicht mit ihrem Überleben.« Mason wandte sich an Katherine Ellis. »Sie machen nicht die geringsten Angaben«, instruierte er sie. »Fragen beantworten Sie nur in meiner Gegenwart und mit meiner Zustimmung. Es ist eine schwerwiegende Beschuldigung, und es gibt da gewisse Dinge, über die Sie keine Auskunft geben sollten.« »Falls es sich um den nächtlichen Ausflug zu dem bewußten Haus handelt, Perry, den sie gestern per Taxi unternahm -7 1 -
darüber sind wir völlig im Bilde«, sagte Tragg vergnügt. »Zufällig hörte ein Nachbar das Auto vorfahren und mit laufendem Motor halten. Da er wußte, daß es nebenan schon früher am Abend einigen Betrieb gegeben hatte, notierte der Nachbar sich die Taxinummer. Wir konnten den Fahrer auftreiben. Er entsann sich, Miss Ellis vom Motel abgeholt und zu jenem Haus gefahren zu haben, wo er wartete, während sie hineinrannte und ein paar Sachen holte. Laut Protokoll hat sie sich ungefähr sieben Minuten im Haus aufgehalten. Das war kurz nach Mitternacht, und alles spricht dafür, daß Sophia Atwood ihre Verletzungen genau um die Zeit erlitt, nämlich als Miss Ellis dort war und das Taxi draußen wartete. Soviel kann ich Ihnen ruhig sagen, Perry, denn Sie werden es in der Zeitung lesen. Es gibt noch andere Dinge, die ich Ihnen allerdings im Moment nicht verraten möchte. Sie sind für den Fall aber von Bedeutung. Es tut mir leid, Miss Ellis, aber ci h muß Sie jetzt mitnehmen. Wir wollen versuchen, die Sache möglichst schmerzlos abrollen zu lassen. Ich werde zwar meine Hand auf Ihren Arm legen, aber von Handschellen oder dergleichen wollen wir absehen. Und wir werden uns bemühen, jedes Aufsehen zu vermeiden, so gut es eben geht; obwohl natürlich die Zeitungsleute schon parat stehen werden, wenn wir bei der Polizeiwache ankommen. Falls Sie von mir als viel älterem Mann einen Rat wollen: Ich würde Ihnen empfehlen, den Kameras in keiner Weise auszuweichen. Am besten halten Sie den Kopf hoch, die Schultern gerade und machen nicht den geringsten Versuch, Ihr Gesicht zu verstecken. Liefern Sie den Fotografen das denkbar beste Bild. Ich glaube, da wird Perry Mason mir recht geben; es verschafft Ihnen eine bessere Presse. Und wenn Sie dann soweit sind...« »Denken Sie an das, was ich Ihnen gesagt habe, Katherine«, mahnte Mason. »Erzählen Sie nichts, absolut nichts! Machen Sie keinerlei Angaben, welcher Art auch immer. Sie müssen mit Gegnern rechnen, die alles tun werden, um Ihre Verurteilung zu erreichen.« Als Mason neben sie trat, hängte sie sich panikartig an seinen Arm. »Aber, Mr. Mason, ich... Ich kann nicht...« -7 2 -
Mason löste sanft ihre Finger. »Doch, Katherine«, sagte er, »Sie müssen. Aber ich halte Verbindung mit Ihnen, und es wird nicht ganz so schlimm werden, wie Sie glauben, wenn Sie nur den Mut nicht sinken lassen.«
10 Wenige Minuten, nachdem Leutnant Tragg Katherine Ellis aus dem Büro geführt hatte, läutete Masons nicht registriertes Telefon, und Paul Drake meldete: »Meine Überprüfung der Autonummern, die wir notierten, hat ergeben, daß einer der Wagen auf den Namen Hubert Deering eingetragen ist, Perry. Die Adresse ist ein Apartmenthaus, Hempsted 965. Willst du mit ihm reden?« »Nicht jetzt gleich«, sagte Mason. »Wir wollen ›Mrs. Ballenfuß‹ besuchen. Ich hole dich in deinem Büro ab, und dann werden wir feststellen, wieviel sie weiß. Meine Mandantin ist wegen Mordversuchs verhaftet worden, was die Lage erheblich ändert. Größte Eile ist jetzt lebenswichtig. Du hast drei Minuten Zeit, bis ich bei dir erscheine. Schick inzwischen einen Detektiv los mit dem Auftrag, alles über eine gewisse Bernice Atwood festzustellen, die in Palm Springs wohnt. Sie ist die erste Frau des verstorbenen Gerald Atwood.« »Und Sophia ist die zweite?« fragte Drake. »Vermutlich. Laß ein paar Leute an die Arbeit gehen, Paul; ich bin in wenigen Minuten bei dir.« Mason legte auf und holte Paul Drake wenig später ab. Das Drei-Etagenhaus, zu dem die beiden Männer fuhren, lag in einer etwas schmuddeligen Gegend. Drakes Mitarbeiter, der noch auf seinem Posten war, trat kurz auf die Bremse und gab durch die aufblinkenden Lichter zu erkennen, daß er die beiden ausgemacht hatte. »Willst du es riskieren, vorher mit meinem Mann zu reden, Perry?« fragte Drake.
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Mason schüttelte den Kopf. »Wir wollen zunächst mit der Frau selbst sprechen. Anschließend lassen wir uns von deinem Mitarbeiter berichten.« »Okay«, sagte Drake und zündete sich eine Zigarette an. »Das ist das Zeichen für meinen Mann, auf dem Posten zu bleiben und sich nicht zu rühren«, erklärte er. Die beiden Männer gingen auf das Apartmenthaus zu. Mason drückte den Klingelknopf für die mittlere Wohnung. Weit oben ließ sich ein schwaches Surren vernehmen, die Sprechanlage neben der Tür blieb jedoch stumm. Mason wartete einen Augenblick, bevor er ein zweites Mal auf den Knopf drückte. Als sich nichts rührte, sagte er: »Wir kommen möglicherweise zu spät, Paul. Gehen wir zu deinem Mann hinüber.« Sie überquerten die Fahrbahn und fanden Drakes Beobachter in seinem parkenden Wagen. »Sie ist nicht weggegangen?« fragte Mason. Der Mann schüttelte den Kopf. »Nicht, seit ich hier sitze.« »Ging jemand zu ihr?« »Niemand.« Mason und Drake sahen sich an. »Es ist natürlich möglich«, meinte Drake, »daß sie keinen Wert auf Besucher legt. Sie wohnt ja nur eine Treppe hoch, Perry, und wahrscheinlich wird sie ständig von Hausierern belästigt.« »Völlig klar«, sagte Mason, »aber sie gehört zur Clique. Sie arbeitet mit Sophia Atwood zusammen, und Sophia Atwood ist überfallen worden. Diese Frau schwebt vielleicht in großer Gefahr.« »Meinst du, wir sollten die Polizei verständigen?« fragte Drake nervös. »Nur als letztes Mittel. Vielleicht muß es sein. Ich will aber in ihre Wohnung und mich da umsehen. Ich möchte mit ihr reden -
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sofern sie noch am Leben ist; und falls nicht, will ich mich mit einem raschen Blick informieren, bevor die Polizei eintrifft.« »Das ist gefährlich«, warnte Drake. »Vieles ist gefährlich«, gab Mason zu, während er schon den Rückmarsch über die Straße antrat. Noch einmal drückte er auf den Klingelknopf und hörte den Summer. »Da ist die Sprechröhre«, sagte er. »Sie kann doch herunterrufen, feststellen, wer hier ist, und durch einen Knopfdruck die Tür öffnen, falls sie einen Besucher wünscht. Möchte sie ihn kurz abfertigen, kann sie herunterkommen, die kleine Türscheibe hier zurückschieben und durch das Loch reden.« »Oder«, vermerkte Drake trocken, »sie braucht überhaupt nichts von alldem zu tun, indem sie sich einfach nicht vom Fleck rührt. Was tätest du wohl, wenn du blind wärest und allein in einer Großstadt lebtest?« Mason zog das kurz in Betracht, gab dann zu: »Wahrscheinlich würde ich auch nicht aufmachen.« Er legte den Mund an die Öffnung der Sprechanlage. »Mrs. Gillman!« rief er. »Mrs. Gillman, wir möchten Sie sprechen.« Alles blieb still. Mason stieß einen schrillen Pfiff aus und hob die Stimme: »Mrs. Gillman! Wir müssen sie in einer dringenden Angelegenheit sprechen, Mrs. Gillman!« Plötzlich wurde die Tür der unteren Wohnung um einige Zentimeter bis zum Ende der Sicherheitskette geöffnet. Die gebieterische Stimme einer Frau ertönte: »Was hat der Lärm hier zu bedeuten? Ich bin die Hausverwalterin. Was geht hier vor?« »Ich bitte um Entschuldigung«, sagte Mason. »Wir möchten Mrs. Gillman wegen einer ziemlich wichtigen Sache sprechen. Ich glaube, sie ist zu Hause. Sie meldet sich aber nicht.« »Natürlich meldet sie sich nicht«, schimpfte die Frau. »Warum sollte sie? Sie hat keine Freunde, die sie besuchen. Und warum sollte sie die Treppe rauf und runter latschen, bloß -7 5 -
weil Leute ihr war erzählen wollen, das sie überhaupt nicht interessiert? Sie ist nämlich blind und wohnt allein. Und jetzt verschwinden Sie beide, damit der gräßliche Radau aufhört.« »Tut mir leid«, sagte Mason. »Mein Name ist Mason. Ich bin Rechtsanwalt.« »Perry Mason?« rief die Frau. »Richtig.« »Na, jetzt haut’s mich um!« sagte sie verblüfft und fügte gleich darauf hinzu: »Tatsächlich!« »Und dies ist Mr. Drake«, informierte Mason sie, »der gemeinsam mit mir gewisse Ermittlungen durchführt.« »Was heißt Ermittlungen?« argwöhnte die Frau. »Ist er vielleicht Privatdetektiv?« »So ist es, Madam«, bestätigte Paul Drake. »Ja, um alles in der Welt, was wollen Sie denn von Mrs. Gillman?« »Mit ihr sprechen«, sagte Mason. »Und zwar ist es außerordentlich wichtig.« »Wichtig für wen, für Sie oder für Mrs. Gillman?« »Es könnte sehr wichtig für Mrs. Gillman sein«, erwiderte Mason. »Na, hier scheinen überhaupt sonderbare Dinge in Gang zu sein. Sie beide sind hin und her über die Straße gelaufen und haben mit dem Mann da drüben im Auto geredet. Wer ist das eigentlich?« »Einer von Mr. Drakes Mitarbeitern«, sagte Mason. »Wir haben das Gefühl, daß Mrs. Gillman sich in Gefahr befindet, und wir möchten sie warnen.« »Warnen!« Die Stimme der Hausverwalterin wurde wieder schrill. »Welchen Zweck hat es denn, eine blinde Frau vor Gefahr zu warnen? Hat das vielleicht Sinn?« Mason schwieg. »Versetzen Sie sich mal in ihre Lage«, fuhr die Frau fort. »Sie ist vollständig blind, lebt total im Finstern in einer großen Stadt. -7 6 -
Und dann kommen Sie beide daher und erzählen ihr, daß ihr Gefahr droht. Was könnte sie mit so einer Warnung anfangen? Wenn sie in Gefahr ist, gehen Sie zur Polizei.« »Wir könnten ihr vielleicht helfen«, wandte Mason ein. »Es wäre uns vielleicht möglich, einen Posten aufzustellen.« »Und wer bezahlt das alles?« »Wir.« »So, so.« Die Frau wurde nachdenklich. »Nun also«, fuhr Mason mit entwaffnendem Lächeln fort, »und wie erreichen wir sie am besten?« »Das werde ich für Sie besorgen«, versprach die Frau. »Großartig. Ich nehme an, Sie haben einen zweiten Schlüssel?« »Den brauche ich nicht. Ich rufe sie an.« »Sie hat Telefon?« fragte Mason. »Natürlich hat sie Telefon. Eine blinde alleinstehende Frau könnte doch nicht ohne Telefon auskommen. Die Nummer ist aber nicht eingetragen, und ich bin so ungefähr die einzige, die sie kennt. Warten Sie jetzt da, ich gehe ans Telefon und frage sie, ob sie Mr. Perry Mason sprechen will und - wie war der andere Name?« »Paul Drake.« »Schön. Ich frage an.« Die Frau blieb noch einen Augenblick stehen. »Ich heiße Minerva Gooding«, fuhr sie fort, »und verwalte die Wohnung hier. In der unteren wohne ich selbst, die beiden oberen vermiete ich. Sie sind nicht allzu pompös, aber wir haben ein nettes bequemes Haus. Also, bleiben Sie genau da, wo Sie sind.« Nach etwa drei Minuten kehrte Mrs. Gooding zur Tür zurück. »Tut mir leid«, verkündete sie, »aber Mrs. Gillman nimmt das Telefon nicht ab.« »Nimmt nicht ab?« wiederholte Mason. Mrs. Gooding schüttelte bedauernd den Kopf. -7 7 -
»Und sie reagiert auch nicht auf die Türklingel«, sagte Mason. »Das ist üblich bei ihr, aber am Telefon meldet sie sich immer, wenn sie da ist. Sie weiß ja, daß ich fast die einzige bin, die ihre Nummer kennt. Es gibt noch eine andere Frau, glaube ich, von der sie angerufen wird; ich weiß aber nicht, wer das ist.« »Könnte es eine Mrs. Atwood sein?« forschte Mason. »Atwood... Atwood... Der Name kommt mir irgendwie bekannt vor. Von einer Atwood habe ich sie mal reden hören. Ist der Vorname vielleicht Sophia?« Mason nickte. »Ja, von einer Sophia hat sie viel geredet, ob’s aber Sophia Atwood ist oder nicht, kann ich nicht sagen. Jedenfalls meldet sich Mrs. Gillman nicht am Telefon.« »Dann ist irgend etwas los«, sagte Mason, »denn sie ist zu Hause.« »Woher wissen Sie denn, daß sie zu Hause ist?« »Da sind wir ziemlich sicher. Der Mann im Wagen hier gegenüber hat das Haus im Auge gehabt«, erklärte Mason, um gleich darauf hastig fortzufahren, »damit sie nicht in Gefahl geriet, bevor wir sie warnen konnten.« »Was für eine Gefahr?« fragte Mrs. Gooding spitz. »Offen gestanden wissen wir es nicht, haben aber Grund zu der Annahme, daß sich in ihrem Besitz etwas befindet, das eine andere Person ihr wegnehmen will; eine gewissenlose Person, die auch in ein Haus einbrechen würde, um diese Sache an sich zu bringen.« Mrs. Gooding dachte nach. »Na schön«, willigte sie schließlich ein, »ich werde mit dem Nachschlüssel nach oben laufen und sehen, ob mit ihr alles in Ordnung ist. Warten Sie hier.« »Wir würden lieber mitkommen«, sagte Mason. »Falls etwas passiert ist, wäre es sehr empfehlenswert für Sie, Zeugen bei sich zu haben.« -7 8 -
»Zeugen wofür?« »Für das, was Sie gefunden haben.« »Na gut«, stimmte Mrs. Gooding nach kurzem Zögern zu, »kommen Sie mit, aber fassen Sie nichts an. Und ich möchte keine Nörgelei von Ihnen hören. Meine Güte, stellen Sie sich bloß vor, Sie wären blind und müßten allein haushalten, müßten selbst kochen, waschen, Ihre Klamotten wegräumen, Ihr Bett machen und alles allein. Schon das Kunststück, sich mit seinen Sachen auszukennen und die Richtung nicht zu verlieren.« »Wir verstehen schon«, sagte Mason, »und wir sind weder an ihrer Hauswirtschaft noch an ihrer Sauberkeit interessiert.« »Und wenn Sie mit ihr reden«, setzte Mrs. Gooding ihre Belehrungen fort, »dürfen Sie ihr keine Angst machen, klar? Mir können Sie erzählen, daß sie in Gefahr ist, ich will aber nicht, daß sie sich zu Tode ängstigt.« Sie öffnete die Vordertür der unteren Wohnung, nahm einen Nachschlüssel aus ihrer Tasche und schloß die Tür auf, die zur Wohnung im zweiten Stock führte. Mason und Paul Drake folgten ihr die Treppe hinauf. Ein schaler, muffiger Geruch drang ihnen in die Nase. An einem Flureingang am Ende der Treppe blieben sie stehen. »Ob die Lampen hier noch funktionieren, mag der Himmel wissen«, sagte Mrs. Gooding. »Sie braucht den Strom, weil sie damit kocht, aber elektrisches Licht hat natürlich überhaupt keinen Wert für sie; deshalb können die Glühlampen ebensogut alle durchgebrannt sein.« Während des Sprechens knipste sie einen Schalter an. Die Lampen beleuchteten ein Schlafzimmer, das mit spartanischer Einfachheit möbliert war. Auf der Frisierkommode standen keinerlei Gegenstände, die Stühle waren an die Wand geschoben, die Mitte des Raumes war leer. Das Bett stand an der gegenüberliegenden Seite am Fenster und war nicht zugedeckt. Zerwühlte Bettücher lagen herum, die Kissen in einer Ecke aufeinander. -7 9 -
»Da sehen Sie schon, was ich meine«, sagte Mrs. Gooding. »Sie hatte keine Zeit, ihr Bett zu machen.« Mit erhobener Stimme rief sie: »Edith, huhu! Ich bin’s, Minerva. Wo sind Sie?« Mrs. Gooding schwieg und wartete auf Antwort. Stirnrunzelnd und mit zunehmender Lautstärke wiederholte sie dann ihren Ruf: »Edith! Juhuh!« Als sich nichts rührte, sagte sie: »Bleiben Sie hier, ich sehe mich in der Wohnung um.« »Können wir Ihnen nicht helfen?« fragte Mason. »Das können Sie nicht. Diese Wohnung ist in keinem Zustand für Besucher, und Edith wird mir gehörig den Marsch blasen, weil ich Sie raufgebracht habe. Kommen Sie mit, heraus aus dem Schlafzimmer. Ich zeige Ihnen, wo Sie sich hinsetzen können, und da bleiben Sie sitzen.« Sie ging voran in ein Wohnzimmer, in dem ein bequemer Sessel stand, daneben ein Tisch mit einem Radiogerät. »Die Arme kann nichts weiter tun als hier sitzen und Radio hören«, sagte Mrs. Gooding. »Sie kennt alle Stimmen, alle Sprecher. Und wie diese Frau über die Nachrichten im Bilde ist - man sollte es nicht glauben. Also, fassen Sie hier bitte nichts an.« Drake und Mason blieben mitten im Zimmer stehen, hörten Mrs. Gooding durch die Wohnung eilen und von Zeit zu Zeit rufen: »Edith, huhu, Minerva ist hier. Wo sind Sie, Edith? Ist alles in Ordnung?« Nach zwei oder drei Minuten kehrte Mrs. Gooding ins Wohnzimmer zurück und verkündete: »Sie ist nicht da. Sie muß ausgegangen sein.« »Entschuldigen Sie«, sagte Mason, »aber sie kann nicht ausgegangen sein. Unser Mann hat vor dem Haus Wache gestanden.« »Kennt er sie denn?« fragte Mrs. Gooding. »Allerdings.« »Wie kommt das?« -8 0 -
»Er hat sie schon einige Male gesehen«, erklärte Mason beiläufig. »Aber sagen Sie, gibt es hier einen Hinterausgang?« »Natürlich gibt es den. Ich würde doch keinem eine Wohnung vermieten, die nur einen Ausgang hat. Was sollte man machen, wenn Feuer ausbricht?« »Wo ist der Hinterausgang?« erkundigte sich Mason. »Er führt über eine Treppe zur Hintergasse. Hier hinten, ein kleiner Verandaausgang.« »Haben Sie auf der Veranda nachgesehen?« »Nein«, sagte Mrs. Gooding, »aber ich werde es tun. Warten Sie hier.« Sie hastete durch die Wohnung und war nach wenigen Augenblicken zurück. »Na, so viel kann ich Ihnen sagen - die Hintertür war nicht abgeschlossen. Anscheinend ist sie da die Treppe runter zur Hintergasse.« »Und dann?« fragte Mason. »Nun ja...«, kam es zögernd von Mrs. Gooding. »Ja?« drängte Mason. »Manchmal ruft sie ihre Freundin an, diese Sophia, und die kommt dann und holt sie in der Hintergasse ab.« »Warum hinten?« fragte Mason. »Keine Ahnung. Ich pflege meine Nase nicht in fremder Leute Angelegenheiten zu stecken. Als ich aber mal hinten auf meine Veranda ging, um was in den Abfalleiner zu schütten, sah ich, wie Edith Gillman die Hintertreppe herunterkam und sich abwärtstastete. Unten wartete dieser Cadillac mit Chauffeur, und der Motor lief. Ich glaube, es war ein Mietwagen; und diese Frau war schon halbwegs die Treppe hoch und wollte Edith runterhelfen. Dabei hörte ich Edith sagen: ›Wie geht’s dir heute, Sophia?‹, und Sie können mir glauben, weiter hörte ich nichts. Ich habe absichtlich weggehört. Wenn sie mit ihren Bekannten geheimtun wollte, konnte sie das von mir aus ruhig machen.« »Ich verstehe«, sagte Mason und setzte nach einer Pause hinzu: »Sind Sie völlig sicher, daß Mrs. Gillman jetzt nicht in der Wohnung ist?« -8 1 -
»Ich habe überall nachgesehen außer unter dem Bett.« »Dann«, fuhr Mason ernsten Tones fort, »lassen Sie uns auch unter dem Bett nachsehen.« »Wieso, um Himmels willen, sollte sie unter dem Bett liegen?« »Weiß ich nicht«, sagte Mason. »Aber warum sollte sie durch die Vordertür nach Hause kommen, die Hintertreppe hinuntergehen und in einem Leihwagen entschwinden?« »Na, wenn sie’s tat, ist das ihre Sache und nicht unsere.« »Dennoch ist es unsere Sache«, sagte Mason, »uns zu vergewissern, daß sie nicht hier ist.« »Sie würde nie unter ein Bett kriechen.« »Es könnte sie jemand auf den Kopf geschlagen und unter das Bett geschoben haben«, wandte Mason ein. »Ach, Quatsch!« »Zu Ihrer Information«, sagte Mason, »ihre Freundin, Sophia Atwood, wohnt ebenfalls allein. In der vergangenen Nacht schlich sich jemand ins Haus, schlug Mrs. Atwood über den Kopf und ließ sie bewußtlos am Boden liegen.« Mrs. Gooding sah ihn mit erschrockenen, ungläubigen Augen an. »Sie meinen Edith Gillmans Freundin?« »Ich weiß es nicht bestimmt und will mehr herausfinden«, antwortete Mason. »Jedenfalls müssen wir annehmen, daß Mrs. Gillman mit Sophia Atwood befreundet ist.« »Das kann man allerdings sagen«, bestätigte Mrs. Gooding kleinlaut. »Sie fanden die Hintertür unverschlossen?« fragte Mason. »Ja. Sie hat ein Schloß, das aber kein Schnappschloß ist. Man muß den Schlüssel drehen, wenn man abschließen will. Sie muß wohl in Eile gewesen sein, als sie wegging, weil sie den Schlüssel nicht mitnahm. Er steckt auf der Innenseite, und die Tür ist nicht verschlossen.« »Gewöhnlich ist das aber der Fall?«
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Sie sah Mason an. »Würden Sie vielleicht bei unverschlossenen Türen wohnen wollen, wenn Sie blind wären?« fragte sie. »Nein«, antwortete Mason kurz. »Natürlich könnte jemand auf sie gewartet haben«, schaltete Drake sich ein, »der sie hetzte, fix durch die Hintertür herauszukommen; der es sehr dringend machte; jemand, den sie kannte.« »Oder jemand, den sie nicht kannte«, entgegnete Mason trocken. »Wer hat die Wohnung im dritten Stock, Mrs. Gooding?« »Sie steht zur Zeit leer.« »Haben Sie etwas dagegen, wenn wir sie uns kurz ansehen?« fragte Mason. »Ganz und gar nicht. Aber Sie müssen erst den ganzen Weg treppab zur Eingangstür zurück und dann wieder zwei Treppen nach oben.« »Ich würde gern einen Blick hineinwerfen«, sagte Mason. »Die Wohnung ist nicht möbliert?« »Ganz recht.« »Ich möchte mir über ihre Lage ein Bild machen. Hat sie den gleichen Grundriß wie diese hier?« »Ja.« »Gehen wir also?« »Kommen Sie bitte mit«, sagte Mrs. Gooding und ging die Treppe hinunter. Sie hielt den beiden Männern die Vordertür auf, verschloß sie hinter ihnen und steckte den Zweitschlüssel in die zur dritten Etage führende Tür. »Hier geht’s wieder treppauf«, bemerkte sie, »es macht Ihnen doch nichts aus?« »Keineswegs«, erklärte Mason. Sie stiegen die zwei Treppen hinauf, und wieder nahm Mrs. Gooding ihren Nachschlüssel zur Hand, um oben aufzuschließen.
