Paul Frischauer
Weltgeschichte
in Romanen
Band 3
Geschichte der Germanen bis zum Mittelalter
Inhaltsangabe Unte...
63 downloads
953 Views
2MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Paul Frischauer
Weltgeschichte
in Romanen
Band 3
Geschichte der Germanen bis zum Mittelalter
Inhaltsangabe Unter dem Ansturm der germanischen Stämme brach das römische Weltreich zusam men. ›Die Barbaren‹ aus dem Norden trafen auf alte Kulturen, errichteten Großreiche - aber das über Jahrtausende Gewachsene war stärker. Die germanischen Herrschafts gebilde zerfielen schnell. In seinem Roman ›Ingo‹, der Teil dieses Bandes ist, erzählt Gu stav Freytag, der große Dichter des berühmten Romans ›Soll und Haben‹, von Ingo, dem vandalischen Königssohn. Die Vandalen, eines der erstaunlichsten germanischen Völker, gründeten da, wo erstmals das von Rom besiegte Karthago geherrscht hatte, ein großes nordafrikanisches Reich unter ihrem genialen König Geiserich, das dann durch den be rühmten Belisar, Feldherrn des oströmischen Reiches, zerstört wurde. Eifersucht unter den Stämmen, mangelnde Beharrungskraft waren die Gründe, daß es nie zu einem ger manischen Weltreich kam. Der Frankenkönig Chlodwig versucht im 5./6. Jh. ein neues Großreich zu errichten, das aber sofort nach seinem Tode zerfiel. Neue starke Kräfte bedrohten das Abendland. Karl Martell gelang es, die vordringen den arabischen Mohammedaner 732 bei Tours und Poitiers zu besiegen, und Karl der Große, 800 in Aachen gekrönt, wollte der Herrscher eines neuen Reiches in der Nachfolge des römischen sein. Doch auch sein Imperium zerfiel. Im Kampf gegen die herandrän genden Ungarn und Slawen bildete sich aus den deutschen Stammesherzogtümern ein neues deutsches Reich, dessen Kaiser um die Weltherrschaft streiten mußten mit einer neuen Macht, die nicht nur mit geistigem Anspruch auftrat: die Kirche. Mit wechselnden Erfolgen stritten Papst und Kaiser um die Weltherrschaft, bis Ende des 11. Jahrhunderts durch den berühmten Gang nach Canossa König Heinrich trotz Unterwerfung den ent scheidenden Schritt zur Befestigung des Kaisertums und seiner Vorherrschaft tat. Das christliche Leben begann an der Pforte des Mittelalters zu blühen. Klöster wuchsen em por; vom Mönch Ekkehard aus St. Gallen berichtet der Roman Wilhelm von Scheffels, der in diesem Band das historische Umfeld der Klöster und der Mönche, ihr Leben, ihre Arbeit, ihr Denken schildert.
Sonderausgabe des Lingen Verlags, Köln
© by Literarica Anstalt, Vaduz
Gesamtherstellung: Lingen Verlag, Köln
und Bercker Graph. Betrieb GmbH, Kevelaer
Schutzumschlag: Roberto Patelli
Printed in West-Germany
Alle Rechte vorbehalten
Dieses eBook ist umwelt- und leserfreundlich, da es weder
chlorhaltiges Papier noch einen Abgabepreis beinhaltet! ☺
Geschichte der
Völkerwanderungszeit
bis in die Mitte des
vierten Jahrhunderts
insbesondere
Geschichte der Germanen
Die Grenze zwischen den geschichtlichen Zeiten Die Worte ›Altertum‹ und ›Mittelalter‹ wurden dem Sprachschatz mit solcher Selbstverständlichkeit einverleibt, daß sie allgemeingültige Be deutung gewannen und bestimmte Vorstellungen erweckten. Aber schon die Fragen ›Wann ging das Altertum zu Ende? Wann begann das Mittelalter?‹ wurden selbst von hervorragenden Forschern je nach Auffassung und Auslegung verschieden beantwortet, denn die Tren nungslinie zwischen Altertum und Mittelalter ist nur eine begriffli che. Sie wurde von der Geschichtsschreibung festgelegt, um das viel fältige, ineinandergreifende Geschehen auf dem Erdkreis, zur Erleich terung der Übersicht, zeitlich einzuordnen. Das geschah nicht einheit lich. Unterschiedliche Deutung und verschiedenartige Bewertung der Ereignisse führten dazu, daß einmal die Anerkennung des Christen tums als Staatsreligion im Römischen Reich, ein andermal der Beginn der sogenannten ›Völkerwanderung‹ als die Grenze zwischen den Zeit altern angenommen wurde. Weder die eine noch die andere Abgrenzung hält einer Gegenüber stellung mit der Wirklichkeit stand. Die Untersuchung der frühen Ge schichte der Menschheit gibt deutlich zu erkennen, daß sich die Ent wicklungen aller Völker oder Staatengebilde nicht als abgesonderte, unabhängige Vorgänge vollzogen. Immer wurde das oft grausame Zu sammentreffen ortsgebundener Gegebenheiten und ortsfremder Ein wanderer in den jeweiligen Gebieten die Grundlage der später unter dem Begriff einer ›Kultur‹ zusammengefaßten Lebensformen. Die ein zelnen Kulturen vermischten sich in den aufeinanderfolgenden Zeit abschnitten miteinander und schufen wieder neue Kulturen. Schließ lich galt das Römische Reich durch seine vereinheitlichende Aufnah mefähigkeit und Ausstrahlung und auch als Machtbegriff als das be 2
deutsamste Ergebnis der Mischungen von Lebensformen und Völker schaften im europäischen Raum. Diese außerordentlichen Eigenschaf ten, deren Wirkung sich über die Jahrhunderte hinaus bis in unsere Zeit erstreckte, erhoben Rom in seinem Glanz zum allgemeinen Sinn bild des Altertums. Die Aufmerksamkeit, die die um das Mittelmeer liegenden Länder des Römischen Reiches auf sich zogen – nicht nur durch Erfolge in Krieg und Frieden, sondern auch durch die erhalten gebliebenen rö mischen Beschreibungen dieser Erfolge –, lenkte die späteren Betrach ter der Geschichte von den Ereignissen und Entwicklungen in anderen Gebieten und Erdteilen ab. So kam es, daß sich die allgemeine Kennt nis der frühen Geschichte auf das ›klassische Altertum‹ beschränk te. Ägypten bekam wohl seinen Platz, aber die Betonung lag auf Grie chenland und Rom. Für gelehrt oder gebildet wurde nur angesehen, wer sich mit diesen beiden Kulturen befaßte. Erst neuere Bodenfun de und Forschungen erweiterten den Gesichtskreis der Geschichtsbe trachtung und ermöglichten über die erstarrten, überlieferten Daten hinaus tiefer schürfende, weiter reichende Deutungen. So verlor auch der Begriff ›Völkerwanderung‹, der in landläufiger Bezeichnung die Zeitspanne vom dritten bis zum achten Jahrhundert unserer Zeitrech nung umschrieb, seinen eigentlichen Sinn. Man darf nicht vergessen, daß der Ursprung und Anfang dieser Völkerbewegungen in das Unbe kannte der Vorgeschichte zurückführt. Die Wanderungen begannen mit den ersten Menschen. Sie waren die durch zwangsläufige Verhält nisse bedingten, unaufhörlichen Ortsveränderungen von Einzelgän gern, Familien, Stämmen und Völkern, die neue Wohnsitze suchten. Das Ziel der Menschheit änderte sich durch die Jahrtausende nicht. Auch über die begriffliche Grenze vom Altertum zum Mittelalter hin aus blieb es das gleiche: der Wunsch nach dem besseren Leben.
3
Durch das Völkertor zum Steinwall I Alle Wanderungen, die Geschichte machten, gingen vom Osten nach dem Westen, mit Ausnahme des Einfalles oft unbekannter und unbe nannter Völkerstämme in China und die dem chinesischen Festland vorgelagerten Inseln. Tief im Inneren Asiens entstand der sich immer erneuernde Men schenüberschuß und löste die drängende Unruhe und Notlage von Fa milienverbänden und Horden aus, die im grenzenlosen Raum neue Möglichkeiten suchten, neue Weideplätze, um leben und überleben zu können. Einige dieser Volksstämme wandten sich nach dem Süden. Sie drangen in Indien ein, unterwarfen die schon zu einer höheren Le bensform fortgeschrittenen Bewohner der Königreiche und Städte am Indus und Ganges. Die meisten asiatischen Wanderer aber zogen nach dem Westen und brachen durch das uralte ›Völkertor‹, den Kaukasus, in Europa ein. Diesen Weg nahmen auch die Völker, die von ihren Zeitgenossen mit dem Sammelnamen ›Germanen‹ bezeichnet wurden. Sie stießen in die unwirtlichen Gebiete nördlich der Donau vor, die Küsten der Nord- und Ostsee entlang in die Richtung des Rheins und nach Skan dinavien. Von diesen sich während gewaltiger Zeitspannen wiederholenden Zügen zahlloser Menschen erhielten sich wenige Spuren, und auch die se ermöglichen nur um Jahrhunderte schwankende Zeitbestimmun gen. Es gab keine Straßen durch die unwegsamen Gegenden, durch die die Wanderung der damals noch namenlosen Wegbereiter des Mit 4
telalters führte. Sie bewegten sich entlang der Flüsse, über Pässe und durch Täler in ihre noch unbekannte künftige Heimat. Welchen Ursprungs diese asiatischen Männer und Frauen eigentlich waren, ist nicht bekannt. Durch die Ursprungsbezeichnung ›Indoger manen‹ und ›Indoeuropäer‹ versuchten Sprachforscher, eine Verbin dung zu uralten Völkern im indischen Raum herzustellen. Es ist auch nicht bekannt, ob die Neuankömmlinge Werkzeuge mit sich brachten, deren Gebrauch sie über die dürftigsten Lebensbedingungen erhob. Sie standen tief unter dem zeitgenössischen Bildungsstand der Völker schaften, mit denen sie im Norden Europas in Berührung kamen, und hatten weitaus einfachere Lebensformen. Um so erstaunlicher ist die verhältnismäßig kurze Zeit, in der die als grobe Barbaren charakte risierten halbwilden Germanen nachahmten, nachholten und verbes serten, was ihre verfeinerten Nachbarn in schon besiedelten und ge sellschaftlich geordneten Gebieten in den vorhergegangenen Jahrhun derten vollbracht hatten. Die Leistung der Nachzügler der westlichen Kultur wirkt um so ge waltiger, wenn man die ersten erhaltenen Berichte über die landschaft lichen Verhältnisse der europäischen Landstriche in Betracht zieht, in denen die frühen Germanen gelebt haben: unwohnlicher Urwald, sumpfige Ebenen, neblige Täler, die im Winter unter ungeheuren Mas sen von Eis und Schnee erstarrten. Nach Westen zu, in der Rheinnie derung, war die Gegend freundlicher. Gegen Pannonien und Noricum aber, im Gebiet des gegenwärtigen Bayern und Österreich, erschwerten häufige Wetterumschläge, die durch heftige Südostwinde hervorgeru fen wurden, den Bewohnern des Berglandes das Leben. In ihren ge schichtlichen und naturgeschichtlichen Werken, die den Römern die seltsamen Bewohner jenseits ihrer Grenzen vor Augen führen sollten, schilderten Cornelius Tacitus und Plinius das Land und das Volk der Germanen. Besonders beeindruckt war Plinius von den nördlichen Gegenden: »Dort bewohnen die beklagenswerten Leute hohe Hügel oder Bretter gerüste, auf denen ihre Hütten nach dem höchsten Flutmaß errich tet wurden; in der Flut ähnlich dem Leben an Bord von Schiffen, in 5
der Ebbe ähnlich Schiffbrüchigen. Sie können keine Haustiere halten und von deren Milch leben, ja nicht einmal mit wilden Tieren kämp fen, da weit und breit kein Strauch zu sehen ist. Sie flechten Schilfund Sumpfbinsen zu Stricken, verfertigen Netze zum Fischfang. Sie tragen feuchten Schlamm zusammen, trocknen ihn mehr im Wind als an der Sonne und bereiten darin ihre Speisen, um die vom Nordwind erstarrten Glieder zu erwärmen. Ihr einziges Getränk ist Regenwasser, das in Gruben gesammelt wird. Und diese Völkerschaften klagen über Knechtschaft, wenn sie von den Römern besiegt werden! So ist es eben: manche verschont das Schicksal, um sie zu bestrafen.« Aber auch in bewaldeten Landschaften war es römischen Besuchern und Berichterstattern unheimlich zumute: Die Bäume waren wie ge waltige Ungeheuer; ihre Wurzeln wölbten sich so hoch, daß sie die Wege überspannten und es Berittenen möglich war, unter diesen na türlichen Bogen hindurchzureiten. Die Stämme waren so lang und dick, daß sie, ausgehöhlt und als Schiffe verwendet, dreißig Mann zu fassen vermochten. Riesenhafte Waldtiere, Elch, Bison und Ur, Her den wilder Pferde belebten die Wälder, und seltsame Vögel, die ›gan tae‹, Gänse, genannt wurden, flogen dort umher. Diese Vögel blieben nicht lange wild, denn ihr Fleisch und ihre Federn wurden in Rom so beliebt, daß Truppen ausgeschickt wurden, um die ›gantae‹ zu fangen. Das hochbezahlte, begehrte Geflügel wurde bald von den Einheimi schen gezüchtet, aber nur in den Grenzgebieten, denn die Gehöfte und Dörfer im Innern des Landes dienten zumeist vorübergehend als Sam melstellen rings um die Weideplätze der Herden, und nicht als bestän dige Wohnsitze auf von mächtigen Wäldern dicht umgebenen Lich tungen. Plinius glaubte, daß die Menschen am Rande der Nord- und Ostsee Pferdefüße hätten und den nackten Leib zum Schutz gegen die Käl te mit ihren übermäßig langen Ohren bedeckten. Tacitus behauptete, daß die ›Natur dort endete‹. Ein merkwürdiges, gefährliches Land! Die Vorläufer der Germanen in der Besitzergreifung Mitteleuropas, die Kelten, hatten auf ihren Zügen an der Donau und dem Rhein ent lang, die sie im Westen ans Ende der damals bekannten Welt, nach 6
Britannien, führten und im Süden auf die Iberische Halbinsel, vor den bedrohlichen Urwaldgegenden des Nordens zurückgescheut. Auch für sie, die von den Römern unterworfen und schon mit dem besseren Le ben bekannt gemacht worden waren, galten die Germanen jenseits der Donau und des Rheins als feindselig gefährliche Nachbarn. II Die Verteidigung und die Sicherung des in jahrhundertelangen Kämp fen eroberten Besitzes durch den Limes, den steinernen Wall und die Grenzfestungen, gegen die Angriffe der sich zu Völkern vereinigen den Germanenstämme, wurde und blieb das Hauptziel der römischen Kaiser. Sie erfuhren mit wachsender Sorge von den kriegerischen Be wegungen ihrer rastlosen Nachbarn. Es waren immer neue Namen, mit denen die Herrscher und ihre Grenzgeneräle sich bekannt machen mußten, immer besser ausgerüstete Ansammlungen von Kriegern, die nicht mehr nur durch den raschen Aufmarsch von Legionen zurück gescheucht werden konnten. Vom Rhein zum Schwarzen Meer und wieder zurück zogen ganze Völkerschaften, die einander nicht weniger beunruhigten als die ei fersüchtig über ihre Grenzen wachenden Römer. Burgunder, Goten, Vandalen und Chatten, Hermunduren, Markomannen und Langobar den siedelten sich bald in diesen, bald in jenen Landstrichen an. Erst ließen diese Völkernamen kaum nennenswerte Unterscheidungen zu. Aber dann zeichneten sich doch besondere Wesensmerkmale inner halb der verschiedenen, überaus ähnlichen Völker ab, durch die die Zusammengehörigkeit der Stämme bedingt war. Welche wesentliche Gemeinschaft verband diese durch das Völker tor des Kaukasus nach Europa eingewanderten Männer und Frauen? Wenn die zeitgenössischen Römer nicht durch den Hochmut des Fort schritts verblendet gewesen wären, hätten sie bei der Betrachtung der germanischen Lebensformen so viele Ähnlichkeiten mit ihrer eigenen 7
ursprünglichen Lebensform und ihren eigenen, von ihnen schon ver gessenen uralten Gebräuchen gefunden, daß sie sich nicht durch äu ßerliche Verschiedenheiten hätten abschrecken lassen. Denn auch das Gemeinschaftsleben der Germanen beruhte auf der vaterrechtlichen Familie, deren: einzelne Mitglieder unter der unumschränkten Gewalt des Vaters standen. Es war ein ›Patriarchat‹ wie das der ersten Römer. Blutsverwandte Familien bildeten eine Sippe. Die Männer der Sippe kämpften miteinander gegen alle Feinde, sie hafteten füreinander und waren zur Rache für jedes Unrecht verpflichtet, das ein Sippengenos se erlitten hatte. Die germanischen Sippen hatten sich zu Stämmen und die Stämme zu Völkerschaften zusammengetan. Sie lebten in Gauen, das heißt in Stammeszusammengehörigkeit. Schon in frühen Zeiten gab es bei den Germanen eine gesellschaftliche Gliederung in Adelige und Freie und einen dritten Stand, die kriegsgefangenen Sklaven und die Hörigen, die für die Freien und die Adeligen arbeiteten. Als Adelige galten jene Geschlechter, die sich durch Ansehen und Reichtum vor den anderen auszeichneten. Sie waren erbliche Nutznie ßer der Belohnung für hervorragende kriegerische Leistungen. Jeder freie Mann hatte das Recht, an der Volksversammlung teilzunehmen, dem ›Thing‹, das den Heerbann, die wehrhaften Männer, zur gemein samen Beratung verband. Wer sich durch außerordentliche körperli che Fähigkeiten und Geschicklichkeiten in den Waffenübungen her vortat, galt als bedeutend. Um ihn sammelten sich Gefolgschaften, die sich dem so Bevorzugten durch Treuebündnisse verpflichteten, in der Hoffnung, mit ihm und durch ihn Ruhm, Ehre und Beute zu gewin nen. Solche Jünglings- und Männerbünde folgten nicht nur Helden, die sich selbst durch Tapferkeit bewährt hatten, sondern auch den Ange hörigen vornehmer Familien, deren Ruf und Stellung ererbt war. Diese waren die Anführer des Heerhaufens beim Angriff, sie waren die Vor dersten, die ›furisto‹, die Fürsten. Aber die überragende Stellung der Fürsten und der erwählten militärischen Anführer, der Herzöge, war nur in Kriegszeiten unbedingt. Im Frieden fiel den Fürsten und Her 8
zögen wohl die Rechtsprechung zu, jedoch nur im Rahmen der durch die Überlieferung überkommenen Stammesgesetze. Die Grundlage des engen Zusammenhalts der Familien, Sippen und Stämme war die Hochachtung vor den Rechten und Pflichten der Ehe. Tacitus berichtet: »Das einfache, unverdorbene Volk mit seiner un verdorbenen Einbildungskraft nimmt keinen Anstand daran, daß die Tracht der Frauen und Mädchen nicht nur Ober- und Unterarme, son dern auch einen Teil des Busens unverhüllt läßt. Dennoch ist das Band der Ehe musterhaft streng und heilig … Fast alle Männer begnügen sich mit einem Weib, nur sehr wenige Fürsten haben mehrere Frauen, nicht aus Sinnlichkeit, sondern wegen einflußreicher Verschwägerun gen. Während bei den Römern die Ehen meist nur wegen der Mitgift der Frau geschlossen werden, bringt der germanische Gatte dem Weib die Mitgift zu …« Nur selten, so erzählt Tacitus, komme Ehebruch vor. Der Gatte stoße dann die Entkleidete mit abgeschnittenem Haar aus dem Haus und treibe sie mit Schlägen durch das Dorf. Die Zahl der Kinder willkürlich zu begrenzen oder ein Nachgeborenes zu töten, gel te als Frevel. »Dort lacht man nicht über das Laster und nennt verfüh ren und verführt werden die Mode der Zeit. Die Frauen haben nur ei nen Gatten, wie nur einen Leib und ein Leben. Und mehr wirken dort gute Sitten als anderswo gute Gesetze.« In seinem Unmut über den zeitgenössischen römischen Sittenverfall vergaß Tacitus, daß der Begriff des Ehebruchs bei den Germanen der gleiche war wie bei den Römern. Nur der Mann hatte das Recht auf eheliche Treue, nicht die Frau. III Auch bei der Beschreibung des Glaubens und der Götterlehre der Ger manen entging den römischen Betrachtern manche Ähnlichkeit und gewiß auch der vermutlich gleiche Ursprung ihrer geheiligten Vorstel lungen. Hier wie dort erzeugten die erschreckenden und die segensrei 9
chen Erscheinungen der Natur entweder Gefühle der Angst oder der Dankbarkeit, und die Phantasie schuf übersinnliche Wesen, die göttli che Gestalt gewannen. Die Unterschiede zwischen den Glaubensvorstellungen der Römer und Germanen mochten durch die verschiedenen landschaftlichen Eindrücke und Einflüsse verursacht sein. In den besonnten südlichen Gegenden äußerte sich die Natur freundlicher, die Götterwelt war lich ter und heiterer. Die Vermischung der Gottheiten der Griechen und Römer zu nahezu übereinstimmenden Glaubenssinnbildern konnte sich um so eher vollziehen, als die Dorier, die in Griechenland einge brochen waren, und die Italiker, die die Apenninische Halbinsel be setzt hatten, im wesentlichen gleichen Stammes und von verwandten Glaubensvorstellungen erfüllt waren. Der griechische Zeus und der römische Jupiter glichen einander zum Verwechseln, und auch die anderen Olympier, die durch die griechi schen Auswanderer auf italischem Boden eingeführt wurden, wurden mit empfänglichem Geist aufgenommen. Sie fanden bereitwillige und gläubige Anhänger. Die römische Mythologie, die durch das Zusammenspiel etruski scher, griechischer und italischer Glaubensinhalte entstand, war im wesentlichen nicht verschieden von der germanischen, die allerdings nicht durch so reiche, bleibende Bodenfunde und Denkmäler überlie fert worden ist. Tacitus berichtete, daß die Germanen ebenso wie die Etrusker und Italiker aus Flug und Ruf der Vögel weissagten. Die Raben Hugin und Munin, die Begleiter Wotan-Odins, des mächtigsten Gottes der Ger manen, trugen Namen, die in der Sprachforschung das gleiche aussag ten wie die Namen der ersten Gattinnen des olympischen Zeus, der Göttinnen Metis und Mnemosyne, nämlich ›Rat‹ und ›Gedächtnis‹. Die nordische Hel, die ›Verborgene‹, ist gleichbedeutend mit dem grie chischen Hades, dem ›Unsichtbaren‹; in beiden Fällen trug die Unter welt den gleichen Namen wie die sie beherrschende Gottheit. Die Ähn lichkeiten führten jedoch nicht zu vollkommener Gleichsetzung, be sonders was die Rangordnung und den Wirkungsbereich der einzel 10
nen Gottheiten betraf. Dennoch ist der indische Dyauspita dem ZeusJupiter gleichzusetzen und dem Teiwaz, der zum germanischen Kriegs gott Ziu-Tyr wurde. Auch das lateinische ›divus‹ und ›deus‹ und das griechische ›theos‹ waren im Namen Dyauspita enthalten. Das wurde auch später erkannt, als Donar dem Jupiter als so nahe verwandt emp funden wurde, daß der Tag Jupiters, der ›dies Jovis‹, zum Donars-Don nerstag wurde. Eine ähnliche Umformung geschah mit dem Tag der Venus, der zum Tag der göttlichen Freya, dem Freitag, wurde. Aber diese Angleichungen vollzogen sich erst in einer späteren Zeit, als der Limes die tatsächliche Annäherung und die geistige Mischung der Völker nicht mehr behinderte. Der germanische Götterglaube war auch von uralten persischen Vor stellungen beeinflußt. Es gab Gewalten des Lichtes und der Finsternis: die guten, menschenfreundlichen, schaffenden, schützenden, erhalten den Gewalten, die in stetem Kampf mit den bösen, menschenfeindli chen, zerstörenden lagen. Die lichten Götter hießen Asen. Sie waren die Tragbalken, die Stützen des Himmels und der sittlichen Ordnung auf Erden. Ihre Feinde waren die Riesen, die starren Felsgebirge, die dem Pflug des Menschen widerstanden und seinen Lebensunterhalt erschwerten. Donar, der Gott des Gewitters, der Beschützer des Acker baus, schlug den harten Bergriesen mit seinem Hammer, dem Blitz strahl Malmer, der nach jedem Wurf in seine Hand zurückflog, auf die felsigen Häupter. Die von Donar zertrümmerten Felsen wurden zur nutzbaren Ak kerkrume. Aber auch Wald und Wasser, Luft und Sonnenschein wa ren den göttlichen Mächten unterworfen. Die Asen standen in unab lässigem Kampf mit den Natur und Ordnung bedrohenden Riesen. Erst waren diese gefährlichen Gewalten die in der Vorstellung verkör perten, furchtbaren Naturkräfte: Frost, Eis und Schnee des Winters, Sturmwind und verzehrendes Feuer. Dann aber, durch die Einteilung in Licht und Dunkel, in Gut und Böse, übertrug sich ihre verderbliche Wirkung auf das Geistige und Sittliche. Durch diese Auffassung ent stand das Pflichtgefühl der Menschen, den Asen im Kampf gegen die Riesen beizustehen. 11
Die Scheidung der Götterwelt in Gut und Böse, in Licht und Dunkel, hätte sich zu einem einfachen und erfreulichen Glauben entwickelt, wenn nicht auch die Asen im Kampf gegen die Riesen schuldig gewor den wären: sie brachen die Ehe und die Treue, sie wurden habsüchtig und bestechlich, neidisch und eifersüchtig, sie verübten Mord und Tot schlag, und ›sie müssen dafür sühnen‹, so hieß es in der zum Glauben erhobenen Sage, die den großen, den letzten Weltkampf zwischen den Asen und den Riesen ankündigte. Das würde eine furchtbare Auseinandersetzung sein. Die ›Götter dämmerung‹ warf ihre Schatten voraus. Denn mit der Reinheit der Asen hatte auch ihre Kraft abgenommen. Es war Odin zwar gelungen, die riesigen Ungeheuer zu fesseln, die Götter und Menschen, Himmel und Erde mit Vernichtung bedrohten. Dennoch galt der Tag des gro ßen Weltenbrandes als unabwendbar. Er würde kommen, wenn die Tragbalken der Weltordnung, die Asen selbst, morsch und faul gewor den wären. Aber nachdem sich das All an der Glut der Feuerriesen entzündet haben würde, sollte sich aus der Asche eine neue Welt, eine neue Erde, ein junger Himmel erheben und nicht mehr von den alten Göttern, sondern von ihren unschuldigen Söhnen belebt werden. Diese Vorstellungen der Germanen von der grauenhaften Vernich tung des Weltalls unterschieden ihren Glauben von dem der griechi schen Götterwelt, in der die bösen Gewalten bereits vernichtet waren. Wer in den Olymp kam, konnte sich einer angenehmen Unsterblich keit erfreuen. Wer in das gleichwertige germanische Walhalla kam und dadurch bevorzugt war, mit den Asen zu leben, mußte bereit sein, mit ihnen auch zu sterben. Dennoch beflügelte der Wunsch, in Wal halla einzuziehen, den Todesmut der germanischen Krieger. Sie streb ten nach dem irdischen Tod um des himmlischen Sterbens willen. Als oberster, als höchster Gott, als Vater der Götter und Menschen, als Schützer gegen die Mächte der Zerstörung wurde Odin (Wotan) verehrt. Er war der ›Geist‹, der Gott der Begeisterung, der Verleiher des ›furor teutonicus‹, des wütigen Heldenmutes, der die Germanen beseel te. Als König von Walhalla wünschte Odin, daß viele blutige Schlach ten geschlagen würden, damit viele Helden den Bluttod und nicht den 12
Strohtod stürben. Denn nur wer auf dem Schlachtfeld fiel, wurde in Walhalla aufgenommen. Und weil nur Helden sein Heer verstärken konnten, brachte Odin Zwietracht unter Könige und Völker. Dann gab es Krieg. Er zauberte, wenn nötig, mit der Tarnkappe, die unsichtbar machte, mit dem Zaubermantel, der durch die Wolken trug, und mit dem Zauberring, der unaufhörlich neue Goldringe erzeugte. Neben Odin, dem Erfüller aller Wünsche, dem Verleiher allen Glük kes, stand Donar, der Donnergott, der den Ackerbau und das Rechts wesen schützte. Kriegsgott war Odins Sohn Tyr (Ziu). Odins Gemah lin Frigg (Freya) war die Göttin der Ehe, der Liebe und der Schönheit. Am Tage der Sonnenwende starb Baldur, der Gott des Frühlingslich tes. Er hatte viele freundliche Genossen, die an Quellen und in heiligen Hainen göttlich verehrt wurden. Der gefährlichste Gott aber war Loki, der Gott des Feuers, der zuletzt gegen die Asen auftrat. Darüber wuß ten die drei Nornen Bescheid, die das Schicksal woben, dessen Ablauf weder den Göttern noch den Menschen bekannt war. Nur das furcht bare Ende war gewiß. Aber wann würde es kommen? Die germanischen Männer zerbrachen sich darüber nicht den Kopf. Sie wollten erst einmal durch die Walküren, die Schildjungfrauen Odins, vom Schlachtfeld empor nach Walhalla getragen werden, wenn sie auf dem Felde der Ehre gefallen waren. IV Die blonden, blauäugigen, hellhäutigen germanischen Männer und Frauen, die von den römischen Legionären gefangengenommen und auf den Sklavenmärkten verkauft wurden, waren, wenn sie sich in ihr Schicksal gefügt hatten, die treuesten und zuverlässigsten Bediensteten und Gefährten ihrer Besitzer. Es war, als ob diese Menschen zwei ver schiedene Seelen hätten. Wenn sie kämpften, waren sie grausamer, un erbittlicher, hartnäckiger als alle anderen Krieger. Wenn sie friedlich waren, hatten sie ein zarteres, gefälligeres, gelehrigeres Wesen als alle 13
anderen Sklaven. Sie besaßen eine rasche Auffassungsgabe. Sie paßten sich an. Sie machten sich so nützlich, sie waren so arbeitsam, daß ihre Erwerbung als besonders glücklicher Kauf gewertet wurde. Die Erfahrung mit germanischen Sklaven, die sich oft so bewährten, daß sie von ihren Herren freigelassen wurden und ihnen doch freiwillig weiter dienten, bestärkte die aufgeklärten römischen Kaiser in ihrem Wunsch, den germanischen Völkern, die den Limes unsicher machten und unaufhörlich Einfälle in das römische Reichsgebiet unternahmen, mit friedlichen Vorschlägen zu begegnen. Aber dazu konnte es immer erst kommen, wenn der Blutrausch der Angreifenden vergangen war und sie angesichts unüberwindlicher Widerstände vor Festungsmau ern oder Gebirgszügen haltmachen mußten.
Rückblick und Ausblick I Der erste namhafte Zusammenstoß der Römer mit den Germanen fand vor unserer Zeitrechnung statt. Julius Caesar warf durch seinen Sieg über den Germanenfürsten Ariovist die Volksstämme, die sich im Elsaß niedergelassen hatten, über den Rhein zurück. Das regte Ti berius und Drusus, die Stiefsöhne seines Nachfolgers Augustus, zu Eroberungsfeldzügen an. Tatsächlich begann ein Vorstoß der Legio nen vom Rhein her. Drusus unterwarf die Friesen, die Chauken und Angrivarier und benutzte die römische Festung Mongutiacum (das heutige Mainz) als Ausgangspunkt seines Vormarsches an die Elbe. Als er durch einen Sturz vom Pferd ums Leben kam, übernahm sein Bruder Tiberius die alleinige Leitung der militärischen Operationen gegen die Germanen. Er mußte erkennen, daß der Sieg über halbwil de Stämme zwar die Erweiterung der Grenzen ermöglichte, aber dem 14
Sieger keine anderen Vorteile brachte als die Besetzung nahezu wert loser Gebiete. Die notdürftig zurechtgezimmerten Behausungen der Germanen waren in Flammen aufgegangen. Nur wenige Gefangene wurden ge macht. Die Bevölkerung war mit ihren ärmlichen Fahrzeugen geflo hen, zu den benachbarten Chatten, Hermunduren, Langobarden oder den Markomannen, die das Land am Main verlassen, im böhmischen Raum unter ihrem König Marbod einen Staat gebildet und ein nach römischen Grundsätzen ausgerüstetes und ausgebildetes Heer aufge stellt hatten. Tiberius überließ seinen Generälen die Kämpfe gegen die vielnami gen Völker, die er der Einfachheit halber ›Germanen‹ nannte. Er war nicht dabei, als der Cherusker Arminius, der seine militärische Aus bildung in Rom erhalten hatte, eine Anzahl befreundeter Stämme zu einer Einheit verband und drei römische Elitelegionen unter Varus im Teutoburger Wald vernichtete. Der bekannte schmerzliche Ausruf des großen Augustus: »Varus, Varus, gib mir meine Legionen wieder!« war nicht sosehr durch den Verlust der Mannschaften und der Gebiete ausgelöst, die wieder von den germanischen Barbaren besetzt wurden, als durch die Erkennt nis des ersten römischen Kaisers, daß er seine ›pax Augusta‹, den rö mischen Frieden, nur aufrechterhalten könne, wenn er selbst Frieden hielt und die Germanen, die gegen Rom aufbegehrt hatten, nicht be kämpfte. Sein und seiner Nachfolger wichtigstes Ziel blieb die Erhal tung der Grenzen und nicht mehr ihre Erweiterung gegen den Norden, jenseits des Rheins und der Donau.
In der zweiten Hälfte des zweiten Jahrhunderts unserer Zeitrech nung brachen die Markomannen und die Quaden in Pannonien und Noricum ein und stießen bis Aquileia vor. Die Chatten überquerten den Rhein. Die ›pax Augusta‹, die zur ›pax Romana‹ geworden war, konnte durch blutige Gegenangriffe und die Anlage neuer Legionsla 15
ger gesichert werden. Bisweilen aber diente noch ein anderes Mittel dem Zweck der Grenzerhaltung. Manche freigelassenen germanischen Sklaven waren auf Veranlassung ihrer ehemaligen Herren als Römerfreunde heimgekehrt und zu Mittelsmännern zwischen ihren Stäm men und den Befehlshabern der Legionen geworden. So gab es bald römerfreundliche Quadenkönige und Markomannenfürsten, die sich sogar zur Stellung von Truppen verpflichteten, aus denen germanische Leibwachen für die römischen Kaiser gebildet wurden. Manche Befehlshaber dieser bevorrechteten Truppe standen zu den römischen Kaisern in einem ähnlichen Gefolgschafts- und Treuever hältnis wie zu ihren angestammten Fürsten. Aber es geschah immer wieder, daß sich die Offiziere und Mannschaften dieser besonders aus gerüsteten Einheiten zu ihren Stammesverwandten stärker hingezo gen fühlten als zu den Römern, die ihren Einfluß jenseits der Reichs grenzen ausbreiten wollten. Heute noch waren diese ausgezeichneten Männer römische Legio näre, morgen schon gehörten sie zu ›allen Mannen‹, die sich unter dem Kriegsnamen ›Alamannen‹ gegen die römische Herrschaft auflehnten. Die verschiedenen germanischen Völkerschaften entstammenden Alamannen bedrohten den Rhein. Kaum aber waren sie von aus dem Osten in Eilmärschen herbeigeholten syrischen Bogenschützen abge wehrt worden, als ein anderer germanischer Volksstamm, von dessen Dasein man zwar in Rom wußte, der sich jedoch bisher noch nicht durch feindliche Übergriffe unangenehm bemerkbar gemacht hatte, an der unteren Donau auftauchte: die Goten. Nach ersten blutigen Kämpfen mit diesen in schier unerschöpflicher Zahl vorstürmenden Kriegern fanden Unterhandlungen zwischen ih ren Fürsten und römischen Befehlshabern statt. Die freundlichen Er klärungen, mit denen die Goten ihren beabsichtigten Vormarsch in fremdes Gebiet entschuldigen wollten, waren noch beunruhigender als ihr Kriegsgeschrei. Die römischen Unterhändler erfuhren, daß sich die Goten nicht freiwillig in Bewegung gesetzt hätten. Sie seien im Nor den und Osten ihrer Ansiedlungen von anderen Stämmen überfallen und bedrängt worden, von ähnlich wilden Völkern wie den Dakern 16
und Sarmaten, denen zur Beschwichtigung Wohnsitze im römischen Reichsgebiet angewiesen worden waren. Das gleiche forderten die Go ten. Es schien im Innern Asiens nicht genug saftige Weideplätze und er tragreiche Anbauflächen zu geben. Durch das Völkertor des Kaukasus brachen immer wieder neue Stämme in den europäischen Raum ein. Wenn sich das Römische Reich gegen die unbekannten zahl- und na menlosen Angreifer sichern wollte, genügten die Aushebungen von in römischen Provinzen geborenen Wehrfähigen nicht mehr. Es war ei nerlei, woher die Männer stammten, die als Legionäre ausgebildet und eingekleidet unter der Standarte kämpften – solange nur die Zahl und der Stand der nötigen Legionen aufrechterhalten werden konnte. So wurden eben auch Goten angeworben, wie bisher Quaden und Mar komannen angeworben worden waren. Die Fürsten der germanischen Völker erhielten Jahresgelder, entsprechend der Zahl der Männer, die sie stellten. Es waren ausgezeichnete Legionen, die aus diesen widerstandsfähi gen, vom ›furor teutonicus‹ erfüllten Kriegern gebildet wurden. Mit solchen Truppen konnten die römischen Kaiser Kriege führen – aber nur solange sie die Jahresgelder zahlten. Die erste Zahlungsstockung, der erste Vertragsbruch – und es war um den Frieden mit den ›foeder ati‹, diesen bezahlten Bundesgenossen, geschehen. Das Schlimme war, daß die Germanen jetzt nicht mehr in wilden Horden einherstürmten. Sie hatten die Kriegskunst erlernt. Auch sie formten nun geschlossene, einheitlich ausgerüstete Kampfabteilungen. Um sie erfolgreich abzuwehren, war es nicht nur nötig, ihnen Legio nen in gleicher Zahl entgegenzustellen. Die Geldherren mußten den gleichwertig bewaffneten Feinden mit überlegener Kriegskunst begeg nen. Aber auch in dieser Hinsicht waren viele Germanenfürsten ih ren unfreiwilligen Lehrmeistern ebenbürtig geworden. So besiegte der Gotenkönig Kniva den römischen Kaiser Decius bei Abrittus und er möglichte dadurch den Vormarsch der zu einem Herr vereinigten Go ten, Burgunden und Sarmaten nach Makedonien und Kleinasien. 17
II Eigentümlich für die Wanderungen germanischer Stämme in diesem erregten dritten Jahrhundert unserer Zeitrechnung war der Marsch der Heruler von der Ostsee zum Schwarzen Meer. Sie vereinten sich mit den Goten, zu denen auch noch Boraner und Karpen, vermutlich nichtgermanische Völker, gestoßen waren. An den Küsten des Schwarzen Meeres entstanden germanische Werf ten, auf denen Raubschiffe gezimmert wurden. Die kriegerischen Un ruhen, durch die das Land im Osten Europas zerrissen wurde, griffen auf die See über. Die barbarischen Seeräuber plünderten die ehemali gen griechischen Handelsstädte am Schwarzen Meer. Sie fuhren durch den Bosporus, an der ägäischen Küste entlang und belagerten die Städ te Attikas und der Peloponnes, brandschatzten die Inseln Rhodos und Kreta. Diese Eindringlinge in das Herz der westlichen Welt, die sich erst ziellos auf den Weg ins Unbekannte gemacht hatten, entwickelten sich zu zielbewußten Eroberern, die ebenso über ein geordnetes Reichswe sen verfügen wollten wie die Römer und begierig waren, der gehobe nen Lebensformen des Mittelmeerraumes teilhaftig zu werden. Ihre Unternehmungen waren zwar gut geplant, aber sie führten doch zu nicht mehr als zu ertragreichen Beutezügen, die vor allem ihren Für sten und Adeligen zugute kamen. Um wirklich siegreich und bestän dig erfolgreich zu sein, fehlte diesen neuen Eroberern noch das Hin terland, über das die Römer durch ihren bald tausendjährigen Aufbau der Macht verfügten. Die Goten und ihre Bundesgenossen hatten noch keine ausgedehnten Schmiedewerkstätten zur Herstellung von Waffen, keine Anlagen von Webstühlen, die, in zahllosen Reihen unaufhörlich bedient, Stoffe für Kleidung und Zelte lieferten, keine sachgemäß aus genützten Bergwerke. Ihre hastig zusammengetragene Beute beein 18
druckte zwar sie selbst – aber nicht erfahrene Generäle wie Claudius II. Goticus, der, als Soldatenkaiser ausgerufen, den Kampf gegen die Feinde des Römischen Reiches aufnahm. Claudius war in den Augen der bedeutendsten zeitgenössischen Go ten- und Alamannen-Könige nur einer in der langen Reihe der von den Legionen ausgerufenen und bald wieder von den Legionen ermor deten Kaiser, die das Römische Reich in den vergangenen Jahrzehnten mit so harter Hand verwaltet und so hartnäckig verteidigt hatten. Die große Angst vor dem Namen Rom und dem, was es darstellte, war in der Vorstellung der Germanen jenseits der Donau und am Rhein eben so brüchig geworden wie der Steinwall. Die Volksstämme der Brukterer und Chamaver, in ihrer Vereinigung Franken genannt, zogen über den Rhein durch Gallien und die Iberi sche Halbinsel nach dem Norden Afrikas. Der Limes mußte vorüber gehend zurückgenommen werden, um dem wütenden Vorstoß der Germanen gewachsen zu sein. Vergeblich. Die zu richtigen Stoßtrup pen ausgebildeten Alamannen durchbrachen die schwächsten Stellen und fielen in Norditalien ein. Sie waren auf dem Weg nach Rom. Das war das Ziel, das von einem Thing zum anderen von den Fürsten der einzelnen Stämme verkündet wurde. Aber es fehlte noch an Einig keit und Verständigung zwischen den angriffslustigen germanischen Völkern, die gegen den Steinwall und den Limes anrannten. Sie un terhielten keine Verbindungen miteinander. Jeder Stamm, jedes Volk begehrte den Erfolg auf dem Schlachtfeld und die Beute nur für sich. So kam es, daß Claudius die Alamannen, die bis zum Gardasee vor gedrungen waren, vernichtend schlagen und schon im nächsten Jahr bereit sein konnte, den Goten in einer entscheidenden Schlacht entge genzutreten. Sein Sieg bei Naissus war nur durch eine großangeleg te Scheinmaßnahme möglich. Er vermochte die Übermacht im Rük ken zu fassen. Fünfzigtausend Goten fielen. Kurz nach der Schlacht er krankte Claudius. Als er starb, wurde Aurelian zum Kaiser ausgeru fen. Er nützte den Sieg seines Vorgängers nicht aus. Er war für friedli che Angebote. Er räumte die römische Provinz Dacia, um sie den Go ten als Siedlungsgebiet zu überlassen. Ein Teil von ihnen, seither West 19
goten genannt, ließ sich dort nieder. Die Ostgoten kehrten ans Schwar ze Meer zurück und vermischten sich mit den dort ansässigen Sarma ten – in vorübergehender Seßhaftigkeit. Für kurze Zeit schien es, als wäre der große Vorstoß durch das Völ kertor zum Steinwall zur Ruhe gekommen.
Im Zeichen des Übergangs I Als Kaiser Aurelian Rom mit einer gewaltigen Mauer umgab, um die Stadt gegen überraschende Überfälle der Germanenhorden zu schüt zen, wurde er von den Römern als ›Hüter des Erdkreises‹ gefeiert. Für die Bewohner der ›Sieben-Hügel-Stadt‹ war Rom nämlich der Mittel punkt der Welt geblieben. Solange sie in ihrem satten, gepflegten Leben nicht gestört wurden, wollten die Römer es nicht wahrhaben, daß die politische Bedeutung der Hauptstadt verlorengegangen war. Der römische Senat hatte keine Macht mehr, die Stimmen des Vol kes keinen Wert. Herr des Römischen Reiches wurde, wen die Legio nen zum Kaiser ausriefen – ob der Auserwählte gebürtiger römischer Bürger war oder irgendeiner fernen Gegend entstammte, war den Le gionären bald einerlei. Entscheidend war, daß der Offizier, den sie mit dem kaiserlichen Purpur bekleideten, ihre Vorrechte wahrte und ih nen neue Vorteile gewann. Die Stadt Rom war in Wirklichkeit zu relativer Bedeutungslosigkeit herabgesunken. Dort, wo sich der jeweilige Kaiser bei den Truppen aufhielt, war der Brennpunkt der Macht. Auf den Landkarten der Herrscher wirkte das Römische Reich wie ein Mosaik, dessen Ränder brüchig geworden waren – nicht nur im 20
Norden am Rhein und im Nordwesten jenseits der Donau, in den Grenzländern, die gegen die wandernden Völker verteidigt werden mußten, sondern auch im Osten, im alten geschichtlichen Gebiet des Zweistromlandes. Aus dem Osten drohte den reichsten Provinzen Roms eine immer deutlicher wahrnehmbare Gefahr. Aus den Wandlungen, die das ehe malige Weltreich Alexanders des Großen erfahren hatte, war nach Zerstückelungen und Wiedervereinigungen der Gebiete durch ver schiedenartige Machthaber ein neues, in sich geschlossenes, persisches Reich entstanden, dessen Herrscher, die Sassaniden, ein Ziel im Auge hatten: die Ausschaltung Roms aus ihrem Einflußgebiet. Die Gefahr, die dieses neue persische Königreich für Rom darstell te, war nicht nur durch die zeitgemäße Ausrüstung und vorzügliche Führung des Heeres begründet, das den Legionen bedenkliche Nie derlagen zugefügt und sogar den Kaiser Valerian gefangengenommen hatte, sondern vor allem durch den planmäßigen Aufbau einer ein heitlichen Staatsverwaltung, die dem Wiederaufblühen der persischen Macht Beständigkeit sicherte. Die Sassaniden waren die Nachkommen des Priesters Sassan. Das Bekenntnis Zarathustras wurde zum Staatsglauben erhoben und jede andere Götterverehrung verboten. Diese gewaltsame Vereinheitlichung im Geistigen und Geistlichen stieß auf keinen nennenswerten Widerstand der Bevölkerung und er leichterte die politischen Maßnahmen. Die persischen Staatslenker hatten von den Römern die sachgemäße Verwaltung und Kriegsfüh rung gelernt. Das war durch ihre Erfolge bewiesen. Ihre Unduldsam keit in Glaubensfragen, die ihre Machtentfaltung zu fördern schien, war etwas, das die römischen Kaiser von diesen gefährlichen Nach barn lernen konnten.
Eine Vereinheitlichung der Glaubensbekenntnisse im Römischen Reich war offenbar nötig, wenn die Zügel der Verwaltung so straff gezogen 21
werden mußten, wie es die unruhigen Zeiten nötig machten. Männer mit verwirrten Gemütern waren keine verläßlichen Bürger. Es muß te dafür gesorgt werden, daß jene Kräfte, die sich gegen den altherge brachten römischen Staatsglauben richteten und die überlieferte Göt terlehre des Volkes verneinten, unschädlich gemacht würden. Das wa ren vor allem die Angehörigen des christlichen Glaubens. In den Jahrhunderten, seit die ›Gute Botschaft‹ weiteren Kreisen zu gänglich gemacht worden war und immer mehr Anhänger gefunden hatte, war es immer wieder zu Verfolgungen der Christen gekommen. Einzelne Gläubige hatten im grausamen Sinne des Wortes ›daran glau ben‹ müssen. Aber das furchtbare Ende dieser Märtyrer hatte die Be kenner nicht abgeschreckt, sondern, im Gegenteil, zur Opferwilligkeit um des HERRN willen begeistert. Die Maßnahmen gegen die wach senden christlichen Gemeinden in allen Teilen des Reiches waren je nach dem besseren Wissen und Gewissen oder der Laune der jewei ligen Kaiser strenger oder nachsichtiger, aber die Haltung der römi schen Obrigkeiten – ob sie nun unerbittlich hart oder überlegen duld sam war – schien die Ausbreitung des neuen Glaubens nicht zu be einflussen. Wenn die Zeiten friedlich und gedeihlich waren, rührte das Wort Gottes durch seinen herzerwärmenden Inhalt und gewann den Verkündern, die sich durch Wohltätigkeit und wahre Nächsten liebe beliebt machten, sogar den Schutz hochgestellter Persönlichkei ten. Wenn die Zeiten unsicher und bedrohlich waren, suchte eine im mer größer werdende Anzahl von Menschen die Befriedigung, die ih nen das irdische Leben versagte, in der Zuversicht auf das Leben nach dem Tod. Der Glaube der Christen, der jedem Erlösung verhieß, gleichgül tig ob reich oder arm, hoch oder niedrig, versöhnte nicht nur mit der Angst vor dem Tode, sondern bot auch durch die Einhaltung der Ge bote eine Sicherung im Ablauf des Lebens: Wer glaubte und sich so verhielt, wie es geschrieben stand, verhielt sich im höchsten Sinne richtig. Er hatte nichts zu befürchten als sei ne eigene Unzulänglichkeit und die Sünde. Das innige Zusammenle ben und freundliche Wirken der Christen unterschied sich von der Le 22
bensführung aller Andersgläubigen, denen die Christen als Fremdkör per im Staate galten. Ihre Gebräuche, ihre andersgearteten Auffassun gen von Gut und Böse machten sie verdächtig schon dadurch, daß sie anders geartet waren. Sie wurden als Störenfriede der Wirtschaft emp funden, da sie nicht geldgierig waren, als Spaßverderber, da sie sich von den landläufigen Vergnügungen und Festlichkeiten zurückhielten. Sie galten durch ihre friedliche Haltung und ihre Gleichgültigkeit gegen politische Entwicklungen als unrömisch – nicht nur in Rom selbst, sondern auch in den Provinzen, deren Bürger nach römischem Mu ster erzogen und ausgebildet worden waren. Wen die ›Gute Botschaft‹ nicht berührte, der lehnte sie ab und verdammte die Christen.
