Deutsch als Fremd- und Zweitsprache HSK 35.2
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Deutsch als Fremd- und Zweitsprache HSK 35.2
Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschat Handbooks o Linguistics and Communication Science Manuels de linguistique et des sciences de communication Mitbegründet von Gerold Ungeheuer () Mitherausgegeben 19852001 von Hugo Steger
´s par Herausgegeben von / Edited by / Edite Herbert Ernst Wiegand Band 35.2
De Gruyter Mouton
Deutsch als Fremd- und Zweitsprache Ein internationales Handbuch Herausgegeben von Hans-Jürgen Krumm, Christian Fandrych, Britta Hueisen, Claudia Riemer 2. Halbband
De Gruyter Mouton
ISBN 978-3-11-020508-4 e-ISBN 978-3-11-024025-2 ISSN 1861-5090 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data Deutsch als Fremd- und Zweitsprache: ein internationales Handbuch / edited by Hans-Jürgen Krumm … [et al.]. p. cm. ⫺ (Handbooks of linguistics and communication science ; 35.1/35.2) Includes bibliographical references and index. ISBN 978-3-11-020507-7 (hardcover : alk. paper) ISBN 978-3-11-020508-4 (hardcover : alk. paper) 1. German language ⫺ Study and teaching ⫺ Foreign speakers. I. Krumm, Hans-Jürgen. PF3066.D462 2010 438.214⫺dc22 2010038971
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 2010 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Einbandgestaltung: Martin Zech, Bremen Satz: META Systems GmbH, Wustermark Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Inhalt 2. Halbband XI.
Speziische Bedingungen und Zielsetzungen des Deutsch als Zweitsprache-Unterrichts
119.
125. 126.
Der Faktor „Lehren“ im Bedingungsgefüge des Deutsch als Zweitsprache-Unterrichts · Rupprecht S. Baur und Andrea Schäfer . . . . . . . . Curriculumentwicklung und Lehrziele Deutsch als Zweitsprache im vorschulischen und schulischen Bereich · Havva Engin . . . . . . . . . . . . Curriculumentwicklung und Lehrziele DaZ in der Erwachsenenbildung: Integrationskurse · Susan Kaufmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprachliche und kulturelle Vielfalt im Deutsch als Zweitsprache-Unterricht · Ingelore Oomen-Welke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alphabetisierung in der Zweitsprache Deutsch · Monika Ritter . . . . . Textkompetenz und Lernen in der Zweitsprache · Sabine SchmölzerEibinger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interkulturelle Erziehung · Gabriele Pommerin-Götze . . . . . . . . . . . Berufsorientierter Deutschunterricht · Hermann Funk . . . . . . . . . .
XII.
Sprachen lehren: Einzelaspekte
127. 128. 129. 130. 131. 132. 133. 134. 135.
Motivierung · Claudia Riemer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lernerautonomie · Claudio Nodari und Cornelia Steinmann Lernberatung · Karin Kleppin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufgabenorientierung · Paul Portmann-Tselikas . . . . . . . . Projektorientierung · Michael Schart . . . . . . . . . . . . . . . Sprachlernspiele · Brigita Kacjan . . . . . . . . . . . . . . . . . Sozialformen · Karen Schramm . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tandem-Lernen · Lars Schmelter . . . . . . . . . . . . . . . . . Distanz- und Präsenzlernen · Eva Platten . . . . . . . . . . . .
XIII.
Medien und Lehr-Lernmaterialien
136.
Die Funktion von Medien im Deutsch als Fremd- und Deutsch als Zweitsprache-Unterricht · Dietmar Rösler . . . . . . . . . . . . . . . . . Lehrwerke im Deutsch als Fremd- und Deutsch als Zweitsprache-Unterricht · Hans-Jürgen Krumm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Deutsch als Fremd- und Deutsch als Zweitsprache-Lernen in elektronischen Umgebungen · Nicola Würffel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Audiovisuelle Medien · Jörg Matthias Roche . . . . . . . . . . . . . . . . Materialien für das Wortschatzlehren und -lernen · Peter Kühn . . . . . Materialien für das Grammatiklehren und -lernen · Lutz Götze . . . . .
120. 121. 122. 123. 124.
137. 138. 139. 140. 141.
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
1073 1085 1096 1106 1116 1130 1138 1145
1152 1157 1162 1166 1172 1177 1182 1188 1192
1199 1215 1227 1243 1252 1258
VI
Inhalt
XIV. Leistungsmessung und Leistungskontrolle 142. 143. 144. 145. 146. 147.
Kompetenzmodelle und Bildungsstandards für Deutsch als Fremd- und Deutsch als Zweitsprache · Thomas Studer . . . . . . . . . . . . . . . . . Testen und Prüfen von Sprachkenntnissen · Michaela Perlmann-Balme Sprachprüfungen für Deutsch als Fremdsprache · Manuela Glaboniat . Sprachprüfungen für Deutsch als Zweitsprache · Gabriele Kniffka . . . Sprachstandsdiagnosen · Ingrid Gogolin . . . . . . . . . . . . . . . . . . Portfolios und informelle Leistungsdiagnosen · David Little . . . . . . .
XV.
Lehrerinnen und Lehrer
148.
Die Rolle des Lehrers / der Lehrerin im Unterricht des Deutschen als Zweit- und Fremdsprache · Arnd Witte und Theo Harden . . . . . . . . Ausbildung von Lehrkräften für Deutsch als Fremdsprache und Deutsch als Zweitsprache · Hans-Jürgen Krumm und Claudia Riemer . . . . . . Fort- und Weiterbildung von Lehrkräften für Deutsch als Fremdsprache · Michael Legutke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fort- und Weiterbildung von Lehrkräften für Deutsch als Zweitsprache · Rupprecht S. Baur und Andrea Schäfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unterrichtsbeobachtung und Unterrichtsanalyse · Hans-Jürgen Krumm Aktionsforschung / Handlungsforschung · Michael Schart . . . . . . . .
149. 150. 151. 152. 153.
1264 1272 1288 1299 1305 1315
1324 1340 1351 1357 1363 1370
XVI. Kulturwissenschatliche Aspekte des Deutschen als Fremd- und Zweitsprache 154. 155. 156. 157. 158. 159.
Geschichte und Konzepte einer Kulturwissenschaft im Fach Deutsch als Fremdsprache · Claus Altmayer und Uwe Koreik . . . . . . . . . . . . . Fremdverstehen und kulturelles Lernen · Adelheid Hu . . . . . . . . . . Konzepte von Kultur im Kontext von Deutsch als Fremd- und Zweitsprache · Claus Altmayer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interkulturelle Germanistik · Bernd Müller-Jacquier . . . . . . . . . . . Fremdbilder und Fremdwahrnehmung · Hans-Joachim Althaus . . . . . Vergleichende Kultur- und Mentalitätsforschung · Gordian Wolf . . . .
1378 1391 1402 1413 1423 1431
XVII. Landeskunde 160. 161. 162. 163. 164. 165. 166.
Entwicklungslinien landeskundlicher Ansätze und Vermittlungskonzepte · Uwe Koreik und Jan Paul Pietzuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprachbezogene Landeskunde · Rainer Bettermann . . . . . . . . . . . . Informationsbezogene Landeskunde · Wolfgang Hackl . . . . . . . . . . Interkulturelle Landeskunde · Ulrich Zeuner . . . . . . . . . . . . . . . . Landeskundliche Gegenstände: Geschichte · Uwe Koreik . . . . . . . . Landeskundliche Gegenstände: Politik und Gesellschaft · Matthias Grünewald . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Landeskundliche Gegenstände: Alltagskultur, Multikulturalität und Heterogenität · Ernest W. B. Hess-Lüttich . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1441 1454 1465 1472 1478 1484 1492
Inhalt 167. 168. 169.
VII DACH-Landeskunde · Roland Fischer, Bruno Frischherz und Knuth Noke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Landeskunde in der Germanistik im nichtdeutschsprachigen Europa · Karen Risager . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Landeskunde in der Germanistik außereuropäischer Länder · Rainer Kussler und Noraseth Kaewwipat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1500 1511 1520
XVIII. Die Rolle der Literatur im Fach Deutsch als Fremd- und Zweitsprache 170. 171.
172. 173. 174. 175. 176. 177. 178.
Literarische Texte im Deutsch als Fremd- und Zweitsprache-Unterricht: Gegenstände und Ansätze · Swantje Ehlers . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur, Kultur, Leser und Fremde ⫺ Theoriebildung und Literaturvermittlung im Fach Deutsch als Fremd- und Zweitsprache · Renate Riedner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literarischer Kanon und Fragen der Literaturvermittlung · Michael Ewert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur im Landeskundeunterricht · Peter O. H. Groenewold . . . . . Migrationsliteratur im Deutsch als Fremd- und Zweitsprache-Unterricht · Heidi Rösch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kinder- und Jugendliteratur im Deutsch als Fremd- und ZweitspracheUnterricht · Ulrike Eder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kreatives Schreiben und Schreibwerkstatt · Karl-Heinz Pogner . . . . . Drama- und Theaterpädagogik im Deutsch als Fremd- und Zweitsprache-Unterricht · Manfred Schewe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kunst und Musik im Deutsch als Fremd- und Zweitsprache-Unterricht · Camilla Badstübner-Kizik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
XIX.
Deutsch an Schulen und Hochschulen in nichtdeutschsprachigen Ländern: Bestandsaunahme und Tendenzen
179. 180. 181. 182. 183. 184. 185. 186. 187. 188. 189. 190. 191. 192. 193. 194.
Deutsch in Ägypten · Aleya Khattab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Deutsch in Argentinien · Roberto Bein . . . . . . . . . . . . . . . . . Deutsch in Australien · Heinz L. Kretzenbacher . . . . . . . . . . . . Deutsch in Belarus · Natalia Furaschowa und Dmitri Kletschko . . Deutsch in Belgien · Roland Duhamel . . . . . . . . . . . . . . . . . . Deutsch in Brasilien · Paulo Soethe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Deutsch in Bulgarien · Ana Dimova . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Deutsch in Chile · Ginette Castro . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Deutsch in China · Marcus Hernig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Deutsch in Dänemark · Martin Nielsen . . . . . . . . . . . . . . . . . Deutsch in Elfenbeinküste / Coˆte d’Ivoire · Bechie Paul N’Guessan Deutsch in Estland · Merle Jung und Mari Tarvas . . . . . . . . . . . Deutsch in Finnland · Kim Haataja . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Deutsch in Frankreich · Martine Dalmas . . . . . . . . . . . . . . . . Deutsch in Georgien · Anna Bakuradse und Iwa Mindadse . . . . . Deutsch in Ghana · Sebastian K. Bemile . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . .
1530
1544 1555 1565 1571 1577 1583 1589 1596
1602 1607 1611 1615 1619 1624 1628 1632 1637 1642 1646 1650 1654 1658 1664 1667
VIII
Inhalt 195. 196. 197. 198. 199. 200. 201. 202. 203. 204. 205. 206. 207. 208. 209. 210. 211. 212. 213. 214. 215. 216. 217. 218. 219. 220. 221. 222. 223. 224. 225. 226. 227. 228. 229. 230. 231. 232. 233. 234.
Deutsch in Griechenland · Angeliki Kiliari . . . . . . . . . . . . . . . . . Deutsch in Großbritannien · Gertrud Reershemius . . . . . . . . . . . . Deutsch in Indien · Rekha Kamath Rajan . . . . . . . . . . . . . . . . . Deutsch in Indonesien · Setiawati Darmojuwono . . . . . . . . . . . . . Deutsch in Irland · Joachim Fischer und Manfred Schewe . . . . . . . . Deutsch in Italien · Marina Foschi Albert und Marianne Hepp . . . . . Deutsch in Japan · Masako Sugitani . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Deutsch in Kamerun · Alexis Ngatcha . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Deutsch in Kanada · Barbara Schmenk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Deutsch in Kolumbien · Alfonso Mejı´a und Antje Rüger . . . . . . . . . Deutsch in Korea · Ok-Seon Kim und Young-Jin Choi . . . . . . . . . . Deutsch in Kroatien · Siegfried Gehrmann und Ana Petravic´ . . . . . . Deutsch in Kuba · Orquidea Pino . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Deutsch in Lettland · Ilze Kangro . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Deutsch in Litauen · Lina Pilypaityte˙ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Deutsch in Luxemburg · Peter Kühn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Deutsch in Marokko · Rachid Jai-Mansouri . . . . . . . . . . . . . . . . Deutsch in Mexiko · Joachim Steffen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Deutsch in der Mongolei · Khalzkhuu Naranchimeg . . . . . . . . . . . Deutsch in den Niederlanden · Lisanne Klein Gunnewiek und Wolfgang Herrlitz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Deutsch in Nigeria · Arnd Witte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Deutsch in Norwegen · Beate Lindemann . . . . . . . . . . . . . . . . . . Deutsch in Polen · Franciszek Grucza . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Deutsch in Portugal · Anto´nio Ribeiro . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Deutsch in Rumänien · Speranta Sta˘nescu . . . . . . . . . . . . . . . . . Deutsch in Russland · Natalia Troshina . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Deutsch in Schweden · Christine Fredriksson . . . . . . . . . . . . . . . . Deutsch in Senegal · M. Moustapha Diallo . . . . . . . . . . . . . . . . . Deutsch in Serbien · Dusˇan Glisˇovic´ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Deutsch in der Slowakei · Bea´ta Hockickova´ . . . . . . . . . . . . . . . . Deutsch in Slowenien · Neva Sˇlibar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Deutsch in Spanien · Lucrecia Keim . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Deutsch in Südafrika · Carlotta von Maltzan . . . . . . . . . . . . . . . . Deutsch in der Tschechischen Republik · Eva´ Berglova´ . . . . . . . . . . Deutsch in Tunesien · Helmut Dietrich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Deutsch in der Türkei · Nilüfer Tapan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Deutsch in der Ukraine · Oksana Pavlychko . . . . . . . . . . . . . . . . Deutsch in Ungarn · Erzse´bet Drahota-Szabo´ . . . . . . . . . . . . . . . Deutsch in den USA · Peter Ecke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Deutsch in Vietnam · Ingo Schöningh . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1670 1674 1680 1686 1689 1693 1698 1702 1705 1709 1713 1717 1721 1725 1728 1732 1736 1740 1744 1747 1753 1757 1761 1767 1771 1775 1781 1785 1789 1793 1797 1801 1805 1809 1814 1817 1823 1827 1833 1839
Indices Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1843 1861
Inhalt
IX
1. Halbband Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
I. 1.
II. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
Deutsch als Fremd- und Zweitsprache als speziisches Lehr- und Forschungsgebiet Perspektiven und Schwerpunkte des Faches Deutsch als Fremd- und Zweitsprache · Christian Fandrych, Britta Hufeisen, Hans-Jürgen Krumm und Claudia Riemer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Die Strukturdebatte als Teil der Fachgeschichte · Lutz Götze, Gerhard Helbig (†), Gert Henrici und Hans-Jürgen Krumm . . . . . . . . . . . . Die Situation von Deutsch außerhalb des deutschsprachigen Raumes · Christian Fandrych und Britta Hufeisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklungen von Deutsch als Fremdsprache in Deutschland nach 1945 · Hans-Jürgen Krumm, Bernd Skibitzki und Brigitte Sorger . . . . Entwicklungen von Deutsch als Fremdsprache vor 1945 · Ulrike Eder Entwicklungen von Deutsch als Zweitsprache in Deutschland · Hans H. Reich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklungen von Deutsch als Fremd- und Zweitsprache in Österreich · Klaus-Börge Boeckmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklungen von Deutsch als Fremd- und Zweitsprache in der Schweiz · Michael Langner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Sprachenpolitik
9. 10.
Die Verbreitung des Deutschen in der Welt · Ulrich Ammon . . . . . . Zuwanderung und Sprachenpolitik der deutschsprachigen Länder · Verena Plutzar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die deutsche Sprache in der Sprachenpolitik europäischer Institutionen · Konrad Ehlich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprachenpolitische Konzepte und Institutionen zur Förderung der deutschen Sprache in nichtdeutschsprachigen Ländern · Brigitte Ortner und Katharina von Ruckteschell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Institutionen und Verbände für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache in Deutschland · Matthias Jung, Hans-Jürgen Krumm und Rainer E. Wicke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Institutionen und Verbände für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache in Österreich · Brigitte Sorger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Institutionen und Verbände für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache in der Schweiz · Monika Clalüna . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die internationale Institutionalisierung von Deutsch als Fremd- und Zweitsprache · Britta Hufeisen und Brigitte Sorger . . . . . . . . . . . .
12.
13.
14. 15. 16.
1
Entwicklungslinien des Faches
III.
11.
V
19 34 44 55 63 72 80
89 107 124
133
144 153 160 166
X
Inhalt
IV.
Linguistische Gegenstände in ihrer Bedeutung ür das Deutsche als Fremd- und Zweitsprache
17.
Grundlagen der Linguistik im Fach Deutsch als Fremd- und Zweitsprache · Christian Fandrych . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Phonetik / Phonologie · Ursula Hirschfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . Orthographie · Dieter Nerius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Morphologie: Flexion · Heide Wegener . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Syntax · Cathrine Fabricius-Hansen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Morphologie: Wortbildung · Maria Thurmair . . . . . . . . . . . . . . . Wortschatz · Erwin Tschirner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Phraseologismen und Kollokationen · Brigitte Handwerker . . . . . . . Linguistische Pragmatik · Gabriele Graefen und Ludger Hoffmann . . Mündliche Diskurse · Kristin Bührig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Textlinguistik · Maria Thurmair . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Textsorten · Maria Thurmair . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grammatiken · Maria Thurmair . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wörterbücher / Lernerwörterbücher · Peter Kühn . . . . . . . . . . . . . Korpuslinguistik · Anke Lüdeling und Maik Walter . . . . . . . . . . . . Übersetzen und Sprachmitteln · Juliane House . . . . . . . . . . . . . . . Interkulturelle Kommunikation aus linguistischer Perspektive · Susanne Günthner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
18. 19. 20. 21. 22. 23. 24. 25. 26. 27. 28. 29. 30. 31. 32. 33.
V.
Variation und Sprachkontakt
34. 35.
44.
Variation in der deutschen Sprache · Helmut Spiekermann . . . . . . . Deutsch in Österreich: Standard, regionale und dialektale Variation · Peter Wiesinger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Deutsch in der Schweiz: Standard, regionale und dialektale Variation · Peter Sieber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Deutsch in Deutschland: Standard, regionale und dialektale Variation · Alfred Lameli . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Deutsche außerhalb des zusammenhängenden deutschen Sprachraums · Ludwig M. Eichinger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklungen und Veränderungen im heutigen Deutsch · Ludwig M. Eichinger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alltagsdeutsch · Stephan Elspaß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Verhältnis zwischen gesprochener und geschriebener Sprache · Johannes Schwittalla . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jugendsprache · Eva Neuland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprachkontakt: Einflüsse anderer Sprachen auf das Deutsche · Albrecht Plewnia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprachkontakt: Ethnische Varietäten · Inken Keim . . . . . . . . . . . .
VI.
Fach- und Wissenschatssprachen
45. 46.
Fachsprache der Wirtschaft und des Tourismus · Ewald Reuter . . . . . Deutsch im medizinischen Kontext · Sabine Ylönen . . . . . . . . . . . .
36. 37. 38. 39. 40. 41. 42. 43.
173 189 199 206 216 227 236 246 255 265 275 284 293 304 315 323 331
343 360 372 385 398 405 418 425 431 439 447
458 467
Inhalt 47. 48. 49. 50. 51.
XI Fach- und Wissenschaftssprachen in den Naturwissenschaften · Hans-R. Fluck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fach- und Wissenschaftssprachen in den Ingenieurswissenschaften · Antje Heine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fach- und Wissenschaftssprachen in den Geistes- und Sozialwissenschaften · Heinz L. Kretzenbacher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprache der Massenmedien und der Werbung · Nina Janich . . . . . . . Wissenschafts- und Studiensprache Deutsch · Christian Fandrych und Gabriele Graefen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
VII.
Kontrastivität und Sprachvergleich
52.
Nutzen und Grenzen der kontrastiven Analyse für Deutsch als Fremdund Zweitsprache · Rita Brdar-Szabo´ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kontrastive Analyse Arabisch⫺Deutsch · Renate Riedner und Nabil Kassem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kontrastive Analyse Bulgarisch⫺Deutsch · Ana Dimova . . . . . . . . . Kontrastive Analyse Dänisch⫺Deutsch · Peter Colliander . . . . . . . . Kontrastive Analyse Englisch⫺Deutsch · Christopher Hall . . . . . . . Kontrastive Analyse Estnisch⫺Deutsch · Anne Arold . . . . . . . . . . . Kontrastive Analyse Finnisch⫺Deutsch · Irma Hyvärinen und MarjaLeena Piitulainen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kontrastive Analyse Französisch⫺Deutsch · Martine Dalmas . . . . . . Kontrastive Analyse Italienisch⫺Deutsch · Marcella Costa . . . . . . . Kontrastive Analyse Japanisch⫺Deutsch · Christiane Hohenstein und Shinichi Kameyama . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kontrastive Analyse Koreanisch⫺Deutsch · Holger Steidele . . . . . . . Kontrastive Analyse Lettisch⫺Deutsch · Dzintra Lele-Rozentale . . . . Kontrastive Analyse Litauisch⫺Deutsch · Lina Pilypaityte˙ . . . . . . . . Kontrastive Analyse Madegassisch⫺Deutsch · Henning Bergenholtz und Suzy Rajaonarivo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kontrastive Analyse Mandarin⫺Deutsch · Jin Zhao . . . . . . . . . . . Kontrastive Analyse Neugriechisch⫺Deutsch · Eleni Butulussi . . . . . Kontrastive Analyse Niederländisch⫺Deutsch · Madeline Lutjeharms . Kontrastive Analyse Norwegisch⫺Deutsch · Cathrine Fabricius-Hansen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kontrastive Analyse Polnisch⫺Deutsch · Lesław Cirko und Danuta Rytel-Schwarz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kontrastive Analyse Portugiesisch⫺Deutsch · Göz Kaufmann . . . . . Kontrastive Analyse Rumänisch⫺Deutsch · Sperant¸a Sta˘nescu . . . . . Kontrastive Analyse Russisch⫺Deutsch · Anka Bergmann und Grit Mehlhorn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kontrastive Analyse Schwedisch⫺Deutsch · Christine Fredriksson . . . Kontrastive Analyse Serbisch/Kroatisch⫺Deutsch · Olivera Durbaba . Kontrastive Analyse Slowakisch⫺Deutsch · Christa Lüdtke und Katarina Savchuk-Augustinova´ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kontrastive Analyse Spanisch⫺Deutsch · Andreu Castell . . . . . . . .
53. 54. 55. 56. 57. 58. 59. 60. 61. 62. 63. 64. 65. 66. 67. 68. 69. 70. 71. 72. 73. 74. 75. 76. 77.
477 487 493 502 509
518 531 538 544 550 562 568 579 586 593 602 609 614 621 627 634 641 647 654 660 667 673 680 687 693 699
XII
Inhalt 78. 79. 80. 81. 82.
Kontrastive Analyse Thai⫺Deutsch · Christian Körner und Wilita Sriuranpong . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kontrastive Analyse Tschechisch⫺Deutsch · Peter Kosta . . . . . . . . Kontrastive Analyse Türkisch⫺Deutsch · Christoph Schröder und Yazgül S¸ims¸ek . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kontrastive Analyse Ukrainisch⫺Deutsch · Kersten Krüger . . . . . . . Kontrastive Analyse Ungarisch⫺Deutsch · Rita Brdar-Szabo´ . . . . . .
705 711 719 726 732
VIII. Spracherwerb und Sprachenlernen: Modelle und theoretische Ansätze 83. 84. 85. 86. 87. 88. 89. 90. 91.
Spracherwerb und Sprachenlernen · Britta Hufeisen und Claudia Riemer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zweitsprachenerwerb und Fremdsprachenlernen: Begriffe und Konzepte · Frank G. Königs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Empirische Forschungsmethoden in der Zweit- und Fremdsprachenerwerbsforschung · Claudia Riemer und Julia Settinieri . . . . . . . . . . Erstsprachenerwerb · Ute Schönpflug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Behavioristische Ansätze · Haymo Mitchian . . . . . . . . . . . . . . . . Nativistische Ansätze · Claudia Riemer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kognitivistische / Konstruktivistische / Konnektionistische Ansätze · Claudia Schmidt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sozial-interaktionistische Ansätze · Karin Aguado . . . . . . . . . . . . . Mehrsprachigkeitskonzepte · Nicole Marx und Britta Hufeisen . . . . .
IX.
Sprachenlernen: speziische Variablen und Faktoren
92. 93. 94. 95. 96. 97. 98. 99. 100.
Lernersprache(n) · Ernst Apeltauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lern(er)strategien und Lerntechniken · Peter Bimmel . . . . . . . . . Lernstile und Lern(er)typen · Karin Aguado und Claudia Riemer . Sprachbewusstheit und Sprachenlernbewusstheit · Claudia Schmidt Alter · Rüdiger Grotjahn und Torsten Schlak . . . . . . . . . . . . . Affektive Variablen / Motivation · Martina Rost-Roth . . . . . . . . . Lernerexterne Faktoren · Heike Rohmann . . . . . . . . . . . . . . . Subjektive (Lerner-)Theorien · Annette Berndt . . . . . . . . . . . . . Sprachlern-Eignung und Sprachlern-Bereitschaft · Gudula List . . .
X.
Sprachen lehren: Zielsetzungen und Methoden
101.
Der Faktor „Lehren“ im Bedingungsgefüge des Deutsch als Fremdsprache-Unterrichts · Hans-Jürgen Krumm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Curriculumentwicklung und Lehrziele Deutsch als Fremdsprache · Reiner Schmidt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unterrichtsplanung · Rainer E. Wicke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Methodische Konzepte für den Deutsch als Fremdsprache-Unterricht · Hermann Funk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Regionale Lehr- und Lernkulturen · Klaus-Börge Boeckmann . . . . . .
102. 103. 104. 105.
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
738 754 764 781 793 799 807 817 826
833 842 850 858 867 876 886 895 901
907 921 933 940 952
Inhalt 106. 107. 108. 109. 110. 111. 112. 113. 114. 115. 116. 117. 118.
XIII Die sprachlichen Fertigkeiten · Renate Faistauer . . . . . . . . . . . . . . Vermittlung der Hörfertigkeit · Gert Solmecke . . . . . . . . . . . . . . . Vermittlung der Lesefertigkeit · Madeline Lutjeharms . . . . . . . . . . . Vermittlung der Sprechfertigkeit · Martina Liedke . . . . . . . . . . . . . Vermittlung der Schreibfertigkeit · Imke Mohr . . . . . . . . . . . . . . . Ausspracheerwerb und Aussprachevermittlung · Julia Settinieri . . . . . Grammatikerwerb und Grammatikvermittlung · Christian Fandrych . . Wortschatzerwerb und Wortschatzvermittlung · Lutz Köster . . . . . . . Textarbeit · Ingo Thonhauser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Übersetzen und Sprachmitteln im Deutsch als Fremdsprache-Unterricht · Frank G. Königs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fach- und sprachintegrierter Unterricht · Kim Haataja . . . . . . . . . . Fachsprachenvermittlung · Winfried Thielmann . . . . . . . . . . . . . . Fehleranalyse und Fehlerkorrektur · Karin Kleppin . . . . . . . . . . . .
961 969 976 983 992 999 1008 1021 1033 1040 1047 1053 1060
XI. Speziische Bedingungen und Zielsetzungen des Deutsch als Zweitsprache-Unterrichts 119. Der Faktor Lehren im Bedingungsgeüge des Deutsch als Zweitsprache-Unterrichts 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Darstellung des Bedingungsgefüges Der Faktor ,Lerner‘ ⫺ der Faktor ,Lehrer‘ DaZ-Unterricht ⫺ Spezifika Analyse von DaZ-Unterricht Analyse von Lehrwerken Fazit Literatur in Auswahl
Wenn man den Faktor ,Lehren‘ im DaZ-Unterricht genauer betrachtet, fällt schnell auf, dass es sich hier um einen Faktor handelt, der durch zahlreiche unterschiedliche Aspekte, Bedingungen und Erwartungen geprägt ist und beeinflusst wird. U. a. gibt es Zusammenhänge mit der Lehrerausbildung bzw. Lehrerfortbildung (vgl. Art. 151). Um den komplexen Faktor ,Lehren‘ insgesamt in den Blick zu bekommen, soll zunächst das Bedingungsgefüge, in dem dieser Faktor zum Tragen kommt, dargestellt werden. Danach soll die Verbindung zu weiteren ausgewählten Bereichen näher beleuchtet werden.
1.
Darstellung des Bedingungsgeüges
1.1. Die Entwicklung von DaZ Der Faktor ,Lehren‘ ist ein eigener Faktor in der Faktorenkomplexion (Königs 1983) Sprachunterricht und bildet mit den Lernenden mit ihren unterschiedlichen Lernerzugängen, den jeweiligen adressatenspezifischen Lernzielen, den Lehrenden und den gesellschaftlichen Bedingungen ein komplexes Bedingungsgefüge. Dabei ist vorab festzuhalten, dass es ein einheitliches Lernziel, das ohne Differenzierung für alle Lerner gleichermaßen gilt, nicht gibt. Lernziele beeinflussen die Strukturierung des Lernprozesses aufgrund unterschiedlicher Bezugspunkte stark. Man kann dabei zwischen lernerbezogenen, lehrerbezogenen wie auch zielbezogenen Fragestellungen unterscheiden. Diese wiederum können individueller Natur sein, sich aber ebenso auch auf die gesamte Lernergruppe beziehen oder lerngruppenübergreifende Strukturen betreffen. Auch können Lernziele auf unterschiedlichen sprachlichen Ebenen (syntaktisch, lexikalisch, morphologisch, phonologisch, phonetisch, pragmatisch) ebenso wie die Aneignung außersprachlichen Wissens (z. B. Landeskunde) oder soziale Ziele den Lehr- und Lernprozess beeinflussen (vgl. Königs 1983). Um die Probleme mit den jeweiligen Lernzielen für alle Beteiligten, vor allem aber für
1074 XI. Spezifische Bedingungen und Zielsetzungen des Deutsch als Zweitsprache-Unterrichts die Lernenden, so gering wie möglich zu halten, sollten sie mit ihren Bedürfnissen von Anfang an aktiv in die Unterrichtsplanung einbezogen werden. Die Lehrenden müssen dafür die spezifischen Bedürfnisse ihrer Lerner erkennen und analysieren können. Da Deutsch als Zweitsprache im Gegensatz zu Deutsch als Fremdsprache durch das ständige Ineinandergreifen von gesteuerten und ungesteuerten Erwerbsprozessen gekennzeichnet ist, muss der Lehrer beispielsweise den Lernstand seiner Lernenden erfassen und spezifische Fördermaßnahmen ergreifen können. Dazu gehört neben der Fähigkeit zu individueller Lernstandsdiagnose auch die Entwicklung von Fördermaterialien (siehe Art. 146). Hier einfach der Progression eines Lehrwerks zu folgen, kann den individuellen Bedürfnissen der DaZ-Lernenden i. d. R. nicht gerecht werden. Nach Edmondson und House (2006) ist der Unterricht mit seinen Lehr- und Lernzielen, mit dem gesamten Lehrwerk, seinem Lehrinhalt, den Methoden und Prinzipien, seinen Übungsformen dem geltenden Curriculum unterworfen. Hier ist allerdings zu fragen, wer diese Vorgaben in den Curricula macht und inwieweit diese Vorgaben die spezifischen Bedürfnisse der Lerner berücksichtigen. Im Idealfall sollte der Lehrer (nur) das lehren, was das Curriculum als Vorgabe liefert und die Lerner sollten die im Curriculum vorgegebenen Inhalte auch wirklich lernen können (Lernerperspektive). Faktisch ist Beides nicht immer gegeben: Abweichungen des Lehrers von den curricularen Inhalten sind praktisch nicht kontrollierbar. Unrealistische Lernziele, aber auch die Anpassung an veränderte gesellschaftliche Anforderungen führen zu einer ständigen Curriculumsrevision. Die Immigration nach Deutschland und in andere deutschsprachige Länder und ein wachsender Anteil von Lernern mit Migrationshintergrund in den verschiedenen Ausbildungsgängen stellen eine gesellschaftliche Realität dar, welche die Lernbedingungen in der Schule verändert hat. Das macht es wiederum notwendig, dass sich auch die Curricula und die Lehrerausbildung verändern müssen (vgl. Beitrag 151 in diesem Band). Eine weitere, die Eigenständigkeit eines Fachs und damit auch das Fach DaZ beeinflussende Komponente ist ebenfalls die Frage, ob das Fach in Abhängigkeit von einer Bezugswissenschaft gesehen wird. In den 1970er Jahren konstituierte sich beispielsweise das Fach Sprachlehr- und Sprachlernforschung und löste diesen Gegenstandsbereich heraus aus den vermeintlichen Basis- oder Bezugswissenschaften Linguistik, Didaktik und Psychologie (vgl. Koordinierungsgremium 1983). Von dem Koordinierungsgremium im DFG-Schwerpunkt Sprachlehr- und Sprachlernforschung sind damals weitsichtig auch bereits vier Projekte aus dem Bereich DaZ gefördert worden. Das waren auf der einen Seite zwei Projekte zur Zweisprachigkeit griechischer und türkischer Migrantenkinder, also Projekte mit schulischer Relevanz (vgl. Koordinierungsgremium 1983: 93 ff.), auf der anderen Seite zwei Projekte zum Zweitspracherwerb ausländischer Arbeitnehmer (130 f. und 140 f.). Trotz dieser positiven Ansätze wurde das Fach lange Zeit hauptsächlich als Domäne der Erziehungswissenschaften im Rahmen des Faches ,Ausländerpädagogik‘ gesehen, bevor sich auch die Germanistik in den 1980er Jahren zögerlich der Zweitsprachendidaktik zuwandte (vgl. im Einzelnen Art. 6). Die Einrichtung und die Benennung von Zusatzstudiengängen können u. E. als Indikatoren auf die Sicht von DaZ in der Lehrerbildung gewertet werden. Im Jahr 1987 wurde beispielsweise an einigen Hochschulen in NRW der Zusatzstudiengang „Ausländerpädagogik einschließlich Deutsch als Fremdsprache/Zweitsprache“ eingerichtet. 1995 wurde der Zusatzstudiengang umbenannt in „Interkulturelle Pädagogik“, im Jahr 2000 in „Deutsch als Zweitsprache/Interkulturelle Pädagogik“. Diese Benennungen zeigen, dass der Zusatzstudiengang im Bewusstsein der einrichtenden Kultusadministration zunächst vornehmlich als
119. „Lehren“ im Bedingungsgefüge des Deutsch als Zweitsprache-Unterrichts
1075
eine pädagogische Aufgabe angesehen wurde, der auch Anteile von DaZ zugerechnet wurden. Mit dem Boom der ,Interkulturellen Pädagogik‘ zu Beginn der 1990er Jahre verschwand der sprachliche Anteil in der Benennung des Zusatzstudienganges ganz aus dem Namen; auch in Österreich wurde auf die Anwesenheit von Kindern mit Migrationshintergrund zunächst dadurch reagiert, dass 1981 für die Lehrenden an Pflichtschulen das Wahlfach „Interkulturelles Lernen“ eingeführt wurde (vgl. Art. 7). Dies zeigt, dass die Interkulturelle Pädagogik damals mit dem Anspruch auftrat, für die Integration nicht-deutschsprachiger Kinder insgesamt die angemessenen Konzepte zu entwickeln bzw. diese bereit zu halten. Seit Ende der 1990er Jahre wird zunehmend deutlich, dass der sprachlichen Seite der Integration mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden muss. Das drückt sich auch in der Umbenennung des Zusatzstudiengangs in „Deutsch als Zweitsprache/Interkulturelle Pädagogik“ aus, in welcher der sprachliche Teil ⫺ diesmal als DaZ ⫺ deutlich markiert ist. (Vgl. auch Baur 2001). Wie bildungspolitische Entwicklungen sich auf DaZ ausgewirkt haben, zeigt sich besonders in Folge der PISA-Studien 2000/2003 und der IGLU-Studie 2003. Da in allen Studien Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund erheblich schlechtere Leistungen in der Lesekompetenz als Kinder und Jugendliche mit der Muttersprache Deutsch aufwiesen, wurden in Deutschland wie in Österreich Maßnahmen zur systematischen sprachlichen Diagnose und Förderung der Migrantenkinder eingeleitet und die Forderung erhoben, DaZ-Kenntnisse in der Lehrerausbildung obligatorisch zu vermitteln. In der Erwachsenenbildung wurde die bildungspolitische Bedeutung von DaZ durch die Einrichtung von Integrations(sprach)kursen verstärkt (vgl. auch Abschnitte 2 und 5 sowie Art. 121).
1.2. Das Tätigkeitseld als Bedingungsaktor Tab. 119.1: Tätigkeitsfelder DaZ
DaZ
Schule (Kinder und Jugendliche)
Erwachsenenbildung
Lehrer
Sprachlehrer im Inland
in Schulen für Kinder mit Migrationsgeschichte
an Goethe-Instituten, Weiterbildungsinstitutionen, Sprachschulen, in Firmen und Betrieben, in Integrationskursen des BaMF bzw. ÖIF
in vorschulischen DaZ-Kursen und in der Sprachförderung in propädeutischen DaZ-Kursen im Förderunterricht für Migrantenkinder außerhalb von Schule
Wenn man sich die Adressaten von DaZ (Tabelle 119.1) vor Augen hält, wird deutlich, dass DaZ ein sehr breites Tätigkeitsfeld umfasst bzw. sehr verschiedene Tätigkeitsfelder bedienen muss. So gibt es beispielsweise extreme Unterschiede zwischen DaZ-Lernern, die als Erwachsene Alphabetisierungskurse im Rahmen der Integrationskurse besuchen, und Schülern in der Sekundarstufe II, die in eine deutschsprachige Umgebung hineingeboren wurden und die gesamte Schule bisher im deutschsprachigen Schulsystem durchlaufen haben. Das verweist auf die Notwendigkeit, dass von den Adressaten her gesehen
1076 XI. Spezifische Bedingungen und Zielsetzungen des Deutsch als Zweitsprache-Unterrichts verschiedene und adressatengerechte DaZ-Ausbildungen angeboten werden müssten. Faktisch ist das aber keineswegs der Fall. Die bestehenden Ausbildungsmöglichkeiten können insgesamt in vier große Bereiche eingeteilt werden, die auf die Spezifik des späteren Tätigkeitsfeldes vorbereiten sollten: 1. Ausbildungen für die vorschulische Förderung von DaZ. Diese Ausbildungen werden seit Ende des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts erst konzipiert. Sie existierten bis dahin nicht (vgl. Art. 120); 2. Ausbildungen für die Schule im Rahmen von Lehramtsstudiengängen, Zusatzstudiengängen für das Lehramt oder Lehrerfortbildungen (vgl. Art. 149 und 151); 3. Ausbildungen von DaZ-Lehrern in der Erwachsenenbildung nach den Vorgaben des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) bzw. des Österreichischen Integrationsfonds (ÖIF) 4. Universitäre Ausbildungen im Rahmen von Bachelor-, Master- und Magister-Studiengängen, in denen DaF und DaZ häufig miteinander verbunden werden. (vgl. Baur/Kis 2002; vgl. Art. 149) Bis heute ist es nicht gelungen, die verschiedenen Gruppen von Lehrenden gezielt auf ihr jeweiliges Tätigkeitsfeld vorzubereiten. Mehr als im schulischen Bereich hat man sich allerdings in der Erwachsenenbildung darum bemüht, Grundqualifikationen zu bestimmen, über die DaZ-LehrerInnen mindestens verfügen sollten. Nachdem in den 1990er Jahren Kenntnisse und Fähigkeiten für DaZ-Kursleiter in der Erwachsenenbildung für die Integrationskurse des Goethe-Instituts festgelegt worden waren (Schweckendieck und Tietze 1994), sind die Anforderungen noch einmal erweitert und präzisiert worden, nachdem das Integrationsgesetz 2003 verabschiedet wurde und die Integrationskurse eine neue Struktur erhalten haben (vgl. www.integration-in-deutschland.de). Diese Ausbildung enthält alle wesentlichen Inhalte (der Schwerpunkt liegt auf methodisch-didaktischen Fertigkeiten), umfasst aber nur ein Stundenvolumen von 120 Stunden, so dass Vieles nur angesprochen, aber nicht wirklich eingeübt und vertieft werden kann (vgl. Art. 151). Eine auf den Daten der Studienangebote an den deutschsprachigen Hochschulen basierende Untersuchung zur Struktur der Ausbildung in DaZ wurde 2002 von Baur und Kis veröffentlicht. Diese Studie zeigt, dass im Jahre 2002 an 45 deutschsprachigen Hochschulen in unterschiedlicher Form ein Studium DaF/DaZ angeboten wurde. Obwohl sich mit der Einführung der BA- und MA-Ausbildung die Landschaft in diesem Bereich sehr verändert hat und auch weiterhin verändert, nimmt die DaF-Ausrichtung an den deutschsprachigen Hochschulen (Stand 2010) immer noch einen wesentlich größeren Raum ein als die DaZ-Ausbildung. An vielen Hochschulen gibt es ein unspezifisches DaF-DaZ-Angebot als Folge der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen: Die Hochschulen glauben die Berufschancen ihrer Absolventen zu verbessern, wenn sie ihnen polyvalente Abschlüsse anbieten. Nur wenige Studienstandorte bieten ausschließlich Qualifikationen in DaZ an. Eine der Ursachen ist, dass DaZ in der Schule kein eigenes Fach ist. Das sollte allerdings auch nicht angestrebt werden, denn das würde ja letztendlich bedeuten, dass man zwei Lehrerprofile ausbildet: die Deutsch-als-Muttersprachen-Lehrer und die DaZ-Lehrer, die für den Unterricht der Migrantenkinder verantwortlich wären, was segregative Tendenzen verstärken könnte. Wie in Abschnitt 1.1 bereits angemerkt, muss der umgekehrte Weg eingeschlagen werden: Alle Lehrer, auch die Fachlehrer, müssen dazu befähigt werden, die spezifischen Bedürfnisse von Schülern mit Migrationshinter-
119. „Lehren“ im Bedingungsgefüge des Deutsch als Zweitsprache-Unterrichts
1077
grund in ihrem Unterricht zu berücksichtigen. Aufgrund der Veränderung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen müsste sich in diesem Sinne die grundständige Lehrerausbildung wesentlich verändern. Aus Gründen der Fachtradition sind Veränderungen in den Fächern und ihren Inhalten allerdings sehr langwierige Prozesse. In letzter Konsequenz müsste nicht nur die Deutschlehrerausbildung, sondern jede Fachausbildung Anteile von DaZ in die Ausbildung integrieren, was bei einem nicht erweiterbaren Gesamtstundenvolumen zur Reduktion traditioneller fachlicher Inhalte führen würde. Da diese Veränderungen schulpolitisch auf erhebliche Widerstände treffen, wird DaZ als Ausbildung für die Schule vornehmlich als Zusatzqualifikation angeboten, die unterschiedlich benannt werden kann (vgl. auch Art. 151). Zum Bedingungsgefüge des Bildungssystems in den deutschsprachigen Ländern gehört es auch, dass man Lehrer nach Abschluss ihrer Ausbildung und nach ihrer Anstellung nicht dazu verpflichten kann, sich fortzubilden, so dass ungewiss ist und bleibt, wer in welchem Maße DaZ-Qualifikationen erwirbt. Die Motivation für ein solches DaZZusatzstudium kann aus der Erkenntnis erwachsen, sich ,nachrüsten‘ zu müssen, um spezifischen Anforderungen des Unterrichts mit Schülern nicht-deutscher Herkunft gewachsen zu sein. Die Motivation ist aber bei vielen LehramtsanwärterInnen auch ,instrumentell‘, d. h. von den Einstellungschancen her gesteuert: Wenn auf dem ,Markt‘ ein Überangebot an Lehrern herrscht und sich Bewerber mit einer solchen Zusatzqualifikation bessere Einstellungschancen versprechen, steigt das Interesse an dem DaZ-Studium. Die ,schulscharfen‘ Ausschreibungen zahlreicher Schulen in Ballungsgebieten, die gezielt nach Lehrern mit einer DaZ-Qualifikation suchen, weisen in diese Richtung. In Zeiten, in denen Lehrermangel herrscht, kann man aber auch umgekehrt davon ausgehen, dass es weniger attraktiv ist, eine fakultative Zusatzqualifikation zu erwerben, da die Einstellungschancen für Lehrer ohnehin gut sind. In der o. a. Studie von Baur und Kis (2002) wurde auch untersucht, mit welchen Inhalten und mit welchen Studienvolumina DaZ-Zusatzausbildungen operieren. Auch dabei zeigten sich große Unterschiede. Das geringste Volumen lag bei 12 Semesterwochenstunden (SWS) (also sechs Veranstaltungen), das umfangreichste bei 40 SWS.
2. Der Faktor ,Lerner der Faktor ,Lehrer Betrachtet man in der Faktorenkomplexion den Lerner genauer, ist auf die große Heterogenität hinsichtlich zahlreicher Faktoren wie sozioökonomischer Status der Lernenden (oder ihrer Familien), Alter, kulturelle Unterschiede, Motivation, Lerntyp, Einstellung zur Zielkultur, Lernerfahrungen und insbesondere Kenntnisse in der Herkunftssprache, der Zweitsprache Deutsch und in weiteren Fremdsprachen hinzuweisen. Lehrende müssen sich mit den individuellen Besonderheiten der einzelnen Lernenden auseinandersetzen und diese im Lernprozess berücksichtigen. Dabei kann es für die Einschätzung des individuellen Lernprozesses von Seiten des Lehrers z. B. von großer Bedeutung sein, ob der Lerner zugewandert ist oder in Deutschland geboren wurde, ob er berufstätig oder arbeitslos ist, ob er viel Zeit oder nur wenig für den Lernprozess einsetzen kann, ob er in der Freizeit viele oder wenige Kontakte zu deutschsprachigen Kommunikationspartnern hat u. a. m. Auch familiäre, finanzielle und aufenthaltsrechtliche Probleme können den Lernprozess in erheblichem Maße beeinträchtigen.
1078 XI. Spezifische Bedingungen und Zielsetzungen des Deutsch als Zweitsprache-Unterrichts Neben diesen individuellen Unterschieden müssen Lehrer auch auf unterschiedliche Lernbedingungen vorbereitet sein, die durch vorschulischen, schulischen oder außerschulischen Unterricht konstituiert werden. Für alle Lernbereiche kann vorab festgehalten werden, dass die DaZ-Lerner im schulischen Ausbildungssystem in den deutschsprachigen Ländern nicht von Lehrern unterrichtet werden, die für DaZ und für die Arbeit mit Zweitsprachenlernern ausgebildet wurden. Die Defizite in der Ausbildung unterscheiden sich in den verschiedenen Segmenten des Ausbildungssystems nur graduell. 1. Bedingungen für vorschulisches Lehren: Das Lehren von DaZ in diesem Bereich setzt eine DaZ-Ausbildung von Erzieherinnen voraus, die bislang nirgendwo implementiert wurde. Dieses Defizit in der Ausbildung ist inzwischen als gesellschaftliches Problem erkannt worden, es werden neue Modelle der Ausbildung von Erzieherinnen diskutiert und erprobt (vgl. z. B. Knapp et al. 2008; vgl. auch Art. 151). D. h. der Faktor ,Lehren‘ behindert im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts das Lernen in vorschulischen Einrichtungen erheblich, da als ,Förderlehrer‘ zu einem großen Teil unqualifizierte Personen, wie z. B. Studierende des Faches Deutsch eingesetzt werden ⫺ in der irrigen Annahme, dass ein Deutschstudium allein bereits für den Unterricht in DaZ qualifiziert. Professionelle Unterstützung erwartet man sich auch durch den Einsatz von Studierenden (und später Lehrenden) mit Migrationshintergrund, ohne dass diese Personen für diese Aufgabe in der notwendigen Weise vorbereitet wären. (vgl. Baur 2009) Ob und in welcher Weise im vorschulischen Bereich bei Fördermaßnahmen differenziert werden kann und soll, muss noch erforscht werden. Allgemein wird in der Bildungspolitik angestrebt, vor der Einschulung Diagnoseinstrumente einzusetzen, die sprachliche Defizite bei Kindern aufdecken und eine Förderung vorbereiten sollen (vgl. Art. 146). 2. Bedingungen in der Grundschule: In der Grundschule steigt der Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund ständig und ein großer Teil dieser Kinder wächst zweisprachig auf (vgl. Chlosta, Ostermann und Schroeder 2003). Auf diese Situation werden GrundschullehrerInnen in ihrer Ausbildung unzureichend vorbereitet (Gogolin 2006, 2008a, 2008b; Gogolin und Saalmann 2007). Hier müsste verstärkt differenziert werden. Zum einen sollte die Sprachförderung im vorschulischen Bereich mit der Förderung in den ersten Klassen der Primarstufe koordiniert und aufbauend fortgeführt werden, zum anderen muss in den oberen Klassen der Primarstufe die Lese- und Schreibkompetenz systematisch beobachtet und ggf. stabilisiert werden. Eine solche differenzierte Betrachtungsweise hat auch Auswirkungen auf das ,Lehren‘: Die Bereiche Diagnose und Förderung mit Blick auf den Übergang in die weiterführenden Schulen der Sekundarstufe I müssten gezielt ausgebaut werden (vgl. Art. 151). 3. Bedingungen im Sekundarstufenbereich I: Förderung, die in der Primarstufe eingeleitet wurde, muss in der Sekundarstufe I ziel- und adressatenspezifisch weitergeführt werden. DaZ-Unterricht darf sich nicht nur auf den vorschulischen Bereich und die Primarstufe konzentrieren, wie das von Bildungsexperten z. T. gefordert wird, sondern muss in Zukunft gerade auch in der Sekundarstufe I ausgebaut werden, da sich erst hier der besondere Förderbedarf in den Fächern bzw. den fachsprachlichen Zugängen zeigt. In der Sekundarstufe I muss daher vor allem auf den Auf- und Ausbau der fachsprachlichen Fähigkeiten geachtet werden, da diese die Grundlage für den weiteren Schulerfolg dar-
119. „Lehren“ im Bedingungsgefüge des Deutsch als Zweitsprache-Unterrichts
1079
stellen. Deshalb ist auch eine DaZ-Ausbildung der Fachlehrer notwendig (vgl. Chlosta und Schäfer 2008). 4. Bedingungen im Sekundarstufenbereich II: Die so genannte gymnasiale Oberstufe ist in Bezug auf DaZ in der Schulpolitik bzw. in den Curricula nur wenig beachtet worden. Eine DaZ-Förderung muss allerdings auch hier stattfinden, wenn Probleme in Studium und Beruf vermieden werden sollen. Die Erfahrungen aus den Förderprojekten der Stiftung Mercator (http://www.stiftung-mercator.org/cms/front_content.php?idcat⫽35 [10. 5. 2010]) und aus dem universitären Bereich (http://www.uni-due.de/foerderunterricht/ [10. 5. 2010]) zeigen, dass DaZ-Lerner auf dem Gebiet des wissenschaftlichen Schreibens häufig Unterstützung brauchen. Welche Förderungsmaßnahmen hier erfolgreich sein können, muss in Zukunft verstärkt erforscht werden. 5. Bedingungen in Berufskolleg/Berufsschule: Wie die gymnasiale Oberstufe wurde auch das Berufskolleg (z. T. auch unter dem Namen Berufsschule geführt) bisher bildungspolitisch hinsichtlich des DaZ-Unterrichts wenig beachtet, obwohl sich hier ein hoher Anteil von Schülern mit Migrationshintergrund in der Ausbildung befindet. Die Fachsprachenförderung stellt hier eine wichtige Grundlage für eine erfolgreiche Berufsausbildung dar (vgl. Ohm, Kuhn und Funk 2008 sowie Art. 126). 6. Bedingungen in der Erwachsenenbildung: Durch Einführung der Integrations(sprach)kurse (vgl. Art. 121) hat der Faktor ,Lehren‘ eine besondere Struktur im Unterricht mit zugewanderten Erwachsenen erhalten. Diese Lerner sollen zunächst in allgemeinsprachlichen Kursen Grundkenntnisse (auf dem Niveau B1) erwerben. Darauf aufbauend müssen in weiteren Kursangeboten fachsprachliche und berufsbezogene Kenntnisse erworben werden. Eine Lehrerausbildung in diesem wichtigen weiterführenden Aufgabenbereich gibt es für DaZ bislang nicht. Eine Fokussierung dieses Bereichs fehlt erstaunlicherweise auch in den Ausbildungsrichtlinien des BAMF für die Integrationssprachenlehrer (vgl. Art. 151). Um eine Grundlage für das Lehren des berufssprachlichen Ausbildungsbereichs zu schaffen, müssen deshalb zukünftig neue Fort- und Weiterbildungsangebote entwickelt werden (vgl. Duxa 2001).
3. DaZ-Unterricht Speziika Im DaZ-Unterricht geht es immer auch um spezielle Bedingungen des Zweitspracherwerbs: Generell lässt sich als Ähnlichkeit zwischen Zweitspracherwerb und Fremdsprachenlernen herausstellen, dass es in beiden Fällen einen Transfer von den jeweiligen muttersprachlichen Fähigkeiten in die Zweit- bzw. Fremdsprache gibt. Im Unterschied zum Fremdsprachenunterricht, bei dem von altersgemäßen Kenntnissen und Fähigkeiten in der Muttersprache ausgegangen werden kann, sind die Kenntnisse in der Herkunftssprache und die auf der Herkunftssprache aufbauenden Fähigkeiten bei Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund weitgehend unbekannte Größen. Obwohl die Forderung, die Muttersprachen und Herkunftskulturen in der schulischen Sozialisation von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund zu berücksichtigen, immer wieder erhoben wird (vgl. Ehlich et al. 2005), wird sie im DaZ-Unterricht äußerst selten einge-
1080 XI. Spezifische Bedingungen und Zielsetzungen des Deutsch als Zweitsprache-Unterrichts löst. Als Schwierigkeit kommt hinzu, dass das Verhältnis von Herkunftssprache und Zweitsprache Deutsch bei den Migrantenkindern sehr unterschiedlich ausgebildet ist, so dass es einen einheitlichen zweisprachigen Ansatz für alle nicht geben kann. Sprachförderung in DaZ bedeutet deshalb immer Absicherung des Lernfortschritts auf der Grundlage und mit den Mitteln der Zweitsprache Deutsch (vgl. Kap. 5). Bei der Bearbeitung konkreter Themen und Inhalte muss immer die Frage gestellt werden, welche sprachlichen Mittel notwendig sind, um sich Kenntnisse anzueignen (rezeptive Ebene) und was ein Lerner mündlich formulieren und schreiben können muss (produktive Ebene). Dies wiederum ist von den zu unterrichtenden Adressaten abhängig. Die Sprachbedarfsermittlung bestimmt die notwendigen Inhalte des Unterrichts, z. B. Kommunikation im Lebensalltag vs. Erwerb fachlichen Wissens auf der Grundlage eines entsprechenden Fachwortschatzes. Zu unterscheiden ist hier der objektive Sprachbedarf (angestrebte Handlungsfelder ⫺ Was ist zu lernen?) gegenüber dem subjektiven Sprachbedarf (Bedürfnisse des einzelnen Lerners ⫺ Wie kann und will der Einzelne lernen?). Besonders sei noch auf einen Unterschied zwischen dem DaZ-Unterricht in der Schule und in der Erwachsenenbildung hingewiesen: Auch wenn es für die Schule keine ausreichende DaZ-Vorbeitung für die Lehrenden gibt, haben die Schul-Lehrer doch alle eine grundständige Lehrerausbildung absolviert. Die Lehrqualifikation der Lehrenden in der Erwachsenenbildung beruht dagegen häufig allein auf einer Zusatzausbildung. Gerade in der Erwachsenenbildung sind Lernvoraussetzungen und Interessen der Adressaten allerdings sehr unterschiedlich, weshalb die unterrichtsmethodischen Fähigkeiten der Lehrer in der Erwachsenenbildung gut ausgebildet sein müssen. Hierbei sind folgende Aspekte besonders zu beachten: Teilnehmerorientierung (Einbeziehung von Erfahrungen und Kompetenzen der Lernenden), Wahrnehmung der Kompetenzen der Lernenden, Anregung zu Diskussionen und zu Erfahrungsaustausch, selbstständiges Arbeiten, Fähigkeit zur Anpassung der Methoden an die Teilnehmer und an die Inhalte, Binnendifferenzierung, Förderung von Spontaneität und Kreativität, Beachtung der Lerntypen (Ansprechen verschiedener Wahrnehmungskanäle bei der Präsentation und Erarbeitung des Lernstoffs), Förderung von Interaktion, Beachtung der Rollenfunktionen innerhalb der Gruppe, Förderung der Selbstidentität und Verarbeitung von Versagensängsten.
4. Analyse von DaZ-Unterricht Lehrende im DaZ-Unterricht müssen unterschiedliche Lernziele im Blick behalten. Ob und wie diese Lernziele erreicht werden, kann nur durch eine Beobachtung, Analyse und Evaluation erkannt werden. Auch Selbstbeobachtung und Selbstreflexion sind Verfahren, die zur Verbesserung des Unterrichts beitragen. Nach dem Modell der Kann-Bestimmungen, wie sie im Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen (GER) für Sprachen eingeführt wurden, sollte festgelegt werden, was der Lerner nach dem Unterricht können soll. Kenntnisse, Fähigkeiten, Fertigkeiten und angestrebte Qualifikationen, die im Unterricht angestrebt werden, sollen möglichst präzise formuliert werden. Nur so ist eine Lernzielkontrolle möglich. Nicht allein Lernstoff und Lerninhalt sollen evaluiert werden, sondern ebenso auch das Lernverhalten und der Lernprozess. Eine Analyse der Lernziele kann auf ganz unterschiedlichen Ebenen erfolgen. Solche Ebenen sind u. a.: abstrakte und konkrete Lernziele, über- und untergeordnete Lernziele, Leit- oder Richtziele (bildungspoliti-
119. „Lehren“ im Bedingungsgefüge des Deutsch als Zweitsprache-Unterrichts
1081
sche Zielsetzungen), Grob- (Hauptlernziele) und Feinziele (mit Bezug auf Unterrichtssequenzen und konkreter Bestimmung des Lernerverhaltens) und ebenso kognitive, affektive, psychomotorische, interkulturelle sowie handlungsorientierte Lernziele (Künzli David 2007). Eine Analyse kann auch auf der Grundlage der Beobachtung von Unterrichtsphasen sinnvoll sein (vgl. Art. 152). DaZ-Unterricht im Bereich der Erwachsenenbildung wird nach unterschiedlichen Modellen durchgeführt. Zu unterscheiden wären hier beispielsweise das TTT-Modell (test ⫺ teach ⫺ test) oder das PPP-Modell (presentation ⫺ practice ⫺ production) ⫺ Lehrerinput, Übungsphasen, Anwendungsphasen. Grießhaber (2005) teilt den DaZ-Unterricht (Förderunterricht für Schüler) in folgende Phasen ein: 1. Vorbereitungsphase, 2. Präsentation (Konfrontation mit dem neuen Lernstoff), 3. Verstehenskontrolle, 4. Übungsphase 1 (drill), 5. Phase der Bewusstmachung (Kognitivierung), 6. Übungsphase 2 (Festigung), 7. Transferphase, 8. Phase der freien Anwendung. Übungstypologien, die hier zur Anwendung kommen, können nach Segermann (1994) ihrerseits klassifiziert werden. Dabei entscheidet der Lehrende beispielsweise über den Ort, an dem die Übung stattfindet, über die Wahl des Mediums und des Kanals, über das Register der sprachlichen Äußerung, über die Sozialform, über den Einsatz von Hilfsmitteln, über die Lernzielkontrolle und ggf. Beurteilungsform der Leistung und letztlich auch darüber, welche Motivationsform für die Lerngruppe sinnvoll ist. Ein weiterer zentraler Faktor für die Analyse und Beurteilung des Lernprozesses ist die Progression. Bei einer steilen Progression im Bereich der Grammatik sollte darauf geachtet werden, dass die Progression im Wortschatz nicht zu stark ist (und umgekehrt), da der eine Bereich den anderen jeweils stützen oder behindern kann. Grießhaber (2005) unterscheidet dabei folgende Formen der Progression: linear (einmalige Behandlung), grammatisch (Reihenfolge nach grammatischen Gesichtspunkten), konzentrisch (mehrfache Behandlung, komplexe Bereiche werden in einfachere Teilbereiche zerlegt) und kommunikativ (kommunikative Gesichtspunkte). Durch die Lehrwerke ist die Progression vorgegeben. Lehrende sollten deshalb überprüfen können, ob es bei den für ihre Adressaten in Frage kommenden Lehrwerken Unterschiede in der Progression gibt und welche Progression für die Adressaten mehr oder weniger geeignet ist. Entscheidungen für die Auswahl von Lernmaterial im Unterricht mit fortgeschrittenen Lernern werden dabei häufig durch methodische Fragen mitbestimmt (vgl. Art. 137).
5. Analyse von Lehrwerken Im Bedingungsgefüge des DaZ-Unterrichts spielt das Lehrwerk eine zentrale Rolle. Auf dem Markt befinden sich einerseits Lehrwerke, die sowohl DaZ- als auch DaF-Lerner als Zielgruppe ansteuern, andererseits Lehrmaterialien und Lehrwerke, die sich adressatenspezifisch auf DaZ-Lerner konzentrieren, beispielsweise für Spätaussiedler und Kontingentflüchtlinge, Alphabetisierungs-Lehrwerke, Lehrwerke für Frauenkurse, Lehrwerke mit Berufsbezug u. a. m. (vgl. Art. 137). Um sich im Angebot der Lehrwerke und Lehrmaterialien besser orientieren und den Unterricht adressatengerecht gestalten zu können, sollten DaZ-Lehrende in der Ausbildung lernen, Lehrwerke zu analysieren. Das Thema ,Lehrwerksanalyse‘ ist deshalb in fast allen Ausbildungen obligatorisch. Kriterienkataloge zur Analyse von Lehrwerken
1082 XI. Spezifische Bedingungen und Zielsetzungen des Deutsch als Zweitsprache-Unterrichts sollen dabei helfen, wesentliche Aspekte des mit dem Lehrwerk geplanten Lehr- und Lernprozesses vorab zu klären (vgl. Kast und Neuner 1994). In der Realität erfolgt die Auswahl eines Lehrwerks allerdings kaum auf der Grundlage einer Lehrwerksanalyse. I. d. R. sind es die Schulen und Kursträger, die bestimmen, welche Werke eingesetzt werden. Ob und wie sich ein Lehrwerk bewährt und welche Vermittlungs- und Lernprobleme auftauchen (beispielsweise, weil die Progression zu steil oder das Übungsangebot zu schmal ist), lässt sich nur schwer vorab auf der Grundlage einer Lehrwerksanalyse vorhersagen. Befragungen von DaZ-Lehrenden, die wir in den letzten Jahren im Rahmen von Fortbildungsveranstaltungen durchgeführt haben, bestätigten, dass die Lehrenden die Vorzüge und die Nachteile eines Lehrwerks im Gebrauch entdecken und nicht eine systematische Analyse durchführen. Besonders wichtig ist es deshalb für die Lehrenden, vom Lehrwerk abhängige Mängel, die sich im Unterricht zeigen, selbstständig ,reparieren‘ zu können. Das gilt insbesondere für das Übungsangebot. Zum schrittweisen Aufbau der Kommunikationsfähigkeit hat sich die Übungstypologie zum kommunikativen Deutschunterricht von Neuner et al. (1981) bewährt: Stufe A ⫺ Übungen zur Entwicklung und zur Überprüfung von Verstehensleistungen (Heranführung an authentische Texte, Texterschließung, Textverstehen), Stufe B ⫺ Übungen zur Grundlegung von Mitteilungsfähigkeit (reproduktive Übungen; Reproduktion sprachlicher Strukturen und Redemittel, stark gesteuerte Kommunikationssituationen, korrekte sprachliche Form der Äußerungen), Stufe C ⫺ Übungen zur Entwicklung von Mitteilungsfähigkeit (reproduktive ⫺ produktive Übungen; freiere Gestaltung der Kommunikationssituationen, offene, wenig gelenkte Übungen), Stufe D ⫺ Übungen zur Entfaltung freier Äußerungen (produktive Übungen, Anregung zur sprachlichen Kommunikation, eigenständige Gestaltung der Kommunikationssituation). ⫺ Lehrende sollten überprüfen, ob in einer Übungssequenz bzw. einer Lektion alle vier Stufen vorhanden sind und ob die Fertigkeitsbereiche, die gelernt werden sollen, auch wirklich geübt werden. Eine große Unterstützung kann der Faktor ,Lehren‘ durch ein Lehrerhandbuch erfahren. Hier sind meist Vorschläge für Übungen, Projekte, Differenzierungen, Mediengebrauch, kontrastiv-linguistische Hinweise u. v. a. m. enthalten, die zur Verbesserung des Unterrichts erheblich beitragen können.
6. Fazit Die Berücksichtigung der verschiedenen Faktoren im Bedingungsgefüge des DaZ-Lernens verlangt zunächst einmal eine gute Ausbildung der Lehrenden, denn diese werden sich mit den verschiedenen Faktoren und ihrer Einschätzung in einem durch die Sprachlehr- und Sprachlernforschung abgesicherten wissenschaftlichen Kontext nur dann auseinandersetzen, wenn sie dies in der Ausbildungsphase gelernt haben. Zweitens bedarf es einer hohen Flexibilität auf Seiten der Lehrenden, wenn sie diese Faktoren im Blick behalten und in ihrem Unterricht berücksichtigen wollen. Drittens werden Lehrende, die diese Faktoren ernst nehmen, das Bedürfnis haben, sich weiterzubilden, weil sie erkennen, dass jede Ausbildung nur erste Einblicke in ihr Tätigkeitsfeld liefert und dass die Beschäftigung mit diesen Faktoren durchaus positive Auswirkungen auf ihre Tätigkeit haben kann. Einige der das Lehren beeinflussenden Faktoren betreffen den Unterricht zentral und sollten in der Ausbildung deshalb besonders beachtet werden. Dazu gehören Verfahren
119. „Lehren“ im Bedingungsgefüge des Deutsch als Zweitsprache-Unterrichts
1083
zur Sprachdiagnose und Sprachförderung, wobei letztere wieder mit didaktisch-methodischen Fähigkeiten verbunden ist. Hier sollten in der Ausbildung Schwerpunkte gesetzt werden.
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1084 XI. Spezifische Bedingungen und Zielsetzungen des Deutsch als Zweitsprache-Unterrichts Gogolin, Ingrid 2008a Durchgängige Sprachförderung. In: Christiane Bainski, Marianne Krüger-Potratz (Hg.), Handbuch Sprachförderung, 13⫺21. Essen: Neue Deutsche Schule Verlag. Gogolin, Ingrid 2008b Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund ⫺ ein länderübergreifendes Programm zur Optimierung der Sprachbildung. Gesellschaft, Wirtschaft, Politik 57(1): 65⫺75. Gogolin, Ingrid und Wiebke Saalmann 2007 Das Modellprogramm FörMig: (Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund): Konzept und Beispiel aus der Praxis im Länderprojekt Sachsen. In: Bernt Ahrenholz (Hg.), Deutsch als Zweitsprache. Voraussetzungen und Konzepte für die Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund, 187⫺208. Freiburg i. Br.: Fillibach. Grießhaber, Wilhelm 2005 Sprachstandsdiagnose im kindlichen Zweitspracherwerb: Funktional-pragmatische Fundierung der Profilanalyse. (Online): http://spzwww.uni-muenster.de/~griesha/pub/ tprofilanalyse-azm-05.pdf [2. 4. 2009]. Hölscher, Petra 2007 Lernszenarien. Sprache kann nicht gelehrt, sondern nur gelernt werden. In: Bernt Ahrenholz (Hg.), Deutsch als Zweitsprache. Voraussetzungen und Konzepte für die Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund, 151⫺171. Freiburg i. Br.: Fillibach. Hölscher, Petra, Hans Eberhard Piepho und Jörg Roche 2006 Handlungsorientierter Unterricht mit Lernszenarien. Kernfragen zum Spracherwerb. Oberursel: Finken. Kast, Bernd und Gerhard Neuner (Hg.) 1994 Zur Analyse, Begutachtung und Entwicklung von Lehrwerken für den fremdsprachlichen Deutschunterricht. Berlin: Langenscheidt. Knapp, Werner, Julia Ricart Brede, Barbara Gasteiger Klicpera, Beate Vomhof, Diemut Kucharz und Doreen Patzelt 2008 Videogestützte Analyse von inszenierten Sprachlernsituationen im Vorschulalter. In: Ahrenholz (Hg.) 2008a, 279⫺298. Königs, Frank 1983 Normenaspekte im Fremdsprachenunterricht. Ein konzeptorientierter Beitrag zur Erforschung des Fremdsprachenunterrichts. Tübingen: Narr. Koordinierungsgremium (⫽ Koordinierungsgremium im DFG-Schwerpunkt „Sprachlehrforschung“) (Hg.) 1983 Sprachlehr- und Sprachlernforschung: Begründung einer Disziplin. Tübingen: Narr. Künzli David, Christine 2007 Zukunft mitgestalten: Bildung für eine nachhaltige Entwicklung ⫺ Didaktisches Konzept und Umsetzung in der Grundschule. Bern u. a.: Haupt. Neuner, Gerhard, Krüger, Michael, Grewer, Ulrich 1981 Übungstypologie zum kommunikativen Deutschunterricht. Berlin/München: Langenscheidt. Ohm, Udo, Christina Kuhn und Hermann Funk 2008 Sprachtraining für Fachunterricht und Beruf. Fachtexte knacken ⫺ mit Fachsprache arbeiten. Münster: Waxmann. Rösch, Heidi 2007 DaZ-Förderung in Feriencamps. In: Bernt Ahrenholz (Hg.) Deutsch als Zweitsprache. Voraussetzungen und Konzepte für die Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund, 233⫺250. Freiburg i. Br.: Fillibach. Rösch, Heidi 2006 Das Jacobs-Sommercamp ⫺ neue Ansätze zur Förderung von Deutsch als Zweitsprache. In: Bernt Ahrenholz (Hg.), Kinder mit Migrationshintergrund. Spracherwerb und Fördermöglichkeiten, 287⫺302. Freiburg i. Br.: Fillibach.
120. Curriculumentwicklung und Lehrziele Deutsch als Zweitsprache
1085
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Rupprecht S. Baur, Andrea Schäfer, Essen (Deutschland)
120. Curriculumentwicklung und Lehrziele Deutsch als Zweitsprache im vorschulischen und schulischen Bereich 1. 2. 3. 4.
Entwicklungen im vorschulischen Bereich Entwicklungen im schulischen Bereich Ausblick Literatur in Auswahl
Während sich bis Ende der 1990er Jahre in den meisten Ländern der Bundesrepublik die bildungspolitische und administrative Bezeichnung von Kindern und Jugendlichen mit Einwanderungshintergrund an deren politischem Aufenthaltsstatus orientierte und diese in den Statistiken und amtlichen Dokumenten als Kinder ausländischer Arbeitnehmer, Aussiedlerkinder oder Kinder von Asylbewerbern bezeichnet wurden, gingen Anfang der 2000er Jahre viele deutsche Bundesländer ⫺ ähnlich die Bildungsbehörden in Österreich ⫺ dazu über, diese Gruppe als Kinder mit Migrationshintergrund zusammenzufassen und sich an der Spracherwerbsbiografie zu orientieren, was verdeutlichen sollte, dass ⫺ unabhängig vom ursprünglichen Zuwanderungsgrund und dem rechtlichen Aufenthaltsstatus ⫺ die Kinder „ähnliche Anforderungen in Bezug auf den Erwerb der deutschen Sprache zu bewältigen haben“ (Gogolin, Neumann und Roth 2003: 63). Auch Charakterisierungen wie Kinder mit nichtdeutscher Herkunftssprache, Kinder mit anderer Erstsprache oder Kinder mit Deutsch als Zweitsprache sind weiterhin üblich.
1086 XI. Spezifische Bedingungen und Zielsetzungen des Deutsch als Zweitsprache-Unterrichts
1. Entwicklungen im vorschulischen Bereich Die Thematik der sprachlichen Unterweisung und Förderung von Migranten in der deutschen Sprache konzentrierte sich bis Ende der 1990er Jahre auf schulische Kontexte. In Folge der Veröffentlichung der internationalen PISA-Studie 2001 trat ein bildungspolitischer Paradigmenwechsel ein, dessen wichtigstes Kennzeichen darin bestand, nunmehr auch den vorschulischen Bereich in die Sprachförderung einzubeziehen, da sich zeigte, dass eine bedeutende Zahl der Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund zu den Verlierern im deutschen und österreichischen Bildungssystem gehört. Dass die Bildungsintegration von Kindern mit Migrationshintergrund ⫺ auch von denen in der zweiten bzw. dritten Einwanderergeneration ⫺ aufgrund fehlender bzw. nicht ausreichender Deutschkenntnisse bereits in der vorschulischen Phase nicht in erwünschtem Maße gelingt, belegen auch die bundesweiten Ergebnisse der Schuleingangsuntersuchungen (vgl. Engin 2003; vgl. auch Art. 6). Der PISA-Schock bewirkte, dass die vorschulische Bildung und Erziehung in den Blick der Bildungspolitik rückte. Die Ergebnisse wurden als Aufforderung verstanden, die sprachliche Förderung insbesondere von Migrantenkindern bereits in der vorschulischen Phase beginnen zu lassen. Ähnlich den schulischen Rahmenplänen wurden Bildungs-/Orientierungspläne für die vorschulische Bildung und Erziehung in Auftrag gegeben. Ihre Entwicklung und Implementierung vollzieht sich in den verschiedenen Ländern in unterschiedlichen Zeitrahmen: so lag in Österreich Mitte 2008 erst der erste Teil des Bildungsplans, der für die „frühe sprachliche Förderung für Kinder von 3⫺6 Jahren“ (kurz Bildungsplan-Anteil Sprache), vor; die Ausarbeitung des Gesamtplans, des „Länderübergreifenden Rahmenplans (Bildungsplans) für elementare Bildungseinrichtungen“ dauert gegenwärtig noch an. In Deutschland liegen seit Mitte der 2000er Jahre erste Bildungs-/Orientierungspläne vor: Bayern stellte 2003 bzw. in seiner Endfassung 2005 einen Bildungs- und Erziehungsplan fertig. Von Nordrhein-Westfalen folgte wenig später eine Bildungsvereinbarung, Berlin erstellte 2004 einen Bildungs- und Orientierungsplan und Rheinland-Pfalz entwarf eine Bildungsempfehlung. Diese unterstreichen alle mit Nachdruck die Notwendigkeit einer Überprüfung der kindlichen Sprachentwicklung sowie einer entsprechenden Förderung der deutschen Sprachkenntnisse insbesondere von Kindern mit Migrationshintergrund in institutionellen Kontexten. Allerdings erfolgt die Bezugnahme auf die Erstsprache der Kinder mit Migrationshintergrund und die Formulierung von Lehrzielen für das Lernen des Deutschen als Zweitsprache in unterschiedlichem Maße. So verweisen insbesondere der Berliner Bildungs- und Orientierungsplan (2004), der Bremer Rahmenplan für Bildung und Erziehung im Elementarbereich (2004), der hessische Bildungs- und Erziehungsplan für Kinder von 0 bis 10 Jahren (2007), der rheinland-pfälzische Bildungs- und Entwicklungsplan (2004), das sachsen-anhaltinische Bildungsprogramm für Kindertageseinrichtungen (2004) sowie der thüringische Bildungsplan für Kinder bis 10 Jahre (2008) auf die in der Praxis vorliegende Mehrsprachigkeit vieler Kindergartenkinder; sie wird als Chance und Reichtum gesehen. Des weiteren empfehlen die aufgezählten Bundesländer, die Erstsprachen der Kinder zu respektieren und wertzuschätzen; der thüringische Bildungsplan führt aus, dass „der sichere Erwerb ihrer Familiensprache ein unterstützender Faktor für den Erwerb des Deutschen als Zweitsprache [ist]“ (Thüringer Kultusministerium 2008: 47), und der rheinland-pfälzische formuliert als Aufgabe der Kindertagesstätten, „die deutsche Sprache der Kinder mit dem Ziel, einen möglichst risikolosen Übergang in die schulische Bildung zu ermögli-
120. Curriculumentwicklung und Lehrziele Deutsch als Zweitsprache
1087
chen, [ist zu] fördern. Dies geschieht unter Berücksichtigung der Mutter- bzw. Familiensprache sowie der Herkunftskultur der Kinder“ (Ministerium für Bildung, RheinlandPfalz 2004: 40). Auch in den in verschiedenen österreichischen Bundesländern gegenwärtig noch im Einsatz befindlichen Bildungsplänen wird auf die lebensweltliche Mehrsprachigkeit der Kinder mit Migrationshintergrund als Ressource verwiesen, mehr noch, „(…) stehen die lebensweltliche Mehrsprachigkeit sowie das interkulturelle Lernen als Konzept und als Bildungsziel im Vordergrund“ (De Cillia und Krumm 2009:12). Im krassen Widerspruch hierzu verhalten sich jedoch die am stärksten im Einsatz befindlichen Sprachstandsfeststellungsinstrumente BESK 4⫺5 (Beobachtungsbogen zur Erfassung der deutschen Sprachkompetenz 4,5 bis 5-jähriger Kinder) sowie SSFB 4⫺5 (Sprachstandsfeststellungsbogen), welche die individuelle Mehrsprachigkeit der Kinder komplett ausblenden. Als ein zentrales Lehrziel wird in den Bildungs-/Orientierungsplänen der Erwerb sprachlicher Handlungskompetenz im Deutschen bewertet. Sie betonen, dass „Spracherwerb ein komplexer, eigenaktiver, konstruktiver Prozess [ist]. Kinder lernen Sprache nicht nur über Nachahmung, sondern bilden, zunächst unbewusst, eigenständig Hypothesen (…) wobei auch der Prozess des kindlichen Zweitsprachenerwerbs und die besondere Rolle der Erstsprache (Muttersprache) bei Migrantenkindern zu beachten sind“ (Hessisches Sozialministerium / Hessisches Kultusministerium 2007: 66). Eine unterschiedliche Vorgehensweise zwischen den Bildungs-/Orientierungsplänen zeichnet sich auch hinsichtlich der Ausführungen bezüglich der Sprachförderung im Deutschen ab: einige Bildungs-/Orientierungspläne beziehen sich zentral auf das Thema und haben in der Zwischenzeit umfangreiche Handreichungen vorgelegt, so Niedersachsen: Handreichung Fit in Deutsch 2003; Berliner Senatsverwaltung: Handreichung Deutsch plus 2005; Ministerium für Bildung und Frauen des Landes Schleswig-Holstein: Erfolgreich starten. Integratives Sprachförderkonzept 2007; Ministerium für Generationen, Familie, Frauen und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen: Delfin 4 ⫺ Sprachförderorientierungen 2008). Andere Bildungs-/Orientierungspläne, wie beispielsweise der bayerische, behandeln das Thema nur am Rande und allgemein. Im gegenwärtig in Österreich erarbeiteten „Länderübergreifenden Rahmenplan (Bildungsplan) für elementare Bildungseinrichtungen“ bildet die Sprachförderung einen zentralen Aspekt; ihr ist der gesamte erste Teil des Bildungsplans (Bildungsplan-Anteil Sprache), der bereits ausgearbeitet vorliegt, gewidmet. Bereits vor der Fertigstellung der Bildungs-/Orientierungspläne beschlossen nahezu alle deutschen Bundesländer ⫺ mit Verweis auf die Ergebnisse von Schuleingangsuntersuchungen ⫺ die Durchführung von Sprachstandserhebungsverfahren sowie daran anknüpfend die Entwicklung und Implementierung von Sprachfördermaßnahmen bzw. -programmen. Bayern, Berlin, Bremen, Hamburg und Niedersachsen setzten dieses Vorhaben bereits Anfang der 2000er Jahre in der Weise um, dass sie selbst Verfahren entwickelten. Andere Bundesländer benötigten für die Konzeption und Implementierung mehr Zeit. Das DELFIN 4-Screening ist in Nordrhein-Westfalen seit 2008 flächendeckend verbindlich im Einsatz. Baden-Württemberg empfiehlt bis zur flächendeckenden Einführung des eigenen Verfahrens den Einsatz verschiedener auf dem Markt befindlicher Instrumente (vgl. Fried 2004: 27; vgl. auch Art. 146). Bis auf Bayern und Baden-Württemberg sind alle deutschen Bundesländer dazu übergegangen, entweder in der vorschulischen Phase, d. h. im Rahmen des Kindergartenbesuchs, oder zur Schuleingangsuntersuchung die Deutschkenntnisse aller Kinder mit und
1088 XI. Spezifische Bedingungen und Zielsetzungen des Deutsch als Zweitsprache-Unterrichts ohne Migrationshintergrund zu überprüfen und darauf aufbauend Sprachfördermaßnahmen einzuleiten. Diese Sprachförderprogramme finden in Berlin, Niedersachsen und Hessen in Vorlaufkursen im Umfang von 10 bzw. 12 Monaten vor der Einschulung statt. Hamburg hat für betroffene Kinder Vorschulklassen an Kindertagesstätten eingerichtet, in denen seit 2006 ein verlässliches fünfstündiges Unterrichtsangebot an fünf Wochentagen durchgeführt wird (vgl. Vorblatt zur Senatsdrucksache Nr. 2005/0706 vom 15. 06. 2005). In Schleswig-Holstein ist die Sprachförderung in den täglichen Kindergartenalltag integriert, wo die Kinder eine intensive Sprachschulung in den Monaten zwischen Einschulungsgespräch und Schulbeginn über einen Zeitraum von 20 Wochen Stunden erhalten (Ministerium für Bildung … Schleswig-Holstein 2007:5). Auch in Österreich traten in den vergangen Jahren bezüglich der Feststellung der Deutschkenntnisse von Schulanfängern zur Einschulung neue Regelungen in Kraft. Wurden bis 2008 die Deutschkenntnisse bei der Schulanmeldung seitens der Schulleitung mit Hilfe von zu diesem Zweck formulierten Deutschstandards festgestellt, werden sie künftig auf der Grundlage der „Vereinbarung gemäß Art. 15a B-VG zur frühen Sprachförderung“ (De Cillia und Krumm 2009: 6) bereits 15 Monate vor der Einschulung mit dem Ziel einer daran anschließenden Förderphase diagnostiziert. Die verschiedenen deutschsprachigen Kantone in der Schweiz haben sich unter Federführung des Kantons Zürich ebenfalls darauf geeinigt, ab dem Schuljahr 2008/09 die Deutschkenntnisse von Kindern beim Übergang vom Kindergarten in die Grundschule mittels eines geeigneten Sprachstandserhebungsverfahrens zu messen (vgl. Bildungsdirektion Kanton Zürich 2007: 7). Ein größeres Gewicht als der Sprachstandserhebung wird seitens der Bildungsverantwortlichen jedoch der im Kindergarten von Anbeginn ansetzenden Sprachförderung durch entsprechend qualifiziertes und professionalisiertes Personal beigemessen. Die kantonale Regelung in Zürich schreibt beispielsweise vor, dass die kindliche Sprachentwicklung kontinuierlich begleitet wird und eine Reflexion der Entwicklungen im pädagogischen Team stattfindet (vgl. Bildungsdirektion Kanton Zürich 2007: 8 f.). Einige in Deutschland im Einsatz befindliche Sprachstandserhebungsverfahren wurden seit ihrer Implementierung kontinuierlich evaluiert und überarbeitet. Hierzu zählen das Bayerische DaZ-Screening, Fit in Deutsch, HAVAS 5 und DELFIN 4. Evaluiert wurden bisher auch die Sprachförderansätze SPRINT in Schleswig-Holstein und Sag’ mal was in Baden-Württemberg sowie die Vorlaufkurse in Niedersachsen. Die ⫺ personell wie zeitlich ⫺ aufwendige Beschäftigung mit Sprachstanderhebungsverfahren sowie Sprachfördermodellen macht deutlich, wie schwierig es für die Verantwortlichen ist, ein passgenaues Sprachförderkonzept zu formulieren bzw. Verfahren zu entwickeln, die erlauben, im Sinne der Gütekriterien valide und im Sinne der Sprachsozialisation der Migrantenkinder einigermaßen objektive Ergebnisse zu liefern, die wiederum die Grundlage für die Sprachförder-Curricula bilden. Zusammenfassend lässt sich für den vorschulischen Bereich hinsichtlich der Entwicklung und Implementierung von Bildungs- und Orientierungsplänen sowie von Sprachstandserhebungsverfahren und Sprachförderprogrammen festhalten, dass sie „aus pädagogischen Kontexten institutioneller Bildung heraus entstanden“ (Gogolin, Neumann und Roth 2003: 81), geleitet vom Ziel der Praktikabilität und Handhabbarkeit hinsichtlich Umfang, Durchführbarkeit und Personal. Als positiv und zukunftsweisend ist der Umstand zu bewerten, dass in die Weiterentwicklung die Ergebnisse der begleitenden Evaluationen einbezogen werden, wodurch ein entscheidender Beitrag zur Verbesserung der Testgütekriterien erwartet werden kann (vgl. Gogolin, Neumann und Roth 2003: 82).
120. Curriculumentwicklung und Lehrziele Deutsch als Zweitsprache
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Es wird abzuwarten bleiben, ob es in Deutschland mittel- und langfristig zu einer länderübergreifenden Angleichung bzw. Abstimmung hinsichtlich der verwendeten Sprachstandserhebungsverfahren und Sprachförderprogramme sowie der Formulierung einheitlicher Curricula kommen wird bzw. wie weit sich in Österreich und der Schweiz trotz der föderalen Strukturen landesweite Konzepte durchsetzen. Entscheidenden Einfluss auf solche Entwicklungen wird die Publikation von Evaluationsergebnissen einzelner Verfahren haben, die verlässliche Auskunft über die Effektivität und Nachhaltigkeit dieser erlauben werden (vgl. z. B. Klingner 2006: 10 f.).
2. Entwicklungen im schulischen Bereich Die Ergebnisse der PISA- und IGLU-Studien führten auch dazu, dass sich der bildungspolitische Blick auf eine nachhaltigere Förderung von Kindern mit Zweitsprache Deutsch in schulischen Kontexten richtete (vgl. Art. 6⫺8). Die Notwendigkeit einer im vorschulischen Bereich beginnenden und die Schullaufbahn durchziehenden Deutschförderung wird immer stärker auch in demografischer Hinsicht relevant: Nach offiziellen Zahlen des „Konsortium Bildungsberichterstattung“ haben in Deutschland bereits 2005 ein Drittel der Kinder in der Altersgruppe 0 bis 6 Jahre einen Migrationshintergrund, von denen die meisten Deutsch als Zweitsprache systematisch erst in institutionellen Strukturen erlernen (vgl. Deutsches Jugendinstitut 2001).
2.1. Rahmenpläne ür Deutsch als Zweitsprache Seit Anfang 2000 sind in mehreren deutschen Bundesländern und in Österreich neue Lehr-/Rahmenpläne für den Bereich Deutsch als Zweitsprache entwickelt und implementiert worden. Der in Deutschland am weitesten verbreitete ist der vom Bayerischen Staatsministerium für Unterricht und Kultus 2001 herausgegebene Lehrplan Deutsch als Zweitsprache, der in den beiden Bundesländern Berlin und Niedersachsen seit 2002 und im Land Thüringen seit 2003 in seinen besonderen Teilen unverändert, jeweils ergänzt um einen landesspezifischen Teil, verwendet wird. Dieser soll im Folgenden exemplarisch vorgestellt werden: Er ist in seinen besonderen Teilen in unterschiedliche Lernfelder sowohl für die Grundschule als auch für weiterführende Schulen, jeweils nach Grundund Aufbaukurs, differenziert: „Jedes Lernfeld wird durch Kerninhalte, lexikalische und syntaktische Mittel sowie Vorschläge für Schüleraktivitäten zum Spracherwerb strukturiert. Der Lehrplan ist als Grundlage für verschiedene Unterrichtsformen konzipiert, die von Übergangs- und Eingliederungsklassen über Intensivkurse bis hin zum Förderunterricht in Grundschulen und weiterführenden Schulen reichen. Anders als der sächsische Lehrplan verfolgt er keine explizite Eingliederungsplanung“ (Gogolin, Neumann und Roth 2003: 68 f.). Der Lehr-/Rahmenplan basiert auf drei grundlegenden Zielen: Die Lernenden stehen im Mittelpunkt; der Spracherwerb ist als interaktiver Prozess angelegt und er findet als interkulturelles Lernen statt (vgl. Rösch 2009). In seiner Berliner Version wird eine enge Beziehung zur Berliner Handreichung Deutsch als Zweitsprache und dem dort entwickelten Unterrichtskonzept hergestellt, welche folgende Lehrziele enthält (vgl. Rösch 2009):
1090 XI. Spezifische Bedingungen und Zielsetzungen des Deutsch als Zweitsprache-Unterrichts ⫺ Ziele, Aufgaben und Lerninhalte konzentrieren sich auf sprachliche, kommunikative und interkulturelle Aspekte und benennen zu entwickelnde Lernstrategien. ⫺ Konzept des integrativen Sprachunterrichts / Sprache entdeckender Deutsch-alsZweitsprache-Unterricht. ⫺ Planungsmodelle ⫺ Darstellung einer sprachlichen Progression nach Kompetenzstufen ⫺ Überblick über Besonderheiten der deutschen Sprache. Das zahlenmäßig größte deutsche Bundesland, Nordrhein-Westfalen, hat gegenwärtig noch keinen DaZ-Lehr-/Rahmenplan; statt dessen wurden in den vergangenen Jahrzehnten für den schulischen Deutschförderunterricht eine Reihe von Handreichungen publiziert, von denen die erste ⫺ Empfehlungen für den Unterricht ausländischer Schüler Deutsch als Zweitsprache ⫺ 1983 erschien und noch heute im Einsatz ist und die erste ihrer Art bundesweit war. Die curricularen Lehrziele in den Handreichungen konzentrieren sich auf den Erwerb einer den Klassenstufen entsprechenden Lese- und Schreibkompetenz, Erwerb von Kenntnissen der grammatischen Progression des Deutschen, der Vermittlung kommunikativer Kompetenzen sowie kontrastiv angelegte Vergleiche zwischen ausgewählten Herkunftssprachen und dem Deutschen. Die aktuelle Handreichung von 2008 formuliert als zentrales curriculares Lehrziel die Entwicklung eines individuellen Förderplans auf der Grundlage entsprechender Sprachstandsdiagnoseverfahren. Auch in Österreich wurden zu den in verschiedenen Schulstufen und Schularten vorhandenen Lehr-/Rahmenplänen für das Fach Deutsch ergänzende Ausführungen „Deutsch für Schülerinnen und Schüler mit nichtdeutscher Muttersprache“ bzw. „Besondere didaktische Grundsätze, wenn Deutsch Zweitsprache ist“ herausgegeben, nach denen Schüler mit nicht ausreichenden Sprachkenntnissen Deutschförderung im Umfang von bis zwölf Unterrichtsstunden erhalten können (vgl. BMUKK 2007: 31). Ähnlich wie in Deutschland und Österreich ist auch in der Schweiz Bildungspolitik dezentral organisiert und untersteht der Verantwortung der jeweiligen kantonalen Zuständigkeit. Da sich die Schweiz jedoch als ein mehrsprachiges Land mit vier offiziellen und verfassungsrechtlich geschützten Landessprachen versteht, hat die (bildungs)politische Auseinandersetzung und Förderung von migrationsbedingter Zwei-/Mehrsprachigkeit eine andere Qualität und fand und findet einen anderen pädagogisch-institutionellen Niederschlag (vgl. EKD 2004). In der Förderung von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund in Deutsch als Zweitsprache sticht insbesondere der Kanton Zürich hervor und kann mit seinem Programm „QUIMS“ (Sprachförderung und Qualität in Schulen mit besonders multikultureller Zusammensetzung) als Vorreiter für die anderen deutschsprachigen Schweizer Kantone angesehen werden. Hierbei handelt sich um ein kantonweites Schulentwicklungsprogramm, welches sich an Schulen mit einem hohen Anteil an Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund aus sozial benachteiligten Elternhäusern richtet und bei der die Förderung sowohl von Deutsch als Zweitsprache als auch der Herkunftssprachen im Zentrum steht (vgl. Bildungsdirektion Kanton Zürich 2007:15). Der DaZ-Unterricht wird von Lehrkräften erteilt, die zu diesem Zweck entweder einen Zertifikatslehrgang oder einen Nachdiplomkurs mit 450 Stunden Lernzeit durchlaufen haben oder mindestens „eine Einführung in die DaZ-Didaktik von 10 Tagen Dauer“ absolvierten (Bildungsdirektion Kanton Zürich 2007: 7).
120. Curriculumentwicklung und Lehrziele Deutsch als Zweitsprache
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Die Grundlage für die Deutschförderung bilden Handreichungen wie folgende: ⫺ „Qualität in multikulturellen Schulen QUIMS“ (2006) ⫺ „Sprachförderung für eine mehrsprachige Schülerschaft“ (2007), ⫺ Handreichung Sprachförderung in der Schulprogrammarbeit mit Fokus auf Deutsch für alle und Deutsch als Zweitsprache (2007) ⫺ „sims ⫺ Sprachförderung in mehrsprachigen Schulen“ (2007) Diese Handreichungen sind durch umfangreiche didaktische Umsetzungsvorschläge gekennzeichnet.
2.2. Organisatorische Rahmenbedingungen In Deutschland findet der Sprachförderunterricht auf der Grundlage der jeweils bewilligten Lehr-/Rahmenpläne sowie Handreichungen entweder in Förderklassen, in Übergangs- und Eingliederungsklassen, in Vorbereitungsgruppen, Vorbereitungsklassen, Vorbereitungsklassen mit berufspraktischen Aspekten oder in Regelklassen statt (Rösch 2009; Gogolin, Neumann und Roth 2003: 69). Schleswig-Holstein unterstützt darüber hinaus seit 2008 die Bildung von Deutsch-als-Zweitsprache-Zentren, die in der Praxis schulische Netzwerke darstellen, „die in einem dafür festgelegten Einzugsbereich Sprachförderangebote für interne und externe Schülerinnen und Schüler anbietet. Bisher konnten 49 DaZ-Zentren mit entsprechenden Sprachförderangeboten installiert werden“ (Ministerium für Bildung, Schleswig-Holstein 2008: 6). Für Österreich existieren unterschiedliche Sprachförderprogramme. In dem „Wiener Modell der Sprachförderung 1⫹1“ ist vorgesehen, beginnend mit dem Schuljahr 2009/ 10 Erstklässler mit nicht ausreichenden Deutschkenntnissen nicht mehr in Regelklassen zu beschulen, sondern Vorschulklassen zuzuweisen, in denen sie gemeinsam mit nichtschulreifen Kindern unterwiesen werden sollen, was nach Ansicht von Bildungsexperten eine schulische Segregation dieser Kinder von Anbeginn bedeutet (vgl. De Cillia und Krumm 2009: 11). In den verschiedenen Kantonen der Schweiz wird Sprachförderung entweder im Rahmen des Regelunterrichts oder aber ergänzend hierzu erteilt. Beispielsweise kennzeichnet sich der Kanton Zürich durch folgende amtliche Ausführungen (vgl. Bildungsdirektion Kanton Zürich 2007: 7 f.): „⫺ Der Kanton regelt, dass ab dem Kindergarten und in allen Schulstufen eine gezielte Sprachförderung in DaZ für einzelne Lernende und Gruppen, die dies nötig haben, stattfindet. Die DaZ-Förderung, die entweder den Regelunterricht ergänzt oder in diesen integriert ist, wird durch eine qualifizierte DaZ-Lehrperson erteilt. ⫺ Der Kanton definiert stufenübergreifend und wo nötig für einzelne Stufen (Kindergarten bis Sekundarstufe 2) Ziele, Anspruchsberechtigte, Mittel (Stundendotation und Finanzierung), Qualität und Evaluation des zusätzlichen DaZ-Unterrichts. Für DaZ-Anfänger wird ein intensiver DaZ-Anfangsunterricht, für andere DaZ-Lernende ein DaZAufbauunterricht vorgesehen.“ Die hohe Bedeutung, welche der Sprachförderung in den verschiedenen Schweizer Kantonen, insbesondere im Kanton Zürich, beigemessen wird, lässt sich auch daran erkennen, dass von politischer Seite die finanzielle Absicherung des DaZ-Unterrichts und anderer DaZ-Maßnahmen sowie deren personelle Ausstattung höchste Priorität genießt.
1092 XI. Spezifische Bedingungen und Zielsetzungen des Deutsch als Zweitsprache-Unterrichts
3. Ausblick Die Entwicklungen seit Anfang 2000 zeigen, dass nahezu alle deutschen Bundesländer und Österreich dazu übergegangen sind, der Förderung der Sprachkenntnisse bei Kindern mit Deutsch als Zweitsprache eine Sprachstandsdiagnose voranstellen. In der Zwischenzeit haben Bundesländer wie Hamburg und Schleswig-Holstein Sprachförderprogramme implementiert, welche die Ergebnisse der Sprachstandsdiagnose zur Grundlage nehmen. In Berlin und Hamburg werden die Deutsch-als-Zweitsprache-Curricula und Sprachförderprogramme im Sinne der Nachhaltigkeit als durchgängiges ⫺ d. h. alle Bildungsinstitutionen umfassendes ⫺ Konzept umgesetzt und die Qualität durch Bildungsstandards sichergestellt (Behörde für Bildung, Hamburg 2008a: 5; Senatsverwaltung für Bildung, Berlin 2009: 8). Einen entscheidenden Beitrag für diese Entwicklung leistete das von der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung (BLK) zwischen 2004⫺2009 geförderte Modellversuchsprogramm „Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund FÖRMIG“, an dem zehn Bundesländer teilnahmen und dessen Ziel darin bestand, in den beteiligten Bundesländern „innovative Ansätze zur Optimierung von sprachlicher Bildung und Förderung (weiter) zu entwickeln, zu evaluieren, für einen Transfer guter Praxis zu sorgen sowie Ergebnisse für die Bildungsplanung bereitzustellen“ (vgl. www.blk-foermig.uni-hamburg.de). Trotz der positiven Entwicklungen der letzten Jahre sind noch einige Desiderata zu beklagen. So ist vielfach die Zahl der Lehrkräfte, die Kinder mit Deutsch als Zweitsprache unterrichtlich fördern (können), noch zu gering; ebenfalls unzureichend ist die Zahl derer, die bisher eine entsprechende didaktische Förderkompetenz im Rahmen von Fort-/ Weiterbildungen erworben haben. Weiterhin ist Deutsch als Zweitsprache immer noch nicht überall verpflichtender Bestandteil des Lehramtsstudiums. Oft gibt es lediglich ein bis zwei Pflichtseminare von geringem zeitlichem Umfang oder relativ kurze, nicht verpflichtende Zusatzstudien (vgl. Art. 149 und 151). Die Bezugnahme auf die Erst/-Herkunftssprachen der Schülerinnen und Schüler findet in den meisten Lehramtsstudiengängen ebenfalls nicht statt; damit fehlen angehenden Lehrkräften linguistische und didaktische Kenntnisse hinsichtlich der Fehlerschwerpunkte der Schülerinnen und Schüler im Deutschen. Der Nachweis der Effektivität laufender Sprachförderprogramme steht noch aus. Es ist daher in den kommenden Jahren verstärkt das Augenmerk auf die Quoten der erzielten höherqualifizierenden Schulabschlüsse durch Schüler und Schülerinnen mit Migrationshintergrund zu richten, um zu sehen, ob sich die Bildungsintegration dieser verbessert hat. Deutlich ist, dass die Frage einer erfolgreichen Bildungsintegration von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund in den kommenden Jahren massiv an Bedeutung gewinnen wird. Angesichts der Tatsache, dass ausreichende Deutschkenntnisse der wichtigste Prädiktor für den Bildungserfolg sind (vgl. Stanat 2003), wird die (Weiter-)Entwicklung von Deutsch-als-Zweitsprache-Rahmenplänen sowie darauf aufbauenden Sprachförderprogrammen sowohl auf der Ebene von Wissenschaft als auch auf der Ebene der Bildungspraxis noch stärkere Dringlichkeit erhalten. Die Bildungspolitik lässt bisher positive Zeichen in diese Richtung teilweise noch vermissen, was als fahrlässige Ausblendung der Thematik interpretiert werden kann.
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1093
4. Literatur in Auswahl Sprachstandserhebungsverahren (Deutschland) Berliner Senatsverwaltung für Schule, Jugend und Sport 2001 Bärenstark. Berliner Sprachstandserhebung und Materialien zur Sprachförderung für Kinder in der Schuleingangsphase. Berlin. Hobusch, Anna 2002 Sprachstandsüberprüfung und Förderdiagnostik für Ausländer- und Aussiedlerkinder (SFD). Buxtehude: Persen Verlag. Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung Hamburg 2004 HAVAS 5 ⫺ Hamburger Verfahren zur Analyse des Sprachstandes bei 5-Jährigen. Hamburg. Ministerium für Schule und Weiterbildung, Wissenschaft und Forschung des Landes NordrheinWestfalen ⫺ MSWWF 2006 DELFIN. 4.Sprachstandsfeststellung zwei Jahre vor der Einschulung. Düsseldorf. Niedersächsisches Kulturministerium 2002 Fit in Deutsch. Verfahren zur Feststellung des Sprachstandes 10 Monate vor der Einschulung. Hannover. Staatsinstitut für Schulpädagogik und Bildungsforschung (Hg.) 2002 Kenntnisse in Deutsch als Zweitsprache erfassen. Screening-Modell für Schulanfänger. München: Staatsinstitut für Schulpädagogik und Bildungsforschung / Stuttgart: Klett Verlag. Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport Berlin 2005 Deutsch plus. Sprachstandsmessung vor Schuleintritt. Berlin. URL: http://www.berlin.de/ sen/bildung/schulqualitaet/lernausgangsuntersuchungen/ (14. 12. 2009) Ulich, Michaela und Toni Mayr 2003 Sismik. Sprachverhalten und Interesse an Sprache bei Migrantenkindern in Kindertageseinrichtungen (Beobachtungsbogen und Begleitheft). Freiburg: Herder Verlag.
Bildungs-/Orientierungspläne (Deutschland) Ein Verzeichnis aller Bildungs-/Orientierungspläne ist enthalten: Deutscher Bildungsserver. URL: http//www.bildungsserver.de/ (14. 12. 2009)
Handreichungen Bildungsdirektion Kanton Zürich 2007 Sprachförderung für eine mehrsprachige Schülerschaft. Empfehlungen an die Kantone. Erarbeitet von der Erfa-Gruppe „Migration und Integration“ und Arbeitsgruppe „Sprachen“ der EDK-Ost-Kantone und Fürstentum Liechtenstein. Zürich. Bildungsdirektion Kanton Zürich 2007 Handreichung Sprachförderung in der Schulprogrammarbeit mit Fokus auf Deutsch für alle und Deutsch als Zweitsprache. Handreichung für Schulen, die in ihrem Schulprogramm „Sprache“ als pädagogischen Schwerpunkt setzen wollen. Zürich. Hessisches Kultusministerium 2002 Deutsch-Frühförderung in Vorlaufkursen. Eine Handreichung für Grundschulen. Wiesbaden. Landesinstitut für Schule und Weiterbildung Nordrhein-Westfalen 1990 Handreichung Sprachunterricht mit ausgesiedelten Kindern und Jugendlichen. Soest.
1094 XI. Spezifische Bedingungen und Zielsetzungen des Deutsch als Zweitsprache-Unterrichts Niedersächsisches Ministerium für Frauen, Arbeit und Soziales 2002 Wie Kinder sprechen lernen. Entwicklung und Förderung der Sprache im Elementarbereich. Hannover. Senatsverwaltung für Schule, Jugend und Sport Berlin 2001 Handreichung Deutsch als Zweitsprache. Berlin. Landesinstitut für Schule und Weiterbildung Nordrhein-Westfalen 1999 Förderung in der deutschen Sprache als Aufgabe des Unterrichts in allen Fächern. Soest. Landesinstitut für Schule und Weiterbildung Nordrhein-Westfalen 2001 Förderung von Kindern und Jugendlichen aus Familien mit Migrationshintergrund im Deutschunterricht ⫺ Texte verstehen und schreiben. Soest. Kompetenzzentrum Sprachförderung Köln 2007 Deutschlernen in mehrsprachigen Klassen der Grundschule, Handreichung Heft 1. Köln. Ministerium für Schule und Weiterbildung, Wissenschaft und Forschung des Landes NordrheinWestfalen ⫺ MSWWF 1999 Förderung in der deutschen Sprache als Aufgabe des Unterrichts in allen Fächern. Empfehlungen. Schriftenreihe Schule in NRW Nr. 5008. Ministerium für Schule und Weiterbildung, Wissenschaft und Forschung des Landes NordrheinWestfalen ⫺ MSWWF 2008 Von der Sprachstandsdiagnose zur Förderplanung, Instrumente zur Beobachtung und Förderung der individuellen Sprachentwicklung für die Primar- und Sekundarstufe. Düsseldorf. Ministerium für Bildung und Frauen des Landes Schleswig-Holstein 2007 Erfolgreich starten Integratives Sprachförderkonzept in Schleswig-Holstein. Kiel. Ministerium für Bildung und Frauen des Landes Schleswig-Holstein 2007 Erfolgreich starten. Handreichung für Sprache(n), Zeichen/Schrift und Kommunikation in Kindertageseinrichtungen. Kiel. Ministerium für Bildung, Kultur und Wissenschaft 2007 Handreichungen für die Praxis zum Bildungsprogramm für saarländische Kindergärten. Weimar/Berlin: Verlag das netz.
Deutsch als Zweitsprache Lehr-/Rahmenpläne Ein Verzeichnis aller Deutsch als Zweitsprache Lehr- und Rahmenpläne ist enthalten: Deutscher Bildungsserver. URL: http//www.bildungsserver.de/ (14. 12. 2009)
Sekundärliteratur Barkowski, Hans 2001 Curriculumsentwicklung und Lehrziele Deutsch als Zweitsprache. In Gerd Helbig u. a. (Hg.), Deutsch als Fremdsprache. Ein internationales Handbuch, 810⫺827. Bd. 2. (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 19.1⫺2). Berlin: De Gruyter. Baumert, Jürgen und Gundel Schümer 2002 Familiäre Lebensverhältnisse, Bildungsbeteiligung und Kompetenzerwerb im nationalen Vergleich. In: Deutsches PISA-Konsortium (Hg.), PISA 2000 ⫺ Die Länder der Bundesrepublik Deutschland im Vergleich, 159⫺202. Opladen: Leske & Budrich. BLK-Programm Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund FörMig. URL: http://www.blk-foermig.uni-hamburg.de (14. 12. 2009) Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur (BMUKK); Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung (BMWF) und Österreichisches Sprachen-Kompetenz-Zentrum 2007 Sprach- und Sprachunterrichtspolitik in Österreich. Wien.
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De Cillia, Rudolf und Hans-Jürgen Krumm in Zusammenarbeit mit Andrea Dorner 2009 Die Bedeutung der Sprache. Bildungspolitische Konsequenzen und Maßnahmen. Länderbericht Österreich. Wien: BMUKK. Gogolin, Ingrid, Neumann, Ursula und Hans-Joachim Roth 2003 Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Gutachten. URL: http://www.bmbf.de/pub/studie_foerderung_migration.pdf (14. 12. 2009). Deutsches Jugendinstitut 2001 Treffpunkt deutsche Sprache. Sprachförderung von mehrsprachigen Kindern in Tageseinrichtungen. Forschungsansätze ⫺ Konzepte ⫺ Erfahrungen. München. Ehlich, Konrad u. a. 2005 Anforderungen an Verfahren der regelmäßigen Sprachstandsfeststellung als Grundlage für die frühe und individuelle Förderung von Kindern mit und ohne Migrationshintergrund. (Bildungsreform Bd. 11). Bonn/Berlin: Bundesministerium für Bildung und Forschung. Engin, Havva 2003 „Kein institutioneller Wandel von Schule?“ Bildungspolitische Reaktionen auf Migration in das Land Berlin zwischen 1990 und 2000 im Spiegel amtlicher und administrativer Erlasse. Frankfurt a. M.: IKO-Verlag. Fried, Lilian 2004 Expertise zu Sprachstandserhebungen für Kindergartenkinder und Schulanfänger. Eine kritische Betrachtung. URL: http://www.dji.de/bibs/271_2232_ExpertiseFried.pdf (14. 12. 2009) Klingner, Bettina 2006 Die Umsetzung der Bildungspläne im frühkindlichen Bereich als Herausforderung an die Lernkultur von Erzieher/innen. Eine Untersuchung am Beispiel des Sächsischen Bildungsplans. URL: http://www.kita-bildungsserver.de/downloads/download-starten/?did⫽168 (14. 12 .2009) Konsortium Bildungsberichterstattung 2006 Bildung in Deutschland. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Bildung und Migration. Im Auftrag der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland und des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. Berlin. Neugebauer, Uwe und Dörte Schott 2006 Endbericht zur Evaluation der Multiplikatorinnen-Qualifizierung, durchgeführt im Rahmen des Programms „Sag mal was ⫺ Sprachförderung für Vorschulkinder“ der Landesstiftung Baden-Württemberg. Köln: Univation. Stanat, Petra 2003 Schulleistungen von Jugendlichen mit Migrationshintergrund: Differenzierung deskriptiver Befunde aus PISA und PISA-E. In: Deutsches PISA-Konsortium, (Hg.), PISA 2000 ⫺ Ein differenzierter Blick auf die Länder der Bundesrepublik Deutschland, 243⫺259. Opladen: Leske & Budrich.
Havva Engin, Heidelberg (Deutschland)
1096 XI. Spezifische Bedingungen und Zielsetzungen des Deutsch als Zweitsprache-Unterrichts
121. Curriculumentwicklung und Lehrziele DaZ in der Erwachsenenbildung: Integrationskurse 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Integrationskurs: Definition und Zuständigkeiten Der Integrationskurs als Erbe der bundesdeutschen Sprachförderung Integrationskurse: Die Phase der Implementierung Curriculum der Integrationskurse in Österreich Evaluation der Integrationskurse Integrationskurs: Entwicklung eines curricularen Rahmens Literatur in Auswahl
1. Integrationskurs: Deinition und Zuständigkeiten Als Integrationskurse werden Kurse bezeichnet, die nach gesetzlichen Vorgaben für erwachsene Migrantinnen und Migranten verpflichtend zum Erwerb von Aufenthaltstiteln erforderlich sind (vgl. auch Art. 10). In Deutschland handelt es sich um Deutsch als Zweitsprache-, Alphabetisierungs- und Orientierungskurse, die durch den Bund im Rahmen des Zuwanderungsgesetzes gefördert werden. Die Kurse werden durch das dem Bundesministerium des Innern unterstellte Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) verwaltet, das sie von privaten und öffentlichen Trägern durchführen lässt. In Österreich werden Integrationskurse, d. h. Deutsch- und Alphabetisierungskurse, durch das Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz für Migranten und zur Erlangung der Staatsbürgerschaft vorgeschrieben und vom dem österreichischen Innenministerium zugeordneten Österreichischen Integrationsfonds (ÖIF) administriert, der seinerseits Träger für die Durchführung der Kurse zertifiziert.
2. Der Integrationskurs als Erbe der bundesdeutschen Sprachörderung Die Integrationskurse traten 2005 das Erbe einer bereits fast 30 Jahre existierenden, allerdings bundesweit extrem uneinheitlichen Deutschförderung für Zugewanderte an. Sie basierten auf dem sog. „Gesamtsprachförderkonzept“, das in den 1990er-Jahren die bis dahin von verschiedenen Behörden verwalteten und unterschiedlich ausgestatteten Sprachkursangebote für nach ihrem Aufenthaltsstatus differenzierte Zuwanderergruppen (vgl. Krekeler 2001: 20) zusammenfasste. Zuvor hatte es vereinzelt Planungshilfen für den Unterricht, Lehrwerke und Lehrwerksgutachten, auch Fortbildungsangebote, eine Vielzahl von Trägern und Kursleitende unterschiedlichster Erfahrung und Qualifikation gegeben, ein übergreifendes, für alle geltendes Curriculum für Deutsch als Zweitsprache existierte jedoch nicht. Dafür gab es mehrere Gründe: Einerseits war von Seiten der fördernden Ministerien mehr Aufmerksamkeit auf die Verwaltung und Kontrolle öffentlicher Mittel als auf curriculare und didaktische Fragen gelegt worden, andererseits hatte aber auch die Praxis wenig Interesse an einem einheitlichen Unterrichtsplan geäußert.
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Angesichts der großen Heterogenität der Zielgruppe ging das Bestreben vor Ort eher dahin, ein „Lerner-differenziertes Lernangebot“ (vgl. Barkowski 1982: 215) bereitzustellen, um „die nichtlineare Sprachentwicklung, die unterschiedlichen Lernerfahrungen und die verschiedenen Bedürfnisse und Interessen“ (Krumm 2007: 170) der Zugewanderten zu berücksichtigen. Eine wichtige Rolle spielte auch die Tatsache, dass eine Klärung dessen, was die Deutsch als Zweitsprache-Förderung für Erwachsene curricular bedeutete (einschließlich einer klaren inhaltlichen Trennung von Deutsch als Zweit- und Deutsch als Fremdsprache) noch ausstand und zu diesem Zeitpunkt weder durch die zerstückelte Praxis der Sprachförderung noch durch die wissenschaftliche Diskussion erbracht wurde. Seit dem Handbuch für den Deutschunterricht mit Arbeitsmigranten (Barkowski, Harnisch und Kumm 19862) waren keine umfassenden wissenschaftlichen Untersuchungen zur Deutschdidaktik für Zugewanderte mehr erschienen. Die Zeitschrift Deutsch lernen hatte sich zwar als Forum für Deutsch als Zweitsprache positioniert, grundsätzliche Fragen waren jedoch noch ungelöst: „Wissen wir genug darüber, wie im Ausland und im Inland gelernt wird und gelernt werden kann? Was ist noch zu tun, um praxisrelevante Erkenntnisse darüber zu gewinnen, wie gesteuertes Lernen und ungesteuerter Erwerb tatsächlich förderlich oder hinderlich ineinander greifen (…)? Wie hängen Sprache und Integration, Sprache und Lebensperspektiven miteinander zusammen?“ fragte Reich (2002: 2). Um solche und andere Fragen neu aufzugreifen und dabei die Vorarbeiten und Kenntnisse aus der Praxis der zurückliegenden Jahre zu integrieren, hätte es kaum einen günstigeren Zeitpunkt als die Einführung der Integrationskurse geben können. Eine umfassende Sprachbedarfsanalyse mit „einer Untersuchung der Sprachlerngeschichten und der Lebens- und Lernkontexte der MigrantInnen“ (Krumm 2007: 171) bot sich an. Der Sprachbedarf von Zugewanderten wurde jedoch als weitgehend bekannt und verstanden angenommen. Man bezog sich auf ⫺ den Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen (Europarat 2001) als zunächst ausreichende Basis für den Unterricht, ⫺ vorangegangene Evaluationen der deutschen Sprachkursförderung (Social Consult GmbH 1998 und 1999), ⫺ Erfahrungen von Trägervertretern in der „Bewertungskommission“, einem Expertengremium, das das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge berät.
3. Integrationskurse: Die Phase der Implementierung „Ausländer sollen (…) mit den Lebensverhältnissen im Bundesgebiet so weit vertraut werden, dass sie ohne die Hilfe oder Vermittlung Dritter in allen Angelegenheiten des täglichen Lebens selbstständig handeln können.“ (Bundesregierung und Bundesministerium des Innern 2004a: 1964). Dieses im deutschen Zuwanderungsgesetz verankerte politische Ziel wird später unter Bezug auf die Lernzielbeschreibungen und Prüfungen des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen präzisiert: „Über ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache nach Absatz 1 Nr. 1 verfügt, wer sich im täglichen Leben in seiner Umgebung selbständig sprachlich zurechtfinden und entsprechend seinem Alter und Bildungsstand ein Gespräch führen und sich schriftlich ausdrücken kann (Niveau B1 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen).“ (Bundes-
1098 XI. Spezifische Bedingungen und Zielsetzungen des Deutsch als Zweitsprache-Unterrichts regierung und Bundesministerium des Innern 2007: 2787). In der österreichischen Integrationsvereinbarung wird in vergleichbarer Weise Integration mit der Beherrschung der deutschen Sprache gleichgesetzt und wird zur Operationalisierung auf den Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen Bezug genommen.
3.1. Teilnehmende: Anspruch, Berechtigung und Verplichtung Einen auf zwei Jahre befristeten, gesetzlichen Teilnahmeanspruch haben in Deutschland Neuzuwandernde, die sich dauerhaft im Bundesgebiet aufhalten, sowie Spätaussiedler und Spätaussiedlerinnen und deren Familienangehörige, wenn sie nach dem 1. Januar 2005 nach Deutschland gekommen sind. Zugewanderte, die bereits länger in Deutschland leben, Bürger der Europäischen Union und deutsche Staatsbürger sind teilnahmeberechtigt, wenn sie nicht über ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache verfügen und soweit Kursplätze verfügbar sind. Teilnahmeverpflichtet wiederum sind Zuwanderer, denen eine besondere „Integrationsbedürftigkeit“ (Bundesregierung und Bundesministerium des Innern 2004b: 3371) attestiert wird. Keine Teilnahmeberechtigung haben Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene, die einer schulischen Ausbildung nachgehen, und Neuzuwanderer mit erkennbar geringem Integrationsbedarf. Für den Gesetzgeber ist das wichtigste differenzierende Kriterium im Hinblick auf den Teilnahmeanspruch der Integrationsbedarf. Insbesondere Eltern minderjähriger Kinder, die sich nicht auf einfache Art in deutscher Sprache verständigen können und die auf staatliche Hilfen angewiesen sind, um ihr Leben in Deutschland aufzunehmen, gelten als integrationsbedürftig. Andererseits wird von „erkennbar geringem Integrationsbedarf“ (Bundesregierung und Bundesministerium des Innern 2004b: 3370) ausgegangen, wenn der/die Zugewanderte einen Hochschul- oder Fachhochschulabschluss oder vergleichbare Qualifikation vorweisen kann. Integrationsbedarf reflektiert und benennt hier keine persönliche Bedarfsäußerung, sondern spiegelt die Außensicht, d. h. ob sich der/ die Zugewanderte voraussichtlich ohne staatliche Hilfe in das deutsche (Arbeits-)Leben eingliedern wird. Ähnlich verhält es sich auch in Österreich, wo Migranten mit am Arbeitsmarkt erwünschten Qualifikationen, d. h. Inhaber der sog. „Niederlassungsbewilligung ⫺ Schlüsselkraft“, und deren Familienangehörige von der Erfüllung der Integrationsvereinbarung ausgenommen sind.
3.2. Heterogenität der Zielgruppe Der beträchtlichen Heterogenität der Zielgruppe wird im Konzept für einen bundesweiten Integrationskurs, das die Integrationskursverordnung weiter operationalisiert, durchaus Raum eingeräumt. Als Konsequenz wird auf die Notwendigkeit einer Kursdifferenzierung nach Leistung hingewiesen. Entsprechend der persönlichen Voraussetzungen der Kursteilnehmer sollen „Kurse mit langsamer, durchschnittlicher und schneller Progression“ (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2005a: 8) gebildet werden. Weiterhin werden spezielle Zielgruppen definiert, für die „ein besonderer Unterricht oder ein erhöhter Betreuungsaufwand erforderlich ist“ (Bundesregierung und Bundesministerium des
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Innern 2004b: 3373) und die daher in der Ausgestaltung des Integrationskurses besondere Berücksichtigung finden: ⫺ Zugewanderte mit Alphabetisierungsbedarf, ⫺ Frauen bzw. Eltern, die aus familiären oder kulturellen Gründen keinen allgemeinen Integrationskurs besuchen können, ⫺ nicht mehr schulpflichtige junge Erwachsene (bis 27 Jahre), die sich auf den Besuch weiterführender Schulen oder Hochschulen bzw. die Aufnahme einer Ausbildung vorbereiten, ⫺ Zugewanderte, die seit längerer Zeit in Deutschland leben, ihre Deutschkenntnisse jedoch im außerunterrichtlichen Sprachkontakt erworben haben. Es wären viele andere differenzierende Kriterien zu nennen, denn die Zielgruppe ist durch besondere Heterogenität gekennzeichnet: Ausgangssprachen, Alter, Lebensumstände, Motivation, Zielsprachenkontakt und viele mehr. Forschung dazu, welchen (unterschiedlichen) Lernbedarf diese unterschiedlichen Menschen haben und welcher Unterricht für sie angemessen ist, steht weitgehend aus. Im Rahmencurriculum für den österreichischen Integrationskurs wird keine Außendifferenzierung gefordert. Der Unterricht hat vielmehr „durch seine Methodik der Vielfalt der Lerntypen gerecht zu werden und unter Bedachtnahme auf die Binnendifferenzierung Raum für die Kursteilnehmer zu schaffen, damit sich diese durch den Unterricht persönliche Interessensprofile und Handlungsspielräume erarbeiten können.“ (Bundesministerin für Inneres 2005b: Anlage B)
3.3. Grundstruktur des Integrationskurses Der deutsche Integrationskurs umfasst einen Deutschkurs von 600 Unterrichtseinheiten (UE), unterteilt in einen Basis- und einen Aufbausprachkurs (mit jeweils drei Modulen a` 100 UE). An den Deutschkursteil schließt ein Orientierungskurs von 45 Unterrichtseinheiten zur Vermittlung von Grundkenntnissen über die deutsche Rechtsordnung, Kultur und Geschichte an. Im Vergleich dazu hat der österreichische Integrationskurs mit 300 (ursprünglich sogar nur 100) UE und einem vorgelagerten Alphabetisierungsmodul von 75 UE einen erheblich geringeren Förderumfang. Die Ziele und Inhalte des deutschen Integrationskurses orientieren sich am Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen. Im Basissprachkurs sollen die Teilnehmer Kenntnisse und Fähigkeiten erwerben, die hier mit dem Niveau A2, im Aufbausprachkurs solche, die mit dem Niveau B1 definiert sind. Der thematische Schwerpunkt im Sprachkurs soll aber auch auf der „Alltagsorientierung beziehungsweise auf der Vermittlung von Alltagswissen“ liegen (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2005a: 9). Methodisch wird Wert auf erwachsenengerechtes Lernen, Teilnehmerorientierung, einen partnerschaftlichen Umgang der Lernenden und Lehrenden und die Förderung der Eigenverantwortung gelegt. Dass sich hier ein Dilemma ergibt, zeigt sich beispielsweise an den angeführten Themenlisten, die sich nur geringfügig von denen unterscheiden, die der Gemeinsame Europäische Referenzrahmen für Sprachen „für vorübergehende Besucher, die voraussichtlich nicht am Berufsund Bildungsleben des Landes teilnehmen werden“ (Europarat 2001: 58), nennt. Zahlreiche Fragen sind hier noch ungelöst: Wie verhält sich die Alltagsorientierung der Kurse zu deren Prüfungszielen? Wie ist das unterrichtliche mit dem außerunterrichtlichen Lernen
1100 XI. Spezifische Bedingungen und Zielsetzungen des Deutsch als Zweitsprache-Unterrichts verknüpft? Sind die Orientierungsziele im Orientierungskurs am richtigen Platz? Und vor allem: Wie soll ein teilnehmerorientierter Unterricht angesichts der Integrationslehrziele konkret aussehen?
3.4. Sprachstandseststellungen Die Integrationskursverordnung legt Sprachstandsfeststellungen zu Beginn, im Verlauf und zum Ende des deutschen Integrationskurses fest (vgl. Art. 146). Der Einstufungstest soll dazu dienen, Zugewanderte in die richtige Kursstufe, gegebenenfalls auch in einen Alphabetisierungskurs, einzustufen. Zur Überprüfung des Lernerfolgs nach dem Basisbzw. Aufbausprachkurs sieht das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Zwischentests vor und empfiehlt dafür (2005a: 16) „als nicht sanktionierte Tests“ die vom GoetheInstitut entwickelten Tests Start Deutsch 1 beziehungsweise Start Deutsch 2. Mit dem Bestehen der Abschlussprüfung zum „Zertifikat Deutsch“ hat ein Teilnehmer das Niveau B1 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen und damit die offiziellen Lehrziele des Integrationskurses erreicht. In Österreich wird das Ziel der Integrationskurse durch das Erreichen des A2-Niveaus des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen in Form einer verpflichtenden Prüfung nachgewiesen.
3.5. Zusatzqualiizierung ür Kursleitende In Deutschland müssen Lehrkräfte in Integrationskursen ein DaF- bzw. DaZ-Studium abgeschlossen haben oder die erfolgreiche Teilnahme an einer Zusatzqualifizierung nachweisen. Anhand der Merkmale des DaZ-Unterrichts wurde ein differenziertes Anforderungsprofil für Lehrkräfte erstellt, das die Grundlage für die Definition der Ziele, Inhalte und Methoden dieser Qualifizierung bildet, die Konzeption für die Zusatzqualifizierung von Lehrkräften im Bereich Deutsch als Zweitsprache (vgl. Buhlmann 2005). Diese Konzeption ist für den Bereich Deutsch als Zweitsprache für Erwachsene insofern bedeutsam, als hier zum ersten Mal die inhaltlichen und methodischen Anforderungen an die Integrationskurse definiert werden (so z. B. Handlungsorientierung, Lernerorientierung, Interkulturelles Lernen), auch wenn einige für den Bereich relevante Qualifizierungsziele (Verknüpfung von unterrichtlichem und außerunterrichtlichem Lernen, Umgang mit Fossilisierungen, Einbeziehung der individuellen Mehrsprachigkeit u. a.) keine Berücksichtigung fanden (vgl. Art. 149 und 151). In der österreichischen Integrationsvereinbarung werden die Anforderungen an die Lehrenden sehr viel weniger detailliert formuliert (vgl. Bundesministerin für Inneres 2005b). Erwartet wird neben der allgemeinen Ausrichtung auf die Integration der Migranten in die österreichische Gesellschaft die Orientierung an den im Rahmencurriculum festgehaltenen Inhalten, die Bereitschaft zur Durchführung eines teilnehmerorientierten und persönlich bedeutsamen Unterrichts sowie das Verständnis von Lehren und Lernen als Kontaktprozess zur Umwelt. Eine Qualifizierung, die Lehrkräfte auf die Tätigkeit in den Integrationskursen vorbereitet bzw. sie beruflich begleitet, ist nicht vorgesehen.
121. DaZ in der Erwachsenenbildung: Integrationskurse
1101
4. Curriculum der Integrationskurse in Österreich Entsprechend seinem Auftrag, sowohl Alphabetisierungskurse für primäre und sekundäre Analphabeten und Deutsch-Integrationskurse für erwachsene Migranten zu fördern, hat der Österreichische Integrationsfonds zwei Rahmencurricula (Anlage A und Anlage B zur Integrationsvereinbarungs-Verordnung) entwickelt. Das hier betrachtete Rahmencurriculum für die Integrationskurse in Österreich (zur Alphabetisierung siehe Art. 123) bietet lediglich Leitlinien in Bezug auf Inhalte und Methoden und verweist im Übrigen auf die Lernzielbeschreibungen des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen. Inhaltlich werden zwei Teilbereiche unterschieden: „Alltag“ mit den Bereichen ⫺ ⫺ ⫺ ⫺ ⫺ ⫺ ⫺ ⫺
Eigene Identität Wohnen (Wohnformen) Ernährung (Lebensmittel, alltägliche Versorgung, Geld) Gesundheit (Arztbesuch, Krankenhausaufenthalt) Verkehr (Verkehrsmittel, Orientierung) Ausbildung (Schule, Fortbildung) Arbeit und Beruf (Wirtschaft, spezifische Berufsbereiche) Freizeit (kulturelle Aktivitäten, Sport)
und „Staat und Verwaltung“ mit den Themen ⫺ ⫺ ⫺ ⫺ ⫺ ⫺ ⫺
Grundwerte einer europäischen demokratischen Gesellschaft Staatsform Politische Institutionen Bundesländer Bürokratiebewältigung Sozialsystem in Österreich Verträge
Wie lange und in welcher Reihenfolge die Module im Unterricht behandelt werden, wird nicht festgelegt. Vielmehr wird empfohlen, „sich am Informationsbedarf der Lernenden zu orientieren“. Die Alltagsorientierung soll durch einen hohen authentischen Input gewährleistet werden. Unklar bleibt, wie auf der Niveaustufe A2 die Themen aus dem Bereich von Staat und Verwaltung sprachlich angemessen bearbeitet werden können.
5. Evaluation der Integrationskurse Wie im Gesetz vorgesehen, wurden die Integrationskurse in Deutschland im Verlauf des Jahres 2006 einer Evaluation unterzogen. Sie empfahl eine „Schwerpunktverlagerung von verfahrens- auf zielorientierte Erfolgssteuerung im Sinne von modernem, öffentlichem Management“ (Rambøll Management 2007: 162) und in diesem Sinne für alle Integrationskursteilnehmer verpflichtende Abschlusstests. Der Gesetzgeber folgte den hier ausgesprochenen Empfehlungen. Die überarbeitete Integrationskursverordnung sieht vor: a. einen für alle Teilnehmenden verpflichtenden skalierten Abschlusstest auf dem Niveau A2 und B1,
1102 XI. Spezifische Bedingungen und Zielsetzungen des Deutsch als Zweitsprache-Unterrichts b. eine Wiederholungsmöglichkeit des Aufbausprachkurses für Teilnehmende, die in der Abschlussprüfung das Niveau B1 nicht erreicht haben, c. eine Anhebung der Stundenzahl für den Orientierungkurs von 30 auf 45 sowie einen bundeseinheitlichen Test zum Orientierungskurs, d. eine Anhebung der Stundenzahl auf insgesamt 945 für die speziellen Integrationskurse für Eltern und Frauen, Jugendliche, Personen mit Alphabetisierungs- bzw. besonderem „sprachpädagogischen Förderbedarf “ (Bundesregierung und Bundesministerium des Innern 2007: 2790). Für die Integrationskurse in Österreich liegt keine öffentlich zugängliche Evaluation vor.
6. Integrationskurs: Entwicklung eines curricularen Rahmens Das seit 2008 für den deutschen Integrationskurs vorliegende Rahmencurriculum für Integrationskurse Deutsch als Zweitsprache wurde im Auftrag des BAMF vom GoetheInstitut entwickelt. Es sollte ein Werkzeug der Qualitätssicherung und Vereinheitlichung, eine migrantenspezifische Umsetzung des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen und damit eine „Grundlage der Testentwicklung sowie der Qualitätskontrolle in Zusammenhang mit der Zulassung von Lehrmaterialien“ (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2005c: 2) sein. Das Rahmencurriculum zielt darauf, im Sinne gesellschaftlicher Teilhabe und Chancengleichheit die sprachliche Handlungsfähigkeit von Zugewanderten zu fördern und soll „vorrangig an den Zielen, Bedürfnissen und Lernvoraussetzungen der Zugewanderten ausgerichtet“ (Buhlmann et al. 2008: 9) sein. Im Zusammenhang mit seiner Erstellung wurden erste Sprachbedarfsanalysen durchgeführt: eine Befragung von Institutionen, Kursträgern, Kursleitenden und -teilnehmenden (Ehlich, Montanari und Hila 2007) sowie eine Befragung von Teilnehmenden (unveröffentlicht). Diese Bedarfserhebungen ergaben, dass Zugewanderte sprachliche Handlungen in den folgenden Handlungsfeldern ausführen: ⫺ ⫺ ⫺ ⫺ ⫺ ⫺ ⫺ ⫺ ⫺ ⫺ ⫺ ⫺
Ämter und Behörden Arbeit Arbeitssuche Aus- und Weiterbildung Banken und Versicherungen Betreuung und Ausbildung der Kinder Einkaufen Gesundheit Mediennutzung Mobilität Unterricht Wohnen
Weiterhin nennt das Rahmencurriculum auch sprachliche Kompetenzen, die in unterschiedlichen Kontexten immer wiederkehren, und ordnet diese in übergreifende Kommunikationsbereiche: ⫺ Umgang mit der Migrationssituation ⫺ Realisierung von Gefühlen, Haltungen und Meinungen
121. DaZ in der Erwachsenenbildung: Integrationskurse
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⫺ Umgang mit Dissens und Konflikten ⫺ Gestaltung sozialer Kontakte ⫺ Umgang mit dem eigenen Sprachenlernen Die den Handlungsfeldern bzw. Kommunikationsbereichen zugeordneten Lernziele wurden nach dem Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen kalibriert. Da Zugewanderte komplexe Handlungen auch schon nach kurzer Aufenthaltsdauer ausführen müssen, finden sich schon auf Stufe A1 komplexere sprachliche Handlungen, wie z. B. „Kann mit einfachen Worten über die Schullaufbahn des Kindes im Herkunftsland berichten“, die jedoch zu realisieren sind, wenn „der Partner langsam und klar spricht, zu langsameren Wiederholungen und Umformulierungen bereit ist und jederzeit beim Formulieren hilft“ (Glaboniat et al. 2002: 75). Hier sollen demnach die qualitativen Beschreibungen des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen hinzugezogen werden. Die Lernziele sollen jedoch nicht nur auf einer bestimmten Stufe vorkommen, sondern in zyklischer Progression immer wieder aufgenommen werden. Das Rahmencurriculum listet darüber hinaus auch landeskundliche und interkulturelle Lernziele auf und stellt sie den Handlungsfeldern als Passepartout-Kompetenzen voran. Bei den landeskundlichen Lernzielen handelt es sich um Wissensziele, durch deren Benennung das Rahmencurriculum wesentliche Aspekte des Orientierungskurses in den Integrationskurs einbezieht. Bei den interkulturellen Lernzielen geht es darum, die Wahrnehmung zu erweitern für Vergleiche und für Handlungsmuster, die zuvor nicht bewusst waren, und das interkulturelle Verstehen zu fördern. Für die Lernziele sind Formulierungen wie „Ist sensibilisiert für den kulturellen Unterschied …“ gewählt. Das Rahmencurriculum versteht sich nicht als Lehrplan, sondern gibt ein Maximalangebot, aus dem Lehrwerksautoren, Prüfungsentwickler etc. zielgruppenbezogen auswählen können. Es bleibt den Anwendern auch überlassen, lexikalische und morphosyntaktische Lerninhalte auf der entsprechenden Niveaustufe und für die jeweilige Zielgruppe zu definieren bzw. zu beschreiben. Diese lassen sich jedoch, so die Autorinnen, leicht aus den „konkreten, durch Handlungsfeld, Situation, Beispiel und Aktivität spezifizierten Lernziel[en]“ (Buhlmann et al. 2008: 18) ableiten. Parallel und in Abstimmung zu dem Rahmencurriculum wurde vom Goethe-Institut ein neuer Deutsch-Test für Zuwanderer entwickelt, der skaliert ist, d. h. dass mit einer Prüfung zwei Niveaustufen abgedeckt werden. In jedem Prüfungsteil ⫺ Hören, Lesen, Schreiben und Sprechen ⫺ können die Teilnehmenden entweder die Stufe A2 oder B1 erreichen. Auf dem Zertifikat wird das Ergebnis differenziert dargestellt. Das Spannungsfeld, in dem sich das Rahmencurriculum bewegt, nämlich sowohl bedarfsgerecht sein zu wollen, als auch Werkzeug für die Qualitätskontrolle und Testerstellung sein zu müssen, spiegelt sich in den Herausforderungen an den Deutsch-Test für Zuwanderer als Instrument der Leistungsmessung, das gleichzeitig die Situation von Zugewanderten berücksichtigt. Jedes Prüfungsitem musste daraufhin analysiert werden, ob es authentisch und alltagsrelevant ist, ob es für alle Teilnehmenden in der heterogenen Zielgruppe geeignet ist, auch für diejenigen, die wenig Erfahrung mit schulischem Lernen haben und über ein möglicherweise geringes Wissen über deutsche Verhältnisse verfügen und ob es nicht Vorbehalte oder traumatische Erlebnisse wachruft. Dies ist eine höchst sensible Aufgabe, auch weil der Gesetzgeber einen Nachweis aufenthaltsrechtlicher Voraussetzungen mit dem Prüfungserfolg verbindet. Ob der Spagat gelingt oder eine auf Dauer nicht haltbare Zerreißprobe wird, wird sich erst in Zukunft herausstellen.