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Mason und Drake marschierten durch die leere Wohnung. »Haben Sie vielen Dank, Mrs. Gooding«, wandte Mason sich ihr mit einem Kopfnicken zu. »Wir gehen jetzt. Sollte Mrs. Gillman zurückkehren - würden Sie dann freundlicherweise Mr. Paul Drake im Büro verständigen?« »Nichts dergleichen werde ich tun«, sagte Mrs. Gooding schnippisch. »Ich spioniere nicht hinter meinen Mietern her.« »So war’s nicht gemeint«, unterbrach Mason sie. »Aber da die Frau blind ist, hätte es zweifellos keinen Sinn, ihr eine Karte mit der Bitte zu hinterlassen, die Detektei Drake anzurufen.« »Oh, ich verstehe«, sagte Mrs. Gooding. »Ich will Ihnen sagen, was ich tun kann. Wenn sie kommt, gebe ich ihr die Nummer und erzähle ihr, Sie beide hätten nach ihr gefragt; wobei ich die Ärmste aber nicht ängstigen werde. Und dann bitte ich sie, bei Ihnen anzurufen. Also, die Nummer werde ich ihr sagen.« »Wird sie die denn behalten«, zweifelte Mason, »wenn Sie sie ihr sagen?« »Und ob sie das kann«, rief Mrs. Gooding aus. »Sie sollten mal erleben, was für ein Gedächtnis diese Frau hat. Telefonnummern behält sie wochenlang. Es ist geradezu erstaunlich, wie sie sich an Dinge erinnern kann. Und wie sie über laufende Ereignisse und über die Nachrichten Bescheid weiß, ist einfach umwerfend.« »Sehr gut«, sagte Mason, »dann lassen wir es dabei.« »Verstehen Sie aber: Ich mache ihr keine Angst.« »Sollen Sie auch nicht. Und nochmals besten Dank für Ihre Mitarbeit.« »Vielleicht sollte ich Ihnen ja danken«, meinte Mrs. Gooding, »im Namen von Edith Gillman nämlich, aber ich warte lieber ab, bis ich mehr über die Sache weiß.« Mason und Paul Drake verließen das Mietshaus und gingen über die Straße zu ihrem Wagen. »Na?« fragte Drake.
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»Entweder ist ihr irgendwas passiert«, erwiderte Mason, »oder sie hat’s faustdick hinter den Ohren.« »Was tun wir jetzt, Perry?« »Ich brauche zwei Detektive«, sagte Mason, »einen für den Vorder-, einen für den Hintereingang. Und gib mir umgehend Nachricht, sobald sie in die Wohnung zurückkehrt. Während wir uns da oben umsahen, habe ich es geschafft, die nicht registrierte Nummer am Telefon abzuschreiben und...« Paul Drake lachte. »Am besten einigen wir uns über unsere Kenntnisse, Perry. Ich war nämlich auch damit beschäftigt« »In Ordnung«, sagte Mason, »dann haben wir sie beide. Und wenn Edith Gillman nach Hause kommt, werden wir sie auf dieser Nummer anrufen und versuchen, ein Interview zu vereinbaren. Auf jeden Fall können wir sie warnen.« »Und inzwischen?« fragte Drake. »Inzwischen sind wir der Polizei genau um einen Sprung voraus, soweit es um die beiden Trödlerinnen geht. Wir wollen versuchen, diesen Vorsprung beizubehalten. Wenn die Blinde mit dem Ballen, Mrs. Gillman, in Gefahr ist, wird jemand zu ihrem Haus gehen und sie suchen.« »Sofern nicht bereits jemand wartete, als sie nach Hause kam«, entgegnete Drake, »und sie durch die Hintertür verschwinden ließ.« »Diese Möglichkeit besteht natürlich«, gab Mason zu. »Was könnten die Leute aber damit bezweckt haben?« Drake zuckte die Schultern. »Keine Ahnung.« »Hätten sie die Frau einfach umbringen wollen«, fuhr Mason fort, »brauchten sie sie nur zusammenzuschlagen und die Leiche in der Wohnung liegenzulassen. Und sollte jemand vorgehabt haben, Sophia Atwood umzubringen, hätte der Mörder ganze Arbeit geleistet. Wie die Dinge aber liegen, kämpft Sophia Atwood um ihr Leben. Sie ist bewußtlos; sie wurde mit einer Taschenlampe auf den Kopf geschlagen. Warum aber mit einer Taschenlampe? Und warum nur ein Schlag?« -8 5 -
»Weiter«, sagte Drake. »Du hast da offenbar eine Idee.« »Die Taschenlampe wurde als Waffe benutzt, weil sie gerade zur Hand war. Das heißt, jemand hielt sie und durchsuchte den Raum, als Sophia Atwood ihn oder sie dabei schnappte. Der Schnüffler schlug Sophia Atwood mit einem einzigen Schlag bewußtlos und konnte flüchten. Also suchte der Eindringling nicht Sophia Atwood. Er suchte etwas anderes. Wenn jetzt Mrs. Gillman entführt wurde, geschah es, weil jemand zurückkommen und die Wohnung durchsuchen will, ohne dabei Gefahr zu laufen, aufgescheucht zu werden. Das dürfte eine sichere Annahme sein. Also ist e j mand nach etwas auf der Suche, Paul - jemand, der nicht weiß, wo der gesuchte Gegenstand versteckt ist. Ich werde mich für diesen Fall mit allem Nachdruck einsetzen. Heute nacht sollen zwei Leute Mrs. Gillmans Wohnung beschatten. Gib mir Nachricht, wenn jemand ins Haus geht. Sollte irgendwer die Wohnung durchsuchen wollen, muß ich wissen, wer es ist. Ich brauche die Autonummer der Person, und deine Leute müssen sofort telefonisch Verstärkung rufen. Dann will ich die Eindringlinge auf frischer Tat ertappen. Weiter! Sollte heute nacht jemand bei Sophia Atwoods Haus auftauchen - was ich für ziemlich wahrscheinlich halte -, mußt du mich ebenfalls verständigen, wer es ist. Geht die Person hinein, soll dein Detektiv auch in diesem Fall Verstärkung anfordern. Und dann werden wir beide zum Interview hinfahren.« »Das bedeutet vier Leute«, sagte Drake, »ganz abgesehen von der Verstärkung.« »Vier Leute, ganz abgesehen von der Verstärkung«, stimmte Mason zu. Paul Drake feixte. »Es ist dein Bier.«
11 Kurz nach neun Uhr am nächsten Morgen fanden Perry Mason, Paul Drake und Della Street sich im Büro des Anwalts ein. -8 6 -
Mason und Drake zeigten Spuren einer relativ schlaflosen Nacht. »Nun, Paul?« fragte Mason, als der Detektiv sich mit einer Tasse Kaffee niedergelassen hatte, die Della Street ihm aus der Filtermaschine eingoß. Paul Drake schüttelte den Kopf. »Nicht das geringste. Ich habe mich von den Leuten draußen unterrichten lassen.« »Sie sind noch an der Arbeit?« »Nicht die gleichen Leute. Heute morgen um fünf Uhr hat eine neue Schicht übernommen. Sie arbeitet bis heute mittag ein Uhr, sofern du die Zeche noch bezahlen willst.« »Das will ich«, sagte Mason. »Ich begreife bloß nicht, wieso nichts passierte.« Das Telefon läutete. Della Street nahm den Hörer ab und nickte gleich darauf Paul Drake zu. »Für Sie, Paul. Ihr Büro... Es sei wichtig.« Drake setzte seinen Kaffeebecher ab und nahm den Hörer. »Ja, was ist?« Fast eine Minute lang blieb er stumm, sagte dann langsam und nachdenklich: »Das ist ja wohl kaum zu fassen.« Er hörte noch einen Moment zu und gab dann seine Anweisung: »Nein, gar nichts. Die Leute sollen weitermachen.« »Wo?« Er hängte ein und wandte sich an Mason: »Die blinde Frau ist wieder auf ihrem Platz.« »Vor der Gillco Manufacturing Company.« »Dann muß es ›Mrs. Ballenfuß‹ sein. Zur Zeit haben wir’s nur mit der einen Blinden zu tun. Wie hast du das festgestellt, Paul? Deine Leute beschatten doch die Wohnung, nicht wahr?« »Richtig. ›Mrs. Ballenfuß‹ kam am Stock tapsend die Vordertreppe ihrer Wohnung herunter. Ein Taxi fuhr vor, der Fahrer sprang heraus und half ihr in den Wagen. Sie fuhren direkt zur Gillco Manufacturing Company.«
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»Sie kam aus der Vordertür ihrer eigenen Wohnung?« fragte Mason. »Ganz recht.« »Das konnte sie doch nicht«, zweifelte Mason. »Haben deine Leute das Haus denn nicht beobachtet?« »Die ganze Nacht über«, sagte Drake. »Aber es gibt eine Möglichkeit, wie sie’s geschafft haben könnte, unbemerkt wieder hereinzukommen.« »Und die wäre?« »Durch die Hintertür.« »Hattest du nicht einen Mann in die Hintergasse gestellt?« »Doch, erst nachdem wir von dort zurück waren«, erklärte Drake. »Und es besteht für mich gar kein Zweifel, daß diese Blinde zunächst über die Vordertreppe in ihre Wohnung und direkt über die Hintertreppe wieder rausgegangen war. Da ließ sie sich abholen und irgendwo hinfahren. Kurz nachdem wir unsere Suche beendet hatten, kam sie zurück, und zwar bevor mein zweiter Mann in der Hintergasse auf Posten zog. Sie wurde bis an die Hintertür gebracht, ging die Treppe hoch zu ihrer Wohnung und sperrte zu. Sie verbrachte die Nacht in ihrer Wohnung, glaubte alles in bester Ordnung und fuhr heute morgen wieder mit dem Taxi weg. Nur so kann’s gewesen sein, Perry. Und wenn ich dir auch meinen Selbstkostenpreis berechne, muß ich immerhin betonen, daß deine Rechnung wahrhaftig zu dick wird. Deine Mandantin kann das nie bezahlen, und...« »Das erwarte ich auch gar nicht von ihr, Paul«, unterbrach Mason. »Ich tue alles nur aus Neugier. Ich muß einfach wissen, was dahintersteckt.« »Aber du hast zu viele Leute auf die Sache angesetzt. Du willst jeden Winkel beschatten, jedes Loch zustopfen, und...« »Und auf die Art erhalte ich prompte Resultate«, fiel Mason ihm ins Wort. »Wir wollen die Sache nicht in die Länge ziehen. Ich kriege eine dicke Rechnung, weiß die Lösung aber innerhalb von vierundzwanzig Stunden.« -8 8 -
»Ich wünsche mir deinen Optimismus«, entgegnete Drake. »Weil wir jetzt aber wenigstens wissen, wo ›Mrs. Ballenfuß‹ wohnt, brauchst du doch nicht zwei Leute vor der Gillco Manufacturing Company.« »Nein«, stimmte Mason zu. »Ich glaube, da brauchen wir nur noch einen Mann; aber wenn sie in ihre Wohnung geht, sollen zwei Leute sie beschatten. Ich will feststellen, wer sie an der Hintergasse abholt. Sophia Atwood kann es jetzt nicht sein; und falls es jemand ist, der behauptet, er handle im Auftrag von Sophia Atwood, so ein beflissener...« »Du meinst Stuart Baxley?« »An den dachte ich in der Tat.« Drake hielt Della Street seinen Becher hin und ließ ihn randvoll nachfüllen. Mason war in nachdenkliches Schweigen versunken. Plötzlich sagte er: »Ich hab’s, Paul!« »Was?« fragte Drake. Mason lächelte. »Wir beide haben eine Falle ausgelegt.« »Und?« »Und bisher nichts gefangen.« Drake nickte. »Weil wir sie nicht gespickt haben«, fuhr Mason fort. »Wir haben einfach abgewartet, daß was hineinlief, und das hat keinen Sinn.« »Bei dem Tagessatz, den du für Privatdetektive zahlst, hat es allerdings keinen Sinn«, sagte Drake, während er seinen Kaffee schlürfte. »Und was soll der Köder sein, Perry?« Mason nickte zu Della Street hinüber. »Nehmen Sie bitte Ihren Stenogrammblock, Della. Ich möchte Ihnen etwas diktieren.« Della setzte sich an ihren Schreibtisch. »Der Brief geht an Gerald Atwood, Della«, begann Mason, »und zwar an die Adresse in Hollywood. Stellen Sie das Datum seines Todes fest. Der Brief soll vier Tage vor seinem Tod -8 9 -
datiert und an ihn selbst gerichtet sein. Mit ›Sehr geehrter Mr. Atwood‹ fangen Sie an.« Drake setzte seinen Kaffeebecher ab. »Was soll das, Perry?« fragte er. »Ein Brief an einen Toten?« »Ein Brief an einen Toten«, bestätigte Mason. »Kapier’ ich nicht.« »Du wirst es noch kapieren«, sagte Mason und fuhr mit seinem Diktat fort: »Auf Ihre Anfrage, was unter einem gültigen handschriftlichen Testament zu verstehen ist, teile ich Ihnen mit, daß der Bundesstaat Kalifornien ein eigenhändig geschriebenes Testament anerkennt. Das heißt, der gesamte Inhalt, das Datum und die Unterschrift müssen vom Erblasser eigenhändig geschrieben sein. Für ein solches Testament sind keine Zeugen erforderlich. Gewisse Einzelheiten sollten jedoch beachtet werden: Nichts darf anders als in der Handschrift des Testators geschrieben sein. Haben Sie zum Beispiel einen Kopfbriefbogen benutzt, reißen Sie den oberen gedruckten Teil ab. Achten Sie hierbei auch auf das Entfernen eines teilweise vorgedruckten Datums, wie es gelegentlich auf Bankschecks mit den Zahlen ›19..‹ erscheint. Ferner muß in der Testamentsurkunde zum Ausdruck kommen, daß sie Ihren Letzten Willen enthält. Bedenken Sie auf jeden Fall, daß alle früheren Testamente zu widerrufen sind. Erklären Sie, nunmehr über Ihr gesamtes Vermögen verfügen zu wollen. Was die Person angeht, die Sie zu enterben wünschen, so versäumen Sie nicht, sie namentlich aufzuführen. Erklären Sie Ihre Absicht, diese Person von der Erbschaft auszuschließen oder ihr eine nominelle Summe zu hinterlassen, zum Beispiel einen oder hundert Dollar. Unterzeichnen Sie die Urkunde am Schluß, und bedenken Sie nochmals, daß alles eigenhändig zu schreiben ist. Ich hoffe, Ihre Frage hiermit erschöpfend beantwortet zu haben. Mit freundschaftlichen Grüßen, Ihr sehr ergebener... Das wär’s, Della«, schloß Mason. »Tippen Sie das bitte gleich, damit ich’s unterschreiben kann.« -9 0 -
»Mir geht noch immer kein Licht auf«, bemerkte Drake. »Stell dir vor, du suchst etwas«, erläuterte Mason. »Was tust du, wenn du es gefunden hast?« »Ich höre auf zu suchen.« »Dann stell dir vor, irgendwas läßt dich vermuten, daß du’s nicht gefunden hast.« »Dann fange ich von vorn an zu suchen«, sagte Drake. »Okay, Perry, jetzt hat’s geklingelt.« »Falls Bernice Atwood in dem Haus in Palm Springs ein Testament fand - datiert vielleicht vor einem Jahr -, mit dem Sophia Atwood als Alleinerbin eingesetzt wurde«, fuhr Mason fort, »dann hatte sie nichts weiter zu tun, als dieses Dokument dem Kamin zu übergeben und sich von seiner gründlichen Vernichtung zu überzeugen. Anschließend konnte sie sich wie der Hase im Kohl fühlen. Angenommen aber, sie glaubt, daß Gerald ein neues eigenhändiges Testament machen wollte und daß dies wenige Tage vor seinem Tod geschah; daß er darin alle früheren Testamente widerrief, über sein gesamtes Vermögen verfügte und sie selbst ignorierte?« Paul Drake grinste. »Das Ding ist teuflisch in seiner Einfachheit. Und wie willst du ihr diesen Brief zuschanzen, ohne daß sie Verdacht schöpft? Sie weiß bereits, daß dich der Fall interessiert.« »Ich werde eine Golfstunde nehmen«, antwortete Mason lächelnd. »Golfstunde?« Mason nickte. »Du hast Bernice überprüft. Du sagst, der Golfklub verständigte sie, als Gerald tot zusammenbrach. Welcher Klub war das?« »Der Four Palms Country Club«, gab Drake Auskunft. »Rufen Sie dort an, Della«, bat Mason, »und verlangen Sie den Golftrainer.« Della Street stellte die Verbindung her und gab Mason ein Zeichen. -9 1 -
»Hallo«, meldete er sich, »spreche ich mit dem Trainer beim Four Palms Country Club?« »Jawohl«, ertönte eine kraftvolle Männerstimme. »Nevin Cortland ist mein Name. Darf ich fragen, wer dort spricht?« »Ich bin Anwalt in Los Angeles, Mr. Cortland«, umging Mason die Namensnennung, »und hätte gern gewußt, ob Sie auch Nichtmitgliedern des Klubs Golfunterricht geben dürfen.« »O ja, ich darf unterrichten, wen ich will. Wenn Sie hier auf dem Platz spielen wollen, müssen Sie entweder Mitglied sein oder eine Gästekarte haben. Unter normalen Umständen, wenn der Platz nicht überfüllt ist, läßt sich das einrichten. Sie wollen Unterricht nehmen?« »Ich möchte gern heute eine Stunde nehmen«, sagte Mason. »Für morgen habe ich einen Vierer vor, und ich bin völlig aus dem Schlag. Ich habe seit Jahren nicht Golf gespielt, möchte aber morgen keine allzu dürftige Leistung zeigen. Mein einziger Trost ist, daß die anderen auch nicht besser in Form sind. Was ich brauche, ist eine ausreichende Übungsstunde, um ein wenig von meinem früheren Ballgefühl zurückzugewinnen. Ich weiß, daß meine drives nicht länger als höchstens 75 bis 100 Meter sein werden, aber mehr will ich gar nicht.« »Das sollte nicht allzu schwierig sein«, sagte Cortland. »Bitte, wie war der Name?« »Mason. Was haben Sie heute noch frei?« »Ich bin ziemlich besetzt, hätte aber kurz nach vier Uhr Zeit. Allerdings fürchte ich, das wird Ihnen schlecht passen.« »Doch, das ist gut«, sagte Mason. »Notieren Sie mich bitte, ich bin fünf Minuten vor vier Uhr dort. Haben Sie besten Dank. Auf Wiedersehen.« Mason legte auf, bevor der Golfer weitere Fragen stellen konnte. »Das sehe ich mir an«, spottete Drake, »wie du den Golfschläger schwingst und munter über den Platz fegst, um gleich zum nächsten Versuch auszuholen.«
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»Prima werde ich sein«, grinste Mason. »Wetten, daß ich mindestens sechzig Meter schlage und jeden Ball unter fünfund-vierzig Zentimeter einloche?« »Jede Wette dagegen«, sagte Drake lachend. »Und was hast du bei der Sache vor?« »Was passiert, wenn jemand auf einem Golfplatz tot umfällt?« fragte Mason. Paul Drakes Gesicht wurde nachdenklich. »Weiß ich nicht«, gab er schließlich zu. »Ich bin noch nie auf einem Golfplatz tot umgefallen.« »Ich weiß es zwar auch nicht genau«, sagte Mason, »habe aber gewisse Ideen.« »Zum Beispiel?« »Golfspieler kommen angelaufen und wollen dem Mann wieder auf die Beine helfen. Sie schaffen es nicht, tragen ihn aus der Bahn, in den Schatten. Jemand ruft nach einem Arzt. Wahrscheinlich ist ein Arzt irgendwo auf dem Gelände. Die Nachricht wird weitergegeben. Der Arzt kommt, untersucht den Mann und stellt fest: ›Dieser Mann ist tot. Man muß die Angehörigen verständigen und den Leichenbeschauer kommen lassen.‹ Auf dem Golfplatz spielen Leute; sie wollen einen Toten nicht am Rand der Bahn liegenlassen. Man holt eine Bahre und trägt ihn zum Klubhaus. Ein Caddie nimmt des Mannes Golftasche und gibt sie im Klubhaus ab. Die Golftasche mit den Schlägern wird entweder in das Schließfach des Mannes gelegt, falls er eins hat, oder dem Golf-Pro übergeben. Und nachdem die nächsten Angehörigen sowie ein Beerdigungsunternehmer verständigt wurden, nachdem der Leichenbeschauer die Leiche zur Bestattung freigegeben hat, erscheint die sogenannte Witwe und sieht sich das Schließfach an. Wobei sie im besonderen die Jackentaschen untersucht. Nun hat die Witwe aber weder vor, mit einem Satz Herrenschläger Golf zu spielen, noch will sie weiterhin die Miete für das Fach im Klub bezahlen.« »Weiter«, sagte Drake. »Das klingt mir interessant.« »Dachte ich mir«, erwiderte Mason und fuhr fort: »Die Witwe nimmt alle Sachen aus dem Fach. Die Tasche mit den -9 3 -
Schlägern gibt sie dem Golf-Pro und sagt ihm, er soll sie verkaufen. Also wird Gerald Atwoods Golftasche wahrscheinlich mit einem Preisschild im Laden des Golf-Pro im Country Club ruhen, und dem Mann ist eine Provision sicher, wenn er sie verkauft.« »Und wenn ich deinen Blick richtig deute«, sagte Drake, »muß ich mich nach Palm Springs auf den Weg machen.« »Du wirst sogar unverzüglich starten«, bestätigte Mason. »Und du wirst einen Detektiv bei dir haben, der als Caddie auftritt und einen Job sucht.« »Was tun wir, wenn wir da sind?« erkundigte sich Drake. »Ihr schmuggelt diesen Brief in Gerald Atwoods Golfschlägertasche. Wir knicken ihn so, daß es aussieht, als hätte Atwood ihn gerade erhalten, bevor er auf den Platz ging. Er hat den Umschlag weggeworfen, den Briefbogen wieder zusammengefaltet und ihn tief in die Seitentasche gestopft, wo der Golfer seine Bälle aufbewahrt.« »Na, ich weiß nicht«, zweifelte Drake. »Damit wirst du kaum was werden, Perry. Diesen Brief jetzt noch auftauchen zu lassen, ohne daß Bernice Atwood merkt, daß er nachträglich eingeschmuggelt wurde - das ist einfach nicht zu machen.« »Wetten?« fragte Mason. Ein paar Sekunden zögerte Drake, bis er sich zur Antwort entschloß: »Nein, lieber nicht.«
12 Pünktlich um fünf Minuten vor vier Uhr fand Mason sich beim Four Palms Country Club ein, dessen reizvolles Gelände durch ein langes Tal führte. Vereinzelte weiße Luxusvillen, an die Hänge der schattenspendenden Berge gelehnt, säumten es zu beiden Seiten. »Meine Schläger habe ich nicht mitgebracht«, sagte Mason, nachdem er sich dem Golf-Pro vorgestellt hatte. »Ich habe seit langer Zeit nicht mehr gespielt und weiß im Moment gar nicht, wo sie sind. Ich konnte sie einfach nicht finden.« -9 4 -