Die durchgreifendste Christenverfolgung fand unter Kaiser Decius statt, der die Reichseinheit durch die Vereinheitlichung des Glaubens an die altrömischen Götter sichern wollte und bald nach dem Erlaß grausamer Gesetze gegen die Christen im Kampf gegen die Goten die Schlacht und das Leben verlor. Schon zu Beginn der Verfolgung flo hen zahlreiche Christenfamilien über den Limes und den Steinwall und fanden bei germanischen Stämmen jenseits der Donau und am Rhein gastliche Aufnahme. Diese unbekannten, unbenannten Flücht linge wurden wohl die ersten christlichen Missionare in germanischen Landen. Vermutlich neigten auch aus der Kriegsgefangenschaft heim gekehrte Markomannen, Quaden oder Goten dem guten Glauben zu, dem besonders die minderberechtigten Schichten der römischen Ge sellschaft anhingen. In den Grenzgebieten am Rhein und an der obe ren Donau, in denen vorsichtige Befehlshaber den Frieden erhalten wollten, wurde jedenfalls, nachdem die Welle der Christenverfolgung des Kaisers Decius abgeebbt war, von der gewaltsamen Unterdrückung des christlichen Glaubens Abstand genommen – auch unter dem von Kaiser Diokletian zum Caesar erhobenen Konstantius Chlorus, sogar nachdem Diokletian eine Christenverfolgung angeordnet hatte. 23
II
Schon die ersten Maßnahmen Diokletians, der gleich nach seiner Aus rufung zum Imperator vorsichtig dafür sorgte, daß die Soldaten nicht den üblichen Grund und Anlaß zu seiner Ermordung hätten, bewiesen den durchgreifenden Wirklichkeitssinn des letzten großen Soldaten kaisers. Seine Vorgänger hatten vergessen oder vergessen wollen, daß sie den kaiserlichen Purpur den anderen Generälen verdankten und nur durch ihre Duldung behalten konnten. Wer Kaiser werden und auch am Leben bleiben wollte, mußte sich der Anhänglichkeit der be deutendsten Befehlshaber der Legionen vergewissern. Diokletian erhob Maximian, den einflußreichsten General des Hee res, zu seinem Partner, gewährte auch ihm den Titel ›Augustus‹ und ernannte die beiden nächstwichtigen Generäle Galerius und Konstan tius Chlorus vorweg zu gesetzlichen Nachfolgern mit dem vorläufigen Titel Caesar. Er gab auch der Erkenntnis Ausdruck, daß das Römische Reich nicht mehr das Reich Roms war. Dort, wo die wichtigsten Heer lager zur Verteidigung des Reichs liegen mußten, sollten die Haupt städte der unter die vier Männer geteilten Verwaltung eingerichtet werden (nur die Verwaltung wurde geteilt, nicht das Reich!). Zu Mittelpunkten im Westen wurden Mediolanum, das heutige Mailand, der Hauptsitz Maximians, und Augusta Trevirorum, Trier, in dem Konstantius sein Heerlager unterhielt. Im Osten, in der kleina siatischen Küstenstadt Nicodemia, war der Hof Diokletians, während sein Stellvertreter Galerius sein Hauptquartier in Sirmium an der Save einrichtete. Trotz dieser Teilung in Machtbereiche behauptete Diokletian die Einheit der Gesetzgebung und der Münzprägung und bestand dar auf, daß die Kaiserverehrung nicht litt. Um niemanden vergessen zu lassen, daß er selbst auf die oberste Gewalt nicht verzichtet hatte, be anspruchte er den Titel ›Dominus‹ – der Herr – für sich allein und ahmte die königlichen Herren des benachbarten Perserreiches in sei ner Tracht und der feierlichen Förmlichkeit seiner Hofhaltung nach. 24
Er führte auch eine bis ins kleinste durchdachte Neuordnung der Ver waltung durch, um eine Vereinheitlichung in wirtschaftlicher und po litischer Hinsicht zu erreichen. Ob und wie weit Diokletian bei seiner Einrichtung eines einheitli chen Zwangsstaates durch die erfolgreichen Maßnahmen der Sassani den beeinflußt worden ist, kann nicht eindeutig festgestellt werden, da vergleichende Forschungen fehlen. Die Annahme liegt jedoch nahe, um so mehr, als seine außenpolitische Aufmerksamkeit in erster Linie auf den Osten, auf das mächtige Perserreich, gerichtet war. Er siedel te Tausende gefangener Germanen als freie, aber nicht freizügige Bau ern an, schuf Berufsgenossenschaften, die die einzelnen Handwerker und Gewerbetreibenden in der Ausübung ihrer Tätigkeit beschränk ten und zur Dienstleistung auf ihrem jeweiligen Fachgebiet zwangen. Er setzte Preisgrenzen und Höchstpreise für Waren und Leistungen fest, um ein entsprechendes Verhältnis zwischen Ausgaben und Ein nahmen der Bevölkerung zu schaffen und den Steuereingang zu si chern. Die militärischen Erfolge seines Caesar Galerius im Kampf gegen das persische Königreich erfochten Diokletian die Oberhoheit über Arme nien und ermöglichten die Sicherung der östlichen Verteidigungsli nie des Reiches, die nach ihm ›strata Diocletiana‹ genannt wurde. Sein Partner Maximian festigte den Limes, sein Caesar Konstantius unter drückte die Aufstände in Britannien. Das Römische Reich, das vor der Herrschaft Diokletians von allen Seiten gefährdet gewesen war, wurde wieder zu einer geschlossenen Gesamtheit. Die Legionen des stehenden Heeres lagen schlagkräftig zur Abwehr jedes Überfalls unruhiger Nachbarn bereit. In den Haupt städten entstanden prächtige Paläste und Verwaltungsgebäude, und selbst die Bürger des scheinbar vergessenen Rom wurden mit dem Bau ungeheurer Badeanlagen bedacht. Trotz dieser Erfolge der diokletianischen Herrschaft machte sich eine immer stärker zunehmende Unruhe in der Bevölkerung breit. Dem vom Kaiser verordneten Wohlergehen fehlte der geistige Atem. Die Verfügungen des Dominus waren wohl, in Stein gemeißelt, allerorts 25
sichtbar, aber sie wurden nur befolgt, wenn die von Diokletian einge setzten Aufseher es überwachten. Die Preisgrenzen und Höchstpreise verscheuchten die Waren von den öffentlichen Märkten. Der ›schwar ze Handel‹ wurde so allgemein, daß das Gesetz des Kaisers vom Vol ke immer lauter verspottet wurde. Wer und was war an diesem klägli chen Versagen inmitten des großen Gelingens schuld? Die Antwort auf diese Frage des Dominus wurde vielstimmig gege ben. Sie lautete: Die Christen. Ihr Glaube galt als staatsfeindlich. Die Tatsache allein, daß seine Ausübung geduldet wurde, hinderte die not wendige Einführung eines einheitlichen, einzigen Glaubens für das Römische Reich. Diokletian ordnete die Verfolgung der Christen an. III Die Maßnahmen der diokletianischen Christenverfolgung waren rück sichtslos oder sanft, je nach der Auffassung und Einstellung der örtli chen Statthalter, die sie zur Ausführung brachten. Der einzige hohe Machthaber, der sich aller Verfolgungen in seinen Herrschaftsgebie ten enthielt, war Caesar Konstantius, der kaiserliche Verteidiger der römischen Grenzen gegen die germanischen Völker. Bei dieser Dul dung blieb es dort auch nach dem freiwilligen Rücktritt Diokletians und nach dem Tode Konstantius', dessen Sohn Konstantin von den Legionen des Westens zum Kaiser ausgerufen wurde. In seinem Herr schaftsgebiet wurde dem Gesetz, das die Verfolgung der Christen an geordnet hatte, keine Folge geleistet. Aus den mannigfaltigen Schlachten, die von den Nachfolgern Dio kletians im Kampf um die Macht im römischen Kaiserreich geschlagen wurden, ging Konstantin siegreich hervor. Vor allem, weil er sich ger manischer Truppen bediente, die ihm auf seinem berühmten Heeres zug gegen Rom erst willig folgten, weil er ihren Glauben duldete, und dann begeistert, als er sie im Zeichen des Kreuzes zum Siege führte. 26
Die große Stunde der Weltgeschichte, in der dem vor den Toren Roms lagernden Konstantin das Kreuzeszeichen erschien und ihn vor der Entscheidungsschlacht zum Streiter Gottes machte, kann wohl als Trennungslinie zwischen Altertum und Mittelalter aufgefaßt wer den. Die erstaunliche Laufbahn des ursprünglichen Sonnenanbeters, der die Taufe erst auf seinem Sterbebett empfing, vollzog sich an der Grenzscheide zwischen den Zeiten. In der Geschichtsschreibung wurde vor allem seine Duldung des christlichen Glaubens und dann sein Wirken während des Konzils zu Nicaea gerühmt, in dem er durch seinen kaiserlichen Machtspruch die verschiedenen christlichen Sondergemeinschaften vereinheitlich te und das katholische Glaubensbekenntnis ermöglichte. Diese politische Maßnahme vervollständigte Konstantin dadurch, daß er das Christentum zum Staatsglauben machte und die Ausübung aller anderen Bekenntnisse untersagte. Dadurch gelang ihm, wenn auch im umgekehrten Sinn, die von Diokletian beabsichtigte große Verwaltungstat. Bei seiner Glaubensvereinheitlichung nämlich hatte Konstantin dem Umstande Rechnung getragen, daß die bedeutend sten Pfeiler seiner Macht, die germanischen Legionäre, für das Chri stentum begeistert waren oder begeistert werden konnten. Er kam auch den andersgläubigen Soldaten durch solche Ergänzungen und Erwei terungen der christlichen Glaubensäußerungen, die von den Christen als noch tragbar empfunden wurden, entgegen. So gab er den Son nenanbetern den Ruhetag, der auch in der Heiligen Schrift vorgesehen war, als feierlichen Sonntag. Er erlaubte manche Auslegung der jewei ligen Bekenntnisse so, daß eine etwaige Vermischung der Gottesver ehrung das Empfinden der Gläubigen nicht verletzte. Jedes Festhalten an starrsinnigen Abweichungen von dem einen ver einheitlichenden Glauben, den er im Römischen Reich einzuführen wünschte, empfand er als ungefällige, unliebsame Haarspalterei, die er mit seinem kaiserlichen Unwillen bestrafte. Da war vor allem der Arianismus, die von dem bedeutenden Priester Arius verkündete Leh re, die nicht die volle, vollkommene Gottheit Jesu Christi anerkennen wollte. Der große Streit war durch die Auslegung eines Wortes hervor 27
gerufen worden. Es drehte sich um den Buchstaben ›i‹, um die Frage: homousios – oder homoiusios – gleich oder ähnlich. Der grundsätzliche Gegensatz, der die christliche Welt in zwei Lager spaltete, wurde von den bedeutendsten Gegenspielern im Konzil von Nicaea klar und deutlich erörtert. Der Bischof von Alexandria erklärte: »Gott war immer, der Sohn war immer. Der Vater ist dagewesen zur gleichen Zeit wie der Sohn. Weder durch einen Gedanken noch durch einen einzigen Augenblick ist Gott dem Sohn vorangegangen. Gott war immer, der Sohn war im mer. Der Sohn ist Gott selbst.« Arius erklärte: »Wir können es nicht ertragen, solche Ruchlosigkei ten anzuhören, selbst wenn uns die Ketzer mit tausend Toden bedro hen. Was wir sagen und glauben, was wir gelehrt haben und lehren, ist, daß der Sohn zur Welt kam durch Gottes Willen und Rat und daß er nicht existiert hat, bevor er gezeugt, geschaffen, gedacht und für die Existenz bestimmt war. Wir werden verfolgt, weil wir sagen, der Sohn hat einen Beginn und Gott hat keinen Beginn.« Die Entscheidung, wel che dieser gegensätzlichen Auffassungen im Römischen Reich Geltung haben sollte, lag bei Konstantin. Da ihn der Glaubensinhalt in seinem Wesen nicht berührte, entschied er mit der Mehrheit der anwesenden christlichen Bischöfe gegen Arius, obwohl ihn die Persönlichkeit des begeisterten Eiferers ansprach. Aber persönliche Zuneigungen oder Abneigungen konnten den gefühlsarmen Konstantin, den willensstar ken Alleinherrscher, der sich in achtzehnjähriger, unaufhörlicher Tä tigkeit aller Nebenbuhler um die Macht durch Waffen und durch Tük ke, durch Geschicklichkeit und mit Gewalt entledigt hatte, nicht be einflussen. Er hatte sein Leben und seine Kräfte für die Vereinheitli chung der Herrschaft, der Verwaltung und des Glaubens eingesetzt. Das entschied. Nichts und niemand konnte Konstantin davon abbrin gen, daß er, der allmächtige Dominus, mit dem Diadem geschmückt und dem Purpur bekleidet, als unbestrittener, alleiniger, allmächtiger Herr über alles erhaben war. Er war der Beherrscher Roms in allen Be langen. Aber was war Rom? Die Hauptstadt der Vergangenheit. Er, der die Schwelle der neuen Zeit überschritt, wollte die Hauptstadt 28
der Zukunft schaffen, als bleibendes Denkmal und Sinnbild seines be gnadeten Daseins. Konstantin hatte durch seine überlegene, freundliche Haltung den germanischen Völkern gegenüber, die seine friedlichen Nachbarn ge worden waren, den Westen des Reiches gesichert. Die einflußreichsten Angehörigen seiner Verwaltung, die wichtigsten Befehlshaber seiner Legionen waren seine germanischen Freunde: Männer aus Britannien und vom Rhein, Alamannen und Franken. Auf sie und ihre engeren Landsleute stützte er seine militärische Überlegenheit. Sie befehligten das bewegliche Feldheer, das er schuf, und die ansässigen Grenztrup pen. Aus ihren Reihen füllte er seine Leibwache auf, die ursprünglich aus ihm stammesverwandten Illyriern zusammengesetzt war. Auch die von ihm ernannten beiden ›Heermeister‹, seine militärischen Stell vertreter, waren zumeist Germanen. Der Westen war dadurch gefe stigt. Dem Osten wollte Konstantin seine ungeheure, noch nie dagewesene Macht kundtun, als er die neue christliche Hauptstadt des Römischen Reiches gründete, die nach ihm Konstantinopel genannt wurde. Auf dem Boden der alten Stadt Byzanz, an der geschichtlich so be deutsamen Wasserscheide des Bosporus, legte Konstantin den Grund stein zur künftigen Weltstadt. Die graue Festung, deren örtliche Be deutung sich im Laufe des geschichtlichen Geschehens eines Jahrtau sends gezeigt hatte, wurde in wenigen Jahren der prunkvolle Wohn sitz des kaiserlichen Hofstaates, der eine bis dahin noch nie dagewese ne Pracht entfaltete. Kunstschätze aus allen Ecken und Enden des Reiches wurden nach Konstantinopel geschafft. Die Tempel und Heiligtümer der alten grie chischen und römischen Götter wurden ihrer köstlichen Denkmäler und Zierate beraubt, um die Kirchen und Paläste zu schmücken, die vor den Augen des Dominus glanzvoll entstanden. Alles, was der Erd kreis an Schönem bot, sollte zum Ruhm und zur Freude Konstantins in seiner Stadt würdig vertreten sein. Und Konstantinopel sollte, so be fahl es der Kaiser, der Mittelpunkt der Christenheit werden. Für kurze Zeit schien es auch so, obwohl der Bischof von Rom als 29
oberstes Haupt der westlichen Christenheit galt und der Bischof von Alexandria, der einflußreichste Gegner des widerspenstigen Arius, die geistige Führung der Geistlichkeit innehatte und den ehrenden Titel ›papa‹ führte, der später nur den Stellvertretern Christi, den anerkann ten Päpsten als den Nachfolgern des heiligen Petrus, zuerkannt wurde. Unter seinem von Edelsteinen und Gold strotzenden kaiserlichen Bal dachin thronend, versuchte Konstantin die Streitfragen, die die Chri stenheit in unversöhnliche Lager spalteten, durch die Androhung von Gewalt und durch Zuspruch zu klären. Er hatte Arius verbannt, aber dann doch nach Konstantinopel beru fen. Er wollte sich um so weniger endgültig gegen Arius entscheiden, als ein großer Teil der Germanenstämme, mit denen er selbst Freund schaft und Frieden hielt, dem Bekenntnis des Arius mehr zuneigte als dem von ihm gutgeheißenen Bekenntnis der Bischöfe im Konzil von Nicaea. An diesem Zwiespalt, der durch die Bibelübersetzung des Arianers Ulfilas (Wulfila) ins Gotische noch verschärft wurde, scheiterte die Be mühung Konstantins, den christlichen Glauben als gemeinsames, frie denerhaltendes Band zwischen den Bewohnern des Römischen Rei ches und seinen germanischen Nachbarn zu verwenden. Er persönlich setzte sich darüber hinweg, denn solange er lebte und als höheres We sen galt, dessen Macht sich nicht nur auf das Weltliche, sondern auch auf das Geistliche ausdehnte, war er, der Dominus, die Verkörperung der ›pax Romana‹. In ihm verkörperte sich der gültige Begriff des ›Kai sers‹, der so hoch über allen Menschen stand, daß er nur in der Nähe Gottes denkbar war. Auf seinem Aufstieg zu dieser schier unantastbaren Höhe, die, wenn auch in gewaltigem Ausmaß vergrößert, der Stellung der altertüm lichen Priesterfürsten entsprach, hatte Konstantin sich gegen so vie le menschliche Grundsätze vergangen – er hatte unter anderem seine Frau und seinen ältesten Sohn Krispus ermorden lassen –, daß ihm in der westlichen Welt nicht die Anerkennung eines Heiligen zuteil wur de. Während er in der Christenheit des Ostens, die sich später als Fol ge der Glaubensspaltung von der römischkatholischen Kirche abson 30
derte, als Heiliger verehrt wurde, nannte man ihn im Westen nur den ›Großen‹. IV Der Unfriede, der dem Tode Konstantins folgte, begann in seiner eige nen Familie. Er hatte sich als Ahnherr eines Herrschergeschlechtes ge bärdet, das unter sich den Erdkreis so teilen sollte, wie er es in seinem letzten Willen verfügt hatte: seine drei Söhne sollten Augusti sein, sei ne beiden Neffen Caesaren. Kaum hatte er das Zeitliche gesegnet, als sich seine Söhne vorerst der beiden Caesaren entledigten und dann miteinander Krieg führten. Je der von ihnen wollte den anderen aus dem Feld schlagen, um wie der Vater Alleinherrscher zu werden. Dieser in offene Kämpfe ausartende Bruderzwist regte nicht nur den persischen König zum Angriff gegen die Ostgrenze des Römischen Reiches an, sondern auch die Franken, die sich die Uneinigkeit der Machthaber zunutze machten. Konstans besiegte seinen Bruder Konstantin II. der in der Schlacht bei Aquileia erschlagen wurde. Er selbst fiel aber einem Aufstand des Franken Magnentius zum Opfer. Der einzige überlebende Erbe Kon stantins, Konstantius II. hatte nun sein Ziel erreicht. Er war Allein herrscher, aber keineswegs über das einheitliche, friedliche Römische Reich, das seinem Vater vorgeschwebt hatte. Die wenigen Jahre, die Konstantin nach dem Konzil von Nicaea ge blieben waren, um die heidnischen Gedanken und Vorstellungen durch die christliche Lehre zu ersetzen, hatten nicht hingereicht. Die alten Götter lebten noch in der Einbildungskraft derjenigen Bürger des Römischen Reiches, die sich nicht aus Überzeugung zum Christen tum bekehrt hatten. Zu diesem Wiederaufleben des aus seinen Tem peln vertriebenen Götterglaubens trug auch der Kirchenstreit bei, der wieder heftig ausgebrochen war. Der Bischof Athanasius von Alexan dria befehdete den Bischof von Konstantinopel, der der arianischen 31
Auslegung zuneigte, so daß die Christen im Osten nicht mehr nur schlechtweg Christen, sondern entweder Athanasier oder Arianer ge nannt wurden. Konstantius II. war den Arianern geneigt, aber er strahlte nicht das Ansehen seines Vaters aus, das selbst die christlichen Bischöfe beein druckt hatte. Es nützte nichts, daß Konstantius den Bischof von Rom, Liberius, verbannte, weil er sich für Athanasius ausgesprochen hatte. Die Kirchenversammlung von Sardica, die einberufen wurde, um die Gegensätze von Westen und Osten auszugleichen, erkannte dem Bi schof von Rom höchstrichterliche Befugnisse zu. Der Bischofssitz des heiligen Petrus war der Felsen, auf dem die Kirche aufgebaut war. Rom blieb, wenn auch nicht mehr der Brennpunkt der politischen, Mittel punkt der geistlichen Macht. Noch hatte die Teilung in den Osten und Westen des Römischen Rei ches keine endgültige Form angenommen, aber die tatsächliche Tei lung, die Diokletian um der besseren Verwaltung willen als innere Maßnahme vorgenommen hatte, erwies sich unter Konstantins II. als militärische Notwendigkeit. Er war gezwungen, den Osten des Rei ches gegen die persischen Angriffe persönlich zu decken. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als seinen Vetter Julian mit der Abwehr des Fran ken- und Alamannen-Sturmes am Rhein zu betrauen, der neuerdings ausgebrochen war. Während die Bischöfe der christlichen Welt miteinander haderten, bereitete Julian seinen eigenen Abfall von der Kirche und die Wie dereinsetzung der Götter vor – nicht als abergläubische Sinnbilder, sondern im Rahmen philosophischer Auslegung. Siegreich in seinen Feldzügen gegen die Alamannen und Franken, verlegte Julian seinen Wohnsitz in ein altes römisches Feldlager an der Seine und begann den Ausbau der späteren Stadt Paris. Dort wurde er von den gallischen Legionen nach alter Art zum Kaiser ausgerufen und nach dem Tode Konstantius II. der den Mühen des persischen Feldzuges nicht gewach sen war, der letzte heidnische Kaiser der christlichen Zeit. Julian wur de in der Geschichtsschreibung ›Apostata‹, der Abtrünnige, genannt. Der Ruhm, den er sich auch durch seine Kämpfe gegen Persien erwarb, 32
wurde durch seine Maßnahmen gegen das Christentum verdunkelt. In seinem Bedürfnis, allen Glauben zur Philosophie umzugestalten, war er dafür, daß sich die einzelnen Glaubensgemeinschaften verständig ten, um zu einer Klärung der Gegensätze zu kommen. Er gab nicht nur den christlichen Genleinden das Recht, sich zu den Fragen des Glau bens zu äußern, sondern auch den Juden, aus deren Glauben das Chri stentum hervorgegangen war. Das kurze Zwischenspiel der Herrschaft Julians wurde in Rom wie ein einziger Festtag gefeiert. Die uralten Senatorenfamilien waren zwar zum größten Teil ausgestorben, aber in ihren Palästen und Gärten hat ten die Neureichen, Vornehmen während der Kaiserzeit das prunk volle Leben ihrer Vorgänger so fortgeführt, als wäre es eine geheilig te Überlieferung. Rom war weder der Sitz der militärischen noch der politischen Macht, aber Mittelpunkt des Wirtschaftslebens des Reiches geblieben. Seine Kaufleute sorgten dafür, daß sich der Reichtum nicht nur unge schmälert erhielt, sondern vergrößerte. Die unermeßlich reichen Mü ßiggänger der obersten Klassen, deren Besitz durch Angestellte ver waltet wurde, sorgten dafür, daß die Bevölkerung die von ihr gelieb ten Gladiatorenkämpfe, Zirkus- und Theatervorstellungen, unbeküm mert um die politischen und militärischen Wirren im Reich, genießen konnte. Sie zahlten für alles aus ihrer eigenen Tasche, nur um die ju belnde Begrüßung der Menge zu empfangen. Musik war die große Mode. Der Geschichtsschreiber Ammian be richtet, daß riesige, durch Wasserdruck betriebene Orgeln und Leiern, die so groß wie Rennwagen waren, verwendet wurden, um musikali sche Darbietungen im weitesten Raume hörbar zu machen. Er klagt darüber, daß die Philosophen verdrängt und die Bibliotheken in Grab stätten verwandelt worden seien. Der reiche Symmachus hingegen er klärte, es gäbe so viele Schulen, daß jedem Lernbegierigen die Mög lichkeit offenstehe, seine Fähigkeiten zu entwickeln. Es gab tatsächlich Lehrstühle für Grammatik, Rhetorik, Naturwissenschaft und Philo sophie. Wer die Befriedigung seines Ehrgeizes nicht in der militärischen 33
Laufbahn oder in der Verwaltung suchte, kam nach Rom, um Lebens art, die Kunst des Geschäftemachens und die Künste um der Kunst willen zu erlernen. Eine ähnliche, wenn auch längst nicht so große Anziehungskraft üb ten die provinziellen Hauptstädte aus, die vorübergehend kaiserliche Wohnsitze waren. Dort aber waren die Schüler zumeist Abkömmlinge germanischer Stämme aus den Grenzgebieten, junge Männer, die ent weder die Absicht hatten, im Römischen Reich zu bleiben, oder das, was sie erlernt hatten, in ihrer Heimat zu verwerten. In vielen römischen Lagerstätten überwog bald die germanische Be völkerung und machte sich so mit der römischen Art zu leben vertraut, daß sie sich nur noch durch körperliche Merkmale von den ursprüng lichen Bewohnern dieser Städte unterschied. Das Römische Reich war wie ein Schwamm, der immer mehr Men schen aufsog, wobei sich seine Wesensart durch den Zustrom verän derte. Bei diesem Vorgang grenzten sich die beiden herrschenden Weltan schauungen voneinander ab und lebten in nachbarlicher Nähe feind lich nebeneinander: die Christen, die das bessere Leben im Leben nach dem Tode erwarteten, und die Heiden, die das bessere Leben schon auf Erden zu verwirklichen suchten. Jenseits der Grenzen aber, in den ger manischen Wäldern, die kaum von den Streifscharen der römischen Legionen berührt wurden, hausten die Angehörigen der verschiede nen Stämme unverändert, ihren alten Gebräuchen gemäß. Sie hielten an ihren Lebensformen und Glaubensvorstellungen fest, obwohl sie wußten, daß sich viele ihrer Stammesverwandten der großen Wand lung der neuen Zeit unterworfen hatten. Die Verständigung unter diesen Germanenstämmen war karg, aber sie bestand doch. Die Nachricht von bedeutsamen kriegerischen Er eignissen und politischen Veränderungen wurde nicht durch berufli che Berichterstatter von Ort zu Ort, von Stamm zu Stamm weitergege ben, sondern durch fahrende Sänger, die sich das Dach für die Nacht und ihren Lebensunterhalt dadurch verdienten, daß sie in gebundener Rede erzählten, was sich anderen Ortes begeben hatte. 34
Ihre Gesänge waren die wandernde Zeitung der Zeit und erhielten sich, obwohl sie nicht aufgeschrieben wurden, im Gedächtnis der Hö rer, die sie der Nachwelt vermittelten. Sie hatten keinen urkundlichen Wert. Ihr Inhalt war oft dichterische Übertreibung und Ausmalung kleiner Begebenheiten, um großen Eindruck zu machen. Aber im We sen waren es Berichte, die, wenn auch nicht der Geschichtsschreibung, so doch der Dichtung zugrunde gelegt werden konnten. Zu Beginn seines vielbändigen Werkes ›Die Ahnen‹, das die ganze Geschichte des deutschen Volkes umspannt, schildert Gustav Freytag den ersten geschichtlich erfaßbaren Abschnitt der Entwicklung eines germanischen Stammes vor seiner Bekehrung zum Christentum. Der Titelheld des ersten Buches heißt Ingo.
35
Ingo
von Gustav Freytag
1. Im Jahre 357
An dem Grenzverhau, der die Wälder der Thüringe von den Chatten schied, lehnte ein junger Wächter und hütete den steilen Pfad, der zur Berghöhe führte. Hin und wieder blickte er auf die im Tale gelegenen Blockhäuser und Gehege für das Herdenvieh hinab. Plötzlich beugte er sich vor und lauschte. Er hörte das Knacken von Zweigen. Die Gestalt eines Mannes wurde sichtbar. Der Wächter rück te den Riemen seines Horns zurecht und faßte nach dem Speer. Der Fremde kam mit schnellen Schritten näher. Als er aus dem Ge hölz an den freien Grenzrand trat, rief der Wächter ihn an: »Steh, Waldgänger, und sag den Spruch, der dich von meinem Eisen löst!« Der Fremde streckte die geöffnete Rechte aus: »Ich grüße dich fried lich. Ich kenne die Losung nicht.« »Wenn du ein Landfremder bist, so mußt du warten, bis dir meine Genossen das Land öffnen. Unterdessen gib mir Frieden und nimm Frieden von mir!« Die Männer musterten einander mit wachen Blicken. Ohne sich aus den Augen zu lassen, stellten sie ihre Speere an die Grenzpfähle und reichten einander die Hände. Mit ehrlicher Bewunderung blickte der Wächter auf den kräftigen Arm des Fremden. Dann hob er sein Horn an den Mund und blies ein lautes Signal. Die wilden Klänge tönten im Widerhall von den Bergen. Der Wäch ter sah, daß um die Blockhäuser im Dorfe Bewegung entstand. »Sie werden bald hier sein«, sagte er lächelnd und ließ sich neben dem Fremden im Heidekraut nieder.
37
Der Fremde war nur wenige Jahre älter als der Grenzwächter. Sein ge bräuntes Gesicht war von Erschöpfung gezeichnet, seine Hände zitterten. »Bist du auf der Flucht?« Der Fremde antwortete nicht. Der Wächter griff hinter einen Baum, holte eine Tasche aus Dachsfell hervor und bot Schwarzbrot und Fleisch an. Der Fremde sah ihn dankbar an, zögerte aber zuzugreifen. Da hielt ihm der Wächter ein kleines Horn entgegen, öffnete den Holzdeckel und sagte freundlich: »Nimm auch das Salz! Hier unter dem Baum ist mein Heim, hier bin ich der Wirt.« Erst jetzt war der Fremde bereit zu essen. Er schien sehr hungrig zu sein, aber er bediente sich langsam und sorgfältig, als säße er an der gedeckten Tafel eines Herrenhauses. Endlich begann er zu sprechen: »Ich weiß nicht, wo ich bin und wer der Herr dieses Tales ist.« »In den Tälern, so weit du sehen kannst, und weiter in die Ebene hinab gehört das Land dem Fürsten Answald«, erwiderte der Wäch ter. »Ihm diene ich.« »In der Fremde habe ich gehört, daß ein großer König über das Volk der Thüringe herrscht. Sie nannten ihn König Bisino.« »Das ist richtig«, bestätigte der Wächter, »aber unser Waldland ist frei und gehorcht seinem eigenen Herrengeschlecht seit alter Zeit. Der große König Bisino ist damit zufrieden, daß wir ihm die Grenzen hü ten und jedes Jahr unsere schönsten Pferde an seinen Hof senden. Wir Waldleute kümmern uns wenig um den König, und unser Herr Ans wald geht nur selten zu Hof in die Königsburg.« »Du bist noch jung«, sagte der Fremde, »dein Herr schenkt dir gro ßes Vertrauen, daß er dir die Sorge um die Landesmark überläßt.« »Es stehen noch mehr Männer an der Grenze. Wir fürchten zwar keinen Einbruch von Feinden durch den Bergwald, denn es ist nicht leicht, über die Felsen und den Waldbach in das Gehege einzudringen. Aber es gibt ein Gerücht, daß vor kurzer Zeit ein Krieg an der Römergrenze begonnen hat, zwischen den Alemannen und dem Kaiser, den sie Julianus nennen. Seitdem wahren wir die Landesmark.« 38
Der Wächter hätte gern noch mehr erzählt, aber ein Reiter trabte den Bergweg herauf, schwang sich vom Pferd und begrüßte ihn. Der Wächter übergab ihm sein Horn, warf sich die Ledertasche über die Schulter und bot das Pferd dem Fremden an. Er erklärte: »Ich gehe zu Fuß neben dir und führe dich ins Tal. Allein findest du dich nicht zurecht.« »Ich folge lieber deinem Schritt«, gab der Fremde zurück und grüßte den neuen Wächter, der ihn neugierig betrachtete. Hinter seinem Füh rer schritt er dem Tale zu. Der schmale Pfad führte steil abwärts, dem gewundenen Lauf des Baches entlang, über Wurzeln, die wie riesige Schlangen über dem Weg lagen. Dort, wo das Geröll unter ihnen vom Wasser fortgespült war, wanden sie sich in hohem Bogen. Am Rande des Baches hemm ten Treibholz und Binsen den Schritt. Das Messer des Wächters bahn te einen Weg durch das Gewirr der Reiser. Mit leichtem Schritt eilte der Jüngling talab, sprang in weitem Schwung von Stein zu Stein, von Baum zu Baum. Gehorsam wie ein Hund folgte ihm das Pferd. Zufrieden maß er mit den Augen einen Sprung, den der Fremde über den Gießbach getan hatte. »An deiner Spur sehe ich, daß du einer von unserem Volke bist«, stellte der Wächter fest. »Denn die Spitze deines Fußes strebt auswärts. Zuerst habe ich dich für einen fremdländischen Mann gehalten. – Hast du schon einmal Römerspuren gesehen?« »Sie schreiten mit kleinem Fuß und kurzem Schritt auf ganzer Soh le wie müde Leute.« »So sagen auch unsere Männer, die im Westen waren. Ich habe bis her nur waffenlose Händler des schwarzhaarigen Volkes gesehen.« »Möge das Schicksal den Fuß der Römer von eurem Boden fernhal ten«, erwiderte der Fremde. »Du redest wie unsere Alten. Wir Jungen aber denken, wenn die Rö mer nicht zu uns kommen, so kommen wir wohl einmal zu ihnen. Ihr Land soll wundervoll sein. Sie bauen ihre Häuser aus bunten Steinen, und das ganze Jahr über haben sie Sonnenschein. Sogar im Winter soll die Erde grün sein, und sie haben mehr süßen Wein als wir Dünnbier. Sie haben Sessel und Bänke aus purem Silber, und die Mädchen tanzen 39
in seidenen Gewändern und Goldschmuck. Der Krieger aber ist Herr dieser ganzen Pracht.« Sie hielten nahe der Lichtung auf einer Höhe an. »Wer sind die Mädchen dort in den hellen Gewändern?« fragte der Fremde. »Die Mägde vom Herrenhof«, erwiderte der Wächter. »Siehst du die alten Hütten? Dort wohnt der Rinderhirt. Die Mädchen kommen und holen die Milch zum Herrenhof.« Sie betraten die Lichtung. Der Wächter entfernte die Stangen, die den Eingang zum Rinderpferch verlegten. »Siehst du das Mädchen dort?« rief der Wächter. »Das ist unser Her renkind Irmgard.« Das Mädchen stand bei dem Karren, der mit zwei Stieren bespannt und auf dem festgeschlagene Butter in Fässern aufgeladen war. Frei umsäumten goldene Locken das junge Gesicht und wallten bis an die Hüften. Ein silberbeschlagener Gürtel hielt ihr weißes Leinengewand zusammen. Darüber trug sie ein besticktes Oberkleid aus feiner Wol le. Sie sah aus großen Augen zu dem Fremden hinüber und erwiderte seinen ehrerbietigen Gruß mit leisem Kopfnicken. Der Wächter trat an Irmgard heran: »Der Fremde sucht eine Ecke an unserer Bank und eine Herdstelle für sein wegemüdes Haupt. Ich ge leite ihn zum Hofe, damit der Herr über sein Schicksal entscheide.« »Wir geben dem Wanderer Rast, den die Götter uns senden«, erwi derte Irmgard. »Wer er auch sei, ob gut oder böse, wer immer bittend sich unserem Herde naht, hat drei Tage Rast. Erst dann fragt der Vater, ob er ein ge rechter Mann ist und unseres Daches nicht unwert.« »Er sieht aus wie einer, der sich ehrlich hält gegen Freund und Feind«, gab der Wächter zurück. »Wenn er sich so bewährt, wie du sagst, so freuen wir uns über sei ne Ankunft.« Sie reichte ihm einen Krug mit Milch. Der Fremde trank, und als er den Krug dankend zurückgab, sagte er: »Segen über deine milde Hand!« 40
Langsam ging die Sonne unter, und die Bäume warfen lange Schat ten auf den Weg, als der Wächter und der Fremde den Talgrund er reichten. Vor ihnen lag das Dorf im Abendlicht, von einem Graben umschlos sen. Durch die Lücke der Bäume lugten spitze Dächer, aus denen Rauchwölkchen aufstiegen. Seitwärts vom Dorf erhob sich auf einer Anhöhe der von Pfahlwerk und Graben umgebene Herrenhof. Über die zahlreichen Häuser und Ställe, die zu dem fürstlichen Anwesen gehörten, ragte das Dach des Festsaals mit seinen reich geschnitzten, mit Hörnern verzierten Gie beln. Auf einer Wiese übten sich Knaben im Kampfspiel. Sie hatten ein ho hes Gerüst aufgestellt, schwangen sich der Reihe nach hinauf und pur zelten auf der anderen Seite jauchzend ins Gras. Als die beiden Män ner nahten, stoben die Turnenden auseinander und starrten von wei tem trotzig auf den Fremden. Der Wächter rief einen der Knaben zu sich und sprach leise auf ihn ein. Der Knabe eilte geschäftig dem Her renhof zu. Im Staub der Dorfstraße tanzten die kleineren Kinder Ringel reihen, die Buben nackt bis auf eine Wolljacke, die kleinen Mädchen im wei ßen Hemd. Sie stapften barfuß umher und sangen dazu. Als der Wäch ter mit seinem Begleiter näher kam, blickten Frauen aus den Fenstern der Dorfhäuser. Männer traten an die Türen und musterten argwöh nisch das Aussehen des Ankömmlings. Der Wächter ermahnte den Fremden, freundlich hierhin und dorthin zu schauen und die Hausbe wohner zu grüßen.
Unterdessen war der Knabe im Herrenhof angelangt. Fürst Answald, ein großer, breitschultriger Mann mit ehrlichen Augen und dichtem, grauem Haar, saß im schattigen Vorbau seines Hauses. Er trug eine mit Biberfell besetzte Hausjacke, seine Lederstrümpfe waren mit bun ten Riemen geschnürt. Er war gekleidet wie alle anderen Männer, nur 41
seine würdige Haltung kennzeichnete ihn als Herrn des Hofes. Zufrie den betrachtete er zwei wohlgenährte Stiere, die ein Knecht ihm vor führte. Es waren die auserwählten Opfertiere für ein bevorstehendes Festmahl. Der Knabe drängte sich an den alten Mann zur Linken des Fürsten heran und bestellte leise eine Botschaft. »Der Wächter Wolf hat einen Fremden ins Dorf gebracht«, wieder holte der Alte laut. »Er ist ohne Geleit gekommen und ohne Pferd. Er bittet um Gastrecht.« »Bereitet ihm den Empfang in der Halle!« befahl Answald gleichmü tig und gab seinen Männern ein Zeichen, sich zu entfernen. Zu dem Alten, der zurückgetreten war, sagte er leise: »Die fremden Strolche bereiten mir Sorge. Seit der Römerkrieg am Rhein begonnen hat, fliegen die Funken bis zu uns herüber. Woher soll ich wissen, ob die Flüchtlinge, denen ich Gastrecht gewähre, Feinde oder Freunde sind? Rede du mit dem Neuen und versuche, etwas von ihm zu erfahren!« Answald setzte sich in der Halle auf dem reich geschnitzten Herren sitz nieder, der mit dem schwarzen Fell eines jungen Bären bedeckt war. Seine Füße ruhten auf einem Schemel, in der Hand hielt er den weißen Fürstenstab. Am Hoftor stieg der Fremde vom Pferd, lehnte seinen Speer an den Pfosten und setzte sich schweigend auf die Bank außerhalb des Tores. Der Sprecher trat aus dem Haus und lud ihn mit feierlichem Gruß vor den Herrensitz. Der Fremde folgte ihm. Er und der Häuptling ma ßen einander mit forschenden Blicken. Was sie sahen, schien ihnen beiden zu gefallen. Nach dem kurzen Schweigen begann der Gast, dem Brauch gemäß, den Spruch: »Ich komme freundlos, heimatlos und schutzlos zu dei nem Herd. Verleih mir, was dem Wanderer das Gastrecht deines Vol kes gewährt!« Hildebrand, einer der Männer des Fürsten, trat vor und erwiderte: »Der Herr verleiht dir nach unserem Brauch drei Tage Rast und drei Tage Nahrung. Dann ist es üblich, das Volk zu befragen, ob du bleiben darfst. Jetzt sei willkommen!« 42
Ein Schemel wurde gebracht, auf dem der Fremde Platz nahm. Ein Jüngling bot ihm zwei Schalen mit Brot und Salz, ein zweiter den Holz krug mit dunklem Bier. Dann verließen beide den Saal. »Jetzt sind wir allein, Fremder«, begann Hildebrand, »und du kannst ungestört sprechen. Du bist in Sicherheit im Hause des Fürsten, und ich bitte dich, ihm zu berichten, was du hinter unseren Bergen gesehen und gehört hast. Es ist eine sorgenvolle Zeit.« Der Fremde erhob sich artig: »Ich weiß nicht, ob das, was ich mitteilen kann, für euch Freude oder Trauer bedeutet. Eine Schlacht ist geschla gen, die größte seit Menschengedenken. Die Franken haben dem Römer die Schlacht gewonnen, die Könige der Alemannen sind gefangen und mit ihnen viele Königskinder. Die Legionen des Caesar verwüsteten die Täler des Schwarzwaldes bis an den Main hinunter und trieben Gefan gene zu Hunderten vor sich her. Der Caesar hat das Grenzland besetzt.« Fürst Answald sah finster vor sich hin, und Hildebrand hatte Mühe, seine Erregung zu verbergen. »Wir sind den Römern und Alemannen friedlich gesinnt«, sagte er vorsichtig. »Die Thüringe fürchten den Caesar nicht. Du selbst warst wohl in der Nähe, als die Schlacht im Gange war, und hast seither die Dörfer der Chatten gemieden. Ich möchte dich nicht fragen, wem du den Sieg gewünscht hast. Ein Alemanne bist du nicht. Nach deiner Sprache kommst du eher aus dem Osten.« »Ich bin ein Vandale von der Oder«, erwiderte der Fremde. »Ein schweres Geschick trieb mich aus meiner Heimat.« »Möge dein Herz nicht bedrücken, was dich aus deiner Heimat ver trieben hat.« Das gütige Gesicht des Fürsten verriet Anteilnahme. Dankend beugte der Fremde den Kopf: »Es ist die Sorge eines jeden Gastes, seinem Wirt zu gefallen. Verzeih, wenn ich suche, was dir den Fremden vertraut macht. Ich überlege, ob wir gemeinsame Freunde haben. In meiner Heimat singen sie ein Lied, das von einem Helden aus dem Thüringer Land erzählt, der mit den Kriegern meines Volkes gegen die Römer kämpfte. Irmfried war sein Name.« Der Fürst richtete sich in seinem Sessel auf. »Irmfried war mein Va ter«, sagte er erregt. 43
Die Augen des Fremden leuchteten auf: »Als Irmfried Abschied von unseren Leuten nahm, brach er ein römisches Goldstück entzwei und ließ die eine Hälfte als Zeichen der Freundschaft zurück. Besitzt du die zweite Hälfte der Münze, Fürst Answald? Die eine habe ich hier.« Er hielt dem Fürsten das helle Goldblech hin. Der fuhr heftig vom Stuhl auf und prüfte es am Licht. Er war gewohnt, Fremden mit Vor sicht zu begegnen. Nun schwanden seine Zweifel. »Komm mit mir, Freund!« rief er, außer sich vor Freude. »Und laß uns die beiden Hälf ten aneinanderfügen!« Er schritt eilig voran, der Fremde folgte.
Gundrun, die Gattin des Fürsten, hielt in ihrem Gemach die beiden Hälften des Goldstücks aneinander. »Es sind zwei Ähren von einem Halm«, rief sie staunend. »Das ist wirklich König Ingberts Zeichen.« »Und der vor dir kniet«, sagte der Fremde, »ist Ingo, König Ingberts Sohn.« Langes Schweigen folgte dem Ausruf. Die Fürstin blickte scheu auf den stolzen Krieger und verneigte sich tief vor ihm. Answald aber rief bekümmert: »Wie oft habe ich mir gewünscht, meine Freunde selbst zu sehen! Mein Vater hat mir von ihrem prächtigen Königssitz erzählt. Jetzt steht der Sohn des Königs als Flüchtling vor mir und bittet um Unterkunft in meinem Haus! Und doch glaube ich, daß diese Stunde Gutes bringt.« »Ich komme nicht als Glücklicher, ich bin ein Gehetzter, aber ich möchte mir deinen Schutz nicht erschleichen. Ich will dir die Wahr heit sagen: Mein eigener Onkel hat mich aus der Heimat vertrieben, als ich noch ein Kind war. Er wollte die Krone. Freunde meines Va ters haben mich versteckt. Auf meinen Kopf ist eine hohe Summe ge setzt. Gefahr ist mein Los. Seine Boten folgen mir von Volk zu Volk. Sie bieten Geschenke für meine Auslieferung. Mit einem kleinen Hau fen von Getreuen nahm ich am Kampf der Alemannen teil. Ihre gro ßen Könige waren mir hold. Am Schlachttag führte ich eine Schar ih 44
res Volks. Jetzt sucht der Caesar siegesstolz nach denen, die sich ihm nicht unterwerfen. Ich bringe auch dich in Gefahr, Fürst, wenn du mir Obdach gibst.« Answald suchte unsicher den Blick der Fürstin. »Ich tue, was ehrlich ist und was die Sitte gebietet«, sagte er. Sein Gesicht hellte sich auf: »Sei mir willkommen, Ingo!« Auch Gundrun wandte sich Ingo herzlich zu: »Es beweist deinen Edelmut, daß du dich scheust, deinen Gastfreund in Gefahr zu brin gen. Aber wir wollen klug sein und versuchen, unsere Höfe vor Unheil zu bewahren.« Sie fragte den Fürsten: »Ist es nicht am besten, wenn der Name deines Gastes vorerst nicht genannt wird und niemand von sei ner Herkunft erfährt?« »Soll ich in meinem eigenen Haus den Freund verleugnen?« erwi derte Answald unwillig. Die Fürstin lächelte ihm zu, dann sagte sie zu Ingo: »Ich bitte dich um etwas, was du leicht erfüllen kannst. Versu che nur ganz kurze Zeit, als Fremdling an unserem Hof zu leben und mache dich unterdessen beim Volk beliebt. Der Krieg wird nicht lange dauern, und ich bin gewiß, daß es uns gelingen wird, auch den König als Freund zu gewinnen.« »Ich habe oft schon zum Nutzen meines Volkes den Rat meiner klu gen Fürstin befolgt«, ergänzte Answald besänftigt. »Es wird sich alles zum Guten wenden. Vertraue uns, Ingo, so wie wir dir vertrauen.«
2. Das Festmahl Im Hofe des Fürsten wurde zum Fest gerüstet. Die Hausfrau ging mit den Mägden durch die Vorratsräume. In langen Reihen hingen dort Schinken, Würste und gedörrte Rinderzungen. Sie freute sich an der Fülle ihrer Kammern, ließ das Nötige für die Küche in Körbe packen und befahl den Mädchen, ein Zeichen in die besten Stücke zu ritzen, damit der Vorschneider sie an die Tische der Ältesten bringe. 45
Mächtige Feuer brannten im Küchenhaus auf steinernen Platten. Vor dem Haus waren junge Burschen damit beschäftigt, die Opfertiere zu zerlegen und das Fleisch an lange Spieße zu stecken. Die Mägde rupf ten Geflügel oder formten runde Brote aus gewürztem Weizenteig. Die Kinder des Dorfes warteten darauf, daß sie die Spieße über dem Feuer drehen dürften. Dann würde auch für sie etwas abfallen. Die Männer machten sich in der Halle des Häuptlings zu schaffen. In der Mitte des Hofes stand der breite, aus dicken Fichtenbalken gefügte Bau. Im In nern trugen zwei Reihen hoher Holzsäulen die Balken des Daches. Von den Säulen bis zu den Wänden liefen auf drei Seiten erhöhte Bühnen. Gegenüber der Tür stand der Ehrensitz des Fürsten und der vornehm sten Gäste, daneben ein laubenartig geschmückter Raum, von dem aus die Frauen dem Festmahl der Männer zusehen sollten. Ingo stand mit einigen jungen Männern zusammen und beobachte te Irmgard, die Tochter des Hausherrn, die sich mit ihren Gefährtin nen unterhielt. Er konnte nicht hören, was sie sprachen. »Schau nur, wie gut der Fremde in dem Wams aussieht, das ihm un sere Fürstin geschenkt hat«, sagte eines der Mädchen zu Irmgard. »Die Jacke ist aus dem feinsten Tuch, das wir haben. Seltsam, daß die Für stin einem Wanderer gegenüber so freigebig ist.« »Ich glaube nicht, daß der Mann von gewöhnlicher Herkunft ist«, antwortete Irmgard. »Aber wenn er ein Geheimnis hat, so werden wir Mädchen es wohl zuletzt erfahren.« »Und du hast ihn noch nicht einmal begrüßt, wie es sich schickt«, meinte ein anderes Mädchen. »Der Fremde wird dich für unfreundlich halten. Du solltest hingehen und ihm endlich die Hand bieten.« Zögernd trat Irmgard zu der Gruppe der jungen Männer, die zum Gefolge des Fürsten gehörten. Ingo unterhielt sich angeregt. Als das Mädchen ihm nahe kam, scheute es sich, ihn vor den anderen anzu sprechen, und ging wortlos an ihm vorüber.
46
Vor dem Herrenhaus empfing der Fürst die Edlen und freien Bauern. Wer zu Roß ankam, stieg vor ihm ab. Burschen führten die Pferde der Gäste in ein weites Gehege und versorgten sie. Würdig gingen Gruß und Anrede hin und her. In weitem Kreis stan den die Gäste auf dem Hof, eine stolze Anzahl ansehnlicher Män ner aus zwanzig Dörfern der Umgebung, alle im Kriegsschmuck, den Eschenspeer in der Hand, Schwert und Dolch an der Seite. Manche trugen die Lederkappe mit Eberzähnen geschmückt, andere Eisenhut, Lederkoller und Kettenpanzer über dem weißen Hemd und hohe Le derstrümpfe, die bis zum Leib reichten. Die Reichen hatten Mäntel, die aus buntem Wollhaar gewebt waren und wie das zarte Fell eines Raub tieres glänzten. Die Männer freuten sich der Versammlung. Einige tauschten leise Worte über die Gerüchte von der großen Schlacht im Westen und von bedrohlicher Zeit. Lange währte die Begrüßung, aber endlich führte der Wirt seine Gä ste vor die Halle. Am Eingang empfing sie die Hausfrau, neben ihr stand Irmgard mit den Mägden. Die Männer huldigten den Frauen, die Fürstin reichte allen die Hand und fragte höflich nach den Kin dern und dem Hausstand. Den Männern von der Verwandtschaft bot sie die Wange zum Kuß. In langen Reihen zogen die Diener in die Halle ein. Sie trugen den Frühtrunk in Holzkannen und als Zukost weiße gewürzte Brotkuchen und Fleisch aus dem Rauchfang. Unterdessen rüsteten sich die Jungen auf dem Rasenstück vor dem Hof zum Wettkampf. Um auch das Lob der Großen zu erringen, be gannen die Knaben des Dorfes: Sie rannten nach einem Ziel, sprangen über ein Pferd und schossen mit Rohrpfeilen nach einer Stange. Bald schleuderten auch die Jünglinge Speere, warfen schwere Fels steine oder übten sich in weiten Sprüngen. Theodulf, der Vetter der Fürstin, war der stärkste unter ihnen, und als er den weitesten Sprung getan hatte, erscholl lautes Jauchzen bis zur Halle. Die Alten und Weisen des Volkes hielt es nicht länger auf ih ren Sitzen. Auch sie eilten zum Kampfplatz auf den Rasen. 47
Unter den Zuschauern stand Ingo und bewunderte höflich das Kön nen der anderen. Da trat der alte Isanbart zu ihm und sprach ihn an: »Auch bei dir zu Haus, Fremder, gibt es wohl Kriegsspiele. Wir wür den uns freuen, wenn du uns zeigen wolltest, was in deiner Heimat Brauch ist.« Ingo erwiderte: »Wenn der Fürst es mir gestattet, will ich versuchen, was ich einmal gelernt habe.« Der Fürst winkte. Einer aus dem Gefolge trug eine Waffe aus Ei chenholz herbei, die vom Griff nach rückwärts gekrümmt und vorne mit einer scharfen Schneide bewehrt war. Die Keule ging von Hand zu Hand, die Männer prüften das leichte Werkzeug lachend. Theodulf rief verächtlich: »Eine Waffe wie diese trägt unser Sauhirt, um junge Wölfe zu schlagen.« »Ich sah, wie ein Schädel unter dem Schlag eines solchen Holzes wie ein Tonkrug zerbrach«, sagte Isanbart und legte dem Fremden die Waffe in die Hand. Ingo warf die Keule mit kurzem Armschwung. Sie flog in krausem Bogen durch die Luft, und als alle meinten, daß sie zu Boden fallen würde, fuhr sie, wie durch eine Schnur gezogen, wieder zu Ingo zu rück. Der packte sie in der Luft am Griff, warf sie noch einmal, und immer schneller kehrte sie gehorsam in seine Hand zurück. So mühe los schien das Spiel, daß die Zuschauer näher traten und bald in aner kennendes Lachen ausbrachen. Theodulf unterbrach das Spiel: »Du hast uns genug von deiner Kunst gezeigt. Jetzt versuche es einmal mit unserem Brauch.« Zuerst wurden zwei Rosse nebeneinander gestellt, Kopf an Kopf, Schweif an Schweif. Die Springer traten zurück und schwangen sich mit kurzem Anlauf darüber. Fast allen glückte der Sprung. Aber als drei Rosse nebeneinander gestellt wurden, gelang es nur einer kleinen Zahl, und über vier sprang Theodulf allein. Als er den Sprung auch über fünf Rosse wagte, streifte er beim Niedertauchen mit seinem Rük ken einen Schimmel. Während er aufstand und sich noch über das lau te Jauchzen des Volkes freute, tönte schon noch lauterer Beifall hinter ihm: Ingo hatte den gleichen Sprung mühelos vollbracht. 48
Theodulf wurde blaß vor Zorn und ging schweigend an seinen Platz zurück. Er bemühte sich vergebens, den Neid zu unterdrücken. Isanbart aber trat zu Ingo und sagte laut, so daß alle es hören konn ten: »Führt das sechste Roß heran zum Königssprung. Ich habe ihn nur einmal als Knabe gesehen, und seither ist er keinem mehr geglückt.« Ingo sah auf Irmgard, die in froher Erwartung hinter ihrer Mutter stand und ihm freundlich zulächelte. Er rief zu ihr hinüber: »Halte mich nicht für ehrgeizig, Herrin, ich habe mich nicht zum Kampf ge drängt.« Dann trat er rückwärts, hob sich gewaltig in die Luft und tat einen so meisterhaften Sprung, daß das Volk nicht aufhören wollte, ihm zuzujubeln.