1104 XI. Spezifische Bedingungen und Zielsetzungen des Deutsch als Zweitsprache-Unterrichts
7. Literatur in Auswahl Barkowski, Hans 1982 Kommunikative Grammatik und Deutschlernen mit ausländischen Arbeitern. Königstein: Scriptor. Barkowkski, Hans 2001 Curriculumentwicklung und Lehrziele Deutsch als Zweitsprache. In: Gerhard Helbig, Lutz Götze, Gert Henrici und Hans-Jürgen Krumm (Hg.), Deutsch als Fremdsprache. Ein internationales Handbuch, 810⫺827. Bd. 2. (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 19.1⫺2). Berlin und New York: de Gruyter. Barkowski, Hans, Michael Fritsche, Richard Göbel u. a. 1986 Hans-Jürgen Krumm (Hg.), In: Deutsch für ausländische Arbeiter. Gutachten zu ausgewählten Lehrwerken. 3. Aufl. Mainz: Manfred Werkmeister. Barkowski, Hans, Ulrike Harnisch, Ulrike und Sigrid Kumm 1986 Handbuch für den Deutschunterricht mit Arbeitsmigranten. 2. bearb. Aufl. Mainz: Manfred Werkmeister. Buhlmann, Rosemarie 2005 Konzeption für die Zusatzqualifizierung für Lehrkräfte Deutsch als Zweitsprache. Erarbeitet vom Goethe-Institut im Auftrag des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge. Nürnberg: BAMF. Buhlmann, Rosemarie, Karin Ende, Susan Kaufmann, Angela Kilimann und Helen Schmitz 2008 Rahmencurriculum für Integrationskurse Deutsch als Zweitsprache. Erstellt im Auftrag des Bundesministeriums des Innern. Nürnberg: BAMF und München: Goethe-Institut. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2005a Konzept für einen bundesweiten Integrationskurs. Nürnberg: BAMF. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2005b Protokoll der konstituierenden Sitzung der Bewertungskommission. Nürnberg: BAMF. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2005c Protokoll der 3. Sitzung der Bewertungskommission. Nürnberg: BAMF. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2008 Liste zugelassener Lehrwerke. Nürnberg: BAMF. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2008 Liste der zugelassenen Lehrwerke für den Integrationskurs (Stand: November 2008). Nürnberg: BAMF. Bundesministerin für Inneres 2005a Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz §§ 14⫺16. In: Bundesgesetzblatt für die Republik Österreich I Nr. 100. Bundesministerin für Inneres 2005b Verordnung der Bundesministerin für Inneres über die Integrationsvereinbarung (Integrationsvereinbarungs-Verordnung ⫺ IV⫺V). In: Bundesgesetzblatt für die Republik Österreich, 449. Verordnung. Bundesregierung und Bundesministerium des Innern 2004a Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern (Zuwanderungsgesetz). In: Bundesgesetzblatt, Teil 1 Nr. 41, 1950⫺2011. Bonn: Bundesministerium der Justiz. Bundesregierung und Bundesministerium des Innern 2004b Verordnung über die Durchführung von Integrationskursen für Ausländer und Spätaussiedler (Integrationskursverordnung ⫺ IntV). In: Bundesgesetzblatt Jahrgang 2004, Teil 1 Nr. 68, 3370⫺3375. Bundesregierung und Bundesministerium des Innern 2007 Erste Verordnung zur Änderung der Integrationskursverordnung. In: Bundesgesetzblatt, Teil 1 Nr. 61, 2787⫺2692.
121. DaZ in der Erwachsenenbildung: Integrationskurse
1105
Ehlich, Konrad, Elke Montanari und Anna Hila 2007 Recherche und Dokumentation hinsichtlich der Sprachbedarfe von Teilnehmenden an Integrationskursen DaZ ⫺ InDaZ ⫺ im Rahmen des Projektes des Goethe-Instituts zur Erstellung eines Rahmencurriculums für Integrationskurse. München: Goethe-Institut. Europarat (Hg.) 2001 Gemeinsamer Europäischer Referenzrahmen für Sprachen: lernen, lehren, beurteilen. Berlin/ München: Langenscheidt. Glaboniat, Manuela, Martin Müller, Helen Schmitz, Paul Rusch und Lukas Wertenschlag 2002 Profile Deutsch. Lernzielbestimmungen, Kannbeschreibungen und kommunikative Mittel für die Niveaustufen A1, A2, B1 und B2 des „Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen“. Berlin/München: Langenscheidt. Krekeler, Christian 2001 Sprachförderung für Spätaussiedler: ein erfolgreiches Auslaufmodell. Deutsch als Zweitsprache 1: 13⫺22. Krumm; Hans-Jürgen 2007 Ein Curriculum für Integrationssprachkurse sollte mehr leisten als die Legitimierung von Prüfungen. In: Ruth Eßer und Hans-Jürgen Krumm (Hg.), Bausteine für Babylon: Sprache, Kultur, Unterricht. Festschrift zum 60. Geburtstag von Hans Barkowski, 170⫺182. München: iudicium. Maas, Utz und Ulrich Mehlem 2003 Qualitätsanforderungen für die Sprachförderung im Rahmen der Integration von Zuwanderern. (IMIS Beiträge 21.) Osnabrück: IMIS. Rambøll Management 2006 Evaluation der Integrationskurse nach dem Zuwanderungsgesetz. Abschlussbericht und Gutachten über Verbesserungspotenziale bei der Umsetzung der Integrationskurse. Bundesministerium des Innern (Hg.). Berlin: Rambøll Management. Reich, Hans H. 2002 Was ist Deutsch als Zweitsprache? Deutsch als Zweitsprache 4: 2. Social Consult GmbH 1998 Sprachförderung von Spätaussiedlern. Endbericht für das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Social Consult GmbH: Bonn 1998. Social Consult GmbH, Infratest Burke Sozialforschung GmbH, Fachbereich Deutsch als Fremdsprache der Universität Essen 1999 Evaluation der Sprachförderung Deutsch für ausländische Arbeitnehmer. Integrierter Endbericht für das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung. (Forschungsbericht 274). BMA: Bonn. Sprachverband Deutsch für ausländische Arbeitnehmer e. V. 1990 Fragen zur Beurteilung von Lehrwerken in Kursen, die vom Sprachverband Deutsch für ausländische Arbeitnehmer e.V. gefördert werden. Deutsch lernen 1: 43⫺68.
Susan Kaufmann, Mainz (Deutschland)
1106 XI. Spezifische Bedingungen und Zielsetzungen des Deutsch als Zweitsprache-Unterrichts
122. Sprachliche und kulturelle Vielalt im Deutsch als Zweitsprache-Unterricht 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Ausgangssituation Selbstbild und Zweitsprachlernen im sozialen Kontext Sprachliche Vielfalt im DaZ-Unterricht Kulturelle Vielfalt im DaZ-Unterricht Materialien und Hilfsmittel Literatur in Auswahl
1. Ausgangssituation Sprachliche und kulturelle Vielfalt sind Grundgegebenheiten der Lerngruppen in Deutsch als Zweitsprache. Kinder und Jugendliche kommen aus unterschiedlichen Kontexten und mit unterschiedlichen, teils auch problematischen Welterfahrungen in den DaZ-Unterricht, haben meist verschiedene Ausgangssprachen erworben und je eigene Sprachlernwege durchlaufen. Der Wechsel von Sprache und Milieu bringt Verunsicherungen mit sich, hinzu tritt die neue Erfahrung, dass vieles Bisherige im Zielsprachenland anders bewertet wird als in der Herkunftsgruppe, auch die lernende Person selbst wird oftmals geringer eingeschätzt. Der Anfang des Zweitsprachenlernens erfordert von den Lernenden, sich auf Neues einzulassen und sich als Lernende neu zu konzipieren, auch wenn sie in Erstsprache und Erstsprachengruppe schon altersgemäß sprechen und handeln konnten oder sogar eine stabile Identität ausgebildet hatten. Eine DaZ-Lerngruppe kann sich zusammensetzen aus Lernenden derselben Ausgangssprache und -kultur oder aus Lernenden verschiedener Ausgangssprachen und -kulturen. Im zweiten Fall bringen die Lernenden ihre Sprachen und Kulturen in den Unterricht mit und machen ihn schon dadurch sprachlich und kulturell vielfältig. Im ersten Falle begegnen die Lernenden anderer Erstsprache(n) der Sprache und Kultur des Aufnahmelandes, mit der sie sich auseinandersetzen. Es wäre jedoch ein vorschneller Schluss, diese Situation auf eine bikulturelle zu verengen, in der zwei homogene Sprachen aufeinander träfen, im Gegenteil, unsere Sprachen und Kulturpraxen weisen vielfältige interne Varianten auf, die immer zum Entdecken der Anderen auffordern (vgl. Art. 34). Im Unterricht in der Zweitsprache stellt sich von Seiten der Lernenden der Vergleich des Neuen mit dem Bisherigen zwangsläufig ein. Viele DaZ-Lernende möchten im Unterricht ihre Kulturerfahrungen, ihre bisherigen Sprachen, ihre Sprachlerntheorien und ihre Funde aus dem Sprachvergleich spontan zum Ausdruck bringen, wozu ihnen allerdings anfangs die Sprachmittel fehlen und wozu sie von den Unterrichtenden meist auch nicht ermutigt werden („Das gehört jetzt nicht hierher. Bleib beim Thema!“). Das Interesse von DaZ-Lernenden, ihre Befunde und Einstellungen bezüglich der alten und auch der neuen Sprachen und Kulturen zu besprechen, lässt sich erkennen, sobald die Lernenden in der Lage sind, sich zu artikulieren. Die folgenden Beispiele belegen das für die Sprachbereiche Lautung, Lexik und Semantik, aber auch für Grammatik und Orthografie:
122. Sprachliche und kulturelle Vielfalt im Deutsch als Zweitsprache-Unterricht
1107
7⫺8 Jahre: Lautung & Lexik S 1: bär das ist kasachisch gib mir\ S 2: und spanisch gib mir heißt dame\ Grammatik: Artikel S 3: bei deutsche mit artikel\ S 4: aber türkisch moschee schreibt man ohne artikel\ 9⫺10 Jahre: Orthografie S 4: russisch gibt’s mehr buchstaben als deutsch\ Grammatik: Wortbildung S 5: zahlen immer falsch ⫺* zwanzig vier\ Jugendliche: Grammatik: Artikel S 6: immer hab probleme mit die artikel\ Lautung und Orthografie S 7: wir haben kein w und kein y/* dafür aber mehr zischlaute\ Grammatik: Gebrauch des Pronomens und Interpretation S 8: deutsche sagen immer ich\* sagt man polnisch gar nicht\* wir sind mehr bescheiden\ Legende der Minimaltranskriptionen: S1 ⫽ SchülerIn mit Zählnummer / ⫺ \ ⫽ Intonationskurve aufwärts, gleich bleibend, abwärts * ⫽ sehr kurze Pause Transkript 122.1.
Wie die letzte Äußerung zeigt, sprechen DaZ-Lernende auch gern über ihre lebensweltlichen Erfahrungen und Vorstellungen, wenn es ihnen im Unterricht ermöglicht wird. Sie vergleichen die Lebensart im Herkunftsland mit der im Zielsprachenland: Kleidung, Essen, Familie, Wohnen, Verkehr, Berufe, Gender, Technik usw. Dazu drei kleine Textausschnitte: 9 Jahre: S 9: ich finde türkei schön weil da immer so blüten⫺* sind und da gibt’s auch viele früchte da kann man auch* viel spielen da gibt’s nicht viel autos\** die machen die da⫺* sind nicht gefährlich\ S 10: das ist ein ast\* und dann die machen den boden rein⫺* und kühe ziehen\* reißt boden auf/* aber traktor wär besser\ Jugendlicher: S 11: sport nicht schön hier\ alles muss selber machen\* zuhause diener bringen/* handtuch warmes wasser für bad\* und tee\ Transkript 122.2.
Das Bedürfnis nach der Äußerung bisheriger Erfahrungen manifestiert sich nicht nur in solchen Sprechpassagen. Beobachtungen legen nahe, dass das Unterdrücken solcher Äußerungen zu nachlassendem Interesse der Lernenden am Unterricht führt. Sie fühlen sich dann nicht wirklich akzeptiert als die, die sie sind und die etwas zu sagen haben, und vermuten daher, der Unterricht sei nicht an sie adressiert (Oomen-Welke 2008b:
1108 XI. Spezifische Bedingungen und Zielsetzungen des Deutsch als Zweitsprache-Unterrichts 486 f.). Die fatale Folge ist das Abwenden der Aufmerksamkeit von Unterricht und Deutschlernen. Für Modelle und theoretische Ansätze zu diesen Fragen sei auf Kap. VIII, Artikel 89⫺91 und auf Holstein und Oomen-Welke 2006 Kap. 5 verwiesen.
2. Selbstbild und Zweitsprachlernen im sozialen Kontext Gerade im DaZ-Unterricht, der für viele Lernende die erste institutionelle Begegnung mit Sprache und Kultur des Aufnahmelandes ist, müssen Befindlichkeit und bisherige Erfahrungen der Lernenden eine Rolle spielen. Der DaZ-Unterricht selbst findet meistens in Form von Vorbereitungsklassen bzw. Sprachlernklassen, in DaZ-Kursen oder in einzelnen bzw. regelmäßigen Förderstunden statt; neuerdings gibt es auch Feriencamps (Decker 2008 zu Vorbereitungsklassen und ihren Faktoren; Rösch 2007 zu Feriencamps; Rösch 2008 zu DaZ-Kurs oder Lernbegleitung). DaZ-Lernende kommen nicht als unbeschriebene Blätter, sondern als werdende oder schon reife Persönlichkeiten mit ihren eigenen Sprachen in den Kurs. Zunächst einmal haben viele Lernende Angst vor der neuen Situation. Sie geraten oft in eine Umgebung, die widerständig ist und negative Fremdbilder konstruiert. Hier sind auch Identitätsund Motivationsfragen betroffen, denn DaZ-Lernende haben Handlungs- und kulturelles Wissen, das in der deutschsprachigen Schule zunächst verborgen bleibt, jedoch ein Potenzial für den weiteren Unterricht sein kann. DaZ-Lernende können sich allerdings anfangs nur mit Schwierigkeiten sprachlich verständigen, umso mehr sind sie auf Beobachtbares und Interpretationen angewiesen, wobei Fehldeutungen nicht ausgeschlossen sind. In dieser Situation ist es schwer, bei kritischen Rückmeldungen zwischen sach- und personenbezogener Kritik zu unterscheiden; es entsteht die Gefahr der Misserfolgsmotivierung („Das kann ich wieder nicht!“ nach Schmalt 1988), die schon per se Erfolge als zufällig und Versagen als normal erleben lässt und im Weiteren den Lernerfolg zu einem großen Teil verhindert, weil die Lernenden selbst nicht daran glauben. Die seit PISA gemessenen schulischen Ergebnisse von Schülern mit Migrationshintergrund legen Rückschlüsse auf die Verbreitung dieser Haltung nahe, die dazu führt, Anerkennung außerhalb von Schule und Lernen zu suchen. Die Anfangserfahrung, willkommen zu sein, respektiert zu werden und Beiträge leisten zu können, hilft DaZ-Lernenden, sich im Unterricht zu entfalten, Verhaltenssicherheit und Stärke zu gewinnen, zu kooperieren und Wir-Identität zu entwickeln. Eine positive Aufnahme ihrer eigenen Sprachen und ihres Lernverhaltens (auch der sog. Fehler), die hier „Sinn unterstellen“ genannt wird, stärkt ihre Persönlichkeit und Rolle; ausgrenzende Erfahrungen bewirken das Gegenteil (vgl. z. B. Kniffka und Siebert-Ott 2007: 104) die Merkmale der Unterrichtsforschung für erfolgreichen Unterricht referieren). In diesem Kontext soll besonders an das Face-Konzept nach Goffman (seit 1959) erinnert werden, das einen Versuch darstellt, Probleme der „Gesichtswahrung“ auch von Kindern und Jugendlichen zu erklären. Das heißt, auch Kinder und Jugendliche im DaZErwerb wollen ihr „Gesicht“ respektiert sehen, von anderen akzeptiert und nicht eingeschränkt oder bedroht werden, z. B. durch Missachtung oder Kritik, durch strikte Anweisungen oder Verbote anstelle von Verstehensangeboten. Auch Kinder und Jugendliche möchten darüber hinaus positive Anerkennung und Wertschätzung erlangen, selbst wenn
122. Sprachliche und kulturelle Vielfalt im Deutsch als Zweitsprache-Unterricht
1109
sie (noch) nicht zielsprachlich sprechen oder nach anderen als den Maximen der Mehrheit handeln. Da Gesichtswahrung sich in der Interaktion ereignet und als ein gegenseitiger Prozess funktioniert, als Kooperation, bildet der schonende Umgang der Interaktionspartner miteinander, hier der DaZ-Lernenden, der anderen Schüler und Schülerinnen und der Lehrpersonen, eine Voraussetzung des Gelingens kommunikativer Handlungen und des schulischen Lernens. Es scheint, dass dieser Zusammenhang den Interagierenden wenig bewusst ist. Speziell im Kontext der Sprachenvielfalt in der Klasse brauchen die Schülerinnen und Schüler einen Vertrauensvorschuss z. B. in der Form, dass ihren Beobachtungen an Sprache(n) und ihren sprachvergleichenden Bemerkungen (s. Abschnitt 1) Sinn unterstellt wird, dass Sprachaufmerksamkeit und entstehendes Sprachbewusstheit in ihren Redebeiträgen erkannt werden und dass der Unterricht sich mit ihren sprachvergleichenden Fragen beschäftigt, die übrigens für alle interessant sind.
3. Sprachliche Vielalt im DaZ-Unterricht Da die Lernenden in den Prozess des Deutschlernens die schon gelernte(n) Sprache(n) mitbringen, spielen diese gleichzeitig mit der Zielsprache Deutsch eine Rolle und sollten zugleich thematisiert werden. Deren Thematisierung schafft günstige Lernvoraussetzungen, erhöht die Motivation und stärkt das Gesicht der Lernenden sowie die Beziehungen zur Lehrperson und untereinander. Außerdem werden die kognitiven Konstruktionen der Lernenden im Vergleich besprech- und rekonstruierbar, aushandelnd entwickeln sie sich weiter. Für Jugendliche und junge Erwachsene untersucht Wildenauer-Jo´zsa (2005), wann und wie DaF-Lernende ihre bisherigen Sprachen vergleichend nutzen (für Kinder s. o. und Oomen-Welke 2008a und b). Es existieren Sets von Unterrichtsroutinen, die von Lehrpersonen in DaZ genutzt werden, um den Lernenden Respekt zu erweisen und die Vielfalt der DaZ-Klassen von Anfang an erlebbar zu machen. Dazu gehören die Begrüßung und Verabschiedung in den Sprachen der Lernenden und andere kleine Alltagsroutinen wie „Guten Appetit“. In der Grundschule findet man öfter ein Klassenlied auf der Basis von „Paule Puhmanns Paddelboot“ (Neuner und Vahle 1990), das die Namen der Kinder und die Herkunftsländer nennt, z. B. Anesa kommt aus Bosnien / und Vesna aus Kosovo. / Sie wundern sich die ganze Zeit, /denn in beiden Ländern begrüßt man sich so: / Dobar dan ⫺ Dowidschenja ⫺ Guten Tag ⫺ Auf Wiedersehn … Mein Gott, was ist das für ne Schrift, / die Momoko schön schreibt? / In Japan hat sie es gelernt, / wir hoffen, dass sie bleibt. / Konitschiwa ⫺ Sayonara ⫺ Guten Tag ⫺ Auf Wiedersehn … (Brigitte Färber, Freiburg) In der Sekundarstufe beginnt der DaZ-Unterricht häufig mit Vorstellungsrunden, Herkunftsangaben der Lernenden und Landkarten, übrigens auch in Lehrwerken. Im weiteren Verlauf des Unterrichts lässt die Vielfalt der Ausgangslage zugunsten einer Einheitlichkeit im Deutschen nach. Deswegen folgen an dieser Stelle Vorschläge, wie Aspekte sprachlicher und kultureller Vielfalt immer wieder oder sogar durchgehend erhalten werden können, um den o. g. Zielen zu dienen. Denn: Sprachenvielfalt im DaZ-Unterricht
1110 XI. Spezifische Bedingungen und Zielsetzungen des Deutsch als Zweitsprache-Unterrichts ist nicht primär abhängig von der Sprachenkompetenz der Lernenden, sondern auch von der Einstellung der Lehrenden zu den Ausgangssprachen. Die Schülerinnen und Schüler bereitet die Vielfalt im Unterricht auf die Vielfalt der Welt vor.
3.1. Sprachdidaktische Szenarien Spracharbeit mit vielen Sprachen kann in vielerlei Lernszenarien stattfinden. Die Rollen der Lehrperson und der Lernenden sind dabei jeweils verschieden. Genannt seien die folgenden Standardszenarien: ⫺ spontane offene Sprachmitteilung durch SchülerInnen, orientiert an den Fragen und Bedürfnissen der Lernenden; etwa wie in den Beispielen 122.1 und 122.2; das setzt voraus, dass die Beobachtungen der Lernenden willkommen sind; ⫺ Vorschläge aufgreifen: Orientierung des Unterrichts an den spontanen Mitteilungen der Lernenden; Rückgriff der Lehrperson darauf; z. B. gemeinsame Lösung einer Sprachfrage (z. B. „Welche Wörter hat meine Sprache aus anderen Sprachen übernommen?“) durch Vergleich der Sprachen in der Lerngruppe; ⫺ Sprachwissen abrufen, orientiert am DaZ-Curriculum: Bitte um Beiträge aus den Sprachen der Lernenden zu einem von der Lehrperson oder dem Arbeitsmaterial aufgeworfenen Problem und seine Diskussion (z. B. Artikel; Vergangenheitstempora; Höflichkeitsanrede); ⫺ Arbeit mit Materialien wie Sprachensilhouetten, Sprachenbäumen und anderen Materialien (z. B. Moore 2000: Stammbaum der indoeuropäischen Sprachen); vgl. Sprachwelt Deutsch (2003: 199); Krumm (2001: Sprachenbilder); verschiedene Aspekte im Heft Sprachen öffnen Welten (2001); umfangreiche Materialien mit Arbeitsblättern zur Sprachen- und Kulturenvielfalt liefern KIESEL sowie Oomen-Welke u. a. 2006: Der Sprachenfächer). ⫺ Portfolio-Arbeit mit Dokumentation der eigenen Sprache(n) und der Sprachen in der Klasse (dazu Oomen-Welke 2006; Decker 2007. Vgl. zu den Methoden auch Decker und Oomen-Welke 2008.).
3.2. Stuen der Integration der Sprachenvielalt Solche Lernszenarien lassen die Modellierung in Stufenfolgen zu (Oomen-Welke 2008b: 484⫺486). Die Stufen sind nicht bedingt durch die mehr oder weniger hohen Kompetenzen der Lernenden, sondern gemeint als Programm für Lehrpersonen, die lernen mit anderen Sprachen zu arbeiten. Wenn ⫺ im Anschluss an das Face-Konzept ⫺ die Äußerungen der Lernenden über ihre Sprache(n) und das Deutsche als sinnhaltige Konstruktionen angesehen werden, dann sind sie für den Unterricht bedeutsam; die Lernenden dürfen ihre Feststellungen mitteilen, und diese werden ⫺ je nach Entscheidung der Lehrperson oder der Klasse ⫺ in den Unterricht integriert. (1) Spontane Beiträge zu äußern ist eine Art Unterrichtsszenario. Solche Beiträge verzeichnen wir vor allem von Kindern, denn Kinder thematisieren oft, was ihnen sprachvergleichend auffällt (vgl. Transkripte 122.1 und 122.2). Spontane Beiträge werden im
122. Sprachliche und kulturelle Vielfalt im Deutsch als Zweitsprache-Unterricht Unterricht akzeptiert und als bedeutsam bewertet. Andernfalls werden sie auf Dauer nicht mehr vorgetragen. (2) Lehrpersonen sind Profis darin, in den spontanen Beiträgen der Lernenden das Lern- und Reflexionspotenzial zu erkennen. Bei S. 1⫺2 geht es um Artikelsprachen und artikellose Sprachen, bei S. 6 um die Kasus- und Genusmarkierung des Artikels, bei S. 4 und S. 7 um das Grapheminventar im Vergleich usw. Die Äußerungen zeigen den Lehrpersonen, was Lernende wissen und denken, und lassen darauf schließen, was noch gelernt werden sollte (vgl. Transkripte 122.1 und 122.2). (3) An die Beobachtungen der Lernenden anknüpfend können diese Aspekte sprachvergleichend vertieft werden. Die genannten Beobachtungen werden als Vorschläge für Unterrichtsthemen aufgefasst, was ihnen mehr Bedeutung verleiht. Zu solchem die Sprachen vergleichenden Unterricht können die Lernenden viel aus ihrem Vorwissen beitragen und mit dem Neuwissen rekonstruieren. Beispiele können von den Lernenden aus verschiedenen Sprachen zusammengetragene Listen von Wörtern (z. B. für Speisen) oder kurze Sätze (z. B. Ja-Nein-Fragen) sein, die unter ausgewählten Sprachaspekten verglichen werden. (4) Sprachphänomene, deren Behandlung erforderlich ist, werden allerdings nicht immer spontan thematisiert, sondern müssen oft auch von der Lehrperson zum Thema gemacht werden. Sprachliche Vielfalt kann dabei erscheinen, wenn die Lernenden nach dem Äquivalent in ihren Sprachen gefragt werden. Lernende sind auch in der Lage, kooperativ eine Methode des Vergleichens zu finden. Es gibt eine ganze Reihe von Sprachthemen in DaZ, die sich gut für sprachliche Vergleiche eignen, z. B. die Bildung des Plurals im Deutschen, das Subjektpronomen, die Satztopologie usw. (vgl. OomenWelke 2000: 149⫺155). Erreicht wird ein hohes Maß an selektiver Sprachaufmerksamkeit sowie durch die bearbeitenden Tätigkeiten auch Orientierung im Bereich verschiedener Sprachen, mehrsprachiges Sprachwissen und metasprachliches Wissen. Beides speist die Sprachbewusstheit, die wiederum zu höherer Sprachaufmerksamkeit führt und dem Lernen dient.
4. Kulturelle Vielalt im DaZ-Unterricht Sprachgebrauch ereignet sich generell im Kontext kulturellen Handelns (s. Abschnitt 1). Die vorhandene kulturelle Praxis der Lernenden, ihr kulturelles Wissen und die Dimensionen des Gemeinsamen und der Verschiedenheit sollten in das DaZ-Lernen Eingang finden, wie auch theoretisch begründet ist (s. Abschnitt 2 und die Artikel 89⫺91 dieses Buchs). Analog zu den unter 3.2. genannten Stufen lassen sich in diesem Zusammenhang folgende Stufen beschreiben: (1 und 2) Spontane Berichte aus der lernerseitigen Lebenswelt und Wahrnehmung als bedeutsam akzeptieren, (3) die Mitteilungen der Lernenden als Vorschläge auffassen und aufgreifen, (4) in passenden Zusammenhängen nach kulturellem Wissen aus den Herkunfts- und anderen Ländern fragen und es dadurch herbeiholen, um vergleichend zu arbeiten. Das kann mit Materialien zum Vergleich kultureller Praktiken geschehen und in Portfolios integriert werden.
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1112 XI. Spezifische Bedingungen und Zielsetzungen des Deutsch als Zweitsprache-Unterrichts Hier seien einige Dimensionen genannt, die in den Domänen der Schule/Bildung und der Lebenswelt eine Rolle spielen und die Lernenden herausfordern. Sie können für die unterschiedlichen Altersgruppen ausgearbeitet werden und produktiv sein: ⫺ Non- und Extraverbales: Zeichensprache, Handzeichen, Mimik, Körperhaltung, Kleiderordnung bzw. Kleidermode, Wohnen usw. im Binnenvergleich (Unterschiede im selben Land zwischen Altersgruppen, Regionen, Geschlechtern, Lebensstilen usw.) sowie im Vergleich zwischen Ländern und Kontinenten (Oomen-Welke 2004a, 2004b, 2006); Bedeutung der natürlichen Gegebenheiten dabei (Klima, Bodennutzung, Siedlungsdichte usw.), Traditionen; ⫺ Texte in verschiedenen Sprachen: einfache Gedichte, Kinderreime, Märchen usw. in zwei Sprachen; Übersetzungsversuche einfacher Texte aus anderen Sprachen, dabei Nachdenken über die Bildlichkeit der Sprache, die Textform, Implikationen und Subtilitäten des Ursprungstexts und der Übersetzung (Beispiele bei Loch 1981; Dehn und Gerdzen 1981; Hüsler-Vogt 1987 und in „Sprachen in der Klasse“ Praxis Deutsch 157/1999; „Sprachenvielfalt im Klassenzimmer“ Fremdsprache Deutsch 31/2004; „Sprachliche Heterogenität“ Praxis Deutsch 202/2007); ⫺ Die Fassung von Welt durch Sprache: Ähnlichkeit und Verschiedenheit in Zahlensystemen (Zahlwörter, Einer vor oder hinter den Zehnern, Fünfersystem, Zehnersystem oder andere Systemgrundlage usw. (Oomen-Welke demn. im Sprachenfächer; OomenWelke und Kühn 2009: 163 ff.); unübersetzbare Wörter für bestimmte Sachen; sprachliche Bilder in Redewendungen und Sprichwörtern; Höflichkeitsausdrücke und gesellschaftliche Werte; Sprechen über sich und andere, gesichtsschonende Formulierungen usw.; ⫺ Verschiedene Schriften und Orthografien: Typen von Schriften (von Bilderschriften, Symbolschriften, logographischen Schriften über Silbenschriften zu alphabetischen Schriften und Stenografie); unterschiedliche Nutzung des lateinischen Alphabets in den europäischen Sprachen (Beispiel [sˇ]: dt. sch, engl. sh, frz. ch, ung. s, türk. s˛; z. B. Belke 1999); ⫺ Allgemeines und Philosophisches: Gespräche über Sprachentstehung, Sprachverschiedenheit, Sprachkontakt und Spracheinfluss (u. a. Entlehnung); Sprechen und denken; Symbole (außersprachlich, in der Schrift und in der Sprache kodiert) usw. Solche Themen lenken nicht vom Lernen des Deutschen als Zweitsprache ab, im Gegenteil ermöglichen sie, dass die Lernenden das bisher Gelernte, das neu zu Lernende und ihre subjektiven Konstruktionen in den Unterricht einbringen und gemeinsam weiterentwickeln. Die Lehrperson greift einiges vom spontan Geäußerten heraus und macht es zum inhaltlichen Unterrichtsthema oder sie schlägt solche Themen selbst vor. Die Sprachprogression in DaZ ist nämlich nicht auf Lehrbuchtexte angewiesen, sondern kann für die Lernenden interessantere und bedeutsamere Inhalte wählen; die passenden Inhalte, die sich in Lehrwerken finden, sollten selbstverständlich benutzt werden.
5. Materialien und Hilsmittel Die Phasen der Entwicklung von DaZ-Lehrmaterialien für Schülerinnen und Schüler und die Materialtypen zeichnet Kuhs (2008) nach; sie erwähnt auch die Wendung zum Interkulturellen, den nicht immer vorhandenen Lehrplanbezug und die Benutzbarkeit
122. Sprachliche und kulturelle Vielfalt im Deutsch als Zweitsprache-Unterricht sowohl für DaZ-Kurse als auch für Regelklassen. „Evaluationen über Einsatzfrequenzen und Effektivität der o. g. Lehrwerke und Unterrichtsmaterialien liegen nicht vor, eine empirische Lehrwerksforschung fehlt.“ (Kuhs 2008: 321; vgl. auch Oomen-Welke und Schnitzer 2008). Dennoch werden für den hier geforderten DaZ-Unterricht, der die sprachliche und kulturelle Vielfalt zur Grundlage des Lernens macht, Materialien und Hilfsmittel dringend benötigt. Man findet Unterrichtsvorschläge in Form von didaktischmethodischen Publikationen (z. B. Schader 2000, 2004), in Zeitschriften (s. Abschnitt 4 und Der Deutschuterricht 5/2008) oder als Hefte von Organisationen („Sprachen öffnen Welten“ 2001). Zwei Serien, KIESEL (ab 2003) und Der Sprachenfächer (Oomen-Welke u. a. ab 2006) stellen in thematischen Lieferungen Arbeitsblätter zu den o. g. Themen bereit (vgl. genauer Oomen-Welke 2008b und demn. 2010), die auch, aber nicht ausschließlich für DaZ konzipiert sind; speziell Der Sprachenfächer erfordert, dass die Lernenden ihre Sprachen und ihr Handlungswissen vergleichend integrieren. Solche Materialien können ergänzend genutzt werden. Mehr Materialentwicklung für die sprachliche und kulturelle Vielfalt ist für das effizientere Lernen erforderlich.
6. Literatur in Auswahl Ahrenholz, Bernt (Hg.) 2007 Deutsch als Zweitsprache. Voraussetzungen und Konzepte für die Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Freiburg: Fillibach. Ahrenholz, Bernt und Ingelore Oomen-Welke (Hg.) 2008/ 2009 Deutsch als Zweitsprache. 2. Aufl. Baltmannsweiler: Schneider. Belke, Gerlind 1999 Mehrsprachigkeit im Deutschunterricht. Sprachspiele ⫺ Spracherwerb ⫺ Sprachvermittlung. Baltmannsweiler: Schneider. Decker, Yvonne 2008 Deutsch als Zweitsprache in Internationalen Vorbereitungsklassen. In: Bernt Ahrenholz und Ingelore Oomen-Welke (Hg.), 162⫺172. Decker, Yvonne und Ingelore Oomen-Welke 2008 Methoden für Deutsch als Zweitsprache. In: Bernt Ahrenholz und Ingelore Oomen-Welke (Hg.), 324⫺342. Decker, Yvonne 2007 „Meine Sprachen und ich“. Praxis der Portfolioarbeit in Internationaler Vorbereitungsklasse und Förderkurs. In: Bernt Ahrenholz (Hg.), 169⫺185. Dehn, Mechthild und Rainer Gerdzen 1981 Hänsel und Gretel ⫺ Der Zwerg Veli. Praxis Deutsch 47: 46⫺50. Gamkrelidse, Thomas W. und Wiatscheslaw W. Iwanow 2007 Stammbaum der indoeuropäischen Sprachen. Spektrum der Wissenschaft Dossier: Die Evolution der Sprachen 50⫺57. Goffman, Erving 1967/dt. 1971 Interaktionsrituale ⫺ Über Verhalten in direkter Kommunikation. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Haferland, Harald und Ingwer Paul (Hg.) 1996 Höflichkeit. (⫽ Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie 52). Holstein, Silke und Ingelore Oomen-Welke 2006 Sprachen-Tandem für Paare, Kurse, Schulklassen. Ein Leitfaden für Kursleiter, Lehrpersonen, Migrantenbetreuer und autonome Tandem-Partner. Freiburg: Fillibach.
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1114 XI. Spezifische Bedingungen und Zielsetzungen des Deutsch als Zweitsprache-Unterrichts Hüsler-Vogt, Silvia 1987 Tres tristes trigres … Drei traurige Tiger … Zaubersprüche, Geschichten, Verse, Lieder und Spiele für die mehrsprachige Kinder(Garten)-Gruppe. Freiburg i. Br.: Lambertus. Interkulturelle Kommunikation ⫺ Interkulturalität 2008 (⫽ Der Deutschunterricht LX, 5). KIESEL Kinder entdecken Sprachen, Erprobung von Lehrmaterialien o. J. Download unter: http://www.oesz.at/sub_main.php?lnk⫽Publikationen (30. 12. 2010). Kniffka, Gabriele und Siebert-Ott Gesa 2007 Deutsch als Zweitsprache ⫺ Lehren und Lernen. Paderborn: Schöningh. Krumm, Hans-Jürgen 2001 Kinder und ihre Sprachen ⫺ lebendige Mehrsprachigkeit. Wien: eviva. Kuhs, Katharina 2008 Lehrwerke und Unterrichtsmaterialien für die schulische Vermittlung und Förderung von Deutsch als Zweitsprache. In: Ahrenholz und Oomen-Welke (Hg.), 315⫺323. Loch, Waltraud 1981 Cüce Veli, ein türkisches Märchen im Deutschunterricht. Praxis Deutsch 47: 43⫺45. Moore, Thomas C. 2000 Stammbaum der indoeuropäischen Sprachen 51. Spektrum der Wissenschaft Dossier: Die Evolution der Sprachen, 51. Neuner, Gerhard, Fredrik Vahle 1990 Paule Puhmanns Paddelboot: 10 Lieder zum Singen, Spielen und Lernen. Berlin: Langenscheidt. Oomen-Welke, Ingelore 2010 (erscheint) Sprachliches Lernen im mehrsprachigen Klassenzimmer. In: Volker Frederking, Hans Werner Huneke, Axel Krommer und Christel Meier (Hg.), Taschenbuch des Deutschunterrichts. Baltmannsweiler: Schneider. Oomen-Welke, Ingelore 2008a Präkonzepte: Sprachvorstellungen ein- und mehrsprachiger SchülerInnen. In: Bernt Ahrenholz und Ingelore Oomen-Welke (Hg.), 373⫺384. Oomen-Welke, Ingelore 2008b Didaktik der Sprachenvielfalt. In: Bernt Ahrenholz und Ingelore Oomen-Welke (Hg.), 479⫺492. Oomen-Welke, Ingelore 2006/22007 „Meine Sprachen und ich“. Inspirationen aus der Portfolio-Arbeit in DaZ für Vorbereitungsklasse und Kindergarten. In: Bernt Ahrenholz (Hg.), Kinder mit Migrationshintergrund ⫺ Spracherwerb und Fördermöglichkeiten, 115⫺131. Freiburg i. Br.: Fillibach. Oomen-Welke, Ingelore 2004a Körpersprachliches und Extrasprachliches verschiedener Kulturen in Welt, Schule und Unterricht. In: Heinz S. Rosenbusch und Otto Schober (Hg.), Körpersprache und Pädagogik. Das Handbuch, 68⫺98. Baltmannsweiler: Schneider. Oomen-Welke, Ingelore 2004b Nonverbales und Körpersprachliches aus verschiedenen Kulturen als semiotische Grundfrage. In: Otto Schober (Hg.), Körpersprache im Deutschunterricht, 19⫺33. Baltmannsweiler: Schneider. Oomen-Welke, Ingelore 2000 Umgang mit Vielsprachigkeit im Deutschunterricht ⫺ Sprachen wahrnehmen und sichtbar machen. Deutsch lernen 2: 143⫺163. Oomen-Welke, Ingelore und Peter Kühn 2009 Sprache und Sprachgebrauch untersuchen. In: Albert Bremerich-Vos, Dietlinde Granzer, Ulrike Behrens und Olaf Köller (Hg.), Bildungsstandards für die Grundschule: Deutsch konkret, 139⫺184. Berlin: Cornelsen-Scriptor.
122. Sprachliche und kulturelle Vielfalt im Deutsch als Zweitsprache-Unterricht Oomen-Welke, Ingelore und Katja Schnitzer 2008 Evaluation von Arbeitsmaterialien für den vielsprachigen Deutschunterricht. In: Eva Burwitz-Melzer, Wolfgang Hallet, Michael K. Legutke, Franz-Joseph Meißner und Joybrato Mukherijee (Hg.), Sprachen lernen ⫺ Menschen bilden. 22. Kongress für Fremdsprachendidaktik Gießen 2007, 205⫺216. Baltmannsweiler: Schneider. Oomen-Welke, Ingelore und Arbeitsgruppe 2006 ff. Der Sprachenfächer. Freiburg: Fillibach/Berlin: Cornelsen. Neu 2010 Berlin: Cornelsen. Rösch, Heidi 2007 DaZ-Förderung in Feriencamps. In: Bernt Ahrenholz (Hg.), 229⫺246. Rösch, Heidi 2008 Sprachförderung DaZ oder Lernbegleitung? In: Bernt Ahrenholz und Ingelore OomenWelke (Hg.) , 457⫺466. Schader, Basil 2000 Sprachenvielfalt als Chance. Zürich: Orell Füssli. Schmalt, Heinz-Dieter 1988 Über den Einsatz des LM-Gitters zur Messung der Leistungsmotivation in Schul- und Unterrichtssituationen. In: Ingelore Oomen-Welke und Christoph v. Rhöneck (Hg.), Schüler: Persönlichkeit und Lernverhalten, 42⫺57. Tübingen: Narr. Sprachen in der Klasse 1999 (⫽ Praxis Deutsch 157). Hartung, Regine und Krystyna Kudlinska-Stankulova 2001 Sprachen öffnen Welten (⫽ Miteinander leben in Europa Heft 7). Hamburg: Körber-Stiftung. Sprachliche Heterogenität 2007 (⫽ Praxis Deutsch 202). Sprachenvielfalt im Klassenzimmer 2004 (⫽ Fremdsprache Deutsch 31). Peyer, Ann, Daniel Friederich, Therese Grossmann und Franziska Bischofberger 2003 Sprachwelt Deutsch. Bern/Zürich: Schulbuchverlag blmv/Lehrmittelverlag des Kantons Zürich. Wildenauer-Jo´zsa, Doris 2005 Sprachvergleich als Lernerstrategie. Eine Interviewstudie mit erwachsenen Deutschlernenden. Freiburg i. Br.: Fillibach.
Ingelore Oomen-Welke, Freiburg (Deutschland)
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1116 XI. Spezifische Bedingungen und Zielsetzungen des Deutsch als Zweitsprache-Unterrichts
123. Alphabetisierung in der Zweitsprache Deutsch 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.
Geschichte Modelle der Alphabetisierung in DaZ Begrifflichkeiten Die Lernenden Alphabetisierung im Kontext von Integrationspolitik Elementare Komponenten eines Unterrichtskonzeptes/Curriculums für die Alphabetisierung in DaZ Kompetenzbilanz, Portfolio: Wie können Kenntnisse dokumentiert und nachgewiesen werden? Beratung und Einstufung Aus- und Weiterbildung Literatur in Auswahl
1. Geschichte Ende der 1970er Jahre wird man in Deutschland, wie zuvor schon in Großbritannien, darauf aufmerksam, dass ein nicht unwesentlicher Teil der erwachsenen einheimischen Bevölkerung nicht über ausreichende Lese-Schreib-Kompetenzen verfügt. Alphabetisierungskurse richteten sich zunächst ausschließlich an Personen mit deutscher Muttersprache. Auch in Österreich und der Schweiz begann man mit einigen Jahren Verzögerung, den Bedarf an Alphabetisierung für Einheimische zunehmend zu erkennen. Alphabetierungskurse für MigrantInnen wurden im deutschsprachigen Raum bis Mitte der 1980er Jahre nur vereinzelt angeboten. 1986 nahm in Deutschland der Sprachverband Deutsch für ausländische Arbeitnehmer e.V. die Förderung von Sprachkursen mit Alphabetisierung in die Förderrichtlinien auf, nachdem sich in den zunehmend angebotenen Deutschkursen zeigte, dass viele Lernende, vor allem Frauen, nicht über ausreichende Lese- und Schreibkenntnisse verfügten. Die Entwicklung von Kursmodellen, Unterrichtskonzepten, Diskussionsbeiträgen und Materialien (Baymak-Schuldt 1985) folgte. Einen Überblick über die Entwicklung der Alphabetisierung mit MigrantInnen in Deutschland mit grundlegenden und heute noch aktuellen Fragen gibt Szablewski-C ¸ avus (1991). Auch in der Schweiz, in Österreich und in Südtirol stellte man seit den 1980er Jahren verstärkt einen Bedarf an Alphabetisierung in den Deutschkursen für MigrantInnen fest. Alphabetisierung für MigrantInnen findet heute in den deutschsprachigen Ländern Europas hauptsächlich in Integrationskursen mit Alphabetisierung statt. Die seit den 1980er Jahren entstandenen vielfältigen und differenzierenden Konzepte und Kurse (z. B. berufsbezogene Alphabetisierung) werden zunehmend auf dieses Angebot reduziert.
2. Modelle der Alphabetisierung in DaZ Neben der Alphabetisierung in der Zweitsprache Deutsch (DaZ) sind die Alphabetisierung in der Muttersprache, sowie die zweisprachige Alphabetisierung zu nennen. Beide werden sowohl im Schulbereich als auch in der Erwachsenenbildung nur vereinzelt ange-
123. Alphabetisierung in der Zweitsprache Deutsch
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boten. Problematisch ist die Situation für nicht alphabetisierte Kinder und Jugendliche über 10 Jahren (sog. Seiteneinsteiger), da nach der Grundschule in den Schulsystemen der deutschsprachigen Länder kaum Fördermöglichkeiten für Alphabetisierung existieren. Der Ansatz der Family Literacy verbindet durch den Einbezug von Familie und Umfeld zumeist isoliert nebeneinander stehende Maßnahmen in Schule, Erwachsenenbildung, Sozialarbeit und Stadteilarbeit (Elfert und Rabkin 2007). Zunehmende Aufmerksamkeit und Förderung ist der berufsorientierten Grundbildung zu wünschen, die Grundbildung, Qualifizierung und Beschäftigung von Erwachsenen miteinander kombiniert. Versuche der Alphabetisierung als Vorlaufmaßnahme vor dem Deutschkurs haben sich aus zwei Gründen als unzureichend erwiesen: Erstens kann ausreichende Lese-SchreibFähigkeit nicht in wenigen Wochen oder Monaten erworben werden. Zweitens muss ein Alphabetisierungskurs mit MigrantInnen auch die Vermittlung von DaZ enthalten. Den MigrantInnen in Alphabetisierungskursen ohne zweitsprachdidaktisches Konzept den Spracherwerb quasi „nebenbei“ abzuverlangen, ist weder realistisch noch vertretbar. Zweitschrifterwerb: Anders stellt sich die Sachlage bei MigrantInnen dar, die bereits eine nichtlateinische Schrift beherrschen. Für sie ist eine kürzere Vorlaufmaßnahme angemessen, die auf die Übertragung der erstsprachigen Schriftsprachkompetenz auf die lateinische Schrift abzielt. Ein baldiger Wechsel in einen DaZ-Kurs für literate Lernende ist für diese Gruppe sinnvoll und möglich. Allerdings muss auch in dieser Maßnahme dem Spracherwerb ausreichend Aufmerksamkeit geschenkt werden.
3. Begrilichkeiten Da die verschiedenen im Bereich der Alphabetisierung und Grundbildung verwendeten Begrifflichkeiten auch unterschiedliche Konzepte, bildungspolitische Vorstellungen und Haltungen den Betroffenen gegenüber transportieren, seien die wichtigsten hier kurz erläutert: Primärer und sekundärer Analphabetismus: Von primärem Analphabetismus spricht man, wenn eine Person keinerlei Lese- und Schreibkenntnisse erworben hat, von sekundärem Analphabetismus, wenn nach zu kurzem oder nicht erfolgreichem Schulbesuch bereits erworbene Kenntnisse wieder in Vergessenheit geraten sind. Der Begriff „funktionale Alphabetisierung“ stammt ursprünglich aus der älteren UNESCO-Diskussion der 1960er Jahre. Gemeint war eine eingeschränkte Schriftsprachvermittlung für bestimmte für ökonomisch relevant erachtete Funktionen (z. B. für die Arbeit in der Landwirtschaft) in den damals unabhängig gewordenen Kolonien. Aus dieser Verwendung entstanden die bis heute üblichen Bezeichnungen „funktionale Analphabeten“ und „funktionaler Analphabetismus“. Gemeint ist, dass die Betreffenden nicht über ausreichende Schriftsprachkenntnisse verfügen, um sie zur persönlichen, beruflichen und sozialen Partizipation in der Gesellschaft nutzen zu können (s. Kamper 2001; Bhola 1995). Im Begriff steckt insofern eine gewisse Problematik, als er einerseits reduziert auf das Erlernen der alphabetischen Schrift und andererseits für die Betroffenen durch seine Defizitorientierung stigmatisierend wirkt. Literalität: Der von engl. literacy abgeleitete Begriff Literalität (auch Literarität) wird seit etwa einem Jahrzehnt zunehmend in der Fachliteratur verwendet. Er ist positiv kon-
1118 XI. Spezifische Bedingungen und Zielsetzungen des Deutsch als Zweitsprache-Unterrichts notiert und schließt Elemente einer allgemeinen Grundbildung ein, die über die Grundkulturtechniken des Lesens, Schreibens und Rechnens hinausgehen. Literalitäten als soziale Praxen: Anknüpfend an Barton (1994) wird in der heutigen Diskussion vermehrt von Literalitäten im Plural gesprochen. Ausgangspunkt ist die Überlegung, was ein Mensch an literalen Grundfertigkeiten braucht, um in seinen spezifischen Lebenskontexten (privat, beruflich, in Bezug auf Weiterbildung und Teilhabe an der Gesellschaft) bestehen und sich weiterentwickeln zu können. Dies verlangt eine verstärkt lebensweltliche Situierung von Alphabetisierungs- und Grundbildungsmaßnahmen und die Koppelung an die konkreten Bedarfe der Lernenden in ihren Lebenskontexten. „Allgemeine“ Schriftsprachkompetenz wird als Abstraktion betrachtet, die sich aus einem Set literaler Praxen zusammensetzt. Alphabetisierung als Teil von Basisbildung/Grundbildung: Die aktuelle Definition von Grundbildung orientiert sich am Referenzrahmen der Europäischen Kommission (2006), der die Schlüsselkompetenzen definiert, die die Bürgerinnen und Bürger in der europäischen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts für das Bestehen am Arbeitsmarkt und in der Gesellschaft sowie den Einstieg ins Lebenslange Lernen benötigen. Als Elemente der Grundbildung werden neben Lesen, Schreiben, Rechnen, Umgang mit neuen Medien auch Kommunikation, Problemlösung, Arbeiten mit anderen und Lernkompetenz gesehen, sowie Deutsch als Zweitsprache für MigrantInnen im deutschsprachigen Raum. Als problematisch kann die Tendenz der Orientierung an den Kompetenzstufen der EU gesehen werden, wenn Kompetenzmessung und Konstituierung von Leistungsstandards Bildung vorwiegend warenförmig beschreiben und in defizitär formulierte Standards umschlagen, welche die Würde und Autonomie der Betroffenen in Frage stellen (Klein und Reutter 2009: 7⫺11).
4. Die Lernenden Die Lernenden mit Alphabetisierungsbedarf in der Zweitsprache Deutsch sind erwachsene ZuwandererInnen in den deutschsprachigen Ländern Europas sowie Kinder und Jugendliche, die in ihren Herkunftsländern die Schule nicht oder nicht ausreichend lange besuchen konnten. Die Gründe der Verhinderung des Schulbesuchs sind vielfältig und reichen von Krieg und ethnischen Konflikten über individuelle und strukturelle Armut (kein Geld für Schulbesuch, Schulen sind zu weit entfernt, Benachteiligung von Minderheiten im Schulsystem, existentiell notwendige Erwerbsarbeit schon in der Kindheit). Frauen und Mädchen sind besonders stark betroffen: wenn nicht allen Kindern der Familie der Schulbesuch ermöglicht werden kann, sind meist die (ältesten) Mädchen diejenigen, die anstelle des Schulbesuchs Verpflichtungen im Haushalt und bei der Betreuung der Geschwister übernehmen müssen (Ritter 2004: 36⫺37). Der Bildungsbedarf umfasst neben Alphabetisierung (auch in der Muttersprache) und DaZ auch den Erwerb von sprach- und schriftbezogenen Lernstrategien und Strategien für den selbstbestimmten Wissenserwerb sowie auf die berufliche und private Lebenssituation bezogene Fertigkeiten, also Grundbildung im umfassenden Sinn. Die von den Lernenden mitgebrachten Kompetenzen erstrecken sich von Vorkenntnissen in Lesen und Schreiben und in DaZ über mündliche Mehrsprachigkeit und enthalten vor allem auch vielfältige informell erworbene Kompetenzen in privaten und beruflichen Bereichen.
123. Alphabetisierung in der Zweitsprache Deutsch
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Als Motivation für den Kursbesuch wird an erster Stelle der Wunsch nach Selbständigkeit im Einwanderungsland genannt: schriftliche wie mündliche Kommunikationssituationen ohne fremde Hilfe bewältigen zu können, in privaten Rollen als Eltern, Nachbarn usw. sowie in beruflichen Anforderungen und als mündige BürgerInnen agieren zu können. Auch Wünsche nach beruflicher Qualifikation und einer besseren Arbeit werden genannt (Dubis 1999). Bildung ist den illiteraten Zuwanderern als wertvolles Gut bewusst: Umfragen in Kursen zeigen, dass nicht wenige der illiteraten Mütter und Väter ihren Kindern den Besuch von Universitäten und Berufsausbildungen ermöglicht haben. Studien über Zahlen, Bildungsbedarf, Motivationen und mitgebrachte Qualifikationen von Zuwanderern mit Alphabetisierungbedarf existieren in den deutschsprachigen Ländern noch nicht. Die obigen Aussagen stammen aus langjähriger Kurs- und Beratungserfahrung.
5. Alphabetisierung im Kontext von Integrationspolitik Die Verpflichtung für Zuwanderer, für die Aufenthaltsberechtigung bzw. Staatsbürgerschaft Deutschkenntnisse nachzuweisen (vgl. Art. 10 und 121), bedeutet für Menschen mit Alphabetisierungsbedarf eine zusätzliche Hürde. Im Anschluss an die Evaluation der deutschen Integrationskurse hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge deshalb ein für die Kursträger verbindliches Konzept für einen bundesweiten Alphabetisierungskurs (BAMF 2009) entwickelt, der im Rahmen von 945 bis maximal 1245 Unterrichtseinheiten ein kombiniertes Sprachförderungs- und Alphabetisierungsprogramm umfasst, das bis zum Niveau A 2.1 bzw. A 2.2 führen soll. In Österreich dagegen ist lediglich ein vorgelagertes Alphabetisierungsmodul im Umfang von 75 Unterrichtseinheiten vorgesehen. Die Probleme lassen sich wie folgt zusammenfassen: ⫺ Wenn (wie in Österreich) Sprachprüfungen für den dauerhaften Aufenthalt und das Erlangen der Staatsbürgerschaft zu absolvieren sind, die für literate Lernende entwickelt wurden, sind Zuwanderer mit Alphabetisierungsbedarf von diesem Zugang ausgeschlossen. Fortschritte, die in jahrelangem Besuch von Alphabetisierungs- und DaZ-Kursen gemacht wurden, werden ebenso ignoriert wie die hohen Integrationsleistungen der illiteraten Zuwanderer: z. T. jahrzehntelange Berufstätigkeit, Begleitung ihrer Kinder durch Schule und Ausbildung, Integration in der Nachbarschaft. ⫺ In den Integrationspolitiken der deutschsprachigen Länder fehlen Konzepte für muttersprachliche und zweisprachige Alphabetisierung. ⫺ Die Mehrsprachigkeit der Lernenden wird ignoriert statt anerkannt, mehrsprachige Lebensrealitäten fließen nicht in Kurskonzepte ein. ⫺ Von der Integrationspolitik vorgegebene Prüfungen und Kurskonzepte beeinflussen Kursangebote und Kursinhalte: weg von lerner- und bedarfsorientierten Konzepten hin zu prüfungsorientierten Konzepten. Dies hat für Menschen mit Alphabetisierungsbedarf massivere Konsequenzen als für literate Zuwanderer: die beiden zu lernenden Gegenstände Sprache und Schrift sind zu umfangreich, als dass in einer Kursmaßnahme alle notwendigen Grundlagen vermittelt werden können, die den Lernenden den selbständigen Transfer auf die konkreten Anforderungen in Beruf und Alltag ermöglichen.
1120 XI. Spezifische Bedingungen und Zielsetzungen des Deutsch als Zweitsprache-Unterrichts ⫺ Geht es einer Gesellschaft um die umfassende Literalität und Grundbildung auch ihrer Zuwanderer, denen in der Kindheit kein Schulbesuch möglich war ⫺ entsprechend dem Menschenrecht auf Grundbildung ⫺ bedarf dies langfristig angelegter, modularer und berufsbegleitender Maßnahmen und immer wieder an den konkreten Bedarfen und Zielen der Lernenden orientierter Bildungsangebote, die konkrete berufliche und soziale Literalitäten fördern. Die derzeit in den deutschsprachigen Ländern Europas praktizierten vereinheitlichten Kurse, Sprachprüfungen und Staatsbürgerschaftsprüfungen erschweren dies, indem sie wertvolle Kurs- und Lernzeit mit nicht bedarfsorientierten Inhalten und Prüfungsvorbereitungen blockieren.
6. Elementare Komponenten eines Unterrichtskonzepts/ Curriculums ür die Alphabetisierung in DaZ 6.1. Koordination von Alphabetisierung und DaZ Da die Lernprozesse Schriftspracherwerb und Spracherwerb komplex sind und jeder für sich eine gewisse Zeit, meist mehrere Jahre, erfordert, und die Zuwanderer sowohl Sprache wie auch Schrift des Landes, in das sie eingewandert sind, unmittelbar und von Anfang an benötigen, ist es sinnvoll, die beiden Lernprozesse nicht aufeinander folgend, sondern koordiniert zu vermitteln. Da auch die Vorkenntnisse und Lernvoraussetzungen der Lernenden unterschiedlich sind (unterschiedliches Niveau in Schrift und Sprache, unterschiedliche schulische und außerschulische autodidaktische Lernerfahrungen sowie mitgebrachte Lernstrategien, unterschiedlich ausgeprägte Fähigkeiten der Sprachbewusstheit und Fähigkeit zur metasprachlichen Betrachtung von Sprache und Schrift), empfiehlt sich ein differenzierendes Konzept der Kombination von Alphabetisierung und DaZ. Ein seriöses didaktisch-methodisches Konzept für den Alphabetisierungsunterricht in DaZ hat somit vier Komponenten zu enthalten: a) erwachsenen- bzw. jugend- oder kindgerechten Alphabetisierungsunterricht, der die bei DaZ-AnfängerInnen erst reduziert vorhandene Lingua Franca mit einer geeigneten Didaktik zu ersetzen im Stande ist; b) ein DaZ-Unterrichts-Konzept, das mit stark reduzierten schriftlichen Materialien auskommt; c) ein mehrstufiges Konzept, das unterschiedliche Vorkenntnisse in beiden Gegenständen einbezieht sowie Offenheit für individuelle Förderung bietet; d) lernerInnenorientierten Aufbau von Lernstrategien, die das Erkennen und Erarbeiten einer Systematik bezüglich Schrift und Sprache sowie die Reflexion unterstützen.
6.2. Alphabetisierung in DaZ Der Alphabetisierungsunterricht in DaZ steht vor der Herausforderung, die komplexen Anforderungen des Schriftspracherwerbs mit einer zumindest bei DaZ-AnfängerInnen nur rudimentär vorhandenen gemeinsamen Unterrichtssprache zu vermitteln. Weiters
123. Alphabetisierung in der Zweitsprache Deutsch
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müssen auch metasprachliche Erklärungen nicht nur sprachlich erarbeitet, sondern auch von ihrer metasprachlichen Komponente her erst aufgebaut werden. Im folgenden werden einige Konzepte und Ansätze vorgestellt, die sich als nutzbringend besonders für die Alphabetisierung mit MigrantInnen (Kinder und Erwachsene) erwiesen haben und die bspw. in den Ansatz des AlfaZentrums der Wiener Volkshochschulen (www.vhs.at/alfazentrum) eingeflossen sind. Für den schulischen Schriftsprach-Anfangsunterricht entwickelten Brüggelmann und Brinkmann (1999) ein Konzept, das eine gute Grundlage für den Alphabetisierungsunterricht mit Kindern wie auch mit Erwachsenen bietet. Es verdeutlicht die Bereiche, die für den Anfangsunterricht in Lesen und Schreiben relevant sind: a) Freies Schreiben eigener Texte; b) Lesen von relevanter Literatur; c) Systematische Arbeit an Schriftelementen und Leseverfahren, Sprachreflexion und Lese- wie Schreibtechniken sowie Strategien; d) Aufbau und Sicherung eines Grundwortschatzes. Ein Stufenmodell der Entwicklung kindlicher Lese- und Schreibstrategien ist dargestellt von Günther (1995). Das Modell zeigt, dass der Erwerb der Schriftsprache kein geschlossener, ungegliederter und zeitlich eng begrenzter Vorgang ist. Es beschreibt den Schriftspracherwerb von den präliteral-symbolischen Anfängen bis zur integrativ-automatisierten Kompetenz in fünf zweistufigen Phasen. Besonders bedeutsam für die Alphabetisierung mit MigrantInnen ist an diesem Modell, dass sowohl notwendige Vorbedingungen für das Erlernen einer alphabetischen Schrift (präliteral-symbolische Phase, logographemische Phase) einbezogen sind, wie auch aufgezeigt wird, dass es mit dem Erlernen der Buchstaben nicht getan ist: neben der alphabetischen sind eine orthografische und eine Phase der Integration und Automatisierung der Lese-Schreib-Strategien strukturiert dargestellt. Weiters zeigt die Darstellung auf, wie in den beiden Modalitäten Lesen und Schreiben jeweils neue Strategien den Schriftspracherwerb auf ein höheres Niveau führen. Dies macht es Unterrichtenden leichter, problematische Phasen bei den Lernenden erkennen und zielgerichtet zu fördern. Der Spracherfahrungsansatz (beschrieben in Young und Tyre 1991) bietet eine gute Basis für lernerorientierten Alphabetisierungsunterricht. Freies sowie stellvertretendes Schreiben von Anfang an und Arbeiten an den Texten der Lernenden sind wichtige Bestandteile des Konzepts. Damit ist gewährleistet, dass die Texte relevante Lebenssituationen der Lernenden betreffen, wodurch die Schreib- und Lesemotivation von Anfang an höher ist als beim ausschließlichen Arbeiten mit Lehrbuchtexten. Im Alphabetisierungsunterricht mit MigrantInnen können diese Texte weiter für sprachliche und sprachsystematische Aktivitäten genutzt werden.
6.2.1. Phasen und Lernziele der Alphabetisierung mit MigrantInnen: Im Folgenden sind zentrale Aspekte der Phasen (die sich auch immer wieder überlappen) und exemplarisch einige Lernziele für die Alphabetisierung mit MigrantInnen beschrieben (ausführlicher in Faistauer et al. 2006: 33⫺38). Bei der Beschreibung von Lernzielen in der Alphabetisierung mit Zuwanderern kann keinesfalls undifferenziert der Bezugsrahmen des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen für Sprachen (Europarat 2001) verwendet werden, da dieser ausschließlich für literate Lernende entwickelt wurde sowie für das Lernen einer Fremdsprache, nicht aber für das Lernen des Deutschen als Zweitsprache.
1122 XI. Spezifische Bedingungen und Zielsetzungen des Deutsch als Zweitsprache-Unterrichts Kritische Phasen zu Beginn des Schriftspracherwerbs sind das Verständnis des alphabetischen Prinzips und die Aneignung des phonematischen Prinzips (Dehn 1995) mit der dafür notwendigen Fähigkeit der Lautidentifikation und -diskrimination: gesprochene Sprache aktiv auch unter dem Aspekt ihrer Einzellaute wahrzunehmen und zu betrachten. Dies kann bei Menschen, die noch nie eine Schrift erlernt haben, nicht vorausgesetzt werden, und gleichzeitig kann ein Versäumnis auf dieser grundlegenden Ebene lange Zeit Probleme beim Lernprozess Schriftsprache verursachen. Erst die Sicherheit beim Wahrnehmen der Lautgestalt des gesprochenen Wortes (Phoneme) und die Fähigkeit, dieser Lautgestalt bestimmte graphische Zeichen (Grapheme) in der richtigen Reihenfolge zuordnen zu können, bilden eine stabile Basis für die Alphabetisierung. Gut aufgearbeitete Grundlagen und methodische Anleitungen hierzu für den Alphabetisierungsunterricht in der Muttersprache Deutsch finden sich in Kamper (1997), deren Adaption auf die Lernsituation in der Zweitsprache in Ritter (2004). In der Phase des lautgetreuen Schreibens (alphabetische Strategie nach Günther 1995) können Spracherwerb und Schriftspracherwerb voneinander profitieren: das in dieser Schriftspracherwerbsphase zentrale genaue Hören und Aussprechen von Wörtern und Sätzen wird durch phonetische und phonologische Spracharbeit unterstützt und umgekehrt. Hier darf vor allem nicht mit inhaltlich unzusammenhängenden oder unbekannten phonetischen Beispielwörtern gearbeitet werden. Auch einfach erscheinende Laut-Zeichen-Beziehungen müssen sorgfältig aufgebaut werden, sodass den Lernenden sowohl die bewusste Erforschung der Phänomene wie auch die implizite Regelbildung möglich ist. Gleichzeitig ist in dieser Phase zu berücksichtigen, dass die Lesestrategie dieser Phase nach Günther im Gegensatz zur Schreibstrategie keine alphabetische, sondern noch eine logographemische ist: Die Lernenden erschließen mit Hilfe des Kontextes und teilweise „ratendem“ logographemischem Lesen bereits Texte, die sie so noch nicht zu schreiben imstande wären. Auch dies kann für den Spracherwerb genutzt werden, indem nicht vereinfachte, sondern inhaltlich interessante Texte eingesetzt werden, die sich auf die mündliche Spracharbeit beziehen und gerade nicht Wort für Wort entziffert, sondern inhaltlich erschlossen werden mit Hilfe des im vorangegangenen Sprachunterricht erarbeiteten Kontextes. So können komplexe schriftliche Texte zu einem gut bekannten Hörtext eingesetzt werden, aus denen nur bestimmte Elemente schriftlich genauer bearbeitet werden; auch in stellvertretendem Schreiben entstandene Texte eignen sich. In der orthographischen Phase geht es vor allem um Kompetenz im eigenständigen Schreiben komplexerer Texte sowie im Lesen authentischer Texte aus Alltag und Beruf (Aufbau von Lesestrategien für inhaltsorientiertes Lesen, selektives Lesen, Aufbau von Textsortenwissen, …). Grundlagen der Orthographie werden weiter ausgebaut, ebenso Strategien zum Überarbeiten eigener Texte. Auch die Differenzierung von inhalts- und formorientiertem Arbeiten ist hier noch immer zu beachten, dafür ist eine geeignete Methodik zu verwenden. Um zu vermeiden, dass die erworbenen Kenntnisse mangels ständiger Praxis wieder verloren gehen, ist die Unterstützung durch ein betreutes Setting gerade für MigrantInnen notwendig, die für das selbständige Ausüben des Lesens und Schreibens in der deutschen Sprache nicht nur mit schriftsprachlichen, sondern auch mit sprachlichen Hürden kämpfen. Die Phase der Absicherung und Automatisierung schriftsprachlicher Fertigkeiten sollte von ihrer Dauer her nicht unterschätzt werden, sie kann zusätzlich genutzt werden für den parallelen bedarfsorientierten Ausbau der Sprachkenntnisse in DaZ.
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6.3. Zweitspracherwerb im Alphabetisierungskurs: Alphabetisierungsunterricht in der Zweitsprache Deutsch beinhaltet eine ganz eigene und spannende Herausforderung: Die Kommunikationssprache, in der das Fach Alphabetisierung unterrichtet werden soll, muss insbesondere mit der Gruppe der DaZ-AnfängerInnen unter den Lernenden in der Alphabetisierung erst aufgebaut werden. Für das Erlernen eines alphabetischen Schriftsystems ist die Beherrschung der Lautsprache eine Voraussetzung: lesen und schreiben lernen kann man nur, was man auch verstehen und (aus-)sprechen kann. Andererseits ist der Erwerb mündlicher Sprachkompetenzen nicht von der Alphabetisierung abhängig, dies beweisen nicht zuletzt auch TeilnehmerInnen von Alphabetisierungskursen, die gleich mehrere Sprachen fließend sprechen. Die Lernfortschritte beim Verstehen und Sprechen können mitunter deutlich größer sein als beim Lesen und Schreiben, Unterrichtende müssen deshalb eine möglicherweise größer werdende Schere zwischen den einzelnen Fertigkeitsniveaus zulassen und darauf achten, dass sie über den zu Beginn langsameren Schrifterwerb nicht auf die Förderung mitunter schneller voranschreitender mündlicher Fertigkeiten vergessen. Um den Spracherwerb von MigrantInnen zu fördern, die noch unsicher oder gar nicht lesen und schreiben können, muss der DaZ-Unterricht also vorwiegend mit mündlichen Aktivitäten auskommen, vor allem dann, wenn es um komplexere sprachliche Ebenen wie Grammatik geht. Die im DaZ- oder Fremdsprachunterricht eingesetzten schriftlichen Lern- und Übungsmaterialien greifen hier zu kurz, da ihre Dekodierung bereits die Konzentration fordert, die ja gerade auf das Erarbeiten von Satzstrukturen, Konjugation usw. gelenkt werden soll. Bei fortgeschrittenen Lernenden mit schriftlichen Grundkenntnissen kann und soll Spracharbeit auch an schriftlichen Unterlagen vorgenommen werden, wenn für den Dekodierungsprozess genügend Zeit eingeräumt wird. Für den DaZ-Unterricht bietet sich vor allem das erwachsenengerechte, lernerorientierte Konzept des Fremdsprachenwachstums (Buttaroni 1996) an, dessen Methodik konstruktive mündliche Spracharbeit auch ohne die üblichen schriftlichen Unterrichtsmaterialien ermöglicht. Da weiters vorwiegend mit authentischen Materialien gearbeitet wird, lässt sich das Konzept gut auf die Zweitsprachsituation übertragen. Besonders die Aktivitäten zum inhaltsorientierten wie zum formorientierten (Grammatik) Erarbeiten von Hörtexten und mündlichen Dialogen (freies und gelenktes Sprechen, Gesprächskonstruktion) lassen sich erfolgreich für die Lernsituation mit AnalphabetInnen modifizieren und übertragen, ebenso das Erarbeiten von Lesetexten und das freie Schreiben. Vor allem ermöglicht die Methodik den Lernenden, die oben erwähnten Puzzleteilchen von mündlicher und auch schriftlicher Sprache konstruktiv und selbstgesteuert (innerhalb eines gelenkten Settings) zu erarbeiten. Sprachelernen wird damit spannend und lustvoll auch für nicht literate Menschen. Zum Einsatz des Fremdsprachenwachstums im Alphabetisierungsunterricht mit MigrantInnen siehe Gross (2005), Faistauer et al. (2006: 27⫺45), Ritter (2004). Die Fertigkeiten Sprechen und Verstehen für den DaZ-Teil im Alphabetisierungskurs müssen stärker auf die Lebensrealität und die Anforderungen der konkreten Lernenden bezogen sein als im DaZ-Unterricht mit literaten Lernenden. Sie werden mit vorrangig mündlicher und reduzierter schriftlicher Methodik erreicht. Weiters ist zu berücksichtigen, dass neben dem Alphabetisierungsprozess und dem Erarbeiten von geeigneten
1124 XI. Spezifische Bedingungen und Zielsetzungen des Deutsch als Zweitsprache-Unterrichts Sprachlernstrategien nur ein Teil der Unterrichtszeit für das Deutschlernen zur Verfügung steht. Inhaltliche Vorgaben können also nur unter den obigen Gesichtspunkten modifiziert aus DaZ-Curricula übertragen werden.
6.4. Lernerorientierung und Dierenzierung Bei der Fülle von Lerngegenständen (Schrift, Sprache, Lernstrategien) ist das Auseinanderhalten von inhalts- und formorientiertem Arbeiten wesentlich. Beide Prozesse müssen mit den geeigneten Methodiken und mit genügend Zeit sowie voneinander abgegrenzt erarbeitet werden. So erfolgt z. B. mündliche Grammatikarbeit am Hörtext erst nach seiner ausführlichen inhaltlichen Erarbeitung. Lernerorientierung ist aktives Wahrnehmen der Lernenden und ihrer Ziele, Bedürfnisse, Schwierigkeiten, sowie ihrer individuellen Lernfortschritte. Lernerorientierung bedeutet in ihrer Konsequenz auch Kreativität beim Finden von Lösungsstrategien, die den Lernenden das Lernen leichter machen und Lernschwierigkeiten überwinden helfen. Sie macht adäquate Entwicklung von Didaktik und Methodik erst möglich. Lernerorientierung in der Alphabetisierung mit MigrantInnen unterscheidet sich nicht grundsätzlich von Lernerorientierung in DaZ-Kursen oder in der muttersprachlichen Alphabetisierung in Grundschulen und lässt sich an folgenden Eckpunkten festmachen: Erheben von Bedarf und Zielen, Einbezug der Interessen und vorhandenen Ressourcen der Lernenden, sowie Abstimmen von Unterrichtsinhalten, Art und Modus der Aktivitäten auf die Lernenden. Offener Unterricht und Werkstattunterricht erleichtern lernerorientiertes Unterrichten. Lernerorientierung manifestiert sich sowohl im Unterricht wie auch in der Wahl des Unterrichtsansatzes und der Konzeption der Maßnahmen: Passgenauigkeit von Alphabetisierungs- und Grundbildungsangeboten setzt Bedarfserhebung und Einbeziehen von Erfahrungen und Sichtweisen der Betroffenen und daraus resultierend differenzierte Lernangebote voraus. Gerade Menschen ohne positive Erfahrung in formaler Bildung erleben Lernen als subjektiv sinnvoll, wenn Lernangebote lebenswelt-, kontext- und situationsadäquat sind. Die Ausrichtung an der Heterogenität der Lernenden darf nicht nur als Schlagwort im Curriculum vorkommen. In der Konsequenz von Lernerorientierung entsteht Empowerment der Lernenden durch Wertschätzung der mitgebrachten Kenntnisse und Erfahrungen, durch Autonomieförderung und adäquaten Unterricht, der sich an den Bedürfnissen und Lernzielen der Teilnehmenden orientiert.
6.5. Selbstbestimmtes Lernen, Lernstrategien Die erwachsenen Lernenden in Alphabetisierungskursen verfügen nicht über die üblichen schulischen Lernstrategien und -techniken. Sie haben aber oft schon mehrere Sprachen erfolgreich gelernt, memorieren Wichtiges, anstatt es aufzuschreiben, verfügen über Problemlösungsstrategien (die ihnen durch die Migration und beim Aufbau einer Existenz im Zielland geholfen haben), etc. Diese autodidaktisch erworbenen Lern- und Problemlösungsstrategien gilt es aufzugreifen und für den effizienten systematischen Erwerb von Sprache und Schrift zu erweitern und zu ergänzen. Zeitliche und finanzielle Ressour-
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cen der erwachsenen Lernenden lassen es meist nicht zu, dass sie über viele Jahre hinweg Kurse besuchen ⫺ umso wichtiger ist es, sie im Unterricht für das eigenständige Lernen auch nach dem Kurs zu befähigen und zu stärken. Kinder und Jugendliche profitieren von geeigneten Lernstrategien nicht nur für Alphabetisierung und Spracherwerb, sondern auch für ihren weiteren Schulbesuch. Auch für sie gilt, dass die schulischen Maßnahmen für Alphabetisierung und DaZ zeitlich beschränkt sind, also ebenfalls Eigeninitiative erforderlich ist, wollen sie erfolgreich durch Schule und Ausbildung kommen. Unterrichtsinhalte/Elemente des Curriculums sind somit auch: ⫺ Unterstützung beim Aufbau von Sprachbewusstsein und Sprachlernbewusstsein ⫺ Unterstützung beim Erwerb der notwendigen Elemente einer Metasprache, mit deren Hilfe Sprache und Schrift und deren Erlernen kommunizierbar und für die Lernenden fassbar werden ⫺ Vermittlung von Instrumenten der Ökonomisierung, Effektivierung und Automatisierung von Sprach- sowie Schriftlernprozessen ⫺ Unterstützung bei der Formulierung von Lernzielen und Teilzielen sowie deren Evaluierung durch die Lernenden selbst. (Kamper 1997: 35⫺44; Faistauer et al. 2006: 33⫺38)
6.6. Diversität als Grundhaltung und Einbezug der Muttersprachen Wenn Integration und Inklusion, nicht Assimilation als Konzept hinter den Alphabetisierungsmaßnahmen stehen, ist das respektvolle und wertschätzende Einbeziehen der Individualität und Diversität der Lernenden (und auch der Unterrichtenden) eine Möglichkeit, kulturelle, ethnische und religiöse Vielfalt im Kurs zu leben. Im Kurs spiegelt sich die multikulturelle Gesellschaft mit all ihren Chancen und Herausforderungen wider. Für Unterrichtende und Lernende ist das eine Chance, bewusster mit den eigenen Diversitäten umzugehen und das Zusammenleben mit „dem Anderen“ zu üben. So können etwa verschiedene Muttersprachen, Lebensrituale, Spiritualitäten als wertvoll und interessant thematisiert werden, ohne dass Unterrichtende oder Lernende wertend oder gar missionarisch agieren (siehe Ritter 2005). Auch wenn bei erstsprachig heterogenen Gruppen nicht zweisprachig gearbeitet werden kann, so macht es trotzdem Sinn, den Lernenden immer wieder Gelegenheit zum Wiederholen, Nachdenken und Reflektieren über Lerninhalte und Lernprozess in der Muttersprache zu geben, bspw. in Partnergesprächen mit Mitlernenden. Hier kann sich Gelerntes mit Hilfe der Muttersprache konkretisieren und festigen, Fragen können leichter formuliert und geklärt werden. So wie für das Sprachenlernen allgemein der Rückbezug zur Muttersprache notwendig ist, bewirkt fehlender Rückbezug des Erlernten zur Muttersprache auch in der Alphabetisierung ein „In der Luft hängen“ des Gelernten in Schrift und Sprache.
6.7. Materialien Bezüglich der verwendeten Materialien stellt sich die Frage, ob der Einsatz eines kurstragenden Lehrwerkes in lerner- und bedarfsorientierten Kursen sinnvoll ist. Derzeit existie-
1126 XI. Spezifische Bedingungen und Zielsetzungen des Deutsch als Zweitsprache-Unterrichts rende Lehrwerke können als Steinbruch genutzt werden (z. B. Vorlagen für die Buchstabenarbeit, Hörtexte aus niederschwelligen DaZ-Lehrwerken), für die Textproduktion und -rezeption empfehlen sich authentische Texte aus den Interessensgebieten der Lernenden sowie die von den Lernenden produzierten Texten, die auch als Grundlage für sprach- und schriftsystematische Übungen aufgegriffen werden können.
7. Kompetenzbilanz, Portolio: Wie können Kenntnisse dokumentiert und nachgewiesen werden? Obwohl erwachsene und jugendliche Zuwanderer zunehmend unter dem Druck stehen, sprachliche und schriftliche Kenntnisse auch formal nachzuweisen, existieren im deutschsprachigen Raum noch keine für MigrantInnen mit Alphabetisierungsbedarf geeigneten Instrumente. Die Entwicklung von Kompetenzbilanzen oder Portfolios, welche die modulare Beschreibung von mündlichen und schriftlichen Kenntnissen auf unterschiedlichen Niveaus in den verschiedenen Fertigkeiten zulassen, steht noch aus (vgl. aber Art. 147). So wie auch der GER nicht als Messlatte quer über sämtliche Fertigkeiten des Fremdsprachenlernens gelegt werden will (Europarat 2001: 28⫺29), so ist gerade bei Kompetenzdokumentationen für die Alphabetisierung in DaZ auf die Entkoppelung der Bereiche Sprache und Schrift zu achten. Nur so können die mitunter weit auseinander liegenden schriftlichen und mündlichen Kompetenzen adäquat dokumentiert werden. Die Kompetenzbilanzen sollten offen genug sein, auch informelles Lernen aus der privaten und beruflichen Lebenserfahrung einzubeziehen. Auch Lernstrategien, Umgang mit den neuen Medien, Informationsbeschaffung und -bewertung können in diese Kompetenzbilanzen einbezogen werden, ebenso die Mehrsprachigkeit der Zuwanderer, die mündlich oft mehrere Sprachen umfasst. Für Erwachsenene und Jugendliche macht weiters die berufs- bzw. tätigkeitsorientierte Situierung der Kompetenzbilanzen Sinn, die ihre sprachlichen und schriftlichen Kompetenzen auf die Bewältigung konkreter Aufgabenstellungen bezieht. Dies wird der vielschichtigen Natur von Literalität besser gerecht. Eine Orientierung können das Sprachen- und Qualifizierungs-Portfolio aus dem DaZBereich (Plutzar und Haslinger 2005) geben, im internationalen Alphabetisierungsbereich z. B. Stockmann (2006) sowie „Equipped for the Future“ (Stein 2000), ein Framework, das die Lernzielfindung und deren Evaluation mit den Lernenden einbezieht. Im Rahmen eines Projektes (2008⫺2011) wird derzeit an der Entwicklung von Kompetenzmanagement-Instrumenten für MigrantInnen in der Grundbildung gearbeitet (Kompetenzanerkennungszentrum der Volkshochschule Linz: www.kompetenzprofil.at; AlfaZentrum Wien: www.vhs.at/alfazentrum).
8. Beratung und Einstuung Beratungs- und Einstufungsgespräche für Alphabetisierungskurse in DaZ leisten ein Mehrfaches: von der Information der KursinteressentInnen über Ermutigung und Anerkennung des Bildungswillens der Betroffenen, das Erheben des Kenntnisstandes in der Zweitsprache Deutsch sowie in der Schriftsprache, bis hin zum Erheben der persönlichen
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Lernziele. Da die Betroffenen in unterschiedlichem Ausmaß Ängste und Traumata bezüglich Lernen und Schrift mitbringen, hat die Erstberatung auch eine sozialberatende Komponente. Hält man sich die existentiellen Zusammenhänge für die Betroffenen vor Augen ⫺ Sprache und Schrift sind für die tägliche Lebensbewältigung nötig, die Kommunikation mit der Mehrheitsgesellschaft läuft auf allen Ebenen über die deutsche Sprache und Schrift ⫺ wird sichtbar, dass sowohl bereits vorhandene Kenntnisse wie auch die Lernziele konkrete berufliche oder private Handlungsfelder betreffen und somit standardisierte allgemeine Tests weder für die Lernstandserhebung noch für die Erhebung von Zielen das Mittel der Wahl sein können. Standardisierte Einstufungstests würden hier nur zufällig nutzbare Ergebnisse bringen. Ein Beratungsgespräch durch qualifizierte Beratende hingegen bringt adäquate Ergebnisse für die Einstufung, der dabei in Erfahrung gebrachte Stand der Vorkenntnisse und Lernziele können zusätzlich für die Kursplanung genutzt werden (vgl. Art. 129).
9. Aus- und Weiterbildung Die Ausbildung für den Unterricht in Alphabetisierung in DaZ hat ein breites Spektrum an Know How aufzubauen: Befähigung zum koordinierten Unterricht von Sprache und Schrift, Kompetenzen in der Weiterentwicklung von Methodik und Materialien, in Förderdiagnostik, Beratungskompetenz für Erstberatung und kursbegleitende Lernberatung, aber auch soziale Erstberatungskompetenz bei sozialen Problemen der Lernenden, Begleitungskompetenz beim Integrationsprozess, interkulturelle Sensibilität und Diversität, sowie Sensibilität gegenüber gesellschaftlichen Diskriminierungen von Zuwanderern und Bildungsbenachteiligten. Bereits existierende Aus- und Weiterbildungen für die Alphabetisierung mit MigrantInnen in der Erwachsenenbildung sind bspw. der Lehrgang Alphabetisierung und Deutsch mit MigrantInnen des AlfaZentrums der Wiener Volkshochschulen (Ritter 2008b), der Schweizer Modullehrgang Literator/in für Mutter- und Fremdsprachige, der Bielefelder Lehrgang zur Alphabetisierung in der Zweitsprache Deutsch sowie der Leipziger Lehrgang für DaZ-Lehrkräfte in Integrationskursen mit Alphabetisierung. Vergleicht man die Anforderungen an die Unterrichtenden mit den Rahmenbedingungen ihrer Arbeit, ist eine massive Diskrepanz festzustellen: Die Lehrenden im Erwachsenenbildungsbereich arbeiten zum Großteil auf der Basis freier Dienstverträge mit entsprechender Unsicherheit und niedrigen Honoraren und nur zum kleinsten Teil fest angestellt. Institutionen und Auftraggeber erwarten die genannten mehrfachen Kompetenz sowie langjährige Erfahrung, können aber keine qualitätssichernden und auf Nachhaltigkeit gründenden Arbeitsbedingungen gewährleisten. Hier ist vor allem die Bildungspolitik gefragt, für angemessenere Rahmenbedingungen zu sorgen.
10. Literatur in Auswahl Barton, David 1994 An Introduction to the Ecology of Written Language. Oxford/Cambridge: Blackwell Publishers.
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123. Alphabetisierung in der Zweitsprache Deutsch
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Monika Ritter, Wien (Österreich)
1130 XI. Spezifische Bedingungen und Zielsetzungen des Deutsch als Zweitsprache-Unterrichts
124. Textkompetenz und Lernen in der Zweitsprache 1. 2. 3. 4. 5.
1.
Was ist Textkompetenz? Textkompetenz und Bildungserfolg Textkompetenz und Sachlernen Förderung von Textkompetenz Literatur in Auswahl
Was ist Textkompetenz?
1.1. Literacy Kontextualisierung und historische Entwicklung des Begris Der Begriff „Literacy“ wird in der angloamerikanischen Forschung generell für Schriftkundigkeit verwendet und ist auf all jene Bereiche der Bildung und Ausbildung bezogen, die für eine Wissensgesellschaft elementar sind (academic literacy, multimedia literacy etc.). Die „Literacy“-Forschung beschäftigt sich mit der Frage nach der Rolle und Funktion von Schriftkundigkeit in einer Gesellschaft und deren Einfluss auf die Möglichkeiten eines Individuums, am sozialen, politischen, ökonomischen und kulturellen Leben zu partizipieren. Ein Blick auf die historische Entwicklung dieses Begriffs zeigt, dass literacy ursprünglich vor allem als Kennzeichen westlicher, schriftkundiger Menschen betrachtet wurde, die sich von Angehörigen oraler Gesellschaften durch größere intellektuelle Fähigkeiten unterscheiden (vgl. Goody und Watt 1962). Diese Sichtweise lag zahlreichen psychologischen und anthropologischen Arbeiten zugrunde und ist als great divide-theory in die literacy-Diskussion eingegangen (vgl. Street und Lefstein 2007: 37). Seit Beginn der 1980er Jahre wird literacy nicht mehr als ein bloß individuelles, sondern vielmehr als ein gesellschaftliches und kulturelles Phänomen betrachtet und in seiner grundlegenden Bedeutung für das soziale Zusammenleben und den Fortschritt gesehen. Literat sein bedeutet demnach nicht nur lesen und schreiben zu können, sondern auch über die Fähigkeit zu verfügen, mit verschiedenen Optionen der geschriebenen und der gesprochenen Sprache in einer Schriftkultur umzugehen und über sie als ein „kulturelles Werkzeug“ zu verfügen (vgl. Brockmeier 1998: 201). Literatheit zeigt sich in der Fähigkeit, die kulturspezifischen und sozialen Gebrauchszusammenhänge dieser Optionen zu erkennen und zu berücksichtigen (Kern 2000: 4). Anfang der 1990er Jahre entstanden zahlreiche interdisziplinäre Forschungsarbeiten („New Literacy Studies“), die sich mit literalen Praktiken und ihren sozialen und kulturellen Dimensionen befassen (Street 1995, 1997)). Auch die soziokulturelle Prägung der literalen Praxis in Bildungsinstitutionen ist in diesem Zusammenhang ein Thema: So wird etwa die Schule als eine „Mittelschichtinstitution“ bezeichnet (Ehlich und Rehbein 1986: 172), die die literalen Praktiken der Mittelschichtfamilie übernimmt und zur Norm erhebt (vgl. Street 1995: 104). Neben soziokulturell ausgerichteten Forschungsarbeiten entstanden auch eine Reihe von kognitiv orientierten Literacy-Studien, die sich mit den Auswirkungen der literalen
124. Textkompetenz und Lernen in der Zweitsprache
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Entwicklung auf die Sprach- und Denkfähigkeiten eines Individuums beschäftigen. Ihr gemeinsamer Bezugspunkt besteht in der Annahme, dass Schriftlichkeit die Konzeptualisierung von Sprache grundlegend verändert und literale Fähigkeiten neue Perspektiven des sprachlichen Handelns, Denkens und Lernens eröffnen. In der neueren Literacy-Forschung spielen auch lerntheoretische und didaktische Aspekte eine zunehmend bedeutende Rolle. Ein häufig diskutiertes Thema ist kooperatives Lernen, das als sozial-konstruktivistischer Prozess der Bedeutungsaushandlung betrachtet und in seinem Potential für den Sprach- und Wissenserwerb im Unterricht ausgelotet wird. Kress et al. (2000) plädieren für eine multimodale Perspektive auf kognitive Verarbeitungsprozesse und dafür, sprachliche und nichtsprachliche Zeichensysteme aufeinander zu beziehen („multiliteracies“). „Multimodale Textkompetenz“ (Weidacher 2007) ist in der Schule vor allem in den Sachfächern gefordert, da nonverbale Zeichensysteme (Diagramme, Tabellen, Statistiken, etc.) für die Konstruktion von Bedeutungen und das Erschließen von Fachtexten eine wichtige Rolle spielen.
1.2. Textkompetenz ein neuer Begri im Zentrum der LiteracyDiskussion In der deutschsprachigen Diskussion kursiert der Begriff der „Textkompetenz“ (Portmann-Tselikas 2001, 2002; Schmölzer-Eibinger 2008) neben Begriffen wie „Bildungssprache“ (Gogolin 2004, 2007), „Sachfachliteralität“ bzw. „sachfachbezogene Diskurskompetenz“ (Vollmer 2008; Zydatiß 2002, 2005). Diese Begriffe sind in unterschiedlichen fachlichen Kontexten entstanden und durch verschiedene Zugänge gekennzeichnet. Gemeinsam ist ihr Fokus auf Lern- und Erwerbsprozesse in institutionellen Bildungskontexten. Während Gogolin eine erziehungswissenschaftliche Perspektive einnimmt und von „Bildungssprache“ als zentraler Voraussetzung für den Schulerfolg spricht, fokussieren Arbeiten zur „Diskurskompetenz“ auf sprachliche Kompetenzen in den Sachfächern. Der Begriff der Textkompetenz unterscheidet sich von soziologisch, kulturwissenschaftlich und erziehungswissenschaftlich geprägten Ansätzen vor allem durch seine Orientierung an Erkenntnissen der Textlinguistik und der Schreibforschung. Für die gegenwärtige Textkompetenzforschung ist eine Fokussierung auf Fragen des Erwerbs und der Vermittlung von Wissen in der Zweitsprache charakteristisch. Textkompetenz wird als Fähigkeit verstanden, „Texte selbständig zu lesen, das Gelesene mit den eigenen Kenntnissen in Beziehung zu setzen und die dabei gewonnenen Informationen und Erkenntnisse für das weitere Denken, Sprechen und Handeln zu nutzen. Textkompetenz schließt die Fähigkeit ein, Texte für andere herzustellen und damit Gedanken, Wertungen und Absichten verständlich und adäquat mitzuteilen“ (Portmann-Tselikas 2005: 2). Dieses Begriffsverständnis bezieht sich nicht nur auf das Lesen und Schreiben, sondern auch auf das Reflektieren, Abwägen und kritische Bewerten von schriftsprachlich gefasster Information. Aktuelle Arbeiten zur Textkompetenz beziehen sich überwiegend auf den Lernkontext der Schule und des Studiums. Im Zusammenhang mit dem Wissenserwerb in der Zweitsprache sind hier vor allem die folgenden Aspekte von Bedeutung: 1. Textkompetenz ist eine individuelle Fähigkeit, die von früher Kindheit an entwickelt und im Laufe der literalen Entwicklung entfaltet wird. Eine anregende literale Praxis
1132 XI. Spezifische Bedingungen und Zielsetzungen des Deutsch als Zweitsprache-Unterrichts
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in der Familie fördert die Textkompetenz eines Kindes, längst bevor es selbst lesen und schreiben kann. Nicht alle Kinder finden jedoch ein Umfeld vor, in dem sie in ihrer literalen Entwicklung ausreichend gefördert werden; das gilt für Migrantenkinder vielfach in besonderem Maße. Textkompetenz ist eine soziale Fähigkeit, die in der sozialen Praxis des Lesens und Vorlesens, des Schreibens und des Redens über Texte erworben wird. Das Erzählen und Besprechen von Alltagserfahrungen, das Aushandeln von Bedeutungen, das Reden über Geschichten, das Gespräch über Bücher ist für die literale Entwicklung eines heranwachsenden Kindes entscheidend. Diese Aktivitäten haben im Alltag längst nicht aller Lernenden einen selbstverständlichen Platz; das gilt vor allem für Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund. Textkompetenz ist nicht nur eine sprachliche, sondern auch eine kognitive Fähigkeit. Wissen anhand von Texten zu erwerben bedeutet, Informationen aus Texten zu erschließen, mit dem vorhandenen Wissen zu verknüpfen und zu restrukturieren. Das aus den Texten gewonnene Wissen wird dabei „umgeschrieben“ (representational redescription, Karmiloff-Smith 1992) und muss, um für andere darstellbar zu werden, sprachlich neu konzeptualisiert werden. In diesem Prozess der Wissenskonstruktion werden „mentale Modelle“ aufgebaut, geprüft und verändert (Portmann-Tselikas 2007: 275). Auch diese Fähigkeit wird bereits in früher Kindheit angelegt und später in der Schule weiter entwickelt ⫺ und auch hier gilt, dass nicht alle Lernenden darüber in dem Maße verfügen, wie es die Schule von ihnen verlangt. Textkompetenz ist eine sozial determinierte Fähigkeit. Faktoren wie der Beruf, die soziale Positionierung und der Bildungshintergrund der Eltern spielen hier eine wichtige Rolle; ebenso die sozioökonomische Lage und die Wohnverhältnisse der Familie (vgl. Brizic´ 2003, 2007). Migrantenkinder stammen vielfach aus bildungsfernen, sozial und sozioökonomisch benachteiligten Familien und verfügen daher oft nicht über jene Voraussetzungen, die eine erfolgreiche Bildungslaufbahn ermöglichen würden. Textkompetenz ist eine transferierbare Fähigkeit, die von der Erst- auf die Zweitsprache weitgehend übertragbar ist. So können etwa Lernende, die in ihrer Erstsprache effiziente Strategien des Lesens entwickelt haben, diese auch beim Lesen in der Zweitsprache nutzen. Eine Voraussetzung dafür ist, dass sie eine sprachliche Basis aufgebaut haben, d. h. dass sie grundlegende sprachliche Mittel und Strukturen in der Zweitsprache beherrschen (vgl. Schmölzer-Eibinger 2008: 57). Viele Zweitsprachenlernende verfügen jedoch weder in ihrer Erstsprache noch in der Zweitsprache über eine gut entwickelte Textkompetenz und können Transferpotentiale daher auch nicht ausschöpfen. Textkompetenz ist eine kulturell geprägte Fähigkeit. Das betrifft das Verstehen und Interpretieren von Romanen oder Gedichten ebenso wie das Erschließen, Erklären oder Diskutieren von Sachtexten. Migrantenkindern sind die kulturgeprägten Formen der literalen Praxis in der Schule oft weder vertraut noch geläufig.
Textkompetenz wird auch verwendet, um kulturelle Standards zu definieren: Bildungsinstitutionen wie die Schule legen fest, was gute Texte sind und was einen kompetenten Umgang mit Texten ausmacht (vgl. Portmann-Tselikas 2005: 1). Kulturelle Standards bestimmen, wie die Leistungen der SchülerInnen einzustufen und zu beurteilen sind. Die Normen, die auf diese Weise zum Maßstab erklärt werden, steuern die Art des Denkens, Verstehens und der Aneignung von Wissen. Schulerfolg ist schließlich nur möglich durch eine Orientierung an den vorherrschenden kulturellen Standards. Für „bildungsferne“ SchülerInnen, und das betrifft jene mit Migrationshintergrund in besonderem Maße, werden diese vielfach zur unüberwindbaren Hürde.
124. Textkompetenz und Lernen in der Zweitsprache
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2. Textkompetenz und Bildungserolg Textkompetenz ist in der Schule nicht nur im schriftlichen, sondern auch im mündlichen Sprachgebrauch verlangt ⫺ selbst da, wo im Unterricht gesprochen wird, erfolgt der Wissenserwerb primär anhand einer textgeprägten Sprache, die anderen Charakters ist als die erfahrungs-, erlebens- und kontaktbasierte Sprache des Alltags (vgl. auch Art. 109 und 110). Die Sprache der Schule ist gekennzeichnet durch maximale Kontextentbindung, durch eine Anhäufung von Propositionen, durch sprachliche Explizitheit und Abstraktion, durch grammatisch wohlgeformte, komplexe Strukturen, durch einen fachspezifisch geprägten Wortschatz und ein differenziertes Inventar an Textverknüpfungsmitteln (vgl. Feilke 2007). Es treten gehäuft Passivkonstruktionen, Funktionsverbgefüge, Komposita und Nominalisierungen auf, alltagssprachliche Begriffe kommen zwar vor, werden aber vielfach umgedeutet und mit neuen Bedeutungen versehen. Im Laufe des Schulalters wird das situationsgebundene, mündlich geprägte Sprachvermögen der Schülerinnen und Schüler sukzessive in eine durch abstraktes Denken und fachliche Wissensschemata geprägte Sprache umgebaut. Dies zeigt sich nach PortmannTselikas (1998: 28) in einer zunehmenden Konzeptualisierung sowie in einer fortschreitenden thematischen Verknüpfung und einer immer stärker werdenden Sprachlastigkeit. Diese „Überformung“ des alltagsbezogenen Sprachgebrauchs ermöglicht eine neue Art des Denkens und des Umgangs mit Sprache (vgl. Portmann-Tselikas 1998: 26): Man kann über Dinge nachdenken und sprechen, die sich der unmittelbaren Wahrnehmung entziehen, z. B. über Vergangenes (historische Ereignisse im Geschichtsunterricht), nicht Sichtbares (Zellen und Atome im Biologieunterricht) oder nicht Erfahrbares (fremde Länder und Kulturen im Geografieunterricht). Das mündliche Sprachvermögen wird dabei nicht einfach verdrängt, sondern vielmehr ausdifferenziert, erweitert und restrukturiert. Damit wird ein sprachliches Handlungswissen eigener Art erworben, das nicht nur die schriftlichen, sondern auch die mündlichen Sprachgebrauchsweisen der Schülerinnen und Schüler tiefgreifend verändert und prägt (vgl. Feilke 1996: 1181). Die mit dem schulischen Sprachgebrauch verbundenen Anforderungen sind schon für so manche Muttersprachige, umso mehr aber für viele Zweitsprachenlernende schwer bewältigen. Die Probleme von Zweisprachenlernenden, die Leistungsanforderungen im Unterricht zu erbringen, werden im Laufe der Schulzeit oft trotz zunehmender mündlicher Sprachkompetenz nicht kleiner, sondern immer größer (vgl. De Cillia 1998: 231; Reich und Roth 2001: 22). Dies hat vor allem mit den im Laufe der Schulzeit immer komplexer werdenden Anforderungen in den Sachfächern zu tun. Textkompetenz ist daher in der Schule nicht nur im Sprachunterricht, sondern auch im Sachunterricht eine zentrale Basis des Lernens.
3. Textkompetenz und Sachlernen Die Vermittlung und der Erwerb der jeweiligen fachlichen Inhalte erfolgt im Sachunterricht primär anhand von Texten. Sachtexte erlauben es, „Welt“ in Sprache zu fassen und darzustellen, wie Phänomene zustande kommen und welche Wirkungszusammenhänge ihnen zugrunde liegen (vgl. Portmann-Tselikas und Schmölzer-Eibinger 2008: 7). Selbst dort, wo Sachtexte durch visuelle Informationen erläutert, ergänzt oder illustriert werden
1134 XI. Spezifische Bedingungen und Zielsetzungen des Deutsch als Zweitsprache-Unterrichts (z. B. Grafiken, Diagramme), liefern sie die zentralen Informationen, Konzepte und Kategorien für das jeweilige Fach. Sachtexte erheben Anspruch auf Objektivität, sie sind durch eine hohe Informationsdichte, begriffliche Präzision, Explizitheit und komplexe Formulierungsschemata gekennzeichnet. Im Umgang mit Sachtexten ist von den Schülerinnen und Schülern vor allem die Fähigkeit gefordert, relevante Informationen und Sinnzusammenhänge zu erkennen, zu verarbeiten und die gewonnenen Erkenntnisse nachvollziehbar darzustellen (vgl. Portmann-Tselikas und Schmölzer-Eibinger 2008: 9). Es bedarf der Kenntnis fachspezifischer Denkweisen, Kommunikationsschemata und Begriffe, des Wissens um textsortenspezifische Muster und textbildende Prozeduren sowie um die jeweils relevanten kommunikativen Funktionen und sprachlichen Mittel. Sachfachliteralität zeichnet sich nach Vollmer (2006: 211) dadurch aus, dass Lernende in der Lage sind, sich mit den fachlichen Meinungen und Konzepten anderer argumentativ auseinanderzusetzen und Bedeutungen in einem sachadäquaten Diskurs auszuhandeln. Der Wissenserwerb anhand von Sachtexten erfordert nicht nur das Verstehen und Wiedergeben von Inhalten, sondern auch die Reflexion und kritische Auseinandersetzung mit fachbezogenen Informationen (vgl. Art. 116). SchülerInnen, die nicht über diese Fähigkeit verfügen, haben vielfach Probleme, die Anforderungen an den Wissenserwerb im Sachunterricht zu bewältigen. Das betrifft das Erfassen, Darstellen und Verknüpfen von Informationen ebenso wie das Diskutieren und Reflektieren von Beobachtungen, Wahrnehmungen oder Einsichten. Eine besondere Schwierigkeit besteht vielfach darin, Bedeutungen und Sinnzusammenhänge im jeweiligen Kontext zu erkennen und Texte distanziert und aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten (vgl. Schmölzer-Eibinger 2008: 147). Das betrifft SchülerInnen, die die Unterrichtssprache als Erstsprache beherrschen, ebenso wie Lernende, für die die Unterrichtssprache eine Zweitsprache ist. Zweitsprachenlernende sind von diesen Problemen jedoch bei weitem häufiger und stärker betroffen. Sie verfügen oft nicht über die geforderten sprachlichen, kommunikativen und kognitiven Mittel, die es ihnen ermöglichen würden, mit der schriftsprachlich geprägten Sprache im Unterricht zurande zu kommen. Betrachtet man Textkompetenz als Schlüsselkompetenz des Lernens, so kann auf Förderung von Textkompetenz in den Sachfächern nicht verzichtet werden. Eine Integration des Sprach- und Sachlernens erweist sich vielmehr als zentrale Voraussetzung für den schulischen Lernerfolg (Art. 116).
4. Förderung von Textkompetenz Die Förderung von Textkompetenz zählt zu den zentralen Herausforderungen an das gegenwärtige Schul- und Bildungssystem. Aus didaktischer Perspektive sind dabei folgende Aspekte von Bedeutung: Die Förderung von Textkompetenz ⫺ ist Aufgabe des Sprachunterrichts und des Sachunterrichts: Integriertes Sprach- und Sachlernen ist in jedem schulischen Fach als zentrales Prinzip zu verankern. ⫺ ist als individuelle Förderung zu realisieren: Es gilt an den vorhandenen literalen Fähigkeiten der Lernenden anzusetzen und diese schrittweise aufzubauen und zu erweitern.
124. Textkompetenz und Lernen in der Zweitsprache
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⫺ vollzieht sich im Rahmen sozialer Interaktion: Es bedarf kooperativer, aufgabenorientierter Lernformen und einer authentischen, situationsbezogenen sprachlichen Praxis (vgl. Art. 130). ⫺ realisiert sich beim Lesen und Zuhören wie auch beim Sprechen und Schreiben: Rezeptive und produktive Sprachhandlungsaktivitäten sind in jeder Aufgabe anzuregen und aufeinander zu beziehen. ⫺ erfolgt primär in und durch Aktivitäten des Schreibens: Prozessorientierte, epistemische Schreibformen sind in ihrem Potential für den Wissenserwerb in der Zweitsprache zu nutzen (vgl. Art. 110). ⫺ ist in kulturellen Kontexten und in der vorherrschenden literalen Praxis verankert: Die Formen der Bewertung und Reflexion von Texten und die Aktivitäten des Lesens, Schreibens oder Sprechens sind daran auszurichten. ⫺ erfordert Lernaktivitäten, die eine aktive Wissenskonstruktion ermöglichen und fördern: Gefordert sind Aufgaben, die eine individuelle Aneignung und Verarbeitung von Wissen anregen und eine mehrfache Rekonzeptualisierung und Versprachlichung des neu gewonnenen Wissens erfordern. ⫺ ist an den zentralen Problemen der Lernenden im Umgang mit Texten zu orientieren: Kognitiv-sprachliche Operationen wie das Selektieren, das Fokussieren, das Gewichten oder das Rekonstruieren von Informationen sind ins Zentrum der Lernaktivitäten zu stellen (vgl. Art. 114). Mit dem literacy-based approach (Kern 2000) wurde ein erstes umfassendes didaktisches Konzept präsentiert, das die Förderung literaler Fähigkeiten in den Mittelpunkt stellt. Mit den Aufgaben und Verfahren dieses Modells sollen Studierende dabei unterstützt werden, jene kulturellen Orientierungen und Werte kennen zu lernen, die dem Gebrauch einer Fremdsprache zugrunde liegen (vgl. Kern 2000: 1). Sie sollen ein neues Denken über Sprache, Kommunikation und Kultur entwickeln und jene diskursiven Fähigkeiten ausbilden, die es ihnen ermöglichen, die Fremdsprache im jeweiligen soziokulturellen Kontext zu verstehen und zu verwenden. Lese- und Schreibaktivitäten werden dabei als kognitive und soziale Praktiken betrachtet, die die Kenntnis der soziokulturellen Konventionen des Gebrauchs von schriftlicher und mündlicher Sprache voraussetzen (vgl. Kern 2000: 111). Für den Unterricht in mehrsprachigen Klassen wurde mit der Literalen Didaktik (Schmölzer-Eibinger 2008) ein didaktisches Instrumentarium zur Verfügung gestellt, dass es ermöglicht, die Textkompetenz von Zweitsprachenlernenden schrittweise aufzubauen und zu erweitern. Es ist primär für Zweitsprachenlernende gedacht, die bereits über gute alltagssprachliche Fähigkeiten verfügen, jedoch Probleme im Umgang mit Texten haben. Mit den Aufgaben und Verfahren des „Drei-Phasen-Modells“ (Schmölzer-Eibinger 2008) werden grundlegende Strategien und Praktiken im Umgang mit Texten geschult, die unabhängig vom jeweiligen Fach, den jeweils eingesetzten Textsorten, der Komplexität und den Inhalten der Texte beherrscht werden müssen, um anhand von Texten kommunizieren und lernen zu können. Durch die in diesem Modell vorgeschlagenen Aufgaben und Lernaktivitäten soll ein zielgerichtetes, kooperatives und reflexives Handeln mit Texten in authentischen Sprachlernsituationen ermöglicht werden. Prozesse des Lesens, Verstehens und Produzierens von Texten werden dabei eng aufeinander bezogen und integriert. Dieses Modell ist vor allem durch zwei Neupositionierungen gekennzeichnet (vgl. Portmann-Tselikas 2005):
1136 XI. Spezifische Bedingungen und Zielsetzungen des Deutsch als Zweitsprache-Unterrichts 1) Die Arbeit der Lernenden wird ins Zentrum gestellt, und damit wird ihre Fähigkeit, sich im Lernfeld zu orientieren, zum Ausgangspunkt der sprachlichen und kognitiven Aktivitäten im Unterricht gemacht. 2) Die Aufgabe, Verständnis über die Sache zu erreichen, wird in die soziale Sphäre verlagert und ist mit dem Auftrag an die Lernenden verbunden, sich über die Sache zu verständigen; sprachliches Lernen und Wissenserwerb werden damit als kommunikative und kooperative Praxis im Unterricht verankert. Weitere theoretische, empirische und didaktische Differenzierungen, die auf diesen Grundlagen aufbauen, zählen zu den zentralen Aufgaben der gegenwärtigen Forschung im Bereich der Textkompetenz und des Lernens in der Zweitsprache ⫺ ausgehend davon, dass eine gezielte Förderung der Textkompetenz wesentlich dazu beitragen kann, den Schulerfolg und die Bildungschancen von Zweitsprachenlernenden zu erhöhen.
5. Literatur in Auswahl Brizic¸, Katharina 2007 Das geheime Leben der Sprachen. Gesprochene und verschwiegene Sprachen und ihr Einfluss auf den Spracherwerb in der Migration. Münster: Waxmann. Brockmeier, Jens 1998 Literales Bewußtsein. Schriftlichkeit und das Verhältnis von Sprache und Kultur. München: Fink. Cummins, Jim 1979 Cognitive/academic language proficiency, linguistic interdependence, the optimum age question and some other matters. Working Papers on Bilingualism (Travaux de recherches sur le bilinguisme) 19: 197⫺205. Cummins, Jim 1991 Conversational and academic language proficiency in bilingual contexts. In: Jan H. Hulstijn und Johan F. Matter (Hg.), Reading in Two Languages, 75⫺89. (AILA Review 8). Alblasserdam. De Cillia, Rudolf 1998 Mehrsprachigkeit und Herkunftssprachenunterricht in europäischen Schulen. In: Dilek C ¸ inar (Hg.), Gleichwertige Sprachen? Muttersprachlicher Unterricht für die Kinder von Einwanderern, 229⫺287. Innsbruck: StudienVerlag. Ehlich, Konrad und Jochen Rehbein 1986 Muster und Institution. Untersuchungen zur schulischen Kommunikation. Tübingen: Narr. Feilke, Helmuth 2007 Textwelten der Literalität. In: Sabine Schmölzer-Eibinger und Georg Weidacher (Hg.), Textkompetenz. Eine Schlüsselkompetenz und ihre Vermittlung, 25⫺37. Tübingen: Narr. Gogolin, Ingrid 2004 Mathematiklernen im Kontext sprachlich-kultureller Diversität. Abschlussbericht eines DFG-Forschungsprojektes (unveröff. Manuskript). Gogolin, Ingrid 2007 Herausforderung Bildungssprache ⫺ „Textkompetenz“ aus der Perspektive Interkultureller Bildungsforschung. Bausteine eines Beitrags zur 27. Frühjahrskonferenz, 15.⫺17. Februar in Schloss Rauischholzhausen. In: Karl-Richard Bausch, Eva Burwitz-Melzer, Frank G. Königs und Hans-Jürgen Krumm (Hg.), Textkompetenzen, 73⫺80. Tübingen: Narr. Goody, Jack and Ian Watt 2002 The consequences of literacy. Comparative Studies in Society and History 5(3): 304⫺345.
124. Textkompetenz und Lernen in der Zweitsprache
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Karmiloff-Smith, Annette 1992 Beyond Modularity. A Developmental Perspective on Cognitive Science. London: The MIT Press. Kern, Richard 2000 Literacy and Language Teaching. Oxford: Oxford University Press. Kress, Gunther 2000 Multimodality. In: Bill Cope und Mary Kalantzis (Hg.), Multiliteracies: Literacy Learning and the Design of Social Futures, 182⫺202. London: Routledge. Portmann-Tselikas, Paul R. 1998 Sprachförderung im Unterricht. Handbuch für den Sach- und Sprachunterricht in mehrsprachigen Klassen. Zürich: Orell Füssli. Portmann-Tselikas, Paul R. 2001 Schreibschwierigkeiten, Textkompetenz, Spracherwerb. Beobachtungen zum Lernen in der zweiten Sprache. Deutsch als Fremdsprache 1: 3⫺13. Portmann-Tselikas, Paul R. 2002 Textkompetenz und unterrichtlicher Spracherwerb. In: Paul R. Portmann-Tselikas und Sabine Schmölzer-Eibinger (Hg.), Textkompetenz. Neue Perspektiven für das Lernen und Lehren, 13⫺44. Innsbruck: StudienVerlag. Portmann-Tselikas, Paul R. 2005 Was ist Textkompetenz? In: http://elbanet.ethz.ch/wikifarm/textkompetenz/uploads/Main/ PortmannTextkompetenz.pdf [21. 03. 2007]. Portmann-Tselikas, Paul R. und Sabine Schmölzer-Eibinger 2008 Textkompetenz. Fremdsprache Deutsch 39: 5⫺16. Reich, Hans H. und Hans-Joachim Roth u. a. 2001 Zum Stand der nationalen und internationalen Forschung zum Spracherwerb zweisprachig aufwachsender Kinder und Jugendlicher. Hamburg: Behörde für Schule, Jugend und Berufsbildung. Schmölzer-Eibinger, Sabine 2008 Lernen in der Zweitsprache. Grundlagen und Verfahren der Förderung von Textkompetenz in mehrsprachigen Klassen. Tübingen: Narr. Street, Brian V. 1995 Social Literacies: Critical Approaches to Literacy in Development, Ethnography and Education. London/New York: Longman. Street, Brian V. und Adam Lefstein 2007 Literacy. An Advanced Resource Book. London/New York: Routledge. Vollmer, Helmut 2006 Fachlichkeit und Sprachlichkeit: Zwischenbilanz eines DFG-Projekts. Zeitschrift für Fremdsprachenforschung 17(2): 201⫺244. Vollmer, Helmut 2008 Diskursfunktionen und fachliche Diskurskompetenz bei bilingualen und monolingualen Geografielernern. In: Stephan-A. Dietze und Ana Halbach (Hg.), Bilingualer Sachfachunterricht (CLIL) im Kontext von Multilingualität, Plurikulturalität und Multiliteralität, 205⫺225. Frankfurt: Lang. Weidacher Georg 2007 Multimodale Textkompetenz. In: Sabine Schmölzer-Eibinger und Georg Weidacher (Hg.), Textkompetenz. Eine Schlüsselkompetenz und ihre Vermittlung, 39⫺55. Tübingen: Narr. Zydatiß, Wolfgang 2005 Diskursfunktionen in einem analytischen curricularen Zugriff auf Textvarietäten und Aufgaben des bilingualen Sachfachunterrichts. Fremdsprachen Lehren und Lernen 34: 156⫺173.
Sabine Schmölzer-Eibinger, Graz (Österreich)
1138 XI. Spezifische Bedingungen und Zielsetzungen des Deutsch als Zweitsprache-Unterrichts
125. Interkulturelle Erziehung 1. 2. 3. 4. 5.
Problemaufriss Historischer Rückblick Beziehungen zwischen Multikulturalität, Transkulturalität und interkultureller Erziehung Interkulturelle Erziehung auf dem Prüfstand Literatur in Auswahl
1. Problemauriss Interkulturelle Erziehung bezeichnet pädagogische Ansätze, die von der Notwendigkeit und Chance gemeinsamer Bildung von Kindern unterschiedlicher ethnischer, sprachlicher, sozialer, kultureller und religiöser Herkunft ausgehen, Heterogenität also als gegenseitige Lernchance verstehen, von der alle Betroffenen profitieren. Während sich interkulturelle Erziehung vornehmlich in der Schule und in Bildungseinrichtungen des Elementarbereichs vollzieht, findet interkulturelles Lernen im Sinn eines lebenslangen Lernens in allen Bereichen des öffentlichen und privaten Lebens statt. Interkulturelle Erziehung ist in den vergangenen Jahren häufig als pädagogische Antwort auf das gesellschaftliche Phänomen wachsender Multilingualität und Multikulturalität verstanden worden. Neben Beiträgen zu Fragen von (interkultureller) Erziehung und Bildung unter historischem Aspekt (Ruhloff 2004) sind aus kulturwissenschaftlicher, gesellschafts- und bildungspolitischer Sicht systematische Grundlagen erarbeitet worden, die das Verhältnis zwischen Kultur, Politik und (interkultureller) Pädagogik untersucht haben (Götze und Pommerin 1992; Hamburger 1994). Aus der Vielfalt wissenschaftlicher Ansätze seien folgende wissenschaftliche Arbeiten genannt, die eine konsequente Implementierung interkulturellen Lernens als integralen Bestandteil aller Schulfächer sowie des gesamten Schullebens einforderten, Curriculumentwicklungen und fachdidaktische Entscheidungen zu Gunsten interkulturellen Lernens begründeten (vgl. dazu Reich, Holzbrecher und Roth 2000); bildungspolitische Diskussionen auf Anti-Rassismus- und Friedenserziehung bzw. Umgang mit Fremdenfeindlichkeit entfachten (Essinger und Uc¸ar 1993), die Implementierung der „europäischen Dimension“ (Luchtenberg und Nieke 1994) und Mehrsprachigkeit statt der Fortsetzung eines „monolingualen Habitus“ einforderten (Gogolin 1994; Krumm 2009), interkulturelle, kommunikative Kompetenz bzw. sprachliche Bildung als Schlüsselqualifikation und grundlegende Zielsetzung jeglicher interkultureller Erziehung (Luchtenberg 1999; Krüger-Potratz 2005) oder Handlungsorientierung im Rahmen interkultureller Projektarbeit als angemessenes didaktisches Prinzip auswiesen (Pommerin 1996). Empirische Untersuchungen etwa zum Integrationsverhalten Heranwachsender mit Migrationshintergrund, ihrem Sprachverhalten, Fallstudien zum Umgang von Schulen mit Multikulturalität oder zu Fragen des interkulturellen und interreligiösen Lernens wurden vorwiegend in den 1990er Jahren und Anfang 2000 durchgeführt (Kupfer-Schreiner 1994; Auernheimer et al. 1996; Fischer et al. 1996; Fürstenau, Gogolin und Yagmur (Hg.) 2003).
125. Interkulturelle Erziehung
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2. Historischer Rückblick Aus der Retrospektive zeichnen sich drei große Linien ab, die teilweise parallel zueinander in verschiedenen Bundesländern existierten (vgl. auch Art. 6): ⫺ In den 1950er und 1960er Jahren wurden „Ausländer“ ⫺ zunächst aus Italien und Spanien und später aus Griechenland und der Türkei ⫺ als „Gastarbeiter“ angeworben. Ohne besondere Fördermaßnahmen wurden deren Kinder in Regelklassen „integriert“. Ihre Herkunftskultur und ihre muttersprachlichen Ressourcen wurden in diesen Kompensationsprogrammen nicht nur nicht genutzt, sondern systematisch ausgeblendet. Die Folgen dieser gescheiterten „Ausländerpolitik“ sind bekanntermaßen katastrophal: eine hohe Zahl von Schulabgängern ohne qualifizierten Schulabschluss, ein hoher Anteil an „Sonderschülern“, Semilinguismus und Kulturverlust. ⫺ Aufgrund vehementer Kritik an der herrschenden Bildungspraxis der 1960er und 1970er Jahre wurden auf Drängen der ausländischen Eltern, der Ausländerbeiräte und WissenschaftlerInnen Konzepte des bilingualen Lernens entwickelt, die von der Hypothese ausgingen, dass Kinder aus Migrantenfamilien erst dann die Zweitsprache Deutsch erfolgreich lernen können, wenn sie ihre Muttersprache nicht nur auf dem Niveau alltagssprachlicher Kommunikation beherrschen, sondern sich auch auf einem hohen Niveau von Schul- und Fachsprachen sicher bewegen können. Es war zweifellos ein großer Verdienst der bilingualen Programme, die Muttersprachen der Kinder systematisch weiter zu entwickeln und ihre kulturellen Wurzeln im Unterricht zu berücksichtigen. Die einseitige Konzentration auf die Herkunftssprachen der Kinder und ihren Migrationshintergrund ohne nennenswerte Anbindung an die peer group der Mehrheitsbevölkerung, der Verzicht auf einen gemeinsamen Unterricht in allen Fächern ohne gezielte Fördermaßnahmen in der Zielsprache Deutsch verhinderte aber gerade das, was die Befürworter des Ansatzes intendierten, nämlich die Ausbildung einer ausbalancierten Bilingualität. Stattdessen erfolgten Segregation und Rückzug in den „Schonraum“ der eigenen Ethnie. ⫺ Als Antwort auf die gescheiterte Assimilationspolitik bzw. Ausländerpädagogik, aber auch die Segregationspolitik der späten 1970er und 1980er Jahre wurden Konzepte der interkulturellen Erziehung entwickelt (Pommerin u. a. 1996). Konstitutive Merkmale interkultureller Erziehung waren: ⫺ Anti-Rassismus bzw. Friedenserziehung ⫺ Respekt vor dem Fremden bzw. Neugier auf das Fremde ⫺ Betonung von Gemeinsamkeiten und Ausgleichen der Differenzen ⫺ Förderung von Mehrsprachigkeit ⫺ Individualisierung des Unterrichts durch offene Lernstrukturen und Handlungsorientierung ⫺ Einbezug von Stadtteilarbeit bzw. community education als „Ernstfall des Lernens“ ⫺ Neuorientierung der Lehrerrolle und Autonomie der Schule.
3. Beziehungen zwischen Multikulturalität, Transkulturalität und interkultureller Erziehung Eine grundlegende Frage aus forschungsrelevanter Perspektive betrifft die Verbindung interkultureller Erziehung mit dem Verständnis von Multikulturalität bzw. Transkultura-
1140 XI. Spezifische Bedingungen und Zielsetzungen des Deutsch als Zweitsprache-Unterrichts lität oder Hybridkultur: Verhält es sich tatsächlich so, dass sich die Multikulturalität ⫺ nach Ansicht der Rechtswissenschaftlerin Seyran Ates ⫺ als folgenschwerer Irrtum mit verhängnisvollen Folgen für unsere Gesellschaft erwiesen hat, weil Multikulturalität die realen Konflikte einer pluralen Gesellschaft verharmlost? Insbesondere bezichtigt sie die „Multikultis“, die Augen vor Zwangsheirat, Ehrenmord oder Rückzug in die eigene Ethnie zu verschließen. Unverbindliche Toleranz, die in Wirklichkeit Gleichgültigkeit überspiele, ermögliche erst, dass eine demokratische Grundordnung unterhöhlt werden könne und Parallelgesellschaften entstehen (Ates 2007: 92). Dennoch brauche unsere Gesellschaft, so die Autorin, eine effiziente interkulturelle Erziehung (Ates 2007: 1). Kritik am Multikulturalismus-Konzept und an interkultureller Erziehung erfolgt auch aus der Sicht der transkulturellen Pädagogik. Multikulturalität würde, so ihre Vertreter, in der Vorstellung verharren, unverändert vom „Eigenen“ und „Fremden“ auszugehen, statt den Topos des „fließenden Dazwischen“ ins Blickfeld zu nehmen, Kulturen als monolithische Blöcke wahrzunehmen statt Mischungen und Überlagerungen, die sich in einem ständigen Wandel befinden (Welsch 1997; Göhlich et al. 2006). Dass sich heterogene, kulturelle Inhalte in einem Nebeneinander drängen, kulturelle Räume sich durchdringen und überlagern, die Kulturen implodieren oder, wie es der Philosoph ByungChul Han in seiner postmodernen Kulturtheorie formuliert ⫺ zu „structangles“ formieren, stellt weder ein Novum dar noch einen Gegensatz zur Multikulturalität, die sich seit langem von einem statischen Kulturverständnis verabschiedet hat. Dieses „fließende Dazwischen“ ist ein Lebensgefühl, das vor allem die Dritte und Vierte Generation prägt. Nach Aussagen von Betroffenen löst es ambivalente Gefühle aus, da sie sowohl in Deutschland als auch in der Heimat ihrer Grosseltern als Fremde wahrgenommen werden. Allerdings berge ein Leben in Übergängen auch ungeahnte Chancen: Die fließenden Übergänge kultureller Anteile und mehrsprachiger Identitäten eröffneten auch die Perspektive größerer Flexibilität. Schriftsteller, wie etwa Alev Tekinay, Trojanow oder Jose´ F. A. Oliver haben das Potenzial einer „gemischten Identität“ bereits in den 1980er Jahren keineswegs nur als Wurzellosigkeit, sondern als „kulturelles Kapital“ und Durchbrechen starrer Systeme und Sehgewohnheiten erlebt. Aus der Vielfalt von Topographien, Sprachen und „Heimaten“, literarischen Vorbildern und eigener schöpferischer Kraft gelangten sie zu ihrer persönlichen unverwechselbaren Sprache (Oliver3 1988: 127; Pommerin-Götze 2009: 365⫺369). Der Hypothese eines Aufgebens von Alterität wurde allerdings heftig widersprochen: Die Ignoranz von Differenz führt zu einer fatalen Fehleinschätzung der Realität durch eine postmoderne Transkulturalität oder Hybridkultur. So gelangt etwa der Amerikanist Helmbrecht Breinig zu dem Schluss, an ein Verschwinden der „Eigen-Fremd-Differenz“ sei nicht zu denken; im Gegenteil, „back to the roots“ sei ein kultureller Trend, den wir als Gegenentwurf zur Globalisierung überall auf der Welt antreffen, wenn es um das kulturelle Überleben ethnischer Minderheiten gehe (Breinig 2006: 69⫺82). Wenn alle Grenzen fließend sind, sich weder in gesellschaftlichen Systemen oder Subsystemen markante Besonderheiten feststellen lassen, also alles zur „me´ttissage culturel“ wird und auch die Identitäten von Individuen in den verschiedenen Kulturen nur noch als patchwork-Identität existieren, dann erübrigt sich auch jegliche Diskussion um kulturelle, soziale und ethische Werte. „Dieser zentrale Gedanke eines Kulturbegriffs der Wertorientierung und Normalität fehlt durchgängig in allen postmodernen Kulturtheorien“ so Götze, „seien sie nun der Hybridität, dem Multikulturalismus, der Hyperkultur oder der Transkulturalität verpflichtet (Götze 2009: 6⫺7).
125. Interkulturelle Erziehung
1141
Die kritische Auseinandersetzung mit divergierenden kulturtheoretischen und pädagogischen Positionen ist insofern wichtig, als sie Einfluss auf die Konstituierung interkultureller Erziehungskonzepte ausübt.
4. Interkulturelle Erziehung au dem Prüstand Anti-Rassismus und Friedenserziehung wie auch eine Erziehung, die Respekt vor dem Anderen und Neugier auf das Andere intendieren, stellen die unverzichtbaren Leitideen interkultureller Erziehung dar. Gleichheiten und Unterschiede wahrnehmen und respektieren zu lernen sind die Grundlagen einer politischen Kultur, die Einheit in der Vielfalt beschwört, wie sie etwa von Charles Taylor bereits 1993 für Kanada gefordert wurde. Sie fordert alle Bürger und Bürgerinnen, gleich welcher Nationalität, sozialer, ethnischer, sprachlicher oder religiöser Zugehörigkeit, auf, auf der Basis anerkannter demokratischer Grundrechte den Dialog fortzusetzen, auch wenn der Konflikt temporär unlösbar scheint. In diesem Punkt treffen sich die Forderungen Taylors mit den Bemühungen von Seyran Ates, die zwar dem Multikulturalismus im Sinne eines alles akzeptierenden Nebeneinanders eine Absage erteilt, dennoch in der interkulturellen Erziehung die einzige bildungspolitische Alternative sieht. Wenden wir uns dem Aspekt der Mehrsprachigkeit, einem weiteren grundlegenden Prinzip interkultureller Erziehung zu, so wird man feststellen, dass die Fähigkeit, mehrere Sprachen zu „beherrschen“, zwar in wissenschaftlichen Fachkreisen hohes Ansehen genießt, in der konkreten Unterrichtspraxis aber nur zögerlich aufgegriffen wird, sieht man einmal von Modellversuchen zur Förderung von Fremdsprachen, zum Frühbeginn des Fremdsprachenunterricht, dem bilingualen Fach-Sprachunterricht oder dem Fremdsprachen zugewandten Konzept der Europaschulen ab (Hu 2003: 291; vgl. Art. 91). Das Erkennen von Gemeinsamkeiten und Unterschieden war seit ihrer Entstehung fester Bestandteil interkultureller Erziehung, wobei die Suche nach den Gemeinsamkeiten, vor allem im Elementar- und Primärbereich, im Vordergrund stand (vgl. Art. 158). Diese Programme zeichnete der Versuch aus, gleiche oder ähnliche Bedürfnisse Heranwachsender aufzugreifen, um gegenseitige Vorurteile gar nicht erst aufkommen zu lassen. Die Lust am Spiel, an Essen und Trinken, das Basteln multikultureller Kalender, das gemeinsame Feiern von Geburtstagen oder dem Zuckerfest, das Singen von Liedern in verschiedenen Sprachen und schließlich das gemeinsame Entdecken der neuen Wohnumgebung oder auch fremder Stadtteile waren länderübergreifend Teil aller interkulturellen Erziehungsprogramme. Differenzen zwischen den verschiedenen Kulturen, wie etwa geschlechtsspezifische Verhaltensweisen oder der Umgang zwischen Kindern und älteren Autoritätspersonen wurden als potenzielle Konfliktherde wahrgenommen und durch „Verhaltensregeln“ zu entschärfen versucht. Aus heutiger Sicht erscheinen diese interkulturellen Lernprojekte freilich einseitig auf Harmonie bedacht, zumal, wenn „Fremdheit“ allein durch rationale Erklärungen überwunden werden sollte. Weitere konstruktive Merkmale interkultureller Erziehungskonzepte, wie etwa offene Lernstrukturen, größere Autonomie von Schulen, Öffnung der Schule zur Stadtteilarbeit bzw. community education, Individualisierung und Handlungsorientierung des Unterrichts und schließlich die Neuorientierung der Lehrerrolle (vgl. Art. 149) blieben, sofern sie nur partiell erfolgten und nicht Teil einer äußeren und inneren Schulreform wurden, Kosmetik an einer sonst verfehlten Bildungspolitik.
1142 XI. Spezifische Bedingungen und Zielsetzungen des Deutsch als Zweitsprache-Unterrichts Deshalb ist zu fragen, welche Lösungsmöglichkeiten für eine erfolgreiche Bildungspraxis genutzt werden sollten, um heranwachsenden Generationen Zukunftschancen zu eröffnen: ⫺ Das dreigliedrige Schulsystem ist ein Anachronismus, das zu Gunsten eines flexiblen, durchlässigen Schulsystems, etwa nach skandinavischen Vorbildern, aufzugeben ist. ⫺ Je nach den strukturellen Bedingungen eines Wohngebiets und Schulbereichs sollte jede Schule ihr eigenes „interkulturelles Projekt“ entwickeln dürfen. Dazu aber bedarf es einer weitaus größeren Autonomie der Schulen wie auch die Integration stadtteilspezifischer Lern- und Ausbildungsangebote, die innerhalb einer Schullandschaft variieren: Die Kooperation mit Wissenschaftlern und Künstlern mit dem Handwerk und der Industrie sowie anderen Bereichen des öffentlichen Lebens. ⫺ Interkulturelle Lernangebote sind ⫺ unter Mitsprache der Lernenden ⫺ in allen Fächern anzubieten. Eine enge Vernetzung mit außerschulischen Fördermaßnahmen, wie etwa mit Mercator-Projekten, Sommercamps, Schreibwerkstätten mit Literaturhäusern und Theatern, Modellen zur Fortbildung von Eltern und vielen anderen Aktivitäten könnte eine Brücke schlagen zwischen staatlicher und gemeinwesenorientierter Verantwortung für interkulturelle Erziehung und Bildung. ⫺ Sitzenbleiben gehörte der Vergangenheit an, da seine Ineffizienz seit langem unbestritten ist. Stattdessen gäbe es ein differenziertes Förderangebot für Schülerinnen und Schüler mit unterschiedlichen Begabungen und Schwächen. ⫺ Mehrsprachigkeit hätte in einem interkulturellen Schulprofil eine für alle Fächer und für das gesamte Schulleben existenzielle Bedeutung und zwar in Form eines erweiterten Angebots von Sprachen, die in Verbindung mit verschiedenen Sachaufgaben in unterschiedlichen Niveaustufen erlernt werden könnten. ⫺ Die Förderung des Deutschen auf allen Fertigkeitsebenen hätte im Hinblick auf soziale und berufliche Chancengleich Priorität im Sprachenkanon. Dies steht in keinerlei Widerspruch zu einer mehrsprachigen interkulturellen Erziehung. ⫺ Die heterogene Lebenswelt der Schüler und Schülerinnen bietet eine Vielzahl an unterschiedlichen Sprech- und Schreibanlässen, an Situationen des genauen Zuhörens und Verstehens. Lese- und Schreibkompetenzen wären an einem breiten Repertoire von Textsorten zu entwickeln, das von Anfang an auch literarische Texte, Theaterstücke, Filme, Autorengespräche und weitere sprach-ästhetische Angebote neben Sachtexten mit einschließt. ⫺ Die geeignete Schulform wäre die Ganztagsschule, die neben strukturierten und freien Lernprozessen auch informelle Angebote des interkulturellen Austausches mit anderen und anders Denkenden bereit hielt. „Lernen im Ernstfall“ müsste sich mit Phasen der Reflexion und des Übens sinnvoll abwechseln (Pommerin-Götze 2005: 143⫺162). Wie es gelingen kann, die „Realutopie“ interkultureller Erziehung zur alltäglichen Praxis werden zu lassen und ihr den Anschein von Exklusivität zu nehmen, gehört zu den dringlichsten Aufgaben unserer Gesellschaft. Im Nationalen Integrationsplan der Bundesregierung, der 2007 in Kraft getreten ist, werden Aufgaben des Bundes, der Länder und der Kommunen zum Gelingen der Integration zu insgesamt zehn „Themenfeldern“ formuliert. Eine intensivere Sprachförderung des Deutschen, im Rahmen einer Mehrsprachigkeitserziehung in Schule und Vorschulerziehung ist herausragendes Ziel der gesamten Integrationsbemühungen (Der Nationale Integrationsplan 2007).
125. Interkulturelle Erziehung
1143
5. Literatur in Auswahl Ates, Seyran 3 2007 Der Multikulti-Irrtum. Wie wir in Deutschland besser zusammenleben können. Berlin: Ullstein. Auernheimer, Georg, Victor von Blumenthal, Heinz Stübig und Bodo Willmann 1996 Interkulturelle Erziehung im Schulalltag. Fallstudien zum Umgang von Schulen mit multikultureller Situation. Münster/New York: Waxmann. Becker, Georg E. und Ursula Coburn-Staege (Hg.) 1994 Pädagogik gegen Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Gewalt. Mut und Engagement in der Schule. Weinheim/Basel: Beltz. Breinig, Helmbrecht 2006 Transkulturalität und Transdifferenz: Indianische Subjektkonstruktionen. In: Michael Göhlich, Hans-Walter Leonhard, Eckart Liebau und Jörg Zirfas (Hg.), Transkulturalität und Pädagogik. Interdisziplinäre Annäherungen an ein kulturwissenschaftliches Konzept und seine pädagogische Relevanz, 69⫺82. Weinheim/München: Juventa. Der Nationale Integrationsplan. Neue Wege ⫺ Neue Chancen 2007 Hrsg. vom Presse- und Informationsamt der Bundesregierung. Berlin. Essinger, Helmut und Ali Ucar (Hg.) 1993 Interkulturell ⫺ Politisch ⫺ Antirassistisch. Felsberg: Migro. Fischer, Dietlind, Peter Schreiner, Götz Doye´ und Christoph T. Scheilke 1996 Auf dem Weg zur internationalen Schule. Fallstudien zur Situation interkulturellen und interreligiösen Lernens. Münster/New York: Waxmann. Fürstenau, Sara, Ingrid Gogolin und Kutlay Yagmur (Hg.) 2003 Mehrsprachigkeit in Hamburg. Ergebnisse einer Spracherhebung an den Grundschulen. Münster/New York: Waxmann. Göhlich, Michael, Hans-Walter Leonhard, Eckart Liebau und Jörg Zirfas (Hg.) 2006 Transkulturalität und Pädagogik. Interdisziplinäre Annäherungen an ein kulturwissenschaftliches Konzept und seine pädagogische Relevanz. Weinheim/München: Juventa. Götze, Lutz und Gabriele Pommerin 1992 Multikultur und interkulturelles Lernen. In: Gabriele Pommerin-Götze, Bernhard JehleSantoso und Eleni Bozikake-Leisch (Hg.), Es geht auch anders! Leben und Lernen in einer multikulturellen Gesellschaft, 102⫺121. Frankfurt a. M.: Dag˘yeli. Götze, Lutz 2009 Multikulturalismus, Hyperkulturalität und Interkulturelle Kompetenz. Info DaF 36(4): 325⫺334. Götze, Lutz und Claudia Kupfer-Schreiner (Hg.) 2009 Visionen und Hoffnungen in schwieriger Zeit. Kreativität ⫺ Sprachen ⫺ Kulturen. Festschrift für Gabriele Pommerin-Götze zum 60. Geburtstag. Frankfurt a. M.: Peter Lang. Gogolin, Ingrid 1994 Der monolinguale Habitus der multilingualen Schule. Münster/New York: Waxmann. Grimm, Thomas und Elisabeth Venohr (Hg.) 2009 Immer ist es Sprache. Mehrsprachigkeit ⫺ Intertextualität ⫺ Kulturkontrast. Festschrift für Lutz Götze zum 65. Geburtstag. Frankfurt a. M.: Peter Lang. Hamburger, Franz 1994 Pädagogik der Einwanderergesellschaft. Frankfurt a. M.: Cooperative Verlag. Hu, Adelheid 2003 Schulischer Fremdsprachenunterricht und migrationsbedingte Mehrsprachigkeit. Tübingen: Gunter Narr. Krüger-Potratz, Marianne 2005 Interkulturelle Bildung ⫺ Eine Einführung. Münster: Waxmann.