»Die Hölzer sind wahrscheinlich ohnehin ausgetrocknet«, erwiderte Nevin Cortland, der Golf-Pro, während seine klugen grauen Augen Mason prüfend musterten. »Schon möglich.« »Sie sollten mehr spielen«, empfahl Cortland, »Sie brauchen Training.« »Ich habe auch die Absicht«, sagte Mason. Cortland war mittelgroß, drahtig, sonnengebräunt. »Nun, wir werden Sie schon in Form bringen, Mr. Mason«, versprach er. »Sie haben morgen einen Vierer vor?« Mason lachte. »Die ganze Sache ist eine Art Jux«, erklärte er. »Ich unterhielt mich mit ein paar Leuten, die auch lange nicht mehr gespielt hatten, und im Handumdrehen war ein Vierer beschlossen, mit allen möglichen verrückten Preisen für jedes Loch. Natürlich möchte ich nicht als Niete auffallen.« »Wie häufig haben Sie denn früher gespielt?« »Nicht sehr viel«, gestand Mason. »Ich war beruflich immer zu stark eingespannt.« »Jetzt erkenne ich Sie auch nach Ihren Fotos«, sagte Cortland. »Sie sind recht oft in den Zeitungen zu sehen, Mr. Mason.« Mason lächelte. »Ich hatte ein paar sensationelle Prozesse.« »Dann könnten wir jetzt zur Übungswiese gehen und uns Ihren Schlag ansehen«, meinte Cortland. »Ich werde mir wohl einen Satz Schläger kaufen müssen; denn ich glaube kaum, daß ich mir die Mühe mache, nach meinen alten weiterzusuchen. Und selbst wenn ich sie fände ihr Zustand dürfte ziemlich kläglich sein.« »Das können wir arrangieren«, freute sich Cortland. »Ich verkaufe immer gern neue Schläger, da lasse ich mich gar nicht lange bitten. Also, Sie sind groß und haben kräftige Handgelenke. Schauen wir mal nach.« Cortland suchte von einem Ständer mehrere Schläger aus, dazu ein Eisen Fünf. -9 5 -
»In Wirklichkeit, Mr. Mason«, sagte er, »werden die Spiele fünfzig bis hundert Meter vom Loch gewonnen oder verloren. Ich nehme aber an, Sie sind mehr interessiert an Ihren drives.« »Ein langer Schlag wird meine Gegner demoralisieren«, gab Mason zu, »und ich wüßte nicht, was mir mehr Spaß machen würde als das.« »Ich verstehe«, sagte Cortland und ging voran zur Übungswiese. »Jetzt zeigen Sie mir bitte ein paar Schwünge, Mr. Mason.« Gehorsam schwang Mason den Schläger. »Versuchen Sie, den linken Arm beim Rückschwung ein wenig gerader zu halten. Knicken Sie das Handgelenk nicht so schnell ab. Verlagern Sie das Gewicht beim Durchschwung, aber nie vorher. So, nun versuchen wir mal den Ball zu treffen.« Mason holte aus und traf den Ball. »Nicht schlecht«, lobte Cortland. »Versuchen wir’s noch weiter. Dieser Schwung muß Ihnen zur Gewohnheit werden.« Etwa zwanzig Minuten übte der Trainer mit Mason. »Sie machen hübsche Fortschritte, Mr. Mason«, sagte er dann. »Ich denke, Sie werden morgen gut abschneiden. Was halten Sie davon, wenn wir jetzt das kurze Spiel ein bißchen üben?« »Aber sicher«, stimmte Mason zu. Sie gingen zur kleinen Übungswiese, wo Mason noch weitere zwanzig Minuten zugab. »Das dürfte für heute reichen«, sagte Cortland. »Und wie sieht’s nun aus mit Schlägern?« fragte Mason. »Oh, natürlich. Darauf wollte ich sowieso zurückkommen. Ich habe einen sehr schönen Satz, den ich Ihnen zurechtmachen kann.« »Hätten Sie auch einen Satz, der schon komplett und zu verkaufen ist - vielleicht gebraucht?« »Ja, mehrere«, sagte Cortland. »Aber ich würde Sie lieber mit ein paar neuen Schlägern ausrüsten, die sich speziell für Ihre Größe und Statur eignen, Mr. Mason.« -9 6 -
Sie gingen zum Laden des Golf-Pro, wo Cortland eine Tasche aussuchte und vom Schlägerbord ein Holz wählte. »So, ich glaube, da haben wir schon so ziemlich, was Sie brauchen.« Mason betrachtete indessen das halbe Dutzend wohlgefüllter Golftaschen an der Wand. »Was ist mit denen dort?« fragte er. »Einige davon überarbeite ich noch«, gab Cortland Auskunft, »und ein paar sind zu verkaufen.« »Warum zu verkaufen?« »Nun, einmal zum Beispiel hatte der Eigentümer einen Herzanfall und mußte das Spielen aufgeben. Er hätte noch Jahre spielen können, wäre er meinem Rat gefolgt. Aber weil er schwer war, wollte er schnell abnehmen. Er spielte zu hart und zu lange, erschöpfte sich restlos. Jetzt mußte er endgültig Schluß machen.« »Und diese hübsche Fohlenledertasche da?« forschte Mason. »Die gehörte einem Mann, der auf dem Platz tot umfiel. Es war ein heißer Tag. Der Mann war überanstrengt, hatte unter starkem Druck gearbeitet. Und er ging morgens zu einem Vierer los, schaffte achtzehn Löcher, hörte auf und machte Pause im Klubhaus. Dann spielte er unvernünftigerweise neun weitere Löcher. Es ging dabei um irgendeine Wette, damit der Verlierer seine Ausgleichschance bekam. Ja, das Golfspiel wird für vieles verantwortlich gemacht, Mr. Mason, was in Wirklichkeit auf Gedankenlosigkeit und krasse Unvernunft zurückgeht.« »Wie war’s, wenn ich diese Schlägertasche kaufte?« schlug Mason vor. Cortland schüttelte den Kopf. »Da sind eine Menge Schläger drin, die Sie gar nicht gebrauchen können und auch nicht nötig haben, Mr. Mason. Sie brauchen zwei Hölzer, vier Eisen und einen Putter. Mehr Schläger würden Sie nur verwirren und vom Spiel abbringen.«
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Mason starrte unverwandt die Golftasche an der Wand an. »Wie lange haben Sie die schon?« fragte er. »Noch nicht sehr lange. Es hat sich kürzlich schon mal jemand dafür interessiert. Sie kostet aber etwas mehr, als er anlegen wollte.« »Sie ist also zu verkaufen?« »Ja, aber ich habe zur Zeit noch keinen endgültigen Preis. Die Witwe bat mich, erst mal festzustellen, was ich dafür kriegen kann.« »Was ist die Tasche Ihrer Ansicht nach wert?« Cortland betrachtete Mason nachdenklich. »Warum wollen Sie sie denn, Mr. Mason?« fragte er schließlich. »Wenn ich mit dieser Tasche auf dem Platz aufkreuzte, würde ich meine Leute ungemein beeindrucken.« »Zunächst beeindrucken, ja«, sagte Cortland, »aber ich möchte, daß Sie Ihr Spiel gewinnen - oder sich wenigstens von Ihrer besten Seite zeigen.« »Na ja, das ist wohl richtig«, gab Mason zu. »Also gut, ich überlasse es wohl besser Ihnen, mir die Schläger auszusuchen. Aber diese Tasche dort interessiert mich trotzdem. Wie hoch wäre denn der Preis in etwa?« »So wie die Ausrüstung da ist«, sagte Cortland, »sollte die Witwe wohl hundertfünfundsiebzig Dollar dafür haben.« »Ich will Ihnen was sagen«, entgegnete Mason, »ich biete Ihnen hundertfünfundvierzig Dollar, aber Sie müssen mir vertrauen, bis ich in meinem Büro den Scheck ausstellen kann.« »Ich bin nicht berechtigt, irgendein Angebot zu akzeptieren«, wandte Cortland ein. »Aber warten Sie - probieren Sie doch mal diesen Putter hier. Nehmen Sie den Ball, gehen Sie auf ein Putting Green, und versuchen Sie ein paar Schläge damit. Sehen Sie zu, ob Sie das richtige Gefühl damit kriegen. Noch eins, Mr. Mason, Sie werden noch besser, wenn Sie recht gut hinter dem Ball bleiben. Verlagern Sie Ihr Gewicht noch ein klein wenig von der linken auf die rechte Hüfte, und machen Sie -9 8 -
einen ruhigen, gleichmäßigen Schlag. Ziehen Sie den Schläger gut durch. Dieser hier ist so ausgewogen, daß er sicher zu Ihnen paßt.« Mason bedankte sich, nahm Ball und Schläger und ging zum Übungsgrün. Nach fünf Minuten kehrte er zurück. »Ich glaube, der ist richtig«, sagte er. »Diesen Putter kann ich sicher gut gebrauchen.« »Das dachte ich mir.« »Und wie steht’s mit der Tasche?« fragte Mason. Cortland lächelte. »Ich habe die Witwe angerufen. Sie lehnt das Angebot ab.« »Aber ich hätte diese Schläger gern«, beharrte Mason. »Ich biete mehr. Welchen Preis hat sie genannt?« Cortland schüttelte den Kopf. »Sie hat sich entschlossen, die Schläger nicht zu verkaufen. Sie will sie als Andenken an ihren verstorbenen Mann behalten. Er hat sie immer in seinem Zimmer gehabt, und sie sagt, jetzt sähe der Raum so leer und verlassen aus. Sie bat mich, ihr die Schläger heute abend auf dem Heimweg vorbeizubringen, und ich hab’s ihr versprochen.« Mason seufzte. »Na, dann ist das wohl erledigt. Aber ich hätte die Schläger wirklich gern gehabt.« »Sie hatten sie ja noch nicht mal in der Hand«, sagte Cortland. »Gewiß«, gab Mason zu, »aber irgendwas reizt mich daran irgendwas an der Tasche.« »Es ist schon eine hübsche Ausrüstung«, meinte Cortland und fuhr dann fort, Schläger für Mason auszusuchen. »Ich bin leider ohne mein Scheckbuch losgezogen«, bemerkte Mason. »Das macht nichts, wir haben hier genug Blankoschecks. Wenn Sie uns einen ausfüllen, geht die Sache in Ordnung.« »Besten Dank«, sagte Mason. »Ich will jetzt noch etwas üben.«
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»Das ist genau das Richtige«, erwiderte Cortland, »aber übertreiben Sie’s nicht.« Mason füllte einen Scheck aus, trug seine neuen Golfschläger zum Wagen, stieg ein und fuhr in Richtung Palm Springs ab. An der Autobahnkreuzung machte sich Paul Drake, der in seinem Auto wartete, durch zweimaliges Hupen bemerkbar. Mason hielt. »Wie war dein Golfspiel?« fragte Drake. »Grausam«, antwortete Mason. »Ich knarre in sämtlichen Gelenken. Zuviel Gerichtssaal, zuwenig Übung. Hast du den Brief in die Golftasche gefingert?« »Habe ich, und es klappte großartig. Ich konnte den Manager ablenken, und währenddessen inspizierte mein junger Mann, der ein ausgesprochener Golffan ist, den gesamten Laden.« »Hatte er keine Schwierigkeiten, die richtige Tasche zu finden?« fragte Mason. »Nicht die geringsten. Gerald Atwood hat seinen Namen oben in die Tasche eingestanzt. Und was hast du ausgerichtet?« »Ich habe den Verdacht der Witwe erregt«, sagte Mason, »und es hoffentlich kunstvoll genug angefangen, um sie den Schmuggel nicht wittern zu lassen. Sie ist jetzt sicher, daß ich mir den weiten Weg nur machte, um ihres Mannes Golftasche zu kaufen.« Drake kicherte. »Damit wäre die Falle gespickt«, sagte Mason. »Und wir können ein paar Detektive abrufen?« »Wir rufen sie alle ab«, bestimmte Mason. »Die blinde Frau haben wir aufgestöbert, das ist erledigt. Und ich will heute abend keine Detektive in der Nähe des Hollywood-Hauses haben, denn dadurch könnte unser Unternehmen platzen.« »Du meinst, wir wollen selbst Wache stehen?«
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Mason schüttelte den Kopf. »Nicht Wache stehen. Wir werden die Nacht in dem Haus zubringen, Paul.« »Also, Moment«, protestierte Drake, »das kannst du nicht machen.« »Warum nicht?« »Dazu haben wir kein Recht. Wir...« »Sei nicht albern, Paul«, unterbracht Mason. »Wir vertreten Katherine Ellis. Sie besitzt einen Schlüssel zur Eingangstür, sie hat dort ein Zimmer. Ihre Sachen sind noch in dem Zimmer, und Mrs. Atwood versicherte mir, Miss Ellis oder ihre Bevollmächtigten könnten jederzeit kommen und sie abholen.« »Sachen aus dem Zimmer holen, jawohl«, betonte Drake, »aber das ist was anderes, als die ganze Nacht drin zu bleiben.« Mason lächelte beruhigend. »Wahrscheinlich brauchen wir nur bis kurz nach Mitternacht zu warten, Paul.« »Ich habe die letzte Nacht kaum geschlafen«, maulte Drake. »Ich auch nicht. Vielleicht können wir uns heute nacht abwechseln.« »Kommen wir denn ohne weiteres hinein?« »Natürlich«, sagte Mason. »Ich habe Katherine Ellis’ Schlüssel. Die Polizei hat das Haus freigegeben, und...« »Und wenn die Polizei selbst eine Falle ausgelegt hat?« fragte Drake. »Dann haben wir ihr den Köder geliefert.«
13 Es war schon völlig dunkel, als Perry Mason und Paul Drake zwei Blocks von dem altmodischen Zweieinhalb-Etagen-Haus entfernt parkten und ruhigen Schrittes die Straße hinuntergingen. »Und jetzt«, sagte Mason, der den Hausschlüssel schon in der Hand hielt, »kommt es darauf an, daß wir mit der größten Selbstverständlichkeit direkt auf die vordere Eingangstür -1 0 1 -
zugehen. Wir schließen auf, gehen sofort durch die Halle und dann rechts die Haupttreppe hinauf zum ersten Stock; dort wieder rechts - Katherine Ellis’ Zimmer liegt zur Straße hin. Wir müssen uns auf eine längere Wartezeit darin vorbereiten.« »Vielleicht wird sie gar nicht mal so lang«, erwiderte Drake. »Mein Mitarbeiter berichtete mir, daß Bernice Atwood zum Four Palms Country Club losraste und eiligst die Golftasche abholte. Ich wette haushoch, sobald sie zurück war, hat sie die Tasche von oben bis unten durchwühlt.« »Und es wird ihr ziemlich schnell klarwerden, daß sie sofort Maßnahmen ergreifen muß«, folgerte Mason. »Wir gehen davon aus, daß sie in dem Haus in Palm Springs ein Testament fand, in dem Sophia alles hinterlassen wurde. Das hat sie vernichtet. Jetzt muß sie mit einem späteren holographischen Testament rechnen, das irgendwo in diesem Haus hier steckt.« »Also schnappen wir sie bei der Suche«, sagte Drake. »Und was beweist das?« »Das beweist noch gar nichts, aber es ist ein Umstand, der zum Beweis führen kann. Du mußt bedenken, Paul, daß meine Aufgabe nicht darin besteht, aus Gerald Atwoods Nachlaß einen Anteil für Sophia herauszuholen, sondern Katherine Ellis von der Anklage wegen versuchten Mordes freizubekommen. Ich will beweisen, daß andere Leute an der Durchsuchung dieses Hauses interessiert waren, und falls sie bei ihrer Suche auf eine Hutschachtel voll Geld stießen, sich dieses höchstwahrscheinlich angeeignet haben.« »Das beweist noch nicht, daß Katherine Ellis nicht später zurückkam und Tante Sophia bewußtlos schlug«, wandte Drake ein. Mason kicherte. »Du wirst dich wundern, wozu manche dieser Indizien sich entwickelt haben, wenn es schließlich zur Verhandlung kommt... So, Paul, wir sind da; gleich zum Aufgang und dann die Treppe hoch, mit aller Dreistigkeit.« »Wir sollten Licht machen, wenn wir drin sind«, meinte Drake. »Wer uns reingehen sieht, ohne daß hinterher Licht brennt...« -1 0 2 -
»Nein«, unterbrach Mason. »Wenn wir von jemandem gesehen werden, der das Haus tatsächlich beobachtet, sitzen wir schon nach fünf Minuten in der Tinte.« Mason steckte den Schlüssel ins Schloß, ließ den Riegel zurückspringen und hielt die Tür auf. »Komm, Paul.« Das Haus war verschlossen gehalten worden. Ein schaler Geruch schlug ihnen entgegen. »Mir scheint, von Lüftung hat Tante Sophia nicht viel gehalten«, stellte Drake fest. »Bis wir zu Katherines Zimmer kommen, kannst du noch reden, Paul«, sagte Mason. »Ab dann sind wir mucksmäuschenstill und sitzen ohne Unterhaltung, ohne Licht, ohne Rauchen.« »Du grüne Neune«, schimpfte Drake, »davon hast du mir vorher keinen Ton gesagt!« »Das hättest du dir denken können. Nichts alarmiert einen Eindringling mehr als frischer Zigarettenrauch.« »O Himmel«, stöhnte Drake. »Dann muß ich Fingernägel kauen. Du brauchst mich hier doch wirklich nicht, Perry.« »Ich brauche dich verflixt dringend«, sage Mason, »und zwar als Zeugen und zur Verstärkung. Du besitzt ja einen Waffenschein. Hast du die Kanone bei dir?« »Natürlich«, antwortete Drake. »Aber kann ich nicht wenigstens in der Toilette rauchen?« »Rauchen scheidet aus«, bestimmte Mason. »Vielleicht brauchen wir gar nicht lange zu warten.« »Vielleicht«, sagte Drake düster, »hat auch der beflissene Nachbar, der Katherine Ellis im Taxi ankommen sah, uns ebenfalls reingehen sehen und ruft jetzt die Polizei. Dann brauchen wir überhaupt nicht zu warten und können unsere Geschichte dem Wachtmeister zu Protokoll geben.« »Der Polizei gehen wir nicht auf den Leim«, entgegnete Mason. »Wir sind hier, um das persönliche Eigentum meiner Mandantin zu überprüfen. Wir hatten die Erlaubnis von Sophia -1 0 3 -
Atwood, das Haus zu betreten, und die Zustimmung meiner Mandantin zur Durchsuchung ihrer Sachen.« »Im Dunkeln?« »Genau«, grinste Mason. »Aber daß es im Dunkeln war, kann niemand behaupten, bevor er selbst drin ist. Sei jetzt vorsichtig auf der Treppe, Paul.« Mason ging die Stufen voran, die in einer halben Kehre verliefen. Die Treppe knarrte vernehmlich unter dem Gewicht der beiden Männer. Oben angekommen, tasteten sie sich zur Tür von Katherine Ellis’ Zimmer und traten ein. Das Licht der Straßenbeleuchtung genügte zur Orientierung. Mason streckte sich auf dem Bett aus, Drake nahm einen Polsterstuhl. »Wenn wir hier nicht einschlafen wollen, müssen wir beide scharf aufpassen«, meinte Drake. »Pst«, warnte Mason. »Wir brauchen uns nicht anzuschweigen. So wie diese Treppe da eben gequietscht hat, hören wir jeden, der heraufkommt - lange bevor er uns hören kann.« »Es gibt hier im Haus irgendwo eine Hintertreppe«, sagte Mason. »Vielleicht quietscht die nicht. Und tut sie es, können wir’s möglicherweise nicht hören. Also sei still.« »Das halte ich nicht aus«, klagte Drake. »Wenn ich schlafen kann, geht’s natürlich besser.« »Dann schlaf und hör auf zu reden.« Einige Minuten verharrten sie reglos in der Stille des Schlafzimmers. Dann knarrten leise die Sprungfedern der Bettstelle, als Mason sein Gewicht verlagerte und sich ein paar Kissen unter die Schultern schob. Fast geräuschlos veränderte auch Drake seine Haltung auf dem Polsterstuhl. Von der Durchgangsstraße, wenige Häuserblocks entfernt, drangen schwache Verkehrsgeräusche hinauf. Mit der -1 0 4 -
abnehmenden Temperatur begann es im Haus leise zu knarren. Paul Drake seufzte tief. Minutenlang herrschte Stille, dann verriet sein rhythmisches Atmen, daß er eingeschlafen war. Mason, der sich bemühte, seine Lage beizubehalten, kämpfte gegen die aufkommende Schläfrigkeit. Die zum Korridor führende Tür von Katherine Ellis’ Zimmer stand weit offen, so daß den beiden Männern der geringste Lichtschimmer auffallen mußte, falls jemand eine Taschenlampe benutzte. Eine Stunde verging. Drakes Atemzüge wurden tiefer, gingen in leichtes Schnarchen über. Behutsam richtete Mason sich vom Bett auf und tippte Drake an. Der Detektiv erwachte ruckartig. »Hm?« machte er. »Scht!« Wieder herrschte Schweigen. Plötzlich ließ sich irgendwo im zweiten Stock ein sonderbares Rutschen vernehmen, eine fast rhythmische Folge gleichartiger Geräusche. Mason erhob sich leise vom Bett und kniff Paul Drake. Mit einem festen Druck auf Masons Schulter gab der Detektiv zu erkennen, daß er hellwach war und gehorcht hatte. Konzentriert lauschend, standen beide sprungbereit. Im nächsten Augenblick ertönte lautes Krachen von zersplitterndem Glas, gefolgt von einer fluchenden Männerstimme. Gleichzeitig schoß ein Lichtstrahl über den Korridor, wuchtige Laufschritte näherten sich der Vordertreppe. »Los, Paul«, befahl Mason und stürzte hinaus auf den kleinen Gang, der oben an der Treppe entlangführte und in den Hauptflur mündete. Sein gezielter Fußballtritt warf den flüchtenden Mann, dessen Rechte eine Taschenlampe umklammerte, krachend zu Boden. -1 0 5 -
Der Mann wand sich unter Masons Griff und versuchte, seinem Gegner die Taschenlampe auf den Kopf zu schlagen. Mason packte das Handgelenk des Mannes und schleuderte ihn an seinem Arm zu Boden. »Still«, kommandierte er, »oder ich drücke Ihnen die Luft ab. Paul, sieh zu, ob du den Lichtschalter findest.« »Ich suche schon«, sagte Drake. »Nimm die Taschenlampe hier, dann hast du ihn sofort.« »Hier ist er.« Drake schaltete das Licht ein. Mason lockerte den Griff und betrachtete den Mann am Boden. »Kaum zu glauben«, staunte er, »da haben wir ja Stuart Baxley, den Freund der Familie.« Baxley keuchte mit haßverzerrtem Gesicht: »Sie Schleicher, Sie schnüffelnder, hinterhältiger...« Mason pflanzte ihm den Ellbogen ins Zwerchfell, worauf der Satz abrupt abbrach. Auf ein Knie gestützt, begann der Anwalt, Baxley abzutasten, bis er den Brocken in der Hüfttasche spürte. Er zog einen Revolver heraus und ließ ihn über den Fußboden in Paul Drakes Richtung schlittern. »Den wollen wir lieber als Andenken behalten, Paul.« »Überzeuge dich besser, ob er nicht noch mehr davon hat«, riet Drake. »Manchmal stecken sie noch einen kleinen Derringer ein...« »Er ist jetzt sauber«, sagte Mason. »Los, Baxley, stehen Sie auf.« Baxley stöhnte, wälzte sich herum und stützte sich auf Hände und Knie. Mit dem Blick eines gefangenen Tieres richtete er sich langsam auf. »Versuchen Sie’s nicht«, warnte Mason. »Es gibt nichts, was Sie vor einem Haftbefehl wegen Einbruchs bewahrt.« »Und Sie?« fragte Baxley höhnisch grinsend.