Als die Sonne sich schon neigte, lud Hildebrand, der Sprecher des Für sten, die Gesellschaft zum Mahle. Der Truchseß setzte an den Tafeln der Halle jeden nach Rang und Gebühr. Es war eine lange Reihe von Tischen. Die Vornehmsten saßen auf Sesseln mit Armstützen, die jüngeren auf Schemeln ohne Lehne. Zunächst der Türe lagerten die Bankgenossen des Fürsten. Dort hat te Theodulf den Ehrenplatz. Ihm gegenüber saß am unteren Ende des Tisches der Fremde. Der Schenk trat mit den Dienern ein und verteilte den Begrüßungs trunk in Holzbechern. Der Fürst erhob sich und trank den Gästen zu. Alle standen auf und leerten die Becher. Darauf kam der Truchseß wieder mit einer Schar von Dienern, die das Fleisch auf die Tische stellten. Die Gäste griffen nach ihrem Mes ser, das jeder an der Seite trug, und begannen zu essen. Sie rühmten mit leisem Dank die Fürsorge der Hausfrau. Die Ältesten, in der Nähe des Fürsten, tauschten ernsthafte Worte, gedachten vergangener Taten und lobten die Tugenden ihrer Rosse. Die Jüngeren hörten zu. Als das Mahl dem Ende zuging, trat auf ein stilles Zeichen des Herrn der Sprecher vor. 49
»Die Schwerttänzer bitten um eure Gunst«, rief er mit lauter Stimme. Alle rückten die Sessel zum Schauen zurecht. Die Frauen erhoben sich von ihren Sitzen. Ein Pfeifer und ein Sackbläser schritten der Gruppe voran, hinter ih nen die zwölf Tänzer, junge Krieger aus dem Volk, im weißen Unter kleid mit buntem Gürtel, das blitzende Schwert in der Hand. Sie mach ten am Eingang halt, senkten die Waffen zum Gruß und begannen den Reigen. In der Mitte stand der Schwertkönig. Seine zwölf Gefährten umkrei sten ihn feierlich mit gehobenem Schwert. Er gab ein Zeichen, die Pfei fer bliesen, schneller wurden die Bewegungen, die eine Hälfte der Tän zer schwang sich im inneren Ring nach rechts, die anderen von au ßen entgegengesetzt, und jeder tauschte mit allen, denen er begegnete, Schwertschlag nach Ordnung der Hiebe. Dann tauchte der Schwert könig zwischen den blinkenden Schwertern hindurch, bald nach au ßen, bald nach innen, im Kreise schwebend, und fing mit seiner Waf fe die Schläge der anderen auf und erwiderte sie. Kunstvoller wurden die Verschlingungen, heftiger die Bewegungen, einer nach dem ande ren wand sich wie im Kampf durch die kreisende Reihe der übrigen. Dann senkten alle die Schwerter zur Erde und verschränkten sie am Boden zu einem künstlichen Geflecht, das wie ein Schild aussah. Der Schwertkönig trat darauf. Die Vorstellung dauerte lange, und immer wieder wurden die Tän zer zu neuen Leistungen angespornt. Als das Spiel beendigt war, erhob sich Rothari, ein Edler, zur Dankesrede und verbeugte sich vor dem Fürsten: »Ein kunstvolleres Schwertspiel als dieses habe ich nie gesehen, und doch sind wir Thüringe be rühmt wegen solcher Kunst. Im Namen meiner Freunde danke ich Herrn Answald für Speise und Spiele. Aber ich möchte noch einen an deren unter uns loben: Er sitzt am letzten Platz im Saale, doch wenn ich seine Tüchtigkeit bedenke, die er heute erprobt hat, so würde ich seinen' Stuhl hoch hinauf unter die Starken stellen. Ich bringe dem un bekannten Gast meinen Gruß.« Höflich hob er den Becher. Ingo dankte. 50
Da rief Theodulf mit lauter Stimme: »Ehrenwerter als ein Keulen schwinger gilt bei uns der Mann, der sich im Krieg bewährt hat!« »Und ich nenne die boshafte Zunge ehrlos, die in der Halle nach dem Gastfreund sticht«, versetzte Ingo kalt. »Solche Rede geziemt eher dem falschen Römer als dem aufrechten Thüring!« »Wenn du den Brauch der Römer so gut kennst«, schrie Theodulf, »dann hast du wohl schon ihre Streiche gefühlt.« Laute Rufe erfüllten die Halle, und von allen Seiten ging die Rede für oder wider den Fremden. Da erhob sich der Fürst und gebot mit mäch tiger Stimme Ruhe. Der Lärm verstummte. Im nächsten Augenblick sprang ein Jüngling aus dem Gefolge die Stufen hinauf und verkündete laut: »Volkmar, der Sänger, reitet in den Hof.« »Er sei uns willkommen«, rief der Fürst erleichtert. Mit ehrfürchtigem Gruß betrat der Sänger die Halle. Er war ein Mann von mäßiger Größe, mit leuchtenden Augen, das krause Gold haar mit Grau durchzogen. Der bunte Überwurf ließ die mit Goldrin gen geschmückten Arme frei. »Sei tausendmal gegrüßt, lieber Freund!« rief ihm der Fürst entge gen. »Die Vögel des Sommers haben längst ihr Lied angestimmt, nur auf unseren Sänger haben wir bisher vergeblich gewartet.« »Ich höre keine Vögel den Sommer verkünden. Kriegshunde höre ich heulen«, erwiderte der Sänger ernst. »Die Wellen des Rheins sind rot vom Blut der Männer und Pferde. Ich habe gefesselte Könige gesehen, die im Römerlager ihr Ende erwarten.« Ein lauter Aufschrei folgte diesen Worten. »Erzähle, Volkmar, wir hören!« sagte der Fürst leise. Der Sänger fuhr durch die Saiten, und es war so still, daß man die Atemzüge der Gäste vernahm. Dann erhob er seine Stimme und be gann in melodisch singendem Tonfall, halb sprechend, den Bericht von der Schlacht zwischen den Alemannen und Römern. Er nannte die Namen der Könige und Königskinder, die mit den Alemannen zu sammen dem Caesar entgegenzogen und die römischen Reiter in die Flucht schlugen. Dann sang er: 51
»Auf seinem Roß ritt gebietend der Caesar, und über ihm schweb te als Banner das Drachenbild. Und der Caesar rief die Bataver vor und die Franken: Herauf ihr Germanenhelden, meine Welschen zwin gen den Sturm der Feinde nicht! Da zogen sie heran in langen Rei hen, die weißen Schilde mit dem Stier geschmückt. Als die Sonne sank, schwand das Kriegsglück der Alemannen. Die gelösten Scharen wälz ten sich flüchtend zum Ufer des Stromes. Sie sprangen in den Rhein, und die Sieger am Ufer warfen mit lautem Geschrei ihre Speere in das Gewühl von Männern und Rossen.« Der Sänger hielt an, und ein Stöhnen war in der Halle zu hören. Der Fürst schloß die Augen. Volkmar fuhr fort: »Da stand ein Rächer auf unter den letzten Helden, Ingo, der Königs sohn. Er trieb die weisen Frauen, die das Heer begleiteten, zusammen und zwang sie zur Abfahrt. Auch mich drängte er hinab in eines der Boote und deckte den Rückzug der Wehrlosen mit seinem Leib. Dann sprang Ingo mit einem mächtigen Satz auf den römischen Riesen, der das Drachenbanner trug, und warf ihn vom Felsen in den Fluß. Das erbeutete Banner erhebend, stürzte er selbst sich hinab in den Strom. Wutgeheul gellte aus Römermund. Mann und Roß stürzten wie toll ihm nach, doch abwärts trieb im Wasser der rote Drache. Noch ein mal sah ich Ingo den Arm heben, dann ging er unter. Verloren war das Siegeszeichen des Caesar im Strom. Aber auch Ingo, den Helden, ga ben die Wellen nicht wieder.« Irmgard hatte atemlos zugehört. Ihr Blick hing wie gebannt am Ge sicht des Fremden. Jetzt sprang sie auf. Die Mutter bemühte sich verge bens, sie zurückzuhalten. »Seht dorthin!« rief das Mädchen mit zitternder Stimme. Alle Blicke folgten ihrer Hand, die auf den Fremden wies. Auch der Sänger starrte zu ihm hinüber. Im Saal war es totenstill ge worden. »Die Geister des Stromes haben den Helden zurückgegeben«, rief Volkmar fassungslos. »Selig der Tag, an dem ich dich wiedersehe, Ingberts Sohn! Du bist mein Retter, der letzte Held der Alemannen schlacht!« Die Gäste fuhren von ihren Sitzen auf, die Halle erdröhnte vom Ju 52
belruf. Volkmar stürzte auf Ingo zu, küßte wieder und wieder seine Hand und flüsterte: »Du bist es wirklich! Niemals habe ich für ein Lied solchen Lohn empfangen!«
3. Offene Herzen Am nächsten Morgen schritt Irmgard durch das taufrische Gras dem Wald zu. Fröhlich singend stieg sie den Bergweg hinauf. Zwischen Bäu men und Felsen hielt sie an. Ihr helles Haar wehte im kühlen Wind. Unter ihr rauschte der Bach, und über ihr schwebten die Lichtwolken des kommenden Tages. Sie wiederholte mit klarer Stimme die Weise des Sängers und die Worte des Liedes, die sie in der Halle gehört hat te. Da rollte in der Nähe ein Kiesel zum Bach. Sie sah zur Seite und er kannte die Gestalt des Helden, dessen Lied sie soeben in den Wald ge sungen hatte. Sie wollte fliehen, aber seine bittende Stimme hielt sie zu rück. »Hör nicht auf zu singen, Mädchen! Dein Lied macht mich glück lich.« »Du hast mich erschreckt«, erwiderte sie. »Ich habe die Worte ver gessen.« »Wenn du mir gut bist, Irmgard«, bat Ingo, »dann verstecke dich nicht vor mir. Wenn auch der Sänger mich lobt und der Wirt mir zu trinkt, so bin ich doch einsam und ausgeschlossen.« Irmgard sah ihn ernsthaft an, und Ingo fuhr fort: »Seit ich dich gese hen habe, hat sich mein Sinn geändert. Ich will dem Krieg entsagen.« Irmgard schwieg. Über der Wolkenwand brach die Sonne hervor, und ihre Strahlen er hellten die Gestalt des Mädchens. Ingo schloß sie in seine Arme und küßte sie. Noch am selben Morgen versammelten sich die Führer der Gemein 53
den und die bewährten Krieger im Hause Answalds. Der Fürst eröff nete die Sitzung. »Ihr wißt, daß Ingo, König Ingberts Sohn, in mein Haus gekommen ist. Er ist mir durch Gastfreundschaft von den Vätern her verbunden. Heute aber begehre ich für ihn das Gastrecht meines Volkes. Es steht bei euch, es ihm zu gewähren oder zu verweigern.« Tiefe Stille folgte seinen Worten. Endlich erhob sich Isanbart, das narbige Gesicht von schneeweißem Haar umrahmt: »Wir sind ge wohnt, daß du dem Volke gibst, und wenn du dein Volk bittest, so sind unsere Herzen bereit zu geben. Dein Gast ist kein Landstreicher, dafür bürgt das Lied des Sängers. Aber wir sind zu Wächtern bestellt über das Wohl von vielen. Die Zeit mahnt zur Vorsicht, und deshalb ge ziemt es uns, ernsthaft zu beraten.« Er setzte sich, und die Nachbarn nickten ihm zu. Die Reihe war an Rothari, einem dicken Mann mit rotem Gesicht und rötlichem Haar. Er galt als rühmlicher Zecher und lustiger Tänzer. »Eine Beratung am Morgen soll wie ein Frühtrunk sein«, begann er. »Ich meine, hier brauchte es keine lange Erwägung. Wir haben ihm neulich beim Wei ne zugejubelt – und heute werden wir ihm nicht Wasser in seinen Krug schütten.« Die Alten lächelten über den Eifer Rotharis, und die Jungen riefen ihm Beifall zu. Sintram, der Onkel Theodulfs, nahm das Wort. Er stand am Hofe wegen seines scharfen Verstandes in hohem Ansehen. »Du, Fürst, bist dem Fremden gut gesinnt, und willig würde ich ihn als Gast begrü ßen. Doch kommt er als unser Freund? Im Heer der Römer stehen vie le aus unserer Verwandtschaft.« Sein hageres Gesicht war bleich, als er hinzufügte: »Sind diese dem Fremden feind, wie dürfen wir uns seine Freunde nennen, wie dürfen wir Gastrecht dem Feind bieten, der un ser Blut vergossen hat?« Die Männer saßen in finsterem Schweigen. Sie wußten, daß Sintram die Wahrheit sprach. Schwerfällig erhob sich Bero, ein hartknochiger Bauer. »Du, Sin tram, hast deinen eigenen Bruder ins Heer der Römer geschickt«, sag 54
te er rauh, »du sitzt gemächlich auf seinem Erbe, mich wundert nicht, daß du die fremde Brut lobst. Aber ich sage, die Römerfahrten sind ein Unheil für unsere jungen Krieger. Jetzt haben wir Frieden mit jeder mann. Kommt heute ein Alemanne an unseren Herd, so lagern wir ihn am Feuer. Kommt morgen vielleicht ein Römer, tun wir dasselbe. Sol len sie bescheiden und nach unseren Gesetzen leben und ihre Streite reien außerhalb unseres Dorfes austragen! Das ist ihre Sorge und nicht unsere. Darum meine ich, ob Römer oder Vandale, er sei uns willkom men. Die Hausherren bleiben wir, und wir bändigen ihn, sobald er un seren Frieden stört.« Nach dieser langen Rede setzte sich Bero trotzig auf seinen Schemel, und die Alten murmelten Beifall. Der letzte Sprecher war Albwin, von dem die Leute sagten, daß ein Hausgeist in den Balken seines Hofes wohne und seit Väterzeiten die Kinder der Familie wiege, so daß diese nicht wüchsen wie andere Men schen. Zierlich und klein waren alle aus seinem Geschlecht, aber klug an Worten. Albwin sprach: »Wir alle gönnen Ingo das Beste. Wir sind nur be sorgt, daß er nicht immer in Frieden leben wird. Ein Königssohn kann nicht träge unter dem Dach seines Wirtes liegen. Er wird Freunde sam meln und sich Feinde schaffen. Je größer der Ruf eines Mannes, desto mehr Gegner stellen sich ihm in den Weg. Wenn er seine Tage in un serer Mitte beschließen will, sollten wir nicht nur sein Wohl, sondern auch unsere Sicherheit bedenken.« Der ungeschlachte Rothari unterbrach ihn zornig: »Was soll das Feilschen mit der Zeit! Gebt ihm das Gastrecht und macht endlich Schluß!« Die Männer riefen ihm laut Beifall zu und sprangen von ihren Sit zen. Der Fürst schloß die Beratung: »Ich danke meinen Freunden und Landgenossen. Was hier verhandelt wurde, sei besiegelt und keiner tra ge dem anderen etwas nach.« Dann ging er von Mann zu Mann und bekräftigte mit Handschlag das Ergebnis der Besprechung. Ingo war das Gastrecht im Volk der Thüringe zugesprochen. Aber im Bergwald folgt auf einen heißen Morgen ein Wetterschlag, und 55
auch die Wärme der Herzen schwindet schnell im Sturm zorniger Ge danken.
4. Am Königshof In der Königsburg der Thüringe überwachte Königin Gisela eine Die nerin, die das Goldgerät vom Königsmahl in eine Truhe zurücklegte. Einige Schritte davon entfernt saß König Bisino. Er war vierschrötig und kräftig gebaut, ein schwarzes Mal, das in seinem Geschlecht er blich war, verunstaltete die Wange seines breiten Gesichts. Es galt als Königszeichen. Es war zwar nicht schön, aber es machte ihn stolz. Volkmar, der Sänger, stand ängstlich vor ihm: »Ich habe dich hier her gerufen«, sprach der König, »damit die Königin dich befrage. Aber sie scheint nicht zu bemerken, daß wir hier sind. Da sie nicht sprechen will, spreche ich. Ich kenne dich!« rief er in ausbrechender Wut. »Du bist behend wie eine Otter im Fluß. Du hast mir nicht alles von dieser Schlacht berichtet, denn einer ist entflohen und hält sich in meinem Land versteckt. Du warst doch da bei, als sie Ingo in der Halle des Fürsten Answald zujubelten?« »Ich begreife nicht, warum mein König den Namen des Fremden nicht gerne hört. Er ist ein wackerer Mann. Er ist seinen Freunden treu und schielt nicht nach fremdem Gut …« »Laß dich nicht erschrecken!« unterbrach ihn die Königin. »Der Kö nig weiß dich wohl zu schätzen.« Sie winkte der Dienerin, die ihr die schwere Truhe vor die Füße schob, griff hinein und bot wahllos dem Sänger ein goldenes Trinkgefäß. Volkmar, der Angst vor dem Unmut des Königs hatte, nahm betre ten die wertvolle Gabe entgegen und verneigte sich tief. Die Königin winkte ihm gnädig zum Abschied. Bisino sah ihm unzufrieden nach. »Du bist freigebig mit dem Gold deiner Truhe«, brummte er. »Ich meine, es ist ein guter Handel für einen König, mit Gold das 56
Unrecht abzukaufen, das er einem armen Sänger zugefügt hat«, erwi derte Gisela stolz. »Dir bleibt nur eine Wahl: den Mund dieses Mannes durch ein Geschenk zu schließen oder durch einen Schwertschlag.« Der König fuhr kleinlaut fort: »Was rätst du mir? Die Waldleute ha ben, mir zum Trotz, Ingo das Gastrecht gewährt. Soll ich ihm auch Gold anbieten oder Eisen?« Gisela sah ihn undurchdringlich an: »Willst du Gefahr vermeiden, so lade den Fremden an deinen Hof und erweise ihm die Ehre, die ihm zusteht. Gefährlich kann er nur im Wald unter den Bauern werden, nicht aber in deiner Burg. Hier ist er dein Gast und dir durch seinen Schwur verpflichtet.«
Beim Abendtrunk rief König Bisino den Sänger wieder zu sich. »Ich möchte, daß du als Bote zu den Waldleuten gehst und Answald be stellst, daß mir Ingo, sein Gastfreund, willkommen ist. Ich wähle dich zum vertrauten Überbringer meiner Worte und hoffe, daß du mir den Fremden in meine Burg schaffst.« Volkmar verbeugte sich: »Ich will dem Fremden deine Botschaft überbringen.« Er zögerte: »Doch, damit er deinen freundlichen Sinn erkenne, bitte ich dich, daß du ihm Frieden gelobst und ihm sicheres Geleit von Hof zu Hof versprichst.« »Was fällt dir ein!« rief der König unwillig. »Wie kann ich einem Fremden ein solches Versprechen geben!« »Ich bin nur dein Bote, Herr«, sagte der Sänger. »Ich vermag Ingo nicht zu zwingen.« »Du wirst dich ins Unglück stürzen, Volkmar, wenn du mir nicht ge horchst!« »Ich bin dein treuer Diener«, erwiderte der Sänger ernst. Dann öffne te er seinen Beutel und zog das Geschenk der Königin heraus. Schwei gend stellte er das goldene Trinkgefäß auf den Tisch und verließ die Halle. 57
5. In den Waldlauben Auf dem Herrenhof Answalds und im Dorf knarrten die Erntewagen. Die Gefolgsleute des Häuptlings vergaßen im Drange der Arbeit ihren Kriegerstolz und halfen den Knechten. Ingo beobachtete an der Seite des Hofherrn die friedliche Arbeit, die er sonst nur von seinem Kriegsroß aus flüchtig gesehen hatte. Ihm und Irmgard pochte das Herz voll Freude, sooft sie einander im Trubel be gegneten. In diesen Tagen erschien Volkmar als Königsbote auf dem Hofe. Ingo empfing ihn wie einen Freund, hörte sich die Botschaft an und führte ihn zum Fürsten. »Der König hat mich eingeladen«, sagte Ingo, »er hat mir Sicherheit versprochen. Wie ich auch darüber denken mag, ich muß der Ladung folgen. Nur eines macht mir Sorge: Ich kann nicht wie ein armseliger Landfahrer am Hofe des Königs erscheinen.« Bekümmert erwiderte der Fürst: »An Roß und Gewand soll es dir nicht fehlen, und der Wächter Wolf würde dich als Kämmerer beglei ten.« Zögernd setzte er hinzu: »Aber ich rate dir nicht, daß du den Worten des Königs traust. Es kann sein, daß du spurlos hinter sei nen Steinmauern verschwindest. Das wäre kein rühmliches Ende für dich.« Volkmar riet: »Du bist tapfer, Ingo, und du wirst die Gefahr gering achten. Aber wenn du der Ladung des Königs folgst, dann darfst du es nicht als einzelner Wanderer tun. Ehe du reitest, mußt du dir Gewän der, Rosse und Gesinde erwerben.« »Ich danke euch, Freunde!« Ingos Stimme war zuversichtlich. »Du, Volkmar, aber sage dem König, daß ich bei ihm erscheinen werde, so bald ich gerüstet bin.« 58
Ingo suchte schon lange nach einem Geschenk für das Mädchen, das er liebte. Als Irmgard sich eines Tages im Hofe beim Holunderstrauch zu schaffen machte, trat er eilig auf sie zu. »Eine meiner Ahnfrauen flog im Federgewand eines Schwans über die Erde«, begann er geheimnisvoll. »Seitdem sind die Schwungfedern des Schwans das Zeichen meiner Familie. Heute glückte es mir, einem lebenden Vogel drei Federn zu rauben, und ich schenke sie dir als Zei chen meiner Liebe.« Das Mädchen nahm die Federn und verbarg sie hastig in ihrem Ge wand. Ihre Hand streifte die seine und beide fühlten im Herzen die glückhafte Berührung. »Irmgard!« rief eine befehlende Stimme. Die Fürstin hatte die bei den vom Hause aus beobachtet. Das Mädchen tauschte einen Blick mit dem Geliebten, dann eilte sie dem Hause zu. »Was hat er zu dir gesagt?« herrschte die Mutter sie an. »Und was ver steckst du in deinem Kleid?« Irmgard errötete. »Schwungfedern eines Schwans, die das Zeichen seiner Familie sind.« Aufgebracht fuhr die Fürstin fort: »Dein Vater ist gastfrei gegen je den Wanderer, aber ich halte die Schlüssel fester in der Hand. Wenn der Fremde meint, daß er sich in das Erbe einschleichen kann, so hat er sich geirrt. Du bist meine Tochter, und ich wünsche, daß du dich die sem armseligen, fahrenden Bettler fernhältst.« »Von wem sprichst du, Mutter? Meinst du den Helden, der den Eh rensitz neben meinem Vater hat?« »Schweig still!« antwortete die Mutter heftig. »Ich werde dafür sor gen, daß dir dein Übermut vergeht. Du weißt, daß wir dich schon versprochen haben. Es ist wohl besser, daß wir die Brautzeit abkür zen.« Als die Fürstin den Raum verlassen hatte, starrte Irmgard ihr nach. Tränen traten ihr in die Augen. Es war kein Zufall, daß kurze Zeit nach diesem Gespräch Sintram, der Onkel Theodulfs, in den Hof ritt. Er saß lange mit der Fürstin zu 59
sammen und besprach noch einmal die Brautwerbung für seinen Nef fen. Im Frühjahr sollte die Vermählung sein. Sintram lachte vergnügt, als er von der Fürstin Abschied nahm. Der Sommer verging. Die Felder waren geräumt, die Menschen wur den wieder gesellig. Ingo ritt mit dem Fürsten durch das Gehege. Im Wald fiel das gelbe Laub zu Boden, und in den Lichtungen erklang der Jagdruf der Männer und das Gebell der Hunde. Die wohlgenährten Rinder grasten zufrieden umher, die Hirten bereiteten den Aufbruch in die Dörfer vor, die Mädchen waren beschäftigt, die letzten Kübel aus dem Milchkeller auf die Wagen zu heben. Während Fürst Answald sein stattliches Vieh betrachtete, stand Ingo neben Irmgard. »Aus deinem Gesicht ist alle Fröhlichkeit gewichen«, flüsterte Ingo, »sag mir, was dich bedrückt!« Irmgard antwortete: »Ich beneide deine Ahnfrau, die im Federkleid dahin fliegen konnte, wohin sie wollte. Ich wünschte, ich könnte das auch.« »Vertraue mir doch!« bat Ingo leise. »Warum bist du so mutlos?« »Eines Tages wirst du es begreifen. Nur solange du bei uns bleibst, bin ich sicher …« Ihre Rede wurde durch wildes Jauchzen und fremd artiges Kriegsgeschrei unterbrochen. Ingo fuhr auf. Dann strahlte sein Gesicht vor Freude. Er eilte einer Schar Berittener entgegen. Die Männer sprangen ab, umringten ihn, hielten seine Arme, küßten seine Hände, umschlangen seine Knie. Ingo rief die einzelnen beim Namen. Das Glück dieser Stunde war so groß, daß er und die Neuankömmlinge eine ganze Weile die Anwe senheit des Fürsten und seiner Tochter vergaßen. Aber auch Answald und Irmgard wurden die Augen naß, und sie lauschten gebannt auf die schnellen Fragen und Antworten, auf das Lachen und Erzählen der Fremden. Endlich trat Ingo vor den Fürsten: »Verzeih mir, daß wir dich in der Freude vergaßen. Dies ist der Rest meiner Männer, sie haben mich ge sucht und gefunden. Sie sind heimatlos wie ich, aber wir sind Blutsbrü der auf Leben und Tod.« 60
»Dann sind sie mir willkommen«, rief Answald aus ganzem Herzen. »Mein Hof ist groß genug, und die Scheunen sind gefüllt.« Ingo war völlig verändert. Seine Stimme klang gebieterisch, und sei ne Augen leuchteten vor Glück. Er führte die einzelnen Männer dem Fürsten vor und nannte ihre Namen. Als letzter trat ein bejahrter Krie ger aus der Reihe, die Glieder wie aus Erz gegossen, mit festen Zügen und kühnem Blick. Ein Held, der gewohnt war, Gefahren zu bezwin gen. »Dies ist Berthar«, stellte ihn Ingo vor. »Seit meiner Kinderzeit wacht er über mich und hielt mich vor meinem Onkel verborgen. Er ist mein Lehrer und mein zweiter Vater.« Das Tor des Herrenhofes wurde weit geöffnet. Der Fürst geleitete die neuen Gäste zu seiner Halle, und die Frauen begannen mit der Zube reitung des Begrüßungsmahles. Am nächsten Morgen hörte man emsiges Hämmern und Klopfen. Aus dem Vorrat von Balken und Sparren, der hochaufgeschichtet im Herrenhof lag, wurde ein Schlafsaal für die Vandalen gezimmert und ein Gehege für ihre Pferde. Nach wenigen Tagen war der Bau fertig. Jetzt kamen auch die Nachbarn und begrüßten die Fremden. Um den stillen Hof entstand ein lustiges Gewühl, und die hohen Gestalten der Vandalen schritten zwischen den Häusern einher. Sie lagen neben den Leuten des Fürsten auf den Stufen der Halle, sorglos lachend und ger ne erzählend, wie es ihre Art war. Sie zogen mit den Einheimischen in die Wälder der Umgebung und besuchten die einzelnen Dörfer als willkommene Gäste. Aber es war nicht immer leicht, Frieden zu halten. Die Vandalen wa ren stolz und jähzornig, und die Leute des Fürsten achteten eifersüch tig auf alles, was sie taten. Die Fremden merkten auch bald, daß ihnen die Fürstin nicht gewogen war. Nur selten redete sie die Edelsten unter ihnen an, selbst den Helden Berthar nicht, obgleich er aus stolzem Ge schlecht stammte. Sie suchte Grund zur Klage und fand ihn auch. Zwei von den Vandalen hatten mit zwei Mägden der Fürstin schar fe Worte gewechselt, hatten ihnen dann aufgelauert, die Widerwilligen geküßt und ihr Gewand verschoben. 61
Die Fürstin trat auf Ingo zu und erhob laute Anklage über die Un zucht seiner Leute. Ingo war tief gekränkt und hielt über die Schuldi gen Gericht, schärfer als es nötig gewesen wäre. Auch Answald blieben die Streitereien nicht verborgen, und er be sprach sich mit seiner Gemahlin. »Der Tadel wegen der Mädchen sollte für die Fremden nur eine War nung sein, damit sie das Hofrecht achten«, erklärte ihm die Fürstin. »Es ist abgetan und wird nicht wieder vorkommen. Dein Gast ist ein vornehmer Mann, aber er bringt uns Unglück. Ich denke dabei an un sere Tochter. Jeden Tag liegt sie mir in den Ohren, wie verhaßt ihr mein Vetter sei.« Beinahe triumphierend setzte sie hinzu: »Sie denkt nicht daran, den Mann, den du für sie bestimmt hast, zu heiraten.« »Was hat Ingo damit zu schaffen?« fragte der Fürst ahnungslos. Die Frau sah ihn mit großen Augen an. »Hast du sie noch nicht be obachtet«, fragte sie vorsichtig, »wie sie mit dem Fremden spricht und wie er sie ansieht?« »Es wundert mich nicht, daß er ihr gefällt«, versetzte der Fürst, är gerlich über das Geschwätz. »Die beiden denken aber an mehr als ans Gefallen!« »Das ist doch nicht dein Ernst!« Answald lachte böse. »Er ist ein Her gelaufener, ohne Hab' und Gut!« »Aber er sitzt ganz warm in unserem Nest.« Die Fürstin war zufrieden. Jetzt hatte sie wohl auch ihrem Mann die Augen geöffnet. Der Fürst schwieg verbittert. »Ich habe ihn wirklich mit ehrlichem Herzen empfangen«, sagte er nach einer kleinen Weile. »Wenn er uns auch lästig wird, ich kann ihn nicht vom Hofe weisen. Aber es ist das Recht des Vaters, für die Toch ter den Gemahl zu wählen, und ich denke, daß auch Irmgard dies ein sehen wird. Ich habe deinem Vetter den Eid gegeben.« Seine Stim me klang nicht so fest wie sonst. »Der Vermählung im Frühjahr steht nichts im Wege.«
62
Eine allgemeine Verstimmung machte sich am Herrenhof breit. Der Fürst erkannte, daß entweder dem Gast oder ihm selbst Gefahr droh te. Aber er war ein offenherziger Mann. Er erklärte Ingo, daß er die Häupter seines Gaues unter dem Vorwand einer Jagd zu einer neuerli chen Beratung geladen habe. Die Boten ritten aus, und drei Tage später saßen die Ältesten des Landes wieder am Herde des Fürsten versammelt. Diesmal war die Stimmung nicht mehr so fröhlich. Die Miene Answalds erschien kum mervoll, als er die Sitzung eröffnete: »König Bisino hat einen Boten gesandt und meinen Gast an seinen Hof geladen. Der König fordert auch Ingos Kriegsgenossen für sich. Jetzt frage ich euch, ob wir seinem Gebot widersprechen sollen, oder klugerweise seinem Willen folgen.« Zögernd fuhr er fort: »Ich möchte mich über meine Gäste nicht be klagen. Aber ihre ungestüme Art ist uns fremd, und sie fügen sich nur schwer unseren Gebräuchen.« Isanbart nickte ernsthaft mit seinem grauen Kopf: »Als ich mit dei nem Vater als Gast im Lande der Vandalen war, ist es uns ähnlich er gangen. Auch wir waren, glaube ich, in unserer Art den Vandalen fremd. Aber unsere Wirte lachten nur freundlich darüber und haben uns immer gebeten, länger zu bleiben.« Bero, der Bauer, erhob sich: »Ich möchte dich warnen, Herr, die Hab gier des Königs ist gefährlich. Dennoch rate ich nicht, daß wir ihm un sere Gäste ausliefern. Will er sie mit Gewalt entführen, so soll er es ver suchen. Ich würde lieber mit meinem ganzen Hof zugrunde gehen, als aus Furcht ein Gelöbnis brechen.« Auch Albwin stand auf: »Was der freie Bauer sagt, halte ich für richtig. Ich meine, wir müssen ein Versprechen halten, auch wenn es uns lästig wird. Wenn die Gäste aber freiwillig aufbrechen, dann sollten wir sie ziehen lassen. Es wäre ein Glück für uns, wenn das ge schähe.« Die Männer redeten hin und her und kamen zu keinem Ergebnis. Unterdessen sang Hildebrand im Hof mit lauter Stimme den Jäger spruch und blies auf seinem Horn die Waidgesellen zusammen. 63
Gerüstet mit Speer und Armbrust, die Bracken an der Leine, eilten die Thüringe aus dem Hoftor. Die Vandalen erschienen mit dicken Speereisen, mit Bogen und Keulen, aber ohne Hunde. Hildebrand teil te den Jagdzug in zwei Haufen, Hofleute und Gäste gesondert. Die Jä ger sprachen den Waidsegen. Das Horn rief, die Hunde zerrten an den Riemen. Fröhlich brachen die Jäger auf und grüßten die Frauen, die dem Auszug am Hoftor zu sahen. Als die Vandalen bei Irmgard vorüberzogen, stimmten sie hel le Jubelrufe an und senkten die Waffen vor ihr. Auch Ingo folgte dem Zug. Seit langem herrschte wieder gute Stimmung, und als fröhliche Gesellen betraten alle gemeinsam den Wald. Von den Jünglingen des Dorfes geführt, verschwand ein Haufe nach dem anderen in den Talwindungen und zwischen den Holzstämmen. Bald erschollen aus der Ferne die Schläge der Treiber, das Gebell der Meute und hin und wieder ein lustiger Hornruf. Die Vandalen hatten Jagdglück. Sie beschlichen eine Auerherde und stöberten den mächtigen Stier auf, von dem bereits am Hof erzählt worden war. Es gelang ihnen, die Herde von der Anhöhe in ein tieferes Tal zu treiben, wo der hohe Schnee die schweren Tiere am Laufen hin derte. An dieser Stelle warfen sich die Männer von oben gegen die rie sigen Stiere und drängten sie mit Pfeilschüssen und Speerwürfen im mer weiter abwärts. Sie erlegten die gesamte Herde, nur dem Leittier, einem gewaltigen Ungetüm, gelang es, nach einer unwegsamen Stelle auszubrechen. Da warf Ingo seinen Speer nach ihm. Das Blut des ge troffenen Tieres färbte den Schnee. »Ich habe ihn!« rief Ingo. Der Jubelruf seiner Leute antwortete ihm. Aber der verwundete Waldriese arbeitete sich weiter empor bis zum Hochwald. In weiten Sprüngen folgte ihm Ingo, nur mit seinem kur zen Messer bewaffnet. Wieder brach das Tier, den Speer schleppend, in den Schnee ein, und während Ingo auf der Höhe vorwärts stürmte, um ihm zuvorzukommen, hörte er hinter sich das Gebell der Hunde. Jagdruf und Hornklang ertönte. Als er den Stier erreichte, fand er ihn am Boden liegend, den Speer Theodulfs im Leib. Der andere hatte sei nen Fuß auf das Tier gesetzt und blies den Siegesruf. 64
»Der Stier gehört mir!« rief Ingo empört. »Ich habe ihm den Todes stoß versetzt.« Die beiden Männer standen einander dicht gegenüber. Heißer Haß sprühte aus ihren Augen. Da riß Ingo den Speer Theodulfs aus dem Leib des Stieres und warf ihn so weit, daß er in den Ästen einer Fichte hängenblieb. Einen Augenblick schien es, als ob der Thüring sich auf Ingo stürzen wollte, aber die stolze Haltung des Gegners verwirrte ihn. Er sprang zurück und hetzte die Meute seiner Hunde auf Ingo. Heulend fielen die wütenden Tiere Ingo an. Er verteidigte sich mit seinem Messer, und die Vandalen sprangen herzu, um ihren König zu retten. Sie trieben ihre Eisen den Hunden in die geifernden Ra chen. »Die Jagd ist zu Ende!« rief Berthar befehlend. »Aber es beginnt eine neue. Der Bursche, der die Hunde auf meinen Herrn gehetzt hat, soll diesen Tag nicht überleben. Der letzte Hund, den wir heute schlagen, bist du!« Er erhob die Keule zum Wurf gegen Theodulf. Ingo umklammerte mit eisernem Griff Berthars Arm: »Überlaß ihn mir, Vater! – Du aber, Hildebrand, rufe die Männer zum Waidgericht. Sie sollen entscheiden, wer im Recht ist.« Die beiden Gruppen wählten gesondert je einen Mann. Die Richter begutachteten die Wunden des Stieres, folgten seiner Spur bis zu der Stelle, an welcher Ingos Speer das Tier getroffen hatte. Dann kehrten sie zurück und sprachen das Urteil: »Ingo ist Sieger, ihm gehört die Jagdbeute.« Ein wildes Leuchten flog über Ingos Gesicht. Schweigend schritten die Bankgenossen Answalds dem Hofe zu. Als einziger sprach Theodulf in seiner hochfahrenden Weise, um mit Wor ten den Grimm zu bewältigen, der in ihm kochte. Ohne Jagdruf betra ten die beiden Gruppen den Hof. Es war finster geworden. Kein Halali-Gesang ertönte. Die Vandalen legten ihre Jagdbeute vor der Tür des Fürsten nieder, schieden grüßend von den Thüringen und versammelten sich still in ihrem Schlafsaal. Der Hof lag einsam im Wintersturm, aber in allen Häusern und in 65
der Halle summte das Geräusch halblauter, erregter Rede. Ingo wußte, daß es Zeit war, Abschied zu nehmen.
6. Liebe und Freundschaft Als der erste Dämmerschein in ihr Zimmer fiel, erhob sich Irmgard leise von ihrem Lager, um die schlafenden Wärter nicht zu wecken. Sie warf einen dunklen Mantel über das Hemd, öffnete vorsichtig die Tür und schritt über den leeren Hof. Die schweren Riegel am Tor waren zurückgeschoben. Sie eilte durch den Schnee den Hügeln zu, dorthin, wo sie mit dem Geliebten zum erstenmal gesprochen hatte. Als sie nä her kam und am Bach eine hohe Gestalt in der Dämmerung erkann te, erschrak sie zuerst und blieb stehen. Dann erkannte sie Ingo. Er eil te ihr entgegen und nahm sie schützend in die Arme. »Ich wußte, daß ich dich hier finden würde«, flüsterte das Mädchen. »Du gehst, weil meine Familie dir die Treue gebrochen hat. Du wirst nicht gerne an uns zurückdenken, wenn du in der Fremde bist.« »Ich werde deiner gedenken, wo immer ich auch sein mag«, sagte Ingo. »Du bist das Liebste, das ich habe, und das gibt mir Mut.« Er zog eine kleine Tasche aus Otterfell aus seinem Mantel und gab sie Irm gard. »Die Fahne des Caesar ist darin«, erklärte er leise. »Bewahre sie gut auf! Ich glaube, daß auch mein Schicksal daran hängt. Wenn ich nicht wiederkehre, dann suche mein Grab und senke die Tasche in die Erde, damit kein Fremder sie jemals findet.« Irmgard begann zu weinen. Mit beiden Händen drückte sie die Ta sche an sich. Ingo trocknete ihr die Tränen. »Sei nicht traurig«, bat er. »Eines Tages werde ich wiederkommen und dich zu mir holen.« »Ich warte auf dich«, sagte Irmgard leise. Dann riß sie ein Band von ihrem Gewand ab und knüpfte es um seinen Arm. »So will ich dich an mich binden, damit du nicht vergißt, daß du mir gehörst, so wie ich dir.« 66
Sie hielten einander fest umschlungen. Einige Stunden später ritten die Vandalen aus dem Dorf. Ingo schwieg. Seine Gedanken flogen zurück zu dem Mädchen, das er lieb te. Am Mittag kamen sie zu dem Ort, den man ›Freies Moor‹ nann te. Dort stand der Hof des freien Bauern Bero. Die Sonne funkelte auf dem Schnee, und an den Weiden glitzerte der Reif. Als die Reiter den Hof erreichten, traten Bero und seine Söhne unter das Tor. Der Alte rief Ingo entgegen: »Mein Haus ist das letzte, dem du auf deinem Ritt in die Fremde begegnest. Im Namen des ganzen Gaues will ich euch unsere Freundschaft zeigen. Steigt ab und wärmt euch an unserem Herd.« Die Reiter folgten dieser Aufforderung. »Meine Gastfreundschaft«, erklärte Bero stolz, »soll sich anders erweisen als die des Fürsten.« Dar auf ergriff er selbst die Zügel von Ingos Pferd und geleitete seine Gäste durch das Hoftor. Die Wirtin bot den Vandalen eine Menge schmackhafter Gerichte an. Endlose Reihen von dampfenden Schüsseln wurden aufgetragen, und jeder wurde genötigt, tüchtig zuzugreifen. Später führte Bero Ingo und Berthar in seine Kammer. Dort saßen die drei um einen kleinen Tisch, und der Hausherr füllte ihre Töpfe mit kräftigem Met, der vom Alter schwärzlich und dick wie Honigseim war. »Meine Mutter hat ihn noch gebraut, als sie an diesen Hof kam«, sag te Bero empfehlend. Dann hob er seinen Krug und begann feierlich: »Unsere Väter haben uns gelehrt, daß die Götter die Edlen erschaffen haben, die freien Bauern und die Knechte. Jedem haben sie ihre be sonderen Gaben verliehen. Euch, das Volk im Kampf anzuführen. Uns dagegen, im Sommer und Winter über die Fluren zu walten, und den Knechten, der Arbeit nachzugehen. Der Edle und der freie Bauer – bei de können einander nicht entbehren.« Die Gäste erfreuten sich an dieser Rede und nickten Beifall. Bero fuhr bedächtig fort: »Ich habe euch manche Woche lang beobachtet und gesehen, daß ihr ehrliche Leute seid. Darum meine ich, wir könn ten einander nützlich sein. Vom Fürsten habt ihr nichts mehr zu erhof fen. Erwartet aber auch nichts vom König! Er ist mißtrauisch und nei 67
disch gegen jedermann, der ihm nicht dient.« Bero bot Ingo seine kräf tige Hand. »Mein Dach ist weit genug für Männer wie euch!« »Halte mich nicht für undankbar«, erwiderte Ingo, »wenn ich dei nem Rat nicht folge.« Bewegt ergriff er die Hand des Bauern. »Ich selbst habe dem König meine Zusage gegeben.« Die drei Männer saßen noch lange im Gespräch. Draußen dreh ten sich die Gefährten Ingos zum Klang von Schalmei und Sackpfeife jauchzend mit den Mägden des Bauern im Tanz.
7. Ingo am Königshof Der Wächter Wolf, der die kleine Schar der Vandalen anführte, hielt sein Pferd an. Er wies mit der Hand in die Ferne. Vor ihnen erhob sich aus der schneebedeckten Landschaft die mächtige Burg König Bisinos: hohe Mauern, dicke Türme und Zinnen, dazwischen die rotbraunen Ziegeldächer der Königshäuser. »Es wird leicht sein, hineinzukommen«, brummte Berthar, »das Her auskommen wird schwieriger sein.« Ein kurzer Hornton erklang von den fernen Zinnen. »Der Türmer rührt sich schon«, lachte Ingo. »Wir wollen uns in Trab setzen, damit sie sehen, wie gern wir kommen.« Durch einen Hohlweg ritten die Männer dem steinernen Außenwerk zu, das der Zugbrücke vorgebaut war. Das riesige Tor war geschlos sen. »Sie scheinen sich auf unseren Besuch zu freuen!« schrie Berthar und schlug mit dem eisernen Klopfer an das Holz. Vom Turm herunter fragte ein Wächter nach ihren Namen. Ingo antwortete für seine Leute. Es dauerte eine geraume Weile. Die Pferde stampften schon unge duldig. Endlich öffnete sich das Tor knarrend, und die Brücke wurde mit lautem Rasseln herabgelassen. Die Reiter sprengten in den Hof. 68
Von allen Seiten drängten sich bewaffnete Männer um die Vandalen. Der Sprecher des Königs trat ihnen entgegen. Wieder erklang Frage und Antwort, und schließlich forderte der Sprecher die Reiter mit fin sterer Miene auf abzusteigen. Wortlos geleitete er sie zur Königshalle. »Wo ist der Hausherr?« rief Berthar unwillig. »Mein König ist nicht gewohnt, die Schwelle eines Hauses zu betreten, ehe der Gastgeber darauf steht.« In diesem Augenblick öffnete sich die Türe der Halle. König Bisino und einige seiner Edelleute standen am Eingang, neben ihnen Frau Gi sela. Ingo trat auf die Stufen und verneigte sich. »Wir haben lange vergeblich auf dich gewartet«, begann der König unwillig. »Deine Pferde scheinen nicht die schnellsten zu sein.« Frau Gisela trat einen Schritt vor und bot dem Gast freundlich die Hand: »Als ich noch ein Kind war, nicht größer als mein Sohn hier, habe ich dich schon einmal gesehen, Ingo. Wir wollen die alte Freund schaft erneuern.« Sie beugte sich zärtlich zu einem blauäugigen Kna ben nieder: »Sieh zu, daß du ein Held wirst wie er, und reiche dem Vet ter die Hand.« Ingo hob das Kind zu sich empor und küßte es. Der Knabe legte ihm vertraulich die Ärmchen um den Hals. Bisino trat nun freundlich näher, tauschte höfliche Worte der Begrü ßung und geleitete Ingo in die Königshalle.
Es war schon spät, als Ingo, von einem Kämmerer und einem Fackel träger begleitet, vom Abendessen mit dem König zum Schlafsaal sei ner Leute zurückkehrte. Der alte Berthar saß vor dem Eingang, das Schlachtschwert zwischen den Beinen, seinen Schild an einen Pfosten gelehnt. Im Fackellicht schimmerte sein Panzer unter dem dunklen Lodenrock. Ingo entließ die Diener des Königs, und Berthar steckte die Fackel an den Docht des mannshohen, eisernen Leuchters, der in der Mitte des Raumes stand. Der Lichtschein fiel auf die Reihen der Männer, die auf Polstern am Boden schliefen. 69
»Du hast auf mich gewartet, Vater«, sagte Ingo überrascht. »Wie ge fällt dir unser neuer Wirt?« »Er schielt«, lachte der Alte. »Je mächtiger ein König, um so mißtrau ischer ist er. Die Abendkost war mager, aber die Königin sandte Wein und süßes Zeug, und jetzt liegen deine Leute zufrieden im Schlaf. Sei auf der Hut, dieser Saal ist der einzige Bau aus Holz in der ganzen Burg. Wenn es einem der Königsleute etwa bei Nacht einfällt, die Fak kel daran zu legen und die Tür zu verschließen – wird das Knistern die Ruhe des Burgherrn kaum stören.« Ingo wechselte einen Blick des Einverständnisses mit dem Alten und fragte leiser: »Und wie haben die Soldaten des Königs die unseren auf genommen?« »Sie schlichen wie Füchse um unser Nest, prahlten mit der Macht ih res Herrn und prüften unsere Waffen.« »Noch weiß Bisino selbst nicht, was er will«, erklärte Ingo, »aber die Königin meint es gut mit uns.«
Für den nächsten Tag war eine große Jagd verkündet. Ingo und ein Teil seines Gefolges warteten auf den Aufbruch. Die Hörner bliesen den Morgengruß. Endlich erschien König Bisino, der die Jagd noch mehr liebte als ei nen guten Trunk. Freundlich begrüßte er seinen Gast: »Hast du gut ge schlafen, Vetter? – Ich habe gehört, daß du ein Verwandter meiner Kö nigin bist, sei mir auch als Blutsfreund herzlich willkommen an mei nem Hof.« Die Leute des Königs sahen einander erstaunt an. Als Ingo schwieg, fuhr Bisino mit fröhlich polternder Stimme fort: »Heute sollst du dich an meiner Seite im Jagdglück versuchen.« Er bestieg sein Pferd, das Tor flog auf, die Brücke senkte sich. Die Hunde stürmten ins Freie, hinter ihnen der Zug der Jäger.
70
Von den Zinnen hatte die Königin den Auszug der Jäger verfolgt, bis sie im Eichenwald ihren Blicken entschwunden waren. Jetzt rief sie den Kämmerer und stieg mit ihren Mägden in den leeren Hof hinab. Zur Verwunderung ihres Gefolges hielt sie bei der Küche an und besprach mit dem Koch das Festmahl für den Abend. Als sie am Schlafsaal der Vandalen vorüberkam, hörte sie Hammer schläge. Berthar saß unter der Tür und schärfte mit dem Hammer die Schneiden der Wurfspeere. Die Königin winkte ihrem Gefolge zu rückzutreten. »Welches Wild gedenkst du zu erlegen?« fragte sie den Vandalen. »Und warum bist du nicht mit auf die Jagd geritten?« »Es könnte sein, daß ein anderes Halali geblasen wird«, versetzte Berthar zweideutig. »Die Jagdlust deines Königs ist berühmt.« »Das ist die Sprache stolzer Gäste«, erwiderte Frau Gisela mit ge zwungenem Lächeln. »War euch das Leben im Walde lieber?« »Wir sind Wanderer, Herrin«, antwortete Berthar ernst. »Wir sind heimatlos und haben keine Wahl. Dich aber verehren wir von Herzen, und mein Herr hält dir auch ohne Zwang die Treue.« Die Königin trat näher an Berthar heran und flüsterte ihm zu: »Dort in dem Turm ist mein Gemach. Wenn zu der Jagd gerüstet wird, von der du sprichst, so wird ein Licht in meinem Fenster dich warnen.« Sie winkte ihm grüßend und wandte sich ihrem Gefolge zu. Berthar sah ihr nach, ergriff dann wieder seinen Hammer und setz te die Arbeit fort. Der König war in seiner Jagdlust den anderen weit vorausgeritten und an einem steilen Abhang vom Pferd gesprungen. Er glitt im Eis aus und lag einen Augenblick wehrlos vor den Hörnern eines wilden Ochsen, den er aufgestöbert hatte. Ingo sprang herzu und erlegte das wütende Tier. Unverletzt erhob sich der König. Einen Augenblick lang sah er Ingo forschend in die Augen. Dann sagte er herzlich: »Mein Le ben lag in deiner Hand – ich danke dir.«
71
Beim Festmahl am Abend war Bisino so guter Laune, wie ihn noch keiner gesehen hatte. »Heute freue ich mich des Jagdglücks«, begann er, »meiner Herr schaft und des reichen Goldgeräts, das ihr hier sehen könnt. Ich trin ke auf das Wohl meines Gastes Ingo, der sich im Kampf mit dem Berg stier als Freund erwiesen hat.« Diese Worte gefielen den Helden, die um den Königstisch saßen. Sie nickten beifällig. Die Stimmung wurde immer fröhlicher. »Auch die Alemannen waren ein reiches Volk, bis der Caesar ihr Land verwüstet hat«, warf Ingo ein. »Aber ich glaube, sie können sich manches zurückgewinnen, denn sie sind tüchtig und verstehen sich auf den Handel. Dazu leben sie römischer als andere Landesgenossen. Die Bauern wohnen dort in Steinhäusern, und die Frauen haben viele römische Sitten gelernt. Sie verstehen sich sogar aufs Malen und Stik ken.« »Kennst du auch Römerfrauen?« fragte Gisela neugierig. »Sie sind schön«, erwiderte Ingo, »ihre Haut ist braun, ihre Haare sind schwarz. Sie sind behend in ihren Bewegungen und auch in der Sprache.« »Warst du im Römerland?« »Zwei Jahre sind es her«, bestätigte Ingo. »Ich begleitete den jungen König Athanarich in die Kaiserstadt Trier. Ich sah dort hohe Wölbun gen und Steinmauern, wie von Riesen errichtet. Das Volk lacht gern und spaziert dichtgedrängt in den Straßen. Aber die Krieger, die ich dort getroffen habe, sprechen unsere Sprache und haben unsere Au gen. Sie nennen sich zu Unrecht Römer.« »Die Römer geben uns ihre Weisheit, wir leihen ihnen unsere Kräf te«, sagte einer aus dem Gefolge Bisinos. »Ich lobe den Tausch.« »Ich halte wenig von der Weisheit der Römer«, brummte Berthar. »Ich war schon einmal in einer ihrer großen Steinburgen. Die Häu ser stehen dort so eng wie eine Schafherde im Gewitter. Ich habe kein einziges Haus gesehen, wo Raum genug war für einen Hof oder eine Dungstätte.« Er schüttelte mißbilligend den Kopf. »Wenn sie in Not sind, hocken sie schamlos wie Hündchen auf der Straße, anstatt zu 72
arbeiten. Ich schlief einmal in einem solchen Steinloch. Die Wände und der Fußboden waren glatt und schimmerten in bunten Farben. Mir war eng zwischen diesen Mauern während der Nacht, und ich war froh, als am Morgen eine Schwalbe sang.« Der Alte begann geheim nisvoll zu flüstern: »Zur Nacht hatte es geregnet, und in einer Was serlache am Boden sah ich im Morgenlicht zwei Enten. Nicht leibhaf tig, sondern auf den Stein gemalt. Ich trat näher, schlug mit meiner Axt in den Steinboden und fand ein lächerliches Werk, aus vielen klei nen Steinchen zusammengesetzt. Jedes davon war in den Boden gekit tet und oben glattgeschliffen. Aus diesem bunten Zeug waren die Vö gel gemacht, die wir Enten nennen. Es war eine Arbeit, an der mehre re Männer viele Tage geschafft haben. Das erschien mir unsinnig.« Die Männer lachten. »Vielleicht gilt ihnen die Ente als heiliger Vogel, da es sie dort selte ner gibt als bei uns«, sagte einer von den Leuten aus dem Gefolge der Königin. »Aber du hast recht. Sie schleifen bunte Steine und machen daraus Bilder, wie bei uns die Kinder. Und beim Essen liegen sie her um wie die Frauen im Wochenbett.« Der König ergriff das Wort: »Ich habe gehört, daß sie an einen Chri stus glauben. Es scheint etwas daran zu sein, denn sie sind jetzt siegrei cher als früher. Man spricht eine Menge darüber, aber niemand weiß etwas Genaues.« »Die Christen haben wenige Götter«, erklärte Berthar wichtig, »oder vielleicht sogar nur einen mit drei Namen. Vielleicht sind es auch drei: Der eine heißt Vater, der andere Sohn und der dritte …« »Der dritte muß der Teufel sein!« unterbrach ihn Wolf. »Ich war un ter den Christen, und ich sage euch, sie sind Zauberer. Ich habe ihr ge heimes Zeichen gelernt und ihren Segen, der sie vor allen Schäden be wahrt.« Angstvoll schlug er ein Kreuz über seinen Weinkrug.
Als der König später allein mit Ingo zusammensaß, wurde er gesprä chig. »Ich mag dich gut leiden, Ingo, nur eines vergesse ich dir nicht: 73
daß du dich mit meinen Bauern in den Waldhütten verbündet hast. Sie waren von jeher aufsässig, und ich habe schon gefürchtet, daß du et was gegen mich angezettelt hast.« »Du hast keinen Grund zur Sorge«, gab Ingo zurück. »Ich werde nicht dorthin zurückkehren.« »Dann hat also die Freundschaft ein rasches Ende gefunden«, stellte der König zufrieden fest. »Aber wenn ich dir glauben soll, dann mußt du mir mehr erzählen.« »Wenn du mir versprichst, König, daß du Schweigen darüber be wahren wirst …« Der König hob schnell das Schwert, hielt die Schwurfinger darauf und gelobte. Neugierig rückte er näher. »Ich habe Irmgard, die Tochter des Fürsten, ins Herz geschlossen«, begann Ingo. Er zögerte und setzte hinzu: »Sie ist dem Neffen des Sin tram verlobt.« Der König lachte laut. »Da tust du allerdings Unrecht, wenn du sie begehrst. Außerdem bist du ohne Erbe. Wie käme Fürst Answald dazu, seine Tochter einem Fremden zu geben? Ja, selbst wenn er wollte, dürf te ich als König eine solche Heirat nie zulassen.« »Das sind unfreundliche Worte, die du mir da sagst.« Ingo blickte feindselig auf den König: »Ich meine, du solltest den Stolz eines Un glücklichen nicht verletzen.« Bisino schlug auf seinen Weinkrug, wie immer, wenn ihn etwas be lustigte. »Am liebsten würde ich das Mädchen einem meiner Leute ver mählen. Ich sähe es nicht gerne, wenn die Familie des Sintram einmal im Walde regieren würde. Aber auf jeden Fall werde ich verhindern, daß du dort Fürst wirst. Denn wie der Geruch des Honigs die Bären anlockt, würden sich alle streitlustigen Fäuste in deinem Hof versam meln. Du würdest mir, dem Landesherrn von Thüringen, bald feind lich gesinnt sein. Begreife das doch!« schloß er begütigend und füllte Ingos Becher nach. »Ich werde nie zulassen«, rief Ingo zornig, »daß ein anderer Mann das Mädchen bekommt!« Jetzt lachte der König so laut, daß Tisch und Bank erzitterten. »Je 74
länger du redest, desto lieber höre ich dir zu, wenn du auch trotzig bist. Du wirst deinen Willen durchsetzen. Bezwinge den Vater, schaffe den Nebenbuhler aus dem Weg, den stelzbeinigen Narren, und hol dir dein Mädchen! Von ganzem Herzen will ich dir dabei helfen.« »Ich verstehe dich nicht mehr«, sagte Ingo. Er sah mißtrauisch auf den König. »Zuerst bist du dagegen und jetzt dafür.« Unwillig stand er auf und trat ans Fenster. »Setz dich wieder zu deinem Becher!« rief der König. »Du hast al les, was einem Mann zur Ehre gereicht, nur eines fehlt dir: die Über legung.« Ingo setzte sich. Bisino fuhr fort: »Seit ich König bin, machen mir die Waldleute meine Herrschaft streitig. Darum war mir auch der Ge danke unerträglich, dich bei Answald zu wissen. Du hättest einen gu ten Heerführer gegen mich abgegeben, und ich hätte gegen dich strei ten müssen, obwohl ich dich gut leiden mag. Wenn du das Mädchen aus seiner Heimat entführst, dann brauche ich mich nicht zu sorgen, daß die Herrschaft im Walde fortgesetzt wird.« »Ich will nicht den Herrensitz, sondern nur die Tochter, wenn es mir auch leid ist, daß Irmgard meinetwegen die Heimat verlieren soll.« Bisino machte die Augen klein und zwinkerte schlau. Ingo mußte über das listige Gesicht des Königs lachen. Sein Unwille verflog. »So ist es recht!« rief der König munter. »Begrab deine Sorgen! Ver giß deinen Becher nicht. Mit dir trinke ich lieber als mit jedem ande ren.« Er nahm einen tiefen Schluck. Sein breites Gesicht glänzte vor Genugtuung. »Als du hierher kamst, war ich dir nicht günstig gesinnt. Der Römer Tertullus hat mir ein hochherziges Angebot gemacht für den Fall, daß ich dich dem Caesar ausliefere. Doch jetzt, da ich dich kenne, behalte ich dich lieber für mich selbst.«
75
8. Die letzte Nacht Um die Türme der Königsburg tobte der Wintersturm. Zu den Jagden, die der König für seine Gäste veranstaltet hatte, kam noch ein Kriegs zug gegen einen Gau der Sachsen. Die Vandalen ritten mit den Königs leuten. Siegreich und mit Beute beladen kehrten sie zurück, und ob wohl Bisino oft verdrossen war über den langen Aufenthalt seiner Gä ste, so war er doch voll des Lobes über ihr Kriegsglück. Das Frühjahr kam, der Schnee schmolz, neues Grün schoß aus dem Boden, und an Birken und Haseln hingen die braunen Kätzchen. Die ersten Wandervögel kamen aus dem Süden zurück und mit ih nen der Sänger Volkmar. Er hatte allerlei Neues zu berichten, und Ingo erzählte er von der Trauer und der Sehnsucht eines Waldmädchens. Unter den Leuten Answalds herrsche Unfrieden, und Theodulf sei oft am Hofe des Fürsten. Die Hochzeit mit Irmgard sei für Mai festge legt. Bald sprengte der Strom die Eisdecke und ergoß seine Fluten über das junge Grün der Wiesen. Der Falkner des Königs hatte für Hermin, den kleinen Sohn Bisinos, zwei junge Bussarde abgerichtet und erbat eines Morgens die Erlaubnis zum Ausritt, um die Kunst der geflügel ten Jäger vorzuführen. Das Pferd des Königs war schon gesattelt, als ein Bote in den Hof ritt und eine Nachricht brachte. Bisino ließ sein Roß zurückführen und schickte seinen Sohn mit der Königin und Ingo allein auf die Jagd. Die Sonne schien warm. Ingo ritt neben der Königin. Der Falkner löste dem Bussard die Haube, jauchzend jagte der kleine Prinz hinter dem Vogel her. Ingo und die Königin folgten langsamer. Mit geröteten Wangen tummelte Gisela ihr feuriges Pferd und lachte ihrem Begleiter zu, der sich über die schöne Frau an seiner Seite freute und vorsorglich 76
auf die Sprünge ihres Rosses achtete. Als er einmal helfend in den Zü gel griff, hielt die Königin an. »Erinnerst du dich, wie wir als Kinder zusammen geritten sind?« fragte sie leise. »Damals hatte ich immer Angst, aber ich wollte es dich nicht mer ken lassen.« »Ich habe es nie vergessen.« Gisela dankte ihm mit einem so freundlichen Blick, daß Ingo nach ihrer Hand griff und sie festhielt. Übermütig riß sie sich los und jagte ihr Pferd aufs neue in wilden Sprüngen über das Feld. Ingo blieb nachdenklich hinter ihr zurück, bis sich beide wieder dem Jagdzug anschlossen und dem kämpfenden Bussard zuriefen, der mit einem Wasserhuhn in den Fängen herabsank.
