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Marius Harring · Oliver Böhm-Kasper · Carsten Rohlfs Christian Palentien (Hrsg.) Freundschaften, Cliquen und Jugendkulturen
Marius Harring · Oliver Böhm-Kasper Carsten Rohlfs · Christian Palentien (Hrsg.)
Freundschaften, Cliquen und Jugendkulturen Peers als Bildungs- und Sozialisationsinstanzen
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
. . 1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010 Lektorat: Stefanie Laux VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Ten Brink, Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-16973-6
Inhalt Einführung Marius Harring, Oliver Böhm-Kasper, Carsten Rohlfs und Christian Palentien Peers als Bildungs- und Sozialisationsinstanzen – eine Einführung in die Thematik...........................................................................9 Marius Harring Freizeit, Bildung und Peers – informelle Bildungsprozesse im Kontext heterogener Freizeitwelten und Peer-Interaktionen Jugendlicher .......................21
Formen von Peerbeziehungen Carsten Rohlfs Freundschaft und Zugehörigkeit – Grundbedürfnis, Entwicklungsaufgabe und Herausforderung für die Schulpädagogik.....................................................61 Albert Scherr Cliquen/informelle Gruppen: Strukturmerkmale, Funktionen und Potentiale....................................................73 Ronald Hitzler und Arne Niederbacher Forschungsfeld 'Szenen' – zum Gegenstand der DoSE .......................................91
Soziodemografische Merkmale von Peerbeziehungen Uwe Altmann Beziehungsregulation in Kinderfreundschaften – eine Prozessstudie zu Geschlechterunterschieden............................................. 105 Heinz Reinders Peers und Migration – zur Bedeutung von interund intraethnischen Peerbeziehungen im Jugendalter....................................... 123 Werner Thole und Holger Schoneville Jugendliche in Peer Groups und soziale Ungleichheit ...................................... 141
Christine Meyer Die Bedeutung von Peerbeziehungen im Alter – Freundschaften im Alter und ihr Einfluss auf Alternsprozesse ......................... 167
Lebensweltliche Kontexte von Peerbeziehungen Lothar Krappmann Prozesse kindlicher Persönlichkeitsentwicklung im Kontext von Gleichaltrigenbeziehungen...................................................... 187 Heinz-Hermann Krüger und Ulrike Deppe Peers und Schule – positiver oder negativer Einfluss von Freunden auf schulische Bildungsbiografien?............................................ 223 Maik Philipp Peers und Lesen................................................................................................. 243 Oliver Böhm-Kasper Peers und politische Einstellungen von Jugendlichen....................................... 261 Henrike Friedrichs und Uwe Sander Peers und Medien – die Bedeutung von Medien für den Kommunikationsund Sozialisationsprozess im Kontext von Peerbeziehungen............................ 283 Dirk Baier, Susann Rabold und Christian Pfeiffer Peers und delinquentes Verhalten ..................................................................... 309 Arne Schäfer Peerbeziehungen zwischen Tradition und Moderne – Gleichaltrigengruppen und Jugendkultur in evangelikalen Aussiedlergemeinden ........................................................................................ 339 Christian Palentien und Marius Harring Jugendliches Risikoverhalten, Drogenkonsum und Peers................................. 365
Peers zwischen Rivalität, Komplementarität und effektiver Nutzung Anna Brake Familie und Peers: zwei zentrale Sozialisationskontexte zwischen Rivalität und Komplementarität ........................................................ 385 Robert Heyer Peer-Education – Ziele, Möglichkeiten und Grenzen ....................................... 407
Autorinnen und Autoren ................................................................................ 423
Peers als Bildungs- und Sozialisationsinstanzen – eine Einführung in die Thematik Marius Harring, Oliver Böhm-Kasper, Carsten Rohlfs und Christian Palentien
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Einleitung
Soziale Beziehungen stellen für jeden Menschen zentrale Bezugssysteme dar, die sowohl im Hinblick auf Integration in die (Teil-)Gesellschaft als auch vor dem Hintergrund von Anerkennung, Wohlbefinden und reflexiver Selbstvergewisserung eine wichtige Rolle einnehmen. Mit zunehmendem Alter, spätestens ab dem Beginn der Lebensphase Jugend, haben dabei soziale Beziehungen zu Gleichaltrigen eine entscheidende Bedeutung, nicht nur hinsichtlich der Freizeitgestaltung, sondern darüber hinaus auch bezogen auf die (kulturelle) Lebensführung und soziale Orientierung. Peers lösen in vielen Bereichen die Familie als primäre Bezugsinstanz ab und eröffnen damit neue Bildungs- und Sozialisationsräume in der Freizeit, die schulisches und informelles Lernen, wie z.B. den Erwerb von sozialen Kompetenzen, fördern (vgl. z.B. Fend 1998; Rauschenbach et al. 2004; Wetzstein et al. 2005; Harring 2007; Schröder 2007; Krüger et al. 2008). Das Lernen in der Freizeit bedeutet größtenteils auch Lernen mit und von Gleichaltrigen, womit laut Du Bois-Reymond (2000) – in Anlehnung an Bourdieu (1983) – die Entwicklung von „Peerkapital“ einhergeht. Die Wirksamkeit der Peerbeziehungen im Jugendalter kann auf das Konzept des „sozialen Lernens“ zurückgeführt werden, in welchem die Freundin bzw. der Freund als Modell fungiert, das unterschiedliche Bildungsprozesse auslöst (vgl. Krappmann in diesem Band) Auf diese Weise haben Peerbeziehungen – insbesondere Freundschaftsbeziehungen – einen bedeutsamen Einfluss auf den Erwerb von sozialen Kompetenzen und fördern die Internalisierung von Sach- und Fachkompetenzen. Die Gleichaltrigengruppe bietet unter dieser Perspektive vielfältige Lern-, Erfahrungs- und Experimentierchancen, welche zur Entwicklung eigener Lebensstile, Normen, Werte und Ausdrucksweisen dienen (vgl. Engel/Hurrelmann 1993, 82).
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Entsprechend geht die Funktion der Freundschaftsbeziehung über die „pure“ Spielkameradschaft und die damit einhergehende Vermeidung von Langeweile hinaus. Die Beziehungsform „Freundschaft“ ist keineswegs nur zweckgebunden, sondern beinhaltet auch nicht unmittelbar beobachtbare und eher auf langfristige Entwicklung ausgelegte funktionale Elemente. Gemäß dieser groben Kategorisierung nach sozialen Kompetenzen und Sach- bzw. Fachkompetenzen sollen einführend in die Thematik exemplarisch, diese sich im Kontext der Freundschaftsbeziehungen abspielenden zwei Ebenen der Kompetenzentwicklung bzw. Kompetenzvermittlung detaillierter betrachtet werden.
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Vermittlung sozialer Kompetenzen
Unter dem Begriff der „sozialen Kompetenz“ ist ein Bündel unterschiedlicher Fähigkeiten, Einstellungen und Fertigkeiten zu verstehen, die den Menschen erst als handlungsfähig erscheinen lassen (vgl. Oerter 2002). Im Zuge von Bildungsund Sozialisationsprozessen erlernt der Mensch bestimmte Verhaltensregeln, die im Umgang mit Anderen erwünscht und die zu einem friedfertigen Ablauf zwischenmenschlicher Kontakte wichtig sind. Folglich ist mit „sozialer Kompetenz“ die Gesamtheit des Wissens, der Fähigkeiten und Fertigkeiten einer Person gemeint, welche die Qualität des eigenen sozial kompetenten Verhaltens fördert. Das sozial kompetente Verhalten einer Personen ist ein Verhalten, welches in einer spezifischen Situation dazu beiträgt, die eigenen Ziele zu verwirklichen, wobei gleichzeitig die soziale Akzeptanz des Verhaltens gewahrt wird (vgl. de Boer 2008; Kanning 2005). Im Hinblick auf derartige im Rahmen von Peerbeziehungen stattfindenden Bildungsprozesse ist zu bedenken, dass diese Bildungsleistungen in einem engen Zusammenhang zu der strukturellen Form der Freundschaftsbeziehung stehen: Freundschaftsbeziehungen basieren im Unterschied zu familiären Beziehungsgefügen, so z.B. der Eltern-Kind-Beziehung, auf Freiwilligkeit. Entsprechend wählen sich laut Wehner (2006) die Beziehungspartner als Personen, „nicht als Träger von Rollen und Funktionen, was bedeutet, dass sie am Individuum orientiert sind. Dies stellt eine einzigartige Voraussetzung dafür da, Bestätigung zu finden für die eigene Person und Individualität“ (Wehner 2006, 122f.). In einem nicht-leistungsbezogenen, freiwillig gewählten und von der Erwachsenengesellschaft in der Regel kaum kontrollierten Raum können Jugendliche Verhaltensweisen und Lebensstile einüben ohne dabei Gefahr zu laufen sanktioniert zu werden: Dieser „geschützte Raum“ bietet die Möglichkeit eine „Identität“ auszuprobieren, indem neue Outfits, Haarfrisuren sowie neue
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Interessen über gemeinsame Demonstrationen gewagt und nach außen transportiert werden. Mit Hilfe dieser sichtbaren gruppenspezifischen Symbol- und Stilelemente wird seitens der Peer Group eine deutliche Distanzierung vor allem gegenüber der Erwachsenenwelt angestrebt (vgl. Fend 1998, S. 233; Ferchhoff 2007). Gleichzeitig zieht die Komponente der „Freiwilligkeit“, aufgrund der häufig nicht vorhandenen engen Strukturen und gegenseitigen Verpflichtungen, auch die Gefahr einer schnellen Auflösung der Beziehung nach sich. Entsprechend dieser Ausgangslage bedarf es zur Aufrechterhaltung einer Freundschaftsbeziehung einer stetigen Aus- und Verhandlung sowie Vergewisserung mit bzw. gegenüber dem Freundschaftspartner. Damit geht mit dem Wunsch nach Anerkennung und Aufmerksamkeit innerhalb der Peergesellschaft auch die Bereitschaft zur Kompromissfindung einher. Die fragile zeitliche Stabilität einer Peer Group setzt stets ein hohes Maß an Kooperations- und Kritikfähigkeit beim Heranwachsenden voraus. Diese Fähigkeiten, die auch in der späteren Biographie bedeutsame Kompetenzen darstellen, werden insbesondere über Aushandlungs- und Austauschprozesse in Interaktionen mit Peers erlernt und bilden die Grundlage für den Aufbau und die Erhaltung sozialer Netzwerke (vgl. Grundmann et al. (2003, 28). Bereits im Kindesalter wird die Basis für den Erwerb dieser sozialen Kompetenzen gelegt: Kinder können und müssen schon sehr frühzeitig lernen, „Kontakte zu [...] Spielkameraden zunehmend selbstständig zu gestalten, Vertrauen aufzubauen, sich zu streiten und wieder zu versöhnen, Rücksicht zu nehmen, gleichzeitig die eigenen Wünsche und Bedürfnisse in die Beziehung einzubringen, Orientierung zu suchen, ohne sich selbst zu verlieren, gemeinsame Interessen zu finden, ohne die eigenen zurückzustellen – und somit [...] [die eigene] Rolle zu finden in Freundschaften und Kindergruppen“ (Rohlfs 2006, 43). Grunert (2007, 26) verweist darauf, dass es sich hierbei um einen aktiven Prozess der Ko-Konstruktion handelt – im Umgang mit Peers werden bestimmte Regeln nicht nur passiv verinnerlicht, sondern in erster Linie gemeinsam ausgehandelt. Auf diese Weise wird die eigene Argumentationsfähigkeit und Kooperationsbereitschaft sowie darüber hinaus die Empathie – also die Fähigkeit die Perspektive anderer Menschen einzunehmen – eingeübt. Gleichzeitig erfordern Beziehungen zu Gleichaltrigen – aufgrund der Pluralisierung und Individualisierung der Lebensbedingungen und Freizeitwelten Jugendlicher – ein gutes Zeit- und Terminmanagement (vgl. ebd., 27). Während die Schulzeit fest reglementiert ist, muss die Freizeit – in der häufig unterschiedlichen Tätigkeiten nachgegangen wird – von den Adoleszenten selbst geplant und koordiniert werden. Um sämtliche Freizeitaktivitäten in Balance zu halten, wird heutigen Jugendlichen ein enormes Organisationstalent abverlangt, das im
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Vergleich zu früheren Jugendgenerationen um ein vielfaches höher einzuschätzen ist. Notwendig erscheinen soziale Netzwerke außerhalb der familiären Reichweite nicht zuletzt aufgrund der sich in der Jugendphase vollziehenden Ablösung vom Elternhaus. Diese erfolgt in mehreren Phasen und erstreckt sich über die gesamte Adoleszenz. Das Eltern-Kind-Verhältnis ist in dieser Lebensphase durch eine einsetzende Eigenständigkeit des Jugendlichen und der damit im Zusammenhang stehenden Distanzierung von den Eltern zahlreichen Transformationen ausgesetzt. Neben der häufig erst in der Postadoleszenz stattfindenden räumlichen und finanziellen Ablösung von den Eltern, ist bereits zu Beginn der Jugendphase eine Neujustierung des Eltern-Kind-Verhältnisses in psychischer und emotional-intimer Form beobachtbar (vgl. Hurrelmann 2007; Hofer/Pikowsky 2002; Papastefanou/Buhl 2002). Während des Ablöseprozesses fungieren Peers als Ratgeber und stellen damit eine Unterstützungsinstanz dar. Valtin (2006, 142f.) betont in diesem Zusammenhang die lebenspraktische Notund Kriseninterventionsaufgabe der Freundschaftsbeziehung: Neben dem gemeinsamen „Abchillen“ steht insbesondere auch das „Abquatschen“ im Vordergrund. Bei gemeinsamen Treffen werden Probleme besprochen, es findet ein Austausch intimer Gedanken, Gefühle und Sorgen statt und es werden darüber hinaus mögliche Problemlösungsstrategien thematisiert. Diese Gespräche beinhalten neben einer psychohygienischen Funktion auch konkrete Hilfestellungen (vgl. ebd., 143). Eine spezielle Form der Peer-Interaktion, die zumeist im Jugendalter eine erste Kontur erhält, stellt die intime Partnerschaftsbeziehung dar. Außerhalb der Familie bietet sich für Jugendliche über die reine Freundschaft hinaus ein Erfahrungsfeld für neue Formen der Liebe. Hier werden die Interaktionen zu Freunden auf partnerschaftliche, erotische und sexuelle Beziehungen hin ausgeweitet. Dabei können nicht nur Partnerschaftsbeziehungen zum anderen oder in selteneren Fällen zum gleichen Geschlecht eingegangen werden, sondern die Peers ermöglichen es auch, sich über Erfahrungen und Gefühle, die in Folge der intimen Partnerschaften entstehen, auszutauschen (vgl. Schröder 2006, 180, 183; Hurrelmann 2007, 119f.). Zusammenfassend lässt sich feststellen: Jugendliche im Kontext von Peerbeziehungen lernen sowohl auf einer sozialen als auch kommunikativen und emotionalen Ebene mit anderen Menschen in Kontakt zu treten und üben in einer Beziehungskonstellation unter „Gleichen“ ein, wie Beziehungen zu anderen, biologisch nicht verwandten, Menschen konkret aufgebaut werden können, welche unterschiedlichen und vom Individuum abhängenden Verhaltensweisen und Kommunikationsformen zur Aufrechterhaltung einer Beziehung erforderlich sind und wie diese – wenn notwendig – wieder gelöst werden kann. Nur
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durch die Auseinandersetzung mit Gleichaltrigen außerhalb der eigenen Familie können Konfliktstrategien entwickelt, erlernt und eingeübt werden, die in der späteren Biographie sowohl in beruflicher als auch in privater Lebenswelt eingesetzt werden können und einen zentralen Bestandteil der erfolgreichen Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen darstellen (vgl. Betz 2004, 19).
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Vermittlung von Sach- und Fachkompetenzen
Während mit dem Erwerb sozialer Kompetenz primär die Einübung von Beziehungsfähigkeit gemeint ist, stellt der Erwerb von Sach- und Fachkompetenzen einen weiteren Bildungsaspekt dar. Hier steht nicht primär die Beziehungstauglichkeit im Vordergrund, sondern vielmehr die kognitiven Leistungsfähigkeiten – die sich allerdings nicht im schulischen Kontext, sondern auf der Basis und vor dem Hintergrund von Peerbeziehungen herauskristallisieren können. Medienkompetenz und Sprachkompetenz bilden nur zwei mögliche kognitive Leistungsfähigkeiten ab, die sich unter die Sach- und Fachkompetenzen subsumieren lassen. Medienkompetenz Insbesondere die Medienkompetenz spielt in der heutigen Gesellschaft eine zentrale Rolle (vgl. hierzu auch den Beitrag von Friedrichs/Sander in diesem Band). Die rasant aufeinander folgenden technischen Veränderungen – die auch mit fortwährenden Innovationen der Arbeitswelt verbunden sind – stellen die heutige Jugendgeneration vor besondere Herausforderungen: Die Heranwachsenden müssen sich nicht nur in immer kürzeren Abständen dem aktuellen Entwicklungsstand anpassen, sondern darüber hinaus zu Expertinnen und Experten auf diesem Gebiet werden.um am Arbeitsmarkt konkurrenzfähig zu bleiben und in der Peer Group entsprechende Anerkennung und Aufmerksamkeit zu erhalten. Die mediale Ausstattung heutiger Jugendlicher ist als sehr komfortabel zu bezeichnen: In der aktuellen JIM-Studie (2009) geben fast acht von zehn (77,0%) der befragten Jugendlichen an, einen eigenen Computer zu besitzen. 65% von ihnen surfen täglich im Internet und eine relative Mehrheit dieser Jugendlichen gibt zudem an, am Computer nicht nur zu spielen, sondern auch zu lernen, zu programmieren und zu arbeiten (vgl. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2009). Bei der Frage nach adäquaten Lerngelegenheiten und Lernorten, die zum Erwerb von Medienkompetenz führen, stellen Krüger/Grunert (2005, 507) fest, dass Eltern zumeist wenig Erfahrung im Umgang mit Computern und Internet haben und auch die Schule noch kaum ausreichende
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Lernmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche bietet. Daher werden diese hohen Kompetenzen im medialen Bereich keineswegs vordergründig im Rahmen von Unterrichtszeit oder von familialen Interaktionen erworben, sondern gehen vielmehr auf Lernprozesse zurück, die in Freundschaftsbeziehungen stattfinden. Die Aktivitäten mit Peers, im Zuge derer gemeinsam experimentiert, ausprobiert und beobachtet wird, lassen Kinder und Jugendliche erst zu routinierten und handlungskompetenten Computeranwendern werden (vgl. Hössl 2002, 49). Sprachkompetenz Der Erwerb deutscher Sprachkompetenz ist nicht nur ausschließlich für den schulischen Erfolg von entscheidender Bedeutung, sondern stellt darüber hinaus für die Integration in die Erwachsenengesellschaft einen entscheidenden Faktor dar (vgl. Limbird/Stanat 2006, 257ff.). Der 12. Kinder- und Jugendbericht (bmfsfj 2005, 217) verweist darauf, dass insbesondere das informelle Lernen an Freizeitorten mit Gleichaltrigen auch mit dem Erwerb von Sprachkompetenzen einhergeht. Speziell für Kinder und Jugendliche mit einem Migrationshintergrund existieren unter Peers häufig bessere Chancen und Möglichkeiten des Erwerbs einer höheren Sprachkompetenz, als dies im eigenen familiären Kontext der Fall ist. Da in Familien mit einem Migrationshintergrund – insbesondere mit einer türkischen und jugoslawischen Herkunft – in aller Regel die Herkunftssprache als Alltagssprache genutzt wird (vgl. hierzu z.B. BoosNünning/Karakaolu 2006, 292f.), stellt laut Reinders (2003) der Umgang mit deutschen Gleichaltrigen für Jugendliche mit einem Migrationsstatus einen positiven Einfluss auf den Erwerb der deutschen Sprache dar. Dabei ist die Integration ethnischer Minoritäten durch das Eingehen von interethnischen Freundschaftsbeziehungen nicht nur bildungsperspektivisch zu begrüßen, sondern hat auch aus der gesellschaftlich-politischen Sichtweise einen großen Stellenwert. So weisen deutsche Jugendliche mit regelmäßigen Kontakten zu Peers ausländischer Herkunft einen geringeren Grand an Fremdenfeindlichkeit und damit eine höhere Offenheit gegenüber anderen Kulturen auf (vgl. Reinders/Mangold/Greb 2005, 153ff.). Zusammenfassend ist eine sehr hohe von Peers ausgehende Wirkungsweise beim Erwerb unterschiedlicher Sach- und Fachkompetenzen zu konstatieren. Über den Medien- und Sprachbereich hinaus ist es fast trivial zu erwähnen, dass das „Peerkapital“ z.B. im sportlichen Kontext, im Rahmen von Mannschaftssportarten oder aber fast selbstverständlich und häufig völlig unbewusst täglich von Lehrkräften in Form unterschiedlicher Unterrichtsmethoden – beispielsweise Gruppenaufgaben – Anwendung findet. Grunert (2007) verweist darauf, „dass Kinder [und Jugendliche] bei manchen kognitiven Aufgaben zu besseren Lösungen kommen und ihre Leistungsfähigkeit nachhaltig steigern können,
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wenn ihnen ein anderes Kind [oder ein anderer Jugendlicher] und nicht ein Erwachsener widerspricht. Das gemeinsame Aushandeln von Lösungswegen und Verfahrensweisen wirkt sich dann positiv auf das Verstehen von Zusammenhängen und die Wissensaneignung aus, da diese auf begründeten Einsichten beruhen“ (Grunert 2007, 28). Allerdings ist gleichzeitig zu berücksichtigen, dass die hier aufgezeigten, von Peers ausgehenden, Einflüsse in Bezug auf soziale Kompetenzen und Sach- und Fachkompetenzen nicht bei allen Heranwachsenden in gleicher Weise wirken. Dahingehend lässt es sich auch nicht pauschal von den „Peers“ oder der „Peer Group“ sprechen, auch nicht zuletzt deshalb, weil die zu beobachtenden Sozialisations- und Bildungseinflüsse in einer Abhängigkeit zur Form und Zusammenstellung des jeweiligen Freundeskreises stehen. Ob es sich hierbei um eine Freundschaft, eine Cliquenbeziehung oder eine Interaktion im Rahmen von Jugendszenen handelt, kann genauso ausschlaggebend für den jeweiligen Sozialisations- und Bildungskontext sein, wie auch die Konstellation der Bezugsgruppe(n) – differenziert nach Geschlecht, Alter oder sozialer und nationaler Herkunft – in der oder in denen man sich bewegt. Entsprechend entwickeln sich soziale Bezugsgruppen außerhalb der Familie keineswegs als starre und homogene Gebilde. Vielmehr handelt es sich hierbei um sehr differenzierte soziale Netzwerke, die von ständiger Neujustierung geprägt sind und die in Abhängigkeit von ihrer Konstellation – sowohl in positiver als auch negativer Hinsicht – ihr Bildungs- und Sozialisationspotenzial für die jeweiligen Freundespartner entfalten. Der vorliegende Band versucht dieser Komplexität von Gleichaltrigenbeziehungen gerecht zu werden, Peers aus unterschiedlicher Perspektive zu beleuchten und die differenzierten Facetten und Wirkungsweisen im Rahmen einzelner Beiträge mit einem jeweils fokussierten Blick auszuleuchten.
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Die Beiträge
Der Band bietet eine umfassende Darstellung der Bedeutung von Freundschaften, Cliquen und Jugendkulturen für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen und verschafft sowohl Studierenden als auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern einen interdisziplinären Überblick über den Stand der Forschung. Der Band ist so aufgebaut, dass ausgehend von der Frage, welchen Freizeitaktivitäten heutige Kinder und Jugendliche nachgehen, empirisch und strukturell die Unterscheidung nach Freundschaften, Cliquen sowie Jugendkulturen bzw. Jugendszenen nachgezeichnet wird. Anschließend werden diese Peerorientierungen in Abhängigkeit von unterschiedlichen gesellschaftlichen
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Dimensionen, unter der besonderen Berücksichtigung von Geschlecht, Migration, Sozialschicht und Alter diskutiert. Im Anschluss werden neben den positiven Einflussfaktoren auch negative Komponenten der Peerbeziehungen und deren Bedeutung für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen erörtert. Im letzten Teil werden zunächst Gemeinsamkeiten im Hinblick auf die Funktionalität von Peerbeziehungen im Unterschied zu Familie und ihre sich daraus letztendlich ergebende Konkurrenz- oder Ergänzungsfunktion thematisiert, bevor abschließend die Möglichkeiten einer effizienten Nutzung der PeerEducation auch im öffentlichen Raum aufgezeigt werden. Im einführenden Kapitel arbeitet Marius Harring auf der Grundlage einer empirisch-quantitativen Studie und einer multivariaten Analyse der vorliegenden Daten die Bedeutung von Freizeit im Hinblick auf informelle Bildungsprozesse auch im Kontext von Peerbeziehungen heraus. Das zweite Kapitel „Formen von Peerbeziehungen“ beleuchtet die vor allem in der Adoleszenz zu beobachtenden Interaktionen zu Gleichaltrigen aus drei unterschiedlichen Perspektiven. Die zentralen Dimensionen stellen hier dyadische Freundschaften, Cliquenbeziehungen und Jugendszenen dar: Zunächst gibt Carsten Rohlfs einen umfassenden Überblick über Freundschaften, die Bedeutung von Zugehörigkeit und die damit einhergehenden Entwicklungsaufgaben. Daran anschließend beschäftigt sich Albert Scherr mit jugendlichen Cliquen bzw. informellen Gruppen und deren Strukturen, Funktionen sowie Potenzialen, bevor Ronald Hitzler und Arne Niederbacher das Forschungsfeld „Szene“ in den Blick nehmen. Im dritten Teil werden Gleichaltrigenbeziehungen vor dem Hintergrund der zuvor aufgezeigten Differenzierung und ausgehend von unterschiedlichen soziodemographischen Merkmalen – Geschlecht, Migration, Sozialschicht und Alter – einer detaillierten Betrachtung unterzogen. Uwe Altmann untersucht auf der Basis einer Prozessstudie geschlechtsspezifische Beziehungsregulationen in Kinderfreundschaften, während Heinz Reinders das Merkmal „Migration“ in den Fokus seines Beitrags stellt und die Bedeutung von intra- und interethnischen Beziehungen im Jugendalter beleuchtet. Die Bildung von Jugendszenen vor dem Hintergrund sozialer Ungleichheit steht im Zentrum der Ausführungen von Werner Thole und Holger Schoneville. Zum Abschluss des Kapitels stellt Christine Meyer exkursartig die Bedeutung von Freundschaften im Erwachsenenalter und ihren Einfluss auf Alternsprozesse vor. Der vierte Teil des Buches stellt die mit Peerbeziehungen einhergehenden „Chancen und Risiken“ für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen in den Mittelpunkt. Den Anfang macht Lothar Krappmann, der ausgehend von klassischen Sozialisationstheorien den Prozess der kindlichen Persönlichkeitsentwicklung im Zusammenhang mit außerfamilialen sozialen Kontakten in der
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Gleichaltrigenwelt thematisiert und damit die Grundlage für dieses Kapitel und die folgenden Beiträge schafft. Heinz-Hermann Krüger und Ulrike Deppe dokumentieren auf der Basis einer qualitativen Längsschnittsstudie den Stellenwert von Peers für die schulische Bildungsbiografie, während Maik Philipp der Frage nachgeht, welche Bedeutung Gleichaltrigen bei der Lesemotivation und sozialisation zukommt. Daran anschließend erörtert Oliver Böhm-Kasper den Beitrag von Gleichaltrigenkontakten bzw. jugendkulturellen Stilisierungen zur Entwicklung von politischen Orientierungen und Werthaltungen im Jugendalter. Im Zuge einer zunehmenden gesellschaftlichen Mediatisierung wird die Bedeutung von „neuen“ Medien für den Kommunikation- und Sozialisationsprozess im Kontext von Peerbeziehungen von Henrike Friedrichs und Uwe Sander expliziert, bevor Dirk Baier, Susann Rabold und Christian Pfeiffer in ihrem Beitrag Faktoren skizzieren, die den Anschluss an eine delinquente Peer Group und abweichendes Verhalten begünstigen. Aufbauend auf einer eigens durchgeführten ethnografischen Studie in evangelikalen Aussiedlergemeinden diskutiert Arne Schäfer die Wirkung der untersuchten Religionszugehörigkeit auf die Peer-Interaktionen im Jugendalter. Den vierten Teil beschließend fragen Christian Palentien und Marius Harring nach Umfang sowie Ursachen gesundheitlichen Risikoverhaltens, speziell für den Konsum von legalen und illegalen Drogen, im Zusammenhang mit gruppendynamischen Prozessen. Im abschließenden fünften Kapitel stellt zum einen Anna Brake, zwei der im Jugendalter als primär zu bezeichnenden Sozialisationsinstanzen – Peer und Familie – gegenüber, analysiert ihre jeweiligen Ressourcen und arbeitet eine mögliche Rivalität bzw. Komplementarität heraus, zum anderen verdeutlicht Robert Heyer in seinem Beitrag die Ziele, Möglichkeiten, aber auch Grenzen von Peer-Educations-Modellen. Für die in diesem Band geführte Diskussion um die Bedeutung von Peers als Bildungs- und Sozialisationsinstanz möchten wir uns bei allen Autorinnen und Autoren herzlich bedanken, die mit ihrer Expertise dem Leser einen differenzierten Blick auf die Facetten und Perspektiven von Gleichaltrigenwelten eröffnen. Ebenfalls gilt unser Dank Petra Buchalla, Tanja Rusack, Ilona Cwielong und Sebastian Habla für die Unterstützung bei der Anfertigung des Manuskripts. Wir hoffen, mit dem vorliegenden Band einen wahrnehmbaren Beitrag zur aktuellen Diskussion um die Bedeutung informeller-außerschulischer Sozialisationsräume im Rahmen jugendlicher Bildungsprozesse leisten zu können.
Bielefeld, Jena und Bremen im Februar 2010 Marius Harring, Oliver Böhm-Kasper, Carsten Rohlfs und Christian Palentien
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Peers als Bildungs- und Sozialisationsinstanzen – eine Einführung in die Thematik
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Freizeit, Bildung und Peers – informelle Bildungsprozesse im Kontext heterogener Freizeitwelten und Peer-Interaktionen Jugendlicher Marius Harring
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Einleitung
Zwar ist im Mainstream der aktuellen Debatte um Bildung schon lange ein Einvernehmen darin zu erkennen, dass Bildungsprozesse keineswegs nur ausschließlich in der Schule stattfinden, allerdings entwickelt sich dieser Blick auf das Kind und den Jugendlichen erst allmählich. Im deutschsprachigen Raum haben Studien, wie z.B. die des Deutschen Jugendinstituts (vgl. FurtnerKallmünzer et al. 2002), neben zahlreichen weiteren Arbeiten (vgl. hierzu u.a. Dohmen 2001; bmfsfj 2002, 153 ff.; Hungerland/Overwien 2004; Otto/Rauschenbach 2004; Tully 2004; bmfsfj 2005; Tully 2006; Rauschenbach/Düx/Sass 2007; Harring/Rohlfs/Palentien 2007), aufgezeigt, dass das Lernen im schulischen Kontext – trotz aller Reformbemühungen – nur einen Bruchteil aller Bildungsprozesse im Jugendalter ausmacht und damit eine Ausweitung des Bildungsbegriffs geprägt. Demnach findet der Großteil von Bildungsprozessen in außerschulischen Kontexten und Interaktionen statt. Der Freizeitbereich hat also auf den Erwerb von Wissen einen enormen Einfluss. Dies ist dahingehend als eine neue Perspektive zu verstehen, da die bisherige auf Kinder und Jugendliche bezogene empirische Bildungsforschung vornehmlich von der Schulforschung geprägt war. Im Zentrum standen lange Zeit u.a. curriculare Ansätze, heterogene Lernarrangements im Unterricht oder aber schulische Selektionsmechanismen. Selbstverständlich analysierte die Bildungsforschung neben den Lernprozessen im schulischen Bereich auch außerschulische informelle Sozialisationsbereiche (vgl. Tippelt 2005, 9), wie beispielsweise Familie oder Peer Group. Diese sind jedoch aus der Sicht der Bildungsforschung primär als Ursachen für eine gelungene oder nicht gelungene Schullaufbahn von Kindern und Jugendlichen betrachtet worden und keineswegs als konkrete Bildungsorte, an denen Bildungsprozesse ablaufen (vgl. hierzu z.B. Böhnisch 2005, 284 ff.). Wenn es um Fragen der Kompetenzvermittlung geht, hat die Institution Schule in der heutigen Diskussion nach wie vor eine dominierende Stellung.
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Marius Harring
Allerdings sind verstärkt auch Lernprozesse – insbesondere die Vermittlung überfachlicher Kompetenzen (vgl. Rohlfs/Harring/Palentien 2008) – in außerschulischen Kontexten in den Fokus der empirischen Bildungsforschung (vgl. hierzu z.B. Furtner-Kallmünzer et al. 2002) gerückt. Entsprechend wird in der Erziehungs- und Bildungswissenschaft, Öffentlichkeit und Politik seit einigen Jahren über die unterschiedlichen Bildungsorte und deren Funktionen debattiert. Mit der Differenzierung nach formaler, non-formaler und informeller Bildung werden unterschiedliche Orte, Modalitäten und Formen von Bildungsprozessen konturiert und in ihrer Interdependenz sichtbar gemacht (vgl. Dohmen 2001; Bundesjugendkuratorium 2001; Harring/Rohlfs/Palentien 2007), damit gleichzeitig aber auch nicht nur ein neuer Bildungsbegriff suggeriert, was keineswegs der Fall ist, sondern unglücklicherweise nicht selten auch Begriffskonturen und deren semantische Implikationen vermischt (vgl. Rauschenbach/Düx/Sass 2007, 7). Trotz aller Kritik an der begrifflichen Unschärfe hilft jene Unterscheidung, um auf das immense Potenzial hinzuweisen, das von außerschulischen Kontexten, wie jenem der Freizeit, im Hinblick auf Bildungsprozesse und des Erwerbs von sowohl fachlichen als auch überfachlichen Kompetenzen, ausgeht: „Formelle Bildung“ ist auf Lernprozesse zurückzuführen, die in eigens dafür eingerichteten Institutionen erfolgen. Schule, Ausbildung und Hochschule stellen formale Einrichtungen des Bildungssystems dar, welche auf der Grundlage vorgegebener Rahmenpläne und fester Regeln curricular arrangiert und gestaltet werden (vgl. bmfsfj 2005, 127). Aus der Sicht des Lernenden ist ein „formales Lernen“ zielgerichtet und mit einer bestimmten formalen Qualifizierung und Zertifizierung verbunden (vgl. Overwien 2007, 46). Insbesondere die Institution Schule – als ein Ort, der bis zu einer bestimmten Altersstufe pflichtmäßig von allen Kindern und Jugendlichen besucht wird – weist aufgrund ihres streng reglementierten Organisationscharakters und vor allem vor dem Hintergrund der Selektionsgewalt, einen hohen Grad an Formalisierung auf (vgl. bmfsfj 2005, 128). Im Unterschied zu formeller Bildung stellen non-formale Bildungsorte eine andere Form von Lerngelegenheiten bereit. Zwar sind auch non-formale Bildungsorte durch eine klare institutionelle Strukturiertheit und Rechtslage gekennzeichnet, doch basieren diese aufgrund einer offenen Angebotslage auf einer freiwilligen Nutzung und Inanspruchnahme. Im Mittelpunkt steht hier nicht der Erwerb von schulischen Qualifikationen, sondern vielmehr die Vermittlung von sozialen und personalen Kompetenzen sowie auch die Förderung und Bekräftigung von Beteiligungen an politischen und gesellschaftlichen Prozessen. Allerdings werden diese Bildungsziele keineswegs dezidiert in Form von Bildungsplänen festgeschrieben und die erworbenen Kompetenzen sind in aller Regel nicht zertifiziert (vgl. Rauschenbach et al. 2004, 32 f.; Overwien
Freizeit, Bildung und Peers: Bildung im Kontext heterogener Freizeitwelten Jugendlicher
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2005, 345). Vor allem die Kinder- und Jugendhilfe sowie die Institutionen der vorschulischen Bildung können nach diesem Verständnis als Orte der nonformalen Bildung gesehen werden. Unter „informellem Lernen“ versteht Dohmen (2001, 18 ff.) alle sowohl bewussten als auch unbewussten Lernprozesse, welche abseits von organisierten, strukturierten und kontrollierten Lernarrangements und öffentlichen Bildungsinstitutionen stattfinden. Es handelt sich hierbei um ein situatives Lernen, das nicht vom formalisierten Bildungswesen geplant und durchgeführt wird, sondern vielmehr auf indirekte, ungeplante und beiläufige Lernprozesse zurückzuführen ist (vgl. u.a. Rauschenbach et al. 2004, 30). Als die klassischen informellen Bildungsorte können Familie, Peer Group sowie die Medienwelten bezeichnet werden – damit also jene Orte, die im freizeitkontextuellen Bereich angesiedelt sind. Diese Orte des informellen Lernens werden von Rauschenbach/Düx/Sass (2007, 7) einerseits als Voraussetzung und andererseits als Fortsetzung formeller und non-formaler Bildungsprozesse bezeichnet. Entsprechend der vorgenommenen Definition kommt neben Orten und Prozessen der formellen Bildung auch solchen der non-formalen und informellen Bildung – damit einhergehend den sich enorm heterogen gestaltenden Freizeitwelten Jugendlicher – ein wachsender Stellenwert für die Lebensgestaltung und die Zukunftschancen von Heranwachsenden zu. Ausgehend von dieser besonderen Funktion, die mit Freizeit im Hinblick auf Bildungsprozesse einhergeht, ist es das Ziel dieses Beitrags, auf der Grundlage einer eigens durchgeführten quantitativ-empirischen Pilotstudie aufzuzeigen, wie heterogen die Freizeitwelten heutiger Jugendlicher ausfallen und welchen Einfluss dies auf den Erwerb unterschiedlicher Kompetenzen hat.
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Freizeit und Bildung – Eine Auswahl empirischer Befunde
Die hier zugrunde liegende Differenzierung des Bildungsbegriffs nach möglichen Orten und Prozessen sowie die damit in Verbindung stehenden und von Freizeit ausgehenden Potenziale für den Erwerb von fachlichen als auch überfachlichen Kompetenzen, gehen in erster Linie auf theoretische Annahmen zurück, ohne dass diese einer empirischen Überprüfung auf breiter Basis unterzogen wurden. So fehlen Grunerts Einschätzung nach bislang „sowohl quantitative als auch qualitative Studien, die sich der Frage nach dem außerunterrichtlichen Kompetenzerwerb systematisch und in erster Linie aus dem Blickwinkel der Kinder und Jugendlichen selbst nähern“ (Grunert 2007, 30). Dies trifft sicherlich nicht auf alle Freizeitkontexte zu: Während vor allem die Bedeutung von Peerbeziehungen im Hinblick auf die Vermittlung und den Erwerb unterschied-
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Marius Harring
licher Kompetenzen, wie etwa der soft skills, empirisch gut dokumentiert ist (vgl. z.B. Fend 1998), fehlt es in anderen Bereichen, wie z.B. der organisierten Freizeitgestaltung im Rahmen von Vereinen, Jugendverbänden und anderen Kinder- und Jugendgruppen, häufig an validen Daten und empirischen Belegen. Dies gilt sicherlich auch, wenn man ganz allgemein die Frage nach der Wirkung von Freizeit auf formale und informelle Bildung beantworten möchte. Vor diesem Hintergrund sind die aktuellen Bemühungen zu verstehen, die daran setzten, diese Forschungslücke zu schließen. Einer der ersten aktuellen Ansätze, der im deutschsprachigen Raum die Bedeutung non-formaler und informeller Bildungsressourcen empirisch analysiert, geht auf die Studie des Deutschen Jugendinstituts (vgl. FurtnerKallmünzer et al. 2002; Hössl 2006) zurück. Auf der Grundlage einer Triangulation von Forschungsmethoden, der Verbindung von qualitativen und quantitativen Ansätzen, ist den Autoren der Studie gelungen aufzuzeigen, dass für die von ihnen untersuchten Kinder im Alter zwischen 8 und 12 Jahren die Freizeit für den Erwerb von Wissen, in Form eines selbstgesteuerten Lernens, von zentraler Bedeutung ist. Entscheidend für die Bildungs- und Lernpotenziale dieser Schülerinnen und Schüler ist ihr eigenes Interessenprofil. Dieses ist determiniert zum einen durch Spaß an der Tätigkeit und zum anderen durch die Freude an der Leistung, an der Herausforderung und am Erfolgserlebnis. So kann das eigene intrinsisch oder extrinsisch motivierte Interesse als Ausgangsbasis für Bildung und Lernen in der Freizeit verstanden werden (vgl. Hössl 2006, 165ff). Parallel hierzu zeigen die Ergebnisse der gleichzeitig durchgeführten Befragung von Eltern und Lehrkräften, „dass der Bildungswert einer selbst initiierten und selbst gestalteten Freizeit von den erwachsenen Bezugspersonen oft zu sehr an schulischen Normen gemessen und damit unterschätzt wird, etwa wenn die Sinnhaftigkeit von Freizeitbeschäftigungen in Zweifel gezogen und Zeitvergeudung im Zusammenhang mit gering geschätzten Formen der Freizeitgestaltung unterstellt wird. Damit wird auch leicht das Anregungspotenzial übersehen [...]“ (Hössl 2006, 180). Zumal der im Rahmen dieser Studie ermittelte Kompetenzzugewinn bei der Ausübung eigener Interessen, z.B. beim Durchhaltevermögen und dem Zeitmanagement, aber auch in Bereichen wie Konzentration, Kreativität, Regeleinhaltung und Geschicklichkeit, wiederum eine hinreichende und notwendige Bedingung für das Lernen darstellt (vgl. Lipski 2004, 269). Einen weiteren empirischen Beitrag zur Wirkungsweise von informellen Bildungsprozessen in der Freizeit liefert die Studie von Hansen (2008). Mittels 36 qualitativer Interviews mit Vereinsmitgliedern geht er den Fragen nach, „auf welche Weise Kompetenzen im Verein erlernt werden können, ob ein Transfer erworbener Fähigkeiten und Wissensbestände in die Außenwelt stattfindet sowie inwieweit der Verein im Sinne eines strukturellen Handlungskontextes
Freizeit, Bildung und Peers: Bildung im Kontext heterogener Freizeitwelten Jugendlicher
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einen Einfluss auf eventuelle Kompetenzerwerbsprozesse hat“ (Hansen 2008, 137). Die Daten wurden sekundäranalytisch ausgewertet und basieren auf einem längsschnittlichen Design sowie retrospektiven Erzählungen. Hansens Analyse deutet darauf hin, dass Vereine spezielle Lernräume bereitstellen, in denen „Fachwissen, Organisationsfähigkeiten, Gesellschaftswissen sowie personenbezogene Eigenschaften und soziale Kompetenzen“ auf informelle Weise sowohl vermittelt als auch erworben werden. Die Vermittlung sowie der Erwerb jener Kompetenzen stehen allerdings in einer engen Abhängigkeit zu der Strukturbesonderheit der Organisationsform des Vereins – Lernprozesse können auf diesem Wege entweder gefördert oder aber auch gehemmt werden (vgl. ebd., 138). Eine erst kürzlich vorgelegte, am Deutschen Jugendinstitut (DJI) konzipierte Studie, setzt sich mit dem Kompetenzerwerb im freiwilligen Engagement auseinander. Düx et al. (2008) erbringen – basierend auf einer qualitativ angelegten und quantitativ ergänzten Untersuchung – den empirischen Nachweis, dass Jugendlichen durch ein freiwilliges Engagement exklusive Lernerfahrungen – besonders bezogen auf die Entwicklung von „Organisations-, Leistungs-, Team- und Gremienkompetenzen“ – bereitgestellt werden, die über die Lebensphase Jugend weit ins Erwachsenenalter hinaus wirken. So erscheinen jene Personen, die in ihrer Jugend einem freiwilligen Engagement nachgegangen sind, auch im Erwachsenenalter gegenüber Vergleichsgruppen nicht nur politisch interessierter und gesellschaftlich engagierter, sondern verfügen offenbar auch über einen höheren beruflichen Erfolg (vgl. Düx et al. 2008). An dem bisherigen Erkenntnisstand schließt eine eigene empirischquantitativ angelegte Untersuchung zur „Interdependenz des sozialen kulturellen und ökonomischen Kapitals im Kontext heterogener Freizeitwelten Jugendlicher“ an (vgl. Harring 2010). Hierbei handelt es sich um eine Pilotstudie, die aufgrund ihrer regionalen Begrenztheit nicht den Anspruch auf Repräsentativität erhebt. Im Rahmen dieser Studie sind im Land Bremen insgesamt 520 Schülerinnen und Schüler aller klassischen Schulformen im Alter von 10 bis 22 Jahren mittels eines standardisierten Fragebogens zu ihrem Freizeitverhalten inner- und außerhalb der Schule und den sich daraus ergebenen informellen Bildungsprozessen befragt worden. Das primäre Ziel der Studie besteht darin, die Bedingungsfaktoren der hier theoretisch und empirisch aufgeführten Potenziale, die von Freizeit speziell für Bildungsprozesse ausgehen, näher zu beleuchten. Der Untersuchung liegt dabei die Annahme zugrunde, dass im Sinne des Bourdieuschen Habitusbegriffs und der damit in Zusammenhang stehenden Kapitale (vgl. Bourdieu 1983), Freizeit nicht ausschließlich als ein Teilbereich des Kulturkapitals auftritt, sondern – auf der Mikroebene betrachtet – selbst drei Kapitalsorten abbildet und diese je nach Ausrichtung in ihrer wechselseitigen Wirkungsweise einen gravierenden Einfluss auf die Konstellation von Freizeit und der im Kon-
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Marius Harring
text derer stattfindenden Bildungsprozesse haben. Konkret wird der Frage nachgegangen, wie sich das soziale, das kulturelle und das ökonomische Kapital im Kontext der Freizeitwelten Jugendlicher darstellen. Dabei wurde im Vorfeld das Konstrukt der drei Kapitale einer Operationalisierung unterzogen und in entsprechende Merkmale sowie Items umgewandelt. Unter dem sozialen Kapital werden in erster Linie Interaktionen in der Peer Group und Familie verstanden. Das kulturelle Kapital bildet sich in der Freizeit sowohl durch zeitliche Dispositionsmöglichkeiten als auch durch favorisierte Freizeitaktivitäten und -räume ab, während unter dem Konstrukt des ökonomischen Kapitals die dem Jugendlichen im Kontext seiner Freizeit zur Verfügung stehenden materiellen und finanziellen Ressourcen subsumiert werden. Auf der Grundlage des ermittelten Freizeitverhaltens sind in einem ersten Schritt mit Hilfe multivariater Verfahren, insbesondere der Faktoren- und Clusteranalyse, fünf Freizeittypen hinsichtlich des ihnen zur Verfügung stehenden Kapitals untersucht worden. Dieser Analyse liegt die Hypothese zugrunde, dass sich in Bezug auf das Freizeitverhalten inhaltlich voneinander heterogene Gruppen von Jugendlichen rekonstruieren lassen, die gleichzeitig unterschiedliche Zugänge zum sozialen, kulturellen und ökonomischen Kapital aufweisen. Formaler Bildungsstand, Geschlecht, Alter und Migrationsstatus stellen dabei die zu untersuchenden Hauptdimensionen der vorgenommenen Typologie jugendlicher Freizeit dar. In einem zweiten Schritt gilt es die Interdependenz des sozialen, kulturellen und ökonomischen Kapitals der aus der Perspektive von Jugendlichen wahrgenommenen Freizeitwelten zu analysieren. Hier wird der Frage nachgegangen, in welchem Beziehungsverhältnis die drei Kapitalsorten zueinander stehen, welcher Wechselwirkung sie ausgesetzt sind und welche Abhängigkeitsprozesse unter ihnen explizit im Kontext der Freizeit und der sich in ihr abgebildeten informellen Bildung zu erkennen sind. Abschließend wird in einem dritten Schritt auf der Basis der zugrunde liegenden Ergebnisse geklärt, welche pädagogischen Konsequenzen im Hinblick auf eine Förderung des sozialen und kulturellen Kapitals möglich erscheinen. Diesbezüglich werden sowohl auf einer strukturellen Ebene die Orte und denkbaren Institutionen als auch auf einer inhaltlichen Ebene die Prozesse, Möglichkeiten, aber auch Grenzen von pädagogisch-unterstützenden Maßnahmen diskutiert. Im Rahmen dieses Beitrags sollen ausgehend vom Freizeitverhalten Jugendlicher erste ausgewählte Ergebnisse dieser Studie präsentiert werden.
Freizeit, Bildung und Peers: Bildung im Kontext heterogener Freizeitwelten Jugendlicher
3
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Freizeitverhalten Jugendlicher
Betrachtet man die freizeitkontextuellen Orientierungen und Aktivitäten einzelner Jugendgenerationen vergangener fünf Jahrzehnte, so haben sich diese bis heute immer mehr ausgeweitet und stellen sich zunehmend differenziert dar. Begünstigt werden derartige Veränderungen zum einen durch die Erschließung immer neuer Freizeiträume, die besonders in der Medialisierung nicht nur von Freizeitwelten, sondern aller gesellschaftlicher Handlungsspielräume sichtbar wird. D.h. allerdings nicht, dass die von Heranwachsenden aktuell als besonders „in“ bezeichneten Freizeitaktivitäten zwangsläufig ältere oder klassische Freizeitbereiche gänzlich ablösen. Vielmehr werden diese parallel nebeneinander ausgelebt, ergänzen sich und führen zum Teil zu einer Reaktivierung bereits vergessener freizeitkultureller Szenen, die jedoch selten in ihrer ursprünglichklassischen Form bestehen, sondern dynamisch an die heutigen Möglichkeiten angepasst werden (vgl. hierzu auch Hitzler/Niederbacher in diesem Band; Thole/Höblich 2008; Hurrelmann 2007; Opaschowski 2006). Zum anderen führt auch eine Reihe gesellschaftlicher Prozesse zu einer Neujustierung jugendlicher Freizeitwelten. So hat beispielsweise die seit Mitte der 1970er Jahre einsetzende Bildungsexpansion (vgl. z.B. Hadjar/Becker 2006) für eine wachsende Anzahl von Menschen nicht nur eine Etablierung eines Bildungs- und Freizeitmoratoriums (vgl. Zinnecker 1991; Reinders/Wild 2003; Reinders 2006, 82ff.) in der Lebensphase Jugend zur Folge, sondern geht gleichzeitig auch mit wachsenden zeitlichen Dispositionsmöglichkeiten für diese Bevölkerungsgruppe einher. Laut Prahl (2002, 173) steht der heutigen Jugendgeneration sowohl im Vergleich zu früheren Kohorten als auch zu allen anderen Altersgruppen durchschnittlich die meiste Freizeit zur Verfügung – lediglich die Populationen ab 60 Jahren geben an, annähernd soviel Zeit für ihre Freizeitgestaltung zu haben.
3.1 Zeitliche Dispositionsmöglichkeiten Die einem Menschen frei zur Verfügung stehende Zeit stellt zwar kein hinreichendes, jedoch allemal ein notwendiges Kriterium für den Erwerb des kulturellen Kapitals dar. Selbstverständlich sind hier auch andere Indikatoren von zentraler Bedeutung, so bedarf es beispielsweise ebenso des richtigen und sinnvollen Umgangs mit dieser. So gibt die „freie Zeit“ per se noch wenig Auskunft darüber, wie eine Person diese Zeit für sich nutzt. Andererseits hat ein Mangel an zeitlichen Dispositionsmöglichkeiten stets auch Stillstand, im schlimmsten Fall sogar Rückschritt zur Folge. Bestimmte Erfahrungen ließen sich gegebenenfalls nicht machen, ein Kompetenzerwerb bzw. -zugewinn nicht realisieren. Entspre-
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chend können – müssen aber nicht – die zeitlichen Dispositionsmöglichkeiten ausschlaggebend dafür sein, ob und wie viel kulturelles Kapital ein Heranwachsender im Kontext seiner Freizeit in der Lage ist, zu internalisieren. Ganz sicher ist allerdings: Der Faktor „Zeit“ ist ein erster Indikator, zugleich aber auch eine entscheidende Ressource und die Vorraussetzung für den Gewinn von kulturellen Kapitalgütern und die Initiierung von Bildungsprozessen. Der Freizeitumfang der im Rahmen der eigenen Studie befragten 10- bis 22-Jährigen beläuft sich bei mehr als der Hälfte von ihnen (55,4%) im Durchschnitt auf mindestens 4 Stunden am Tag. Fast jeder Dritte (29,1%) verfügt dabei nach der Schule, der Bearbeitung von Hausaufgaben und der Erledigung von Haushaltshilfen über ein Zeitbudget von 4 bis 6 Stunden, ein weiteres Viertel (26,4%) sogar über mehr als 6 Stunden täglich. Dagegen stellen diejenigen, die in ihrem Alltag über sehr wenig freie Zeit eigenverantwortlich entscheiden können, die Minderheit dar: Jeder Zwanzigste (5,8%) berichtet davon, über maximal eine Stunde am Tag frei disponieren zu können und nur 1,7% geben an, gar keine Zeit für die eigene Freizeitgestaltung zu haben1. Allerdings verteilt sich der ausgewiesene Freizeitumfang je nach Alter, Herkunftsstatus, besuchte Schulform und Geschlecht recht unterschiedlich. So verfügen beispielsweise männliche Jugendliche im Vergleich zu ihren weiblichen Altersgenossen immer noch über mehr Zeit für ihre Freizeitgestaltung (für die anderen Kategorien vgl. Harring 2010).
3.2 Freizeitaktivitäten Die bezogen auf die zeitliche Dispositionsmöglichkeiten zu beobachtenden Unterschiede nach soziodemografischen Gesichtspunkten sind auch bei der Betrachtung des Freizeitverhaltens der 10- bis 22-jährigen Befragten sichtbar: Entsprechend anderer Jugendstudien – wie z.B. 15. Shell Jugendstudie oder ipos-Studie (2003) – sind auch in der hier zugrunde liegenden Untersuchung Freizeitaktivitäten auszumachen, die mit der Geschlechterzugehörigkeit des Jugendlichen korrelieren. So bilden Computerspiele eine Domäne männlicher Heranwachsender. Auch das Surfen im Internet sowie die Vorliebe für Video und DVD scheinen eher männliche Befragte zu interessieren. Weibliche Jugendliche hingegen unternehmen mehr als ihre männlichen Altersgenossen mit der Familie und lesen häufiger Bücher. Auch das Shopping stellt eine klassisch weibliche Tätigkeit dar. 1
Dieses Ergebnis stellt keineswegs ein Spezifikum der hier vorliegenden Untersuchungsstichprobe dar, sondern stimmt weitestgehend mit denjenigen anderer repräsentativer Studien (vgl. z.B. Fries 2002, 129) überein.
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Ähnlich bedeutende Unterschiede lassen sich zwischen einzelnen Altersstufen konstatieren: Die Analyse der vorliegenden Daten zeigt auf, dass Jugendliche im Alter von 10 bis 14 Jahren im Vergleich zu anderen untersuchten Altersgruppen häufiger fernsehen, sich öfter mit Computerspielen beschäftigen und in ihrer Freizeit mehr in organisierten Sportvereinen eingebunden sind. Abbildung 1: Freizeitaktivitäten Jugendlicher. Jugendliche im Alter von 10 bis 22 Jahren. Sehr oft/oft-Angaben (n [Gesamt] = 520)
Musik hören
88,6%
Treffen mit Freunden
87,9% 79,7%
Sport
74,4%
Fernsehen
69,2%
im Internet surfen
62,4%
Radfahren
59,0%
Shopping
57,6%
Computer spielen (auch X-Box/Playstation etc.)
42,4%
Am Computer arbeiten
40,7%
Zeitschriften, Zeitungen lesen
39,6%
spazieren, wandern, kurze Ausfüge machen ins Kino gehen
38,6%
einfach nichts tun, zu Hause abhängen
38,1% 36,9%
Bücher lesen
21,6%
in die Disko gehen
19,5%
Musikinstrumente spielen
15,6%
Basteln, Heimwerken
13,9%
Malen, Töpfern, Modellieren
11,1%
Besuch eines Jugendverbandes
9,0%
ins Jugendzentrum gehen
0
20
40
Prozent
60
80
100
30
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Ältere Jugendliche organisieren ihre Freizeit eher in einem informellen Rahmen und verbringen diese häufiger außerhalb der familiären Reichweite. Wenngleich ein Blick auf alle Jugendliche – unabhängig von ihrer soziodemografischen Zuordnung – verrät, dass heutige Jugendliche tendenziell eher informellen und nur sehr selten organisierten Freizeittätigkeiten nachgehen (vgl. Abb.1). Neben den Faktoren „Alter“ und „Geschlecht“ bedarf es bei der Analyse des Freizeitverhaltens Jugendlicher zunehmend auch der Betrachtung der bislang nur in wenigen Studien beachteten freizeitkontextuellen Situation von Kindern und Jugendlichen mit nicht-deutscher ethnisch-kultureller Herkunft. Dies erscheint allein deshalb von besonderer Relevanz, da inzwischen fast ein Fünftel der Bevölkerung in Deutschland einen Migrationshintergrund aufweist. Insgesamt leben in der Bundesrepublik Deutschland 15,3 Millionen Migrantinnen und Migranten – das entspricht einem Anteil von 19% an der bundesdeutschen Bevölkerung (vgl. Bandorski/Harring/Karakaolu/Kelleter 2009). Bezogen auf Kinder und Jugendliche wächst der Anteil von heranwachsenden Migrantinnen und Migranten gemessen an der Gesamtbevölkerung kontinuierlich an und erreicht in einigen Großstädten bereits einen prozentuellen Anteil von mehr als 40% an allen Kindern und Jugendlichen (vgl. ebd.). In der an Bremer Schulen durchgeführten Studie beläuft sich der Anteil der Schülerinnen und Schüler mit einem Migrationshintergrund auf 42,9%. Im Hinblick auf die organisierte Freizeitgestaltung zeigt die eigene Untersuchung die Unattraktivität der Mitgliedschaft in einer Jugendorganisation, einem Jugendverband oder einem Verein für 10- bis 22-jährige Migrantinnen auf: Zwar ist zu beobachten, dass sich insgesamt weniger Heranwachsende mit einem Migrationshintergrund in einem Jugendverein engagieren und organisieren, als dies unter den Altersgleichen ohne Migrationshintergrund der Fall ist – hier beträgt der prozentuelle Mehranteil fast 12%. Allerdings ist diese Differenz zwischen Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund auf die geringere Beteiligung von jugendlichen Migrantinnen an organisierten Freizeitangeboten zurückzuführen. Lediglich 31,3% der befragten weiblichen Heranwachsenden mit einem Migrationshintergrund weisen eine Mitgliedschaft in einem Jugendverein oder einer Kinder- bzw. Jugendgruppe auf. Im Vergleich dazu handelt es sich bei den Mädchen ohne Migrationshintergrund um 53,8%, die sich damit in Bezug auf eine Vereinsmitgliedschaft kaum von ihren männlichen Altersgenossen unterscheiden (vgl. Tab. 1). Parallel hierzu stellt sich aber auch die Situation unter den Jugendlichen mit Migrationshintergrund abhängig von ihrer regionalen Herkunft sehr heterogen dar: Insbesondere Heranwachsende eines türkischen Migrationshintergrundes und aus dem Mittleren und Nahen Osten sind signifikant seltener Mitglieder in Vereinen. 36,4% der Jugendlichen türkischer Herkunft und weniger als jeder
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Dritte (30,4%) mit einer aktuellen oder vormaligen Staatsangehörigkeit eines Landes des Nahen bzw. Mittleren Ostens sind in einem Verein oder einer Kinder- bzw. Jugendgruppe aktiv. Tabelle 1: Mitgliedschaft in einem Verein oder einer Kinder- bzw. Jugendgruppe – Jugendliche im Alter von 10 bis 22 Jahren nach Geschlecht und Herkunft; (n [Gesamt] = 520) (Angaben in %)
Jugendliche nach Herkunft
Gesamt
Männlich
Weiblich
Gesamt ohne Migrationshintergrund mit Migrationshintergrund davon: Türkei Osteuropa Ehemaliges Jugoslawien Mittlerer und Naher Osten
50,6% 55,3% 43,9%
57,7% 57,0% 58,6%
44,3% 53,8% 31,3%
36,4% 64,0% 43,8% 30,4%
47,4% 85,7% 62,5% 57,1%
26,2% 36,4% 25,0% 18,8%
Dagegen scheinen Jugendliche osteuropäischer Herkunft in einem direkten Vergleich zu Altersgleichen sowohl mit als auch ohne Migrationshintergrund überproportional häufig eine Vereinsmitgliedschaft zu präferieren. Fast zwei Drittel (64%) dieser Jugendlichen besuchen in ihrer Freizeit einen Verein oder eine Kinder- bzw. Jugendgruppe. Dabei ist in allen Migrantengruppen in Bezug auf die Vereinsmitgliedschaft eine deutliche Dominanz der Jungen zu erkennen: Während beispielsweise fast 9 von 10 der osteuropäischen Migrantenjungen (85,7%) einer organisierten Freizeit nachgehen, trifft dies auf nicht einmal jede fünfte Migrantin (18,8%) aus dem Nahen oder Mittleren Osten zu. Unabhängig von der kulturellen Herkunft messen heutige Jugendliche der zur Realisierung der Freizeitgestaltung verfügbaren finanziellen Mittel einen großen Stellenwert bei. Im Vergleich zu den letzten Jahrzehnten haben sich diese deutlich erhöht: Waren es in den 1950er Jahren monatlich durchschnittlich etwa 20,- DM, über die von 14- bis 17-jährigen Schülerinnen und Schülern selbstverantwortlich entschieden werden konnte, und in den 1960er Jahren etwa 35,- DM, so liegt laut der vom Institut für Jugendforschung aktuell durchgeführten Studie zu finanziellen Kompetenzen Jugendlicher der durchschnittlich zur freien Verfügung stehende Geldbetrag der 10- bis 17-jährigen Kinder und Jugendlichen heute bei ca. 75 € monatlich (vgl. Lange/Fries 2006, 33). Mit diesen hohen finanziellen Möglichkeiten – die auch durch die eigene Untersuchung bestätigt werden konnten – geht auch eine sehr komfortable materielle Ausstat-
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tung einher. Fast jeder im Rahmen der eigenen Studie befragte Jugendliche besitzt heute ein Handy, ein Fernsehgerät, einen DVD-Player, einen MP3-Player bzw. einen IPod oder einen CD-Player sowie einen Computer mit Internetzugang (vgl. hierzu auch Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2009, 6). Den neuen Medien kommt eine unübersehbare Relevanz zu: Musik hören (88,6%), „fernsehen“ (74,4%), „im Internet surfen“ (69,2%), „Computer, XBox, Playstation etc. spielen“ (57,6%), „am Computer arbeiten“ (42,4%) gehören zu den beliebtesten Freizeittätigkeiten der befragten Heranwachsenden (vgl. Abb. 1). So verwundert es auch nicht, dass Jugendliche in vielen Bereichen, wie beispielsweise dem der neuen Informationsmedien, gegenüber erwachsenen Personen über höhere Kompetenzen verfügen und einen enormen Wissensvorsprung aufweisen. Diesen erwerben sie allerdings keineswegs an formellen Bildungsorten, wie z.B. der Schule, sondern vielmehr im Kontext von Freundschaftsbeziehungen im außerschulischen Bereich. Überhaupt wird bei der Freizeitgestaltung den Gleichaltrigen ein großer Stellenwert zugesprochen. Entsprechend berichten Jugendliche davon, dass sie den meisten Freizeitaktivitäten nicht alleine, sondern vielmehr zusammen mit Peers nachgehen. Die Präsenz der „besten Freundin“ bzw. des „besten Freundes“ ist für die Jugendlichen seit den 1950er Jahren immer selbstverständlicher geworden: In den 1950er Jahren gaben lediglich 64% der Jugendlichen unter 20 Jahren an, eine Freundschaftsbeziehung aufgebaut zu haben (Hurrelmann 1999, 150). Demgegenüber haben in der hier vorliegenden Studie rund 90% der jugendlichen Befragten bekundet, ihre Freizeit „oft“ oder „sehr oft“ im Kontext von Gleichaltrigenbeziehungen zu gestalten (vgl. Abb. 1 sowie auch Deutsche Shell 2000, 209). Diese Zahlen spiegeln die beträchtlich angewachsene Rolle dieser Form der sozialen Bindung wider. Dabei besteht der Kreis der Freunde nur selten aus lediglich einer Bezugsperson. Vielmehr pflegen die weitaus meisten Jugendlichen über die Vertrauensbeziehung zum „besten Freund“ bzw. zur „besten Freundin“ hinaus weitere Freundschaftskontakte. Vorwiegend ab etwa dem 14. Lebensjahr gewinnt eine gelockerte Form von Gleichaltrigengruppierungen an Bedeutung, die häufig als „Cliquen“ bezeichnet werden (vgl. hierzu auch Hurrelmann 2007, 127). Die Cliquenbildung ist allerdings keineswegs nur ein rein jugendspezifisches Phänomen. Rohlfs (2006, 199 ff.) zeigt in seiner Studie zum Freizeitverhalten von Grundschulkindern auf, dass bereits im Kindesalter die Tendenz zur Gruppenbildung beobachtbar ist. Beide Interaktionserfahrungen mit Peers – sowohl dyadische Freundschaftsbeziehungen als auch Cliquenkonstrukte – sind für die meisten Jugendlichen bezogen auf die Lebensführung, Freizeitgestaltung und soziale Orientierung ein zentraler Bestandteil der Lebensphase Jugend und nehmen damit eine bedeutsame und bildungsrelevante Rolle ein.
Freizeit, Bildung und Peers: Bildung im Kontext heterogener Freizeitwelten Jugendlicher
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Typologie jugendlicher Freizeitwelten. Informelle Bildungsprozesse im Kontext von fünf Freizeittypen
Die im vorherigen Kapitel im Hinblick auf Freizeitaktivitäten vorgenommene Unterscheidung nach ausgewählten soziodemografischen Gesichtspunkten – hier Geschlecht, Alter und Migrationsstatus – machte bereits auf bivariater Ebene deutlich, dass man nicht von dem Jugendlichen bzw. der Jugend sprechen kann, sondern vielmehr im Hinblick auf Freizeit von unterschiedlichen Welten einzelner Jugendlicher ausgehen muss, die sich insgesamt sehr heterogen gestalten. Um der Eindimensionalität zu entrinnen und so der Komplexität dieses Phänomens gerecht zu werden, bedarf es einer weiteren Analyseebene. Die vorliegenden Daten wurden in einem weiteren Schritt multivariat – mit Hilfe einer Faktoren- und Clusteranalyse – ausgewertet. Im Folgenden sollen zunächst einmal die Ergebnisse der Clusteranalyse vorgestellt werden. In dem Zusammenhang soll nach fünf Freizeittypen unterschieden sowie die im Kontext dieser Freizeitwelten stattfindenden informellen Bildungsprozesse analysiert werden, bevor anschließend die besondere Wirkung von Peerbeziehungen im Hinblick auf die Vermittlung und den Erwerb unterschiedlicher Kompetenzen exemplarisch am Cluster der „peerorientierten Allrounder“ dargestellt wird.
4.1 Die bildungselitären Freizeitgestalter Mit 35 Befragten (6,7%) vereint dieses kleinste, elitäre Cluster die Jugendlichen, die – aus formaler Bildungsperspektive – besonders hoch qualifizierende Bildungsinstitutionen aufsuchen. Drei Viertel (74,3%) befindet sich momentan in der gymnasialen Oberstufe und weitere 11,4% der befragten Schülerinnen und Schüler besuchen derzeit die Sekundarstufe I eines Gymnasiums und streben das Abitur an. Typisch und prägnant für die „bildungselitären Freizeitgestalter“ ist eine weit überdurchschnittliche Rezeption von Printmedien. Bücher und Zeitschriften lesen stellen für die überwiegende Mehrheit von bis zu drei Viertel der Jugendlichen dieser Gruppe eine Tätigkeit dar, der sie in der Freizeit nach eigenen Angaben „oft“ bis „sehr oft“ nachgehen. Parallel zu diesen traditionellklassischen Medien werden die neuen Medien, wie etwa der Computer, überwiegend zum Arbeiten, damit als Werkzeug und Mittel für die eigene Bildungsqualifikation, entsprechend selten als Unterhaltungsmedium genutzt. Texte verfassen, Recherchen im Internet vornehmen stehen im Rahmen des medialen Interesses im Vordergrund.
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Gleichzeitig gehen die „bildungselitären Freizeitgestalter“ häufiger als ihre altersgleichen Peers neben bildungs- auch kulturbezogenen Aktivitäten nach: Wie in keinem anderen Cluster beobachtbar beherrscht Musik den Lebensalltag dieser Jugendlichen, und zwar sowohl in einer passiven als auch aktiven Form der Nutzung und des Konsums. Ein Großteil zeigt sich nicht nur musikinteressiert, sondern ist sogar darüber hinaus musikalisch veranlagt: 82,9% – dies sind 63,4% über dem Gesamtdurchschnitt – verfügen über die Kompetenz, selbst ein Musikinstrument zu spielen. Flankiert werden diese Freizeitorientierung und die damit einhergehenden Bildungsprozesse durch einen enormen Musikkonsum. Ausnahmslos alle Angehörigen dieses Clusters geben an, täglich viel Musik mit Hilfe des Radios, des CD- oder MP3-Players zu hören. Daneben geht fast jeder zweite Jugendliche dieses Clusters (45,7%) regelmäßig in die Disko und exakt die gleiche Anzahl gibt diese auch als einen bevorzugten Ort an, an dem man sich mit Freunden bzw. der Clique trifft. Überhaupt sind die Treffpunkte mit Gleichaltrigen sehr vielschichtig und begrenzen sich keineswegs auf einen Ort. Die Schule spielt hier eine genauso große Rolle, wie auch das eigene zu Hause oder aber auch öffentliche Orte, wie etwa Cafés oder Eisdielen. Auch Kirchengruppierungen nehmen in diesem Zusammenhang, zwar bei einer kleinen – aber sich von der entsprechenden Verteilungsgegebenheit in der Untersuchungsstichprobe signifikant unterscheidenden – Anzahl an Clusterangehörigen, eine nicht zu vernachlässigende Bedeutung ein. Obgleich Treffpunkt- und Freizeitmöglichkeiten, die durch einen vorstrukturierten und organisierten Rahmen gegeben sind, wie z.B. Vereine, Jugendverbände und Jugendzentren, von diesen Jugendlichen insgesamt eher gemieden werden. Entsprechend werden die Peerbeziehungen den jeweiligen Lebens-, Freizeit- und somit auch Bildungswelten angepasst. Mitschülerinnen und Mitschüler, zu denen man Freundschaften in der Schule pflegt, müssen nicht zwangsläufig auch die Freizeitpartner an außerschulischen Orten darstellen. Die Komplexität der Beziehungskonstellationen hat jedoch keine Auswirkungen auf die Dauer des Zusammenseins mit Freunden. So sind Differenzen im Bereich der sozialen Einbindung in freundschaftliche, partnerschaftliche, aber auch familiäre Kontexte im Hinblick auf die Clusterzugehörigkeit weitestgehend ohne statistische Relevanz. Unter statistischen Gesichtspunkten von Belang ist allerdings die subjektiv selbst eingeschätzte frei zur Verfügung stehende Zeit – diese fällt überdurchschnittlich gering aus, was nicht zuletzt auch auf das Nachgehen von geregelten bis gelegentlichen Arbeitsverhältnissen zurückzuführen ist. Fast zwei Drittel (62,9%) der Clusterangehörigen arbeitet in der Freizeit um Geld zu verdienen. Gleichzeitig berichtet aber auch mehr als jede bzw. jeder zweite „bildungselitäre
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Freizeitgestalter“ (54,3%) über Phasen der vollkommenen Entspannung, wo passiv „einfach nichts tun und zu Hause abhängen“ regelmäßig „angesagt“ ist. Obwohl eine größere Distanz gegenüber passiven und spaßorientierten Freizeitbereichen nicht zu beobachten ist, scheint unter den Jugendlichen dieses Clusters eine bewusste und gezielte Auswahl von Freizeit- und Bildungsorten sowie -prozessen stattzufinden. Dieser Ausgleich in Verbindung mit einer hohen – nahezu elitären – Bildungsorientierung erscheint sogar für die Angehörigen dieses Clusters als übergreifender Leitgedanke, als Lebensphilosophie, welche auch das Freizeitverhalten dieser Adoleszenten determiniert. Betrachtet man abschließend die soziodemografische Struktur dieses Clusters, so lässt sich konstatieren, dass die „bildungselitären Freizeitgestalter“ sich überwiegend aus älteren weiblichen Jugendlichen mit formal höherem Bildungsniveau rekrutieren. Mehr als Drei von Vier (77,1%) befinden sich im Alter zwischen 16 und 18 Jahren und über zwei Drittel (71,4%) sind weiblich. Sie stammen – verglichen mit dem Durchschnitt der Untersuchungsstichprobe – überproportional häufig aus Familien ohne Migrationshintergrund. Nur jeder fünfte Jugendliche dieser Gruppe (22,9%) weist eine nicht-deutsche kulturelle Herkunft auf.
4.2 Die peerorientierten Allrounder Vereinsorientierte, aber auch nicht-organisierte Sportaktivitäten, Radfahren, Shopping, Kino- und Diskobesuche, Zeitschriften lesen, Internetsurfing, am Computer arbeiten, Musik hören – und dies alles primär im Kontext von Cliquen, Freundschaften und Partnerschaften. „Die peerorientierten Allrounder“ zeichnen sich – im Vergleich zu anderen Clustern, die sich in aller Regel in maximal zwei zentralen Freizeitwelten wiederfinden – durch eine sehr heterogene Bandbreite an favorisierten und regelmäßig angewählten Freizeitaktivitäten in Verbindung mit Freundschaftsbeziehungen aus. Gemeinsame Unternehmungen mit der Familie treten verstärkt in den Hintergrund, vielmehr organisiert man die frei zur Verfügung stehende Zeit an unterschiedlichen Orten in und mit der Peer Group. Dagegen in der Freizeit alleine zu Hause abzuhängen, fernzusehen und Computer zu spielen stellen für diese Jugendlichen keine zentralen Freizeitinhalte dar. Das Hineintauchen in unterschiedliche Freizeitwelten und die Auseinandersetzung mit sehr vielschichtigen Lebenskontexten ermöglicht den Jugendlichen die Konstruktion von äußerst differenzierten Lernarrangements, die komplexe Bildungsprozesse nach sich ziehen. Unterstützt wird dieser Vorgang durch die Kompetenzvermittlung in einem Kommunikationsprozess. Da der Großteil
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der Freizeit keineswegs alleine oder im Kreise der Familie verbracht wird, sondern vordergründig gemeinsam mit Gleichaltrigen, fungieren in diesem Cluster in erster Linie Peers als Mediatoren. Entsprechend kommt hier speziell der Gleichaltrigengruppe, basierend auf einer freiwilligen und nicht leistungsbezogenen Beziehungsinteraktion, neben der Vermittlung von sozialen und personalen Kompetenzen auch der Förderung und Bekräftigung von Lernprozessen in Sach- und Fachkompetenzen eine zentrale Rolle zu. Die „peerorientierten Allrounder“ sind zu fast zwei Drittel weibliche Jugendliche (61,1%). Darüber hinaus sind diese Jugendlichen eher älter, zwischen 16 und 21 Jahren, streben tendenziell einen höheren Bildungsabschluss an – obgleich in keiner anderen Gruppe im Hinblick auf die besuchte Schulform eine derartige Heterogenität zu beobachten ist – und stammen überproportional häufig aus Familien ohne Migrationshintergrund. Nichtsdestotrotz werden unter den Jugendlichen dieses Clusters auch interethnische Beziehungen gepflegt. Mit 28,7% (n = 149) stellt dieses Cluster die größte aller Gruppen dar.
4.3 Die passiven Medienfreaks Im Gegensatz zu den „peerorientierten Allroundern“ gehen die Schülerinnen und Schüler des dritten Clusters – zu dem ein Viertel aller befragten Jugendlichen (25,4%) gezählt werden – insbesondere in der mediengeprägten Freizeitwelt auf. Das Hauptaugenmerk der „passiven Medienfreaks“ liegt – wie in keinem weiteren Cluster – auf der Nutzung von Spielkonsolen, Computerspielen und des Internets. Der Konsum der „neuen“ Medien wird beinahe exzessiv betrieben. Während der Einsatz dieser noch als interaktiv bezeichnet werden kann, dokumentieren einerseits der überdurchschnittliche Fernsehkonsum sowie andererseits die Neigung einfach nichts zu tun und zu Hause abzuhängen die passive Haltung dieser Jugendlichen. Weiterhin verfügt der „passive Medienfreak“ – ähnlich wie der „peerorientierte Allrounder“ – über viele zeitliche Dispositionsmöglichkeiten. Fast jeder Zweite berichtet über vier bis acht Stunden und jeder Sechste sogar über mehr als acht Stunden frei zur Verfügung stehender Zeit täglich. Allerdings beschränken sich die eigenen Tätigkeiten fast ausschließlich auf den eigenen Wohnbereich. Außerhäuslichen Aktivitäten wird eher selten nachgegangen. Soziale Beziehungen zu Gleichaltrigen werden nur vereinzelt gepflegt. Bestehen welche, so beschränken sich diese mehrheitlich auf lose und unverbindliche Kontakte zu einzelnen Personen des gleichen Geschlechts sowie der eigenen nationalen Herkunft – häufig im Rahmen des familiären Gefüges zu Familienmitgliedern eines direkten oder indirekten verwandtschaftlichen Gra-
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des, wie z.B. Geschwistern oder Cousinen bzw. Cousins. Dies hat zur Folge, dass bei „passiven Medienfreaks“ zum einen bei Belastungen und Problemen in erster Linie Familienmitglieder als Ansprechpartner fungieren und zum anderen, mehr noch als in anderen Lebenskontexten, im Bereich der sozialen Beziehungen eine deutlichere Orientierung an den eigenen kulturellen Grenzen zu beobachten ist. Treffen mit Altersgleichen finden lediglich sporadisch und in der eigenen Wohnumgebung oder direkt im Anschluss an die Unterrichtszeit auf dem Schulgelände statt. Interaktionen in größeren außerfamiliären Gruppen (Cliquen), zum anderen Geschlecht sowie interethnische Kontakte werden eher gemieden bzw./oder können nur selten aufgebaut werden. Die zumeist jungen Adoleszenten – 61,4% sind im Alter zwischen 13 und 15 Jahren und fast ein weiteres Viertel (23,5%) befindet sich mit 10 bis 12 Jahren gerade im Übergang von der Kindheit in die Jugendphase – erfreuen sich einer enorm komfortablen medialen Ausstattung: Fast jeder jugendliche „passive Medienfreak“ besitzt heute mehrere technische Geräte, z.B. Fernseher, DVDPlayer, MP3-Player, Spielkonsole sowie einen Computer. Folglich verfügen insbesondere diese Jugendlichen gegenüber erwachsenen Personen in vielen Bereichen der neuen Informationsmedien über höhere Kompetenzen und weisen einen enormen Wissensvorsprung auf, den sie größtenteils in Eigenregie erwerben. Selbstverständlich gehören die modernen Medienwelten heute bei den meisten Jugendlichen – und zunehmend auch Kindern – zum festen Bestandteil ihrer Lebenswirklichkeit und sind für viele in die alltäglichen Abläufe integriert. Allerdings wird nicht bei allen Heranwachsenden in gleicher Weise und ähnlichem Ausmaß der Mediennutzung bei der Freizeitgestaltung ein derartig großer Stellenwert zugesprochen, wie dies beim „passiven Medienfreak“ der Fall ist. Entsprechend muss hier der Frage nachgegangen werden, in welcher Weise diese Kompetenzen genutzt werden und sich somit entwicklungs- und gesamtbildungskontextuell förderlich oder eher hemmend auswirken können. Hinsichtlich der Zusammensetzung des Clusters ist über die bereits genannten Charakteristika hinaus festzustellen, dass die Gruppe der „passiven Medienfreaks“ leicht männlich dominiert ist und sich überproportional häufig aus Jugendlichen mit Migrationshintergrund zusammensetzt. Zudem sind insbesondere Gesamtschülerinnen und Gesamtschüler sowie Realschülerinnen und Realschüler über- und speziell Gymnasiastinnen und Gymnasiasten in diesem Cluster unterrepräsentiert.
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4.4 Die eingeschränkten Freizeitgestalter Das vierte Cluster spiegelt mit 141 Personen (27,1%) die zweitgrößte Schülerinnen- und Schülerpopulation in den Bremer Brennpunktstadtteilen Walle und Gröpelingen wider. Im Unterschied zum dritten Cluster ist hier eine leichte Dominanz der weiblichen Jugendlichen zu erkennen, die allerdings primär auf den hohen Anteil an Mädchen mit Migrationshintergrund in diesem Cluster zurückzuführen ist: Berücksichtigt man nämlich das Geschlechterverhältnis dieses Clusters nach nationaler Herkunft, so wird deutlich, dass zwei von drei Jugendlichen (66,7%), die einen Migrationsstatus aufweisen, weiblich sind. Dagegen unterscheiden sich Mädchen ohne Migrationshintergrund in Bezug auf die Zugehörigkeit zu diesem Cluster kaum von ihren männlichen Altersgenossen und bilden damit das aufgezeigte Geschlechterverhältnis der Gesamtstudie ab. Entsprechend zählen weibliche Heranwachsende einer nicht-deutschen ethnischen Herkunft besonders häufig zu der Gruppe der „eingeschränkten Freizeitgestalter“, obgleich insgesamt gesehen Jugendliche mit Migrationshintergrund in diesem Cluster keineswegs überdurchschnittlich repräsentiert sind. Anders formuliert: Im Gegensatz zu Jugendlichen ohne Migrationshintergrund – unter ihnen sind keine geschlechtspezifischen Unterschiede zu erkennen – sind männliche Migrantenjugendliche nur sehr selten „freizeitabstinent“, weibliche dagegen besonders häufig. Des Weiteren ist zu konstatieren, dass die Alterklasse der 10- bis 12Jährigen signifikant oft in dieser Gruppe vertreten ist. Im Hinblick auf die schulische Ausbildung fällt der Anteil der Gesamtschülerinnen und Gesamtschüler mit 35,5% überdurchschnittlich hoch aus. Die Gruppe der „eingeschränkten Freizeitgestalter“ zeichnet sich im Vergleich zu allen anderen Clustern vordergründig durch eine sehr geringe selbst berichtete zeitliche Dispositionsmöglichkeit aus. Mehr als jeder zweite Jugendliche dieses Clusters (51,0%) hat durchschnittlich weniger als vier Stunden täglich zu seiner freien Verfügung. Ein Viertel (25,4%) derer gibt sogar an, nach der Schule und der Erledigung von Hausaufgaben weniger als eine Stunde oder gar keine Freizeit für sich zu haben. Ein Großteil ist in innerfamiliären Bereichen eingebunden und muss einer Reihe von Haushaltspflichten nachgehen. Dementsprechend sind die „eingeschränkten Freizeitgestalter“ in fast allen Freizeitkategorien unterrepräsentiert. Besonders deutlich trifft dies zum einen auf die mediale und zum anderen auf die sportorientierte und vereinsorganisierte Freizeitgestaltung zu. So stellen Medienwelten signifikant selten die Freizeitwelten dieses Clusters dar. Die Anwendung von Computern und Spielkonsolen – sowohl zum Zeitvertreib als auch zum Arbeiten – wird bei ca. zwei Drittel der „einge-
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schränkten Freizeitgestalter“ als eine sehr seltene Freizeitbeschäftigung bezeichnet. Dies spiegelt sich auch im täglichen Konsum der neuen Medien wider: 58,3% geben an, der medialen Freizeitgestaltung lediglich bis zu einer Stunde pro Tag nachzugehen – mehr als die Hälfte davon (30,7%) sogar entweder gar nicht oder maximal eine halbe Stunde täglich. Auch die Ausstattung mit Computern, Spielkonsolen, DVD-Playern, IPods und anderen neuen technischen Medien ist im Vergleich zu allen anderen Clustern – nicht nur gegenüber dem „passiven Medienfreak“ – bei diesen Jugendlichen um einiges geringer. Hier ist zu vermuten, dass insbesondere bei dem jungen „eingeschränkten Freizeitgestalter“ im Alter von 10 bis 12 Jahren der Medienkonsum in einem starken Maße von den Eltern reglementiert, bestimmt und eingeschränkt wird. Weiterhin gehören insbesondere Radfahren, Sportaktivitäten, Vereinsmitgliedschaften, Besuche von Jugendverbänden sowie Treffen von Freunden, außerhalb der familiären Reichweite, auf der Straße, an öffentlichen Plätzen oder in Parkanlagen besonders selten zu den genannten Freizeitbeschäftigungen der „eingeschränkten Freizeitgestalter“. Die Lebenswelten dieser zumeist jungen Heranwachsenden sind fast ausschließlich nach Familie und Schule ausgerichtet. Aufgrund der von ihnen mehrheitlich besuchten Ganztagsschulen unterscheiden sie sich gegenüber den anderen Schülerinnen und Schülern anderer Schulformen primär darin, dass ihr gesamter Tagesablauf in einem stärkeren Maße nach der Schule ausgerichtet ist und sich somit die Schulzeit über die Unterrichtszeit hinaus auch in den späteren Nachmittagsbereich erstreckt. Darüber hinaus ist sicherlich die bereits auch durch andere Studien (vgl. hierzu z.B. Boos-Nünning/Karakaolu 2006) gut dokumentierte Einbindung insbesondere von jugendlichen Migrantinnen in den familiären Kontext und ins Haushaltsgeschehen ausschlaggebend für das Freizeitverhalten dieses Clusters. Freizeit findet primär im familiären Kontext statt. Hier fungiert die Familie als zentraler informeller Bildungsort und informelle Bildungsinstitution. Peerbeziehungen spielen zwar schon in diesem Alter eine besondere Rolle, haben aber noch nicht die Relevanz, wie dies in der späteren Adoleszenz der Fall ist. Entsprechend messen die „eingeschränkten Freizeitgestalter“ im Vergleich zu allen anderen Freizeittypen den Treffen mit Freunden eine – mit 75% sich zugegeben auf hohem Niveau befindende, jedoch gegenüber anderen Clustern – signifikant geringere Bedeutung zu. Die Beziehungen zu Peers konzentrieren sich vornämlich auf einige wenige Freundschaften, die jedoch nicht selten interkulturell ausgerichtet sind.
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4.5 Die Organisierten Die Organisierten bilden mit 63 Personen das zweitkleinste Cluster (12,7%) der Gesamtuntersuchung. Diese Jugendlichen verdanken ihren Namen ihren auffallend überdurchschnittlichen Aktivitäten im Bereich der von Jugendclubs, Jugendverbänden und Vereinen stark organisierten und strukturierten Freizeitwelt. Diese Aktivitäten gehen mit einer offenbar grenzenlosen Sportbegeisterung einher. Ausnahmslos alle Angehörigen dieses Clusters sind sportlich extrem aktiv und gehen in ihrer Freizeit „oft“ bis „sehr oft“ mindestens einer – nicht selten auch zwei oder drei – Sportarten nach. Ball- und Mannschaftssportarten wie Fußball, Handball und Basketball stehen dabei ganz oben auf der Beliebtheitsliste. Aber auch ungeplante sportzentrierte Freizeitformen, wie das Skateboarding, das Inline-skating sowie insbesondere das Krafttraining in Fitnesshallen werden von diesen Jugendlichen favorisiert – wenngleich in dieser Hinsicht eher eine verstärkte Anbindung und Orientierung an Vereinen und anderen Kinder- und Jugendgruppen statistisch erkennbar ist und die „Organisierten“ damit an non-formellen Freizeit- und Bildungsorten deutlich aktiver sind, als an so genannten informellen. Fast drei von vier (72,8%) der diesem Cluster angehörigen Heranwachsenden sind Vereinsmitglieder. Aktivitäten im Jugendverband (62,3%) sowie das regelmäßige Aufsuchen von Jugendzentren (45,9%) komplementieren den Wunsch nach organisierter Freizeit und machen damit die Bedeutung der non-formellen Bildungswelten für diese Adoleszenten deutlich. Dies wird – neben der Sportbegeisterung – auch am besonderen Interesse in punkto politischer Bildung sichtbar. Während zahlreiche Publikationen und Untersuchungen (vgl. hierzu z.B. Shell-Jugendstudie 2000, 2002, 2006; Gille/Sardei-Biermann/Gaiser/de Rijke 2006; Harring/Palentien/Rohlfs 2008) für die Mehrzahl der heutigen Jugendlichen ein zunehmendes Desinteresse an Politik und eine wachsende Skepsis gegenüber einer Vielzahl an politischen Institutionen und Organisationen aufzeigen, scheint bei den Angehörigen dieses Clusters in dieser Hinsicht das Gegenteil der Fall zu sein: 35,7% fordern mehr Mitsprache für Kinder und Jugendliche auf kommunaler Ebene und 37,5% äußern den Wunsch, politische Mitsprachegremien, wie Kinderbüros und Kinder- und Jugendparlamente im Kontext des schulischen Alltags zu implementieren. Als wichtigste Themen der Befürworter politischer Bildung werden Konsum- und Markenzwang (60,0%), unterschiedliche Religionen (61,9%), Naturschutz (50,0%), Drogen- und Alkoholkonsum (52,4%), Gesundheit (76,2%) und Begegnung unterschiedlicher Kulturen (60,0%) genannt. So verwundert es auch nicht, dass auf die Frage nach den häufigsten Treffpunkten mit Freunden in erster Linie Vereine, aber auch andere organisierte Orte, wie religiöse Einrichtungen und Jugendgruppen wiederholt genannt wer-
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den. Schule dagegen nimmt – anders als bei der Mehrzahl der Jugendlichen, wo sie nicht nur als ein klassischer Bildungsort, sondern darüber hinaus auch als Begegnungsstätte, als Raum für die Konstitution und spätere Konsolidierung von Cliquen- und Freundschaftsbeziehungen fungiert – bei den „Organisierten“ eine diesbezüglich untergeordnete Bedeutung ein. Dies lässt darauf schließen, dass Beziehungen zu Gleichaltrigen unter den Clusterangehörigen im Vergleich zum Durchschnitt der Untersuchungsstichprobe primär außerhalb der Schule aufgenommen und gepflegt werden. Die Kontakte zu Peers beschränken sich dabei keinesfalls nur auf Freundschaften und Interaktionen in Cliquen, sondern finden darüber hinaus eine hohe Resonanz in festen Partnerschaftsbeziehungen. Diese sind auch bei etwa zwei Drittel (60,7%) der „Organisierten“ als Ansprechpartner bei Belastungen und Problemen von enormer Bedeutung. Ein besonderes Vertrauensverhältnis besteht jedoch nicht nur zu Gleichaltrigen. Auch Eltern wird eine enorme Problemlösungskompetenz attestiert. 91,2% bezeichnen die Mutter und 71,0% den Vater – in beiden Fällen eine überdurchschnittlich hohe Anzahl – als Ratgeber in schwierigen Situationen. Gemeinsame Unternehmungen mit der Familie sind trotz allem selten. Familie und Freizeit werden von diesen Heranwachsenden – stärker als in allen anderen Clustern – gezielt, aber auch sehr unterschiedlich genutzt und gehen nur selten miteinander einher: Die Familie bietet ein Moratorium und damit Rückzugmöglichkeiten, um außergewöhnliche Situationen mit Hilfe von Eltern lösen zu können, während Freizeit den „Organisierten“ einen anderen festen Rahmen insbesondere für die Erprobung von eigenen Interessen und Vorlieben bereitstellt und folglich unterschiedliche informelle Bildungsprozesse vor allem an non-formellen Bildungsorten auslöst. Bei der abschließenden Betrachtung der soziodemografischen Dimension stellt man fest, dass zwei Determinanten dieses Cluster signifikant bestimmen. So ist zum einen eine überdeutliche Dominanz der Jungen zu konstatieren. Mehr als drei Viertel (76,2%) der „Organisierten“ sind männlich. Zum anderen unterscheidet sich die entsprechende prozentuale Verteilungsgegebenheit der Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund im Vergleich zu der Untersuchungsstichprobe signifikant. Die absolute Mehrheit von 54,0% weist einen Migrationsstatus auf. Differenzen im Bereich der Altersklassen sind im Hinblick auf die Clusterzugehörigkeit ohne statistische Relevanz. Wohingegen im Bezug auf den Bildungsgrad und die derzeit besuchte Schulform der Jugendlichen, verglichen mit allen anderen Clustern, ein leicht überdurchschnittlicher Mehranteil an Hauptschülerinnen und Hauptschülern (20,6%) erkennbar ist.
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Die peerorientierten Allrounder – eine exemplarische Darstellung ausgewählter Ergebnisse
5.1 Soziales Kapital am Beispiel von Peerbeziehungen Für die Adoleszenten dieses Clusters basiert das soziale Kapital vordergründig auf den Beziehungen zu Gleichaltrigen. Diese bilden insgesamt ein breites Fundament dieser Kapitalsorte, das dabei nicht nur an den prozentualen Mehranteilen der Treffen mit Peers, sondern auch an der Vielzahl unterschiedlicher Sozialformen sichtbar ist. Über die Eins-zu-Eins-Beziehungen und die intimen Partnerschaften hinaus entstehen ganze Netzwerke sozialer Interaktionen zu Peers sowie Cliquen, denen im Rahmen diverser Freizeitaktivitäten ein großer Stellenwert zugesprochen wird. Ein erster Zugang zeigt, dass die Freizeitkategorie „Mit Freunden treffen“ – hier werden alle Formen außerschulischer Peereinbindungen in einer Variable subsumiert, um einen ersten Überblick zu schaffen – die alles dominierende Tätigkeit dieser Jugendlichen darstellt. Zwar gewinnen Freundschaften, Cliquen und Jugendkulturen als Sozialisationsinstanzen im Jugendalter bei der Mehrzahl der Adoleszenten enorm an Bedeutung – dieser Bedeutungszuwachs von außerfamiliären Freizeitpartnern deutet sich auch in den anderen Subgruppen an – jedoch erreicht die Peer Group-Orientierung unter den Angehörigen dieses Clusters eine andere Dimension: Mit 99,3% sind die „Treffen mit Freunden“ die häufigste Freizeitaktivität der „peerorientierten Allrounder“. In keiner weiteren Gruppe ist eine derart intensive Pflege von Freundschaften und Ausrichtung an Peers zu beobachten. Entsprechend wird der gegenüber dem Durchschnitt der Gesamtstichprobe festzustellende prozentuale Mehranteil von 11,4% statistisch als hoch signifikant ausgewiesen (Chi² = 25,047; df = 1; p < 0,001; Cramer`s V = 0,221). Um das im ersten Zugang gewonnene Bild einer sich in diesem Cluster eng an Peers orientierten Subgesellschaft von Jugendlichen zu bestätigen, wird im Folgenden eine Differenzierung der Peereinbindungen nach unterschiedlichen Sozialformen vorgenommen und untersucht, wie sich ihre Intensität sowie die Häufigkeitsdauer der zur Verfügung stehenden Freizeit in Verbindung mit Gleichaltrigenbeziehungen gestaltet. Unterschieden wird nach Freundschaften, Cliquenbindungen und intimen Partnerschaftsbeziehungen. Freundschaften Die Präsenz der „besten Freundin“ bzw. des „besten Freundes“ stellt für die Angehörigen dieses Clusters eine Selbstverständlichkeit dar: Auf die Frage nach den häufigsten Freizeitpartnern, gaben fast zwei Drittel (64,5%) der Jugendli-
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chen an, ihre Freizeit „sehr oft“ gemeinsam mit der „besten Freundin“ bzw. mit dem „besten Freund“ zu verbringen. Bei einem weiteren Drittel (33,8%) ist dies „oft“ der Fall. Folglich ist fast jeder Jugendliche dieses Clusters (98,3%) in Freundschaftsbeziehungen eingebunden, womit sie sich hoch signifikant von dem Durchschnitt der Gesamtstichprobe unterscheiden (Chi² = 27,082; df = 1; p < 0,001; Cramer`s V = 0,251). Gleichzeitig weisen die Beziehungen zum „besten Freund“ bzw. zur „besten Freundin“ bestimmte Charakteristika auf, die sie deutlich von den Freundschaftsbeziehungen unter den Heranwachsenden in anderen Gruppen unterscheiden. Abbildung 2: Häufigkeit des Freizeitpartners „beste Freundin“ bzw. „bester Freund“ im Cluster der „peerorientierten Allrounder“ im Verhältnis zu sonstigen Clustern und Gesamt. Jugendliche im Alter von 10 bis 22 Jahren. (n [Die peerorientierten Allrounder] = 121; n [sonstige Cluster] = 308; n [Gesamt] = 429)
Die peerorientierten Allrounder
64,5%
Gesamt
33,8%
40,3%
sonstige Cluster
43,1%
30,8%
0%
10%
20%
40%
50%
60%
1,2%
15,4%
46,8%
30%
1,7%
20,8%
70%
80%
90%
1,6%
100%
Prozent
sehr oft
oft
selten
nie
Kennzeichnend für die Freundschaftsbeziehungen der „peerorientierten Allrounder“ ist es, dass sie sich (a) keinesfalls auf Interaktionen zum gleichen Geschlecht beschränken, (b) ein hohes Vertrauenspotential aufweisen und (c) überwiegend innerhalb eigener nationaler Herkunftsgrenzen stattfinden. Bezüglich dieser drei Charakteristika sind kaum Unterschiede zwischen den Geschlechtern feststellbar. Cliquen Die „peerorientierten Allrounder“ pflegen über die Vertrauensbeziehung zum besten Freund bzw. zu der besten Freundin hinaus weitere Freundschaftskontakte, die in der Regel einen Gruppencharakter aufweisen. Nur äußerst selten be-
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steht der Kreis der Freunde dieser Heranwachsenden aus lediglich einer einzigen Bezugsperson. Neben den häufig sehr stabilen und dauerhaften Eins-zuEins-Freundschaftsbeziehungen, nimmt auch die eher als gelockerte und lose zu bezeichnende Form von Gleichaltrigengruppierung, wie dies in keiner anderen Subgruppe zu beobachten ist, bei Adoleszenten dieses Clusters eine enorme Bedeutung ein. Die Orientierung an und Organisation in Cliquen kann als ein zentrales Charakteristikum dieser Jugendlichen bezeichnet werden. Fast neun von zehn der „peerorientierten Allrounder“ (88,4%) verbringen ihre Freizeit oft bis sehr oft im Kontext mehrerer Freunde. Damit ist die Cliquenmitgliedschaft in dieser Gruppe überdurchschnittlich oft ausgeprägt und aus statistischer Sicht 1,6-mal so hoch wie in der Untersuchungsstichprobe. Die beobachtbaren Unterschiede werden bivariaten Analysen zufolge als hoch signifikant ausgewiesen: Der Chi² nimmt einen Wert von 69,840 an, bei einer sehr geringen Irrtumswahrscheinlichkeit von p < 0,001. Das Zusammenhangsmaß mit der Ausprägung Cramer`s V = 0,409 lässt auf einen sehr engen Zusammenhang zwischen der beobachteten Cluster- und Cliquenzugehörigkeit schließen. Abbildung 3: Cliquenzugehörigkeit bzw. verbrachte Freizeit in und mit der Clique (sehr oft/oft- Angaben) im Cluster der „peerorientierten Allrounder“ im Verhältnis zu sonstigen Clustern und Gesamt unterschieden nach Geschlecht. Jugendliche im Alter von 10 bis 22 Jahren. (n [Die peerorientierten Allrounder] = 121; n [sonstige Cluster] = 297; n [Gesamt] = 418) 100 Die peerorientierten Allrounder sonstige Cluster
95,8%
80
Gesamt
Prozent
88,4% 83,6% 60
40
56,7% 43,8%
59,5% 47,2%
54,4% 40,6%
20 Geschlechtsunabhängig (Gesamt)
männlich
weiblich
95%-Konfidenzintervalle: Die an den oberen Enden der Balkendiagramme dargestellten Fehlerindikatoren kennzeichnen das 95%-tige Vertrauensintervall für den abgebildeten Wert. Signifikante Unterschiede zwischen zwei Gruppen sind nur dann gegeben, wenn sich die gekennzeichneten Vertrauensbereiche nicht überschneiden.
Über die Erkenntnis hinaus, dass cliquenorientierte Jugendliche im Cluster der „peerorientierten Allrounder“ deutlich überrepräsentiert sind, lassen sich bei
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detaillierter Betrachtung bestimmte Charakteristika dieser Peer-Interaktionen feststellen: (a) Peerorientierte Allrounder weisen bezüglich der Zugehörigkeit zu einer Clique über alle Altersklassen hinweg ein konstant hohes Niveau auf, (b) sie lassen gewisse Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen erkennen, (c) sie setzen sich aus geschlechtsspezifischer Perspektive betrachtet aus sehr unterschiedlichen Gruppierungen zusammen, so werden von der Mehrzahl insbesondere der weiblichen Clusterangehörigen sowohl geschlechtshomogene als auch geschlechtsheterogene Cliquenkonstellationen gleichzeitig angewählt und (d) sie zeigen eine starke Orientierung an Peer Groups, deren Mitglieder fast ausschließlich Jugendliche ohne Migrationsgeschichte sind. Auf die letzten beiden Punkte soll gesondert eingegangen werden: Im Hinblick auf die Cliquenkonstellation lassen die Daten den Schluss zu, dass die „peerorientierten Allrounder“ in der Mehrzahl nicht nur einer Gruppe angehören, sondern vielmehr der jeweiligen Freizeittätigkeit entsprechend ihren Freundeskreis auswählen. Zwei Drittel der Clusterangehörigen (68,4%) geben an, sich in ihrer Freizeit „oft“ bis „sehr oft“ in einer geschlechtsheterogenen Peer Group aufzuhalten, der sowohl Mädchen als auch Jungen angehören. Gleichzeitig scheinen aber auch geschlechtshomogene Gruppierungen keineswegs unbedeutend zu sein: Mehr als jeder zweite Jugendliche (53,8%) in diesem Cluster trifft sich regelmäßig mit Peers in einer reinen Mädchenclique, womit sie sich hoch signifikant von der Untersuchungsstichprobe unterscheiden (Chi² = 13,846; df = 1; p < 0,001; Cramer`s V = 0,196). Erwartungsgemäß wird diese Cliquenkonstellation insbesondere unter den weiblichen Jugendlichen stark favorisiert. Mehr als jede achte „peerorientierte Allrounderin“ (82,6%) verbringt ihre Freizeit im Kreise mehrerer Freundinnen. Dagegen fallen gleichgeschlechtliche Peer Groups bei den männlichen Heranwachsenden (47,9%) dieser Subgruppe verhältnismäßig selten aus. Nicht mal jeder zweite Junge (47,9%) gibt an, sich regelmäßig ausschließlich mit gleichgeschlechtlichen Altersgenossen zu treffen. In der Vergleichsgruppe der Gesamtuntersuchung fällt der Anteil indessen 1,4-mal höher aus (Chi² = 12,495; df = 1; p < 0,001; Cramer`s V = 0,272). Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass die Konstellation der Clique mehrheitlich sowohl bei weiblichen (66,7%) als auch bei männlichen (70,8%) „peerorientierten Allroundern“ geschlechtsheterogen angelegt ist. Wenn geschlechtshomogene Gruppierungen aufgebaut werden, dann in aller Regel unter den weiblichen Clusterangehörigen (vgl. Abbildung 6). Obgleich die Mehrzahl derer (63,5%), die regelmäßig in Mädchencliquen Freizeitaktivitäten nachgehen, parallel dazu auch alternative Gruppenkontakte, in geschlechtsheterogenen Cliquen pflegen. Anders formuliert: Angepasst an die jeweilige Situation, abhängig von der Tätigkeit, werden unter den „peerorientierten Allroundern“ unterschiedliche Gruppen, die nicht immer aus gleichen Mitgliedern bestehen, gebildet.
Marius Harring
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Abbildung 4: Cliquenkonstellationen nach Geschlecht (trifft voll zu/trifft zuAngaben) im Cluster der „peerorientierten Allrounder“ im Verhältnis zu Gesamt. Jugendliche im Alter von 10 bis 22 Jahren. geschlechtshomogene Cliquen (Mädchencliquen) Peerorientierte Allrounder (n=117)
53,8%*** 40,0%
Gesamt (n=360)
12,5%
männlich (n=48)
7,7%
Gesamt (männlich) (n=169)
82,6%**
weiblich (n=69)
68,6%
Gesamt (weiblich) (n=191)
geschlechtshomogene Cliquen (Jungencliquen) Peerorientierte Allrounder (n=117)
23,9%** 34,7%
Gesamt (n=360)
47,9%***
männlich (n=48)
68,0%
Gesamt (männlich) (n=169)
7,2%
weiblich (n=69)
5,2%
Gesamt (weiblich) (n=191)
geschlechtsheterogene Cliquen Peerorientierte Allrounder (n=117)
68,4%** 56,2%
Gesamt (n=361)
70,8%**
männlich (n=48)
50,6%
Gesamt (männlich) (n=170)
66,7%
weiblich (n=69)
61,3%
Gesamt (weiblich) (n=191)
0
20
40
60
80
100
Prozent
* Signifikanter Unterschied p < 0,05; **sehr signifikanter Unterschied p < 0,01; ***hoch signifikanter Unterschied p < 0,001
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Nicht ganz so differenziert – trotz allem höchst erstaunlich, wenn man die bereits aufgezeigten Daten für dyadische Freundschaften zur Grundlage nimmt – verhalten sich die Angehörigen dieses Clusters, was die herkunftsbedingte Zusammensetzung ihrer Cliquen anbelangt: Im Hinblick auf interethnische Cliquen, in denen sowohl Jugendliche mit als auch ohne Migrationshintergrund Mitglieder sind, unterscheiden sie sich kaum von der Untersuchungsstichprobe. Signifikante Unterschiede sind jedoch bezogen auf intraethnische Gruppierungen festzustellen. So zählen sich mit 15,4% die „peerorientierten Allrounder“ 1,7-mal seltener als alle Befragten der Gesamtuntersuchung zu Cliquen, die ausschließlich von Migrantinnen und Migranten dominiert werden (Chi² = 11,426; df = 1; p = 0,001; Cramer`s V = 0,178). Kennzeichnend für „peerorientierte Allrounder“ ist vielmehr die Orientierung an Cliquen, deren Mitglieder fast ausnahmslos keinen Migrationshintergrund aufweisen. 75,2% verbringen regelmäßig ihre Freizeit – damit überdurchschnittlich häufig – in jener Gruppenkonstellation (Chi² = 18,475; df = 1; p < 0,001; Cramer`s V = 0,227). Dieser Umstand ist allerdings keineswegs ausschließlich auf den bereits aufgezeigten überdurchschnittlich hohen Anteil an Jugendlichen ohne Migrationshintergrund in dieser Subgruppe zurückzuführen. Auch eine hohe Anzahl an Jugendlichen mit Migrationshintergrund (42,5%), geben in diesem Cluster an, und damit signifikant oft, dass sie einer Clique zugehören, die fast ausnahmslos aus Altersgleichen ohne Migrationshintergrund besteht (Chi² = 11,201; df = 1; p = 0,001; Cramer`s V = 0,273). Gleichzeitig organisieren sie sich auch 1,4-mal seltener als ihre Vergleichsgruppe in der Untersuchungsstichprobe in Peer Groups mit Mitgliedern ausländischer Herkunft (Chi² = 8,158; df = 1; p = 0,004; Cramer`s V = 0,233). Damit kann für „peerorientierte Allrounder“ das im Rahmen der Analyse von dyadischen Freundschaften aufgezeigte Bild einer sich überproportional oft innerhalb eigener nationaler Grenzen bewegenden Jugend für die Beziehungen in Cliquen nicht bestätigt werden. Vielmehr findet hier eine Transformation von Beziehungen und eine Ausrichtung an der Clustermehrheit, den Jugendlichen ohne Migrationshintergrund, auch unter den Jugendlichen einer andersethnischen Herkunft statt. So verwundert es auch nicht, dass „deutsch“ die alles dominierende Sprache in der cliqueninternen Kommunikation darstellt. Auf der Grundlage der vorliegenden Daten kann resümierend festgehalten werden, dass wie in keinem weiteren Cluster zu beobachten, und auch im Vergleich zur Untersuchungsstichprobe überdeutlich, in der Gruppe der „peerorientierten Allrounder“ die Sprache als ein Instrument der Assimilation und Integration verinnerlicht wurde und einen zentralen Bestandteil der Lebenswirklichkeit dieser Heranwachsenden darstellt.
Marius Harring
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Abbildung 5: Cliquenkonstellationen nach Herkunft (trifft voll zu/trifft zuAngaben) im Cluster der „peerorientierten Allrounder“ im Verhältnis zu Gesamt. Jugendliche im Alter von 10 bis 22 Jahren. intraethnische Cliquen (ohne Migrationshintergrund) Peerorientierte Allrounder (n=117)
75,2%*** 59,2%
Gesamt (n=360) Jugendliche ohne Migrationshintergrund (n=77)
92,2%*
Gesamt (Jugendliche ohne Mig.H.) (n=210)
84,8%
Jugendliche mit Migrationshintergrund (n=40)
42,5%**
Gesamt (Jugendliche mit Mig.H.) (n=150)
23,3%
intraethnische Cliquen (mit Migrationshintergrund) Peerorientierte Allrounder (n=117)
15,4%** 26,7%
Gesamt (n=359) Jugendliche ohne Migrationshintergrund (n=77)
1,3%
Gesamt (Jugendliche ohne Mig.H.) (n=209)
1,9%
Jugendliche mit Migrationshintergrund (n=40)
42,5%**
Gesamt (Jugendliche mit Mig.H.) (n=150)
61,3%
interethnische Cliquen (mit und ohne Migrationshintergrund) Peerorientierte Allrounder (n=117)
46,2% 50,6%
Gesamt (n=360) Jugendliche ohne Migrationshintergrund (n=77)
37,7%
Gesamt (Jugendliche ohne Mig.H.) (n=209)
45,9%
Jugendliche mit Migrationshintergrund (n=40)
62,5%
Gesamt (Jugendliche mit Mig.H.) (n=151)
57,0%
0
20
40
60
80
100
Prozent
* Signifikanter Unterschied p < 0,05; **sehr signifikanter Unterschied p < 0,01; ***hoch signifikanter Unterschied p < 0,001
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Partnerschaften Eine intime Partnerschaftsbeziehung stellt eine weitere Beziehungsform dar, die speziell im Cluster der „peerorientierten Allrounder“ eine enorme Bedeutung einnimmt. Unter diesen Jugendlichen ist weit mehr als die Hälfte der Befragten liiert: Mit 60,7% sagen im Vergleich zur Untersuchungsstichprobe 1,3-mal so viele Adoleszenten in diesem Cluster aus, ihre Freizeit „oft“ bis „sehr oft“ gemeinsam mit einem „festen Freund“ bzw. einer „festen Freundin“ zu gestalten (Chi² = 11,893; df = 1; p = 0,001; Cramer`s V = 0,180). Abbildung 6: Häufigkeit des Freizeitpartners „fester Partner/feste Partnerin“ im Cluster der „peerorientierten Allrounder“ im Verhältnis zu sonstigen Clustern und Gesamt. Jugendliche im Alter von 10 bis 22 Jahren. (n [Die peerorientierten Allrounder] = 107; n [sonstige Cluster] = 261; n [Gesamt] = 368)
Die peerorientierten Allrounder
42,1%
Gesamt
18,6%
30,2%
sonstige Cluster
25,3%
0%
10%
16,6%
15,7%
20%
30%
38,4%
3,5%
49,7%
4,6%
40%
54,4%
50%
60%
70%
80%
90%
100%
Prozent
sehr oft
oft
selten
nie
In keinem anderen Cluster ist eine derart hohe Anzahl an intimen Partnerschaftsbeziehungen zu beobachten. Nicht einmal die „bildungselitären Freizeitgestalter“, die sich aufgrund eines höheren durchschnittlichen Alters (14,6 Jahre vs. 16,7 Jahre) in einer potenziellen Altersphase befinden, die für das Eingehen von intimen Partnerschaften prädestiniert ist, sind in diesem Ausmaß an feste Partner bzw. Partnerinnen gebunden. Hier ist es gerade mal jeder bzw. jede Zweite (51,4%), der bzw. die eine Liebesbeziehung eingegangen ist. Entsprechend liegt die Vermutung nahe, dass die bei „peerorientierten Allroundern“ beobachtete bereits sehr frühe und intensive Orientierung an Gleichaltrigen tendenziell auch ein früheres intimes Beziehungsverhalten begünstigt. Die zahlreichen und differenzierten Kontakte zu Altersgleichen bieten scheinbar ein Experimentierfeld und erhöhen offenbar zugleich die Chance, die bestehenden
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Marius Harring
Interaktionen zu Peers auszuweiten, um einen Erlebnis- und Erfahrungsraum für die Einübung und Befriedigung von partnerschaftlichen, erotischen und sexuellen Verhaltensweisen und Bedürfnissen zu ermöglichen. Erwartungsgemäß haben die „feste Freundin“ bzw. der „feste Freund“ auch einen enormen Einfluss auf die Entscheidungsfindung. Überraschend dabei ist das Ausmaß. Keine anderen Peers, aber auch nicht die unmittelbaren Familienmitglieder erreichen ein derartiges, auf breiter Basis bestehendes, Vertrauenspotenzial. Nahezu alle (98,5%) der sich in festen Partnerschaften befindenden „peerorientierten Allrounder“ geben an, dass sie sich bei Problemen mit ihren Partnern austauschen und diese auch bei der Bewältigung und der Suche nach Lösungsstrategien „wichtige“ bis „sehr wichtige“ Ansprechpartner sind.
5.2 Kulturelles Kapital am Beispiel der Freizeitaktivitäten Die „peerorientierten Allrounder“ weisen ein breites Repertoire an Handlungsmöglichkeiten und kulturellen Gütern auf. Entsprechend konzentrieren sie sich im Rahmen ihrer Freizeit anders als der Großteil der Jugendlichen anderer Cluster keinesfalls nur auf eine Tätigkeit. Vielmehr ist ihr Aktivitätsradius im Hinblick auf die aktiven Freizeittätigkeiten bemerkenswert breit. Passive Freizeitaktivitäten, wie etwa das „Chillen“ und ein übermäßiger Fernsehkonsum, gehören dagegen nicht zu ihren bevorzugten Verhaltensweisen und keineswegs zu der Lebenswirklichkeit dieser Subgruppe von Heranwachsenden. Der Bereich „einfach nichts tun, zu Hause abhängen“ ist lediglich für ein Fünftel (21,4%) der „peerorientierten Allrounder“ eine alltägliche Handlung und damit 1,8-mal seltener als für den Durchschnitt der Befragten in der Untersuchungsstichprobe. Die Differenz wird an dieser Stelle als hoch signifikant ausgewiesen (Chi² = 22,873; df = 1; p < 0,001; Cramer`s V = 0,214). Auch das „Fernsehen“ als häufiges Freizeitarrangement wird von überdurchschnittlich vielen Clusterangehörigen eher abgelehnt. Mehr als jeder bzw. jede Dritte in diesem Cluster (34,7%) sagt aus, nur selten oder nie fernzusehen. In der Gesamtstichprobe ist dies dagegen bei einem Viertel der Befragten (25,6%) der Fall (Chi² = 8,699; df = 1; p = 0,003; Cramer`s V = 0,133). Die durchschnittliche Fernsehdauer der „peerorientierten Allrounder“ entspricht in etwa dem Wert für die Gesamtpopulation und liegt mit 2 Std. und 17 Min. pro Tag fast eine dreiviertel Stunde unter der durchschnittlichen Fernsehkonsumdauer der „passiven Medienfreaks“. Das „Musik hören“ dagegen erfreut sich bei nahezu allen Clusterangehörigen (97,3%) einer hohen Beliebtheit. Da das „zu Hause abhängen“ und „nichts tun“, also passives Freizeitverhalten insgesamt, als ein Persönlichkeitsmerkmal dieser Heranwachsenden zu negieren ist, bleibt zu vermuten, dass der Konsum
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von Musik für sie keine passive Tätigkeit im eigentlichen Sinne darstellt, sondern vielmehr als Instrument des „In-seins“ und des „Dazugehörens“ beinahe beiläufig auch im Rahmen anderer Tätigkeiten eine wichtige Rolle in der Freizeit spielt und den Lebensalltag dieser Jugendlichen maßgeblich beherrscht. Der gegenseitige Austausch – auch über Musik – fördert die Interaktionen zu Cliquen und ist zugleich ein absolutes „Muss“, eine grundlegende Bedingung für die Kontaktaufnahme und die Aufrechterhaltung von Beziehungen zu Gleichaltrigen. Dies gilt auch für den kommerziellen Freizeitbereich: Das Zelebrieren des gemeinsamen Shoppings gehört insbesondere unter den weiblichen Clusterangehörigen zu einer der beliebtesten Tätigkeiten in der Freizeit. Hier werden gemeinsam Kleidungsstyle erprobt und sich in Gegenwart von Peers über das eigene Aussehen vergewissert sowie über das „In- und Out-sein“ verständigt. Fast ein Viertel aller „peerorientierten Allrounder“ (72,5%) berichtet darüber, regelmäßig ihre Freizeit in dieser Form zu gestalten. Im Gegensatz zu der Stichprobengesamtheit entspricht dies einem hoch signifikanten Unterschied (Chi² = 14,992; df = 1; p < 0,001; Cramer`s V = 0,172). So ist diese scheinbar rein kommerzielle Freizeitaktivität des „Shoppings“ nicht ausschließlich wegen des Konsums und des Erwerbs neuer Kleider als solches wichtig, sondern vielmehr weil es zu der Lebensphilosophie dieser Teenager dazugehört, den Kontakt zu Altersgleichen zu suchen und für den Austausch sowie die eigenen und gemeinsamen Interessen zu nutzen. Daher gilt nicht nur für diese Freizeitbereiche: Die Verinnerlichung von kulturellem Kapital geht im Cluster der „peerorientierten Allrounder“ stets mit sozialem Kapital einher. Überhaupt decken die „peerorientierten Allrounder“ ein weites Spektrum der erfragten freizeitorientierten Handlungsfelder ab (vgl. Abb. 7). Neben den bereits aufgezeigten Freizeitkategorien unterscheiden sie sich auch in anderen Bereichen bezüglich ihrer zum Teil überdurchschnittlichen, zum Teil aber auch unterdurchschnittlichen Nutzung signifikant vom Durchschnitt aller Probanden. Einzeln betrachtet weisen die Angehörigen dieser Subgruppe in sechs von sieben Freizeitbereichen überdeutliche Charakteristika in ihrem Freizeitverhalten auf. Was den medialen Bereich anbelangt, lässt sich zunächst einmal zwischen den „neuen“ und den „print“-Medien unterscheiden. Bezogen auf die „neuen“ Medien deuten die Antworten daraufhin, dass der Computer überproportional oft bis sehr oft nicht als Spielkonsole, sondern in erster Linie als Arbeitsplatz genutzt wird. 57,1% der „peerorientierten Allrounder“ – damit 1,3-mal so viele wie in der Untersuchungsstichprobe – geben an, am Computer regelmäßig beispielsweise Text zu verfassen (Chi² = 17,305; df = 1; p < 0,001; Cramer`s V = 0,186).
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Abbildung 7: Freizeitaktivitäten im Cluster der „peerorientierten Allrounder“ im Verhältnis zu Gesamt. Sehr oft/oft-Angaben (n [Die peerorientierten Allrounder] = 149; n [Gesamt] = 520) peerorientierte Allrounder Gesamt
passive Freizeitaktivitäten
21,4%***
einfach nichts tun, zu Hause abhängen
38,1% 65,3%** 74,4%
Fernsehen
97,3%*** 88,6%
Musik hören (neu) mediale Freizeitaktivitäten
51,7% 57,6% 57,1%*** 42,4%
Computer spielen (auch X-Box/Playstation etc.) Am Computer arbeiten
84,2%***
im Internet surfen
69,2% leseorientierte (printmediale) Freizeitaktivitäten
41,4% 40,7% 30,7% 36,9%
Zeitschriften, Zeitungen lesen Bücher lesen
sport- und bewegungsorientierte Freizeitaktivitäten
Sport Radfahren
62,4%
87,9%** 79,7% 75,9%*** 47,9%* 39,6%
spazieren, wandern, kurze Ausfüge machen
organisierte Freizeitaktivitäten 57,0% 50,4%
Vereinsmitgliedschaft
ins Jugendzentrum gehen
2,9%*** 11,1% 1,4%*** 9,0%
Musikinstrumente spielen
5,8%***
Besuch eines Jugendverbandes
gestalterisch-kreative Freizeitaktivitäten
19,5% 8,5%** 15,6% 8,6%* 13,9%
Basteln, Heimwerken Malen, Töpfern, Modellieren
kommerzielle Freizeitaktivitäten
72,5%***
Shopping
59,0% 23,2% 21,6%
in die Disko gehen
47,9%** 38,6%
ins Kino gehen 0
20
40
60
80
100
Prozent
* Signifikanter Unterschied p < 0,05; **sehr signifikanter Unterschied p < 0,01; ***hoch signifikanter Unterschied p < 0,001
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Im Bereich der „neuen“ Medien wird auch die Nutzung des Internets als eine sehr häufige Freizeittätigkeit angegeben. 84,2% der „peerorientierten Allrounder“ versus 69,2% der Jugendlichen in der Gesamtuntersuchung surfen im Internet, um bestimmte Informationen zu erhalten oder in Chatforen Kontakte zu Gleichaltrigen zu knüpfen. Der Unterschied wird als hoch signifikant ausgewiesen (Chi² = 21,858; df = 1; p < 0,001; Cramer`s V = 0,207). Bezüglich der Nutzung von Printmedien lassen sich diese Differenzen nicht erkennen: Der Anteil der leseorientierten Jugendlichen, die in ihrer Freizeit beständig Bücher oder Zeitschriften und Zeitungen lesen, entspricht im Cluster annähernd der Verteilung in der Untersuchungsstichprobe. Darüber hinaus zeigen sich die „peerorientierten Allrounder“ im besonderen Ausmaß sportbegeistert und an bewegungsorientierten Freizeitaktivitäten interessiert. Fast neun von zehn Befragten dieses Clusters (87,9%) treiben fast täglich Sport und damit deutlich extensiver als dies im Stichprobendurchschnitt zu beobachten ist (Chi² = 7,186; df = 1; p = 0,007; Cramer`s V = 0,127). Zudem sind die sportlichen Aktivitäten sehr vielschichtig: Sie reichen von traditionellen Mannschaftssportarten, wie etwa Fußball, Handball, Basketball oder Volleyball, über Individuellsportarten, wie beispielsweise Fitness, Leichtathletik oder Schwimmen bis hinzu Kampf- (Judo, Karate und Kickboxen etc.), Fun- (Skaten und Snowboardfahren) sowie Tanzsportarten, wie HipHop, klassischer Tanz oder Formationstanz. Dieser offenbarte (Fast-) Sportfanatismus wird durch die Präferenz für das „Radfahren“ flankiert und stellt einen wichtigen Prädikator für die Clusterzugehörigkeit dar: Den subjektiven Häufigkeitsangaben zufolge geben drei von vier der Heranwachsenden in dieser Gruppe (75,9%) – und damit mehr als alle Befragten zusammen – an, dass sie das Fahrrad nicht nur als Fortbewegungsmittel verwenden, sondern darüber hinaus auch als ein Freizeitgerät und „Fun-Faktor“ sehen. Auf bivariater Ebene wird die Differenz dieser Angaben zu der Untersuchungsstichprobe als hoch signifikant angezeigt (Chi² = 15,143; df = 1; p < 0,001; Cramer`s V = 0,174). Das hohe Interesse an bewegungsorientierten Freizeitkategorien dieser Jugendlichen wird zudem durch die Tatsache komplettiert, dass fast jeder Zweite (47,9%) – ebenfalls häufiger als im Stichprobendurchschnitt – „oft“ bis „sehr oft“ spazieren geht, wandert und kurze Ausfüge macht. Bemerkenswert erscheint dabei, dass sich das hohe Interesse etwa an Mannschaftssportarten keineswegs sichtlich in Vereinsmitgliedschaften niederschlägt. Zwar ist der Anteil an Vereinsmitgliedern in diesem Cluster mit 57,0% gegenüber dem Gesamtdurchschnitt leicht erhöht (+6,6%), jedoch nicht in einem statistisch relevanten Ausmaß. Überhaupt geben „peerorientierte Allrounder“ formalisierten und organisierten Freizeittätigkeiten und -räumen seltener, dagegen informellen Orten eher häufiger den Vorzug. Entsprechend engagieren sie
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sich bedeutend seltener in Jugendverbänden und nur ein kleiner Anteil sucht regelmäßig Jugendzentren auf (vgl. Abbildung 7). Symptomatisch hierfür ist, dass auf die Frage nach häufigsten Treffpunkten mit Gleichaltrigen ausgenommen des Elternhauses, keineswegs der Verein, der Jugendverband, der Jugendclub oder eine kirchliche Jugendgruppe genannt werden. Vom überwiegenden Teil der Angehörigen dieses Clusters (68,5%) werden informelle Räume, wie öffentliche Plätze, Parks oder die Straße, als die zentralen Anlaufstellen für Tätigkeiten in der Freizeit gesehen. Gestalterisch-kreativen Freizeitaktivitäten gegenüber zeigen sich „peerorientierte Allrounder“ insgesamt sehr distanziert. Vor allem der Anteil derjenigen Jugendlichen, die das Spielen von Musikinstrumenten beherrscht, fällt in dieser Subgruppe mit 5,8% 3,4-mal geringer aus als in der Gesamtuntersuchung (Chi² = 22,857; df = 1; p < 0,001; Cramer`s V = 0,215). Aber auch das Malen, Töpfern und Modellieren, ebenso wie das Basteln und Heimwerken gehören in diesem Cluster keineswegs zu den beliebtesten Freizeitkategorien der Heranwachsenden. Mehr noch: Verglichen mit dem Durchschnitt der Untersuchungsstichprobe ist in keinem weiteren Cluster die Gruppe der Jugendlichen, die sich gestalterisch-kreativ betätigen, derart unterdurchschnittlich ausgeprägt. Trotz dieser Einschränkungen wird den vorliegenden bivariaten Daten zufolge augenscheinlich ein Bild des allseits aktiven Adoleszenten sichtbar. Dieser tritt, gemessen am Aktivitätsradius Jugendlicher anderer Cluster, aber insbesondere im Vergleich zum „passiven Medienfreak“ und zum „eingeschränkten Freizeitgestalter“, bei der Mehrzahl der Freizeitkategorien überaus engagiert in Erscheinung und betreibt somit auf breiter Basis, in einer ansonsten nicht zu beobachtenden Art und Weise, die Aneignung des kulturellen Kapitals.