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»Wir befinden uns zu einem legitimen Zweck im Haus«, erklärte Mason ihm, »und wir betraten es mit einem Schlüssel. Wie steht’s mit Ihnen?« »Keine Auskunft«, antwortete Baxley. »Was haben Sie denn da umgeschmissen?« forschte Mason. Sie... Nanu, da ist ja Wasser. Sieh doch mal nach, Paul.« Drake öffnete eine Tür im Korridor. »Ich schätze, dies ist Sophia Atwoods Schlafzimmer«, sagte er. »Da stand ein Wasserkühler, der umgestoßen wurde, und die große Wasserflasche ist zerkracht.« »Also«, entschied Mason, »wir werden jetzt die Polizei verständigen, damit sie...« »Moment mal«, fuhr Baxley dazwischen, »wir brauchen hier keine Polizei.« »Wieso nicht?« »Ich wollte mir nur ein paar Unterlagen beschaffen.« »Beweise zur Verurteilung von Katherine Ellis?« fragte Mason. »Kann sein; oder auch zu ihrer Entlastung.« »Seit wann sind Sie schon hier?« »Noch nicht sehr lange.« »Wie kamen Sie herein?« Baxley wollte etwas sagen, besann sich aber anders. »Mal langsam. Sind wir uns nun einig oder nicht?« fragte er. »Bisher keineswegs«, verneinte Mason. »Reden Sie weiter.« Baxley kniff plötzlich den Mund zusammen. »Ich rede kein Wort mehr; nicht bevor wir eine Abmachung haben und endgültig klar ist, was wir darunter verstehen wollen.« »Sieh dich nach einem Telefon um, Paul«, forderte Mason den Detektiv auf. »Ruf die Polizei an. Wir schalten am besten gleich das Morddezernat ein, denn dort wird Katherine Ellis’ Fall bearbeitet.«
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Drake schritt suchend durch den Flur, ging dann mit der Stuart Baxley abgenommenen Taschenlampe die knarrende Treppe hinunter und knipste im unteren Stockwerk das Licht an. Baxley spähte nach einer Fluchtmöglichkeit. »Es wird Ihnen nichts einbringen, wenn Sie Ihr Heil in der Flucht suchen«, sagte Mason. »Zu Ihrer Information - ich würde nicht auf Sie schießen, jedenfalls nicht auf Grund dessen, was bisher gegen Sie vorliegt. Wenn ich aber der Polizei bei ihrem Eintreffen berichte, daß wir Sie hier fanden, wird man einen Steckbrief mit allen Einzelheiten erlassen und Sie festnehmen. Außerdem wird Flucht in diesem Staat als ein Beweis für Schuld gewertet. Sie sitzen also in der Falle und sollten sich das auch klarmachen.« Baxley setzte zum Sprechen an, hielt sich dann aber zurück. Vom unteren Flur hörte man Drake mit der Polizei sprechen. Dann legte er den Hörer auf und rief zu Mason hinauf: »Soll ich die Verandalampen einschalten, damit die Beamten sich zurechtfinden?« »Natürlich«, antwortete Mason. Er wandte sich wieder Baxley zu: »Wenn Sie uns sagen, was Sie hier suchen, kann das zur Klärung der Atmosphäre beitragen und möglicherweise die Grundlage für eine gewisse Zusammenarbeit schaffen.« »Was haben Sie denn gesucht?« konterte Baxley. »Sie.« »Nein, das stimmt nicht«, sagte Baxley. »Sie sind hier auf Socken herumgeschlichen. Was wollten Sie...« Baxley brach unvermittelt ab. Seine Augen wurden schmal. »Zum Teufel, Sie sind gar nicht herumgeschlichen, Sie...« »Ja?« ermunterte Mason ihn. »Was taten wir?« »Ich sage nichts mehr.« Minutenlang herrschte spannungsgeladenes Schweigen, dann schallte wuchtiges Hämmern vom Eingang herauf. Stimmen wurden laut, als Drake öffnete. Schritte näherten sich. -1 0 8 -
»Da haben Sie Ihren Willen«, sagte Stuart Baxley zu Mason. »Jetzt schmort das Fett in der Pfanne.« Mason schwieg und konzentrierte sich mit halbgeschlossenen Augen auf seine Überlegungen. Schritte hallten durch den Flur, Drake erschien mit zwei Polizeibeamten. »Was geht hier vor?« fragte einer. »Wir haben einen Eindringling«, informierte Mason ihn. »Dies ist das Haus Atwood?« »Das ist es«, antwortete Mason. »Sophia Atwood wurde von ihrer Nichte überfallen und liegt zur Zeit ohne Bewußtsein im Krankenhaus?« vergewisserte sich der Beamte. »Das stimmt bis auf die Tatsache, daß sie nicht von ihrer Nichte, sondern von einem Eindringling überfallen wurde«, berichtigte Mason. »Und«, fuhr er nach einer vielsagenden Pause fort, »wir haben soeben einen Eindringling gefaßt.« Baxley fuhr herum zu Mason. »Sie verdammter... Das können Sie mir nicht anhängen!« »Was nicht anhängen?« fragte Mason. »Den Überfall.« »Nichts dergleichen habe ich Ihnen angehängt«, entgegnete Mason. »Ich habe Sie lediglich als Eindringling bezeichnet.« »Und was sind Sie?« fragte Baxley. »Wollen Sie ihn verhören?« wandte Mason sich an die Beamten. »Oder soll ich es tun?« »Na, Sie gefallen mir«, grinste der Polizist. »Dann wollen wir mal. Sie sind also Perry Mason, der Anwalt?« »Richtig.« »Und dieser Mann hier?« Der Beamte deutete auf Drake. Auf diese Frage vorbereitet, zog Paul Drake eine Lederhülle aus der Tasche und zeigte seine Papiere.
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»Privatdetektiv in meinen Diensten«, bemerkte Mason erklärend. Der Beamte wandte sich Baxley zu. »Mein Name ist Baxley. Ich bin ein Freund der Familie dieses Hauses.« »Seit wann?« schaltete Mason sich ein. »Geht Sie nichts an.« »Was tun Sie hier?« fragte der Beamte. »Ich habe nach Beweisen gesucht.« »Wofür?« »Für einen Einbrecher.« »Wie kamen Sie herein?« »Durch die Hintertür. Sie hat ein Schnappschloß, das man mit einem Stück Zelluloid öffnen kann, falls Sie wissen, wie.« »Allerdings wissen wir das«, sagte der Beamte, »aber Sie sollten es nicht wissen.« »Zufällig weiß ich es aber doch.« Der Beamte wandte sich an Mason. »Und was machten Sie hier?« »Ich vertrete Katherine Ellis als Anwalt.« »Wurde sie nicht wegen versuchten Mordes verhaftet?« »So ist es.« »Also gut, ich frage nochmals: Was machen Sie hier?« »Ich hielt mich in Miss Ellis’ Zimmer auf, weil ich damit rechnen mußte, daß jemand ins Haus eindringen würde.« »Wie kamen Sie auf die Idee?« »Ich glaubte, jemand könnte einen Grund haben, hier einzudringen.« »Welchen zum Beispiel?« fragte der Beamte. Mason begegnete seinem Blick. »Katherine Ellis’ Fall beruht auf Indizienbeweisen und steht bisher auf recht schwachen
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Füßen. Ich dachte, vielleicht würde jemand versuchen, ein bißchen Beweismaterial einzuschmuggeln.« »Zum Beispiel?« »Das weiß ich nicht. Miss Ellis war beschuldigt worden, einen Hundertdollarschein gestohlen zu haben, und sie hat beste Aussichten in einem Verleumdungsprozeß gegen diesen Mann hier, Baxley. Woher soll ich wissen, daß er nicht die Absicht hatte, Beweise einzuschmuggeln, die Miss Ellis belasten würden?« »Das«, rief Stuart Baxley, »ist ja wohl die lächerlichste...« »Und er hatte einen Revolver bei sich«, unterbrach Mason. »Ob er einen Waffenschein besitzt, weiß ich nicht.« »Wo ist der Revolver?« fragte der Beamte. »Mr. Drake hat ihn an sich genommen.« »Haben Sie einen Waffenschein für diesen Revolver?« wandte sich der Beamte an Baxley. »Nein. Ich trage ihn nicht in der Öffentlichkeit. Nur hier im Haus meiner Bekannten trug ich ihn. Ich bin berechtigt, das Heim von Freunden zu schützen.« »Wie schafften Sie die Waffe her?« »Keine Auskunft«, sagte Baxley. »Wenn Sie beweisen wollen, daß ich den Revolver heimlich bei mir trug, als ich herkam, können Sie das getrost versuchen.« »Sie scheinen mir ziemlich unverfroren«, stellte der Beamte fest, »wenn man bedenkt, in welcher Lage Sie sich befinden.« »Ich befinde mich in gar keiner Lage«, gab Baxley zurück. »Und Sie sollten sich vorsehen, sonst stehen Sie demnächst selbst vor einer Lage. Dieser Anwalt hier ist bekannt für seine ungewöhnlichen Methoden. Sie glauben ihm einfach aufs Wort, daß er in Katherine Ellis’ Zimmer saß. Dabei hatte er überhaupt kein Recht dazu. Und wie können Sie wissen, daß er nicht durchs Haus schlich, um Beweise zur Entlastung seiner Mandantin einzuschleusen? Das ist eher seine Methode.« Der Beamte blickte Mason prüfend an. -1 1 1 -
»Sophia Atwood«, erklärte Mason mit entwaffnendem Lächeln, »hat mir gesagt, daß Katherine Ellis ihre restlichen Sachen jederzeit holen könne. Es war Miss Ellis’ Zimmer, in dem wir warteten. Wir betraten das Haus mit einem Schlüssel, den Miss Ellis uns gegeben hat.« »Wann gab sie Ihnen den Schlüssel?« »Bevor sie verhaftet wurde.« »In Ordnung«, sagte der Beamte. »Wir fahren jetzt alle zum Polizeipräsidium. Das Haus hier werden wir versiegeln. Ich nehme an, Leutnant Tragg vom Morddezernat wird eine Wache aufstellen wollen. Fred, Sie machen Meldung. Sehen Sie zu, daß Sie Leutnant Tragg persönlich sprechen können. Ich weiß, es wird ihn interessieren, daß Mason hier draußen ist.« Stuart Baxley grinste. Der verantwortliche Beamte zögerte einen Augenblick und befahl dann: »Nehmen Sie alle drei mit in den Streifenwagen. Ich werde mich hier noch umsehen, ob es Anzeichen gibt, daß irgendwas frisiert wurde.« »Tun Sie das«, sagte Stuart Baxley, »und Sie werden feststellen, daß der Anwalt aus bestimmten Gründen hier war. Sehen Sie mal in dem Wandschrank nach, aus dem das Geld gestohlen wurde: ein Hundertdollarschein aus einer Hutschachtel. Wer weiß, ob Sie nicht entdecken, daß dieser Mann irgendwo hinten in den Schrank einen Hunderter eingeschmuggelt hat; wobei er dann behaupten wird, der Schein wäre aus der Hutschachtel geflattert, nachdem eine Maus sie runtergeschmissen hat. Genau das ist seine Methode.« »Damit hat er die Katze aus dem Sack gelassen, Inspektor«, feixte Mason. »Jetzt brauchen Sie diesen Mann nur noch auf den Hunderter zu durchsuchen, den er in Katherine Ellis’ Zimmer unterbringen wollte.« Baxley fuhr einen Schritt zurück. »Sie können mich nicht filzen«, protestierte er. »Sie haben keinen Durchsuchungsbefehl.« -1 1 2 -
»Beobachten Sie seine Hände«, riet Mason. »Passen Sie auf, daß er von hier bis zum Polizeipräsidium keinen Hundertdollarschein loswerden kann. Dann nehmen Sie ihn vorläufig fest wegen Hausfriedensbruchs. Damit haben Sie dann das Recht, ihn zu durchsuchen. Nach seinem jetzigen Verhalten zu urteilen, scheine ich ins Schwarze getroffen zu haben. Er hat einen Hundertdollarschein bei sich.« »Ist das vielleicht ein Verbrechen?« fragte Baxley. »Es könnte ein Beweis für Ihre Absicht sein, eine Straftat zu begehen«, erwiderte Mason. »Ich trage immer einen Hunderter bei mir«, schnaubte Baxley. »Ich brauche ihn als Sicherheit, falls mir mal das Bargeld ausgeht oder ich plötzlich verreisen muß.« »Schon gut«, sagte der Beamte. »Kommen Sie mit. Sie fahren alle zur Zentrale, und daß mir keiner versucht, auf der Fahrt irgendwas wegzuwerfen.« Die Beamten verfrachteten Mason, Drake und Stuart Baxley auf den Rücksitz des Streifenwagens. Vergeblich bemühte sich Baxley mit allen erdenklichen Argumenten um seine Freilassung. Abwechselnd drohend und bittend, erklärte er seine Abführung als Beleidigung. Sein Ansehen werde in nicht wiedergutzumachender Weise geschädigt. Der Beamte fuhr sicher und gewandt seinen Weg. Er schwieg und schien Baxleys Reden nicht zu beachten. Im Polizeipräsidium ließ sich der zuständige Beamte Bericht erstatten und fragte dann: »Wer hat die Polizei angerufen?« »Ich«, sagte Drake. »Wie kamen Sie und Mason ins Haus?« »Wir hatten einen Schlüssel. Meine Mandantin, die in dem Haus wohnte, hat ihn mir übergeben«, gab Mason Auskunft. »Haben Sie diesen Schlüssel bei sich?« »Ja.« »Zeigen Sie ihn mir bitte.« -1 1 3 -
Mason zog den Schlüssel hervor. Der Beamte prüfte ihn nachdenklich, klopfte damit auf seinen Schreibtisch und wollte ihn in ein Fach legen. »Entschuldigen Sie«, sagte Mason bestimmt, »aber Sie müssen mir diesen Schlüssel zurückgeben.« »Warum?« »Meine Mandantin hat Privateigentum in diesem Zimmer zurückgelassen. Ich wurde beauftragt, es für sie abzuholen.« Der Beamte war einen Augenblick unschlüssig, gab dann Mason den Schlüssel zurück. »Und wie kamen Sie hinein?« fragte er Stuart Baxley. »Ich hatte schon lange den Verdacht, daß da...« »Wie kamen Sie hinein?« schnitt der Beamte ihm das Wort ab. »Durch die Hintertür.« »War sie nicht verschlossen?« »Na, nicht direkt. Man kann sagen, das Schloß war sehr ungeschützt.« »Was heißt ungeschützt?« »Es ist ein Schnappschloß mit einem schrägen Riegel. Man kann ein Stück steifes Zelluloid oder Plastik nehmen, gegen den Riegel drücken und so öffnen.« »Ich glaube«, warf Mason ein, »Mr. Baxley war es auch, der durch die Hintertür hereinkam und die bewußtlose Sophia Atwood entdeckte.« Baxley fuhr wütend herum. »Halten Sie sich raus!« fauchte er. »Sie sind gar nicht gefragt.« Mason zuckte die Schultern. »Stimmt das?« fragte der Beamte. »Das stimmt«, gab Baxley zu. »Glücklicherweise habe ich sie zufällig entdeckt. Hätte ich sie nicht gefunden, wäre sie mittlerweile tot, und Mr. Masons Mandantin wäre jetzt des Mordes angeklagt.« -1 1 4 -
»Wie kamen Sie ins Haus, als Sie Sophia Atwood entdeckten?« »Die Hintertür stand halb offen.« »Ohne Schnappschloß?« »Das Schnappschloß war da, aber eben nicht eingerastet.« »Wäre es eingerastet gewesen, hätten Sie es jedenfalls aufriegeln können?« »Das nehme ich an. Ich wußte es zu der Zeit aber noch nicht. Erst als ich mir das Schloß an der Hintertür genauer angesehen hatte, merkte ich, daß es nicht gesichert war.« »Woher kennen Sie den Trick, ein Schnappschloß mit einem Hartplastikstreifen zu öffnen?« »Den habe ich irgendwo in einer Detektivgeschichte gelesen.« Die Tür ging auf, und Leutnant Tragg trat hastig ein. »Nanu, was geht denn hier vor?« wunderte er sich. »Halten Sie eine Versammlung ab?« Mason schmunzelte, während der Kriminalbeamte die Lage kurz erläuterte: »Diese drei Leute waren im Haus von Sophia Atwood, Mason und sein Privatdetektiv Drake anscheinend als erste. Sie kamen mit einem Schlüssel zur Vordertür herein und behaupten, sie hätten sich im Zimmer von Katherine Ellis aufgehalten, Masons Mandantin. Sie hörten ein Krachen und stellten fest, daß jemand den Wasserkühler umgekippt hatte. Dann fanden sie Stuart Baxley im Haus. Sie überwältigten ihn und riefen die Polizei an.« Leutnant Tragg wandte sich an Baxley. »Was hatten Sie da zu suchen?« »Ich habe das Recht, mich da aufzuhalten. Ich vertrete Mrs. Atwoods Interessen.« »Können Sie das beweisen?« »Ich habe ihr Wort.«
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»Leider kann sie uns ihre Meinung dazu jetzt nicht sagen«, entgegnete Tragg. »Sie werden schon etwas Schriftliches vorweisen müssen.« »Mason hat auch nichts Schriftliches«, sagte Baxley wütend. »Für Mr. Mason liegen die Dinge etwas anders«, erklärte Tragg ihm. »Ihr Freund, der Detektiv Levering Jordan, hat ausgesagt, daß Mason in der Tat berechtigt war, das Haus zu betreten; daß Mrs. Atwood sich dort mit ihm unterhalten hat, während Della Street, seine Sekretärin, Miss Ellis’ Sachen zusammenpackte. Dabei hörte Jordan Mrs. Atwood sagen, daß Katherine Ellis jederzeit zurückkommen und ihr restliches Eigentum abholen könne. Was Katherine Ellis selbst tun darf, kann sie auch durch einen Vertreter besorgen lassen - das heißt, wenn es ein respektabler Vertreter ist wie zum Beispiel ein Anwalt.« Baxley verfiel in hilfloses böses Schweigen. »Also, was hatten Sie da vor?« wiederholte Tragg seine Frage. »Was suchten Sie?« »Beweise.« »Die Polizei hat bereits das ganze Haus durchsucht.« »Ich suchte etwas, was die Polizei vielleicht übersehen hatte.« »Oder er wollte ein Beweisstück einschmuggeln«, sagte Mason, »um nur den Anschein zu erwecken, daß die Polizei es übersehen hatte.« Tragg fixierte Mason stirnrunzelnd. »Zum Beispiel einen Hundertdollarschein irgendwo in Katherine Ellis’ Schlafzimmer.« »Nein, nein, nein!« protestierte Baxley empört. »Sie haben die ganze Sache umgedreht.« »Was habe ich umgedreht?« fragte Tragg. »Ich meine, daß ich überhaupt nichts einschmuggeln wollte.« Tragg sah Baxley durchdringend an. »Haben Sie einen Hunderter in der Tasche?« -1 1 6 -
»Was hat das damit zu tun?« »Weiß ich nicht. Ich habe Ihnen eine Frage gestellt, weiter nichts.« »Das geht Sie nichts an«, sagte Baxley, »Sie haben keinen Durchsuchungsbefehl für mich.« »Sie wurden bei widerrechtlichem Eindringen in ein Wohnhaus gefaßt«, entgegnete Leutnant Tragg. »Dafür können wir Sie festnehmen, und bei der Gelegenheit haben Sie Ihre Taschen zu leeren. Ich frage Sie daher noch einmal: Haben Sie einen Hundertdollarschein bei sich?« »Also gut«, gab Baxley zu, »ich habe einen dabei.« »Lassen Sie mal sehen.« Baxley holte eine Visitenkartentasche hervor und entnahm ihr eine glatte Hundertdollarnote. »Wo ist Ihr übriges Geld?« fragte Tragg. »In meiner Brieftasche im Mantel.« »Das wollen wir uns auch ansehen.« Baxley griff zögernd in die Innentasche seines Mantels, zog eine Brieftasche heraus und öffnete sie. Leutnant Tragg zählte das Geld. »Hier haben Sie ungefähr siebenundvierzig Dollar in Scheinen«, sagte er. »Ich nehme an, in einer anderen Tasche haben Sie noch loses Kleingeld?« Baxley faßte in seine rechte Hosentasche und holte ein paar Münzen heraus. »Wie lange besitzen Sie diesen Hundertdollarschein schon?« »Ich trage für gewöhnlich hundert Dollar als Reserve bei mir, falls ich mein anderes Geld verliere oder für Sonderausgaben sofort Bargeld brauche.« »Das heißt, Sie haben den Schein immer bei sich?« »Ja.« »Wie oft mußten Sie ihn schon angreifen?« »Zufällig noch nie«, sagte Baxley. »Ich habe ihn nur für Notfälle.« -1 1 7 -