Als sie von der Jagd zurückkehrten, herrschte in der Königsburg unge wöhnliche Bewegung. Berthar lief Ingo entgegen: »Während du draußen den Habichten nachgeschaut hast, hat sich ein anderer Raubvogel bei uns eingenistet. Der Caesar hat einen neuen Boten geschickt, und wer, meinst du, ist es? Der Franke Harietto, der wilde Bursche! Erinnerst du dich, wie er ein mal den Sachsen nach der Schlacht die Köpfe abschneiden und sie wie Kohlhäupter auf Stangen stecken ließ? – Der König ist ganz verlegen, und seine Leute grüßen uns kaum mehr.« Berthar lachte höhnisch. »Eben hat der Kämmerer verkündet, du solltest heute abend besser mit uns essen, damit du nicht mit den Römern zusammentriffst.« »Ich werde mich nicht verstecken«, versetzte Ingo. Er nahm den klei nen Prinzen bei der Hand und führte ihn in den großen Burgraum vor der Königshalle. Dort standen die Fremden bei ihren Pferden, und der König stellte dem Gesandten seine ältesten Krieger vor. Harietto, der römische Franke, überragte alle um Haupteslänge. Wie ein Riese stand er da, mit gewaltigen Schultern und Gliedern. Seine 77
Arme waren mit Ringen besteckt. Auf seinem Schuppenpanzer prang te das goldene Kaiserbild. Als er Ingo erblickte, zuckte seine Hand nach dem Schwert, als den ke er daran, den Feind seines Kaisers auf der Stelle zu erledigen. Ingo trat freundlich lächelnd auf ihn zu: »Es war ein heißer Tag, als wir uns das letzte Mal begegneten, Harietto. Mir scheint, dein Blick war damals ehrlicher. Willst du mir nicht die Hand bieten?« »Ich würde dir gerne sagen, daß ich mich freue, dich zu sehen, aber ich bin als Bote des großen Römers hier, und er ist dir nicht zugetan.« »Du folgtest der Fahne der Fremden, ich meinen Landgenossen«, gab Ingo zurück und wandte sich zum Gehen. Harietto, der Franke, folgte dem König in den Saal, wo seine Be gleiter die mitgebrachten Geschenke aufgestellt hatten. Bisino schau te begehrlich auf die goldenen Schalen und Becher, die mit eingesetz ten Edelsteinen verziert waren. Harietto bat ihn um ein Gespräch un ter vier Augen. Als der König alle Zuhörer fortgeschickt hatte, forder te der Franke die Auslieferung Ingos. Bisino saß lange schweigend und erklärte endlich, daß die Forde rung allzu hart für ihn sei und daß er Zeit brauche, um eine Antwort zu finden. Harietto entfernte sich. Er lagerte sich mit seinem Gefolge unter die Männer des Königs, trank mit ihnen und teilte wertvolle Geschenke aus. Bisino ging in sein Schatzhaus. Er setzte sich auf einen Schemel und sah nachdenklich auf die neuen Geschenke. Er zählte die Schnüre, an denen seine eigenen goldenen Armringe aufgereiht waren, seine gro ßen Schüsseln und Kannen, die goldenen Becher und die Trinkhörner. Schließlich hob er eine schwere silberne Schüssel auf und betrachtete sein Spiegelbild auf der glatten Fläche. Da fühlte er sich leise am Arm gefaßt. Er fuhr zusammen und griff nach seiner Waffe. Vor ihm stand seine Gattin und sah ihn spöttisch an. »Mein König will seinen Freund an die Römer verkaufen?« »Würde ich so lange überlegen, wenn ich es wollte?« murrte Bisino. »Aber dieser Ingo sitzt wie ein Uhu auf meinen Bäumen, und alles Ge 78
flügel der Luft schießt herbei und hackt auf ihn ein. Es wird nicht mehr lange dauern, dann kommen auch die Könige von der Oder und ver langen, daß ich ihn ausliefere.« »Du täuschst mich nicht!« unterbrach ihn Gisela. »Ich sage dir nur das eine: Einem meineidigen Nilann, der um römisches Gold seinen Gast verkauft, verweigere ich Tisch und Lager.« »Du gehst zu weit!« begehrte der König auf. »Wer sollte dir denn ins Gewissen reden, wenn nicht deine eigene Frau?« lenkte die Königin ein. »Getraust du dich nicht, Ingo vor den Römern zu schützen, dann entlasse ihn wenigstens von deinem Hof. Es ist besser, schwach zu sein, als treulos.« »Damit er dann als mein Feind wiederkehrt?« »Du kannst ihn durch einen Schwur binden«, sagte die Königin und setzte hinzu: »Ich glaube, er wird sein Versprechen immer halten.« »Willst du ihn dazu überreden?« fragte Bisino lauernd. »Das muß ich wohl«, erwiderte Gisela tonlos, »wenn es dir nützt.« »Dann bitte ihn noch heute nacht um eine Unterredung.« Gisela eilte in ihr Gemach zurück. Atemlos riß sie die Fackel von dem hohen Leuchter und hielt sie zum Fenster hinaus, daß der Rauch und die lodernde Flamme an die Turmzinne wehte und die Eulen er schreckt aufflogen. Nach wenigen Augenblicken antwortete ein einzelner Jagdruf vom Lager der Vandalen. Die Königin zog den Leuchter zurück und schob den Teppich vor die Fensteröffnung. Kurz darauf betrat Ingo das Gemach der Königin. Er trug keine Waffen. »Du hast mich rufen lassen, Herrin«, begann er. Er sah sich in dem geschmückten Raum um, blickte bewundernd auf die gestickten Tep piche an den Wänden und auf die kostbaren fremdländischen Geräte. »Seit ich meine Mutter verlor, war ich nicht mehr im Prunkgemach ei ner Königin. Aber du siehst so ernst aus, Base Gisela.« Er ergriff ihre Hand. Ein freundliches Lächeln überflog das bleiche Gesicht der Königin. Sie entzog ihm ihre Hand. 79
»Du bist die breiten Treppen heraufgekommen«, sagte sie leise, »aber es kann sein, daß du dich durch einen Sprung vom Turm ret ten mußt.« »Mich wundert nichts mehr«, sagte Ingo. »Am Fuß der Treppe bin ich einigen eurer Krieger begegnet. Sie sind bewaffnet bis zu den Zähnen.« Er wandte sich ab. »Ich bin müde, Königin«, sagte er. »Jedem Haus herrn bin ich verleidet, sie hetzen mich wie einen tollen Wolf von Hof zu Hof. Aber von den Römern lasse ich mich nicht fangen!« Er ergriff bittend ihre Hand. »Wenn du auch nichts für mich tun kannst, viel leicht gelingt es dir, ein Wort für meine Leute einzulegen. Sie kämpfen gern, aber sie fürchten sich vor der unsichtbaren Gefahr. Wir sitzen in der Falle, Gisela, und die Falle ist eure Burg.« Gisela hatte ein Geräusch gehört. Entsetzt starrte sie auf die Wand. Im selben Augenblick öffnete sich eine verborgene Tür, die in ihr Zimmer führte. Bisino trat ein. Er hatte das Schwert gezogen. Gisela fiel dem König in den Arm. Die Waffe klirrte zu Boden. Ingo ergriff sie blitzschnell und rief: »Jetzt halte ich dein Leben in der Hand, König Bisino. Deine Rüstung wird dir wenig nützen, wenn ich das tun wollte, was du mir zugedacht hast. Danke deinem Gott, daß mir der Gastschwur heiliger ist als dir.« Er warf dem König die Waf fe vor die Füße. »Du sprichst wie ein Mann«, sagte Bisino gefaßt. »Hole auch du dein Schwert, wir wollen ehrlich kämpfen.« »Ich habe dir Frieden geschworen«, erwiderte Ingo ruhig. »Der Eid ist gebrochen«, sagte Bisino. »Hebe die Waffe!« »Ich kämpfe nicht mit dir um mein Leben. Deine Königswürde ist mir heilig. Du magst mich töten, doch meine Leute sollen verschont bleiben.« Im selben Augenblick erklang unten Geschrei und Kriegsruf. Ingo fuhr auf. »Sieh dich vor, König. Wenn du dein Versprechen nicht hältst – ich weiß ein Mittel, dich zu zwingen.« Er lief aus der Tür. »Du wirst nicht weit kommen«, schrie ihm der König nach. Ingo ergriff sein Schwert, das er vor seinem Eintritt in das Gemach 80
der Königin abgelegt hatte, und stürmte in das Zimmer des kleinen Prinzen. Er riß das schlafende Kind vom Lager auf und eilte mit ihm zum König. Bisino fuhr entsetzt zurück, als er seinen Sohn in den Armen Ingos erblickte. »Geh voran, König Bisino!« rief Ingo befehlend. »Das Leben deines Sohnes ist mein Pfand. Er soll mir für die Sicherheit meiner Leute bür gen.« Gisela, außer sich vor Entsetzen, sah den beiden Männern nach, die die Steintreppe hinabeilten. Ob sie wünschen sollte, daß Ingo entkam? Sie empfand Haß gegen ihn, weil er ihr Kind gepfändet hatte, und doch bangte sie um sein Leben und fürchtete die Wiederkehr des Königs. Sie lief ans Fenster und sah in die Nacht hinaus. Eine Weile hörte sie noch wildes Geschrei, dann wurde es still. Die Nacht war schwarz und unsicher wie ihr eigenes Schicksal. Auf den letzten Stufen vor der Turmtüre hielt Ingo an. »Verjage die Hunde, damit sie deinen Sohn nicht beißen!« herrsch te er den König an. Bisino gehorchte widerwillig. Ingo eilte an ihm vorbei. Der König vermochte ihm kaum zu folgen. Vor dem Schlafsaal der Vandalen standen Leute des Königs. Sie tru gen Schild und Speere, manche sogar Fackeln. Auf dem Boden vor den Stufen brannte ein Feuer. Unheimlich beleuchtete der Schein den dunklen Saal und die finsteren Gesichter der Thüringe und Vandalen. Laute Rufe tönten Ingo entgegen, als er, den Königssohn auf dem Arm, näher kam. »Weicht zurück, Helden der Thüringe!« rief Ingo. »Der junge König gebietet euch Frieden.« Er wandte sich Bisino zu: »Tritt friedlich in das Schlafgemach deiner Gäste – nicht mit den Waffen werden wir unse ren Streit enden!« Der König winkte seinen Leuten, den Zugang freizugeben. Sie nahmen am Lager Ingos, das auf einer Erhöhung in der Halle stand, Platz. Bisino blickte finster vor sich hin: »Du glaubst, mich durch die Be 81
drohung meines Sohnes zu zwingen, daß ich dich und deine Land streicher verschone«, begann er. »Aber wenn du dich auch heute mei nem Zorn entziehst, er trifft dich doch morgen oder zu einer anderen Zeit.« »Ich erkenne deine Macht an«, antwortete Ingo höflich. »Und ich weiß, daß es mir nichts nützen würde, über deine Brücke davonzurei ten, wenn dein Haß mich verfolgt. Ich will nicht gegen dich kämpfen, denn du bist mein Wirt und hast mich freundlich aufgenommen.« »Deine Worte sind verständig, wie immer.« Die Stimme des Königs wurde ruhiger. »Ich weiß, daß du im Grunde redlich bist, und ich verfolge dich un gern. Aber der Caesar fordert, daß ich dich an seinen Boten ausliefe re.« »Seit wann gehorchst du fremden Befehlen?« Der kleine Hermin kniete nieder und umschlang die Knie seines Va ters. »Tu meinem Vetter nichts zuleide!« bat er. Lange sah der König auf das Kind nieder. »Du weißt nicht, worum du mich bittest«, sagte er endlich milde. Entschlossen wandte er sich Ingo zu: »Wenn du mir schwörst, dich niemals an mir und meinem Sohn zu rächen und dich nie mit den Waldleuten gegen mich zu ver bünden, so will ich dich aus meiner Burg und aus meinem Land ent lassen.« »Diesen Eid nehme ich auf mich«, sagte Ingo. »Aber gelobe auch du mir beim Leben dieses Knaben, mich nicht weiter zu verfolgen.« Der König sprang auf: »Bringt Becher und Met!« rief er. »Wir wollen auf Ingos Abschied trinken.« Willig regten sich die Leute auf den Stufen. Der Mundschenk rann te und trug silberne Platten und Trinkgefäße herbei. Über dem Becher gelobten Ingo und der König, einander die Treue zu halten. Friedlich schied Ingo von Bisino und dem kleinen Prinzen. Als sie den äußeren Burghof erreicht hatten, gebot Berthar den Vandalen: »Reitet im Schritt, damit sie nicht am Ende meinen, daß wir uns vor ihnen fürchten!« Als das Tor sich hinter den Gästen geschlossen hatte, wandte sich der 82
König an seine Männer: »Hütet euch, jemals von dieser Nacht zu spre chen!«
Am anderen Morgen hielt Bisino dem erstaunten Harietto beim Früh stück eine überaus höfliche Rede: »Um des großen Caesar willen habe ich alles getan, was in meiner Macht stand. Dem Gebannten habe ich das Gastrecht gekündigt und ihn ohne Geleit entlassen.« Er schickte einen bedauernden Blick zum Himmel. »Er wird wohl jetzt schon weit von hier entfernt sein.« Als der König wieder in seinem Schatzhaus war, murmelte er seufzend vor sich hin: »Eine Sorge bin ich los, aber eine größere habe ich mir aufgeladen.« Er betrachtete sich in der blan ken Silberschüssel: »Aber das Gesicht, das mir hier entgegenschaut, ist ehrlich, und das ist gut.«
9. Die Idisburg Als die Reiser der Bäume vom Saft schwollen und das junge Laub aus den Knospen brach, regte sich die Wanderlust unter den jungen Män nern der Walddörfer. Es war ein heimliches Summen in den Höfen. Die Männer hielten im Waldversteck stillen Rat. Anfangs waren nur wenige entschlossen, ihr Glück in der Fremde zu suchen. Manchen hatte ein Mädchen, das ihm lieb war, heimlich zu der Reise überredet, und wo es mehrere Töchter im Hause gab, wag te es der Vater gern, eine davon in eine hoffnungsvollere Zukunft zu entlassen. Es war kein Zug in unbekannte Gegenden. Die neuen An siedlungen waren nur wenige Tagereisen entfernt, und die Fahrt ging durch Wälder und Täler, in denen Landgenossen wohnten, die schon in früheren Zeiten denselben Weg gezogen waren. Die Wagen standen bereit, mit Saatkorn und Hausrat bepackt. Die 83
gejochten Rinder brüllten. Frauen und Kinder trieben das Herdenvieh hinter den Wagen zusammen, und große Hunde umbellten die Fuhr werke. Die Kinder hockten still auf den Kornsäcken. Manche von den kleineren trugen zur Abwehr von Unglück Kränze aus Heilkräutern auf dem Haar oder um den Hals. Freunde und Nachbarn brachten den Ausziehenden zum Abschied Wegzehrung und Andenken. Die Familienältesten sprachen den Reise segen und bannten wilde Tiere und Wegelagerer durch Zauberspruch. Mit der aufgehenden Sonne setzte sich der Zug in Bewegung. Die Achsen und Räder knarrten. Von der Höhe sahen die Wanderer noch einmal nach dem Dorf ihrer Väter zurück und verneigten sich grü ßend vor den unsichtbaren Göttern. Mancher warf vielleicht einen Fluch zurück gegen den, der ihm die Heimaterde verleidet hatte. Dann nahm der Bergwald sie auf. Mühsam war die Fahrt auf steinernen Wegen, in die das Schnee wasser tiefe Furchen gerissen hatte. Oft mußten die Männer von den Rossen steigen und mit Pickel und Spaten die Bahn fahrbar machen, oder die Frauen mußten sich gegen die Speichen der Räder stemmen. Wenn der Weg ebener war, umritten die Männer den Zug mit gehobe ner Waffe, bereit zum Kampf gegen Raubtiere oder Landstreicher. So kamen die Wanderer nur langsam voran. Der Regen fiel auf sie nieder, und der Wind trocknete ihnen die durchnäßten Kleider. Am vierten Tage sahen sie von der Höhe eines Kiefernwaldes in ein Wie sental, das von ansehnlichen Hügeln und dichtem Laubwald eingefaßt war. Dort zog sich in gewundenem Lauf der Idisbach durch die Wie sen. Am Fuße der Anhöhen lagen Höfe und eingeteiltes Ackerland. Ein Mann ritt den Siedlern entgegen. Von weitem schon wirbelte er seinen Speer grüßend in der Luft. Die Ansiedler jauchzten ihm zu, denn sie hatten in ihm ihren Landsmann Wolf, den ehemaligen Wäch ter, erkannt. »Willkommen in der neuen Heimat!« rief er. »Die Fahrt ist vollbracht. Dort auf dem Hügel erwarten euch die Weisen dieses Gaues, um euch das Landrecht zu gewähren und euch Land zuzuteilen.« Der Anführer des Zuges richtete das Wort an Wolf: »Wo kommst du 84
her und wo ist dein Herr? Wir haben lange nichts von euch gehört und waren schon in Sorge.« »Die Vandalen verstehen die Kunst, sich unsichtbar zu machen«, lachte Wolf. »Ingo ist jetzt Häuptling hier, und alle haben ihn gern. Auch ihr werdet euch mit den Bauern gut vertragen. Sie trinken ihr Bier noch aus dicken Töpfen von Eichenholz, die wahrhaftig schwer zu heben sind. Ihr kommt zur rechten Zeit, denn Fürst Ingo ist gerade aus dem Wald zurückgekehrt.« Vor dem Lager stand Ingo mit seinem Gefolge und winkte den An kömmlingen zu: »Wenn die Götter uns gnädig bleiben, findet auch ihr hier gutes Auskommen!« Er geleitete die Schar zum Opferstein, wo der Gauälteste und die Männer des Tales sich schon versammelt hatten. Dreimal drei Stiere wurden den Göttern geschlachtet. Über dem Opferkessel reichten sich die neuen Siedler die Hände zum Bunde und gelobten, Ingo als Häupt ling zu ehren. Dann ließen sich alle unter einem Baum zum Opfermahl nieder. Von einer waldbewachsenen Bergseite ragte ein steiler Felsenhügel über das Tal des Idisbaches. Auf seinem Gipfel trug er alte Eichen bäume als einzigen Laubschmuck, denn an den Seiten des Berges wa ren die Stämme schon gefällt und über der halben Höhe mit Geröll und Erde zu einem dichten Bollwerk geschichtet. Davor war ein Gra ben gezogen, der so weit vom Gipfel entfernt war, daß keine Wurfwaf fe zur Höhe geschleudert werden konnte. Klug hatte der alte Berthar die Rinnsale des Wassers und kleine Schluchten ausgenutzt, um gesi cherte Wege vom Gipfel zum Ringwall zu führen, damit die Bewoh ner im Falle einer Belagerung auf und ab eilen könnten, ohne daß der Feind sie aus der Tiefe traf. Ein zweiter Wall aus Steinen und Holz umschloß einen Raum, der groß genug war, um in der Not das Vieh, die Frauen und die Kinder der Siedler aufzunehmen. Auf der höchsten Stelle des Gipfels zimmer ten die Männer aus schweren Balken die Königshalle für Ingo. Dane ben entstanden Wohnungen für das Volk, Ställe für die Pferde und die Vorratsräume. 85
Für die Dauer der Bauzeit war für Ingo im Wipfel der höchsten Eiche ein Baumhaus errichtet worden. Am Stamm lief eine schmale Treppe hinauf und jedes der beiden Zimmer war nach unten durch eine Fall türe geschützt.
Über den Waldlauben zogen die schwarzen Wolken dahin, die Schat ten dehnten sich und glitten wieder zusammen. Um die Berghäupter wälzte sich dichter Nebel. Der Wind heulte und schüttelte die Wipfel der Bäume. Hier und dort dröhnte es im Wald. Alte Stämme, vom Mo der ausgehöhlt, brachen zusammen. Schreiend und kreischend fuhren die Raben auseinander. Unten rauschten die Schaumfluten des Baches. Sie schwollen gegen die Baumsperre und hoben sich von Fels zu Fels. Im tollen Wirbel krei sten die Äste und Stämme, und der Wasserschwall schlug an die Ber ge. Plötzlich flammte ein Blitzstrahl auf und wilder als Brausen und Krachen klang der Ruf des Donnergottes. Ingo stand hoch über dem Gießbach und hielt sich an einer Wurzel fest. Ehrfurchtsvoll neigte er sein Haupt vor den Gewalten der Natur. »Helft mir«, rief er in den Sturm, »daß mein Werk gelinge!« Die Waf fe schwingend, ließ er sich los und sprang durch die schwarze Nacht dem Tale zu. Mit Getöse fuhr der Sturm um den Hof des Fürsten Answald. Er schlug den eisigen Regen auf die Dächer, schleuderte die Bretter vom First der Halle und stieß brüllend gegen die Tore. Wer von den Men schen auf dem Hof noch wachte, barg ängstlich das Haupt unter der Decke. Selbst die Hunde lagen winselnd in den Hütten und unter den Treppen. Im Zimmer Irmgards flackerte das Licht der Lampe in der scharfen Zugluft, die durch Tür und Wände drang. Irmgard saß auf ihrem La ger und hielt die Hände ihrer Magd Frida fest. Die Haustür sprang auf. Eine Schattengestalt huschte herein, eine 86
zweite, ein ganzer Haufen: riesige Leiber mit schwarzen Häuptern und schwarzem Gewand. Entsetzen faßte die beiden Mädchen, als sie die Nachtgespenster sahen. Aus dem Kreis der schweigenden Unholde sprang einer lautlos vor. Ein Schrei kam von Irmgards Lippen, dann senkte sich eine dunkle Kappe über ihr Gesicht. Mit Riesenstärke wurde sie aufgehoben und in die stürmische Nacht hinausgetragen. Ein zweiter Unhold ergriff Frida und warf ihr die Hülle über den Kopf. Im nächsten Augenblick war das Zimmer leer, die Tür von außen verriegelt, und durch eine große Lücke der Hofmauer eilten die Ein dringlinge ins Freie.
Als der nächste Tag sich neigte, schwieg der Sturm, und die Sonne färbte mit rotem Licht die Eichen der Idisburg. Aus dem finstern Wald, der hinter dem Holzring aufragte, ritt eine Schar dem Burgwall zu. Berthar, der selbst die Turmwache gehalten hatte, eilte ihnen entge gen. Die Rosse sprengten in den Hof. Zwei verhüllte Frauen wurden sorg sam herabgehoben. Ingo löste die Kappe der ersten, und das Gesicht Irmgards wurde vom vergehenden Sonnenlicht bestrahlt. Die Vandalen warfen sich vor ihr auf die Knie, faßten nach ihrer Hand und an den Saum ihres Kleides und jubelten ihr zu. Berthar trat näher und sprach: »Betet, daß die Götter den Bund der Könige segnen.« Er richtete die heilige Frage der Vermählung an Ingo, den König der Vandalen. Darauf wandte er sich an das Mädchen und stellte ihr die selbe Frage. Zum ersten Mal seit der Schreckensnacht öffnete Irmgard die Lippen und sagte mit heller Stimme: »Ja, ich will!« Unter den Eichen wurde zum Hochzeitsmahl gerüstet. Die Männer brachten die Holztafeln und stellten sie auf Kreuzhölzer. Auch einen 87
Ehrensitz für Ingo und seine junge Frau hatten sie vorsorglich gezim mert. »Nimm vorlieb mit dem, was wir haben, Königin!« bat Berthar. »Wir bieten dir Holzschüsseln statt Silber und zu dem Met, den die Bauern gebraut haben, das Fleisch eines Ebers. Sei gnädig und freue dich mit uns!« Am Abend sagte der Alte zu Ingo: »Solange ich lebe, war ich ein fröh licher Gesell. Aber so leicht wie heute war mir das Herz noch nie. Schlafe du sorglos, denn wir halten Wache für dich und die junge Königin.«
10. Am Quell Einmal hatte der Sommer schon die Eichen auf der Idisburg in grü nes Laub gehüllt und einmal der Winter die Äste kahlgefegt, aber hell flammte das ganze Jahr über das Feuer im Herd des neuen Hofes. Unter der Eiche, die das Laubhaus trug, saß Irmgard und blickte auf ihren kleinen Sohn, der im Schild seines Vaters lag. Frida schaukelte die seltsame Wiege. Vom Bollwerk herunter klangen laute Stimmen. Der Wächter auf dem Holzgerüst blies in sein Horn und hängte einige lustige Töne an, die gar nicht zum üblichen Zeichen gehörten. »Es ist ein Freund«, lachte Irmgard. »Der Wächter will ihm eine Freude machen.« »Volkmar!« rief sie und eilte dem Sänger entgegen, der zusammen mit Ingo in den Hof trat. Als sie sein ernstes Gesicht erblickte, sagte sie: »Du kommst aus der Heimat, aber eine freudige Nachricht bringst du nicht.« »Ich komme von der Königsburg.« Volkmar verneigte sich vor Irm gard. »Bei deinem Vater war ich nur kurz.« »Bringst du Botschaft vom König?« fragte Ingo. »Es kann nichts Schlechtes sein.« 88
»Bisino ist tot«, erwiderte Volkmar ernst. Tiefes Schweigen folgte sei nen Worten. »Er war ein tapferer Krieger und ein guter König«, sagte Ingo end lich, »und mir hat er zu meinem Glück verholfen.« »Den Schlüssel zur Schatzkammer bewahrt jetzt die Königin für ih ren Sohn«, sagte der Sänger zweideutig. »Sie herrscht mit Gewalt in der Burg und schickt ihre Soldaten aus, wie es ihr gefällt. Die Edelleu te kommen in Scharen an ihren Hof und versuchen, ihre Huld zu ge winnen. Aber sie ist mehr gefürchtet als beliebt. Ich komme nur, dich zu warnen, Ingo.« »Der König war im Grunde mein Freund«, antwortete Ingo, »und die Königin hat sich mir immer nur gütig gezeigt.« »Die Gunst einer herrischen Frau ist unsicher«, meinte Volkmar. Aber Ingo schlug alle Sorge in den Wind. »Dem toten König war ich ein treuer Grenzwächter, und solange Frau Gisela über Thürin gen herrscht, erwarte ich nur Gutes von dort. Hast du mit ihr gespro chen?« »Sie hat mir nur feindliche Blicke geschenkt«, sagte der Sänger. »Sie nannte mich einen schwatzhaften Boten und schickte mich fort. Da hat mich die Sorge zu dir in den Wald getrieben.« »Sorge dich nicht und sei bedankt für deine Treue!« Ingo legte dem Sänger die Hand auf das weiße Haupt. Volkmar richtete sich auf. »Verzeih mir, Ingo, wenn ich mich nicht beruhige. Wenn du auch meinst, vor Frau Gisela sicher zu sein, ich er hoffe das gleiche nicht für mich. Ich werde euch wieder besuchen und wünsche, euch in Frieden anzutreffen.«
Am Nachmittag war es still auf der Ringburg. Der Sänger hatte wieder Abschied genommen. Ingo war mit einigen seiner Leute auf die Jagd gegangen. Irmgard stand an der Quelle, die in der Nähe des Hauses unter ei nem Felsen hervorrieselte. Sie badete ihren kleinen Sohn, der ungedul 89
dig schrie und mit den Beinchen strampelte. Sie rieb den kleinen Kör per trocken und hüllte ihn in ein warmes Tuch. Plötzlich fuhr sie auf. Vor ihr hielt hoch zu Roß eine mächtige Frau. Von ihrem blonden Haar hing ein Schleier herab, über ihre Schultern und den Rücken des Pferdes wallte ein roter Mantel. Das Goldmetall ihrer Rüstung blitzte, und die Hufe des Rosses stampften auf dem Lei nen, das Irmgard zum Trocknen ausgebreitet hatte. Neben der Fremden sah sie das bleiche Gesicht Sintrams. Die beiden Frauen prüften einander schweigend mit feindlichen Blik ken. Irmgard ließ sich neben dem Brunnen in das Moos nieder und bedeckte ihre nackten Füße mit dem Rock. Sie nahm das Kind auf den Schoß und drückte es fest an sich. »Ist das Weib da stumm?« fragte Königin Gisela ihren Begleiter. »Es ist die Frau selbst, Herrin«, antwortete Sintram, und zu Irmgard gewandt, sagte er ängstlich: »Die Königin ruft dich, Base, steh auf!« Irmgard blieb unbewegt sitzen. Gisela erhob drohend ihren Arm, da klangen Stimmen von der Höhe. »Hierher Ingo!« schrie Irmgard außer sich. »Hilf mir!« Ingo kam den steilen Fußweg herab. Erstaunt sah er Irmgard am Bo den und vor ihr die Königin mit ihrem Begleiter. Er trat näher, neigte den Kopf und rief fröhlich: »Willkommen, gro ße Königin! Schenke uns die Ehre deines Besuches.« Als Gisela Ingo so heiter vor sich sah, sprach sie gütig: »Ich freue mich, dich zu sehen, Vetter.« »Hilft denn niemand der Königin vom Pferd?« rief Ingo und bot ihr selbst den Arm. Gisela faßte mit der Hand in sein Haar, um sich festzuhalten, setzte den Fuß auf seine dargebotene Hand und schwang sich herab. Irmgard nahm das Kind auf und ging ins Haus zurück. Ingo stand der Königin allein gegenüber. »Jetzt ist es, wie ich es mir immer gewünscht habe«, begann sie. »Du bist bei mir, und ich bin dir gut, wie damals.« Ernster fügte sie hinzu: »Du hast eine Menge Feinde in meinem Land, und die benachbarten Burgunden beklagen sich über dein räuberisches Volk.« 90
»Du kennst den Brauch, Herrin, für den Schaden, den meine Leute erfuhren, setzen sie sich selbst das Maß der Rache.« »Ich hätte mehr von dir erwartet«, spottete die Königin, »als daß du Kühe züchtest.« »Ein Heimatloser ist froh über ein festes Dach«, antwortete Ingo. »Das nenne ich ein unsicheres Hausdach«, lachte die Königin höh nisch. »Der Vater und der Bräutigam, denen du das Mädchen geraubt hast, werden dir noch ihren Besuch machen!« »Das zwingt mich, noch fester auf meinem Hof zu stehen«, erwider te Ingo. »Ich bin nicht abgeneigt, mein Schwert wieder hervorzuholen. Es hängt am Herd und wird bald rosten.« »Bist du denn wirklich so ahnungslos und so töricht?« rief die Köni gin. »Der Caesar rüstet zu einem neuen Krieg gegen die Alemannen, und auch dich hat er noch nicht vergessen.« »Ich danke für die gute Botschaft«, lächelte Ingo, »dann gibt es end lich etwas zu tun.« »Du hast dich nicht verändert.« Gisela gab ihm das Lächeln zurück. »Es wäre verlorene Mühe, dich durch Gefahren zu schrecken. Hör mich an: Ich brauche einen Feldherrn. Dazu habe ich dich auserkoren, und deswegen bin ich hier.« Ingo war überrascht. Er überlegte. Die schöne Frau im Königsman tel hielt ihm die Hand entgegen. Was die Sehnsucht und das Glück der stolzesten Männer im Lande war, das bot sie ihm bittend an. »Ich bin gebunden, Gisela, und Irmgard ist mir teurer als mein Leben. Sie hat alles für mich verlassen, und ich habe ihr die Treue gelobt.« »Vergiß nicht, daß du auch mir die Hand gereicht hast in jener Nacht, als ich mich zwischen dich und König Bisino stellte. Seither ist mein Schicksal an deines gebunden, du gehörst mir!« »Du hast Heldenmut bewiesen«, antwortete Ingo mit kühler Höf lichkeit, »und ich bleibe dir dankbar, solange ich lebe.« »Ich verzichte auf deine Dankbarkeit«, flüsterte die Königin gefähr lich. »Rufe mich, wenn immer du mich brauchst!« sagte Ingo. »Und ich werde mit meinem Blut bezahlen, was ich dir an Dank schulde.« 91
»Begreifst du denn nicht?« rief die Königin und faßte ihn am Arm. »Ich kann nicht mehr leben, wenn du mir nicht folgst!« Sie erschrak über ihre eigene Heftigkeit und zog ihre Hand zurück. Ingo stand unbewegt. »Ich bin bereit zu bezahlen«, sagte er, »aber frei und nicht als Knecht an dein Leben gebunden.« Die Königin sah ihn scharf an: »Du hast gewählt, Ingo!« Eilig wandte sie sich ab und ergriff die Zügel ihres Pferdes. Ingo aber eilte auf dem Weg, den Irmgard gegangen war, seinem Hof zu.
11. Der Wetterschlag Durch die enge Pforte, die vom Quell in den Burghof führte, eilte Ingo zum Tor. Vom Turmgerüst rief Berthar ihm entgegen: »Dort reitet die Königin mit ihren Leuten der Grenze zu. Sie scheint es eilig zu haben.« »Sie ist im Zorn gegangen«, sagte Ingo ernst. Berthar erriet aus der düsteren Miene seines Herrn, was dieser nicht aussprach. Er versuchte zu scherzen: »Eine hungrige Wölfin kommt in der nächsten Nacht wieder.« Ingo stieg zu ihm auf den Turm. »Die Königin nimmt den Waldweg und umgeht den Wächter«, sagte er erstaunt. Im selben Augenblick erhob sich nordwärts am goldenen Abend himmel weißer Dampf. Die Rauchsäule stieg höher und färbte sich schwarz. »Eine Warnung«, flüsterte der Alte. »Die Soldaten der Königin bre chen über die Grenze.« »Zündet das Notfeuer an!« befahl Ingo mit klarer Stimme. »Sendet Späher aus, und laßt die Bauern warnen. Sie sollen sich vorsehen und uns Bewaffnete schicken, soviel sie entbehren können.« Mit mächtiger Stimme setzte Berthar zum Kriegsgesang der Vanda len an. 92
Dunkler wurden die Schatten der Nacht. Das Notfeuer flammte und warf rotes Licht und Rußwolken über den Hof, auf dem sich die Män ner rüsteten. Sie räumten die Hofstätte von Karren und Gerät, trugen die Wurfspeere herbei und häuften Steine aufeinander. Auch die Mäg de halfen. In großen Kübeln holten sie das Wasser aus der Quelle und füllten die Fässer und Bottiche vor der Halle. Boten rannten in den Hof, andere sprengten zu Pferde davon, Befeh le gingen hin und her. Unter der Mondsichel trieben die Wolken dahin, bald vom gelben Licht umsäumt, bald kohlschwarz. Aus dem Idisbach hob sich der Ne bel und stieg aufwärts gegen den Ringwall. Tiergeschrei und Menschenstimmen schallten um das Burgtor. Auf den Pfaden aus der Tiefe führten die Dorfleute Rosse, Rinder und die braunen Schafe herauf. Die Männer trugen Lindenschilde und Speere. Die Weiber und Kinder waren mit Hausrat bepackt. Der Weg in die Burg wurde ihnen schwer. Oft blickten sie zurück und bedachten, ob sie die Höfe, die sie erst vor kurzem gebaut hatten, jemals wiedersehen würden. An der Sperre des unteren Walls drängten sich die Flüchtlinge. Der Wächter, der den Zugang hütete, mußte sie anweisen und führen, da mit sie in der Dunkelheit nicht vom Weg abkamen. Der Burgraum füllte sich mit Menschen und Vieh. Ein Reiter sprengte heran, stieg atemlos von seinem schaumbedeck ten Roß und eilte zu Ingo in den Saal. Ohne Gruß begann er seinen Bericht: »Die Soldaten der Königin sind über unsere Grenzen gegangen. Es ist ein ganzer Schwarm, und dazu kommen noch die Leute des Theodulf.« »Hast du die Königin gesehen?« fragte Berthar. Noch ehe der Mann antworten konnte, stürzte ein zweiter Bote in die Halle. »Ein ganzes Heer der Burgunden ist auf dem Weg«, schrie er. »Fußvolk und Reiter. Auch Römer sind dabei. Ich konnte ihre Sprache nicht verstehen. Sie scheinen sorglos zu sein und siegessi cher.« 93
Ingo unterbrach die aufgeregte Rede und winkte dem Boten, sich zu entfernen. »Sorge dafür, Vater«, sagte er zu Berthar, »daß außer den Wächtern alle zum Schlafen kommen, denn morgen werden wir klare Augen brauchen. Wenn die Sonne aufgeht, sammeln wir die Bauern. Unsere Schar wird klein sein, aber wir kämpfen um unser Leben.«
Der Morgen graute. Die Wolken hatten blutrote Ränder und verdeck ten die Sonne. In der Ringburg erhoben sich die Schläfer von der Erde. Die Männer rüsteten sich zum Dienst für den Kriegsgott. Sie salbten und färbten ihr Haar rot und legten um Arme und Hals Ringe aus Gold und Bronze. Einige trugen geschlossene Hemden aus Hirschleder, mit Eisenschuppen bedeckt, andere wieder öffneten das Hemd, damit man ihre ruhmvollen Narben auf der Brust sähe. Der Blick der Krieger war finster, und sie arbeiteten schweigend. Vor der Halle des Königs lag der Opferstein. Die Männer versam melten sich. Ingo, in einem grauen Stahlhemd, trat mit seinen Leuten aus der Halle. Ein junges Roß wurde herbeigeführt. Berthar stieß ihm den Opferstahl in den Leib. Er sang das Kriegsgebet, und die Männer tauchten ihre Rechte in die rote Wunde des Opfertieres. So schworen sie einan der die Treue und Ingo Gehorsam. Das Horn des Türmers ertönte. Ein Bote eilte auf Ingo zu: »Den Bach entlang reiten die Leute der Königin. Sie selbst ist unter ihnen.« Die Krieger ergriffen Schilde und Speere und traten im Hof der Burg an. Ihr wilder Kriegsruf ertönte weit über die Täler und schwoll an wie der Sturmwind. Von unten antwortete gellendes Geschrei. Berthar rief seine Befehle. In geordneten Reihen zogen die Krieger den Berg hinab und besetzten den Ringwall. Noch einmal stieg Ingo mit dem Alten auf den Baum. Sie sahen, daß Gisela allein mit ihrer Schar kam. Aber sie hatte sich die Bundesgenos senschaft der Burgunden gesichert. 94
»Auf einen von uns treffen zehn von ihnen«, sagte Ingo. »Halte du die Südseite, ich bereite der Königin den Empfang.« Rundum erhob sich Geschrei, Pfeile und Speere flogen. Die Belagerer sprangen in kleinen Haufen heran und trugen Steine und Reisigbündel an den Außenwall, um den Graben aufzufüllen. Mächtig war über allem der Schlachtruf Ingos zu hören. Die Stimme des alten Berthar antwortete von der Südseite. Mehr als einmal schoß ein Pfeil nahe an Ingos Kopf vorbei und blieb in den Balken des Wal les stecken. Die Schilde der Thüringe zerbrachen unter den Waffen von Ingos Leuten. Der Ansturm der Belagerer mißlang, mit glühenden Wangen wandten sie sich abwärts. Sie öffneten ihre Reihen und begannen, aus dem Dorf und aus dem Wald Holz zusammenzutragen. Sie arbeiteten mit Axt und Hammer. Stechend heiß strahlte die Mittagssonne. Graue Wetterwolken wälz ten sich heran. Die Hörner der Belagerer riefen zu neuem Kampf. Sie hatten ihre Äxte nicht vergebens gebraucht. Von allen Seiten stürmten sie hinter starken Bohlenschilden heran, und wieder warfen sie Steine und Holzbündel in den Graben und schleppten lange Bal ken, um die Tiefe zu überbrücken. Wich ein Haufen zurück, so waren im Nu neue zur Stelle, denn die Königin trieb die Kämpfer mit erhobenem Arm unablässig zum Sturm an. Es gelang den feindlichen Scharen, den äußeren Wallring zu zerrei ßen. Über den Graben stürmte die Überzahl der Feinde durch eine Lücke, die sie in den Wall gebrochen hatten. Die kleinen Haufen der Verteidiger wurden rückwärts gedrängt. Ingo stand vor dem Burgtor und deckte mit wenigen Männern den Rückzug seiner Leute. Als letzter sprang er selbst durch das Tor. Hin ter ihm hob sich die Brücke. Die Belagerer brachen in Siegesgeschrei aus und stürmten gegen die Mauern. Aber ihre Freude war kurz, denn von der steilen Höhe flogen jetzt die Speere dichter, und große herabrollende Steine rissen blutige Bahnen in die Reihen der Angreifenden. 95
Da schlug der erste Brandpfeil schwirrend in das Turmgerüst. Rund um den Berg sprangen immer mehr Bogenschützen aufwärts und schossen gegen das Bollwerk, sorglich bemüht, durch behende Sprün ge die geworfenen Steine zu vermeiden. Hier und da leckte eine Flam me an den Balken. Die Belagerten schlugen mit Stangen gegen die Pfei le und zerdrückten das Feuer. Immer häufiger lohten Brände auf. Kinder heulten, die Rosse bäum ten sich auf und zerrissen ihre Halfter. Rasend fuhren die Tiere unter die Menge. Die Arbeit wurde zur Pein, und manchem der Verteidiger sank der Mut. Mit kleinem Gefolge nahte sich ein Reiter in gestrecktem Galopp der Königin. Die Haufen des Theodulf empfingen ihn schreiend. Fürst Answald stieg vom Pferd und rief: »Die Königin hat mich ge täuscht! Sie soll den Landesbrauch nicht vergessen. Dort oben sind Frauen und Kinder von unserem Blut.« Answalds Stimme erhob sich in verzweifelter Anklage. Zustimmend schlugen die Soldaten ihre Speere zusammen. Einzelne Hochrufe für Answald klangen auf. Die Königin aber schwieg. »So höre doch, Herrin!« schrie Answald entsetzt. »Mein eigenes Kind ist in der brennenden Burg. Die Strafe gegen Irmgard steht mir allein zu.« Er gab seinem Roß die Sporen und sprengte mitten unter die un schlüssigen Soldaten der Königin. Auch Theodulf und Sintram dräng ten ihre Pferde an Gisela heran und sprachen auf sie ein. Endlich wandte sich die Königin mit lauter, zornbebender Stimme Answald zu: »Wenn du nicht außer dir wärst, alter Mann, so würde ich dich wegen Meuterei bestrafen. Mir liegt nichts am Blut der Bau ern. Theodulf soll in den Ring treten und verkünden, daß die Lands leute freien Abzug haben.« Wieder klang aus dem Haufen Beifallsrufen. In langgezogenen Tö nen blies der Trompeter der Königin zum Waffenstillstand. Theodulf trat bis in Wurfweite vor das Burgtor und verkündete mit mächtiger Stimme das Gnadenangebot Giselas. Drinnen erhob sich ungestüme Bewegung. Das Tor blieb verschlos sen, aber wilde Gestalten rissen voll Verzweiflung am Wall und an den 96
Schanzpfählen, warfen Balken nach der Tiefe und sprangen hinter drein. Weiber und Kinder quollen in angstvollem Gedränge aus der Verschanzung. Auch einzelne Männer flüchteten, ermüdet vom hoff nungslosen Kampf. Doch die Mehrzahl der Bauern blieb auf der Höhe zusammengedrängt und schaute unsicher den flüchtenden Frauen nach. Der Eid gegen Ingo hielt sie zurück. Jetzt sprangen die Soldaten der Königin jauchzend empor. Die Flüchtlinge hatten ihnen den Zugang freigemacht. Die Anstürmenden zerschlugen die Sperren des Tores und drangen in den offenen Raum vor der Halle. Aus der Tiefe flogen neue Brandpfeile gegen das Dach. Längs der Balken wirbelte weißer Rauch, und durch den Dampf klang der Ruf: »Der First brennt! Das Wasser ist zu Ende!« »Die Tür auf!« schrie Berthar. »Damit der Luftzug unserer Herrin den Rauch vertreibt.« Ingo stand auf der Treppe der Halle. Dicke Rauchwolken, vom Wetter sturm getrieben, umhüllten Rüstung und Gesicht der Feinde. »Das Tor ist offen!« schrie er den Tastenden entgegen. »Worauf wartet ihr noch?« Aus dem Rauch kam Fürst Answald auf ihn zu. Er rief nach seiner Tochter. Irmgard hörte seinen Schrei in der Halle. Sie legte ihren klei nen Sohn Frida in die Arme und eilte dem Vater entgegen. Sie umarm te ihn einen Augenblick, doch dann lief sie zurück in das brennende Haus. Ingo hatte unbewegt gestanden, den Blick wachsam auf die Fein de gerichtet. Als seine Gattin zu ihm in die Todesnot zurückkehrte, breitete er die Arme aus und zog sie an sich. Im gleichen Augenblick schwirrte der Eschenspeer aus Theodulfs Hand und traf Ingo in den Rücken. Lautlos sank er aus den Armen Irmgards zu Boden. Berthar sprang vor und deckte den Verwundeten mit seinem Schild. Von neuem erhob sich Kampfgetöse um das Haus. Der Sturmwind fuhr über das lodernde Dach, der Donner rollte, das Gebälk der Halle krachte. Asche und brennende Schindeln fielen herab. Frida stürzte halb betäubt zum Lager Ingos. Irmgard hielt das Kind fest umschlossen. Es war still im Raum. 97
Plötzlich riß sie die Tasche aus Otterfell aus ihrem Kleid, hing sie dem Knaben um den kleinen Leib, hüllte ihn in eine Decke, küßte ihn und hielt ihn Frida entgegen. »Rette ihn!« Und wieder rief vor dem brennenden Tor Theodulfs Stimme: »Die Balken senken sich, rettet die Frauen!« Und Fürst Answald schrie: »Rettet mein Kind!« Da erhob sich am Tor gegen ihn die zusammengesunkene Gestalt Berthars. Das Haupt des Alten war mit Asche bedeckt und sein wei ßes Barthaar versengt. »Wer lärmt vor dem Schlafgemach meiner Kö nigin?« Wie ein Raubtier sprang er von den Stufen und stieß Answald seine Waffe durch Panzer und Brust. »Das Ende war gut!« schrie er dem ent setzten Haufen zu. »Jetzt zieht heim, ihr bleichnasigen Toren, samt eu rer Königin! Ingo steigt aufwärts zu seinen Ahnen.« Um ihn flirrten die Pfeile, aber er schüttelte sie ab wie ein verwunde ter Bär. Schwerfällig wandte er sich nach der Halle, setzte sich mit sei nem Schild an das Fußende des Königslagers und starb. Durch das zertrümmerte Tor ritt Königin Gisela bis vor die bren nende Halle. Der Golddraht ihres Panzers glühte wie rotes Feuer. Un beweglich starrte sie in die Flammen. Das Feuer leckte über den First, und der Gewittersturm warf bren nende Späne und Bretter vor die Füße der Königin und ihrer Männer. Im Haus kniete Irmgard am Lager Ingos. Sie hielt ihn umschlun gen und lauschte auf seine Atemzüge. Der Sterbende legte den Arm um sie. Stumm sahen sie einander an. Ein flammender Blitzstrahl er füllte die Halle, ein Wetterschlag dröhnte, die Balken des Daches bra chen zusammen. Auf die betäubten Männer der Königin schoß ein Hagelschauer nie der, die Eisstücke prasselten auf Helm und Panzerhemd. »Die Götter holen ihn!« schrie Gisela auf und barg das Gesicht in ih rem Mantel. Die Männer warfen sich zu Boden. Als das Wetter vorübergerauscht war und die Soldaten sich scheu erhoben, war die grüne Bergfläche mit grauem Eis bedeckt. Aus den 98
Trümmern des zusammengestürzten Hauses züngelten kleine Flam men. Die Königin sah auf die Brandstätte und sprach tonlos vor sich hin: »Die eine liegt tot auf heißem Lager, die andere steht draußen vom Hagel geschlagen; vertauscht hat der Neid der Götter die Lose, mein Recht war es, dort drinnen zu sein.« »Wo ist sein Kind?« rief sie mit irrem Blick. Doch Frida und das Kind waren verschwunden. Die Krieger such ten an der Berglehne und in den Tälern, sie spähten in jeden hohlen Baum und in jedes Dickicht, Theodulf durchzog mit seinem Gefolge den ganzen Gau und forschte an jedem Herdfeuer. Aber der Sohn Ingos und Irmgards blieb verschollen.
99
Von der Mitte
des vierten Jahrhunderts
bis ins zehnte Jahrhundert
Die Bedrohung des römischen Reiches von außen und seine Durchdringung von innen I Der unerbittliche Daseinskampf, der die Beherrscher weiter Landstri che im mitteleuropäischen Raum und auch die Bewohner einzelner Gehöfte in unaufhörliche Feindseligkeiten verstrickte, war durch so entgegengesetzte Einflüsse bestimmt, daß sie kaum auf einen Nenner gebracht werden können. Jenseits des Limes hatten sich noch keine in sich geschlossenen Reiche gebildet. Die Grenzen der Herrschaftsgebie te waren beweglich wie die Grundsätze ihrer Gebieter. Je nach der ört lichen Lage ihres Wohnsitzes und der fortschreitenden Verbesserung ihrer Lebensbedingungen waren die Fürsten der germanischen Stäm me jenseits des Rheins und der Donau Römerfeinde oder Römerfreun de und lagen als Christen des arianischen Bekenntnisses oder als hart näckige Heiden miteinander im Streit. Sie kämpften auch um die Er haltung ihrer Seßhaftigkeit oder um neue Siedlungen, wenn sie durch den Andrang friedloser Nachbarn überwältigt und vertrieben worden waren, und lehnten sich oft dagegen auf, sich den Landesherren zu un terwerfen, in deren Ländern sie Aufnahme suchten oder gefunden hat ten. Die wenigsten Fürsten und Freien, die einander bis zur Vernichtung bekämpften, wußten in diesen ruhelosen Zeiten, in denen die bluti ge Auseinandersetzung im engen Raum zu einer zwangsläufigen Ge wohnheit wurde, was der wirkliche Grund ihrer kriegerischen Hand lungen war. Die Germanen gehörten wohl Völkerschaften an, die durch einen gemeinsamen Namen gekennzeichnet wurden – sie wa ren Burgunden oder Sueben und Chatten, Langobarden oder Fran 101
ken, Sachsen, Angeln, Westgoten oder Ostgoten. Sie hatten zumeist die gleichen Merkmale der äußeren Erscheinung: blaue Augen und blon des Haar. Sie waren hochgewachsen und hellhäutig. Aber obwohl sie einander so ähnlich waren und auch ähnliche Bräuche hatten, schie nen sie unfähig zu sein, sich vereint gegen die beiden großen Feinde erfolgreich zu wehren, die sie auf der einen Seite beschränkten und auf der anderen bedrängten. Der Limes war noch immer durch geschickte Bündnisse des Römi schen Reiches mit den unmittelbaren Grenznachbarn und auch durch gewaltige Festungsanlagen gesichert. Gelegentliche Streifzüge und er folgreiche Durchbrüche an einzelnen Stellen waren an der Tagesord nung. Aber die Legionen, die, wenn nötig, in Tagesmärschen Verbin dung miteinander aufnahmen, konnten die Grenzen aus ihren festen Lagern bewachen und dort, wo sie vorübergehend zerrissen wurden, wieder flicken. So verhinderten der beschützte Rhein und die bewach te Donau vorerst noch das Vordringen der Germanen nach dem We sten und Süden, während der Andrang neuer Völkerschaften aus dem Osten in immer heftigeren Wellen einsetzte. Diese asiatischen Neuankömmlinge auf den Schauplätzen der Ge schichte hatten nicht die geringste Ähnlichkeit – weder in der Erschei nung noch im Wesen – mit den im mitteleuropäischen Raum einge engten germanischen Stämmen. Erst kamen nur die sich im Osten Eu ropas verzweifelt zur Wehr setzenden Goten mit den furchtbaren An greifern in Berührung. Es waren die Hunnen, die schon den tapferen sarmatischen Volksstamm der Alanen nach dem Westen getrieben hatten. Zeitgenössische Berichte schildern die aus dem Innern Asiens anstürmenden Reiter: »Ihre Gesichtsfarbe ist grauenhaft dunkel, und sie haben kein Menschenantlitz. Ihr Kopf ist ein unförmiger Klum pen, in dem nicht eigentlich Augen, sondern Punkte stecken. Ihr ver wegener Mut zeigt sich schon in ihrem verunstalteten Aussehen. Das kommt daher, daß sie ihre Kinder am Tage der Geburt mißhandeln. Sie zerschneiden den Knaben die Wangen mit Eisen, noch ehe die Neugeborenen den ersten Tropfen Milch erhalten haben. Die Narben der von Messern durchfurchten Gesichter verhindern den Bartwuchs. 102
Die Hunnen sind klein, aber ihre Schultern sind breit. Sie sind gebore ne Bogen- und Pfeilschützen und flinke, behende Reiter. Ihre Nacken sind stets stolz aufgerichtet. In Menschengestalt führen sie ein Leben von tierischer Wildheit.« Die Chinesen, die die ursprünglichen Nachbarn der Hunnen wa ren, nannten sie Hung-nu. Das große asiatische ›Reich der Mitte‹, das durch Gebirgsketten und Gürtel von Wüstensteppen gegen den We sten abgegrenzt war, hatte schon zweihundert Jahre vor unserer Zeit rechnung den Bau einer Mauer zum Schutze gegen die Hunnenhor den begonnen, die ihre Erbfeinde waren und deren kriegerische Ein fälle ihr kunstvoll verwaltetes und sorgsam bebautes Land immer wie der bedrohten. Durch diese vorsorgliche, vorsichtige Abschließung von der übrigen Welt hatte sich China so entwickelt, als wäre sein riesiges Gebiet ein eigener, selbständiger, von den Wechselwirkungen des Verkehrs mit den umliegenden Gebieten unabhängiger Erdteil. Manche Errungen schaften und Handfertigkeiten waren im abgeschlossenen chinesi schen Raum schon Alltäglichkeiten des Gebrauchs, als sie im Westen Asiens und im europäischen Raum als neuartige Erfindungen gefeiert wurden. Nicht nur die Schrift als bewährtes Mittel der Verständigung, sondern auch die Erzeugung von Geräten und Stoffen war in China frühzeitig verfeinert und einer höheren Lebensform angepaßt worden. Auch das Zusammenleben der einzelnen untereinander und im Staa te hatte sich längst schon einer höheren Ordnung gefügt, als die west lichen Nomadenhorden noch nach ursprünglichen Grundsätzen gelei tet wurden. Der Hausbau und die Bebauung der Felder, die Zucht der Seidenraupe, die sachgemäße und zugleich künstlerische Verwertung der Tonerde zu köstlicher farbenschillernder Keramik – all diese zur Vollkommenheit entwickelten Fertigkeiten der frühen Chinesen wa ren auf dem Zusammenspiel zwischen Naturgeschehen und sittlichem Verhalten begründet. Im Laufe der Jahrtausende währenden Entwicklung fanden wohl zahlreiche Kämpfe im Innern des gewaltigen Gebietes statt. Doch die erlernten und erprobten Kenntnisse und Lebensformen vertieften sich 103
mit jedem Jahrhundert. Innere Notwendigkeiten und der Zwang, äu ßere Gefahren abzuwehren, führten dazu, daß zwar die Dynastien in China wechselten, der Gedanke der Landes- und Volkseinheit sich je doch festigte und ein Kaisertum entstand, das für eine einheitliche Verwaltung und die Abwehr gegen Einfälle sorgte. Auf den sogenannten ›Seidenstraßen‹ begann der Handel Chinas mit der westlichen Welt. Aber die Ausfuhr von Seide und die Einfuhr von fremden Erzeugnissen, wie zum Beispiel des Glases, waren nur ein Austausch von Kostbarkeiten und beeinflußten kaum das behutsam bewachte Wirtschaftsleben der Chinesen, die sich in ihrem Reich wei ter so entfalteten, als trennten sie nicht nur Gebirgszüge, Wüstenstep pen und die Große Mauer von der übrigen Welt. Der hartnäckige Widerstand Chinas gegen die Angriffe der Hung nu und vermutlich die Erkenntnis der Hunnenfürsten, daß sie sogar im Falle eines erfolgreichen Einbruches durch die Große Mauer nichts anderes erreichen würden, als schließlich vom Land und von den Leu ten, die sie eroberten, aufgesogen zu werden, ließ es ihnen vorteilhafter erscheinen, sich nach dem Westen zu wenden. China blieb im wesentlichen wie es war, und wuchs im eigenen Raum. Zu dieser wohltuenden Stetigkeit trug auch das Nachlassen des Druckes an den Grenzen bei, den die Hunnen verursacht hatten. II Jetzt, im ausgehenden vierten Jahrhundert, bewegte sich der schier endlose Zug dieser halbwilden, berittenen Nomaden, denen ihre Fa milien auf Karren und Wagen folgten, dem Westen zu. Sie eroberten Länder, sie knechteten die Völker. Manche Hunnenstämme ließen sich nieder und vermischten sich mit den Besiegten, aber die meisten hat ten nicht das Bedürfnis nach Seßhaftigkeit. Kaum hatten sie ein Lager errichtet, als sie schon wieder aufbrachen. Ihr Vormarsch war wie eine Flucht. Wohin? Das wußten nicht einmal ihre Häuptlinge. Die Män 104
ner fragten nicht danach. Wenn sich ihnen zu hartnäckiger Wider stand entgegensetzte, schwenkten sie ab. Ihre Vorwärtsbewegung war eher ein Schwärmen als ein Vormarsch. Als sie die schwerbewaffneten Krieger des mächtigen Parther-Reiches, das sich im Iranischen Hoch gebirge gebildet hatte, abwehrten, machten sie erst eine Schwenkung nach dem Norden, dann ging es weiter westwärts. Die Hunnen waren nicht nur gewandt im Gebrauch ihrer Waffen, sie hatten nicht nur die Todesverachtung von Wilden, die ihr Leben ge ring einschätzen, da sie seinen Wert nicht kennen, sie waren auch so bedürfnislos, daß sich ihre Häuptlinge nicht um die wesentliche Vor aussetzung des Kriegführens zu sorgen brauchten: die Verpflegung. Das Lieblingsgericht der Hunnen war rohes Fleisch, das sie unter dem Sattel mürbe ritten. Ihre Schlafstätte war der freie Himmel. Das vornehmste Dach, das sie sich wünschten, war ein aus Häuten zusam mengenähtes Zelt. Schon damals wußten die erfahrenen Feldherren, daß die von der handwerklichen Entwicklung der Menschheit nur wenig berühr ten Feinde die unberechenbarsten und daher die gefährlichsten wa ren. Die üblichen Spielregeln der Kriegskunst wirkten nur dann, wenn sie von beiden Seiten gleich oder doch ähnlich angewandt wurden. Aber was nützte es, einem anstürmenden Feind in geschlossenen Rei hen entgegenzutreten, wenn die feindlichen Haufen plötzlich vor dem Zusammenprall kehrtmachten, davonjagten und auf dem gewählten Schlachtfeld nichts als den Staub einer freiwilligen voreiligen Flucht zurückließen, dann aber wieder in zahllosen ungeordneten Horden aus dem Irgendwo auftauchten und den Gegner durch einen tödlichen Hagel von Pfeilen erschütterten? Die ersten Opfer der ungewöhnlichen Kriegsführung der Hunnen wurden die Ostgoten. In mehr als einem Jahrhundert und mit unendlicher Mühe hatten die Ostgoten gelernt, der Überlegenheit der Römer in militärischen Dingen nachzueifern. Sie hatten ein gewaltiges Reich nördlich vom Schwarzen Meer errichtet und die Vandalen nach dem Westen abge drängt. Ihr bedeutendster König wurde Ermanarich, eine sagenum 105
witterte Erscheinung. Sein Name und die Überlieferung erfolgreicher Feldzüge, durch die er sein Reich bis zur Ostsee ausgedehnt hatte, sind geschichtlich bestätigt, auch seine verhängnisvolle Niederlage gegen die Hunnen. Ob Ermanarich aber tatsächlich schon hundertzehn Jah re alt war, als er in der blutigen Hunnenschlacht verschwand, oder ob sein Alter so hoch angegeben wurde, um den Verlust der Schlacht auf seine Greisenhaftigkeit zurückzuführen, ist ungeklärt. Vielleicht war Ermanarich auch gar nicht gefallen, sondern galt nur als sinnbildlich tot, denn die freien Ostgoten wurden den Hunnen botmäßig. Sie gaben den Siegern den Durchzug durch ihre Gebiete widerstandslos frei. Vie le Ostgoten folgten den Hunnen auf ihrem Zug nach dem Westen.