1144 XI. Spezifische Bedingungen und Zielsetzungen des Deutsch als Zweitsprache-Unterrichts Krumm, Hans-Jürgen 2009 Bunt ist besser als nur deutsch. Mehrsprachigkeit und europäische Identität. In: Thomas Grimm und Elisabeth Venohr (Hg.), Immer ist es Sprache. Mehrsprachigkeit ⫺ Intertextualität ⫺ Kulturkontrast. Festschrift für Lutz Götze zum 65. Geburtstag, 165⫺184. Frankfurt a. M.: Peter Lang. Kupfer-Schreiner, Claudia 1994 Sprachdidaktik und Sprachentwicklung im Rahmen interkultureller Erziehung. Das Nürnberger Modell; ein Beitrag gegen Rassismus und Ausländerfeindlichkeit. Weinheim: Deutscher Studienverlag. Luchtenberg, Sigrid und Wolfgang Nieke (Hg.) 1994 Interkulturelle Pädagogik und Europäische Dimension. Herausforderungen für Bildungssystem und Erziehungswissenschaft. Festschrift für Manfred Hohmann. Münster/New York: Waxmann. Luchtenberg, Sigrid 1999 Interkulturelle Kommunikative Kompetenz. Kommunikationsfelder in Schule und Gesellschaft. Opladen/Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. Oliver, Jose´ F. A. 3 1988 Lyrik für die zweite Generation. In: Gino Chiellino (Hg.), Die Reise hält an. Ausländische Künstler in der Bundesrepublik, 126⫺138. München: Beck Pommerin, Gabriele unter Mitarbeit von Claudia Kupfer-Schreiner, Stefanie Lamprecht, Ulla Meyer, Iris Schloss, Ibrahim Akman, Johann Mayr und Hans-Martin Quiz 1996 Kreatives Schreiben. Handbuch für den deutschen und interkulturellen Sprachunterricht in den Klassen 1⫺10. Weinheim und Basel: Beltz. Pommerin-Götze, Gabriele 2001 Interkulturelles Lernen. In: Gerhard Helbig, Lutz Götze, Gerd Henrici und Hans-Jürgen Krumm (Hg.), Deutsch als Fremdsprache. Ein internationales Handbuch, 673⫺985. Bd. 2. (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 19.1⫺2). Berlin/New York: de Gruyter. Pommerin-Götze, Gabriele 2005 Zur Bildungssituation Jugendlicher mit Migrationshintergrund. In: Volker Frederking, Hartmut Heller und Annette Scheunpflug (Hg.), Nach PISA. Konsequenzen für Schule und Lehrerbildung nach zwei Studien, 143⫺162. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Pommerin-Götze, Gabriele 2009 Einladung zum literarischen Streifzug. Literatur der Fremde an ausgewählten Beispielen. In: Thomas Grimm und Elisabeth Venohr (Hg.), Immer ist es Sprache. Mehrsprachigkeit ⫺ Intertextualität ⫺ Kulturkontrast. Festschrift für Lutz Götze zum 65. Geburtstag, 365⫺382. Frankfurt a. M.: Peter Lang. Reich, Hans H., Alfred Holzbrecher und Hans-Joachim Roth (Hg.) 2000 Fachdidaktik interkulturell. Ein Handbuch. Opladen: Leske ⫹ Budrich. Ruhloff, Jörg 2004 Humanismus, humanistische Bildung. In: Dietrich Benner und Jürgen Oelkers (Hg.), Historisches Wörterbuch der Pädagogik, 443⫺454. Weinheim/Basel: Beltz. Taylor, Charles 1993 Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung. Frankfurt a. M.: S. Fischer. Welsch, Wolfgang 1997 Transkulturalität. Zur veränderten Verfassung heutiger Kulturen. In: Irmela Schneider und Christian W. Thomsen (Hg.), Hybridkultur, 67⫺90. Köln: Wienand.
Gabriele Pommerin-Götze, Erlangen (Deutschland)
126. Berufsorientierter Deutschunterricht
1145
126. Berusorientierter Deutschunterricht 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Zur Entwicklung des Begriffs und des Arbeitsfeldes Begriffsbestimmung und Unterrichtsformen Teilnehmerorientierte Kursorganisation: Von der Bedarfsanalyse bis zur Evaluation Komponenten des berufsorientierten Deutschunterrichts: Wortschatz, Grammatik Schlüsselqualifikationen und Mehrsprachigkeit Literatur in Auswahl
1. Zur Entwicklung des Begris und des Arbeitseldes Die Entwicklung des berufsorientierten Deutschunterrichts lässt sich in drei Phasen unterteilen, in denen sich die ökonomischen Rahmenbedingungen und in deren Folge Sprachbedarf und Vermittlungskonzepte gewandelt haben. Dieser Prozess wurde beeinflusst von einer rasanten Weiterentwicklung der Kommunikationstechnologie mit der Möglichkeit zeitgleicher bzw. wenig zeitversetzter fremdsprachlicher Kommunikation. Obwohl diese Entwicklungsphasen nicht im Sinne chronologischer Zäsuren klar abgrenzbar sind, kann man die Entwicklungsabfolge wie folgt verdeutlichen: Tab. 126.1. Ökonomische Entwicklung
Didaktische Grundlagen
Vermittlungsmethodik
80er Jahre
Nationalökonomien, Import⫺Export Paradigma
Fachsprachlich und formorientierter Fremdsprachenunterricht
Fachwortschatzorientierung und Handelskorrespondenz
90er Jahre
Europäischer Binnenmarkt, Entwicklung der „new economy“, medial beschleunigte Kommunikation
Verbindung von Formorientierung und Pragmatik, Zertifikat Deutsch für den Beruf (1995)
Pragmatisch angereicherte oder bestimmte Wirtschaftsdeutschkurse
Gegenwart
Globalisierte und regional-komplementäre Produktion und netzbasierte Interaktion
Europäischer Referenzrahmen, Aufgaben- und Bedarfsorientierung
Individualisierte, bedarfsbasierte Trainingsformen und Kursdesigns, Qualitätsmanagement
2. Begrisbestimmung und Unterrichtsormen Berufsorientierter (oder berufsbezogener) Deutschunterricht bezeichnet eine Zielperspektive, die weder an ein bestimmtes Sprachniveau noch an eine bestimmte Schul- oder Unterrichtsform gebunden ist. Das gemeinsame Merkmal aller Formen des berufsorientierten Deutschunterrichts ist, dass er darauf abzielt, Lernende auf die kommunikativen Anforderungen ihres fremdsprachlichen Handelns in beruflichen Kontexten vorzubereiten. Die damit umrissenen Planungsvariablen verändern und erhöhen für die Lehrenden
1146 XI. Spezifische Bedingungen und Zielsetzungen des Deutsch als Zweitsprache-Unterrichts die Kompetenzanforderungen im Bereich der Planung und Durchführung des Unterrichts im Vergleich zum allgemeinen Deutschunterricht. Dies gilt besonders dort, wo Unterrichtsziele spezifischer und inhaltlich anspruchsvoller werden und außerschulische Instruktionsszenarien innovatives Materialdesign und flexible Lernarrangements erfordern. Da die Ausbildung von Lehrkräften für dieses Arbeitsfeld in der Regel unzureichend ist, hat ERFA-Wirtschaft-Sprache, ein Arbeitskreis von Sprachenverantwortlichen in mehr als 50 deutschen Firmen, eigene Qualitätsmerkmale für Sprachtrainer veröffentlicht. Da berufsorientierter Deutschunterricht als Unterrichtsform nicht von allgemeinem Deutschunterricht abgrenzbar ist, sind auch seine Planungskonzepte, Materialien und die Lehrpersonalausbildung zuerst dem Forschungsstand der allgemeinen Fremdsprachendidaktik und -methodik verpflichtet. Von Lehrkräften, die Sprachunterricht in der beruflichen Bildung oder in Firmen erteilen, werden also keine Kenntnisse spezieller Berufsfelder oder Fachsprachen erwartet, wohl aber die Fähigkeit des Umgangs mit den speziellen Sprachbedürfnissen konkreter Zielgruppen. Für Lernende des Deutschen als Zweitsprache, also Personen mit Migrationserfahrung und beruflichen Zielen im Zielsprachenland, steht der Aspekt der beruflichen Qualifikation oft im Mittelpunkt des sprachlichen Lerninteresses und damit auch stärker die berufssprachlichen Spezifika (Ohm, Kuhn und Funk 2007). Lernende, die Deutsch außerhalb des Zielsprachenlandes lernen, bereiten sich mehrheitlich eher unspezifisch auf fremdsprachliche Berufsanforderungen vor, wobei aber nicht zu übersehen ist, dass die Motivation zum Lernen der deutschen Sprache immer stärker von beruflichen Motiven bestimmt wird. Berücksichtigt man die vielfältigen Motivationen und differenzierten Formen global-komplementärer Produktion und Dienstleistung deutscher Firmen und einer ebenso vielgestaltigen Arbeitsmigration, so verliert die für das Fach konstitutive DaF/DaZ-Unterteilung im berufsorientierten Deutschunterricht ihre Bedeutung. Die kommunikative Kompetenz eines Sprechers ist nicht teilbar in einen privaten und einen beruflichen Teil. Der überwiegende Teil der berufsinternen Alltagskommunikation besteht aus sprachlichen Handlungen, die weder berufs- noch berufssprachenspezifisch sind: Lernende verfügen zu Beginn des Erwerbs berufsbezogener Sprachhandlungskompetenz in der Regel noch nicht über berufliche bzw. fachliche Kompetenz. Haben sie aber Berufserfahrung, so ergibt sich daraus auch eine größere Spezifik der beruflichen Kommunikationsanforderungen. Zusammenfassend kann man drei kurskonstituierende Bereiche unterscheiden: Planungsbereich 1: Berufsvorbereitender Deutschunterricht Ziel ist die allgemeine Vorbereitung auf die sprachlichen Anforderungen von Berufen allgemein. Zu dieser Kategorie gehören studienbegleitender Fremdsprachenunterricht ebenso wie DaZ-Unterricht in den berufsvorbereitenden Klassen der Berufsschulen und im weiteren Sinne jeder Sprachunterricht, in dem Deutsch mit teilweise beruflicher Motivation gelernt wird. Da die Lernenden in der Regel nicht über berufliches Fachwissen verfügen, müssen lexikalische und inhaltliche Anforderungen allgemeinverständlich und frei von beruflicher Spezifik sein. Planungsbereich 2: Berufsbegleitender Deutschunterricht Ziel ist die (bessere) Bewältigung der aktuellen oder zukünftigen sprachlichen Anforderungen in beruflichen Handlungskontexten. Hierzu gehören beispielsweise der ausbil-
126. Berufsorientierter Deutschunterricht
1147
dungsbegleitende Zweitsprachenunterricht im dualen System deutscher Berufsschulen ebenso wie lehrgangsbegleitender Unterricht in Bildungsmaßnahmen. Ein großer Teil des berufsbegleitenden Sprachunterrichts findet inner- und außerbetrieblich im Auftrag von Betrieben statt, wobei die Bewältigung konkreter kommunikativer Anforderungen aus der betrieblichen Praxis Anlass und Ziel von sprachlichen Lernvorgängen ist. In dieser Unterrichtsform korrespondieren konkrete persönliche oder betrieblich vorgegebene Zielstellungen verbunden mit klaren Zeitvorgaben mit einer in der Regel hohen Motivation. Betriebsinterne Fremdsprachenvermittlung wird in Abgrenzung zum schulischen Lernen und in Betonung des handlungsorientierten Ziels zumeist als Training bezeichnet. Planungsbereich 3: Berufsqualifizierender Deutschunterricht. Ziel dieser Unterrichtsform ist es, die rechtlichen Voraussetzungen für einen Berufsoder Studienabschluss zu schaffen. Sprachunterricht ist hier Teil der Qualifikationsanforderungen im Rahmen eins Studien- oder Ausbildungscurriculums. Sprachprüfungen sind oft Bestandteil oder Voraussetzung eines Berufs- oder Studienabschlusses. In diesen Fällen stehen weniger konkrete kommunikative Anforderungen eines Berufs als ein Lernzielkatalog und oft eine Wortschatzliste im Zentrum. Oft wird ein externes Sprachenzertifikat wie die Prüfung Wirtschaftsdeutsch verlangt. Die drei Formen unterscheiden sich in Bezug auf Inhalte, Motivation, Ziele und Rahmenbedingungen des Unterrichts erheblich. Im berufsvorbereitenden Unterricht sind die fachsprachlichen Anforderungen flach und in Bezug auf unterschiedliche Berufsfelder polyvalent zu halten, da subjektive, arbeitsmarktbedingte und technologische Veränderungen auch sprachliche Anforderungsprofile rasch verändern. Die Lernzielplanung hat zudem zu berücksichtigen, dass sich berufliche Sprachverwendung stärker als in der Vergangenheit in mündlicher und informell-schriftlicher Kommunikation manifestiert. Der GeR kann als Instrument zur differenzierten Planung und Beschreibung der fremdsprachlichen berufsbezogenen Handlungskompetenz dienen, da er sowohl in den KannBeschreibungen Bezug auf die Verwendung der Fremdsprache in der Arbeitswelt nimmt als auch den beruflichen Bereich zu den Lebensbereichen (Domänen) zählt, in denen Sprache im Kontext sozialer Situationen verwendet wird (GeR, 4.1.1). In der Broschüre „Arbeitsplatz Europa“ ist, basierend auf den Kann-Beschreibungen des GeR, niveauspezifisch ausgeführt, welche Sprachhandlungen auf den einzelnen Niveaustufen und in einzelnen Fertigkeitsbereichen von beruflicher Relevanz sind (DIHK u. a. 2007). Für den Unterricht mit Sprachanfängern stellen ein sprachhandlungsbezogenes Training, ein kultursensibler und lernerzentrierter kommunikativer Unterricht mit abwechslungsreichen Arbeits- und Sozialformen die beste Grundlage für die Kommunikation in beruflichen Kontexten dar. Darüber hinaus können eine Reihe konkreter curricularer Gestaltungsmerkmale der beruflichen Motivation von Deutschlernern vom A1-Niveau an Rechnung tragen: ⫺ das Einbeziehen beruflicher Themen und Szenarien in die Sprachhandlungsplanung auf allen Stufen, ⫺ die bewusste Vermittlung von Arbeitstechniken und Lernstrategien von besonderer beruflicher Relevanz, z. B. Umgang mit authentischen Texten, neuen Medien und großen Mengen neuen Wortschatzes, ⫺ die Thematisierung eines beruflich frequenten, fachlich polyvalenten grundlegenden Wortschatzes schon im Anfangsunterricht.
1148 XI. Spezifische Bedingungen und Zielsetzungen des Deutsch als Zweitsprache-Unterrichts
3. Teilnehmerorientierte Kursorganisation: Von der Bedarsanalyse bis zur Evaluation Bedarfsanalysen als empirische Verfahren zur Identifizierung berufsbezogener Sprachverwendungssituationen und der zu ihrer Bewältigung notwendigen sprachlichen und interkulturellen Qualifikationen bilden eine Grundlage institutioneller und individueller Kursplanung. Die Analyse kann sich auf den Sprachbedarf einzelner Personen, eines Unternehmens oder eines beruflichen Szenarios beziehen, auf das vorbereitet werden muss. Mourlhon-Dallies (2008: 198 ff.) unterscheidet zwischen Nachfrageanalyse, Bedarfsanalyse und systemischer Analyse. Mit der Nachfrageanalyse werden die Bereiche des kommunikativen Kontexts bzw. die konkreten Formen sprachlichen Handelns, wie sie sich aus der Sicht des Unternehmens darstellen, erfasst. Mit der Bedarfsanalyse werden berufliche Aufgaben unter dem Gesichtspunkt der sprachlichen Anforderungen erfasst und gewichtet, die systemische Analyse umfasst die zur Verfügung stehenden zeitlichen, materiellen und infrastrukturellen Ressourcen sowie die Voraussetzungen auf Seiten der Lernenden. Hyland verweist auf die Problematik der konkreten Erfassung dieser Informationen und den Unterschied zwischen Kommunikationsbedarf und subjektiven Lernbedürfnissen (Hyland 2009: 205). Bedarfsanalysen können mit Hilfe von Checklisten, Fragebögen, strukturierten Interviews, Tests, Beobachtungen oder in Kombination dieser Elemente durchgeführt werden (vgl. Mourlhon-Dallies 2008: 198 ff.). Aus didaktischer Sicht ist besonders zu betonen, dass es nur dann sinnvoll ist, Daten zu erheben, wenn anschließend auf dieser Grundlage auch ein Sprachtraining aufgebaut werden kann. Das kooperative Erfassen von Daten mit den Kursteilnehmenden zusammen schafft gleichzeitig Lernzieltransparenz als wichtigste Voraussetzung einer späteren Evaluation von Kursverlauf und -ergebnis. Die Bedarfsanalyse ist nur der Beginn einer kontinuierlich nötigen kooperativen Entscheidungsfindung in Bezug auf Inhalte und Arbeitsformen (Breen und Littlejohn 2000) Die berufsorientierte Kursplanung basiert auf der Vernetzung unterschiedlicher Informationen mit den kommunikativen Anforderungen und muss die zur Verfügung stehenden finanziellen, zeitlichen, medialen und personellen Ressourcen sowie die aktuelle Methodendiskussion berücksichtigen. An die Phase der Bedarfsanalyse schließt sich die Konzipierung des Kurses mit der Auswahl der Kursinhalte an, die sich in Themen, Materialien, Aktivitäten und dem Umgang mit unterschiedlichen Texten an den real oder potenziell zu bewältigenden kommunikativen Handlungen in der Arbeitswelt orientiert. Da Lehrpersonal in berufsorientierten Kursen oft verstärkter Rechenschaftspflicht unterliegt, gehören systematische kursbegleitende (formative) Kursevaluationen ebenso zum Alltag wie abschließende (summative) Bewertungen und Einschätzungen des Lernergebnisses. Methodisch entspricht ein Gruppenunterricht mit vielfältigen kooperativen Arbeitsformen am ehesten den kommunikativen Szenarien beruflichen Handelns. Im berufsbegleitenden Unterricht ist auch das Einzeltraining (Wilberg 2002) ein zunehmender Teilbereich des Sprachtrainingsmarktes. Hier wird ein einzelner Lernender mit einem spezifischen Sprachbedarf von einem Lehrenden betreut. Die Lernenden treten z. B. als Experten ihres Faches, als Kunden oder Studenten auf, so dass das Einzeltraining neben Rollen- und Lehr-Lernbewusstheit vor allem Improvisation und Flexibilität verlangt. Eine weitere Variante des berufsorientierten Deutschunterrichts ist das Sprachcoaching (vgl. Weber, Becker und Laue 2000: 160 ff.), ein auf eine Einzelperson oder Gruppe
126. Berufsorientierter Deutschunterricht
1149
zentrierter Beratungs- und Betreuungsprozess, der sich auf unterschiedliche Bedarfslagen des Coachingnehmers beziehen kann, zeitlich begrenzt ist und vor allem als „Hilfe zur Selbsthilfe“ dienen soll. Coaching begleitet das berufliche Handeln direkt am Arbeitsplatz, so dass Sprachprobleme von den Lernenden aufgezeigt und Lerninhalte aus den konkreten Anforderungen des Arbeitsalltags entwickelt werden. Eine besondere Form ist das Telefon-Coaching, das vor allem dann sinnvoll ist, wenn es um zielgerichtete sprachliche Nuancierungen und Effektivierungen oder die Registerwahl geht, d. h. es basiert auf einem bereits vorhandenen fortgeschrittenen sprachlichen Können.
4. Komponenten des berusorientierten Deutschunterrichts: Wortschatz, Grammatik 4.1. Wortschatz Im Mittelpunkt des berufsorientierten Deutschunterrichts standen traditionell Terminologie und das Lesen von Fachtexten. Der relativ geringe Anteil der Fachsprache in der mündlichen Fachkommunikation, das Veralten fachlicher Wortschatzbestände innerhalb nur weniger Jahre, die Problematik sachgerechter Auswahlkriterien aus umfangreichen terminologischen Listen macht eine begründete Fachwortschatzauswahl per didaktischer Reduktion unmöglich. Während deshalb der Erwerb spezifischen Fachwortschatzes außer in berufsqualifizierenden, prüfungsvorbereitenden Kursen kein Ziel sein kann, sind alle Strategien, die dazu dienen, Lernende auf den autonomen Umgang mit großen Wortschatzmengen vorzubereiten, systematisch zu trainieren, z. B. ⫺ ⫺ ⫺ ⫺
Erschließungsstrategien (auf der Wort-, Satz- und Textebene) Wortschatzverarbeitungsstrategien, Gebrauch von Nachschlagewerken, Bewusstmachung aller Möglichkeiten des mentalen Lexikons zur lexikalischen Koordination, ⫺ Strategien zur selbständigen Erweiterung von Wortfamilien und Wortfeldern, Obwohl bisher weder ein Korpus der gesprochenen Sprache eines Berufs noch eines Berufsfeldes vorliegt, kann davon ausgegangen werden, dass sowohl in kundenorientierten Dienstleistungs- als auch in Handwerksberufen oder im Finanz- und Verwaltungsbereich jeweils ein großer Teil des Wortschatzes berufsfeldübergreifend relevant und frequent ist. Diese Wörter sind wegen ihrer beruflichen und umgangssprachlichen Polyvalenz im berufsvorbereitenden Unterricht von besonderem Interesse. Aus didaktischer Sicht besteht hier erheblicher Forschungsbedarf. Im Hinblick auf die Gemeinsamkeiten zwischen Berufen und Berufsfeldern ist zudem weniger auf den Bereich der meist fachbezogenen Nomen als auf die Bereiche der Verben, die berufliche Handlungen beschreiben, hinzuweisen. So sind beispielsweise die Verben der Bedeutungsbereiche ⫺ ⫺ ⫺ ⫺
quantitative Relationen (Vergleich, Zunahme, Abnahme) Definitionen (Gleichsetzung) Stoff- und Produktbeschreibungen (Differenzierung, Abgrenzung) Arbeitsanweisungen (sprachhandlungsbezogen, imperativisch)
1150 XI. Spezifische Bedingungen und Zielsetzungen des Deutsch als Zweitsprache-Unterrichts in allen Berufsfeldern in hoher Frequenz und vielen Varianten vertreten. Angesichts der Wortschatzmengen sind zudem die Wortbildungsregeln (rezeptiv) Gegenstand der systematischen Wortschatzarbeit (Ohm, Kuhn und Funk 2007).
4.2. Grammatik Das Bewusstmachen einzelner Strukturen ist nur sinnvoll, wenn die Kenntnis einer Struktur bei der Bewältigung eines beruflich-kommunikativen Handlungszusammenhangs nützt, wenn Strukturen und Regeln in beruflichen Texten und Verwendungszusammenhängen hoch frequent und breit anwendbar sind. Auf der Textebene stehen alle Formen pronominaler Referenz, berufstypischer Textstrukturen und der Bereich der Konnektoren im Mittelpunkt. Je nach kommunikativer Aufgabenstellung können darüber hinaus jene Strukturen, die der Präzisierung, der Verkürzung, der Generalisierung und der Differenzierung dienen, thematisiert werden.
5. Schlüsselqualiikationen und Mehrsprachigkeit Seit Mitte der 1980er Jahre, befördert durch sich rasch verändernde berufliche Anforderungsprofile, wurde der berufliche Kompetenzbegriff mehr und mehr durch berufsübergreifende Szenarien und transferierbare Schüsselqualifikationen ergänzt, was zu einer Konvergenz beruflicher und allgemeiner Bildung beitrug. Dies trägt der Tatsache des raschen Wandels methodischer, sozialer und arbeitstechnischer Aspekte von Berufen Rechnung. Sprachunterricht muss besonders zu den beruflichen Schlüsselqualifikationen „Eigenständiger Umgang mit Aufgaben“, „Entscheidungsfähigkeit“, „Kritikfähigkeit/ Selbstevaluation“, „Informationsverarbeitungskompetenz“, „Sozialverhalten/Teamfähigkeit“ und „Interkulturelle Kompetenz“ beitragen. Die Vorbereitung auf einen mehrsprachigen beruflichen Alltag und auf die berufliche und sprachliche Weiterqualifikation tritt in den Vordergrund. Auch Migration und Globalisierung haben die Bedeutung mehrsprachiger Arbeitsumwelten verstärkt. Monolinguale Szenarien verlieren an Bedeutung. Berufssprachliche Qualifikationsansätze müssen dieser Tatsache Rechnung tragen.
6. Literatur in Auswahl Breen, Michael P. und Andrew Littlejohn (Hg.) 2000 Classroom Decision-Making. Negotiation and Process syllabuses in practice. Cambridge: Cambridge University Press. DIHK, VDP, telc GmbG, Henkel KGaA (Hg.) 2007 Arbeitsplatz Europa. Sprachkompetenz wird messbar. A Common European Framework of Reference for Language Learning and Teaching (CEF). DIHK. Online: http://www. duesseldorf.ihk.de/produktmarken/Publikationen/AusWeiterbildung/M6_ ArbeitsplatzEuropaSprache.pdf [29. 09. 2009]. ERFA-Wirtschaft-Sprache ERFA Qualitätskriterien ⫺ Referenzrahmen für Trainerinnen und Trainer. Online unter http://erfa-wirtschaft-sprache.de/index.php/ [15. 12. 2009].
126. Berufsorientierter Deutschunterricht
1151
Europarat (Hg.) 2001 Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen für Sprachen: lernen, lehren, beurteilen. Berlin: Langenscheidt. Goethe-Institut und DIHT 1995 DfB-Curriculum. München: Goethe-Institut. Hyland, Ken 2009 Specific Purpose Programms. In: Catherine J. Doughty und Michael Long (Hg.), The Handbook of Language Teaching, 201⫺217. Malden: Wiley-Blackwell. Kuhn, Christina 2007 Fremdsprachen berufsorientiert lernen und lehren. Kommunikative Anforderungen der Arbeitswelt und Konzepte für den Unterricht und die Lehrerausbildung am Beispiel des Deutschen als Fremdsprache. Phil. Diss. Universität Jena. Mourlhon-Dallies, Florence 2008 Enseigner une langue a` des fins professionnelles. Paris: Didier. Ohm, Udo; Christina Kuhn und Hermann Funk 2007 Sprachtraining für Fachunterricht und Beruf. Fachtexte knacken ⫺ mit Fachsprache arbeiten. Münster: Waxmann. Van Avermaet, Piet und Sara Gysen 2006 Language learning, teaching and assessment and the integration of adult immigrants. The importance of needs analysis. Online: http://www.coe.int/t/dg4/linguistic/Publications_ EN.asp [8. 12. 2009]. Schöpper-Grabe, Sigrid und Reinhold Weiss, 1998 Vorsprung durch Fremdsprachentraining. Ergebnisse einer Unternehmensbefragung. Köln: Deutscher Institutsverlag. Weber, Hartmut; Monika Becker und Barbara Laue 2000 Fremdsprachen im Beruf. Diskursorientierte Bedarfsanalysen und ihre Didaktisierung. Aachen: Shaker. Wilberg, Peter 2002 One to One. A Teacher’s Handbook. Boston: Heinle.
Hermann Funk, Jena (Deutschland)
XII. Sprachen lehren: Einzelaspekte 127. Motivierung 1. 2. 3. 4.
Einleitung Ansätze in der L2-Motivationsforschung Von der Einsicht in die Motivationsstruktur zur Motivierung von Lernenden Literatur in Auswahl
1. Einleitung Motivation ist zweifellos einer derjenigen Faktoren, dem die Fremdsprachendidaktik und fast alle Lehrenden gleichermaßen großen Einfluss wie auch das größte Interventionspotential (durch motivierenden Unterricht) zuweisen. Ansichten wie die, dass die (Lern)Motivation von Fremdsprachenlernenden über die Gestaltung des Unterrichts verbesserbar ist, indem z. B. gezielt Unterrichtsformen, -inhalte und -materialien an die Lernenden angepasst werden, sind von jeher Teil der Fremdsprachendidaktik. In einer Steigerung der Motivation werden Chancen für verbesserte und schnellere Lernergebnisse gesehen. Unterrichtsmodelle, die sich möglichst nah an Beweggründen von Lernenden für das Fremdsprachenlernen orientieren, gelten dabei als besonders erfolgversprechend ⫺ sie sind aber gleichzeitig auch besonders aufwendig, da nicht davon auszugehen ist, dass Motivierungsstrategien universell wirksam sind, weil die Motiv-/Motivationsstruktur von Lernenden individuell geprägt ist.
2. Ansätze in der L2-Motivationsorschung Die Einsicht, dass Motivation ein individuell unterschiedlicher, mehrdimensionaler und dynamischer Faktor ist, ist ein Hauptergebnis der internationalen L2-Motivationsforschung bis dato. Motivation ist dabei aus der Perspektive des Lernenden konzeptionalisiert und untersucht worden, d. h., Beweggründe für das Fremdsprachenlernen und Willensbildungsprozesse von Lernenden stehen im Zentrum der Aufmerksamkeit ⫺ weniger die äußeren Quellen, die diese Beweggründe und Prozesse (mit) initiieren und aufrechterhalten (bzw. hemmen und zum Erliegen bringen).
2.1. Die Rolle von Einstellungen und Orientierungen Im Rahmen des bis in die 1990er Jahre vorherrschenden und bis heute prominenten socio-educational model (vgl. exemplarisch Gardner 1985) wird die Relevanz von (positiven) Einstellungen von Lernenden zur L2 und zur damit verbundenen Kultur sowie von Orientierungen, die sich auf die Hauptbeweggründe und langfristigen Ziele zum
127. Motivierung
1153
Fremdsprachenlernen richten, betont. Dabei werden instrumentelle von integrativen Orientierungen zum L2-Lernen unterschieden: Lernende sind danach instrumentell orientiert, wenn die Annahme, dass die Zielsprache für das spätere Leben nützlich ist (z. B. Verbesserung der Berufschancen), vorrangig das Lernen steuert, während eine integrative Orientierung aus Interesse und Offenheit für fremde Kulturen erwächst ⫺ und dabei insbesondere für die Zielsprachenkultur, gegenüber der positive Einstellungen vorherrschen. Beide Orientierungen schließen sich nicht notwendigerweise aus; weitere spezifische Orientierungen wie Reisemotive, Bildungsmotive und allgemeine Kontaktmotive wurden nachgewiesen (vgl. exemplarisch Cle´ment und Kruidenier 1983). In Bezug auf Deutsch als Fremdsprache konnte im Rahmen unterschiedlicher Länderstudien ermittelt werden, dass (neben länder- und regionenspezifischen Merkmalen) allgemeine Motivationstendenzen zu beobachten sind, die insbesondere die Instrumentalität und den besonderen Status von Deutschkenntnissen (als Bereicherung des mehrsprachigen Profils, in Ergänzung zu Englischkenntnissen) betonen (vgl. Riemer 2006a).
2.2. Die Rolle der Selbstbestimmung Motivation und Motivationsintensität werden auch dadurch geprägt, dass der Anreiz zum Lernen entweder vom Lernenden selbst ausgeht oder von außen kommt. Die Selbstbestimmungstheorie, die erst seit den 1990er Jahren in der Fremdsprachenforschung Berücksichtigung findet, differenziert zwischen intrinsischen und extrinsischen Verhaltensregulationen von Lernenden und bildet diese innerhalb eines Kontinuums zu-/abnehmender Selbstbestimmung ab (vgl. exemplarisch Noels et al. 2000). Während intrinsisch motivierte Lernende aus innerem Bedürfnis (Neugier, Selbstverwirklichung, Vergnügen) eine Zielsprache lernen, benötigen extrinsisch motivierte Lernende Anreize, die außerhalb der Lernaufgabe liegen. Vier Formen extrinsischer Verhaltensregulation werden unterschieden, die durch zunehmende Selbstbestimmtheit charakterisiert sind: (a) externale Regulation (Konflikte sollen vermieden und Anerkennung gewonnen werden); (b) introjizierte Regulation (Handeln folgt äußerem Druck und wird aus Pflichtgefühl erledigt); (c) identifizierte Regulation (der Wert einer Lernaktivität wird erkannt und zum eigenen Nutzen erledigt); (d) integrierte Regulation (die Lernaktivität ist als Ausdruck eines individuellen Bedürfnisses akzeptiert).
2.3. Die Rolle von Erolgserlebnissen und Attributionen Dass Erfolg nicht nur die Folge motivierten Verhaltens ist, sondern selbst auch das weitere Lernen durch gesteigerte Motivation befördern kann, ist spätestens seit den 1980er Jahren auch für das Fremdsprachenlernen nachgewiesen. Warum und welche Erfolgserlebnisse hierfür wichtig sind, ist Untersuchungsgegenstand der Attributionstheorie, die Selbstkonzepte von Lernenden in Bezug auf ihre Wahrnehmung von Lernerfolgen/-misserfolgen (z. B. Selbstwirksamkeit, Kontrollüberzeugungen, gelernte Hilflosigkeit) ins Zentrum rückt. Danach können Erfolgserlebnisse die Motivation verstärken, Misserfolgserlebnisse sie schwächen. Erfolgserlebnisse wirken dann nachhaltig motivierend auf Lernende, wenn diese den Erfolg auf ihre eigene Persönlichkeit und ihr eigenes Handeln
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XII. Sprachen lehren: Einzelaspekte zurückführen können. Haben Lernende regelmäßig den Eindruck, durch ihr Handeln nichts bewirken zu können, kann dies ein negatives Selbstbild verstärken und die Motivation nachhaltig beschädigen (vgl. exemplarisch Williams, Burden und Al-Baharna 2001).
2.4. Motivation als Prozess Die vorgestellten theoretischen Modelle implizieren, dass gute Beweggründe in Kombination mit ausreichender Selbstbestimmung und vorhandenen Erfolgserlebnissen motiviertes Verhalten ergeben. Nach Gardner (1985: 50) besitzt motiviertes Lernen folgende Komponenten: “a goal, effortful behaviour, a desire to attain the goal and favourable attitudes toward the activity in question.” Also sind außerdem Anstrengungen erforderlich (z. B. zum Lernen von Vokabeln, beim Lösen von fremdsprachlichen Aufgaben), die Lernende tatsächlich aufbringen müssen, und zwar andauernd, oft über Jahre hinweg. Hier ansetzende Modelle beschreiben die Entwicklung motivierten Handelns als Prozess der Umwandlung von Zielsetzungen und Beweggründen in Handlungsabsichten und schließlich Handlungen, wobei Lernende z. B. zwischen konkurrierenden Zielen auswählen und eine motivationale Schwelle überschreiten müssen, um Lernhandlungen tatsächlich auch zu initiieren und beizubehalten (vgl. exemplarisch Dörnyei und Otto 1998; Riemer 2006b). Diese motivationalen und volitionalen, sich im Lernenden vollziehenden Prozesse werden beeinflusst durch das jeweilige soziokulturelle Milieu (z. B. Einfluss von Eltern und Peers), vorhandene Lernmöglichkeiten (z. B. Mediennutzung) ⫺ und im Falle gesteuerten Fremdsprachenlernens ganz maßgeblich durch die Bedingungen des Fremdsprachenunterrichts (Lehrerpersönlichkeit, Lernergruppe, Lernmaterialien).
3. Von der Einsicht in die Motivationsstruktur zur Motivierung von Lernenden Anhand der Fülle der vorhandenen, auch kontrovers diskutierten theoretischen Ansätze (vgl. auch Art. 97), Komponenten und Prozesse in Bezug auf die L2-Motivation wird deutlich, dass hieraus nicht unmittelbar Konsequenzen für die Praxis des Fremd- und Zweitsprachenunterrichts hervorgehen können in der Form, dass das motivierende Potential spezifischer Lernarrangements, -materialien und Lehrtechniken generell prognostiziert werden könnte. Ganz im Gegenteil: Einsicht in die Komplexität, Dynamik und Individualität des Faktors Motivation muss sich in der allgemeinen Erwartung von Lehrenden (aber auch von Lernenden) spiegeln, dass Motivierungsstrategien in unterschiedlichen Lernkontexten ganz unterschiedliche Auswirkungen (und Nebenwirkungen) haben können. Für jede Lernergruppe sind ⫺ jeweils neu ⫺ Lernervoraussetzungen, Motive und Variablen der Willensbildungsprozesse zu beobachten und z. B. auf der Basis gemeinsamer Unterrichtsreflexionen zu diagnostizieren. Lernende handeln auf der Basis individueller Erwartungen und Ziele; motivieren kann nur, was für den Lerner in klarem Bezug zu seinen Erwartungen, Zielen und auch Bedürfnissen steht. Motivierung impliziert also die gezielte Auswahl an den Interessen und Bedürfnissen ausgerichteter Unterrichtsgegenstände, Materialien, Medien und Lehrtech-
127. Motivierung
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niken. Eine weitere Konsequenz aus der L2-Motivationsforschung ist die Unterstützung der Lernenden bei der Festsetzung realistischer Lernziele (inkl. Zwischenziele) ⫺ gerade in Bezug auf die spezifische Sprache Deutsch, die in vielen Regionen und auch im Kontext Deutsch als Zweitsprache als besonders schwere Sprache gilt. Und dementsprechend müssen Lernende bei der Reflexion ihrer Lernfortschritte Hilfestellungen erhalten. Langfristige Ziele und Erfolgserwartungen sind regelmäßig mittels zeitnaher Erfahrungen zu aktualisieren und aufrechtzuerhalten. Lehrende sollen Lernende zu Erfolgserlebnissen führen, die diese sich selbst zuschreiben und die sie selbst kontrollieren können ⫺ also Selbstvertrauen und Selbstwirksamkeit der Lernenden stärken. In Kontexten, in denen extrinsische Motivationen überwiegen, sollten Lernende dabei unterstützt werden (v. a. in schulischen Pflichtkontexten), Formen stärker selbstbestimmter Lernmotivation zu entwickeln, das heißt u. a. wahrzunehmen, dass Unterrichtsaktivitäten und Lerngegenstände für ihr gegenwärtiges und mutmaßlich ihr zukünftiges Leben von wirklicher Bedeutung sind. Flankiert durch Maßnahmen, die Lernende dabei unterstützen, ihren eigenen Lernertyp besser kennenzulernen und ihr Lernstil-Repertoire wirklich auszuspielen (und behutsam zu erweitern), implizieren solche Prinzipien eine Lehrhaltung, die Lernerautonomie fördert ⫺ auch indem Lernende grundsätzlich in unterrichtliche Entscheidungsprozesse involviert werden und wirklich Verantwortung für ihr eigenes Lernen übertragen bekommen und wahrnehmen. Allgemeine Motivierungsprinzipien wie die oben genannten sind im Rahmen unterschiedlicher Modelle präzisiert worden. Wicke (2004) stellt für den DaF-Unterricht mit Jugendlichen „zehn einfache Regeln“ auf, die u. a. auch die Notwendigkeit einer gemeinsamen Zielsetzung von Lerngruppen und die Eigenmotivation der Lehrkraft betonen. DaF-Unterricht muss danach die Vorerfahrungen der Lernenden einbeziehen und an vorhandenen Lernmotivationen anknüpfen. Die Lernenden sollen von Themen, Texten und Aufgaben wirklich betroffen sein, sie müssen für die Lernenden relevant sein. Lernende müssen so oft wie möglich Gelegenheit zur Anwendung des bereits Erlernten erhalten (möglichst durch Verwendung authentischer Sprache auch in zielsprachlicher Umgebung), um dadurch auch Rückmeldung über ihren (erfolgreichen) individuellen Lernstand zu erhalten. Lehrer müssen Neugier und Interesse wecken und diese nicht einfach voraussetzen. Auch sollen sie durch angemessenes Feedback das Selbstvertrauen der Lernenden stärken und sie davon überzeugen, dass Lernen auch soziales Lernen ist (vgl. Wicke 2004: 15⫺16). Die zentrale Rolle der Lehrkraft, ihrer Vorgehensweisen sowie ihrer Haltung für den Motivationsprozess heben ebenfalls Apelt (1996), Düwell (1998) sowie Dörnyei und Csize´r (1998) hervor. Der bis heute am weitesten ausgearbeitete Vorschlag stammt von Dörnyei (2001), der insgesamt 35 (weiter unterteilte) Motivierungsstrategien unterscheidet, die Maßnahmen vorsehen zur (a) Herstellung grundlegender motivationaler Bedingungen (z. B. unterstützende Unterrichtsatmosphäre, gute Gruppendynamik); (b) Entfaltung der Ausgangsmotivation (z. B. Verbesserung der Zielorientiertheit der Lernenden, Anpassung von Lehrmaterialien); (c) Aufrechterhaltung der Motivation im weiteren Lernverlauf (z. B. motivierende Präsentation von Aufgaben, Lernerautonomieförderung); sowie zur (d) (positiven) Selbstevaluation der Lernenden (z. B. Verstärkung motivierender Attributionen, angepasste Feedbackverfahren). Maßnahmen zur Motivierung von Lernenden sind nur sehr eingeschränkt planbar, insbesondere was die Prognose von Konsequenzen und Nebenwirkungen betrifft. Bereits Solmecke (1983) hat mit seinem Motivations-Handlungsmodell verdeutlicht, dass eine Maßnahme zur Motivierung einer Gruppe immer auf unterschiedliche Fähigkeiten, Hal-
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XII. Sprachen lehren: Einzelaspekte tungen und Fertigkeiten der Lernenden trifft, nicht kalkulierbare (Selbst-)Bewertungen impliziert, die das motivierende Potential unterschiedlich zur Entfaltung bringen ⫺ oder eben nicht: Einfache Wenn-dann-Beziehungen sind also nicht herzustellen. Der Erfolg von Motivierungsmaßnahmen ist damit letztlich ein Spiegel gelungener Unterrichtsinteraktion und Gruppendynamik.
4. Literatur in Auswahl Apelt, Walter 1996 Motivation und Fremdsprachenunterricht ⫺ Bilanz und Ausblick. Fremdsprachenunterricht 40: 81⫺89, 166⫺171. Cle´ment, Richard and Bastian G. Kruidenier 1983 Orientations in second language acquisition: I. The effects of ethnicity, milieu, and target language on their emergence. Language Learning 33: 273⫺291. Dörnyei, Zolta´n 2001 Motivational Strategies in the Language Classroom. Cambridge: Cambridge University Press. Dörnyei, Zolta´n and Kata Csize´r 1998 Ten commandments for motivating language learners: results of an empirical study. Language Teaching Research 2: 203⫺229. Dörnyei, Zolta´n and Istva´n Otto´ 1998 Motivation in action: a process model of L2 motivation. Working Papers in Applied Linguistics 4: 43⫺69. Düwell, Henning 1998 Motivation und Motivierung im Fremdsprachenunterricht. In: Udo O. H. Jung (Hg.), Praktische Handreichung für Fremdsprachenlehrer, 38⫺46. 2., verbesserte und erweiterte Auflage. Frankfurt a. M. etc.: Lang. Gardner, Robert C. 1985 Social Psychology and Second Language Acquisition. The Role of Attitudes and Motivation. London: Arnold. Noels, Kimberly A., Luc G. Pelletier, Richard Cle´ment and Robert J. Vallerand 2000 Why are you learning a second language? Motivational orientations and self-determination theory. Language Learning 50: 57⫺85. Riemer, Claudia 2006a DaF-Lernende ⫺ alles Exoten? Motivationsforschung und Deutsch als Fremdsprache. In: Hans-Jürgen Krumm und Paul Portmann-Tselikas (Hg.), Innovationen ⫺ neue Wege im Deutschunterricht, 43⫺58. Innsbruck: StudienVerlag (⫽ Theorie und Praxis. Österreichische Beiträge zu Deutsch als Fremdsprache Bd. 9/2005). Riemer, Claudia 2006b Der Faktor Motivation in der empirischen Fremdsprachenforschung. In: Almut Küppers und Jürgen Quetz (Hg.), Motivation Revisited, 35⫺48. Berlin: LIT-Verlag. Solmecke, Gert 1983 Ein Motivationshandlungs-Modell für den Fremdsprachenunterricht. In: Gert Solmecke (Hg.), Motivation und Motivieren im Fremdsprachenunterricht, 271⫺278. Paderborn: Schöningh. Wicke, Rainer E. 2004 Aktiv und kreativ lernen. Projektorientierte Spracharbeit im Unterricht Deutsch als Fremdsprache. Ismaning: Hueber.
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Williams, Marion, Robert L. Burden and Safiya Al-Baharna 2001 Making sense of success and failure: the role of the individual in motivation theory“. In: Zolta´n Dörnyei and Richard W. Schmidt (Hg.), Motivation and Second Language Acquisition, 171⫺184. University of Hawaiı¨. Second Language Teaching & Curriculum Center.
Claudia Riemer, Bielefeld (Deutschland)
128. Lernerautonomie 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Gegenstandsbestimmung Begründung und Bedingungen der Autonomieförderung Anforderungen an Lernende und Lehrende Modellfunktion des Unterrichts Aufgaben Materialien Literatur in Auswahl
1. Gegenstandsbestimmung Nach Little sind Menschen beim Erfüllen einer bestimmten Aufgabe autonom, wenn sie diese ohne Unterstützung bewältigen, in anderen Kontexten erworbenes Wissen und Fähigkeiten auf diese Aufgabe übertragen und flexibel auf die speziellen Bedingungen und Anforderungen der Aufgabe eingehen können (Little 1999:22). In diesem Sinn ist Autonomie ein übergeordnetes, langfristiges Entwicklungsziel, das sich nicht auf das Lernen von Sprachen beschränkt, sondern die Entwicklung verschiedenster schulischer und persönlicher Kompetenzen mit einschließt und über den Rahmen der obligatorischen Schulzeit hinausweist. Unter Autonomie kann aber auch ein didaktisch-methodischer Ansatz, eine Fähigkeit, die ein Lernender für das Lernen mitbringt oder ein Prozess, der gestaltet werden muss, verstanden werden. Im Bereich der Didaktik des Fremdsprachenunterrichts existieren drei verschiedene Interpretationen von Autonomie: (1) Autonomie in Bezug auf Lernort, -zeit und -rhythmus (2) Autonomie als Übernahme von Verantwortung für das Lernen (3) Autonomie als Fähigkeit, eigene Lernprozesse selber zu steuern und zu reflektieren Unter die erste, technizistische Interpretation von Autonomie im Fremdsprachenunterricht fallen Selbstlernprogramme, bei denen die Anwesenheit und die Intervention einer Lehrperson nicht erforderlich ist, da in den Materialien die notwendigen Anleitungen, Entscheidungsprozesse und Korrekturhilfen enthalten sind. Im Gegensatz dazu können die Lernenden in Unterrichtsansätzen, die der zweiten Interpretation von Autonomie folgen, auf Ziele, Inhalte, Materialien, Vorgehensweisen oder den Unterrichtsablauf Einfluss nehmen. Mit zunehmender Autonomie übernehmen sie immer mehr dieser Entschei-
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XII. Sprachen lehren: Einzelaspekte dungen selbst. Bei der dritten Ausprägung von Autonomie kommt die bewusste Reflexion über eigene und fremdinitiierte Lernaktivitäten hinzu (Holec 1988: 7⫺9). Nur die beiden letzten Interpretationen entsprechen der Autonomie im Sinne Littles. Autonomiefördernder Unterricht muss es den Lernenden also ermöglichen, (1) sich im Lehr- und Lerngeschehen zu orientieren (2) Verantwortung zu übernehmen (3) über eigene und fremdinitiierte Lern- und Verhaltensweisen zu reflektieren (Nodari 1994: 39). Entsprechende unterrichtspraktische Ansätze sind in den 1970er Jahren aus Initiativen des Europarates hervorgegangen, sie knüpfen aber auch an ältere Ansätze der Reformpädagogik und der Freinet-Pädagogik an. Als Bezugswissenschaften für didaktische Konzepte zur Lernerautonomie gelten die kognitive Psychologie, die Neurowissenschaften und der Konstruktivismus.
2. Begründung und Bedingungen der Autonomieörderung Aus ökonomisch-politischer Sicht ist die Förderung autonomen Lernens im Fremdsprachenunterricht sinnvoll, um die Lernenden für die Arbeitswelt mit ihren ständig wechselnden Anforderungen zu qualifizieren, lebenslanges Lernen zu ermöglichen und die Entwicklung zu mündigen Bürgern zu unterstützen. Zu den psycholinguistisch-didaktischen Begründungen gehören die Berücksichtigung individueller Lernerbedürfnisse und -voraussetzungen und die positiven Auswirkungen, die einem Unterricht zugeschrieben werden, der auf die autonome Verwendung der Zielsprache ausgerichtet ist. Ein solcher Unterricht kann mit einer ganzheitlicheren Betrachtung von Sprache und dem Einsatz kooperativer Übungsformen erreicht werden (Weskamp 1999: 11⫺12, 16⫺17; Little 1995: 176). Autonomieförderung ist für unterschiedliche Sprachen und Altersgruppen, für Lernende mit geringer Vorbildung und im Rahmen vorgegebener Curricula umsetzbar, da man sie an vorgegebene Bedingungen flexibel anpassen kann (Gremmo und Riley 1995: 154⫺155; Little 1995: 179). Als ein universell gültiges, übergeordnetes Lehrziel kann Autonomie aber auch problematisch sein, da es ein spezifisches, (ausbildungs-)politisches Ziel impliziert, das sich auf Individualismus und Liberalismus stützt, wo vor allem die persönliche Verantwortung und die Interessen des Einzelnen in den Vordergrund gestellt werden. Aus diesem Grund sind autonomiefördernde Ansätze immer auch vor dem kulturellen Hintergrund der Beteiligten zu sehen und dementsprechend anzupassen.
3. Anorderungen an Lernende und Lehrende Verschiedene Studien zu den Eigenschaften eines guten Sprachenlernenden stimmen darin überein, dass er „ein aktiver Lernender ist, [der] seine Sprachproduktion überwacht, in der Fremdsprache kommuniziert, bestehendes Sprachwissen nutzt, verschiedene Behaltensstrategien anwendet und von sich aus bei Unklarheiten nachfragt“ (Chamot 2004: 12). Erfolgreiche Lernende suchen also möglichst vielfältige Zugänge zur Zielsprache,
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versuchen, aktiv neue Elemente der Zielsprache in ihre bestehende Lernersprache zu integrieren und die Funktionsweise der Fremdsprache zu verstehen und sie setzen Lernstrategien bewusst ein. Zwar verwenden auch weniger erfolgreiche Lernende Lernstrategien, passen sie aber weniger geschickt an die aktuellen Aufgaben an und verwenden seltener metakognitive Strategien (Neuner-Anfindsen 2005: 142⫺145). Im Unterricht werden die Planungs- und Steuerungsfunktionen normalerweise von den Lehrpersonen übernommen. Unter dieser Voraussetzung übernehmen Lernende nicht automatisch Verantwortung für das Lernen. Sie sind bereits in Lernmustern sozialisiert und müssen für neue Formen gewonnen werden (Weskamp 1999: 16). Sowohl die Übernahme von Verantwortung als auch die Reflexion über die Lernprozesse muss von den Lehrenden angeleitet werden (Little 1995: 176⫺177). Autonomieförderung ist also kein Laissez-faire, sondern bedingt, dass die Lehrenden genau auswählen, in welchen Bereichen sie den Klassen bzw. den einzelnen Lernenden Verantwortung überlassen können und wollen (Little 1995: 179). Eine weitere Aufgabe der Lehrpersonen besteht darin, im Unterricht erstens gezielt Lernstrategien zu vermitteln und zweitens ihre bewusste Anwendung zu ermöglichen. Denn Strategieinstruktion ist vor allem dann erfolgreich, wenn Gelegenheit besteht, die neuen Strategien zu üben und in das Lernverhalten zu integrieren (Neuner-Anfindsen 2005: 164). Mit der Förderung von Lernerautonomie verändert sich auch die Rolle der Lehrenden, deren Aufgabe sich von der zentralen Steuerung aller Unterrichtsabläufe und -inhalte hin zur Moderation von Unterricht, zur Schaffung von Lernsituationen und zur Beratung der Lernenden verschiebt (Bimmel und Rampillon 2000: 33).
4. Modellunktion des Unterrichts Durch Unterricht werden unbewusste Lerngewohnheiten entwickelt. Vor allem erwachsene Lernende können zwar oft ein langfristiges Lernziel definieren, die kurzfristigen Ziele innerhalb eines Kurses aber nicht mit dem langfristigen abstimmen (Crabbe, Hoffmann und Cotterall 2001: 14). Sie möchten z. B. an Alltagsgesprächen teilnehmen können, fragen im Kurs aber nach mehr Grammatikübungen. Ein autonomiefördernder Unterricht kann einerseits solche Diskrepanzen thematisieren und andererseits als Modell für eigenes, selbständiges Handeln dienen, indem er den Lernenden eine optimale Orientierung im Lehr- und Lerngeschehen ermöglicht. Das bedeutet, dass die Lernenden wissen, was sie lernen, welches Ziel auf welchem Weg erreicht werden soll und wie viel Zeit ihnen dazu zur Verfügung steht (Nodari 1994: 39). Dazu können Lehrende zum Beispiel zu Beginn einer Lerneinheit die Lernziele offenlegen und am Ende gemeinsam mit den Lernenden überprüfen oder mit den Lernenden Zeitpläne für die Unterrichtsarbeit und die Hausaufgaben festlegen bzw. abändern.
5. Augaben Autonomiefördernde Aufgaben sind eine wichtige Voraussetzung dafür, dass die Lernenden tatsächlich verschiedene Lernstrategien erproben und ihre eigenen Wege zum Lernen
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XII. Sprachen lehren: Einzelaspekte finden können. Genau wie der Unterricht müssen auch Aufgaben in Hinblick auf Ziele, Vorgehensweisen, mögliche Strategien usw. transparent sein. Eine Lehrperson, die ihre Lernenden auffordert, einen Text überfliegend zu lesen und einige Fragen dazu zu beantworten, schöpft das Lernpotential dieser Aufgabe nicht voll aus. Die Lernenden führen damit zwar eine spezifische Lesestrategie aus, diese wird aber nicht begründet und als Lernziel nicht bewusst gemacht. Erst wenn die Lernenden den Sinn und Zweck sowie auch die Erreichbarkeit der Ziele klar erkennen, setzen sie ihr ganzes Lernpotential ein. Baurmann (2002: 53) postuliert, dass gute Schreibaufträge eine „milde Form der Besessenheit auslösen“. Dieses Postulat gilt auch für autonomiefördernde Aufgaben. Im Bereich Orientierung im Lerngeschehen kann z. B. durch das Entwickeln einer Lehrwerksrallye die Aufmerksamkeit der Lernenden auf bestimmte Teile des Lehrwerks gelenkt werden. Übertragung von Lernverantwortung kann im Rahmen eines Lerntagebuchs eingeübt werden, in dem die Lernenden eigene Lernziele formulieren. Diese individuellen Formulierungen können später auch als Hilfsmittel für die Selbsteinschätzung erzielter Fortschritte dienen. Im Bereich Lerninhalte bietet sich das Erstellenlassen einer Übungskartei für einen ausgewählten Bereich wie etwa Grammatik an. Wahlangebote, bei denen die Aufgabenstellung zum Beispiel in der verwendeten Lerntechnik variiert, bieten den Lernenden Modelle, wie sie einen Lerninhalt unterschiedlich bearbeiten können, und erlauben es ihnen, eigene Lernvorlieben zu erproben. Zum Bereich Reflexion zählen Aufgaben, die die Wahrnehmung für verschiedene Lernweisen schulen oder zu ihrer Optimierung beitragen. Das kann zum Beispiel geschehen, indem die Lernenden einander bevorzugte Strategien vorstellen und über deren Effizienz diskutieren (Nodari 1994: 40⫺43, siehe dazu auch Rampillon 2000).
6. Materialien Gemäß Holec sollen Lernende im Umgang mit Lern- und Lehrmaterialien die Erfahrung machen können, dass „learning a language does not mean learning material but using material to learn“ (Holec 1988: 11). Ähnlich wie die Lehrerrolle verschiebt sich auch die Rolle der Materialien weg von der reinen Instruktion hin zum Hilfsmittel, das den Lernprozess in Gang bringt oder stützt. Idealtypisch sollte im Unterricht ausschließlich mit authentischen Materialien gearbeitet werden. Dies ist zwar denk- und machbar, jedoch kaum realistisch. Lehrwerke können Lehrpersonen in der Gestaltung eines autonomiefördernden Unterrichts entlasten, wenn sie es den Lernenden einerseits ermöglichen, durch offene Aufgabenformen schrittweise Verantwortung für verschiedene Lernprozesse zu übernehmen, andererseits die Reflexion über eigene Lernverhaltensweisen systematisch einzubeziehen und zudem möglichst authentische Materialien bieten (Nodari 1995: 129). Obschon neuere Lehrwerke viele Elemente zur Förderung der Lernerautonomie enthalten, scheint das Potential, insbesondere was die Orientierungsfunktion anbelangt, noch lange nicht ausgeschöpft. Der Nutzen von neuen Medien für autonomes Lernen wird allgemein als sehr hoch eingeschätzt. Insbesondere durch das Internet steht heute eine große Zahl leicht zugänglicher, authentischer zielsprachlicher Materialien zur Verfügung. Die neuen Medien sind aber nicht per se autonomiefördernd. Gerade bei Selbstlernprogrammen auf CD-ROM
128. Lernerautonomie
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beschränkt sich die Autonomie häufig auf Aspekte wie die Wahl von Ort, Zeit, Tempo oder Wiederholungsrate. Oft führen technische Einschränkungen auch zu einer ungünstigen Beschränkung von Übungsformen und Aktivitäten. Für autonomiefördernden Unterricht sind vor allem Medien geeignet, die für verschiedene Aktivitäten offen sind. Neben den bereits erwähnten authentischen Materialien gehören dazu verschiedene Softwareprodukte und Internetdienstleistungen, die nicht für den Sprachunterricht gemacht wurden, aber als Hilfsmittel beim Erstellen von Lernprodukten, als Kommunikationsmittel oder zum Nachschlagen spezifischer Informationen dienen können (E-Mail-Projekte, Skype-Kontakte, Rechercheaufgaben usw.).
7. Literatur in Auswahl Baurmann, Jürgen 2002 Schreiben, Überarbeiten, Beurteilen ⫺ ein Arbeitsbuch zur Schreibdidaktik. Seelze: Kallmeyersche Verlagsbuchhandlung. Bimmel, Peter und Ute Rampillon 2000 Lernerautonomie und Lernstrategien. Berlin u. a.: Langenscheidt. Chamot, Anna Uhl 2004 Stand der Forschung zum Einsatz von Lernstrategien im Zweit- und Fremdsprachenerwerb. In: Hans Barkowski und Hermann Funk (Hg.), Lernerautonomie und Fremdsprachenunterricht, 10⫺35. Berlin: Cornelsen. Crabbe, David, Alison Hoffmann and Sara Cotterall 2001 Examining the discourse of learner advisory sessions. AILA Review 15: 2⫺15. Gremmo, Marie-Jose´ and Philip Riley 1995 Autonomy, self-direction and self access in language teaching and learning: The history of an idea. System 23: 151⫺164. Holec, Henri 1988 Autonomy and Self-Directed Learning (Education & Culture). Strasbourg: Council of Europe Press. Little, David 1995 Learning as dialogue: The dependence of learner autonomy on teacher autonomy. System 23: 175⫺181. Little, David 1999 Autonomy in second language learning: Some theoretical perspectives and their practical implications. In: Christoph Edelhoff und Ralf Weskamp (Hg.), Autonomes Fremdsprachenlernen, 22⫺35. Ismaning: Hueber. Neuner-Anfindsen, Stefanie 2005 Fremdsprachenlernen und Lernerautonomie. Sprachlernbewusstsein, Lernprozessorganistation und Lernstrategien zum Wortschatzlernen in Deutsch als Fremdsprache. (Mehrsprachigkeit und multiples Sprachenlernen/Multilingualism and Multiple Language Acquisition and Learning 1). Baltmannsweiler: Schneider. Nodari, Claudio 1994 Autonomiefördernde Aufgaben im Fremdsprachenunterricht. Versuch einer Typologisierung. Fremdsprache Deutsch 10: 39⫺43. Nodari, Claudio 1995 Perspektiven einer neuen Lehrwerkkultur. Pädagogische Lehrziele im Fremdsprachenunterricht als Problem der Lehrwerkgestaltung (Sprachlandschaft Schweiz). Aarau: Sauerländer-Verlag.
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XII. Sprachen lehren: Einzelaspekte Rampillon, Ute 2000 Aufgabentypologie zum autonomen Lernen. Ismaning: Hueber. Weskamp, Ralf 1999 Unterricht im Wandel ⫺ Autonomes Fremdsprachenlernen als Konzept für schülerorientierten Fremdsprachenunterricht. In: Christoph Edelhoff und Ralf Weskamp (Hg.), Autonomes Fremdsprachenlernen, 8⫺19. Ismaning: Hueber.
Claudio Nodari, Zürich (Schweiz) Cornelia Steinmann, Zürich (Schweiz)
129. Lernberatung 1. 2. 3. 4.
Theoretische Grundlagen Ziele, Funktionen und mögliche Adressaten von Sprachlernberatung Durchführung und mögliche Organisationsformen Literatur in Auswahl
1. Theoretische Grundlagen Das Konzept der Lernberatung für das Fremdsprachenlernen (Sprachlernberatung) stützt sich auf folgende unterschiedliche theoretische Ansätze, Wissenschaftsdisziplinen und Annahmen: So wird davon ausgegangen, dass die Art, wie Menschen Fremdsprachen lernen, durch eine Vielzahl von individuellen Faktoren beeinflusst wird (vgl. Kap. IX). Individuelle Lernerfaktoren sind auch innerhalb einer Person als dynamisches Geflecht zu betrachten; z. B. können Bedarfe und Bedürfnisse, Motivation und Ziele von Fremdsprache zu Fremdsprache, chronologisch oder auch lernumgebungsabhängig variieren. Die Selbstwahrnehmung des Lernenden in seinem gesamten Kontext mit seinen persönlichen Eigenschaften, Einstellungen und Sichtweisen ist Grundlage einer Sprachlernberatung. ⫺ In der Diskussion um Lernerautonomie (vgl. Art. 128) wird u. a. davon ausgegangen, dass Lernende bei der Verarbeitung von Lerninhalten von außen nur eingeschränkt zu beeinflussen sind. Eine Veränderung der Lehrerrolle hin zur Lernbegleitung und Lernberatung solle allerdings dazu führen, dass bei Lernenden Reflexionen über den Lernprozess angeregt werden, damit sie Kontrolle über das eigene Lernen (Steuerung, Überwachung und Evaluation) ausüben und sich ihren individuellen Voraussetzungen gemäß weiterentwickeln können. Basierend auf Rückmeldungen aus der Beratungspraxis und gestützt auf empirische Untersuchungen (vgl. u. a. Claußen 2009) nutzt eine (individuelle) Sprachlernberatung die Reflexionen über die internen und externen Lernerfaktoren direkt, um davon ausgehend mit dem Lernenden gemeinsam ⫺ durchaus kleinschrittige ⫺ Lernverfahren und Wege hin zum Nutzen für den Lernprozess zu erarbeiten. ⫺ Weiterhin berücksichtigt das Konzept der Sprachlernberatung Erkenntnisse aus der humanistischen Psychologie, z. B. die Einsicht, dass Menschen die Lösung für ihre
129. Lernberatung
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Probleme in sich tragen (vgl. z. B. Rogers 1985). Eine strukturierte Beratung kann es dem Lernenden also ermöglichen, zu einem Verständnis seiner selbst zu gelangen und auf Grund dieser neuen Orientierung positive Schritte zu unternehmen. Noch nicht völlig geklärt ist die Frage, an welchem Punkt des Beratungsgesprächs vom Sprachlernberater basierend auf Fachwissen über Sprachlernprozesse klare Empfehlungen gegeben werden können/sollten. ⫺ Zurückgegriffen wird für den konkreten Beratungsprozess auf Arbeiten aus der (Kommunikations-)Psychologie, der allgemeinen pädagogischen Beratung und entsprechende Gesprächstechniken (vgl. u. a. Bachmair et al. 1999; Siebert 2001).
2. Ziele, Funktionen und mögliche Adressaten von Sprachlernberatung Die genannten Grundlagen werden zum Teil unterschiedlich gewichtet und führen daher auch zu unterschiedlichen Konzeptionen, Organisationsformen und Durchführungsmöglichkeiten, die u. a. von den Bedingungen vor Ort und von den entsprechenden Adressaten beeinflusst sind (vgl. hierzu z. B. die Beiträge in der Zeitschrift für Interkulturellen Fremdsprachenunterricht (Online) 11, 2, 2006; Wehmer 2003). Das hier vertretene Konzept der individuellen Sprachlernberatung wurde zunächst für das Sprachenlernen im Hochschulkontext entwickelt (vgl. u. a. Mehlhorn 2005). In, neben und außerhalb von Kursen sollen Lernende in individuellen Beratungssitzungen zur Reflexion ihres Sprachlernverhaltens angeregt werden. Als „Experte für die eigene Person“ können sie Verantwortung für ihren Sprachlernprozess übernehmen und gemeinsam mit dem Sprachlernberater als „dem Fachexperten für das Fremdsprachenlernen“ Möglichkeiten zur Optimierung finden. Berater bieten dafür individuelle Anleitung, Hilfe und Betreuung an, etwa ⫺ bei der Bewusstmachung der individuellen Voraussetzungen, der jeweiligen persönlichen Zusammenhänge und der Entscheidungsbedingungen (z. B. könnten folgende Überlegungen Ausgangspunkt für weitere Entscheidungen sein: „Ich kann schon ganz gut Diskussionsbeiträgen folgen, wenn nicht zu schnell gesprochen wird; ich kann mich noch nicht selbst beteiligen. Vielleicht wage ich es aber auch einfach nicht, weil ich Angst davor habe mich zu blamieren? [Was heißt für mich eigentlich „blamieren“?] Ich will zunächst herausfinden, was ich schon spontan äußern kann. Dafür mache ich Folgendes: ….“). ⫺ bei der möglichen Passung der gesamten den Lernprozess beeinflussenden Faktoren mit den eigenen Zielen (z. B.: „Ich habe leider nicht viel Zeit; doch auch ich lerne eine Sprache nicht im Schlaf, ich muss … tun, wenn ich … können will.“). ⫺ beim Erkennen von Lernschwierigkeiten und Lösungsmöglichkeiten (z. B.: „Ich weiß überhaupt nicht, wie ich mich auf die Prüfung vorbereiten kann; versucht habe ich schon Folgendes …. Ich weiß aber nicht mal, wie die Dozentin bei der Bewertung vorgeht. Vielleicht sollte ich das erst einmal herausfinden.“). ⫺ beim Finden geeigneter Lernwege und -strategien (als mögliche Weiterführung des obigen Beispiels z. B.: „Ich nehme mir vor die Dozentin zu fragen, worauf sie bei der Bewertung dieser Prüfung besonderen Wert legt; dann komme ich noch mal, damit wir
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XII. Sprachen lehren: Einzelaspekte
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besprechen können, wie ich mich sinnvoll in der mir verbleibenden Zeit vorbereiten kann.“). beim Finden geeigneter Lernmaterialien und -situationen (z. B. als Ausgangspunkt für einen Deutschlerner im Ausland: „Ich möchte mich auf einen Praktikumsaufenthalt in Deutschland vorbereiten; habe schon einen A2-Kurs gemacht und frage mich, wie ich mich in den verbleibenden zwei Monaten etwas besser darauf vorbereiten kann. Ich habe mir z. B. Folgendes gedacht … und wollte fragen, ob es vielleicht noch andere Möglichkeiten gibt.“). beim Motivationsaufbau, Aufbau von Selbstwirksamkeit (z. B. als Ausgangspunkt: „Ich habe das Gefühl, ich lerne überhaupt nichts mehr dazu; ich komme im Kurs immer gut klar, aber ich sehe keine Fortschritte mehr und verliere langsam die Lust, überhaupt noch am Kurs teilzunehmen. Ich frage mich, was ich tun kann, um wieder etwas zufriedener mit meinem Sprachenlernen zu sein.“). beim konkreten Umsetzen von eigenen Entscheidungen (z. B.: „Ich nehme mir für die nächste schriftliche Prüfung vor, besonders auf eine klare Argumentation (was heißt das genau?) zu achten; ich weiß ja, dass das zählt. Ich schreibe mir noch mal die wichtigsten Strukturierungsmittel auf; die suche ich aus … heraus; und dann versuche ich, schon mal ein paar einfache Argumentationen auszuprobieren.“). beim Erkennen von Lernfortschritten und bei der Evaluation des eigenen Lernens (z. B.: „Ich nehme mir vor, am Ende der nächsten Woche in Stichpunkten zu notieren, was ich dann besser kann, auch wenn es nur ein paar Ausdrücke sind, die mir wichtig sind.“).
Die Erfahrungen aus Beratungen mit erwachsenen Fremdsprachenlernern können nicht direkt auf das Sprachenlernen im schulischen Kontext übertragen werden (zu einigen Vorschlägen vgl. z. B. Kleppin und Mehlhorn 2008). Möglicherweise sollte für eine effektive Nutzung von Sprachlernberatung vor allem bei jüngeren Schülern und insbesondere beim Erlernen der ersten Fremdsprache zunächst im Unterricht z. B. durch eine Integration von Lernberatungselementen ein gewisser Grad an Lernerautonomie entwickelt werden. Beratungselemente im Unterricht könnten z. B. sein: die Anregung zur Reflexion interner Bedingungen und Voraussetzungen (z. B. Lernstile, Lernstrategien, Erfahrung von Selbstwirksamkeit, interne Motive) und Möglichkeiten der Weiterentwicklung (z. B. Entwicklung geeigneter Lernstrategien); die Auseinandersetzung mit den externen Lernbedingungen und -voraussetzungen (z. B. zu erreichende Mindeststandards, vorgegebene Lernzeiten, -orte, Elternwünsche) und Möglichkeiten des Abbaus von Lernhindernissen und Motivationsbarrieren; das Setzen eigener Lernziele, die an die Unterrichtssituation angepasst sind bzw. die außerhalb der Unterrichtssituation realistisch zu erreichen sind; das Erkennen von eigenen Lernschwierigkeiten und Lösungsmöglichkeiten (z. B. in angeleiteten und vom Lehrenden/Beratenden moderierten Gesprächen mit anderen Schülern, zu solchen Verfahren vgl. z. B. Helmling 2005); das Erkennen von eigenen Lernfortschritten und der Aufbau von Selbstwirksamkeit u. a. durch das Einbringen von Selbstevaluationsverfahren.
3. Durchührung und mögliche Organisationsormen Bei einer sich in der Regel über mehrere Beratungssitzungen erstreckenden Sprachlernberatung dient ein erstes Treffen zunächst dazu, gemeinsam mit dem Lerner die Sprachlernbiographie und die konkreten Bedingungen (Lernmöglichkeiten, zur Verfügung stehende
129. Lernberatung
1165
Lernzeit usw.) zusammenzustellen, d. h. die Ausgangsposition zu klären und für das weitere Vorgehen zu motivieren. Bei der Erhebung der Sprachlernbiographie erhält einerseits der Berater wichtige Informationen über den Lerner, andererseits wird dem Lerner selbst durch die konkreten Fragen zu seinem bisherigen Lernen selbst möglicherweise schon vieles bewusst. Das erste Treffen kann darüber hinaus dazu genutzt werden, dem Lerner die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen der Beratung aufzuzeigen. Allgemeingültige Rezepte sind nicht zu erwarten. Bei den folgenden Beratungsgesprächen wird auf konkrete Bedürfnisse und Ziele eingegangen, diese werden in Verbindung mit den Lernerfaktoren und den konkreten Bedingungen gebracht, auf Verbesserungsmöglichkeiten hingewiesen und möglicherweise ein bestimmtes Lernproblem bearbeitet. Dabei können z. B. Lernerlogbücher, Sprachenportfolios oder eigene Produktionen als Beratungsunterlagen genutzt werden (vgl. z. B. Gick 2004; Langner 2006). Die letzte Phase dient der abschließenden Evaluation. Dabei kann dem Lerner eventuell bisher Erreichtes vor Augen geführt und ein positiver Ausblick auf das weitere Vorgehen gegeben werden. Die einzelnen Beratungsgespräche können weiterhin in Phasen untergliedert werden, die in einer Sitzung mehrfach und zyklisch durchlaufen werden (zu den einzelnen Phasen vgl. Brammerts, Calvert und Kleppin 2005). Die unter 1. schon genannten Gesprächstechniken dienen als Reflexionsanstöße und Gesprächsimpulse. Dazu gehören z. B. offene Fragen, aktives Zuhören, Spiegeln durch Beschreiben und Zusammenfassen, Mitteilen von Beobachtungen, vorsichtiges Interpretieren anhand wissenschaftlicher Erkenntnisse, Herstellen von Verbindungen zwischen genannten Faktoren, Akzentuieren, Erweitern und Konkretisieren von Lerneraussagen, vorsichtiges Zuschreiben von Ursachen, Initiieren und Anbieten von möglichen Schlussfolgerungen, Konfrontieren mit anderen Möglichkeiten und evaluierendes Feedback (vgl. Culley 1996 und zu konkreten Fragebeispielen für das Fremdsprachenlernen Mehlhorn 2005). Organisationsformen für Beratungen hängen von unterschiedlichen Gegebenheiten ab, wie z. B., ob Berater und Lerner sich am gleichen Ort befinden, ob der Berater gleichzeitig auch der Lehrer ist, ob der Lerner selbstgesteuert oder in einem Kurs lernt. Präsenzformen werden, soweit dies zeitlich und örtlich möglich ist, momentan noch Distanzberatungen vorgezogen, da hierbei leichter ein wirklicher Dialog mit allen nonverbalen Elementen zustande kommen kann. Dies wird sich mit den immer besseren technischen Möglichkeiten über das Internet audiovisuell zu kommunizieren, möglicherweise noch verändern (vgl. hierzu z. B. die Beiträge in der Zeitschrift für Interkulturellen Fremdsprachenunterricht (Online) 11. 2. 2006). Formen der Implementierung von Sprachlernberatung in unterschiedlichen Lernumgebungen und für unterschiedliche Adressaten sind sicherlich noch weiter zu entwickeln, was sich auch auf das Konzept auswirken wird.
4. Literatur in Auswahl Bachmair, Sabine, Jan Faber, Claudius Henning, Rüdiger Kolb und Wolfgang Willig 1999 Beraten will gelernt sein. Ein praktisches Lehrbuch für Anfänger und Fortgeschrittene. 7. Auflage. Weinheim: Beltz. Brammerts, Helmut, Michael Calvert und Karin Kleppin 2005 Ziele und Wege bei der individuellen Lernberatung. In: Helmut Brammerts und Karin Kleppin (Hg.), Selbstgesteuertes Sprachenlernen im Tandem. Ein Handbuch, 53⫺60. 2. Auflage. Tübingen: Stauffenburg.
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XII. Sprachen lehren: Einzelaspekte Claußen, Tina 2009 Strategientraining und Lernberatung. Auswirkung auf das Kommunikations- und Lernverhalten ausländischer Studierender an deutschen Hochschulen. Tübingen: Stauffenburg. Culley, Sue 1996 Beratung als Prozeß. Lehrbuch kommunikativer Fertigkeiten. Weinheim: Beltz. Gick, Cornelia 2004 Einstiege ins Europäische Sprachenportfolio. Einige Ideen aus der Praxis für die Praxis. Babylonia 46, abrufbar unter: http://www.babylonia-ti.ch/BABY204/PDF/didbeitr46.pdf. Helmling, Brigitte 2005 Peergruppenarbeit ⫺ Tandems lernen von Tandems. In: Helmut Brammerts und Karin Kleppin (Hg.), Selbstgesteuertes Sprachenlernen im Tandem. Ein Handbuch, 83⫺91. 2. Auflage. Tübingen: Stauffenburg. Kleppin, Karin und Grit Mehlhorn 2008 Sprachlernberatung im schulischen Kontext. Fremdsprache Deutsch 38: 47⫺51. Langner, Michael 2006 Dokumente zur Sprachlernberatung. Zur Vorentlastung in Sprach(lern)projekten. Zeitschrift für Interkulturellen Fremdsprachenunterricht 11(2). (Online). Mehlhorn, Grit (unter Mitarbeit von Karl-Richard Bausch, Tina Claußen, Beate Helbig-Reuter und Karin Kleppin) 2005 Studienbegleitung für ausländische Studierende an deutschen Hochschulen. Teil I: Handreichungen für Kursleiter zum Studierstrategienkurs. Teil II: Individuelle Lernberatung ⫺ Ein Leitfaden für die Beratungspraxis. München: iudicium. Rogers, Carl R. 1985 Die nicht-direktive Beratung. Frankfurt a. M.: Fischer. Siebert, Horst 2001 Selbstgesteuertes Lernen und Lernberatung. Neuwied: Luchterhand. Wehmer, Silke 2003 Lernberatung. In: Karl-Richard Bausch, Herbert Christ und Hans-Jürgen Krumm (Hg.), Handbuch Fremdsprachenunterricht, 344⫺346. 4., überarbeitete Auflage. Tübingen: Francke. Zeitschrift für interkulturellen Fremdsprachenunterricht 11(2). 2006 Themenheft zur Sprachlernberatung. (Online).
Karin Kleppin, Bochum (Deutschland)
130. Augabenorientierung 1. 2. 3. 4. 5.
Einleitung Aufgabenorientierung als komplexer Begriff Merkmale von Aufgaben Ergänzungen und Fragen Literatur in Auswahl
1. Einleitung Aufgabe und aufgabenorientierter Unterricht sind seit einigen Jahren zentrale Themen einer durchaus kontrovers geführten Diskussion in unterschiedlichen Bereichen der Di-
130. Aufgabenorientierung
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daktik. In Bezug auf den Fremdsprachenunterricht verbindet sich mit ihnen der Anspruch auf eine Erneuerung der unterrichtlichen Verfahren auf dem Stand des heutigen Wissens zum Spracherwerb und zum Lernen im schulischen Kontext (vgl. Skehan 1998). Auf der anderen Seite stehen Zweifel an der Neuheit und der Wirksamkeit der mit dem Ansatz verbundenen Konzepte oder an der Möglichkeit, Aufgabe als Begriff hinreichend scharf zu definieren und damit das Konzept gegenüber anderen abzugrenzen (vgl. dazu die Beiträge in Bausch et al. 2006 sowie Müller-Hartmann und Schocker-von Ditfurth 2005b). Die Beschäftigung mit Aufgaben ist nichts Neues; sie begleitet die Fremdsprachendidaktik seit jeher. Die aktuelle Ausformung, die diese Auseinandersetzung in der hier diskutierten Aufgabenorientierung gefunden hat, hat ihre Wurzeln in der angelsächsischen Diskussion, die vor allem mit den Begriffen task und task based language learning operiert (Nunan 1989, 2004; Willis 1996; Ellis 2003). Je nachdem, wie konsequent die entsprechenden Verfahren eingesetzt werden, kann man unterscheiden zwischen einem streng aufgabenbasierten und einem aufgabenorientierten Zugang. Im Folgenden wird ausschließlich der letztere Begriff verwendet.
2. Augabenorientierung als komplexer Begri Die facettenreiche Diskussion zur Aufgabenorientierung lässt sich transparenter machen, wenn zwei Aspekte klar unterschieden werden, die in fast jedem Gebrauch des Begriffs im hier interessierenden Kontext mitgedacht sind. a) Der erste Aspekt ist ein unterrichtstheoretischer, deskriptiver. Er besteht in der These, dass Aufgaben die entscheidende Schnittstelle zwischen den didaktischen Entscheidungen der Lehrkraft (und der hinter ihr stehenden Hersteller von Unterrichtsmaterialien) und den für den Unterrichtserfolg entscheidenden kognitiven Prozessen der Lernenden bilden. Zwar sind diese Prozesse von außen im Einzelnen nicht im Detail planund kontrollierbar. Aufgaben erlauben es aber, der Arbeit der Lernenden Themen und Ziele vorzugeben, damit zumindest die fokalen Punkte ihrer Arbeit zu bestimmen und darauf bezogene kognitive Prozesse anzustoßen. Man braucht den Eigenwert der verwendeten Materialien nicht zu leugnen und kann trotzdem daran festhalten, dass es die Aufgaben sind, welche die Beschäftigung damit didaktisch gestalten und die Aktivitäten der Lernenden koordinieren. Der Imperativ „Lerne die Fremdsprache“, den jeder fremdsprachliche Unterricht an die TeilnehmerInnen stellt, wird nach dieser These in jedem Moment durch die aktuelle Aufgabe konkretisiert und in eine erlebbare Inszenierung der Lernsituation umgesetzt. So gesehen beruht jeder Unterricht auf Aufgaben, unabhängig davon, welches didaktische Konzept in ihm verfolgt wird, und seine Qualität kann an ihnen gemessen werden. b) Der zweite Aspekt betrifft die didaktische und damit präskriptive Ausformung des Konzepts der Aufgabenorientierung. Es ist ausgezeichnet durch eine spezifische Kombination didaktischer Grundsätze (s. Abschnitt 3). Auch wenn die meisten davon in der einen oder anderen Form seit längerem bekannt sind, ist ihre spezielle Kombination neu, ebenso der den Namen motivierende Sachverhalt, dass diese Grundsätze explizit als Kriterien für die Konstruktion und Evaluation von Aufgabenstellungen formuliert werden.
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XII. Sprachen lehren: Einzelaspekte Das Konzept der Aufgabenorientierung kann deshalb durchaus als neuer Ansatz (der in leicht divergierenden Versionen vertreten wird) mit eigenem Profil gelten. Seine Innovationskraft, aber auch seine Brisanz gewinnt er durch die Fokussierung auf die Aufgabe als Zentrum des didaktischen Denkens, darüber hinaus durch seine Stoßrichtung, die sich nicht zuletzt in seiner didaktischen Selektivität zeigt: Wesentliche Bausteine des traditionellen Unterrichts, v. a. die lehrerzentrierte Anlage der Unterrichtsarbeit, sind in diesem Konzept nicht zu finden oder werden zumindest entscheidend marginalisiert. Eine Konsequenz aus der spezifischen Konstruktion dieses Ansatzes ist, dass der Begriff der Aufgabe nicht ein für alle Mal konkret definiert werden kann. Aufgaben spiegeln didaktische Konzepte und Überzeugungen wider, mit diesen variieren auch die Kriterien, nach denen Aufgaben angelegt und beurteilt werden. Als übergreifendes Konzept bleibt der Ansatz zudem zwangsläufig allgemein, ein Rahmen für die Entwicklung von konkreten Aufgabenstellungen und Curricula. Aufgaben sind in diesem Konzept Instrumente zur Gestaltung unterrichtlicher Lehr-/ Lernhandlungen, sie sind entscheidend für deren Professionalität und Effizienz. Es mag Gründe geben, auch das, was sich jemand individuell vornimmt, als eine (selbstgestellte) Aufgabe zu bezeichnen. Damit ist jedoch das Terrain des Unterrichts verlassen, das für die hier geführte Diskussion zentral ist.
3. Merkmale von Augaben Die Begründer des aufgabenorientierten Unterrichts stehen weitgehend in der Tradition der kommunikativen Didaktik, an deren Grundlagen und Zielen sie sich orientieren. Zusätzlich integrieren sie Einsichten, die sich aus der neueren Forschung zum Spracherwerb, aus kognitivistischen und konstruktivistischen Lerntheorien und aus der empirischen Erforschung des Fremdsprachenunterrichts ergeben haben. Skehans kurze Charakterisierung nennt die vielleicht wichtigsten Merkmale von Aufgaben, die sich vor diesem Hintergrund ergeben: „A task is an activity which requires learners to use language, with emphasis on meaning, to attain an objective.“ (Skehan 2003: 3) Es existiert eine Vielzahl von Versuchen, die wesentlichen Merkmale von Aufgaben zu erfassen. Sie unterscheiden sich sowohl in der Zahl der Merkmale wie auch in den Details der Formulierung, mit der die in der Definition Skehans festgehaltenen Umrisse eines auf Sprachgebrauch beruhenden Unterrichts im Hinblick auf seine didaktischen Implikationen entfaltet werden. Nach Ellis sind tasks durch sechs konstitutive Merkmale charakterisiert: ⫺ eine Aufgabe muss zu einem klar definierten Ziel führen; ⫺ die Aufgabe umfasst einen Arbeitsplan (oder kann in einen solchen entfaltet werden); ⫺ die Aufgabe ist bezogen auf einen Inhalt, ein sprachlich gefasstes bzw. in Sprache fassbares Thema; ⫺ die Lernenden müssen, um die Aufgabe lösen zu können, kognitive Aktivitäten ausführen (Selegieren, Evaluieren, Ordnen von Information, Schlüsse ziehen etc.); ⫺ die geforderte Sprachverwendung soll authentisch sein oder zumindest Momente authentischer Sprachverwendung erfordern; ⫺ die Aufgabe kann dazu verwendet werden, zusätzlich spezifische sprachliche Phänomene bzw. spezifische Einzelfertigkeiten zu thematisieren (nach Ellis 2003: 9⫺16).
130. Aufgabenorientierung
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In diesen Beschreibungen wird deutlicher als in der Kurzcharakterisierung Skehans, dass Aufgaben konzipiert werden als Kontexte, die die Lernenden für eine gewisse Zeit zu eigenständigem und selbstorganisiertem sprachlichem Handeln anhalten. Darin wird ein Impetus sichtbar, der diesen Ansatz in allen seinen Versionen prägt: Es geht darum, dem oft kleinschrittigen, lehrerzentrierten Unterrichtsdiskurs ein alternatives Modell des unterrichtlichen Sprachhandelns entgegenzusetzen. Dieses soll den Lernenden erlauben, sich im Lernfeld zu orientieren und den eigenen Lernprozess zu gestalten. Die Aufgabe als rahmensetzende Instanz sichert dabei einen gemeinsamen Fokus und vergleichbare Ergebnisse trotz der im Einzelnen höchst individuellen Lösungswege. Allerdings hat diese Grundlegung die Konsequenz, dass das Verhältnis dieses Ansatzes zu formaler Sprachbetrachtung und zu vielen traditionell als „Übungen“ bezeichneten Verfahren ein wichtiges und problematisches Thema ist (vgl. dazu Ellis 2003, Kap. 5; Nunan 2004: 93⫺112). Man kann Merkmalskataloge wie die von Ellis als Versuche sehen, die ideale Grundform von Aufgaben herauszuarbeiten. Dabei bleiben zwangsläufig bestimmte für den Unterricht wichtige Aspekte an der Auseinandersetzung mit Sprache eher implizit, die in anderen Zusammenhängen als besonders wichtig hervorgehoben werden. Dazu gehören etwa: ⫺ ⫺ ⫺ ⫺ ⫺ ⫺ ⫺ ⫺
Kommunikation zwischen den Lernenden als Bestandteil oder als Ziel von Aufgaben; die Notwendigkeit begleitender Sprachaufmerksamkeit bzw. Sprachreflexion; Fertigkeitenintegration bzw. Mehrfachverarbeitung; Differenzierung und Individualisierung im Rahmen der Gesamtaufgabe; Flüssigkeit der Sprachverwendung als Hauptziel; die Wünschbarkeit metakognitiver Momente im Rahmen der Arbeit und danach; die Unterscheidung von Arbeitsplan und letztlich realisiertem Arbeitsgang; die Unterscheidung von Resultat (dem Produkt der Arbeit) und Ergebnis (dem Lernertrag); ⫺ die Unterscheidung zwischen Aufgabenformulierung und den mit der Aufgabe verbundenen didaktischen Intentionen usw. Trotz der vielen Unterschiede im Einzelnen würden wohl die meisten VertreterInnen eines aufgabenorientierten Unterrichts dem folgenden Minimalkatalog zustimmen können. Er macht insbesondere die heute wohl weitgehend unbestrittene Einschätzung von Lernen als einem sozial situierten, aktiven (bzw. konstruktiven) und zumindest teilweise bewussten Prozess deutlich ⫺ und formuliert zugleich die didaktischen Konsequenzen daraus: a) Mit Aufgaben werden fremdsprachendidaktische Ziele verfolgt (d. h.: sie müssen curricular eingebunden oder zumindest einbindbar sein); b) Aufgaben geben ein zu erreichendes Ziel vor, sie sind produktorientiert; c) sie erlauben es den Lernenden, den Arbeitsprozess im Rahmen der Vorgaben selbst zu organisieren und zu steuern, auch müssen die Lernenden die Tauglichkeit ihrer Lösungen zunächst selber beurteilen; d) sie erfordern eine Auseinandersetzung mit einem Thema im Medium der Sprache, und sie beinhalten kommunikative Aktivitäten oder führen auf solche hin; e) sie induzieren auf dem Weg zur Erreichung des Ziels Momente der Sprachaufmerksamkeit, in denen der adäquate rezeptive oder produktive Gebrauch der Sprache thematisiert wird.
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XII. Sprachen lehren: Einzelaspekte
4. Ergänzungen und Fragen Wichtige Punkte für die weitere Beschäftigung mit dem Ansatz sind u. a.: ⫺ Aufgaben im oben diskutierten Sinn stehen im Zentrum der Diskussion. In den Überlegungen der Proponenten dieses Ansatzes spielen zusätzlich auch sog. pre-task- und post-task-Aktivitäten eine wichtige Rolle. Ohne die Berücksichtigung von deren Potenzialen ist eine sinnvolle gesamthafte Beurteilung des Ansatzes kaum möglich (vgl. dazu Müller-Hartmann und Schocker-von Ditfurth 2005a). ⫺ Authentizität gehört zu den gewichtigen Forderungen an Aufgaben. Je nachdem, wie dieser Begriff genau gefasst wird, kann die Beurteilung von Aufgaben höchst unterschiedlich ausfallen. ⫺ In den ursprünglichen Versionen des Ansatzes wird der mündliche Sprachgebrauch und die Förderung der Flüssigkeit in den Vordergrund gestellt. Angesichts der Traditionen der kontinentalen Sprachdidaktik und der sich entwickelnden Formen einer literalen Didaktik auch im fremdsprachlichen Bereich wird dieser Aspekt des aufgabenorientierten Unterrichts sicherlich noch expliziter Bearbeitung bedürfen (vgl. die Beiträge in Bausch et al. 2007). ⫺ Angesichts der Wichtigkeit, die der Bedeutungsorientierung zugemessen wird, stellt sich die Frage nach der Möglichkeit strukturierter Arbeit an Grammatik im Rahmen dieses Ansatzes (dazu auch Willis 1996; Littlewood 2000). Entsprechend wichtig werden anschließbare Zugänge, wie sie etwa in Überlegungen zur Förderung des (schriftlichen) Outputs oder zur Formfokussierung (focus on form) zum Ausdruck kommen (vgl. Swain 1995; Doughty und Williams 1998). ⫺ Ein Problem, das sich in der Entwicklung von Unterrichtsmaterial ergibt, ist die Verfolgung übergreifender curricularer Ziele über längere Sequenzen von Aufgaben hinweg. Wichtige Impulse liefern hier der Szenario- und Projektansatz (Di Pietro 1987; Legutke 1991: Kap. 5 und 6; vgl. Art. 131). ⫺ Viele Aspekte des aufgabenorientierten Unterrichts bedürfen empirischer Untersuchung. In Ansätzen sind Lernprozesse und Lerneffekte untersucht worden (z. B. Eckerth 2003). ⫺ Aufgabenorientierung ist als Thema für die Lehrerbildung ein erst in Ansätzen erschlossener Bereich.
5. Literatur in Auswahl Bausch, Karl-Richard, Eva Burwitz-Melzer, Frank G. Königs und Hans-Jürgen Krumm (Hg.) 2006 Aufgabenorientierung als Aufgabe. Arbeitspapiere der 26. Frühjahrskonferenz zur Erforschung des Fremdsprachenunterrichts. Tübingen: Narr. Bausch, Karl-Richard, Eva Burwitz-Melzer, Frank G. Königs und Hans-Jürgen Krumm (Hg.) 2007 Textkompetenzen. Arbeitspapiere der 27. Frühjahrskonferenz zur Erforschung des Fremdsprachenunterrichts. Tübingen: Narr. Di Pietro, Robert J. 1987 Strategic Interaction. Learning Languages through Scenarios. Cambridge: Cambridge University Press.
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Doughty, Catherine und Jessica Williams (Hg.) 1998 Focus on Form in Classroom Second Language Acquisition. Cambridge: Cambridge University Press. Eckerth, Johannes 2003 Fremdsprachenerwerb in aufgabenorientierten Interaktionen. Tübingen: Narr. Ellis, Rod 2003 Task-Based Language Learning and Teaching. Oxford: Oxford University Press. Legutke, Michael und Howard Thomas 1991 Process and Experience in the Language Classroom. London: Longman. Littlewood, William 2000 Task-based learning of grammar. Teaching and Learning Update 1: 40⫺57. Müller-Hartmann, Andreas und Marita Schocker-v. Ditfurth 2005a Aufgabenorientierung im Fremdsprachenunterricht: Entwicklungen, Forschung und Praxis, Perspektiven. In: Andreas Müller-Hartmann und Marita Schocker-v. Ditfurth (Hg.), Aufgabenorientierung im Fremdsprachenunterricht. Task-Based Language Learning and Teaching. Festschrift für Michael Legutke, 1⫺51. Tübingen: Narr. Müller-Hartmann, Andreas und Marita Schocker-von Ditfurth (Hg.) 2005b Aufgabenorientierung im Fremdsprachenunterricht. Task-Based Language Learning and Teaching. Festschrift für Michael Legutke. Tübingen: Narr. Nunan, David 1989 Designing Tasks for the Communicative Classroom. Cambridge: Cambridge University Press. Nunan, David 2004 Task-Based Language Teaching. Cambridge: Cambridge University Press. Skehan, Peter 1998 A Cognitive Approach to Language Learning. Oxford: Oxford University Press. Skehan, Peter 2003 Tasked-based instruction. Language Teaching 36: 1⫺14. Swain, Merrill 1995 Three functions of output in second language learning. In: Guy Cook und Barbara Seidlhofer (Hg.), Principle and Practice in Applied Linguistics, 125⫺144. Oxford: Oxford University Press. Willis, Jane 1996 A Framework for Task-Based Learning. Harlow: Longman.
Paul Portmann-Tselikas, Graz (Österreich)
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XII. Sprachen lehren: Einzelaspekte
131. Projektorientierung 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
Definition Projektunterricht in der Fremdsprachendidaktik Phasen der Projetkarbeit Inhalte Produkte Rollenverteilung und Entscheidungsprozesse Lerneffekte Literatur in Auswahl
1. Deinition Die Idee, Unterricht in Form von Projekten zu organisieren, zeichnet sich durch eine bemerkenswerte Langlebigkeit und Beharrlichkeit aus. Durch John Dewey und William Heard Kilpatrick (1935) zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Project Method in den pädagogischen Diskurs eingeführt, überstand der Projektunterricht alle didaktischen Strömungswechsel der vergangenen Jahrzehnte. Dass seine Attraktivität und Aktualität bis heute ungebrochen erscheinen, muss zu einem Teil allerdings der Unbestimmtheit des Begriffes zugeschrieben werden (Oelkers 1997: 22), denn zu keinem Zeitpunkt seiner langen Geschichte gab es eine einheitliche Theorie des Projektunterrichts. Ein weitgehender Konsens besteht jedoch darüber, Projekte als zeitlich begrenzte und auf ein bestimmtes Ziel oder Produkt gerichtete Unternehmungen im Rahmen von institutionalisierten Lehr- und Lernprozessen zu verstehen, bei denen die selbständige Aktivität der Lernenden eine herausgehobene Rolle spielt. Grundlegend ist dabei die Annahme, dass das Lernen durch eine handelnde, verschiedene Fertigkeiten integrierende Auseinandersetzung mit komplexen Situationen begünstigt wird. Die praktische Erfahrung, gewonnen in eigenverantwortlich gestalteten Problemlösungs- oder Aushandlungsprozessen, bildet daher den Dreh- und Angelpunkt von Unterrichtsprojekten.
2. Projektunterricht in der Fremdsprachendidaktik In der Fremdsprachendidaktik wurde der Projektunterricht deutlich später als in anderen Fachdidaktiken rezipiert. Zwar gab es im deutschsprachigen Raum bereits in den 1980er Jahren erste Bestrebungen, die Projektidee auch für das Lehren und Lernen von Fremdsprachen fruchtbar zu machen (vgl. Legutke 2006), aber erst die neuen Medien weckten mit ihrem Potenzial für die neuartige Gestaltung von Unterrichtsprozessen in den letzten Jahren ein nachhaltiges Interesse an diesem Thema. Die theoretische Grundlage für den Einsatz von Projekten im Fremdsprachenunterricht findet sich bereits in der für die kommunikative Fremdsprachendidaktik der 1970er Jahre zentralen Überzeugung, dass Lernende ⫺ sollen sie auf die fremdsprachliche Handlungsfähigkeit außerhalb des Klassenraums vorbereitet werden ⫺ bereits während des Unterrichts die Möglichkeit erhalten müssen, sich mit Hilfe der Fremdsprache über
131. Projektorientierung
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relevante Themen auszutauschen, eigene Intentionen, Gedanken und Gefühle auszudrücken oder in konkreten Situationen Handlungsabsichten zu realisieren. Eine von den Beteiligten als sinnvoll erlebte Interaktion und die Auseinandersetzung mit bedeutungsvollen Inhalten stellen daher die zentralen Kriterien bei der Unterrichtsplanung dar (vgl. Kumaravadivelu 2006: 134). Eine nahe liegende Möglichkeit, diese Konzeption in Praxis zu übersetzen, besteht darin, den Unterricht als eine Abfolge von Aufgaben (tasks) zu organisieren. Im Unterschied zu Übungen (exercises) handelt es sich hierbei um inhaltsbezogene und ergebnisoffene Lernaktivitäten, die ohne eine gewisse kreative Eigenleistung der Lernenden nicht bewältigt werden können. Vor diesem Hintergrund kann ein Projekt als maxi-task (Nunan 2004: 75) beschrieben werden: Einzelne Teilaufgaben werden in einem zeitlich begrenzten Rahmen derart aneinander gekoppelt, dass sie die Lerngruppe sukzessive einem vorab formulierten, gemeinsamen Ziel näher bringen. Im Kontext der kommunikativen Fremdsprachendidaktik liegt die Besonderheit des Projektunterrichts somit darin, dass er durch seine Zielorientierung bei gleichzeitiger Öffnung von Freiräumen für die Lernenden Bedingungen schafft, unter denen die Motivation zum sprachlichen Handeln von den Inhalten ausgeht. Solche kommunikativen Ernstfälle lassen sich auf sehr unterschiedliche Art und Weise verwirklichen. So können mit E-Mail- oder Interview-Projekten die Grenzen des Klassenraums durchlässiger gestaltet bzw. überschritten werden. Aber auch eine situative Einbettung des Sprachgebrauchs innerhalb des Unterrichts ist realisierbar, etwa in Form von Simulationen oder im Rahmen inhaltsorientierter bzw. themenzentrierter Arbeitsphasen. Projekte sind ein sehr flexibles Instrument der Unterrichtsgestaltung und lassen sich mit einer Vielzahl von Zielen, Aufgabentypen oder Sozialformen vereinbaren. Dies macht es einerseits zwar sehr schwierig, den Projektunterricht eindeutig begrifflich zu fassen, doch bezieht er andererseits gerade aus seiner großen Anpassungsfähigkeit an lokale Bedingungen sein besonderes Potenzial (vgl. Schart 2003: 67). Die Veröffentlichungen zum Projektunterricht können zwei Kategorien zugeordnet werden: Auf der einen Seite findet sich eine äußerst umfangreiche Zahl erzählender Beschreibungen von Unterrichtsprojekten, von denen zweifellos eine inspirierende Wirkung ausgeht. Zugleich sind diese Darstellungen aber auch problematisch, weil sie nicht auf systematisch reflektierten Beobachtungen beruhen, sich auf die Perspektive der Lehrenden beschränken und vor allem zum überwiegenden Teil nur den Erfolg, nicht aber das Scheitern thematisieren. Diesen Texten stehen auf der anderen Seite vielfältige Versuche gegenüber, den Projektunterricht in Form von Modellen und Typologien theoretisch zu fassen, was der folgende Überblick verdeutlichen soll.
3. Phasen der Projektarbeit Freys (2007) Modell einer „Projektmethode“ stellt zweifellos den bekanntesten Versuch im deutschsprachigen Raum dar, den Projektunterricht in einzelne Phasen aufzugliedern und damit Lehrenden ein Planungswerkzeug an die Hand zu geben. Der Projektunterricht wird bei Frey zu einem Algorithmus, der sich scheinbar losgelöst von Zielen und Inhalten anwenden lässt. Speziell für den Fremdsprachenunterricht entwickelte Stoller (2002: 112) ein sehr ähnliches Modell in 10 Stufen: 1. Thema verabreden; 2. Zielsetzung
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XII. Sprachen lehren: Einzelaspekte verabreden; 3. Projekt strukturieren; 4. Schritt 5 sprachlich vorbereiten; 5. Informationen einholen; 6. Schritt 7 sprachlich vorbereiten; 7. Informationen analysieren und aufbereiten; 8. Schritt 9 sprachlich vorbereiten; 9. Ergebnisse präsentieren; 10. Evaluieren. Sofern sie nicht als Rezeptologie missverstanden werden, bieten Modelle dieser Art Lehrenden und Lernenden eine hilfreiche Grundlage für die Konzeption eines eigenen, den jeweiligen Gegebenheiten angepassten Ablaufplans. Sie bergen jedoch zugleich die Gefahr, den Projektunterricht auf eine Technik zu verengen und die Phasenfolgen überzubetonen, was leicht zu routinenhaftem und monotonem Unterricht führen kann.
4. Inhalte Einen weiteren wichtigen Ansatzpunkt für eine Systematisierung bietet die Frage nach der inhaltlichen Gestaltung eines Projekts. Anhand dieses Kriteriums werden zum Beispiel Textprojekte (Erstellen einer Kurs-Homepage, globale Simulationen, u. ä.), Korrespondenzprojekte (z. B. E-Mail-Partnerschaften), Umfrageprojekte oder Begegnungsprojekte (z. B. das „Airport-Projekt“ von Legutke 2006, bei dem Schülerinnen und Schüler auf dem Flughafen in Frankfurt Interviews auf Englisch mit Passagieren führen) voneinander unterschieden. Eine Typologie, die allerdings nur bedingt überzeugen kann, denn die gebildeten Kategorien sind keineswegs trennscharf. Je nach Thema und Zielsetzung bringt die Praxis eher diverse Mischformen dieser Projekttypen hervor.
5. Produkte Zu den umstrittenen Punkten in den Debatten um den Projektunterricht zählt die Frage, ob als Ergebnis ein materielles Produkt angestrebt werden sollte. Das betrifft insbesondere den Fremdsprachenunterricht, vollzieht sich das Lernen dort doch vor allem über kommunikative Prozesse, in denen Situationen gemeinsam gedeutet und ausgehandelt werden. Die daraus resultierenden Einsichten oder Verhaltensänderungen lassen sich aber weit schwieriger dokumentieren als handwerkliche Tätigkeiten. Es erscheint somit folgerichtig, dass Stoller (2002: 111) auch Aufführungen (z. B. Theaterstücke), Veranstaltungen (z. B. Diskussionsrunden) oder organisatorische Strukturen (z. B. den Aufbau eines Austauschprogramms) als mögliche „Produkte“ der Projektarbeit im Fremdsprachenunterricht betrachtet.
6. Rollenverteilung und Entscheidungsprozesse Die Rollenverteilung gehört zu jenen Gesichtspunkten, denen in den Beschreibungen des Projektunterrichts eine zentrale Bedeutung zukommt, denn um Freiräume für die Selbsttätigkeit der Lernenden zu öffnen, müssen Lehrende ihr Planungsmonopol aufgeben. Häufig werden die daraus resultierenden neuen Rollen in Metaphern beschrieben, so etwa werden Lehrende zu Moderatoren oder Lernbetreuern. Das sind jedoch eher
131. Projektorientierung
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pädagogische Leitbilder als Planungshilfen. Beispielsweise kann das häufig thematisierte Problem der Leistungsbewertung auf dieser Ebene nicht geklärt werden. Für ein besseres Verständnis des Projektunterrichts erscheint deshalb ein deskriptiver Zugang weitaus zweckdienlicher zu sein als ein normativer. Stollers (2002) Unterscheidung in strukturierte, halbstrukturierte und unstrukturierte Projekte wirkt allerdings zu ungenau. Verständlicher lässt sich das Verhältnis zwischen Lehrenden und Lernenden beschreiben, wenn man die für ein Projekt notwendigen Entscheidungsprozesse in den Blick nimmt (vgl. Hackl 1994; Schart 2003). Dabei wird deutlich, dass sich bei jedem einzelnen Schritt in einem Projektverlauf die Rollenverteilung neu gestalten kann. Wichtig bei diesem Ansatz ist die Überlegung, dass alle den Projektunterricht betreffenden Entscheidungen zwei Domänen zugeordnet werden können. Da sind zum einen die normativen Entscheidungen. Sie regeln die grundlegenden Fragen von Macht und Mitbestimmung im Klassenraum (z. B. die Orte, Zeiten und Ziele für das Lernen, die Gruppengröße, die Arbeitsformen oder die Bewertungsmaßstäbe). Diese normativen Entscheidungen lassen sich von den operativen abgrenzen, bei denen es darum geht, innerhalb bereits gesetzter Grenzen einzelne Lernprozesse zu gestalten (z. B. die Gliederung einer Aufgabe und die Verteilung von Teilaufgaben in einer Gruppe, die Zeitplanung, die Koordination oder das Konfliktmanagement innerhalb von Gruppen). Auf der Grundlage dieser Zweiteilung können die unterschiedlichen Facetten von Mitbestimmung und Autonomie für ein konkretes Projekt beschrieben bzw. geplant werden (vgl. Schart 2003: 81⫺88).
7. Lerneekte Dieser Aspekt führt zum neuralgischen Punkt des Projektunterrichts, denn der Vielzahl an theoretischen Überlegungen und Erfahrungsberichten steht nur eine verschwindend geringe Zahl empirischer Untersuchungen gegenüber. Die mit dieser Unterrichtsform verknüpften positiven Lerneffekte tragen daher häufig hypothetischen Charakter. Mit ihrem Project Framework unternehmen Beckett und Slater (2005) den Versuch, die potenziellen Lerneffekte von Projektunterricht aus der Perspektive der Beteiligten mit Hilfe eines Evaluationsbogens systematisch darzustellen. Und in einer Fallstudie machen sie deutlich, dass dieses Modell ein sehr hilfreiches Werkzeug bei der Planung und Reflexion von Projekten darstellen kann. Um zu umfassenden Aussagen über die Lernprozesse im Projektunterricht zu kommen, sind jedoch weitaus komplexere Untersuchungsdesigns notwendig, an denen nach wie vor Mangel besteht. Die Erkenntnisse, die aus den wenigen empirische Forschungen zu diesem Thema bisher hervorgegangen sind, lassen es angebracht erscheinen, den Projektunterricht nicht mit überhöhten Erwartungen zu belasten. Mit Blick auf die Lehrenden zeigen diese Studien (Schart 2003, vgl. auch Beckett 2006), dass sich Projekte aus gegensätzlichen Perspektiven sinnvoll arrangieren und mit vielen Zielen und Aktivitäten zweckmäßig verknüpfen lassen. Lehrende interpretieren die Projektidee auf der Grundlage ihres beruflichen Selbstverständnisses. Sie formen sich ihre eigene, für sie praktikable Projektkonzeption, indem sie diese weitestgehend widerspruchsfrei mit ihren Vorstellungen eines effektiven Fremdsprachenunterrichts verschmelzen. Dabei erfahren einzelne Aspekte besondere Aufmerksamkeit, während andere vernachlässigt oder weitgehend ausgeblendet werden. Entsprechend vielfältig fallen die Lehrziele aus, die mit dieser Unterrichtsform
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XII. Sprachen lehren: Einzelaspekte verbunden werden und die sich auch sehr stark von den Erwartungen unterscheiden können, mit denen die Lernenden in den Unterricht kommen. Hoffmann (2008) zeigt in ihrer Studie, wie schwierig es ist, Lerneffekte zu planen, da einzelne Lernende die komplexen Aktivitäten der Projektarbeit sehr unterschiedlich als Lernmöglichkeit auslegen und nutzen. Vor dem Hintergrund solcher Ergebnisse erscheinen longitudinale Studien notwendig, die auf das individuelle Lernen im Projektunterricht ebenso fokussieren wie auf die sozialen und kommunikativen Prozesse. Nur so wird sich klären lassen, in welcher Form Projekte tatsächlich einen Beitrag für das Erlernen einer Fremdsprache in unterschiedlichen institutionellen Kontexten leisten können.
8. Literatur in Auswahl Beckett, Gulbahar H. 2006 Project-based and foreign language education: theory, research, and practice. In: Gulbahar H. Beckett und Paul Chamness Miller (Hg.), Projct-Based Second and Foreign Language Education, 3⫺18. Greenwich: Information Age Publishing. Beckett, Gulbahar H. und Tammy Slater 2005 The project framework: a tool for language, content, and skills integration. English Language Teaching Journal 59(2): 108⫺116. Dewey, John und William H. Kilpatrick (Hg.) 1935 Der Projekt-Plan. Grundlegung und Praxis. Weimar: Böhlau. Frey, Karl 2007 Die Projektmethode. Der Weg zum bildenden Tun. 9. überarbeitete Auflage. Weinheim: Beltz. Hackl, Bernd 1994 Forschung für die pädagogische Praxis. Wien: Österreichischer Studienverlag. Hoffmann, Sabine 2008 Fremdsprachenlernprozesse in der Projektarbeit. Tübingen: Narr. Kumaravadivelu, B. 2006 Understanding Language Teaching. From Method to Postmethod. Mahwah, NJ: Lawrence Earlbaum. Legutke, Michael 2006 „Projekt Airport ⫺ Revisited: Von der Aufgabe zum Szenario.“ In: Almut Küppers und Jürgen Quetz (Hg.), Motivation Revisited. Festschrift für Gert Solmecke, 71⫺80. Berlin: LIT Verlag. Nunan, David 2004 Task-Based Language Teaching. Cambridge: Cambridge University Press. Oelkers, Jürgen 1999 Geschichte und Nutzen der Projektmethode. In: Dagmar Hänsel (Hg.), Handbuch Projektunterricht, 13⫺30. Weinheim: Beltz. Schart, Michael 2003 Projektunterricht ⫺ subjektiv betrachtet. Eine qualitative Studie mit Lehrenden für Deutsch als Fremdsprache. Baltmannsweiler: Schneider. Stoller, Fredricka L. 2002 Project work: a means to promote language and content. In: Jack C. Richards und Willy A. Renandya (Hg.), Methodology in Language Teaching, 107⫺120. Cambridge: Cambridge University Press.
Michael Schart, Tokyo (Japan)
132. Sprachlernspiele
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132. Sprachlernspiele 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.
Fragmentarische Bestandsaufnahme Positionierung Begriffsbestimmung Spieltypologie und Spielarten Spielziele und Lernziele Altersgemäßer Einsatz Funktionalität und Effizienz Fazit Literatur in Auswahl
1. Fragmentarische Bestandsaunahme Lernen und Spielen im Fremd- oder Zweitsprachenunterricht? Das erste wird im Prinzip nicht angezweifelt, das zweite dagegen verursacht des Öfteren Einwände. Bereits in der Vergangenheit wurden Spiele oftmals als altersspezifische soziale Erscheinungsform der Kindheit betrachtet, was zur auch heute noch bekannten Dichotomie führte, Kinder durften spielen, Jugendliche und Erwachsene dagegen nicht (mehr). Dieser dichotome Standpunkt kann bei Kant, Buytendijk, Schaller, Stern, Schleiermacher, Freud u. a. nachgewiesen werden (vgl. Kacjan 2003: 15⫺20). Der ablehnenden Meinung schlossen sich in der Geschichte der Pädagogik auch einige bekannte Pädagogen an, wie z. B. der Gnostiker Klemens von Alexandreia (ca. 150⫺215 n. Chr.), der Spiele allgemein ablehnte, oder Jacqueline Pascal, die Spiele bzw. den Entzug der Spiele als Disziplinierungsmaßnahme missbrauchte. Dem gegenüber betont Groos (1922) vor allem die funktionalen Aspekte der Spiele, er spricht z. B. von der Einübungs-, Ergänzungs- und Erholungsfunktion der Spiele, die je nach Alter der Spielenden unterschiedlich stark in den Vordergrund treten. In der Fremdsprachendidaktik und -methodik werden spätestens seit der kommunikativen Wende und den Diskussionen um das frühe Fremdsprachenlernen didaktische Spiele thematisiert, aber ebenfalls in dichotomischer Manier. Sie wurden zwar als Lernmittel bei Kindern gepriesen, eine systematische theoretische Fundierung blieb aber aus. Selbst heute gibt es nur wenige umfassende und systematische Spieltypologien (vgl. Meyer 1987; Dauvillier und Le´vy-Hillerich 2004; Kacjan 2008), aber zahlreiche Versuche, eine begrenzte Auswahl bestimmter, im DaF-/DaZ-Unterricht einsetzbarer didaktischer Spiele sprachdidaktisch zu kategorisieren (Lohfert 1983; Behme 1988; Pfau und Schmid 2001; Europarat 2001 u. a.). Die begrenzte Spielauswahl vermittelt auf den ersten Blick zwar ein systematisches Bild, bei genauerer Betrachtung wird allerdings deutlich, dass es sich nur um einen fragmentarischen Ausschnitt aus dem Gesamtbild der Sprachlernspiele handelt. Der Einsatz von Sprachlernspielen im DaF-/DaZ-Unterricht hängt von vielen verschiedenen Aspekten ab, die wichtigsten werden im Folgenden etwas näher erläutert.
2. Positionierung Die Begriffe „Spiel“ und „spielen“ werden in sehr vielen Bereichen des Lebens verwendet. Insbesondere der Begriff „Spiel“ wird oft in Zusammensetzungen oder metaphorisch
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XII. Sprachen lehren: Einzelaspekte verwendet, dazu gehören sehr unterschiedliche Bereiche wie Kinderbeschäftigungen (Kinderspiele), Sport (Spieler), Literatur (Lustspiel ), Ästhetik (Spieltrieb), Malerei (Spiel des Lichts und des Schattens), bildende Kunst (Spiel- und Standbein einer Statue), Technik (Spielraum), Medizin (Spielsucht), Sprachphilosophie (Sprachspiel ), Mathematik (Spieltheorie), Lernen (didaktische Spiele) u. a. (vgl. Kacjan 2008). Die evidente Interdisziplinarität und weite Verbreitung des Begriffs ist ein ernst zu nehmender Hinweis, dass das Phänomen Spiel stets genau und situationsgebunden betrachtet werden muss.
3. Begrisbestimmung In Anbetracht der Vielfältigkeit der Erscheinungsformen der Spiele ⫺ auch der Sprachlernspiele ⫺ kann keine für alle Spiele gültige Definition gegeben werden, aber es soll dennoch versucht werden, den Begriff näher zu bestimmen. Spiele sind freiwillige, affektbesetzte, geistige oder körperliche Aktivitäten, die von dem/den Spielenden als Spiel bezeichnet werden. Sie werden intensiv und ernsthaft einzeln, in Paaren oder Gruppen durchgeführt. Spiele sind zweckfrei, erfüllen aber unterschiedliche Funktionen. Sie finden in einer räumlich und zeitlich festgelegten Spielwelt statt, die sich von der realen Lebenswelt unterscheidet, und haben unter normalen Umständen keine negativen Auswirkungen auf den Spielenden oder Folgen für ihn und seine Umgebung. Spiele haben keine Zeitgrenzen, sie finden zwar in der Gegenwart statt, können sich aber außer auf die Gegenwart auch auf die Vergangenheit und/oder die Zukunft beziehen. Ebenso können sie plötzlich einsetzen und abrupt aufhören, ohne dadurch an Wert zu verlieren. Wichtige Elemente der Spiele sind der Zufall, das Fällen von persönlichen Entscheidungen und häufige Wiederholungen mit variierenden Fortsetzungen, die die für Spiele typische Spannung aufbauen. Alle Spiele haben als weiteres Strukturmerkmal verbindliche Regeln, die von dem/den Spielenden entweder im Voraus bestimmt oder während des Spiels festgelegt, entwickelt und/oder variiert werden. Spiele erfüllen wichtige didaktische Funktionen: Sie befriedigen die Spiellust, erleichtern das Lernen, beschäftigen und fördern die Fantasie, steigern die Motivation und fördern das Selbstvertrauen der Spielenden (vgl. Kacjan 2003: 48⫺49). Diese Funktionen werden durch eine fremdsprachliche Didaktisierung der Spiele bewusst und verstärkt verfolgt. Die herrschende Begriffsvielfalt im Bezug auf Sprachlernspiele, die für das DaF-/ DaZ-Lernen eingesetzt werden können, weist auf ein akutes terminologisches Problem hin: Die zahlreichen Begriffe werden teilweise synonym verwendet, obwohl mit ihnen prinzipiell unterschiedliche Spiele bezeichnet werden. Das Problem gründet in der fehlenden klaren Bedeutungsbegrenzung der Begriffe, da selbst die aktuelle Fachliteratur zu den Sprachlernspielen nicht einheitlich ist. Sie werden als Spiele, Sprachspiele, spielerische Aktivitäten, aktuelle Spielformen für die Schule, Unterrichtsmittel, Aktivitäten mit bestimmten Regeln, Sprachlernspiele oder noch anders bezeichnet (vgl. Kacjan 2003, 2008). Da die Bezeichnungen Spiel und didaktisches Spiel zu allgemein sind und das Sprachspiel von Wittgenstein (1918/1989) sprachphilosophisch geprägt wurde, erscheint die Bezeichnung Sprachlernspiel am ehesten geeignet, als Sammelbezeichnung für alle diejenigen didaktischen Spiele verwendet zu werden, mit deren Hilfe eine Sprache im institutionellen Kontext erlernt wird (Kleppin 2003; Kacjan 2008).
132. Sprachlernspiele
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4. Spieltypologie und Spielarten Die Erstellung einer umfassenden Spieltypologie für das Sprachenlernen ist ein schwieriges Unterfangen, das sehr stark vom Blickwinkel des Betrachters abhängt. Aus diesem Grunde kann man auf dem Markt zwar zahlreiche gute Spielesammlungen finden, die aber nur äußerst selten theoretisch fundiert sind (vgl. Kacjan 2003: 64⫺70). Meist sind das tatsächlich nur Sammlungen von erprobten Spielen, die zwar eine interessante und brauchbare Datenbank ergeben, aber weder repräsentativ noch umfassend sind. Um dieses Desiderat zu beheben, soll versucht werden, eine systematische Einteilung der Sprachlernspiele vorzunehmen, da verschiedene von ihnen gewisse Ähnlichkeiten aufweisen, die in die Vielfalt der Sprachlernspiele zumindest ein gewisses System bringen können. Die Sprachlernspiele können in vier große Kategorien eingeteilt werden, die dann noch weiter in unterschiedlich viele Spielarten und Spielunterarten differenziert werden können. Zur ersten Kategorie gehören die Bewegungsspiele, deren gemeinsames Charakteristikum in der beteiligten Bewegung liegt, d. h. körperliche Bewegung in irgendeiner Form ist ein konstitutiver Aspekt dieser Sprachlernspiele. Je höher das Bewegungspotenzial der einzelnen Spielunterarten, desto geringer ist der Umfang des sprachlichen Materials, das in das Spiel integriert werden kann. Die zweite Kategorie bilden die so genannten Sprachelementspiele, in denen mit der Sprache selbst, also den konstruktiven und konstitutiven Elementen der Sprache gespielt wird und die vor allem in der Festigungsphase einer Unterrichtseinheit eingesetzt werden können. Die kommunikativen Spiele bilden die dritte Kategorie der Sprachlernspiele, wobei die Sprache in kommunikativer Funktion verwendet wird. Die vierte Kategorie nennt sich das darstellende Spiel, da bei diesen Spielen vor allem der Darbietungscharakter im Vordergrund steht und sie, wie die kommunikativen Spiele, überwiegend in der Transferphase einer Unterrichtseinheit eingesetzt werden können.
5. Spielziele und Lernziele Jedes Sprachlernspiel besitzt ein leicht erkennbares inhärentes Spielziel, sei es die meisten Punkte o. Ä. zu erreichen, als Erste(r) fertig zu werden oder gemeinsam etwas Neues zu schaffen. Bedeutend schwieriger und unumgänglich ist dagegen die Bestimmung des Lernziels. In den zahlreichen Spielesammlungen sind die Lernzielbestimmungen zu den Sprachlernspielen meist relativ ungenau. Ein Sprachlernspiel soll beispielweise dem Wortschatzerwerb dienen, aber es wird nicht genauer spezifiziert, welcher Teilaspekt des Wortschatzerwerbs gefördert wird. Das Lernziel kann auch genauer bestimmt werden: Ein zweiseitiges Dominospiel, bei dem Wörter und Bilder zugeordnet werden müssen (das Buch ⫺ (Bild eines Buches)), kann sich aufgrund des einfachen Inhalts und Aufbaus lediglich auf den graphemischen Aspekt des Wortschatzes beziehen. Das Lernziel wäre im Falle, dass das Sprachlernspiel in der Erwerbsphase eingesetzt wird, die Festigung des neu erworbenen Wortschatzes, bzw. genauer formuliert, die Festigung und korrekte Zuordnung der Grapheme. Das Beispiel verdeutlicht, wie präzise die Festlegung der Lernziele sein muss, um ausreichend aussagekräftig zu sein. Da diese präzise Formulierung der Lernziele von zahlreichen Faktoren wie Thema, Zielgruppe, Unterrichtsphase usw. beeinflusst wird, ist
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XII. Sprachen lehren: Einzelaspekte es unumgänglich, dass die Lehrkräfte bei der Auswahl und Anpassung der einzelnen Sprachlernspiele sehr aufmerksam die einzelnen Faktoren berücksichtigen. Obwohl die Sprachlernspiele stark situationsgebunden sind, ermöglicht es ihre große Variabilität, die sich u. a. in der außerordentlichen Variationsbreite der sprachlernspielspezifischen Lernziele zeigt, dass sie sowohl im Fremdsprachenunterricht als auch im Zweitsprachenunterricht und nicht zuletzt selbst im Muttersprachenunterricht effektiv und sinnvoll eingesetzt werden können.
6. Altersgemäßer Einsatz Unterschiedliche Sprachlernspiele sprechen unterschiedliche, zum Teil auch spezifische Altersgruppen an (vgl. Kacjan 2008), gewisse Tendenzen der vier großen Spielkategorien können aber dennoch festgehalten werden: Bewegungsspiele entsprechen vor allem dem Bewegungsdrang und den Bedürfnissen der Kinder bis zu zwölf oder höchstens vierzehn Jahren. Danach sind diese Spiele mit wenigen Ausnahmen kaum mehr einsetzbar. Sprachelementspiele und kommunikative Spiele sind altersunabhängig einsetzbar, müssen aber stets bezüglich des Themas und der Komplexität der jeweiligen Zielgruppe angepasst werden. Das darstellende Spiel ist bis zur Sekundarstufe II gut, ab der Tertiärstufe jedoch kaum mehr einsetzbar, da Erwachsene sprachökonomisch vorgehen und ihre Lernresultate mit ihrem Energieeinsatz abgleichen und bestimmte Lernformen bei nicht auf den ersten Blick evidenter Effizienz sofort aus ihrem Lernprozess ausschließen.
7. Funktionalität und Eizienz Sprachlernspiele sind multifunktional und können bzw. müssen deshalb auch den unterschiedlichsten Bedingungen angepasst werden, was aber nicht bedeutet, dass sie immer und überall einsetzbar sind. Jedes einzelne Sprachlernspiel kann nur ganz bestimmte Funktionen erfüllen, auch die Variationsbreite ist sprachlernspielspezifisch und von verschiedenen Faktoren wie dem Alter der Spieler, der Zielgruppe, dem Einsatzbereich u. a. abhängig. Die Effizienz der Sprachlernspiele hängt von ihrem bewussten und sinngemäßen Einsatz ab. Konkret bedeutet das, dass Sprachlernspiele für den DaF-/DaZ-Unterricht nur dann einen Mehrwert bedeuten, wenn sie lernzielgenau sowie themen- und zielgruppenadäquat eingesetzt werden.
8. Fazit Sprachlernspiele sind vielseitige Lern- und Lehrmittel, deren Einsatz von der Lehrkraft theoretische und praktische Grundkenntnisse, vor allem aber sehr viel Fingerspitzengefühl verlangt. Bereits die Auswahl des passenden Sprachlernspiels ist eine große Herausforderung, bei der die Interessen der Zielgruppe und die zu erreichenden Lernziele beach-
132. Sprachlernspiele
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tet werden müssen. Nicht minder wichtig sind die Anweisungen und die Leitung der Sprachlernspiele, da ohne verständliche Spielanweisungen und gerechter Spielleitung keine angenehme, lernfördernde und produktive Spielatmosphäre entstehen kann, in der mithilfe der Sprachlernspiele konstruktiv, produktiv und aktiv die gesetzten Lernziele erreicht werden können.
9. Literatur in Auswahl Behme, Helma 1988 Miteinander reden lernen. Sprechspiele im Unterricht. München: iudicium. Dauvillier, Christa und Dorothea Le´vy-Hillerich 2004 Spiele im Deutschunterricht. Fernstudieneinheit 28. Berlin u. a.: Langenscheidt. Europarat (Hg.) 2001 Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen für Sprachen: lernen, lehren, beurteilen. Berlin u. a.: Langenscheidt. Groos, Karl 1922 Das Spiel. Zwei Vorträge: 1. Der Lebenswert des Spiels. 2. Das Spiel als Katharsis. Jena: Gustav Fischer. Kacjan, Brigita 2003 Spiele im frühen DaF-Unterricht/Igre pri zgodnjem poucˇevanju nemsˇcˇine. Unveröffentlichte Magisterarbeit. Ljubljana: Filozofska fakulteta. Kacjan, Brigita 2008 Sprachelementspiele und Wortschatzerwerb im fremdsprachlichen Deutschunterricht mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Maribor: ZORA. Kleppin, Karin 2003 Sprach- und Sprachlernspiele. In: Karl-Richard Bausch, Herbert Christ und Hans-Jürgen Krumm (Hg.), Handbuch Fremdsprachenunterricht, 263⫺266. 4. Auflage. Tübingen/Basel: Francke. Lohfert, Walter 1983 Kommunikative Spiele für Deutsch als Fremdsprache. München: Hueber. Meyer, Hilbert 1987 Unterrichtsmethoden II: Praxisband. Frankfurt am Main: Cornelsen. Pfau, Anita und Ann Schmid 2001 22 Brettspiele. Deutsch als Fremdsprache. Stuttgart: Klett. Wittgenstein, Ludwig 1989 Tractatus logico-philosophicus. Tagebücher 1914⫺1916. Philosophische Untersuchungen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. [1. Aufl. 1918].
Brigita Kacjan, Maribor (Slowenien)
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XII. Sprachen lehren: Einzelaspekte
133. Sozialormen 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Relevanz und Einordnung von Sozialformen Klassenunterricht Gruppenarbeit Partnerarbeit Einzelarbeit Simultaner Einsatz unterschiedlicher Sozialformen Literatur in Auswahl
1. Relevanz und Einordnung von Sozialormen Unter Sozialformen versteht man in der Regel die vier Formen des Klassenunterrichts, der Gruppenarbeit, der Partnerarbeit und der Einzelarbeit; alternativ werden sie auch als Kooperationsformen bezeichnet. Laut Meyer (1987a: 138) „regeln [sie] die Beziehungsstruktur des Unterrichts“ und „haben eine äußere, räumlich-personal-differenzierende und eine innere, die Kommunikations- und Interaktionsstruktur regelnde Seite“. Als wesentliche Elemente der Unterrichtsmethodik sind sie von Handlungsmustern, auch Aktionsformen genannt (wie beispielsweise Lehrervortrag, Rollenspiel oder Schreiben eines Diktats), von Unterrichtsschritten (wie beispielsweise Einstieg, Erarbeitung oder Auswertung) und von methodischen Großformen (wie beispielsweise Lektion, Exkursion oder Projektwoche) abzugrenzen (Meyer 1987a: 115). Ihre Variation innerhalb einer Unterrichtseinheit trägt entscheidend zu einem abwechslungsreichen Sprachunterricht bei. Wichtig erscheint dabei, die verschiedenen Sozialformen nach den ihnen jeweils eigenen sprachdidaktischen Potentialen gezielt für bestimmte Phasen auszuwählen und zu einer kohärenten Gesamtgestaltung des Unterrichts zusammenzuführen. Im gelungenen Fall stellen die Sozialformen wichtige Instrumente zur Binnendifferenzierung, zur Individualisierung von Lernen und zur Förderung der Lernerautonomie dar.
2. Klassenunterricht Dem Klassenunterricht liegt die instruktivistische Vorstellung zugrunde, dass die gesamte Lerngruppe einen gemeinsamen mentalen Fokus ausbildet und dass Lernen sich auf der Grundlage von Präsentationen und gemeinsamen Klassengesprächen vollzieht. Damit wird eine gewisse Homogenität der Lerngruppe vorausgesetzt, die durch entsprechende äußere Differenzierungsmaßnahmen herbeizuführen ist. Im Frontalunterricht steht die Darbietung im Vordergrund, die typischerweise von der Lehrperson, bei Referaten aber auch von Lernenden übernommen wird. Die charakteristische Sitzanordnung ist dabei auf die Lehrbühne ausgerichtet. Als Beispiele aus dem Sprachunterricht lassen sich Grammatikerklärungen, Strategiedemonstrationen, die Präsentation von Audio- und Videomaterialien, die Aufführung von Rollenspielen sowie auch das aktive und passive Konzert im Rahmen der suggestopädischen Methode anführen. Übergänge zum Einbezug der Lernendengruppe stellen u. a. das Erzählen von Ge-
133. Sozialformen
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schichten zur Sprachförderung (Klein und Merkel 2008), das Total Physical Response Storytelling (Davidheiser 2002) oder das audiolingual geprägte Chorsprechen dar. Von diesem darbietenden Frontalunterricht ist das fragend-entwickelnde Unterrichtsgespräch abzugrenzen, das auch als Plenumsarbeit bezeichnet wird. Eine charakteristische Sitzordnung für diese Sozialform ist das Hufeisen; typische sprachliche Handlungsmuster beim Unterrichtsgespräch sind u. a. das Aufgaben stellen/Aufgaben lösen, der Lehrervortrag mit verteilten Rollen (Ehlich und Rehbein 1986: 8⫺29, 59⫺87) und die mündliche Fehlerkorrektur (Havranek 2002). Das Unterrichtsgespräch findet im DaF-/DaZ-Unterricht beispielsweise bei lehrergesteuerten Gesprächen über Lesetexte oder bei der Auswertung von Ergebnissen aus Phasen der Einzel-, Partner- und Gruppenarbeit statt. Auch im Hinblick auf den Fachunterricht mit DaF-/DaZ-Lernenden ist die sprachliche Komplexität des fragend-entwickelnden Unterrichtsgesprächs von besonderer Bedeutung (Grießhaber 2005). Beim Kreisgespräch fungiert die Lehrperson anders als im Unterrichtsgespräch nicht als Gesprächsleitung, sondern ist als gleichberechtigtes Mitglied in den Sitzkreis integriert. Diese Sozialform findet im DaF-/DaZ-Unterricht z. B. beim Meinungsaustausch oder im Erzählkreis der Grundschule (Schramm 2007) Anwendung; darüber hinaus erfährt sie beim Community Language Learning die besondere Ausprägung, dass die Lehrperson zu Zwecken der Übersetzung außerhalb des Stuhlkreises positioniert ist und den Lernenden dort flüsternd den Rücken stärkt. Der Klassenunterricht ist die am häufigsten eingesetzte Sozialform: Für den Bereich Deutsch als Zweitsprache in der Erwachsenenbildung ermittelte Demmig (2007: 137) einen Anteil von 65 Prozent der gesamten Unterrichtszeit. Die Beliebtheit des Klassenunterrichts bei Sprachlehrpersonen steht in deutlichem Widerspruch zu der kritischen Einschätzung dieser Sozialform in der pädagogischen und fremdsprachendidaktischen Diskussion, die insbesondere die Gefahr der Passivität und Unselbständigkeit der Lernenden, das Problem der hohen Redeanteile der Lehrperson und die Dominanz bestimmter Handlungsmuster thematisiert (Storch 1999: 297). Dies hat dazu geführt, dass man sich mit dem Ziel der Innovation stärker auf die Erforschung binnendifferenzierender Sozialformen konzentriert hat. Demmig (2007: 182) hält deshalb eine „detaillierte empirisch fundierte Forschungsarbeit zum Thema Unterrichtsphasen in der Großgruppe im DaF/ DaZ (bzw. Fremdsprachenunterricht allgemein) [für] längst überfällig“. Weiterer Forschungsbedarf zum Klassenunterricht ergibt sich zweifellos auch aus dem Einsatz digitaler Medien wie beispielsweise des Interactive Whiteboard oder der Videokonferenz (Schlickau 2000) sowie aus der veränderten Rolle des Frontalunterrichts bei offenen Unterrichtsformen (Gudjons 2007).
