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Buch: Von wem stammt der blutrote Lippenabdruck auf der Stirn des Toten? Von seiner Frau, die er verließ? Oder von...
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Buch: Von wem stammt der blutrote Lippenabdruck auf der Stirn des Toten? Von seiner Frau, die er verließ? Oder von seiner Geliebten, die er betrog?
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Erle Stanley Gardner
Perry Mason und der letzte Kuss
Scherz -3-
Einmalige Ausgabe 1999 Titel des Originals: »The Case of the Crimson Kiss« Copyright © 1948 by Erle Stanley Gardner Alle deutschsprachigen Rechte beim Scherz Verlag, Bern, München, Wien. Gesamtherstellung: Clausen & Bosse, Leck ISBN: 3-502-79171-6
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Perry Mason und der letzte Kuss 1 Fay Allison war wie berauscht. Vollkommen mit sich und ihren Gefühlen beschäftigt, entging ihr der blanke Haß in Anitas Augen. In ihre romantischen Zukunftsaussichten verloren, redete sie ohne Punkt und Komma auf ihre Freundin, mit der sie die Wohnung teilte, ein. Sie wollte sie teilhaben lassen an ihrem Glück. Der starke Cocktail, den Anita vor dem Essen gemixt hatte, tat das seine, Fay die Zunge zu lösen. »Mir war schon lange klar, daß ich ihn liebe!« beteuerte sie inbrünstig. »Aber, ich schwörʹs dir, Anita, ich wäre nie auf die Idee gekommen, daß Dan der Typ ist, der überhaupt an eine Ehe denkt. Er hat eine unglückliche Affäre hinter sich, über die er heute noch nicht ganz hinweg ist. Außerdem kam er mir immer so kolossal reserviert, ja fast desinteressiert vor. Dabei ist er im Grunde genommen der romantischste und zärtlichste Mann, dem ich je begegnet bin. Anita, ich verdiene ihn ja gar nicht!« Anita Bonsal hatte ihren leeren Teller zurückgeschoben und spielte mit ihrem Cocktailglas herum. Sie starrte darauf hinunter, um ihren glühenden Haß vor Fay zu verbergen. Dabei drehte sie den Stiel hin und her, hin und her. »Steht das Datum schon fest?« erkundigte sie sich in möglichst beiläufigem Ton. -5-
»Ja. Wir warten nur noch Tante Louises Ankunft ab. Ich möchte unbedingt, daß sie an meinem großen Tag dabei ist… und du natürlich auch, Liebes!« »Und wann erwartest du Tante Louise?« »Morgen oder übermorgen. Ganz genau hat sieʹs mich noch nicht wissen lassen.« »Hast du ihr geschrieben?« »Ja. Sie will die Nachtmaschine nehmen. Darum habe ich ihr auch meinen Ersatzschlüssel geschickt. Dann kann sie jederzeit in die Wohnung. Und wir sind nicht angebunden.« Anita Bonsal verfiel in Schweigen. Aber Fay Allison mußte sich einfach von der Seele reden, was sie beschäftigte. »Du weißt doch, wie Dan ist. Er versteckt sich immer hinter seinem unpersönlichen Getue. Zu Anfang ist er doch mit dir genausooft ausgegangen wie mit mir. Erinnerst du dich nicht mehr? Erst dann, ganz langsam, hat er sich auf mich zu konzentrieren begonnen. Na ja, es ist natürlich ein Riesenunterschied. Du bist überall so beliebt, bist es gewohnt, Erfolg zu haben, im Mittelpunkt zu stehen. Dir kann ich es ja verraten, Anita, ich hatte zunächst regelrecht Angst, mir selbst einzugestehen, was ich für ihn empfinde! Ich fürchtete, es würde alles im Sande verlaufen und nur Kummer für mich dabei herauskommen.« »Da kann man ja nur gratulieren.«
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»Glaubst du, es wird nicht gutgehen mit Dan und mir? Das hat eben so gar nicht überzeugt geklungen.« »Aber natürlich wird es gutgehen, du Dummerchen! Ich stoße nur nicht gerade schrille Freudenschreie aus, weil ich nun mal eine eingefleischte Egoistin bin. Und für mich wird es doch einen Haufen Unbequemlichkeiten mit sich bringen – allein schon bezüglich unserer Wohnung, und so weiter… Komm, spülen wir schnell ab. Ich gehe nachher noch aus, und du wirst ja wohl Besuch bekommen.« »Nein. Dan kann heute nicht. Er feiert ›Junggesellenabschied‹, oder wie man das nennt. In seinem Klub. Er findet es selbst schrecklich blöd, aber es muß nun mal sein, sagt er. Oh, Anita, ich bin ja schon so aufgeregt! Ich komme mir vor wie im siebenten Himmel!« »Kinder, Kinder – was sich nicht alles ereignet, wenn ich mal für ein verlängertes Wochenende fortfahre«, meinte Anita lässig. »Und mir bleibt jetzt die undankbare Aufgabe, mich nach einer anderen Wohngenossin umzusehen. Für mich allein wäre das Apartment viel zu groß und vor allem zu teuer.« »Aber – Anita, das kann doch kein so großes Problem sein! Da hast du doch Auswahl noch und noch. Warum nimmst du nicht ein Mädchen aus der Firma?« Anita schüttelte mit verkniffenen Lippen den Kopf. »Bis zum Fünfzehnten zahle ich natürlich ohnedies weiter. Und dann…«
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»Zerbrich dir meinetwegen bloß nicht den Kopf«, meinte Anita leichthin. »Ich mache mir zwar nicht besonders viel aus Frauen. Aber irgendeine, mit der ich auskomme, wird sich schon finden. Es wird bloß ein Weilchen dauern. Die meisten Mädchen im Büro sind zu alberne Gänse.« Sie wuschen ab und räumten die Küche auf. Fay Allisons Mund stand keine Sekunde still. Sie lachte über alles und jedes – übersprudelnd in ihrem Glück. Anita Bonsal arbeitete schweigend vor sich hin. Überlegt, zügig, wie es ihrem Wesen entsprach. Sowie sie fertig waren, verschwand sie im Bad, zog ein dekolletiertes schwarzes Kleid an und schlüpfte in ihren Pelz. »Du solltest eine Schlaftablette nehmen, Schätzchen, so aufgedreht wie du bist«, empfahl sie Fay. »Verzeih, ich hab dir wahrscheinlich den Nerv getötet mit meinem verliebten Gewäsch«, entschuldigte sich Fay reumütig. »Da baue ich meine Luftschlösser vor dir… Aber ich mußte einfach jemandem mein Herz ausschütten. Sei mir nicht böse. Ich bin eben ein altes Schaf. Aber ich werde wach bleiben, bis du kommst.« »Besser nicht«, lehnte Anita lachend ab. »Es kann heute spät werden bei mir.« »Du tust immer so geheimnisvoll, Anita«, beschwerte sich Fay nachdenklich. »Ich weiß so gut wie gar nichts über deine Freunde. Hast du eigentlich jemals daran gedacht zu heiraten, eine Familie zu gründen?«
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»Nein. Das ist nichts für mich. Ich ziehe es vor, unabhängig zu sein, tun und lassen zu können, was ich will.« Sie stand bereits im Gang. Klappernd fiel die Wohnungstür hinter ihr ins Schloß. Sie eilte zum Lift. Drückte den Knopf »Aufwärts«, wartete, bis er den sechsten Stock, in dem sie wohnte, erreicht hatte, drückte auf »P« – gleich jedoch auf »Stop«… und dann auf »7«. Hier stieg sie wieder aus, öffnete noch im Gehen ihre Tasche und nahm einen Schlüssel heraus. Vor der Tür des Apartments Nr. 702 blickte sie sich verstohlen um und schloß hastig auf. Carver L. Clements sah von der Zeitung, in der er gerade gelesen hatte, auf. Er nahm die Zigarre aus dem Mund und beobachtete Anita. Seine Miene drückte – wohl ohne daß er es ahnte – Bewunderung aus. Trotzdem bemerkte er: »Du bist reichlich spät dran, meine Liebe.« »Tut mir leid. Aber ich mußte einen verliebten Erguß meiner Wohngenossin über mich ergehen lassen. Sie heiratet dieser Tage. Dan Grover.« Carver L. Clements warf die Zeitung beiseite. »Das glaubt doch wohl auch nur sie!« »Wieso – die wilde Leidenschaft scheint Dan gepackt zu haben. Um mit Fays Worten zu reden: die süße Romantik. Jedenfalls sollen seine Absichten durchaus seriös und ernst zu nehmen sein.« Es klang sehr bitter. »Fay hat bereits an ihre Tante geschrieben, Louise Marlow. Die
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wird in Kürze auf der Bildfläche erscheinen. Und dann gehtʹs zum Standesamt.« Carver Clements schlug die Beine übereinander und stützte sich bequem auf die Sofalehne. So konnte er die attraktive Anita mit dem prachtvollen braunen Haar und den roten Lichteffekten darin besser sehen. »Und ich war immer der Ansicht, du wärest selbst in Dan Grover verliebt.« »Deswegen warst du die letzte Zeit so komisch.« »Na – stimmtʹs denn nicht?« »Himmel, nein! Was für ein Unsinn.« »Weißt du, mein Schatz, ich möchte dich nämlich nicht gern verlieren – jedenfalls vorerst noch nicht«, bemerkte er. In ihren katzenhaft geschnittenen, grünen Augen flammte helle Wut auf. »Betrachte mich bloß nicht als deinen Privatbesitz!« versetzte sie bissig. »Höchstens als Leihgabe!« »Streiten wir uns doch nicht um Worte«, wehrte er, immer noch im gleichen überheblichen Ton, ab. »Eine freiwillige Leihgabe«, begehrte sie auf. »Davon abgesehen könntest du ruhig aufstehen, wenn ich die Wohnung betrete. Auch wenn ich hin und wieder ein kleines – Präsent von dir entgegennehme. Gutes Benehmen hat noch niemandem weh getan – habe ich mir sagen lassen.«
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Clements erhob sich mit aufreizender Langsamkeit. Er hatte etwas Spinnenartiges an sich, mit seinen überlangen Armen und Beinen. Dazu dem kurzen, gedrungenen Körper und dem fast kahlen Kopf. Der Vergleich drängte sich einem geradezu auf, obwohl er ein Vermögen für seine Kleidung ausgab und der beste Schneider Los Angelesʹ sein möglichstes tat, die körperlichen Mängel zu kaschieren. »Mein kleiner Feuerteufel«, grinste er das hochgewachsene, blendend gebaute junge Mädchen an. »Aber das gefällt mir ja gerade so an dir. Vergiß nicht, Anita, mir geht es um mehr. Ums Ganze, sozusagen. Sowie meine Scheidung ausgesprochen ist –« »Du und deine Scheidung!« fauchte sie dazwischen. »Immer das gleiche Lied! Ich kannʹs schon nicht mehr hören…« »Was heißt hier ›gleiche Lied‹? Du weißt genau, daß die finanzielle Seite erhebliche Probleme aufwirft. Es liegt schließlich nicht nur in meiner Hand. Ich habe es dir doch oft genug erklärt!« »Eben – zu oft! Es hängt mir zum Hals heraus! Das sind doch nichts als faule Ausreden. Aber wenn du tatsächlich so großen Wert darauf legst, mich nicht zu verlieren – mich mit niemandem zu teilen –, dann spar dir in Zukunft deine ›Geschenke‹ und stell mich ein für allemal sicher. Im Gegensatz zu deiner Scheidung kannst du dich hier nicht darauf hinausreden, daß es nicht allein in deiner Hand läge.« -11-
»Ha! Damit die Anwälte meiner Frau es prompt gegen mich ausspielen, wie? Sie brauchen doch bloß vor Gericht Einsicht in meine Scheckbücher, beziehungsweise Kontoauszüge zu verlangen.« »Dann zahlʹs doch in bar.« »Als ob sie da nicht dahinterkämen. Stell dich doch nicht derartig dumm!« »Dumm – daß ich nicht lache! Ich bin – ganz im Gegenteil – sogar äußerst praktisch veranlagt. Um nicht zu sagen, lebensklug. Wie stehe ich denn da, wenn ich in deinen Scheidungsrummel hineingezogen werde? Daran scheinst du überhaupt noch nicht gedacht zu haben.« Seine Augen Anerkennung.
verdunkelten
sich
in
widerwilliger
»Anita, ich liebe dich. Ich kann viel für dich tun, das weißt du. Ich bewundere dein Temperament. Aber ich schätze es mehr in deinen Gefühlen und deinem Körper als auf der Zunge. So – und nun zu etwas anderem. Mein Wagen steht unten auf dem Parkplatz. Da hast du die Schlüssel. Geh schon hinunter, steig derweil ein und warte auf mich. Ich komme in fünf Minuten nach.« »Warum gehen wir nicht zusammen? Du schämst dich wohl meiner, wie? Gerade, als ob ich…« »… ich meiner Frau endlich den Beweis geben müßte, auf den sie schon so lange wartet. Dann allerdings säßest du mit drin in der Tinte. Und zwar gründlich. Wenn du deinem ungebärdigen Temperament noch ein Weilchen die Zügel anlegst, wird die finanzielle Seite zwischen ihr -12-
und mir innerhalb der nächsten fünf, sechs Wochen geregelt sein. Und dann – dem Himmel sei Dank! – bin ich endlich mein eigener Herr, kann tun und lassen, was ich mag. Aber bis dahin – bis dahin, Liebling, müssen wir eben noch äußerste Diskretion walten lassen… Wenigstens nach außen hin.« Sie wollte etwas sagen, verkniff es sich aber und verließ schweigend die Wohnung. Carver Clementsʹ Wagen war – wie nicht anders zu erwarten – ein Luxusmodell, eine mit allem Komfort ausgestattete Limousine. Trotzdem war es langweilig, darin zu warten, und außerdem kalt; Anita fror. Sie wartete ein paar Minuten, dann schaltete sie die Heizung ein. Bereits nach zwei, drei Minuten begann es wohlig warm zu werden. Sie kuschelte sich behaglich zusammen. Doch nach zehn Minuten, die ihr wie eine halbe Stunde vorkamen, erwachte ihr Temperament und damit ihre Ungeduld. Sie riß die Tür auf, sprang auf die Straße und eilte zum Eingang des Apartmenthauses hinüber. Ergrimmt drückte sie auf den Knopf von Nr. 702. Nichts ereignete sich. Wahrscheinlich befand sich Clements gerade im Lift nach unten. Anita wartete, innerlich kochend vor Wut. Na, sie würde Clements ja schön die Meinung geigen! Aber kein Clements erschien. Anita schloß mit ihrem Schlüssel auf und betrat das Haus. Der Lift befand sich im Erdgeschoß. Diesmal nahm sie keine umständlichen Täuschungsmanöver vor, -13-
sondern drückte sofort auf den mit »7« beschrifteten Knopf. Sowie der Lift hielt, marschierte sie energisch auf die ihr nur zu gut bekannte Tür und schloß auf. Fassungslos, wie festgenagelt stand sie in der Tür zum Wohnzimmer. Carver L. Clements lag, bereits im dunkelblauen Kaschmirmantel, ausgestreckt auf dem Boden. Das Highball-Glas lag in Griffweite neben ihm. Offenbar war es ihm aus der Hand gefallen und weitergerollt, denn der restliche Inhalt hatte sich über den Teppich ergossen. Clementsʹ Gesicht hatte sich eigenartig verfärbt. Im Raum hing ein sonderbarer Geruch, wie von bitteren Mandeln. Um Carvers Mund schien er am intensivsten zu sein. Es mußte einwandfrei noch Besuch dagewesen sein, nachdem Anita gegangen war. Auf der hohen Stirn Carver Clementsʹ, dort, wo sie bereits in die rosig schimmernde Glatze überging, leuchtete unübersehbar der Abdruck zweier scharlachroter Lippen – halbgeöffneter, küssender Lippen. Mit dem Wissen, das sie in einem Erste-Hilfe-Kurs gelernt hatte, kniete Anita nieder, fühlte den Puls und ließ die Hand schnell wieder sinken, als sie keinen spürte. Das gehörte nicht zu dem, was sie im Kurs gelernt hatte… Sie riß die Handtasche auf, nahm ihr silbernes Zigarettenetui heraus und hielt es mit der glatten, blankpolierten Oberfläche vor den Mund des Mannes. Nichts deutete darauf hin daß er noch atmete. Die Fläche beschlug nicht. -14-
Carver L. Clements, der reiche Playboy, Jachtbesitzer, Börsenmakler, Spieler um hohe, unerreichbare Einsätze, war tot. Von Panik ergriffen, sah Anita sich in der kleinen Wohnung um. Himmel, tausend Dinge wiesen darauf hin, daß sie zwar vorübergehend, aber häufig und regelmäßig hier Gast gewesen war. Nachthemden, Unterwäsche, Schuhe, Strümpfe, Hüte, sogar eine Zahnbürste und ihre relativ unbekannte Zahnpasta lagen überall verstreut herum. Anita Bonsal schlich zur Tür, spähte hinaus, lauschte und schlüpfte auf den Flur hinaus, nachdem sie sich überzeugt hatte, daß er leer war. Diesmal benutzte sie nicht den Lift, sondern kletterte statt dessen die Feuerleiter bis zum sechsten Stock hinunter und betrat ihr eigenes Apartment. Wie unzählige Male zuvor. Fay Allison, die Radio gehört hatte, fuhr herum. Freudige Überraschung malte sich in ihren Zügen. »Oh, Anita! Wie schön, daß du schon da bist. Ich hatte gefürchtet, du – du würdest schrecklich spät nach Hause kommen. Ist etwas passiert? Hoffentlich nicht! Du bist ja gerade erst gegangen.« »Ach, ich habe bloß scheußliche Kopfschmerzen. Ganz plötzlich. Mein Begleiter hatte einen Schwips und mit einemmal hundert Hände. Da habe ich ihm eine runtergehauen und bin verduftet. Ich würde schrecklich gern noch ein bißchen mit dir plaudern und mir von deinen Zukunftsplänen erzählen lassen, glaube mir. Aber -15-
bitte sei nicht bös, mein Kopfweh ist wirklich unerträglich. Ich muß ins Bett. Und das solltest du auch. Du mußt morgen doch schön sein wie der junge Tag.« Fay lachte. »Ich habe gar keine Lust zu schlafen.« »Trotzdem. Selbst auf die Gefahr hin, daß duʹs mir verübelst – jetzt wird schlafen gegangen!« erklärte Anita diktatorisch. »Komm, ziehen wir uns aus. Wir können uns ja noch einen Kakao kochen und ein bißchen schwätzen, während wir ihn trinken. Aber zwanzig Minuten – keine Sekunde länger!« »Oh, ich bin ja so froh, daß du wieder da bist!« strahlte Fay. »Ich werde den Kakao kochen«, sagte Anita. »Ich mach dir deinen heute etwas süßer, du kannstʹs dir jetzt leisten. Bis die Schokolade ansetzt, bist du ja schon lange verheiratet.« Sie verschwand in der Küche. Dort holte sie ihr Portemonnaie heraus und entnahm ihm ein Briefchen mit Schlaftabletten. Sie schüttete gut die Hälfte davon in eine Tasse. Nachdem sie die Tabletten sorgfältig zerdrückt hatte, goß sie heißes Wasser darüber und wartete, bis sich die weiße, pulverisierte Masse ganz aufgelöst hatte. Dann setzte sie Milch auf, gab Zucker und Kakaopulver hinein, und dazu aufgeweichte Marshmallows. Zwischendurch rief sie Fay zu: »Zieh dich schon aus! Ich komme gleich.« Als sie ins Wohnzimmer zurückkehrte, trug sie zwei Tassen dampfenden Kakaos auf einem kleinen Tablett.