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Fazit und Diskussion
Stellt man die vorliegenden Daten in einen Gesamtzusammenhang, um auf dessen Grundlage mögliche pädagogische Maßnahmen und Interventionen abzuleiten, so bedarf es sowohl einer jeweils clusterinternen als auch einer clusterübergreifenden Betrachtung. Eine clusterinterne Analyse des sozialen Kapitals der hier näher untersuchten „peerorientierten Allrounder“, verdeutlicht die Komplexität sozialer Beziehungen und Netzwerke dieser Heranwachsenden. Speziell die Beziehungen zu Peers sind unter den Angehörigen dieser Subgruppe sehr vielschichtig und beschränken sich keinesfalls auf lediglich eine Interaktionsform. Zudem sind diese unterschiedlichen Ausprägungen von Peerkontakten auch in sich sehr heterogen, weisen jedoch gleichzeitig auch bestimmte Charakteristika und einheitliche Muster auf: Wie in keiner anderen Subgruppe
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beobachtbar, sind die „peerorientierten Allrounder“ den standardisiertquantitativen Befragungsdaten zufolge auf der Ebene ihres sozialen Kapitals sowohl in dyadischen Freundschaften und Partnerschaften als auch Cliquenkontexten eingebunden und unterscheiden sich diesbezüglich in ihrer Ausprägung zum Teil sogar hoch signifikant vom Durchschnitt aller befragten 10- bis 22Jährigen. Insgesamt betrachtet geht also die Freizeitorientierung dieser Jugendlichen mit einer enormen Peerorientierung und dem damit verbundenen sozialen Potential, nicht zuletzt auch in Bezug auf den Erwerb von sozialen, emotionalen und kommunikativen Kompetenzen, einher. Ergänzt wird das auffällige soziale „Peerkapital“ durch eine auf Vertrauen basierte Beziehungspflege im familiären Kontext. Folglich lassen sich bezüglich des sozialen Kapitals der „peerorientierten Allrounder“ Synergieeffekte und Transferprozesse bei gleichzeitiger Ergänzung zwischen den beiden primären Bezugsebenen, Peers auf der einen und Familie auf der anderen Seite, beobachten. Allerdings: Familie ist zwar bei Belastungen und Problemen ein wichtiger Ort, eine zentrale Anlaufstelle und bedeutender Ansprechpartner, stellt jedoch nicht den originären Freizeitort dieser Jugendlichen dar. Freizeit wird fast ausschließlich außerhalb der Familie – vor allem in Kontext von Peers – nachgegangen. Nicht nur im Bezug auf das soziale Kapital, sondern auch im Bereich der kulturellen Kapitalgüter weisen „peerorientierte Allrounder“ Charakteristika auf, die sie überdeutlich von der Gesamtpopulation unterscheiden. Ihr Aktivitätsradius ist gemessen an der Anzahl der favorisierten Freizeiträume und -tätigkeiten im Vergleich zu allen anderen Freizeittypen außerordentlich breit. Nur selten beschränken sich die Aktivitäten des „peerorientierten Allrounders“ auf einen Freizeitbereich, vielmehr treten sie bei der Mehrzahl der erfragten Freizeitkategorien kennzeichnend in Erscheinung. Der enorm hohe Handlungsspielraum sowie die Erschließung eines breiten Repertoires an Freizeitgelegenheiten, aber auch -tätigkeiten, stellen die Vorraussetzung, den Nährboden und schaffen die Möglichkeit – wie dies in keiner weiteren Subgruppe zu beobachten ist – zur Aneignung eines vielschichtigen und multikausalen kulturellen Kapitals. Damit zeigen die Ergebnisse insgesamt, dass der Besitz des sozialen Kapitals in einem direkten Zusammenhang zum kulturellen Kapital steht. Wenngleich dieser Zusammenhang hier lediglich ausschnittsweise und nur auf diese Subgruppe bezogen verdeutlicht werden konnte, so sei an dieser Stelle angemerkt, dass dieses Phänomen in allen Clustern beobachtbar ist. Das Fazit fällt eindeutig aus: Die von den befragten Jugendlichen im Rahmen ihrer Freizeitwelten erworbenen sozialen und kulturellen Kapitalsorten verstärken oder aber –
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wie im Falle der „passiven Medienfreaks“ – mindern sich gegenseitig und stehen auf diese Weise in einem reziproken Beziehungsverhältnis zueinander2. Diese positiven Effekte oder aber – im negativen Fall – diesen Kreislauf, der eine verstärkte Desintegration und Isolation zufolge haben kann, gilt es mit Hilfe pädagogisch-unterstützender Maßnahmen je nach Sachlage zu fördern oder aber zu unterbrechen. Der Schule als einem Bindeglied zwischen formalen, informellen und non-formellen Bildungsorten und -prozessen kommt hier – nicht zuletzt vor dem Hintergrund des flächendeckenden Ausbaus von Ganztagsschulen – eine zunehmend zentrale Bedeutung zu. Schule bietet in einem verstärkten Maße auch im Nachmittagsbereich im Rahmen von Freizeit und ihrer Gestaltung wichtige Anregungspunkte und hat damit nicht nur, die im Zuge von PISA und anderen Schulleistungsuntersuchungen geforderte Wirkung in kognitiver Hinsicht, sondern darüber hinaus auch im Bezug auf die Vermittlung überfachlicher Kompetenzen – folglich übergreifend ebenfalls auf den Erwerb des freizeitkontextuellen sozialen und kulturellen Kapitals. Vor dem Hintergrund dieser Potenziale, welche die Ganztagsschule – im Übrigen nicht alleine, sondern in Kooperation mit außerschulischen Bildungsinstitutionen – bietet, kann ausgehend von den jeweiligen bereits vorhandenen Kompetenzen der einzelnen Clusterangehörigen eine Förderung, Entwicklung und Stärkung des sozialen und kulturellen Kapital bei ihnen erwirkt werden (vgl. hierzu genauer Harring 2010).
2
Unabhängig hiervon ist es auffällig, dass in dieser Studie, auf der Grundlage der vorliegenden Daten, für den Mikrokosmos „Freizeit“ eine unmittelbare Abhängigkeit des sozialen und kulturellen Kapitals vom ökonomischen Kapital – auf dieses hier aus Platzgründen nicht eingegangen werden konnte – nicht festgestellt werden kann. D.h. also, dass die für Freizeit zur Verfügung stehenden materiellen und finanziellen Ressourcen nicht ausschlaggebend für die Qualität der Freizeit sind.
Freizeit, Bildung und Peers: Bildung im Kontext heterogener Freizeitwelten Jugendlicher
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Freundschaft und Zugehörigkeit – Grundbedürfnis, Entwicklungsaufgabe und Herausforderung für die Schulpädagogik Carsten Rohlfs
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Einleitung
Als eine wechselseitig positiv erlebte „zwischenmenschliche Beziehung, die von Sympathie, emotionaler Nähe und Vertrauen geprägt ist“ (Tenorth/Tippelt 2007, 263) kommt der Freundschaft im gesamten Lebensverlauf eine große Bedeutung zu. Insbesondere aber im Kindes- und Jugendalter ist sie „als eine der Voraussetzungen für eine gute Entwicklung“ (Krappmann 2002a, 269) mit sozialisatorischen Aufgaben und Funktionen verknüpft und birgt entsprechend ein bemerkenswertes Lern- und Entwicklungspotential, das in der fachöffentlich geführten Diskussion einen zunehmenden Stellenwert genießt. Die Fokussierung auf diese Aufgaben, Funktionen und Potentiale von Freundschaftsbeziehungen sollte allerdings nicht den Blick auf die beinahe triviale Erkenntnis verschließen, dass Freundschaft Kinder glücklich macht, sie erfüllt und ihnen sehr wichtig ist. Zahlreiche Studien konstatieren, dass sich Kinder und Jugendliche in ihrer Freizeit am liebsten mit ihren Freunden treffen – beispielsweise weit vor dem Fernsehen oder Computerspielen (vgl. FöllingAlbers 2001, 25). „Wie großartig, wenn es einem Kind gelingt, erst die Aufmerksamkeit und dann die Zuneigung eines anderen auf sich zu lenken!“ (Krappmann 2002a, 258). Was aber bedeutet es für einen Heranwachsenden, wenn ihm dies nicht gelingt, wenn ihm die Möglichkeiten des Aufbaus erfüllender Freundschaftsbeziehungen verwehrt bleibt? Diese Problematik soll mit den beiden folgenden, der Siegener Longitudinalstudie „Lernbiografien im schulischen und außerschulischen Kontext“ (LISA&KO) entnommenen Fallbeispielen „Julia“ und „Jasmin“ veranschaulicht werden (vgl. Rohlfs 2006). Im Projekt LISA&KO werden an der Universität Siegen seit 1999 unter der Leitung von Hans Brügelmann und Hans Werner Heymann Lebensbedingungen von Kindern und ihre (fachliche) Lernentwicklung im sozialen Kontext untersucht. Langfristiges Ziel ist es, die Wechselwirkungen zwischen schulischen und außerschulischen Lebens- und Lernerfahrun-
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Carsten Rohlfs
gen von heutigen Kindern und ihre Entwicklung im Alter zwischen 5 und 15 Jahren zu rekonstruieren. Über eine Serie von Fallstudien wird die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen und die allmähliche Ausdifferenzierung ihres Welt- und Selbstbildes dokumentiert und interpretiert. Dabei werden verschiedene Dimensionen und unterschiedliche Perspektiven – Eigenperspektive des Kindes vs. Perspektiven der wichtigsten Bezugspersonen wie Eltern, Lehrer, Freunde etc. – berücksichtigt. Die Perspektive der Kinder allerdings ist zentral, ihre persönliche Sicht der Dinge, ihre Erzählungen und Wertungen – auch bezogen auf das Lebensthema Freundschaft.1
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Fallbeispiel Julia (9 Jahre): „Oft möchte ich am liebsten ganz für mich allein sein…“
Sowohl in der Schule als auch in ihrer Freizeit fühlt sich Julia „meistens alleine, da die immer alle ’was zu tun haben“. Gerne hätte sie eine Freundin, „aber ich habe keine!“, und ihre ehemals beste Freundin Kerstin erfüllt nicht ihre Vorstellungen einer guten Freundschaft, vor allem sei sie zu selten für Julia da und stelle sich, wie Julias Eltern bedauern, in der Klassengemeinschaft kaum auf Julias Seite. Diese Gemeinschaft besteht bereits seit dem Kindergarten in der jetzigen stabil gefügten Form – bis auf wenige Ausnahmen, und zu diesen zählt Julia. Von Beginn an fand sie keinen Zugang zu ihren Mitschülerinnen und Mitschülern sowie deren fest etablierten Beziehungen untereinander. Dieser Problematik ist sich Julias Vater durchaus bewusst: „Es scheint uns also so, dass sie während oder in der Schulzeit morgens quasi allein auf dem Posten steht“. Und mehr noch: Saskia, ein Mädchen aus Julias Klasse, versuchte insbesondere im dritten Schuljahr, Julia durch massive Anfeindungen noch weiter aus der Gemeinschaft auszugrenzen. Julia über Saskia: „Die ist meine Erzfeindin. Mit der hatte ich im dritten Schuljahr zwei Monate Krieg“, und: „Dann wollte ich nie in die Schule, weil die Saskia immer so gemein zu mir war“. Auf die Frage, wie sie sich momentan in ihrer Klasse fühle, antwortet sie: „Es geht. [...] Es gibt keinen, den ich hasse,... außer Saskia, wenn ich mit der Streit hab’“. Julia schätzt sich selbst als nur mittelmäßig beliebt ein, scheint sich aber mit der Situation arrangiert zu haben, in der Hoffnung auf Besserung in der neuen (weiterführenden) Schule: „Ja, und ich hoffe auch, dass ich da eine beste Freundin finde da“. Julias Mutter teilt diese Erwartung: „Ich denke, vielleicht 1 Für eine ausführliche Darstellung und vertiefende Hintergrundinformationen zum Projekt LISA & KO verweise ich auf Panagiotopoulou/Rohlfs (2001) und Brügelmann/Panagiotopoulou (2005).
Freundschaft und Zugehörigkeit – Grundbedürfnis und Entwicklungsaufgabe
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sind die Hoffnungen insofern berechtigt, weil normalerweise vielleicht da doch auch einmal ein Kind dabei ist, das ein Instrument lernt, das irgendwie andere Interessen hat. Ich denke, dass Kinder, die von klein an irgendwie mit Musikselbermachen auch in Berührung kommen, dass die auch andere Interessen entwickeln als nur Popmusik zu hören, sich die neuesten Klamotten anzuzieh’n, mmh,... nur konsumieren, ich denke eben, dass Julia, die auch schon immer gerne selber irgendetwas gemacht hat [...] [darauf hofft], irgendjemanden zu finden, der ähnlich wie sie ist.“ In der Nachbarschaft hat Julia zwar Spielkameraden, aber keine wirklichen Freunde gefunden. Selbiges gilt für ihre Handballgruppe, in der sie sich dennoch sehr wohl fühlt. Es fehlen Julia jedoch Kinder, zu denen sie Vertrauen hat, mit denen sie auch über Probleme sprechen kann. Es fehlen wirkliche, enge Freunde. So erstaunt es nicht, wenn Julia erklärt: „Oft möchte ich am liebsten ganz für mich allein sein…“. Julia sehnt sich nach einer Freundin – ganz für sich allein.
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Jasmin (8 Jahre): „Nur in der Schule bin ich alleine.“
Auf die Frage, wie sich die 8-jährige Jasmin, Tochter einer allein erziehenden Mutter, eine Freundin vorstellt, antwortete sie „lieb, nett, sie darf net lügen,... einfach nur lieb zu mir und net lügen... und tierlieb.“ Jasmin hat diese Freundin noch nicht gefunden. Auch ist Jasmin nicht in eine Clique, eine Gruppe von Kindern integriert, mit denen sie sich nachmittags treffen könnte. Ihre Freunde seien aber überaus zahlreich, stellt sie fest und bezeichnet insbesondere ihre Mitschülerinnen Susi, Thea und Ayse als ihre Freundinnen. Alle drei seien schon bei ihr gewesen: „Wir wehr’n uns gegen die Jungs,... hecken paar Streiche aus. Weil wir sind die coolen Clubmädchen. Und das [mein Zimmer] ist das Clubzimmer.“ In Wirklichkeit ist bislang lediglich Susi einmal bei Jasmin gewesen, um ihr die Hausaufgaben zu überbringen, als Jasmin krank war. So erstaunt es denn auch, wie selbstverständlich Jasmin von diesen ihren Freundinnen erzählt. Weder treffen sich die Mädchen in ihrer Freizeit, noch spielen sie in der Schule miteinander, aber von beidem berichtet Jasmin: „Sie [Susi] sitzt fast neben mir und ihre allerbeste Freundin bin ich, die Thea und die Ayse und die Britta. Und manchmal kommen wir alle zu ihr, manchmal fahren wir alle zu Thea [...], aber die kommen net zu mir, weil ich nicht aufgeräumt hab.“ Jasmins Wunsch, mit diesen Mädchen befreundet zu sein, scheint so groß, dass er die Realität verzerrt und Jasmin in ihren Erzählungen eine Scheinwelt mit ihren Klassenkameradinnen als Freundinnen gestaltet: „Ich bin die Frechste in der ganzen Klasse unter den Mädchen. Deshalb wollen auch alle meine
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Freundin sein und mit mir spielen. Ich erfinde ja auch immer so tolle Streiche wie Klingelmännchen.“ Auch wenn Jasmins Klassenlehrerin ihre Schülerin als Außenseiterin bezeichnet, wird Jasmin von ihren Mitschülern nicht grundsätzlich abgelehnt. Vielmehr bleibt sie unauffällig im Hintergrund. Und auch in ihrer Freizeit ist sie außerhalb ihrer Traumwelt nicht vollkommen von Kontakten zu Gleichaltrigen isoliert. Gelegentlich spielt Jasmin mit Kindern aus Familien, mit denen ihre Mutter befreundet ist, wie Tina, der Tochter einer Arbeitskollegin. Die Treffen der Kinder ergeben sich aus den Treffen der Eltern, sind also deutlich abhängig von Zeit und Interessen der Erwachsenen. Da die freie Zeit von Jasmins Mutter aber sehr eingeschränkt ist, kommt es nur unregelmäßig zu Verabredungen dieser Art. Und eigentlich spielt Jasmin gar nicht so gerne mit Tina, wie sie selbst feststellen muss: „Weil, die gibt sich immer so an, also meint, sie wär’ was Tolles. Und dann, und dann, ehm, will sie immer spielen, dann sollen wir immer spielen, was sie will. Und immer, was sie will. Und dann hab ich keine Lust mehr mit spielen.“ Jasmins Kontakte zu Gleichaltrigen sind deutlich durch ihre überaus intensive Beziehung zu ihrer Mutter geprägt: „Nur in der Schule bin ich alleine, [...]. Da geht’s mir halt mal schlecht und so. [Da bin ich] [...] traurig, weil ich von meiner Mama weg bin.“ Besonders gut gehe es ihr dagegen, „wenn ich mit meiner Mama zusammen im Bett kuschel.“ Dennoch sehnt sich Jasmin nach einer besten Freundin, einer Freundin in ihrem Alter – würde sie sich sonst in ihre Scheinwelt flüchten müssen?
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Die Erfahrung von Zugehörigkeit als menschliches Grundbedürfnis
Die seit Generationen überaus bedeutsamen Lebensthemen „Zugehörigkeit“ und „Freundschaft“ haben offenbar nichts an ihrer Relevanz eingebüßt. Nach Decis und Ryans Selbstbestimmungstheorie der Motivation hat der Mensch drei angeborene Grundbedürfnisse: Das Bedürfnis nach Kompetenz, das Bedürfnis nach Autonomie und das Bedürfnis nach sozialer Eingebundenheit bzw. Zugehörigkeit (vgl. Deci/Ryan 1991, 243; Deci/Ryan 1993, 229). Er hat also die motivationale Tendenz, sich in einem sozialen Milieu eingebunden und akzeptiert zu fühlen, sich um andere zu kümmern, Zugehörigkeit und Anerkennung zu erfahren (vgl. Deci/Ryan 1993, 229): „The need for social relatedness encompasses person’s strivings to relate to and care for others, to feel that those others are relating authentically to one’s self, and to feel a satisfying and coherent involvement with the social world more generally“ (Deci/Ryan 1991, 243).
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Für Julia und Jasmin bleibt das menschliche Grundbedürfnis nach sozialer Eingebundenheit in Bezug auf Kontakte zu Gleichaltriegen offenbar unbefriedigt. Das damit verbundene Gefühl der Einsamkeit und Traurigkeit, das Gefühl enttäuschter Erwartungen und Vorstellungen, des Abgelehntwerdens, des nicht Beachtet-, nicht Geachtetwerdens und der Frustration ist in den beiden Fallbeispielen deutlich spürbar. Gleichzeitig aber auch das Arrangieren mit der Situation und sei es durch die Konstruktion von Scheinwelten, das Suchen von Wegen, Orten und Nischen im Alleinsein, der Wechsel von Resignation und immer wieder aufkeimender Hoffnung auf Veränderung, die Sehnsucht nach wirklicher Freundschaft. Dies sind Erfahrungen, die nicht ausgespart bleiben dürfen, wenn das viel zitierte Lern- und Entwicklungspotential von Freundschaft in den Blick genommen wird – insbesondere nicht vor dem Hintergrund, dass unbefriedigende Beziehungen zu Gleichaltrigen, die Erfahrung von Zurückweisung und Isolation in langfristiger Perspektive einen negativen Einfluss auf die Identitätsbildung eines Heranwachsenden haben können (vgl. Naudascher 2003, 133). Es sollte also „nicht vergessen werden, dass es auch einsame Kinder gibt. Das sind Kinder mit gar keinen, mit flüchtigen oder überschätzten Beziehungen und auch abgelehnte Kinder. Etwa 10 Prozent der Kinder und Jugendlichen zählen nach verschiedenen Studien dazu“ (Krappmann 2002a, 258). Das Aufwachsen in einer Außenseiterrolle bringt dabei nicht nur enorme psychische Belastungen mit sich, es versperrt zudem eine Vielzahl von Erfahrungsräumen und schränkt den Erwerb unterschiedlicher Kompetenzen auch in der Lebens- und Lernwelt Schule ein. Denn Kinder und Jugendliche ohne erfüllende und das Bedürfnis nach Zugehörigkeit befriedigende Freundschaften in ihren außerschulischen Beziehungsräumen sind zumeist auch in der Schule einsam und ausgeschlossen – oder anders formuliert: Oft hat der Ausschluss in der sozialen Lebenswelt Schule seinen Ausgangspunkt. Die Schule funktioniert hier als eine Art Filter zur Entwicklung und Organisation sozialer Kontakte auch außerhalb der Schule (vgl. Rohlfs 2006), wobei bereits im Kindesalter die Kriterien Schichtzugehörigkeit und Migrationshintergrund von zentraler selektiver Bedeutung sind (vgl. Thole 2010). Insgesamt aber sind Kindheit und Jugend heute nicht als vereinsamt zu bezeichnen, wie vor allem von der Kindheitsforschung der 1980er Jahre vielfach unterstellt (vgl. Fölling-Albers 2001, 25). So konstatieren auch Zinnecker et al. (2002, S. 61): „Im Vergleich zu früheren Kinder- und Jugendgenerationen, etwa in den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts, sind Jugendliche heute gut mit besten Freundinnen und besten Freunden […] versorgt“. Die Fallbeispiele „Kira“ und „Chiara“ sollen im Folgenden Bedeutung und Qualität der Beziehung zu einer besten Freundin exemplarisch illustrieren.
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Kira (9 J.) und Chiara (9 J.) – “Einer, der zu einem hält“
Die beiden Freundinnen Kira und Chiara besuchen dieselbe Schulklasse und wohnen in unmittelbarer Nachbarschaft zueinander. Sie kennen sich seit vielen Jahren, und auch wenn Chiaras Freundschaften häufig wechseln, die zu Kira bleibt stabil und besonders wertvoll, dazu Chiaras Mutter: „Aber so im Innern, ich glaub’, wenn ma’ se fragt ‘Deine beste Freundin?’, das is’ immer de Kira.“ Dementsprechend sei für Chiara, so stellt diese rückblickend fest, ein besonders schönes Erlebnis ihres bisherigen Lebens der Tag gewesen, „wo de Kira un’ ich uns zum ersten Mal gesehen haben“. Seither treffen sich die Mädchen beinahe täglich, erledigen gemeinsam ihre Hausaufgaben, spielen zusammen, übernachten beieinander, teilen zahlreiche Interessen, nehmen an denselben Freizeitaktivitäten in Vereinen teil, spielen beide Geige, und sind sich zudem in ihrem äußeren Erscheinungsbild auffallend ähnlich. Insbesondere scheint sich Kira auf vielerlei Weise an Chiara zu orientieren, und die Mädchen sind in ihrer Wesensart, in der Art, wie sie sich in ihre Freundschaft einbringen sehr unterschiedlich. Chiara nimmt eine deutlich dominante Rolle in der Beziehung ein, Kira richtet sich häufig nach den Wünschen ihrer besten Freundin, und während Chiara, wie ihre Mutter feststellt, „gerne rund um de Uhr action" hat, genießt Kira „schon mal ihre Ruhe“. Früher sei das Verhältnis genau anders herum gewesen. Die Freundinnen wissen allerdings um ihre Unterschiedlichkeit und wissen die Charaktereigenschaften der anderen zu schätzen. Beispielsweise könne sich Chiara, so erzählt sie, in der Schule weit besser konzentrieren, wenn sie neben der ruhigen und ausgeglichenen Kira sitze. Die beiden Freundinnen verbindet ein starkes Vertrauen. Sie teilen Geheimnisse, Kira belügt sogar ihre Eltern, um diese nicht zu verraten, und in Chiara findet sie eine Ansprechpartnerin in allen Lebenslagen. Streit gibt es zwischen den Freundinnen nur selten – zumeist ist Eifersucht auf andere Mädchen dann der Grund, und Kira und Chiara vertragen sich schnell wieder. Dies erwartet Kira auch von einer Freundin, denn für sie ist ein Freund „einer, der zu einem hält und sich nach, also nach einem Streit wieder mit einem verträgt“. Von besonderer Bedeutung für eine Freundschaftsbeziehung ist für Kira Zusammenhalt. Sie ist sich sicher, dass Chiara sie verteidigen würde, wenn sie jemand ärgert, und sie tröstet, wenn sie traurig ist, denn eine beste Freundin muss „einen trösten oder mit einem spielen“.
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Freundschaft als Lern- und Entwicklungswelt
Die Freundschaftsbeziehung zwischen Kira und Chiara zeigt sehr deutlich, dass die Lern- und Entwicklungswelt Freundschaft Raum eröffnet für eine Vielfalt entscheidender Erfahrungen im Kindes- und Jugendalter. In dyadischen Freundschaften und Peer Groups können und müssen die Heranwachsenden lernen Vertrauen aufzubauen (vgl. Zinnecker et al. 2002, 59f.), sich zu streiten und anschließend wieder zu versöhnen (vgl. Krappmann 2002a, 258), Rücksicht zu nehmen, gleichzeitig die eigenen Wünsche und Bedürfnisse in die Beziehung einzubringen, Verabredungen zunehmend selbständig zu gestalten (vgl. Baacke 1999, 333f.), Orientierung zu suchen, ohne sich selbst zu verlieren, gemeinsame Interessen zu finden, ohne die eigenen zurückzustellen – Freunde sind für die Entwicklung von Interessenprofilen von überaus großer Bedeutung, von größerer als Schule und Familie (vgl. Hössl 2000, 20) – und somit ihre Rolle zu finden in Freundschaften und Kindergruppen. Denn während Kinder in der Familie einen relativ festgeschriebenen Status inne haben – sie sind eben Kind –, ist es unter Gleichaltrigen eine entscheidende und für das Leben in der modernen Gesellschaft notwendige Aufgabe, eine Position – wie die des Sprechers, Führers, Freundes etc. – zu erringen und zu halten. Die Kinder machen hier zum ersten Mal die Erfahrung, dass Anerkennung vom eigenen Verhalten, von Leistung abhängig ist (vgl. Baacke 1999, 333ff.). Sie machen die Erfahrung von Gegenseitigkeit und Ungleichheit (vgl. Petillon 2005, 171). Zudem können sie in ihren Freundschaften und Peer Groups auf vielerlei Weise „den Ernstfall proben“: „In Diskussionen und Auseinandersetzungen lernen sie den Umgang mit Aggressionen; sie erfahren die Sicherheit in der Gruppe, wenn ‘ein Versprechen gilt’ und ‘kein Verräter unter uns ist’; sie spüren Widersprüche zwischen der Welt der Erwachsenen und ihrer strengen Einordnung und Bewertung aller Taten und der Diffusität und Offenheit ihrer Gruppen, die den Zugang zu Spontaneität und Abenteuern offen halten, ohne daß immer zugleich die Frage nach ‘gut’ oder ‘böse’ gestellt werden muß; und vor allem: Kinder machen die Erfahrung von Zuneigung und Freundschaft, ohne die sie nach dem Tod ihrer Eltern, nachdem die Schule sie freigegeben hat, nicht werden leben können“ (Baacke 1999, 338). Im Unterschied zu familialen Beziehungsgefügen basieren Freundschaftsbeziehungen zudem auf Freiwilligkeit und unterliegen somit stärker dem Risiko einer schnellen Beendigung (vgl. z.B. Harring 2007). Es gilt also, in die Aufrechterhaltung der Freundschaft zu investieren, entscheidende Dimensionen auszuhandeln, Kompromisse einzugehen, Kooperations-, Argumentations-, Empathie- und Kritikfähigkeit zu lernen – Schlüsselqualifikationen auch im spä-
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teren Leben und Grundlage für den Aufbau und die Erhaltung sozialer Netzwerke (vgl. Grundmann et al. 2003, 28). Bereits im frühen Kindesalter erfolgt also im Rahmen eines aktiven Prozesses der Ko-Konstruktion die Grundlegung bedeutsamer sozialer Kompetenzen. (vgl. Grunert 2006, 26). „Erfahrungen in den Freundschaften der Kindheit bereiten nicht nur spätere Liebesbeziehungen vor, sondern legen auch ein Fundament dafür, dereinst ein guter Arbeitskollege, Nachbar, Sportkamerad, Elternvertreter, Helfer in Notlagen oder generell ein guter Mitwirkender bei der Verfolgung gemeinsamer Interessen zu sein“ (Krappmann 2002a, 270). Die verstärkte Beziehung zu Gleichaltrigen unterstützt dabei den Prozess der Ablösung vom Elternhaus. Auf diese Weise kommt es nicht nur zu einer Neujustierung des Eltern-Kind-Verhältnisses (vgl. Hurrelmann 2005), sondern darüber hinaus zu einer grundsätzlichen Neustrukturierung von Beziehungen und zu der Einschließung neuer Dimensionen für soziales und personales Wachstum (vgl. Baacke 1999, 333f.). „Soziale Beziehungen zwischen gleichberechtigten Partnern sind relativ wenig vorstrukturiert; sie fordern zur Selbstgestaltung heraus und bieten damit die Möglichkeit, das gesamte Lernpotenzial der Interaktion auszuschöpfen“ (Petillon 2005, 167).
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Fazit und Folgerungen für die Schulpädagogik
Du Bois-Reymond (2000) spricht im Kontext des dargestellten Lernpotentials von Freundschaftsbeziehungen und vor dem Hintergrund der Bourdieuschen Theorie der sozialen Praxis (vgl. etwa Bourdieu 1983) von „Peerkapital“, für dessen Entwicklung und Nutzung das Konzept des sozialen Lernens von großer Relevanz ist. Die Freundin bzw. der Freund fungiert hier als Modell, wodurch Lernprozesse unterschiedlichster Art initiiert werden (vgl. Krappmann 2002b, 358). Berücksichtigt man nun, dass ein Großteil aller menschlichen Lernprozesse außerhalb der Bildungsinstitutionen stattfindet – Dohmen (2001) beziffert diesen Anteil gar auf 70 Prozent –, so scheint es auch für die Schule eine wichtige Aufgabe zu sein, sich Lernprozessen dieser Art zu öffnen, sie ernst zu nehmen, konstruktiv in den Schulalltag einzubinden und zu nutzen. In der aktuellen Bildungsdiskussion wird hier im Zuge einer zunehmenden Fokussierung auf das Konstrukt des „Lebenslangen Lernens“ zwischen formaler, non-formaler und informeller Bildung unterschieden (vgl. für den deutschsprachigen Raum insbesondere Dohmen 2001; Bundesjugendkuratorium 2001; BMFSFJ 2002, 153ff.; Otto/Rauschenbach 2004; Rauschenbach et al. 2004; BMFSFJ 2006; Rauschen-
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bach/Düx/Sass 2006; Overwien 2005, 2006; Tully 2006; Harring/Rohlfs/Palentien 2007). Die Differenzierung verdeutlicht, dass es also Aufgabe sein muss, Schule nicht nur als Ort formalisierter Bildung zu verstehen und zu gestalten, sondern im Rahmen integrierter Bildungslandschaften Verbindungen zu entwickeln zu den Orten non-formaler Bildung und Raum zu schaffen für informelle Bildungsprozesse. Diese finden in Schule ohnehin statt, werden jedoch in dieser dem Selbstverständnis nach auf formalisierter Bildung gründenden Institution geringschätzend bewertet. Vor allem die Freundschaftsbeziehungen und damit verbunden das Peerkapital sollten allerdings vielmehr als Bereicherung wie Entlastung betrachtet und im Sinne einer Peer-Education auch im Unterricht als Erweiterung der Perspektive und Eröffnung neuer Ressourcen genutzt werden. Konzepte dafür existieren in großer Zahl (vgl. Harring 2007). Allein ihrer Umsetzung in der Praxis steht vielfach eine Grammatik von Schule gegenüber, die an tradierten Rollenmustern festhält und scheinbar bewährte Autoritäten perpetuiert. Gewiss gibt es Schulen, die einen damit notwendig verbundenen Perspektiven- und Paradigmenwechsel vom Lehren zum Lernen (vgl. etwa Fauser/Prenzel/Schratz 2008) bereits professionell vollzogen haben und durch Innovationsfreude und hohe Qualität überzeugen (vgl. u.a. „Deutscher Schulpreis“, Reformverbund „Blick über den Zaun“), allerdings erscheinen die Schullandschaft hier ebenso wie die darin lernenden und lebenden Schülerinnen und Schüler überaus heterogen und die einzelnen Schulen sowie die entsprechenden Kompetenzen von Pädagoginnen und Pädagogen höchst unterschiedlich weit entwickelt. Es stimmt aber optimistisch, dass die Lehrerbildung und -fortbildung diese Kompetenzen, das professionelle Handeln von Lehrerinnen und Lehrern in diesem Kontext, in zunehmendem Maße in den Blick nimmt.
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Cliquen/informelle Gruppen: Strukturmerkmale, Funktionen und Potentiale Albert Scherr
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Einleitung
Die Bedeutung von Gleichaltrigengruppen für die alltägliche Lebensführung, die Bewältigung der Ablösungsprozesse von der Herkunftsfamilie und der sog. Entwicklungsaufgabe des Jugendalters, insbesondere die Identitätssuche, sowie als Sozialisationsinstanzen ist seit der klassischen funktionalistischen Jugendsoziologie (vgl. Eisenstadt 1956/1966; Parsons 1942/1968) ein anhaltendes Thema der Forschung und Theoriebildung. Dass dabei Cliquen/informellen Gruppen1 neben Freundschaftsbeziehungen und formellen Gruppen (Schulklassen, Gruppen in Jugendverbänden) eine zentrale Bedeutung zukommt, ist von Anfang an eine Annahme der sozialwissenschaftlichen und pädagogischen Jugendforschung. Sozialhistorische Studien gehen zudem von einem engen Zusammenhang zwischen der Entstehung moderner Jugend mit der Herausbildung von Freiräumen, einer „Kontrolllücke der Adoleszenz“ (Shorter 1988, 48) aus, die die Entstehung informeller Gleichaltrigengruppen als Formen der Selbstvergesellschaftung Heranwachsender ermöglichen. Informelle Gruppen/Cliquen wurden zunächst vor allem als ein vermeintlich zentraler Entstehungskontext von Jugenddelinquenz in den Blick genommen, als jenseits der Kontrolle durch Erwachsene situierte und folglich verdächtige Formen der Vergemeinschaftung und der Selbstsozialisation Heranwachsender (vgl. dazu etwa Abels 1993, 236ff.; Roth 1983, 96ff; von Trotha 1974). Diese Perspektive findet auch in der neueren Jugendforschung ihre Fortsetzung, seit Anfang der 1990er Jahre insbesondere im Kontext der Forschung über ju1
Im Weiteren wird davon ausgegangen, dass Cliquen/informelle Gruppen als ein besonderer Typus von Kleingruppen verstanden werden können, der sich dadurch auszeichnet, dass es sich um freiwillige Zusammenhänge, also z.B. nicht um Arbeitsgruppen in Betrieben oder Schulklassen, handelt. Eine trennscharfe Unterscheidung zwischen Cliquen und informellen Gruppen ist m.E. nicht sinnvoll, sondern nur eine graduelle Abstufung: Von Gruppen im Unterschied zu Cliquen kann im Hinblick auf die Stärke des Zusammenhaltes und die Dauerhaftigkeit der Mitgliedschaft gesprochen werden.
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gendlichen Rechtsextremismus (vgl. etwa Rieker 1997, 189ff.; Möller/Schumacher 2007). Im Gegensatz hierzu werden Cliquen/informelle Gruppen in einer Sichtweise, die auf die Traditionslinie der Jugendbewegungen des frühen 20. Jhdts. zurückgeht, als Ausdrucksformen jugendlicher Emanzipationsbestrebungen thematisch, als Form einer Selbstvergesellschaftung, die die Einübung in nichthierarchische Formen der Kooperation und Kommunikationen und die kritische Auseinandersetzung mit den Werten und Normen der „Erwachsenenwelt“ ermöglichen (vgl Giesecke 1971, 19ff.). An diese Sichtweise knüpfen ältere und neuere Theorien emanzipatorischer Jugendarbeit (vgl. Kiesel/Scherr/Thole 1998; Lindner 2006, 65ff.) ebenso an, wie Versuche, informelle Gruppen als alternative Formen eines herrschaftsfreien Zusammenlebens zu begreifen, die vor allem in den 1970er und 1980er Jahren einflussreich waren (s. u.). In der empirischen Jugendforschung wurde Mitte der 1980er Jahre eine zunehmende Verbreitung von Cliquen konstatiert: Klaus Allerbeck und Wendy Hoag zeigen auf, dass 1962 erst ca. 16%, 1983 dann aber über 50% der befragten Jugendlichen sich als Mitglied einer cliquenartigen Gruppierung bezeichneten (vgl. Allerbeck/Hoag 1985, 38); nach den Daten der 15. Shell-Jugendstudie trifft dies gegenwärtig auf 76% aller 15-21-Jährigen zu (vgl. Hurrelmann/Albert 2006, 83). Darauf bezogen wurde die These formuliert, dass hierin eine Reaktion auf Bedingungen zu sehen sei, in denen Familie und Schule als Sozialisationsinstanzen Jugendlichen keine plausiblen Interpretationsangebote für ihre durch Unsicherheiten geprägte gesellschaftliche Situation vermitteln. Die Funktion heutiger Jugendcliquen sei deshalb darin zu sehen, dass es in ihnen um „eine prinzipiell offene und entsprechend verunsicherte Orientierungssuche nach Wegen und Möglichkeiten gelingender Lebensbewältigung“ (Krafeld 1992, 38) gehe.2 Damit sind zunächst knapp einige Perspektiven der wissenschaftlichen und pädagogischen Diskurse über Jugendcliquen skizziert. Im Weiteren werden zunächst – auf der Grundlage der einschlägigen soziologischen und sozialpsychologischen Kleingruppenforschung3 – Grundmerkmale von Cliquen/informellen Gruppen dargestellt. Auf dieser Grundlage werden dann Überlegungen dazu entwickelt, welche Sozialisations- und Bildungspotentiale darin angelegt sind. 2 Auf die damit angesprochene Diskussion zum Strukturwandel bzw. zur Entstrukturierung der Jugendphase und zur Individualisierung von Jugendbiographien kann hier nicht eingegangen werden (s. Münchmeier 1998; Scherr 1994; Hitzler 2000). 3 Ein guten Überblick über die ältere Gruppenforschung gibt Theodor M. Mills (1969); ein instruktiver, systemtheoretisch angelegter Grundlagentext zu Strukturmerkmalen von Gruppen liegt bei Friedhelm Neidhardt (1999) vor. Ergebnisse der empirischen sozialpsychologischen Gruppenforschung werden bei Elliot Aronson et al. (2004, 318f.) dargstellt.
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Abschließend wird auf einen Perspektivenwechsel hingewiesen, der sich gegenwärtig in der empirischen Forschung über Jugendcliquen abzeichnet.
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Grundmerkmale von Cliquen/informellen Gruppen
Kleingruppen können als eine eigenständige Form der Vergemeinschaftung verstanden werden. Sie stellen – wie Interaktionen, Familien, Netzwerke, Organisationen und Teil-/Funktionssysteme – einen grundlegenden Typus sozialer Strukturbildung dar, der durch spezifische Festlegungen von Interaktions- und Kommunikationsmöglichkeiten und folglich auch durch bestimmte „latente Sinnstrukturen“ (vgl. Oevermann 1986) charakterisiert ist, d.h. durch für Sozialisations- und Bildungsprozesse bedeutsame Erfahrungsmöglichkeiten und zumutungen. Im Sinne einer formalen Definition (vgl. Neidhardt 1999) können Cliquen/informelle Gruppen erstens als auf direkten und relativ dauerhaften Beziehungen zwischen Personen beruhende Kommunikations- und Interaktionsnetzwerke charakterisiert werden. D.h.: Als soziale Gebilde mit begrenzter Mitgliederzahl, für die – anders als in formellen Gruppen und Organisationen – auf eine formelle Zugehörigkeits- und Mitgliedschaftsregulierung ebenso verzichtet wird wie auf eine explizite Rollendifferenzierung und in der Regel auch auf explizite und starre Hierarchien. Für Cliquen/informelle Gruppen ist zweitens die wiederkehrende Herstellung von Anwesenheit bzw. Kommunikation bedeutsam; auf dieser Grundlage entwickeln sich mehr oder weniger rigide Vorstellungen darüber, wer als dazugehörig gilt und ein mehr oder weniger starkes Zusammengehörigkeitsgefühl. Hieraus gewinnen sie mit der „Fähigkeit zur Latenz“ (Neidhardt 1999, 51): die Clique/informelle Gruppe existiert in den Zeiten weiter, in denen keine Kommunikation zwischen den Zugehörigen stattfindet. Konstitutiv für Cliquen/informelle Gruppen sind drittens eine auf Unbestimmtheit der Themen und eine auf begrenztem Vertrauensvorschuss basierende Kommunikation, die prinzipielle Adressierbarkeit der Mitglieder und damit verbundene Reziprozitätserwartungen (vgl. Holzer 2006, 9ff.). Damit sind knapp einige Merkmale angedeutet, die Cliquen/informelle Gruppen als einen besonderen Typus sozialer Systembildung bzw. sozialer Figurationen kennzeichnen. Einige der angesprochenen Aspekte sollen zunächst etwas näher erläutert werden:
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Unbestimmheit der Themen: In Cliquen kann – im Unterschied zu Organisationen4 – prinzipiell über alles geredet werden. Sie stellen Individuen also die Möglichkeit zur Verfügung, für alle Anliegen und Interessen Kommunikationspartner zu finden. Anders als in sog. Intimbeziehungen, also Liebes- und Familienbeziehungen (vgl. dazu Fuchs 2003), ist es aber legitim, bestimmte Themen auszuklammern, die Intimbeziehungen vorbehalten bleiben können; anders als in Organisationen ist die Kommunikation nicht thematisch spezialisiert. Adressierbarkeit und Unmittelbarkeit: Die Kommunikationsstruktur von Cliquen/informellen Gruppen ist dadurch gekennzeichnet, dass die Beteiligten voneinander erwarten können, dass sie wechselseitig für Kommunikation und Interaktionen zur Verfügung stehen. Weniger technisch formuliert: Die Mitglieder signalisieren ein gegenseitiges Interesse an Begegnungen, Gesprächen usw. Die Abgrenzung einer Clique/informellen Gruppe nach außen geschieht entsprechend dadurch, dass zwischen denjenigen unterschieden wird, mit denen man gerne redet und auf irgendeine Weise Zeit verbringt und denen, für die dies nicht zutrifft. Vertrauensvorschuss: Soziale Beziehungen, die nicht durch sanktionierbare Verpflichtungen abgesichert sind, setzen einen wechselseitigen Vertrauensvorschuss voraus: Man muss erwarten können, dass die eigenen Erwartungen an den/die anderen nicht regelmäßig enttäuscht werden sowie dass die Bereitschaft zu relativ offener Kommunikation nicht missbraucht wird. Prekäre Hierarchien: In sozialen Zusammenhängen, die man ohne Sanktionen verlassen kann, sind Hierarchien in besonderer Weise legitimationsbedürftig: „Ist der Wechsel von Mitgliedern in eine attraktive Fremdgruppe leicht realisierbar, dann ergibt sich in der Eigengruppe ein hoher Konsensusbedarf und im Hinblick auf Führerschaft ein hoher Legitimationsbedarf“ (Neidhardt 1999, 138). Folglich bilden Cliquen/informelle Gruppen starke und stabile Hierarchien in der Regel nur dann aus, wenn in Situationen der Konkurrenz und/oder Gegnerschaft zu anderen Gruppen ein hoher Handlungs- und Entscheidungsdruck entsteht.
Aus diesen Merkmalen lässt sich folgern, dass Cliquen/informelle Gruppen eine begrenzte Größe und relative Dauerhaftigkeit der Zugehörigkeit aufweisen, 4
Zwar wird bekanntlich auch in Organisationen über alles Mögliche geredet, das aber in zeitlichen und sozialen Rahmungen, die von der offiziellen innerorganisatorischen Kommunikation unterschieden sind, also etwa in Pausen.
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denn vertrauensgestützte Beziehungen erfordern ein Mindestmaß an Kommunikationsdichte, nehmen also Zeit in Anspruch und das Zusammengehörigkeitsgefühl beruht auf Nicht-Anonymität der Beteiligten. Aus den Netzwerkeigenschaften von Cliquen/informellen Gruppen folgt zudem, dass Zugänge sich dadurch erschließen, dass man jemanden kennen lernt, der bereits dazugehört und als ‚Türöffner’ fungiert.5 Entsprechend kommen Abgrenzungs- und Ausschlussprozesse sowie Auflösungsprozesse dann zustande, wenn persönliche Asympathien dazu führen, dass Cliquen/informelle Gruppen die Eigenschaft verlieren, „nette Netzwerke“ (Holzer 2006, 9) zu sein. Angesprochen ist damit die Bedeutung von Emotionen in bzw. für Cliquen/informelle Gruppen: Ihre Kommunikations- und Interaktionspraxis ist gewöhnlich, wie Ralf Bohnsack et al. (1995) gezeigt haben, nicht primär „sach-, zweck- oder produktionsorientiert“ (ebd., 18), sondern durch das selbstzweckhafte Erleben einer gemeinsamen Praxis gekennzeichnet, in der soziale Nähe und Übereinstimmung des Erlebens erfahren werden kann. Der Zusammenhalt von Cliquen/informellen Gruppen basiert so betrachtet auf gefühlter Ähnlichkeit und emotionaler Sympathie, die sich dann und in dem Maß herstellen, wie eine grundlegende Übereinstimmung des emotionalen Erlebens sowie der kognitiven und evaluativen Orientierungen erfahren werden kann. Stellt man die Frage nach der sozialen Funktion, also danach, was das Problem ist, wenn Cliquen/informelle Gruppen die Lösung sind, dann bieten sich vor diesem Hintergrund in einer sozialphänomenologischen und jugendsoziologischen Perspektive zunächst folgende Antworten an:
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Cliquen/informelle Gruppen ermöglichen eine Verständigung über Bedeutung und Sinn relevanter Erfahrungen unter Gleichaltrigen und damit eine Vergewisserung darüber, dass andere die Wirklichkeit ebenso erleben und bewältigen wie man selbst. Cliquen/informelle Gruppen tragen damit zum Aufbau bzw. zur Stabilisierung einer „natürlichen Einstellung“ in der „alltäglichen Lebenswelt“ (Schütz 1979, 25) bei, die als der „fraglose Rahmen“ (ebd., 25) fungiert, welcher es erlaubt, die Wirklichkeit als eine geordnete und durch eigenes Handeln bewältigbare zu erfahren. In Anschluss an Karl Mannheim (1928/1972) kennzeichnen Ralf Bohnsack (Bohnsack et al. 1995, 8f.) Cliquen/informelle Gruppen entsprechend als „konjunktive Erfahrungsräume“. Damit wird akzentuiert, dass kollektive, sozial geteilte Perspektiven nicht schlicht Folge objektiv ähnlicher Erfahrungen sind,
Darauf, dass jeweilige Gruppen auch informelle Normen entwickeln, auf deren Grundlage über Akzeptanz und Nicht-Akzeptanz als Gruppenmitglied entschieden wird, weist Mills (1969, 108) anschaulich hin.
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sondern eines Gruppenprozesses, in dem übereinstimmende Sichtweisen entwickelt werden, in dem Ereignisse bzw. Erlebnisse erst zur immer-schon-interpretierten Erfahrung werden. In solchen Prozessen wird die „Landkarte der Bedeutungen“ entworfen bzw. angeeignet, auf deren „Gruppen das Rohmaterial ihrer sozialen und materiellen Existenz bearbeiten“ (Clarke et al. 1981, 40).6 Cliquen/informelle Gruppen sind kein exklusiv jugendspezifisches Phänomen, sondern auch unter Erwachsenen eine gängige Form der Vergemeinschaftung. Eine gleichwohl jugendtypische Funktion wird darin gesehen, dass Cliquen/informelle Gruppen den sozialen und psychischen Ablösungsprozess von der Familie dadurch unterstützen, dass sie Elemente einer familienähnlichen Sozial-, Interaktions- und Kommunikationsordnung anbieten (leistungsunabhängige Zugehörigkeit, thematisch unspezialisierte Kommunikation, emotionale Nähe), und damit eine soziale Stützung im Übergang zu einer von der Herkunftsfamilie unabhänigen Lebensführung (vgl. Eisenstadt 1956/1966). Entsprechend wird für Cliquen/informelle Gruppen auch angenommen, dass sie wichtige soziale Orte für die Bearbeitung der klassischen als jugendtypisch geltenden Entwicklungsaufgabe „Identitätsfindung“ sind (vgl. dazu Fend 2000, 205ff.).
Die Geschlechterforschung (vgl. insbesondere Meuser 2004; Rose/Schulz 2007) hat darauf hingewiesen, dass Cliquen/informelle Gruppen auch soziale Kontexte sind, in denen eine Einübung in männliche und weibliche Handlungsmuster und die Verfestigung einer geschlechtsbezogenen Subjektivität bzw. eines männlichen und weiblichen Habitus erfolgt. Dies geschieht nicht zuletzt durch Formen der wechselseitigen Festlegung auf akzeptierte Handlungs- und Kommunikationsstile in geschlechtshomogenen Gruppen, die Inszenierung von geschlechtstypischen Praktiken in Gruppen sowie gemeinsame Abwertung von als „unmännlich“ bzw. „unweiblich“ geltenden Praktiken, Körperinszenierungen unter Gleichaltrigen. Cliquen/informelle Gruppen stellen Möglichkeiten des sozialen Kontakts, Kommunikations- und Interaktionsgelegenheiten zur Verfügung. Sie erleichtern es damit, Beziehungen zu „significant others“ (G. H. Mead), soziale Nähe und Strukturen sozialer Anerkennung herzustellen, also dichte soziale Bindungen, die für die Bestätigung des Selbstbildes und des Selbstwertgefühls hoch bedeutsam sind. Entsprechend können Gleichaltrigengruppen als Arenen 6
Das „Rohmaterial der sozialen Existenz“ und darin enthaltene Erfahrungsmöglichkeiten und Erfahrungszumutungen sind gesellschaftlich nicht gleichverteilt, sondern weisen klassen-, schichtund mileuspezifische Ausprägungen auf. Folglich ist es hoch wahrscheinlich, dass Cliquen sich hinsichtlich ihrer Positionen im Gefüge sozialer Ungleichheiten unterscheiden.
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betrachtet werden, in denen von Jugendlichen „Chancen der Anerkennung […] ausgetestet“ werden (Eckert/Reis/Wetzstein 2000, 15). Cliquen/informelle Gruppen sind auch für den Aufbau von Freundschafts- und Liebesbeziehungen schon deshalb relevant, weil sie schlicht Gelegenheiten bieten, andere näher kennen zu lernen.
In Zusammenhang damit ist auf einen weiteren, theoretisch trivialen, aber lebenspraktisch keineswegs unbedeutsamen Aspekt hinzuweisen: Es ist offenkundig gewöhnlich erträglicher, die durch schulische oder berufliche Verpflichtungen nicht belegte Zeit gemeinsam mit Anderen durch ‚Nichtstun’ (z.B. eigentlich belangloses Reden, „Rumhängen“, Musikhören usw.) zu vertreiben, als alleine (vgl. Corrigan 1981).7
Einzugehen ist noch auf zwei weitere Aspekte, die für eine sozialisations- und bildungstheoretische Betrachtung von Cliquen/informellen Gruppen spezifisch bedeutsam sind:
In der sozialpsychologischen und soziologischen Forschung werden Gruppen wiederkehrend im Zusammenhang mit der Thematik ‚Vorurteile und Diskriminierung' in den Blick genommen. Dabei wird akzentuiert, insbesondere in den Studien von Henri Tajfel (vgl. Aronson/Wilson/Akert 2004, 480ff.), dass Gruppenidentifikationen mit dem Interesse an Bestätigung des eigenen Selbstbildes und Stützung des eigenen Selbstwertgefühls verschränkt sind – und in der Folge hiervon mit der Tendenz, die eigene Gruppe im Verhältnis zu Vergleichsgruppen aufzuwerten, indem diesen und ihren Mitglieder negative Eigenschaften zugeschrieben werden. Entsprechend werden Vorurteile definitorisch als in sozialen Gruppen verankerte und auf soziale Gruppen bezogene negative Stereotype bestimmt.8 Cliquen/informelle Gruppen sind folglich auch als eine soziale Grundlage eines Denkens in Gruppenkategorien sowie in Hinblick auf den Konformitätsdruck zu thematisieren, der mit einer solchen Zugehörigkeit bzw. der Angst vor dem Verlust der Zugehörigkeit und Anerkennung einhergehen kann.
7 Die „Kultur des Nichtstuns“ kennzeichnet Corrigan (1981, 176) als „die größte Jugend-Subkultur“ – jedenfalls bis zur vollständigen Funktionalisierung des Alltagslebens von Heranwachsenden für Qualifikationszwecke – keineswegs unplausibler Gedanke. 8 Darauf, dass diese vielfach von gesellschaftlich einflussreichen Ideologien überformt, also gewöhnlich keine Erfindung realer Gruppen sind, kann hier nicht näher eingegangen werden.
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Cliquen/informelle Gruppen sind weder auf strikte Hierarchien, noch auf egalitäre Netzwerkstrukturen festgelegt. Die Abwesenheit expliziter und formeller Hierarchien bedeutet folglich nicht, dass Machthierarchien sowie Hierarchien der Wertschätzung inexistent wären; sie sind vielfach nur verdeckt und werden im idealisierenden Selbstbild von Cliquen/informellen Gruppen gelegentlich bestritten. Hans Oswald (2008, 323) fasst diesbezügliche Ergebnisse empirischer Studien wie folgt zusammen: „Innerhalb von Cliquen kommt es zu Differenzierung nach Beliebtheit und Ansehen, aber meist fehlt eine klare Anführerschaft. […] Wohl aber gibt es Meinungsführer, die, z.B. durch Klatsch und Lächerlichmachen, einen beträchtlichen Einfluss ausüben“. Zudem hat die Gruppenforschung darauf hingewiesen, dass Gruppen mit hoher Wahrscheinlichkeit die Position des internen Außenseiters hervorbringen, der das Selbstbild der Gruppe als negativ abweichender Fall, über den kommuniziert wird, bestärkt.
Cliquen/informelle Gruppen sind zudem keine „gesellschaftsexternen Gebilde“. Die Durchdringung ihrer internen Strukturen und Prozesse durch gesellschaftliche Bedingungen und Vorgaben gerät in pädagogischen und sozialpsychologischen Thematisierungen jedoch immer wieder aus dem Blick. Demgegenüber ist darauf hinzuweisen, dass die Selbst- und Fremdwahrnehmung von Cliquen/Gruppen gesellschaftlich situiert ist, also auf die Positionierung der Gruppe und ihrer Mitglieder in der sozioökonomischen Ungleichheitsordnung und in Prestigehierarchien bezogen ist sowie in einem Zusammenhang mit gesellschaftlich einflussreichen Deutungsmustern und Ideologien steht (vgl. dazu etwa Albrecht et al. 2007; Scherr/Schäuble 2008). Auch die typischen Erfahrungen der Mitglieder und deren Verfügung über Wissen, kommunikative Kompetenzen und Geld sowie ihr Zugang zu externen sozialen Beziehungen stehen in Zusammenhang mit Klassenlagen und Milieuverortungen. Gruppenprozesse, und damit auch Bildungs- und Sozialisationsprozesse in Cliquen/informellen Gruppen sind folglich nicht sinnvoll jenseits einer gesellschaftstheoretischen, insbesondere einer ungleichheitstheoretischen sowie kultur- und diskurstheoretischen Fundierung zu erforschen. Z.B. sind wechselseitige Stereotype, Abgrenzungen und Feindseligkeiten zwischen Gymansiastencliquen und Hauptschülercliquen nicht unabhängig von den Strukturen des Bildungssystems sowie dessen Verkoppelung mit der sozioökonomischen Ungleichheitsstruktur und der gesellschaftlich-kulturellen Wertschätzungshierarchie zwischen den formal höher Gebildeten und sog. bildungsfernen Gruppen verständlich.
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Sozialisations- und Bildungspotentiale in Cliquen/informelle Gruppen
Aus den genannten Strukturmerkmalen lässt sich zunächst folgern, dass Cliquen/informelle Gruppen in dem Maß eine für die Sozialisation und für die Bildungsprozesse von Jugendlichen (und auch von Erwachsenen) zentrale Instanz sind, wie sie einen sozialen Kontext darstellen, in dem Individuen ihr Selbst- und Weltverständnis in Abstimmungs- und Aushandlungsprozessen mit dem für sie emotional und sozial bedeutsamen Anderen entwickeln und stabilisieren bzw. modifizieren. Das Hineinwachsen in eine Clique/informelle Gruppe geht entsprechend vielfach mit einer „Affinisierung“ zu den Stilmerkmalen, Normen, Werten bzw. Ideologien einher, die für diese – und ggf. jugendkulturelle und/oder politische Milieus, in denen sich Cliquen/informelle Gruppen verorten – charakteristisch sind (vgl. Möller/Schumacher 2007, 126ff.). Ein sozialisations- und bildungstheoretisch hoch relevantes Merkmal ist weiterhin darin zu sehen, dass die Kommunikation und Interaktion in Cliquen/informellen Gruppen der Möglichkeit nach für alle Aspekte der Persönlichkeitsentwicklung relevant ist – z.B. für die Herausbildung einer schulkonformen oder schuloppositionellen Orientierung (vgl. Willis 1979, für die Aneignung einer ethnozentrischen oder multikulturellen sozialen Identität (vgl. Dannenbeck/Esser/Lösch 1999; Riegel 2004), für die Formierung eines geschlechtsbezogenen Habitus (vgl. Meuser 2004) und nicht zuletzt auch für die Formierung politischer Überzeugungen. Folglich können Cliquen/informelle Gruppen als „kleine soziale Lebenswelten“ Gleichaltriger charakterisiert werden, in denen Sozialisations- und Bildungsprozesse quasi in Eigenregie, d.h. in mehr oder weniger bewusster Distanz zu pädagogischer Einflussnahme stattfinden. Sie stellen so betrachtet einen sozialen Kontext dar, in dem sich Jugend als ein eigenständiger sozialer Erfahrungszusammenhang konstituiert, „als der soziale Ort jugendspezifischer Erfahrungsbildung und -artikulation par exellence“ (Bohnsack et al. 1995, 9). Dass Cliquen/informellen Gruppen ein starker Einfluss auf Sozialisationsund Bildungsprozesse Jugendlicher zukommt, ist zum einen darauf zurückzuführen, dass es plausibel scheint, den Wahrnehmungen, Deutungen und Bewertungen Gleichaltriger, die sich in einer ähnlichen biografischen und generativen Situation befinden, eine höhere Bedeutung zuzumessen, als den Perspektiven, die Erwachsene aus ihrer biografisch und generativ differenten Position heraus nahe legen. Darauf hat u.a. Alfred Schütz hingewiesen: „Unsere älteren Zeitgenossen erinnern sich noch gut an Leute, in deren Welt es keine Flugzeuge, kein Radio gab. Auch während wir noch zusammen am Leben sind und während uns vieles, wenn schon nicht gemeinsam, dann doch in gleichartigen und gleichzeitigen oder fast gleichzeitigen unmittelbaren Erfahrungen zugänglich ist, enthält die Welt der Älteren Bereiche, die meiner unmit-
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telbaren Erfahrung grundsätzlich verschlossen ist. […] Was für mich mehr oder minder anonyme Wissenselemente sind, ist für ihn Lebenserfahrung“ (Schütz 1979 160). „Ältere und ich begegnen zwar den gleichen Situationen, aber die Älteren haben die Situation schon mehrfach bewältigt, während mich so manche Lage ‚zum ersten Mal’ überfällt“ (ebd.).
Die gleichsinnige generative Positionierung verbindet sich in Cliquen/informellen Gruppen zum anderen mit mehr oder weniger starken emotionalen Bindungen in den jeweiligen Cliquen/Gruppen. Der emotionale Rückhalt in Cliquen/Gruppen verschafft Jugendlichen die Möglichkeit, Distanz zu institutionellen Einflussnahmen und autoritätsbezogenen Bindungen an Erwachsene herzustellen. Hierin ist in einer sozialisations- und bildungstheoretischen Perspektive ein durchaus ambivalentes Phänomen zu sehen: Cliquen/informelle Gruppen als eigenständige Sozialisations- und Bildungsinstanzen ermöglichen Autonomie Jugendlicher im Verhältnis zu Familien und pädagogischen Institutionen; sie stellen insofern – ebenso wie Freundschafts- und Liebesbeziehungen – eine förderliche Bedingung dafür dar, dass jugendkulturelle Autonomiebestrebungen und Individuierungsprozesse in Gang kommen können. Der Möglichkeiten nach werden aber emotionale Abhängigkeiten nur verlagert und es erfolgen Anpassungsprozesse an gruppentypische Denkstile, Morale und Handlungsmuster. Sozialisationsprozesse in Cliquen/Gleichaltrigengruppen münden folglich keineswegs zwangsläufig in Bildungsprozesse zum selbstbestimmungsfähigen Subjekt. In Teilen der Peer-Group-Forschung wird entsprechend der starke Einfluss der Gleichaltrigengruppen im Sinne einer Einschränkung der individuellen Autonomie betont. Entsprechend gilt es als „eines der stabilsten Ergebnisse in der kriminologischen Forschung zur Jugenddelinquenz, dass ein delinquenter Freundeskreis ein stabiler Prädikator für die individuelle Delinquenzbelastung Jugendlicher aus diesem Freundeskreis“ ist (Othold 2003, 234). In der Folge wird argumentiert, dass – so insbesondere die Forschung über rechtsextreme Szenen sowie über Jugendkriminalität – grundlegende Wandlungsprozesse eigener Orientierungen Abgrenzungs- und Ausstiegsprozesse im Verhältnis zu den sozialen Zusammenhängen voraussetzen, in denen Individuen sich wechselseitig auf bestimmte Sichtweisen, Überzeugungen, ästhetische Stile usw. festlegen. Aus dem weitreichenden Einfluss informeller Gleichaltrigengruppen wird in einigen Konzepten der Kriminalprävention, die auf Rückfallvermeidung zielen, die Folgerung gezogen, dass gruppenpädagogische Konzepte kontraproduktiv sind und die Herauslösung der Klientel aus devianten Gleichaltrigengruppen der zentrale Ansatzpunkt ist (vgl. Schumann 2001). Eine hierzu diametral entgegengesetzte Sichtweise wird in Konzepten entwickelt, die in Cliquen/informellen Gruppen gerade die Chance für kollektive
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Lernprozesse angelegt sehen, in denen eine kritische Auseinandersetzung mit gesellschaftlich vorherrschenden Werten, Normen und politischen Überzeugungen und das experimentelle Erproben emanzipatorischer bzw. alternativer Formen des Zusammenlebens erfolgt. Ihren sozialhistorischen Ursprung hat diese in der Programmatik der bürgerlichen Jugendbewegung des frühen 20. Jhdts., deren Anspruch auf eine Selbsterziehung Jugendlicher in Gleichaltrigengruppen in bewusster Distanz zur „Welt der Erwachsenen“ gerichtet war (vgl. Giesecke 1971, 25ff.). Dass eine solche Programmatik durchaus auch einen realitätshaltigen Kern hatte, wird nicht zuletzt in sozialhistorischen Studien über unorganisierte Formen des Jugendwiderstands im Nationalsozialismus deutlich (vgl. etwa Breyvogel 1991). Zu erheblichem Einfluss gelangte eine Beanspruchung informeller Gruppen als Ermöglichung kritisch-emanzipatorischen Lernens im Zusammenhang der Studentenbewegung und dann der sog. Neuen Sozialen Bewegungen seit dem Ende der 1960er Jahre. Der einschlägige Titel einer damals weit verbreiteten Veröffentlichung9 des prominenten Psychoanalytikers Horst-Eberhard Richter (1972) lautete: „Die Gruppe. Hoffnung auf einen neuen Weg, sich selbst und andere zu befreien.“ Im Zentrum stehen dabei Versuche, die Auseinandersetzung mit genuin politschen Themen einerseits mit Selbstreflexion und andererseits mit der Einübung in herrschaftsarme Kommunikationsformen zu verbinden. Eine diesbezüglich kritische Perspektive nimmt eine zeitgenössische Veröffentlichung (vgl. Horn 1972) ein, die in Selbstinszenierung gruppendynamischer Initiativen als gesellschaftlich relevante „Demokratisierungshilfe“ sowie die Stilisierung der „Subjekte […] zu Gruppenwesen“ (ebd., 19) hinterfragt. Die wissenschaftliche Diskussion über eine solche explizite politische Beanspruchung von Gruppen hat seitdem meiner Kenntnis nach keine theoretische Fortsetzung gefunden, obwohl die Idee ‚autonomer’ politischer Vergemeinschaftung sowohl Alternativbewegungen der frühen 1980er Jahre als auch in den gegenwärtigen autonomen Jugendszenen einflussreich war bzw. ist. Eine ausdrückliche Beanspruchung Gleichaltrigengruppen als Orte politischer Bildung und emanzipatorischer Lernprozesse findet sich seit Mitte der 1980er Jahre in der Bundesrepublik vor allem im Kontext der Jugendverbandsarbeit und in Teilen der Offenen Jugendarbeit. Eine neuere empirische Studie legt für die verbandliche Jugendarbeit jedoch die Einschätzung nahe, dass dort vor allem Bedürfnisse nach Geselligkeit im Zentrum stehen (vgl. Fauser/Fischer/Münchmeier 2006). Aktuelle Studien zur Offenen Jugendarbeit, auf die im Weiteren noch zurückzukommen sein wird, akzentuieren dagegen, dass 9 Zwischen 1972 und 1974 waren 4 Auflagen mit zusammen 100.000 Exemplaren erschienen, 1974 dann die mir vorliegende fünfte.
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auch in Jugendzentrumscliquen durchaus bedeutsame Selbstbildungsprozesse beschrieben werden können (s.u.). Analysen von Cliquen/informellen Gruppen marginalisierter Jugendlicher weisen auf anders gelagerte Dimensionen ihrer Bedeutung hin: Klassisch beschreiben Norbert Elias und John L. Scotson (1990) sie als „Überlebensbündnisse“, in denen Jugendliche Erfahrungen von Benachteiligung, Ausgrenzung und Zukunftsunsicherheit bearbeiten (vgl. auch Dubet/Lapeyronnie 1994). „Ihrer selbst unsicher und gewohnt, von den Exponenten der Staatsmacht und der ordentlichen Welt, aus der sie ausgesperrt waren, mit Verachtung und Argwohn behandelt zu werden, suchten sie Hilfe und Rückhalt in Freundschaftsbündnissen, die sie untereinander schlossen; als Gruppe konnten sie leichter einer Phalanx von feindseligen und argwöhnischen Menschen gegenübertreten, für die sie ihrerseits Feindseligkeit und Argwohn empfanden“ (ebd., 202).
Der soziale Sinn von Verhaltensweisen, die in einer Außenperspektive als ärgerlich, unangepasst oder provokativ erscheinen, wird hier als Bemühen verständlich, mit den eigenen Problemlagen wahr- und ernst genommen zu werden. In vergleichbarer Weise interpretiert Kevin McDonald die Cliquenpraktiken marginalisierter Jugendlicher als „struggle for subjectivity“ (1999), als Bemühen, sich unter den auferlegten Bedingungen als handlungsfähiges Subjekt erleben zu können. Vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen kann zusammenfassend formuliert werden, dass Cliquen/informelle Gruppen durch ein bedeutsames, aber in sich komplexes und heterogenes Potential möglicher bzw. wahrscheinlicher Sozialisations- und Bildungsprozesse gekennzeichnet sind, das sich kaum sinnvoll zu einer vereinheitlichenden Charakterisierung vermeintlich cliquen-/ gruppentypischer Sozialisations- und Bildungsprozesse zusammenfassen lässt. Bildungs- und sozialisationstheoretische Analysen stehen vielmehr vor der – beim gegenwärtigen Stand der Theoriebildung und Forschung nur begrenzt lösbaren Aufgabe10 – zu bestimmen, welche Bildungs- und Sozialisationsprozesse in Abhängigkeit von welchen spezifischen Merkmalen von Cliquen/informellen Gruppen ermöglicht bzw. verunmöglicht werden. Im Sinne einer vorläufigen Heuristik (vgl. Kersten 1998, 122) kann diesbezüglich m.E. davon ausgegangen werden, dass folgende Aspekte auf sozialisations- und bildungsrelevante Unterschiede hinweisen:
10 Gruppen sind seit einiger Zeit – zumindest in der Soziologie – kaum mehr Gegenstand von Theorieentwicklung und theoretisch fundierter Forschung. Auch in der einflussreichen Systemtheorie Luhmann'scher Prägung kommt dem Gruppenbegriff kein eigenständiger Stellwert zu; die Überlegungen von Neidhardt (1999) stellen diesbezüglich eine Ausnahme dar.
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sozioökonomische Position der Mitglieder, Situierung im Bildungsund Ausbildungssystem bzw. auf dem Arbeitsmarkt (etwa: Gymnasiastencliquen, Hauptschülercliquen, stadtteilbezogene Cliquen marginalisierter Jugendlicher); Selbstdefinition und thematischer Fokus (etwa: Freizeitcliquen, Cliquen im Kontext politisierter Jugendszenen, jugendkulturelle Cliquen); Grad der Involviertheit und thematische Reichweite (Kommunikationsdichte und zeitliche Ausdehnung der Cliquenkommunikation; Einbezug oder Ausklammerung gravierender persönlicher Anliegen, politischer und moralischer Grundfragen aus der Kommunikation); geschlechtsbezogene Orientierung und Zusammensetzung (maskuline, feminine und egalitäre Cliquen); hierarchische vs. eher egalitäre Binnenstrukturen; Ausmaß und Form der Identifikation/Abgrenzung zu gesellschaftlichen Institutionen sowie den Werten und Normen der dominanten Kultur; Sichtbarkeit vs. Unsichtbarkeit, d.h. der Grad der öffentlichen Selbstinszenierung bzw. des Rückzugs aus öffentlichen Räumen.
Von der Kontroll- zur Bildungsperspektive: Prozesse „ungewöhnlichen Lernens“
Jugendcliquen wurden und werden immer wieder vor allem als Sozialisationsorte abweichenden Verhaltens thematisiert. So formulieren zuletzt etwa HeinzHerrmann Krüger und Cathleen Grunert (2008, 385): „So haben Peergroups eine besondere Bedeutung für die Entwicklung gewaltaffiner Orientierungen und Verhaltensweisen … und es ist keine neue Erkenntnis, dass sich in der gemeinsamen Bearbeitung jugendspezifischer Erfahrungen auch explizit lernfeindliche Haltungen […] entwickeln können.“ Darauf, dass es sich bei solchen Sichtweisen um den Effekt eines ökologischen Fehlschlusses handeln kann, hat u.a. Hans Oswald (2008, 325) hingewiesen: Abweichende Handlungen Jugendlicher geschehen zu einem Großteil im Kontext von Cliquen/informellen Gruppen. Die Unterstellung, dass es sich bei abweichendem Verhalten deshalb auch um eine Folge von „Sozialisationseffekten durch Peers“ oder gar von „Ansteckung“ handelt, ist gleichwohl nicht plausibel. Denn gewöhnlich handelt es sich bei Cliquen/informellen Gruppen um Zusammenschlüsse, die ihren Focus in unspektakulären und unproblematischen Formen der Freizeitgestaltung haben.
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Selbst- und fremdschädigende Gruppenstile, die öffentlich sichtbar sind und folglich die Aufmerksamkeit von Pädagogik, Polizei und Medien auf sich ziehen, entstehen dagegen in der Regel nur unter abgebbaren externen Bedingungen (vgl.. dazu etwa Kersten 1998; Othold 2003; Scherr 2009): Sie sind zum einen dann relativ wahrscheinlich, wenn männlich dominierte Cliquen mit Erfahrungen von Randständigkeit sowie beruflicher Perspektivlosigkeit konfrontiert sind, ihre Mitglieder überwiegend aus sozioökonomisch benachteiligten Familien stammen sowie wenn ihre Biografien typischerweise eigene Gewaltund/oder Vernachlässigungserfahrungen aufweisen. Aber auch unter diesen Bedingungen ist weitgehend unauffällige Anpassung in Verbindung mit der Vorstellung, dass nur die Clique der Freunde einen halbwegs verlässlichen Rückhalt unter den Bedingungen der Unsicherheit bietet, die häufigere Reaktion. Davon zu unterscheiden sind zum anderen solche Cliquen, die ihr Selbstverständnis aus der Anbindung an solche politische Milieus beziehen, in denen Ideologien verbreitet sind, durch die Gewalt gegen vermeintliche Feinde als notwendige Gegenwehr dargestellt wird, was mit einem expliziten oder impliziten Mandat vor allem an junge Männer einhergeht, die Eigengruppe vor einer imaginierten Bedrohung zu schützen. Gegenüber einer zentral an den Entstehungsbedingungen abweichenden Verhaltens interessierten Jugendcliquenforschung wurden im Kontext der neueren Bildungsdiskussion inzwischen theoretische und empirische Studien vorgelegt, die eine gänzlich andere Akzentuierung vornehmen:11 Cliquen/informelle Gruppen werden dort als Orte eines gesellschaftlich erwünschten „informellen Lernens“ in den Blick genommen, welches das formal organisierte Lernen in Schulen, Betrieben und Hochschulen erweitert und ergänzt (vgl. Overwien 2008). Dabei wird davon ausgegangen, dass sich in Cliquen/informellen Gruppen Lern- und Bildungsprozesse vollziehen, die für die alltägliche Lebensbewältigung (vgl. Mack 2008) sowie die Subjekt- und Identitätsbildung (vgl. Scherr 2008) potentiell bedeutsame sowie durch formelles Lernen auch nicht substituierbare Prozesse ermöglicht werden (vgl. dazu auch Lindner 2007; Müller/Schmidt/Schulz 2005; Schröder 2005). Aufgezeigt wurde u.a., dass sich konflikthafte Aushandlungsprozesse unter Gleichaltrigen zu einer solchen Aneignung von Normen führen, deren Grundlage gerade nicht die machtgestützte Regelsetzung und die Anerkennung pädagogischer Autorität ist, sondern die Auseinandersetzung mit Erfahrungen der Regelverletzung und ihren Folgen unter Gleichen ist (vgl. Nunner-Winkler 1996). 11 Hintergrund dessen ist nicht zuletzt die politische Vorgabe, dass außerschulische Jugendpädagogik den Nachweis ihrer Berechtigung zentral dadurch erbringen soll, dass sie ihren Beitrag zum Qualifikationsbedarf der sog. Wissensgesellschaft belegt.
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In einer qualitativen Befragung von Jugendzentrumscliquen (vgl. Delmas/Reichert/Scherr 2004) und einer ethnograhischen Studie (vgl. Cloos et al. 2007) wurde deutlich, dass die Jugendlichen selbst Lernprozesse beschreiben, die wesentlich ohne die Anregung durch oder Beteiligung von Pädagogen zu Stande kommen, sondern durch die Notwendigkeit eigenverantwortlicher Konfiktregulierung sowie durch learning-by-doing bei der Vorbereitung von Projekten entstehen, in denen Jugendliche voneinander und miteinander lernen. Hansjörg Sutter (2007, 131) fasst die Ergebnisse seiner Untersuchung zu moralischen Lernprozessen zu der These zusammen, dass „Möglichkeiten demokratischer Partizipation selbst in Kontexten des Strafvollzugs Entwicklungsund Lernchancen eröffnen, die zu einer kognitiv differenzierteren Wahrnehmung moralisch relevanter Konfliktsituationen führen und allgemeine kommunikative Fähigkeiten der Problemlösung und Konfliktbewältigung fördern.“
Die traditionsreiche pädagogische Diskussion über die Notwendigkeit, Jugendlichen Freiräume gegenüber erwachsener Kontrolle und pädagogischer Einflussnahme einzuräumen, kann in Folge solcher Studien auf eine empirische Grundlage gestellt werden.
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Folgerungen
Für eine Fortführung wissenschaftlicher, pädagogischer und jugendpolitischer Diskurse über die Bedeutung von Cliquen/informellen Gruppen als Sozialisations- und Bildungsorte ist es vor dem Hintergrund der dargestellten Überlegungen m.E. von zentraler Bedeutung, in Distanz zu übergeneralisierenden Betrachtungen zu gehen, die aus Beobachtungen, denen eine auf die Kontrolle abweichenden Verhaltens gerichtete Perspektive zu Grunde liegt und die überwiegend Cliquen und Gruppen unterprivilegierter männlicher Jugendlicher in den Blick nehmen, einflusreiche, aber wenig tragfähige Verallgemeinerungen ableiten. Zwar kann auf der Grundlage einer Analyse der Merkmale, die für Cliquen/informelle Gruppen kennzeichnend sind plausibel aufgezeigt werden, dass und warum diese potentiell hoch relevante Bildungs- und Sozialisationsorte für Heranwachsende sind. Welche konkreten sozialisatorischen Auswirkungen Cliquen/informelle Gruppen haben und welche spezifischen Bildungsmöglichkeiten sie eröffnen bzw. verschließen, lässt sich jedoch nur begrenzt aus den Merkmalen folgern, die Cliquen/informelle Gruppen als soziale Gebilde allgemein kennzeichnen. Um diese angemessen beschreiben und erklären zu können, ist es erforderlich, sich im Sinne einer strukturtheoretisch fundierten sozialwissenschaftlichen Jugendforschung (vgl. dazu Scherr 2003) auf eine Untersuchung der Praktiken einzulassen, in denen sich die jeweiligen Cliquen aktiv und eigen-
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sinnig mit ihren gesellschaftlichen Lebensbedingungen und den darin eingelassenen Erfahrungszumutungen sowie den ihnen zugänglichen familialen, medialen und politischen Modellen einer anstrebenswerten Lebensführung auseinandersetzen.
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Forschungsfeld 'Szenen' – zum Gegenstand der DoSE Ronald Hitzler und Arne Niederbacher
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Einleitung
Die oberste 'Direktive' für alle Forscherinnen und Forscher, die sich auf das berufen, was vor einigen Jahren von 'dritter Seite' als Dortmunder Szenen-Ethnografie (DoSE) bezeichnet worden ist, besagt vor allem, dass wir zwar Szenen erkunden und ihren jeweiligen Sinngehalt auch nicht daran beteiligten Menschen vermitteln wollen, dass wir dabei aber dezidiert keinerlei Jugendarbeit oder Jugendhilfe betreiben oder mit und bei unseren Studien ein sonst wie geartetes pädagogisches bzw. sozialpädagogisches Ziel verfolgen. Wenn das, was wir tun, für die Menschen, die in den Szenen leben, einen Nutzen hat, dann allenfalls den, dass wir das, was sie tun, anderen Menschen, die das nicht tun bzw. die nichts damit zu tun haben, ein wenig verständlicher machen. Dabei liegt der Schwerpunkt in theoretischer Hinsicht einerseits auf der Beschreibung und Erklärung von Vergemeinschaftungsprozessen unter Individualisierungsbedingungen, andererseits auf der Schärfung des Begriffes 'Szene' – durchaus auch mit Verallgemeinerungsabsichten.
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Neue Formen der Vergemeinschaftung
Zeitdiagnostisch gesehen gehen wir dabei – im Anschluss vor allem an Peter Berger und Thomas Luckmann, an Hans-Georg Soeffner, an Peter Gross und an Ulrich Beck – davon aus, dass die mannigfaltigen Pluralisierungs- und Individualisierungsprozesse die wir alle – teils sehr intensiv, teils eher beiläufig – erfahren, augenscheinlich zu nachhaltigen Umstrukturierungen der Lebensorientierung in Gesellschaften wie der unseren führen. Das hat nicht zum wenigsten damit zu tun, dass die Vergemeinschaftungsangebote herkömmlicher 'Agenturen' der primären und sekundären Sozialisationen dem – insbesondere bei Jugendlichen – steigenden Bedarf nach sozialer Geborgenheit immer weniger gerecht werden. Infolgedessen entwickeln, verstetigen und vermehren sich neue bzw. neuartige
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Vergemeinschaftungsformen, deren wesentlichstes Kennzeichen darin besteht, dass sie auf der Verführung prinzipiell hochgradig individualitätsbedachter Einzelner zur habituellen, intellektuellen, affektuellen und vor allem zur ästhetischen Gesinnungsgenossenschaft basieren. Solche neuartigen Vergemeinschaftungsformen gehen typischerweise nicht mit den herkömmlichen Verbindlichkeitsansprüchen einher, welche üblicherweise aus (wie auch immer gearteten) Traditionen oder auf ähnliche soziale Lagen resultieren. Ein weiteres wichtiges Unterscheidungsmerkmal dieses neuen Typs von Gemeinschaften gegenüber überkommenen und 'eingelebten' Formen ist augenscheinlich das der Regelung des Eintritts und des Austritts: In die Traditionsgemeinschaft muss man typischerweise entweder hineingeboren sein, oder man muss zumindest mit einem 'existentiell entscheidenden' Schritt in sie eintreten. In die neuartigen Gemeinschaften tritt man hingegen typischerweise freiwillig ein, absichtlich aber ohne viel Aufhebens. Und ebenso einfach, problem- und folgenlos tritt man auch wieder aus ihr aus. Solche, von uns als 'posttraditional' bezeichnete Gemeinschaften können Mitgliedschaft also nicht erzwingen. Sie können lediglich zur Mitgliedschaft verführen. Bestimmte Varianten solch gemeinschafts- bzw. gesinnungsgenossenschaftlicher Sonderwelten, wie sie insbesondere seit den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts gedeihen, werden nun eben als '(Jugend-)Szenen' bezeichnet. Der Begriff 'Szenen' taucht im Zuge der Entwicklung der Jugendforschung vom Subkulturansatz zum Konzept pluralistischer Jugendkulturen seit Mitte der 1990er Jahre fast beiläufig, allerdings immer häufiger, an prominenten Stellen der einschlägigen Literatur auf. Zurückzuführen sein dürfte der 'Import' dieses Begriffes aus der Alltagssprache in die Jugendsoziologie vor allem auf Dieter Baacke, der schon frühzeitig (1987a, 1987b) von 'Szenen' gesprochen hat. Allerdings verschwimmen bei Baacke, ebenso wie später bei Wilfried Ferchhoff (1999, 2007) die Konturen (wieder) hin zum Begriff der 'Jugendkulturen'. Dementsprechend ist 'Szene' lange Zeit einer jener sozialwissenschaftlichen Begriffe geblieben, die zwar häufig – vor allem in der Jugendkulturforschung1 – benutzt, aber nur selten definiert und theoretisch begründet wurden. Spuren theoretischer Auseinandersetzung mit dem Szenebegriff konnten wir zu Beginn unserer eigenen Arbeit allenfalls bei John Irwin (1973, 1977) und vor allem bei Ralf Vollbrecht (1995) finden, der immerhin darauf hingewiesen hat, 1 Seit Mitte der 1990er Jahre wird der Begriff 'Szene' aber z. B. auch im Marketing zunehmend in Anschlag gebracht. In der Regel wird dort davon ausgegangen, dass „Szenen Glaubensprozesse sind. In ihnen treffen sich Menschen, die ähnlich denken, ähnlich glauben, ähnlich handeln – und deshalb ähnliche Marken bevorzugen“ (Goldammer 1996, 69), weswegen Marketingmaßnahmen, so sie denn erfolgreich sein sollen, auf Szenen statt auf Zielgruppen fokussiert sein müssen (vgl. dazu auch Gerken/Merks 1996, Prykop 2005).
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dass sich Jugendkulturen mit der Ablösung von Herkunftsmilieus zu Szenen wandeln. Im Rekurs auf Baacke hebt auch er Szenen als den Ort hervor, an dem sich Kulturen alltagsweltlich erfahren lassen und an dem Zugehörigkeiten inszeniert werden können.
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Der Gegenstand: Was kennzeichnet Szenen?
Der Begriff 'Szene' verweist auf ein Gesellungsgebilde, x das nicht aus vorgängigen gemeinsamen Lebenslagen oder Standesinteressen der daran Teilhabenden heraus entsteht, x das einen signifikant geringen Verbindlichkeitsgrad und Verpflichtungscharakter aufweist, x das nicht prinzipiell selektiv (= aussondernd) und exkludierend (= ausschließend) strukturiert und auch nicht auf exklusive (= ausschließliche) Teilhabe hin angelegt ist, x das aber gleichwohl als thematisch fokussierter vergemeinschaftender und symbolisch markierter Erlebnis- und Selbststilisierungsraum fungiert. Wesentlich für die Bestimmung von 'Szene' ist darüber hinaus, dass es ein Gesellungsgebilde von Akteuren ist, welche sich selber als zugehörig zu dieser (oder dieser und anderen Szenen begreifen). Durch dieses Zugehörigkeitsbewusstsein der Szenegänger unterscheidet sich das Phänomen 'Szene' wesentlich von dem der so genannten Lebensstilformationen, denn Lebensstile, so wie sie in der einschlägigen neueren Forschung verwendet werden, sind externe Ungleichheitsmodelle, die – anhand von durch die Forscher als relevant gesetzten Indikatoren – der Segmentierung und Aggregation von Personentypen dienen (vgl. Müller-Schneider 1996, 2008). Allerdings sind typischerweise auch in einer Szenen musikalische Präferenzen, modische Vorlieben, Sportinteressen, Spaß an den so genannten 'Neuen Medien' oder – u. E. wieder zunehmend – auch moralpolitische Anliegen wichtig, die in der Lebensstilforschung als relevante Indikatoren zur Aggregation von Jugendlichen gelten. Eine 'Szene' nennen wir eine amorphe Form von lockerer Gemeinschaft unbestimmt vieler Beteiligter. Sie ist eine Gemeinschaft, in die man nicht hineingeboren oder hinein sozialisiert wird, sondern die man sich aufgrund irgendwelcher Interessen selber aussucht und in der man sich eine Zeit lang mehr oder weniger 'zu Hause' fühlt. Eine Szene weist typischerweise lokale Einfärbungen und Besonderheiten auf, ist jedoch nicht lokal begrenzt, sondern, zumindest im Prinzip, ein weltumspannendes, globales – und ohne intensive Internet-Nutzung der daran Beteiligten zwischenzeitlich auch kaum noch überhaupt vorstellbares
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– Gesellungsgebilde. Natürlich gibt es in einer bzw. für eine Szene keine förmlichen Mitgliedschaften. Weil Szenen, anders als formalisierte Organisationen, also keine Türen haben, weder hinein noch hinaus – auch nicht in einem metaphorischen Sinne –, bewegt man sich in einer Szene vielmehr eher wie in einer Wolke oder in einer Nebelbank: Man weiß oft nicht, ob man tatsächlich drin ist, ob man am Rande mitläuft oder ob man schon nahe am Zentrum steht. Gleichwohl realisiert man irgendwann 'irgendwie', dass man 'irgendwie' dazugehört. Und da die Ränder der Szene ohnehin verschwimmen, hat man in der Regel einen problemlosen Zugang zu ihr und kann sie ebenso problemlos auch wieder verlassen. Gegenüber anderen, sozusagen 'anrainenden' Gesellungsgebilden zeichnen sich Szenen generell also vor allem durch fehlende oder zumindest sehr 'niedrige' Ein- und Austrittsschwellen und durch symptomatisch 'schwache' Sanktionspotentiale aus: Von Subkulturen z.B. unterscheiden sich Szenen wesentlich durch ihre Diffusität im Hinblick auf Inklusion und Exklusion; denn als 'Subkulturen' werden relativ 'geschlossene' Interaktionskontexte von Personen mit bestimmten, relativ exklusiven 'Qualitäten' bezeichnet, in denen mittels spezifischer Praktiken eine von der gesellschaftlichen Gesamtkultur abweichende, gemeinsame Weltsicht und kollektive Identität erzeugt und gesichert wird. Von Milieus unterscheiden sich Szenen wesentlich durch ihren geringen Bezug auf vorgängige biographische Umstände; denn als 'Milieus' werden kohäsive (= durch starken Zusammenhalt geprägte) Gesellungsformen bezeichnet, die aus kollektiv auferlegten Lebenslagen entstehen, für die also vorgängige biographische Umstände konstitutiv sind, und aus denen sich gemeinsame Lebensstile herausbilden können. Von Cliquen, mit denen relativ informelle Zusammenschlüsse von zumeist lokalen Freundeskreisen mit ausgeprägt hoher wechselseitiger Akzeptanz gemeint sind, unterscheiden sich Szenen schließlich wesentlich durch deutlich geringere Altershomogenität, durch geringere Interaktionsdichte und durch Translokalität (siehe dazu auch Müller-Schneider 1996, 2008; Schneider 2003). In Szenen suchen vorzugsweise juvenile Menschen das, was sie in der Nachbarschaft, im Betrieb, in der Gemeinde, in Kirchen, Verbänden oder Vereinen immer seltener und was sie auch in ihren Familien und Verwandtschaften, und immer öfter noch nicht einmal mehr in ihren Intim-Partnern finden: Verbündete für ihre Interessen, Kumpane für ihre Neigungen, Partner ihrer Projekte, Komplementäre ihrer Leidenschaften, Freunde ihrer Gesinnung. Die Chancen, in Szenen Gleichgesinnte zu finden, sind signifikant hoch, denn zum einen wählen sich die Szenegänger ihre Szene bzw. Szenen entsprechend ihren Wichtigkeiten aus, zum anderen sind Szenen, wie bereits erwähnt, thematisch fokussiert. Jede Szene hat ihr 'Thema', auf das hin die Aktivitäten der Szenegänger
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ausgerichtet sind. Dieses Thema kann eben z. B. ein Musikstil sein, eine ästhetische Neigung, eine Sportart, ein moralisches Anliegen, eine technische Faszination, selten auch eine explizit politische Idee; dieses Thema können spezielle Konsumgegenstände oder es kann auch ein ganzes Konsum-Stil-Paket sein, gepaart in der Regel mit einer mehr oder minder diffusen Weltanschauung. Szenen können dementsprechend als 'Gefäße' heterogener individueller Sinn-Suche fungieren, in denen jeder seine eigenen Ideen, Phantasien und Spiritualismen pflegen kann: sei es die konspirative Faschismus-Gewissheit des AntifaAktivisten, sei es die 'dämonische Wut' des Black Metal-Verschworenen, sei es die ästhetische Verzückung des Comic-Liebhabers, sei es die rauschhafte 'Seligkeit' des Heroin-Users, sei es das 'kosmische Leiden' des Gothics, sei es das 'triumphierende Gefühl' des Sprayers, sei es die 'political correctness' des Hardcore-Protagonisten, sei es die Provokationslust des Hip-Hoppers, sei es die Sieger-Attitüde des LAN-Spielers, sei es das Rebellen-Pathos des Punks, sei es die 'Machtfantasie' des Rollenspielers, sei es der 'göttliche' Trick des Skaters, sei es die Selbstüberwindung des Sportkletterers, sei es die Tanz-Ekstase des Liebhabers elektronischer Musik, oder sei es irgendetwas anderes, was juvenile Menschen so bewegt. Und Szenegänger teilen nun eben das Interesse am jeweiligen Szene-Thema. Sie teilen im weiteren auch typische Einstellungen und entsprechende Verhaltensweisen und Umgangsformen. Eine Szene lässt sich somit auch definieren als ein thematisch fokussiertes Netzwerk von Personen, die bestimmte materiale und mentale Formen der kollektiven Selbst-Stilisierung teilen, die um diese Teilhabe wissen, und die diese Gemeinsamkeiten an typischen Orten und zu typischen Zeiten interaktiv stabilisieren, modifizieren oder transformieren. Dabei beobachten wir übrigens – auch wenn Szenen grundsätzlich nach dem Prinzip 'Verführung statt Verpflichtung' funktionieren – seit der Jahrtausend-Wende ein zunehmendes Interesse bei immer mehr Jugendlichen an stärker charismatisch-autoritativer und vor allem an moralisch (wieder) aufgeladeneren Vergemeinschaftung. Allerdings reicht dieses Interesse anscheinend nur so weit und dauert nur so lange an, wie eine bestimmte Moral zu leben nicht auferlegt erscheint, sondern motiviert ist dadurch, eben ein 'guter Mensch' sein zu wollen. 'Irgendwie' moralisch zu sein, gilt derzeit als 'cool', cooler jedenfalls als die derzeit etwas angestaubt wirkenden Hedonismen der 1990er Jahre. Vereinfacht gesagt transformiert sich dergestalt das Prinzip 'Verführung statt Verpflichtung' gegenwärtig allmählich in das Bedürfnis 'Vorbilder statt Vorschriften'. Wenn wir also – schon seit einigen Jahren – einen Trend zur 'Moralität' konstatieren, dann ist damit ein (beliebiges) Bekenntnis gemeint zu (irgend)einer, worauf auch immer basierenden und woraus auch immer resultierenden Auffassung darüber, wie man warum zu leben, was man worauf hin zu
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tun und zu lassen habe, und was überhaupt richtig und falsch, gut und böse sei. Moralität hat zuzeiten erhöhten Orientierungsbedarfs, sozusagen prinzipiell 'Konjunktur'. Moralische Positionen, welcher Art auch immer, ziehen, wenn sie und in dem Maße wie sie nicht nur artikuliert, sondern auch von irgendjemandem verkörpert, wenn sie also personifiziert werden, Aufmerksamkeit auf sich und finden neue Anhänger ebenso wie neue Gegner, die sich durch den Bezug aufeinander nicht nur gegenseitig, sondern auch für Dritte 'wichtig' machen. (Wenn diese Personifizierung in Gestalt von Benedikt XVI stattfindet, ist die dahinter stehende Moralität anders konnotiert als in der Gestalt von Tom Cruise. Wenn sie als Kopftuchträgerin erscheint, werden andere Empfindungen und Reaktionen provoziert, als wenn sie uns als Glatzkopf mit Hakenkreuztätowierung gegenüber tritt; diese Gegenüberstellungen ließen sich beliebig erweitern.) Dieser Trend zur 'Moralität' schließt einen persistierenden Hedonismus jedoch keineswegs aus. Ja, es erscheint uns nicht übertrieben, zu sagen, dass Moralität nur so lange attraktiv ist, wie sie nicht auf etwas verpflichtet, was den sich darauf beziehenden bzw. berufenden Menschen nicht 'in den Kram passt'. Und das, was ihnen (bzw. was uns allen) 'in den Kram passt' oder nicht 'in den Kram passt', das kann sich jederzeit ändern, sogar ins Gegenteil verkehren. Dann werden Moralitäten, für die man zuvor noch hochgradig engagiert war, nicht nur schnell lästig, sondern ebenso schnell durch (mitunter ganz) andere ersetzt. Gegenwärtig können Menschen kaum noch auf Moralitäten verpflichtet, sie können eigentlich nur noch dazu verführt werden. Grundlegender scheint uns also auch mit Blick auf Moralismen in Szenen vor allem zu sein, dass dabei das wesentliche Vergemeinschaftungskriterium eben weniger Gleichaltrigkeit zu sein scheint, als vielmehr die (relative) Gleichartigkeit von Interessen, die in der Regel teilzeitlich begrenzt relevant und 'ausgelebt' werden.
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Methodologie, Methodik und Präsentationsidee
Der sozusagen allgemeinsoziologische 'rote Faden' unserer Szeneforschungen ist unser durchgängiges Interesse daran, die subjektiven Perspektiven bzw. die Lebenswelten zeitgenössischer Akteure zu rekonstruieren, denn „das Festhalten an der subjektiven Perspektive“ bietet, so Alfred Schütz (1977, 65f.), „die einzige, freilich auch hinreichende Garantie dafür, dass die soziale Wirklichkeit nicht durch eine fiktive, nicht existierende Welt ersetzt wird, die irgendein wissenschaftlicher Beobachter konstruiert hat.“ Folglich besteht unser zentrales methodologisches Problem darin, zu klären, inwieweit und wie es (überhaupt) gelingen kann, die Welt mit den Augen anderer zu sehen, ihren je subjektiv gemeinten Sinn ihrer Erfahrungen zu verstehen und dadurch ihr Handeln und im
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Weiteren die Folgen ihres Handelns im – durchaus nicht nur harmonischen – Zusammenspiel mit dem Handeln anderer für wieder andere (ein wenig) nachvollziehbarer zu machen. Damit aber impliziert die Beobachtung des vielgestaltigen sozio-kulturellen Geschehens, in das die heterogenen Gegenstände unserer speziellen Forschungsaktivitäten je eingebettet sind, programmatisch die Rekonstruktion der Strukturen von 'Lebenswelten im Wandel' – und rekurriert zugleich auf diese. Infolgedessen erachten wir die Lebensweltanalyse in der Tradition von Alfred Schütz als unabdingbar für eine Neuformulierung der theoretischen, methodologischen, methodischen und empirischen Problemstellungen einer erfahrungswissenschaftlich verstandenen Allgemeinen Soziologie. Allerdings ist unsere soziologische Problemstellung gegenüber der rein phänomenologischen eben entscheidend erweitert: Wir haben vor allem die Lebenswelten anderer Akteure zu rekonstruieren. Und diese Aufgabe versuchen wir dadurch zu erfüllen, dass wir das Prinzip der Lebensweltanalyse integrieren in ein methodenplurales, triangulatives ethnographisches Forschungskonzept. Unbeschadet dessen besteht die Relevanz der Lebensweltanalyse wesentlich darin, dass sie die erkenntnistheoretische Basis bildet für das, was sozusagen 'klassisch' im Thomas-Theorem formuliert ist: Nicht ein wie auch immer als 'objektiv' hypostasierter Sachverhalt, sondern das Erleben des Akteurs und der Akteure ist maßgeblich für dessen und deren Situationsdefinitionen – und für die für ihn und sie daraus folgenden (Handlungs-)Konsequenzen. Mithin geht es uns bei unserer soziologischen Arbeit, verallgemeinernd gesprochen, wesentlich darum, zu verstehen, wie Bedeutungen entstehen und fortbestehen, wann und warum sie 'objektiv' genannt werden können, und wie sich Menschen die gesellschaftlich 'objektivierten' Bedeutungen wiederum deutend aneignen, daraus ihre je 'subjektiven' Sinnhaftigkeiten herausbrechen und dadurch wiederum an der sozialen Konstruktion der Wirklichkeit mitwirken. Prinzipiell geht es uns darum, weg zu kommen vom pseudoobjektivistischen Über-Blick der konventionellen Sozialwissenschaften, der gleichsam über die Köpfe der Akteure hinweg geht, und stattdessen hin zu kommen zu einem Durchblick, sozusagen durch die 'Augen' der Akteure hindurch. Vorzugsweise interessieren wir uns also für die Perspektive, aus der die Menschen, die jeweils Gegenstand der Untersuchung sind, die für sie relevanten Ausschnitte aus der sozialen Welt wahrnehmen. Dazu verwenden wir eine Reihe von Verfahren aus dem methodischen Arsenal der empirischen Sozialforschung (von der Dokumentenanalyse über Interviews einschließlich standardisierter Befragungen bis hin zu systematischen Beobachtungen). Das für uns sozusagen 'basale' Verfahren ist das der beobachtenden Teilnahme. Beobachtende Teilnahme bedeutet, dass wir in das soziale 'Feld', das wir je gerade untersuchen, möglichst intensiv hineingehen und – bis hinein in sprachliche
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und habituelle Gewohnheiten – versuchen, den Menschen, die wir untersuchen, möglichst ähnlich zu werden. Das gelingt natürlich – aus vielerlei Gründen – nicht immer und schon gar nicht immer gleich gut. In dem Maße aber, wie es gelingt, erlangen wir eine Art und Qualität von Daten, wie wir sie mit anderen Forschungsmethoden nur schwerlich bekommen: Daten darüber nämlich, wie man und was man in solchen Welten tatsächlich erlebt. Die zweite Besonderheit unserer Szenen-Ethnographie ist das von uns in einem weit strengeren Sinne als sonst üblich verwendete Experteninterview. Das Experteninterview unterscheidet sich unseres Erachtens nämlich nicht einfach dadurch von anderen Interviewarten, dass hier Personen befragt werden, die eben als 'Experten' gelten. Die Besonderheit des Experteninterviews besteht vielmehr darin, dass Forscher und Befragter idealerweise ein Gespräch 'auf gleicher Augenhöhe' führen. Das Experteninterview, so wie wir es einsetzen, ist folglich ein sehr voraussetzungsvolles und damit auch ausgesprochen aufwändiges Instrument zur Datengenerierung, das sich durchaus nicht als Instrument zur 'schnellen', die Zeitaufwendungsmühen der Teilnahme sozusagen kompensierenden Datenerhebung eignet, sondern die aus dieser Teilnahme resultierenden Kompetenzen eher voraussetzt. Vieles, was wir zu einem Untersuchungsthema wissen wollen, lässt sich jedoch nicht mit diesen beiden für uns 'zentralen' Verfahren erheben. Deshalb verwenden wir bei unseren Feldstudien grundsätzlich eben das ganze MethodenInstrumentarium empirischer Sozialforschung. Allerdings hat sich gezeigt, dass sich so genannte nichtstandardisierte Verfahren für unsere ethnographischen Erkenntnisinteressen in der Regel besonders gut eignen. Wichtiger noch als die Frage nach den Verfahren der Datenerhebung ist uns aber, zugleich wissenschaftlichen Standards genügende und pragmatisch nützliche Methoden und Techniken der Datenauswertung zu konzeptualisieren. Wir arbeiten hier also immer auch an Grundlagenproblemen einer Optimierung von Aufwand und Ertrag beim Einsatz geeigneter Interpretationsmethoden. Vorzugsweise aus der Erfahrung mit solchen Methoden, die sich unter dem Etikett 'Sozialwissenschaftliche Hermeneutik' versammeln lassen, haben wir uns zwischenzeitlich auf eine relativ einfach zu erlernende Grund-Deutungstechnik verständigt, die man als 'quasi-sokratisch' bezeichnen könnte. Dabei geht es darum, zu explizieren, was der Interpret (z.B. in einer Textpassage oder an einem anderen Artefakt) zu sehen meint, und (gegen den Deutungswiderstand der anderen Interpreten) zu plausibilisieren, aufgrund welcher (wiederum explizierbarer) Kriterien man zu sehen meint, was man zu sehen meint. Dieser Vorgang wird idealerweise so lange wiederholt, bis ein Konsens der beteiligten Interpreten über den Sinngehalt des Gegenstandes der Interpretation erzielt wird.
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Diese Grund-Deutungstechnik verknüpfen wir je nach Bedarf mit verschiedenen Codierungsverfahren – nicht nur, aber insbesondere mit dem der so genannten 'Ethnographischen Semantik' – weil wir mannigfaltige, je feldspezifische SonderSemantiken zu 'knacken' haben. Die qua existentiell involvierte Teilnahme gewonnenen Erlebnisdaten lassen sich damit allerdings, wie erwähnt, nur unzulänglich auswerten, weshalb wir hierzu eben im Wesentlichen auf phänomenologische Deskriptionen rekurrieren. Das, was bei diesen Forschungsarbeiten herauskommt, lässt sich natürlich sehr technisch, hochgradig kompliziert und damit in der Regel auch recht eindrucksvoll, um nicht zu sagen: einschüchternd präsentieren. Das ist aber gerade nicht das, worum es uns bei der Szenen-Ethnographie vor allem geht. Unsere Darstellungsidee ist vielmehr, das, was Menschen tun, für andere Menschen, die das nicht tun, ein wenig nachvollziehbarer, verständlicher zu machen bzw. Nichtbeteiligten wenigstens ein paar Einblicke und Eindrücke in ihnen mehr oder weniger fremde (kleine) Welten zu vermitteln, welche sich oft in ihrer unmittelbaren existentiellen Nähe auftun können. Deshalb haben wir seit Januar 2002 das Internet-Portal www.jugendszenen.com online gestellt. Dieses Portal ist unzweifelhaft die populärste Form, in der wir die Ergebnisse unserer wissenschaftlichen Szenenforschung präsentieren. Aber auch wenn sich www.jugendszenen.com nicht vorzugsweise an Sozial- und Kulturwissenschaftler wendet, so ist das Portal auch gedacht als Kommunikationsplattform und Datenpool einschlägig arbeitender Fachkollegen. Pädagogischen Fachkräften bietet www.jugendszenen.com eine werturteilsenthaltsame Anregung dazu, ihre konkreten Praxiserfahrungen vor einem systematisierenden Hintergrund zu reflektieren. Das Internet-Portal www.jugendszenen.com liefert des Weiteren einiges detaillierte Grundlagenwissen über Risiken und Chancen der Entscheidung zwischen im traditionellen Sinne zielgruppenorientierten und verstärkt bzw. alternierend szenenorientierten Marketingstrategien. Besonders wichtig ist uns aber, dass www.jugendszenen.com dem sozusagen notorisch frustrierten Bedürfnis von Szenegängern nach einer 'korrekten' – d.h. ihrer Sicht hinlänglich entsprechenden – Darstellung 'ihrer' Szene gegenüber einer (wie auch immer gearteten) Öffentlichkeit angemessen Rechnung trägt. Dementsprechend steht mit www.jugendszenen.com schließlich einer interessierten Öffentlichkeit bzw. den diese repräsentierenden Publikumsmedien eine Informationsquelle zur Verfügung, die zugleich von unserem Bemühen geprägt ist, Verzerrungen und Verkürzungen zu vermeiden und dennoch leicht verständlich zu bleiben.
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Die Startseite von www.jugendszenen.com enthält v. a. Links zu den von uns porträtierten Szenen, deren Zahl sukzessive erhöht wird.2 Parallel dazu werden die steckbriefartig aufbereiteten Informationen zu jeder einzelnen Szene immer wieder aktualisiert. Die Seiten zu den einzelnen Szenen haben eine Bilderleiste mit 'typischen' Fotos aus der jeweiligen Szene und sind gegliedert in die Domänen Intro, History, Facts, Fokus, Einstellungen, Lifestyle, Symbole, Rituale, Events, Treffpunkte, Medien, Strukturmerkmale und Relations. Dieser Systematik liegt unsere Erkenntnis zugrunde, dass sich szenische Kulturen konkret zwar zum Teil sehr stark voneinander unterscheiden, dass sie aber trotzdem deutliche strukturelle Ähnlichkeiten aufweisen.
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Szenen im sozio-kulturellen Kontext
Handlungspraktisch lassen sich Szenen begreifen als so etwas wie 'Gefäße', in die man die Suche nach der 'eigenen' Lebensidee füllen kann, die dieser Suche sozusagen eine Form geben. Sie sind Gesellungsgebilde, welche die Entwicklung und Verstetigung von Welt- und Daseinskonzepten bei individualisierten Akteuren, insbesondere aber bei 'jugendlichen' Menschen, maßgeblich beeinflussen. Wichtig ist, wenn wir von 'Jugendlichen' Menschen sprechen, allerdings, dass wir damit tatsächlich nicht bzw. weit weniger eine bestimmte Altersphase implizieren, sondern eben eine mentale Disposition, eine Einstellung zum Leben und zur Welt: eine Geisteshaltung der prinzipiellen SelbstEntpflichtung gegenüber etwelchen 'von außen' bzw. von anderen an den Akteur herangetragenen Erwartungen.3 Kindheit, Jugend und Erwachsensein werden üblicherweise als drei aufeinander folgende Phasen des Lebensverlaufs begriffen: Kindheit gilt als die Le2 Derzeit (Stand: August 2009) haben wir 'Steckbriefe' der folgenden Szenen online gestellt: Antifa, Blackmetal, Cable Street Beat, Comic, Cosplay, Deathmetal, Demoszene, Globalisierungskritiker, Gothic, Graffiti, Hardcore, HipHop, Indie, Junghexen, LAN-Gaming, Paganmetal, Punk, Rollenspieler, Skateboarding, Skinheads, Sportklettern, Techno, Ultras, Veganer und Warez. 3 In den 1950er Jahren war in Deutschland jeder dritte Mensch unter 20 Jahren alt. Heute ist es nur noch jeder fünfte. Und auf absehbare Zeit werden wir hierzulande im Verhältnis zur Zahl der Älteren noch deutlich weniger Heranwachsende haben. Kurz: Statistisch gesehen scheinen die jungen Leute in unserer Gesellschaft zu einer sozialen Marginalie zusammenzuschmelzen. Unbeschadet dessen aber steht 'die Jugend' anhaltend im Fokus öffentlicher Aufmerksamkeit. Unseren Erkundungen zufolge hat das allerdings weniger damit zu tun, dass die uns verbleibenden jungen Menschen dergestalt zu praktisch konkurrenzlosen Trägern aller möglichen politischen und ökonomischen Hoffnungen werden. Es hat vielmehr damit zu tun, dass das Phänomen 'Jugendlichkeit', wie (keineswegs nur) wir es definieren, mit seinen Konnotationen von Vitalität und Erlebnisorientierung, – auch demografisch – keineswegs dahinschwindet, sondern sich, im Gegenteil, in unserer Gegenwarts-Gesellschaft rapide ausbreitet.
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benszeit weitest gehender Bevormundung zum Schutz vor Selbstgefährdung, Jugend gilt als die Lebensphase, in der die Bevormundungen der Kindheit allmählich entfallen, die eigene Existenz aber noch nicht letzt verantwortlich selber gestaltet und gesichert werden muss, und Erwachsensein gilt im Wesentlichen als der biographische Zustand umfassender Selbstverantwortlichkeit und moralisch geforderter Fremdsorge. Aber das Phänomen 'Jugendlichkeit' passt nun eben nicht in dieses Schema. Für Menschen jeden Alters mit der Geisteshaltung 'Jugendlichkeit', erscheint es – jedenfalls vom Standpunkt des Erwachsenseins aus – als symptomatisch, dass sie all das, was dem Selbst- und Weltverständnis von Erwachsenen zufolge getan werden muss, eben nur dann und solange tun, wie sie es tun wollen. Famoserweise erfasst diese Geisteshaltung nun immer mehr Lebensbereiche von immer mehr Menschen. Dementsprechend wird Jugendlichkeit in diesem Verstande also keineswegs mehr nur für Heranwachsende, Postadoleszente und Dauerpubertierende, sondern längst auch für die Absatz-Ziel-Gruppen der '50 plus'-Best Agers propagiert, die ja nun bekanntlich auf keinen Fall als 'Senioren', ja noch nicht einmal mehr als 'junge Alte' bezeichnet werden wollen. Das neue 'Zauberwort' in der für das Wehen des Zeitgeistes bekanntlich sensiblen Konsumforschung heißt deshalb auch 'universal design', bei dem so genannte altersgerechte Produkte eben in eine für alle potentiellen Verbraucher ansprechende Form gebracht werden. Heraus kommt dabei – unter den Vorzeichen von Funktionalität, Einfachheit und Sicherheit – dann immer öfter eine relative 'Knuffigkeit' der Gestalt und Oberfläche der Artefakte, die nicht mehr nur 'Juvenilität', sondern eher schon 'Infantilität' anspricht. Diesem zusehends zur Normalform werdenden 'universal design' gegenüber wirkt die Ästhetik von und in (vielen) Szenen nicht selten nachgerade 'erwachsen'. Allerdings sind die Ästhetiken auch von Jugendkulturen – wie das Fernsehprogramm, das Warenangebot, die Sinnoptionen, die Freizeitgestaltungsmöglichkeiten, wie überhaupt nahezu alles, was in unserer Kultur so bereitgestellt wird bzw. ist – heute viel zerfaserter, viel heterogener als früher. Denn in unserer Gegenwartsgesellschaft gibt es weit eher zu viel von zu Vielem, als zu wenig. Wenn uns etwas fehlt, dann sind das hinlänglich verlässliche Orientierungsmarken für und Wegweiser durch das Leben: Verloren gegangen ist die (relative) Alternativlosigkeit bzw. genauer ausgedrückt: die (nur scheinbar paradoxe) Chance, zwischen sehr wenigen Alternativen sehr klar entscheiden zu müssen (Swing oder Bebop, Jazz oder Rock, Hipster oder Square, Motorrad oder Motorroller usw.). Wir leben, mit Peter Gross (1994) gesprochen, in einer 'Multioptionsgesellschaft' und schwimmen alle, so Tom Holert und Mark Terkessidis (1996), mit in einem 'Mainstream der Minderheiten'. Und in einem solchen Multioptionen-Setting ist natürlich das Internet ein auch – und womög-
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lich gerade – in seiner Bedeutung für Jugendkulturen kaum zu überschätzendes Medium. Dabei wird das Internet nicht nur, wenn allerdings auch vor allem, als Kommunikationsweg genutzt. Szenegänger nutzen Newsgroups, Foren und Chats für den Informationstausch untereinander und vertiefen die jeweilige Auseinandersetzung mit 'ihrer' Kultur. Das Internet löst dabei jedoch keineswegs traditionelle Szenemedien ab, sondern erweitert lediglich die Diskursfläche, die dem öffentlichen Austausch unter Szenegängern bisher üblicherweise zur Verfügung gestanden hat. Neben seiner kommunikativen Nutzung bietet das Internet Szenen auch eine alternative Präsentationsplattform außerhalb der traditionellen Medienwelt (vgl. Kahn/Kellner 2003), mit Hilfe derer sie beispielsweise Eventankündigungen, ihre Ideologien und Konsum-Produkte relativ kostengünstig verbreiten können, während sie zur gleichen Zeit auch auf (negative) Berichterstattungen über 'ihre' jeweilige Szene reagieren und dementsprechend ihren eigenen Standpunkt einem relativ großen Publikum präsentieren können (vgl. Wilson 2006, 303). Dies wird sowohl von 'einfachen' Szenegängern, als auch vom Szenekern bzw. von in der Szene etablierten Organisationen (z. B. Clubs, Labels) wahrgenommen. Insbesondere durch Web 2.0-Anwendungen wird das Internet zunehmend auch als Selbstdarstellungs-Plattform genutzt. 'Nachwuchskünstler' können via MySpace eigene Songs ins 'Netz' stellen, 'Sprayer' und 'Cosplayer’ stellen Bilder von sich bzw. von ihren Kunstwerken auf Fotoportalen wie Flicker ein, 'Skater' nutzen YouTube, um ihre neuesten 'Tricks' zu präsentieren. Andere Internetnutzer haben dabei die Möglichkeit, die eingestellten Bilder, Videos und Songs zu kommentieren und sich (nicht nur) mit den Einstellern darüber auszutauschen. Schließlich dient das Internet Szenegängern auch als weltweiter Verbreitungsweg aktueller Trends. Bestes Beispiel dafür dürfte 'Visual Kei' sein, eine originär japanische Szene, deren Stil prägender Faktor nahezu ausschließlich die ästhetische Erscheinung ist. Über das Internet wurde 'Visual Kei' mittels der Einstellung von J-Rock/-Pop-Audiodateien und Bildern 'typischer Kostümierungen' durch Szenegänger von Japan nach Europa exportiert. Solche und andere Beispiele zeigen, dass das Internet signifikant zur globalen Verbreitung von Szenen und damit auch zur Vergrößerung der Szenen-Landschaft beiträgt.4
4 Am Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie der Technischen Universität Dortmund ist derzeit insbesondere Annika Leichner im Rahmen ihres Dissertationsprojektes mit diesem Thema befasst (siehe dazu auch Projektgruppe 'Jugendszenen im Internet' 2009).
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Beziehungsregulation in Kinderfreundschaften – eine Prozessstudie zu Geschlechterunterschieden Uwe Altmann
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Einleitung
Freundschaften unter Kindern stellen eine besondere Form von Peer-Beziehung dar, die vor allem durch ein hohes Maß an Mutualität und emotionalen Aspekten gekennzeichnet ist (vgl. Newcomb/Bagwell, 1995, 306). In der Literatur werden Kinderfreundschaften u. a. als soziale Ressource ausgewiesen. Befreundete Kinder unterstützen einander in vielerlei Hinsicht, z. B. bei Alltäglichkeiten wie Hausaufgaben oder in emotionaler Hinsicht bei der Trennung der Eltern (vgl. Denton/Zarbatany 1996, Noack/Haubold 2003, Wehner 2006). Besonders betont wird, dass Freundschaften unter Kindern deren soziale, emotionale und kognitive Entwicklung begünstigen (vgl. Hartup 1996, Krappmann 1991, Newcomb/Bagwell 1995, 1996). Damit legen Freundschaften im Kindesalter neben den Beziehungen zu den Eltern den Grundstein für soziale Beziehungen im Erwachsenenalter (ebd.). Aus gesellschaftlicher Perspektive stiften Freundschaften im Erwachsenenalter sozialen Zusammenhalt und stellen aufgrund des zunehmenden Wegfallens von Familienbeziehungen als gesellschaftliche Basis vermehrt eine Ergänzung inkompletter Sozialstrukturen dar (vgl. NötzoldLinden 1997). Da Freundschaften im Vergleich zu Verwandtschaftsbeziehungen gelöst werden können, sind die an die Beziehung geknüpften Ressourcen an das Bestehen und die Qualität der Beziehung gebunden. Aus diesem Grund werden Freundschaften hinsichtlich dessen untersucht, was sie festigt bzw. ihr Bestehen gefährdet (vgl. Chiriboga 2002, 202). Wie jede soziale Beziehung unterliegen Kinderfreundschaften fortwährenden Veränderungen. Diese Veränderungen können durch Außeneinflüsse (z. B. Reglementierung der Freundschaft durch die Eltern) oder durch Veränderungen interner Bedingungen (z. B. zunehmender Wunsch nach gemeinsamen Aktivitäten bei einem der Freunde) eingeleitet werden. Maßgeblich für Veränderungen über die Zeit ist jedoch, dass der aktuelle Zustand der Beziehung durch den Vorzustand determiniert wird. Diese Eigenschaft qualifiziert Freundschaften als dynamisches System (vgl. Alisch et al. 1997, Alisch/Wagner 2006, Dishion et al.
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2004, van Geert/Steenbeck, 2005, 411). Da Freundschaften durch zwei Personen konstituiert werden, ist vorgeschlagen worden, solche Beziehungen als gekoppeltes dynamisches System aufzufassen (vgl. Baron et al. 1994, Boker/Laurenceau 2005, Laurenceau et al. 2005), wobei „gekoppelt“ auf die gegenseitige Beeinflussung der Freunde (Sub-Systeme) referiert. Diese Art der Konzeptualisierung lenkt den Fokus auf das Miteinander der Freunde und die Frage, inwiefern das Miteinander zur Festigung bzw. Lösung der Beziehung beiträgt. Schließlich gehören zu einer Freundschaft zwei Personen und damit zwei fortwährend zu koordinierende Perspektiven auf sich selbst, den anderen und die Beziehung (vgl. Selman 1984).
1.1 Beziehungsregulation in Freundschaften Eine zentrale Rolle bezüglich der Festigung oder Lösung einer Beziehung nimmt die Regulation der Beziehung ein (vgl. Aboud 1989, Boker/Laurenceau 2005, Prager/Roberts 2004). Beziehungsregulation umfasst u. a. die Aspekte: Warum, wie und mit welchen Folgen Partner ihre individuellen Perspektiven koordinieren. Anlass zur Beziehungsregulation geben u. a. nicht tolerierbare Ist-SollDiskrepanzen, die einer der Freunde empfindet. Die Artikulation solcher Diskrepanzen dient der Wahrung eigener Interessen, Art und Weise der Artikulation können dem anderen die Wahrung eigner Interessen ermöglichen oder aber verschließen (vgl. von Salisch/Vogelsang 2005). Hinsichtlich des Auftretens von Diskrepanzen sind von Altmann/Hermkes (2008) Geschlechterunterschiede festgestellt worden. Danach tendieren in Kinderfreundschaften Jungen häufiger als Mädchen zu Diskrepanzen in der Bewertung der Intensität gemeinsamer Aktivitäten. Ein weiterer Aspekt von Beziehungsregulation referiert darauf, dass Freundschaften zu einem Gleichgewicht tendieren (vgl. Mendelson/Kay 2003, Prager/Roberts 2004). Im Diskurs zur Reziprozität (für einen Überblick aus soziologischer Perspektive vgl. Adloff/Mau 2005) ist herausgestellt worden, dass Gabe und Gegengabe in Freundschaften meist zeitlich versetzt erfolgen und ungleich bezüglich des Inhalts bzw. der Qualität der Gabe sein können. Gabe und Gegengabe können emotionaler oder dinglicher Natur sein (vgl. Damon 1990). Ein Beispiel für befreundete Kinder wäre das Einweihen in ein Geheimnis und das Erwidern dieses intimen Verhaltens durch das spätere Teilen von Spielzeug. Reziprozität ist in der Freundschaftsforschung intensiv im Zusammenhang mit self disclosure untersucht worden (für einen Überblick vgl. Cozby 1973,
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Derlega et al. 1993, Wagner/Alisch 2006, 40ff.). Eine Reihe von Studien belegt, dass auf intime Mitteilungen über die eigene Person häufig intime Mitteilungen des Gesprächspartners folgen, und dass durch solche Äußerungen die Bereitschaft steigt, das Gespräch fortzusetzen. Auch hier wurden Geschlechterunterschiede festgestellt. In Abhängigkeit vom Gesprächsthema tendierten Frauen eher als Männer zu Mitteilungen über die eigene Person (vgl. edb.; die Studien untersuchen allerdings hauptsächlich Jugendliche oder Erwachsene). Folge von Verhaltensweisen im Sinne der Reziprozität oder der oben erwähnten Aushandlungen bei Diskrepanzen können u. a. Veränderungen der eigenen Person im Kontext der Beziehung sein (z. B. Vergrößerung des Toleranzbereiches gewünschter Intimität) oder Veränderungen des Partners (z. B. Erhöhung der Kontakthäufigkeit aufgrund des eigenen Wunsches). Damit referiert Beziehungsregulation auf ein zentrales Merkmal geschlossener Beziehungen: gegenseitige Beeinflussung (vgl. Clark/Reis 1988).
1.2 Untersuchung von Beziehungsregulation durch Prozessmodellierung Ein Ansatz, der die Theorie dynamischer Systeme als theoretischen Bezugsrahmen nutzt und die empirische Untersuchung gegenseitiger Beeinflussung (resp. Beziehungsregulation) innerhalb sozialer Beziehungen erlaubt, beinhaltet die Erhebung von Beziehungsverläufen und die Anpassung eines Prozessmodells an diese Verläufe (vgl. Alisch/Wagner 2006, Boker/Laurenceau 2005, Laurenceau et al. 2005). Beziehungsverläufe können durch eine zeitlich geordnete Folge von Messwerten beziehungsrelevanter Merkmale abgebildet werden. Als solche Merkmale werden Intimität, Intensität gemeinsamer Aktivitäten und Exklusivität des Partners angesehen (vgl. Alisch et al. 1997, Wagner 1991). Intimität referiert u. a. auf Nähe, Empathie und Vertrautheit zum Freund, Intensität u. a. auf Kontakthäufigkeit sowie häufiges gemeinsam miteinander lachen, sprechen, spielen und Exklusivität auf Substituierbarkeit des Freundes und Ausschluss Dritter bei gemeinsamen Interaktionen (vgl. auch Abschnitt 2.2). Mit dem Vorliegen von Intimitäts-, Intensitäts- und Exklusivitätsverläufen kann untersucht werden, inwiefern die Konfiguration der Merkmale zum Zeitpunkt t die Ausprägung eines Merkmals zum Zeitpunkt t+1 erklären kann. Ein Beispiel wäre die Erhöhung der Intimität bei Kind A aufgrund der vorherigen Erhöhung der Intimität bei Kind B. Treten derartige Veränderungen systematisch auf (d. h. wiederholt und in gleicher Art und Weise), dann können Zusammenhänge der Merkmale zwischen Zeitpunkt t und t+1 als statistisches Äquivalent zur Beeinflussung angesehen werden (vgl. Schmitz 2000).
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Um systematische Veränderungen zu bestimmen bzw. einmalige oder gar zufällige Veränderungen auszuschließen, sollten mehrere Vor- und Nachzustände einer Freundschaft betrachtet werden. Dies impliziert die Durchführung von mehr als zwei Erhebungen pro Freundschaftspaar. In der vorliegenden Studie werden vier Erhebungen als Minimum angesehen. Welches Prozessmodell ist nun für die statistische Untersuchung von Beziehungsverläufen im Hinblick auf gegenseitige Beeinflussung (resp. Beziehungsregulation) geeignet? Datenseitig ist zunächst folgende Einbettungsstruktur festzustellen: Untersucht werden mehrere Paare, ein Paar umfasst zwei Kinder, pro Kind liegen mehrere (zeitlich geordnete) Messwerte vor. Man kann dementsprechend drei hierarchische Ebenen (Paar, Kind und Messwert) annehmen, was die Verwendung eines Hierarchisch Linearen Modells (vgl. Raudenbush/Bryk 2001) nahelegt. Im Hinblick auf die Untersuchungsfrage scheinen jedoch autoregressive Modelle der linearen Zeitreihenanalyse (vgl. Schmitz 1987, Schlittgen/Streitberg 2001) geeignet. Bei diesen Modellen wird angenommen, dass sich der aktuelle Zustand eines Systems (z. B. Freundschaftspaar) aus der Summe von Baseline (z. B. paarspezifisches Intimitätsniveau), dem gewichteten Vorzustand (z. B. Intimität im Vormonat) und einem Fehleranteil ergibt. Die Gewichtungsparameter des Vorzustandes können aufgrund des Zeitversatzes als Einfluss von Merkmal X u zu t auf Merkmal X v zu t+1 interpretiert werden (vgl. Schmitz 2000). Mit anderen Worten die Ausprägung der Gewichtungsparameter korrespondiert mit dem Ausmaß gegenseitiger Beeinflussung der Beziehungspartner. Es liegt nahe, sich einer Methodik zu bedienen, die Mehrebenenmodelle und autoregressive Modelle der Zeitreihenanalyse verbindet. Solche Modelle sind unter Bezeichnung combined autoregressive latent curve models (vgl. Curran/Bollen 2001, Bollen/Curran 2004) oder multilevel autoregressive models (vgl. Rovine/Walls 2005) bekannt. Für die Untersuchung sozialer Beziehungen (genauer: von Ehen) sind solche Modelle bereits von Boker/Laurenceau (2005) sowie Laurenceau et al. (2005) eingesetzt worden.
1.3 Fragestellung Es ist festzuhalten, dass Freundschaften unter Kindern eine Reihe von positiven Effekten zugeschrieben werden. Freundschaften unterliegen jedoch Veränderungen, so dass Ressourcen, die diese Beziehungen bieten, nicht stets vorhanden, sondern an das Bestehen der Beziehung gebunden sind. Das Forschungsinteresse an der Koordination der individuellen Perspektiven der Freunde bzw. daran,
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wie Freunde ihre Beziehung regulieren, macht sich an diesem Umstand fest. Beziehungsregulation vollzieht sich in Interaktionen, z. B. wenn Freunde bestehende Diskrepanzen „bearbeiten“ oder im Sinne der Reziprozität positiv konnotierte Verhaltensweisen (z. B. intime Selbstmitteilungen) erwidern. Folgen von Beziehungsregulation können Veränderungen der eigenen Person oder des Partners sein, die anhand von Verhaltensänderungen in späteren Interaktionen der Freunde sichtbar werden (z. B. stärker ausgeprägte Tendenz Dritte aus gemeinsamen Interaktionen auszuschließen). In der vorliegenden Studie wird gegenseitige Beeinflussung von Freunden als Ergebnis von Beziehungsregulation untersucht. Dahingehend sind Geschlechterunterschiede anzunehmen, da sich nach dem Stand der Forschung sowohl die Häufigkeit von Diskrepanzen, als auch die Häufigkeit der Erwiderung intimer Selbstmitteilungen (eine Form reziproken Verhaltens) bei Jungen- und Mädchenfreundschaften unterscheidet. Datengrundlage der vorliegenden Studie sind 47 Freundschaftsverläufe von Kindern in der mittleren Kindheit. Die Verläufe werden durch mehrere Erhebungen von Intimität, Exklusivität des Freundes und Intensität gemeinsamer Aktivitäten – jeweils separat durch beide Freunde beurteilt – abgebildet. Mit einem autoregressiven Mehrebenenmodell wird geprüft, (i.) in welchem Ausmaß die Ausprägungen von Intimität, Exklusivität und Intensität der eigenen Person sowie jener des Partners die Ausprägung dieser Merkmale zum nächsten Zeitpunkt erklären können, und (ii.) in welcher Weise bei solchen Zusammenhängen Unterschiede zwischen Mädchen- und Jungenfreundschaften bestehen.
2
Methoden
2.1 Stichprobe und Design Die Stichprobe umfasst 47 gleichgeschlechtliche Paare befreundeter Kinder (26 Mädchen- und 21 Jungenpaare). Das Alter der Kinder liegt während der ganzen Untersuchung zwischen 5 und 12 Jahren. Der Altersunterschied der Freunde beträgt im Durchschnitt fünf Monate. Als befreundet wurden Kinder gewertet, wenn sie füreinander hohe Zuneigung empfinden und den anderen auf einer Liste ihrer besten Freunde den Rangplatz eins, zwei oder drei geben. Kinder eines Paares wurden mehrfach im Abstand von vier bis acht Wochen interviewt. Der Untersuchungszeitraum betrug pro Paar im Durchschnitt 10 Monate (min. vier, max. siebzehn Monate).