3. Gruppenarbeit Der Einsatz von Gruppenarbeit wird lerntheoretisch unter Bezugnahme auf den Konstruktivismus damit begründet, dass die Lernenden in der sozialen Interaktion jeweils individuelle Wissensstrukturen aufbauen, die aufgrund der Selbsttätigkeit und der damit einhergehenden Motivation und emotionalen Beteiligung einen höheren Grad an Komplexität und Verarbeitungstiefe aufweisen, als dies beim Klassenunterricht der Fall ist. Neben sprachlichen und kognitiven Lernzielen wird mit Gruppenarbeit auch die Förde-
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XII. Sprachen lehren: Einzelaspekte rung von Methoden- und Sozialkompetenzen und somit von Lernerautonomie verfolgt. Weitere wichtige Gründe für den Einsatz von Gruppenarbeit im Fremdsprachenunterricht sind, dass der einzelne Lernende sich häufiger äußern kann, dass Binnendifferenzierung die Berücksichtigung individueller Unterschiede erlaubt und dass deshalb insbesondere bei lernschwächeren Teilnehmenden bessere Lernfortschritte zu verzeichnen sind (Schwerdtfeger 2001: 39⫺41). Angesichts der Tatsache, dass Gruppenarbeit im Vergleich zu dieser hohen Wertschätzung seitens der Fremdsprachendidaktik in der Praxis vergleichsweise selten eingesetzt wird ⫺ in Demmigs (2007: 137) bereits genannter Untersuchung nur in 15 % des gesamten DaZ-Unterrichts ⫺ wurden häufig die Befürchtungen der Kursleitenden thematisiert (Karagiannidou 2007a: 75) und Hinweise zur Entkräftung dieser Argumente bzw. zum Umgang mit Störungen gegeben (Meyer 1987b: 254⫺277; Schwerdtfeger 2001: 51⫺67). Laut Storch (1999: 308) ist Gruppenarbeit im DaF-/DaZ-Unterricht insbesondere zum Aktivieren von Schülerwissen, für Gespräche, Diskussionen, gelenktes entdeckendes Lernen, zum Erfinden von Inhalten, für die Projektarbeit sowie für Gruppenspiele geeignet. Schwerdtfeger (2001: 41⫺43) plädiert im Hinblick auf die Gruppenarbeit für Aufgaben mit Informationslücken und für Entscheidungsaufgaben. Als weitere Beispiele lassen sich Schreibkonferenzen und Lesezirkel nennen; darüber hinaus schätzen viele Lernende das Gruppenpuzzle (Jigsaw), bei dem sie sich in einer ersten Runde in Expertengruppen über bestimmte Themenbereiche austauschen und ihr Expertenwissen in einer zweiten Runde an andere Mitlernende weitergeben. Gruppenarbeit lässt sich nach Ziebell (2002: 66) in vier Phasen unterteilen. Nach der Vorbereitungsphase durch die Lehrperson vor dem Unterricht erfolgt im Unterricht zunächst die Informationsphase, für die insbesondere verständliche, vorzugsweise schriftliche Arbeitsaufträge als essentiell erachtet werden. Bei der Gruppenbildung bietet sich die innere Differenzierung nach Themen, Leistungsniveaus, Lernstrategien, Lernstilen, Aufgabenstellung und Lernwegen an (Schwerdtfeger 2001: 105⫺118); es lassen sich neben Wahlgruppen aber auch Nachbarschaftsgruppen und Zufallsgruppen bilden (Schwerdtfeger 2001: 100⫺104). Bei der Durchführung der Gruppenarbeit wird es in der Regel als zielführend erachtet, wenn die Lehrperson sich weitestgehend zurückhält, durch unaufdringliche, auf Zuhören orientierte Besuche an den Gruppentischen jedoch deutlich ihre Beratungsbereitschaft signalisiert. In der vierten Phase der Präsentation und Auswertung stehen die Ergebnissicherung und die Integration der Ergebnisse in den Unterrichtsverlauf im Vordergrund (Schwerdtfeger 2001: 154⫺159). Empirisch wird die Gruppenarbeit schwerpunktmäßig im Hinblick auf die Interaktion der Gruppenmitglieder erforscht. So zeigt Chavez (2007) beispielsweise an amerikanischen, universitären DaF-Lernenden auf, dass sie ihre Gruppeninteraktion stark am Vorbild des jeweiligen Lehrenden im Klassenunterricht ausrichten. Schramm (2009) verdeutlicht am Beispiel einer DaZ-Fördergruppe, dass die Kinder bei Produktionsdefiziten nicht nur als Sprechende Kompensationsstrategien einsetzen, sondern dass sich auch die Zuhörenden aktiv an einem produktionssichernden Handeln beteiligen. Peuschel (2009) untersucht dagegen die Gruppenarbeit von DaF-Lernenden zur Vorbereitung eines podcasts anhand der schriftlichen Vorbereitungsstufen bzw. der daraus rekonstruierten Entwicklung des Endprodukts des Radiobeitrags. Exemplarisch für die thematische Bandbreite der zahlreichen empirischen Forschungsarbeiten zur Gruppenarbeit im DaF-/DaZUnterricht seien aber auch Studien zur Gruppenarbeit in der Lehrerausbildung (Karagiannidou 2007b), zur Projektarbeit (Hoffmann 2008) und zu Einsatzmöglichkeiten der
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Gruppenarbeit im Zusammenhang mit digitalen Medien, beispielsweise bei Webquests, Chats und Telekollaborationsprojekten, genannt (Abrams 2001; Belz und Müller-Hartmann 2002).
4. Partnerarbeit Partnerarbeit wird ähnlich häufig wie Gruppenarbeit und damit deutlich seltener als Klassenunterricht eingesetzt (Demmig 2007: 137), erfordert aber im Vergleich zur Gruppenarbeit weniger Organisationsaufwand und Störungsbearbeitungen und wird deshalb von Lehrkräften in der Regel gegenüber der Gruppenarbeit favorisiert. Als Formen der Partnerarbeit lassen sich das kooperative Lernen, Helfer- bzw. Tutorensysteme und das gegenseitige Lehren (reciprocal teaching) unterscheiden. Laut Storch (1999: 309⫺310) eignet sich die Partnerarbeit im DaF-/DaZ-Unterricht insbesondere für „natürliche Zweieraktivitäten“ wie die gemeinsame Vorbereitung oder Einübung eines Dialogs, dialogische sprechbezogene Übungen sowie auch für das gemeinsame Problemlösen beim Erarbeiten grammatikalischer Regularitäten, bei Verstehensstrategien beim Leseverstehen, bei Aufgaben zum Klassifizieren und Ordnen, bei der Fehlerbearbeitung und bei der kooperativen Produktion schriftlicher Texte. Im Unterschied zur Gruppenarbeit gehört die Partnerarbeit im Fremdsprachenunterricht laut Demmig (2007: 36) zu den sehr wenig theoretisch bearbeiteten Themen; als Forschungsdesiderat benennt sie den Wunsch der Lehrenden nach „eine[r] speziell auf die Partnerarbeit und das Helferprinzip zugeschnittene[n] Methodik-Didaktik“ (Demmig 2007: 167). Von den wenigen empirischen Studien zur Partnerarbeit im DaF-/DaZ-Unterricht sei exemplarisch die Untersuchung von Hardy und Moore (2004) bei universitären DaF-Lernenden zum Einfluss von Kontext und Aufgabenstruktur bei der Bearbeitung von Videomaterialien auf konversationelle Bedeutungsaushandlungen in Zweiergruppen genannt. Ware und Kramschs (2005) Analyse von Missverständnissen bei der telekollaborativen Partnerarbeit verdeutlicht dagegen das kulturbezogene Lernpotential eines in den Sprachunterricht integrierten E-Mail-Austauschs, bei dem anschließend eine Reflexion der Missverständnisse erfolgt.
5. Einzelarbeit Die Einzelarbeit, die auch als Still- oder Alleinarbeit bezeichnet wird, erlaubt es den einzelnen Lernenden, nach ihrem jeweiligen individuellen Lerntempo vorzugehen und ggf. aus verschiedenen Lernangeboten zu wählen. Demmig (2007: 137) benennt den Anteil am Gesamtunterricht mit 5 %. Einzelarbeit findet im DaF-/DaZ-Unterricht laut Storch (1999: 310) beim stillen Lesen, bei persönlichen schriftlichen Äußerungen, bei der Vorbereitung persönlicher Aussagen und bei der Bearbeitung von Hörverstehensaufgaben Anwendung. Weitere sinnvolle Einsatzmöglichkeiten bieten sich bei Übungen im Sprach- oder Computerlabor sowie in einem lernerzentrierten Unterricht auch bei der individuellen Zielbestimmung und bei der Selbstevaluation.
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XII. Sprachen lehren: Einzelaspekte
6. Simultaner Einsatz unterschiedlicher Sozialormen Traditionell werden zur Binnendifferenzierung einzelne Sozialformen wie die Partner-, Gruppen- oder Einzelarbeit im gesamten Kurs eingesetzt. Im Zusammenhang mit offenen Unterrichtsformen im Fremdsprachenunterricht werden dagegen zunehmend auch gleichzeitig verschiedene Sozialformen genutzt, so dass sie zum eigenen Differenzierungsaspekt werden (Tönshoff 2004: 230). So können Lernende beispielsweise bei der Arbeit mit Lernstationen (Derhartunian 2006; Salokannel 2007) oder mit Lernszenarien (Hölscher, Piepho und Roche 2006) die Arbeitsangebote u. a. auch nach der von ihnen präferierten Sozialform auswählen.
7. Literatur in Auswahl Abrams, Zsuzsanna I. 2001 Computer-mediated communication and group journals: Expanding the repertoire of participant roles. System 29(4): 489⫺503. Belz, Julie A. und Andreas Müller-Hartmann 2002 Deutsch-amerikanische Telekollaboration im Fremdsprachenunterricht ⫺ Lernende im Kreuzfeuer der institutionellen Zwänge. Die Unterrichtspraxis/Teaching German 36(1): 68⫺78. Chavez, Monika M. 2007 The orientation of learner language use in peer work: Teacher role, learner role and individual identity. Language Teaching Research 11(2): 161⫺188. Davidheiser, James 2002 Classroom approaches to communication: Teaching German with TPRS (Total Physical Response Storytelling). Die Unterrichtspraxis/Teaching German 35(1): 25⫺35. Demmig, Silvia 2007 Das professionelle Handlungswissen von DaZ-Lehrenden in der Erwachsenenbildung am Beispiel Binnendifferenzierung. Eine qualitative Studie. München: iudicium. Derhartunian, Elzbieta 2006 Einkaufen: Wortschatzwiederholung mal anders! Stationen zur Binnendifferenzierung beim Wortschatzlernen. Fremdsprache Deutsch 35: 44⫺46. Ehlich, Konrad und Jochen Rehbein 1986 Muster und Institution. Untersuchungen zur schulischen Kommunikation. Tübingen: Narr. Grießhaber, Wilhelm 2005 Sprache im zweitsprachlichen Mathematikunterricht. Verbale und nonverbale Verfahren bei der Vermittlung mathematischen Wissens. In: Sabine Braun und Kurt Kohn (Hg.), Sprache(n) in der Wissensgesellschaft, 65⫺77. Frankfurt a. M.: Lang. Gudjons, Herbert 2007 Frontalunterricht neu entdeckt ⫺ Integration in offene Unterrichtsformen. 2. durchgesehene Auflage. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Hardy, Ilonca und Joyce L. Moore 2004 Foreign language students’ conversational negotiations in different task environments. Applied Linguistics 25(3): 340⫺370. Havranek, Gertraud 2002 Die Rolle der Fehlerkorrektur beim Fremdsprachenlernen. Frankfurt a. M.: Lang. Hoffmann, Sabine 2008 Fremdsprachenlernprozesse in der Projektarbeit. Tübingen: Narr.
133. Sozialformen
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Hölscher, Petra, Hans-Eberhard Piepho und Jörg Roche 2006 Handlungsorientierter Unterricht mit Lernszenarien. Kernfragen zum Spracherwerb. Oberursel: Finken. Karagiannidou, Evangelia 2007a In der Gruppe geht’s besser! Ein Plädoyer für mehr Gruppenarbeit im Fremdsprachenunterricht. Zielsprache Deutsch 34(1): 71⫺93. Karagiannidou, Evangelia 2007b Gruppenarbeit in der universitären FS-Lehrer-Ausbildung. Eine Chance für ihren verstärkten Einsatz in der Schule? Zielsprache Deutsch 34(2): 15⫺51. Klein, Julia und Johannes Merkel 2008 Sprachförderung durch Geschichtenerzählen. Handlungsorientierte Materialien für die gezielte Spracharbeit. Buxtehude: Persen. Meyer, Hilbert 1987a UnterrichtsMethoden I: Theorieband. Frankfurt a. M.: scriptor. Meyer, Hilbert 1987b UnterrichtsMethoden II: Praxisband. Frankfurt a. M.: scriptor. Peuschel, Kristina 2009 Integrierte Textentwicklung in einem Radioprojekt mit fortgeschrittenen DaF-Lernenden. In: Kristina Peuschel und Jan Paul Pietzuch (Hg.), Kaleidoskop der jungen DaF-/DaZForschung, 89⫺106. Göttingen: Universitätsverlag. Salokannel, Claudia 2007 Good Bye, Langeweile. Fremdsprache Deutsch 36: 36⫺41. Schlickau, Stephan 2000 Video und Videoconferencing zur Sprach- und Kulturvermittlung: Lernpotenziale und empirische Beobachtungen. Zeitschrift für Interkulturellen Fremdsprachenunterricht 5(2). (Online). Schramm, Karen 2007 Grammatikerwerb beim zweitsprachlichen Erzählen. In: Klaus-Michael Köpcke und Arne Ziegler (Hg.), Grammatik in der Universität und für die Schule. Empirie, Theorie und Modellbildung, 199⫺221. Tübingen: Niemeyer. Schramm, Karen 2009 Zum Konzept der Kompensationsstrategien aus soziokultureller Perspektive: Produktionssicherndes Handeln von GrundschülerInnen in einer Deutsch-als-Zweitsprache-Fördergruppe. In: Patricia Nauwerck (Hg.), Kultur der Mehrsprachigkeit in Schule und Kindergarten: Festschrift für Ingelore Oomen-Welke, 131⫺147. Freiburg i. B.: Fillibach. Schwerdtfeger, Inge C. 2001 Gruppenarbeit und innere Differenzierung. Berlin/München: Langenscheidt. Storch, Günther 1999 Deutsch als Fremdsprache ⫺ Eine Didaktik. Theoretische Grundlagen und praktische Unterrichtsgestaltung. München: Fink. Tönshoff, Wolfgang 2004 Binnendifferenzierung im lernerorientierten Fremdsprachenunterricht (I). Deutsch als Fremdsprache 41(4): 227⫺231. Ware, Paige D. und Claire Kramsch 2005 Toward an intercultural stance: Teaching English and German through telecollaboration. The Modern Language Journal 89(2): 190⫺205. Ziebell, Barbara 2002 Unterrichtsbeobachtung und Lehrerverhalten. Berlin/München: Langenscheidt.
Karen Schramm, Leipzig (Deutschland)
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XII. Sprachen lehren: Einzelaspekte
134. Tandem-Lernen 1. 2. 3. 4. 5.
Die Grundkonstellation des Tandem-Lernens Grundformen der didaktischen Nutzung Ausgestaltung der Kommunikations- und Lernsituation Tandem in der Forschung Literatur in Auswahl
1. Die Grundkonstellation des Tandem-Lernens Das Tandem-Lernen beruht auf einer einfachen Grundkonstellation, die jeweils an die personalen und kontextuellen Bedingungen angepasst werden kann: Zwei Personen mit jeweils anderen Erstsprachen kommunizieren miteinander. Sie tun dies in der Absicht, partnerschaftlich und im Wechsel von- und miteinander zu lernen, indem sie die besonderen Potenziale der Kommunikations- und Lernsituation Tandem gezielt für ihre Zwecke nutzen. Diese Potenziale ergeben sich, weil die Interaktionspartner über Kompetenzen verfügen, die der Partner bemüht ist, sich anzueignen, und weil zwischen ihnen durch die Tandem-Situation zumindest implizit ein spezifischer Gesprächs- und Handlungsrahmen geschaffen wird, der die Verbindung zwischen authentischer Kommunikation einerseits und Lehr-Lern-Interaktion andererseits erst ermöglicht. Hierzu gehört insbesondere, dass das Tandem auf Gegenseitigkeit beruht, d. h., dass beide Partner möglichst in gleichem Maße von der Kooperation im Tandem profitieren. Die große Nähe zu ,normalen‘ Kommunikationssituationen, die wechselseitige Lernabsicht und die sich daraus ergebenden Überlappungen von Interaktionszielen bedingen dabei die bisweilen schwierig zu realisierende Notwendigkeit einer weitgehenden Balancierung zwischen den Lern- und Kommunikationsabsichten sowie den jeweiligen Interessen der Tandempartner (Schmelter 2004: 120⫺126). Durch implizite Festlegung von Zweck und Ziel der Kommunikation zwischen den Tandempartnern, durch konkrete Absprache oder durch Vorgaben durch den didaktischen Rahmen (s. u.) werden zugleich herkömmliche Konventionen der Kommunikation außer Kraft gesetzt und lernförderliche ermöglicht (z. B. korrigierende Eingriffe, das Einüben und Wiederholen von spezifischen Kommunikationssituationen). Da aus der Kommunikation im Tandem selten eine unmittelbare Bedrohung von Interessen der Lernenden erwächst und die Interaktion somit zumeist nicht unter besonderem Handlungsdruck erfolgt, kann das Tandem hinsichtlich des sprachlichen und kulturellen Lernens als ein „Schonraum“ bezeichnet werden, der ein vergleichsweise gefahrloses Erproben und Einüben von sprachlichen und kulturellen Kompetenzen ermöglicht. Durch die zumeist individuelle Festlegung der Kommunikationsgegenstände ist zudem stärker als z. B. im Fremdsprachenunterricht gesichert, dass die Lernenden an den nicht-sprachlichen Inhalten der Kommunikation interessiert sind. Insofern stellt das Tandem-Lernen eine Verbindungsstelle zwischen unterrichtlich gesteuerten Lehr-Lern-Kontexten und authentischen Sprachhandlungssituationen in der Fremdsprache dar. An die Stelle von Sprachkursen wird das Tandem-Lernen aber dennoch nur sehr bedingt treten können (Schmelter 2004: 103⫺134).
134. Tandem-Lernen
1189
2. Grundormen der didaktischen Nutzung Die gezielte didaktische Nutzung des Tandem-Lernens geht vor allem auf die binationalen Sprachkurse des Deutsch-Französischen Jugendwerkes (DFJW) (1999) zurück (Schmelter 2004: 136⫺141). Weitere frühe Versuche der Nutzung erfolgten beispielsweise an einigen Goethe-Instituten sowie an Volkshochschulen und privaten Sprachschulen. Allerdings scheiterte ein Teil dieser Angebote u. a. daran, dass sie nur für jeweils eine Seite verbindlich waren und die sehr unterschiedlich ausgeprägten Notwendigkeiten und daraus erwachsenden Motivationen, die Sprache des anderen zu lernen, nicht mitbedachten. Für Deutsch als Zweitsprache scheinen insbesondere bei erwachsenen Lernern der Bildungshintergrund, der soziale Status und evtl. das Prestige der Erstsprache des Deutschlerners wichtige Persönlichkeitsfaktoren zu sein, die es zu berücksichtigen gilt (Holstein und Oomen-Welke 2006: 39⫺49). Dies erklärt in Teilen, warum die Weiterentwicklung der Grundkonstellation des Tandems zu didaktischen Zwecken zunächst in „didaktischen Rahmen“ erfolgte; d. h. in Kontexten, in denen die Organisatoren die Interaktion zwischen den Tandempartnern, die sich hinsichtlich ihres Alters, ihrer Interessen, beruflichen Erfahrungen usw. in vergleichbaren Ausgangssituationen befinden, auf bestimmte Lern- und Arbeitsziele hin zu steuern und zu kontrollieren versuchen. Typische Kontexte dieser Form der Nutzung, bei der das partnerschaftliche Lernen im Tandem zumeist in mehr oder weniger umfangreiche Plenumsphasen eingebettet ist, sind bis heute Austauschbegegnungen oder Tandemkurse. Für Deutsch als Zweitsprache sind jedoch Angebote denkbar, die für den deutschsprachigen Partner andere Lerngegenstände als rein sprachliche unterstreichen. Aus den didaktischen Rahmen heraus haben sich an unterschiedlichen Standorten, zum Teil in langjährigen Entwicklungsprozessen, „didaktisch gestaltete Umfelder“ entwickelt. In ihnen sind die Tandemlerner nicht mehr unbedingt in Kurse eingebettet. Durch die Vermittlung von Partnern, durch didaktisch aufbereitete Informations-, Lern- und Evaluationsmaterialien sowie zum Teil durch verschiedene Formen der persönlichen Beratung wird in diesen Umfeldern versucht, die Lerner zu betreuen und zu unterstützen, nicht aber sie zu steuern oder gar zu kontrollieren (Schmelter 2004: 141⫺149). Anders als in Tandem-Kursen können kursunabhängige Einzeltandems ihre Vorgehensweisen sowie ihre Kommunikations- und Lerngegenstände ohne Vorgaben und unmittelbare Kontrolle von außen absprechen und festlegen. Daher wird das Tandem-Lernen häufig in Verbindung mit Konzepten von Autonomie und selbstgesteuertem Lernen diskutiert. Um ein gezieltes Lernen im Tandem außerhalb didaktischer Rahmen bzw. über die von diesen Rahmen vorgegebenen Lehrziele hinaus zu gewährleisten, sollten die Lernenden sich ihrer Lernziele bewusst sein, diese nach Möglichkeit für die Interaktion mit den Tandempartnern in konkrete Vorgehensweisen herunterbrechen können und über Mittel verfügen, die Lernfortschritte zu diagnostizieren, um neue Lernziele festlegen zu können. Insofern werden die Tandemlerner in Einzeltandems, wenn sie ähnlich kompetenz- bzw. progressionsorientiert wie im Fremdsprachenunterricht lernen wollen, ihr eigenes Lernen stärker planen und die Lernsituation Tandem entsprechend in Absprache mit dem Tandempartner steuern (Lernaspekt der Tandemsituation), ohne damit den durch vornehmlich außersprachliche Inhalte gesteuerten Kommunikationsaspekt des Tandems zu vernachlässigen. Der Tandempartner selbst kann als Experte für angemessenes sprachliches Verhalten Beispiele geben und korrigierend eingreifen. Nur in seltenen Fällen wird er jedoch sprachliche Phänomene erklären können; dies gilt auch für die
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XII. Sprachen lehren: Einzelaspekte kulturell gebundenen Verhaltensweisen, die der Tandempartner in der Regel zwar als Experte beherrscht, zumeist auch beschreiben kann, aber nur in Ausnahmefällen reflektiert erklären kann. Hier liegen die besonderen Potenziale von Tandem-Kursen (u. a. DFJW 1999, 2005; Herfurth 1993) bzw. von Beratungsangeboten (siehe u. a. die Beiträge in Brammerts und Kleppin 2001). In ihnen kann durch spezifische Aufgabenstellungen, die von den Kursorganisatoren bzw. den Beratern vermittelt werden, das Lernen bestimmter Sprachbereiche oder interkultureller Aspekte eher erreicht werden. Darüber hinaus kann hier (z. B. in Plenumsphasen) eine Systematisierung sprachlicher Phänomene erfolgen. Da jeder Lerner im Tandem immer auch nur ein Repräsentant einer Sprache und Kultur ist, eignen sich Plenumsphasen in Tandemkursen dazu, Arbeitsergebnisse der Einzeltandems zu sammeln, Einzelaussagen zu relativieren und daraus ein komplexeres Bild der jeweils anderen Sprache(n) und Kultur(en) zu vermitteln. Die Vermittlung von erfahrungsgemäß besonders geeigneten Vorgehensweisen in der Tandem-Kommunikation (z. B. hinsichtlich der Formulierung von Lernzielen und deren Erarbeitung im Tandem, der Korrektur, der Absprache von Regeln zur Sicherung des Prinzips der Gegenseitigkeit) lässt sich in Tandem-Kursen eher sicherstellen als in didaktisch gestalteten Umfeldern mit nicht-obligatorischen Beratungsangeboten. Insofern ist die Einbettung von Einzeltandems in traditionelle Sprachkurse oder in Tandemkurse insbesondere bei jüngeren bzw. unerfahrenen Fremdsprachenlernern sinnvoll. Neben dem Präsenztandem gewann das medial vermittelte Tandem-Lernen auf Distanz mit der Verbreitung der Kommunikationsmöglichkeiten über das Internet an Bedeutung. Für den Bereich Deutsch als Fremdsprache haben sich hierdurch vielfältige neue Möglichkeiten ergeben, auch über weite Entfernungen hinweg zu einem engeren und authentischen Austausch mit deutschsprachigen Personen zu gelangen. Die diversen von der Europäischen Union geförderten, internationalen Projekte zum Tandem-Lernen über E-Mail bzw. Internet (Brammerts und Little 1996; Brammerts und Kleppin 2001) haben erheblich zur Entwicklung von geeigneten Arbeitsformen und Begleitmöglichkeiten sowie zur empiriegestützten Konzeptbildung beigetragen. In diesen Arbeiten werden auch die eventuell anderen Vorgehensweisen in der Kooperation mit dem Tandempartner, die sich aus dem veränderten Kommunikationsmedium ergeben, hervorgehoben (Kötter 2002): So sind gemeinsame Absprachen über Vorgehensweisen (s. u.) durch die asynchrone Kommunikation über E-Mail zeitaufwendiger und schwieriger als im direkten Austausch, wo visuelle Kommunikationsaspekte den Lernern das Erkennen von Missverstehen, Unbehagen etc. erleichtern können. Häufig wird daher das E-Mail-Tandem durch den zeitweiligen Rückgriff auf synchrone Kommunikationsmedien (z. B. Telefon, Chat) ergänzt.
3. Ausgestaltung der Kommunikations- und Lernsituation Die erfolgreiche Nutzung der Potenziale des Tandem-Lernens setzt ebenso wie guter Unterricht eine reflektierte Bestimmung von Lernzielen und die Wahl angemessener Vorgehensweisen voraus. Dabei müssen die Lerner sicherstellen, dass ihre jeweiligen Partner ihnen aufgrund ihrer Kompetenzen tatsächlich beim Erreichen der Ziele helfen können. Dies setzt im Idealfall regelmäßige Absprachen z. B. zur expliziten Festlegung von Hand-
134. Tandem-Lernen
1191
lungsmustern voraus. Diese betreffen u. a. die Sprachenwahl, die Aufteilung der gemeinsamen Zeit, die Wahl von Themen und Inhalten, Form und Umfang der Fehlerkorrektur, das Geben von Beispielen usw. Hierzu liegen neben den häufig über Internet zugänglichen Hilfen von Tandem-Anbietern mittlerweile eine Reihe von Handbüchern vor, die sowohl von Lernenden als auch von Tandem-Anbietern nutzbringend eingesetzt werden können (Baguette et al. 2001; Brammerts und Kleppin 2001; Brammerts und Little 1996; DFJW 1999, 2005; Holstein und Oomen-Welke 2006; Wolff 2001).
4. Tandem in der Forschung Das Tandem-Lernen ist mittlerweile unter einer Reihe von Fragestellungen empirisch untersucht worden. Am Anfang steht eine Auseinandersetzung mit den im Tandem auftretenden Sprachlehr- und -lernprozessen (Scherfer 1982). In den 1990er Jahren haben fünf Tandem-Kongresse zur Verbreitung von Untersuchungen aus linguistischen, lernpsychologischen und pädagogisch-didaktischen Perspektiven geführt (siehe zuletzt Pelz 1995). Umfangreichere diskursanalytisch begründete Arbeiten legten Apfelbaum (1993) und Rost-Roth (1995) vor. Herfurth (1993) setzt sich umfassend mit unterschiedlichen Konzeptionen von Tandemkursen auseinander. Kötter (2002) beobachtet Lernerinteraktionen, die sich in virtuellen Lernumwelten des Internets beim Tandem-Lernen ergeben. Bechtel (2003) befasst sich in seiner diskursanalytisch angelegten Arbeit mit Aspekten des interkulturellen Lernens im Tandem. Schmelter (2004) geht der Frage nach, inwiefern das selbstgesteuerte Lernen im Tandem gezielt durch Beratung in didaktischen Umfeldern gestützt werden kann. Zahlreiche weitere Untersuchungen sind im Rahmen von Qualifikationsarbeiten zumeist an Standorten didaktisch gestützter Umfelder des Tandem-Lernens entstanden (siehe hierzu die von Helmut Brammerts gepflegte Bibliographie: http://www.slf.rub.de/learning/tanbib.html).
5. Literatur in Auswahl Apfelbaum, Birgit 1993 Erzählen im Tandem. Sprachlernaktivitäten und die Konstruktion eines Diskursmusters in der Fremdsprache. (Zielsprachen: Französisch und Deutsch). Tübingen: Narr. Baguette, Friedhelm, Helmut Brammerts, Herta Fidelak und Mechthild Schlag-Redmond (Hg.) 2001 Sprachenlernen im Tandem. Ein Leitfaden für die Schule. Bönen: Verlag für Schule und Weiterbildung. Bechtel, Mark 2003 Interkulturelles Lernen beim Sprachenlernen im Tandem. Eine diskursanalytische Untersuchung. Tübingen: Narr. Brammerts, Helmut und Karin Kleppin (Hg.) 2001 Selbstgesteuertes Lernen im Tandem. Ein Handbuch. Tübingen: Stauffenburg. Brammerts, Helmut und David G. Little (Hg.) 1996 Leitfaden für das Sprachenlernen im Tandem über das Internet. Bochum: Brockmeyer. Deutsch-Französisches Jugendwerk (Hg.) 1999 Die Tandem-Methode. Theorie und Praxis in deutsch-französischen Sprachkursen. Stuttgart u. a.: Klett.
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XII. Sprachen lehren: Einzelaspekte Deutsch-Französisches Jugendwerk (Hg.) (2005) Tele-Tandem. Innovative Spracharbeit im deutsch-französischen Schulaustausch. Lernen im Tandem über Internet und in der Begegnung. Berlin/Paris: Deutsch-Französisches Jugendwerk. Herfurth, Hans-Erich 1993 Möglichkeiten und Grenzen des Fremdsprachenerwerbs in Begegnungssituationen. Zu einer Didaktik des Fremdsprachenlernens im Tandem. München: iudicium. Holstein, Silke und Ingelore Oomen-Welke 2006 Sprachen-Tandem für Paare, Kurse, Schulklassen. Ein Leitfaden für Kursleiter, Lehrpersonen, Migrantenbetreuer und autonome Tandem-Paare. Freiburg: Fillibach. Kötter, Markus 2002 Tandem learning on the Internet: Learner Interactions in Virtual Online Environments (MOOs). Frankfurt a. M.: Lang. Pelz, Manfred (Hg.) 1995 Tandem in der Lehrerbildung, Tandem und grenzüberschreitende Projekte. Dokumentation der 5. Internationalen Tandem-Tage 1994 in Freiburg i. Br. Frankfurt a. M.: Verlag für Interkulturelle Kommunikation. Rost-Roth, Martina 1995 Sprachenlernen im direkten Kontakt. Autonomes Tandem in Südtirol. Eine Fallstudie. Meran: Alpha & Beta. Scherfer, Peter 1982 Zur Erforschung von Sprachlehr- und Sprachlernprozessen auf Gegenseitigkeit. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik (LiLi) 12(45): 72⫺99. Schmelter, Lars 2004 Selbstgesteuertes oder potenziell expansives Fremdsprachenlernen im Tandem. Tübingen: Narr. Wolff, Jürgen (Hg.) 2001 Babylonia-Tandem. Praxishilfe zur rezeptiven Mehrsprachigkeit. San Sebastia´n; Bozen: Tandem Fundazioa Donostia; Alpha & Beta.
Lars Schmelter, Wuppertal (Deutschland)
135. Distanz- und Präsenzlernen 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Fern-/Distanz- und Präsenzlernen ⫺ eine einführende Begriffsklärung Die Rolle der Medien beim Fernlernen Interaktives und kooperatives Lernen DaF/DaZ in der Fernlehre: Angebote und Studien Kombiniertes Präsenz- und Distanzlernen Literatur in Auswahl
1. Fern-/Distanz- und Präsenzlernen eine einührende Begrisklärung Die Unterscheidung Distanz- versus Präsenzlernen verweist in erster Linie auf die räumliche Dimension des Lernens. Distanzlernangebote richten sich an Lernende, die aus
135. Distanz- und Präsenzlernen
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zeitlichen, ortsbedingten oder anderen Gründen das Angebot eines Unterrichts in Bildungseinrichtungen, bei dem Lernende und Lehrende zeitgleich und in einem Raum anwesend sind, nicht annehmen können oder wollen bzw. die Lernangebote vor Ort durch Distanzlernangebote ergänzt haben möchten. Beim konventionellen Fernunterricht, also in Fernlernkursen, Fernlehrgängen und Fernstudiengängen können Lehrangebote wahrgenommen, berufliche Aus-, Fort-, Weiterbildungen und Studiengänge durchgeführt sowie Bildungsabschlüsse und Zertifikate erworben werden. Es ist eine gesellschaftlich etablierte Form des Bildungszugangs, die in Deutschland durch das Fernunterrichtsgesetz (FernUSG) gesetzlich geregelt ist. Dem Wortlaut dieses Gesetzes nach ist Fernunterricht „die auf vertraglicher Grundlage erfolgende, entgeltliche Vermittlung von Kenntnissen und Fähigkeiten, bei der 1. der Lehrende und der Lernende ausschließlich oder überwiegend räumlich getrennt sind und 2. der Lehrende oder sein Beauftragter den Lernerfolg überwachen“ (FernUSG, §1, 1). Einsendeaufgaben, die die Institution distribuiert und die Lernenden bearbeiten, stehen hierbei im Mittelpunkt des Prozesses (vgl. Kerres 1998: 299⫺305). Die Zahl der Anbieter von zugelassenen Fernlehrgängen in Deutschland sowie die Teilnehmerzahlen steigen kontinuierlich: Im Jahre 2007 zählte man bereits 335 Institute und mehr als 250.000 TeilnehmerInnen, beides Zahlen, die sich innerhalb von 10 Jahren verdoppelt hatten. Der Sprachenbereich umfasst dabei 9 % aller Fernlehrgangsangebote (Quelle: Forum DistancE-Learning ⫺ Fernunterrichtsstatistik 2007). Der Begriff des Distanzlernens kann nicht mit dem Begriff des Fernlernens und somit mit dem Konzept des Lernens im klassischen Fernunterricht gleichgesetzt werden, auch wenn der englische Begriff distance learning für Fernlernen dies nahezulegen scheint. Mit dem Einzug der digitalen Medien in unterschiedliche Lernkontexte erfährt der Begriff des Distanzlernens eine Erweiterung. Er umfasst nun alle Angebote traditioneller Fernlerneinrichtungen, wie z. B. Fernuniversitäten, bezieht aber auch Bereiche des telemedialen bzw. telematisch unterstützten Lernens außerhalb dieser Fernlernkontexte ein. Der Begriff Distanzlernen umfasst also alle Formen des Fern- und Tele-Lernens und spielt somit ebenfalls an konventionellen Universitäten, die virtuelle Seminare anbieten, oder bei Firmen, die ihren Mitarbeitern arbeitsplatznahe mediengestützte (computer- und/ oder webbasierte) Weiterbildungen anbieten, eine Rolle. Für den akademischen Bereich bedeutet dies exemplarisch, es werden: „(…) alle Formen der wissenschaftlichen Ausund Weiterbildung gefasst, die orts- und zeitunabhängiges Studieren auf der Grundlage neuer Technologien beinhalten“, also „nicht nur Angebote klassischer Fernstudieneinrichtungen, sondern auch telematisch unterstützte Lehre an Präsenzuniversitäten, da diese ehemals getrennten Bereiche ohnehin immer stärker zusammenwachsen“ (Arnold 2001: 16). Präsenzlernen oder Präsenzunterricht bezeichnet den Unterricht im Klassenzimmer, bei dem sich der Lehrende und die Lernenden zur selben Zeit an einem Ort zusammenfinden. Der Begriff des Präsenzlernens dient darüber hinaus im Kontext des mediengestützten Lernens der Abgrenzung von allen Formen des räumlich getrennten Lernens und wird meist in Zusammenhängen benutzt, in denen Formen des Präsenz- und Distanzlernens gemeinsame Lernszenarien bilden, wie beim so genannten Blended-Learning, auch hybrides oder kombiniertes Lernen genannt (vgl. Abschnitt 5). Ist davon nicht die Rede, verwendet man den Begriff Präsenzlernen in der Regel nicht, sondern benutzt den unmarkierten Begriff Unterricht (vgl. Rösler 2007: 17⫺18). Neben oben erwähnter Begriffserweiterung verschmelzen aufgrund der neuen Möglichkeiten auch die Grenzen der klassischen Funktionen unterschiedlicher Bildungsanbie-
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XII. Sprachen lehren: Einzelaspekte ter: Internationale Konsortien für wissenschaftliche Weiterbildungen für Unternehmen öffnen ihr Angebot für Privatpersonen und kooperieren mit etablierten Fernstudienanbietern, so genannte Corporate Universities größerer Unternehmen öffnen sich auch für den freien Markt (vgl. Arnold 2001: 30), Universitäten streben ins Netz und schließen sich in virtuellen Hochschulverbünden zusammen (vgl. Pförtsch 2002: 128⫺129) etc. Vor diesem Hintergrund kann eine abschließende Kategorisierung von Fern- oder Distanzlernkontexten in diesem dynamisch sich verändernden Gebiet (noch) nicht vorgenommen werden. Der Versuch der Begriffsklärung soll deutlich machen, dass die Unterscheidung Fernlernen versus Unterricht in eine Diskussion um das Begriffspaar Distanz- und Präsenzlernen, das sich jeweils auf beide Lernszenarien bezieht, übergegangen ist.
2. Die Rolle der Medien beim Fernlernen Die Geschichte des Fernunterrichts zeigt eine Entwicklung der Mediennutzung, die manche Parallele zur Mediennutzung im Präsenzunterricht beinhaltet. Medien spielen jedoch beim traditionellen Fernunterricht eine noch bedeutendere Rolle als beim klassischen Unterricht, haben sie doch neben der Aufgabe der kompletten Informationsvermittlung die Verpflichtung, die Lehrenden sowie die Kommunikation vor Ort völlig zu ersetzen. Taylor (2000) stellt fünf Modelle auf, die die fünf Generationen der Mediennutzung beim Fernlernen nachzeichnen. Es beginnt mit dem Correspondance Model, deren Medienbasis ausschließlich Print-Materialien umfasst und das zeitlich mit dem Beginn des Fernunterrichts in den 1920er Jahren bis zu den späten 1960er Jahren einzuordnen ist, und endet mit einem fünften Modell, das eine künftige Generation der Medien skizziert. Die vierte und heutige Generation des Fernlernens, das Flexible Learning Model, setzt Mitte/Ende der 1990er Jahre ein und zeichnet sich durch die Nutzung des Internet, des WWW und interaktiver multimedialer Materialien, u. a. in Form von Computersimulationen, sowie der computervermittelten Kommunikation aus. Schon seit dem dritten Modell, dem Fernlernmodell (im Original Telelearning Model), welches neben Printmaterialien, Audio- und Videokonferenzen, TV und Radio bereits die computervermittelte Kommunikation in Form von E-Mail mit einbezieht und Anfang der 1990er Jahre einsetzt, aber spätestens jedoch seit der vierten Mediengeneration wird dem Fernunterricht die Möglichkeit eröffnet, einen mündlich-visuellen Austausch der TeilnehmerInnen zu integrieren. Für den Sprachenbereich ist dies insofern bahnbrechend, als damit nun auch die interpersonale Interaktion zwischen den Lernenden und damit der kommunikative Austausch gefördert werden kann.
3. Interaktives und kooperatives Lernen Die raum-zeitliche Entkoppelung des didaktischen Dreiecks Lehrende ⫺ Lerngegenstand ⫺ Lernende (vgl. Arnold und Schüssler 1998: 95) beim Fernlernen ist verantwortlich dafür, dass das selbstständige Lernen und die Selbstorganisiertheit des Lernenden im Vordergrund stehen; und dies stellt hohe Anforderungen an den einzelnen Lernenden. Die Interaktion zwischen Lernenden fehlt in der ursprünglichen Fernlerndidaktik völlig,
135. Distanz- und Präsenzlernen
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was bedeutet, dass dort auch kommunikative und kooperative Elemente zwischen Lernenden keine Rolle spielen und somit die Möglichkeit, Wissen im Dialog hervorzubringen, kaum entwickelt ist. Das ist auch der Grund dafür, warum Fernlehrgänge häufig mit Formen des Präsenzlernens kombiniert werden (vgl. Lang 2002: 36) (siehe auch Abschnitt 5). Die in Abschnitt 2 erwähnte mediale Entwicklung des Fernlernens gibt bereits Hinweise darauf, wie sich diese Art des Lernens im Hinblick auf seine Sozialformen und die Interaktivität zwischen Lernenden und Lehrenden sowie zwischen den Lernenden untereinander verändert hat. Tenberg (2003), der Taylors Modell mit Fokus auf die Interaktionsmöglichkeiten zwischen Lernenden, Tutor und Material erweitert, kommt zu dem Ergebnis, dass sich die Interaktionsmöglichkeiten mit dem Aufkommen der digitalen Medien flexibler gestalten und dass nun vor allem Interaktionen und Kooperationen zwischen den Lernenden, die in den ersten Generationen der Mediennutzung überhaupt nicht vorhanden waren, nun auch räumlich getrennt ⫺ synchron (z. B. Text- und VoiceChat, Audio- und Videokonferenz) und asynchron (z. B. E-Mail, Foren) ⫺ möglich und in ihrer Gestaltung vielfältig sind. Das gemeinsame Lernen in kooperativen Lernszenarien wie Projekten und anderen gruppenbildenden Arbeitsformen spielt nun auch beim Fernlernen durch die Verwendung digitaler Kommunikations- und Kooperationsmedien sowie interaktiver Lernplattformen eine wichtige Rolle. Tenberg stellt fest, dass diese Interaktionsformen kooperatives Lernen „im Rahmen einer reziprok multiperspektivischen Dialogstruktur“ (Tenberg 2003: 216) ermöglichen und dass sie dadurch die Voraussetzungen für Lernen als autonomen Erkenntnis- und Interpretationsprozess schaffen. Die zunehmende Verbreitung telematischer Lehr- und Lernformen im Fernunterricht liegt also sicherlich auch darin begründet, dass die Vorteile von Fernstudien nun mit kooperativen Lernformen kombiniert werden können (vgl. Arnold 2001: 24). Bereits 2001 beschreibt Arnold einen internetbasierten Kurs der Open University mit 10.000 Teilnehmenden „als richtungsweisendes Beispiel für ein kooperatives Lernszenario, da hier trotz der großen Teilnehmerzahl das Kursgeschehen um Tutorengruppen als Kristallisationspunkte organisiert ist und Kommunikation und Kooperation unter den Studierenden an zentralen Stellen in das Gesamtkonzept eingebettet ist“ (Arnold 2001: 76). Auch die FernUniversität Hagen baut seit 1996 eine virtuelle Universität aus, die sich unter anderem dadurch auszeichnet, dass nun Gruppenarbeit über das Netz unterstützt werden kann (vgl. Arnold 2001: 82). Für die Fremdsprachendidaktik ist diese Entwicklung im Bereich der Kommunikations- und Kooperationsmöglichkeiten von großer Bedeutung und begründet die verstärkte Nutzung von Fernlernangeboten sowie anderen Distanzlernangeboten auch in diesem Fachgebiet.
4. DaF/DaZ in der Fernlehre: Angebote und Studien Große Fernstudienanbieter in Deutschland, wie die Hamburger Akademie für Fernstudien (ein Unternehmen der Klett Gruppe, s. http://www.akademie-fuer-fernstudien.de) oder die Studiengemeinschaft Darmstadt (SGD, s. http://www.sgd.de) bieten Fernlernkurse im Bereich Deutsch als Fremd- und/oder Zweitsprache an. Hinzu kommen Fernstudienanbieter in anderen Ländern, wie die bereits erwähnte Open University in London, um nur eine sehr bedeutende zu nennen. Fernlernangebote im DaF-/DaZ-Bereich finden
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XII. Sprachen lehren: Einzelaspekte sich in Deutschland außerdem beim größten Mittlerinstitut der deutschen Sprache und Kultur, dem Goethe-Institut. Der Bereich Multimedia und Fernlehre des Goethe-Instituts verzeichnet ca. 2.000 Neueinschreibungen (Fernkursteilnehmer) pro Jahr und seit Jahren ist ein stetiges Wachstum zu beobachten (persönliche Mitteilung der Abteilung „Multimedia und Fernlernen“ des Goethe-Instituts). Darüber hinaus bieten auch Universitäten DaF-Fernlernkurse an, wie z. B. die Ludwig-Maximilians-Universität München mit ihrem interaktiven Deutschlernportal Deutsch-Uni-Online (DUO, s. http://www. deutsch-uni.com). Telemediale Fernlernkonzepte wie das unidirektionale Tele-Teaching, bei dem Vorlesungen per TV oder per Internet übertragen werden, spielen im Sprachlernbereich eine eher untergeordnete Rolle. Wie oben beschrieben, zieht der Sprachenunterricht vor allem aus den neueren Möglichkeiten der mündlich-visuellen Kommunikationsmedien seinen Gewinn, aber auch die medial schriftliche Kommunikation per Chat und E-Mail ermöglichen bereits seit einigen Jahren vielversprechende kommunikative Lernszenarien. Einen interessanten Einblick in die Möglichkeit der Nutzung digitaler Medien bei einem Fernlernkurs für den Anfangsunterricht DaF gibt Liebscher (2003), die beschreibt, wie ein ursprünglich klassisch organisierter Fernlernkurs mit Printmaterialien in einen aufgabenorientierten Online-Fernlernkurs übertragen wurde. Bemerkenswert bezüglich der Kursaktivitäten der TeilnehmerInnen ist die Dominanz der authentischen Kommunikation zwischen den Lernenden, die sich synchron über Chat und asynchron über ein Message Board vollzieht und damit „eine stärkere Hinwendung zum natürlichen Spracherwerb im Rahmen bedeutungsvoller Interaktion“ stattfindet (Liebscher 2003: 140). Das selbstgesteuerte Lernen sowie das gemeinschaftliche Lernen spielen bei diesem Konzept eine große Rolle. Erwähnte Kommunikationsmedien sowie neuere Medien, wie Wiki, Podcast oder Blog, die sich durch die Verbreitung des Web 2.0, dem Internet der zweiten Generation, einen Namen gemacht haben und bei denen die Inhaltsnutzer zu Produzenten werden, sind ebenfalls geeignet, das gemeinsame und projektorientierte Lernen zu fördern (vgl. u. a. Schmidt 2009; Würffel 2008). Der mündliche Austausch per Audio-Konferenz steht im Mittelpunkt der Betrachtung von Hampel (2007). Sie beschreibt eine audiographische Lernplattform, die an der Open University u. a. im DaF-Bereich zum Einsatz kommt und macht deutlich, dass die Nutzung multimedialer Lernplattformen und digitaler Lernumgebungen hohe Anforderungen an Lehrende und Lernende stellt und dass die dafür benötigten Kompetenzen (new literacies) erst erworben bzw. durch ein geeignetes didaktisches Design gefördert werden müssen.
5. Kombiniertes Präsenz- und Distanzlernen Präsenzkontakte sind, wenn auch in sehr eingeschränktem Maße, ein Merkmal klassischer Fernlernkonzepte und dienen als sozialstiftendes Mittel. Trotz vermehrter kommunikativer und kooperativer Lernmöglichkeiten durch neue Technologien darf auf sie nicht verzichtet werden. Auch Hess (2003) verweist nachdrücklich auf die dienende Funktion der Medien beim Distanzlernen, hier den teleunterstützten Präsenzunterricht im Blick, und relativiert die anfänglich große Begeisterung der Verantwortlichen didaktischer Konzeptionen im Hinblick auf technologische Lösungen. Für ihn sind Face-toface-Kontakte unverzichtbar (vgl. Hess 2003: 22).
135. Distanz- und Präsenzlernen
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Ob nun konventionelle Fernlernangebote durch Präsenzphasen unterbrochen werden oder ob klassische Präsenzkurse durch Online-Komponenten ergänzt werden, die Kombination von Präsenz- und Distanzphasen (Blended-Learning) versucht, die Vorteile beider Lernformen zu nutzen und ihre Nachteile auszugleichen. Distanzphasen können aus Selbstlernphasen im Online- und Offline-Modus sowie aus Online-Gruppenlernphasen bestehen, in allen Fällen ist eine gründliche Vor- und Nachbereitung von Nöten. Präsenzphasen nehmen bei diesem kombinierten Lernszenario eine besondere soziale und gruppenbildende Funktion ein. Darüber hinaus müssen sie „mehr noch als bisher, Raum zum interaktiven Sprechhandeln biete[n] und die kommunikative Handlungsfähigkeit der Lerner förder[n]“ (Launer 2008: 222). Eine besondere Herausforderung für Distanzlernphasen liegt in der Lernberatung bzw. der Tutorierung. Auch diesbezüglich erfahrenere Fernlerninstitute werden durch den Einsatz neuer Medien vor neue Aufgaben gestellt. Die Tatsache, dass das Distanzlernen sehr große Anforderungen an den einzelnen Lernenden in Bezug auf Selbstorganisiertheit und Selbststeuerung stellt, bedeutet auch, dass der Lehrende diesbezüglich sehr gut ausgebildet sein muss, um seinen Lernenden als Lernberater zur Seite stehen und ihnen notwendige Strategien an die Hand geben zu können (vgl. Launer 2008: 217⫺221).
6. Literatur in Auswahl Arnold, Patricia 2001 Didaktik und Methodik telematischen Lehrens und Lernens. Münster: Waxmann. Arnold, Rolf und Ingeborg Schüssler 1998 Wandel der Lernkulturen. Ideen und Bausteine für ein lebendiges Leben. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Forum DistancE-Learning ⫺ Der Fachverband für Fernlernen und Lernmedien e.V. Fernunterrichtsstatistik 2007. Online. http://www.forum-distance-learning.de/fdl_3fa8cd6be43e.htm, Abrufdatum: 23. 10. 08. Hampel, Regina 2007 New literacies and the affordance of the new media: Using audiographic computer conferencing for language learning. In: Susanne Schneider und Nicola Würffel (Hg.), Kooperation & Steuerung. Fremdsprachenlernen und Lehrerbildung mit digitalen Medien, 33⫺54. Tübingen: Narr. Hess, Hans W. 2003 Lerner als Kunden. Informationstechnologie im Alltagseinsatz. Deutsch als Fremdsprache 40(1): 14⫺23. Kerres, Michael 1998 Multimediale und telemediale Lernumgebungen. Konzeption und Entwicklung. München: Oldenbourg. Lang, Norbert 2002 Lernen in der Informationsgesellschaft. In: Ute Scheffer und Friedrich W. Hesse (Hg.), E-Learning: Die Revolution des Lernens gewinnbringend einsetzen, 23⫺42. Stuttgart: Klett-Cotta. Launer, Rebecca 2008 Blended Learning im Fremdsprachenunterricht ⫺ Konzeption und Evaluation eines Modells. Online: http://deposit.ddb.de/cgi-bin/dokserv?idn⫽990295613&dok_var⫽d1&dok_ext⫽ pdf&filename⫽990295613.pdf, Abrufdatum: 23. 10. 2008.
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XII. Sprachen lehren: Einzelaspekte Liebscher, Grit 2003 Ein Modell kooperativen Lernens für einen Fernlernkurs Deutsch als Fremdsprache. Deutsch als Fremdsprache 40(3): 135⫺140. Pförtsch, Waldemar A. 2002 Lernen in der New Economy. In: Ute Scheffer und Friedrich W. Hesse (Hg.), E-Learning: Die Revolution des Lernens gewinnbringend einsetzen, 119⫺135. Stuttgart: Klett-Cotta. Rösler, Dietmar 2007 E-Learning Fremdsprachen. Eine Einführung. 2. Aufl. Tübingen: Stauffenburg. Schmidt, Torben 2009 Mündliche Lernertexte auf der Zweinull-Bühne ⫺ Mediale Inszenierungen im Englischunterricht am Beispiel eines Schulpodcast-Projekts. Forum Sprache (Online) 1: 24⫺42. Taylor, James C. 2000 New millenium distance education. In: Venugopal Reddy und Srivastava Manjulika (Hg.), The World of Open and Distance Learning, 475⫺480. Viva Books, India. Online: http://www.usq.edu.au/users/taylorj/publications_presentations/2000IGNOU.doc, Abrufdatum: 23. 10. 2008. Tenberg, Reinhard 2003 Interaktionsformen und Neue Medien aus der Sicht des Fernlernens. Deutsch als Fremdsprache 40(4): 210⫺219. Würffel, Nicola 2008 Kooperatives Schreiben im Fremdsprachenunterricht: Potentiale des Einsatzes von Social-Software-Anwendungen am Beispiel kooperativer Online-Editoren. Zeitschrift für Interkulturellen Fremdsprachenunterricht 13(1). (Online).
Eva Platten, Schaffhausen (Schweiz)
XIII. Medien und Lehr-Lernmaterialien 136. Die Funktion von Medien im Deutsch als Fremdund Deutsch als Zweitsprache-Unterricht 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Begriff Was gehört dazu? Medien und Methoden DaF und die digitalen Medien Primat der Didaktik Literatur in Auswahl
1. Begri Den Begriff Medien trifft man in unterschiedlichen Disziplinen, und entsprechend unterschiedlich sind die Vorstellungen, die mit ihm einhergehen. Ein Linguist versteht unter einem Medium zunächst die gesprochene oder geschriebene Substanz, die in der Sprache vorkommt; durch das Medium wird also die physikalische Vermittlung der Botschaft realisiert. In einem weitgefassten Medienbegriff kann eine Brille ein Medium sein, wenn man Medien als kompensatorische Mittel für körperliche Beschränktheiten auffasst. In den Kommunikationswissenschaften wird Medien zumeist auf die technischen Mittel bezogen, die dazu beitragen, Botschaften an ein potentiell unbegrenztes Publikum zu vermitteln, der Fokus liegt hier traditionell auf der Beschäftigung mit Massenmedien. Die unterschiedlichen Vorstellungen von Medien sind verbunden mit der Analyse unterschiedlicher Ausschnitte von Welt mit unterschiedlichen Methoden. Entsprechend problematisch ist die direkte Übernahme eines geistes- oder sozialwissenschaftlichen Medienbegriffs in die Didaktik. Nähme man z. B. die sprachwissenschaftliche Auffassung von der physikalischen Vermittlung von Botschaften als Ausgangspunkt, dann wäre in der Fremdsprachendidaktik alles unter Mediengesichtspunkten zu betrachten. Übernähme man hingegen die Fokussierung auf Massenmedien, dann spielten Medien in der fremdsprachendidaktischen Diskussion nur in bestimmten Teilbereichen eine Rolle. Die fremdsprachendidaktische Mediendiskussion hat sich aber nicht zu fragen, ob sie eher in der Tradition von Shannon und Weaver (1949), McLuhan (1964) oder wem auch immer steht. Sie kann nicht einfach aus einer linguistischen, medienwissenschaftlichen, semiotischen oder kommunikationswissenschaftlichen Perspektive abgeleitet werden, sondern muss selbst bestimmen, welcher Blick auf die Medien für ihren Gegenstandsbereich Lehren und Lernen von fremden Sprachen von Relevanz ist. Ein fremdsprachendidaktisches Medienverständnis hat als Ausgangspunkt die Idee von Medien als Mittlern, die dafür sorgen, dass Wissen und Fertigkeiten erworben werden. Für das Fremdsprachenlernen sind Medien sowohl Transporteure von Information als auch Vehikel der Kommunikation. Behandelt werden müssen deshalb auf der einen Seite die Bereitstellung und die Gestaltung von Medienarrangements, auf der anderen Seite die Integration von Medien in Lehrprozesse und die Verwendung von Medien durch die lernenden Indivi-
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XIII. Medien und Lehr-Lernmaterialien duen. Ein Blick auf all diese Aspekte ist notwendig, um zu vermeiden, dass Medien einseitig z. B. nur als Vermittlungsinstrumente gesehen werden. Für eine angemessene Einschätzung der Funktion von Medien für das Fremdsprachenlernen ebenfalls notwendig ist eine Unterscheidung im Hinblick auf deren Verwendung innerhalb oder außerhalb des zielsprachigen Raums. Wer Deutsch als Fremdsprache außerhalb des deutschsprachigen Raums lernte, für den war eine gute Medienausstattung traditionell wichtiger als für jemanden, der Deutsch als Zweit- oder Fremdsprache innerhalb des deutschsprachigen Raums lernte (vgl. zu den Implikationen dieser Unterscheidung Rösler 1994: 5⫺13), da ihm der lebensweltliche unmittelbare Zugang zur deutschen Sprache und zur deutschsprachigen Welt fehlte. Mit Beginn des 21. Jahrhunderts nimmt der Teil des Lebens, der medial bestimmt ist, zu, so dass auch für die Lernenden außerhalb des deutschsprachigen Raums natürliche mediale Interaktionen in deutscher Sprache verstärkt zum Alltag gehören (können), dennoch ist die Unterscheidung von unmittelbarer Erfahrung des deutschsprachigen Raums vs. stärker durch Medien vermittelter Zugang zu diesem für eine zielgruppenangemessene Gestaltung des Deutschlernens weiterhin von großer Bedeutung.
2. Was gehört dazu? Auch mit einer Konzentration auf die fremdsprachendidaktische Perspektive auf die Medien ist nicht eindeutig festzuhalten, was alles zu Medien dazugehört und wie man sie kategoriell unterteilen kann. Das wird deutlich, wenn man zwei Überblicksartikel aus fremdsprachendidaktischen Handbüchern gegenüberstellt. In der ersten Auflage dieses Handbuchs wurde von Schwerdtfeger (2001) beschrieben, wie der Begriff Unterrichtsmedien ab Anfang der 1960er Jahre in der deutschen fremdsprachendidaktischen Diskussion den Begriff Unterrichtsmittel zu ersetzen begann. Als für den Unterricht Deutsch als Fremdsprache relevante Medien angeführt wurden: Lehrbuch; Bilder, Photographien, Diapositive, Filmstreifen; Tonband/-kassetten, Schallplatte, Radiosendungen, Sprachlabor; Tonfilme, Fernsehfilme, Fernsehsendungen, Videofilme; Computer und Multimedia (Schwerdtfeger 2001: 1018). Diese Medien wurden dort in technische und nichttechnische sowie in visuelle, auditive und audiovisuelle Medien unterteilt. Interessant ist an dieser Aufstellung, dass mit dem Lehrbuch zwar ein didaktisches Printmedium angeführt wird, dass aber Massenmedien in Printform wie Zeitungen und Zeitschriften nicht vorkommen, obwohl sie didaktisch ebenso relevant sein können wie auditive oder audiovisuelle Massenmedien. In Praktische Handreichungen für den Fremdsprachenlehrer stellt Jung derartigen Klassifizierungen ein seiner Auffassung nach „vom Lerner her konzipiertes Medienkategoriensystem“ (Jung 2006a) entgegen: Printmedien (Lehrbücher, Lektüren, Zeitung, Lexika), Massenmedien (Briefmarke, Plakat),
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Produktmedien (Audioplayer […] DVD-Player) Leer- und Transportmedien (Telefon, Internet […] Tafel), Prozessmedien (Rundfunk, Fernsehen, […] Anrufbeantworter), Speichermedien (Audiorecorder, Videorecorder), Interaktionsmedien (Lehrmaschine, Computer). (Jung 2006a: 233, Hervorhebung im Original ⫺ dr) Es ist wenig sinnvoll, einen eingeführten Begriff wie Massenmedien, bei dem die Sprachgemeinschaft an Rundfunk, Fernsehen usw. denkt, lediglich für Briefmarken und Plakate zu verwenden, aber diese überhaupt mit aufzuführen, ist sinnvoll, denn Personen und Sachen, die auf einer Briefmarke abgebildet sind, haben für Jung eine gute Chance, „sich im kollektiven Gedächtnis der Nation einzunisten oder zu verfestigen“ (Jung 2006b: 240), und können von daher durchaus einen Beitrag zur Landeskundevermittlung leisten. Die mit diesen beiden zitierten Aufstellungen angedeutete Unterschiedlichkeit der Vorstellungen von dem, was unter fremdsprachendidaktischen Gesichtspunkten alles zu den Medien gehört, macht es erforderlich, dass man bei der Rezeption von Texten zur Mediennutzung immer genau schauen muss, über welche Medien im jeweiligen Text konkret geredet wird. Im weiteren Verlauf dieses Artikels werden die gedruckten Komponenten eines Lehrwerks, also z. B. Lehrbuch, Arbeitsbuch, Lehrerhandbuch oder Glossar nicht weiter behandelt, vgl. dazu den Art. 137.
3. Medien und Methoden Seit der Erfindung des ersten Schallaufzeichnungsgerätes existiert die Möglichkeit, Fremdsprachenlernenden gesprochene Sprache sprechzeitunabhängig zur Verfügung zu stellen. Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden die ersten Aufnahmen für den Fremdsprachenunterricht produziert (vgl. Schwerdtfeger 2001: 1020). Mit der Bereitstellung von sprachlichen Daten auf Tonträgern war es zum einen möglich, Lehrwerktexte auch akustisch zu realisieren und den Lernenden ein Sprachvorbild zu liefern. Erstmalig konnte so theoretisch auch die gesprochene Sprache anhand von gespeichertem Material im Selbststudium erworben werden, außerdem war es möglich, muttersprachliche Sprachvorbilder und unterschiedliche Dialekte oder Soziolekte ins Klassenzimmer zu bringen, die eine einseitige Gewöhnung der Lernenden an das Sprachvorbild des Lehrers verhindern konnten. Lernende konnten diese Vorbilder imitieren, gleichzeitig war es mit Aufzeichnungsgeräten aber auch möglich, die Lernenden in ihren Versuchen, die Zielsprache auszusprechen, aufzunehmen, so dass Vergleiche zwischen Vorbild und Lernerrealisierung möglich waren, ein Verfahren, das vor allem im Sprachlabor intensiv genutzt wurde. Seit Aufkommen von Sprachlabor und audiolingualer Methode gehören Tonträger zum selbstverständlichen Bestandteil eines Lehrwerks. Geändert haben sich über die Jahre die Verwendungsweisen dieser Tonträger. Zu Kassetten, die entweder im Sprachlabor für Drillübungen verwendet wurden, oder die Lehrwerktexte medial mündlich realisierten, ist mit Beginn der Hörverstehensdidaktik (vgl. als Überblick Dahlhaus 1994) eine weitere didaktische Einsatzmöglichkeit hinzugetreten: Akustisch realisierte Texte werden mit Hilfe bestimmter Aufgaben als zu verstehende Texte behandelt, die nicht Wort für Wort bearbeitet werden müssen.
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XIII. Medien und Lehr-Lernmaterialien
3.1. Das Sprachlabor und die audiolinguale Methode In einem Sprachlabor traf ein Lerner zumeist auf einen auf Tonband bzw. Kassette aufgezeichneten Text, der Arbeitsanweisungen und zumeist auch Lösungsbeispiele enthielt. Die Übungen enthielten Pausen, in die der Lerner eine mündliche Reaktion sprechen konnte. Eine vierphasige Übung zum Beispiel besteht aus Aufgabe, versuchter Antwort des Lerners, richtiger Antwort und Wiederholung der Antwort. Zu den Sprachlaborübungen gehören Hör- und Diskriminierungsübungen, Übungen zum Hörverstehen, Nachsprechübungen und Übungen zur gelenkten Sprachproduktion vor allem in Form von Strukturübungen (pattern drills), die nach Art der vom Lerner vorzunehmenden Manipulation des Sprachmaterials klassifiziert werden konnten als Austauschübungen, Veränderungsübungen, Analogieübungen, Ergänzungsübungen oder Übersetzungsübungen (vgl. Nübold 2006: 301⫺302). Das Sprachlabor kam Anfang der 1960er Jahre in die deutschen Schulen, bereits Mitte der 1970er Jahre wurde die Frage, ob es sich um eine Fehlinvestition handele, diskutiert, seit Anfang der 1990er Jahre ist das Sprachlabor in den öffentlichen Schulen kaum noch vorhanden. Der Einzug des Sprachlabors in die Klassenzimmer war mit dem Glauben an die Überlegenheit einer bestimmten allgemeinen Methode verbunden, das Auftauchen der audiolingualen Methode wurde als Verbesserung des Fremdsprachenlernens gesehen. Die zweifelsohne vorhandenen Vorteile wie die Individualisierung des Übens und die große Sprechzeit pro Lerner innerhalb einer Unterrichtseinheit traten bald hinter eine Kritik zurück, die auf die Überforderung der Lernenden im Hinblick auf die Selbstkorrektur, die Starrheit der Unterrichtsgestaltung (ganze Stunden im Sprachlabor, starrer Ablauf, Vereinzelung der Lernenden), die Formfokussierung usw. verwies. Und so fest war die Verbindung von Sprachlabor und audiolingualer Methode, dass trotz differenzierter Versuche, über das Drillen hinausgehende Verwendungsweisen des Sprachlabors zu diskutieren (vgl. z. B. Krumm 1975), eine veränderte Einschätzung der Bedeutung der audiolingualen Methode und der mit ihr verbundenen linguistischen und psychologischen Ansätze Strukturalismus und Behaviorismus auch zur Abwertung der Sprachlaborarbeit generell führte: Die kommunikative Wende Mitte der 1970er Jahre führte zu einem Statusverlust des Sprachlabors. Gefragt wurde nicht, ob die überdimensionierten Erwartungen an das Sprachlabor auf die Einschätzung der Funktionalität bestimmter Übungen für das Lernen reduziert werden müssten, stattdessen repräsentierte das Sprachlabor nun einen falschen Ansatz, der zu überwinden war. Man kann inzwischen spekulieren, ob mit der Wiederentdeckung der Chunks in der Fremdsprachendidaktik zu Beginn des 21. Jahrhunderts auch eine Wiederentdeckung des repetitiven Übens im Sprachlabor einhergehen wird. Da das Sprachlabor inzwischen als Teilbereich eines Multimedialabors gesehen werden kann, das weitaus mehr kann, als nur Übungen zur Verfügung zu stellen, kann es sein, dass die Grundidee des Sprachlabors ⫺ ohne methodische Überhöhungen, sondern reduziert auf seine Funktionalität ⫺ wieder eine Rolle spielen könnte.
3.2. Der Einsatz visueller und audiovisueller Medien Die Bedeutung der visuellen Medien hat Schwerdtfeger (2001) für das Fremdsprachenlernen wie folgt zusammengefasst:
136. Medien im Deutsch als Fremd- und Deutsch als Zweitsprache-Unterricht
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Visuelle Medien erregen und halten die Aufmerksamkeit der Lernenden. Sie sprechen die Emotionen der Lernenden an und vermögen so, die Lernenden zu sprachlichem Handeln zu motivieren. Visuelle Medien schaffen einen Bezug zur gesprochenen und geschriebenen Zielsprache und vermögen, unbekannte mündliche und schriftliche Texte verständlich zu machen. Visuelle Medien vermögen, die regionalen und sozialen Spezifika der geschriebenen oder gesprochenen Sprache zu verdeutlichen. Gestik, Mimik und Körpersprache werden durch visuelle Medien als unverbrüchlicher Teil der zu lernenden Fremdsprache verdeutlicht. Visuelle Medien dienen als mnemotechnische Hilfe, d. h. sie fördern das Erinnerungsvermögen der Lernenden und unterstützen mündliche und schriftliche Äußerungen der Lernenden in der Fremdsprache. Sie erleichtern das Hörverstehen der zu lernenden Sprache. Visuelle Medien fördern die Erweiterung des Wortschatzes und stützen Strukturübungen. Visuelle Medien eigenen sich zum Einsatz auf jeder Stufe des fremdsprachlichen Lernprozesses. (Schwerdtfeger 2001: 1023⫺1024) Eine Verstärkung der Tendenz zur Visualisierung zeigt sich in DaF seit der kommunikativen Wende, nicht zuletzt verbunden mit dem Namen Theo Scherling (vgl. Scherling und Schuckall 1992), in der zunehmenden Visualisierung in Lehrwerken, durch Zeichnungen, die funktional und nicht ornamental sind, und durch Grammatikdarstellungen, die versuchen, Anschaulichkeit durch Visualisierung zu gewinnen. Mit dem Aufkommen der digitalen Medien ist diese Visualisierung einen Schritt vorangetrieben worden dadurch, dass zumindest in Ansätzen ersichtlich ist, welche Funktion animierte Grammatikdarstellungen übernehmen können (vgl. Roche und Scheller 2004). Am Beispiel des Einsatzes von Filmen zeigt Schwerdtfeger (2001), wie sich die didaktische Einstellung zu sich bewegenden Bildern änderte. Ehnert (1984: 7) zitierend weist sie darauf hin, dass traditionell Anforderungen an das Medium Film gestellt worden waren, die sich auf den Lernprozess bezogen und das Medium nicht in erster Linie als eigenständigen kulturellen Gegenstand betrachten wollten: das Bildobjekt soll sich möglichst ruhig verhalten oder nur langsam bewegen; bei schnellen Bewegungen muss die Einstellung entsprechend lang sein, die Perspektive soll möglichst einheitlich (Augenhöhe, keine Kamerafahrt) sein; es sollen nur wenige Einstellungen (Totale und Großaufnahme) erfolgen; der Zoom soll nicht oder wenig eingesetzt werden, und es sollen wenige Überblendungen stattfinden, die Einstellungen sollen 16 bis 20 Sekunden dauern. (Schwerdtfeger 2001: 1025) Demgegenüber beschreibt sie die Anforderungen an filmspezifische Übungen wie folgt: In den Übungen wird berücksichtigt, dass der Film eine vom Filmemacher konstruierte Wirklichkeit ist und damit nie Abbild einer wie auch immer gearteten Wirklichkeit.
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XIII. Medien und Lehr-Lernmaterialien In den Übungen wird daher berücksichtigt, dass der Film eine Zeichenkomposition ist, in der in spezifischer Weise mit Zeit und Raum umgegangen wird. Filmspezifische Zeichen sind z. B. Kameraeinstellungen, Schnitt, Kamerafahrt, Kameraperspektive, Töne, Musik, Farben, Licht etc. In den Übungen steht die in den Filmen gesprochene Sprache also nicht isoliert im Zentrum, sondern immer nur eingebunden in das Gewebe aller anderen filmischen Zeichen. In den Übungen werden die Zeichen der Filmsprache, d. h. die speziellen filmischen Erzählungen mit den Deutungen, die die Betrachter ihnen geben, konfrontiert. Die Deutungen der Lernenden sind eingebunden in ihre persönlichen emotionalen und kognitiven Prozesse, diesen wird in den Übungen Rechnung getragen. So entstehen filmspezifische Wahrnehmungsübungen, in denen für die Deutungen von filmspezifischen Zeichen und nonverbalem Verhalten durch die Lernenden immer auch der Ausdruck von Gefühlen für mündliche und schriftliche Aufgaben im Mittelpunkt stehen (sic!). (Schwerdtfeger 2001: 1025)
Diese Gegenüberstellung zeigt, dass Film und Fernsehen in der Entwicklung der Didaktik der audiovisuellen Medien als eigenständige kulturelle Produkte Raum gewannen und nicht mehr nur als Vehikel für zu lernende Sprache eingesetzt wurden. Zwei sich scheinbar widersprechende Tendenzen sind seit Anfang der 1970er Jahre auszumachen: Obwohl die Bilder nun schon seit mehr als hundert Jahren das Laufen gelernt haben, sind Filme, die Sprachverwendung situiert in Kontexten zeigen und von daher sprachliches Material hervorragend einführen könnten, im Unterricht oft ein Randphänomen; die meisten Sprachkurse haben weiterhin das Lehrbuch und nicht den Film als ihr Ausgangsmedium. Gleichzeitig hat es aber methodische Bewegungen gegeben, die mit einem erhöhten Einsatz von und vor allem mit der Kombination verschiedener Medien arbeiteten: die Arbeit mit einem Medienverbund, den man heute vom Standpunkt der digitalen Medien aus rückblickend den analogen Medienverbund nennt. In Frankreich entwickelte sich die audio-visuelle, global-strukturelle Methode. Alles kam zum Einsatz: Kassetten, Dias, Overhead-Projektor, Film, Fernsehen. Die Lernenden waren in Gefahr, medial überrollt zu werden, und die Lehrenden konnten leicht auf eine Rolle als Medientechniker reduziert werden, die Handlungsanweisungen aus Lehrerhandbüchern, die im Detail Vorgehensweisen vorschrieben, zu folgen hatten. Lernende, die über muttersprachliche Vergleiche, kognitiv oder auch nur über die analytische Kraft des Notizenmachens lernten, hatten in diesen durchorganisierten, multimedialen Sprachlernprogrammen ihre Schwierigkeiten. Festzuhalten war jedoch zumindest anfänglich meist eine erhöhte Motivation durch die zum damaligen Zeitpunkt noch sehr ungewohnte Medienüberflutung und die entsprechend geschulten, von ihrem Medienlabor zunächst begeisterten Lehrer. Gleichzeitig lag in der durchgeplanten Konfrontation mit den unterschiedlichen medialen Repräsentationen von Zielsprache und -kultur auch der Kern des Scheiterns der analogen Medienverbünde: Nicht nur wurden Lehrer vom Kabelsalat und den an sie herangetragenen technischen Ansprüchen abgeschreckt, der minutiös geplante Ablauf des Unterrichts widersprach auch den Vorstellungen eines annähernd selbstbestimmten Umgangs mit der angebotenen Vielfalt.
136. Medien im Deutsch als Fremd- und Deutsch als Zweitsprache-Unterricht
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4. DaF und die digitalen Medien Sprachlabor und analoge Medienverbünde sind Belege dafür, dass sich bereits im Verlauf des 20. Jahrhunderts eine zunehmende Medialisierung des Fremdsprachenlernens feststellen lässt. Im 21. Jahrhundert zeigt sich die zunehmende Medialisierung der Lebensverhältnisse, die auch Konsequenzen für das Fremdsprachenlernen hat, im Kontext der digitalen Medien unter anderem an den folgenden Tendenzen: ⫺ Die klassischen Massenmedien erleiden einen Bedeutungsverlust, neue Leitmedien etablieren sich. ⫺ Das klassische Sender-Empfänger-Verhältnis ist spätestens seit Web 2.0 durch den sogenannten user generated content austauschbar. ⫺ Die Medienbotschaften erreichen einen immer größeren Anteil an der Konstruktion von Wirklichkeit, die Fiktionalitätsgrenze wird immer häufiger unkenntlich. ⫺ In der Bildungsdebatte hat das Konzept der multiliteracy (vgl. New London Group 1996) als Leitkonzept den traditionellen Schriftspracherwerb abgelöst. Diese veränderte gesellschaftliche Mediennutzung führt für die Fremdsprachendidaktik zu interessanten neuen Angeboten. Es kommt zunächst zu einem motivationalen Extraprofit beim Einsatz eines neu auftretenden Mediums, der wie schon beim analogen Medienverbund auch bei den digitalen Medien vorhanden ist, aber nur kurzfristig anhält: „Der motivationale Anreiz durch die Medienverwendung im Unterricht hat sich zu allen Zeiten in dem Maße relativiert, in dem das Medium ohnehin Teil des Alltags wurde und damit nichts Außergewöhnliches mehr war“ (Funk 2000: 14). Deshalb muss in der fremdsprachendidaktischen Diskussion die Befassung mit der Funktionalität des Medieneinsatzes an erster Stelle stehen: Der Einsatz digitaler Medien ist dann sinnvoll, wenn er sinnvoll ist. Weder eine Überhöhung des Einsatzes digitaler Medien durch ein trivialisiertes Autonomiekonzept (vgl. Rösler 1998; Hess 2001 und Schmenk 2008) noch ein an den Lernerinteressen (vgl. Hess 2003) vorbei konzipierter Medieneinsatz helfen Lernenden beim Deutscherwerb. Man sollte also nicht aus dem Vorhandensein der Medien didaktische Konzepte für deren Anwendung entwerfen, sondern fragen, welchen Beitrag die Medien zur Lösung von Fragen leisten, die sich der Fremdsprachendidaktik generell stellen. Die Diskurshoheit liegt also bei der Didaktik, nicht bei den Bastlern von Anwendungen. Neue Ideen für den Medieneinsatz können das Lehren und Lernen von Fremdsprachen beflügeln, sie können aber auch didaktische Rückschritte bedeuten, wenn die Begeisterung für den Medieneinsatz die didaktische Reflexion und die Aufnahme der didaktischen Diskussion zum jeweiligen Gegenstand ausblendet.
4.1. Digitales Lehrmaterial: Übungstypen und Feedback Mit dem Aufkommen des Computers wurde versucht, diesen für das Üben von Formaspekten zu verwenden. In gewisser Weise erfolgte damit eine Wiederaufnahme der Konzeption des Sprachlabors: Individualisiert konnten die Lerner sich besser einem Lernproblem widmen als im Klassenverband. Aufgrund der programmiertechnischen Gegebenheiten und der sich entwickelnden Autorensoftware war dieses Üben zunächst
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XIII. Medien und Lehr-Lernmaterialien
eine relativ eingeschränkte Angelegenheit: Lückenübungen, Umformungsübungen, Drag and Drop-Zuordnungsübungen, also insgesamt geschlossene Übungen zur Sicherung des Formbestandes, dominierten die erste Runde der computergestützten Sprachvermittlung, für die sich die englische Abkürzung CALL (computer assisted language learning) durchsetzte (vgl. als Überblick Chapelle 2001). Aus der Perspektive der Fremdsprachendidaktik bedeutete dies zunächst einen Rückschritt hinter die Vielfalt bereits vorhandener Übungsformate, nach dem verbreitetsten Autorenprogramm konnte man von einer HotPotatoisierung der digitalen Übungswelt sprechen. Ein besonderes Problem dieser Übungen stellte die Rückmeldung an den Lerner dar. Im Gegensatz zum klassischen Sprachlabor, das dem Lerner eine richtige Antwort lieferte, die dieser selbst vergleichen und erneut nachsprechen konnte, besitzt der Computer als seinen größten Vorteil die Interaktivität: Rückmeldungen auf die Eingabe der Lerner, das sogenannte Feedback, sind möglich. Das Programm muss dabei auf die Eingaben eines Lerners in einer vorprogrammierten Weise reagieren. Diese Rückmeldung wird innerhalb des Programms durch den Abgleich von Mustern organisiert: Die Eingabe des Lerners wird mit vorgegebenen Mustern verglichen, je nach erkanntem Muster wird eine vorher festgelegte Antwort ausgegeben. Im einfachsten Fall generiert das Programm die Meldung Die Antwort ist nicht richtig, wenn vom Lerner nicht genau die antizipierte Eingabe eingegeben wurde. Ob dieser lediglich einen Tippfehler gemacht, Groß- und Klein- oder Getrennt- und Zusammenschreibung verwechselt hat oder tatsächlich einen schweren Verstoß gegen die Regeln der deutschen Morphologie begangen hat, würde in diesem Fall nicht erfasst. Diese Art der Programmierung ⫺ die ihre schlimmste Variante in der Fehlermeldung Einige der eingegebenen Antworten sind falsch hatte, wonach alle Antworten der Lernenden verschwanden ⫺ ist offensichtlich didaktisch nicht befriedigend. Wie gut oder schlecht ein automatisch generiertes Feedback ist, hängt davon ab, wie arbeitsintensiv und sorgfältig die Antizipationen der Programmersteller sind. CALLÜbungen müssen durchaus nicht so schlecht sein, wie man sie häufig im Netz antreffen kann: Zumindest bei geschlossenen Übungen sind die Eingaben der Lernenden bis zu einem bestimmten Umfang antizipierbar, Flüchtigkeitsfehler können von Kompetenzfehlern unterschieden und mit unterschiedlichen Rückmeldungen versehen werden. Die Feedbacks können sich dadurch unterscheiden, dass sie zur Selbstkorrektur anregen oder dass sie die Korrektur selbst durchführen, dass sie auf Quellen verweisen usw. Wichtig für die Sicherung der Qualität des Feedbacks ist also die Frage, wie viel Zeit und Energie in diesen auf der Oberfläche zunächst unsichtbaren Teil des Programms investiert werden (vgl. Rösler 2007: 177⫺194). Bei offenen Aufgaben, bei denen die Lernenden einen eigenen Text eingeben, versagt die programmierte Analyse jedoch; hier können für automatisch generierte Feedbacks nur Musterlösungen angegeben werden, oder die Texte werden an einen menschlichen Korrektor, der online zur Verfügung steht, weitergeleitet. Einen qualitativen Fortschritt kann das Feedback hier erst erreichen, wenn künstliche Intelligenz und Fremdsprachendidaktik in Kooperation treten, wenn die mächtigen Analysewerkzeuge der Sprachtechnologie dazu verwendet werden, Lernereingaben ernsthaft zu analysieren und auf die Fehler in angemessener Weise zur reagieren (vgl. als Beispiel Heift 2001 und als Überblick Gamper und Knapp 2002). Im Gegensatz zu klassischem Lehrmaterial, das durchgehend sichtbar ist, ist für die Einschätzung der Qualität von digitalem Lehrmaterial eine Analyse des Feedbacks, also von etwas an der Oberfläche zunächst Unsichtbarem, von besonderer Wichtigkeit. Not-
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wendig ist deshalb eine systematische Lehrmaterialanalyse auch von digitalem Lehrmaterial (vgl. Roche 2003), die stärker rezeptionsanalytisch als die traditionell eher werkanalytische Lehrwerkanalyse der Printwerke sein muss (vgl. Rösler 2008: 376⫺377).
4.2. Digitales Lehrmaterial: lehrwerkbegleitend und lehrwerkunabhängig Neben die alleinstehenden Übungen der Anfangsphase von CALL traten relativ schnell digitale Komponenten von Lehrwerken; kaum ein DaF-Lehrwerk kommt heute ohne digitale Begleitung aus, entweder dadurch, dass CDs mit Übungen und Aufgaben angeboten werden und/oder dadurch, dass Online-Aktivitäten zur Verfügung gestellt werden. Über die formbezogenen geschlossenen Übungen hinaus kann das lehrwerkbegleitende digitale Material Projektvorschläge, landeskundliche Materialien etc. liefern, die sowohl im Hinblick auf den möglichen Umfang (ausführliche Bildersammlungen, Audiound Videodateien) als auch im Hinblick auf Aktualität dem klassischen Lehrwerk überlegen sind, allerdings nur, wenn sie nach den gleichen Qualitätsstandards gepflegt werden wie klassische Print-Lehrwerke. Über die Begleitung von printgeleiteten Lehrwerken durch digitales Material hinaus entwickelt sich eine Diskussion darüber, ob und wie weitgehend in Zukunft der gesamte Lehrwerkbereich digitalisiert wird. Dies kann zum einen bedeuten, dass mit einem Konzept wie Lehrwerk on demand durch das Zusammenspiel von zentraler und peripherer Materialproduktion eine größere Zielgruppen- und Lernzielgenauigkeit von Lehrwerken erreicht wird (vgl. Rösler 2006a), zum anderen wird gefragt, ob Lehrwerke insgesamt nur noch digitalisiert als Online-Lehrwerke zur Verfügung stehen werden. Das zum Zeitpunkt der Niederschrift dieses Beitrags für DaF am weitesten fortgeschrittene Projekt in diesem Bereich ist Deutsch-Uni Online (vgl. Roche 2008). Auf der Ebene der Materialentwicklung ist aus der anfänglichen Diskussion um das Design einzelner Übungen eine über die interaktiven Qualitäten von komplexen Materialarrangements geworden, über das angemessene Feedback auf fehlerhafte Lernereingaben und über die Frage, wie adaptiv digitales Lehrmaterial sein kann, d. h., wie und wie weitgehend das Programm einen Lernenden so modellieren kann, dass es als Reaktion auf sein Verhalten in Übungen, bei der Nutzung von Hilfsangeboten usw. sich ihm durch individualisierte Hilfestellungen, Vorschläge für Übungen und Texte usw. anpassen und ihn so gezielt unterstützen kann.
4.3. Chancen und Risiken der Arbeit mit authentischen Materialien Das Üben von Formen und das Bereitstellen von Material ist aber nur ein Teilbereich der Diskussion um das Fremdsprachenlernen mit digitalen Medien. Das online verfügbare didaktisierte Material stellt nur einen kleinen Teil der im Internet vorhandenen Materialien dar, und man kann über dessen Relevanz durchaus unterschiedlicher Meinung sein: zumindest bei vielen geschlossenen Übungen und besonders bei als PDF-Dateien zur Verfügung gestellten Arbeitsblättern scheint sich der Vorteil der Digitalisierung auf die schnelle Distribution zu beschränken. Im Gegensatz dazu scheint die schier unendliche Menge von vorhandenen Texten, Bildern, Filmausschnitten usw. im Netz für das Fremdsprachenlernen eine Art Schlaraffenland darzustellen. Die Suche nach authentischen Texten, die seit der kommunikativen
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XIII. Medien und Lehr-Lernmaterialien Wende ein hohes Gut für die Fremdsprachendidaktik sind, für das einst eigene didaktische Zeitschriften wie Authentik gegründet wurden, ist einfacher geworden. Besonders durch den digitalen Transport auditiver und audiovisueller Materialien haben auch weit vom Zielsprachenland entfernte Klassenzimmer einen schnellen Zugriff auf Hör- und Hörsehtexte, was sich u. a. in der wachsenden Beliebtheit von Podcasts zeigt. Die jeweils aktuellen Nachrichtensendungen aus Radio und Fernsehen sind ebenso abrufbar wie spezielle Internetdienste; YouTube u. ä. liefern von Individuen gedrehte Filme oder Auszüge aus professionellen Produktionen, immer mehr authentische Stimmen von Muttersprachlern und Deutschlernenden stehen den Lehrenden und Lernenden zur Verfügung. Diese Vielfalt produziert neue Herausforderungen für die Fremdsprachendidaktik. Während die Eingeschränktheit von Material vor dem Aufkommen des Internet je nach Sichtweise als Zensur oder qualitätssichernde Maßnahme von Verlagen beschrieben werden konnte, erlaubt die Anarchie des Netzes die Verbreitung beliebiger und beliebig vieler Texte. Dies bedeutet, dass die Qualitätssicherung auf die Rezipienten verschoben ist. Waren für einen Fremdsprachenlerner außerhalb des deutschsprachigen Raums zuvor der Lehrer und das Lehrwerk sowie, wenn er Glück hatte, eine gut ausgestattete Bibliothek und ein guter Kurzwellenempfänger seine von einer Redaktion oder einem Lektorat kontrollierten Hauptinformationsquellen, so ist er bei Texten aus dem Internet darauf angewiesen, die Quellen durch seine eigene Medienkompetenz angemessen einschätzen zu können. Für die Didaktik gilt: Die Arbeit mit authentischen Materialien aus dem Internet muss so durch auf die jeweiligen Stadien des Spracherwerbs zugeschnittene Aufgabenstellungen und Vermittlungen von Strategien begleitet werden, dass die Lernenden erfolgreich mit diesen umgehen können. Dies kann z. B. bedeuten, dass bereits im sehr frühen Anfangsunterricht stark gesteuerte Ausflüge ins Netz unternommen werden, bei denen die Zahl der anzusteuernden Seiten begrenzt ist, die Aufgabenstellung nur selektives Lesen erfordert und die schriftliche oder mündliche Mitteilung der gefundenen Lösung mit dem vorhandenen sprachlichen Können möglich sein muss (vgl. dazu ausführlicher Rösler 2007: 160⫺168). Ebenso wie im traditionellen Fremdsprachenunterricht in Bezug auf die erste Arbeit mit Ganzschriften, auf die Arbeit mit Filmen usw. ist auch bei der Arbeit mit Texten aus dem Internet also dafür zu sorgen, dass das über die Lehrwerkprogression hinausgehende Arbeit mit authentischen Texten mit Aufgabenstellungen verbunden ist, die dafür sorgen, dass Lernende so früh und so erfolgreich wie möglich mit zielsprachlichem Material umgehen lernen. Neben der Vielfalt des vorhandenen Materials ist dessen Aktualität ein weiterer Grund für die Arbeit mit dem Internet, vor allem dann, wenn es um landeskundliche Inhalte im weitesten Sinne geht. Entsprechend haben sich für diesen Bereich eine Reihe von Aufgabentypen herausgebildet, z. B. WebQuests, bei denen Lernende eine bestimmte Aufgabe durch das Aufsuchen von Seiten im Netz lösen müssen, oder kooperative Spiele wie z. B. Odyssee (vgl. Grätz 1999), bei der Gruppen von Lernenden ihren eigenen Standort anderen Lernenden in verrätselter Form präsentieren und den anderer Gruppen erraten müssen (vgl. zur Vielfalt von Aufgaben für den DaF-Unterricht unter Einbeziehung des Internets Biechele et al. 2003).
4.4. Kooperatives Lernen Die schnelle Überwindung von Zeit und Raum führt dazu, dass das fremdsprachendidaktisch bewährte Konzept der Klassenpartnerschaften quantitativ ausgeweitet werden
136. Medien im Deutsch als Fremd- und Deutsch als Zweitsprache-Unterricht
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kann. Für Kooperationsprojekte aller Art gilt auch weiterhin der Satz, dass es egal ist, in welchem Medium man sich nichts zu sagen hat, wenn man sich nichts zu sagen hat. Wie bei den klassischen Kooperationsprojekten sind also auch bei digitalen Kooperationsprojekten die Fragen der Inhalte, der Rahmenbedingungen der beteiligten Institutionen usw. zuerst zu klären, die Bereitstellung von Kommunikationskanälen allein hilft wenig. Reinhard Donath, einer der deutschen Pioniere des kooperativen Lernens mit digitalen Medien, hat dies in seinen zehn goldenen Regeln für die digitale Projektarbeit (http:// www.schule.de/englisch/tipps_neu.htm) festgehalten, die im folgenden in einer sprachlich leicht überarbeiteten Fassung wiedergegeben werden: 1. Partnerlehrkraft langfristig vor Projektbeginn suchen. 2. Zeit ⫺ Thema ⫺ Erwartungen ⫺ Wünsche mit Partnerlehrkraft intensiv koordinieren und dabei mit der Partnerlehrkraft „ins Gespräch“ kommen, sich kennen lernen. 3. Projekt und Zeitrahmen der Lerngruppe vorstellen: Ideen sammeln, Neugier wecken, Thema/Themen festlegen, Interessen formulieren. 4. Absprachen mit Lerngruppe zur Organisation der Arbeit im Projekt: Gruppen bilden, Gruppenregeln, Ansprechpartner in der Gruppe; E-Mail-Adressen für die Gruppen und/oder individuelle Lerner im Netz einrichten; alle E-Mails werden als Kopie (CC) an Lehrkraft geschickt. 5. Ständige Kommunikation mit Partnerlehrkraft, mindestens einmal pro Woche. 6. Lernertagebücher führen lassen (was wurde in den Gruppen gemacht, was wurde gelernt, welche Methoden sind benutzt worden, neu gelernte Wörter, unbekannte Wörter und Strukturen), Zwischenberichte über den Stand der Arbeit im Plenum. 7. Unterschiedliche Meinungen von allen ins Plenum einbringen lassen, austauschen, nicht bewerten, sondern Gründe für das Andere, Neue, Unbekannte, Verstörende finden. Wie gehe ich damit um, was bedeutet das für mich? 8. Ergebnisse zusammenfassen: Reader ⫺ Webseiten ⫺ Poster ⫺ Ausstellung im Klassenraum/Flur, andere Lerngruppen einladen und Ergebnisse vor Publikum präsentieren. 9. Evaluation: Was habe ich gelernt, was war für mich neu/verstörend, wie habe ich das mit meiner Partnerin/meinem Partner gelöst; wie habe ich methodisch gearbeitet, wie möchte ich weitermachen? 10. Auswertung mit der Partnerlehrkraft: Verlauf des Projektes inhaltlich und methodisch reflektieren; Was haben wir voneinander, miteinander und bei diesem Projekt gelernt? Wollen wir so ein Projekt noch einmal machen? Was machen wir dann genauso, was machen wir anders? Kooperationsprojekte sind durch die technischen Möglichkeiten häufiger realisierbar geworden, sowohl solche zwischen Deutschlernenden und Deutschlernenden, Deutschlernenden und Muttersprachlern als auch zwischen Deutschlernenden und zukünftigen Deutschlehrern, die in Kooperationsprojekten als Tutoren fungieren (vgl. Tamme 2001). Die Zunahme derartiger Projekte ging mit einer Zunahme der Beforschung einher (vgl. z. B. die Beiträge in O’Dowd 2007 sowie Belz und Thorne 2006). Die Beschleunigung der Interaktionsmöglichkeiten bringt dabei nicht nur Vorteile, sondern kann auch zu einer stärkeren Oberflächlichkeit oder gar zu einem interkulturellen Aneinandervorbeireden und zu interkulturellen Missverständnissen führen, wenn die Kooperationen nicht sorgfältig vorgeplant sind (vgl. dazu Müller-Hartmann 2000; Belz und Müller-Hartmann 2003 oder O’Dowd und Ritter 2006).
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XIII. Medien und Lehr-Lernmaterialien Dass Kooperationen durch die digitalen Medien leichter initiierbar geworden sind, zeigt sich neben den Klassenkorrespondenzen vor allen Dingen am Tandem-Konzept (vgl. Brammerts und Little 1996), das inzwischen im Internet auf eine gut entwickelte Kontaktbörse verweisen kann. Die Grundkonstellation des Tandem hat sich dabei nicht verändert: Weiterhin kommunizieren Personen, die Experten für ihre eigene Sprache sind, in gemeinsam ausgehandelter Weise miteinander, weiterhin gibt es kein klassisches Lehr-Lernverhältnis. Geändert hat sich die Form des Austausches, die zunächst über EMail, inzwischen per Skype oder vielleicht demnächst in virtuellen Welten stattfindet.
4.5. Von der alleinstehenden Übung zur multimedialen webbasierten Lernumgebung Zu beobachten ist beim Einsatz digitaler Medien für DaF die paradoxe Situation, dass man sowohl eine Tendenz zur weitergehenden Individualisierung des Lernens als auch zur weiteren Verbreitung kooperativen Lernens beobachten kann (vgl. Rösler 2006b). Von den ersten alleinstehenden CALL-Übungen auf dem Computer zu webbasierten multimedialen Lernumgebungen hat das Fremdsprachenlernen mit digitalen Medien in kurzer Zeit einen weiten Weg zurückgelegt. Begrifflich wird auf die neue Vielfalt zum einen weiterhin mit CALL referiert, parallel dazu hat sich CMC (computer mediated communication) als Terminus etabliert, der anzeigt, dass zwischen der Digitalisierung von Lernmaterial und den Möglichkeiten, Sprachlernende und Lehrende auf verschiedenste Weise miteinander interagieren zu lassen, zu trennen ist. Wie rasant die Entwicklung ist, zeigt ein Blick auf die nur sechs Jahre auseinanderliegenden Publikationen Platten (2003) und Biebighäuser und Marques-Schäfer (2009), die sich mit dem Potential von Chats für DaF beschäftigten. Stand im Artikel von 2003 noch das Design eines didaktischen ChatRaums im Mittelpunkt und war der Chat dort eindeutig ein getipptes Gespräch, so werden im Artikel von 2009 Daten aus diesem Text-Chatraum mit Daten aus einem VoiceChat in der virtuellen Welt Second Life kontrastiert. Die technologische Entwicklung hat es in kürzester Zeit möglich gemacht, den Chat vom Text Chat, einer medial schriftlichen, konzeptionell eher mündlichen Textsorte (vgl. Rösler 2007: 58⫺61), in eine mediale und konzeptionelle Mündlichkeit, den Voice-Chat, zu überführen, der für das Thema Förderung mündlicher Sprachproduktion im Fremdsprachenunterricht eine ganz andere Rolle spielen kann als die getippten Dialoge im Text-Chat. Die multimedialen Lernumgebungen gestatten heute die Zusammenführung unterschiedlicher Medien in das eine Medium; unterschiedliche Wahrnehmungskanäle der Lernenden können zugleich angesprochen, Inhalte gleichzeitig in geschriebener oder gesprochener Sprache, mit und ohne filmische und musikalische Realisierung präsentiert werden. Durch Voice over IP können die Lernenden miteinander und mit Muttersprachlern weltweit sprechen, Videokonferenzen führen oder sich in Gestalt von Avataren in virtuellen Welten treffen. Waren Kooperationsprojekte zunächst auf den Austausch per Mail beschränkt, steht inzwischen Kooperationswilligen z. B. in Lernplattformen über Mail, Text-Chat und Voice over IP hinaus ein reiches Repertoire an synchronen und asynchronen Mitteln zur Kommunikation zur Verfügung: Whiteboards, Foren, Wikis, Blogs, Mindmapping-Programme usw. Im Gegensatz zur getippten Mündlichkeit in Chats sind Wikis, Blogs und andere Online-Schreibaktivitäten tatsächlich technische Möglichkeiten, im
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DaF-Unterricht das Schreiben und sogar das kooperative Schreiben zu fördern (vgl. z. B. Ballweg 2008 oder Würffel 2008). Seit dem Aufkommen von Orten des kooperativen Schreibens ebenso wie von Podcasts, Social Software usw., also seit der mit dem Schlagwort Web 2.0 zusammengefassten Entwicklung, gehört es immer mehr zur Lebenswelt eines Teils der Menschheit, sich im Netz zu präsentieren und Beziehungen in Web 2.0-Anwendungen virtuell zu pflegen. Dies kann auch in Sprachlernkontexten dazu führen, dass die Lernenden selbstbestimmt Inhalte (multimedial) präsentieren und mit einem real existierenden Publikum kommunizieren (vgl. als Beispiel Schmidt 2009). Die Geschichte der Fremdsprachendidaktik ist voll von derartigen Versuchen, der Fremdbestimmung im Klassenzimmer durch inhaltliche Selbstbestimmung entgegenzuwirken, z. B. mit an Freire, Freinet und Rogers anklingenden emanzipatorischen oder gruppendynamischen Konzepten. Wie bei diesen ist auch bei Versuchen im Kontext der digitalen Medien abzuwägen, wo die Gefahr einer Verabsolutierung der inhaltlichen Selbstbestimmung besteht, die den Spracherwerb behindern könnte, und wo aufregende Publikationsmöglichkeiten im Netz problematisch sein können. Ein Lerner, der in einem Blog in einem sprachlich wenig fortgeschrittenen Zustand einen Text publiziert, kann sehr stolz darauf sein, dass er mit der Welt kommuniziert und dass die Welt ihm Kommentare schickt. Dieser Eintrag im Blog kann aber aufgrund seines Öffentlichkeitscharakters auch gegen ihn verwendet werden, wenn später evtl. ein Personalchef sich um die Sprachkompetenz eines Bewerbers kümmert. Die gesellschaftliche Debatte um die Neujustierung des Verhältnisses von Privatheit und Öffentlichkeit, die durch die digitalen Medien aufgekommen ist, ist auch für den Einsatz der digitalen Medien im Fremdsprachenunterricht ein relevantes Thema: Es ist jeweils abzuwägen, ob und wie weit die Motivation schaffende Möglichkeit, sich real der Welt mitzuteilen, von der didaktischen Schutzfunktion eines Lehrenden, dafür zu sorgen, dass sich Schüler nicht bloßstellen, gerahmt werden muss.
5. Primat der Didaktik Die Verbesserung von Kommunikationsmöglichkeiten und das Vorhandensein multimedialen Lernmaterials bilden lediglich die Voraussetzung für eine Veränderung des Fremdsprachenlernens, sie selbst sind diese Veränderungen nicht. Das Deutschlernen durch Kontakte in virtuellen Lernumgebungen oder mit Texten und Videos aus dem Netz ist unter didaktischen Gesichtspunkten kein neuer Gegenstand, sondern die technologisch neu gestaltete Verlängerung der existierenden Diskussionen um Begegnungslernen und die Rolle von authentischen Texten im Unterricht. Die seit den 1970er Jahren geführte Diskussion um authentisches vs. progressionsgeleitetes Material im Klassenzimmer im Anfängerbereich z. B. hat sich durch das Internet nicht qualitativ verändert; verändert haben sich die Menge des Angebotes und vor allem die leichte Erreichbarkeit von zielsprachigen Texten und Sprechern. Die Fremdsprachendidaktik tut deshalb gut daran, zurückliegende Phasen der Medieneuphorie genau zu betrachten, um zu vermeiden, strukturell gleiche Fehler aufs Neue zu begehen. Die anfängliche Euphorie für die neuen CALL-Übungen spiegelt schließlich die ursprüngliche Euphorie für das Sprachlabor, die für die komplexen digitalen Multimedia-Lernumgebungen die für die analogen Medienverbünde aus der Hochzeit der
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XIII. Medien und Lehr-Lernmaterialien kommunikativen Didaktik. Solange der Blick der Didaktiker auf das Lehren und Lernen des Deutschen fokussiert bleibt und vor allem solange das Lernen mit neuen Medien durch empirische Forschung wie z. B. von Schmidt (2007, kooperatives Arbeiten mit individualisierender Lernsoftware), Würffel (2008, Strategien bei der Arbeit mit digitalem Selbstlernmaterial) und Scheller (2009, animierte Grammatikdarstellung) begleitet wird, besteht die Chance, dass weder durch immer schöner blinkende Geräte noch durch funkelnde allgemeine Konzepte, die die neuen Medien für die Durchsetzung eines schon wieder neuen Paradigmas missbrauchen, dem Fremdsprachenlernen im Namen einer technologischen Entwicklung Lehr- und Lernweisen aufgezwungen werden, die für die jeweils konkreten Lernenden nicht angemessen sind.
6. Literatur in Auswahl Ballweg, Sandra 2008 „Wann ist die nächste Sprechstunde?“ ⫺ Betreuung und Beratung im Online Writing Lab. Zeitschrift für Interkulturellen Fremdsprachenunterricht (Online) 13(1): 18 S. Belz, Julie A. und Steven L. Thorne (Hrsg.) 2005 Internet-Mediated Intercultural Foreign Language Education. Boston: Heinle. Belz, Julie A. und Andreas Müller-Hartmann 2003 Teachers as intercultural learners: negotiating German-American telecollaboration along the institutional faultline. The Modern Language Journal 87(1): 71⫺89. Biebighäuser, Katrin und Gabriela Marques-Schäfer 2009 Text Chat und Voice Chat. Eine Analyse der Chat-Angebote des Goethe-Instituts in JETZT Deutsch lernen und in Second Life. Informationen Deutsch als Fremdsprache 5: 401⫺428. Biechele, Markus, Dietmar Rösler, Stefan Ulrich und Nicola Würffel 2003 Internet-Aufgaben Deutsch als Fremdsprache. Stuttgart: Klett. Brammerts, Helmut und David Little (Hg.) 1996 Leitfaden für das Sprachenlernen im Tandem über das Internet. Bochum: Universitätsverlag Brockmeyer. Chapelle, Carol A. 2001 Computer Applications in Second Language Acquisition. Cambridge: Cambridge University Press. Dahlhaus, Barbara 1994 Fertigkeit Hören. Berlin: Langenscheidt. Ehnert, Rolf 1984 Video im Unterricht Deutsch als Fremdsprache. In: Hellmut Binder und Hartmut Schröder (Hg.), Video im allgemein- und fachsprachlichen Deutschunterricht, 5⫺14. Jyväskyla (Reports from the Language Center). (Zitiert nach Schwerdtfeger 2001). Funk, Hermann 2000 Schnittstellen ⫺ Fremdsprachenunterricht zwischen ,alten‘ und ,neuen‘ Medien. In: Erwin Tschirner, Hermann Funk und Michael Koenig (Hg.), Schnittstellen: Lehrwerke zwischen alten und neuen Medien, 13⫺28. Berlin: Cornelsen. Gamper, Johann und Judith Knapp 2002 A review of intelligent CALL-systems. Computer Assisted Language Learning 15(4): 329⫺342. Grätz, Ronald 1999 Odyssee ⫺ ein interkulturelles E-Mail-Suchspiel. Fremdsprache Deutsch 21: 25.
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Dietmar Rösler, Gießen (Deutschland)
137. Lehrwerke im Deutsch als Fremd- und Deutsch als Zweitsprache-Unterricht
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137. Lehrwerke im Deutsch als Fremd- und Deutsch als Zweitsprache-Unterricht 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Zur Funktion von Lehrwerken im Unterricht Lehrwerkentwicklung Lehrwerkkritik und Lehrwerkanalyse Lehrwerkforschung Regionale Lehrwerke Perspektiven Literatur in Auswahl
1. Zur Funktion von Lehrwerken im Unterricht Mit Begriffen wie Lehrbuch, Lehrwerk, Unterrichts- bzw. Lehrmedium, Lehr- und Lernmaterialien u. a. wird all das bezeichnet, was dazu dient, Lernen anzuregen, zu stützen und zu steuern. Dabei signalisiert Lehrwerk gegenüber Lehrbuch, dass außer dem schriftlichen Material auch Medien, evtl. Internet-Plattformen o. ä. dazugehören und einen Medienverbund bilden. Auch wenn die Lehrkraft die Entscheidungen über die Verwendung von Lehrmaterial trifft, so nehmen Lehr-/Lernmaterialien schon dadurch, dass aus der Vielfalt authentischer Materialien ausgewählt und das angebotene Sprachmaterial in eine Reihenfolge gebracht wird, Einfluss auf den Ablauf des Lehr-Lernprozesses. Lehrmaterialien können als Ergänzung zum Unterricht oder aber kurstragend konzipiert sein, d. h. dass sie dem vorgesehenen Curriculum entsprechen bzw. sich der Unterricht an ihrer Progression orientiert. Auch kurstragendes Lehrmaterial wird jedoch vielfach von Lehrenden als „Steinbruch“ benutzt (vgl. Rösler und Skiba 1987), um den eigenen Unterricht zu erweitern oder an die Bedürfnisse einer Lerngruppe anzupassen. Im Hinblick auf die Rolle von Lehrwerken im Deutschunterricht werden im Folgenden vier zentrale Relationen herausgehoben: 1.1. Lehrwerke und Lehr-/Lernziele: Lehrwerke orientieren sich in der Regel an vorhandenen Curricula oder Prüfungen, um damit ihre Verwendungschancen zu verbessern und eventuell vorhandene Zulassungshürden zu passieren. Sie bilden die Lehr- und Lernziele im Bereich der Texte und Themen, der Grammatik, der Vermittlung von Lernstrategien oder im Bereich des interkulturellen Lernens ab und bringen den Lehrstoff in eine Reihenfolge, die eine systematische, zielgerichtete Progression erlaubt. Sind keine Lehrpläne vorhanden, rücken Lehrwerke gelegentlich an ihre Stelle und stellen die curriculare Leitlinie für den Unterricht dar. Die Niveaustufenbeschreibungen des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen (GeR) dienen insbesondere im Bereich der Erwachsenenbildung als Orientierungsgröße für Prüfungen wie auch für Lehrwerke. 1.2. Lehrwerke und Lehrinhalte: Außerhalb des deutschsprachigen Raumes stellen die in Lehrwerken enthaltenen Texte und Themen den zentralen Zugang zur fremden Sprache und Kultur dar und legen damit fest, in welchen Situationen, mit welchen Texten die
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XIII. Medien und Lehr-Lernmaterialien
deutsche Sprache im Unterricht erlernt und praktiziert werden kann. Mit der kommunikativen Methode hat sich für Lehrwerke die Forderung nach authentischen Texten und die Orientierung an Alltagssituationen durchgesetzt, so dass literarische Texte vielfach ganz aus den Lehrwerken verschwunden waren. Seit den 1990er Jahren zeichnet sich hier jedoch eine Schwerpunktverlagerung ab: Im Hinblick auf interkulturelle Lehr- und Lernziele und Lehrinhalte haben literarische Texte wieder an wieder an Bedeutung gewonnen (vgl. Mummert 2006). Was die Landeskunde betrifft, so verträgt sich die Forderung nach Aktualität nicht mit dem klassischen Lehrbuch, das schnell veraltet. Hier erscheint das Internet als Alternative: Die Vernetzung von Daten, die Verbindung von Text, Bild und Ton und die Aktualität sind Bereiche, in denen ein klassisches Lehrwerk, auch wenn es den Medienverbund nutzt, nicht mehr konkurrenzfähig ist (vgl. Art. 138). Allerdings hapert es hier wie bei der Orientierung am GeR an der zielgruppenspezifischen Auswahl und Adaption. Aufbereitete Medien (Zeitungen wie z. B. Authentik oder der Österreich-Spiegel ) werden als ein Mittelweg zwischen authentischem Material und einer didaktisch verantworteten ziel(gruppen)orientierten Auswahl angeboten. 1.3. Lehrwerke und die Lernenden: Lehrwerke richten sich an die Lehrkräfte; Lernende erleben Lehrwerke in der Regel als eine Vorgabe, die dazu führt, eigene Interessen im Unterricht zugunsten einer Orientierung am Lehrwerk zurückzustellen (vgl. Quetz 1976). Immer wieder sind daher Versuche gemacht worden, Unterricht unter Verzicht auf Lehrwerke in stärkerem Maße an den Lernenden zu orientieren. Der französische Reformpädagoge Ce´lestin Freinet hat insbesondere die „Gleichschaltung“ und die „Indoktrination“ der Lernenden durch Lehrbücher kritisiert und den Unterricht ohne Lehrbuch, durch Handeln und Kommunikation und ein produktives Umgehen mit Medien und Materialien (z. B. durch schuleigene Druckereien, in denen schülereigene Texte „veröffentlicht“ werden), zum Programm erhoben (vgl. Dietrich 1995: 26⫺29). Mit der Forderung nach Lern(er)autonomie ist dieser Gedanke seit den 1990er Jahren wieder aufgegriffen worden: Die Übertragung unterrichtsrelevanter Entscheidungen an die Lernenden gerät in Konflikt mit der Steuerung des Unterrichts durch Lehrwerke. 1.4. Lehrwerke in Abhängigkeit von Lehrmethoden: Lehrwerke spiegeln in der Regel den jeweiligen Stand der fremdsprachendidaktischen Diskussion und sind insoweit Manifestationen der im Erscheinungszeitraum herrschenden methodischen Vorstellungen von Deutschunterricht. Götze (1994: 29⫺30) unterscheidet auf Grund der jeweiligen methodischen Ausrichtung fünf Lehrwerkgenerationen: a) Grammatikorientierte Lehrwerke in der Tradition der Grammatik-Übersetzungsmethode (z. B. Deutsche Sprachlehre für Ausländer von Heinz Griesbach und Dora Schulz, 1955); b) Audio-linguale bzw. audio-visuelle Lehrwerke im Gefolge der audiolingualen Methode (z. B. Vorwärts International von E. J. Arnold et al. 1974); c) Kommunikative Lehrwerke im Anschluss an die pragmatische Wende in der Fremdsprachendidaktik (z. B. Deutsch aktiv von Gerhard Neuner et al. 1987 ff.); d) Interkulturell ausgerichtete Lehrwerke im Gefolge der Bemühungen, die Selbst- und Fremdwahrnehmung im Unterricht zum Thema zu machen und Kulturbegegnung zu
137. Lehrwerke im Deutsch als Fremd- und Deutsch als Zweitsprache-Unterricht
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ermöglichen (z. B. Sprachbrücke von Gudula Mebus et al. 1989⫺1990 und Sichtwechsel von Martin Hog et al. 1984 bzw. Sichtwechsel Neu von Saskia Bachmann et al. 1995 f.); e) Als fünfte Generation bezeichnet Götze Lehrwerke, die er der ,mentalistischen Wende‘ in der Methodik zurechnet, die also in stärkerem Maße kognitives Lernen ins Zentrum rücken (z. B. Die Suche von Volker Eismann et al. 1993 f.). Die Abgrenzung dieser fünften Lehrwerkgeneration ist allerdings strittig, da von einer kognitiven Wende im Bereich der Methodik keineswegs durchgehend die Rede sein kann, eher vielleicht von einem Ende starrer Methodenkonzeptionen, was auch dazu führt, dass neuere Lehrwerke keinem einheitlichen methodischen Konzept mehr verpflichtet sind (vgl. die Diskussion in Bausch et al. 1998) und sich vor allem an Prüfungsvorgaben und dem GeR orientieren.
2. Lehrwerkentwicklung In der DDR galten Lehrwerke als wichtige Instrumente zur „Umsetzung von Grundpositionen der Erziehung und Bildung in die Praxis des Unterrichts.“ (Breitung et al. 1982: 19). Am Herder-Institut spielte die Entwicklung von Lehrmaterial daher eine wichtige Rolle; seine Entwicklung war auch Gegenstand theoretischer Reflexion. In Westeuropa dagegen war und ist die Entwicklung von Lehrwerken nur selten Gegenstand wissenschaftlicher Überlegungen. Das mag darin begründet sein, dass in die Entwicklung von Lehrmaterial in hohem Maße kommerzielle Überlegungen einfließen, auch darin, „dass sich der kreative Prozeß der Ausarbeitung eines Planungsschemas einer systematischen Beschreibung entzieht“ (Neuner 1994: 230). Insgesamt ist wohl zu bedenken, dass das Verhältnis der Fremdsprachendidaktik zur Unterrichtspraxis eher analytischer Natur ist, während Präskription, sowohl was die Unterrichtsplanung, als auch was die Lehrwerkentwicklung betrifft, als unwissenschaftlich angesehen wird. Allerdings werden immer wieder Forderungen nach stärker theoriegeleiteter Lehrwerkentwicklung erhoben (vgl. Tulodziecki 1983). Auf der Grundlage von Untersuchungen zur Textverständlichkeit und Textverarbeitung, insbesondere mit Hilfe des sog. Hamburger Verständlichkeitskonzepts (vgl. Langer et al. 1981) ist versucht worden, Grundsätze für die Gestaltung von Lehrmaterial zu entwickeln. Wißner-Kurzawa (1985) hat anhand der Konstruktion von grammatikalischen Texten für den Französischunterricht nachweisen können, dass die Verständlichkeit von Instruktionstexten unter Nutzung solcher Erkenntnisse optimiert werden kann. Konzepte des autonomen Lernens haben zu Überlegungen geführt, wie denn Lehrwerke gestaltet werden können, die den Lernenden zu mehr Selbstbestimmung beim Fremdsprachenlernen verhelfen. Nodari entwickelt entsprechende grundlegende Prinzipien der Lehrwerkgestaltung, die die Verknüpfung des Sprachenlernens mit allgemeinerzieherischen Zielen, Grundlagen für kommunikatives und kooperatives Sprachhandeln im Unterricht und die Förderung des autonomen Lernens betonen (Nodari 1995: 181⫺ 182). Auch bei diesen Grundsätzen wird deutlich, dass sich die Lehrwerkgestaltung nicht linear aus wissenschaftlichen Erkenntnissen (hier etwa der Kognitionswissenschaften) ableiten lässt, sondern in solche Grundsätze stets die bildungspolitischen Leitvorstellungen der jeweiligen Zeit einfließen (vgl. genauer Krumm und Duszenko 2001).
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XIII. Medien und Lehr-Lernmaterialien
3. Lehrwerkkritik und Lehrwerkanalyse Eine kritische Auseinandersetzung mit Lehrwerken findet in vielfältiger Form statt, seit es Lehrwerke gibt: Die Entscheidung eines Lehrenden oder einer Institution, ein bestimmtes Lehrwerk zu verwenden, beruht auf der Anwendung mehr oder weniger bewusster Beurteilungs- und Auswahlkriterien. Der Schulausschuss der deutschen Kultusministerkonferenz ließ z. B. 1977 die Lehr- und Lernmittel für Deutsch als Fremdsprache (gemeint waren die für den Deutsch als Zweitsprache-Unterricht in Deutschland geeigneten Lehrmaterialien) überprüfen und gab dazu eine Empfehlung ab (vgl. Schulausschuß 1977). Jedes Lehrwerk, das in Österreich an öffentlichen Schulen verwendet werden soll, unterliegt einem Prüfungsverfahren durch eine vom Unterrichtsministerium berufene Kommission; die Zulassungskriterien (u. a. Übereinstimmung mit dem Lehrplan, Berücksichtigung der Selbsttätigkeit des Schülers, Berücksichtigung österreichischer Verhältnisse, Gleichbehandlung von Mann und Frau) sind durch eine im Bundesgesetzblatt veröffentlichte Ordnung festgelegt (vgl. Müller 1976). Mit der Gründung eines „Arbeitskreises Lehrwerkforschung ⫺ Lehrwerkkritik“ haben Heuer und Müller den Anstoß zur Entwicklung einer wissenschaftlichen Lehrwerkkritik gegeben (vgl. Heuer und Müller 1973, 1975; Neuner 1979). Das Mannheimer Gutachten hat diese Impulse für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache aufgegriffen. Entstanden ist es auf Grund einer Anregung der Kulturabteilung des Auswärtigen Amtes der Bundesrepublik Deutschland: Eine interdisziplinär zusammengesetzte Kommission von Wissenschaftlern unter dem Vorsitz von Ulrich Engel vom Institut für Deutsche Sprache in Mannheim erarbeitete einen Kriterienkatalog zur Bewertung von Lehrwerken (vgl. Krumm et al. 1975) und legte umfassende Analysen der seinerzeit gängigen, in der Bundesrepublik publizierten Lehrwerke für Deutsch als Fremdsprache vor (vgl. Engel et al. 1977, 1979). Die Kriterien des Mannheimer Gutachtens bewerten die didaktischen Konzeptionen, die linguistischen Grundlagen wie z. B. den Ausschnitt der vermittelten Sprache, die Art der Grammatikvermittlung, Texte und Kontrastivität, und die Themenplanung, wozu die Frage der Literatur und der Landeskunde gerechnet wird (zu den Kriterien im einzelnen vgl. Engel et al. 1979: 9⫺29). Lehrwerkkritik versucht, vorhandene wissenschaftliche Erkenntnisse, unterrichtliche Erfahrungen und didaktische Zielvorstellungen in einer hermeneutischen Lehrwerkanalyse zu bündeln. Sowohl die Auswahl der zu Grunde gelegten Kriterien als auch deren Anwendung auf konkrete Materialien stellen, selbst wenn die Lehrwerkkritik als interdisziplinäre Teamarbeit angelegt ist, Formen einer subjektiven Interpretation dar, die ⫺ auch im Falle des Mannheimer Gutachtens ⫺ durchaus kontrovers diskutiert werden können (vgl. die Diskussion in Zielsprache Deutsch 1978). Zugleich wurde mit dem Mannheimer Gutachten für das Fach eine Tradition der Lehrwerkkritik und -analyse begründet (vgl. z. B. Schmidt 1994). Gegenüber der Behauptung, nur Erfahrung erlaube eine angemessene Beurteilung von Lehrwerken (vgl. die Kritik an einer „spekulativen Lehrwerkkritik“ bei Heindrichs et al. 1980: 149⫺150) steht hinter den Lehrwerkgutachten die Überlegung, dass Erfahrung auch blind machen könne für neue Ansätze und Möglichkeiten, dass es also erforderlich sei, Lehrwerke auch unabhängig von ihrer praktischen Erprobung auf die Übereinstimmung mit didaktischen und fachlichen Konzepten zu überprüfen. Anhand von Lehrwerken für den Sachunterricht in der Schule haben Rauch und Wurster (1997) deutlich machen können, dass eine Schreibtischevaluation von
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Lehrwerken zu durchaus vergleichbaren Ergebnissen kommen kann wie eine aufwendige Praxisevaluation. Die Weiterentwicklung der Lehrwerkkritik ist insbesondere dadurch gekennzeichnet, dass die Analysekriterien präziser auf unterschiedliche Lerngruppen abgestimmt wurden. So entwickelte eine Arbeitsgruppe im Rahmen des Sprachverbandes Deutsch für ausländische Arbeitnehmer 1979 Kriterien, die eine Überprüfung von Lehrwerken im Hinblick auf ihre Eignung für den Unterricht mit Arbeitsmigranten zum Ziel haben und legte ein entsprechendes Lehrwerkgutachten vor (vgl. Barkowski et al. 1980); der Sprachverband hat entsprechend den veränderten Zielgruppen und Rahmenbedingungen in regelmäßigen Abständen neue Kriterien und Lehrwerkanalysen vorgelegt. Stand 1980 noch die Gruppe der Arbeitsmigranten in ihrer „Bahnhofssituation“ im Zentrum, so stellt sich für neuere Lehrwerke die Frage, wie weit sie der mehrsprachigen Gesellschaft und der bikulturellen Identität der Zielgruppe gerecht werden (vgl. Sprachverband 1997; Kuhs 2001). Für fachsprachliche Lehrwerke haben Beier und Möhn 1982 sowie Buhlmann und Fearns 1987 Kriterien für eine Lehrwerkbeurteilung wie auch Anforderungen an Lehrwerke formuliert, allerdings keine entsprechenden Analysen vorgenommen. Neben der durch Lehrwerkgutachten repräsentierten Lehrwerkkritik, die auf eine Beurteilung von Lehrwerken im Ganzen zielt, stehen Analysen einzelner Aspekte von Lehrwerken, so z. B. die Landeskunde (vgl. Ammer 1988; Kramsch 1987; 1988; Warmbold 1993; Wegner 1999), die Grammatik (vgl. Müller-Küppers 1991; Götze 1994; Latour 1994), aber auch die Funktion von Bildern, die Rolle von Männern und Frauen u. ä. (vgl. die Beiträge in Kast und Neuner 1994 sowie Krumm und Duszenko 2001).
4. Lehrwerkorschung Im Unterschied zur Lehrwerkkritik und Lehrwerkanalyse, die das Lehrwerk als Produkt untersuchen, zielt Lehrwerkforschung im Sinne einer Wirkungsforschung auf den Lernund Unterrichtsprozess. Dabei ist zwischen einer systematischen Erprobung von Lehrwerken eventuell schon im Rahmen ihrer Entwicklung und einer Wirkungsforschung, die die Nutzung der Lehrwerke durch Lehrende und Lernende und ihre Wirkung insgesamt oder aber von einzelnen Elementen auf die Beteiligten untersucht, zu unterscheiden. Schließlich ist auch die historische Forschung in Betracht zu ziehen, geben Lehrwerke doch einen Einblick in das Verständnis des Sprachenlehrens und -lernens in der Vergangenheit. 4.1. Lehrwerkerprobung: Auch wenn Lehrwerkautoren oder -verlage immer wieder auf eine der Publikation vorausgegangene Erprobung von Lehrwerken verweisen, hat sich im Bereich des Deutschen als Fremd- und Zweitsprache kein Standard etabliert, nach dem solche Erprobungen systematisch durchgeführt und auch publiziert werden. Sie hätten Auskunft zu geben über erreichte Wirkungen, über Fehleinschätzungen und auf Grund der Erprobung durchgeführte Korrekturen (vgl. Krumm 1982). Solche Erprobungen ließen sich als erste Stufe einer unterrichtsbezogenen Lehrwerkforschung betrachten und würden vor allem die Lehrwerkentwicklung auf eine empirische Grundlage stellen. Einen Schritt in diese Richtung leistete die Darstellung der Begleituntersuchung zu dem Projekt Sprachbrücke, in dem es um die Entwicklung von Curricula und Lehrmaterialien für den Deutschunterricht mit Familienangehörigen der amerikanischen Streitkräfte in
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XIII. Medien und Lehr-Lernmaterialien Deutschland ging (Legutke 1997a). Die Erprobung des Materials schloss die Untersuchung des Gebrauchs, den Lehrende und Lernende von dem Materialangebot machen, ein (De Leeuw und Legutke 1997; Legutke 1997b). Auch hier fehlen allerdings Auskünfte darüber, welche Konsequenzen im Konkreten für die Überarbeitung des Lehrmaterials gezogen wurden. 4.2. Lehrwerkwirkung: Die Untersuchung der Wirkungen von Lehrwerken auf den Unterrichtsprozess, ihrer Nutzung durch Lehrende und Lernende kann teilweise an Erkenntnisse in anderen Fächern (z. B. hinsichtlich der Stereotypenforschung) und anderer Fremdsprachen anknüpfen und hieraus Konsequenzen auch für den Deutschunterricht ableiten. So dürften die folgenden, in anderen Unterrichtsfächern gewonnenen Erkenntnisse durchaus auch für den Deutschunterricht zutreffen: a) Bis weit in die 1980er Jahre wird der Unterricht bis zu 80 % vom Lehrmaterial dominiert; Lehrende tendieren dazu, das Ausbrechen der Lernenden aus den Vorgaben des Lehrwerks immer wieder zu verhindern und den Unterricht am Lehrwerk zu orientieren (vgl. Quetz 1976; Niskanen 1987). Dass Lehrende den Aktualisierungsspielraum kaum nutzen, den ihnen Lehrwerke bieten, mag auch in einer fehlenden Ausbildung begründet sein. b) Die Verwendung von schriftlichem Lehrmaterial „scheint als Ergebnis das Verschwinden von schülerzentrierten und kooperativen Arbeitsformen (…) und eine deutliche Einseitigkeit im Gebrauch von Aktivitätsformen hervorzubringen“ (Koskenniemi und Koumulainen 1983: 17). Das könnte aber auch darin begründet sein, dass Lehrende Materialien vermissen, die es erlauben, unterschiedlichem Lernverhalten gerecht zu werden (vgl. Niskanen 1987: 13⫺14). c) Untersuchungen zur Entwicklung der Lernersprache legen die Vermutung nahe, Lernende würden die im Lehrwerk gelieferten Kommunikationsmodelle strukturell vereinfacht und unter Reduktion von semantischer Komplexität übernehmen (vgl. Hüllen und Lörscher 1979), wenn Lehrende nicht gegensteuern. d) Die wenigen vorliegenden Untersuchungen über die Reaktionen der Lernenden auf Lehrwerke zeigen eher negative Einschätzungen des Faktors Lehrwerk. 1986 hatten bei einer Umfrage des Goethe-Instituts 61,2 % der Befragten ihre Lehrbücher als insgesamt nicht positiv beurteilt, auch in der Studie von Slivensky, bezogen auf den Deutschunterricht in Japan, bleiben die Einstellungen zum Nutzen von Lehrwerken eher negativ. Tab. 137.1: Haben Sie mit Ihrem Lehrbuch viel gelernt? (Slivensky 1996: 210)
Ja, sehr viel ziemlich viel nicht so viel Zu wenig
Kommunikatives Lehrbuch: n ⫽ 127 in %
Grammatisch orientiertes Lehrbuch: n ⫽ 423
1,6 27,7 58 3,9
3,8 30 61,7 2,8
4.3. Historisch orientierte Lehrwerkforschung: Die historische Lehrwerkforschung betrachtet Lehrwerke als Indikatoren nicht nur des jeweiligen Standes der Sprachdidaktik, sondern zugleich als Manifestationen gesellschaftlicher Entwicklungen wie z. B. der Einstellung zur fremden Sprache und Kultur.
137. Lehrwerke im Deutsch als Fremd- und Deutsch als Zweitsprache-Unterricht
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An seinen Lehrbüchern erkennt man ein Volk. Ihre soziologische Funktion ist eine doppelte: sie spiegeln und sie prägen. Das Lesebuch gehört zu jenen institutionellen Einrichtungen, die, aus dem Nationalcharakter herausgewachsen, ihrerseits diesem zu einer festen Form verhelfen. (Minder 1953: 1) So betrachtet Karnein (1976) das Sprachbuch von Meister Jörg nicht nur als frühes Lehrwerk unter dem Aspekt der vermittelten Sprache, sondern zugleich als Dokument, das Auskunft über den Gebrauchswert der deutschen Sprache gibt. Bei Krauskopf (1985) werden französische Deutsch- und deutsche Französischlehrwerke daraufhin untersucht, wie das jeweilige Fremdbild ausgestaltet ist und ob die Aufbereitung der Themen zur Vermeidung von Missverständnissen beitragen kann. Wegner (1997) bezieht in ihre umfangreiche Studie zur Geschichte des Deutsch als Fremdsprache-Unterrichts in Frankreich und England seit 1900 auch die dort erschienenen Deutschlehrwerke ein. Ihre Analyse macht deutlich, dass sich jenseits des universalen fremdsprachendidaktischen Konsenses über eine kommunikative Orientierung des Unterrichts und der Lehrwerke nationale Traditionen und Tendenzen in den Richtlinien und Lehrwerken der beiden Länder behaupten: Während der Deutschunterricht in Frankreich sich bis in die Gegenwart als eine e´ducation civique versteht, die auch auf einer „Abgrenzung vom Anderen durch historisch-ethnische, kulturelle und literarische Konstrukte beruht“, zielen Deutschunterricht und Lehrwerke in England auf „social competence“ und interkulturelle Verständigung (alle Zitate: Wegner 1999: 426⫺427). Die Determinierung des Deutschunterrichts in Frankreich und England durch nationale Diskurse erlaubt, was die vergangenen hundert Jahre betrifft, weder die Rede von europäischen Traditionen und Modernitäten noch Spekulationen über europäische Konvergenzen in der Gegenwart. (Wegner 1999: 333) Zu einer auch andere Länder einbeziehenden historischen Lehrwerkforschung, die zusätzlich das Verhältnis zwischen den in deutschsprachigen Ländern erschienenen Lehrwerken und ihren regionalen Adaptionen einbezieht, liegen erst wenige Studien vor: Röttger (2004) z. B. untersucht die Rezeption der in Deutschland erschienenen Lehrwerke Sprachbrücke (Mebus et al. 1987 ff.) und Sichtwechsel (Bachmann et al. 1995 f.) in Griechenland, Petneki und Szablya´r (1998) entwickeln erste Strukturen einer ungarischen, Min (2001) die einer koreanischen Lehrwerkforschung (vgl. auch Abschnitt 5). Für Deutsch als Zweitsprache gibt es, von einigen Diplom- und Magisterarbeiten zu Einzelaspekten abgesehen, überhaupt noch keine entwickelte Lehrwerkforschung.
5. Regionale Lehrwerke Wie problematisch es sein kann, methodische Konzepte bzw. Lehrwerke, die im deutschen Sprachraum entwickelt wurden, direkt in andere Bildungskontexte zu übertragen, zeigen die Studie von Ngatcha (1991) zu Kamerun ebenso wie die Untersuchung von Röttger (2004) zu Griechenland: Röttger weist nach, dass bereits innerhalb Europas Selbst- und Fremdbilder, historische Konstellationen und Dominanzverhältnisse sich auch in der Reaktion auf und Arbeit mit Lehrwerken spiegeln, so dass ein Methoden-
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XIII. Medien und Lehr-Lernmaterialien und Materialtransfer einer interkulturellen Reflexion und Didaktik bedarf. Auch Grünewald (2005), der in einer Longitudinalstudie prüft, wie sich die Deutschland- und Deutschenbilder bei japanischen Deutschlernenden verändern, arbeitet die methodischen und inhaltlichen Nachteile europäischer Lehrwerke für den Deutschunterricht in Japan heraus (vgl. auch Terada und Holzer-Terada 2002). Auch im Fach Deutsch als Fremdsprache ist daher seit den 1980er Jahren eine Debatte über Methodentransfer und die Notwendigkeit regionaler Lehrwerke entstanden (vgl. Krumm 1987 sowie im einzelnen Breitung und Lattaro 2001). Als Beitrag zu dieser Diskussion sind die Kriterien für die Lehrwerkanalyse anzusehen, die auf spezifische Lehr- und Lernbedingungen in einzelnen Ländern Bezug nehmen und in der Regel auch unter Einbeziehung von Experten und Praktikern dieser Länder entwickelt wurden: Beispiele hierfür sind der Stockholmer Kriterienkatalog (vgl. Krumm et al. 1987 und 1994), dem die Situation in den nordischen Ländern zu Grunde liegt, und der Brünner Kriterienkatalog, der in der tschechischen Republik erarbeitet wurde (vgl. Jenkins 1997). Als beispielhaft kann auch das von der Europäischen Union geförderte Projekt „Interkultureller Dialog durch regionalisierte Lehrwerke (idial)“ angesehen werden, in dem regionalspezifische interkulturelle Lehrmaterialien für den Deutschunterricht bulgarisch-, polnisch- und slowakischsprachiger Lernender sowie umgekehrt Material für Bulgarisch, Polnisch, Russisch und Slowakisch für deutschsprachige Lernende entwickelt wurde. Die Erkenntnis, dass eine Anpassung von Methoden und Lehr-Lernmaterial an Lernende mit anderen sprachlichen, kulturellen und Lernerfahrungen nicht nur in anderen Kulturräumen, sondern ebenso für den Deutsch als Zweitsprache-Unterricht bei Lernenden mit Migrationshintergrund im deutschen Sprachraum erforderlich ist, setzt sich gerade erst durch, wobei die Lehrwerkentwicklung für Deutsch als Zweitsprache den Ansprüchen an eine interkulturelle, angepasste Methodik noch nicht immer gerecht wird (vgl. Art. 6).
6. Perspektiven Lehrwerkforschung und Lehrwerkanalyse verfolgen stets mehrere Zwecke: die Weiterentwicklung unserer Kenntnisse über Sprachlehr- und -lernprozesse ebenso wie eine konkrete Verbesserung des vorhandenen Lehrmaterials. Folgende Gesichtspunkte könnten für die weitere Entwicklung leitend sein: 1. die Weiterentwicklung von Analysekriterien, um Lehrenden für die Lehrbuchauswahl und Lehr-Lernmaterialautoren für die Entwicklung von Lehrwerken begründete und dem jeweiligen Erkenntnisstand entsprechende Gesichtspunkte an die Hand zu geben; 2. die vorausgehende Erprobung und begleitende Evaluierung von Lehr-Lernmaterialien im Sinne einer Praxisforschung, die die Lehrenden und, soweit möglich, auch die Lernenden in den Erprobungs-Entwicklungs-Zyklus einbezieht (vgl. März 1996); 3. die weitere Erforschung der Wirkungen von Lehrwerken, wobei es zunächst einmal darum geht zu untersuchen, wie Lehrende und Lernende überhaupt das Material nutzen, ob sie die Aktualisierungsspielräume ausschöpfen; auch die Klärung der Rolle zahlreicher Einzelfaktoren steht weiterhin aus: so die Rolle von visuellen Darstellungen, der graphischen Aufbereitung und technischen Konfektionierung ebenso wie insbesondere der Zusammenhang zwischen Lehrwerkgestaltung und Lernerwartungen;
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schließlich wären längerfristige Fallstudien und Begleituntersuchungen zu wünschen, da die Arbeit mit Lehr-Lernmaterial sich ja erst in einem langfristigen Lehr-Lernprozess auswirkt; 4. besondere Defizite bestehen noch hinsichtlich der Eignung von Lehrwerken im Bereich Deutsch als Zweitsprache, d. h. mit multilingualen und multikulturellen Lerngruppen, wo Lehrwerke einen Beitrag sowohl zur Sprachförderung als auch zur Integration leisten müssen (vgl. Art. 10, Art. 120⫺122); 5. außerdem stellt sich die Aufgabe, die Lehrenden zu befähigen, die Lehrbuchdominanz zurückzudrängen, was eine erhöhte Lehrerkompetenz voraussetzt. Das bedeutet, dass Lehrwerkanalysen in Verbindung mit autonomiefördernden Übungsaktivitäten bereits in der Lehrerausbildung praktiziert werden sollten, damit Lehrende das Angebot an schülerzentrierten und kooperativen Arbeitsformen, das neuere Lehrwerke bereitstellen, auch nutzen können.
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138. Deutsch als Fremd- und Zweitsprache-Lernen in elektronischen Umgebungen
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Zielsprache Deutsch 1978 Sonderteil: Kritische Beiträge zum Mannheimer Gutachten. Heft 2.