»Dann besitzen Sie diesen Schein schon eine Zeitlang?« »Ja.« »Bei welcher Bank sind Sie?« »Der Seaboard Security.« »Na schön«, sagte Tragg, »wenn Ihre Geschichte stimmt, haben Sie in letzter Zeit keinen Hunderter von Ihrem Konto abgehoben. Wie dieser Schein hier aussieht, würde ich allerdings meinen, daß er nicht allzu lange in der Tasche getragen wurde. Ich denke, wir prüfen das mal bei der Bank nach und...» »Diesen Schein habe ich erst heute morgen von der Bank geholt«, unterbrach Baxley hastig, »wenn’s das ist, worauf Sie abzielen.« »Sie haben mir doch gerade eben erzählt, daß Sie ihn immer bei sich trugen.« »Einen Hunderdollarschein, nicht diesen speziell.« »Und was haben Sie mit dem andern gemacht?« »Ich - äh - habe ihn gewechselt.« »Bei Ihrer Bank?« »Nein, nicht bei meiner Bank, bei einer anderen. Ich brauchte Zwanzigdollarscheine und ließ mir den Hunderter in Zwanziger umwechseln. Dann ging ich zu meiner Bank und löste einen Scheck über hundert Dollar ein. Ich ließ mir diesen Hundertdollarschein geben, um mein Reservegeld zu ersetzen.« »Ihre Story hätte mir weitaus besser gefallen, hätten Sie sie bereits beim erstenmal auf diese Art erzählt«, meinte Tragg nachdenklich. »Sie sind voreingenommen gegen mich«, protestierte Baxley. Leutnant Tragg fuhr plötzlich zu Mason herum. »Na schön, Mason, Sie folgten Ihrer Spürnase und wollten was ausspionieren. Was war’s?«
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»Tut mir leid, Leutnant, ich kann nur sagen, daß ich was ausspionieren wollte, Paul Drake und ich beobachteten das Haus.« »Anders ausgedrückt«, fuhr Tragg fort, »Sie handelten in der Annahme, daß jemand in Katherine Ellis’ Zimmer erscheinen und einen Hundertdollarschein einschmuggeln würde?« Paul Drake warf Mason einen raschen Blick zu. »Ich bin hier in einer eigentümlichen Lage, Leutnant«, antwortete Mason. »Das müssen Sie einsehen. Ich kann Ihnen nur sagen, daß ich mich auf Grund einer Ermächtigung von Mrs. Atwood, der Eigentümerin, in dem Haus aufhielt; ebenso wie von Katherine Ellis, der Bewohnerin des Zimmers, in dem Drake und ich warteten. Auf was wir im besonderen warteten, kann ich Ihnen nicht sagen. Aber Sie haben einen geschulten Verstand, und wenn Sie zwei und zwei zusammenzählen wollen, können wir Sie nicht daran hindern.« Tragg grinste. »Ein wundervolles Beispiel für aalglattes Gerede«, stellte er fest. »Aber eins haben Sie glasklar ausgedrückt, und zwar, daß Sie mich nicht hindern können, zwei und zwei zusammenzuzählen.« »Er pflanzte Ihnen die erste Zwei ein«, sagte Baxley verächtlich, »und dann die zweite. Die Vier, die Sie heraus haben, ist genau die Zahl, auf die Sie laut Mason stoßen sollten.« Leutnant Tragg sah Baxley nachdenklich an. »Ihre Position in dieser Sache ist recht schwach, Baxley«, sagte er. »Ich werde Sie zwar abziehen lassen, und wir wollen kein Protokoll aufnehmen. Aber bleiben Sie diesem Haus fern. Und knacken Sie keine Schlösser mehr.« »Ich habe kein Schloß geknackt.« »Na, es kommt darauf an, was man unter Knacken versteht. Rein technisch sah die Sache nach Einbruchsversuch aus.« »Ich hatte in dem Haus genau das gleiche Recht wie Mason oder...«
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»Nein, das hatten Sie nicht«, sagte Tragg. »Betreten Sie das Haus nicht mehr, halten Sie sich fern! Werden Sie künftig irgendwo in der Nähe erwischt, müssen Sie mit ernsten Schwierigkeiten rechnen. Und glauben Sie nicht, daß ich Ihnen hiermit etwa eine weiße Weste verpaßt habe. Ich will Sie nur nicht festsetzen. Sie sind Geschäftsmann, und wir können Sie jederzeit holen, wenn wir wollen. Wir brauchen Sie nicht in eine Zelle zu stecken und morgen früh vor den Richter zu bringen, damit er Haftbefehl erläßt und über Sicherheitsleistung entscheidet. Es scheint mir besser, Sie auf Ihre eigene Verantwortung freizulassen.« Tragg wandte sich wieder an Mason. »Zu Ihrer Information, Herr Rechtsanwalt - es sieht danach aus, daß Sophia Atwood am Leben bleibt. Man hat durch eine Notoperation wenigstens einen großen Teil des Blutgerinnsels entfernt. Aber es ist zu Komplikationen gekommen. Sie ist noch nicht bei Bewußtsein. Wenn sie aufwacht, könnte sich retrograde Amnesie einstellen, so daß sie sich an nichts erinnern kann. Ich erzähle Ihnen das, weil Sie es ohnehin in den Zeitungen lesen werden. Es bedeutet, daß wir sofort die Voruntersuchung gegen Katherine beantragen. Sollten sich die Dinge dann zum Schlechten wenden, können wir diese Anschuldigung jederzeit fallenlassen und sie wegen Mordes aus niedrigen Beweggründen vor dem Schwurgericht anklagen. Angenehme Träume, Herr Rechtsanwalt.« »Und wir können jetzt gehen?« fragte Mason. »Sie können. Vielleicht sollte ich Ihnen auch noch sagen, daß es nicht besonders clever wäre, in jenem Haus herumzuschnüffeln. Wenn Sie persönliches Eigentum Ihrer Mandantin herausholen wollen, werden wir Ihnen morgen bei Tageslicht Polizeigeleit geben. Sie können mit Koffern hinfahren oder mit einem Möbelwagen und jedes Ihrer Mandantin gehörende Stück aus dem Zimmer holen. Bei welcher Gelegenheit der begleitende Polizeibeamte ein Verzeichnis anlegen wird. Lassen Sie sich in der Zwischenzeit nicht bei Streifzügen im Haus erwischen. Beweise einschmuggeln kann jeder, und ich brauche Sie wohl nicht -1 2 0 -
darauf hinzuweisen, Herr Rechtsanwalt, daß dies ein sehr schweres Vergehen ist. In Ihrem Fall könnten daraus Komplikationen entstehen, die unter Umständen sogar zu Ihrer Ausschließung aus dem Anwaltsstand führen.« »Ich würde nie daran denken, Beweismaterial einzuschmuggeln«, sagte Mason. »Nein«, entgegnete Tragg, »ich glaube zwar auch nicht, daß Sie es täten, aber Sie könnten etwas ganz Ähnliches einschleusen; vielleicht den Köder für eine Falle.« »Was, in aller Welt, sollte ich denn als Köder verwenden?« fragte Mason. »Weiß ich nicht«, antwortete Tragg gedankenvoll, »aber ich überlege mir eine ganze Menge. Wie Sie schon sagten, können Sie niemanden hindern, zwei und zwei zu addieren.«
14 »Na denn«, sagte Drake, nachdem die beiden Männer per Taxi zum Haus Atwood zurückgekehrt waren, um ihre Wagen abzuholen, »schlagen wir die polizeiliche Warnung in den Wind? Überwachen wir unsere Falle trotz allem heute nacht?« »Nein«, entschied Mason. »Tragg war es Ernst mit seiner Warnung. Davon abgesehen, ist unsere Falle auch keine Falle mehr. Die Polizei wird innerhalb der nächsten Viertelstunde einen Mann hier aufstellen, falls nicht bereits einer angerückt ist.« »Worauf sollten sie denn warten?« fragte Drake. »Daß einer von uns zurückkommt. Sie haben uns alle drei gewarnt. Leutnant Tragg ist aber von keiner unserer Erklärungen überzeugt. Er glaubt, dieses Haus gehört irgendwie ins Bild. Er will feststellen, inwiefern... Siehst du den Wagen da vorn, Paul, mit der Beule im rechten hinteren Kotflügel?« »Hm.« »Als der Streifenwagen zum Polizeipräsidium fuhr, parkte dieses Auto vor der Revierwache.« -1 2 1 -
»Aha«, sagte Drake, »ein sogenannter Schlafwagen. Sein Nummernschild besagt nichts, denn er ist auf niemanden zugelassen. Die Polizei setzt solche Fahrzeuge bei ihren Ermittlungen ein.« »Genau«, bestätigte Mason. »Und diese Reaktion von Tragg auf unsere Auskünfte habe ich fast vorausgesehen. Nicht den kleinsten Fang wird unsere Falle heute nacht machen. Eine Schande, wenn man bedenkt, wie wir uns mit dem Köder angestrengt haben.« »Vielleicht beißt sie ja doch noch an«, meinte Drake. »Nicht nach all dem Betrieb hier heute abend. Die Funkstreife brauste mit Höchstgeschwindigkeit heran, drei Männer wurden zur Zentrale befördert; und ab Mitternacht wird der Rundfunk melden, daß wir am Tatort, wo wir offenbar Spuren suchten, aufgegriffen und zum Präsidium transportiert wurden. Sollte aber Bernice tatsächlich so blöd sein, hier heute nacht einzudringen, wird die Polizei sie nach zehn Sekunden geschnappt haben.« »Also?« fragte Drake. »Also sind wir gezwungen zu handeln. Wir beantragen die sofortige Voruntersuchung für Katherine Ellis oder die Aufhebung des Haftbefehls. Wir versuchen, ein Gespräch mit der blinden Frau zu arrangieren. Inzwischen gehe ich zum Büro. Della Street hat nämlich für zwei Pakete quittiert, die Katherine Ellis uns per Lastauto anrollen ließ. Du fährst am besten mit zum Büro, Paul, um dabeizusein, wenn wir diese Pakete öffnen. Vielleicht enthalten sie etwas Brauchbares.« »Was soll denn nach Katherine Ellis’ Angabe drin sein?« »Als ihre Eltern starben«, erklärte Mason, »besaß sie einen Haufen wertvoller Garderobe. Sie verkaufte die Pelzmäntel und alles andere, was sie irgend zu Geld machen konnte. Das unbedingt Nötige behielt sie und zog hierher zu ihrer Tante Sophia. Es war ihr klar, daß sie nur ein Zimmer und begrenzten Schrankraum haben würde, und sie behielt an Garderobe nur, was sie nicht verkaufen konnte. -1 2 2 -
Soweit sie mir sagte, nahm sie auch einige von ihrem Vater hinterlassene Geschäftspapiere mit, die vielleicht der Mühe wert waren; ein paar Goldminenaktien, von denen es bei der Nachlaßschätzung hieß, sie seien wertlos; dann noch etliche Alben mit Familienfotos und alte Briefe. Ich ließ mir ihre Vollmacht geben, die Sachen aus dem Lager zu holen und die alten Papiere auf mögliche Hinweise durchzusehen.« »Glaubst du denn, du wirst da was finden?« fragte Drake. »Wahrscheinlich kaum, die Chancen stehen tausend zu eins. Aber die alten Aktien, die angeblich wertlos sind, interessieren mich. Gelegentlich entpuppen sich diese hochspekulativen Emissionen als Goldgruben.« »Dabei kann ich dir nicht helfen«, sagte Drake. »Ich werde nach Hause fahren und etwas Schlaf nachholen. Die ganze letzte Nacht habe ich auf einen Anruf gewartet.« »Mir hat der Tag auch gereicht«, entgegnete Mason, »aber den Inhalt dieser Pakete will ich noch wissen.« »Du kannst mich jederzeit erreichen, aber bitte nur, wenn’s dringend ist.« Mason nickte, wünschte Drake eine gute Nacht und fuhr zu seinem Büro. Della Street hatte die Aktien bereits sorgfältig ausgebreitet und ein Inventar getippt. Mason blickte über den Tisch, auf dem Della die Papiere ausgelegt hatte, und sagte: »Da bleibt für mich offensichtlich nicht mehr viel zu tun. Sie scheinen schon alles erledigt zu haben.« »Ich habe eine vollständige Liste angelegt«, bestätigte Della. »Was ist mit dem Fotoalbum?« fragte Mason. »Familienbilder. Möchten Sie Ihre Mandantin im Alter von drei Jahren sehen? Oder eine Nacktaufnahme mit drei Monaten? Oder interessieren Sie sich für das Heim der Familie, das anscheinend bis unters Dach mit Hypotheken belastet war? Ohne Zweifel ein prunkvoller Wohnsitz.« Mason blätterte das Album rasch durch, verweilte dann bei den neueren Aufnahmen. -1 2 3 -
»Dies hier«, erklärte Dalla Street, »ist Ihre Mandantin im teuren Sportwagen - wie sie da in lässiger Pose hinter dem Lenkrad sitzt. Ich wette, es wäre ein absoluter Schock für sie gewesen, hätte ein Hellseher ihr auf die Schulter geklopft mit der Prophezeiung: ›Genau sechs Monate nach diesem Foto, Liebling, wirst du als Serviermädchen dein Brot verdienen.‹« Mason betrachtete das Bild nachdenklich. »Sind auch Bilder von Tante Sophia dabei?« fragte er. »O ja. Sie taucht auf mehreren Familienfotos auf, die aber ziemlich alt sind. Es handelt sich um die typischen verschwommenen Amateuraufnahmen.« »Ich dachte, Familienalben seien aus der Mode gekommen«, sagte Mason. »Dies hier hat wohl ihr Vater weitergeführt«, meinte Della Street. »Und er war ein recht tüchtiger Fotograf. Die meisten Bilder sind scharf und klar. Es finden sich aber durchgehend auch welche von einer anderen Kamera, und die sind verschwommen, falsch belichtet und unscharf eingestellt. Mir kommt’s fast so vor, als hätte Katherine Ellis’ Mutter diese Aufnahmen gemacht. Es sind nämlich alles Familienbilder Gruppen, festliche Anlässe wie Katherines Party zum fünfzehnten Geburtstag, Katherine mit zwei Freundinnen aus der Oberschule.« »Wie steht’s mit der Garderobe?« erkundigte sich Mason. »Die Kleider sind alle sauber zusammengelegt, und es scheint mir am besten, wir lassen sie gefaltet in den Kartons liegen. Wir müssen nur einen Platz zur Aufbewahrung suchen.« Mason nickte. »Tun Sie es morgen früh, Della, wir sind beide hundemüde. Und morgen wollen wir die Blinde auf ihrer Geheimnummer anrufen. Wir rufen so lange durch, bis sie sich meldet und ich ein Interview mit ihr vereinbart habe.« »Was kann sie uns denn erzählen?« fragte Della Street. »Wahrscheinlich eine ganze Menge, wenn sie will; zum Beispiel den Grund zur Überwachung der Gillco Manufacturing
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Company und warum man eine blinde Frau als Wachtposten einsetzt.« »Vielleicht ist die Blinde auch nur eine Lückenbüßerin und sollte als Vorwand dienen, damit Sophia Atwood zeitweise da erscheinen konnte.« »Dann müßte die blinde Frau wissen, warum Sophia Atwood dorthin ging«, entgegnete Mason. »Ich habe aber den Verdacht, daß da noch was anderes im Busch ist.« »Was?« »Vielleicht ein bißchen Werkspionage. Ich könnte mir denken, daß jemand Informationen aus der Gillco Manufacturing Company herausschleust und unter dem Vorwand, Bleistifte zu kaufen, jeweils eine Notiz in den Bleistiftkorb fallen läßt.« »Also, das wäre ja ein Ding«, rief Della Street. »Meinen Sie, die Blinde würde uns was darüber erzählen?« »Es hängt von ihrer Rolle ab und kommt darauf an, wie wir uns ihr nähern können«, sagte Mason. »Sophia Atwood kann nicht reden. Es muß aber jemand reden, wenn wir das Notwendige herausfinden wollen. Heute nacht werden wir Paul nicht mehr aufscheuchen, Della, aber morgen früh soll er uns als erstes ein Double besorgen - einen Lockvogel.« »Eine blinde Frau?« »Eine Frau, die sich blind stellt«, sagte Mason. »Wir holen uns eine seiner Detektivinnen, takeln sie auf mit schwarzem Kleid, dunkler Brille, geben ihr einen Vorrat an Bleistiften und Kugelschreibern und den ganzen Krempel mit. Dann schicken wir sie hinaus zur Gillco Company, wo die Blinde sitzt und...« »Angenommen, die Blinde kommt daher und erwischt sie dabei?« gab Della Street zu bedenken. Mason grinste. »Dann muß sie auspacken, und wir können mit ergiebigen Informationen rechnen.« Er durchdachte die Möglichkeiten dieses Unternehmens. »Das könnte sich tatsächlich als eine wundervolle Methode zur Lösung des ganzen Falles erweisen. Lassen wir die ›blinde‹ Detektivin -1 2 5 -
schon dort auf dem Grundstück sitzen, wenn unsere blinde Frau im Taxi anrückt. Geben wir ihr ein verstecktes Minitonband mit, das die gesamte Unterhaltung aufnimmt. Ich wette, das wäre höchst aufschlußreich. Ja, das werden wir versuchen, Della. Und inzwischen richten wir uns auf die Voruntersuchung ein. Je mehr ich darüber nachdenke, desto dringlicher scheint mir der Einsatz dieser Detektivin. Bei Paul Drake werde ich mich zwar gründlich unbeliebt machen, aber rufen Sie ihn trotzdem an. Er muß eben nach Hause gekommen sein, hat einen Drink gekippt und fängt gerade an, sich auszupellen.« Della Street wählte Drakes nicht registrierte Nummer, wartete auf Antwort und nickte Mason zu. »Na, Paul?« meldete Mason sich. Drake stöhnte. »Ich wußte, das Telefon würde klingeln, noch ehe ich fünf Minuten im Hause bin. Wahrscheinlich ist dir mal wieder ein Geistesblitz gekommen, und ich soll alles prompt und gleichzeitig erledigen. Also, was ist los?« »Ich brauche eine Frau, die blind spielt, Paul; eine Detektivin in genau der gleichen Aufmachung wie die blinde Trödlerin. Sie soll sich in der gleichen Haltung an deren Platz setzen und Bleistifte und Kugelschreiber verkaufen.« »Ich sehe nicht ein, welchen Zweck das haben soll«, protestierte Drake. »Folgenden«, begann Mason zu erklären. »Wir lassen sie dort sitzen, bis die richtige Blinde aufkreuzt. Deine Mitarbeiterin wird ein winziges Tonbandgerät an sich verstecken, das sie einschaltet, wenn die blinde Frau erscheint. Damit wird die anschließende Unterhaltung aufgenommen. Eine gute Detektivin sollte in der Lage sein, der Blinden höchst aufschlußreiche Angaben zu entlocken.« Drake schwieg einen Moment. »Hast du’s mitgekriegt?« fragte Mason. »Hab’ ich«, sagte Drake, »aber das kann ich höchstens in vierundzwanzig Stunden schaffen, vielleicht auch erst in achtundvierzig.« -1 2 6 -
»Wieso?« »Denk doch nach, Perry. Wir brauchen eine Frau, die in der Lage ist, die Angestellten auf dem Firmengelände hinters Licht zu führen. Sie soll die Blinde ersetzen. Nimm an, jemand von der Gillco Company spricht gelegentlich mit der blinden Trödlerin, hat sich vielleicht schon längere Zeit mit ihr unterhalten. Also, es muß schon eine tüchtige Detektivin sein. Ich muß sie herbeordern, muß sie auf ihre Rolle einpauken; ich muß meine Männer kommen lassen, die mit der Beschattung der blinden Frau beauftragt waren; sie müssen die Rolle mit der Detektivin einüben. Ich werde versuchen, das alles morgen klarzukriegen. Dann kannst du übermorgen Resultate sehen.« »Übermorgen«, entgegnete Mason, »findet bereits die Voruntersuchung gegen Katherine Ellis statt.« »Kannst du sie nicht aufschieben lassen?« »Natürlich kann ich Aufschub erwirken, wenn ich das will. Ich will aber nicht. Wenn wir Aufschub verlangen, spielen wir nur der Anklagebehörde in die Hände. Sie wollen die Sache hinauszögern, sie suchen noch schlüssige Beweise. Die Ereignisse von heute nacht haben sie völlig verwirrt.« »Na schön«, sagte Drake, »ich tue, was ich kann. Ein paar Anweisungen gebe ich sofort heraus, dann lege ich mich hin und schlafe. Morgen früh bemühe ich mich als erstes um eine Detektivin, die wir als Blinde ausstaffieren können. Weiß der Himmel, was dabei alles passieren kann! Du kennst die Spielregeln. Wird sie geschnappt, zahlst du die Geldstrafe.« »Ich zahle alles«, versprach Mason. »Angenehme Nachtruhe, Paul.« »Zyniker«, knurrte Drake.
15 Richter Morton Churchill nahm seinen Platz auf der Bank ein, raffle seine Robe um sich und blickte auf die Gruppe am Verhandlungstisch hinunter.