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2.2 Erhebungsinstrumente Intimität, Intensität gemeinsamer Aktivitäten und Exklusivität des Partners wurden mit dem Dresdener Inventar zur Erhebung von Freundschaftsverläufen (vgl. Alisch/Wagner 1997) erhoben. Dabei wird jeweils auf spezifisch kindliche Indikatoren fokussiert. Erfragt werden Verhaltensweisen, die ein Kind selbst gegenüber dem Freund zeigt bzw. häufig in Interaktionen mit dem Freund wahrnimmt (vgl. Tabelle 1). Die strukturierten Interviews wurden bei den Kindern zuhause und separat mit beiden Freunden durchgeführt. Um vergleichbare Ausprägungen der Merkmale sowie der Parameter des statistischen Modells zu erhalten, wurden die drei Merkmale linear transformiert, so dass ihr Wertebereich das Intervall [0,1] ist. Null entspricht dem kleinstmöglichen Wert, eins dem größtmöglichen. Tabelle 1: Ausgewählte Items der Merkmale Intimität, Intensität und Exklusivität Merkmal
Item
Intimität
„Erzählst Du … große Geheimnisse?“ „Wenn … weint, weil er/sie sich verletzt hat, tröstest Du ihn/sie dann?“
Intensität
„Wenn Du mit … zusammen bist, lacht Ihr dann auch miteinander?“ „Wenn Du mit … zusammen bist, spielt Ihr dann auch miteinander?“ [Abstufungen: ganz wenig, ein bisschen, so mittelmäßig, viel, ganz viel]
Exklusivität
„Wenn Du und … zusammen spielt, lasst ihr ein anderes Kind mitspielen?“ [Abstufungen: immer, oft, manchmal, selten, nie]
2.3 Erzeugung einer homogenen Zeitstruktur Problematisch im Hinblick auf die Auswertung der Daten war deren heterogene Zeitstruktur. Aus erhebungstechnischen Gründen konnte nicht immer gewährleistet werden, dass Kinder eines Paares am gleichen Tag befragt werden, und dass der Zeitabstand zwischen den Erhebungswellen sowohl innerhalb eines Paares, als auch zwischen den Paaren zumindest annähernd gleich ist. Das Setzen solch nicht-äquidistanter Messungen als äquidistant führt zu Verzerrungseffekten, die nicht kontrolliert werden können. Deshalb bestand die Notwendigkeit, eine homogene Zeitstruktur in den Daten zu erzeugen. Für die Lösung dieses Problems wurde davon ausgegangen, dass soziale Beziehungen zeitkontinuierliche Prozesse sind, deren Entwicklung durch zeit-
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kontinuierliche Funktionen beziehungsrelevanter Merkmale (z. B. Intimität) abgebildet werden kann (vgl. Alisch et al. 1997, Boker 2002). Weiterhin wird angenommen, dass der vermutete Verlauf dieser Funktionen hinreichend durch Interpolation der gegebenen Messwerte angenähert werden kann (vgl. Alisch et al. 1997, Altmann/Hermkes 2008). Für die Interpolation wurden pieceswise cubic splines (vgl. de Boor 1978) verwendet. Die Orginal-Messwerte werden dabei entsprechend ihrer zeitlichen Nähe zum geschätzten Wert gewichtet. Zeitlich nahe Messwerte gehen mit hohem Gewicht in die Schätzung ein, entfernte mit geringem Gewicht, sehr weit entfernte Werte werden ausgeschlossen. Von den interpolierten Verlaufskurven beider Kinder werden zeitlich äquidistante Werte abgeleitet (je Monat ein Wert). Je nach Paar liegen dann pro Kind interpolierte Werte beziehungsrelevanter Merkmale von vier bis siebzehn Zeitpunkten vor.
2.4 Prozessmodellierung 2.4.1 Allgemeines Der Zustand eines Kindes innerhalb einer Freundschaftsbeziehung zu einem Zeitpunkt wird durch drei Merkmale charakterisiert: Intimität, Intensität und Exklusivität. Für jedes dieser Merkmale wird ein separates Prozessmodell aufgestellt, das die Gesetzmäßigkeit der Veränderungen eines Merkmals von einem Kind innerhalb einer spezifischen Freundschaftsbeziehung beschreibt. Es wird angenommen, dass diese Gesetzmäßigkeit für beide Kinder eines Paares gleich ist. Dies wird u. a. dadurch gestützt, dass die Kinder eines Paares in dieser Studie das gleiche Geschlecht und ein ähnliches Alter aufweisen. Im Sinne eines autoregressiven Modells wird angenommen, dass sich die aktuelle Ausprägung eines Merkmals bei einem Kind aus der Summe von individueller Baseline, gewichteten Vorzustand der eigenen Person, gewichteten Vorzustand des Partners und einem Fehleranteil ergibt. Für das formale Prozessmodell (vgl. Gleichung (1)) werden folgende Indizes genutzt: v abhängige Variable ( v ^1 Intensität, 2 Exklusivität, 3 Intimität` ), p Paar ( p ^1,, N `, wobei N der Paar-Stichprobenumfang ist), k Kind innerhalb des Paares ( k ^0,1` ) und t Zeitpunkt ( t ^1, , T p 1`, wobei T p die Anzahl der Messwerte des Paares p ist). Die Variablen, die den Vorzustand des jeweiligen Kindes (Intensität: X 1(Cp t) , Exklusivität: X 2(Cp )t , Intimität: X 3(Cp )t ) bzw. den Vorzustand des Partners (Intensität: X 4(Cp )t , Exklusivität: X 5(Cp )t , Intimität: X 6(Cp )t ) beschreiben, sind die um den jeweiligen Gesamtmittelwert zentrierten Messwerte (z. B. X 1( Cp )t X 1 p t X 1 ).
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X vpk t 1
E
0 vpk ,
Baseline
E X 1( Cp t) E 2 vpk X 2( Cp )t E 3vpk X 3( Cp )t 1vpk gewichteter Vorzustand selbst
E 4 vpk X 4( Cp )t E 5vpk X 5( Cp )t E 6 vpk X 6( Cp )t
(1)
H vpk t
gewichteter Vorzustand Partner
, Fehler
2.4.2 Baseline Die Baseline E 0vpk bildet das zeitlich konstante Niveau eines Merkmals X v ab, um das die monatlichen Messungen schwanken. Es ist anzunehmen, dass sich die Baselines von Jungen- und Mädchenpaaren unterscheiden, ebenso zwischen den Paaren (z. B. aufgrund von Aushandlungen zwischen den Freunden) sowie zwischen den Kindern eines Paares (z. B. aufgrund individueller Präferenzen). Bei einem Kind setzt sich die Baseline des Merkmals X v dementsprechend aus vier Komponenten zusammen: Gesamtmittelwert ( J 00v ), Einfluss des Geschlechtes ( J 01v G pk ), Paar-Effekt ( G 0vp , Abweichung vom Paarmittelwert zum Gesamtmittelwert) und Kind-Effekt ( G 0vpk , Abweichung vom Kindmittelwert zum Paarmittelwert).
E 0vpk
J 00v J 01v G pk G 0vp G 0vpk
(2)
Zur Bestimmung von Geschlechterunterschieden wird die Dummy-Variable G pk genutzt. G pk : 1 , falls Kind k des Paares p ein Junge ist, andernfalls ist G pk : 0 . Bei der Interpretation der Ergebnisse ist aufgrund dieser Festlegung zu beachten, dass bei einem signifikanten J 01v die Baseline der Mädchen beim Merkmal X v gleich J 00v J 01v 0 J 00v ist und die Baseline der Jungen gleich J 00v J 01v 1 J 00v J 01v . G 0vp und G 0vpk sind zufällige Effekte, die der Mehrebenenstruktur der Daten Rechnung tragen. Falls G 0vp signifikant variiert, unterscheiden sich die Paare überzufällig hinsichtlich der Baseline des Merkmals X v . Falls G 0vpk signifikant variiert, unterscheiden sich die Kinder innerhalb der Paare überzufällig in ihren Baselines.
Beziehungsregulation in Kinderfreundschaften
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2.4.3 Slopes Von besonderem Interesse sind in dieser Studie die Parameter E1vk ,, E 6vk (auch Slopes), da sie den Einfluss des Merkmals X u zum Zeitpunkt t auf das Merkmal X v zum Zeitpunkt t+1 abbilden. Es wird angenommen, dass sich jeder Slope aus zwei Komponenten zusammensetzt: dem allgemeinen Zusammenhang ( J 10 v ,, J 60v , für alle Paare unabhängig vom Geschlecht gültig) und dem Einfluss des Geschlechts auf diesen Zusammenhang ( J 11v ,, J 61v ). Gleich der Baseline wird für die Bestimmung von Geschlechterunterschieden die DummyVariable G pk genutzt.
J 10v J 11v G pk
E1vpk
E 6vpk
J 60v J 61v G pk
(3)
2.4.4 Kovarianzstruktur Für die Fehler ( H v ) wird angenommen, dass sie normalverteilt sind und innerhalb eines Paares im Sinne eines autoregressiven Prozesses erster Ordnung korreliert sein können. Die zufälligen Effekte ( G 0vp , G 0vpk ) werden als normalverteilt und deren Varianzen als unabhängig voneinander angenommen.
3
Ergebnisse
Die Schätzungen der Parameter der Prozessmodelle für Intensität, Exklusivität und Intimität sind in Tabelle 2 aufgelistet. Die geschätzten Varianzen der Fehler und zufälligen Effekte werden aus Platzgründen nicht referiert.
3.1 Unterschiede der Baselines Im Hinblick auf die Baselines von Intensität, Exklusivität und Intimität ist festzustellen, dass unter den drei Merkmalen die Intensität gemeinsamer Aktivitäten im Durchschnitt am höchsten ( Jˆ001 0.76 ) und die Intimität zum Partner im Durchschnitt am niedrigsten ( Jˆ003 0.19 ) ausgeprägt ist (vgl. Tabelle 2). Signifikante Geschlechterunterschiede hinsichtlich der Baselines der drei Merkmale wurden nicht ermittelt.
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Tabelle 2: Schätzungen und Standardfehler (SE) der Modellparameter (Irrtumswahrscheinlichkeit der Schätzungen: + p < 0.10, * p < 0.05, ** p < 0.01, *** p < 0.001) Intensität (t+1) Schätzung SE
Parameter Baseline Gesamtmittelwert Geschlechtereinfluss auf Baseline Vorzustand selbst Intensität Geschlechtereinfluss auf Intensität Exklusivität Geschlechtereinfluss auf Exklusivität Intimität Geschlechtereinfluss auf Intimität Vorzustand Partner Intensität Geschlechtereinfluss auf Intensität Exklusivität Geschlechtereinfluss auf Exklusivität Intimität Geschlechtereinfluss auf Intimität
Exklusivität (t+1) Intimität (t+1) Schätzung SE Schätzung SE
J 00v J 01v
0.76*** -0.01
(0.01) (0.01)
J 10 v J 11v
0.83*** -0.09+
(0.04) (0.05)
J 20 v J 21v
0.04+ -0.02
(0.02) (0.04)
J 30v J 31v
0.00 0.01
(0.03) (0.05)
-0.03 0.09
(0.05) (0.07)
J 40 v J 41v
0.09* -0.09+
(0.04) (0.05)
-0.04 0.06
(0.05) (0.07)
0.04 -0.07
(0.03) (0.05)
J 50v J 51v
0.06** -0.12**
(0.02) (0.04)
0.01 0.03
(0.03) (0.05)
-0.05* 0.02
(0.02) (0.04)
J 60v J 61v
0.01 0.02
(0.03) (0.05)
0.06 0.00
(0.05) (0.07)
-0.04 0.05
(0.03) (0.05)
0.42*** 0.01
-0.04 0.12 0.51*** 0.12*
(0.01) (0.01)
0.19*** 0.02
(0.01) (0.01)
(0.05) (0.07)
0.02 -0.01
(0.03) (0.05)
(0.03) (0.05)
-0.02 -0.01
(0.02) (0.04)
0.57*** 0.11*
(0.03) (0.05)
3.2 Gegenseitige Beeinflussung: Überblick Bezüglich des Einflusses des eigenen Vorzustandes und des Einflusses des Vorzustandes des Partners wurden signifikante Zusammenhänge ermittelt, sowie Geschlechterunterschiede, die sich auf diese Zusammenhänge beziehen (vgl. Tabelle 2). Die entsprechenden Ergebnisse sind in Abbildung 1 für Mädchenfreundschaften und in Abbildung 2 für Jungenfreundschaften schematisch dargestellt. Zu beachten ist, dass in beiden Abbildungen nur die Zusammenhangsstruktur für ein Kind abgebildet ist. Die ermittelten Zusammenhänge gelten auch für den Partner. Um die Darstellungen übersichtlich zu halten, wurden die ent-
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115
sprechenden Pfeile jedoch nicht eingetragen. In den Abbildungen symbolisiert jeder Pfeil einen signifikanten Zusammenhang von Merkmal X u zu t und Merkmal X v zu t+1. Jedem Pfeil ist der entsprechende Schätzwert aus Tabelle 2 zugeordnet. Falls ein signifikanter Geschlechterunterschied auftrat, ist der Zahlenwert für Mädchen gleich Jˆu0 v , bei Jungen ist er gleich Jˆu 0 v Jˆu1v (vgl. Abschnitt 2.4). Ein entsprechendes Beispiel ist der Einfluss der Exklusivität des Partners zu t auf die eigene Intensität zu t+1: Bei Mädchen ist der geschätzte Slope, der diesen Einfluss abbildet, gleich Jˆ501 0.06 , bei Jungen ist er Jˆ501 Jˆ511 0.06 0.12 0.06 . Abbildung 1: Zusammenhangsstruktur bei Mädchenpaaren. Es sind Slopes mit einer Irrtumswahrscheinlichkeit von p<0.05 dargestellt
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Abbildung 2: Zusammenhangsstruktur bei Jungenpaaren. Es sind Slopes mit einer Irrtumswahrscheinlichkeit von p<0.05 dargestellt.
3.3 Beeinflussung der Intensität Die Intensität gemeinsamer Aktivitäten wird in Jungen- und Mädchenfreundschaften durch drei Merkmale beeinflusst: (i.) Je höher die Intensität des betreffenden Kindes zum Vormonat, desto höher ist dessen Intensität im Folgemonat ( Jˆ101 0.83 ). (ii.) Eine Erhöhung der Intensität bei einem Kind ist ebenfalls zu erwarten, falls der Partner im Vormonat seine Intensität erhöhte ( Jˆ401 0.09 ). (iii.) Unterschiede von Jungen- und Mädchenfreundschaften liegen bezüglich des Einflusses der Exklusivität des Partners auf die Intensität eines Kindes vor. Falls in einer Mädchenfreundschaft eine der Freundinnen im Vormonat die Exklusivität erhöhte, dann ist im Folgemonat eine tendenzielle Erhöhung der
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Intensität bei ihrer Freundin zu erwarten ( Jˆ501 0.06 ), so wie es Austauschtheorien (vgl. Abschnitt 1.1) nahelegen. Anders in Jungenfreundschaften, dort erhöht ein Kind tendenziell die Intensität, falls der Partner im Vormonat die Exklusivität senkte ( Jˆ501 Jˆ511 0.06 0.12 0.06 ). 3.4 Beeinflussung der Exklusivität Bezüglich der Bewertung der Exklusivität des Freundes (kurz Exklusivität) ist auffällig, dass sie im Vergleich zur Intensität und Intimität nicht durch den Partner beeinflusst wird. Vielmehr ist nur eine Erhöhung der Exklusivität zu erwarten, falls die eigene Exklusivität im Vormonat hoch war. Dieser Einfluss ist in Jungenfreundschaften stärker ausgeprägt ( Jˆ202 Jˆ212 0.51 0.12 0.63 ) als in Mädchenfreundschaften ( Jˆ202 0.51 ). 3.5 Beeinflussung der Intimität Hinsichtlich der Intimität wurden zwei Einflüsse ermittelt: (i.) Falls die eigene Intimität im Vormonat hoch ist, so ist im Folgemonat ebenfalls eine hohe Intimität zu erwarten. In Jungenfreundschaften ist dieser Einfluss ausgeprägter ( Jˆ303 Jˆ313 0.57 0.11 0.68 ) als in Mädchenfreundschaften ( Jˆ 303 0.57 ). (ii.) Eine tendenzielle Erhöhung der Intimität ist auch zu erwarten, wenn der Freund/die Freundin im Vormonat die Exklusivität senkte ( Jˆ503 0.05 ). 4
Zusammenfassung und Diskussion
Freundschaften unterliegen fortwährenden Veränderungen. Bezogen auf die befreundeten Personen beinhaltet dies u. a. die Veränderung der eigenen Person im Kontext der Beziehung sowie die Beeinflussung des Partners. Gegenseitige Beeinflussung bildet einen Aspekt von Beziehungsregulation ab, und zwar mit welchem Ergebnis Freunde ihre Perspektiven auf sich, den anderen und die Beziehung koordinieren. Anzunehmen ist, dass sich Gelingen und Misslingen von Beziehungsregulation auf das Bestehen einer Freundschaft auswirken. Vor diesem Hintergrund war es das Anliegen dieser Studie, gegenseitige Beeinflussung von befreundeten Kindern zu untersuchen. Vermutet wurde, dass sich dabei Jungen- und Mädchenfreundschaften bereits in der mittleren Kindheit unterscheiden. Als theoretischer Bezugsrahmen wurden Freundschaften als gekoppeltes dynamisches System aufgefasst. In dem damit korrespondierenden
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autoregressiven Mehrebenenmodell können Aussagen über Unterschiede in der Beziehungsregulation von Jungen- und Mädchenfreundschaften getroffen werden und zwar über die statistisch zu schätzenden Modellparameter, die den Zusammenhang eines Merkmals von Kind A zum Zeitpunkt t und einem Merkmal von Kind B zum Zeitpunkt t+1 abbilden. Aufgrund des Zeitversatzes der Messungen und des Eingehens mehrerer Messzeitpunkte pro Paar wird solchen Modellen das Vermögen zugeschrieben, Interpretationen im Sinne von Merkmal X beeinflusst Merkmal Y zuzulassen. Die Analyse der Kinderfreundschaftsverläufe brachte Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Beziehungsregulation von Jungen- und Mädchenfreundschaften zutage. Dahingehend sollen die Ergebnisse hinsichtlich des Einflusses des eigenen Vorzustandes auf den Nachzustand (Abschnitt 4.1), hinsichtlich des Partnereinflusses auf den Nachzustand (Abschnitt 4.2) und hinsichtlich der Rolle von Intimität, Intensität und Exklusivität in Kinderfreundschaften (Abschnitt 4.3) diskutiert werden.
4.1 Zum Einfluss des eigenen Vorzustandes auf den Folgezustand in Jungenund Mädchenfreundschaften Jungen- und Mädchenfreundschaften ist gemeinsam, dass der Vorzustand eines Kindes stark dessen Nachzustand beeinflusst (die Beträge der entsprechenden Slopes liegen im Bereich von 0.51 bis 0.83, vgl. Tabelle 2). Der Partner übt dagegen nur einen relativ geringfügigen Einfluss aus (die Beträge der entsprechenden Slopes liegen im Bereich von 0.05 bis 0.09, vgl. Tabelle 2). Ein Unterschied von Jungen- und Mädchenfreundschaften zeichnet sich dadurch aus, dass bei Jungen der eigene Vorzustand stärker den Folgezustand beeinflusst als bei Mädchen (vgl. Tabelle 2). Einen Interpretationsansatz für diesen Befund eröffnet von Salischs (1991) Videostudie. Ihre Studienergebnisse indizieren, dass befreundete Mädchen anders als Jungen in konflikthaften Situationen interagieren. Mädchen thematisierten den Konflikt offen, fingen aber dessen Eskalation durch gleichzeitige positive mimische Expressionen ab. Jungen vermieden eher die Thematisierung des Konfliktes und versuchten offenbar auf diesem Weg, die Freundschaftsbeziehung nicht durch einen eskalierenden Konflikt zu gefährden. Von Salisch (1991) schlussfolgert daraus, dass Jungen Konflikte eher mit sich selbst ausmachen. Dahingehend legt der Befund der vorliegenden Studie eine Verallgemeinerung nahe, und zwar dergestalt, dass Jungen in Freundschaft eher „den Weg nach Innen“ wählen.
Beziehungsregulation in Kinderfreundschaften
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4.2 Zum Einfluss des Partners in Jungen- und Mädchenfreundschaften Bezüglich der Beeinflussung durch den Partner wurden bei Mädchen- und Jungenfreundschaften zwei Gemeinsamkeiten und ein Unterschied festgestellt. Ganz im Sinne der Austauschtheorien erhöht sich bei Jungen wie auch bei Mädchen die Intensität, falls der Freund bzw. die Freundin im Vormonat die Intensität erhöhte. Das Prinzip „je mehr …, desto mehr …“ gilt jedoch nicht beim Einfluss der Exklusivität auf die Intimität des anderen (vgl. Abschnitt 3.3). Eine Erhöhung der Intimität ist zu erwarten, falls der Freund/die Freundin im Vormonat die Exklusivität senkte. Dies könnte als eine Art Gegensteuern bei einer vermeintlichen Senkung der Freundschaftsqualität interpretiert werden: Wenn ein Kind empfindet, dass Interaktionen mit dem Freund an Besonderheit (resp. Exklusivität) verlieren, dann wirkt es dem durch erhöhte intime Verhaltensweisen in Interaktionen mit dem Freund/der Freundin entgegen. Ein Geschlechterunterschied betrifft den Zusammenhang der Intensität eines Kindes zum Zeitpunkt t+1 und der Bewertung des Partners bezüglich der Exklusivität zum Zeitpunkt t. In Mädchenfreundschaften erhöht ein Kind i. d. R. die Intensität, falls die Freundin zuvor die Exklusivität erhöhte. In Jungenfreundschaften ist das Gegenteil die Regel. Dort wird die Intensität von einem Kind erhöht, falls der Freund im Vormonat die Exklusivität minderte. Man könnte auch hier vermuten, dass dieses Verhalten von Jungen als eine Art Gegensteuern bei einer vermeintlichen Senkung der Freundschaftsqualität darstellt. Dies könnte bedeuten, dass Jungen sensitiver als Mädchen auf eine Senkung der Freundschaftsqualität reagieren. Diese Vermutung stützt sich darauf, dass Mädchen tendenziell mehrere beste Freundinnen haben, während Jungen eher zu einem besten Freund neigen (vgl. Hay 1984, Kolip 1994, La Gapia 1979; die Studien beziehen sich allerdings auf Adoleszenten). Aufgrund eines fehlenden Substituts durch eine bestehende Beziehung dürften Jungen den Verlust des besten Freundes bedeutsamer empfinden und dementsprechend auch anders in der Beziehung mit dem besten Freund agieren.
4.3 Zur Rolle von Intimität, Intensität und Exklusivität in Jungen- und Mädchenfreundschaften Die Ergebnisse der Studie deuten an, dass Intimität, Intensität gemeinsamer Aktivitäten und Exklusivität des Partners in Kinderfreundschaften unterschiedliche Funktionen innehaben. Hohe Intensität gemeinsamer Aktivitäten scheint eher ein allgemeines Merkmal von Freundschaften in der mittleren Kindheit zu
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sein. Das wird durch die Ergebnisse zu den Baselines von Intensität, Exklusivität und Intimität nahe gelegt, wonach die Ausprägungen der Intensität im Durchschnitt am höchsten ausfielen (vgl. Abschnitt 3.1). Dies korrespondiert mit dem Stand der Forschung, wonach Freundschaften in der mittleren Kindheit vorrangig durch gemeinsame Aktivitäten geprägt sind und erst in der Adoleszenz Intimität und andere psychologische Aspekte an Bedeutung gewinnen (vgl. Newcomb/Bagwell 1995, 311). Im Vergleich zu Intensität und Intimität scheint in Kinderfreundschaften der Exklusivität eine besondere Rolle bezüglich der Regulation der Beziehung zuzukommen. Dieses Merkmal wird nicht vom Partner beeinflusst, aber mit der eigenen Exklusivität werden Intensität und Intimität des Partners beeinflusst (vgl. Abschnitt 3.2). Demzufolge scheinen Kinder Freundschaftsbeziehung verstärkt mit Verhaltensweisen zu steuern, die den Freund/die Freundin als exklusiv bzw. als nicht-exklusiv ausweisen.
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Ausblick
Die Befunde der Studie deuten darauf hin, dass Jungen und Mädchen bereits in der mittleren Kindheit dazu tendieren, ihre Freundschaften z. T. auf andere Art und Weise zu regulieren. Ungeklärt ist, ob diese Unterschiede eher durch biologische oder durch soziologische Ursachen zustande kommen. Erwägenswert scheint es deshalb, neben dem hier betrachteten biologischen Geschlecht auch das „soziologische Geschlecht“ zu untersuchen. Eine Ansatz dafür bietet die Studie von Barth/Kinder (1988), in der die Probanden unabhängig vom biologischen Geschlecht als typisch männlich, typisch weiblich oder androgyn klassifiziert wurden. Unterschiede hinsichtlich der Intimität von Gesprächen konnten nicht hinsichtlich des biologischen Geschlechts festgestellt werden, wohl aber zwischen typisch weiblichen und typischen männlichen Probanden – weshalb Barth/Kinder die Unterschiede bzgl. der Intimität von Gesprächen soziologischen Einflussfaktoren zuschreiben. Danksagung Die Daten der Studie wurden im DFG-Projekt „Verlaufsprozesse bei Kinderfreundschaften“ (Fördernummer: AL 368/2-1; WA 546/3-1) unter der wissenschaftlichen Leitung von Lutz-Michael Alisch und Jürgen W. L. Wagner erhoben. Beiden gilt mein herzlicher Dank, da sie mir die Daten für eine Re-Analyse zur Verfügung stellten. Danken möchte ich auch Rico Hermkes und Evelyn Hochheim für hilfreiche Hinweise und Anregungen bei einer früheren Version des Manuskriptes.
Literatur Aboud, F.E. (1989): Disagreement Between Friends. International Journal of Behavioral Development, 12(4), 495-508.
Beziehungsregulation in Kinderfreundschaften
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Peers und Migration – zur Bedeutung von inter- und intraethnischen Peerbeziehungen im Jugendalter Heinz Reinders
1
Einleitung
Die Geschichte der Migration in Deutschland ist vornehmlich eine Geschichte über Migranten und deren Akkulturationsvorstellungen. Dies gilt für den öffentlichen Diskurs ebenso wie für die deutschsprachige Forschung. Im Mittelpunkt stehen Fragen nach der Integrationsbereitschaft, dem Einfluss von Familie und Schule auf den Entwicklungsverlauf von Kindern und Jugendlichen sowie solche nach Rassismus und Diskriminierung (vgl. hierzu u.a. Polat 1997; Nauck/Kohlmann/Diefenbach 1997; Möller/Heitmeyer 2004). Jüngste Debatten kreisen um die Frage, wie der strukturellen Bildungsbenachteiligung von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund beizukommen ist (vgl. Aktionsrat Bildung 2006). Gemeinsam ist diesen Zugängen der Blick auf die entweder defizitäre Lage von Migranten oder aber deren Fähigkeit bzw. Bereitschaft, sich in die Aufnahmekultur zu integrieren. Dabei wird kaum in den Blick genommen, wie sich interkulturelle Beziehungen zwischen allochthoner (Migranten-) und autochthoner (Aufnahme-) Bevölkerung gestalten. Gerade die heutige Kinder- und Jugendgeneration in urbanen Regionen tritt in vielfältige Kontakte mit Gleichaltrigen verschiedener Herkunftsländer und Ethnien. Migrationsanteile von 50 Prozent oder mehr sind an städtischen Hauptschulen keine Seltenheit mehr, in Jugendzentren und Jugendklubs tummeln sich Jugendliche jedweder Couleur und in Sportvereinen kickt halb Europa gemeinsam gegen ebenso bunt gewürfelte Gegner. Zwischen einem Viertel und knapp der Hälfte jugendlicher Hauptschüler berichtet, einen andersethnischen besten Freund zu haben (vgl. Reinders/Mangold 2005). Und auch an Realschulen und Gymnasien, an denen der Anteil an Migranten deutlich geringer ist, nennen drei von zehn Schüler einen Freund anderer als der eigenen Herkunft (vgl. Reinders 2005). Damit übertreffen heutige Heranwachsende zum Teil deutlich die Rate interethnischer Freundschaften ihrer Elterngeneration (vgl. Esser 1991; Leggewie 2000).
124
Heinz Reinders
Diese Beziehungen sollten nicht ohne Auswirkungen auf den Sozialisationsprozess beider Seiten bleiben (vgl. Bourhis et al. 1997). Thematisiert wird dieser Prozess in der deutschsprachigen Forschung jedoch kaum (vgl. Diskurs Kindheits- und Jugendforschung, Heft 1 2006). US-amerikanische Studien in der Tradition der Kontakthypothese von Allport (1971) haben diesen Aspekt interkulturellen Zusammenlebens deutlich intensiver beleuchtet (zusf. Reinders 2004a) und können aufzeigen, unter welchen Bedingungen interethnische Beziehungen einen förderlichen Einfluss auf den Abbau von Stereotypen und Vorurteilen besitzen (zusf. Pettigrew/Tropp 2000). Gleichaltrigen kommt, wie eigene Studien zeigen, eine zentrale Bedeutung dafür zu, wie die heranwachsende Generation mit den Anforderungen interethnischen Zusammenlebens umzugehen vermag. Dies gilt nicht nur für Migrantenjugendliche, sondern auch für Jugendliche deutscher Herkunftssprache. Das Anliegen dieses Beitrags ist es, den Zusammenhang von interethnischen Gleichaltrigenbeziehungen für beide Seiten zu skizzieren und damit den einseitigen Fokus auf die Akkulturation von Migranten zu erweitern. Hierzu wird zunächst die Idee der Ko-Kulturation dargestellt, sodann auf die Entstehung solcher Beziehungen und ihrer Verbreitung unter Jugendlichen eingegangen, die Gestalt interethnischer Freundschaften beleuchtet und jeweils für Jugendliche mit und ohne Migrationshintergrund spezifische Auswirkungen skizziert. In einem abschließenden Resümee wird der derzeitige Kenntnisstand zusammengefasst und ein Ausblick auf zukünftige Forschungsfelder gegeben.
2
Das Konzept der Ko-Kulturation
Klassischerweise wird in der Sozialisationsforschung zwischen der Enkulturation (oder ersten Sozialisation) autochthoner und der Akkulturation (oder zweiten Sozialisation) allochthoner Heranwachsender unterschieden. Die Grundidee ist, dass sich Majoritätsangehörige zum gesellschaftsfähigen Subjekt innerhalb des Sets an Normen, Werten und Handlungsmustern der eigenen Kultur entwickeln und Minoritätsmitglieder eine Neukonfiguration zur Anpassung an die Majoritätskultur vornehmen (vgl. Schmitt-Rodermund/Silbereisen 2008). In sozialen Kontexten mit deutlich höherem Anteil an Migranten, der gerade in städtischen Räumen industrieller Prägung häufig zu finden ist und bspw. an Hauptschulen kulminiert, verkehrt sich jedoch das Verhältnis von Majorität zu Minorität nicht selten. In Schulklassen mit 80 Prozent oder mehr Migranten kann schwerlich von einer „deutschen“ Mehrheit gesprochen werden. Anpassungsanforderungen ergehen dann ebenso an die Schüler deutscher Herkunft, denn allein die Mehrheitsverhältnisse rechtfertigen keine eindeutige Festlegung
Peers und Migration
125
einer dominanten Kultur mehr. Akkulturation und Enkulturation greifen nicht mehr allein als Konzepte, zumindest dann nicht, wenn jenseits des monolingualen Charakters von Schule die ethnische Struktur und darin eingebettete Peerbeziehungen betrachtet werden. Aus diesem Grund wird als ergänzendes Konzept jenes der Ko-Kulturation eingeführt. Dieses beschreibt Prozesse der gleichberechtigten Aushandlung gültiger Normen, Werte und Handlungsmuster (vgl. Krewer/Eeckensberger 1998). Sozialpsychologisches Fundament dieser Idee ist die Vorstellung von sozialer Ko-Konstruktion in Peerbeziehungen (vgl. Youniss 1980). Aufgrund des symmetrischen Charakters von Gleichaltrigenbeziehungen, in die jeder Beteiligte eigene Vorstellungen und Bedürfnisse gleichberechtigt einbringen kann, besitzen diese horizontalen Transmissionswege (vgl. Berry et al. 1989) keine prädeterminierte Machtstellung eines Beteiligten zur Durchsetzung kultureller Werte. Freundschaftsbeziehungen basieren auf Freiwilligkeit, die ihrerseits das Aufkündigen der Beziehung ermöglicht und deshalb kompromisshaftes Aushandeln von Geben und Nehmen bedingt. Ko-Kulturation als Konzept erweitert diesen sozialpsychologischen Rahmen um die soziologische Komponente kulturell gerahmter Werte und Vorstellungen. In gleichberechtigten Peerbeziehungen werden kulturelle Vorstellungen von beiden Seiten eingebracht und zur Disposition gestellt. Diverse jugendkulturelle Expressionen bringen zum Ausdruck, wie durch den Prozess der KoKulturation neue Formen entstehen, etwa die Entwicklung eines deutschtürkischen Ethnolekts (vgl. Varadi 2007), neuer Musikszenen (vgl. Weller 2003) oder sozialräumlicher Aneignung in Städten durch das sog. „Le Parcouring“ (parcouring.de). Gemeinsam ist diesen Szenen die Vermischung entweder auf der inhaltlichen Ebene, bei der kulturelle Elemente kombiniert werden, oder aber auf der personellen Ebene interethnischer Beziehungsgeflechte zur Entwicklung und Realisierung der Inhalte. Ko-Kulturation als Idee unterstellt nicht, dass dieser Prozess in jeder interethnischen Beziehung stattfindet, sie verweist lediglich darauf, dass es sich hier neben En- und Akkulturation um eine weitere denkbare und empirisch auftretende Variante des Sozialisationsprozesses unter Gleichaltrigen handelt.
3
Entstehung und Verbreitung interethnischer Freundschaften
Die Voraussetzung für Prozesse der Ko-Kulturation ist die Entstehung interethnischer Beziehungen. Diese haben, wie Freundschaften generell, in der Regel ihren Ursprung in der Schule und werden in der Freizeit fortgeführt (vgl. PreussLausitz 1999). In Anlehnung an das Konzept von Verbrugge (1977) kann dieser
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Heinz Reinders
Fortführungsprozess aus dem schulischen Kontext heraus als moving, meeting und mating beschrieben werden (vgl. auch Pettigrew 1997). x
x
x
Moving. Hierbei handelt es sich um sozialräumliche Orientierungen, bei denen Jugendliche spezifische Orte aufsuchen, an denen sie ihre lebensphasenspezifischen Bedürfnisse einbringen können. Dies kann z.B. das Treffen von Freunden an Bushaltestellen zum quatschen oder das Aufsuchen von Freibädern für erste romantische Kontakte sein (vgl. Noack 1990). Die Annahme bei Verbrugge (1977) ist, dass Personen vor allem solche Orte aufsuchen, bei denen sie erwarten, sozial ähnliche Personen anzutreffen. Meeting. In diesen Sozialräumen finden Jugendliche eine Auswahl an Peers vor, die ihnen in Interessen und Aktivitäten eher ähnlich sind und finden demgemäß eine Art „Markt der Freundschaftsmöglichkeiten“ vor. Mating. Aus diesem Markt werden beim mating jene Peers ausgewählt, zu denen eine besondere Sympathie oder Ähnlichkeit lebensphasenspezifischer Themen und Anforderungen besteht. Es findet die Entwicklung einer Freundschaft statt.
Die Besonderheit bei der Entstehung interethnischer Freundschaften besteht darin, dass Jugendliche mit einer hohen Distanz zur älteren Generation Sozialräume aufsuchen, in denen sie verstärkt Peers andersethnischer Herkunft antreffen. Erklärt wird dies durch die intendierte Abgrenzung von den Eltern durch die Wahl eines Freundes einer anderen Kultur. Empirisch zeigt sich, dass dieser Prozess sowohl bei Jugendlichen mit als auch ohne Migrationshintergrund funktioniert (vgl. Reinders 2004a). Eine hohe generationale Distanz begünstigt das Aufsuchen öffentlicher Sozialräume in denen dann vermehrt andersethnische Peers angetroffen werden (meeting). Die Häufigkeit dieser interethnischen Begegnungen macht schließlich die Entstehung interethnischer Freundschaften wahrscheinlicher (mating) (vgl. Reinders 2004b; Reinders/Greb/Grimm 2006). Ein entscheidendes Merkmal interethnischer Freundschaften ist die Überlagerung der ethnischen durch die generationale Identität des Jugendlich-Seins. Dieser criss-crossing genannte Effekt führt dazu, dass Jugendliche eher Freunde wählen, die aktuell ähnliche oder gleiche Probleme und Themen der Identitätsentwicklung bearbeiten und deshalb als Bezugsperson unabhängig der Herkunft interessant werden (vgl. Reinders 2004b). Hinzu kommt der zusätzliche Nutzen einer stärkeren kulturellen Abgrenzung von der Herkunftsfamilie (s.o.).
127
Peers und Migration
Dass solche Entstehungsprozesse abhängig von der Verfügbarkeit andersethnischer Peers ist, zeigt eine Gegenüberstellung interethnischer Freundschaften nach Schulform (vgl. Tab. 1). Tabelle 1: Verteilung inter- und intraethnischer Freundschaften nach Schulform bei deutschen Jugendlichen Hauptschule N (%)
Realschule N (%)
Gymnasium N (%)
Intraethnisch
264
(56.2)
185
(70.9)
159
(69.4)
Interethnisch
206
(43.8)
76
(29.1)
70
(30.6)
Gesamt
470 (49.0)
261 (27.2)
229 (23.9)
Gesamt N (%) 608 (63.3) 352 (36.7) 960 (100)
Quelle: Reinders 2005a
So zeigt sich zum einen, dass interethnische Freundschaften an der Hauptschule häufiger auftreten, weil dort durch den höheren Anteil an Migrantenjugendlichen auch eine höhere Entstehungswahrscheinlichkeit besteht. Dieser Effekt lässt sich auch auf der Klassenebene zeigen. Je stärker sich die Verhältnisse zugunsten einer ausgewogenen ethnischen Komposition verändern, desto häufiger sind auch interethnische Konstellationen festzustellen (vgl. Greb 2005). Zum anderen kommt auch dem Sozialklima in der Klasse eine entscheidende Bedeutung zu. Je weniger fremdenfeindlich eine gesamte Klasse eingestellt ist, desto eher entwickeln sich Beziehungen zwischen Schülern unterschiedlicher Herkunft (vgl. Greb 2005; Hamm/Brown/Heck 2005). Insgesamt kann zur Entstehung interethnischer Freundschaften festgehalten werden, dass die besuchte Schulform, die Konstellationen in der Klasse und eine ausgeprägte Orientierung am Jugendlich-Sein wichtige Erklärungsmerkmale darstellen. Für die Verbreitung bleibt festzuhalten, dass interethnische Freundschaften vor allem an Hauptschulen zu finden sind, jedoch in erheblichem Ausmaß auch an Realschulen und Gymnasien vorzufinden sind.
4
Gestalt interethnischer Freundschaften
Freundschaften sind generell durch Freiwilligkeit, ein hohes Maß an Vertrauen, Gegenseitigkeit und Aktivitätsähnlichkeit gekennzeichnet (vgl. Youniss 1980; Kolip 1994). Es handelt sich im Gegensatz zu Eltern-Kind-Beziehungen um symmetrische Konstellationen mit gleichberechtigtem Zugang ohne Wissensoder Erfahrungsvorsprünge einer der beiden Seiten. Diese Beschreibung von
128
Heinz Reinders
Freundschaften basiert vor allem auf die Erforschung gleichethnischer Beziehungen (Bukowski/Newcomb/Hartup 1996). Aussagen zu interethnischen Freundschaften finden sich in der Literatur und einschlägigen Studien im deutschsprachigen Raum (vgl. Wetzstein/Erbeldinger/Hilgers/Eckert 2005) kaum. Theoretische Annahmen zur Gestalt und Qualität inter- im Vergleich zu intraethnischen Beziehungen könnten sein, dass a) diese eine geringere Qualität aufweisen, weil herkunftsbedingte Unterschiede (Sprache, Normen und Werte) und soziale Distanzen eine geringere Intimität und Vertrautheit mit sich bringen (Erklärung durch Modelle sozialer Distanz; vgl. Ibaidi/Rauh 1984); b) diese eine höhere Qualität aufweisen, da andersethnische Peers eine besondere kulturelle Ressource zur Abgrenzung von den Eltern darstellen und somit ein engeres Band „gegen“ die Eltern darstellen (Erklärung durch Attraktionskonzepte; vgl. Blau 1974); c) sich die Qualität zwischen intra- und interethnischen Freundschaften nicht unterscheidet, da nach der Abwägung von Kosten und Nutzen einer solchen Beziehung generell nach der Entstehung von Freundschaften der subjektive Nutzen überwiegt und deshalb keine Qualitätseinbußen von den beteiligten Partnern erwartet werden (Erklärung durch Erwartungs-x-Wert-Theorien; vgl. Esser 1991). Der internationale und sehr spärliche nationale Forschungsstand der letzten Jahre zeichnet ein uneinheitliches Bild. Mal wird eine höhere Qualität inter- im Vergleich zu intraethnischen Freundschaften Jugendlicher konstatiert (vgl. Eisikovits 2000; Nicholson 2002), ein anderes Mal eine geringere Beziehungsqualität ermittelt (vgl. Ramachers 1996; Wong 1998). Variationen in Abhängigkeit der untersuchten Minderheiten (russische Migranten in Israel bei Eisikovits oder türkische Migranten in Deutschland) und der Länder, in denen die Studien durchgeführt wurden (USA, Kanada, Israel, Deutschland), können eine Erklärung für die heterogene Befundlage liefern. Eine andere Erklärung ist, dass bei diesen Studien häufig nicht zwischen gegenseitigen und einseitigen Freundesnennungen unterschieden wird (vgl. Reinders 2005b). So zeigt ein Vergleich zwischen beidseitig freiwilligen und einseitig gewünschten (Ausweich-) Freundschaften deutliche Qualitätsunterschiede der Beziehung (vgl. Reinders/Mangold/Greb 2005). Schließlich wird das Geschlechterverhältnis innerhalb der Stichproben eine Rolle spielen, da Mädchen- im Vergleich zu Jungenfreundschaften über eine höhere Qualität verfügen.
129
Peers und Migration
In einer für Deutschland bislang einmaligen Studie zur Freundschaftsqualität inter- und intraethnischer Beziehungen ergeben sich differenzielle Befunde zur Freundschaftsqualität (vgl. Tab. 2). Tabelle 2: Kennwerte der „Freundschaftsstabilität“ nach Geschlecht, Herkunft und Freundschaftsart (N=1.481) Jungen
M sd M sd M sd
Mädchen
Deutsch (N=360) Intra Inter
Türkisch (N=317) Intra Inter
Italienisch (N=118) Intra Inter
Deutsch (N=301) Intra Inter
Türkisch (N=272) Intra Inter
Italienisch (N=109) Intra Inter
3,0 0,67
3,2 0,65
3,3 0,62
3,5 0,44
3,4 0,47
3,5 0,49
3,1 0,68 3,0 0,67
2,9 0,72 3,1 0,66 3,1 0,67
3,1 0,74 3,2 0,68
3,6 0,44 3,5 0,44
3,4 0,50 3,4 0,48
3,6 0,40 3,5 0,44
3,5 0,46
Quelle: FRIENT-Studie, Messzeitpunkt 2003 (vgl. auch Reinders/Mangold 2005)
Während über die gesamte Stichprobe hinweg keine Unterschiede in der Freundschaftsstabilität gefunden werden können, zeigen sich bei Jungen mit Migrationshintergrund leichte Differenzen. Türkische und italienische Befragte schätzen die Stabilität einer interethnischen Freundschaft im Durchschnitt etwas schlechter ein als die jeweiligen Vergleichsgruppen mit türkischem bzw. italienischem Freund. Bei deutschen Jungen und generell den Mädchen finden sich hingegen keine statistisch bedeutsamen Unterschiede und auch die Qualitätsdifferenzen bei Jungen mit Migrationshintergrund erklären lediglich ein Prozent der auftretenden Varianz. Deutlich überlagert werden die Unterschiede zudem durch den Geschlechtereffekt (knapp 22% aufgeklärte Varianz) (vgl. Reinders/Mangold 2005). Auch in allen anderen Dimensionen der Freundschaftsqualität unterscheiden sich inter- von intraethnischen Beziehungen nicht. Intimität, Vertrautheit, Aktivitätsintensität – all diese Merkmale sind nicht abhängig von der ethnischen Komposition der Freundschaft. Somit scheint auf theoretischer Ebene am ehesten ein Erwartugs-x-Wert-Modell zu greifen. Einmal geschlossene Freundschaften werden als positiv und von guter Qualität wahrgenommen. Zumindest für Jugendliche an Hauptschulen in Deutschland, an denen der Großteil interethnischer Beziehungen vorzufinden ist, stellen interethnische genauso wie intraethnische Freundschaften eine wichtige soziale Ressource zur Bewältigung anstehender Entwicklungsaufgaben dar.
130
5
Heinz Reinders
Auswirkungen interethnischer Freundschaften
Vor dem Hintergrund eher ähnlicher als unterschiedlicher Beziehungsqualitäten ist erwartbar, dass interethnische Freundschaften ebenfalls zur Entwicklung von Jugendlichen beitragen. Wird Freundschaften generell ein positiver Einfluss auf die Selbstwertentwicklung und psycho-soziale Befindlichkeit zugeschrieben (vgl. Bukowski/Newcomb/Hartup 1996), sind darüber hinaus Entwicklungsbeeinflussungen erwartbar, die aus dem Spezifikum der Interethnizität herrühren. Solche Spezifika sind aber, wie Forschung gezeigt hat, gesondert für Jugendliche mit und ohne Migrationshintergrund zu betrachten. Hier sind im Wesentlichen zwei Entwicklungsbereiche zu nennen, die jeweils allochthonen und autochthonen Jugendlichen zugeordnet werden können: die Entwicklung von Vorurteilen (Jugendliche ohne Migrationshintergrund) und die Autonomieentwicklung (Jugendliche mit Migrationshintergrund).
5.1 Auswirkungen bei autochthonen Jugendlichen Ein klassisches Feld der Theoriebildung und deren empirischer Prüfung ist die Entwicklung von Stereotypen im Kontext von interethnischen Beziehungen. In der Tradition der Kontakthypothese (vgl. Allport 1971) wurden zahlreiche Untersuchungen durchgeführt, die in variierendem Maß Effekte der Vorurteilshemmnis aufzeigen (zusf. Pettigrew/Tropp 2000). Vor allem engere soziale Beziehungen wie Freundschaften scheinen demnach geeignet, Vorurteile abzubauen bzw. die Entstehung neuer Vorurteile unwahrscheinlicher werden zu lassen. Dies ist in der Tatsache begründet, dass Freundschaften aufgrund den ihnen inhärenten Merkmalen wie Freiwilligkeit, Statusgleichheit, Interessensähnlichkeit etc. jene Bedingungen aufweisen, die für eine Vorurteilsreduktion durch interethnische Kontakte gegeben sein müssen (vgl. Allport 1971; Hewstone/Brown 1986; Pettigrew 1997). So lässt sich auch für Freundschaften zwischen Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund in Deutschland zeigen, dass Statusgleichheit, die Betonung der generationalen Identität und die Freundschaftsqualität maßgeblichen Einfluss darauf haben, ob eine interethnische Freundschaft zur Reduktion von Fremdenfeindlichkeit führt (vgl. Reinders 2004b; Reinders/Mangold/Greb 2005). Gleichzeitig besteht eine Wechselwirkung zwischen der kulturellen Offenheit deutscher Jugendlicher und dem Vorhandensein interethnischer Freundschaften. Einerseits weisen Jugendliche eine höhere kulturelle Offenheit auf, die einen Freund andersethnischer Herkunft „suchen“, andererseits steigt die kultu-
Peers und Migration
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relle Offenheit im Verlauf dieser Freundschaft weiter an (vgl. Reinders/Greb/Grimm 2006). In Abbildung 1 sind die differenziellen Verläufe über zwei Messzeitpunkte in Abhängigkeit der Freundschaftskomposition aufgezeigt. Wesentlich ist dabei, dass sich lediglich der Anstieg der kulturellen Offenheit als signifikant erweist und somit als Effekt der stabil-interethnischen Freundschaft interpretiert werden kann. Abbildung 1: Ausprägungen der kulturellen Offenheit nach ethnischer Komposition der Freundschaft über die Zeit
Quelle: Reinders/Greb/Grimm 2006; N=237
Gleichzeitig ist auffallend, dass Jugendliche mit einer stabilen interethnischen Freundschaft ein höheres Eingangsniveau kultureller Offenheit aufweisen. Gestützt werden die Befunde dieser quantitativen Studie auch durch qualitative Interviews mit Jugendlichen. Befragt danach, ob sich durch die interethnische Freundschaft ihre Sichtweisen geändert hätten, gaben die meisten Jugendlichen deutscher Herkunft an, Vorurteile zumindest in Teilen revidiert zu haben (zusf. Reinders 2008). Auch scheint in den Interviews ein aus der sozialpsychologischen Forschung bekannter Mechanismus durch (vgl. Hewstone/Brown 1986): Eigenschaften des andersethnischen Freundes werden dann auf die zuge-
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Heinz Reinders
hörige Minoritätsgruppe übertragen, wenn der eigene Freund oder die eigene Freundin als typisch für diese ethnische Gruppe angesehen wird. In der Fragebogenstudie wurde nicht für diese Moderation kontrolliert, so dass deutlichere Effekte erwartbar sind, wenn deutsche Jugendliche mit nicht-deutschem Freund in solche unterteilt werden, die den Freund oder die Freundin als „typisch“ ansehen und solche, bei denen dies nicht der Fall ist. Insgesamt deutet die Befundlage für Jugendliche ohne Migrationshintergrund in Deutschland an, dass durch interethnische Freundschaften eine Reduktion von Fremdenfeindlichkeit einerseits und eine Stärkung der kulturellen Offenheit andererseits erfolgen. Verschiedene Replikationen an unterschiedlichen Stichproben erhöhen die Belastbarkeit dieser Aussage (vgl. Reinders 2003, 2004c; Reinders/Greb/Grimm 2006).
5.2 Auswirkungen bei allochthonen Jugendlichen Versuche, vorurteilsreduzierende Effekte bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund zu replizieren, sind regelmäßig gescheitert (vgl. Power/Ellison 1995; Reinders 2003). Auch in anderen Bereichen, etwa der Stärkung des Selbstwertgefühls oder der Entwicklung deutscher Sprachkompetenz, ließen sich keine stabilen Zusammenhänge nachweisen (vgl. Reinders 2003; Varadi 2007). Lange Zeit blieb deshalb völlig unklar, ob und unter welchen Bedingungen inter- im Vergleich zu intraethnischen Freundschaften Auswirkungen auf die Entwicklung von Migranten besitzen. Ein im Zusammenhang mit Akkulturationstheorien (bspw. Berry et al. 1989; Esser 2006) nahe liegender Bereich ist die Entwicklung einer kulturellen oder ethnischen/nationalen Identität und die Entwicklung spezifischer Akkulturationsintentionen. Dabei zeigte sich in verschiedenen Studien, dass Migrantenjugendliche mit deutschem Freund eher über eine binationale Identität verfügten (vgl. Reinders et al. 2000; Schneewind/Merkens 2001). Eine nähere Prüfung ergibt, dass Migrantenjugendliche durch interethnische Freundschaften eher eine assimilative oder integrative Akkulturationsstrategie sensu Berry et al. (1992) verfolgen. Dies gilt vor allem dann, wenn die Freundschaft ein hohes soziales Kapital im Sinne einer Informationsquelle über mikrosystemische Besonderheiten (bspw. Handlungsmuster, Werte, Normen in autochthonen Familien oder Peer-Groups) des Aufnahmelandes besitzt (vgl. Mangold 2009). Interethnische Freundschaften können demnach als Korrelat oder Ausdruck von Akkulturationsprozessen verstanden werden, bei denen eine Balance zwischen Herkunfts- und Aufnahmekultur angestrebt wird. Daraus resultiert aber gleichzeitig, dass eine Annäherung an Normen und Wertvorstellungen des auto-
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chthonen Freundes stattfindet. So ermitteln Schmitt-Rodermund und Silbereisen (1999) eine verstärkte Orientierung von jugendlichen Aussiedlern an den Autonomievorstellungen ihrer Freunde ohne Migrationshintergrund. Dieser Mechanismus lässt sich übersetzen als Anpassung an eine akzelierte Autonomieentwicklung bei Migranten mit deutschen Freunden. Dieses erhöhte Autonomiestreben (gegenüber der Herkunftsfamilie) sollte jedoch nicht ohne Auswirkungen auf den Ablöseprozess von den Eltern bleiben. Wenn Migrantenjugendliche sich den Autonomiestrebungen ihrer deutschen Freunde anpassen, dann sollten vermehrte Konflikte im Ablöseprozess auftreten – zumindest dann, wenn die Eltern eher auf Einhaltung der kulturellen Normen des Herkunftslandes drängen. Nauck und Kollegen konnten etwa zeigen, dass die Verbundenheit und Kontrolle in Migrantenfamilien deutlich höher ausfällt als in Familien deutscher Herkunft (vgl. Nauck 2000). Auch in den eigenen Studien berichten Jugendliche deutscher Herkunft im Vergleich zu Migrantenjugendlichen über eine deutlich höhere Autonomie bei gleichzeitig geringerer Kontrolle seitens der Eltern (vgl. Reinders/Sieler/Varadi 2008; Reinders, in Druck). Gehen Jugendliche mit und ohne Migrationshintergrund eine Freundschaft ein, gleichen erstere ihre Autonomievorstellungen an autochthone Jugendliche an und tragen diese Vorstellungen von mehr „Freiheit“ an die Eltern heran (Reinders/Varadi 2009). Die Folge sind tendenziell höhere Konflikte als in Familien, deren jugendlichen Kinder eine intraethnische Freundschaft aufweisen (Reinders/ Varadi 2008). Abbildung 2 stellt die wichtigsten Zusammenhänge zwischen dem Vorhandensein interethnischer Freundschaften zur Autonomieentwicklung im sozio-emotionalen und ökonomischen Bereich dar und zeigt gleichzeitig die Folgen hinsichtlich der Häufigkeit von Eltern-Kind-Konflikten und dem familialen Zusammenhalt auf. Während die elterliche Kontrolle dazu genutzt wird, die Verbundenheit in der Familie zu erhalten, wirken sich die durch interethnische Freundschaften begünstigten Autonomiebestrebungen im Sinne einer Ablösung aus. Die Erweiterung des familialen Individuationsmodells (vgl. Youniss/Smollar 1985; Hofer 2003) um die unabhängige Variable Freundschaftskomposition kann demnach spezifisch für Migrantenjugendliche wirksame Auswirkungen aufzeigen. Interethnische Freundschaften wirken sich bei allochthonen Jugendlichen demnach nicht im Bereich von Stereotypen, sondern auf deren Akkulturationsprozess aus. Sie befördern eine integrative ethnische Identität, gehen einher mit eher assimilativen und integrativen Akkulturationsorientierungen und beschleunigen den Prozess der Autonomieentwicklung im Sinne einer tendenziell stärkeren Ablösung von der Herkunftsfamilie.
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Abbildung 2: Empirisches Strukturmodell familialer Individuation türkischer Jugendlicher Sozio-emot. Autonomie Interethnische Freundschaft
Allgemeine Autonomie Ökonomische Autonomie Eltern-Kind-Konflikte
Familialer Zusammenhalt
Ökonomische Kontrolle Allgemeine Verbundenheit Sozio-emot. Kontrolle
Gestrichelte Pfade nicht signifikant, die Stärke der Pfeile gibt die relative Höhe des Zusammenhangs an
Wenn Peers und gleichaltrige Freundschaften in der klassischen Soziologie als Bindeglieder oder Übergangsbahnen von der Herkunftsfamilie hinüber in einen größeren gesellschaftlichen Kontext interpretiert werden (vgl. Tenbruck 1962, 1964; Eisenstadt 1966), so scheint dieser Prozess ebenso bei Migrantenjugendlichen zu wirken. Gleichaltrige stellen in interethnischen Konstellationen offenbar einen Zugang für Migrantenjugendliche zur Aufnahmekultur dar.
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Resümee und Ausblick
Im vorliegenden Beitrag wird ein Überblick über die Entstehung, Gestalt und Auswirkungen interethnischer Freundschaften als spezifische Variation des Themas „Peers und Migration“ gegeben. Im Mittelpunkt steht dabei die simultane Betrachtung von Majoritäts- und Minoritätsangehörigen im Jugendalter, um bisherige Sichtweisen „nur“ auf Migranten zu ergänzen. Den theoretischen Ausgangspunkt hierzu bildet die Idee der Ko-Kulturation im Jugendalter. Gerade in sozialen Kontexten mit unklaren Mehrheitsverhältnissen und insbesondere in gleichberechtigten Freundschaften entwickeln Jugendliche unterschiedlicher Herkunft gemeinsam kulturelle Werte und Normen, wie etwa an verschiedenen Jugendkulturen ablesbar ist. Zugleich wirken diese Ko-Kulturationsprozesse zurück auf die beteiligten Personen, etwa durch Vorurteilsreduktion bei auto-
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chthonen und beschleunigten Autonomievorstellungen bei allochthonen Jugendlichen. Schon immer galten Jugendliche, deren Jugendcliquen und -kulturen als Motor sozialen Wandels (Eisenstadt 1966). Gleichgerichtete gesellschaftliche Bedingungen und Erfahrungskonstellationen einer Kohorte werden als ursächlich dafür angesehen, dass sich Werte zwischen Generationen wandeln (vgl. Mannheim 1928; Fend 1988). Für die aktuelle Jugendgeneration kann als gemeinsame Gesellschaftsbedingung die höhere Wahrscheinlichkeit interethnischer Kontakte in Schule und Freizeit gelten. Die vorangehende Elterngeneration verfügte über deutlich weniger Gelegenheiten zum interkulturellen Austausch, nicht zuletzt dadurch bedingt, dass bei der Migranten-Elterngeneration der Anteil derjenigen deutlich geringer ist, die das deutsche Schulsystem durchlaufen haben. Da, wie gezeigt wurde, die Schule ein wichtiger Sozialraum zur Entstehung interethnischer Beziehungen darstellt, ist es eine genuine Erfahrungswelt der aktuellen Kohorten, in Unterricht und auf dem Pausenhof auf andersethnische Peers zu treffen. Folglich werden diese zwischen den Generationen gewandelten Bedingungen Auswirkungen auf den Sozialisationsprozess der Jugendlichen besitzen. Es wurde summarisch aufgezeigt, dass diese Auswirkungen für Jugendliche mit und ohne Migrationshintergrund unterschiedlicher Art sind. Entstehung und Gestalt interethnischer Beziehungen unterscheiden sich hingegen nicht (vgl. Abb. 3). Jugendliche mit und ohne Migrationshintergrund formen ihre Freundschaften in der Prozesskette von sozialräumlicher Orientierung (moving) als Folge der Betonung der generationalen gegenüber der ethnischen Identität (crisscrossing), um dort Peers mit ähnlichen Interessen zu treffen (meeting) aus denen wiederum Peers als Freunde gewählt werden, die den eigenen Vorstellungen am ehesten entsprechen (mating). Aus diesem Entstehungsprozess resultieren für alle Jugendlichen gleichermaßen gute Freundschaftsbeziehungen mit hoher Aktivitätsintensität, Gegenseitigkeit, Vertrauen und Stabilität, auch als Folge der freiwilligen und deshalb auf Konsens ausgerichteten symmetrischen Beziehung. Bei den Auswirkungen hingegen finden sich Aspekte, die auch den jeweiligen gesellschaftlichen Anforderungen der beiden Gruppen entsprechen. Für Jugendliche deutscher Herkunftssprache können kulturelle Offenheit und geringe Vorurteile als wesentliche Kompetenzen für das Hineinwachsen in eine demokratische, multikulturelle Gesellschaft gelten (vgl. Larson 2002). Für Migrantenjugendliche erscheinen integrative Akkulturationsstrategien und veränderte Autonomieprozesse als wichtige Bestandteile einer funktionalen Balance zwischen Herkunfts- und Aufnahmekultur.
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Abbildung 3: Schematische Zusammenfassung des Forschungsstands zu interethnischen Freundschaften Jugendlicher Entstehung
Gestalt
Auswirkungen
Criss-Crossing
Ähnlichkeit
Vorurteile
Moving
Gegenseitigkeit
Kult. Offenheit
Meeting
Vertrauen
Akkulturation
Mating
Stabilität
Autonomie
Autochthone Jugendliche
Allochthone Jugendliche
Sollte dieses Modell über die hier berichteten Studien hinweg generalisierbar sein, so lassen sich daraus generationsspezifische Sozialisationsvorgänge ableiten, die beim Übertritt in das Erwachsenenalter nicht ohne Folgen für das gesellschaftliche Gefüge bleiben werden. Jugendliche, die bereits in der Adoleszenz (oder sogar Kindheit) in interethnische Freundschaften gelernt haben, kulturell womöglich divergierende Interessen konsensuell auszuhandeln, sollten diese Kompetenz in ihre späteren Rollen als Erwachsene mit hineintragen. Langzeitstudien zeigen die Bedeutung sozialer Kompetenz auf Kompetenzen im Erwachsenenalter (vgl. Masten et al. 1995; Youniss/Yates 1997). Es ist deshalb erwartbar, dass überdauernde Effekte dieser Peerbeziehungen auftreten werden. Damit sind zugleich die Grenzen bisheriger Erkenntnisse aufgezeigt. Welche Auswirkungen interethnische Beziehungen im Jugendalter auf den weiteren Entwicklungsprozess zeitigen werden, ist bislang völlig unklar. Es ist generell ein großes Manko der Jugendforschung, nicht über Langzeitstudien zu verfügen, die von der späten Kindheit bis ins Erwachsenenalter Entwicklungstrajektorien nachzeichnen. Untersuchungen wie die LifE-Studie (vgl. Fend/Berger/Grob 2009) bleiben deutlich die Ausnahme. Insofern bleiben alle Überlegungen zur sozialisatorischen Wirkung von interethnischen Peerbeziehungen reine Spekulation. Gerade im Zuge zunehmender kultureller Vielfalt westlicher Industrienati-
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onen (vgl. Youniss et al. 2001) wäre es jedoch wünschenswert, mehr über die gesellschaftsrelevanten Folgen dieses Jugendphänomens zu erhalten. Dennoch kann für die letzte Dekade ein erheblicher Wissenszuwachs im Bereich Peers und Migration konstatiert werden, der die Forderung nach Langzeitbeobachtungen überhaupt erst glaubwürdig macht. Der hier vorgeschlagene Perspektivenwechsel zu einer gleichzeitigen (theoretischen wie empirischen) Betrachtung von Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund sollte als Grundlage gewählt werden, um diesen Wissensstand weiter auszubauen. Reziprozitätsmodelle wie jene von Berry et al. (1989) oder Bourhis et al. (1997) können hierfür als wichtige theoretische Basis dienen.
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Jugendliche in Peer Groups und soziale Ungleichheit Werner Thole und Holger Schoneville
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Einleitung
Beobachtungen der erziehungs- und sozialwissenschaftlichen Jugendforschung in den zurückliegenden Jahrzehnten erzeugen zwei widersprüchliche Eindrücke. Erstens scheinen in der Jugendforschung spätestens seit Ende der 1980er Jahre empirische und theoretische Sichtweisen zu dominieren, die von der Annahme ausgehen, dass gesellschaftliche Pluralisierungs- und Individualisierungsvorgänge die unterschiedlichen Formen jugendlicher Vergemeinschaftung neu modellieren. Im Kontext dieser Sichtweise werden kulturelle Mobilitäts- und Pluralisierungsprozesse, die deutlich ausgewiesene Bildungsbeteiligung und die zunehmende Präsenz von Mädchen und Frauen in allen Bereichen des Bildungssystems sowie ein insgesamt sich durchlässiger gestaltendes Bildungssystem als deutliche Hinweise für eine Auflockerung sozialer, kultureller und ethnisch geprägter Ungleichheitslagen verstanden. In den öffentlichen Diskussionen wird dabei zeitweise sogar implizit davon ausgegangen, dass Schullaufbahnentscheidungen weitgehend emanzipiert vom sozioökonomischen Status der Eltern sowie den hier verorteten Bildungskapitalien und Sozialisationseffekten getroffen werden respektive getroffen werden können. Im Kontext der Jugendforschung präferieren insbesondere poststrukturalistisch gefärbte Perspektiven (vgl. u.a. Zinnecker 1987; Fuchs-Heinritz/Krüger 1991; Silbereisen/Vaskovics/Zinnecker 1996; Ferchhoff/Neubauer 1997; Hitzler/Bucher/Niederbacher 2001) diese Sichtweise und konkretisieren den Vorschlag, von Jugendbildern Abschied zu nehmen, die sich allzu deutlich an der sozial-strukturellen Segmentierung der Gesellschaft binden. Parallel und im Kontrast dazu werden in der laufenden Dekade Fragen gesellschaftlicher Ungleichheit wiederentdeckt und neu auf die Tagesordnung gesetzt. So kann der Befund, dass sowohl die Bildungsbeteiligung als auch der Bildungserfolg stark vom jeweiligen Herkunftsmilieu der Heranwachsenden abhängig ist und Heranwachsende aus bildungsferneren und staatlich alimentierten sozialen Milieus – auch im internationalen Vergleich – benachteiligt werden (vgl. u.a. Baumert et al. 2003; Büchner 2003, 15), deutlichen Einfluss auf die Diskussion über Jugendliche und jugendliche Vergesell-
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schaftungsformen gelten machen (vgl. Thole 2009). Eine andere Konnotation erhalten Fragen sozialer Herkunft in der öffentlich-medialen Diskussion um die Existenz einer „neuen Unterschicht“. Soziale Herkunft wird innerhalb dieses Diskurses nicht als Kritik an herrschenden Formen sozialer Ungleichheit thematisiert, sondern Formen abweichenden Verhaltens mit der Zugehörigkeit zu den „unteren gesellschaftlichen Schichten“ gleichgesetzt. Ausgegangen wird davon, dass die Jugendlichen der „Unterschicht“ nicht nur von materieller Randständigkeit betroffen sind, sondern sich durch Moral- und Wertvorstellungen ausweisen, die sich deutlich und in einer spezifischen Mixtur von denen der Mehrheitsgesellschaft unterscheiden. Jugendliche Peer Groups werden hier insbesondere als abweichende Gruppen thematisiert und als Gefahr für die Gesellschaft stilisiert (vgl. u.a. die Analysen von Schultheis 2006; Cremer-Schäfer 2003). Während die individualisierungstheoretisch gefärbten Perspektiven also Fragen sozialer Ungleichheit in Bezug auf die Vergesellschaftungsformen Jugendlicher eher ausklammern beziehungsweise einen niedrigen Stellenwert zumessen, wird die Reproduktion sozialer Ungleichheit durch die neueren Diskussionen um Bildungspartizipation und Bildungserfolg neu auf die Agenda gesetzt. Angesichts dieser widersprüchlichen Ausgangssituation fragt der nachfolgende Beitrag nach Formen jugendlicher Vergesellschaftung in Peer Groups vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Ungleichheitsverhältnisse. Nach einem historischen Rückgriff auf Befunde der Jugendforschung werden drei unterschiedliche Thematisierungsfolien aufgerufen, die die derzeitige Debatte über Jugendliche in besonderem Maße prägen. Vor der abschließenden Diskussion werden diese Thematisierungsfolien drittens mit einigen zentralen empirischen Erkenntnissen zu Peer Groups und soziale Ungleichheit konfrontiert – mit anderen Worten: Über den Argumentationsgang in dem Beitrag wird darauf hinweisen, dass die Frage der Formatierung jugendlicher Peer-Konstellationen in der Geschichte der deutschen Jugendforschung durchaus von Bedeutung ist, diese Bedeutung jedoch immer wieder durch andere Perspektiven unterlaufen oder konterkariert wird und sie trotz anderslautender Annahme auch heute noch von Relevanz ist.
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„Halbstarke“, „Industrieritter“ und „Rosenkavaliere“, Wander-, Straßen - und Tanz-Cliquen Jugendliche und ihre Peers im Blick der Jugendforschung
Die erste, breiter rezipierte Jugendstudie legte 1912 der Hamburger Pastor Clemens Schultz unter dem Titel „Psychologische Studien über die Jugend zwischen 14 und 25“ vor, in der er Jugendliche der Hamburger Hafenviertel charak-
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terisiert und für sie den Begriff der „Halbstarken“ kreierte. Mit dem Begriff „Halbstarke“ findet er eine Typologisierung, an der die Jugendforschung bis heute festhält, um Jugendliche aus marginalisierten sozialen Milieus zu typisieren. Der „Halbstarke“ war nach C. Schultz zwischen 14 und 25 Jahre alt, vagabundierte umher und trieb sich im Hafen wie auf der Landstraße herum: „Da steht er an der Straßenecke, auf dem Kopf möglichst keck und frech eine verbogene Mütze, manchmal darunter hervorluckend eine widerlich kokette Haarlocke, um den Hals ein schlechtes Tuch gebunden, Rock und Hose zerrissen […]. Er ist selten allein und hat meistens von seinesgleichen bei sich, mit denen er sich oft in albernster, kindischer Weise herumbalgt. Die Unterhaltung, die sie führen, ist durchsetzt mit den greulichsten Schimpfwörtern“ (Schultz 1912, 30). Jugendpflegerische Motive mögen für Clemens Schultz Anlass gewesen sein, diese Jugendkultur in den pädagogischen Blick zu nehmen. Dass er in seinen psychologischen Studien jedoch von in den Jahren zuvor hervorgehobenen sozialpädagogischen Argumentationen ablässt, irritiert: „Diese Halbstarken, die aus allen Kreisen der menschlichen Gesellschaft kommen, bilden den Mob, sind eine furchtbare, grauenerregende Macht, zumal im großstädtischen Leben. […] Es ist […] Pflicht des Staates, gegen diese furchtbaren Elemente einzuschreiten; wenn der Staat weiter hier gleichgültig bleibt, so duldet er seine allerschlimmsten Feinde“ (Schultz 1912, 34). Noch 1908 formulierte Schultz „sozialpädagogischer“ und weniger sozialstaatlich repressiv: „Es gehört zur Arbeit, an der Jugend ein großer, unverwüstlicher alles überwindender Optimismus. […] Unsere Jugend ist es wert, dass man sie lieb hat, für sie arbeitet, für sie lebt.“ (Schultz 1908, 71). Wie von C. Schultz wird auch gut fünf Jahre später von Georg Dehn (1918, 1929) die proletarische Jugend mit ihren eigenen kulturellen und sozialen Praxen als eine nicht durchgängig systemkonforme, die hegemonialen Wert- und Normvorstellen renitent unterlaufende Jugend beschrieben. Beide Studien legen sozusagen den Grundstein für eine ungleichheitssensible Kinder- und Jugendforschung der 1920er Jahre, obwohl sie im Kontrast zu den späteren, wesentlich differenzierter angelegten Studien nicht nur normativ, sondern fast schon stigmatisierend argumentieren. In den auf Selbstzeugnissen, statistischen Erhebungen und Beobachtungen basierenden, regionalbezogenen Jugendstudien untersuchte beispielsweise Claus Stockhaus (1926) 14- bis 18-jährige Arbeiterjugendliche und Agathe Schmidt (1926) über 1800 BerufsschülerInnen nach ihren Wohn- und Familienverhältnissen, Alltagswelten, kulturellen Interessen und Freizeitgewohnheiten. Martha und Hans Muchow (1935) erforschten den Bewegungsraum von Großstadtkindern, Philipp Behler (1928) erkundigte sich nach den Alltagsorientierungen von Berufsschülern, Hubert Jung (1930) analysierte das Phantasieleben sowie die kulturellen Interessen und Bedürfnisse von Ju-
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gendlichen, Hildegard Jüngst (1931) beobachtete das Alltagsleben von jungen Industriearbeiterinnen und Johannes Schmidt (1934) rekonstruierte eine „Typologie der erwerbstätigen Jugend“.1 Neben den heute partiell noch rezipierten Studien „Jugend und Beruf“ von Paul Lazarsfeld (1931), den tagebuchanalytischen Studien von Charlotte Bühler (u. a. 1922, 1925), der Studie von Adolf Busemann (1926) „Die Jugend im eigenen Urteil“ und der großen Freizeitstudie des Berliner Stadtjugendpflegers Robert Dinse (1932) dokumentieren diese, weithin unbekannteren Studien die breite Themenpalette des in den 20er Jahren expandierenden und die disziplinären Schranken der Psychologie und Pädagogik sprengenden Forschungsinteresses an der Jugend. Und auch die ausgegrenzten Formen von Wegen durch die Jugendbiographie finden Beobachter, so etwa in der kleinen Studie über jugendliche Trebegänger von Konrad Theiß (1932), streckenweise auch in der romanhaften Beschreibung „Jugend auf der Landstraße“ von Ernst Haffner (1932) und in den von Carl Mennicke (1930) angeregten Studien. Weitere kleinere, ethnographische Studien präsentieren jugendliche Bewegungen und Artikulationsweisen im Kontext von Gleichaltrigengruppen. Diese Studien widmen sich insbesondere den in Rummel-, Wander-, Straßen-, Park- und Tanz-Cliquen organisierten und als „proletarischer Hochstapler“, „Industrieritter“, „Rosenkavaliere“, „Junge Industriefalter“ oder „Halbstarker“ titulierten Jugendlichen der Industrieregionen und Großstädte (vgl. u.a. StaevenOrdemann 1933; Fournier 1931; Erhardt 1930). Alle Studien dokumentieren ihre Prägung durch den Zeitgeist der Jahre zwischen dem ersten Weltkrieg und der nationalsozialistischen Machtübernahme und den sich in dieser Zeit deutlich artikulierenden Ungleichzeitigkeiten. Der ökonomische Aufschwung wird begleitet von schleichenden, explosiven Inflationsphasen, der kulturelle Aufbruch und die Aufweichung sozial-kultureller Milieus gebrochen vom Heimweh nach der Plüschkultur des Kaiserreiches, moderne Weltsichten konterkariert von mittelalterlichen, archaischen Romantizismen. Sozialpolitische Reformen wurden vor dem Hintergrund der ökonomischen Realitäten zur Utopie. Diese Ungleichzeitigkeiten prägen die Phasen des Aufwachsens und die sich herausbildenden differenten, biographischen Optionen, Lebensentwürfe und Visionen 1 Als Ergebnis seiner „systematischen Beobachtung“ erstellt er eine über thematische Zuordnungen aufgebaute Typologie. Insgesamt werden von Johannes Schmidt fünf Typen jugendlicher Erwerbstätiger identifiziert: Der Bildung-Suchende, der Naturschwärmer, der Berufsfreudige, der Körpergefühls-Typus und der Hedoniker. In der zweiten Hälfte der Weimarer Republik erregt insbesondere der den „Halbstarken“ von Schultz nicht unähnliche Typ des „Hedonikers“ die Öffentlichkeit und das jugendforscherische Interesse, zumal dann, wenn er sich in Rummel-, Wander-, Straßen- und Tanz-Cliquen organisierte oder als „proletarischer Hochstapler“, „Industrieritter“, „Rosenkavalier“, „Junge Industriefalter“ oder als „Halbstarker“ erkannt wurde und in den sogenannten „Wilden Cliquen“ zusammenfand (vgl. u.a. Gertrud Staeven-Ordemann 1933).
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(vgl. Peukert 1986, 142). Jugend spiegelt wie ein Seismograph diese „Stimmung der Zeit“ und die Jugendforschung sucht danach, sie abzubilden. Die Identifizierung von Differenz und Heterogenität der Heranwachsendenkulturen wird dabei immer als ein Reflex auf die Herkunftsmilieus der Jugendlichen interpretiert. Auffallend ist, dass diese soziale Ungleichheiten zentral reflektierende Perspektive in den theoretischen Verdichtungen der Zeit, etwa in der Studie von Eduard Spranger „Psychologie des Jugendalters“ (1925) oder in Charlotte Bühlers Erkundungen des „Seelenlebens Jugendlicher“, kaum aufgegriffen wird. Die Anknüpfungen an diese Forschungspraxis bleiben in den ersten drei Jahrzehnten nach 1945 spärlich. Mit den Jugendstudien der 1920er Jahre vergleichbare Arbeiten wie etwa die von Christel Bals „Halbstarke unter sich“ (1962) oder mit Abstrichen auch wie die von Gerhard Wurzbacher vorgelegte Studie „Gesellungsformen der Jugend“ (1962) bleiben die Ausnahme. Generelle Perspektiven auf Jugend dominieren die Forschung (vgl. u.a. Jugendwerk der Deutschen Shell 1962; Blücher 1966; Rosenmayr/Köckels/Kreutz 1966). Tragend für die verminderte Aufmerksamkeit für soziale Ungleichheiten und für jugendliche Gleichaltrigengruppen sind seit Mitte der 1950er Jahre theoretische Erklärungsansätze, die, in Anschluss an T. Parsons und S. N. Eisenstadt, Jugend als eine einheitliche Teilkultur und die Jugendkulturen sowie Gleichaltrigenkulturen als funktional notwendige, relativ eigenständige „interlinking sphere“ ansehen, die den Jugendlichen Möglichkeiten eröffnen, sich von den partikularistischen Werten der Herkunftsfamilie zu lösen und allmählich an die universalistischen Rollenerwartungen der Erwachsenengesellschaft heran zu tasten. Trotz durchaus anderer, älterer Theorieblicke (vgl. Schelsky 1957) und scharfen kritischen Einwürfen (vgl. u.a. Lessing/Liebel 1974) bildet die strukturalistische Perspektive, die Jugendphase als eine relativ eigenständige, mit besonderen, generellen Aufgaben versehene Periode im Lebenslauf anzusehen, bis heute einen wesentlichen Theoriefokus der Jugendforschung. Gebrochen wird dieser lediglich durch einige kleinere, nicht im Zentrum der Jugendforschung, sondern vornehmlich im Feld der Sozialpädagogik angesiedelter Studien seit den frühen 1970er bis Anfang der 1990er Jahre. In diesen Zeitraum entstanden Untersuchungen zu den sozialräumlichen Orientierungen, Gleichaltrigenbeziehungen und Netzwerken von Jugendlichen (vgl. u.a. Becker/Hafemann/May 1984; Thole 1991) sowie zum Alltag in sozialpädagogischen Einrichtungen (Kraußlach/Düwer/Fellberg 1976; Aly 1977; Hoppe u. a. 1979; Scarbath et al. 1981; Becker/Eigenbrodt/May 1984; Thole 1991; Pfennig 1996). Als methodisch und theoretisch inspirierend für diese Studien können die Arbeiten des „Centre for Comemporary Cultural Studies (CCCS)“ angesehen werden, auch weil diese neu für die Beobachtung sozialer Heterogenität sensibilisieren und anregen, die Reproduktion von Sozialität und Kultur auch als einen Durch- und Abarbei-
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tungsprozess hegemonialer kultureller Figurationen anzusehen (vgl. u.a. Clarke et al. 1979).
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Gegenkultur in der Arbeiterschule – Exkurs
In einer der bekanntesten Studien aus dem Kontext des CCCS zeichnet Paul Willis unter dem Titel „Spaß am Widerstand. Gegenkultur in der Arbeiterschule“ (Learning to Labour. How Working Class Kids get Working Class Jobs) (Willis 1970) den Übergang von Hauptschülern in die Arbeitswelt nach. Wobei P. Willis in der ethnografischen Studie insbesondere die kulturellen Praktiken einer Gruppe Jugendlicher, die in der Untersuchung als die Lads bezeichnet werden, in den Mittelpunkt stellt. Die jugendkulturellen Verortungen der Lads bestehen im Wesentlichen in der Auflehnung gegen die Regeln der Schule und die Autorität der Lehrer. Die jugendkulturellen Praktiken kennzeichnen sich dabei durch eine Abwertung schulischen Wissens, die kulturelle Überhöhung körperlicher Arbeit, Formen kultureller Abgrenzung, die bis ins rassistische reicht, und die Idealisierung von Männlichkeitsvorstellungen, die nicht selten auch mit offenem Sexismus einhergehen. Die Lads grenzen sich dabei nicht nur von den Lehrern und der Schule ab, die für die Illusion einer meritokratischen Gerechtigkeitsvorstellung stehen, sondern auch von anderen Jugendlichen, die zwar ebenfalls weitgehend aus männlichen Jugendlichen der Arbeiterklasse bestehen, sich aber weniger deutlich von der Schule absetzen. Aus der Perspektive der Lads verhalten sich diese konformistisch und unterwerfen sich den formalen Rahmenbedingungen, um innerhalb der jeweiligen Bedingungen sozialen Aufstieg zu realisieren. Die Lads verfolgen nicht nur nicht solche Ziele, sondern werden auch durch die Überzeugung geprägt, dass sich Anstrengungen innerhalb der Schule für sie nicht auszahlen werden, da die Lehrer die Arbeitswirklichkeit in der Produktion nicht kennen und die Schule für diese nicht vorbereite. P. Willis kann dabei zeigen, dass die britische Industriegesellschaft der 1970er Jahre in der Tat für Jugendliche wie die Lads einige Orte bereit hält und eine Einmündung in den jeweiligen arbeitsweltlichen Kontext in bestimmtem Umfang durchaus gelingt. Die informelle Jugendkultur der Lads versteht P. Willis dabei nicht nur als eine Gegenkultur zum formellen Rahmen der Schule, sondern im direkten Zusammenhang zur Kultur der Arbeiterklasse. Die Gegenkultur der Hauptschüler dient gewissermaßen zur Vorbereitung der Lads für ihre spätere Berufstätigkeit in den häufig körperlich hoch anstrengenden Bereichen der Produktion.
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Insgesamt – und dies ist für den von uns hier betrachteten Gegenstand von Interesse – weist die von P. Willis angefertigte Studie darauf hin, dass die jugendkulturellen Praxen, die jugendkulturellen Verortungen und damit die Konstitutionen von jugendlichen Gleichaltrigengruppen nur im Zusammenhang mit der Betrachtung von gesellschaftlichen Ungleichheitsformen, also vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Strukturierung in Klassen zu verstehen sind. Er rekonstruiert die Prozesse, die dazu führen, dass die Schulabgänger die Entscheidung für unqualifizierte Jobs im Bereich der materiellen Produktion als eine bewusste, auf kulturelle Faktoren zurückgehende Wahl verstehen. Die kulturellen Praxen der Arbeiterjugendlichen in der Gegenschulkultur sind dabei insbesondere mit proletarischen Männlichkeitsidealen verbunden und resultieren letztendlich in der Reproduktion untergeordneter sozialer Positionen. Das Verdienst der englischen Jugendforscher liegt darin, die Entstehung jugendlicher Alltagskulturen im Kontext klassenspezifischer Herkunftskulturen zu verorten und das Verhältnis von jugendlichen Sub- und Gegenkulturen sowie industriell erzeugten Jugendkulturen als dialektisches Spannungsverhältnis zu interpretieren. Die hegemoniale Jugendfreizeitkultur liefert den Subkulturen einerseits das kulturelle Rohmaterial, aus dem diese oppositionelle Bedeutungen herausschlagen. Dieser Ortung folgend werden jugendliche StilbastlerInnen nicht als manipulierte Opfer eines allgegenwärtigen Konsumzwanges gesehen, sondern als aktive und kreative Träger kulturellen und gesellschaftlichen Wandels. Andererseits gelingt es jedoch den industriell erzeugten Jugendkulturen, die subkulturellen Gruppenstile zu reintegrieren, indem sie die oppositionellen stilistischen Neuerungen aufgreifen, entschärfen und als modische Innovationen neu auf den Markt bringen. Ein Transfer der theoretischen Grundannahmen dieses Ansatzes auf die westdeutschen Verhältnisse war damals und ist heute jedoch nur begrenzt möglich. Denn im Unterschied zu den Entwicklungen und Forschungen in Großbritannien entwickeln sich in der Bundesrepublik Deutschland die Jugendsubkulturen nicht mehr deckungsgleich zu den existierenden Klassen- und Schichtstrukturen. Angesichts erheblicher Auflösungserscheinungen traditioneller Sozialmilieus und kultureller Klassenbindungen scheint es keineswegs mehr durchgängig möglich, jugendliche Subkulturen präzise in den klassenspezifischen Stammkulturen zu lokalisieren. Das impliziert allerdings nicht, dass die Herausbildung jugendlicher Freizeitszenen und -gruppen inzwischen vollends beliebig erfolgt. Belastbare Befunde votieren dafür, davon auszugehen, dass die Herausbildung von jugendlichen Gleichaltrigengruppen auch heute noch durch Soziallage und Bildungsniveau geformt wird. Hierauf hinzuweisen, ist ein Verdienst der klassen- und kulturtheoretischen Ortsbestimmungen. Auch die über eine kritische Durchsicht individualisierungstheoretischer Diagnosen herausfiltrierte Erkennt-
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nis, dass heutige „Jugendkulturen in eigenwilliger, eben expressiver Form die neuen sozialen Ungleichheiten in der Gesellschaft repräsentieren und sichtbar machen“ (Wensierski 2000, 210), verdankt sich nicht unwesentlich diesem Theoriekonzept – das aber, wie nachfolgend zu zeigen ist, nicht durchgängig Beachtung findet.
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Zwischen Auflösung der Ungleichheit, neuer Bedeutsamkeit und stigmatisierender Zuschreibung – Diskurse zu Jugend und sozialer Ungleichheit
4.1 Ausdifferenzierung und Pluralisierung in Jugendszenen – Bedeutungsverlust gesellschaftlicher Ungleichheitsverhältnisse und ihre Wiederentdeckung Besonderen Einfluss auf die Jugendforschung der vergangenen zwanzig Jahre konnte die Diskussion um gesellschaftliche Pluralisierungs- und Individualisierungsprozesse geltend machen. Stark beeinflusst von der von U. Beck (1986, 152) diagnostizierten „Enttraditionalisierung von sozialmoralischen Milieus“, die auf einen Bedeutungsverlust von Kirchen, Nachbarschaften oder traditionellen Vereinen hinweist, wird hervorgehoben, dass sich eine immer stärkere Informalisierung von Sozialkontakten einstellt. Mit dem Bedeutungsverlust der traditionellen Bindungen, wie der Familie, Schicht- und Klassenkonstellationen, entstehe für Jugendliche die Freiheit, Freundschaftsnetze selbstständig aufzubauen bzw. auch wieder zu verlassen. In ihren Studien gehen R. Hitzler, T. Bucher und A. Niederbacher so davon aus, dass der Einzelne in kleinen „sozialen Teilnetz-Welten“ lebt und dies „typischerweise eben nicht (mehr) als Oktroys mit dem Anspruch auf (relative) Alternativlosigkeit erlebt, sondern als prinzipiell mit relativ geringen ‚Kosten’ wähl- und abwählbare Optionen“ (Hitzler/Bucher/Niederbacher 2001, 18). Insbesondere Jugendliche würden diese individualisierten Formen der Vergemeinschaftung und die damit einhergehenden Anforderungen als zunehmend kompetent gehandhabte Selbstverständlichkeit behandeln. Traditionelle Formen der Orientierung und Wertvermittlung würden hingegen einen deutlichen Bedeutungsverlust erleiden: „Situationsadäquate Weltdeutungsschemata, Wertekataloge und Identitätsmuster [werden] in herkömmlichen ‚Sozialisationsagenturen’ (Familie, Schule, kirchliche oder politische Jugendorganisationen usw.) nicht nur immer weniger gefunden, sondern auch immer seltener überhaupt ‚gesucht’ werden. ‚Sinn’ – und zwar im Überfluss – finden Jugendliche heutzutage in ‚ihren’, gegenüber anderen Lebensbereichen relativ autonomen freizeitlichen Sozialräumen […]. Und sie
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finden ihn hier – sozusagen jederzeit ‚frisch verpackt’ – in der ästhetischen Gewandung der je (warum auch immer) ‚angesagten’, posttraditionalen Gemeinschaft“ (Hitzler/Bucher/Niederbacher 2001, 19). In der Tat sind in den vergangenen zwanzig Jahren erhebliche Pluralisierungsprozesse zu erkennen. So sind gegenwärtig fast alle jugend- oder freizeitkulturellen Stilbildungen, die Jugendliche in den unterschiedlichen Epochen kreierten, anzutreffen. Neu entwickelte Stile lösen die alten nicht mehr nur ab, sondern platzieren sich neben diesen und reaktivieren sogar darüber hinaus längst verschwundene jugendkulturelle Muster. Mehr und ausgefeilter denn je wird die Bricolage in jugendkulturellen Szenen als radikalisierte Praxis auf den Ebenen der symbolischen Handlungsformen, der Sprachspiele und ästhetischen Codes, der ästhetischen Stilisierungen und Signets, der kulturellen Produktionen, der interaktiven Beziehungsformen und der Selbstinszenierungen dynamisiert und habitualisiert. Die unkonventionelle Adaption und kreative Dekontextualisierung gesellschaftlicher Vorgaben zu einem szeneeigenen „Symbol- und Zeichensystem ermöglicht […] eine verlässliche Selbstvergewisserung und tritt in den Dienst der Funktion, Sinn zu verbürgen und Zugehörigkeiten zu vermitteln“, und erschließt für die Jugendszenen neue Ressourcen der Selbstidentifikationen und -vergewisserung (Vogelsang 2001, 286; vgl. auch Wetzstein et al. 2005).2 Innerhalb der in diesem Kontext entstandenen Studien wird darauf verwiesen, dass mit der Möglichkeit, sich Freundschaftsnetze selbstständig aufzubauen, zugleich auch die Sicherheiten traditionsbezogener Bindungen und die Stabilität und Nähe sozialer Milieus verloren geht (vgl. u.a. Bäumler/Bangert/Schwab 1994; Eckert/Reis/Wetzstein 2000; Wensierski 2000). Damit verbindet sich der Hinweis, dass an die Stelle der traditionellen Bindungen und Ungleichheiten, neue Formen von Unsicherheiten und neue Formen von Ausgrenzungen treten. In Distanz jedoch zu klassischen, soziale Disparitäten zentral beobachtende Konzepte von Jugend und entsprechenden Theoriemodel-
2 Interessant ist dabei, dass sich die einzelnen jugendlichen „Bastelsubjekte“ zwar in jugendkulturellen Szenen bewegen und sich auch auf diese beziehen, ihre ästhetischen Kompositionen jedoch partiell unabhängig von dem Mainstream dieser Szenen zu realisieren scheinen und ihre stilbildenden, jugendkulturellen Bezugspunkte selbst zu dekontextualisieren wagen. Die Bricolage wird zynisch erweitert zu einem nimmer enden wollenden Sampling, zu einer „remixten“ Designkultur, die zynisch und provokant selbst die vermeintlich konsensualen Grundfiguren der gelebten jugendkultuellen Formation kritisch in Frage zu stellen scheint. Das Spiel mit sich selbst, den eigenen ästhetischen und habituellen Bezugspunkten und den kulturellen Variationen der jeweiligen jugendkulturellen Szene, scheint zu einem Grundmodus vieler neuer Jugendkulturen geworden zu sein, der es immer schwieriger macht, die Angehörigen einer bestimmten Jugendkultur eindeutig zu identifizieren.
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len weisen sie jedoch keine deutliche Sensibilität für die unterschiedlichen Formen sozialer Ungleichheiten und über die Herkunftsmilieus konstituierten sozial-kulturellen Heterogenitäten auf. Das die Formierung von jugendlichen Netzwerken auch unter den Bedingungen kultureller und sozialer Freisetzungsprozesse immer noch unter – mehr oder weniger reflexiven – Bezug auf die Herkunftsmilieus und die sozialen Verortungen im Raum der gesellschaftlichen Klassen erfolgt, wird von der „post-strukturalistischen“, phänomenologischen Jugendforschung weitgehend übersehen.
4.2 Die Neuentdeckung sozialer Ungleichheit als Bildungsungleichheit Eine Neubelebung erleben Fragen sozialer Ungleichheit derzeit in der Debatte um Bildungspartiziption und Bildungserfolg, die im deutschsprachigen Raum insbesondere durch internationale Vergleichsstudien losgetreten wurden. Die Befunde betonen dabei erneut starke Zusammenhänge zwischen der Herkunftsfamilie und der Möglichkeit an Bildung im Kontext von Schule zu partizipieren und auf entsprechende Bildungserfolge verweisen zu können: „Die (Herkunfts)Familie ist und bleibt […] eine zentrale Schlüsselvariable für die Art der Bildungsbeteiligung und des Bildungserfolgs der nachfolgenden Generationen, ohne dass wir allerdings Genaueres über diesen ‚zirkulären Verlauf des Sozialisationsprozesses’ wissen“ (Büchner 2003, 13).3 Bereits bei den Empfehlungen für weiterführende Schulen nach der Grundschulzeit lassen sich erhebliche Unterschiede nachweisen. So zeigen Jürgen Baumert, Rainer Watermann und Gundel Schmer (2003), „dass Kinder unterer Sozialschichten bei gleicher Schulleistung seltener als Kinder aus privilegierten Elternhäusern eine Gymnasialempfehlung erhielten. Die Leistungshürden waren also für diese Schülerinnen und Schüler höher gesetzt. Vermutlich berücksichtigen Grundschullehrerinnen in ihren Übergangsempfehlungen neben den Fachleistungen auch prognoserelevante motivationale Merkmale, die wiederum mit der sozialen Herkunft kovariieren“ (Baumert et al. 2003, 48). Der Befund zeigt damit nicht nur eine sozial-strukturelle Ungleichheit hinsichtlich der Schulformen auf, sondern weist auf objektive Ausgrenzungsprozesse innerhalb des Bildungssystems hin. Gleichzeitig zeigt sich spiegelbildlich auch eine Herkunftsgebundenheit hinsichtlich des Verhaltens der Eltern beim Übergang am Ende
3 Die Abhängigkeit zwischen Herkunftsfamilie und Bildungsbeteiligung lässt sich bereits bei Kindern unter drei Jahren zeigen. So wird zu den außerfamiliären bildungsorientierten Betreuungsangeboten darauf hingewiesen, dass bereits hier deutliche Ungleichheiten hinsichtlich der familialen Bildungsaspirationen auszumachen sind (vgl. Thole/Cloos 2005).
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der Grundschulzeit. So kommen Peter Büchner und Katja Koch in einer Studie zu dem Ergebnis, „dass Eltern mit niedrigem sozialen Status besonders entscheidungsunsicher sind, wenn es um die elterliche Übergangsentscheidung nach dem vierten Grundschuljahr geht“ (Büchner 2003, 15). Auf der anderen Seite würden Eltern aus hohen sozialen Statusgruppen die Entscheidung der schulischen Laufbahn deutlich wahrscheinlicher auch dann in Richtung Gymnasium vorantreiben, wenn in der Schule weniger gute Leistungen erzielt werden. Insgesamt entsteht dadurch eine deutliche Abhängigkeit zwischen der Schulform und der Herkunftsfamilie. So zeigen die Daten der PISA-Studie, dass „die Chance eines Jugendlichen aus einem Facharbeiterhaushalt, ein Gymnasium anstelle einer anderen Schulform zu besuchen, ungefähr 3 : 17 [beträgt]. Auf drei Gymnasiasten kommen 17 Besucher anderer Schulformen. Für Jugendliche, die aus Familien der oberen Dienstklasse stammen, betragen die Chancen, ein Gymnasium statt einer anderen Schulform zu besuchen, in etwa 1 : 1. Setzt man die beiden Beteiligungschancen zueinander ins Verhältnis […] sieht man, dass die Chancen des Gymnasialbesuchs für den Jugendlichen aus der Familie der oberen Dienstklasse 5,7-mal so hoch sind wie die Beteiligungschancen des Jugendlichen aus einem Arbeiterhaushalt“ (Baumert et al. 2003, 50). Ganz ähnliche Ergebnisse werden auch hinsichtlich der ungleichen Chancen, eine Realschule anstelle einer Hauptschule zu besuchen, ausgemacht. Auch hier gelingt es Kindern aus höheren Schichten deutlich häufiger, die Hauptschule zu vermeiden und eine Realschule zu besuchen. Die sozial ungleich verteilten Chancen beruhen dabei – und dies stellt den Befund so heraus – kaum auf bestimmten Leistungsmerkmalen: „Jugendliche aus der Oberschicht haben ungefähr drei Mal bessere Chancen, ein Gymnasium anstelle einer Realschule zu besuchen als Jugendliche aus Arbeiterfamilien – und zwar auch dann, wenn man nur Personen mit gleicher Begabung und gleichen Fachleistungen vergleicht“ (Baumert et al. 2003, 52). Während sich diese Ergebnisse auf die Bildungsbeteiligung beziehen, lassen sich ähnliche Ergebnisse auch für den Kompetenzerwerb nachweisen. Hier weisen J. Baumert et al. (2003) nach, dass in Deutschland die Lesekompetenzen4 und die soziale Herkunft einen deutlichen Zusammenhang aufweisen, während andere Länder in der Lage sind, diese Effekte weitgehend zu minimieren und jenseits der sozialen Herkunft den SchülerInnen annähernd gleiche Grundkompetenzen zu vermitteln. In Bezug auf das deutsche Bildungssystem formulieren die PISA-Macher daher deutlich: „Die Analysen belegen einen straffen Zusammenhang zwischen Schichtzugehörigkeit und erworbenen Kompetenzen 4
Die Ergebnisse hinsichtlich der mathematischen und naturwissenschaftlichen Kompetenzen weisen diesbezüglich in die gleiche Richtung.
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über alle Domänen hinweg [....]. Die Entwicklung des Zusammenhangs von sozialer Herkunft und Leistung scheint ein kumulativer Prozess zu sein, der lange vor der Grundschule beginnt und an Nahtstellen des Bildungssystems verstärkt wird“ (Deutsches PISA-Konsortium 2001, 37). Weiterführende Analysen, die vor dem Hintergrund der beschriebenen Zusammenhänge danach fragen, welche Bedeutung und welchen Einfluss die jeweiligen Peers der Kinder und Jugendlichen auf die ungleichen Bildungschancen haben, liegen bislang nur in geringem Umfang vor. Hans Oswald und Lothar Krappmann (2004) konnten in einer Untersuchung in der dritten und fünften Klasse an Berliner Grundschulen zeigen, dass die ungleichen Bildungschancen nicht nur stark mit der sozialen Herkunft der Kinder zusammenhängt, sondern Schülerinnen und Schüler auch innerhalb ihrer „Peerwelt“ Ungleichheitsstrukturen herausbilden. Diese schlagen sich beispielsweise in Sympathie und Antipathie zwischen den Schülern nieder. Die innerhalb des jeweiligen Klassenzimmers hergestellte Ungleichheitsstruktur hängt stark mit der sozialen Herkunft der jeweiligen Kinder zusammen, auch wenn sie sich darüber nicht vollends aufklären lassen. Der zentrale Befund von H. Oswald und L. Krappmann besteht darin, dass sie einen deutlich ausgewiesenen Zusammenhang zwischen der in der Schulklasse hergestellten Ungleichheitsstruktur und den Leistungsbewertungen der Lehrer nachweisen können. Dieser Zusammenhang spielte dabei eine größere Rolle als der generelle Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Leistungsbewertungen der Lehrer. Im Ergebnis zeigt sich damit, dass die gesellschaftlichen Ungleichheitsstrukturen auch innerhalb von Peerkonstellationen von Kindern wieder zu entdecken sind und sich die in den jeweiligen Mikrostrukturen gefundenen Ungleichheiten in einer sehr direkten Form auf die Bildungspartizipation und den Bildungserfolg auswirken.
4.3 Underclass und neue Unterschicht – Kulturelle Moralisierung und Stigmatisierung Eine besondere Form der Thematisierung von Jugendlichen und jugendlichen Gleichaltrigengruppen findet sich im – insbesondere medial geführten – Diskurs um die Existenz und Form einer Underclass beziehungsweise neuen Unterschicht. Die vorgetragene zentrale These besteht darin, dass von Armut betroffene Menschen sich nicht ausschließlich durch ihre ökonomische Marginalisierung von der Gesellschaft unterscheiden, sondern eine eigenständige Kultur, die „Kultur der Armut“, herausbildet. So geht beispielsweise Charles Murray davon aus, dass innerhalb dieser Kultur sich nicht nur eigene Regeln, Werte und Verhaltensweisen finden lassen, die sich vom Rest der Gesellschaft unterscheiden,
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sondern, dass sich diese auch kulturell reproduzieren und damit zu einer Gefahr für die Gesamtgesellschaft werden. In Bezug auf Großbritannien hält er fest: „Britain has a growing population of working-aged, healthy people who live in a different world from other Britons, who are raising their children to live in it, and whose values are now contaminating the life of entire neighbourhoods – which is one of the most insidious aspects of the phenomenon, for neighbours who don´t share those values cannot isolate themselves“ (Murray 1996, 26). Jugendliche aus der so genannten „Unterschicht“ werden innerhalb dieses Diskurses als eine Bedrohung für die hegemonialen kulturellen und sozialen Grundpfeiler der Gesellschaft thematisiert. Ganz ähnliche Positionen lassen sich auch innerhalb der deutschsprachigen Unterschichtsdiskussion finden (vgl. u.a. Steingart 2006a, 2006b; Wüllenweber 2004, 2007). Als Merkmale für diese „neue Unterschicht“ werden in den unterschiedlichen Positionen insbesondere – wenn auch mit unterschiedlichen Gewichtungen und nicht immer vollzählig – die nachfolgenden Punkte benannt: x x
x x x
Die kulturellen Abweichungen der Angehörigen der „neuen Unterschicht“ finden insbesondere ihren Niederschlag in kriminellen, nicht selten auch gewalttätigen Verhaltensweisen. Die „Unterschicht“ weise darüber hinaus eine besonders hohe Arbeitslosigkeitsquote auf, da sie sich kulturell von der Arbeit entfremdet habe, auf Kosten der Gemeinschaft lebe und/oder ihren Unterhalt innerhalb der Schattenökonomie verdiene. Insbesondere bei Frauen wird auf eine außerordentlich hohe Zahl von wechselnden Sexualpartnern hingewiesen. Die Folge seien uneheliche Kinder und Single-Mutterschaft, da die Väter sich moralisch nicht verpflichtet fühlten, sich um die jeweiligen Kinder zu kümmern. Schließlich führe dies dazu, dass Kinder innerhalb dieser Kultur aufwachsen und die kulturellen Werte und Normen der „Unterschicht“ ebenfalls verinnerlichen würden. Dies münde in einen Kreislauf, der letztlich zur kulturellen Reproduktion der „Unterschicht“ führe.
Auffällig ist, dass die Protagonisten der Unterschichtsdiskussion eine auffallend scheue Haltung gegenüber datengestützten Befunden zeigen. Während bislang kaum empirische Hinweise auf die Existenz einer Unterschicht, die sich kulturell von der Gesamtgesellschaft entkoppelt, vorliegen, stellen zahlreiche empirische Studien die vorgetragenen Thesen in Frage (vgl. u.a. MacDonald/Marsh 2005; Klein 2009; zusammenfassend vgl. auch die Beiträge in Kessl et al. 2007). Besonders bemerkenswert erscheint vor diesem Hintergrund eine um-
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fangreiche Studie, die von Jane Marsh und Robert MacDonald (2005) vorgelegt wurde. In Auseinandersetzung mit der Diagnose Charles Murray´s, haben sie in einer der Städte mit den höchsten Arbeitslosigkeits- und Armutsquoten Großbritanniens im Rahmen einer qualitativen Studie danach gefragt, welche Auswirkungen es auf junge Menschen hat, in Räumen und unter Bedingungen aufzuwachsen, die durch hohe Armut, Arbeitslosigkeit und Kriminalitätsraten geprägt sind. Eine der zentralen und schlichten Ergebnisse von R. MacDonald und J. Marsh stellt die Feststellung dar, dass die Annahme, dass eine einheitliche „Kultur der Armut“ entstünde, sich in ihrer Studie nicht bestätigen lässt: „there is not one single, uniform way of growing up in poor neighbourhoods. A context of social exclusion does not generate just one way of getting by […]. The transitions to adulthood that these people were making were unique“ (MacDonald/Marsh 2005, 193). Es ist geradezu auffällig, dass die Jugendlichen auf differente Weise mit ihrer „unterprivilegierten“ Lebenslage umgehen. Während die kulturellen Verortungen eine enorme Breite aufweisen und nicht auf simple Formeln zu reduzieren sind, können die Jugendlichen in Bezug auf strukturelle Benachteiligungen auf gemeinsam geteilte Erfahrungen verweisen. Wesentlich sind hier Fragen ökonomischer Benachteiligung und abwechselnder Erfahrungen mit Arbeitslosigkeit und Tätigkeiten im Bereich der prekären Beschäftigung. Um nicht falsch verstanden zu werden: Ähnlich wie C. Murray sind auch R. MacDonald und J. Marsh auf Jugendliche gestoßen, die die Erfahrung von Arbeitslosigkeit und der Abhängigkeit von Transfereinkommen teilten, die alleinstehende Mütter waren, kriminellen Tätigkeiten nachgingen und/oder Drogen konsumierten. In den Interviews mit den Jugendlichen wurde jedoch deutlich, dass diese Erfahrungen nicht als eine Abkopplung von gesellschaftlichen Moralvorstellungen zu verstehen sind. Vielmehr ist festzustellen, dass in all diesen Fällen sich die Wert- und Moralvorstellungen in geradezu bemerkenswerter Weise an gesellschaftlichen Normalitätsvorstellungen orientieren (vgl. MacDonald/Marsh 2005, 199). In Bezug auf Erfahrungen mit Arbeitslosigkeit ist beispielsweise festzustellen, dass die meisten Jugendlichen aktuell oder in der Vergangenheit zwar von Arbeitslosigkeit betroffen waren, jedoch immer wieder auch Zugänge zum Arbeitsmarkt fanden, der allerdings insbesondere Jobs im Bereich der prekären Beschäftigung für sie bereit hielt. „The point, however, is that even for some of these most inexsperienced, unqualified young workers, in a place best by high levels of joblessness, employment remained possible, albeit usally in the form of severely casualised ‚poor work. Even some of those with the most uninspiring work histories and lengthy records of imprisonment also occasionally managed to get jobs during spells ‚on the out’“ (MacDonald/Marsh 2005, 201). Von einer generellen Ablehnung des gesellschaftlich hoch aufgeladenen Wertes der Erwerbsarbeit kann hier also nicht gesprochen
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werden. Vielmehr zeigen sich deutliche Anzeichen dafür, dass geregelte Arbeit einen hohen Wert für die Jugendlichen besitzt und für viele ein ständiges Thema der individuellen Auseinandersetzung darstellt. Während P. Willis in den 1970er Jahren Jugendliche vor Augen hatte, die ohne Zweifel von Ausgrenzungsprozessen betroffen waren, jedoch im Kontext der Arbeiterklasse und der Kultur dieser Klasse einen Ort fanden und mit einem gewissen Stolz darauf verweisen konnten, scheint den von R. MacDonald und J. Marsh betrachteten Jugendlichen diese Perspektive zu fehlen. Die Auflösung und Abwanderung der Arbeitsplätze in der einfachen, aber körperlich harten Produktion, führte in gewisser Weise zu einer Erosion der Arbeiterkultur bzw. entzieht den mit ihr einhergehenden Sicherheiten und Versprechen den Boden. Der Stolz und die Sicherheit, die in den Interviewpassagen mit den Lads bei P. Willis deutlich zu vernehmen sind, fußte scheinbar auf der Gewissheit, dass sie innerhalb der harten körperlichen Arbeit in den Fabriken von Hammertown einen Job finden werden und die Schule für diese Tätigkeiten ihnen keine Qualifikationen anbieten kann. Schon damals musste P. Willis feststellen, dass diese Überzeugung häufig genug enttäuscht wird, aber die ideologische Kraft ist in den Interviewpassagen noch deutlich zu spüren. Diese Sicherheit lässt sich in den Aussagen der Jugendlichen von Teeside nicht mehr finden. In ganz ähnlicher Weise lassen sich auch die anderen Bereiche der „kulturellen Unterschicht“ entkräften. So weißt beispielsweise Alexandra Klein (2009; vgl. auch Klein/Zeiske/Oswald 2008) darauf hin, dass für die Annahme, dass sich mit der „kulturellen Unterschicht“ eine Gruppe herausbildet, die sich auch hinsichtlich der Sexualmoral den kulturellen Normen und Werten der Gesamtgesellschaft entzieht und ‚sexuell verwahrlost’, keine empirischen Erkenntnisse vorliegen. Vielmehr fasst A. Klein zusammen, dass die vorliegenden empirischen Studien zeigen, „dass sich hinsichtlich der kulturellen Einschätzungen, Bewertungen und Anerkennungsformen von Fragen der Sexualität im Allgemeinen wie der Mutterschaft im besonderen zwischen der so genannten ‚Underclass’ und dem so geannten ‚Mainstream’ kaum substantielle Unterschiede finden lassen. Schon gar nicht solche, die es erlauben würden, von einer Kultur der ‚Welfare Queens’ oder von ‚sexueller Verwahrlosung’ zu sprechen“ (Klein 2009, 31 f.). Die vorliegenden Daten zeigen dabei recht deutlich, dass die Angewiesenheit auf staatliche Transferleistungen im Fall von jungen Müttern „vor allem aus erheblich eingeschränkten Lebenslagen durch relative Armut und nicht aus devianten sexuellen Verhaltensweisen und/oder Werten [resultiert]. Das Problem sind weder Schwanger- noch Mutterschaft in jungen Jahren, sondern das Problem sind die materiellen, infrastrukturellen und kulturellen Beschränkungen, denen diese Frauen sowohl vor als auch nach ihrer Schwangerschaft ausgesetzt sind“ (Klein 2009, 32).
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In Anschluss an Stanley Cohens (2002) „Folk Devils and Moral Panics“, versteht A. Klein den Diskurs über sexuelle Verwahrlosung als Moralpanik, die benachteiligte Bevölkerungsgruppen als eine Gefahr für die Gesellschaft stigmatisieren. In diesem Sinne wurde der „moral underclass discourse“ (vgl. Levitas 2005) zahlreich als „blaming the victims“ kritisiert (vgl. u. a. Walker 1996, 74; Klein et al. 2005).
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Die Formatierung von Jugend in Gleichaltrigengruppen über soziale Ungleichheiten – Blick auf empirische Befunde
Eine Palette von quantitativen, insbesondere jedoch qualitativen Studien verdichtet und referiert die immer noch biografietragende Bedeutung von PeerKonstellationen und Gleichaltrigenbeziehungen für Jugendliche. Verschiedene quantitative Studien aus dem zurückliegenden Jahrzehnt heben übereinstimmend hervor, dass keineswegs nur Jugendliche mit einem niedrigen Berufsabschluss an der Verbreiterung der informellen Szenen beteiligt sind. Der Präferenz für informelle Gleichaltrigengruppen liegt generell demnach kein ausgeprägter sozial-kultureller Standort in der Gesellschaft zu Grunde. So zutreffend diese quantitative Trenddiagnose zur Relevanz altershomogener jugendlicher Sozialbeziehungen in allen Statusgruppen auch ist, so darf daraus keineswegs geschlossen werden, dass die Zusammensetzung und Verbreitung der jugendlichen Szenen und Peers von den Kriterien sozialer Differenzierung der Gesellschaft völlig unabhängig ist. Immer noch treffen ältere qualitative Studien, die verschiedene jugendliche Handlungstypen herauszuarbeiten oder unterschiedliche jugendliche Cliquen dicht zu beschreiben suchten (vgl. u.a. Lenz 1988; Thole 1991), die Realität. Mit belastbaren Befunden weisen sie darauf hin, dass das Kriterium „soziale und ethnische Herkunft“ für die Konstituierung von jugendlichen Szenen und Peer Groups keineswegs bedeutungslos geworden ist (vgl. Bohnsack et al. 1995; Tertilt 1996; Sauter 2000; Eckert/Reis/Wetzstein 2000; Thole 2009). Maskulin-, körper- und aktionsorientierte Jugendliche kommen in der Regel aus Familien mit einem niedrigen Sozialstatus. Hingegen rekrutieren sich eher „subjektorientierte“ Jugendliche aus Familien mit einem höheren sozialen Status. Gemeinsam ist ihnen aber mit anderen jugendlichen Orientierungen – wie den hedonistischen oder manieristischen, familien- und institutionell gebundenen, den spirituellen oder den alternativ engagierten –, dass sie sich zwar auch noch, aber nicht mehr ausschließlich und primär in festen Peers, sondern in offeneren Beziehungsformen bzw. Szenen finden und treffen (vgl. Strzoda 1996; Ferchhoff/Neubauer 1997; Hitzler/Pfadenhauer 2001; vgl. auch Krüger/Köhler/Zschach 2007). Zudem scheinen sich die bislang
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über ost-west Vergleiche identifizierten Unterschiede inzwischen regionalisiert zu haben. Das jugendliche Freizeitverhalten, insbesondere jedoch die mehrheitlich favorisierten sozial-kulturellen und sozial-politischen Orientierungen divergieren in einzelnen Regionen der neuen Bundesländer zu den vorliegenden Durchschnittswerten aufgrund der demographischen Entwicklung, aber auch aufgrund der vorliegenden sozialstrukturellen Ungleichheiten deutlich. Dieser Befund ist auch in Bezug auf Unterschiede auszumachen, die sich über differente ethnische Zugehörigkeiten artikulieren. Zwar steuern sich unterschiedliche ästhetische Praxen von Jugendlichen und differente sozial-kulturelle Orientierungen auch über ethnische Zugehörigkeiten, deutlicher aber über zugleich erkennbare herkunfts- und milieubedingte Faktoren (vgl. u.a. Reinders et al. 2000; Raabe/Titzmann/Silbereisen 2008). Transnationale Migration stellt jedoch immer noch eine Herausforderung für jugendliche Identitätskonstruktionen dar, die auch über die Einbindung von Jugendlichen in Gleichaltrigengruppen nicht abgefedert wird (vgl. Fürstenau/Niedrig 2007). Bestimmte Formen von Cliquen haben den vorliegenden Studien zufolge durchaus das Potenzial, kompensatorische Wirkung zu entfalten. Diese „geborgenheitsorientierten“ Zugänge werden von T. Wetzstein insbesondere als Ersatz für die Familie interpretiert (vgl. auch Rieker 2007). So empfinden die Mitglieder von aktions- und handlungsorientierten Cliquen einen dauerhaften und festen Freundeskreis nicht nur als wichtig, sondern vergleichen ihn auch mit einer Familie (vgl. Wetzstein et al. 2005, 179): „Richtet man den Blick in diese Cliquen hinein, zeigen sich ausgeprägte Strukturen, Solidaritäten und Anerkennungsleistungen. Bezogen auf die Strukturen geben diese Befragten eher an, dass es gemeinsame und verbindliche Regeln gibt. […] Diese Cliquen ermöglichen […] offenbar emotionalen Halt und vermitteln den Jugendlichen das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit. Gefühle sind vermutlich der ‚Kitt’ der Clique. Die Jugendlichen sind mit ihrer Gemeinschaft eher nach innen gerichtet“ (Wetzstein et al. 2005, 180 f.). Die Cliquen haben durch ihre starken und exklusiven Beziehungen die Funktion, eine ‚soziale Heimat’ zu bieten, womit zugleich auch der kompensatorische Charakter dieser Gruppen lokalisiert ist. T. Wetzstein et al. zeigen, dass die Bindungen zu den Eltern eher als problematisch gekennzeichnet werden und die Gruppen damit (zumindest teilweise) als „Familienersatz“ interpretiert werden können. Es ist dabei davon auszugehen, dass diese Formen von belastbaren Beziehungen durchaus dazu genutzt werden, allgemeine Probleme abzufedern und zumindest über einen bestimmten Zeitraum auszugleichen. Ein vergleichbares Bindungspotenzial zeigen auch die über sportive Netzwerke hergestellten Peerkonstellationen (vgl. Fussan 2006). Während dieser Cliquentypus also starke und verlässliche Beziehungsmuster aufweist und einen zentralen sozialen Ort für die Jugendlichen darstellt, wird
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von T. Wetzstein et al. darüber hinaus ein weiterer Typus ausgemacht, der von ihnen als „prekäre Zugehörigkeiten“ umschrieben wird: „Diese Jugendlichen geben an, ‚überwiegend rumzuhängen’ und dass sie zusammen sind, weil sie ‚sonst niemand haben’“(Wetzstein et al. 2005, 189). Diese ‚Schicksalsgemeinschaft’ ist dabei jedoch deutlich weniger stabil und belastbar, vielmehr handelt es „sich bei diesen Cliquen um labile soziale Gebilde. Das Gefühl, von den eigenen Cliquenmitgliedern anerkannt und akzeptiert zu sein, ist niedriger als bei allen anderen Jugendlichen in Cliquen“ (Wetzstein et al. 2005, 190). Als typisch für diese Cliquen wird aus diesem Grund ausgemacht, dass sie sich aufgrund ihrer Fragilität immer wieder auflösen und wieder neu konstituieren. Da es sich hier jedoch um Jugendliche handelt, die nur wenig Kontakt zu anderen Gleichaltrigen haben, verändert sich dabei die Mitgliederstruktur kaum. So resümieren T. Wetzstein et al.: „Es sind Zusammenschlüsse der Nichtzugehörigen und der in anderen Lebensbereichen ‚Desintegrierten’. Dies reicht aber nicht aus, um eine Gemeinschaft zu begründen“ (Wetzstein et al. 2005, 211). Leider lassen die Daten von T. Wetzstein et al. kaum Überlegungen hinsichtlich sozialstruktureller Verortungen zu. Es wird zwar herausgearbeitet, dass es sich bei Jugendlichen mit prekären Zugehörigkeiten um Jugendliche handelt, die hinsichtlich ihrer Verortung im Bildungssystem eher der Hauptschule angehören und dementsprechend ihre berufliche Zukunft auch eher pessimistisch einschätzen. Jedoch erlauben sie weder detaillierte Betrachtungen hinsichtlich des Zusammengreifens von Ausgrenzungsprozessen in anderen Dimensionen noch die sozio-ökonomische Betrachtung der Herkunftsfamilien. Objekt von Negativschlagzeilen waren in den letzten Jahren insbesondere nationale oder rechtsextreme, xenophobisch oder antisemitisch orientierte jugendliche Peer-Gruppen und Szenen. Vorliegende regionale Studien zu aggressiven und delinquenten Verhaltensweisen betonen diesbezüglich jedoch die wechselnde Sensibilität der öffentlichen Wahrnehmung als Motor der doch enormen Schwankungen in Bezug auf die Registrierung von national gefärbten, fremdenfeindlich motivierten Gewalttaten (vgl. Mansel/Hurrelmann 1998; Jansen 2001). Verwiesen wird in diesem Zusammenhang zudem auf die Wirkung der bundesrepublikanischen Massenmedien als situativer „Durchlauferhitzer“ fremdenfeindlicher und rechtsnational motivierter Aktionen, zeigt sich doch zumindest in den statistischen Sekundäranalysen eine auffallende Parallelität zwischen der öffentlichen Medienberichterstattung über und dem allgemeinen Anstieg von Gewaltaktionen (vgl. Ohlemacher 1998; kritisch Hopf 2001). Aktuelle Jugendstudien entdecken in den jugendlichen Selbstauskünften für die letzte Dekade jedoch weder einen bedeutsamen Anstieg antijüdischer und fremdenfeindlicher Vorurteile sowie rechtsnational gefärbter Orientierungen noch einen Anstieg der rechtsextrem motivierten Gewaltakzeptanz (vgl. u.a.
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Sturzbecher 2001), gleichwohl der Anteil der Jugendlichen, die xenophobischen und rechtsnational gefärbten Deutungsmustern nahe stehen, sehr hoch ist und unterschiedlichen Studien zufolge bei ungefähr einem Viertel der Jugendlichen liegt (vgl. u. a. Mansel/Hurrelmann 1998; Münchmeier 2000). Für die Entwicklung fremdenfeindlicher, antisemitischer und rechtsnationaler Orientierungen tragen unterschiedlichen Studien zufolge sowohl desintegrierende Effekte der gesellschaftlichen Modernisierung und die Zunahme von allgemeinen Risikofaktoren Verantwortung als auch familiale Bedingungsfaktoren, subjektiver Anerkennungsmangel und ökonomisch, sozial und kulturell determinierte Ausgrenzungsprozesse (vgl. Heitmeyer/Hagan 2002). Stigmatisierungen von Minderheiten und entsprechend motivierte Deutungen und Gewalthandlungen artikulieren insbesondere Mitglieder von jugendlichen Cliquen aus sozial marginalisierten Lebenslagen. Männliche, jugendliche Aussiedler finden sich zudem nicht nur häufiger in Cliquen zusammen, sondern agieren in diesen Kontexten laut Selbstauskunft auch häufiger delinquente Verhaltensweisen aus (vgl. Raabe/Titzmann/Silbereisen 2008). Die über Selbstdefinitionen habitualisierten dichotomen Bilder von der Welt begünstigen die Gewaltaffinität und die darüber gruppenintern legitimierten gewalttätigen Aktionen. Ihnen kann die Funktion eines Selbstzwecks, eine Reaktion auf Benachteiligungsgefühle ebenso zufallen wie sie der Selbstbehauptung gegenüber anderen oder aber der Absicherung eines ideologischen Konstruktes dienen können (vgl. Bohnsack et al. 1995; Menschik-Ben-dele/Ottomeyer 1998; Eckert/Reis/Wetzstein 2000; Heitmeyer/Hagen 2002). Auch wenn zunehmend mehr Mädchen in gewaltorientierten Szenen zu beobachten sind, scheinen weibliche Peer-Freundschaften generell gegenüber gleichaltrigen männlichen Peer-Gruppen in Bezug auf ihre innere Dynamik eine differente Qualität zu entwickeln. E. Breitenbach und S. Krausträter (1998, 400) heben so hervor, dass sich „die Beziehungen oft über Jahre hinweg“ entwickeln, „körperlich-zärtliche Komponenten“ aufweisen und offen sind für die Bearbeitung der „Unsicherheiten und Probleme mit den Beziehungen zu Jungen“. Generell auffällig ist und bleibt die öffentliche Unauffälligkeit vieler jugendlicher Szenen und Peerbeziehungen. Die jugendkulturellen Gleichaltrigengruppen leben in ihrer Mehrzahl eine leise, stille Jugendzeit – und das Ausleben einer „stillen“ Praxis wird durch die neuen medialen Möglichkeiten in ihren Möglichkeiten noch forciert. Das gesellschaftliche Bild bestimmen neben den exotischen Jugendszenen die expressiven, zu gewalttätigen und kriminalisierbaren Handlungen neigenden Jugendszenen wie die jugendlichen Fußballfans, Graffity-Groups, S-Bahnsurfer und Autochrashing-Gangs und Szenen wie die „Psychobillies“, aber seit Beginn des neuen Jahrtausends auch wieder stärker Szenen von drogenkonsumierenden Jugendlichen. Auf der Suche nach Gebor-
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genheit, Intimität, Anerkennung, Selbstvergewisserung und Autonomie inszenieren sie den Tanz als Kraftprobe, die Politik als Aktion gegen alles Fremde und den Alltag als Rebellion und Randale.
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Fazit
Autonome, informelle und non-formal organisierte Gleichaltrigengruppen sind neben gleich- und andersgeschlechtlichen Beziehungen und neben Familie, Schule und Arbeitswelt das entscheidende Sozialisationsfeld für Jugendliche. Das Besondere an ihnen ist, dass sie als Orte der Selbstsozialisation die Aktivierung von Sozialformen zulassen, die an anderen gesellschaftlichen, von Erwachsenen dominierten Orten nicht aufzurufen sind oder aber negativ sanktioniert werden. Gleichaltrigengruppen präsentieren in den Biografien der Heranwachsenden oftmals die ersten selbstständig aktivierten sozialen Netze. Jedoch klärt das vorliegende Wissen über informelle jugendliche Gleichaltrigennetzwerke nicht alle Fragen auf. Die Komplexität des Zusammenhangs von sozialer Ungleichheit im Jugendalter im Allgemeinen und im Kontext von Peer Groups im Speziellen kann anhand der vorliegenden Studien nur unzureichend erklärt werden. Zwar kann über die modernisierungstheoretisch gestützte Annahme aufgezeigt werden, dass durch die Pluralisierung der Lebensstile und Lebensformen sich kulturelle Orientierungen und freundschaftliche Nahbeziehungen ausdifferenzieren und sich die jugendlichen Vergesellschaftungsformen dynamisieren, aber die Steuerungsqualitäten sozialer Ungleichheiten, Disparitäten und Heterogenitäten bleiben ausgeblendet. Die feinen Unterschiede in den kulturellen Orientierungen bleiben dem Blick entfremdet. Doch sie scheinen es gerade zu sein, die nach wie vor soziale Zugehörigkeit – oder eben gerade nicht – herstellen und stabilisieren, in performativen Akten reproduzieren und damit wiederum – neue – soziale Ungleichheit konstituieren. Diese Annahme nährt sich auch und insbesondere über die im Kontext der neueren Bildungsdiskussion aufgekommene Thematisierung sozialer Ungleichheit, wird doch hier explizit auf die ungleichen Chancen hingewiesen, die Heranwachsende aus unterschiedlichen Milieus haben, an bestimmten Schulformen zu partizipieren und innerhalb dieser erfolgreich zu sein. Der in diesem Kontext verwendete Ungleichheitsbegriff bleibt jedoch zumeist ein Begriff der Bildungsungleichheit und klärt damit nur einen Teil des Sachverhalts der Konstituierung und Reproduktion von sozialkulturellen Ungleichheiten insgesamt auf. Weitere Aufklärung bringt hier auch nicht die These einer kulturellen Unterschicht. Diese Annahme wiederum ist nicht nur problematisch, weil sie ausschließlich den Betroffenen die Schuld für ihre marginalisierte Situation zuweist und mit stigmatisierenden Zuschreibungen
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einhergeht, sondern auch, weil sie empirisch keine Bestätigung findet. Während wenig dafür spricht, dass die von Armut betroffenen Gruppen sich ihre Situation frei gewählt haben, weisen zahlreiche Befunde darauf hin, dass Armut und Prozesse sozialer Ausgrenzung auch weiterhin entlang der klassischen Ungleichheitsstrukturen und traditionellen Medien hergestellt werden. Weitere Verdichtungen könnten Studien liefern, die beispielsweise die sozial-strukturellen Analysen von Pierre Bourdieu (vgl. 1982, 1983) auf das Feld der Heranwachsenden beziehen würden. Mit der Dreiteilung des Kapital Begriffes plädiert P. Bourdieu für einen Blick auf Gesellschaft, der neben ökonomischen Formen auch soziale und kulturelle Kapitalien als Ressourcen der Positionierungen im sozialen Raum (vgl. Bourdieu 1983) und der Verortung in sozialen Klassen berücksichtigt sieht. Während sich ökonomisches Kapital unmittelbar und direkt in Geld konvertieren lässt, äußert sich soziales Kapital in Formen der Zugehörigkeit zu sozialen Netzwerken. Hingewiesen ist damit auf die „Gesamtheit der aktuellen und potentiellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens oder Anerkennens verbunden sind“ (Bourdieu 1983, S. 190). Das kulturelle Kapital sieht P. Bourdieu nochmals unterteilt in inkorporierte, objektivierte und institutionalisierte Formen. Das inkorporierte Kulturkapital lässt sich am ehesten als Bildungskapital übersetzen. Wobei es sich nicht auf schulische Kompetenzen reduzieren lässt, sondern sich beispielsweise auch in unterschiedlich erlernten Sprechweisen widerspiegelt. Seine Materialisierung erhält das kulturelle Kapital als objektiviertes Kulturkapital, welches sich für P. Bourdieu in Schriften, Gemälden, Denkmäler wieder findet. In Bezug auf Jugendliche kann diesbezüglich beispielsweise danach gefragt werden, ob Konsumgüter wie Markenartikel nicht generell als eine solche Materialisierung zu verstehen sind. Als institutionalisiertes Kulturkapital stellen sich für P. Bourdieu schließlich Schulabschlüsse und Titel dar: „Der schulische Titel ist ein Zeugnis für kulturelle Kompetenz, das seinem Inhaber einen dauerhaften und rechtlich garantierten konventionellen Wert überträgt“ (Bourdieu 1982, 190). Die Analyse der hierüber verlaufenen Ausgrenzungsprozesse und die damit einhergehende Produktion von sozialer Ungleichheit erscheint gerade auch für die Nahwelten von Jugendlichen und deren Verortungen in Peer Groups interessant und aufschlussreich. Doch hieran anschließende, auf die Situation und Lagerung von Heranwachsenden im sozialen Raum fokussierte Studien stehen noch aus.