Hans-Jürgen Krumm, Wien (Österreich)
138. Deutsch als Fremd- und Deutsch als Zweitsprache-Lernen in elektronischen Umgebungen 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Einleitung Bestandteile elektronischer Umgebungen beim DaF-/DaZ-Lernen: ein systematischer Überblick Offline-Anwendungen Online-Anwendungen Fazit Literatur in Auswahl
1. Einleitung In ihrem Buch „Fremdsprachenlernen in der Wissensgesellschaft“ formulierten Rüschoff und Wolff die These (und ihre Hoffnung), dass die „Neuen Technologien“ dazu prädestiniert seien, Veränderungen im Fremdsprachenunterricht einzuleiten, Veränderungen in dem Sinne, dass „etablierte Positionen der Fremdsprachendidaktik in Frage gestellt werden“ oder dass der „Einsatz der Neuen Technologien vielleicht sogar zu einer völligen Neubewertung herkömmlicher Positionen bzw. zu einer Abkehr von ihnen führen“ könnten (Rüschoff und Wolff 1999: 51⫺52). Sie waren außerdem der Ansicht, dass die Neuen Technologien durch ihre Multimedialität, Multimodalität und Hypertextualität lerneffizienter sein können als herkömmliche Medien, dass sie ein hohes Potenzial als Lernressourcen darstellen, zeitliche und örtliche Flexibilität unterstützen und Diversifizierung in Hinblick auf individuelle Lernende (und z. B. ihre Lerngeschwindigkeit) ermöglichen (vgl. Rüschoff und Wolff 1999: 52⫺54). Knapp zehn Jahre später muss man feststellen, dass sich ein nachhaltiges Infragestellen etablierter Positionen, welches man noch dazu in einen direkten Zusammenhang mit dem Einsatz elektronischer Medien bringen könnte, nicht beobachten lässt. Die genannten Potenziale aber lassen sich durchaus nachweisen ⫺ bei einem didaktisch sinnvollen Einsatz. Dieser bemisst sich zum einen ⫺ wie bei allen methodisch-didaktischen Entscheidungen ⫺ an der Kontext-, Lernziel-, Lernform- und Zielgruppenspezifik. Zum anderen wird ein didaktischer Mehrwert dann erreicht, wenn die Medien in Bezug auf das jeweils spezifische Medium wie auf den Medienverbund mediengerecht benutzt werden. Im Folgenden wird ein Überblick darüber gegeben, welche Medien und Werkzeuge in elektronischen Umgebungen für das DaF-/DaZ-Lernen eingesetzt werden können und
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XIII. Medien und Lehr-Lernmaterialien worin der Mehrwert der jeweiligen Medien oder Werkzeuge bestehen kann bzw. nach ersten Forschungsergebnissen besteht. Unter dem Begriff der elektronischen Umgebung wird in einem sehr weiten Sinne jede Kontaktmöglichkeit des Lernenden mit der Sprache verstanden, die über einen Computer hergestellt wird. Ein kurzes Fazit schließt den Artikel ab.
2. Bestandteile elektronischer Umgebungen beim DaF-/DaZLernen: ein systematischer Überblick Versuche einer systematischen Darstellung der in elektronischen Umgebungen für das DaF-/DaZ-Lernen einsetzbaren Medien und Werkzeuge gibt es inzwischen mehrere (vgl. u. a. Rüschoff und Wolff 1999; Rösler 2004; Roche 2008a). Dabei werden meist verschiedene Unterscheidungskriterien benutzt, z. B. technische Merkmale, methodische Ansätze, einzuübende Fertigkeiten, Kompetenzen, Wissensgebiete, Lernformen (Alleinlernen mit und ohne Unterstützung durch Online-Tutor, kooperatives Lernen mit und ohne Unterstützung durch Online-Tutor, vollvirtuelles Lernen, Blended Learning, Präsenzlernen). Die hier gewählte Systematisierung folgt in weiten Teilen der Systematisierung von Mitschian (2004: 26) und versucht, didaktisch-methodische Aspekte mit technischen Unterscheidungsmerkmalen zu verbinden. Sie differenziert erstens ⫺ auf der technischen Ebene ⫺ hinsichtlich der Frage, ob für die Anwendung ein Internetzugang vorhanden sein muss oder nicht, ob die Anwendung also offline oder online benutzt wird/werden muss (was vor allem für Praktiker in Institutionen häufig eine spannende Frage sein kann). Zweitens wird danach systematisiert, ob es sich um ein Medium (mit Inhalt) oder ein Werkzeug (ohne Inhalt) handelt (vgl. hierzu Mitschian 2004: 14⫺15). Medium wird dabei als Informationsträger verstanden, der „aus Verbindungen von Zeichen- und Symbolsystemen mit einer jeweils dazu passenden Präsentationsform“ (Mitschian 2004: 13) besteht; erstelle ich z. B. eine Lückentextübung mit einem Autorenprogramm (vgl. 3.2.2.) und biete sie Lernenden einmal ausgedruckt an und ein anderes Mal auf dem Computer, lasse ich sie mit zwei unterschiedlichen Medien arbeiten: Das Zeichensystem bleibt gleich (geschriebene Sprache), aber die Präsentationsform ändert sich (gedruckt auf Papier vs. digital). Schließlich wird drittens unterschieden, ob es sich um authentisches Material (ohne didaktische Ausgangsqualität) handelt, ob das Medium bzw. das Werkzeug ein adaptiertes (für Lernzwecke hergestelltes) und/oder ein methodisiertes (d. h. mit einem Lernverfahren verknüpftes) ist (vgl. Mitschian 2004: 20⫺28). Ein gefüllter Vokabeltrainer im Lernprogramm ist in diesem Sinne ein adaptiertes und methodisiertes Medium, ein leerer Vokabeltrainer, den ich als Lernende/r selbst mit Inhalten fülle, ein adaptiertes und methodisiertes Werkzeug. Eine vierte denkbare Unterscheidungsebene könnte sein, ob sich die benutzen Medien oder Werkzeuge auf einem fest installierten Computer oder auf einem tragbaren Gerät (Laptop, Handy etc.) befinden. Da dieser Aspekt in der Forschungsliteratur zum DaF-/DaZ-Lernen bisher aber noch keine Rolle spielt, wird er in diesem Artikel nicht berücksichtigt. Aus den Unterscheidungsebenen ergibt sich folgendes Raster, in das zur Illustration Beispiele von digitalen Medien und Werkzeugen für den DaF-/DaZ-Unterricht eingetragen worden sind.
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Tab. 188.1: Elektronische Anwendungen für den DaF-/DaZ-Unterricht Offline
Online
Authentische Medien
Lexika; Hörbücher; Spielfilme/ Dokumentationen auf CD-ROM/ DVD
Weblog-Tagebücher; Wikipedia; Online-Lexika; Videoclips; Sprachkorpora
Adaptierte Medien
Elektronische Wörterbücher oder Kinderlexika auf CD-ROM/DVD
Online-Grammatiken; Online-Wörterbücher
Methodisierte Medien
Lernsoftware auf CD-ROM/DVD
Lernprogramme; Lehrbucherweiterungen
Authentische Werkzeuge
Textverarbeitungsprogramme; Präsentationsprogramme; Strukturierungsprogramme (zum Erstellen von Mindmaps)
E-Mail; Foren; Chats; Instant Messaging mit Sprach- oder Videomessaging; Audio- oder Videokonferenzen; Kooperative Editoren (u. a. Wikis); Weblogs; Podcasts
Adaptierte Werkzeuge Methodisierte Werkzeuge
3.
Lernplattformen Autorenprogramme; Vokabeltrainer
Autorenprogramme; Vokabeltrainer; E-Portfolio
Oline-Anwendungen
3.1. Oline-Medien 3.1.1. Authentische Oline-Medien Elektronische Lexika Ein Beispiel für authentische elektronische Medien sind die elektronischen Versionen von Lexika, die inzwischen zu fast allen Papierversionen alternativ zur Verfügung stehen. Der große Vorteil einer elektronischen Version im Vergleich mit der Papieralternative besteht in ihrer Datenbankbasierung, die z. B. differenzierte Suchfunktionen erlaubt, wodurch Lernende große Mengen von Informationen gezielt nach den von ihnen gesuchten durchforsten können. Mitschian weist (im Zusammenhang mit dem Gebrauch von elektronischen Wörterbüchern, vgl. Mitschian 2004: 56) aber zu Recht darauf hin, dass der vermeintliche Vorteil einer Suchfunktion sich gerade im Bereich des Lernens auch als Nachteil erweisen kann: Im Fall der Lexika wird die Möglichkeit eines inzidentellen Lernens möglicherweise reduziert, da Lernende sich nicht durch das Lexikon blättern müssen (und dabei vielleicht zufällig andere spannende Einträge entdecken, in Bezug auf das Lesen von Hypertexten auch als Mitnahme- bzw. serendipity-Effekt bezeichnet, vgl. Eibl 2004: 135), sondern gezielt zur gesuchten Information kommen und auch nur diese präsentiert bekommen. Gleichzeitig bietet die Hypertext- und Multimediastruktur vieler digitaler Lexika jedoch auch Anreize zum Weiterlesen, die ein traditionelles Lexikon nicht in gleicher Weise zur Verfügung stellen kann (z. B. komfortablere Nutzung von Verweisen durch Hyperlinks; zusätzlich zu Bildmaterialien auch Videos oder Audiodateien etc.).
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XIII. Medien und Lehr-Lernmaterialien Sprachkorpora Einen weiteren, zunehmend wichtigeren Bereich bilden Sprach- (und spezifische Lerner-) Korpora. Die größte Sammlung von Sprachkorpora zur deutschen Sprache bietet zurzeit das Institut für Deutsche Sprache in Mannheim (http://www.ids-mannheim.de/kl/ projekte/korpora/). Sprachkorpora (wie z. B. auch das WWW) können unter Verwendung von korpuslinguistischen Analyseprogrammen von Lernenden für die selbstgesteuerte Auseinandersetzung mit Wortschatz oder bestimmten sprachlichen Strukturen eingesetzt werden (vgl. zu Möglichkeiten der Nutzung der Ergebnisse der Korpuslinguistik für den DaF-Unterricht die in der Zeitschrift Deutsch als Fremdsprache eröffnete Reihe von Beiträgen, u. a. Fandrych und Tschirner 2007; ein kostenloses Analyseprogramm bietet z. B. das IDS zum kostenlosen Download an: http://www.ids-mannheim.de/ cosmas2/web-app/). Hörbücher/Audiovisuelles Material Andere interessante Möglichkeiten bietet der Einsatz von Hörbüchern oder von audiovisuellem Material auf CD-ROM oder DVD. Im Vergleich zu den entsprechenden traditionellen Medien auf Kassette oder Video liegen die Vorteile der digitalen Varianten darin, dass Lernende innerhalb der Texte leichter navigieren können, dass sie im Rahmen von Unterricht nicht auf eine zentrale Bedienung durch die Lehrperson angewiesen sind, sondern die Audio- und Videodateien in ihrem Lernrhythmus abspielen können (größere Lernerkontrolle), und dass sie bei Filmen häufig zwischen mehreren Sprachversionen wählen können (zum Einsatz audiovisuellen Materials vgl. Art. 139).
3.1.2. Adaptierte Oline-Medien Elektronische Wörterbücher Zu den adaptierten Medien können elektronische Wörterbücher oder auch Lexika gezählt werden, die in Form von Schülerwörterbüchern oder Kinderlexika für eine ganz spezifische Lern- bzw. Zielgruppe konzipiert worden sind. Zum Teil finden sich elektronische Wörterbücher auch als ein Element von Lernsoftwareprogrammen auf CD-ROM oder DVD (siehe 3.1.3.).
3.1.3. Methodisierte Oline-Medien Lernsoftware Symptomatisch für die Einschätzung von Lernprogrammen durch die Forschung erscheint die Äußerung Roches (2008b), der kritisiert: Die äußere Steuerung des Lernerfolgs durch maschinelle Impulsgeber entpuppt sich somit als mehr oder weniger verkappte behavioristische. So gibt es unzählige Übungsprogramme, die außer bunten Farben und einer vordergründigen Klickbarkeit dem Lerner nicht viel zu bieten haben. Zwar lassen sich selbst diese Materialien dann lernfördernd einsetzen, wenn sie richtig situiert, dosiert und kontextualisiert sind, aber als Selbstläufer sind sie in der Regel nicht brauchbar oder gar kontraproduktiv. Die spielerische Faszination für das Neue, die vor allem zu einer unspezifischen Abwechslung im Unterricht führen soll, führt nicht zur Nachhaltigkeit. (Roche 2008b: 357)
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Dieser Einschätzung Roches kann man nur zustimmen, auch wenn man einschränkend sagen muss, dass solche Produkte natürlich auch bei Alleinlernenden ⫺ in sicherlich spezifischen Bereichen wie z. B. dem Wortschatzerwerb, dem Erwerb grammatischer Strukturen oder der Aneignung von Faktenwissen (vgl. Rüschoff und Wolff 1999: 79) ⫺ durchaus lernfördernd wirken können, vor allem dann, wenn die Lernenden eine ausreichend hohe Motivation mitbringen. Dem Autor ist auch darin zuzustimmen, dass der Umfang der wissenschaftlichen Forschung zu diesen Programmen in keiner Weise ihrer hohen Verbreitung entspricht; der von ihm angemerkte mangelnde Nachweis nachhaltiger Lerneffekte (vgl. Roche 2008b: 357) kann also auch darauf zurückgeführt werden, dass der Einsatz von Lernsoftware in verschiedenen Lernkontexten bisher viel zu selten in quantitativen und qualitativen Langzeitstudien untersucht worden ist ⫺ weder in Hinblick auf Lernerfolge noch auf individuelle Bearbeitungen durch einzelne Lernende. Schon kleinere qualitative Erhebungen machen deutlich, wie unterschiedlich Lernende mit dem gleichen Material umgehen (vgl. Nandorff 2004) und welche Potenziale der Einsatz von Lernsoftware z. B. im Unterricht bieten kann, wenn sie dort in Partnerarbeit eingesetzt wird (vgl. Schmidt 2007). Geforscht wird außerdem mit Bezug auf einzelne Aspekte von Lernsoftware, die als besonders medienspezifisch und als Quelle für einen Mehrwert im Vergleich zur Bearbeitung ähnlicher Materialien auf Papier angesehen werden: Dazu zählen die Bereiche der integrierten Wörterbücher und Glossare, der Grammatikanimation, der Fehleranalyse und des Feedbacks sowie der programminternen Lernsteuerung, wobei sich die Forschung nicht nur auf den Bereich der geschlossenen Multimediaprogramme auf CD-ROM oder DVD bezieht, sondern auch auf vergleichbare Programme, die im Internet angeboten werden. Integrierte Wörterbücher und Glossare Forschung zum Einsatz von elektronischen Wörterbüchern, Glossaren und dem Gebrauch der sogenannten Glossing-Funktion (beim Anklicken eines markierten oder zum Teil auch unmarkierten Wortes in einem digitalen Text erscheint in einem Extrafenster eine Worterklärung in Textform, als Bild oder Video, mit oder ohne Audiodatei zur Aussprache und gegebenenfalls mit Kontextbeispielen) gibt es seit über zehn Jahren, leider mit sehr uneinheitlichen Ergebnissen: Meist wird beim Einsatz von digitalen Wörterbüchern eine höhere Lesegeschwindigkeit nachgewiesen (aufgrund der komfortableren Suchmöglichkeiten, siehe 3.1.1), nicht aber immer ein besseres Verständnis der gelesenen Texte. Eine Glossing-Funktion wird von den Lernenden dem Gebrauch eines externen Online-Glossars vorgezogen, aber auch sie hilft nicht immer beim Verstehen, wobei Worterklärungen in den o.g. unterschiedlichen Modi eher zu einem tiefergehenden Verstehen führen als reduzierte Worterklärungen (vgl. für einen ausführlicheren Überblick Würffel 2006: 119⫺121). Grammatikanimation Bisherige Forschungen zu den Möglichkeiten und Lerneffekten animierter Grammatikanwendungen finden sich vor allem im Bereich der Wechselpräpositionen, des Pronomens es, der Wortbildung und der Satzklammer. Studien haben gezeigt, dass die Animationen bei individuell Lernenden zu einer besseren Verarbeitung der Inhalte führen können; dabei muss aber gesichert sein, dass es tatsächlich zu einer Entnahme aufgabenrelevanter Informationen kommen kann und nicht stattdessen der Lernprozess durch die Visualisierung zusätzlich erschwert wird, weil die Animation die Lernenden kognitiv stär-
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XIII. Medien und Lehr-Lernmaterialien ker belastet (vgl. Scheller 2009). Rösler plädiert zu Recht dafür, Grammatikanimationen in Zukunft stärker zu Bereichen zu entwickeln, die kognitiv nicht so einfach zu vermitteln sind (vgl. Rösler 2008: 378). Fehleranalyse und Feedback Sind in jeder Form von internetgestütztem Selbstlernen auch direktere und in der Darstellungsart vielfältigere Formen der Tutorierung durch einen menschlichen OnlineTutor (siehe 4.2.1.) möglich, so liefern Lernprogramme auf CD-ROM oder DVD nur direktes computergestütztes Feedback (wobei viele Programme inzwischen die Möglichkeit offerieren, einen menschlichen Online-Tutor dazu zu buchen, der dann z. B. für die Korrektur von offenen Aufgaben zuständig ist). Diese Formen des direkten Feedbacks reichen von verschiedenen Arten des programmierten Feedbacks bis hin zu ersten Versuchen, Ergebnisse aus der Forschung zur künstlichen Intelligenz (KI, siehe unten) für die Fehleranalyse und das Feedback zu nutzen. Beim programmierten Feedback unterscheidet man einfache Formen des Richtig/Falsch-Feedback von elaborierteren Formen, bei denen Fehler nicht nur kommentiert, sondern bei denen zum Teil auch Hilfsangebote gemacht oder Lerntipps gegeben werden (für verschiedene Formen von Feedback vgl. Biechele et al. 2003: 18⫺25). Die Forschung zum Einfluss verschiedener Feedbackformen auf unterschiedliche Lernende beschränkt sich noch immer auf eine überschaubare Anzahl von Studien. Untersucht werden dabei die Zusammenhänge zwischen Qualität und Umfang des Feedbacks und der Lernleistung, der Einfluss verschiedener Feedbackformen (direktes vs. zusammenfassendes; programmiertes vs. menschliches Tutor-Feedback; geschriebenes vs. gesprochenes; negatives vs. positives; selbstentdeckendes vs. programmgesteuertes; explizites vs. implizites, Richtig/Falsch vs. informatives) und das Timing auf den Lernerfolg sowie der Umgang der Lernenden mit verschiedenen Feedbackformen (für einen Überblick vgl. Würffel 2006: 116⫺119 und Schmidt 2007: 72⫺78). Eine breitere Forschung zum Einfluss der verschiedenen Feedbackformen in unterschiedlichen Lernkontexten (bisher bezieht sich fast alle Forschung auf den Bereich des Grammatikerwerbs) erscheint dringend wünschenswert (vgl. auch Rösler 2008: 382). Intelligente Lernersteuerung und -unterstützung Der Aspekt von Lernsoftware, der sich durch die höchsten Erwartungen und die niedrigste Wunscherfüllung auszeichnet, ist der der Lernersteuerung oder -unterstützung durch die Nutzung von Ergebnissen aus dem Forschungsfeld der KI. Auf der Wunschliste steht ein Programm, das sich optimal den Bedürfnissen, Fähigkeiten und Lernprozessen der Lernenden anpasst, indem es auf der Grundlage einer Analyse ein für sie adaptiertes Lernpaket zusammenstellt und sie in spezifischer Weise, z. B. durch ein adaptiertes, elaboriertes Feedback, unterstützt: ein Programm also, dass alle Fähigkeiten und Handlungen guter Lehrender abbildet und übernimmt. In der Realität sind alle verfügbaren Lernprogramme von dieser Wunschvorstellung weit entfernt; nichtsdestotrotz hat die Forschung zur KI Einfluss auf die Gestaltung von Lernprogrammen genommen: So wurde versucht, wenigstens einige Elemente zu integrieren wie z. B. Formen der automatisierten Spracherkennung, der Generierung natürlicher Sprache (durch einen virtuellen Tutor; vgl. für einen Überblick Schmidt 2007: 66⫺70), der intelligenten Fehleranalyse und des intelligenten Feedbacks sowie der Modellierung der Lernenden (hinsichtlich ihrer Kompetenzen oder ihres Lernstils). Erste Erfolge zeigen sich bei der Fehleranalyse und dem intelligenten Feedback auf der Ebene der Lexik und der Syntax durch den Einsatz von Parsern (vgl. Heift und Schulze 2007; Puska´s 2008). Die Langsamkeit, mit der Forschung
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und Entwicklung auf diesem Gebiet voranschreiten, hat dabei vor allem, aber nicht nur, mit der Komplexität des Gegenstands (der natürlichen Sprache) zu tun. Das Gebiet zeichnet sich auch durch die in der Fremdsprachenforschung eher ungewohnte Situation aus, dass Fortschritte und Ergebnisse nicht offen kommuniziert werden, da die Entwicklung eines funktionierenden intelligenten Sprachanalysesystems hohe Renditen verspricht. Einen Einblick in tatsächlich vorliegende Produkte (und vor allem in die dahinter liegende Technik) zu erhalten, ist deshalb nicht ohne Weiteres möglich (ein Beispiel für solch ein Programm ist der German Tutor, der maßgeblich durch Heift entwickelt und von dieser in mehreren Studien beforscht worden ist, vgl. Heift und Schulze 2007).
3.2. Oline-Werkzeuge 3.2.1. Authentische Oline-Werkzeuge Zu den sicherlich am häufigsten genutzten authentischen Offline-Werkzeugen gehören Textverarbeitungsprogramme, Präsentationsprogramme oder Strukturierungswerkzeuge zum Erstellen von Mindmaps. Von besonderem Interesse für DaF-/DaZ-Lernende sind hierbei die in viele dieser Programme integrierte Korrekturfunktion und der Thesaurus (vgl. u. a. Ritter 1995: 163).
3.2.2. Methodisierte Oline-Werkzeuge Autorenprogramme Durch bestimmte sogenannte Makros können Textverarbeitungsprogramme zu methodisierten Werkzeugen werden: So bietet das kostenpflichtige Programm ZARB Lehrenden die Möglichkeit, in Word unterschiedliche Übungstypen zu erstellen. Programme, mit denen das Erstellen interaktiver Aufgaben und Übungen ermöglicht wird, die offline oder online am Computer oder zum Teil ausgedruckt auf Papier bearbeitet werden können, nennt man Autorenprogramme. Das zurzeit bekannteste Programm ist HotPotatoes. Daneben existieren kommerzielle Programme, mit denen eine Vielzahl verschiedener Aufgabenformate umgesetzt werden können, die aber aufgrund ihrer Komplexität häufig eine hohe Einarbeitungszeit notwendig machen und für Laien deshalb eher ungeeignet sind (vgl. Ulrich 2005: 9).
4.
Online-Anwendungen
4.1. Online-Medien 4.1.1. Authentische Online-Medien Im WorldWideWeb (WWW) gibt es eine inzwischen fast unübersehbare Menge an authentischem Informationsmaterial, das von Lehrenden und von Lernenden für die Vorbereitung des Unterrichts und für den Einsatz im Unterricht bzw. für das Lernen eingesetzt werden kann. Bei den verschiedenen Informationsmedien lassen sich unterschiedliche Textsorten unterscheiden. Zwei sollen im Folgenden beispielhaft vorgestellt werden.
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XIII. Medien und Lehr-Lernmaterialien Hyperfiction Merkmale der medienspezifischen Textsorte Hyperfiction sind ihre Hypertextstruktur, ihre Offenheit und zum Teil auch ihre Multimedialität. Das Lesen von Hyperfiction stellt die Lesenden vor besondere Herausforderungen, da die Rezeption dieser Texte anders verläuft bzw. verlaufen muss als die Rezeption linearer Texte auf Papier: Den Lesenden wird kein kohärenter Text präsentiert, sondern diese schaffen sich ihren Text durch das Anklicken bestimmter Links selbst; sie sind also ständig zum Treffen von Entscheidungen gezwungen und darüber hinaus mit den Schwierigkeiten der Kohärenzbildung konfrontiert (vgl. Gölitzer 2003: 127). Lernertexte Eine andere Textsorte, die zwar keineswegs medienspezifisch ist, die aber im Zuge des Einsatzes digitaler Medien im DaF-/DaZ-Unterricht an Bedeutung gewonnen hat, ist die der Lernertexte. Durch die digitalen Verbreitungsmöglichkeiten haben Lernende (privat oder in institutionellen Kontexten) die Möglichkeit gewonnen, ihre neu erworbenen Sprachenkenntnisse z. B. in eigenen Blogs oder Podcasts (vgl. 4.2.1.) auszuprobieren und zu hoffen, dass die Welt auf sie reagiert und sie Zugang zu einer authentischen Kommunikation erhalten, die ihnen das Klassenzimmer nie in gleicher Weise bieten kann (vgl. Rösler 2008: 384). Gleichzeitig können solche Texte von anderen Lernenden wiederum für das eigene DaF-/DaZ-Lernen genutzt werden ⫺ entweder, indem Lernende auf solche von anderen Lernenden im Internet eingestellte Texte reagieren, oder auch, indem solche Texte Teil der von ihnen benutzten digitalen Lehrwerke werden, wodurch diese wiederum an „didaktischer Authentizität“ gewinnen könnten (Rösler 2004: 387). Mit Social Software hergestellte Informationsmedien Besondere Aufmerksamkeit wird in letzter Zeit Informationsmedien geschenkt, die mit Hilfe von Social Software erstellt worden sind. Zu diesen gehören Videoclips in Videoportalen wie YouTube, journalistische und tagebuchartige Blogs, enzyklopädische Wikis wie Wikipedia, Pod- oder Videocasts, die man abonnieren kann, sodass man jeden Tag die neuesten Folgen bekommt. Während es unter diesem Punkt um die mit diesen Werkzeugen erstellten Medien geht, wird unter 4.2.1. ausgeführt, was man sich unter den einzelnen Werkzeugen vorzustellen hat und wie sie produktiv für den DaF-/DaZ-Unterricht genutzt werden können. Zum besseren Verständnis erfolgt aber schon hier eine kurze Definition von Social Software-Anwendungen (häufig auch subsumiert unter dem inzwischen überstrapazierten Schlagwort Web 2.0-Anwendungen): Unter Social Software werden alle „Publikations- und Kommunikationsformen [verstanden], die nicht nur als Instrumente für das individuelle und kollaborative Wissensmanagement eingesetzt werden, sondern die neben der reinen Informationsverknüpfung auch dabei helfen, eine soziale Beziehung zwischen ihren Nutzenden zu unterstützen“ (Büffel et al. 2007). Zur Social Software gehören Kommunikations-Anwendungen wie E-Mail, Foren und Chats, die es schon seit langem gibt, und neuere Entwicklungen wie Wikis, Blogs, Podcasts. Das Spezifische der Anwendungen bzw. der Webseiten, in die die Anwendungen integriert werden, ist, dass es bei allen Anwendungen bzw. Seiten nicht nur darum geht, anderen Informationen zukommen zu lassen (bzw. solche zu lesen), sondern auch oder vor allem darum, an einer Gemeinschaft, an (zum Teil weltweiten) Netzwerken teilzuhaben (vgl. ausführlicher Würffel 2008: 3). Für den DaF-/DaZ-Unterricht bedeutet dies, dass bei der Arbeit mit solchen Medien die Rezeption häufig direkt mit einer Produktion verbunden
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wird, die noch dazu nicht in einem anderen Medium, sondern in demselben erfolgt. Lernende rezipieren also z. B. nicht nur die Einträge eines enzyklopädischen Wikis, sondern verfassen auch eigene Einträge, sie verfolgen nicht nur Blog-Tagebücher von Gleichaltrigen aus dem Zielsprachenland, schauen sich deren Videoclips an oder hören deren Schulpodcast, sondern sie nehmen über die Kommentarfunktion Kontakt auf, fragen nach, verweisen vielleicht auf eigene oder andere für sie interessante Blogs, Videoclips, Fotos, Podcasts etc.
4.1.2. Adaptierte Online-Medien Wie schon unter 3.1.3. angesprochen, existieren viele der Offline-Medien im Bereich der adaptierten Medien auch online ⫺ so gibt es zahlreiche kostenlose wie auch kommerzielle Online-Wörterbücher oder auch Online-Lexika für bestimmte Zielgruppen. Zu den online verfügbaren adaptierten Medien gehören zahlreiche (kleinere oder umfangreichere) Online-Grammatiken. Daneben gibt es auch sogenannte Wörternetze, d. h. elektronische Wortschatzressourcen, die auf dem Prinzip der semantischen Vernetzung aufbauen und dem Lernenden beim Wortschatzerwerb helfen sollen, indem sie den Aufbau des mentalen Lexikons simulieren. Informationen aus semantischen Datenbanken werden hier in dynamisch visualisierten Wörternetzen zugänglich gemacht. Jeder Eintrag ist ein Hyperlink, der zu einem neuen Teilnetz führt; außerdem können Zusatzinformationen zu jedem Eintrag eingestellt werden (wie Bedeutungsumschreibungen, Kontexte, Audiofiles etc.). „Auf diese Weise werden verschiedene lexikalische Informationsebenen ausgehend von der semantischen Verknüpfung verfügbar, was in der linearen Darstellungsweise eines Print-Wörterbuches so nicht geleistet werden kann“ (Plieger 2007: 192). Ein weiteres Beispiel sind die Podcasts der Deutschen Welle, die tagesaktuelle Nachrichten in kurzen Audiodateien liefern und in zwei Versionen, einer normal gesprochenen und einer langsam gesprochenen, existieren. In den Bereich der adaptierten Medien gehören schließlich noch Sprachlernportale, die als Einstieg in den Internet-Dschungel dienen können. Für den Bereich des schulischen Lernens sind z. B. die Internetseiten der Zentrale für Unterrichtmedien (ZUM; http://www.zum.de/) oder das facettenreiche Portal von Lehrer-Online (http://www.lehrer-online.de/) zu nennen, auf denen Lehrende und Lernende systematische Übersichten zu nichtdidaktisierten (wie auch didaktisierten) Materialien finden; für den außerschulischen Bereich bieten sich die Seiten des GoetheInstituts (http://www.goethe.de) oder das DaF-Portal des IIK (http://www.iik.de/ indiik.html) als Ausgangspunkte an.
4.1.3. Methodisierte Online-Medien Auch das Angebot an methodisierten Medien ist vielfältiger und unübersichtlicher geworden. Es gibt einzelne Übungen und Aufgaben, Aufgaben- und Übungssammlungen und kleinere bis größere Projekte (vgl. Biechele et al. 2003), die von den unterschiedlichsten Anbietern kostenlos oder kommerziell, mit den unterschiedlichsten Schwerpunkten für verschiedene Zielgruppen und Lernziele, mit und ohne Progression etc. angeboten werden. Es gibt Umgebungen, in denen gezielt einzelne Fertigkeiten gefördert werden (vgl. z. B. zu Kursen zum Erwerb einer Lesekompetenz u. a. Würffel 2006 oder zum Online
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XIII. Medien und Lehr-Lernmaterialien Writing Lab an der TU Darmstadt u. a. Ballweg 2008), sowie Portale von Verlagen, in denen diese in unterschiedlichem Umfang und unterschiedlicher Qualität lehrwerkbegleitendes Online-Material anbieten (vgl. dazu die jeweiligen Verlagsseiten im Internet), zum Teil kostenfrei, zum Teil aber auch kostenpflichtig. Vieles von dem, was unter 3.1.3 zur Lernsoftware auf CD-ROM oder DVD gesagt worden ist, gilt auch für Online-Lernprogramme oder Aufgaben- und Übungssammlungen. Eine Integration innovativerer Medien oder Werkzeuge findet sich aber eher in internetgestützten Angeboten, u. a. weil diese häufiger aktualisiert, überarbeitet, ergänzt, neu gestaltet werden bzw. werden können und in dieser Form dann allen Anwendern ⫺ anders als vergleichbare Angebote auf CD-ROM oder DVD ⫺ allen Nutzenden direkt zur Verfügung stehen. Ebenso finden sich im WWW deutlich vielfältigere Formen von didaktischen Materialzusammenstellungen, z. B. solche, die im Blended Learning-Modus benutzt werden sollen (also Formen des Online-Lernens und des Präsenzlernens verbinden, vgl. das Themenheft von Fremdsprache Deutsch 42/2010), oder solche, die der Lernende ⫺ angeleitet oder mit Unterstützung durch einen Online-Tutor (vgl. dazu 4.2.1.) ⫺ benutzen soll bzw. benutzt. In einer Zwischenbilanz zum Einsatz digitaler Medien im Bereich DaF im Jahr 2008 versucht Rösler, die erfolgten bzw. die möglicherweise in naher Zukunft zu realisierenden Veränderungen zu beschreiben. Die umfassendsten scheinen für ihn dabei die im Bereich der Lehrmaterialerstellung und die sich daraus ergebenden Konsequenzen im Bereich der Lehrmaterialanalyse zu sein: So sieht er die Möglichkeit, dass es in der Lehrmaterialerstellung (begünstigt u. a. durch die Möglichkeiten digitaler Distributionsweisen) endlich zur „zielgruppengenaueren Produktion eines Lehrwerks on demand“ (Rösler 2008: 375) kommen könnte ⫺ und damit die in der fremdsprachendidaktischen Forschung lange geforderte Regionalisierung von Lehrwerken in zufriedenstellender Weise realisiert werden könnte. Gleichzeitig könnte und sollte die steigende Komplexität der Lehrmaterialverbünde sinnvollerweise dazu führen, dass die Lehrmaterialanalyse in naher Zukunft in einer empirischen Unterrichtsforschung aufgeht (vgl. Rösler 2008: 377).
4.2. Online-Werkzeuge Eine besonders bedeutsame Rolle kommt den Online-Werkzeugen im DaF-/DaZ-Lernen für Kommunikations- und Kooperationszwecke zu, denn hier lässt sich am deutlichsten und in größtem Umfang ein Mehrwert gegenüber einem DaF-/DaZ-Lernen ohne Integration des Internets erkennen (vor allem natürlich für den Bereich DaF): Die Möglichkeiten für Lernende, mit Sprechern oder mit anderen Lernenden der Zielsprache (außerhalb ihrer eigenen Lerngruppe) in einen (authentischen) Kontakt zu treten, waren noch nie so zahlreich und einfach zu realisieren wie heutzutage ⫺ wobei die Entwicklung des WWW zum Mitmachnetz diese Möglichkeiten (zumindest theoretisch) noch einmal erweitert hat. Im Folgenden werden sowohl die Werkzeuge als auch mögliche Einsatzszenarien beschrieben.
4.2.1. Authentische Online-Werkzeuge E-Mail Das bekannteste asynchrone Online-Werkzeug ist wahrscheinlich die E-Mail. E-MailAnwendungen können für das DaF-/DaZ-Lernen zu unterschiedlichsten Zwecken für die
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Kommunikation zwischen Lehrendem bzw. Tutor und Lernenden, zwischen Lernenden oder zwischen Lernenden und Sprechern der Zielsprache eingesetzt werden. In der Lehrer/Tutor-Lerner-Beziehung dient der E-Mail-Einsatz zur Ausführung klassischer LehrerLerner-Interaktionen wie der Übermittlung von Aufgaben und Übungen in die eine und zum Einsenden von Lösungen in die andere Richtung, zum Zurücksenden von Korrekturen, zum Stellen von Fragen und für deren Beantwortungen etc.; möglich sind auch Formen der Sprachlernberatung (vgl. zur Distanzlernberatung Saunders 2009). Je nach Lernform kann die E-Mail-Kommunikation dabei eine die Kommunikation in den Präsenzphasen erweiternde Funktion haben oder ⫺ in vollvirtuellen Kontexten ⫺ die vornehmliche Kommunikationsform darstellen (wobei die Kommunikation auch vermittelt durch andere mediale oder konzeptionell mündliche Formen wie der Nutzung von Instant Messaging mit Sprachmessaging und/oder Chat, siehe unten, stattfindet). In Bezug auf die Kommunikation zwischen Lernenden können E-Mail-Anwendungen u. a. dazu dienen, Projekte mit zwei oder mehr Partnergruppen im In- und Ausland durchzuführen oder den Lernenden die Durchführung individueller E-Mail-Tandems (vgl. Brammerts und Kleppin 2001) oder E-Mail-Tutorien (in denen ein Deutsch-Lernender durch einen angehenden DaF-Lehrenden betreut wird, vgl. Rösler und Würffel 2010) zu ermöglichen. Da gruppenübergreifende E-Mail-Projekte im Fremdsprachenunterricht schon seit mehr als zehn Jahren in verschiedenen Lehr-/Lernkontexten durchgeführt sowie häufig auch wissenschaftlich begleitet und ausgewertet worden sind, sind die Vorteile und Schwierigkeiten der mit Hilfe von E-Mail durchgeführten Projekte gut erforscht. Die Vorteile solcher E-Mail-Projekte (wie auch von internationalen Projekten, die außerdem oder vollständig mit anderen Werkzeugen arbeiten) werden vor allem im Bereich des interkulturellen und des sprachlichen Lernens (bisher vor allem im Bereich des Schriftlichen) gesehen (vgl. u. a. die vielen Veröffentlichungen von Donath, z. B. 1998). Eine interessante Übersicht bezüglich der Schwierigkeiten bietet der Artikel von O’Dowd und Ritter (2006), in dem die Autoren auf der Grundlage einer Auswertung der bisherigen Forschungsliteratur zu E-Mail-Projekten ein Inventory of Reasons for Failed Communication in Telecollaborative Projects erstellen. Die Nennung der vielen Ebenen, auf denen Schwierigkeiten auftreten können (um nur einige zu nennen: Interkulturelle Kompetenz, Motivation und Erwartungen, Lehrer-Lehrer-Beziehung, Aufgabendesign, Gruppendynamik in den lokalen Gruppen und zwischen den Gruppen, Technik etc., vgl. O’Dowd und Ritter 2006: 7), dient dabei keineswegs der Entmutigung aller engagierten Lehrenden: Es den Autoren vielmehr darum, durch das Aufzeigen der Fallgruben die Lehrenden zu sensibilisieren und dadurch mögliche Abstürze zu vermeiden oder zumindest abzufedern (vgl. O’Dowd und Ritter 2006: 17). Foren Erstaunlich wenig Forschung gibt es im Bereich DaF/DaZ bisher zum spezifischen Einsatz von asynchronen Diskussionsforen im Fremdsprachenunterricht, obwohl auch dieses Werkzeug schon lange existiert, fester Bestandteil jeder Lernplattform ist und seinen Platz im computergestützten Fremdsprachenunterricht gefunden hat ⫺ sei es zur Fortführung von im Präsenzunterricht begonnenen Diskussionen, sei es für reine OnlineMeinungsaustausche etc. Forschungsergebnisse aus Nachbardisziplinen weisen u. a. auf die Bedeutung der Betreuung durch Lehrende hin; so kann z. B. deren inhaltlich strukturierende Moderierung von Foren helfen, die Kohärenzbildung und mentale Vernetzung bei den Lernenden zu unterstützten (vgl. u. a. Berkemeyer 2008).
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XIII. Medien und Lehr-Lernmaterialien
Chat, Video- und Audiokonferenzen, 3-D-Welten Auch schon seit längerer Zeit wird in der Fremdsprachendidaktik über den Einsatz synchroner Werkzeuge wie Chats (vgl. den Überblick bei Rösler 2004: 58⫺65) diskutiert. Bei den Chats hat sich vor allem ein adaptierter Gebrauch bewährt: Anders als authentische Chats im WWW, die natürlich von Lernenden für die Kontaktaufnahme mit Zielsprachensprechern und zur Förderung ihrer Sprachenkompetenzen genutzt werden können, bieten sogenannte didaktische Chats eine Schutzzone: Lernende bleiben hier unter sich, häufig unter der Betreuung eines Tutors, der bei Bedarf moderierend oder, je nach Kontext, auch stärker steuernd eingreift bzw. lenkt und/oder Fragen der Lernenden beantwortet (vgl. zur Rolle der Tutoren im Chat Platten 2003); die Kommunikation ist langsamer als in authentischen Chats, und es wird auch seltener in parallel ablaufenden und/oder sich überkreuzenden Kommunikationssträngen kommuniziert; außerdem wird häufiger (auch orthografisch) korrektes Schreiben angestrebt etc. (vgl. u. a. Steinig et al. 1998 oder Engler 2003). Die Fachliteratur diskutiert im Zusammenhang mit dem Werkzeug Chat und der Frage, ob Lernende beim Chatten eher in ihren mündlichen oder ihren schriftlichen Kompetenzen gefördert werden, vor allem den Aspekt der konzeptionellen Mündlichkeit von Chatkommunikation (vgl. den Überblick bei Rösler 2004: 59⫺61). Eine tatsächliche Förderung der mündlichen Kompetenzen kann mit dem Einsatz von Werkzeugen des Instant Messaging mit Video- oder Sprachmessaging (wie z. B. Skype) erfolgen. Diese werden vermehrt in elektronischen Tandems eingesetzt, die früher nur über E-Mail oder das Telefon erfolgten, oder auch in Austauschprojekten, die den mündlichen Austausch für schnellere und unkompliziertere Aushandlungsprozesse nutzen. Schließlich gibt es die Möglichkeit, Video- und Audiokonferenzen für das Sprachenlernen einzusetzen. Den Videokonferenzen wird dabei zwar durchaus ein hohes Potential zugesprochen (vgl. u. a. Schlickau 2000), sie werden aber wegen der aufwendigeren technischen Voraussetzungen bisher für größere Gruppen eher selten realisiert. Einfacher und technisch relativ unkompliziert sind Konferenzen mit einer geringen Anzahl von Teilnehmern, bei denen die Videoübertragung über eine einfache Webcam erfolgt oder die als reine Audiokonferenzen durchgeführt werden: Die Lernenden benötigen nur ein Headset mit Mikrofon und Kopfhörer, eine Webcam und einen Zugang zum Internet. Bei einem kommerziellen Anbieter kann man dann stundenweise einen virtuellen Lehrraum mieten (für bis zu drei Personen sogar kostenfrei), der den Vorteil hat, dass Lernende und Lehrende (oder auch nur Lernende untereinander) miteinander reden, sich dabei sehen und gleichzeitig gemeinsam auf Dokumente zugreifen sowie diese bearbeiten können (application sharing). Schon seit Jahren träumen einige Fremdsprachendidaktiker vom quasi-authentischen Sprachenlernen in 3-D-Welten (wie z. B. Second Life), also von der „komplett fremdgesteuerten, vom individuellen Lernenden subjektiv als komplett selbstgesteuerte wahrgenommene Lernwelt“ (Rösler 2004: 22) ⫺ ein Wunsch, der bisher noch immer nicht Realität geworden ist. Versuche gibt es inzwischen, 3-D-Welten wie Second Life für die Durchführung von Sprachunterricht zu nutzen (vgl. u. a. http://www.goethe.de/frm/sec/ deindex.htm). Wikis, Blogs und Podcasts Neuere asynchrone Social Software-Werkzeuge wie Wikis, Weblogs (bzw. Blogs) und Podcasts gewinnen an Bedeutung. Sie sind leicht und (in bestimmten Versionen) kostenlos zu erhalten, einfach zu bedienen und damit (zumindest technisch gesehen) relativ
138. Deutsch als Fremd- und Zweitsprache-Lernen in elektronischen Umgebungen
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problemlos zum DaF-/Daz-Lernen einsetzbar. Wikis gehören zu den kooperativen Editoren, also zu den Textverarbeitungsprogrammen, mit denen online asynchron (wie bei Wikis) oder fast synchron (wie z. B. bei Google Text und Tabellen) Texte erstellt werden können. Blogs sind regelmäßig aktualisierte Webseiten, auf denen die Einträge in umgekehrter chronologischer Reihenfolge erscheinen. Viele Blogger kategorisieren ihre Einträge, sodass Nutzende die Möglichkeit haben, in dem bei jedem Blog vorhandenen Archiv Einträge sowohl nach ihrem zeitlichen Erscheinen als auch nach den zugeordneten Kategorien zu suchen. Podcasts sind zumeist privat produzierte Beiträge in Audio- (Audiocast) oder Videoform (Videocast), häufig auch mit Transkripten. Podcasts können auf einem Computer oder mit einem mobilen Abspielgerät synchronisiert und dann zeitversetzt sowie mehrmalig angehört bzw. angesehen werden. Wie viele Social SoftwareAnwendungen verfügen auch die meisten Blogs und Podcasts über die Möglichkeit, sie zu abonnieren, d. h. neue Einträge können über sogenannte Really Simple SyndicationFeeds in standardisiertem Format automatisch bezogen werden ⫺ entweder mit speziellem Programm (RSS-Reader oder Feed-Aggregatoren) oder aber mit in Browsern eingebauten Funktionen. Darüber hinaus gibt es meist die Möglichkeit, über eine Kommentarfunktion z. B. mit den Verfassern des Blogs oder den Produzenten der Podcasts in Kontakt zu treten. Kooperative Editoren eignen sich zur Unterstützung kooperativen Schreibens oder kooperativer Prozesse ⫺ z. B. können Lernende kooperative Editoren einsetzen, um gemeinsam Texte zu verfassen und eventuell zu veröffentlichen (zu den Vor- und Nachteilen des Einsatzes kooperativer Editoren zur Unterstützung des kooperativen Schreibens siehe ausführlich Würffel 2008) oder auch zur internen Organisation ihrer kooperativen Arbeit. Blogs können ebenfalls kooperativ produziert werden (z. B. Führen eines Gruppen-Austauschtagebuchs in Form eines Blogs; vgl. zur Unterstützung des kooperativen Lernens durch Social Software Würffel 2007: 26⫺27). Meist steht bei Blogs aber eher ein individueller Gebrauch im Vordergrund, der häufig einen Schwerpunkt in der Förderung metakognitiver Strategien hat (z. B. Führen eines Lesetagebuches, vgl. Raith 2008). Gerade für einen solchen Gebrauch bietet sich die Nutzung eines geschützten Blogs an und nicht die eines tatsächlich für alle zugänglichen (vgl. zur Frage, ob und wann man Social Software-Anwendungen in offener oder in geschützter Form anwenden sollte, Würffel 2008: 17⫺18). Anders als bei kooperativen Editoren und Blogs, in denen es um das Schreiben geht, bieten Podcasts die Möglichkeit, Sprechen (wobei es sich häufig um geskriptete und damit auch nicht um originär mündliche Texte handelt) und Hören zu trainieren (vgl. Schmidt 2009). Um eine Nachhaltigkeit bei der Herstellung und Veröffentlichung von mit internetgestützten Werkzeugen erzeugten Lernerprodukten zu erreichen, erfolgt die Produktion und Präsentation im besten Fall im Rahmen eines Austauschprojektes mit Lernenden im In- oder Ausland. Eine andere Möglichkeit kann in institutionellen Kontexten darin bestehen, die erstellten Produkte einer Lernergeneration mit einer späteren weiter zu bearbeiten (z. B. in Form eines landeskundlichen Wikis, das im Laufe der Zeit von mehreren Lernergenerationen immer weiter ausgebaut, spezifiziert und/oder aktualisiert wird).
4.2.2. Adaptierte Online-Werkzeuge Lernplattformen Bei Lernplattformen handelt es sich um auf einem Server installierte Software, die sowohl Zugriff auf unterschiedliche Formen von Daten ermöglicht als auch Organisati-
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XIII. Medien und Lehr-Lernmaterialien ons-, Kommunikations- und Kooperationsmöglichkeiten zur Verfügung stellt, um auf diese Weise ein Lernen zu ermöglichen. Lernplattformen bieten also zum einen eine Datenbank, in der die Informationen eingestellt und von der sie abgerufen werden können, außerdem eine Reihe der oben beschriebenen Social Software-Werkzeuge und häufig Autorenprogramme (vgl. 3.2.2.). Charakteristisch für Lernplattformen ist außerdem, dass sie über Funktionen wie Benutzer- und Kursverwaltung, Vergabe differenzierter Rechte für unterschiedliche Nutzende (Administratoren, Dozenten, Autoren etc.), Kalender, internes Nachrichtensystem, Abstimmungswerkzeuge, Literatur-, Link-, Lesezeichenverwaltung und ein Awareness-Tool (wer ist gerade online?) verfügen. Lernplattformen gibt es als kostenlose Open-Source-Produkte, die die nutzende Institution selbst hosten, betreuen und weiterentwickeln muss, oder als kostenpflichtige Mietlösungen, bei denen solche Dienste mit angeboten werden (vgl. Ulrich 2005). Bekannte Open SourceLernplattformsysteme sind Moodle, ILIAS, StudIP, ein bekanntes lizensiertes System ist z. B. Blackboard.
4.2.3. Methodisierte Online-Werkzeuge E-Portfolios Ein Beispiel für methodisierte Werkzeuge sind die E-Portfolios, die die Vorteile digitaler Medien mit denen der Papierportfolio-Idee verbinden. E-Portfolio-Software wird ähnlich wie eine Lernplattform von einer Institution auf einem eigenen Server installiert und kann von den Lernenden per Browser erreicht werden; E-Portfolios bieten sowohl die Möglichkeit zur Sammlung und Darstellung eigener Produkte als auch die der Selbsteinschätzung (vgl. zum allgemeinen Einsatz von E-Portfolios und speziell zum Europäischen Sprachenportfolio die Beiträge in Hornung-Prähauser et al. 2008).
5. Fazit DaF-/DaZ-Lernen kann durch einen didaktisch sinnvollen Einsatz elektronischer Umgebungen bereichert, erleichtert, verändert werden. Eine der wichtigsten Funktionen besteht darin, durch die Integration des Internets die Künstlichkeit des Fremdsprachenunterrichts (zumindest in Teilen) hintergehbar zu machen (vgl. Rösler 2008: 374). Die letzten Jahre des vermehrten Internetgebrauchs haben aber auch gezeigt, dass es für einen gelingenden Einsatz des Engagements, des Mutes und der Kompetenz der Lehrenden bedarf. Diese brauchen dafür vor allem eine angemessene mediendidaktische Aus- und Fortbildung; über deren sinnvolle Konzeptionierung muss intensiver nachgedacht werden.
6. Literatur in Auswahl Ballweg, Sandra 2008 Wann ist die nächste Sprechstunde? Betreuung und Beratung im Online Writing Lab. Zeitschrift für Interkulturellen Fremdsprachenunterricht 13(1), 18. S. (Online).
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139. Audiovisuelle Medien
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Nicola Würffel, Heidelberg (Deutschland)
139. Audiovisuelle Medien 1. 2. 3. 4. 5.
Einleitung Perspektivenwechsel in Audiovisualität und Audiolingualität Kognitive Aspekte der Visualisierung Audiovisualität in Landeskunde, Ästhetik und Transkulturalität Literatur in Auswahl
1. Einleitung Sagt ein Bild wirklich mehr als 1.000 Worte? Oder kann etwa ein Laut mehr als 1.000 Bilder zeigen? Über die Rolle audiovisueller Medien im Fremdsprachenunterricht ist jedenfalls viel spekuliert worden. Viele Lehrwerke orientieren sich an der Annahme, dass Bilder per se eine universelle Sprache darstellen, die lautliche und graphemische Systeme ersetzen kann, und ein paar alternative Methoden basieren umgekehrt auf der Annahme, mit lautmalerischen Verfahren ließen sich semantische und funktionale Eigenschaften von Sprachen vermitteln (direkte Methode, total physical response, vgl. Lado 1977). Empirische Untersuchungen gibt es jedoch nur zu einzelnen Aspekten der Medialität, meistens zur Ausspracheschulung (vgl. Richter 2002; Lewalter 1997) und erst seit relativ kurzer Zeit zum Einsatz von Computeranimationen im Spracherwerb (Scheller 2009, kritisch zum Einsatz auditiver Verfahren in suggestiven Methoden Baur 1996). Während die bisherige Beschäftigung mit Medien im Spracherwerb verbreitet behavioristische, motivationale oder missionarische Züge trug, geht es in diesem Beitrag um die Darstellung von Prinzipien, Potenzialen und Problemen des Einsatzes von Medien unter dem Aspekt der Mehrwerterzielung. Hieraus lassen sich in der Folge Verfahren für Unterricht und Erwerb ableiten.
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XIII. Medien und Lehr-Lernmaterialien
2. Perspektivenwechsel in Audiovisualität und Audiolingualität Der Begriff audiovisuell (AV) ist im Umfeld des Sprachenlernens mit einer Methode bekannt geworden, die im lerntheoretischen Rahmen des Behaviorismus in den 1940⫺ 50er Jahren entwickelt wurde. Primär sollen mit den AV-Verfahren rezeptive Fertigkeiten vermittelt werden. Produktive Fertigkeiten ergeben sich in der Regel aus der Imitation auditiver und visueller Stimuli. Spracherwerb wird in diesen Verfahren vor allem als Aufgabe der Automatisierung behandelt. Demnach geht es bei den AV-Methoden vorwiegend um das Automatisieren von kürzeren oder längeren Formeln (patterns) und Versatzstücken (chunks). Auch in neuen Lehrverfahren, Lehrmaterialien und digitalen Lernprogrammen finden sich gehäuft AV-Komponenten und behavioristische Verfahren, allerdings in unsystematischer und meist unreflektierter Form (Roche 2008b). Unter audiovisuellen Medien dürfte man streng genommen nur die Medien versammeln, die sowohl Ton als auch Bild transportieren, also Fernsehen, CD ROMs, DVDs, VideoDiscs und ähnliches. Dabei wird oft übersehen, dass das wichtigste Lern- und Lehrmedium, nämlich Lehrerinnen und Lehrer, auch in der voraudiovisuellen Epoche durchaus audiovisuelle Eigenschaften besaß und das auch heute noch hat. Die Kombination verschiedener Medien, die Anfang und Mitte des letzten Jahrhunderts noch als Novum erschien, ist mittlerweile weitestgehend zum Standard geworden (vgl. den Modalitätsbegriff bei Sauer 2004 und s. Scheller 2009). Daher ist der ehemals innovative, auf die Funktion der Medien abhebende Begriff in seiner unterrichtsspezifischen Verwendung nur noch dort angemessen, wo die örtlichen Gegebenheiten oder begründete didaktische Zielsetzungen wie die (re-)konstruktive Arbeit mit Bildern die Einschränkungen erfordern. In der Kommunikationswissenschaft bezeichnet AV-Kommunikation eine theoretisch begründete, wenn auch in der Reichweite nicht immer klar umrissene Bedeutung im Sinne kommunikativen Alltagshandelns mit medial vermittelten Angeboten der Massenkommunikation (Paus-Hasebrink et al. 2006). Mit dem Perspektivenwechsel von den funktionalen zu den technischen Standards hat sich inzwischen der Begriff digitale Medien durchgesetzt. Entscheidend bei den Medien wäre aber die stärkere Betonung der Lerner- statt der Technikperspektive. In einem handlungsorientierten Unterricht, wie ihn die moderne Sprachdidaktik begründet, geht es darum, mit Sprache authentische kommunikative Ziele zu erreichen. Gerade jüngere Generationen von Lernenden bedienen sich in diesem auf kommunikative Ziele ausgerichteten Kontext ganz pragmatisch verschiedener elektronischer Medien. Die von Softwareentwicklern und Didaktikern oft überbewertete technologische Neuigkeits- und Unterhaltungsperspektive von Medien verdeckt dagegen meist didaktische Rückständigkeit und bewirkt nur kurzlebige Effekte. Sie kann schnell zu einer aktionistischen Beschäftigungstherapie führen, die in Langeweile mündet und zu Ablenkung führt. Die Ausstattung von Klassenzimmern mit elektronischen Medien bringt insofern nur bedingt Erfolge, wenn damit sinnvolle, d. h. authentische Kommunikations- und Lernaufgaben verbunden werden können. Was liegt daher näher, als Sprache und Kultur in der Vielfalt ihrer natürlich vorkommenden Medien zu vermitteln? Wenn man diese authentisch-didaktische Ausgangsbasis akzeptiert, dann stellen sich die Fragen zu den AV-Medien ganz anders, als sie verbreitet in Literatur und Lehrerausbildung gestellt werden. Es geht also nur in besonderen Fällen um die Fragen, wie und wann man einen Overheadprojektor oder ein handfestes oder virtuelles Aufnahmegerät einsetzen kann. Dafür gibt es mehr oder weniger lesbare Bedienungsanleitungen vom Hersteller. Es geht um die Bestimmung
139. Audiovisuelle Medien
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des Mehrwertes verschiedener auditiver und visueller Medien im Fremdsprachenerwerb und Fremdsprachenunterricht, und dafür sind zwei Funktionen relevant: die des authentischen Kommunikationsmittels und die der Lernhilfe (zur Messbarkeit des Mehrwertes elektronischer Medien mittels Rasterverfahren vgl. Roche 2008b; Bauer 2007 und Hampel 2007 zur Architektur neuester e-Plattformen).
2.1. Medien als authentisches Kommunikationsmittel Wenn es ⫺ wovon heute alle Welt ausgeht ⫺ Ziel des Unterrichts ist, kommunikative Kompetenzen für Alltag und Beruf zu vermitteln, dann kann dies nur unter Berücksichtigung authentischer Rede- und Schreibanlässe, Situationen, Kontexte und Kommunikationsziele geschehen. Da die verschiedenen Medien in der Kommunikation in Alltag und Beruf pragmatisch verwendet werden und dabei unterschiedliche Gattungen hervorbringen (in direkter monologischer oder dialogischer Kommunikation, in elektronischer Kommunikation über Telefon, Chat, E-Mail, Foren, Blogs, Wikis, Video-Konferenzen etc.), lassen sich diese Medien ganz natürlich auch im Unterricht verwenden. Nur die technische Ausstattung muss dafür vorhanden sein, entweder vorinstalliert oder ⫺ zunehmend ⫺ von den Lernenden mitgebracht. Entscheidend für den Medieneinsatz sind die angestrebten Kompetenzen, die Interessen der Lernenden und die Themen. Besonders eignen sich die elektronischen Medien als Arbeitswerkzeuge, wie sie in elektronischen Textverarbeitungsprogrammen, Ressourcen (Wörterbüchern, Thesauri, Rechtschreibprüfungen etc.), Fahrplänen, Fragebögen, Design- und Konstruktionsprogrammen, Bestellformularen, Auskunftsprogrammen (z. B. Wetterberichten) und interaktiven Spielprogrammen und vielem mehr zur Verfügung stehen. Diese Nutzungsmöglichkeiten sind unter anderem im aufgabenbasierten und fallbasierten Lernen, in der Szenariendidaktik, der interkulturellen Sprachdidaktik und dem konstruktionistischen Lernen bereits angelegt (vgl. Roche 2008a; Fischer et al. 2007; Hölscher, Piepho und Roche 2006; Piepho 2003; Hölscher 2005, 2004, 2003; Fischhaber 2002; Beers 2001; Mayer et al. 1999; Issing 1997; Goldman-Seagall 1998; Papert 1980). Auch die Nutzung der Medien selbst und die kulturspezifischen Differenzierungen der Textgattungen können dabei zu einem Thema der Beschäftigung in der Fremdsprache werden. Ansonsten bedarf es eigentlich keines gesonderten Aufwandes.
2.2. Auditive und visuelle Medien als Lernwerkzeug Zur Erzielung von Lerneffekten werden auditive und visuelle Medien bisher vorwiegend in illustrativen, unterhaltenden und automatisierenden Funktionen eingesetzt. Mit Hilfe von Bildern können beispielsweise außersprachliche Referenzen zu Gegenständen, Ereignissen und Abläufen hergestellt werden. Das schließt so unterschiedliche Dinge wie die Illustration von semantischen Merkmalen, landeskundlichen Gegebenheiten und Orten der Lautproduktion mit ein. Diese Darstellungen können schließlich im Sinne behavioristischer Lernverfahren als Referenz (Stimuli) für die Sprachproduktion dienen. In welchem Medium die visuelle Information dargeboten wird, ist dabei meist zweitrangig. Das Verfahren bleibt das gleiche. Inwieweit diese Verfahren aber tatsächliche Lerneffekte erzielen, ist weitestgehend unbekannt. Zwischen didaktischer Intention und Lerneffekt
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XIII. Medien und Lehr-Lernmaterialien klafft meist eine große Lücke (vgl. den folgenden Abschnitt). Neuere Trainingsprogramme für die Aussprache etwa stellen nicht nur den Ort der Lautproduktion im MundRachenraum dar, sondern vergleichen darüber hinaus die Lautproduktion des Lerners mit der eines Mustersprechers und visualisieren die Abweichungen und Übereinstimmungen mittels oszillographischer Aufzeichnungen. Diese sollen dem Lerner zur Fehleranalyse und -korrektur dienen. Auch wenn diesen Darstellungen ein heuristischer Wert nicht abgesprochen werden kann, so muss doch auf zwei gewichtige Beschränkungen hingewiesen werden: Erstens lässt sich das Lautsignal mit der heute verfügbaren Technologie nicht so akkurat analysieren, wie es die Trainingsprogramme suggerieren (Harrington 2009 i.V.). Die Folge: Die Analyse ist oft ungenau. Zweitens ist es auch versierten Sprechern kaum möglich, die visuelle Darstellung steuernd auf die lautliche Produktion zu übertragen. Die Lautproduktion ist höchst automatisiert und entzieht sich weitestgehend der bewussten Kontrolle. Die Folge: Korrekturversuche basieren auf dem Zufallsprinzip. Zur systematischen Schulung der Aussprache sind auditive Trainingsverfahren am ehesten geeignet, wenn Ort und Zeit des Trainings sinnvoll in eine Handlungskette integriert und die Trainingsgegenstände semantisiert sind, das Training also Bedeutung hat und nicht als mechanische Drillübung verstanden wird (z. B. bei den Bedeutungsunterschieden des Pluralmorphems ü oder ä). Das schließt nicht aus, dass es in einem solchen Handlungsumfeld auch kurze, fokussierte Auszeiten für grammatische und phonetische Übungen geben kann. Aber auch hier ist eine Anbindung und Rückkoppelung an die Bedeutung und den pragmatischen Kontext angeraten (vgl. hierzu etwa die lautliche Darstellung/Visualisierung verschiedener Telefonzeichen in deutschen Telefonbüchern oder die Möglichkeiten theatralischer, comichafter und literarischer Lautmalereien und Texte in Konkreter Poesie).
3. Kognitive Aspekte der Visualisierung Nach der kognitiven Theorie multimedialen Lernens (cognitive theory of multimedia learning, vgl. Mayer 2005; Mayer und Sims 1994) und der dualen Kodierungstheorie (dual coding theory, vgl. Paivio 1986; Sadoski und Paivio 2004) erfolgt die Verarbeitung (laut-)sprachlicher und bildlicher Information in zwei unterschiedlichen Subsystemen des semantischen Gedächtnisses. Bei der gleichzeitigen Verarbeitung von sprachlichem und visuellem Material entstehen zwei unterschiedliche mentale Repräsentationen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt wieder zusammengeführt werden müssen. Da die Genese der Schrift meist auf bildlichen Darstellungen fußt, kann davon ausgegangen werden, dass graphemische und bildliche Repräsentationen gleichermaßen über visuelle Prozesse verarbeitet werden. Die gleichzeitige Verarbeitung von laut-sprachlicher und bildlicher Information ist demnach mit erhöhtem Aufwand verbunden, beim Lernen mit multimedialen Materialien aber auch effizienter als die nachgeordnete Kombination gelesener Wörter und Bilder. Je länger die Information getrennt verarbeitet und gespeichert werden muss, desto größer ist die Inanspruchnahme der limitierten kognitiven Ressourcen. Engelkamp und Rummer (1999) und Engelkamp und Zimmer (2006) gehen daher davon aus, dass die Koordination der separaten Verarbeitung ein kontinuierlicher Prozess ist, der bei der Rezeption und Produktion von Äußerungen früh beginnt. Um Effekte der Überbelastung zu vermeiden (die cognitive load theory, vgl. Sweller 2005) muss also eine
139. Audiovisuelle Medien
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zeitlich und semantisch gut abgestimmte Koordination der Verarbeitungsprozesse und ggf. eine Einteilung in kleinere Aufgaben erfolgen (Kontiguitätseffekt, vgl. Seel 2000). Eine verfrühte oder verspätete Illustration landeskundlicher Information, z. B. durch Abbildungen, die am Anfang und Ende eines Lehrbuches oder Kapitels oder durch Filmausschnitte ohne Bezug zur Lektion präsentiert werden, kann daher den beabsichtigten positiven Effekt verfehlen. Nur wenn sprachliche und visuelle Information in eine gemeinsame Repräsentation integriert werden können, kann sinnstiftendes und nachhaltiges Lernen stattfinden (generative learning principle, vgl. Mayer 2005; Schnotz 2005). Die spärlichen Wirkungsstudien im Bereich des Sprachenlernens zeigen, dass sich Entwickler von Sprachlernprogrammen bisher kaum mit der Thematik befasst haben (vgl. den Forschungsüberblick in Rösler 2004 und die Beiträge in Roche 2007). Eine rühmliche Ausnahme sind die eingehenden Untersuchungen von Scheller 2009 zur Wirkung von Grammatikanimationen, die auf der Basis eines konzeptuellen Modells von Grammatik (vgl. Langacker 1999) entwickelt und nach den Parametern der Theorien des multimedialen Lernens gestaltet wurden. Hieraus lassen sich didaktische und pädagogische Kriterien für den gezielten Einsatz von Animationen ableiten (Roche und Scheller 2008, 2004; vgl. auch die Beiträge in der Zeitschrift für Interkulturellen Fremdsprachenunterricht 2004): Animationen erlauben als zusätzliche Semantisierungshilfe Informationen zu veranschaulichen, die sonst nur mit größerem textlichen Aufwand geliefert werden könnten, zum Beispiel die Veranschaulichung syntaktischer und morphologischer Prinzipien. Die abgestimmte Kombination von bildlichen und sprachlichen Informationen führt darüber hinaus zu einer tieferen Verarbeitung und Herausbildung mehrerer Abrufwege (Ballstaedt 1997; Sutcliffe 1999). Die Visualisierung von Strukturen kann mit Hilfe von Animationen lernfreundlich und verständlich erfolgen: Die phasenweise Präsentation ist in vielen Fällen besser nachzuvollziehen als eine statische, weil die Lerner nicht die fertigen Äußerungen, sondern deren sukzessiven Aufbau vor sich sehen. Animationen können vor allem da eingesetzt werden, wo grammatische Umstrukturierungsprozesse (Bewegungen) verdeutlicht und dynamisch dargestellt werden können. Auch bei der Aktivierung des mentalen Lexikons spielen lautliche, visuelle, graphemische und andere Faktoren eine Rolle. Hört ein Sprecher beispielsweise eine Silbe au, so werden alle Wörter mit diesem Anlaut aktiviert, also Au, Auto, autonom, Aurora, Aurelia und andere (vgl. das Kohortenmodell, Marslen-Wilson 1987; Aitchison 1997). Allerdings ist die Stärke der Aktivierung je nach Kontext unterschiedlich. Das heißt, dass semantische und pragmatische Aspekte bei der Auswahl der aktivierten Lemmata und Lexeme eine wesentliche Rolle spielen. Zentrale semantische Elemente (Knoten) werden dabei stark aktiviert, entferntere werden mitaktiviert oder ko-aktiviert, aber durch den Kontext gefiltert. Diese Vernetzungsprozesse erklärt das activation spreading model (Dell und O’Seaghdha 1992; Roelofs 1992). Dabei spielen passende visuelle Elemente offenbar eine wichtige Rolle, denn visuelle Information bewirkt bei der Aktivierung und Selektion ähnliche Effekte wie sprachlicher Kontext. In kontrastiven Studien konnte zudem gezeigt werden, dass selbst bei der Aktivierung von abstrakten Begriffen semantische Konkretisierungen durch Metaphorisierungen eine große Rolle spielen (Roche und Roussy-Parent 2006). Diese Verbildlichungsprozesse bei Abstrakta lassen sich in verschiedenen Sprachen gleichermaßen beobachten, sind aber kulturspezifisch jeweils anders ausgeprägt. Kulturspezifische Metaphorisierungsprozesse sind daher für die Vermittlung von abstraktem Wortschatz ein geeignetes Mittel und können durch visuelles Material unterstützt werden.
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XIII. Medien und Lehr-Lernmaterialien
4. Audiovisualität in Landeskunde, Ästhetik und Transkulturalität Beim Einsatz in der Landeskundevermittlung spielen visuelle und auditive Medien oft eine vorwiegend illustrierende und folkloristische Rolle, die auch aus plurizentrischen Motiven begründet wird (vgl. die DACHL-Initiative www.dachl.net). Lerntheoretisch ist dieser Einsatz weniger begründet. Hieraus entsteht jedoch oft ein Widerspruch zur Effizienz des Unterrichts, da die Materialien meist bereits wichtige Grundlagenkenntnisse zum Verstehen voraussetzen, die den Lernern aber erst mit dem Material vermittelt werden sollen. So wie sich die Bildhaftigkeit für die Vermittlung von Sprache als Vorteil erweisen kann, so kann sie auch zu einem Hindernis in der Kommunikation werden. Zum einen verfestigen sich Bilder in der Entwicklung einer Sprache in gewissem Maße, zum anderen korrespondieren kulturspezifische Wahrnehmungsmuster verschiedener Kulturen nur teilweise und unterliegen selbstverständlich der Variation. Mit dem Medium der visuellen Übertragung zu Illustrationszwecken verbinden sich in der interkulturellen Kommunikation daher oft unrealistische Vorstellungen über die Kommunikationserleichterung. Andererseits werden die rezeptionsästhetischen Potenziale des Mediums zu wenig für didaktische Zwecke genutzt (vgl. die instruktiven und praxistauglichen Beiträge in Hölscher und Hunfeld 2001 der LIFE-Reihe, die exemplarischen Problematisierungen in BehalThomsen, Lundquist-Mog und Mog 1993 sowie die Ausführungen zu interkulturellen Aspekten der medial gestützten Lehre in Roche und Macfadyen 2004). Die zunehmende Visualisierung der Kommunikation und die Synergiebildung von visuellen, graphemischen und lautlichen sprachlichen Zeichen bieten für den Unterricht eine Fülle von authentischen Kommunikations- und ästhetischen Gestaltungsmitteln, z. B. Graffiti, Schriftzüge, visuelle/konkrete Poesie oder Musik, Klangexperimente und Lautspielereien, Schriftfilme und Schriftanimationen in künstlerischen Filmen, Vor- und Abspannen, Werbespots und Musikvideos (Packard 2006, besonders Kap. 2.3 und Kap. 7). Die Wahrnehmung von Bild und Ton variiert von Betrachter zu Betrachter und bildet kulturspezifische Gemeinsamkeiten aus. Als solche Konstrukte eröffnen sie ungeahnte Einblicke in die Denkweisen anderer Menschen und Kulturen, sind also ein ausgesprochen gut geeignetes Mittel, um sich Bilder von Kulturen zu machen. Die Aufgaben der Sprach- und Kulturvermittlung in Bezug auf die Nutzung semiotischer Verfahren werden durch die Medien nicht notwendigerweise vereinfacht. Vielmehr verlangt die Medialität verschiedener sprachlicher Systeme den Abschied von rudimentären kommunikativen, didaktischen und medialen Konzepten und eine Hinwendung zu wissenschaftlich grundierter Forschung sowie sorgsamer Planung, Koordination und didaktischer Kompetenz für die Lehrpraxis.
5. Literatur in Auswahl Aitchison, Jean 1997 Wörter im Kopf. Tübingen: Niemeyer. Ballstaedt, Steffen P. 1997 Wissensvermittlung. Die Gestaltung von Lernmaterial. Weinheim: Psychologie Verlags Union.
139. Audiovisuelle Medien
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Bauer, Wolfgang 2007 Zur Konzeption von Lernmanagementsystemen am Beispiel des basiX-Lernmanagementsystems ⫺ Interaktivität, Flexibilität, Kompatibilität und internationale Standards. In: Jörg Roche (Hg.), Fremdsprachen lernen medial ⫺ Entwicklungen, Forschungen, Perspektiven, 17⫺31. Berlin: Lit. Baur, Rupprecht S. 1996 Die Suggestopädie. Fremdsprachen Lehren und Lernen 25: 106⫺137. Beers, Maggie 2001 A media-based approach to developing ethnographic skills for second language teaching and learning. Zeitschrift für Interkulturellen Fremdsprachenunterricht 6(2), 26 S. Behal-Thomsen, Heinke, Angelika Lundquist-Mog und Paul Mog 1993 Typisch Deutsch? Arbeitsbuch zu Aspekten deutscher Mentalität. Berlin: Langenscheidt. Dell, Gary S. und Padraig G. O’Seaghdha 1992 Stages of lexical access in language production. Cognition 42: 287⫺314. Engelkamp, Johannes und Hubert D. Zimmer 2006 Lehrbuch der kognitiven Psychologie. Göttingen: Hogrefe. Engelkamp, Johannes und Ralf Rummer 1999 Die Architektur des mentalen Lexikons. In: Angela D. Frederici (Hg.), Enzyklopädie der Psychologie. Sprachrezeption C III, Sprache 2, 155⫺193. Göttingen: Hogrefe. Fischer, Frank, Ingo Kollar, Heinz Mandl und Jorge M. Haake (Hg.) 2007 Scripting Computer-Supported Collaborative Learning. New York: Springer-Kluwer. Fischhaber, Kathrin 2002 Digitale Ethnographie: Eine Methode zum Erlernen interkultureller Kompetenz im Fremdsprachenunterricht. Zeitschrift für Interkulturellen Fremdsprachenunterricht 7(1), 23 S. Goldman-Seagall, Ricki 1998 Points of Viewing Children’s Thinking: A Digital Ethnographer’s Journey. Mahwah: Erlbaum. Haller, Johann 2007 Elektronischer Tutor: Intelligente Werkzeuge für computerunterstütztes FremdsprachenLernen. In: Jörg Roche (Hg.), Fremdsprachenlernen medial ⫺ Entwicklungen, Forschungen, Perspektiven, 72⫺88. Berlin: Lit. Hampel, Thorsten 2007 Zukunft des E-Learning und der Wissensorganisation ⫺ Interoperabilität durch serviceorientierte Architekturen. In: Jörg Roche (Hg.), Fremdsprachenlernen medial ⫺ Entwicklungen, Forschungen, Perspektiven, 32⫺60. Berlin: Lit. Harrington, Johnathan 2009 i.V. The Phonetic Analysis of Speech Corpora. Blackwell. Manuskript im Internet verfügbar: http://www.phonetik.uni-muenchen.de/~jmh/research/pasc010808/pasc.htm, 3. 9. 2008. Hölscher, Petra 2005, 2004, 2003 Lernszenarien. Ein neuer Weg, der Lust auf Schule macht. Teil 1: Vorkurs; Teil 2: Sprachhandeln in den Klassen 1 bis 4 interkulturell ⫺ integrativ ⫺ interaktiv; Teil 3 Sprachhandeln in den Klassen 5 bis 9 interkulturell ⫺ integrativ ⫺ interaktiv. Oberursel: Finken. Hölscher, Petra, Hans E. Piepho und Jörg Roche 2006 Handlungsorientierter Unterricht mit Lernszenarien. Kernfragen zum Spracherwerb. Oberursel: Finken. Hölscher, Petra und Hans Hunfeld 2001 LIFE ⫺ Bilder der Kulturen. München: BMW Group. Issing, Ludwig 1997 Instruktionsdesign für Multimedia. In: Ludwig J. Issing und Paul Klimsa (Hg.), Information und Lernen mit Multimedia, 151⫺178. Weinheim: Beltz Psychologie Verlags Union.
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XIII. Medien und Lehr-Lernmaterialien Lado, Robert 1977 Moderner Sprachunterricht. München: Hueber. Langacker, Ronald W. 1999 Grammar and Conceptualization. Berlin: de Gruyter. Lewalter, Doris 1997 Lernen mit Bildern und Animationen. Studie zum Einfluß von Lernermerkmalen auf die Effektivität von Illustrationen. Münster: Waxmann. Marslen-Wilson, William D. 1987 Functional parallelism in spoken word-recognition. Cognition 25: 71⫺102. Mayer, Richard E. und Valerie K. Sims 1994 For whom is a picture worth a thousand words? Extensions of a dual-coding theory of multimedia learning. Journal of Educational Psychology 86(3): 389⫺401. Mayer, Richard E., Roxana Moreno, Michelle Boire und Shannon Vagge 1999 Maximizing constructivist learning from multimedia communications by minimizing cognitive load. Journal of Educational Psychology 91(4): 638⫺643. Mayer, Richard E. 2005 Cognitive theory of multimedia learning. In: Richard E. Mayer (Hg.), The Cambridge Handbook of Multimedia Learning, 31⫺48. New York: Cambridge University Press. Packard, Stephan 2006 Anatomie des Comics. Psychosemiotische Medienanalyse. Göttingen: Wallstein. Paivio, Allan 1986 Mental Representations: A Dual-Coding Approach. New York: Oxford University Press. Papert, Seymour 1980 Mindstorms: Children, Computers, and Powerful Ideas. New York: Basic Books. Paus-Hasebrink, Ingrid, Jens Woelke, Michelle Bichler und Alois Pluschkowitz 2006 Einführung in die audiovisuelle Kommunikation. München: Oldenburg. Piepho, Hans E. 2003 Lerneraktivierung im Fremdsprachenunterricht. ,Szenarien‘ in Theorie und Praxis. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Richter, Regina 2002 Konstruktivistische Lern- und Medien-Design-Theorie und ihre Umsetzung in multimedialen Sprachlernprogrammen. Deutsch als Fremdsprache 39(4): 201⫺207. Roche, Jörg und Leah Macfadyen (Hg.) 2004 Communicating across Cultures in Cyberspace: A Bibliographical Review of Intercultural Communication Online. Hamburg: Lit. Roche, Jörg und Julia Scheller 2008 Grammar animations and cognitive theory of multimedia learning. In: Beth Barber und Felicia Zhang (Hg.), Handbook of Research on Computer Enhanced Language Acquisition and Learning, 205⫺219. Hershey: IGI Global. Roche, Jörg und Julia Scheller 2004 Zur Effizienz von Grammatikanimationen beim Spracherwerb ⫺ Ein empirischer Beitrag zu einer kognitiven Theorie des multimedialen Fremdsprachenerwerbs. Zeitschrift für Interkulturellen Fremdsprachenunterricht, 9(1), 15 S. Roche, Jörg und Me´lody Roussy-Parent 2006 Zur Rolle der kontrastiven Semantik in interkultureller Kommunikation. Fremdsprachen Lernen und Lehren 35: 228⫺250. Roche, Jörg (Hg.) 2007 Fremdsprachen lernen medial ⫺ Entwicklungen, Forschungen, Perspektiven. Berlin: Lit. Roche, Jörg 2008a Fremdsprachenerwerb und Fremdsprachendidaktik. Tübingen: UTB Basics. Roche, Jörg 2008b Handbuch Mediendidaktik. Ismaning: Hueber.
139. Audiovisuelle Medien
1251
Roelofs, Ardi 1992 A spreading-activation theory of lemma retrieval in speaking. Cognition 42: 107⫺142. Rösler, Dietmar 2004 E-Learning Fremdsprachen ⫺ eine kritische Einführung. Tübingen: Stauffenburg. Sadoski, Marc und Allan Paivio 2004 A dual coding theoretical model of reading. In: Robert B. Ruddell und Norman J. Unrau (Hg.), Theoretical Models and Processes of Reading, 1329⫺1362. Newark: International Reading Association. Sauer, Christoph 2004 Der Stoff, aus dem die Texte sind. Vorläufige Betrachtungen zu Erscheinung und Materie von Texten. In: Dirk Röller (Hg.), Dinge ⫺ Zeichen ⫺ Gestalten. Tagungsdokumentation Internationale Semiotische Herbstakademie, (CD-Rom-Publikation, online: http://www. semiose.de/index.php?id⫽291,53, Zugriff 04. 01. 10). Lüneburg: Jansen Verlag. Scheller, Julia 2009 Animationen in der Grammatikvermittlung: Multimedialer Spracherwerb am Beispiel von Wechselpräpositionen. Berlin: Lit. Schnotz, Wolfgang 2005 An integrated model of text and picture comprehension. In: Richard E. Mayer (Hg.), The Cambridge Handbook of Multimedia Learning, 49⫺69. New York: Cambridge University Press. Seel, Norbert M. 2000 Psychologie des Lernens. München: Reinhardt. Sutcliffe, Alistair G. 1999 A design method for effective information delivery in multimedia presentations. The New Review of Hypermedia and Multimedia 5: 29⫺58. Sweller, John 2005 Implications of cognitive load theory for multimedia learning. In: Richard E. Mayer (Hg.), The Cambridge Handbook of Multimedia Learning, 19⫺30. New York: Cambridge University Press. Zeitschrift für Interkulturellen Fremdsprachenunterricht 2004 9(1).
Jörg Matthias Roche, München (Deutschland)
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XIII. Medien und Lehr-Lernmaterialien
140. Materialien ür das Wortschatzlehren und -lernen 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Didaktik und Methodik der Wortschatzarbeit Rezeptive Wortschatzarbeit Reflexive Wortschatzarbeit Produktive Wortschatzarbeit Lehrmaterialien und Lernerorientierung Literatur in Auswahl
1. Didaktik und Methodik der Wortschatzarbeit Die Wortschatzdidaktik und -methodik ist im Bereich Deutsch als Fremd- und Zweitsprache revisionsbedürftig. Die meisten Arbeiten sind sprachstrukturell motiviert (vgl. z. B. Löschmann 1993), zudem ist es bislang nicht gelungen, die wenigen nützlichen Arbeiten (vgl. z. B. zur Kontextualisierung der Wortschatzarbeit Neuner 1990, zur Semantisierung Köster 1994 oder zur interkulturellen Semantik Müller[-Jacquier] 1994) zu einem konsensfähigen didaktischen Wortschatzkonzept zusammenzufügen. Auch im Bereich des muttersprachlichen Deutschunterrichts gibt es wenige konzeptionelle Anregungen, die Praxis der Wortschatzarbeit folgt den Vorgaben der traditionellen Lexikologie, wobei die Aufgaben und Übungen isoliert und kontextfrei präsentiert werden (vgl. z. B. Ulrich 2007). Neue konzeptionelle Anregungen kommen vor allem aus den Fremdsprachenphilologien und den kognitivistisch-konstruktivistisch orientierten Nachbardisziplinen (vgl. z. B. Rohrer 1985; Kielhöfer 1994; Börner und Vogel 1993, 1994; Quetz 1998). Zusammenfassend muss konstatiert werden: Es fehlt in den Bereichen Deutsch als Fremd- und Zweitsprache eine kohärente, erwerbsorientierte und kompetenzbezogene wortschatzdidaktische Konzeption, die darauf abzielt, die Sprachhandlungskompetenzen der Schüler aufzubauen und zu fördern (vgl. die Vorschläge bei Kühn 2000 und Steinhoff 2009). Es ist daher auch nicht verwunderlich, wenn es an der methodischen Umsetzung mangelt und eine stärkere Wortschatzförderung angemahnt wird (vgl. Willenberg 2008). Die bisherigen Ansätze zur Wortschatzdidaktik sind zu statisch: Wörter und Wortschatz sind weniger Besitz, sondern eher Werkzeuge zum Aufbau von Textverstehensund Textproduktionskompetenzen. Aus diesem Grunde sollte man auch auf die Redeweise vom (aktiven und passiven) Wortschatz(besitz) oder von Wortschatzkenntnissen verzichten; dies gilt auch für die Diskussion um den sogenannten Grundwortschatz, der unzutreffender Weise als lexikalisches Lernquantum aufgefasst wird (vgl. zur Kritik Kühns 2007a: 161⫺162). Solche Begriffe suggerieren eine nicht vorhandene Wortschatzautonomie und die Illusion, man könne den Wortschatz (aus)lernen. Der Wortschatz ist jedoch nicht lernbar ⫺ so lautet die provozierende und plausible These Hausmanns (1993: 479): „Die Sprache ist nur in den Texten Sprache. Der Rest ist Konstrukt. Der Sprachschatz ist also kein Wortschatz, sondern ein Formulierungsschatz.“ Dies bedeutet: Wortschatzarbeit darf somit nicht an isolierten Wörtern oder Sätzen erfolgen und rein sprachsystematisch angelegt sein, sondern an authentischen Texten. Die Wortschatzarbeit steht damit in enger Verbindung mit dem Lesen und Hören sowie dem Sprechen
140. Materialien für das Wortschatzlehren und -lernen
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und Schreiben von Texten und ist entweder auf das Lese- und Hörverstehen oder auf die Textproduktion bezogen. Es empfiehlt sich deshalb von rezeptiver und produktiver Wortschatzarbeit zu sprechen. Wortschatzarbeit muss beim Sprachgebrauch der Lernenden ansetzen und auf den Ausbau und eine Verbesserung ihrer schriftlichen und mündlichen Sprachhandlungskompetenz hin funktionalisiert sein. Eine kompetenzorientierte Wortschatzarbeit sollte also von Texten ausgehen und auch wieder zu Texten führen. Eine solche erwerbsbezogene, textfundierte und kompetenzorientierte Wortschatzdidaktik und -methodik lässt sich als Dreischritt modellieren (vgl. Kühn 2000b): Wörter semantisieren (rezeptive Wortschatzarbeit), vernetzen (reflexive Wortschatzarbeit) und gebrauchen (produktive Wortschatzarbeit).
2. Rezeptive Wortschatzarbeit Die rezeptive Wortschatzarbeit bezieht sich auf das Verstehen und Erklären von Wörtern und Formulierungen aus Texten. Dabei lassen sich unterschiedliche Semantisierungsverfahren und -prozesse denken: Lehrergesteuerte Semantisierungstechniken wie z. B. (1) über lexikalische Mittel (Wortbildung, Wortfeldeinordnung (Nennung von Synonymen, Antonymen, Hyponymen), Vergleich mit Internationalismen oder Fremdwörtern, Übersetzungsäquivalente, lexikalische Paraphrase oder Definition, Kollokationsangaben), (2) über visuelle, auditive oder gestische Mittel (Anschauungsobjekt, Zeichnung, Bild, Foto, Video, Handlungen, Gestik, Mimik), (3) über die Situationsspezifik (Bezug auf Teilnehmer, ihr Vorwissen, Situationsbeschreibung, Bezug auf vorangegangen Unterricht) oder (4) über Alltagserfahrungen (Final-, Kausal-, Temporalkonsequenz) (vgl. Müller[-Jacquier] 1994: 99⫺100). Als besonders effektiv werden Semantisierungstechniken betrachtet, die die Lernenden in die Lage versetzen, selbständig unbekannte Wortbedeutungen aus Texten zu entschlüsseln: (1) Semantisierungsdiskurse zwischen Lehrendem und Lernenden, in denen die Lernenden aktiv ihre Semantisierungsbedürfnisse äußern und aus Mehrfacherklärungen die passende auswählen können (vgl. Köster 1994: 44⫺76). (2) In der Diskussion um die Semantisierungstechniken wird ⫺ besonders aus lernpsychologischer Perspektive ⫺ das eigenständige Inferieren und Rekonstruieren aus dem Kontext herausgestellt. Auf Grund der Textumgebung und des Sprachen- und Weltwissens besteht die Möglichkeit, das zu erschließende Wort semantisch genauer zu bestimmen. Nicht zu unterschätzen ist in diesem Zusammenhang das im Fremdsprachenunterricht bekannte incidental vocabulary learning, bei dem über das Texte-Lesen neue Wörter semantisch erschlossen und gelernt werden. (3) Semantisierungstechniken müssen die Fähigkeit einschließen, kulturspezifische Bedeutungen zu entschlüsseln. Hier geht es insbesondere darum, am Beispiel sogenannter Hotwords (z. B. Kopftuch, Gastarbeiter oder Heimat) aber auch im Alltagswortschatz (z. B. Brot vs. pain) kulturspezifisch bedingte Bedeutungsunterschiede aufzudecken und zu thematisieren (vgl. Müller[-Jacquier] 1994; Luchtenberg 2000; Kühn 2006), um die Lernenden für interkulturelle Fragestellungen zu sensibilisieren; hierzu
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XIII. Medien und Lehr-Lernmaterialien ließen sich auch Wörterbücher heranziehen (vgl. Kühn 2002). Durch eine kultursensitive Semantisierung lassen sich kulturspezifische Erfahrungen, Alltagsgewohnheiten, Wertvorstellungen oder Stereotype der Wortverwendung thematisieren. (4) Wenn im Kontext von Semantisierungen das autonome Lernen im Vordergrund stehen soll, kommt der Benutzung von (Lerner-)Wörterbüchern eine herausragende Bedeutung zu. Die Wörterbuchbenutzungsforschung hat allerdings gezeigt, dass Lerner bei weitem nicht in der Lage sind, die Möglichkeiten, die (Lerner-)Wörterbücher bieten, auszunutzen. Dies kann einerseits an der mangelhaften Nachschlagefertigkeit liegen ⫺ insbesondere im Bereich Deutsch als Zweitsprache ⫺ oder andererseits durch die Konzeption der auf dem Markt befindlichen Wörterbücher verursacht sein: allgemeine einsprachige Wörterbücher des Deutschen sind für Semantisierungszwecke in der Regel ungeeignet, Lernerwörterbücher weisen ebenfalls noch viele Schwachstellen auf (z. B. komplizierte Wortdefinitionen, unverständliche Erklärungen, mangelhaftes Definitionsvokabular, unbefriedigende Kultursensitivität.
3. Relexive Wortschatzarbeit Seit Beginn der 1980er Jahre hat die Wortschatzarbeit und -vermittlung eine neue theoretische Fundierung erfahren und eine neue Qualität gewonnen: Die Linguistisierung der Wortschatzdidaktik im Sinne einer systematischen Darstellung und Vermittlung lexikalischer Wortschatzstrukturen (klassische Wortfeldtheorie) hat das Augenmerk zu stark auf das Was gelenkt. Dies führte zur Verdrängung der Frage, wie Lernende Wörter und Formulierungen lernen, behalten, erinnern und abrufen können. Im Mittelpunkt dieser Diskussion steht die Modellierung des mentalen Lexikons, in dem der Wortschatz netzartig strukturiert ist. Die Netzwerkmodellierung ist vielseitig: Sachnetze, Kollokationsnetze, affektive Wortnetze, Wort-Frames und Skripts, Wortfelder, Wortfamilie, Klangnetze usw. Je strukturierter und vielseitiger ein Wort vernetzt ist, desto sicherer ist es abgespeichert und desto besser kann es abgerufen werden. Zur Wortschatzarbeit gehört in einer reflexiven Phase also auch das Notieren, Sammeln und Ordnen der Wörter und Formulierungen. Methodisch ist dies denkbar in Form netzwerkartiger Gruppierungen (Diagramme, Wortbilder, Wortigel, Mindmaps) in einer lernerautonomen Wörterwerkstatt (vgl. Wolff 2000). Während die traditionellen Aufgaben und Übungen zum Wortschatz in einer logisierenden Rekonstruktion der lexikalischen Beziehungen bestehen, ergeben sich für eine lernerpsychologisch orientierte Wortschatzarbeit neue, kreative und konstruktive Aufgaben- und Übungstypen. Auch bei der reflexiven Wortschatzarbeit können Lernerwörterbücher nützliche Hilfestellungen anbieten ⫺ sofern sie nach dem Modell des mentalen Lexikons konzipiert sind (vgl. für Deutsch als Zweitsprache z. B. Kühn 2007/2009).
4. Produktive Wortschatzarbeit Bei der produktiven Wortschatzarbeit geht es um die Anwendung und den Gebrauch des Wortschatzes in entsprechenden Texten und Situationen. So wie die Semantisierung mit der Lesedidaktik korreliert, so muss die produktive Wortschatzdidaktik mit der Sprech-
140. Materialien für das Wortschatzlehren und -lernen
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und Schreibdidaktik in Beziehung gesetzt werden. Dabei geht es um die Reaktivierung des aufbereiteten Wortschatzes durch seine adressaten-, intentions- und situationsspezifische Verwendung in Texten und Textsorten, insbesondere in Schreibprozessen. Als geeigneter Ort für die produktive Wortschatzarbeit kann die sogenannte Schreibwerkstatt angesehen werden, in der Texte in Einzel-, Partner- oder Gruppenarbeit geplant, formuliert und überarbeitet werden. Wortschatzarbeit in der Schreibwerkstatt verläuft dabei lernschrittprogressiv: In der Planungsphase wird der Wortschatz aus Texten oder Wörterbüchern gesammelt und geordnet, bei der Formulierung und Überarbeitung wird er angewendet und in Texte umgesetzt. In allen Phasen lassen sich Wörterbücher einsetzen: In der Planungsphase lassen sich z. B. mit Hilfe onomasiologischer Wörterbuchtypen (z. B. Thesauri, Bildwörterbücher, bedeutungsgeschichtliche oder sprachkritische Wörterbücher) Wörter sammeln und zu Wörternetzen ordnen. In der Formulierungsphase helfen Konstruktionswörterbücher (Kollokationswörterbücher, Stilwörterbücher), bei der Überarbeitung distinktive Synonymiken, Antonymiken, Kollokationswörterbücher, Stilwörterbücher oder bei der orthographischen Kontrolle Rechtschreibwörterbücher. Lernerwörterbücher können ebenfalls für die prozesshafte Textherstellung eingesetzt werden, sofern sie die entsprechenden Informationsbausteine enthalten (vgl. Wolff 2000).
5. Lehrmaterialien und Lernerorientierung Sichtet man auf der Basis der skizzierten kompetenzorientierten Wortschatzdidaktik die Lehrmaterialien, so lässt sich kritisch Folgendes festhalten: (1) Der stetigen Nachfrage von Lehrenden und Lernenden nach Lehrmaterialien steht ein Defizit an geeigneten Übungsmaterialien gegenüber. (2) In vielen Lehrwerken und speziellen Übungsbüchern zur Wortschatzarbeit dominieren immer noch sprachsystematische Übungen, mit deren Hilfe isoliertes Wortschatzwissen abgeprüft wird. Die Übungen suggerieren, der Wortschatz sei ein geschlossenes Inventar, und logisches System: Es geht vor allem um Beziehungen der Überund Unterordnung, um Identitäts- und Äquivalenzrelationen oder um Relationen der Gegensätzlichkeit. Die kommunikative Verwendung des einzuübenden Wortschatzes spielt keine Rolle, die dargebotenen Kontexte sind minimal. Geübt wird der Wortschatz an kontextlosen Einsetz-, Ergänzungs- oder Zuordnungsübungen (vgl. z. B. Ferenbach und Schüßler 2007); diese Kritik gilt uneingeschränkt auch für die Arbeit im muttersprachlichen Deutschunterricht (vgl. z. B. Ulrich 2007). (3) Im Zuge der Erarbeitung digitaler Lehr- und Lernmittel sind auch für den Bereich des Wortschatzes computerunterstützte Übungen (auf CD, DVD oder im Internet) konzipiert worden. Auch die digital gestützte Wortschatzarbeit bringt keine qualitative Verbesserung ⫺ im Gegenteil: Es handelt sich um traditionelle Ansätze mit den bekannten kontextisolierten Einsetz-, Ergänzungs- oder Zuordnungsübungen. Die Standardisierung digitaler Wortschatzaufgaben scheint geradezu eine Renaissance der sprachsystembezogenen Wortschatzarbeit zu fördern. (4) In neueren Lehrwerken zeigt sich ein Perspektivenwechsel: weg von der lexikalsemantischen Wortschatzvermittlung hin zu einer lern(er)psychologisch fundierten Wortschatzarbeit. Diese Lehrwerke enthalten Aufgaben zur Semantisierung und Übungen zum Sammeln und Ordnen von Wörtern. Die textbezogene, produktive
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XIII. Medien und Lehr-Lernmaterialien Wortschatzarbeit wird in den Lehrwerken allerdings sträflich vernachlässigt (musterhaft die Vorschläge bei Honnef-Becker 2000). (5) Eine Wortschatzarbeit, in der die autonom arbeitenden Lernenden oder die kreative Wortschatzarbeit die entscheidende Rolle spielen, gilt als Ausnahme (vgl. Bohn und Schreiter 2000: 92, 95). (6) Vollkommen unzureichend in der bisherigen Wortschatzarbeit ist die Berücksichtigung von Phraseologismen bzw. eine entsprechende Phraseodidaktik (vgl. Ettinger 2007; Kühn 2007b). (7) Dem (Lerner-)Wörterbuch kann bei der Wortschatzarbeit insofern eine bedeutende Rolle zugewiesen werden, als Wörterbücher sowohl bei der rezeptiven und reflexiven als auch bei der produktiven Wortschatzarbeit gewinnbringend eingesetzt werden könnten. Die bisherigen Vorschläge zur Wörterbucharbeit beschränken sich allerdings fast ausschließlich auf die Handhabung eines bestimmten Wörterbuchtyps (vgl. z. B. Schneider 1993; Schaeder 2000). Praktische Hinweise zum funktionalen Einsatz des Wörterbuchs bei Textrezeption und -produktion gibt es kaum (vgl. richtungsweisend Honnef-Becker 1999, 2000, 2002).
6. Literatur in Auswahl Bohn, Rainer und Ina Schreiter 2000 Wortschatzarbeit in den Sprachlehrwerken Deutsch als Fremdsprache: Bestandsaufnahme, Kritik, Perspektiven. In: Peter Kühn (Hg.), Wortschatzarbeit in der Diskussion, 57⫺98. Hildesheim: Olms. Börner, Wolfgang und Klaus Vogel (Hg.) 1993 Wortschatz und Fremdsprachenerwerb. Bochum: AKS. Börner, Wolfgang und Klaus Vogel (Hg.) 1994 Kognitive Linguistik und Fremdsprachenerwerb: Das mentale Lexikon. Tübingen: Narr. Burger, Harald, Dmitrij Dobrovol’skij, Peter Kühn und Neal R. Norrick (Hg.) 2007 Phraseologie. Ein internationales Handbuch der zeitgenössischen Forschung. Bd. 2. (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 28.1⫺2). Berlin: de Gruyter. Ettinger, Stefan 2007 Phraseme im Fremdsprachenunterricht. In: Harald Burger, Dmitrij Dobrovol’skij, Peter Kühn und Neal R. Norrick (Hg.), Phraseologie. Ein internationales Handbuch der zeitgenössischen Forschung, 893⫺908. Bd. 2. Berlin: de Gruyter. Ferenbach, Magda und Ingrid Schüßler 2007 Wörter zur Wahl: Wortschatzübungen. Deutsch als Fremdsprache. 3. Aufl. Stuttgart: Klett. Hausmann, Franz Josef 1993 Ist der deutsche Wortschatz lernbar? Oder: Wortschatz ist Chaos. Informationen Deutsch als Fremdsprache 20: 471⫺485. Honnef-Becker, Irmgard 1999 Der Duden als Malkasten? Zum Wörterbuchgebrauch beim kreativen Schreiben in Deutsch als Fremdsprache. Lexicographica 14: 14⫺33. Honnef-Becker, Irmgard 2000 Wortschatzarbeit in der Schreibwerkstatt: Plädoyer für eine textbezogene Wortschatzdidaktik. In: Peter Kühn (Hg.), Wortschatzarbeit in der Diskussion, 149⫺177. Hildesheim: Olms. Honnef-Becker, Irmgard 2002 Die Benutzung des „de Gruyter Wörterbuchs Deutsch als Fremdsprache“ in Situationen der Textproduktion. In: Herbert Ernst Wiegand (Hg.), Perspektiven der pädagogischen
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Lexikographie des Deutschen II. Untersuchungen anhand des „de Gruyter Wörterbuchs Deutsch als Fremdsprache,“ 623⫺646. Tübingen: Niemeyer. Kielhöfer, Bernd 1994 Wörter lernen, behalten und erinnern. Neusprachliche Mitteilungen 47: 211⫺220. Köster, Lutz 1994 Semantisierungsprozesse im Unterricht Deutsch als Fremdsprache. Frankfurt a. M.: Lang. Köster, Lutz 2001 Wortschatzvermittlung. In: Gerhard Helbig, Lutz Götze, Gert Henrici und Hans-Jürgen Krumm (Hg.), Deutsch als Fremdsprache. Ein internationales Handbuch, 887⫺893. Bd. 2. (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 10.1⫺2). Berlin: de Gruyter. Kühn, Peter (Hg.) 2000 Wortschatzarbeit in der Diskussion. Hildesheim: Olms. Kühn, Peter 2000 Kaleidoskop der Wortschatzdidaktik und -methodik. In: Peter Kühn (Hg.), Wortschatzarbeit in der Diskussion, 5⫺28. Hildesheim: Olms. Kühn, Peter 2002 Kulturgebundene Lexik und kultursensitive Bedeutungserläuterungen im „de Gruyter Wörterbuch Deutsch als Fremdsprache“. In: Herbert Ernst Wiegand (Hg.), Perspektiven der pädagogischen Lexikographie des Deutschen II. Untersuchungen anhand des „de Gruyter Wörterbuchs Deutsch als Fremdsprache“, 161⫺200. Tübingen: Niemeyer. Kühn, Peter 2006 Interkulturelle Semantik. Nordhausen: Bautz. Kühn, Peter 2007a Rezeptive und produktive Wortschatzkompetenzen. In: Heiner Willenberg (Hg.), Kompetenzhandbuch für den Deutschunterricht. Auf der empirischen Basis des DESI-Projekts, 160⫺167. Baltmannsweiler: Schneider. Kühn, Peter 2007b Phraseme im Muttersprachenunterricht. In: Harald Burger, Dmitrij Dobrovol’skij, Peter Kühn und Neal R. Norrick (Hg.), Phraseologie. Ein internationales Handbuch der zeitgenössischen Forschung, 881⫺893. Bd. 2. (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 19.1⫺2). Berlin: de Gruyter. Kühn, Peter 2007/2009 Mein Schulwörterbuch. Troisdorf: Bildungsverlag Eins [digitalisiert 2009]. Löschmann, Martin 1993 Effiziente Wortschatzarbeit. Alte und neue Wege. Frankfurt a. M.: Lang. Luchtenberg, Sigrid 2000 Interkulturelle Wortschatzarbeit. In: Peter Kühn (Hg.), Wortschatzarbeit in der Diskussion, 209⫺222. Hildesheim: Olms. Müller[-Jacquier], Bernd-Dietrich 1994 Wortschatzarbeit und Bedeutungsvermittlung. (Fernstudieneinheit 8). Berlin: Langenscheidt. Neuner, Gerhard 1990 Mit dem Wortschatz arbeiten. Systematisches Wörterlernen im Deutschunterricht ⫺ neu zu entdecken. Fremdsprache Deutsch 3: 4⫺11. Quetz, Jürgen 1998 Der systematische Aufbau eines „mentalen Lexikons“. In: Johannes-Peter Timm (Hg.): Englisch lernen und lehren ⫺ Didaktik des Englischunterrichts, 272⫺290. Berlin: Cornelsen. Rohrer, Josef 1985 Lernpsychologische Aspekte der Wortschatzarbeit. Die Neueren Sprachen 84: 595⫺611. Schaeder, Burkhard 2000 Wörterbucharbeit im Unterricht Deutsch als Fremdsprache. In: Peter Kühn (Hg.), Wortschatzarbeit in der Diskussion, 249⫺280. Hildesheim: Olms.
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XIII. Medien und Lehr-Lernmaterialien Schneider, Klaus Peter 1993 Wörterbucharbeit als Lernprozeß. In: Wolfgang Börner und Klaus Vogel (Hg.), Kognitive Linguistik und Fremdsprachenerwerb: Das mentale Lexikon, 87⫺109. Tübingen: Narr. Steinhoff, Torsten 2009 Wortschatz ⫺ eine Schaltstelle für den schulischen Spracherwerb? Siegener Papiere zur Aneignung sprachlicher Strukturformen 17: 1⫺66. Ulrich, Winfried 2007 Wörter, Wörter, Wörter. Wortschatzarbeit im muttersprachlichen Deutschunterricht. Anleitung und praktische Übungen mit 204 Arbeitsblättern in Form von Kopiervorlagen. Baltmannsweiler: Schneider. Wiegand, Herbert Ernst (Hg.) 2002 Perspektiven der pädagogischen Lexikographie des Deutschen II. Untersuchungen anhand des „de Gruyter Wörterbuchs Deutsch als Fremdsprache“. Tübingen: Niemeyer. Willenberg, Heiner 2008 Wortschatz Deutsch. In: DESI-Konsortium (Hg.), Unterricht und Kompetenzerwerb in Deutsch und Englisch. Ergebnisse der DESI-Studie, 72⫺80. Weinheim: Beltz. Wolff, Dieter 2000 Wortschatzarbeit im Fremdsprachenunterricht: Eine kognitivistisch-konstruktivistische Perspektive. In: Peter Kühn (Hg.), Wortschatzarbeit in der Diskussion, 99⫺124. Hildesheim: Olms.
Peter Kühn, Trier (Deutschland)
141. Materialien ür das Grammatiklehren und -lernen 1. 2. 3. 4.
Linguistische Grammatiken Didaktische Grammatiken Pädagogische Grammatiken Didaktisch orientierte Darstellungen zur Gesamtheit oder zu Einzelproblemen der deutschen Sprache 5. Literatur in Auswahl
Die Materialien für die Vermittlung von Grammatik im fremdsprachlichen Deutschunterricht gliedern sich in vier Kategorien: Linguistische Grammatiken (Grundlagendarstellung) Didaktische Grammatiken (Anwendungsorientierte Grammatiken) Pädagogische Grammatiken (Grammatiken in Lehrwerken/Übungsgrammatiken) Didaktisch orientierte Darstellungen der Gesamtheit oder von Einzelproblemen der Grammatik der deutschen Sprache
1. Linguistische Grammatiken Linguistische Grammatiken sollen ihren Gegenstand umfassend, widerspruchsfrei und auf der Grundlage einer einheitlichen Theorie beschreiben. Diesem Postulat genügen
141. Materialien für das Grammatiklehren und -lernen
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freilich nur selten Grammatiken. Zu den im Deutschen als Fremdsprache/Deutschen als Zweitsprache benutzten einsprachigen und kontrastiven Grammatiken gehören: Gerhard Helbig/Joachim Buscha: Deutsche Grammatik. Ein Handbuch für den Ausländerunterricht. Ulrich Engel: Deutsche Grammatik. Lutz Götze/Ernest W. B. Hess-Lüttich: Grammatik der deutschen Sprache. Harald Weinrich u. a.: Textgrammatik der deutschen Sprache. Peter Eisenberg: Grundriß der deutschen Grammatik. Gisela Zifonun u. a.: Grammatik der deutschen Sprache. Ulrich Engel/Rosemaria Tertel: Kommunikative Grammatik Deutsch als Fremdsprache. DUDEN. Grammatik der deutschen Sprache. Elke Hentschel/Harald Weydt: Handbuch der deutschen Grammatik. Alle diese Grammatiken bieten einsprachige oder zweisprachig-kontrastive Erklärungen der häufigsten und wichtigsten grammatischen Phänomene des Deutschen. Sie beschränken sich im Regelfall auf den Kernbereich jeglicher Grammatik, also Morphologie und Syntax. Lediglich Weinrich, Zifonun u. a. sowie Götze und Hess-Lüttich beziehen den Text als nächsthöhere Kategorie mit ein. Mit Abstand am häufigsten verwendet wird das Standardwerk, also die Grammatik von Helbig und Buscha. Sie bietet, zusammen mit einer Schülergrammatik, eine umfangreiche und leicht benutzbare Darstellung der Regeln von Formen- und Satzlehre. Für tiefer gehendes Studium von Einzelproblemen sind die Grammatiken Engel, Eisenberg, Zifonun u. a., Götze und Hess-Lüttich und Hentschel und Weydt geeignet. Als Beispiel einer Kontrastiven Grammatik gilt das Werk von Engel und Mrazovic zum Vergleich des Deutschen und des Serbokroatischen. Hier werden, basierend auf der Kontrastiv-Hypothese der Zweitspracherwerbsforschung, Gemeinsamkeiten, Ähnlichkeiten und Unterschiede der beiden Sprachen analysiert und wird im Einzelfall auf Interferenzmöglichkeiten hingewiesen. Eine Weiterentwicklung der Kontrastiv-Hypothese ist der Sammelband von Götze und Müller-Liu und Traore´: Kulturkontrastive Grammatik. Konzepte und Methoden. Hier werden, auf der Grundlage der Sprachphilosophie Wilhelm von Humboldts, Sprachen als Ausdruck unterschiedlicher Weltansichten begriffen, verglichen und auf Probleme beim Erwerb der Grammatik der deutschen Sprache hingewiesen. Zu den Defiziten aller vorliegenden Grammatiken gehört die allenfalls in Ansätzen vorgenommene Beschreibung der gesprochenen deutschen Gegenwartssprache: Eine Grammatik der gesprochenen Sprache liegt bislang nur von Henning (2006) vor. Die Schwierigkeiten einer solchen Grammatik liegen bei der Erstellung einschlägiger und aussagekräftiger Korpora als Grundlage der Grammatik, weiterhin bei der Entscheidung, welches Register (Standardsprache, regionale Varianten, Alltagssprache usw.) zugrunde gelegt werden sollte, sowie bei der Schnelllebigkeit zahlreicher Phänomene der gesprochenen Sprache. Eine interessante Alternative, weil aus der Sicht der Auslandsgermanistik geschrieben, ist die Gruppengrammatik von Franc¸ois Schanen 1995 (Paris). Sie ist vor allem für Germanisten und Studierende auf fortgeschrittenem Niveau geeignet. Ausführliche Analysen linguistischer und didaktischer Grammatiken finden sich bei Hennig (2006).
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XIII. Medien und Lehr-Lernmaterialien
2. Didaktische Grammatiken Didaktische Grammatiken wählen aus dem Gesamtbereich der Grammatik einer natürlichen Sprache die häufigsten, schwierigsten und fehlerträchtigsten Teile aus und stellen diese dar. Dazu ziehen die Autoren häufig unterschiedliche Grammatiktheorien heran und wenden diese auf ihren Gegenstand an. Gelegentlich gibt es zweisprachig-kontrastive didaktische Darstellungen. Didaktische Grammatiken werden oft adressatenorientiert geschrieben: So gibt es Lehrergrammatiken (Häussermann und Kars, Latour, Buscha) und Schülergrammatiken (Dreyer und Schmitt, Reimann, Götze), daneben Produktionsgrammatiken (Rug und Tomaszewski, Fandrych und Tallowitz) und Rezeptionsgrammatiken, zumal zur Entwicklung des Leseverstehens (Heringer). Kontrastive Darstellungen finden sich häufig: Als Beispiel sei die Grammatik von Msia Gwenzadse (Tbilissi) genannt. Hier werden, in Anlehnung an funktional-kommunikative Darstellungen bei Engel, Buscha und Götze, Funktionen sprachlichen Handelns und deren sprachliche Ausdrucksmittel im Deutschen und Georgischen verglichen und durch Übungen ergänzt. Die früher gebrauchte Unterscheidung von Resultatsgrammatiken (Normative Grammatiken) und Prozessgrammatiken (Grammatiken der Beschreibung von Erwerbsprozessen/Erwerbssequenzen) wird heute nicht mehr vorgenommen, da sich die Hoffnung, Erwerbsprozesse (Artikelsystem, Endstellung des finiten Verbs in abhängigen Sätzen, Stellung der Negationspartikel nicht, Bildung zusammengesetzter Tempusformen usw.) ließen sich generalisieren und in Grammatiken beschreiben, nicht erfüllt hat: Die Hirnforschung hat nachgewiesen, dass alle Spracherwerbsprozesse individuell unterschiedlich und allenfalls in Ansätzen verallgemeinerbar sind. Zu den häufig gebrauchten didaktischen Grammatiken gehören: Gerhard Helbig/Joachim Buscha: Schülergrammatik. Lutz Götze u. a.: SchülerWAHRIG: Deutsche Grammatik. Joachim Buscha: Grammatik in Feldern. Wolfgang Rug/Andreas Tomaszewski: Grammatik mit Sinn und Verstand. Hans Barkowski u. a.: Kommunikative Grammatik und Deutsch lernen mit ausländischen Arbeitern. Diese didaktischen Grammatiken orientieren ihre Darstellungen am Interesse der Benutzer. Sie bieten daher überschaubare, auch für den Nichtmuttersprachler verständliche und mit Beispielen und häufig Übungen versehene Texte. In jüngster Zeit ist dabei eine Hinwendung zu funktional-kommunikativen Beschreibungen erkennbar. (Buscha, Götze, Rug und Tomaszewski): Im Zentrum der Darstellung steht die Funktion sprachlicher Zeichen und nicht die Form, also die Frage, welche sprachlichen Funktionen mit welchen Formen ausgedrückt werden. Als Beispiel diene das Passiv: Traditionell wird es als Umkehrung des Aktivs (Aktiv-Passiv-Konverse) verstanden und gelehrt. Beim funktionalen Ansatz hingegen wird nach Textsorten und Intentionen geforscht und entsprechend klassifiziert: Das Passiv als täterabgewandte oder den Urheber der Handlung nicht benennende Struktur wird im Deutschen häufig gebraucht, wenn das Agens (der Handelnde) nicht wichtig bzw. allgemein bekannt ist, oder aber, wenn es aus taktischen oder ideologischen Gründen nicht genannt werden soll oder darf: Im Kabinett wurden Steuersenkungsvorschläge diskutiert. Nicht genannt wird hier, welches Kabinettsmitglied welche
141. Materialien für das Grammatiklehren und -lernen
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Vorschläge oder Ablehnungen formuliert hat. Das Ziel ist, die Öffentlichkeit bewusst oder unbewusst falsch zu informieren oder zu verschweigen, wer was gesagt hat, oder es wird vorausgesetzt, dass die Mitglieder des Kabinetts bekannt sind.
3. Pädagogische Grammatiken Pädagogische Grammatiken sind Teile oder Zusätze (Zusatzbände) von Lehrwerken, also grammatische Erklärungen in Lehrwerken des Deutschen als Fremdsprache/Deutschen als Zweitsprache, versehen mit Übungsbeispielen. Alle Lehrwerke verfügen über solche Pädagogischen Grammatiken, die in jüngster Zeit auch mit neuen Medien (Tonträger, CD-Rom, Videomaterialien) ausgestattet sind. Besonderer Beachtung erfreut sich dabei das so genannte E-learning, also das individuelle Lernen von Sprache und Grammatik mit elektronischen Medien. Zu den pädagogischen Grammatiken gehören auch die Übungsgrammatiken: Beispielhaft werden hier genannt: Axel Hering/Magdalena Matussek/Michaela Perlmann-Balmem: Übungsgrammatik Hilke Dreyer/Rainer, Schmitt: Lehr- und Übungsbuch der deutschen Grammatik Renate Luscher: Übungsgrammatik für Anfänger Christian Fandrych/Ulrike Tallowitz: Klipp und Klar. Diese pädagogischen Grammatiken sind stufenorientiert (Anfänger/Fortgeschrittene), bieten Übungen mit einem Lösungsschlüssel und sind damit für das autonome Lernen oder Lernen in Gruppen geeignet. Ihr Schwerpunkt liegt auf den Grundregeln von Morphologie und Syntax, weniger im kommunikativ-funktionalen Sprachlernen.
4. Didaktisch orientierte Darstellungen zur Gesamtheit oder zu Einzelproblemen der deutschen Sprache Eine Vielzahl von Publikationen zu Einzelphänomenen der Vermittlung und des Lernens von Grammatik liegt vor. Dazu gehören die Beiträge in einschlägigen Zeitschriften wie Deutsch als Fremdsprache, Fremdsprache Deutsch oder Deutschprima(r), regelmäßige Publikationen wie die Materialien Deutsch als Fremdsprache, das Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache und InfoDaF, weiterhin die Fernstudieneinheiten „Grammatik lehren und lernen“ (Funk und König) sowie das Aufgabenhandbuch von Häussermann und Piepho. Die Fülle der Einzeldarstellungen zu Problemen von Morphologie, Syntax, Semantik, Pragmatik und Textlinguistik im Deutschen als Fremdsprache ist heute unüberschaubar und allenfalls über das Internet erschließbar.
5. Literatur in Auswahl Barkowski, Hans 1986 Kommunikative Grammatik und Deutschlernen mit ausländischen Arbeitern. Königstein: Athenäum.
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XIII. Medien und Lehr-Lernmaterialien Bausch, Karl-Richard und Gabriele Kasper 1979 Der Zweitspracherwerb: Möglichkeiten und Grenzen der großen Hypothesen. Linguistische Berichte 64: 3⫺35. Buscha, Joachim 1998 Grammatik in Feldern. Ein Lehr- und Übungsbuch für fortgeschrittene Deutschlerner. Ismaning: Hueber. Dreyer, Hilke und Rainer Schmitt 1999 Lehr- und Übungsbuch der deutschen Grammatik. Ismaning: Verlag für Deutsch. Duden 2007 Grammatik der deutschen Sprache. Mannheim: Dudenverlag. Eisenberg, Peter 1999 Grundriß der deutschen Grammatik. Stuttgart: Metzler. Engel, Ulrich und Pavica Mrazovic (Hg.) 1986 Kontrastive Grammatik Deutsch-Serbokroatisch. 2 Halbbände. NoviSad und München: Sagners Slavistische Sammlung. Engel, Ulrich und Rosamaria K. Tertel 1993 Kommunikative Grammatik Deutsch als Fremdsprache: Die Regeln der deutschen Gebrauchssprache in 30 gemeinverständlichen Kapiteln. München: iudicium. Engel, Ulrich 1996 Deutsche Grammatik. Heidelberg: Groos. Fandrych, Christian und Ulrike Tallowitz 2000 Klipp und Klar. Übungsgrammatik Deutsch. München: Klett. Flämig, Walter 1991 Grammatik des Deutschen: Einführung Struktur und Wirkungszusammenhänge; erarbeitet auf der theoretischen Grundlage der „Grundzüge der deutschen Grammatik“. Berlin: Akademie-Verlag. Funk, Hermann und Michael König 1995 Grammatik lehren und lernen. München: Langenscheidt. Götze, Lutz 1993 Lebendiges Grammatiklernen. Anmerkungen zu einem modernen Grammatikunterricht. Fremdsprache Deutsch 2: 4⫺9. Götze, Lutz 1999 Eine funktionale Grammatik für Deutsch als Fremdsprache. In: Skibitzki, Bernd und Barbara Wotjak (Hg.), Linguistik und Deutsch als Fremdsprache. Festschrift für Gerhard Helbig zum 70. Geburtstag, 81⫺94. Tübingen: Narr. Götze, Lutz und Ernest W. B. Hess-Lüttich 1999 Grammatik der deutschen Sprache. Sprachsystem und Sprachgebrauch. Gütersloh: Bertelsmann. Götze, Lutz, Gabriele Pommerin und Ulla Mayer 2009 Schüler WAHRIG. Deutsche Grammatik. Gütersloh: WissenMedia. Götze, Lutz, Particia Mueller-Liu und Salifou Traure (Hg.) 2009 Kulturkontrastive Grammatik. Konzepte und Methoden. Frankfurt a. M.: Lang. Gwenzadse, Msia 2000 Deutsche Grammatik. 1. Lerngrammatik für Deutsch als Fremdsprache. Tiblisi: Bakur Sulakauri. Häussermann, Ulrich und Hans-Eberhard Piepho 1996 Aufgaben-Handbuch Deutsch als Fremdsprache. München: iudicium. Häussermann, Ulrich und Jürgen Kars 1997 Grundgrammatik Deutsch. Frankfurt: Diesterweg. Helbig Gerhard und Joachim Buscha 2001 Schülergrammatik. München: Langenscheidt.
141. Materialien für das Grammatiklehren und -lernen
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Helbig, Gerhard und Joachim Buscha 2004 Deutsche Grammatik. Ein Handbuch für den Ausländerunterricht. München: Langenscheidt. Hennig, Mathilde 2001 Welche Grammatik braucht der Mensch? Grammatikenführer für Deutsch als Fremdsprache. München: iudicium. Hennig, Mathilde 2006 Grammatik der gesprochenen Sprache in Theorie und Praxis. Kassel: kassel university press. Hentschel, Elke und Harald Weydt 1994 Handbuch der deutschen Grammatik. Berlin: de Gruyter. Heriger, Hans-Jürgen 1987 Wege zum verstehenden Lesen. Lesegrammatik für Deutsch als Fremdsprache. München: Hueber. Latour, Bernd 1988 Mittelstufengrammatik für Deutsch als Fremdsprache. Ismaning: Hueber. Luscher, Renate 1907 Übungsgrammatik für Anfänger. Lehr- und Übungsbuch Deutsch als Fremdsprache. Ismaning: Verlag für Deutsch. Nieder, Lorenz 1987 Lernergrammatik für Deutsch als Fremdsprache. Ismaning: Hueber. Reimann, Monika 1997 Grundstufen-Grammatik für Deutsch als Fremdsprache. Ismaning: Hueber. Rug, Wolfgang und Andreas Tomaszewski 1993 Grammatik mit Sinn und Verstand. München: Klett. Schanen, Franc¸ois 1995 Grammatik Deutsch als Fremdsprache. München: iudicium. Weinrich, Harald 1993 Textgrammatik der deutschen Sprache. Mannheim: Dudenverlag. Zifonun, Gisela, Ludger Hoffmann und Bruno Strecker 1997 Grammatik der deutschen Sprache. 3 Bände. Berlin: de Gruyter.
Lutz Götze, Saarbrücken (Deutschland)
XIV. Leistungsmessung und Leistungskontrolle 142. Kompetenzmodelle und Bildungsstandards ür Deutsch als Fremd- und Deutsch als Zweitsprache 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Einleitung Zu den Begriffen Kompetenz und kommunikative Kompetenz Kompetenzmodelle Bildungsstandards Bilanz Literatur in Auswahl
1. Einleitung Bildungsstandards konkretisieren Bildungsziele, denen schulisches Lernen folgen soll, in Form von Kompetenzanforderungen. Von der sog. Kompetenzorientierung erwartet man eine Qualitätsverbesserung des schulischen Fremdsprachenunterrichts. In diesem Beitrag wird zuerst kurz rekapituliert, was unter den Schlüsselbegriffen Kompetenz und kommunikative Kompetenz verstanden wird (Abschnitt 2). Gegenstand von Abschnitt 3 sind Modellierungen kommunikativer Kompetenz. Genauer diskutiert wird das Kompetenzmodell des Europäischen Referenzrahmens, weil davon der grösste Einfluss auf Bildungsstandards in den Fremdsprachen ausgeht. Abschnitt 4 stellt grundlegende Konzepte von Bildungsstandards vor, informiert über die einschlägigen Projekte in den deutschsprachigen Ländern und führt summarisch einige Risiken und Chancen von Standards an.
2. Zu den Begrien Kompetenz und kommunikative Kompetenz In der Diskussion um Bildungsstandards in den deutschsprachigen Ländern wurde der sonst sehr verschieden gebrauchte Begriff Kompetenz besonders durch die Expertise von Klieme et al. (2003) für das deutsche Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und die deutsche Kultusministerkonferenz (KMK) geschärft und geprägt. Im Klieme-Gutachten wird Kompetenz (in Übereinstimmung mit Weinert 2001) definiert als die bei Individuen verfügbaren oder von ihnen erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können. (Klieme et al. 2003: 72)
142. Kompetenzmodelle und Bildungsstandards für Dt. als Fremd- und Zweitsprache 1265 Kompetenz wird hier als kognitive Problemlösungsfähigkeit aufgefasst, die v. a. durch drei Merkmale näher bestimmt ist: Erstens werden Kompetenzen als etwas Erlerntes und Erlernbares konzipiert: „Kompetenz hat wohl eine materielle Basis in den Genen, aber sie entwickelt sich aufgrund von Lernprozessen (…) je verschieden“ (Oelkers und Reusser 2008: 26). Zweitens werden Kompetenzen auf wissensbasierte Fähigkeiten in bestimmten Handlungsbereichen (Domänen) und Kontexten bezogen (im Gegensatz zur klassischen Vorstellung von Intelligenz als kontextfreier kognitiver Disposition) (vgl. Oelkers und Reusser 2008: 24). Und drittens bedeutet Kompetenz eine Verbindung von Wissen und Können, die mit Einstellungen, Werten und Motiven interagiert. Dieser Kompetenzbegriff steht dem soziolinguistisch begründeten von Dell Hymes (1972) viel näher als dem universalgrammatischen von Chomsky (1965). Chomskys Kompetenz ist auf die Beherrschung eines abstrakten grammatischen Regelsystems beschränkt, und dieses System wird klar vom effektiven Sprachgebrauch (Performanz) als etwas Zweitrangigem abgegrenzt. Hymes stellte diesem Kompetenzbegriff eine umfassend konzipierte kommunikative Kompetenz entgegen, die sowohl Wissen (tacit knowledge) als auch die Fähigkeit zum Sprachgebrauch (ability to use) umfasst, wobei auch diese Sprachgebrauchsfähigkeit auf der Ebene der Kompetenz verortet wird und also nicht mit effektivem Gebrauch gleichzusetzen ist. Hymes’ ability to use umfasst zunächst, wie bei Chomsky, grammatisches Urteilsvermögen, geht dann aber weit darüber hinaus: Eingeschlossen wird die Fähigkeit, Sprache auch kontextspezifisch und sozial angemessen zu produzieren und zu rezipieren. Einen noch umfassenderen Kompetenzbegriff als Dell Hymes setzt der Gemeinsame Europäische Referenzrahmen für Sprachen (Europarat 2001, in der Folge abgekürzt GER) an. Dieser Kompetenzbegriff wird hier zitiert und im nächsten Abschnitt genauer erläutert. Kompetenzen sind die Summe des (deklarativen) Wissens, der (prozeduralen) Fertigkeiten und der persönlichkeitsbezogenen Kompetenzen und allgemeinen kognitiven Fähigkeiten, die es einem Menschen erlauben, Handlungen auszuführen. (GER 2001: 21)
3. Kompetenzmodelle Drei Modellierungen kommunikativer Kompetenz sind in der Fremdsprachendidaktik und im Bereich des language testing besonders einflussreich geworden: das Modell von Canale und Swain (1980; Canale 1983), dasjenige von Bachman und Palmer (1996; Bachman 1990) und das Modell des GER (2001). Das Modell von Canale und Swain und der GER sind deskriptive Modelle. Bachmanns Modell ist hingegen als Funktionsmodell intendiert, indem strategische Kompetenzen eine zentrale Stellung einnehmen. Aus Platzgründen wird hier nur der Ansatz des GER genauer besprochen. Zur vergleichenden Diskussion der drei Modelle siehe u. a. Lenz (2006), Harsch (2006), Schneider und North (2000) und die dort zitierte Literatur. Mit dem GER (2001) liegt ein sehr umfassendes und differenziertes Kategoriensystem zur Beschreibung von kommunikativen Kompetenzen vor, das verschiedene Tendenzen und Entwicklungen aufnimmt, systematisiert und z. T. weiter ausdifferenziert. Sehr klar herausgearbeitet wird im GER die Handlungsorientierung von Kompetenz. Das ist eine
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XIV. Leistungsmessung und Leistungskontrolle
deutliche Parallele zu Klieme (vgl. oben, Abschnitt 2), wobei die Handlungsorientierung im GER mit dem Konzept kommunikativer Aufgaben (tasks) und deren Bewältigung verknüpft ist. Im GER werden Sprachenlernende in erster Linie als sozial Handelnde betrachtet, die „unter bestimmten Umständen und in spezifischen Umgebungen und Handlungsfeldern kommunikative Aufgaben bewältigen müssen“ (GER 2001: 21). Zur Bewältigung dieser Aufgaben greifen Lernende auf eine Vielzahl von Kompetenzen (!) zurück, darunter allgemeine Kompetenzen, die bei sprachlichen und nicht sprachlichen Handlungen eingesetzt werden (savoir, savoir faire, savoir eˆtre und savoir apprendre; vgl. GER 2001: 22⫺23 und Abschnitt 5.1.1⫺5.1.4) und kommunikative Sprachkompetenzen, welche zum Handeln mit Hilfe von spezifischen sprachlichen Mitteln befähigen (linguistische, soziolinguistische und pragmatische Kompetenzen; GER 2001: 24⫺25 und Abschnitt 5.2). Weiterhin gehören sprachliche Aktivitäten resp. kommunikative (Sprach-) Aktivitäten (die Terminologie ist hier schwankend) zum Ansatz des GER, worunter „die Ausübung der kommunikativen Sprachkompetenz eines Menschen in einem bestimmten Lebensbereich“ verstanden wird und zu denen rezeptive, produktive, interaktive und sprachmittelnde Aktivitäten sowie damit einhergehende Strategien gezählt werden (GER 2001: 21, 25 und Abschnitt 4.4). Die Beschreibung der kommunikativen Sprachkompetenzen im GER ist Bachmans Sprachwissen (language knowledge) recht ähnlich, doch es zeigen sich auch Unterschiede, u. a. im Pragmatikverständnis der beiden Ansätze. Strategien des Sprachgebrauchs spielen im GER eine ebenso wichtige Rolle wie bei Bachman, doch werden sie im GER auch konkret und in der gleichen Weise ausformuliert und sogar skaliert, wie die kommunikativen Aktivitäten selbst. Beispielsweise werden im Anschluss an die Skalen zur mündlichen und schriftlichen Interaktion drei Skalen zu Interaktionsstrategien präsentiert: „Sprecherwechsel“, „Kooperieren“ und „um Klärung bitten“ (GER 2001: 88⫺89). Die grosse Wirkung des GER ging und geht allerdings nicht von diesem umfassenden Beschreibungssystem für Kompetenzen aus, auch nicht von der durchgängigen Fragestruktur, mit der die Kompetenzen für die verschiedenen Benutzer des GER (z. B. Curriculumsverantwortliche) präsentiert werden, sondern von den illustrativen Beispiel-Skalen, d. h. von denjenigen Kompetenzbeschreibungen oder „Deskriptoren“ („Kann …“), die in einem Schweizer Forschungsprojekt empirisch validiert und skaliert, d. h. einem von sechs Niveaus (A1 bis C2) zugeordnet werden konnten (vgl. Schneider und North 2000) und die aus diesem Projekt in den GER übernommen wurden. Skalierte Deskriptoren bietet der GER sowohl für „kommunikative Aktivitäten und Strategien“ als auch für „kommunikative Sprachkompetenzen“ an. Erstere setzen konsequent die Handlungsorientierung um (was können Lernende auf einem Niveau typischerweise tun?) und sind zu Einzelskalen wie z. B. „Gespräche zwischen Muttersprachlern verstehen“ zusammengestellt, die ihrerseits den klassischen vier Fertigkeiten (hier dem Hörverstehen) zugeordnet sind. Demgegenüber fokussieren die Deskriptoren zu den kommunikativen Sprachkompetenzen Merkmale der sprachlichen Qualität der Handlungen (wie gut kann jemand auf einem Niveau sprachlich handeln?) und sind zu Einzelskalen wie z. B. „Grammatische Korrektheit“ oder „soziolinguistische Angemessenheit“ zusammengestellt. ⫺ Zur Kritik am GER, die indessen kaum das Kompetenzmodell, sondern u. a. Aspekte der Skalen betrifft, vgl. Bausch et al. (2003) und dagegen Schneider (2003). Festzuhalten ist, dass ein erheblicher Unterschied zwischen dem GER als umfassendem Beschreibungssystem für Kompetenzen und dem GER als Sammlung illustrativer Beispielskalen besteht und dass die starke Wirkung des GER zu einem grossen Teil auf
142. Kompetenzmodelle und Bildungsstandards für Dt. als Fremd- und Zweitsprache 1267 letzteren basiert ⫺ und/oder auf den (nie empirisch validierten) Konkretisierungen und Ergänzungen dieser Skalen in Profile Deutsch (Glaboniat et al. 2005), mit denen die GER-Skalen oft verwechselt oder in eins gesetzt werden. Wie GER-Deskriptoren für spezielle Kontexte und Zielgruppen adaptiert und weiter entwickelt werden können, zeigen beispielsweise die folgenden Veröffentlichungen: für junge Lernende in der öffentlichen Schule ⫺ Lenz und Studer (2004); für das berufsorientierte Fremdsprachenlernen ⫺ Vogt (2007); für den Bereich Deutsch als Zweitsprache ⫺ das Rahmencurriculum für Integrationskurse Deutsch als Zweitsprache (Goethe-Institut 2008). Das Rahmencurriculum illustriert sehr gut, wie das Konzept von Sprachenlernenden als sozial Handelnden für die heterogene Gruppe „MigrantInnen in Deutschland“ umgesetzt werden kann. Im Zuge einer umfassenderen Bedarfserhebung wurden Handlungsfelder bestimmt, die entweder für die gesamte Zielgruppe oder aber nur für eine Gruppe von MigrantInnen relevant sind (z. B. Umgang mit der Migrationssituation vs. Betreuung und Ausbildung von Kindern). Als Lernziele werden Sprachhandlungen präsentiert, die innerhalb dieser Handlungsfelder bedeutsam sind. Die Lernziele verstehen sich als Maximalangebot, aus denen für drei verschiedene Migrationsgruppen ausgewählt werden kann. Die Sprachhandlungen selbst, etwa „Auskunft geben“, werden a) durch KannBeschreibungen konkretisiert (z. B. „Kann einfach und kurz von seinen/ihren Erfahrungen berichten, z. B. über Unterstützung durch Familienangehörige in Deutschland.“), b) der jeweils vorrangigen Aktivität zugewiesen (hier dem Sprechen) und schliesslich c) immer auf demjenigen Niveau situiert, auf dem die Handlungen zuerst sinnvoll umgesetzt werden können (hier A2; insgesamt werden die GER-Niveaus A1, A2 und B1 berücksichtigt). ⫺ Zu bedenken ist dabei, dass die Deskriptoren des Rahmencurriculums eine Achievement-Perspektive spiegeln. Dies schränkt ihre direkte Verwendbarkeit für Tests, die eine Aussenperspektive an das Gelernte herantragen (proficiency tests), ein. Vor diesem Hintergrund soll nun ein Blick auf Bildungsstandards für Fremdsprachen in den deutschsprachigen Ländern geworfen werden. Die Grundfrage von Bildungsstandards lautet: Über welche Kompetenzen müssen die SchülerInnen zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Schullaufbahn verfügen, wenn wichtige Bildungsziele der Schule als erreicht gelten sollen?