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Oben auf der dunklen Schokolade schwammen kleine Marshmallow-Wölkchen. Fay war bereits im Nachthemd. Anita Bonsal prostete ihr mit der Kakaotasse zu. »Auf daß du glücklich werden mögest, Liebes.« »Wenn alles so bleibt, wie im Moment – schrecklich glücklich!« seufzte Fay beseligt. Nachdem sie ausgetrunken hatten, überredete Anita Fay zu einer zweiten Tasse. Dabei ließ sie Fay von ihren Zukunftsaussichten und -plänen berichten, bis sie langsam schläfrig wurde, anfing undeutlich zu sprechen, die Worte nicht mehr artikulieren konnte und die Sätze keinen Sinn mehr ergaben. »Anita, mein Gott! Bin ich plötzlich müde!« klagte Fay. »Wahrscheinlich die Aufregung der letzten Tage, die sich bemerkbar macht… Ich… Liebes, nimmst duʹs mir sehr übel, wenn ich… Ich möchte jetzt ins Bett… Du…« »Schon gut, mein Kleines, Geh nur«, ermunterte Anita sie und half ihr unter die Decke. Dann setzte Anita sich auf das Sofa und überdachte die augenblickliche Situation. Es war nur wenigen Vertrauten bekannt, daß Carver Clements in diesem Haus ein Apartment gemietet hatte. Diese intimen Freunde wußten von seinen häuslichen Schwierigkeiten und zu welchem Zweck dies pied-à-terre gedacht war. Gottlob hatte keiner von ihnen Anita jemals zu Gesicht bekommen. Das war wirklich ein Riesenglück. Anita war nämlich der festen Überzeugung, daß Carver -17-
nicht an einem Herzanfall gestorben war, sondern an einem schnell wirkenden Gift. Es hatte keinen Sinn, sich jetzt den Kopf zu zerbrechen, wie das hatte geschehen können und wer es wohl gewesen war. Carver Clements hatte viele mächtige Freunde gehabt, aber auch viele nicht zu unterschätzende Feinde. Auf jeden Fall jedoch würde die Kriminalpolizei die Frau suchen, der all die Kleidungsstücke in Clementsʹ Wohnung gehörten. Aber es reichte nicht, ihre Sachen aus der Wohnung zu entfernen. Ganz abgesehen davon, daß dies – über die Feuerleiter – schon schwierig genug werden würde. Anita hatte Dan Grover geliebt. Er sie wohl auch. Es war jedenfalls eine ziemlich feste Sache zwischen ihnen gewesen. Wenn nicht diese unheilvolle Liaison mit Carver Clements dazwischengekommen wäre… Sinnlos, sich jetzt mit Wenn und Aber zu befassen. Vorbei, vergessen. Jetzt hatte Fay Allison mit ihren Puppenaugen, mit ihrem kindlich zutraulichen Wesen, ihrer Anschmiegsamkeit Dan Grover von einem enttäuschenden Schürzenjäger in einen feurigen Freier verwandelt. Man lernte eben nie aus. Anita hatte das Geschirr vom Abendessen gespült, Fay es abgetrocknet. Also mußten Fays Fingerabdrücke auf den Tellern und Gläsern sein. Der Hausbesitzer hatte alle Apartments äußerst großzügig und komplett eingerichtet – alle einheitlich und auch mit dem gleichen Geschirr. Jetzt mußte sie, Anita, ihr Köpfchen gebrauchen. Alles im Leben ließ sich arrangieren, so hindrehen, daß man letztlich doch noch davon profitierte… Also: sie würde zunächst einmal ihre Gummihandschuhe anziehen. Dann -18-
für die Polizei ein paar von Fays Nachthemden in Carvers Apartment verstreuen. Vor allem aber Gläser mit Fays Fingerabdrücken deponieren. Wenn sie Fay dann vernehmen wollten, würden die Kriminalbeamten feststellen, daß diese sich der irdischen Gerechtigkeit entzogen hatte – mit Hilfe einer Überdosis Schlaftabletten. Anitas Zeugenaussage würde das Ihre dazutun, dem Ganzen einen überzeugenden Anstrich zu geben. Ein junges Mädchen, die ausgehaltene Geliebte eines reichen Playboys, hatte einen jüngeren, attraktiveren Mann kennengelernt, der sie heiraten wollte. Sie war zu Carver Clements gegangen und hatte ihn gebeten, sie freizugeben. Aber Carver Clements war nicht der Mann, der einen so einfach laufenließ. Was ihm einmal gehörte, oder wovon er vorübergehend Besitz ergriffen hatte, ließ er sich nicht ohne weiteres entreißen. Also hatte Fay ihm Gift in seinen Drink gemixt. Dann war jedoch Anita unvorhergesehen früh nach Hause gekommen und hatte damit Fays Plan, ihre Sachen von oben herunterzuholen, durchkreuzt. Woraufhin Fay keinen anderen Ausweg mehr gesehen hatte als Selbstmord… Anita würde die Polizei schon auf diese Spur lenken, ohne daß die Beamten es merkten. Anita, die außer sich war, entsetzt, vollkommen kopflos… Aber natürlich bemüht zu helfen, soweit es in ihren schwachen Kräften stand. Anita wartete nahezu drei Stunden, bis es im Haus ruhig geworden war und man annehmen konnte, daß die meisten Mieter schliefen. Dann nahm sie einen kleinen
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Koffer und machte sich an die Arbeit – überlegt und zügig, wie es ihre Art war. Als sie mit allem fertig war, nahm sie den Schlüssel von 702, den Carver ihr gegeben hatte, wischte sorgfältig alle Fingerabdrücke ab, faßte ihn mit einem Taschentuch an und steckte ihn in Fay Allisons Handtasche. Dann ließ sie die restlichen Schlaftabletten auf die geöffnete Hand rollen, tat sechs in ein Fläschchen zurück, zerkleinerte die anderen und mischte sie in das restliche Kakaopulver in der Dose. Damit wäre es dann wohl geschafft… Anita zog ihr Nachthemd über, schluckte die sechs zurückbehaltenen Tabletten, warf das leere Fläschchen aus dem nach rückwärts hinausgehenden Fenster ihres Apartments. Nun endlich konnte sie auch ins Bett schlüpfen und das Licht löschen. Drüben, im anderen Bett, lag Fay Allison in tiefem Schlaf. Nur die flachen Atemzüge zeigten an, daß das junge Mädchen lebte. Am Morgen mußte um acht die Putzfrau erscheinen. Sie würde zwei regungslose Mieterinnen vorfinden – die eine tot, die andere bewußtlos. Zwei von den Tabletten waren die erlaubte Höchstdosis. Die sechs, die Anita eingenommen hatte, begannen ihre Wirkung zu tun. Sie merkte, wie ihre Glieder schwer wurden, erfaßte noch, daß ihre Gedanken sich verwischten. Sekundenlang wurde sie von wilder Panik
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erfaßt. Ob sie womöglich zu viele geschluckt hatte? Wenn sie nun… wenn… womöglich… aber sie… Es war zu spät. Die Wirkung hatte voll eingesetzt, Anita dämmerte hinüber.
2 Louise Marlow entstieg, müde vom langen Flug, das Heulen der auslaufenden Motoren noch in den Ohren, vor dem Apartmenthaus aus dem Taxi und zahlte. Der Fahrer musterte sie besorgt. »Soll ich nicht warten, bis Sie sich überzeugt haben, ob jemand zu Hause ist?« offerierte er hilfsbereit. »Danke. Ich habe einen Schlüssel.« »Und Ihr Gepäck?« »Lassen Sie nur. Das schaffe ich schon noch«, dankte Louise Marlow. Er trug ihr die Koffer trotzdem wenigstens bis zur Haustür. Louise schloß mit dem Schlüssel, den Fay ihr geschickt hatte, auf. Sie lächelte den Chauffeur noch einmal dankend an und ergriff ihre Koffer. Fünfundsechzig Jahre alt, weißhaarig, mit klaren, stahlgrauen Augen, breiten Schultern, aufrechtem Gang, hatte sie vieles im Leben hinter sich gebracht, hatte geliebt, gelacht, gelitten – aber nie ihre Selbstcontenance verloren. Nicht nur eine ausgeprägte Persönlichkeit, -21-
sondern auch warmherzig und mütterlich veranlagt, wachte sie schützend über die, die sie einmal in ihr Herz geschlossen hatte. Ihre Feindschaft, die bei ihrem Temperament leicht in Haß ausarten konnte, hatte schon manchen Widersacher in die Flucht getrieben. Unter totaler Nichtachtung dessen, daß es immerhin ein Uhr nachts war, marschierte Louise Marlow durch den Flur bis zum Lift, knallte ihr Gepäck in die Ecke und drückte auf den Knopf mit der schwarzen »6«. Der Fahrstuhl bewegte sich langsam nach oben und hielt dann zitternd an. Die Tür glitt zur Seite. Tante Louise nahm die Koffer und durchquerte den schlecht beleuchteten Flur. Über den Rand ihrer Brille hinweg las sie im Vorbeigehen die Nummer auf den Türen ab. Schließlich hatte sie gefunden, was sie suchte. Sie schloß auf und tastete nach dem Lichtschalter. Während sie ihn niederdrückte und es schlagartig hell wurde, rief sie: »Ich binʹs, Fay!« Keine Antwort. Tante Louise zerrte das Gepäck in die winzige Diele, machte die Tür hinter sich zu und scherzte gut gelaunt: »Nicht schießen – ich binʹs nur, Tante Louise.« Und fügte dann noch hinzu: »Hab einen Platz in einer früheren Maschine erwischt, Kind.« Die anhaltende Stille beunruhigte sie. »Hallo – aufwachen, Fay! Tante Louise ist da!«
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Sie fand das Schlafzimmer, machte auch hier Licht und lächelte. Mein Gott, die Jugend! Schliefen wie zwei Murmeltiere, die Mädchen. »Na ja, da ist wohl nichts zu machen«, meinte sie resigniert. »Dann werde ich mir mal ein Bett auf der Chaiselongue richten und mit der Begrüßung bis morgen warten.« Dann fiel ihr die eigenartige Blässe von Fays Gesicht auf. Louise Marlows soeben noch so fröhliche Miene wurde schlagartig ernst und sachlich. »Fay!« rief sie, jetzt energischer und lauter. Das junge Mädchen lag vollkommen regungslos, nicht einmal die dichten dunklen Wimpern flatterten. Tante Louise trat an Fays Bett und schüttelte sie. Keine Reaktion. Sie faßte nach Anita Bonsals Schulter. Anita tauchte aus schwarzen, endlosen Tiefen zu halbem Bewußtsein empor. »Was ist denn?« murmelte sie undeutlich. »Ich bin Fays Tante. Tante Louise. Ich bin früher gekommen, als ich mich angesagt hatte. Was ist denn hier passiert?« Anita Bonsal begriff selbst in ihrem benebelten Zustand, daß da eine unerwartete Komplikation eingetreten war. Irgendwie schaffte sie es, den Satz, den sie sich vor dem Einschlafen als Alibi für den nächsten Morgen zurechtgelegt hatte, herauszubringen.
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»Ich – ich weiß nicht… Da – da muß etwas mit dem Kakao gewesen sein… Mir wurde so… so… Ich kann mich an nichts erinnern… Ich möchte schlafen…« Sie ließ den Kopf nach hinten fallen und lag schlaff und bleischwer in Tante Louises Armen. Diese ließ sie sanft auf das Kopfkissen zurückgleiten, sah sich in fieberhafter Eile nach einem Telefonbuch um, blätterte mit nervösen Fingern bis sie gefunden hatte, was sie suchte – Perry Mason, Rechtsanwalt. Louise Marlow wählte. Der Mann, der in der Telefonzentrale der DrakeDetektiv-Agentur Dienst hatte, erkannte am Summen, daß es sich um Masons Nachtanschluß handelte. Er hob ab und meldete sich: »Hier Nachtdienst bei Mr. Perry Mason. Wer spricht dort, bitte?« »Louise Marlow«, erklärte die Tante mit fester, energischer Stimme. »Ich kenne zwar Mr. Mason nicht, aber dafür seine Sekretärin Della Street. Würden Sie sie bitte anrufen und ihr sagen, daß ich unter der Nummer Keystone neun-sieben-sechs-null-null zu erreichen bin und dringend auf ihren Rückruf warte. Ich befinde mich in einer fürchterlichen Zwangslage!… Ja, genau!… Danke sehr… Ja, ich kenne Miss Street recht gut. Sagen Sie ihr, Louise Marlow, und es wäre äußerste Eile geboten! Ich denke, daß ich auch Mr. Masons Hilfe benötigen werde. Aber zuerst möchte ich Della Street ins Bild setzen.« Louise Marlow legte auf und wartete ungeduldig.
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Sie brauchte nicht lange zu warten. Kaum eine Minute später klingelte das Telefon. »Ja, um Gottes willen, Louise Marlow! Was machen Sie denn in der Stadt?« fragte Della. »Ich bin hergeflogen, weil meine Nichte heiraten wollte, Fay Allison«, erklärte Tante Louise. »Aber hören Sie, Della ich brauche Ihre Hilfe! Ich befinde mich in Fays Wohnung. Sie scheint vergiftet zu sein, ich kann sie jedenfalls nicht zu sich bringen. Ihre Mitbewohnerin, Anita Bonsal, ist ebenfalls betäubt. Die habe ich allerdings halb wach bekommen. Aber nur für kurze Zeit, dann ist sie wie tot wieder eingeschlafen. Jemand muß versucht haben, die beiden Mädchen zu vergiften. Ich brauche einen guten, zuverlässigen Arzt. Einen, der den Mund halten kann. Ich habe keine Ahnung, was hinter der ganzen Angelegenheit steckt. Ich weiß bloß, daß Fay morgen heiraten wollte. Jemand hat sie um die Ecke bringen wollen. Und ich schwöre, ich werde herausfinden, was dahintersteckt. Aber wenn auch nur ein Wort in die Zeitungen kommt, breche ich dem, der seine verdammte Klappe nicht halten konnte, eigenhändig das Genick. Mir kommt die Geschichte reichlich anrüchig vor. Ich bin in den Mandrake Arms, Apartment sechs-nullvier. Schicken Sie mir schleunigst einen Doktor her! Und sehen Sie zu, ob Sie Perry Mason nicht auch bewegen können, zu kommen und…« »Ich schicke umgehend einen Arzt«, unterbrach Della sie. »Beruhigen Sie sich einstweilen, Mrs. Marlow. Ich bin diesen Moment erst nach Hause gekommen. Perry Mason, -25-
Paul Drake – der Privatdetektiv, der unsere Fälle bearbeitet – und ich waren zusammen mit einem Klienten aus. Mr. Mason hat mich vor wenigen Minuten hier abgesetzt. Ich will sehen, daß ich ihn erreiche, bevor er sich ausgezogen hat. Halten Sie so lange die Festung. Bis gleich…«
3 Als Tante Louise auf das Klingeln hin öffnete, stellte Della Street vor: »Mrs. Marlow, das ist Perry Mason. ›Tante Louise‹, Chef. Eine alte Freundin aus meiner Kinderzeit.« Louise Marlow gab dem berühmten Anwalt die Hand und strahlte ihn mit dem für sie so charakteristischen Lächeln an. Dann gab sie Della einen herzhaften Kuß auf die Wange. »Sie haben sich nicht die Spur verändert, Kind«, lobte sie. Dann fuhr sie fort: »Aber treten Sie doch bitte ein. Hier ist die Hölle los. Ich will unter allen Umständen vermeiden, daß ein Wort darüber in die Zeitungen kommt. Zu dumm, daß wir diesen Quacksalber kommen lassen mußten. Wie kann man ihn denn bloß daran hindern, zu quasseln?« »Was sagte er denn überhaupt?« »Er schuftet wie ein Schwerarbeiter. Anita ist schon wieder bei Bewußtsein. Fay wird durchkommen. Aber eine Stunde später, und sie wäre nicht mehr zu retten gewesen.« -26-
»Was ist denn eigentlich vorgefallen?« erkundigte sich Mason. »Jemand hat den Mädchen Schlafmittel ins Kakaopulver gemischt oder in den Zucker.« »Hegen Sie einen bestimmten Verdacht?« »Fay sollte heute Dan Grover heiraten. Aus ihren Briefen habe ich entnommen, daß es sich um einen außerordentlich wohlhabenden, aber ziemlich scheuen jungen Mann handeln muß, der vor Jahren obendrein eine große Enttäuschung erlebt haben muß und dadurch verbittert und desillusioniert ist. Oder zumindest es sich eingebildet hat. Ein Zyniker mit sechsundzwanzig Jahren! Daß ich nicht lache!« Mason lächelte. »Ich bin hier so um die eins herum eingetroffen. Fay hatte mir einen Wohnungsschlüssel geschickt. Als ich ankam – Totenstille. Daraufhin benutzte ich den Schlüssel. Sowie ich Licht gemacht und Fays Gesicht gesehen hatte, wußte ich, daß hier etwas nicht stimmte. Sie war wachsbleich und atmete so eigenartig flach. Ich versuchte, sie zu wecken – vergebens. Schließlich gelang es mir, Anita zu sich zu bringen. Sie erklärte, es müsse etwas mit dem Kakao losgewesen sein. Daraufhin habe ich Della angerufen. Mehr kann ich Ihnen auch nicht sagen.« »Wo sind die Tassen, aus denen die Mädchen getrunken haben?« fragte Mason. »Im Spülbecken in der Küche – noch schmutzig.«
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»Wir sollten sie als eventuelles sicherstellen«, meinte Mason.