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Die Bedeutung von Peerbeziehungen im Alter – Freundschaften im Alter und ihr Einfluss auf Alternsprozesse Christine Meyer
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Peers im Alter unter den Bedingungen des demographischen Wandels
In Bezug auf die Lebensphase Alter und Alternsprozesse wurden Peers bzw. das Vorhandensein von Peer Groups noch überhaupt nicht entdeckt und thematisiert, vor allem auch nicht im Hinblick auf ihre mögliche Relevanz für gelingende Alternsprozesse. Aus gesellschaftlicher Sicht verwundert diese eingeschränkte Perspektive nicht, denn die Lebensphase „Alter“ und der Alternsprozess werden, trotz all der Chancen für das dritte Lebensalter1, doch wieder defizitär eingeordnet mit Blick auf das vierte Lebensalter und dem höheren Risiko hilfe- und pflegebedürftig zu werden. Mit einsetzender Hilfe- und Pflegebedürftigkeit nimmt die Angewiesenheit und Abhängigkeit von anderen Menschen zu und damit verbunden die Hilfepotenziale, die in den Beziehungen verborgen liegen. Alte Menschen werden überwiegend als Empfänger von Hilfe und Betreuung dargestellt und eher seltener werden jene Unterstützungsleistungen in den Blick genommen, die von älteren Menschen innerhalb der Familie oder ihren sozialen Netzen erbracht werden (vgl. Atias-Donfut 2000 zit.n. BMFSFJ 2005). Die bestehenden Bindungen und Sozialbeziehungen, die Ältere vorweisen können, wie z.B. Familie, Freunde, Nachbarn, werden somit überwiegend als Potenzial möglicher Hilfe- und Pflegeleistungen eingeschätzt und eher nicht in der Perspektive von HilfeempfängerInnen, LebensbegleiterInnen, Sozialisations- oder gar Bildungsinstanzen für Alternsprozesse. Dabei birgt die Altersphase einige Herausforderungen und Weiterentwicklungschancen, die ein Mensch 1
Die Lebensphase Alter lässt sich in ein drittes und viertes Lebensalter einteilen. Das dritte Lebensalter gilt als aktive und chancenreiche Phase, die nach Ausgestaltung des ihm innewohnenden Potenzials ruft, während das vierte Lebensalter als risikoreich eingeschätzt wird aufgrund der zunehmend steigenden Wahrscheinlichkeit mit höherem Lebensalter (ca. 80+) hilfe- und pflegebedürftiger zu werden bis zur Multimorbidität.
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Christine Meyer
allein nicht bewältigen sollte, denn er benötigt Auseinandersetzungsmöglichkeiten und Unterstützung für den Übergang in den Ruhestand, für den evtl. Verlust des Lebenspartners, die Überlegung, in eine alternative Wohnform zu ziehen, in die Nähe der Kinder oder beim Eintritt ins Pflegeheim, beim schleichenden Verlust des Netzwerks, wenn Geschwister, Freunde oder Nachbarn nach und nach sterben etc. Die folgende Bekanntschaftsanzeige aus der Wochenzeitung „Die Zeit“ aus dem Jahr 2007 ist der Ruf eines alten Mannes nach einer Gefährtin und im Fokus dieses Beitrages vielleicht doch auch als Suche nach einem Peer zu bewerten, der mit ihm das Alter bewältigt und gestaltet. „Intellektueller, antikonservativoid, 170cm, 69kg, 79 Jahre, verwitwet, sehr einsam, promov., veritabl. Journalist, witzig und sanft (Krebs), mit dieser letzten Offerte im Schlussverkauf (Sale) günstig abzugeben an Sie, schlau, herzenswarm, gutmütig, mit Sinn für Satire und andere Weisheit, die zu mir ziehen in schö. Haus Raum N. erwägen könnte (nicht Bed.)“ (Die Zeit, 2007).
Von Bedeutung ist die Bekanntschaftsanzeige nicht nur in individueller Perspektive, vielmehr veranschaulicht sie die Lebenslage vieler älterer Menschen, die mit zunehmenden Alter bemerken, dass ihre Kontakte und Beziehungen, die sie seit vielen Jahren und Jahrzehnten für selbstverständlich hielten, weniger werden. Und diese Entwicklung werden in naher Zukunft nicht nur Einzelne erleben, vielmehr wird es alltäglich. Denn seit Beginn der 1990er wird eine gesellschaftliche Entwicklung zunehmend sichtbarer: die demographische Entwicklung, die sich kennzeichnen lässt durch einen dreifachen Alternsprozess. Dieser gesellschaftliche Prozess besteht aus der Zunahme älterer Menschen in absoluten Zahlen und relativen Anteilen sowie die Zunahme der Hochaltrigkeit. Im Jahr 2005 waren 20,5 Millionen älter als 60 Jahre und im Jahr 2030 werden es 28,5 Millionen (36%) sein. Über die Hälfte der Bevölkerung wird 2050 älter als 48 Jahre sein und der Anteil der Hochaltrigen (80+) wird von 4% auf 12% im Jahr 2050 (ca. 10 Millionen Menschen) angestiegen sein. Gleichzeitig wird die Gesellschaft von derzeit ca. 82 Millionen auf 69 Millionen schrumpfen und die Anzahl unter 20-Jähriger wird von gegenwärtig 16,5 Millionen auf ca. 11 Millionen im Jahr 2050 zurückgehen. Im Jahr 2050 werden, so die Vorausberechnungen des Statistischen Bundesamtes (2006), 78 alte Menschen (60+) 100 Personen im Alter zwischen 20 und 60 Jahren gegenüberstehen. Insgesamt entsteht eine Gesellschaft, die sich als Gesellschaft der Alten charakterisieren lässt. Das Alter, undifferenziert betrachtet, verwandelt die Struktur und die Gestalt der Gesellschaft wie nie zuvor, mit vielen Veränderungen, die bisher noch unvorstellbar, abwegig oder nicht denkbar sind. Mit großer Wahrscheinlichkeit wird es nicht einen einzigen Bereich geben, der sich nicht aufgrund des demographischen Wandels verändert: Die Zunahme der durchschnittlichen Lebenserwartung hat tiefgreifende qualitative Entwicklungen des gesamten gesellschaftli-
Die Bedeutung von Peerbeziehungen im Alter
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chen Lebens zur Folge. Für den Alternsprozess jedes Menschen wird es zunehmend von Bedeutung, die Einbußen des Alterns nicht so sehr als Verlust des bisherigen Lebensstandards zu betrachten, vielmehr ist der Blick auf Hilfe- und Pflegebedürftigkeit als Ressource zu lenken, in der es um gute Lebensqualität geht. Der Anteil Älterer an der Gesellschaft wird ebenfalls große Veränderungen vor allem auch in Bezug auf die Ausdifferenzierung des Alters in unterschiedliche Gruppen haben, die entweder interessegeleitet oder je nach Wohnform oder Lebenslage peer-ähnliche Gruppierungen herausbilden, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten in der Lebensphase Alter, die rund 30 Jahre ab Renteneintritt ausmachen kann, für die Lebensqualität und persönliche Entwicklungen bedeutender werden. Derzeit lassen sich in Bezug auf sozialer Beziehungen älterer Menschen folgende Erkenntnisse zusammenfassen.
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Das Alter ist peer-los und bleibt es nicht – soziale Beziehungen älterer Menschen
Ältere Menschen wachsen mit zunehmendem Lebensalter in eine neue Lebensphase hinein, in der neue altersabhängige Entwicklungsaufgaben als Herausforderung auf sie warten, wie z.B. etwa der Verrentungszeitpunkt, der auch als Beginn der Lebensphase „Alter“ betrachtet werden könnte, die „empty nest“Erfahrung, wenn die Kinder das Elternhaus verlassen, eine eigene Familie gründen und schließlich die Großelternschaft. Soziale Beziehungen verändern sich mit den äußeren Lebensbedingungen und mit dem Wechsel von einer Rolle in die nächste. In Bezug auf soziale Kontakte und soziale Beziehungen außerhalb familiärer Verbindungen verringert sich die Anzahl und Intensität im Vergleich zu jüngeren Erwachsenen bzw. früheren Lebensabschnitten: „So verfügen über 65jährige Menschen durchschnittlich über fünf bis 15 wichtige und enge Sozialbeziehungen, während junge und mittelalte Erwachsene durchschnittlich 15 bis 35 soziale Beziehungen unterhalten“ (Lang 2000, 142). Nur zum Teil lassen sich diese Veränderungen auf die mit dem Alter einhergehenden sozialen Verluste zurückführen (z.B. Verwitwung oder Tod alter Freunde), es gibt Hinweise auf selbst gewählte Veränderungen sozialer Beziehungen im Alter. Ältere Menschen bevorzugen häufig Kontakte zu emotional nahestehenden Familienangehörigen oder Freunden im Alter, während andere Kontakte und Beziehungen mit weniger nahestehenden Personen freiwillig aufgegeben werden. Familienbeziehungen und Freundschaften im Alter lassen sich dabei durch unterschiedliche strukturelle und funktionale Merkmale kennzeichnen (vgl. Lang 2000, 142), die
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im Folgenden im Mittelpunkt der Betrachtung in ihrer Bedeutung als mögliche „Peers im Alter“ stehen. Zunächst einmal kann davon ausgegangen werden, dass es in Zukunft zu einer weiteren Diversifizierung von Lebens- und Wohnformen kommen wird: Selbst gewählte Lebensgemeinschaften, gemeinsam alt und sehr alt werdende Ehepaare, Ehepaare ohne Kinder sowie allein lebende Männer und Frauen. Gegenwärtig ist die Mehrzahl der Männer verheiratet bis in die höchsten Altersgruppen der über 80-Jährigen, etwa 2/3 aller Männer in diesem Alter sind verheiratet. Der Anteil lediger und geschiedener Männer ist relativ klein. Die Situation für Frauen stellt sich grundlegend anders dar: Der Anteil verwitweter Frauen steigt mit dem Alter erheblich an, so sind bei den über 80-jährigen Frauen fast 3/4 aller Frauen verwitwet. Der Anteil der ledigen und geschiedenen Frauen ist im Vergleich zu den Männern etwas höher. Mit Blick auf die Prognosen wird davon ausgegangen, dass sich in den nächsten 25 Jahren die Familienstandsstrukturen der Geschlechter etwas annähern. Das Verwitwungsrisiko für Frauen wird weiter ansteigen und die Wahrscheinlichkeit, verheiratet zu sein, weiter abnehmen. Nicht-eheliche Lebensgemeinschaften werden in der Bedeutung in den nächsten Jahrzehnten kaum eine bedeutendere Rolle spielen als gegenwärtig. Die Familienstandsstrukturen der Männer werden eine erhebliche Veränderung erleben, denn der Anteil verheirateter Männer wird je nach Altersgruppe um bis zu ein Viertel absinken und der Anteil lediger Männer wird stärker zunehmen als die Zahl lediger Frauen. Die Anteile geschiedener Männer und Frauen wird sich in allen Altersgruppen verdoppeln, dabei werden Männer anteilig mehr in festen, vor allem in ehelichen Partnerschaften leben als Frauen. Im Jahr 2030 werden voraussichtlich 72,2% der 65- bis 69-jährigen Männer und 95,4% der Frauen dieses Alters in Partnerschaften leben. Die über 80-jährigen Männer werden zu 58,4% und die Frauen zu 12,3% in festen Partnerschaften leben (vgl. BMFSFJ 2005, 173f). Der Anteil der in Einpersonenhaushalten lebenden älteren Menschen wird sich erhöhen: Von derzeitig 5,2 Millionen auf ca. 9,2 Millionen. Dies trifft bis 2030 insbesondere Westdeutschland mit einem Anstieg der Einpersonenhaushalte Älterer um 81%, während diese Entwicklung in Ostdeutschland mit einer Steigerung um 56% nicht ganz so stark ausfallen wird. Männer wie auch Frauen werden in Zukunft vermehrt allein einen Haushalt führen, wobei die Zahl alleinlebender Männer gegenüber heute im letzten Prognosejahr auf fast das Dreifache anwachsen wird und die der Frauen um 55% (vgl. BMFSFJ 2005, 176). Deutlich wird mit den gegenwärtigen Erkenntnissen und Prognosen zur Entwicklung von Beziehungen und Lebensformen im Alter: Je älter ein Mensch wird, desto kleiner wird sein Netzwerk und mit der Vorhersage, dass sich Lebens- und Wohnformen weiter ausdifferenzieren hin zu einer Zunahme von
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Alleinlebenden und Einpersonenhaushalten kann diese Entwicklung dazu führen, als Älterer entweder zu vereinsamen oder in neu zu knüpfenden Verbindungen Nähe und Austausch zu anderen Menschen herzustellen und zu leben. In dieser Perspektive wird die Gleichaltrigengruppe im Sinne der Herausbildung von Peer Groups für ältere Menschen zur notwendigen Herausforderung.
2.1 Die Bedeutung der Gleichaltrigengruppe für ältere Menschen Die Gleichaltrigengruppe bzw. die „Peers“, bisher als Begriff für junge Menschen benutzt und in dem Verständnis, dass sich Jugendliche an Menschen ähnlichen Alters als bedeutende Sozialisationsfunktion ausrichten bei gleichzeitiger notwendiger Emanzipation vom Elternhaus, könnte für ältere Menschen mit der Zunahme der Anteile Älterer an der Gesellschaft ebenfalls an Bedeutung gewinnen: Die Ausrichtung an der Gleichaltrigengruppe als gemeinsames Erproben unterschiedlicher lebbarer sozialer Muster im Alter und einem Austesten der Grenzen sowie gegenseitigem Austausch der Entwicklung verschiedener Altenkulturen, die bis in das hohe Alter tragen, auch wenn evtl. Hilfe- und Pflegebedürftigkeit zunehmen, tragen zur Gestaltung und Bewältigung des demographischen Wandels bei. Bisher wurde die Lebensphase Alter nicht als insbesondere zu berücksichtigende Phase wahrgenommen, da das Leben im Alter überwiegend privat-familiär geregelt war. Peer Groups als Spielfeld betrachtet, auf dem eigene Grenzen ausgetestet werden können, der Umgang mit anderen gelernt werden kann und ein geschützter Raum Gleichaltriger erfahren wird sowie der Austausch von Problemen stattfindet (vgl. Klatt 2007), erscheint für Ältere ebenso bedeutender zu werden vor dem Hintergrund, dass traditionelle Lebensformen, wie z.B. die Ehe als gemeinschaftliches Zusammenleben zukünftig weniger Bedeutung haben wird. Damit geht auch familiäres Hilfe- und Pflegepotenzial verloren, so dass der nähere Beziehungskreis älterer Menschen nach Möglichkeiten abgesucht werden muss. Persönliche Beziehungen, wie z.B. Freundschaften dienen dabei nicht nur der Befriedigung privater Bedürfnisse, vielmehr gelten sie als Ausdruck bzw. Ergänzung der sozialen Struktur. Eine „perfekte soziale Struktur“, die auf persönliche Beziehungen verzichten könnte, würde in einer sehr einfachen, also kaum differenzierten Gesellschaft vorkommen, die im Verwandtschaftsverband alle sozialen Funktionen und Rollen nahtlos und völlig zweckvoll erfüllen kann, so die Einschätzung Tenbrucks zur Bedeutung von Freundschaft in Gesellschaft (vgl. ebd. 1962, 455). Und wenn gegebene soziale Rollen nicht mehr zur Orientierung des Individuums in der ganzen Breite seines Handelns ausreichen, kommt persönlichen Beziehungen größere Bedeutung zu und unter ihnen wird
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insbesondere die Freundschaft wichtig. „Denn eben im Freunde nun findet man seine Ergänzung und Bestätigung“ (Tenbruck 1962, 440). Nötzoldt-Linden bezieht sich auf den lebenspraktischen Sinn von Freundschaften in makro- wie mikrosoziologischer Hinsicht: Freundschaft gilt als dynamische soziale Ressource neben und mit anderen sozialen Quellen wie sie Familie, Arbeitskollegen, Nachbarn, Bekannte, professionelle Helfer darstellen. Und mit jedem gesellschaftlichen Wandel von Ehe, Familie, Arbeit würde dies auch Auswirkungen auf die Erscheinungsform, Inhaltlichkeit und Funktionalität von Freundschaft haben. Freundschaft bedeutet Zusammenhalt, Vernetzung und Fortgang von Gesellschaft und sie gilt als Beitrag zur Bewältigung des Lebensalltags (vgl. Nötzoldt-Linden 1997, 4). Nach Nötzoldt-Linden stellt das Label „Freundschaft“ eine Qualitätsaussage dar, denn damit würde die gemeinsame Beziehungsarbeit von innen her bewertet und definiert: Handlungen in Freundschaften sind wenig institutionalisiert, freiwillig, inhaltlich und raum-zeitlich nicht sicher vorhersehbar, neu, intern und sanktionierbar. Der Freund richtet sich primär auf den anderen als ungeteiltes Individuum aus und Freundschaft lässt sich kennzeichnen durch aktive Selbstverantwortlichkeit, innerhalb derer die Chance auf symmetrische Reziprozität bestehe (vgl. ebd. 1997, 7). NötzoldtLinden als Freundschaftsforscherin fragt danach, ob nicht Freundschaften in Zeiten sich wandelnder oder auch auflösender Familienbindungen Möglichkeiten eröffnen, einen Ausgleich für persönliche wie materielle Bedürfnisse zu schaffen, die bisher traditionell in familiären Beziehungen erbracht wurden. Freundschaften könnten für steigende Anforderungen zur Partizipation in verschiedenen Gesellschaftsbereichen notwendiger werden und vor allem bietet sich mit ihnen die Möglichkeit, Vertrauensnischen, Orientierungs- und Unterstützungsnetzwerke zu bilden, die räumlich-soziale Expansion zulassen, jedoch gleichzeitig soziale Integration und Vernetzung auf mehreren Ebenen nicht ausschließen (vgl. Nötzoldt-Linden 1997, 12). Simmel vertrat bereits 1908 die Ansicht, dass Menschen in komplexen Gesellschaften vielfältige, thematisch unterschiedliche und notwendig kürzerfristige Freundschaften leben müssten, die er als „differenzierte Freundschaften“ bezeichnete (vgl. Simmel 1908 zit.n. Nötzoldt-Linden 1997, 4). Mit dieser soziologischen Perspektive auf Freundschaften bietet sich die Chance für Ältere, dem demographischen Wandel mit den sich ausdifferenzierenden Lebensformen gelassener entgegen zu blicken. Die Orientierung älterer Menschen an der Gleichaltrigengruppe zeigt sich in Untersuchungen zu der Bedeutung von Freundschaften und ihrem möglichen Hilfepotenzial jedoch bisher deutlich anders. Potenziale werden nicht ausgeschöpft, vielleicht sogar nicht einmal ausprobiert. Ältere Menschen verlassen sich mit höherer Wahrscheinlichkeit eher auf ihren Ehepartner oder ihre erwachsenen Kinder als auf Freunde, um den Wunsch nach Unterstützung und
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Sicherheit zu befriedigen. Diese Hilfe durch Familie wird der von Freunden, Bekannten oder Nachbarn vorgezogen. Wenn Ehepartner oder Kinder fehlen, stellt jedoch eine enge Freundschaftsbeziehung oder der Kontakt zu Geschwistern am ehesten eine Kompensation dar (vgl. Schmidt-Deuter 1996, 197). Gleichzeitig nimmt die Bedeutsamkeit von weniger engen, als „einseitig“ oder unausgeglichen erlebten Freundschaftsbeziehungen und Bekanntschaften im Alter ab, während langjährige, gegenseitige und enge Freundschaften im hohen Alter dagegen fortgeführt und nicht selten sogar noch intensiviert werden (vgl. Lehr/Minnemann 1987 zit.n. Lang 2000, 143). Dabei erscheint darüber hinaus von Bedeutung zu sein, dass Freunde im Netzwerk älterer Menschen stärker zur sozialen Zufriedenheit beitragen als Familienbeziehungen. Lang vermutet in Familienbeziehungen häufiger konflikthafte oder belastende Interaktionen und Situationen, während Freunde meist im Kontext geselliger Aktivitäten oder auch als enge Vertraute benannt sind (vgl. Lang 2000, 143). Dies zeigt sich auch in den Ergebnissen der Befragung 70- bis 85-Jähriger nach Personen, an die sie sich bei Bedarf nach Unterstützung wenden würden: Zu 83% werden der Partner/die Partnerin genannt, zu 59% die Kinder und nur zu 10% Freunde. Danach folgen in der Nennung die Geschwister zu etwa 9%, Nachbarn zu 8%, Enkel zu 7%, andere Verwandte zu 4% (vgl. BMFSFJ 2001, 226; eigene Berechnungen). Bei der Frage 70- bis 85-Jähriger, die kinderlos sind, nach Personen, an die sich bei Bedarf nach Unterstützung wenden würden, werden zu 79% der Partner/die Partnerin genannt, zu 21% Geschwister und zu 15% Freunde benannt. Danach folgen in der Nennung andere Verwandte zu 17% und Nachbarn zu 10% (vgl. BMFSFJ 2001, 230; eigene Berechnungen). Nachbarn, Freunde und Bekannte sind wichtige soziale Netzwerkpartner und dennoch würde nahezu jede und jeder Ältere eher Hilfe und Unterstützung von Verwandten im engeren und dann weiteren Umfeld annehmen und weniger die Freunde in Anspruch nehmen wollen. Kohli/Künemund haben 2000 im Alters-Survey herausgefunden, dass Ältere deutlich seltener Freunde haben als die Jüngeren: Mehr als 75% der 40-54Jährigen haben Freunde und nur rund die Hälfte der 70-85-Jährigen. Zudem haben ältere Männer seltener Freunde als ältere Frauen. Offen bleibt, ob die Älteren lebenslang weniger Freunde hatten, ob sie eine engere Definition von Freundschaft verwenden oder ob sich der Freundeskreis im höheren Alter aus unterschiedlichen Gründen verkleinert (vgl. ebd. et al. 2000, 18). Lang et al. hingegen stellen hervor, dass sich das private Netzwerk in der zweiten Lebenshälfte in struktureller und funktioneller Hinsicht verändert. Verschiedene Untersuchungen zeigen, dass die Netzwerke älter werdender Menschen kleiner werden: 35- bis 49-Jährige unterhalten etwa 20-35 Sozialbeziehungen, 65- bis 84Jährige etwa 9-18 Beziehungen und über 85-Jährige etwa 5-8 Beziehungen
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(Lang/Neyer/Asendorpf 2005 zit.n. BMFSFJ 2005). Lang et al. gehen davon aus, dass sich der Freundeskreis reduziert und weniger die lebenslange Kontinuität in Bezug auf einen kleineren Freundes- und Bekanntenkreis die Ursache darstellt. „Die Anzahl der Kontakte zu Freunden und Bekannten nimmt, als Durchschnittswert gesehen, im hohen Alter ab. Dafür gibt es mehr oder weniger banale Gründe: Tod Gleichaltriger, Pensionierung, Einschränkung des Aktionsradius (Gesundheit, Finanzen etc.)“ (Lang 2000, 143). Es gibt jedoch auch Ältere, die überhaupt keine Beziehungen mehr pflegen; ältere Studien weisen daraufhin: 25% der Befragten in einer Untersuchung von 1962 (vgl. Blume zit.n. ebd. 2000, 143) haben überhaupt keinen Kontakt zu Freunden oder Bekannten. Blaschke/Franke (1982) befragten 66-75-Jährige nach ihren Kontakten und Beziehungen und fanden heraus, dass 14,6% keine Besuche machten und 32,5% keine Gäste einluden. Zudem gingen 85% in der Woche abends nie weg und das Fernsehgerät ersetzte ihnen die personale Kommunikation. Die Wochenenden beinhalteten mehr soziale Kontakte. Etwa die Hälfte der Älteren pflegte häufigen und regelmäßigen Kontakt mit Personen außerhalb der Familie, ein Drittel gelegentlich, ein Viertel selten oder nie. Die Kontaktpflege ist jedoch abhängig von Voraussetzungen, wie z.B. das Geschlecht, das Alter und der Gesundheitszustand (vgl. Lang 2000, 143). Ähnliche Ergebnisse zeigt die Zeitbudgetstudie in Bezug auf die Zeitverwendung älterer Menschen vor allem bei der Nutzung von Medien und der Beibehaltung des Wochenrhythmus, der in Woche und Wochenende unterschieden wird (Statistisches Bundesamt 2004; Pinl 2004). Dazu kommen Faktoren, die sowohl theoretisch wie sozialpolitisch als solche gelten, die objektive soziale Isolation und subjektiver Vereinsamung befördern, z.B. Verwitwung, Kinderlosigkeit und Heimaufenthalt (vgl. Mayer/Baltes 1996). In der Berliner Altersstudie zeigte sich 1996, dass 64% der alten Menschen mindestens einen Freund haben, 49% haben Bekannte und 29% rechnen mindestens einen Nachbarn zu ihrem Netzwerk. Auffällig ist, dass lediglich der Anteil alter Menschen, die mindestens einen Freund haben, mit dem Alter deutlich variiert. So haben 69% der 70- bis 84-Jährigen mindestens einen Freund, aber nur 43% der 85-Jährigen und Älteren. Heimbewohner haben deutlich seltener Freunde als alte Menschen, die in Privathaushalten leben (34% versus 66%). In Bezug zum Familienstand zeigt sich, dass Ledige am häufigsten einen Freund in ihrem Netzwerk angaben (76%), gefolgt von den Verheirateten (67%) sowie den Verwitweten (61%) und Geschiedenen (61%). Die Kontakthäufigkeiten zeigen die große Bedeutung von Freunden im Alter, denn die Freunde werden im Durchschnitt alle neun Tage getroffen (vgl. Mayer/Baltes 1996). Hochaltrigkeit, Heimaufenthalt und unfreiwilliges Alleinleben durch Verwitwung oder
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Scheidung können als Risikofaktoren für soziale Isolation und subjektive Vereinsamung im Alter eingeschätzt werden. Die zukünftige Bedeutung von Freunden, Nachbarn und Bekannten in Bezug auf wechselseitige Unterstützungsleistungen wird ansteigen müssen wegen sich ausdifferenzierender Lebensformen, zu denen weniger dauerhafte Partnerschaften gehören, die Zunahme Alleinlebender in Einpersonenhaushalten und die Anzahl Kinderloser, werden beinahe größere Verbindlichkeiten außerverwandschaftlicher Kontakte erzwingen. Im fünften Altenbericht wurde 2005 die Bedeutung flüchtigerer Beziehungen wie Bekanntschaften für die zweite Lebenshälfte hervorgehoben. Bekanntschaften, die im frühen oder mittleren Erwachsenenalter als mögliche Freundschaften erlebt werden, stellen für älter werdende Menschen über Alltagskontakte hinaus Möglichkeiten dar, sich als kontinuierlich zu erleben, in dem über Erinnerung an die eigene Vergangenheit das Erleben persönlicher Kontinuität eröffnet wird (vgl. BMFSFJ 2005). Wenn Kontakte nicht als emotional gehaltvoll oder sinnstiftend erlebt werden, dann wird der Kontakt mit anderen als belastend empfunden. Ältere Menschen orientieren sich, so Langs Vermutung, an unmittelbaren Erfahrungen und Gewinnen des Umgangs mit anderen und stellen andere soziale Kontakte zurück. Dieser Rückzug könnte in der Umgebung als sozialer Rückzug gedeutet werden. „Eine gute soziale Einbindung und soziale Wirksamkeit älterer Menschen kann insbesondere dort erreicht werden, wo die bestehenden sozialen Beziehungen durch emotionale Nähe, Intimität, Vertrauen und Gegenseitigkeit gekennzeichnet sind. Entscheidend ist hierbei, dass die geleistete soziale Unterstützung dazu geeignet ist, die Selbstständigkeit und Wirksamkeit der älteren Menschen zu fördern“ (Lang 2000, 146). Beziehungen zu Menschen in der Nachbarschaft werden für die Zukunft als stärkere Möglichkeit zu Kontakten und Unterstützungspotenzialen betrachtet. Dafür sind zwei unterschiedliche Prinzipien zu berücksichtigen: In familialen Beziehungen liegt das Prinzip der bedürfnisorientierten Solidarität zugrunde, d.h. langfristige Hilfe und Unterstützung wird auch ohne Aussicht auf Gegenleistung erbracht, während Freundschaften stärker auf dem ausgleichsorientierten Reziprozitätsprinzip beruhen, das für alle erhaltenen oder gegebenen Leistungen einen entsprechenden Ausgleich verlangt (vgl. IngersollDayton/Antonucci 1988 zit.n. BMFSFJ 2005, 173). Bisher lassen sich Freundschaften, Nachbarschaften und Bekanntschaften eher durch gemeinsame Aktivitäten und Unternehmungen als durch die Übernahme bindender Unterstützungsleistungen charakterisieren. „Dennoch übernehmen Freunde und Nachbarn nicht selten wichtige Aufgaben in der Betreuung und Pflege alter Menschen, deren Bedeutung sich in der Zukunft aufgrund der Veränderungen von Familienstrukturen noch verstärken könnte. Demzufolge kann davon ausgegangen werden,
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dass private Netzwerke älterer Menschen, zumal diese nicht nur nützlich sind, sondern – als freiwillige Beziehungen zu Bekannten, Freunden und Nachbarn – zugleich Nähe, Vertrautheit, Emotionalität und Sicherheit erzeugen, auch künftig eine zentrale Bedeutung für die Lebenslage und Lebensqualität im Alter haben werden“ (BMFSFJ 2005, 173). Die mit dem Bereich freundschaftlicher und nachbarschaftlicher Hilfe verknüpften Hoffnungen auf Nutzung von Potenzialen älterer Frauen und Männer verlangt nach Diskussionen und Unterstützung darin, wie die bestehende Reziprozitätsnorm so ausgestaltet werden könnte, dass darin auch Hilfen freiwillig stattfinden können, die zur Abmilderung oder Abwendung von Risiken im Alter hilfreich wären. Mit diesen Perspektiven auf Alternsprozesse gerät die hohe Bedeutung, die die Peers im Alter für das Alter bekommen könnten in den Mittelpunkt der Betrachtung.
2.2 Peers im Alter – von der freiwilligen Reziprozität zur Verpflichtung Insgesamt ist wenig bekannt bezüglich der Lebensbedingungen von Menschen, die in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften alt werden. Dennoch wird davon ausgegangen, dass gleichgeschlechtliche Partnerschaften häufig eingebettet sind in Unterstützungsnetzwerke lesbischer und schwuler Subkultur. Auf diese Netzwerke können sie im Bedarfsfall relativ zuverlässig zurückgreifen (vgl. BMFSFJ 2005, 181). Und auch, wenn viele Homosexuelle wenig bis moderat an der schwulen Subkultur teilnehmen, so die Erkenntnis von Kelly (1977 zit.n. Reiman/Lasch 2006, 19), erlebt sich keiner losgelöst von der Subkultur: „63% derjenigen zwischen 56 und 65 gaben an, dass sie in Bars gehen und dabei gewöhnlich Orte ihrer Peer-Gruppe aufsuchen. Während die ältesten und die jüngsten Befragten insgesamt etwas weniger ihre schwulen Kontakte pflegen, ist die generelle soziale Einbindung mit anderen Homosexuellen in dieser Studie sehr hoch. Nur der Kontakt mit Heterosexuellen nimmt nach Kelly mit zunehmendem Alter extrem ab“ (Reimann/Lasch 2006, 19). Als Problem der Freundschaftsnetzwerke von Homosexuellen wird ihre überwiegende Altershomogenität benannt. Die Homosexuellen sind bisher die einzige Gruppe, die aufgrund ihrer Subkultur als Peer-Gruppe wahrgenommen werden und dies auch im Hinblick auf den Alternsprozess. In der homosexuellen Subkultur erscheint Freundschaft als Wahlfamilie bereits über die Freiwilligkeit zur notwendigen Verpflichtung geworden zu sein. Darum sind sie Ausgangspunkt folgender Überlegungen: Während jedoch die Altershomogenität für die Lebensphase Alter in der Literatur als Chance auf wechselseitig zu initiierende Entwicklungs- wie auch Hilfe- und Unterstützungsprozesse im Alter eingeschätzt wird, werden
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altershomogene Freundschaftsnetzwerke Homosexueller problematisiert, vor dem Hintergrund, dass mit zunehmendem Alter Kontakte mit Heterosexuellen extrem abnehmen (vgl. Reimann/Lasch 2006, 19). Peers bzw. das Vorhandensein von Peers und ihre Bedeutung werden im Kontext homosexueller Lebensweisen eingeordnet, so als gäbe es bisher keine anderen Gruppen Älterer, die als solche eine Peer-Gruppe bilden oder darstellen. Von Bedeutung der homosexuellen Subkultur ist ihre Verschlossenheit gegenüber anderen gesellschaftlichen Gruppen, so dass auch nur sehr wenig nach außen dringt über bereits eingelebte Hilfe- und Unterstützungsleistungen, die in dieser Peer-Gruppe entwickelt wurden. Vor dem Hintergrund des demographischen Wandels bleibt der Weg des Nachdenkens über die Chancen, die in einer Peer-Orientierung bzw. Gleichaltrigenorientierung für ältere Menschen liegen könnten. Noch 1975 formulierte Schmitz-Scherzer, dass sich Möglichkeiten für Ältere auf neue Kontakte und Freunde im Alter in Altenclubs böten. Hier würden Aktivitäten stattfinden, die vor allem Geselligkeit und Teilnahme an gemeinsamen Aktivitäten wie Ausflügen, Filmvorführungen, Vorträgen, Handarbeiten oder Kartenspielen zum Ziel hätten. Die meisten älteren Menschen allerdings kämen in der Erwartung, dass ihnen etwas geboten würde und ein Programm, das mehr Engagement abverlangt, stieße häufig auf Desinteresse und bei den über 65-Jährigen sei eine Mobilisierung zur Teilnahme schwieriger (vgl. ebd. Schmitz-Scherzer 1975; Tews 1979 zit.n. Schmidt-Deuter 1996, 192). Seitdem hat sich jedoch einiges verändert, denn die Altengenerationen von heute verlangen mehr von ihrem Leben im Alter als noch 30 bis 35 Jahre zuvor. Kohli/Künemund haben herausgefunden, dass sich 40% der 55- bis 69-Jährigen und noch 32% der 70- bis 85-Jährigen regelmäßig mit einem festen Kreis von Personen zu gemeinsamen Aktivitäten treffen und oft gehören ältere Menschen mehrerer solcher Kreise an, deren Zusammentreffen überwiegend 1 bis 4 Mal im Monat stattfinden (Kohli/Künemund 1999 zit.n. BMFSFJ 2001, 231). In Bezug auf ehrenamtliches/freiwilliges Engagement älterer Menschen, das ebenso ein aktives Betätigungsfeld im Alter darstellen kann, wird unterschieden in das "traditionelle" soziale und politische Ehrenamt in Verbänden und Parteien sowie in das "neue" Ehrenamt in selbst- oder fremdorganisierten Gruppen, das Ehrenamt auf gesetzlicher Grundlage und Funktionen ohne explizite verbandliche Anbindung, wie z.B. als Schöffe oder ehrenamtliche(r) BürgermeisterIn. Über die Altersgruppen zeigt sich im Alters-Survey ein deutlicher Rückgang der Beteiligung: Von 22% bei den 40- bis 54-Jährigen über 13% bei den 55- bis 69-Jährigen auf 7% bei den 70- bis 85-Jährigen. In den Sportvereinen findet sich mit knapp 4% noch die höchste Quote ehrenamtlich Tätiger unter den 40- bis 85-Jährigen, es folgen gesellige Vereinigungen und kirchliche bzw. religiöse Gruppen mit jeweils 2% sowie die wohltätigen Organisationen
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(1%). Die älteren über 70-jährigen Frauen sind häufiger in altersspezifischen Gruppierungen, wie z.B. Seniorenfreizeitstätten, Seniorentreffpunkten, Sportoder Tanzgruppen aktiv. Das Engagement der älteren Männer bleibt auf den altersunspezifischen Bereich konzentriert, wie z.B. Sportvereine oder gesellige Vereinigungen (vgl. Kohli/Künemund 2003). Als derzeit eher noch Randphänomene aktiver gesellschaftlicher Beteiligung Älterer zeigen sich die neueren Formen gesellschaftlicher Partizipation, wie die Beteiligung an politischen Interessenvertretungen Älterer etwa in Seniorenbeiräten bzw. -vertretungen oder Seniorenarbeit in Parteien und Gewerkschaften, an Seniorenakademien, Weiterbildungsgruppen oder an Seniorengenossenschaften und -selbsthilfegruppen. Der Anteil der Mitglieder liegt bei nur 3,5% und der Anteil der Aktiven sogar nur bei 0,8%. Diesen Gruppen kann eine gewisse Symbolfunktion und ein Modellcharakter für künftige Entwicklungen zugesprochen werden, dennoch werden sie bisher zu wenig aktiv von und mit älteren Menschen gestaltet (vgl. ebd. 2003). Insgesamt zeigt sich, dass Aktivitäten und Engagement älterer Menschen mit zunehmendem Lebensalter zurückgehen und da Beteiligung an Bildung, Kultur und Sozialem lebenslang von großer Bedeutung für die Integration und Lebensqualität gelten und im Kinderund Jugendalter als zentrale Sozialisationsfaktoren und „Werkzeuge des Weltzugangs“ außer Frage stehen, werden Angebote nötig, die sowohl für das dritte wie das vierte Lebensalter für Ältere altersspezifische Entwicklungsanforderungen anbieten und befördern (vgl. de Groote/Nebauer 2008, 16). Bedarfe sehen de Groote/Nebauer im Bereich des Anpassungswissens an neue Kulturtechniken oder an Kulturformen zur Bewältigung von Krisen sowie körperlichen Veränderungen im Alter oder Qualifizierungen für ehrenamtliches Engagement. „Themen bewegen sich zwischen der Freiheit von der konkreten Verwertbarkeit des Wissens im Beruf, der Schere im Kopf, was im Alter wohl noch erlernbar ist und was sich ‚noch zu lernen’ lohnt, dem Wunsch, aufgeschobene Bildungswünsche zu realisieren und Neugier zu befriedigen“ (vgl. ebd. 2008, 17). Weiterhin von Bedeutung für diesen Bereich ist die Wende von der KonsumentIn hin zur selbstorganisierten Form, in der Ältere selbstbestimmt gestalten und aktiv werden wollen. Mit dem Hinweinwachsen neuer Generationen in den Alternsprozess werden diejenigen mit einem insgesamt höheren Bildungsstand, besseren gesundheitlichen Voraussetzungen sowie einer gewissen materiellen Absicherung auch den Radius an Aktivitäten vergrößern, die weder an traditionelle Aktivitäten anknüpfen noch die neu entstandenen Formen gesellschaftlicher Beteiligung bedienen. Diese Entwicklung ist weitgehend offen und sollte gestärkt, unterstützt und gefördert werden: so entstehen Kreise und Netzwerke, in denen sich Ältere als Peers ausprobieren können im Hinblick auf die Herausforderungen des Alternsprozesses.
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Die Bedeutung wächst, eigenständige, aktive und selbstbestimmte Wege ins Alter zu konkretisieren, um nicht nach gesellschaftlicher Notwendigkeit oder Belieben für z.B. Hilfen, Pflege oder Betreuung sowie anderen Betätigungen unfreiwillig aktiviert zu werden, ohne die Bedingungen mitformulieren zu können, unter denen derartiges Engagement stattfinden könnte (vgl. Kohli/Künemund 2003). Im Alternsprozess liegt die Chance, frei von den Zwängen der ökonomisch ausgerichteten Erwerbsarbeitsgesellschaft „neue“ Lebensformen zu entwickeln. An den 23% der Älteren, die nach Bröscher/Naegele/ Rohleder erst ab dem 50. Lebensjahr ihr Engagement in unterschiedlichen Bereichen des Ehrenamts begonnen haben, zeigt sich das Potenzial, durchweg an unterschiedlichen Punkten im Lebensverlauf bereit für neue Entwicklungen zu sein sowie die Offenheit, Neues zu lernen (vgl. ebd. 2000). Im Verlauf der Verinnerlichung des Konzeptes oder des Denkens in Bezug auf Lebenslanges Lernen ist Bedingung, dass zunehmend gesellschaftlich zur Selbstverständlichkeit wird, dieses Potenzial mindestens zu verdoppeln. Hierin liegen Chancen auf Neugestaltung einer Phase im Leben von Menschen, die vieles an Entwicklungs- sowie Gestaltungsmöglichkeiten bietet, die zunächst jedoch als solche begriffen werden müssen. Und so viele Menschen, wie in das Alter hineinwachsen, so viele unterschiedliche Möglichkeiten und Wege gibt es für Alternsprozesse, die jedoch an bestimmte Bedingungen gebunden sind: Selbstbestimmung und Selbstständigkeit, aktive Teilhabe an Sozialem, Bildung und Kultur, Förderung von Peer-Verbindungen, die über die Freiwilligkeit freundschaftlicher Verbindungen hinaus Chancen bieten, Belastungen und Gefahren des Alternsprozesses gemeinsam abzumildern.
2.3 Über Peer-Orientierungen hinaus – zur Entgrenzung von Generationen und Gleichaltrigenbedeutung Wer jemals bei einem Rolling-Stones-Konzert war, der weiß, dass es erstmalig möglich ist, generationenübergreifend als Vater, Sohn und Großvater in das gleiche Rockkonzert zu gehen. Und Schweppe fragt 2002: „Wer hätte es noch vor einigen Jahren für möglich gehalten, dass Mutter, Tochter und vielleicht auch in diesem Fall die Großmutter das gleiche Fitnessstudio aufsuchen?“ (Schweppe 2002, 236). Böhnisch hat diese Entwicklung bereits 1989 als Relativierung der Lebensalter (vgl. Böhnisch/Blanc 1989) eingeordnet und bezeichnet damit die Relativierung von Generationenzusammenhängen, die in eine Gesellschaft einmündet, die auf „Generation“ als Wissensvermittler oder Wertschöpfer einer Alterskohorte verzichten kann. Integration bzw. Zugehörigkeit zur Gesellschaft findet
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eher über eine Biographisierung in Selbstschöpfung statt, die in gewisser Unabhängigkeit von Lebensalteranforderungen gleichermaßen angestrebt und erzwungen wird, sobald industriegesellschaftliche Arbeitsordnungen nicht mehr als Voraussetzung dienen (vgl. Hamburger 2002, 243). Generation und Generationenverständnis zählen für Hamburger und Böhnisch zur Organisation und Struktur der Industriegesellschaft und Generation meint im Besonderen, so Böhnisch, den sozialen Kitt im Verhältnis von Individuum und Gesellschaft. Dies bedeutet nunmehr, dass „aus der soziologischen Kategorie ein pädagogische und politische Herausforderung geworden ist, deren gesellschaftliche Funktionalität neu zu klären ist“ (Böhnisch 1998, S. 79 zit.n. Hamburger 2002, 243). Generationenzusammenhänge erschienen auf Basis arbeitsgesellschaftlicher Erkenntnisse und Denkweisen als berechtigte Einordnungen für die Gleichheit der Gleichaltrigen und die Verschiedenheit der Jüngeren und Älteren. Es wurde von einem symmetrischen Verhältnis zwischen Gleichaltrigen und einem asymmetrischen Verhältnis zwischen Nachwachsenden und Erwachsenen ausgegangen, doch dieses Verständnis lässt sich so heute nicht mehr halten. Dafür wird eine Vielzahl von unterschiedlichen Generationenbezügen entstehen, von denen bisher nicht bekannt ist, wie sie gestaltet sein werden, insbesondere welche neuen Bezüge zwischen jung und jung, alt und jung sowie alt und alt entstehen und welche wechselseitigen neuen Asymmetrien entstehen werden. Die Auflösung der Generationen und damit der Generationenverhältnisse einerseits und die gleichzeitig nach wie vor bestehende Suche nach Unterschieden in den Generationen und Generationenbezügen andererseits, sind für Hamburger zentrale Orientierungen in Bezug auf Lebensphasen und Lebensalter. „Einerseits ist die Kindheit verschwunden, die Jugend universalisiert, das Alter ausdifferenziert und der Erwachsene hat sich dazwischen aufgelöst. Entstandardisierung des Lebenslaufs. Andererseits gewinnen Generationen als Bezugspunkte für Orientierung an Bedeutung, das Verschwinden von Unterscheidungen lässt die Suche nach Verbindlichkeiten entstehen“ (Hamburger 2002, 246). Ein Anfang für mehr generationsübergreifende Begegnungen könnte sein, einfach nur Neugier der unterschiedlichen Generationen aufeinander zu wecken, weil Neugier (z. B. auf die Eigenheiten der Anderen) einen Menschen lehrt, zu Lernenden zu werden, da sich (in den Kindern) Möglichkeiten eröffnen, auf die man selbst nicht gekommen wäre (vgl. Thiersch o.Jg.). Diese Neugier und die daraus folgende Lernbereitschaft erscheint aus der Perspektive pädagogischen Handelns auf alle Lebensalter erweiterbar, vor allem für jene, die durch ihre noch-nicht oder nicht-mehr vollständige Teilhabe an gesellschaftlichem Leben über Erwerbsarbeit (vgl. Meyer 2008) als besonders zu berücksichtigende und zu fördernde Mitglieder der Gesellschaft zu gelten haben. Die Frage nach der
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Entstehung, Förderung und Aufrecherhaltung von Verbindungen zwischen den unterschiedlichen Generationen zugunsten einer besseren Lebensqualität vor allem der jüngeren und älteren Lebensalter gehört zur wesentlichen Gestaltungsaufgabe der Zukunft (vgl. Meyer 2008). Ausgangspunkt ist der Gedanke, dass die Herstellung und Stärkung von Verbindungen zwischen den Generationen als eine der gesellschaftlichen Aufgaben der Zukunft einzuschätzen ist, da die Generationen mit der fortschreitenden Entwicklung des demographischen Wandels mehr aufeinander verwiesen sein werden als jemals zuvor. Und mit diesen Verbindungen werden neue Lebensqualitäten geschaffen und sie bedeuten die Entstehung neuer Formen gelebter Freundschaft und Liebe. Mit dem zunehmend sichtbar werdenden demographischen Wandel wird nicht mehr nur die Förderung und Erziehung jüngerer nachwachsender Generationen im Vordergrund stehen, vielmehr wird Gesellschaft ebenfalls zu den älteren Generationen blicken (müssen) und Fragen nach der Herstellung von Verbindungen und Beziehungen zwischen den Generationen auf gewisse Art neu zu stellen haben. Gegenwärtig lässt sich das Generationenverhältnis folgendermaßen beschreiben: Die unterschiedlichen Generationen leben je für sich und treffen überwiegend entweder in verwandtschaftlichen oder professionellen Verhältnissen aufeinander. „Freundschaften, freiwillig eingegangen, sind fast ausschließlich altershomogen: es ist in der Tat wahrscheinlich, dass für viele Menschen die einzigen engen Beziehungen zu mehr als ein Jahrzehnt älteren Personen Beziehungen zu Eltern oder anderen Verwandten sind“ (Pillemer/Müller-Johnson 2007, 139). Wenn aber jüngere und ältere Menschen Verbindungen, vielleicht sogar freundschaftliche, außerhalb direkter verwandtschaftlicher Verhältnisse zueinander herstellen, werden diese oft nicht mehr im Fokus des Alters- oder Generationenunterschiedes betrachtet, sondern als Folge wechselseitigen Empfindens füreinander. Friedrich Dönhoff hat in seinen Erinnerungen an seine Tante Marion Dönhoff beschrieben (es wird hier auf eine generationenübergreifende Freundschaft im verwandtschaftlichen Kontext zurückgegriffen aus Mangel an Wissen über Freundschaften zwischen alten und jungen Menschen), mit der er viel Zeit in freundschaftlicher Verbundenheit gemeinsam gestaltete, dass ihr hohes Alter angesichts ihrer Freundschaft aus seiner Wahrnehmung verschwand. Bei einem seiner letzten Besuche wird ihm ihr hohes Alter nur bewusst, da ihr Tod nahe ist (sie zu der Zeit über 90 Jahre alt): „An diesem späten Nachmittag im Büro empfand ich ganz intensiv eine Mischung aus Trauer über das Vergehende und ein Bewusstsein für die Kraft der Gegenwart. […] Die Tatsache, dass wir altersmäßig sechzig Jahre auseinander lagen, war mir eigentlich nie besonders aufgefallen, in diesem Moment aber wurde mir die Konsequenz deutlicher“ (Dönhoff 2002, 185). Dieses Beispiel zeigt, dass unterschied-
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liche Lebensalter nicht zwangsläufig als trennendes Element in einer Verbindung wahrgenommen werden müssen oder die Möglichkeit zu freundschaftlicher Verbundenheit verhindern. Vielmehr liegen in jeder Begegnung zwischen Alt und Jung Chancen auf die Entwicklung freundschaftlicher Verbindungen, die für alle Beteiligten bereichernd und erfüllend für den eigenen Lebensweg sein können.
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Freundschaften, Cliquen und Altenkulturen – zwischen Freiwilligkeit und Notwendigkeit
Deutlich wird, Freundschaften, Cliquen und Altenkulturen sind im Bereich „Alter“ erst langsam im Entstehen, gleichzeitig zeigt sich, dass die gegenwärtig alten Menschen ihren Freundeskreis mit zunehmendem Alter und dem Wechsel in Hochaltrigkeit drastisch verkleinern und vor allem auf Familie, PartnerInnen und ihre Kinder als potenzielle UnterstützerInnen setzen und eher noch weiter entfernte Verwandte in ihrem direkten Umkreis sehen als Freunde, Bekannte und Nachbarn. Mit dem demographischen Wandel wird sich dies drastisch verändern, schon allein, weil es viel mehr Einpersonenhaushalte und ledige Kinderlose geben wird. Das ist eine langsame, jedoch absehbare Entwicklung, so dass bereits zum jetzigen Zeitpunkt hervorgehoben werden sollte, dass langjährige Freunde, Bekannte und Nachbarn sich als wertvoll bezüglich der eigenen Identität erweisen. Mit ihnen erfährt sich ein alter Mensch als kontinuierlich aus der Vergangenheit kommend und nicht nur als gegenwärtig. In Freundschaften stecken wechselseitige Hilfe- und Unterstützungspotenziale, die zukünftig ausgelotet werden sollten, um Ältere nicht in Abhängigkeiten geraten zu lassen an Stellen, an denen es Potenziale für ein hilfreiches Netzwerk in ihrem Leben gegeben hätte. Thiersch hat „Neugier“ als zentrales Element pädagogischen Handelns umschrieben, da Neugier Lernbereitschaft freisetzt, vor allem auch an dem engagiert zu sein, was man nicht selbst ist und dies bildet eine Basis dafür, gespannt zu sein auf Neues, Abenteuerliches, Offenes (vgl. Thiersch o.Jg., 12). Neugier auf gesellschaftliche Entwicklungen, die sich abzeichnen, könnte auch für die Entstehung unterschiedlicher Gruppen älterer Menschen und ihrer Ausdifferenzierung gelten. Dazu gehört jedoch nicht nur Beobachtung, vielmehr sollten den Älteren Möglichkeiten eröffnet werden, aktiv unterschiedliche Interessen auszubilden, jeweils mit dem Fokus darauf, dass zunehmende Anteile Älterer in der Gesellschaft für die Ausgestaltung ihres ausgeweiteten Lebens Auseinandersetzung und Unterstützung, Eröffnung neuer Perspektiven und Reflexion ihres Wunsches nach Selbstständigkeit, Selbstbestimmung und Unabhängigkeit bis
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ins hohe Alter hinein benötigen. Dies kommt nicht nur der Vervollkommnung und Vervollständigung eines ganzen Lebens zugute, sondern zielt auch auf die Lebenssituationen nachwachsender Generationen sowie auf die Verbindung unterschiedlicher Lebensalter (vgl. Meyer 2008). Wenn ihre Neugier geweckt würde, auszuprobieren und auszuwählen, welche Möglichkeiten sich in sozialer, kultureller und bildungsorientierter Perspektive für das Leben im Alter bieten, welches Wissen und welche Kompetenzen die für ältere Menschen Bedeutsamen sind und die darüber hinaus noch als weitergebenswert an die nachwachsende Generation eingeschätzt werden, würde die Wucht des demographischen Wandels abgefedert werden können.
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Die soziale Kinderwelt1
Die Sozialwelt der gleichaltrigen Kinder hat als Thema der Entwicklungspsychologie und der Sozialisationsforschung in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen. Auf dem Wege zum Erwachsenwerden brauchen Kinder offenbar nicht nur Erwachsene, Eltern, Lehrer und andere Erzieher, sondern auch gleichaltrige Kinder als Interaktionspartner, die nicht den Erfahrungs- und Kompetenzvorsprung haben wie Erwachsene. Piaget (1972a, 89) hat darauf hingewiesen, dass Kinder dazu neigen, aus Liebe, Anerkennung oder auch Furcht den Forderungen der Erwachsenen zu folgen, noch bevor sie eigene Einsichten gewonnen und ihre Ansprüche mit denen der anderen ausgehandelt haben. Der gleichaltrige Spielpartner verlange dem Kind jedoch ab, sich seiner Perspektive in ihrer Verschiedenheit von der des Gegenübers bewusst zu werden und Kooperation auf Wechselseitigkeit zu gründen. Furth weist darauf hin, dass das Kind auch im ernsthaften Umgang mit Eltern gleichsam Kindsein "spiele", während es beim Streit im Spiel mit dem Freund oder der Freundin viel stärker der sozialen Realität ausgesetzt sei: „Hier sind zwei Kinder wirklich damit beschäftigt, ihr Sozialleben aufzubauen und sich zu sozialisierten Wesen zu entwickeln“ (Furth 1982, 190). Nach Youniss (1980) besteht die besondere Herausforderung der Interaktion unter Kindern darin, dass sie zueinander ein Verhältnis der Gleichheit und Wechselseitigkeit aufbauen. Daher ließen sie sich in ihrer Kooperation nicht von einer Autorität bestimmen, sondern würden gemeinsam nach einer ihnen sinnvollen Einigung suchen. Dem scheint die alltägliche Beobachtung zu widersprechen, die zeigt, dass Kinder immer wieder versuchen, andere zu bevormunden, zu übervorteilen oder mit Gewalt zu zwingen. Die ethologisch orientierte Kinderforschung vertritt die These, dass derartige Kämpfe um Einfluss zu stabilen 1 Der Beitrag ist in ähnlicher Form bereits erschienen in: Hurrelmann, K./Ulich, D. (Hrsg.) (2002): Handbuch der Sozialisationsforschung. Weinheim und Basel: Beltz.
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Ranghierarchien mit Über- und Unterordnungen führen, die beitragen, das Verhalten in Kindergruppen erfolgreich zu koordinieren (vgl. Charlesworth/LaFreniere 1983). Schulkinder kennen solche Rangordnungen in ihrer Klasse und stufen ihre Klassenkameraden weitgehend übereinstimmend in eine Rangreihe ein, wobei jüngere Kinder sich vor allem an physischer Dominanz orientieren, während ältere eine Vielzahl von Dimensionen wie sportliche und schulische Leistungen, Sozialverhalten und Führungsqualitäten benutzen (vgl. Sluckin/Smith 1977; Savin-Williams 1979). Dennoch lehnen sich Kinder, wie Untersuchungen verschiedener Art belegen, gegen die Ansprüche anderer, über sie zu verfügen, mit zunehmendem Alter auf und finden sich mit Bevormundung und mangelnder Beteiligung an Entscheidungen nicht ab. Während Jüngere noch Kindern mit physischer Stärke, sozialem Einfluss oder anderen bewunderten Attributen Respekt bezeugen, entwickeln sie bereits in der mittleren Kindheit eine Auffassung von Autorität, die deren Anerkennung an spezifische Fähigkeiten für situative Erfordernisse bindet und verlangt, dass die temporär zugestandene Vollmacht gruppendienlich ausgeübt wird (vgl. Damon 1984a). Der Einfluss des Ranges in einer Kindergruppe auf das Verhalten tritt bereits bei Vorschülern zurück, wenn die Kinder in engeren Beziehungen zueinander stehen (vgl. LaFreniere/Charlesworth 1987). Möglicherweise verdrängen reziproke Freundschaften Beziehungen der Überund Unterordnung, wenn Kinder zu erkennen vermögen, dass ihre Mitwirkung in der Kinderwelt auf wechselseitige Unterstützung angewiesen ist (vgl. Grammer 1988). Benkmann (1989) beschreibt die erst mit der Aufkündigung der Beziehung endenden Bemühungen, in Dyaden Elfjähriger Prinzipien der Gleichheit und Reziprozität gegen ungerechtfertigte Dominanzansprüche durchzusetzen. Gleichheit ist somit nicht die Realität der Kindergruppe, aber ein regulatives Prinzip. Es wird zwar ständig verletzt, aber es ist wirksam und ist zu beachten, um die den Kinderinteraktionen inhärente Problemstruktur angemessen zu begreifen. Auch die Bevorzugung des gleichaltrigen und gleichgeschlechtlichen Kindes als Freundin oder Freund scheint bereits darauf hinzuweisen, dass die Kinder einen sozialen Bereich aufbauen, in dem nicht schon äußere Merkmale asymmetrische Beziehungen begründen (vgl. French 1984). In Studien Youniss' (1980) beschreiben Kinder ihre Beziehungen zu Gleichaltrigen und zu Erwachsenen als deutlich unterschieden; diese Beziehungen werden auch mit unterschiedlichen Mitteln aufrechterhalten. Während das Verhältnis zu den Erwachsenen vor allem durch konformes Verhalten, zugestandene Belohnungen und Verständnis seitens des Erwachsenen ausgestaltet wird, geht es unter Kindern um gemeinsames Spiel, um Teilen und gegenseitige Unterstützung und Verständnis. Als komplementär bezeichnet Youniss das Grundmuster der Bezie-
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hung von Kindern zu Erwachsenen, als symmetrisch reziprok und kooperativ das der Gleichaltrigenbeziehungen. Diese Differenzen im Verhalten gegenüber Erwachsenen und Kindern zeigen sich auch in einer Studie, in der Vorschulkinder befragt wurden, weshalb sie der Bitte oder Forderung eines Erwachsenen bzw. eines Kindes entsprochen haben (vgl. Eisenberg et al. 1985). Die vom Erwachsenen-Kind-Verhältnis abweichende Beziehungsstruktur unter den Gleichaltrigen sowie die zunehmende Eigenständigkeit des Soziallebens der Kinder haben der Sozialwelt der Kinder einen festen Platz in allen Sozialisationsmodellen gesichert. Diese Sozialwelt der Kinder bringt ein neues Moment in den Aufbau einer autonomen, sozial handlungsfähigen Persönlichkeitsstruktur, denn der sozialisatorische Beitrag der Kinderinteraktion kann sich nicht auf Erfahrung, Vorbild und Belehrung stützen, sondern in der Kinderwelt konfrontieren sich relativ Gleiche mit ihren Erwartungen und Absichten und stehen vor der Aufgabe, ihre Sichtweisen und Vorhaben wechselseitig zu koordinieren. Die Kinder greifen dabei sicherlich auf bereits erworbene Verhaltensstrategien, insbesondere auf familiale Muster zurück, die sich allerdings zum Teil nicht in die Kinderinteraktionen übertragen lassen (vgl. Sullivan 1983). In ihren Bemühungen um eine gemeinsame Handlungslinie erfahren die Kinder, welche Vorgehensweisen, Behauptungen, Beweise, Regeln in diesem Prozess der Situationsdefinition und Handlungskoordination taugen. Nicht der Interaktionspartner verlangt einen Entwicklungsschritt ab, sondern die durch das besondere Verhältnis der Gleichaltrigen zueinander strukturierte soziale Situation schafft eine Anforderung, die von den Beteiligten nur durch eine Erweiterung, Ausdifferenzierung oder den Übergang auf eine folgende Stufe ihres sozialen, kognitiven oder emotionalen Vermögens bewältigt werden kann. Die Kompetenzen interpersonaler Verständigung und sozialer Kooperation, so die grundlegende Annahme, werden folglich nicht übernommen, sondern „emergieren“ in der natürlichen Interaktion dieser Kinder. Würden Erwachsene in diese Prozesse der Handlungskoordination eingreifen, würde dieser sozialisatorische Prozess der „Ko-Konstruktion“ gestört, selbst wenn Erwachsene hilfreich eine „richtige“ Lösung anböten (vgl. Youniss 1982). Während die Familie als Ort der Sozialisation immer wieder untersucht wurde, mangelt es auffällig an Studien, die die Sozialwelt der Kinder beschreiben. Glassner (1976) nennt diese eigene Welt, in der die Gleichaltrigen miteinander interagieren, „kid society“. Es handelt sich um eine Sozialwelt, in der besondere Ausprägungen von Werten und Anstandsregeln, von Weltsichten und Verhaltensmustern gelten und weitergegeben werden. Diese Regeln, Rituale, Ehrenkodizes, Entscheidungsprozeduren, Tabus oder „Kinderglauben“ (vgl. Stone/Church 1984) genauer zu beschreiben, ist noch weitgehend unerledigt. Studien zu Teilbereichen (z.B. Spieltraditionen: Opie & Opie 1970; Jungen-
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Mädchen-Jagden: Finnan 1982; „Routinen“: Corsaro 1986; „schmutzige Spiele“: Fine 1986) zeigen, wie wichtig es wäre, diese soziokulturellen Kindertraditionen aufzudecken, weil durch sie die Entwicklungsprobleme gerahmt werden, an denen die Kinder der jeweiligen Altersgruppen arbeiten. Die in dieser Weise strukturierte Sozialwelt der Kinder ist eine auf ihre bislang erworbenen Fähigkeiten abgestimmte Umwelt, deren Interaktionsprobleme eine wohl dosierte Herausforderung an die Weiterentwicklung dieser Fähigkeiten darstellen. Higgins und Parsons (1983) haben vorgeschlagen, diese kulturell geregelte Form sozialen Lebens unter Kindern als Subkultur zu bezeichnen; diese Subkultur sei die soziale Gestalt dessen, was Psychologen als Entwicklungsstufe betrachten. Die soziale Kinderwelt als eigenständiger Ort der Sozialisation ist offenbar gefährdet (vgl. Zinnecker 1979). Sie wird einerseits von einer expansiven Erwachsenenwelt erdrückt. Studien, die den kommerziellen Einfluss auf die Kinderwelt, die Auslieferung der Kinder ans Fernsehen oder die Verplanung der kindlichen Zeit untersuchen (vgl. Harms/Preissing 1988; Rabe-Kleberg/Zeiher 1986; Thiemann 1988), lassen zweifeln, ob die Kindersubkultur noch in der Lage ist, ihre typischen Anforderungen zu entfalten und konstruktive Lösungen anzubieten. Auch in den erzieherischen Einrichtungen, in denen die Kinder mehr und mehr Zeit verbringen, stehen die Kinder unter der Betreuung der Erwachsenen, die gute Gründe zu haben meinen, wenn sie gegen die allzu laute Entfaltung der sozialisatorischen Gleichaltrigeninteraktion intervenieren (vgl. Krappmann 1984). Anderen Untersuchungen ist zu entnehmen, dass es den Kindern dennoch oft gelingt, auch gegen Einschränkungen in den Lücken, Pausen und Nebenplätzen der Institutionen ihre Kinderwelt zu entfalten (vgl. Adler/Adler 1988; Krappmann/Oswald 1985; Medrich et al. 1982), sicherlich zum Teil auch mit entwicklungshinderlichen Belastungen, weil die Kinder in subversive Verhaltensweisen gedrängt werden, um sich gegen übermächtige Institutionen einen Rest von eigenständiger Kinderwelt zu sichern. Es gibt nur wenige Studien, die den sozialisatorischen Konsequenzen einer desolaten Sozialwelt der Kinder dieser Jahrgänge nachgehen (vgl. Friedrich et al. 1989). Eindeutig ist jedoch nachgewiesen, dass Kinder, die von den Gleichaltrigen aus den Interaktionen ausgeschlossen werden, in ihrer weiteren Entwicklung sehr belastet sind (vgl. Parker/Asher 1987). Wenn die Entwicklungsanstöße der Sozialwelt der Kinder damit verknüpft sind, dass die Kinder ihre Beziehungen und Interaktionen zunehmend eigenständig auszuhandeln haben, dann müssen die Kinder bereits auf einer Stufe ihrer Entwicklung angelangt sein, auf der sie der ständigen begleitenden Fürsorge und Kontrolle der Eltern und anderer Erwachsener nicht mehr bedürfen. In unserer Kultur stellt der Schuleintritt eine gewisse Zäsur dar; die stellvertreten-
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den Leistungen der Eltern für ihre Kinder gehen von nun an sehr zurück. Sie bleiben dennoch als Ratgeber, Tröster und auch bei der Eröffnung von Gelegenheiten für das Sozialleben der Kinder weiterhin von Bedeutung, und zwar gerade dann, wenn sie Unterstützung und Anerkennung der Selbständigkeit ihrer Kinder altersangemessen austarieren (vgl. Parke et al. 1989; Krappmann 1989a). Wahrscheinlich ist eine sichere Eltern-Kind-Bindung in der frühen Kindheit dafür eine wichtige Voraussetzung (vgl. Sroufe/Fleeson 1988). Daher ordnen die „klassischen“ Sozialisationstheorien die Phase der Sozialisation in der Gruppe der Gleichaltrigen zwischen der familial bestimmten Kindheit von der Schulzeit und der Adoleszenz ein, also in einer Altersspanne (sechs bis zwölf Jahre), die oft als mittlere Kindheit angesprochen wird. Damit wird nicht geleugnet, dass die Gleichaltrigen auch in anderen Phasen der Sozialisation den Kindern und Jugendlichen wichtige Interaktionspartner sein können; sie bestimmen nur nicht das fokale Entwicklungsthema. So suchen ganz offensichtlich Kinder schon in den ersten Lebensjahren die Nähe anderer Kinder, beginnen aufeinander einzugehen und verhalten sich keineswegs überwiegend aggressiv oder zurückgezogen (vgl. Rauh 1984). Dennoch werden die Interaktionen jüngerer Kinder durch günstige Bedingungen, Materialien, Spielangebote sowie durch Vorklärungen über Rollen und Beziehungen sehr erleichtert. Daher schließen sie sich gern älteren Kindern an (vgl. Strätz/Schmidt 1982), vermutlich weil ihnen schwierige Koordinationsaufgaben von den Älteren abgenommen werden. Jüngere Kinder sind in asymmetrischen Konstellationen eher als in egalitären in der Lage, sich „prosozial“ zu verhalten (vgl. Yarrow/WaxIer 1976). Weit mehr als ältere übertragen jüngere Kinder noch Verhaltensmuster aus der familialen Interaktion in die Interaktion mit Kindern und lösen sich erst allmählich von diesen unter den Gleichaltrigen weniger angemessenen Vorgehensweisen (vgl. van Seyen et al. 1989). Die Gleichaltrigenbeziehungen der jüngeren Kinder stehen also noch im Schatten der familialen Entwicklungsprozesse; das Kind meidet noch die Situation gleichberechtigter, selbstverantworteter Aushandlung und ruft nach Möglichkeit noch den erwachsenen Schützer herbei. Nach der mittleren Kindheit hingegen sollte diese Entwicklungsaufgabe gelöst sein, obwohl auch in der Adoleszenz die Beziehungen zu den Gleichaltrigen von hoher Bedeutung bleiben, denn die Gleichaltrigen fördern sich in den eigenen Lebensentwürfen und suchen in der Gruppe affektive Unterstützung gegen Institutionen, von denen sie bürokratisch behandelt werden (Kreutz 1976). Dennoch kann kein Zweifel bestehen, dass es nicht die Gleichaltrigen sind, die in diesen Lebensjahren einander die entscheidenden Entwicklungsanstöße geben, sondern die vorrangige Aufgabe entsteht aus den gesellschaftlichen Forderungen, sich für sozial definierte Rollen zu entscheiden, Einstellungen und Ver-
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haltensmuster zu übernehmen und verlangte Leistungen zu erbringen. Allerdings bezieht sich ein großer Teil der entwicklungspsychologischen Forschungen zum Einfluss der Interaktionen unter Gleichaltrigen nicht auf ein Modell von Sozialisation, das den Auseinandersetzungen unter den Gleichaltrigen einen privilegierten Platz auf einer besonderen Stufe der Entwicklung zuweist. In ihrem Mittelpunkt stehen vor allem die jüngeren Kinder unterhalb des Alters, in dem sich die relativ eigenständige Kinderwelt entfaltet. Die Wichtigkeit des Themas ist für viele Forscher schon dadurch gesichert, dass die Gleichaltrigengruppe, wie Hartup (1983, 103) feststellt, nur von der Familie als sozialisatorischem Kontext noch übertroffen wird. Die Gleichaltrigen bieten einander in der Familie nicht in gleicher Weise zugängliche Sozialerfahrungen, von denen erwartet wird, dass sie vor allem der Entwicklung von Gegenseitigkeit und Kooperation sowie der Aggressionskontrolle zugutekommen. Die Wirksamkeit dieser Erfahrungen wird vor allem nach dem Konzept des „sozialen Lernens“ erklärt: Kompetentere Gleichaltrige dienen den Kindern als Modelle (vgl. Grusec/Abramowitch 1982); Kinder bekräftigen sich gegenseitig in ihrem Verhalten (vgl. Charlesworth/Hartup 1967). Die Vorstellung der „KoKonstruktion“ ist vielen dieser Studien ebenso fern wie die Annahme, dass Kinder sich durch eine sach-strukturierte Folge von Aufgaben durcharbeiten müssen.Die Gleichaltrigenwelt einerseits als einen ständig die Entwicklung begleitenden „anderen Kontext“ anzusehen und ihr andererseits eine besondere, unersetzbare Aufgabe in einer bestimmten Phase des Entwicklungsprozesses zuzuschreiben, muss nicht widerspruchsvoll sein. Eriksons Sozialisationsmodell (1966) hat den Weg gewiesen, beiden Perspektiven Raum zu geben. So wie er das Identitätsthema stets im Entwicklungsprozess präsent sieht, lässt sich unschwer auch den Gleichaltrigen eine sich wandelnde Rolle zuweisen: Sie sind immer als Interaktionspartner neben dem Kind, aber nicht immer in gleicher Weise relevant, möglicherweise tatsächlich in jüngeren Lebensjahren eher als zusätzliche Modelle zur Erweiterung des Verhaltensrepertoires und erst später als Partner konstruktiver Aushandlungen, in denen sich äußerlich bereits vollziehbare Handlungen in Kompetenzen verwandeln.
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Die soziale Kinderwelt im Rahmen verschiedener Sozialisationsmodelle
Die einflussreichen Modelle von Entwicklung und Sozialisation haben sich in ihrer Entstehungsgeschichte aneinander abgearbeitet und zeigen daher manche Konvergenz, setzen aber auch jeweils ihre eigenen Akzente, die das Verständnis für die soziopsychischen Prozesse in der mittleren Kindheit erweitern.
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2.1 Das psychoanalytische Entwicklungsmodell Dem psychoanalytischen Entwicklungsmodell verdanken fast alle Vorstellungen eines sinnvoll angelegten Prozesses der Genese der kompetenten, autonomen Person Anregungen. Entgegen falschen Deutungen des Begriffs der Latenzperiode unterstreicht es, dass sich in der mittleren Kindheit wichtige Entwicklungsschritte vollziehen. Die Kinder dieses Alters lernen im gemeinsamen Spiel desexualisierte Objektbeziehungen aufzubauen, die Sublimierungen ermöglichen und wichtige Strategien der Problembewältigung zu erwerben erlauben (vgl. Freud 1905). Vor allem wenn die Persönlichkeitsentwicklung nicht nur an die Reorganisation der libidinösen Triebstruktur geknüpft, sondern auch veränderten psychosozialen Modalitäten beim Eintritt in neue Lebensbereiche zugeschrieben wird, erhält die Zuwendung des Kindes zu den Gleichaltrigen nach der ödipalen Krise großes Gewicht. So hat E. H. Erikson diese Phase in sein Modell lebenslanger Entwicklung gleichgewichtig wie andere aufgenommen. Er charakterisiert die innere Programmatik, mit der das Kind sich in dieser Zeit aktiv einer erweiterten Umwelt zuwendet, als „Werksinn“, stellt aber auch die soziale Seite dieser Tätigkeiten heraus, denn das Kind „ist voller Eifer und fähig, Dinge gemeinsam zu tun, sich mit anderen Kindern zusammenzuschließen“. Auch die Gleichheit als Thema der Kinderwelt gerät in den Blick Eriksons, denn das gemeinsame Werk ermögliche eine Identifizierung, „die auf dem Geist der Gleichwertigkeit beruht, den man erlebt, wenn man Dinge gemeinsam tut“ (Erikson 1965, 252). Er stellt auch fest, dass das Kind nun andere Kinder nicht mehr „als Dinge“ behandeln könne, die es benutzt, sondern es werde gemeinsam experimentiert und geplant (vgl. Erikson 1966, 102). Dennoch bestimmt nicht die Sozialwelt der Kinder die zentrale Aufgabe dieser Phase, sondern die „systematische Belehrung“, um den Kindern das „technologische Ethos einer Kultur“ zu vermitteln (vgl. Erikson 1965, 253). Während Erikson in den vorangegangenen Phasen der Entwicklung den Fortschritt stets der Lösung einer inneren Krise in der Beziehung zu relevanten Bezugspersonen zugerechnet hat, haben in seiner Sicht offenbar die Gleichaltrigen als Beziehungspartner des Kindes nicht genug Bedeutung, um das Kind zu einer Umstrukturierung seiner Handlungspotentiale zu nötigen. Da vertraut Erikson schon mehr auf Technik und Kultur als Stimulans einer erweiterten Orientierung über den familialen Rahmen hinaus; die anderen Kinder sind gleichrangig im Hinblick auf die Realisierung eines Werks, nicht als Voraussetzung gelingenden Interessenausgleichs in der Interaktion.
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2.2 Sullivans interpersonale Entwicklungstheorie Harry S. Sullivan, ein Neo-Psychoanalytiker, betrachtet die Auseinandersetzungen unter den gleichaltrigen Kindern im „jugendlichen Entwicklungsstadium“ (etwa von sechs Jahren bis zur Präadoleszenz) als eigentlichen Antrieb weiterer Entwicklung. Die „jugendliche Gesellschaft“, wie Sullivan die Gruppierungen der Kinder nennt, kennt sowohl die Konkurrenz, die aus dem Vergleich und dem Aneinander-Messen entsteht, als auch den erforderlichen Kompromiss. Im oft recht groben Umgang miteinander verlangen sich die Kinder gegenseitig ab, individuelle Fähigkeiten, Grenzen und Verpflichtungen zu berücksichtigen, und fördern so Verhaltensweisen, in denen Ansprüche des Selbst und der anderen in ein durchsetzbares Verhältnis gebracht werden. In diesem Entwicklungsstadium könnten sogar Eigenheiten der familialen Erziehung ausgeglichen werden. Durch die Erfahrungen mit den Gleichaltrigen könne das Kind, der Jugendliche ein neues Verhältnis zu seinen Eltern wie auch zu anderen vorher idealisierten Vorbildern finden, wenn der Heranwachsende durch die gemeinsame Auseinandersetzung mit Autoritäten lerne, „einfach Menschen in ihnen zu sehen“ (Sullivan 1983, 261).
2.3 G. H. Meads interaktionistisches Sozialisationsmodell George H. Mead gründet die Entwicklung des Selbst und seiner sozialen Handlungsfähigkeit auf die Übernahme der Sicht des anderen („role-taking“), die durch die gemeinsame Orientierung an „sozialen Objekten“ ermöglicht wird. Das zentrale sozialisatorische Objekt ist das Spiel der Kinder, zunächst in der Form des play, in dem das Kind auf konkrete Gegenüber reagiert, dann in der Form des game, das verlangt, sich in ein Regelsystem einzufügen. Die Gruppe der Spielenden ist somit der soziale Ort sozialisatorischer Erfahrung, die die Kompetenz, Handlungen zu koordinieren, über zwei Stadien des Spielens vorantreibt. Am Baseballspiel demonstriert Mead, dass ein Regelsystem nur dann Kooperation erfolgreich anleiten wird, wenn Gleiche einander nicht einschränken, virtuell die Rolle eines jeden anderen einzunehmen. Umgekehrt werden sich die Spieler auch nur unter dieser egalitären Bedingung einem Regelsystem unterwerfen, denn nur unter der Bedingung prinzipieller Gleichberechtigung ist gesichert, dass ihre Erwartungen und Absichten in die Aushandlung eingehen (vgl. Mead 1968; Krappmann 1985a).
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2.4 Piagets sozialer Konstitutionalismus Der kindliche Egozentrismus, die mangelhafte Unterscheidung des Kindes zwischen Subjekt und Objekt, schwindet nach Piaget „durch eine Veränderung der Perspektive in dem Sinne, dass das Subjekt seinen ursprünglichen Gesichtspunkt zwar nicht aufgibt, ihn aber in die Gesamtheit aller möglichen anderen einordnet“ (Piaget 1972a, 88). Diese anderen Gesichtspunkte drängen die Spielkameraden mehr als die Erwachsenen auf; erst in der Kooperation mit einem Interaktionspartner, von dem das Kind nicht abhängig ist und den es weder fürchtet noch verehrt, typischerweise in der Auseinandersetzung mit dem gleichaltrigen Spielgefährten, wird das Kind mit der Aufgabe konfrontiert, das gemeinsame Spiel, Interaktion im allgemeinen auf eine Koordination der Handlungspläne zu gründen. In diesen Aushandlungen entstehen die Kompetenzen, die eigene Perspektive als eine subjektive wahrzunehmen und verschiedenartige Erwartungen abzustimmen. Piaget hat nachgewiesen, dass die Entwicklung gegenseitigen Verstehens, die Bemühungen, Aussagen als richtig und wahr zu erweisen, das Verständnis für Regeln sowie das moralische Urteil in die Auseinandersetzungen unter gleichaltrigen Kindern eingelagert sind (vgl. Piaget 1972a, 1972b, 1973). Dennoch ist umstritten, ob Piaget jemals einen rein sozialen Konstitutionalismus vertreten hat. Eindeutig hat er sich ebenso gegen einen soziologischen wie gegen einen psychologischen Reduktionismus gewehrt und die Alternative, „ob es die innere operative Entwicklung des Individuums ist, die es dazu befähigt, mit den anderen zusammenzuarbeiten, oder ob es die äußerliche und dann verinnerlichte Zusammenarbeit ist, die es zwingt, seine Handlungen zu operativen Systemen zu gruppieren“ (Piaget 1970, 184), als zu einfach abgelehnt.
2.5 Parsons' Modell der Entstehung der Handlungsfähigkeit Jede Phase der Sozialisation verlangt vom Heranwachsenden, einen Schritt in der weiteren Differenzierung der Handlungsobjekte zu vollziehen, die dem sozialisierten Subjekt zur Verfügung stehen müssen, um am sozialen Leben teilnehmen zu können. In der Latenzzeit geht es um die Unterscheidung von partikularistischen und universalistischen Aspekten von Objekten. Der Heranwachsende erwirbt diese Unterscheidung durch seine Integration in die „latency child's society“, die aus der Herkunftsfamilie, der Schule und der „Peer Group“ besteht. In ihrem Zusammenwirken verdeutlichen diese drei Sozialbereiche dem Kind, dass die in der Familie entstandenen Kategorisierungen für Alter und Geschlecht „partikular“ sind, während die Schule durch ihre Jahrgangsklassen das
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Alter und die „Peer Group“ durch ihre Geschlechtshomogenität das Geschlecht als „universelle“ Kategorien zu begreifen verlange (vgl. Parsons 1955). Parsons unterstreicht zunächst auch die eigenständige Bedeutung der Peer Group, in der Beziehungs- und Interaktionsmuster nicht festgelegt sind wie in der Familie. Während in der Familie Kontrolle und Unterstützung an Rollen gebunden sind, unterstützen und kontrollieren sich in der Peer Group alle gegenseitig. Das setzt voraus, dass die Peers sich einer für alle in gleicher Weise gültigen Regel unterwerfen. In einer späteren Darstellung (vgl. Parsons 1968) wird die Peer Group weitgehend mit der Schulklasse gleichgesetzt. Sie hat vor allem die Funktion, durch Solidarität Spannungen zu mildern, die durch den unterschiedlichen Schulerfolg der Klassenmitglieder entstehen. Die besondere Herausforderung egalitärer, sich an einer gemeinsamen Regel ausrichtenden Interaktion für die Kompetenzentwicklung ist nicht mehr erkennbar.
2.6 Youniss' Piaget-Sullivan-These Auch Youniss (1980) betont, dass das Selbst des Kindes sich nicht allein in der Beziehung zu Erwachsenen ausbildet, sondern Kinder gleichfalls auf die strukturell andersartigen Beziehungen zu Gleichaltrigen angewiesen sind. Nach Sullivan und Piaget habe die „unilateral komplementäre“ Beziehung des Kindes zu seinen Eltern nämlich zwei Schwächen: sie vermittle eine unaufgedeckte partikularistische Realitätssicht, so deutlicher Sullivan, und sie führe nur zu einem scheinbaren Verständnis, so klarer Piaget. Die Gleichaltrigen präsentieren dagegen vielfältige Realitätssichten, die durch die „Ko-Konstruktion“ einer umfassenderen Perspektive als partikulare Sichtweisen begriffen werden können. Die Ko-Konstruktion wurzelt in der symmetrischen Reziprozität, die in Kinderbeziehungen hergestellt wird und von einer imitativ symmetrischen in eine kooperative Form übergeht, in der die Beteiligten ihre verschiedenen Verhaltensweisen koordinieren. Sullivan ergänze diese Piagetsche Konzeption durch den Hinweis, dass vor allem befreundete Kinder die Mühe dieser Aushandlungsprozesse auf sich nehmen. In der Interaktion von Freunden entsteht nach Youniss ein Selbst, das sich nicht allein in erwachsene Vorgaben einfüge, sondern neue Herausforderungen entwicklungsoffen mit anderen ko-konstruktiv zu bewältigen vermöge.
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2.7 Die Entwicklung des Selbst nach Kegan Kegan (1986) begreift in Anlehnung an Piaget und Erikson die Entwicklung des Selbst als einen vom Selbst aktiv betriebenen Prozess, dessen Stadien darin bestehen, jeweils Beziehungen neuer Qualität zwischen dem Selbst und andern aufzubauen und dabei sich selbst und die anderen im Rahmen geteilter Bedeutungen zu verstehen. Die Beziehungen zu Gleichaltrigen sind im Stadium des „souveränen Selbst“ und des „zwischenmenschlichen Selbst“ besonders wichtig. Die Gleichaltrigengruppe bietet dem Kind neuartige Rollen an, die es einnehmen kann, weil es die vorher mangelnde Kontrolle von Wahrnehmungen und Impulsen überwunden hat. Dadurch werden Kinder einander Entwicklungsgenossen: Nicht mehr allein ihnen überlegen Erwachsene stellen Entwicklungsaufgaben, sondern sie konfrontieren sich gegenseitig mit entwicklungsrelevanten Herausforderungen. Das „souveräne“ Kind ist zwar Mitglied sozialer Kinderbeziehungen, aber sie sind zunächst noch mehr der Ort, an dem es sich durchzusetzen versucht und gegebenenfalls pragmatische Kompromisse eingeht, nicht aber der Bereich egalitärer Aushandlung. Die überzogenen Souveränitätsansprüche führen aber auch in die Konflikte mit anderen, die diese Stufe zu überwinden helfen. Die nicht durchsetzbaren Ansprüche trennen entweder von den anderen oder sie lassen erkennen, dass Bedürfnisse verschieden sind und Absichten und Regeln ausgehandelt werden müssen. Diese neue Ausrichtung auf die anderen charakterisiert das Stadium des „zwischenmenschlichen Selbst“, in dem das Selbst nicht mehr den Schutz von Autoritäten benötigt, sondern sich auf die Kooperation in wechselseitigen persönlichen Beziehungen mit Gleichaltrigen verlässt. Jede der referierten Theorien stützt sich auf Forschungen unterschiedlicher Art, aber wenige der zahlreichen Untersuchungen zum Einfluss der Gleichaltrigen auf die Entwicklung binden sich fest an einen der Ansätze. Wenn doch ein gewisser Bedarf nach einer Begründung für die spezifische Leistung der Gleichaltrigengruppe für die Entwicklung gesehen wird, knüpfen die Arbeiten zumeist locker an Sullivan oder Piaget an. Dennoch lassen sich die weitgestreuten Untersuchungen unter der Rücksicht betrachten, ob sie dafür sprechen, dass die Integration des Kindes in die Gleichaltrigenbeziehungen einen eigenständigen Beitrag zur Entwicklung eines kompetenten Subjekts leistet. Zum einen muss unter dieser Blickrichtung interessieren, wie die Kinder ihr Verhältnis zu den Gleichaltrigen gestalten. Welche Beziehungen und Gruppierungen charakterisieren die Sozialwelt in der mittleren Kindheit? Zum anderen ist zu untersuchen, welche Interaktionen das soziale Leben der Kinder füllen und ob die Interaktionen durch die Art der Beziehungen unter den Kindern geprägt werden. Hier
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müsste sich zeigen, ob die Integration eines Kindes in die Beziehungen der Gleichaltrigen besondere Erfahrungen bereitstellt, die die Ausbildung von Kompetenzen fördern.
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Die Sozialstruktur der Kinderwelt
Entwicklungsimpulse werden Kinder einander vor allem dann geben können, wenn ihre Interaktionen in einen Rahmen eingelagert sind, der ihnen Bedeutung gibt und erlaubt, auf Geschehenes wieder zurückzukommen, um daran weiterzuarbeiten. Beziehungen stellen solche sinnstiftenden Elemente dar. Die gemeinsamen Erfahrungen und Vorstellungen erleichtern nicht nur, Verhalten zu koordinieren, sondern auch bisherige Verhaltensmuster zu verändern, denn Beziehungspartner können auf diese Gemeinsamkeiten und auf ihre Anteilnahme füreinander zurückgreifen, wenn sie neue Absichten und Vorschläge aushandeln und andere Lösungen erproben (vgl. Hinde/Stevenson-Hinde 1987). Viele Lernvorgänge und Entwicklungsprozesse brauchen auch Zeit, die in Beziehungen zur Verfügung steht, weil Kinder miteinander wiederholt Interaktionen durchspielen können (vgl. Bukowski/Hoza 1989). Die Beziehungen, die diese Rahmung von Interaktionen leisten, sind in der Kinderwelt von sehr unterschiedlicher Art. Sie können zudem unter verschiedenen Aspekten betrachtet werden, die sich nicht ausschließen, wenngleich sie unterschiedlich angemessen sein können, bestimmte Phänomene zu erklären. Solche Aspekte sind die „Akzeptanz“ eines Kindes unter den Gleichaltrigen, die Peer-Beziehungen und Gruppen, die Freundschaft sowie die Vorstellungen, die Kinder mit einer engen Beziehung verbinden („Freundschaftskonzept“). Auch Kinder selber unterscheiden offensichtlich Beziehungen nach ihrer Qualität. Nach Furman und Robbins (1985) suchen Kinder einige Formen der Unterstützung bei engen Freunden (Zuneigung, Vertrauen, Verlässlichkeit), andere im weiteren Kreis der Gleichaltrigen (insbesondere Teilhabe), während Hilfe, Fürsorge, Kameradschaft und Anerkennung beiden Bereichen sozialer Erfahrungen angehören.
3.1 Akzeptanz Das Verhältnis der Kinder zueinander wurde und wird überwiegend mittels soziometrischer Messungen bestimmt (zu den verschiedenen Techniken: vgl. Hallinan 1981). Nicht Beziehungen, sondern die Beliebtheit oder Akzeptanz im Vergleich mit anderen wird ermittelt. Je nach positiven und negativen Wahlen
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wird ein Kind den Kategorien „populär“ (auch „beliebt“), „kontrovers“, „abgelehnt“ oder „vernachlässigt“ zugeordnet. Positive soziometrische Wahlen, zumal gegenseitige, werden oft als Freundschaften gedeutet (vgl. Asher/Hymel 1981). Nach Bukowski und Hoza (1989) spiegeln aber auch diese Wahlen im Rahmen des soziometrischen Verfahrens nur die Beliebtheit wider. Die soziometrischen Kategorisierungen gehen mit typischen Verhaltensweisen einher. Ausführlich wurde untersucht, wie sich abgelehnte, vernachlässigte und kontroverse Kinder verhalten (vgl. Coie/Kupersmidt 1983; Dodge 1983; French/Waas 1985). Es wird immer deutlicher, dass diese Kategorisierungen grob sind und weiter aufzugliedern sind (nichtaggressive Abgelehnte: vgl. French 1988; einflussreiche Kontroverse: vgl. Coie/Dodge/Coppotelli 1982). Die Unterscheidungen erfassen auch die psychosoziale Lage der Kinder nur unzulänglich (vgl. Boivin/Bégin 1989; Cantrell/Prinz 1985). Kinder, Lehrer und Beobachter stimmen in ihren Einschätzungen des Verhaltens zum Teil nicht überein (vgl. Coie/Dodge 1988). Nur wenige Studien fragen, wie Kinder mit abgelehnten oder populären Kindern umgehen; nach Masters und Furman (1981) und Vaughn und Waters (1981) finden populäre etwas mehr Aufmerksamkeit, abgelehnte werden häufiger sanktioniert. Vor allem die Unterschiede im Verhalten abgelehnter und vernachlässigter Kinder machen darauf aufmerksam, dass nicht nur die Beliebtheit in die Messung einfließt, sondern auch die Sichtbarkeit des Kindes: Abgelehnte Kinder sind unbeliebt und fallen auf, vernachlässigte sind zwar nicht beliebt, aber werden übersehen. Asher und Dodge (1986) haben daher eine Erweiterung der Erhebungsmethode vorgeschlagen, durch die beide Dimensionen erfasst werden. Nicht alle Kinder gehören der soziometrischen Klassifikation, der sie zugeordnet wurden, stabil an (vgl. Newcomb/Bukowski 1984). Auch bilden Kinder mit ähnlichen Wahlprofilen keineswegs eine Gruppe in der sozialen Realität der Kinderwelt. In Schulklassen wird häufig beobachtet, dass die als „beliebt“ eingestuften Kinder viel miteinander interagieren, zurückgewiesene Kinder dagegen weniger Partner haben, unter ihnen mehr ungleichaltrige und ebenfalls abgelehnte Kinder (vgl. Ladd 1983). Bis auf die vernachlässigten Kinder haben alle Kinder intensive Erfahrungen mit Gleichaltrigen, aber selbst die vernachlässigten scheinen mit ihrer Lage nicht grundsätzlich unzufrieden (vgl. Cantrell/Prinz 1985). Das soziale Schicksal der Kinder unter den Gleichaltrigen wird mit den soziometrischen Maßen offenbar nur äußerlich berührt.
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3.2 Peerbeziehungen und Gruppen Für den Begriff „Peer“ fehlt eine angemessene Übersetzung, denn gemeint ist nicht nur der gleichaltrige Gefährte, sondern Gleichheit der Stellung im Verhältnis zueinander (vgl. Hartup 1983). Ein Peer ist der als Interaktionspartner akzeptierte Gleichaltrige, mit dem das Kind sich in Anerkennung der jeweiligen Interessen prinzipiell zu einigen bereit ist. Verlangt wird eine gewisse „Soziabilität“, also die Disposition, Handlungspläne miteinander abzustimmen, und zwar ohne das Streben, einander zu dominieren, und mit dem Vorsatz, grundlosen Streit zu unterlassen. Somit ist nicht jeder Gleichaltrige ein Peer, sondern nur diejenigen, von denen ein Kind erwartet, dass sie diesen Kriterien entsprechen. Im allgemeinen wird als weiteres Kriterium die Gleichgeschlechtlichkeit hinzugefügt. Tatsächlich schließen sich Jungen weitgehend mit Jungen und Mädchen mit Mädchen zusammen, oft Jungen in verzweigteren, Mädchen in intensiveren Beziehungen (vgl. Waldrop/Halverson 1975), allerdings nicht ohne doch immer wieder die Grenzen zwischen den geschlechtshomogenen Gruppierungen zu überschreiten (vgl. Thorne 1985; Oswald et al. 1986). Der Peer ist der Qualität der Beziehung nach vom Freund zu unterscheiden, denn Freundschaft wird als eine Beziehung verstanden, die sich auf die Person richtet. Dennoch nennen Kinder bis in die mittlere Kindheit hinein oft auch Spielkameraden Freunde. Der Verlust eines Peers wird manchmal ebenso betrauert wie der eines persönlichen Freundes, weil tatsächlich nicht alle Kinder in gleicher Weise als „soziable“ Peers geschätzt werden. Es kommt hinzu, dass das Zustandekommen einer Peer-Beziehung auch von äußerlicher Attraktivität eines Kindes (vgl. Asher/Oden/Gottman 1977) und von der Ähnlichkeit in sozial signifikanten Attributen (vgl. Hartup 1983) beeinflusst wird. Daher ist oft für einen verlorenen Peer nicht leicht Ersatz zu finden. Diese Peers schließen sich, wie soziometrische Studien nachweisen, zu Gruppen zusammen. Da die Methode nur in geschlossenen Gruppen anwendbar ist, werden die Gruppierungen fast nur in Schulklassen identifiziert und die Mitgliedschaft mit Schulvariablen in Zusammenhang gebracht (vgl. Hallinan/Smith 1989; Petillon 1980). Studien, die das Sozialleben von Gruppierungen in der mittleren Kindheit beobachten, sind selten. Die wenigen Studien beziehen sich auf präadoleszente Kinder in Situationen, die Beobachtern zugänglich sind wie Ferienlager (zwölfjährige Jungen bei Sherif et al. 1961), Schulen (elfjährige Kinder bei Davies 1982; zwölfjährige Mädchen bei Meyenn 1980; zehnjährige Kinder bei Krappmann/Oswald 1983) oder Vereine (zwölfjährige Jungen bei Fine 1987). Diese geschlechtshomogenen Zusammenschlüsse entfalten intensives Sozialleben. Die Kinder betreiben Tätigkeiten und sprechen über Themen, die ihnen vergnüglich und wichtig sind und die Erwachsene nicht
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ernst nehmen, meiden oder sogar untersagen (Streiche, Humor, Hänseleien, Austausch über tabuierte Themen); sie entwickeln auch gruppenspezifische Werte und Verhaltensregeln (vgl. Hallinan 1980). Der auffällige Mangel an derartigen Gruppenstudien mag daran liegen, dass aufwendige Beobachtungsverfahren notwendig sind. Es gibt allerdings auch die Meinung, dass sich Gruppen erst in der Jugendzeit bilden (vgl. Machwirth 1980). Oswald und Krappmann (1984) vermuten, dass feste Zusammenschlüsse in der mittleren Kindheit leichter zerbrechen als lockere, weil eine hierarchische Gruppenstruktur den Gleichheitsvorstellungen unter Kindern widerspricht und die Dynamik der Beziehungen innerhalb der Gruppe nicht auffangen kann. Fragen kann man auch, ob die relativ offenen, zahlreiche Kinder umfassenden Gruppierungen vielleicht untergegangen sind, weil die Kinder wenig Platz für derartiges Gruppenleben finden. Diesem Problem kommt eine Gesellungsform der Zehnjährigen entgegen, die Krappmann und Oswald (1983) Geflecht nennen; die Mitglieder eines Geflechts bilden wechselnde dyadische oder triadische Beziehungen nur untereinander aus, treten aber nicht gemeinsam auf, einzelne Mitglieder lehnen sich sogar zeitweilig ab, bleiben einander aber dennoch wichtige Bezugspersonen. Der weitere soziale Zusammenhang dieser Kinder beansprucht also keinen Raum. Einige Jugendforscher (vgl. Coleman 1961; Bronfenbrenner 1972) betrachten die Gleichaltrigengruppen mit Skepsis. Für sie stehen Gruppen Gleichaltriger im Zusammenhang mit elterlicher Vernachlässigung (vgl. Condry/Siman 1974). Da Jugendliche in „gang“-artigen Gruppen häufig ein gegen die Normen der Erwachsenenwelt gerichtetes Sozialverhalten zeigen, wurde geprüft, ob Peers generell eher einen negativen, Freunde dagegen einen förderlichen Einfluss auf die Entwicklung der Kinder, insbesondere auf ihren Schulerfolg ausüben. Diese Vermutung lässt sich nicht stützen, denn meist wirkt der Einfluss von Peers und Freunden in dieselbe positive oder negative Richtung, wobei Freunde, die, jedenfalls bei älteren Heranwachsenden, strenger ausgewählt werden, einflussreicher sind als Peers (vgl. Cohen 1983; Berndt 1989a).
3.3 Freundschaft Im Verlaufe der mittleren Kindheit unterscheiden Kinder zunehmend Beziehungen nach ihrer Qualität und heben Freundschaften von bloßen Bekanntschaften ab (vgl. Furman/Bierman 1984). Unter Freundschaften verstehen sie auf Vertrauen gegründete Beziehungen mit gegenseitiger Unterstützung. Ein Peer kann sicherlich zum Freund werden, aber offensichtlich halten die Kinder auch weiterhin Beziehungen aufrecht, die dem Peer-Beziehungstyp entsprechen.
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Die Bestimmung von dyadischen Beziehungen als Freundschaften wird gewöhnlich auf gegenseitige Freundschaftsnennungen gestützt, verlangt jedoch ein Vorgehen, das auf die Qualität dieser Beziehung reagiert, worauf vor allem Berndt (1982, 1984). hingewiesen hat. Bukowski und Hoza (1989) schlagen dafür vor, zunächst die Gegenseitigkeit der Freundschaftswahl zu prüfen, die Zahl der gegenseitigen Freundschaften des Kindes zu ermitteln und die Qualität des Verhaltens innerhalb dieser Freundschaften zu untersuchen, insbesondere unter der Rücksicht der Art der gegenseitigen Unterstützung. Befragte Kinder geben an, dass Freunde sich mehr helfen, einander emotional stützen und vertrauen und sich aufeinander mehr verlassen als lockere Bekannte (vgl. Berndt/Perry 1986) und dass Freunde besonderen Wert auf gute Kooperation legen (vgl. Bigelow 1977; Furman & Bierman 1983). Diese Untersuchungen beziehen sich auf Vorstellungen der Kinder; ihr Verhalten weicht davon oft ab (vgl. Berndt 1981a). Das unter Freunden beobachtete Verhalten ist nicht leicht zu interpretieren. Konkurrenz scheint unter befreundeten Jungen stärker ausgeprägt zu sein als unter Nichtfreunden (vgl. Berndt 1981b); Konfliktregelungen sind nicht konsistent vom Freundschaftsstatus abhängig (vgl. Hartup et al. 1988); die Beendigung eines Konflikts ist unter zehnjährigen Freunden weniger voraussagbar als unter Nichtfreunden (vgl. Oswald/Krappmann 1988). Diese Ergebnisse können darauf hinweisen, dass Interaktionssituationen unter Freunden offener und abwechslungsreicher sind als unter nichtbefreundeten Kindern, die ihre Interaktionen mehr nach üblichen Regeln ablaufen lassen. Freunde können auch über die eine beobachtete Interaktionsepisode hinaus weiter an dem Thema arbeiten. Diese besonderen Interaktionsbedingungen unter Freunden finden zunehmend Aufmerksamkeit (vgl. Hartup 1989).
3.4 Freundschaftskonzept Kinder bilden Vorstellungen über das Wesen einer Freundschaft, in die sie nach und nach weitere Komponenten aufnehmen und die sie weiter differenzieren und integrieren. Somit wird das Spektrum der Erwartungen, die Kinder an eine Freundschaft richten, zunehmend reichhaltiger (vgl. Bigelow 1977). Eine zentrale Dimension ist das Bedürfnis nach Vertrauen unter Freunden, das von der Kindheit zur frühen Adoleszenz deutlich ansteigt; auch wächst das Bemühen, aufeinander einzugehen (vgl. Berndt 1982). Eine Reihe von Forschern unterscheidet Stadien der Entwicklung von Freundschaftsvorstellungen. Erwartungen an Freundschaft, die Bigelow (1977) in Schüleraufsätzen fand, ordnet er drei Stadien zu, einem „Aufwand-
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Ertragsstadium“ (7- bis 8-Jährige), einem „normativen Stadium“ (10- bis 11Jährige) und einem „Empathie-Stadium“ (11- bis 13-Jährige). Kurzen Kindergeschichten über Beginn und Aufrechterhaltung von Freundschaft entnimmt Youniss zwei charakterisierende Linien der Entwicklung des Freundschaftskonzepts im Alter von sechs bis siebzehn Jahren. Während für die jüngeren Kinder Freundschaft vor allem sich darin äußert, vergnügt zu spielen und zu teilen, tritt für die anderen die emotionale Unterstützung des anderen in seiner persönlichen Situation in den Vordergrund. Nach und nach überführen die Kinder ihre praktische Gemeinsamkeit in eine reziprok ausgehandelte Interaktion (vgl. Youniss/Volpe 1978; Smollar/Youniss 1982). Die Entwicklung zunehmend angemessenerer Koordination nicht übereinstimmender Perspektiven des Selbst und der anderen leitet Selmans (1981) Stufenmodell der Entwicklung des Freundschaftskonzepts. Selmans Modell basiert auf „klinischen“ Interviews mit Kindern und Jugendlichen über zentrale Themen und problematische Situationen unter Freunden (Beginn von Freundschaft, Motive, Nähe, Vertrauen, Eifersucht, Konfliktlösungen). Er unterscheidet folgende Stufen, die Heranwachsende durchlaufen: (0) kurzlebige Spielgefährtenschaft, (1) einseitige Unterstützung, (2) „Schönwetter“-Kooperation, (3) vertrauensvolle, geteilte Beziehung, (4) autonome gegenseitige Abhängigkeit. Neun- bis zwölfjährige Kinder stellen sich Freundschaften überwiegend noch auf Stufe 2 vor, die ein großer Anteil der Neunjährigen noch nicht erreicht und erst ein kleiner Teil der Zwölfjährigen bereits hinter sich gelassen hat (vgl. Hoppe-Graff/Keller 1988). Die Ausdifferenzierung der Freundschaftsvorstellungen mit voranschreitendem Alter wurde immer wieder beobachtet, so dass die Annahme einer Entwicklung dieser Vorstellungen nicht umstritten ist. Allerdings wird nicht allgemein akzeptiert, dass Stadien deutlich unterscheidbar sind (vgl. Berndt 1981a). Die Daten einer Longitudinalstudie, die der Entwicklung des Freundschaftskonzepts bei Sieben- bis Fünfzehnjährigen nachgeht, zeigen, dass einzelne Aspekte des Freundschaftskonzepts sich nicht gleichförmig entwickeln, sondern eigene Entwicklungsdynamiken entfalten (vgl. Hoppe-Graff/Keller 1988; Keller/Wood 1989). Auf diese Weise „verwischt“ sich der Stufencharakter der Entwicklung. Möglicherweise weisen die differentiellen Entwicklungen auf unterschiedliche Sozialerfahrungen hin. Eine Untersuchung, die eine detaillierte Studie der Konzeptentwicklung mit einer präzisen Erhebung der realen Sozialer-
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fahrung derselben Kinder verbindet, liegt bisher noch nicht vor.
3.5 Genese von Beziehungen unterschiedlicher Qualität Die Beobachtung, dass Kinder selber Beziehungen unterschiedlicher Qualität unterscheiden, hat in der Forschung wenig Berücksichtigung gefunden. Alle Maße scheinen zu unterstellen, dass es eine Beziehungsdimension gibt, die von einem bloßen Sich-Kennen zu intensiver Freundschaft reicht. Da PeerBeziehungen in den vorliegenden Entwicklungsmodellen den Beschreibungen der frühen Stufen ähneln, entsteht der Eindruck, sie seien Vorläufer gereifterer Freundschaften und verschwinden, wenn die Kinder diese konzipieren und realisieren können. Tatsächlich dehnen Kinder Erwartungen, Regeln oder Verpflichtungen, die zu einer qualifizierten Freundschaft gehören, nicht generell auf alle gleichaltrige Interaktionspartner aus (vgl. Youniss 1982; Furman/Bierman 1984). Peerbeziehungen sollten daher nicht mit einer zu überwindenden Vorstufe auf dem Weg zu einer qualifizierten Freundschaft gleichgesetzt werden. Sie repräsentieren einen Beziehungstyp eigener Dignität, der sich ebenfalls entwickelt, und zwar hin zu den kollegialen, genossenschaftlichen oder interessenorientierten Beziehungen Erwachsener. Sie repräsentieren ein eigenes Muster dauerhafter Kooperation von Menschen, das keineswegs als defiziente Freundschaft anzusehen ist, sondern als eigenständige Beziehungsform mit Regeln und Moral. So wie die basalen Stufen der Freundschaftsentwicklung noch kaum erkennen lassen, welche Vorstellung und Praxis das sozialisierte Subjekt mit einer Freundschaft verbindet, enthalten auch die kindlichen Peerbeziehungen nur einen vorläufigen Entwurf der sich weiter entwickelnden Partnerschaft. In einem zu erweiternden Modell der Sozialentwicklung läge es daher nahe anzunehmen, dass – nach einer gemeinsamen „Unterstufe“ der Entwicklung aller Formen von Sozialbeziehungen – sich die Entwicklung der Freundschaft in Konzept und Praxis von der ebenfalls weiterlaufenden Entwicklung der Partnerschaft trennt. Auch dieses Konzept der Partnerschaft benötigt weitere Transformationen, bis es dem Erwachsenen zur Verfügung steht, um einen beträchtlichen Teil seiner Sozialbeziehungen daran zu orientieren. Es wäre zu untersuchen, welche weiteren Beziehungsformen, etwa die der Liebesbeziehung, ausdifferenziert werden. Auch diese weiteren Beziehungsformen entwickeln sich vermutlich über einige Phasen hinweg gemeinsam mit der Partnerschafts- und Freundschaftsvorstellung und gehen später eigene Wege. Vielleicht kann man aber auch schon frühe Vorformen im Sozialleben der Kinder und Jugendlichen entdecken.
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Entwicklungsanstöße in der sozialen Kinderwelt
Viele Untersuchungen der Interaktionen unter gleichaltrigen Kindern beschreiben, unter welchen Bedingungen Kinder bestimmte Verhaltensweisen zeigen, ohne zu prüfen, ob die Kinder dieses Verhalten in der Interaktion mit Kindern erworben haben oder ob sie derartige Verhaltensweisen bereits mitgebracht haben. Daher kommt die Antwort auf die Frage nach den Entwicklungsanstößen im Sozialleben der Kinder oft über eine Darstellung der Besonderheiten der Kinderinteraktionen nicht hinaus. In vielen Fällen wäre wichtig abzugrenzen, wie weit der familiale Einfluss reicht, denn zumindest bei den jüngeren Kindern ist er noch deutlich (vgl. Rubin/Sloman 1984; Parke et al. 1989). In anderen Fällen ist plausibel, dass die relevanten Erfahrungen kaum anderswo als in der Kinderwelt geboten werden und das Verhalten der Kinder nur hier wurzeln kann. Diese Passung könnte evidenter werden, wenn nicht nur die Interaktionen, sondern auch die Beziehungen zwischen den interagierenden Kindern berücksichtigt würden. Wenn das Verhältnis der Kinder zueinander ermittelt wird, dann zumeist soziometrisch und selten hinsichtlich der Qualität der Beziehungen, obwohl die Wirksamkeit der Sozialerfahrung unter Kindern nicht allein der Interaktion, sondern der durch Beziehungen gerahmten Interaktion zugeschrieben werden muss (vgl. Berndt 1989b). Der folgende Überblick über Studien, die sich dem Ertrag der Gleichaltrigeninteraktion in verschiedenen Entwicklungsbereichen widmen, zieht daher, wenn möglich, Untersuchungen heran, in denen die Art der Beziehungen der Kinder geprüft wurde.
4.1 Sozialentwicklung Als ein wichtiges Korrelat gelingender Interaktion wird die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel betrachtet, denn eine gemeinsame Handlungslinie kann nur entwickelt werden, wenn divergierende Erwartungen und Absichten wahrgenommen werden können (vgl. Selman 1984). Von anderen akzeptierte Kinder zeigen größere Fähigkeiten, sich in die Lage des anderen zu versetzen (vgl. LeMare/Rubin 1987; Kurdek/Krile 1982). Kinder, die ein hohes Maß interpersonellen Verstehens zeigen, gelten bei Gleichaltrigen und Lehrern als kooperativ (vgl. Pellegrini 1985). Nach einer Studie, die ihr Freundschaftsmaß an Sullivan anlehnte, zeichnen sich Kinder mit einem Busenfreund („chum“) durch affektiven Perspektivenwechsel auf hohem Niveau aus, während sich kein signifikanter Zusammenhang mit der Popularität herausstellte (vgl. McGuire/Weisz 1982). Unklar bleibt, ob
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die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel in den Interaktionen der Kinder entsteht oder ob sie in diese Interaktionen mitgebracht wird. Nach C. U. Shantz (1983) ist sie nicht nur ein Produkt der kognitiven Entwicklung, aber sehr wahrscheinlich vor dem Eintritt in die Gleichaltrigenwelt bereits durch Sozialerfahrungen in der Familie beeinflusst (vgl. Maccoby/Martin 1983, 52). Die Art der sozialen Perspektivenkoordination, wie Selman (1984) sie für Kinder ab der zweiten Entwicklungsstufe festgestellt hat, stützt die Annahme, dass die Erfahrung mit Gleichen, die einander nicht zwingen können, die Ausbildung der reziproken Stadien dieser Fähigkeit begünstigt. Die Ausbildung eines entwickelten Freundschaftskonzepts ist jedoch mit einer problemlosen Integration in Gleichaltrigenbeziehungen nicht gleichzusetzen, denn nach Bichard et al. (1988) stehen zurückgewiesene und vernachlässigte Kinder in der Ausbildung ihres Freundschaftskonzeptes populären Kindern nicht nach. Auch die Fähigkeit der Kinder, aufeinander einzugehen und zu kooperieren, erscheint einerseits als Voraussetzung ihrer Aufnahme in die Gleichaltrigenbeziehungen, andererseits jedoch auch als ein Resultat der Erfahrungen mit Gleichaltrigen. So sagen Kinder, sie würden andere unterstützen, um sie als Freunde zu gewinnen (vgl. Selman 1984; Youniss 1980). Für die Stärkung der Kooperation durch enge Beziehungen unter den interagierenden Kindern gibt es ebenfalls einige Belege. In einer Untersuchung der dyadischen Interaktion von Vorschülern bis zum Alter von sieben Jahren verhalten sich befreundete Kinder im Spiel komplementärer als Nichtfreunde, und ihr Verhalten zueinander wird immer reichhaltiger, je länger sie befreundet bleiben (vgl. Howes 1983). Unter jüngeren Schulkindern interagieren Freunde intensiver, einander zugewandter, mehr auf Gleichheit bedacht und beschäftigen sich gründlicher mit der ihnen gestellten Konstruktionsaufgabe als Nichtfreunde (vgl. Newcomb/Brady/Hartup 1979). Unter Sechstklässlern schneiden enge Freunde auf zwei Maßen für altruistisches Verhalten besser ab als einander nicht nahestehende Kinder (vgl. Mannarino 1976). Vor einem zu einfachen Bild des Umgangs von Freunden miteinander warnen andere Ergebnisse. Jungen aus dem zweiten und vierten Schuljahr geben an, sie würden Freunden nicht mehr helfen als bloßen Bekannten und helfen in einer Laborsituation Freunden sogar weniger als Bekannten (vgl. Berndt 1981b). Dem entsprechen Ergebnisse von Sharabany und Hertz-Lazarowitz (1981), nach deren Untersuchung sich Kinder gegenüber Nichtfreunden in einem Laborexperiment altruistischer verhalten als gegenüber Freunden. Da nach anderen Studien Berndts (1985) Freunde gegenseitige Unterstützung grundsätzlich für wichtig und Konkurrenz für freundschaftsgefährdend halten, scheint es so, als ob ein gutes Verhältnis zueinander Freunde nicht daran hindert, sich aneinander zu messen. Vielleicht ermöglicht auch das dauerhaftere Verhältnis zeit-
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weilige Ungleichgewichte in Interaktionen zu ertragen; Kompensationen können auch in Bereichen erfolgen, die in der gegenwärtigen Situation nicht sichtbar werden. Auch beim Streit ist das Bild komplexer, als die Freunden gelegentlich voreilig zugeschriebene Freundlichkeit unterstellt. Im Vorschulalter stritten Freunde nach einer Untersuchung Hartups et al. (1988) nicht seltener, nicht kürzer und nicht über andere Themen als Kinder ohne Beziehung zueinander. Nach Shantz und Shantz (1985) stritten beliebte Erst- und Zweitklässler zwar seltener, aber waren öfter als unbeliebte Kinder an Konflikten beteiligt, in denen es um den Einfluss auf andere ging. Misst man Beliebtheit und Ablehnung getrennt, dann korreliert die Ablehnung mit Konflikten und aggressiven Akten, die Beliebtheit jedoch nicht (vgl. D. W. Shantz 1986). Streit gehört für Kinder folglich durchaus zur Freundschaft und ist nicht nur ein disruptives Element. Nach Selman (1984) vertreten Kinder auf einer höheren Stufe des Beziehungsverständnisses die Auffassung, dass die Überwindung eines Streits eine enge Beziehung stärken kann. Bereits unter Kindern einer ersten Klasse hat Maynard (1985) beobachtet, dass Streitereien dem Aufbau engerer sozialer Beziehungen dienen. Einander zunächst fremde drei- bis neunjährige Kinder, die sich über Uneinigkeit in einem „Klima der Zustimmung“ verständigten, befreundeten sich mit höherer Wahrscheinlichkeit als Kinder, die in einem „Klima der Unstimmigkeit“ ihren Streit beilegten (vgl. Gottman 1986). Dennoch äußern Kinder bis zur sechsten Klassenstufe, dass die konfliktfreie Interaktion mehr die Freundschaft als die Bekanntschaft charakterisiere. Allerdings unterscheidet dieses Merkmal die Freundschaft weniger deutlich von der Bekanntschaft als andere (z. B. Unterstützung oder Vertrauen). Achtkläßler betrachten dagegen Bekanntschaften konfliktfreier als Freundschaften (vgl. Berndt/Perry 1986). Hinsichtlich der Art der Austragung und der Lösung des Konflikts zeichnen sich einige Unterschiede ab. Die eben erwähnte Studie von Hartup et al. (1988) über Konflikte unter Vorschulkindern zeigt, dass Freunde mehr verhandeln und häufiger Lösungen erreichen, durch die Gleichheit unter den Kontrahenten hergestellt wird. Bei Auseinandersetzungen unter Kindern dritter und vierter Klassen über eine richtige Lösung für einen hypothetischen Konflikt ändern viele Kinder unter dem Einfluss des Gegenübers ihre Meinung, aber häufiger als Nichtfreunde erarbeiten sich Freunde gemeinsam eine „reifere“ Auffassung (vgl. Nelson/Aboud 1985). Nach Oswald und Krappmann (1988) wenden zehnjährige Jungen in Konflikten seltener Strategien an, die die Interessen des Gegenübers missachten, verletzen ihn seltener physisch und psychisch und kommen häufiger zu einer einvernehmlichen Lösung als Nichtfreunde; die Zusammenhänge sind allerdings
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schwach. Auffälliger ist, dass der Ablauf des Konflikts unter Freunden weniger vorhersehbar ist als unter Nichtfreunden, bei denen der erste Schritt der Streitenden weitgehend den Ausgang festlegt. Gerade unter Freunden können freundlich begonnene Aushandlungen mit strittigem Abbruch und regelverletzende Anfänge eines Dissenses in freundlicher Übereinstimmung enden. Dass Konflikte überwiegend nicht in schwerwiegende aggressive Akte umschlagen, wird nach Cairns und Cairns (1986) durch Strategien erreicht, die unter anderem in Freundschaften erworben werden, weil Freundschaften einen Rahmen von Loyalität und Vertrauen stiften, innerhalb dessen man mit auf Einigung zielenden Mitteln der Aushandlung Erfahrungen sammeln kann. Dem entspricht der Befund von Gurucharri, Phelps und Selman (1984), dass eine geringe Fähigkeit, den anderen zu verstehen, bei sechs- bis zwölfjährigen Jungen mit der Tendenz einhergeht, erlebte Konflikte mit Gewalt oder Rückzug, nicht aber argumentierend zu beenden. Auch aus dem oft untersuchten Verhalten von Kindern, die von anderen Kindern nicht akzeptiert werden, kann man zurückzuschließen versuchen, wie Kinder sich verhalten, die in die Gleichaltrigenbeziehungen gut integriert sind. Demnach fügen sich gut integrierte Kinder in Interaktionen ein, ohne sie zu unterbrechen, und unterstützen andere; sie ergreifen Initiativen, schlagen Vorhaben und Regeln vor und sorgen mit für ihre Einhaltung; sie streiten auch für eigene Vorschläge und Interessen, und zwar gelegentlich heftig, aber nur dann, wenn ein Grund einsichtig ist (vgl. Kurdek/Lillie 1985; Cantrell/Prinz 1985). Wieder ist nicht klar, ob diese Verhaltensweisen als Vorbedingungen einer guten Integration anzusehen sind oder als Ergebnis der Interaktionserfahrungen. Einflüsse werden nicht nur in beide Richtungen wirken, sondern die überwiegende Richtung des Einflusses ist bei verschiedenen Typen der Beteiligung an der Sozialwelt der Gleichaltrigen auch unterschiedlich. Coie und Kupersmith (1983) haben verfolgt, wie Kinder in einer neuen Gruppe ihren soziometrischen Status wiedererlangen. Vormals bereits abgelehnte Kinder scheinen in neue Gruppen Verhaltensweisen mitzubringen, die zu ihrem erneuten Ausschluss führen. So bleiben ihnen neuartige Erfahrungen, die ihre Verhaltensmuster verändern könnten, vorenthalten; möglicherweise steigern sie sogar ihr störendes, belästigendes Verhalten, um doch in die Interaktionen einzudringen. Dagegen können die vernachlässigten Kinder in neuen sozialen Konstellationen Verhaltensweisen entwickeln, die ihnen eine vielseitigere Teilnahme an Interaktionen sichern und neuartige Erfahrungen erschließen. Auch Interventionsstudien, die Kindern helfen, in die Sozialwelt der Kinder aufgenommen zu werden, sprechen dafür, dass Kinder soziale Fähigkeiten (wie die korrekte Interpretation von Absichten: Dodge/Murphy/Buchsbaum 1984) und Strategien des Eintritts (wie geeignete Vorgehensweisen bei der sozi-
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alen Annäherung: Dodge/Coie/Brakke 1982) benötigen, die man mit ihnen üben kann. Die auf diesem Wege verbesserte Stellung in der Gleichaltrigenwelt wirkt sich dann jedoch auch auf weitere Fähigkeiten aus, die nicht eingeübt worden waren (vgl. Bierman/Furman 1984; Coie/Krehbiel 1984; LaGreca/Santagrossi 1980; Überblick bei Furman/Gavin 1989). Von vornherein gut integrierte Kinder bringen wahrscheinlich schon günstige Voraussetzungen mit und profitieren dann auch noch von der intensiven Sozialerfahrung mit Gleichaltrigen im Hinblick auf ihre weitere Entwicklung.
4.2 Kognitive Entwicklung Die Erfahrungen der Kinder in der Interaktion mit Gleichaltrigen haben auch Folgen für ihre kognitive Entwicklung. Doise (1978) führt dies darauf zurück, dass Kinder durch die Stellungnahme oder das Tun anderer auf die Begrenztheit ihrer Problemsicht hingewiesen werden und der aus dem Widerspruch entstehende Konflikt eine Weiterarbeit an der Problemlösung stimuliert. In einer Serie von Experimenten, in denen Kinder an Piagetschen Konservierungsaufgaben arbeiteten, wurden Kinder einem derartigen sozio-kognitiven Konflikt ausgesetzt, indem ihnen entweder ein Erwachsener oder ein anderes Kind widersprach, sie entweder mit einer korrekten Lösung oder mit einer falschen Lösung konfrontiert wurden, ihnen entweder eine ihrer Sache sichere Person oder ein ebenfalls noch Suchender gegenübertrat. Es stellte sich heraus, dass Kinder dann eher einen dauerhaften kognitiven Fortschritt erreichen, wenn sie nicht nur eine richtige Lösung übernehmen, sondern diese gemeinsam erarbeiten. Diese gemeinsame Erarbeitung wird im Rahmen einer asymmetrischen Beziehung zum widersprechenden Gegenüber erschwert. Daher ist bei einer Reihe von Problemen ein Kind ein wirksamerer Partner in einer kognitionsfördernden Zusammenarbeit als ein Erwachsener, dem das Kind zu folgen neigt (vgl. Doise/Mugny 1984). Durch weitere Studien wurde erhärtet, dass das andere Kind, mit dem zusammen an der Lösung gearbeitet wird, nicht unbedingt über die richtige Lösung verfügen und diese erklären können muss. Für eine produktive Auseinandersetzung ist wichtig, dass der Widerspruch zwischen den Ansichten der Kinder deutlich wird (so Erst- und Zweitklässler vor einem Konservierungsproblem: Ames/Murray 1982) bzw. dass Inkonsistenzen bei der Anwendung nicht übereinstimmender Strategien wahrgenommen werden (Acht- bis Neunjährige in einem Turmbau-Spiel: Glachan/Light 1982), dass die selbstsicher vorgetragenen Lösungsvorschläge „destabilisiert“ werden (Sechsjährige bei einem Kategorisierungsproblem: Blaye 1987). Für jüngere Kinder scheint es noch schwierig zu sein, Alternativen zu diskutieren. So lernen in diesem Fall
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Anfänger mehr in der Zusammenarbeit mit einem erfahrenen Kind als in der Kooperation mit einem anderen Anfänger (Nachbau eines Lego-Modells bei Fünfjährigen: Azmitia 1988). Allerdings stimulierte diese Aufgabe weniger einen kognitiven Konflikt, sondern ihre „Lösung“ wird von bereits gesammelter Erfahrung begünstigt. Die Untersuchungen sprechen insgesamt dafür, dass die Entwicklung nicht nur durch einen vom Interaktionspartner aufgedeckten Konflikt und die dadurch ausgelösten Anstrengungen um neue Äquilibrierung, wie Piaget es sieht, gefördert wird, sondern auch durch ko-konstruktive Zusammenarbeit, die durch bestimmte Dialogformen und Aufgabenverteilungen effizient wird. Forman und Cazden (1985) weisen auf Vorstellungen Vygotskys hin, der den Kompetenzzuwachs nicht wie Piaget einem offenen Konflikt, sondern der Anleitung durch einen Erwachsenen oder fähigeren Gleichaltrigen zuschreibt. Sie demonstrieren an Beispielen Neunjähriger, die kognitive Aufgaben lösen, dass allerdings weniger der Fähigkeitsvorsprung, sondern eine komplementäre Aufgabenverteilung die wechselseitige Beratung zu sichern vermag, durch die eine erfolgreiche Lösung erreicht wird. Auch im Experiment Azmitias trug die aktive Beteiligung des Anfängers ebenso wie die Qualität der Unterhaltung zwischen den Kindern zum Lernerfolg bei. Die Beobachtung, dass unabhängig von der Zusammensetzung nach gleichen oder ungleichen Fähigkeiten in einigen Dyaden die Zusammenarbeit gänzlich scheiterte, macht darauf aufmerksam, dass das Verhältnis der Kinder zueinander und der Interaktionsprozess zwischen ihnen weiterer Analyse bedürfte. Miller und Brownell (1975) haben die Kommunikation zwischen Zweitklässlern untersucht, um aufzuklären, was ein nichtkonservierendes Kind dazu bringt, diese kognitive Leistung zu vollbringen. Das fähigere Kind tritt dem anderen nach ihren Analysen nicht sozial überlegen gegenüber, sondern die erreichte Stufe der Kognition gibt dem Kind die Sicherheit, mit deren Hilfe es seine Lösung vielfältig erläutern und veranschaulichen kann. Nichtkonservierer dieses Alters scheinen zudem ihrer Antwort nicht mehr sicher zu sein und wiederholen meist nur ihre unzulängliche Lösung, ohne sie argumentativ stützen zu können. Kinder lernen zu argumentieren, indem sie mit anderen, vor allem mit anderen Kindern argumentieren. M. Miller (1986) zeigte anhand von Analysen argumentierender Kindergruppen, wie Antagonismen ohne Argumente sich unter dem Einfluss der Auseinandersetzungen der Kinder in Antagonismen mit Argumenten wandeln: Der Dissens kann wechselseitig auf von einander unabhängige Gründe zurückgeführt werden, nachdem Kindern deutlich geworden ist, dass man Einwände gegen die empirische Haltbarkeit von Behauptungen von Einwänden gegen Verletzungen der Regeln des Schließens unterscheiden muss. Erst dann kann man aussichtsreich versuchen, Argument gegen Argument zu setzen, für die Argumentierenden kollektiv Geltendes zu erarbeiten und mögli-
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cherweise den Dissens zu überwinden, d. h. kollektiv zu lernen.