4. Bildungsstandards In den angloamerikanischen und in wenigen europäischen Ländern (z. B. Grossbritannien, Niederlande) sind Standards in unterschiedlicher Form seit Längerem feste Steuerungsgrössen im Bildungssystem. In den deutschsprachigen Ländern dagegen sind Bildungsstandards ein Kernelement aktueller Reformentwicklungen, für die sich v. a. drei Gründe bezeichnen lassen (vgl. u. a. Timm 2006): erstens die grossen internationalen Leistungsvergleichsstudien wie TIMSS und PISA, zweitens die Diskussion um Qualitätsmanagement, die zunehmend auch auf pädagogischem Gebiet geführt wird, und drittens die bereits 1991 vom Europarat beschlossene Entwicklung eines Europäischen Referenzrahmens (zum GER siehe oben, Abschnitt 3). Vor dem Hintergrund v. a. der angloamerikanischen Erfahrungen und bezogen auf das Klieme-Gutachten (vgl. oben, Abschnitt 2) geht man in den deutschsprachigen Ländern davon aus, dass das Setzen von Zielen, welche die Schulen erreichen sollen, für das
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XIV. Leistungsmessung und Leistungskontrolle
Erreichen dieser Ziele effektiver ist als die Steuerung (allein) auf der Basis von Lehrplänen und Lehrmitteln. Formuliert werden daher Erwartungen an die Lernergebnisse der SchülerInnen (performance standards) und man nimmt an, dass Regulierungen auf der Seite der Ergebnisse (der SchülerInnen) bzw. des Outputs (der Schulen) einen wichtigen Beitrag zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen leisten können. Komplementär dazu soll den Schulen in verschiedenen Bereichen eine grössere Autonomie zugestanden werden, zum Beispiel auf unterrichtsmethodischer Ebene. Allerdings ist die gebräuchliche Formel „Regulierung des Outputs statt Inputsteuerung“ in doppelter Weise ungenau, denn einerseits wird, parallel zur Entwicklung von Standards, an neuen Lehrplänen und Lehrmitteln gearbeitet, also auf der Input-Seite (zum Verhältnis von Standards, Curricula und Lehrmitteln vgl. Bausch et al. 2005), und andererseits entspricht die Einführung von Bildungsstandards erst in Kombination mit externen Monitoringverfahren, im Zuge derer systematisch erfasste Lernergebnisse an die Standards rückgebunden bzw. mit diesen verglichen werden, einem outputorientierten Steuerungskonzept (siehe u. a. Labudde 2007). Und schliesslich ist auch der Begriff Output selbst zu präzisieren: Gemeint ist eine Ergebnisorientierung im Sinne einer Orientierung an vergleichbaren Zielvorgaben, die als wesentlich erachtete Fachinhalte explizieren. Das ist ein grundsätzlicher Unterschied zu Schulnoten: Zwar ist auch das traditionelle Notenschema ergebnisorientiert, jedoch sind Schulnoten auf Gruppennormen bezogen und ihnen fehlt der Bezug auf ein fachinhaltliches Lernzielkriterium, das über den Rahmen eines zufällig zusammengesetzten Klassenzimmers hinaus gültig und akzeptiert ist. Insofern geben Noten kaum Aufschluss über die in einem Fach oder einem Lerngebiet erreichten tatsächlichen Kompetenzen. Genau das sollen Standards in Verbindung mit Monitoringverfahren leisten: Sie sollen aufzeigen, was die SchülerInnen am Ende einer Lernperiode tatsächlich wissen und können, wobei dieses Wissen und Können auf Kernbereiche ausgewählter Fächer bezogen wird. Insgesamt ergeben sich somit sehr hohe Ansprüche an die Entwicklung von Bildungsstandards: Bildungsstandards sollen fachliche Kerninhalte als vergleichbare Lehrziele vorgeben. Sie sollen auf Kompetenzmodellen basieren, die, Klieme et al. (2003: 74) folgend, sowohl die verschiedenen Anforderungen beschreiben, deren Bewältigung von den SchülerInnen erwartet wird (Kompetenzmodell als Komponentenmodell; primär eine didaktische Aufgabe), als auch Abstufungen dieser Anforderungen aufzeigen, auf denen die Schülerleistungen situiert werden können (Kompetenzmodell als Stufenmodell; eine komplexe empirisch-psychometrische Aufgabe, die über die Entwicklung von Testaufgaben zu den Kompetenzkomponenten läuft). Und schliesslich sollen Bildungsstandards niveaubezogene Vorgaben machen, was gleichzeitig kontroverse pädagogische und bildungspolitische Fragen aufwirft. In Bezug auf diese hohen, wohl generell nur partiell erfüllbaren Ansprüche und bei der konkreten Ausgestaltung der Bildungsstandards sind die deutschsprachigen Länder bisher recht unterschiedliche Wege gegangen. Für Einzeldarstellungen vgl. Oelkers und Reusser (2008); aktuelle Tendenzen besprechen u. a. Harsch (2007) (Deutschland) sowie Lenz und Studer (2008) (Schweiz). Ein grosser Teil der Informationen über die Standards, einschliesslich der gesetzlichen Grundlagen und Beispielen für Testaufgaben, finden sich jetzt auch auf den Websites der für die Entwicklung der Standards zuständigen Institutionen, für Deutschland: http://www.iqb.hu-berlin.de/bista; für Österreich u. a.: http://www.bifie.at/bildungsstandards; für die Schweiz: http://www.edk.ch/dyn/20692. php. Im Bereich der Fremdsprachen wurden bis jetzt Bildungsstandards für Englisch und Französisch sowie ⫺ in der Schweiz ⫺ auch für Deutsch entwickelt. Die Standards fo-
142. Kompetenzmodelle und Bildungsstandards für Dt. als Fremd- und Zweitsprache 1269 kussieren die Abschlussphase der obligatorischen Schule und betreffen die erste (in der Schweiz auch die zweite) schulische Fremdsprache. (Parallel dazu wurden auch Standards für die Schulsprache Deutsch entwickelt, die ⫺ und das wird noch zu wenig diskutiert ⫺ auch SchülerInnen betreffen, die Deutsch als zweite oder dritte Sprache lernen.) Die derzeit vorliegenden Standards in Deutschland und in Österreich sind als Regelstandards konzipiert. Mit diesen Standards, deren empirische Abstützung erst begonnen hat, wird ein durchschnittliches Anforderungsniveau fokussiert (in Deutschland z. B. A2/ B1 für die klassischen vier Fertigkeiten; ohne Niveauangabe wurden von der KMK auch Standards für sprachliche Mittel sowie für interkulturelle und methodische Kompetenzen gesetzt). Im Gegensatz dazu hat man sich in der Schweiz für Basisstandards entschieden. Basisstandards zielen auf ein Mindestniveau, das (fast) alle SchülerInnen erreichen können sollten. Anders als in Deutschland und in Österreich wurden im Schweizer Projekt bereits in der Erarbeitungsphase der Standards repräsentative und kleinere empirische Untersuchungen durchgeführt, die zwei Ziele hatten: Sie dienten einerseits sowohl der Validierung von Aspekten des gewählten Kompetenzmodells (das sich an den GER anlehnt; Lenz und Studer 2008) als auch der Testaufgaben, durch die das Modell operationalisiert wurde, und andererseits der Feststellung der in den Schülerpopulationen tatsächlich vorhandenen Kompetenzen. Aufbauend darauf wurde in Zusammenarbeit mit Fachdidaktikern ein Expertenvorschlag für Standards ausgearbeitet, der in den Kategorien des Kompetenzmodells formuliert ist und der sich bezüglich der Anforderungsniveaus an den in den Untersuchungen festgestellten Leistungen orientiert. Beispielsweise bewegt sich der Vorschlag für einen Basisstandard in DaF am Ende der obligatorischen Schulzeit (7 Lernjahre in der Westschweiz) im Bereich des Niveaus A2, wobei beim Sprechen und bei den rezeptiven Fertigkeiten höhere Erwartungen angesetzt werden als beim Schreiben. Im Schweizer Standard-Projekt erfolgte auch eine ausführliche Auseinandersetzung mit interkulturellen und methodischen Kompetenzen, jedoch wurde bewusst darauf verzichtet, für diese (überfachlichen!) Kompetenzbereiche Bildungsstandards vorzuschlagen, die im Sinne von separaten outcomes und in der Art der Fertigkeiten überprüfbar sind. Kritisch diskutiert werden Bildungsstandards für den Fremdsprachenunterricht im Sammelband von Bausch et al. 2005 (vgl. auch Timm 2006). Zu den hauptsächlich angemahnten Risiken der Standards gehören: die Reduktion von Lehrzielen und weiter des Lehrens und Lernens auf das, was sich in Sprachprüfungen erfassen lässt (verbunden oft mit dem Teaching-to-the-test-Argument), die Nivellierung von Leistungen (mit der Variante „Nivellierung nach unten“ bei Basisstandards), die Einzelfach-Orientierung, die Vermischung von Testfunktionen. Zu einigen dieser Punkte gibt es durchaus gute Gegenargumente (vgl. u. a. Schneider 2007). So können Tests zu Bildungsstandards, die handlungsorientierte Aufgaben u. a. zum Hörverstehen und zum Sprechen umfassen, auch einen wünschbaren Reformeffekt auf grammatik- und wortschatzlastige Schul(übertritts)prüfungen haben und einen aufgabenorientierten Unterricht stärken. Andere Punkte dagegen sind nicht einfach von der Hand zu weisen, z. B. ist die ,Arbeitsteilung’ bisheriger Standard-Projekte mit Projekten für die Schulsprache hier und die Fremdsprachen dort nicht geeignet, die Entwicklung einer ,eigentlichen‘ (d. h. integrativen) Mehrsprachigkeit zu fördern. Auf der anderen Seite sind Bildungsstandards zweifellos auch mit Chancen verbunden. Z. B. können Standards zu mehr curricularer Kohärenz in den Schulen führen, weil der Bezug der Standards auf gestufte Kompetenzmodelle die schulstufenübergreifende
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XIV. Leistungsmessung und Leistungskontrolle
Curriculumsarbeit erleichtern sollte. Kaum kontrovers ist auch, dass Bildungsstandards durch die Fokussierung tatsächlicher Kompetenzen die Durchlässigkeit von sonst häufig impliziten Erwartungen verbessern können, wohingegen die Hoffnung, dass kompetenzorientierte Standards zu mehr Bildungsgerechtigkeit führen, verschieden eingeschätzt wird.
5. Bilanz Für eine genauere Einschätzung der Projekte zu den Bildungsstandards in den deutschsprachigen Ländern ist es zweifellos noch zu früh. Feststellen lässt sich einstweilen die Tendenz, Bildungsstandards zu überschätzen. Ob die Standards zur intendierten Qualitätsverbesserung des Fremdsprachenunterrichts beitragen, hängt nicht nur von den Standards ab, sondern insbesondere auch davon, was auf Seiten der Aus- und Weiterbildung von Lehrpersonen, der Lerngelegenheiten und -bedingungen sowie der Lehrpläne und Lehrmittel getan wird.
6. Literatur in Auswahl Bachmann, Lyle F. 1990 Fundamental Considerations in Language Testing. Oxford: Oxford University Press. Bachman, Lyle F. und Adrian S. Palmer 1996 Language Testing in Practice: Designing and Developing Useful Language Tests. Oxford: Oxford University Press. Bausch, Karl-Richard, Eva Burwitz-Melzer, Frank G. Königs und Hans-Jürgen Krumm (Hg.) 2005 Bildungsstandards für den Fremdsprachenunterricht auf dem Prüfstand. Tübingen: Narr. Bausch, Karl-Richard, Herbert Christ, Frank G. Königs und Hans-Jürgen Krumm (Hg.) 2003 Der Gemeinsame Europäische Referenzrahmen in der Diskussion. Tübingen: Narr. Canale, Michael 1983 On some dimensions of language proficiency. In: John W. Oller (Hg.), Issues in Language Testing Research, 333⫺342. Rowley, Mass.: Newbury House. Canale, Michael und Merrill Swain 1980 Theoretical bases of communicative approaches to second language teaching and testing. Applied Linguistics 1: 1⫺47. Chomsky, Noam 1965 Aspects of the Theory of Syntax. Cambridge, Mass.: MIT Press. Europarat 2001 Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen für Sprachen: lernen, lehren, beurteilen. Berlin: Langenscheidt. Glaboniat, Manuela, Martin Müller, Paul Rusch, Helen Schmitz und Lukas Wertenschlag 2005 Profile Deutsch. Berlin: Langenscheidt. Goethe-Institut und Bundesministerium des Innern 2008 Rahmencurriculum für Integrationskurse Deutsch als Zweitsprache. München: Fell. Online: http://www.integration-in-deutschland.de/ [Suche „Rahmencurriculum für Integrationskurse“] (18. 06. 2009). Harsch, Claudia 2006 Der Gemeinsame europäische Referenzrahmen: Leistung und Grenzen. Die Bedeutung des Referenzrahmens im Kontext der Beurteilung von Sprachvermögen am Beispiel des
142. Kompetenzmodelle und Bildungsstandards für Dt. als Fremd- und Zweitsprache 1271 semikreativen Schreibens im DESI-Projekt. Online-Publikation: http://opus.bibliothek. uni-augsburg.de/volltexte/2006/368/ (18. 06. 2009) Harsch, Claudia 2007 Was können die fremdsprachlichen Bildungsstandards der KMK leisten? Praxis Fremdspracheunterricht 6: 2⫺11. Hymes, Dell H. 1972 On Communicative Competence. In: Janet B. Pride und Janet Holmes (Hg.), Sociolinguistics. Selected Readings, 269⫺293. Harmondsworth: Penguin. Klieme, Eckhard, Hermann Avenarius, Werner Blum, Peter Döbrich, Hans Gruber, Manfred Prenzel, Kristina Reiss, Kurt Riquarts, Jürgen Rost, Heinz-Elmar Tenorth und Helmut J. Vollmer 2003 Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards. Eine Expertise. Bonn: BMBF. Labudde, Peter (Hg.) 2007 Bildungsstandards am Gymnasium ⫺ Korsett oder Katalysator? Bern: h.e.p. verlag ag. Lenz, Peter 2006 Überlegungen zur Sprachkompetenzbeschreibung und Testvalidierung im Projekt HarmoS/Fremdsprachen. Bulletin Suisse de Linguistique applique´e 84: 191⫺227. Lenz, Peter und Thomas Studer 2004 Sprachkompetenzen von Jugendlichen einschätzbar machen. Babylonia 12: 21⫺25. Lenz, Peter und Thomas Studer 2008 Zur Entwicklung der Basisstandards in den Fremdsprachenfächern. Beiträge zur Lehrerbildung 26: 361⫺371. Oelkers, Jürgen und Kurt Reusser 2008 Expertise: Qualität entwickeln ⫺ Standards sichern ⫺ mit Differenz umgehen. Bonn: BMBF. Schneider, Günther 2003 Der Europäische Referenzrahmen und die Mehrsprachigkeit. In: Gerhard Neuner und Ute Koithan (Hg.), Tagungsbeiträge und Arbeitsberichte zum Thema „Mehrsprachigkeit im Bereich Deutsch als Fremdsprache“, 87⫺108. Kassel: Kassel University Press. Schneider, Günther 2007 Der Referenzrahmen und Bildungsstandards für Fremdsprachen. Feindbild, Vorbild, Wunschbild? Babylonia 15: 9⫺13. Schneider, Günther und Brian North 2000 Fremdsprachen können ⫺ was heisst das? Skalen zur Beschreibung, Beurteilung und Selbsteinschätzung der fremdsprachlichen Kommunikationsfähigkeit. Chur: Rüegger. Timm, Johannes-Peter (Hg.) 2006 Fremdsprachenlernen und Fremdsprachenforschung: Kompetenzen, Standards, Lernformen, Evaluation. Tübingen: Narr. Vogt, Karin 2007 Anpassung von Skalen und Deskriptoren des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens. Zeitschrift für Fremdsprachenforschung 18: 43⫺66. Weinert, Franz E. 2001 Vergleichende Leistungsmessung in Schulen ⫺ eine umstrittene Selbstverständlichkeit. In: Franz E. Weinert (Hg.), Leistungsmessungen in Schulen, 17⫺31. Weinheim: Beltz.
Thomas Studer, Freiburg (Schweiz)
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XIV. Leistungsmessung und Leistungskontrolle
143. Testen und Prüen von Sprachkenntnissen 1. 2. 3. 4.
Einleitung Testen und Prüfen im internationalen Vergleich Bildungsstandards und internationale Leistungsstudien Der Gemeinsame europäische Referenzrahmen für Sprachen und die Qualität von Sprachprüfungen 5. Funktionen des Prüfens und Testens 6. Computerbasierte Testverfahren 7. Literatur in Auswahl
1. Einleitung Eine Prüfung, gesehen von einem unbekannten Maler im 18. Jahrhundert: Ein junger Mann steht in der Mitte eines Raumes ⫺ das Haupt demutsvoll gesenkt, die Hände ungeschickt vom Körper gestreckt. Ihm gegenüber eine vielköpfige Jury aus perückengeschmückten Figuren. Mit einer Mischung aus Schadenfreude und Verachtung blicken die Herren Prüfer auf den armen Prüfling im Kreuzverhör. Klar wird hier, dass Prüfen kein wertfreier Vorgang ist, sondern mit Macht zu tun hat. Bevor die Geprüften einen würdigen Platz in der Gesellschaft zugewiesen bekommen, haben sie sich diesem schmerzhaften rite de passage zu unterziehen. Nicht nur in der Vergangenheit hat das Thema Leistungsmessung negative Gefühle aller Schattierungen in uns hervorgerufen. Da Tests und Prüfungen in vielen Schulen zum Taktgeber des Unterrichts geworden sind, belasten sie auch heute das Klima des Lehrens und Lernens. Das hat damit zu tun, dass hier zwei Funktionen des Prüfens und Beurteilens im Widerstreit miteinander liegen: die Entwicklungsfunktion und die Steuerungs- bzw. Auswahlfunktion. Während die Entwicklungsfunktion die Evaluation der Lernentwicklung zum Ziel hat, um daraus Informationen für weiteres Vorgehen zu gewinnen, somit also eine zutiefst pädagogische Aufgabe beinhaltet, geht es bei der Steuerungsfunktion darum, gesellschaftlich relevante Entscheidungen wie Versetzungen, Übergänge im Schulsystem oder den Eintritt in Berufswege und Studiengänge zu begründen. Wo begrenzte Kapazitäten zur Verfügung stehen ⫺ Stichwort Numerus-clausus-Fächer an den Hochschulen ⫺ mündet diese Steuerung in eine Auslese. Der negative Beigeschmack, den die Begriffe Leistungsmessung und -kontrolle heutzutage bei vielen fortschrittlichen Pädagogen haben, rührt daher, dass im Schulalltag die Steuerungsfunktion die Entwicklungsfunktion häufig überlagert. Sie erkennen allzu deutlich, dass Tests als unerwünschten Nebeneffekt eine Einengung der Lernziele mit sich bringen. Gelernt wird häufig nur noch der Prüfungsstoff. Im Erwachsenenunterricht dagegen ändert sich das Bild allmählich. Hier tritt der Aspekt der Freiwilligkeit stärker in den Vordergrund. Leistungskontrollen erfolgen im Rahmen des Schulunterrichts meist auf unfreiwilliger Basis. Tests und Prüfungen in der Erwachsenenbildung erfüllen dagegen zunehmend die Funktion einer Serviceleistung, für die vom Kunden ein expliziter Bedarf angemeldet wurde. Hinzu kommt noch ein weiterer wesentlicher Unterschied: Während Prüfungsinhalte und -verfahren im Schulsystem noch weitestgehend von nationalen Traditionen geprägt sind, orientiert man sich im Erwachse-
143. Testen und Prüfen von Sprachkenntnissen
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nenbildungsbereich zunehmend an transnationalen Standards. Wenn in jüngster Zeit in deutschen Gymnasien auch vereinzelt bereits die Prüfungen internationaler Anbieter von Zertifikaten angeboten werden, dann zeigt sich, dass diese Entwicklung von der Erwachsenenbildung in das Schulsystem hinübergleitet.
2. Testen und Prüen im internationalen Vergleich Die ersten Fremdsprachentests im modernen Sinne entstanden in den Vereinigten Staaten vor dem Ersten Weltkrieg (Spolsky 1995: 50⫺51). Ebenfalls in den USA begann die Tradition von Sprachtests zum Zweck der Reglementierung der Einwanderströme, die noch heute etwa in Australien lebendig ist. Seit dem Beginn dieses Jahrtausends wurden in den Vereinigten Staaten immer wieder neue Tests entwickelt, bei denen höchster Wert auf empirisch belegbare Ergebnisse, Effizienz und kommerzielle Verwertbarkeit gelegt wurde. Das zur Universität von Princeton gehörige Institut English Testing Service (ETS) ist der Herausgeber des in den 1960er Jahren entwickelten und heutzutage teilnehmerstärksten Fremdsprachentests der Welt, des TOEFL (Test of English as a Foreign Language). Ein weiterer Meilenstein in der Entwicklung von Fremdsprachenprüfungen wurde in Großbritannien gelegt. Das University of Cambridge Examination Syndicate (UCLES) widmet sich seit dem Jahr 1913 der Aufgabe, Prüfungen für Englisch als Fremdsprache zu entwickeln, um in den Schulen der Commonwealthländer ein einheitliches Bildungsniveau zu gewährleisten. Bereits im Jahre 1924 legte diese mit der Universität assoziierte Institution das zu jener Zeit mit einem anderen Namen versehene Certificate of Proficiency in English (CPE ) vor, eine Prüfung, der ein umfassendes Sprachverständnis jenseits von Vokabellisten und Übersetzungen zugrunde liegt. Während in Europa der humanistisch-skeptizistische Ansatz mit der Bevorzugung von offenen Aufgaben zum Teil bis heute anhält, schlug sich der Einfluss der rationalistisch-empirischen Schule, wie sie in den USA zu Hause war, im Fach Deutsch in der Entwicklung des Zertifikats Deutsch als Fremdsprache (ZDaF ) Ende der 1960er Jahre nieder. Nicht nur die ungleich größere Bedeutung des Englischen als Fremdsprache, sondern darüber hinaus die in England und den Vereinigten Staaten verankerte Tradition von zentral gestellten Prüfungen hat dafür gesorgt, dass angelsächsischen Institutionen auch heute noch eine Vorreiterrolle in der Entwicklung von Fremdsprachentests zukommt. Das in den Vereinigten Staaten vorherrschende Misstrauen gegenüber intuitiv korrigierten Aufsätzen sowie die Skepsis hinsichtlich der Objektivität von Lehrkräften bei der Beurteilung der Leistungsfähigkeit ihrer eigenen Schüler teilen vor allem Lehrende und auch zahlreiche Fachleute im deutschsprachigen Raum nicht. In Deutschland herrschte bis vor kurzer Zeit vielfach sogar ein Vorbehalt gegenüber zentral verordneten Prüfungen. Deutsche Autoren werfen den englischsprachig orientierten Testkonstrukteuren gern eine Überbewertung der vom Behaviorismus geprägten Formen der Leistungsmessung vor, und wenden dagegen ein, dass sie die ganzheitliche Lernerpersönlichkeit außer Acht lasse (Macht 1995: 283). Doch diese Ablehnung weicht allmählich der Erkenntnis, dass gemeinsame, objektive Maßstäbe notwendig sind, will man Leistungen vergleichen.
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XIV. Leistungsmessung und Leistungskontrolle
3. Bildungsstandards und internationale Leistungsstudien Fragt man in den Ländern der Europäischen Union nach, welches sprachliche Niveau die Schulabgänger erreichen, fällt es Lehrkräften und Schulleitern häufig nicht leicht, dies in wenige Worte zu fassen. Deutsche Schüler, die nach ihrem Leistungsniveau in einer Fremdsprache gefragt werden, antworten zum Beispiel: „Ich habe eine Zwei im Abitur, Leistungskurs“. Für die Welt jenseits des eigenen nationalen Bildungssystems sind solche Angaben kaum aussagekräftig und damit inadäquat für die Mobilität in Europa und der Welt. Mit dem Voranschreiten der Globalisierung und Mobilität von Arbeitskräften nimmt der Bedarf an Transparenz zu. Nicht nur ein internationaler Vergleich, sondern schon der Vergleich der Bildungsabschlüsse verschiedener Bundesländer ist nicht eins zu eins möglich. Aus diesem Grund erarbeiten die Bundesländer so genannte Bildungsstandards für die verschiedenen Schulfächer. Bezogen auf die modernen Fremdsprachen beschreiben die Bildungsstandards den Grad des Sprachkönnens, den die Lernenden in verschiedenen Schularten und Klassenstufen erreichen sollen. Die Urheber dieser Idee internationaler Leistungsvergleiche bzw. eines einheitlichen Bezugsrahmens arbeiten für internationale Institutionen ⫺ die OECD und den Europarat. Die OECD setzt auf die normative Kraft eines standardisierten Tests, dem sich die Schülerinnen und Schüler aller teilnehmenden Länder unterziehen. Der Europarat setzt auf die normative Kraft eines gemeinsamen Bezugsrahmens. Die OECD überträgt die Denkweise der Ökonomie auf den Bildungssektor. Schulleistungen haben den Stellenwert einer Ressource. Sie sind Voraussetzung für die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit eines Landes. Mittels standardisierter Tests werden Leistungen von 15-jährigen Schülerinnen und Schülern gemessen. Die Studie vergleicht so unterschiedliche Bildungssysteme wie die Japans, Finnlands, Mexikos und Deutschlands vermittels ein und derselben Messlatte und stellt danach eine Rangordnung her. Die beiden bisher durchgeführten PISA-Untersuchungen beschäftigten sich mit den Fächern Naturwissenschaften, Mathematik und Lesefähigkeit. Um Fremdsprachenkenntnisse ging es dagegen bereits bei DESI (Deutsch Englisch Schülerleistungen International ). Allerdings beschränkte sich diese Studie entgegen dem Namen mit den Schülerleistungen der 9. Klasse in allen Schularten auf Deutschland. Die Erhebung Surveylang im Auftrag der EU-Kommission soll dagegen im Jahr 2011 europaweit die Fremdsprachenkenntnisse von 15-Jährigen in Englisch, Deutsch, Französisch, Spanisch und Italienisch untersuchen.
4. Der Gemeinsame europäische Reerenzrahmen ür Sprachen und die Qualität von Sprachprüungen Die Strategie des Europarats ist offener angelegt als die internationalen Vergleichsstudien. Es geht um das Etablieren eines gemeinsamen Bezugssystems für alle europäischen Sprachen. Dazu dient die Publikation Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen für Sprachen: lernen, lehren, beurteilen (GER), der zunächst auf Englisch (2000) und 2001 in deutscher Sprache erschien. Der Referenzrahmen stellt eine Art Werkzeugkasten dar. Mit Hilfe von Skalen definiert er,
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⫺ was man unter Beherrschung einer Fremdsprache versteht, ⫺ wie gut diese Beherrschung ist, d. h. welche Stufen der Sprachbeherrschung es gibt. In dem Grundlagenwerk Profile Deutsch haben Experten aus den deutschsprachigen Ländern die für alle Sprachen zutreffenden Kann-Beschreibungen des Referenzrahmens für die deutsche Sprache interpretiert (Glaboniat et al. 2005). Außerdem enthält Profile Deutsch Auflistungen aller sprachlichen Mittel, die zur Erfüllung dieser Aktivitäten notwendig sind. Dem Ziel der Transparenz hinsichtlich von Fremdsprachenkenntnissen will man durch ein kohärentes Beschreibungssystem näher kommen. Sprachliches Können definiert sich innerhalb eines sechsstufigen Systems ⫺ A1, A2, B1, B2, C1, C2. Die vier deutschsprachigen Testinstitutionen ⫺ Goethe-Institut/Zentrale München, Österreichisches Sprachdiplom/Wien, telc GmbH/Frankfurt und TestDaF-Institut/Hagen ⫺ haben ihre international angebotenen Zertifikate sofort nach Einführung des Referenzrahmens auf die Stufen A1 bis C2 hin orientiert. Gleichzeitig haben sie die Qualitätsansprüche, die an Prüfungen angelegt werden, erhöht. Im sogenannten Manual (2003) gibt ein vom Europarat eingesetztes Autorenteam dazu detaillierte Vorgaben für die methodischen Schritte der Zuordnung einer Prüfung zu einer Niveaustufe. Dabei geht es darum, eine Behauptung, z. B. „das ist eine Prüfung auf dem Sprachniveau B1“ durch qualitative und empirische Daten zu untermauern. Der Europarat veröffentlicht zu den produktiven Fertigkeiten Schreiben und Sprechen inzwischen auch illustrative Beispiele von Kandidatenbeispielen zu den verschiedenen Niveaustufen in den verschiedenen Sprachen. Mit diesen prüfungsunabhängigen und damit neutralen Beispielen werden die Interpretationsspielräume eingegrenzt. Die erste Publikation von mündlichen Beispielen auf Deutsch zeigt erwachsene Lernende (Bolton u. a. 2008). Solche Beispiele ermöglichen ein Training von Lehrkräften. Außerdem lassen sich im Verfahren des sog. Benchmarking lokale Prüfungsleistungen auf den Referenzrahmen eichen. Um Qualität in Bezug auf Validität und Reliabilität zu gewährleisten, wird zunehmend mehr in die Garantie der statistisch ermittelten Zuverlässigkeit der Ergebnisse investiert. Das heißt: Die in Prüfungen verwendeten Aufgaben werden vor dem Einsatz umfangreichen Erprobungen unterzogen, um ihre Qualität zu garantieren. Erst wenn sich in den Erprobungen gezeigt hat, dass die Aufgaben vom Schwierigkeitsgrad angemessen, unmissverständlich und trennscharf sind, finden sie Aufnahme in die endgültige Fassung der Prüfung. Die Vorgaben des Referenzrahmens haben bei denjenigen Institutionen, die zum Teil ja schon seit Jahrzehnten Sprachzertifikate ausgeben, zu einer Neufassung der Urkunden geführt. Deren Aussagekraft hat sich zum einen durch Angaben zu den erzielten Ergebnissen in den verschiedenen Fertigkeiten ⫺ Stichwort: Profil sprachlichen Könnens ⫺ vereinheitlicht und verbessert. Als zentrale Aussage weist das Zeugnis aus, welche Kompetenzstufe in den vom Referenzrahmen definierten Fertigkeiten der/die Geprüfte erreicht hat. Damit gelingt es, EU-weit zukünftig Prüfungsergebnisse zu vergleichen. Die breite Rezeption des Referenzrahmens hat dazu geführt, dass bereits Anfänger sich ihr erreichtes Niveau gern durch ein Zertifikat bestätigen lassen. Während traditionell eine „offizielle“ bzw. „umfassende“ Sprachprüfung am Ende des Sprachlernprozesses vorgesehen war, setzt sich damit das Konzept vom Erreichen der einzelnen Stufen durch. Ähnlich wie bei den asiatischen Kampfsportarten arbeitet sich der Lernende im Verlauf
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XIV. Leistungsmessung und Leistungskontrolle
des unter Umständen lebenslangen Lernens von Gürtel zu Gürtel hoch. Dabei ist jeder Gürtel ein klar definiertes Ziel. Auf einmal zum schwarzen Gürtel zu gelangen, wäre ein demotivierend langer Weg.
5. Funktionen des Prüens und Testens Leistungsmessung in Form von Tests und Prüfungen ist zunächst neutral zu verstehen, als Sammlung von Informationen über den Kenntnisstand der geprüften Personen. Diese Informationssammlung wird mit einem bestimmten Ziel vor Augen vorgenommen. Ein solches Ziel kann darin bestehen, Entscheidungen über das Lehr- bzw. Kursprogramm zu begründen. Ein anderes Ziel wäre, eine Voraussage über die sprachliche Leistungsfähigkeit einer Person in der realen Welt zu treffen. Je nachdem, wer die Leistungsmessung auswertet und verwendet, unterscheidet man Selbstevaluation und Evaluation durch andere. Je nachdem, zu welchem Zweck im letzteren Fall die gesammelte Information verwendet werden soll, unterscheidet man als wichtigste Funktionen Ein- und Weiterstufung, Eignung und Zulassung, Lernerfolgskontrolle, Abschlussprüfung und Sprachstandsmessung. Diese unterschiedlichen Ziele der Leistungsmessung bedingen die jeweils gewählten Formen, die in Prüfungen bzw. Tests eine Rolle spielen. Die abwechselnde Verwendung der Begriffe Test und Prüfung bedeutet keine strukturelle Differenzierung. Vielmehr werden beide Begriffe im Deutschen mittlerweile häufig synonym gebraucht. Format, Auswahl der Fertigkeiten, Prüfungsdauer sowie Aufgabentypen lassen sich erst entscheiden, wenn klar ist, zu welchem Zweck ein Test verwendet wird. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass nicht jeder Aufgabentyp bzw. jeder Testaufbau für jede Funktion gleich gut geeignet ist. Im Folgenden sollen die oben genannten Prüfungsarten kurz charakterisiert und diskutiert werden. Fünf Fragen helfen, die Prüfungsarten voneinander abzugrenzen: 1. Worauf bezieht sich der Inhalt der Prüfung (z. B. auf die Inhalte des vorausgegangenen Unterrichts)? 2. Für wen sind die Ergebnisse bestimmt (z. B. für die geprüfte Person, die Lehrkräfte bzw. für außen stehende Entscheidungsträger)? 3. Welche Entscheidungen werden auf der Basis der Ergebnisse getroffen (z. B. Zulassung zum Studium an einer Hochschule)? 4. Wie aufwendig ist das Verfahren im Hinblick auf die Faktoren Zeit, Arbeitsmittel etc.? 5. Wie aufwendig ist das Verfahren im Hinblick auf die vorgesehenen Korrekturverfahren? Die Fragen 1, 2 und 3 lassen sich unter das Kriterium der Validität von Tests bzw. Prüfungen subsumieren. Prüfungen und Tests nennen wir valide, wenn sie angemessene, sinnvolle und nützliche Schlussfolgerungen zu den vorher definierten Zielen und Intentionen zulassen. Bei einer Prüfung, deren Ziel das Feststellen von sprachlichen Fähigkeiten auf einem bestimmten Sprachniveau ist, sollte dieses Niveau durch ein externes Bezugssystem wie den GER klar definiert sein. Darüber hinaus sollten andere Kenntnisse und Fähigkeiten, wie z. B. Intelligenz, Weltwissen oder Konzentrationsfähigkeit, nicht die ausschlaggebenden Faktoren sein. Ein Kursabschlusstest ist nur dann valide, wenn
143. Testen und Prüfen von Sprachkenntnissen
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er mit den Zielen, die im Lehrplan formuliert sind und dem Unterricht zugrunde liegen, übereinstimmen. Mit der Frage 1 ist ein weiteres Gütekriterium verbunden, das die Qualität von Tests und Prüfungen bestimmt, nämlich die Forderung, dass die gewählten Testverfahren die Formen und Inhalte des vorausgegangenen Unterrichts angemessen widerspiegeln und u. U. sogar positive Rückwirkungen auf den Unterricht haben. In der englischsprachigen Literatur ist dieser Aspekt mit dem Terminus back-wash- bzw. wash-back-Effekt eingeführt (Wall und Alderson 1993). So ist es gelungen, den wenig kommunikativen Fremdsprachenunterricht durch die Einführung des Referenzrahmens und (mündlicher) Prüfungen zu modernisieren. Der Weg einer Lehrplanreform ist vergleichsweise langwieriger. Freilich gibt es auch eine Kehrseite der Medaille. Die formulierten Ziele, eine bestimmte Niveaustufe zu erreichen, sollen ⫺ ja müssen ⫺ in immer knapperer Zeit, mit weniger Lehrenden und weniger Geld erreicht werden. Denn bei der fortwährenden Reform von schulischen Lehrplänen treten neue Fächer, wie z. B. Computereinsatz in Konkurrenz zu den traditionellen Fächern, wozu die zweiten Fremdsprachen zählen. Dort, wo Deutsch als zweite Fremdsprache ⫺ wenn auch oft mit reduziertem Stundendeputat ⫺ erhalten geblieben ist, stehen die Lehrkräfte unter dem Druck, ihren Unterricht zu optimieren. Prüfungen erhöhen den Effizienzdruck auf Lehrkräfte und Schüler, Lern- und Prüfungsstrategien stehen zunehmend im Mittelpunkt des Unterrichts. Prüfungsvorbereitung bedeutet damit Einüben von Strategien. Die Fähigkeit zum Aktivieren von Vorwissen hilft beim Entschlüsseln von Lese- oder Hörtexten oft mehr als die Kenntnis der einen oder anderen Vokabel, der Einsatz von Ratetechniken bei geschlossenen Auswahlantworten als letzte Rettung ist hinlänglich als test wiseness bekannt. Die Fragen 4 und 5 berühren die Reliabilität und die Praktikabilität. Das Kriterium der Reliabilität beinhaltet die Forderung nach der Zuverlässigkeit der Leistungsmessung. Ein reliabler Test misst sprachliche Fähigkeit zuverlässig und genau. Der ⫺ in jedem Test ⫺ enthaltene Messfehler hält sich in engen, akzeptablen Grenzen. Die Zuverlässigkeit von Testergebnissen hängt in hohem Maße von der eingesetzten Bewertungsmethode ab. Wird das Testergebnis durch das subjektive Urteil eines oder mehrerer Prüfer ermittelt, ist Zuverlässigkeit ein besonders wichtiges Thema. Wünschenswert ist eine möglichst hohe Übereinstimmung zwischen verschiedenen Bewertern sowie eine möglichst hohe Stabilität der Ergebnisse eines Bewerters zu verschiedenen Zeitpunkten. Idealerweise sollte ein Test wie ein Metermaß funktionieren: So wie dieses auch bei wiederholter Messung eines Gegenstandes immer die gleichen Maße anzeigt, so sollte ein Test für eine bestimmte Leistung immer die gleiche Punktzahl oder Note ergeben. In der Praxis der Testkonstruktion berührt das Kriterium der Reliabilität Fragen wie die Anzahl von Aufgaben, d. h. wie viele einzelne Messungen muss man durchführen, um zuverlässige Ergebnisse zu erhalten, oder die Frage der Korrektur- und Bewertungsverfahren, d. h. bei welchen Verfahren können sich Messfehler einschleichen, die das Ergebnis verfälschen, und dergleichen. Das Kriterium der Praktikabilität bezieht sich auf den Bedarf an Zeit, Raum und personellen Ressourcen, wobei sowohl an die Korrekturzeiten als auch an die Qualifizierung der Korrigierenden bzw. Prüfenden zu denken ist. Leistungskontrolle sollte möglichst zeitökonomisch sein. Erfahrungswerte aus der Praxis zeigen, dass 90 Minuten ohne Pause für die geprüften Personen das Maximum an Belastung darstellen. Geht die gesamte Testzeit darüber hinaus, wie etwa bei breit angelegten Feststellungsprüfungen, sollte die Dauer für einzelne Testteile dieses Maß nicht überschreiten. Nach jedem Testteil gibt es dann Pausen.
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XIV. Leistungsmessung und Leistungskontrolle
5.1. Ein- und Weiterstuung Einstufungstests helfen bei der Einteilung von Lernenden in Gruppen unterschiedlichen Niveaus und unterschiedlicher Vorkenntnisse. Mit Hilfe dieser sehr weit verbreiteten Prüfungsart werden die sprachlichen Vorkenntnisse der Einzustufenden ermittelt. Bei Weiterstufungstests, wie sie in Institutionen mit einem ausdifferenzierten Kursangebot üblich sind, soll nach dem Besuch eines Kurses festgestellt werden, welchen weiteren Lernweg im Kursangebot die Teilnehmenden nehmen sollen. Die besondere Bedingung der Ein- und Weiterstufungstests liegt in der Forderung nach strenger zeitlicher Begrenzung: Ein mehrstündiger Einstufungstest wäre u. U. eine Überforderung für die Teilnehmenden und würde dadurch möglicherweise die Ergebnisse sogar verfälschen, wäre also nicht zuverlässig. Denn nicht selten müssen sich die Einzustufenden aus logistischen Gründen unmittelbar bei der Anreise an den Kursort und damit in manchen Fällen unmittelbar nach langen Flugreisen dem Test unterziehen. Mit Rücksicht auf die zeitliche Beschränkung sind Ein- und Weiterstufungstests in der Praxis häufig als Stichprobenkontrollen angelegt. Testkonstrukteure orientieren sich beim Erstellen eines Ein- bzw. Weiterstufungstests an Kurs- bzw. Lehrplänen für die entsprechenden Stufen. Aufgaben zum Lesen, zu Wortschatz und Grammatik und kurze Schreibaufgaben kommen am häufigsten zum Einsatz. Seltener enthalten Einstufungstests Teile zum Hörverstehen, was vor allem technische Gründe hat. Die mündliche Kommunikationsfähigkeit ermittelt eine Lehr- bzw. Prüfungskraft in der Regel in einem authentischen Gespräch zur Feststellung der Personalien, persönlicher Interessen und Lernziele.
5.1.1. Testverahren zur Einstuung Da die Testergebnisse innerhalb kurzer Zeit verfügbar sein müssen, wird bei der Wahl der Aufgabentypen weitgehend auf korrekturfreundliche Verfahren zurückgegriffen. Deshalb bestehen Einstufungstest meist aus geschlossenen Aufgaben. Im Gegensatz zu offenen Aufgabentypen ist die sprachliche Reaktion bei geschlossenen Aufgaben nicht frei ausgeführt. Vielmehr beschränkt sich die Aktivität der Geprüften bei geschlossenen Aufgaben auf das Auffinden, Ankreuzen, Ordnen, Zuordnen oder Hervorheben der richtigen Lösungen. Die Bewertung solcher Aufgaben ist zeitsparend und praktisch unabhängig vom subjektiven Urteil des Korrektors. Geschlossene Aufgaben können mit Hilfe von Schablonen oder Computerprogrammen schnell ausgewertet werden. Sie eignen sich zur Überprüfung der rezeptiven Fertigkeiten, denn sie überprüfen lediglich das Erkennen der richtigen Lösung. Eine klassische geschlossene Aufgabe ist die Multiple-Choice-Aufgabe. Sie besteht in der Regel aus einem einleitenden Satz bzw. einer einleitenden Frage und mehreren (häufig vier, gelegentlich aber auch nur drei, seltener mehr als vier) Auswahlmöglichkeiten. Eine der Auswahlantworten ist die richtige Lösung, alle anderen dienen als sogenannte Distraktoren und sind falsch. Um zu unterstreichen, dass die Anordnung von richtigen und falschen Auswahlantworten dem Zufallsprinzip unterliegt, wird meist eine alphabetische Reihenfolge gewählt. Von ihren Befürwortern sind Multiple-Choice-Aufgaben wegen der Möglichkeit geschätzt, zu realistischen Voraussagen über den Schwierigkeitsgrad und die Trennschärfe
143. Testen und Prüfen von Sprachkenntnissen
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der einzelnen Aufgaben zu gelangen. Diesen Aufgabentyp setzen sowohl ETS und UCLES als auch das niederländische Centraal Instituut voor Toetsontwikkeling (CITO) in Fremdsprachentests regelmäßig ein. Auf der anderen Seite steht die Kritik an der Validität der Multiple-Choice-Aufgabe. Zum einen wird beanstandet, dass die Aufgaben in der Praxis häufig schlecht konstruiert, d. h. unnötig kompliziert sind und die Distraktoren bewusst auf die falsche Fährte lenken. Dadurch werden den Geprüften Fehler geradezu untergeschoben. Verfechter von offenen Aufgabentypen kritisieren überdies, dass mit Multiple-Choice nur das Erkennen der richtigen Lösung überprüft und somit eine relativ geringe Leistung verlangt wird. Geübte nutzen zudem den Faktor Ratewahrscheinlichkeit aus, d. h. die Möglichkeit, auch durch zufälliges Ankreuzen noch einen gewissen Prozentsatz an richtigen Lösungen zu erzielen. Bei einem Test, der genügend Aufgaben umfasst und eine Bestehensgrenze von über 50 Prozent setzt, ist die Erfolgswahrscheinlichkeit eines Teilnehmenden durch Raten statistisch gesehen jedoch sehr gering. Bei Einstufungstests taucht neben der Multiple-Choice-Aufgabe eine Vielzahl von weiteren geschlossenen Aufgabentypen auf. Bei dem folgenden Beispiel handelt es sich um textunabhängige Einzelaufgaben, in denen es um das Erkennen der richtigen Struktur bzw. der geeigneten Ausdrucksweise geht: Herstellen der richtigen Wortfolge der Fehler / er / gehabt / hätte / mehr / nicht / passiert / wäre / Zeit Lösung: Hätte er mehr Zeit gehabt, wäre der Fehler nicht passiert. Unbefriedigend an dieser Art von kontextunabhängigen Aufgaben ist, dass jeglicher kommunikative Rahmen fehlt. Sie wirken genauso trocken und wirklichkeitsfern wie die Lückentexte der strukturalistischen Ära. In der strukturalistischen Testtheorie ging man davon aus, dass die Beherrschung der Fremdsprache sich nicht direkt, d. h. in realen Verwendungssituationen überprüfen lässt, sondern nur auf dem Weg über die Messung isolierter Elemente der Sprache. Die Summe dieser isolierten Elemente erlaube Rückschlüsse auf die Fähigkeit des Lernenden, Sprache auch in realen Situationen außerhalb des Unterrichts verwenden zu können. Im Zuge der sogenannten „kommunikativen Wende“ in der Fremdsprachdidaktik wurde deutlich, dass Wortschatz- und Strukturentests nur einen Aspekt der Kommunikationsfähigkeit in der Fremdsprache erfassen (Canale und Swain 1980; Bachman und Palmer 1996). Solche Aufgaben überprüfen nur die Wissenskomponente der Sprache, d. h. die Fähigkeit, Regeln der Grammatik und Vokabeln richtig einzusetzen. Nicht überprüft werden dagegen die diskursive und die soziokulturelle Kompetenz. Um zum Beispiel verschieden strukturierte Lesetexte zu bearbeiten oder um die Informationen eines gehörten Gesprächs zu notieren, benötigen die Geprüften auch Wissen darüber, wie Texte aufgebaut sind. Ein Verfahren, das die lexikalische und grammatische Kompetenz mit Hilfe von kontextualisierten Aufgaben erfassen will und dazu kurze Lesetexte auf zeitökonomische Weise einbezieht, ist der Cloze-Test. Das Verfahren wurde in den 1950er Jahren zunächst als Instrument zur Bestimmung der Schwierigkeit von Texten entwickelt (Taylor 1953). Daraus entstand in der Folge ein Verfahren zum Überprüfen des Leseverstehens. Es geht von der Annahme aus, dass die lexikalische und grammatische Kompetenz ein Indikator für die Sprachbeherrschung ist und über das Lesen zu erfassen ist. Ein klassischer ClozeTest besteht aus einem längeren Text, bei dem in festgelegten regelmäßigen Abständen Wörter gelöscht sind (z. B. jedes fünfte Wort). Die Lücke ist zu ergänzen. Im Gegensatz zum Lückentext herkömmlicher Art, in dem die Lücken nach didaktischen Gesichts-
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XIV. Leistungsmessung und Leistungskontrolle
punkten gelöscht werden, um ganz gezielt bestimmte Themen der Grammatik bzw. bestimmte Wortschatzbereiche zu überprüfen, handelt es sich beim Cloze-Test um eine streng mechanische Tilgung, wobei die Tilgungsfrequenz im ganzen Text beibehalten wird. Im folgenden Beispiel wurde jedes achte Wort gelöscht (Abb. 143.1). Der erste Satz, der den Kontext vorgibt, bleibt bei einem Cloze-Test immer intakt.
Abb. 143.1: Cloze-Test
In diesem Testverfahren wird die Tatsache genutzt, dass Informationen in einem Text durch mehrere Signale realisiert werden, die sich wechselseitig ergänzen. Eine Kenntnis von den Aufbaukriterien eines Textes ist zum Lösen dieser Aufgabe also unabdingbar. Das mechanische Tilgungsprinzip sorgt beim klassischen Cloze-Verfahren dafür, dass ein Querschnitt von sprachlichen Phänomenen getestet wird. Alle Wortarten sind in den Lücken gelöscht und nicht nur solche, mit denen Lernende des Deutschen besondere Schwierigkeiten haben. Gleichzeitig treten die Grenzen seiner Verwendbarkeit im Rahmen eines Einstufungstests deutlich hervor. Definiert man Klassen- bzw. Kursstufen nach der Beherrschung bestimmter grammatischer Strukturen, muss ein lehrzielvalider Test genau diese Strukturen testen. Das Zufallsprinzip des Cloze-Tests ist hier eher kontraproduktiv. Forschungsergebnisse zeigen überdies, dass bei sogenannten „natural cloze“-Tests, bei denen weder auf die Auswahl der Texte noch der Lücken Rücksicht genommen wird, Vorbehalte bezüglich der Validität angebracht sind (Brown 1993). Deshalb wurde als Alternative zum klassischen Cloze-Verfahren der modifizierte Cloze-Test entwickelt, bei denen die Lücken mit Bedacht gewählt werden. Damit können lexikalische oder grammatische Aspekte gezielt abgefragt werden. Flexibel ist das Cloze-Verfahren im Hinblick auf den Schwierigkeitsgrad. Je nachdem, ob eine leichtere oder schwierigere Version gewünscht wird, können Auswahlantworten als Schüttelkasten oder Multiple-Choice-Auswahl vorgegeben bzw. keine Vorgaben für die Antworten gemacht werden. Ein weiteres Testverfahren, das mit ganzen Texten und kontextualisierten Aufgaben arbeitet, ist der sogenannte C-Test. Das Verfahren wurde in den 1980er Jahren entwickelt. Es zielt auf das Überprüfen der allen Fertigkeiten zugrundeliegenden sprachsystematischen Kompetenz ab. Lesekompetenz steht als Mittlerfertigkeit im Mittelpunkt, eine hohe Kompetenz im Verständnis von Textkohärenz spielt in einem C-Test eine wichtige Rolle. Genauso wie das Cloze-Verfahren beruht es auf dem Konzept der reduzierten Redundanz. Beim C-Test ist jeweils die Hälfte von jedem zweiten Wort ⫺ vom Wortende ausgehend ⫺ gelöscht. Hier ein Beispiel von der Homepage des TestDaF-Instituts (2008). „Fit für TestDaF“ soll eine erste grobe Einschätzung darüber liefern, ob Interessenten schon über eine ausreichende Sprachkompetenz verfügen, um bei der Prüfung TestDaF erfolgreich abzuschneiden (Abb. 143.2).
143. Testen und Prüfen von Sprachkenntnissen
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Abb. 143.2: C-Test
Die Vorteile des C-Testverfahrens liegen in der Testökonomie ⫺ mit geringem Aufwand erhält man eine relativ große Menge an Daten. Zudem sind C-Tests vergleichsweise leicht zu entwickeln und zu bewerten. Die wissenschaftliche Diskussion merkt allerdings kritisch an, dass es dem C-Test an Augenscheinvalidität mangelt. Bei einer Versuchsreihe mit Englischlernenden in Mexiko hat sich zum Beispiel gezeigt, dass mit dem Verfahren nicht vertraute Prüfungsteilnehmende erhebliche Schwierigkeiten damit haben können und nicht einsehen, dass ihre sprachlichen Fähigkeiten darin adäquat zum Ausdruck kommen (Jafarpur 1995: 194; Grotjahn 1992).
5.2. Eignung und Zulassung Von Einstufungstests zu trennen sind Eignungstests. Diese wurden entwickelt, um die Erfolgsaussichten einer Person auf einem bestimmten Lerngebiet zu prognostizieren. In den Vereinigten Staaten gibt es seit den 1930er Jahren Versuche, Tests zu entwickeln, um damit Entscheidungen über Zulassung oder Ausschluss von Lernenden beim Fremdsprachenunterricht an High Schools zu rechtfertigen (Michel 1936: 275⫺287). Im deutschsprachigen Raum ist der TestAS als neueres Beispiel für Eignungstests zu nennen. Dieser zentrale, standardisierte Test prognostiziert die Studierfähigkeit ausländischer Studienplatzbewerber für die Studienfächer, also z. B. geisteswissenschaftliche Fächer, Ingenieurwissenschaften, Mathematik und naturwissenschaftliche Fächer. Der Test kann sowohl in deutscher als auch in englischer Sprache abgelegt werden. Die deutschen bzw. englischen Sprachkenntnisse werden in Form eines Screening mit einem C-Test geprüft, um festzustellen, inwieweit fehlende Sprachkenntnisse die Leistung im Studierfähigkeitstest beeinträchtigt haben. Die Testergebnisse sollen es Hochschulen ermöglichen, Bewerberinnen und Bewerber mit verschiedenartigen Schulabschlüssen miteinander zu vergleichen, sie in eine Rangreihenfolge zu bringen und die Studierenden zu ihren Studienangeboten auszuwählen. Nur um Zulassung geht es bei den Aufnahmeprüfungen, die ausländische Studienplatzbewerber an deutschen Hochschulen absolvieren müssen. Denn nach dem Hochschulrahmengesetz haben Studienbewerber mit nichtdeutscher Muttersprache den Nachweis hinreichender Sprachkenntnisse zu erbringen. Dabei sollen sie zeigen, dass sie genügend Sprachkenntnisse mitbringen, um an dem Vorlesungs- und Seminarprogramm teilnehmen zu können. Diese Aufnahmeprüfungen sind für die Geprüften mit einem ho-
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XIV. Leistungsmessung und Leistungskontrolle
hen Risiko verbunden, da aufgrund des Prüfungsergebnisses die folgenreiche Entscheidung über ihre Zulassung getroffen wird. Sprachliche Aufnahmeprüfungen für ausländische Studienplatzbewerber bieten das TestDaF-Institut sowie eine Reihe von Studienkollegs an Hochschulen an. Der TestDaF sowie die Deutsche Sprachprüfung für den Hochschulzugang ausländischer Studienbewerber (DSH ) sind eigens für diesen Zweck entwickelte Prüfungen, wobei erstere zentral erstellt und ausgewertet wird. Die DSH ist eine dezentral erstellte und ausgewertete Prüfung. Unter Vorgabe einer gemeinsamen Rahmenordnung, in der die Prüfungsinhalte umrissen werden, kann jede Hochschule eine eigene Aufnahmeprüfung erstellen. Um eine gegenseitige Anerkennung zwischen den lokalen, in ihren Prüfungsaufgaben also abweichenden DSH-Prüfungen unter den Hochschulen zu erreichen, registriert inzwischen die HRK (Hochschulrektorenkonferenz) in Zusammenarbeit mit dem FaDaF (Fachverband Deutsch als Fremdsprache) alle DSH-Prüfungen.
5.3. Selbstevaluation Im Kontext des selbstgesteuerten Lernens haben in jüngster Zeit auch die Begriffe Leistungsmessung und -bewertung eine neue Konnotation erhalten. Die Lernenden sollen in die Lage versetzt werden, ihre Leistungen selber einzuschätzen. Damit verlagert sich der Schwerpunkt von der Lehrkraft hin zu den Lernenden, die selber Informationen über ihren Kenntnisstand und Lernfortschritt sammeln, um weitere Lernschritte gezielt zu steuern. Die Beteiligung des Lernenden an den Verfahren der Leistungsmessung fördert bei ihm die Einsicht in das Lernziel und die nötigen Fähigkeiten. Wichtigster erster Schritt beim selbstgesteuerten Lernen ist die Selbstdiagnose, d. h. die Evaluation und Analyse eigener Stärken und Schwächen. Daran schließt sich idealerweise ein gezielteres d. h. strategisch richtiges Lernen an, bei dem systematisch Lücken gefüllt werden. Das gezielte Training von Lerntechniken, z. B. zur Verbesserung der Schreibfertigkeit durch bewusste Korrekturgänge (Rampillon 1996: 38⫺39) kann dabei zur Verbesserung der Resultate eingesetzt werden. Selbstevaluation als Analyseinstrument ist weniger eine Frage der Aufgabentypen als vielmehr eine Frage der Organisation. Die Lernenden erhalten nicht nur die Aufgaben, sondern die dazugehörigen Antworten bzw. Lösungen sowie Erläuterungen in Form einer Lernnavigation. Dem Gedanken der Selbsteinschätzung sowie dem europäischen Gedanken verpflichtet ist DIALANG, ein frei im Internet verfügbares computerbasiertes Evaluationsinstrument, das es Fremdsprachenlernenden in 15 Sprachen ermöglicht, sich selbst einzuschätzen. DIALANG wurde im Auftrag der Europäischen Kommission entwickelt. Grundlage dieses Systems ist eine Datenbank von kalibrierten Aufgaben. Die Testergebnisse sind nach jedem Testmodul (Lesen, Hören, Schreiben, Strukturen, Wortschatz) in Form der Stufen A1 bis C2 ausgedrückt. Zum Einsatz kommt DIALANG beispielsweise an Universitäten zur Einstufung von Studienplatzbewerbern.
5.4. Lernortschritt Versteht man die Instrumente der Leistungsmessung als ein System, bei dem es von einfachen zu immer komplexeren Prüfungstypen geht, dann lässt sich der Lernfort-
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schrittstest am Anfang der Skala einordnen. Es handelt sich dabei um ein Kontrollinstrument, das an geeigneter Stelle während eines Kurses eingesetzt wird, um der Lehrkraft Informationen darüber zu liefern, wie effektiv ihr Unterricht war. Den Geprüften bietet er Informationen darüber, wie effektiv der individuelle Lernprozess war. Der Inhalt der Tests knüpft in der Regel unmittelbar an den in der vorangegangenen Unterrichtsphase bearbeiteten Stoff an, ist somit abhängig vom Kurs- bzw. Lehrplan. Wenn das Lehrwerk solche Tests nicht bereits liefert, erstellt die Lehrkraft diese passend zu den aktuellen Unterrichtsinhalten. Hier stellt sich die Frage nach dem Unterschied zwischen Lehrbuchaufgabe und Testaufgabe. Im Gegensatz zu Übungsaufgaben im Unterricht unterliegen Testaufgaben höheren Ansprüchen bei den Gütekriterien Unabhängigkeit und Eindeutigkeit. Bei einem Test sollten die Geprüften bei jedem Item eine neue Chance erhalten ⫺ zur Differenzierung zwischen einer Aufgabe und einem Einzelelement eines Tests hat sich im Deutschen inzwischen die englische Bezeichnung Item durchgesetzt. Eine falsch gelöste Aufgabe darf also nicht automatisch einen weiteren Fehler nach sich ziehen. Lehrkräfte greifen häufig zu dem Instrument der offenen Aufgabe vom Typ Fragen zum (Lese- bzw. Hör-)Text, da diese zu jedwedem Inhalt einfach zu erstellen sind:
Die Lösungen zu einer solchen Frage variieren sowohl inhaltlich als auch formal. Bei der Beurteilung bereiten Lösungen, die zu knapp sind oder zu viele grammatische bzw. orthographische Fehler enthalten, Probleme. Das Prüfungsziel Rezeption eines Textes (egal ob Lese- oder Hörtext) gerät in Konflikt mit dem impliziten Prüfungsziel Produktion von frei formulierten schriftlichen Äußerungen. Zwar sollten orthographische und grammatische Fehler bei Aufgaben zur Rezeption keine Rolle spielen, doch fällt es Korrektoren meistens schwer, Lösungen mit der vollen Punktzahl zu bewerten, die zwar inhaltlich adäquat aber formal fehlerhaft sind. Halboffene Aufgabentypen haben gegenüber diesen völlig offenen Aufgaben den Vorteil, dass die verlangte produktive Leistung innerhalb eng gesteckter Grenzen bleibt. Ein halboffenes Verfahren zum Überprüfen des Leseverstehens ist zum Beispiel die mit Lü-
Abb. 143.3: „summary cloze“-Aufgabe
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XIV. Leistungsmessung und Leistungskontrolle
cken versehene Textzusammenfassung, die sogenannte „summary cloze“-Aufgabe. Dabei muss die Textzusammenfassung nicht komplett erstellt werden, was eine Transferleistung vom Lesen zum Schreiben wäre, sondern die Lehrkraft bzw. der Testautor verfasst die mit Lücken versehene Textzusammenfassung, in der die Kerninformationen des Textes abgefragt werden. Die vorgegebenen Lücken reißen den Kontext auf und schränken die Bandbreite möglicher Lösungen inhaltlich ein. Bei Aufgaben dieses Typs geht es um das Überprüfen der Rezeption. Die Lücken sind daher so gesetzt, dass sie nicht bereits von grammatischen Strukturen determiniert sind (z. B. ein Nomen im Dativ-Plural erforderlich machen). Bei der Korrektur müssen formale Fehler unberücksichtigt bleiben.
5.5. Kursabschluss Am Ende eines Kurses besteht bei einer großen Zahl von erwachsenen Kursteilnehmenden das Bedürfnis nach einer Dokumentation des Fortschritts, den sie im Verlauf des Kurses gemacht haben. Bei fremdfinanzierten Kursen hat der Geldgeber häufig ein Interesse daran, den Erfolg der geförderten Maßnahme in Form eines Abschlusstests zu überprüfen. Ein Beispiel dafür ist die Einführung der weitestgehend durch Steuergelder finanzierten Integrationskurse für Zuwanderinnen und Zuwanderer in Deutschland im Jahr 2005. Diese Sprachkurse sind differenziert nach Teilzielgruppen, z. B. schnelle Lernende, Elternkurse, Jugendkurse, Kurse zur Alphabetisierung. Sie umfassen in der Regel 600 Unterrichtseinheiten mit der Möglichkeit einer Verlängerung. Alle Kurse wurden bis 2009 mit dem Zertifikat Deutsch abgeschlossen, seit 2009 kommt ein speziell für diesen Zweck entwickelter Deutschtest für Zuwanderer (dtz) zum Einsatz. Intendiert ist eine enge Verbindung mit dem Lernstoff des vorausgegangenen Kurses. Das Bindeglied für die Anbindung der Sprachprüfung an den Kurs ist das Curriculum. Das sog. Rahmencurriculum (Goethe-Institut 2007) beschreibt repräsentative Lernziele für die Sprachkurse. Diese Lernziele sind zugleich Prüfungsziele. Geprüft wird ein Kernbereich, der in allen Kursarten Unterrichtsgegenstand und für alle Teilzielgruppen relevant ist. Das sind zum Beispiel Themen wie die Ausbildung und Betreuung von Kindern. Eine Prüfungszielbeschreibung legt eine Definition des sprachlichen Niveaus aufgefächert nach sprachlichen Mitteln im Bereich Sprachhandlungen, Intentionen, Notionen, grammatischen Strukturen und Wortschatz vor und entspricht damit den Anforderungen, die auch an eine Feststellungsprüfung gestellt werden. Rahmencurriculum und Prüfungszielbeschreibung bilden die Grundlage für Unterrichtsmaterialien und Lehrwerke, die in den Kursen eingesetzt werden. Die Kursabschlussprüfung dtz unterscheidet sich von Feststellungsprüfungen wie dem weltweit seit dem Jahr 2000 für alle Zielgruppen eingesetzten Zertifikat Deutsch durch den engen inhaltlichen Bezug zu den vorausgegangenen Kursen und zu den Bedürfnissen der Zielgruppe.
5.6. Sprachstandsmessung Die Funktion einer Feststellungsprüfung ist es, die sprachlichen Fähigkeiten der Geprüften zu einem bestimmten Zeitpunkt zu bestimmen. In der Regel melden sich Interessenten zu einer solchen Prüfung aus freien Stücken an und bezahlen für diese Dienstleistung
143. Testen und Prüfen von Sprachkenntnissen
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eine Gebühr. Als Gründe, warum sie sich einer Prüfung unterziehen, nennen Lernende in der Reihenfolge ihrer Wichtigkeit: a) b) c) d)
aus persönlichem Interesse als Nachweis beruflicher Qualifikation als Nachweis im Rahmen der Studienplatzbewerbung als Nachweis im Rahmen des Einreise- und Visarechtes
Was die Prüfungsinhalte angeht, so beschränkt sich die Feststellungsprüfung nicht auf den Stoff eines bestimmten Kurses oder Lehrplans, sondern legt eine detaillierte Prüfungszielbeschreibung zugrunde. Bei einer allgemeinsprachlichen Prüfung orientiert sich diese an der zukünftigen Sprachverwendung im privaten, beruflichen und öffentlichen Leben. Im Falle einer fachsprachlich ausgerichteten Prüfung sind die Prüfungsinhalte auf das jeweilige Fachgebiet, zum Beispiel berufsbezogene Verwendungssituationen, eingegrenzt. Die Prüfungszielbeschreibung gibt Auskunft über Prüfungsziele und -inhalte, sprachliche Funktionen, Intentionen bzw. Handlungsfelder, den zugrunde gelegten Wortschatz und die grammatischen Strukturen, das sprachliche Niveau etc. Seit Veröffentlichung des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens und der Profile Deutsch beziehen sich solche Prüfungsbeschreibungen für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache in der Regel auf die Niveaustufen A1 bis C2 (Grotjahn 2007). Feststellungsprüfungen umfassen in der Regel Testaufgaben zu allen vier Fertigkeiten, d. h. Leseverstehen, Hörverstehen, Schriftlicher Ausdruck und Mündlicher Ausdruck. Prüfungsaufgaben zu der Fertigkeit der Mediation sowie spezielle Grammatik-Teile sind dagegen selten. Da die Prüfungsergebnisse sich an Endabnehmer, also zum Beispiel Arbeitgeber oder Bildungseinrichtungen, außerhalb der prüfenden Institution richten, entstehen besondere Ansprüche an die Augenschein-Validität. Beim Durchsehen der Prüfungsaufgaben sollte der gebildete Laie den Eindruck erhalten, dass Testaufgaben für ihre Zwecke relevante Inhalte und Fertigkeiten überprüfen. Im Zuge der sogenannten kommunikativen Wende spielt dabei die Verwendung (semi-)authentischer Texte und handlungsorientierter Aufgabenformen eine entscheidende Rolle. Bei der Formulierung von Testaufgaben zum Schreiben etwa sollte die kontextuelle Einbettung realistisch sein. Vor allem muss der Adressat klar sein. Realitätsnahe Schreibaufgaben richten sich nicht an den Prüfenden/Korrigierenden, sondern zum Beispiel an einen Brieffreund. Überdies muss in der Aufgabe definiert sein, welche Form der zu schreibende Text annehmen soll, d. h. welche Textsorte produziert werden und wie lang der Text sein soll. Aus Gründen der Fairness sollte den Geprüften bei einer produktiven Aufgabe, die nach bestimmten Kriterien beurteilt wird, außerdem bekannt sein, worauf bei der Korrektur Wert gelegt wird. Bei der Feststellungsprüfung ist außer der Augenscheinvalidität die sogenannte „Kontentvalidität“ von Bedeutung. Sie betrifft die Frage der Testziele. Während die Auffassung, dass Feststellungsprüfungen alle vier Fertigkeiten überprüfen sollen, inzwischen historisch gewachsen ist, gibt es keinen Konsens darüber, wie jede einzelne Fertigkeit getestet wird. Dies hängt von den jeweiligen Feinzielen ab. So legt zum Beispiel das Hörverstehen im TestDaF Wert auf das Verstehen von vorlesungsähnlich strukturierten Texten. Eine Prüfung zur Fachsprache Wirtschaftsdeutsch wie das vom Deutschen Volkshochschul-Verband und vom Goethe-Institut gemeinsam entwickelte Zertifikat Deutsch für den Beruf (ZDfB) (1995) räumt berufsspezifischen Sprechanlässen und Aspekten inter- bzw. metakultureller Kommunikation eine große Bedeutung ein.
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XIV. Leistungsmessung und Leistungskontrolle
In Feststellungsprüfungen spielen mündliche Prüfungsteile meist eine wesentliche Rolle. Entscheidend für das Testformat ist die Zahl der gleichzeitig Geprüften. In jüngerer Zeit greifen Testentwickler dabei häufiger auf das Format der Paar- oder sogar Gruppenprüfung zurück. Aufgaben zur Problemlösung und Diskussion lassen sich unter gleichberechtigten Teilnehmenden besser bearbeiten als zwischen Teilnehmenden und Prüfenden. Teilnehmende sollen miteinander eigene Gedanken entwickeln und artikulieren. Doch das gleichzeitige Prüfen von mehreren Personen bringt besondere Probleme mit sich. Intellektuell überlegene und reife Persönlichkeiten haben es bei solchen Testformen leichter als Personen, die aus kulturspezifischen oder persönlichen Gründen nicht daran gewöhnt sind, eigene Ideen im Gespräch zu entwickeln. Dieser Unterschied muss sich in den dazugehörigen Bewertungskriterien niederschlagen. Aufgabe und Bewertung gehören also zusammen. Je offener ein Test zur mündlichen Kommunikation angelegt ist, umso größer ist der Handlungs- und Entscheidungsspielraum der Prüfenden. In der Praxis nutzen Prüfende diesen Spielraum allerdings nicht selten in einer Weise, dass von den ursprünglichen Prüfungszielen wenig übrigbleibt. Dadurch werden die Prüfungsergebnisse unzuverlässig. Prüferverhalten sowie die Praktikabilität von Bewertungskriterien sind die beiden zentralen Facetten des komplexen Prüfungsgeschehens bei mündlichen Prüfungen. Sie berühren sowohl die Frage der Validität wie der Reliabilität von Tests. Je freier ein Prüfender die Aufgabenstellung interpretiert oder je unübersichtlicher die Bewertungskriterien, die er heranziehen soll, umso größer die Fehlerquelle. Der Relevanz von Prüferverhalten und der Bewertung von mündlichen Leistungen ist eine Vielzahl von Einzeluntersuchungen gewidmet (Lumley und McNamara 1995). Auch hinsichtlich der Reliabilität werden an Feststellungsprüfungen die höchsten Anforderungen gestellt. Zuverlässige Tests dieses Typs müssen zunächst eine Mindestzahl an Items anbieten, wobei jedes Item als Einzelmessung zu betrachten ist, das unabhängig von anderen wertvolle Daten liefert. Um gesicherte Aussagen über den Sprachstand machen zu können, sollte beim Lesen und Hören eine Mindestzahl von Aufgaben vorhanden sein. Diese wird gegenwärtig zwischen 20 und 30 gesehen. Eine Konsequenz daraus ist zum Beispiel, dass die von europäischen Prüfungsinstitutionen angebotenen Feststellungsprüfungen in der Regel mehrere Stunden dauern. Die Resultate dieser Sprachstandsmessung sollen differenziert und fundiert genug sein, um den Endabnehmern eine begründete Entscheidung zu ermöglichen, ob die nachgewiesenen Sprachkenntnisse für die anvisierte Tätigkeit ausreichen.
6. Computerbasierte Testverahren Die Vorgabe, in möglichst kurzer Zeit ein möglichst genaues Bild des sprachlichen Kenntnisstandes der Teilnehmenden zu erhalten, hat in den 1990er Jahren zur Entwicklung von computergestützten Testverfahren geführt. Ein Beispiel dafür ist das sogenannte BUSINESS LANGUAGE TESTING SYSTEM (BULATS). Das Instrument wird in vier Sprachen angeboten: Englisch, Deutsch, Französisch und Spanisch. Ein Prüfender ist bei diesem Computertest nicht beteiligt. Die Ergebnisse werden unmittelbar nach dem etwa 15-minütigen Verfahren in Form eines Protokolls bekanntgegeben. Im Hintergrund dieses Testsystems steht eine Bank von kalibrierten, d. h. erprobten und damit im Schwierigkeitsgrad definierten Aufgaben zu den rezeptiven Fertigkeiten, d. h. Lesen und Hören sowie Strukturen und Wortschatz.
143. Testen und Prüfen von Sprachkenntnissen
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Im Gegensatz zum traditionellen Verfahren in Papierform wird beim computeradaptiven Testsystem nicht jedem Teilnehmenden die gleiche Testbatterie vorgelegt. Der Computer errechnet vielmehr nach jedem gelösten Item, zu welchem Item die geprüfte Person weitergeschickt wird. Hat er das vorhergehende richtig gelöst, wird der Schwierigkeitsgrad erhöht, hat er es falsch gelöst, bekommt er ein Angebot mit geringerem Schwierigkeitsgrad. Vorteile eines computergesteuerten Systems sind neben dem geringen Zeitaufwand die Genauigkeit der Ergebnisse, der Abwechslungsreichtum der kontextualisierten Aufgaben, die auch das Hörverstehen integrieren, sowie die weite Streuung der Aufgaben vom Anfängerniveau bis zu weit fortgeschrittenem Kenntnisstand.
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XIV. Leistungsmessung und Leistungskontrolle
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Michaela Perlmann-Balme, München (Deutschland)
144. Sprachprüungen ür Deutsch als Fremdsprache 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Einleitung Testarten Merkmale standardisierter Zertifikatsprüfungen Internationale DaF-Prüfungen Zusammenfassung Literatur in Auswahl
1. Einleitung In einer Zeit der Globalisierung und eines zusammenwachsenden Europas spielen nicht nur Fremdsprachenkenntnisse eine immer größere Rolle, sondern zunehmend auch deren Zertifizierung. Die internationale Mobilität in Berufs- und Bildungskontexten erfordert objektive, aussagekräftige, transparente und vergleichbare Nachweise von Sprachkompetenzen. Entsprechend der erhöhten Nachfrage ist in den letzten Jahren auch der internationale Prüfungsmarkt in Bewegung geraten. Ein deutlicher Meilenstein in Richtung erhöhter Vergleichbarkeit und Transparenz wurde dabei durch das Erscheinen des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens (⫽ GER, Europarat 2001) gesetzt. Beinahe alle größeren internationalen Zertifikatsanbieter und Testorganisationen haben ihre Sprachprüfungen gemäß den darin festgelegten Referenzniveaus analysiert, adaptiert bzw. in Anlehnung daran neue entwickelt. Dies gilt ganz besonders auch für den deutschsprachigen Prüfungsbereich und betrifft nicht nur allgemeinsprachliche Tests und Prüfungen, sondern auch Prüfungen für besondere Zielgruppen, wie z. B. Prüfungen für Kinder und
144. Sprachprüfungen für Deutsch als Fremdsprache
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Jugendliche, studien- oder berufsbezogene Prüfungen oder spezifische Prüfungen für MigrantInnen (vgl. Art. 145). Im folgenden Beitrag soll nach einer kurzen Definition verschiedener Test- und Prüfungsverfahren geklärt werden, welche Art von Prüfungen und Zertifikaten im Zentrum dieses Beitrags stehen und durch welche Merkmale sie sich charakterisieren lassen. Anschließend stellt eine Übersicht die aktuelle DaF-Testlandschaft dar, gefolgt von einer kurzen Beschreibung der diversen Prüfungen. In diesem Zusammenhang wird auch auf die Rolle des GER für den Bereich der Sprachzertifizierung eingegangen.
2. Testarten Das Überprüfen von Sprachkompetenzen kann je nach Testziel und Funktion in unterschiedlichster Art und Weise vorgenommen werden. In der Testtheorie unterscheidet man prinzipiell zwischen diagnostischen Verfahren, wie z. B. den Einstufungstests (placement tests), den auf einen Unterricht bzw. Kurs bezogenen Leistungs- bzw. Lernfortschrittsmessungen (achievement tests) und den an vorgegebenen Kompetenz- bzw. Niveaubeschreibungen orientierten Feststellungsprüfungen, die auch als Niveauprüfungen bzw. Qualifikationstests (proficiency tests) bezeichnet werden. Letztgenannte Prüfungen erfassen den Ausprägungsgrad von vorab definierten Anforderungen sprachlicher Handlungsfähigkeit in Bezug auf abschätzbare bzw. mögliche zukünftige Verwendungssituationen. Sie sind als solche, wie später noch ausgeführt wird, meist performanz- bzw. sprachhandlungsorientiert und überprüfen unabhängig von Kursen oder Lehrwerken den momentanen Sprachstand eines Kandidaten, indem sie sich an vorher festgelegten Spezifikationen, Niveau- und Kompetenzbeschreibungen orientieren. Standardisierte, internationale Zertifikate sind den Definitionen zufolge in diese Kategorie der Niveauprüfungen einzuordnen, weshalb im Folgenden ausschließlich auf diese Prüfungen eingegangen wird.
3. Merkmale standardisierter Zertiikatsprüungen 3.1. Kommunikatives Testen Die meisten in diesem Beitrag erwähnten Prüfungen lassen sich als kommunikativ orientierte Sprachprüfungen bezeichnen. Kommunikative Prüfungen setzen (vereinfacht ausgedrückt) nicht sprachliches Wissen, sondern Können, also sprachliche Handlungsfähigkeit in den Mittelpunkt und sind daher zum größten Teil auch als Performanztests anzusehen. Im Gegensatz zu sog. Kompetenztests (die meist mit theoretischen Modellen „tieferliegender Grundfähigkeiten“ arbeiten) spiegeln Performanztests realitätsnahes zielsprachiges Verhalten in realitätsnahen, wahrscheinlichen und relevanten Situationen wider (real life approach, vgl. dazu Bachman 1990; Weir 1993; Glaboniat 1998). Vom Verhalten und den Leistungen der Testteilnehmenden in diesen Situationen wird abgeleitet, wie sich eine Person außerhalb des Testzusammenhangs verhalten könnte. Dazu werden die TestkandidatInnen in möglichst realitätsnahe und kommunikative Akte involviert und müssen innerhalb einer vorgegebenen Situation und sozialen Rolle unterschiedliche
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XIV. Leistungsmessung und Leistungskontrolle
sprachliche Handlungsaufgaben erfüllen. Die kommunikative Orientierung findet sich dabei aber nicht nur in der Kontextualisierung der Aufgabe, sondern auch in der Authentizität der (Input-)Texte, in der Berücksichtigung der kommunikativen Lernerbedürfnisse, in der repräsentativen Auswahl der Aufgaben, in der Alters-, Sozialisations- und Kulturadäquatheit der Themen sowie in der Berücksichtigung von Kommunikationsstrategien. Kommunikativ orientierte Sprachprüfungen ⫺ das gilt auch für alle hier angeführten ⫺ gehen von einem sehr breit gefassten, pragmatisch orientierten Konzept der Sprachkompetenz aus (vgl. v. a. Modell von Bachmann 1990; Glaboniat 1998: 53⫺62; GER: 21⫺29, 51⫺102) und differenzieren in der Regel nach den vier sprachlichen Hauptaktivitäten bzw. Fertigkeiten Leseverstehen, Hörverstehen (⫽ mündliche und schriftliche Rezeption), Schreiben und Sprechen (⫽ mündliche und schriftliche Produktion bzw. Interaktion). Linguistische Kompetenzen, wie Grammatik und Lexik, werden teilweise implizit miterfasst (v. a. innerhalb des Schreibens, Sprechens), teilweise in entsprechenden Subtests eigens getestet (vgl. z. B. „Sprachbausteine“ in der Prüfung B1 Zertifikat Deutsch).
3.2. Direktes Testen Um eine möglichst hohe Validität zu erreichen, versuchen kommunikative Tests möglichst direkt zu testen. Dies ist bei produktiven Aktivitäten wie Schreiben und Sprechen relativ leicht zu realisieren und führt zu sehr offenen Aufgaben wie z. B. dem Verfassen von Briefen oder E-Mails im schriftlichen Teil oder dem Führen eines alltäglichen Gesprächs im mündlichen Teil einer Prüfung. Die testtheoretische Herausforderung bei diesen Testformaten liegt v. a. in der Gewährleistung der Auswertungsreliabilität und -objektivität. Bei den rezeptiven Hör- und Leseverstehensaufgaben ist dies genau umgekehrt. Zwar wird grundsätzlich versucht, möglichst direkt zu testen, d. h. sämtliche für Hörbzw. Lesekompetenz irrelevante Faktoren auszublenden. Dennoch wird letztlich immer ein indirektes Antwortformat gebraucht, auf der die jeweilige ⫺ innerlich ablaufende und daher an sich nicht direkt beobachtbare ⫺ Verstehensleistung nach außen nachgewiesen wird. Diese Antwortformate können im Grad ihrer Direktheit sehr unterschiedlich sein. Ein Beispiel für nicht-direktes, nicht-valides und nicht-zuverlässiges Testen wäre, dass die TestkandidatInnen Gehörtes in Form einer schriftlichen Zusammenfassung in der Zielsprache wiedergeben müssen. Hinzukommende, verfälschende Faktoren wären hier, 1) die geforderte Merkleistung, 2) die Wiedergabe in der Zielsprache und 3) das alles in schriftlicher Form (sprachliche Korrektheit, Textsortenkompetenz „Wie schreibt man eine Zusammenfassung?“). Im Bemühen um möglichst hohe Direktheit und Reliabilität werden in standardisierten Tests daher meist geschlossene Formate wie Richtig-Falsch oder Multiple Choice verwendet ⫺ auch wenn solche Auswahlmöglichkeiten in realen Situationen natürlich nicht vorkommen. Selbstverständlich liegt hier als verfälschender Faktor auch immer noch die Abhängigkeit vom (Lese-)Verstehen der Aufgaben (Items) vor, aber im Vergleich zu den schriftlichen Anforderungen im o. a. Beispiel ist dieser Kompromiss innerhalb des Spannungsfelds zwischen Validität und Reliabilität von Testaufgaben vertretbar.
144. Sprachprüfungen für Deutsch als Fremdsprache
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3.3. Qualitätsstandards und die Zuordnung zu den Europaratsstuen Internationale Sprachprüfungen und Zertifikate werden auch als Qualifikations- oder high stakes tests bezeichnet, da sie als Selektionsinstrumente oder im Zusammenhang mit Entscheidungen eingesetzt werden, die weitergehende Konsequenzen für die TestkandidatInnen haben (z. B. Anstellung, Beförderung, Zulassung zur Universität, Staatsbürgerschaft, Visumsverlängerung). Es versteht sich daher von selbst, dass solche Prüfungen höchsten Qualitätsstandards gerecht werden müssen. Das betrifft nicht nur die klassischen Testgütekriterien Validität, Objektivität und Reliabilität, sondern auch andere Qualitätsmerkmale wie Praktikabilität, Fairness, Nützlichkeit und Transparenz. Die meisten der hier angeführten Prüfungsorganisationen stellen diesbezüglich an sich selbst sehr hohe Ansprüche bzw. fühlen sich internationalen Standards verpflichtet, wie z. B. dem Code of Practice der Association of Language Testers in Europe (ALTE). Eine der wichtigsten Voraussetzungen für standardisiertes Prüfen ist das kriterienoder sachorientierte Messen. Im Gegensatz zu norm- oder individualorientiertem Vorgehen in nicht standardisierten Verfahren (z. B. in schulischer Leistungsmessung, vgl. dazu Glaboniat 2002), erfordert standardisiertes Testen, dass der Testgegenstand (das Testkonstrukt bzw. das Testkriterium) vorher festgelegt ist und als Bezugsgröße für jede Messung gilt. Demnach wird die Leistung einer Person weder in Bezug auf Leistungen anderer Personen (Norm), noch in Bezug auf eigene, vorangegangene Leistungen (Individuum) bewertet, sondern lediglich in Bezug auf das vorgegebene Lernziel (Kriterium). Nur so ist eine transparente und aussagekräftige Beurteilung der Sprachbeherrschung eines Lernenden gewährleistet. Standardisierte Prüfungen und Tests müssen somit über klar definierte Beschreibungen der gewünschten Kompetenzen und Fähigkeitsgrade und, davon abgeleitet, über transparente Prüfungsziele und Beurteilungskriterien verfügen. Der GER und die anderen in seinem Umfeld stehenden Europaratsinstrumentarien, wie z. B. „Profile deutsch“ (Glaboniat et al. 2005) für die deutsche Sprache, haben in diesem Zusammenhang nicht nur wesentliche Hilfsmittel für kriterienorientiertes Testen geschaffen, sondern ⫺ zumindest auf den ersten Blick ⫺ auch den Weg zu mehr Transparenz und schneller Vergleichbarkeit geebnet. Mittlerweile gibt es keine internationale Sprachprüfung mehr, die sich nicht niveaumäßig innerhalb des Bezugsystems des Europarats einordnet und auch die Bezeichnungen A1 bis C2 wählt. Um die Qualität der Prüfungen und die Gültigkeit in Hinblick auf die Niveauzuordnung zu gewährleisten, unterziehen bzw. unterzogen sich seriöse Prüfungen einer intensiven Auseinandersetzung mit dem GER, die in vielen Fällen zu Revisionen, Adaptionen oder Neuentwicklungen führt/geführt hat. In diesem Zusammenhang erwähnenswert sind v. a. zwei Publikationen des Europarats, die Testinstitutionen bei der Erstellung und Zuordnung von Tests behilflich sein sollten. Während die Publikation „Common European Framework of Reference for Languages: Learning, Teaching, Assessment: Language Examining and Test Development“ (vgl. Council of Europe 2002) eine allgemeine Einführung in den Bereich des Sprachentestens darstellt, unterstützt das „Manual for Relating Language Tests to the CEFR“ (vgl. Council of Europe/Relating Language Tests to the CEFR, Manual 2009) v. a. den Zuordnungsprozess: Durch das Vergleichen, Analysieren und Abgleichen von Prüfungszielen und -inhalten mit den detaillierten Niveaubeschreibungen des GER (und deren sprachlicher Konkretisierung, wie sie z. B. für die deutsche Sprache durch „Profile deutsch“ vorliegt), werden die einzelnen Prüfungen mit
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XIV. Leistungsmessung und Leistungskontrolle
dem GER verlinkt, validiert und evaluiert. Bei aller Euphorie muss aber auch betont werden, dass der GER in der Fachdiskussion durchaus nicht unumstritten ist, dass er viele Schwachstellen aufweist und es eine Menge offene und ungeklärte Fragen gibt (vgl. Bausch et al. 2003). Hinzu kommt, dass die Niveauzuordnung hie und da ⫺ sei es bei Lehrwerken oder nicht-standardisierten Tests im Internet ⫺ nicht nachvollziehbar ist und Etikettenschwindel angenommen werden muss. Internationale Sprachprüfungen nehmen die Zuordnung in der Regel jedoch sehr ernst, womit für den Bereich des Sprachentestens durch den GER tatsächlich ein wichtiger Meilenstein gesetzt wurde. Es existieren nun zumindest Anhaltspunkte, die die Prinzipien wie Vergleichbarkeit, Transparenz und Kohärenz erstmals wirklich ermöglichen.
4. Internationale DaF-Prüungen 4.1. Beispiel Zertiikat Deutsch als Fremdsprache Bevor im Folgenden die gängigsten DaF-Prüfungen vorgestellt werden, soll die weltweit am meisten frequentierte Deutschprüfung, das auf dem Niveau B1 angesiedelte Zertifikat Deutsch (kurz: ZD), beispielhaft etwas detaillierter skizziert werden. Gemäß den Beschreibungen des GER sollen Lernende auf diesem Niveau zur „selbstständigen Sprachverwendung“ in Alltagssituationen fähig sein, d. h. sie können u. a. sprachlich „die meisten Situationen bewältigen, denen man auf Reisen im Sprachgebiet begegnet“ und „sich einfach und zusammenhängend über vertraute Themen und persönliche Interessengebiete äußern“ (GER B1). Konzipiert ist das ZD für Lernende ab 16 Jahren, für jüngere DeutschlernerInnen zwischen 12 und 16 Jahren wird zusätzlich das Zertifikat Deutsch für Jugendliche (ZDj) angeboten. Das ZDj unterscheidet sich vom ZD lediglich in der Auswahl der Themen und Texte; Umfang und Format der Aufgaben sowie die Bewertung und letztlich auch die ausgestellte Zertifikatsurkunde sind identisch. Erstellt und herausgegeben werden beide Prüfungen (ZD und ZDj) in trinationaler Zusammenarbeit vom Goethe-Institut (GI) und der telc GmbH/Deutschland, dem Österreichischen Sprachdiplom Deutsch (ÖSD) und dem Lern- und Forschungszentrum der Universität Freiburg/Schweiz. Der trinationalen Kooperation zu Grunde liegt die plurizentrische Sprachauffassung des Deutschen, wonach die Standardvarietäten aus Deutschland, Österreich und der deutschsprachigen Schweiz gleichberechtigt nebeneinander gestellt sind. In den Prüfungen finden sich daher v. a. in den rezeptiven Teilen Hör- und Lesetexte aus den drei Ländern. Die Aufgabenstellungen, d. h. die in der Prüfung zu bewältigenden Situationen mit unterschiedlichen rezeptiven (Hör- und Lesetexte) und produktiven Anforderungen (Sprech- und Schreibanlässen) orientieren sich an eigens für das ZD erstellten Spezifikationen, die „Szenarien“, Strategien, Notionen und Themen sowie detaillierte Sprachhandlungs-, Wortschatz- und Grammatikinventare (Zertifikat Deutsch Lernzielkatalog 1999: 26 und 61⫺371) umfassen. Dieser ZD-Lernzielkatalog geht in großen Teilen wiederum auf die 1980 im Umfeld des Europarats erschienene „Kontaktschwelle“ von Baldegger et al. 1980 (bzw. dem 1975 erschienenen „Threshold Level“ von Van Ek) zurück. Somit orientiert sich das ZD nicht wie andere, neuere Prüfungen direkt an den Bestimmungen des GER bzw. Profile deutsch, sondern geht noch auf deren Vorarbeiten zurück.
144. Sprachprüfungen für Deutsch als Fremdsprache
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Auf Grund dieser Zusammenhänge lässt sich zwar generell annehmen, dass sich die meisten der ZD-Spezifikationen mit den Niveaubeschreibungen und Skalen des GER bzw. den Konkretisierungen in Profile deutsch decken, eine detaillierte Prüfung bzw. Analyse sowie daraus resultierende Überarbeitung wird in Fachkreisen als längst fällig angesehen. Erste Schritte in diese Richtung wurden 2008 gesetzt, eine Revision dürfte in den nächsten Jahren zu erwarten sein. Tabelle 144.1 zeigt u. a. den Aufbau des ZD (auch ZDj) mit den einzelnen Prüfungsteilen, deren Aufgabenformate und Gewichtung. Tab. 144.1: Übersicht über das Zertifikat Deutsch Übersicht über das Zertifikat Deutsch Fertigkeiten/ Kompetenzen
Überprüfungsdomäne/ Subtests
Aufgabentypen/ Antwortformate
Schriftliche Prüfung Leseverstehen LV1: Globalverstehen LV2: Detailverstehen LV3: Selektives Verstehen Sprachbausteine SB1: Lexik; v. a. Morphosyntax SB2: Lexik; v. a. Semantik Hörverstehen HV1: Globalverstehen HV2: Detailverstehen HV3: Selektives Verstehen Schreiben Schriftliche Interaktion; In-, halbformeller Antwortbrief
Punkte
150ⴕ
225
90ⴕ
75 25 25 25 30
Zuordnung (5)* Mehrfachauswahl (5) Zuordnung (10) Mehrfachauswahl (10)
15 75 25 25 25 45
ca. 30ⴕ Richtig-Falsch (5) Richtig-Falsch (10) Richtig-Falsch (5) 30ⴕ 4 Leitpunkte bearbeiten
Paar- oder Einzelprüfung
ZERTIFIKAT DEUTSCH
gesamt
25 %
10 %
25 %
15 %
45 ca. 15ⴕ
v. a. mündliche Interaktion, tlw. mündliche Produktion MA 1: Kontaktaufnahme MA 2: Gespräch über ein Thema MA 3: Gem. eine Aufgabe lösen
rel. Gewichtung
15
Mehrfachauswahl (10)
Mündliche Prüfung Sprechen (Mündlicher Ausdruck)
Zeit
75
25 %
15 30 30 300
* ⫽ Anzahl der Items pro Subtest
4.2. Überblick über internationale DaF-Zertiikate und kurze Beschreibung In der Tabelle 144.2 finden sich die gegenwärtig am internationalen Prüfungsmarkt angebotenen, standardisierten DaF-Zertifikate. DaZ-Prüfungen, die nur im deutschsprachigen Inland angeboten werden, sind hier bewusst ausgespart (vgl. Art. 145).
1294
XIV. Leistungsmessung und Leistungskontrolle
Studienspezifische Prüfungen wie TestDaF, DSH oder DSD wurden in die Tabelle 2 nicht aufgenommen, weil sie entweder über mehrere Niveaus gehen (vgl. TestDaF 3⫺5) oder nicht in dem Ausmaß standardisiert sind wie die anderen. Tab. 144.2: Standardisierte DaF-Zertifikate Zielgruppe
Träger2
Start Deutsch 1 A1 Grundstufe Deutsch 1 (A1 GD 1) Fit in Deutsch 1 A1 Kompetenz in Deutsch 1 (A1 KID 1)
Erwachsene Erwachsene Kinder/Jugendliche Kinder/Jugendliche
Gl; TELC ÖSD GI ÖSD
Start Deutsch 2 A2 Grundstufe Deutsch 2 (A2 GD 2) Fit in Deutsch 2 A2 Kompetenz in Deutsch 2 (A2 KID 2)
Erwachsene Erwachsene Kinder/Jugendliche Kinder/Jugendliche
Gl; TELC ÖSD GI ÖSD
B1 Zertifikat Deutsch (B1 ZD)
Erwachsene
B1 Zertifikat Deutsch für Jugendliche (ZDJ)
Jugendliche (12⫺16 J.)
Gl; TELC; ÖSD; EDK Gl; TELC; ÖSD; EDK
Goethe Zertifikat B2 B2 Mittelstufe Deutsch (B2 MD) telc Deutsch B2 (⫽ früher: Zertifikat Deutsch plus) Zertifikat Deutsch für den Beruf (ZDfB)
Erwachsene Erwachsene Erwachsene
GI ÖSD TELC
Erwachsene
Gl; TELC
Goethe Zertifikat C1 C1 Oberstufe Deutsch (C1 OD) telc Deutsch C1 Prüfung Wirtschaftsdeutsch International (PWD)
Erwachsene Erwachsene Erwachsene Erwachsene
GI ÖSD TELC GI und Partner3,
Zentrale Oberstufenprüfung (ZOP) Kleines Deutsches Sprachdiplom (KDS) C2 Wirtschaftssprache Deutsch (C2 WD) Großes Deutsches Sprachdiplom (GDS)
Erwachsene Erwachsene Erwachsene Erwachsene
GI GI ÖSD GI
Niv1. Prüfung
A1
A2
B1
B2
C1
C2
1
2
3
Diese Niveauzuordnung erfolgt meist durch Selbsteinstufungen der Prüfungsanbieter, die auf diversen qualitativen und quantitativen Verfahren (Expertengutachten, Benchmarking-Verfahren, psychometrische Linkingprozesse) basieren. Trägerorganisationen: GI ⫽ Goethe-Institut; TELC ⫽ früher: Weiterbildungs-Testsysteme GmbH; ÖSD ⫽ Österreichisches Sprachdiplom Deutsch; EDK ⫽ Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren. GI in Kooperation mit dem Deutschen Industrie- und Handelstag und den Carl Duisberg Centren
4.3. Kurzcharakteristik: internationale DaF-Zertiikate (Prüungen des GI, ÖSD und TELC) Auf den Stufen A1 und A2 werden weltweit einerseits die Prüfungen Start Deutsch 1 und 2 des GI und TELC sowie andererseits die Prüfungen Grundstufe Deutsch 1 und 2 des ÖSD angeboten. Die einzelnen Prüfungen sind kommunikativ aufgebaut und doku-
144. Sprachprüfungen für Deutsch als Fremdsprache
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mentieren auf dem Niveau A1, dass die Teilnehmenden „vertraute, alltägliche Ausdrücke und ganz einfache Sätze verstehen und verwenden können“ bzw. auf A2-Niveau, dass sie sich u. a. „in einfachen, routinemäßigen Situationen verständigen können“. (Es gibt von Start 1 und 2 auch die Inlandsvarianten für Zuwanderer Start Deutsch 1(z) und Start Deutsch 2(z), die in den vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) geförderten Integrationskursen durchgeführt werden. In Österreich ersetzt die ÖSD-Prüfung A1 Grundstufe 1 den früheren Sprachkenntnisnachweis, eine österreichische DaZPrüfung, die bis 2006 als Nachweis zur Erfüllung der Integrationsvereinbarung/Niederlassungsbewilligung ausreichte. Seit 2006 ist dafür das Niveau A2 erforderlich. Für beide A-Stufen liegen auch spezifische Prüfungen für Kinder und Jugendliche vor. So können junge LernerInnen entweder die Prüfungen des Goethe-Instituts Fit für Deutsch 1 und 2 (v. a. in Italien und Frankreich angeboten) oder die des ÖSD KID 1 und 2 absolvieren. Während sich auf der Stufe B1 wie oben erwähnt nicht nur die größte, sondern auch die am längsten existierende Prüfung, das Zertifikat Deutsch (vor 1999: Zertifikat Deutsch als Fremdsprache) befindet, sind die Prüfungen der drei großen Testanbieter GI, ÖSD und telc auf den Stufen B2 und C1 relativ neu. Im Zuge der Zuordnungs- und Anpassungsprozesse der DaF-Prüfungen an den GER wurde die Zentrale Mittelstufenprüfung (ZMP) des GI 2008 durch zwei neue Prüfungen abgelöst: das Goethe Zertifikat B2 einerseits und das Goethe Zertifikat C1 andererseits. Eine ähnliche Entwicklung erfuhr die frühere ÖSD-Prüfung Mittelstufe Deutsch. Sie wurde Ende 2007 ebenfalls durch zwei neue Prüfungen ersetzt, die B2 Mittelstufe Deutsch und die C1 Oberstufe Deutsch des ÖSD. Auch Telc bietet seit einiger Zeit Prüfungen auf diesen Niveaus an, nämlich telc Deutsch B2 (früher: Zertifikat Deutsch plus) und telc Deutsch C1. Kenntnisse der Niveaustufe C2 können Lernende beispielsweise durch die Zentrale Oberstufenprüfung (ZOP), das Kleine Deutsche Sprachdiplom (KDS) und das Große Deutsche Sprachdiplom (GDS) unter Beweis stellen. Durch die ZOP wird sprachliches Handeln innerhalb eines breiten Spektrums von Situationen und Themen überprüft. Von den KandidatInnen werden differenzierte sprachliche Mittel, eine starke Nuancierung beim Ausdruck und ein breites Repertoire an idiomatischer Ausdrucksweise erwartet. Der Test für das etwa auf dem gleichen Niveau angesiedelte KDS wird vom GI in Zusammenarbeit mit der Ludwig-Maximilian-Universität München (LMU) entwickelt; so auch das GDS, welches als höchstqualifizierender Abschluss im Bereich DaF außerhalb einer universitären oder einer Dolmetscher-/Übersetzer-Ausbildung gilt. Im berufsbezogenen Kontext finden sich auf den höheren Stufen folgende Prüfungen: Auf B2 ist das vom GI angebotene Zertifikat Deutsch für den Beruf angesiedelt. Dies ist eine am Arbeitsalltag orientierte Sprachprüfung, die die Kommunikationsfähigkeit in Situationen des täglichen Berufslebens überprüft. Das GI bietet in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Industrie- und Handelstag sowie den Carl Duisberg Centren die Prüfung Wirtschaftsdeutsch International (PWD) an. Geprüft wird die Kommunikationsfähigkeit in Geschäftssituationen. Das Zeugnis bescheinigt angemessene Kommunikationskompetenz auf der Niveaustufe C1 in typischen Situationen des Geschäftslebens, also bei Präsentationen, in schriftlichen und mündlichen Verhandlungen, u. Ä. Eine Prüfung mit ähnlicher Ausrichtung, aber auf noch höherer Stufe ist die Prüfung C2 Wirtschaftsprache Deutsch (WD) des ÖSD. Das Diplom dient als Nachweis von kom-
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XIV. Leistungsmessung und Leistungskontrolle
petenter Sprachverwendung auf der höchsten Stufe des GER und erfordert überdies fachsprachliche Kompetenz in Wirtschaftsberufen und wirtschaftsnahen Bereichen. Die Prüfung wurde in Kooperation mit der Wirtschaftskammer Österreich entwickelt. Die genannten berufsbezogenen Prüfungen werden sowohl von Fach- und Führungskräften als auch von Wirtschaftsstudenten gerne bei Bewerbungen eingesetzt.
4.4. Speziische Prüungen ür den Studienzugang Speziell für studienspezifische Zwecke entwickelt wurde der TestDaF, eine vom TestDaFInstitut entwickelte und herausgegebene Prüfung zur Eignungs- und Leistungsfeststellung im Hochschulbereich. Der TestDaF wird weltweit angeboten und von allen Hochschulen in Deutschland als Sprachtest für die Zulassung ausländischer Studierender anerkannt. Die TestDaF-Niveaustufe 3 entspricht der Stufe B2, die Stufe TestDaF 4 der Stufe C1 des GER. Zusätzlich werden an Deutschlands Auslandschulen die DSD-Prüfungen der deutschen Kultusministerkonferenz (KMK) angeboten. Von den beiden Prüfungsstufen DSD 1 und DSD 2 garantiert das DSD 2 den Hochschulzugang in Deutschland. Es setzt ungefähr 1600 Stunden Schulunterricht (in der Regel 7 Jahre) voraus und lässt sich ⫺ in der seit 2008 vorliegenden, ebenfalls nach dem GER revidierten Version ⫺ auf dem Niveau C1 einordnen. Ebenfalls für die Zulassung zum Hochschulzugang in Deutschland wurde die Deutsche Sprachprüfung für den Hochschulzugang (DSH ) entwickelt. Die DSH-Prüfungen werden ausschließlich in Deutschland, jeweils vor Beginn eines Studiensemesters, angeboten. Der Unterschied zu den oben angeführten Prüfungen, die alle unter hohen Qualitätsanforderungen zentral erstellt und teilweise auch zentral ausgewertet werden, liegt bei der DSH im geringeren Grad ihrer Standardisierung: Zwar gibt es eine für ganz Deutschland geltende Rahmenordnung für die DSH, allerdings gestalten die einzelnen Universitäten die Prüfungen, d. h. Inhalte und Aufgabenstellungen, selbstständig. Ein vergleichbares Modell stellt das UNIcert“-Zertifikatssystem dar, das auf einer Rahmenvereinbarung deutscher Universitäten und Hochschulen beruht. Träger von UNIcert “ ist der Arbeitskreis für Sprachenzentren (AKS). Ähnliches gilt auch für universitätsinterne/-eigene Prüfungen oder Tests in Österreich und der deutschsprachigen Schweiz (z. B. Ergänzungsprüfung Deutsch in Österreich, der Deutschtest der Universität Bern, die Deutschprüfung der Universität Zürich usw.) oder für die (Abschluss-)Prüfungen der an den Universitäten angebotenen, studienvorbereitenden Deutschkurse (z. B. Vorstudienlehrgänge, Hochschulkurse, Studienkollegs u. Ä.): Sie unterscheiden sich ⫺ trotz wachsender Bezugnahme auf den GER ⫺ in Schwierigkeitsgrad, Inhalten, Aufbau und v. a. im Ausmaß ihrer Standardisierung und Qualitätssicherung immer noch so sehr voneinander, dass sie nur sehr eingeschränkt vergleichbar sind. Für den Hochschulzugang stehen somit verschiedene Prüfungen zur Verfügung. Neben den letztgenannten, studienspezifischen Prüfungen werden aber je nach Universität und Hochschule bzw. Studienrichtung auch die anderen, oben erwähnten Prüfungen akzeptiert. Entsprechende Informationen findet man für Deutschland im Internet unter www.sprachnachweis.de. In Österreich werden die ÖSD-Prüfungen an allen Universitäten anerkannt, es werden allerdings je nach Universität unterschiedliche Sprachniveaus
144. Sprachprüfungen für Deutsch als Fremdsprache
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gefordert und diesen Niveaus entsprechend auch die anderen oben angeführten standardisierten Prüfungen akzeptiert. Informationen zur Anerkennung des ÖSD an Österreichs bzw. auch Schweizer und deutschen Universitäten sind unter www.osd.at abrufbar. Für die Schweiz findet man die entsprechenden sprachlichen Aufnahmevoraussetzungen im Internet unter „Studieren in der Schweiz“ (www.crus.ch) und in allen drei Ländern selbstverständlich auch auf den entsprechenden Informationsseiten jeder einzelnen Universität.
5. Zusammenassung Der Überblick über die verschiedenen DaF-Prüfungen spiegelt nicht nur das immer größer werdende Angebot am (internationalen) Prüfungsmarkt wider, sondern zeigt die Prüfungen auch in ihrer jeweiligen Niveauzuordnung. Dies wäre noch bis vor einigen Jahren kaum möglich gewesen, bestand doch seit jeher beim Ein- und Zuordnen von Sprachzeugnissen das fundamentale Problem der fehlenden Bezugsgröße. Da verschiedene Prüfungen naturgemäß verschiedene Inhalte überprüfen, unterschiedliche Schwerpunkte setzen und für unterschiedliche Zielgruppen konzipiert sind, war eine Vergleichbarkeit der Beurteilungen immer sehr schwierig. Erst durch die Entwicklung eines gemeinsamen Referenzrahmens erfolgte eine grundsätzliche Neuorientierung. Es wurde ein gemeinsames Bezugssystem geschaffen, an welchem sich kommunikativ orientierte Prüfungen beim Analysieren, Festlegen oder Interpretieren der eigenen Lern- und Prüfungsziele orientieren können. Wie die bisherige Erfahrung bereits zeigt, wurde durch den GER für den Bereich des Prüfens und Zertifizierens ein durchaus hilfreiches und taugliches Instrument geschaffen, das sowohl innerhalb der Sprachen als auch sprachenübergreifend deutlich mehr Vergleichbarkeit, Transparenz und Kohärenz ermöglicht.
6. Literatur in Auswahl Bachman, Lyle F. 1990 Fundamental Considerations in Language Testing. Oxford: Oxford University Press. Baldegger, Markus, Martin Müller und Günther Schneider 1980 Kontaktschwelle Deutsch als Fremdsprache. Strassburg: Langenscheidt. Bausch, Karl-Richard; Herbert Christ, Frank G. Königs und Hans-Jürgen Krumm (Hg.) 2003 Der Gemeinsame europäische Referenzrahmen für Sprachen in der Diskussion. Arbeitspapiere der 22. Frühjahreskonferenz zur Erforschung des Fremdsprachenunterrichts. Tübingen: Narr. Council of Europe 2002 Common European Framework of Reference for Languages: Learning, Teaching, Assessment: Language Examining and Test Development. Prepared under the direction of Michael Milanovic /A.L.T.E), Strasbourg: Council of Europe, Language Policy Division. Verfügbar unter http://www.coe.int/T/DG4/Portfolio/documents/Guide%20October%202002 % 20revised%20version1.doc (30. 11. 2009). Council of Europe 2009 Relating Language Examinations to the Common European Framework of Reference for Languages: Learning, Teaching, Assessment (CEF). Manual. Strasbourg: Council of
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XIV. Leistungsmessung und Leistungskontrolle Europe, Language Policy Division. Verfügbar unter http://www.coe.int/T/DG4/Portfolio/ documents/Manual%20Revision%20-%20proofread%20-%20FINAL.pdf (30. 11. 2009).
Europarat 2001 Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen für Sprachen: Lernen, lehren und beurteilen. Hrsg. vom Goethe-Institut, der KMK, der EDK und dem BMBWK. Berlin etc.: Langenscheidt. Glaboniat, Manuela 1998 Kommunikatives Testen im Bereich Deutsch als Fremdsprache. Innsbruck etc.: Studienverlag. Glaboniat, Manuela 2002 Schulnoten versus standardisierte Prüfungen ⫺ Gedanken zum Neben- und Gegeneinander schulischer und standardisierter Leistungsmessung im DaF-Bereich. In: Hans Barkowski und Renate Faistauer (Hg.): … in Sachen Deutsch als Fremdsprache, 217⫺230. Baltmannsweiler: Schneider. Glaboniat, Manuela; Martin Müller, Paul Rusch, Helen Schmitz und Lukas Wertenschlag 2005 Profile deutsch A1⫺C2 (Version 2.0). Berlin etc.: Langenscheidt. Van Ek, Jan 1975 The Threshold Level, with an appendix by L.G. Alexander. Strasbourg: Council of Europe. Weir, Cyril 1993 Understanding and Developing Language Tests. New York: Prentice Hall. Zertifikat Deutsch. Lernziele und Testformat (⫽ Lernzielkatalog) 1999 Hrsg. von Weiterbildungs- und Testsysteme GmbH, Goethe-Institut, Österreichisches Sprachdiplom Deutsch, Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren. Quellen für Prüfungen und Prüfungsanbieter (Zugriff am 30. 11. 2009) Goethe-Institut: www.goethe.de ÖSD: www.osd.at telc: www.telc.net TestDaf: www.testdaf.de DSD: www.dsd-kmk.de DSH: Informationen unter www.daad.de oder www.fadaf.de
Manuela Glaboniat, Klagenfurt (Österreich)
145. Sprachprüfungen für Deutsch als Zweitsprache
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145. Sprachprüungen ür Deutsch als Zweitsprache 1. 2. 3. 4. 5.
Einleitung Bundesrepublik Deutschland: Deutschtest für Zuwanderer (dtz ) Österreich: Test des Österreichischen Integrationsfonds (ÖIF-Test) Fazit Literatur in Auswahl
1. Einleitung Sprachprüfungen Deutsch als Fremdsprache haben eine lange Tradition. Es gibt ein Spektrum an standardisierten DaF-Prüfungen für verschiedene Zielgruppen, zu unterschiedlichen Zwecken und auf allen Niveaus des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens (GER) (vgl. Art. 144). Im Gegensatz dazu ist das Angebot an standardisierten Deutsch als Zweitsprache-Prüfungen sehr begrenzt. Allgemeines Merkmal von Zweitsprachenprüfungen ist, dass sie Sprachkompetenzen von Sprachminderheiten in einem Umfeld überprüfen, in dem die entsprechende Sprache die der Bevölkerungsmehrheit ist, und dass die Prüfungsinhalte Bezug auf dieses Umfeld nehmen. Für Zweitsprachenprüfungen sind ebenso viele Varianten denkbar wie für Fremdsprachenprüfungen, jedoch ist weltweit der zunehmend häufigere Kontext für Zweitsprachenprüfungen der Bereich der Regulierung von Zuwanderung und Einbürgerung. Viele Staaten verlangen von Zuwanderern den Nachweis von Kenntnissen in der Nationalsprache. Begründet wird dies damit, dass hinreichende Sprachkenntnisse die Chancen auf dem Arbeitsmarkt erhöhen und dass über die Sprache eine erfolgreiche Integration in die Aufnahmegesellschaft möglich ist. Oft werden Zweitsprachenprüfungen als Instrument der Zuwanderungsbeschränkung eingesetzt. Auch in den drei deutschsprachigen Ländern gelten seit einigen Jahren Zuwanderungsgesetze. In Deutschland und in Österreich wurden in diesem Kontext in öffentlichem Auftrag Prüfungen entwickelt, in der Schweiz ist eine offizielle Prüfung zum Nachweis von (deutschen) Sprachkenntnissen nicht vorgesehen.
2. Bundesrepublik Deutschland: Deutschtest ür Zuwanderer (dtz ) In der Bundesrepublik Deutschland trat am 01.01.2005 das neue Zuwanderungsgesetz in Kraft. Es schreibt vor, dass Zuwanderer zur Erteilung der Niederlassungserlaubnis u. a. Sprachkenntnisse nachweisen müssen (vgl. § 9 Zuwanderungsgesetz): „(2) Einem Ausländer ist Niederlassungserlaubnis zu erteilen, (…) wenn er über ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache verfügt.“ Als ausreichend werden Kenntnisse auf dem Niveau B1 des GER angesehen. Erworben werden können diese in so genannten Integrationskursen, die die Eingliederung von MigrantInnen in das gesellschaftliche, wirtschaftliche und kulturelle Leben der Bundesrepublik Deutschland fördern sollen (vgl. § 43 Zuwanderungsgesetz). Integrationskurse bestehen aus einem 45-stündigen Orientierungskurs und einem 600-stündigen Sprachkurs. Sie basieren auf einem eigens für die Zielgruppe der Migran-
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XIV. Leistungsmessung und Leistungskontrolle
tInnen erarbeiteten Rahmencurriculum (Buhlmann et al. 2007). Der Orientierungskurs wird mit einem Test abgeschlossen, der Sprachkurs mit dem „Deutschtest für Zuwanderer“ (dtz). Der dtz wurde im Auftrag des Bundesinnenministeriums vom Goethe-Institut (München) und der Telc GmbH (Frankfurt), einer Tochtergesellschaft des Deutschen Volkshochschulverbandes, gemeinsam entwickelt. Der dtz ist eine standardisierte skalierte Feststellungs- bzw. Kursabschlussprüfung, die zentral erstellt und dezentral an durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) autorisierten Institutionen durchgeführt wird. Die schriftlichen Prüfungsteile werden zentral (durch die Telc GmbH) ausgewertet, die mündliche Prüfung von lizenzierten PrüferInnen vor Ort durchgeführt und bewertet. Der dtz überprüft sprachliche Kompetenzen auf mehr als einem Niveau, nämlich auf den Stufen A2 und B1 des GER. Er wird in einer Variante für Erwachsene und einer für Jugendliche angeboten.
2.1. Zielgruppe der Prüung Zielgruppe des dtz sind Zuwanderer ab 16 Jahren, die die lateinische Schrift beherrschen. Die KandidatInnen haben freiwillig oder obligatorisch einen Integrationskurs besucht und schließen den Kurs mit dem dtz ab. Zugelassen sind auch MigrantInnen, die nicht an einem Kurs teilgenommen haben.
2.2. Prüungsinhalte Die Prüfungsinhalte basieren auf dem „Rahmencurriculum für Integrationskurse Deutsch als Zweitsprache“ (vgl. o.), welches an der (bundesdeutschen) Lebenswirklichkeit der Zuwanderer orientiert ist. Für das Rahmencurriculum wurden Bedarfsanalysen zur Ermittlung sprachlicher Handlungsfelder, die für MigrantInnen relevant sind, durchgeführt. Ermittelt wurden u. a. die Handlungsfelder Ämter und Behörden, Arbeit, Einkauf, Wohnen. Außerdem wurden fünf Handlungsfelder für übergreifende Kommunikationsbereiche definiert, z. B. Gestaltung sozialer Kontakte, Realisierung von Gefühlen, Haltungen und Meinungen. Auf dieser Basis wurden Lernziele formuliert, von denen ein Kernbereich für die Prüfungsinhalte relevant ist (vgl. Goethe-Institut 2009: 30 ff.), beispielsweise „Kann einfache mündliche Anleitungen verstehen, z. B. zum Gebrauch eines Gerätes“ oder „Kann schriftlichen Aufforderungen der Behörden relevante Informationen entnehmen, z. B. Fristen“.
2.3. Prüungsteile Der dtz besteht aus vier Subtests, in denen die Fertigkeiten, Hören, Lesen, Schreiben und Sprechen getrennt überprüft werden. Der Subtest Hören enthält vier Aufgaben in geschlossenen Formaten mit insgesamt 20 Items. Ziel ist es zu überprüfen, inwieweit die TestteilnehmerInnen in der Lage sind, unterschiedlichen kürzeren Hörtexten selektiv Informationen zu entnehmen. In der ersten Aufgabe werden Telefonansagen oder öffent-
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liche Lautsprecherdurchsagen präsentiert, Aufgabe zwei enthält (Kurz-)Informationen aus dem Radio, z. B. einen Wetterbericht. Grundlage der dritten Aufgabe sind vier Gespräche, zu denen jeweils zwei Aufgaben zu lösen sind. In Aufgabe vier bilden verschiedene Meinungsäußerungen zu einem Thema die Textgrundlage, z. B. obligatorischer Kindergartenbesuch. Der Subtest Hören dauert 25 Minuten. Der Subtest Lesen umfasst fünf Aufgaben in geschlossenem Format mit insgesamt 25 Items. Ziel ist es zu überprüfen, inwieweit die TestteilnehmerInnen in der Lage sind, (semi-)authentische Texte unterschiedlicher Länge global bzw. selektiv zu verstehen. Textgrundlage der ersten Aufgabe sind Verzeichnisse, z. B. Kaufhaustafeln. Die KandidatInnen sollen zeigen, dass sie sich im Text orientieren und ihm Informationen entnehmen können. In der zweiten Aufgabe werden mehrere Kurztexte präsentiert, z. B. Kleinanzeigen, denen spezifische Informationen zu entnehmen sind. In Aufgabe drei sind die KandidatInnen gefordert, Mitteilungen oder Briefe global oder detailliert zu verstehen. Die vierte Aufgabe enthält einen längeren Text, etwa einen Beipackzettel zu einem Medikament, dem selektiv Informationen oder Anweisungen entnommen werden sollen. Im fünften Teil des Subtests Lesen müssen einzelne Wörter in einem Brief ergänzt werden. In dieser Aufgabe sind Elemente von Schreibkompetenz enthalten, da die Wörter und Wortformen adressatengerecht ausgewählt werden müssen. Für den Subtest Lesen sind 45 Minuten vorgesehen. Im Subtest Schreiben werden den TeilnehmerInnen zwei Aufgaben zur Auswahl vorgelegt. Anhand von vier Leitpunkten ist eine kurze Mitteilung zu verfassen. Die KandidatInnen sollen zeigen, dass sie in der Lage sind, relativ einfache Korrespondenz auf Deutsch zu führen, etwa eine Entschuldigung für Fehlen im Sprachkurs. Der Prüfungsteil Schreiben dauert 30 Minuten. Der Subtest Sprechen findet in der Regel als Paarprüfung mit zwei PrüferInnen statt. Die KandidatInnen sollen nachweisen, dass sie in Alltagssituationen sprachlich handeln können. Dabei werden monologisches Sprechen und Interaktion gefordert. Die KandidatInnen bearbeiten drei Aufgaben, in denen unterschiedliche Sprachhandlungen zu realisieren sind. In der ersten Aufgabe sollen sie sich vorstellen und auf Fragen des Prüfers reagieren können. Aufgabe zwei fordert von den KandidatInnen, dass sie ⫺ auf der Basis von Text- oder Bildimpulsen ⫺ über Gegebenheiten im Heimatland berichten und diese mit der Situation in Deutschland vergleichen, z. B. Mülltrennung. In der dritten Aufgabe sollen die KandidatInnen gemeinsam etwas planen oder aushandeln, etwa ein Nachbarschaftsfest. Der Subtest Sprechen dauert ca. 10 Minuten pro KandidatIn.
2.4. Bestehensbedingungen Der dtz ist durch komplexe Bestehensbedingungen gekennzeichnet. Die rezeptiven Subtests Hören und Lesen werden in der Bewertung zusammengefasst. Bei einer maximalen Punktzahl von 45 Punkten wird das Ergebnis des rezeptiven Prüfungsteils als A2-Niveau gewertet, wenn 20 Punkte erreicht worden sind. Ab einer Punktzahl von 33 wird ein Prüfungsergebnis auf der Niveaustufe B1 eingeordnet. Die produktiven Prüfungsteile werden ⫺ kriteriumsorientiert ⫺ von zwei Prüfern unabhängig voneinander bewertet. Zur Bewertung des Subtests Schreiben werden die
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XIV. Leistungsmessung und Leistungskontrolle
Kriterien Vollständigkeit, kommunikative Gestaltung, Korrektheit und Wortschatz herangezogen, beim Sprechen die Kriterien Aufgabenbewältigung, Intonation/Aussprache, Flüssigkeit, Korrektheit und Wortschatz. Die Prüfer entscheiden bei jedem der qualitativen Kriterien, ob eine Prüfungsleistung dem Deskriptor für A1, A2 oder B1 zuzuordnen ist. Liegt die Mehrheit der gewählten Deskriptoren bei B1, so wird das Ergebnis des Subtests Sprechen bzw. Schreiben dem Niveau B1 zugewiesen, sonst darunter. Zum Prüfungsergebnis tragen die Subtests in unterschiedlichem Maße bei: Besonderes Gewicht kommt dem Sprechen zu. Wenn im Subtest Sprechen und in mindestens einem der schriftlichen Prüfungsteile die Stufe B1 erreicht wurde, wird die gesamte Prüfungsleistung mit B1 bewertet.
3. Österreich: Test des Österreichischen Integrationsonds (ÖIF-Test) In Österreich regelt das Bundesgesetz über die Niederlassung und den Aufenthalt in Österreich (NAG), das am 01. 01. 2006 in Kraft trat, die Zuwanderung von Menschen, die nicht aus dem EWR-Gebiet stammen (Drittstaatsangehörige). Wollen sich diese MigrantInnen dauerhaft oder längerfristig in Österreich niederlassen, müssen sie deutsche Sprachkenntnisse auf dem Niveau A2 des GER nachweisen, um „am gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben in Österreich“ (NAG § 14) teilnehmen zu können. Dieser Nachweis kann über den ÖIF-Test, der den Abschluss eines Integrationskurses (Modul 2) bildet, erbracht werden. Die Prüfung soll dabei „die Besonderheiten des Sprachenlernens von Migranten sowie deren spezifische Lernvoraussetzungen“ (BGBI.II, Absatz I.5) berücksichtigen. Beim ÖIF-Test, entwickelt vom Österreichischen Integrationsfonds, Fonds zur Integration von Flüchtlingen und Migranten, handelt es sich um eine nach einheitlichen Standards konzipierte Feststellungsprüfung. Die Testsätze werden zentral erstellt, die Prüfungen werden dezentral, an zertifizierten Instituten von zertifizierten PrüferInnen durchgeführt und ausgewertet.
3.1. Zielgruppe der Prüung Zielgruppe des ÖIF-Tests sind erwachsene MigrantInnen, die einen dauerhaften Aufenthalt in Österreich anstreben.
3.2. Prüungsinhalte Die Inhalte der Prüfung basieren auf dem Rahmencurriculum für die Deutsch-Integrationskurse und sind am Alltag der MigrantInnen („Lebensraum Österreich“) orientiert. Es werden authentische Situationen aus dem sozialen und beruflichen Alltag abgebildet (u. a. Wohnen, Arbeit, Beruf/Ausbildung, Einkauf). Die TeilnehmerInnen sind gefordert, dem A2-Niveau entsprechend situationsadäquat zu agieren und reagieren, u. a. die eigene Meinung und Bedürfnisse zu vertrauten Themen zu äußern, Auskünfte einzuholen oder
145. Sprachprüfungen für Deutsch als Zweitsprache
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zu geben. Sie sollen nachweisen, dass sie authentische Texte im Rahmen von Sprachkenntnissen auf A2-Niveau lesend verstehen und Hörtexten in deutlich artikulierter (österreichischer) Standardsprache folgen können.
3.3. Prüungsteile Der ÖIF-Test setzt sich aus vier Subtests (Modulen) zusammen, in denen die Fertigkeiten Lesen, Hören, Schreiben und Sprechen getrennt überprüft werden. Das Modul Lesen umfasst drei geschlossene Aufgaben mit insgesamt 10 Items zu unterschiedlichen Kurztexten. Ziel ist zu überprüfen, inwieweit die TestteilnehmerInnen in der Lage sind, einen Text global, selektiv bzw. detailliert zu verstehen. In den beiden ersten Aufgaben werden jeweils mehrere semi-authentische Kleinanzeigen, z. B. Mietangebote oder Stellenanzeigen, präsentiert, denen Aussagen bzw. Personenprofile zugeordnet werden sollen. Die dritte Aufgabe besteht aus einem kurzen (adaptierten) Zeitungstext zu einem Alltagsthema, z. B. Gesundheit, zu dem Mehrfachwahlaufgaben gestellt werden. Das Modul Lesen dauert 30 Minuten. Das Modul Hören enthält drei Aufgaben in unterschiedlichen Formaten (halb-offen und geschlossen). Ziel ist zu überprüfen, inwieweit die KandidatInnen in der Lage sind, einen kurzen monologischen Hörtext selektiv zu verstehen. In der ersten Höraufgabe sollen Informationen aus einer Mobilbox-Nachricht entnommen und auf einem Notizblatt notiert werden, z. B. Tag und Uhrzeit eines Arzttermins. Basis der zweiten Aufgabe ist eine mündliche Wegbeschreibung, anhand derer die Testteilnehmer den Weg in einem Stadtplan einzeichnen müssen. In der dritten Aufgabe hören die KandidatInnen vier unterschiedliche Kurzmeldungen aus dem Radio, zu denen jeweils eine Mehrfachwahlaufgabe zu lösen ist. Das Modul Hören dauert ca. 20 Minuten. Der Subtest Schreiben besteht aus zwei Aufgaben. Ziel ist es zu überprüfen, inwieweit die KandidatInnen in der Lage sind, ein einfaches Formular mit personenbezogenen Daten auszufüllen. In der ersten Aufgabe sollen fünf Lücken in einem Formular mit den persönlichen Daten des Testteilnehmers ergänzt werden. Die zweite Aufgabe fordert von den KandidatInnen, fünf Ergänzungen für eine fiktive Person in einem Formular vorzunehmen. Die zweite Schreibaufgabe ist anspruchsvoller als die erste, da sie auf zwei Texten basiert, z. B. einer Rechnung und dem dazu gehörenden Überweisungsvordruck, und ein gewisses Maß an Lesekompetenz voraussetzt. Der Subtest Schreiben dauert 20 Minuten. Das Modul Sprechen ist eine Einzelprüfung mit zwei PrüferInnen und enthält drei Aufgaben zum monologischen und dialogischen Sprechen. Ziel ist zu überprüfen, inwieweit die KandidatInnen in der Lage sind, über ihre eigene Person Auskunft zu geben und einen einfachen Alltagsdialog zu führen. Für die erste Aufgabe werden dem Prüfling Impulswörter vorgelegt (z. B. Namen, Ausbildung), anhand derer er über sich Auskunft gibt. In der zweiten Aufgabe soll der Kandidat aus drei Bildkarten, die eine Alltagssituation darstellen (z. B. im Bus), eine auswählen, die dargestellte Situation benennen und einen fiktiven Dialog führen. Die Rolle des Gesprächspartners wird dabei von einem Prüfer übernommen. Im Anschluss daran soll der Kandidat, ausgehend vom Bildimpuls, über die eigene Situation berichten. Das Modul Sprechen dauert ca. 10 Minuten.
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XIV. Leistungsmessung und Leistungskontrolle
3.4. Bestehensbedingungen Der ÖIF-Test gilt als bestanden, wenn in jedem Modul die vorgegebene Mindestpunktzahl erreicht wurde. Dabei tragen die Module in unterschiedlichem Maße zum Bestehen bei: Lesen und Schreiben wiegen weniger als Hören und Sprechen. Wird in einem Modul die Mindestpunktzahl nicht erreicht, so muss der gesamte Test wiederholt werden. Der Zielgruppe und dem A2-Niveau entsprechend wird der formalen Richtigkeit ein weit geringerer Stellenwert zugewiesen als dem erfolgreichen kommunikativen Handeln.
4. Fazit Beide Prüfungen sind vor dem Hintergrund ihrer sozialen und politischen Implikationen zu sehen. Sie wurden unter bestimmten gesetzlichen Vorgaben erstellt, finden in einem institutionellen Rahmen statt und tragen zur Regulierung von Zuwanderung bei. Damit gehören der dtz und der ÖIF-Test in die Kategorie der high stakes tests: Die Testergebnisse bilden die Basis für weitreichende Entscheidungen seitens der Ausländerbehörden. Werden in Deutschland keine Sprachkenntnisse auf B1-Niveau nachgewiesen, wird die Frist zur Erlangung der Niederlassungserlaubnis u. U. nicht verkürzt oder eine beantragte Staatsbürgerschaft wird (vorerst) nicht erteilt. Prüfungen dieser Tragweite haben hohe Anforderungen an die Testgütekriterien zu erfüllen: Sie sollen objektiv, reliabel, valide, aber auch ökonomisch, fair und transparent sein. Die an der Entwicklung des dtz beteiligten Institutionen, beide Mitglied der Association of Language Testers in Europe (ALTE), bekennen sich explizit zum ALTE Code of Practice, in dem Qualitätsstandards von Sprachtests und deren Entwicklung niedergelegt sind, zu deren Einhaltung sich die ALTE-Mitglieder verpflichten. Der Österreichische Integrationsfonds ist kein ALTE-Mitglied, jedoch ist auch hier ein Bemühen zu erkennen, Qualitätsstandards zu erfüllen. Der ÖIF-Test ist aufgrund der geschlossenen Aufgabenformate in den rezeptiven Teilen als ökonomisch und auswertungsobjektiv zu bezeichnen. Die stark gesteuerten Aufgaben in den produktiven Teilen, die ausführlichen Durchführungs- und Auswertungsanleitungen sowie die genauen Bewertungskriterien fördern die Auswertungsobjektivität in den produktiven Testteilen. Für beide Prüfungen sind die Anforderungen klar definiert und dokumentiert. Modellsätze und die Rahmencurricula sind öffentlich zugänglich. Damit sind auch die Anforderungen hinsichtlich der Transparenz erfüllt (zur kritischen Diskussion vgl. Art. 10, Abschnitt 5).
5. Literatur in Auswahl Buhlmann, Rosemarie, Karin Ende, Susan Kaufmann, Angela Kilimann und Helen Schmitz 2007 Rahmencurriculum für Integrationskurse Deutsch als Zweitsprache. München: Goethe-Institut. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Goethe-Institut, Telc 2009 Deutschtest für Zuwanderer. Modellsatz Jugendintegrationskurs. München: Goethe-Institut.
146. Sprachstandsdiagnosen
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Bundesgesetz über die Niederlassung und den Aufenthalt in Österreich (NAG). Bundesgesetzblatt für die Republik Österreich, BGBI.I Nr. 100/2005 geändert durch BGBI.I Nr. 157/2005, BGBI.I Nr. 31/2006 und BGBI.I Nr. 99/2006. Bundesgesetzblatt für die Republik Österreich. Jahrgang 2005. Teil II. Ausgegeben am 27. Dezember 2005. Nr. 449. Integrationsvereinbarungs-Verordnung ⫺ IV⫺V. Bundesrepublik Deutschland Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern (Zuwanderergesetz) vom 30. Juli 2004. Bundesgesetzblatt Jahrgang 2004. Teil I Nr. 41, herausgegeben zu Bonn am 5. August 2004. Europarat 2001 Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen für Sprachen: Lehren, lernen, beurteilen. Berlin/München: Langenscheidt. Goethe-Institut/Telc GmbH 2009 Deutschtest für Zuwanderer A2⫺B1. Prüfungsziele, Testbeschreibung. München: GoetheInstitut. Österreichischer Integrationsfonds 2006 ÖIF Modelltest. Kommentierter Modelltest 001. Wien. Österreichischer Integrationsfonds 2006 Testcurriculum. ÖIF-Test. Wien. Schweizerische Eidgenossenschaft 2009 SR 142.20 Bundesgesetz über die Ausländerinnen und Ausländer vom 16. Dezember 2005 (Stand 1. Januar 2009). Link Association of Language Testers in Europe (ALTE): http://www.alte.org/cop/index.php (30. 11. 2009)
Gabriele Kniffka, Freiburg (Deutschland)
146. Sprachstandsdiagnosen 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Sprachdiagnostik: Stellenwert in Wissenschaft und Praxis Sprachdiagnostik im bildungspolitischen Kontext Anforderungen an die Qualität von Sprachdiagnostik Szenarien der Sprachdiagnostik und Anforderungen an die dabei eingesetzten Verfahren Fazit Literatur in Auswahl
1. Sprachdiagnostik: Stellenwert in Wissenschat und Praxis Sprachdiagnostische Tätigkeiten ⫺ also das Beobachten, Interpretieren und Bewerten von sprachlichen Fähigkeiten, Leistungen oder Entwicklungen ⫺ machen einen beträchtlichen Teil der Lehrarbeit aus. Sie werden begleitend zur alltäglichen Unterrichtsroutine
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XIV. Leistungsmessung und Leistungskontrolle
ausgeführt, und sie finden im Rahmen von expliziten, oft ritualisierten Momenten des Lehr-Lern-Prozesses statt: bei der Einteilung von Lernenden in Gruppen oder zum Abschluss eines Lehrgangs. Dabei ist man auf das Ermitteln und Interpretieren von Indizien (Indikatoren) angewiesen, um ein Urteil abzugeben: Sprachfähigkeit oder Leistung ist nicht messbar wie Größe, Gewicht oder Geschwindigkeit, sondern es muss von beobachteten Phänomenen auf eine ihnen zugrundeliegende allgemeinere Kompetenz geschlossen werden. Die hohe Praxisbedeutung sprachdiagnostischer Tätigkeiten korrespondiert weder mit einer entsprechend regen Forschung noch mit einer gründlichen Qualifizierung des pädagogischen Personals für die diagnostischen Tätigkeiten. Entwicklungen in den 1970er und 1980er Jahren, hauptsächlich im Kontext der Einschätzung von Deutschkenntnissen zugewanderter Kinder und Jugendlicher, kamen weitgehend zum Erliegen, bis nach der Wende zum 21. Jahrhundert die Aufmerksamkeit für das Thema wieder wuchs ⫺ erneut im Kontext von Migration. In der Ausbildung zum Lehramt wird der Bereich der Sprachdiagnostik im Allgemeinen nach wie vor nur gestreift. Wie kommt es zu dieser Diskrepanz zwischen praktischer Relevanz und wissenschaftlicher Aufmerksamkeit sowie angemessener Qualifikation für die praktischen Tätigkeiten? Zu den Gründen dafür gehört, dass der Bereich der Sprachdiagnostik, einschließlich der Entwicklung der dafür geeigneten Instrumente, traditionell in der Sprachdidaktik und Sprachlehrforschung eher randständig ist. Für den Bereich des fremdsprachlichen Lernens wird die Notwendigkeit, wissenschaftlichen Standards standhaltende Instrumente zur routinemäßigen Überprüfung von Lernprozessen und -Ergebnissen einzusetzen, vielfach nicht gesehen: Die sogenannte Lernzielkontrolle wird gleichsam als dem, was gelehrt wurde, immanent aufgefasst. So werden etwa die Kontroll-Tests zu Lehrbuchlektionen vielfach in den Handreichungen für Lehrende mitgeliefert. Für die Überprüfung fremdsprachlicher Leistungen, die nicht zur Routine des Unterrichtsalltags gehört, hat sich eine Tradition der (semi-)kommerziellen Entwicklung und Verbreitung von Tests etabliert. Ein Beispiel dafür ist die Produktion von Sprachtests und Zertifikaten im Anschluss an den „Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen“, wie sie u. a. von den Goethe-Instituten und ihren internationalen Pendants betrieben werden. Die Expertinnen und Experten für die Entwicklung von Tests für Zertifizierungszwecke haben sich zu einer spezialisierten Vereinigung ALTE ⫺ The Association of Language Testers in Europe zusammengeschlossen, zu deren Zielen die Verbesserung und Sicherung von Standards für die Sprachtestentwicklung gehört, die für die Zertifizierung von Sprachkenntnissen verwendet werden (http://www.alte.org/). Hierneben hat sich ein zweiter Bereich der spezialisierten Beschäftigung mit Sprachdiagnostik in der Spracherwerbsforschung etabliert. Hier werden in der Regel wissenschaftliche Ziele der Beobachtung von Sprachentwicklungsverläufen verfolgt. Die darauf bezogenen Instrumente werden üblicherweise nicht mit der Intention einer Praxisrelevanz entwickelt. Eine Ausnahme hiervon bildet die Ermittlung von Störungen in der kindlichen Sprachentwicklung. Hierfür liegen wissenschaftlich geprüfte, standardisierte Tests vor, die von dafür speziell qualifiziertem Personal in Praxiskontexten eingesetzt und ausgewertet werden können. Zu den bekanntesten Instrumenten für das Deutsche gehört der „Heidelberger Sprachentwicklungstest ⫺ HSET“ (vgl. Grimm und Schöler 21991: 129). Mit Instrumenten wie diesen ist es möglich, eine auf spezifische, eng umgrenzte Aspekte konzentrierte Diagnostik durchzuführen ⫺ wie beispielsweise die Überprüfung des Vorliegens einer Entwicklungsstörung. Sie eignen sich nicht für den Einsatz im üblichen
146. Sprachstandsdiagnosen
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Lehr-Lern-Kontext, in dem es nicht um das Überprüfen spezieller, klar eingegrenzter sprachlicher Phänomene geht, sondern um eine Diagnostik, die die komplexen LehrLern-Prozesse von Sprache(n) unterstützt.
2. Sprachdiagnostik im bildungspolitischen Kontext Die Entwicklung sprachdiagnostischer Verfahren, die für die Unterstützung im LehrLern-Prozess geeignet sind, ist stärker im Bereich Deutsch als Zweitsprache verankert als im Bereich Deutsch als Fremdsprache. Dies ist aufgrund der Kontextbedingungen, in die die Bereiche eingebettet sind, auch leicht nachvollziehbar. Während für das fremdsprachliche Lernen vom Regelfall des kontrollierten sprachlichen Inputs durch Unterricht ausgegangen wird ⫺ auch wenn dies der Realität nur bedingt entspricht ⫺, war bei der Konzeptionierung des zweitsprachlichen Lehrens und Lernens von vornherein die Vorstellung leitend, dass unterrichtlich geleiteter und außerunterrichtlicher, ungezielter sprachlicher Input zusammenkommen. Sprachstand und Sprachentwicklung am Lernenden selbst zu beobachten war naheliegend oder geboten, da es beim Unterrichten ⫺ mindestens den Konzeptionen nach ⫺ darum gehen musste, den ungesteuerten und den durch Unterricht gesteuerten Spracherwerb miteinander in Einklang zu bringen. Trotz dieser Notwendigkeit in der Sache war es eine Zeit lang relativ still um die Entwicklung sprachdiagnostischer Verfahren im Kontext des Deutschen als Zweitsprache. Seit Anfang der 2000er Jahre aber ist ein wahrer Entwicklungseifer zu beobachten. Ausschlaggebend dafür war, dass die Forderung nach verstärkten Maßnahmen der Förderung des Deutschen als Zweitsprache im Anschluss an die Ergebnisse der PISA-Studien auf die Tagesordnung kam. Seit der Studie PISA 2000 wurden zwei sprachbildungsrelevante Ergebnisse breit diskutiert: zum einen der hohe Stellenwert von Sprachfähigkeiten für das schulische Lernen generell; zum anderen der große Nachteil, den Schülerinnen und Schüler mit Migrationsbiographie, die das Deutsche als Zweitsprache lernen, in allen deutschsprachigen Staaten für ihre Bildungschancen besitzen. Zum Ausgleich dieses Nachteils wurden in Deutschland, Österreich und der deutschsprachigen Schweiz Maßnahmen zur Förderung der Deutschkenntnisse etabliert, und zwar im Schwerpunkt im vorschulischen Bildungsraum. Hierhinter steht das ⫺ allerdings unzutreffende ⫺ Verständnis, dass die Frühförderung des Deutschen als Zweitsprache die sprachlichen Bildungsvoraussetzungen so verbessere, dass eine weitere Förderung an der Bildungskarriere entlang überflüssig werde (zur Kritik dieses Verständnisses, vgl. Gogolin 2007). Die Entwicklung sprachdiagnostischer Verfahren war eine Folge dieser Ereignisse: Es wurde bildungspolitisch die Notwendigkeit gesehen, Entscheidungshilfen dafür zu erhalten, ob ein Kind einen Anspruch auf Aufnahme in eine (Früh-)Fördermaßnahme erhalten sollte oder nicht. In einigen deutschen Bundesländern wurde der Anspruch in eine Verpflichtung uminterpretiert: Hier sollte mit Hilfe von Sprachstandsmessungen ermittelt werden, ob Kinder aufgrund unzureichender Deutschkenntnisse vor Schuleintritt ⫺ spätestens im fünften Lebensjahr ⫺ eine Maßnahme der Deutschförderung besuchen müssen. Vor diesem Hintergrund kam es vor allem in Deutschland zu sprachdiagnostischen Entwicklungen in bildungspolitischem Auftrag; ein sehr bekannt gewordenes Beispiel hierfür ist das im Land Nordrhein-Westfalen eingesetzte Verfahren „Delfin 4“, mit dem seit 2007 jährlich eine flächendeckende Untersuchung der Deutschkenntnisse der vierjäh-
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XIV. Leistungsmessung und Leistungskontrolle
rigen Landeskinder durchgeführt wird, um „Förderbedürftige“ zu ermitteln und den Fördermaßnahmen zuzuführen (vgl. Fried 2009). Parallel zu diesen bildungspolitischen Auftragsarbeiten entfalteten sich verstärkt wissenschaftliche Aktivitäten, die darum bemüht sind, gesicherte Grundlagen für die Entwicklung von sprachdiagnostischen Verfahren zu gewinnen und Standards für ihre Qualität zu formulieren. Der Stand der Dinge mit Bezug auf das Deutsche wurde in einem umfassenden Gutachten dokumentiert, in dem neben Übersichten über vorhandene Verfahren und deren Einschätzung ein Referenzmodell für Phasen des Sprachausbaus vorgestellt wird, das der künftigen Entwicklung sprachdiagnostischer Verfahren zugrunde gelegt werden kann; allerdings steht eine empirische Absicherung dieses Modells noch aus (Ehlich 2005). Kennzeichnend für diese grundlegende Arbeit ebenso wie für andere jüngere Entwicklungen ist, dass der Blick nicht nur auf die Lernenden des Deutschen als Zweitsprache gerichtet wird, sondern auch auf jene, die einsprachig im Deutschen leben. Dahinter steht die Vermutung, dass eine zunehmende Zahl einsprachig lebender Kinder kein sprachanregungsreiches Milieu erlebt, so dass auch sie Schwierigkeiten haben, schulischen Sprachanforderungen gerecht zu werden. Allerdings zeigt der Beitrag von Reich (2005) im erwähnten Band klar auf, dass Verfahren unterschiedliche Anforderungen erfüllen müssen ⫺ je nachdem, ob sie bei einsprachigen oder bei zwei- bzw. mehrsprachigen Kindern eingesetzt werden.