Beweismaterial
»Beweismaterial – bleiben Sie mir bloß damit vom Hals!« schnaubte Tante Louise. »Womöglich noch Polizisten hier, die ihre neugierigen Nasen in alles stecken – das wäre ja das letzte! Ein nettes Gesprächsthema für die alten BridgeGlucken: eine Braut, die am Vorabend der Hochzeit einen Selbstmordversuch unternimmt.« »Sehen wir uns doch erst einmal ein bißchen um«, schlug Mason vor. Der Rechtsanwalt ging langsam durch die ganze Wohnung und versuchte, sich ein Bild zu machen. Louise Marlow folgte ihm auf dem Fuße, um ihm zu helfen, wo es etwas zu erklären gab, soweit sie selber Bescheid wußte. Von Zeit zu Zeit warf Della Street eine Bemerkung ein. Sechs Augen sehen immer mehr als vier. Mason nickte und ließ sich ansonsten nicht stören. Als er zu den über die Sessellehne geworfenen Mänteln kam, blieb er kurz stehen, ebenso später neben den beiden Handtaschen. Nachdenklich starrte er auf sie hinunter. »Welche davon gehört Fay Allison?« erkundigte er sich. »Du meine Güte! Keine Ahnung. Aber das läßt sich ja feststellen«, meinte Tante Louise. »Das überlasse ich wohl besser Ihnen«, sagte Mason. »Sehen Sie sie aber sorgfältig durch. Vielleicht finden wir einen Hinweis darauf, ob jemand, kurz bevor die beiden jungen Mädchen den Kakao getrunken haben, in der -28-
Wohnung war. Einen Brief, zum Beispiel, in dem etwas von einer Verabredung steht, oder einen Notizzettel.« Der Doktor tauchte in der Schlafzimmertür auf. »Ich brauche kochendes Wasser, um eine Spritze zu desinfizieren«, verlangte er. »Wie gehtʹs den beiden?« erkundigte sich Mason, während er den Arzt und Mrs. Marlow in die Küche begleitete. »Der Braunhaarigen ausgezeichnet«, erklärte der Arzt. »Und die Blonde wird auch bald über das Schlimmste hinweg sein.« »Wann kann ich wenigstens einer von ihnen ein paar Fragen stellen?« wollte Mason wissen. »Davon würde ich vorerst entschieden abraten«, betonte der Doktor kopfschüttelnd. »Beide sind noch hochgradig benommen. Die Brünette jedenfalls ist ungenau in ihren Angaben und widerspricht sich ständig. Lassen Sie ihr wenigstens noch eine Stunde. Vielleicht bekommen Sie dann etwas Brauchbares aus ihr heraus. Im Moment redet sie noch lauter wirres Zeug.« Der Doktor setzte Wasser für seine Spritze auf und kehrte ins Schlafzimmer zurück. Della Street trat neben Mason und flüsterte: »Da ist mir etwas unverständlich, Chef.« »Was denn?« »Sehen Sie sich doch mal die Hausschlüssel an. Auf jedem ist die Nummer des Apartments eingestanzt. Beide Mädchen haben einen Schlüssel zu ihrer gemeinsamen -29-
Wohnung in der Handtasche. In Fay Allisons war aber noch ein zweiter, auf dem sieben-null-zwei steht. Wieso hat sie noch einen Schlüssel zu einem anderen Apartment?« Masons Augen wurden schmal, so angestrengt dachte er nach. »Was meint denn Tante Louise?« »Sie kann sich auch keinen Reim darauf machen. Ich habe den Schlüssel in Fays Tasche gefunden. Tante Louise hat Anitas durchgesehen.« »Sonst noch was von Bedeutung?« »Nichts. Rein gar nichts.« »Okay«, meinte Mason. »Dann werde ich mir mal sieben-null-zwei ansehen. Sie kommen am besten mit, Della.« Mason ging zu Tante Louise hinüber. »Ich möchte mich mal ein wenig draußen umschauen«, bemerkte er. »Wir sind gleich wieder da.« Er fuhr mit Della im Lift in den siebenten Stock hinauf. Sie fanden Apartment 702, und Mason klingelte. Man konnte es drinnen deutlich läuten hören. Aber nichts rührte sich. »Es ist riskant, ich weiß«, äußerte Mason, »aber ich möchte trotzdem einen Blick in die Wohnung werfen.« Er schloß auf und öffnete behutsam die Tür. Sie sahen sofort die auf dem Boden des hell erleuchteten Wohnzimmers ausgestreckte Gestalt. Nicht weit davon -30-
entfernt funkelte das Glas, das dem Toten aus der Hand gefallen war. Auf der gegenüberliegenden Seite des Flurs wurde eine Wohnungstür aufgerissen. Eine junge Frau mit zerzaustem Haar, einen Bademantel eng um sich geschlungen, fauchte: »Eine Umverschämtheit, um diese Zeit derart Sturm zu klingeln. Sie sollten wenigstens –« »Tun wir ja«, schnitt Mason ihr das Wort ab, gleichzeitig Della vor sich her in die Wohnung schiebend und die Tür mit dem Fuß zuknallend. Della klammerte sich an seinem Arm fest und starrte entsetzt auf den Toten nieder. Von seiner Stirn leuchtete ihnen ein tiefroter Lippenabdruck entgegen. Ihr Blick wanderte weiter zu dem umgestürzten Stuhl neben dem niedrigen Couchtisch, dem auf den Teppich gefallenen Glas und dem zweiten leeren, das gegenüber dem umgefallenen Stuhl auf dem Tisch stand. Della atmete heftig, als wäre sie soeben zu Fuß die Treppe heraufgerannt. Aber sie enthielt sich jeder Äußerung. »Vorsichtig, Della, nichts berühren«, warnte Mason. »Wer ist das?« »Überlassen wirʹs lieber der Polizei, das herauszufinden. Glauben Sie, daß die aufgebrachte Dame aus der gegenüberliegenden Wohnung sich inzwischen wieder in ihre vier Wände zurückgezogen hat? Wir müssen zusehen, daß wir hier wegkommen.«
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Er wickelte sein Taschentuch um die Hand, drehte vorsichtig den Knauf der Haustür und drückte sie behutsam auf. Die Tür des gegenüberliegenden Apartments war geschlossen. Mason bedeutete Della mit einer Geste, möglichst leise zu sein. Sie schlichen sich auf Zehenspitzen hinaus. Mason zog unhörbar die Tür hinter sich zu. Im gleichen Augenblick hielt der Lift im siebenten Stock an. Drei Männer und eine junge Frau drängten sich heraus und kamen kichernd den Flur entlang – geradewegs auf Mason und Della zu. »Nur keine Aufregung, Della«, beruhigte Mason. »So tun, als ob es ganz normal wäre, daß wir hier entlangkommen. Stellen Sie sich einfach vor, wir hätten bis eben bei Freunden Bridge gespielt.« Sie fingen die neugierigen Blicke der vier auf, traten beiseite, um sie vorbeizulassen, und gingen weiter. »Langsam, Della«, mahnte Mason, sie am Arm packend. »Aber sie werden uns doch wiedererkennen, wenn es darauf ankommt«, wandte Della ein. »So giftig wie das Weib mich angesehen hat…« »Das fürchte ich auch«, gab Mason zur Antwort. »Bleibt uns nur zu hoffen, daß… Verdammt!« »Was ist denn nun schon wieder?« »Sie gehen ausgerechnet auf sieben-null-zwei zu!« Die vier blieben vor der Tür stehen. Einer klingelte. -32-
Fast augenblicklich flog die Tür des gegenüberliegenden Apartments wieder auf. Die Frau im verwaschenen Bademantel schrie: »Ich leide an Schlaflosigkeit! Jetzt war ich gerade dabei einzuschlafen, und nun gehtʹs schon wieder los –« Sie brach ab und starrte die Gruppe offenen Mundes an. Der Mann, der geklingelt hatte, lächelte gewinnend und entschuldigte sich in einem Baß, der den ganzen Flur erfüllte. »Ich bitte vielmals um Entschuldigung, Madam. Aber ich hab doch nur ganz kurz geklingelt.« »Das schon. Aber die anderen Leute, die vor Ihnen da waren, haben ja Wirbel genug gemacht!« »Andere Leute – hier?« fragte der Mann verblüfft. Er zögerte einen Augenblick, dann kam er offenbar zu einem Entschluß. »Na ja, wenn er schon Besuch hat, wollen wir lieber nicht stören.« Mason schubste Della schleunigst in den Lift und drückte auf »P«. »Und was machen wir jetzt?« fragte Della. »Jetzt rufen wir die Mordkommission an«, erklärte Mason ergrimmt. »Wir melden, daß hier möglicherweise ein Mord geschehen ist. Was bleibt uns anderes übrig? Die Frau kann uns identifizieren, weiß aber nicht, ob wir die Wohnung betreten haben. Das Kleeblatt hingegen hat uns wahrscheinlich noch herauskommen sehen!« Im Entree befand sich eine Telefonzelle. Mason steckte eine Münze in den Einwurfschlitz und wählte die Nummer des Präsidiums. Er meldete, im Apartment 702 -33-
eine Leiche gefunden zu haben. Die äußeren Umstände ließen auf Mord schließen. Er habe nichts berührt, betonte der Anwalt, sondern sofort die Polizei benachrichtigt. Während Mason telefonierte, wurde der Fahrstuhl hochgeholt und hielt kurz darauf wieder in der Halle. Die vier kamen heraus. In eine Wolke von Alkoholdunst gehüllt, strebten sie der Ausgangstür zu. Die Frau entdeckte Della, die vor der Zelle wartete. Ihr Blick nahm von Kopf bis Fuß das kleinste Detail in sich auf. Dann rief Mason Louise Marlow im Apartment 604 an. »Ich würde raten, daß Sie den Doktor veranlassen, die beiden Patientinnen in ein Sanatorium zu bringen«, sagte er, »wo sie absolute Ruhe haben und von niemandem – ich wiederhole, niemandem, gestört werden.« »Aber er ist doch recht zufrieden mit ihrem Zustand«, wandte Mrs. Marlow ein. »Auch Ärzte sind nicht allwissend«, meinte Mason leichthin. »Ich würde jedenfalls einen Sanatoriumsaufenthalt vorschlagen. Und vor allem eine sofortige Überführung und absolute Ruhe!« Louise Marlow blieb einen Augenblick stumm. »Sind Sie noch da?« fragte Mason. »Ja. Ich bemühe mich nur, herauszufinden, was hinter Ihrem Vorschlag stecken könnte.« »Meine Überzeugung ist, daß die Patientinnen absolute Ruhe haben sollten«, wiederholte Mason betont.
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»Verdammt noch mal!« fluchte die alte Dame äußerst undamenhaft. »Ich bin doch schließlich nicht schwerhörig. Das habe ich bereits beim erstenmal verstanden. Sie kommen mir ja vor wie eine Grammophonplatte mit Sprung. Ich erklärte, daß ich mich bemühe herauszufinden, was dahintersteckt.« Mason hörte, wie der Hörer krachend auf die Gabel geschmettert wurde. Er grinste und hängte ebenfalls auf. Dann zog er den Schlüssel von 702 aus der Tasche, steckte ihn in einen bereits an sein Büro adressierten Umschlag, klebte eine Marke drauf und warf ihn in den Briefkasten neben dem Lift. Draußen war im Wagen zwischen dem vierblättrigen Kleeblatt offenbar ein hitziger Streit entbrannt. Als jedoch eine Polizeisirene ertönte, schienen sich plötzlich alle einig. Sie fuhren im gleichen Augenblick los, als der Streifenwagen um die Ecke gebogen kam. Der rote Scheinwerfer auf dem Dach rotierte und nagelte sie trotz ihres Fluchtversuches fest. Der Funkstreifenwagen hupte zusätzlich, um den Fahrer aufmerksam zu machen. Der hielt und sah sich um. Dann gab er Gas und schoß mit einem Satz davon. Der Streifenwagen raste in wütender Verfolgung hinterher. Und drei Minuten später kam die dunkle Limousine wieder angerollt, den Streifenwagen auf den Fersen. Einer der Polizisten sprang heraus, eilte zu dem gestellten Fahrzeug und zog kurzerhand den -35-
Zündschlüssel ab. Dann trieb er das Quartett vor sich her ins Haus. Mason durchquerte eilig das Entree und öffnete die verschlossene Tür von innen. »Ich suche einen Mann, der einen Mord gemeldet hat«, erklärte der Beamte. »Da sind Sie richtig, das war nämlich ich. Mein Name ist Mason. Die Leiche finden Sie in sieben-null-zwei.« »Eine Leiche!« schrie die Frau hysterisch. »Ruhe da!« fuhr der Beamte sie an. »Aber wir kennen den… Er hat ihnen doch gesagt, daß wir jemanden im Apartment sieben-null-zwei besuchen wollten… Wir…« »Langsam, langsam! Ja, Sie haben gesagt, Sie hätten einen Freund namens Carver L. Clements in sieben-nullzwei besuchen wollen. Wie ging es ihm, als Sie ihn verließen?« Drückende Stille. »Wir waren doch gar nicht richtig drin!« begehrte die Frau auf. »Nur an der Tür. Die Wohnungsinhaberin gegenüber hat gesagt, er hätte Besuch. Da haben wir uns wieder verzogen.« »Sie sagte, er hätte Besuch?« »Ja. Aber ich glaube, daß der Besuch bereits gegangen war. Und zwar meine ich die beiden da!« »Na, sehn wir uns die Bescherung mal an«, entschied der Beamte. »Kommen Sie mit.« -36-
4 Leutnant Tragg, Chef des Morddezernates, beendete seine Inspektion des Apartments und wandte sich nachdenklich an Mason. »Ich schätze, inzwischen haben Sie sich eine hübsche Geschichte zusammengereimt, wieso ausgerechnet Sie mal wieder über eine Leiche gestolpert sind.« »Ob Sie es nun glauben oder nicht, ich habe den Mann noch nie in meinem Leben gesehen. Jedenfalls nicht lebend.« »Ich weiß«, bemerkte Tragg sarkastisch. »Sie brauchten ihn als Zeugen für einen Autounfall oder etwas Ähnliches. Da lag es natürlich nahe, ihn um diese ungewöhnliche Zeit aufzusuchen, wie?« Mason schwieg. »Aber«, fuhr Tragg fort, »so seltsam es Ihnen vorkommen mag, Mason, es würde mich doch interessieren, wie Sie hier hereingekommen sind. Die Frau, die das gegenüberliegende Apartment bewohnt, behauptet, Sie hätten zunächst mindestens zwei Minuten lang geklingelt. Dann hat sie ihre Tür einen Spaltbreit geöffnet, weil sie glaubte, Sie wären ein Betrunkener, der sich nicht abweisen lassen will, und genau in diesem Augenblick hörte die Frau ein klickendes Geräusch.« Mason nickte. -37-
»Bleibt doch nur die Alternative, daß jemand die Tür aufgeschlossen hat, oder daß diese bereits offenstand«, säuselte Tragg. »Falls letzteres der Fall war, würde ich es doch zumindest befremdlich finden, daß Sie erst zwei Minuten geklingelt haben, bevor Sie eingetreten sind. Wenn Ihnen aber jemand geöffnet hat, würde ich gern wissen, wer. Wie also sind Sie reingekommen?« »Ich hatte einen Schlüssel.« »Ach nein, einen Schlüssel! Was Sie nicht sagen. – Einen Dreck hatten Sie!« Mason nickte abermals. »Dann zeigen Sie mir das Wunderding doch mal.« »Tut mir leid, ich habe ihn im Augenblick nicht bei mir.« Tragg grinste. »Verblüffend! Und würden Sie wohl die Güte haben, mir zu erzählen, wo Sie den Schlüssel herhatten, Mason?« »So sehr ich es bedaure«, sagte Mason, »das kann ich Ihnen leider nicht verraten.« »Machen Sie doch keine Sperenzchen. Es handelt sich hier immerhin um einen Mord.« »Der Schlüssel ist auf höchst eigenartige Weise in meinen Besitz gelangt. Ich habe ihn nämlich gefunden.« »Was Alberneres ist Ihnen wohl nicht eingefallen, wie? Ihr Klient hat ihn Ihnen gegeben, das ist es!« »Wie kommen Sie denn darauf?« »Nun, eine ziemlich logische Schlußfolgerung, würde ich sagen.« -38-
Mason lächelte belustigt. »Immer langsam, Leutnant. Wenn Sie Ihrer Phantasie die Zügel schießen lassen, geht sie sofort mit Ihnen durch. Wie wäre es denn mit einer anderen ›Schlußfolgerung‹ – nehmen wir doch einmal an, einer meiner Klienten wäre der Mieter dieses Apartments und hätte mich gebeten, festzustellen, ob man den Gentleman hier auf dem Boden, der sich widerrechtlich Zutritt verschafft, irgendwie entfernen könnte, ohne daß für meinen unbeteiligten Klienten dadurch Unannehmlichkeiten entstehen?« »Deshalb also haben Sie sich diese höchst seltsame Zeit ausgesucht. Sie geben also zu, daß die Leiche von Ihnen beiseite geschafft werden sollte?« »Und wenn der Mieter es nun selbst erst nach Mitternacht bemerkt hätte?« Traggs Augen zogen sich zu schmalen Schlitzen zusammen. »Hübsch konstruiert, das muß ich zugeben, Mason. Aber damit kommen Sie nicht weit. Der Schlüssel, mit dem Sie sich Zutritt verschafft haben, ist – das möchte ich wetten – der Schlüssel des Toten. Als wir seine Taschen durchsucht haben, ist das Zeug, was hier auf dem Tisch liegt, zum Vorschein gekommen. Ein Wohnungsschlüssel war nicht darunter.« Mason versuchte Zeit zu gewinnen. »Das immerhin ist Ihnen aufgefallen. Was Ihnen hingegen entgangen zu sein scheint, ist, daß zwar außer der Whiskyflasche und dem
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Soda-Siphon ein Eisbehälter auf dem Tisch steht, in den Gläsern sich aber kein Eis befunden hat.« »Wie wollen Sie das wissen?« fragte Tragg, diesmal wirklich interessiert. »Weil das Glas, als es dem Toten aus der Hand gefallen ist, nur ein dünnes Rinnsal auf dem Teppich hinterlassen hat. Wenn sich Eiswürfel in dem Glas befunden hätten, müßten diese herausgekullert und ein Stück weitergerollt und dort erst geschmolzen sein; das hätte eine kleine Pfütze gegeben.« »Ich verstehe«, bemerkte Tragg ironisch. »Und dann hat sich der Bursche vermutlich entschlossen, Selbstmord zu begehen, und sich vorher selbst noch einen zärtlichen Abschiedskuß auf die Stirn gegeben.« Ein Mann war an den Leutnant herangetreten und übergab diesem ein zusammengefaltetes Papier. Tragg faltete es auseinander. »Verdammt noch mal!« schimpfte er. Mason hielt Traggs prüfendem Blick stand. »Jetzt habe ich aber eine Überraschung für Sie«, versetzte Tragg triumphierend. »Und zwar hat Miss Fay Allison, Apartment sechs-null-vier im gleichen Haus, den Mantel, den wir hier im Wandschrank gefunden haben, in die Reinigung gegeben. Das Zeichen beweist es einwandfrei. Was hielten Sie denn davon, Mr. Mason, daß wir uns mal ein bißchen mit dieser Fay Allison unterhielten? Nicht, daß ich Ihnen mißtrauen würde. Lediglich, um allen Mißverständnissen von vornherein vorzubeugen, schlage -40-
ich vor, daß wir gemeinsam hinuntergehen. Vielleicht können Sie mir den Weg ja sogar zeigen.« Tragg marschierte in Richtung Fahrstuhl los. In diesem Augenblick trat eine elegant gekleidete Dame, schätzungsweise um die Vierzig, heraus und ging durch den Flur – dabei suchend die Nummern der Apartments musternd. Tragg verstellte ihr den Weg. »Suchen Sie etwas Bestimmtes?« Sie hob arrogant den Kopf und wollte an ihm vorbeirauschen. Tagg zupfte lässig an ihrem Mantel und wies sich mit seiner Dienstmarke aus. »Ich suche das Apartment sieben-null-zwei«, sagte sie. »Und zu wem wollen Sie dort?« »Zu Mr. Carver Clements. Aber ich wüßte nicht, was Sie das angeht.« »Eine ganze Menge, fürchte ich«, entgegnete Tragg. »Aber würden Sie mir vielleicht verraten, wer Sie sind und was Sie zu dieser ungewöhnlichen Stunde hier machen?« »Ich bin Mrs. Carver L. Clements. Und ich bin hier, weil man mich telefonisch informiert hat, daß mein Mann sich hier heimlich eine Wohnung halten soll.« »Und das ist das erste Mal, daß Sie davon gehört haben wollen?« »Allerdings. Wieso?« -41-
»Und was beabsichtigen Sie zu tun?« »Ich will ihm beweisen, daß er mir nicht so leicht davonkommt«, versetzte sie. »Aber da Sie ja Polizeibeamter zu sein scheinen, wäre es vielleicht gar keine schlechte Idee, wenn Sie mich begleiteten. Ich bin davon überzeugt, daß…« »Sieben-null-zwei liegt dort hinten, ein Stück weiter den Flur hinunter«, erläuterte Tragg. »Ich komme gerade von dort. Sie werden allerdings einen Kriminalbeamten in der Wohnung vorfinden. Ihr Gatte ist nämlich heute abend zwischen sieben und neun Uhr ermordet worden.« Die dunkelbraunen Überraschung.