4.3 Entwicklung des moralischen Urteils Nach Piaget (1973) werden Kinder vor allem durch Erfahrungen, die sie in der Zusammenarbeit mit den Gleichaltrigen sammeln, angeregt, von einer heteronomen zur autonomen Moral überzugehen. Im Spiel einigen sich Kinder mit Gleichaltrigen auf Regeln, verändern sie, lernen, Regeln zu achten, aber auch, sie sinnvoll zu interpretieren und in übergeordnete Prinzipien zu gründen. Die Bedeutung interpersonaler Regulierungen in der Kinderinteraktion belegen auch jüngere Beobachtungsstudien von Kindern in natürlichen Situationen. Nucci und Nucci (1982 a, b) zeigen, dass Kinder ab der Vorschulzeit Regeln der Konvention und moralische Themen unterscheiden und in beiden Bereichen Verstöße anmahnen und ahnden, und zwar auch außerhalb des vom Lehrer kontrollierten Klassenzimmers und nicht nur bei Moralverletzungen, sondern auch bei Brüchen von Konventionen. Auch nehmen die Lehrer bei älteren Kindern von moralischen Maßregelungen zunehmend Abstand und überlassen den Kindern die Austragung interpersonaler Konflikte. Auch Oswald (1990) weist nach, dass Kinder sich untereinander und ohne Erwachsenenpräsenz in differenzierter Weise mit Normverletzungen auseinandersetzen. Piaget hat die Moralentwicklung so fest in der Interaktion der Gleichen verankert, dass ein geläufiger Einwand lautet, ob nicht auch den Kindern zugewandte Erwachsene diese Erfahrungen vermitteln könnten. Kohlberg ist in dieser Hinsicht offener, denn er bindet den Fortschritt in seinem sechsstufigen Entwicklungsmodell des moralischen Urteils an die Gelegenheit zur Rollenübernahme. Durch die Gesichtspunkte, die sich aus dem Blickwinkel der anderen Rolle ergeben, wird der Urteilende bedrängt, sein Urteil umzuarbeiten. Die Übernahme von Rollen wird in einer sozialen Umwelt erleichtert, die von Prinzipien der Gleichheit, der offenen Aussprache und des Strebens nach Gerechtigkeit geprägt ist. Zwei Wege bieten sich nach Kohlberg an, um die Entwicklung des moralischen Urteils zu fördern: Zum einen die Stärkung von Gemeinschaften, die sich in fairen Aushandlungen um Gerechtigkeit bemühen, z. B. von Schulen, in denen die Rechte aller Beteiligter geachtet und die Regeln der gemeinsamen Arbeit ausgehandelt werden; zum anderen die Diskussion in Schulklassen über moralische Dilemmata, in der sich einander Gleiche mit ihren Begründungen gegenseitig zum Nachdenken über ihre Urteile anregen. Die Diskussion der Gleichaltrigen scheint vor allem deswegen sehr geeignet, das moralische Urteil voranzutreiben, weil Heranwachsende sich als besonders sensibel für moralische
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Argumente erweisen, die der nächstfolgenden Stufe ihrer Entwicklung entsprechen (vgl. Turiel 1966). Da die Gleichaltrigen einander in der Stufe der Urteilsentwicklung sehr nahe sind, werden gerade solche Argumente in der Diskussion der Gleichaltrigen spontan vorgebracht. Kohlberg setzt dennoch mehr Hoffnungen auf den ersten Weg, weil in den „gerechten Gemeinschaften“ die Auseinandersetzungen um reale, nicht um hypothetische Probleme geführt werden (vgl. Power/Higgins/Kohlberg 1989). Jedoch erwiesen sich die Diskussionen der Gleichaltrigen über Dilemmata durchaus als geeignet, das moralische Urteil von Jugendlichen dauerhaft zu fördern (vgl. Blatt/Kohlberg 1975; Überblick bei Schlaefli, Rest/Thoma 1985). Allerdings zeigen präadoleszente Gruppen (Zwölf- bis Vierzehnjährige) im Vergleich zu älteren Jugendlichen und Erwachsenen weniger oder gar keine Fortschritte, möglicherweise weil ihnen kognitive Voraussetzungen für hypothetische Diskussionen noch nicht zur Verfügung stehen (vgl. Walker 1980). Diese Diskussionen werden grundsätzlich von einem Lehrer geleitet, der den Jugendlichen die Aussprache zwar weitgehend überlässt, sie aber auf Argumente lenkt, die zur Folgestufe der Moralentwicklung gehören. Zwar haben reine Peer-Diskussionen nach Blatt und Kohlberg (1975) keine fördernde Wirkung. Dennoch scheint die Wirksamkeit der Diskussionen trotz der Moderation durch den Lehrer von der Art des transaktionalen Dialogs abzuhängen, der sich unter den Jugendlichen entwickelt und der die Abwägung der Argumente erleichtert oder erschwert (vgl. Berkowitz/Gibbs 1985). Der Einfluss der Gleichaltrigen auf die Urteilsgenese ist auch in experimentellen Anordnungen untersucht worden. Damon und Killen (1982) stellen fest, dass fünf- bis neunjährige Kinder, die zu dritt ein Gerechtigkeitsproblem diskutieren, zu einem größeren Anteil in ihren moralischen Begründungen voranschritten als Kinder, die entsprechende Probleme mit Erwachsenen durchsprachen. Wenig Fortschritt zeigten Kinder, die auf die Aussagen anderer nicht eingingen, sie zurückwiesen oder lächerlich machten, während Kinder, die sich in ihren Begründungen verbesserten, wechselseitig Aussagen abwogen, umwandelten und verschiedene Perspektiven zu vereinigen suchten. Die reine Präsentation einer besseren Begründung hatte jedoch weder bei den auf niedrigerem Niveau, noch bei den auf entwickelterem Niveau argumentierenden Kindern irgendeinen Effekt. Das moralische Urteil scheint nicht durch Widerspruch ohne Begründung oder allein durch das bessere Vorbild gefördert zu werden, sondern dann, wenn in der Diskussion „ko-konstruiert“ werden kann. Folglich sollte sich auch die Qualität der Beziehung der Kinder auf die Entwicklung des Urteils auswirken. Die Interviewdaten, die Keller in ihrer Longitudinalstudie von sieben- bis zwölfjährigen Kindern erhoben hat (1986), zeigen, dass sich mit der Freundschafts-
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vorstellung dieser Kinder auch deren moralische Sensibilität (Wahrnehmung konfligierender Erwartungen, Antizipation von Folgen, Verhandlungsfähigkeit von Folgen und Lösungen) entwickelt.
4.4 Entwicklung des Selbst Nach Fine (1981) ist es eine wichtige Funktion von Kinderfreundschaften, Selbstbilder auf die Probe zu stellen. Die wechselseitige Herausforderung ist deswegen informativ und riskant, weil die Wahl der Freunde offenbar davon beeinflusst wird, dass Freunde in ihren wichtigen Bereichen des Verhaltens einander ähnlicher sind als in ihren nebensächlichen Bereichen (vgl. Tesser/Campbell/Smith 1984). So wurde vor allem der Einfluss von Freunden auf das Selbstwertgefühl untersucht. Nach Furman und Buhrmester (1985) stärken Freunde das Selbstwertgefühl elf- bis dreizehnjähriger Mädchen und Jungen, zwar weniger als Eltern, jedoch mehr als Lehrer und Geschwister. Auch die Mitgliedschaft in Cliquen unterschiedlichen Ansehens in der Klasse wirken sich auf die Selbsteinschätzung aus (vgl. Brown/Lohr 1987). Daten von Cantrell und Prinz (1985) warnen allerdings davor, diesen Zusammenhang zu eng zu sehen: Selbst-Einschätzungen von Kindern wie „Ich fühle mich unglücklich“ oder „Andere behandeln mich schlecht“ korrelieren zwar mit ablehnenden Äußerungen seitens Gleichaltriger, aber nur schwach. Bei vernachlässigten Kindern waren Zusammenhänge überhaupt nicht zu entdecken. Nach Wylie (1979) sind soziometrische Popularitätsmaße wenig geeignet, zur Aufklärung der Varianz von Selbst-Konzepten beizutragen. Mit ihrem mehrstufigen Freundschaftsmaß belegen Bukowski und Hoza (1989) jedoch den Zusammenhang zwischen der Erfahrung von enger Freundschaft und einem höheren Selbstwertgefühl. Die Selbst-Vorstellung umfasst mehr als eine wertende SelbstEinschätzung; sie umschließt alle Eigenschaften, mit denen ein Mensch sich selber im Vergleich mit anderen betrachtet und erlebt. In der mittleren Kindheit werden neben den Eltern die anderen Kinder für diese Selbstdefinitionen wichtig. Während jüngere Kinder ihre Fähigkeiten nach Markus und Nurius (1984) noch stärker an absoluten Standards messen, wird in der mittleren Kindheit und der Präadoleszenz der soziale Vergleich für die Selbstdefinition entscheidend. Für die Entwicklung des umfassenden Selbst-Verständnisses schlagen Damon und Hart (1982) ein Modell vor, das Vorläufer des Selbstverständnisses schon in der frühen Kindheit annimmt. Sie unterscheiden verschiedene überdauernde Objekt- und Subjektdimensionen des Selbst, die sich Phase für Phase weiterentwickeln, und zwar indem in jeder Phase jeweils eine Dimension der Entwicklung
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gleichsam ein „Leitmotiv“ setzt. Nach einer Orientierung des Selbstverständnisses in der frühen Kindheit am physischen Selbst wird nach ihrem Modell das Selbstverständnis in der mittleren Kindheitsphase durch die Aktivierung der eigenen Fähigkeiten getragen, die an denen der anderen gemessen werden („active self“), in der Phase der Präadoleszenz durch die persönlichen Charakteristika, die in den Beziehungen mit anderen aufgebaut werden („social self“). Einen wichtigen Teilaspekt dieser Entwicklung haben Parker und Gottman (1989) in den Analysen von Kindergesprächen nachgezeichnet, nämlich die Integration der Emotionen in die Selbst-Wahrnehmung und Selbst-Kontrolle. Sie wird weitgehend durch die Thematik beeinflusst, die die Sozialwelt der Kinder auf der jeweiligen Entwicklungsstufe prägt. In der mittleren Kindheit sind es die Bemühungen um Akzeptanz und um Integration in die Beziehungen unter den Kindern, die nicht nur Jungen, sondern nach den Beobachtungen von Parker und Gottman (1989) auch Mädchen dazu bringen, ihre Emotionen sogar in Freundschaften sehr weitgehend zu beherrschen. Zusammengehörigkeit werde mehr durch abwertenden Tratsch über Außenstehende als durch affektive Bekundungen hergestellt. Markus und Nurius (1984) machen allerdings darauf aufmerksam, dass Kinder dieses Alters sowohl tiefe Enttäuschungen als auch den Überschwang freudiger, stolzer Gefühle erleben und zeigen. Auch die Aushandlungen zehnjähriger Kinder in der Studie Oswalds und Krappmanns (1988) erwecken oft mehr den Eindruck eines auch emotional geführten Kampfes als den eines Forums neutral argumentierender Beteiligter. Es mag dennoch richtig sein, dass der in der mittleren Kindheit abverlangte Entwicklungsschritt nur gelingt, wenn diese Emotionsdurchbrüche als affektive Pannen nach Möglichkeit vermieden werden, damit das Kind schwach gesicherte Beziehungen nicht verliert, vor fremden Perspektiven nicht zurückscheut, Konflikte aushält und langwierige Aushandlungen zum Aufbau von interpersonalen Regeln ebenso wie zur Erweiterung seiner Kenntnisse und Fähigkeiten durchsteht. Daher betonen viele Theorien der Ichund Selbst-Entwicklung, wie Kinder in der mittleren Kindheit bemüht sind, Emotionen abzuwehren, die mühsam Geordnetes wieder durcheinander bringen könnten (vgl. Noam/Kegan 1982).
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Schlussbemerkungen
Die vorliegenden Forschungen bestätigen zwar, dass die Sozialwelt der Kinder der mittleren Kindheit als ein intensiver Sozialisationsbereich anzusehen ist. Aber wir sind noch weit davon entfernt, die Sozialstruktur dieser Kinderwelt
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und ihre sozialisatorischen Prozesse angemessen zu verstehen. Erst allmählich befreit sich die Forschung von allzu oberflächlichen Vorstellungen, wie etwa von der leeren Floskel der „Peer Group“, und öffnet sich ausgreifenderen theoretischen Konzeptionen zum Beitrag dieser Entwicklungsphase, die den empirischen Untersuchungen triftigere Hypothesen vorgeben können. Dabei wird sehr deutlich, dass der eigentlich von soziologischer Seite zu erwartende Beitrag noch weitgehend ausgeblieben ist, die Kinderwelt, die soziale Gesellungsformen und Interaktionsthemen an die Kinder heranträgt, als gesellschaftlich geformte Sozialisationsinstanz zu analysieren. Die Vorstellung ko-konstruierender Leistungen, die Kindern in der gemeinsamen Auseinandersetzung über Sachverhalte und Probleme abverlangt werden, ist offenbar eine fruchtbare Hypothese, nicht zuletzt weil sie der eigenen Beteiligung der Kinder an ihrer Entwicklung Raum lässt, ein Aspekt, den die Sozialisationsforschung lange vernachlässigt hat. Allerdings wäre diese Hypothese überzogen, wenn der Erwachsenenwelt und soziokulturellen Traditionen gar kein Einfluss mehr auf die Entwicklung von Kompetenzen zugestanden würde. Wichtige Punkte des weiteren Forschungsprogramms müssen vielmehr sein, die in der Kinderwelt eigenständig zu bewältigenden sozialisatorischen Aufgaben mit der familialen Sozialisation in Bezug zu setzen und auch andere Beziehungen zur Erwachsenenwelt nicht außer acht zu lassen. Möglicherweise ist die Ko-Konstruktion ein soziales Entwicklungsprinzip, das weit über die sozialisatorische Kinderinteraktion hinausreicht. Von hohem theoretischem Wert und voller praktischer Konsequenzen wären Studien, die uns besser zeigen, wie ko-konstruktive soziale Prozesse ablaufen. Diese Lücke erinnert daran, dass insgesamt empirische Untersuchungen, vornehmlich qualitativ orientierte Beobachtungsstudien fehlen, die uns die sozialen Prozesse unter den Kindern transparenter machen. Ganz überwiegend beruhen die vorgetragenen Ergebnisse auf Auskünften in Interviews, oft genug sogar auf Einschätzungen von Personen außerhalb der Kinderwelt. Mehr „Grounded Theory“ ist dringend nötig. Die Frage nach den sozialisatorischen Folgen ist letztendlich auch nicht ohne longitudinale Studien einzulösen, die ebenfalls methodisch vielfältig sein müssen, wenn sie die Sozialerfahrung der Kinder angemessen berücksichtigen wollen. Auch Interventionsstudien, durch die Kindern zu einer besseren Integration in die Kinderwelt verholfen werden soll, sowie Begleitstudien in Kindertagesstätten könnten dazu beitragen, die Kinderwelt und ihre Sozialisationswirkung unter verschiedenen Bedingungen zu explorieren.
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Peers und Schule – positiver oder negativer Einfluss von Freunden auf schulische Bildungsbiografien? Heinz-Hermann Krüger und Ulrike Deppe
1
Einleitung
In diesem Beitrag wird von den zentralen Ergebnissen einer Längsschnittstudie berichtet, die den unterschiedlichen Stellenwert von Gleichaltrigen für die schulischen Bildungsbiografien von vormals elfjährigen und inzwischen in der zweiten Erhebungswelle circa 13-jährigen Heranwachsenden untersucht. Nach einer einleitenden Darstellung des aktuellen Forschungsstandes zu präadoleszenten1 Bildungsbiografien und Peers im Kontext der Jugend- und Schulforschung sowie entsprechenden Längsschnittstudien werden die Ziele, die theoretischen Bezüge sowie das Forschungsdesign des Projekts skizziert. Anschließend werden zwei kontrastierende Fälle vorgestellt, bei denen die Peers sich besonders in ihrer Bedeutung für die schulische Bildungsbiografie voneinander unterscheiden. Zugleich sollen diese Falldarstellungen veranschaulichen, wie die auf Fällen basierende Längsschnitttypologie erarbeitet wurde. Im Anschluss daran werden die beiden vorgestellten Fälle in das gesamte Spektrum der empirisch herausgearbeiteten Längsschnitttypologie eingeordnet. In dem Fazit werden weitere Ergebnisse präsentiert und diese auf den Forschungsstand zum Stellenwert von Peers für schulische Bildungsbiografien bezogen.
1 Mit präadoleszent sind hier im Sinne der entwicklungspsychologischen Jugendforschung die 13Jährigen gemeint (vgl. Fend 2005, 91).
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2
Heinz-Hermann Krüger und Ulrike Deppe
Präadoleszente Bildungsbiografien und Peers in der Jugend- und Schulforschung
Studien, die Zusammenhänge zwischen schulischen Bildungsverläufen sowie Peeraktivitäten und -orientierungen in außerunterrichtlichen und außerschulischen Freundschaftsgruppen untersuchen, sind äußerst selten und dies gilt erst Recht für Untersuchungen mit einem Längsschnittdesign. In der Kindheitsforschung, deren Ergebnisse für unser Projekt vor allem in der ersten Untersuchungsphase relevant waren und die hier deshalb nur noch am Rande mit berücksichtigt werden sollen, haben sich im deutschsprachigen Raum vor allem Krappmann und Oswald (1995) im Rahmen qualitativer und quantitativer Studien mit den Gleichaltrigenbeziehungen in Grundschulklassen befasst und auf die Bedeutung des sozialen Herkunftsmilieus von Kindern für deren Beliebtheit in der Schulkasse hingewiesen (vgl. Oswald/Krappmann 2004; Oswald 2008). Internationale Studien belegen darüber hinaus die Leistungs- und Schichthomogenität schulischer Peergroups (vgl. Hallinan 1980; Adler/Adler 1998) und zeigen zudem in quantitativen Längsschnittstudien auf, dass sich diese Homogenität auch im Verlaufe der Grundschulzeit sowie beim Übergang in die Sekundarstufe nicht grundlegend verändert (vgl. Graham et al. 1998; Chen/Chang/He 2003). Die in der Kindheitsforschung durchgeführten Studien zum Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft, Schulleistungsstatus und Peerkonstellationen sind in ihrem Anregungsgehalt für unsere eigenen Analysen eher randständig, da sie ähnlich wie die quantitativen Studien aus der psychologisch orientierten Jugend- und Schulforschung (vgl. Wetzel/Caldwell 1997; Ryan 2001; Fend 2005) nur Peerbeziehungen in Schulklassen untersuchen, während sie die soziale Zusammensetzung sowie die bildungsbezogenen Orientierungen außerunterrichtlicher Freundschaftsgruppen nicht in den Blick nehmen. Von zentraler Relevanz für unsere eigenen Überlegungen sind dagegen Untersuchungen aus dem Überschneidungsbereich von Kindheits-, Jugend- und Schulforschung, die das Interdependenzverhältnis von schulischen Bildungsbiografien, Peerorientierungen und sozialen Milieueinbindungen untersucht haben. Dies sind zum einen qualitative Studien, die das Verhältnis von jugendlichen Sub- und Gegenkulturen aus unterschiedlichen sozialen Milieus zur Schule analysiert haben (vgl. Willis 1979, Bietau 1989; Helsper 1989; Wexler 1992; Ball/Maguire/Macrae 2000; Böhme 2003). Zum anderen sind dies einige quantitative Studien, die sich in Anlehnung an die Kulturtheorie von Bourdieu (1982) und/oder den Sozialkapitalansatz von Coleman (1995) mit der Untersuchung des Zusammenhangs zwischen schulischem Bildungserfolg und außerschulischen Freizeitaktivitäten bei der auch für unser Projektvorhaben interessanten Alters-
Peers und Schule
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gruppe der 10- bis 15-Jährigen beschäftigt haben (vgl. Büchner/Krüger 1996; Stecher 2001; für Österreich Eder/Gehmacher/Kraismayr 2006). Während bei den aktuellen quantitativen Reanalysen der PISA-Daten 2006 nur Wechselbezüge zwischen familialem Herkunftskontext, Schulleistungsstatus und Medienaktivitäten (vgl. Senkbeil/Wittwer 2008) bzw. der Nutzung schulischer Nachmittagsangebote (vgl. Hertel et al. 2008) untersucht worden sind, nahm Meier (2004) bei seiner Analyse der PISA-Daten 2000 auch Wechselbezüge zwischen der Einbindung in unterschiedlichen außerschulischen Peergroups und fachlichen Schulleistungen mit in den Blick. Dabei wurde aufgezeigt, dass die Mitgliedschaft in Cliquen mit einer aggressiven Orientierung eher mit negativen, die Mitgliedschaft in leseorientierten Freundschaftsgruppen eher mit positiven schulischen Leistungen einhergeht. Bislang eher theoretisch interessante Überlegungen zum Interdependenzzusammenhang zwischen familialen Herkunftsmilieus, Schul- und Peermilieus liefert die Arbeit von Grundmann et al. (2003), in der ein sozialstruktureller mit einem phänomenologischen Milieubegriff verbunden wird. Eine empirische Konkretisierung dieses Theoriekonzepts hat die Autorengruppe bislang im Rahmen einer in Island durchgeführten quantitativen Studie nur im Hinblick auf eine Typisierung bildungsrelevanter Differenzen in unterschiedlichen familialen Erfahrungswelten vorgelegt (vgl. Grundmann et al. 2006). In ihren theoretischen Überlegungen vermuten sie darüber hinaus bei Heranwachsenden aus dem akademischen Oberklassenmilieu eine Orientierung am Ideal exzellenter schulischer Bildung und in den Beziehungen zu Gleichaltrigen einen Raum für „reine“ Freundschaften, die ohne den Beigeschmack funktionaler Notwendigkeiten bestehen. In den Milieus der gesellschaftlichen Mitte wird bei den Heranwachsenden ein eher angespannter und aufstiegsorientierter Umgang mit schulischer Bildung unterstellt, während die Gleichaltrigengruppe den Heranwachsenden ambivalente Experimentierfelder für eigene Lebensentwürfe bieten soll. Für Kinder und Jugendliche aus unteren sozialen Milieus wird entweder eine Anpassung oder ein Widerstand gegenüber schulischen Leistungserwartungen angenommen (vgl. Grundmann et al. 2003, 37ff.). Zudem gibt es theoretisch anregende Überlegungen von Grundmann et al. (2003) oder von du BoisReymond (2000) sowie die Ergebnisse der wenigen qualitativen und quantitativen Querschnittsstudien, die zumeist die enge soziale Homologie zwischen dem Schulleistungsstatus und den Peerorientierungen betonen, während alternative Muster, z.B. Peeraktivitäten als Kompensation für schulischen Erfolg bislang nur theoretisch vermutet worden sind (vgl. Watts 2001; du Bois-Reymond 2007). Ingesamt lässt sich bei der Analyse des bisherigen Forschungsstandes feststellen, dass im Allgemeinen eher von einer sozioemotional stützenden Funktion der Peers ausgegangen wird, wohingegen die Erkenntnisse zum tatsächlichen
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Heinz-Hermann Krüger und Ulrike Deppe
Einfluss auf schulische Leistung und Leistungsorientierungen gering sind. Einige empirische Ergebnisse zu dem Wechselverhältnis zwischen Peers und den Schulbiografien jüngerer Jugendlicher liegen nun in unserer Studie vor.
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Die Längsschnittstudie „Peergroups und schulische Selektion“ – Ziele, Theoriebezüge, Annahmen und Methoden
Das Projekt „Peergroups und schulische Selektion“, aus dessen erster und zweiter Untersuchungswelle die im Folgenden dargestellten Resultate stammen, ist eine auf sechs Jahre angelegte qualitative Längsschnittstudie, die seit Juni 2005 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziell gefördert wird. Es untersucht die Bedeutung schulischer und außerschulischer Peereinbindungen für erfolgreiche bzw. weniger erfolgreiche Bildungsbiografien im Längsschnitt. Bisher wurden Schülerinnen und Schüler im Alter von circa elf Jahren in der fünften Klasse und zum zweiten Erhebungszeitpunkt von circa 13 Jahren in der siebten Klasse und ihre Freundschaftsgruppen untersucht2. Theoretisch knüpft das Projekt an biografietheoretische und milieutheoretische Diskurslinien an und versucht eine Akteurs- und eine Strukturperspektive zu verbinden, indem es die individuellen Orientierungen von Kindern und die kollektiven Orientierungen ihrer Freundschaftsgruppen vor dem Hintergrund milieuspezifischer Lagerungen und Erfahrungsräume analysiert. Um das Interdependenzverhältnis zwischen den individuellen Biografieverläufen sowie den Orientierungen der Heranwachsenden und den kollektiven Orientierungen ihrer Peergroups und gesellschaftlichen Milieueinflüssen untersuchen zu können, legt das Projekt das wissenssoziologisch und mikrosoziologisch ausgerichtete Milieukonzept nach Bohnsack (2003, 111) und anderen (vgl. z.B. Bohnsack et al. 2001) seinen Analysen zugrunde. Dabei werden Milieus als konjunktive Erfahrungsräume verstanden, deren Angehörige bzw. Träger durch Gemeinsamkeiten des Schicksals, des biografischen Erlebens oder Gemeinsamkeiten der Sozialisationsgeschichte miteinander verbunden sind und das durch diese konstituiert wird. Die Jugendlichen erwerben im Laufe dieser Sozialisationsgeschichte habi2 Im Fokus des Projekts stehen die schulischen und außerschulischen Freundschaftsgruppen der untersuchten Heranwachsenden. Davon ausgehend wurde jedoch auch ein breites Spektrum an Freundschaftskonstellationen zunächst in den Blick genommen, wie z.B. Dyaden, Triaden, Cliquen oder Netzwerke. Dabei knüpft das Projekt an theoretische und empirische Arbeiten zu Freundschaften von Heranwachsenden von Oswald (1993, 353) oder Salisch und Seiffge-Krenke (1996) an (vgl. Köhler 2010).
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tuelle Orientierungen in ihren verschiedenen Lebensbereichen, die jedoch im Gegensatz zu Bourdieu (1993) nicht als ausschließlich dauerhafte Dispositionen gefasst werden, sondern vor dem Hintergrund biografischer Entwicklung und ihrer Einbettung in soziale Milieus und Interaktionskontexte sich im Wandel befinden können. Um Wandlungsprozesse dezidiert festhalten zu können, ist das Projekt als personenbezogene Längsschnittstudie angelegt, die in dieser Form einzigartig ist und auf die Wandlungen im Bereich der bildungsbezogenen Orientierungen des Individuums und/oder seiner Gruppe abzielt (vgl. ausführlich dazu Krüger et al. 2010). Methodisch umgesetzt wird dieses anspruchsvolle Vorhaben in einem mehrstufigen qualitativen Längsschnittdesign. Als übergeordnete Forschungsstrategie und Methode zur Rekonstruktion der habituellen Orientierungen dient die dokumentarische Methode (vgl. Bohnsack 2003). Zudem werden bei der Untersuchung verschiedene Erhebungsinstrumente zeitlich gestaffelt eingesetzt, um ein größtmögliches Spektrum an kontrastierenden Fällen zu erreichen. Dieses Design umfasst dabei eine kleinere Vorstudie an fünf Schulen unterschiedlicher Schulformen und in verschiedenen Regionen Sachsen-Anhalts und Nordrhein-Westfalens, bei dem die Lernenden ausgewählter fünfter und anschließend siebter Klassen schriftlich befragt wurden. Anschließend wurden Heranwachsende in qualitativen Interviews in einem relativ breiten Sample befragt, um anschließend in einem weiteren Schritt mit einem kleineren Sample von stark kontrastierenden Fällen in einer weiteren Erhebungsphase Gruppendiskussionen mit den Peergroups zu führen und Freizeitpraxen zu ethnografieren, teilweise auch zu videografieren (vgl. dazu ausführlich Krüger/Köhler/Zschach 2007; Krüger/Pfaff 2008). In der zweiten Erhebungswelle wurde dieses Vorgehen größtenteils mit den bereits befragten Heranwachsenden durchgeführt (vgl. ausführlich dazu Krüger et al. 2010). Ausgewertet werden die Interviews und Gruppendiskussionen mithilfe der dokumentarischen Methode als Interpretationsverfahren (vgl. Bohnsack 2003). Dabei werden auf der Basis der qualitativen Interviews die individuellen bildungsbezogenen und fallspezifischen Orientierungen der Heranwachsenden rekonstruiert und mit den Ergebnissen der Analyse der Gruppendiskussionen mit den schulischen und/oder außerschulischen Freundschaftsgruppen und den ethnografischen Protokollen zu deren Freizeitpraxen trianguliert. In einem weiteren Schritt wird zunächst am Einzelfall das Passungsverhältnis zwischen den individuellen und kollektiven Orientierungen bestimmt und vor diesem Hintergrund der Stellenwert der Peergroups für erfolgreiche bzw. weniger erfolgreiche Bildungsbiografien herausgearbeitet. Danach wurden die Ergebnisse aus den Rekonstruktionen der zweiten Erhebungswelle mit denen aus der ersten Welle verglichen. Ziel der Auswertung ist es abschließend, verschiedene Muster des
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Wandels des Passungsverhältnisses zwischen den schul- und bildungsbezogenen individuellen und kollektiven Orientierungen bei den einzelnen Fällen und mittels kontrastiver Vergleiche in einer Längsschnitttypologie herauszuarbeiten (vgl. ausführlich dazu Krüger et al. 2010). Zwei der auf diesem Wege erarbeiteten Fälle werden im Folgenden vorgestellt, da sich an ihnen besonders kontrastiv das jeweilige Interdependenzverhältnis von individuellen und kollektiven bildungs- und schulbezogenen Orientierungen zeigen lässt und ihre Auswirkungen auf die Bildungsbiografien der beiden Schüler. Anschließend werden diese in die gesamte Längsschnitttypologie, die in diesem Zusammenhang jedoch nur angedeutet werden kann, eingebettet.
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Zwei Fallbeispiele für die unterschiedliche Bedeutung von Peers für die schulische Bildungsbiografie und ihre Veränderung im Längsschnitt
Bei den im Folgenden vorgestellten Fällen handelt es sich jeweils um die Bildungsbiografien zweier Jungen und ihrer schulischen Freundesgruppen. Während in der Literatur nur Querschnittsergebnisse zum positiven oder negativen Einfluss der Peers vorliegen, können anhand dieser Studie auch Längsschnittperspektiven in den Blick genommen und Verläufe rekonstruiert werden. Die beiden Fälle unterscheiden sich zentral, indem die Freunde bei dem Fall Tim Hoogland 3 für die schulische Bildungsbiografie eine negative und beim Fall Martin Wick eine positive Funktion haben. Damit wird das in der Literatur vorhandene Spektrum um zwei sehr interessante Verhältniskonstellationen zwischen Peers und Schule empirisch erweitert.
4.1 Der Fall Tim Hoogland Der Fall Tim Hoogland repräsentiert längsschnittlich einen Typus, bei dem die Peers einen negativen Einfluss auf die schulischen Bildungsorientierungen des Jungen ausüben. So ist Tim ein guter Schüler an einem Gymnasium mit exklusivem Anspruch. Sein Notenschnitt hat sich in den vergangenen zwei Jahren nur leicht verschlechtert. Allerdings gab es einige zentrale Veränderungen in den schulischen Bildungsorientierungen des Falls. So hat seine Bildungsambition in 3
Alle Namen und Orte wurden anonymisiert.
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Form des Berufswunsches, Wissenschaftler werden zu wollen (vgl. Deinert 2008), deutlich auf das Minimalziel abgesenkt: „nicht sitzenbleibe[n] und das Abitur schaffe[n]“ (I: Tim 2. Welle, 596). Er verortet sich nicht mehr als leistungsstarken Schüler und weist eine deutliche Verunsicherung durch die Erfahrungen der vergangenen Schuljahre auf. So sieht sich Tim inzwischen stärker in der Abhängigkeit von der Vermittlungsleistung des Lehrpersonals, die er sich zuvor selbst zugeschrieben hat, und betrachtet die beiden vergangenen Schuljahre als Observationsmoratorium, in dem die Lernenden bereits auf ihre Leistungsfähigkeit hin überprüft wurden: „ähm die Lehrer ham noch nichh so (.) mh ja so viel Druck gemacht […] und ähm da fand ich das hier auch (.) n bisschen angenehmer von der Atmosphäre her […] dass die Lehrer erstmal so ähm (.) zum (.) ja (.) hm (3) [atmet aus] (2) ja dass die Lehrer erstmal herausfindn könn ähm wer so die besseren und wer so die schlechteren Schüler sind“ (I: Tim 2. Welle, 557-370). Die Schule ist inzwischen für Tim der wichtigste Ort für Peerkontakte, allerdings weniger für Spaß und Action, sondern eher als Raum für Freundschaften an sich und für die gegenseitige schulische Unterstützung. Dabei bleibt die solidarische und prosoziale Orientierung von Tim konstant. Ebenso bleibt auch seine Leistungsorientierung und Orientierung an sozialer Harmonie und Kontinuität bestehen, die er in seinem dörflichen Fußballverein umsetzen kann. Das DFB-Auswahltraining, an dem er in der ersten Erhebungswelle teilnahm, wurde hingegen aufgegeben. Auch sind die Freundschaftsbeziehungen im Fußballverein nicht mehr so zentral, weshalb Tim auf eine erneute Gruppendiskussion mit den Fußballfreunden verzichtete. Die Eltern – der Vater hat ein Studium absolviert, die Mutter eine Ausbildung – unterstützten Tim bei der Wahl eines Gymnasiums mit exklusivem Anspruch ebenso wie seinen jüngeren Bruder, der inzwischen ebenfalls die Schule besucht. Auch wollen sie ihrem Kind einen Auslandsaufenthalt ermöglichen. Die soziale Herkunft der beiden Schulfreunde Tims scheint etwas höher zu sein, da bei diesen beiden die Eltern über Abitur und Studienabschlüsse sehr renommierter Berufe verfügen und dort auch erfolgreich tätig sind. Die kollektiven Orientierungen der Peergroup stimmen wie auch in der ersten Welle nur teilweise überein. Das Schulthema ist für die Schulfreundesgruppe sehr ambivalent, da die Schule einerseits den einzigen gemeinsamen Erfahrungsraum darstellt und andererseits das Thema Schule für die Freundschafts- und Freizeitorientierung unerwünscht ist. Auf die Frage der Interviewerin zu ihren gemeinsamen Aktivitäten antwortet die Gruppe: „Fm: mh (2) [holt Luft] mmh okay dasss gute Frage (2) ähm (.) jetzt nur noch mal zummm Verständnis ¬hm Iw:
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¬ähm jetzt hier auf’m Hof oder
Fm: auch privat Iw:
¬allgemein alles kom- alles Fm: okay (2) Iw: ¬ wenn ihr halt so zusammen Zeit verbringt ¬mhh [räuspert sich] Fm: im JugendAm: ¬mhh Tm: ¬ja eigentlich schon Fm: ¬eigentlich selten oder? ¬naja zwei- dreimal Am: ¬naja Tm: Fm: ¬ja zwei-, dreimal im Jahr -oder so -“ (GD: Tim 2. Welle, 6-2) Auch das Thema gegenseitige Unterstützung in der Freizeit für die Schule ist unerwünscht und wird nur in der Schule als Erfüllung des Schülerjobs (vgl. Breidenstein 2006) thematisiert. „I:
hm okay und äh helft ihr euch gegenseitig bei schulischen Sachn? Fm: hm Tm: ¬nööijjoaaa ¬abschreibn Am: Fm: ¬ja aber wir schreiben zum Beispiel manchmaaal ¬Iw/Tm: Am: ¬immer Fm: Hausaufgaben ab (.) ähm halt wenn wir sie nicht zu Hause gemacht ham“ (GD: Tim 2. Welle, 562-569)
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Zudem lässt sich in der Peergroup sogar eine Verfestigung der Orientierung an kalkuliertem regelabweichendem Verhalten und Action feststellen: „Am: s war aber auch einmal in- in Geoarbeit Tm: ¬ja Am: da hat mir hat mir Willy oder sein ähh in Bio hat auch immer Tim mein Blatt ge-hab ich mal Tims Blatt gehabt einmal Tm: ¬genau Fm: ¬ja Tm: hat der sich so mein Blatt genomm Fm: ¬na ich hab ¬voll üAm: bersi-voll offensichtlich so sein Blatt hier genomm Fm: ¬jaa ich hab ich hab mir mal Felix Blatt genomm und da alles abgeschriebn“ (GD: Tim 2. Welle, 581-592) An die Orientierung der Freundesgruppe an einem unteren schulischen Mittelmaß haben sich Tims individuelle Orientierungen angeglichen. Eher passförmig stellt sich das solidarische Unterstützungsnetzwerk der Gruppe dar, das sie für die Bewältigung von schulischen Anforderungen und die Realisierung von sportlichen, aber verbotenen außerunterrichtlichen Aktivitäten bilden. Dazu gehört zum Beispiel das Fußballspielen zu verbotenen Zeiten auf dem Pausenhof. Damit stellen die Peers weiterhin eine Gegenwelt zur allerdings inzwischen abgesenkten höheren individuellen Leistungsorientierung von Tim dar. Der Fall Tim kann somit längsschnittlich als ein Fall charakterisiert werden, bei dem die ursprünglich höhere und exzellente Bildungsorientierung reduziert wird und die Peers sich in eine schulische und private Gegenwelt ausdifferenzieren.
4.2 Der Fall Martin Wick Ähnlich wie Tim Hoogland konnte auch Martin Wick dem in der ersten Auswertungsphase herausgearbeiteten Muster mit der Bezeichnung höhere schulische Bildungsorientierung und Peers als Gegenwelt zugeordnet werden. Martin besuchte damals die fünfte Klasse einer integrierten Gesamtschule, er hatte gute Schulnoten und strebte – dabei massiv unterstützt von seinen Eltern aus mittle-
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rem sozialem Milieu – als Bildungsabschluss das Abitur an. Seine schulische Leistungsorientierung dokumentierte sich dabei bereits in der zweiten Klasse: „da ham wer noch keine Noten gehabt, und ja da äh da hätte se ges- hat se gesacht, also ich hab se gefracht, was für ne Note hätte ich denn gehabt, wenn Sie uns Noten gegeben hätten; und da hat se gesacht, ich hätte ne Eins gehabt“ (I: Martin 1. Welle, 306-309). Zusammen mit seinem damals neuen Schulfreund Dirk war er eher Mitläufer und Randfigur in einer schulischen „Spaßkloppe“-Clique, deren Aktivitäten durch schulnonkonformes, spielerisch deviantes Verhalten gekennzeichnet waren. Geteilte mediale Freizeitaktivitäten sowie das Außenseitertum in der Schule begründeten ihre Freundschaft, während hingegen schulische Leistungen in der Freundesgruppe kaum diskutiert wurden, da Martin ehrgeiziger und leistungsorientierter als Dirk war und in der Peerkommunikation seine Schulleistungen nach unten korrigierte. Martins höhere schulische Bildungsorientierungen und die kollektiven schuldistanzierten Orientierungen seiner Peers standen somit in einem Konflikt- bzw. Divergenzverhältnis zueinander. Obwohl Martin in den vergangenen zwei Schuljahren an der Integrierten Gesamtschule neben guten auch vor allem aufgrund der festgestellten Legasthenie auch schlechtere Schulnoten bekommen hat, hält er weiterhin an dem Wunsch, das Abitur schaffen zu wollen, fest. Dabei weist er eine Leistungsorientierung auf, die eher aus einem Enaktierungspotential gespeist ist, Misserfolge zu vermeiden: „ich vasuche im Moment mehr weil in Deutsch hab ich jetz Angst weil die hat die Notn no nich gesacht und äh hat gesacht dass die Notn no nich festgelecht sind hab ich jetz Angst dass ich irgendwie ne schlechte Note kriege unnd vasuche da jetz alles Gute rauszuholn was ich noch kann (3) weil die hat uns alln damit gedroht irgendwie so dass wenn man mhh sich nich so viel (.) mündlich beteilicht dass man dann halt ne Fünf kricht“ (I: Martin 2. Welle, 663668). Damit versucht er den Bildungsaspirationen seiner Eltern gerecht zu werden, die ihn bei der schulischen Aufgabenbewältigung, z.B. bei den Hausaufgaben, weiterhin direkt unterstützen. In seiner Freizeit hat Martin den Reitsport intensiviert, indem er bei einem neuen Reitlehrer dreimal pro Woche trainiert. In seinen Freundschaftsbeziehungen hat er sich inzwischen von mehreren deviant und schulnonkonform orientierten Schulfreunden distanziert: „ja und sonst is nich viel wh ich vasuche ähm schulische Leistung vasuch ich gut zu machn; aso Arbeitn und sowatt vasuch ich nich zu vahaun manche vahaun die ja extra irgendwie warum weiß ich au nicht ja irgendwie ma so so Tests irgendwie so so so kleine Tests irgendwie so Musiktests oda sowatt //hm// ham die einfach kein Bock drauf und machn dit dann nich“ (I: Martin 2. Welle, 673-678). Martin bildet nun mit seinem neuen Freund Christian, der Klassenbester ist und
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dessen Vater einen höheren Bildungs- und Berufsstatus hat, eine schulische Außenseitergemeinschaft. „Mm: ehmso (3) wenn man ihn nich mitzä- äh wenn man (:) nur ihn meint dannn (.) is datn Streber Cm: °ja ich bin der Beste in der Klasse deswegen° I: der Allerbeste ja, Cm: hm Mm: na er schreibt fast überall Einsen Cm: °früher° Mm: früher, Cm: °jetzt mach ich immer unsinnige Fehler° Mm: ja ja ja jetzt sagen wer allet (3)“ (GD: Martin 2. Welle, 613-622) Das Strebersein wird vor allem durch die Klassenkameraden definiert und bei guten Noten droht sogar Gewalt, die die beiden Jungen durch Weitersagen von Ergebnissen und Lösungen sowie Fehlern in der eigenen Arbeit zu vermeiden suchen (s.o.): „I:
sprecht ihr (.) denn darüber was ihr so für Noten bekommt, (2) Mm: ja er aber nich so viel (.) weil er hat immer -Angst- dass er dann von Damian geschlagen wird -“ (GD: Martin 2. Welle, 996-998) Dabei ist die Schule für diese Freundschaftsdyade auch nicht positiv besetzt, sondern wird als Belastung und „Sklavenarbeit für Kinder“ (GD: Martin 2. Welle, 846) wahrgenommen. Andererseits versuchen sie jedoch den schulischen Leistungserwartungen zu entsprechen und sie unterstützen sich gegenseitig bei Arbeiten und Hausaufgaben: Cm: [räuspert sich] ja dann sagen wir uns das immer wo wir bei mir warn da hat er glaub Englisch gemacht? ¬mh (…) Mm: Cm: ¬ich hab Mathe gemacht weil er kann besser Englisch ich kann besser Mathe ¬qhm° I: Cm: ¬und dann ham-wir-das-halt abgeschrieben - (2) (GD: Martin 2. Welle, 978-984)
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Gemeinsame Freizeitpraxen finden vor allem in der Schule statt, z.B. durch die Teilnahme an der Zirkus-AG, oder sind zentriert auf kindliche spielerische Aktivitäten mit der Playstation oder Schlachten mit Softairwaffen bei gegenseitigen Hausbesuchen. Längsschnittlich betrachtet hat sich das Passungsverhältnis zwischen den individuellen Orientierungen von Martin und den kollektiven Orientierungen seiner Peers deutlich verändert. Im Vergleich zum in der ersten Untersuchungsphase am Fall Martin herausgearbeiteten Muster der Divergenz von höheren schulischen Bildungsorientierungen und Peers als Gegenwelt, lässt sich hier eine deutliche Transformation erkennen. Deutlich wird dies darin, dass Martin sich einen neuen schulkonformen und leistungsorientierten Freund gesucht hat, der zu seinen ambitionierten Bildungsorientierungen passfähig ist und mit dem er in seiner Freizeit eine Parallelwelt zur Welt der schulischen Leistung konstruiert.
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Die Längsschnitttypologie der Studie
Während die Fälle Tim und Martin eher Ausnahmen im Verhältnis der schulbezogenen Orientierungen von Heranwachsenden und ihren Gruppen darstellen, kristallisierte sich insgesamt bei der Analyse der insgesamt zehn Fälle aus der zweiten Erhebungswelle eine eher konstant gebliebene Homologie zwischen den schulischen Orientierungen der Jugendlichen und ihren Freunden heraus. Ein Vergleich der beiden vorgestellten Fälle zeigt jedoch, dass sich Tim durch seinen in den individuellen Orientierungen manifestierten ‚nachgeholten Sekundarstufenschock’ (vgl. auch Helsper/Kramer/Brademann/Ziems 2008), der durch die gestiegenen Leistungsanforderungen im Gymnasium von der fünften bis zur siebten Klasse entstand4, an dem eher geringeren schulischen Leistungsverhalten seiner Peergroup orientiert. Zudem finden gruppendynamisch in seiner Peergroup Prozesse statt, die für seine ehrgeizigen individuellen Bildungsambitionen hinderlich wirken. Währenddessen kann Martin als ein Beispiel für einen Typus gelten, bei dem die höheren individuellen Bildungsorientierungen dazu führen, dass die eher deviante und schulnonkonforme Peergroup zugunsten einer schulkonformen und leistungsorientierten Freundschaft verlassen wird.
4 Dieser findet sich auch bei den anderen Gymnasiasten Nadja und Melanie (s.u.) (vgl. auch Krüger/Deppe/Köhler 2010).
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Die Muster der Längsschnitttypologie werden jedoch nicht nur durch einzelne, sondern auch mehrere Fälle gestellt, die im Folgenden kurz erläutert werden sollen. Ingesamt wurden nach der zweiten Erhebungswelle des Projektes sieben Längsschnitttypen herausgearbeitet, die durch die ausgewerteten zehn Ankerfälle und ihre alten bzw. neuen Freundschaftsgruppen repräsentiert werden (vgl. die Muster und Ergebnisse aus der ersten Untersuchungswelle Krüger/Deppe 2008). Dabei gibt es vier Verlaufsmuster, bei denen sich das herausgearbeitete Passungsverhältnis zwischen den individuellen und den kollektiven Orientierungen in den vergangenen zwei Jahren nur partiell gewandelt hat. Drei weitere Verlaufsmuster sind dagegen durch eine grundlegende Transformation gekennzeichnet, zu denen auch die vorgestellten Fälle Tim und Martin gehören. Zu den Mustern, die durch einen partiellen Wandel geprägt sind, gehört zunächst das Längsschnittmuster „Ausdifferenzierung einer exzellenten Bildungsorientierung in Schule und Distinktion in der Peerwelt“. Dieses wird durch den Fall Nadja Tafel repräsentiert, die im Vergleich zum ersten Untersuchungszeitpunkt (vgl. Deppe 2008) durch eine leicht veränderte Bildungsorientierung am Prinzip des maximalen schulischen Erfolgs in den schulischen Haltungen ihrer neuen Schulfreundinnengruppe eine Entsprechung findet. Währenddessen hat sich auch durch die veränderte soziale Zusammensetzung ihrer beiden schulischen und außerschulischen Freundschaftsgruppen die ehemals stark ausgeprägte soziale Distinktion hin zu Abgrenzungen von kommerzialisierten, jugendkulturellen Phänomenen wie der medialen Unterhaltungskultur oder einem übertriebenen Modebewusstsein von Schulkameradinnen gewandelt (vgl. ausführlich zur Entwicklung der Längsschnittfälle und zur Musterbildung Krüger/Deppe/Köhler 2010). Ein weiteres durch partiellen Wandel geprägtes Muster konnte anhand des Falls Melanie Pfeiffer herausgearbeitet werden. So hat sich im individuellen Orientierungsrahmen von Melanie eine leichte Gewichtsverlagerung zugunsten der Peerbeziehungen und Gemeinschaftsorientierungen ergeben. Gleichzeitig sind Melanies ausgeprägte, wenn auch verunsicherte Leistungsorientierung in Schule und Leistungssport sowie ihr Interesse an Ästhetik, Mode und am anderen Geschlecht weiterhin relativ passförmig zu den kollektiven Orientierungen ihrer erweiterten Mädchenfreundschaftsgruppe in der Schule und der Showtanzgruppe. Vor diesem Hintergrund lässt sich das durch den Fall Melanie repräsentierte Längsschnittmuster als „Ausdifferenzierung leistungsbezogener Orientierungen in Schule und sportlicher Peerwelt“ charakterisieren (vgl. Krüger/Deppe/Köhler 2010). Ein drittes Muster partiellen Wandels wird durch die Fälle Kevin Ottnitschke, Chantal Hohmann und Umut Altinta repräsentiert. In der ersten Auswertungsphase stellten sie einen Typus dar, bei dem die individuellen Orientie-
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rungen an schulischen Leistungen auf mittlerem Niveau angesiedelt waren und die kollektiven Orientierungen der Peergroups harmonierten sowie die Welt der Peers eher eine Parallelwelt zur Welt schulischer Leistung war (vgl. auch Krüger/Deppe 2008, 211). Bei Kevin und Chantal stehen ihre inzwischen angestiegenen schulischen Bildungsorientierungen nicht im Konflikt mit den Orientierungen seiner dörflichen Jungenclique bzw. ihrer neuen am jugendkulturellen EMO-Style orientierten Schulgruppe, da diese Peers sich eher als eine Parallelwelt zur Welt schulischer Leistung begreifen. Sie lassen sich im Längsschnitt zu einem Verlaufsmuster zusammenfassen, das man als „Anstieg schulischer Bildungsaspirationen und Fortschreibung der Peers als Parallelwelt“ charakterisieren kann. Demgegenüber haben Umut Altintas Peerorientierungen eine deutliche Veränderung erfahren, so dass er sich im Längsschnitt einem Muster grundlegender Transformation zuordnen lässt (vgl. Krüger/Deppe/Köhler 2010). Zuletzt bilden Anna Blume und René Leutner das Verlaufsmuster „Fortschreibung bildungsferner Orientierungen und Verstärkung der Peers als Risikopotential“. So entspricht Annas schulentfremdete Haltung sowie ihre Gewaltund Medienorientierung auch den kollektiven Orientierungen ihrer neuen dörflichen Mädchenfreundschaftsgruppe. Dies gilt in ähnlicher Weise auch für René, der bei seiner schwierigen schulischen Bildungsbiografie inzwischen nicht mehr auf Peers als Unterstützungsnetzwerke zurückgreifen kann. Während sich Anna Blumes Leistungen kontinuierlich verschlechtert haben und sie deshalb auf den Hauptschulzweig einer Sekundarschule wechseln musste, konnte René seine Leistungen, allerdings auf einem sehr niedrigen Niveau, an der Hauptschule stabilisieren. Auch weist René trotz seines Bewusstseins für die Problematik gewalttätigen Verhaltens weiterhin im Allgemeinen eine Gewaltorientierung auf (vgl. Krüger/Deppe/Köhler 2010). Ganz anders stellt sich hierzu die Entwicklung des Passungsverhältnisses bei den durch die Fälle Tim Hoogland, Martin Wick sowie Aylin Demir bzw. Umut Altinta repräsentierten drei Längsschnittmustern dar, die durch eine grundlegende Transformation gekennzeichnet sind. So hat Tim seine anspruchsvollen höheren Bildungsaspirationen in den vergangenen zwei Jahren deutlich abgesenkt und an die geringeren schulischen Ambitionen seiner männlichen Schulfreunde angepasst (vgl. für ältere Jugendliche Combe/Helsper 1994), was sich zusammenfassend als „Reduzierung der höheren schulischen Bildungsaspiration und Verfestigung der Peers als Gegenwelt“, bei der die individuellen und die kollektiven Bildungsorientierungen in einem Spannungsverhältnis zu einander stehen, bezeichnen lässt. Umgekehrt hat Martin Wick sich inzwischen von mehreren devianten Schulfreunden distanziert und sich einen neuen schulleistungsorientierten Freund gesucht, der zu seinen ambitionierten Bildungsorientierungen passförmig ist und mit dem er in seiner Freizeit eine Parallelwelt zur
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Welt schulischer Leistung konstruiert. Zusammenfassend lässt sich dieser Fall also als Muster einer „Konstanz höherer schulischer Bildungsorientierungen und Wandel der Bedeutung der Peers von der Gegenwelt zur Parallelwelt“ kennzeichnen. Und bei Aylin Demir und Umut Altinta hat sich das in der ersten Auswertungsphase herausgearbeitete Spannungsverhältnis zwischen höheren schulischen Bildungsorientierungen und den schuldistanzierten Haltungen ihrer damaligen Freundschaftsgruppe noch weiter verstärkt, da ihre neuen schuloppositionellen Schulfreundinnen bzw. Schulfreunde inzwischen zu einem Risikopotential für ihre relativ erfolgreiche Bildungsbiografie in der Hauptschule geworden sind. Dieses dritte Längsschnittmuster grundlegender Transformation lässt sich als „Verschärfung der Divergenz zwischen höheren individuellen schulischen Bildungsorientierungen und den Peers als Risikopotential“ zusammenfassen (vgl. Krüger/Deppe/Köhler 2010).
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Fazit und Ausblick
Anhand der vorgestellten Fälle sollten die Pole der Bedeutung von Peers für die schulische Bildungsbiografie herausgestellt werden. Freunde und Gleichaltrige können diesen Darstellungen zufolge ganz erheblich auch die schulischen Bildungsorientierungen der Heranwachsenden beeinflussen und zwar auf positive wie negative Weise. Natürlich spielen zudem weitere Faktoren wie das allgemeine Schulklima und ganz besonders die Voraussetzungen des Elternhauses, um nur einige zu nennen, ebenfalls in die spezifische Entwicklung von schulund bildungsbezogenen Orientierungen bei jüngeren Jugendlichen hinein. Dazwischen liegen jedoch, wie die in aller Kürze dargestellte Längsschnitttypologie zum Passungsverhältnis zwischen den individuellen Orientierungen der Heranwachsenden und den kollektiven Orientierungen ihrer Freundschaftsgruppen zeigen sollte, unterschiedliche Varianten des Stellenwerts der Peers für die schulische Bildungsbiografie. Zugleich zeigt sich, dass sich die unterstützende Funktion der Peers mehr auf die sozioemotionale Verarbeitung schulischer Leistungsanforderungen, statt auf tatsächliche Leistungsunterstützung bezieht. In dieser Hinsicht stellen die beiden vorgestellten Fälle Tim und Martin und der tatsächlichen negativen wie positiven Einflussnahme der Peers auf deren schulische Bildungsbiografie bezüglich der Leistungserbringung eher eine Ausnahme dar. Dabei überrascht, dass trotz einer generellen Bedeutungszunahme der Peers, der Intensivierung von Freundschaftsbeziehungen, der Erweiterung und des Wechsels von Freundschaftsgruppen sowie des punktuellen Eintritts in eine
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jugendkulturelle Gruppe (bei Chantal) sich die Bedeutungshorizonte der Peers für sieben der zehn untersuchten Ankerfälle in den vergangenen zwei Jahren nur partiell gewandelt haben. Die Peers sind weiterhin eher institutionelle Begleiterinnen (bei Nadja), inhaltliche und emotionale Unterstützerinnen einer bisher erfolgreichen gymnasialen Schullaufbahn (bei Melanie), eine Parallelwelt zur Schule (bei Kevin und Chantal), eine noch ambivalenter gewordene Gegenwelt zur Welt schulischer Leistung (bei Tim) oder ein noch größerer Risikofaktor für die weitere, bislang wenig erfolgreiche Bildungslaufbahn (bei Anna und René). Lediglich bei Martin sowie bei Aylin bzw. Umut hat sich eine größere Bedeutungsverschiebung der Peers für die schulische Bildungsbiografie ergeben. So ist Martin inzwischen nicht mehr in die Gegenwelt einer schulischen „Spaßkloppe“-Clique eingebunden, sondern mit einem leistungsstarken Jungen befreundet, der ein Unterstützungspotential für seine erfolgreiche Schulkarriere in der Integrierten Gesamtschule bietet. Umgekehrt stellen die neuen Schulfreundinnen bzw. -freunde von Aylin und Umut in der Hauptschule mit ihren schulentfremdeten Haltungen nun ein Risikopotential für deren höhere schulische Bildungsaspirationen dar (vgl. zum Problempotential der normativen Kultur von Peer-Gruppen an Hauptschulen Baumert/Stanat/Watermann 2006, 145). Weiterhin sind nicht nur die schulischen (vgl. Oswald 2008; Chen/Chang/He 2003), sondern auch die außerschulischen Freundschaftsgruppen der untersuchten inzwischen circa 13-jährigen Heranwachsenden immer noch eher sozial homogen. Zwar sind in Nadjas neuer gymnasialer Schulfreundinnengruppe neben Mädchen aus akademischem Familienkontext auch solche aus mittleren sozialen Milieus vertreten oder in Chantals neuer schulischer Freundschaftsgruppe an der Integrierten Gesamtschule, die sich am jugendkulturellen Stil der EMOs orientiert, sind Mädchen und Jungen, die aus Elternhäusern mit mittleren und höheren Bildungsabschlüssen stammen. Dies gilt in ähnlicher Weise auch weiterhin für die Mädchen aus Melanies Leistungssportlerinnengruppe. Stärker sozial heterogen zusammengesetzte Freundschaftsgruppen haben wir in unseren Analysen bislang nur punktuell am Gymnasium, in der Integrierten Gesamtschule sowie in der sozialen Welt der Sportvereine gefunden. Bei der erwartbaren ausgeprägteren Suche nach außerschulischen Peerbeziehungen im Jugendalter (vgl. Fend 2005; Pfaff/Krüger 2006) ist jedoch zu vermuten, dass sich die bisherigen leichten Verschiebungen des Zusammenhanges zwischen familialer Herkunft, Schulleistungsstatus und der Art der sozialen Peereinbindungen weiter verstärken werden. Und in diesem Rahmen könnten sich auch neue Längsschnittmuster herausbilden, z.B. Peeraktivitäten und orientierungen, die eine erfolgreiche gymnasiale Bildungskarriere grundlegend gefährden oder umgekehrt eine schwierige Schulkarriere in der Hauptschule unterstützen oder sogar kompensieren (vgl. du Bois-Reymond 2007), die wir in
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unseren bisherigen Längsschnittanalysen bei den Altersgruppen der 11- bis 13Jährigen nur in Ansätzen bzw. noch gar nicht gefunden haben.
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Problemaufriss: Jugendliches (Nicht-)Lesen
„Sind deutsche Schüler doof?“ fragte der Spiegel im Dezember 2001 auf seinem Cover. Spätestens seit den Ergebnissen von Large Scale-Studien wie PISA 2000, auf die sich das Hamburger Wochenmagazin im Winter 2001 bezieht, und DESI 2003/2004 wissen wir in Deutschland, dass wir ein Problem mit der Lesekompetenz1 von Jugendlichen am Ende der Pflichtschulzeit haben. So erbrachte die erste PISA-Studie (Programme for International Student Assessment) das wenig schmeichelhafte Ergebnis, dass ein knappes Viertel aller getesteten 15Jährigen die als Mindeststandard gesetzte Lesekompetenz nicht erreicht, die Leistungen streuten so breit wie in keinem weiteren Land, und zwei von fünf Jugendlichen lesen nicht zum Vergnügen (vgl. Artelt et al. 2001, 104-108, 114). Die Längsschnittstudie DESI (Deutsch Englisch Schülerleistungen International) zeigte uns, dass 68 % der untersuchten Neuntklässer aller Schularten allenfalls dazu in der Lage sind, aus einem Text sinntragende Wörter zu entnehmen; 4% schaffen nicht einmal das. Mehr noch: Im Laufe eines Schuljahres ließ sich beobachten, dass es kaum noch einen Zuwachs an Lesekompetenz gibt – und wenn, dann am ehesten bei Mädchen aus Gymnasien, während die Leistungen der Jungen stagnieren und, je tiefer man sich in den ‚Bildungskeller‘ begibt, sogar noch abnehmen (vgl. Gailberger/Willenberg 2008, 65-68). Mit dem mangelnden Können gehen anscheinend ein Mangel an Lesemotivation2 und eine wenig ausgeprägte Lesepraxis einher. Exemplarisch sei eine 1
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Zwar wird der Begriff Lesekompetenz je nach Studie und Disziplin sehr unterschiedlich definiert, und es gibt hier einen deutlichen Fokus auf kognitive Prozesse, aber er lässt sich allgemein auffassen als „Disposition, die Personen befähigt, bestimmte Arten von text- und lesebezogenen Anforderungen erfolgreich zu bewältigen“ (Artelt et al. 2005, 11). Konsens besteht darüber hinaus, dass Leser Bedeutung aktiv anhand des Textes ko-konstruieren: „Lesen ist kein passiver Prozess der Bedeutungsentnahme, sondern stellt eine aktive Konstruktionsleistung des Individuums dar, bei der die im Text enthaltenen Inhalte aktiv mit dem Vor- und Weltwissen des Rezipienten in Verbindung gesetzt werden“ (ebd.). Hinsichtlich des Begriffs muss hier eine Erläuterung erfolgen: Eine habituelle Lesemotivation bildet sich aus, wenn wiederholt sog. ‚aktuelle Lesemotivationen‘ auftreten. Darunter wird das
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Typologie von Freizeitbuchlesern angeführt, die Gattermaier für seine von ihm 1999 befragten knapp 1.700 Achtklässler aus Bayern und Sachsen gebildet hat. Ein Viertel der 13-15-Jährigen liest habituell Bücher, ein Drittel kaum oder wenig, und wenn man die Geschlechter vergleicht, so ist jedes dritte Mädchen eine habituelle Bücherleserin, während das nur auf jeden siebten Jungen zutrifft; umgekehrt ist die Hälfte der Jungen ein Wenig- oder Nichtbuchleser, aber nur jedes fünfte Mädchen (vgl. Gattermaier 2003, 160-162, zu Befunden nach Schulart und Sozialstatus vgl. ebd., 165-183). In einer etwa zeitgleich durchgeführten anderen Studie mit ca. 4.000 bayrischen SchülerInnen im Alter von 10 bis 17 Jahren resümiert Bofinger (2001, 184) bezogen auf die Leseaktivitäten: „Krasser hätte der Unterschied zwischen den verschiedenen Schularten und Jahrgangsstufen, den beiden Geschlechtern und unterschiedlicher Muttersprache (und Nationalität) nicht ausfallen können. Der jugendliche Leser ist typischerweise eine junge deutschsprachige Gymnasiastin.“ Nun ist die ‚typisch deutsche‘ Sorge um das jugendliche Lese- und Medienverhalten bekanntermaßen kein neues Phänomen, sondern eine erwartbare Begleiterscheinung gerade bei der Etablierung neuer Medien (vgl. Kerlen 2005). Was dem Thema Lesen aber seine besondere Brisanz verleiht, ist, dass trotz all der unterschiedlichen Definitionen Lesekompetenz als ‚Schlüsselqualifkation‘ für gesellschaftliche Teilhabe und privates Fortkommen gilt. Damit gewinnt die Frage ums Lesen eine gewissermaßen existenzielle Bedeutung, denn Lesen ist mit dem Erwerb von Bildungsabschlüssen, dem lebenslangen Lernen und der Zuteilung von Plätzen in der Gesellschaft aufs Engste verknüpft. Und weil die Defizite besonders in der Sekundarfstufe I zu beobachten sind, in einer Phase also, in der die Peers an Relevanz gewinnen, lohnt es sich, der Frage nachzugehen, ob sie einen Einfluss auf das Lesen haben. Dies wird umso dringlicher, als bekannt ist, dass die Jugend eine der entscheidenden Zeiträume in der Lesesozialisation ist. Der Frage nach dem Zusammenhang von eigenem und dem Lesen der Peers in der Jugend will dieser Beitrag nachgehen.
„Ausmaß des Wunsches oder der Absicht, in einer bestimmten Situation einen spezifischen Text zu lesen“, gefasst (Artelt et al. 2005, 19). Motivationen können ‚intrinsisch‘ oder ‚extrinsisch‘ sein: „Intrinsische Motivation wird definiert als Bereitschaft, eine Aktivität durchzuführen, weil die Aktivität für sich selbst befriedigend bzw. belohnend ist“, was sowohl am Interesse am Text (gegenstandsspezifischer Anreiz) oder am Lesen an sich (tätigkeitsspezifischer Anreiz) liegen kann (ebd.). Von extrinsischer Motivation spricht man, „wenn die Gründe für das Lesen außerhalb der Tätigkeit des Lesens selbst und außerhalb des Themas des Textes liegen“ (ebd.). Es geht also um antizipierte Folgen des Lesens, die wahlweise angestrebt (z.B. Anerkennung in Form eines Lobes durch den Deutschlehrer) oder vermieden (etwa eine schlechte Note) werden. Oft wird in der gegenwärtigen Diskussion unter ‚Lesemotivation‘ oft die intrinsische, habituelle und tätigkeitsspezifische aufgefasst, ohne dass das deutlich gemacht wird.
Peers und Lesen
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Dazu werden zunächst Ergebnisse der lesebiografischen Forschung präsentiert. Diese liefern Hinweise darauf, in welchen Phasen eine (gelingende) Lesesozialisation verläuft und wann die gleichaltrigen Freundinnen und Freunde Einfluss zu nehmen beginnen (Abschnitt 2). Im darauf folgenden Abschnitt 3 werden einige ausgewählte Hypothesen und Befunde aus der bislang nur spärlich vorhandenen Empirie vorgestellt. Hier geht es vor allem um die Lesemotivation, deren Verlust eines der gravierendsten Probleme ist, vor welchem speziell die Schule steht. In diesem Zusammenhang wird zusätzlich das Verhältnis von Peers zu Schule und Familie in der Lesesozialisation angerissen, denn es bestehen Vermutungen darüber, dass das Lesen über die ‚weibliche Linie in der Lesesozialisation‘ das Prädikat weiblich und/oder als schulische Pflichtveranstaltung einen anderen negativen Beigeschmack erhält, was dann für die PISA-Risikogruppe (Jungen aus bildungsfernen Milieus, z.T. mit Migrationshintergrund) besonders prekär werden könnte. Im Abschnitt 4 werden schließlich Forschungsdesiderata und -perspektiven konturiert.
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Wege zum Lesen – Erkenntnisse der Lesebiografie-Forschung
Wie wird man zur Leserin oder zum Leser? Dies ist die Kernfrage der Lesesozialisationsforschung, die jene Prozesse ins Visier nimmt, „die auf individuellbiografischer Ebene zur Entwicklung der Fähigkeit, Motivation und Praxis führen, geschriebene Sprache im Medienangebot zu rezipieren“ (Rosebrock 2006, 443). Da hierzulande kaum Längsschnittuntersuchungen zu der Entwicklung von Lesekarrieren vorliegen, ist es nötig, die Ergebnisse der methodisch tlw. anfechtbaren Lesebiografie-Forschung anzuführen, die zudem – wie der Großteil der hiesigen Leserforschung – recht ‚buch- bzw. belletristiklastig‘ ist. Zwar verändern sich derzeit das Lesen, die Lesemedien und damit die Anforderungen an die Leser (vgl. Bertschi-Kaufmann/Härvelid 2007), aber für den Erwerb von Schriftsprachlichkeit ist die oft in Buchform zu findende „Kinderliteratur (…) faktisch auch in der gegenwärtigen Medienlandschaft das zentrale Medium“ (Rosebrock 2006, 444). Auch das ist ein Ergebnis der Lesebiografie-Forschung, bei der in der Regel schriftliche retrospektive Selbstauskünfte von jungen Erwachsenen (in der Regel Lehramtsstudierenden, also tendenziell Angehörigen der Mittelschicht) analysiert werden. Aus dem rekonstruierenden Vergleich von Hunderten solcher autobiografischen Texte lassen sich dann Stationen der Lesesozialisation ermitteln – und ebenso, ob Peers in diesen Phasen wichtig sind. In der frühen Lesesozialisation in der Kindheit spielt v.a. die Familie und hier die Mutter eine Rolle. Oft ist sie es, die vorliest, Reime spricht, mit dem Kind singt oder auch für den Nachwuchs beobachtbar liest und damit den
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Grundstein für die Entwicklung von Lesemotivation legt. Kommen die Kinder in die Schule und meistern dort erfolgreich den anspruchsvollen Schriftspracherwerb, sind im besten Fall Lesen-Wollen und -Können vereint und ermöglichen die sog. „lustvolle Kinderlektüre“, in der Kinder literarische Texte stark identifikatorisch und emotional involviert lesen, in die Geschichten abtauchen und nebenbei Leseflüssigkeit und -verständnis erhöhen. Dieses ‚goldene Lesezeitalter‘ endet in einer Buch- bzw. genauer: Belletristik-Lesekrise am Ende der Kindheit, in der das Lesen unstet wird oder ganz aufhört. Vermutlich durch körperliche und psychische Reifungsprozesse bedingt, durchschauen die Heranwachsenden die seriellen Plots, die zudem die neuen Bedürfnisse nicht mehr recht befriedigen können. Vom Ausgang dieser Krise, die sowohl die Lesekompetenz als auch die -motivation betrifft, hängt es zwar nicht unveränderlich, aber doch sehr maßgeblich ab, wie die Lesesozialisation weiter verläuft. Grundsätzlich sind drei große Entwicklungsstränge in der Jugend beobachtbar: a) der Abbruch des Lesens im Allgemeinen und des literarischen Lesens im Besonderen, der besonders unter Jungen zu beobachten ist (s.o. die Befunde von Gattermaier); b) die Zuwendung zum Sachtext-Lesen, die ebenfalls ein männliches Phänomen ist; c) die Fortsetzung des belletristischen Lesens v.a. bei den Mädchen (vgl. Graf 1995, 99-115). Bereits in der Phase der Kinderlektüre lassen sich Indizien für einen PeerEinfluss finden: Kinder tauschen Bücher, unterhalten sich über sie und spielen Gelesenes nach (vgl. Graf 2007, 45). Im Umfeld der Lesekrise und spätestens im Jugendalter wird der Peer-Einfluss vermutlich massiv; Graf zufolge werden sie jetzt „zur einflussreichsten Instanz“ in der Lesesozialisation (ebd., 83). Die Jugend ist auch jene Phase, in der sich die sog. „Lesemodi“ herausbilden. Dabei handelt es sich um in der Lesesozialisation erworbene „Handlungsdispositionen, die spezifische Rezeptionsweisen ermöglichen, um Texte subjektbezogen zu verstehen“ (ebd., 127). Insgesamt sieben solcher Leseweisen hat Graf phänomenologisch beschrieben, und über sie alle flexibel verfügen zu können, kann als Ziel einer gelingenden Lesekarriere bezeichnet werden. Drei Modi sind in der Jugend besonders relevant, und sie verteilen sich auf die Geschlechter: Mädchen lesen vor allem im intimen Modus, der der Kinderlektüre ähnelt und in dem es der lesenden Person primär um Emotionen und das Leseerlebnis und den -genuss geht; Beispiele sind Lektüren von Krimis, Thriller und (trivialen) Liebesromanen sowie Horrorliteratur. Jungen lesen hingegen häufiger im Modus Konzeptlesen, um lesend sachbezogene Interessen zu realisieren und so zum Experten zu werden, z.B. bei historischen Themen. Für beide Geschlechter ist ein weiterer Lesemodus typisch: das partizipatorische Lesen, d.h. das Lesen zur Teilhabe an öffentlicher und privater Kommunikation, wobei ersteres eher bei Jungen und letzteres eher bei Mädchen zu finden ist; insgesamt realisieren diesen
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Modus aber praktisch alle von Graf untersuchten Personen (vgl. ebd., 129-143). Auch wenn die Entwicklungsstränge und die schematische Aufteilung der Lesemodi auf die Geschlechter es vermuten lassen, so sind Lesemodi nicht auf bestimmte Textsorten und/oder Geschlechter beschränkt. Auch Jungen lesen intim Sachtexte, und auch Mädchen lesen interessengeleitet Romane, um Wissen zu sammeln (vgl. ebd., 94-106). Resümierend lässt sich festhalten, dass Peers nach Familie und Schule als dritte Lesesozialisationsinstanz in Erscheinung treten – und das in einer Phase, in der das Leseverhalten sich nachhaltig verändert, ausdifferenziert oder auch ganz aufhört. Dieser Effekt wird, wie bei den Hauptentwicklungssträngen und Lesemodi erkennbar, moderiert vom Geschlecht, und die Differenzen zwischen Jungen und Mädchen sind empirisch gut belegt. Knapp zusammengefasst lesen Mädchen mehr, lieber, besser, auf andere Art und andere Texte als Jungen (vgl. Philipp/Garbe 2007). Neben diesen Einfluss des Geschlechts tritt der der Herkunft. Betrachtet man so wie Pieper et al. (2004) die Lesesozialisation von ehemaligen HauptschülerInnen, lassen sich eklatante Unterschiede zum oben beschriebenen Schema feststellen. Die Differenzen betreffen vordergründig die Praxen und die Motivation der Jugendlichen, mit Sicherheit ist zudem die in den Ausführungen bislang randständige Lesekompetenz betroffen. Die erste PISAStudie hat eindrucksvoll gezeigt, dass sich die Risikogruppe mit extrem geringen Testergebnissen in der Lesekompetenz anhand der drei Merkmale männliches Geschlecht, Migrationshintergrund und bildungsferner Herkunft beschreiben lässt (vgl. Stanat/Schneider 2004). Diese sich auf Geschlecht und soziale Herkunft reduzierbaren Faktoren spielen vermutlich auch beim Einfluss der Peers auf das Lesen eine Rolle; hier ist aber nicht klar, ob Schicht- oder Geschlechtzugehörigkeit das größere Gewicht haben (vgl. Groeben/Schroeder 2004, 331). Ebenso wie diese Frage sind viele weitere zum Einfluss der Peers auf das Lesen ungeklärt; dieser Thematik widmet sich der folgende Abschnitt.
3
Hypothetisches und Empirisches zur Relevanz von Peers im Bereich des Lesens
Es ist nur wenig, was man über den Einfluss der Peers auf das Lesen weiß, entsprechend groß ist die Forschungslücke: Fragen zu den Peers bzw. Freunden, was nicht gleichbedeutend ist, laufen oft in Studien mit und bilden bisher kaum einen eigenständigen Schwerpunkt. Vermutungen und Hypothesen überwiegen daher die spärliche Empirie. In diesem Abschnitt werden zwei Hypothesenbündel vorgestellt und, wo möglich, mit Empirie unterfüttert.
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x Hypothesenbündel 1: lang- und kurzfristige Einflüsse der Peers. Rosebrock (2004, 252) unterscheidet in einen kurzfristigen, direkten Einfluss der Peers auf die Lesemotivation und die Texte, die jemand liest, und einen langfristigen, indirekten, der sich auf Lesehaltungen und die Lesekompetenz auswirkt. Bei beiden Arten des Einflusses spielt die vor- und nachbereitende Anschlusskommunikation, in der Medieninhalte angeeignet und mit persönlicher Bedeutung versehen werden, vermutlich eine besondere Rolle für die Lesemotivation und die Leseaktivitäten (vgl. ebd., 274). x Hypothesenbündel 2: der Einfluss von Geschlechts- und Schichtzugehörigkeit auf Peer-Dynamiken. Groeben und Schroeder vermuten, dass es einen Engelskreis bei weiblichen Mittelschicht- und einen Teufelskreis bei männlichen Unterschicht-Peer Groups gibt. Im Falle des Teufelskreises erscheint der Gruppe Lesen als Teil einer ungeliebten, schulischen Lernwelt, von der sie sich distanziert und Lesen zugunsten audiovisueller Medien aus dem Freizeitmenü streicht. Die Gruppenmitglieder nutzen sowohl zur Unterhaltung als auch zur Bewältigung von Entwicklungsaufgaben das Lesen nicht (mehr), entsprechend mangelt es an Gelegenheiten zur Anschlusskommunikation. Nicht zu lesen gerät mehr und mehr zum Teil der Gruppen- und persönlichen Identität. Beim Engelskreis erscheint das Lesen nicht als rein schulische Pflichtveranstaltung, sondern auch als Weg, sich über Lesestoffe von Erwachsenen zu emanzipieren und trotzdem weiterhin Freude am Lesen zu haben. Die Peers bieten Leseanregungen und einen Rahmen für Anschlusskommunikation, in der das Textverstehen elaboriert werden kann. Auch Entwicklungsaufgaben können individuell mit Lektüren bearbeitet werden. Insgedamt ist ein lesefreundliches Gruppenklima die Folge (vgl. Groeben/Schroeder 2004, 331-333). Dazu passt Rosebrocks Hypothese, die Peers seien in der Mittelschicht beim Ausgang der Lesekrise als „entscheidende Instanz“ zu betrachten (2004, 275). Ebenfalls stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, ob unterschiedliche Funktionen von Freundschaften für Jungen und Mädchen die nur kursorisch wiedergegebenen Dynamiken im Kreis der Peers (mit)beeinflussen (vgl. dazu Pieper/Rosebrock 2004). Die beiden Hypothesenbündel bilden bei Licht betrachtet einzelne größere Forschungsprojekte, und gerade über das zweite ist bislang praktisch nichts empirisch gesichert, sodass an dieser Stelle keine Ausführungen dazu erfolgen können. Besser, wenn auch keineswegs befriedigend ist die Forschungslage hinsichtlich des ersten Bündels. Der kurz- und langfristige Einfluss wird im Abschnitt 3.1 behandelt, während im Abschnitt 3.2 noch einige allgemeine Überlegungen zu den Prozessen mit Blick auf das Geschehen in Familie und Schule angestellt werden.
Peers und Lesen
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3.1 Kurz- und langfristige Peer-Einflüsse auf das Lesen Relativ gut dokumentiert ist die Ko-Orientierung untereinander, was die Lesestoffe betrifft: Jugendliche lesen, was ihre Peers ihnen empfehlen und sprechen auch mit ihnen darüber, und zwar sowohl bei Büchern (vgl. exemplarisch Böck 2000, 113; Bucher 2004, 161; Gattermaier 2003, 338), als auch bei Periodika wie Zeitschriften (vgl. Roch 2006, 181f.) und Zeitungen (vgl. Rager/Rinsdorf/Werner 2002, 180f.; Graf-Szczuka 2007, 171f.). Die Häufigkeit der Anschlusskommunikation über Printmedien liegt indes deutlich unter der über audiovisuelle und auditive Medien, wie Treumann et al. (2007, 136) bei 12-20-Jährigen zeigen: 11% unterhalten sich manchmal oder häufig über Comics mit Freunden, 25% über Bücher, 32 % über Zeitungen und über 40% über Zeitschriften – zum Vergleich: Der Wert fürs Fernsehen liegt bei 83%. In der Frequenz der Anschlusskommunikation bestehen laut JIM-Studie im Jahr 2005 (MPFS 2006, 54) Differenzen zwischen Jungen und Mädchen: Sie betreffen weniger die Zeitungs- und Zeitschriftengespräche (mit 27 bis 32%) als die über Bücher: 18% der Mädchen reden täglich oder mehrmals in der Woche mit Peers über Bücher, aber nur 9% der männlichen 12-19-Jährigen. Umgekehrt spricht jeder zweite Junge (48%) mit seinen Peers über Computerspiele, aber nur jedes zwölfte Mädchen (8%). Printmediengespräche sind also im Allgemeinen und bei Jungen im Besonderen eher randständig. Befunde liegen inzwischen auch zur Relevanz der Peers für die Lesemotivation vor, zunächst nur für Fünftklässler, dafür aber aus zwei Längsschnittstudien bzw. deren ersten Messzeitpunkten. Möller und Retelsdorf (2007) konnten im Rahmern der Studie LISA (Lesen in der Sekundarstufe) zeigen, dass der Stellenwert des Lesens bei den Peers sowohl das Leseselbstkonzept (Lese ich gut?) und noch sehr viel stärker die Leselust (Lese ich gern?) rechnerisch positiv beeinflussen. Im Rahmen einer eigenen Studie mit dem Titel PEER (Peer Effects on Early Adolescent Reading) konnte mittels einer Regressionsanalyse nachgewiesen werden, dass der Einfluss der Leseorientierung in der Clique über bekannte Faktoren (Schulart, Geschlecht, Migrationshintergrund, familales Leseklima und Schulfreude) hinaus die Lesemotivation vorhersagt (vgl. Philipp 2008, 128). Die Leseaffinität der Peer Group-Mitglieder ist ein starker Prädiktor, insbesondere bei Mädchen. Schaut man sich an, wie lese(un)freundlich die Cliqen der 10-11-Jährigen sind (Abbildung 1), offenbart sich, dass doppelt so viele Fünftklässler sich in leseaffinen Peer-Kontexten aufhalten wie in leseungünstigen (29,9 vs. 15,3%; bei mehr als der Hälfte liegen die Werte dazwischen). Dahinter verbergen sich enorme Unterschiede zwischen den Geschlechtern und Schularten – die Peer-Leseumfelder von Mädchen und GymnasiastInnen sind am lesefreundlichsten. In der Kombination der beiden Merkmale
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Schulart und Geschlecht ist auffällig, dass sich mehr als jeder dritte Hauptschüler (37,5%) in einer Peer Group aufhält, die kein gutes Lesemilieu darstellt, aber keine einzige Gymnasiastin. Dafür sind bei ihnen fast zwei Drittel in lesefreundliche Cliquen integriert (62,2%), was nur bei einem von zehn Hauptschülern der Fall ist (9,4%). Abbildung 1:Leseorientierungen von Cliquen 10-11-Jähriger (Angaben in %)
Quelle: Philipp 2008, 106 Weitaus weniger ist bekannt ist über den Einfluss der Peers auf die Lesekompetenz. Möller und Retelsdorf (2007) konnten in ihrem Strukturgleichungsmodell keinen Nachweis erbringen, dass der Stellenwert des Lesens bei den Peers außer der Leselust und dem -selbstkonzept (in Klasse 5) auch die Leseleistung (in Klasse 6) vorhersagt. Bei einer Regressionsanalyse der PISA 2000-Daten ermittelte Meier (2004, 210), dass die Einbindung in leseorientierte Cliquen mit höherer Lesekompetenz einhergeht – allerdings nur bei Mädchen. Jungen profitieren nach den Ergebnissen Meiers nicht in ihrer Lesekompetenz davon, ob sie gern lesende Peers haben. Bei Mädchen hingegen ist der rechnerische Einfluss so groß, dass er den negativen Einfluss des Migrationshintergrunds aufheben könnte. Da es sich bei PISA um eine Querschnittstudie handelt, sollte jedoch nicht aus dem Blick geraten, dass über kausale Zusammenhänge keine Angaben gemacht werden können. Auch deshalb ist hier noch ein äußerst großer Bedarf an Studien zu attestieren. Der Einfluss der Peers auf Lesehaltungen oder auch -modi ist bereits im Abschnitt 2 und beim Thema Lesemotivation angesprochen worden. Lesehal-
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tungen und -modi sind Ergebnisse der Lesesozialisation, und da sich die Lesemodi in der Jugend ausdifferenzieren, könnten Peers hierfür mitverantwortlich sein. Ein starkes Indiz dafür ist das Datum, dass sich – vermutlich im Kreis der Peers – das partizipatorische Lesen entwickelt, das Graf (2007, 133) als den „wichtigsten Lesemodus“ von Jugendlichen und „zweifellos (…) als Errungschaft der Jugendphase“ bezeichnet.
3.2 Der Einfluss von Kontextfaktoren auf Peer-Dynamiken Die im Abschnitt zuvor angesprochenen Einflussbereiche thematisieren die Wirkungen der Peers und blenden die Prozesse weitgehend aus, d.h. es fehlt an einer Explikation, auf welche Art welche Interaktionen zu einer bestimmten Veränderung führen. So ist die Anschlusskommunikation bislang nur in ihrer Quantität, nicht aber in ihrer Qualität Gegenstand der Betrachtung geworden, und auch hier klafft die Forschungslücke unübersehbar. Ob und wie über welche (Print-)Medien mit den Peers gesprochen wird, hängt mindestens teilweise von den Kontextfaktoren ab. Neben dem Geschlecht und der Schichtzugehörigkeit haben auch die Erfahrungen in Familie und Schule einen Einfluss auf die PeerDynamik, und diese Faktoren sind nicht für sich isoliert zu betrachten, sondern bilden ein komplexes Wirkgeflecht. In den folgenden Ausführungen wird der Fokus auf die Problemgruppe bildungsferne Jungen (mit Migrationshintergrund) gerichtet, da sie auf zwei Arten gehandicapt zu sein scheint. Erstens gibt es die sog. ‚weibliche Leselinie‘, die zum Problem der männlichen Geschlechtsidentität als Leser werden könnte. In der Kindheit sorgen Frauen für die Literarisierung (die Mütter im prototypisch positiven Fall über Vorlesen etc.) und Literalisierung (die Grundschullehrerinnen für den Schriftspracherwerb). Zusätzlich sind Kinder bis zum Alter von ca. zehn Jahren von erziehenden Frauen abhängig; für Jungen aus bildungsfernen Milieus kommt hinzu, dass sie in ihren Familien kaum auf gesellschaftlich erfolgreiche männliche Rollenvorbilder stoßen, die sie für die Entwicklung einer gesellschaftlich anschlussfähigen, modernen Geschlechtsidentität benötigen. Da Jungen sich von den Verhaltensangeboten der Frauen unterscheiden wollen und müssen, haben Jungen aus bildungsfernen Schichten ein Problem. Denn zu „diesem weiblichen Angebot gehört auch alles, was mit Bildung im engeren Sinne assoziiert wird: das Lesen, das Schreiben, das Rechnen. Weil es mit dem Weiblichen in Verbindung gebracht wird, kann es für sie keine wirkliche Relevanz haben“ (RabeKleberg 2005, 146). Die Konnotation von Lesen als weibliche Tätigkeit wird umso prekärer, wenn man sich die Rolle der Peers bei der Ausbildung der Geschlechtsidentität in Erinnerung ruft:
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„Sie [die Peers] führen zu einem gewissen Anpassungsdruck, welcher besonders deutlich wird, wenn Mädchen oder Jungen gegen geschlechtsspezifische Normen verstoßen und dann explizite Sanktionen erfahren. Die Peers, und dies trifft im Falle von Jungen viel stärker zu als bei Mädchen, übernehmen in diesem Sinne eine Art Polizeifunktion“ (Schmalzhaf-Larsen 2004, 41; Hervorh. MP).
In diesem Prozess, in dem Geschlechterrollenstereotype eine bedeutsame Rolle spielen, scheinen familiale Dynamiken mitzuwirken, indem sie die Selbstsozialisation im Kreis der Peers hin zu einem eindeutig männlichen Gebaren (ohne das Lesen) vorbereiten. In einer Schweizer Studie mit Neuntklässlern kommen die Autoren zu diesem Ergebnis: „Bei den Jungen haben wir sehr deutlich erkennen können, dass die Geschlechterrollenstereotype vom kontrollierenden Erziehungsstil regelrecht genährt werden (…). Der im Elternhaus erfahrene rigide Erziehungsstil wird, so unsere Erkenntnis, von den Jungen auf die Geschlechterrollenstereotype umgelenkt und dies hat seinerseits eine überaus starke, nachteilige Wirkung auf die Häufigkeit des Lesens. (…) Die über die männliche Geschlechtersozialisation erlernte geistige Rigidität wirkt sich also auch dahingehend aus, dass die Erweiterung des eigenen Horizonts durch das Lesen von Büchern (…) gemieden wird“ (Bertschi-Kaufmann et al. 2004, 231f.).
Zweitens könnten die Jungen aus bildungsfernen Schichten das Lesen als die (ungeliebte) schulische Pflichtaktivität par excellence identifizieren und Lesen mit der Schule und den Misserfolgen sowie der Entfremdung von ihrem Alltag dort gleichsetzen und sich deshalb, verstärkt von den Peers, von Schule und Lesen abwenden. Denn gerade versagende Hauptschüler – und Jungen aus bildungsfernen Familien dürften den Großteil dieser Klientel ausmachen – leiden unter den schulischen Erfahrungen, die langfristig feststellbare Selbstzweifel und -destabilisierungen nach sich ziehen können (vgl. Helsper 2008, 145). Aufs Lesen gewendet kann das bedeuten, dass es als „Streber“-Tätigkeit entwertet wird, und so auch die eigenen Defizite in der Lesekompetenz camoufliert werden und Lese- bzw. Schulferne als Zeichen vermeintlicher Überlegenheit erscheinen. Laut Helsper besitzen Schüler mit hohem Selbstbewusstsein trotz schulischen Versagens „vor allem eine hohe Anerkennung im Kontext der Peers, zeigen starke jugendkulturelle Einbindungen und bewegen sich in der Tendenz in Peerzusammenhängen, die schuldistanziert und -kritisch sind“ (2008, 146). Schuloppositionelle Peers scheinen also gegen einen negativen Einfluss schlechter Noten auf das Selbstwertgefühl zu immunisieren.3 Das müsste für das Lesen genauer untersucht werden; in der eigenen PEER-Studie stimmten
3
Wie du Bois-Reymond et al. (2001, 155) bei holländischen Jugendlichen ermitteln konnten, ist die Abneigung gegenüber Strebern ein Phänomen aller untersuchten Gruppen. GymnasiastInnen schaffen es aber alleinig, Strategien zu entwickeln, schulische Inhalte zu lernen, ohne im Selbstbild oder in der Gruppe zum Streber zu werden. Für Befunde zu deutschen Gymnasiasten vgl. Faulstich-Wieland/Weber/Willems 2004, 197-214.
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jedoch 59% der männlichen Haupt- und 46% der Realschüler in Klasse 5 stark oder überwiegend der Aussage zu, in ihrer Clique herrsche die Meinung ‚Wer viel liest, ist ein Streber‘ – nur 4% der Gymnasiastinnen waren ebenfalls dieser Auffassung (und keine einzige kreuzte ‚stimmt ganz genau‘ an, was 38 % der männlichen Hauptschüler und 18% der Realschüler taten). Die Schule scheint diesem Problem noch nicht gewachsen zu sein oder es als solches erkannt zu haben. Mehr noch: Sie steht in dem schlechten Ruf, in einer Phase, in der sie die bei vielen Jugendlichen schwindende Leselust stabilisieren müsste, mit anämischen Texten und philologisch-analytischen Methoden genau das Gegenteil zu tun und zu bewirken (vgl. dazu Gattermaier 2003, 15-31; 190-368). Dass es hierzulande bislang kein systematisches Lesecurriculum jenseits des Schriftspracherwerbs gibt, das den nachdenklich stimmenden PISA- und DESIErgebnissen zur Lesekompetenz Jugendlicher aktiv etwas entgegensetzt, ist ein weiteres Problem.
4
Ausblick: Peers und Lesen als zu bearbeitendes Forschungsfeld
Peers und Lesen – dieses Thema ist nach wie vor eines der größten Desiderata der deutschsprachigen Lese(r)forschung. Zwar gibt es Hinweise, die auf eine wichtige Rolle der Peers im Umfeld der Buchlesekrise schließen lassen, wobei der Kommunikation über Gelesenes anscheinend ein zentraler Stellenwert zukommt (s.o. Abschnitt 2). Dennoch existieren derart wenige empirische Befunde (s. Abschnitt 3.1), dass sich wissenschaftlich kaum seriös eine Aussage treffen ließe, was Peers konkret wie in der Lesesozialisation bewirken, also die Lesefähigkeit, -lust und -praxen beeinflussen. Damit ist das Fazit notgedrungen ein Hinweis auf Forschungsaktivitäten der Zukunft. Dringend erforderlich sind mehr bzw. überhaupt quantivative und qualitative (Längsschnitt-)Studien, um den Prozessen und Dynamiken auf die Spur zu kommen, die im schlimmsten Falle zur dauerhaften Abwahl des Lesens führen. Dass die Studien zum Peer-Einfluss auf die Lesesozialisation mehr als das Medium Buch, sondern alle Schriftmedien berücksichtigen sollten, liegt angesichts eines breiten Spektrums an verfügbaren Medien auf der Hand. Nur so lässt sich zum einen der Lebenswirklichkeit und dem Medienalltag von Jugendlichen gerecht werden und zum anderen auch dem latenten Vorwurf begegnen, Lese(r)forschung sei vor allem und zunächst eine Angelegenheit, die dem Buch verpflichtet ist. Von Interesse sind außerdem Studien, die so wie jene von Bertschi-Kaufmann et al. (2004) die Lese- und Schreibsozialisation betrachten. Und auch wenn in den Betrachtungen dieses Beitrags die Risikogruppe und der Teufelskreis von Lesesozialisation wegen seiner bildungspolitischen Relevanz für
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die erfolgreiche Lebensführung eines Großteils einer ganzen Schülergeneration fokussiert wurden, sollten Studien den Blick weiten. Nämlich auf die Chancen, die die Peers bieten, als Korrektiv ungünstiger familialer Voraussetzungen etwa oder als Puffer zu negativen schulischen Leseerfahrungen. Ein solches Längsschnitt-Forschungsprojekt stammt aus der Schweiz und trägt den Titel „Literale Resilienz – wenn Schriftaneignung trotzdem gelingt“; es geht der Frage nach, welche Schutzfaktoren Risikofaktoren in der literalen Sozialisation ausgleichen, und nach der ersten Auswertung resümiert Schneider (2007, 3): „Ein wichtiger protektiver Faktor in einem solchen Ensemble scheint z.B. die Literalitätsnähe der Gleichaltrigengruppe zu sein.“ Dennoch: Insbesondere der Verlust der Lesemotivation und die Entwicklung der Lesekompetenz in der Jugend und der Rolle der Peers dabei verdienen zuvorderst eine genauere Erforschung. Berücksichtigt werden müssten hierbei die Einflüsse des Geschlechts und der Herkunft ebenso wie das Zusammenspiel von Peers, Schule und Familie. Allein das ist anspruchsvoll genug. Mag die Familie hinsichtlich der Anzahl der Untersuchungspersonen noch überschaubar sein und damit ein relativ gut zu erforschender Bereich, so wird dies bei der Schule und den Peers schon deutlich schwieriger. Dabei ist der (Aus-)Weg, eine klar umrissene Peer Group zu untersuchen, nur auf den ersten Blick gangbar. Schließlich erfährt der Begriff ‚Peer Group‘ zunehmend Kritik, da er impliziert, „dass sich alle Mitglieder persönlich kennen und eine emotionale Bindung zueinander haben, dass es eine klare Zugehörigkeit und damit ein Wirgefühl gibt, dass die Gruppe eine rollenmäßige Binnendifferenzierung aufweist, wozu auch hierarchische Unterschiede und Anführerschaft gehören, und dass gemeinsame Normen das gruppenrelevante Handeln der Mitglieder regeln“ (Oswald 2008, 322f.).
All dies lasse sich so aber heutzutage nicht mehr ohne weiteres finden, insgesamt seien die Peerbeziehungen deutlich fluider und weniger exklusiv und stattdessen sei mit Blick auf die Lebenswirklichkeit von Heranwachsenden eher von dynamischen Peer-Netzwerken auszugehen (vgl. ebd., 323f.). So konnten z.B. Cairns et al. (1995) bei amerikanischen Viert- und Siebtklässlern zeigen, dass hier sowohl bei engen Freunden als auch in Gruppen binnen dreier Wochen die Stabilität der Beziehungen moderat ist. Im Sample von Kindermann, einem Jahrgang von Sechstklässlern, waren im Verlauf eines halben Jahres nur 20% aller Verbindungen zu anderen vollständig stabil (vgl. Kindermann 2007, 1194). Manch einem erscheint daher der Begriff der Peer Group deshalb als zu statisch und zu eng: „Die peer group ist ein vager Ausdruck, der überbeansprucht und pensionsreif ist. Der Begriff repräsentiert nicht adäquat die Vielfalt von Gruppenverbindungen Jugendlicher und ihrer peers; dabei
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dienen die Strukturen unterschiedlichen sozialen Zwecken, deren Unterscheidung wichtig ist“ (Cotterell 2007, 51, Übersetzung MP).
Wenn aber unterschiedliche Beziehungsarten und Verbindungen zwischen Jugendlichen exisitieren, die verschiedenen Zwecken dienen, dann sind auch unterschiedliche Einflüsse denkbar (vgl. Kindermann 2008, Cotterell 2007, 47). Ein Beispiel mag das verdeutlichen. Dazu kann die Studie von Kindermann (2007) herangezogen werden, bei der die Jugendlichen befragt wurden, wer mit wem nach der Schule ‚abhängt‘ und ob sich diese Gruppen mit einem Namen charakterisieren lassen. Das Ergebnis solcher Fremdberichte ist eine soziokognitive ‚Land‘-Karte des Jahrgangs, aus der in Abbildung 2 ein Ausschnitt dargestellt ist. Abbildung 2: Ein Ausschnitt aus einem Netzwerk eines Jahrgangs Klasse 6 aus einer amerikanischen Schule
Quelle: http://www.psy.pdx.edu/~thomas/graphics/jpgs/image002.JPG (Stand des Abrufs: 5. April 2008) Der Begriff einer geschlossenen Peer Group mit klaren Grenzen und eindeutiger Mitgliedschaft mag für die unten rechts zu sehenden sieben „Awesome Dudes“ noch einigermaßen zutreffen, und hier ist die Kritik von Cotterell und Oswald
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am Ausdruck Peer Group sicher nicht so berechtigt wie bei dem Individuum mit dem Kürzel ANK (links unterhalb des Wortes „Smart“). Dieser Junge besitzt eine Doppelmitgliedschaft in zwei Gruppen („Smart“ (neun Mitglieder) und „The Snatzis“ (drei Mitglieder)). Außerdem hat er sechs wechselseitig bestätigte Freundschaften (mit STB („Smart“), AAL und RIB („Nerds“), JOD und AMS („Awesome Dudes“) sowie JEM (in keiner Clique)). Seine Freunde befinden sich also primär außerhalb der Cliquen, wobei sich, nicht nur bezogen aufs Lesen und nicht nur beschränkt auf ANK, folgende Frage stellt: Wer beeinflusst ANK stärker – die Freunde oder die Cliquen – und welche Freunde und welche Clique genau? Hiermit ist ein Punkt angesprochen, der generell jeden Einfluss der Peers betrifft, dem die Forschung nachgehen will. Kindermann (2008) benennt mehrere Herausforderungen, denen sich Forscher stellen müssen. Denn es ist zunächst nicht klar, ob ein Effekt aufgrund ähnlichkeitsbasierter Selektionen der Peers (ich suche mir aktiv aus, wer aufgrund von (Lese-)Ähnlichkeiten zu mir passt), wegen sozialisatorischer Einflüsse der Peers (meine Peers wirken auf mich (lesesozialisatorisch) positiv oder negativ) oder nicht doch wegen anderer Variablen im Hintergrund (weil meine Eltern gern lesen und mein Deutschunterricht toll ist, überstehe ich die Lesekrise unbeschadet) zustande gekommen ist. Daneben stellen sich diverse Fragen, z.B. wer denn aus Sicht der Befragten die wirklich einflussreichen Peers sind (Ist meine beste Freundin, eine Leseratte, ein Lesevorbild, oder aber ein Cliquenmitglied, das nicht-jugendfreie Texte liest?) und welche die für den Einfluss relevanten Merkmale der Peerbeziehungen sind (Sind Lesetipps dann fruchtbar, wenn ich eine enge Beziehung zu jemandem habe oder sind auch flüchtige, schwache Beziehungen einflussreich?). Zu klären sind weiterhin die Prozesse des Einflusses, die sowohl theoretisch gefasst als auch empirisch ermittelt werden müssen (fürs Lesen vgl. Garbe/Holle/Salisch 2006, 117-125). Und schließlich, so Kindermann, seien Anstrengungen zu unternehmen, dass Studien nicht nur Korrelationen, sondern auch weitere valide Ergebnisse erbringen, die den Schluss auf tatsächliche Peer-Einflüsse zulassen (für weitere Implikationen zur Erforschung von Peer-Einflüssen vgl. Kindermann/Gest 2008). Von der Antwort auf derlei Fragen ist die deutsche Leseforschung noch weit entfernt. Die Peers sind durchaus als relevanter Lesesozialisationskontext erkannt worden (vgl. Groeben/Schroeder 2004, 334; 340-346; Pieper/Rosebrock 2004; Rosebrock 2004), aber faktisch bislang ein echtes Stiefkind der Forschung. Das frappiert angesichts der zentralen Stellung, die ihnen in der Jugend attestiert wird (vgl. Groeben/Schroeder 2004, 340-343; Graf 2007, 83). Jedoch ist das gegenwärtig erstarkende Interesse an informeller Bildung im Kreis der
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Peers (vgl. z.B. Grunert 2006; Krüger et al. 20008) ermutigend für die Lesesozialisationsforschung.
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Peers und politische Einstellungen von Jugendlichen Oliver Böhm-Kasper
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Einleitung
Die Analyse der Genese politischer Einstellungen im Jugendalter ist ein kaum noch zu überblickender Forschungsbereich, der zudem in mehreren Wissenschaftsdisziplinen bearbeitet wird. Das hohe Interesse von Wissenschaftlern an dieser Thematik erscheint auf den ersten Blick überraschend: Denn ob sich jemand für Politik interessiert, politisches Engagement aufweist oder bestimmte politische Wertvorstellungen präferiert, kann in einer individuellen Perspektive zunächst als Frage des persönlichen Lebensstils gesehen werden (vgl. Grob 2009, 329). Die allen Forschungsbemühungen zugrundeliegende normative Komponente dieser Thematik wird bei einem Wechsel der Betrachtungsebene deutlich: Gesellschaftlich betrachtet darf es ein demokratisches politisches System nicht dem Zufall überlassen, „[...] was die jeweils in die politische Ordnung hineinwachsende junge Generation über die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen lernt: ob sie weiß, wie sie funktioniert, ob sie demokratischen Verfahrensformen zustimmt oder sie ablehnt. Der mündige Bürger ist kein ‚Naturprodukt’. Er entsteht über lange Lernprozesse und aufgrund langjähriger Erfahrungen“ (Fend 2003, 387f.). Demokratische Gesellschaften sind von ihrer Konstruktionslogik her darauf angewiesen, dass ihre Bürger politikbezogenes Wissen, politisches Interesse, Akzeptanz gegenüber Grundwerten und demokratisch legitimierte Verfahrensregeln sowie eine kritische Wachheit und Partizipationsbereitschaft aufweisen. Vor diesem Hintergrund erscheint der Einbezug der politischen Bildung in das Curriculum der allgemeinbildenden Schulen und die Ermöglichung demokratischer Erfahrungen im Rahmen schulischer Mitbestimmung nur allzu konsequent, um auf diese Weise politischer Gleichgültigkeit der nachwachsenden Generationen entgegenzuwirken (vgl. Fend 2003, 388; Grob 2009, 329). Galston formuliert den mittlerweile gewonnenen Kenntnisstand über den Prozess der Einsozialisation mündiger Bürger in demokratischen Gesellschaften mit einer zugespitzten Formulierung: „And it is reasonably clear that good
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Oliver Böhm-Kasper
citizens are made, not born. The question is how, by whom, to what end“ (Galston 2002). Dieses Zitat zeigt, dass selbst nach rund 50 Jahren der Forschung zur politischen Sozialisation des Menschen immer noch nicht abschließend geklärt ist, wie die Entstehung und Entfaltung derjenigen individuellen Persönlichkeitsmerkmale zu erklären sind, die den Menschen als staatsbürgerliches Wesen konstituieren. Einhelligkeit besteht zumindest darin, dass zentrale Sozialisationsinstanzen wie Elternhaus, Schule, Gleichaltrige (Peers), Medien und Beruf Kontexte bilden, in denen sich politische Einstellungen von Heranwachsenden entwickeln oder verändern. Während zur Bedeutung der Familie als Instanz politischer Sozialisation ein breiter Forschungsstand zu verzeichnen ist, muss der Kenntnisstand über Gleichaltrige als entsprechende Sozialisationsinstanz sowohl im Hinblick auf eine entsprechende theoretische Modellierung als auch auf eine daraus abzuleitende empirische Befundlage als wenig ausgearbeitet eingeschätzt werden (vgl. Reinders 2001, 126). Einen Aspekt dieses Desiderats versucht der vorliegende Beitrag zu bearbeiten, indem er die Einflüsse der Gleichaltrigengruppe auf politische Orientierungen und Handlungsbereitschaften von Jugendlichen thematisiert.
2
Theoretische Konzepte und empirische Befundlagen
Es sind vor allem zwei empirisch fassbare Wirkungen des Sozialisationsprozesses, die von der Jugendforschung in den letzten Jahrzehnten empirisch analysiert wurden: Das politische Interesse und die politische Partizipation Jugendlicher. Daneben gibt es einen weiteren Forschungsstrang, der politische Überzeugungen (vor allem rechtsextreme Überzeugungen) von Heranwachsenden thematisiert. Die Analyse des politischen Interesses und damit verbundener Bedingungsfaktoren gehört zum Standardrepertoire der Untersuchung politischer Orientierungen von Jugendlichen (vgl. Schneider 1995, 278), auch wenn die Studien auf unterschiedlichem Analyseniveau operieren. Wie der internationale Vergleich im Rahmen der „Civic Education Study“ (Torney-Purta et al. 2001) zeigt, fällt für die Altersgruppe der 14-jährigen Jugendlichen unter den Terminus des politischen Interesses vor allem die Auseinandersetzung mit traditioneller Regierungs-, Parlaments- und Parteienpolitik (vgl. Oesterreich 2002, 187). Als gesicherte Befunde können eine Reihe von deskriptiven Ergebnissen gelten, die sich über die verschiedenen Studien hinweg als stabil erweisen: Das politische Interesse ist im Allgemeinen stärker ausgeprägt je älter die untersuchten Jugendlichen sind und je höher ihre formale Bildung ist (vgl. Torney-Purta
Peers und politische Einstellungen von Jugendlichen
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et al. 2001). Viele Studien lassen zudem erkennen, dass männliche Jugendliche ein höheres generelles politisches Interesse angeben als ihre Alterskameradinnen (vgl. Gaiser/de Rijke 2000; Oesterreich 2001; Helsper 2006; Böhm-Kasper 2006). Differenziertere Betrachtungen in neueren Studien führen die beobachtbare Geschlechterdifferenz im allgemeinen politischen Interesse auf ein unterschiedliches Politikverständnis zwischen Mädchen und Jungen zurück: Während das männliche Politikverständnis eher instrumentell, konkurrenz- und machtorientiert erscheint, wird dem weiblichen Politikverständnis eine stärkere Prägung durch Empathie, Kooperation und einer ganzheitlichen Sichtweise von Problemen zugeschrieben. Diese „weiblichen“ Aspekte des Politikverständnisses werden nach Ergebnissen einer Untersuchung von Kuhn & Schmid (2004) bei jungen Frauen in einem deutlich geringeren Maße mit der globalen Frage „Bist Du an Politik interessiert?“ in Verbindung gebracht. Wird die Globalfrage nach dem politischen Interesse durch Fragen nach dem Interesse an speziellen politischen Themen wie Umweltschutz, Frieden und Dritte-Welt-Problemen ersetzt, so zeigen weibliche Jugendliche in Deutschland höhere Werte im politischen Interesse als männliche Jugendliche (vgl. Oswald/Schmid 1998; Kuhn/Schmid 2004). Reinders (2001) konstatiert in seiner Zusammenschau der Forschungslage kritisch, dass die Validität des Indikators „Politisches Interesse“ als Globalmaß für die politische Unterstützung insgesamt in Zweifel gezogen werden muss. Die oftmals beobachtete geringe Ausprägung des politischen Interesses bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen scheint der undifferenzierten Fragestellung geschuldet zu sein, die eher die Relevanz von Politik in der jugendlichen Lebenswelt widerspiegelt als die Bereitschaft zur Unterstützung der demokratischen Ordnung (vgl. ebd.). Neben dem politischen Interesse wird – wie bereits erwähnt – auch die Partizipation der Jugendlichen an den unterschiedlichsten Formen politischer Betätigung wissenschaftlich untersucht. Der Begriff der politischen Partizipation hat dabei in den letzten Jahrzehnten einen Bedeutungswandel erfahren und wird zunehmend weiter gefasst. In der politikwissenschaftlichen Partizipationsforschung hat sich zunächst eine Systematisierung der politischen Partizipation etabliert, die anhand der Kriterien Verfasstheit, Legalität und teilweise auch Legitimität operiert. Wird das Kriterium der Verfasstheit zugrundegelegt, dann lassen sich zwei Unterkategorien legaler politischer Partizipation unterscheiden (vgl. Schneider 1995, 302): x
verfasste bzw. institutionalisierte Partizipation: Darunter werden verfassungskonforme, rein repräsentationsorientierte Formen politischen
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x
Handelns gefasst, z.B. die Beteiligung an Wahlen, die Mitarbeit in Parteien oder die Übernahme eines politischen Amtes. nicht verfasste legale Partizipation: Dazu werden Aktivitäten mit „offenen“ Zugangs-, Rahmen- und Durchführungsbedingungen subsumiert, wie z.B. die Mitwirkung in Bürgerinitiativen oder die Beteiligung an Unterschriftensammlungen.
Diese beiden Unterkategorien werden auch als konventionelles bzw. unkonventionell-legales politisches Handeln bezeichnet. Unkonventionelle und zudem illegale Partizipationsformen werden in der politikwissenschaftlichen Forschung ebenfalls in zwei Unterkategorien unterteilt (vgl. ebd.): x
x
ziviler Ungehorsam: Hierzu zählen gewaltfreie Formen illegaler politischer Handlungen, wie z.B. friedliche, aber nicht genehmigte Demonstrationen, wilde Streiks, friedliche Hausbesetzungen oder Boykottaktionen. politische Gewalt: Darunter fallen jene Aktivitäten, bei denen es zur Anwendung von Gewalt gegen Sachen oder Personen kommt.
Diese Systematisierung macht deutlich, dass Jugendliche, die das Wahlalter noch nicht erreicht haben, in eher geringem Umfang an verfassten bzw. institutionalisierten Formen politischer Willensbekundung teilnehmen können. Offenere Definitionen der politischen Partizipation entsprechen eher den potentiellen Möglichkeiten in der Lebenswelt Jugendlicher: Demnach ist politische Partizipation ein „[…] auf kollektive Ziele hin orientiertes soziales Verhalten, das in einem komplexen Zusammenspiel zwischen institutionellen Strukturen, konkreten politischen Ereignissen, Gruppeneinbindung und individuellen Merkmalen zustande kommt“ (Gille/Krüger/de Rijke 2000). Im Rahmen dieses breiteren Verständnisses politischen Handelns sind auch solche Verhaltensweisen per se politisch, die nicht auf individuelle, sondern auf kollektive Zwecke hin ausgerichtet sind und die bei Jugendlichen als Vorformen politischen Handelns angesehen werden können (vgl. Oesterreich 2002, 63). Ein anschauliches Beispiel für solche Formen politischer Partizipation liefert Youniss (2006): Schüler in einem von Immigranten und Minoritäten bewohnten Stadtbezirk in Chicago fühlten sich aufgrund einer in ihren Augen unangemessenen strengen Auslegung der disziplinären Regeln ihrer Schule in ihren Bildungschancen benachteiligt. Um diese Sichtweise einiger Schüler zu validieren, führten die Schüler selbständig eine Umfrage unter hunderten Mitschülern durch. Durch gleichlautende Urteile ihrer Mitschüler gestärkt, formulierten die Schüler eine Beschwerde an die Schulaufsicht. Als Ergebnis dieser Bemühungen wurden
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eine Reformulierung der disziplinären Regeln und eine geänderte Umsetzung erreicht. Neben dieser Aktivität organisierten die Schüler eine Schülerdemonstration, in die mehrere Schulen einbezogen wurden, um gegen die Einführung von standardisierten Leistungsvergleichen (High-Stakes-Tests) zu protestieren. Derartige Beispiele sind aufschlussreich für die Verdeutlichung jugendlicher Partizipationsmöglichen – in ihrer Generalisierbarkeit sind sie jedoch sehr beschränkt, da es sich meist um einzelne und herausragende Aktionen handelt. Als Proxy-Indikatoren der politischen Partizipation werden in der Forschung daher auch die von den Jugendlichen in Erwägung gezogenen Verhaltensweisen, ihre politischen Verhaltensbereitschaften herangezogen (vgl. Schneider 1995, 303) und entsprechende Bedingungsanalysen durchgeführt. Die Ergebnisse der Jugendsurveys des Deutschen Jugendinstituts (vgl. Hoffmann-Lange 1995; Gille et al. 2000) zeigen jedoch, dass Verhaltensbereitschaften und tatsächliches Verhalten bei verschiedenen Formen politischer Partizipation deutlich voneinander abweichen. So gaben bspw. im Jahr 1997 44% der westdeutschen und 42% der ostdeutschen Jugendlichen an, in einer Bürgerinitiative mitarbeiten zu wollen. Dies tatsächlich getan haben jedoch nur 9% der Befragten im Westen bzw. 7% im Osten der Bundesrepublik. Im Spektrum der im DJIJugendsurvey untersuchten Verhaltensbereitschaften steht die Beteiligung an Wahlen an erster Stelle bei den befragten Jugendlichen. Auch beim tatsächlichen Verhalten findet die Ausübung des Wahlrechts die höchste prozentuale Zustimmung. Das bedeutet, dass „für nahezu alle jungen Menschen das Wählen als die wichtigste und selbstverständlichste Form politischer Einflussnahme angesehen wird“ (Gaiser/de Rijke 2000, 272). Weitere bevorzugte und tatsächlich durchgeführte Partizipationsformen sind die Beteiligung an Unterschriftensammlungen, die Teilnahme an genehmigten Demonstrationen, die Mitarbeit in Mitbestimmungsgremien und die Teilnahme an öffentlichen Diskussionen. In der oben dargestellten Systematik sind dies alles Formen politischer Partizipation, die als unkonventionell-legal bezeichnet werden können. Demgegenüber spielen institutionalisierte, konventionelle Partizipationsvorhaben wie die aktive Mitarbeit in einer Partei bzw. einer anderen politischen Gruppierung oder die Übernahme eines politischen Amtes nur bei einer geringen Anzahl junger Menschen eine Rolle. Die für das allgemeine politische Interesse Jugendlicher bereits aufgeführten Bedingungsfaktoren werden in der Jugend- und Sozialforschung auch für die Vorhersage der politischen Partizipation Jugendlicher verwendet. Betrachtet man die im DJI-Jugendsurvey untersuchten Bedingungsfaktoren für die Partizipationsbereitschaft, so beeinflusst bei den soziodemographischen Merkmalen der Bildungsgrad die politische Partizipation am nachhaltigsten. Im Gegensatz zum politischen Interesse differenzieren Geschlecht und Alter hingegen kaum.
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Oliver Böhm-Kasper
Lediglich bei illegalen Formen politischer Partizipation sind es eher die Jüngeren, die eine erhöhte Bereitschaft für derartige Aktivitäten angeben (vgl. ebd., 281). Die nachhaltige Wirkung des Bildungsgrades zeigt sich auch auf internationaler Ebene: Anhand der Daten der Studie „Citizenship and Education in Twenty-Eight-Countries“ (Tourney-Purta et al. 2001) lässt sich nachweisen, dass die politische Beteiligung und das soziale politische Engagement von Jugendlichen nicht nur mit dem eigenen Bildungsgrad, sondern auch in einem Zusammenhang mit dem Bildungsniveau der Eltern steht. Der letztgenannte Zusammenhang verweist auf die immense Bedeutung der Familie als Instanz politischer Sozialisation. Im Rahmen wissenschaftlicher Analysen werden entsprechende Elterneinflüsse im Rahmen von intergenerationalen Transmissionshypothesen in Bezug auf Einstellungen, Orientierungen und Wertvorstellungen untersucht (vgl. Grob 2009, 336). Mehrere empirische Arbeiten zeigen übereinstimmend, dass die Entstehung der Dispositionen zur politischen Partizipation in hohem Maße durch die Familie beeinflusst wird. Dabei kann zwischen manifesten und latenten Einflussfaktoren unterschieden werden: Zu den manifesten politischen Aktivierungsfaktoren gehören das politische Interesse der Eltern, ihre politische Gesprächsbereitschaft und politischen Erziehungseinstellungen sowie die Transparenz des politischen Familienmilieus für die Jugendlichen. Je höher dieser Aktivierungsgehalt des Elternhauses ausgeprägt ist, desto höher ist auch die Aktivierungsbereitschaft der Jugendlichen (vgl. Geißler 1996, 57; Niemi/Champman 1999; Kötters-König 2002, 202; Torney-Purta et al. 2001, 52). Neben diesen als manifest zu bezeichnenden Bedingungen politischer Sozialisation im Elternhaus lassen sich auch latente Einflussfaktoren erkennen, die zum einen als Elemente des unpolitischen Familienmilieus auf politische Dimensionen der Persönlichkeit einwirken und zum anderen als indirekt-latente Einflüsse des Familienklimas – intermediär vermittelt über unpolitische Persönlichkeitsmerkmale – auch die politische Persönlichkeit prägen. Für den Bereich latenter Einflussfaktoren liegen vor allem eine Vielzahl an Studien zur Entstehung von Autoritarismus und Konventionalismus vor (vgl. zusammenfassend Geißler 1996, 59). Auch der Zusammenhang zwischen dem Familienklima und der Gewaltbereitschaft von Jugendlichen ist Gegenstand mehrerer Studien (vgl. zusammenfassend Reinders 2001, 118f.). Fokussiert man auf die politische Partizipation bzw. Partizipationsbereitschaft von Jugendlichen, so zeigen empirische Befunde deutliche Unterschiede in der Partizipationsbereitschaft von Jugendlichen je nach ihrer Eingebundenheit in Entscheidungen innerhalb der Familie. Je öfter Jugendliche innerhalb ihrer Familie Entscheidungen mittragen
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267
dürfen, desto höher ist auch ihre Partizipationsbereitschaft (vgl. Niemi/Champman 1999, 41). Nimmt man die indirekt-latenten Einflüsse des unpolitischen Familienmilieus in den Blick, so konnten empirisch Zusammenhänge zwischen allgemeinen Persönlichkeitsmerkmalen und politischen Orientierungen herausgearbeitet werden. Geißler (1996, 61) listet einige psychische Merkmale auf, die mit politischer Teilnahmebereitschaft zusammenhängen: Dazu gehören Merkmale der Ich-Stärke wie Selbstvertrauen, Kompetenzgefühl, Effizienzgefühl und Soziabilität, Merkmale der „Entfremdung“ wie Sinnlosigkeit, Macht- und Normlosigkeit, kulturelle oder soziale Isolation sowie einige andere Merkmale wie Dominanz oder Menschenfeindlichkeit. Es ist unstrittig, dass die aufgelisteten Persönlichkeitsmerkmale eng mit den familiären Konstellationen eines Heranwachsenden zusammenhängen. Ob nun die Familie als wichtigste Sozialisationsinstanz im Prozess der Entwicklung politischer Orientierungen von Heranwachsenden anzusehen ist, darüber besteht in der Forschung keine Einigkeit. Diese Frage ist jedoch auch zweitrangig und immer davon abhängig, welchen Grundannahmen über die Stabilität und Plastizität der Genese politischer Orientierungen im Lebensverlauf getroffen werden. Grob (2009) unterscheidet in diesem Zusammenhang vier Modellannahmen in der politischen Sozialisationsforschung: Die Primary Hypothesis, die Lifelong Openess Hypothesis, die Impressionable Years Hypothesis und die Life Stage Hypothesis. Während die Primary Hypothesis den maximalen Einfluss politischer Sozialisationsagenten im Kindesalter verortet (und damit die Familie als zentrale Sozialisationsinstanz herausstellt), negiert die Lifelong Openess Hypothesis die langfristige Prägung politisch relevanter Persönlichkeitsmerkmale in früher Kindheit. Sie betont stattdessen eine lebenslang andauernde Plastizität politischer Orientierungen. Die Impressionable Years Hypothesis geht ebenfalls wie die Primary Hypothesis von einer langfristigen Prägung politischer Orientierungen aus, verortet eine entsprechend sensible Phase aber nicht in der Kindheit, sondern in der Adoleszenz bzw. im frühen Erwachsenenalter. Die Life Stage Hypothesis schließlich stellt eine Integration der drei anderen Ansätze dar. Sie geht davon aus, dass der Prozess der politischen Sozialisation einerseits über reifebedingte Entwicklungsprozesse relativ direkt an das Lebensalter gekoppelt ist, andererseits aber auch eine erhöhte Instabilität der Orientierungen im höheren Lebensalter mit seinen spezifischen Herausforderungen (Ausscheiden aus dem Arbeitsleben, Kompensation teilweise verlorener Kompetenzen, Verlust bedeutsamer Menschen durch Tod) zu erwarten ist. Verändernde Bedürfnislagen im höheren Alter (Sicherheit, Ruhe, Ordnung) können sich in einer Neu- und Umgewichtung von Wertvorstellungen und einer Transformation politischer Präferenzen manifestieren (vgl. Grob 2009, 331ff.).
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Diese skizzierten Grundannahmen über den Prozess der politischen Sozialisation im Lebensverlauf sind bedeutsam für die Einschätzung des spezifischen Einflusses der jeweils betrachteten Sozialisationsinstanz. Vor diesem Hintergrund ist erklärbar, warum divergierende Einschätzungen der Relevanz einzelner Sozialisationsinstanzen im Prozess der politischen Sozialisation formuliert werden. Besonders für die Gruppe der Gleichaltrigen bestehen z.T. entgegengesetzte Standpunkte im Hinblick auf die sozialisatorische Wirkung von PeerEinflüssen auf politische Orientierungen von Jugendlichen (vgl. Tedin 1980, 136). Unbestritten ist, dass die Gleichaltrigen im Jugendalter zunehmend Bedeutung gewinnen und sich der Einfluss des Elternhauses abschwächt. Jugendliche verbringen mit ihren Peers sukzessive mehr Zeit und erleben sie bei bestimmten Themen ihrer Lebenswelt als wichtigere und kompetentere Ansprechpartner als ihre Eltern. Daher spielen Peers in einer entwicklungspsychologischen Perspektive eine wichtige Rolle für die Ablösung der Jugendlichen von den Eltern und der Herausbildung einer eigenen Ich-Identität (vgl. Grob 2009, 338). Der Bereich politischer Werthaltungen und Orientierungen scheint von dieser generellen Bedeutsamkeit der Gleichaltrigenbeziehungen im Zuge der jugendlichen Identitätsbildung abgekoppelt zu sein. Politik und Gesellschaft sind nach Ergebnissen vorliegender Studien wenig wichtige Lebensbereiche für junge Menschen. Die privaten Bereiche wie Familie, Freizeit/Freunde und Schule/Beruf besitzen demgegenüber einen sehr viel höheren Stellenwert im Leben von Jugendlichen (vgl. Gille/Kleinert/Ott 1995; Tedin 1980). Diese Präferenz von Lebensbereichen spiegelt sich auch in der Kommunikation zwischen Gleichaltrigen wider: In Untersuchungen von Fend (1991) wurden Jugendliche danach befragt, wie häufig sie mit ihren Freunden über Politik sprechen. Mehrheitlich wurde von den Befragten angegeben, dass dies nur hin und wieder oder nie vorkommt. Über politische Themen wird in der Gleichaltrigengruppe offensichtlich vor allem dann gesprochen, wenn diese bereits in höherem Maße politisiert sind. Dies trifft insbesondere auf Angehörige von Jugendprotestbewegungen (vgl. Pfaff 2002, 174) oder Mitgliedern konventionell eingebundener Jugendgruppen zu (vgl. Reinders 2001, 127). Diese geringe Bedeutsamkeit politischer Themen bei der Mehrheit jugendlicher Peer Groups lässt bei Zugrundelegung entsprechender theoretischer Konzeptionen der Voraussetzungen des sozialisatorischen Einflusses von Gleichaltrigen auf jugendliche Individuen zunächst keine nachweisbare Effekte auf die politische Bewusstseinsbildung erwarten (vgl. Campbell 1980). Eine derartige Argumentation greift jedoch nur, wenn man lediglich manifeste Einflussfaktoren (Kommunikation über Politik, Übereinstimmung in politischen Werthaltungen, gegenseitige Versicherung eines gleichgerichteten politischen Interesses) der Gleichaltrigengruppe betrachtet. Ein erfolgversprechender Weg mögliche Einflüsse der Peer Group auf politische
Peers und politische Einstellungen von Jugendlichen
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Orientierungen von Jugendlichen zu identifizieren, ist die Analyse latenter Aktivierungsfaktoren. Die latente Sozialisationswirkung von Gleichaltrigengruppen wird vorrangig durch die Verbindung von kultursoziologischen Ansätzen der Jugend(sub)kulturforschung mit Vorstellungen politischer Sozialisation untersucht. Dabei ist die Idee dominant, „[...] dass bestimmte, in der Freizeit präferierte Handlungs- und Ausdrucksstile im Zusammenhang zu politischen Orientierungen stehen“ (Reinders 2001, 128). Verschiedene Untersuchungen belegen Zusammenhänge zwischen der Präferenz für bestimmte jugendkulturelle Gruppenstile und politischen Einstellungen (Merkens/Steiner/Wenzke 1998; Pfaff/Krüger 2006; Pfaff 2006a; Fritzsche/Krüger/ Pfaff/Wiezorek 2006). Pfaff (2006b) macht darauf aufmerksam, dass einige qualitativ-hermeneutische bzw. diskursanalytische Untersuchungen darüber hinaus einen weiteren Argumentationsstrang verfolgen: Diese Studien interpretieren die ästhetischen Symboliken und Praxen einzelner jugendkultureller Stile als Kritiken an den sozialen und politischen Gegebenheiten der Gegenwartsgesellschaft. Die Befunde der qualitativ orientierten Studien machen deutlich, das sich das ‚Politische’ in jugendkulturell orientierten Peer-Kontexten in verschiedenen Formen beschreiben lässt, die alternativ bzw. ergänzend zu den in der quantitativen Forschung erhobenen manifesten Werthaltungen und Handlungsbereitschaften stehen: Z.B. als konstitutives Element der Vergemeinschaftung, als Handlungsraum, als Thema oder Motiv ästhetischer Praxis bzw. als Feld der Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Strukturen (vgl. zusammenfassend Pfaff 2006b). Ungeklärt bleibt – unabhängig davon, ob latente Sozialistationswirkungen quantitativ oder qualitativ untersucht werden – ob Gleichaltrigenkontakte in der Freizeit bzw. jugendkulturelle Stilisierungen zur Entwicklung von politischen Orientierungen und Werthaltungen beitragen oder ob die jugendkulturellen (Freizeit-)Stile Ausdruck eines individuellen Verhältnisses zur Gesellschaft sind, das bereits durch die primäre Sozialisationsinstanz der Familie entscheidend geprägt wurde und durch die Peer-Kontakte wenig Modifikation erfährt (vgl. Tedin 1980). Die oft in diesem Zusammenhang gestellte Frage, welche Sozialisationsinstanz denn nun die größte Wirkung hinsichtlich der politischen Sozialisation entfaltet, ist nur dann plausibel, wenn in naiven Übertragungskonzepten gedacht wird. Interessanter ist die von Fend (Fend 1991) aufgeworfene Frage, wie die sozialisatorische Umwelt der Jugendlichen hinsichtlich Informationsangebot, Anreizen und Interaktionsstil ausgeprägt sein muss, um einen Beitrag zur politischen Identitätsbildung zu leisten. Dennoch ist zunächst zu klären, ob die Gleichaltrigengruppe überhaupt eine Sozialisationsinstanz darstellt, die einen eigenständigen Einfluss auf die politischen Orientierungen von Jugendlichen ausübt. Ein Versuch, dieser Frage in Ansätzen näher zu kommen,
270
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stellt die nachfolgend dargestellte Studie dar. Anhand von querschnittlich, quantitativ erhobenen Daten sollen Zusammenhänge zwischen Formen jugendkultureller Selbstverortung und politischen Orientierungen analysiert werden. Dabei werden die familiären Ausgangslagen hinsichtlich der politischen Sozialisation der Jugendlichen einbezogen. Ist bei Kontrolle derartiger familiärer Ausgangslagen ein eigenständiger Effekt der jugendkulturellen Zugehörigkeit erkennbar, dann ist dies ein ernstzunehmender Hinweis auf die Bedeutung gemeinsamer Erfahrungen und Praxen in der Gleichaltrigengruppe in ihrer Wirkung auf die politische Bewusstseinsbildung von Heranwachsenden.
3
Methode
3.1 Stichprobe Die der folgenden Analyse zugrunde liegenden Daten basieren auf einer standardisierten Befragung von über 4.800 Schülern der 8. und 9. Klassenstufe (mittleres Alter: 14,4 Jahre) an 43 Schulen des allgemein bildenden Schulwesens in Sachsen-Anhalt und Nordrhein-Westfalen im Winter 2002/2003. Diese Befragung wurde im Rahmen der Studie „Politische Orientierungen von Jugendlichen im Rahmen schulischer Anerkennungsbeziehungen“ (vgl. Helsper 2006) durchgeführt. Ein besonderes Merkmal der Studie ist die Anwendung quantitativer und qualitativer Forschungsmethoden, die auf eine Triangulation der gewonnenen Daten und Befunde auf der Analyseebene zielt. Für die folgenden Analysen wurden diejenigen Jugendlichen ausgewählt, die in der quantitativen Befragung eine eindeutige Präferenz für einen jugendkulturellen Gruppenstil erkennen ließen. In Anlehnung an die Untersuchung von Pfaff (2006b) werden drei Gruppenstile voneinander unterschieden: x x x
rechte und gewaltbereite Szene (Jugendliche mit Nähe zu Skinheads, Neonazis und Hooligans). Jugendliche Mainstream-Musikfans ohne Sympathien für rechte oder linke Stile. linksalternative Jugendszene (Antifa-Szene und alternative Musikstile (Punk, Gothic, Metal)).
Insgesamt 2.811 Jugendliche (58% der Gesamtstichprobe) können eindeutig einer dieser drei Gruppierungen zugeordnet werden. Alle anderen an der Befragung teilnehmenden Jugendlichen (N = 2.026) haben entweder keine Präferenz geäußert oder sich in mehreren der oben aufgeführten Gruppenstile verortet.