3. Anorderungen an die Qualität von Sprachdiagnostik Das Problem der Qualität von Verfahren der Sprachdiagnostik, das direkt mit ihrer Aussagekraft verbunden ist, wird in der Bildungspraxis oft unterschätzt. Hier ist es üblich, zwischen sogenannten formellen und informellen Verfahren der Diagnostik zu unterscheiden. Mit informell werden Vorgehensweisen bezeichnet, die meist mehr oder weniger spontan entwickelt und eingesetzt werden. Bei diesen ist weder daran gedacht noch praktisch möglich, eine Güteprüfung vorzunehmen. Ohne solche Prüfung aber ist die Aussagekraft der erzielten Ergebnisse ungesichert. Man erhält zwar ein Resultat, aber es gibt keine fundierten Anhaltspunkte für Antworten auf die Frage, was genau dieses Resultat eigentlich bedeutet ⫺ anders gesagt: Man erzeugt die Illusion einer relevanten Information über den Sprachstand einer lernenden Person. Als formelle Verfahren werden solche aufgefasst, deren Güte in angemessener Weise kontrolliert wurde und die sich zum wiederholten Einsatz eignen. Sie werden deshalb auch als standardisierte Verfahren bezeichnet; damit ist angezeigt, dass sie in einer Form vorliegen, die ihren wiederholten (standardmäßigen) Einsatz erlaubt. Üblich ist es im pädagogischen Alltagsjargon, beide Typen von Verfahren auch als Tests zu etikettieren. Dies ist nicht angemessen. Mit dem Begriff Test verbinden sich Ansprüche an eine Güteprüfung, die nicht hintergangen werden dürfen. Die wissenschaftliche Güteprüfung eines sprachdiagnostischen Verfahrens nach den Regeln der Kunst verbindet sich traditionell mit der Überprüfung von drei hierarchischen Anforderungsbereichen: Objektivität; Reliabilität und Validität (vgl. Artikel 143). Sprachdiagnostische Verfahren gehören zu der größeren Klasse der Verfahren zur Kompetenzfeststellung (vgl. Prenzel, Gogolin und Krüger 2008). Bei ihrer Konstruktion ist es erforderlich, vorweg genau zu bestimmen, an welcher Bezugsnorm das Ergebnis gemessen werden soll. Hier gibt es drei Möglichkeiten:
146. Sprachstandsdiagnosen
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⫺ eine soziale Norm; sie erlaubt den Vergleich des Resultats mit den Resultaten der Angehörigen einer definierten Gruppe (also z. B. einer Schulklasse); ⫺ eine kriteriale Norm; hier wird der Vergleich mit einem allgemeingültigen Kriterium ermöglicht (also z. B. einer empirisch geprüften Auskunft darüber, über welche Sprachfähigkeiten Kinder einer bestimmten Altersgruppe normalerweise verfügen); ⫺ eine ipsative Norm; hier geht es um den Vergleich von Resultaten einer Person, die entweder zu verschiedenen Zeitpunkten oder zu verschiedenen Kompetenzbereichen überprüft wird. Es kann also entweder um die Frage gehen, welche Entwicklungen bei dieser Person im gemessenen Leistungsbereich über eine Zeitspanne hinweg verzeichnet werden können, oder darum, ob eine Person in den Leistungsbereichen X und Y ähnlich oder unterschiedlich abschneidet. Sprachdiagnostisch relevante Fragen sind z. B., ob eine Person im rezeptiven Bereich, also beim Verstehen, andere Fähigkeiten zeigt als im Produktiven, also bei Sprechen oder Schreiben. Nicht nur aus formalen, sondern auch aus inhaltlichen Gründen sind sog. informelle Verfahren in der Regel ungeeignet für fundierte Aussagen über Sprachstand oder Sprachentwicklung eines Menschen ⫺ mit Ausnahme der Situation, in der die Überprüfung genau identisch ist mit dem sprachlichen Input, der vorab gegeben wurde (also z. B. beim Abfragen von Vokabeln; dies würde aber auch bei großzügiger Auslegung üblicherweise nicht zur Sprachdiagnostik gerechnet). Zu den Gründen dafür gehört die Komplexität des Geschehens bei der Diagnose sprachlicher Fähigkeiten. Wenn die Verfahren nicht nach den Regeln der Kunst entwickelt sind, besteht zum einen die Gefahr, dass etwas überprüft wird, das mit Blick auf die intendierte Zielsetzung der Prüfung irrelevant ist. Ein Beispiel hierfür ist das in der Praxis oft beobachtbare Vorgehen, dass das Auftauchen spezieller sprachlicher Formen ⫺ etwa Artikel oder Pronomen ⫺ kontrolliert wird, weil diese der Beobachtung leicht zugänglich sind. Dabei wird die Relevanz der Verwendung dieser Formen für Aussagen über Sprachkompetenz oft unterstellt, aber weder sichergestellt, dass sie für die Sprachentwicklung in einem bestimmten Erwerbsalter auch tatsächlich gegeben ist, noch hinterfragt, ob sie in bestimmten situativen Kontexten als Äußerungen überhaupt erwartet werden können. Zum anderen besteht bei sog. informellen Verfahren die Gefahr, dass die Aufgabe, sprachliche Phänomene zu identifizieren und richtig einzuschätzen, zu vielschichtig und daher nicht angemessen bewältigbar ist. Beispiele hierfür bieten die zahlreichen Beobachtungsverfahren, die in der Literatur beschrieben oder die zum Kauf angeboten werden. Hier ist das Risiko hoch, dass das komplexe Sprachgeschehen, das beobachtet werden soll, verzerrt wahrgenommen wird, weil die Beobachtungsaufgabe selbst die Kompetenz der Beobachtenden übersteigt. Schulz, Kersten und Kleissendorf (2009) diskutieren solche Verzerrungen am Beispiel des Beobachtungsverfahrens SISMIK (Ulich und Mayr 2003) ⫺ eines Verfahrens, das von Erzieherinnen in Kindertagesstätten eingesetzt werden soll. Zur Illustration dient eine Beispielaufgabe aus dem Fragebogen zu SISMIK: „Im Hauptsatz steht das Verb an der richtigen Stelle, z. B. ,der macht immer so‘, ,… ich habe Durst‘, ,… ich muss (auf die) Toilette‘ a) nie, b) selten, c) manchmal, d) häufig, e) das Kind bildet keine Sätze.“ Schulz, Kersten und Kleissendorf weisen darauf hin, dass es nicht nur eines gründlichen Wissens über den linguistischen Hintergrund solcher Äußerungen bedarf ⫺ etwa: eines
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XIV. Leistungsmessung und Leistungskontrolle
Bewusstseins für die Differenz der Verbstellung in Haupt- und Nebensätzen ⫺, sondern auch einer gezielten Quantifizierung von Situationen, in denen ein beobachtetes Kind entsprechende Äußerungen potentiell tun kann; ohne diese ist die Aufforderung zur Einschätzung der Häufigkeit des Vorkommens unsinnig (vgl. Schulz, Kersten und Kleissendorf 2009: 130). Hinzu kommt, dass die dieser Beobachtungsaufgabe implizite kriteriale Norm fragwürdig ist. Die Beobachtung soll dem mündlichen Sprachverhalten von Kindern gelten. Im Mündlichen ist es aber (nicht nur bei Kindern) durchaus üblich, pragmatisch angemessene satzförmige Äußerungen ohne Verb zu formulieren oder das Verb in einer quasi infinitivischen Form zu verwenden. Schulz, Kersten und Kleissendorf (2009: 129) nennen als Beispiel die Verwendung des Imperativstils: Die Aufforderung „Reinkommen, Jacke ausziehen“ als Äußerung einer Lehrerin, die Kinder bewegen will, vom Pausenhof in die Klasse zu kommen, ist dem Kontext angemessen und in diesem Sinne korrekt. In sprachdiagnostischen Beobachtungen und unzulänglichen Verfahren aber wird nicht selten eine pragmatisch unangemessene Form als die gesuchte angenommen. Eine übliche Testfrage könnte etwa lauten: „Was macht das Kind?“ Als „korrekt“ vorgegeben wird eine Antwort des Typs: „(Das Kind / Es) zieht die Jacke aus“. Pragmatisch angemessen und im Mündlichen geläufig wäre aber auch hier die Antwort: „Jacke ausziehen“. Es sind mithin zahlreiche Stolpersteine aufgestellt, was die Qualität von sprachdiagnostischen Verfahren und die Aussagekraft ihrer Ergebnisse anbelangt. In der Praxis benötigen Fachkräfte, die sie einsetzen, nicht nur fundiertes linguistisches Wissen, sondern darüber hinaus zumindest Grundkenntnisse der Psychometrie ⫺ also des Wissenschaftsbereichs, dessen Methodenrepertoire für die Güteprüfung relevant ist ⫺, damit es nicht zu unbrauchbaren oder gar unsinnigen Resultaten der Sprachdiagnostik kommt.
4. Szenarien der Sprachdiagnostik und Anorderungen an die dabei eingesetzten Verahren Der angemessene Einsatz von Verfahren der Sprachdiagnostik in der Praxis ist also von der Güte der Verfahren ebenso wie von der Qualifikation der sie einsetzenden Fachkräfte abhängig. Da das Thema in der Ausbildung bislang randständig ist, wird es vor allem auf breit angelegte Weiterbildung ankommen, um den Bedarf der Praxis zu decken. Entsprechende Aktivitäten sind vorerst vor allem im Bereich der Qualifizierung für den Elementarbereich zu finden; hier folgen die Angebote den bildungspolitischen Prioritätensetzungen (vgl. als Beispiele Jampert et al. 2009; Reich 2008). Eine Hilfestellung für die Praxis sind Szenarien des Einsatzes von Verfahren, in denen die jeweilige Eignung der sprachdiagnostischen Verfahren angezeigt wird.
Szenario 1: Screening Unter Screening (Reihenuntersuchung) versteht man die Testung einer größeren Zahl von Probanden mit dem Ziel, bestimmte Risiken abzuschätzen. Am bekanntesten sind Screenings aus der Medizin: Hier werden sie eingesetzt, um Krankheiten frühzeitig zu diagnostizieren oder Krankheitsrisiken zu ermitteln.
146. Sprachstandsdiagnosen
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Im Bereich der Sprachdiagnostik ist der Begriff Screening im Zusammenhang mit den bildungspolitischen Aktivitäten populär geworden, die dazu führen sollen, dass Kinder ⫺ insbesondere mit Migrationsbiographie ⫺ möglichst frühzeitig in Sprachfördermaßnahmen aufgenommen werden. In den meisten deutschen Bundesländern werden inzwischen bei Vier- oder spätestens Fünfjährigen solche Verfahren durchgeführt, teilweise flächendeckend, teilweise nur bei ausgewählten sogenannten Risikogruppen. Ein öffentlich breit und kontrovers diskutiertes Screening-Verfahren ist das erwähnte nordrhein-westfälische „Delfin 4“. Kennzeichnend für Screenings ist, dass sie zu einer ja- oder nein-Antwort führen müssen: etwa zu der Aussage, ob Förderbedarf besteht oder nicht. Sie müssen ferner sehr ökonomisch, d. h. ohne großen Zeitaufwand durchführbar und auswertbar sein, da es in der Regel um den Einsatz bei größeren Gruppen geht. Voraussetzung für ihren Einsatz ist, dass sie standardisiert und normiert sind ⫺ sie müssen also eine den Regeln der Kunst gemäße Güteprüfung durchlaufen haben, und sie müssen die Norm, an der gemessen ein Risiko oder eine Abweichung identifiziert wird, eindeutig erklären. Der Vorzug von Verfahren für Screenings ⫺ vorausgesetzt, sie erfüllen die Qualitätsanforderungen ⫺ besteht darin, rasch zu einem begründeten Urteil zu kommen: Die Werte eines Probanden liegen über oder unter einer festgelegten Grenze oder Norm. Dieser Vorzug ist zugleich ihr Nachteil mit Blick auf den Einsatz im Kontext der Sprachförderung, sei es im Unterricht von Gruppen oder im Einzelfall. Die mit screening-geeigneten Verfahren verbundenen Ansprüche erlauben es nicht, differenziert über die Sprachfähigkeiten der Getesteten Auskunft zu geben; dem stehen die Wünsche nach zeitsparendem Einsatz und Eindeutigkeit der Ergebnisformulierung entgegen. Eindeutigkeit wird dadurch erreicht, dass ein zusammenfassendes Maß formuliert wird (z. B. 30 von 100 Punkten ⫽ Förderbedarf). Darin aber gehen die differenzierten Auskünfte über die vom Getesteten aktualisierten sprachlichen Mittel verloren, an die bei der Förderung oder im Unterricht angeknüpft werden kann.
Szenario 2: Diagnostik als Grundlage der Förder- oder Unterrichtsplanung ür Deutsch als Zweitsprache Bei der Sprachdiagnostik, die der Gestaltung von Förderung oder Unterricht zugrunde gelegt werden kann, ist es das Ziel, möglichst genaue Kenntnisse über die sprachlichen Voraussetzungen zu erlangen, die Lernende für das, was gelehrt werden soll, mitbringen. Es soll sich ein Bild von den spezifischen Eigenschaften ergeben, die das sprachliche Wissen und Können des Probanden in einem gegebenen Augenblick und im Hinblick auf ein Ziel mitbringen. Sprachdiagnostik mit diesem Zweck wird auch als pädagogische Diagnostik oder Förderdiagnostik bezeichnet. Im Kontext des Deutschen als Zweitsprache ist Bestandsaufnahme der sprachlichen Fähigkeiten am Anfang einer Maßnahme ein verbreiteter Fall, also z. B. bei Aufnahme in einen Kindergarten oder eine Schulklasse. Je allgemeiner das Förder- oder Unterrichtsziel gehalten ist, desto breiter muss die Auskunft sein, die sich durch ein Verfahren gewinnen lässt. Sprachliches Wissen und Können umfasst verschiedene sprachliche Teilbereiche; sprachwissenschaftlich unterschieden werden die Bereiche der Lautung (Phonologie), der Bedeutung (Semantik), der Wortbildung (Morphologie) und der Bildung von Satzstrukturen (Syntax). Um eine Aus-
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XIV. Leistungsmessung und Leistungskontrolle
kunft über die Sprachfähigkeiten eines Getesteten zu erlangen, müsste aus jedem dieser Bereiche ein repräsentativer Ausschnitt abgeprüft werden. Zudem ist nach dem situativen Charakter einer Sprachverwendung zu differenzieren. So ist es unangemessen, eine Norm des Schriftdeutschen anzulegen, wenn die Fähigkeit zur mündlichen Sprachproduktion überprüft werden soll. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass die verschiedenen sprachlichen Teilbereiche nicht unbedingt füreinander repräsentativ sind. So kann etwa von der Sprachverstehensleistung eines Getesteten nicht auf seine Fähigkeit zur Sprachproduktion geschlossen werden und umgekehrt. Für schulische Erfolgschancen besonders relevant ist es, dass von der Beherrschung eines sprachlichen Registers nicht auf andere Register geschlossen werden kann. Das Verfügen über alltägliche Verständigungsfähigkeit ist z. B. nicht aussagekräftig im Hinblick auf die Frage, ob ein Lernender die spezifischen Redemittel der schulischen Lernbereiche oder Fächer, also „bildungssprachliche“ Fähigkeiten, besitzt (Gogolin 2006). Die Komplexität des Sprachgeschehens und die linguistische Expertise, die für seine Einschätzung erforderlich sind, lassen es ratsam erscheinen, in ihrer Qualität geprüfte Verfahren, deren Reichweite genau benannt ist, bei der Sprachdiagnostik im Kontext von Förder- oder Unterrichtsplanung einzusetzen. Der Vorzug dieser Verfahren ist es, dass eine wohlfundierte Interpretation der Ergebnisse und Einschätzung ihrer Aussagekraft möglich ist. Als Nachteil kann angesehen werden, dass ihre Durchführung mit einigem Zeitaufwand verbunden ist. ⫺ Bedauerlicherweise ist die Auswahl an solchen Verfahren nicht groß: Zwar existiert eine große Menge an Angeboten, aber nur ein kleiner Teil der Instrumente hat angemessene Güteprüfungen durchlaufen (vgl. Übersicht über den Stand der Entwicklung bei Lengyel, Reich, Roth und Döll 2009). Bei der Auswahl eines Verfahrens zum Deutschen als Zweitsprache ist es ein Qualitätskriterium, ob bei der zugrunde gelegten Norm angemessen berücksichtigt ist, dass sich die Spracherwerbskonstellationen einsprachiger und zweisprachiger Getesteter grundlegend unterscheiden. Schulz, Kersten und Kleissendorf (2009: 133⫺134) machen auf den wichtigen Aspekt der Dauer des Sprachkontakts aufmerksam, der bei der Interpretation von Diagnoseergebnissen zu beachten ist. Für Lerner des Deutschen als Zweitsprache ist es nicht angemessen, eine an einsprachigen Lernenden entwickelte Altersnorm als Maßstab zu verwenden; vielmehr muss die Dauer der Kontaktzeit mit der Zweitsprache berücksichtigt werden.
Szenario 3: Diagnostik zum Zwecke grundlegender Aussagen über die Sprachkompetenz Zweisprachiger Ein weiterer Gesichtspunkt bei der Auswahl eines Verfahrens ist die Zweisprachigkeit selbst: Wenn es das Ziel einer Diagnose ist, grundlegende Aussagen über die generelle Sprachfähigkeit der Probranden zu treffen, ist es erforderlich, dass beide Sprachen in die Prüfung einbezogen werden (vgl. hierzu Reich 2005). Spracherwerbstheoretische Erkenntnisse besagen, dass die Sprachfähigkeiten Zwei- oder Mehrsprachiger nicht als voneinander getrennte Systeme aufzufassen sind. Vielmehr stehen sie miteinander in Kontakt, und es besteht die Wahrscheinlichkeit, dass sie einander wechselseitig beeinflussen. So muss ein zweisprachiger Mensch nur einmal das grundlegende Konzept der Zeit erwerben ⫺ also beispielsweise das Wissen darüber, dass man etwas als in der Vergangenheit, der Gegenwart oder der Zukunft geschehend ausdrücken kann. Bei weiteren Spra-
146. Sprachstandsdiagnosen
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chen muss dann nicht mehr das Konzept als solches erworben werden, sondern es geht lediglich noch um die einzelsprachlich unterschiedlichen Weisen, das Konzept zum Ausdruck zu bringen (Tracy 2007). Um also Grundlegendes über die Sprachkompetenz Zweisprachiger zu erfahren, ist es notwendig, ihre Fähigkeiten in beiden Sprachen vergleichend zu beurteilen. Auch hierbei sollten nach den Regeln der Kunst geprüfte Instrumente zum Einsatz kommen, bei deren Entwicklung berücksichtigt wurde, dass in beiden Sprachen einander funktionale Äquivalente überprüft werden. Bei der Güteprüfung der Verfahren ist zudem das Problem der angemessenen Normierung zu berücksichtigen. Für beide Sprachen gilt: Ein Verfahren, das an einer einsprachig in einsprachigem Kontext lebenden Stichprobe normiert worden ist, ist für den Einsatz bei Kindern, die dieselbe Sprache als Zweisprachige in einer mehrsprachigen Umgebung erlernen, ungeeignet. Diese Qualitätsansprüche erfüllen im deutschsprachigen Raum bis dato nur einzelne Verfahren (vgl. Reich, Roth und Neumann 2007). Hier besteht eine besonders empfindliche Lücke in Forschung und Entwicklung.
5. Fazit Sprachdiagnostische Tätigkeiten erfordern ein vertieftes Wissen über linguistische Zusammenhänge ⫺ etwa über Gesetzmäßigkeiten des Spracherwerbs, über die Gestalt der Sprache selbst, über die Vielfalt, die Funktionsweisen und die Bedeutung der unterschiedlichen Register für Sprachaneignung und Sprachgebrauch. Hierfür müssen Pädagoginnen und Pädagogen gründlich qualifiziert werden. Dies gilt auch für den Fall, dass in ihrer Qualität geprüfte Instrumente zur Verfügung stehen, die bei der sprachdiagnostischen Tätigkeit Hilfestellung leisten. Die Einschätzung der Angemessenheit für einen gegebenen Einsatzzweck, die adäquate Durchführung, Auswertung und Interpretation der Ergebnisse sind nur möglich, wenn hierfür profunde Kenntnisse mitgebracht werden. Die vielfach an sprachdiagnostische Verfahren geknüpfte Erwartung, dass sie ohne weiteres von nur oberflächlich qualifizierten Personen sinnvoll eingesetzt werden können, ist nicht erfüllbar ⫺ ebenso wenig wie die Erwartung, mittels ungeprüfter (informeller) Verfahren, deren Einsatz wenig Zeit und Aufwand kostet, verlässliche sprachdiagnostische Ergebnisse zu erzielen. Es sind also erhebliche Investitionen zu leisten, bis davon gesprochen werden kann, dass im sprachdiagnostischen Feld ein zufriedenstellender Stand erreicht ist.
6. Literatur in Auswahl Ehlich, Konrad 2005 Anforderungen an Verfahren der regelmäßigen Sprachstandsfeststellung als Grundlage für die frühe und individuelle Förderung von Kindern mit und ohne Migrationshintergrund. Bonn: Bundesministerium für Bildung und Forschung. Fried, Lilian 2009 Sprachkompetenzmodell Delfin 4. Testmanual. Dortmund: Technische Universität; auch unter http://www.delfin4.fb12.uni-dortmund.de/; Juli 2009.
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XIV. Leistungsmessung und Leistungskontrolle
Gogolin, Ingrid 2006 Bilingualität und die Bildungssprache der Schule. In: Paul Mecheril und Thomas Quehl (Hg.), Die Macht der Sprachen. Englische Perspektiven auf die mehrsprachige Schule, 79⫺ 85. Münster etc: Waxmann. Gogolin, Ingrid 2007 Institutionelle Übergänge als Schlüsselsituationen für mehrsprachige Kinder. Expertise für das Deutsche Jugendinstitut. Hamburg: Universität Hamburg. Grimm, Hannelore und Hermann Schöler 2 1991 Heidelberger Sprachentwicklungstest HSET. Göttingen: Hogrefe; auch unter http://www. testzentrale.de/?id⫽1&mod⫽detail; Juli 2009. Jampert, Karin, Anne Zehnbauer, Petra Best, Andrea Sens, Kerstin Leuckefeld und Mechthild Laier (Hg.) 2009 Kinder-Sprache stärken! Sprachliche Förderung in der Kita: das Praxismaterial. Weimar/ Berlin: Verlag das Netz. Lengyel, Drorit, Hans H. Reich, Hans-Joachim Roth und Marion Döll (Hg.) 2009 Von der Sprachdiagnose zur Sprachförderung. Münster etc.: Waxmann. Prenzel, Manfred, Ingrid Gogolin und Heinz-Hermann Krüger (Hg.) 2008 Kompetenzdiagnostik. (Zeitschrift für Erziehungswissenschaft. Sonderheft. 08/2007). Wiesbaden: VS Verlag. Reich, Hans H. 2005 Forschungsstand und Desideratenaufweis zu Migrationslinguistik und Migrationspädagogik für die Zwecke des „Anforderungsrahmens“. In: BMBF (Hg.), Anforderungen an Verfahren der regelmäßigen Sprachstandsfeststellung als Grundlage für die frühe und individuelle Förderung von Kindern mit und ohne Migrationshintergrund, 121⫺169. (Reihe Bildungsreform Band 11). Berlin: Bundesministerium für Bildung und Forschung. Reich, Hans H. 2008 Sprachförderung im Kindergarten. Grundlagen, Konzepte und Materialien. Weimar/Berlin: Verlag das Netz. Reich, Hans H., Hans-Joachim Roth und Ursula Neumann (Hg.) 2007 Sprachdiagnostik im Lernprozess. Verfahren zur Analyse von Sprachständen im Kontext von Zweisprachigkeit. Münster etc.: Waxmann. Schulz, Petra, Anja Kersten und Barbara Kleissendorf 2009 Zwischen Spracherwerbsforschung und Bildungspolitik: Sprachdiagnostik in der frühen Kindheit. Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation (ZSE) 29(2): 122⫺ 140. Tracy, Rosemarie 2007 Wie Kinder Sprachen lernen. Und wie wir sie dabei unterstützen können. Tübingen etc: Francke. Ulich, Michaela und Toni Mayr 2003 SISMIK. Sprachverhalten und Interesse an Sprache bei Migrantenkindern in Kindertageseinrichtungen. Freiburg: Herder.
Ingrid Gogolin, Hamburg (Deutschland)
147. Portfolios und informelle Leistungsdiagnosen
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147. Portolios und inormelle Leistungsdiagnosen 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Einleitung: Lernen und Beurteilung mit Portfolios Das Europäische Sprachenportfolio als Konzept Das Europäische Sprachenportfolio und informelle Leistungsdiagnosen Das Europäische Sprachenportfolio und eine neue Beurteilungskultur Schluss: Zukunftsaussichten Literatur in Auswahl
1. Einleitung: Lernen und Beurteilung mit Portolios „Ein Portfolio bezeichnet eine sinnvolle Sammlung von Arbeiten, mit denen Engagement, Leistungen, Erkenntnisse und Entwicklungen in einem oder mehreren Lernbereichen transparent gemacht werden“ (Müller 2005: 9⫺10). Wie diese Definition impliziert, kann ein Portfolio in dieser allgemeinen pädagogischen Bedeutung dreierlei Funktionen erfüllen. Erstens kann es dazu dienen, den Lernprozess zu strukturieren; so können Lernende z. B. ein Portfolio verwenden, um die Materialien, welche sie für ein bestimmtes Projekt zusammentragen, zu sammeln und zu gestalten. Zweitens kann es die Grundlage für eine Beurteilung liefern, die das Lernen als Produkt ebenso wie als Prozess in den Mittelpunkt stellt; diese Funktion setzt voraus, dass Schüler im Voraus über die Beurteilungskriterien informiert sind. Drittens können Portfolios dazu verwendet werden, Lernerfolge zu präsentieren. Die Konzepte des Portfolio-Lernens sowie der Portfolio-Beurteilung erlangten zum ersten Mal in den Vereinigten Staaten Bedeutung, wo sie in Opposition zur Beurteilung durch standardisierte Tests entwickelt wurden. Die Befürworter der Portfolios argumentierten, dass standardisierte Tests wenig dazu beitrügen, den Lernvorgang zu unterstützen, sondern im Gegenteil die Annahme förderten, dass Lehren/Lernen und Testen grundverschiedene Aktivitäten seien. Portfolios dagegen ermöglichen es, Lernen und Beurteilung in eine positive Interaktion zueinander zu setzen: Die Beurteilung des Lernens kann auch eine Beurteilung für das Lernen sein. Sie verkörpern daher eine Philosophie, die mit der Diskussion „formativer Bewertung“, die im Großbritannien der 1990er Jahre (Black und Wiliam 1998) lanciert wurde, sowie mit dem in vielen europäischen Ländern aktuellen Interesse am dialogischen Lernen (z. B. Winter 2004; Alexander 2006; Ruf, Keller und Winter 2008) eng verwandt ist. In der Sprachpädagogik wurde der Gebrauch von Portfolios, und insbesondere von Lerntagebüchern, in enge Verbindung mit der Förderung von reflexivem Lernen und Lernerautonomie gebracht (z. B. Dam 1995). Wie in anderen pädagogischen Bereichen blieb diese Herangehensweise bisher das Interesse und die Leistung einer Minderheit. Im Lauf der ersten zehn Jahre des 21. Jahrhunderts jedoch hat das Europäische Sprachenportfolio (ESP) des Europarates dem Portfolio-Lernen und der Portfolio-Beurteilung zu einer weiteren Verbreitung verholfen, obwohl seine Wirkung auf den Unterrichtsraum nach wie vor zu wünschen übrig lässt. Dieser Artikel beschäftigt sich aus drei Gründen mit dem ESP: Es ist ausführlicher durchdacht als andere Portfolio-Konzepte und ist auf einzigartige Weise auf den Spracherwerb zugeschnitten; als pädagogisches Werkzeug unterstützt es Formen des reflexiven Lernens auf innovative Art; und es liefert als alter-
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XIV. Leistungsmessung und Leistungskontrolle
natives Beurteilungsinstrument triftige Gründe für die Entwicklung einer neuen Beurteilungskultur, zumindest im Sprachunterricht. Der Artikel ist dementsprechend in drei Hauptabschnitte unterteilt: das ESP als Konzept, das ESP als pädagogisches Werkzeug, und das ESP als Schlüsselkomponente für eine neue Sichtweise auf die Beurteilung von Zweit-/Fremdsprachenkompetenz.
2. Das Europäische Sprachenportolio als Konzept Das Europäische Sprachenportfolio hat drei obligatorische Komponenten: einen Sprachenpass, eine Sprachenbiographie und ein Dossier. Der Sprachenpass fasst die sprachliche Identität seines Inhabers oder seiner Inhaberin zu bestimmten Zeitpunkten zusammen, indem er erlernte Zweit-/Fremdsprachen, formale Sprachqualifikationen, für den Zweit-/Fremdsprachengebrauch wichtige Erfahrungen und die Beurteilung des Inhabers/ der Inhaberin seines/ihres aktuellen Leistungsstandes in Zweit-/Fremdsprachen kurz dokumentiert. Die Sprachenbiographie dient dazu, Sprachlernziele zu setzen, Fortschritte zu überwachen, Ergebnisse zu beurteilen und über verschiedene Dimensionen des Spracherwerbs und Sprachgebrauchs zu reflektieren, darunter der Aspekt der Interkulturalität und des Lernen-Lernens. Das Dossier kann entsprechend der Bedürfnisse und Prioritäten spezieller Kontexte gestaltet werden; es enthält immer praktisches Beweismaterial, um die Selbstbeurteilung, welche in der Sprachenbiographie und im Sprachenpass dokumentiert ist, zu stützen. Das ESP ist dahingehend konzipiert, eine protokollierende und eine pädagogische Funktion zu haben. In seiner protokollierenden Funktion ergänzt es die Zertifikate und Diplome, die auf der Basis formaler Prüfungen verliehen werden, indem es zusätzliche Informationen über die Sprachlernerfahrung des Inhabers/der Inhaberin sowie konkrete Nachweise von Zweit-/Fremdsprachenkompetenz und -leistungen liefert. Darüber hinaus erlaubt es dem Inhaber/der Inhaberin, Sprachlernerfahrungen sowohl außerhalb als auch innerhalb des formalen Bildungssystems zu dokumentieren. In seiner pädagogischen Funktion soll das ESP Mehrsprachigkeit fördern, kulturelles Bewusstsein anheben, den Sprachlernprozess für den Inhaber/die Inhaberin transparenter machen und das Entstehen von Lernerautonomie anregen. Die protokollierende und pädagogische Funktion stehen offensichtlich in engem Zusammenhang und gehen im kontinuierlichen Prozess der Selbstbeurteilung, der für einen effektiven ESP-Gebrauch grundlegend ist, ineinander über. Der Anstoß zur Entwicklung des ESP ging vom Europaratssymposium in Rüschlikon („Transparency and coherence in language learning in Europe“, Council for Cultural Cooperation 1992) im Jahr 1991 aus. Dort wurde die Empfehlung ausgesprochen, dass der Rat für kulturelle Kooperation des Europarats die Entwicklung eines Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen (GER) fördern und einen Arbeitskreis ins Leben rufen sollte, um mögliche Formen und Funktionen eines Europäischen Sprachenportfolios zu erwägen. Selbstbeurteilung im Rahmen des ESP basiert auf dem GER, welcher Zweit-/Fremdsprachenkompetenz in Bezug auf fünf kommunikative Aktivitäten (hˆren, lesen, an gespr‰chen teilnehmen, zusammenh‰ngend sprechen, schreiben) auf sechs Niveaus beschreibt (A1, A2, B1, B2, C1, C2). Checklisten bestehend aus „Ich kann“-Deskriptoren, die nach Aktivität und Kompetenzniveau angeordnet sind, lenken
147. Portfolios und informelle Leistungsdiagnosen
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Zielsetzung, Überwachung und formative Selbstbeurteilung in der Sprachenbiographie, während das sogenannte Raster zur Selbstbeurteilung des GER (Europarat 2001: 36) das Maßsystem darstellt, gegen das der Lernende in periodischen Abständen eine summative Selbstbeurteilung ausführt. Das Projekt „Language learning for European citizenship“ brachte zwei Entwürfe für den GER und eine Reihe von Vorschlägen bezüglich des ESP (Council for Cultural Cooperation 1997a) hervor. Der Abschlussbericht des Projekts empfahl, dass der GER in die Probephase gehen und das ESP weitergehend entwickelt werden sollte (Council for Cultural Cooperation 1997b: 73). Zwischen 1998 und 2000 wurden ESP-Pilotprojekte in 15 Europarats-Mitgliedstaaten und von drei internationalen Nichtregierungsorganisationen durchgeführt (Schärer 2000); die Prinzipien und Richtlinien, die das ESP und seinen Zweck bestimmen, wurden weiter ausgearbeitet (Council of Europe 2006). Im Jahr 2000 begründete der Europarat ein Validations-Komitee, dessen Rolle darin besteht, ESPs in Empfang zu nehmen und zu entscheiden, ob diese den Prinzipien und Richtlinien folgen; bis zum Sommer 2010 waren 104 ESPs für gültig erklärt worden.
3. Das Europäische Sprachenportolio und inormelle Leistungsdiagnosen Obwohl grundlegend für den effizienten Gebrauch des ESP, war Selbstbeurteilung während der Pilotphase dennoch Anlass zur Sorge und Kontroverse (Schärer 2000: 10). Einige LehrerInnen bezweifelten, dass ihre Schüler in der Lage wären, ihre eigene Kompetenz akkurat einzuschätzen, andere vermuteten, dass Lernende versucht sein könnten, ihre Errungenschaften überzubewerten. Es gibt drei Möglichkeiten, auf diese Befürchtungen einzugehen. Erstens, was die Fähigkeit der Lernenden zur Selbsteinschätzung betrifft, so besteht die Grundlage für die Selbstbeurteilung im ESP in „Ich kann“-Aussagen, die kommunikatives Verhalten beschreiben ⫺ z. B. Ich kann einfache Wendungen und Sätze gebrauchen, um Leute, die ich kenne, zu beschreiben und um zu beschreiben, wo ich wohne (A1 zusammenh‰ngend sprechen; Europarat 2001: 36). Im Großen und Ganzen ist es wahrscheinlich, dass Lernende wissen, ob sie in der Lage sind, die Aufgaben zu bewältigen, die von solchen Deskriptoren spezifiziert werden. Zweitens sollte es, im Hinblick auf die Ehrlichkeit der Lernenden, ein Leichtes sein, erhebliche Diskrepanzen zwischen der Selbstbeurteilung einerseits und ihren (im Sprachenpass dokumentierten) Prüfungsnoten oder dem in ihrem Dossier erbrachten Kompetenznachweis andererseits festzustellen. Drittens neigten die Befürchtungen der LehrerInnen hinsichtlich Selbstbeurteilung dazu, sich auf deren summative Funktion zu konzentrieren, doch ist dies nur ein Teil des Gesamtbildes. Es ist wahr, dass jedes Mal, wenn Lernende ihren Sprachenpass aktualisieren, ihre Selbstbeurteilung nahezu die gleiche Funktion erfüllt wie wenn ein Lehrer zu Ende einer Lernphase eine Prüfung abhält. Doch die Selbstbeurteilung, welche ins Spiel kommt, wenn ein ESP-Inhaber die Sprachenbiographie verwendet, um Lernziele zu identifizieren oder Fortschritte zu überwachen, ist formativ, nicht summativ: Sie unterstützt und leitet das Lernen, indem es stattfindet ⫺ sie bestätigt Leistungen, identifiziert aber auch Schwächen sowie Gebiete, die verstärkter Arbeit oder größeren Einsatzes bedürfen. Natürlich rekurriert Selbstbeurteilung, unabhängig davon, ob ihre Funktion summativ oder formativ ist, immer auf denselben Komplex von Wissen, Selbst-
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XIV. Leistungsmessung und Leistungskontrolle
erkenntnis und Fähigkeiten. Das bedeutet, dass die ESP-Inhaber umso geübter in summativer Selbstbeurteilung sein sollten, je mehr sie sich auf formative Selbstbeurteilung einlassen. Dieses Argument impliziert, dass ein effizienter Gebrauch des ESP auf reflexivem Lehren und Lernen beruhen muss, welches von Verfechtern von Portfolio-Lernen und -Beurteilung (Müller 2005), formativer Bewertung (Black und Wiliam 1998) and dialogischem Lernen (Winter 2004) befürwortet wird. Die Bildungsprojekte des Europarats im Allgemeinen und seine Fremdsprachenprojekte im Besonderen haben von jeher die Bedeutung der Lernerautonomie hervorgehoben. Lernende können dann als autonom bezeichnet werden, wenn sie explizit Verantwortung für ihr eigenes Lernen auf sich nehmen und diese Verantwortung in dem kontinuierlichen Bestreben praktizieren, zu verstehen, was, warum, wie und mit welchem Erfolg sie lernen (siehe z. B. Holec 1979; Little 1991). Wie diese Arbeitsdefinition nahelegt, hängt Lernerautonomie wesentlich von Reflexion und Selbstbeurteilung ab. Wir machen Lernende nicht auf einen Schlag autonom, indem wir ihnen mitteilen, dass sie für ihr Lernen verantwortlich sind; sie werden allmählich autonom, indem sie die reflexiven Fähigkeiten zur Planung, Überwachung und Bewertung ihres Lernens entwickeln und ausüben. Dies nämlich ist der Kern reflexiven Lehrens und Lernens. Eine der besten Darstellungen reflexiven Sprachunterrichts/-lernens findet sich bei Leni Dam (1995). Sie beschreibt, wie sie dänische Englischlernende der unteren Sekundarstufe in zunehmend anspruchsvolle Reflexion einband, indem sie wiederholt die folgenden fünf Fragen stellte: Was lernen wir? Warum lernen wir es? Wie lernen wir? Wie erfolgreich ist unser Lernen? Was werden wir als nächstes lernen? Diese fünf Fragen treiben einen Lernkreislauf an, in dem Planung von Durchführung gefolgt ist, nach welcher Beurteilung zu weiterer Planung führt. Bemerkenswert ist, dass Reflexion in jeder dieser Phasen eine Rolle spielt; ebenfalls bemerkenswert ist, dass formative Selbstbeurteilung ein wesentlicher Bestandteil sowohl der Planungs- und Durchführungsphase als auch der Beurteilungsphase ist. Denn um effizient zu sein, muss die Planung der Lernenden realistisch sein, was bedeutet, dass sie ihre Absichten ständig gegen entwickelte Kompetenzen messen müssen; erfolgreiche Durchführung wiederum ist abhängig von effizienter Überwachung, welche als „on-line“ Selbstbeurteilung beschrieben werden könnte. Der Schwerpunkt des ESP auf Selbstbeurteilung und den reflexiven Prozessen, die sich daran anschließen, fordert die Frage heraus: Wird das Lernen, wie man Sprachen lernt, dem (eigentlichen) Sprachlernen im Weg stehen? Schließlich ist die Zeit, die Lernende damit verbringen, über ihre Fertigkeiten in ihren Zielsprache(n) zu reflektieren, Zeit, die sie nicht darauf verwenden können, weitere Fertigkeiten zu erlernen. Doch dieser Einwand ist nur dann gültig, wenn die Prozesse der Reflexion und Selbstbeurteilung in der Muttersprache ausgeführt werden. Wenn sie andererseits in der Zielsprache ausgeführt werden (wie bei Dam 1995), werden sie zu einem wesentlichen und äußerst wichtigen Bestandteil des Sprachlernens; denn nur wenn Lernende allmählich die Fähigkeit entwickeln, sich mit Reflexion und Bewertung in ihren Zweit-/Fremdsprachen zu befassen, können wir von ihnen erwarten, dass sie zu einem der gehobenen Kompetenzniveaus fortschreiten, welche eine ebensolche Fähigkeit voraussetzen. Dieses Argument hat eine klare Implikation für die Gestaltung des ESP: Um den Gebrauch der Zielsprache für Reflexion und Selbstbeurteilung zu ermöglichen, sollten Selbstbeurteilungs-Checklisten in jeder Sprache, die ein ESP-Inhaber lernt, verfügbar sein. An diesem Punkt ist es angemessen, zwei Beispiele zu geben. Das erste betrifft die Entwicklung der Fähigkeit zur Produktion gesprochener Sprache (zusammenh‰ngend
147. Portfolios und informelle Leistungsdiagnosen
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sprechen) auf dem ersten Niveau des GER. Ich habe den zusammenfassenden Deskriptor im Raster zur Selbstbeurteilung bereits zitiert: Ich kann einfache Wendungen und Sätze gebrauchen, um Leute, die ich kenne, zu beschreiben und um zu beschreiben, wo ich wohne. Im irischen ESP für die Sekundarstufe I und Sekundarstufe II (Authentik 2001) weitet die Checkliste für A1 zusammenh‰ngend sprechen diese Zusammenfassung auf drei Deskriptoren aus: ⫺ Ich kann einfache Angaben zu meiner Person machen (z. B. Alter, Adresse, Familie, Hobbies) ⫺ Ich kann in einfachen Worten und Sätzen beschreiben, wo ich wohne ⫺ Ich kann in einfachen Worten und Sätzen Personen beschreiben, die ich kenne Jeder dieser Deskriptoren definiert eine einfache kommunikative Aufgabe, und jeder kann verwendet werden, um eine Lernphase zu gestalten. So kann zum Beispiel die Aufgabe, persönliche Angaben zu machen, als Lernziel in der Sprachenbiographie identifiziert werden; Lernende können in ihrem Dossier Vokabular und einfache Satzstrukturen notieren, die sie benötigen, um diese Aufgabe auszuführen; sie können sich in der Aufgabe individuell und in Kleingruppen üben; und sie können ihre Fähigkeit, die Aufgabe durchzuführen, in der Checkliste festhalten, sobald der Lehrer oder einer ihrer Klassenkameraden bestätigen, dass sie dazu in der Lage sind ⫺ nach dieser Herangehensweise besteht Selbstbeurteilung darin, Behauptungen aufzustellen, deren Gültigkeit von anderen bezeugt werden kann. In der Beurteilungsphase können Lernende darüber hinaus in ihrer Sprachenbiographie alles das festhalten, was sie über das Sprachenlernen als solches gelernt haben. Das zweite Beispiel bezieht sich auf Niveau B2 und ist dementsprechend komplexer. Auf diesem Niveau definiert das Raster zur Selbstbeurteilung die Schreibfähigkeit der Lernenden wie folgt: Ich kann über eine Vielzahl von Themen, die mich interessieren, klare und detaillierte Texte schreiben. Ich kann in einem Aufsatz oder Bericht Informationen wiedergeben oder Argumente und Gegenargumente für oder gegen einen bestimmten Standpunkt darlegen. Ich kann Briefe schreiben und darin die persönliche Bedeutung von Ereignissen und Erfahrungen deutlich machen (Europarat 2001: 36). Die korrespondierende Checkliste im irischen ESP für Sekundarstufe I und Sekundarstufe II (Authentik 2001) schließt die folgenden Deskriptoren mit ein: ⫺ Ich kann zu sehr vielen persönlichen, kulturellen, interkulturellen und sozialen Themen klare, detaillierte Beschreibungen abgeben ⫺ Ich kann einen Standpunkt zu einem aktuellen Thema erläutern und die Vor- und Nachteile verschiedener Standpunkte erörtern ⫺ Ich kann eine Argumentationskette klar aufbauen, die Ideen logisch verknüpfen und die verschiedenen Punkte mit entsprechenden Beispielen untermauern Hier haben wir es nicht, wie im ersten Beispiel, mit einer Liste klar abgegrenzter Aufgaben zu tun, sondern mit allgemeineren Funktionen des geschriebenen Textes: detaillierte Beschreibungen abgeben, Standpunkte erläutern und erörtern, Argumentationsketten klar aufbauen, Ideen logisch verknüpfen, Punkte mit Beispielen untermauern. Und die viel größere Komplexität der kommunikativen Fähigkeit der Lernenden auf diesem Niveau impliziert eine weitaus größere Komplexität der Lernaktivität. Im Rahmen einer Portfolio-Herangehensweise wird die Entwicklung dieser Fähigkeit mit großer Wahrscheinlichkeit durch eine Folge von projektbasierten Lernkreisläufen verfolgt. Der erste
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XIV. Leistungsmessung und Leistungskontrolle
Schritt in jedem Keislauf besteht darin, mithilfe der Checkliste Schwerpunkt und Reichweite des Projekts zu identifizieren. Wird das Thema persönlich, kulturell, interkulturell oder sozial sein? Welche Art von Texten wird verwendet werden, um thematischen und linguistischen Input zu liefern? Werden sie deskriptiv oder argumentativ sein, oder beides? Was werden die strukturellen Eigenschaften der Texte sein, die die Lernenden produzieren werden? Wie genau werden detaillierte Beschreibungen artikuliert werden? Welche Hilfsmittel hinsichtlich Lexik und Syntax benötigt man, um die Vor- und Nachteile verschiedener Standpunkte zu erörtern oder eine Argumentationskette klar aufzubauen? Diese und viele andere Fragen, die die Deskriptoren implizieren, werden zu Beginn jeden Projektkreislaufs gestellt und von Lehrer und Lernenden interaktiv ergründet, und zwar in der Zielsprache. Als Teil dieses Prozesses können spezifische Kriterien etabliert werden, um die Effizienz einer Beschreibung oder Argumentationskette zu beurteilen. Daraufhin werden die Projekte entwickelt, evtl. im Rahmen von (Klein-)Gruppenarbeit. Reflexivität ⫺ Selbstbeurteilung, aber auch Peer-Beurteilung, welche beide als mentale Gewohnheiten kultiviert werden ⫺ wird dadurch gewährleistet, dass die Lernenden zu keinem Zeitpunkt die aus der Planungsphase hervorgegangenen Kriterien und die Notwendigkeit, mit der das Projekt diesen Kriterien entsprechen muss, aus den Augen verlieren. Am Ende des Kreislaufs, wenn die Projekte dem Rest der Klasse präsentiert werden, kann es eine Phase der Peer- und Selbstbeurteilung geben, die sich auf die kommunikative Effizienz der produzierten Texte konzentriert, aber auch auf ihre formale Genauigkeit. Angenommen, dass der Ausgangspunkt der Lernenden der B1 Kenntnisstand im Schreiben war ⫺ Ich kann über Themen, die mir vertraut sind oder mich persönlich interessieren, einfache, zusammenhängende Texte schreiben. Ich kann persönliche Briefe schreiben und darin von Erfahrungen und Eindrücken berichten (Europarat 2001: 36) ⫺, so werden sie eine Reihe von Projektzyklen durchlaufen müssen, ehe sie zuversichtlich und plausibel von sich behaupten können, dass sie die allgemeinen Kriterien textueller Kompetenz, wie sie die Checklisten-Deskriptoren definieren, erfüllen.
4. Das Europäische Sprachenportolio und eine neue Beurteilungskultur Portfolio-Beurteilung wurde ursprünglich als Gegenmaßnahme zu standardisierten Tests entwickelt, deren Form und Inhalt Lehre und Lernen nur allzu leicht einschränken. Jedoch gab es stets nicht nur pädagogische, sondern auch politische Einwände gegen standardisierte Tests. Die kritische Bewegung im Sprachtesten, insbesondere in der englischsprachigen Welt (z. B. Shohamy 2001; McNamara und Roever 2006), fand ihre Inspiration teilweise in Foucaults Auffassung (1976) von Prüfungen als Instrumenten der Kontrolle und Bestrafung. Aus dieser Perspektive waren auch Schritte in Richtung kommunikativer Sprachtests nicht frei von Verdacht. Doch entgegen dieser negativen Tendenz bietet das ESP einen Weg, eine neue Komplementarität zwischen Lehren/Lernen und Beurteilung zu entwickeln und die Entstehung einer neuen Beurteilungskultur anzuregen. Zu Beginn des GER ist zu lesen: „Der Gemeinsame Referenzrahmen stellt eine gemeinsame Basis dar für die Entwicklung von zielsprachlichen Lehrplänen, curricularen Richtlinien, Prüfungen, Lehrwerken usw. in ganz Europa“ (Europarat 2001: 14). Die Anord-
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nung der Elemente im Untertitel ⫺ „lernen, lehren, beurteilen“ ⫺ ist kein Zufall und lenkt die Aufmerksamkeit auf den vielleicht innovativsten Charakterzug des GER. Sein handlungsorientierter Ansatz beschreibt Kommunikation im Hinblick darauf, was der Lernende/Benutzer mit Sprache tun kann; jeder „Ich kann“-Deskriptor kann drei sich gegenseitig beeinflussende Funktionen erfüllen. Er kann dazu verwendet werden, ein Lernziel zu spezifizieren, einen Schwerpunkt für die Lernaktivität zu identifizieren und Kriterien zur Beurteilung von Lernergebnissen zu generieren. Die Selbstbeurteilungsfunktion des ESP ist abhängig von der Tatsache, dass Lernende in der Lage sind, akkurate Urteile über ihre Verhaltensfähigkeiten zu fällen, insbesondere wenn diese Urteile von dem reflexivem Diskurs unterstützt werden, welcher das Portfolio-Lernen prägt. Wenn Struktur und Inhalt von Tests und Prüfungen das gleiche handlungsorientierte Verständnis des Sprachgebrauchs widerspiegeln, dann sollten sie das Portfolio-Lernen unterstützen und die Selbst- and Peer-Beurteilung, die für den ESP-Gebrauch von so zentraler Bedeutung ist, ergänzen. Verwenden Lernende das ESP, um ihr Sprachlernen zu planen, zu überwachen und zu überprüfen, so bringen sie ihre Subjektivität in explizite Interaktion mit objektiven (empirisch gewonnenen) Beschreibungen von Sprachkompetenz. Lernende konstruieren nach und nach ein Bild ihrer sich erweiternden sprachlichen und kulturellen Identität, das Zeugnis ihrer Errungenschaften wie auch Ansporn zu weiterführender Reflexion ist. Sie entwickeln ein gesteigertes Verständnis ihrer selbst, insbesondere was ihre Fähigkeiten in Zweit- und Fremdsprachen betrifft, und werden zunehmend sensibler mit Blick auf die sprachlichen und kommunikativen Komplexitäten, die scheinbar einfachen Deskriptoren zugrunde liegen. Doch Lernende verstehen ebenfalls den Sinn von Sprachtests, die auf der Grundlage des handlungsorientierten Ansatzes des GER erdacht und somit für ihre eigenen Lernziele relevant sind.
5. Schluss: Zukuntsaussichten Die Art der Beurteilungskultur, die ich soeben skizziert habe, in welcher Selbst- und Peer-Beurteilung einerseits und formale Tests und Prüfungen andererseits einander ergänzen, liegt in der Zukunft. Die Wirkung des GER war bisher eher partiell als holistisch. Seine Kompetenzniveaus wurden von Institutionen, die Sprachtests durchführen, europaweit (und zum Teil darüber hinaus) eifrig übernommen, hauptsächlich, weil sie den Vergleich zwischen Tests ermöglichen. Doch zu behaupten, dass ein Test einem bestimmten GER-Niveau entspricht, ist nicht das gleiche, wie zu behaupten, dass dieser Test unter Berücksichtigung des deskriptiven Apparates des GER entworfen wurde. Die Kompetenzniveaus sind außerdem in Curricula und Lehrbücher eingegangen, doch sagt dies wenig darüber aus, in welchem Ausmaß die betrachteten Curricula kommunikativen Inhalt vorgeben oder die Lehrbücher einen pädagogischen Ansatz verkörpern, für den Sprachlernen eine Variante der Sprachverwendung ist (Europarat 2001: 21). Mir ist lediglich ein Fall bekannt, in dem ein Zweitsprachen-Curriculum als kommunikatives Repertoire definiert ist, welches durch „Ich kann“-Deskriptoren zum Ausdruck gebracht, durch eine Version des ESP vermittelt, und unter Verwendung von handlungsorientierten und aufgabenbasierten Tests bewertet wird. Bei diesem Curriculum handelt es sich um das zum Unterricht von Englisch als Zweitsprache an irischen Grundschulen (IILT 2003)
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XIV. Leistungsmessung und Leistungskontrolle
verwendete. Das ESP (IILT 2004) wurde teilweise als Verbreitungsinstrument für das Curriculum konzipiert und wurde sehr weitreichend verwendet; und in Umfang und Inhalt spiegeln die Tests die „Ich kann“-Deskriptoren des Curriculums wider. Unter den Herausforderungen, mit denen DaF/DaZ als Disziplin in den deutschsprachigen Ländern zu Beginn des 21. Jahrhunderts konfrontiert ist, stechen zwei besonders hervor: die Notwendigkeit, sicherzustellen, dass eine große Anzahl von Kindern und Jugendlichen mit Migrantionshintergrund die Deutschkenntnisse entwickeln, die ihnen vollen Zugang zu Bildung ermöglichen; und die Übernahme von Bildungsstandards, die eine Bewegung weg von schulbasierter Beurteilung und hin zu einer stärker zentralisierten Kontrollinstanz mit sich bringen. Um diese Probleme erfolgreich anzusprechen, wird es unter anderem nötig sein, gegen die großflächige Entfremdung der Lernenden vom Bildungssystem und damit von der Hauptströmung der Gesellschaft anzugehen. In der Auseinandersetzung mit diesen Herausforderungen haben Portfolios und andere Versionen informeller Beurteilung eine wichtige Rolle zu spielen.
6. Literatur in Auswahl Alexander, Robin 2006 Towards Dialogic Learning. Rethinking Classroom Talk. York: Dialogos. Authentik 2001 European Language Portfolio/Punann na dTeangacha Eorpacha. Dublin: Authentik. Black, Paul und Dylan Wiliam 1998 Inside the Black Box. London: King’s College London. Council for Cultural Cooperation 1992 Transparency and Coherence in Language Learning in Europe: Objectives, Evaluation, Certification. Report on the Rüschlikon Symposium. Strasbourg: Council of Europe. Council for Cultural Cooperation 1997a European Language Portfolio: Proposals for Development. With contributions by I. Christ, F. Debyser, A. Dobson, R. Schärer, G. Schneider/B. North & J. Trim. Strasbourg: Council of Europe (CC-LANG 97. 1). Council for Cultural Cooperation 1997b Language Learning for European Citizenship. Final report (1989⫺96). Compiled and edited by John Trim, Project Director. Strasbourg: Council of Europe. Council of Europe 2006 European Language Portfolio: Key Reference Documents. Strasbourg: Council of Europe. Dam, Leni 1995 Learner Autonomy 3: From Theory to Classroom Practice. Dublin: Authentik. Europarat 2001 Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen für Sprachen: lernen, lehren, beurteilen. Berlin: Langenscheidt. Foucault, Michel 1976 Überwachen und Strafe. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Holec, Henri 1979 Autonomy and Foreign Language Learning. Strasbourg: Council of Europe. IILT 2003 English Language Proficiency Benchmarks for Non-English-Speaking Pupils at Primary Level. Dublin: Integrate Ireland Language and Training.
147. Portfolios und informelle Leistungsdiagnosen
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IILT 2004
European Language Portfolio (Primary): Learning the Language of the Host Community. Dublin: Integrate Ireland Language and Training. Little, David 1991 Learner Autonomy 1: Definitions, Issues and Problems. Dublin: Authentik. McNamara, Tim und Carsten Roever 2006 Language Testing: The Social Dimension. Malden, MA/Oxford: Blackwell. Müller, Andreas 2005 Erlebnisse durch Ergebnisse. Das Lernportfolio als multifunktionales Werkzeug im Unterricht. Grundschule 6: 8⫺18. Ruf, Urs, Stefan Keller und Felix Winter (Hg.) 2008 Besser Lernen im Dialog. Dialogisches Lernen in der Unterrichtspraxis. Seelze-Velber: Klett/Kallmeyer. Schärer, Rolf 2000 European Language Portfolio: Final Report on the Pilot Project. Strasbourg: Council of Europe. (http://www.coe.int/T/DG4/Portfolio/documents/DGIV_EDU_LANG_2000_31 Erev.doc ⫺ 16. 12. 2008) Shohamy, Elana 2001 The Power of Tests: A Critical Perspective on the Uses of Language Tests. London: Pearson. Winter, Felix 2004 Leistungsbewertung. Eine neue Lernkultur braucht einen anderen Umgang mit den Schulleistungen. Baltmannsweiler: Schneider. Portfolios für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache Für den Unterricht DaF/DaZ werden in vielen Ländern Portfolios genutzt, die die Pilotversionen des Europäischen Portfolios der Sprachen jeweils altersgemäß adaptieren und in die Landessprache übertragen (vgl. die Liste der vom Europarat validierten Portfolios in den einzelnen Ländern: Europarat, Validated Portfolios: http://www.coe.int/T/DG4/Portfolio/?L⫽E&M⫽/main_pages/portfolios.html). Zunehmend bieten Lehrbuchverlage begleitend bzw. integriert in das Lehrwerk eigene Versionen an, vgl. z. B. die Portfolios in zu den Lehrwerken „Optimal“ (Langenscheidt Verlag): http://www.langenscheidt-unterrichtsportal.de/sprachenportfolio_1457.html und „Team Deutsch“ (Klett Verlag): http://www.klett.de/sixcms/media.php/71/352641/A08089_ 67594001_PORTFOLIO_TD.pdf. Die Universitäten Bremen und Stuttgart bieten inzwischen auch ein elektronisches Portfolio (EPOS) an: http://epos21.demo.fremdsprachenzentrum-bremen.de/portfolio/. Eine spezifische, sprachliche und beruflichbezogene Dimensionen integrierende Form stellt das „Sprachen- & Qualifikationsportfolio für MigrantInnen und Flüchtlinge“ (Plutzar und Haslinger 2005: http://www.integrationshaus.at/portfolio/) dar.
David Little, Dublin (Irland) Übersetzung aus dem Englischen von Cordula Politts
XV. Lehrerinnen und Lehrer 148. Die Rolle des Lehrers/der Lehrerin im Unterricht des Deutschen als Zweit- und Fremdsprache 1. Einleitung 2. Der Einfluss kognitionspsychologischer und konstruktivistischer Ansätze auf die Rolle der Lehrkraft 3. Subjektive Unterrichtstheorien 4. Rollenverhalten von Lehrkräften 5. DaF/DaZ-Ausbildung 6. Institutionelles Umfeld 7. Berufsanforderungen und Berufsbild 8. Ausblick 9. Literatur in Auswahl
1. Einleitung Obwohl die unterrichtlichen Tätigkeiten von Lehren und Lernen in Terminus und Forschungsfeld der Sprachlehr/lernforschung nominell gleichberechtigt verwendet werden, ist in den letzten Jahrzehnten wesentlich mehr Fachliteratur über den Lern- als über den Lehrprozess publiziert worden (vgl. Art. 119). Dies ist nicht zuletzt ein Resultat des seit Beginn der 1980er Jahre dominanten lernerzentrierten Ansatzes, der ⫺ völlig zu Recht ⫺ alle unterrichtlichen Maßnahmen einschließlich des Lehrens am Lerner und seinen Bedürfnissen ausrichtet. Dennoch steht außer Zweifel, dass der Lehrkraft im institutionellen Lehr-Lernprozess eine zentrale Rolle zukommt, ist sie es doch, die die komplexe alltägliche Unterrichtspraxis auf verschiedenen Ebenen maßgeblich gestaltet. Insbesondere das Lehrerverhalten, die Unterrichtsstruktur, die Sprachkompetenz sowie die Stoffdarstellung sind Unterrichtsvariablen, deren Einfluss auf das Lernverhalten der Schüler empirisch gesichert gilt (Bromme 1997: 195). Im Fremd/Zweitsprachenunterricht ist die Lehrkraft zudem die kulturkompetente Interpretin und einfühlsame Vermittlerin zwischen den in den Unterrichtssprachen repräsentierten Kulturen sowie ⫺ insbesondere aus Lernerperspektive ⫺ die Personifizierung der Institution. Nachdem die behavioristisch orientierte Sprachlehrforschung hauptsächlich den Einfluss beobachtbarer Variablen auf das Lehrverhalten und den Lehrprozess untersucht hatte, gewannen mit dem Paradigmenwechsel vom Behaviorismus zum Kognitivismus in den 1970er Jahren die subjektiven Auffassungen und Interpretationen des Unterrichtsgeschehens seitens der Lehrkraft eine große Bedeutung für die Analyse ihres faktisches Verhaltens im Lehr-Lernprozess (vgl. Art. 99). Diese Tendenz wurde durch den seit den 1990er Jahren zunehmenden Einfluss des Sozialen Konstruktivismus noch verstärkt, indem die vielfältigen Einflüsse des soziokulturellen und institutionellen Umfeldes auf die konkrete Tätigkeit von Lehrkräften aus subjektiver Perspektive untersucht werden (vgl. Art. 89 und 90). Angesichts der Komplexität dieser Einflussfaktoren auf den Unterricht
148. Die Rolle des Lehrers/der Lehrerin im Unterricht
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konzentrieren sich wissenschaftliche Untersuchungen über DaF- und DaZ-Lehren bzw. über schulische Lehr-Lernverfahren in der Regel auf bestimmte isolierbare Aspekte, insbesondere des Lehrerverhaltens, des Lehrerbewusstseins, der Lehrerrolle, der Aus- und Fortbildung sowie der Qualifikation.
2. Der Einluss kognitionspsychologischer und konstruktivistischer Ansätze au die Rolle der Lehrkrat 2.1. Kognitionspsychologische Ansätze Die kognitive Wende der 1960er Jahre brach mit dem Diktum des Behaviorismus, dass man das Verhalten des Menschen nur im Sinne kontrollierter Reiz-Reaktions-Ketten beobachten und erklären könne, jedoch das Gehirn des Menschen als unerforschbare Black Box verstehen müsse, da sich die darin ablaufenden Prozesse einem wissenschaftlichen Zugriff entzögen. Kognitionspsychologische Ansätze überwinden dieses mechanistische Menschenbild, indem sie den Menschen als erkennendes Subjekt verstehen, das sich aktiv mit seiner Umwelt auseinandersetzt, nämlich durch Prozesse von Wahrnehmung, Vorstellung, Denken, Urteilen, Schließen und sprachlichem Ausdrucks (Edelmann 2000: 114). Der kognitive Ansatz befasst sich also nicht mehr mit dem Erlernen von Verhaltensweisen, sondern mit dem Erwerb von Wissen, seiner Enkodierung und Speicherung sowie seinem Abruf. Dabei wird davon ausgegangen, dass der Mensch über informationsverarbeitende kognitive Strukturen verfügt, um überhaupt lernen zu können (vgl. Art. 89). Um diese komplexen kognitiven Abläufe erklären zu können, greift die kognitive Psychologie auf die Metapher des Input-Output- Informationsverarbeitungsmodells eines Computers zurück, wobei das Gehirn die Hardware und die Kognition die Software darstellt; von besonderem Interesse sind die internen kognitiven Verarbeitungsprozesse, die als regelgeleitet verstanden werden. Daher ist es das Hauptanliegen der kognitionspsychologischen Forschung, diese Regeln, die auch das Fremdsprachenlernen determinieren, experimentell aus dem komplexen Kognitionsapparat heraus zu destillieren, indem Tests zum optimalen fremdsprachlichen Regellernen durchgeführt werden mit dem Ziel der Erstellung eines optimalen Instruktionsinventars für die Lehrkraft(für eine umfassende Darstellung dieser Forschungsrichtung vgl. Johnson 2004: 46⫺84); dabei werden jedoch die Probanden ihrer subjektiven Stimme beraubt und als Objekte des jeweiligen Lehr-Lernexperimentes instrumentalisiert. Das informationstheoretische Lehr-Lernmodell versteht die Lehrkraft vorwiegend als Lieferantin bedeutungsvoller Informationen, die hauptsächlich sprachlich vermittelt werden. Diese werden von dem informationsverarbeitenden System des Schülers aufgenommen, in ihrer Bedeutung entschlüsselt, an das vorhandene Vorwissen angekoppelt und aufgrund bestimmter kognitiver Regeln verarbeitet, um dann als Wissen im Langzeitgedächtnis gespeichert zu werden, so dass es jederzeit von dort abgerufen werden kann, z. B. in einer Prüfung. Dabei wird die Rolle des Lernenden nicht mehr nur als die eines passiven Rezipienten aufgefasst, sondern er wird auch als aktiver Gestalter des Lernprozesses verstanden, der die Lerninhalte letztlich subjektiv im Prozess der Informationsverarbeitung strukturiert und rekonstruiert. Die Lehrkraft fungiert im Lehr-Lernprozess als eine Art Lernberater, indem sie zunächst einmal die der jeweiligen Lerngruppe angemessenen Lehrmethoden,
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XV. Lehrerinnen und Lehrer Unterrichtsinhalte und didaktischen Verfahren auswählen muss, bevor sie von den Lernenden in gezielten problemlösenden Übungen angewendet werden. Während der Übungsphasen kommt der Lehrkraft die Funktion zu, die Lernenden bei ihrer Arbeit zu beobachten, um ihnen ggf. Hilfestellungen zu geben, damit der angestrebte Lernerfolg eintreten kann. Aufgrund der Komplexität der fremden/zweiten Sprache und ihres soziokulturellen Kontextes gilt für den kognitiv orientierten Fremd/Zweitsprachenunterricht, dass die Lehrkraft bemüht sein muss, erfahrungsbezogene Lernsituationen zu schaffen, in denen die Lernenden nicht nur die Regeln der anderen Sprache und ihrer kommunikativen Verwendung, sondern auch die konzeptuelle und kategoriale Organisation des soziokulturellen Wissens der anderen Sprachgemeinschaft erlernen können, indem es zu muttersprachlichen und eigenkulturellen Normen, Mustern und Kategorien in Beziehung gesetzt wird. In der kognitiven Lernpsychologie geht man davon aus, dass zu erlernende Inhalte lediglich geeignet strukturiert und repräsentiert werden müssen, um von dem Lerner adäquat aufgenommen zu werden. Sollte der Lernprozess nicht erfolgreich verlaufen, werden die Ursachen dafür der unpassenden Repräsentation (Didaktik, Methodik), dem Medium (Lehrbuchdesign, Unterrichtsstil) oder dem Lernenden (Motivation, Aufmerksamkeit) zugeschrieben. Allerdings senden diese kognitiven Informationsverarbeitungsmodelle ein falsches Signal für den Fremd- und Zweitsprachenunterricht. Es wird nämlich impliziert, dass ein sukzessives Erlernen der relevanten Regeln automatisch zu einer angemessenen fremd/ zweitsprachlichen Performanz in lebensweltlichen Situationen der fremden Sprachgemeinschaft führt. Jedoch liegen diesen Verarbeitungsmodellen idealisierende und homogenisierende Sichtweisen hinsichtlich menschlicher Kommunikation zugrunde, die die jeweilige Ambiguität sowie die pragmatische und soziokulturelle Kontextabhängigkeit des subjektiven Bedeutungsaushandlungsprozesses nicht erfassen können (Bruner 1996: 5). Die individuelle Kognition ist eben nicht eine autonome, in sich selbst abgeschlossene Einheit, sondern sie ist in fundamentaler Weise ein soziales Konstrukt. Daher können die generalisierten kognitiven Regeln, auf denen die Lehrkraft ihre Unterrichtsbemühungen aufbaut, nur bedingt relevant sein, wenn das erlernte fremdsprachliche Wissen tatsächlich in der alltäglichen Lebenspraxis des fremden Landes angewendet werden soll (Donato 2000). Wells (1999: 90) kommentiert: [S]uch knowledge, however carefully sequenced and authoritatively presented, remains at the level of information that has little or no impact on students’ understanding until they actively engage in collaborative knowledge building to test its relevance in relation to their personal models of the world and, where possible, its practical application in action.
2.2. Konstruktivistische Ansätze Es wäre daher geboten, die Annahmen der Uniformität regelgeleiteter menschlicher kognitiver Prozesse, des Strebens nach Generalisierbarkeit experimentell gewonnener Forschungsergebnisse, der Existenz einer Wirklichkeit für alle Menschen sowie des idealen Menschen, der sich in einer externen Realität vermittels eines enormen Informationsprozessors mit einer Stimme verhält, zu hinterfragen (Kukla 2000).
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Ein Ansatz, der dies zu leisten versucht, ist der Soziale Konstruktivismus, der seit den 1990er Jahren in Europa und in den USA an Bedeutung für die Erforschung und Praxis des Fremd/Zweitsprachenunterrichts gewinnt und u. a. auf den lerntheoretischen Theorien Jean Piagets, Lev Vygotskijs und Jerome Bruners basiert. Im Gegensatz zum Kognitivismus geht der Soziale Konstruktivismus von der Einzigartigkeit menschlichen Verstehens und Handelns aus, von der Existenz multipler Realitäten und dem menschlichen Gehirn als autopoetischem System, das jedoch perturbierbar ist. Lernen findet nicht aufgrund hypostasierter kognitiver Regularitäten statt, sondern Lernen wird als ein konstruktiver Prozess verstanden, der auf den subjektiven Erfahrungen und Interessen jedes einzelnen Lerners aufbaut, der eigene Werte, Überzeugungen, Muster, Gefühle und Vorerfahrungen in den Lernprozess einbringt. Wissen existiert also nicht unabhängig vom einzelnen Lerner; es wird vielmehr immer intersubjektiv-dynamisch generiert und subjektiv konstruiert. Daher wird das instruktionistische Lehrparadigma zunehmend durch das konstruktivistische Lernparadigma abgelöst. Lernen entwickelt sich aus subjektiven, letztlich jedoch soziokulturell induzierten Handlungsintentionen, und Handeln vollzieht sich in sozialen Situationen; es ist somit immer situativ und kontextuell gebunden. Wenn Lernen als aktives Konstruieren von Wissensstrukturen verstanden wird, bedingt dies eine Neudefinition sowohl der Rolle des Lerners als auch des Lehrers in konstruktivistischen Lehr-Lernsituationen. Da Wissen nicht direkt vermittelt werden kann, soll der Lerner dazu angeregt werden, sein Wissen aktiv und konstruktiv zu erweitern, d. h. das Konstruktionspotenzial des Lernenden soll im Unterricht durch reichhaltige, vielfältige, erfahrungsbezogene und bedeutungsvolle Lern- bzw. Konstruktionsmöglichkeiten gefördert werden. Dabei muss auch die Affektlage des Lernenden berücksichtigt werden, denn: „Affekte wirken wie Schleusen oder Pforten, die den Zugang zu unterschiedlichen Gedächtnisspeichern öffnen oder schließen“ (Ciompi 1997: 97). Aufgrund der hohen Individualität von Konstruktionsprozessen kann die Lehrkraft im Klassenzimmer nicht mehr nur von einem richtigen Weg der Wissensvermittlung ausgehen, sondern sie muss ein Spektrum verschiedener Lernmöglichkeiten und Lernwege anbieten, aus dem die Lernenden individuell auswählen und kombinieren können. Der Lehr-Lernprozess muss daher inhaltlich wie auch methodisch-didaktisch flexibel und vielseitig gestaltet werden. Erfolgreiches Lernen setzt eine hohe Motivation des Lerners voraus, die auch durch den Lehrprozess generiert und aufrechterhalten wird, indem Lernende stets zum Hinterfragen angeregt werden, um so ihr Interesse am Lernstoff zu fördern. Je besser die Lehrkraft den individuellen Lerner kennt, desto besser wird sie die Lernangebote an seinen spezifischen Erfahrungen, Interessen und Bedürfnisse ausrichten können. Es wird also kein Transfer fertigen Wissens betrieben, sondern die Auseinandersetzung mit Erklärungsansätzen regt Lernende dazu an, eigenes Wissen zu konstruieren, das wiederum auf andere Kontexte übertragen werden kann. Lehren und Lernen sind somit eher prozess- als produkt- orientiert (vgl. Art. 90). Lerninhalte stellen nur einen Anreiz zur explorierenden Auseinandersetzung mit ihnen dar; sie sollten nicht zu sehr didaktisch reduziert werden, da dann der Aspekt der interessierten und explorierenden Auseinandersetzung mit ihnen potenziell limitiert wird. Daher gilt der Grundsatz, dass die Lerninhalte im Prinzip so komplex sein sollten wie sie in der Wirklichkeit außerhalb des Klassenzimmers bzw. in der fremden Sprachgemeinschaft existieren; sie können jedoch gerade im Anfängerunterricht entsprechend der Vorerfahrungen und des Vorwissens des Lernenden lernfördernd strukturiert werden.
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XV. Lehrerinnen und Lehrer Eventuell auftretende Lernschwierigkeiten sollten nicht unterdrückt werden, denn sie sind ein Indikator für die Lehrkraft, sich intensiver und für den Lernenden effizienter mit dem jeweiligen Thema methodisch-didaktisch auseinanderzusetzen und konstruktiveres Feedback zu geben. Eine Progression der Lehr-Lerninhalte im Sinne eines schrittweisen Voranschreitens vom Einfachen zum Komplexen (Harden, Witte und Köhler 2006) gibt es im Sozialen Konstruktivismus nur sehr bedingt in Form einer Grobstruktur im Sinne einer „Zone der nächsten Entwicklung“ (Vygotskij 2002: 326), da der Lernende und sein aktuelles Konstruktionsvermögen im Zentrum des explorierenden Lernens stehen ⫺ und nicht der Unterrichtsstoff. Das Theorem der „Zone der nächsten Entwicklung“ besagt, dass die Lerninhalte moderat über den aktuellen Konstruktionshorizont des Lernenden hinausweisen sollten, so dass der Lerner das neue Wissen auf der Basis bekannten Wissens zwar noch nicht selbständig erschließen kann, es jedoch unter einfühlsamer Anleitung der Lehrkraft und in Zusammenarbeit mit den Mitlernenden für sich selbst entdeckt und entsprechend (re)konstruiert. Insofern, so formuliert Vygotskij gegen Piagets kognitives Entwicklungsmodell, „hat die Zone der nächsten Entwicklung unmittelbarere Bedeutung für die Dynamik der intellektuellen Entwicklung und des Lernerfolgs als das aktuelle Entwicklungsniveau“ (Vygotskij 2002: 327). Die Informationen werden im Unterricht nicht von der Lehrkraft vorgegeben, sondern sie werden von den Lernenden kollektiv und individuell, zusammen mit der Lehrkraft, in verschiedenen Formen und Herangehensweisen aufgearbeitet, um ein möglichst umfangreiches Repertoire von Lernwegen bereitzustellen. Dabei wird auf das Kollektiv der Lerngruppe rekurriert, denn die Mitlernenden können gegebenenfalls kollektiv ein alters- und problembezogen adäquateres Lerngerüst effektiver konstruieren und dann individuell umsetzen, als es die Lehrkraft kann, da alle Lernenden mit verschiedenen Perspektiven und unterschiedlichem Konstruktionspotenzial (Lernstrategien, Problemlösungsstrategien, soziale Strategien usw.) das gleiche Problem diskursiv und argumentativ in Prozessen der kooperativen Bedeutungsaushandlung zu lösen versuchen (Donato 1998); dabei können die Lernenden im problembezogenen Austausch ihren jeweiligen Erfahrungsschatz einbringen. Durch die Wiedergabe von Einsichten und Erkenntnissen in eigenen Worten sowie Kommentare und Korrekturen von Mitlernenden wird eine Neustrukturierung der Erkenntnisse gefördert, die auch den leistungsfähigeren Lernenden hilft (Mercer 1995: 89). Dieses Konzept der Ko-Konstruktion von Wissen, das von kognitiven Lernmodellen ignoriert wird, ist besonders relevant für den Fremd/Zweitsprachenunterricht, da sprachliches Wissen nicht nur durch kognitive Anstrengung erworben wird, sondern auch durch sozial-affektive Interaktionsprozesse. Das Klassenzimmer wird somit zu einem soziokulturellen Raum, in dem aktive Teilhabe an der Fremd/Zweitsprache und deren soziokulturellen Kontext ermutigt, erprobt und kultiviert wird; daher muss das Klassenzimmer so gut wie möglich die soziokulturellen Wirklichkeiten reflektieren. Ein so angelegter kooperativer und explorativer Fremd- oder Zweitsprachenunterricht hat das Potenzial, die linguistisch konzeptualisierten und kulturell präfigurierten narrativ-diskursiven Typen von monokulturellen Identitätskonstrukten grundlegend zu erschüttern und in interkultureller Weise zu beeinflussen (Block 2007, Witte 2008). Daher ist seitens der Lehrkraft sicherzustellen, dass den fremdkulturellen Deutungsmustern und gesellschaftlichen Handlungsnormen gebührender Raum und vor allem erfahrungsbezogene Lernmöglichkeiten eingeräumt werden, damit den Lernenden die Handhabe zur bewussten Konstruktion einer sinnvollen polyphonen Identität vermittelt wird ⫺ verstanden als permanenter
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kognitiver, affektiver sowie sozialer und psychischer Prozess, nicht als statische Gegebenheit (Altmayer 2004; Witte 2009). Die Verantwortung für das Lernen wird allmählich vom Lehrer auf den Lerner verlagert, der seinen konstruktiven Lernprozess zunehmend selbst steuert. Eine ideale Lehrkraft, die diese Art von Lernerautonomie ermöglicht, verfügt über die Fähigkeit, Aufgaben zielgruppengerecht auszuwählen und aufzubereiten, den Zeitpunkt von Interventionen angemessen auszuwählen, mit den Lernenden auszuhandeln, wie (und was) sie lernen möchten, ehrliches und unterstützendes Feedback zu leisten, auf einzelne Lerner einzugehen, andere Ansichten gelten zu lassen sowie sprachbezogene (accuracy) und mitteilungsbezogene (fluency) Aufgaben ausgewogen zu verwenden. Die hohe Individualität von Sprachlernprozessen lässt aus konstruktivistischer Sicht kollektive Lernkontrollen wie Tests, Klassenarbeiten oder Prüfungen unsinnig erscheinen, sofern sie an alle Lernenden die gleiche Erwartungshaltung stellen. Eine Bewertung subjektiver Leistungen nach objektiven Urteilskriterien ist bezüglich des tatsächlich erweiterten subjektiven Konstruktionspotenzials jedes einzelnen Lernenden wenig aussagekräftig; sie könnte höchstens Indikatoren für die Lehrkraft bieten, wo die Lehr-Lernsituationen noch optimierbar ist. Daher sind die Desiderate eines genuin konstruktivistischen Lehr-Lernmodells nur schwer mit der gesellschaftlichen Selektionsfunktion der Institution Schule vereinbar.
3. Subjektive Unterrichtstheorien Obwohl also die Stellung und Funktion der Lehrkraft nun als weniger wichtig für den Lernerfolg angesehen wird als noch im Kognitivismus, hat dennoch die Persönlichkeit der Lehrkraft samt ihrer Einstellungen, Handlungen und Haltungen einen zentralen Einfluss auf das Lehr-Lern-Arrangement, ist sie es doch, die die lerngünstigen Arrangements vorbereitet und zur Verfügung stellt. Auch wenn sie dabei wissentlich schülerorientiert vorgeht, wird sie in nicht unerheblicher Weise von bestimmten biografisch konstituierten Motiven, Erwartungen und Werten sowie von ihrem fachlichen und psychologischen Wissen geleitet (Krapp und Weidenmann 2001: 299⫺304). Aspekte von individuellem Lehrerbewusstsein und -handeln rücken daher im konstruktivistischen Lehrparadigma ins Zentrum des Interesses, das den mentalen und affektiven Konstruktionsprozessen der individuellen Lehrkraft einen entscheidenden Einfluss auf ihr Lehrverhalten zubilligt. Forschungsarbeiten dieser Richtung haben ergeben, dass für das faktische Unterrichtshandeln der Lehrkräfte ihre subjektiven Unterrichtstheorien (auch psychologisches Alltagswissen, naive Verhaltenstheorie, träges Wissen, implizite Theorie, intuitive Theorie, pragmatische Alltagstheorie, Berufstheorie, Lehrertheorie u. a. genannt) von zentraler Bedeutung für ihr faktisches Lehrverhalten sind. Das Theorem der subjektiven Unterrichtstheorie basiert auf der Prämisse, dass im Rahmen des zielgerichteten Handelns die Lehrkraft ihren Handlungsraum aktiv-kognitiv konstruiert; das heißt, dass sie die oft mehrdeutigen, rasch wandelbaren, teilweise unvorhersehbaren und immer kontextabhängigen Situationen, mit denen sie im Unterrichtsprozess konfrontiert wird, fortlaufend analysiert, interpretiert und in bestimmter Weise rekonstruiert, um schließlich eine subjektive Handlungslinie zu entwickeln, die durch ihre Realisierung wiederum neue Unterrichtssituationen schafft.
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XV. Lehrerinnen und Lehrer Bei diesem komplexen Handlungsprozess und unter akutem Handlungsdruck greifen die Lehrkräfte spontan auf Wissensbestände zurück, die nur zu einem Teil in der formalen Lehrerausbildung, teilweise auch schon vorher durch Erfahrungen in der eigenen Schulzeit und zum großen Teil erst durch die eigene Lehrpraxis erworben wurden (Dann 1989: 82). Diese subjektiven Konstrukte der unterrichtsbezogenen Selbst- und Weltsicht der Lehrkräfte bilden ein komplexes Aggregat mit zumindest impliziter Argumentationsstruktur, das durch die alltägliche Unterrichtspraxis permanent modifiziert wird. Sie haben sich als erstaunlich resistent gegenüber der Vielzahl von theoretischen Ansätzen und Impulsen in der Fremdsprachendidaktik erwiesen. Der Terminus „Theorie“ impliziert, dass die subjektiven Konstrukte untereinander in Verbindung stehen und strukturell wie funktional Schlussfolgerungen wie bei wissenschaftlichen Theorien zulassen (Groeben 1988: 18). Subjektive Unterrichtstheorien werden jedoch im Unterrichtshandeln ohne bewusste Steuerung eingesetzt. Sie werden im Verlauf der beruflichen Karriere durch Wiederholungen immer stärker komprimiert und stehen der Lehrkraft als Situationsund Handlungsklassen (Wahl 1991) zum schnellen Abruf zur Verfügung. Grotjahn (2005: 42) listet sieben Definitionsmerkmale des Konstrukts „Subjektive Theorie“ auf, nämlich 1. ihre relativ stabilen kognitiven Strukturen der Selbst- und Weltsicht; 2. ihre nur teilweise bewusstseinsfähigen Kognitionen; 3. ihre wissenschaftlichen Theorien analoge Struktureigenschaften (z. B. Argumentationsstruktur); 4. ihre analog zu wissenschaftlichen Theorien zu erfüllenden Funktionen (a) der Realitätskonstituierung in Form von Situationsdefinitionen, (b) der Erklärung (und auch Rechtfertigung) von Sachverhalten; (c) Vorhersage von Sachverhalten; (d) Konstruktion von Handlungsentwürfen zur Herbeiführung von Sachverhalten; 5. ihre im Zusammenspiel mit anderen Faktoren (z. B. Persönlichkeitsmerkmale, Emotionen) beobachtbare Beeinflussung von Verhalten/Handeln (verhaltens- bzw. handlungsleitende Funktion); 6. ihre aktualisierund rekonstruierbare Qualität; 7. die Notwendigkeit der Prüfung der Akzeptabilität von Subjektiven Theorien als ,objektive‘ Erkenntnis. Da die subjektiven Unterrichtstheorien entsprechend der unterschiedlichen soziokulturellen, institutionellen und sozialisatorischen Bedingungen individuell verschieden determiniert sind ⫺ eben subjektiv ⫺, kann man sie nur höchst problematisch erheben und validieren. Dies trifft umso mehr zu, da jeder Augenblick des Unterrichts eine Vielzahl von simultanen kognitiven, affektiven und motorischen Handlungen sowohl auf Schülerals auch auf Lehrerseite enthält, die nicht nur in sich außerordentlich komplex geartet, sondern auch in einem vielschichtigen Beziehungsgeflecht miteinander verwoben sind. Die wissenschaftlichen Zugriffsmethoden konzentrieren sich daher nur auf bestimmte Aspekte der komplexen subjektiven Unterrichtstheorien in der Annahme, sich diesen so weit annähern zu können, dass sie für den wissenschaftlichen Diskurs bis zu einem bestimmten Grad verwendbar und verallgemeinerbar zu machen seien; so wurden wissenschaftliche Arbeiten vorgelegt zu Themen wie „Förderung von Schülern“ (Treiber 1980), „Aggression in der Schule“ (Dann et al. 1985), „Leistungs- und Störungsepisoden im Unterricht“ (Wahl et al. 1983), „Bewusstseinskonflikte im Schulalltag“ (Wagner et al. 1984), „Aufgreifen von Schüleräußerungen“ (Koch-Priewe 1986) u. a. Die Entwicklung subjektiver Unterrichtstheorien verläuft durchaus nicht immer gradlinig und unproblematisch, sondern auch zirkulär und „verknotet“, wie Wagner (1984, 2003) in ihren Untersuchungen nachgewiesen hat. Gerade in schwierigen Situationen der Unterrichtsführung versuchen Lehrkräfte, sich an selbst erstellte Imperative zu halten („Ich muss diese Stunde pünktlich beenden“ oder „Ich darf nicht unsicher wirken“), die
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auf eine eingeschränkte subjektive Wahrnehmung und Analyse der aktuellen Gesamtsituation zurückzuführen sind, was wiederum zu verstärkter, oft selbst inszenierter Spannung und Angst führt, die eine differenzierte Wahrnehmung und Lösung von Unterrichtsproblemen erschwert. Auch wenn die subjektiven Unterrichtstheorien einer Lehrkraft im Prinzip veränderungsresistent sind, können sie dennoch modifiziert werden (Dann 1994: 174⫺175). Dazu ist eine gründliche Explizierung des subjektiv-theoretischen Wissens der Lehrkraft ebenso eine Voraussetzung wie eine nachhaltige Konfrontation des Lehrenden mit neuen Theoriebeständen zu der jeweiligen Thematik bzw. Problematik, ggf. auch in Form von neuem Wissen anderer Lehrkräfte, so dass sie auch als subjektiv relevant von der betreffenden Lehrkraft rekonstruiert werden. Schließlich muss sich das neue Wissen als geeigneter für die Problemlösung als die bisherigen Subjektiven Unterrichtstheorien bewähren, indem sie in gezielt herbeigeführten Situationen angewendet werden. Dann (1994: 174) nennt in diesem Zusammenhang gedankliches Vorwegnehmen, Beobachtung von Modellpersonen, spielerisches Handeln in hypothetischen Situationen und Probehandeln unter erleichterten sowie realen Situationen, so dass nach entsprechender Einübung und Bewährung es schließlich zu einer Routinisierung der nunmehr verbesserten Handlungsvollzüge kommen kann.
4. Rollenverhalten von Lehrkräten Während Lehrkräfte durch routiniertes Verhalten ihre bewusste Aufmerksamkeit entlasten können, um sich bewusst bestimmten Teilaspekten des Unterrichts widmen zu können (Bromme 1992), ist für die Lernenden eine gewisse wahrnehmbare Stabilität und Vorhersagbarkeit des Lehrerverhaltens gegeben, die einen Teil des beiderseitigen Rollenverhaltens begünstigt. Dabei hat die Lehrerrolle eine prägende Funktion für die Schülerrolle im Sinne einer Bezug nehmenden definitorischen Reaktion, während dies umgekehrt nur in einem eingeschränkten Maße gilt (Gößling 1978: 121). Der soziologische Begriff der Rolle wurde aus der Schauspielkunst abgeleitet: Ein guter Schauspieler bringt einen Teil seiner Persönlichkeit in die Darstellung einer Rolle ein, ohne sich jedoch dabei als Person aufzugeben oder gar in der Rolle zu verlieren; nach der Vorstellung ist er wieder „er selbst“. Das Manuskript schreibt vor, wie er in der Rolle zu handeln hat und wie die anderen handeln werden; gegenseitige Erwartungen werden nicht enttäuscht, denn das Handeln ist von vornherein geregelt. Wie vom Schauspieler wird vom Träger einer sozialen Rolle verlangt, dass er diese Rollenerwartungen unbedingt erfüllt; tut er dies nicht, sinkt sein Prestige und er wird dazu angehalten, ein rollenadäquates Verhalten auszuüben. Die Rolle existiert also unabhängig vom jeweiligen Träger, ihr Inhalt wird von der Gesellschaft bestimmt und rollenabweichendes Verhalten wird ggf. mit Sanktionen belegt. Lehrer und Schüler definieren sich nicht nur durch ihre individuelle Begegnung im aktuellen Lehr-Lernprozess, sondern auch und gerade als Inhaber sozial und institutionell vermittelter Rollen. Viele verschiedene und komplexe Faktoren sowohl hinsichtlich interpersonaler Aspekte (Status, Position, Haltungen und Werte) als auch aufgabenbezogener Aspekte (Erwartungen bezüglich der Art von Lernaufgaben, Wege zur Bewältigung der Lernaufgaben, Lernkontrolle und -bewertung) beeinflussen die Rollen, die Lehrer
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XV. Lehrerinnen und Lehrer
und Schüler im Klassenzimmer einnehmen (Wright 1987). Eine Würdigung dieser Faktoren ist grundlegend für das Verständnis von Lehr- und Lernaktivitäten, denn Kommunikation in Rollenverhältnissen geschieht oft in spezieller Weise, indem ihre Form standardisiert und ritualisiert ist (McCarthy 1991). Gerade Lehrkräfte, die langfristig in der Praxis tätig sind, beklagen sich über die massiven Einschränkungen des Lehr-Lernprozesses, denen sie ⫺ zumindest im öffentlichen Schulwesen Deutschlands ⫺ als vereidigte Staatsbeamte unterworfen sind. Ihnen wird lediglich eine moderate pädagogische Freiheit im Rahmen staatlich genehmigter Lehrwerke und zu erfüllender Lehrpläne gewährt. Schüler nehmen die Lehrkraft als mit Disziplinargewalt versehene Repräsentantin der Institution Schule wahr, deren Interesse nicht der Person des individuellen Schülers gilt, sondern der Erfüllung eines abzuarbeitenden vorgegebenen Lehrplanprogramms sowie der Kontrolle und Bewertung von Schülerleistungen. Nach einem etwa zwanzigjährigen Rollentraining als Schüler haben einige Lehrkräfte, insbesondere in der beruflichen Anfangsphase, wiederum Probleme mit dieser reziproken Rollenzuweisung, die sich in Rollenunsicherheit und Rollenkonflikten niederschlagen kann (Mönnighoff 1992). Darüber hinaus werden Lehrkräfte permanent mit einer Vielzahl divergierender Rollenerwartungen von ihren Interaktionspartnern (Schüler, Eltern, Kollegen, Vorgesetzte, Schulaufsichtsbeamte u. a.) konfrontiert, was sich im Kontext mangelnder Möglichkeiten der Überprüfung, inwieweit sie persönlich diesen Erwartungen entsprechen, konflikthaft auf die eigene Rollenwahrnehmung und -ausübung auswirken kann. Die rollenbedingte Auseinandersetzung der Lehrkraft mit diesen diversen Interaktionspartnern kann widersprüchliche Rollenerwartungen hervorrufen, was wiederum den Rolleninhaber unter Rollendruck setzen kann. Eine Lehrkraft, die z. B. das Kind eines engen Freundes oder des Schuldirektors in der Klasse unterrichtet, muss sich diesem Schüler gegenüber genauso verhalten wie gegenüber allen anderen Schülerinnen und Schülern, ohne sich von seinen Abhängigkeiten korrumpieren zu lassen; dies kann Rollenkonflikte bis hin zum Rollenstress verursachen. Rollenkonflikte können jedoch auch aus der Rolle selbst entstehen. Während sich die Lehrerrolle in dem kognitivistischen Lehr-Lernmodell hauptsächlich auf Instruktion und Beurteilen beschränkte (Gudjons 2001: 257), sind die Rollenerwartungen inzwischen wesentlich erweitert worden, da die Lehrkraft als Lern-Initiator nunmehr auch geplante und organisierte Lerngelegenheiten schaffen muss. Gleichzeitig muss sie sensibel für das Konstruktionspotenzial jedes einzelnen Lernenden sowie für seine außerschulischen Probleme sein; zudem muss sie konsequent in der Notenvergabe, konstruktiv in ihrem Feedback sowie jederzeit souverän und beherrscht in ihrem Verhalten sein. Dies kann zu einer permanenten Rollenüberforderung führen, die sich häufig in einem Burn-Out Syndrom niederschlägt. Lehrer und Schüler begegnen sich in der Institution Schule nicht auf freiwilliger Basis, sondern in einem vorweg definierten Beziehungsverhältnis, das höchst asymmetrisch ist. Auch wenn die Lehrkraft bereit wäre, ihre sozial-institutionelle Rolle als Lehrkraft zugunsten ihrer didaktischen Lehrerrolle im Interesse eines emanzipatorischen Unterrichts zurückzunehmen, so kann sie dennoch nicht mit ihren Schülerinnen und Schülern auf wirklich gleicher Ebene interagieren, da die Lehrkraft immer zugleich als Bewertungsund Kontrollinstanz fungiert; zumindest aus Lernerperspektive nimmt sie die Äußerungen der Lernenden stets auch unter dem Aspekt einer gewissen Notenrelevanz auf. An diesem institutionell begründeten Rollendilemma können letztlich progressive Konzepte eines kommunikativen DaF/DaZ-Unterrichts scheitern, die von einer symmetrischen
148. Die Rolle des Lehrers/der Lehrerin im Unterricht
1333
Kommunikationsbasis der Beteiligten ausgehen, denn der fremd/zweitsprachliche Dialog im Klassenzimmer ist zumeist ein elliptischer Pseudodialog. Eine stabile Rollenerwartung, die Lehrkräfte, Eltern, Vorgesetzte und Lernende gleichermaßen an die Fremd/Zweitsprachenlehrkraft stellen, ist jene als selbstbewusste und interkulturell kompetente Fremd/Zweitsprachenbenutzerin. Die sichere Beherrschung der Zielsprache samt ihres soziokulturellen Kontextes ist die allgemeinste und wichtigste Grundlage jeglichen Bewusstseins von Fachkompetenz, die sich nicht nur in konstruktivem Selbstrespekt der Lehrkraft, sondern auch in der Anerkennung der Lehrerpersönlichkeit von Lernern, Kollegen und im außerschulischen Bereich manifestiert sowie motivationale Bedeutung für Lernende hat, sofern die Sprach- und Kulturkompetenz nicht von der Lehrkraft als Mittel zur Demonstration eigener Überlegenheit missbraucht wird (Wright 1991: 68⫺69). Sichere Sprachbeherrschung und ein hohes Maß an interkultureller Kompetenz machen die Lehrkraft zudem im Unterrichtsprozess frei für ein einfühlsames didaktisch-methodisches Eingehen auf die Lernergruppe bzw. auf einzelne Lernende und deren Lernprobleme, während sich andererseits Sprachunsicherheit und mangelnde interkulturelle Kompetenz verhängnisvoll auswirken kann: Sie kann auf Lehrerseite zu Rollenunsicherheit und Angst führen, während sie auf Lernerseite in Gleichgültigkeit gegenüber der anderen Sprache und ihrem kulturellen Kontext umschlagen und entsprechend demotivierend wirken kann. Insofern trägt die sichere Beherrschung der Zielsprache und ihres soziokulturellen Kontextes nicht nur zu einem stabilen Rollenverständnis bei, sondern sie nimmt auch eine wichtige Funktion als Faktor zur Schaffung und Beibehaltung lernerseitiger Motivation im Lernprozess ein (Alfes 1982). Es ist daher erstaunlich, dass es bislang kaum Untersuchungen gibt, die sich mit den Auswirkungen zielsprachlicher und zielkultureller (In-)Kompetenz der Lehrkraft auf den Unterricht und den Lehr-Lernprozess befassen.
5. DaF/DaZ Ausbildung Ausbildungsmöglichkeiten im Bereich Deutsch als Fremdsprache (DaF) und Deutsch als Zweitsprache (DaZ) existieren an fast allen Universitäten im deutschsprachigen Raum (vgl. Art. 149). Im Hinblick auf die skizzierten Rollenanforderungen wäre es wichtig, dass folgende Bereiche durch das Studium abgedeckt werden: Spracherwerbstheorien, Erstsprachenerwerb, Zweitsprachenerwerb (gesteuert und ungesteuert), Fremdsprachenerwerb/Fremdsprachenlernen (gesteuert), linguistisches sowie psychologisches und pädagogisches Grundlagenwissen, Didaktik des Deutschen als Fremdsprache (Grammatik, Wortschatz, Aussprache, Lektüre), Unterrichtsplanung, Unterrichtsbeobachtung und ⫺ analyse, Lehr- und Lernmittelanalyse, Landeskunde der deutschsprachigen Länder, Interkulturalität, Literatur, Fachsprachendidaktik, Fehleranalyse und -korrektur, Testen und Bewerten. Spezifische Ausbildungsangebote für Deutsch als Zweitsprache existieren überwiegend in Form von Zusatzausbildungen, d. h. als Qualifikationsmöglichkeit für angehende oder bereits praktizierende Lehrkräfte an allgemeinbildenden Schulen. Ihre Einrichtung ist motiviert durch die Tatsache, dass der Unterricht im Regelfall von Schülern und Schülerinnen unterschiedlicher ethnischer Herkunft besucht wird (vgl. Art. 122 und Art. 124). Die Absolventen dieser Studiengänge sollen in die Lage versetzt werden, Unterricht in multi-ethnischen Lernumgebungen zu erteilen. Eine derartige Lehr-Lernsitua-
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XV. Lehrerinnen und Lehrer tion mit ihrer z. T. extremen sprachlichen und kulturellen Heterogenität stellt in zweifacher Hinsicht eine Herausforderung für die Lehrkraft dar: Der Unterricht muss einerseits garantieren, dass alle Lernenden in der multikulturellen Gesellschaft handlungsfähig sind, und er muss andererseits den jeweils spezifischen Bedürfnissen eines jeden Schülers Rechnung tragen. Daraus ergibt sich ein pädagogischer Maßnahmenkatalog, der neben der Entwicklung des Deutschen als Zweitsprache und der Förderung muttersprachlichen Lernens auch die Problematisierung von Ethnozentrismus, die Analyse unterschiedlicher Wertekanons und Verhaltensnormen umfassen muss. Die Erwartungen im Bereich der Pädagogik sind ähnlich anspruchsvoll. Die Konzepte von Erziehung und Sozialisation müssen aus einer interkulturellen Perspektive analysiert werden können und ihre Auswirkung auf die institutionellen Bedingungen und die pädagogischen Vorgaben sollen auf dieser Basis evaluiert werden können. Hinzu kommen noch alltagspraktische Überlegungen hinsichtlich der aktuellen Gestaltung eines Unterrichts in multilingualen und multikulturellen Lerngruppen (vgl. Art. 125). Um diesen Anforderungen gerecht zu werden, muss die Lehrkraft Kenntnisse bezüglich der sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen, rechtlichen, religiösen und politischen Folgen von Migration erwerben. Eine Beschäftigung mit der Theorie und Geschichte der Migration, mit Fragen der Nation und des Rassismus werden daher als Grundlagenwissen vorausgesetzt. Während für die Schule erst in jüngster Zeit nicht nur Zusatzangebote, sondern auch Pflichtmodule im Bereich Deutsch als Zweitsprache angeboten werden, ist die Erwachsenenbildung einen Schritt weiter: Für das Unterrichten in den sog. Integrationskursen wird in Deutschland, Österreich und der Schweiz zunehmend eine entsprechende Fachqualifikation vorausgesetzt (vgl. Art. 121 und 151).
6. Institutionelles Umeld Das institutionelle Umfeld von DaF und DaZ ist sehr unterschiedlich. Während bei Deutsch als Zweitsprache sämtliche Lebensstadien vom Kindergarten bis zur Erwachsenenbildung abgedeckt werden müssen (Billmann-Macheta und Kölbl 2007: 684⫺685), beschränkt sich die Vermittlung von Deutsch als Fremdsprache weitestgehend auf den Sekundarbereich und die sich daran anschließenden Felder der Fort- und Weiterbildung. Diese Unterschiede sind jedoch von geringerer Relevanz als die jeweiligen Lernerpopulationen. Der DaF-Unterricht wendet sich zumeist an homogene Gruppen von Schülern in Regelschulen, die bereits über eine gewisse Grundausbildung verfügen (d. h. in ihrer jeweiligen Muttersprache die entsprechenden Curricula durchlaufen haben) oder an Lernende, die freiwillig an den entsprechenden Institutionen (z. B. Goethe-Institut) Deutsch lernen. Da die deutsche Sprache nach wie vor den Ruf hat, schwierig zu sein, hat man bei DaF-Lernenden im Ausland häufig bereits eine motivierte, ehrgeizige und z. T. sehr leistungswillige Lernerpopulation mit oft auch einem überdurchschnittlichen Bildungshintergrund (Harden 1989). Neben fundierten Kenntnissen der deutschen Grammatik erwarten Lernende dieses Typs dementsprechend umfassende Kenntnisse vor allem der deutschen Geschichte, Kultur und Politik sowie der der Sprache unterliegenden kulturellen Deutungsmuster (Altmayer 2004). Die Lernergruppen bei Deutsch als Zweitsprache sind dagegen meist deutlich verschieden von den oben beschriebenen, was sich häufig bereits innerhalb der Vorschulerziehung zeigt, die in vielen Bundesländern in der Form von Sprachförderprogrammen
148. Die Rolle des Lehrers/der Lehrerin im Unterricht
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integraler Bestandteil der Curricula ist (vgl. Art. 120). Nicht nur die teilweise extreme linguistische Heterogenität hinsichtlich der Muttersprachen in den Lerngruppen stellt ein Problem dar. Darüber hinaus gibt es Schwierigkeiten, die in den sozialen und ethnischen Unterschieden ihre Wurzeln haben. Die DaZ-Lehrkraft muss daher auf jeden einzelnen Schüler eingehen und seine Lernprobleme diagnostizieren, um ihn sodann von dort abzuholen, wo er sich im Lernkontext gerade befindet. Dies ist umso schwieriger, als Lernende sich immer auch in einer ungesteuerten Spracherwerbssituation befinden, da sie im Alltag vielerlei Kontakt mit der Zweitsprache haben. Daher kann der DaZ-Unterricht keine systematisch lineare Progression verfolgen, sondern muss durch eine zyklische Progression sicherstellen, dass die Lehrkraft tatsächlich alle Lernenden erreicht. Weitere wichtige, allerdings häufig unterschätzte Faktoren sind die geplante Verweildauer, die Situationsdefinition der Beteiligten sowie die Freiwilligkeit des Aufenthaltes. Das Verlassen der Heimat geschieht nicht selten unter Zwängen, über deren Natur zu spekulieren hier nicht der Ort ist. Manchmal ist eine Rückkehr geplant, was die aktuelle Situation als vorübergehendes Provisorium erscheinen lässt. Die Motivation, sich mehr als gerade überlebensnotwendig auf die Zielsprache und -kultur einzulassen, ist dann möglicher Weise relativ gering. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn sich bereits sprachlich-kulturelle „Sub-Kulturen“ gebildet haben, d. h. ein gewohntes soziales Umfeld in der Herkunftssprache existiert (Kniffka und Siebert-Ott 2008). Werden in einer solchen Situation von staatlicher Seite weitergehende Integrationsbemühungen verlangt, z. B. durch die Bindung von Aufenthaltsbewilligungen an bestimmte sprachliche Mindestanforderungen, dann kann mit einer eher defensiven, dem Lernprozess wenig förderlichen Haltung seitens der Lernenden gerechnet werden. Diese Ablehnung kann durch religiöse und weltanschauliche Grundmuster verstärkt werden, vor deren Hintergrund die Zielkultur (und damit auch die Sprache) nicht nur als äußerst fragwürdig erscheint, sondern darüber hinaus möglicherweise sogar mit dem gewohnten Wertekanon derart kollidiert, dass eine grundsätzliche Ablehnung zwangsläufig ist (vgl. dazu auch Bommes und Radtke 1993; Harden 2000; vgl. Art. 121). Der Lehrer kann dann in eine Situation geraten, von den Lernenden vor allem als Repräsentant der staatlichen Institutionen betrachtet zu werden, was negative Rückwirkungen auf die Offenheit der Lehr-Lernsituationen haben kann.
7. Berusanorderungen und Berusbild Die Anforderungen, die an Unterrichtende von Deutsch als Fremd- und Deutsch als Zweitsprache gestellt werden, sind also bei weitem nicht so einheitlich, wie es der gemeinsame Nenner, nämlich das Vermitteln der deutschen Sprache, vielleicht vermuten lässt.
7.1. Deutsch als Fremdsprache Im Bereich DaF stehen die konzeptionellen, theoretischen und methodischen Grundlagen von Interkulturalität, von Sprach- und Kulturbeschreibung sowie von Sprach- und Kulturvermittlung in interkulturellen Kontexten im Vordergrund. Besondere Bedeutung haben die Reflexion und Analyse der kontextspezifischen Adaption von Methoden und
1336
XV. Lehrerinnen und Lehrer wissenschaftlichen Erkenntnissen in den Problemfeldern der interkulturellen Sprach- und Kulturvermittlung. Die einschlägigen DaF-Studiengänge bereiten die Absolventen vor allem auf Tätigkeiten innerhalb von privaten und öffentlichen Institutionen der Sprachund Kulturvermittlung vor (z. B. Goethe-Institut, Volkshochschule, Lektorate an Universitäten). Besonderes Gewicht wird in der Regel auf fundierte Kenntnisse hinsichtlich der Fragestellungen zu Konzepten, Methoden und theoretischen Grundlagen von Interkulturalität, Sprach- und Kulturbeschreibung und -vermittlung gelegt mit dem Ziel, auf dieser Basis fachwissenschaftlicher Kenntnisse und Methodenkompetenz in der Entwicklung und Evaluation von Programmen und Projekten in der internationalen Zusammenarbeit mitzuwirken. Da die Vermittlung des Deutschen als Fremdsprache zumeist im Ausland stattfindet, ist neben der oben erwähnten fachlichen Kompetenz für die erfolgreiche Ausübung der Tätigkeit ein hohes Maß and Einfühlungsvermögen, Flexibilität und Belastbarkeit erforderlich. Die DaF-Lehrkaft muss über gute Sprachkenntnisse hinaus auch über eine fundierte soziokulturelle Doppelkompetenz in beiden beteiligten Sprachkulturen verfügen, so dass sie im Sinne des konstruktivistischen Lehr-Lernparadigmas den Lernenden in einfühlsamer Weise Möglichkeiten nicht nur einer zielsprachlichen, sondern auch einer interkulturellen Progression eröffnen kann (Witte 2006, 2009).
7.2. Deutsch als Zweitsprache Wie bereits oben ausgeführt, werden Lehrende des Deutschen als Zweitsprache mit deutlich anderen Problemfeldern konfrontiert. Lehrende in diesem Bereich müssen in der Lage sein, sprachlich und kulturell z. T. extrem heterogene Gruppen zu unterrichten. Sie müssen zudem über Kenntnisse und Fähigkeiten verfügen, die es ihnen erlauben, die sprachlichen Leistungen der Lernenden vor dem Hintergrund ihrer jeweils spezifischen Situation zu beurteilen und angemessene Fördermaßnahmen zu initiieren. Darüber hinaus müssen sie in der Lage sein, die kulturellen Voraussetzungen des Lernerverhaltens zu verstehen und in multilingualen und multikulturellen Gruppen gemeinsames Lernen zu ermöglichen. Duxa (2001) hebt in ihrer Studie zum professionellen Selbstverständnis von DaZ-Lehrenden in der Weiterbildung das spezifische Anforderungsprofil hervor und weist auf den Widerspruch zwischen den zunehmenden Anforderungen und den faktischen Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten hin. Sie plädiert für eine „kollaborative Lehrerforschung“ als entscheidenden Beitrag zur professionellen Entwicklung (Duxa 2001: 462⫺467; vgl. auch Art. 153).
8. Ausblick Die Erforschung der Rolle des Lehrers und der Lehrerin im Unterricht insbesondere des Deutschen als Fremdsprache ist immer noch sehr eurozentrisch ausgerichtet, was sich u. a. in Publikationen niederschlägt, die Kompetenzen und Funktionen einer idealen Lehrkraft in einem Kontext der Ersten Welt postulieren, der jedoch keine universale Gültigkeit beanspruchen kann. Es wäre also notwendig, erstens auf die Realität der Fremd/Zweitsprachenlehrkraft samt den restriktiven Umweltbedingungen vor Ort zu fokussieren und zweitens empirische Untersuchungen zu kulturangemessenen Adaptionen
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1337
von Unterrichtsverfahren durchzuführen, die die alltägliche DaF/DaZ-Unterrichtspraxis in ihrem soziokulturellen Bedingungsgefüge einschließlich der subjektiven Interpretationen des Unterrichts analysieren (vgl. Art. 105). Geschähe dies auf konsistenter Basis für bestimmte Regionen der Welt, könnte man zu neuen Einsichten über Kategorien faktischen fremdkulturellen Lehrerverhaltens kommen, die wiederum Rückwirkungen auf eine weniger eurozentrisch geprägte Theoriebildung einerseits sowie auf die faktische Lehreraus- und Fortbildung vor Ort andererseits haben. In der Sprachlehrforschung müssen theoretische Erkenntnisse und aus ihnen abgeleitete Forderungen für eine konstruktive Lehrerrolle in der konkreten Unterrichtspraxis auch in realistischer, d. h. unmittelbar umsetzbarer Weise ausgerichtet sein. Es wäre wichtig, dass Lehrkräfte durch Aus- und Fortbildungsmaßnahmen veranlasst werden, ihre Professionalität nicht als internes individuelles Persönlichkeitsmerkmal zu betrachten, sondern sie so weit wie möglich mit Kollegen und Forschern zu teilen, so dass ihre Einsichten und Erfahrungen auf breiter Basis zugänglich gemacht werden können, was wiederum dem wissenschaftlichen Diskurs zugute käme. Die Fremd- und Zweitsprachenlehr- und -lernforschung sollte also DaF/DaZ-Lehrkräfte sowie auch DaF/DaZ-Lernende stärker in die Forschung einbeziehen und nicht nur als Versuchsobjekte betrachten; damit könnte die Kluft zwischen Theorie und Praxis überwunden werden und die Lehrenden und Lernenden als Forschungssubjekte befähigt werden, ihre eigene Rolle in der Lehr-Lernpraxis konstruktiv zu verändern (Johnson 2004: 1⫺5).
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XV. Lehrerinnen und Lehrer Wright, Tony 1987 Roles of Teachers and Learners. Oxford: Oxford University Press. Wright, Tony 1991 Language Awareness in Teacher Education Programmes for Non-Native Teachers. In: Carl James und Peter Garrett (Hg.), Language Awareness in the Classroom. London: Longman, 62⫺77.
Arnd Witte, Maymooth (Irland) Theo Harden, Dublin (Irland)
149. Ausbildung von Lehrkräten ür Deutsch als Fremdsprache und Deutsch als Zweitsprache 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Vorbemerkung Entwicklung der Fremdsprachenlehrerausbildung Die Rolle der Deutschlehrerausbildung im Rahmen der Germanistik Akademische DaF-/DaZ-Ausbildung an deutschen und österreichischen Universitäten Kernelemente der Ausbildung von DaF-/DaZ-Lehrkräften Perspektiven der Lehrerausbildung Literatur in Auswahl
1. Vorbemerkung Bei der Ausbildung von Lehrkräften für Deutsch als Fremd- und Deutsch als Zweitsprache ist zwischen Ländern, in denen schulischer Deutschunterricht und die entsprechende Lehrerausbildung durch staatliche Regelungen bestimmt sind, und solchen, wo dies nicht der Fall ist und wo jede Schule eigene Anforderungen an die Lehrkräfte artikuliert, zu unterscheiden. Aber selbst in den Ländern, die die Lehrerausbildung staatlich regeln, herrschen höchst unterschiedliche lokale, regionale und nationale Strukturen. Schließlich ist zu beachten, dass es je nach Land und Situation gemeinsame oder unterschiedliche Strukturen für die Ausbildung zum Deutsch-, Englisch- oder Spanischlehrer etc. gibt, abhängig davon, ob die jeweilige Sprache zum Pflichtangebot gehört, ob sie bereits in der Primarstufe oder nur an bestimmten weiterführenden Schulen angeboten wird. Ein grundsätzlicher Unterschied ist schließlich im Hinblick auf den Zweitsprachenunterricht im deutschen Sprachraum und den Fremdsprachenunterricht in nichtdeutschsprachigen Ländern zu machen. Der vorliegende Beitrag muss sich auf Grundsätzliches mit Schwerpunkt auf Deutschland und Österreich konzentrieren. Für Spezifika der einzelnen Länder sei daher auf die Länderberichte im XIX. Kapitel verwiesen.
2. Entwicklung der Fremdsprachenlehrerausbildung Die Vermittlung von Fremdsprachen war bis in das 18. Jh. hinein eine Aufgabe von Gouvernanten und Sprachmeistern, also muttersprachlichen Autodidakten ⫺ eine Tradi-
149. Ausbildung von Lehrkräften für Deutsch als Fremdsprache und Zweitsprache
1341
tion, die bis heute in der Beliebtheit von native speakers als Sprachlehrkräften fortbesteht. Die Muttersprache ⫺ so der Gedanke ⫺ beherrsche jeder Mensch so gut, dass er sie auch als Fremdsprache vermitteln könne. Erst mit dem Ende des 18. Jhs., im Zuge einer stärkeren staatlichen Regulierung des Unterrichtswesens, entstehen Regelungen für eine systematische, fachlich fundierte Lehrerausbildung (zur Geschichte der Lehrerausbildung allgemein vgl. Gerner 1975; zur Entwicklung der Fremdsprachenlehrerausbildung vgl. von Bhück 1995). Die heute weitgehend übliche Ausbildung von FremdsprachenlehrerInnen (für die Sekundarstufe) im Rahmen der Philologien entwickelte sich in Parallelität zu den Studien in Griechisch und Latein, um für die lebenden Fremdsprachen ein ähnliches Prestige zu etablieren. Die Neuphilologie an den Universitäten verdankt der Lehrerausbildung weitgehend ihre Institutionalisierung, ohne allerdings die Studieninhalte auf die künftige Berufsrolle ihrer Absolventen abzustimmen. Universitäten sahen und sehen sich teilweise noch heute nicht als Ausbildungsstätten, sondern orientieren sich in ihrem Unterrichtsprogramm an der Fachsystematik: Wer sein Fach versteht, so der Grundgedanke, könne es dann auch gut unterrichten. So berechtigt auch heute noch in zahlreichen Ländern ein vorwiegend philologisch orientiertes Germanistikstudium, in dessen Zentrum Mediävistik, Sprach- und Literaturwissenschaft stehen, zu einer Tätigkeit als Deutschlehrer, auch wenn inzwischen zum Teil ergänzende pädagogische Studien (pädagogisches Begleitstudium, Referendariat, Unterrichtspraktikum o. ä.) hinzugekommen sind und in den letzten Jahren v. a. im europäischen Raum im Rahmen des BolognaProzesses Germanistikstudiengänge deutlicher berufsorientierend konturiert werden. Während die Lehrerausbildung in Westeuropa seit den 1950er Jahren zunächst stagnierte ⫺ erst mit dem Bologna-Prozess und der Entwicklung von Bildungsstandards sind neue Entwicklungen in Gang gekommen ⫺, sind mit dem durch die Öffnung des „Eisernen Vorhangs“ entstandenen großen Bedarf an qualifizierten Fremdsprachenlehrern in zahlreichen mittel- und osteuropäischen Ländern neue Wege der Lehrerausbildung beschritten worden. Mit dem Wegfall des Russischen als Pflichtfremdsprache und der Öffnung nach Westeuropa explodierte die Nachfrage nach Fremdsprachenunterricht vor allem in Englisch und anfänglich auch in Deutsch; die mittel- und osteuropäischen Reformstaaten standen vor der Notwendigkeit, rasch möglichst viele Lehrkräfte zu qualifizieren. Da die Universitäten mit ihrer philologischen Tradition als zu schwerfällig erschienen, wurde in manchen Ländern ein neuer Weg beschritten: In Polen und in der Tschechischen Republik z. B. wurden unabhängig von den Universitäten Kurzstudien an eigens gegründeten Lehrerkollegs bzw. Zentren eingeführt, die mit einer dreijährigen Ausbildung (gegenüber dem traditionell fünfjährigen Universitätsstudium) Deutschlehrer qualifizieren sollten. In Ungarn wurden solche Kurzstudiengänge an den Hochschulen etabliert (vgl. zur Übersicht Kast und Krumm 1994; Krumm 1999; Krumm und Legutke 2001).
3. Die Rolle der Deutschlehrerausbildung im Rahmen der Germanistik Dass ein germanistisches Studium allein nicht diejenigen Fähigkeiten und Fertigkeiten vermittelt, die ein Lehrer braucht, um zu unterrichten, liegt auf der Hand. Insofern bestimmt die Frage, welche Inhalte unverzichtbar sind und wie die einzelnen Ausbildungskomponenten zu gewichten seien, ohne das Studium zu überfrachten, die Diskussion
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XV. Lehrerinnen und Lehrer um die Fremdsprachenlehrerausbildung seit den 1970er Jahren. Eine Ausrichtung der Lehrerausbildung auf das künftige Berufsfeld bedeutet vor allem, außer den sprach- und literaturwissenschaftlichen auch sprachdidaktische und landeskundliche Studienelemente einzubeziehen, was nicht ohne eine Überprüfung auch der germanistischen Ausbildungsinhalte erfolgen kann. Damit ist, auch wenn Kritiker dies gelegentlich unterstellen (so etwa Glück 1997: 60 ff.), nicht gemeint, auf eine solide germanistische Ausbildung zu verzichten; vielmehr geht es darum, diese durch eine ebenso fundierte, auf die Lehraufgaben zugeschnittene Ausbildung zu komplettieren. Die Dynamik des Lehr-Lern-Prozesses bildet einen eigenständigen Studienbereich, in dem neben sprachbezogenen auch die Vielfalt lerner- und interaktionsbezogener Aspekte zu berücksichtigen sind, d. h. dass ein berufsorientiertes Lehrerstudium interdisziplinär anzulegen ist (vgl. auch Helbig 1997: 93). Seit Ende der 1980er Jahre wird unter den Anforderungen an Fremdsprachenlehrende verstärkt ihre besondere Rolle als Mittler zwischen den Kulturen betont. Die Außenperspektive ist das unterscheidende Merkmal zwischen einer Lehrerausbildung für den muttersprachlichen und den fremdsprachlichen Deutschunterricht (vgl. Krumm 1993: 281⫺ 282; Helbig 1997). Insgesamt hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass die Ausbildung allein überfordert wäre, alle diese Qualifikationen in umfassender Weise zu vermitteln, dass es vielmehr einer Kombination von Lehreraus- und Fortbildung bedarf, eines lebenslangen Lernens, damit Lehrende den Anforderungen an ihre Tätigkeit gerecht werden können (vgl. Art. 150 und 151). Ein solches nicht bloß philologisches, sondern auch die Vermittlung von Lehrfähigkeit einschließendes Verständnis der Lehrerausbildung hat in einigen Ländern zur Einrichtung fremdsprachendidaktischer Abteilungen im Rahmen der Germanistik bzw. zu integrierten germanistisch-erziehungswissenschaftlichen Ausbildungskonzeptionen und zur verstärkten Einbeziehung praktischer Phasen in die Lehrerausbildung geführt (vgl. Krumm und Legutke 2001).
4. Akademische DaF-/DaZ-Ausbildung an deutschen und österreichischen Universitäten 4.1. Überblick Für die Ausbildung zur Lehrkraft für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache im deutschsprachigen Raum gelten besondere Bedingungen: Zum einen sind die Studierenden überwiegend solche, die es lernen wollen, ihre Muttersprache als Fremd- und Zweitsprache zu unterrichten, zum andern ist Deutsch an deutschen und österreichischen Schulen keine Fremdsprache, so dass die Studiengänge für Deutsch als Fremdsprache in beiden Ländern nicht als Lehramts-, sondern als Magister- bzw. Diplomstudien angelegt sind. Davon zu unterscheiden sind Qualifikationen, die Lehrende im Schulbereich für den Unterricht mit Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund benötigen, die in Studienangeboten für Deutsch als Zweitsprache vermittelt werden (für die wiederum anders gelagerte Situation in der Schweiz vgl. Art. 8). Die Situation der DaF-/DaZ-Lehrerausbildung in Deutschland ist ein Spiegel der Entwicklung des akademischen Fachs Deutsch als Fremdsprache (vgl. Art. 1 und 2). Galt
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das Fach DaF in seiner Gründungsphase als „Kind der Praxis“, dann lag das daran, dass die Notwendigkeit der fachdidaktischen und wissenschaftlich fundierten Qualifizierung von Lehrkräften für den DaF-Unterricht ein wesentlicher Grund für die Einrichtung von akademischen Studiengängen an deutschen Universitäten war. Das Ergebnis eines Entwicklungsprozesses bis Ende der 1990er Jahre waren akademische Studiengänge im Rahmen von Magister-, Diplom-, Ergänzungs- und Zusatzstudiengängen bzw. die Berücksichtigung von DaF-Studienelementen als Teil von anderen Studiengängen (insbesondere Germanistik, aber auch Erziehungswissenschaften sowie Sprachlehrforschung), die ein höchst heterogenes Gesamtbild und Qualifikationsprofile mit je nach Studienort unterschiedlichen inhaltlichen Schwerpunktsetzungen und Studienvolumina ergaben (vgl. Henrici und Koreik 1994; Baur und Kis 2002). Diese für Außenstehende und potentielle ArbeitgeberInnen eher undurchschaubare Situation ist durch die Einführung von unterschiedlichen Bachelor- und Masterstudiengängen nicht unbedingt besser geworden (vgl. die Bemühungen des Fachverbands Deutsch als Fremdsprache [FadaF], eine größere Transparenz durch die Pflege von aktuellen Informationen zu den Studiengängen in den und außerhalb der deutschsprachigen Länder durch DaF-Wikis herzustellen: http:// www.fadaf.de/wiki/). Versuche der Fachvertreter, sich auf überregionale Standards und Kerncurricula zu einigen, sind bisher über Anfangsdiskussionen und schmale Einigungen nicht hinausgekommen (vgl. das Grundsatzpapier zur curricularen Basis von Bachelorund Masterstudiengängen DaF des FaDaF o. J. sowie die Beiträge in Casper-Hehne, Koreik und Middeke 2006). Die Gründe dafür reichen von berechtigten Schwerpunktsetzungen und Fachegoismen auf der Basis unterschiedlicher Forschungsprofile bis zur Problematik notwendiger Polyvalenz von akademischen Studiengängen, die die Vielschichtigkeit und Wandelbarkeit möglicher Berufsfelder in der Sprach- und Kulturvermittlung im In- wie Ausland erfordert. An vielen Universitätsstandorten wird Deutsch als Fremd- und Zweitsprache (zukünftig) im Rahmen des Masterstudiums angeboten, meist auf der Basis eines germanistischen Bachelorabschlusses (u. a. Berlin, Gießen, Göttingen, Marburg, Wien), nur an den etwas größeren und besser ausgestatteten Standorten (Bielefeld, Jena, Leipzig) werden konsekutive Bachelor- und Masterstudiengänge angeboten. Gerade im Rahmen von Bachelorstudiengängen wird die Berufsorientierung als zentrales Ausbildungsziel beschrieben. Hierfür bringen die DaF-/DaZ-Studiengänge in der Regel recht gute Voraussetzungen mit; die Berufsfelder Tätigkeiten in der Sprach- und Kulturvermittlung sowie DaF-/ DaZ-LehrerIn ⫺ mit Schwerpunkt in der Erwachsenenbildung ⫺ waren in fast allen bisherigen Studienordnungen beschrieben und deutlich ernster gemeint und umgesetzt als in anderen geisteswissenschaftlichen Studiengängen. Die akademische Ausbildung von Lehrkräften für den Unterricht Deutsch als Zweitsprache und weitere Aktivitäten in der sprachlichen Bildung für Migranten, Flüchtlinge und Lernende der Folgegenerationen mit Zuwanderungsgeschichte fand in Deutschland bislang im Rahmen der DaF-Studiengänge, mitunter ⫺ und je nach Engagement und Möglichkeiten der Akteure an den unterschiedlichen Studienorten ⫺ in Form von Studienelementen im Rahmen der Lehramtsstudiengänge und der Interkulturellen Pädagogik statt. Die Situation der DaZ-Ausbildung ist mehr als unbefriedigend; erst in der letzten Zeit werden hier unterschiedliche Anstrengungen unternommen. So finden im Rahmen der bisherigen DaF-Studiengänge Module und Lehrveranstaltungen zu DaZ stärkere Berücksichtigung. DaZ wird in einigen deutschen Bundesländern und an den Pädagogischen Hochschulen in Österreich zukünftig ein (eher kleines) Pflicht- oder Wahlpflichtele-
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XV. Lehrerinnen und Lehrer ment in den Studiengängen für ein Lehramt sein, z. B. müssen im Rahmen des ab 2011 gültigen Lehrerausbildungsgesetzes in Nordrhein-Westfalen sämtliche Studierende aller Lehrämter (inkl. aller Schulformen, inkl. aller Sachfächer) mindestens sechs Leistungspunkte in „Deutsch für Schülerinnen und Schüler mit Zuwanderungsgeschichte“ erbringen. Eine ähnliche Festlegung existiert für Bremen und Berlin, für Studierende des Lehramts Deutsch in Sachsen; andere Bundesländer werden auf der Basis des Nationalen Integrationsplans für Deutschland (Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration 2007) nachziehen. In Bayern wird derzeit das neue Unterrichtsfach Deutsch als Zweitsprache eingerichtet. In Österreich ist die Neuordnung der Lehrerausbildung im Jahr 2009 noch nicht abgeschlossen, doch drängt das zuständige Unterrichtsministerium darauf, Module zu Deutsch als Zweitsprache in alle Lehramtsstudiengänge, insbesondere aber in die für die Grundschule aufzunehmen (vgl. Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur und Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung 2008). Noch ausgeprägter föderalistisch bedingte Heterogenität herrscht in der Ausbildung von Lehrkräften für den Elementarbereich, der in immer mehr deutschen Bundesländern als Kernaufgabe der Länder und Kommunen im Bereich der Sprachförderung wahrgenommen wird ⫺ hier liegt derzeit noch der Schwerpunkt auf der (leider zentral wenig abgestimmten) Entwicklung von Instrumenten der frühen Sprachstandsdiagnose (vgl. Art. 146) und weniger auf der dringlich zu erweiternden Aus- und Weiterbildung von Erzieherinnen und weiterem Personal von Kindergärten und Kindertagesstätten. In Österreich fällt die Ausbildung von Kindergarten- und SozialpädagogInnen in die Bundeskompetenz: Der Lehrplan Bildungsanstalten für Kindergartenpädagogik (BAKIP) enthält seit 2007 einen Themenbereich Deutsch als Zweitsprache, der allerdings nur für die Kollegs für Kindergartenpädaogik (2. Bildungsweg) mit einer Wochenstunde verpflichtend sind (vgl. De Cillia und Krumm 2009).
4.2. Struktur und Reorm der DaF-/DaZ-Studiengänge Bis zur Jahrtausendwende konnten akademische DaF-/DaZ-Angebote folgendermaßen differenziert werden: (a) grundständige DaF-/DaZ-Studiengänge: DaF/DaZ als Hauptund/oder Nebenfach v. a. in Magister- und Diplomstudiengängen; (b) DaF/DaZ als Schwerpunkt im Rahmen anderer grundständiger Studiengänge (z. B. Germanistik, Sprachlehrforschung); und (c) DaF/DaZ als Ergänzungs-, Aufbau- und Zusatzstudiengang. Die Studienangebote unterschieden sich stark voneinander, von einer einheitlichen DaF-/DaZ-Lehrerausbildung konnte nicht die Rede sein. Die aktuelle Situation der Umstrukturierung der Studiengänge zu Bachelor- und Masterstudiengängen ist in einer fortgeschrittenen Phase (vgl. den Bericht über den Zwischenstand im Jahr 2005 in Riemer 2006). An den deutschen Universitäten sind die neuen Studienangebote für DaF/DaZ folgendermaßen zu differenzieren: Es gibt (a) das Angebot eines konsekutiven Bachelor-/Masterstudiengangs DaF/DaZ; (b) das Angebot eines Bachelorstudiengangs DaF/DaZ (nur Bachelorstudiengang); (c) das Angebot eines Masterstudiengangs DaF/DaZ (nur Masterstudiengang); und (d) DaF-/DaZ-Angebote (Module, Schwerpunkte) im Rahmen anderer Studiengänge (häufig im Rahmen von Germanistikstudiengängen). Im Rahmen der Hochschulautonomie muss sich jeder DaF-/DaZStudiengang zunächst an der eigenen Hochschule behaupten und ein Akkreditierungsver-
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fahren erfolgreich durchlaufen. Die Entscheidung für einen Studiengangstyp einschließlich spezifischer Profilbildungen spiegelt daher neben Überlegungen zu Bedarfen der DaF-/DaZ-Ausbildung auch die Bedingungen in verschiedenen Bundesländern und an den einzelnen Hochschulen bis hin zur Balance zwischen Forschungs- und (Aus-)Bildungsprofil wider. In Österreich besteht nur an der Universität Wien ein Masterstudium DaF/DaZ; die Universität Graz bietet einen Universitätslehrgang Deutsch als Fremd- und Zweitsprache als kostenpflichtiges Aufbaustudium an, das entweder einen Bachelorabschluss oder aber eine mindestens dreijährige Berufserfahrung an öffentlichen oder privaten Schulen voraussetzt. Germanistische Bachelorstudiengänge an den österreichischen Universitäten enthalten in der Regel ein Modul aus Deutsch als Fremd- und/oder Zweitsprache, teilweise gibt es weiterhin entsprechende Zusatzstudien (vgl. Boeckmann 2009). Die im Verlauf des Jahres 2009 insbesondere im Verlauf des Bildungsstreiks in Österreich und Deutschland deutlich artikulierte Kritik an der Unterfinanzierung der Universitäten sowie Übersprunghandlungen im Verlauf der Studienstrukturreform (insbesondere was Prüfungsvolumina, Überstrukturierung und Überfrachtung der Studienangebote betrifft), wird notwendige Nachjustierungen auch im Rahmen der DaF-/DaZStudiengänge bewirken. Angesichts der vielfältigen zu berücksichtigen Kernelemente der DaF-/DaZ-Lehrerausbildung (s. Abschnitt 5) ist dies eine Herausforderung, die die Studiengangskonzeption noch lange beschäftigen und verschiedene Zwischenlösungen nötig machen wird.
5. Kernelemente der Ausbildung von DaF-/DaZ-Lehrkräten Die Diskussion um das Anforderungsprofil an Fremd- und ZweitsprachenlehrerInnen hat sich in einer Reihe von Grundsätzen niedergeschlagen, die zumindest ansatzweise in neueren Curricula aufgegriffen werden. Mit der Forderung nach einem stärkeren Berufsbezug der Deutschlehrerausbildung hat die Bedeutung der unterrichtsbezogenen Fragestellungen in lehrerausbildenden Studiengängen zugenommen, wobei sich die Situation je nach Land höchst unterschiedlich darstellt: In den Studiengängen für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache in Deutschland und Österreich stehen Fremd- bzw. Zweitsprachendidaktik und Sprachlehrforschung vielfach im Zentrum, in der Auslandsgermanistik hängt dies vom Stand der Studienreform bzw. der traditionellen Rolle von Glottodidaktik bzw. Angewandter Linguistik im Rahmen des Germanistikstudiums ab. Drei Gesichtspunkte spielen bei der Einbeziehung methodisch-didaktischer Aspekte in die Deutschlehrerausbildung eine besondere Rolle: (a) die Verknüpfung von Theorie und Praxis: Zu den sprachdidaktischen Lehrveranstaltungen gehören daher in der Regel Unterrichtspraktika, die es den angehenden Lehrern erlauben, die Umsetzung von Konzepten in die Unterrichtspraxis zu beobachten bzw. selbst zu erproben; (b) die Verknüpfung des fachwissenschaftlichen mit dem fremdsprachendidaktischen Studium, so dass die Studierenden aus der didaktischen Perspektive heraus Rückfragen an die Spracherwerbsforschung, Sprachlehr- und -lernforschung sowie Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaft stellen können; (c) die Einbeziehung des forschenden Lernens: Die künftigen Lehrer sollen lernen, selbst ein Stück weit Klassenzimmerforschung zu betreiben, d. h. die ablaufenden Lehr- und Lernprozesse zu analysieren, um den besonderen Lehr- und Lernproblemen auf die Spur zu kommen (vgl. Art. 153).