Augen
weiteten
sich
vor
»Sie – Sie – sind sich dessen ganz sicher?« »So sehr ich es bedaure«, spreizte sich Tragg, »aber es ist leider nicht der erste Tote, den ich sehe. Vergiftet. Man hat ihm Zyankali in seinen Whisky-Soda getan. Aber das wird vermutlich eine überraschende Neuigkeit für Sie sein?« Sie heuchelte keine Trauer, war aber doch sichtlich betroffen. »Wenn mein Mann tot ist… Ich kann es einfach noch nicht glauben… Er hat mich viel zu sehr gehaßt, um mir den Gefallen zu tun, zu sterben. Er wollte sich nämlich scheiden lassen und mich zwingen, auf eine nicht akzeptierbare finanzielle Regelung einzugehen. Da ich einen ziemlich starken Willen habe, hat er versucht, mich auszuhungern, wie man so schön sagt. Ich lege nun mal Wert auf schöne Kleider und konnte mir kaum mehr ein -42-
gutes Stück leisten. Er hoffte, mich auf diese Weise weich zu kriegen. Aber da hat er sich mächtig geirrt.« »Mit anderen Worten«, meinte Tragg, »Sie haben ihn von ganzem Herzen gehaßt.« Sie preßte die Lippen zusammen. »Das habe ich nicht gesagt.« Tragg grinste ironisch. »Ach, würden Sie so freundlich sein, uns kurz zu begleiten? Wir wollen nur auf einen Sprung einen Stock tiefer in ein anderes Apartment hineinschauen. Danach werden Sie die Güte haben, Ihre Fingerabdrücke abnehmen zu lassen, damit wir sie mit denen des Glases, das kein Gift enthielt, vergleichen können.«
5 Louise Marlow öffnete auf ihr Klingeln hin. Sie blickte fragend von Tragg zu Mrs. Clements. Mason lüftete den Hut und sagte mit der unpersönlichen Höflichkeit eines vollkommen Unbekannten: »Bitte verzeihen Sie, daß wir Sie um diese ungewöhnliche Stunde noch behelligen, aber…« »Das Reden übernehme ich!« fuhr Tragg dazwischen. Die gespreizte Förmlichkeit des Anwaltes war Tante Louise nicht entgangen. Sie behandelte Mason, als sähe sie ihn zum erstenmal. -43-
»Ungewöhnlich ist wohl in der Tat das passende Wort«, versetzte sie spitz und wollte weitersprechen, aber Tragg ließ auch sie nicht ausreden. Er schob sich in die kleine Diele. »Wohnt hier Miss Fay Allison?« erkundigte er sich. »Ja, allerdings. Zusammen mit noch einem jungen Mädchen, Anita Bonsal. Aber sie sind im Augenblick beide nicht da.« »So – wo sind sie denn?« verlangte Tragg zu wissen. Tante Louise schüttelte den Kopf. »Das kann ich Ihnen leider nicht verraten.« »Und wer sind Sie?« »Ich bin Louise Marlow, Fay Allisons Tante.« »Wohnen Sie auch hier?« »Du liebe Güte, nein! Ich bin nur hier, weil Fay… Weil ich Fay mal wiedersehen wollte.« »Und wie sind Sie hereingekommen, wenn niemand zu Hause war?« »Ich hatte einen Schlüssel. Davon abgesehen habe ich nicht gesagt, daß die Mädels nicht zu Hause waren, als ich ankam.« »Wieso – Sie haben doch erklärt, es wäre im Augenblick niemand da?« »Ganz richtig.« »Um welche Zeit sind Sie denn angekommen, Mrs. Marlow?« -44-
»Gegen ein Uhr früh.« »Lassen wir doch die Spiegelfechtereien!« erhitzte sich Tragg. »Ich wünsche Tatsachen, Fakten, keine Wortverdrehungen. Also – ich möchte die beiden jungen Damen sprechen.« »Das wird wohl, so leid es mir tut, nicht möglich sein. Sie sind nämlich beide krank und in die Klinik eingeliefert worden.« »Von wem?« »Dem behandelnden Arzt.« »Wie heißt dieser Arzt?« Louise Marlow zögerte kaum merklich. »Es handelt sich lediglich um eine leichte Lebensmittelvergiftung, wissen Sie«, meinte sie dann leichthin. »Nur…« »Wie heißt der Arzt?« »Jetzt hören Sie mir mal zu, und unterbrechen Sie mich nicht immer«, wies Tante Louise den Leutnant zurecht. »Ich habe Ihnen gesagt, daß die beiden jungen Mädchen krank sind und absolute Ruhe brauchen und…« So leicht ließ Tragg sich nicht einschüchtern. »Ein gewisser Carver L. Clements, der ein Apartment in der Etage über den Mädchen bewohnt, ist tot. Ermordet worden, wie es den Anschein hat. Es liegen Beweise vor, daß Fay Allison eine Affäre mit dem Toten hatte und zumindest häufig bei ihm oben geschlafen…«
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»Was reden Sie da für einen Unsinn!« Diesmal war es Tante Louise, die den Leutnant unterbrach, und zwar ehrlich indigniert. »Was soll das heißen… Ich…« »Tragen Sieʹs mit Fassung. Es ist nun mal erwiesen. Wir haben Kleidungsstücke Ihrer Nichte im Apartment des Toten gefunden. Was einwandfrei an Hand eines Wäschezeichens festzustellen war.« »Kleidungsstücke!« schnaubte Tante Louise verächtlich. »Wahrscheinlich irgendwelche alten Klamotten, die Fay verschenkt hat, oder –« »Das wird alles noch sorgfältig ermittelt werden«, versicherte Tragg mit einer an ihm ungewöhnlichen Engelsgeduld. »Ich beabsichtige nicht, jemandem Unrecht zu tun. Ich kann Ihnen versichern, daß wir fair und korrekt verfahren werden. Aber es handelt sich nicht nur um die Kleidungsstücke. Wir haben außerdem Fingerabdrücke sichergestellt. Und zwar die Fingerabdrücke einer Frau. Auf einem Glas, einer Zahnbürste, der Zahnpastatube. Ich greife ungern zu drastischen Maßnahmen. Aber ich sehe mich leider gezwungen, mir die Fingerabdrücke von Miss Allison zu verschaffen. Und wenn Sie mir hier noch länger Steine in den Weg legen und etwas zu verschleiern trachten, werden Sie morgen, wenn Sie die Zeitung aufschlagen, Augen machen!« Louise Marlow wußte, wann der Moment gekommen war, zu passen.
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»Die Mädchen liegen im Crestview Sanatorium«, sagte sie nach kurzem Zögern. »Allerdings, Leutnant, bin ich bereit, mit Ihnen zu wetten, daß Sie hundert zu eins –« »Ich wette prinzipiell nicht«, lehnte Tragg trocken ab. »Ganz abgesehen davon, daß dies alles ein alter Hut für mich ist.« Er wandte sich zu einem seiner Beamten um und sagte: »Sie halten Perry Mason und seine charmante Sekretärin unter Beobachtung, bis ich mir die Fingerabdrücke besorgt habe. Okay, Jungs, gehen wir.«
6 Paul Drake, Inhaber der Detektiv-Agentur Drake, zog eine Handvoll Notizzettel aus der Tasche, bevor er sich in Masons Privatbüro in den Besuchersessel fallen ließ – in seiner bevorzugten Position, lässig seitlich hingelümmelt, die langen Beine über eine Lehne baumelnd, den Rücken gegen die andere gestützt. Es war halb elf Uhr vormittags. Dem Privatdetektiv war seine Müdigkeit deutlich anzumerken. »Sieht alles nicht sehr rosig aus, Perry«, meinte er. »Na, dann rück raus damit«, entgegnete Mason. »Fay Allison und Dan Grover wollten heute heiraten. Gestern abend haben Fay und das Mädchen, mit dem sie die Wohnung teilt, Anita Bonsal, ein gemütliches Plauderstündchen vor dem Kamin gehalten und sich dazu -47-
einen Kakao gekocht. An sich achten beide Mädchen strikt auf ihre schlanke Linie, aber das haben sie wohl als eine Art kleiner, intimer Feier aufgefaßt. Jedenfalls war Fay in ihrem beseligten Zustand alles egal. Sie hat gleich zwei Tassen getrunken, Anita nur eine. Daher hat Fay offenbar die doppelte Menge Barbitursäure erwischt. Beide Mädchen dämmerten in eine Art Koma hinüber. Das nächste, woran Anita sich erinnern kann, ist, daß Louise Marlow, Fays Tante, versucht hat, sie aufzuwecken. Fay Allison ist erst im Sanatorium wieder zu sich gekommen. Alles weitere weißt du ja. Jedenfalls war Tragg im Sanatorium und hat Fays Fingerabdrücke abgenommen. Sie stimmen mit denen auf dem Glas überein. Das Glas, welches dem Toten aus der Hand gefallen ist und das dann über den Boden rollte, bezeichnet die Polizei als das ›Mordglas‹. Auf dem befinden sich seltsamerweise überhaupt keine Abdrücke, nicht mal die von Clements. Aber das auf dem Tisch ist von denen Fays übersät. Außerdem haben die Beamten welche auf der Zahnbürste sichergestellt. Im Kleiderschrank hing ein Haufen Zeug von Fay. Sie muß ganz augenscheinlich mit dem Ermordeten zusammengelebt haben. Eine schöne Schweinerei, das Ganze. Dan Grover steht zu ihr. Aber ich fürchte, daß er nicht mehr allzulange durchhalten wird. Wenn ein Mann verlobt ist, und die Zeitungen schreien die indiskretesten Einzelheiten einer Affäre, die seine Braut mit einem anderen Mann gehabt hat, von den Titelseiten in alle Welt -48-
hinaus, dann darf es einen wirklich nicht verwundern, wenn Dan Grover über kurz oder lang in die Knie geht. Die Tante, Louise Marlow, hat mir erzählt, daß man allen erdenklichen Druck auf ihn ausübt, er solle sich von Fay Allison distanzieren, die Verlobung lösen und eine längere Auslandsreise antreten. Das junge Mädchen selbst behauptet, es müsse sich um ein teuflisches Komplott handeln. Sie ist felsenfest davon überzeugt, daß jemand sie und ihre Freundin Anita eingeschläfert hat, daß allem ein ausgeklügelter Plan zugrunde liegen muß. Aber ich frage dich, Perry, wer sollte das geplant haben? Und wie in Szene gesetzt? Es konnte doch zum Beispiel kein Mensch ahnen, daß die beiden eitlen Puten ausgerechnet an dem Abend alle guten Vorsätze über Bord werfen und Kakao trinken würden –« »Das Schlafmittel hat sich im Kakao befunden?« unterbrach ihn Mason. Drake nickte. »Die Dose war fast leer. Aber in dem restlichen Pulver hat das Labor eindeutig Schlafmittelrückstände festgestellt. Und zwar einen beachtlichen Prozentsatz.« Mason spielte mit seinem Bleistift herum. »Die Theorie der Polizei sieht folgendermaßen aus: Fay Allison war die Geliebte Carver Clementsʹ. Jetzt wollte Fay heiraten, Clements sie jedoch nicht freigeben. Daraufhin hat sie ihn vergiftet. Sie beabsichtigte, später wieder raufzugehen und ihre Sachen zu holen – alles aus -49-
der Wohnung zu entfernen, was auf sie hinweisen konnte. Aber Anita, die ausgegangen war und eigentlich vorhatte, länger fortzubleiben, kam unerwartet früh zurück. So konnte Fay ihren Plan nicht zu Ende führen, ihr Zeug nicht rausholen. Das mußte sie aber um jeden Preis. So versuchte sie, Anita mit Hilfe eines Schlafmittels vorübergehend außer Gefecht zu setzen. Und dabei muß ihr irgendein verhängnisvoller Fehler unterlaufen sein.« »Eine miserable Theorie«, fand Mason. »Hinkt vorn und hinten.« »Dann stell du doch eine bessere auf, wenn du kannst«, meinte Drake. »An einem jedenfalls ist nicht zu rütteln – Fay Allison hat mit dem Mann in sieben-null-zwei zusammengelebt. Und das ist es, was Dan Grover veranlassen wird, sich zurückzuziehen. Er ist ohnehin ein sensibler Junge, der aus einer erstklassigen Familie stammt. Der wird sich krümmen, wenn ihm sein Foto aus allen Zeitungen entgegenlacht. Und erst die Familie!« »Und Clements – wie stehen die Aktien da?« »Erfolgreicher Geschäftsmann, Makler, Spekulant, haufenweise Geld, zu Hause Schwierigkeiten, wollte sich scheiden lassen, und die Frau hat versucht, eine horrende Abfindungssumme aus ihm herauszupressen. Clements hat eine große, luxuriöse Wohnung, in der er offiziell wohnt. Dies war sein Liebesnest. Nur seine intimsten Freunde wußten davon. Seiner Frau wäre es eine hübsche Stange Geld wert gewesen, dahinterzukommen.« »Und was macht Mrs. Clements jetzt?« -50-
»Wartet ab. Es steht noch nicht fest, ob Clements ein Testament hinterlassen hat. Aber ihr gesetzmäßiger Anteil steht ihr auf jeden Fall zu. Wahrscheinlich wird man zunächst einmal seine Konten überprüfen und sich die Geschäftsbücher vornehmen. Clements hat weiß Gott wo mitgemischt. Enorme Summen sind in raschem Wechsel abgehoben und eingezahlt, von einem Konto aufs andere transferiert worden. Aber das wird ja jetzt alles ans Licht kommen, inklusive Banksafes, et cetera.« »Und was ist mit den vier Leuten, denen Della und ich auf dem Flur begegnet sind?« »Über die hab ich schon alles beisammen. Die Männer heißen Richard P. Nolin, der eine Art Partner des Ermordeten war, und Manley L. Odgen, Steuerberater, Spezialist für Einkommenssteuerfragen; dazu Don B. Ralston, der Clements bei Geschäften häufig als Strohmann gedient hat. Die Frau heißt Vera Payson und ist die Geliebte von einem der drei. Aber ich habe nicht herausbekommen können, von wem. Nun, wie auch immer, diese vier wußten von dem heimlichen pied-à-terre und gingen manchmal auf einen scharfen Poker hin. Als letzte Nacht die Dame von gegenüber, die immer wie der Teufel herausgesprungen kommt, erklärte, Clements habe bereits Besuch, konnten die Leute das ihren Erfahrungen gemäß nur in einer Richtung auslegen. Daraufhin verzogen sie sich. Tja, das warʹs wohl im wesentlichen. Die Zeitungen schlachten die Sache natürlich weidlich aus. Dan Grover wird wohl nicht mehr lange durchhalten, was man ihm nicht mal übelnehmen kann. Der Druck von -51-
allen Seiten ist einfach zu stark. Alles, woran er sich klammern kann, ist Fays tränenreiche Beteuerung, Clements überhaupt nicht gekannt zu haben. Louise Marlow beginnt auch langsam nervös zu werden. Sie läßt dich bitten, möglichst Dampf dahinter zu machen.« »Tragg glaubt, ich hätte Carver Clementsʹ Schlüssel gehabt«, bemerkte Mason. »Und hattest du?« »Nein.« »Ja, wo, zum Teufel, hattest du ihn dann her?« Mason schwieg. »Aber bei dem Toten wurde doch keiner gefunden«, versteifte sich Drake. Mason nickte. »Und da liegt unsere einzige Chance, Paul«, erklärte er. »Außer uns weiß es niemand. Tragg nimmt es mir nämlich nicht ab, daß ich den Schlüssel, mit dem ich aufgeschlossen habe, nicht von Clements hatte.« »Na, lange wird er wohl nicht brauchen rauszufinden«, meinte Drake pessimistisch.