Die nächsten Gegner der so verstärkten asiatischen Reiterscharen, die die Männer auf ihrem hemmungslosen Weg niedermetzelten, die Frauen vergewaltigten und mit ihren Kindern zu Gefangenen mach ten, die in ihrem Troß folgten, waren die Westgoten. Noch viel weniger als ihre östlichen Stammesbrüder waren die West goten auf den Überfall der Hunnen vorbereitet. Sie erlitten eine Nie derlage am Flusse Dnjestr. Ein Teil von ihnen, der am alten germani schen Götterglauben festgehalten hatte, zog sich unter dem Häuptling Athanarich in die Siebenbürgischen Berge zurück und siedelte sich später unter der Oberhoheit der Hunnen in der Pannonischen Tief ebene an. Ein anderer Teil der Westgoten, unter dem Fürsten Frithi gern, erhielt die Erlaubnis von den Römern, die Donau zu überschrei ten und sich auf römischem Gebiet niederzulassen.
106
III Kaiser der römischen Reichshälften waren die von den Legionen aus gerufenen Brüder Valentinian und Valens. Die Hauptstadt des weströ mischen Reiches war nicht mehr Rom. Valentinian hatte Mediolanum zu seinem Hauptsitz gemacht, um seinen bedrohten Grenzen näher zu sein. Valens beherrschte das oströmische Reich von Konstantino pel aus. Noch trugen die Legionäre der beiden Kaiser die gleichen Waffen und waren in gleicher Weise ausgerüstet. Die militärischen Befeh le und die Verwaltungssprache waren noch die gleichen. Die kaiser lichen Brüder versuchten durch die Machtteilung das große Beispiel Diokletians nachzuahmen, um das Staatsgeschäft zu erleichtern, aber die Aufteilung der Macht war nicht mehr eine willkürliche. Die Zeit verhältnisse hatten doch schon eine unsichtbare Grenze zwischen dem ost- und weströmischen Reich gezogen. Wenn die Picten und Scothen den Wall in der Provinz Britannia angriffen, kümmerte das Kaiser Va lens in Konstantinopel ebensowenig, wie Valentinian durch die persi schen Einfälle in Armenien berührt war. Da kein vereinheitlichender Gedanke den Osten und Westen des Rö mischen Reiches verband, bestimmten die örtlichen Bedürfnisse und Notwendigkeiten die Zugehörigkeitsgefühle der Bevölkerung – soweit es überhaupt noch ein Zugehörigkeitsgefühl gab. An der Lockerung geistiger und auch tatsächlicher Bande der beiden Reichshälften zum ehemals so hoch gehaltenen Ganzen war auch die Verschiebung der Brennpunkte, beziehungsweise der Mittelpunkte der Macht schuld. Solange alles Geschehen noch von Rom ausstrahlte, war Rom das altehrwürdige Sinnbild gewesen, der geheiligte Ausgangspunkt der Machtentfaltung und seine Größe ihr endgültiges Ziel. Die Überliefe rung hatte Gedankenverbindungen erweckt und Verbundenheiten des 107
Gefühls. Von der Überlieferung war kaum noch die leere Schale üb riggeblieben. Die kaiserlichen Paläste Roms standen leer. Sie wirkten verödet. Die Tempel verfielen oder waren ihres Glaubensschmuckes entkleidet und in christliche Gotteshäuser umgewandelt worden. Die Lebensführung der vornehmen und reichen Römer war wohl unverändert prächtig und verschwenderisch geblieben, aber es fehlte das prunkvolle Beispiel des kaiserlichen Hofes, das zum Wettbewerb anregte. Die Bewohner der alten Senatorenpaläste waren Neureiche, denen es mehr darauf an kam, zu zeigen, was und wieviel sie hatten, als wer sie waren. Die erhaltenen Nachrichten über die von diesen Aristokraten des Geldes gefeierten Feste berichteten viel mehr über die Kosten der ein zelnen Speisen, Getränke und Veranstaltungen als über deren Ge schmack oder Inhalt. Es war die geltende Mode, besondere Fische oder seltenes Wildbret nicht so sehr nach dem Geschmack als nach dem Preis einzuschätzen. Die beliebtesten Vorführungen im Zirkus waren Wagenrennen. Dabei waren Spiel und Wette wichtiger als die sport liche Leistung. Die immer wachsende Bevölkerung nahm mehr An teil an den Siegen im Zirkus und an Theateraufführungen als an po litischen Dingen. Bei den höheren Ständen galt kaufmännischer Er folg mehr als die Auswertung jeder anderen Begabung, die nicht zum Gelderwerb führte. Und es fehlte nicht an Möglichkeiten, reich und reicher zu werden. Die Verwaltung der in den Provinzen gelegenen Großgrundbesitze und Handelsgesellschaften wurde mit wenigen Ausnahmen von Rom aus geleitet. Der gemünzte Ertrag floß in die Kassen der römischen Bankiers. Das zur Verwahrung übernommene Geld wurde verzinst und mit Zinseszinsen verliehen, um die ursprünglichen Zinsen auf bringen und überdies noch einen fetten Nutzen ermöglichen zu kön nen. Daran änderten die immer verworrenere und oft gefährliche Lage des Reiches und auch örtliche Unruhen nur wenig – solange die Li mes erhalten blieben. Immer neue Unternehmungen in den Provinzen brauchten Geld, auch der Ausbau von Mediolanum zum kaiserlichen Wohnsitz. Die Grundstücke in der Umgebung von öffentlichen Ver 108
waltungsgebäuden vervielfachten ihren Wert. Je schwächer die aus übende Staatsgewalt wurde, desto mehr Gelegenheiten und Bedeutung gewannen die Bankmänner und Geschäftsleute, die die Legionen mit den nötigen Waffen und neuer Ausrüstung versorgen konnten, wenn die staatlichen Anlagen versagten. Wer ein guter römischer Geschäftsmann war, hatte nicht nur ein Unternehmen in Rom, sondern unterhielt Niederlassungen in den Provinzen und ahmte die römischen Gewohnheiten im Kleineren und Kleinen nach, etwa auf der Iberischen Halbinsel, in Gallien oder in Nordafrika. In anderer Form wiederholte sich im Römischen Reich die Ausbrei tung des Geschäftsnetzes, das die Griechen im Mittelmeerraum reich und bedeutend gemacht hatte, doch mit dem Unterschied, daß die grie chischen Kaufleute sich in Neuland an fremden Küsten niedergelas sen hatten und Pioniere des Handels gewesen waren, während die Rö mer der späten Kaiserzeit nur ausnützten, was von ihren Vorfahren ge schaffen worden war. Sie säten nicht, sie ernteten. Und da sie sich, am Tiber im Überfluß lebend, wohlfühlten, nahmen sie sich nur selten die Mühe, selbst außerhalb Roms tätig zu sein. Sie ließen ihre fremdspra chigen Sklaven frei und machten sie zu Angestellten oder zinspflichti gen Unternehmern in ihrer ehemaligen Heimat. Das ging so lange gut, wie diese Angestellten und örtlichen Geschäftspartner nicht ihrerseits Geschmack am Verdienen fanden und am guten Leben, das der Ver dienst gewährleistete. Wozu sollte der Ertrag ihrer eigenen Arbeit und der ihrer engeren Landsleute nach Rom fließen und dort verschwendet oder gegen hohe Zinsen am Ende gar an sie selbst verliehen werden? Mit Geld umzugehen, das hatten die neuen Verwalter gelernt. Auch sie gründeten Bankunternehmungen an den Orten, an denen sie waren, und gewährten Anleihen, manchmal an ihre ehemaligen Herren. Allmählich verlor Rom seine wirtschaftliche Übermacht, so wie es seine politische Bedeutung verloren hatte. Das gleiche war auch in militärischer Hinsicht geschehen. Schon Konstantin hatte es vorgezogen, hohe Offiziersposten mit Germanen zu besetzen. Auch seine Nachfolger hatten sich davon überzeugt, daß 109
diese geborenen Krieger ausgezeichnete Unterbefehlshaber waren. Verläßlich, wie es nur Männer sein können, die an nichts anderes den ken als an die ihnen auferlegte Pflicht. Die germanischen Offiziere wa ren keine Politiker, und sie hatten keine besondere Vorliebe für diese oder jene Gegend. Das Heerlager war ihr Heim. Wenn sie eine Familie gründeten, lebten Frau und Kinder in der Lagerstadt – wenn auch oft in prächtigen Palästen, so doch fürs erste nicht an die Orte gebunden, in denen ihre Wohnsitze lagen. In der nächsten Geschlechterfolge jedoch war schon die natürliche Änderung eingetreten, daß die Söhne und Töchter dieser germani schen Offiziere und Generäle Grundbesitzer und Großgrundbesitzer werden wollten, wie ihre römischen Freunde und Nachbarn es waren. Durch die in immer größerer Anzahl für ihre Verdienste belohnten germanischen Generäle entstand eine neue römische Schicht von vor nehmen Männern. Sie waren beides: Römer und Germanen. Die Mi schung, die sie verkörperten, wurde kennzeichnend für die führenden Schichten der Bevölkerung in vielen Gebieten. Diese Mischung innerhalb des Römischen Reiches beschränkte sich nicht auf italische Römer und Germanen. Es gab gallische, spanische und nordafrikanische Römer. Sie alle wurden Träger der Lebensfüh rung und Lebensart, die eine eigene, je nach der Abstammung und dem Ort abgewandte Prägung gewann. So entstand die Grundlage zur Bildung künftiger Völkerschaften, deren Sprache und Gebräuche, wenn auch durch die Anschwemmung anderer Sprachen und Gebräuche im Laufe der Jahrhunderte verän dert, unzweifelhaft den römischen Ursprung erkennen lassen. Vom Schwarzen Meer bis an den Atlantischen Ozean, von der Donau und dem Rhein bis an die Küsten des Mittelmeers lebte Rom noch weiter, auch als es längst schon zugrunde gegangen war.
110
Kämpfe um Rom I Der Zerfall des weströmischen Reiches ging Schritt für Schritt vor sich. Für die Zeitgenossen machten sich die Verfallserscheinungen nur be merkbar, wenn unerwartete Ereignisse über sie hereinbrachen. Oft wa ren die Zusammenhänge nicht deutlich, sie erweckten nur Angst. Der Rückblick der Herrscher in die Vergangenheit vernebelte ihren Aus blick in die Zukunft. Sie unterschätzten drohende Umstände. Da hatte schon Kaiser Aurelian etwa hundert Jahre zuvor wandern de Gotenstämme, die das Reich bedroht hatten, friedlich angesiedelt. Die Goten waren zu guten Bürgern geworden. Sie hatten sich angepaßt und waren, zum Teil wenigstens, so mit ihren Nachbarn verschmolzen, daß sie ihre Sprache und auch ihre Gewohnheiten angenommen hat ten. Nicht nur das: auch der Glaube dieser Goten war, bald nachdem das Christentum im Römischen Reich geltend geworden war, christlich geworden. Ihr Stammesgenosse Ulfilas hatte ihnen das arianische Be kenntnis durch die Übersetzung der Bibel nahegebracht. War etwas da gegen einzuwenden, daß die jetzt von den Hunnen bedrängten Westgo ten, die um Aufnahme ins Römische Reich baten, angesiedelt würden? Je mehr Menschen, desto mehr ›Föderaten‹ – Bundesgenossen –, durch deren Nachwuchs die Legionen aufgefüllt werden konnten. Als der Westgotenfürst Frithigern sich an Valens, den Kaiser des oströmischen Reiches wandte, wurde er mit seinem Volk willkommen geheißen. In den guten Ebenen an der Donau gab es zwar keine Sied lungsmöglichkeiten mehr, aber die gebirgigen Landschaften des nord östlichen Griechenland und der Nachbargebiete waren unbesiedelt: da war Platz. 111
Über die verhängnisvollen Ereignisse, die dieser lässigen Zuweisung von Lebensraum folgten, berichtet ein späterer Geschichtsschreiber auf Grund überlieferter Tatsachen: »Da erging es den Goten, wie es Völkern, die noch nicht ganz und gar seßhaft sind, manchmal geht, nämlich, daß sie von einer Hungersnot heimgesucht wurden. Frithi gern und die anderen Fürsten hatten Mitleid mit dem verzweifelten Mangel ihres Volkes und wünschten, mit den örtlichen römischen Be fehlshabern Lupicinus und Maximus Handelsbeziehungen anzuknüp fen. Womit aber gibt sich der verfluchte Drang nach Gold zufrieden? Die römischen Befehlshaber verkauften in ihrer Habgier nicht nur das Fleisch von Schafen und Rindern, sondern auch das Aas von Hunden gegen hohen Preis. Sie verlangten für ein Brot oder zehn Pfund Fleisch einen Sklaven als Gegenwert. Als es keine Sklaven mehr zu verkaufen gab, forderten sie die Kinder der Goten an Zahlungsstatt. Die Eltern gingen darauf ein. Denn sie hielten es für besser, daß ihre Kinder die Freiheit als das Leben verlören. Es schien ihnen weniger grausam, ihre Kinder zu verkaufen und so für ihre Ernährung zu sorgen, als sie ver hungern zu lassen. In dieser schlimmen Zeit lud Lupicinus Frithigern zu einem Gastmahl ein. Während der Gotenfürst im Amtshaus des Feldherrn speiste, hörte er das Geschrei seiner Gefolgsleute, die ermor det werden sollten. Frithigern zog sein Schwert, entwich mit großer Verwegenheit und Schnelligkeit und rettete seine Gefährten. Er feu erte sie an, die Römer niederzumachen. Den Goten war es lieber, das Leben im Kampf als durch Hunger zu verlieren. Sie töteten Lupicinus und Maximus. Dieser Tag nahm den Goten den Hunger, den Römern die Sicherheit. Die Goten verhielten sich nun nicht länger wie einge wanderte Fremdlinge, sondern sie geboten über die bisherigen Besit zer wie eingesessene Bürger und Herren.« Dieser Zwischenfall war kennzeichnend für andere ähnliche Be gebenheiten, die von gedankenlosen oder bedenkenlosen römischen Feldherren herbeigeführt wurden. Sie gaben Anlaß zu einem verzwei felten Aufstand der Goten, die brandschatzend und mordend ganz Thrakien eroberten. Kaiser Valens eilte den Aufständischen mit sei nen Legionen entgegen, die durch in Eile angeworbene ›Barbaren‹ auf 112
gefüllt worden waren. Die Entscheidungsschlacht, die in der Ebene von Adrianopel stattfand, wurde ›die vernichtendste Niederlage, die die Römer seit Cannae erlitten hatten‹. Es blieb nicht bei der einen Schlacht. Denn hinter den vordringen den Westgoten stürmten von Hunnenschwärmen begleitete oder ver drängte Ostgoten über die ungeschützte Donau und verwüsteten auf ihrem Vormarsch weite Gebiete vom Schwarzen Meer bis zu den Gren zen Italiens.
Dem nach der Schlacht von Adrianopel in den Flammen eines Ge höftes umgekommenen Kaiser Valens war sein Bruder Valentinian ei nige Jahre zuvor im Tode vorangegangen. In der kurzen Zeit seiner Herrschaft hatte Kaiser Valentinian die Grenzen der Provinzen Itali ens und Galliens verstärkt und aufgeklärte Gesetze erlassen, die den Zweck gehabt hatten, den unterirdischen Kampf der Heiden gegen die Christen durch die Gewährung einer allgemeinen Glaubensfreiheit zu beendigen. Sein Sohn und Nachfolger Gratian unternahm es, diese Maßnahmen durchzuführen, aber er ergab sich bald einer hemmungs losen Vergnügungssucht, die ihn zur Führung der Staatsgeschäfte un fähig machte. Die einzige bedeutsame Handlung Gratians war die Erhebung des Hispaniers Theodosius auf den durch den Tod seines Onkels frei ge wordenen Thron des oströmischen Reiches. Diesem bisher auf der Iberischen Halbinsel und in Britannien erfolgreich gewesenen Feld herrn gelang es, mit den Goten, die die nordwestlichen Provinzen des oströmischen Reiches verheerten, Frieden zu schließen. Statt sie zu bekämpfen, veranlaßte er sie, in sein Heer einzutreten, und wies ihren Familien fruchtbare Landstriche innerhalb der Grenzen des oströmischen Reiches an. Sie hatten nichts anderes gewünscht, als leben zu können, und waren bereit, ›dem Freund der Goten und des Friedens‹ ihre Dankbarkeit zu beweisen. Dazu bekamen sie bald Ge legenheit. 113
Ein aufrührerischer General räumte Kaiser Gratian aus dem Weg und drang in Italien ein, um sich an Stelle Valentinians des in Eile zum weströmischen Kaiser erhobenen Halbbruders Gratians, auf den Thron zu setzen. Theodosius marschierte mit seinen Legionen, die zum großen Teil aus Goten zusammengesetzt waren, gegen den Usur pator, schlug ihn vernichtend und festigte die Macht des jungen Va lentinian. Während sich Theodosius in der Kaiserstadt Mediolanum aufhielt, erhielt er die Meldung, daß sein Statthalter Botherich, der einen be liebten Rennfahrer wegen eines Verbrechens ins Gefängnis hatte wer fen lassen, von der Menge, die die Freilassung des Rennfahrers ver langt hatte, in Thessalonike ermordet worden war. Theodosius war für seine Milde und Gerechtigkeit bekannt, aber er hatte ein aufbrausendes Wesen. In seiner jähen Wut über die Nach richt von der Ermordung seines Statthalters befahl er, daß die gesamte Bevölkerung von Thessalonike blutig zu bestrafen sei. Er bereute den Befehl bald und widerrief ihn. Zu spät. Siebentausend Männer und Frauen, die den Spielen beiwohnten, wurden im Zirkus von Thessalo nike niedergemetzelt. Dieser Massenmord entsetzte die Bevölkerung aller römischen Pro vinzen. Die Menge schrie nach Sühne. Ein allgemeiner Aufstand droh te. Zum ersten Male in der Geschichte trat die christliche Kirche be stimmt gegen einen Kaiser des Römischen Reiches auf. Ambrosius, der Bischof von Mediolanum, hatte vor seiner Priester weihe das Amt eines Statthalters in Mediolanum bekleidet. Er war ein gottesgelehrter Weltmann, der in beispielgebender Einfachheit lebte. Seine Predigten und Hymnen waren vom Geiste des Glaubenssatzes von Nicaea erfüllt. Sein Ansehen und sein Einfluß in der Geistlichkeit und der Bevölkerung waren so überragend, daß er es auf sich nahm, Theodosius zu schreiben, er werde die Messe nicht mehr in Gegenwart des Kaisers lesen, wenn dieser nicht vor allem Volk um Vergebung sei ner Sünde bitte. Theodosius wies die öffentliche Demütigung als freche Herausforde rung zurück. Er wollte die Kirche betreten, aber der Bischof verstell 114
te ihm den Weg. Es nützte nichts, daß der Kaiser aufbegehrte und mit Gewalt drohte. Ambrosius blieb fest und erreichte es, daß Theodosi us sich aller kaiserlichen Insignien entledigte und als demütiger Büßer der Messe beiwohnte. Die christliche Welt erkannte zum ersten Male, daß selbst der Kai ser sich einem Stellvertreter Christi auf Erden beugen mußte, wenn er des Kirchensegens teilhaftig werden wollte. Noch deutlicher wurde die kaiserliche Anerkennung der Kirche, als Theodosius das Christentum zum alleinigen, unanfechtbaren Staatsglauben erklärte und die Aus übung heidnischer Götterverehrung unter strenges Verbot stellte. Er schuf sogar die Olympiade ab, den sportlichen Wettbewerb, der den Gottheiten des Altertums geweiht gewesen war. Theodosius konnte nicht lange in seiner Hauptstadt Konstantinopel verweilen. Kaum hatte er Mediolanum den Rücken gekehrt, als neue Unruhen die Herrschaft Valentinians II. erschütterten. Der Aufstand seines Heermeisters Arbogast, der den alamannischen Gelehrten Eu genius in Gallien zum Kaiser ausrief, damit er in seinem Namen herr schen könne, war von den reichsten Adeligen der Stadt Rom, die durch die Erhebung des Eugenius den alten Götterglauben wieder einführen wollten, mit Geld und Mannschaften unterstützt worden. Valentinian II. wurde von Arbogast ermordet. Theodosius wand te sich wieder gegen Westen, um eine rechtmäßige Thronfolge zu er zwingen und das bedrohte Christentum zu sichern. Er kam mit einem Heer, das aus Goten, Alanen, Hispaniern und Hunnen zusammenge setzt war. Zu seinen wichtigsten Unterbefehlshabern zählten der adeli ge Vandale Stilicho und der vornehme Gote Alarich. Diese beiden aus gezeichneten Generäle leisteten das Ihre in der Schlacht von Aquileia, die das Ende der kurzen Herrschaft des Heermeisters Arbogast und des Gelehrten Eugenius zur Folge hatte. Jetzt war Theodosius unbestrittener Kaiser beider Reichsteile. Aber er war nicht für die Einheit des Reiches. Er war für die erneute Teilung des ungeheuren Gebietes und setzte seinen elfjährigen Sohn Honorius als Kaiser des Westens ein. Seinen achtzehnjährigen Sohn Arcadius er nannte er zum Mitkaiser des Ostens. 115
Er hatte vor, seine beiden Söhne in brüderlicher Eintracht zu gerech ten Herrschern heranzuziehen. Von den Anstrengungen seines unru higen Lebens erschöpft, starb er, bald nachdem er die Reichsteilung vorgenommen hatte. II Nicht die Söhne des Theodosius, sondern die beiden Generäle, die die Schlacht von Aquileia für ihn und mit ihm gewonnen hatten, be stimmten den Ablauf der Ereignisse. Der Vandale Stilicho stellte sich dem jungen Honorius zur Verfügung und veranlaßte den halbwüch sigen Kaiser, sich mit seiner Tochter Maria zu verehelichen. Die Hei rat fand statt. Aber Honorius hatte nur eine Leidenschaft: die Hühner zucht. Solange er sein Geflügel ungestört füttern konnte, war ihm al les recht. Er vollzog auch die Ehe nicht. Maria starb als Jungfrau, nach dem sie zehn Jahre Kaiserin gewesen war. Der Kaiser des Ostens, Arcadius, war glücklich mit Eudoxia verhei ratet. Der griechische Name der Kaiserin verbarg ihre fränkische Ab kunft. Sie war eine erklärte Feindin aller Germanen, vielleicht auch, damit man sie nicht verdächtige, eine Freundin der das Kaiserreich unaufhörlich bedrohenden Stämme zu sein. Sie beeinflußte ihren Gat ten, die jährlichen Zahlungen, die sein Vater mit den Goten verein bart hatte, einzustellen. Diese unselige Sparsamkeit Eudoxias moch te auch dadurch veranlaßt gewesen sein, daß sie ein Gegengewicht für ihre verschwenderische Lebensführung schaffen wollte. Beinahe zum gleichen Zeitpunkt entließ Stilicho, der Schwiegervater des jungen Honorius, die von Theodosius angeworbenen gotischen Le gionäre aus den Diensten des weströmischen Kaisers. Die plötzliche Entlassung aus dem Heeresdienst wurde von den Go ten erst mit verzweifeltem Kopfschütteln hingenommen. Was sollten sie tun? Wohin sich wenden? In das den Goten vom Vater der bei den Kaiser zugewiesene Land? Aber dort machte sich der Entzug der 116
Zahlungen, die dazu gedient hatten, Lebensmittel zu kaufen, so emp findlich bemerkbar, daß Alarich, der verläßliche General des verstor benen Kaisers Theodosius, die einzelnen gotischen Häuptlinge zu ei nem Thing zusammenrief, um zu beraten, was geschehen sollte. Wür de die ›Goten-Not‹ nie ein Ende finden? Sie waren doch gute christli che Menschen, bereit zu kämpfen und zu arbeiten, mit wem und für wen, das galt gleich, wenn sie nur mit dem zum Leben Nötigsten ver sorgt würden. Die Offiziere der von Stilicho entlassenen Legionäre nahmen an der Beratung teil. Das Ergebnis war die Entscheidung der Goten, daß sie sich nicht mehr den verweichlichten Römern und Grie chen unterwerfen sollten. Was konnte sie hindern, sich in dem zerfal lenden Römischen Reich ein Königreich mit Waffengewalt zu schaf fen? Alarich wurde zum König erwählt und verlor keine Zeit. Er mach te auch keinen Umweg. Das den gotischen Siedlungen am nächsten ge legene Griechenland war sein unmittelbares Ziel. Alarich war römischer General gewesen. Er hatte seine Truppen mit Maß und überlegener Umsicht befehligt. Seine Aufgabe war die Vertei digung der römischen Grenzen gewesen. Als gotischer Heerführer un ternahm er einen 'Vernichtungsfeldzug. Wenn er seine Leute im frem den Land so ansiedeln wollte, daß sie sich den kargen Boden in neu er Seßhaftigkeit zunutze machen konnten, mußte er die Bevölkerung ausrotten. Noch einmal traten die von den Spartanern des Altertums gegen die zahllose Übermacht der Perser verteidigten Thermopylen in die Ge schichte. Aber gegen den Ansturm der von Alarich befehligten Goten wehrte sich kein Leonidas. Alle Männer im waffenfähigen Alter, die den Goten auf ihrem Marsch begegneten, wurden erbarmungslos er mordet, die Frauen an Ort und Stelle geschwängert, damit gleich für Nachwuchs gesorgt war. Als Christ hielt es Alarich für geboten, die heidnischen Tempel der alten Götter zu zerstören. Nur Athen entging der Brandschatzung und Verheerung, weil es der Gotenkönig vorzog, sich die bewegliche Habe der Athener persönlich ausliefern zu lassen, anstatt die Stadt einer willkürlichen Plünderung seiner Soldaten preis zugeben. 117
Jetzt hatte Alarich ein Königreich. Aber nicht für lange, denn Ar cadius bat Stilicho, den Schwiegervater seines Bruders, ihn aus seiner Rat- und Hilflosigkeit zu retten. Die beiden miteinander befreundeten Generäle des Kaisers Theo dosius standen einander nun feindlich gegenüber. Beide waren vom gleichen Schlag: Abenteurer, die ursprünglich über nichts anderes ver fügt hatten als die ausstrahlende Kraft ihrer Persönlichkeit, die Fähig keit, sich bei den Kaisern Liebkind zu machen und das Vertrauen ihrer Krieger zu gewinnen. Sie waren im Grunde nicht mehr als machthung rige Bandenführer, die den Wunsch hatten, sich nicht vor gekrönten Häuptern beugen zu müssen, und sich die Kronen selbst aufs Haupt setzen wollten. Alarich war unmittelbarer, gewalttätiger. Stilicho hatte sich die Geschmeidigkeit des Höflings angeeignet und scheute vor Ge walt zurück, solange er mit Geschicklichkeit ans Ziel kommen konn te. Er hatte sich mit der Nichte seines Kaisers Theodosius verheiratet und schließlich auch seine Tochter durch ihre Eheschließung mit Ho norius als Pfand im Spiel um die Macht benützt. Er hatte einen Sohn. Und wenn er selbst an Stelle des Honorius Kaiser wurde, dann konn te er, der Vandale, eine gewaltige Herrscherfamilie gründen. Das aber hatte nur dann Zweck, wenn das künftige Reich seines Wunschtraums unversehrt blieb. Wozu sollte er sich durch einen Kampf gegen Alarich schwächen, er, der alle Kräfte brauchte, um das Reich zu erhalten? Es gelang Stilicho, den gotischen Heerführer in eine unhaltbare Stellung zu drängen. Aber er zog es vor, einen Waffenstillstand zu schließen und Alarich und seine Goten im nahen Epirus anzusiedeln. Er sorg te dafür, daß sie es sich gut gehen ließen. Sie waren ihm als lebendige Freunde und Bundesgenossen wichtiger denn als tote Feinde. Arcadius stimmte den Bestimmungen des Waffenstillstands zu. Er atmete auf, als die Goten sich nun wieder in einem neuen Gebiet fried lich niederließen.
118
III In Vollstreckung des letzten Willens von Theodosius I. konnte die Grenze zwischen den Hälften des Römischen Reichs nun nicht nur auf den Landkarten, sondern tatsächlich gezogen werden. Aber sei es, daß der kaiserliche Staatsmann nicht die genaue örtliche Einhal tung seiner letztwilligen Verfügung im Auge gehabt hatte, oder daß die Landkarten in den wesentlichen Einzelheiten nicht mit den Gege benheiten übereinstimmten – die Teilung zerschnitt zueinandergehö rige Landstriche und zerstörte so ihre wirtschaftliche und politische Bedeutung. Die Grenze zwischen dem west- und dem oströmischen Reich wurde die Donau von ihrem Knie bis zur Save-Mündung und lief schließlich in einem Schwung nach Südosten zum Adriatischen Meer. Die illy rischen Volksstämme, die jahrhundertelang den römischen Legionen die besten Männer geliefert hatten, wurden so in zwei ungleiche Hälf ten geteilt, deren eine das weströmische Latein sprach und deren ande re sich der griechischen Dialekte bediente, die im oströmischen Reich üblich geworden waren. So wurde die Einheitlichkeit der Illyrer zer schlagen und dadurch eine neuerliche Schwächung der Widerstands kraft beider Reiche herbeigeführt – so eng sie auch politisch miteinan der verbündet sein mochten. Aus welchen Gegenden könnten die Kaiser nun verläßliche Trup pen beziehen? Diese Frage stellte der Bischof Synesius in einer Anspra che am Hofe des Arcadius. Der Bischof war auf Einladung der Kaise rin Eudoxia nach Konstantinopel gekommen. Sie hatte ihn gerufen, weil er ihr wegen seiner germanenfeindlichen Haltung gerühmt wor den war. Aber was Synesius jetzt mit wohlgesetzten Worten und lau ter Stimme vortrug, das paßte der Kaiserin nicht, obwohl das Ziel in ihrem Sinne war. Auch der Bischof begehrte die Vertreibung der Ger 119
manen aus dem Römischen Reich, aber das Bild der Zukunft, das er in seiner unerbittlichen Beredsamkeit heraufbeschwor, war zu entsetz lich. Es war der endgültige Zerfall, der Untergang in vollkommener Vernichtung. Das oströmische Reich könne sich nicht am Leben erhal ten, wenn sich seine Bürger dem Kriegsdienst entzögen und ihre Ver teidigung Söldnern anvertrauten, die den Völkern entstammten, von denen dem Reich Gefahr drohte. Nur ein Bürgerheer könne es retten, nur Männer, die sich für das Vaterland und die Freiheit einsetzten. Das bequeme Leben und die Ausschweifung des Einzelnen müßten ein Ende haben, und wenn die beiden Kaiser Arcadius und Honorius und ihre Höfe nicht mit gutem Beispiel vorangingen, sei das Schlimm ste zu befürchten. Wenn sich die beiden Kaiser nicht vereinigten, um die unverschämten germanischen Heerscharen innerhalb ihrer Reihe zu zerschmettern oder sie in ihre ursprünglichen Gebiete hinter dem Schwarzen Meer, der Donau und dem Rhein zurückzujagen, würden die Germanen die Herren beider Reiche werden. Die Damen und Herren des Hofes von Konstantinopel überlief es kalt. Aber vor die Wahl gestellt, ihr Leben zu ändern und Notmaßnah men zu ergreifen, zogen sie es vor, alles beim alten zu lassen. Sie taten, als hätten sie die Warnungen des Bischofs Synesius nicht gehört. Zu dieser gleichgültigen Haltung veranlaßte sie auch die Erwägung, daß das oströmische Reich weitaus weniger gefährdet war als das weströmische. Der Zug der Hunnen drängte nach dem Westen, und dort gab es den großen Feldherrn und Staatenlenker Stilicho, der im mer jeder noch so schwierigen Lage Herr geworden war. Das sah man auch jetzt in Nordafrika, wo er daran war, einen Aufstand niederzu schlagen. In Konstantinopel nahm man nicht zur Kenntnis, daß Alarich in dessen das seinen Goten zugewiesene Gebiet in Epirus in ein einzi ges Rüstungslager verwandelte. Vier Jahre lang stellten die Schmie de eine völlig neue Ausrüstung der Goten her. Spieße, Schwerter, Hel me, Schilde. Keinem Mann sollte es an der besten Bewaffnung fehlen, wenn Alarich bereit war, zu beweisen, daß er seinem Volk das beste Land der Erde als Königreich schaffen werde. 120
Als Alarich soweit war und sich in Eilmärschen auf den Weg zur großen Eroberung machte, schien es, daß sich die gute Meinung, die der Hof von Konstantinopel von Stilicho hatte, nicht bewahrheiten sollte. Alarich fiel plündernd in Italien ein, und eine allgemeine Flucht begann. Wer nur konnte, floh nach Mediolanum oder Rom und so gar über das Meer nach Korsika und Sardinien. Sollte die furchtba re Vorhersage des Synesius nun Wirklichkeit werden? Aber während die siegreichen Goten am Ostersonntag ihren plündernden Vormarsch unterbrachen, um den Tag zu heiligen, überfiel Stilicho ihr Feldlager mit einem kleinen auserwählten Heer. Die Schlacht, die dem Überfall folgte, blieb unentschieden. Das Römische Reich schien doch aus der unmittelbaren Gefahr gerettet zu sein. Nicht aber Rom. Im griechischen Feldzug gegen Alarich hatte Stilicho seine Über legenheit durch die Ausnützung der örtlichen Gegebenheiten bewie sen. Auf italischem Boden zeigte nun Alarich, was er konnte. Da er im Kampf gegen Stilicho nicht siegreich gewesen war, sicherte er sich das reichste Pfand. Er zog sich vor der Feldherrnkunst Stilichos zu rück – aber in Richtung auf das unverteidigte Rom. Jetzt war auch Stilicho einverstanden, daß sein kaiserlicher Schwiegersohn Honori us unterhandle. Was immer auch Alarich verlangte, müsse ihm ausge zahlt werden, damit Rom erhalten bleibe. Welche Stadt war noch sicher? Wo konnte ein Kaiser Hof halten, ohne im nächsten Augenblick gewärtig sein zu müssen, von herum streifenden Germanenscharen überfallen zu werden? Mediolanum war den unruhigen Germanen zu nahe, Rom war hoffnungslose Ver gangenheit. Es mußte eine neue Hauptstadt gefunden werden, ein si cherer Platz, und die Wahl des Honorius fiel auf Ravenna. Vom Land her war es durch Sümpfe und Lagunen geschützt. Sandbänke schütz ten es zur See. Alarich war abgezogen. Er hatte sich mit Stilicho geeinigt. Sehr viel Geld und sehr viele gute Worte zwischen alten Freunden und bewähr ten Feinden hatten seine Eroberungslust beschwichtigt. Er wollte auch nicht in die Zange zweier Heere geraten, die sich zu einer neuen furcht baren, kriegerischen Auseinandersetzung gegeneinander bewegten. Er 121
wollte weder auf der einen noch auf der anderen Seite stehen, als ein Abenteurer wie er, nur lange nicht so geschult und erfahren wie er, ein germanischer Häuptling mit dem Namen Radagais an der Spitze eines Heeres, das zweihunderttausend Alanen, Quaden, Ostgoten und Van dalen umfaßte, gegen Italien marschierte. Sie hatten die Donau überschritten, sie waren über die Alpen gekom men. Es schien, daß nichts und niemand sie aufhalten könne. Auch ihr Zug war wie eine Flucht vor dem Entsetzlichen, das sie im Rücken ge lassen hatten: ihre von den Hunnen verheerten Wohnsitze. In ihrer Verzweiflung hatten sie kein Erbarmen. Kein Hindernis hielt ihnen stand. Eine Stadt nach der anderen fiel in ihre Hände. Es war ein Er oberungszug gewesen, es wurde ein Raubzug. Nur ein Mann konnte das Reich retten: Stilicho. Die Schlacht bei Fiesole, die Stilicho, der erste große ›Kondotde re‹ der Weltgeschichte, dem an Zahl zehnfach überlegenen Heer des Radagais lieferte, dauerte nur wenige Stunden und endete mit einer völligen 'Vernichtung der vereinigten Germanen. Es gelang Stilicho, Radagais gefangenzunehmen und in Ketten vor den jungen Honori us zu führen. Alle Gefahren schienen beseitigt zu sein. Jetzt galt es nur noch, die Grenzen des weströmischen Reiches wieder zu festigen, Truppen aus zuheben und auszubilden und durch den Aufmarsch und die Zur schaustellung überlegener Streitkräfte allen möglichen Angreifern vor weg zu beweisen, daß ein Angriff zwecklos sein würde. Nur ein Geg ner durfte nicht unterschätzt werden: Alarich, der offenkundig lau ernd darauf wartete, bis seine Zeit gekommen war. Stilicho trat dafür ein, Alarich mit Geld und Geschenken ruhig zu halten, wenigstens so lange, bis seine eigene Macht so überlegen sein würde, daß die Unter nehmungslust des Gotenkönigs keine Gefahr mehr bedeutete. In diesem entscheidenden Jahr, in dem der Vandale Stilicho alle Kräf te seines umfassenden Genies daransetzte, das weströmische Reich zu stärken und für lange, lange Zeit hinaus zu erhalten, wurde Kaiser Ho norius den Einflüsterungen seiner Umgebung immer zugänglicher, so lange, bis er selbst davon überzeugt war, daß sein Schwiegervater Stili 122
cho alles nur tat, um seinen eigenen Sohn zum Kaiser zu machen. Ho norius befahl, Stilicho zu töten. Die Männer, die den Befehl ausfüh ren sollten, hätten von den Gefolgsleuten Stilichos mühelos vertrieben werden können: er zog es aber vor, sich töten zu lassen. Die Nachricht von der willkürlichen Hinrichtung seines Freundes und Feindes war das Zeichen zum Angriff für Alarich. Die ehemali gen Gegner Stilichos am Kaiserhof erleichterten ihm die Arbeit. Aus Angst vor Rache ermordeten sie die mit dem getöteten General be freundeten Befehlshaber der Legionen. Die Mannschaften meuterten und stießen zu Alarich. Er verlangte erst Geld vom Kaiser, viertausend Pfund Gold. Aber hatte Honorius Stilicho nicht unter dem Vorwand hinrichten lassen, daß er sich Alarich gegenüber so freigebig gezeigt hatte? Honorius verweigerte die Zahlung. Alarich machte sich selbst bezahlt. Auf dem ihm schon bekannten Weg nach Rom raubte er alles, was nicht niet- und nagelfest war. Der römische Senat, der schon so lange nichts zu reden gehabt hat te, versammelte sich nun. In der feierlichen Sitzung, in der Notmaß nahmen getroffen werden sollten, wurde die Witwe Stilichos, die sich in Rom aufhielt, von den Senatoren für schuldig befunden, Alarich zu Hilfe gerufen zu haben. Sie wurde hingerichtet. Der Gotenkönig nahm in seiner Art Rache für den Tod der unschul digen Witwe. Er drang in Rom nicht ein. Er wollte in keine Mausefal le. Er sorgte nur dafür, daß die Lebensmittelzufuhren nach Rom abge schnitten wurden und wartete außerhalb der Mauern. Die Hungersnot, die die Belagerung mit sich brachte, war furchtbar. In den Berichten hieß es, daß in Rom Menschenfleisch gegessen wur de. Der Senat sandte eine Abordnung an Alarich. Die hohen Herren in ihren mit Purpur eingefaßten Togen baten den Gotenkönig um seine Bedingungen der Übergabe Roms. Ein Senator, der die Bedingungen erleichtern wollte, erwähnte selbstbewußt, daß schließlich eine Milli on Römer zum Widerstand bereit seien. Alarich lachte: »Je dichter das Heu, um so leichter läßt es sich mähen.« Aber er erklärte sich bereit, mit seinen Truppen abzuziehen, wenn ihm alles Gold und Silber und alle beweglichen Kostbarkeiten der Stadt ausgehändigt würden. 123
»Was bleibt uns dann?« fragten die Senatoren. Alarich erwiderte: »Euer Leben«, und erhielt fünftausend Pfund Gold, dreißigtausend Pfund Silber, viertausend Seidentuniken, dreitausend Felle und drei tausend Pfund Pfeffer. Er war nun so reich wie kein anderer Herrscher und Heerführer sei ner Zeit. Was nun? Während Alarich in seinem Lager überlegte, wo hin er sich wenden sollte, sandte Honorius ein rasch gesammeltes Heer unter dem Befehl eines gotischen Häuptlings gegen ihn. Sowohl die Vorsicht als auch die Geduld Alarichs waren nun zu Ende. Italien war das Land, das ihm immer als sein Königreich vor geschwebt hatte. Er schlug den Angriff der zaghaften Legionen zurück und drang in Rom ein. Drei Tage lang wüteten die gotischen Krieger und die entlaufenen römischen Sklaven, die zu ihnen gestoßen waren, ungehindert in der Stadt. Sie raubten alles, was nur irgendeinen Wert hatte. Statuen wur den zerschlagen und, wenn sie aus Edelmetall waren, eingeschmolzen. Krüge, Töpfe, Möbel, Glaswaren, alles, was zerbrechlich war, wurde zerschmettert. Wer sich zur Wehr setzte, wurde ermordet. Die entlau fenen Sklaven schändeten die Frauen der Haushalte, denen sie ange hört hatten. Auf den Straßen häuften sich Berge von Leichen. Nur zwei Gebäude blieben unangetastet, und die Menschen, die in sie geflüchtet waren, kamen mit dem Leben davon: die Peters- und die Paulskirche. Alarich selbst beteiligte sich nicht an der Zerstörung. Er verhinder te sie aber auch nicht. Ihm genügte, daß er seinen Mannschaften das Wort gehalten hatte: sie hatten gesiegt. Jeder einzelne Gote war reich. Er stellte die Ordnung wieder her und verließ Rom mit Tausenden von Gefangenen, unter denen sich Galla Placidia, die Halbschwester des Kaisers Honorius befand, in Richtung nach dem Süden. Er wollte Si zilien erobern – und dann das ganze Römische Reich. Er besiegte je den Widerstand auf seinem hastigen Marsch. Während einer kurzen Rast überfiel ihn ein heftiges Fieber. Der Tod, der ihn auf allen seinen waghalsigen Feldzügen, kreuz und quer durch das europäische Fest land, verschont hatte, ereilte Alarich in Cosenza. Die entlaufenen rö mischen Sklaven, die dem Heereszug der Goten gefolgt waren, leite 124
ten den Fluß Busento ab, damit die Goten ihrem König ein geräumi ges Grab sichern könnten. Als Alarich begraben war, wurde der Fluß in sein Bett zurückgeleitet. Die Sklaven, die die Arbeit verrichtet hat ten, wurden getötet. Niemand außer seinen vertrauten Gefolgsleuten sollte um die Grabstätte des großen Toten wissen, damit sie für immer verborgen und vor frechen Händen verschont bleibe. IV Die Wahl Ravennas als zeitweilige Hauptstadt des weströmischen Rei ches bewährte sich. Die Sümpfe und Lagunen, die es umgaben, ge währleisteten dem Kaiser Honorius verläßlicheren Schutz als seine be sten Legionen. Selbst Alarich hatte einen Handstreich auf den kaiserli chen Hof in Ravenna für aussichtslos gehalten. Sein Schwager Athaulf, der ihm als König der Goten folgte, machte nicht einmal den Versuch, die kriegerischen Unternehmungen seines Vorgängers auf italischem Boden fortzusetzen. Athaulf zog es vor, zu verhandeln. Ihm ging es vor allem darum, endlich geeignete Wohnsitze für sein Volk zu erwer ben. Er selbst war Familienvater. Er hatte sechs heranwachsende Kin der, für die er eine feste Heimat gewinnen wollte. Schon bei der ersten Zusammenkunft Athaulfs mit den bevollmäch tigten kaiserlichen Gesandten wurde es dem Gotenkönig offenbar, daß er über ein wertvolleres Pfand verfügte, als er es für möglich gehal ten hätte. Die Unterhändler aus Ravenna erwähnten die Plünderung Roms mit keinem Wort. Es schien ihnen nichts an der Wiedererstat tung der geraubten Schätze gelegen zu sein. Sie stellten jedoch als Be dingung für die Zuweisung geeigneter Landstriche an die Goten die Entlassung Galla Placidias, der Halbschwester des Kaisers, aus der Ge fangenschaft. Die Verhandlungen zogen sich in die Länge. Je dringlicher die For derung der Unterhändler wurde, desto eigensinniger zeigte sich At haulf. Welches Land sollte den Goten zugewiesen werden? Die Gebie 125
te, aus denen Alarich sie ursprünglich geführt hatte? O nein! Dort hat ten sie gehungert. Aber der Mangel an Lebensmitteln machte sich auch in ihren gegenwärtigen Lagern quälend bemerkbar. Sie wollten jeden falls aufbrechen. Auf die Richtung, die Alarich hatte nehmen wollen – immer weiter nach dem Süden, über das Meer nach dem Norden Afri kas –, verzichtete Athaulf. Dazu wäre eine Flotte nötig gewesen, und zum Bau von Schiffen fehlten Rohstoffe, Handwerker – und auch die Zeit. Athaulf führte seine Goten nordwärts. Die gallischen Provinzen des weströmischen Reiches waren in den Verhandlungen immer wieder erwähnt worden, wenn auch mit Vorbehalt. Die kaiserlichen Unter händler hatten nicht verschweigen können, daß die Limes am Rhein von germanischen Völkerschaften an vielen Stellen durchbrochen worden waren und daß auch örtliche Aufstände aller Art in den rei chen Provinzen wüteten. Zur Abwehr der Einbrüche und zur Unter werfung der Aufstände seien kaiserliche Legionen ausgeschickt wor den. Wenn Athaulf sich mit seinen Goten diesen Legionen anschlie ßen würde, dann wäre der Kaiser in Ravenna durchaus bereit, nicht mit Getreidezufuhren zu sparen – vorausgesetzt natürlich, daß Galla Placidia ausgeliefert werde. Der hartnäckige Hinweis auf die schöne Prinzessin machte Athaulf von Unterhandlung zu Unterhandlung mißtrauischer. Die Gefühlsar mut des Kaisers war bekannt. Es war nicht wahrscheinlich, daß Hono rius aus persönlicher Zuneigung so großen Wert auf die Freilassung seiner Halbschwester legte. Der Gotenkönig brachte bald in Erfahrung, daß Flavius Konstantius, der neue Ratgeber des Kaisers, die Laufbahn seines Vorgängers Stilicho in jeder Hinsicht nachahmen wollte. Auch Konstantius wollte in verwandtschaftliche Beziehungen zum Kaiser haus treten. Dadurch würde er nicht nur einen erhöhten Einfluß, son dern auch den Anspruch auf die Kaiserwürde nach dem Tod des kin derlosen Honorius gewinnen. Was dieser Flavius Konstantius konn te, das konnte auch der König der Goten: Athaulf näherte sich Galla Placidia und verstieß, um der kaiserlichen Prinzessin seine ehrlichen Absichten eindeutig darzutun, seine Frau und seine sechs Kinder. 126
Auch im oströmischen Reich war eine kaiserliche Prinzessin in den Vordergrund der Ereignisse getreten. Nach dem Tod des noch jun gen Arcadius war sein siebenjähriger Sohn, Theodosius II. Kaiser ge worden. Pulcheria, die ältere Schwester des Knaben, übernahm seine Erziehung und überließ dem Befehlshaber der Leibwachen die Füh rung der Staatsgeschäfte. Die Beschränkung auf ihre häuslichen Be lange und das unbegrenzte Vertrauen, das die jugendlichen Mitglieder der kaiserlichen Familie in ihren Bevollmächtigten und seine Ratgeber setzten, bewährten sich so sehr, daß das oströmische Reich in diesen unruhigen Zeiten von den Erschütterungen verschont blieb, die das weströmische Reich zersetzten. Dazu trugen allerdings auch die örtlichen Umstände bei. Die Bewe gung der den europäischen Raum bedrängenden Völker vollzog sich in nördlicheren Breitengraden. Die oströmischen Grenzen, die vor Einfällen geschützt werden mußten, waren nicht so ausgedehnt wie die weströmischen, und die einfache Lebensführung Pulcherias und ihres Bruders beschwerte den Staatsschatz nicht. So konnten freiwil lige Tribute an die beutelustigen Hunnen bezahlt und ihre Angriffe dadurch vermieden, gleichzeitig aber die Legionen wieder aufgefüllt, vorbildlich ausgerüstet und bewaffnet werden. – Trotz der Ruhe, de ren sich das oströmische Reich unter der Scheinherrschaft Theodosius' II. und seiner Schwester Pulcheria erfreute, waren die leitenden Staats männer in Konstantinopel über die immer drohendere Entwicklung innerhalb des weströmischen Reiches mehr als besorgt. Die Durch dringung der Herrschaftsgebiete des Kaisers Honorius durch germa nische Eindringlinge schien unaufhaltsam zu sein. Die große Wande rung der Völker, die sich jahrhundertelang an dem Limes gebrochen und ihn schließlich durchbrochen hatte, setzte sich in kleineren Zügen innerhalb des Limes fort. Am Mittelrhein hatten die Burgunden ein eigenes Königreich auf weströmischem Boden errichtet, und die volkreichen Stämme der Vandalen und Alanen waren durch das von Häuptlingen germanischer Stämme aufgerührte Gallien gezogen und hatten sich weder durch die Pyrenäen noch durch die ihnen in Eile entgegengeführten weströmi 127
schen Legionen davon abhalten lassen, in die Iberische Halbinsel ein zudringen, an deren Westküste sich schon früher die Sueben niederge lassen hatten. Wenn es den ruhelosen Horden gelang, auch Nordafrika zu erobern, dann verlor das weströmische Reich mit einer seiner wich tigsten Besitzungen auch seine Kornkammer. Was dann? Würde Ho norius nach Konstantinopel fliehen und von seinen kaiserlichen Ver wandten einen Anteil an der Herrschaft des oströmischen Reiches ver langen, um sich für seine Verluste zu entschädigen? Wäre es nicht rich tiger, ihm vorher zu helfen, wenn ihm überhaupt noch zu helfen war? Das schien nicht der Fall zu sein. Honorius blieb eigensinnig bei seiner unglückseligen Art der Staatsführung. Er wurde durch Scha den nicht klug. Er warb seine Feinde als Hilfstruppen an und wollte nicht wahrhaben, daß sie sich, wenn sie auch in seinem Namen sieg ten, nicht nur gegen seine besiegten Gegner als Sieger aufspielen wür den, sondern auch gegen ihn selbst. Tatsächlich war es den Unterhändlern des Konstantius gelungen, At haulf und seine Goten gegen die Vandalen und Alanen in Gallien ein zusetzen. Das wandte wohl die drängendsten Gefahren ab. Aber der militärische Erfolg des Gotenkönigs stärkte sein Rückgrat in den Ver handlungen mit Konstantius. Athaulf hatte sich einen Plan zurechtge legt. Wenn sich die Goten in den Gebieten, die sie von den Vandalen und Alanen gesäubert hatten, niederließen und in Gallien ein Reich der Ordnung errichteten, dann konnte er gewiß das erreichen, was Konstantius, sein Nebenbuhler um die Gunst Galla Placidias, erstreb te. Er konnte durch eine Heirat mit ihr den Anspruch auf die Kaiser krone erwerben und mit seinen Goten verfechten. Die Nachricht von der vollzogenen Trauung Athaulfs mit Galla Placidia erschütterte den kaiserlichen Hof von Ravenna mehr als die Nachricht von der Plünde rung Roms durch Alarich fünf Jahre vorher. Am peinlichsten waren die Höflinge durch die Mitteilung berührt, daß bei der Eheschließung in der Stadt Narbonne die römischen Hochzeitsbräuche sorgfältig be achtet worden waren. Galla Placidia hatte ein römisches Brautkleid ge tragen, ein römischer Hochzeitsreigen war feierlich durch die Säle ge zogen, und Athaulf hatte die germanische Waffentracht mit dem rö 128
mischen Purpur vertauscht. Er hatte überdies während der Festlich keit nicht den ersten, sondern den zweiten Platz eingenommen, um zu bekunden, daß Galla Placidia die ›imperatrix‹, eine zukünftige Kaise rin, sei und daß er, der Gotenkönig, kraft dieser Ehe als rechtmäßiger Beherrscher auch der Römer in Gallien erscheine. Seine Vermählung sollte die innigste Verschmelzung des Römertums mit den Westgoten als den Vertretern der in das Reich aufgenommenen Germanen sinn bildlich dartun. Honorius wäre bereit gewesen, die Eheschließung Galla Placidias mit Athaulf förmlich anzuerkennen. Vielleicht bedeutete die offenkundi ge Ehrerbietung des Gotenkönigs vor den römischen Gebräuchen eine Anerkennung seiner eigenen kaiserlichen Oberhoheit. Warum sollte er nicht unter dem kriegsstarken Schutz des Zufallsschwagers unge stört herrschen, anstatt ihn mühselig zu bekriegen? Honorius war es im Grunde einerlei, ob Konstantius oder ein anderer die Staatsgeschäf te für ihn führte. Als Stilicho noch lebte, hatte er keine Sorgen gehabt. Warum sollte Athaulf nicht die Rolle Stilichos übernehmen – ein an geheirateter Verwandter, der noch dazu, wie das rasche Gerücht be richtete, Vater des Kindes einer kaiserlichen Prinzessin sein würde? Honorius war zu schwach gegen den Widerspruch seiner Höflinge. Er gab Konstantius die Zustimmung zu einem Feldzug gegen Athaulf. Der Krieg begann mit der Abschneidung der Zufuhren von Lebens mitteln aus Italien und Afrika nach Gallien. Die Goten waren keine Bauern. Die Äcker der von ihnen besetzten Gebiete lagen brach. Es erschien Athaulf sinnlos, ein Land, das seine Goten nicht versorgen konnte, zu behaupten. Kurz entschlossen machte er sich auf den Weg, den die Vandalen und Alanen schon vor ihm beschritten hatten – über die Pyrenäen in die Iberische Halbinsel. In Barcelona gebar ihm Galla Placidia einen Sohn. Das Kind erhielt den Namen Theodosius. Die Geburt dieses kaiserlichen Erben, der überdies noch den verehr ten Namen seines Großvaters trug, so hofften Athaulf und jetzt auch Galla Placidia, würde Honorius versöhnen. Aber während die Unter händler des gotischen Königspaares noch auf dem Weg nach Ravenna waren, starb der kleine Theodosius. Er wurde in einem silbernen Sarg 129
zu Grabe getragen. Einige Tage nachher wurde Athaulf von einem Go ten namens Eberulf, über dessen schmächtige Gestalt er sich bei einem Trinkgelage lustig gemacht hatte, meuchlings ermordet. Erst riefen die Goten Sigerich zu ihrem König aus, doch schon nach sieben Tagen wurde er erschlagen. Wallia, der Bruder Athaulfs, wur de sein Nachfolger. Der neue König der Westgoten war so wenig auf die Macht vorberei tet, daß er es nicht wagte, den Eroberungszug Athaulfs auf eigene Faust fortzusetzen. Er war zu Verhandlungen mit Konstantius bereit. Er hat te keinen Anlaß, die Interessen seiner Schwägerin Galla Placidia zu wahren. Die Witwe seines Bruders war ein willkommenes Pfand. Wal lia konnte die ›imperatrix‹ gegen die Vorteile eintauschen, die Kon stantius ihm anbot: Die Anerkennung seiner Herrschaft im südwestli chen Gallien als König eines mit dem weströmischen Reich verbünde ten Westgotenreiches, dessen Hauptstadt Tolosa war. Die Goten erhielten das ›ius hospitalitatis‹, das Recht der Gastfreund schaft, das allerdings von den ursprünglichen Grundbesitzern der Ge biete, die sie beschlagnahmten, kaum als Gastfreundschaft aufgefaßt wurde, da sie den neuen Herren Dreiviertel ihrer Ländereien und ih rer Sklaven zur Bearbeitung des Landes abgeben mußten. Die galli schen Grundbesitzer zahlten die Rechnung, aus der Konstantius für seinen Kaiser und für sich selbst Nutzen zog. Der Ratgeber des Hono rius konnte sich nun aus der Nähe um Galla Placidia bewerben. Sein Vertragspartner König Wallia aber kämpfte im weströmischen Auf trag als weströmischer Feldherr gegen die Alanen und Vandalen, die sich auf der Iberischen Halbinsel festgesetzt hatten. Konstantius erreichte sein Ziel. Er heiratete Galla Placidia und wur de bald nach dem Tode des Honorius Kaiser. Wenn auch nicht für lan ge. Er starb vorzeitig. Aber sein und Galla Placidias unmündiger Sohn, Valentinian III. wurde unter der Vormundschaft seiner Mutter Kai ser. Die Prinzessin, die ihre Jugend so abenteuerlich verbracht hatte, blieb seine Beraterin während der unendlich schwierigen, ereignisrei chen Zeit seiner Herrschaft. 130
V In den ersten Jahrzehnten des fünften Jahrhunderts, dessen äußeres Geschehen auf europäischem Boden durch die Kriegszüge der germa nischen Volksstämme bestimmt war und eine durchgreifende Um schichtung der Besitz- und Wirtschaftsverhältnisse in den westlichen Provinzen des weströmischen Reiches hervorrief, vollzog sich auch eine innere Wandlung. Für die Herrscher, die ihre provinziellen Hauptstädte je nach den ört lichen Notwendigkeiten kaiserlich ausgebaut hatten, war es im Grun de einerlei gewesen, wo sie Hof hielten, ob in Trier, ob in Mediolanum oder in Ravenna. Rom war für sie ein leerer Name gewesen, ein veralte ter, erstarrter Begriff, der Ort einer unnützen Menschenansammlung, ihnen nur dann ungefährlich, wenn die Hofhaltung ihr nicht zu nahe war. Daß Rom noch immer als Vorbild der Lebenshaltung und Mode überragende Geltung hatte, hatten sich die Kaiser in ihren Palästen zunutze machen können. Die Werkstätten und Handelsgesellschaften der Stadt am Tiber hatten die kostbaren Gefäße besorgt, die köstlichen Gewebe, die prunkvollen Möbel, die zur feineren Lebenshaltung un erläßlich waren. Aus Rom waren die besten Köche und die geschick testen Schönheitspfleger, die handfertigsten Haarkünstler und die be gabtesten Schauspieler gekommen. Es hatte die gewandtesten Stein metze und Tonwarenerzeuger geliefert. Wenn man auserlesene Waren aus aller Welt, selbst aus den fernsten, kaum bekannten Gegenden des Erdkreises beziehen wollte, dann hatte man sich an römische Händ ler gewandt, deren Kundschafter die Meere und Wüsten auf Handels schiffen und Karawanen durchforscht hatten, um für den wechseln den, nur allzu übersättigten Geschmack gefällige Neuheiten aufzuspü ren. Rom hatte auch über den reichhaltigsten Sklavenmarkt verfügt. Es war die große Vergnügungsstadt gewesen. Die Sitten waren locker 131