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Zum Vergleich der aus der Zuordnung zu den drei jugendkulturellen Gruppenstilen resultierenden Stichprobe mit der Gesamtstichprobe werden die soziodemographischen Merkmale aller befragten Jugendlichen denen der ausgewählten Stichprobe gegenübergestellt (vgl. Tabelle 1). Die Tabelle 1 zeigt zunächst, dass die Stichprobe von Jugendlichen mit eindeutiger jugendkultureller Zuordnung nur zufällige und geringfügige Abweichungen zur Ausgangsstichprobe aller Jugendlichen aufweist. Begriffs- und erwartungskonform bilden die jugendlichen Mainstream-Musikfans ohne extreme politische Orientierungen die größte Gruppe (69,6 %) der betrachteten Jugendlichen. Mit Abstand folgen die Jugendlichen, die sich selbst links verorten, der Antifa-Szene nahestehen und entsprechende szenetypische Musikstile präferieren (25,7%). Die verbleibende Gruppe der rechts- und gewaltorientierten Jugendlichen weist den geringsten Anteil (4,7%) an den betrachteten jugendkulturellen Orientierungen auf. Werden die jugendkulturellen Zuordnungen nach Geschlecht differenziert, zeigt sich ein überproportional hoher Anteil an männlichen Jugendlichen in der rechten und gewaltbereiten Szene sowie bei den Mainstream-Jugendlichen. Weibliche Jugendliche weisen einen höheren Anteil in der linksalternativen Jugendszene auf. In der Länderdifferenzierung ist die Präferenz für rechte bzw. linke Jugendszenen überproportional häufig bei den Jugendlichen aus SachsenAnhalt beobachtbar. Dieser Befund wird bei der Betrachtung der untersuchten Schulform teilweise wieder sichtbar: Die Jugendlichen der rechten bzw. gewaltbereiten Szene sind mehrheitlich Schüler aus den Sekundarschulen (in der Strichprobe eine ausschließliche Schulform in Sachsen-Anhalt). Bei den linksalternativen Jugendlichen überwiegen die Gymnasiasten. Die Jugendlichen mit Migrationshintergrund ordnen sich vor allem dem Mainstream zu. In den alternativen bzw. gewaltbereiten Jugendstilen sind sie leicht unterrepräsentiert. Der familiäre Bildungshintergrund ist bei den linksalternativ orientierten Jugendlichen am häufigsten durch das Abitur mindestens eines Elternteils charakterisiert während sich die Jugendlichen mit Präferenz für die rechte/gewaltbereite Szene in Hinblick auf ihren familiären Bildungshintergrund kaum von den Mainstream-Musik-Fans unterscheiden.
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Oliver Böhm-Kasper
Tabelle 1: Soziodemographische Merkmale der Gesamtstichprobe und der Stichprobe von Jugendlichen mit eindeutiger jugendkultureller Zuordnung (Spalteprozente gerundet) Stichprobe von Jugendlichen mit eindeutiger jugendkultureller Zuordnung Gesamtstichprobe
Insgesamt
Rechte und gewaltbereite Szene (Jugendliche mit Nähe zu Skinheads, Neonazis und Hooligans)
Jugendliche MainstreamMusikfans ohne Sympathien für rechte oder linke Stile
Linksalternative Jugendszene (AntifaSzene und alternative Musikstile (Punk, Gothic, Metal))
N =4.837
N =2.811
N = 132
N = 1.956
N = 723
Soziodemographische Merkmale
Geschlecht weiblich männlich
49.4 50.6
51.4 48.6
31.8 68.2
42.3 57.7
56.0 44.0
Bundeslandzugehörigkeit Nordrhein-Westfalen Sachsen-Anhalt
57.0 43.0
59.7 40.3
47.7 52.3
65.1 34.9
47.2 52.8
Schulform Hauptschule Realschule Sekundarschule Gesamtschule Gymnasium
11.8 16.5 21.4 14.9 35.3
12.7 16.8 19.7 14.7 36.1
12.1 18.9 34.8 12.9 21.2
14.8 19.1 19.5 15.2 31.4
7.2 10.4 17.3 13.7 51.5
79.5
78.5
82.7
75.9
84.9
20.5
21.5
17.3
24.1
15.1
31.6
31.4
26.8
27.5
42.6
Migrationshintergrund ohne Migrationshintergrund mit Migrationshintergrund Bildungsstand der Eltern Höchster Bildungsabschluss in der Familie ist Abitur
Peers und politische Einstellungen von Jugendlichen
273
3.2 Instrumente Nachfolgend werden ausgewählte Instrumente1 zur Erfassung politischer Orientierungen bei Jugendlichen sowie deren Ausprägungen in den untersuchten jugendkulturellen Gruppierungen dargestellt: Das generelle Interesse an Politik der Jugendlichen wird über eine entsprechende Globalabfrage erfasst. Politische Beteiligungsbereitschaften (im Sinne von Verhaltensbereitschaften) sind ausschließlich anhand von Formen politischer Partizipation operationalisiert worden, die im Jugendalter sinnvollerweise realisiert werden können. Die Frage nach der Bereitschaft, Gewalt anzuwenden berührt die Vorstellungen von Jugendlichen, welche Mittel in demokratischen Gesellschaften zur Artikulation und Umsetzung politischer Ansichten eingesetzt werden können. Schließlich wird nach der Nationalverbundenheit der Jugendlichen gefragt (vgl. Tabelle 2). Mit Ausnahme der Beteiligungsbereitschaft an politischen Aktivitäten weisen die erfassten politischen Orientierungen statistisch und praktisch bedeutsame Unterschiede zwischen den betrachteten jugendkulturellen Gruppierungen auf. Interessant ist das Antwortverhalten der jugendlichen MainstreamMusikfans: Diese zeigen das geringste politische Interesse (das in dieser Altersgruppe ohnehin kaum ausgeprägt ist, aber bei den anderen jugendkulturellen Gruppierungen deutlich höher ausfällt). Befragt nach konkreten Verhaltensbereitschaften, die als Formen politischer Partizipation angesehen werden können, zeigen die Mainstream-Musikfans jedoch ähnlich hohe Zustimmungsraten wie die beiden anderen Gruppierungen. Für die Verhaltensbereitschaften liegen nur geringe Differenzen zwischen den jugendkulturellen Gruppierungen vor, während für die allgemeiner erfassten bzw. gewaltaffinen Einstellungen deutliche Abweichungen zwischen den untersuchten Gruppierungen beobachtbar sind.
1
In der Studie wurden weitere politische Orientierungen erfasst (z.B. Links-Rechts-Orientierung, Autoritarismus, Fremdenfeindlichkeit, Law-and-Order-Denken, Parteienpräferenz etc.). Eine Darstellung dieser Orientierungen findest sich in Helsper et al. (2006).
274
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Tabelle 2: Politische Orientierungen von Jugendlichen mit eindeutiger jugendkultureller Zuordnung (Spaltenprozente gerundet) Stichprobe von Jugendlichen mit eindeutiger jugendkultureller Zuordnung Insgesamt
(N =2.811) Politisches Interesse: Antwortkategorien ich bin politisch sehr/ ziemlich interessiert Politische Partizipation - Beteiligungsbereitschaft*: Teilnahme Internetdiskussion über Politik Mitarbeit in Schülervertretung Teilnahme a. Unterschriftenaktion Teilnahme an Demonstration Teilnahme an Streik Bereitschaft zu gewaltförmigen politischen Handlungen* Bei einer Demonstration randalieren/ Krach schlagen Bei Straßenschlachten gegen die Polizei mitmachen Gewalt gegenüber Mitbürgern anwenden Gewalt gegenüber politisch Verantwortliche anwenden
Rechte und Jugendliche Linksalternative gewaltbereite MainstreamJugendszene Szene (JuMusikfans (Antifa-Szene gendliche ohne Symund alternative mit Nähe zu pathien für Musikstile Skinheads, rechte oder (Punk, Gothic, Neonazis linke Stile Metal)) und Hooligans) (N = 132)
(N = 1.956)
(N = 723)
13.4
16.3
9.8
21.2
35.3
36.9
33.8
38.8
45.8 61.4 48.5 70.3
33.6 47.7 51.5 66.9
48.3 63.4 46.8 70.1
41.1 58.3 52.2 71.3
19.6
38.2
14.9
22.8
15.2
32.8
9.5
21.9
10.7
21.4
6.8
12.4
13.8
29.2
9.8
16.4
Nationalstolz** Ich lebe gern in Deutschland. 80.7 87.4 85.0 67.2 64.8 84.7 69.5 48.4 Ich bin stolz, ein deutscher Bürger zu sein. * Prozentuale Häufigkeiten der Antwortkategorie „kommt für mich in Frage“ ** Prozentuale Häufigkeiten der Antwortkategorien „trifft eher zu“ & „trifft vollkommen zu“
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4
Ergebnisse
Offen bleibt bei der bisherigen deskriptiven Betrachtung die aufgeworfene Frage, inwieweit die politische Bewusstseinsbildung von Heranwachsenden durch jugendkulturelle Gruppierungen über die familialen Ausgangslagen hinaus beeinflusst wird. Zur Klärung dieser Frage werden multiple Regressionen berechnet, die als abhängige Variable die in Tabelle 2 dargestellten politischen Orientierungen in Skalenform beinhalten. Als Prädiktoren zur Vorhersage dieser Orientierungen werden durch bestehende Forschungsbefunde aufgedeckte soziodemographische Merkmale der Jugendlichen und Merkmale der familialen Sozialisation einbezogen. Die in dieser Studie betrachteten jugendkulturellen Gruppierungen dienen als weitere Prädiktoren (vgl. Tabelle 3). Tabelle 3: Prädiktoren zur Vorhersage Politischen Interesses, Politischer Beteiligungsbereitschaft, Gewaltbereitschaft und Nationalstolz von 13- bis 16jährigen Jugendlichen Unabhängige Einflussgrößen
Indikatoren
Individualmerkmale
Alter Geschlecht (0 – männlich, 1 – weiblich) Besuchte Schulform (Haupt-, Real,- Sekundar-, Gesamtschule; Referenzkategorie: Gymnasium)
Merkmale des Elternhauses
Abitur als höchster Bildungsabschluss in der Familie (0 – kein Abitur; 1 –Abitur) Politik als Thema in der Familie ( = .83) (z.B. „In unserer Familie unterhalten wir uns gemeinsam über politische Angelegenheiten.“) Politisches Interesse in der Familie ( = .76) (Einschätzung des politischen Interesses von Mutter und Vater)
Merkmale der Gleichaltrigengruppe
Zugehörigkeit zu jugendkulturellen Gruppierung (rechte Szene, linke Szene; Referenzkategorie: Mainstream)
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In der Tabelle 4 werden die Ergebnisse der multiplen Regressionen dargestellt. Für alle signifikanten Koeffizienten gilt p < .05. Tabelle 4: Regressionen zur Vorhersage Politischen Interesses, Politischer Beteiligungsbereitschaft, Gewaltbereitschaft und Nationalstolz von 13- bis 16jährigen Jugendlichen Abhängige Variablen
Bereitschaft zur Bereitschaft zu politischen gewaltförmigen Partizipation politischen Handlungen
Prädiktoren
Politisches Interesse
Alter
n.s.
-.06
.19
n.s.
Geschlecht (0 – männlich, 1 – weiblich)
-.16
.11
-.10
-.07
Hauptschule
n.s.
n.s.
n.s.
n.s.
Realschule
n.s.
n.s.
n.s.
.06
Sekundarschule
-.06
-.07
n.s.
.06
Gesamtschule
n.s.
n.s.
.06
n.s.
Höchster Bildungsabschluss in Familie Abitur
n.s.
n.s.
n.s.
-.07
Politik als Thema in der Familie
.31
.08
-.06
n.s.
Politisches Interesse der Eltern
.16
.06
n.s.
n.s.
rechte und gewaltbereite Szene
.06
n.s.
.15
.10
Linksalternative Szene
.06
n.s.
.14
-.19
Aufgeklärte Varianz (R²)
.24
.04
.11
.07
Nationalstolz
Besuchte Schulform (Referenz Gymnasium)
Zugehörigkeit zu jugendkulturellen Gruppierungen (Referenz Mainstream-Jugendliche)
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Bei einer zunächst überblickenden Betrachtung der vier dargestellten Modelle wird deutlich, dass die höchste Varianzaufklärung durch die einbezogenen Prädiktoren für das politische Interesse der Jugendlichen zu verzeichnen ist. An zweiter Stelle folgt die Vorhersage der Bereitschaft zu gewaltförmigen politischen Handlungen. Bei beiden Kriteriumsvariablen werden Effekte der Zugehörigkeit zu jugendkulturellen Gruppierungen – und dies bei Kontrolle der familiären politischen Sozialisation – deutlich. Diese sind bei der Vorhersage der Bereitschaft zu gewaltförmigen politischen Handlungen stärker ausgeprägt als bei der Prädiktion des politischen Interesses. Der Einfluss der Zugehörigkeit zu jugendkulturellen Gruppierungen auf deviantes Verhalten Heranwachsender ist auch in anderen Studien bereits nachgewiesen worden (vgl. z.B. Heitmeyer/Müller 1995; Gille et al. 2000; Pfaff/Krüger 2006). Hier zeigt sich, dass die rechts- und linksorientierten Jugendlichen gleichermaßen politische Gewalt in höherem Maße als Mainstream-Jugendliche befürworten. Ein weiterer Einfluss der jugendkulturellen Orientierungen ist für den Nationalstolz der Jugendlichen zu beobachten. Der szenetypische Umgang mit diesem Thema scheint für die Selbstwahrnehmung der eigenen Szene und die semantische Abgrenzung zu anderen Gruppierungen konstitutiv: Während die Anhänger der rechten Szene dem Nationalstolz mehr Bedeutung als Mainstream-Jugendliche beimessen, grenzen sich linksalternative Jugendliche mit einer bewussten Ablehnung entsprechender Aussagen gegenüber rechten und am Mainstream orientierten Jugendlichen ab. Kein Effekt ist mit der Zugehörigkeit zu einer jugendkulturellen Gruppierung in Bezug auf die Bereitschaft zur politischen Partizipation von Jugendlichen verbunden. Dieses Merkmal ist insgesamt in nur sehr geringem Maße durch die einbezogenen Prädiktoren aufklärbar. Die deskriptiven Ergebnisse (vgl. Tabelle 2) weisen bereits auf eine geringe Differenzierung zwischen den jugendkulturellen Gruppierungen hin, so dass bereits hier ein Effekt dieses Prädiktors in den Regressionsanalysen als unwahrscheinlich anzusehen ist. Insgesamt kann festgehalten werden, dass selbst mit einer recht „holzschnittartigen“ Zuordnung von Jugendlichen zu bestimmten jugendkulturellen Gruppierungen Effekte auf politische Orientierungen von Heranwachsenden – bei Konstanthaltung sozialisatorischer Einflüsse der Familie – beobachtbar sind.
5
Zusammenfassung und Ausblick
Die im Rahmen dieser Studie vorgenommene Zuordnung von Jugendlichen zu jugendkulturellen Gruppierungen stellt den Versuch dar, eine Operationalisierung latenter Aktivierungsfaktoren der Gleichaltrigengruppe zu erhalten und
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diese in ihrer Wirkung auf politische Orientierungen von Heranwachsenden zu untersuchen. Es zeigt sich, dass jugendkulturelle Stilisierungen über den Einfluss der primären familiären Sozialisation hinaus Wirkungen auf die politische Bewusstseinsbildung von Jugendlichen erzielen. Dieser Befund verdeutlicht, dass Elternhaus und Peer Group – wie oftmals theoretisch unterstellt – bedeutsame Instanzen politischer Sozialisation darstellen. Dies ist kein neuer Befund, wenn man von manifesten Aktivierungsfaktoren der Peer-Group ausgeht (z.B. politische Diskussionen unter Freunden, politisches Interesse der Freunde etc.). Neu ist die Betrachtung von jugendkulturellen Stilisierungen, denen sich Jugendliche zugehörig fühlen. Allein die artikulierte Zugehörigkeit – als ein Ausdruck latenter Aktivierungsfaktoren – zeigt bei Konstanthaltung primärer Sozialisationserfahrungen in der Familie einen Effekt auf politische Orientierungen von Heranwachsenden. Damit kann Hypothesen widersprochen werden, die den Einfluss der Jugendkulturen auf die politische Identitätsbildung im Vergleich zur politischen Sozialisation im Elternhaus als marginal betrachten (z.B. Tedin 1980). Aufgrund dieser Befunde ist der Schlussfolgerung von Pfaff zuzustimmen, dass „[…] jugendkulturelle Stile und Szenen als soziale Räume (fungieren), in denen Jugendliche auf der Basis gemeinsamer Erfahrungen Position zu Politik und Gesellschaft entwickeln. Diese muss die politische Sozialisationsforschung einbeziehen, wenn sie das Bedingungsgefüge der politischen Bewusstseinsbildung, wie auch die Genese der andauernden Distanz der Jugend zu politischen Institutionen aufklären will“ (Paff 2006, 399). Die Probleme der vorliegenden Analyse sollen nicht verschwiegen werden: Die Befunde entstammen zum einen einer querschnittlichen Erhebung von politischen Orientierungen und Aspekten der politischen Sozialisation in verschiedenen Lebensumwelten von Jugendlichen. Die aufgeworfene Frage – ob PeerGroups über die sozialisatorische Wirkung des Elternhauses hinaus einen Einfluss auf die politische Identitätsbildung aufweisen – kann letztendlich nur in Längsschnittsuntersuchungen abschließend geklärt werden. Weiterhin wurde mit der Zuordnung der befragten Jugendlichen zu bestimmten jugendkulturellen Gruppierungen eine recht grobe Operationalisierung latenter Aktivierungsbedingungen vorgenommen. Aber bereits mit dieser einfachen Zuordnung werden Zusammenhänge zwischen Peer-Group-Einbindung und politischen Orientierungen der Jugendlichen sichtbar. Zukünftige Forschungsvorhaben sollten – auch auf qualitativem Wege – eine theoretisch fundierte und angemessen operationalisierte Verortung von Jugendlichen in deren jugendkulturelle Stilisierungen vornehmen und somit das Aktivierungspotential von Peer GroupBeziehungen stärker in den Blick nehmen. Reinders (2001, 38) weist zurecht auf eine zu beobachtende dreifache Entkontextualisierung des Individuums in der Jugendforschung hin: Es ist zum einen die Ausblendung der mikrosystemischen
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Eingebundenheit der Jugendlichen (soziale Entkontextualisierung) zu beobachten, zum zweiten eine Nichtberücksichtigung des komplexen Geflechts psychischer Prozesse der Adoleszenz (psychische Entkontextualisierung) zu erkennen und drittens auf die wenig beachtete Tatsache hinzuweisen, dass Jugendliche nicht nur auf die sie umgebenden Bedingungen reagieren, sondern ihre Möglichkeiten und Chancen aktiv nutzen können (biographische Entkontextualisierung). Eine diese Kritikpunkte ernstnehmende Jugendforschung sollte nicht nur eine Synthetisierung vorhandener soziologischer und psychologischer Konzepte leisten, sondern auch eine eigenständige pädagogische Theorie der politischen Sozialisation entwickeln (vgl. Reinders 2001, 39) und mittels einer Triangulation quantitativer und qualitativer Forschungsmethoden eine Rekontextualisierung des jugendlichen Individuums vorantreiben.
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Peers und politische Einstellungen von Jugendlichen
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Peers und Medien – die Bedeutung von Medien für den Kommunikationsund Sozialisationsprozess im Kontext von Peerbeziehungen Henrike Friedrichs und Uwe Sander
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Mediatisierung der Jugend
Das ausgehende 20. Jahrhundert war dadurch geprägt, dass sich die Medien – neben den traditionellen Erziehungsinstitutionen wie Elternhaus, Gleichaltrigengruppe und Schule – zu einer mächtigen Sozialisationsinstanz entwickelt haben. Jugendliche erfahren und „lernen“ aus den Medien fast mehr als über die Schule und das Elternhaus, und mit Medien verbringen Jugendliche auch einen Großteil ihrer Freizeit. Bereits zu Anfang der 1990er-Jahre haben Baacke, Sander und Vollbrecht mit ihrer Studie „Medienwelten Jugendlicher“ das Mediennutzungsverhalten Jugendlicher erforscht. Eine zentrale Erkenntnis der Studie war, dass Medien einen zentralen Stellenwert im Leben von Heranwachsenden einnehmen und eine „anhaltende Mediatisierung des Aufwachsens“ (Baacke/Sander/Vollbrecht 1990a, 247) stattfindet: Lebenswelten sind somit immer auch Medienwelten (vgl. ebd.), und Lebensgeschichten können auch als Mediengeschichten (vgl. Baacke/Sander/Vollbrecht 1990b) bezeichnet werden.1 Dies gilt heute noch wesentlich stärker als vor 20 Jahren, denkt man an die unterschiedlichsten Medienformen und Mediennutzungsweisen von Jugendlichen. Studien wie JIM 20092 zeigen, dass „Medien in vielfältigen Formen in den Alltagswelten von […] Jugendlichen vorfindbar sind“ (Vollbrecht 2003, 13), fest in den Alltag integriert sind und die Mediennutzung habitualisiert stattfindet – dies reicht vom eher passiven Fernsehen bis hin zur kreativen Produktion eigener digitaler Filme. Ein besonderes Gewicht im Alltag von Jugendlichen 1 In der Studie „Medienwelten Jugendlicher“ (1986-1989) übertrugen Baacke, Sander und Vollbrecht den sozialökologischen Ansatz auf die Medienforschung (vgl. Baacke/Sander/Vollbrecht 1990a; Baacke/Sander/Vollbrecht 1990b). 2 Die JIM-Studie wird jährlich vom Medienpädagogischen Forschungsverbund Südwest durchgeführt. Sie dreht sich um das Medien- (und Freizeit)verhalten Jugendlicher im Alter von 12 bis 19 Jahren in der BRD. 2009 wurden 1.200 Jugendliche telefonisch befragt (vgl. mpfs 2009, 4).
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Henrike Friedrichs und Uwe Sander
nehmen das Handy – 88% der 12-19-Jährigen nutzen dies laut JIM 2009 täglich bis mehrmals in der Woche, der Fernseher (90%), das Internet (90%) und das Hören von mp3s (81%) ein (vgl. mpfs 2009, 16). Es findet demzufolge gegenwärtig eine Mediatisierung der Jugend statt – Sozialisation meint somit immer auch Mediensozialisation. Nicht nur die Jugend ist zu einer Medien-Jugend geworden, sondern die Gesellschaft auch zu einer Wissens- bzw. Medien-Gesellschaft. Medienbotschaften, mediale Vermittlung von Kommunikation und Informationsspeicherung bzw. -bearbeitung gehören heute zu ebensolchen Kerncharakteristika wie ehemals die mechanischen und elektromechanischen Kompetenzanforderungen im Gefolge der Industrialisierung. Für das Erlangen von Medienkompetenz hat das medial durchdrungene „ökologische Zentrum“ (vgl. Baacke 2003, 70ff.), die Familie, eine hohe Relevanz, da Kinder hier die ersten Medienerfahrungen machen. Den Eltern kommt hierbei eine hohe Vorbildfunktion zu in Bezug auf angemessenes mediales Verhalten, da familiäre mediale Gewohnheiten, die in Kindheit und Jugend erworben wurden, relativ konsistent sind. Barthelmes und Sander (2001) bezeichnen die Mediengewohnheiten und -vorlieben einer Person als „kulturelles Erbe“ (Barthelmes/Sander 2001, 247)3, das über die Kindheit hinaus zum Teil bestehen bleibt. Im Laufe der Adoleszenz nehmen jedoch die Peers eine weitaus wichtigere Rolle als das familiäre Umfeld für das eigene Nutzungsverhalten ein (vgl. Baacke/Sander/Vollbrecht 1990a, 249; vgl. Barthelmes/Sander 2001, 87ff.): Jugendliche orientieren sich aneinander, sehen die Fernsehsendungen, die der Kumpel auch „cool“ findet, und gestalten ihr Online-Profil auf einer Social Network Site ähnlich gegenüber dem anderer Jugendlicher (vgl. Boyd 2007a4). Auch die Medienkompetenzentwicklung scheint maßgeblich innerhalb der Peer Group abzulaufen. Traditionell erfolgte bislang die Übertragung des jeweils notwendigen gesellschaftlichen Kompetenz-Wissens von Generation zu Generation. Schule und Elternhaus, kurzum Erwachsene, gaben die jeweils wichtigen Wissensbestände und Handlungskompetenzen weiter an die Jüngeren. Dieser generationslogische Prozess der Vermittlung von Kompetenzen, so jedenfalls eine unserer Thesen, hat sich im Medienbereich heute strukturell aufgelöst. Medienwissen und andere Elemente von Medienkompetenz werden an3 Barthelmes und Sander führten qualitative Interviews mit Jugendlichen und ihren Eltern zu drei Messzeitpunkten durch und betrachteten dabei den Zusammenhang der Mediennutzung und der Bewältigung von Entwicklungsaufgaben im Jugendalter (vgl. Barthelmes/Sander 2001). 4 In der nordamerikanischen Literatur zum Gebiet der Social Network Sites und deren Nutzung durch Jugendliche nimmt Danah Boyd eine bedeutende Funktion ein. Danah Boyd führte im Rahmen ihrer Forschungstätigkeit Interviews mit MySpace-, Friendster- (vgl. Boyd 2006, 2) und Facebook-Nutzern durch und analysierte über 10.000 MySpace-Profile (vgl. Boyd 2008, 1).
Peers und Medien
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scheinend nicht mehr nur von Erwachsenen und durch die klassischen Bildungsinstitutionen wie Schule weitergegeben, sondern werden innerhalb von jugendlichen Peergruppen kultiviert und transformiert. Ein Beispiel hierfür wird durch die Kompetenzen im Umgang mit Neuen Medien (etwa Computer und Umgang mit dem Internet) repräsentiert. Hier scheinen die zentralen Sozialisationsagenturen die Medien selbst und darüber hinaus die jugendlichen Peers zu sein, und es entwickeln sich außerhalb von Erwachseneneinflüssen und weitgehend ohne eine Vermittlung durch Bildungsinstitutionen komplexe Kompetenzen und Nutzungsmuster. Die Mehrheit der Jugendlichen erwerben ihre Computer- und Internetkompetenzen in der Freizeit eigenständig und in Interaktion mit den Peers und nicht etwa in der Schule (vgl. Konsortium Bildungsberichterstattung 2006, 60f.5; vgl. Treumann/Sander/Meister et al. 2007, 672f.6; vgl. mpfs 2009, 37).
2
Entwicklung der Mediennutzung – vom Einfluss der Familie zur Prägung durch die jugendliche Peer Group
2.1 Funktionen von Medien Medien erfüllen eine Vielfalt von Funktionen (nicht nur) im Jugendalter. Vollbrecht (2003, 14f.) unterscheidet bei der Funktionsvielfalt der Medien zwischen x x
situativen Funktionen [Information, Unterhaltung, Vertreiben von Langeweile; Stimmungsregulierung, Eskapismus, Habitualisierungsfunktion (Zeitstrukturierung)] sozialen Funktionen (Gesprächsanlässe in Familien und Peer Groups7, Meinungsbildung, Gruppenidentität, sich in Medienwelten positionieren)
5 Der nationale Bildungsbericht beschreibt das deutsche Bildungswesen als Gesamtsystem. Er setzt sich aus der amtlichen Statistik und repräsentativen Panel- und Surveydaten zusammen (z.B. PISADaten) (vgl. Konsortium Bildungsberichterstattung 2006, 197). 6 In der Studie „Medienhandeln Jugendlicher“ wurden 3.200 Jugendliche zwischen 12 und 20 Jahren standardisiert-schriftlich befragt sowie 40 leitfadengestützte Interviews und 10 Gruppendiskussionen mit ihnen durchgeführt (vgl. Treumann/Meister/Sander et al. 2007, 671). 7 ¼ der Befragten in einer Studie von Süss (2004) gab an, Computerspiele zu nutzen, um mit Freunden zu spielen (vgl. Süss 2004, 196f.), was die Funktion der Medien als „Gesprächs- und Kontaktaufhänger“ verdeutlicht. Süss führte mehrere empirische Projekte zwischen 1996 und 2002 durch. 1997 führte er einen repräsentativen Survey in der Schweiz mit 1386 Schülern von 5 bis 17 Jahren
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x
biographischen und Ich-bezogenen Funktionen [Identitätsentwicklung (Vorbilder, Normen, virtuelle Erprobungen), Selbst-Vergewisserung, Selbst-Reflexivität und Selbst-Darstellung, Modell-Lösungen für persönliche oder entwicklungsbezogene Themen]
Des Weiteren haben Medien eine Qualifikationsfunktion im Rahmen des informellen Lernens (vgl. Schell 2005, 182ff.), die Funktion, interpersonale Kommunikation zu ersetzen (z.B. bei wenig Kontakt zu Gleichaltrigen) (problematischerweise gekoppelt mit der Gefahr der Online-Sucht) (vgl. Schell 2005, 182ff.) und die Funktion, soziales Prestige herzustellen und zu festigen (Spezialwissen, z.B. durch gekonnten Umgang mit Computern) (vgl. Schell 2005, 182ff.; vgl. Barthelmes/Sander 2001, 275; vgl. Salisch/Kristen/Oppl 2007, 1628). Medien nehmen im Laufe der Biographie eine unterschiedlich starke Bedeutung ein: Während in der frühen Kindheit die Sozialisation des Kindes vor allem durch die Eltern bestimmt sein dürfte und Medien und Peers eine geringere Rolle einnehmen, wächst die Bedeutung sowohl der Medien als auch der Peers von der mittleren Kindheit bis zur Jugendphase bedeutend an, während andere Sozialisatoren wie die Eltern an Gewicht verlieren (vgl. Süss 2004, 287). Im Jugendalter nimmt die Attraktivität der Medien für Heranwachsende zu, gemessen an der einhergehend ansteigenden Medienausstattung im familiären Haushalt im Vergleich zum Kindesalter (vgl. ebd., 102). Medienumgang und -nutzung verändern sich in der Kindheits- und Jugendphase also fortlaufend. Während in der Kindheit die Familie die bedeutende Rolle hinsichtlich der Mediennutzungsgewohnheiten einnimmt, erfolgt dies im Jugendalter mittels der Zugehörigkeit zur Peer Group (vgl. Baacke/Sander/Vollbrecht 1990a, 249). Im Folgenden werden die Mediennutzung innerhalb der Familie und das durch Medien unterstützte Beziehungsmanagement und die Identitätsentwicklung von Jugendlichen innerhalb der Peer Group beschrieben.
zur Mediensozialisation von Heranwachsenden durch, die hier beschriebenen Ergebnisse beziehen sich im Wesentlichen auf diesen (vgl. Süss 2004, 87). Hoffmann, die sich in ihrem Beitrag für eine Verknüpfung von Theorien zur Medienrezeption und Theorien zur Mediensozialisation ausspricht, weist Medienfiguren sozial-integrative Funktionen zu, da über sie Kontakte zu Peers, etwa über Fan-Kulturen und soziale Referenz- bzw. Anschlusskommunikation hergestellt werden können (vgl. Hoffmann 2007, 23). 8 Die KUHL-Studie von Salisch, Kristen und Oppl (2007) zeigt für Jungen in der sechsten Klasse, dass Peer-Expertise und Peer-Konkurrenz Motive für das eigene Spielen am Computers sind (vgl. Salisch/Kristen/Oppl 2007, 162).
Peers und Medien
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2.2 Mediennutzung innerhalb der Familie (Kindheit und frühe Adoleszenz) Die Eltern sind das direkte Vorbild ihres Kindes im Umgang mit Medien und haben, wie oben beschrieben, einen starken Einfluss auf die weitere Mediennutzung ihres Kindes. Hierbei wirkt sich das Bildungsniveau der Eltern auf die Mediennutzung und -kompetenz der Kinder aus: Zum einen scheinen Eltern aus einer bildungsmäßig höhergestellten Schicht stärker an der Mediennutzung ihrer Kinder interessiert zu sein (vgl. Baacke/Sander/Vollbrecht 1990a, 106) und eher Medien, die kreativere Formen der Nutzung ermöglichen, zu befürworten. So stellt Süss (2004) fest, dass Eltern aus der Oberschicht gegenüber Eltern aus der Unter- und Mittelschicht eher die Nutzung eines PCs oder von Büchern durch das Kind befürworten, während die Nutzung von Fernseher und Gameboy (gemessen an der Medienausstattung im Kinderzimmer) eher von letzteren befürwortet wird (vgl. Süss 2004, 109). Zum anderen ermittelten Treumann, Meister und Sander et al. (2007) eine positive Korrelation zwischen Bildungsniveau der Eltern und Medienkompetenz des Kindes: Je höher das formale Bildungsniveau, umso schneller und flexibler werden Fertigkeiten und Kompetenzen im Umgang mit alten und Neuen Medien erlernt und desto höher ist tendenziell auch das Ausmaß der Medienkompetenz (vgl. Treumann/Meister/Sander et al. 2007, 679f.). Möglicherweise kann dies auf eine höhere Medienkompetenz und/oder eine differenzierte Erziehungshaltung gegenüber Medien auf Seiten höher gebildeter Eltern zurückgeführt werden und/oder eine geringere Aufmerksamkeit gegenüber dem Medienkonsum der Kinder auf Seiten der weniger gebildeten Eltern, bedingt durch vermutlich einhergehende belastete Familiensituationen (z.B. durch Arbeitslosigkeit der Eltern). Im Kindes- und frühen Jugendalter (13/14 Jahre) besteht ein regelmäßiges und häufiges Interesse an gemeinsamen Medienaktivitäten in der Familie, vor allem das gemeinsame Fernsehen wird oft praktiziert. Die Familien mit 13-/14jährigen Jugendlichen (frühe Adoleszenz) gaben in den Interviews von Barthelmes/Sander (2001) an, über Medien innerhalb der Familien zu sprechen. So beschreiben Jugendliche in der frühen Adoleszenz ihren Eltern aus eigenem Antrieb Medieninhalte (z.B. von Spielfilmen), die mit persönlichen Situationen in Verbindung stehen (assoziative Gespräche), und diskutieren mit ihnen aufgrund unterschiedlicher Medienvorlieben (diskursive Gespräche). Doch nehmen diese Medien-Gespräche mit einem höheren Alter der Kinder deutlich ab. Mit der zunehmend eigenständigen Nutzung der Medien ohne Beisein der Eltern wissen die Eltern relativ wenig über den Medienkonsum ihrer Kinder. Bereits im Alter von 15/16 Jahren lassen solche „Medien-Gespräche“ deutlich nach (vgl. Barthelmes/Sander 2001, 240ff.). Jugendliche entwickeln mit 15/16 Jahren
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deutliche Vorlieben und Präferenzen9, so dass sie fortan Medien selektiv durch die Auswahl für sie interessanter Medieninhalte nutzen anstatt Medien wie im frühen Jugendalter relativ unspezifisch zu rezipieren. Statt der Familie sind nun die Gleichaltrigen das prägende Moment für die eigene Mediennutzung (vgl. Baacke/Sander/Vollbrecht 1990a, 249; vgl. Barthelmes/Sander 2001, 240ff.; 87f.).
2.3 Mediennutzung innerhalb der Peer Group (Adoleszenz) Im Jugendalter stellen Gleichaltrige die präferierten Freizeitpartner gegenüber der Familie dar, nur ein geringer Anteil von Jugendlichen verbringt seine Freizeit am liebsten allein (vgl. Süss 2004, 144).10 Die Peerorientierung von Jugendlichen scheint auch Einfluss auf ihre Mediennutzungszeit zu nehmen. So konnte Süss (2004) in einer Befragung mit 871 Jugendlichen nachweisen, dass der Medienkonsum von Einzelgängern, die ihre Freizeit vornehmlich allein statt mit Familie (familienorientiert) oder den Peers (peerorientiert) gestalten, mehr als eine Stunde über dem der Jugendlichen mit einer Familien- bzw. Peerorientierung liegt (vgl. Süss 2004, 144). Auch die Präferenz bzw. Motivation zur Nutzung bestimmter Medien hängt mit der Peer Group zusammen: Erste Ergebnisse einer einjährigen Untersuchung von Philipp (2009) mit Fünftklässlern deuten darauf hin, dass die Lesemotivation von Kindern eng mit der Lesemotivation der Peer Group zusammenhängt: Liest die Peer Group gerne, wirkt sich dies auch positiv auf die Lesemotivation des Einzelnen aus (vgl. Philipp 2009 sowie in diesem Band).11 Um kostengünstig unterschiedliche Medien nutzen zu können, tauschen die Jugendlichen ihre Medieninhalte untereinander aus (vgl. Baacke/Sander/Vollbrecht 1990, 71ff.; vgl. Suoninen 2001, 213). Bei einer interna9 Angesichts der Verlagerung der Jugendphase dahingehend, dass Heranwachsende bereits in einem sehr frühen Alter unterschiedliche Entwicklungsaufgaben erfüllen (z.B. Eingehen von Paarbeziehungen), könnte der Trend bei der Mediennutzung möglicherweise auch dahingehend ausfallen, dass bereits zu einem früheren Zeitpunkt als mit 15/16 Jahren eigene Geschmacksvorlieben entwickelt werden. 10 Süss (2004) befragte 1016 Kinder und Jugendliche zwischen 6 und 16 Jahren nach ihrem bevorzugten Freizeitpartner (vgl. Süss 2004, 144). 11 Weitere Einflussfaktoren für die Lesemotivation von Heranwachsenden stellen das Bildungsniveau der Eltern und die eigene Schulbildung dar. Sowohl Kinder von Eltern mit einem höheren Bildungsabschluss als auch Gymnasiasten gegenüber Real- und Hauptschülern greifen in ihrer Freizeit häufiger zum Buch. Auch das Alter und Geschlecht beeinflusst das Leseverhalten, Zwischen 12 und 13 Jahren lesen Jugendliche mehr als zwischen 14 und 17 Jahren, ab 18 Jahren nimmt die Leselust wieder zu; Mädchen lesen zudem mehr als Jungen (vgl. Treumann/Sander/Meister et al. 2007, 673).
Peers und Medien
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tional vergleichenden Untersuchung dienten bei den 12-16-Jährigen in Deutschland im Durchschnitt Musik, CDs und Tapes (66%) als beliebteste Medientauschobjekte, danach an der Reihe waren Videos (50%), gefolgt von Computerspielen (34%), Büchern (30%) und Zeitschriften (23%) (vgl. Suoninen 2001, 213).12 Im Folgenden möchten wir näher die Bedeutung von Medien für das Beziehungsmanagement und die Identitätsentwicklung von Jugendlichen erörtern.
2.3.1 Mediennutzung und Beziehungsmanagement von Jugendlichen Medien spielen für das persönliche Beziehungsmanagement von Jugendlichen eine bedeutende Rolle. Schmidt (2009) meint hiermit die „Pflege von bestehenden oder [das] Knüpfen von neuen Relationen“ (Schmidt 2009, 71) und in einem weiteren Sinne auch das Arbeiten an eigenen Sozialbeziehungen (vgl. ebd.). Er bezieht diesen Begriff auf Kontakte, die innerhalb des „neuen Netzes“ (Web 2.0)13 via Social Network Sites, Blogs etc. gepflegt werden. Jedoch dienen auch andere Medien dem Beziehungsmanagement von Jugendlichen. Hierzu gehören sowohl andere „Neue Medien“ wie das Handy oder das „iPhone“ der In-Marke „Apple“. Darüber hinaus dient auch die gemeinsame Mediennutzung von Jugendlichen, am selben Ort und zur selben Zeit, der Pflege der gemeinsamen Beziehung. Beispielsweise hören Jugendliche die Songs ihrer Lieblingsband, schauen sich Serien und Filme gemeinsam an, gehen ins Kino, surfen zusammen im Netz oder spielen in der Gruppe Computer-Spiele. In der qualitativen Zusatzbefragung von JIM 2009, JIMplus 2009 (n=102), wurden die Jugendlichen danach befragt, wie wichtig ihnen einzelne Medien im Zusammensein mit ihren Freunden seien. Nur 21% der Befragten gab an, keine Medien gemeinsam mit Freunden als wichtig zu erachten – Medien spielen also im Alltag für das Zusammensein mit Freunden eine bedeutende Funktion. An erster Stelle stand dabei bei
12 Da Suoninen’s Studie bereits etwas älter ist, dürften sich die aktuellen Tauschobjekte verschoben haben: So wird vermutlich Musik eher in Form von mp3s weitergegeben und Videos durch ein „Saugen“ von Filmen aus dem Netz verteilt, die auf CD gebrannt werden und in der Peer Group ausgetauscht werden. 13 Der Begriff „Web 2.0“, 2005 von Tim O’Reilly durch den Artikel „What is Web 2.0“ geprägt, meint, dass der Internetnutzer die Möglichkeit hat, „user-generated content“ zu erzeugen und vom passiven Empfänger zum aktiven Gestalter und Sender im Netz zu werden. Die Möglichkeiten hierbei sind vielfältig: Jugendliche können etwa Videos bei YouTube einstellen, an Wikis mitarbeiten, eigene Weblogs (z.B. in Form von Internettagebüchern) und Podcasts anfertigen sowie über Social-Networking-Plattformen wie schülerVZ mit ihren Peers kommunizieren.
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den befragten Jugendlichen das Handy (29%), gefolgt von MP3-Player/CDs (20%) und dem Fernsehen (13%) (vgl. mpfs 2009, 21). Folglich verstehen wir das Beziehungsmanagement von Jugendlichen als Pflege der persönlichen Sozialbeziehungen unter Einbeziehung von Medien, egal welcher Form. Hierzu zählen sowohl Medien, die konkret der Kommunikation zwischen Jugendlichen dienen (Handy etc.), als auch Medien, die gemeinsam innerhalb der Gleichaltrigengruppe zum Einsatz kommen.
2.3.2 Digital-medial vermitteltes Beziehungsmanagement Die digital-vermittelte Kommunikation zwischen Jugendlichen nimmt heutzutage einen hohen Stellenwert für die Gestaltung der persönlichen Beziehungen ein – hierzu zählen sowohl die mobile Kommunikation per Handy als auch die Kommunikation via Internet. Beinahe alle Jugendlichen zwischen 12 und 19 Jahren – dies sind 95% – besitzen ein eigenes Mobiltelefon. Die Versorgung differiert hierbei nach dem Alter der Jugendlichen: Von den Heranwachsenden zwischen 12 und 13 Jahren besitzen 88% ein Handy, bei den volljährigen Jugendlichen sind nur 1% ohne Handy. Die von den Jugendlichen am häufigsten genutzten Funktionen sind die SMS-Funktion (jeder zweite Handybesitzer kommuniziert täglich per SMS; etwa 4/5 mehrmals in der Woche) und die Anruf-Funktion (etwa 4/5 werden mehrmals in der Woche angerufen; etwa 2/3 rufen mehrmals pro Woche jemanden an) (vgl. mpfs 2009, 53ff.).14 Eine Studie von Döring (2005, 32) mit 400 Schülern zwischen 12 und 18 Jahren zeigt, dass die SMS-Kommunikation vor allem der Pflege bereits bestehender Kontakte dient und nur selten zum Austausch mit Unbekannten genutzt wird. Laut Süss (2004) nutzen Mädchen das Handy eher zur Kontaktpflege, so dass auch lange Gespräche über das Gerät geführt werden, zudem werden auch Rituale wie ein gegenseitiges Gute-Nacht-Wünschen per Handy durchgeführt, Jungen hingegen nutzen das Handy eher dazu, um Treffpunkte zu vereinbaren. Darüber hinaus dient das Handy auch der Anbahnung von Paar-Beziehungen über Sympathiebekundungen und Flirts (vgl. Süss 2004, 256ff.). Eine ebenfalls äußerst bedeutende Rolle für das Beziehungsmanagement von Jugendlichen nimmt das Internet ein. Im weiteren Verlauf des Artikels wird verstärkt auf die Thematik Social Network Sites (z.B. schülerVZ) eingegangen,
14 Auffällig ist, dass die direkte Kommunikation via Sprache oder SMS häufiger von Jugendlichen mit höherer Schulbildung genutzt wird (vgl. mpfs 2009, 56).
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da diese eine bedeutende Funktion für das Beziehungsmanagement von Jugendlichen einnehmen. War in der Vergangenheit oft von einer digitalen Spaltung („Digital Divide“, Castells 2005, 261 ff.) die Rede, die bildungsferne und bildungsnahe Personen in Onliner und Offliner aufteilt, so schließt sich langsam aber sicher die Lücke, und Personen aller Sozialschichten nutzen das Internet (vgl. Initiative D21 2009, 17ff.): Laut ARD/ZDF-Onlinestudie 2009 nutzen 67,1% der Erwachsenen in Deutschland ab 14 Jahren (zumindest gelegentlich) das Internet (vgl. van Eimeren/Frees 2009, 335).15 Vor allem bei Jugendlichen zeigen sich kaum noch Unterschiede hinsichtlich des Zugangs zu Computer und Internet, differenziert nach Bildungshintergrund: Computer (100 %) und Internet (98 %) sind heute in nahezu allen Haushalten, in denen 12- bis 19-Jährige aufwachsen, vorhanden. Davon haben drei Viertel der Jugendlichen einen eigenen Computer oder Laptop und mehr als jeder Zweite kann vom eigenen Zimmer aus das Internet benutzen. Etwa 90% der Jugendlichen sind täglich bzw. mehrmals pro Woche online (vgl. mpfs 2009, 31). Das Internet ist also fest in den Alltag von Heranwachsenden eingebunden.16 Am bedeutendsten in Bezug auf die Internetnutzung sind laut JIM 2009, vor allem für jüngere Jugendliche, die Kommunikationsmöglichkeiten des Netzes (Communities, Chat, E-Mail, Messenger) – hierauf entfällt in Konkurrenz zu den Bereichen „Spiele“, „Information“ und „Unterhaltung“ (Musik, Videos, Bilder) beinahe die Hälfte der Nutzungszeit. Etwa die Hälfte der Internet-User nutzt regelmäßig E-Mails und etwas mehr als ein Viertel chattet regelmäßig. Für etwa ein Viertel der männlichen Jugendlichen stellen zudem Online-Spiele eine weitere Kommunikationsform dar, für Mädchen bzw. junge Frauen hat diese Kommunikationsform äußerst wenig Relevanz, was sicher durch die geringe Teilnahme der weiblichen Jugendlichen an Online-Spielen gewertet werden kann. Besonders häufig genutzt werden dabei von den Jugendlichen Instant 15 Im Rahmen der ARD/ZDF-Onlinestudie 2009 wurden 1806 Erwachsene ab 14 Jahren in Deutschland zu ihrem Online-Nutzungsverhalten befragt (vgl. van Eimeren/Frees 2009: 334f.). Die Befragung findet jährlich statt. 16 Betrachtet man den Stellenwert des Internets gegenüber dem Fernsehen für Jugendliche, zeigt sich ein uneinheitliches Bild: Die ARD/ZDF-Onlinestudie 2009 stellt das Internet als das Hauptmedium für Jugendliche dar, da die Nutzungszeit der Jugendlichen in Bezug auf das Internet (123 Minuten täglich) mittlerweile die Beschäftigungsdauer mit dem Fernsehen (97 Minuten) und dem Radio (89 Minuten) übersteige. Van Eimeren und Frees (2009, 347) erklären dies durch eine Konvergenz der Medien in dem Sinne, dass das Internet für Jugendliche zum „All-in-one-Medium“ wird, das unterschiedliche Medienbedürfnisse erfüllt. Die Ergebnisse von JIM 2009 weisen jedoch eher auf eine in etwa gleich starke Nutzungszeit von Internet (134 Minuten täglich) und Fernsehen (137 Minuten) durch Jugendliche hin (vgl. mpfs 2009, 32).
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Messenger und Online Communities (70% täglich bis mehrmals pro Woche; 85% zumindest selten). Die Hälfte der jugendlichen Internetnutzer betrachtet täglich das eigene Profil oder die Profile Anderer auf Online Communities, von diesen wiederum gehen 57% dieser Tätigkeit mehrmals am Tag nach. Zu den häufigen Social Network Site-Nutzern zählen etwas mehr Mädchen als Jungen und zu einem größeren Anteil Jugendliche mit einer höheren Bildung. Die beliebteste Social Network Site ist das schülerVZ (vgl. mpfs 2009, 33; 45ff.). Solche Online Communities bzw. Social Network Sites werden durch Danah M. Boyd und Nicole B. Ellison, zwei amerikanische Wissenschaftlerinnen, die auf dem Forschungsgebiet der Social Network Sites führend sind, wie folgt beschrieben: „We define social network sites as web-based services that allow individuals to (1) construct a public or semi-public profile within a bounded system, (2) articulate a list of other users with whom they share a connection, and (3) view and traverse their list of connections and those made by others within the system. The nature and nomenclature of these connections may vary from site to sites” (Boyd/Ellison 2007)
Zwar variieren einzelne Social Network Sites in ihren Merkmalen und Funktionen, dennoch lassen sich gewisse Standardmerkmale festmachen, durch die Social Network Sites gekennzeichnet sind, welche um ständig hinzukommende neue Features, die an die Bedürfnisse der Zielgruppe angepasst sind, erweitert werden. Eine Social Network-Plattform zeichnet sich durch folgende Merkmale aus: 1) Profilseite: User erstellen eine Profilseite, auf der sie sich der Öffentlichkeit präsentieren. Nachdem sich ein User bei einer Social Network Site angemeldet hat, wird ihm eine Reihe von Fragen gestellt, wodurch sein persönliches Profil generiert wird. Zum Profil gehören unter anderem ein Profilbild, Informationen über demografische Angaben [z.B. Angaben zu Schule/Universität/Arbeitsstelle; Geschlecht; Geburtstag; Heimatort; Kontaktdaten (Adresse, Telefonnummer, ICQ-Nummer, Handy-Nr. etc.)] und eine Selbstbeschreibung des Nutzers (hierzu gehören bspw. auch Angaben zum Beziehungsstatus) inklusive Angaben zu persönlichen Interessen und Vorlieben und hochgeladene sowie durch andere User verlinkte Fotos des Nutzers.17 Darüber hinaus bieten manche Social Community Sites auf der Profilseite die Möglichkeit, sich als Nutzer einer bestimmten „Gruppe“ im Netzwerk zuzuordnen, die beispiels17 Betrachtet ein User die Profilseite eines anderen und schaut sich die verlinkten Fotos des Nutzers an, so werden Fotos angezeigt, die wiederum andere Nutzer eingestellt haben und auf denen sie die betreffende Person markiert haben. Eine solche Verlinkung wird erstellt, indem ein Nutzer mit dem Mauszeiger einen Rahmen um das Gesicht einer auf einem Foto abgebildeten Person zieht.
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weise bestimmte Hobbies und Interessengebiete wie Fan-Zugehörigkeiten (z.B. Gruppenname im studiVZ „Michael Jackson“) oder Eigenschaften der Nutzer abbilden kann (z.B. Gruppenname im studiVZ „Wir sprechen nicht zu schnell! Ihr denkt einfach nur zu langsam“). Gezielt individualisiert gestaltet werden kann das Profil zudem durch das Einstellen von Multimedia-Content (z.B. Songs, (Musik-)Videos), durch eine individuell per HTML-Codes gestaltete Profilseite (MySpace)18 und mittels der Erweiterung der Profilseite um ZusatzFeatures (z.B. Kalender) (u.a. „widgets“ bei MySpace; „applications“ bei Facebook). 2) Artikulation sozialer Beziehungen: Virtuelle „Freundschaftseinladungen“ ermöglichen die Artikulation sozialer Beziehungen. Dies bedeutet, dass Teilnehmer an andere Nutzer eine Anfrage schicken, ob die beiden Parteien „befreundet“ sein sollen. Bei einer Annahme dieser Freundschaftseinladung erscheint das Profilbild des jeweils anderen Nutzers in der „Freundesliste“ der beiden Nutzer. Auch für andere Teilnehmer der Community ist somit sichtbar, dass die beiden Nutzer einander kennen. Eine „Freundschaft“, die auf einer Social Network-Plattform artikuliert wird, ist mit besonderen Privilegien verbunden: Nutzer können die Profilseiten ihrer „Freunde“ betrachten und somit Informationen über sie erhalten, die bei einer entsprechenden Gestaltung der Privatsphäreeinstellungen (nur Freunde können sich das Profil anschauen), verborgen blieben.19 3) Die Plattformen bieten ihren Nutzern unterschiedliche Möglichkeiten zur Kommunikation an: Zum Standardrepertoire von Social Network Sites gehören die Kommunikationsmöglichkeiten per privater Nachricht, die nur dem Empfänger zugänglich ist (ähnlich einer E-Mail), öffentlich einzusehender Pinnwand auf der Profilseite des Nutzers und ein synchroner Chat20 bzw. Instant Messenger. Zudem können die Nutzer je nach Plattform in Gruppen, denen sie angehören, über Diskussionsforen und per in die Plattform integrierte Blogs kommunizieren. Per Microblogging können die Nutzer zudem kurze Nachrichten versen18
Im Netz bestehen spezifische Internetseiten, auf denen HTML-Codes für unterschiedliche Bilder zu finden sind, die per Copy/Paste in die Social Network Sites MySpace übertragen werden können und somit eine Individualisierung des eigenen MySpace-Profils ermöglichen. 19 Social Network Sites bieten dabei für ihre Nutzer auch teilweise die Möglichkeit, das eigene soziale Netzwerk zu organisieren, indem diese ihre Online-Freunde je nach dem jeweiligen Kontext der Bekanntschaft und/oder der Enge der Sozialbeziehung unterschiedlichen Kategorien zuordnen. So können bspw. im studiVZ wie bei einem E-Mail-Verteiler Freundschaftslisten erstellt werden (z.B. „Schule“, „Sportverein“, „Meine Mädels“), über die an eine bestimmte Personengruppe adressierte Nachrichten verschickt und die auch bei der Gestaltung der Privatsphäre-Einstellungen (Wer darf was auf dem eigenen Profil sehen?) verwendet werden können. 20 Auf schülerVZ ist der Chat zum Schutz der Privatsphäre der Nutzer und vor Belästigungen nur für „virtuelle Freunde“ des Nutzers geöffnet (vgl. schülerVZ-Homepage).
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den, die auf der Startseite der anderen Nutzer bei deren Einloggen in die Plattform erscheinen (z.B. Das „Was machst du gerade?“-Feld bei Facebook). Abbildung 1: „Was machst du gerade?"-Feld, Facebook
Zudem können sich die Nutzer ihre Zuneigung zeigen, indem sie den anderen Nutzer virtuell „anstupsen“ (Facebook) oder „gruscheln“ (VZ-Gruppe: schülerVZ; studiVZ; meinVZ). Das Wort „gruscheln“ stellt hierbei ein Kunstwort aus einer Kombination der beiden Wörter „grüßen“ und „kuscheln“ dar. 4) Startseite: Loggt sich ein registrierter Nutzer auf einer Social NetworkPlattform ein, so gelangt er zunächst auf seine persönliche Startseite und wird dort direkt über die Plattform-Aktivitäten seiner „virtuellen Freunde“ informiert. Zudem wird der Nutzer durch vom Betreiber automatisch generierte Mitteilungen auf der Startseite darüber benachrichtigt, ob andere Nutzer mit ihm in Kontakt treten und kommunizieren wollen (z.B. ob eine Freundschaftseinladung vorliegt). Nach der eher allgemeinen Beschreibung von Social Network Sites, möchten wir nun konkreter das Online-Beziehungsmanagement von Jugendlichen mittels dieser medialen Plattformen betrachten. Wichtig in diesem Zusammenhang ist, dass Face-to-face-Kommunikation und eine medial vermittelte Kommunikation nicht getrennt voneinander betrachtet werden können – im Gegenteil, beide sind eng miteinander verwoben und fest in den Alltag von Jugendlichen integriert. Streiten sich etwa zwei Jugendliche auf einer Social Network-Plattform, so wird ihre soziale Beziehung auch bei dem Face-to-Face-Treffen in der Schule gestört sein, überschüttet ein Nutzer hingegen sein Gegenüber im Netz mit Komplimenten, so wird sich dies vermutlich auf die Beziehung der beiden zueinander auswirken und auch im OfflineKontext Wirkungen entfalten. Der enge Zusammenhang zwischen online und offline zeigt sich bereits in dem Faktum, dass Jugendliche mittels Social Network Sites vor allem mit Personen kommunizieren, die sie bereits aus dem Offline-Kontext kennen: Sowohl (zum Teil repräsentative) quantitative Studien als auch qualitative Studien in
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Deutschland und im internationalen Raum (vgl. z.B. Schmidt et al. 2009, 7ff.21 und für die USA die Forschungen von Boyd) zeigen, dass das Hauptnutzungsmotiv für Jugendliche die Kommunikation und Beziehungspflege mit Freunden und Bekannten ist. Dies gilt sowohl für Schüler (vgl. mpfs 2008, 55) als auch studentische Nutzer, also für Nutzer in einem fortgeschrittenen Abschnitt der Jugendphase (vgl. Prommer et al. 200922, vgl. Neuberger 200923). In JIMplus2008 (n=1208) (vgl. mpfs 2008, 4) gaben die 14-bis 19-jährigen Jugendlichen an, dass (fast) alle Freunde ebenfalls registrierte Nutzer seien, alte Bekannte wiedergefunden und neue Bekanntschaften geschlossen werden könnten (vgl. Ergebnisse der qualitativen Zusatzbefragung JIMplus 2008 (n=106) in mpfs 2008, 55). Daten des Pew Internet & American Life Project (2009) zeigen, dass 91% der nordamerikanischen Jugendlichen und 89% der Bevölkerung ab 18 Jahren über Netzwerkplattformen den Kontakt zu Freunden und Bekannten halten (vgl. Lenhart 2009, 4, 11).24 Auch der aus der UK stammende Forschungsreport „Ofcom Media Literacy Audit Research“ (2008)25 weist auf die Bedeutung von Social Network Sites hin: Der Großteil der Teilnehmer auf Social Network Sites, in Zahlen ausgedrückt 75% der 12- bis 15-Jährigen (vgl. Ofcom 2008b, 57) und ca. zwei Drittel der ab 16-Jährigen (vgl. Ofcom 2008a, 41), nutzt die Plattform zur Kontaktpflege mit Freunden und Familie, zu denen auch offline regelmäßiger Kontakt besteht. Zudem werden Social Network Sites zur Wiederaufnahme von alten Kontakten genutzt [23% der 12- bis 15-Jährigen (vgl. Ofcom 2008b, 57), 47% der ab 16-Jährigen (vgl. Ofcom 2008a, 41)]. Neben der Pflege von Kontakten ermöglichen Social Network Sites ein „hang out“ in der eigenen Peer Group (vgl. Boyd 2008) und ein „Dabei […] sein“, bei dem „was eh alle tun“ (Schmidt et al. 2009, 9). Dabei zählt für einen 21 Das Hans-Bredow-Institut untersuchte gemeinsam mit der Universität Salzburg den Stellenwert von Social-Web-Anwendungen für 12- bis 24-jährige Internetnutzer. Hierbei wurden eine repräsentative telefonische Befragung von 650 Personen, zwölf Gruppendiskussionen und 29 vertiefende Einzelinterviews mit Jugendlichen durchgeführt und das Social Web und dessen Anwendungsgattungen analysiert (vgl. Schmidt et al. 2009, 4f.). 22 Prommer et al. (2009) befragten 1021 Studierende zu ihrer studiVZ-Nutzung, der Großteil der Befragten war zwischen 18 und 26 Jahren alt (vgl. Prommer et al. 2009, 16). 23 Im Rahmen der nicht-repräsentativen Studie der Universität Münster von Neuberger (2009) wurden 1519 studentische studiVZ-Nutzer der Universität Münster zu ihrer Nutzung befragt (vgl. Neuberger 2009). 24 Das Pew Internet & American Life Project untersucht den Einfluss des Internets auf Kinder, Familien, Gemeinschaften, Arbeitsplatz, Schule, Gesundheitswesen und auf eine zivile/politisch ausgerichtete Lebensweise in den USA (vgl. Lenhart 2009, 21). 25 Im Rahmen der „Ofcom Media Literacy Audit Research“ (2008) wurden im Zeitraum von September bis Dezember 2007 2095 Erwachsene ab 16 Jahren und 2068 Kinder und Jugendliche zwischen 8 und 15 Jahren zum Umgang mit Medien befragt (vgl. Ofcom 2008a, 2f.).
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Teil der Jugendlichen die Menge an Bekanntschaften, um sich anerkannt zu fühlen, für andere hingegen ist das bloße „Dabeisein“ relevant (vgl. ebd.). Eine besondere Form des Umgangs mit sozialen Beziehungen stellt ein „sozialer Voyeurismus“ von Nutzern gegenüber anderen Plattform-Teilnehmern dar. Zum Zeitvertreib stöbern Jugendliche in den Online-Profilen anderer Nutzer (vgl. Boyd 2007b, 10), laut ARD/ZDF-Onlinestudie 2009 gehen 25% der Nutzer täglich dieser Tätigkeit nach (vgl. Busemann/Gscheidle 2009, 360) und immerhin die Hälfte der befragten Studierenden in einer Untersuchung von Prommer et al. (2009) gab an, sich sehr häufig andere Profile anzusehen (vgl. Prommer et al. 2009, 33). Auch in offenen Nennungen der Nutzer zu ihren Nutzungsmotiven kam eine solche Neugierde bezüglich anderer Personen durch Antworten wie „wegen der Fotos“, „Bilder von anderen Leuten sehen“ und „Fotos angucken“ zum Vorschein (vgl. Feierabend 2008, 18). Beim Auskundschaften anderer Profile nutzen die Betrachter die auf Social Network Sites oftmals angebotene Möglichkeit einer „Unsichtbarkeitsfunktion“, so dass nicht nachvollzogen werden kann, dass das Profil betrachtet wurde (vgl. Prommer et al. 2009, 41ff., vgl. Neuberger 2009, vgl. Rottmann 2007, 5826). Viele Nutzer bleiben lieber unerkannt – so können, ohne Folgen für den OfflineKontext, Informationen über (attraktive) Personen, Bekannte, Expartner usw. erworben werden. Nicholas Christakis27, Forscher an der Harvard University, interpretiert die Faszination an Social Network Sites folgendermaßen: „Facebook stillt genau das tiefe menschliche Bedürfnis danach, mit anderen Menschen verbunden zu sein, das mich als Forscher so fasziniert. Wir Menschen haben ja eine große Neugierde, was andere Menschen angeht, und der kann man auf ‚Facebook’ ungeniert nachgeben. Zum ersten Mal können wir verfolgen, was Dutzende oder Hunderte der Menschen in unserem Leben von Tag zu Tag so tun, wo sie sich befinden, wofür sie sich interessieren, mit wem sie in Kontakt stehen. Das kann einen gewissen Suchtcharakter entwickeln“ (Weingarten 2008).
Neben der Befriedigung der Neugierde der Nutzer, wird dem Stöbern in Profilen anderer Nutzer aber auch vielfach nachgegangen, um andere PlattformTeilnehmer besser einschätzen zu können (vgl. Schmidt et al. 2009, 16, vgl. Neuberger 2009) und um zu prüfen, ob ein näherer Kontakt lohnenswert erscheint. Das Stöbern in den Profilen verschafft den Jugendlichen Informationen über für sie interessante Personen und die Möglichkeit mit einem relativ hohen Vorwissen auf diese zuzugehen. Die Barrieren der Kontaktaufnahme sind somit 26
Rottmann untersuchte virtuelle soziale Beziehungen und Vergemeinschaftungen von Studierenden im studiVZ (vgl. Rottmann 2007). Nicholas Christakis analysiert in einem Forschungsvorhaben die Facebook-Profile von 1700 Studenten eines College-Jahrgangs (vgl. Weingarten 2008).
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niedriger, so dass die Gestaltung von Offline-Gesprächen erleichtert wird (vgl. mpfs 2008, 55f., vgl. Ellison et al. 2009, 7f.). Laut der Studie „Heranwachsen mit dem Social Web“ stöbern Jugendliche vor allem in Profilen anderer, um die Person einschätzen zu können und sich daraufhin für oder gegen einen näheren Kontakt zu entscheiden (vgl. Schmidt et al. 2009, 16). Auch der Großteil der Befragten (80%) einer Umfrage unter Studierenden der Universität Münster zur Nutzung des studiVZ gab an, Personen, die sie offline kennenlernen würden (z.B. auf einer Party oder im Seminar), auf der Plattform zu suchen (vgl. Neuberger 2009). Bei einem Kennenlernen können die User, die oftmals nicht unter ihrem vollständigen Namen auf Social Network Sites zu finden sind, ihre „Nicknames“ tauschen und im Anschluss das Online-Profil des anderen betrachten. Der Austausch der gewählten Namen auf den Sites ist mit dem Austausch von Handynummern oder privaten E-Mail-Adressen zu vergleichen, die ohne den direkten Austausch von Person zu Person schwer ermittelbar sind. Bei Gefallen des dargestellten Profils kann der Nutzer dem attraktiven Gegenüber im Anschluss eine Nachricht auf der Site zukommen lassen und/oder eine Freundschaftseinladung senden. Social Network Sites wirken somit als eine Art „Türöffner“ für die Gestaltung neuer Sozialbeziehungen: Von dem „Herantasten“ an eine Person durch das vorherige Betrachten ihres Online-Profils scheinen vor allem schüchterne Jugendliche bzw. Jugendliche mit einem geringen Selbstbewusstsein zu profitieren. Ellison, Lampe und Steinfield (2008) ermittelten in einer einjährigen Längsschnittuntersuchung mit undergraduate CollegeStudenten der Michigan State University, dass die Intensität des Gebrauchs der Plattform Facebook signifikant positiv mit dem von den Studierenden persönlich wahrgenommenen Sozialkapital („Bridging social capital“) korreliert.28 Die Plattformen scheinen somit die Gestaltung von Sozialbeziehungen, die durch „weak ties“ gekennzeichnet sind, zu erleichtern (vgl. Ellison et al. 2008, 436ff.). Das folgende Zitat einer Studentin aus der Untersuchung von Ellison et al. (2008) verdeutlicht, wie Social Network Sites dazu beitragen können, die Angst vor Zurückweisung zu reduzieren und eine Kontaktaufnahme, die durch andere Medien wie das Telefon mit mehr Hemmungen verbunden ist, zu erleichtern: „Well, the only thing that is really nice about it is, I am in a sorority, and it is very convenient […] there are so many people in your house, that I don’t think you would call all of them. There are people that you are friends with because you see them weekly […] and you have a common interest, but I probably wouldn’t call all of them. So, it is nice to be [on Facebook], and plus it is really easy to figure out what things you have going on, or what you are supposed to be doing […] People can 28
Zum ersten Messzeitpunkt im April 2006 nahmen etwa 290 Studierende per Online-Befragung an der Studie teil (vgl. Ellison et al. 2007), ein Jahr später wurde eine zweite Online-Befragung mit etwa 90 Studenten durchgeführt, die durch Tiefeninterviews mit 18 Studierenden ergänzt wurde (vgl. Ellison et al. 2008, 438).
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send a really quick little message. So, it’s convenient. It also breaks the ice for certain people, to talk to them, people that you don’t necessarily know really, really well, and you might not want to call them up because a phone call could be awkward, but it’s really easy to send them a two sentence message” (Ellison et al. 2008, 443).
Online Communities dienen also auf der einen Seite dazu, „alte“ Kontakte zu pflegen, parallel kann aber auch mit bisher unbekannten Personen kommuniziert werden. So gaben in einer Befragung von Schülern durch Lange und Sander (2008) die Studien-Teilnehmer beispielsweise an, dass Social Network Sites die Optionen bieten würden, „neue“ Freunde kennenzulernen, „man ist nicht mehr auf die alten Freunde angewiesen“ (I., Schülerin, 16 Jahre, zit. nach Lange/Sander 2008, 29) oder erste Paarbeziehungen zu knüpfen, „[…] meinen Freund habe ich über die Lokalisten kennen gelernt […]“ (S., Schülerin, 16 Jahre, zit. nach Lange/Sander 2008, 29).29 Tillmann und Vollbrecht sprechen in diesem Zusammenhang vom Entstehen „neue[r] Gesellungs- und Gemeinschaftsbildungen“ entkoppelt von einer räumlichen Nähe (Tillmann/Vollbrecht 2006, 23). Als das Internet an Bedeutung gewann, formulierten Netzkritiker die technikdeterministische Behauptung, dass soziale Beziehungen durch computervermittelte Kommunikation verarmen würden und diese durch die Mediatisierung von Kontakten fortan durch schwächere Bindungen gekennzeichnet seien (vgl. Wehner 1997, 134ff.).30 Empirisch konnte ein durch Internetnutzung bedingter Beziehungsverlust jedoch nicht bestätigt werden. Per Internet können sozioemotional bedeutsame Beziehungen aufgebaut werden („strong ties“) (vgl. hierzu den Forschungsüberblick von Schütz/Rentzsch 2007, 129ff.) und durch die Merkmale des Mediums nun wesentlich mehr, wenn auch oftmals durch schwache Bindungen gekennzeichnete Kontakte („weak ties“) gepflegt werden (vgl. Mesch 2006). Subsumierend kann man festhalten, Forschungsergebnisse zeigen, dass Online-Kommunikation für die meisten Personen eher einen komplementierenden als einen substituierenden Effekt bezüglich der Gestaltung sozialer Beziehungen hat (vgl. Döring 2003, 435). Bezieht man die These des Beziehungsverlusts auf die modernen Kommunikationsformen von Jugendlichen mittels Social Software, so ist laut Schmidt et al. (2009) heute vielmehr derjenige Heranwachsende von Isolation bedroht, der nicht am Social Web teilnimmt, da alle anderen „mitmachen“ (vgl. Schmidt et al. 2009, 15). Dies verdeutlicht 29
Lange und Sander führten eine qualitative Studie mit 13- bis 16-jährigen Jugendlichen aus dem Großraum München durch. In diesem Rahmen führten sie vier Gruppendiskussionen und 16 Einzelinterviews mit Jugendlichen durch (vgl. Lange/Sander 2008, 26). 30 Ein solcher Netzkritiker der 1990er Jahre war Wehner. Wehner (1997) kritisierte, dass im Internet keine Beziehungen zwischen Menschen stattfinden würden, sondern lediglich Beziehungen zwischen Texten gegeben seien (vgl. Wehner 1997, 134ff.).
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wohl auch die Äußerung einer 18-jährigen Jugendlichen in einem Interview mit Danah Boyd: „If you’re not on MySpace, you don’t exist“ (Boyd 2008).31 Zudem können Online-Communities auch dabei unterstützen, Defizite aus dem Offline-Kontext (z.B. Probleme mit der Familie/den Peers, Krankheit, Schulprobleme) auszugleichen (vgl. Piatrowski 2006, 61f., zit. nach Tillmann/Vollbrecht 2006, 24, vgl. Lange/Sander 2008, S. 28)32. Die Internetnutzung nimmt zwar einen hohen Stellenwert für Jugendliche ein, Befürchtungen, dass medial vermittelte Kontakte Face-to-Face-Kontakte substituieren, sind jedoch übertrieben. Für Jugendliche ist ein täglicher Kontakte zu den Freunden sehr wichtig – dies umfasst sowohl Face-to-Face- als auch mediale Treffen (vgl. Lange/Sander 2008, 25f.). Dennoch, nach wie vor sind Face-to-Face-Treffen mit Freunden für Jugendliche nicht medial zu ersetzen, mit dem Spitzenrang bei den Freizeitaktivitäten gaben 88% der Jugendlichen bei JIM 2009 an, sich mehrmals pro Woche mit ihren Freunden zu treffen – die Treffen mit den Freunden steigen dabei mit zunehmendem Alter etwas an (1213 Jahre, 84% mehrmals/Woche; 18-19 Jahre, 90%) (vgl. mpfs 2009, 9f.).33 Ordnet man Social Network Sites in das Gesamtgefüge der Kommunikationskanäle für persönliche Kontakte von Jugendlichen ein, so scheint die Enge der sozialen Beziehungen entscheidenden Einfluss auf die Wahl der Kommunikationsform zu haben. Die Ergebnisse der Studie von Neuberger (2009) mit Studierenden zeigen auf, dass im Kontakt mit engen Freunden und Kommilitonen persönliche Treffen und private Medien wie SMS, (Mobil-)Telefon und EMail wichtigere Kommunikationskanäle als das studiVZ darstellen. Bei der Kommunikation mit entfernten und neuen Bekannten steht das studiVZ mit bedeutendem Abstand zu persönlichen Treffen an erster Stelle. Zu erklären ist die Wahl des studiVZ als Kommunikationskanal im weiteren Freundeskreis zum einen vermutlich durch ein geringeres Ausmaß an Zeit und Geld, das im Gegensatz zur Nutzung privater Medien (z.B. Handy) investiert werden muss (vgl. ebd.) und durch seine oben beschriebene „Türöffner“-Funktion. 31
Vgl. auch Süss 2007, 123, der betont, dass Anschluss-Kommunikation und somit Gespräche mit Peers nur erfolgen können, wenn dieselben Medieninhalte konsumiert werden. Die Befragungen durch Lange und Sander ergaben jedoch, dass eine Freundschaft im OfflineKontext einen deutlich wichtigeren Stellenwert bei der Bewältigung solcher Problemsituationen einnimmt (vgl. Lange/Sander 2008, S. 28). 33 Vgl. auch Barthelmes und Sander (2001), die aufzeigen, dass Medien zwar einen hohen Stellenwert im Alltag von Jugendlichen einnehmen, Face-2-Face-Treffen und Außer-Haus-Tätigkeiten mit Freunden Jugendlichen allerdings wichtiger sind. Im Unterschied zur heutigen Zeit drehte sich die Mediennutzung der damaligen befragten Jugendlichen jedoch vorrangig um das Fernsehen, also handelte es sich um eine eher rezeptive Mediennutzung (vgl. Barthelmes/Sander 2001, 113f.) und keine, die in einer direkten Weise der Kommunikation zwischen Jugendlichen dient, wie es heute beispielsweise das Handy oder Social Network Sites ermöglichen. 32
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2.3.3 Medien und Identitätsentwicklung im Jugendalter Eine weitere, der näheren Betrachtung lohnenswerte Funktion von Medien ist die der Unterstützung der Identitätsentwicklung im Jugendalter. Mediale Produkte stellen Identitäts- und Identifikationsflächen bereit, so dass „[mediale] Interaktionen“ (Mikos 1999, 5) stattfinden, über die sich der Rezipient mit der eigenen Identität und Normen, Werten und Rollenbildern auseinandersetzen kann. Barthelmes und Sander (2001) machen deutlich, dass die Auswahl an Medieninhalten (bspw. Spielfilme) eng verbunden ist mit den Entwicklungsund Alltagsthemen der Jugendlichen. So wählen Jugendliche bspw. Beziehungsfilme aus, die sie bei der Entwicklung des eigenen Frauen- bzw. Männerbilds und der Auseinandersetzung mit romantischen Gefühlen im Rahmen erster Paarbeziehungen unterstützen (vgl. Barthelmes/Sander 2001, 137ff.). Auch das Verlieben weiblicher jugendlicher Fans in männliche Popstars hängt mit der Entwicklungsaufgabe der Paarbeziehung zusammen, so dient dies als erster Schritt zum Verlieben im „realen Leben“ ohne die Risiken einzugehen, die mit einer „realen“ Liebe verbunden wären (vgl. Fritzsche 2003). Eine hieran gekoppelte Einbindung in eine Gleichaltrigen- und Mädchenkultur, da die Freundinnen oftmals auch Fans derselben Musikband sind34, fördert eine Bestätigung der eigenen weiblichen Geschlechtsidentität (vgl. Fritzsche 2007, 169 ff.; vgl. Fritzsche 2003).35 Wegener beschreibt „Medienpersonen als Sozialisationsagenten“ (Wegener 2007, 185), die einen spezifischen Stellenwert für die Bearbeitung unterschiedlicher Identitätsthemen einnehmen und deren Erscheinung eine Verbindung zur Lebenswelt der Fans aufzuweisen scheint. So fiel in der Studie etwa eine Kopplung zwischen den biografischen Erfahrungen von Eminem-Fans und dem Star auf. Fans gaben vermehrt an, beide hätten eine „[…] scheiß Kindheit […]“ gehabt oder wurden „von der Familie nicht akzeptiert“ (Wegener 2007, 191).36 Neben dem Schwärmen für eine bestimmte Person (bzw. ein Bandmitglied) spielt auch konkret Musik mit den Empfindungen, die es durch den Klang und die Songtexte auslöst, für die Identitätsentwicklung und gleichzeitig auch für das Beziehungsmanagement von Jugendliche eine entscheidende Rolle. Mittels
34 Während Mädchen eher Fans von Musikgruppen/-interpreten sind, schwärmen Jungen eher für Sportler/innen oder Mannschaften (vgl. Süss 2004, 199). 35 Fritzsche führte im Rahmen ihrer Studie „Pop-Fans. Studie einer Mädchenkultur.“ 23 narrative Einzelinterviews und Gruppendiskussionen mit Mädchen zwischen zehn und 17 Jahren durch, die sich selbst als (Ex-)Fan einer Girl- oder Boygroup bezeichneten (vgl. Fritzsche 2007, 170). 36 Wegener (2007) führte gemeinsam mit der Jugendzeitschrift Bravo eine Fragebogenuntersuchung mit 205 Personen zwischen 12 und 25 Jahren zu deren Fanverhalten durch (vgl. Wegener 2007, 188).
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Songs können Jugendliche sich mit aktuellen Lebenssituationen auseinandersetzen, gleichzeitig fungiert Musik als soziales Medium in der Gleichaltrigengruppe, das sowohl Gesprächsthemen und Gemeinsamkeit bzw. Unterschiede liefert. Zudem bietet Musik einen Anknüpfpunkt an jugendkulturelle Szenen (vgl. Barthelmes/Sander 2001, 107 ff.) wie bspw. die Punk-, Techno- oder aktuell die Emo-Szene. Auch das Internet spielt in diesem Zusammenhang vielfältige Möglichkeiten für die Identitätsentwicklung von Jugendlichen. So kann die Nutzung und Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbst und Anderen per OnlineRollenspiel (z.B. World of Warcraft) über private Homepages, Weblogs und Social Network Sites bis hin zu Web 3D-Welten (z.B. Second Life) und unterschiedlichen Kommunikationsmöglichkeiten wie Chats bzw. Instant Messenger und Newsgroups Einfluss auf die Identität der Nutzer nehmen. Wiederum kommt Social Network Sites in diesem Rahmen eine bedeutende Rolle zu: Durch die Gestaltung der eigenen Profilseite, das Erstellen von inhaltlichen Beiträgen (z.B. Pinnwand-Kommentaren), die Mitgliedschaft in OnlineGruppen und die Wahl virtueller Freundschaften präsentiert sich der jugendliche Nutzer nach außen und betreibt Selbstdarstellung. Dabei bieten Social Networks die Möglichkeit, sich möglichst authentisch zu präsentieren oder mit der Identität zu spielen bzw. mit ihr zu experimentieren, um somit auch eventuell spezifische Aspekte der eigenen Persönlichkeit zu bearbeiten.37 Andere Nutzer (soziale Beziehungspartner) sind an einem solchen Impression Management des Nutzers in einem „kollektiven Prozess“ (Neumann-Braun/Wirz 2008, 1) beteiligt, in dem sie bspw. Fotos verlinken oder Kommentare auf der Pinnwand des Nutzers hinterlassen. Die Selbst- und Fremddarstellung dürfte wiederum Reaktionen anderer Nutzer (Feedback) nach sich ziehen und somit eventuell die Reflexion der eigenen Persönlichkeit antreiben. Zusätzlich können im Netz bestimmte Aspekte der eigenen Identität gezielt aktiviert und behandelt werden, diesem Bereich kommt vor allem in Bezug auf die Beschäftigung mit marginalisierten und stigmatisierten Teil-Identitäten eine Rolle zu (vgl. Döring 2003, 381ff.).
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Die meisten Nutzer stellen sich authentisch dar mit dem gleichzeitigen Bemühen um eine coole und attraktive Präsentation des eigenen Selbst (vgl. Schmidt et al. 2009, 14; Boyd 2007b, 13). Nur wenige experimentieren mit der eigenen Identität (vgl. Prommer et al. 2009, 48f.), dies ist bspw. durch das Annehmen einer anderen Geschlechtsidentität möglich (vgl. zu den Möglichkeiten des Experimentierens mit der eigenen Identität im Netz, Döring 2003, 378ff.).
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Resümee – Chancen und Gefahren des Medienkonsums im Jugendalter
Betrachtet man die Mediennutzung im Jugendalter, so kann sich diese sicherlich positiv auf das Beziehungsmanagement und die Identitätsentwicklung von Jugendlichen auswirken. Auf der anderen Seite sind aber auch Risiken gegeben, denen es von Seiten der (Medien-)Pädagogik und der Elternschaft in der Interaktion mit den Jugendlichen zu begegnen gilt. Obwohl heutige Jugendliche wohl als „Digital Natives“ (Palfrey/Gasser 2008), die mit der technischen Nutzung von Neuen Medien von klein auf vertraut sind, bezeichnet werden können, müssen sie einen adäquaten Umgang mit bestehenden Risiken erlernen. Zu diesen Risiken zählen unter anderem: x
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ein Konsum- und Konformitätsdruck: Jugendliche unterstehen im Zusammenspiel mit ihrer Peer Group einem gewissen Konsum- und Konformitätsdruck – es gilt in der Pubertät, in Sachen Medien „in“ zu sein und über dieselbe Medienausstattung (bspw. ein Handy einer bestimmten Marke, neueste Klingeltöne etc.) zu verfügen (vgl. Barthelmes/Sander 2001, 89 f.; vgl. Süss 2004, 257; vgl. Süss 2007, 118). Dies kann dazu führen, dass Jugendliche sich im Rahmen ihrer Mediennutzung finanziell überlasten.38 Zudem laufen Jugendliche, die nicht an einer solchen Mediennutzung teilnehmen können (z.B. durch mangelnde Geräteausstattung), Gefahr, isoliert zu sein. Mediensucht/Onlinesucht: Eine exzessive Mediennutzung, bspw. im Rahmen der Nutzung von Online-Rollenspielen wie World of Warcraft, kann unterschiedlichste Problemlagen nach sich ziehen und die sozialen Beziehungen eines Nutzers im Offline-Kontext massiv beeinträchtigen.39
Weitere Problemlagen entstehen im Zusammenhang mit den Kommunikationsund Darstellungsmöglichkeiten des Netzes, aktuell bei Jugendlichen im Rahmen der Nutzung von Social Network Sites: 38 Eine Verschuldung durch Handy-Nutzung im Jugendalter scheint jedoch glücklicherweise nur selten gegeben zu sein. In JIM 2009 gaben lediglich sechs Prozent der jugendlichen Handynutzer an, schon einmal Schulden wegen des Handys gemacht zu haben (vgl. mpfs 2009, 54). 39 Vgl. Hahn, Jerusalem 2001, S. 280 ff.; Eine aktuelle (nicht-repräsentative) Längsschnittstudie (2005-2008) der Humboldt Universität Berlin (2009), bei der etwa 5200 Schüler zwischen 12 und 24 Jahren in drei Bundesländern der BRD befragt wurden, ermittelte eine geringe Prävalenzrate von 4% Jugendlichen mit einer exzessiven Internetnutzung (1,4% internetsüchtig: Internetnutzung pro Woche etwa 35 Std., 2,6% „internetsuchtgefährdet“: Internetnutzung pro Woche ab 28 Std.). Von der „Internetsucht“ sind vor allen Dingen männliche Jugendliche betroffen (vgl. Meixner 2009, 18ff.).
Peers und Medien
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Persönliche Öffentlichkeiten/Privatsphäre: Jugendliche müssen dafür sensibilisiert werden, dass die Daten, die sie über sich im Netz veröffentlichen, sofern sie nicht gezielt spezifische Privatsphäreeinstellungen tätigen (z.B. Einsehen des Profils nur für Freunde möglich), prinzipiell für jeden Nutzer zugänglich sind (z.B. auch für potenzielle Arbeitgeber, vgl. Diestelberg 2009) und im Netz weiter verbreitet werden können. Cyber-Mobbing: Eine weitere, mittlerweile recht häufig auftretende Gefahr, stellt das Mobbing im Netz dar, bedingt durch die Anonymität des Internets haben die Täter hier ein „leichtes Spiel“ (vgl. Grimm et al. 200840; vgl. Zentrum für empirische pädagogische Forschung 200941; vgl. Schmidt et al. 2009, 17). Online-Bekanntschaften und sexuelle Belästigungen: Ein weiteres Problem, vor allem für Mädchen, stellen unangenehme OnlineBekanntschaften und sexuelle Belästigungen im Netz dar, denen vor allem jugendliche Mädchen mit einer niedrigen formalen Bildung ausgesetzt sind (vgl. Schmidt et al. 2009, 18; Staude-Müller et al. 2008, 1942).
Um die Gefahren des Medienkonsums einzudämmen, muss eine den modernen digitalen Medienwelten angepasste Medienkompetenz der Nutzer geschult werden. Hierbei gilt es vor allem soziale Kompetenzen zu schulen, da die jugendlichen Mediennutzer, bezogen auf den technischen Kenntnisstand, der älteren Generation oftmals überlegen sein dürften. Nichtsdestotrotz sollten Eltern und Pädagogen Medien nicht von vornherein aufgrund bestehender Risiken mit einer Abwehr- und Verbotshaltung gegenüberstehen, stattdessen sollten sie die Heranwachsenden in einem eigenständi40
Im Rahmen der Studie „Gewalt im Web 2.0“ von Grimm et al. wurden 804 Jugendliche zwischen 12 und 19 Jahren zu ihren Gewalterfahrungen im Internet telefonisch befragt, vertieft wurden die Ergebnisse durch qualitative Befragungen (vgl. Grimm et al. 2008, 2f.). 41 Cyber-Mobbing ist mittlerweile ein recht häufiges Phänomen: In einer aktuellen (nichtrepräsentativen) Studie von Jäger et al. der Universität Koblenz-Landau (2009) haben von knapp 2000 Schülern der 1. bis 13. Klasse, die zu Cyber-Mobbing befragt wurden, 16,5% der Befragten angegeben, bereits Cyber-Mobbing erfahren zu haben. Rechnet man dies auf die aktuelle Schülerzahl in Deutschland um, ist somit von 1,9 Millionen Schülern auszugehen, die Opfer von CyberMobbing sind (vgl. Zentrum für empirische pädagogische Forschung 2009). 42 Staude-Müller et al. (2008) befragten 1227 Kinder und Jugendliche von 8 bis 22 Jahren aus Schleswig-Holstein zu ihren Erfahrungen mit problematischen Internetinhalten (vgl. Staude-Müller et al. 2008, 16). 24,5% der Befragten gaben dabei an, im Internet sexuell belästigt worden zu sein, vor allem Mädchen (insgesamt 32 % sexuell belästigte Mädchen) mit einer niedrigen formalen Bildung sind betroffen, im Alter von 16-18 Jahren finden am häufigsten sexuelle Belästigungen im Netz statt (vgl. Staude-Müller et al. 2008, 19).
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Henrike Friedrichs und Uwe Sander
gen und kreativen Umgang mit den Medien unterstützen, und diesen gleichzeitig die Risiken vor Augen führen. So können die Medien den Jugendlichen einen eigenen, von der Erwachsenenwelt abgegrenzten Erfahrungs- und Rückzugsraum bieten.
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Peers und delinquentes Verhalten Dirk Baier, Susann Rabold und Christian Pfeiffer
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Einführung
Laut Polizeilicher Kriminalstatistik wurden im Jahr 2007 drei Viertel aller Straftaten (78,0%) in Deutschland, in denen ein Tatverdächtiger ermittelt werden konnte, von einem alleinhandelnden Täter ausgeführt (Bundeskriminalamt 2008, 125). Damit wird der kleinere Teil aller kriminellen Taten von Gruppen bestehend aus mindestens zwei Tätern verübt. Zu beachten ist allerdings, dass der Anteil an Gruppentätern beträchtlich mit der Deliktsart variiert: Bei der Gewaltkriminalität beträgt er 54,4%, bei Diebstahl unter erschwerenden Umständen 59,9%. Wird sich auf Jugendliche konzentriert, dann fällt der Anteil an Gruppentätern nachweislich noch höher aus. So berichtet eine Dunkelfeldbefragung unter Schülern der neunten Jahrgangsstufe, dass 74,0% der Täter von Körperverletzungen zusammen mit mindestens einer weiteren Person gehandelt haben, nur 26,0% haben dieses Delikt allein verübt (vgl. Rabold et al. 2008, 46). Bei vandalistischen Taten beträgt der Anteil alleinhandelnder Täter 6,2%, beim Graffitisprühen 5,1%. Auch andere Dunkelfeldbefragungen unter Jugendlichen belegen, dass Jugenddelinquenz bevorzugt aus Gruppen heraus begangen wird (vgl. Baier/Wetzels 2006). Dies hat zu der These geführt, dass der Kontakt mit delinquenten Freunden zumindest im Jugendalter einen der wichtigsten Einflussfaktoren delinquenten Verhaltens darstellt. Agnew (1991, 47) formuliert dies folgendermaßen: „Perhaps the most consistent finding in the literature on the causes of delinquency is that adolescents with delinquent peers are more likely to be delinquent themselves”. Genauso äußert sich Warr (2002, 40): „No characteristic of individuals known to criminologists is a better predictor of criminal behavior than the number of delinquent friends an individual has.“ Freunde beeinflussen dabei nicht allein delinquentes Verhalten. Auch andere Problemverhaltensweisen werden mit höherer Wahrscheinlichkeit ausgeübt, wenn Kontakte zu sich abweichend verhaltenden Freunden existieren. So berichten Akers und Cochran (1985) einen starken Zusammenhang zwischen dem Marihuanakonsum der Freunde und dem eigenen Marihuanakonsum. Pi-
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Dirk Baier, Susann Rabold und Christian Pfeiffer
res/Jenkins (2007) und Baier (2005) belegen ebenfalls einen starken Einfluss devianter Freunde auf das Drogenkonsumverhalten. Auch das Risiko des Schulschwänzens oder des Schulabbruchs steigt, wenn eine Einbindung in delinquente Freundesgruppen vorliegt (vgl. z.B. Staff/Kreager 2008, Wagner et al. 2004). Freilich sind Beziehungen zu Freunden im Jugendalter nicht allein für die Genese von Delinquenz und anderen Problemverhaltens von Bedeutung. Aufwachsen ist ganz allgemein als ein Zeitraum der Gesellung unter Gleichaltrigen zu beschreiben. Die zentrale Aufgabe des Jugendalters ist es, eine eigene Identität zu entwickeln (vgl. Erikson 1993). Peers bieten hierfür wichtige Voraussetzungen, weshalb nicht überrascht, dass zu den wichtigsten Freizeitbeschäftigung das Treffen mit Freunden gehört (vgl. Rabold et al. 2008, 75ff). Freunde sind für die Identitätsfindung wichtig, weil sie Erfahrungen von Gemeinsamkeit und Differenz ermöglichen (vgl. Baier/Wetzels 2006, 71). Giordano et al. (1986) betonen neben der Unterstützung bei der Identitätsfindung zwei weitere Funktionen von Freundschaften: Sie bieten intrinsische und extrinsische Belohnungen. Intrinsische Belohnungen bieten sie insofern, da Freunde für Jugendliche Gesprächspartner sind; man kann sich jemandem öffnen und Vertrauen erleben. Extrinsische Belohnungen haben Freundschaften, weil durch sie Hilfeleistungen ermöglicht werden (z.B. Hilfe bei Hausaufgaben, Leihen von Geld). All diese Funktionen erfüllen nicht delinquente Freundesgruppen prinzipiell genauso wie delinquente Freundesgruppen. Deutlich wird daran, dass Jugendliche aufgrund ihrer entwicklungspsychologischen Situation ein starkes Bedürfnis haben, sich Freunde zu suchen und Freundschaften aufrecht zu erhalten. In ihren Einstellungen und Verhaltensweisen sind Jugendliche deshalb auch besonders offen gegenüber den Einflüssen der Freunde, gegenüber den negativen ebenso wie gegenüber den positiven Einflüssen. Anliegen dieses Beitrags ist es, die negativen Einflüsse in den Blick zu nehmen. Zum einen wird deshalb der Forschungsstand zum Einfluss delinquenter Freunde auf delinquentes Verhalten vorgestellt. Hierbei wird auch darauf eingegangen, welche Faktoren einen Anschluss an entsprechende Freundesgruppen begünstigen. Auf Basis des Forschungsstands werden zum anderen Hypothesen abgeleitet, die im zweiten Teil des Beitrags anhand einer deutschlandweit repräsentativen Dunkelfeldbefragung unter Jugendlichen geprüft werden.
Peers und delinquentes Verhalten
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Forschungsstand zum Einfluss delinquenter Peers auf delinquentes Verhalten
Verschiedene theoretische Ansätze geben Antwort auf die Frage, warum der Kontakt mit delinquenten Freunden Einfluss auf die Bereitschaft von Jugendlichen hat, sich selbst delinquent zu verhalten. Zu unterscheiden sind dabei Ansätze, die der Zugehörigkeit einen eigenständigen Verstärkungseffekt zuschreiben (Freundsgruppen als Sozialisationsinstanzen), von Ansätzen, die die Zugehörigkeit als Ergebnis einer vorangegangenen Fehlentwicklung sehen. Der Kontakt mit delinquenten Freunden ist in dieser zweiten Sichtweise Ergebnis einer mehr oder weniger bewussten Entscheidung zum Anschluss an delinquente Gruppen (Selektion), ein eigenständiger Verstärkungseffekt existiert nicht.
2.1 Differenzielle Assoziation und differenzielles Lernen Prominente Ansätze, die der ersten Sichtweise folgen, sind die Lerntheorien von Sutherland (1968) und Akers (1998). Die Ansätze basieren auf drei Annahmen: Erstens gehen sie davon aus, dass es in der Gesellschaft mehrere, parallel existierende Normen- und Wertesysteme gibt. In einigen Subkulturen werden delinquente Lebensstile aufrecht erhalten. Die differentielle Organisation der Gesellschaft hat zur Folge, dass Individuen sowohl Erfahrungen mit normenkonformen als auch mit normenabweichenden Einstellungen und Verhaltensweisen sammeln können. Die zweite Annahme ist, dass Normenabweichung ebenso wie Normenkonformität ein Resultat eines Lernprozesses ist. Wenn abweichende Lernerfahrungen überwiegen, dann steigt das Risiko, dass sich eine Person abweichend verhält. Drittens wird postuliert, dass hauptsächlich über Interaktionen mit anderen Individuen gelernt wird. Das Erlernen delinquenten Verhaltens findet in engen, persönlichen Beziehungen bzw. auf Basis der Einbindung in intime Gruppen statt. Über die Prozesse, die beim Erlernen von Delinquenz genau eine Rolle spielen, vertreten Sutherland und Akers allerdings verschiedene Annahmen. Sutherland (1968) geht davon aus, dass „infolge des Überwiegens der die Verletzung [von Gesetzen; d.A.] begünstigenden Einstellungen über jene, die Gesetzesverletzungen negativ beurteilen“ (ebd., 396), die Delinquenzbereitschaft erhöht wird. Entscheidend sind also von den Interaktionspartnern vertretene Einstellungen bzw. Definitionen, die die Einstellungen einer Person beeinflussen; die eigenen Einstellungen bedingen wiederum das Verhalten. Für Akers (1998) hingegen ist das gezeigte Verhalten der Interaktionspartner entscheidend. Gelernt wird einerseits auf Basis von Imitation, andererseits auf Basis differen-
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Dirk Baier, Susann Rabold und Christian Pfeiffer
zieller Verstärkung; d.h. dass das kriminelle Verhalten von Vorbildern, insbesondere wenn es erfolgreich war, nachgeahmt wird oder dass das eigene kriminelle Verhalten durch Personen im nahen Umfeld positiv sanktioniert und damit verstärkt wird. Allerdings geht auch Akers (1998) davon aus, dass sich über die Ausübung des Verhaltens kognitive Bewertungen („definitions“) verändern. Warr und Stafford (1991) haben die gegensätzlichen Annahmen einer empirischen Prüfung unterzogen und belegen, dass abweichendes Verhalten stärker durch das Verhalten der Freunde beeinflusst ist als durch deren Einstellungen. Daneben finden die Autoren aber auch eine Beziehung zwischen den Einstellungen der Freunde und den eigenen Einstellungen der Jugendlichen. Eigene, positive Einstellungen zum delinquenten Verhalten beeinflussen wiederum delinquentes Verhalten. Diese indirekten Zusammenhänge sind aber deutlich schwächer als die direkten Auswirkungen des Verhaltens der Freunde. In empirischen Studien wird sich daher meist darauf konzentriert, Informationen zum Verhalten der Freunde in Erfahrung zu bringen.
2.2 Netzwerkeigenschaften Bereits Sutherland (1968) vermutet, dass nicht alle Personen im Netzwerk an Verwandten und Bekannten einen gleichen Stellenwert bei der Ausbildung delinquenzbezogener Einstellungen haben. Inwieweit Kontakte mit anderen für den Einzelnen relevant sind, hängt von der Häufigkeit, der Dauer, der Priorität und der Intensität des Kontakts ab. Lebensgeschichtlich frühe sowie sehr enge Bindungen bspw. in der Familie haben daher einen besonders starken Einfluss auf die Ausbildung delinquenter Einstellungen. Die Annahme, dass der Einfluss der Personen im Umfeld von Jugendlichen mit der Beziehungsstärke bzw. Beziehungsqualität variiert, hat in den letzten Jahren vermehrt Aufmerksamkeit erfahren. Dabei wird vor allem auf sozialkapitaltheoretische Überlegungen zurückgegriffen (vgl. Baier/Nauck 2006). Freunde stellen Ressourcen dar, die Handeln vereinfachen können. Der Zugriff auf die Ressourcen (z.B. Informationen, Güter, Verpflichtungen) ist davon abhängig, welche Position der Einzelne im Freundesnetzwerk hat bzw. wie das Netzwerk insgesamt beschaffen ist. Drei zentrale Eigenschaften von Netzwerken werden dabei diskutiert: die Dichte, die Lokation (insbesondere die Zentralität) und die Beliebtheit einzelner Personen im Netzwerk (vgl. Haynie 2001). In dichten Netzwerken, in denen viele direkte Beziehungen zwischen den Mitgliedern bestehen, können Ressourcen schnell und unkompliziert getauscht werden. Zugleich kann das Verhalten des Einzelnen effektiver kontrolliert werden. Gleiches gilt für Netzwerkmitglieder in zentralen Positionen bzw. für Netzwerkmit-
Peers und delinquentes Verhalten
313
glieder, die beliebt sind: Sie sind mit vielen anderen Freunden vernetzt und werden von diesen auch als enger Freund betrachtet. Dies erleichtert den Austausch von Ressourcen, macht das Handeln aber zugleich abhängiger von den Peers, deren Erwartungen und Ansprüchen. Dichte, Zentralität und Popularität von Freundesnetzwerken sind für sich genommen allerdings noch keine Prädiktoren für delinquentes Verhalten. Entscheidend ist die Kultur, die im Netzwerk aufrecht erhalten wird: „Integration within a friendship network will be associated with delinquency depending on the behavior of the network (pro- or antidelinquent), and structural properties of the friendship network will maximize or minimize this association“ (Haynie 2001, 1026). Übersetzt in eine lerntheoretische Sichtweise bedeutet dies: Freunde spielen für das Erlernen delinquenten Verhaltens vor allem dann eine Rolle, wenn in einem Freundesnetzwerk viele delinquente Vorbilder vorhanden sind, zu denen enge Kontakte bestehen, wenn ein Jugendlicher in einem solchen Netzwerk eine zentrale Position besetzt und wenn er von den anderen Mitgliedern in dieser Position auch anerkannt wird. Eher locker assoziierte Mitglieder delinquenter Gruppen werden seltener das Verhalten der Freunde nachahmen. Zentralen und beliebten Mitgliedern nicht delinquenter, dichter Netzwerke fehlt die Möglichkeit zum Erlernen delinquenten Verhaltens mehr oder weniger gänzlich. Diese Überlegungen zur Beschaffenheit von Freundesnetzwerken wurden in verschiedenen empirischen Studien geprüft. Haynie (2001) berichtet, dass delinquentes Verhalten umso wahrscheinlicher ist, je dichter das Netzwerk beschaffen ist und je mehr delinquente Freunde sich darin befinden. Für die Zentralität und die Popularität fallen die Zusammenhänge jedoch schwächer aus. Möglicherweise wird in kohäsiven, mit zahlreichen delinquenten Freunden besetzten Gruppen (Gangs) ein höherer Druck auf den Einzelnen ausgeübt, sich delinquent zu verhalten.
2.3 Routineaktivitäten in der Freizeit Der Einfluss delinquenter Freundesgruppen lässt sich neben Lernprozessen auch auf das Wirken anderer Faktoren zurückführen. In der Literatur können noch mindestens zwei weitere Ansätze identifiziert werden, die davon ausgehen, dass delinquente Peergruppen einen eigenständigen Verstärkungseffekt besitzen: die Theorie der Routineaktivitäten und sozialpsychologische Forschungen zum Einfluss von Gruppenkontexten auf individuelles Verhalten. Die Theorie der Routineaktivitäten wurde von Cohen und Felson (1979) ausgearbeitet. Damit Kriminalität stattfinden kann, braucht es entsprechend den
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Autoren folgende Bedingungen: motivierte Täter, geeignete Opfer und die Abwesenheit von Schutzeinrichtungen. Wenn diese drei Faktoren zusammen kommen, ergeben sich günstige Gelegenheiten für kriminelle Taten. Verschiedene außerhäusliche Routineaktivitäten erhöhen das Risiko, dass sich entsprechende Gelegenheiten bieten. Dies ist, so die Annahme von Osgood et al. (1996), vor allem dann der Fall, wenn Freizeit unstrukturiert im öffentlichen Raum verbracht wird („Herumhängen“). Besuchen Jugendliche hingegen z.B. Vereine oder lernen zu Hause für die Schule, so sind sie häufiger der Kontrolle durch Erwachsene ausgesetzt, es ergeben sich weit seltener Gelegenheiten für delinquentes Verhalten. Die sich daran anschließende These ist, dass delinquente Freundesgruppen besonders häufig ihre Freizeit unstrukturiert in Abwesenheit von kontrollierenden Erwachsenen verbringen. Die vorhandenen empirischen Befunde stützen die Annahmen der Theorie der Routineaktivitäten. Osgood et al. (1996) operationalisieren die unstrukturierte Freizeit mittels vier Aktivitäten: mit dem Auto herumfahren, sich mit Freunden treffen, auf Parties gehen, abends rausgehen. Starke Zusammenhänge mit verschiedenen delinquenten Verhaltensweisen weisen das Besuchen von Parties sowie das abendliche Rausgehen auf. Jugendliche, die sich für öffentliche Angelegenheiten einsetzen, weisen demgegenüber ein signifikant niedrigeres Delinquenzniveau auf. Osgood und Anderson (2004) belegen ebenfalls anhand einer Schülerbefragung, dass Freizeit, die unstrukturiert mit Freunden verbracht wird, unterschiedliche Delinquenzniveaus von Jugendlichen erklären kann. Haynie und Osgood (2005) testen simultan die lern- und die freizeitbezogene Erklärung. Dabei zeigt sich, dass die Beziehung zwischen unstrukturierten Freizeitaktivitäten auch dann erhalten bleibt, wenn berücksichtigt wird, ob die Freunde delinquent sind oder nicht. Insofern hat unstrukturierte Freizeit auch unabhängig von der Einbindung in delinquente Freundesgruppen einen Einfluss auf delinquentes Verhalten. Anzunehmen ist, dass Jugendliche in delinquenten Freundesgruppen nicht nur öfter auf Straßen oder öffentlichen Plätzen, in Einkaufszentren usw. „herumhängen“, sondern dass auch andere Verhaltensweisen öfter im Rahmen der Freizeitgestaltung ausgeführt werden (vgl. u.a. Goldberg 2003, 99ff). Verwiesen werden kann auf den Alkoholkonsum, mit dessen Hilfe relativ ereignisarme Zeiträume anregungsreich gestaltet werden können. Zudem ist der Konsum von Alkohol im Jugendalter abhängig davon, dass ihm Erwachsene als Aufsichtspersonen keinen Einhalt gebieten. Die unstrukturierte Freizeit wird daneben sicherlich mit weiteren Spannung und Anregung versprechenden Aktivitäten, wie z.B. dem Gewaltmedienkonsum gefüllt. Konventionelle Aktivitäten (z.B. im Rahmen von Vereinen) dürften demgegenüber als uninteressant gelten.
Peers und delinquentes Verhalten
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2.4 Gruppenprozesse Die Erkenntnisse zu den Netzwerkeigenschaften machen darauf aufmerksam, dass Gruppenstrukturen die individuelle Delinquenzbereitschaft bedingen können. Auch die sozialpsychologische Forschung hat bereits sehr früh herausgestellt, dass sich Menschen in Gegenwart von Gruppen anders verhalten als ohne deren Gegenwart. Gruppen, und damit auch Freundesgruppen, können in verschiedener Hinsicht Auslöser für delinquentes Verhalten sein. Laut Tajfel (1982) setzt sich die Identität eines Menschen aus einem personalen und einem sozialen Teil zusammen. Zur sozialen Identität gehören die Gruppen, denen wir angehören bzw. denen wir uns zugehörig fühlen. Die Unterscheidung in Fremd- und Eigengruppe kann bereits zur Abwertung der Fremdgruppe führen. Diese Abwertung erfolgt vor allem dann, wenn die Eigengruppe bedroht ist. Bedrohungen bzw. Bedrohungswahrnehmungen sind ein Auslöser für Intergruppenkonflikte, die gewalttätig ausgetragen werden können. Personen handeln in diesen Fällen nicht mehr als Individuen, sondern als Gruppenmitglied; sie vertreten nicht ihre eigenen Interessen, sondern die Interessen ihrer Gruppe. Ein entsprechendes Verhalten wird durch den Konformitätsdruck begünstigt, der innerhalb von Gruppen aufgebaut werden kann. Um Gefühle der Dissonanz zu vermeiden, passen sich Mitglieder einer Gruppe den geltenden Einstellungen und Verhaltensweisen an. In Gruppen mit einer hierarchischen Struktur und einem expliziten Führer – Merkmale, die für eine Gang charakteristisch sind (s.u.) – sind die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass aus Konformität Gehorsam wird. In solchen Konstellationen führen die Gruppenmitglieder auch Handlungen aus, die ihren grundlegenden Überzeugungen widersprechen. Pleydon und Schner (2001) können hiermit übereinstimmend belegen, dass sich die Freundschaftsnetzwerke von delinquenten Jugendlichen hinsichtlich des wahrgenommenen Drucks von den Freundschaften nicht delinquenter Jugendlicher unterscheiden; hinsichtlich anderer Qualitäten (Vertrauen, Intimität) waren hingegen keine Unterschiede feststellbar. In Gruppen können noch weitere Prozesse auftreten, die mit Begriffen wie Deindividuation, Verantwortungsdiffussion oder Gruppendynamik umschrieben werden (vgl. u.a. Bierhoff 2000). Gemeinsam ist all diesen Prozessen, dass sie bei Individuen Hemmungen abbauen „und durch einen Verlust an Selbstaufmerksamkeit gekennzeichnet sind. Dieser Zustand tritt bei Anonymität auf und geht mit einem Verlust der individuellen Verantwortung einher“ (ebd. 372). Im Resultat werden Mitglieder der Gruppe zu Handlungen motiviert, die sie ohne Gegenwart der Gruppe höchstwahrscheinlich nicht ausgeführt hätten.
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2.5 Sozialisation vs. Selektion Den bisher vorgestellten Ansätzen ist gemeinsam, dass die Zugehörigkeit zu delinquenten Freundesgruppen als eigenständiger Verstärkungsfaktor von Jugenddelinquenz betrachtet wird. Dies wird mit Lernerfahrungen, gemeinsam durchgeführten Freizeitaktivitäten oder gruppendynamischen Prozessen begründet. Diese Sichtweise wird verschiedentlich in Zweifel gezogen. Der Zusammenhang zwischen der Gruppenzugehörigkeit und der Delinquenzbereitschaft beruht, so die alternative Auffassung, ausschließlich auf Selektionseffekten, d.h. Jugendliche mit bestimmten Merkmalen (die auch die Bereitschaft zum Begehen von Straftaten beeinflussen) schließen sich häufiger zu delinquenten Freundesgruppen zusammen. Glueck und Glueck (1950) haben diesen Effekt mit dem Sprichwort „birds of a feather flock together“ (etwa: gleich und gleich gesellt sich gern) umschrieben. Hirschi (1969) hat hierfür die theoretische Begründung geliefert. Seines Erachtens sind delinquente Personen unfähig, tiefe Bindungen („attachment“) mit anderen Menschen einzugehen. Versuche, Beziehungen zu anderen, nicht delinquenten Menschen aufzubauen, werden von diesen zurückgewiesen. Wenn sie Freundschaften aufbauen, dann können sie dies nur zu ebensolchen Peers tun. Diese sind, wie sie selbst, nicht nur gering an andere Menschen gebunden, sondern zugleich auch gering gebunden an gesellschaftliche Konventionen, an gesellschaftliche Normen und Werte. Es handelt sich mithin um Personen, die per se einem höheren Risiko delinquenten Verhaltens ausgesetzt sind. Ihr Zusammenschluss zu delinquenten Freundesgruppen ist kein Schritt, der neue Voraussetzungen für ihr delinquentes Engagement schafft. Verbunden mit dieser Selektionsperspektive ist eine Kritik an den verwendeten Messinstrumenten zur Erfassung der Integration in delinquente Freundesgruppen. Häufig wird dabei auf Angaben Egos über das Verhalten der Freunde zurückgegriffen. Gottfredson und Hirschi (1990) betrachten diese Einschätzung als nicht valide, sondern sie „may merely be another measure of self-reported delinquency“ (157); d.h. Befragte projizieren das eigene Verhalten auf die Freunde und schaffen damit in Befragungen ein konsistentes Bild von sich und dem Freundeskreis. Empirisch konnte dieser Kritik dadurch begegnet werden, dass über die Erhebung von Gesamtnetzwerken die Angaben der Freunde selbst eingeholt wurden. Weerman und Smeenk (2005) stellen in einem Vergleich dieser Methode mit der herkömmlichen Abfrage (Einschätzung Egos über die Freunde) fest, dass letztere zu einer Unterschätzung von Prävalenzraten führt. Bei der Abfrage des delinquenten Verhaltens durch die Freunde selbst fallen die Raten höher aus; insofern scheint Ego nicht immer über das delinquente Verhalten der
Peers und delinquentes Verhalten
317
Freunde Kenntnis zu besitzen. Zugleich berichtet diese Studie auch, dass der Zusammenhang zwischen der Delinquenz der Freunde und der Delinquenz Egos geringer ausfällt, wenn Gesamtnetzwerke erhoben werden. Damit kann tatsächlich empirisch der Effekt nachgewiesen werden, dass Ego in seinen Angaben über die Freunde eine Konsistenz mit den eigenen Verhaltensweisen herstellt (vgl. auch Zhang/Messner 2000), die Freunde also ähnlicher macht, als sie sind. Nichtsdestotrotz berichten Studien, die Gesamtnetzwerkdaten nutzen, weiterhin einen deutlichen Zusammenhang zwischen der Zugehörigkeit zu delinquenten Freundesgruppen und der eigenen Delinquenzbereitschaft (vgl. Haynie/Osgood 2005; Weerman/Smeenk 2005). Die Frage, ob es sich bei diesem Zusammenhang dennoch nur um einen Selektionseffekt handeln könnte, hat zu zahlreichen Forschungsaktivitäten geführt, wobei zur Beantwortung insbesondere Längsschnittstudien herangezogen wurden. Die Ergebnisse dieser Studien widersprechen sich teilweise. Matsueda und Anderson (1998) berichten, dass delinquente Freunde durchaus die eigene Delinquenzbereitschaft erhöhen; umgekehrt gilt aber auch, dass vorausgegangene Delinquenz den Anschluss an delinquente Gruppen wahrscheinlicher macht. Im direkten Vergleich von Sozialisations- und Selektionseffekt erweist sich der Selektionseffekt als etwa doppelt so stark. Im Gegensatz dazu verweisen Elliott und Menard (1996) darauf, dass das kriminelle Verhalten von Jugendlichen erst dann zunimmt, wenn sie sich einer delinquenten Gruppe anschließen; vor dem Anschluss sind die Delinquenzniveaus vergleichbar mit den Niveaus der Jugendlichen, die sich später keiner Gruppe anschließen. Eine solche Veränderung der Delinquenzbereitschaft scheint vor allem dann zu existieren, wenn ein Anschluss an eine Gang erfolgt: Thornberry et al. (1993) zeigen, dass GangMitglieder vor ihrem Anschluss und nach ihrem Ausstieg keine höheren Delinquenzraten aufweisen. Auch Klein et al. (2006) kommen zu diesem Befund. Sie belegen darüber hinaus, dass dieser Einfluss der Gang-Mitgliedschaft nicht allein mit den in Gangs häufiger vorhandenen Kontakten zu delinquenten Freunden begründet werden kann, also kein reiner Lerneffekt ist. Delinquente Freundesgruppen können deshalb vor allem dann als eigenständige Verstärkungsfaktoren von Jugenddelinquenz betrachtet werden, wenn sie Eigenschaften einer Gang aufweisen. Eine Gang ist eine „durable, streetoriented youth group whose involvement in illegal activity is part of their group identity“ (Esbensen/Weerman 2005, 8). Als weitere Merkmale gelten eine interne Hierarchie (mit erkennbarem Anführer), eine eigene Identität, Erkennungszeichen (Gruppenname, Sprachstil) und Verhaltensregeln (vgl. Fuchs/Luedtke 2008). In der Vergangenheit wurden die Streetgangs überwiegend als amerikanisches Problem betrachtet. Kulturvergleichende Studien belegen aber, dass
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Dirk Baier, Susann Rabold und Christian Pfeiffer
auch in Europa entsprechende Formierungen zu beobachten sind (vgl. Klein et al. 2006).
2.6 Ursachen des Anschlusses an delinquente Freundesgruppen und Gangs Über die Ursachen des Anschlusses an delinquente Freundesgruppen und Gangs existiert eine breite Forschungsliteratur (vgl. Esbensen/Weerman 2005; Thornberry 1998). Einigkeit besteht darin, dass – wie bei vielen anderen Verhaltensweisen – keine monokausalen Erklärungen möglich sind. Es wird im Wesentlichen auf vier Einflussbereiche verwiesen: die Familie, die Persönlichkeit, die Schule und die Nachbarschaft. Die Familie wird in erster Linie aufgrund der in ihr gepflegten Erziehungsstile für einen Anschluss an delinquente Freunde verantwortlich gemacht. Eltern, die das Verhalten ihrer Kinder kontrollieren, verhindern, dass sie sich delinquente Freunde suchen. Ein von Gewalt geprägter Erziehungsstil fördert hingegen die Entstehung gewaltaffiner Persönlichkeiten, die dann wiederum häufiger entsprechend strukturierte Freundeskreise suchen. Wetzels und Enzmann (1999) können dementsprechend empirisch belegen, dass „Jugendliche aus gewaltbelasteten Familien [...] eine Tendenz dazu [haben; d.A.], sich in Gleichaltrigengruppen zusammenzuschließen, die Gewalt befürworten“ (129). Daneben erweist sich elterliche Supervision als entscheidend dafür, einen Anschluss an delinquente Gruppen zu verhindern (vgl. Warr 2005). Auch Knoester et al. (2006) belegen einen starken Einfluss der Eltern auf die Netzwerke ihrer Kinder: Eine gute Eltern-Kind-Bindung, die sich u.a. über gemeinsame Unternehmungen, eine bewusste Auswahl des Wohnquartiers und ein hohes elterliches Kontrollverhalten abbildet, schützt vor dem Anschluss an delinquente Freundesgruppen. Aus dem Bereich der Persönlichkeitseigenschaften wird vor allem eine niedrige Selbstkontrolle als Ursachenfaktor eines Anschlusses diskutiert; Hirschi’s Kontrolltheorie bietet hierfür die Grundlage. Auch in deren Erweiterung durch die Selbstkontrolltheorie vertreten Gottfredson und Hirschi (1990) die Ansicht, dass eine delinquente Gruppenzugehörigkeit im Wesentlichen darauf zurückzuführen ist, dass Menschen mit niedriger Selbstkontrolle kaum andere Beziehungen offen stehen. Simons et al. (2007) belegen hiermit übereinstimmend, dass ein Anschluss an deviante Peers durch niedrige Selbstkontrolle begünstigt wird. McGloin und O’Neill Shermer (2009) können dies bestätigen, weisen aber auch darauf hin, dass der Zusammenhang zwischen delinquenter Peergruppenzugehörigkeit und delinquentem Verhalten nach Berücksichtigung der Selbstkontrollfähigkeiten bestehen bleibt.
Peers und delinquentes Verhalten
319
Dass auch Nachbarschaften Einfluss auf die Entstehung von delinquenten Freundesgruppen nehmen, wird im Rahmen der Desorganisationstheorie begründet (vgl. Sampson/Groves 1989). In Stadtteilen, die durch eine hohe Armmutsquote, eine hohe Einwohnerfluktuation oder eine hohe ethnische Heterogenität gekennzeichnet sind, besteht ein geringeres Maß sozialen Zusammenhalts und sozialer Kontrolle. Jugendliche, die sich abweichend verhalten, werden nicht sanktioniert. Ebenso wird bei Zusammenschlüssen solcher Jugendlicher zu delinquenten Freundesgruppen seltener eingegriffen. Für Jugendliche in diesen Stadtteilen ist der Anschluss und der Aufstieg innerhalb einer Straßengang oftmals der einzige Weg, Status und Ehre zu erlangen (vgl. Anderson 1999), da aufgrund ihrer geringeren Kapitalausstattung die gesellschaftlich institutionalisierten Wege zu Status und Ehre (Bildung, Berufstätigkeit) oftmals nicht beschritten werden können. Haynie et al. (2006) können diese Überlegungen empirisch bestätigen: Jugendliche in benachteiligten Stadtteilen finden eher Anschluss an delinquente Freundesgruppen. Studien, die multivariate Erklärungsmodelle prüfen, belegen darüber hinaus auch einen Einfluss schulischer Faktoren. So zeigt die Längsschnittstudie von Hill et al. (1999), dass schlechte Schulleistungen zur Folge haben, dass Anerkennung in der Freizeit in delinquenten Gruppen gesucht wird. In die gleiche Richtung wirkt sich eine geringe Schulbindung aus (ungern zur Schule gehen, mit Lehrern nicht zurechtkommen).
2.7 Hypothesen Für die nachfolgenden empirischen Auswertungen können, zurückgreifend auf den bisherigen Forschungsstand, folgende Hypothesen formuliert werden: 1. Die Bekanntschaft mit delinquenten Freunden erhöht die Bereitschaft, selbst delinquent zu handeln. Eine besonders hohe Täterquote ist für Mitglieder von Freundesgruppen zu erwarten, die Merkmale einer Gang aufweisen. 2. Die Zugehörigkeit zu einer delinquenten Freundesgruppe hat verschiedene Ursachen. Zu erwarten ist, dass Jugendliche, die innerfamiliäre Gewalt erleben, die von den Eltern in ihrem Verhalten weniger kontrolliert werden, die eine geringe Selbstkontrolle aufweisen, die schlechte Schulleistungen erzielen, die eine geringe Bindung an die Schule empfinden und die in desorganisierten Nachbarschaften aufwachsen, häufiger Anschluss an delinquente Freundesgruppen finden.
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Dirk Baier, Susann Rabold und Christian Pfeiffer
3. Das Freizeitverhalten von Jugendlichen in delinquenten Freundesgruppen unterscheidet sich deutlich von dem Freizeitverhalten von Jugendlichen in nicht delinquenten Gruppen. Erstgenannte verbringen ihre Freizeit häufiger an von Erwachsenen weniger kontrollierten Orten im öffentlichen Raum, sie sind seltener Mitglied in formalen Organisationen, sie beschäftigen sich häufiger mit Gewaltmedien und sie konsumieren öfter Alkohol. 4. Die Zusammenhänge zwischen der Zugehörigkeit zu einer delinquenten Freundesgruppe und der eigenen Delinquenz bleiben erhalten, wenn die Ursachen der Zugehörigkeit berücksichtigt werden. Dennoch sollte sich der Effekt der Zugehörigkeit nach Berücksichtigung der Ursachenfaktoren abschwächen (Selektionsthese). Wird darüber hinaus berücksichtig, dass Angehörige delinquenter Freundesgruppen häufiger Freizeitaktivitäten ausführen, die Möglichkeiten für delinquentes Verhalten eröffnen, dann sollte sich der direkte Zusammenhang zwischen Gruppenzugehörigkeit und Delinquenz weiter abschwächen.
3
Peers und delinquentes Verhalten – Empirische Ergebnisse einer deutschlandweiten Repräsentativbefragung
Zur Prüfung der aufgestellten Hypothesen werden Daten einer Schülerbefragung, die in den Jahren 2007 und 2008 in 61 Landkreisen bzw. kreisfreien Städten Deutschlands durchgeführt wurde, herangezogen (vgl. Baier et al. 2009).1 Die Gebiete wurden per Zufall derart bestimmt, dass die Stichprobe Repräsentativität für die Bundesrepublik Deutschland beansprucht. Methodisch wurde auf dem Weg der schulklassenbasierten Befragung vorgegangen, d.h. die Befragungen wurden in den Gebieten in ca. jeder zweiten bzw. (in Großstädten) jeder sechsten zufällig ausgewählten Schulklasse durchgeführt, jeweils im Klassenverband und in Gegenwart eines Lehrers und eines eigens geschulten Testleiters. Befragt wurden dabei nur Klassen der neunten Jahrgangsstufe, da diese aufgrund ihres Alters geeignet erscheint, kriminalitätsbezogene Thematiken im Jugendalter zu untersuchen. Insgesamt wurden im Rahmen dieser Schülerbefragung 44.610 Jugendliche befragt, wobei eine Rücklaufquote von 62,1% erreicht wurde. In Großstädten und in den ostdeutschen Bundesländern fiel die Rücklaufquote unterdurchschnittlich aus. Etwa die Hälfte der befragten Jugendlichen ist männlich (51,3%), die andere Hälfte weiblich. Das Durchschnittsalter der Befragten be1 Die Studie war ein Gemeinschaftsprojekt des Bundesministeriums des Innern und des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen.
Peers und delinquentes Verhalten
321
trägt 15,3 Jahre. Etwa jeder vierte Befragte (27,4%) hat einen Migrationshintergrund; die beiden größten Migrantengruppen sind türkische Jugendliche und Jugendliche aus der ehemaligen SU (inkl. Aussiedler). In der Stichprobe befinden sich Schüler aller Schulformen, wobei auch Schulen in freier Trägerschaft einbezogen wurden. Etwa ein Viertel der Befragten besucht eine Förder- oder Hauptschule (26,8%), etwas mehr ein Gymnasium bzw. eine Waldorfschule (29,8%). Die restlichen Schüler werden an Real- oder Gesamtschulen unterrichtet (43,4%).2 Die Zugehörigkeit zu einer delinquenten Freundesgruppe bzw. die Bekanntschaft mit delinquenten Peers wurde über drei verschiedene Wege erfragt: 1. Die Jugendlichen wurden gebeten anzugeben, ob sie eine Freundesgruppe haben, mit der sie auch außerhalb der Schule Zeit verbringen. Schüler, die dem zustimmten, sollten im Anschluss berichten, welchen Tätigkeiten diese Gruppe nachgeht. 2. Es wurde danach gefragt, wie viele Freunde die Jugendlichen kennen, die in den letzten 12 Monaten delinquente Dinge getan haben (Ladendiebstahl, Raub, Körperverletzung, Sachbeschädigung, Drogenhandel). 3. Die Schüler sollten zu ihren fünf besten Freunden berichten, ob diese schon einmal allein absichtlich jemanden geschlagen und verletzt haben. Grundsätzlich gibt es einen großen Überschneidungsbereich zwischen diesen Abfragen: Ein bester Freund (Abfrage 3), der eine Körperverletzung begangen hat, kann auch als delinquenter Freund entsprechend der Abfrage 2 genannt werden und Mitglied der Freundesgruppe (Abfrage 1) sein. Dennoch handelt es sich um partiell unabhängige Einschätzungen, insofern der Einfluss bester Freunde, weitläufigerer Freunde und Freundesgruppenzugehörigkeiten bis hin zur Mitgliedschaft in Gangs untersucht werden kann. Um die Zugehörigkeit der Jugendlichen zu einer delinquenten Freundesgruppe zu bestimmen, soll zunächst auf die erste Abfrage zurückgegriffen werden. Die Jugendlichen, die angegeben haben, zu einer Freundesgruppe zu gehören, sollten beurteilen, inwieweit die in Tabelle 1 aufgeführten Verhaltensweisen in ihrer Gruppe ausgeführt werden oder nicht.3 Deutlich wird, dass etwa ein Drittel der Befragten bestätigte, dass durchaus auch einmal etwas Verbotenes in der Gruppe getan wird, schwere Delinquenz stellt aber die Ausnahme dar. Ent2 Nicht in allen Gebieten stellt die realisierte Stichprobe ein genaues Abbild der SchulZusammensetzung der Grundgesamtheit dar. Aus diesem Grund wurde ein Gewichtungsfaktor gebildet. Alle nachfolgenden Auswertungen erfolgen anhand der gewichteten Daten. 3 Die Einschätzungen konnten zwischen „1 – stimmt nicht“ bis „4 – stimmt genau“ abgestuft werden.
322
Dirk Baier, Susann Rabold und Christian Pfeiffer
sprechend einer Faktoren- und Reliabilitätsanalyse zeigt sich, dass alle Aussagen zu einer Mittelwertsskala „delinquente Aktivitäten“ zusammengefasst werden können. Jugendliche, die angaben, keine der Aktivitäten in ihrer Gruppe ausgeführt zu haben, können als „nicht delinquent“ eingestuft werden; Jugendliche, deren Freundesgruppe diese Aktivitäten ausüben (Mittelwert bis 2,5) gelten als „delinquent“; wenn im Durchschnitt alle Aktivitäten ausgeführt werden (Mittelwert über 2,5), kann von einer Zugehörigkeit zu einer hoch delinquenten Gruppe ausgegangen werden, für die wir auch die Bezeichnung „Gang“ nutzen. Tabelle 1: Skala zur Erfassung der Aktivitäten der Freundesgruppe (nur Befragte mit Freundesgruppe) Mittelwert
Anteil „stimmt eher“ und „stimmt genau“ (in %)
Standardabweichung
Faktorladung
Trennschärfe
Wir beschaffen uns Geld durch 1.09 Diebstahl oder Raub. Um Spaß zu haben, tun wir auch schon mal etwas Verbo2.11 tenes. Wir prügeln uns mit anderen 1.29 Gruppen.
2,1
0.40
.77
.52
34,3
1.02
.67
.46
7,2
0.67
.79
.56
Wir handeln mit Drogen.
1.16
4,4
0.55
.77
.51
Skala
1.42
-
0.51
-
-
Abbildung 1 zeigt, dass 3,5% aller befragten Jugendlichen einer sehr delinquenten Freundesgruppe (Gang) angehören. Dies liegt unterhalb des Wertes, der für andere europäische Länder bzw. für die USA berichtet wird. So berichten bspw. Esbensen und Weerman (2005) in ihrer Studie unter durchschnittlich 14Jährigen, dass in den Niederlanden 6%, in den USA 8% aller Jugendlichen Gang-Mitglieder sind. Erkennbar ist zugleich auch, dass nur eine Minderheit aller Jugendlichen keinen Kontakt zu delinquenten Freunden hat: 7,0% der Schüler haben keine Freundesgruppe (und daher keinen Kontakt), 31,2% haben eine Freundesgruppe in der keine der delinquenten Verhaltensweisen verübt werden. Männliche Befragte gehören häufiger einer delinquenten Freundesgruppe an; zudem ist eine Zugehörigkeit zu einer Gang etwa fünfmal so häufig
Peers und delinquentes Verhalten
323
unter männlichen wie unter weiblichen Befragten zu beobachten.4 Befragte nichtdeutscher Herkunft sind etwa doppelt so häufig Mitglied in einer Gang. Erwähnenswert ist, dass immerhin jeder zehnte nichtdeutsche Junge einer Gang angehört.5 Abbildung 1: Jugendliche in Freundesgruppen (in %) 3,5
5,8
1,1
4,2
9,8
0,9
1,7
100% 90% 80% 70%
51,6 53,3
52,1 58,2
64,6
64,2
60%
Freundesgruppe: sehr delinquent (Gang)
63,3
Freundesgruppe: delinquent
50%
Freundesgruppe: nicht delinquent
40%
keine Freundesgruppe
30% 20%
31,2
40,6
42,0 37,4 23,4 19,3
22,2
7,0
7,8
6,2
7,9
7,7
5,5
7,6
männlich
weiblich
deutsch: männlich
nichtdeutsch: männlich
deutsch: weiblich
nichtdeutsch: weiblich
0%
Gesamt
10%
Um die Zusammenhänge zwischen der Mitgliedschaft und dem delinquenten Verhalten zu untersuchen, werden zwei Deliktsformen herangezogen: Gewalttaten und schwere Diebstähle. Erfasst wurde die Ausübung von Gewalttaten in Bezug auf die zurückliegenden 12 Monate, wobei das Begehen von einfachen Körperverletzungen (alleine jemanden geschlagen und verletzt), schweren bzw. 4 Die Unterschiede in der Zugehörigkeit zwischen den Geschlechtern sind signifikant (Cramers V = .224). Dies gilt auch für die Unterschiede zwischen den deutschen und den nichtdeutschen Befragten (Cramers V für Jungen = .111, Cramers V für Mädchen = .062). Als signifikant werden durchgängig nur jene Unterschiede bzw. Zusammenhänge ausgewiesen, die – in Anbetracht der hohen Fallzahl – auf dem 0,1-%-Irrtumswahrscheinlichkeitsniveau signifikant sind. 5 Nicht in Abbildung 1 dargestellt ist, dass die Zugehörigkeit zu Gangs in Großstädten signifikant verbreiteter ist als auf dem Land (4,8 zu 3,2 %).