das
»Und wenn du den Schlüssel nicht von Clements hast, kannst du ihn nur von einer einzigen Person haben.« »Na ja, überbewerten wollen wir es auch nicht, Paul«, äußerte Mason. »Da bin ich ganz deiner Ansicht«, versetzte dieser trocken. »Mach dir eins klar, Perry, du vertrittst ein junges Mädchen, das des vorsätzlichen Mordes angeklagt -52-
werden wird. Deine Aufgabe wird es sein, diese Anklage zu widerlegen. Und nicht genug damit, du mußt es mit Argumenten tun, die einen tief getroffenen Verlobten zufriedenstellen, der von seinen Freunden bedauert, von seinen Feinden verspottet und von der Presse als lächerliche Figur hingestellt wird.« Mason nickte. »Aber ganz gleich, wie du es erklären willst, was als Begründung vorgeben – es muß schnell geschehen«, fuhr Drake fort. »Ich kann nur immer wieder sagen, lange hält der junge Grover nicht mehr durch.« »Ich werde sehen, daß es möglichst bald zu einer Verhandlung kommt, auf Grund der Voruntersuchung. Inzwischen, Paul, finde bitte so viel wie möglich über Carver Clementsʹ Vergangenheit heraus. Widme dabei seiner Frau besondere Aufmerksamkeit. Überprüfe, ob es nicht einen Mann in ihrem Leben gibt. Einmal angenommen, sie hätte schon lange von der Existenz dieses Apartments gewußt…« Drake schüttelte zweifelnd den Kopf. »Ich geh der Sache nochmals nach, Perry. Aber überlege dir doch, hätte sie von dem Apartment gewußt, das wäre für sie doch ausreichend gewesen. Alles, was sie brauchte! Sie hätte doch nur unvermutet, aus heiterem Himmel mit einem Fotografen dort hereinzuschneien brauchen. Carver Clements wäre ihr auf Gnade und Ungnade ausgeliefert gewesen. Sie hätte ihm ihre finanziellen Bedingungen diktieren und auf Nimmerwiedersehen aus seinem Leben verschwinden können. Nein, gerade unter diesen -53-
Umständen wäre sie die letzte gewesen, die es nötig hatte, ihn zu vergiften.« Mason trommelte in gleichmäßigem Rhythmus gegen die Tischkante. »Aber irgendeine Erklärung muß es doch geben, Paul!« »Zweifelsohne«, meinte dieser, sich erhebend. Es klang eher resigniert als begeistert, als er fortfuhr: »Und du wirst lachen, Tragg glaubt, er hätte sie.«
7 Della Street trat nach kurzem Klopfen ein. »Er ist da, Chef!« verkündete sie. »Wer?« fragte Mason stirnrunzelnd zurück. Sie lachte. »Aber, Chef! Im Moment gibt es für Ihre Kanzlei doch wohl nur einen, dessen Kommen wichtig wäre.« »Dan Grover?« »Erraten.« »Wie ist er?« »Groß, sieht ziemlich sensibel aus. Welliges, dunkles Haar, romantische Augen. Ich finde, er wirkt irgendwie poetisch. Ist natürlich vollkommen am Boden zerstört. Man merkt ihm an, daß er jedesmal, wenn er einem Freund über den Weg läuft, tausend Tode stirbt. Gertie kann die Augen überhaupt nicht von ihm abwenden.« -54-
Mason grinste. »Na, dann wollen wir ihn mal erlösen. Führen Sie ihn bitte herein, Della, bevor Gertie entweder anfängt, mit ihm zu flirten, oder uns an gebrochenem Herzen stirbt.« Della Street verschwand und kehrte wenige Sekunden später in Begleitung Dan Grovers zurück. Mason reichte Grover die Hand und forderte ihn auf, Platz zu nehmen. Der blickte sich unsicher nach Della um. Mason lächelte. »Sie ist meine rechte Hand, Grover. Schreibt alles für mich mit und ist absolut verschwiegen.« »Ich bin wahrscheinlich übertrieben empfindlich«, meinte der junge Mann. »Aber ich kann es nun mal nicht vertragen, wenn die Leute so betont gönnerhaft zu mir sind, oder mich entweder schneiden oder bemitleiden.« Mason nickte. »Und das tun sie, seit die Morgenblätter erschienen sind.« Abermals antwortete Mason nur mit einem Nicken. »Aber Sie, Mr. Mason, sollen wissen, daß ich zu meiner Braut halten werde, komme, was da wolle.« Mason bedachte das einen Moment schweigend. Dann hob er den Blick und sah Grover fest an. »Wie lange?« »Bis zum bitteren Ende.« »Ganz gleich, was an Beweismaterial zusammengetragen werden wird?« -55-
»Nun, zunächst einmal geht aus dem vorliegenden Beweismaterial ja hervor, daß die Frau, die ich liebe, Carver Clementsʹ Geliebte war und mit ihm zusammengelebt hat. Aber dieses Beweismaterial muß auf irgendeinem Irrtum basieren! Ich liebe Fay und werde durch dick und dünn zu ihr halten. Ich möchte, daß Sie ihr das bitte ausrichten, wenn Sie sie sehen. Und mir geht es darum, daß Sie es wissen. Darüber hinaus will ich Ihnen Geld dalassen. Viel Geld. Weil ich nämlich möchte, daß Sie das Unterste zuoberst kehren. Daß Sie versuchen, das Unmögliche möglich zu machen. Ich bin gekommen, Ihnen die Mittel hierfür zur Verfügung zu stellen – ganz gleich, wieviel es kostet.« »Ausgezeichnet«, lobte Mason. »Aber was ich im Augenblick weitaus nötiger brauche, ist ein wenig moralische Unterstützung. Ich bin froh, Fay Allison die erfreuliche Nachricht übermitteln zu können, daß Sie zu ihr halten. Und dann hätte ich noch ein paar Fragen an Sie.« »Bitte.« »Wie lange sind Sie schon mit Fay Allison befreundet? Ich meine, wie lange kennen Sie sich näher?« »Ungefähr drei, vier Monate. Davor war ich… Nun ja… Also zunächst habe ich die beiden Mädchen gemeinsam ausgeführt.« »Mit dem zweiten Mädchen meinen Sie vermutlich Anita?«
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»Ja. Ich habe zuerst Anita kennengelernt und bin ein paarmal mit ihr ausgegangen. Dann fühlte ich mich sehr zu Fay hingezogen. Eigentlich glaubte ich, es handle sich nur um einen ganz alltäglichen Flirt. Dann merkte ich plötzlich, daß ich sie wirklich liebe.« »Und Anita?« »Sie ist für uns so etwas wie eine Schwester. Sie hat sich in der Sache großartig benommen. Sie hat mir auch versprochen, daß sie alles in ihrer Macht Stehende tun wird.« »Halten Sie es für möglich, daß Fay Allison die Geliebte Carver Clementsʹ war?« »Die rein physische Möglichkeit hätte sie gehabt, wenn Sie darauf hinaus wollen.« »Sie haben Fay gestern abend nicht gesehen?« »Nein.« »Was sagt Anita zu dem Ganzen?« »Anita findet die Anklage lächerlich, einfach absurd.« »Wüßten Sie irgendeine Möglichkeit, wie Fay Allison Zugang zu Zyankali gehabt haben könnte?« »Darauf wollte ich ohnehin noch kommen, Mr. Mason.« »Schießen Sie los.« »Unser Gärtner benutzt es. Ich weiß nicht genau wofür, aber… Nun, neulich, als er Fay herumgeführt hat…« »Ja, weiter«, drängte Mason ungeduldig, als Grover zögernd abbrach.
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»Nun ja, ich weiß, daß der Gärtner Fay irgend etwas im Zusammenhang damit erklärt hat. Er fügte hinzu, sie müsse sehr vorsichtig mit dem Berühren sein, weil die Dose Zyankali enthielte. Ich erinnere mich, daß Fay ihn noch gefragt hat, wozu er das Zeug denn benötige. Aber ich habe nicht sonderlich darauf geachtet. Es bildet den Grundstoff irgendeines Sprays, das er, soweit ich verstanden habe, für seine Pflanzen verwendet.« »Wer war sonst noch bei dem Gespräch anwesend?« »Nur wir drei.« »Hat Ihr Gärtner schon die Zeitung gelesen?« Grover nickte. »Können Sie ihm vertrauen?« »Wie mir selbst. Er ist unserer Familie sehr ergeben und schon seit zwanzig Jahren bei uns.« »Wie heißt der Mann?« »Barney Sheff. Meine Mutter hat ihn seinerzeit eingestellt und sich seiner angenommen, ihn… Nun, drücken wir es so aus, rehabilitiert.« »Befand er sich denn in Schwierigkeiten?« »Ja.« »Hat er gesessen?« »Ja.« »Und dann?« »Dann wurde er entlassen. Auf Bewährung. Er sollte einen Straferlaß bekommen, falls er einen Job nachweisen konnte. Meine Mutter hat ihm diesen Job geboten. -58-
Seitdem ist er der ganzen Familie zutiefst dankbar und ergeben.« »Haben Sie ein Treibhaus?« »Ja.« »Ich frage mich, ob Sie wohl die Möglichkeit, Orchideen zu züchten, je in Betracht gezogen und erforscht haben?« »Wir machen uns nicht viel aus Orchideen. Außerdem kann man sie ja immer kaufen. Und –« »Ich frage mich«, begann Mason in genau demselben Tonfall, »ob Sie alle Möglichkeiten, Orchideen zu züchten, in vollem Umfang in Betracht gezogen und erforscht haben.« »Sie meinen… Oh, ich verstehe! Sie meinen, wir sollten Sheff irgendwohin schicken, wo er…« »… die Möglichkeit, Orchideen zu züchten, gründlich studieren kann.« Dan Grover betrachtete Mason eine ganze Weile schweigend und prüfend. Dann stand er übergangslos auf und streckte dem Anwalt die Hand entgegen. »Ich habe etwas Geld mitgebracht«, sagte er. »Dachte, Sie würden es vielleicht brauchen können.« Achtlos warf er einen Umschlag auf den Tisch. »Was sagt denn Ihre Frau Mutter zu allem?« erkundigte sich Mason. Grover fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen. Dann kniff er den Mund fest zusammen.
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»Meine Mutter ist natürlich ziemlich durcheinander. Aber ich kann mir nicht vorstellen, inwieweit Mutters Gefühle für Sie von Belang sein sollten.« Er nickte allen kurz zu und verließ das Büro. Mason griff nach dem Umschlag, den Grover auf den Schreibtisch geworfen hatte. Er war mit Hundertdollarnoten vollgestopft. Della trat hinter den Anwalt und nahm ihm das Couvert aus der Hand. »Wenn mich einmal ein Mann so interessiert, daß ich Geld liegen sehen kann, ohne es zu zählen«, bemerkte sie, »dann wissen Sie, daß es mich gründlich erwischt hat, Chef. Wieviel istʹs denn?« »Übergenug«, meinte Mason. Della Street war noch dabei zu zählen, als der Telefonapparat mit der Geheimnummer klingelte. Sie hob ab, und Drakes volles Organ war zu vernehmen. »Ist Perry da?« »Ja.« »Okay«, ertönte es ziemlich sorgenvoll, »dann richten Sie ihm doch bitte meinen neuesten Lagebericht aus. Leutnant Tragg hat sich den Gärtner der Grovers geschnappt, einen Burschen namens Sheff. Sie halten ihn als Hauptbelastungszeugen fest. Scheint ihnen blendend in den Kram zu passen, herauszubringen, was der Bursche ausgesagt hat. Konnte bisher noch nicht herausbringen, was das ist. Aber ich glaube, daß der Wink, sich den Mann -60-
mal vorzunehmen, von Dans Mutter, Caroline Manning Grover, stammt.« Della Street saß wie versteinert da. Sie hielt den Hörer umklammert, ohne etwas zu sagen oder aufzulegen. »Hallo… Hallo!« rief Drake. »Sind Sie noch dran?« »Ja, ich bin noch dran«, murmelte Della. »Ich werde es ausrichten.« Damit legte sie auf.
8 Es war bereits nach neun Uhr abends, als Della am selben Tag mit dem Lift zu Perry Masons Kanzlei hinauffuhr. Die Detektiv-Agentur Paul Drakes, die sich im selben Stockwerk befand, war täglich vierundzwanzig Stunden geöffnet. Von außen sah die Eingangstür mit der Milchglasscheibe in der oberen Hälfte vollkommen harmlos aus. Sie ließ nicht ahnen, mit welchem Bieneneifer in den Räumen dahinter gearbeitet, Material zusammengetragen und gesichtet wurde. Della Street hatte eigentlich auf einen Sprung zu Paul Drake hineinschauen wollen. Sie änderte jedoch ihre Meinung und ging durch den dunklen Flur weiter. Die Agentur lag direkt neben dem Lift, Masons Kanzlei hinter der Biegung des Ganges.
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Als Della um die Ecke bog, sah sie, daß in Masons Büro noch Licht brannte. Sie schloß das Schnappschloß der äußeren Tür mit ihrem Schlüssel auf, durchquerte den Empfangsraum und öffnete die Tür zum Privatbüro. Der Anwalt ging mit langen Schritten im Zimmer hin und her. Den Kopf gesenkt, war er derart konzentriert und in seine Gedanken vertieft, daß er Dellas Eintreten nicht einmal bemerkte. Der Schreibtisch war mit Fotografien übersät. Dazwischen lagen unzählige Blätter Durchschlagpapier, das Paul Drake für seine Berichte zu verwenden pflegte. Della wartete ein paar Minuten. Dann sagte sie: »Guten Abend, Chef. Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?« Mason fuhr zusammen und sah sie verblüfft an. »Was machen Sie denn um diese Zeit noch hier?« fragte er. »Ich bin mal schnell raufgefahren, um zu sehen, ob Sie noch arbeiten. Und falls ja, wollte ich mich überzeugen, ob ich mich nicht ein bißchen nützlich machen kann.« Er lächelte. »Ich arbeite gar nicht. Ich komme mir vor wie ein gefangenes Tier, das vergeblich nach einem Ausweg sucht.« »Haben Sie gegessen?«
überhaupt
schon
etwas
zu
Mason warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Bisher noch nicht«, erwiderte er. -62-
Abend
»Wie spät ist es denn?« erkundigte sich Della. Er mußte nochmals auf die Uhr sehen, um es ihr sagen zu können. »Zwanzig vor zehn.« Sie lachte auf. »Wußte ichʹs doch, daß Sie beim erstenmal gar nicht richtig hingesehen haben! Kommen Sie, Chef, Sie müssen etwas in den Magen kriegen. Sie können sicher sein, daß Ihnen der Fall inzwischen nicht wegläuft.« »Wie wollen Sie das so genau wissen?« meinte Mason. »Ich habe übrigens mit Louise Marlow telefoniert. Sie hat sich mit Dan Grover in Verbindung gesetzt und kennt seine Mutter. Dan behauptet noch immer steif und fest, bei der Stange bleiben zu wollen. Aber wie will der Junge wissen, was er tun wird? Er ist offenbar dabei, Charakter zu entwickeln. Was dabei herauskommt, wissen die Götter. Seine Freunde und seine Familie wühlen kräftig in der offenen Wunde, indem sie ihm ihre Sympathie bezeugen, ihn mit jedem Wort, jedem Blick bemitleiden. Wie, um alles auf der Welt, will der Junge wissen, wie lange er das noch aushalten wird? Wie kann er mit derartiger Überzeugung behaupten, bei der Stange bleiben zu wollen?« »Das klingt sehr klug, und sicher mögen Sie recht haben«, versetzte Della. »Trotzdem habe ich das untrügliche Gefühl, er wirdʹs.« Dann fügte sie hinzu: »Es sind Situationen wie diese, in denen der Mensch über sich hinauswächst.«
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»Sie wollen mir ja nur Mut machen. Den Trick habe ich bei den Geschworenen auch schon mal mit Erfolg angewandt. Die Psyche – im Schmelztiegel der Höchstbelastung gehärtet. O Wunder! – Phrasendrescherei!« Della lächelte ironisch. »Der arme Junge geht durchs Fegefeuer«, fuhr Mason fort. »So sehr er sich auch dagegen wehrt, die augenscheinlichen Beweise verfehlen ihre Wirkung auf ihn nicht. Auch wenn er uns den starken Mann vorspielt. Ist ja auch keine schöne Situation: In der Nacht vor der Hochzeit muß die Frau, die er liebt, erst einen anderen loswerden – einen unattraktiven, ältlichen Kerl, der ihr bisher Geld gegeben und eine gewisse trügerische Sicherheit geboten hat. Aber jetzt, oho, hat sie plötzlich ihn, Dan Grover, den jungen, strahlenden Helden, gefunden, der sie sogar heiraten will.« »Chef, ich bestehe darauf, daß Sie jetzt etwas essen!« Mason trat an seinen Schreibtisch. »Da, sehen Sie sich das an!« verlangte er. »Fotografien. Und es hat Drake verteufelte Mühe gekostet, sie zu bekommen. Abzüge der Polizeiaufnahmen, die Leiche auf dem Fußboden, der umgekippte Sessel, eine geöffnete Zeitung auf einem anderen Stuhl – ein ganz gewöhnliches Durchschnittsapartment, so langweilig wie die Affäre, für die es gemietet wurde. Und irgendwo auf diesen nichtssagenden Fotos muß ich den Hinweis finden, der mir helfen soll, die Unschuld Fay Allisons zu beweisen. -64-
Und zwar nicht nur an dem Mord, dessen sie angeklagt ist, sondern auch dafür, daß sie den Mann, den sie liebt, niemals betrogen hat.« Mason nahm das dicke, halbkugelförmige Vergrößerungsglas, das ihm als Briefbeschwerer diente, und sah sich noch einmal Bild um Bild an. »Della, ich will gehängt werden, wenn dieser Hinweis nicht irgendwo zu finden ist!« stöhnte er verzweifelt. »Zum Beispiel das Glas auf dem Tisch. Ein kleiner Rückstand von Whisky und Soda darin. Das Ding übersät mit Fays Fingerabdrücken. Dann dieser theatralische, leuchtendrote Lippenabdruck auf der Stirn.« »Was beweist, daß unmittelbar vor seinem Tod eine Frau bei ihm gewesen sein muß?« »Nicht notgedrungen. Dieser Abdruck ist mir fast zu perfekt. Auf den Lippen des Toten finden sich nämlich nicht die geringsten Spuren von Lippenstift. Nur auf der Stirn. Ein gerissener Mann könnte sich durchaus die Lippen gemalt und einen Abdruck auf Clementsʹ Stirn gedrückt haben, um die Polizei irrezuführen. Dafür wäre jedoch Voraussetzung, daß dieser Mann gewußt hat, daß Clements in seinem Apartment regelmäßig von einer Frau besucht wurde. Dieser unübersehbare, derart auffällige Hinweis auf eine Frau macht mich einfach mißtrauisch. Ich kannʹs nun mal nicht ändern. Doch damit habe ich immer noch keinen Ausgangspunkt. Wenn die Zeit nur nicht so drängte!«
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Jetzt kam auch Della an den Schreibtisch. Sie nahm die Blätter Durchschlagpapier, schichtete sie ordentlich aufeinander und faltete sie zusammen. Dann sammelte sie die Fotografien ein, schob den Stapel unter die Berichte und beschwerte sie mit der dicken Lupe. »Also, Chef, gehen wir. Ich bin halb verhungert«, verkündete sie dann. Mason ging zum Wandschrank hinüber, holte Mantel und Hut, löschte das Licht, und sie gingen. Er hörte gar nicht richtig hin, was Della sagte, und seine Antworten gingen häufig am Thema vorbei, bis sie endlich in einer Nische in ihrem Stammlokal saßen. Dann schob er entspannt und zufrieden den Teller mit den Resten seines Steaks, der Strohkartoffeln und des goldbraun getoasteten französischen Weißbrotes zurück. Den Salat hatte er aufgegessen. Er schenkte Della und sich noch einmal Kaffee nach, dann kam er zur Sache. »Drake hat praktisch überhaupt nichts herausgefunden. Nur ein bißchen in der Vergangenheit gewühlt.« »Zum Beispiel?« fragte Della. »Ach, immer das gleiche. Die Ehefrau Clementsʹ muß es seinerzeit fast umgeworfen haben, daß sie sich dieses Wunder von einem Mann gekapert hatte. Seine männliche Ausstrahlung und Stärke haben sie fasziniert und überwältigt. Sie hat dabei nicht bedacht, daß er ebendiese Eigenschaften, Menschen für sich einzunehmen sowie seinen eisernen Willen ebenso einsetzen würde, um -66-