gewesen, die Grundsätze unbeschwert, der Reichtum der Reichen so überquellend, daß es keine wirkliche Armut gegeben hatte. All das war mit der Plünderung durch Alarich zu Ende. Rom hat te aufgehört, Rom zu sein, und das erschütterte die Bewohner der grö ßeren und kleineren provinziellen Städte des weströmischen Reiches in ihrem innersten Wesen, weil ihnen damit das Vorbild genommen war. Wer hatte die Schuld an der Zerstörung des Sinnbilds der Mas sen? Nur wenige machten die Kaiser verantwortlich, die es unterlas sen hatten, Rom gegen Überfälle zu schützen und so vor dem grauen haften Schicksal zu bewahren. Die Glaubensspaltung im Römischen Reich wurde für die hilflose Vergewaltigung Roms verantwortlich ge macht. Die Anhänger des alten Götterglaubens erklärten, daß die Göt ter, durch die Christen entthront, Rom ihren Schutz entzogen hätten, da die Stadt der Götter die Hochburg des christlichen Glaubens gewor den sei. Zahllose Flüchtlinge, die aus Angst vor den Goten nach Afri ka übergesetzt waren, verbreiteten das Gerücht, daß Zeichen am Him mel erschienen seien, die keinen Zweifel an einer solchen Auffassung zuließen. Auch viele Christen wankten in ihrem Glauben. Was hatte wirklich dazu geführt, daß die Schönheit der unvergleichlichen Stadt, die den Altar des Stellvertreters Christi auf Erden beherbergte, von einer als gütig gepriesenen Gottheit der Zerstörung durch die Goten ausgelie fert worden war? War das furchtbare Ereignis ein Vorspiel des Jüng sten Gerichts, bedeutete es die Verurteilung der Päpste, die ihr gehei ligtes Amt nicht so ausübten, wie es mit der Heiligen Schrift in Ein klang stand? Die Bischöfe von Rom lebten wie Fürsten im Lateran-Pa last, den schon Konstantin der Kirche geschenkt hatte. Sie umgaben sich mit unsagbarem Pomp und waren, wie es im Volksmund hieß, »Ohrenkratzer der Damen«, die sie nicht nur durch ihre elegante Ge sprächigkeit dazu veranlaßten, ihr Vermögen der Kirche zu hinterlas sen. Der später heiliggesprochene Kirchenvater Hieronymus beschrieb die in Rom geltenden Sitten heuchlerischer Betschwestern. Seine Schil 132
derungen machten die Runde: »Solche Frauen ließen besser ihre christ lichen Augen an denen Anstoß nehmen, die ihre Augen und ihre Wan gen mit Purpurfarben und allerhand Schminken anmalen oder de ren gipsfarbenes Gesicht an Götzenbilder erinnert. Mit fremden Haa ren bauen sie ihre Frisuren auf. Vor ihren Enkeln putzen sie sich her aus wie Jüngferchen. Manche nehmen einen Trank ein, um sich un fruchtbar zu machen, und werden so zu Mörderinnen am Ungebore nen. Es gibt auch solche, die darauf sinnen, wie sie mit giftigen Mitteln eine Fehlgeburt herbeiführen könnten, sobald sie nach der Sünde ih ren veränderten Zustand wahrnehmen.« Hieronymus spottete über die ›gelockten und parfümierten Geistli chen, die vor Sonnenaufgang aufstehen, um Frauen zu besuchen, bevor sie das Bett verlassen‹. Er verurteilte die Ausschweifungen der Priester und auch die Priesterehe. Leidenschaftlich vertrat er die Ansicht, daß nur Mönche wahre Christen seien. Das griechische Wort ›monachos‹, der ›Alleinlebende‹, wurde das landläufige Kennwort für Gläubige, die in Einsiedeleien dem Wort Gottes lebten, und auch für die Angehöri gen früher Klöster. Allein diese in abgeschlossenen Gemeinschaften lebenden Priester seien frei von Besitz, Wollust und Stolz. In seiner unerbittlichen Haltung gegen alle Sinnlichkeit richtete Hie ronymus einen später veröffentlichten Brief an ein junges Mädchen, in dem er erklärte, daß ›wer die Ehe meide, sich vor Sodom und schmerz haften Schwangerschaften rette, vor brüllenden Kindern, Haushaltsor gen und den Qualen der Eifersucht‹. Die Übertreibungen des Hieronymus wurden, wie er selbst schrieb, ›mit einem Steinhagel begrüßt‹. Sie hatten auch oft nicht die von ihm beabsichtigte Wirkung. Der Tadel, durch den er seine Glaubensgenos sen bessern wollte, wurde von den Gegnern der Kirche aufgegriffen und verallgemeinen, um den christlichen Priesterstand heuchlerischer Sittenlosigkeit zu beschuldigen. Die Pracht der Kirchen war den Anhängern des alten Götterglau bens, deren Tempel beraubt worden waren, um die Kirchen zu schmük ken, ohnehin ein Dorn im Auge. Über die von den Christen gegründe ten Krankenhäuser und Zufluchtstätten für Obdachlose schwiegen sie 133
sich aus, besonders nach dem fürchterlichen Unglück, von dem Rom betroffen worden war. War es nicht klar, wer es verschuldet hatte? In diesen Jahren des Zweifels, der die Christenheit erschütterte, woll te Augustin, der damals Bischof in Nordafrika war, beweisen, daß nicht das Christentum am Unglück Roms Schuld trage. Der später heiligge sprochene Kirchenvater verfaßte ein grundlegendes Werk, den ›Got tesstaat‹, an dem er dreizehn Jahre arbeitete und das er stückweise ver öffentlichte. Manche Gedanken des gewaltigen Buches waren schon vorher nie dergelegt und ausgesprochen worden. Platon hatte einen Idealstaat dargestellt, den es ›irgendwo im Himmel‹ gäbe, der heilige Paulus hat te über eine Gemeinschaft lebendiger und verstorbener Heiliger ge schrieben. Auch die Vorstellung, daß es zwei Gesellschaften, eine gött liche und eine satanische gäbe, war schon zum Ausdruck gebracht worden. Der heilige Augustin schuf in seinem ›Gottesstaat‹ die Lehre von den zwei Staaten, der ›civitas Die‹, die seit der Erschaffung der En gel bestehe, und der ›civitas terrena‹, die durch den Aufstand des Sa tans entstanden sei. Seine vielumstrittene Auffassung beruhte auf der Lehre vom Staat, in dem die weltlichen Gewalten, die von Menschen stammen, der geistigen Gewalt, die die Kirche besitzt und die von Gott stammt, untergeordnet sind. Schon vorher hatte sich der heilige Augustin als Vorkämpfer der un antastbaren Oberhoheiten des Bischofs von Rom betätigt. Als eine kir chenrechtliche Entscheidung gefallen war und bestritten werden soll te, erklärte er kurz und bestimmt: »Rom hat gesprochen – der Fall ist erledigt.« Die bedeutendste Schrift des heiligen Augustin vor dem ›Gottesstaat‹ war seine Abhandlung über den freien Willen. Sie befaßte sich mit der Fragestellung, ob denn das Dasein des Übels auf Erden mit der Güte eines allmächtigen Gottes in Übereinstimmung zu bringen sei. Der Kirchenvater erklärte, daß das Übel das Ergebnis des freien Willens sei, den Gott den Menschen belassen habe und ohne den der Mensch nicht Mensch wäre. Er führte aus, daß der menschliche Wille von Ge burt an zum Übel neige. Durch die Gnade Gottes aber habe die Seele 134
die Fähigkeit erworben, diese Neigung zu überwinden. Gott biete al len Menschen seine Gnade an, ER sehe wohl die Wahl voraus, die der Mensch frei treffen würde, der Mensch aber könne das Heil erlangen oder verdammt werden. Das läge an ihm. Augustin legte die Neigung zum Übel als die Auswirkung der Erb sünde aus. Die sinnliche Begierde beschmutze immer noch jeden Zeu gungsakt. Durch die Verbindung der Zeugung mit der Geschlechtlich keit sei die Menschheit ›ein Haufe der Verderbnis‹. Er predigte, daß der Glaube dem Verstehen vorangehen müsse. »Su che nicht zu verstehen, um zu glauben, sondern glaube, um zu verste hen.« Ihm galt auch die unbestreitbare Wahrhaftigkeit und Geltung der Heiligen Schrift ›größer als alle Anstrengungen des menschlichen Geistes‹. Nicht nur in seiner klaren, scharfen Einstellung zu allen zeitgenössi schen und überzeitlichen Glaubensfragen war der heilige Augustin ein überragendes Vorbild. Seine ›Bekenntnisse‹, durch die er seine eige ne Sündhaftigkeit bloßlegte, bevor er geläutert den Weg zu Gott fand, waren in ihrer offenen Menschlichkeit ergreifend. Als er nach eini gen Wochen der Enthaltsamkeit, die er sich qualvoll abgerungen hat te, eine neue Geliebte fand, betete er zu Gott: »Gib mir Keuschheit – aber noch nicht jetzt.« Ebenso wie der Feige, der seine Angst überwindet, mutiger ist als der gedankenlose Mutige, war der Sünder Augustin durch Selbster kenntnis und die Kenntnis der Menschheit zu einer läuternden Klä rung und tiefen Gläubigkeit vorgedrungen, die er durch unaufhörliche wissenschaftliche Arbeit ergänzte. Das zeigte sich auch in seiner Ver teidigung des Christentums gegen die zeitgenössischen Angriffe, wenn er schrieb, daß Rom nicht wegen seines neuen Glaubens, sondern we gen seiner fortgesetzten Sündhaftigkeit bestraft worden sei. Selbst die Christen in Rom nähmen an den Rennen und Spielen teil, sie besuch ten die Theater, auf deren Bühnen heidnische Schamlosigkeiten dar gestellt wurden. Zur Zeit Catos und Ciceros sei Rom ein stärkendes Vorbild gewesen. Seine Gesetze hätten der Welt Ordnung und Frie den gegeben. Damals habe das Antlitz Gottes über Rom geleuchtet. 135
Aber der Same des Verfalls habe längst schon im alten Glauben Roms gelegen, dessen Götter die Geschlechtlichkeit des Menschen gefördert hätten, statt sie zu unterdrücken – weil Rom Götter verehrt habe wie Virgineus, der der Jungfrau den Gürtel löst, wie Subigus, der sie un ter den Mann legt, und Prema, der sie niederhält, nicht zu reden von den anderen, besonders verehrten Gottheiten, die schamlose Gebräu che heiligten. Warum sollten Alarich und seine Goten, die doch nur die christlichen Kirchen und die in ihnen Zuflucht suchenden Men schen verschont hatten, als die Vollstrecker eines Rachefeldzugs der heidnischen Götter betrachtet werden? Die Folgerichtigkeit des heiligen Augustin wirkte so überzeugend, daß auch seine anderen Schriften zunehmende Anerkennung und Verbreitung gewannen. Zur Säuberung der Sitten im weströmischen Reich trug auch der Vergleich mit der beispielgebenden Lebensfüh rung der oströmischen Prinzessin Pulcheria und ihrer Familienange hörigen bei. Am Hof von Konstantinopel hatte sich eine bemerkenswerte Wand lung vollzogen. Im kaiserlichen Palast herrschten ›Kloster‹-Sitten. Die köstlichen Säle und Gemächer, die einer glänzenden Hofhaltung ge dient hatten, waren von der übrigen Welt abgeschlossen, so wie die in den östlichen Provinzen des Reiches neu entstandenen Einsiedelei en, in deren Klausen sich strenggläubige Christen zurückgezogen hat ten, um sich den Versuchungen dieser Welt zu entziehen. Viele dieser ersten Mönche und Nonnen hatten sich, besonders in Ägypten, zu ei nem Gemeinschaftsleben vereinigt, das ihnen durch Armut, Keusch heit und Gebet den Besitz des Himmels sichern sollte. Zweifler an der Echtheit der inneren Überzeugung dieser frühen Nonnen und Mön che behaupteten, daß ihre Flucht in das Klosterleben durch das Verlan gen nach einer Zuflucht bedingt gewesen sei. Sie wollten keine Steuern zahlen, keine Kriegsdienste leisten, sie wichen ehelichen Zwisten und mühseliger Schwerarbeit aus. Aber selbst diese Zweifler konnten nicht leugnen, daß die Mönche und Nonnen sich vollkommener Einfachheit ergaben, sich kasteiten und fasteten und ein den irdischen Vergnügun gen abgewandtes, dem Gottesdienst geweihtes Leben führten. 136
Auch Pulcheria und ihre Schwestern hatten das Keuschheitsgelübde abgelegt und widmeten sich der Gründung von Krankenhäusern, Kir chen und Klöstern, die sie mit ihrer Wohltätigkeit förderten. Die meisten Bischöfe der ägyptischen Christen, die sich ›Kopten‹ nannten, was eigentlich ›Ägypter‹ bedeutet, erkannten die Oberhoheit des Patriarchen von Alexandria an. Nicht alle lebten und predigten, wie es die Glaubenseinigung von Nicaea festgelegt hatte. Es gab sogar einen ›papa‹ in Alexandria, der öffentlich erklärte, daß er nicht an die Wiederauferstehung des Leibes glaube. Diese Abweichung des hohen oströmischen Priesters von den anerkannten Glaubensregeln war kei ne Ausnahme. Die von Konstantin im Konzil von Nicaea erzwunge ne Einigung war nur eine oberflächliche gewesen. Der Streit um das ›i‹ des ›homousius‹ oder ›homoiusius‹ um die Wesensgleichheit oder Ähnlichkeit Jesu Christi mit Gott, war nicht zur Ruhe gekommen und hatte sich in verschiedenen Abwandlungen an verschiedenen Orten fortgesetzt. Es war eine Zeit des Übergangs, in der sich das Christentum noch entsprechend den persönlichen Neigungen oder Abneigungen, dem Wissen und Gewissen der Einzelnen sowohl im inneren Wesen als auch in den äußeren Regeln formte. Das kam auch zur Geltung, in der zeitgenössischen Beurteilung des ägyptischen Klosterwesens, das von jenen Bischöfen verdammt wurde, die verkündeten, daß es Gott ge fälliger sei, nutzbringende Arbeit zu leisten, als sich den Wirklichkei ten des Lebens fernzuhalten. Die Arbeit der Gläubigen auf den Feldern spreche den HERRN mehr an als ihr leeres Gebet. Das Christentum war wohl der anerkannte Staatsglaube, aber die allgemeine Glaubensunsicherheit nahm doch zu. Wer nicht so glaub te, wie es dem Nachbarn zusagte, wurde von diesem als Ketzer ver dammt. Der Zwiespalt zwischen den Arianern und den Katholiken stand wohl noch im Vordergrund der Glaubensunterschiede, aber es war im großen und ganzen so, wie der Bruder des heiligen Basileios über die Glaubensverschiedenheiten in Konstantinopel schrieb: »Diese Stadt steckt voller Handwerker und Sklaven, von denen je der ein tiefgründiger Philosoph ist und in den Werkstätten und auf 137
der Straße predigt. Wenn du bei einem Mann ein Silberstück wechseln willst, so erklärt er dir, worin sich der Sohn vom Vater unterscheide. Wenn du dich nach dem Preis eines Brotlaibs erkundigst, dann wirst du zu hören bekommen, daß der Sohn weniger sei als der Vater, und wenn du fragst, ob dein Bad bereit sei, erhältst du zur Antwort: Der Sohn sei aus dem Nichts erschaffen.« Dieser Aufruhr der Geister um des Geistlichen willen brodelte ge fährlich unter der Oberfläche des oströmischen Kirchenwesens, des sen Richtung und Inhalt immer wieder von den jeweiligen Herrschern oder ihren Bevollmächtigten aus Staatsgründen geregelt und verän dert wurden. Die kaiserliche Einstellung zu Glaubensfragen und ihre diesbezügliche Gesetzgebung war weniger durch den wesentlichen In halt als durch die jeweilige Nützlichkeit der Entscheidung bedingt. Niemand widersetzte sich den Ratgebern des Kaisers wirksam, wenn sie sich die Oberhoheit über den Glauben anmaßten, aber die zwingen de Notwendigkeit einer einigenden priesterlichen Oberhoheit und der Führung im Glauben wurde immer deutlicher offenbar. Wer sollte die Oberhoheit sein, woher sollte sie kommen? Die Bischöfe und ihre Gemeinden im zerfallenden weströmischen Reich, mit Ausnahme der arianischen Germanen, hatten die ihnen selbstverständliche Antwort auf diese den Osten zerrüttenden Fragen gefunden. Für sie gab es nur ein Oberhaupt der Christenheit: Den Bi schof von Rom, den Papst, den Nachfolger Petri. Er, und nur er, war der Stellvertreter Jesu Christi. Sie verschrieben sich mit Leib und Seele dem an den Apostel Petrus gerichteten Ausspruch des HERRN: »Du bist Petrus. Und auf diesen Felsen will ich bauen meine Gemeinde, und die Pforten der Hölle sol len sie nicht überwältigen. Und ich will dir des Himmelreichs Schlüs sel geben. Alles, was du auf Erden binden wirst, soll auch im Himmel gebunden sein, und alles, was du auf Erden lösen wirst, soll auch im Himmel los sein.«
138
VI Die Verinnerlichung im Glauben und die Zuversicht auf ein besseres Leben im Jenseits blieb der einzige hoffnungsvolle Ausblick der einge sessenen Bevölkerung des weströmischen Reiches. Die kriegerischen Unruhen hörten nicht auf. Es schien, als ob es keine Möglichkeit gäbe, die beinahe alle Provinzen mit Feuer und Schwert brandschatzenden Germanen zum Stillstand zu bringen. Die wenigen Legionen, über die Kaiser Valentinian III. beziehungsweise seine Mutter Galla Placidia verfügten, wurden immer wieder durch hastig angeworbene Germa nen aufgefüllt. Das waren Truppen, auf die sich Ravenna nicht ver lassen konnte. Es fehlte eine starke Hand, die die übermütigen und übermächtigen Häuptlinge in Schach hielt, die mit ihren Männern nur dann für den jungen Kaiser und seine Mutter kämpften, wenn es ih nen unmittelbar nützlich war, oder im ›furor teutonicus‹, der germa nischen Freude am Kampf. Nach der Machtübernahme für ihren Sohn hatte Galla Placidia Strei tigkeiten und Meinungsverschiedenheiten mit den Bevollmächtigten ihrer oströmischen Verwandten nur mühselig beizulegen vermocht. Es hatte ihrer ganzen Überredungskunst bedurft, die leitenden Staats männer in Konstantinopel davon abzubringen, daß es richtiger wäre, wenn sie die Geschicke des weströmischen Reiches lenkten, als sie der Unerfahrenheit eines Kindes und einer jungen Frau zu überlassen. Der Gedanke des einigen Römischen Reiches war noch lebendig. Es war klar, daß die vergangene Größe nur wiederhergestellt werden konnte, wenn alle verfügbaren Kräfte in einer Hand vereinigt waren. Der lauteste Fürsprecher dieser Richtung, ein vornehmer Oströmer namens Aëtius, war als Kind von den Hunnen gefangengenommen worden. Er hatte seine Jugend als Geisel am Hofe ihres Königs Rua ver bracht und mit dessen Neffen Bleda und Attila Freundschaft geschlos 139
sen. Seine Kenntnis der Hunnen kam Aëtius zugute, als er ausgelöst worden und nach Konstantinopel zurückgekehrt war. Er konnte aus eigener Anschauung berichten, daß der Hunnenkönig durchaus nicht die Absicht habe, die gewalttätige Wanderung seines Volkes weiter als unbedingt nötig fortzusetzen. Solange die Siedlungsgebiete und Wei deplätze, die von den Hunnen erobert worden waren, ihren Bedürfnis sen genügten, würden sie stillhalten, um so gewisser, als sie mit unver hohlener Gier auf die Zahlung der Tribute warteten, die sie aus Kon stantinopel erhielten. Aëtius rückte im Range auf. Sein Ehrgeiz steigerte sich mit jeder Er höhung. In den peinlichen Unterhandlungen, die Galla Placidia mit ihm zu führen gezwungen gewesen war, hatte sie seine Begabung er kannt. Einen Mann wie diesen, einen so jungen und doch so erfahre nen Staatsmann brauchte sie. Sie bot Aëtius die Statthalterschaft Gal liens an. Das war die große Gelegenheit, die er sich nicht entgehen las sen konnte. Er nahm an. In kurzer Zeit gelang es Aëtius, die Franken und Alamannen am Rhein und auch die Westgoten, die die ihnen zuerkannten Grenzen ihres Königreiches erweitert hatten, in ihre Gebiete zurückzuwerfen. Nach diesen Erfolgen wurde Aëtius zum Heermeister des weströmi schen Reiches erhoben. Das war ein Amt, dessen ausübende Gewalt es ihm ermöglicht hät te, den Plan seiner Freunde in Konstantinopel zu verwirklichen. Er liebäugelte mit dem Gedanken: Wenn er sich durch seine ehemaligen Amtsgenossen leiten ließ, anstatt durch Galla Placidia, dann konnte er es dazu bringen, die Rollen zu vertauschen und nicht nur seine Auf traggeberin, sondern auch sie zu leiten. Er verhielt sich so, daß Galla Placidia mißtrauisch wurde. Sie wollte ihn unverzüglich durch Bonifatius, den weströmischen Statthalter in Nordafrika, ersetzen. Unerwartete Ereignisse hinderten ihren Plan. Das Vorspiel des furchtbaren Geschehens, das dem zerfallenden weströmischen Reich den Gnadenstoß versetzen sollte, wurde von ver schiedenen mittelalterlichen Geschichtsschreibern verschieden darge stellt. Es hieß, daß Bonifatius die Geschicklichkeit des Aëtius im Um 140
gang mit den Häuptlingen der Hunnen und der Germanenstämme nachahmen wollte, um sich im Falle einer kriegerischen Auseinander setzung mit Aëtius, ebenso wie dieser, germanischer Hilfstruppen be dienen zu können. Dazu erschienen Bonifatius die Vandalen am geeig netsten, nicht nur, weil sie über die zahlreichsten Mannschaften ver fügten, sondern auch, weil sie die nächsten waren. Der Westgotenkönig Wallia hatte die Vandalen im Auftrag des Kai sers Honorius, beziehungsweise seines Ratgebers Konstantius, seiner zeit in die südlichste Provinz der Iberischen Halbinsel gedrängt, in das heutige Andalusien, das nach den Vandalen benannt wurde. Dort wa ren sie zur Untätigkeit verdammt. Ihr König Geiserich war der Sohn eines Sklaven. Ein zeitgenössischer Bericht sagte über ihn aus, daß er infolge eines Sturzes vom Pferd hink te, ein tiefer Denker und schweigsamer Mann war, ein Verächter der Genußsucht, wild im Zorn, grausam in seiner Feindschaft. Unter sei ner Führung setzten die 'Vandalen nach Afrika über. Sie kamen nicht als Verbündete des Statthalters Bonifatius, der sie angeblich eingela den hatte, sondern auf eigene Faust. Den Mauren, der eingeborenen Bevölkerung der Provinz Mauretanien, war der Einmarsch der Van dalen willkommen. Sie würden ihnen helfen, sich der römischen Be drückung zu entledigen. Ihre berittenen Mannschaften schlossen sich dem Zug der achtzigtausend Krieger Geiserichs an. Das rasch zusammengezogene Heer, das Bonifatius ihm entgegen stellte, wurde vernichtend geschlagen. Nach einem vergeblichen Ver such, den Vormarsch aufzuhalten, zog sich Bonifatius in die Küsten stadt Hippo zurück und hielt der Belagerung Geiserichs vierzehn Mo nate lang stand. Durch seine aufrüttelnde Aufmunterung der Bevöl kerung half ihm der Bischof der Stadt, der schon sehr alte, heilige Au gustin. Als weströmische Entsatztruppen endlich nach Afrika überge setzt wurden, hob Geiserich die Belagerung auf und schlug die gelan deten Legionen vernichtend. Der kaiserliche Gesandte unterzeichnete einen Waffenstillstand, in dem die vandalischen Eroberungen auf afri kanischem Boden anerkannt wurden. Jetzt konnte Galla Placidia Bonifatius endlich nach Ravenna rufen, 141
damit er ihr helfe, sich des in der Not noch übermütiger und über mächtiger gewordenen Aëtius zu entledigen. Während Geiserich seine Eroberungen ungestört ausbaute und fe stigte, flüchtete Aaius zu den Hunnen. Es gelang ihm, sie durch das Versprechen, daß er ihnen die Pannonische Tiefebene friedlich über lassen werde, zu bestimmen, ihm ein Hilfsheer zur Verfügung zu stel len. An der Spitze hunnischer Reiterhorden eilte Aëtius gegen Ravenna, um seine durch die Ungunst Galla Placidias erschütterte Macht durch Gewalt wiederzugewinnen. Dieser verwegene Zug des großen Staatsmannes, der sich in den vor hergegangenen Kämpfen auch als Feldherr bewährt hatte, endete mit seiner Niederlage bei Arimium (Rimini). Bonifatius hatte den zügel los vordringenden Hunnen eine geordnete Kampftruppe entgegenge stellt, die die wilden Angriffe mit überlegener Ruhe abwehrte und ge schlossen zum Gegenangriff vorging. Wenn Bonifatius selbst nicht im Kampfe schwer verwundet und auf dem Schlachtfeld geblieben wäre, hätte die gefährliche Laufbahn des Aëtius ein Ende gefunden. Durch den Tod des Bonifatius wurde der Besiegte zum Sieger – und zwang Valentinian und seiner Mutter die Versöhnung und seine Freund schaft auf. Aëtius erhielt den höchsten Rang, den der Kaiser zu vergeben hatte: Er wurde ›patricius‹. Dieser Titel war gleichbedeutend mit ›Reichsver weser‹ und gab Aëtius die gleichen Vollmachten, die Stilicho in seiner nahezu unbeschränkten Herrschaft über das weströmische Reich in negehabt hatte. Es war ein hohes, aber undankbares Amt. Aëtius mußte sich mit dem König der Vandalen verständigen, der sich in Nordafrika so fest gesetzt hatte, daß ein oströmisches Entsatzheer unverrichteter Dinge hatte umkehren müssen. Andererseits waren die Provinzen Galliens, die Aëtius so mühsam befriedet hatte, die Beute germanischer Völker geworden, deren erneuter Ansturm die Grenzen der ihnen zugewiese nen Gebiete gesprengt hatte. Aëtius bewährte sich wieder. Es gelang ihm, einen Vertrag mit Gei 142
serich zustande zu bringen, durch den er mittels einer nichtssagenden Anerkennung des ohnehin gesicherten Besitzes der Vandalen erreich te, daß die Getreidezufuhren aus Nordafrika nicht eingestellt wurden. Mit den Germanen in Gallien hatte er trotz seiner Gewandtheit nicht so leichtes Spiel. Die Westgoten hatten ihr Reich so bedenklich ausge breitet, daß sie die gefährlicheren Feinde waren als die Burgunden, die ihrerseits nach dem Süden in die Richtung Triers, der alten Kaiserstadt ›Augusta Trevirorum‹, vorgestoßen waren. Die Burgunden waren ein kampfmutiges Volk, dem sich Aëtius mit den wenigen Legionen, die ihm zur Verfügung standen, nicht gewach sen fühlte. Trotz seines Mißerfolges mit hunnischen Truppen bei Ri mini versuchte er es nochmals, seine alten Freunde zu Hilfe zu holen. Wieder galoppierten die hunnischen Horden dem Westen zu. Aber Aëtius hatte aus der Erfahrung gelernt. Er setzte die hunnischen Rei ter in der Entscheidungsschlacht gegen die Burgunden unter dem Kö nig Gundikar so ein, daß sie ein furchtbares Blutbad anrichteten. Der König der Burgunden und sein Geschlecht fielen. Aber er wurde un sterblich als König Gunther im Nibelungenlied, das seinen Untergang, wenn auch in anderem Rahmen, sagenhaft berichtete. Jetzt erst wagte es Aëtius, sich gegen die Westgoten zu wenden. In ra schen Gefechten zwang er sie in die ihnen zuerkannten Grenzen zu rück. Aëtius vertauschte das Schlachtfeld, sobald es nur möglich war, mit dem Verhandlungstisch und sicherte Friede und Freundschaft mit den Westgoten durch die Anerkennung ihres Reiches als vollkommen un abhängiges Königreich. Der ›patricius‹ hätte einen vollkommenen Erfolg errungen, wenn Geiserich seine Geschicklichkeit im Verhandeln nicht durchschaut hätte. Er nützte die Gelegenheit, die ihm die Bindung der Kräfte des weströmischen Reiches auf gallischem Boden bot, aus und fiel über Karthago her. Er besetzte es kampflos. Die römischen Kaufherren, die Karthago in den Jahrhunderten seit der Vernichtung der Weltstadt als römische Provinzstadt aufge baut und wieder reich und groß gemacht hatten, verloren ihren Besitz. 143
Ebenso schlimm erging es der Kirche. Mit unheimlicher Geschick lichkeit errichtete Geiserich in wenigen Jahren ein geordnetes Reich, das er durch den Bau einer Flotte stärkte. Geiserich war seinem Wesen nach kein Friedensfürst. Es moch te auch daran gelegen haben, daß sich seine Vandalen nicht gleich in der Rolle von Gutsbesitzern und Rentnern gefielen. Sie waren zu lan ge rastlos gewesen. Der Erfolg war zu rasch gekommen. Geiserich er fand eine neue Art der Seeräuberei. Er beförderte auf seinen Schiffen nicht nur die Mannschaften, sondern auch ihre Pferde. Am Ziel ihrer Beutezüge setzte eine berittene Truppe an Land. Die Männer plünder ten, was ihnen in die Hände fiel. Diese Raubfahrten der vandalischen Flotte mochten nur ein Abtasten, das militärische Vorspiel eines um fassenden Planes gewesen sein, den Geiserich vorbereitete. Er mach te auch eine erfolgreiche Annäherung an den Westgotenkönig Theo derich, offenkundig mit dem Ziel, sich mit ihm über die endgültige Aufteilung des weströmischen Reiches zu einigen Frieden um jeden Preis: das wurde jetzt das Leitwort des Aëtius. Frieden – oder Krieg mit allen Mitteln. Vorerst mußte er Zeit gewinnen. Er machte alle Zu geständnisse, die Geiserich forderte. Er versprach dem Vandalenkönig sogar eine kaiserliche Prinzessin zur Gattin, wenn Geiserich nur Frie den hielt und Ravenna und Rom mit Getreide versorgte. Aëtius verdoppelte seine Bemühungen, irgendwelche Sicherungen für das weströmische Reich zu finden, dessen Verweser er war. Das Königsgeschlecht der Burgunden war durch die Hunnen ausgerottet worden. Er siedelte das überlebende Volk am Genfer See an und ver pflichtete die Männer durch reiche Schenkungen, die Wache in dieser gefährdeten Gegend für ihn zu halten. Seine Hoffnung, daß er in dieser schwierigen Lage das oströmische Reich zu Hilfe rufen könne, wurde durch seine Jugendfreunde, die Hunnen, zunichte gemacht. Nach dem Tod von König Rua, dessen Ge fangener Aëtius gewesen war, waren die königlichen Neffen Bleda und Attila Könige der Hunnen geworden. Das bedeutete nicht nur, daß sie ihr eigenes Volk beherrschten. In den Jahrhunderten ihres Marsches und ihrer Niederlassung in dem gewaltigen Gebiet zwischen dem Don 144
und der Donau hatten sich die Hunnen auch zu Oberherren germani scher Stämme, insbesondere der Ostgoten, gemacht. Der Name Attila bedeutete auch in gotischer Sprache ›Väterchen‹. Wie weit diese zärtliche Bezeichnung ernst oder ironisch gemeint war, sei dahingestellt. Der gotische Geschichtsschreiber Jordanes jedoch beschrieb Attila eher freundlich: »Er war ein Mann, dazu geschaffen, die Welt zu erschüttern, er war der Schrecken aller Länder. Er setz te auf eine unerklärliche Weise alles in Furcht durch den schreckli chen Ruf, der über ihn verbreitet war. Stolz schritt er einher und ließ die Augen nach allen Seiten schweifen, damit die Macht, die der hoch mütige Mensch innehatte, sich auch in seiner Haltung zeigte. Er war ein Liebhaber der Kriege, aber persönlich zurückhaltend. Seine Stär ke lag in seiner klugen Umsicht. Gegen Bittende war er nicht hart, und gnädig gegen die, welche sich ihm einmal unterworfen hatten. Er war klein von Gestalt, breitschultrig, dickköpfig, hatte kleine Augen, spär liches Barthaar mit Grau untermischt, eine platte Nase, dunkle Haut farbe und trug die Kennzeichen seines Ursprungs.« Diese Beschreibung Attilas durch den Goten Jordanes enthält er staunliche Widersprüche. Sie läßt jedenfalls Fragen zu, deren Beant wortung vielleicht neues Licht auf Attila und seine Zeit zu werfen ver mag. Wer hatte den als ›Gottesgeißel‹ gekennzeichneten Hunnenkö nig in den schrecklichen Ruf gebracht, der über ihn verbreitet wor den war? Jordanes schildert ihn als persönlich zurückhaltend, als gnä dig gegen Bittende. Worin bestand seine Grausamkeit, wie unterschied sie sich von der gleichzeitiger Heerführer, die so wie er ihren Truppen Städte zur Plünderung überließen? Die Überlieferung und die Taten Attilas beweisen, daß er ein Gefühl für Ehre und Gerechtigkeit hatte. Er lebte und kleidete sich einfach. Auch daß er seine königliche Maje stät selbst heiligte, unterschied Attila nicht von den zeitgenössischen Herrschern, die ihrerseits nicht als ›Gottesgeißel‹ in die Nachwelt ein gingen. Jordanes berichtete, daß Attila rastlos gewesen sei und keine Möglichkeit außer acht gelassen habe, Kriege vom Zaun zu brechen. Dieser Behauptung widerspricht einerseits die Tatsache, daß er begon nen hatte, eine Hauptstadt zu bauen, einen ständigen Wohnsitz, von 145
dem aus er seine Herrschaftsgebiete überwachen konnte, andererseits, daß er verhältnismäßig wenige Feldzüge führte, wenn man in Betracht zieht, daß er, wie es hieß, mehr als eine halbe Million Bewaffneter in den Kampf werfen konnte. Die Hauptstadt Attilas, der von Zeitgenossen auch Etzel genannt wurde, war ein großes Dorf an der Donau, vermutlich an der Stelle des heutigen Buda, das noch immer im Volksmund Etzelburg heißt. Dort stand sein Palast, ein aus Holz gezimmertes Riesengebäude, des sen grobe Schale köstliche Möbel und Teppiche barg. Dieser Hauptsitz Attilas verdankte die Errichtung seinem Wunsch, eine richtige Stadt am Orte seiner Seßhaftigkeit entstehen zu lassen, wie alle anderen eu ropäischen Könige sie hatten, und von dort aus sein Reich zu beherr schen. Im ersten Jahrzehnt von Attilas Eintritt in die Geschichte der Zeit fanden nur vereinzelte Feldzüge im europäischen Raum statt, an de nen Hunnen beteiligt waren. Die beiden ersten waren die von Aëtius geleiteten und veranlaßten kriegerischen Handlungen, in denen sich der Heermeister des weströmischen Reiches der Hunnen als Hilfs truppen bediente. Auch bei den anderen hunnischen Feldzügen, ei nige Jahre später, traten weder Attila persönlich auf noch sein Bru der Bleda, den er später angeblich ermordet haben soll. Als die hunni schen Feldherren die Donau überschritten und das oströmische Reich bedrohten, hatte ein von den Geschichtsschreibern nicht aufgezeich neter Anlaß die hunnischen Horden in Bewegung gesetzt. Theodosi us II. seine Schwester Pulcheria und ihre Minister, die den Hunnen ein Heer entgegenstellten, erkauften den Frieden nach einer raschen Nie derlage. Die Hunnen waren wieder bereit, nach der Zusicherung eines erhöhten Tributes abzuziehen und von einem Vormarsch gegen Kon stantinopel, das beinahe ungeschützt war, Abstand zu nehmen. Das macht durchaus nicht den Eindruck einer ›Kriegswütigkeit‹ des Hun nenkönigs. Ein anderer Feldzug, der Attila zugeschrieben wurde, nahm die ent gegengesetzte Richtung, in das gegenwärtige Südrußland. Hunnen drangen, wie es hieß, »in Skythien ein, plünderten siebzig Städte und 146
nahmen Tausende von Männern gefangen. Die Frauen der Besiegten wurden den hunnischen Frauen gleichgestellt.« Auf die dadurch er folgte Blutmischung führten manche Geschichtsschreiber die Ver breitung mongolischer Merkmale im mitteleuropäischen Raum zu rück. Auch diese kriegerische Unternehmung, so ungestüm sie gewe sen sein mochte, unterschied sich kaum so sehr von vorhergegange nen gewalttätigen Zügen anderer Völker und ihrer Herrscher, daß sie ›den schrecklichen Ruf‹ rechtfertigen konnte, der über Attila verbrei tet war. Woher kam dann dieser schreckliche Ruf, der den mit Ungestüm einherjagenden Hunnen so voranging, daß ganze Volksstämme, wie die Sachsen und Angeln, nach dem Westen zogen, um den Kampf zu vermeiden, und, da das Meer ihre Flucht vor dem Schrecken aufhielt, auf die britannischen Inseln übersetzten? Die Legende erzählt, daß die Sachsen und Angeln von den ›Britanniern‹, die von Picten und Sco then bedrängt worden seien, zu Hilfe gerufen worden wären. Aber ge schah das gerade um diese Zeit, in der es hieß, daß Attila, das ›flagel lum Die‹, die ›Gottesgeißel‹, auf dem Weg sei, die Menschheit auszu rotten, besonders darauf versessen, germanische Völker zu vernich ten? Die ungeheuerliche Drohung hatte immerhin einen Kern von Wahr heit in sich. Die germanischen Völker wußten von dem Schicksal der Ostgoten und anderer germanischer Stämme, die von den Hunnen überfallen, geknechtet und deren Männer in das Heer der Hunnen gezwungen worden waren. Aus ihnen setzte sich der größte Teil der von der Geschichtsschreibung erwähnten halben Million Krieger zu sammen, die unter Attilas Führung standen. Wer hatte sie jetzt nach dem Westen gerufen? Was veranlaßte Attila, gewissermaßen von ei nem Tag zum nächsten seinen Heereszug in Bewegung zu setzen? Die Beantwortung dieser Fragen könnte durch eine Übersicht über die da malige Lage von der Warte des ›patricius‹ des weströmischen Reiches aus, wenn auch nicht mit Gewißheit, so doch mit Wahrscheinlichkeit, beantwortet werden. Das weströmische Reich stand auf so schwachen Füßen, daß ein 147
endgültiger Zusammenschluß des in Nordafrika groß und mächtig ge wordenen Vandalenkönigs Geiserich mit dem Westgotenkönig Theo derich das beinahe kampflose Ende der weströmischen Macht bedeu tet hätte. Ein Angriff vom Süden, ein Gnadenstoß aus dem Westen, und die geringen Streitkräfte, die Aëtius zur Verfügung hatte, wären hinweggefegt worden. Etwas Außerordentliches mußte geschehen, um das weströmische Reich zu retten. Wo konnte Atius Truppen aushe ben? Sein einziger möglicher Vertragspartner, der Kaiser des oströ mischen Reiches, hatte die kriegerische Überlegenheit der Hunnen zu spüren bekommen und war froh, mit einer Erhöhung des jährlichen Tributes davongekommen zu sein. Er wollte keinen Krieg. Die Völker, die den mitteleuropäischen Raum westlich von dem sich festigenden Hunnenreich bewohnten, waren entweder offen römer feindlich oder wurden nur durch Geldleistungen und Versprechungen friedlich gehalten. Den Südwesten Galliens beherrschten die Westgo ten. Auch die wichtigsten Teile der Iberischen Halbinsel standen unter ihrer Oberhoheit, während die Sueben die Gebiete des heutigen Por tugal erobert hatten. Im Norden Galliens hatten zwar die Franken un ter dem König Chlodjo die römische Oberhoheit anerkannt, aber wie lange würde es dauern, bis sie sich wieder in Bewegung setzen und mit ihren Stammesgenossen vereinigen würden, die die Provinz in freien Scharen durchzogen und sich als Grundbesitzer auf herrenlosen Gü tern und als Landarbeiter niedergelassen hatten? Der Süden der Ibe rischen Halbinsel und der Norden Afrikas waren in den Händen der Vandalen. Die italische Halbinsel bot mit ihrer durch die räuberischen Gotenzüge und durch die Gleichgültigkeit der durch Wohlleben oder Verarmung erschöpften Bevölkerung kaum eine Möglichkeit zur Aus hebung kriegstüchtiger Truppen. Um in dem unausbleiblichen Krieg gegen die im weströmischen Reich festsitzenden Germanen überleben zu können, mußte Atius einen kriegerischen Selbstmordversuch wa gen, der auch gut ausgehen konnte. Es konnte nur in seinem Interesse und im Interesse seiner Unterhändler gelegen sein, den schrecklichen Ruf Attilas zu erfinden und zu verbreiten. Nur mit der Drohung, daß die europäischen Völker, wenn sie nicht zusammenhielten, von den 148
Hunnen unterworfen werden würden, wie es schon den Ostgoten ge schehen war, konnte Aëtius das schwankende politische Gleichgewicht aufrechterhalten. Aëtius hatte schon für Geiserich einen Köder benützt, um den mäch tigen Vandalenkönig durch freundliche Verhandlungen von kriegeri schen Handlungen abzuhalten. Er hatte ihm eine Kaisertochter zur Frau versprochen, und damit eigentlich den Anspruch auf eine recht liche Nachfolge irgendwelcher Art als Kaiser des weströmischen Rei ches. Wie wäre es, wenn er ein ähnliches Spiel mit Attila versuchte? Die Gelegenheit dazu war günstig. Die kaiserliche Prinzessin Ho noria war in eine Liebesgeschichte verwickelt gewesen. Es hatte Skan dal in Ravenna gegeben, und die Prinzessin hatte nach dem Tod ih rer Mutter Galla Placidia den Hof ihres Bruders, Valentinian III. ver lassen. In Konstantinopel war die keusche Prinzessin Pulcheria nach dem unerwarteten Ableben ihres Bruders, Theodosius II. veranlaßt worden, Marcianus zu heiraten, der durch die Eheschließung Kaiser des oströmischen Reiches wurde. Zu diesen Verwandten begab sich Honoria, und es hieß, daß sie Attila einen Ring mit dem Ersuchen um Hilfe gesandt habe. Daß der König der Hunnen die Übersendung des Ringes als Hei ratsangebot aufgefaßt habe, ohne daß an ihn eindeutige Erklärungen gelangt waren, erscheint nicht glaubhaft. Ebensowenig, daß er aus frei en Stücken die Prinzessin Honoria und das halbe weströmische Reich als Mitgift verlangt habe. Auch nicht, daß Valentinian III. im gleichen Zeitpunkt seinen neuen Verwandten dazu bewegt habe, die Tributzah lungen an Attila gleichzeitig mit ihm einzustellen. All das konnte nicht geschehen sein, ohne daß der allmächtige ›patricius‹ seine Hand im Spiel gehabt hätte. Und wie ist es zu erklären, daß Attila, anstatt wenig stens einen Teil seiner Männer gegen das oströmische Reich zu entsen den, um sich die Braut zu holen, mit seiner ganzen Heeresmacht nach dem Westen marschiert war? Tatsache ist, daß der Hunnenkönig an den Rhein zog. Er plünderte und brandschatzte Trier und Metz und massakrierte die Einwohner. Die Mehrzahl des hunnischen Heeres bestand aus germanischen 149
Hilfsvölkern, aus Ostgoten, Gepiden, Skiren, Rugiern, Herulern und Angehörigen suebischer und thüringischer Stämme. Ihrem Vormarsch hatten sich keine weströmischen Legionen entgegengestellt, es war da her zu keiner Schlacht gekommen. Aëtius hatte sich mit den wenigen Truppen, die ihm zur Verfügung standen, nach Mittelgallien zurück gezogen. Seine einzigen germanischen Bundesgenossen waren jene Alanenstämme, die sich seinerzeit nicht entschlossen hatten, gemein sam mit den Vandalen in die Iberische Halbinsel einzudringen. Aber auch auf diese Alanen konnte sich Aëtius nicht verlassen, denn mit At tila marschierten noch andere versprengte Alanenstämme. Dennoch war der große Augenblick in der Laufbahn des Aëtius ge kommen. Auf der Messerschneide hielt er das Gleichgewicht. Er hat te sich der Hunnen zweimal schon in aller Öffentlichkeit als williger Hilfstruppen bedient. Er konnte daher auch jetzt laut darauf hinwei sen, daß die Hunnen seine Freunde wären und ihm helfen würden, die Westgoten zu bekämpfen, die den Bestand des weströmischen Rei ches bedrohten. Er konnte aber auch die Westgoten zur Hilfe gegen die Hunnen aufrufen und sie so unter seine Führung stellen. Dieser Plan gelang. Auf den Aufruf des Atius: »Ihr, die tapfersten aller Völker, müßt euch gegen den Tyrannen vereinigen, der die ganze Welt knech ten will«, erwiderte der westgotische König Theoderich: »Römer, ihr habt euer Ziel erreicht: Attila ist nun auch unser Feind.« Die Schlacht auf den Katalaunischen Feldern (in der heutigen Cham pagne) wurde als die Rettung der Welt vor der hunnischen Gefahr dar gestellt. In den zeitgenössischen Schilderungen hieß es, daß ›Attila sei ne Reihen so geordnet hatte, daß er selbst mit seinen tapfersten Leu ten die Mitte hielt‹. Die Ostgoten nahmen eine Ehrenstellung in der Schlachtordnung ein. Ihre Anführer waren die Brüder Walamer, Thi udimer und Widimer. Sie genossen als Amaler infolge ihrer erlauchten Abstammung ein höheres Ansehen als sogar der Hunnenkönig, der sie damals beherrschte. Auch der hochberühmte König Ardarich nahm mit einem riesigen Aufgebot seiner Gepiden an dieser Schlacht teil. Wegen seiner Treue und Anhänglichkeit saß er im Rate Attilas, der ihn und den Ostgotenkönig Walamer allen anderen Fürsten vorzog. 150
Denn Walamer wußte jedes Geheimnis zu wahren. Er war ein Mann ohne Falsch und besaß eine gewinnende Freundlichkeit. Die übrigen Könige und Führer der verschiedenen Völkerschaften gehorchten At tila wie Trabanten. Attila selber, der König aller Könige, stand sorgend über allen und sorgte für alle … Der Kampf wurde furchtbar. Der Bach, der an dem Schlachtfeld vor beifließt, schwoll vom Blut der Gefallenen und Verwundeten an wie sonst von Regengüssen: Ein Gießbach von Blut. Es heißt, Attila habe während der Schlacht seinen hochgemuten Sinn bewahrt. Er ließ eine Pyramide von Pferdesätteln auftürmen. Darauf wollte er sich, falls die Feinde einbrächen, verbrennen. Niemand sollte sich an seiner Verwun dung erfreuen, und der Herr so vieler Völker wollte in keines Feindes Hand fallen … Während Attila belagert wurde, suchten die Westgoten ihren Kö nig Theoderich, der im Kampfe vom Pferd gestürzt war. Sie fanden ihn inmitten eines Berges von Leichen … Sein Sohn Thorismund wollte den Tod seines Vaters rächen. Er suchte den Aëtius auf, um von ihm, dem Älteren und Erfahrenen, Rat einzuholen, was zunächst zu tun sei. Doch Aëtius fürchtete, die Goten könnten in der Folgezeit dem Römi schen Reich hart zusetzen, wenn die Hunnen völlig vernichtet wür den. Er gab ihm deshalb den Rat, in seine Heimat aufzubrechen und die vom Vater hinterlassene Herrschaft anzutreten. Es würden sonst schwere Kämpfe mit den eigenen Angehörigen entstehen und, was noch schlimmer sei, sie könnten ungünstig für ihn ausgehen … Schließlich brach die Nacht herein, und die Dunkelheit verhüll te das Schlachtfeld, auf dem angeblich 165.000 Gefallene lagen. Wer gesiegt hatte, wußte zunächst niemand zu sagen. Das Morgengrauen zeigte eine deutliche Niederlage der Hunnen. Den Rückmarsch von der Schlacht auf den Katalaunischen Feldern unternahm Attila nicht auf dem gleichen Weg, auf dem er gekommen war. Der Hunnenkönig machte eine Schwenkung nach dem Süden. Die erste Stadt, die seinen Weg aufhielt, war Aquileia. Sie wurde völlig zerstört. Die wenigen Ein wohner, denen die Flucht gelang, flüchteten in die Lagunen am Meer und siedelten sich in flüchtig errichteten Pfahlbauten an, die nur auf 151
dem Wasserweg zu erreichen waren. Die Stadt, die sie so gründeten, wurden später Venedig genannt. Aquileia hatte ein grausames Schicksal erlitten, aber schon die nächsten Städte auf dem Wege Attilas, Verona und Vicenza, konnten sich kaum mehr über ihn beklagen als über vorhergegangene Erobe rer. Und die Bewohner von Mediolanum und Ticinum (Pavia) konn ten sich durch Aushändigung ihrer Kostbarkeiten von jedem anderen Schaden freikaufen. Der hunnische Zug durch Oberitalien ließ keine so unbeschreibliche Zerstörung zurück, die den schrecklichen Ruf At tilas rechtfertigen könnte. Aber jetzt zog er weiter, und nur eine ge ringfügige Truppe unter Aëtius versperrte dem riesigen Heer den Weg nach Rom. Sich in die Richtung Ravennas, des kaiserlichen Hauptsit zes, zu wenden, wäre ein nutzloser Umweg für den Hunnenkönig ge wesen, denn aus Angst vor dem ›flagellum Die‹ war Valentinian III. aus Ravenna nach Rom geflohen. Warum, da Ravenna doch als der sicherere Ort galt? Welchen Zweck hatte die Flucht des Kaisers in die von seinen Vorgängern verlassene, von den Goten geschändete ehemalige Hauptstadt des Römischen Rei ches? Kurz nach seiner Ankunft in Rom verließ eine Gesandtschaft unter Führung des Papstes Leo I. die Stadt, um sich in das Lager der ›Gottesgeißel‹ zu begeben. Was in dieser weltgeschichtlichen Unterredung geschah, die der Hei lige Vater mit dem ›Väterchen‹ Attila pflog, wurde der Nachwelt nicht bekannt. Tatsache war, daß sich der ›schreckliche‹ Hunnenkönig nach der Unterredung mit dem Papst bereit erklärte, auf den Vormarsch ge gen Rom zu verzichten und sein Heer über die Alpen in seine Haupt stadt an der Donau zurückzuführen. Er drohte zwar, wie es hieß, wieder nach Italien zurückzukehren, falls ihm die kaiserliche Prinzessin Honoria nicht als Braut gebracht werde. Aber auch diese Drohung erscheint zweifelhaft, wenn die Nach richt richtig ist, daß Attila nach der Rückkehr in seinen Palast, in dem er angeblich einige Frauen hatte, Hochzeit mit einer jungen germa nischen Frau namens Hildiko feierte, die später im Nibelungenlied Kriemhild genannt wurde. Beim Hochzeitsmahl aß und trank Attila 152
ungewöhnlich viel. Man fand ihn am Morgen tot im Bett, an der Sei te seiner jungen Frau. Ein Blutgefäß war ihm angeblich während der Nacht geplatzt, und das Blut in seiner Kehle hatte den Erstickungstod herbeigeführt. VII Die Nachricht vom Tode Attilas ermutigte Valentinian III. zu selbstän digen Handlungen. Die ›Gottesgeißel‹, mit der Aaius nicht nur den germanischen Königen, sondern auch ihm gedroht hatte, bedrohte den Kaiser nicht mehr. Er hatte das Gängelband, an dem der ›patri cius‹ seine Mutter und ihn selbst gehalten hatte, satt. Er hatte Freun de seiner eigenen Wahl, besonders eines gewissen Petronius Maximus, der ihm riet, einen Herzenswunsch des Aëtius abzuschlagen. Der ›pa tricius‹ wollte seinen Sohn mit Valentinians Tochter Eudocia vermäh len. Eine heftige Auseinandersetzung folgte. Denn auch Aëtius hatte es satt, sich vom Kaiser, dessen Thron er von seiner frühesten Kindheit an mit List und Tücke, mit Gewalt und Geschicklichkeit gerettet hatte, in seinen Wünschen beschränken zu lassen. Er war auf alles gefaßt, als die Unterredung begann, nur darauf nicht, daß das Muttersöhnchen, der friedliche, sanfte Valentinian ihn kurzerhand niederstechen wür de. »Was habt Ihr getan?« schrie ein Höfling dem Kaiser nach der Er mordung des Aëtius zu. »Ihr habt Eure Rechte mit Eurer Linken abge hauen!« Die ungehinderte Herrschaft Valentinians dauerte nur wenige Mo nate. Der Senator Petronius Maximus, dessen schöne Frau er verge waltigt hatte, ließ ihn ermorden und zwang die Witwe des Kaisers, Eu doxia, die von seiner Anstiftung zur Ermordung ihres Gatten damals noch nichts wußte, ihn zu heiraten, denn seine eigene Frau war aus Kummer gestorben. Eudocia, ihre Tochter, gab er seinem Sohn Palla dius zur Frau. Petronius gestand Eudoxia seine Schuld, und blind vor Rachgier wandte sie sich an den Vandalenkönig Geiserich. Aber die 153
ses Hilferufs hätte es nicht bedurft, um den Vandalenkönig zu veran lassen, seine während eines Jahrzehnts erprobte Landungsflotte in See stechen zu lassen. Geiserich hatte sich während seiner ganzen Lauf bahn nur auf von vornherein sichere oder zumindest genau berechne te Unternehmungen eingelassen. Seine mit Vandalen und ihren Pferden beladenen Schiffe machten keinen Umweg. Rom war das Ziel Geiserichs, Ostia der Hafen. Das weströmische Reich hatte nicht einmal eine geschlossene Legion zur Abwehr der Sieger. Auf der Straße von Ostia nach Rom begegnete Gei serich nur eine einzige Truppe – und die war unbewaffnet. An der Spitze der Männer, die dem König der Vandalen in den Weg traten, schritt Leo I. von seinen Priestern begleitet. Auch über das schicksalhafte Gespräch des großen Papstes mit dem Vandalenkönig gibt es keinen eindeutigen Bericht. Die unzweifelhaf te Folge davon war jedoch, daß die christlichen Kirchen Roms in der vierzehn Tage dauernden Heimsuchung der Stadt verschont blieben. Geiserich benahm sich wie Alarich. Die Plünderung durch die Van dalen jedoch war gründlicher als die durch die Westgoten. Alles, was in den kaiserlichen Palästen und den Häusern der Reichen noch an Werten verblieben war, wurde auf die Schiffe der Vandalen verladen. Tausende Männer und Frauen wurden versklavt. Unter den Frau en befanden sich auch die Kaiserin Eudoxia und ihre beiden Töch ter. Geiserich verheiratete Eudocia an seinen Sohn Hunerich. Er selbst legte keinen Wert auf Eudoxia und als der neue Kaiser des oströmi schen Reiches ihn darum bat, sandte der Vandalenkönig die Witwe des weströmischen Kaisers und ihre jüngere Tochter nach Konstan tinopel. Geiserich blieb nicht lange in Rom. Der Trümmerhaufen der vergan genen Größe gefiel ihm nicht. Er wollte nach Karthago zurück, in sei ne Hauptstadt, die er mit den geraubten Schätzen prunkvoll auszubau en gedachte. Was mit Rom geschah, war ihm einerlei. Es würde verfal len, wie Karthago nach der Einnahme durch Rom verfallen war. Wür de es je wiederaufleben? Ihm lag daran, das karthagische Reich wie derzuerrichten. Er eroberte die Balearen, Sardinien und Korsika, um 154
den Westen des Mittelmeers unbehindert beherrschen zu können. Er war der allgewaltige König eines gewaltigen Reiches. Er und seine Van dalen lebten so, daß später über sie berichtet werden konnte: »Seitdem sie sich Afrikas bemächtigt hatten, badeten sie Tag für Tag und ließen ihre Tafel mit allem Guten und Köstlichen decken. Sie trugen auch reichlich Goldschmuck und medische Kleidung, die wir jetzt die chi nesische nennen. Im Theater und auf der Rennbahn und mit ande ren Ergötzlichkeiten, insbesondere mit Jagden, vertrieben sie ihre Zeit. Ebenso waren sie eifrige Zuschauer von Tänzen. Kurz, sie genossen alle Künste. Die meisten von ihnen wohnten in Gärten mit den herr lichsten Bäumen und ausgezeichneten Wasseranlagen.«
Neue Grenzen – Neue Reiche I Nach dem Tod Attilas zerfiel das große Hunnenreich so rasch, als wäre es nur ein europäischer Alptraum gewesen und hätte nie wirklich be standen. Die einzelnen germanischen Völkerstämme, die von den Hunnen besiegt worden waren, machten sich selbständig. In dem ei nen Jahrhundert ihrer Botmäßigkeit waren besonders die Ostgoten in den neuen Gebieten, in die sie durch die Hunnenwelle geschwemmt worden waren, so erstarkt, daß die Kaiser des oströmischen Reiches, die nach dem Aussterben der Theodosianischen Familie einer dem anderen mehr oder minder gewalttätig folgten, die Ostgoten ebenso fürchten mußten wie vorher die Hunnen. Das weströmische Reich bestand nur noch dem Namen nach. Die un ter der Herrschaft Attilas gezügelten Heruler, Skiren und Rugier waren nach Italien gezogen und ließen sich unter Androhung von Waffen gewalt nieder, wo immer es ihnen paßte. Inzwischen wurde ein Kai 155
ser nach dem anderen ausgerufen. Erst Avitus, ein westgotischer Feld herr, dem der in der allgemeinen Verwirrung wieder zusammenge tretene römische Senat die Anerkennung verweigerte. Dann herrsch te der Suebe Ricimer als ›patricius‹ für den als Kaiser bestätigten Ma jorian. Als Ricimer mit Majorian unzufrieden war, bekam Severus den Purpur. Und bald wieder ein neuer Mann, Anthemius, ein halbheid nischer Philosoph, der aus dem oströmischen Reich entsandt worden war und entweder von Ricimer hingerichtet wurde oder im Straßen kampf fiel. Olybrius, der jetzt den Purpur erhielt, überlebte seine Erhe bung zum Kaiser nur wenige Monate. Er starb eines natürlichen To des, um Glycerius Platz zu machen, an dessen Stelle bald Julius Nepos trat, den ein pannonischer General, Orestes, absetzte, um seinen Sohn Romulus, dem er den sinnbildlichen Namen des königlichen Gründers Roms gegeben hatten, zum Kaiser zu machen. Diesen letzten Kaiser des weströmischen Reiches, der den Spitzna men Augustulus führte, schickte der Rugier Odowakar, Anführer der germanischen Söldner, mit einem Jahresgehalt in die Campagna. Auch in Konstantinopel hatte sich ein häufiger Thronwechsel voll zogen, aber das war viel mehr im Zug innerer Entwicklungen als un ter dem Druck äußerer Umstände geschehen. Im gleichen Jahr, in dem der letzte römische Kaiser des Westens abgesetzt wurde, ergriff ein Ge neral namens Tarasicodissa die Macht im Osten des Römischen Rei ches. Er änderte seinen für die Volkstümlichkeit eines Herrschers zu schwierigen Namen in Zeno und setzte die aufgeklärte, überlegene Staatskunst der Ratgeber der Prinzessin Pulcheria und ihres Bruders Theodosius II. mit sicherer Gewalttätigkeit fort. Zeno I. entstammte dem wilden Bergvolk der Isaurier und verdankte seinen Aufstieg nicht nur seinen außerordentlichen Fähigkeiten, son dern auch seiner bedingungslosen Zugehörigkeit zu jener entscheiden den Gruppe oströmischer Staatsmänner, die unter keinen Umständen geschlossene germanische Stämme in das Heer des Kaiserreichs ein stellen wollten. Zeno wirkte, wie seine Vorgänger, für eine bodenstän dige wirtschaftliche Entwicklung und tat alles dafür, daß sich die gei stige Eigenart des oströmischen Reiches, die aus einer Mischung des 156