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»Das Volk des Bundesstaates Kalifornien gegen Katherine Ellis«, verkündete er. »Der Angeschuldigten wird ein gefährlicher Angriff in Mordabsicht zur Last gelegt. Sind die Parteien bereit zur Verhandlung?« Hamilton Burger, der Bezirksstaatsanwalt, erhob sich. »Ich bin bereit für die Anklagebehörde«, sagte er. »Ich möchte jedoch darlegen - wenngleich dieses dem Gericht selbstverständlich bewußt ist -, daß Mord die rechtswidrige vorsätzliche Tötung eines Menschen ist, begangen aus niedrigen Beweggründen oder im Zusammenhang mit einem anderen Verbrechen; wobei der Tod innerhalb eines Jahres und eines Tages nach dem Angriff eintreten kann. Ich zitiere die allgemeine Gesetzesbestimmung nur, um unseren Standpunkt zu erläutern. Wir führen diese Voruntersuchung gegen die Angeschuldigte auf Grund einer Strafanzeige und werden das Hauptverfahren gegen sie beantragen, damit sie sich vor der höheren Instanz verantworte. Sollte Sophia Atwood jedoch vor Abschluß dieser Verhandlung an den Folgen des Schlages sterben, den die Angeschuldigte ihr versetzte, so werden wir dieses Verfahren einstellen und Anklage wegen vollendeten Mordes erheben. Wir wollen daher das Risiko auszuschalten versuchen, daß die Angeschuldigte zweimal wegen derselben Tat vor Gericht kommt.« »Warum warten Sie dann nicht, bis Sie über die medizinischen Gesichtspunkte genauer im Bilde sind?« fragte Richter Churchill. »Dafür habe ich meine Gründe«, erklärte Hamilton Burger. »Wir wollen gewisses Beweismaterial aktenkundig machen. Wir wollen einen Gewahrsam für die Angeschuldigte erwirken, aus dem sie nicht durch Haftprüfung entlassen werden kann.« »Nun gut«, sagte Richter Churchill. »Wie steht es mit der Angeschuldigten? Ist sie bereit?« »Die Verteidigung ist bereit zur Verhandlung«, antwortete Mason. »Bitte sehr, Herr Staatsanwalt, dann tragen Sie Ihren Fall vor.« -1 2 8 -
»Ich darf dem Gericht noch einmal wiederholen«, begann Hamilton Burger, »daß wir gewisse Beweise sichern möchten. Wir werden daher bestimmte Zeugen aufrufen und sie über Einzelheiten vernehmen. Im übrigen wollen wir uns auf die Verfahrensvorschrift berufen, nach der lediglich zu beweisen ist, daß ein Verbrechen begangen wurde und die Angeschuldigte hinreichend verdächtig ist, daran teilgenommen zu haben.« »In Ordnung«, sagte Richter Churchill. »Und da wir nicht ganz von gestern sind, Herr Staatsanwalt, glauben wir Ihren Standpunkt zu verstehen. Beginnen Sie mit der Zeugenvernehmung.« »Stuart Baxley in den Stand«, rief Hamilton Burger. Stuart Baxley trat vor, hielt die rechte Hand hoch und wurde vereidigt. Dann nahm er seinen Platz auf der Zeugenbank ein. »Sie heißen Stuart Baxley?« fragte Hamilton Burger. »Ja.« »Sie waren mit Sophia Atwood bekannt, und zwar schon seit einiger Zeit?« »Nun - ja.« »Hatten Sie am Vierten dieses Monats Gelegenheit, sie zu sehen?« »Ja, Sir.« »Wo?« »Das erstemal sah ich sie als Gast in ihrem Haus. Ich war zum Essen eingeladen.« »Was geschah bei dieser Gelegenheit?« »Es gab einige Aufregung. Mrs. Atwood glaubte, ihr wären hundert Dollar gestohlen worden. Die Beschuldigte geriet in Verdacht.« »Was taten Sie?« »Ich hatte einen Freund, Privatdetektiv Levering Jordan von der Firma Moffatt & Jordan. Ich bot Mrs. Atwood an, ihn zu holen.« -1 2 9 -
»Und das geschah auch?« »Ja, Sir; mit ihrer Erlaubnis natürlich.« »Was dann?« »Mr. Jordan fragte die Beschuldigte, ob er ihre Fingerabdrücke für Vergleichszwecke abnehmen könne.« »War sie einverstanden?« »Sie lehnte das nicht nur ab, sondern sie rief Perry Mason an, der ins Haus kam und ihr befahl...« »Einspruch«, unterbrach Mason scharf. »Stattgegeben«, entschied Richter Churchill. Hamilton Burger versuchte es mit einem neuen Ansatzpunkt. »Hatten Sie Gelegenheit, das Haus zu betreten, nachdem Sophia Atwood ins Krankenhaus geschafft worden war?« »Ja, Sir. Ich glaube bestimmt, daß...« »Einspruch«, schaltete Mason sich ein. »Der Zeuge darf nicht über seine Gedankengänge aussagen.« »Stattgegeben.« Hamilton Burger fuhr fort: »Nun gut, Sie hatten einen hier nicht anzugebenden Grund, das Haus zu betreten. Was geschah nun, nachdem Sie das Haus betreten hatten?« »Vorsichtshalber hatte ich nur eine sehr kleine Taschenlampe im Füllhalterformat bei mir und hielt sie auf den Fußboden gerichtet. Ich stieg die Treppe zum zweiten Stock hinauf, bewegte mich ganz leise und vorsichtig. Ich hatte das Gefühl, da war...« »Die Gefühle des Zeugen interessieren hier nicht, Euer Ehren«, warf Mason ein. »Beschränken Sie sich auf Tatsachen«, ermahnte Richter Churchill den Zeugen. »Ich kam also bei der obersten Stufe an und verhielt mich sehr leise. Da hörte ich eine schwache Bewegung und wußte sofort, daß noch jemand im Haus war.« »Was taten Sie?« -1 3 0 -
»Ich verhielt mich weiter sehr leise.« »Sie sagen, Sie hörten eine Bewegung. Noch mehr?« »Noch ein sonderbares rutschendes Geräusch.« »Hörte es sich wie flüsternde Stimmen an?« »Nein, Flüstern war es wohl nicht, aber ein merkwürdiges Rutschen.« »Sie konnten zu dem Zeitpunkt keinesfalls wissen, daß der Verteidiger, Perry Mason, und ein Angesteller von ihm, Paul Drake, sich in dem Gebäude aufhielten, und zwar in dem Zimmer, das die Angeschuldigte bewohnt hat?« »Das konnte ich keinesfalls wissen.« »Wie ging es dann weiter?« »Dann gab es einen fürchterlichen Krach, und ich... Na, ich war vollkommen überrumpelt und durcheinander, und ich hatte Angst. Ich fing an zu rennen und - ja, gekracht hatte es in der Gegend zwischen mir und der Hintertreppe, die ich heraufgekommen war; deshalb lief ich auf der Stelle in Richtung Vordertreppe los. Und Mason sprang mich an und überfiel mich.« »Allein?« »Paul Drake, der Privatdetektiv, half ihm dabei. Und nachdem sie dann dafür gesorgt hatten, daß ich völlig wehrlos war, rief Drake die Polizei an.« »Sie können den Zeugen übernehmen«, sagte Hamilton Burger zu Mason. »Als Sie ins Haus gingen«, begann Mason, wobei er aufstand und sich mit einigen Schritten der Zeugenbank näherte, »trugen Sie da eine Waffe?« »Ich hatte einen Revolver Kaliber 38 bei mir.« »Besaßen Sie einen Waffenschein dafür?« »Nein.« »Wieso trugen Sie ihn dann? Sie wußten, daß sein Besitz rechtswidrig war.« »Ich trug ihn, weil ich glaubte, mir würde Gefahr drohen.« -1 3 1 -
»Gefahr von wem?« »Das wußte ich nicht.« »Und Sie waren bereit, auf jeden zu schießen, dem Sie begegnen würden?« »Ich war bereit, mein Leben zu verteidigen.« »Sie glaubten, Ihr Leben könnte in Gefahr sein?« »Ja.« »Aus welchem Grund fürchteten Sie das?« »Auch Sophia Atwoods Leben war in Gefahr gewesen.« »Wissen Sie, warum sie überfallen wurde?« »Das kann ich mir sehr gut vorstellen, ja.« »Sie glauben, es ging bei allem nur um den Diebstahl eines Hundertdollarscheins?« »Offen gesagt, nein.« »Moment mal, Moment«, schaltete Hamilton Burger sich ein. »Diese Frage ist zu beanstanden. Ich habe bisher keinen Widerspruch geäußert, aber der Verteidiger fragt den Zeugen jetzt nach seiner Meinung. Wie Mr. Mason so treffend ausgeführt hat, interessiert es uns nicht, was der Zeuge denkt und fühlt; uns interessieren Tatsachen. Lassen Sie den Zeugen sich darauf beschränken.« »Also gut«, sagte Mason. »Nun, Mr. Baxley, Sie waren anwesend, als Sophia Atwood behauptete, jemand habe ihr aus einer Hutschachtel im Wandschrank einen Hundertdollarschein gestohlen?« »Ja.« »Und Sie gaben den Hinweis, die Angeschuldigte könne sehr wohl für den Diebstahl verantwortlich sein, nicht wahr?« »Nein. Ich stellte ein paar gründliche Fragen.« »Was verstehen Sie unter gründlichen Fragen?« »Ich fragte, wie viele Leute im Haus gewesen waren, wie viele Leute Zugang zu Mrs. Atwoods Schlafzimmer hatten, wie
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viele Leute davon wußten, daß sie im Schlafzimmer leere Hutschachteln aufbewahrte.« »Leere Hutschachteln?« wiederholte Mason. »Ja.« »Wie viele Schachteln waren es?« »Himmel, das weiß ich doch nicht. Sie sagte, sie hätte das Geld in eine leere Hutschachtel gelegt.« »Sie haben aber nicht von einer leeren Hutschachtel gesprochen«, wandte Mason ein. »Sie sagten leere Hutschachteln und gebrauchten die Mehrzahl.« »Vielleicht.« »Hatten Sie angenommen, daß es dort mehr als eine Hutschachtel gab?« »Weiß ich nicht, glaube ich aber nicht. Sie sagte ›eine Hutschachtel‹.« »Sie sprachen aber soeben von Hutschachteln in der Mehrzahl.« »Na gut, ich sprach von Hutschachteln in der Mehrzahl.« »Als Sie Ihre ›gründlichen Fragen‹ vortrugen, sprachen Sie da auch von Hutschachteln in der Mehrzahl?« »Ganz recht, ich sagte Hutschachteln, Mehrzahl.« »Und Mrs. Atwood berichtigte Sie nicht, indem sie darauf hinwies, daß es nur eine Hutschachtel gab?« »Nein. Die Lage war in dem Moment ziemlich gespannt, und es gab keinen Zweifel, daß sie in Gedanken...« »Halt, einen Augenblick«, unterbrach Mason den Zeugen und hob die Hand. »Ihre Meinung hierzu interessiert uns nicht, und ebensowenig liegt uns an Ihrer Aussage, was Sie zu dem Zeitpunkt aus Mrs. Atwoods Gedanken gelesen haben. Ich will durch diese Fragen nur herausfinden, welche Idee Sie Mrs. Atwood in den Kopf setzten - den Gedanken nämlich, daß die Angeschuldigte den Diebstahl begangen habe.« »Ich habe niemals gesagt, daß ich sie auf eine solche Idee gebracht hätte.« -1 3 3 -
»Sie haben es vielleicht nicht gesagt, aber Ihr Verhalten drückte es aus«, entgegnete Mason. »Sie stellten Fragen bezüglich der Leute, die im Hause gewesen waren, jedoch keine hinsichtlich der Ihnen selbst gebotenen Möglichkeit, das Geld zu stehlen.« »Selbstverständlich nicht!« »Warum nicht?« »Weil ich als ehrbarer Geschäftsmann und Freund über jeden Verdacht erhaben war - oder mich jedenfalls dafür hielt.« »Aber die Angeschuldigte als Blutsverwandte war Ihrer Meinung nach nicht über jeden Verdacht erhaben?« »Ich habe einfach Fragen gestellt.« »Untersuchungsfragen? « »Nennen Sie sie so, wenn Sie wollen.« »Sie hatten einen Revolver bei sich, als Sie das Haus zuletzt betraten?« »Ja.« »Warum?« »Um mich zu schützen, falls das nötig wurde.« »Sie wußten, daß es für Sie gesetzwidrig war, diese Waffe zu tragen?« »Ganz recht, ich wußte es.« »Sie brachen in das Haus ein.« »Ich brach nicht ein, ich habe das Schloß betätigt.« »Nach dem Gesetz ist das Einbruch«, belehrte Mason ihn. »Na gut«, brauste Baxley auf, »dann besprechen Sie das mit meinem Freund, dem Bezirksstaatsanwalt. Ich habe schon ausgepackt bei ihm, und wir verstehen uns.« »Mit anderen Worten, als Gegenleistung für Ihre Aussage wurde Ihnen Straffreiheit zugesichert.« »Das war überhaupt kein Verhandlungspunkt. Der District Attorney kam zu dem Schluß, daß meine Absichten vollkommen einwandfrei waren.« -1 3 4 -
»Sie hatten einen Hundertdollarschein in Ihrem Besitz.« »Ist das ein Verbrechen?« »Seit wann besaßen Sie ihn?« »Das weiß ich nicht.« »Überlegen Sie.« »Ich kann mich nicht erinnern.« »Dann ist Ihr Gedächtnis sehr mangelhaft«, stellte Mason fest. »Ich kann nämlich durch zuverlässige Zeugenaussage beweisen, daß Sie zu Ihrer Bank gingen, einen Hundertdollarschein verlangten und...« »Schon gut, schon gut, ich hatte einen Hunderter. Es war mein Geld, ich hatte ein Recht darauf. Ich war berechtigt, zur Bank zu gehen und es abzuheben, wann es mir paßte.« »Dann frage ich Sie jetzt«, fuhr Mason fort, »ob Sie nicht mit jenem Hundertdollarschein in der Tasche zu dem Haus gingen, um ihn im Zimmer der Angeschuldigten zu verstecken; ob Sie nicht die Absicht hatten, anschließend der Polizei eine gründliche Durchsuchung des Raumes nahezulegen, damit der Schein unter der Matratze oder sonstwo gefunden wurde - was auf Katherine Ellis’ Schuldbewußtsein hätte schließen lassen?« »Keineswegs.« »Ich behaupte«, sagte Mason, »daß Ihr Verhalten deutlicher spricht als Ihr Leugnen. Sie schlichen auf Zehenspitzen zum Schlafzimmer, konzentriert auf Ihr Vorhaben, den Schein unterzubringen, als Sie plötzlich über einen Wasserkühler stolperten. Er kippte mit fürchterlichem Krachen um, und Ihnen wurde klar, daß Sie nicht allein im Haus waren. Bevor Sie aber flüchten konnten, stießen Sie auf Paul Drake und mich.« »Das ist nicht wahr, und ich habe diesen Wasserkühler nicht umgeschmissen«, protestierte Baxley. »Sie und Drake müssen das getan haben. Mich hat der Krach erschreckt; deshalb lief ich weg und wollte zur Treppe.« »Und Sie leugnen noch immer, daß Sie vorhatten, den Hundertdollarschein in das Zimmer der Angeschuldigten einzuschmuggeln?« -1 3 5 -
»Jawohl.« »Das ist alles«, sagte Mason, Verachtung im Ton, und drehte dem Zeugen den Rücken zu. Baxley wollte die Zeugenbank verlassen, als Richter Churchill mit dem Bleistift auf den Tisch klopfte. »Einen Augenblick noch, Mr. Baxley«, sagte er. »Ich möchte Ihnen ein paar Fragen stellen. Sie wußten, daß die Angeschuldigte verdächtigt wurde, hundert Dollar aus einer Hutschachtel genommen zu haben?« »Ja.« »Und Sie gingen zu Ihrer Bank, hoben hundert Dollar in Form eines Scheines ab, fuhren mitten in der Nacht zu diesem Haus und bearbeiteten ein Türschloß, um hineinzukommen?« »Wenn Sie es so ausdrücken wollen, ja.« »Und jetzt soll das Gericht Ihnen glauben, daß Sie völlig unschuldige Absichten verfolgten?« »Jawohl, Sir, Euer Ehren. Ja.« »Nun, ich glaube es aber nicht«, sagte Richter Churchill. »Ich glaube nicht, daß Sie die Wahrheit sprechen. Ich glaube vielmehr, daß Sie sich die hundert Dollar zu einem üblen Zweck holten.« Richter Churchill warf dem Staatsanwalt einen finsteren Blick zu. »Dies ist Ihr Zeuge, Herr Staatsanwalt, und ich erkläre Ihnen, daß ich seinem Zeugnis nicht glaube.« »Ich lege es als das vor, was es wert ist«, antwortete Hamilton Burger. »Nun, meiner Meinung nach ist es überhaupt nichts wert. Das Gericht hat den Eindruck, daß hier versucht wurde, dieser jungen Frau einen Diebstahl anzuhängen. Die Sache riecht mir ziemlich nach abgekartetem Spiel, soweit ich es übersehe.« »Wir haben aber weitere Beweise, Euer Ehren«, sagte Burger. »Wir werden darlegen, daß die Angeschuldigte das Haus mitten in der Nacht heimlich aufsuchte und daß zur gleichen Zeit Sophia Atwood überfallen wurde; wir können beweisen, daß die Fingerspuren der Angeschuldigten auf der -1 3 6 -
Hutschachtel vorhanden waren, aus der das Geld genommen wurde; und wir können mit sehr belastenden Indizien aufwarten, die für den Diebstahl sprechen und für den Überfall, um diesen Diebstahl dann zu vertuschen.« »Wenn sie das Geld am frühen Abend stahl«, wandte Richter Churchill ein, »warum sollte sie dann später zurückgekehrt sein und Sophia Atwood überfallen haben?« »Wir geben zu, noch nicht alle Motive ergründet zu haben«, sagte Hamilton Burger. »Nun, ich will Sie nicht hindern, weiteres Beweismaterial vorzutragen. Was aber diesen Zeugen angeht, so kann das Gericht ihm seine Aussage nicht glauben.« Richter Churchill setzte sich mit dem Ausdruck kühler Entschiedenheit zurück. Burger zögerte einen Augenblick und schien zu überlegen, ob er versuchen sollte, den Zeugen zu rehabilitieren. Dann entschied er sich dagegen. »Danke, Mr. Baxley«, sagte er, »ich habe keine weiteren Fragen.« »Schon gut, schon gut!« explodierte Baxley plötzlich. »Und jetzt will ich die ganze Wahrheit sagen. Ich ging dorthin, um der Angeschuldigten zu helfen, nicht um ihr zu schaden.« Mason wandte sich ruckartig dem Zeugen zu: »Und auf welche Art gedachten Sie ihr zu helfen?« »Ich wollte den Hunderter verstecken, aber nicht im Schlafzimmer der Angeschuldigten, sondern in Sophia Atwoods Wandschrank. Die Hutschachtel war vom Bord heruntergerissen worden. Ich wollte der Polizei eine gründliche Durchsuchung des Kleiderschranks vorschlagen, weil nach meiner Theorie die Hutschachtel durch irgendwas nur heruntergefallen sein konnte; vielleicht durch eine Maus oder eine Ratte; wobei vielleicht der Deckel aufgesprungen und der Schein hinten in den Schrank geflattert war - etwa hinter ein Kleid oder in einen Schuh. Ich war nämlich der Meinung, daß die Polizei das Zimmer der Angeschuldigten zwar durchsucht -1 3 7 -
hatte, den Schrank von Sophia Atwood aber nicht gründlich genug. Wenn sie dann den Hundertdollarschein im Schrank fanden, mußten sie annehmen, er wäre nur aus der Hutschachtel geflattert, und es hätte überhaupt keinen Diebstahl gegeben. Damit wäre der ehrliche Name der Angeschuldigten wiederhergestellt gewesen.« Mason fixierte den Zeugen abwägend. »Und aus welchem Grund«, fragte er, »waren Sie um den ehrlichen Namen der Angeschuldigten so besorgt, daß Sie mit hundert Dollar von Ihrem eigenen Geld diesen Sachverhalt vortäuschen wollten?« »Dafür habe ich private Gründe«, antwortete Baxley. »Soviel kann ich aber sagen: Ich wußte, wenn die Angeschuldigte ihre Unschuld beweisen konnte und der Hunderter sich nicht wiederfand, wäre der Verdacht auf mich gefallen. Und mit Rücksicht auf gewisse Pläne, die ich hatte, konnte ich es mir einfach nicht leisten, in Verdacht zu geraten. So, das ist die Wahrheit.« Mason blickte den Zeugen einige Sekunden nachdenklich an. »Keine weiteren Fragen«, schloß er dann sein Verhör. »Einen Augenblick noch«, sagte Richter Churchill. »Ich frage den Zeugen, warum er die Wahrheit nicht schon früher gesagt hat.« »Weil ich nicht zugeben wollte, daß ich versucht hatte, den Hundertdollarschein im Schrank zu verstecken.« »Es war Ihnen klar, daß Sie unter Eid standen, als Sie in den Zeugenstand gerufen wurden?« »Natürlich.« »Sie haben die wahren Tatsachen verheimlicht; Sie wollten sich herauslügen, indem Sie sich angeblich nicht erinnerten, wann Sie sich den Hundertdollarschein geben ließen; Sie wollten den Anschein erwecken, er sei nur zufällig in Ihrem Besitz gewesen; Sie verheimlichten uns die Gründe, aus denen Sie in das Haus eindrangen.« »Na ja, ich habe vieles getan, was ich nicht hätte tun dürfen«, gab Baxley zu, »aber Sie können mir nicht vorwerfen, ich hätte -1 3 8 -
versucht, der Beschuldigten etwas anzuhängen. Ich wollte ihr aus der Klemme helfen, mehr nicht.« »Das haben Sie dem Staatsanwalt nicht erzählt.« »Natürlich nicht.« »Der Fall scheint mir höchst sonderbar«, erklärte Richter Churchill. »Es gibt da gewisse Gesichtspunkte, die mir nicht gefallen, ganz und gar nicht. Ich habe nicht die Absicht, die Sache überstürzt zu entscheiden, und werde keine voreiligen Schlüsse ziehen, bevor alle Zeugen vernommen sind. Wir haben hier eine junge Frau, die einen sehr kultivierten Eindruck macht und eines Verbrechens beschuldigt ist, dessen Umstände dem Gericht hochverdächtig erscheinen. Der Zeuge ist entlassen. Sie können Ihren nächsten Zeugen aufrufen, Herr Staatsanwalt. Ich möchte aber behaupten, daß Ihre Verfolgung - vorsichtig ausgedrückt - verfrüht ist.« »Mr. Mason hat noch nicht einwandfrei erklärt, was er in dem Haus zu tun hatte«, sagte Hamilton Burger. »Wenn das Gericht schon verdächtige Umstände feststellen will...« Richter Churchill fiel ihm ins Wort: »Es interessiert mich nicht, welche Gründe Mr. Mason gehabt haben mag, sich in dem Haus aufzuhalten. Wir haben jetzt einen Belastungszeugen, der zugibt, Tatsachen verschwiegen zu haben; der zugibt, uns sein Verhalten zunächst großenteils wahrheitswidrig geschildert zu haben; der nur unter dem Druck des Kreuzverhörs eingesteht, daß er das Haus in der Nacht heimlich betrat, um Beweismittel zu fälschen. Dies ist eine Voruntersuchung. Wir wollen der Sache gerecht werden, soweit es möglich ist. Gewiß, wir sind hier kein Schwurgericht, dennoch sollte man uns nicht für naiv halten, Herr Staatsanwalt; der Fall hat ganz offensichtlich einen verdächtigen Hintergrund.« »Unter diesen Umständen«, sagte Hamilton Burger, »bitte ich das Gericht bis morgen früh um Unterbrechung. Möglicherweise liegt mir dann zusätzliches Beweismaterial vor. Danach werde ich sicher entscheiden können, ob ich weiter verhandle oder Abweisung beantrage, um das Befinden Sophia
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Atwoods abzuwarten und dann vor den Geschworenen gegen die Angeschuldigte vorzugehen.« »Hat die Verteidigung hiergegen etwas einzuwenden?« fragte der Richter. »Keineswegs«, erklärte Mason. »Sehr wohl. Wir unterbrechen die Verhandlung bis morgen früh zehn Uhr. Und ich möchte vorschlagen, daß bis zu dem Zeitpunkt umfangreiche Ermittlungen angestellt werden - falls über die Sache weiter verhandelt werden soll.« Richter Churchill verließ die Bank und ging in sein Amtszimmer. Ohne ein Wort an Mason drehte Hamilton Burger sich um und schritt aus dem Gerichtssaal.
16 »Hast du’s, Paul? Hast du’s kapiert?« platzte Mason mit kaum beherrschter Erregung heraus, sobald sie das Gerichtsgebäude hinter sich gelassen hatten. »Was kapiert?« fragte Drake. »Den Zusammenhang. Stuart Baxley hat die Wahrheit gesagt; nicht die ganze, aber einen wesentlichen Teil. Jetzt wissen wir, womit wir’s zu tun haben.« »Womit denn?« erkundigte sich Drake. »Siehst du denn nicht klar, Paul? Der Wasserkühler war weggerückt worden.« »Weggerückt?« »Genau, weggerückt. Mrs. Atwood hatte ihn in ihrem Schlafzimmer stehen. Wahrscheinlich gehörte sie zu den Leuten, die eine sehr kochsalzarme Diät einhalten müssen, und trank daher destilliertes Wasser. Sie hatte auch auf dem unteren Flur einen Wasserkühler - denn ich habe ihn da gesehen -, und einen im Schlafzimmer. Der war von seinem Platz gerückt worden.« »Woher weißt du das?« -1 4 0 -
»Die blinde Frau war dagegengerannt.« »Die blinde Frau?« staunte Drake. »So ist es. Wir sind nicht helle gewesen, Paul, wir haben das Naheliegende übersehen. Stuart Baxley versuchte, die Atmosphäre zu klären. Solange die Polizei glaubte, da seien hundert Dollar gestohlen worden, solange Sophia Atwood dem Tod näher als dem Leben war, konnte kein Mensch in das Haus einziehen und sich festsetzen. Gelang es Stuart Baxley aber, Katherine Ellis zu rechtfertigen und sie anschließend zum Wiedereinzug in der Haus zu bewegen, dann hätte er den untadeligen Freund der Familie spielen können. Siehst du klar, Paul?« »Ich sehe nur deine Begeisterung und Aufregung«, sagte Drake. »Was hat denn all das mit der blinden Frau zu tun?« »Wir sind blind gewesen«, belehrte Mason ihn. »Katherine Ellis hat mir erzählt, in dem Haus würde es spuken, sie höre nachts im Dunkeln geisterhafte Schritte. Und es befand sich auch jemand im Haus, als wir beide dort waren, noch jemand außer Stuart Baxley. Wir hörten doch die sonderbar schurrenden Geräusche. Die konnten von Filzpantoffeln stammen.« »Im Dunkeln?« fragte Drake. »Für Blinde ist es immer dunkel«, sagte Mason. »Diese blinde Frau kannte sich im Haus genau aus.« Bei dieser Feststellung Masons schien plötzliche Erkenntnis auf Drakes Gesicht zu dämmern. »Jetzt haut’s mich um!« rief er. »Beeilung, Paul. Wir steuern die Gillco Company an und überzeugen uns, wie’s deiner ›blinden‹ Detektivin ergangen ist.« »In deinem oder meinem Wagen?« fragte Drake. »In deinem. Ich muß nachdenken.« »Na, bisher hast du ganz gut nachgedacht«, versicherte Drake.