andere Dinge, nach denen ihn verlangte, zu bekommen – wenn er seine Marline erst einmal auf Numero Sicher hatte. Sie war viel allein. Er anderweitig beschäftigt. Das ist nun mal der Preis, den man zahlen muß, wenn man einen Mann dieses Typs heiratet.« »Und?« drängte Della. »Und so wandte er sich nach und nach anderen Interessen zu. Es ist zum Verzweifeln. Wie wirʹs drehen und wenden, Della, uns bleibt nur ein Ansatzpunkt: die Tatsache, daß man an Clementsʹ Leiche keinen Schlüssel gefunden hat. Dann ist da noch das vierblättrige Kleeblatt, dem wir im Flur begegnet sind. Irgendwie müssen die doch ins Haus hineingekommen sein. Sie werden sich erinnern, Della, daß die Haustür zu war. Jeder der Mieter konnte sie natürlich durch den Drücker in der Wohnung öffnen. Aber wenn kein Mieter einem aufmacht, muß man zwangsläufig einen Schlüssel haben, um hineinzukommen. Daran führt nun mal kein Weg vorbei. Schön, so weit, so gut. Die vier sind aber hereingekommen. Wie, frage ich Sie? Es gibt doch nur eine Erklärung – sie müssen einen Schlüssel gehabt haben, ganz gleich, was sie jetzt behaupten.« »Den berühmten fehlenden Schlüssel?« fragte Della. »Eben das ist es, was wir herausbekommen müssen.« »Was haben die vier Nachtvögel denn ausgesagt?« »Keine Ahnung. Die Polizei hat die Leutchen total eingeschüchtert. Jetzt bleibt mir nichts anderes übrig, als -67-
zumindest einen von ihnen in den Zeugenstand zu holen und ins Kreuzverhör zu nehmen. Damit wir wenigstens nicht so ganz im dunkeln tappen.« »Also, mit anderen Worten, Sie müssen auf einer möglichst umgehenden Verhandlung bestehen und dann Hals über Kopf ins kalte Wasser springen.« »So ungefähr.« »Der Schlüssel, den wir in Fay Allisons Handtasche gefunden haben… Ich meine, könnte das nicht Carver Clementsʹ abgängiger sein?« »Könnte – ja. Wenn, dann hat Fay uns entweder ganz schön eingewickelt, oder aber der Schlüssel ist vorsätzlich in ihre Handtasche praktiziert worden, weil er dort gefunden werden sollte. Und falls das zutrifft, von wem denn dann, bitte? Ich persönlich neige zu der Annahme, daß Clements den Schlüssel eingesteckt, also noch bei sich getragen haben muß, als er ermordet wurde. Beim Eintreffen der Polizei war der Schlüssel nicht mehr da. Es ist immer wieder das gleiche Lied. Das einzige, wo wir einhaken können – der verdammte Schlüssel.« Della schüttelte den Kopf. »Das ist zu hoch für mich. Aber es hört sich ganz so an, als ob Sie sich da durchbeißen müßten. Dabei fällt mir übrigens etwas ein: Louise Marlow ist eine großartige Person. Ich kenne sie schon eine Ewigkeit. Wenn Sie mal tatsächlich festsitzen, auf Tante Louise können Sie immer zählen.« Mason zündete sich eine Zigarette an. -68-
»Im allgemeinen bin ich es ja, der versucht, Zeit zu schinden. Aber diesmal muß ich das Ganze so schnell wie möglich über die Bühne bringen. Della, wir werden mit unerhörter Dreistigkeit und dummdreister Zuversicht vor Gericht treten. Dann allerdings wird uns gar nichts anderes übrigbleiben, als ein Kaninchen aus dem Hut zu zaubern… Möglichst ein weißes.« »Und wo wollen Sie das hernehmen?« fragte Della. »Versuchen wirʹs mal im Büro«, schlug Mason vor. »Nehmen wir uns die Fotos noch mal gründlich vor und…« Er verstummte. »Was ist denn los, Chef?« »Mir ist da gerade eine Idee gekommen. Bezüglich des Glases auf dem Tisch in sieben-null-zwei. Es befand sich doch noch ein kleiner Rest Whisky-Soda darin, gerade so viel, daß der Boden bedeckt war, oder?« »Ja – und?« »Was passiert, wenn Sie einen Whisky-Soda trinken, Della?« »Tja… es bleibt natürlich immer ein kleiner Rest im Glas zurück.« Mason schüttelte den Kopf. Seine Augen blitzten. »Was im Glas zurückbleibt, sind die nicht ganz aufgelösten Eiswürfel!« verkündete er triumphierend. »Nach einer Weile schmelzen sie, und was dann noch übrigbleibt, ist Wasser.«
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Jetzt hatte die Erregung auch Della gepackt. »Das würde also bedeuten, daß sich im Glas der Frau – wie die Polizei auf Grund der Fingerabdrücke behauptet, Fay Allisons Glas – kein Eis befunden hat?« »Und in Carver Clementsʹ auch nicht. Dabei stand auf dem Tisch ein gefüllter Eiskübel. Kommen Sie, Della, nehmen wir uns die Fotos noch einmal wirklich gründlich vor!«
9 Richter Randolph Jordan nahm auf seinem erhöhten Stuhl Platz. Er musterte die Geschworenen und den überfüllten Gerichtssaal mit strengem Blick und sagte seinen üblichen Spruch für Verteidigung und Anklagevertretung auf. »Hiermit erkläre ich die Verhandlung für eröffnet«, verkündete er dann. »Die Verteidigung ist bereit«, sagte Mason. »Die Anklagevertretung ebenfalls«, erklärte Stewart Linn. Linn, einer der besten Staatsanwälte aus dem Stab des District Attorney, war ein Mann mit schmalem Fuchsgesicht, stechend scharfen Augen und vorsichtigem Auftreten – ein aalglatter, abgebrühter Prozeßroutinier. Hinzu kam noch die eiskalte Unbarmherzigkeit einer seelenlosen Maschine. Linn beging niemals den Fehler so vieler Ankläger, seinen Gegner zu unterschätzen. -70-
»Ich rufe Dr. Charles Keene als Zeugen auf«, sagte er. Nachdem der Zeuge den Eid geleistet hatte, gab er zu Protokoll, Arzt zu sein – genau gesagt, Chirurg – und über eine große Erfahrung auf dem Gebiet der Obduktion zu verfügen. Er sei schon mehrfach speziell für Mordfälle zugezogen worden. »Und Sie wurden am Zehnten dieses Monats in die Mandrake Arms, Apartment sieben-null-zwei gerufen?« »Ja.« »Um welche Zeit?« »Gegen zwei Uhr früh.« »Und was haben Sie dort vorgefunden?« »Die Leiche eines ungefähr zweiundfünfzig Jahre alten, gutgenährten Mannes, dessen Haar sich bereits zu lichten begann, der aber ansonsten für sein Alter erstaunlich rüstig war. Die Leiche lag auf dem Boden, offensichtlich im Fallen vornübergestürzt, den Kopf der Tür zugewandt, die Füße ins Innere des Apartments ragend, den linken Arm abgeknickt unter sich, den rechten von sich gestreckt. Die rechte Gesichtshälfte sichtbar, die linke auf dem Teppich ruhend. Er mußte bereits seit mehreren Stunden tot gewesen sein. Und zwar würde ich sagen, daß der Tod zwischen neunzehn und einundzwanzig Uhr abends eingetreten sein muß. Eine präzisere Bestimmung kann ich Ihnen leider nicht geben. Für diesen Zeitraum zwischen sieben und neun hingegen verbürge ich mich.« »Konnten Sie die Todesursache feststellen?« »Zu dem Zeitpunkt noch nicht. Erst später.« -71-
»Und was war die Todesursache?« »Vergiftung durch Zyankali.« »Ist Ihnen sonst etwas Ungewöhnliches an der Leiche aufgefallen?« »Nun, auf dem oberen Teil der Stirn fanden sich rote, fetthaltige Spuren, einwandfrei von geschminkten Lippen, die auf die Haut gepreßt worden waren. Außerdem hoben sich deutlich feine, runzlige Fältchen von den Konturen ab.« »Sie wollen damit sagen, daß die Stirn faltig war?« »Nein«, korrigierte Dr. Keene lächelnd. »Ich wollte damit sagen, daß die Lippen kleine Fältchen aufwiesen. Es drängte sich einem unwillkürlich der Eindruck auf, als habe eine Frau sich auf theatralische Weise mit einem letzten Kuß verabschieden wollen. Die Lippenstiftspuren befanden sich, wie schon eingangs von mir angeführt, auf dem oberen Teil der Stirn. Dort ist die Haut normalerweise glatt und geschmeidig. Nur weil der Tote eine beginnende Glatze hatte, war die Stelle nicht vom Haaransatz verdeckt.« »Herr Verteidiger, bitte schreiten Sie zum Kreuzverhör!« forderte Linn den Anwalt auf. »Keine Fragen an den Zeugen«, lehnte Mason ab. »Dann rufe ich Benjamin Harlan auf«, sagte Linn. Benjamin Harlan, ein hochgewachsener, unbeholfener Riese, betrat mit breitem Lächeln den Zeugenstand. Er erklärte, Fingerabdruckexperte mit zwanzigjähriger Praxis zu sein. -72-
Stewart Linn streifte geschickt und gewandt noch einmal die Laufbahn seines Zeugen, um ihn ins rechte Licht zu stellen, und kam dann zur Sache. Er ging das Auffinden der Leiche durch, das Abnehmen der Fingerabdrücke an verschiedenen Stücken in der Wohnung, betonte den Umstand, daß sich auf dem sogenannten »Mordglas« keine Fingerabdrücke befunden hätten – und zwar war einwandfrei seine Überzeugung herauszuhören, daß das Glas absichtlich abgewischt worden war –, ohne daß er es direkt in Worte faßte; dann kam er auf das Sicherstellen der Abdrücke auf der Zahnbürste, Zahnpastatube und anderen Gegenständen zu sprechen. Diese Fingerabdrücke waren mit denen, die man der Angeklagten abgenommen hatte, verglichen worden. Darüber hinaus identifizierte Harlan eine Serie von Aufnahmen, die der Polizeifotograf gemacht hatte und welche die Lage der Leiche sowie den Zustand des Apartments zeigten. Nicht einmal die Flasche schottischen Whiskys, das Sodasiphon und der Eisbehälter waren übersehen worden. »Freigegeben zum Kreuzverhör«, schleuderte Linn Mason entgegen. »Sie können also auf eine zwanzigjährige Erfahrung als Fingerabdruckexperte zurückblicken, Mr. Harlan?« begann Mason ruhig. »Jawohl.«
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»Soweit ich orientiert bin, versteht man darunter nicht nur das Abnehmen der Abdrücke, sondern auch ihre Identifizierung?« »Ja, Sir.« »Sie kennen Dr. Keenes Aussage Lippenstiftes auf der Stirn des Toten?«
bezüglich des
»Ja, Sir.« »Und diesen Lippenabdruck zeigt die Fotografie, die ich Ihnen jetzt aushändige?« »Ja, Sir. Aber ich habe darüber hinaus selbst eine Aufnahme von diesem Lippenabdruck gemacht, und zwar mit einem meiner Apparate, die speziell für Nahaufnahmen geeignet sind. Ich habe eine Vergrößerung davon angefertigt, falls Sie daran interessiert sein sollten.« »O ja, sogar außerordentlich«, beteuerte Mason. »Würden Sie bitte so gut sein, uns diese Vergrößerungen vorübergehend zur Verfügung zu stellen?« Harlan zog umständlich seine Brieftasche heraus, daraus wiederum die Fotografie, die einen Ausschnitt der Stirn des Toten zeigte – mit dem Lippenabdruck, der hier klar und deutlich bis in mikroskopische Details zu erkennen war. »Welchen Maßstab hat diese Aufnahme?« erkundigte sich Mason. »Lebensgröße«, gab Harlan Auskunft. »Ich arbeite mit einer Entfernungstabelle, an Hand welcher ich Aufnahmen exakt in Lebensgröße anfertigen kann.« -74-
»Ich danke Ihnen«, sagte Mason. »Ich bitte das hohe Gericht, die Aufnahme zu den Akten zu nehmen und als Beweisstück zu registrieren.« »Kein Einspruch«, erklärte Linn sich einverstanden. »Und es entspricht den Tatsachen, daß diese feinen Linien, die Ihre Aufnahme wiedergibt, genauso kennzeichnend sind wie Wirbel und Schleifen?« »Ich verstehe nicht, worauf Sie hinauswollen.« »Es ist doch wohl bei den Identifizierungsspezialisten eine bekannte Tatsache, daß man aus den feinen Fältchen, die ein Mundabdruck zeigt, ebensoviel herauslesen kann wie aus daktylographischen Linien – sie also genauso identisch, beziehungsweise unterschiedlich sind?« »Eine Tatsache ja, aber eine, die man nicht unbedingt als bekannt voraussetzen kann.« »Doch Sie geben zu, daß es sich um eine Tatsache handelt?« »Ja, Sir, das gebe ich zu.« »So daß man praktisch durch das Messen des Abstandes zwischen den feinen Fältchen, die diese Aufnahme zeigt, einen ebenso unwiderlegbaren Beweis erbringen kann, wie durch das Vergleichen von Fingerabdrücken?« »Ja, Sir.« »Zeuge, Sie haben ausgesagt, Fingerabdrücke der Verdächtigen abgenommen zu haben, die dann mit denen auf dem Glas sichergestellten verglichen wurden.« »Ja, Sir.« -75-
»Haben Sie einen wie immer gearteten Versuch unternommen, sich einen Lippenabdruck der Angeklagten zu beschaffen und diesen mit dem von der Stirn des Toten abfotografierten zu vergleichen?« »Nein, Sir.« Harlan rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. »Und warum nicht?« »Nun, ganz abgesehen davon, daß die feinen Rillen der Lippen so schwer zu erfassen und hochgradig unterschiedlich sind, ist es – wie schon gesagt – relativ unbekannt, daß man überhaupt Vergleiche damit anstellen kann.« »Aber Ihnen ist es bekannt?« »Ja, Sir.« »Und den versierten unter Ihren Kollegen wohl ebenfalls?« »Ja, Sir.« »Wieso also haben Sie diesen Vergleich dann nicht vorgenommen?« Harlan bewegte sich abermals auf seinem harten Sitz. Er schlug die Beine übereinander und warf Stewart Linn einen hilfesuchenden Blick zu. »Ich erhebe Einspruch!« donnerte Linn, der den Blick aufgefangen hatte. »Diese Fragen sind unsachlich und gehören nicht in ein Kreuzverhör.« »Einspruch abgewiesen«, erklärte Richter Jordan knapp. »Der Zeuge hat die Frage zu beantworten.« -76-
Harlan räusperte sich. »Nun«, murmelte er, »ich fürchte, die Idee ist mir gar nicht gekommen.« »Dafür ist sie Ihnen ja jetzt nahegelegt worden«, meinte Mason gönnerhaft. »Setzen Sie sie in die Tat um. Alles, was Sie dafür benötigen, dürfte ja vorhanden sein. Bitte, Miss Allison, wenn Sie so gut sein würden, Ihren Mund nachzuschminken? Sehen wir doch mal, wie sich Ihr Lippenabdruck im Vergleich mit dem auf der Stirn des Toten ausnimmt.« »Ich erhebe Einspruch!« rief Linn und sprang auf. »Im Rahmen eines Kreuzverhörs ist das Ansinnen als unzulässig zu betrachten. Wenn die Verteidigung Mr. Harlan als ihren Zeugen benennen will und diesen Test zur Entlastung der Beschuldigten will, steht das auf einem anderen Blatt. Aber mit einem sachlichen Kreuzverhör hat es nichts mehr zu tun.« »Man kann es insofern doch als Kreuzverhör betrachten, als es darum geht, die Qualifikation Mr. Harlans als Sachverständiger zu ermitteln«, entschied Richter Jordan. »Gehen damit die technischen Förmlichkeiten nicht etwas weit?« meinte Linn mit einem ironischen Lächeln. »Ihr Einwand war eine reine Förmlichkeit«, wies ihn Richter Jordan scharf zurecht. »Er wird hiermit abgewiesen. Nehmen Sie bitte den Abdruck ab, Mr. Harlan.« Fay Allison trug mit bebender Hand dick Lippenstift auf. Dann nahm sie einen kleinen Spiegel aus der Tasche und zog mit einem Lippenpinsel die Konturen nach. -77-
»Bitte, Mr. Harlan, wenn Sie so freundlich sein wollen«, forderte Mason den Sachverständigen auf. Harlan entnahm seiner Brieftasche ein weißes Blatt Papier und ging zum Tisch des Verteidigers hinüber, an dem die Angeklagte neben Perry Mason saß. Behutsam drückte er das Blatt gegen ihre Lippen. Ebenso vorsichtig entfernte er es wieder und studierte eingehend den frischen Abdruck. »Also?« drängte Mason. »Vergleichen Sie den Abdruck mit dem auf Ihrer naturgetreuen Fotografie und teilen sie dem Gericht Ihr Ergebnis mit.« Harlan versuchte immer noch, sich herauszuwinden. »Ich habe hier natürlich nicht die notwendigen Einrichtungen zur Verfügung, kann zum Beispiel keine mikroskopische Untersuchung – beziehungsweise keinen mikroskopischen Vergleich – anstellen. Aber soviel steht fest, daß selbst ein oberflächlicher Vergleich ausreicht, um zu sagen, daß die Mundabdrücke niemals identisch sein können.« »Ich danke Ihnen«, meinte Mason mit einem zufriedenen Lächeln. »Keine weiteren Fragen.« Jetzt war jedoch das Interesse Richter Jordans geweckt. »Gehe ich richtig in der Annahme, daß diese Linien nur dann sichtbar sind, wenn die Lippen gespitzt werden – zum Beispiel für einen Kuß?« erkundigte er sich. »Nein, Euer Gnaden, alle Lippen weisen stets diese feinen Rillen auf. Das läßt sich unschwer durch entsprechende Tests beweisen. Bei einem Kuß, einem -78-
Spitzen der Lippen, wie Sie sagen, vertiefen sich die Linien natürlich, werden noch ausgeprägter.« »Und diese Rillen oder feinen Linien, wie Sie es nennen, sind bei allen Menschen unterschiedlich?« »Ja, Euer Gnaden.« »Das wäre dann alles«, sagte Richter Jordan. »Ich möchte lediglich darauf hinweisen, daß dem Umstand, daß der Lippenabdruck auf der Stirn des Toten nicht von der Angeklagten stammt, keine große Bedeutung beizumessen ist!« versuchte der Assistent des District Attorney zu retten, was zu retten war. »Ganz im Gegenteil, Euer Gnaden, gerade daß der Abdruck nicht von der Angeklagten stammt, daß sie ihn entdeckte, als sie ihren Geliebten besuchen kam, kann wiederum für ihre Schuld sprechen… Ja, im Extremfall sogar das Mordmotiv darstellen. Die Fingerabdrücke beweisen unwiderlegbar, daß Fay Allison sich in der Tatnacht in der Wohnung des Ermordeten aufgehalten haben muß.« »Das Gericht versteht, worauf Sie abzielen, fahren Sie bitte mit der Einvernahme der Zeugen fort«, forderte Richter Jordan Linn auf. »Ich werde jetzt dem Gericht beweisen, daß sowohl der Verteidiger der Angeklagten wie auch seine ebenso charmante wie tüchtige Sekretärin durchaus die Möglichkeit hatten, den Mundabdruck vorsätzlich auf die Stirn des Toten zu praktizieren – ja, daß praktisch nur sie dafür in Frage kommen«, fuhr Linn ärgerlich fort. »Um
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das zu beweisen, bitte ich Mr. Don B. Ralston in den Stand.« Ralston war deutlich anzumerken, meilenweit von hier fort wünschte.