324
Dirk Baier, Susann Rabold und Christian Pfeiffer
gefährlichen Körperverletzungen (zusammen jemanden geschlagen und verletzt, jemandem mit Waffe verletzt), Raubtaten (mit Gewalt jemandem etwas entrissen) und Erpressungen (unter Androhung von Gewalt jemandem etwas weggenommen) in den Index einbezogen wurden. Schwere Diebstähle umfassen das Stehlen von Fahrzeugen bzw. den Einbruch in Gebäude. Gewalttaten wurden von 13,0% aller Schüler in den letzten 12 Monaten begangen, schwere Diebstähle von 6,0%. Gang-Mitglieder haben zu 65,4% eine Gewalttat und zu 47,4% ein Eigentumsdelikt begangen; Mitglieder einer nicht-delinquenten Freundesgruppe sind hingegen nur zu 3,1% mit einem Gewaltdelikt und zu 0,7% mit einem Eigentumsdelikt in Erscheinung getreten. Die hohe Belastung der GangMitglieder bedeutet, dass von dieser kleinen Gruppe (3,5% aller Befragten) 42,4% aller Gewalttaten, die von den Befragten berichtet wurden, ausgehen, sowie 47,0% aller Diebstähle. Demgegenüber gehen auf das Konto der nicht delinquenten Freundesgruppenangehörigen nur 3,3% aller Gewalttaten und 1,7% aller schweren Diebstähle. In einer logistischen Regressionsanalyse bestätigen sich die Unterschiede zwischen den einzelnen Freundesgruppen hinsichtlich ihrer Bereitschaft, delinquentes Verhalten auszuführen (vgl. Tab. 2). Mit Hilfe dieses Verfahrens lässt sich beurteilen, inwieweit ein Faktor unter Kontrolle weiterer Faktoren signifikant erklären kann, ob eine Person zur Gruppe der Täter gehört oder nicht (Backhaus et al. 2003, 417ff). Werte über 1 zeigen an, dass ein Faktor das Risiko erhöht, Täter zu sein, Werte unter 1 bedeuten, dass ein Faktor dieses Risiko senkt. In die jeweils ersten Modelle wurde dabei nur die Unterscheidung in die Freundesgruppen gemäß Abfrage 1 aufgenommen. Das Risiko einer Gewalttäterschaft liegt dabei für Angehörige von Gangs um über 58mal höher als das Risiko von Angehörigen nicht delinquenter Freundesgruppen; beim schweren Diebstahl liegt das Risiko sogar 129mal höher. Im Vergleich zu den nicht delinquenten Freundesgruppen-Angehörigen (Referenzkategorie) ergibt sich aber auch für die anderen Gruppen ein höheres Delinquenzrisiko, d.h. Personen ohne Freundesgruppe, Personen mit delinquenten Freundesgruppen und Personen ohne Angabe zur Freundesgruppe sind durchweg öfter als Täter von Gewalt oder Diebstahl in Erscheinung getreten. Die Gruppe der Personen ohne Angaben beinhaltet immerhin 5,5% aller Befragten; diese haben meist angegeben, dass sie einer Gruppe angehören, danach aber keine Aussagen zu den Aktivitäten gemacht. Die Koeffizienten zu dieser Gruppe deuten darauf hin, dass es sich um Personen handelt, die wahrscheinlich delinquenten Gruppen angehören, dies aber – bewusst oder nicht – nicht mitteilen wollten.
Peers und delinquentes Verhalten
325
Tabelle 2: Freunde und delinquentes Verhalten (logistische Regressionsanalysen; abgebildet: Exp(B)) Gewalt I
schwerer Diebstahl
II III Freundesgruppe: Referenz Referenz Referenz Referenz Referenz Referenz nicht delinquent keine Freundesgruppe 1.520 1.323+ 1.057+ 2.649 2.274 1.535+ Freundesgruppe: 6.132 3.429 2.608 10.987 5.787 4.279 delinquent Freundesgruppe: 58.527 14.018 8.630 129.512 29.324 16.420 sehr delinquent (Gang) Keine Angabe zu Freundesgrup3.024 2.182 1.705 5.635 3.884 3.186 pe Keine delinquenten Freunde Referenz Referenz Referenz Referenz ein bis fünf delinquente Freunde mehr als fünf delinquente Freunde Keine Angabe zu delinquenten Freunden Anteil beste Freunde, die Körperverletzung begangen haben N Nagelkerkes R² + nicht signifikant bei p < .001
II
III
I
4.014
2.638
4.329
3.562
15.318
7.010
16.464
10.044
4.993
2.214+
6.090
3.383+
10.771
5.352
43690
43690
24506
43731
43731
24527
.168
.273
.350
.190
.268
.296
In den Modellen zwei und drei werden die Variablen aufgenommen, die ebenfalls Kontakte zu delinquenten Freunden erfassen (Abfrage 2 und 3). Dadurch geht der Einfluss der Gruppenzugehörigkeit deutlich zurück: Beispielsweise erweisen sich Gang-Angehörige in Modell III nur mehr als 8,6mal gewalttätiger als Angehöriger nicht delinquenter Gruppen. Nichtsdestotrotz steigt mit jedem Schritt die erklärte Varianz der Modelle, wie auch für alle drei Variablen des Kontakts zu delinquenten Freunden ein signifikanter Effekt bestehen bleibt.6 Dies bedeutet, dass der Einfluss der Gruppenzugehörigkeit weitestgehend darauf zurückzuführen ist, dass in dieser Gruppe Kontakte zu delinquenten Personen bestehen. Zugleich scheinen insbesondere in den von uns als Gangs bezeichneten Gruppen weitere Prozesse zu wirken, die Delinquenz begünstigen. Delinquente Gruppen haben, auch unter Kontrolle der Tatsache, dass hier von delinquenten Freunden gelernt werden kann, einen eigenständigen Einfluss auf die 6 Im Vergleich der Modelle II und III geht die in die Analysen einbezogene Anzahl an Befragten deutlich zurück (Zeile „N“). Dies ist darauf zurückzuführen, dass das Netzwerk bester Freunde nur bei einem Teil aller Jugendlichen im Fragebogen erhoben wurde.
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Dirk Baier, Susann Rabold und Christian Pfeiffer
Delinquenzbereitschaft. Dass aber auch das Lernen von delinquenten Freunden eine Rolle spielt, belegen die Koeffizienten zu den entsprechenden Variablen der Abfrage 2 und 3: Wer fünf und mehr Freunde hat, ist deutlich delinquenter als derjenige, der keine delinquenten Freunde hat. Und beste Freunde, die sich gewalttätig verhalten, erhöhen das Risiko, selbst gewalttätig zu werden ebenso wie das Risiko, Diebstähle zu begehen. Der Einfluss des Verhaltens der besten Freunde scheint dabei sogar etwas stärker zu sein, als der Einfluss der Freunde im Allgemeinen. Hypothese 1 kann insgesamt bestätigt werden. Ausgeschlossen ist mit diesen Analysen dennoch nicht, dass der signifikante Effekt der Zugehörigkeit zu delinquenten Gruppen auf Selektion zurückzuführen ist, dass sich also ganz bestimmte Jugendliche in diesen Gruppen zusammenfinden. Aus diesem Grund wird in Hypothese 2 auf die Ursachen des Anschlusses an delinquente Freundesgruppen eingegangen. In Tabelle 3 sind verschiedene Faktoren aufgeführt, die als Ursachen eines Anschlusses diskutiert werden. Eine einfaktorielle Varianzanalyse zeigt dabei, dass alle aufgenommenen Variablen für sich genommen dazu beitragen, zwischen den Gruppen, die auf Basis der Abfrage 1 bestimmt wurden, signifikant zu unterscheiden. Hypothese 2 wird damit vollständig bestätigt. Der Einfluss der einzelnen Faktoren variiert aber beträchtlich, was an den F-Werten abzulesen ist. Von besonderer Bedeutung scheint dabei die Selbstkontrolle, das Geschlecht, die Schulbindung und die elterliche Verhaltenskontrolle zu sein. Um die Richtung des Einflusses zu prüfen, wurden im anschließenden Schritt erneut logistische Regressionsanalysen berechnet. Die Frage, die damit zu beantworten versucht wird, ist allerdings diesmal nicht, ob ein Faktor das Risiko zum Begehen von Taten erhöht oder senkt, sondern ob ein Faktor eine bestimmte Gruppenzugehörigkeit vorhersagt. Im ersten Modell wird dabei untersucht, welche Faktoren erklären, dass ein Befragter zu einer delinquenten Freundesgruppe gehört – die Jugendlichen in delinquenten und in sehr delinquenten Gruppen (Gangs) wurden dabei zusammengefasst. Das zweite Modell fragt danach, was die Zugehörigkeit zu Gangs beeinflusst, warum also manche Jugendliche „nur“ zu einer delinquenten Freundesgruppe gehören, andere hingegen zu einer sehr delinquenten Freundesgruppe. Für keinen der aufgenommenen Faktoren ist dabei im Vergleich der Modelle ein widersprüchlicher Effekt zu finden, d.h. wenn ein Faktor das Risiko erhöht, zur Gruppe der Personen mit delinquentem Peerkontakt zu gehören, dann erhöht er auch das Risiko des Übergangs von einer delinquenten Gruppe in eine Gang. Insofern sind die Schüler in Gangs die auf allen Ursachendimensionen am stärksten belastete Gruppe.
Peers und delinquentes Verhalten
327
Tabelle 3: Ursachen des Anschlusses an delinquente Freundesgruppen (Einfaktorielle Varianzanalysen bzw. logistische Regressionsanalysen; abgebildet: Exp(B))
schwere elterliche Gewalt in Kindheit erlebt
235.5
1.331
delinquent vs. sehr delinquent (Gang) 1.788
hohe elterliche Verhaltenskontrolle in Kindheit
444.3
0.863
0.735
+
F-Wert
nicht delinquent vs. delinquent (inkl. Gang)
Aufwachsen bei alleinerziehendem Elternteil
8.6
0.971
0.924+
abhängig von staatlichen Leistungen
27.1
0.860
0.981+
3806.6
4.360
3.214
hohe Risikobereitschaft (Selbstkontrolle) schlechte Schulnoten
274.9
1.189
1.285
hohe Schulbindung
546.5
0.809
0.731
hohe soziale Kohäsion in Nachbarschaft
128.0
0.874
0.760
Geschlecht: männlich
644.0
1.613
2.941
Ethnie: nichtdeutsch
81.6
1.078+
1.753
Schulbesuch: Hauptschule
74.8
0.963+
1.407
73.7
+
0.982
0.750+
38474
35991
23774
-
.321
.257
Schulbesuch: Gymnasium N Nagelkerkes R² + nicht signifikant bei p < .001
Hinsichtlich der familiären Bedingungen belegen die Befunde in Tabelle 3, dass das Erleben schwerer elterlicher Gewalt die Zugehörigkeit zu delinquenten Gruppen und Gangs erhöht, eine hohe elterliche Verhaltenskontrolle hingegen dieses Risiko senkt. Schwere elterliche Gewalt wurde dabei erfasst als Erleben folgender Handlungen in der Zeit vor dem 12. Lebensjahr (vom Vater oder von der Mutter): mit Gegenstand geschlagen, mit der Faust geschlagen/getreten, geprügelt/zusammengeschlagen. Insgesamt berichten 15,3% aller Befragten, mindestens einmal einen solchen Übergriff erlebt zu haben. Die elterliche Verhaltenskontrolle wurde ebenfalls in Bezug auf die Zeit vor dem 12. Lebensjahr erfragt, wobei drei Items als Mittelwertsskala genutzt wurden: Mutter/Vater wissen genau, wo ich in Freizeit bin; haben darauf geachtet, wann ich abends zu Hause bin; haben sich danach erkundigt, mit wem ich befreundet bin. Zwei Drittel der Befragten berichten von einer hohen elterlichen Supervision. Wie die Ergebnisse in Tabelle 3 darüber hinaus belegen, gehen von anderen familiären Dimension kaum Wirkungen auf den Anschluss an Freundesgruppen aus: Kin-
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Dirk Baier, Susann Rabold und Christian Pfeiffer
der alleinerziehender Elternteile gehören nicht häufiger problematischen Gruppen an. Eine armutsnahe Lebenslage hat sogar zur Folge, dass etwas häufiger nicht delinquenten Gruppen angehört wird. Strukturelle Voraussetzungen beeinflussen das Anschlussverhalten also insgesamt weniger als familienkulturelle Aspekte. Aus dem Bereich der Persönlichkeitseigenschaften wurden die Selbstkontrollfähigkeiten in die Modelle aufgenommen, in Form der Subdimension Risikobereitschaft (vgl. Grasmick et al. 1993). Eine geringe Selbstkontrolle (abgebildet über eine hohe Bereitschaft, Risiken einzugehen) zieht die Anbindung an delinquente Gruppen nach sich. Erfasst wurde die Risikobereitschaft über vier Items (Bsp.: „Ich teste gern meine Grenzen, indem ich etwas Gefährliches mache“). Neben der Familie und der Persönlichkeit spielen aber auch schulische Erfahrungen eine wichtige Rolle für den Anschluss an delinquente Freundesgruppen. Es zeigt sich, dass Schüler, die in der Schule weniger erfolgreich sind und schlechte Schulnoten erzielen (Mittelwert aus Mathematik-, Deutsch- und Geschichtsnote), häufiger in delinquente Gruppen geraten, insbesondere auch in Gangs. Jugendliche hingegen, die in der Schule erfolgreich sind und die sich an die Schule gebunden fühlen, schließen sich seltener zu delinquenten Gruppen zusammen. Der Einfluss der Schulbindung existiert, wie das Modell belegt, auch jenseits der Schulleistung, d.h. eine Bindung kann auch unabhängig vom Schulerfolg aufgebaut werden. Um die Bindung zu messen, wurden den Schülern folgende zwei Aussagen zur Einschätzung vorgelegt: „An meiner Schule gefällt es mir wirklich gut“ und „Ich gehe gern zur Schule“. Etwa die Hälfte aller Schüler weist eine hohe Schulbindung auf. Die Schule hat aber noch in einer weiteren Hinsicht Einfluss auf die PeerGruppenzugehörigkeit: Schüler, die Haupt- oder Förderschulen besuchen schließen sich signifikant häufiger hochdelinquenten Gruppen an, Schüler an Gymnasien finden hingegen seltener den Weg in solche Gruppen. Interessant ist, dass die Schulformzugehörigkeit keinen Einfluss darauf hat, ob sich überhaupt delinquenten Gruppen angeschlossen wird. Sie wird erst dann relevant, wenn es um den Anschluss an Gangs geht. Ein vergleichbarer Effekt ergibt sich mit Blick auf die Ethnienzugehörigkeit: Nichtdeutsche Befragte sind insgesamt nicht häufiger als deutsche Jugendliche in delinquenten Gruppen zu finden, sie gehören aber häufiger Gangs an. Dies ist dabei nicht allein auf ihren sozial marginalisierten Status rückführbar, da im Modell der soziale Status in Form der Abhängigkeit von sozialen Leistungen kontrolliert wurde. Männliche Befragte gehören, wie bereits in Abbildung 1 sichtbar wurde, einerseits häufiger delinquenten Gruppen an; anderseits sind sie auch deutlich
Peers und delinquentes Verhalten
329
häufiger als Mädchen in Gangs zu finden. Zuletzt ist darauf zu verweisen, dass auch die Nachbarschaft, in der gewohnt wird, die Anschlusswahrscheinlichkeit an eine delinquente Freundesgruppe beeinflusst. Dabei können wir leider nur die individuelle Einschätzung der Nachbarschaft in die Modelle aufnehmen, da aus datenschutzrechtlichen Gründen eine konkrete Erhebung der Stadt bzw. des Stadtteils, in dem ein Jugendlicher wohnt, nicht möglich war. Genutzt wurden fünf Aussagen zur sozialen Kohäsion. Beispielsaussagen sind: „Die Leute in meiner Nachbarschaft helfen sich gegenseitig“ oder „Man kann den Leuten in der Nachbarschaft vertrauen“. In Nachbarschaften mit hoher sozialer Kohäsion schließen sich Jugendliche deutlich seltener zu delinquenten Gruppen und Gangs zusammen als in Nachbarschaften mit einem geringen Zusammenhalt. In Hypothese 3 wird vermutet, dass sich die Gruppenangehörigen nicht nur hinsichtlich verschiedener Ursachenfaktoren unterscheiden, sondern auch hinsichtlich ihres Freizeitverhaltens. Entsprechend bisheriger Forschungsergebnisse ist das Verbringen von Freizeit an von Aufsichtspersonen unkontrollierten Orten entscheidend, um Möglichkeiten delinquenten Handelns zu eröffnen. In amerikanischen Studien wird dies meist über Items zum „Herumhängen“ erfasst. Solch eine Messung steht in unseren Datensatz nicht zur Verfügung. Stattdessen wurde nur nach der Zeit gefragt, die die Jugendlichen damit verbringen, Kneipen, Discos, Kinos oder Veranstaltungen zu besuchen bzw. mit der Familie etwas zu unternehmen. Erstgenannte Tätigkeit wird meist im Rahmen der Gleichaltrigengruppe durchgeführt, Aufsichtspersonen sind eher selten zugegen. Die zweite Tätigkeit beinhaltet demgegenüber u.a. die Gegenwart der Eltern, so dass eine Kontrolle unmittelbar gegeben ist. Die Jugendlichen sollten zu beiden Tätigkeiten angeben, wie viele Stunden sie an einem gewöhnlichen Schultag sowie an einem gewöhnlichen Wochenendtag mit dieser Tätigkeit zubringen. Aus den Angaben wurde eine durchschnittliche wöchentliche Beschäftigungszeit in Minuten berechnet. Tabelle 4 belegt, dass Jugendliche, die nicht delinquenten Freundesgruppen angehören, täglich sehr viel weniger Zeit außer Haus in Kneipen usw. zubringen, dafür aber mehr Zeit mit der Familie. Mädchen führen beide Tätigkeiten länger aus als Jungen; eine Ausnahme stellen Mädchen in Gangs dar, die weniger Zeit mit der Familie verbringen als Jungen in Gangs. Mittels Scheffé-Tests kann geprüft werden, ob sich die Gruppen signifikant unterscheiden. Im Hinblick auf die Zeit für außenorientierte Tätigkeiten ist dies der Fall, d.h. sowohl Jungen als auch Mädchen in nicht delinquenten Gruppen gehen weniger in Kneipen usw. als Gleichaltrige in delinquenten Gruppen und diese wiederum weniger als Gleichaltrige in Gangs. Bei den Familienunternehmungen ist bei den Jungen der zweiten und dritten Gruppe allerdings kein signifikanter Unterschied festzustellen.
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Dirk Baier, Susann Rabold und Christian Pfeiffer
Tabelle 4: Freizeitaktivitäten nach Freundesgruppenzugehörigkeit Zeit für Zeit für außenorientierte FamilienunterTätigkeit nehmungen (in Minuten) (in Minuten)
häufiges Spielen häufiger gewalthaltiger Alkoholkonsum Computerspiele (in %) (in %)
Mitglied in Verein o.ä. (in %)
Aktivität: Treffen und Reden (Mittelwert)
3.03
Freundesgruppe: männl. (1) nicht delinquent weibl. (1)
42
72
38,2
14,8
76,6
55
86
1,7
7,2
72,5
3.45
Freundesgruppe: männl. (2)
71
63
50,7
36,4
76,0
3.14
delinquent
weibl. (2)
83
71
4,5
22,5
70,8
3.47
Freundesgruppe: männl. (3) sehr delinquent weibl. (3) (Gang)
118
57
61,0
60,6
64,8
3.12
132
49
15,0
53,7
61,3
3.30 1/2
Signifikante Unterschiede (p < .001) Gesamt
männl.
1/2, 1/3, 2/3
1/2, 1/3
1/2, 1/3, 2/3
1/2, 1/3, 2/3
1/3, 2/3
weibl.
1/2, 1/3, 2/3
1/2, 1/3, 2/3
1/2, 1/3, 2/3
1/2, 1/3, 2/3
-
-
66
71
25,7
23,0
72,1
3.28
Die Gruppen unterscheiden sich aber sämtlich voneinander bei zwei anderen Freizeitbeschäftigungen: Jungen und Mädchen in nicht delinquenten Gruppen gehören seltener zu den häufigen Spielern gewalthaltiger Computerspiele und seltener zu den häufigen Konsumenten von Alkohol. Um das Spielverhalten zu erfassen, sollten die Jugendlichen angeben, wie häufig sie Ego- und ThirdPerson-Shooter bzw. Beat’em-Up’s/Prügelspiele spielen. Schüler, die angaben mindestens eine diese Spielekategorien mindestens einmal pro Woche zu spielen, werden als häufige Spieler behandelt. Jungen gehören sehr viel häufiger zu dieser Spielergruppe als Mädchen; selbst 38,2% der Angehörigen nicht delinquenter Gruppen spielen häufiger Gewaltspiele. Zugleich gehören Mädchen in Gangs noch relativ selten (15,0%) zu den Vielspielern von Gewaltspielen, aber zugleich auch fast zehnmal häufiger als Mädchen in nicht delinquenten Gruppen. Als häufige Alkoholkonsumenten wurden Jugendliche klassifiziert, die mindestens einmal pro Woche Bier, Wein, Sekt, Alcopops oder Schnaps trinken. Immerhin 23,0% aller Jugendlichen fallen in diese Kategorie, wobei Mädchen wiederum seltener dazu gehören als Jungen. Mitglieder von Gangs gehören bereits zu über 50% zu den häufigen Konsumenten von Alkohol. Hypothese 3 wird damit weitestgehend bestätigt. Nur für die Mitgliedschaft in Vereinen ergeben sich kaum signifikante Unterschiede. Erfragt wurde die Mitgliedschaft in insgesamt acht Vereinen und anderen Organisationen (z.B. Sportverein, Freiwillige Feuerwehr). Fast drei Viertel aller Jugendlichen sind in irgendeinem der erfragten Vereine Mitglied, wobei die Sportvereine diesbezüglich am wichtigsten sind. Jugendliche, die Gangs angehören, sind etwas seltener Mitglied in Vereinen, die Quote übersteigt aber noch immer 60%. Möglicherweise resultiert der ausbleibende Unterschied daher, dass die Vereinsmitglied-
Peers und delinquentes Verhalten
331
schaft in Deutschland unter Jugendlichen weit verbreitet ist und in Schule und Elternhaus darauf geachtet wird, dass sich einem Verein angeschlossen und mitgearbeitet wird. Tabelle 4 belegt zudem, dass sich die Gruppen im Bereich konventioneller Aktivitäten nicht unterscheiden. Hierauf haben bereits Giordano et al. (1986) hingewiesen, die zeigen konnten, dass die Qualität delinquenter Freundesgruppen nicht in jeder Hinsicht von der Qualität nicht delinquenter Freundesgruppen abweicht. Wir haben die konventionellen Aktivitäten nur mittels einer Aussage erfasst7:„Wir treffen uns einfach und reden miteinander.“ Mädchen in allen Freundesgruppen führen diese Aktivität häufiger aus als Jungen; für Mädchen wie auch für Jungen gilt, dass sich in allen Gruppen in etwa gleich oft getroffen und geredet wird. In diesem Sinne erfüllen alle Freundesgruppen eine intrinsische Funktion (vgl. Giordano et al. 1986). In unserer letzten Hypothese 4 wird vermutet, dass der Zusammenhang zwischen Peergruppenzugehörigkeit und delinquentem Verhalten kein reines Selektionsphänomen ist. Dies bestätigen die logistischen Regressionsmodelle in Tabelle 5. Befragte, die sich in delinquenten Gruppen aufhalten, haben auch dann ein mindestens 3mal so hohes Risiko einer Täterschaft von Gewalt- bzw. Eigentumsdelikten als Befragte in nicht delinquenten Gruppen, wenn die oben vorgestellten Ursachenfaktoren in die Modelle integriert werden. Mitglieder in Gangs weisen dann noch mindestens ein 12mal so hohes Risiko einer Täterschaft auf. Der Einfluss der Freundesgruppe geht also nur teilweise auf andere Faktoren zurück. Die Ursachenfaktoren einer Mitgliedschaft erweisen sich in den Modellen zudem auch als Ursachenfaktoren einer Täterschaft, d.h. nur z.T. wird ihr Einfluss über die Freundesgruppen vermittelt. Zu erwähnen ist, dass gewaltsam erzogene Schüler häufiger Täter sind, dass elterliche Kontrolle das Risiko der Täterschaft senkt und dass eine geringe Selbstkontrolle mit erhöhten Täterraten einher geht. Schlechte Schulnoten erhöhen ebenso die Bereitschaft, delinquente Taten auszuführen wie ein männliches Geschlecht, eine nichtdeutsche Herkunft8 und ein Besuch einer Förder- oder Hauptschule. Als Schutzfaktoren gegen eine Täterschaft erweisen sich die Schulbindung, die nachbarschaftliche Kohäsion und der Besuch eines Gymnasiums. 7
Die Antwortvorgaben reichten von „1 – stimmt nicht“ bis „4 – stimmt genau“. Anliegen dieses Beitrags ist es nicht, die Ursachen der Höherbelastung von Migrantenjugendlichen zu untersuchen. An anderer Stelle konnte gezeigt werden, dass bei Berücksichtigung weiterer Faktoren (z.B. Zustimmung zu Männlichkeitsnormen, Kontakt mit deutschen Freunden) keine Unterschiede mehr zwischen deutschen und nichtdeutschen Jugendlichen bestehen (vgl. Baier et al. 2009, S. 84ff). Insofern kann gefolgert werden, dass unter gleichen Bedingungen deutsche und nichtdeutsche Jugendliche gleiche Delinquenzraten aufweisen. 8
332
Dirk Baier, Susann Rabold und Christian Pfeiffer
Tabelle 5: Freunde und delinquentes Verhalten unter Berücksichtigung von Ursachenfaktoren und Freizeitaktivitäten (logistische Regressionsanalysen; abgebildet: Exp(B)) Gewalt I Freundesgruppe: nicht delinquent keine Freundesgruppe Freundesgruppe: delinquent Freundesgruppe: sehr delinquent (Gang) Keine Angabe zu Freundesgruppe schwere elterliche Gewalt in Kindheit erlebt hohe elterliche Verhaltenskontrolle in Kindheit Aufwachsen bei alleinerziehendem Elternteil abhängig von staatlichen Leistungen hohe Risikobereitschaft (Selbstkontrolle) schlechte Schulnoten
II
Referenz 0.852
schwerer Diebstahl
+
I
Referenz 0.934
+
II
Referenz 1.421
Referenz
+
1.557+
3.019
2.711
4.844
4.248
11.888
9.662
22.757
18.234
1.553
1.488
2.757
2.548
1.694
1.691
1.443
1.452
0.903
0.925
0.887
0.907+
1.056+
1.068+
1.400
1.405
1.089+
1.139+
1.094+
1.145+
1.932
1.745
2.041
1.870
1.247
1.221
1.314
1.305
hohe Schulbindung hohe soziale Kohäsion in Nachbarschaft Geschlecht: männlich
0.795
0.814
0.774
0.798
0.898
0.891
0.880
0.865
2.504
2.290
2.271
2.400
Ethnie: nichtdeutsch
1.429
1.520
1.232
1.323
Schulbesuch: Hauptschule
1.358
1.358
1.405
1.411
Schulbesuch: Gymnasium Zeit für außenorientierten Tätigkeit (z-standarisiert) häufiges Spielen gewalthaltiger Computerspiele
0.675
0.712
0.687
0.695
häufiger Alkoholkonsum N Nagelkerkes R² + nicht signifikant bei p < .001
1.203
1.085
1.304
0.862+
1.567
1.929
40070
38930
40094
38947
.297
.312
.293
.301
Im zweiten Teil der vierten Hypothese wird angenommen, dass Freizeitaktivitäten den Zusammenhang von Gruppenzugehörigkeit und Delinquenz zusätzlich
Peers und delinquentes Verhalten
333
vermitteln. Die zweiten Modelle in Tabelle 5 bieten dafür einen Beleg. Für die drei aufgenommenen Freizeitaktivitäten haben sich oben deutliche Unterschiede zwischen den Gruppen gezeigt (vgl. Tab. 4); zusätzlich gilt nun, dass zumindest mit längerem Zeitaufwand für außenorientierte Tätigkeiten und mit der Zugehörigkeit zur Gruppe der häufigen Alkoholkonsumenten das Risiko einer Täterschaft ansteigt. Die Koeffizienten zur Freundesgruppenmitgliedschaft verkleinern sich im Vergleich zu den Modellen I um zehn bis zwanzig Prozent. Auffällig ist, dass die Koeffizienten der anderen Ursachenfaktoren weitestgehend unverändert bleiben bzw. höchstens um zehn Prozent reduziert werden. Freizeitaktivitäten spielen also für das Verständnis der Delinquenz begünstigenden Wirkung von Freundesgruppen eine wichtige Rolle, wenngleich auch auf deren Basis bei weitem keine vollständige Erklärung des Zusammenhangs möglich ist.
4
Zusammenfassung und Schlussfolgerungen
Auf der Grundlage der hier gewählten Operationalisierung kann festgehalten werden, dass die Zugehörigkeit zu delinquenten Freundesgruppen im Jugendalter weit verbreitet ist: Die Mehrheit aller Befragten (61,7%) gab an, in Freundesgruppen integriert zu sein, die zumindest sporadisch Verbotenes tun und normative Vorgaben überschreiten. Dies entspricht zahlreichen Forschungsbefunden, nach denen vor allem in der Jugendphase delinquentes Verhalten gezeigt wird (vgl. Warr 2002, 91ff). Auch Haynie (2001) berichtet, dass 56% der von ihr untersuchten Jugendlichen Kontakt zu delinquenten Freunden haben. Zugleich gehört aber nur ein kleiner Teil aller Jugendlichen Gruppen an, für die häufige und schwere Delinquenz charakteristisch ist. Wir haben einen Anteil von 3,5% festgestellt, die zu solchen Gangs gehören, wobei Jungen, nichtdeutsche Jugendliche und Jugendliche aus Großstädten häufiger Gangs angehören. Auf diese kleine Gruppe geht ein weit überproportionaler Anteil der Jugenddelinquenz zurück: Gang-Mitglieder führen 42,4% aller Gewalttaten und 47,0% aller schweren Diebstähle aus. Bei Jugendlichen, die einer nicht delinquenten Freundesgruppe angehören, ist derartiges Verhalten die Ausnahme. Die Zugehörigkeit zu delinquenten Freundesgruppen geht also mit einer höheren Bereitschaft, delinquentes Verhalten zu zeigen, einher. Dabei ist es unerheblich, in welcher Weise delinquente Freunde in den Analysen berücksichtigt werden. Mitglieder delinquenter Freundesgruppen sind auch dann noch delinquenter, wenn ihr häufiger Kontakt mit delinquenten Freunden berücksichtigt wird und eine Wirkung des Kontakts zu diesen Freunden ist auch dann festzustellen, wenn das Verhalten der besten Freunde berücksichtigt wird. Dies bedeutet, dass die eigene Delinquenzbereitschaft steigt, wenn sich beste Freunde
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Dirk Baier, Susann Rabold und Christian Pfeiffer
delinquent verhalten, wenn sich weitere (nicht die engsten) Freunde delinquent verhalten und wenn eine Zugehörigkeit zu einer delinquenten Freundesgruppen, insbesondere Gang, besteht. Dies deckt sich sowohl mit den Untersuchungen von Haynie und Osgood (2005), die einen Einfluss der Delinquenz der direkten Freunde belegen konnten, als auch mit den Ergebnissen von Payne und Cornwell (2007), die zeigen, dass weniger enge Freunde (Freunde der Freunde) Einfluss auf das Verhalten von Jugendlichen nehmen. Allgemein sprechen die Ergebnisse somit für eine kombinierte, lern-/assoziationstheoretische und gruppendynamische Erklärung der Delinquenz verursachenden Wirkung delinquenter Freundesbeziehungen. Dass es sich bei den festgestellten Beziehungen nicht um reine Selektionseffekte handelt, wurde darüber auszuschließen versucht, dass als Ursachenfaktoren des Anschlusses an Freundesgruppen diskutierte Variablen kontrolliert wurden. Im Vergleich der Koeffizienten der verschiedenen Modelle ergibt sich ein deutlicher Rückgang des Einflusses der Freundesgruppenvariable. Dennoch bleibt ein signifikanter Einfluss der Gruppenzugehörigkeit bestehen. Selektionseffekte können also teilweise ausgeschlossen werden. Kritisch anzumerken bleibt allerdings, dass mit den genutzten Daten zwei Probleme verbunden sind: Zum einen handelt es sich um Querschnittsdaten, die eine Untersuchung von Ursache-Wirkungs-Beziehungen nur eingeschränkt ermöglichen. Zum anderen stammen die Angaben über die Freunde und die Aktivitäten in der Freundesgruppe ausschließlich aus einer Quelle, von den befragten Jugendlichen selbst. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Befragten in einem bestimmten Umfang ihr Verhalten und ihre Einstellungen auf die Gruppe/die Freunde übertragen. Insofern gilt es, die Untersuchung der Wirkung der Freunde zukünftig methodisch zu verfeinern. Inhaltlich wird es zudem notwendig sein, sich intensiver mit der Gang-Forschung auseinander zu setzen. Studien, die sich der Frage der Formierung von Jugendgangs, der Stabilisierung, der delinquenzbegünstigenden Prozesse oder des Ausstiegs widmen, sind in Deutschland selten (vgl. Fuchs/Luedtke 2008). Gezeigt werden konnte aber, dass aus diesen Gruppierungen heraus besonders häufig Straftaten begangen werden. Einige der präsentierten Befunde beinhalten darüber hinaus auch Hinweise auf mögliche Präventionsmaßnahmen. Einerseits betrifft dies die Ursachenfaktoren des Anschlusses an delinquente Freundesgruppen. Andererseits ist noch einmal gesondert auf die Rolle der Freizeitbeschäftigungen zu verweisen. Freizeit, die unkontrolliert von Aufsichtspersonen verbracht wird und die mit Alkoholkonsum einhergeht, ist für delinquente Freizeitgruppen und vor allem auch Gangs charakteristisch. Ein Teil des Zusammenhangs zwischen der Gruppenzugehörigkeit und der Delinquenz ist auf diese Aktivitäten zurückzuführen. Der
Peers und delinquentes Verhalten
335
damit erklärte Varianzanteil würde möglicherweise noch höher ausfallen, wenn die Aktivitäten vergleichbar mit amerikanischen Studien erfasst worden wären („draußen herumhängen“). Jugendlichen alternative Freizeitbeschäftigungen anzubieten, dürfte daher ein möglicher Weg der Reduktion jugendgruppenspezifischer Delinquenz sein. Hierbei ist darauf hinzuweisen, dass bei diesen Alternativen die Zusammensetzung der sie nutzenden Jugendlichen eine wichtige Größe darstellt. Angebote, die sich in erster Linie an belastete Jugendliche richten, haben eine Ballung zur Folge, die wiederum in einer eigenen Dynamik Gruppenbildungsprozesse und damit Delinquenz beschleunigen kann. Nicht überraschend ist daher der Befund, dass der Besuch von Freizeitzentren in Großstädten mit einer erhöhten Gewaltbereitschaft der sie besuchenden Jugendlichen einher geht (vgl. Pfeiffer et al. 2008). Ein möglicher Ausweg erscheint die flächendeckende Einführung von Ganztagsschulen, verbunden mit drei Bedingungen: Hauptschulen werden mit Realschulen zu Integrierten Schulen zusammengelegt; die Anwesenheit der Schüler am Nachmittag ist verpflichtend; der Nachmittag wird gemeinsam mit verschiedenen Aktivitäten (nicht Unterricht) gestaltet, wobei die kulturelle Bildung und die sportliche Betätigung einen hohen Stellenwert einnehmen. Mit solch einem Ganztagsschulkonzept könnte sichergestellt werden, dass Jugendliche Freizeit in einem strukturierten Rahmen, begleitet von kontrollierenden Erwachsenen und zusammen mit nicht delinquenten Vorbildern verbringen.
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Peerbeziehungen zwischen Tradition und Moderne – Gleichaltrigengruppen und Jugendkultur in evangelikalen Aussiedlergemeinden Arne Schäfer
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Einleitung
Das Thema Religion und Kirche kann als ein „vernachlässigtes Gebiet der Jugendforschung“ (Schäfers/Scherr 2005, 119) angesehen werden. Dies ist nicht zuletzt in dem Umstand begründet, dass die Bedeutung von religiösen Institutionen wie Kirche und Gemeinde für die Sozialisation von Kindern und Jugendlichen in den letzten 50 Jahren gravierend zurückgegangen ist. Wie Vogelgesang (2008a, 85) anhand empirischer Daten darlegt, ist der regelmäßige Kirchenbesuch von Jugendlichen nur niedrig ausgeprägt. Zwischen einem Viertel und einem Fünftel schwankt der Anteil der Jugendlichen, die angeben, wenigstens einmal im Monat Gottesdienst zu feiern. Auch wenn der Großteil der nachwachsenden Generation zu kirchlichen Institutionen und religiösen Gemeinschaften ein distanziertes Verhältnis entwickelt hat, darf nicht vergessen werden, dass es auch in den modernen, säkularisierten und pluralistischen Gesellschaften Lebenswelten von Jugendlichen gibt, die in hohem Maße durch Religion und religiöse Vergemeinschaftung geprägt sind. Bohnsack sah vor einigen Jahren die „vordringlichste Aufgabe der Jugendforschung für die nächsten Jahre […] darin, sich ihres Gegenstandbereiches – der Lebensphase Jugend – zu vergewissern, indem sie den unterschiedlichen ,Jugenden’, d.h. den unterschiedlichen Strukturierungen der Jugendphase in milieu-, geschlechts-, bildungs- und generationsspezifischer (zeitgeschichtlicher) Differenzierung (und entsprechender Überlagerungen dieser Differenzierungen) Rechnung zu tragen vermag“ (Bohnsack 2001, 381). Vor diesem Hintergrund werden in diesem Beitrag Peerbeziehungen von Jugendlichen thematisiert, die in evangelikalen Aussiedlergemeinden aufwachsen. Als „evangelikale Aussiedlergemeinden“ werden im vorliegenden Beitrag russlanddeutsche Religionsgemeinschaften mit freikirchlichem Hintergrund bezeichnet, die ihre Herkunft im Mennonitentum haben und meist von weiteren protestantischen Strömungen, insbesondere von Pietismus und Baptismus, beeinflusst wurden. Sie können als traditionale Gemeinschaften bezeich-
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net werden, die versuchen, ihre religiösen Wirklichkeitsbestimmungen und Lebensführungskonzepte innerhalb einer weitgehend säkularisierten und individualisierten Umwelt aufrechtzuerhalten. Im Mittelpunkt der Betrachtung steht dabei die Frage, welche Rolle Peerbeziehungen für die Sozialisation der Jugendlichen und ihre Integration in die Gemeinde(n) nach den Vorstellungen der Erwachsenengeneration spielen.
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Die Bedeutung von Peerbeziehungen und jugendkulturelle Szenen im Modernisierungsprozess
In den Sozialwissenschaften ist es unumstritten, dass im Jugendalter die Peer Group eine wichtige Sozialisationsinstanz ist. Die klassische Jugendsoziologie (vgl. Tenbruck 1962, Parsons 1965, Eisenstadt 1966) betont, dass im Prozess der Modernisierung die Gleichaltrigengruppe zu einer wichtigen sozialen Gesellungsform avanciert. Sie verortet die integrative Funktion der Peer Group im Prozess des Übergangs von dem Familiensystem zu den Institutionen der modernen Gesellschaft wie (Aus-)Bildung und Berufssystem. Den Ansätzen ist die Erkenntnis gemein, dass die Gleichaltrigengruppen einen wesentlichen Beitrag zur Sicherung des sozialen Systems leisten. Aus dieser Perspektive betrachtet, sind die Peer Groups funktional, weil sie die Integration der nachwachsenden Generation betreiben und daher der Kontinuität der Gesellschaft dienen (vgl. Machwirth 1994). Nach Eisenstadt stellen altershomogene Gruppen eine wichtige Verbindung zwischen primären und sekundären Sozialisationsinstanzen dar. „Eisenstadt entwirft ein Gesellschaftsbild, das durch das Auseinanderklaffen des primären und sekundären Sozialisationsbereiches charakterisiert ist, wobei dem primären Bereich der Familie und Verwandtschaft die Orientierungsmuster der ,Gemeinschaft’ und dem sekundären Bereich die der ,Gesellschaft’ nach Tönnies zugeschrieben werden, welche sich in den ,pattern variables’ von Parsons wieder finden “ (Griese 1977, 110f.). In diesem Gesellschaftsbild spielt die Peer Group eine große Rolle, da sie als funktionaler Übergangsbereich zwischen den gegensätzlich strukturierten Handlungsfeldern Familie und Sozialsystem konzeptualisiert wird. Altershomogene Gruppen von Jugendlichen sind demnach sowohl für die Persönlichkeitsintegration des Individuums als auch für den Fortbestand der modernen Gesellschaft funktional. Auch in der Jugendtheorie von Friedrich Tenbruck verliert die Familie in modernen, komplexen und differenzierten Gesellschaften ihre wesentlichen Sozialisationsfunktionen. „Hauptaussage Tenbrucks bei der Analyse der gesellschaftlichen Situation der modernen Jugend ist die These der ,Entgrenzung der modernen Jugend aus den traditionellen Gruppen’ (Familie, Verwandtschaft, Gemeinde) der Gesell-
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schaft“ (Griese 1977, S. 119, Herv. i.O.). In diesem Prozess der Ausgliederung der Jugendlichen aus altersheterogenen Gruppen wie Familie und Gemeinde gewinnt die Gleichaltrigengruppe als jugendspezifische Gesellungsform stark an Bedeutung. In solchen Gruppen verbringen Jugendliche immer mehr Zeit und entwickeln eigenständige Einstellungen, Verhaltens- und Bewusstseinsformen. Damit einher gehen ein Anwachsen typisch jugendlicher Rollen, eine stärkere Orientierung der Jugendlichen an den Peers und eine entsprechende Distanz zu den Vorgaben und Erwartungen der Erwachsenenwelt (vgl. ebd., 122f.). Dies führt zu einer „hochgradigen Unabhängigkeit der modernen Jugend“ und ihrer „strukturelle(n) Verselbständigung in altershomogenen Gruppen“, (Tenbruck 1962, 87, Herv. i.O.) in deren Rahmen die „Sozialisierung in eigener Regie“ (ebd., 92, Herv. i.O.) verläuft. Der Gedanke der Selbstsozialisation in Jugendgruppen findet sich auch bei Margaret Mead (1971) (vgl. Zinnecker 2000, 82). In ihrer Konzeption werden im sozialen Wandel postfigurative durch kofigurative Gesellschaften abgelöst. In postfigurativen Kulturen lernen die Kinder primär von ihren Vorfahren. Mead rechnet dazu etwa indigene Völker, archaische Kulturen sowie religiöse Sekten oder Kulte. „Primitive Gesellschaften sind wie kleine religiöse und ideologische Enklaven in erster Linie postfigurativ und leiten Autorität aus der Vergangenheit ab“ (Mead 1971, 27). Die postfigurativen Kulturen bzw. traditionalen Gesellschaften sind durch langsamen und unmerklichen Wandel charakterisiert, so dass die Kinder von den Älteren lernen und ein einseitiger kultureller Transfer von der Großeltern- und Elterngeneration zur nachwachsenden Generation stattfindet. Kofigurativ hingegen ist eine Kultur, „in der die Mitglieder der Gesellschaft ihr Verhalten nach dem Vorbild der Zeitgenossen ausrichten“ (ebd., 61). Solche Kulturen sind durch schnellen sozialen Wandel, hohe soziale Mobilität, Durchlässigkeit und Aufweichung von Schicht-, Klassen- oder Standesgrenzen, eine hohe Einwanderungsrate sowie technologischen Fortschritt gekennzeichnet. Diese Merkmale sind etwa für die westlichen Gegenwartsgesellschaften typisch. Die Entwicklung zur modernen Gegenwartsgesellschaft führt dazu, dass Wissen und Erfahrungen der Älteren nicht mehr ausreichen, sondern die Kinder und Jugendlichen auch von ihren Altersgenossen lernen müssen und ihr Verhalten an ihnen orientieren. Es kommt zur Herausbildung von Jugend(sub)kulturen (vgl. ebd., 89). Mead entwickelte „die globale, kulturanthropologisch untermauerte These, daß starker gesellschaftlicher Wandel die kofigurative Weitergabe von Kultur, also die Sozialisation in der Peer-Gesellschaft begünstige, da das know how und das Wissen der älteren Generation entsprechend stark entwertet werde“ (Zinnecker 2000, 82).
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Die Kenntnis von der abnehmenden sozialisatorischen Prägekraft traditionaler Gemeinschaften gehört heute zum fundamentalen Bestand der Jugend- und Sozialisationsforschung. Die sozialwissenschaftliche Jugendforschung hat seit Mitte der 1980er Jahre darauf verwiesen, dass es im Modernisierungs- und Individualisierungsprozess (vgl. Beck 1986) zu einem Strukturwandel der Jugendphase kommt (vgl. hierzu u.a. Fuchs 1983; Olk 1985; Heitmeyer/Olk 1990; Münchmeier 1998). Zinnecker (1987, 1991) beschreibt diesen Veränderungsprozess als Wechsel der sozialen Kontrolle von Jugendlichen und als Wandel der Struktur der Jugendphase von einem eingeschränkten Übergangsmoratorium hin zu einem erweiterten Bildungsmoratorium. Im Übergangsmoratorium, das nach Zinnecker bis in die 1950er Jahre das vorherrschende Jugendmodell war, ist Jugend ein mit wenig sozialem und kulturellem Eigengewicht ausgestatteter Lebensabschnitt. Sie wird von Einrichtungen der Erwachsenenwelt – insbesondere von Arbeitsorganisationen und der Kirche – sozial kontrolliert und gestaltet. Die Jugendphase „steht in Engführung zu Erwachseneninstitutionen, insbesondere den Institutionen der Erwerbsarbeit und des Familiensystems, eingebettet in soziokulturelle Nahwelten und Milieus wie Nachbarschaft, Kirchengemeinde und ähnliches“ (Zinnecker 1991, 10, Herv. i.O.). Charakteristisch für diese Form von Moratorium ist, dass Jugendliche den Großteil ihrer Alltagszeit in altersheterogenen Gruppen verbringen. In den 1960er Jahren wurde das Übergangsmoratorium von einem Jugendmodell abgelöst, das Zinnecker als Bildungsmoratorium bezeichnet. Damit wächst die soziokulturelle Eigenständigkeit der Jugendphase, und die Kontrolle dieser Lebensphase geht vom Arbeits- auf den Bildungsbereich sowie von traditionellen Milieus auf Institutionen der Dienstleistungs- und Konsumindustrie über. Jugendliche haben infolge dessen mehr Zeit zur persönlichen Verfügung und sind in altershomogen strukturierte Schulklassen integriert. Dies ist für die Entstehung von Peer Groups und von Jugendkultur ein bedeutender Faktor: Während Arbeitsorganisationen altersheterogen organisiert sind, „fassen Bildungsinstitutionen Jugendliche zu Gleichaltrigengruppen zusammen, die sich gemeinsam einzelnen Erwachsenen gegenübersehen. Schulen und Hochschulen verstärken die Tendenz zur Herausbildung von Schüler- und Jugendkultur“ (Zinnecker 1987, 314). Die neuen Bezugsinstitutionen der Jugendphase – Bildungseinrichtungen und Einrichtungen der Dienstleistungsökonomie – kontrollieren die Jugendlichen nur noch indirekt („lange Leine“), so dass sie distinkte Stile, Verhaltensweisen und Ansichten erproben und entwickeln können. In dem Maß, wie traditionale Milieus im Prozess der Modernisierung erodieren, gewinnen jugendkulturelle Szenen an Bedeutung. „Unter den Bedingungen postkonventioneller Gesellschaft, aufgestörter kultureller Tradition und entwerteter, relativierter kollektiver biografischer Lebensentwürfe bieten sich
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Szenen als Nachfolge-Institutionen an, die die sinnstiftende Macht und Glaubwürdigkeit von Gemeinde, Kirche, Schule, Partei, Gewerkschaft für bestimmte Gruppen und Personen ablösen“ (Zinnecker 1987, 321). Die Idee der Selbstsozialisation (Tenbruck) in von der Erwachsenenwelt relativ unabhängigen Gleichaltrigengruppen ist bereits in dem von Weyneken in die deutsche Sprache eingeführten Begriff „Jugendkultur“ angelegt, wobei in pädagogischen Diskursen der Wandervogel häufig als Prototyp des autonomen und kreativen Jugendlebens angeführt wird. Dieter Baacke (1982, 1987) hat in seinen Arbeiten den Begriff der Jugendkultur theoretisch fundiert und dessen posttraditionale Dimensionen betont. „,Kultur‘ ist nicht mehr nur der Bestand an Traditionen und geistigen Bildungsgütern, sondern eben ein Lebensraum, der dieser kulturellen Tiefendimensionen im traditionellen Sinn entbehrt. ,Kultur‘ in den heutigen Jugendkulturen meint […] die Schaffung von Stilen über Medien, deren ,bildender Gehalt‘ unter Pädagogen eher strittig sein dürfte: Konsum, Pop und Rock, Mode sowie Schaffung neuer sozialer Treffpunkte“ (Baacke 2004, 143). Demnach brauchen Jugendkulturen „eigene Räume, in denen sie ihre Ziele und Stile realisieren können. Diese schaffen sie in ihren Szenen“ (ebd., 169, Herv. i.O.). Jugendkulturelle Szenen sind „bestimmt durch konkrete und direkte personale Zusammensetzung und überschaubare Zusammengehörigkeit“. Sie entsprechen dem „Suchen der Jugendlichen nach Konnexität und Intimität“ (ebd., 170). Stärker noch als Jürgen Zinnecker (1987) und Dieter Baacke (1987) haben Ronald Hitzler et al. (2001) den Begriff der Jugendszene konzeptualisiert und in einen modernisierungs- bzw. individualisierungstheoretischen Kontext gestellt (vgl. auch Hitzler in diesem Band). Szenen sind nach Hitzler „thematisch fokussierte kulturelle Netzwerke von Personen, die bestimmte materiale und/oder mentale Formen der kollektiven Selbststilisierung teilen und Gemeinsamkeiten an typischen Orten und zu typischen Zeiten interakiv stabilisieren“ (Hitzler et al. 2001, 20, Herv. i.O.): Demnach sind Szenen jugendliche Gesellungsformen, die sich in modernen Gesellschaften herausbilden. Sie werden von Hitzler als „Brutstätten posttraditionaler Vergemeinschaftung“ (Hitzler 2008) bezeichnet. Damit soll zum Ausdruck gebracht werden, dass sie zwar als Gemeinschaftsformen aufgefasst werden können, aber keinen allumfassenden Verbindlichkeitsanspruch haben. Jugendszenen vermitteln keine Lebensbereiche und Lebenssituationen übergreifende Gewissheiten wie etwa religiöse Gemeinschaften. „Möglicherweise vermögen unter Individualisierungsbedingungen (nur noch) Szenen […] zu leisten, was in der soziologischen Literatur traditionell den PeerGroups schlechthin zugeschrieben wird“ (Hitzler et al. 2001, 30). Dazu gehört unter anderem die Fähigkeit, „als Sozialisationsinstanz in eigener Regie zu fungieren und dadurch (eine) jugendspezifische Identitätsbildung zu erleichtern […]“ (ebd.).
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Zusammenfassend lässt sich sagen, dass im Modernisierungsprozess traditionale Gemeinschaften erodieren, die Selbstsozialisation von Jugendlichen in Peer Groups zunimmt und jugendkulturelle Szenen als Formen und Orte posttraditionaler Gemeinschaftsbildung im Jugendalter entstehen. Demgegenüber können die evangelikalen Aussiedlergemeinden, um die es in diesem Beitrag geht, als traditionale Gemeinschaften verstanden werden.
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Evangelikale Aussiedlergemeinden als traditionale Gemeinschaften
Die Mitglieder der russlanddeutschen Freikirchen, die in diesem Beitrag als evangelikale Aussiedlergemeinden bezeichnet werden, sind meist Nachfahren von Mennoniten, die Zarin Katharina die Große im 18. Jahrhundert als Bauern nach Russland angeworben hat. Die religiösen Verfolgungen durch das kommunistische Regime, die sie in der UdSSR, vor allem unter Stalin und Chruschtschow, erleiden mussten, haben zu einer rigiden Abschottung von ihrer Umwelt geführt. Diese Abschottung lässt sich u.a. anhand von Aufzählungen von bestimmten Verhaltensweisen belegen, die den wiedergeborenen Christen auszeichnen oder die er zu unterlassen hat. Dazu gehören Kleidungsvorschriften (z.B. lange Röcke und lange Haare bei den Frauen und das Verbot, Schmuck zu tragen) sowie Verbote von Fernsehen, Diskothekenbesuchen, Glücksspielen oder Tanzen. Diese Verbote wurden auch nach der Übersiedlung in die Bundesrepublik Deutschland von vielen Gemeinden beibehalten, dienten und dienen sie doch dazu, sich von der modernen Gesellschaft abzugrenzen. Die historischkritische Bibelexegese wird von ihnen genauso abgelehnt wie die Evolutionstheorie. Ehen von homosexuellen Menschen oder Scheidungen gelten als Sünde. Die Trennung der „Gemeinde“ von der „Welt“, das ist in ihrem Weltbild die sündhafte und gottlose Mehrheitsgesellschaft, ist als traditionelles theologisches Leitprinzip erhalten geblieben. Schätzungen gehen davon aus, dass sich zwischen 10% und 20% der russlanddeutschen Zuwanderer den evangelikalen Freikirchen zurechnen lassen mit je nach Schätzung 313.000 (vgl. Henkel 2002) oder 286.000 Mitgliedern (vgl. Klassen 2007) unter Einschluss der Familienangehörigen. „Ein ausgesprochener Schwerpunkt der Ansiedlung russlanddeutscher Gemeinden scheint sich im ostwestfälischen Raum herausgebildet zu haben: In Bielefeld etwa gibt es insgesamt 19 dieser Gemeinden, in Detmold 11“ (Henkel 2002, 113f.). Die Konzentration der Gemeinden in dieser Region ist darin begründet, dass in den 1970er Jahren einige Angehörige russlanddeutscher Freikirchen eine Ausreisegenehmigung aus der Sowjetunion erreichen konnten und sich vor allem im Raum Ostwestfalen-Lippe angesiedelt haben, wo sie schnell einige Gemeinden aufgebaut
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haben. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs zogen viele Aussiedler mit mennonitischem Hintergrund dann in diese Region, da hier bereits Gemeinden existierten und Familienangehörige wohnten. Es kann also von einer Kettenwanderung ausgegangen werden: „Kettenwanderung ist eine Form der Wanderung, in welcher Migranten soziale Beziehungen zu bereits Ausgewanderten, die im Herkunftskontext begründet sind, vor allem Verwandtschaft und (frühere) Nachbarschaft, für ihren Migrationsprozess nutzen: von den Ausgewanderten erfahren sie über Chancen, erhalten Hilfe für ihre Reise, für das Finden von Arbeitsplätzen und Wohnungen, auch für Anpassung an die neue Umgebung. Beziehungen aus dem Herkunftskontext werden in die Einwanderungsgesellschaft ,verpflanzt’ bzw. am neuen Ort wiedererrichtet“ (Heckmann 1992, 99). Da die räumlichen Kapazitäten der bereits bestehenden Gemeinden infolge des Zuzugs schnell ausgeschöpft waren, wurde in diesem Raum binnen weniger Jahre eine Vielzahl neuer Freikirchen gegründet. Die Region OWL hat sich aufgrund dessen zu Deutschlands „bible belt“ evangelikaler Aussiedlergemeinden entwickelt. Charakteristisch für diese Gemeinden sind eine wortwörtliche Bibelinterpretation, ein hoher Grad der Vergemeinschaftung und eine strenge Ausrichtung der Lebensführung an biblischen Vorgaben. Die Mitgliedschaft in der Evangelischen Landeskirche wird kategorisch abgelehnt, aber auch zu den deutschen Freikirchen, die ihnen meist zu liberal sind, bestehen kaum Kontakte. „Würde man die deutsche Evangelikale Bewegung in ein Spektrum von rechts nach links einteilen, wobei rechts bedeuten würde: Glaube an die Irrtumslosigkeit der Bibel in allen ihren Aussagen, und links bedeuten würde: Glaube, daß die Bibel nur hinsichtlich ihrer Lehre über den Weg zur Seligkeit irrtumslos ist, aber in historischen und naturwissenschaftlichen Fragen irren kann, dann sind die baptistisch-mennonitischen Aussiedler auf jeden Fall am rechten Flügel einzuordnen“ (Jung 2001, 169f.). Der Studie von Müller (1992) zufolge liegt die geografische Konzentration im Zusammengehörigkeitsgefühl und der historisch gewachsenen „Gettomentalität“ (Müller 1992, 296) begründet: „Mennoniten bleiben zusammen auch in der Bundesrepublik Deutschland, das zeigt sich eindeutig in der Region Ost-Westfalen-Lippe“ (ebd.). Im Vergleich zu vielen einheimischen Kirchen führen sie in Deutschland ein äußerst intensives Gemeindeleben. Eine Umfrage unter evangelischen Kirchen und Freikirchen hat gezeigt, dass unter den 25 am besten besuchten Gottesdiensten in Deutschland 15 freikirchliche Aussiedlergemeinden zu verorten sind (vgl. Jung 2001). Nach dem russlanddeutschen Theologen Heinrich Löwen (1998) zählen die Aussiedlergemeinden zu den größten und am schnellsten wachsenden Gemeinden des Landes. Er ging Ende der 1990er Jahre davon aus, „daß sie um die Jahrtausendwende die größte freikirchliche Gruppe des Landes darstellen werden“ (Löwen 1998, 462). Während viele Landeskirchen in den letzten Jahren und Jahrzehnten einen im-
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mensen Mitgliederschwund zu verzeichnen haben, scheint sich bei den russlanddeutschen Freikirchen eine gegenteilige Entwicklung abzuzeichnen. Diese Einschätzung ist aber mit Vorsicht zu genießen, da keine repräsentativen statistischen Daten über die personelle Zusammensetzung und demografische Entwicklung der Aussiedlergemeinden vorliegen. Darüber hinaus ist zweifelhaft, ob dieser Trend langfristig anhalten wird. Denn das Mennonitentum ist in erster Linie Familienreligion und rekrutiert seine Mitglieder primär aus dem eigenen Nachwuchs. Die wachsenden Mitgliederzahlen russlanddeutscher Freikirchen sind Folge geburtenstarker Jahrgänge. Große Familien mit fünf bis zehn Kindern sind keine Ausnahme. Die demografische Forschung zeigt jedoch, dass sich die Fertilität von Migrantinnen im Laufe der Generationenabfolge jener der Population des Ziellandes, hier also derjenigen der deutschen Bevölkerung, angleicht (vgl. Münz/Ulrich 2000, 54). Sollte diese Entwicklung auch auf die russlanddeutschen Freikirchen zutreffen, so ist langfristig auch dort mit einer gravierenden Abnahme der Mitgliederzahlen zu rechnen. Die evangelikalen Aussiedlergemeinden können als traditionale Gemeinschaften bezeichnet werden. Gemeinschaft kann laut Joas als ein Terminus betrachtet werden „der notwendig Gegenbegriff ist. Das heißt, unter diesem Begriff läßt sich vieles von dem subsumieren, was von den mächtigen Tendenzen instrumenteller Rationalität eingeschränkt oder bedroht wird. Nicht-zweckhafte Handlungsweisen und soziale Beziehungen, nicht rationale Orientierungen, nicht individualistische Bindungen werden so tastend bezeichnet“ (Joas 1993, 51, Herv. i.O.). Traditionale soziale Gebilde können durch einen hohen Grad an Vergemeinschaftung im Sinne fester Handlungsorientierungen und eindeutiger Zugehörigkeiten charakterisiert werden. Kennzeichnend für Vergemeinschaftung ist eine hohe Verbindlichkeit gegenüber den Mitgliedern der Gemeinschaft und deren Lebensweise: „Mit dem Begriff der sozialen Bindung wird im Allgemeinen ein bestimmtes, normatives Modell des sozialen Miteinanders assoziiert. Bindung taucht häufig dann auf, wenn der damit bezeichnete soziale Umgang als Gemeinschaftlichkeit verstanden wird, die geregelt wird durch inhaltlich definierte, kollektiv geteilte und lokal fixierte Normen und die sich (anscheinend) sichtbar entäußert als soziokulturelle Homogenität“ (Sander 1998, 10, Herv. i.O.). Tönnies weist in seiner bekannten Gegenüberstellung von „Gemeinschaft und Gesellschaft“ darauf hin, dass in der Moderne zwar Gemeinschaftlichkeit durch Gesellschaftlichkeit abgelöst wird, aber dennoch traditionale Gemeinschaften nicht einfach verschwinden. „Modernisierung beschrieb Tönnies als Übergang von ,Gemeinschaft’ zu ,Gesellschaft’. Im Laufe dieses Prozesses würden also Tradition, Glaube und Gemeinschaftssinn der Dynamik, Verwissenschaftlichung und Kommerzialisierung weichen“ (van der Loo/van Reijen 1992, 15). Als Gemeinschaft bezeichnet Tönnies die soziale Wirklichkeit
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vorindustrieller bzw. vormoderner Gesellschaftsformationen. Sie ist „reales, organisches Leben“ und stellt einen das ganze Leben umfassenden Sozialverband dar, der durch ein dauerndes und „echtes“ Zusammenleben gekennzeichnet ist und sich im lebensweltlichen Rahmen von Familie, Dorf und Stadt durch Eintracht, Sitte und Religion realisiert. Während sich Gemeinschaft vor allem auf lokaler Basis verwirklicht, sieht Tönnies die Gesellschaft vor allem als komplexe und überlokale Verflechtung, wie sie in den durch Handel und internationalen Waren- und Geldverkehr charakterisierten modernen (Industrie)Staaten und in der Großstadt zum Ausdruck kommt. Tönnies versteht Gesellschaft als ein mechanisches, künstliches Gebilde, das sich über Tauschakte konstituiert und lediglich ein Nebeneinander voneinander unabhängiger Individuen darstellt. Luhmann (1997) beschreibt die von Tönnies eingeführte Dichotomie von Gemeinschaft und Gesellschaft wie folgt: „Mit ,Gemeinschaft’ wird an ein Personen einbeziehendes soziales System erinnert, an Nestwärme und an Ländlichkeit, und ,Gesellschaft’ besagt, daß solche Verhältnisse in der Moderne wie auf verlorenem Posten überleben, aber daß sie in einer formalen Soziologie gleichwohl zu berücksichtigen seien“ (Luhmann 1997, 1068). Gemeinschaft und Gesellschaft dienen bei Tönnies gleichzeitig als Chiffren für die historische Differenz zwischen traditionalen und modernen Gesellschaftsstrukturen, „deren gegenwärtige Gemengelage zum Gegenstand der Analyse wird“ (ebd.). Tönnies geht davon aus, dass traditionale Gemeinschaften in modernen Gesellschaften zwar von Auflösung bedroht sind, aber dennoch – wenn auch wie Fremdkörper oder besser: als Enklaven – weiter existieren können. Er schließt die Koexistenz von gemeinschaftlichen, traditionalen Gebilden und gesellschaftlichen, modernen Strukturen also nicht kategorisch aus. Auch in modernen Gesellschaften existieren gemeinschaftliche Lebensformen weiter, wenn auch verkümmernd und absterbend: Die Entwicklung des Zeitalters der Gemeinschaft „ist auf eine Annäherung zu Gesellschaft hin gerichtet; wie aber andererseits die Kraft der Gemeinschaft auch innerhalb des gesellschaftlichen Zeitalters, wenn auch abnehmend, sich erhält und die Realität des socialen Lebens bleibt“ (Tönnies 1887, 290). Allerdings zeigen aktuelle sozialwissenschaftliche Theoriediskurse, dass die strikte Trennung zwischen Gemeinschaft (= traditional) und Gesellschaft (= modern) nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden darf. So ist häufig von modernen, postmodernen oder posttraditionalen Gemeinschaften die Rede, die auf Vergemeinschaftung im Sinne einer „kommunitären Individualität“ (Keupp 1998) beruhen. Auch Sportvereine, Kleingärtnervereinigungen und andere freiwillige Assoziationen haben einen gemeinschaftlichen Charakter. Diese Zusammenschlüsse von Menschen haben aber, und das ist der Unterschied zu Tönnies’ Gemeinschaftsbegriff, Zweckcharakter und gar nicht den Anspruch,
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das gesamte Leben zu regeln und unverbrüchliche Traditionen zu vermitteln. Ihnen geht es vor allem um eine vorübergehende oder punktuelle gemeinsame Themen- und Interessenfokussierung. Hitzler, Honer und Pfadenhauer (2008) sprechen in diesem Zusammenhang von „Postraditionalen Gemeinschaften“: „Während traditionale Gemeinschaften […] typischerweise vielfältige […] kohäsisonssichernde Sanktionspotentiale und Zwangsstrukturen aufweisen, die auf die Etablierung und Stabilisierung eines klar definierten und geregelten InnenAußen-Verhältnisses abzielen, scheint dieses Prinzip für die posttraditionale Form von Gemeinschaften nicht (bzw. zumindest wesentlich weniger) zu gelten“ (Hitzler/Honer/Pfadenhauer 2008, 17, Herv. i.O.). Mit Gemeinschaft ist bei Tönnies eine hohe soziale Verbindlichkeit verbunden. Aber gerade diese Vergemeinschaftung im Sinne der Verbindlichkeit von traditionalen Lebensführungskonzepten innerhalb einer festen, sich zumeist auf örtlicher Ebene organisierenden Gruppe ist in modernen Gesellschaften stark zurückgegangen. Daher ist es nach wie vor sinnvoll, zwischen traditionalen Gemeinschaften einerseits und modernen Gesellschaften andererseits zu differenzieren. So ist das Charakteristische der Aussiedlergemeinden, dass sie durch einen normativen Traditionalismus und einen hohen Grad der sozialen Einbindung ihrer Mitglieder, speziell der nachwachsenden Generation, gekennzeichnet sind (vgl. Vogelgesang 2006, 2008b): „Traditionalismus bezeichnet eine geistige Haltung, die bewusst an der Tradition festhält, sich ihr verbunden fühlt“ (Degele/Dries 2005, 19). Die russlanddeutschen Aussiedlergemeinden haben offenbar mit ihrer jahrhundertealten Abschottungsmentalität einerseits und durch den Außendruck der stalinistischen und post-stalinistischen Repressionen andererseits ihre religiösen Traditionen, Lebensformen und Wirklichkeitsbestimmungen unter den spezifischen Bedingungen der Sowjetunion konservieren, an die nachwachsenden Generationen erfolgreich vermitteln und so das Milieu stabil halten können. Sie können als traditionale Gemeinschaften par exellence verstanden werden. „Wie auf verlorenen Posten“ (Luhmann) versuchen sie nun, in der modernen Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland zu überleben, ihre religiösen Traditionen zu bewahren und die Gemeinde gegen „schädliche“ Einflüsse der „Welt“ abzuschotten. Folgt man dem Forschungsstand (z.B. Müller 1992, Vogelgesang 2006, 2008b) lässt sich im Fall der traditionalen Gemeinschaft der russlanddeutschen Mennoniten und Baptisten mit Anthony Giddens (1993) sagen, dass Tradition zwischen Eingeweihten und Außenstehenden trennt, den Ausschluss des Anderen konstitutiv notwendig macht (vgl. Giddens 1993, 464). Dadurch können „undurchdringliche kulturelle Barrieren zwischen Eingeweihten und Außenseitern“ (Giddens 1993, 465) geschaffen werden. Traditionen haben dann einen Ausschließungs- und Ausschließlichkeitscharakter und führen „zu einer Ab-
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grenzung zwischen denen, die dazugehören und denen, die nicht dazugehören“. Tradition „wirkt in dieser Hinsicht gemeinschaftsbildend“ (Liebsch 2001, 46). Die Kinder und Jugendlichen der mennonitisch-baptistischen Aussiedlergemeinden wachsen in Gemeinschaften auf, die in hohem Maße durch ihre religiösen Traditionen und normativen Lebensführungskonzepte sowohl alltags- als auch lebenszeitlich strukturiert sind und der „Entstehung des Neuen in der Adoleszenz“ (King 2004) skeptisch bis ablehnend gegenüberstehen. Dieser Punkt soll im Folgenden näher beleuchtet werden.
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Das Sozialisationssystem der Gemeinschaft: Eine kurze Skizze
Die folgende Beschreibung der Peerbeziehungen von Jugendlichen in evangelikalen Aussiedlergemeinden beruht auf einer ethnografischen Studie, die der Autor im Rahmen seines Dissertationsprojektes durchgeführt hat. Dafür hat er ein Jahr lang in einer baptistischen Gemeinschaft russlanddeutscher Aussiedler Feldforschung betrieben, teilnehmende Beobachtungen durchgeführt und biografisch-narrative Interviews mit Jugendlichen der Gemeinschaft geführt. Die für die Untersuchung ausgewählte freievangelisch-baptistische Gemeinde im Raum Ostwestfalen-Lippe hat ca. 1.300 Mitglieder und ist somit eine vergleichsweise große Gemeinde. Diese Zahl bezieht sich auf getaufte Mitglieder. Die Taufe erfolgt in der Regel nach dem Eintritt in die Jugendgruppe, also um das 16. Lebensjahr herum. Um zur Anzahl der in der Gemeinde lebenden Personen zu gelangen, müssen auch die noch nicht getauften Angehörigen hinzugerechnet werden. Da die Familien sehr kinderreich sind, gehören also insgesamt über 2.000 Personen der Gemeinde an. Die freievangelisch-baptistische Gemeinde wurde 1989 gegründet, ihr Gemeindehaus 1993 fertig gestellt. Vorher fanden ihre Gottesdienste und Veranstaltungen in der Aula der von Angehörigen russlanddeutscher Freikirchen gegründeten privaten Bekenntnisschule statt. Da die Baptistengemeinde aufgrund der hohen Mitgliederzahl an ihre Grenzen gerät, wurde während des Feldaufenthaltes ein Haus für ein neues Gemeindezentrum gekauft und mit dessen kompletter Renovierung begonnen. Die Gottesdienste sind mittlerweile so überfüllt, dass ihnen mehrere hundert Personen im großen Kellersaal des Gemeindehauses auf einer Leinwand folgen müssen. Dies verdeutlicht die bereits angesprochene Intensität des Gemeindelebens und die im Vergleich zu einheimischen Religionsgemeinschaften und innerhalb einer säkularisierten Umwelt ungewöhnlich hohe Besucherzahl religiöser Veranstaltungen.
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Die durchgeführten Beobachtungen bezogen sich im Einzelnen auf den Alltagsablauf der Jugendlichen und ihre Einbindung in Gemeindestrukturen, aber auch auf private und informelle Treffen von Peer Groups. Der Autor hatte Zugang zu allen institutionalisierten Wochenveranstaltungen der Gemeinde wie den Jugendtreffen, den Gottesdiensten, den Gebetsstunden oder den Hauskreisen der Jugendlichen. Die einzige Ausnahme war die Gemeindeversammlung, die nur Mitgliedern, d.h. getauften Gemeindeangehörigen, zugänglich ist. Darüber hinaus wurde er zu unregelmäßig stattfindenden Ereignissen wie Evangelisationen oder Missionsveranstaltungen eingeladen. Er besuchte das Zeltlager der Jugendgruppe in den Sommerferien und nahm an der dort stattfindenden Aufnahme eines neuen Jahrgangs in die Jugendgruppe teil. Er verfolgte eine Diskussionsrunde zwischen den Jugendlichen und dem Jugendleiter über die Kleiderordnung der Gemeinde. Eine Clique Jugendlicher lud ihn dazu ein, seine Freizeit – d.h. Aktivitäten außerhalb der Gemeinde – mit ihnen zu verbringen. Er aß mit Mitgliedern der Peer Group bei McDonald’s, hörte mit ihnen Musik und verfolgte ihre Unterhaltungen und Diskussionen am elterlichen Küchentisch oder in ihren eigenen Zimmern. Einer der Jugendlichen lud ihn sogar zu seiner Hochzeit ein. Auch einer Taufe, bei der über zehn Personen getauft und damit in die Gemeinde aufgenommen wurden, wohnte er bei. Die Teilnahme an ganz unterschiedlichen sozialen Situationen ermöglichte ihm eine ganzheitliche Erfassung der lebensweltlichen Strukturen und Sozialisationsbedingungen juveniler Gemeindemitglieder. Wie einleitend beschrieben, kann die Gemeinde als eine traditionale Gemeinschaft verstanden werden, in der die Sozialisationsprozesse postfigurativ angelegt sind, d.h. es soll ein möglichst einseitiger Transfer kultureller Wissensbestände von der Erwachsenen- zur Jugendgeneration stattfinden. Die Selbstsozialisation von Jugendlichen in Peer Groups und die Partizipation an jugendkulturellen Szenen stellt somit eine potenzielle Gefahr für die traditionelle Wirklichkeitsbestimmung der Eltern- und Großelterngeneration dar, da jede Jugendgruppe ihre „eigene Welt und Weltdeutung (konstituiert)“ (Baacke 1982, 473). Wie Baacke anführt, entstehen die Peer Groups „parasitär an den jeweiligen Orten bzw. Institutionen, die Jugendliche zusammenführen. Nachbarschaft, Schulen, Ausbildungsstätten“ (Baacke 2004, 13). Insofern ist auch jede Gemeinde ein Ort, an dem informelle Gleichaltrigengruppen entstehen. Dies geschieht nicht zuletzt dadurch, dass die Gemeindepädagogik (siehe unten) die nachwachsende Generation bis zum 16. Lebensjahr in nach Jahrgängen gegliederten Kinder- und Jungschar-Gruppen zusammenfasst. Ab dem 16. Lebensjahr werden die Jugendlichen der Gemeinde in die Jugendgruppe integriert, die sie bis zur Heirat besuchen sollen. Die Zusammenfassung der nachwachsenden Generation in Kinder-, Jungschar- und Jugendgruppen und ihre organisierte
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religiöse Erziehung hat bei den evangelikalen Aussiedlergemeinden eine lange Tradition. Gleichwohl kann davon ausgegangen werden, dass mit ihrer Ansiedlung in der Bundesrepublik Deutschland ein Bedeutungszuwachs von Peerbeziehungen einhergeht. In der Sowjetunion war die Jugendphase der Mitglieder russlanddeutscher Freikirchen noch als eine sehr kurze Übergangsphase in die Erwachsenenexistenz institutionalisiert, die sich als effektiv für die beinahe vollständige Integration der nachwachsenden Generation in die Gemeindestrukturen erwies. Dies wurde – entgegen den Intentionen der kommunistischen Administration – durch den Umstand begünstigt, dass den meisten Jugendlichen aufgrund ihrer religiösen Zugehörigkeit von den sowjetischen Behörden der Besuch von Universitäten und höheren Schulen versperrt wurde. Die Jugendlichen fanden dennoch in den meist ländlich gelegenen Regionen genügend Beschäftigungsmöglichkeiten in landwirtschaftlichen, handwerklichen oder industriellen Berufen. Die männlichen Jugendlichen konnten daher sehr schnell die finanziellen Voraussetzungen zur Übernahme der Ernährerrolle und des Haushaltsvorstands übernehmen und die weiblichen fanden keine über die Hausfrauen- und Mutterrolle hinausreichende ernstzunehmende Lebensalternative, die ihnen etwa ein Studium eröffnet hätte (vgl. Beck-Gernsheim 1983). In Deutschland hingegen führt die höhere Qualifikationsanforderung im Berufsleben der „nachindustriellen Gesellschaft“ (Bell 1975) dazu, dass die Jugendlichen der Baptistengemeinde mehr und mehr in den Sog der Wissensgesellschaft geraten. Gemeindeleitung und Erwachsenengeneration stehen vor einem „Bildungsdilemma“: Einerseits werden höhere Bildung und universitäre Wissenschaft generell skeptisch betrachtet, weil sie eine konkurrierende Realitätsdeutung zu ihrem biblizistischen Weltbild darstellen und die Übernahme der christlichen Erwachsenenrolle hinausgezögert wird. Andererseits wirken die erhöhten Bildungsanforderungen der Wissensgesellschaft aber als soziale Tatsache. Die Gemeinden müssen diesem Umstand Rechnung tragen, weil die erfolgreiche Integration der nachwachsenden Generation in die Arbeitswelt für den Fortbestand der Gemeinden existenziell wichtig ist. Da sie sich als Freikirchen aus Beiträgen und Spenden ihrer Mitglieder selbstständig finanzieren, muss die Arbeitslosigkeit von Mitgliedern der Gemeinde möglichst gering gehalten werden. Die Scholarisierung der Jugendphase ist deshalb unausweichlich. Mit der Ausdehnung von Bildungszeit einher geht aber die Zunahme kofigurativer Generationenbeziehungen (vgl. Zinnecker 1991, 13). Insofern ist es ein wichtiges Anliegen der Gemeindeführung, dass die Deutungsmuster, Handlungsmuster und biografischen Entwürfe der Jugendlichen nicht gravierend von denen der Erwachsenengeneration abweichen. In der Sprache des Sozialkonstruktivisums bzw. der sozialphänomenologisch orientierten
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Wissenssoziologie (vgl. Berger/Luckmann 1969) gesprochen: Die in Gleichaltrigengruppen konstruierte Weltdeutung soll mit der Wirklichkeitskonstruktion bzw. dem mit dem Anspruch auf objektive Gültigkeit deklarierten traditionellen Wissen der Gemeinschaft möglichst übereinstimmen. Um dieses Ziel zu erreichen, haben die evangelikalen Aussiedlergemeinden (a) ein privates evangelikales Schulsystem errichtet und (b) eine breite Palette gemeindepädagogischer Angebote für Kinder und Jugendliche entwickelt. Auf beide Aspekte des institutionalisierten Sozialisationssystems soll nun näher eingegangen werden.
4.1 Die Schulen Im Raum Ostwestfalen-Lippe besteht ein ausdifferenziertes evangelikales Schulsystem, das aus mehreren privaten Grundschulen sowie einer Hauptschule, einer Gesamtschule und einem Gymnasium zusammengesetzt ist. Löwen zufolge bilden die unterschiedlichen Schulzweige gemeinsam „die größte evangelikale Bekenntnisschule in Deutschland“ (Löwen 1998, 41). Die Kinder und Jugendlichen der vielen Gemeinden der Region haben die Möglichkeit, von ihrer Einschulung bis zum Abitur die eigenen Schulen zu besuchen. Aber aufgrund des Kinderreichtums der Familien ist die Nachfrage nach Schulplätzen so hoch, dass längst nicht alle Bewerber angenommen werden können und lange Wartelisten bestehen. Im Fall der untersuchten Baptistengemeinde besuchen die Jugendlichen großenteils die verschiedenen Zweige der evangelikalen Bekenntnisschule, vor allem die Gesamtschule mit der gymnasialen Oberstufe. Die Errichtung eigener, bis zum Abitur führender Schulen hat zur Folge, dass die soziale Kontrolle der Gemeinden über die Lebensphase Jugend auf diesen wichtigen Teilbereich des Lebens ausgedehnt wird. Gegenüber der Situation in der Sowjetunion, in der private Bekenntnisschulen verboten waren und die Kinder und Jugendlichen öffentliche Bildungseinrichtungen besuchen mussten, haben die Gemeinden einen Zugewinn an Kontrollmöglichkeiten zu verzeichnen, und zwar in zweifacher Hinsicht. Erstens kann in den Privatschulen besser kontrolliert werden, was die Kinder und Jugendlichen lernen. Allerdings ist die Kontrolle über das vermittelte Wissen nur partiell möglich, da sich die Privatschulen an staatliche Auflagen halten müssen. Sie sind verpflichtet, im Biologieunterricht die Evolutionslehre zu unterrichten und im Religionsunterricht nicht nur biblische Geschichten, sondern auch Religionskritiker wie Nietzsche, Feuerbach und Freud zu behandeln. Trotz dieser Einschränkungen ist der Handlungsspielraum für Lehrer – es werden nur „bewußte (wiedergeborene) Christen“ (ebd., 94, zit. n. Löwen 1998, 42) eingestellt – für die Vermittlung biblizistischer Werte und Ansichten im Vergleich zu staatlichen Schulen höher.
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Zweitens kann kontrolliert werden, mit wem die Kinder- und Jugendlichen lernen und ihren Schulalltag verbringen. Die Integration in altershomogene Schulklassen dient der zeitlichen und räumlichen Segmentierung von „unchristlichen“ Kindern und Jugendlichen und der Entstehung bzw. Fortführung von ausschließlich „christlichen“ Freundschaften. Spätestens nach dem Abitur und mit dem Besuch öffentlicher Universitäten verlieren die Gemeinden ihre Kontrolle auf die Bildungseinrichtungen. Die soziale Kontrolle der Lebensphase Jugend und die Segmentierung der nachwachsenden Generation aus der Gemeinde von solchen Kindern und Jugendlichen, die der „Welt“ angehören, sind auch wichtige Funktionen der Gemeindepädagogik, die im folgenden Abschnitt genauer inspiziert werden soll.
4.2 Die Gemeindepädagogik Die Gemeindepädagogik umfasst alle Maßnahmen der einzelnen Gemeinde, die das Ziel haben, die Kinder und Jugendlichen zu überzeugten Christen und aktiven Gemeindemitgliedern zu erziehen. Sie kann wie die Schule als eine Bezugsinstitution der Lebensphase Jugend verstanden werden, die soziale Kontrolle ausübt (vgl. allgemein: Zinnecker 1987, 1991). Im Fall der untersuchten Baptistengemeinde geschieht dies in zweifacher Hinsicht: 1.
Die Gemeindepädagogik hat innerhalb der Gemeinde die Aufgabe, den kulturellen Transfer des verbindlichen Wissens von der älteren an die jüngere Generation zu kontrollieren. Um die Stabilität gesellschaftlicher Sinnwelten – in diesem Fall die der evangelikalen Aussiedlergemeinde – zu gewährleisten, müssen die traditionalen religiösen Sinngehalte an die nachwachsenden Mitglieder weitergegeben werden. Weitergabe braucht nach Berger/Luckmann (1969) immer einen gesellschaftlichen Apparat. „Das heißt: manche Typen sind zu Vermittlern, andere zu Empfängern des traditionellen ,Wissens’ bestimmt“ (Berger/Luckmann 1969, 75). Die Empfänger sind insbesondere die Kinder und Jugendlichen der Gemeinde. Zu dem traditionellen Wissen zählen etwa der göttliche Auftrag der Gemeinde, die Vermeidung sündhaften Verhaltens und Denkens, die hohe Bedeutung der Ehe für die christliche Existenz oder die Möglichkeit, eine persönliche Beziehung zu Gott aufzubauen. Ferner gehört dazu das Wissen um Sinn und Timing des Vollzugs von Übergangsritualen zwecks Erwerbs der vollen Mitgliedschaft.
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Die Gemeindepädagogik hat die Kontrolle der Freizeitaktivitäten zum Ziel, um durch Vergemeinschaftung und Segmentierung die Jugendlichen an die Gemeinde zu binden und die über Medien, Freizeit- und Konsumindustrie oder gemeindeexterne Bekanntschaften vermittelten konkurrierenden Freizeitangebote und Umwelteinflüsse so weit es geht zu unterbinden. Auf diese Funktion der Gemeindepädagogik soll im Kontext dieses Beitrages etwas näher eingegangen werden.
In der Jugendarbeit spielt der Aspekt der Evangelisation eine untergeordnete Rolle, da sich die meisten Jugendlichen bereits bekehrt haben. Die Jugendgruppe der untersuchten Baptistengemeinde umfasst ca. 230 Personen, die sich alle 14 Tage in der Gemeinde zu zwei- bis dreistündigen Veranstaltungen versammeln. In der dazwischen liegenden Woche wird die Jugend in 10-15 Personen zählende Bibelkreise aufgeteilt, die von einem männlichen Leiter aus der Jugendgruppe ehrenamtlich geleitet werden und deren Treffen privat bei einem der Jugendlichen stattfinden. In diesen Kreisen werden Geschichten und Stellen aus der Bibel besprochen, die auf das Alltagsleben der Jugendlichen angewendet werden. Freizeitangebote wie mehrtägige Jugendfreizeiten, Turniere oder Ausflüge werden gemeinsam im Rahmen der Gemeindejugend – z.B. im gemeindeeigenen Freizeitheim – organisiert. Dadurch werden Kinder und Jugendliche in lebensweltliche Zusammenhänge sozialisiert, die durch einen hohen Grad an Vergemeinschaftung und sozialer Einbindung charakterisiert sind. Weiter bewirkt diese Praxis, dass den Jugendlichen der baptistischen Aussiedlergemeinde die Möglichkeit eröffnet wird, täglich an Gemeindeaktivitäten zu partizipieren und aus verschiedenen Angeboten einen jeweils persönlichen Wochenplan zu erstellen. Dadurch sollen Kollektivität und Gemeinschaftsgefühl unter den Jugendlichen hergestellt werden. Der hohe Grad der alltagszeitlichen Strukturierung und Integration des Jugendlebens im Sinne der Gemeinde ist eine bewusste pädagogische Maßnahme. Bei den Baptisten ist das Jugendalter als eine besonders labile Phase im Lebenslauf gefürchtet, in der die Grenze zur „Welt“ überschritten werden könnte. Die Durchgliederung des Tages- und Wochenablaufs mit gemeindepädagogischen Angeboten soll hier Klarheit und Grenzen erzeugen, damit die Jugendlichen die traditionellen Gewissheiten nicht in Frage stellen oder den vielfältigen Versuchungen der sündigen „Welt“ erliegen. Die bereits im Kindesalter über Kinder- und Jungschargruppen einsetzende Einbindung der nachwachsenden Generation in altershomogene Gruppen und das strukturierte Freizeitprogramm haben den Zweck, Kontakte zu „anderen“ Kindern zu unterbinden/zu minimieren. Mit anderen Worten heißt dies, dass eine Grenzziehung zwischen der „Welt“ und der Gemeinde vorgenommen wird.
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Da Kinder und Jugendliche sich ihre Wirklichkeit im Prozess der KoKonstruktion herstellen, ist mit engen Kontakten zu „unchristlichen“ Kindern immer die Gefahr verbunden, dass Realitätsauffassungen, die nicht in das Weltbild der Gemeinden passen, einen bewusstseinsprägenden Einfluss auf die „eigenen Kinder“ haben könnten. Wie bei der privaten Schule dient die Integration in altershomogenen Gruppen, z.B. im Rahmen von Kinder- und Jugendstunden oder von Chören und Orchestern, der zeitlichen und räumlichen Segmentierung von „unchristlichen“ Kindern und Jugendlichen und der Entstehung bzw. Fortführung von christlichen Freundschaften. Der nachwachsenden Generation werden vielfältige Aufgaben und Verantwortungsbereiche übertragen. Die Jugendlichen engagieren sich in der Kinder- und Teenagerarbeit, in der Seniorenbetreuung, im Jugendchor der Gemeinde oder bei der Organisation jugendspezifischer Veranstaltungen wie Jugendstunden oder Bistroabende. Sie helfen bei Hochzeiten, übernehmen die Leitung der Bibelkreise, spielen im Orchester, geben Musikunterricht, organisieren Kinder-, Teenager- oder Jugendfreizeiten mit, übernehmen Küchendienste, bieten Hausaufgabenhilfe an, gestalten Bibelstunden und Gottesdienste oder leisten Missionseinsätze. Mit der Übernahme von Gemeindeaufgaben folgen sie einer Erwartung, die an die nachwachsende Generation gestellt wird. Dies ist eine weitere pädagogische Maßnahme im Prozess der methodischen Sozialisation, durch die die „neue Generation […] mit den Sinnzusammenhängen der jeweiligen Kultur vertraut gemacht (wird). Sie wird initiiert. Sie lernt, sich an der Erfüllung etablierter Aufgaben zu beteiligen, und akzeptiert schließlich Rollen und Identitäten, die den kulturellen Gesamtapparat in Gang halten“ (Berger 1973, 16).
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Die ambivalente Rolle der Peer Groups für die Gemeinschaftseinbindung
Das Sozialisationssystem der evangelikalen Aussiedlergemeinden zielt auf die möglichst reibungslose Integration der nachwachsenden Generation in die Strukturen der Gemeinschaft und den postfigurativen Transfer von Wissensbeständen. Peer Groups spielen in diesem Prozess eine ambivalente Rolle. Auf der einen Seite können sie die Postfiguration erschweren, desintegrativ wirken und so die etablierte Ordnung der Gemeinschaft destabilisieren. Gleichzeitig ist die Einbindung in eine Gleichaltrigengruppe aber ein wichtiges Medium der Integration von Jugendlichen in die Strukturen der evangelikalen Lebenswelt und kann insofern funktional für die gewünschte Vergemeinschaftung sein. Anhand von Beispielen soll nun die Ambivalenz verdeutlicht werden.
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5.1 Die gemeinsame Zurückweisung der Kleiderordnung Von den Jugendlichen wird die verbindliche Kleiderordnung der Gemeinschaft kritisiert und zurückgewiesen. Dazu zählt insbesondere die Vorschrift, dass Mädchen und Frauen einen langen Rock tragen müssen, weil dies nicht aufreizend wirke und nicht zur Sünde verleite. Mit der Kleiderordnung soll unterbunden werden, dass Männer zu einem sündhaften Verhalten verführt und sexuelle Praktiken vor oder außerhalb der Ehe durchgeführt werden. Nach innen ist mit der Kleiderordnung eine klare Rollenverteilung zwischen Männern und Frauen verbunden, da Kleidung ein zentrales Medium der Geschlechterkonstruktion ist (vgl. Katschnig-Fasch 1987). Nach außen soll der „Welt“ über den Kleidungscode die Zugehörigkeit zur Gemeinde gezeigt werden. Aber gerade die beschriebene traditionelle Kleiderordnung wird von der heutigen Jugendgeneration – zumindest von den Jugendlichen der untersuchten Baptistengemeinde – abgelehnt. Dies wurde deutlich im Rahmen einer Diskussionsrunde zwischen Jugendleiter und Jugendlichen, an der der Verfasser teilnehmen durfte. Thema der Veranstaltung, an der sich neben dem Jugendleiter rund 50 Jugendliche beteiligt haben, war die Kleiderordnung der Gemeinde – vor allem die Vorschrift, dass die weiblichen Jugendlichen Röcke tragen müssen. Diese noch aus der Zeit der mennonitischen Kolonien und der Sowjetunion stammende Konvention wurde mit Gründung der Gemeinde Anfang der 1990er Jahre in Deutschland weitergeführt. Die auf der Diskussionsveranstaltung anwesenden Jugendlichen – und zwar sowohl die Mädchen als auch die Jungen – haben in der Diskussion die Verbindlichkeit der Kleiderordnung für alle Gemeindemitglieder deutlich kritisiert. Diese Kritik wurde auch in zahlreichen Gesprächen geäußert, die der Verfasser im Laufe der Feldforschung mit Jugendlichen aus der Gemeinde geführt hat. Sie bezieht sich dabei nicht lediglich auf die Vorschrift, dass Frauen Röcke tragen müssen, sondern auch gegen die von der Erwachsenengeneration vertretene Ansicht, dass Christen keine Ohrringe tragen dürfen. Dies wird deutlich in der folgenden Äußerung einer 20-jährigen Jugendlichen, die als paradigmatisch für die Einstellung der Jugendgeneration gewertet werden kann: „Ich kann, ich kann irgendwo die älteren Leute verstehen, weil die kommen, also aus Russland, haben das da 'gar nicht kennen gelernt, Dinge, was weiß ich, zum Beispiel Ohrringe, die wir heute, das war auch eine Auseinandersetzung mit meiner Ma, ehm, … was sie absolut nicht verstehen kann oder was, das damals nur Nicht-Christen hatten. Und ich das halt nirgends in der Bibel finde,
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und das einfach auch nicht so ist, dass das was mit einem Nicht-Christen zu tun hat.“1 Christ-Sein wird für die Jugendlichen zu einer inneren Einstellung, die nicht über Kleidung symbolisch inszeniert werden muss und somit aus dem Relevanzsystem exkludiert wird. Es ist für die Jugendlichen irrelevant, wie sich ein Christ kleidet. Die traditionale Praxis – ein Christ muss äußerlich erkennbar seine Gemeinschaftszugehörigkeit indizieren – gerät somit also in Opposition zu den Haltungen der jugendlichen Gemeindemitglieder. Der Jugendleiter der Baptistengemeinde gab die Position der Jugend in den Brüderrat weiter, in dem sich die „Hüter der Tradition“ (Giddens 1993, 452) der Gemeinschaft regelmäßig versammeln. Dieses wichtige Entscheidungsgremium der Gemeinde, in dem sich die Leiter der unterschiedlichen Gemeindeabteilungen in regelmäßigen Abständen versammeln, folgte weitgehend der Argumentation der Jugendlichen. Diese Gemeindeinstitution, die das Machtmonopol hat, die Kleiderordnung zu ändern, führte auf Druck der Jugendgeneration die Reform durch: Für alle Jugendveranstaltungen ist die Kleidervorschrift, einen Rock zu tragen, abgeschafft. Damit wurde im intersubjektiven und intergenerationalen Aushandlungsprozess die Institution Kleiderordnung für Verhältnisse russlanddeutscher Freikirchen deutlich liberalisiert. In diesem Meinungsbildungsprozess spielt die Gleichaltrigengruppe eine wichtige Rolle, denn in der Peer Group können Jugendliche in einem geschützten Rahmen Ansichten diskutieren und aushandeln, die von den Vorstellungen der Erwachsenengeneration abweichen – wie in diesem Fall die Ablehnung der Kleiderordnung. Das kollektive Handeln der Jugendlichen steht symptomatisch für die Stärkung kofigurativer Generationenbeziehungen in der Gemeinde und ist ein Indiz dafür, dass der einseitige postfigurative Transfer traditioneller Wissensbestände und damit verbundener Verhaltensvorschriften von der Erwachsenengeneration an die Kinder und Jugendlichen der Gemeinde zunehmend auf Widerspruch stoßen kann.
5.2 Der Einbruch von Jugendkultur in die Gemeinschaft Eine große Bedeutung für die Eingliederung der nachwachsenden Generation in die Gemeinschaft haben die Jugendchöre und -orchester der Gemeinde. Die musische Erziehung hat bei den russlanddeutschen Freikirchen eine lange Tradi1 Die in diesem Beitrag zitierten Interviewsequenzen wurden narrativen Interviews entnommen, die während der Feldforschungsphase geführt worden sind.
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tion. Doch nicht alle Jugendlichen identifizieren sich mit musikalischen Angeboten der Gemeinde. Besonders deutlich wird dies im Fall eines 17-jährigen Jugendlichen aus der Gemeinde, den der Autor im Rahmen der Feldforschung interviewt hat. Der Jugendliche besucht seit der 5. Klasse die evangelikale Privatschule und hat vor einigen Jahren gemeinsam mit Freunden eine HipHopGruppe gegründet, die während der Feldforschungsphase mehrere Konzerte in der örtlichen Umgebung veranstaltet hat. Mit der Kombination von in Liedtexten verarbeiteten christlichen Traditionen und moderner Jugendkultur ist die Gruppe bei den Jugendlichen aus den umliegenden Gemeinden sehr erfolgreich, und ihre Konzerte waren sehr gut besucht. Diese Praxis stößt bei der Gemeindeführung aber auf Ablehnung, da jugendkulturelle Stilisierungsprozesse und Autonomieambitionen als Einbruch von Unordnung in die Gemeinde interpretiert werden. Obwohl der interviewte Jugendliche Gemeindemitglied ist und über seine Musik christliche Botschaften vermittelt, werden seine Konzerte als Gefährdung für den Lebensweg der Jugendlichen gedeutet. Dies hatte zur Konsequenz, dass der Gruppe für die nächsten zwei Jahre das Veranstalten von Konzerten untersagt wurde. Deutlich wird hier der Charakter des evangelikalen Jugendmoratoriums bzw. Sozialisationssystems „als eine Form sozialer Kontrolle und als Teil eines Prozesses der Sozialdisziplinierung“ (Trotha 1982, 258). Der jugendliche Gründer der Gruppe hat diese Entscheidung der Gemeindeleitung zwar aus Rücksicht auf die ältere Generation akzeptiert, sie stellt für ihn aber eine große Einschränkung seiner kulturellen und religiösen Selbstentfaltungsmöglichkeiten dar. Er begründet seine Einstellung wie folgt: „...Gott hat mir einfach dieses Talent gegeben und für mich persönlich wäre es eine Sünde, wenn ich das einfach in den Wind schlagen würde und sagen würde ,ach, ist egal, fertig, ich mach’ jetzt komplett was anderes’. Und Gott hat in mir einfach auch dieses Feuer auch entfacht, und das kann nur er löschen, wenn er, denke ich mal, irgendwann mal sagen will ,das ist vorbei’, dann ist es vorbei.“ Hier wird deutlich, dass der besagte Jugendliche der Gemeinde die Legitimation abspricht, seine musikalischen Ausdrucksformen zu verbieten, weil er sie als eine göttliche Gabe interpretiert, die zu verwerfen für ihn bedeuten würde, gegen Gottes Willen zu verstoßen. Es wird für ihn geradezu zu einer ethischen und sittlichen Pflicht, diesem Willen zu entsprechen. Das Verbot öffentlicher Auftritte zu akzeptieren, bedeutet nicht, dass er seine große Leidenschaft aufgibt, sondern lediglich, dass er sich für die nächsten zwei Jahre vorübergehend von der öffentlichen Bühne in den privaten Bereich zurückzieht und kreativ an seiner Musik weiterarbeitet. Hip-Hop Musik zu komponieren, diese mit christlichen Rap-Texten zu unterlegen und gemeinsam mit seinen Freunden zu musi-
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zieren, bleibt aber ein wichtiges sinnstiftendes Element in seinem Leben und spielt in seiner Zukunftsplanung eine Rolle.
5.3 Gleichaltrigengruppen als Medium der Integration In beiden Beispielen wurden tendenziell desintegrierende Folgen einer hohen Peer-Orientierung für die reibungslose Eingliederung der nachwachsenden Generation in die Gemeindestrukturen nach Maßgabe der Erwachsenen beschrieben. Allerdings spiegeln diese Prozesse nur unzureichend die Rolle von Gleichaltrigenbeziehungen für die Vergemeinschaftung nach den Plänen der Gemeindeleitung wider. Denn eine für den einzelnen Jugendlichen zufriedenstellende Integration in eine Gleichaltrigengruppe – zumindest in eine, die sich aus Gemeindejugendlichen zusammensetzt – kann gleichzeitig ein wichtiges Medium der Integration in die Gemeinschaft sein. Dies wird deutlich im Fall eines Jugendlichen, mit dem der Autor während der ethnografischen Forschung ein biografisch-narratives Interview geführt hat und der zum Zeitpunkt des Interviews 20 Jahre alt war. Der Jugendliche gilt in der Gemeinde als „verlorener Sohn“, weil er im Alter von ungefähr 16 Jahren für mehrere Jahre aus der Gemeinschaft ausgetreten war, seit einiger Zeit aber wieder am Gemeindeleben teilnimmt. Ein entscheidender Grund für seinen Austritt war seine defizitäre Eingliederung in eine Gleichaltrigengruppe und das damit zusammenhängende Gefühl, in der Gemeinschaft ein Außenseiter zu sein. Grund für seine randständige Position war der Umstand, dass sich sein Elternhaus in einer etwa 25 km von der Gemeinde entfernt liegenden kleinen, abgelegenen Siedlung befand. Daher konnte er meist nicht an den informellen Treffen und spontanen Freizeitaktivitäten von Gleichaltrigen außerhalb der offiziellen Kinder- und Jugendangebote der Gemeinde teilnehmen. Gerade diese sind aber wichtig für die Entstehung von Freundschaften und die Herausbildung von Peer Groups im Jugendalter. Dies gilt auch oder sogar besonders für streng religiöse Gemeinschaften. Denn gerade hier stellt die Peer Group eine wichtige Institution dar, in der die Jugendlichen ohne Kontrolle durch Erwachsene handeln und kommunizieren können. „Nur da ich von so weit wegkomme, war das auch so, dass spontane Aktionen von mir halt, konnte ich nicht mitmachen. Das verschweißt die Leute doch mehr so, wo Sachen gemacht werden, die spontan sind, eh mal eben kurz Freundeskreis sich treffen, abends Bibel lesen, beten oder einfach nur was grillen, zelten.“
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Die Folge war, dass er sich bereits im Kindes- und frühem Jugendalter als Außenseiter gefühlt hat, der zwar Bekanntschaften zu gleichaltrigen Gemeindemitgliedern hatte, aber aufgrund der mit der geografischen Distanz einhergehenden zeitlichen Inflexibilität und mangelnder Spontaneität keine tiefer gehenden Freundschaften zu anderen Gemeindejugendlichen aufbauen konnte. Aufgrund seiner Wohnsituation in einer abgelegenen Siedlung hatte er keinen unmittelbaren räumlichen Bezug zu der Gemeinde. Für traditionale Gemeinschaften ist jedoch nach Tönnies konstitutiv, dass sie sich lokal, d.h. auf örtlicher Ebene organisieren. Dieses Merkmal impliziert, dass die Mitglieder von Gemeinschaften in räumlicher Nähe zueinander wohnen. Das Charakteristikum des räumlichen Bezugs von Gemeinschaften lässt sich anhand der evangelikalen Aussiedlergemeinden verdeutlichen, denn um das jeweilige Gemeindezentrum, oft als Bethaus bezeichnet, entstehen in der Regel kolonieähnliche Wohngegenden von Angehörigen der Gemeinde – so auch im Fall der untersuchten baptistischen Gemeinschaft russlanddeutscher Aussiedler. Dem interviewten Jugendlichen fehlte jedoch der unmittelbare räumliche Wohnkontext mit der Folge, dass er an den von Gemeindejugendlichen gebildeten Gleichaltrigengruppen nur unregelmäßig partizipieren und keine tiefer gehenden Freundschaften mit anderen Jugendlichen aufbauen konnte. Im weiteren Verlauf – auf den im Rahmen dieses Beitrags nicht weiter eingegangen werden kann – war seine defizitäre Eingliederung in eine Peer Group ein entscheidender Grund für seinen Austritt. Dieses Beispiel zeigt, dass eine mangelnde Einbindung in die Peer Groups der Gemeindejugendlichen zu einem gravierenden Integrationsdefizit führen kann.
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Fazit
Für eine traditionale Gemeinschaft, wie sie die untersuchte Gemeinde russlanddeutscher Baptisten paradigmatisch repräsentiert, stellen Peer Groups ein Problem dar. Sie sind ein Freiraum, der von Erwachsenen nicht direkt kontrolliert und gestaltet werden kann. Die dort stattfindende Sozialisation in Eigenregie kann tendenziell die postfigurative Weitergabe von traditionellen Wissensbeständen an die nachwachsende Generation erschweren oder untergraben. Die Orientierung an Kleidungscodes der Peer Groups statt an Vorgaben der älteren Generation und die Entwicklung jugendkultureller Ausdrucksformen kann als Individualisierung innerhalb der Gemeinschaft gedeutet werden. Das Kleidungsverhalten der Jugendlichen spiegelt einerseits die Sehnsucht nach Individualität, Distinktion und Differenz innerhalb einer hochgradig normativen und reglementierenden Vergemeinschaftung, andererseits das Bedürfnis nach Anerkennung ihrer christlichen Identität innerhalb einer säkularen Gesellschaft wider.
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Allerdings bedeutet der Bedeutungszuwachs von Peerbeziehungen und Gleichaltrigengruppen nicht, dass die Religiosität der Eltern- und Großelterngeneration von den Jugendlichen kategorisch abgelehnt wird. Noch immer partizipieren viele Jugendliche an den pädagogischen Angeboten der Gemeinschaft, sind engagierte Mitglieder und haben eine starke emotionale Bindung zu ihrer Gemeinde entwickelt. Die sinnstiftende Integration in eine Gleichaltrigengruppe kann für den einzelnen Jugendlichen ein wichtiges Medium der Gemeindeeinbindung sein. Aber die Einstellungen der Erwachsenengeneration werden von den Jugendlichen auf ihre Verbindlichkeit hin genau überprüft und wenn nötig kollektiv zurückgewiesen. Insofern geht mit dem Bedeutungszuwachs von Peerbeziehungen auch ein Zuwachs an Macht zugunsten der Jugendgeneration einher. Welche Konsequenzen dieser Wandel langfristig für die Gemeinschaft haben wird, kann nur im Rahmen von Langzeitstudien erforscht werden.
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Jugendliches Risikoverhalten, Drogenkonsum und Peers Christian Palentien und Marius Harring
1
Einleitung
Im Zuge der Ablösung von den Eltern ist eine stärkere Zuwendung des Jugendlichen zu der Gleichaltrigengruppe zu konstatieren. Jugendliche orientieren sich mit zunehmendem Alter, sowohl was die Frage der Freizeitgestaltung als auch des Lebensstils anbelangt, verstärkt an Peers. Im Kontext dieser außerfamilialen sozialen Kontakte entwickeln sie die Fähigkeit, soziale Beziehungen einzugehen und damit eine emotionale Unabhängigkeit von den Eltern zu erreichen (vgl. Baacke 1999). Fend (1998, 229) beschreibt die Erfahrungen mit Gleichaltrigen als ein zentrales Lernfeld für die Entwicklung von sozialem Verständnis und Selbstverständnis sowie für den Aufbau sozialer Kompetenzen und moralischer Haltungen (vgl. Fend 2003; Fend 1998, 229). Ferchhoff (2007) betont die neben den Lern- und Erfahrungsräumen sich bietenden vielfältigen Experimentierchancen für die Entwicklung eigener Lebensstile, Normen, Werte und Ausdrucksweisen, welche in dieser Form ausschließlich die Gleichaltrigengruppe bereitstellt. Folglich spielt die im Jugendalter gemachte Interaktionserfahrung in und mit der Peer Group eine bedeutsame Rolle für die Sozialisation eines jeden Individuums – wenn auch stets in unterschiedlicher Weise, wenn man von heterogen verlaufenden Lebensbiografien ausgeht. Dies zieht zwangsläufig nach sich, dass zwar einerseits – und dies sicherlich auch vornehmlich – positive Effekte wie Identifikations- und Orientierungsmöglichkeiten sowie Lernpotenziale (vgl. Schröder 2006; Harring 2007) geschaffen werden, andererseits birgt die emotionale Abhängigkeit von der Bezugsgruppe auch zahlreiche Gefährdungspotenziale und Gefahrenquellen, welche die Persönlichkeitsentwicklung des Betreffenden negativ beeinflussen und sich langfristig für den weiteren Lebensweg des Adoleszenten als hinderlich erweisen können: So kommt der Peer Group insbesondere dann eine entwicklungshemmende Wirkung zu, wenn bedingt durch gruppendynamische Prozesse nicht-konforme Werte vermittelt werden (vgl. Grunert 2006, 28; Schröder 2006, 181; Rauschenbach et al. 2004, 320). Diese können ihren Ausdruck in vielfältiger Form finden. Hierzu gehören sowohl sich nach außen wendende Ausdrucks-
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Christian Palentien und Marius Harring
formen, wie z.B. Kriminalität und Gewalt, als auch nach innen gerichtete Verhaltensweisen, wie z.B. gesundheitsgefährdende Handlungen, die u.a. im Suchtund Rauschmittelkonsum deutlich werden. Um allerdings einer vorschnellen Schlussfolgerung entgegenzuwirken sei bereits an dieser Stelle einschränkend auf zwei Punkte hingewiesen: 1. Der Konsum von legalen und illegalen Drogen im Jugendalter geht in aller Regel mit einem Probier- und Experimentierverhalten einher und zieht in den meisten Fällen kleine langfristige Drogenkarriere nach sich. 2. Clique und abweichendes, risikohaftes Verhalten stehen nicht in einem unmittelbaren kausalen Zusammenhang zueinander. Somit stellt die Bildung von Peer Groups keine hinreichende Bedingung für abweichendes Verhalten dar. Soziale Desintegration, etwa durch unsichere familiale Beziehungen, Misserfolgs- und Versagenserfahrungen sowie überzogene Leistungserwartungen der Eltern können dazu beitragen, dass Jugendliche sich in einem stärkeren Maße in normabweichenden Gleichaltrigengruppen orientieren, organisieren und sich über diese Beziehungen definieren (vgl. Heitmeyer et al. 1995). Folglich ist der Einfluss der Gleichaltrigengruppe vor allem dann als problematisch anzusehen, wenn zum einen die Beziehung zwischen Eltern und Kindern gestört ist und zum anderen die Peers selbst abweichende Normen verfolgen. Probleme dieses Entwicklungsprozesses und Drogenkonsum als deren mögliche Folgeerscheinung sind Thema des folgenden Beitrags. Da der Konsum und Missbrauch legaler und illegaler psychoaktiver Substanzen in der Regel erst im Jugendalter seinen Anfang nimmt, wird sich auch dieser Beitrag vornehmlich mit Jugendlichen beschäftigen, wobei allerdings davon auszugehen ist, dass viele Entwicklungsstörungen, die im Jugendalter manifest werden, ihren Ausgangspunkt in der Kindheit haben.
2
Lebenssituation von Kindern und Jugendlichen
Die Bedingungen des Aufwachsens von Kindern und Jugendlichen haben sich in den letzten Jahrzehnten gravierend verändert. So besitzen Kinder und Jugendliche heute zahlreiche Freiheiten und Freiräume: Bei der Wahl der Freunde und der Bekannten, der Kleidung und des „Stils“ der Lebensführung, der räumlichen, zeitlichen und medialen Organisation außerschulischer und -beruflicher Tätigkeiten, aber auch des Bildungs- und Ausbildungsweges, des Berufes, der religiösen Zugehörigkeit etc. existieren hohe Freiheitsgrade. Jedoch sind es gleichzeitig gerade diese Freiheiten, die auch die Anforderungen an eine selbständige Lebensführung, sich zu orientieren, einzuschätzen, abzuwägen und zu entscheiden, erhöhen, die zudem durch die Lockerung von sozialen Bindungen
Jugendliches Risikoverhalten, Drogenkonsum und Peers
367
auch Halt und Orientierung reduzieren. Hinzu kommt, dass dieser Prozess der Verselbstständigung in verschiedenen Lebensbereichen inzwischen typischerweise asynchron verläuft. So ist es charakteristisch für die Lebenssituation heutiger Kinder und Jugendlicher, dass sie sowohl im Bereich des Freizeit- und Medienverhaltens wie auch hinsichtlich ihrer Teilnahme am Konsumwarenmarkt schon sehr früh in die Rolle Erwachsener einrücken können, gemessen am Zeitpunkt einer Familiengründung und der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit aber erst sehr spät diesen Status erreichen. Es gehört also zu den Merkmalen dieses Lebensabschnittes, mit widersprüchlichen sozialen Erwartungen umzugehen. Wird dieser ohnehin schwierige Prozess des „Einrückens“ von akuten oder überdauernden Belastungssituationen im Lebensalltag, wie z.B. Beziehungsprobleme und Konflikte mit den Eltern, Anerkennungsprobleme in der Gleichaltrigengruppe, moralisch-wertmäßige Orientierungsprobleme, Zukunftsunsicherheiten und schulische Leistungsschwierigkeiten, begleitet, dann besteht die Gefahr, dass Überforderungen und Stress entstehen, die zu gesundheitlichen Störungen führen, in aggressivem Verhalten oder im verstärkten Konsum legaler oder illegaler Drogen münden.
3
Problemverhalten und Entwicklungsprobleme
Jugendliche müssen in allen gesellschaftlichen Handlungssektoren psychische, soziale, motivationale und praktische Kompetenzen erwerben, um ihren Entwicklungsaufgaben gerecht zu werden. Als Basis einer Individuation bilden diese Kompetenzen die Voraussetzung für eine vollständige gesellschaftliche Integration, also den Eintritt in das Erwachsenenleben. Probleme im Individuations- und Integrationsprozess ergeben sich dann, wenn wegen spezifischer personaler oder sozialer Bedingungen vorübergehend oder dauerhaft in einem oder mehreren der Handlungsbereiche Jugendlicher unangemessene oder unzureichende Kompetenzen erworben und die von der sozialen Umwelt erwarteten Fertigkeiten und Fähigkeiten, Motivationen und Dispositionen nicht erbracht werden können. Die Handlungs- und Leistungskompetenzen eines Jugendlichen entsprechen in diesem Fall nicht den durch jeweilige institutionelle oder Altersnormen festgelegten vorherrschenden Standards. Wird eine „Fehl-Passung“ von objektiven Anforderungen und subjektiven Kompetenzen nicht durch personale oder soziale Strategien verändert oder bewältigt, dann sind erhebliche individuelle Beanspruchungen und Belastungen bei Jugendlichen zu erwarten. Da jede unbewältigte Entwicklungsaufgabe eine ungünstige Startposition für die Bewältigung weiterer Aufgaben ist, können sie
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zu Störungen des weiteren Individuations- und Integrationsprozesses führen. Ein „Problemstau“ von mehreren unbewältigten Entwicklungsaufgaben kann darüber hinaus in einer Beeinträchtigung der Bildung von Handlungskompetenzen auch in einzelnen Handlungsbereichen münden (vgl. Coleman 1980; Olbrich 1984). Jugendliche lernen im Verlauf der Lebensspanne bestimmte Muster der Problembewältigung und erwerben Kompetenzen, die es ihnen ermöglichen, normative Entwicklungsaufgaben wie die Ablösung von den Eltern, Eingehen von sozialen Beziehungen mit Gleichaltrigen, den Erwerb einer Berufsrolle, die Entwicklung einer Geschlechtsidentität etc. sowie lebenslaufspezifische Belastungen und Krisen mehr oder weniger konstruktiv zu bewältigen. Eine wichtige grundlegende Komponente für den Aufbau von Bewältigungsstilen ist der Grad der aktiven Erschließung einer Problemkonstellation und das Ausmaß, in dem sich Jugendliche auf überlieferte Vorgaben für ihre Orientierungen und Problemlösehandlungen verlassen. Als günstig für eine flexible Problembewältigung hat sich eine gut strukturierte, aber flexible und eigenaktive Wahrnehmung der sozialen Realität erwiesen, die für neue Eindrücke und rasche spontane Reaktionen bei neu entstehenden Konstellationen offen ist. Als ungünstig erweisen sich ausweichende und passive Strategien der Reaktion (vgl. Oerter/Montada 2008; Fend 2003). Die unterschiedliche Ausprägung der Kompetenzen für die Bewältigung eines Problems ist ein maßgeblicher Entscheidungsfaktor dafür, ob eine Problemkonstellation in ihren Folgen und Auswirkungen zu einer Belastung wird oder nicht: x
x
Eine hohe Problembewältigungskompetenz kann dazu führen, dass ein Jugendlicher trotz einer objektiv ungünstigen Lebenslage auch in schwierigen Konstellationen keine Beeinträchtigung der psychosozialen Befindlichkeit und keine Symptome von Belastungen zeigt. Die Chancen, solche Problembewältigungskompetenzen aufzubauen, sind bei denjenigen Jugendlichen besonders hoch, die von früher Kindheit an ein aktives und aufgeschlossenes Temperament haben, gute Vorbilder in ihren Eltern finden sowie günstige Anregungen und Herausforderungen für die Stärkung und Stabilisierung ihrer Persönlichkeit vorfinden. Fehlen günstige Anregungen und Herausforderungen für die Stärkung und Stabilisierung der Persönlichkeit, dann kann es zur Ausprägung von motivationalen und/oder kognitiven Dispositionen kommen, die eine nur defensive oder passive Reaktion auf problematische Lebenslagen und Krisen wahrscheinlicher machen. Die Strategien der Problem-
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369
analyse, der Informationssuche, der Beeinflussung der belastenden Bedingungen oder der Veränderung des eigenen Verhaltens sind bei solchen Jugendlichen weniger gut entwickelt; sie haben deshalb für die Anforderungen in verschiedenen Lebensbereichen erheblich ungünstigere „personale Ressourcen“ als ihre Altersgenossen (vgl. Keupp 1982; Pearlin/Schooler 1978; Seiffge-Krenke 1994). So bedeutsam die individuellen Bewältigungskompetenzen sind, sie allein sind oftmals nicht ausreichend, um Problemkonstellationen zu meistern. Speziell Probleme, die nicht unmittelbar oder ausschließlich durch das eigene Handeln beeinflussbar und veränderbar sind (z.B. Jugendarbeitslosigkeit, Beziehungskrisen usw.), können auch bei Jugendlichen mit hohen Bewältigungskompetenzen zu Überforderungen führen (vgl. Franz 1983). Aus einem Missverhältnis zwischen situativen Anforderungen einerseits und eigenen Handlungskompetenzen andererseits entwickeln sich oftmals „untaugliche Lösungen“, die in ihren Erscheinungsformen und Folgen von der sozialen Umwelt als inakzeptabel bezeichnet werden. Dissozialität und Delinquenz, psychosomatische Störungen und gesundheitsgefährdende Verhaltensweisen stellen solche sozial gemiedenen oder geächteten und damit für die jeweiligen Personen prekäre Strategien der Reaktion auf Problemkonstellationen dar; in diesem Sinne handelt es sich um „fehlgeleitete“ Formen der Auseinandersetzung mit der eigenen Lebenslage. Dem stehen Formen der Problemverarbeitung gegenüber, die von der sozialen Umwelt als konform bezeichnet werden. Symptome der Problembelastung treten im Jugendalter – im Vergleich zu anderen Bevölkerungsgruppen – gehäuft auf; innerhalb der Jugendpopulation sind solche Störungen – auf der Basis repräsentativer Studien – aber nur bei einer Minderheit von 15% bis 30% zu verzeichnen (siehe Seiffge-Krenke 1994). Zu ihrer Klassifikation bieten sich analytisch zwei Dimensionen an: x
x
Zum einen lässt sich nach der „Richtung“ der Problemverarbeitung unterscheiden. Die Problemverarbeitung kann sich nach „außen“, an die Bezugspersonen und Institutionen wenden, oder nach „innen“ gerichtet sein, also eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbst darstellen. Beispiele hierfür sind depressive und aggressive Verhaltensweisen. Zum zweiten lassen sich die Erscheinungsformen und Resultate der Problemverarbeitung danach unterscheiden, ob sie von der Gesellschaft als konform oder als deviant gegenüber den gesellschaftlich vorherrschenden Normen und Verhaltenserwartungen eingeschätzt werden. Beispiele hierfür sind Teilnahmen an politischen Demonstrationen und kriminelle Verhaltensweisen.
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Vor allem das Auftreten devianten Verhaltens weist auf erhebliche Schwierigkeiten des persönlichen Entwicklungs- und des sozialen Eingliederungsprozesses im Jugendalter hin (vgl. Böhnisch 2006).
4
Drogenkonsum
Unter Drogen werden alle Substanzen subsumiert, die über das Zentralnervensystem die subjektive Befindlichkeit eines Konsumenten direkt oder indirekt beeinflussen. Die Genussmittel Alkohol und Tabak zählen hierzu ebenso wie die illegalen Drogen Haschisch, Halluzinogene, Amphetamine, Opiate (vor allem Heroin) und Kokain. Der Einstieg in den Drogenkonsum erfolgt bei Kindern und Jugendlichen in der Regel über die legalen Drogen Alkohol und Tabak (vgl. Farke/Broekman 2002), zunehmend aber auch über Medikamente und Arzneimittel. Insbesondere hier ist der Übergang vom Gebrauch zum Missbrauch oft fließend und besonders schwer erkennbar (vgl. BMG 2008, 69; Glaeske 2003). Während kriminelles Verhalten in die Gruppe der konfliktorientierten, überwiegend nach „außen“ gerichteten Problemverarbeitungsweisen fällt, gehört der Drogenkonsum zu den nach „innen“ gerichteten, rückzugsorientierten Formen der Problemverarbeitung, gleichwohl Drogenkonsum als „demonstratives“ Verhalten durchaus auch eine nach außen gerichtete „Signalfunktion“ haben kann. Jugendliche, die auf Problemkonstellationen im Individuations- und Integrationsprozess mit dem Muster des „Drogenkonsums“ reagieren, wählen den Weg der Manipulation ihrer psychosomatischen Befindlichkeit. Mit psychotropen Substanzen versuchen sie sich in bessere Stimmungslagen zu versetzen und ihrer alltäglichen Lebenswelt mit künstlich geschaffenen „besseren“ Erlebniswelten zu entfliehen: „Drogenkonsum biete daher in dieser Lebensspanne für junge Menschen einen – gesellschaftlich nicht tolerierten – Ausweg, sich der Anforderung und Erwartung, die aus der Erwachsenengeneration an die Jugend herangetragen werden, zu entziehen“ (Jungblut 2004, 203). Drogenkonsum bei Jugendlichen (dies gilt für Kinder umso mehr) kann rasch zu einer „problematischen Form der Lebensbewältigung“ werden – dann, wenn Abhängigkeit und Sucht drohen und/oder wenn er beginnt eine produktive Weiterentwicklung der Persönlichkeit zu blockieren. Allerdings ist bei der Auseinandersetzung mit jugendlichem Substanzkonsum immer zu berücksichtigen, dass dieser zur Befriedigung vielfältiger alters- und entwicklungsbezogener sowie ereignis- und lebenslagenspezifischer Bedürfnisse beiträgt. Der Konsum von Drogen dient u.a. als: x
demonstrative Vorwegnahme des Erwachsenenverhaltens;
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x x x x x x x
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bewusste Verletzung von elterlichen Kontrollvorstellungen; Ausdrucksmittel für sozialen Protest und gesellschaftliche Wertkritik; ein „Instrument“ bei der Suche nach grenzüberschreitenden, bewusstseinserweiternden Erfahrungen und Erlebnissen; Zugangsmöglichkeit zu Freundesgruppen; Symbol für die Teilhabe an subkulturellen Lebensstilen; Mittel der Lösung von frustrierendem Leistungsversagen oder Notfallreaktion auf heftige psychische und soziale Entwicklungsstörungen.
Nur ein Teil dieser Funktionen kann von vorneherein im Sinne einer unproduktiven Bewältigung von Entwicklungsproblemen verstanden werden; gerade Rauchen und Alkoholkonsum sind auch gesellschafts- und kulturspezifische Status- und Reifesymbole und besitzen (schon immer) Initiationscharakter.Das Erlernen eines verantwortlichen Umgangs mit psychoaktiven Substanzen hat somit selbst den Charakter einer Entwicklungsaufgabe (vgl. Jungblut 2004, 205). Die zu diesen Zusammenhängen vorliegenden Studien (siehe z.B. Pinquart, M./Silbereisen 2002; Farke/Graß/Hurrelmann 2002; Kraus et al. 2004; BZgA 2004a, 2004b, 2004c; Richter 2005) legen eine große Breite und Vielfalt der subjektiven Motive und Bedürfnisse ihrer Konsumenten offen. Gleichzeitig zeigen sie, dass der Drogenkonsum oftmals fest in den alltäglichen Verhaltensmustern von Jugendlichen verankert ist. Das früheste Lernfeld für das Einüben des Umgangs mit Drogen ist dabei die Familie, und erst mit steigendem Alter orientieren sich Jugendliche an Gleichaltrigengruppen (Fuchs 2000; Richter 2005): Schon Kinder im Alter von sechs bis zehn Jahren entwickeln erste Vorstellungen über spezifische Charakteristika und Wirkungen von Alkohol und Tabak und über die kulturelle und soziale Wertung dieser Drogen (vgl. Dinh/Sarason/Peterson/Onstad 1995), die dann ihrerseits die Initiierung von Substanzkonsum Jahre später beeinflussen. So verwundert es auch wenig, dass Kinder von alkoholabhängigen Eltern als die größte Risikogruppe für die Entwicklung eigener Abhängigkeitsmuster gelten (vgl. Klein 2003, 18).
4.1
Nikotin
Die Zahl der Neueinsteiger ist wie die der rauchenden Jugendlichen insgesamt in den letzten Jahrzehnten deutlich geringer geworden. In der Altersgruppe der 12- bis 17-Jährigen ist der Anteil der Raucher in den letzten dreißig Jahren fast kontinuierlich zurückgegangen. Während im Jahre 1979 noch ein Drittel der
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männlichen (33,4%) und etwas mehr als ein Viertel der weiblichen (26,8%) 12bis 17-Jährigen die Angabe machten, dass sie gelegentliche oder ständige Raucher seien, trifft dies aktuell nur noch auf jeden siebten Jugendlichen (männlich = 14,7%; weiblich = 16,2%) dieser Altersgruppe zu. Damit hat sich die Raucherquote der Heranwachsenden in dieser Altersklasse bei beiden Geschlechtern in etwa halbiert und erreicht im Jahr 2008 einen historischen Tiefstand (vgl. BZgA 2008; siehe hierzu auch Kolip 2000; Müller 2000). Parallel hierzu ist der Anteil von Personen, die noch nie geraucht haben seit 1979 deutlich angestiegen und beläuft sich momentan auf 61,7% der männlichen und 59,4% der weiblichen 12- bis 17-jährigen Bevölkerungsgruppe. Diese insbesondere in den letzten Jahren zu beobachtende Verhaltensänderung ist nicht ausschließlich auf ein höheres Gesundheitsbewusstsein Jugendlicher zurückzuführen, sondern liegt wahrscheinlich primär in der Erhöhung der Tabaksteuer und der EC-Karten-Sicherung von Zigarettenautomaten begründet. Festzuhalten ist allerdings auch, dass zum einen mit zunehmendem Alter nach wie vor der Anteil von Raucherinnen und Rauchern steigt – in der Altersgruppe der 18- bis 25-Jährigen raucht fast die Hälfte aller Personen (männlich = 42%; weiblich = 44%) (vgl. BZgA 2009a) – und zum anderen der Konsum alternativer Tabakgenussmittel (wie etwa Shishas oder Bidis, aber auch selbst gedrehter Zigaretten) aufgrund verhältnismäßig geringerer Kosten an Attraktivität und Bedeutung bei einer wachsenden Anzahl von Jugendlichen gewonnen hat (vgl. Bornhäuser 2002, 69; BZgA 2005, 3; BZgA 2008, 10). Es bleibt abzuwarten, ob diese Entwicklung nur kurzfristig ist oder eine längerfristige Trendwende signalisiert und inwiefern lediglich eine Verschiebung bei der Produktwahl stattfindet – Jugendliche also, den Konsum nicht grundlegend aufgeben, sondern eventuell auf andere Stoffe ausweichen. Die Initiierung des Rauchens wird wesentlich von sozialen Einflüssen geprägt, wobei sowohl das familiale Umfeld, vor allem aber die gleichaltrigen Peers eine wichtige Rolle spielen (vgl. Fuchs 2000). Dabei handelt es sich jedoch nicht um einen nur passiven Beeinflussungsprozess, sondern man muss davon ausgehen, dass Jugendliche sich aufgrund bestimmter motivationaler Konstellationen, die vor allem mit Identitätssuche und „Imagebildung“ zu tun haben, die jeweiligen Freundesgruppen in denen spezifische Normen dominieren, durchaus aktiv aussuchen (vgl. Wetzstein et al. 2005; BZgA 2004a, 26ff.). D.h. also, dass sie im Sinne einer sozialen Selektion insbesondere jene Peers favorisieren, die eine vergleichsweise kompatible Einstellung zum Rauchen haben. Zudem wirkt das Rauchen im Interaktionsprozess als sozialer Verstärker (vgl. Lindenmeyer 2009, 10). „In der Konsequenz führen beide Mechanismen dazu, dass Jugendliche im Kreis ihrer Peergruppe in ihrem Rauchverhalten bestärkt werden und eine Raucheridentität entwickeln. Sie sind ab diesem Moment
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373
für rationale Argumente von Erwachsenenseite nur noch sehr bedingt erreichbar“ (ebd., 10). Lampert und Thamm (2007, 604) sind in der Lage auf der Grundlage der Daten des Kinder- und Jugendgesundheitssurveys dieses Phänomen auch empirisch zu belegen: 42,9% der 14- bis 17-jährigen befragten Mädchen und 44,9% der Jungen, die sich in Cliquen bewegen deren Mitglieder rauchen, greifen selbst regelmäßig zur Zigarette. Dagegen liegen die Prävalenzraten bei denjenigen, die Freundschaftsbeziehungen zu nichtrauchenden Personen unterhalten, bei 11,5% bzw. 7,8%. Ein weiterer wichtiger Einflussfaktor sind emotionale Regulationsprozesse, d.h., dass der Zigarettenkonsum nicht nur von Erwachsenen, sondern bereits von Jugendlichen als Mittel zur Entspannung und Befindlichkeitsverbesserung eingesetzt wird (vgl. Duymel 2004; BZgA 2006, 46) – besonders dort, wo vermehrt Stressereignisse und Belastungserleben durch die Schule oder die Familie auftreten. Eine Rolle bei der Initiierung wie bei der Habitualisierung spielen darüber hinaus anscheinend auch biologisch-genetische Faktoren im Sinne einer differentiellen Sensitivität für die physiologischen Effekte von Nikotin (vgl. Klein 2002). Erwähnenswert erscheint auch, dass der von unterschiedlichen gesundheitswissenschaftlichen Studien (vgl. z.B. Richter 2005) aufgezeigte direkte Einfluss sozialer Ungleichheit auf die Gesundheit und das Gesundheitsverhalten im Jugendalter auch im Bezug auf den Nikotinkonsum sichtbar wird: Jugendliche aus unteren sozialen Schichtgruppen präferieren den Konsum von Tabak häufiger als Gleichaltrige aus finanziell besser gestellten Elternhäusern (vgl. Harring/Palentien/Heyer 2009, 18ff.).