griechischen Wesens und des christlichen Glaubens entstanden war, entfalten könnte. Der Grundstein zu dieser Bildung der sogenannten byzantinischen Kultur, die im Wesen eine Fortsetzung der römischgriechischen dar stellte, war noch zu Zeiten Pulcherias und ihres Bruders Theodosi us II. gelegt worden. Während das weströmische Reich in politische Zersetzung geraten war, hatte eine Gruppe von Rechtsgelehrten nicht nur alle Gesetze, die seit Konstantin erlassen worden waren, im soge nannten Theodosischen Gesetzbuch zusammengefaßt, sie hatten auch eine Universität in Konstantinopel gegründet, die nach dem Muster der Athenischen Hochschulen eingerichtet worden war. Das ›Griechi sche‹ begann das Übergewicht über das ›Römische‹ zu gewinnen. Die in Byzanz gepflegte Erkenntnis, daß die geistige Entwicklung im Mit telmeerraum der Ausstrahlung griechischer Philosophie zu verdan ken war, hatte auch eine Rückführung des neuen Namens Konstan tinopel auf das alte Byzanz zur Folge, auf dessen Boden Konstanti nopel entstanden war. Byzanz war die einzige echte Kaiserstadt der Zeit, die wirkliche Hauptstadt eines immer noch gewaltigen und im überquellenden Wohlstand gesättigten Reiches, das Kleinasien, Syrien und Ägypten in seine Grenzen einschloß. Es war keine Militärmacht im üblichen Sinn, denn statt Geld für die Erhaltung eines stehenden Heeres auszugeben, zahlten die oströmischen Kaiser Tribute an ihre Nachbarn und machten sie so zu ihren Grenzwachen. Mehr wollten sie nicht. Auch Zeno vertrat wie seine Vorgänger den Standpunkt, daß das oströmische, das byzantinische Kaiserreich der wahrhafte Mittelpunkt der Welt sei und daß er es nicht nötig habe, mit Waffengewalt in das Geschehen einzugreifen, das durch seine Gesandten, Bevollmächtig ten oder Freunde in seinem Sinne beeinflußt werden konnte. Er nahm auch das Ende des weströmischen Reiches nicht zur Kenntnis. Für ihn bestand es noch – als eine Reihe von Provinzen, die durch unglückse lige Geschäftsführung der unglückseligen Partner im Westen vorüber gehend verlorengegangen waren. Was verloren war, mußte wiederge wonnen werden, das war alles, und auch der Schwerpunkt der geisti 157
gen und geistlichen Macht mußte, wie es den Gegebenheiten entsprach, nicht im erniedrigten Rom oder einer anderen kaiserlichen Hauptstadt des weströmischen Reiches, sondern in Byzanz gelegen sein. Diesen Plan bereitete Zeno Schritt für Schritt vor. Seine Überlegungen waren klar. Er sah die Wirklichkeit. Im Süden der Iberischen Halbinsel und in Nordafrika saßen die Van dalen. Wie lange noch? Bis eine byzantinische Flotte, die richtig ausge stattet sein würde, ihre frechen Könige und die maurischen Häuptlin ge, die mit ihnen verbündet waren, zur Vernunft gebracht haben wür de. Die Westgoten, die zwar ihre Grenzen nach dem Süden über beina he die ganze Iberische Halbinsel vorgeschoben hatten, sollten fürs er ste bleiben, wo sie waren. Wenn man die Umstände, die sie geschaffen hatten, richtig betrachtete, hatten sie aufgehört, germanische Barba ren zu sein. Sie hatten nicht nur die Lebensformen der vornehmen rö mischen Provinzialen angenommen, sondern auch ihre Sprache, oder sie doch so mit ihrer eigenen vermischt, daß sich, wer Latein sprach, mit den Westgoten verständigen konnte. Daß ihr König Eurich sich groß machte und die westgotische Herrschaft ausdehnte, erschien, aus der Ferne gesehen, nicht beunruhigend. Ein Herrscher, der Ordnung in die Rechtsverhältnisse seines Volkes brachte, konnte erst als Bun desgenosse gewonnen und später wieder in seine Schranken gewiesen werden. Im übrigen Gallien hatte sich eine ähnliche Entwicklung voll zogen: Die Franken waren in wenigen Jahrzehnten da und dort bis an die Grenzen des westgotischen Reiches vorgedrungen, hatten die ver sprengten Reste anderer germanischer Stämme aufgesogen und waren bemüht, sich zu einem ›Reich‹ zusammenzufassen. Auch sie sprachen ein Gemisch ihrer eigenen Mundarten, die sich mit dem Lateinischen vermengten und zu einer eigenen Sprache wurden. Blieb Italien, das von den ehemaligen germanischen Vasallenvölkern Attilas durchsetzt war. Daran wäre vom Standpunkt Zenos nichts aus zusetzen gewesen, wenn der von diesen Eindringlingen auf italischen Boden zum Herrscher erwählte General Odowakar sich nicht wie ein unabhängiger König benommen hätte, der es ablehnte, um die förm liche Anerkennung seiner Oberhoheit durch den oströmischen Kaiser 158
zu bitten. Dieser Odowakar ging sogar so weit, daß er auf die von ihm geprägten Münzen seinen Namen setzte, statt den Zenos. Das ging nicht an. Da mußte eine rasche und sichere Änderung herbeigeführt werden. Zeno wünschte zwei Fliegen mit einem Schlag zu treffen. An den nördlichen Grenzen und auch innerhalb des oströmischen Reichsgebietes lebte noch ein germanisches Volk, die Ostgoten, die das Erbe Attilas in diesen Gegenden angetreten hatten. Nach dem Tode der ›Gottesgeißel‹ hatten die kaiserlichen Vorgänger Zenos den Ostgoten Zahlungen geleistet, damit sie dafür sorgten, daß die Wan derung anderer Barbarenstämme dem oströmischen Reich fernge halten würden. Sie hatten den Ostgoten auch Pannonien zuerkannt. Die Entgegennahme von Geld und der Austausch von guten Worten waren jedoch nicht Bürgschaft genug für die Einhaltung des Vertra ges durch die Ostgoten gewesen. Sie mußten auch Theoderich, den siebenjährigen Sohn ihres Königs Thiudemer, als Geisel nach Byzanz schicken.
Der junge Gote lernte im kaiserlichen Palast weder Schreiben noch Le sen, aber er erwarb mit offenen Augen und offenen Ohren die Kenntnis der zeitgenössischen Kriegskunst und gewann Einblick in die Handha bung der Staatsgeschäfte. Als Thiudemer starb, war Theoderich kaum dreißig Jahre alt. Mit ihm als König der Ostgoten trat eine der bemer kenswertesten Erscheinungen des Mittelalters in die Geschichte. Bald nach seiner Erhebung erhielt Theoderich den Titel ›patricius‹ des oströmischen Reiches und führte im Auftrage Zenos sein Volk, dem zwanzigtausend auserlesene Krieger den Weg bahnten, nach Ita lien. Er wurde von der Bevölkerung und auch von der Priesterschaft, trotz seines arianischen Glaubens, als Feldherr des oströmischen Kai sers freundlich empfangen. Theoderich hatte dennoch kein leichtes Spiel gegen Odowakar, der die Burgunden vom Genfer See zu Hil fe rief. Sie fielen Theoderich in den Rücken. Ohne die eilige Hilfe der Westgoten wären seine kriegerischen Erfolge zweifelhaft gewesen. Die 159
Burgunden wichen zurück. Theoderich zog gegen Odowakar, der sich in Ravenna verschanzte. In dieser kritischen Lage vermittelte der Bischof von Ravenna und erreichte, daß die beiden arianischen Feldherren sich einigten, künftig gemeinsam über Italien zu herrschen. Theoderich sicherte auch Odo wakar den Königstitel zu, unter der Bedingung allerdings, daß ihm die Tore der belagerten Stadt zu einer freundschaftlichen Zusammenkunft geöffnet würden. Die Zusammenkunft in Ravenna wurde durch ein üppiges Gast mahl gefeiert. Odowakar und Theoderich betraten mit ihrem Gefol ge den festlich geschmückten Saal. Aber statt des erwarteten Hand schlags, zu dem Odowakar treuherzig die Rechte ausstreckte, erhielt er das Schwert Theoderichs in die linke Brustseite. Die letzten Worte Odowakars waren: »Wo ist Gott?« II Der Ostgotenkönig Theoderich war einer der wenigen Herrscher, dem die Geschichte den ehrenden Beinamen ›der Große‹ zuerkannte. Er wurde zur legendenhaften Gestalt. In die Heldensage ging er ein als Dietrich von Bern. Diese den Ablauf der Zeiten überdauernden Auszeichnungen ver dankte Theoderich, der ein überragender Vermittler zwischen den bis herigen Bewohnern Italiens und seinen Goten wurde, seinem vorbild lichen Wirken in einer erregenden Übergangszeit – aber auch dem Ge schichtsschreiber Cassiodor, der sein Sekretär und Ratgeber war. Dieser Abkömmling einer vornehmen römischen Familie schrieb aus Überzeugung und zur Rechtfertigung der Dienste, die er dem land fremden Gotenkönig über seinen Tod hinaus leistete, eine Geschichte der Goten, um seinen eigenen Standesgenossen und engeren Landsleu ten zu beweisen, daß auch die Goten edle Vorfahren und eine glorrei che Vergangenheit hätten. Diese Werbung für eine friedliche Würdi 160
gung der kriegerischen Einwanderer auf italischem Boden war ein we sentlicher Bestandteil des umfassenden Planes Theoderichs, nicht nur eine Brücke zwischen Germanen und Römern, sondern auch zwischen Heidentum und Christentum zu schlagen. Er wollte ein gleichzeitig durch das gotische Königsrecht und das römische Recht der Vergan genheit gesichertes Zusammenleben der unter seiner Herrschaft ste henden Völkerschaften herbeiführen. Für den des Schreibens und Lesens unkundigen König verwaltete die ›Königskanzlei‹ die Staatsgeschäfte. Dieses Amt war auch der Zu sammenkunftsort der gotischen und römischen Ratgeber Theoderichs. Unter seinem Vorsitz ging die gemeinsame Arbeit vor sich. Der leiten de Grundsatz dabei war, daß die Gesetze und Einrichtungen des ehe maligen weströmischen Reiches so weit erhalten werden sollten, als sie nicht im offenen Widerspruch zu den gotischen Gesetzen und Einrich tungen standen. Die weströmischen Behörden behielten die Rechts sprechung und die örtliche Verwaltung. Sie waren aber von militäri schen Aufgaben ausgeschlossen. Krieger durften nur die Goten sein, nur sie übten die Polizeigewalt aus. Ihr Sold war hoch, und ein Drittel des italischen Grundbesitzes wurde ihnen überdies als freies Geschenk zuerkannt, damit sie bodenständig würden. Durch die vorhergegangenen mörderischen Eroberungszüge hatte die Bevölkerungsdichte auf der Apenninischen Halbinsel so abgenom men, daß es an landwirtschaftlichen Arbeitskräften fehlte. Theoderich löste italische Kriegsgefangene von anderen Völkern aus und siedel te die Heimkehrer an. Er ließ die Pontinischen Sümpfe trockenlegen und sorgte dafür, daß die neuen Bebauer des vernachlässigten Landes gute Preise für die Versorgung der Städte mit den nötigen Nahrungs mitteln erhielten. Das war nur durch eine mit Umsicht gelenkte Wirt schaft möglich. Höchst- und Mindestpreise führten zu einer allgemei nen Senkung der Lebenskosten. Der Wiederaufbau von zerstörten Ge bäuden gab vielen Städten wieder ihr altes Gesicht. Theoderich lehnte es ab, sich als glanzvoller Herrscher in Rom nie derzulassen. Er erbaute sich einen bescheidenen Palast in Ravenna. Er regte an, daß sich der römische Senat im altehrwürdigen, angestamm 161
ten Gebäude versammelte und seine Verfügungen in feierlichen Sit zungen anerkannte. Die dem Wesentlichen mehr als dem Äußerlichen zuneigende Art Theoderichs kam auch dadurch zum Ausdruck, daß er Münzen nur im Namen des byzantinischen Kaisers prägen ließ und sich selbst mit dem Titel eines Königs beschied, den er allerdings in rö mischer Sprache führte. Er war ›rex‹, aber er bestritt nicht die byzanti nische Oberhoheit. Während seiner langen Herrschaft griff Theoderich nur selten zu den Waffen. Aber seiner militärischen Überlegenheit fiel es nicht schwer, sich Süditaliens, Siziliens und der ihm von Byzanz zugestandenen Ge biete des westlichen Balkans zu bemächtigen. Cassiodor pries als eine der wichtigsten Neueinführungen seines Herrschers die schon in den Großreichen des Altertums geübte Aussendung königlicher Beauftrag ter in seinen Einflußraum. Diese Gesandten erhielten den Titel ›comi tes‹ und bewachten im Auftrag des Königs die Ausführung seiner Ver fügungen und Gesetze. Die gesicherte Ausnahmestellung Theoderichs beeindruckte die Stammeskönige der Germanenvölker auf dem Boden des ehemaligen weströmischen Reiches. Sie waren seinen Vorschlägen zugänglich, eine friedliche Verbindung aller Germanenreiche zu schaffen, und durch aus nicht abgeneigt, das Entstehen der großen germanischen Völker familie, die Theoderich vorschwebte, durch verwandtschaftliche Be ziehungen zu ihm zu fördern. Der Westgotenkönig Alarich II. heira tete Thiudigota, die Tochter Theoderichs, der Vandalenkönig Thrada mund seine Schwester Amalafried, während Hermanifried, der König der Thüringer, seine Nichte Amalaberg zur Frau nahm. Eine andere Schwester Theoderichs, Ostrogota, wurde die Frau des burgundischen Thronfolgers, während Theoderich selbst zur Krönung der verwandt schaftlichen Beziehungen die Schwester des Frankenkönigs Chlodo wech zu seiner Königin machte. Diese Eheschließungen, die beinahe alle bedeutenden germanischen Königshäuser miteinander verschwägerten, waren nicht nur der staats männischen Geschicklichkeit Theoderichs zu verdanken, sie kamen auch dem Wunsch seiner neuen Verwandten entgegen, sich durch ihn 162
und mit ihm in ihrer Herrscherwürde und im Besitz ihrer Gebiete zu festigen. Sie alle waren im Grunde freibeuterische Einwanderer, die al les, was sie besaßen, ihrer eigenen Gewalttätigkeit oder der ihrer Vor fahren verdankten und denen daran gelegen war, nun ein Recht auf das zu erwerben, was sie schon hatten. Es gefiel ihnen, daß Theoderich eine friedliche Verschmelzung der gotischen mit den römischen Le bensformen erstrebte. Sie drängten ihren Völkern sein Beispiel auf. Ernsthafte Schwierigkeiten hatte Theoderich nur mit dem Franken könig Chlodowech (Chlodwig), den die erfolgreiche Eroberungssucht seiner Jugend auch als Erwachsenen nicht ruhen ließ. Er hatte seine Laufbahn als Erbkönig eines römischen Grenzgebietes begonnen, in dem sich seine Familie, die Merowinger, noch in den Zeiten kaiser licher Macht festgesetzt und das sie zu einem stattlichen Königreich ausgebaut hatten. Kurz nach seiner Thronbesteigung hatte Chlodo wech die ihm benachbarten römischen Provinzen in Nord- und Mit telgallien besetzt und die Bevölkerung, die aus Römern, Kelten und Germanen bestanden hatte, seinen Franken gleichgestellt. Im Grunde hatte ihm eine ähnliche Völkervermischung vorge schwebt wie Theoderich. Er hatte nur nicht die Geduld und auch nicht den byzantinischen Rückhalt des Königs der Ostgoten gehabt und die Verschmelzung gewaltsam vollzogen. Seine ausgleichende Tätigkeit hatte sich darauf beschränkt, daß er den Franken befohlen hatte, sich des Lateinischen als Umgangssprache zu bedienen, und seine neuen Untertanen gezwungen hatte, das fränkische Volksrecht, die ›lex Sali ca‹, anzuerkennen. Den Königssitz hatte Chlodowech in die ehemali ge Hauptstadt des dem Christentum abtrünnigen Julian Apostata, das spätere Paris, verlegt. Dort entschloß er sich, den christlichen Glauben anzunehmen. Theoderich hatte durch seine Gesandten versucht, auf den Franken könig dahin zu wirken, daß auch Chlodowech Arianer werde. Aber Chlotilde von Burgund, die Chlodowech geheiratet hatte, war rö mischkatholisch erzogen worden. Sie wünschte, daß ihr Gatte ihren Glauben annehme. Der Bischof von Tours, das zum Westgotenreich gehörte, beriet die Königin und gewann das Vertrauen Chlodowechs. 163
Der vom Arianismus überzeugte Westgotenkönig Alarich II. verbann te den Bischof. Unter dem Vorwand, seinen neuen Freund nicht im Stich lassen zu wollen, fiel Chlodowech in das Westgotenreich ein. Auf Veranlassung Alarichs wurde er von den Alamannen im Rücken angegriffen und schwor, daß er sich im Falle eines Sieges römischkatholisch taufen las sen werde. Er besiegte die Alamannen und setzte seinen Vormarsch gegen die Westgoten nach dem Süden fort. Er drang bis Bordeaux vor. Erst das Eingreifen Theoderichs zwang ihn, Frieden zu schließen. Chlodowech erkannte, daß er die Ausbreitung seiner Grenzen dem Süden zu nur durch einen Kampf auf Leben und Tod mit Theoderich fortsetzen könnte. Dazu fühlte er sich noch nicht stark genug. Er wand te sich nach dem Norden und Westen gegen die Alamannen und ver bündete sich mit den Burgunden, die die gemeinsamen Feinde aus ih ren Gebieten drängten. Durch diese Feldzüge weitete Chlodowech die Grenzen des fränkischen Reiches aus und legte den Grundstein zu sei ner bestimmenden Stellung im europäischen Raum. Dazu trug auch die Annahme des römischkatholischen Glaubens durch Chlodowech bei, der seine alten und neuen Untertanen veranlaßte, sich zur gleichen Kirche zu bekennen. Diese sich beinahe gleichzeitig vollziehende An näherung im Glauben und in kulturellen Belangen führte zur Verein heitlichung der Bevölkerung im Frankenreich, das auf dem Wege war, sich zur Großmacht zu entwickeln. Auch die Eroberungen der Burgunden auf alamannischen Gebie ten beunruhigten Theoderich. Er konnte dennoch nicht mehr tun, als die fliehenden Alamannen, die sich an ihn um Hilfe wandten, in den weströmischen Provinzen, die unter seiner Herrschaft als ›patri cius‹ standen, anzusiedeln. Er gab ihnen Raum zwischen Donau, Lech und Iller. Sie verschmolzen in fester Ansiedlung mit den ›Bajovarii‹, ei nem germanischen Volksstamm, dessen Name auf das böhmische Ur sprungsland hindeutet, und wurden später Bayern genannt. Gleich zeitig unternahm es Theoderich, seinen Einflußraum im Osten auszu weiten, allerdings ohne selbst zu den Waffen zu greifen. Er versorgte Rodulf, den Herulerkönig, der über die Germanen nördlich und öst 164
lich des Donauknies herrschte, »väterlich« mit der nötigen Ausrüstung und gab ihm den Titel ›Waffensohn‹. Dieser gewaltige Machtzuwachs Theoderichs gefiel dem neuen Kai ser von Byzanz nicht. Anastasius I. der Zeno I. gefolgt war, hatte nicht die persönliche Beziehung seines Vorgängers zum Ostgotenkönig. Er wollte jedoch keinen Krieg vom Zaun brechen, um ihn in seiner Aus breitung zu behindern. Das einzige Mittel, das Anastasius hatte, Theo derich in Schach zu halten, war ein Bündnis mit Chlodowech. Um ein Gegengewicht zu schaffen, schloß Theoderich seinerseits ein Bündnis mit Alarich II. das gegen die gefährliche diplomatische Zange von Pa ris und Byzanz gerichtet war. Darauf schien Chlodowech im Einver nehmen mit Anastasius gewartet zu haben. Der Frankenkönig fiel in das Westgotenreich ein, während eine byzantinische Flotte an der Ost küste Italiens kreuzte und mit Landungen drohte. Theoderich ließ sich nicht einschüchtern. Seine Goten kamen zwar zu spät, um Alarich II. das Leben zu retten, aber doch noch rechtzei tig, um die mit burgundischen Truppen vereinten Franken in Gallien zu besiegen. Der Tod Alarichs bedeutete eine noch gewaltigere Erweiterung der Macht 'Theoderichs. Die Westgoten boten ihm den Königstitel an. Er beschied sich, wie immer, und begnügte sich mit der stellvertretenden Herrschaft über das Westgotenreich. Er war zu jeder Selbstbeschrän kung bereit, um Chlodowech doch noch für seinen Lebensplan zu ge winnen, einen gewaltigen germanischen Völkerbund auf dem Bo den des weströmischen Reiches zu errichten. Aber die Würde eines Konsuls, die Byzanz dem Frankenkönig anbot, galt dem Merowinger mehr. Auch als Chlodowech, frühzeitig gealtert, starb, gelang Theoderich sein Lebensplan nicht. An der Ostgrenze des von ihm königlich ver walteten Reiches befreite sich der Germanenstamm der Langobarden von der Oberherrschaft seines ›Waffensohns‹ und besetzte das heruli sche Donaureich. Diese neue Reichsgründung eines Germanenkönigs war nicht durch die eigene Kraft der Langobarden zustande gekommen, sie war durch 165
die Hilfe des neuen byzantinischen Kaisers, Justin I. möglich gewor den, der wie sein Vorgänger Anastasius alles daransetzte, Theoderich nicht zu groß werden zu lassen. Justin hatte keinen leichten Stand. Er wußte, daß er nicht der ›geeig nete‹ Nachfolger des bedeutenden Anastasius war, der Byzanz durch den Bau der Langen Mauer, die sich über sechzig Kilometer vom Marmara-Meer bis zum Schwarzen Meer erstreckte, unangreifbar gemacht und einen ungeheuren Staatsschatz hinterlassen hatte. Der bejahrte il lyrische Emporkömmling hatte sich nach einem kurzen Volksaufstand nach dem Tode des großen Sparmeisters einfach des Thrones bemäch tigt, da keiner der Wettbewerber rascher gewesen war, und behielt ihn durch die Geschicklichkeit seines Neffen Justinian, den er erzogen hat te. Eine der ersten Handlungen Justinians, für die freilich Justin ver antwortlich zeichnete, war die Verbannung der Manichäer aus dem Reichsgebiet. Diese Anhänger einer weitverbreiteten Glaubensgemein de, die es unternahm, das Christentum mit den gläubigen Vorstellun gen Zarathustras von Gut und Böse, von Licht und Finsternis zu ei ner Einheit zu verbinden, wurden zu Verbrechern gestempelt. Gleich zeitig verfügte Justinian die Ausstoßung aller Heiden und Ketzer aus der Staatsverwaltung und aus dem Heer. Auch die Arianer fielen un ter dieses Gesetz – mit Ausnahme der Goten, über die Theoderich herrschte. Diese im Namen Kaiser Justins vorgebrachte Kampfansage der Kir che gegen seine Glaubensgenossen beunruhigte Theoderich, der dem katholischen Glaubensbekenntnis in seinem Königreich volle Freiheit gelassen hatte, so sehr, daß er sich umstellt fühlte. Es ging das Gerücht, daß seine Absetzung als ›rex‹ und ›patricius‹ wegen seines arianischen Glaubens unmittelbar bevorstehe und daß nicht der Kaiser in Byzanz, sondern der römische Senat, den doch Theoderich selbst mit Macht befugnissen ausgestattet hatte, seine Absetzung aussprechen würde. Die Nachforschungen des alternden Ostgotenkönigs ergaben, daß tat sächlich eine Verschwörung in seiner unmittelbaren Umgebung be stand. Auf wen konnte er sich noch verlassen? Gewiß nicht auf seinen 166
Kanzler Boethius, der eine anti-arianische Schrift über die Dreieinig keit verfaßt hatte. Überdies galt auch der Freund des Boethius, der Se nator Albinus, als Drahtzieher der Verschwörung. Theoderich ließ sowohl Boethius als auch Albinus verhaften und verfaßte in seiner Königskanzlei ein Schreiben an den Kaiser in By zanz. Darin hieß es: »Es bedeutet, sich ein Vorrecht Gottes anzuma ßen, wenn man die Herrschaft über das Gewissen beansprucht. Die Gewalt eines Herrschers beschränkt sich auf die politische Staatsfüh rung. Er hat nur ein Recht, diejenigen zu strafen, die den öffentlichen Frieden stören. Die gefährlichste Ketzerei ist die eines Herrschers, der sich von einem Teil seiner Untertanen lossagt, nur weil sie einen ande ren Glauben haben als er selbst.« Justin erwiderte, er habe das Recht, Ämter den Menschen vorzuent halten, auf deren Treue und Ergebenheit er sich nicht verlassen könne. Die Ordnung im Staate erheische eine Einheit des Glaubens. Im Gefängnis verfaßte Boethius indessen eines der wichtigsten Wer ke des frühen Mittelalters: ›Von der Tröstung der Philosophie‹. Glück, erklärte der Lebenserfahrene, sei nicht in Reichtum oder Ruhm zu fin den, auch nicht in der Lust oder der Gewalt. Es gäbe kein wahres und sicheres Glück, außer in der Vereinigung mit Gott. Er erklärte: »Glück seligkeit ist die Gottheit selber.« Der bedeutendste zeitgenössische byzantinische Geschichtsschrei ber berichtete, daß Theoderich den Tod seines Kanzlers, den er grau sam hatte hinrichten lassen, auf das bitterste bereute. Kurze Zeit dar auf starb der Ostgotenkönig selbst. Der gleiche Prokop schrieb Jahr zehnte später zusammenfassend über Theoderich: »Seine gewaltige Hand sorgte für Gerechtigkeit allerorts. Er war ein starker Schirmherr für Recht und Gesetz. Er war nur dem Namen nach ein Tyrann, in Wirklichkeit war er ein richtiger Kaiser, nicht um Haa resbreite geringer als irgendeiner von denen, welche sonst diese Wür de bekleidet haben.«
167
III Justin überlebte Theoderich nicht lange. Sein Tod hinterließ keine Lük ke, denn Justinian I. übernahm nun auch dem Namen nach die Herr schaft, die er zu Lebzeiten seines Onkels tatsächlich innegehabt hatte. Er tat es allem Anschein nach nicht gerne. Er hätte lieber im Verbor genen weitergewirkt und sich mit weniger Störungen seinen persön lichen Zerstreuungen gewidmet, die denen seines lebenslustigen Er ziehers entgegengesetzt waren. Justinian war nicht für leichte Vergnü gungen. Er hätte es vorgezogen, Dichter oder Rechtsgelehrter, Glau bensforscher oder Philosoph, Musiker oder Architekt zu sein. Die prunkvolle Hofhaltung mit allen ihren verschwenderischen Genüssen am kaiserlichen Tisch und mit den ins Maßlose übertriebenen Zer streuungen bedeutete eine Belästigung für den enthaltsamen Mann, der nur pflanzliche Kost aß und von der frühen Morgendämmerung bis tief in die Nacht hinein zu arbeiten pflegte. Er hätte vielleicht sogar seinen Ratgebern nicht nachgegeben, als er kurz nach seiner Thronbesteigung abdanken wollte, um ausgebro chene Unruhen der Bevölkerung zu beschwichtigen, wenn seine Frau nicht darauf bestanden hätte, Kaiserin des oströmischen Reiches zu bleiben. Die als Tochter eines Bärenbändigers in einem Zirkus aufgewach sene Theodora hatte ihre Laufbahn als Schauspielerin begonnen. Sie hatte sich jedoch weniger auf der Bühne als im engsten Kreis der rei chen Lebemänner betätigt, bevor sie in Byzanz als Nackttänzerin in schlüpfrigen Aufführungen bekanntgeworden war. In seinen ›anec dota‹, der ›unveröffentlichten‹ Geheimgeschichte Theodoras, erzähl te Prokop, dessen Ruf als zuverlässiger Darsteller der Zeitgeschichte die Zeiten überdauerte, daß sie mehrmals Schwangerschaften von un bekannten Vätern unterbrochen habe und dann doch einem unehe 168
lichen Kind das Leben schenkte. Prokop berichtete nicht, ob der Va ter dieses Kindes der Syrier Hekebolos war, als dessen verlassene Ge liebte Theodora in Alexandria untertauchte. Der berühmte Anekdo tenerzähler weiß nur, daß sie sich bald darauf wieder in Byzanz als arme, ehrbare Wollespinnerin durchbrachte. Seine Berichterstattung erscheint um so eher frei von gehässigen Vorurteilen zu sein, als er gelegentlich der Schilderung einer Bildsäule Theodoras in sachlicher Freundlichkeit feststellte: »Die Statue ist erlesen schön. Sie wird aber dem Aussehen der Kaise rin nicht gerecht. Es wäre einem Menschen auch gar nicht möglich, ih ren Liebreiz in Worten wiederzugeben oder in Stein zu meißeln.« Daß der Bücherwurm Justinian angesichts einer so überwältigen den Schönheit sich in Theodora verliebte, war nicht erstaunlich. Man staunte jedoch am Hof von Byzanz, daß er eine Frau mit einem so ein deutig anstößigen Vorleben ohne Zögern heiratete und zur Kaiserin erhob. Würde Byzanz jetzt eine neue Messalina erleben? Justinian war seiner Sache sicher: Diese junge Frau, die alle Niede rungen des Lebens kennengelernt hatte, würde sich nach ihrer Erhö hung nicht nach der Gosse zurücksehnen. Wie mit allen anderen Wag nissen seiner Laufbahn hatte er mit dieser gewagten Erwägung recht. Theodora wurde eine so gute kaiserliche Ehefrau, daß selbst die bos haftesten Verleumder ihr keine Untreue nachsagen konnten. Sie wur de auch die begabteste Beraterin Justinians, die seine Lebensfremdheit durch ihre Lebenserfahrung ergänzte. Daß sie geldgierig und macht hungrig war, kam ihm zugute, und es störte ihn auch nicht, daß sie gut aß und trank, da sie ihn fasten ließ, wenn er es wollte, und ihn nicht daran hinderte, sich bescheiden zu kleiden, während sie einen wahr haft kaiserlichen Aufwand trieb. Die Byzantinische Lebensform, die sich in ihrer übertriebenen Schaustellung köstlicher Trachten und kostbaren Schmuckes selbst überbot, sollte den Reichtum und die Macht des oströmischen Reiches dartun. Sie kam nicht nur durch üppige Gelage zum Ausdruck, die in ihrer Ausschweifung selbst die römischen Festlichkeiten der Glanzzeit übertrafen, sondern auch in den Prunkbauten der Paläste und Gottes 169
häuser. Die der heiligen Weisheit, der ›Hagia Sophia‹, gewidmete Kir che, die von Justinian errichtet wurde, blieb ein eindrucksvolles Denk mal der byzantinischen Pracht. Die Kaiserin der großartigen Moden und des köstlichen Lebens war Theodora, trotz der betonten Einfach heit ihres Mannes. Justinian war einer jener Pantoffelhelden, der genau wußte, wie weit er nachgeben sollte und wann es nötig war, den Herrn im Hause zu zeigen. Er ließ manchmal auch Grausamkeiten Theodoras gegen ihre Gegner zu, damit sie ihm selbst nicht zugeschrieben würden, und auch gnädige Handlungen, damit er selbst nicht Gnade üben müsse und am Ende gar als Schwächling beurteilt werde. Obwohl der Anschein oft dagegen war, arbeiteten Justinian und Theodora so eng miteinander, daß nur sie beide wußten, wann sie gegeneinander arbeiteten, und auch dann geschah es zumeist im gegenseitigen Einverständnis. Die kaiserlichen Ehegatten, die die mächtigsten Herrscher ihres Jahr hunderts wurden, unternahmen es, das schon von den Vorgängern Ju stinians vorgezeichnete Ziel zu erreichen: die Wiederherstellung des gro ßen Römischen Reiches. Dazu müßte Afrika von den Vandalen befreit werden, Italien von den Ostgoten, die Iberische Halbinsel von den West goten, Gallien von den Franken und Britannien von den Angeln und Sachsen. Überdies mußte die Glaubenseinigkeit, die als sichernde Vor aussetzung der Vereinheitlichung des Reiches galt, hergestellt werden. Justinian schreckte nicht vor der ungeheuren Aufgabe zurück. Er glaubte, alle Voraussetzungen zu haben – Geld und hervorragende Feldherren. Da war vor allem Belisar, der wie er selbst einem illyrischen Bauerngeschlecht entstammte und keinen anderen Ehrgeiz kannte als die Größe seines Kaisers, dem er bedingungslos ergeben war. Erst machte Justinian den Versuch, sein Reich nach dem Osten aus zudehnen. Es ging ihm um die Beherrschung der Handelsstraßen nach Asien und Indien, die von den Königen der Perser streitig ge macht wurde. Hundert Jahre hatte das oströmische Reich Frieden mit Persien gehalten. Jetzt zog Belisar mit nur ungenügenden Truppen aus und siegte in jedem Gefecht. Das hatte Justinian erhofft. Er hatte das eine Jahr der glorreichen Ab 170
wesenheit Belisars seinerseits dazu benützt, eine Flotte von hundert Kriegsschiffen und fünfhundert Begleitschiffen im Bosporus zu ver sammeln, und war begierig, sie ausfahren zu lassen. Wenn er sich in einer überlegenen Lage gütlich mit dem König der Perser einigte, war sein Rücken gedeckt, und er konnte das große Unternehmen begin nen, das ihm am Herzen lag. Justinian schloß Frieden mit den Persern, zahlte sogar einen nam haften Betrag für ihre Freundschaft und berief Belisar zurück, damit er Afrika für ihn erobere. Zu den Begleitern Belisars gehörte auch Prokop, der den Krieg gegen die Vandalen beschrieb, die seit dem Tod König Geiserichs mehr wie satte römische Bürger lebten als wie kampfbereite Krieger und durch die Feindseligkeiten ihrer ehemaligen Bundesgenossen, der Mauren, geschwächt worden waren. Sie waren durch den Überfall Belisars, der fünfhundert Reiter an Land setzte, so überrascht, daß er ihren rasch aufgestellten Widerstand überrannte und Karthago mit einem Hand streich eroberte. Gelimer, der letzte König der Vandalen, der sich, dem Hungertod nahe, ergab, lachte laut auf, als er Belisar vorgeführt wurde. Einige der Anwesenden meinten, ihm habe das Übermaß an Leiden den Verstand geraubt und sein Lachen wäre das eines Irren. Seine Freunde wider sprachen dieser Auffassung. Sie erklärten, König Gelimer wäre wohl bei Sinnen, aber er sei als Gefangener, nachdem er alles Gute und Böse im Leben erfahren habe, zu der Überzeugung gelangt, daß das ganze Menschenleben nur eines großen Lachens wert sei. Während Belisar seinen Triumph in Byzanz feierte, griffen die Mau ren, die schon die Vandalen angegriffen hatten, die Gruppen, die Be lisar zurückgelassen hatte, an, und der Feldherr Justinians mußte die ihm zu Ehren veranstalteten Siegesfeierlichkeiten eilig verlassen, um die Früchte seines Sieges zu sichern. Er schlug die Mauren zurück, fe stigte die byzantinische Herrschaft in den nordafrikanischen Provin zen des ehemaligen weströmischen Reiches und bereitete die Durch führung des neuen großen Auftrages vor, den Justinian ihm schon er teilt hatte. 171
Die Voraussetzungen bedeutender Eroberungsfeldzüge waren damals wie immer die örtlichen Gegebenheiten und die durch den Ablauf der Ereignisse herbeigeführten Gelegenheiten. Der Erbe des Ostgotenrei ches Theoderichs war sein Enkel, der Knabe Athalarich, für den seine Mutter Amalaswintha die Herrschaft führte. Sie war von ihrem gro ßen Vater erzogen worden, Gotin und Römerin in einem zu sein. Ihre Neigung für die römische Lebensart überwog so sehr, daß sie den jun gen Gotenkönig als Römer erziehen lassen wollte. Dagegen lehnten sich die vornehmen Goten des Hofes auf und zwangen die Königin mutter, ihren Sohn von ihnen ausbilden zu lassen. Die Bemühungen der gotischen Vornehmen, aus Athalarich keinen italischen Schwäch ling, sondern einen wahrhaft gotischen Mann zu machen, brachten es dahin, daß er seine Mannbarkeit zu lebhaft unter Beweis stellte und als Achtzehnjähriger dem Übermaß an Ausschweifungen erlag. Sein Nachfolger wurde der Vetter Amalaswinthas, Theodahad, dem sie die Bedingung auferlegte, daß sie den Thron mit ihm teilen würde. Er sag te zu und setzte sie gefangen. Sie wandte sich um Hilfe an den Kaiser von Byzanz. Das war auch folgerichtig, denn vor dem Feldzug Belisars in Nor dafrika hatte Justinian ein enges Bündnis mit Amalaswintha ge schlossen, um zu verhindern, daß die Ostgoten mißtrauisch würden, wenn er die Vandalen besiegte. Jetzt schickte Justinian seine Botschaf ter nach Paris, zu den Erben Chlodowechs, den vier gleichberechtig ten Königen der Franken, um durch freundschaftliche Beteuerungen zu verhindern, daß sie sich in die bevorstehenden Kampfhandlungen einmischten. Der Zeitpunkt dieser byzantinischen Gesandtschaft war vorzüglich gewählt, denn es war den Merowingerkönigen daran gele gen, in ihren eigenen Ausbreitungsabsichten nicht etwa durch das Da zwischentreten anderer Mächte gestört zu werden. Sie hatten den größ ten Teil des thüringischen Reiches erobert und das Maingebiet besie delt. Sie wollten auch die nördlichen Gegenden des Thüringerreiches, die von den Sachsen besetzt worden waren, gewinnen, und auch das Burgunderreich sowie die bayrischen Gebiete, in denen die Alaman nen von Theoderich angesiedelt worden waren. Nichts lag den Fran 172
kenkönigen ferner als eine Unterstützung der Ostgoten, die ihnen die Neuerwerbungen streitig machen konnten. Unter diesen Umständen waren die Ostgoten auf sich selbst ange wiesen, als Belisar von Nordafrika aufbrach und Sizilien eroberte. Auf wessen Seite würde er sich stellen? Die Ostgoten waren uneinig unter einander, die einen waren für Amalaswintha, die anderen für Theo dahad, und ihre Streitkräfte waren schwach. Die Bevölkerung der ita lischen Städte begrüßte Belisar als Befreier. Da er den Ruf hatte, ein treuer Anhänger der heiligen Dreieinigkeit zu sein und keineswegs ei ner der oströmischen Ketzer, der etwa den arianischen Goten zugetan sein konnte, war die Geistlichkeit für ihn. Er zog beinahe kampflos als Sieger in Rom ein. Wieder war Belisar das Unmögliche geglückt. Er hatte seinem Kai ser an der Spitze von nur fünftausend Mann wieder ein Reich erobert, denn es war klar, daß Justinian die Eroberungen für sich behalten wollte. Er würde sich zwar Amalaswinthas annehmen, doch nicht als Königin. Aber noch bevor Belisar der unglücklichen Tochter Theode richs eine Einladung nach Byzanz übermitteln konnte, war sie von ih rem Vetter umgebracht worden. Das war besser, als Justinian es wün schen konnte. Er konnte sich als Rächer seiner Verbündeten gebärden und die Absetzung Theodahads verlangen. Die Goten kamen ihm zu vor und erwählten Wittigis (Witichis) zu ihrem König. Mit hundertfünfzigtausend Mann, der gesamten ostgotischen Macht, zog der neue König der Ostgoten vor Rom und belagerte Beli sar. Es fehlte an Lebensmitteln und an Wasser. Der byzantinische Ge neral wagte es nicht, seine kleine Truppe durch römische Männer zu verstärken, da die Senatoren ihm vorwarfen, er sei daran schuld, daß sie ihr tägliches Bad und die Reste des Wohlergehens vermißten, die ihnen nach den Plünderungen durch die Westgoten und Vandalen üb riggeblieben waren. Rom war für Belisar eine Falle. Er hielt aus in der Hoffnung, daß Verstärkungen kämen. Ein Jahr verging. Aber die erbetenen Verstärkungen kamen nicht. Auch nicht, als Wittigis der Belagerung müde geworden war und sich mit seinem Heer nach Ravenna zurückzog. Endlich, endlich landeten 173
oströmische Legionen auf italischem Boden. Jetzt ging Belisar zum Angriff über und machte sich an die Belagerung Ravennas. Das war ein aussichtsloses Unterfangen. Die Lagunen und Sandwüsten mach ten eine Erstürmung der Stadt unmöglich. Aber Belisar, der selbst alle Nöte einer Belagerung mannhaft ertragen hatte, vertraute seiner Zä higkeit mehr als der der Ostgoten. Er hatte in Rom nur fünftausend Mann zu verpflegen gehabt. Wie viele Männer hungerten in Ravenna? Die Zeit arbeitete für ihn. Schließlich war es soweit. Die Ostgoten bo ten Belisar die Übergabe Ravennas an, falls er bereit sei, ihr König zu werden. Warum nicht? Eine bessere Möglichkeit für einen raschen Sieg gab es nicht. Belisar stimmte zu, zog in Ravenna ein und nahm Wittigis ge fangen. Er überließ die ehemalige weströmische Kaiserstadt mit dem so eroberten Ostgotenreich seinem Kaiser, als wäre es ein Geschenk. Das war eine große Geste, die allerdings von Justinian nicht richtig gewertet wurde. Um so weniger, als Belisar, der eine Königskrone ausgeschlagen hatte, bei seiner Rückkehr nach Byzanz sein Licht nicht unter den Schef fel stellte. Er ließ sich über alle Maßen feiern. Er war ein gutaussehen der, hochgewachsener Mann. Der Ausdruck seines Gesichts war ganz besonders liebenswürdig. Er benahm sich stets freundlich und leutselig gegen jedermann, mochte er auch noch so arm und gering sein. Das Heer war für Belisar, das Volk liebte ihn. Was konnte ihn dar an hindern, Justinian und Theodora mit seinem üblichen leutseligen Gehaben aus dem kaiserlichen Palast zu jagen und sich die Krone auf zusetzen? Dem mußte vorgebeugt werden. Belisar wurde die Führung des Heeres entzogen. Aber nur für kurze Zeit, denn die Generäle, die Justinian an seiner Stelle nach Italien gesandt hatte, waren dem neu erlichen Erwachen des ›furor teutonicus‹ der Ostgoten nicht gewach sen. Ein neuer König, Totila, hatte sie wieder zu einem kampftüchtigen Heer vereinigt und belagerte Rom. Als Belisar endlich von Justinian ausgeschickt wurde, die verzweifel te Stadt zu retten, kam er zu spät. Totila hatte Rom erobert und war mit zehntausend Mann in die Stadt eingezogen. In der kurzen Zeit, die der junge Gotenkönig in Rom blieb, wurde 174
die Plünderung der ehemals reichsten Stadt der Erde vollendet. Aber die Krieger Totilas hatten den unbedingten Befehl, wehrlose Männer nicht zu morden und Frauen nicht zu schänden. Totila verließ Rom, um Ravenna zu belagern. Der inzwischen gelandete Belisar nahm die Gelegenheit wahr, Rom wiederzuerobern. War es so weit, wie Justinian es mehr als ein Jahrzehnt geplant hat te? Konnte er nun, da er im Westen erfolgreich gewesen war, an die Er oberung des Ostens schreiten? Er erklärte dem König von Persien den Krieg, und der Feldherr, der sich schon gegen die Perser bewährt hat te, sollte ihn führen. Belisar verließ Italien, aber kaum war die Nachricht von seiner Ab fahrt nach Ravenna gedrungen, als Totila wieder zum Angriff über ging. Er eroberte Rom, Sizilien, Korsika und Sardinien. Es schien, daß das Ostgotenreich wieder in vollem Glanz erstehen würde. Während Belisar die Perser aus Syrien vertrieb, erhielt ein neuer Feldherr Justinians, der Eunuch Narses, den Befehl, mit einem überle genen Heer und einer Kriegsflotte nach Italien überzusetzen und das Ostgotenreich ein für allemal zu vernichten. Er erledigte seine Auf gabe gründlich. Totila wurde in der Schlacht bei Tadinae geschlagen und fiel. Sein Nachfolger Teja fand den Tod in der Schlacht am Vesuv. Die letzten bewaffneten Ostgoten erhielten freien Abzug aus Italien. Es hieß, daß sie in See stachen und durch das Mittelmeer und den Atlan tischen Ozean nach dem Norden Europas fuhren und in den Ländern der Skandinavischen Halbinsel Aufnahme fanden. IV Der ›Gotenkrieg‹ Justinians hatte achtzehn Jahre gedauert. Aber der Kaiser war in niedergeschlagener Stimmung, als er die Nachricht vom Sieg erhielt. Er kam nicht darüber hinweg, daß er Witwer geworden war. Dieser unersetzliche Verlust war nicht das einzige Unglück, das ihn getroffen hatte. Das oströmische Reich, das er durch seine staats 175
männische Geschicklichkeit und die Tüchtigkeit seiner Feldherren so gewaltig erweitert hatte, war von Naturereignissen und Seuchen heim gesucht worden. Die Kriegszüge hatten den Staatsschatz verbraucht, und Justinian hatte auf dem Gebiet, auf dem er sich am sichersten ge fühlt hatte, am meisten versagt: es war ihm nicht gelungen, die Glau benseinheit in seinem Kaiserreich zu verwirklichen. Justinian hatte selbst Theodora, seine geliebte Kaiserin, nicht von ihrem ketzerischen Irrglauben abbringen können. Sie hatte sich trotz seiner verzweifelten Bitten nicht dazu bewegen lassen, der Lehre der Monophysiten abzuschwören. Auch sie hatte geglaubt, daß Christus nur die göttliche Natur habe und nicht zwei verschiedene Naturen, die göttliche und die menschliche, wie die katholische Kirche es verkün dete. Es nützte nichts, daß Justinian, nachdem ihn Theodora doch da von überzeugt hatte, daß der Monophysitismus nicht zu unterdrücken sei, den römischen Dekan Vigilius zum Papst erhob, nachdem Papst Silverius von Belisar aus Rom weggeführt worden und in der Verban nung gestorben war. Vigilius gehorchte erst dem Kaiser, aber er wider rief dann seine Gutheißung einer Schrift, durch die Justinian die ket zerische Sekte beruhigen wollte. Unter neuem Druck stimmte er wie der dem Beruhigungsversuch des Kaisers zu. Er wurde von der nor dafrikanischen katholischen Geistlichkeit ausgestoßen und wollte nach Rom zurückkehren, um der Christenheit den Glaubenswunsch Justinians vom Heiligen Stuhl aus zu verkünden. Der Papst des Kai sers starb unterwegs, und als Justinian ein Kirchenkonzil nach Byzanz einberief, nahm kein westlicher Bischof daran teil. Die Vereinheitlichung des Glaubens, die der kaiserliche Gottes gelehrte als Voraussetzung der Reichseinheit betrachtete, kam nicht zustande. Er erreichte nur ein Lebensziel: Die Vereinheitlichung des Rechts im nach ihm benannten Justinianischen Kodex. Das unter sei ner Aufsicht entstandene ›corpus iuris civilis‹, der ›zivile Rechtskörper‹, wurde später zur Grundlage des westlichen Rechts, stieß aber in seiner Zeit durch seine streng katholische Einstellung die Angehörigen aller anderen Glaubensbekenntnisse ab und trug dazu bei, daß sie nach an deren Rechtsgrundsätzen verlangten, daher auch nach der Herrschaft 176
anderer Gesetzgeber, um der Zwangsjacke des von Justinian festgeleg ten oströmischen Rechts zu entgehen. Die Unerbittlichkeit seiner Gesetzgebung, die in ihrer Engstirnigkeit jede Abweichung vom kaiserlichen Glaubensbekenntnis verdammte, richtete sich am Sterbebett Justinians gegen ihn. Er hatte seine eigene Auffassung geändert und war mit einem Male davon überzeugt, daß der Leib Christi unverwesbar und die menschliche Natur Christi nie mals den Bedürfnissen und Schwächen des sterblichen Fleisches un terworfen gewesen sei. Der sterbende Kaiser blieb dabei, obwohl die Priester ihn warnten, daß seine Seele in den Flammen der Hölle ewig brennen würde, falls er die Ketzerei nicht widerrufe. V Der gewalttätige Versuch Justinians, Rom in seiner alten Größe wie derherzustellen, beschleunigte den endgültigen Zerfall. Die Apenni nische Halbinsel hatte nach dem blutigen ›Gotenkrieg‹, der das Land entvölkert hatte, aufgehört, ein wertvoller Bestandteil des gesamtrö mischen Reiches zu sein. Es lohnte kaum, diese verarmten, verwüste ten Landstriche durch militärischen Aufwand zu sichern. Es genüg te, Statthalter zu ernennen, »Exarchen«, die an Ort und Stelle retteten, was noch zu retten war, und die Besitzungen erhielten, die mit den vor handenen Kräften erhalten werden konnten. Auch die nordafrikani schen Eroberungen Justinians verloren durch die unaufhörlichen Un ruhen der örtlichen Bevölkerungen ihren wirtschaftlichen und politi schen Wert. Die Stützpunkte, die seine Generäle an der westgotischen Küste der Iberischen Halbinsel gewonnen hatten, waren kaum auf die Dauer zu halten, und dem Ansturm der aus ihrer Ruhe aufgescheuch ten Perserkönige hielten die oströmischen Besatzungen in Syrien und Ägypten nicht stand. Noch gefährlicher aber als die Feldzüge der Perser, die Gegenstöße in eine von der Vergangenheit vorgezeichnete Richtung waren, wurden 177
die Einbrüche kriegerischer Völkerschaften in jene Gebiete, die von den Hunnen, den Ostgoten und anderen Germanenstämmen besiedelt gewesen waren. Neue Völker traten in den geschichtlichen Raum. Vor allem die asiatischen Nomadenstämme, die unter dem Namen Oghusen den Osten des persischen Königreiches bedroht und sich durch die Vereinigung mit wilden Gebirgsbewohnern Innerasiens und umherstreifenden Zügen anderer Nomadenstämme zu einem Volk vereinigt hatten. Sie bildeten das erste türkische Reich. Es war kaum ein abgeschlossenes, begrenztes Gebiet, aber das 'ge fährliche Zusammenströmen von unter Waffen stehenden Stämmen, die Lebensraum suchten, zwang die benachbarten Chinesen zur Ab wehr. Sie hatten schon den Einfall der sogenannten ›weißen Hunnen‹ in Indien mit ängstlichem Mißtrauen beobachtet. In den Gebieten des Indus und Ganges hatte der Sturm der wilden Horden zum Zerfall ei nes Großreiches geführt, mit dem die chinesischen Kaiser befreundet gewesen waren und dem sie und ihre Nachbarn auf den japanischen Inseln die Lehren des Buddha verdankten. Trotz der großen Mauer und seiner tief verwurzelten Kultur entging China nicht der Weltenunruhe. Das ›Reich der Mitte‹ spaltete sich in einen nördlichen und einen südlichen Teil. Das geschah auch durch die Unterbrechung der Geschlechterfolge der Kaiser, die jedoch nach wie vor sowohl im Norden als auch im Süden des Reiches nach der al ten Einigung strebten. Um China wieder zu dem zu machen, was es gewesen war, mußten die ungezähmten Angreifer bekämpft und ver trieben werden. Eine zielbewußte Verteidigung der Großen Mauer begann, und nun standen auch die Türken am Scheideweg der gewalttätigen Wande rung, wie die Hunnen Jahrhunderte vorher. Auch in diesem Zeitab schnitt der Geschichte überwog der Drang nach dem Westen, und wieder setzte sich die Welle beute- und landhungriger Reiter in Bewe gung und trieb flüchtende Völker und Stämme vor sich her. Durch das Völkertor des Kaukasus stieß das türkischmongolische Steppenvolk der ›Streifenden‹, die in der persischen Sprache ›Awaren‹ (= Avaren) genannt wurden, an die Donau vor und unterwarf die als 178
Slawen bezeichneten Stämme, die sich nach dem Zusammenbruch des großen Hunnenreichs zu kleineren völkischen Einheiten verbunden hatten. Die Awaren waren nicht mehr die wilden Reiter, wie es die Hunnen gewesen waren. Irgendeine Ordnung hatte entweder schon in ihrem Ursprungsgebiet gewaltet, oder sie hatten die Ordnung und Kriegsfüh rung von Hunnen, die nach dem Tod Attilas nach dem Osten zurück gewandert waren, erlernt. Da weder die frühen Slawen noch die Awaren bei ihren Zügen Ge schichtsschreiber mit sich führten, wurde es nie deutlich klar, woher sie ursprünglich kamen und wer sie wirklich waren. Von manchen Forschern wurden die Slawen als Angehörige der großen, wandern den indogermanischen Völkerfamilie bezeichnet, von anderen als das Ergebnis des Zusammenlebens illyrischer Bergbewohner mit den ver sprengten Angehörigen hunnischer Stämme, die sich mit als indoger manisch bezeichneten Volksstämmen im europäischen Raum früher oder später vermischten. Je nach dem Gebiet, in dem sie auftauchten, wurden sie auch Serben, Sorben, Wenden und Wilzen genannt. Slawische Völker überfluteten die nördlichen Teile der Balkanhalb insel, siedelten sich an und drangen auch südwärts an die Dalmatini sche Küste vor. Die Awaren fielen in die Pannonische Tiefebene ein und bedrohten durch ihre gefährliche Anwesenheit ihre Nachbarn, die Langobarden, die, von Justin und Justinian unterstützt, ihr Donaureich gegen die mög liche Ausbreitung des Ostgotenreichs Theoderichs errichtet hatten. Die Langobarden erkauften für den zehnten Teil ihrer Viehherden den Frieden mit den Awaren, gaben die Pannonische Tiefebene auf und machten sich auf den Marsch in das geschwächte schutzlose Ita lien. Sie kannten den Weg nur allzu gut, denn Narses, der Feldherr Justinians, hatte seine Legionen im Kampf gegen die Ostgoten durch langobardische Anwerbungen aufgefüllt. Zwanzigtausend Sachsen sowie Angehörige anderer ostgermani scher Völkerschaften, denen die Nachbarschaft der Awaren zu un heimlich geworden war, schlossen sich den Langobarden an. 179
Sie errichteten unter ihrem König Alboin ein Reich auf italischem Boden. Es gab Kämpfe mit den byzantinischen Besatzungen. Auch die Fran ken, die sich ausbreiten wollten, bedrängten die Langobarden. Aber das waren nur gelegentliche Störungen des neuen Königreiches, das seine Grenzen besonders in der Po-Ebene und in Mittelitalien zu festi gen begann. Ihre südlicher gelegenen Eroberungen unterstanden erst unabhängigen Herzögen, die sich selbstherrlich niederließen. VI Während die Greuel des ›Gotenkrieges‹ und die Verwüstungen der eindringenden Germanenstämme das Leben auf der Apenninischen Halbinsel immer hoffnungsloser in Unordnung brachten, entstand eine geistige Herrschaft der Ordnung, deren Wirkung die Zeit über dauern sollte. Diese beispielgebende Gründung war einem vornehmen römischen Bürger, namens Benedikt von Nursia zu verdanken, der sich in seiner Jugend in eine Höhle am Fuß der Sabinerberge geflüch tet hatte, um den Versuchungen der Stadt zu entgehen. Er führte ein so vorbildliches Einsiedlerleben, daß ihn die Mönche eines nahe gele genen kleinen Klosters baten, er möge ihr Abt werden. Benedikt nahm das Angebot nur unter der Bedingung an, daß sie sich seiner strengen Zucht fügten. Die guten Vorsätze der Mönche reichten nicht hin. Sie waren seinen Anforderungen nicht gewachsen. Sie wollten sich seiner durch Gift entledigen. Der Versuch mißlang, und der Abt kehrte in seine Höh le zurück. Der Ruf seiner bedingungslosen Frömmigkeit und Entsa gung schuf ihm neue Anhänger, die sich in seiner Nähe ansiedelten, um sich seinen Vorschriften zu unterwerfen. Auch die meisten dieser freiwilligen Mönche versagten. Benedikt verließ seine Höhle und be gab sich mit nur wenigen Willigen nach Monte Cassino, einem Hügel, auf dessen Kuppe ein heidnischer Tempel stand. Er zerstörte den alten 180
Bau und errichtete ein Kloster, das Mutterhaus der nach ihm benann ten Benediktiner, denen er eine Klosterregel nach bestem Wissen und Gewissen gab. Wie beinahe jeder Gründer hatte auch der später heiliggesprochene Benedikt von Nursia aus seiner eigenen Unzulänglichkeit gelernt. Er hatte an sich selbst und anderen beobachtet, daß das Einsiedlerleben, das den östlichen Mönchen in der Abgeschlossenheit der Wüste und in der warmen Witterung natürlich erscheinen konnte, auf europäischem Boden nicht nachgeahmt werden sollte. Statt der einsamen Bußübung und der enthaltsamen Lebensführung des Einzelnen, das zum Wettbe werb herausfordern konnte, sollte eine Gemeinschaft frommer Mönche entstehen, über deren Handlungen ein Abt wachen und dafür sorgen würde, daß sie den gemeinsamen Regeln gehorchten. Viele Einsiedler hatten ihre Höhlen nach kurzer Zeit der Entsagung verlassen und waren in ihr früheres Leben zurückgekehrt. Diese Mög lichkeit sollte auch den ins Kloster Eintretenden offenbleiben. Sie soll ten erst als Novizen Zeit und Gelegenheit haben zu prüfen, ob sie den Entbehrungen, die das Klosterleben ihnen auferlegte, gewachsen seien. Erst dann sollten sie Mönche werden. Das Mönchsgelübde mußte schriftlich abgefaßt, von Zeugen bestä tigt und feierlich auf den Altar gelegt werden. Durch diese Handlung verpflichtete sich der Mönch zu unbedingtem Gehorsam und durfte das Kloster nur noch mit der Einwilligung des Abtes verlassen. Die vierundzwanzig Stunden seines Tages gehörten der Regel, dem Kanon. Jeder Mönch mußte arbeiten, nach genauen Vorschriften fasten und die Gebetsstunden einhalten, die um zwei Uhr morgens begannen und bei Sonnenuntergang mit der Vesper endigten. Bei Einbruch der Nacht gingen die Mönche schlafen, nicht ohne noch ein letztes Gebet zu ver richten. Sie schliefen in ihren Kleidern, aber auch die waren nicht ihr Eigentum. Sie durften nichts besitzen, »weder Buch noch Tafel, noch Griffel, nichts, denn allen sei alles gemeinsam!« Unter den Mönchen gab es keinen Standesunterschied. Es hieß in den Regeln: »Wer frei ge boren ist, darf nicht höher gestellt werden, als wer als Sklave ins Klo ster eintritt … In Christus sind wir alle eins.« 181
Dieser unerbittlich festgefügten Ordnung ergeben, arbeiteten die Mönche des vom heiligen Benedikt gegründeten Klosters auf den Fel dern, in den Werkstätten, in der Küche oder in der Bibliothek, wo sie Handschriften vervielfältigten. Die kurze Zeit, die nicht vom Leitsatz des Kanons, ›Ora et labora‹, erfüllt war, wurde der wohltätigen Näch stenliebe gewidmet. Aber auch die durften die Frommen nicht nach freiem Willen üben, sondern nur im Auftrag des Abtes, der von den Mönchen aus ihrer Mitte gewählt wurde, wenn sein Vorgänger gestor ben war.