daß
er
sich
»Ihr Name ist Don B. Ralston? Sie wohnen Creelmore zwei-neun-drei-fünf?« »Ja, Sir.« »Und Sie waren mit Carver L. Clements bekannt?« »Ja.« »Geschäftlich?« »Ja, Sir.« »Nun, in der Nacht – oder besser am frühen Morgen – wollten Sie Carver L. Clements in seinem Apartment einen Besuch abstatten?« »Stimmt, Sir.« »Um welche Zeit?« »Nun, ungefähr… Ich würde sagen, zwischen ein und zwei Uhr früh… Halb zwei, schätzungsweise.« »Waren Sie allein?« »Nein, Sir.« »Wer befand sich in Ihrer Begleitung?« »Richard P. Nolin, ein Geschäftsfreund des Verstorbenen; Manley L. Odgen, der überwiegend Mr. Clementsʹ Steuerangelegenheiten, speziell Einkommensteuererklärungen, bearbeitete, und Miss Vera Payson,
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eine gute Freundin von – nun ja, mehr oder weniger uns allen.« »Was geschah, als Sie zu dem besagten Apartment kamen? Haben Sie es betreten?« »Nein, Sir.« »Berichten Sie uns bitte im einzelnen, was geschah.« »Nun, wir verließen im siebenten Stock den Fahrstuhl und gingen den Korridor entlang. Dabei fielen mir zwei Leute auf, die uns entgegenkamen.« »Um es genauer zu präzisieren: Als Sie sagten ›den Korridor entlang‹, meinten Sie damit, in Richtung des Apartments sieben-null-zwei?« »Ganz richtig. Ja, Sir.« »Und können Sie uns sagen, wer diese Leute waren?« »Mr. Perry Mason und seine Sekretärin, Miss Street.« »Und Sie haben das Apartment Carver Clementsʹ überhaupt nicht betreten?« »Nein.« »Warum nicht?« »Als wir die Tür von sieben-null-zwei erreicht hatten, klingelte ich. Wir konnten es drinnen deutlich anschlagen hören. Fast im gleichen Moment wurde die Tür der gegenüberliegenden Wohnung aufgerissen, und eine Frau schimpfte auf uns ein. Sie schien äußerst erbost, weil es schon das zweitemal war, daß sie vom Klingeln an Carvers Tür geweckt wurde. Daraus schlossen wir, daß Mr. Clements Besuch haben müßte, und gingen wieder.« -81-
»Euer Gnaden, ich schlage vor, jetzt den Beweis zu erbringen, daß es sich bei den beiden Personen, die vorher bei Carver Clements geklingelt und die gegenüber wohnende Mieterin aus dem Schlaf gestört haben, um Mr. Mason und Miss Street handelte«, fuhr Stewart Linn mit Elan fort. »Ferner, daß Mr. Mason und Miss Street das Apartment nicht nur betreten, sondern sich auch für eine von uns nicht eindeutig festzustellende Zeit darin aufgehalten haben.« »Einen Augenblick, bitte«, rief Mason aufspringend. »Bevor Sie dazu übergehen, möchte ich den Zeugen gerne ins Kreuzverhör nehmen.« »Stattgegeben. Bitte Kreuzverhör.« »Als Sie in den Mandrake Arms eintrafen – war die Haustür da offen oder verschlossen?« »Verschlossen.« »Und was taten Sie?« »Wir fuhren zum siebenten Stock hinauf und –« »Das haben wir bereits gehört. Aber wie gelangten Sie ins Haus? Durch die verschlossene Eingangstür? Besaßen Sie denn einen Schlüssel?« »Nein, Sir.« »Ja, wie sind Sie denn dann hereingekommen?« »Aber – Sie haben uns doch geöffnet!« »Ich?« »Natürlich.«
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»Ach, so!« lachte Mason. »Nein, ich beziehe mich jetzt nicht auf den Zeitpunkt, als Sie in Begleitung der Funkstreife das zweitemal zurückkamen. Mir geht es um das erstemal, als Sie am Zehnten dieses Monats das Apartmenthaus betraten – das erstemal, als Sie von der Straße aus durch die verschlossene Tür in das Entree gelangten.« »Ja, Sir. Ich habe Sie genau verstanden. Sie haben uns geöffnet.« »Wie kommen Sie darauf?« »Nun, weil Sie und Ihre Sekretärin sich doch in Carvers Wohnung befanden und –« »Wissen Sie aus eigener Anschauung, daß wir uns in der Wohnung befunden haben?« »Nun, nein – aber ich vermute es. Wir sind Ihnen doch unmittelbar, nachdem Sie das Apartment verlassen hatten, begegnet. Sie liefen im Eiltempo in Richtung des Lifts.« »Hier geht es um Tatsachen – nicht um Vermutungen!« wies ihn Mason zurecht. »Sie stehen unter Eid, Mr. Ralston. Sie können ja nicht einmal mit Sicherheit sagen, ob ich das Apartment überhaupt betreten habe. Was ich jetzt von Ihnen hören möchte ist, wie Sie von der Straße durch die verschlossene Tür ins Innere des Hauses gelangt sind. Aber keine Vermutungen, bitte! Klar und unmißverständlich: Wie sind Sie hineingekommen?« »Wir haben bei Carver geklingelt, und Sie – oder zumindest irgend jemand – haben den Knopf der Sprechanlage oben in der Wohnung bedient, der unten -83-
den Türmechanismus betätigt. Das Schnappschloß ging auf, wir konnten hinein.« »Entschuldigen Sie, wenn ich noch einmal auf diesen Punkt zurückkomme«, sagte Mason. »Aber ich möchte ihn gern unmißverständlich klären. Wer von Ihnen hat unten geläutet?« »Ich.« »Ich spreche, um das ganz klar herauszustellen, von dem Klingelknopf, der sich draußen auf der Straße befindet.« »Ja, Sir, das war ich.« »Und nachdem Sie geklingelt hatten, warteten Sie, bis das Summen ankündigte, daß die Tür von oben aus geöffnet worden war?« »Ja, Sir.« »Wie lange hat das ungefähr gedauert?« »Höchstens ein, zwei Sekunden.« »Eine letzte Frage«, wandte sich Mason nochmals an den Zeugen. »Sind Sie, nachdem Sie das Haus betreten hatten, sofort hinaufgefahren?« »Wir… Nein, Sir, nicht sofort. Wir blieben einen Moment im Entree stehen, um uns darüber einig zu werden, bis zu welchem Point wir diesmal pokern wollten; auch über die speziellen Regeln. Miss Payson hatte nämlich gerade bei einer dieser wilden Pokerpartien, wo der Austeilende so hoch reizen kann wie er mag, eine Menge Geld verloren.
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Wissen Sie, diese Art von Poker, bei der… Aber das gehört ja wohl nicht hierher.« »Wie lange kann diese Unterhaltung etwa gedauert haben?« »Höchstens ein paar Minuten, würde ich sagen.« »Und dann waren Sie zu einer Einigung gekommen?« »Ja.« »Fuhren Sie dann direkt nach oben?« »Ja.« »Wo befand sich der Fahrstuhl?« »Der Lift befand sich… Also, um ehrlich zu sein, daran kann ich mich wirklich nicht mehr so genau erinnern. Jedenfalls in einem der oberen Stockwerke. Ich weiß noch, daß es eine ganze Weile dauerte, bis er im Erdgeschoß hielt, nachdem wir gedrückt hatten.« »Keine weiteren Fragen.« Della Street zupfte ihn am Ärmel. »Wollen Sie ihn denn nicht nach dem Schlüssel fragen?« flüsterte sie. »Nein, jetzt noch nicht«, entgegnete Mason. In seinen Augen entdeckte Della das ihr so bekannte triumphierende Funkeln. »Ich weiß jetzt, wie es sich abgespielt hat, Della. Mir fehlt nur noch das letzte Stückchen des Puzzles – dann haben wirʹs geschafft! Ich will ihn erst einmal aufs Glatteis locken, damit er behauptet, wir wären in der Wohnung gewesen.« »Als nächstes rufe ich die Zeugin Shirley Tanner auf.« -85-
Fast hätte Mason in der jungen Frau, die nun den Zeugenstand betrat, nicht die unfrisierte, schlampige, unausgeschlafene und nervöse Person wiedererkannt, die in der Tatnacht derartig giftig auf ihn und Della Street losgegangen war, nachdem sie bei sieben-null-zwei geklingelt hatten. »Sie heißen Shirley Tanner und wohnen in den Mandrake Arms, Apartment sieben-null-eins?« »Ja, Sir.« »Seit wann?« Sie lächelte kokett und sagte: »Noch nicht sehr lange. Drei Wochen lang bin ich wie eine Verrückte hinter einer Wohnung hergejagt und habe schließlich am Nachmittag des Achten dieses Apartment gefunden. Am Neunten bin ich dann eingezogen. Deswegen war ich auch so hundemüde und nahe daran, durchzudrehen.« »Trotzdem hatten Sie Schwierigkeiten, einzuschlafen?« »Ja.« »Und in den frühen Morgenstunden des Zehnten ereignete sich allerlei Ärgerliches für Sie. Die Klingel des gegenüberliegenden Apartments ließ Sie nicht zur Ruhe kommen?« »Das kann man wohl sagen, Sir.« »Schildern Sie uns doch bitte mal genau, was nun im einzelnen vorgefallen ist.« »Ich nehme mitunter Schlafmittel, aber wahrscheinlich weil ich so fertig war, haben die Tabletten diese Nacht -86-
nicht geholfen. Der Umzug, das ganze Hin und Her, das Auspacken, hatten an meinen Nerven gezerrt. Ich war physisch und psychisch vollkommen am Ende. Ich versuchte einzuschlafen, aber ich war übermüdet. Sie werden das vielleicht selber kennen, Euer Gnaden«, wandte sie sich mit einem gewinnenden Lächeln an den Richter. Es blieb nicht ohne Eindruck auf Jordan, der die attraktive junge Frau freundlich, fast väterlich musterte und verständnisvoll nickte. »Wir alle sind von Zeit zu Zeit einmal übermüdet. Aber, bitte, fahren Sie mit Ihrer Aussage fort, Miss Tanner.« »Ja, also, ich muß wohl gerade eingeschlafen sein, als mich ein langanhaltendes Klingeln genau gegenüber weckte. Ein scheußlich durchdringendes Geräusch, das mir durch und durch ging.« »Und dann –«, drängte Linn. »Dann stand ich auf, zog meinen Bademantel an, ging zur Wohnungstür und riß sie auf. Ich war wütend, daß die Leute es wagten, um diese Zeit noch einen solchen Lärm zu machen. Das Haus ist schrecklich hellhörig. Außerdem befindet sich der Luftschacht genau über der Wohnungstür. In sieben-null-zwei stand die Klappe anscheinend offen. Meine lasse ich nachts auch immer auf, damit ich wenigstens etwas frische Luft hereinbekomme. Ich war nicht nur wütend auf die nächtlichen Ruhestörer, sondern auch auf mich, weil ich so in Rage geraten war. Ich wußte, daß die Aufregung den Schlaf endgültig -87-
vertreiben würde. Und so war es auch. Ich lag endlos lange wach. Bis es drüben wieder losging mit der Klingelei.« Linn lächelte. »Sie waren also ärgerlich auf die Leute im Gang und dann auf sich selbst, weil Sie sich so hatten in Wut bringen lassen?« Sie lachte melodiös auf. »So ungefähr.« »Und Sie sagten, Sie rissen die Tür auf?« »Ja, Sir.« »Und was sahen Sie?« »Zwei Personen, die auf dem Gang standen.« »Erkannten Sie sie?« »Damals wußte ich noch nicht, wer sie waren. Jetzt natürlich ja.« »Und wer war es?« Sie deutete mit einer dramatischen Geste auf Mason. »Mr. Perry Mason, der Verteidiger der Angeklagten, und die junge Frau, seine Sekretärin.« »Und was taten diese Leute?« fuhr Linn mit seinem Verhör fort. »Ich sah sie das Apartment betreten.« »Haben Sie regelrecht beobachtet, wie sie eintraten… Ich meine, wie bekamen sie denn die Tür auf?« »Sie müssen einen Schlüssel gehabt haben. Mr. Mason war gerade dabei, die Tür aufzudrücken, und ich –« -88-
»Keine Mutmaßungen, bitte!« unterbrach Linn seine Zeugin. »Haben Sie mit eigenen Augen gesehen, wie Mr. Mason einen Schlüssel benutzte?« »Nicht direkt – aber gehört.« »Was meinen Sie damit?« »Als ich bei mir aufmachte, hörte ich das typische Geräusch, wenn Metall auf Metall stößt – eben wie ein Schlüssel, der ins Schloß gesteckt wird. Und als ich meine Tür ganz offen hatte, sah ich Mr. Mason in sieben-nullzwei hineineilen.« »Ihre Überzeugung, daß Mr. Mason einen Schlüssel besaß, bezieht sich also lediglich auf das Geräusch, das gegebenenfalls ein Schlüssel verursacht haben würde?« »Ja ja – das ist doch logisch…« »Aber Sie hörten, wie sich Eisen an Eisen rieb?« »Ja, und das Klicken des Schlosses.« »Haben Sie mit Mr. Mason und Miss Street gesprochen?« »Allerdings! Meine Meinung habe ich ihnen gegeigt! Und dann die Tür zugeschlagen und nichts wie zurück ins Bett. Aber ich war so wütend, daß ich mich nicht beruhigen konnte. Ich frage mich immer wieder, weshalb, um alles auf der Welt, Leute, die einen Schlüssel haben, wie die Verrückten klingeln müssen. Warum mußten sie mich zuerst aufwecken anstatt sofort –« »Lassen wir das jetzt einmal beiseite«, schnitt ihr Linn ungeduldig das Wort ab. »Sie befinden sich im Zeugenstand. Da ist es nicht Ihre Aufgabe, sich über Ihre -89-
Gedanken auszulassen oder Mutmaßungen anzustellen. Berichten Sie dem Gericht einzig und allein, was Sie tatsächlich gesehen haben.« »Ja, Sir.« »Und was ereignete sich dann?« »Dann, als ich mich immer noch schlaflos im Bett herumwälzte – ich würde sagen, nur wenige Sekunden später –, klingelte es schon wieder. Und diesmal war ich wirklich auf hundert!« »Was taten Sie?« »Ich riß die Tür auf, um den Leuten mal gründlich Bescheid zu sagen.« »Leuten?« gab ihr Linn das Stichwort. »Ja. Diesmal standen vier Personen vor der Tür. Dieser Mr. Ralston, der eben ausgesagt hat, und zwei Männer; außerdem noch eine Frau. Sie standen direkt davor und nahmen den Finger gar nicht mehr vom Klingelknopf. Ich machte sie darauf aufmerksam, daß es doch wohl eine äußerst seltsame Zeit für einen derartigen Lärm wäre, und sagte ihnen, daß mein Gegenüber überdies bereits Besuch hätte. Daß sie wahrscheinlich warten könnten bis in alle Ewigkeit, ehe er ihnen aufmachte. Weil er nämlich höchstwahrscheinlich seine Ruhe haben wollte.« »Sahen Sie zu diesem Zeitpunkt Mr. Mason und Miss Street den Flur entlanggehen?« »Nein. Ich hatte meine Tür nur ein Stück weit offen, gerade weit genug, um den Eingang von sieben-null-zwei überblicken zu können. Sie kennen das Haus nicht. Also, -90-
wissen Sie, meine Tür schwingt nämlich zum Ende des Ganges hin auf, in entgegengesetzter Richtung vom Lift. Außerdem ist meine Tür die letzte vor der Biegung. Wenn ich aufmache, kann ich nur das letzte kurze Stück Flur sehen, es sei denn, ich reiße sie sperrangelweit auf.« »Ich danke Ihnen«, sagte Linn. »Aber Sie haben Mr. Mason und Miss Street bestimmt das gegenüberliegende Apartment betreten sehen?« »Ja.« »Und gesehen, wie sie die Tür hinter sich zuzogen?« »Ja.« »Herr Verteidiger, ich gebe Ihnen die Zeugin zum Kreuzverhör frei«, erklärte Linn in triumphierendem Ton. Mason zog ein Notizbuch aus der Tasche und ging vor bis zum Zeugenstand. Neben Shirley Tanner blieb er stehen. Er begann seine Befragung ausgesprochen freundlich. »Miss Tanner«, sagte er, »sind Sie sich dessen ganz sicher, daß Sie mich mit Metall am Schlüsselloch hantieren hörten?« »Ganz sicher!« erwiderte sie. »Ich stand so, daß Ihnen mein Rücken zugekehrt war?« »Als ich bei mir aufmachte, ja. Aber als Sie dann das gegenüberliegenden Apartment betraten, konnte ich Ihr Gesicht sehen. Sie wandten sich nämlich nach mir um.« »Wir werden uns doch wohl deswegen nicht in die Haare kriegen, ob die Zeugin nun durch Mr. Masons -91-
Rücken hindurchsehen konnte oder nicht«, meinte Linn mokant. »Schließlich ist er nicht aus Glas.« »Besten Dank für Ihre freundliche Unterstützung«, sagte Mason, zu Linn gewandt. Dann trat er unvermittelt einen Schritt vor und schlug Shirley Tanner sein aufgeschlagenes Notizbuch ins Gesicht. Diese schrie gellend auf und wich zurück. Linn sprang erregt auf. »Was soll das?« donnerte er. »Wollen Sie meine Zeugin einschüchtern?« Richter Jordan klopfte energisch ab. »Mr. Mason!« ermahnte er den Verteidiger empört. »Das ist Mißachtung des Gerichtes!« »Wenn Sie mir bitte gestatten würden, eine Erklärung abzugeben, Euer Gnaden. Die Staatsanwaltschaft hat den Mundabdruck meiner Mandantin abgenommen. Ich fühlte mich demnach berechtigt, mir den Mundabdruck der Zeugin zu verschaffen. Ich bin gerne bereit, zuzugeben, daß ich das Hohe Gericht mißachtet habe, und mich gebührend zu entschuldigen, falls ich mich mit der nun vorgetragenen Schlußfolgerung im Unrecht befinden sollte. Aber ich möchte darum bitten, daß der Lippenabdruck Miss Tanners an Mr. Benjamin Harlan als Experten ausgehändigt wird. Damit er Gelegenheit hat, ihn zu identifizieren. Und ich frage ihn hiermit in aller Form, ob dieser – eben Miss Tanner abgenommene – Lippenabdruck nicht mit dem auf der Stirn des ermordeten Carver L. Clements übereinstimmt?« -92-
Im Gerichtssaal herrschte spannungsgeladene Stille. Mason ging zu Benjamin Harlan hinüber und reichte ihm das Notizbuch. Vom Zeugenstand her ertönte ein schriller Entsetzensschrei. Shirley Tanner sprang auf und klammerte sich an der Lehne fest, die vor Panik weit aufgerissenen Augen auf Mason gerichtet. Unter ihrem Make-up war sie totenblaß geworden. Die Knie gaben unter ihr nach, ihre Hände griffen ins Leere, und sie sank zu Boden.