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XV. Lehrerinnen und Lehrer Trotz aller Unterschiede lassen sich folgende Bereiche als Kernelemente der Ausbildung von DaF- und DaZ-Lehrkräften beschreiben (vgl. auch Krumm 1994; Neuner 1994; Krumm und Legutke 2001): (1) Ausbildung von Kenntnissen in Bezug auf die deutsche Sprache (sprachwissenschaftliche Kompetenz), wobei Bewusstheit und Kenntnisse der (Ir-)Regularitäten in den linguistischen Gegenstandsbereichen und die Kompetenz zu entwickeln sind, Formen und Funktionen der deutschen Sprache im phonetisch-phonologischen, grammatischen und lexikalischen sowie pragmatischen und textuellen Bereich mit fremden Augen sehen, analysieren und beschreiben zu können. (2) Wer Sprache(n) lehren will, muss wissen, wie Sprache(n) gelernt werden, welche Prozesse und Lernschwierigkeiten dabei natürlich auftreten, welche individuellen Unterschiede sich bemerkbar machen werden. Dies impliziert die Notwendigkeit der Ausbildung von Kenntnissen in Bezug auf Prozesse des Lernens von Deutsch als Fremd- und Zweitsprache sowie einer Kompetenz zur kritischen Rezeption und Reflexion aktueller Forschungsergebnisse mit dem Ziel, diese Kenntnisse bei der Evaluation, Planung und Durchführung von Unterricht anwenden zu können. Dass dies noch nicht ausreichend in den DaF-Studiengängen verankert ist, haben Blex und Schlak (2001) in einer Analyse der Studienangebote in Deutschland ermittelt. (3) Ausbildung von Kenntnissen in Bezug auf die Kultur und Gesellschaft (Landeskunde) des deutschsprachigen Raums mit Berücksichtigung deutschsprachiger Literatur einschließlich der damit verbundenen Textsorten und Medien (vgl. Art. 160). (4) Die Ausbildung interkultureller Kompetenz ist als eine Schlüsselqualifikation zu betrachten, wobei Prozesse des Fremdverstehens, kulturellen Lernens und der interkulturellen Kommunikation reflektiert werden. (5) Zentrales Ziel der DeutschlehrerInnenausbildung ist die Ausbildung von Kenntnissen und berufsorientierten Kompetenzen in Bezug auf Prozesse des Lehrens von Deutsch als Fremd- und Zweitsprache einschließlich weiterer Maßnahmen der sprachlichen und interkulturellen Bildung (fachdidaktische Kompetenz). Hierzu gehört das weite Feld der Methodik/Didaktik (vgl. Kapitel X). (6) Eng mit der Lehrtätigkeit verbunden ist die Durchführung von informellen und formellen Tests und Prüfungen zur Sprachstands- und Sprachentwicklungsmessung bzw. die Vorbereitung der Lernenden auf standardisierte Tests (vgl. Kap. XIV). Insbesondere für den Bereich Deutsch als Zweitsprache ist die Notwendigkeit der Ausbildung sprachdiagnostischer Kompetenzen erkannt worden, da ungesteuerte und gesteuerte Lernprozesse zusammenkommen bzw. die Heterogenität der Lernenden erheblich ist. (7) Noch zu wenig berücksichtigt, aber von zunehmender Relevanz sowohl für Deutsch als Fremd- wie für Deutsch als Zweitsprache ist die Ausbildung von Kenntnissen über grundlegende sprachenpolitische, bildungs- und sozialpolitische Entwicklungen (z. B. europäische Sprachenpolitik und ihr Stellenwert für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache, Zuwanderungsgesetze und ihre Konsequenzen für Deutsch als Zweitsprache) und damit verbundene Akteure und Institutionen mit dem Ziel, diese Kenntnisse bei der Planung, Durchführung und Evaluation von Unterricht und Fördermaßnahmen zu reflektieren und einzubringen (vgl. Kap. III). (8) Für deutschsprachige Studierende sind sprachpraktische Studienanteile in einer weiteren Fremdsprache als Kontrastsprache (insbesondere Migrantensprachen, nicht indoeuropäische Sprachen) eine gut erprobte Möglichkeit, aktuelle Lernerfahrungen und dabei erfahrene Lernschwierigkeiten mit fachwissenschaftlichen und fachdidaktischen In-
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halten abzugleichen und fachliche Studieninhalte erfahrbar zu machen. Vielfach wird von den Studierenden dabei verlangt, ein Lerntagebuch als Grundlage für weitere fachwissenschaftliche und fachdidaktische Reflexionen zu führen. (9) Dass für nichtmuttersprachliche DeutschlehrerInnen eine möglichst umfassende Beherrschung der Zielsprache wünschenswert ist, steht außer Frage. Die Sprachvermittlung dominiert daher zumindest die erste Studienphase in den meisten auslandsgermanistischen Studiengängen (vgl. die Beiträge in Casper-Hehne und Middeke 2009). Dabei ist zu unterscheiden zwischen Studiengängen, in denen Studierende ohne nennenswerte sprachliche Vorkenntnisse ein Deutschlehrer-/Germanistikstudium aufnehmen ⫺ in der Regel dort, wo Deutsch nicht an Schulen angeboten wird ⫺, und jenen, in denen eine relativ gute Sprachbeherrschung Voraussetzung für die Aufnahme des Studiums ist und daher von Anfang an das Studium stärker fachliche Akzente setzen kann (vgl. auch Art. 3). Bei der Gestaltung der sprachpraktischen Ausbildung muss es darum gehen, die Isolierung der Sprachkurse vom übrigen Lehrangebot zu überwinden, befindet sich der Lehrerstudent doch in einer spezifischen Doppelrolle als Sprachlernender einerseits und (angehender) Sprachlehrer andererseits. Lehrende unterrichten so, wie sie selbst eine Sprache gelernt haben. Auch in den DaF-/DaZ-Studiengängen der deutschsprachigen Länder ist studienbegleitende Förderung der sprachpraktischen Kompetenz in Deutsch als fremder Sprache, insbesondere auch in Deutsch als fremder Wissenschaftssprache, für Studierende mit Herkunft aus nichtdeutschsprachigen Ländern von großer Bedeutung, da das geforderte Spracheingangsniveau (häufig TestDaF 4444) allein nicht ausreicht; entsprechend integrierte Angebote im Rahmen der Studiengänge sind leider nicht der Regelfall. (10) In Bezug auf die Entwicklung dieser Kompetenzen sind Erfahrungen der Studierenden in der Planung, Durchführung und Evaluation von Unterricht im Rahmen von Hospitationen und Praktika von besonderer Bedeutung. In vielen europäischen Ländern, so auch in Deutschland und Österreich, ist die Ausbildung von LehrerInnen für öffentliche Schulen zweiphasig angelegt: An das philologische (und eventuell auch fachdidaktische) Studium schließt sich eine Phase der Praxiseinführung und Praxiseinübung an (Referendariat, unterrichtspraktisches Jahr o. ä.), die in der Regel nicht mehr in der Verantwortung der ausbildenden Hochschule, sondern spezieller Institutionen (in Deutschland z. B. der Studienseminare) durchgeführt wird. Die Überwindung dieser starken Trennung in eine wissenschaftlich-theoretische und eine praktische Ausbildungsphase in einer einphasigen Lehrerausbildung ist seit langem als Notwendigkeit erkannt (vgl. Krumm 1976) und wurde im Bereich der Deutschlehrerausbildung insbesondere in den mittel- und osteuropäischen Reformprojekten realisiert (vgl. Kast und Krumm 1994). In Westeuropa ist es dagegen weitgehend bei einer zweiphasigen Ausbildung geblieben, allerdings haben auch hier in unterschiedlicher Form Praxisphasen Eingang in die Ausbildung gefunden. Insgesamt zeigt die Praxis der Lehrerausbildung eine Vielfalt von Formen, den künftigen Lehrern Erfahrungen mit ihrem künftigen Berufsfeld bereits im Rahmen der Erstausbildung zu ermöglichen: (a) Unterrichtsbeobachtung und Hospitationen: Angehende Lehrerinnen und Lehrer müssen es zunächst lernen, ihr künftiges Praxisfeld, das sie bislang nur aus der Schülerperspektive kennen, aus der Lehrperspektive, d. h. auch unter fachlichen und didaktischen Aspekten, wahrzunehmen (vgl. Art. 152). (b) Microteaching und Unterrichtspraktikum: Beobachten allein befähigt nicht zu Handlungskompetenz. Im Rahmen von Microteaching können Studierende erste
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XV. Lehrerinnen und Lehrer
Schritte des Unterrichtens unter Reduktion der Komplexität des Unterrichtsprozesses und mit wenigen gutwilligen Lernenden (meist ihren Mitstudenten) ausprobieren und gezielt einzelne Lehrfertigkeiten trainieren, ehe in einem Unterrichtspraktikum reale Unterrichtserfahrungen gesammelt werden. (c) Bei den Studiengängen für Deutsch als Fremdsprache im deutschsprachigen Raum geben neben Inlands- auch Auslandspraktika den Studierenden Gelegenheit, Unterrichtserfahrungen in einem anderen kulturellen Kontext zu sammeln (vgl. die Beiträge in Ehnert und Königs 2000). (d) Eine Sonderform der praktischen Lehrerausbildung in Vorbereitung auf die mehrsprachige Realität der Schule bieten seit einigen Jahren etliche deutsche Universitäten (Stand 2009: 35 Studienstandorte in 14 Bundesländern). Im Rahmen von „Förderunterricht für Schülerinnen und Schüler nicht deutscher Herkunftssprache“ der Sekundarstufen I und II können i. d. R. Lehramtsstudierende umfangreichere studienbegleitende (betreute) außerschulische Unterrichtserfahrungen in Kleingruppen mit SchülerInnen sammeln. Dieser Modellversuch wird von der Stiftung Mercator unterstützt (http://www.stiftung-mercator.org/foerderunterricht/) und hat vielfach Bewegung in die Lehreraus- und -weiterbildung mit Bezug auf diese Zielgruppe gebracht.
6. Perspektiven der Lehrerausbildung Seit Einsetzen des Bologna-Prozesses ist sehr viel Bewegung auch in die Reform der akademischen DeutschlehrerInnenausbildung gekommen. Allerdings stellen sich zwei Fragen: Die eine betrifft den Übergang vom Studium in den Lehrberuf ⫺ auf Grund der schlechten Bezahlung der Lehrer und des großen Bedarfs an sprachkundigen Mitarbeitern in der Wirtschaft nehmen teilweise nur ca. 30 % der AbsolventInnen der auslandsgermanistischen Studiengänge eine Tätigkeit als DeutschlehrerIn auf (vgl. Art. 3). Eine Verbesserung der Ausbildungsqualität allein reicht also nicht aus, die Lehrtätigkeit attraktiver zu machen. Die zweite Frage gilt der Überwindung der Zweigleisigkeit von Deutschlehrer- und Germanistenausbildung: Wie weit können Studiengänge der Lehrerausbildung (z. B. die Kollegausbildung) und die germanistischen Studiengänge in Zukunft integriert werden? Das könnte die durchaus positive Folge haben, dass die germanistischen Studiengänge sich verstärkt auch methodischen und schulpraktischen Fragestellungen öffnen müssten, während die Deutschlehrerausbildung den sprach- und literaturwissenschaftlichen Studieninhalten mehr Gewicht einräumen müsste. Die allgemeinere Frage, die sich auch den Studiengängen für Deutsch als Fremdsprache in den deutschsprachigen Ländern stellt, liegt in der Zukunft einer stark spezialisierten Ausbildung insgesamt: Innerhalb der deutschsprachigen Länder existiert Deutsch als Fremdsprache nicht als Schulfach, so dass hier nur eine Tätigkeit im außerschulischen Sprachunterricht in Frage kommt ⫺ diese aber wird überwiegend in der Form stundenweiser und befristeter Arbeitsverträge angeboten, da Volkshochschulen und private Kursanbieter kaum feste Lehrer anstellen. Solche Tätigkeiten können i. d. R. in keiner Weise ein für HochschulabsolventInnen angemessenes und in Bezug auf die Ansprüche an eine professionelle Lehrtätigkeit erwartbares Einkommen garantieren. Viele AbsolventInnen in den deutschsprachigen Ländern verlassen nach einigen Jahren wechselnder ungesicherter und unzureichend bezahlter Honorartätigkeiten das Berufsfeld. Ernüchternde Be-
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funde ermittelt derzeit eine Absolventenverbleibstudie für die deutschen DaF-Studiengänge, die auch den Werdegang von BachelorabsolventInnen in den Blick nehmen wird (für einen ersten Zwischenstand vgl. Hunstiger und Koreik 2006): Nur wenige AbsolventInnen ⫺ und dann v. a. die, denen auf Umwegen und mit Nachqualifikationen der Seiteneinstieg in das öffentliche Schulsystem gelingt ⫺ können langfristig ein zufriedenstellendes Einkommen erreichen; im Rahmen von Auslandslektoraten ist dies zumindest für einige Jahre möglich. Qualifikationen im Bereich Deutsch als Zweitsprache in Kombination mit einem Lehramtsstudium verbessern in einigen Regionen die Möglichkeiten für eine Stelle im Schulsystem. Auch der Lehrer-Arbeitsmarkt in den mittel- und osteuropäischen Ländern ist zunehmend gesättigt, so dass für die AbsolventInnen auch andere Berufsfelder (Erwachsenenbildung, Kulturaustausch) eröffnet werden müssen. Bei allem Interesse an einer professionellen Lehrerausbildung müssen die lehrerausbildenden Studiengänge daher auch berufsunabhängige Qualifikationen vermitteln und dürfen sich nicht ausschließlich als Lehrerausbildung verstehen (vgl. Roggausch 1997).
7. Literatur in Auswahl Baur, Rupprecht und Marta S. Kis 2002 Lehrerausbildung in Deutsch als Fremdsprache und Deutsch als Zweitsprache. Fremdsprachen Lehren und Lernen 31: 123⫺150. Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration 2007 Der Nationale Integrationsplan. Neue Wege ⫺ neue Chancen. Online: http://www. bundesregierung.de/Content/DE/Publikation/IB/Anlagen/nationaler-integrationsplan, property⫽publicationFile.pdf (03. 01. 2010). Blex, Klaus und Torsten Schlak 2001 Fremdsprachenerwerbsforschung im Hochschulfach Deutsch als Fremdsprache: Bestandsaufnahme und Perspektiven. In: Karin Aguado und Claudia Riemer (Hg.), Wege und Ziele. Zur Theorie, Empirie und Praxis des Deutschen als Fremdsprache (und anderer Fremdsprachen), 103⫺116. Baltmannsweiler: Schneider. von Bhück, Karlhans Wernher 1995 Fremdsprachenlehrer-Ausbildung an Hochschulen. In: Karl-Richard Bausch, Herbert Christ und Hans-Jürgen Krumm (Hg.), Handbuch Fremdsprachenunterricht, 548⫺551. 3. Aufl. Tübingen/Basel: Francke. Boeckmann, Klaus-Börge 2009 Ausbildungsangebote und Qualifikationsmaßnahmen für Unterrichtende in Österreich: Die Ausbildungssituation von Lehrenden an Schulen. In: Verena Plutzar und Nadja Kerschhofer-Puhalo (Hg.), Nachhaltige Sprachförderung. Zur veränderten Aufgabe des Bildungswesens in einer Zuwanderungsgesellschaft, 64⫺75. Innsbruck: Studienverlag. Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur und Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung (Hg.) 2008 Sprach- und Sprachunterrichtspolitik in Österreich. Language Education Policy Profile: Länderbericht. Online: http://www.coe.int/t/dg4/linguistic/Source/Austria_Country Report_final_DE.pdf (30. 12. 2009). Casper-Hehne, Hiltraud, Uwe Koreik und Annegret Middeke (Hg.) 2006 Die Neustrukturierung von Studiengängen „Deutsch als Fremdsprache“. Probleme und Perspektiven. Göttingen: Universitätsverlag. Casper-Hehne, Hiltraud und Annegret Middeke (Hg.) 2009 Sprachpraxis der DaF- und Germanistikstudiengänge im europäischen Hochschulraum. Göttingen: Universitätsverlag.
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XV. Lehrerinnen und Lehrer
De Cillia, Rudolf und Hans-Jürgen Krumm 2009 Die Bedeutung der Sprache. Bildungspolitische Konsequenzen und Maßnahmen. Länderbericht Österreich. Wien: Bundsministerium für Unterricht, Kunst und Kultur (erscheint). Ehnert, Rolf und Frank G. Königs (Hg.) 2000 Die Rolle der Praktika in der DaF-Lehrerausbildung. (Materialien Deutsch als Fremdsprache 59.) Regensburg: Fachverband Deutsch als Fremdsprache. FaDaF, Fachverband Deutsch als Fremdsprache o. J. Grundsatzpapier des Fachverbands Deutsch als Fremdsprache (FaDaF) zur curricularen Basis der BA/MA-Studiengänge „Deutsch als Fremdsprache“ (DaF). Online: http:// www.fadaf.de/de/daf_angebote/studieng_nge/grundsatzpapier.pdf (03. 01. 2010). Gerner, Berthold 1975 Literatur über den Lehrer. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Glück, Helmut 1997 Das Deutsche als Fremdsprache, die Politik und die Turbodidaktik: Konturen eines alten Problems. Germanistische Linguistik 137/138: 55⫺70. Helbig, Gerhard 1997 Kontroversen um das akademische Fach „Deutsch als Fremdsprache“. Germanistische Linguistik. 137/138: 83⫺115. Henrici, Gert und Uwe Koreik 1994 Zur Konstituierung des Fachs Deutsch als Fremdsprache. Eine Einleitung und Bestandsaufnahme. In: Gert Henrici und Uwe Koreik (Hg.), Deutsch als Fremdsprache. Wo warst Du, wo bist Du, wohin gehst Du? 1⫺42. Baltmannsweiler: Schneider. Hunstiger, Agnieszka und Uwe Koreik 2006 „Wohin führt das DaF-Studium?“ ⫺ Zu einer Absolventenverbleibstudie im Fach DaF. In: Hiltraud Casper-Hehne, Uwe Koreik und Annegret Middeke (Hg.), 163⫺174. Kast, Bernd und Hans-Jürgen Krumm (Hg.) 1994 Neue Wege in der Deutschlehrerausbildung. (Fremdsprache Deutsch, Sondernummer 1994.) München: Klett. Krumm, Hans-Jürgen 1976 Lehrfähigkeit als Ziel des Fremdsprachenstudiums/Die Integration von Sprachkursen in die Fremdsprachenlehrerausbildung mit Hilfe von Mediensystemen. In: Hans-Jürgen Krumm und Bernd-D. Müller (Hg.), Praxis im Fremdsprachenstudium, 9⫺45. (Methoden und Modelle 5.) Tübingen: Rotsch. Krumm, Hans-Jürgen 1993 Grenzgänger. Das Profil von Deutschlehrern in einer vielsprachigen Welt. Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 19: 277⫺286. Krumm, Hans-Jürgen 1994 Neue Wege in der Deutschlehrerausbildung. In: Bernd Kast und Hans-Jürgen Krumm (Hg.), 6⫺11. Krumm, Hans-Jürgen (Hg.) 1999 Sprachen ⫺ Brücken über Grenzen. Deutsch als Fremdsprache in Mittel- und Osteuropa. Wien: eviva. Krumm, Hans-Jürgen und Michael Legutke 2001 Ausbildung und Fortbildung von Lehrerinnen und Lehrern für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache: Inhalte und Formen. In: Gerhard Helbig, Gert Henrici, Lutz Götze und Hans-Jürgen Krumm (Hg.), Deutsch als Fremdsprache. Ein internationales Handbuch, 1121⫺1139. Bd. 2. (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 19.1⫺2.) Berlin/New York: de Gruyter. Neuner, Gerhard 1994 Germanisten oder Deutschlehrer? ⫺ Zur curricularen Planung einer wissenschaftlichen Deutschlehrerausbildung. In: Bernd Kast und Hans-Jürgen Krumm (Hg.), 12⫺15.
150. Fort- und Weiterbildung von Lehrkräften für Deutsch als Fremdsprache
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Riemer, Claudia 2006 DaF-/DaZ-Studiengänge und Studiengänge mit DaF/DaZ in Deutschland: Versuch eines Berichts zum Stand der Studienstrukturreform. In: Hiltraud Casper-Hehne, Uwe Koreik und Annegret Middeke (Hg.), 55⫺63. Roggausch, Werner 1997 Deutschlehrerausbildung: Thesen zur Curriculum-Planung. Info DaF 24: 470⫺479.
Hans-Jürgen Krumm, Wien (Österreich) Claudia Riemer, Bielefeld (Deutschland)
150. Fort- und Weiterbildung von Lehrkräten ür Deutsch als Fremdsprache 1. 2. 3. 4. 5.
Einführung Theoretische Grundlagen und Problemstellungen Prinzipien und Praxisansätze Brennpunkte der Lehrerfortbildung Deutsch als Fremdsprache Literatur in Auswahl
1. Einührung Lehrerfortbildung wird in Deutschland und Österreich auch als die dritte Phase der Lehrerbildung bezeichnet. Während die beiden vorangegangenen Phasen (Universitätsstudium und Referendariat/Unterrichtspraktisches Jahr) durch Studiengänge und Examina strukturiert und zeitlich begrenzt sind, erstreckt sich die dritte Phase über das gesamte Berufsleben der Lehrenden, die für die Strukturierung dieser Phase in der Regel selbst verantwortlich sind. Gewöhnlich werden unter Lehrerfortbildung alle jene Prozesse gefasst, die die erworbenen Qualifikationen (Wissen und Können) erhalten, aktualisieren und dem gesellschaftlichen Wandel anpassen helfen. Neben die persönliche Tätigkeit (wie reflektierende Unterrichtsvor- und -nachbereitung, Studium von Fachliteratur, Gespräch mit Kollegen) tritt die veranstaltete Fortbildung. Letztere versteht sich immer auch als gesellschaftlich notwendiger Beitrag zur Innovation institutioneller Lehr- und Lernprozesse (Edelhoff 1999). Der Begriff „Lehrerweiterbildung“ (wird häufig synonym zu Lehrerfortbildung verwendet, meint im strengeren Sinne aber, über die Aktualisierung des in der Ausbildung erworbenen Wissens hinausgehend, den Erwerb zusätzlicher Qualifikationen. In der Praxis spielt diese Unterscheidung in der Regel keine Rolle, so dass auch der folgende Beitrag beide Aspekte zusammenfasst. Die Veranstaltungsformen reichen ⫺ je nach regionalen Möglichkeiten und Angeboten ⫺ von mehrwöchigen Intensivkursen an Akademien, Universitäten oder GoetheInstituten bis hin zu zweistündigen Seminaren an einer Schule (SCHILF: schulinterne
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XV. Lehrerinnen und Lehrer Fortbildung), von der lokalen Arbeitsgruppe bis hin zur Deutschlehrertagung oder regionalen Deutschlehrertagen, die vielfach das einzige anerkannte Fortbildungsangebot darstellen (zu den Spezifika von Deutsch als Zweitsprache vgl. Art. 151).
2. Theoretische Grundlagen und Problemstellungen Unter dem Einfluss neuerer Ansätze der Kognitions- und Professionstheorie sowie der Erwachsensenbildung und gestützt durch empirische Studien auf diesen Feldern sowie in den Fachdidaktiken haben die Diskussionen der letzten 15 Jahre zu einer markanten Differenzierung des Handlungsfelds Lehrerfort- und -weiterbildung geführt, die sich nicht zuletzt in Vorschlägen für eine veränderte Fortbildungspraxis niederschlägt (Burns und Richards 2009; Mann 2005; Legutke 1999). Noch bis in die 90er Jahre waren Konzepte veranstalteter Lehrerfort- und -weiterbildung an Denkweisen technischer Rationalität orientiert (vgl. Schön 1987), die davon ausgehen, dass für Lehrende relevantes Wissen vorwiegend jenseits von deren Handlungskontexten, etwa an den Universitäten, erzeugt werde. Lehrerfort- und -weiterbildung hat in diesem Modell dafür zu sorgen, dass Lehrende die Erkenntnisse der Wissenschaften in richtige Praxis umsetzen. Nicht nur die Wissensbestände von Lehrenden erscheinen bei solchen Grundannahmen als defizitär, sondern auch ihre Praxis, da sich die von Forschern erarbeiteten Modelle kaum in der erwarteten Weise in die Praxis umsetzen lassen. Lehrende sind folglich immer noch nicht oder noch nicht ganz da, wo sie nach Vorstellungen der Wissenschaft sein sollten. (vgl. Legutke 1999; Altrichter und Posch 2007). Der rationalistischen Vorstellung vom Wissenstransfer durch Fort- und Weiterbildung entsprach in der Regel eine dreischrittige Vermittlungsform: (i) der Vortrag durch einen ausgewiesenen Experten, (ii) die anschließende Diskussion und (iii) die erwartete praktische Umsetzung der neuen Erkenntnisse durch die Lehrenden. Ergebnisse der Lehrerwissensforschung (vgl. Schocker-von Ditfurth 2001: 17⫺30; Woods 1996) zeigen, dass Lehrende in ihren Entscheidungen auf ein komplexes Bündel von Wissensbeständen, Meinungen und durch die Berufbiographie geprägten Erfahrungen zurückgreifen. Solche handlungsleitenden Konzepte, die entscheidend das berufliche Selbstverständnis von Lehrkräften bestimmen (Duxa 2001), werden als „Alltagswissen“ (Bach 2009), „subjektive Theorien“ (Caspari 2003) oder „Erfahrungswissen“ (Appel 2000) gefasst und müssen in der Fort- und Weiterbildung ernst genommen werden. Sie hat nicht die Aufgabe, Defizite zu beheben, sondern einen Dialog über Unterricht zu ermöglichen, in dem Vertreter beider Bereiche, der Wissenschaft und der Unterrichtspraxis, sich um ein Verständnis und eine Verbesserung fremdsprachlicher Lehr- und Lernprozesse bemühen. Lernpartnerschaft kann nur gelingen, wenn die Interpretationen, die die Lehrenden zu ihrer eigenen Praxis liefern, als eigenständige und gleichwertige Argumente im Diskurs akzeptiert werden. Die entscheidende Frage ist, wie ein solcher Dialog unter den je konkreten Bedingungen möglich ist. Erkenntnisse der Handlungs- und Professionsforschung (Schön 1987; Tsui 2003) besagen, dass Berufstätigkeit in komplexen Situationen nicht allein als „Anwendung generellen Wissens“ konzipiert werden kann. Um die „nicht-routinehaften“, komplexen, ambivalenten und durch Wert- und Interessenkonflikte geprägten Anforderungen ihrer Praxis zu bewältigen, müssen hochqualifizierte Professionelle, zu denen auch Fremdsprachen-
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1353
lehrende gehören, in einer Art „Forschung im Kontext der Praxis“ lokales Wissen produzieren, in der „Anwendung“ evaluieren und ständig weiterentwickeln. Daraus ergibt sich zwingend, dass Fort- und Weiterbildung stärker als forschende Weiterentwicklung von Praxis gesehen wird und die Fähigkeit der Lehrenden zu einem reflektierenden Umgang mit Unterricht fördern muss (Krumm und Portmann-Tselikas 2003). Lehrerfortbildung ist dann gleichzeitig auch praktische Entwicklung von Theorien (Altrichter und Posch 2007). Da lokales Wissen nicht zuletzt von kulturspezifischen Konzepten und Wertvorstellungen zu Bildungsprozessen und Lernformen geprägt wird, ist Lehrerfort- und -weiterbildung in besonderer Weise gefordert, dialogische Lernformen zu entwickeln, die diesen Bedingungen Rechnung tragen und damit verhindern, dass einem unreflektierten Methodenexport Vorschub geleistet wird (Hann 2002; Krumm 1987; Meyermann 1995). Entscheidende Impulse liefert ferner die Ausrichtung von Lehrerbildung an (Schlüssel-)Kompetenzen, die die komplexe und für Bildungsprozesse notwendig integrierte Förderung von fachlichen, fachdidaktischen, sprachlichen, sozialen sowie medialen Teilkompetenzen hervorhebt und deren Entwicklung im Handlungsfeld eines konkreten Klassenzimmers als individuelle und kooperative Lernprozesse situiert (Hallet 2006). Eine solche Situierung von Lehrkompetenz in der Lernwelt des Klassenzimmers (Legutke 2009) weist der Fähigkeit der Lehrenden zum analytisch reflektierenden Umgang mit eigenem und fremdem Unterricht eine Schlüsselrolle zu. Denn nur wenn das Vertraute des eigenen Unterrichts in neuem Licht wahrgenommen werden kann, besteht eine Chance, etablierte Handlungsroutinen zu erweitern und langfristig zu verändern.
3. Prinzipien und Praxisansätze Aus der Differenzierung des Handlungsfelds Lehrerfort- und -weiterbildung lässt sich unschwer eine Reihe von Prinzipien ableiten, welche Planung und Durchführung konkreter Maßnahmen und Initiativen leiten sollten. Diese Prinzipien liegen auch dem von der Europäischen Union in Auftrag gegebenen „Europäischen Profil für die Aus- und Weiterbildung von Sprachenlehrkräften“ (Kelly und Grenfell 2004) zugrunde. Gruppiert nach den Feldern Struktur, Wissen und Verstehen, Strategien und Fertigkeiten sowie Werte werden insgesamt 40 Teilelemente beschrieben, die in ihrer Gesamtheit ein differenziertes und interdisziplinär ausgerichtetes Lehrerbildungsprogramm ausmachen können. Als besonderes Merkmal sind die konsequente Integration unterrichtspraktischer Erfahrungen und deren kontinuierliche Reflexion in allen Teilbereichen hervorzuheben. Für die Lehrerfort- und -weiterbildung ist entsprechend zu fordern: (1) Sie muss nicht nur in der Wahl der Themen und Lernformen den lokalen Bedingungen Rechnung tragen, sondern auch den Raum schaffen, damit das Alltagswissen der Teilnehmenden Gegenstand des Fortbildungsdiskurses werden kann. (2) Sie muss erwachsenengemäße Lernerfahrungen im Umgang mit relevanten Themen und Aufgaben ermöglichen, die in einem erkennbaren Bezug zur konkreten Unterrichtspraxis stehen und ermöglichen, dass letztere aus einer neuen Perspektive wahrgenommen werden kann. (3) Sie muss begleitende Reflexionen ermöglichen und unterstützen, die helfen, konkrete Erfahrungen zu verallgemeinern und auf bestehende Wissens- und Erfahrungsbestände zu beziehen. (4) Sie muss dazu beitragen, dass Lehrende auf der Basis der Erfahrungen und ihrer Reflexion neue Handlungsmöglichkeiten für die eigene Praxis entwerfen und in der Lage sind, diese im eigenen
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XV. Lehrerinnen und Lehrer Unterricht zu erproben. (5) Sie muss kontinuierlich sein und die Gelegenheit zur Überprüfung neuer Konzepte und Handlungsangebote über einen längeren Zeitraum möglich machen. Sie muss folglich zyklisch angelegt sein. (6) Punktuelle und diskontinuierliche Angebote sind wenig geeignet Kompetenzentwicklung zu befördern. (7) Sie muss sich ferner darum bemühen, der notorischen Vereinzelung von Lehrenden entgegenzuwirken, indem sie die Entwicklung der Kooperationsfähigkeit von Lehrern an ihrem Handlungsort befördert, verbunden mit dem Aufbau von kollegialen Netzwerken mit Ideenbörsen, Materialaustausch und partnerschaftlicher Supervision, aber auch mit gemeinsamer Zieldefinition, Handlungsplanung und Evaluation geleisteter Arbeit. Diese Prinzipien werden in den Seminar- und Arbeitsformen der Lehrerfort- und -weiterbildung in sehr unterschiedlicher Weise zum Tragen kommen. Der starke Erfahrungsund Handlungsbezug, den die Prinzipien fordern, schließt weder den Vortrag eines angereisten Experten noch die klassische Fachtagung aus. Vielmehr stellt sich die Frage, wie letztere so zur Lernwerkstatt werden kann, dass sie mit ihren Angeboten tatsächlich Teil eines Gesamtangebots beruflichen Lernens bildet. So wie die Frage berechtigt ist, ob und wenn ja, in welcher Weise der Vortrag des aus Deutschland, Österreich oder der Schweiz angereisten Experten wirklich verdient, als Baustein eines regionalen Fortbildungsangebots bezeichnet zu werden. Vielversprechend für die kontinuierliche Professionalisierung von Lehrkräften sind Fortbildungsinitiativen, die sich Formen der Aktions- und Lehrerforschung bedienen (vgl. Art. 153). Die Forschungstätigkeiten sind so in die Gesprächskultur einer „professionellen Gemeinschaft“ am Handlungsort Schule integriert; Beginn, Steuerung und Beendigung der Prozesse liegen bei den forschenden Lehrern. Die Interpretation von Ergebnissen wird im kollegialen Gespräch ausgehandelt. Die Beteiligten werden ermutigt, ihre eigenen Erfahrungen zu veröffentlichen. Die Forschungstätigkeiten unterliegen einem „ethischen Code“. Externe Kursleiter, Fortbilder, Wissenschaftler haben lediglich die Rolle von Beratern, Moderatoren und kritischen Freunden, die ihre eigene Aktionsforschung betreiben können (Burns 2009). Die verschiedenen Praxisansätze von Lehrerfort- und -weiterbildung, die nach solchen Prinzipien gestaltetet sind, rechnen mit höchst aktiven und kooperativen Teilnehmenden und weisen den Experten eine neue, partizipatorische und dialogische Rolle zu, die hohe Anforderungen an deren fortbildungsdidaktische Kompetenz stellt (vgl. Legutke 1995: 7⫺11).
4. Brennpunkte der Lehrerortbildung Deutsch als Fremdsprache (1) In vielen Bildungskontexten arbeiten Lehrkräfte für DaF, die keine fachdidaktische Ausbildung durchlaufen haben. Der Fortbildung fällt dort die Aufgabe der Nachqualifikation von Lehrkräften zu. Welche Inhalte und Kernkompetenzen solche nachqualifizierende Fort- und Weiterbildung berücksichtigen soll, ist nicht geklärt. (2) Kaum bearbeitet ist die Frage nach den Fortbildungscurricula, die regional und kooperativ zu entwickeln sind. Solche Curricula müssten nicht nur Antworten auf den erstgenannten Brennpunkt anbieten, sondern Standards und Qualitätsmerkmale für die Fort- und Weiterbildung formulieren. (3) Angesichts der Anforderungen einer regionalisierten Fremdsprachendidaktik (vgl. Art. 105) und im Hinblick auf die generelle Aufwertung der unterrichtlichen Lehr- und Lernprozesse muss die Rolle der nationalen Mittlerorganisationen der
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deutschsprachigen Länder und ihrer Fachexperten neu diskutiert und bestimmt werden, um Gefahren eines didaktischen Imperialismus durch Methoden- und Materialexport zu begegnen (vgl. Art. 12). (4) Die Institutionalisierung von Fortbildung, die Bündelung und Vernetzung von Ressourcen, Kompetenzen und Ideen ist ein weiterer Brennpunkt, denn eine staatlich finanzierte, organisierte und flächendeckende, veranstaltete Lehrerfortund -weiterbildung ist für Deutsch als Fremdsprache die Ausnahme. (5) Von vordringlicher Bedeutung für viele Bildungskontexte ist die Zertifizierung von Fortbildung. (6) Obwohl der Fortbildung der Fortbilder eine zentrale Bedeutung zukommt, wurden folgende Fragen bisher kaum bearbeitet: Wer sind die Fortbilder? Wer bildet sie aus und fort? Welche Curricula und Standards müssen für diese Gruppe entwickelt werden und wie werden regionale Belange berücksichtigt ? (Legutke 1994). (7) Es besteht ferner wenig Klarheit über den Zusammenhang von didaktisch-methodischen und sprachlichen Aspekten von Fortbildung. Die Annahme, dass Fort- und Weiterbildung in der Zielsprache sinnvoll sei, weil sie zugleich die Chance nutze, die sprachliche Kompetenz zu fördern, muss zumindest so lang als problematisch gelten, wie die notwendigen Sprachhandlungsund Bezeichnungsmittel nicht systematisch erschlossen sind. (8) In den 1990er Jahren startete das Goethe-Institut ein Fortbildungsprojekt (Legutke 1995), welches das Ziel verfolgte, die Fortbilder dazu anregen, eigene Lernprozesse zu rekonstruieren, zu dokumentieren und zu analysieren. Durch systematische Spurensicherung, verbunden mit Materialangeboten, sollten besondere Kontextbedingungen transparent, übergreifende Fragestellungen zugänglich gemacht und ein professioneller Diskurs über Lehrerfortbildung gefördert werden. Dieses Projekt ist über einen erfolgreichen Start kaum hinausgekommen. Ob es angesichts der Möglichkeiten der digitalen Medien als Datenbanklösung mit einer interaktiven Lernplattform wiederbelebt und weiterentwickelt werden kann, wäre zumindest zu prüfen. Mit diesen Brennpunkten sind Aufgabenfelder einer Fort- und Weiterbildungsdidakitk für Deutsch als Fremdsprache benannt, die neben theoretischen Bemühungen einer empirisch ausgerichteten Fort- und Weiterbildungsforschung bedarf, die ⫺ von wenigen Ausnahmen abgesehen ⫺ bis heute kaum entwickelt ist (Ehlers und Legutke 1999).
5. Literatur in Auswahl Altrichter, Herbert und Peter Posch 2007 Lehrer erforschen ihren Unterricht. 4. Auflage. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Appel, Joachim 2000 Erfahrungswissen und Fremdsprachendidaktik. München: Langenscheidt. Burns, Anne 2009 Action Research in Second Language Teacher Education. In: Anne Burns und Jack Richards, 289⫺298. Burns, Anne und Jack Richards (Hg.) 2009 Second Language Teacher Education. Cambridge: Cambridge University Press. Bach, Gerhard 2009 Alltagswissen und Unterrichtspraxis: der Weg zum reflective practioner. In: Gerhard Bach und Johannes-Peter Timm (Hg.), Englischunterricht. Grundlagen und Methoden einer handlungsorientierten Unterrichtspraxis, 304⫺320. Tübingen: Francke UTB. Caspari, Daniela 2003 Fremdsprachenlehrerinnen und Fremdsprachenlehrer: Studien zu ihrem beruflichen Selbstverständnis. Tübingen: Narr.
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XV. Lehrerinnen und Lehrer
Duxa, Susanne 2001 Fortbildungsveranstaltungen für DaF-/DaZ-Kursleiter aus der Weiterbildung und ihre Wirkungen auf das professionelle Selbst der Lehrenden. Regensburg: FaDaF. Edelhoff, Christoph 1999 Lehrerfortbildung in Deutschland. Instrument zur Veränderung der Schule oder ServiceEinrichtung für Schule und Lehrer. Fremdsprache Deutsch. Sondernummer „Lehrerfortbildung“, 34⫺37. Ehlers, Swantje und Michael Legutke 1999 Forschungsmethodologische Ansätze in der Fortbildungsdidaktik. Zeitschrift für Fremdsprachenforschung, 9(1): 11⫺34. Freeman, Donald und Karen Johnson 1989 Reconceptualizing the knowledge-base of language teacher education. TESOL Quarterly 32: 397⫺417. Hann, Stephanie 2002 Konstruktion und Bearbeitung von Bildern zum deutschsprachigen Raum: eine Fallstudie in der Lehrerfortbildung Deutsch als Fremdsprache zu Landeskunde und interkulturellem Lernen am Beispiel Mexiko. Gießen [Elektronische Ressource], http://geb.uni-giessen.de/geb/ volltexte/2002/833/ (gepr. 02. 11. 09). Hallet, Wolfgang 2006 Didaktische Kompetenzen ⫺ Lehr- und Lernprozesse erfolgreich gestalten. Stuttgart: Klett Kelly, Michael and Michael Grenfell 2004 Europäisches Profil für die Aus- und Weiterbildung von Sprachenlehrkräften: ein Referenzrahmen. Southampton: University of Southampton: http://ec.europa.eu/education/ languages/pdf/doc477_de.pdf (07. 11. 2009) Krumm, Hans-Jürgen 1987 Lehrerfortbildung. Hilfe zur Selbsthilfe oder Methodenexport? In: Dietrich Sturm (Hg.), Deutsch als Fremdsprache ⫺ weltweit, 11⫺122. München: Hueber. Krumm, Hans-Jürgen und Paul R. Portmann-Tselikas (Hg.) 2003 Lernen im Beruf (Theorie und Praxis. Österreichische Beiträge zu Deutsch als Fremdsprache, Bd. 7). Innsbruck: Studienverlag. Legutke, Michael 1994 Teachers as researchers and learners. An inservice project for German in the Pacific Northwest. Unterrichtspraxis. Teaching German 27: 56⫺76. Legutke, Michael (Hg.) 1995 Handbuch für Spracharbeit. Teil 6: Fortbildung. München: Goethe-Institut. Legutke, Michael 1999 Fort- und Weiterbildung. Einflussfaktoren und Brennpunkte. Fremdsprache Deutsch. Sondernummer „Lehrerfortbildung“, 5⫺11. Legutke, Michael 2009 Lernwelt Klassenzimmer, Szenarien für einen handlungsorientierten Fremdsprachenunterricht. In: Gerhard Bach und Johannes-Peter Timm (Hg.), Englischunterricht. Grundlagen und Methoden einen handlungsorientierten Unterrichtspraxis, 91⫺121. Tübingen: Francke UTB. Mann, Steve 2005 The language teacher’s development. Language Teaching 38: 103⫺118. Meyermann, Paul 1995 Die Fortbildung für Lehrende des Deutsch als Fremdsprache im Ausland. Fallstudie zu Costa Rica, Zentralamerika. Saarbrücken: Verlag für Entwicklungspolitik. Schocker-von Ditfurth, Marita 2001 Forschendes Lernen in der fremdsprachlichen Lehrerbildung: Grundlagen, Erfahrungen, Perspektiven. Tübingen: Gunter Narr.
151. Fort- und Weiterbildung von Lehrkräften für Deutsch als Zweitsprache
1357
Schön, Donald 1987 Educating the Reflective Practitioner. San Francisco: Jossey-Bass. Tsui, Amy 2003 Understanding Expertise in Teaching. Case Studies of ESL Teachers. Cambridge: Cambridge University Press. Woods, Devon 1996 Teacher Cognition in Language Teaching. Beliefs, Decision-Making and Classroom Practice. Cambridge: Cambridge University Press.
Michael Legutke, Gießen (Deutschland)
151. Fort- und Weiterbildung von Lehrkräten ür Deutsch als Zweitsprache 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Einleitung Fort- und Weiterbildung für den Bereich der Schule Fort- und Weiterbildung im Bereich der Erwachsenenbildung Inhalte der Qualifizierung für DaZ Schlussbetrachtung Literatur in Auswahl
1. Einleitung Bis heute ist eine genaue Differenzierung der Aus-, Fort- und Weiterbildungsangebote von Deutsch als Fremdsprache (DaF) und Deutsch als Zweitsprache (DaZ) allein von der Benennung her nicht möglich, da DaF häufig als Oberbegriff von DaF und DaZ benutzt wird (vgl. auch Art. 149). DaZ ist heute eine von DaF zu unterscheidende Lehrqualifikation, die für den Unterricht mit Arbeitsmigranten und ihren Kindern qualifizieren soll. Dabei sind die Bereiche der vorschulischen Erziehung, der schulischen Erziehung und der Erwachsenenbildung zu unterscheiden. Erst in den 1970er Jahren ist in das öffentliche Bewusstsein gedrungen, dass es für DaZ eine spezifische Qualifikation geben muss (vgl. Mahler 1974; Meyer-Ingwersen et al. 1977). Eine eigene grundständige Ausbildung für das Tätigkeitsfeld DaZ hat es an deutschen Hochschulen bis zur Umstellung auf die Bachelor-Master-Strukturen zu Beginn des 21. Jahrhunderts allerdings nicht gegeben (vgl. auch Baur 2001). Das lag vor allem daran, dass eine DaZ-Qualifikation zunächst fast ausschließlich als Zusatzqualifikation für die Schule (Schwerpunkt Primarstufe) gesehen wurde. Erst allmählich setzte sich die Erkenntnis durch, dass sich eine DaZ-Ausbildung auch auf die vorschulische Erziehung und zweitens in der Schule auch auf die Sekundarstufe I und II sowie zusätzlich auch auf die Sprachlichkeit des Fachunterrichts erstrecken muss und dass auch die Lehrkräfte in der Erwachsenenbildung eine spezifische berufsorientierte Aus- oder zumindest Fort- und Weiterbildung erhalten müssen.
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XV. Lehrerinnen und Lehrer
2. Fort- und Weiterbildung ür den Bereich der Schule Auch nach fast 50 Jahren stetiger Immigration gilt, dass die Lehrenden in Deutschland und Österreich weiterhin fast ausschließlich im Rahmen von Curricula ausgebildet werden, die für eine (monolinguale) deutschsprachige Schule konzipiert sind und die Mehrsprachigkeit der Lernenden wenig oder gar nicht berücksichtigen (vgl. Gogolin 1994; vgl. auch Art. 149). Bis in die Gegenwart war und ist DaZ vornehmlich eine Domäne der Zusatzausbildungen und -qualifikationen. Zusatzausbildungen erreichen jedoch nur einen Bruchteil der Lehrerschaft, da sie nicht obligatorisch sind und an die Eigeninitiative der Lehrenden und Studierenden gebunden sind. Solche Zusatzausbildungen für Lehrerinnen und Lehrer aller Schulstufen, wie sie seit Mitte der 1980er Jahre an zahlreichen deutschen Hochschulen angeboten werden, seien am Beispiel von Nordrhein-Westfallen konkretisiert: Verlangt wird ein Studium von mindestens 34 Semesterwochenstunden mit folgender Struktur: Das Studium gliedert sich in vier Teilbereiche A (DaZ und Mehrsprachigkeit), B (Interkulturelle Pädagogik), C (Migration und gesellschaftliche Partizipation) und D (Sprachen der Migrantinnen und Migranten). Zusätzlich wird einer dieser Teilbereiche von den Studierenden als Vertiefungsgebiet gewählt. Dabei stehen folgende Lernziele im Mittelpunkt: ⫺ die Fähigkeit, die sprachlichen Leistungen der Schülerinnen und Schüler nicht deutscher Muttersprache auf dem Hintergrund ihrer spezifischen sprachlichen Sozialisation zu verstehen und angemessene Fördermaßnahmen durchzuführen; ⫺ die Fähigkeit, durch andere Kulturen geprägtes Verhalten zu verstehen und in mehrsprachigen und multikulturellen Lerngruppen gemeinsames Lernen zu fördern; ⫺ die Fähigkeit, aufgrund der Kenntnis von Ursachen und Folgen von Migration die Lebenslage von Kindern nicht deutscher Muttersprache zu verstehen; ⫺ die Fähigkeit, die personale Entwicklung von Schülerinnen und Schülern unterschiedlicher Nationalitäten im Spannungsfeld von kulturellem Widerspruch und Integration zu verstehen und zu fördern. Die Aufmerksamkeit sei hier besonders auf den Bereich D „Erlernen einer Herkunftssprache der Migranten“ gelenkt, der mit 8 SWS studiert werden muss und zusätzlich als Vertiefungsgebiet gewählt werden kann. Es hat sich gezeigt, dass DaZ-Lehrende vom Erlernen einer ihnen unbekannten Herkunftssprache nicht nur linguistisch, sprachkontrastiv und sprachmethodisch profitieren, sondern auch ihre Lehr- und Lernperspektive nachhaltig beeinflusst wird. Mit der Einführung von neuen Lehrerausbildungsstrukturen und der Umstellung auf Bachelor- und Master-Studiengänge ändert sich die Ausbildungssituation inzwischen dahingehend, dass einige Grundelemente von DaZ in geringem Umfang in der grundständigen Lehrerausbildung Aufnahme finden werden. Lehrerfort- und -weiterbildung können unseres Erachtens aber die mangelnde grundständige Ausbildung für DaZ auch in Zukunft nicht kompensieren (vgl. für Deutschland Baur und Kis 2002, für Österreich Boeckmann 2009). Auch in der Schweiz wurden inzwischen Weiterbildungsmöglichkeiten geschaffen: An den Pädagogischen Hochschulen Bern und Zürich gibt es seit 2006 schweizweit die umfassendsten Zertifikatslehrgänge Deutsch als Zweitsprache, die auf die Didaktik des Deutschen als Zweitsprache im Kontext von Zwei- und Mehrsprachigkeit fokussieren. Diese Lehrgänge haben einen Umfang von 10 Modulen a` 45 Stunden. In Zürich wird
151. Fort- und Weiterbildung von Lehrkräften für Deutsch als Zweitsprache
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der Lehrgang zur Zeit in sechs parallelen Durchgängen und insgesamt zum 9. Mal durchgeführt. Das neue Volksschulgesetz des Kantons Zürich (2005 angenommen) sieht vor, dass der Unterricht von Deutsch als Zweitsprache nur noch von Lehrpersonen erteilt wird, welche sich im Rahmen einer Weiterbildung im Umfang eines Zertifikatslehrgangs nachqualifizieren.
3. Fort- und Weiterbildung im Bereich der Erwachsenenbildung Für die Erwachsenenbildung existieren in Deutschland und Österreich keine systematischen Ausbildungsmöglichkeiten (Christ 1990), allerdings sind seit ca. 2000 zahlreiche Bachelor- und Masterstudiengänge entwickelt worden, in denen auch spezifische Qualifikationen für DaZ vermittelt werden (Baur und Kis 2002; vgl. auch Art. 149). Gerade angesichts der kulturellen und sprachlichen Heterogenität der Lernenden müssen DaZLehrende über zentrale Grundqualifikationen verfügen: sprachsystematische Kenntnisse des Deutschen und methodisch-didaktische Kompetenzen wie die Fähigkeit zur Binnendifferenzierung/Individualisierung beim Unterricht in stark heterogenen Lernergruppen; die Fähigkeit zur Durchführung von Sprachstandsanalysen und -diagnosen; die Fähigkeit, den Lernenden Lernstrategien und Lerntechniken zu vermitteln; die Fähigkeit zur Analyse und zum Herstellen von Unterrichtsmaterialien; die Kenntnis der Zweitsprachenerwerbsmodelle; die Fähigkeit, Übungs- und Sozialformen geeignet einzusetzen (auch Projektarbeit) und die Fähigkeit, didaktisch orientierte Sprachvergleiche durchführen zu können (Schweckendieck und Tietze 1994: 39). Das deutsche Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), das im Rahmen des Zuwanderungsgesetzes von 2003 die Aufgabe übernommen hat, die Integrationskurse bundesweit zu finanzieren und zu administrieren (vgl. Art. 121), hat mit Zustimmung der Fachverbände Folgendes festgelegt: ⫺ Lehrkräfte, die im Integrationskurs Deutsch als Zweitsprache unterrichten, müssen ein erfolgreich abgeschlossenes Studium Deutsch als Fremdsprache oder Deutsch als Zweitsprache vorweisen (Integrationskursverordnung § 15 Absatz 1). ⫺ Soweit diese fachlichen Qualifikationen nicht vorliegen, ist eine Zulassung zur Lehrtätigkeit nur möglich, wenn die Lehrkraft an einer vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vorgegebenen Zusatzqualifizierung teilgenommen hat (IntV § 15 Absatz 2). In Österreich werden ein abgeschlossenes DaF/DaZ-Studium, ersatzweise aber auch eine Fremdsprachenlehrerausbildung oder eine 10jährige Unterrichtserfahrung als Qualifikation für den Unterricht in Integrationskursen verlangt (vgl. Plutzar 2009). Das bedeutet, dass erstmalig die Qualifikation der Kursleiter für Integrationskurse einer zentralen Qualitätskontrolle unterworfen wird. Für die Thematik der Fort- und Weiterbildung von Lehrkräften für Deutsch als Zweitsprache ist außerdem von Relevanz, dass als Qualifikation der Kursleiter entweder ein grundständiges DaZ/DaF-Studium oder ⫺ in Deutschland ⫺ eine Zusatzqualifizierung nachgewiesen werden muss. Aus diesem Grunde etabliert sich seit 2006 ein großer Markt für den Bereich der Fort- und Weiterbildung von DaZ in der Erwachsenenbildung.
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XV. Lehrerinnen und Lehrer
4. Inhalte der Qualiizierung ür DaZ Das deutsche Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) hat festgelegt, welche Inhalte von den Lehrenden im Rahmen einer 140 Stunden umfassenden Zusatzqualifizierung für DaZ behandelt werden müssen. Die folgende Tabelle 151.1 ist dem vom BAMF vorgegebenen Curriculum entnommen: Tab. 151.1: Inhalte der unverkürzten Zusatzqualifizierung/Seminarbausteine Thema Migration und Migranten Merkmale des DaZ-Unterrichts Selbsterfahrung der Seminarteilnehmer durch Fremdsprachenanfängerunterricht Unterrichtsbeobachtung und -beurteilung im Rahmen der angebotenen Hospitation Analyse von DaZ-Unterricht Methodische Ansätze im DaF- und DaZ-Unterricht Unterrichtsmaterialanalyse und -beurteilung Wortschatzvermittlung Lesen Hören Phonetik Sprechen Schreiben Kombinierte Fertigkeiten Grammatik Übungstypologien, Sozialformen und Arbeitsanweisungen Spielerische Übungen, Sprachlernspiele und Spiele Projektarbeit Visualisierung Fehler und Fehlerkorrektur Kommunikationsmittel Heterogenität und Binnendifferenzierung Interkulturelles Lernen Lernen lernen Testen und Prüfungen Planen, Vorbereiten und Erteilen von DaZ-Unterricht Evaluation Kursteilnehmerberatung
Unterrichtseinheiten 4 UE 4 UE 4 UE 2 UE 4 UE 2 UE 4 UE 6 UE 6 UE 6 UE 4 UE 6 UE 6 UE *) 6 UE 4 UE 4 UE 4 UE 2 UE 2 UE 2 UE 6 UE 4 UE 2 UE 6 UE 16 UE 4 UE 2 UE
Institutionen, die eine solche Zusatzqualifikation anbieten wollen, werden vom BAMF geprüft und zertifiziert. So bietet z. B. das Goethe-Institut, das an der Entwicklung dieser Zusatzqualifikation federführend mitgewirkt hat, je nach Voraussetzung der Teilnehmenden eine volle und eine auf 70 Unterrichtseinheiten verkürzte Form der Qualifizierung an. Auch der Österreichische Integrationsfonds (ÖIF), der in Österreich im Auftrag des Innenministeriums für die Integrationskurse zuständig ist, zertifiziert und evaluiert die anbietenden Institutionen, wobei auch die Qualifikation der dort tätigen Lehrkräfte geprüft wird. Mit der Studie von Duxa (2001) liegt eine erste Aufarbeitung der Situation und Problematik von Fort- und Weiterbildung im DaZ-Bereich vor. Duxa macht darauf aufmerksam, dass die methodischen Fähigkeiten nur durch die Integration von unterrichtsprakti-
151. Fort- und Weiterbildung von Lehrkräften für Deutsch als Zweitsprache
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schen Erfahrungen vermittelt und erworben werden können. Diese würden in der universitären Ausbildung häufig vernachlässigt. Hier liegt sicher die Stärke der vom BAMF vorgeschriebenen Zusatzqualifikation. Positiv ist zu vermerken, dass das Erlernen einer fremden Sprache zumindest in einer Kurzform hier enthalten ist und sich auch in den universitären Studiengängen durchzusetzen scheint. Durch die Selbsterfahrung beim Lernen einer fremden Sprache wird bei (künftigen) LehrerInnen sowohl die Lernerperspektive (Wie lerne ich? Wie fühle ich mich als Lerner in der Lerngruppe? Welche Schwierigkeiten habe ich?) als auch die Lehrperspektive (Wie würde ich unterrichten? Was finde ich gelungen, was weniger gelungen?) angesprochen. Diese bewusste Sprachlernerfahrung ist für DaZ-Lehrende auch deswegen so wichtig, weil sie in der Regel als Muttersprachler des Deutschen eine Sprache unterrichten, für deren Besonderheiten und Schwierigkeiten sie oft selbst nicht sensibilisiert sind (vgl. Baur 2000). Um die gewünschten Reflexionsprozesse zu unterstützen, kann das Erlernen einer (neuen) fremden Sprache sinnvoll mit dem Führen eines Lernertagebuchs verbunden werden.
5. Schlussbetrachtung Die Tatsache, dass an den meisten Studienstandorten in Deutschland und Österreich heute eine Ausbildung sowohl für DaF als auch für DaZ angeboten wird, kann als ein Anzeichen für die Aufhebung der Trennung der Fächer gewertet werden. Andererseits wird die Trennung aber auch aufrecht erhalten, indem die Lehrerausbildung für den schulischen Bereich ein eigenes Profil verlangt. Soweit es sich nicht um integrierte Studiengänge handelt, kommt DaZ als eigenes Profil fast ausschließlich in Zusatzstudien vor. Allerdings können an einigen Studienstandorten auch in der grundständigen Lehrerausbildung Studienanteile DaZ im Wahlpflichtbereich absolviert werden und Lehramtsstudierende können dort auch einen Schwerpunkt setzen, indem sie linguistische, literaturwissenschaftliche oder fachdidaktische Veranstaltungen aus diesem Bereich wählen oder ihre Examensarbeit im Bereich DaZ schreiben. Solche Möglichkeiten werden auch von Lehrenden genutzt, die bereits über einen Studienabschluss verfügen. Auch Institutionen der Lehrerfortbildung in verschiedenen Bundesländern bieten ⫺ oft in Verbindung mit Hochschulen ⫺ entsprechende Lehrgänge an. Trotz einiger Spezialisierungen auch an Hochschulen findet eine vertiefte Ausbildung in DaZ für den vorschulischen und schulischen Bereich ausschließlich im Rahmen von Fort- und Weiterbildung statt. Das insgesamt reichhaltige und beeindruckende Angebot verschiedener Träger soll dabei nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass im Hinblick auf eine professionelle Lehrerausbildung die Standards sehr unterschiedlich definiert werden. Das gilt sowohl im Hinblick auf die obligatorischen Studienanteile wie auch im Hinblick auf die Studienvolumina. Durch Festlegung essentieller Ausbildungsbereiche und eines Mindestumfangs des Studiums sollte versucht werden, Qualitätskriterien und Standards in der Lehreraus- und Lehrerfortbildung von DaZ zu definieren. In den deutschsprachigen Ländern ist bis heute ein kaum erklärbares und unentschuldbares Versäumnis zu konstatieren: Mehr als 40 Jahre nach Beginn der kontinuierlichen Einwanderung ausländischer Arbeitnehmer gibt es weder ein obligatorisches Teilfach Deutsch als Zweitsprache im Rahmen einer grundständigen Lehrerausbildung, noch
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XV. Lehrerinnen und Lehrer eine entsprechende Ausbildungsmöglichkeit für angehende Lehrkräfte in der Erwachsenenbildung. In der Lehrerfort- und -weiterbildung sind zwar inzwischen entsprechende Angebote entwickelt worden, sie erreichen aber nur einen Teil der Lehrenden.
6. Literatur in Auswahl Baur, Rupprecht S. 2000 Deutsch als Fremdsprache ⫺ Deutsch als Zweitsprache ⫺ Deutsch als Muttersprache. Felder der Begegnung. InfoDaF 5. 467⫺482. Baur, Rupprecht S. 2001 Deutsch als Fremdsprache-Deutsch als Zweitsprache. In: Gerhard Helbig, Lutz Götze, Gert Henrici, Hans-Jürgen Krumm (Hg), Handbuch Deutsch als Fremdsprache. Ein internationales Handbuch, 617⫺628. Bd. 1. (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 19.1⫺2). Berlin/New York: de Gruyter, Baur, Rupprecht S. und Marta Kis 2002 Lehrerausbildung in Deutsch als Fremdsprache und Deutsch als Zweitsprache. Fremdsprachen Lehren und Lernen 31: 123⫺150. Boeckmann, Klaus-Börge 2009 Ausbildungsangebote und Qualifikationsmaßnahmen für Unterrichtende in Österreich: Die Ausbildungssituation von Lehrenden an Schulen. In: Verena Plutzar und Nadja Kerschhofer-Puhalo (Hg.), Nachhaltige Sprachförderung. Zur veränderten Aufgabe des Bildungswesens in einer Zuwanderungsgesellschaft, 64⫺74. Innsbruck: Studienverlag. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF): Integrationskurse: http://www.integration-in-deutschland.de (Zugriff am 30. 10. 2009). Christ, Herbert 1990 Der Fremdsprachenlehrer in der Weiterbildung. Tübingen: Narr. Duxa, Susanne 2001 Fortbildungsveranstaltungen in der Weiterbildung und ihre Wirkungen auf das professionelle Selbst der Lehrenden. (Materialien Deutsch als Fremdsprache 57). Regensburg: Universität. FörMig 2008 http://www.blk-foermig.uni-hamburg.de/web/de/all/lpr/nordrhein_westfalen/index.html (Zugriff am 10. 5. 2010). Gogolin, Ingrid 1994 Der monolinguale Habitus der multilingualen Schule. Münster: Waxmann. Mahler, Gerhart 1974 Zweitsprache Deutsch ⫺ Die Schulbildung der Kinder ausländischer Arbeitnehmer. Donauwörth: Auer. Meyer-Ingwersen, Johannes, Rosemarie Neumann und Matthias Kummer 1977 Zur Sprachentwicklung türkischer Schüler in der Bundesrepublik. Kronberg: Scriptor. Österreichischer Integrationsfonds (ÖIF): http://www.integrationsfonds.at/integrationsvereinbarung/ (Zugriff am 30. 10. 2009). Plutzar, Verena 2009 Aus- und Weiterbildung für PädagogInnen im außerschulischen Bereich. In: Verena Plutzar und Nadja Kerschhofer-Puhalo (Hg.), Nachhaltige Sprachförderung. Zur veränderten Aufgabe des Bildungswesens in einer Zuwanderungsgesellschaft, 115⫺135. Innsbruck: Studienverlag Prenzel, Manfred, Cordula Artelt, Jürgen Baumert, Werner Blum, Marcus Hammann, Eckhard Klieme und Reinhard Pekrun (Hg.) (2007) PISA 2006. Die Ergebnisse der dritten internationalen Vergleichsstudie. Münster: Waxmann.
152. Unterrichtsbeobachtung und Unterrichtsanalyse
1363
Schweckendieck, Jürgen und Ulrike Tietze 1994 Die Seminare zur Kursleiterqualifizierung im Bereich DaF. Deutsch lernen 1: 33⫺42.
Rupprecht S. Baur, Andrea Schäfer, Essen (Deutschland)
152. Unterrichtsbeobachtung und Unterrichtsanalyse 1. 2. 3. 4. 5.
Zielsetzungen von Unterrichtsbeobachtung und Unterrichtsanalyse Verfahren der Unterrichtsbeobachtung und Unterrichtsanalyse Unterrichtsbeobachtung und Unterrichtsanalyse in der Lehreraus- und Lehrerfortbildung Unterrichtsbeobachtung und Unterrichtsanalyse als Forschungsverfahren Literatur in Auswahl
1. Zielsetzungen von Unterrichtsbeobachtung und Unterrichtsanalyse Unter Bezeichnungen wie Unterrichtsbeobachtung, Kommunikationsanalyse und Interaktionsanalyse ist die Beobachtung und Analyse von Unterrichtsprozessen Gegenstand verschiedener Disziplinen, so der Kommunikationstheorie und Diskursforschung, der Wahrnehmungspsychologie, der interkulturellen Kommunikation und der Erziehungswissenschaft und gehört auch zu den zentralen Ausbildungs- und Forschungsverfahren für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Im Zentrum stehen dabei Beobachtung, Analyse und Beurteilung des Verhaltens von Lehrenden und Lernenden; die verschiedenen, sich in der Praxis durchaus überlagernden, Erkenntnisinteressen lassen sich wie folgt systematisieren: 1.1. Die empirische Unterrichtsforschung hat die Unterrichtsbeobachtung als wichtiges Forschungsinstrument (wieder)entdeckt, um mehr über Lehr-Lernprozesse zu erfahren und um Schwachstellen im Lehr-Lernprozess aufzudecken (vgl. Abschnitt 3). 1.2. Im Zusammenhang mit der empirischen Wende der Unterrichtsforschung hat auch die Lehreraus- und Lehrerfortbildung eine ,empirische Wende‘ vollzogen und nutzt Verfahren der Unterrichtsbeobachtung (vgl. Abschnitt 4). Die reflexive Didaktik sieht den Unterrichtsprozess als eine zyklische Abfolge von Planung ⫺ Durchführung ⫺ Evaluation ⫺ Reflexion ⫺ Planung usf. Damit sich die hierfür nötige Reflexivität bei Lehrenden entwickelt, müssen sie es lernen, eigenen Unterricht bewusst wahrzunehmen und zu analysieren (vgl. die Beiträge in Krumm und Portmann-Tselikas 2003 sowie Art. 101). 1.3. Versuche, die Qualität von Unterricht und Lehrkräften zu messen und zu beurteilen, haben sich seit den 1970er Jahren unter Stichworten wie Professionalisierung, Lerner-/
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XV. Lehrerinnen und Lehrer Teilnehmerorientierung, Supervision und Evaluation im Bereich von Unterricht und Weiterbildung etabliert und werden zunehmend auch im Bereich Deutsch als Fremd- und Zweitsprache praktiziert.
2. Verahren der Unterrichtsbeobachtung und Unterrichtsanalyse Im Zentrum der Diskussion über Verfahren der Unterrichtsbeobachtung und -analyse steht die Frage nach Beobachtungskategorien, die geeignet sind, einerseits Einsichten in den Sprachlehr- und Sprachlernprozess zu gewinnen, und andererseits Lehrenden Einsichten in die Konsequenzen des eigenen Lehrerhandelns zu vermitteln (vgl. Allwright 1988, Kap. 1 und 2), wobei die Verquickung beider Zielrichtungen bis heute dem Ziel einer „Klassenzimmerforschung“ der Lehrenden selbst entgegenkommt, andererseits aber auch die einseitige Fixierung der Beobachtungs- und Analyseverfahren auf das Lehrverhalten mit verursacht (vgl. z. B. Flanders 1970; zur Rezeption von Flanders im deutschen Sprachraum vgl. Zifreund 1976; zu den Weiterentwicklungen Allwright 1988: 125⫺195). Abgesehen von den generellen Problemen, die die Beobachtung von Verhalten mit sich bringt (vgl. hierzu Greve und Wentura 1997: 44⫺99), besteht im Zusammenhang mit Ausbildung und Lehrerbeurteilung die Gefahr, dass Unterrichtsbeobachtung zu einer verkürzten, eindimensionalen Vorstellung von Unterricht, zu einem linearen UrsacheWirkungs-Denken führt, nach dem das Lehrverhalten allein ursächlich für Lernverhalten sei (vgl. Krumm 2003). Für den Fremdsprachenunterricht hat Moskowitz schon 1967 eine Adaption des Flanders’schen Verfahrens vorgelegt, in dem sie spezifische Elemente des Fremdsprachenunterrichts wie z. B. den Gebrauch von Mutter- und Fremdsprache berücksichtigt. Einen Schritt weiter in dieser Hinsicht gehen Jarvis (1968) und Krumm (1973): Beide Kategoriensysteme gehen davon aus, dass auch die Lernenden einen stärkeren aktiven Anteil am Unterricht haben, der in der Analyse darzustellen ist. In der Studie von Peck (1988) wie bei Malamah-Thomas (1987) finden sich zahlreiche Vorschläge, Einzelaspekte von Fremdsprachenunterricht unter der Fragestellung zu analysieren, was Lehrverhalten im Unterricht bewirken kann und welche Rolle das Lehrerhandeln in der unterrichtlichen Interaktion spielt. Diese ,klassischen‘ Analysesysteme basieren darauf, dass das Unterrichtsgeschehen durch Beobachter interpretiert oder aber vom Lehrenden selbst unter vorgegebenen Kriterien reflektiert wird. Die Unterrichtsforschung hat seit den 1980er Jahren deutlich gemacht, dass eine solche Außensicht auf Lehr-Lernprozesse nicht ausreicht, um das unterrichtliche Wirkungsgefüge zu analysieren. Beobachtung muss durch introspektive Daten wie z. B. Lerntagebücher, Lautes Denken u. ä. ergänzt werden (vgl. Huber und Mandl 1994; Grotjahn 1993). Die Außensicht durch ,objektive‘ Kategorien und Beobachtungsraster muss zur Innensicht der Betroffenen und Beteiligten in Beziehung gesetzt werden. Unterricht besteht ja nicht aus in sich abgeschlossenen Stunden, sondern aus übergreifenden Einheiten, von denen in der einzelnen Stunde jeweils nur ein Teil sichtbar wird. Ferner muss bedacht werden, dass die Interaktion zwischen Lehrer und Schüler nicht nur eine Interaktion zwischen zwei Personen, sondern zwischen dem Lehrer und der Lerngruppe, also eine Interaktion in und mit Gruppen ist, was sich, z. B. in der Angst vor Fehlern, direkt auf das Kommunikationsverhalten auswirken kann. Dieser Aspekt
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wird in vielen unterrichtsanalytischen Systemen vernachlässigt; Studien zur Beobachtung von Gruppenprozessen liegen nur vereinzelt vor (vgl. Art. 133). Für die Analyse pädagogischer Interaktionen ergibt sich, sollen die verschiedenen Sichtweisen und Wahrnehmungen einbezogen werden, die Notwendigkeit einer kommunikativen Validierung, d. h. einer Aushandlung der Rekonstruktion von Unterricht durch den Außenbeobachter/Interpreten mit den Agierenden (vgl. Thiemann 1979: 86 ff.), wie dies Mummert (1984) bei der vergleichenden Untersuchung von Deutschunterricht in Frankreich und Französischunterricht in Deutschland mit Hilfe eines spezifischen Instrumentariums der „kommunikativen Unterrichtsbeobachtung“ realisiert hat. Sie hat die Unterrichtsbeobachtungen in ein Konzept der Handlungsforschung integriert: Lehrende und Lernende reflektieren die Beobachtungsergebnisse gemeinsam mit dem Beobachter, um sich über die je subjektiven Interpretationen des Beobachteten zu verständigen. An die Stelle der Suche nach möglichst allgemeingültigen Beobachtungskategorien ist heute der Versuch getreten, Unterricht aus einer Vielzahl von Perspektiven heraus als mehrdimensionalen, dynamischen Prozess zum Gegenstand der Forschung und der Reflexion in Aus- und Fortbildung zu machen; das hat die Bedeutung von Beobachtungsrastern relativiert und dazu geführt, dass für spezifische Zwecke in Forschung und pädagogischer Praxis je unterschiedliche Beobachtungsverfahren zusammengestellt bzw. selbst entwickelt werden (vgl. Krumm 1982). D. h. die Wahl der Analysekategorien ist abhängig vom jeweiligen Forschungs- und Erkenntnisinteresse und den praktischen Zielsetzungen: Die Diskursanalyse etwa rückt neuralgische Aspekte der verbalen Interaktion wie z. B. Sprecherwechsel und Korrekturverfahren in den Mittelpunkt; die psychologisch fundierte Interaktionsanalyse macht Fragen der (wechselseitigen) Wahrnehmung der beteiligten Personen zum Thema, die stärker soziologisch orientierte Rollenanalyse fragt (unter anderem) nach dem Rollenverständnis von Lehrenden oder dem Funktionieren der Zusammenarbeit in Lerngruppen; eine sprachdidaktisch motivierte Unterrichtsanalyse schließlich untersucht die Abfolge methodischer Schritte und Unterrichtsphasen oder die Wirkungen einzelner Lehr- und Lernverfahren. Verfahren der Methodentriangulierung wie z. B. die Kombination von Fremdbeobachtung und Selbstaussagen (vgl. Grotjahn 1995) bieten sich hierfür an.
3. Unterrichtsbeobachtung und Unterrichtsanalyse in der Lehreraus- und Lehrerortbildung Unterrichtsbeobachtung und Unterrichtsanalyse haben in der Aus- und Fortbildung von Lehrkräften einen festen Stellenwert (vgl. Art. 149⫺151): In der Lehrerausbildung wird die Beobachtung meist mit fachdidaktischen Seminaren gekoppelt und stellt die Vorstufe zu eigenen Unterrichtsversuchen angehender Lehrer dar. Mit Hilfe von Videoaufzeichnungen kann im Rahmen der pädagogischen oder sprachdidaktischen Lehrerausbildung eine systematische Hinführung zur komplexen Unterrichtssituation bewirkt und ein Beobachtungstraining etabliert werden (vgl. Boocz-Barna 1997). Im Verfahren des Microteaching (vgl. Krumm 1973; Nehm 1976; Kast 1994) werden kleinschrittige Unterrichtsversuche (mit wenigen Schülern und bezogen auf Teillernziele) mit einer genauen Analyse und Wiederholung der Lehrversuche kombiniert.
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XV. Lehrerinnen und Lehrer Für die Lehrerfortbildung stellen Unterrichtsbeobachtung und -analyse einerseits Möglichkeiten einer gezielten Auseinandersetzung mit dem eigenen Unterricht bis hin zur Aktionsforschung bereit und entwickeln die Reflexivität der Lehrenden (vgl. Krumm und Portmann-Tselikas 2003), sie können jedoch auch im Rahmen der Qualitätssicherung der jeweiligen Institution als objektivierende Verfahren eingesetzt werden. Hier liegt ihre besondere Bedeutung darin, dass die Lehrsituationen professionelle Deformationen produzieren, denen aktiv entgegengearbeitet werden muss. Die eigene Wahrnehmung der Lehrkraft reicht schon in einer Gruppe mit 10 bis 15 Teilnehmern nicht aus zu erfassen, ob alle Lernenden durch Aufrufen und Drankommen, Lob und Aktivierung die gleichen Kommunikationschancen bekommen, und zusätzlich zu prüfen, ob dabei auch alle gleichermaßen relevante Sprechanlässe erhalten und nutzen. Lehrtätigkeit ist gekennzeichnet durch ein weitgehendes Fehlen von Rückmeldungen über den Erfolg der Arbeit und die tatsächliche Wirkung des eigenen Verhaltens. Feedback-Elemente und Verfahren der Selbstevaluation sind nötig, um Lehrenden Rückmeldungen über ihre Lehrtätigkeit und deren (oft unerwartete, manchmal auch unerwünschte) Nebenwirkungen zu verschaffen. Als hilfreich haben sich in diesem Zusammenhang Portfolios erwiesen, die die Fähigkeit zur Selbstbeurteilung entwickeln helfen und insofern als Vor- und Nachbereitung für Unterrichtsbeobachtungen genutzt werden können (vgl. z. B. Europäisches Portfolio für Sprachlehrende in Ausbildung, 13⫺61). In der Kombination von Lehrtagebüchern, Portfolio und Unterrichtsbeobachtung, insbesondere in der Form der kollegialen Beobachtung (vgl. Hrubesch und Wurzenrainer 2007) können unterschiedliche Formen der Unterrichtsgestaltung und die Auswirkung des (eigenen) Lehrverhaltens im Unterricht präziser reflektiert und damit die Reflexivität und Flexibilität der Lehrenden erhöht werden: Kritik ist bedrohend, wird abgewehrt und führt zur Verteidigung bzw. Legitimation des eigenen Verhaltens ⫺ oder aber sie destabilisiert und verunsichert (Wagner 1976). Lehrverhalten ändert sich, wenn wünschenswerte Modelle beobachtet und die Diskrepanzen zum eigenen Verhalten bewusst gemacht werden (vgl. Ziebell 1998). Während Unterrichtsbeobachtung zum Zwecke der Aus- und Fortbildung im Regelfall auf Kooperation zwischen Beobachter und Beobachtetem basiert und Beobachtungsfehler möglicherweise in einem Nachgespräch aufgelöst werden können, sind Fehler in einem Beurteilungsverfahren (vgl. Thiemann 1979; Tilmann 1981) gravierender und auch schwerer zu erkennen und auszuräumen. Insbesondere in folgenden Bereichen treten systematische Fehler auf: 1. Verwechslung von Unterrichts- und Lehrerbeurteilung; 2. Verwechslung von Lehrer- und Persönlichkeitsbeurteilung: Zwar gibt es Persönlichkeitsmerkmale, die auch für die Beurteilung der Lehrqualifikation heranzuziehen sind ⫺ etwa, dass es nützlich ist, sachlich zu sein, die Namen der Lernenden zu kennen, Sinn für Humor zu haben usw., aber insgesamt ist darauf zu achten, dass es nicht um eine Beurteilung der Lehrperson, sondern um deren professionelles Handeln im Unterricht geht; 3. Verwechslung von Planung und Realisierung: Eine Unterrichtsskizze ist wichtiger Bestandteil einer Beurteilung von Lehrqualifikation, sie darf aber nicht die Folie für die Beurteilung der Unterrichtsdurchführung darstellen, sondern ist in ihrem Eigenwert zu sehen, schließlich kann die Abweichung vom zugrunde liegenden Plan eine wichtige Form der Adaptivität von Unterricht sein; 4. Die Selektivität der Beobachtung: Beobachtung ist notwendig selektiv ⫺ eine unbewusste Selektion kann über das strikte Verfolgen der Vorgaben auf Beobachtungsbö-
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gen ein Stück weit vermieden werden. Noch besser ist es, durch einen zweiten Beobachter ein Korrekturelement einzubauen, wie dies z. B. bei amtlichen Lehrproben im Schulwesen meist der Fall ist. Auch der Videomitschnitt gibt Gelegenheit, Wahrnehmungen durch wiederholte Beobachtung zu überprüfen.
4. Unterrichtsbeobachtung und Unterrichtsanalyse als Forschungsverahren Unter den divergierenden Forschungsrichtungen, die sich der Unterrichtsbeobachtung und -analyse bedienen, sind für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache insbesondere die folgenden Akzentuierungen von Bedeutung: 4.1. Die Kommunikationsforschung, insbesondere die Diskursanalyse, untersucht die Unterrichtskommunikation als Beispiel von „Sprache in Institutionen“ (z. B. im Vergleich mit der Arzt-Patienten-Kommunikation), um institutionentypische sprachliche Handlungsmuster herauszuarbeiten (vgl. Ehlich und Rehbein 1983; Henrici 1995; Sinclair und Coulthard 1977). Verbale Muster unterscheiden sich aber auch von Kultur zu Kultur, sodass die Untersuchung interkultureller und kulturgeprägter Kommunikationsstrukturen und Verhaltensweisen gerade im Bereich der Unterrichtskommunikation deutlich gemacht hat, wie z. B. native speakers durch unbewusste Übertragung von Rollenverhalten und Sprachhandlungen im Fremdsprachenunterricht Missverständnisse produzieren (vgl. u. a. Boeckmann 2006; House und Blum-Kulka 1986; Rehbein 1985). Im Gefolge des Konstruktivismus relativiert die Diskursanalyse den institutionellen Kontext (ohne ihn ganz zu negieren) und interpretiert den Unterrichtsprozess noch stärker als Produkt der Interaktion der Beteiligten: Die Mikroanalyse der (verbalen) Interaktion von Lehrenden und Lernenden soll Aufschluss darüber geben, mit welchen Strategien diese den Unterrichtsprozess strukturieren und welche Handlungsmuster die unterrichtliche Interaktion erfolgreich gestalten (vgl. z. B. Lauerbach 1997). 4.2. Die Unterrichtsforschung hatte sich zunächst zum Ziel gesetzt, Merkmale ,guten Unterrichts‘ zu erarbeiten (vgl. Brophy und Good 1974/1976). Unterrichtsbeobachtung spielte daher in den Vergleichsuntersuchungen zur Effektivität von Unterrichtsmethoden eine wichtige Rolle (vgl. von Elek und Oskarsson 1973). Wichtige Fragestellungen waren die Auswirkungen des Lehrverhaltens auf die Lernergebnisse und Lernprozesse, um Charakteristika eines ,guten Fremdsprachenlehrers‘ empirisch zu ermitteln (vgl. Allwright 1988; Peck 1988), ebenso wie die Suche nach den Bedingungen für gute Lernergebnisse auf Seiten des ,guten Sprachenlerners‘ (vgl. Naiman u. a. 1978). Im Bereich der Lehrerausbildung entwickelten Krumm (1973) und Nehm (1976) Verfahren der Evaluation von Ausbildungskonzepten mit Hilfe von Microteaching und Unterrichtsbeobachtung. 4.3. Für die Aktions- oder Handlungsforschung (vgl. Art. 153) ist die Analyse von Unterrichtsprozessen mit dem Ziel einer gezielten Unterrichtsentwicklung insbesondere im angelsächsischen Raum, aber auch in Österreich, fester Bestandteil der Lehrerfortbildung (Legutke und Thomas 1991: 304 ff.).
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XV. Lehrerinnen und Lehrer 4.4. Mit den 1980er Jahren ist an die Stelle einer mehr oder weniger ausschließlich auf Beobachtungsdaten basierenden Forschung die Kombination der Fremdbeobachtung mit introspektiven Daten getreten (vgl. Abschnitt 2) und auch die Sprachlehrforschung hat ihr Methodenrepertoire entsprechend erweitert. Zimmermann (1984, 1990) kombiniert z. B. Unterrichtsbeobachtungen mit Lehrer- und Schülerinterviews, um dem Widerspruch zwischen methodischen Einsichten und konkretem Lehr- und Lernverhalten bei der Grammatikvermittlung auf die Spur zu kommen. Im Bochumer Tertiärsprachenprojekt (Kleppin und Königs 1991; Bahr u. a. 1996) wurden Unterrichtsbeobachtungen und ⫺aufzeichnungen im Verbund mit introspektiven Daten genutzt, um Spezifika des Lehrverhaltens und der Lernenden beim Umgang mit Fehlern und Korrekturen, bei der Semantisierung, im Hinblick auf die Einsprachigkeit und die Kognitivierung herauszuarbeiten. Unterrichtsbeobachtung hat sich im Bereich der Sprachlehrforschung als Bestandteil eines forschungsmethodischen Gesamtkonzepts etabliert (vgl. Bahr u. a. 1996: 24 ff.; vgl. auch Krumm und Portmann-Tselikas 2003).
5. Literatur in Auswahl Allwright, Dick 1988 Observation in the Language Classroom. London: Longman. Bahr, Andreas, K.-Richard Bausch, Beate Helbig et al. 1996 Forschungsgegenstand Tertiärsprachenunterricht, Ergebnisse eines empirischen Projekts. Bochum: Brockmeyer. Boeckmann, Klaus Börge 2006 Kommunikativer Fremdsprachenunterricht und regionale Lehr- und Lernkultur. Innsbruck: Studienverlag. Boocz-Barna, Katalin 1997 Erfahrungsbericht über die Entwicklung und Anwendung der Videoreihe „DaF-Stunden in Ungarn. Mit der Kamera unterwegs“. In: Hans-Jürgen Krumm und Paul PortmannTselikas (Hg.), Theorie und Praxis. Österreichische Beiträge zu Deutsch als Fremdsprache 1, 163⫺172. Innsbruck: Studienverlag. Brophy, Jere E. und Thomas L. Good 1976 Die Lehrer-Schüler-Interaktion. Dt. hg. von Dieter Ulich. München: Urban und Schwarzenberg. Ehlich, Konrad und Jochen Rehbein (Hg.) 1983 Kommunikation in Schule und Hochschule. Tübingen: Narr. Europäisches Portfolio für Sprachlehrende in Ausbildung (EPOSA/ EPOSTL): http://www.ecml.at/mtp2/publications/C3_Epostl_D_internet.pdf (Zugriff am 20. 8. 2009) Flanders, Ned A. 1970 Analysing Teaching Behavior. Reading: Addison-Wesley. Greve, Werner und Dirk Wentura 1997 Wissenschaftliche Beobachtung. Eine Einführung. (2. Aufl.). Weinheim: Beltz. Grotjahn, Rüdiger 1993 Qualitative vs. Quantitative Fremdsprachenforschung: Eine klärungsbedürftige und unfruchtbare Dichotomie. In: Johannes- Peter Timm und Helmut Johannes Vollmer (Hg.), Kontroversen in der Fremdsprachenforschung, 223⫺248. Bochum: Brockmeyer. Grotjahn, Rüdiger 1995 Empirische Forschungsmethoden: Überblick. In: Karl-Richard Bausch; Herbert Christ und Hans-Jürgen Krumm (Hg.), Handbuch Fremdsprachenunterrich, 457⫺46. 3. erw. Aufl. Tübingen: Francke.
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Henrici, Gert 1995 Spracherwerb durch Interaktion? Baltmannsweiler: Schneider. House, Juliane und Shoshana Blum-Kulka (Hg.) 1986 Interlingual and Intercultural Communication. Tübingen: Narr. Hrubesch, Angelika und Martin Wurzenrainer 2007 Unterrichtsbeobachtung ⫺ einmal anders. In: Thomas Fritz (Hg.), What Next? Trends, Traditionen und Entwicklungen in der LhrerInnen-Ausbildung, 147⫺159. Wien: Edition Volkshochschule. Huber, Günter L. und Heinz Mandl 1994 Verbale Daten. Eine Einführung in die Grundlagen und Methoden der Erhebung und Auswertung. (2. Bearb. Aufl.). Weinheim: Beltz. Jarvis, Gilbert A. 1968 A Behavioral Observation System for Classroom Foreign Language Skill Acquisition Activities. Modern Language Journal 52: 335⫺341. Kast, Bernd 1994 Lehrertraining durch Microteaching. In: Fremdsprache Deutsch, Sondernummer 1994: 59⫺65. Kleppin, Karin und Frank G. Königs 1991 Der Korrektur auf der Spur. Untersuchungen zum mündlichen Korrekturverhalten von Fremdsprachenlehrern. Bochum: Brockmeyer. Krumm, Hans-Jürgen 1973 Analyse und Training fremdsprachlichen Lehrverhaltens. Weinheim: Beltz. Krumm, Hans-Jürgen 1982 Unterrichtliche Interaktion als Problem des kommunikativen Fremdsprachenunterrichts und der Fremdsprachenlehrerausbildung. In: Goethe-Institut (Hg.), Pariser Werkstattgespräch 1980. Interaktion im Fremdsprachenunterricht, 17⫺31. München: Goethe-Institut. Krumm, Hans-Jürgen 2003 Lernen im Beruf oder: vom Umgang mit den Widersprüchen der LehrerInnenrolle. In: Hans-Jürgen Krumm und Paul R. Portmann-Tselikas (Hg.), 17⫺32. Krumm, Hans-Jürgen und Paul R. Portmann-Tselikas 2003 Theorie und Praxis. Österreichische Beiträge zu Deutsch als Fremdsprache, Bd. 7 ⫺ Schwerpunkt: Lernen im Beruf. Innsbruck: Studienverlag. Lauerbach, Gerda 1997 Fünf Mikro-Analysen unterrichtlicher Interaktion aus dem Goethe-Institut Projekt „Sprachbrücke“. In: Michael K. Legutke (Hg.), Sprachenlernen ⫺ Primarschule ⫺ Unterrichtsanalyse, 133⫺176. München: Goethe-Institut. Legutke, Michael und Howard Thomas 1991 Process and Experience in the Language Classroom. London, New York: Longman. Malamah-Thomas, Ann 1987 Classroom Interaction. Oxford:Oxford University Press. Moskowitz, Gertrude 1967 The Foreign Language Teacher Interacts. Minneapolis: Association for Productive Teaching. Mummert, Ingrid 1984 Schüler mögen Dichtung ⫺ auch in der Fremdsprache. Frankfurt a. M.: Lang. Naiman, Neil, Maria Fröhlich, H. H. Stern et al. 1978 The Good Language Learner. (Research in Education Series 7). Toronto: The Ontario Institute for Studies in Education. Nehm, Ulrich 1976 Microteaching als Ausbildungs- und Forschungsverfahren der Fremdsprachendidaktik. Kronberg: Scriptor.
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XV. Lehrerinnen und Lehrer Peck, Anthony 1988 Language Teachers at Work. New York: Prentice Hall. Rehbein, Jochen (Hg.) 1985 Interkulturelle Kommunikation. Tübingen: Narr. Sinclair, John McH. und Malcolm Coulthard 1977 Analyse der Unterrichtssprache (übersetzt u. bearb. v. Hans-Jürgen Krumm). Heidelberg: Quelle & Meyer. Thiemann, Friedrich 1979 Kritische Unterrichtsbeurteilung. München: Urban u. Schwarzenberg. Tilmann, Heribert 1981 Lehrerbeurteilung. Heidelberg: Quelle u. Meyer. von Elek, Tibor und Mats Oskarsson 1973 Teaching Foreign Language Grammar to Adults. A comparative study. (Gothenburg Studies in English 26). Stockholm: Almqvist u. Wiksell. Wagner, Angelika C. 1976 Ist Übung wirklich notwendig? Theoretische Überlegungen und experimentelle Ergebnisse zur Rolle des Diskriminationslernens bei Verhaltensänderungen. In: Walther Zifreund (Hg.), 633⫺657. Ziebell, Barbara 1998 Materialien zur Unterrichtsbeobachtung. München: Goethe-Institut. Zifreund, Walther (Hg.) 1976 Training des Lehrverhaltens und Interaktionsanalyse. Weinheim: Beltz. Zimmermann, Günther 1984 Erkundungen zur Praxis des Grammatikunterrichts. Frankfurt a. M.: Diesterweg. Zimmermann, Günther 1990 Grammatik im Fremdsprachenunterricht der Erwachsenenbildung. Ergebnisse empirischer Untersuchungen. Ismaning: Huber.
Hans-Jürgen Krumm, Wien (Österreich)
153. Aktionsorschung/Handlungsorschung 1. 2. 3. 4. 5.
Definition Quellen der Aktionsforschung Aktionsforschung im Bereich des Lehrens und Lernens von Fremdsprachen Kontroversen Literatur in Auswahl
1. Deinition Aktionsforschung ⫺ auch als Handlungs- oder Praxisforschung bezeichnet ⫺ ist ein Oberbegriff für eine heterogene Gruppe von Forschungsmodellen aus den empirischen Sozialwissenschaften, denen die grundlegende Auffassung gemeinsam ist, dass Menschen im Prozess der Bewältigung alltäglicher Lebenspraxis Erkenntnisse von wissenschaftli-
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cher Bedeutung hervorbringen. Die Generierung dieses Wissen erfolgt in einem Kreislauf von Aktion und Reflexion, der die zielgerichtete Veränderung eines sozialen Geschehens und deren systematische Analyse aneinander koppelt. Der Perspektivenvielfalt und der Wertgebundenheit des Handelns in sozialen Gruppen gilt dabei eine besondere Aufmerksamkeit. Von der Unterrichtsforschung lässt sich die Aktionsforschung vor allem dadurch abgrenzen, dass es sich nicht um Untersuchungen an Lehrenden oder über Lehrende handelt, sondern um eine Form von Forschung, die von Lehrerinnen und Lehrern selbst betrieben wird (vgl. Altrichter und Posch 2007: 15). Die Lernenden sowie das weitere soziale Umfeld wie etwa Eltern und das Verwaltungspersonal der betreffenden Bildungseinrichtung in die Forschung einzubeziehen, kann je nach Fragestellung sinnvoll oder sogar unerlässlich sein. Darüber hinaus stellt die Zusammenarbeit mit Forschenden aus dem akademischen Bereich eine Möglichkeit dar, begrenzte zeitliche Ressourcen auszugleichen, auf methodisches Expertenwissen zurückzugreifen und über die Konfrontation mit einer externen Sicht Distanz zu den eigenen Interpretationen zu gewinnen. Für die Disziplin Deutsch als Fremd- und Zweitsprache kann die Aktionsforschung somit als eine systematische Untersuchung alltäglicher Lehr- und Lernprozesse durch die Lehrenden selbst beschrieben werden. Sie zielt auf das Verstehen einer konkreten Unterrichtssituation und deren kontinuierliche Verbesserung und vollzieht sich in einem zyklischen Wechsel von Forschungs- und Entwicklungsphasen. Die Aktionsforschung stellt eine methodische Erweiterung alltäglicher Denkprozesse dar. Im Unterschied zur intuitiven Interpretation des Unterrichtsgeschehens führt sie zu einer selbstkritischen Reflexion auf der Grundlage von Informationen, die mit Hilfe bestimmter Strategien gewonnen werden (Anderson und Herr 2005: 3). Vor allem qualitative Methoden der empirischen Sozialforschung wie Tagebücher, Interviews oder Gruppendiskussionen finden dabei Verwendung, weil diese das Erfassen komplexer Situationen begünstigen, aber auch quantitative Instrumente und Verfahren wie etwa standardisierte Fragebögen oder Quasi-Experimente können sinnvoll eingesetzt werden. Für eine angemessene Methodenwahl bieten zahlreiche Veröffentlichungen der letzten Jahre umfassende Hilfestellungen (z. B. Burns 2009; Richards and Farrell 2005).
2. Quellen der Aktionsorschung Die Aktionsforschung wurde erstmals in den 1940er Jahren von dem Sozialpsychologen Kurt Lewin programmatisch gefasst. Lewins Anspruch war es, eine Sozialtechnologie zu entwickeln, um soziale Konflikte besser verstehen und lösen zu können (Lewin 2007). Seine Konzeption des zirkulären Forschungsprozesses, die kontextbedingt den professionell Forschenden die dominierende Rolle zuweist, wurde zu einer Blaupause für die Aktionsforschung auf vielen anderen sozialwissenschaftlichen Gebieten. Für den Bereich Deutsch als Fremd- und Zweitsprache ist sein Modell jedoch nur von beschränkter Relevanz, denn im Zusammenhang mit institutionalisierten Lehr- und Lernprozessen ist die Aktionsforschung sehr eng mit der Debatte um eine Professionalisierung des Lehrberufs verknüpft, was den Einfluss professionell Forschender tendenziell zurückdrängt (vgl. Art. 148). Historisch betrachtet erscheinen daher die Ideen von John Dewey einflussreicher, dessen Arbeiten zum Verhältnis von akademischer Wissenschaft und unterrichtlicher Praxis
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XV. Lehrerinnen und Lehrer bereits vor Kurt Lewin wichtige Argumente für den Einsatz von Aktionsforschung lieferten (siehe Dewey 1984). So räumte Dewey den Erfahrungen der Lehrenden den zentralen Stellenwert bei der Generierung von handlungsrelevanten Theoremen und Konzepten ein und plädierte deshalb für ein reflexives Lehren, bei dem die Praktikerinnen und Praktiker in einem forschenden Habitus die Motive, Folgen und Beschränkungen ihres alltäglichen Handelns selbst ergründen. Weitere bedeutsame gedankliche Grundlagen für die Aktionsforschung stammen von Donald Schön (1983), der das Zusammenwirken von verschiedenen Wissenstypen beim Handeln in mehreren Feldern professioneller Praxis anschaulich beschrieb und daraus die Notwendigkeit ableitete, eine forschende Haltung als notwendiges Element professionellen Lehrens zu betrachten. Schöns Kritik galt vor allem dem Versuch, soziales Geschehen nach dem Vorbild technologischer Prozesse zu gestalten. Einerseits, so Schön, überschätze dieses „Modell technischer Rationalität“ die Möglichkeiten theoretischen Wissens und instrumentellen Handelns bei der Bewältigung praktischer Probleme in komplexen Kontexten, die eher von Ungewissheiten als von Kausalzusammenhängen geprägt seien. Andererseits blende es das Potenzial und die Individualität der beteiligten Personen aus. Dem setzte Schön seine Vorstellung von reflektierenden Praktikerinnen und Praktikern entgegen, die angesichts der Instabilität und Einzigartigkeit sozialer Konstellationen die Fähigkeit entwickeln, eigene Handlungsmuster und Situationsdefinitionen beständig zu hinterfragen. Zu vergleichbaren Konsequenzen gelangte auch die englische Curriculumbewegung, die sich Ende der 1960er Jahre herausbildete und mit Lawrence Stenhouse (1985) und John Elliott (2007) zwei wichtige Mentoren der Aktionsforschung hervorbrachte. Stenhouse setzte mit seiner Argumentation an der Erfahrung an, dass Implementionsstrategien für curriculare Innovationen häufig zum Scheitern verurteilt sind, weil sie die akademische Forschung idealisieren und zugleich den Bildungsprozess trivialisieren. Das Curriculum kann für ihn deshalb immer nur eine hypothetische Realisierung von Theorien über die Natur von Wissen und das Wesen von Lehr- und Lernprozessen darstellen, die einer praktischen Überprüfung durch forschend tätige Lehrende bedarf. John Elliott schließlich erwarb sich das Verdienst, Lehrende in zahlreichen Kooperationsprojekten bei dieser Form von Forschung unterstützt zu haben. Sein Plädoyer für eine „evidenzbasierte Praxis“ nimmt bei der Wertgebundenheit aller pädagogischen Tätigkeiten ihren Ausgang. Da normative Setzungen immer mehrere Varianten der praktischen Umsetzung zuließen, so sein Ansatzpunkt, sollten Lehrende bestrebt sein, die Passung zwischen ihren Werten und Handlungen kontinuierlich und mit Hilfe wissenschaftlicher Methoden zu untersuchen. Elliott lenkte damit den Blick auf den besonderen Stellenwert, der den praktischen bzw. subjektiven Theorien von Lehrerinnen und Lehrern bei der Gestaltung von Unterricht zukommt.
3. Aktionsorschung im Bereich des Lehrens und Lernens von Fremdsprachen Seit einigen Jahren lässt sich für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache ⫺ ebenso wie in der gesamten Fremdsprachenforschung (Burns 2007) ⫺ ein zunehmendes Interesse an der Aktionsforschung ausmachen, welches in theoretischen Arbeiten zum Thema (z. B.
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Boeckmann 2002; Riemer 2002) ebenso seinen Ausdruck findet wie in empirischen Studien (z. B. Ngatcha 2004; Schart 2008; Rankin und Becker 2006; Warneke 2007). Dass sich im Bereich des Lehrens und Lernens von Fremdsprachen erst relativ spät ein Bewusstsein für das Potenzial von Aktionsforschung herausbildete, lässt sich unter anderem auf den Einfluss der bis in die 1990er Jahre dominierenden Forschungsperspektive zurückführen, aus der das Lernen vor allem als ein individueller, kognitiver und weniger als ein sozialer Prozess konzipiert wurde. Nicht zuletzt aus der Erfahrung heraus, dass sich viele der Implikationen, zu denen die Ergebnisse kognitiv orientierter Studien führen, nicht mit den Anforderungen der alltäglichen Unterrichtspraxis in Einklang bringen lassen, gewann in den 1990er Jahren der soziokulturelle Ansatz an Zuspruch. Dieser versucht ein Licht auf eben jene Aspekte zu werfen, die zuvor weitgehend ausgeblendet blieben: die enge Bindung des Lernens an die lokalen Gegebenheiten und die Bedeutung der subjektiven Situationsdeutungen der am Unterricht beteiligten Personen (Block 2003; van Lier 2004). Das Lernen wird aus soziokultureller Sicht als ein dynamischer, durch wechselseitige Abhängigkeiten der Beteiligten geprägter und damit tendenziell unkontrollierbarer Prozess betrachtet. Er lässt sich also nicht losgelöst von den Lerngemeinschaften verstehen, in denen er sich vollzieht. Eine schlüssige Folge dieses Perspektivenwechsels ist das verstärkte Interesse an der Rolle der Lehrenden im Gesamtgefüge Unterricht. Parallel dazu überwand die Fremdsprachendidaktik ihre Fokussierung auf den methodischen Aspekt des Unterrichts (Kumaravadivelu 2006). Die Aufmerksamkeit verschob sich dadurch von der Effizienz des Lehrens nach einer universal anwendbaren Methode auf die Qualität jedes einzelnen Lernumfeldes. Lehrende werden nun als Spezialisten für die Gestaltung anregender Unterrichtsumgebungen und reichhaltiger Lernmöglichkeiten gesehen und sollen mit Flexibilität, Offenheit und Sensitivität auf die örtlichen Gegebenheiten reagieren (Allwright 2005; Breen 2007). Das wiederum verstärkt den Ruf nach einem professionellen Handeln, bei dem sich Intuition und systematische Formen der Erkenntnisgewinnung über das eigene Tätigkeitsfeld ergänzen.
4. Kontroversen Der Aufschwung, den die Aktionsforschung in den zurückliegenden Jahren erlebte, wurde von mehreren Kontroversen begleitet, die zum einen der Heterogenität des Ansatzes geschuldet sind, zum anderen von etablierteren Forschungsrichtungen an sie herangetragen werden. Ein wichtiges Beispiel für eine intern ausgetragene Diskussion stellt die Frage dar, ob sich die Aktionsforschung in ihrem Kern als ein problemlösender oder als ein problematisierender Ansatz definieren sollte. Die Forschungspraxis selbst kann zwar nur selten trennscharf einer dieser beiden Positionen zugeordnet werden, doch tendenziell ergeben sich aus ihnen unterschiedliche Zielsetzungen und Vorgehensweisen. Steht das Lösen praktischer Probleme im Vordergrund, wird die Aktionsforschung eher als ein individueller, zeitlich begrenzter Prozess verstanden, der mit Hilfe bestimmter Techniken durchgeführt wird und auf die Verbesserung einzelner Aspekte von Unterricht zielt. Allwright (2005) kritisiert dieses Verständnis von Aktionsforschung, weil es der Arbeit von Lehrenden einen defizitären Charakter verleihe und zugleich überhöhte Ansprüche an das me-
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XV. Lehrerinnen und Lehrer thodische Vorgehen stelle. Angesichts der beschränkten Ressourcen an Zeit und Energie, über die Lehrende verfügen, plädiert er statt dessen mit seiner Konzeption einer Exploratory Practice für eine pragmatische Herangehensweise: Lehrende sollten die alltäglichen Lehr- und Lernaktivitäten dazu nutzen, gemeinsam mit ihren Lernenden Ungewissheiten und neue Möglichkeiten zu erkunden und die unterschiedlichen Sichtweisen auf das Geschehen zu thematisieren. So entstehe lokales Wissen, das zur Weiterentwicklung des Unterrichts genutzt werden könne (Allwright und Hanks 2009). Autoren wie Carr und Kemmins (1986) oder Greenwood und Levin (1998) vertreten dagegen einen dezidiert problematisierenden Ansatz. Aus ihrer Perspektive vernachlässigt die Konzentration auf individuelle Probleme oder auf Forschungstechniken die Wahrnehmung der historisch und kulturell bedingten Rollen- und Kräfteverteilungen in Institutionen. In ihrer Variante einer kritischen Aktionsforschung ist es entscheidend, dass sich Lehrende zu Forschungsgruppen zusammenschließen und gemeinsam die Verantwortung für eine systematische Verbesserung ihres Arbeitsumfeldes übernehmen. Die Aktionsforschung wird deshalb als ein lebenslanger, emanzipatorischer Prozess beschrieben, der nicht nur zu Einblicken in die eigenen Werte, pädagogischen Vorstellungen und Rituale verhilft, sondern zugleich auch die Identität der gesamten Berufsgruppe stärkt. Das professionelle Selbstbewusstsein der Lehrenden gilt als wichtige Voraussetzung, um innerhalb von Bildungsinstitutionen demokratischere Strukturen zu erreichen und darüber hinaus auch das traditionelle Hierarchie- und Prestigefälle zwischen Theorie und Praxis zu überwinden. Dieser Aspekt verweist auf eine weitere zentrale Kontroverse um die Aktionsforschung, denn ihr adäquates Verhältnis zum akademischen Wissenschaftsbetrieb ist ein seit langem intensiv diskutierter Gegenstand. Von Anfang an musste sich die Aktionsforschung mit Zweifeln an ihrer Wissenschaftlichkeit auseinandersetzen (vgl. Blum 1955). Dass sie nicht danach strebt, einen methodisch kontrollierten Abstand zwischen Forschenden und Beforschten, Fakten und Werten oder Denken und Handeln zu halten, macht zugleich ihre besondere Stärke und Schwäche aus. Einerseits lässt sich nur auf diesem Weg Wissen generieren, das für den betreffenden Kontext von unmittelbarer Relevanz ist. Andererseits setzt genau an diesem Punkt der häufig eingebrachte Vorwurf unzureichender Generalisierbarkeit und mangelnder Objektivität an. Es kann als ein Konsens innerhalb der Aktionsforschung gelten, dass bestimmte Standards erfüllt sein müssen, um überhaupt von Forschung sprechen zu können. Allerdings treffen die traditionellen Gütekriterien empirischer Sozialforschung auf breite Ablehnung. Die Forderung nach Generalisierbarkeit beispielsweise verkennt das Wesen der Aktionsforschung, der es gerade darum geht, Singuläres zu verstehen und kontextgebundenes Wissen zu generieren. Die Nachvollziehbarkeit und Glaubwürdigkeit der Darstellung, die Vertrauenswürdigkeit der Erkenntnisse oder die umfassende Transparenz im Hinblick auf den gesamten Forschungsprozess werden als jene alternativen Qualitätsmerkmale gesehen, an denen es sich entscheidet, ob die Ergebnisse einer Untersuchung für andere Kontexte Relevanz gewinnen können. Die Generalisierung wird demnach als ein kommunikativer Prozess zwischen Produzenten und Rezipienten von Aktionsforschung konzipiert (Duff 2008: 42; Greenwod und Levin 1998: 68). Der Vorwurf mangelnder Objektivität wiederum bezieht sich auf die logistische Schwierigkeit forschender Lehrender, sich als Handelnde und Beobachtende an zwei Orten zugleich aufhalten zu müssen. Die Befangenheit gegenüber den eigenen Werten und Urteilen, die für jede Form von Forschung eine Herausforderung darstellt und sich in
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keinem Fall vollends überwinden lässt, ist für die Aktionsforschung daher ein besonders sensibler Bereich. Neben dem Einsatz von Forschungsmethoden, die die Perspektivenvielfalt berücksichtigen und damit Werte- und Interessenkonflikte zugänglich machen, stellt die Kooperation mit externen Forschenden einen nahe liegenden Weg dar, um eine kritische Distanz zu den eigenen Situationsdeutungen aufzubauen. Kontrovers diskutiert wird jedoch der Anteil, den beruflich Forschende in diese Partnerschaft einbringen sollten (z. B. Stewart 2006). Augenfällig ist, dass nach wie vor nicht nur die theoretischen und methodischen Arbeiten zur Aktionsforschung häufig aus dem akademischen Bereich kommen, sondern auch die Impulse für konkrete Untersuchungen. Die Diskussionen über eine sinnvolle Aufgabenteilung zwischen internen und externen Forschenden werden sich aber erst dann als fruchtbar erweisen, wenn weitaus mehr Studien vorliegen, an denen sich die Vor- und Nachteile unterschiedlicher Kooperationsformen nachvollziehen lassen. Auch eine Antwort auf die Frage, welchen Beitrag die Aktionsforschung zur Weiterentwicklung der wissenschaftlichen Disziplin Deutsch als Fremd- und Zweitsprache insgesamt zu leisten im Stande ist, scheitert derzeit noch daran, dass viel mehr über sie geschrieben als mit ihr gearbeitet wird. Und so gilt es bereits als ein Topos in den Veröffentlichungen zur Aktionsforschung, in einem Atemzug deren Potenzial zu betonen und zugleich auf den Mangel an Beispielen zu verweisen (z. B. Dörneyei 2007: 191⫺196; Greenwood 2002). Neue Modelle der Ausbildung, in denen Phasen systematisch reflektierter Praxis eine zentrale Rolle spielen (z. B. Schocker-von Ditfurth 2001; Warneke 2007), werden möglicherweise dazu beitragen, dass künftige Lehrende die Aktionsforschung als festen Bestandteil ihrer professionellen Identität betrachten.
5. Literatur in Auswahl Allwright, Dick 2005 Developing Principles for Practitioner Research: The Case of Exploratory Practice. Modern Language Journal 89(3): 353⫺366. Allwright, Dick und Judith Hanks 2009 The Developing Language Learner: An Introduction to Exploratory Practise. New York: Palgrave Macmillan. Altrichter, Herbert und Peter Posch 2007 Lehrerinnen und Lehrer erforschen ihren Unterricht. 4., überarbeitete und erweiterte Auflage. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Anderson, Gary L. und Kathryn Herr 2005 The Action Research Dissertation: A Guide for Students and Faculty. Thousand Oaks: Sage. Block, David 2003 The Social Turn in Second Language Acquisition. Washington, D.C.: Georgetown University Press. Blum, Fred H. 1955 Action Research ⫺ a Scientific Approach? Philosophy of Science 22: 1⫺7. Boeckmann, Klaus-Börge 2002 Forschung in der Unterrichtspraxis. FremdsprachenlehrerInnen als ForscherInnen. In: Hans Barkowski und Renate Faistauer (Hg.), … in Sachen Deutsch als Fremdsprache, 180⫺190. Baltmannsweiler: Schneider Verlag.
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XV. Lehrerinnen und Lehrer
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153. Aktionsforschung/Handlungsforschung
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Michael Schart, Tokio (Japan)
XVI. Kulturwissenschatliche Aspekte des Deutschen als Fremd- und Zweitsprache 154. Geschichte und Konzepte einer Kulturwissenschat im Fach Deutsch als Fremdsprache 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Von der Landeskunde zur Kulturwissenschaft Kulturtheoretische Positionierung Fragestellungen und Gegenstände Methoden kulturwissenschaftlicher Forschung im Fach DaF Ausblick Literatur in Auswahl
1. Von der Landeskunde zur Kulturwissenschat Die Herausbildung einer spezifisch kulturwissenschaftlichen Komponente des Faches Deutsch als Fremdsprache ist eine vergleichsweise neue Entwicklung und soll hier im Zentrum der Betrachtung stehen. Zwar fanden die kulturellen Aspekte des Deutsch als Fremdsprache-Lernens insbesondere auf der Ebene des Unterrichts und in der Lehre immer schon gebührende Berücksichtigung, diese wurden aber der Fachkomponente Landeskunde überantwortet, die in aller Regel als bloßes Anwendungsfach verstanden wurde und deren Status als Fach oder Disziplin und deren Verhältnis zu ihren traditionellen Bezugsdisziplinen wie der Soziologie, der Geschichts- oder der Politikwissenschaft oder auch der Kulturanthropologie letztlich immer ungeklärt und in einzelnen Studien stecken geblieben sind. Auch Versuche der Anbindung an Teilgebiete der Erkenntnistheorie wie der Semiotik (Köhring und Schwerdtfeger 1976; Casper-Hehne 2006) oder die Orientierung an kulturellen Symbolen (Schwerdtfeger 1991) haben keine weit reichenden Folgen gehabt. Insbesondere mangelte es der Landeskunde immer an einer eigenen wissenschaftlichen Dignität, die sie anderen Bereichen wie der Linguistik, der Zweitspracherwerbsforschung oder der Literaturwissenschaft gleichstellen würde. Die seit ca. Mitte der 1990er Jahre andauernde Diskussion über die Weiterentwicklung und Transformation der Landeskunde zur Kulturwissenschaft, die im Übrigen nicht nur im Fach Deutsch als Fremdsprache, sondern in allen Fremdsprachenwissenschaften stattfindet, kann dabei zwar auf ältere Fachtraditionen zurückgreifen, die teilweise verschüttet, teilweise aber durch die politischen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts auch dauerhaft desavouiert sind (vgl. Art. 160). Aber erst mit dem viel beschworenen cultural turn in den Geistes- und Sozialwissenschaften seit etwa Mitte der 1980er Jahre, der damit einhergehenden grundlegenden Infragestellung allgemeingültiger nomothetischer Erklärungsmodelle menschlichen Verhaltens und der Hinwendung zu verstehenden, die Rolle symbolischer Ordnungen und subjektiver Sinnzuschreibungen in den Vordergrund stellenden Ansätzen ergab sich eine neue wissenschaftliche Konstellation, die her-
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gebrachte disziplinäre Grenzziehungen und Zuordnungen nachhaltig erschütterte und in Frage stellte und nicht zuletzt dadurch auch einer Weiterentwicklung und Transformation der traditionellen Landeskunde zu einem eigenständigen, aber gleichwohl vielfach vernetzten Bereich spezifisch kulturwissenschaftlicher Forschung völlig neue Perspektiven eröffnete. Dieser Transformationsprozess ist immer noch im Gang, derzeit ist ein Abschluss, mit welchem Resultat auch immer, nicht absehbar. Verschiedene wissenschafts- und bildungspolitische Entwicklungen, etwa die Einrichtung entsprechender Professuren an mehreren Universitätsstandorten seit 2005 oder auch die zunehmende Rolle, die den Aspekten des kulturellen Lernens beim Fremdsprachenunterricht im Allgemeinen und im Rahmen des Integrationsprozesses von Zuwanderern in den deutschsprachigen Ländern im Besonderen zuerkannt wird, sprechen dafür, dass wir es hier mit einem unumkehrbaren Prozess zu tun haben.
2. Kulturtheoretische Positionierung Kulturwissenschaftliche Theoriebildung gehört bislang nicht unbedingt zu den Stärken des Faches Deutsch als Fremdsprache. An den vielfältigen disziplinenübergreifenden Diskussionen um eine Konstituierung des neuen kulturwissenschaftlichen Paradigmas in den Geistes- und Sozialwissenschaften, wofür hier exemplarisch das Handbuch der Kulturwissenschaften (Jaeger und Liebsch 2004) stehen mag, ist das Fach, wenn überhaupt, allenfalls am Rande beteiligt und beschränkt sich ansonsten auf eine bloß passiv-rezeptive Haltung dazu. Umgekehrt werden aber die ja seit vielen Jahren weltweit ausgetragenen und zunehmend diversifizierten kulturtheoretischen Debatten im Fach Deutsch als Fremdsprache nur höchst selektiv und eklektisch wahrgenommen und zu eigenen Forschungs- und Theorieansätzen verarbeitet. Die schon vor einigen Jahren formulierte Diagnose, wonach in unserem Fach die falsche Erwartung vorherrscht, man könne als Fremdsprachenforscher(in) „sozusagen ,nebenbei‘ schnell ein paar kulturwissenschaftliche Arbeiten (…) lesen, um die eigene Forschung damit ein wenig anzureichern“ (Schmenk 2006: 270), hat sicherlich wenig an Brisanz und Aktualität eingebüßt. Die vielfach geforderte und in mancher Hinsicht ja auch ansatzweise schon realisierte Weiterentwicklung der herkömmlichen Landeskunde zu einer kulturwissenschaftlichen Forschungsdisziplin wird nur nachhaltig erfolgreich sein, wenn das Fach auch in diesem Bereich eine Reflexions- und Diskussionskultur auf Augenhöhe entwickelt, sich mit den erwähnten kulturtheoretischen Positionen auf angemessenem Niveau und in nennenswertem Umfang auseinandersetzt und sich dabei, ausgehend von den eigenen erkenntnisleitenden Interessen, innerhalb des kulturtheoretischen Diskurses auch positioniert. Dabei wird in nächster Zeit die kritische Auseinandersetzung mit dem im Kontext von Pädagogik und Fremdsprachendidaktiken nach wie vor sehr einflussreichen Paradigma der Interkulturalität von besonderer Wichtigkeit sein. Dieses Paradigma, das von der grundlegenden Dichotomie zwischen eigener und fremder Kultur ausgeht und Kultur als hinter dem Rücken der Subjekte und insofern nicht unmittelbar reflexiv verfügbares, wohl aber hochgradig handlungswirksames Orientierungssystem auf vorrangig ethnonationaler Ebene ansieht, hat ja einerseits eine reichhaltige Forschungsaktivität angeregt und hervorgebracht, die von der empirischen kontrastiven Kulturforschung in Ethnologie und Sozialwissenschaften über kommunikations- und sprachwissenschaftlich orien-
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XVI. Kulturwissenschaftliche Aspekte des Deutschen als Fremd- und Zweitsprache tierte Forschungen zur interkulturellen Kommunikation (zum Überblick vgl. Straub, Weidemann und Weidemann 2007) bis hin zu ganzen Disziplinausgründungen wie der Interkulturellen Germanistik reicht (vgl. Art. 157) ⫺ alles Forschungsbereiche, die aus dem Kontext des Faches Deutsch als Fremdsprache nicht wegzudenken sind. Andererseits ist das Interkulturalitätsparadigma mit seinen deutlich unterkomplexen und simplifizierenden Vorstellungen vom Eigenen und Fremden und seinem homogenisierenden und essentialistischen Kulturbegriff, belehrt nicht zuletzt durch Überlegungen zu den kulturellen Auswirkungen der Globalisierung und die zunehmend auch in den Fremdsprachenwissenschaften heimisch werdende Begrifflichkeit der Postcolonial Studies (Hybridität, Thirdspace u. a.), in letzter Zeit stark unter Druck geraten und teilweise heftiger und grundsätzlicher Kritik ausgesetzt (zur Kritik am Interkulturalitätsparadigma im Kontext von DaF vgl. Altmayer 2006a: 45⫺50). Dabei ist allerdings im Fach Deutsch als Fremdsprache wie in anderen Fremdsprachenwissenschaften ein unklares bis widersprüchliches Verhältnis zu den angesprochenen Positionen des Interkulturalitätsparadigmas zu konstatieren. Während nämlich auf theoretischer Ebene der Konstruktcharakter von Nationalkulturen meist gesehen und die Notwendigkeit zu stärkerer Differenzierung eingeräumt wird, setzen eher anwendungsorientierte Positionen gleichwohl und nicht selten wider besseres Wissen doch die vereinfachenden kulturkontrastiven Kategorien des Interkulturalitätsparadigmas als selbstverständliche Annahmen voraus; und andererseits bieten kulturtheoretisch differenziertere Positionen bislang auch selten konkrete Ansatzpunkte für forschungs- oder unterrichtspraktische Umsetzung (vgl. Hu und Byram 2009: XII). Hier ist zweifellos noch weitere Klärung notwendig; insbesondere muss die kulturtheoretische Reflexion stärker als bisher mit forschungspraktischen Belangen verzahnt werden. Dabei könnte sich eine Anknüpfung an aktuelle kulturtheoretische Überlegungen etwa zur kulturellen Komplexität und zum cultural flow von Hannerz (1992) bzw. Risager (2006), zur komplexen Verschachtelung kollektiver Zugehörigkeiten von Hansen (2009) sowie insbesondere zu einem bedeutungs- und wissensorientierten Kulturbegriff, wie er sich in aktuellen kulturtheoretischen Debatten auch in den Sozialwissenschaften durchzusetzen scheint (vgl. Reckwitz 2000: 84⫺86.; vgl. Art. 156), als besonders fruchtbar erweisen.
3. Fragestellungen und Gegenstände 3.1. Landeskunde der deutschsprachigen Länder Gegenstand einer Kulturwissenschaft im Kontext von Deutsch als Fremdsprache, die sich als Weiterentwicklung der herkömmlichen Landeskunde sieht, ist zunächst einmal das Land bzw. sind die Länder, in denen die betreffende Sprache, in unserem Fall Deutsch, als offizielle oder gar einzige Sprache gesprochen wird. Anzustreben wäre hier beispielsweise ein Gesamtüberblick über die den jeweiligen Sprachraum betreffenden Teilaspekte von Geschichte, Politik, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur, wie sie für andere Länder bzw. Sprachräume vorliegen (vgl. z. B. zu Frankreich Große und Lüger 2008; zu Großbritannien Kamm und Lenz 2004). Solche Kompendien, die das verfügbare Wissen über Deutschland bzw. den deutschsprachigen Raum zusammentragen, liegen vor allem außerhalb des deutschen Sprachraums vor und wenden sich dort an Lernende
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bzw. Studierende des Faches Deutsch in der betreffenden Region. Auch im Fach Deutsch als Fremdsprache innerhalb des deutschen Sprachraums werden vergleichbare Anstrengungen gelegentlich unternommen (vgl. z. B. Mog und Althaus 1992 oder in jüngster Zeit von Schilling 2006). Dabei zeigt sich gerade in diesen Darstellungen ein grundsätzliches Problem: Sie beruhen nicht auf eigener gemeinsamer Forschung, sondern greifen mehr oder weniger selektiv auf Forschungsarbeiten und -ergebnisse verschiedener Disziplinen wie der Geschichtswissenschaft, der Soziologie oder der Geographie zurück und entwerfen auf dieser Basis ein Bild des Zielsprachenlandes, das nicht selten eher das subjektive ⫺ auch durch die jeweilige Fachperspektive bestimmte ⫺ Bild der jeweiligen Autoren ist, dessen tatsächlich wissenschaftliche Fundiertheit für die Landeskunde in Deutsch als Fremdsprache jedenfalls häufig zweifelhaft bleibt. Vor allem aber bieten sich einer Landeskunde, die sich lediglich als Anwendungsfach für wissenschaftliches Wissen begreift, das anderswo und auf der Basis anderer, von landeskundlichen Lehr- und Lernkontexten völlig unabhängiger Erkenntnisinteressen erarbeitet wird, keine Perspektiven für die Entfaltung ihrer eigenen spezifischen Forschungsinteressen. Ähnlich unklar bleibt das hier erwähnte Verhältnis zwischen erkenntnisleitendem Interesse und Gegenstandsperspektivierung auch in neueren Ansätzen einer Aufwertung und Verwissenschaftlichung der herkömmlichen Landeskunde, etwa in Wierlachers Konzept essayistisch verfahrender „Landesstudien“ (vgl. Wierlacher 2006) oder in Wormers Überlegungen zu einer xenologisch-transkulturellen und transdisziplinär-vergleichenden Landeskundewissenschaft (vgl. Wormer 2004). So sinnvoll und richtig die von Wierlacher wie Wormer geforderte und bislang sicherlich eher unterentwickelte Kooperation zwischen Vertretern des Faches Deutsch als Fremdsprache und anderen Fachwissenschaften zweifellos ist (vgl. Koreik 2009: 25⫺28), so wenig lässt sich doch daraus allein eine eigenständige wissenschaftliche Perspektivierung des Gegenstandsbereichs der Landeskunde und damit deren Anspruch auf Wissenschaftlichkeit herleiten. Insgesamt wird man in Bezug auf das wissenschaftliche und disziplinäre Selbstverständnis einer sich zur Kulturwissenschaft weiter entwickelnden Landeskunde und auf die damit ja eng zusammenhängende Frage der Gegenstandskonstituierung einer solchen Wissenschaft noch einigen Diskussionsund Klärungsbedarf konstatieren dürfen.
3.2. Kulturelle Deutungsmuster Im Gegensatz zu den erwähnten Ansätzen einer an den Gegenständen orientierten Landeskundewissenschaft versteht sich das in den letzten Jahren entwickelte und vergleichsweise elaborierte Konzept einer spezifischen Kulturwissenschaft im Kontext von Deutsch als Fremdsprache von Altmayer insofern als primär lernprozessorientiert, als hier das erkenntnisleitende Interesse an der Initiierung und Optimierung kulturbezogener Lernprozesse bei Lernenden des Deutschen als Fremdsprache nicht als nachrangiger Anwendungsaspekt gilt, sondern als gegenstandskonstitutive Forschungsperspektive im Zentrum steht (vgl. dazu und zum Folgenden Altmayer 2004: 33⫺35, 2006b: 183⫺184). Kulturwissenschaftliche Forschung beschäftigt sich demnach nicht mit der Kultur der deutschsprachigen Länder schlechthin, sondern mit dieser Kultur im Hinblick auf kulturbezogene Lehr- und Lernprozesse im Kontext von Deutsch als Fremdsprache. Um den so beschriebenen Gegenstandsbereich kulturwissenschaftlicher Forschung genauer zu fassen, legt Altmayer zunächst einen „bedeutungs- und wissensorientierten“
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XVI. Kulturwissenschaftliche Aspekte des Deutschen als Fremd- und Zweitsprache (Reckwitz 2000: 84) Begriff von Kultur zugrunde, wonach diese nicht in einem Set mehr oder weniger gleichförmiger Verhaltensweisen oder Mentalitäten besteht, sondern uns mit einem Fundus an (kollektivem) Wissen versorgt, das uns in die Lage versetzt, der Welt um uns herum, aber auch unserem eigenen Leben Sinn und unserem Handeln Orientierung zu geben (vgl. dazu und zum Folgenden Altmayer 2004: 147⫺165, 2006a, 2006b, vgl. auch Art. 156). Unter Verwendung (und Umdeutung) eines Begriffs, der ursprünglich aus der objektiven Hermeneutik stammt, aber auch in anderen soziologischen und pädagogischen Kontexten heimisch geworden ist, werden die musterhaft verdichteten und im kulturellen Gedächtnis gespeicherten Einzelelemente dieses Wissens als kulturelle Deutungsmuster bezeichnet. Der für den DaF-Kontext konstitutive Bezug zur Sprache und damit zum Fremdsprachenlernen besteht dabei insbesondere darin, dass wir im Sprachgebrauch, d. h. in alltäglicher, aber auch in medialer und schriftlicher Kommunikation, in hohem Maß auf solche kulturellen Deutungsmuster zurückgreifen, sie bei unseren Gesprächspartnern oder den Adressaten von Texten oder Medienangeboten aller Art in der Regel implizit und selbstverständlich als allgemein bekannt und akzeptiert voraussetzen. Die Aufgabe kulturwissenschaftlicher Forschung in Deutsch als Fremdsprache besteht nach diesem Konzept dann vor allem darin, die im alltäglichen Sprachgebrauch in aller Regel implizit bleibenden kulturellen Deutungsmuster, die wir im Deutschen verwenden, zu rekonstruieren, d. h. sie auf die Ebene des Expliziten zu heben, sie sichtbar und damit auch lernbar zu machen.
3.3. Kulturspeziische Lehr- und Lerntraditionen Während die bisher diskutierten Forschungsansätze eher die Frage nach den Inhalten eines kulturbezogenen Lernens fokussieren, beschäftigen sich die im Folgenden dargestellten Konzepte und Ansätze mit den vielfältigen Bezügen zwischen Kultur und fremdsprachlichen Lernprozessen. Dabei spielt Kultur in (mindestens) zweierlei Hinsicht eine Rolle: Zum einen nämlich als Gegenstand des Lernens und zum anderen als kulturelle Orientierung, die die Lernenden selbst mitbringen, die ihre Perspektiven auf den Gegenstand und ihre Lernprozesse selbst wesentlich mitkonstituieren und beeinflussen. Letzteres wird in einer nicht nur, aber auch im Fach Deutsch als Fremdsprache angesiedelten Forschungsrichtung auf die Frage zugespitzt, inwieweit sich hier von kulturspezifischen Lehr- und Lerntraditionen sprechen lässt und in welcher Weise diese Traditionen tatsächlich fremdsprachliche Lernprozesse negativ oder positiv beeinflussen. Nicht zuletzt liegen dieser Frage vielfältige Erfahrungen westlicher Lehrkräfte in nicht-westlichen, insbesondere asiatischen und afrikanischen Bildungsinstitutionen und die offenbar immer wieder auftauchenden Schwierigkeiten bei der Realisierung der als modern und westlich angesehenen Unterrichtsmethoden (z. B. der kommunikativen Didaktik oder des autonomen Lernens) zugrunde, die auch immer wieder zur Problematisierung des „Methodenexports“ und zur Forderung nach angepassten Unterrichtsformen geführt haben (vgl. u. a. Gerighausen und Seel 1986). Dabei setzte sich im Zusammenhang mit dem interkulturellen Paradigma in den Fremdsprachenwissenschaften zunächst die Tendenz durch, diese Schwierigkeiten auf unterschiedliche, insbesondere kulturell bedingte und in diesem Sinn kulturspezifische Lehr- und Lerntraditionen eines Landes oder gar einer ganzen Region zurückzuführen. Allerdings haben die Versuche, diesen Zusammenhang durch entsprechende empirische Daten zu belegen, bisher nicht zu entsprechenden Ergebnissen ge-
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führt, vielmehr hat sich in letzter Zeit eher eine gewisse Ernüchterung in dieser Frage ausgebreitet. So haben Barkowski und Eßer (2005) beispielsweise erneut auf die Schwierigkeiten hingewiesen, den Faktor Kultur in diesem Kontext als eine Kategorie mit wissenschaftlicher Aussage- und Erklärungskraft operationalisieren zu können, und Guest (2006) für den Kontext des Englischen und im Anschluss daran Boeckmann (z. B. 2007) für Deutsch als Fremdsprache haben gezeigt, dass viele Arbeiten in diesem Bereich sich unreflektiert auf teilweise fragwürdige Quellen berufen, deutlich unterkomplexe kulturtheoretische Kategorien zugrunde legen und insgesamt Tendenzen der Dichotomisierung, Stereotypisierung und Essentialisierung von Kulturen aufweisen. Hier sind zweifellos noch erhebliche theoretische und empirische Anstrengungen erforderlich, um zu einigermaßen zuverlässigen und auch für didaktische Zwecke belastbaren Ergebnissen zu kommen.
3.4. Einstellungen, Bilder, Stereotype Zu den eher traditionellen Fragen, mit denen sich die kulturwissenschaftliche Forschung im Kontext Deutsch als Fremdsprache von jeher beschäftigt hat, gehört auch die nach Einstellungen zum und stereotypischen Bildern und Vorstellungen vom Zielsprachenland. Dabei ist für den Kontext des Faches Deutsch als Fremdsprache allerdings die literatur- oder medienwissenschaftlich orientierte imagologische Forschung, die nach Deutschlandbildern in Literatur und/oder Medien anderer Länder fragt (vgl. dazu z. B. Stierstorfer 2003), weniger relevant. Von weitaus größerer Bedeutung sind empirische Ansätze, die nach dem Einfluss stereotypischer Bilder auf die fremdsprachlichen und kulturbezogenen Lernprozesse (vgl. Art. 158) und nach Veränderungen solcher Bilder bei Lernern des Deutschen als Fremdsprache, bedingt durch Aufenthalte im Zielsprachenland, durch mediale Einflüsse oder durch entsprechende Interventionen im Unterricht, fragen.
3.5. Interkulturelle Kompetenz Das Schlagwort interkulturell prägt seit den späten 1980er Jahren als Ausdruck eines dominant gewordenen Lehr- und Forschungsparadigmas im kulturwissenschaftlich-landeskundlichen Bereich nicht nur zahlreiche Auseinandersetzungen im Fach Deutsch als Fremdsprache. Die Diskussionen reichen dabei einerseits von einem interkulturellen Ansatz in der Landeskundevermittlung über interkulturelle Kommunikation bis zur interkulturellen Kompetenz und andererseits von der grundsätzlichen Frage, wie der Begriff interkulturell präzise zu erfassen sei bis zur Auseinandersetzung über Sinn und Unsinn von Begriffen wie interkulturelles Lernen. Gelegentlich wird sogar das Konzept interkulturelle Kompetenz als grundsätzlich überflüssig angesehen, da es durch das Konzept der sozialen Kompetenz bereits ausreichend abgedeckt sei, und es angesichts der Tatsache, dass Kulturen keine in sich abgeschlossenen Entitäten darstellen, keineswegs möglich sei, hier eine größere Präzision zu erlangen. Gerade jedoch die letztliche Vagheit des Begriffs interkulturell und die Tatsache, dass je nach wissenschaftlicher Disziplin die Begrifflichkeit enger oder weiter gefasst wird,
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XVI. Kulturwissenschaftliche Aspekte des Deutschen als Fremd- und Zweitsprache
wird die globale Verbreitung des Begriffs in einer Zeit der Globalisierung, in der weltweiter Handel und Austausch zu einer umfassenden Grunderfahrung geworden sind, begünstigt haben. Mag die Kritik am Interkulturalitätskonzept auch noch so begründet sein, so wird man dennoch davon ausgehen müssen, dass die Auseinandersetzung damit noch auf längere Sicht sehr facettenreich und Fächer übergreifend stattfinden wird. Insbesondere die aktuelle Tendenz zur empirischen „Messung“ interkultureller Kompetenz anhand von Stufenmodellen (vgl. die entsprechenden Beiträge in Schulz und Tschirner 2008) wird angesichts eines Bedarfs aus der Wirtschaft einerseits und andererseits dem allgemeinen Trend zu Kompetenzbeschreibungen, der Festlegung von Bildungsstandards und deren Evaluationen eine zunehmend größere Rolle spielen, auch wenn bisher weder die Kriterienraster und Stufenbeschreibungen allgemein zu überzeugen vermögen, noch Messinstrumente entwickelt wurden, die eine „Messung“ interkultureller Kompetenz operationalisierbar erscheinen lassen ⫺ und sowieso noch weitgehend ungeklärt ist, wie sich die Erfassung interkultureller Kompetenz mit didaktischen Ansprüchen im Fremdsprachenunterricht in Einklang bringen lässt. Interkulturell wird jedenfalls ein wichtiges Schlagwort und der damit zusammenhängende Gesamtkontext ein Forschungsfeld für das Fach Deutsch als Fremdsprache bleiben, bei dem es viele Berührungspunkte mit kultur- und sozialwissenschaftlichen Fächern geben wird und geben muss. In der Literaturdidaktik hat sich beispielsweise vor dem Hintergrund eines prozesshaften, hybriden und diskursiven Kulturbegriffes eine die Philologien übergreifende Diskussion um neue interkulturelle Ansätze oder auch Transkulturalität als kulturelles Phänomen und didaktisches Konzept entwickelt (z. B. Hallet 2002), wobei der Sprachunterricht als Handlungsraum gestaltet werden soll, in dem die Lerner an kulturellen Veränderungsprozessen diskursiv beteiligt werden.
3.6. Landeskundliche Lernmaterialien Landeskundliche bzw. kulturbezogene Inhalte sind aus den Lehrwerken bzw. Lernmaterialien für Deutsch als Fremdsprache heute nicht mehr wegzudenken. Auch eher allgemeinsprachliche Lehrwerke für den Anfänger- oder Fortgeschrittenenunterricht orientieren sich mehr oder weniger deutlich an interkulturellen Zielsetzungen und fordern die Lernenden gerne zu Vergleichen zwischen der deutschen Wirklichkeit und ihren „eigenkulturellen“ Erfahrungen auf. In jüngster Zeit sind in der Lehrwerkentwicklung im Bereich der Landeskunde vor allem drei Tendenzen erkennbar: Lehrwerke, die dem landeskundlichen DACH-L-Konzept verpflichtet sind und neben der Landeskunde Deutschlands auch Österreich und die Schweiz gleichberechtigt einbeziehen (vgl. Nitzschke 1998; Clalüna et al. 1998; Fischer et al. 1998; Matecki 2006; vgl. auch Art. 167), Lehrwerke für die neuen Orientierungskurse des BAMF (vgl. Kaufmann et al. 2006; Kilimann et al. 2008; Gaidosch und Müller 2009) sowie Lehrwerke, die neuere kulturwissenschaftliche Diskussionen etwa zur kulturellen Bedeutung von Erinnerung und Erinnerungsorten aufgreifen und in konkrete Lernmaterialien umsetzen (vgl. Schmidt und Schmidt 2007). Vergleichsweise ruhig geworden ist dagegen die Diskussion über das landeskundliche Potenzial des Internet bzw. digitaler Medien, das noch in den 1990er Jahren allgemein als sehr hoch eingeschätzt wurde; hier hat sich eine durchaus heilsame Ernüchterung breit gemacht.
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Die Erforschung spezifisch landeskundlicher bzw. kulturbezogener Lehrwerke und Lernmaterialien gehört zweifellos zu den zentralen Forschungsaufgaben der Kulturwissenschaft im Fach Deutsch als Fremdsprache. Allerdings ist in diesem Bereich in den letzten Jahren nicht sehr viel passiert. Die Arbeit von Ammer (1988) zum Deutschlandbild in den Lehrwerken hat hier zwar modellbildend gewirkt, aber nur wenige Nachahmer gefunden. Insbesondere die Darstellung historischer Inhalte in Lehrwerken fand in einigen Arbeiten wissenschaftliches Interesse (vgl. Koreik 1995; Thimme 1996; Maijala 2004). Andere Fragen, etwa die Umsetzung einzelner aktueller Themen in Lehrwerken, die Angemessenheit der Lehrwerke für Orientierungskurse oder auch die Entwicklung einer über die klassischen Kriterienraster hinausgehenden Forschungs- und Analysemethode bleiben dagegen ein dringendes Desiderat. Neues Interesse der Forschung findet in letzter Zeit die Frage nach dem Potenzial einzelner Medien insbesondere für kulturbezogene Lernprozesse im Kontext von Deutsch als Fremdsprache: Kunst, Bilder, Musik (vgl. Badstübner-Kizik 2007; vgl. auch Art. 178), aber auch die Rolle literarischer Texte wird im Rahmen einer stärker kulturwissenschaftlich orientierten Landeskunde wieder neu diskutiert (vgl. Dobstadt 2009; vgl. auch Art. 173); hier könnten sich in absehbarer Zukunft auch interessante neue Forschungsperspektiven herausbilden.
3.7. Empirische Erorschung kultureller Lernprozesse im Kontext DaF und DaZ Die Erforschung kultureller Lernprozesse ist im Grunde genommen das größte Desiderat in diesem Bereich des Fachs. Erst langsam hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass die Darstellung einzelner in der Regel gelungenerer Unterrichtsprojekte zwar didaktische Anregungen zu geben vermag, aber keine gesicherten Erkenntnisse über den Lernprozess und seinen Ertrag liefert. Klar ist dabei, dass eine derartige empirische Forschung im Wesentlichen nur im Rahmen von Longitudinalstudien erfolgen kann und damit auf Qualifikationsarbeiten und drittmittelfinanzierte Forschungsprojekte ⫺ von denen es in diesem Bereich des Fachs bisher kaum welche gab und gibt ⫺ begrenzt ist.
4. Methoden kulturwissenschatlicher Forschung im Fach DaF 4.1. Diskursanalytische Methoden Kultur gilt im Kontext der K