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»Wir hätten’s aber früher wissen müssen«, erwiderte Mason. »Du meine Güte, es drängte sich doch förmlich auf. Sophia Atwood und die Blinde hatten irgendein Abkommen; die Blinde kennt das Haus und jedes einzelne Möbelstück, weiß genau, wo alles steht und...« »Warum sollte aber dann jemand den Wasserkühler wegrücken?« fragte Drake. »Das ist es gerade. Der Wasserkühler wurde weggerückt, aber Mrs. Atwood hatte keine Zeit mehr, ihn wieder an seinen Platz zu setzen. Und die Person, die Mrs. Atwood mit der Stablampe auf den Kopf hämmerte, wußte entweder nicht, daß der Wasserkühler versetzt worden war, oder sie hatte nicht berücksichtigt, daß er wieder an seinen alten Platz gestellt werden mußte.« »Aber warum war er denn überhaupt versetzt worden?« »Weil die Person hinter dem Wasserkühler an die Wand heran wollte - oder auch an den Teppich darunter.« Drake seufzte. »Deine Gründlichkeit in solchen Fällen ist wahrhaftig nicht zu überbieten, Perry. Du fängst mit einer nervösen Kellnerin an und landest bei etwas, das weit über meinen Horizont geht.« »Im Augenblick geht’s auch noch über meinen eigenen«, gab Mason zu. »Ich denke mir aber, es hat etwas mit den Machtkämpfen bei der Gillco Manufacturing Company zu tun.« »Das wird sich bald zeigen«, sagte Drake. »Zumindest werden wir feststellen, was meine Mitarbeiterin ausgeknobelt hat.« Er steuerte geschickt durch den dichten Verkehr hinaus zum Industriegelände und parkte vor der Gillco Manufacturing Company. »Meine Detektivin sitzt noch da«, stellte er fest. »Offenbar hat’s keinen Zusammenstoß mit der Blinden gegeben.« Die beiden Männer stiegen aus und gingen auf die Frau zu, die mit gesenktem Kopf dasaß und einen Korb im Schoß hielt. »Was kosten die Bleistifte?« fragte Mason. -1 4 2 -
»Was Sie geben wollen«, antwortete die Frau mit monotoner, uninteressierter Stimme, »von zehn Cent aufwärts, soviel Sie anlegen möchten. Die Kugelschreiber kosten einen Dollar das Stück, und wenn Sie mehr bezahlen wollen, hängt das ganz von Ihnen ab. Nur verlangen Sie bitte nicht, daß ich herausgebe.« Drake beugte sich herunter, um einen Bleistift zu prüfen. »Vor etwa fünfzehn Minuten kam ein Mann heraus und kaufte einen Kugelschreiber«, sagte die Frau fast im Flüsterton. »Dabei ließ er einen Zettel in den Korb fallen.« »Können Sie mir den Zettel herausholen?« fragte Mason. »Im Moment nicht, ohne Verdacht zu erregen. Es waren Zahlen darauf, weiter nichts, nur zwei Reihen Zahlen.« »Wir schicken Ihnen ein Taxi«, sagte Mason. »Nehmen Sie Ihren Bleistiftkorb, steigen Sie ein, fahren Sie zu Drakes Büro. Halten Sie den Zettel bitte für Drake bereit.« »Ich soll nicht länger bleiben?« »Nein, Ihre Aufgabe ist erledigt«, erwiderte Mason. »Sie müssen jetzt verschwinden, ohne von der Blinden entdeckt zu werden.« »Sollte ich ihr denn nicht begegnen und durch Tonbandaufnahme...« »Nicht mehr«, sagte Mason. »Wir können uns inzwischen ein Bild von der Sache machen.« Mason nickte Paul Drake zu, der mit betonter Geste vier Dollar in den Korb legte, zwei Kugelschreiber entnahm und einen davon Mason überreichte. »Meine gute Tat für heute«, sagte er, »falls uns jemand beobachtet.« Sie gingen zurück zu Drakes Wagen. Von der nächsten Telefonzelle aus bestellte Drake ein Taxi für seine ›blinde‹ Detektivin. »Was machen wir jetzt?« fragte er. »Wir fahren zum Haus der Atwood und versuchen zu erforschen, warum der Wasserkühler überhaupt weggesetzt wurde.« -1 4 3 -
»Und wenn man uns dabei schnappt?« wollte Drake wissen. »Du weißt, wir sollen von dem Haus wegbleiben.« »Den haben wir«, sagte Mason, »aber ich vertrete eine Mandantin, und sie hat mir nicht befohlen, mich von dem Haus fernzuhalten.« »Wenn die Polizei uns erwischt, ist aber schwer was los.« »Sie könnte uns erwischen«, räumte Mason ein. »Unsere einzige Chance ist schnelle Arbeit, bevor ihnen klar wird, worauf wir abzielen.« »Ich kapiere das alles nicht«, sagte Drake. »Teilweise kann ich dir noch folgen; bei einiger Überlegung leuchtet es mir ein, daß die Blinde mit Sophia Atwood zusammensteckt - aber was soll das alles?« »Es geht hier offenbar um die Aktienmehrheit bei der Gillco Manufacturing Company«, erklärte Mason ihm. »Da ist Hubert Deering, dick vertraut mit Gillman, dem Direktor der Gesellschaft. Und Hubert Deerings Mutter, Bernice Atwood, sitzt auf dem gesamten Vermögen, das Gerald Atwood zu Lebzeiten gehörte. Kombinieren wir auf dieser Linie weiter, können wir einen recht guten Schluß ziehen; insbesondere im Hinblick auf die Tatsache, daß jemand bei der Firma Zugang zu Informationen hat und die blinde Frau ständig über den Kampf um die Aktien unterrichtet.« »Du meinst, das ist die Lösung?« fragte Drake. »Zwei Zahlen«, sagte Mason, »eine über der anderen.« Etwas von des Anwalts Aufregung begann sich in Drakes Stimme niederzuschlagen. »Du lieber Himmel, Perry, wenn es so ist, bist du wohl ziemlich dicht am Ziel.« »Hoffentlich sind wir noch rechtzeitig beim Haus der Atwood«, erwiderte Mason. »Wem müssen wir denn zuvorkommen?« »Zunächst Stuart Baxley. Ich glaube allerdings nicht, daß Baxley der Gedanke gekommen ist, es könne von Bedeutung sein, daß der Wasserkühler weggenommen und von irgend jemandem im Haus umgestoßen wurde.« -1 4 4 -
»Müssen wir uns heimlich einschleichen und...« »Wir stellen den Wagen direkt vorm Haus ab«, sagte Mason. »Dann benutzen wir meinen Schlüssel für die Vordertür und gehen ohne Umschweife hinein.« »Angenommen, die Polizei hat Wachen aufgestellt?« »Dann dauert es höchstens fünf bis zehn Minuten«,, prophezeite Mason, »und wir stecken knietief im Schlamassel.«
17 »Ich sehe keine Spur von Polizeiposten, Paul«, bemerkte Mason, als die beiden aus dem Auto stiegen. »Das besagt noch nicht, daß keiner da ist«, entgegnete Drake. »Na schön«, kicherte Mason, »das müssen wir ohnehin ausbaden. Wir haben eine Falle mit Köder ausgelegt, und jetzt marschieren wir unter Umständen selber hinein.« »Mir schmeckt die Sache nicht«, sagte Drake. »Wir handeln einer polizeilichen Anordnung zuwider.« »Die Polizei kann mir nicht vorschreiben, was ich zum Schutz eines Mandanten zu tun oder zu lassen habe«, erklärte Mason, während er zum Haus voranging. Er steckte den Schlüssel ein, öffnete die Tür und trat ein. »Menschenskind, willst du nicht erst mal klingeln?« fragte Drake. »Nimm an, es ist jemand im Haus und...« Der Anwalt stieg bereits die Treppen hinauf. Die Polizei hatte den zerbrochenen Wasserkühler nicht entfernt. Scherben von Glas und Steingut lagen an derselben Stelle; der durchweichte Teppich zeugte von der eingedrungenen Flüssigkeit. »Hier siehst du, was geschah, Paul«, sagte Mason. »Der Wasserkühler ist bewegt worden; er wurde teils gehoben, teils gezogen. Man sieht die Spuren auf dem Teppich. Dann wurde es versäumt, ihn zurückzusetzen. Er blieb zwischen diesen beiden Türen stehen, und wer den Raum durch die Tür hier -1 4 5 -
betrat und durch die andere verließ, mußte ihn genau im Weg finden.« »Na, hier ist aber nichts zu entdecken«, sagte Drake. »Ich sehe keinen Grund, warum jemand den Wasserkühler hätte wegrücken sollen.« Aber Mason lag schon auf den Knien und inspizierte den Platz, wo der Wasserkühler ursprünglich gestanden hatte. Er zog ein Taschenmesser hervor, führte es an der Teppichkante entlang und setzte die Klinge an der Ecke fest ein. Dann schlug er den Teppich zurück. »Hier ist eine regelrechte Falltür, Paul.« Drake beugte sich vor. Mason führte die Messerklinge in eine Dielenspalte, stemmte sanft und hob eine Tür, die an raffiniert versteckten Scharnieren befestigt war. »Heiliger Strohsack!« entfuhr es Drake. »Geld bis an den Rand!« Mason betrachtete den durch die offene Falltür freigegebenen Behälter und die gebündelten Geldscheine, die sorgfältig gehäuft in ihrem Versteck lagen. »Donnerwetter!« staunte Drake. »Sieh dir das an! Hundertdollarscheine - ein Vermögen muß das sein!« Mason klappte die Falltür hastig wieder zu, stand auf und stieß den Teppich über die Tür. »In Ordnung, Paul. Raus jetzt!« »Wieso raus?« »Weg hier meine ich!« »Und was machen wir mit diesem Geld?« »Was können wir denn machen?« »Wir müssen es der Polizei melden.« »Damit Bernice erscheint, behauptet, es gehöre zum Nachlaß ihres verstorbenen Mannes, und es in Besitz nimmt. Dann ist der Teufel los.« -1 4 6 -
»Wir können es aber doch nicht hier liegenlassen«, wandte Drake ein. »Angenommen, es wird von anderen Leuten entdeckt oder gestohlen?« »Nicht wir haben es hier versteckt«, sagte Mason. »Hoffen wir, daß Sophia Atwood endlich wieder zu Bewußtsein kommt, damit sie sich offen mit uns aussprechen kann. Die Sache ist völlig klar. Irgendwie hat sie es geschafft, einen ganzen Batzen Bargeld zu retten - oder in Bargeld zu verwandeln. Bernice trat die Nachfolge an und vereinnahmte alles, was nicht niet- und nagelfest war. Sophia aber brauchte sich keine Sorgen zu machen; sie hatte ein schönes Stück Vermögen für sich beiseite gebracht. Sie riskierte jedoch nicht, in Bernice auch nur den winzigsten Verdacht bezüglich dieser versteckten Reichtümer aufkommen zu lassen. Und so gab sie sich den Anschein einer Frau, die so gut wie alles im Leben verloren hatte. Natürlich sind wir jetzt in einer ganz üblen Lage, Paul. Sollte sie sterben, sitzen wir in der Patsche.« »Und wenn sie zu Bewußtsein kommt?« fragte Drake. »Wenn sie reden kann und ich es zu einem vertraulichen Gespräch mit ihr bringe, dann...«, feixte Mason, »na ja, Paul, in der Klemme sitzen wir auf jeden Fall.« »Das ist immer das Schlimme bei deinen Fällen«, jammerte Drake. »Ständig gerätst du in die Bredouille und ziehst mich mit hinein. Wenn diese Schatzkammer hier aufgestöbert und ausgeplündert wird - du grüne Neune! Du hast die Falle so gespickt, daß Bernice das Haus mit einem Staubkamm absuchen wird und...« »Und vergiß nicht unsern Freund Stuart Baxley«, fügte Mason hinzu. »Also«, fuhr Drake fort, »was ist, wenn die den Zaster finden und damit abhauen?« »Wir müssen es so drehen, daß die Polizei das Haus weiter beobachtet, bis sich an Sophia Atwoods Zustand etwas ändert entweder so oder so.« »Und inzwischen?« fragte Drake. -1 4 7 -
»Inzwischen machen wir, daß wir hier wegkommen - und zwar schnell!« Mason umging vorsichtig die Glasscherben und den nassen Fleck auf dem Teppich. »Paß auf, Paul«, warnte er. »Treten wir Glassplitter in den Teppich ein, wäre das ein todsicherer Hinweis auf Besucher, die hier waren. Wir wollen aber zur Zeit noch nicht das geringste verraten.« Er stieg über die letzten Glasstücke hinweg, ging hinaus auf den Flur und blieb wie angewurzelt stehen. Leutnant Tragg und ein Polizeibeamter in Uniform standen stumm und reglos in der Halle. »Nanu, Leutnant«, faßte Mason sich nach einem raschen Atemzug, »seit wann sind Sie denn schon hier?« »Lange genug, um den größten Teil Ihres Gesprächs gehört zu haben«, antwortete Tragg. »Gehen wir, nehmen wir Bestand auf.« »Haben Sie ein Herz.« »Ich habe ein Herz«, entgegnete Leutnant Tragg, »aber ich habe auch einen Kopf. Woher wußten Sie von diesem Geld?« »Nichts wußte ich«, bestritt Mason. »Ich schloß es aus...« »Woraus?« drängte Tragg, als Mason abbrach. »Ich denke«, versetzte Mason, »wir haben Ihnen bereits genügend Tips in dieser Sache gegeben.« Tragg ging mit dem Beamten ins Zimmer. »Kommen Sie auch herein«, forderte er Mason auf. »Sie und Drake setzen sich da drüben hin und halten sich fern. Sehen wir nach, was Sie gefunden haben. Eine Falltür war es also. Ich glaube... Aha, da haben wir’s schon.« Leutnant Tragg gab einen leisen Pfiff von sich, während er die Falltür hob und das Gelddepot ans Tageslicht brachte. »Stapeln Sie es dort auf dem Tisch«, befahl Tragg dem Beamten. »Wir werden sofort Bestandsaufnahme machen.«
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»Soll ich nicht erst telefonieren und Verstärkung anfordern?« fragte der Beamte. »Im Augenblick noch nicht«, sagte Tragg. »Ich brauche Sie als Zeugen für meine Integrität, wie Sie umgekehrt mich dafür brauchen. Wir zählen das gesamte Geld durch und schaffen es fort, bevor etwas damit passieren kann. Dann ist jeder von uns in der Lage zu beschwören, daß der andere nicht fünf Sekunden mit dem Geld allein war.« Tragg begann die Geldbündel hervorzuziehen, der Beamte stapelte sie auf dem Tisch und baute dabei aus den Päckchen ein massives Rechteck. »So, das war’s«, sagte Tragg schließlich. »Suchen Sie lange und gründlich, Leutnant«, empfahl Mason. »Wonach?« »Nach einem Briefumschlag oder einem Stück Papier am Boden der Höhlung.« »Da ist nichts mehr«, antwortete Tragg. »Sind Sie sicher, daß nicht doch noch irgend etwas da ist?« »Was meinen Sie mit ›irgend etwas‹?« »Ich suche ein Testament«, erklärte Mason. »Es könnte einfach ein gefaltetes Stück Papier sein, vom Verstorbenen eigenhändig geschrieben und datiert. Es könnte auch formeller aufgemacht sein und in einem Umschlag stecken.« »Nun, hier ist nichts weiter; alles kahl und leer. Und jetzt kommt das Zählen. Sie beide stellen sich hierher und kontrollieren uns dabei.« »Es sind alles Hundertdollarscheine«, sagte Mason. »Sie sind gebündelt zu - wie vielen?« »Fünfzig auf ein Bündel«, stellte Tragg fest, während er ein Päckchen durchblätterte. »Natürlich können wir nicht sicher wissen, ob nicht in manchen Bündeln mehr oder weniger als fünfzig sind. Jedenfalls lauten alle Streifen auf fünfzig. Das macht fünftausend Dollar pro Päckchen. Also, was haben wir hier?« -1 4 9 -
Leutnant Tragg zählte die Bündel eilig durch und verkündete mit ehrfurchtsvoller Stimme: »Dreihunderttausend Dollar in bar! Was soll man dazu sagen?« Plötzlich fuhr er zu Mason herum: »Ich wette, Sie könnten eine ganze Menge dazu sagen. Genau das haben Sie und Drake gesucht.« »Falls Sie einen Rat brauchen, Leutnant«, sagte Mason, »dann würde ich diese Entdeckung streng geheimhalten. Ich würde eine Wache im Haus aufstellen und abwarten, wer sich für das Geld interessiert.« Tragg lachte. »Ich soll die Stalltür abschließen, nachdem das Pferd gestohlen ist? Ich weiß, wer hinter dem Geld her war. Einmal Ihre Mandantin, Katherine Ellis. Sie wurde gestört und mußte ihrer Tante über den Schädel schlagen, um ihre Flucht zu bewerkstelligen. Es gelang ihr aber, Sie so weit zu informieren, daß Sie und Paul Drake zwei Versuche machten, das Geld zu holen. Dafür wäre Ihnen eine recht hübsche Anwaltsgebühr sicher gewesen.« »Unterstellen Sie mir eine Diebstahlsabsicht?« fragte Mason. »Diebstahl!« rief Tragg aus. »Himmel, natürlich nicht! Nur entdecken wollten Sie das Geld. Und auf Grund dieser Entdeckung sollte Stuart Baxley für ein Ablenkungsmanöver herhalten. Sie wollten das Geld als Teil von Sophia Atwoods Vermögen deklarieren. Sie wollten Katherine Ellis’ Freispruch durchsetzen, damit sie die alleinige Nutznießerin dieses ganzen Vermögens werden konnte. Sie wollten ihr das Nest polstern und dabei ein nettes Honorar für sich herausholen. Und leider« - Traggs Stimme klang bedauernd - »habe ich im Moment noch nicht mal genügend Beweise zusammen, um Sie ins Unrecht zu setzen. Sie könnten sogar auf der richtigen Spur sein, ich weiß nicht. Eines kann ich Ihnen jedenfalls sagen: Nach den jetzigen Umständen stecken Sie mit dem Hals in der Schlinge. Hamilton Burger kann dies als Beweis gegen Katherine Ellis verwenden und behaupten, sie habe von dem Geld gewußt und habe heranzukommen versucht. Damit ist ein Motiv für das -1 5 0 -
Verbrechen gegeben, und das Gericht wird daraufhin die Hauptverhandlung anordnen. Mag sein, daß Sie sie vor dem Schwurgericht freikriegen, ich weiß es nicht. Aber dies hier hat Ihnen keinen Vorteil gebracht. Sie hätten von Anfang an zur Polizei gehen und melden sollen, was Sie wußten.« »Aber ich wußte es ja nicht«, protestierte Mason, »ich hatte nur einen Verdacht.« »Mein Büro ist durchgehend vierundzwanzig Stunden täglich geöffnet«, sagte Tragg kühl. »Und jetzt wollen wir die Zentrale anrufen und Verstärkung holen.« »Wollen Sie diese Entdeckung wirklich bekanntgeben?« fragte Mason. »Wenn wir ein Bargeldlager von diesem Umfang entdecken, riskieren wir nicht das geringste«, erklärte Leutnant Tragg. »Wir legen unsere Karten offen auf den Tisch. Hamilton Burger wird innerhalb der nächsten zwanzig Minuten unterrichtet sein. Und jetzt, meine Herren, sehen wir keinen Anlaß, Sie noch länger hierzubehalten. Für Ihre Schnüfflerdienste sind wir Ihnen außerordentlich verbunden. Sie werden wahrscheinlich noch vor Ablauf des Tages vom Bezirksstaatsanwalt hören. Unterdessen steht es Ihnen frei zu gehen, wenigstens zeitweilig, und genau das sollen Sie jetzt tun.« Mason und Drake wurden von den Beamten zur Treppe geführt und stiegen langsam hinunter. »Bitte sehr, Perry, es ist deine Schau«, sagte Drake. »Was tun wir als nächstes?« »Das sage ich dir erst, wenn wir draußen sind«, erwiderte Mason. Als sie das Haus verlassen hatten und zum Wagen gingen, eröffnete Mason ihm: »Wir werden im Auftrag der Verteidigung in der Sache des Volkes gegen Katherine Ellis eine Ladung ausfertigen und sie der blinden Frau zustellen. Damit steht dir verflixt viel Arbeit bevor, Paul. Du mußt Leute einsetzen, die das Haus vorn und hinten beobachten. Du mußt einen Mann bei der Gillco Manufacturing Company aufstellen, und du mußt Mrs. Gooding eine Ladung zustellen.« »Der Hausverwalterin?« fragte Drake erstaunt. -1 5 1 -
»Ja.« »Warum ihr?« »Weil wir auf einen kolossalen Bluff hereingefallen sind«, erläuterte Mason. »Als wir an Mrs. Gillmans Tür klingelten, um mit dieser blinden Lady Kontakt aufzunehmen, rief sie Mrs. Gooding an und beauftragte sie festzustellen, um was es ging. Nachdem wir uns dann entschlossen zeigten, entweder in die Wohnung der Blinden zu gelangen oder Schwierigkeiten zu machen, ließ Mrs. Gooding die blinde Frau über die Hintertreppe nach unten in ihre Wohnung entwischen, während wir hinaufgingen und die Wohnung im zweiten und dritten Stock besichtigten. Das ganze Apartment im zweiten Stock ist nur ein großer Schaukasten. Die Blinde wohnt in Wirklichkeit bei Mrs. Gooding. Zum Schluß werden wir feststellen, daß Mrs. Gooding für sie kocht und saubermacht und daß die obere Wohnung eine Attrappe ist.« »Wie kommst du darauf?« fragte Drake. »Die Räume machten keinen bewohnten Eindruck. Die Luft roch schal und muffig. Dazu kommt, daß das Apartment im dritten Stock leerstand. Es würde mich wenig überraschen, wenn der Blinden das ganze Haus gehörte und Mrs. Gooding nur ein Aushängeschild wäre.« »Willst du denn nicht mit ihr sprechen, bevor du sie in den Zeugenstand holst?« schlug Drake vor. Mason schüttelte lächelnd den Kopf. »Wir werden alles vor Gericht aufklären. Wenn ich dann mit der Frau rede, steht sie unter Eid und weiß, daß weiteres Vertuschen ihr nichts einbringt. Reiße ich ihr die Maske ab und versuche, sie vor Gericht zu schleppen, wird sie sich widersetzen, und das Gericht muß mißtrauisch werden. Wenn ich ihr eine Ladung als Zeugin zustelle und sie erst in der Verhandlung vernehme, wo sie die Wahrheit sagen muß, kommt möglicherweise etwas Nützliches dabei heraus.« »Und in der Zwischenzeit?« erkundigte sich Drake. Masons Stimme lang müde. »Oh, inzwischen wird Hamilton Burger die Zeitungen in das Geheimnis des Bargeldbunkers -1 5 2 -
einweihen. Rundfunk, Fernsehen und Presse werden lautstark verkünden, daß im Haus der überfallenen und mit dem Tode fingenden Frau bare dreihunderttausend Dollar gefunden wurden; daß diese Riesensumme das Verbrechensmotiv darstelle, das die Polizei bisher nur vermutet habe, aber nicht nachweisen konnte - bis durch die brillante Ermittlungstätigkeit Leutnant Traggs das Geheimnis ans Licht kam, was wiederum Perry Mason und einen Privatdetektiv, die eigene Pläne hatten, in größte Verlegenheit brachte.« »Und du willst in dieser ganzen Sache noch ein Risiko eingehen und dich auf die Aussage der blinden Frau verlassen?« »Genau das werde ich tun«, versicherte Mason. »Da haben wir Sophia Atwood mit einer Hutschachtel voller Hundertdollarscheine im Schrank und einem Geheimfach voller Geld; da ist Stuart Baxley, der Freund der Familie; Bernice Atwood, die rechtmäßige Witwe von Gerald Atwood; da ist die Tatsache, daß die Blinde unter dem Namen Gillman zumindest auftritt und daß Machtkämpfe bei der Gillman Manufacturing Company im Gange sind; da haben wir den Umstand, daß Sophia Atwood, nachdem ihr die Entdeckung der mit Hundertern gefüllten Hutschachteln durch Katherine Ellis klargeworden war, all jene ausgeklügelten Maßnahmen traf und einen einzelnen Hundertdollarschein mit Begleitumständen verlor, unter denen sie Stuart Baxley um Hilfe bitten konnte; da haben wir ferner die Tatsache, daß Hubert Deering, Bernice Atwoods Sohn, sich bei der Gillco Manufacturing Company herumdrückt; schließlich den Umstand, daß die Blinde jemanden bei der Firma hat, der ihr Informationen zuspielt; daß sie sich beim Bleistiftverkauf von Sophia Atwood ablösen ließ, wenn sie nicht selbst dasitzen konnte, um Informationen entgegenzunehmen.« »Du meinst, dieser Bleistifthandel war ein Deckmantel für Werkspionage?« fragte Drake. Mason nickte.
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»Wieso aber konnte der Informant der blinden Frau nicht einfach einen Brief schicken oder sie anrufen?« »Weil er bei Lieferung der Information gleichzeitig instruiert wurde«, sagte Mason. »Und die blinde Frau wollte ihre Aufträge persönlich erteilen.« »Eine Blinde, die Aufträge erteilt?« »So ist es«, bestätigte Mason.