10 Als die Ordnung im Gerichtssaal wiederhergestellt war und das Publikum sich beruhigt hatte, ließ Perry Mason seine zweite Bombe platzen. »Euer Gnaden«, sagte er, »entweder ist Fay Allison unschuldig – oder sie ist schuldig. Falls sie unschuldig ist, hat jemand das Beweismaterial absichtlich manipuliert, so daß der Verdacht auf die Angeklagte fallen mußte. In diesem Fall kommt nur eine Person dafür in Frage, eine Person, die Zutritt zur Wohnung der Beklagten hatte, die Gläser, Zahnbürste und Zahnpasta mit Fay Allisons Fingerabdrücken ohne weiteres beschaffen konnte; die Zutritt zu Kleidungsstücken mit dem eindeutigen Hinweis auf die Identität der Angeklagten gehabt hat.
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Euer Gnaden, ich bitte Anita Bonsal in den Zeugenstand rufen zu dürfen.« Totale Stille. Anita Bonsal, die auf einer der Zuhörerbänke saß, hatte das Gefühl, von einem Augenblick auf den anderen nackend am Pranger zu stehen. Eben noch hatte sie vollkommen gelöst mit voller Aufmerksamkeit den Verlauf der Verhandlung verfolgt. Jetzt bildete sie schlagartig den Mittelpunkt des allgemeinen Interesses. Alle starrten sie an, sensationslüstern, neugierig anklagend. Panik ergriff sie – und Anita machte das Dümmste, was sie hätte tun können. Sie stand auf und lief davon. Der Fahrstuhl war ihr zu langsam. In ihrem Rücken ohrenbetäubendes Stimmengewirr, das furchterregend anschwoll… Anita hastete auf die Treppe zu, taumelte keuchend die Stufen hinunter, befand sich plötzlich in einer anderen Halle des Justizgebäudes. Verzweifelt suchte sie nach einer Treppe und konnte keine entdecken. Diesmal erschien ihr der Lift wie vom Himmel gesandt. Die Kabine stand mit geöffneter Tür auf ihrer Etage, das rote Feld darüber leuchtete auf. »Abwärts«, sagte der Fahrstuhlführer. Anita hechtete hinein. »Das nenne ich Tempo!« bemerkte er.
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Anita suchte fieberhaft nach Ausflüchten. »Mein Fall ist soeben aufgerufen worden«, erklärte sie. »Lassen Sie mich bitte im…« »Ich weiß«, entgegnete der Mann lächelnd. »Zweiter Stock, Unterhaltssachen –« Er brachte den Lift im zweiten Stock sanft zum Halten. »Links entlang«, sagte er. »Saal zwölf.« Anita vermochte endlich wieder klar zu denken. Sie lächelte dem Fahrstuhlführer dankend zu und eilte mit großen Schritten nach links, schob die Tür mit der Nummer »12« auf und befand sich im Saal des Berufungsgerichts. Sie hatte ihre Fassung wiedergewonnen und glitt mit der Sicherheit einer vorgeladenen Zeugin in eine der Bänke des nur schwach besetzten Raumes. Wohltuende Anonymität umfing sie. Niemand außer ihr bemerkte ihre Atemlosigkeit. Ihr Herz pochte wie wild, das Blut rauschte ihr in den Ohren – aber kein Mensch nahm Notiz von ihr. Sie lächelte zufrieden vor sich hin; aber nicht lange. Mit einemmal – jetzt erst – begriff sie, was sie eigentlich angerichtet hatte. Durch ihre Flucht mußte sie schuldig erscheinen. Wohin immer sie fliehen mochte, ihre Schuld würde sie verfolgen. Nie würde sie jemandem mehr in die Augen blicken können… Perry Mason hatte zwar einwandfrei bewiesen, daß sie nicht die Mörderin war, aber er hatte auch unmißverständlich klargemacht, daß sie sich etwas hatte -95-
zuschulden kommen lassen, was in den Augen der meisten Männer wahrscheinlich noch unverzeihlicher war als Eifersucht. Sie hatte ihre Freundin verraten. Sie war willens gewesen, Fay Allisons guten Ruf in den Schmutz zu ziehen. Ja, sie war sogar bereit gewesen, die Freundin, mit der sie die Wohnung teilte, mit Schlaftabletten umzubringen, um ihre eigene Haut zu retten. Inwieweit war Mason wohl in der Lage, das auch zu beweisen? Sie hatte keine Ahnung. Der Anwalt war doppelt gefährlich: einmal wegen seines fundierten Scharfsinns, zum anderen wegen seiner intuitiven Geschicklichkeit. Nun, alle diese Fähigkeiten brauchte er ja jetzt gar nicht mehr auszuspielen. Durch ihre Flucht hatte sie ihm die Arbeit abgenommen.
11 Oben im Gerichtssaal fuhr Mason unbeirrt mit seinem Verhör fort. Shirley Tanners Widerstandskraft war gebrochen. Wie von weit her hörte sie ihre eigene Stimme die hartnäckigen Fragen Masons beantworten. »Sie wußten, daß Clements das Apartment sieben-nullzwei gemietet hatte? Sie haben sich absichtlich bereit erklärt, eine Miete in jeder Höhe zu zahlen, um das Apartment sieben-null-eins zu bekommen? Sie waren
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eifersüchtig auf Clements, Sie mißtrauten ihm und wollten ihm nachspionieren?« »Ja«, antwortete Shirley, die glaubte, daß niemand ihr leises Flüstern verstehen konnte. Aber die sich dicht um sie drängenden Reporter, die jedes Wort mitstenographierten, bewiesen ihr das Gegenteil. »Sie waren außer sich vor Zorn, als Sie erkannten, daß Carver Clements neben Ihnen noch eine andere Geliebte hatte. Daß all sein Gerede, es gelte nur seine Scheidung abzuwarten, nichts als leeres Gewäsch war, auf das Sie lange genug hereingefallen waren.« »Ja«, murmelte sie. Was hätte sie auch sonst sagen sollen? Sie besaß einfach nicht mehr die Kraft, sich weitere Lügen auszudenken. »Ihr grundlegender Fehler lag da, wo ihn keiner vermuten würde: Sie liebten Carver Clements«, konstatierte Mason. »Ihnen ging es nicht um sein Geld, sondern um den Mann – und deshalb haben Sie ihn vergiftet. Stimmtʹs, Shirley?« »Ja.« »Und jetzt interessiert uns noch, wie Sie es getan haben.« »Ich habe Gift in meinen Whisky gemixt«, gab sie Auskunft. »Ich wußte, daß es Carver auf die Palme brachte, wenn ich trank, weil ich dann die Kontrolle über mich verlor. Er konnte nie wissen, was ich im nächsten Augenblick tun würde, wenn ich einen sitzen hatte. Ich klingelte bei ihm, das Glas in der Hand. Ich stellte mich beschwipst, streifte ihn aufreizend und ging weiter -97-
ins Wohnzimmer. Ich sagte: ›Hallo, Carver, Liebling. Darf ich mich vorstellen – deine neue Nachbarin‹, und genehmigte mir einen winzigen Schluck. Er reagierte genau, wie ich es erwartet hatte. Er raste vor Wut. Er sagte: ›Wo kommst du denn her, du Miststück? Habe ich dir nicht ein für allemal gesagt, daß bei uns nur einer trinkt, und zwar ich?‹ Damit schnappte er sich das Glas und trank es in einem Zug leer.« »Und?« fragte Mason. »Zunächst passierte überhaupt nichts. Carver ging zu seinem Sessel zurück und setzte sich. Ich umarmte ihn und küßte ihn auf die Stirn. Mein Abschiedskuß. Er sah mich verwundert an. Dann sprang er plötzlich auf und versuchte noch, die Tür zu erreichen. Aber er stolperte, fiel und stürzte vornüber aufs Gesicht.« »Und was taten Sie?« »Ich zog ihm den Schlüssel aus der Tasche, damit ich jederzeit zurückkommen und alles so herrichten konnte, wie es mir zweckmäßig erschien – vor allem das Glas mit meinen Fingerabdrücken mitnehmen konnte. Aber ich ertrug es nicht, dabeizusein, während er – würgte, sich erbrach – und… starb.« Mason nickte. »Sie kehrten in Ihr eigenes Apartment zurück und warteten ein paar Minuten. Als Sie glaubten, die Luft wäre rein, und wieder hinüberwollten, ging es nicht, weil inzwischen Anita Bonsal vor der Tür stand?«
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»Ja – und sie hatte einen Schlüssel. Sie ging schnurstracks hinein. Ich fürchtete, sie könnte die Polizei gerufen haben, und die Funkstreife müßte jeden Moment eintreffen. Ich traute mich nicht mehr hinüber. Ich versuchte zu schlafen. Natürlich vergeblich. Schließlich kam ich zu der Überzeugung, daß die Polizei anscheinend doch nicht kommen würde. Das war bereits nach Mitternacht.« »Aber dann sind Sie doch noch zurückgegangen? Sie waren in sieben-null-zwei, als Ralston klingelte. Sie –« »Ja«, sagte Shirley Tanner. »Ich bin zurückgegangen. Aber inzwischen hatte ich bereits mein Nachthemd an und den Bademantel übergezogen und meine Haare absichtlich durcheinandergebracht. Falls jemand mich erwischte, hatte ich meine Geschichte parat – daß ich gehört hätte, wie die Tür geöffnet wurde und jemand den Flur entlanglief, daraufhin aus meiner Wohnung gespäht und bemerkt hätte, daß die Tür gegenüber nur angelehnt war und einen flüchtigen Blick hineinwerfen wollte…« »Schön«, sagte Mason, »das war Ihre Geschichte. Und was haben Sie nun wirklich getan?« »Ich ging dann hinüber und wischte meine Fingerabdrücke von dem am Fußboden liegenden Glas. In diesem Augenblick ging die Haustürklingel.« »Wie reagierten Sie darauf?« »Mir fiel trotz aller Eile noch auf, daß jemand Beweise hinfrisiert hatte, wie ich es nicht besser hätte machen
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können. Auf dem Tisch standen eine Whiskyflasche, ein Soda-Siphon und ein Thermosbehälter mit Eis.« »Und was taten Sie daraufhin?« »Ich drückte auf den Türöffner und schlüpfte zurück in meine Wohnung. Kaum hatte ich die Tür hinter mir zugezogen, als ich auch schon den Fahrstuhl in meiner Etage anhalten hörte. Das war mir schleierhaft. Denn vom Erdgeschoß bis zum siebenten Stock brauchte der Lift, wie ich wußte, bedeutend länger. Ich wartete, lauschte und hörte Sie und noch jemanden den Gang entlangkommen. Sie klingelten so kurz, daß es mir fast entgangen wäre. Aber da ich ohnehin gelauscht hatte, riß ich sofort die Tür auf – eigentlich um die Störenfriede zu vertreiben –, und sah Sie gerade noch in sieben-null-zwei verschwinden. Ich brauchte irgendeinen Vorwand, um in Erscheinung zu treten. Darum ließ ich meine Schimpfkanonade los. Anschließend knallte ich schleunigst die Tür zu. Als die vier anderen heraufkamen, war ich ehrlich überzeugt, daß Sie sich noch drüben befinden müßten. Die Neugier, was nun geschehen würde, hat mich fast verrückt gemacht! Ich mußte mich einfach überzeugen.« »Wie lange haben Sie Carver Clements eigentlich gekannt?« »Ich habe ihn nicht nur gekannt – ich habe ihn geliebt. Ehrlich geliebt!« Es klang sehr leise und traurig. »Als er sich entschloß, sich von seiner Frau zu trennen, geschah es mir zuliebe. Er wollte mich heiraten. Ich weiß nicht, wie lange diese andere Affäre schon gedauert hat. Jedenfalls wurde ich irgendwann mißtrauisch. Und eines Tages, als -100-
ich Gelegenheit dazu hatte, durchsuchte ich seine Taschen und fand den Schlüssel, in den ›Mandrake Arms, Siebennull-zwei‹ eingeprägt war. Jetzt wußte ich, daß etwas im Gange war – aber nicht was… Es gelang mir, herauszubekommen, wer der Mieter des Apartments sieben-null-eins war. Unter irgendeinem Vorwand bot ich ihm eine derartig hohe Summe als Untermiete, daß er es einfach nicht ausschlagen konnte. Ich zog ein, wartete und beobachtete. Und dann kam diese Brünette den Korridor entlanggewackelt und hatte einen eigenen Schlüssel! Ich schlüpfte auf den Gang hinaus und lauschte an der Tür. Und da mußte ich mir denselben Sermon anhören, mit dem Carver mich schon hundertmal vertröstet hatte. Da schlug meine Liebe urplötzlich in Haß um. Ich mußte ihn umbringen… Und das tat ich dann auch… Und jetzt haben Sie mich gestellt.« Mason wandte sich Stewart Linn zu. »Da haben Sie Ihre Mörderin, junger Mann. Walten Sie Ihres Amtes! Aber ich fürchte, wie sehr Sie sich auch anstrengen werden – die Geschworenen werden in jedem Fall auf Totschlag erkennen.« Ein ziemlich am Boden zerstörter Linn fragte: »Wie, um alles in der Welt, sind Sie daraufgekommen, Mr. Mason?« »Der Schlüssel zu allem war, ob Sie es glauben oder nicht – Clementsʹ fehlender Schlüssel. Er mußte ihn am gleichen Abend noch gehabt haben, denn wie wäre er sonst in seine Wohnung gelangt? Das bedeutet, daß der Mörder den Schlüssel an sich genommen haben mußte. -101-
Warum? Damit er – oder sie – die Möglichkeit hatte, wieder hineinzukommen. Und wenn Don Ralstons Aussage stimmte – und weshalb sollte sie nicht der Wahrheit entsprechen –, mußte sich jemand im Apartment befunden haben, als er unten auf der Straße klingelte. Jemand, der den Türöffner betätigte, so daß die vier ins Haus konnten. Dieser Betreffende konnte sich schließlich nicht in Luft aufgelöst haben. Ich muß praktisch zur gleichen Zeit – oder aber höchstens Bruchteile von Sekunden –, bevor Ralston klingelte, den Flur entlanggekommen sein. Weit und breit war niemand zu sehen gewesen. Also konnte der Betreffende nur in einer der umliegenden Wohnungen sein. Wenn man mit seinen Schlußfolgerungen erst einmal so weit gegangen war und dann noch zusätzlich herausfand, daß ausgerechnet am gleichen Nachmittag eine neue Mieterin in das gegenüberliegende Apartment eingezogen war, lag die Antwort doch praktisch auf der Hand.« Mason nahm seine Aktentasche und lächelte Della Street zu. »Kommen Sie, Della«, sagte er. »Gehen wir. Fay Allison ist frei und…« Er brach ab, als er das Gesicht seiner Klientin sah. »Was ist denn mit Ihrem Lippenstift?« fragte er verblüfft. Dann erst bemerkte er den neben Fay stehenden Dan Grover, dessen Mund vollkommen rot verschmiert war. -102-
Fay Allison hatte nicht daran gedacht, die dicke Lippenstiftschicht zu entfernen, die sie für den Experten hatte auftragen müssen. Der verschmierte Mund wollte gar nicht zu Dan Grover und dem Ernst der Situation passen. Einige Etagen tiefer lauerte die Meute hechelnd auf Anita Bonsal. Oben im Gerichtssaal griff der eiserne, unbestechliche Arm des Gesetzes nach Shirley Tanner. Und ausgerechnet hier fand die Romanze zwischen Fay Allison und Dan Grover ihre Fortsetzung – dort wo sie jäh unterbrochen worden war. Der kleine Hammer Richter Randolph Jordans brachte alle noch einmal in die nüchterne Wirklichkeit zurück. »Hiermit erkläre ich das Verfahren gegen Fay Allison für eingestellt«, verkündete er. »Shirley Tanner wird in Haft genommen, dem District Attorney nahegelegt, gegen Anita Bonsal Anklage wegen Irreführung des Gerichts zu erheben. Wir verleihen unserem tiefen Bedauern Ausdruck, Fay Allison zu Unrecht beschuldigt zu haben. Darüber hinaus drücken wir Mr. Perry Mason unsere Bewunderung für seine brillante Verteidigung und Rechtsfindung aus.« Sekundenlang ruhte der alles umfassende Blick Richter Jordans auf dem mit Lippenstift verschmierten Gesicht Dan Grovers. Dann zuckte ein feines Lächeln um seinen Mund. Der Hammer klopfte ein letztesmal. »Hiermit erkläre ich die Sitzung für geschlossen.« -103-