4.2 Alkohol Ein Rückgang der Konsumquoten lässt sich auch für den Alkohol konstatieren. Nach der Drogenaffinitätsstudie der BZgA (2009b) sind die Prävalenzraten für alle alkoholischen Getränkearten in den letzten fünfundzwanzig Jahren deutlich zurückgegangen. So hat sich unter den 12- bis 25-Jährigen der (mindestens) einmal wöchentliche Bierkonsum zwischen 1979 und 2008 von 38% auf 22% fast halbiert, die Raten für Wein sind von 17% auf 5%, die von Spirituosen von 9% auf 4% gesunken (vgl. BZgA 2009b, 19ff.). Auch ein zeitweiliger Trend des vermehrten Konsums von spirituosenhaltigen Alcopops hat sich nach Einführung einer Sondersteuer für diese Getränke eingestellt (vgl. BZgA 2007). Trotz dieses positiven Effekts und eines über eine längere Zeitdauer zu beobachtenden Rückgangs der Prävalenzraten für alkoholische Getränke muss gleichzeitig auch besorgniserregend darauf verwiesen werden, dass der Einstieg in den Alkoholkonsum heute relativ früh in der Lebensbiografie von Kindern und Jugendlichen
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Christian Palentien und Marius Harring
erfolgt: Jede bzw. jeder zweite Heranwachsende im Alter von 12 Jahren hat mindestens einmal in ihrem bzw. seinem Leben Alkohol getrunken und bereits die Hälfte aller 14-Jährigen hat erste Erfahrungen mit Trunkenheit gemacht (vgl. Kraus et al. 2004, 55). Zudem gibt es auch unter den jugendlichen Konsumenten nach wie vor relevante – vor allem männliche, in den letzten Jahren aber auch verstärkt weibliche – Subgruppen, die riskante Alkoholkonsummuster zeigen. Laut des Drogen- und Suchtberichts 2009 der Drogenbeauftragten der Bundesregierung hat sich im Zeitraum von 2000 bis 2008 insbesondere die Zahl der aufgrund von akutem Alkoholmissbrauch – im Zuge von so genanntem „Binge Drinking“ – ins Krankenhaus eingelieferten Kinder und Jugendlichen auf mehr als 20.000 jährlich registrierte Fälle mehr als verdoppelt (vgl. BMG 2009). Der gemeinschaftliche Rauschzustand mit Freunden im Kontext sogenannter „Flatrate-Partys“, die zwar in einigen Teilen Deutschlands verboten sind, aber in einer modifizierten Form nach wie vor bestehen, lösen offenbar einen besonderen Reiz zumindest auf einen Teil heutiger Jugendlicher aus. Mit einer aktuellen Studie des „Forschungsinstituts tiffs“ werden erstmalig Einflussfaktoren, Motivation und Anreize zum Rauschtrinken bei Jugendlichen untersucht. Die Forschungsergebnisse zeigen dabei auf, „dass Jugendliche überwiegend aus ,Spaßgründen’ trinken, aber es finden sich auch Hinweise auf Alkoholkonsum zur Bewältigung von Stress und von Problemen. Auffällig sind das frühe Einstiegsalter, die hohe Trinkfrequenz von großen Mengen meist ,harter’ Alkoholika sowie die daraus resultierende starke Toleranzentwicklung. Die Jugendlichen verfolgen beim Rauschtrinken das Ziel, einen ,kontrollierten Kontrollverlust’ zu erleben, bei dem der Verlust der Kontrolle mit negativen körperlichen und sozialen Folgen gerade vermieden werden soll [...] Rauschtrinken ist ein Gruppenphänomen (alleine wird nur selten getrunken), die Gruppe fungiert hier sowohl als Risiko- wie auch als Schutzraum“ (Stumpp/Stauber/Reinl 2009). Die Ausgangssituation für die Aufnahme des Alkoholkonsums ist zumindest teilweise mit den Ursachen für Tabakkonsum vergleichbar. So gibt es Parallelen bezüglich der Bedeutung des elterlichen sowie vor allem des Peereinflusses und auch Belastungs- und Versagenserleben scheint hier eine Rolle zu spielen (siehe Klein 2007; BZgA 2004b; BMGS 2003; Farke/Graß/Hurrelmann 2002). Eine genetische Komponente spielt hier wahrscheinlich eine noch größere Rolle als beim Rauchen. Bereits durch ältere Studien (siehe z.B. Kaprio et al. 1987; Prescott/Kendler 1999; Schuckit/Goodwin/Winokur 1972) scheint belegt zu sein, dass elterlicher Alkoholismus – über den Sozialisationseffekt hinaus – offensichtlich einen wichtigen ätiologischen Faktor für die Entstehung von Alkoholmissbrauch und -abhängigkeit darstellt (siehe hierzu auch Klein 2002, 44ff.). Immer wieder hat es Hinweise auf Selbstkonzeptprobleme bei alkoholmissbrauchenden Jugendlichen gegeben, allerdings stammen viele dieser empirischen
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Befunde aus Querschnittstudien, während einige Längsschnittuntersuchungen solche Zusammenhänge nicht bestätigen konnten, so dass diese Frage nach wie vor offen ist (zur Diskussion um diesen Punkt siehe Leppin 2000). Zu bestätigen scheint sich dagegen die Annahme einer frühkindlichen Prädisposition für Alkoholmissbrauch und -abhängigkeit, die sich u.a. durch emotionale Labilität, geringe Impulskontrolle, aggressives und antisoziales Verhalten („conduct disorder“) auszeichnet (vgl. Block/Block/Keyes 1988; Pulkkinen/Pitthauen 1994; Slutske et al. 1998). Tabak und Alkohol – so lassen sich diese Befunde zusammenfassen – sind eindeutig die verbreitetesten Drogen in unserem Kulturkreis. Obwohl sie legal sind, müssen sie daher als die gefährlichsten aller Drogen eingestuft werden: Mittel- und langfristig können sie zu Abhängigkeit führen, was vor allem im Fall des Alkoholkonsums mit psychovegetativen Störungen, Lern- und Konzentrationsproblemen und erheblichen Beeinträchtigungen und Blockierungen der weiteren Persönlichkeitsentwicklung einhergehen kann. Verantwortlich sind sie darüber hinaus langfristig – dies gilt für Rauchen und starken Alkoholkonsum – für massenhaft auftretende Gefährdungen der physischen Gesundheit wie HerzKreislaufstörungen und Krebskrankheiten. Geschätzt wird, dass etwa 50% der auftretenden Mortalität im Erwachsenenalter direkt auf verhaltensbezogene Faktoren des Jugendalters zurückgeht (vgl. Bornhäuser 2002, S. 68).
4.3 Illegale Drogen Die Drogenaffinitätsstudie (DAS) der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zeigt 2004, dass etwa ein Drittel (32%) der 12- bis 25-Jährigen eine lebenszeitbezogene Drogenerfahrung (Lebenszeitprävalenz) mit illegalen Drogen – hierzu zählen Cannabis, Amphetamine, Ecstasy, LSD, Kokain, Crack oder Heroin – gemacht haben. Historisch gesehen, ist nach konstanten Raten in den 1980er Jahren und zu Beginn der 1990er Jahre spätestens seit Mitte/Ende der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts der Anteil der Jugendlichen mit Drogenerfahrung kontinuierlich gestiegen und hat sich damit gegenüber 1979 (16%) bis heute verdoppelt (vgl. BZgA 2004c). Die EDPS-Studie, die auf einer repräsentativen Befragung von 11.043 Schülerinnen und Schülern des neunten und zehnten Jahrgangs aller Schulformen der Länder Bayern, Berlin, Brandenburg, Hessen, MecklenburgVorpommern und Thüringen basiert, bestätigt bereits für das Jahr 2003 die aktuell zu beobachtenden hohen Lebenszeitprävalenzraten von knapp 33% (vgl. Kraus et al. 2004). Geschlechtsspezifisch betrachtet, berichten mehr männliche (36%) als weibliche (29,5%) Jugendliche von einem zumindest einmaligen
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Konsum illegaler Substanzen (vgl. Kraus et al. 2004). Eindeutig am häufigsten war in dieser Stichprobe – wie auch in der Drogenaffinitätsstudie – die Erfahrung mit Haschisch/Marihuana: 30,6% der Befragten gaben an, Cannabis mindestens probiert zu haben (DAS: 31%). Die Prozentsätze für andere Substanzen sind demgegenüber in beiden Studien deutlich geringer. Die EDPS berichtet eine Lebenszeitprävalenz für Ecstasy von 4,4% (DAS: 4%), 2,8% für Kokain (DAS: 2%), 2,1% für Crack (DAS: 0,2%) und 1,0% für Heroin (DAS: 0,3%) (vgl. BZgA 2004c; Kraus et al. 2004). International gesehen unterscheiden sich deutsche Jugendliche damit kaum von ihren Altersgenossen im westeuropäischen Ausland. Zudem wird durch unterschiedliche Studien eine Annäherung der deutschen an die US-amerikanischen Drogenprävalenzwerte bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen dokumentiert (vgl. hierzu Kraus 2005; Abraham et al., 2002; Office of Applied Studies, 2001). Das durchschnittliche Einstiegsalter für Cannabis und Schnüffelstoffe liegt bei 16,4 Jahren, das für Ecstasy bei 17,3 Jahren, für LSD bei 17,1 Jahren, Kokain folgt mit 18,0 Jahren (vgl. BZgA 2004c, 18). Nach den ersten Ergebnissen der aktuellen Drogenaffinitätsstudie (2008, S. 12) bezeichnen sich 2,1% als regelmäßige Cannabis-Konsumenten (mindestens 10maliger Gebrauch im Jahr). Damit gelten die meisten der Jugendlichen als Probier- oder Gelegenheitskonsumenten, womit der illegale Drogenkonsum für den überwiegenden Teil der Heranwachsenden, wenn überhaupt, dann nur eine kurze Episode darstellt. Dennoch: Obwohl der größte Teil der Jugendlichen, der Haschisch/Marihuana konsumiert, hiermit seine „Drogenkarriere“ beendet, setzt eine Minderheit von ihnen diese Karriere fort: Zusätzlich zum Haschisch/Marihuana werden von diesen Jugendlichen oftmals „harte“ illegale Drogen konsumiert oder der Cannabiskonsum durch diese härteren Drogen ersetzt (vgl. Kraus 2005; Bachmann/Johnston/Malley 1990). Insgesamt kann davon ausgegangen werden, dass Erfahrungen mit einer Substanz den Konsum weiterer Drogen begünstigen. So erhöht Rauchen die Wahrscheinlichkeit für intensiveres Alkohohltrinken, häufige Alkoholräusche wiederum machen Cannabiskonsum wahrscheinlicher (vgl. Simon et al . 2004, 20; BzGA 2004c; Kraus et al. 2004), der wiederum eher zum Gebrauch anderer illegaler Drogen wie Ecstasy, LSD, Kokain oder Heroin führt, wobei sich die Wahrscheinlichkeit weiteren (und „härteren“) Konsums besonders dann erhöht, wenn bereits mehrere andere Substanzen genommen wurden (vgl. BzgA 2004c, 41ff.). Der Beginn des Konsums von Haschisch/Marihuana vollzieht sich in vielen Fällen im Sinne eines Probier- und Experimentierverhaltens. Ob es zu regelmäßigem Konsum und dann auch zum Transfer auf „härtere“ Substanzen kommt, hängt von Persönlichkeits- und Umweltfaktoren sowie biologischen und psychologischen
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Rahmenbedingungen für Suchtprozesse ab (vgl. Kraus/Semmler/Kunz-Ebrecht et al. 2004; Bilke 2005). Die Ausgangskonstellationen für die Aufnahme des Konsums von Haschisch – wie auch anderer illegaler Drogen – zeigen Parallelen zu denen des Alkoholmissbrauchs: Auch hier spielt eine familiäre Belastung mit Substanzstörungen wie der Konsum in der Peer-Gruppe eine Rolle (vgl. Greca 2008; Töppich 2005; Böhnisch 2002). Unter den betroffenen Jugendlichen finden sich auch sehr häufig solche, die tiefsitzende Familienkonflikte mit schweren Störungen der zwischenmenschlichen Beziehungen erlebt haben. Fragt man die Jugendlichen selbst nach ihren Gründen für den Drogenkonsum, so scheint neben Belastungserleben insbesondere „Neugier“ ein ausschlaggebender Faktor zu sein (vgl. Baumgärtner 2004). Gängig – und vor allem auffällig häufiger gegenüber der vorhergehenden Befragung von 1998 – waren in der Drogenaffinitätsstudie 2004 jedoch auch Motive, die sich auf den Wunsch nach Entspannung und Anhebung der Stimmung bezogen (vgl. BzgA 2004c). Immer wieder diskutiert worden ist auch die Rolle bestimmter Persönlichkeitsstrukturen wie depressiver Neurosen oder unsicher-labiler sowie ängstlichverschlossener Persönlichkeitsstrukturen, allerdings stellt sich angesichts der meist querschnittlichen Untersuchungen oft die Frage nach der Prä- bzw. Postmorbidität solcher Diagnosen (siehe auch oben zum Thema Alkohol), zudem eine „Drogenpersönlichkeit“ im engeren Sinne eher nicht nachweisbar scheint (vgl. Biliza/Schuhler 2007). Relativ gesichert scheint dagegen eine „Störungskontinuität“ im Lebenslauf: Ähnlich wie für Alkoholmissbrauch und -abhängigkeit gilt auch für anhaltenden Missbrauch illegaler Drogen, dass Kinder, die bereits sehr früh im Lebenslauf Verhaltensauffälligkeiten und -störungen gezeigt haben, vulnerabler zu sein scheinen (vgl. Pedersen/Mastekaasa/Wichstrom 2001). Während die große Mehrheit der Jugendlichen nur phasenspezifisch durch experimentellen Drogengebrauch – speziell im Kontext der Peer Group –auffällt, wobei dieser primär durch akute soziale Erfahrungen bedingt scheint, gelten etwa 10% der Population als hochbelastet. Hier ist davon auszugehen, dass der Missbrauch Symptom eines komplexeren kumulativen Störungsprozesses ist, der in der frühen Kindheit begonnen hat und über die Jugendzeit hinaus chronifiziert wird (vgl. Böhnisch 2002).
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Gesundheitsförderung im Jugendalter
Eine Vielzahl der Ursachen, die heute für den Drogenkonsum im Jugendalter benannt werden, zeichnen sich zumeist durch einen langandauernden Verlauf aus und haben ihre Wurzeln oftmals in Verhaltensdispositionen, Lebensweisen und -stilen, die teilweise bis in das Kindesalter zurückgehen.
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Gesellschaftliche Lebensbedingungen, gesellschaftlicher Wandel und darauf bezogene Verhaltensgewohnheiten und -optionen erweisen sich als zunehmend bedeutsam für die Gesundheitssituation Jugendlicher. Immer mehr setzt sich deshalb die Erkenntnis durch, dass sozialepidemiologische, sozialpsychologische, psychosomatische und medizinsoziologische Betrachtungsweisen nötig sind, um das rein biomedizinisch ausgerichtete Analysespektrum im Hinblick auf die Krankheitsentstehung und -vermeidung zu ergänzen (siehe hierzu bspw. Hurrelmann/Laaser/Razum 2006). Diese Betrachtung muss dabei neue Strukturen präventiv-gesundheitsvorsorglicher Konzepte einschließen, denn der bisherigen Gesundheitserziehung mit ihren traditionellen Zugangswegen über die Vermittlung rationaler Wissensbestände und Schadenswarnungen oder moralisierenden Ermahnungen ist es – wie das Beispiel der Suchtprävention zeigt – nicht gelungen, stabile Vorsorgeorientierungen und gesundheitsbewusstes Verhalten in den Lebensweisen von Jugendlichen zu verankern (vgl. Leppin 2001). Mit dem Stichwort Gesundheitsförderung werden in der interdisziplinären Diskussion verschiedene Maßnahmen der Verbesserung der Lebens- und Umweltbedingungen Jugendlicher bezeichnet. Gesundheitsförderung ist dabei nicht ausschließlich an medizinische Dienste und Versorgungseinrichtungen gebunden, vielmehr bemüht sie sich um die Motivierung möglichst breiter Bevölkerungskreise zur dauerhaften Teilhabe und Teilnahme an gesundheitsfördernden Maßnahmen (vgl. Kickbusch 2003). Gesundheitsförderung zielt nicht nur auf die Vermeidung und Verminderung gesundheitsriskanter Faktoren in der alltäglichen Lebenswelt und den damit verbundenen gesundheitsschädlichen Verhaltensstilen und Lebensweisen, sondern will explizit auch individuelle und kollektive gesundheitsprotektive Ressourcen fördern. Sie schließt dabei im umfassenden Sinne sowohl verhaltens- wie auch verhältnisbezogene Strategien ein, die Individuen sowie Institutionen und Organisationen unterstützen und befähigen sollen, gesundheitsriskante Potentiale zu erkennen und Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln, um hiermit individuell und kollektiv umzugehen. Strategien der Gesundheitsförderung müssen – wollen sie erfolgreich sein – an die subjektiven Einstellungen Jugendlicher ihrer Gesundheit gegenüber anknüpfen. Zwar wird der Gesundheit von Jugendlichen heute ein hoher Wert beigemessen, als Problem hat sie jedoch nur eine geringe oder gar keine Bedeutung. Jugendliche „Gesundheitskonzepte“ variieren je nach Alter und Geschlecht und sind bezüglich ihrer Formulierung und ihres Bedeutungsgehaltes für gesundheitsrelevante Verhaltensweisen abhängig von den schon gemachten Erfahrungen mit Gesundheitsbeeinträchtigungen an der eigenen Person oder in der näheren Umgebung.
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Für die meisten Jugendlichen ist Gesundheit eine Selbstverständlichkeit und ein nicht gefährdetes Potential. Als zentrales Entwicklungsproblem in dieser Altersphase kann der alltägliche Umgang mit dem Körper angesehen werden. Jedoch wird der Körper nicht nur lust- und erfahrungsbetont, sondern auch als unkontrollierbar und schwer nachvollziehenden Entwicklungsgesetzen gehorchend erlebt. Aufgabe von Programmen der Gesundheitsförderung sollte es deshalb sein, diese „Zwänge“ offenzulegen und zusammen mit Jugendlichen Lösungs- und Bewältigungsstrategien zu entwickeln. Dabei sollte die Förderung von solchen Lebensweisen und -gewohnheiten im Vordergrund stehen, die dem sozialen, psychischen und physischen Wohlbefinden zuträglich sind und den Selbstentfaltungsbedürfnissen der Jugendlichen gerecht werden. Dem starken Gegenwartsbezug der Jugendlichen muss Rechnung getragen werden. Da sie andere Sorgen als „Vorsorge“ haben, besitzt die Orientierung und der Hinweis auf die spätere Lebenserwartung und Lebensqualität für sie kaum Handlungsrelevanz. In einer ohnehin schon schwer planbaren Zukunft ist die Aneignung eines langfristig planenden Gesundheitshandelns kaum realistisch. Gesundheitsförderung, die sich an der Gegenwart der Lebenserfahrungen, an körperlicher Attraktivität und am aktuellen Wohlbefinden orientiert, kann hingegen erfolgreich sein. Das Bewusstsein zu schaffen, dass beispielsweise gesundheitsbewusstes Verhalten auch ganz aktuell positive Wirkungen (z.B. Vitalität, erhöhte Stressresistenz, Genussfähigkeit etc.) haben kann, scheint wirkungsvoller zu sein als die Warnung vor langfristigen Schädigungen. Anknüpfungspunkt sollten Erfahrungen und Erlebnisse von Lebensfreude und das Bestreben der Jugendlichen nach Selbständigkeit und Selbststeuerung sein. Risikoverhaltensweisen haben einen funktionalen Stellenwert im Leben und in der Bewältigung von Entwicklungsaufgaben von Jugendlichen. Problematisch ist hierbei, dass diese Risikoverhaltensweisen von Jugendlichen nur wenig mit Gesundheit in Verbindung gebracht werden: Viele Jugendliche sind nicht bereit, aus Vorsorgegründen auf die psychosoziale Funktionalität solcher Verhaltensweisen zu verzichten. Sollen Jugendliche zur Aufgabe oder Reduzierung dieses Verhaltens motiviert werden, dann müssen ihnen hierzu Alternativen geboten werden. Deshalb kommt allen Ansätzen Bedeutung zu, die Abenteuer, Spaß, Erlebnis und Selbstherausforderung in gesundheitsverträglicher Form anbieten (vgl. Coates et al. 1982).
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Der hohe Organisationsgrad unserer Gesellschaft steht dem Bedürfnis nach Ausdrucks- und Gestaltungschancen einer nicht restlos kalkulierbaren Entwicklung entgegen. Eine effektive Gesundheitsförderung für Jugendliche muss diese Impulse aufnehmen. Zu ihrer Zielsetzung gehört es, soziale und kulturelle Freiräume zur Verfügung zu stellen und darauf zu verzichten, Entwicklungsverläufe manipulieren zu wollen. Sie muss an den Bedürfnissen der Jugendlichen anknüpfen und mit ihnen Kompetenzen entwickeln, die zu einer gesunden und erfüllten Lebensweise führen (vgl. Pott 2005; Schmidt 2004). Die angesprochenen Programmprinzipien wurden in den letzten Jahren in verschiedenen Konzepten im Familien-, Kindergarten-, Schul- und Gemeindebereich und auch in breit angelegten Öffentlichkeitskampagnen über Massenmedien umgesetzt. Ziel ist dabei primär, unter den Stichworten „life skills“ und „soft skills“ (siehe hiezu auch Rohlfs/Harring/Palentien 2008) an den Kompetenzen und Ressourcen der Kinder und Jugendlichen anzusetzen, diese „stark zu machen“, um ihnen so die Bewältigung von Entwicklungsaufgaben auch ohne Rückgriff auf psychoaktive Substanzen zu ermöglichen. Dabei hat sich in einer ganzen Reihe von Evaluationsstudien gezeigt, dass diese neueren Ansätze im Gegensatz zu den traditionellen Präventionsbemühungen der siebziger, achtziger und zum Teil neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts durchaus erfolgreich zu sein scheinen (siehe z.B. Loss et al. 2004; BMG 2008). Dabei darf jedoch nicht vergessen werden – und das ist eine wesentliche Aufgabe der kommenden Jahre –, dass eine Stärkung der betroffenen Individuen nur ein Aspekt einer umfassenden Gesundheitsförderung sein kann, der immer auch begleitet sein muss von dem Versuch, die sozialen Settings, in denen diese Individuen sich bewegen, also vor allem Familie und Schule oder Arbeitsplatz, so zu beeinflussen, dass sie nicht ihrerseits gesundheitsschädigende Reaktionen als funktionales Verhalten provozieren.
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Einleitung
„Abdankung der Eltern“, so überschrieb Oswald (1980) – gleichwohl mit einem Fragezeichen versehen – seine empirische Studie, mit der das Ziel verbunden war, aus Elternsicht und aus der Perspektive der Jugendlichen selbst die vielfältigen Veränderungen zu beschreiben, die sich im Jugendalter in der Qualität und der Struktur der Beziehung von Jugendlichen und ihren Eltern zeigen. Mit der zuspitzenden Rede von einer „Abdankung der Eltern“ wird angeknüpft an die Vorstellung, in der Jugendphase sei die Phase des elterlichen Einflusses im Wesentlichen an ihr Ende gekommen. Die Eltern danken ab und überlassen nun anderen sozialen Einflussgrößen das Feld. Hier gelten die Gleichaltrigen als diejenigen, die den Eltern als zentrale soziale Bezuggröße den Platz streitig machen. Mit ihnen wird zunehmend mehr (von den Eltern nur bedingt kontrollierte und kontrollierbare) Zeit verbracht, sie sind diejenigen, an denen sich orientiert, was aus Sicht der Jugendlichen angesagt ist, sie werden zu einer wichtigen Quelle von psychosozialer Unterstützung und Anerkennung bei der Herausbildung einer eigenständigen Identität. Eltern geraten demgegenüber aus Sicht der Jugendlichen – so die Annahme eines solchen Konkurrenzmodells – zunehmend in die Rolle derjenigen, die „keinen Plan“ haben und die entweder durch ihre wohlmeinenden Ratschläge „nerven“ oder schlimmer noch durch elterliche Vorgaben die (freizeitbezogenen) Verselbständigungsprozesse der Jugendlichen einschränken. Wann Jugendliche aus der Disco wieder nach Hause kommen müssen, wie sie sich anziehen, wofür sie ihr Taschengeld ausgeben, wie viel Zeit und Energie sie für die Schule investieren, wie ihr Zimmer aussieht, mit wem sie ihre Freizeit verbringen, was sie dort tun (am Computer spielen, fernsehen!) bzw. nicht tun (lesen, Hausaufgaben machen!) sind dabei nur einige der häufigsten Konfliktthemen, die einen wesentlichen Teil der alltäglichen Kommunikation zwischen Jugendlichen und ihren Eltern ausmachen. Jugendliche beanspruchen zunehmend mehr Entscheidungsspielräume, in die die Eltern nicht mehr hineinregieren sollen.
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Diese in der Jugendphase zu beobachtenden Verselbständigungsbestrebungen der Heranwachsenden wurden bereits früh mit der (in einen Risikodiskurs eingebetteten) Abnahme des elterlichen (Erziehungs-) Einflusses bei steigender Bedeutung der Peers in Zusammenhang gebracht. So wies z.B. Riesman (1972) bereits in den 1950er Jahren auf die Gefahr hin, dass Jugendliche ihre soziale Anschlussfähigkeit in der Gleichaltrigengruppe verlieren, wenn ihre Eltern eine Orientierung an den elterlichen Vorgaben erzwingen. „Es liegt nicht mehr in ihrer [der Eltern, A.B.] Macht zu bestimmen, was Anständigkeit eigentlich sein soll; dies wird der Schule und den Zeitgenossen (peer group) überlassen“ (Riesman 1972, 61). Auch Margaret Mead (1970) hat mit ihrem Konzept der „kofigurativen Kultur“ darauf hingewiesen, dass in den beschleunigten Gesellschaften der Gegenwart nicht mehr die vorangehende Generation Orientierungspunkt für eine „Jugend ohne Vorbild“ sein könne, wie dies einer postfigurativen Konstellation entspräche, und sich stattdessen die Sozialisation wesentlich im Rahmen von Peerbeziehungen kofigurativ vollziehe. Im deutschen Sprachraum war es vor allem Tenbruck (1962), der die Herausbildung einer eigenständigen Jugendkultur mit der Vorstellung einer strukturellen Entmachtung der Familie in Zusammenhang brachte. Dieser Diagnose zufolge führe die Ablösung vom Elternhaus zu einer Verselbständigung der Jugend als gesellschaftlicher Teilkultur, die weitgehend zu ihrer eigenen Bezugsgröße werde und ihre Sozialisation in Eigenregie betreibe. Durch eine solche Isolierung der Jugendlichen in altershomogenen Peer Groups drohe so der Verlust der für den Erwerb der Erwachsenenrolle unverzichtbaren generationenübergreifenden sozialen Erfahrungsräume. Aus heutiger Sicht erscheinen diese Szenarien einer gestiegenen sozialisatorischen Rolle der Gleichaltrigen bei gleichzeitigem Bedeutungsverlust der Familie als zu wenig differenziert. Der Blick auf die Gleichaltrigen orientiert sich einseitig an der Vorstellung eines Risikopotentials, das dem Einfluss der Peers zugeschrieben wird: Sei es dadurch, dass die elterliche Erziehungsautorität unterlaufen werde und die Eltern als Stellvertreter der Erwachsenenwelt ihre Orientierungsfunktion einbüßen. Oder sei es dadurch, dass der Einfluss der Gleichaltrigen in Zusammenhang gesehen wird mit der Entwicklung riskanten oder abweichenden Verhaltens. Die peerbezogene Sozialisationsforschung lässt bis in die 1970er Jahre noch wenig Raum für die Vorstellung, dass die Gleichaltrigen für die psychosoziale Entwicklung auch eine wichtige Ressource darstellen. Eine mangelnde Differenzierung dieser älteren Ansätze wird auch daran erkennbar, dass nicht danach gefragt wird, bei welchen Teilgruppen von Jugendlichen eine Hinwendung zu den Gleichaltrigen mit einer (wie auch immer zu bestimmenden) Abwendung von der Herkunftsfamilie korrespondiert und
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welche Gefährdungspotentiale hier möglicherweise resultieren (differentielle Entwicklungsverläufe im Jugendalter). Auch wird nicht genauer unterschieden, in welchen Bereichen jugendlicher Alltagswelt sich hier die Einflusssphären von Eltern und Peers verschieben (bereichsspezifische Relevanz von Eltern und Peers). Es ist das Verdienst späterer empirisch fundierter Studien, die ein differenzierteres Bild hinsichtlich der Verhältnisbestimmungen von Familie und Peers als zentrale Sozialisationsinstanzen der Jugendphase zeichnen. Vor allem die 20 Jahre umfassende Längsschnittuntersuchung von Fend (1998) stellt für den deutschsprachigen Raum wichtige Daten bereit, auf die in diesem Beitrag Bezug genommen wird. Bevor aber genauer auf diese, auf der Befragung von 1800 11- bis 17-jährigen Jugendlichen basierende Studie zu den sich verändernden Beziehungen zu Eltern und Gleichaltrigen eingegangen wird, soll zunächst in einigen wesentlichen Punkten thematisiert werden, anhand welcher strukturellen Dimensionen sich die sozialisatorischen Prozesse und Wirkungen von Peerbeziehungen im Vergleich zur familialen Interaktionsstruktur bestimmen lassen. Dabei sind zwei notwendige Differenzierungen zu beachten. Es ist mittlerweile üblich, auch in der deutschsprachigen Literatur von „Peers“ zu sprechen, wenn von den Gleichaltrigen die Rede ist. Mit diesem Sammelbegriff „Gleichaltrige“ sind aber ganz unterschiedliche soziale Konstellationen angesprochen. Diese variieren zum einen hinsichtlich ihrer Anzahl (hetero- oder auch homosexuelle Zweierbeziehungen, platonische „beste“ Freundin oder Freund oder aus mehreren Jugendlichen bestehende Gruppierungen in Form von Cliquen) und zum anderen hinsichtlich der Nähe und Verbindlichkeit der Peerbeziehungen, zu denen enge Freundschaften ebenso gezählt werden wie die MitschülerInnen in der eigenen Klasse. Dieser Heterogenität ist Rechnung zu tragen, wenn von „den“ Peers die Rede ist. Ein weiteres Problem ergibt sich aus der Gegenstandsbestimmung „Peers und Familie“, wie sie häufig in der einschlägigen Literatur und auch im Titel dieses Beitrags zu finden ist. Eine solche Bezeichnung legt nahe, dass hier jeweils unterschiedliche und voneinander unabhängige Lebensbereiche von Jugendlichen adressiert würden. Bei einer solchen Gegenüberstellung wird aber übersehen, dass die Geschwister von Jugendlichen hier eine sehr wichtige Teilmenge bilden. Sie sind einerseits Bestandteil des familialen Systems und gehören gleichzeitig aber auch zum annähernd gleichaltrigen sozialen Bezugssystem von Jugendlichen. Um hier unnötige Vermischungen zu vermeiden, beziehen sich die nachfolgenden Ausführungen auf außerfamiliale Peers einerseits und Eltern als zentrale Akteure des familialen Alltags andererseits. Aber nicht nur aus diesem Grund erscheint eine antagonistische Gegenüberstellung von Familie bzw. Eltern und Peers wenig weiterführend. Wie wir sehen werden, stehen beide
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sozialen Bezugsgrößen in einer deutlichen Wechselwirkung zueinander. Das ändert aber nichts daran, dass sich im Kern unterschiedliche Beziehungs- und Interaktionslogiken für diese beiden zentralen Instanzen der Sozialisation im Jugendalter aufzeigen lassen.
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Strukturelle Unterschiede von Eltern-Kind- und Peer-Beziehungen
Schaut man auf die sprachliche Herkunft des Begriffs „peer“ (er hat seinen Ursprung im lateinischen „par“, was soviel heißt wie „gleich“, „ebenbürtig“), dann wird deutlich, dass es weniger das gemeinsame Lebensalter ist, das die Peers miteinander verbindet, sondern das für die Austauschprozesse konstitutive Prinzip der Gleichrangigkeit. Für die Peer-Interaktion ist demnach wesentlich, dass hier zumindest idealtypisch Gleiche unter Gleichen zusammentreffen, die sich in Wissen, Können, Entscheidungsbefugnis usw. nicht prinzipiell unterscheiden. Bereits Piaget (1972, 72) hat auf die wichtige Rolle der Peer-Interaktion für die sozio-kognitive Entwicklung des Kindes hingewiesen. Diese ergebe sich daraus, dass der Gleichaltrige „auf demselben Niveau steht und nicht wie ein überlegener Erwachsener in das Innere der Wünsche oder in die Perspektive des eigenen Denkens eindringt“. Weniger in den von Machtasymmetrien geprägten Beziehungen zu Erwachsenen bzw. den Eltern, sondern – so Piaget – in der gleichberechtigten Auseinandersetzung mit Gleichaltrigen entwickelt sich die Möglichkeit gegenseitigen Verstehens, ein Verständnis für Regeln wie auch eine autonome moralische Urteilsfähigkeit (siehe dazu ausführlich Youniss 1980). Tabelle 1: Struktur von Eltern-Kind-Beziehungen und Peer-Beziehungen Formeller Rollenstatus Beginn Ende Zielrichtung Sanktionsmöglichkeiten Zeitperspektive Körperbeteiligung
Eltern-Kind-Beziehungen
Peer-Beziehungen
„ascribed“ (gegeben)
„achieved“ (aufgegeben)
für die Kinder vorgegeben
von Kindern und Jugendlichen selbst initiiert auflösbar keine Zielvorgaben – sie können sich im Laufe der Beziehung ergeben Drohung, die Beziehung zu beenden sozialer Ausschluss
unkündbar Erwartungen und Ziele auf der Seite der Eltern formale Rechte der Verweigerung von Privilegien Missbilligungsform: Liebesentzug lebt aus der Vergangenheit, Beendigung ist die Langzeitperspektive auf biologische Distanz bedacht, körperdistanzierend
Quelle: Fend 2003, 306
lebt auf Zukunft, Verdichtung der Beziehung ist die Langzeitperspektive auf Steigerung der biologischen Attraktivität und Nähe bedacht
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Mit den Aspekten der Gleichrangigkeit und Gleichaltrigkeit sind zwei grundlegende Dimensionen der Peer-Interaktion angesprochen, die im Vergleich zu Eltern-Kind-Interaktionen differente Erfahrungsräume konstituieren. Fend (2003, 306) hat in einer Übersicht weitere zentrale strukturelle Unterschiede von Eltern-Kind-Beziehungen im Vergleich zu sozialen Beziehungen unter Gleichaltrigen herausgestellt. Entlang verschiedener Dimensionen wie zeitlicher Strukturierung, sozialer Regulierung oder der sich verändernden Bedeutung von Körperlichkeit wird hier eine grundlegende strukturelle Differenz der sozialen Beziehungsgefüge betont, die – so die Annahme – zu prinzipiell unterschiedlichen Erfahrungsräumen und Interaktionslogiken in der ElternKind-Interaktion einerseits und den Beziehungserfahrungen unter Gleichaltrigen andererseits führen. Gleichwohl lassen sich auch Gemeinsamkeiten der familien- und peerbezogenen Beziehungsstrukturen benennen. So weist etwa Schröder (2006, 189) darauf hin, dass es sich sowohl bei familialen als auch bei Peerbeziehungen um diffuse Sozialbeziehungen handelt, die sich nicht nur auf bestimmte Fähigkeiten oder Eigenschaften einer Person richten, sondern auf die gesamte Person und so ihre Nicht-Austauschbarkeit begründen. Die Feststellung, dass man sich die (Herkunfts-)Familie im Gegensatz zu seinen Freunden nicht aussuchen könne, birgt für die Peer-Interaktion vielfältige Implikationen. Peerbeziehungen, vor allem, wenn sie den Charakter von (gewählten) Freundschaftsbeziehungen haben, müssen von den Jugendlichen selbst initiiert und aufrechterhalten werden. Sie selbst müssen durch ihr Interaktionsverhalten sicherstellen, dass sie in der Gleichaltrigengruppe auf Akzeptanz stoßen, da ansonsten die Beendigung der Beziehung droht. „Unterstützung und Stärkung der Identität stützen sich gerade darauf, dass man einen anderen Menschen für sich gewonnen hat, der frei ist, sich auch abzuwenden“ (Krappmann 1993, 49). In der Beziehung zu den Eltern drohen bei unerwünschten Verhaltensweisen zwar auch Sanktionen, die unterschiedlichste Formen annehmen können. Allerdings reichen diese in der Regel nicht so weit, dass es zu einem Abbruch der Beziehung kommt: bis zur Erreichung der Volljährigkeit gilt die Pflege und Erziehung der Kinder als eine verfassungsrechtlich in Art. 6 Abs. II Satz 1 Grundgesetz (GG) fixierte zuvörderst den Eltern obliegende Pflicht, die diese nicht so ohne weiteres negieren können. Peerbeziehungen basieren hingegen ganz überwiegend auf dem Prinzip der Freiwilligkeit der Vergemeinschaftung. Das heißt mit anderen Worten, dass die Jugendlichen sich ihre Beliebtheit oder auch Akzeptanz unter den Gleichaltrigen als eigenes Verdienst zuschreiben können. Auch aus diesem Grund spielt die Anerkennung in der Gleichaltrigengruppe eine so zentrale Rolle, inklusive der ungünstigen Folgen, die eine „peer rejection“ mit sich bringen kann (Oswald 2008, 325).
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In diesem Zusammenhang ist auch von Bedeutung, dass Beziehungen unter Gleichaltrigen in stärkerem Maße als die Eltern-Kind-Beziehung durch Informalität des Zusammenschlusses gekennzeichnet sind. Das heißt, dass hier weniger auf vordefinierte Rollenerwartungen und Verhaltensstandards zurückgegriffen werden kann. Die Jugendlichen müssen eigenständig innerhalb der symmetrisch-reziproken Peerbeziehungen z.B. aushandeln, welche Verhaltensweisen „gar nicht gehen“ oder aber „cool“ sind. Youniss (1994, 47) hat diese Abstimmungsprozesse als Ko-Konstruktion von sozialen und kulturellen Standards beschrieben, die für die Autonomieentwicklung in der Jugendphase eine zentrale Rolle spielen. Allerdings findet sich eine solche ko-konstruktive Interaktionsstruktur nicht ausschließlich in Peerbeziehungen. So zeigen die von Youniss und Smollar (1985) durchgeführten Befragungen von 12- bis 20-jährigen Jugendlichen zu ihren Interaktionen mit Freunden und mit ihren Eltern auch, dass mit zunehmendem Alter der Heranwachsenden eine unilateral-komplementäre Struktur der Eltern-Kind-Beziehung überwunden wird. Es sind nun nicht mehr einseitig die Eltern, die Regeln vorgeben und deren komplementäre Einhaltung durch die Kinder erwarten. Die befragten Jugendlichen berichten von zunehmend größeren Freiheitsspielräumen, die ihnen durch die Eltern eingeräumt werden. Gleichzeitig nehmen sie ihre Eltern als Autoritätspersonen wahr, die bestimmte Verhaltensstandards vorgeben und auf deren Einhaltung Wert legen. Diese aus den 1980er Jahren stammenden Befunde weisen bereits darauf hin, dass sich die Beziehungsqualität zwischen Jugendlichen und ihren Eltern zunehmend in Richtung stärker ausgewogenerer Machtbalancen verschoben haben. In einer neueren Studie zu den Partizipationsmöglichkeiten von Jugendlichen zwischen 12 und 18 Jahren (vgl. Fatke/Schneider 2005, 61ff.) zeigt sich, dass die Befragten insgesamt mit ihren Mitbestimmungsmöglichkeiten in der Familie zufrieden sind. Nach eigenen Angaben werden sie bei gut vier Fünftel der vorgegebenen Themen in die Entscheidungsfindung einbezogen, wobei allerdings die Eltern aus Sicht der Jugendlichen dann weniger Mitsprache zulassen, wenn es um Themen geht, bei denen die Eltern unmittelbar tangiert sind, wie etwa bei der Höhe des Taschengelds (im Gegensatz zur Verwendung des Taschengelds oder der Frage, wie es im eigenen Zimmer der Jugendlichen aussieht). Nicht zuletzt wegen der gestiegenen Aushandlungsbereitschaft auf Seiten der Eltern kann heute von einem grundlegenden innerfamilialen Generationenkonflikt in der Jugendphase keine Rede mehr sein (vgl. Ecarius 2002, 531).
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Die Qualität der Eltern-Kind-Beziehung als Kontext der Peerbeziehungen
Die Shell-Jugendstudien der letzten Jahrzehnte bieten die Möglichkeit, für einen längeren Zeitraum die Entwicklung der Beziehung zu den Eltern aus Sicht von Jugendlichen nachzuzeichnen. Nimmt man das Einverständnis der Jugendlichen mit der elterlichen Erziehungspraxis als einen Indikator für die wahrgenommene Beziehungsqualität zu den Eltern, dann zeichnet sich insgesamt über die Jahrzehnte eine deutlich positivere Einschätzung der Jugendlichen ab. Konnten sich 1985 nur gut die Hälfte der Befragten vorstellen, die eigenen Kinder genauso oder ungefähr so zu erziehen, wie sie selbst erzogen wurden, so zeigen die neueren Shell-Studien von 2000, 2002 und 2006, dass sich dieser Anteil bei gut 70% eingependelt hat (vgl. Langness/Leven/Hurrelmann 2006, 58). Auch wenn man die Jugendlichen direkt nach ihrem Verhältnis zu den Eltern befragt, geben 38% an, bestens miteinander auszukommen und weitere 52% der 12- bis 25-Jährigen kommen mit ihren Eltern „klar“, auch wenn es gelegentliche Meinungsverschiedenheiten gibt. Diese Hinweise auf ein ganz mehrheitlich als positiv beschriebenes Verhältnis zu den Eltern sollen jedoch den Blick darauf nicht verstellen, dass nicht alle Jugendlichen in gleicher Weise von dieser psychosozialen Ressource „Eltern“ profitieren können. So zeigt sich, dass Mädchen und junge Frauen ein insgesamt harmonischeres Bild zeichnen. Vor allem ist es aber die Sozialschichtzugehörigkeit, die einen Zusammenhang mit der wahrgenommenen Qualität der Eltern-Kind-Beziehung aufweist: nur ein Fünftel der sozial benachteiligten Jugendlichen geben im Vergleich zu fast der Hälfte der Jugendlichen aus der Oberschicht an, bestens mit ihren Eltern auszukommen. Hinzu kommt, dass diese Ergebnisse auf der Gesamtstichprobe der 12- bis 25-jährigen Jugendlichen basieren, also auch diejenigen umfasst, die bereits aus dem Elternhaus ausgezogen sind. Dass dadurch ein insgesamt zu positives Bild gezeichnet wird, zeigt der Befund, dass fast die Hälfte derjenigen, die bereits das Elternhaus verlassen haben, aber nur gut ein Drittel derjenigen, die noch bei den Eltern wohnen, angeben, bestens mit ihren Eltern auszukommen (vgl. Langness/Leven/Hurrelmann 2006, 60).1 1 Hier spielt eine wichtige Rolle, wie sich das Auszugsverhalten junger Erwachsener in den letzten Jahrzehnten verändert hat. Häufig wird angenommen, dass es infolge der verlängerten Ausbildungszeiten zu einem längeren Verbleib im elterlichen Haushalt gekommen sei. So wohnen nach den Daten der 15. Shell-Jugendstudie 76% der männlichen und 67% der weiblichen Jugendlichen im Alter von 12-25 Jahren noch bei ihren Eltern (vgl. Langness/Leven/Hurrelmann 2006, 64). Huinink/Konietzka (2004) zeigen hingegen, dass sich in einem Kohortenvergleich eine Verzögerung des Auszugs und eine Erhöhung des Auszugsalters empirisch nicht zeigen lassen. Unabhängigkeit davon
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Dies deutet darauf hin, dass offensichtlich der gemeinsame familiale Alltag doch in stärkerem Maße von Reibereien zwischen Jugendlichen und ihren Eltern bestimmt ist, als dies die Ergebnisse der Shell-Jugendstudien auf den ersten Blick vermuten lassen. Ein Befund, der von Fend (2003, 292) bestätigt wird: der Anteil der Jugendlichen, die angeben, sich zu Hause „sehr wohl“ zu fühlen beträgt bei den 12-Jährigen 65% und sinkt in der Alterentwicklung kontinuierlich ab. Von den 16-Jährigen sind es nur noch gut ein Drittel, die zu einer solchen Einschätzung kommen, wobei hier – im Gegensatz zu den Ergebnissen der 15. Shell-Jugendstudie – die Mädchen bzw. die jungen Frauen seltener ein solches Wohlbefinden zum Ausdruck bringen. Dies ändert jedoch nichts daran, dass Jugendliche insgesamt ihre Mütter als wichtigste Ansprechpartnerin in der Familie wahrnehmen, wie Hölscher (2003, 129) in ihrer Befragung von gut 750 GesamtschülerInnen im Alter von 12 bis 16 Jahren zeigte. So geben fast zwei Drittel der Mädchen (62,8%), aber nur gut die Hälfte der Jungen (53,5%) an, ihrer Mutter oft oder immer zu erzählen, wo sie ihre Freizeit verbringen. Wenn es aber um Dinge geht, die die Jugendlichen besonders beschäftigen, fällt der Anteil geringer aus. Dies kann als Hinweis gesehen werden, dass die Bedeutung von Eltern als Gesprächspartner nicht unabhängig von den Themen zu werten ist, um die es geht. Zudem wäre interessant, wie sich diese Ressource in der Altersentwicklung darstellt. Entsprechende Befunde liefert Fend (2003, 293). Interessant sind hier die Ergebnisse zu der Frage, an wen sich die Jugendlichen wenden, wenn sie Probleme mit sich selbst bzw. Probleme mit anderen haben oder aber Orientierung in politischen Fragen suchen. Bezogen auf die hier interessierenden potentiellen Gesprächspartner Vater/Mutter oder gleich- oder gegengeschlechtliche Freunde lässt sich für die beiden erstgenannten Problemlagen ein klares Muster erkennen. In der untersuchten Altersspanne 13 bis 16 Jahre nimmt der Anteil der Jugendlichen, die Rat bei ihren Eltern suchen, kontinuierlich ab. Gegengeschlechtliche Freunde gewinnen hingegen als Gesprächspartner kontinuierlich an Bedeutung hinzu, was sicherlich damit in Zusammenhang zu sehen ist, dass mit fortschreitendem Alter ein zunehmend höherer Anteil an Jugendlichen eine „feste Beziehung“ eingeht.
kann aber als zentrale Rahmenbedingung heutigen Aufwachsens eine Diskrepanz zwischen einer fortgesetzten räumlichen und materiellen Abhängigkeit einerseits und den sich zeitlich nach vorne verlagernden sozialen Verselbständigungsprozessen durch Hinwendung zu den Gleichaltrigengruppen andererseits beobachtet werden.
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Abbildung 1: Themenspezifische Wahl von Bezugspersonen als Ansprechpartner bei Problemen vom 12. bis zum 16. Lebensjahr
Quelle: Fend 2003, 293
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Diese Erweiterung des Peer-Netzwerkes geht dabei jedoch nicht zu Lasten der gleichgeschlechtlichen FreundInnen. Diese bleiben bei Problemen mit sich selbst und Problemen mit anderen als Anlaufstellen weitgehend unverändert erhalten. Ein ganz anderes Bild zeigt sich, wenn es um politische Fragen geht. Hier sind die Eltern der Jugendlichen ganz unangefochten die wichtigsten AnsprechpartnerInnen, auch wenn in der Altersentwicklung der Anteil der Jugendlichen, der sich in politischen Fragen an die Eltern wendet, leicht absinkt. Dass Jugendliche sich also in ihrer politischen Orientierungssuche offenbar bevorzugt an ihre Eltern halten, heißt aber keineswegs, dass sie deren politische Einstellungen teilen. Wie Schmid (2004, 26) zusammenfassend feststellt, findet sich im Gegenteil eine überraschend geringe Übereinstimmung in politischen Fragen zwischen Eltern und ihren Heranwachsenden. In ihrer eigenen empirischen Untersuchung zu der Frage, welche Bedeutung das Elternhaus, Gleichaltrige, Schule und Massenmedien für die Entwicklung des politischen Interesses von Jugendlichen haben, kommt sie zu dem Ergebnis (allerdings nur für die neuen Bundesländer), dass männliche Jugendliche eher dazu tendieren, ihr politisches Interesse über Massenmedien und über die Auseinandersetzung im Schulunterricht zu entwickeln, während weibliche Jugendliche sich stärken an den nahen sozialen Bezugssystemen orientieren. Ein anderer Bereich, in dem sich Jugendliche eher an ihren Eltern und deren Rat ausrichten, ist die Frage der eigenen schulischen/beruflichen Zukunft. Wenn es um die Klärung der Frage geht, wie sich die schulische Situation/weitere Laufbahn der Jugendlichen gestaltet oder um die Berufswahlorientierung, kommt den Eltern aus Sicht der Jugendlichen eine zentrale Orientierungsfunktion zu. Dies hat Noack (2002) zum Ausgangspunkt genommen, wenn er den Peers in erster Linie eine horizontale, d.h. gegenwartsbezogene Funktion zuweist, während den Eltern eine vor allem vertikale, d.h. zukunftsbezogene Funktion zugeschrieben wird.
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Die Rolle von Eltern und Peers im Spannungsfeld von Freizeitmoratorium und Bildungsmoratorium
Die von Eltern zugestandenen autonomen Entscheidungs- und Gestaltungsspielräume im Freizeitbereich und eine insgesamt gestiegene Freizeitorientierung bilden eine wichtige Rahmenbedingung des Heranwachsens von Jugendlichen in der Gegenwartsgesellschaft. Gleichzeitig finden wir eine zeitlich ausgedehnte Einbindung in das Schul- und Ausbildungssystem und eine gestiegene Bedeutung schulischen Erfolgs für die späteren gesellschaftlichen Platzierungschancen von Jugendlichen. Nicht nur aus diesen Gründen können Schule und (mit den
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Peers verbrachte) Freizeit als zwei zentrale Referenzpunkte des Heranwachsens heutiger Jugendlicher gelten. Reinders (2006) hat in diesem Zusammenhang zwei Modelle von Jugend unterschieden, in denen den Eltern bzw. den Gleichaltrigen ein unterschiedliches Gewicht zukommt: Zum einen skizziert er (auf die wichtigen Beiträge Zinneckers zurückgreifend) Jugend als Bildungs-Moratorium, in dem der Erwerb von Bildung(stiteln) und die Vorbereitung auf den Erwachsenenstatus im Vordergrund stehen. Zum anderen wird Jugend als Freizeit-Moratorium gekennzeichnet, in dem die zur Verfügung stehende freie Zeit und die von den Heranwachsenden praktizierte freizeitbezogene Gestaltungsautonomie eine zentrale Rolle spielen. Diese Modelle von Jugend stehen – so die Annahme – in einem wechselseitigen Konkurrenzverhältnis, das sich wesentlich aus der Differenz des in ihnen jeweils angelegten Zeitbezugs ergibt. Während im Modell des Bildungs-Moratoriums Jugend als ein auf die Zukunft ausgerichteter Lebensabschnitt mit der Zielperspektive eines gelingenden Übergangs in den Erwachsenenstatus und die in diesem Zusammenhang nötigen Bildungsinvestitionen konzeptualisiert wird, wird Jugend im Modell des Freizeit-Moratoriums als eine Lebensphase modelliert, die darauf ausgerichtet ist, über gemeinsame Aktivitäten mit den Peers den Freizeit(waren)markt zu nutzen, um Erlebnisorientierung im Hier und Jetzt realisieren zu können. Versucht man diese als Bildungs- und Freizeit-Moratorium gefassten Modellüberlegungen auf empirische Füße zu stellen, wie dies Reinders (2006, 161ff.) getan hat, dann ergibt sich aus dem jeweiligen Stellenwert von einerseits bildungsbezogenen und andererseits freizeitbezogenen Orientierungen ein VierFelder-Schema, das vier Typen von Jugendlichen unterscheidet: Der Typus der Assimilation umfasst die Heranwachsenden, deren vorrangige Zeitperspektive auf Zukunft und Übergang ausgerichtet ist und denen schulische Leistungen und die Orientierung an den Eltern wichtig sind. Demgegenüber beschreibt der Typus der Segregation Jugendliche, die ihre Lebensorientierung an der Maximierung von Wohlbefinden ausrichten und in diesem Zusammenhang den Freizeitaktivitäten und den Gleichaltrigen einen hohen Stellenwert beimessen. Der Typus der Integration umfasst – wie die Bezeichnung bereits nahe legt – Jugendliche, die versuchen die Bedeutung schulischen Lernens für die Zukunft mit dem Wunsch nach Wohlbefinden und gegenwartsbezogener Erlebnisorientierung durch Freizeitaktivitäten und mit Freunden zu verbinden, während die Heranwachsenden des Typus Diffusion keine klare Ausrichtung an einem der beiden Jugendmodelle erkennen lassen: weder die Vorbereitung auf die Zukunft noch das Ausleben von Bedürfnissen in der Gegenwart wird als besonders wichtig attribuiert.
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Tabelle 2: Merkmale des Bildungs- und des Freizeit-Moratoriums
Zeitorientierung Bezugssysteme
Bildungs-Moratorium Übergang in den Erwachsenenstatus (Transition) Zukunft Eltern, Lehrer (Erwachsene)
Generationenverhältnis Wertpräferenzen Handlungsvalenz
Postfigurativ Leistung Schulisches Lernen
Biographische Orientierung
Freizeit-Moratorium Verbleib in der Jugendphase Gegenwart Freunde, Peers (Jugendliche) Ko-, Präfigurativ Wohlbefinden Freizeitaktivitäten
Quelle: Reinders 2006, 99
Unterzieht man dieses Modell einer empirischen Überprüfung mithilfe einer Wiederholungsbefragung mit einjährigem zeitlichen Abstand, so kann Reinders (2006, 162ff.) zwar einerseits zeigen, dass die jeweilige Relevanz, die Jugendliche den Eltern und den Peers zuweisen, in der Lage ist, die jeweilige biographische Orientierung (Übergang in den Erwachsenenstatus vs. Verbleib in der Jugendphase) vorherzusagen, allerdings gilt dieser Zusammenhang auch – wenngleich schwächer – in umgekehrter Richtung, so dass der Autor schlussfolgert, dass der Zusammenhang von biographischen Orientierungen und der zugewiesenen Bedeutung von Freunden und Eltern bei Entscheidungen und Handlungen eher einer situationalen Kovarianz entspricht, bei der zeitgleiche Aushandlungen dominieren (Reinders 2006, 186). Wie vom Modell vorhergesagt, unterscheiden sich die vier Typen in erwarteter Weise in der Frage, inwieweit die Jugendlichen sich an Eltern oder Peers als „Standardsetzer“ orientieren. Allerdings wird durch die Typenzugehörigkeit nur ein sehr geringer Anteil der Varianz aufgeklärt, so dass insgesamt von eher moderaten Zusammenhängen auszugehen ist. Es wird also deutlich, dass die Bedeutung von Eltern und Peers für die Entwicklung von Jugendlichen nur bereichsabhängig zu bewerten ist. Zu diesem Ergebnis kommt auch Gardner (1998), wenn er diese beiden wichtigen Sozialisationskontexte als komplementär kennzeichnet. Eltern kommt eine große Bedeutung zu, wenn es um Bildung und Ausbildung, Disziplin, Verantwortung, Ordnung, Hilfsbereitschaft und die Art des Umgangs mit Autoritätspersonen geht. Peers hingegen spielen eine wichtigere Rolle beim Erwerb von kooperativen, auf wechselseitige Abstimmung ausgerichteten Handlungsressourcen. In Peer-Netzwerken wird gelernt wie man unter Gleichaltrigen soziale Akzeptanz schafft und welche interaktionsbezogenen Verhaltensweisen in diesem Zusammenhang hilfreich sind. Die Heranwachsenden, so Gardner zusammenfassend, mögen ihre Freunde vielleicht interessanter finden, verlassen sich aber auf ihre Eltern, wenn es um ihre Zukunft geht.
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Dass dabei aber Peers und Familie nicht als unabhängige oder gar Gegenwelten wirksam werden, darauf verweist ein weiteres Ergebnis der Studie von Reinders (2006, 195), wonach bei allen vier unterschiedenen Typen eine Annäherung der von Eltern und Peers gesetzten Standards zu beobachten ist. Die eltern- und peerbezogenen Erwartungen entwickeln sich also entgegen der landläufigen Annahme nicht auseinander. Besonders stark zeigte sich eine solche Annäherung bei den Jugendlichen des Typus „Assimilation“ bezogen auf Fragen der Berufsvorbereitung. Die beobachtete Angleichung wird zum einen mit Anpassungsprozessen der Eltern an die Freunde ihrer Kinder erklärt und zum anderen damit in Zusammenhang gesehen, dass die Jugendlichen selbst die Wahl ihrer Peers stärker an den Erwartungen der Eltern orientieren. In diesen Ergebnissen deutet sich bereits an, dass Jugendliche ihre peerbezogenen Beziehungen nicht völlig unabhängig von den Einflüssen der Eltern ausgestalten.
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Die Peers der Jugendlichen aus Sicht ihrer Eltern
Eltern legen in aller Regel großen Wert darauf zu wissen, mit welchen Gleichaltrigen ihre heranwachsenden Söhne und Töchter ihre Freizeit verbringen. Den Hintergrund bildet hier die Sorge auf Seiten der Eltern, dass ihre Kinder durch „falschen Umgang“ auf Abwege geraten könnten, wobei hier nicht gleich und nur an die Gefahren von Delinquenz oder einer „harten“ Drogenkarriere zu denken ist. Auch das Schulleistungsverhalten bzw. die Herausbildung von schulerfolgsabträglichen Orientierungen (siehe dazu auch die Beiträge von Rohlfs und Krüger in diesem Band), der Zigaretten- oder Alkoholkonsum oder generell oppositionelles Verhalten werden von den Eltern in einen Zusammenhang gebracht mit dem Einfluss des Peer-Umfelds als riskanter Gelegenheitsstruktur. Da die Jugendphase als ein Lebensabschnitt gelten kann, in dem – auf der Suche nach der eigenen Identität – eine höhere Bereitschaft besteht, Neues auszuprobieren und zudem der Gleichaltrigengruppe hier eine große Bedeutung beigemessen wird in der Frage, was angesagt und cool ist, fürchten Eltern, dass der Wunsch nach dem Dazugehören-Wollen zu Verhaltensweisen führt, die ein psychosoziales und physisches Gefährdungspotential für ihre heranwachsenden Kinder beinhalten. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der sozialen Verselbständigungsprozesse der Heranwachsenden und dem Wunsch, nun selbst zu entscheiden, mit wem sie ihre freie Zeit verbringen wollen, wird für die Jugendphase häufig ein markanter Anstieg von Eltern-Kind-Konflikten angenommen. Wie die bereits erwähnte Längsschnittstudie von Fend (1998, 107ff.) hingegen deutlich macht, zeigt sich in der Altersspanne zwischen 13 und 16 Jahren keine solche substan-
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zielle Zunahme in den von den Jugendlichen angegebenen Dissenspunkten mit den Eltern. Im Gegenteil: ab dem 15. Lebensjahr scheint es zu einer Entspannung zu kommen. Auch wenn also aus empirischer Sicht wenig für eine eskalierende Konfliktzunahme spricht, so ergeben sich doch interessante Ergebnisse hinsichtlich einer Verschiebung der Konfliktanlässe. „Die Organisation des außerhäuslichen Freizeitverhaltens, die Wahl der Orte, Personen und Aktivitäten außer Haus rückt in den Vordergrund der innerfamilialen Aushandlungen und Konflikte. Sie drehen sich um Freundinnen und Freunde, Ausgang, Zuverlässigkeit, Risikoverhalten. Die Erweiterung des Lebenskreises und die eingeforderte Autonomie in der Bestimmung der eigenen Lebensführung führt zu vielen Diskussionen.“ (Fend 1998, 109, Hervorhebungen im Original).
Während sich in der frühen Jugendphase die kontroversen Themen eher auf äußerliche Autonomieansprüche richten (was ich anziehen soll, was ich mir kaufen darf), geraten ältere Jugendliche eher in Fragen der sozialen Verselbständigung mit ihren Eltern aneinander. Mit wem ihre heranwachsenden Kinder ihre Freizeit verbringen, ist für Eltern mehrheitlich von großem Interesse und rechenschaftspflichtig und wird gleichzeitig von den Jugendlichen selbst als ein Bereich eingefordert, der nicht mehr der elterlichen Kontrolle unterliegen soll. Entsprechend erweisen sich Strategien, die eine aktive Einmischung der Eltern in die sozialen Gleichaltrigenbeziehungen ihrer Kinder beinhalten als nur bedingt hilfreich, wie eine Studie von Vernberg et al. (1993) zeigt. Sie identifizieren zunächst auf der Basis von leitfadengestützten Interviews mit Jugendlichen und ihren Müttern, welche elterlichen „friendship facilitation strategies“ diese nutzen, um nach einem Umzug den heranwachsenden Kindern den Aufbau von sozialen Beziehungen zu Gleichaltrigen zu erleichtern. Im Ergebnis unterscheiden sie vier Gruppen von Strategien: das Arrangieren von Bekanntschaften mit anderen Eltern von Heranwachsenden, die Ermöglichung von räumlicher Nähe zu Peers, Gespräche mit den eigenen Kindern und die Ermutigung zu freizeitbezogenen Aktivitäten. Interessanterweise sahen die Eltern sich stärker bei den letztgenannten vermittelnden Strategien (Gespräche, Ermutigung), während die Jugendlichen selbst ihre Eltern eher als aktiv eingreifend wahrnehmen, indem sie diesen eher direkte Strategien der Erleichterung von Peerbeziehungen zuschreiben. Trotz dieser Wahrnehmungsunterschiede ergeben sich aber insgesamt Hinweise darauf, dass innerhalb des achtmonatigen Beobachtungszeitraums das Ausmaß an elterlicher Unterstützung in Form der identifizierten „friendship facilitation strategies“ in der Lage ist, die PeerEinbindung nach einem Umzug zu erleichtern und zwar sowohl hinsichtlich des Erfolgs ihrer Kinder, neue Freunde zu gewinnen als auch bezogen auf die erlebte Qualität der neu entstandenen Peerbeziehungen, wie z.B. Vertrautheit.
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Die Studie macht deutlich, dass Eltern sehr wohl um die psychosoziale Bedeutung gelingender Peerbeziehungen wissen. Gleichzeitig richtet sich der elterliche Blick aber auch mit Sorge auf die Frage, mit welchen Gleichaltrigen ihre heranwachsenden Kinder Umgang haben.
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Der Einfluss der Eltern auf die Peerbeziehungen ihrer Kinder
Die Untersuchung des Einflusses von Peers auf riskantes und/oder abweichendes Verhalten hat innerhalb der Sozialisationsforschung eine lange Tradition (siehe dazu auch die Beiträge von Pfeiffer und Palentien in diesem Band). So ist zum Beispiel bekannt, dass Jugendliche, deren FreundInnen rauchen, auch selbst ein höheres Risiko tragen, mit dem Rauchen zu beginnen (vgl. Bauman/Carver/Gleiter 2001). Ebenso gelingt es Jugendlichen offensichtlich eher, das Rauchen aufzugeben, wenn ihre FreundInnen mit dem Rauchen aufhören bzw. verstärkt freundschaftliche Beziehungen zu Jugendlichen aufnehmen, die selbst nicht rauchen (vgl. Chen et al. 2001). Gleichzeitig ist auch der Einfluss der Eltern auf riskantes Verhalten von Jugendlichen wie Rauchen oder Alkoholkonsum gut belegt (vgl. Simons-Morton et al. 2001). Die Annahme hingegen, dass in der Jugendphase die Stärke des Zusammenhangs zwischen elterlichem Rauchverhalten und dem Nikotinkonsum ihrer Kinder abnehme und gleichzeitig der entsprechende Zusammenhang mit dem Rauchverhalten der Peers stärker werde, findet auf der Basis des „National Longitudinal Study of Adolescent Health“ keine Bestätigung (vgl. Bauman/Carver/Gleiter 2001). Die Vorstellung einer eindeutigen Rollenverteilung dahingehend, dass von Peers ein zunehmender und gefährdender Einfluss ausgehe und Eltern demgegenüber protektive Funktionen übernehmen greift also zu kurz. Eltern behalten ihren Einfluss im Jugendalter, wobei – das zeigt eine Untersuchung von Raschke/Kalke (2005) – ihre Ablehnung gegenüber Zigarettenkonsum selbst dann einen Risiko mindernden Einfluss auf das Rauchverhalten ihrer Kinder hat, wenn sie selbst zu den Rauchern gehören. Dies könnte als ein Hinweis gesehen werden, dass Peers Jugendliche eher durch ihre Vorbildwirkung beeinflussen, während Eltern ihren Einfluss stärker über normative Vorgaben und Erwartungen ausüben, wie Biddle/Bank/Marlin (1980) annehmen. Die erwähnten Studien sind mehrheitlich so angelegt, dass sie in vergleichender Perspektive die Einflussstärken von Peers gegenüber Eltern auszuloten versuchen. Einen anderen Zugang wählt Mounts (2000), die auf der Basis von qualitativen Interviews mit Jugendlichen und ihren Müttern zeigt, auf welche Art und Weise Eltern versuchen auf die Peerbeziehungen ihrer Kinder einzuwirken. Die von ihr beobachteten peerbezogenen „management techniques“ umfassen das
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Verbot, mit bestimmten Gleichaltrigen Umgang zu haben, die Ermutigung der Kinder, den Kontakt zu bestimmten Peers zu vertiefen sowie das Gespräch mit den Kindern über die möglichen Folgen, die der Kontakt zu bestimmten Gleichaltrigen für sie haben könnte. In einer späteren Studie untersuchte Mounts (2001), welche Zusammenhänge sich aus Sicht der Jugendlichen zwischen den Formen der elterlichen Einflussnahme auf das Peer-System ihrer Kinder und verschiedenen anderen Variablen (Drogenkonsum, delinquentes Verhalten, schulisches Leistungsniveau und Bildungsaspirationen) ergeben. Sie ließ dazu 14- bis 15-jährige SchülerInnen im Rahmen einer standardisierten Befragung angeben, wie sie das Ausmaß des elterlichen freizeitbezogenen (Kontroll-)Interesses („parental monitoring“) und des elterlichen Verbietens bezogen auf die Peer-Kontakte („parental prohibiting of peer-relationships“) einschätzen. Es ergaben sich interessante Befunde dahingehend, dass sich ein negativer Zusammenhang zwischen dem wahrgenommenen Ausmaß an elterlichem Monitoring und dem Drogenkonsum der Jugendlichen (Alkohol, Marihuana und andere Drogen) zeigte. Mit anderen Worten: Wenn Eltern (aus Sicht der Jugendlichen) Wert darauf legten, Einblick in die außerfamiliale peerbezogene Freizeitgestaltung ihrer Kinder zu nehmen, dann berichteten diese ein geringeres Maß an Drogenkonsum. Bezogen auf die von den Jugendlichen wahrgenommene Tendenz ihrer Eltern, den Umgang mit bestimmten Gleichaltrigen zu verbieten zeigte sich ein U-förmiger Zusammenhang mit dem Drogenkonsum: ein moderates elterliches „prohibiting of peer-relationships“ ist demnach also am ehesten damit assoziiert, dass Jugendliche geringen Drogenkonsum berichten, während ein starkes und ein geringes bzw. fehlendes peerbezogenes Verbotsverhalten der Eltern mit stärkerem Konsum der heranwachsenden Kinder in Zusammenhang steht. Diese Ergebnisse zum Drogenkonsum wurden ihrem Muster nach auch für delinquentes Verhalten (Diebstahl, Schlägereien u.a.) bestätigt, während sich zumindest für den ersten Messzeitpunkt keine solchen Zusammenhänge zum schulischen Leistungsniveau der Jugendlichen zeigten. So wichtig diese Befunde sind, so geben sie doch nur bedingt Einblicke in die jeweilige konkrete familiale Alltagspraxis hinter diesen Befunden. Hier sind weitere Forschungsarbeiten notwendig, die mithilfe von qualitativen methodischen Zugängen genauer ausleuchten können, wie Eltern im familialen Alltag direkt und indirekt ihren Einfluss auf die Peerbeziehungen ihrer heranwachsenden Kinder in sozialer Praxis umsetzen. Mit anderen Worten: „There is a need to not only identify the types of family processes that impact children’s peer competence, but also understand how these processes are orchestrated” (Brodzinsky/Pinderhughes 2002, 295). Gleichwohl wird deutlich, dass Eltern den Peers als „neuer Erziehungsmacht“ (Fend 1998, 30) nicht hilflos ausgeliefert sind. Sie können über ihr er-
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kennbares Interesse an den Peerbeziehungen ihrer heranwachsenden Kinder die Risiken problematischer Peer-Einflüsse abfedern, solange sie dabei nicht zu stark direktiv vorgehen und damit die Wünsche ihrer Kinder nach sozialer Verselbstständigung unterlaufen.
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Ausblick
Es ist deutlich geworden, wie wenig angemessen es ist, Familie und Peers als voneinander unabhängige oder gar antagonistische Kräfte zu konzeptualisieren. Eltern nehmen Einfluss auf die Wahl der Freunde ihrer Kinder und können so das Risiko ungünstiger Entwicklungsverläufe mindern. Dabei sind es im Wesentlichen Prozesse der Selektion und der Sozialisation, wie auch die oben skizzierten Befunde von Reinders (2006) zeigen, wonach es in der Altersentwicklung zu einer Angleichung von eltern- und peerbezogenen Verhaltensstandards kommt. Insgesamt verweisen die Befunde auf die Interaktionseffekte, die zwischen der Gleichaltrigenwelt und der Familie wirksam werden. Sie verdeutlichen, dass die Beziehungen von Jugendlichen zu ihren Peers und ihren Eltern als Interdependenzverhältnis zu fassen sind, wobei sich beide komplementär ergänzen oder sich wechselseitig stützen können (vgl. Hurrelmann 1997). So können Peers auch Kompensationsfunktionen übernehmen, wenn Jugendliche in als belastend empfundenen familialen Kontexten aufwachsen oder Umbruchsituationen wie Scheidung der Eltern oder Wechsel der Schule zu bewältigen haben (vgl. Hartup/Stevens 1999). Hier können die Gleichaltrigen durch Gespräche Entlastung schaffen und den Jugendlichen psychosoziale Unterstützung gewähren, zu der die Eltern möglicherweise (vorübergehend) nicht in der Lage sind. Allerdings kann dieser intensive Austausch von Gleichaltrigen über persönliche Probleme oder negative Befindlichkeiten auch ungünstige Folgen haben. Zwar führen solche Formen von „co-rumination“ einerseits zu einer Vertiefung der Peer-Beziehung, andererseits aber werden durch dieses „extensively discussing and revisiting problems, speculating about problems, and focusing on negative feelings” (Rose 2002, 1830) auch internalisierende Bewältigungsformen wie Depressivität und Ängstlichkeit verstärkt (vgl. Starr/Devila 2009). Von solchen Prozessdynamiken sind offenbar besonders Mädchen und junge Frauen betroffen. Wenn Peers die Funktion einer Ersatzfamilie übernehmen (müssen), so kann dies auch zu einer Überforderung der Peers führen, wenn auf die erzwungene soziale Verselbständigung von Jugendlichen infolge fehlender familialer Unterstützung und Destabilisierung mit regressiven Bewältigungsversuchen
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reagiert wird und es dadurch zu einer Verfestigung von Marginalisierungsprozessen kommt (vgl. Helsper 1991, 216f.). Trotz solcher auch vorhandenen problematischen kompensatorischen PeerEltern-Konstellationen kann – wie oben gezeigt – die ganz überwiegende Mehrheit der Jugendlichen auf Eltern vertrauen, die sich um die Unterstützung ihrer heranwachsenden Kinder auf deren Weg in die zunehmende Selbständigkeit bemühen. Dazu gehört auch, dass sie mit einer zumindest bereichsspezifischen zunehmenden Zweitrangigkeit umzugehen lernen. Durch Investitionen in die Aufrechterhaltung einer positiven Beziehung zu ihren heranwachsenden Kindern können sie die Chancen der Jugendlichen erhöhen, auch von ihren Peerbeziehungen zu profitieren. Der vorliegende Beitrag konnte nur auf eine Auswahl wichtiger Aspekte des Verhältnisses von Eltern und Peers als relevante Sozialisationskontexte des Jugendalters eingehen. So wurde bereits in der Einleitung darauf hingewiesen, dass die Bedeutung der Geschwister als gleichzeitige Familienmitglieder und Peers ausgeklammert bleiben musste. Hier spielten jedoch nicht nur Platzgründe eine Rolle, sondern auch die Tatsache, dass über das sozialisatorische Zusammenspiel von Eltern, Geschwistern und Peers nur sehr wenige empirisch abgesicherte Befunde vorliegen, da sich die Studien bisher auf die Entwicklung der sozialen Beziehungen unter Peers, Freunden und Geschwistern beschränkten (vgl. von Salisch 1993; Buhrmester 1992; Azmitia/Hesser 1993). Die Frage aber, wie zum Beispiel Geschwister(konstellationen) auf die Ausgestaltung der Peer- und Elternbeziehungen (vermittelnd oder problemverschärfend) einwirken, ist noch weitgehend ungeklärt. Ähnliches gilt auch für die Frage, wie die von Jugendlichen stark genutzten neuen technischen Kommunikationsmöglichkeiten über Mobiltelefon („simsen“) und Internet (Chat-Foren, Instant Messaging) das Verhältnis von Peers und Eltern neu oder anders justieren. Diese spielen für die Jugendlichen eine zentrale Rolle, um ihre Interaktionsspielräume in außerfamilialen Bezügen zu erweitern. Gleichzeitig können sie genutzt werden, während sich die Jugendlichen in häuslicher Umgebung aufhalten. Auch hier liegen bislang nur erste Studien vor (vgl. Logemann/Feldhaus 2002, 2005). Ein besonderer Forschungsbedarf muss schließlich – gerade vor dem Hintergrund des wieder erstarkten Interesses an der Thematik der Bildungsungleichheit – in der Frage gesehen werden, in welchem Verhältnis die familialen und peerbezogenen Bildungswelten und die hier wirksam werdenden Handlungsrationalitäten zueinander stehen. Zwar kann in jüngerer Zeit insgesamt ein gestiegenes Interesse an informellen Lern- und Bildungsprozessen beobachtet werden, allerdings wird dabei der Frage, wie diese wechselseitig aufeinander bezogen sind, noch zu wenig Beachtung geschenkt. Grundmann et al. (2003)
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haben hier modelltheoretische Überlegungen zu den milieuspezifischen Bildungsstrategien in Familie und Gleichaltrigengruppe entwickelt. Allerdings basieren diese Überlegungen weitgehend auf einer Gegenüberstellung von funktionalen Bildungsrationalitäten, die in der Schule wirksam werden, und lebensweltlichen Bildungsstrategien, die in Familie und Gleichaltrigengruppe ihren sozialen Ort haben. Sie konzentrieren sich dabei auf die (Nicht)Passungsverhältnisse, die sich in verschiedenen Bildungsmilieus zwischen den familialen und peerbezogenen Bildungsprozessen und -rationalitäten einerseits und den schulischen Handlungsanforderungen andererseits ergeben. Sehr wichtig für die Erhellung differentieller Bildungsverläufe wäre demgegenüber auch, noch stärker die spezifischen (Nicht)Passungsverhältnisse von peerbezogener freizeitkultureller Praxis einerseits und familialer Alltagspraxis in verschiedenen Milieus andererseits in den Blick zu bekommen.
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Peer-Education – Ziele, Möglichkeiten und Grenzen Robert Heyer
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Einleitung
Peer-Education ist ein seit Mitte der 1970er Jahre in den Vereinigten Staaten und England entstandenes pädagogisches Konzept besonders in der Gesundheits- und Sexualerziehung, aber auch zur Prävention von Drogenkonsum. Historisch verantwortlich für heutige Peer-Ansätze ist die ‚sexuelle Revolution‘, ein Entstehen von Drogen- und Anti-Drogen-Kulturen und die seit Mitte der 1980er-Jahre die Aufklärung im Zusammenhang mit AIDS (vgl. Kästner 2003, 51). Das Konzept der Peer-Education geht davon aus, dass Peers einen besonders großen Einfluss auf Gleichaltrige haben und knüpft genau an diesem Punkt an. Peers sind deshalb von zentraler Bedeutung, da sie für andere Jugendliche als Bezugs- und Orientierungspunkte fungieren (vgl. Nörber 2003c, 10). Sie werden als Expertinnen und Experten ihrer Lebenswelt in der Phase der Identitätsfindung, die im Jugendalter von besonderer Bedeutung ist, angesehen. Jugendliche, oft als Verursacher von Problemen stigmatisiert, werden in der PeerEducation als kreative Problemlöserinnen und Problemlöser verstanden. Damit bedeutet Peer-Education den „Aufbau eines Angebotes gegenseitiger Unterstützung und Hilfe – aber auch Beeinflussung und Anpassung – durch Gleichaltrige“ (ebd., 11). Entsprechend ist Peer-Education als Situation oder Arrangement zu verstehen in dem sich „Jugendliche für Jugendliche engagieren, d.h. Angehörige einer gleichen sozialen formellen und/oder informellen Gruppe informieren und beraten sich gegenseitig, wobei das Prinzip der Freiwilligkeit maßgeblich ist“ (Apel 2003, 17). Freiwilligkeit ist Voraussetzung für ein gelungenes PeerEducation-Projekt. Doch was steht hinter dem Konzept der Peer-Education? Welche Rahmenbedingungen sind für den Ansatz der Erziehung und Bildung unter Gleichaltrigen notwendig? Dieser Frage geht der kommende Beitrag nach. Der Einbezug Jugendlicher in pädagogisches Handeln erfolgt im Rahmen von Peer-Education auf zweierlei Weise: Jugendliche, die für Gleichaltrige als Lehrpersonen auftreten, haben einen größeren Lehrerfolg, da es Jugendlichen oft leichter fällt, Inhalte von Gleichaltrigen anzunehmen: sie erkennen eine
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stärkere Orientierung an ihrer eigenen Lebenswelt. Gleichzeitig erfahren und erlernen die so lehrend tätigen Jugendlichen auch eigene Kompetenzen, bspw. auf pädagogischer Ebene. In diesem Kontext werden Lehrerinnen und Lehrer als ‚Coach‘ betrachtet – also als Lernbegleiterin und -begleiter, wie in der Pädagogik oftmals gefordert. Denn die in einem solchen Prozess nötigen Kompetenzen der Peer-Educators1 sind viel mehr begleitender statt leitender oder lenkender Natur und lösen das Ungleichgewicht zwischen lehrender und lernender Person auf, so dass ein Gleichgewicht entsteht, welches besonders die Lernenden auch spüren. Idealtypisch sieht ein Peer-Education-Prozess vor, dass sich Jugendliche zunächst Inhalte erarbeiten und organisieren und dabei auf eine größere Gruppe zurückgreifen, die das nötige Wissen zu einem bestimmten Thema hat – hier werden oftmals auch Erwachsene herangezogen. Daneben können Sitzungen mit Jugendlichen initiiert werden, in denen Erfahrungen ausgetauscht werden. Jugendliche, die selbst Krisen erlebt und überstanden haben – z.B. ein Loskommen von einer Drogenabhängigkeit – berichten über die Schritte, die zur Lösung von Problemen geführt haben. Zukünftige Educators können anhand der erlebten Erfahrungen lebhaft nachvollziehen, wie das inhaltliche Spektrum eines Themas gestaltet sein kann (vgl. Schröder 1999, 10ff.). Mit Hilfe von Fachkräften oder lebensnahen Erfahrungsschilderungen erlernen die Peer-Educators gleichsam im Bereich des Wissens das, was sie später lehren. Das Verhältnis zu den eigentlichen Fachkräften, hier Erwachsenen, verändert sich: Inhalte und Abläufe werden zwar gemeinsam initiiert, sobald die Peer-Educators aber die nötigen Kompetenzen erworben haben wird die Verantwortung in die Hände der Jugendlichen gegeben. Nur bei Bedarf erfolgt weitere Unterstützung (vgl. Apel 2003, 17). In der Theorie klingt dies recht einfach. In der Praxis – Peer-EducationProjekte sind zwar noch nicht so populär wie im angelsächsischen Raum, hierzulande aber sowohl in formalisierten, wenn man bspw. an Mediationsprojekte im schulischen Rahmen denkt, in denen Schülerinnen und Schüler als Streitschlichterinnen und Streitschlichter fungieren, als auch in nicht-formalisierten Bildungsorten bekannt – ist aber ein tieferer Einblick nötig. Daher widmet sich dieser Artikel dem Konzept der Peer-Education auf theoretischer Ebene. Zunächst wird die Peer-Education abgegrenzt zu anderen Ansätzen des Peer-Involvement. Kapitel 3 widmet sich sodann konkret den Zielen, die in dieser Einleitung bereits angesprochen wurden. Das vierte Kapitel beinhaltet einen zum Verständnis nötigen Exkurs und behandelt die Bedeutung der Gleichaltrigengruppe in Lernprozessen. Im Anschluss daran werden die 1
Der engl. Terminus ‚Educator‘ beschreibt sowohl die weibliche wie auch die männliche Form.
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Bildungsorte von Peer-Education-Prozessen beschrieben (Kap. 5), die Frage nach dem Kompetenzerwerb durch Erziehungs- und Bildungsprozesse unter Gleichaltrigen diskutiert (Kap. 6) und schließlich der Frage nachgegangen, inwieweit sich Peer-Ansätze in Orten formaler Bildung integrierten lassen (Kap. 7).
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Peer-Involvement: Ein übergeordneter Ansatz
Alle Ansätze des Peer-Involvemtent sind bisher nur wenig durch Theorien und Hintergründe belegt. In der Peer-Education gibt es mehrheitlich Berichte aus praktischen Bereichen einzelner Peer-Education-Projekte oder Projektversuche. Daher sind zunächst Begriffsklärungen nötig, denn es gibt unterschiedliche Ansätze, die Gleichaltrige in den Fokus der Erziehungs- und Bildungsfragen stellen. Kästner schlägt daher den übergeordneten Begriff ‚Involvement‘ vor, der zuvorderst den Einbezug Jugendlicher und Gleichaltriger verdeutlicht. Unter diesem Begriff vereinen sich gegenseitige Vermittlung (Mediation) und Beratung (Counceling) unter Gleichaltrigen, aber auch Erziehung und Bildung (Education) (vgl. Kästner 2003, 52). Kästner spricht weiterhin von Peer-Projekten, die handlungs- und aktionsorientiert und meist kurzfristig auf ein bestimmtes Ziel angelegt sind (vgl. ebd., 55ff.), da aber gerade auch im Zusammenhang mit Peer-Education oftmals von Projekten gesprochen wird, wird dieser Bezeichnung aufgrund einer m. E. nötigen Trennschärfe nur nachrangige Bedeutung zugemessen. Wird von Mediation gesprochen, handelt es sich um Streitschlichtungsprogramme, in welchen die streitenden Parteien – oft Schülerinnen und Schüler im Rahmen der Schule – zur Lösung eines Konflikts mit Hilfe einer dritten, neutralen Partei kommen (sollen). Ziele sind hier im Besonderen das Einfühlen in die andere streitende Partei. Eine Mediation kann nur erfolgen, wenn die Streitenden und die Streitschlichterinnen und Streitschlichter auf freiwilliger Basis teilnehmen und kein Zwang zur Einigung herrscht. Das Setting einer Mediation muss dabei den institutionell differierenden Gegebenheiten angepasst werden (zur näheren Beschäftigung mit der Methode der Mediation vgl. z.B. Hagedorn/ Taglieber 2005). Beim Peer-Counceling handelt es sich oft um ‚face-to-face-Gespräche‘ zwischen Jugendlichen, die bei einem Problem helfen wollen und solchen, die sich helfen lassen wollen. Inhaltlich geht es besonders um die Lösung von Problemen im Bereich der sexuellen Entwicklung und des Drogenkonsums. Auch hier ist wichtig, dass bei Themen, die Jugendlichen unangenehm werden können, der Zugang zu einem gemeinsamen Gespräch – eines Counceling-
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Verfahrens – und der Herbeiführung einer Lösung des Problems durch andere Jugendliche leichter ermöglicht wird. Hier – wie auch bei der Mediation – sollte besonders auf eine Eignung der Beraterinnen und Berater im Bereich der kommunikativen Kompetenzen geachtet werden. Eine entscheidende Gelingensbedingung ist auch, dass kein Machtgefälle zwischen den Beratenden und zu Beratenen besteht. Peer-Education schließlich bezeichnet zunächst die Weitergabe von Wissen durch Jugendliche an Jugendliche. Dies geschieht in Projektform und ist oftmals angesiedelt an Orten, die Jugendlichen bekannt sind, wie z.B. Freizeitheime oder außerschulische Organisationen. Neben der Weitergabe von Wissen geht es auch um den Erwerb von Fertigkeiten und Verhaltensmodifikationen wie Persönlichkeitsentwicklung, Bewältigungsstrategien in verschiedenen Problemlagen, besonders im gesundheitlichen Bereich wie der Suchtprävention. Dabei können Erwachsene helfen, es sollte aber darauf geachtet werden, dass sie die involvierten Jugendlichen nicht bevormunden. Ziel eines Peer-EducationProjekts ist der „Wunsch nach positiver Veränderung aller Beteiligten“, die durch aktive Partizipation von Jugendlichen erreicht werden kann (vgl. Kästner 2003, 58ff.). Im Zentrum stehen Educators, die speziell ausgebildet sind und auch an der Gestaltung eines Projekts maßgeblichen Einfluss haben sollen. Berücksichtigung finden sollen dabei soziale, kulturelle und ökonomische Aspekte.
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Ziele von Peer-Education
Die zu erreichenden Ziele der Peer-Education-Ansätze liegen auf zwei unterschiedlichen Ebenen. Zum einen sollen Sachinformationen, also Wissen, vermittelt werden. Diese werden durch Selbsterfahrungen ergänzt, welche zur Entwicklung der Persönlichkeit beitragen können – dies gelingt bspw. durch Rollenspiele. Die Jugendlichen sollen ein positiv konnotiertes Selbstkonzept erfahren und entwickeln, welches in der Gruppe der Gleichaltrigen gestärkt wird, statt Jugendliche – auch wenn sie problematische Hintergründe haben – zu verändern. Übergeordnete Ziele eines gelungenen Peer-Education-Settings sind somit ein Zuwachs an Selbstwert und Ich-Stärke, eine allgemeine Lebenskompetenz durch die Förderung sozialer Kompetenzen mit Hilfe von Kontakt- und Kommunikationstrainings, Teamfähigkeit durch Möglichkeiten der kreativen Freizeitgestaltung und Gruppenübungen, Stressbewältigung durch Aufzeigen von Entspannungsmöglichkeiten, das Erlernen von Konfliktbewältigungsstrategien und Präventionsmaßnahmen im Gesundheitsbereich sowie Informationsvermittlung (vgl. Kästner 2003, 52ff., 62).
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Grunert verweist auf die Tatsache, dass Kinder und Jugendliche bei der Bearbeitung von Aufgaben zu besseren Lösungen gelangen können, wenn bei Uneinigkeiten nicht Erwachsene, sondern Gleichaltrige widersprechen. In derartigen Situationen kann durch das Verfahren der Aushandlung von Problemlösungen nachhaltige Einsicht bei Kindern und Jugendlichen erreicht werden (vgl. Grunert 2006, 28). Die Position der Jugendlichen wird somit insgesamt gestärkt. Sie sollen befähigt werden, ihre Probleme zu artikulieren und nach außen zu tragen, statt sich mit ihnen im Stillen auseinander zu setzen, wo sie evtl. keine Hilfe finden können. Daher rührt sicher auch die Tatsache, dass Peer-Education oftmals in Bereichen von Suchtmittel-Prävention angesiedelt ist, da vermieden werden soll, dass ein Teufelskreis entsteht, aus dem die Jugendlichen nicht mehr herauskommen. Peer-Education ist somit lebensnahe Hilfe, denn die Gleichaltrigen sind näher am Geschehen der Jugendlichen als bspw. Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, kennen die Probleme der Gleichaltrigen und können fragend und zuhörend aus ersten Hand helfen (vgl. Kästner 2003, 54). Diese Ziele, welche – neben dem zu erwerbenden Wissen – eher auf einer übergeordneten Kompetenzebene liegen, sind gleichsam Schlüsselqualifikationen für lebenslanges Lernen und das Bestehen in Schule, Ausbildung und Beruf. Bisher gibt es jedoch keine gesicherten und empirisch fundierten Erkenntnisse, ob ein Zuwachs an Kompetenzen oder auch Soft-Skills tatsächlich längerfristig nachgewiesen werden kann. Nicht zu vernachlässigen ist auch, wie Klosinski zu Recht anführt, dass neben den Chancen, die Peer-Education bietet, auch Risiken bestehen. Es ist anzumerken, dass die Jugendphase eine Phase ständigen Suchens, Bindens und Loslösens ist. Klosinski merkt an: „Da die Jugendzeit eine wichtige Phase der Individuation darstellt, eingebunden in die Dialektik von Trennung und Bindung, von Ablösung und Integration, verläuft der Prozess der Selbstwertung zyklisch, und das Erlebnis der Ganzheit der Person geht oftmals verloren und muss immer wieder neu erlebbar werden. Pubertät und Adoleszenz werden damit zur Drehscheibe unterschiedlicher Bindungsmodalitäten. Deshalb kann der Ablösungskonflikt des Jugendlichen nicht isoliert betrachtet werden, sondern ist eingebettet in die Psycho- und Soziodynamik von Familie und Umfeld, insbesondere der Gleichaltrigen-Gruppe“ (Klosinski 2003, 77). Die PeerEducation-Forschung hat hier theoretische Grundlagen zu legen, wie genau sich Peer-Education in der Jugendphase unter Berücksichtigung von Familie, PeerGroup, Schule und Identitätsentwicklung positionieren muss und welche Faktoren das Gelingen von Peer-Education-Projekten beeinflussen.
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Informelles Lernen in der Peer Group
Die sozialisatorischen Leistungen der Gleichaltrigengruppe als informelle Sozialisationsinstanz sind von verschiedenen Autoren bereits seit Mitte der 1960er Jahre festgestellt worden. Hinsichtlich der Fragestellung nach der Bedeutung von Peer Groups für Peer-Involvement-Ansätze ist von Bedeutung, dass innerhalb einer Peer Group „Sozialisation in eigener Regie“ erleichtert wird und eine „jugendspezifische Identitätsbildung“ (Tenbruck 1962, 92) erfolgt. Dies ist insofern bedeutsam, da die Peer Group eine „Schutz und Ausgleichsfunktion […] in erwachsenenbestimmten Sozialgebilden“ bietet (Machwirth 1994, 260). Jugendliche können sich in ihrer Gruppe gegenseitig stützen und dabei emotionale Ambivalenzen, Unsicherheiten und Ängste erfahren. Doch auch die Einstellungen eines Individuums werden im sozialen Geflecht der Peer Group selbstreferentiell reflektiert und ergänzt. Die Probleme, die mit Peer-GroupSozialisation einhergehen, sind offensichtlich: So kann aus der internen Gruppendynamik delinquentes Verhalten erwachsen, welches jeweils abhängig von konfundierenden Faktoren wie bspw. soziales Umfeld, Herkunftsmilieu, Schule usw. ist (vgl. Schwonke 1981, 111). Die informellen Bildungsprozesse innerhalb der Gleichaltrigengruppe sind immens, wie Harring (2007) feststellt. Im Freizeitbereich kommt der PeerGroup eine entscheidende Rolle zu: „[N]eben der Vermittlung von sozialen und personalen Kompetenzen [ist] auch die Förderung und Bekräftigung von Lernprozessen in Sach- und Fachkompetenzen in der Peer Group zu verorten“ (Harring 2007, 237f.). Soziale und personale Kompetenzen sieht Harring dabei im Erlernen von Verhaltensregeln, die für soziale Interaktion notwendig sind, also auch beim Erreichen eigener Ziele, ohne dabei die Rücksicht auf andere zu verlieren. Da sich Peerbeziehungen auf Freiwilligkeit gründen, entsteht für Jugendliche ein geschützter Raum, in welchem Verhaltensweisen ausprobiert werden können, die im Zuge der Identitätsstiftung notwendig sind (vgl. Harring 2007, 247f.). Hier ist jedoch zu bedenken, dass die Zusammensetzung einer Peer Group nicht unbedingt immer auf freiwilliger Basis erfolgt und das Ausprobieren verschiedener identitätsstiftender Momente nicht gänzlich zwanglos ist. Im Hinblick auf den Zusammenhang zwischen Identität und Anerkennung ist zu überprüfen, inwieweit Peer Groups tatsächlich nur aus Gleichgesinnten bestehen und ob in der Zusammensetzung die Freiwilligkeit maßgebliches Kriterium für die Partizipation in einer Peer Group ist. Es muss der Tatsache Rechnung getragen werden, dass oftmals auch nur ‚Geduldete‘ oder gar Außenseiter in Peer Groups involviert sind, vielleicht, weil sie einem bestimmten Kreis von Freundinnen und Freunden oder Mitschülerinnen und Mitschülern gern angehören möchten, vielleicht, weil sie selbst keine Mitglieder einer Peer Group sind. Wei-
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terhin ist es notwendig, im Diskurs um Peer Groups als informelle Lerngruppen auch diejenigen Jugendlichen zu berücksichtigen, die sich keiner Peer Group zuordnen oder zugehörig fühlen und als Einzelgängerinnen und Einzelgänger auftreten. Dieser Aspekt scheint besonders vor dem Hintergrund interessant und berechtigt, wie sich jugendliche Mitläuferinnen und Mitläufer bzw. Außenseiterinnen und Außenseiter – ob selbst gewählt oder nicht – in Peer-EducationArrangements einfügen, wie sie sich integrieren lassen und wie ein Austausch auf gleicher Höhe erfolgen kann – die 13. Shell-Jugendstudie zeigt, dass nur 71% aller befragten Jugendlichen Mitglieder einer Clique sind, 76% unter den 15-21-Jährigen (vgl. Hurrelmann/Albert 2006, 83f.). Dennoch ist die Peer Group ein Ort des Aushandelns. Regeln, Argumentations- und Kooperationsfähigkeit sowie Empathie werden erlernt. Die Auseinandersetzungen mit anderen Peers ermöglichen eine „Positionierung zu Formen des Lernens, zu der Idee von Leistung und Karriereplanung, Erfolg und Misserfolg“ und die Entwicklung und das Anwenden von Konfliktbewältigungsstrategien, die für private und berufliche Lebenslagen notwendig sind, wenn man mit anderen Menschen zusammentrifft (vgl. Thole/Höblich 2008, 73). Im Bereich der Wissensaneignung sind besonders die Bereiche Medien, Sprache und Sport (vgl. Harring 2007, 252), aber auch die Musik zu nennen. Die informellen Bildungsprozesse sind hier sicherlich immens, aber bisher nicht hinreichend untersucht. Betrachtet man bspw. die heutzutage massiv ansteigende Anzahl von Bands und Musikprojekten, die maßgeblich durch Jugendliche getragen werden und denen teils bis zur semi-professionellen Ebene mit großer Ernsthaftigkeit nachgegangen wird, zeigt sich, dass im Bereich des (Er-)Lernens musikalischer Praxis wie Theorie Forschungsbedarf besteht, um informelle Lernprozesse erklären zu können. Jugendliche haben heutzutage mehr denn je die Möglichkeit, Instrumente oder Musikzubehör – wie Schlagzeuge, Gitarren, Verstärker – kostengünstig zu erwerben. Selbst dort, wo die finanziellen Mittel gering sind, ist die Notwendigkeit des Instrumentenbesitzes nicht unbedingt zwingend. Betrachtet man den HipHop-Bereich zeigt sich, dass sich Jugendliche treffen, um gemeinsam Texte zu schreiben, zu ‚rappen‘ oder ‚Beatboxing‘ zu betreiben – in diesem Bereich ist insbesondere auch ein evtl. vorhandener Migrationshintergrund interessant. Die Möglichkeiten, eigene Kompositionen aufzunehmen sind durch die stetig fortschreitende Ausstattung an Informationsund Kommunikationstechnologien – die Ausstattung an Heim-PCs stieg in den letzten Jahren weiter, besonders auch in Haushalten mit Kindern ist die multimediale Ausstattung nahezu flächendeckend (vgl. Mohr 2007, 546f.) – besonders im Bereich der Aufnahmetechnik auch im Hobby- und Freizeitbereich möglich. Proberäume in urbanen Regionen werden immer seltener, die Möglichkeiten, mit der eigenen Band einen Auftritt oder ‚Gig‘ zu spielen sind in den
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letzten Jahren gestiegen, denkt man insbesondere auch an Bandcontests oder die Internetplattform ‚MySpace‘, auf der sich Netzwerke aus professionellen, semiprofessionellen und Amateur-Bands kostenfrei austauschen können, ihr musikalisches Material zum Probehören anbieten oder für Konzerte werben. Peer-Involvement-Ansätze wollen sich die Möglichkeiten der Erfahrungen und Lernchancen innerhalb von Peer Groups, also die Peer-Kompetenzen, zu Nutze machen. Zudem können sich Jugendliche besser in Situationen ihrer Altersgenossen einfühlen, da sie ähnliche Erfahrungen mit den maßgeblichen Sozialisationsinstanzen Familie und Schule haben – denn sie befinden sich in ähnlichen Situationen, sich innerhalb ihrer Familie und der Schule positionieren zu müssen. Gleichzeitig werden Gleichaltrige als die größeren Expertinnen und Experten in verschiedenen Bereichen angesehen. Die ersten sexuellen Erfahrungen und die damit in Verbindung stehenden Ängsten oder eigene, selbst erlebte Gewalterfahrungen sind dabei nur einige Beispiele. Die Gleichaltrigkeit ermöglicht bereits eine Vertrauensbasis qua Status, die – das ist insbesondere für Lernprozesse wichtig – nicht erst erworben werden muss. Besonders bei Themen, die eine gewisse Scham mit sich bringen, sind Gleichaltrige die besseren Ansprechpartner, da die Scham hier durch spezifische kommunikative Mittel umgangen werden kann. Hier scheint es sprachliche und übersprachliche Mittel zu geben, die Jugendliche sowohl kodieren als auch dekodieren können. Zudem wird die Meinung eines Jugendlichen oft höher eingeschätzt als die eines Erwachsenen, denn Peers befinden sich auf einer Augenhöhe, ihre Lebenslagen sind ähnlich gestaltet, womit bereits eine Unvoreingenommenheit vorhanden ist. Doch auch für die in Peer-Involvement-Ansätzen tätigen Jugendlichen ergeben sich Vorteile. So lernen Peer-Educators durch Auseinandersetzung mit Problembereichen jugendlichen Daseins auch für die eigene Persönlichkeit, bspw. dadurch, dass sie sich kritisch mit Themen auseinandersetzen oder durch das Übernehmen von Verantwortung in einer sozialen Rolle (vgl. Schröder 1999, 9).
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Bildungsorte von Peer-Education
Die Begriffe des informellen und non-formalen Lernens sind seit Jahren Thema der Pädagogik. Es stellt sich im Hinblick auf mögliche Bildungsorte von PeerInvolvement im Allgemeinen und Peer-Education im Speziellen die Frage, ob Peer-Education-Prozesse eher informellen Lernprozessen zugerechnet werden müssen, oder ob die für Projekte o. Ä. geschaffenen Bildungsorte eher nonformal zu definieren sind, wie bspw. im Rahmen der Jugendverbandsarbeit. Der Diskurs um formales, non-formales und informelles Lernen soll hier nicht nach-
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gezeichnet werden, es erscheint aber nötig, zu präzisieren, in welchen Lernräumen Peer-Education statt findet. Der Begriff des informellen Lernens ist zunächst nach Dohmen (2001) „auf alles Selbstlernen bezogen, das sich in unmittelbaren Lebens- und Erfahrungszusammenhängen außerhalb des formalen Bildungswesens entwickelt“ (Dohmen 2001, 25). Es ist zudem ein direktes Lernen, da Probleme direkt und ohne Umwege gelöst werden sollen (Dohmen 2001, 26). Dagegen definiert sich nonformales Lernen „durch eine klare institutionelle Strukturiertheit und Rechtslage“, die aber freiwillig genutzt oder beansprucht wird. Daher stehen im Mittelpunkt „nicht der Erwerb von schulischen Qualifikationen, sondern vielmehr die Vermittlung von sozialen und personalen Kompetenzen sowie auch die Förderung und Bekräftigung von Beteiligungen an politischen und gesellschaftlichen Prozessen“. Diese Ziele sind nicht in Bildungsplänen – wie etwa durch curriculare Vorgaben – niedergelegt (vgl. Harring et al. 2007, 8ff.). Peer-Education ist überwiegend durch eine freiwillige Teilnahme geprägt. Dennoch wird ein Rahmen geschaffen, der sich – wie oben erwähnt – an Räumen orientiert, in denen Jugendliche ohnehin vertreten sind. Somit hat die PeerEducation einen non-formalen Rahmen. Da aber innerhalb eines Projekts Themen gemeinsam innerhalb der Gleichaltrigengruppe besprochen werden, ist auch ein informelles Lernen vertreten, wie Kapitel 4 gezeigt hat. Festzuhalten ist, dass in einem stark institutionalisierten Rahmen wie der Schule Konzepte der Einbindung von Peers im Sinne einer Nutzung der PeerRessourcen nicht in ausreichender Form gegeben sind. Denn in der Schule wird Bildung stark formalisiert und ist im Regelfall beschränkt auf zyklische Zeitfenster, die thematisch – bspw. durch einen Fächerkanon – und strukturell – durch unterschiedliche Räume und weniger offene Möglichkeiten der Verweildauer – differieren. Zudem sind die Jugendlichen nicht für Inhalte und Auswahl des Erwerbs von Bildung verantwortlich. Die Peer-Education geht aber davon aus, dass die Rolle von Schülerinnen und Schülern nur noch eine Dimension jugendlichen Daseins darstellt. Andere Bezüge, besonders auch sozialer Art, gewinnen für Jugendliche zunehmend an Bedeutung. Dies bestätigen bspw. die empirischen Arbeiten von Tully und Wahler, in denen das Nebeneinander unterschiedlicher Lernformen und die steigende Bedeutung außerschulischer Lernprozesse deutlich wird (vgl. Tully/Wahler 2006, 62). Die Autoren befragten 2094 Schülerinnen der Klassenstufen 9-12 und fanden hinsichtlich der Lernfelder heraus, dass neben der Schule der Sport und der Nebenjob zentrale Orte des Lernens für Jugendliche sind (vgl. Wahler et al. 2008, 42ff.). Zudem machen sie deutlich, dass die Musik das zentrale Moment jugendlichen Daseins in der Freizeit darstellt (vgl. Wahler et al. 2008, 143ff.; zur Bedeutung des Lernens in einer nebenberuflichen Tätigkeit vgl. auch den Aufsatz von Tully 2006). Neben die-
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sen ‚neuen‘ Lernfeldern spielt auch das freiwillige Engagement als Lernort eine bedeutsame Rolle bei Jugendlichen, wie Düx (2006) hinsichtlich des Zugewinns verschiedener Kompetenzen feststellt. Thole und Höblich betonen, dass Bildungsprozesse im Bereich der Jugendverbandsarbeit „in der Regel nicht im Kontext von curricular ausbuchstabierten Lehr- und Lernszenarien initiiert“ werden. Die Jugendlichen steuern diese selbst mit spezifischen situativen Bezügen. Genauso eingebunden sind in diesem Zusammenhang aber auch ehrenamtlich Engagierte wie pädagogisch Professionelle. Peer-Education-Ansätze „bieten damit Lern- und Erfahrungsfelder – informelle und non-formale Bildungsorte und -anlässe –, die das formal strukturierte Bildungssystem nicht vorhält oder aufgrund seiner selektiven Grundstruktur nicht vorhalten kann“ (Thole/Höblich 2008, 85). In der Jugendverbandsarbeit finden also „sowohl non-formale – im Sinne intendierter Bildungsszenarien außerhalb von Bildungseinrichtungen – wie auch informelle Bildungsanlässe – als eher beiläufige Kompetenzaneignung im Alltag – statt“. Der Prozess und schließlich auch der Erfolg sind abhängig von verschiedenen Variablen, die sich aus den Hintergründen der Jugendlichen ergeben – Klasse, Milieu, Schicht und Bildung (vgl. ebd., 81).
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Kompetenzerwerb durch Peer-Education
Der Ansatz der Peer-Education wird aktuell vor allem in der Jugendverbandsarbeit oder der Sozialen Arbeit verwendet, in pädagogischen Settings also, wo sowohl non-formales wie informelles Lernen stattfindet. Laut Kästner (2003, 51) wissen die außerschulischen Bereiche, in denen Handlungsräume für Jugendliche angeboten werden, um die wichtige Rolle der Peers. Thole und Höblich betonen in der Jugendverbandsarbeit die Bedeutung des Erwerbs neuer Kompetenzen. Diskussionen, Gruppenaktivitäten oder Inputs durch Leiterinnen und Leiter sind dabei gute Möglichkeiten: Jedoch sind die Vorrausetzungen „für den Erwerb von Kompetenzen […] Einsatz, Gemeinschaft, Kommunikation, Verbandseinbindung und Gelegenheitsstrukturen“ (Thole/Höblich 2008, 81). Peer-Education-Ansätze können dadurch profitieren. Denn in schulischen Zusammenhängen ist es aktuell schwer möglich, dass sich Jugendliche „in selbstorganisierten Projekten von ehrenamtlich Engagierten […] Kompetenzen in Selbstmanagement, Gruppenführung und erfahrungsbasierte[s] Wissen“ aneignen (vgl. ebd., 86). Hier ist darauf zu verweisen, dass einige Jugendliche, „denen der Zugang zu der gesellschaftlich vorrätigen Bildung schwerer fällt oder erschwert wird“, vermutlich an derartigen Anlässen oder Prozessen nicht beteiligt sind oder werden können (vgl. ebd. 86).
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Peer-Education in formalen Bildungsorten?
Neben der Jugendarbeit kann Peer-Education auch in schulischen Dimensionen gedacht werden, auch wenn derartige Projekte derzeit selten sind, da die Rahmenbedingungen oft nicht gegeben sind, die nötig für ein Peer-EducationArrangement sind. Die Lern- und Lehrprozesse von Peer-Education sind zweidimensional. Zum einen handelt es sich um ein Bildungs- und Erziehungsangebot, zum anderen um ein pädagogisches Setting in Schule und Jugendarbeit. Erziehung wird verstanden als „langfristig angelegter, andererseits aber zeitlich begrenzter Prozess der Begleitung und Unterstützung“. Jugendliche sollen hier mit einem möglichst umfassenden Orientierungssystem konfrontiert werden, um ihnen die „Kompetenzen und Fähigkeiten zu vermitteln, die die Grundlage für eine partizipative Teilhabe an der Gesellschaft darstellen“ (Nörber 2003b, 81). Der Bildungsaspekt folgt dabei der Begriffsdefinition von Tenorth, bei der Bildung verstanden wird als Aneignung, Fortentwicklung und ständiger Reproduktion von Kultur in einem lebenslangen Prozess. Selbst- und Mitbestimmungsfähigkeit des Einzelnen und Solidaritätsfähigkeit sind in diesem Zusammenhang ebenfalls von Bedeutung. Damit ist das Zentrum eines PeerEducation-Settings die „Vermittlung von Wissen und Kompetenz als Grundlage von Verhalten“ (ebd.,,83). Die Dimension des pädagogischen Settings fragt nach den Rahmenbedingungen von Peer-Education in den Kontexten des formalen, non-formalen und informellen Lernens, also bspw. in der Jugendarbeit oder in der Schule. Wie gestalten sich die Rahmenbedingungen? Und sehen diese unterschiedlich aus? Es zeigen sich zunächst deutliche Unterschiede hinsichtlich der Kontinuität in der Anwesenheits- und Kontaktzeit. Die Schule weist hier eine wesentlich höhere Kontinuität auf, da sie über Jahre hinweg regelmäßig besucht wird. Nonformale Kontexte sind in ihrer zeitlichen Dimension wesentlich beschränkter, da sie nur freizeitlich genutzt werden. Dennoch liegt hier ein besonderer Vorteil: Denn Selbst- und Mitbestimmung wird im Wesentlichen durch freizeitlich organisierte Lernarrangements gefördert. Hier kann die Schule noch lernen, Möglichkeiten der Mitbestimmung auch zu nutzen (vgl. ebd., 86ff.). Nörber plädiert somit zu einer komplementären Nutzung von Schule und Jugendarbeit. Bisher hat sich allerdings gezeigt, dass erfolgreiche PeerEducation-Projekte meist im Rahmen der Jugendarbeit ausgeweitet werden, da der weniger institutionalisierte Rahmen hier bessere Möglichkeiten wie zeitliche Flexibilität oder den Einbezug Jugendlicher in verantwortungsvolle Positionen bietet (Nörber 2003b, 89). Nörber resümiert, dass es „im Raum von Schule einer deutlichen Veränderung im Hinblick auf die Engführung von Jugendlichen in ihrer Rolle als Schülerinnen und Schüler [bedarf]. Darüber hinaus erscheint es
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im Raum der Schule notwendig, die Selbstbestimmungs- und Mitbestimmungsmöglichkeiten von Jugendlichen deutlich auszuweiten um die Motivation von Jugendlichen zur Verantwortungsübernahme in Peer-EducationZusammenhängen zu stärken“ (ebd., 91).
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Ausblick
Peer-Education als ein Bestandteil der Peer-Involvment-Ansätze erscheint sinnvoll, da Perspektiven aufgezeigt werden, wie alternative Bildungsorte und anlässe strukturiert werden und gleichzeitig die offensichtlichen Kompetenzen der Lernprozesse unter Gleichaltrigen genutzt werden können. Bisher gibt es einige – laut Aussagen der Durchführenden – gelungene Peer-EducationProjekte (vgl. dazu bspw. die Beispiele in Nörber 2003a und Hessischer Jugendring e.V. 1999). Neben der Peer-Education fassen stetig auch andere PeerInvolvement-Ansätze Fuß, wie bspw. die Mediation an Schulen (vgl. dazu bes. Behn et al. 2006, 48ff. und 81ff.). Ein nicht zu vernachlässigendes Problem der Peer-Involvement-Ansätze im Allgemeinen ist das der Hierarchien innerhalb der Gleichaltrigengruppe. In Peer Groups gibt es oft eine Person, die eine Anführerin oder einen Anführer darstellt. Diesen Jugendlichen wird Bewunderung entgegengebracht. Gruppenmitglieder können integriert sein und mitbestimmen – oder Mitläuferinnen und Mitläufer sein, die ‚lediglich geduldet‘ werden. Auch hierarchische Strukturen innerhalb der Gesellschaft können zu einem Problem werden, wenn diese reproduziert werden. Hieraus können Frauen- oder Fremdenfeindlichkeit erwachsen (vgl. Schröder 2003, 111). Diese Problemlagen sind in der Peer-InvolvmentForschung bekannt, jedoch gibt es weder theoretisch noch empirisch kritische Auseinandersetzungen, wie hierarchische Strukturen – auf Seiten der Lehrenden wie Lernenden – thematisiert oder aufgebrochen werden können. Soll ein gelungenes Miteinander in Ansätzen jugendlicher Erziehungs- und Bildungsprozesse ermöglicht werden, müssen soziale, kommunikative und emotionale Kompetenzen ermöglicht werden. Dies ist eine große soziale Verantwortung (vgl. Thurn 2008, 194). Beim Durchführen von Peer-Ansätzen sollte zukünftig verstärkt ein Blick auf dieses Problem gerichtet werden. Sicher tragen diese Schwierigkeiten dazu bei, dass Peer-Konzepte noch nicht flächendeckend etabliert sind – es fehlt weitestgehend an empirischen Befunden, ob derartige Settings, auch wenn sie sich nur auf spezifische Themenbereiche beziehen, tatsächlich nachhaltigen Lernerfolg – und vor allem auch besseren Lernerfolg als in formalen Lernarrangements – leisten. Dass beide Gruppen, sowohl die Teilnehmerinnen und Teilnehmer eines Peer-Educations-Prozesses wie auch die Educa-
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tors profitieren, wurde bereits gesagt. Unklar ist jedoch, ob der Zuwachs von Wissen und Kompetenzen in einem solchen Setting stärker als in einem traditionellen Lehr-Lern-Arrangement zwischen Erwachsenen und Jugendlichen ist (vgl. Nörber 2003b, 84f.). Zukünftig ist zu klären, in welchen Bereichen Peer-Education-Ansätze zum Tragen kommen sollen. Eingangs wurde erwähnt, dass die Bereiche bspw. der gesundheitlichen Aufklärung als bes. sinnvoll erachtet werden. Schröder ist der Ansicht, dass alltagsnahe Themen besonders geeignet erscheinen, denn Jugendliche müssten vor Überforderungen geschützt werden und gleichzeitig lernen (vgl. Schröder 2003, 112). Grenzen zeigen sich m. E. in Bereichen der Gewaltintervention und -prävention. Hier erscheint Peer-Education als nicht besonders hilfreich, besonders, wenn es um Lösungsansätze nach schweren Gewalterfahrungen geht. Zwar gehören Gewalterfahrungen zum Alltag vieler Jugendlichen – ob in schulischem oder außerschulischem Rahmen –, doch vor dem Hintergrund der nötigen Maßnahmen, Gewalt unter Jugendlichen in den Griff zu bekommen oder mit Gewalterfahrungen und den daraus resultierenden Folgen insbesondere für die Psyche von Jugendlichen konstruktiv und lösungsorientiert umzugehen, bedarf es Spezialistinnen und Spezialisten mit einer entsprechenden Ausbildung, Distanz und Erfahrung. Abschließend muss gefolgert werden, dass Peer-Education-Ansätze nur dann gelingen können, wenn die daran beteiligten Gleichaltrigen zu kooperativem Miteinander befähigt sind und die damit einher gehenden nötigen Kompetenzen aufweisen, um besonders als Educators, aber auch als Lernende in einem Peer-Education-Setting zu agieren. Es kann nicht vorausgesetzt werden, dass Jugendliche die in der Literatur oft geforderten Fähigkeiten aufweisen, welche zu gelingender Peer-Education nötig sind, auch haben. Hier spielen familiale Sozialisationsaspekte eine bedeutende Rolle, wie Naudascher bereits 1977 eindrucksvoll geschildert hat. Berücksichtigt werden müssen dabei vor allem die kindliche Erziehung und Sozialisation, die Grundlage für das Handeln in einer Gleichaltrigengruppe sind (vgl. Naudascher 1977). Es erscheint dennoch sinnvoll, Jugendliche als Expertinnen und Experten einzusetzen und zukünftig die Orte von Peer-Education-Settings insofern zu kombinieren, um sowohl in formalen, non-formalen wie auch informellen Lernorten Räume zu schaffen, die Jugendlichen eine Möglichkeit geben, sich verantwortungsvoll zu betätigen und ihre Kompetenzen frühzeitig zu erlernen. Dabei ist es nötig, empirisch zu überprüfen, welche Settings und Themen über die genannten hinaus für PeerEducation fruchtbar gemacht werden können. In diesem Beitrag wurde das Feld der Musik angesprochen, welches viel Potenzial bes. auf non-formaler und informeller Ebene mit sich bringt. Sicherlich besteht besonders im Hinblick auf die politische Beteiligung Jugendlicher und die Diskussionen, das Wahlalter auf
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16 Jahre herabzusetzen, die Möglichkeit, auch hier Peer-Kompetenzen nutzbar zu machen und Jugendliche einzubeziehen. Sinnvoll erscheint dies bes. vor dem Hintergrund der zunehmenden Politikerverdrossenheit Jugendlicher. Abschließend wird nochmals auf Thole und Höblich verwiesen: „Das Wissen über Möglichkeiten und Grenzen des Erwerbs von Kompetenzen in informellen und non-formal gerahmten Handlungsfeldern [hier bezogen auf PeerEducation] ist sicherlich ebenso noch unzureichend wie das über die zu erzielenden Synergieeffekte bei gelungenen Kooperationen zwischen Schule und außerschulischen Projekten“ (Thole/Höblich 2008, 88). In beiden Bereichen besteht Forschungs- und Handlungsbedarf.
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Autorinnen und Autoren Altmann, Uwe, Jg. 1976, M. A., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Methodenlehre und Evaluationsforschung am Institut für Psychologie der Fakultät für Sozial- und Verhaltenswissenschaften an der Friedrich-Schiller-Universität Jena; Arbeitsschwerpunkte: Analyse psychischer und sozialer Prozesse (nonverbale Interaktion von Schülern, Kinderfreundschaftsverläufe, Psychotherapieverläufe) und automatisierte Erhebungsverfahren (eDiarys, Motion Energy Analysis). Baier, Dirk, Jg. 1976, Dipl.-Soz., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen e.V.; Arbeitsschwerpunkte: Deviantes Verhalten, Ausländerfeindlichkeit und Rechtsextremismus, Jugendsoziologie. Böhm-Kasper, Oliver, Jg. 1972, Prof. Dr., Professor für das Arbeitsgebiet Forschungsmethoden der Sozialforschung in der AG Medienpädagogik, Forschungsmethoden und Jugendforschung an der Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Bielefeld; Arbeitsschwerpunkte: Erziehungswissenschaftliche Erziehungsmethodik, Schul- und Bildungsforschung. Brake, Anna, Jg. 1964, Dr. phil, Wissenschaftliche Assistentin am Lehrstuhl für Soziologie und empirische Sozialforschung der Universität Augsburg; Arbeitsschwerpunkte: Bildung und soziale Ungleichheit (unter besonderer Berücksichtung des Bildungsortes Familie), Methoden der qualitativen und quantitativen Sozialforschung. Deppe, Ulrike, Jg. 1982, Dipl.-Päd., Promotionsstipendiatin der Hans-Böckler-Stiftung, assoziierte Mitarbeit im DFG-Projekt „Peergroups und schulische Selektion“ an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg; Arbeitsschwerpunkte: Kindheits- und Jugendforschung, Bildungsforschung und Forschung zu sozialer Ungleichheit. Friedrichs, Henrike, Jg. 1984, Dipl.-Päd., Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Arbeitsgebiet Medienpädagogik, Forschungsmethoden und Jugendforschung an der Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Bielefeld; Arbeitsschwerpunkte: Jugend- und Medienforschung, Medienpädagogik. Harring, Marius, Jg. 1977, Dipl.-Päd., Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Arbeitsgebiet Medienpädagogik, Forschungsmethoden und Jugendforschung an der Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Bielefeld; Arbeitsschwerpunkte: empirische Bildungs- und Sozialisationsforschung (Jugend- und Migrationsforschung, informelle Bildungsprozesse in schulischen und außerschulischen Kontexten, Peer-Interaktionen). Heyer, Robert, Jg. 1983, Wissenschaftlicher Mitarbeiter in den erziehungs- und bildungswissenschaftlichen Arbeitsbereichen Bildung und Sozialisation sowie Interkulturelle Bildung der Universität Bremen; Arbeitsschwerpunkte: empirische Bildungs- und Sozialisationsforschung, besonderer Fokus auf Sozialisation von Jugendlichen durch Musik, Familie, Peers und Schule. Hitzler, Ronald, Jg. 1950, Prof. Dr. rer. pol., habil., Professor für Allgemeine Soziologie an der Fakultät ‚Erziehungswissenschaft und Soziologie‘ und an der Fakultät ‚Wirtschafts- und Sozialwissenschaften‘ der Technischen Universität Dortmund; Arbeitsschwerpunkte: Allgemeine Soziologie, Verstehende Soziologie, Modernisierung als Handlungsproblem, Methoden der explorativ-interpretativen Sozialforschung.
Krappmann, Lothar, Jg. 1936, Dr. phil., Hon.-Prof. Soziologie der Bildung, bis 2001 Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung im Forschungsbereich Entwicklung und Sozialisation; Arbeitsschwerpunkte: Sozialentwicklung von Kindern in der mittleren Kindheit und beginnenden Adoleszenz (Kindergruppen, Kinderfreundschaften, Kinderspiel, Kinderstreit); Einrichtungen für Kinder (Kindergarten, Hort; Schule); qualitative Forschungsmethoden. Seit 2003 Mitglied im Ausschuss der Vereinten Nationen für die Rechte des Kindes (u.a. Recht auf Beteiligung, Recht auf Bildung, Recht auf Spiel). Krüger, Heinz-Hermann, Jg. 1947, Prof. Dr. phil. habil., Professor für das Arbeitsgebiet Allgemeine Erziehungswissenschaft und stellv. Direktor des Zentrums für Schul- und Bildungsforschung an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg; Arbeitsschwerpunkte: Bildungs- und Schulforschung, Kindheits- und Jugendforschung sowie Hochschul- und Arbeitsmarktforschung. Meyer, Christine, Jg. 1969, Dr. PD, Diplom-Sozialpädagogin, Vertretungsprofessorin für “Sozialmanagement in pädagogischen Handlungsfeldern” am Institut für Erziehungswissenschaften der Friedrich-Schiller-Universität Jena; Arbeitsschwerpunkte: Sozialmanagement, Professionalisierung personenbezogener Dienstleistungsberufe, Soziale (Alten)Arbeit, Seniorenwirtschaft, Forschungen zur Zeitverwendung im Alter und generationsübergreifende Soziale Arbeit. Niederbacher, Arne, Jg. 1970, Dr. phil., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie an der Fakultät ‚Erziehungswissenschaft und Soziologie‘ der Technischen Universität Dortmund; Arbeitsschwerpunkte: Prozess-Soziologie, Jugendsoziologie, Wissenschaftssoziologie, Methoden der Sozialforschung, Arbeits-, Industrie- und Organisationssoziologie. Palentien, Christian, Jg. 1969, Prof. Dr. phil. habil., Dipl.-Päd., Professor für das Arbeitsgebiet Bildung und Sozialisation am Fachbereich Erziehungs- und Bildungswissenschaften der Universität Bremen; Arbeitsschwerpunkte: Sozialisations- und Bildungsforschung (Kindheits-, Jugend-, Armutsforschung). Pfeiffer, Christian, 1944, Prof. Dr., Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen e.V.; Arbeitsschwerpunkte: Jugendkriminalität, Delinquenz von ethnischen Minderheiten, Innerfamiliäre Gewalt, Auswirkungen des Medienkonsums. Philipp, Maik, Jg. 1979, M.A., Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Zentrum Lesen an der Pädagogischen Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz, Aarau; Arbeitsschwerpunkte: Lesedidaktik, Lese- und Mediensozialisation, informeller Kompetenzerwerb dank Peers und schulisches PeerAssisted Learning. Rabold, Susann, Jg. 1982, Soziologin M.A., Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen e.V.; Arbeitsschwerpunkte: Abweichendes Verhalten von Jugendlichen, Freundschaftsnetzwerke und Jugenddelinquenz, sozialökologische Forschung und Mehrebenenanalyse. Reinders, Heinz, Jg. 1972, Prof. Dr. phil. habil., Professor für Empirische Bildungsforschung am Institut für Pädagogik an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg; Arbeitsschwerpunkte: soziale Entwicklung in Kindheit und Jugend.
Rohlfs, Carsten, Jg. 1974, Dr. phil., Professor in Vertretung am Lehrstuhl für Schulpädagogik und Schulentwicklung am Institut für Erziehungswissenschaft der Fakultät für Sozial- und Verhaltenswissenschaften an der Friedrich-Schiller-Universität Jena; Arbeitsschwerpunkte: empirische Bildungs- und Sozialisationsforschung (Schulforschung, Kindheits- und Jugendforschung) und Schulpädagogik. Sander, Uwe, Jg. 1955, Prof. Dr. phil. habil., Professor für das Arbeitsgebiet Medienpädagogik und Jugendforschung in der AG Medienpädagogik, Forschungsmethoden und Jugendforschung an der Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Bielefeld. Arbeitsschwerpunkte: Jugend- und Medienforschung, Medienpädagogik. Schäfer, Arne, Jg. 1976, Dr. phil., Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Arbeitsgruppe 9 – Medienpädagogik, Forschungsmethoden und Jugendforschung – an der Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Bielefeld; Arbeitsschwerpunkte: Jugend- und Migrationsforschung, Medienpädagogik. Scherr, Albert, Jg. 1958, Dr. phil. habil., Professor für Soziologie am Institut für Sozialwissenschaften der Pädagogischen Hochschule Freiburg; Arbeitschwerpunkte: Jugendforschung, Diskriminierungsforschung, Bildungs- und Erziehungssoziologie, Theorien der Sozialen Arbeit. Schoneville, Holger, Dipl. Sozialarbeiter, Sozialpädagoge, wiss. Mitarbeiter am Institut für Sozialpädagogik und Soziologie der Lebensalter der Universität Kassel; Arbeitsschwerpunkte: Soziale Arbeit und außerschulische Bildung, Armut und soziale Ausgrenzung, Kinder- und Jugendhilfe. Thole, Werner, Jg. 1955, Prof. Dr. phil. habil., Dipl.-Päd. und Dipl.-Soz.-Päd., Professor für Jugendund Erwachsenenbildung am Institut für Sozialpädagogik und Soziologie der Lebensalter (ISSL) im Fachbereich Sozialwesen der Universität Kassel; Arbeitsschwerpunkte: Theoretische, professionsbezogene und disziplinäre Fragen der Sozialpädagogik, Theorie und Praxis der Kinder- und Jugendhilfe, insbesondere der außerschulischen Kinder- und Jugendarbeit, Kindheits- und Jugendforschung.