18 »Ich darf voraussetzen, Herr Staatsanwalt«, sagte Richter Churchill, »daß sich diese Sache während der letzten vierundzwanzig Stunden in recht dramatischer Weise entwickelt hat?« »Ganz recht, Euer Ehren. Ich möchte jetzt Leutnant Tragg dazu hören.« »Bitte sehr.« Tragg nahm auf der Zeugenbank Platz. Nach seiner Aussage hatte er zusammen mit einem Beamten im Hause der Sophia Atwood eine Polizeifalle gelegt. Seiner Ansicht nach hatte der Verteidiger von Katherine Ellis Angaben erhalten, die ihn zu dem Haus zurückkehren ließen. Während er, Tragg, mit dem Beamten dort heimlich Wache stand, hatten Mason und Paul Drake das Haus betreten und waren die Treppe hinauf in ein Zimmer gegangen, in dem ein umgeworfener Wasserkühler lag. Dort hatten sie ein Geldversteck gefunden. Als sie das Haus verlassen wollten, hatten die beiden Beamten sie gestellt und von dem versteckten Bargeld Bestand aufgenommen. Es waren dreihunderttausend Dollar in Hundertdollarscheinen gewesen. »Kreuzverhör«, sagte Hamilton Burger. Mason äußerte in gelangweiltem, uninteressiertem Ton: »Keine Fragen.« Hamilton Burger konnte Zeugen beibringen, nach deren Aussagen die Taschenlampe, die offensichtlich als Schlagwaffe gegen Sophia Atwood benutzt worden war, die unverwechselbaren Fingerabdrücke der Angeschuldigten trug. -1 5 4 -
Als Burger mit dem Sachverständigen für Fingerspuren fertig war und ihn Mason zum Kreuzverhör überließ, stellte dieser nur eine einzige Frage: »Sie können nicht sagen, wann jene Fingerabdrücke hinterlassen wurden, nicht wahr?« »Nein«, gab der Sachverständige zu. »Sie können während des Überfalls entstanden sein, ebensogut aber schon vorher.« »Keine weiteren Fragen«, schloß Mason sein Kreuzverhör. Der Hausnachbar sagte über den heimlichen mitternächtlichen Besuch der Angeschuldigten aus, was wiederum zu keinem Kreuzverhör führte. Hamilton Burger rief den Taxifahrer auf, der bezeugte, er habe die Angeschuldigte auftragsgemäß zu Sophia Atwoods Haus gefahren. Dabei sei er ermahnt worden, unnötigen Lärm zu vermeiden. Richter Churchill warf Mason von Zeit zu Zeit einen nachdenklichen Blick zu und schien überzeugt, des Anwalts gleichgültige, fast gelangweilte Haltung sei auf die Tatsache zurückzuführen, daß er sich in das Unvermeidliche füge; daß er infolge der überraschenden Entwicklung während der letzten vier-undzwanzig Stunden die Anklage vor der höheren Instanz für unabwendbar halte. Als Hamilton Burger den Beweisvortrag abgeschlossen hatte, ließ Richter Churchill diese Gedanken durchblicken. »Es hat sich jetzt ergeben«, sagte er, »daß zum Beweis des ersten Anscheins durchaus genügend vorgetragen wurde, um die Hauptverhandlung gegen die Angeschuldigte zu rechtfertigen. Diesen Eindruck hatte ich gestern noch nicht, aber das nun vorliegende Beweismaterial ist...« Der Richter brach ab, als Mason sich erhob und stehenblieb, offenbar in der Erwartung, sich einschalten zu können. »Ich darf dem Gericht mitteilen«, sagte Mason, »daß ich etwas zur Verteidigung vorbringen möchte. Ich habe eine Zeugin geladen, die, wie ich glaube, vollständig blind ist. Ihr Name - oder zumindest der angegebene Name - ist Mrs. Gillman. Die Ladung wurde ordnungsgemäß zugestellt. Falls -1 5 5 -
Mrs. Gillman nicht erschienen ist, bitte ich um richterliche Ermächtigung zur zwangsweisen Vorführung.« Von einer der hinteren Bänke erhob sich eine Frau und rief: »Mrs. Gillman ist auf die Vorladung erschienen. Ich werde sie hereinführen.« Mason nickte und setzte sich wieder. Das Schweigen, das darauf entstand, unterbrach Richter Churchill: »Sie haben selbstverständlich das Recht, Entlastungszeugen einzuführen. Wobei Sie natürlich wissen, Mr. Mason, daß wir in einem solchen Verfahren für gewöhnlich nicht über die Glaubwürdigkeit der verschiedenen Zeugen entscheiden. Das Gericht beurteilt die Beweise der Staatsanwaltschaft nach ihrem äußeren Anschein, und ergibt sich daraus ein prima facie-Fall, wird die Angeschuldigte dem höheren Gericht überstellt, ohne Rücksicht auf etwaige Widersprüche in den Zeugenaussagen.« »Ich verstehe«, sagte Mason. Die hintere Tür des Gerichtssaales wurde geöffnet, und herein trat Minerva Gooding. Sie führte eine Frau mit tiefdunkler Brille am Arm, die sich ungewöhnlich geradehielt. Einen schwarz-weiß-gestreiften Stock in der Hand, ausgesprochen elegant gekleidet, schritt diese Frau mit einer gewissen Selbstsicherheit nach vorn. Sie wurde zum Zeugenstuhl geleitet, hob die rechte Hand und leistete den Eid. Ihren Namen gab sie mit Sophia Gillman an. Mason ging auf die Zeugenbank zu. »Mrs. Gillman«, sagte er, »haben Sie mich schon einmal gesehen?« »Ich habe in den letzten zehn Jahren keinen Menschen gesehen«, antwortete die Frau. »Habe ich jemals mit Ihnen gesprochen?« »Nein. Ich habe Ihre Stimme jedoch schon gehört.« »Wann?« »Als Sie mit Minerva Gooding über mich sprachen und in meine Wohnung gelangen wollten; als Sie nach meiner -1 5 6 -
Verbindung zu Sophia Atwood fragten. Ich weiß nicht, wie Sie das alles herausfanden, hatte aber den Eindruck, daß sich da einiges zusammenbraute.« Hamilton Burger wechselte einen verdutzten Blick mit Leutnant Tragg und erhob sich. »Gehört das alles zur Sache, Euer Ehren?« schaltete er sich ein. »Ich werde den Zusammenhang nachweisen«, sagte Mason. »Nun, ich glaube, wir sollten den Zusammenhang vorher kennen«, beharrte Burger. »In Ordnung«, wandte Mason sich der blinden Frau zu. »In welchem Verwandtschaftsverhältnis stehen Sie zu der Angeschuldigten, Katherine Ellis?« »Ich bin ihre Tante Sophia«, antwortete die Frau würdevoll. »Was?« rief Hamilton Burger ungläubig aus und setzte sich im nächsten Moment auf seinen Platz, denn aller Kampfgeist schien ihn verlassen zu haben. »Und wer ist die Frau, die in jenem Haus wohnte und als Sophia Atwood bekannt ist?« fuhr Mason fort. »Das ist meine einstige Haushälterin, Mildred Addie.« »Und Mildred Addie verkörperte Sie mit Ihrer Zustimmung?« »Ganz richtig.« »Würden Sie uns diese Geschichte bitte erläutern?« »Es hat wohl keinen Sinn, jetzt noch irgend etwas zu verheimlichen«, sagte die Zeugin matt. »Ich bin Sophia Ellis Gillman. Ich hatte keine Angehörigen außer meinem Bruder, der ein netter Mensch, aber ein Verschwender war. Er rannte dem Erfolg nach und hatte keine Zeit für arme Verwandte. Der einzige Mensch auf der Welt, der sich überhaupt für mich interessierte, war Katherine Ellis. Ich glaube, sie ist die Beschuldigte in diesem Prozeß. Es tut mit leid, daß ich sie nicht sehen kann. Mildred Addie war mir in vieler Hinsicht bemerkenswert ähnlich. Sie war meine Hauswirtschafterin, und als ich dann blind wurde, ließ ich sie meine Identität annehmen. Aber jetzt bin ich meiner Geschichte schon voraus.« »Bitte sprechen Sie weiter«, sagte Mason. -1 5 7 -
Im Gerichtssaal herrschte vollkommene Stille. Viele Zuschauer beugten sich vor, um besser zu hören. Richter Churchill betrachtete die Zeugin in rundäugigem Staunen. »Eine Zeitlang hatte ich den Kontakt zu meinen Verwandten völlig verloren«, fuhr die Zeugin fort. »Dann wurde mir klar, daß ich allmählich erblindete. Inzwischen aber hatte ich ein beachtliches Vermögen angesammelt. Ich wollte kein Mitleid mit meinem Unglück, und ich legte keinen Wert darauf, daß mein Bruder, der sich einer armen Verwandten gegenüber nicht verpflichtet gefühlt hatte, sich mit irgendwelchen verrückten Entwicklungsideen bei mir anbiederte. Inzwischen hatte ich Jerome Gillman geheiratet, den Gründer der Gillco Manufacturing Company. Er starb und hinterließ mir ein beachtliches Vermögen, unter anderem ein dickes Aktienpaket der Gillco Company. Außerdem hinterließ er noch einen Sohn aus erster Ehe, einen unmoralischen, nichtsnutzigen Trottel Spencer Gillman, jetzt Direktor der Gesellschaft. Für eine blinde Frau ist es nicht zweckmäßig, ein Bankkonto zu haben. Und es ist zum Beispiel keinesfalls empfehlenswert, offenkundig werden zu lassen, daß sie über nennenswerten Besitz verfügt. Ich vereinbarte daher mit Mildred Addie - die ja in meiner Person auftrat -, im Haus ein Versteck einzubauen. Von Zeit zu Zeit machte ich da einen Besuch und hinterließ Geld oder Wertpapiere - meistens Geld. Weil ich jahrelang in dem Haus gewohnt hatte, kannte ich jeden Fußbreit und konnte mich zu jeder Tages- oder Nachtstunde völlig sicher darin bewegen. Dann verliebte sich Mildred - immer noch unter meinem Namen - in Gerald Atwood, einen verheirateten Mann, der von seiner Frau getrennt lebte, es aber unterlassen hatte, für eine reguläre Scheidung zu sorgen. Dadurch wurde die Lage ungeheuer kompliziert. Ich sah mich gezwungen, meinem Bruder zu schreiben, daß ich Gerald Atwood geheiratet hätte. Das tat ich ungern, aber andernfalls hätte ich die ganze Montage aufs Spiel gesetzt. Dann starben mein Bruder und seine Frau bei einem Autounglück, und kurz darauf fiel Gerald Atwood beim Golfspiel tot um. Seine raffgierige Ehefrau vereinnahmte alles, was ihr -1 5 8 -
unter die Finger kam. Katherine Ellis stand vor dem Nichts und war völlig verlassen. Ich beauftragte Mildred Addie, Katherine zu schreiben - als Sophia Atwood - und sie einzuladen. Ich wollte das junge Mädchen kennenlernen und feststellen, ob sie an Verschwendungssucht litt wie ihr Vater, oder ob sie eine gute Portion gesunden Menschenverstandes besaß. Daher instruierte ich Mildred, wie sie sich verhalten sollte. Alles lief wundervoll, bis sich irgendwie herumsprach, daß Bargeld im Haus versteckt war. Das führte zu Schwierigkeiten. Ich glaube, die Sache wäre ohnehin geplatzt, denn bei der Gillco Manufacturing Company stritt man sich um die Aktienmehrheit. Und Spencer - Jerome Gillmans Sohn aus früherer Ehe, wie gesagt -, den ich verabscheue, war im Bilde, daß sein Vater mir das Aktienpaket hinterlassen hatte und daß die Anteile auf meinen Namen lauteten. Er wußte aber nicht, wo ich mich aufhielt. Allmählich kam er jedoch auf die Idee, daß Mildred Addie, die als Sophia Atwood auftrat, im Besitz dieser Aktien war. Als blinde Trödlerin hielt ich Kontakt mit Leuten in der Firma, die wußten, welch ein Gauner Spencer ist, und ihn hinausdrängen wollten. Aber Spencer ist gerissen. Er ließ Stuart Baxley sich mit der Sache befassen. Der sollte sich Mildred so intensiv widmen, daß er im Haus ein und aus gehen konnte. Ich warnte Mildred vor ihm, aber sie wollte nicht hören. Sie war zeitweise ziemlich eigensinnig. Na, das hat sie jetzt davon - einen Schlag auf den Kopf.« »Wissen Sie, wer es war, der sie mit der Taschenlampe schlug?« fragte Mason. »Nein. Ich weiß nur soviel: Es muß jemand gewesen sein, der den Wasserkühler wegschob und dort stehenließ, wo ich ihn dann umwarf. In meinem ganzen Leben habe ich nicht solche Angst gehabt. Ich ging wie immer durchs Haus, stieß plötzlich gegen diesen Wasserkühler und warf ihn mit donnerndem Krach um. Ich hörte einen Mann rennen und dann Männerstimmen. Ich mußte die Hintertreppe hinunter und durch die Hintertür verschwinden. Es ging aber alles klar, weil -1 5 9 -
Minerva Gooding mich da unten im Auto erwartete. In der Nacht des Überfalls aber war ich nicht im Haus. Darüber weiß ich nicht das geringste.« »Vielen Dank, Mrs. Gillman«, sagte Mason. »Das ist alles.« Die Blinde erhob sich und wartete auf ihre Begleitung, um sich an ihren Platz zurückführen zu lassen. Als sie an Masons Tisch vorüberging, hörte sie Katherine Ellis’ tränenerstickte Stimme: »Tante Sophia!« »Kind!« rief die Blinde und tastete sich vor, dem Klang der Stimme nach. Die beiden Frauen umarmten sich. Einen langen Augenblick wartete Richter Churchill, bevor er sanft mit dem Bleistift auf den Tisch klopfte. »Wir haben es in Kürze hinter uns«, sagte Mason leise zu Sophia Gillman und wandte sich dann dem Gericht zu. »Euer Ehren, ich möchte Leutnant Tragg als Zeugen vernehmen.« »Leutnant Tragg in den Zeugenstand«, bestimmte der Richter, der jetzt offensichtlich neugierig schien. »Leutnant«, fragte Mason, »haben Sie bedacht, daß die Person, die den gläsernen Wasserkühler verrückte, überall am Glasbehälter Fingerspuren hinterlassen mußte?« »Nun, nicht überall«, antwortete Tragg. »Ich gebe zu, daß ich zuerst noch nichts in der Richtung unternahm. Aber das Glas war noch vorhanden, und wir haben es später zur Spurensicherung bestäubt.« »Konnten Sie Abdrücke sichtbar machen?« »Ja, wir erhielten einen sehr guten Satz Fingerabdrücke und darüber hinaus Handflächenabdrücke; zweifellos von der Person, die den Wasserkühler teils durch Heben, teils durch Ziehen aus seiner Ecke geholt hat.« »Und deckten sich einige dieser Fingerspuren mit jenen an der fünfzelligen Stablampe, die offenbar als Waffe benutzt worden war?«
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»Zwei oder drei davon waren die gleichen Abdrücke, ja. Aber wir wissen nicht, wem sie gehören.« »Wissen Sie aber zuverlässig, daß es keine Abdrücke der Angeschuldigten sind?« »Ja, Sir.« »Danke, Leutnant. Das ist alles.« Tragg und Hamilton Burger sahen sich verblüfft an. Burger erhob sich und war im Begriff, etwas zum Richter zu äußern. Er besann sich indessen und nahm zögernd wieder Platz. »Mein nächster Zeuge, Euer Ehren, ist parteiisch«, kündigte Mason an. »Ich bitte daher, Suggestivfragen stellen zu dürfen.« »Wer ist dieser Zeuge?« »Hubert Deering ist sein Name.« »Sehr wohl«, sagte Richter Churchill. »Wir behalten uns die Entscheidung hinsichtlich der Parteilichkeit des Zeugen vor, bis diese sich erwiesen hat.« »Ich sehe, daß Mr. Deering im Gericht anwesend ist«, fuhr Mason fort, »und möchte ihn als Zeugen vernehmen.« Hubert Deering - derselbe unbedeutende junge Mann, dem Mason im Büro der Gillco Manufacturing Company begegnet war, stand auf und schlenderte zur Zeugenbank. Sein Benehmen war aggressiv und selbstbewußt. Er hob die Hand, wurde vereidigt und wandte sich Mason feindselig zu. »Sie sind Bernice Atwoods Sohn?« begann Mason. »Der bin ich«, kam es patzig zurück. »Sie stehen in Geschäftsverbindung mit Spencer Gillman?« »Das geht Sie nichts an.« »Ich habe Sie nicht nach der Art der Geschäfte im einzelnen gefragt«, sagte Mason. »Ich stelle Ihnen lediglich eine Frage, die mit ›ja‹ oder ›nein‹ beantwortet werden kann. Sie bezieht sich darauf, ob Sie mit Spencer Gillman irgendwie in Geschäftsverbindung stehen oder standen.« »Das geht Sie nichts an.« -1 6 1 -
Mason ging zum Anwaltstisch, wo Della Street ihm eine blanke metallene Aktenklemme reichte, die einen Bogen Papier enthielt. Der Anwalt faßte die Aktenklemme an den Kanten, näherte sich dem Zeugen und hielt sie ihm entgegen. »An dieser Aktenklemme«, erklärte er, »hängt die Kohlekopie eines Briefes an Gerald Atwood, der ein Testament betrifft. Ich bitte Sie, die Kopie aufmerksam zu lesen und mir zu sagen, ob Sie das Original dazu schon einmal gesehen haben.« Mason drückte dem Zeugen die metallene Heftklammer in die Hand. Der Zeuge warf einen Blick auf die Briefkopie und fragte: »Was hat denn das hier mit der Sache zu tun?« »Ich frage Sie«, wiederholte Mason, »ob Sie das Original zu dieser Kopie schon einmal gesehen haben.« »Die Frage habe ich verstanden. Aber ich frage Sie, was das mit der Sache zu tun hat.« »Ich werde den Zusammenhang beweisen«, sagte Mason. »Haben Sie den Brief also gesehen?« Der Zeuge zögerte, antwortete dann trotzig: »Also gut, ich habe den Brief gesehen. Meine Mutter zeigte ihn mir. Sie war sehr aufgeregt darüber. Ich sagte ihr, das wäre Bluff - eine Falle, von Ihnen erfunden. Und ich behaupte noch immer, daß es eine Falle ist. Ich glaube nicht, daß Sie Gerald Atwood zu Lebzeiten jemals gekannt haben oder daß Sie ihm jemals einen Rat gaben. Ich halte die ganze Sache für Schwindel.« Damit schleuderte der Zeuge die Metallklammer mit dem Brief buchstäblich zu Mason zurück. »Besten Dank, Mr. Deering«, sagte Mason betont höflich. Er wandte sich um, faßte die Klammer an den Kanten und ging zum Tisch der Staatsanwaltschaft, wo Leutnant Tragg neben Hamilton Burger saß. »Alsdann, Leutnant«, sagte er, »wenn Sie die latenten Fingerspuren entwickeln, die dieser Zeuge auf der glatten Oberfläche der Metallklemme hinterließ, wenn Sie sie dann mit -1 6 2 -
den Abdrücken am Glas des Wasserbehälters und mit den nicht identifizierten Abdrücken auf der Taschenlampe vergleichen dann, glaube ich, ist das Problem wohl gelöst.« Mason ging zum Anwaltstisch zurück und setzte sich. Mit einem einzigen Blick hatte Burger am Gesichtsausdruck des Zeugen die Lage erkannt. Als alter Hase stellte er sich prompt darauf ein. »Dieser Vergleich wird etwas Zeit in Anspruch nehmen, Euer Ehren«, sagte er. »Dürfen wir das Gericht um eine halbe Stunde Pause bitten?« »In Ordnung«, stimmte Richter Churchill zu. »Das Gericht zieht sich für dreißig Minuten zurück.« Die Zuhörer im Saal begannen die dramatische Entwicklung unter lautem Spektakel zu diskutieren. Hubert Deering versuchte zur Tür durchzudringen. Mit fragend hochgezogenen Augenbrauen blickte Hamilton Burger zu Perry Mason hinüber. Mason schüttelte den Kopf. »Flucht gilt in diesem Staat als Beweis für Schuld«, sagte er leise. »Bei der Mentalität des Burschen ist damit zu rechnen, daß er wegläuft. Sie können ihn irgendwo an der mexikanischen Grenze ergreifen und haben damit sogar noch stärkere Beweise als jetzt gegen ihn.« Die blinde Frau und Katherine Ellis standen beisammen und führten leise ein erregtes Gespräch. Hamilton Burger betrachtete sie und wandte sich wieder zu Mason. »Perry«, sagte er, »wenn Sie diesmal richtig getippt haben, will ich Ihnen den Sieg nicht mißgönnen.« »Ich habe richtig getippt«, antwortete Mason grinsend.
19 Nach genau dreißig Minuten kehrte Richter Churchill in den Saal zurück.
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»Sind Sie fertig mit dem Zeugen Deering?« fragte er Perry Mason, nachdem das Gericht wieder vollständig versammelt war. »Nein, ich war noch nicht fertig mit ihm, aber er scheint nicht mehr anwesend zu sein. Leutnant Tragg ist jedoch da, und ich möchte ihm gern einige Fragen stellen.« Tragg kam wieder nach vorn. »Haben Sie die Fingerabdrücke verglichen?« fragte Mason. »Ja.« »Fanden Sie übereinstimmende Merkmale?« »Eine ganze Serie völlig gleichartiger Merkmale. Hubert Deering hinterließ Fingerspuren auf der Stablampe, die als Waffe benutzt wurde, und auf der Glasflasche, die das Trinkwasser enthielt.« »Wissen Sie, wo Mr. Deering sich jetzt aufhält?« Leutnant Tragg grinste. »Das weiß ich genau.« »Wo?« fragte Mason. »Er verließ den Gerichtssaal, fuhr im Lift hinunter, ging zum Parkplatz, stieg in seinen Wagen und startete gen Süden. Auf meinen Befehl folgt ihm ein Detektiv. Er fährt einen gewöhnlichen Zivilwagen und ist mit einem Funksprechgerät ausgerüstet. Darüber berichtet er laufend. Hubert Deering steuert zur Zeit offenbar die mexikanische Grenze an.« »Wenn das Gericht gestattet«, erhob sich Hamilton Burger, »möchte ich eine Erklärung abgeben.« »Selbstverständlich«, sagte Richter Churchill. »Während der letzten halben Stunde der Verhandlung haben die Dinge eine überraschende Wendung genommen. Die glatte Metalloberfläche jener Aktenklemme ergab einen perfekten Satz Fingerspuren. Nach ihrer positiven Identifizierung stammen sie von derselben Person, die Fingerabdrücke auf der Taschenlampe und dem Wasserkühler hinterließ. Bedeutsamer noch ist die Tatsache, daß die unter dem Namen Sophia Atwood im Krankenhaus befindliche Frau, deren richtiger Name offenbar Mildred Addie lautet, das Bewußtsein so weit -1 6 4 -
zurückerlangt hat, um aussagen zu können, ihr Angreifer sei ein Mann gewesen. Sie sah ihn, kurz bevor sie bewußtlos geschlagen wurde. Die Ärzte wünschen nicht, daß sie zur Zeit schon Einzelheiten berichtet, doch ist sie anscheinend auf dem Weg der Besserung. Die Operation war erfolgreich.« Richter Churchill zog die Stirn in Falten. »Haben Sie das Motiv festgestellt?« fragte er. »Allem Anschein nach«, fuhr Burger fort, »hatte Deering irgendwie erfahren, daß es in dem Haus ein Versteck gab. Offenbar hatte er Grund zu der Annahme, daß Kapitalaktien der Gillco Manufacturing Company, die er auffinden wollte, auf Gerald Atwood übertragen worden waren; und er glaubte diese Aktien im Besitz von Sophia Atwood. Er hoffte zu beweisen, daß Bernice Atwood, seiner Mutter, der Rechtsanspruch zustand, falls er die auf Gerald Atwood lautenden Zertifikate fand. Er war der Meinung, Sophia habe diese Aktien ebenso wie ihr gesamtes sonstiges Vermögen Gerald übertragen. Er war auch auf der Suche nach einem von Gerald Atwood abgefaßten Testament, das er vernichten wollte. Wir sind uns noch nicht sicher über alle seine Beweggründe; hätte er aber beweisen können, daß dieses Aktienkapital zu Gerald Atwoods Nachlaß gehörte und seine Mutter es beanspruchen konnte, dann wäre Deering eine hübsche Prämie von den Gillco-Leuten sicher gewesen.« »Unter diesen Umständen«, sagte Richter Churchill, »dürfte es für Sie wohl nur eines zu tun geben.« »Ich tue es bereitwilligst und beantrage hiermit die Einstellung des Verfahrens gegen Katherine Ellis.« »Das Gericht wird entsprechenden Beschluß ergehen lassen. Bevor wir uns zurückziehen, möchte ich empfehlen, daß alle Personen sich dem Zeugenraum fernhalten außer der Angeschuldigten, ihrem Verteidiger, seiner Sekretärin und der blinden Dame, die sich als so interessante Persönlichkeit erwiesen hat. Ich halte ein Familientreffen für angemessen. Die Angeschuldigte ist aus der Haft entlassen. Das Verfahren wird eingestellt. Die Sitzung ist geschlossen.« -1 6 5 -
Mit einem kurzen Freudenschrei legte Katherine Ellis Mason die Hand auf die Schulter, schnellte sich hoch und flog förmlich durch den Saal - in die Arme der Blinden. Lächelnd nahm Mason die ausgestreckte Hand Hamilton Burgers.
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