Der heilige Benedikt hatte schon das Zeitliche gesegnet, als ein Streif zug langobardischer Krieger das Kloster Monte Cassino plünderte. In die ausgebrannten Mauern kehrten die überlebenden Mönche zurück. Mit ihnen kamen Bauern und Städter, die allen Besitz und ihre Fami lien verloren hatten und sich nach gottgefälliger Zurückgezogenheit sehnten. Wer Zuflucht vor der Unsicherheit des irdischen Lebens such te, konnte sie im Kloster finden, wenn er sich den Regeln beugte. No vizen waren willkommen. Es hieß: »Gebt euren Stolz und eure Freiheit auf, und ihr werdet hier Sicherheit und Frieden finden!« Die Gründung des heiligen Benedikt fand Nachahmung im europä ischen Raum. Die Benediktinerklöster, die so entstanden, waren von einander unabhängig. Das einzige, das sie miteinander verband, war die gleiche Regel und die gleiche Obrigkeit, der sich ihre Äbte beugten: der Heilige Vater in Rom.
Eine andere Art von Kloster schuf der Abkömmling einer unendlich reichen römischen Senatorenfamilie, Gregor I. der als Papst ›der Gro ße‹ genannt wurde. Der eigentliche Begründer des Kirchenstaates wur de nicht Priester aus Enttäuschung und um sich den Versuchungen des Lebens zu entziehen. Seine weltliche Laufbahn war so erfolgreich ge 182
wesen, daß er schon als Dreiunddreißigjähriger Präfekt von Rom ge worden war. Als er dieses Amt des obersten Bürgers der heimgesuch ten Stadt niederlegte, war Gregor davon überzeugt, daß das Ende der Welt bevorstehe. Er verschenkte seine Liegenschaften an Gotteshäuser, er machte sein übriges Vermögen flüssig und verteilte es unter die Ar men. Er gestaltete den alten, ererbten Senatorenpalast, den er bewohn te, in ein Kloster um, nannte es das Andreaskloster und wurde sein erster Mönch. Drei Jahre lebte Gregor nur von rohen Gemüsen und Früchten und unterzog sich unausgesetzten Bußübungen. Die demütige Entsagung des ehemals reichen und mächtigen Man nes beeindruckte den Heiligen Stuhl so sehr, daß Gregor zum Diakon ernannt und dann nach Byzanz geschickt wurde. Auch als Gesandter des Papstes im kaiserlichen Palast setzte Gregor die mönchische Le bensführung fort. Aber er rundete doch während seines langjährigen Aufenthalts in Byzanz seine Weltkenntnis ab und wurde nach seiner Rückkehr nach Rom von den Mönchen des Andreasklosters zum Abt erwählt. Als Papst Pelagius einer Pestepidemie zum Opfer fiel, erwähl ten nicht nur die Priester, sondern auch das Volk von Rom Gregor zum Papst. Der einzige, der sich der einstimmigen Wahl widersetzte, war er selbst. Er schrieb sogar einen Brief nach Byzanz mit der flehentlichen Bitte, daß der Kaiser ihm die Anerkennung versage. Der Brief wurde abgefangen. Gregor wollte fliehen, aber er wurde gewaltsam in die Pe terskirche gebracht und zum Papst geweiht. Das neue Haupt der Christenheit ergab sich im päpstlichen Palast wie in seinem Kloster der Entsagung, der Arbeit und dem Gebet. Seine uneigennützige Bedürfnislosigkeit und seine früh erworbene Kenntnis in der Verwaltung seiner eigenen Güter führten dazu, daß er das ›pa trimonium Petri‹, den Besitz der Bischöfe von Rom, nutzbringend ver walten und die Einkünfte wohltätig verwenden konnte. Er verteilte an das Volk allmonatlich Lebensmittel. Die päpstlichen Diener sorgten dafür, daß die Kranken und Gebrechlichen Roms auch gekochte Spei sen erhielten. In dem von ihm verfaßten ›Liber pastoralis curae‹ setz te Gregor den Priester dem Hirten gleich, der seine Herde pflege. Die Schrift wurde ein ständiger Ratgeber für die Bischöfe, das Lehrbuch 183
der Christenheit. Der Papst selbst nannte sich ›Diener der Diener Got tes‹. Kein Augenblick seines Tages blieb ungenützt. Die Macht seiner gewaltigen Persönlichkeit übertrug sich auf seine Abgesandten. Durch ihn belehrt, bekehrten sie die arianischen Westgoten auf der Iberi schen Halbinsel. Er gewann durch die Entsendung von vierzig Mön chen das heidnische Britannien für die Kirche. Gregor schrieb viele Hunderte Briefe und Glaubenswerke. Den nach haltigsten Eindruck machten seine Schriften und Predigten, die sich mit dem nahenden Ende der Welt befaßten. Der Glaube, den Gregor verkündete, trug den Stempel des Schreckens. Er warnte vor der Ver derbtheit der menschlichen Natur, vor den Versuchungen allgegen wärtiger Teufel. Durch die Beschwörung von Engeln, Dämonen, He xen, Zauberern und Geistern erschütterte er die Einbildungskraft der Christen, ebenso wie durch die von ihm verkündete magische Wirk samkeit von Reliquien und Heiligenbildern. Er legte fest, daß die Bi bel in jeder Hinsicht das Wort Gottes sei, ein vollständiges Gefüge der Weisheit und der Schönheit. Das Buch der Bücher sei gelegentlich dunkel und oft in einer volkstümlichen oder bildhaften Sprache abge faßt. Die Kirche sei als die Hüterin der geheiligten Überlieferung die einzige zur Auslegung der Bibel wirklich befähigte und gerechtfertig te Einrichtung. Gott stehe außerhalb des Verstehbaren, verkündete er: »Wir können nur sagen, was ER nicht ist, nicht aber was ER ist.« Die Hölle sei gewiß nicht ein leeres Wort, sondern tatsächlich ein finsterer, grundloser unterirdischer Abgrund, ein unauslöschlicher Feuerbrand, der dennoch nie zur endgültigen Vernichtung des Verdammten führe, noch seine Schmerzempfindlichkeit je abstumpfe. »Zum Schmerz tritt noch die Schreckensangst der sich immer vermehrenden Pein und das Entsetzen über die Qualen der geliebten Menschen hinzu, die gleich falls verdammt sind, und auch die Hoffnungslosigkeit, je erlöst oder des Segens der gänzlichen Auslöschung teilhaftig zu werden.« Nur selten leuchtet durch das Schreckensbild der Hölle die Hoff nung auf die göttliche Gnade, auf die fürsprechende Vermittlung der Heiligen: »Der Sünder ist verdammt, der nicht an die geheimnisvoll erlösenden Wirkungen der Sakramente glaubt, die allen christlichen 184
Büßern zugänglich sind.« Mit der Angst vor dem grauenhaften Ende hielt Gregor der Große die Christenheit in seinem Bann. Seine Predig ten vom kommenden Ende erschreckten manche reichen und mäch tigen Herren so sehr, daß sie der Kirche Landvermächtnisse mach ten und dazu beitrugen, das ›patrimonium Petri‹ zu einer kräftigen, in sich gefestigten wirtschaftlichen Einheit zu machen. Aber die Grenzen des entstehenden Kirchenstaates waren nicht so weit gezogen, wie die Macht Gregors des Großen reichte. Und sein Reich war nicht von die ser Welt. VII Die große Angst, die Papst Gregor durch seine erschütternden Dro hungen heraufbeschwor, wurde so allgemein, daß sie die Lebensfor men im europäischen Raum bestimmend beeinflußte. Dadurch wur de Rom, das so ganz und gar aufgehört hatte, eine politische Macht zu bedeuten, das Sinnbild der geistlichen Macht und des christlichen Glaubens. Die bis an die Zähne bewaffneten Legionen, die im Namen des Senats und des Volkes von Rom und der römischen Imperatoren die Überlegenheit eines kunstvollen Staatengebildes verkörpert hatten, waren nie so erfolgreich gewesen, wie die neuen Eroberer, die sich bar fuß oder auf armseligen Sohlen im Namen der römischen Kirche auf machten, die Länder zu bereisen, die durch die Standarten der Legio nen beherrscht worden waren. Durch seine Feldherren und Krieger, durch seine Tempelpriester und kaufmännischen Unternehmungen hatte Rom seine Art zu sein und zu denken, zu glauben und zu fühlen, zu bauen und zu leben in allen Provinzen des ungeheuren Reiches verbreitet. Die römische Lebensart war derart zum Vorbild der verschiedenartigen Bewohner des Reiches geworden, daß sowohl die Gesetze als auch die Gebräuche vereinheit lich worden waren. Mit dem zunehmenden Wohlstand der provinzi ellen Städter und Landbesitzer war die Pflege der Lebensfreude nicht 185
nur zur zweiten Natur dieser Römer im weiteren Sinne geworden, son dern auch zum zweiten Glauben durch die heidnischen Priester, die aus dem Sinnengenuß einen Gottesdienst gemacht hatten. Die freudig gesteigerte Lebensform, die diese Gesamteinstellung zum sinnlichen Dasein mit sich gebracht hatte, wurde nach dem er folgreichen Eindringen des christlichen Glaubens in die ehemals rö mischen Städte und Landsitze als heidnisch gebrandmarkt und ange feindet. Die Gläubigen, die das mönchische Vorbild der Entsagung veranlaß te, um der ewigen Seligkeit willen oder aus Furcht vor der Verdamm nis jeden Genuß um des Genusses willen zu verdammen, mußten den gewöhnlichen Vergnügungen, die nicht einen gottgefälligen Zweck hatten, den Kampf mit allen Mitteln ansagen. Nicht mehr üppige Ge lage oder prunkvolle Zurschaustellungen beeindruckten die Massen, die sich dem Evangelium aufgetan hatten, sondern demütiges Fasten und reuevolle Bußfertigkeit. Hoch und niedrig, reich und arm ergaben sich dem Gebet, der Kasteiung und versuchten, in ihrem Kreis den Ei fer der Mönche nachzuahmen, die ausgezogen waren, ungläubige Hei den zu bekehren. Diese Entwicklung nahm mit den Jahren und Jahrzehnten zu und veränderte die europäische Lebensführung bis in die letzten Win kel der entlegensten Haushalte. Wer nicht so lebte, wie es geschrieben stand und gepredigt wurde, hatte die furchtbaren Folgen des Jüngsten Gerichts zu gewärtigen. Es konnte jeden Tag kommen, und wer sich nicht heute vorsah, für den konnte es morgen zu spät sein. Die Angst war der unwiderlegbare, unaufhaltsame Sendbote, der die lauen Christen aufmunterte und der Heidenbekehrung voranschritt. Manche reiche Grundherren und Fürsten bemühten sich, ihre Sünden mit Gold und Gütern aufzuwiegen, die sie den neugegründeten Klö stern schenkten, um bei den Stellvertretern des Stellvertreters Chri sti Nachsicht und Vergebung zu erlangen. Das Gewissen wurde aber nicht immer durch die Hingabe von Geschenken entlastet. Die Vor stellung der begangenen Sünde prägte sich dem Gedächtnis und dem Gefühlsleben ein und quälte durch die in der Einbildungskraft herauf 186
beschworenen, unendlichen Strafen, die jenen drohten, die keine Ver gebung fanden. Es schien leichter und beruhigender, dem Gebot Got tes zu folgen, als sich vor den Folgen der Nichtbeachtung zu fürchten. Allmählich entstand eine neue Sittenlehre, die ganz und gar auf den Ausstrahlungen des christlichen Glaubens begründet war, und mit der neuen Sittlichkeit hielt eine neue Art des Denkens und Fühlens Ein zug in die Seelen der Menschen und veränderte die Gewohnheiten und Gebräuche in ihren Häusern. Diese Umwertung im Wesen der ursprünglichen Bewohner des westlichen Europas und der Völkerschaften, deren Wanderung durch die Bildung eigener Reiche im wesentlichen zum Stillstand gekommen war, vollzog sich nur schrittweise in Raum und Zeit. Es gab wohl ent schiedene Rückfälle in das alte heidnische Leben und vielfältige Ver suche, das Neue mit dem Gewohnten vergnüglich zu verbinden, aber die einmal begonnene Entwicklung war unaufhaltsam. Sie äußerte sich an den Königssitzen der Merowinger, die das wachsende Fran kenreich beherrschten, sie kam zum Ausdruck auf dem Boden der bri tannischen Inseln und im Westgotenreich, dessen Könige sich im Sü den Frankreichs und auf der Iberischen Halbinsel so sicher zu fühlen glaubten, daß sie ihre aufmerksame Wehrhaftigkeit und Vorsicht im Wohlleben und der christlichen Reue vergaßen, und auch an den Hö fen der Langobardenkönige und in den Schlössern der germanischen Herzöge, die sich im Süden Italiens unabhängig gemacht hatten und ihre Kriegslust in gelegentlichen Kämpfen mit den byzantinischen Ex archen auslebten. VIII Noch einmal ermannte sich das oströmische Reich unter Herakleios I. Der aus Armenien stammende Kaiser versuchte, den Zerfall des Rei ches aufzuhalten, das Justinian durch sein herausforderndes Verlan gen nach der ehemaligen Größe so empfindlich geschwächt hatte. Es 187
gelang auch für kurze Zeit. Was die Nachfolger Justinians an die Perser verloren hatten, gewann Herakleios in zähen Kriegszügen zurück. Niemals vorher war das oströmische Reich so sehr gefährdet gewesen wie zu Beginn seiner Herrschaft. Der König der Perser, Chosrau, mit dem er in Kleinasien kämpfte, hatte sich mit den Awaren und Slawen verbündet, die bis Byzanz vordrangen, um es im Sturm zu nehmen. Ihr Angriff wurde zurückgeschlagen. Die erfolgreiche Abwehr gelang nicht zuletzt durch die Verwaltungsmaßnahmen, die Herakleios ge troffen hatte. Seine Mannschaften waren schon vorher durch die Ver leihung von Grundbesitz belohnt worden. Sie wußten, daß sie nicht nur für den Kaiser, sondern auch für ihren eigenen Grund und Bo den kämpften. Mit dem aus einer neuen Schicht von selbstbewußten Grundbesitzern gestärkten Heer vernichtete Herakleios die Kriegsmacht des Perserkönigs. Der Tod Chosraus II. auf dem Schlachtfeld bei Ninive bedeutete das Ende des Sassanidenreiches. Durch diesen großen Erfolg Herakleios' I war das oströmische Reich wieder gestärkt worden. An seinen östlichen Grenzen drohte nicht mehr die persische Macht, und auch die kriegerische Unrast des tür kischen Großreiches jenseits der Hochgebirge im Inneren Asiens hat ten nachgelassen. Diese scheinbare Ruhe war darauf zurückzuführen, daß es den Kai sern von China gelungen war, wieder ein einiges Reich zu schaffen. Der chinesische Zeitgenosse von Kaiser Herakleios, Kaiser T'ai-tsung aus der T'ang-Dynastie, wurde der Nutznießer des Neuaufbaus der Verwaltung, den seine Vorgänger vorgenommen hatten. Das ungeheu re Gebiet war in Provinzen aufgeteilt worden, die Statthaltern unter stellt waren. Ein berufstüchtiger Stand von Staatsangestellten war da durch geschaffen worden, daß sich die Bewerber um die hochbezahlten Stellen Prüfungen unterziehen mußten. Diese neue Einrichtung setz te nicht nur die unmittelbare Eignung zum vorgesehenen Amt voraus, sondern auch eine Allgemeinbildung der Prüflinge. In China entstand ein neuer Adel des Geistes, der der rohen Gewalt durch die Überle genheit des Verstandes und der Gesittung gewachsen sein sollte. Aber auch die körperliche Tüchtigkeit wurde nicht vernachlässigt. Die in 188
neren Verwirrungen hatten es nötig gemacht, die benachbarten Tür ken zur Wiederherstellung der Ordnung heranzuziehen. Jetzt aber, da die Ordnung geschaffen war, sollten die ungestümen Nachbarn nicht mehr die Überhand haben und auch nicht die Möglichkeit, China zu beunruhigen. – Ein Austausch von Nachrichten mit dem fernen Osten mochte Herakleios bestimmt haben, auch sein Reich einer Neuord nung zu unterziehen. Seine sogenannte ›Themenverfassung‹, durch die er in den Provinzen Heeresgruppen schuf, deren Befehlshaber auch die Verwaltung innehatten, wies eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit der gleichzeitigen Neuordnung im chinesischen Kaiserreich auf. Herakleios brachte Ordnung in die zerrüttete Wirtschaft. Er unter nahm es auch, die Glaubensstreitigkeiten durch eine vermittelnde Leh re zum Ausgleich zu bringen. Er versuchte, den Monophysiten, die darauf bestanden, daß Christus nur die göttliche Natur habe, den Wind aus den Segeln zu nehmen, in dem er in einer Streitschrift verkündete, daß es in Christus nur einen Willen gegeben habe. Die Anhänger dieser neuen Glaubenslehre wur den Monotheleten genannt. Da der Kaiser sie förderte, gewannen sie vorübergehenden Einfluß. Auch Papst Honorius I. der später als För derer der Ketzerei bezeichnet wurde, pflichtete Herakleios bei. Er füg te allerdings hinzu, daß die Frage, ob Christus einen oder zwei Wil len besessen habe, eine Angelegenheit sei, ›die ich als wenig bedeutsam den Grammatikern überlasse‹. Diese Erklärung trug nicht dazu bei, den Monothelismus im Westen zur Geltung zu bringen – auch nicht im Osten. Aber der Kaiser hat te gesprochen und geschrieben. Er glaubte an die Geltung seiner Ent scheidung und versuchte, sie in seinem Reich durchzusetzen. Er, der sich so groß gefühlt hatte, daß er zum Anbruch der neuen Zeit, die er zu schaffen bemüht war, den üblichen Titel eines Kaisers und Impera tors ablegte und sich den alten griechischen Königstitel Basileios zu legte, war dem Anbruch der wirklich neuen Zeit, die innerhalb der Grenzen seines Reiches gekommen war, nicht gewachsen.
189
Allah und der Prophet I Das Wort ›arab‹ bedeutet ›dürr‹ – und von der trockenen Unfruchtbar keit, die beinahe die ganze ausgedehnte Halbinsel zur Wüste macht, bezog Arabien seinen Namen. Nur in wenigen Gegenden erlaubte der spröde Boden Bebauung. In diesen Oasen gediehen Dattelpalmen, Obstgärten und duftspendende Pflanzen, deren köstliches Öl eine ge suchte Handelsware war. An der Westküste Arabiens gab es Markt plätze und Häfen. Es gab auch Verkehrswege im Inneren des Landes, die den Osten mit dem Westen verbanden. Diese Karawanenstraßen konnten allerdings nicht mit Wagen befahren werden. Das wichtig ste Verkehrsmittel, der unermüdliche Lastenträger und verläßlichste Freund des nomadisierenden Hirtenvolks, der ›Beduinen‹, die unstet auf der dürren Halbinsel lebten, war das Kamel. Der höckrige Vier beiner wurde ›das Schiff der Wüste‹ genannt. Die Kamele waren noch bedürfnisloser als ihre Besitzer. Ihre Euter spendeten Milch, aus ih rem Haar und Fell wurden Gewebe für Kleider und Zelte verfertigt, und wenn ein Kamel schließlich den Anstrengungen seines uner müdlichen Daseins erlag, war sein altes Fleisch noch immer zart und schmackhaft genug, um genossen zu werden. Der am innigsten geliebte Freund der auf Beweglichkeit angewiese nen Hirten war das Pferd. Auf seinem Rücken konnte sich der Araber zumindest auf kurze Strecken in die Wüste wagen und Ausschau hal ten, ob er Grasland für die Viehherden finden könne, die er je nach der Jahreszeit von Weidegrund zu Weidegrund trieb. Vom Urzustand der frühen wandernden Nomadenvölker unter schieden den Araber des ausgehenden sechsten Jahrhunderts nur die 190
in der Geschlechterfolge überlieferten Erfahrungen und die Kenntnis se, die er sich selbst auf seinen Handelsreisen über die Karawanenstra ßen kreuz und quer durch die Halbinsel angeeignet oder von fremden Handelsreisenden erfahren hatte. Was er so in sich aufnahm, beleb te zwar seine Einbildungskraft, erregte aber keineswegs den Wunsch, seine freie Lebensform zu ändern. Gab es ein schöneres Dasein als das seine: den Himmel über sich und die Wüste als sein Eigentum unter sich? Wer ihm die ungehinderte Bewegung in der Wüste streitig, mach te, war sein Feind. Den bekämpfte er, oft nicht nur um des Grund satzes willen, sondern auch aus Abenteuerlust und kriegerischer Ge wohnheit. Die von langer Hand geplanten und geschickt ausgeführten Raubüberfälle auf Eindringlinge in die Wüste, die doch sein Eigentum war, galten ihm als selbstverständliches Recht, das er kaltblütig ausüb te, um des Erfolges sicher zu sein. Zu seinen wesentlichsten Eigenschaften gehörten die schlaue Um sicht, die er brauchte, um überleben zu können, die erbarmungslose Grausamkeit, die ihn die Unwirtlichkeit seiner Umgebung gelehrt hat te, und der blindwütige Mut, mit dem er jedes Ziel verfolgte, das er sich einmal gesteckt hatte. Wie ihre frühen Vorfahren, denen der gestirn te Himmel den Weg nach Ägypten gewiesen hatte, so glaubten auch die Araber an die bedrohlichen und versöhnlichen Gewalten der Na tur. Der Mond in seiner wechselnden Erscheinungsform war eine er schreckende Gottheit, aber noch schrecklicher waren die unberechen baren Geister, die ›dschinns‹, die in ihrer geheimnisvollen Wirkung den Mutigsten wehrlos machen konnten. Dieser lähmende Geister glaube mochte durch die seltsamen und unerklärlichen Naturerschei nungen der Wüste hervorgerufen worden sein. Keine irdische Gewalt schien den mannigfaltigen, beunruhigenden ›dschinns‹ gewachsen zu sein. Manchmal half ein Gebet, aber wer diesen Gewalten mit seiner Lebenskraft nicht gewachsen war, konnte auch nicht hoffen, sie im Tod zu besänftigen. Gab es ein Leben nach dem Tod? Wie alle Menschen sehnten sich auch die Araber danach. Manchmal befestigten die Nachkommen ei nes Verstorbenen ein Kamel an der Grabstätte und ließen das Tier 191
ohne Nahrung, damit es bald den letzten Atem aushauche und dem Verstorbenen im ungewissen Jenseits diene, so wie es ihm im Diesseits gedient hatte. In der heiligen Stadt Mekka, dem wichtigsten Treffpunkt der un aufhörlich die arabische Halbinsel durchziehenden Handelskarawa nen, erhob sich ein viereckiger, turmartiger Bau, die ›kaaba‹, in der der sogenannte ›Schwarze Stein‹ verehrt wurde. Es hieß, daß dieser Schwarze Stein, der in Wirklichkeit dunkelrot war, vom Himmel ge kommen und das Sinnbild des Stammes Ismael sei, der Nachkommen schaft Abrahams, die von Israel nicht anerkannt wurde. Die gläubigen Verehrer des Schwarzen Steines bezogen sich auf die Worte des 118. Psalms: »Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, ist zum Eck stein geworden. Das ist vom HERRN geschehen und ist ein Wunder vor unsern Augen.« Es gab auch Götzenbilder in der ›kaaba‹. Der arabische Stamm der Quraisch verehrte eines davon als seinen obersten Gott und nannte diesen Allerhöchsten: Allah. II Dem Adel der Quraisch, die ihre Herkunft von Abraham beziehungs weise Ismael ableiteten und eine der führenden Familien Mekkas wa ren, entstammte väterlicher- und mütterlicherseits der nachgeborene Sohn des Händlers Abdallah. Er erhielt den Namen Mohammed, was ›der Gepriesene‹ bedeutet. Fünf Kamele, eine Ziegenherde und eine Sklavin waren alles, was er von seinem Vater erbte. Als er sechs Jahre alt war, starb seine Mutter Amina. Der Großvater und der Onkel nah men sich des Verwaisten an. Der Knabe lernte weder Lesen noch Schreiben. Dieser in seiner Zeit und seiner Umgebung nicht ungewöhnliche Mangel an geordneter Er ziehung ist bestätigt. Andere Angaben über die Jugend Mohammeds beruhten auf der Überlieferung. Sie berichtete, daß er als Zwölfjähriger 192
seinen Onkel Abu Talib auf einem Karawanenzug nach Syrien beglei tete, vermutlich um in die Geschäftsgewohnheiten der Kaufleute von Mekka eingeweiht zu werden. Als Fünfundzwanzigjähriger war Mo hammed bereits selbständig – als Bevollmächtigter der reichen Wit we Chadidscha, die vierzig Jahre alt und Mutter mehrerer Kinder war. Aus der Geschäftsbeziehung wurde eine Ehe. Sie machte Mohammed wohlhabend. Chadidscha gebar ihm zwei Söhne, die als Kinder star ben, und einige Töchter. Die berühmteste wurde Fatima, die seinen von Mohammed an Kindes Statt angenommenen Vetter Ali, den Sohn Abu Talibs, heiratete. Mohammed führte ein vorbildliches Familienleben, in das er einen Verwandten seiner Frau einbezog. Dieser Waraqha kannte die ›Schrif ten der Hebräer und der Christen‹ und regte den erfolgreichen Kauf mann zu lebhaften Gesprächen über den Glauben an. Die Erörterun gen gipfelten in der Frage: War der von den Juden erwartete Messias schon gekommen? War es Jesus Christus, der am Kreuz gestorben war, um die Menschheit zu erlösen? War Jesus Christus sowohl göttlicher als auch menschlicher Natur, wie die Christen des Westens es verkün deten, oder nur göttlicher Natur, wie die meisten Christen des Ostens es glaubten? Aber konnte eine göttliche Natur sich der Schmach und Schande der Kreuzigung unterziehen und sterben wie ein Mensch? Der Mann, der nach der Schilderung seines angenommenen Soh nes Ali ein so angenehmes Gesicht hatte, daß niemand sich von sei ner Gegenwart losreißen konnte, suchte die Antwort durch Umfragen zu ergründen. Er ließ sich die Offenbarungen der Heiligen Schrift mit teilen. Sie bestärkten ihn in der Überzeugung, daß es nur einen Gott gäbe: Allah. Aber dieser Gott war nur das erhabene Sinnbild eines Stammes, wäh rend die anderen Araber in ihrem Aberglauben durch freche ›dschinns‹ beunruhigt wurden und ein lockeres, durch keine Vorschriften gere geltes Leben führten und sich da und dort fremdartigen Gesetzen un terwarfen, während sie doch, wenn sie wie er an Allah glaubten, ein Volk sein könnten, eine Macht, und nicht nur in der Wüste umher streifende Hirten. Waren nicht die Araber das auserwählte Volk – und 193
nicht die Juden, die aufgehört hatten, ein Volk zu sein, da sie doch kein Land hatten? Mohammed empfand keine Feindschaft gegen die Juden. Im Gegenteil: Sie waren seine Geschäftsfreunde, sie waren die Hüter der Heiligen Schrift und lebten nach einem Gesetz. Er neigte wie sie dazu, sich Glaubensregeln zu fügen. Sollte er es mit ihnen als einer der Ihren tun? Oder mit den Christen, die sich vielleicht nur aus Unwis sen dem Irrglauben unterwarfen, daß Jesus Christus eine göttliche Na tur gehabt habe? Mohammed wollte, wie die christlichen Einsiedler es taten, durch Versenkung in sich selbst, durch Denken und gläubiges Fühlen zur klä renden Erhebung gelangen. Jedes Jahr zog sich der mittelgroße Mann mit dem rosig weißen Gesicht, dem prachtvollen, bis an die Schultern fallenden Haar und dem mächtigen Bart, der ihm die Brust bedeck te, mit seiner Familie in eine Höhle in der Nähe Mekkas zurück und ergab sich seiner leidenschaftlichen Nachdenklichkeit. Nur für einen Monat, denn mehr Zeit hatte er nicht, wenn er seine Geschäfte nicht vernachlässigen wollte. Einmal, es geschah im Jahre 610, war Mohammed allein in seiner Höhle. Als er sie verließ und zu Chadidscha zurückkehrte, erzählte er ihr das Ungeheuerliche: »Während ich schlief, erschien mir der Erzengel Gabriel. Er zeigte mir eine Decke aus Seidenbrokat, auf der etwas geschrieben stand. Er sagte: ›Lies!‹ Ich erwiderte: ›Ich kann nicht lesen.‹ Er preßte die Brokatdecke so eng an mich, daß ich meinte, mein Tod sei gekommen. Dann ließ er wieder locker und sagte: ›Lies!‹ Und so las ich mit lauter Stimme, und er schied endlich von mir. Und ich erwachte aus meinem Schlaf, und es war, als ob die Worte in mein Herz eingebrannt wären. Ich setz te meinen Weg fort, bis ich auf halber Höhe des Berges stand. Da ver nahm ich eine Stimme vom Himmel, die da sprach: ›O Mohammed, du bist der Gesandte Allahs, und ich bin Gabriel.‹ Ich hob mein Ge sicht gen Himmel und siehe, ich gewahrte Gabriel in menschlicher Ge stalt, mit den Füßen am Rande des Himmels stehend, und er sprach: ›O Mohammed, du bist der Gesandte Allahs, und ich bin Gabriel.‹« 194
Das Evangelium des heiligen Matthäus enthält den Ausspruch Jesu Christi: »Ein Prophet gilt nirgend weniger denn in seinem Vaterland und in seinem Hause.« Dieser Satz mochte Mohammed in den ersten Jahren seines besessenen Glaubenseifers gestärkt haben. Er galt nichts in Mekka, wenn auch die alternde Chadidscha den geliebten Mann nicht daran hinderte, offenes Haus zu halten und alle Arten von Men schen zu Gast zu laden, damit sie ihm nur Gehör schenkten. Es kamen viele Pilger nach Mek ka zur ›kaaba‹, aber keiner ließ sich davon überzeugen, daß der erreg te Kaufmann der Prophet Allahs sei, des einzigen, allmächtigen Got tes. Sie zweifelten daran, nicht immer höflich, daß er bei Sinnen sei. Es sprach sich herum, daß Mohammed oft an Zuckungen leide und schweißüberströmt bewußtlos zusammenbreche. Seine Erzählungen, daß der Erzengel Gabriel ihm immer wieder erscheine, um ihm gött liche Offenbarungen kundzutun, während ein glockenheller Ton die Worte begleite, fanden keinen Anklang. Schließlich überzeugte Mo hammed doch Ali, seinen angenommenen Sohn, Schwiegersohn und Vetter, der von ihm sagte: »Wenn es mich hungerte, so verscheuchte ein einziger Blick auf das Antlitz des Propheten meinen Hunger. Vor ihm vergaß ein jeder seine Sorgen und seine Kümmernisse.« Moham med bekehrte auch seinen Diener Said, der sein freigelassener Sklave war, und vor allem einen Verwandten, Abu Bekr, der bedeutende Er sparnisse hatte, die er darauf verwandte, von Mohammed für seinen Glauben gewonnene Sklaven freizukaufen. Abu Bekr gelang es, fünf andere einflußreiche Kaufleute von Mekka für den Glauben an die Er korenheit Mohammeds zu gewinnen. Sie wurden mit ihm ›die Genos sen Mohammeds‹. Ihre Erinnerungen an den Propheten wurden als geheiligte Überlieferung gewertet. Nicht so gut erging es Mohammed bei seinen anderen, engeren Landsleuten. Die meisten wurden grob, und die Wohlmeinenden rieten ihm, er möge zu einem Arzt gehen und sich die Narretei austreiben lassen. Wenn sich nicht ein gewisser Omar, der über eine ungeheure Kör perkraft und ein besonderes Ansehen verfügte, Mohammed ange 195
schlossen hätte, wäre es den frühen Mohammedanern übel ergangen. Schließlich stand das Einkommen, das die Bürger Mekkas von den Pil gern bezogen, auf dem Spiel. Das wurde ernster genommen als die ein gebildeten Erscheinungen des Kaufmanns, dessen Anhänger Sklaven freikauften und die Pilger mit ihrem neuen Glauben belästigten. Erst mußte sich Mohammed in einen abgeschlossenen Stadtteil Mekkas zurückziehen, um blutigen Zusammenstößen mit seinen Geg nern auszuweichen. Dann, nach dem Tode Chadidschas und Abu Ta libs, versuchte er, sich in der kleinen Stadt Taif, östlich von Mekka, an zusiedeln, wurde aber mit Steinwürfen vertrieben und kehrte in seine Heimatstadt zurück. Der nunmehr Fünfzigjährige ließ sich nicht entmutigen. Er entschä digte sich für die Schicksalschläge, die ihn getroffen hatten. Er verhei ratete sich mit einer reizvollen jungen Witwe und verlobte sich gleich zeitig mit Aischa, der siebenjährigen Tochter seines treuesten Anhän gers Abu Bekr. Auch die Welt der übersinnlichen Erscheinungen hielt Mohammed für den mißglückten Ortswechsel schadlos. In einem das Schicksal Hunderttausender Menschen bestimmenden Traum bestieg er ein be flügeltes Pferd an der Klagemauer der jüdischen Tempelruinen von Je rusalem und flog in den Himmel. Daß Mohammed am Morgen wohl behalten in seinem Bett in Mekka erwachte, beeinträchtigte die leben dige Auswirkung seines Traumes nicht. Er verkündete, daß Jerusalem so wie Mekka eine heilige Stadt der Gläubigen sei. Kurze Zeit später, nach einer erregten Predigt, durch die er Kaufleu te aus der wichtigen Stadt Jathrib für seine Lehre gewonnen hatte, be gannen neue Verfolgungen gegen Mohammed und seine Gefolgschaft. Die Nutznießer der ›kaaba‹ befürchteten, daß er einen Kampf der Stadt Jathrib, in der viele Juden ansässig waren, gegen Mekka und die An hänger der ›kaaba‹ anzetteln würde, und wollten ihn festnehmen und ermorden. Mohammed begab sich nach Jathrib. Seither hieß die Stadt Medina, die Stadt des Propheten, und der erste Tag seiner ›Flucht‹, der ›hedschra‹, der 16. Juli 622, galt als der erste Tag der mohammedani schen Zeitrechnung. 196
In Medina vereinigten sich die Anhänger Mohammeds. Vor seiner Glaubensgemeinde warf er sich mit dem Ausruf: »Allah ist groß!« be tend zu Boden. Durch diese demütige Unterwerfung schuf der Prophet das Sinnbild des Sichergebens in den Willen Gottes, des Friedenschlie ßens mit Gott, das in seiner Sprache ›islam‹ hieß. Die Gläubigen wur den ›muslimin‹ genannt, das sind diejenigen, die mit Allah Frieden ge schlossen haben, die sich ihm ergeben. Diese ›Muselmanen‹ übertru gen Mohammed die Befehlsgewalt, nicht nur in Glaubensfragen. Es waren zuerst nicht viele, denn die meisten Mediner, sowohl Ara ber als auch Juden, fürchteten, daß die Anwesenheit Mohammeds ihre Stadt in einen Krieg mit Mekka verwickeln würde. Er versuchte, die Ju den durch das Versprechen der Glaubensfreiheit für sich zu gewinnen. Sie sollten doch mit den Muselmanen ein einziges, gemeinsames Volk bilden, erklärte er, und ›das gleiche Recht auf unsere Hilfe und Dienst leistung haben wie unser eigenes Volk‹. Als zweihundert arabische Fa milien aus Mekka, durch seine Versprechungen angelockt, nach Me dina übersiedelten, begannen neue Schwierigkeiten für den Glaubens stifter. Es gab nicht genug Lebensmittel in der Stadt des Propheten. Mohammed kannte die Gewohnheiten der Wüste aus eigener Er fahrung. Er kannte auch viele der frei umherziehenden Stämme. Er schloß ein Übereinkommen mit ihren Häuptlingen. Wenn sie Kara wanen überfielen, sollten vier Fünftel der Beute an sie fallen, ein Fünf tel an ihn. Falls ein Plünderer bei einem solchen Überfall erschlagen werden sollte, würde Mohammed dafür sorgen, daß der Beuteanteil des Toten an die Witwe, er aber ins Paradies komme. Bald gab es weder Not an Männern, die bereit waren, für Moham med einen Überfall zu wagen, noch Not an Lebensmitteln. Um so we niger, als der Prophet die Raubzüge so sachlich und fachlich vorbe reitete, daß sie zumeist erfolgreich waren. Als es ihm gelang, eine von den Kaufleuten aus Mekka aufgestellte Schutztruppe von neunhundert Mann zu besiegen, nahm sein Ansehen zu. Er galt nun auch als gottge sandter Feldherr und bekam in nicht weniger als fünfundsechzig Feldund Raubzügen, die er plante und zum Teil persönlich anführte, Gele genheit, seine kriegerischen Fähigkeiten zu beweisen. 197
Die Zahl der Anhänger und Gegner nahm zu. Der Kampf zwischen den Anhängern der ›kaaba‹ von Mekka und den Muselmanen breitete sich örtlich aus. Wenn jüdische Siedler die mit Mohammed verwand ten, aber feindlich gesinnten Quraisch von Mekka unterstützten, griff er sie an. Es gab Hinrichtungen von heroischen Juden, die sich weiger ten, ihrem Glauben abzuschwören und Muselmanen zu werden, und Unterwerfungen anderer, die sich damit abfanden, ihren Glauben zu behalten, während sie ihren Besitz ausliefern mußten. Die Braut eines jüdischen Anführers namens Kinana wurde von Mohammed seinem eigenen Haushalt einverleibt. Nach langjährigen Kriegen schloß der Prophet mit seinen anders gläubigen Verwandten in Mekka einen Waffenstillstand, unter der Be dingung, daß er und seine Glaubensgenossen die übliche jährliche Pil gerfahrt vornehmen dürften. Er zog mit zweitausend Muselmanen aus Medina feierlich in Mekka ein und berührte den Schwarzen Stein voll Ehrfurcht mit seinem Pilgerstab. »Es gibt nur einen Gott – Allah!« rief er dabei. Es war eine kriegerische Herausforderung, aber sie klang friedlich, und seine scheinbar freundliche Haltung beeindruckte die anderen Pilger und auch die Einheimischen so sehr, daß er gewiß sein konnte, für immer nach Mekka zurückkehren zu können. Er war ein Prophet geworden, der auch im Vaterland galt.
Im nächsten Jahr drang Mohammed mit zehntausend Mann in Mek ka ein und erklärte seine Heimatstadt zur Heiligen Stadt des Islam, de ren Boden kein Ungläubiger jemals betreten dürfe. In verblüffend kur zer Zeit unterwarf er nun die ganze arabische Halbinsel. Er blieb von außen ungestört, denn das oströmische Reich lag im Kampf gegen Per sien. Weder der Byzantinische Kaiser noch der persische König nah men die Botschafter ernst, die sie im Namen Mohammeds aufforder ten, dem neuen Glauben beizutreten. Mohammed hatte Zeit. Die Lehre, die er geschaffen hatte, erlaubte es ihm, zehn Ehefrauen und auch noch Konkubinen in seinem Hause zu 198
halten. Er hatte kein eigenes Schlafzimmer. Er verbrachte jede Nacht bei einer anderen Frau. Es gab Eifersüchteleien, Streitigkeiten aller Art, die oft durch die Putzsucht der Frauen Mohammeds hervorgerufen wurden. Aber er wußte sich zu helfen: Wenn eine von ihnen zu kost bare Geschenke verlangte, versprach er ihr an Stelle des Geschenkes, das ihm zu teuer erschien – das Paradies. Er war sparsam für sich selbst und für seine Familie. Den Reich tum, den er erbeutet hatte und als unbeschränkter Herr Arabiens ein nahm, verwandte er zum größten Teil für wohltätige Zwecke. Der ein zige Aufwand, den er trieb, war der Ankauf von Wohlgerüchen. Er vertrug weder Gestank noch Lärm. Er litt an heftigen Kopfschmer zen, aber wenn ihn weder das unruhige Gehirn noch ein immer hef tiger und häufiger auftretendes Fieber peinigte, war er gesprächig und guter Laune. Er liebte es auch, Späße zu machen. Als ihn einer seiner Anhänger zu oft besuchte, schlug er vor: »Besuche mich weniger, da mit meine Liebe sich mehre.« Selten nützte Mohammed die göttlichen Offenbarungen, auf die er sich in der Ausübung seiner Herrschaftsgewalt berief, zu persönlichen Zwecken aus. Nur, wenn es nicht anders ging, wie zum Beispiel, als er das Verlangen spürte, die Frau seines angenommenen Sohnes Zaid zu seiner Frau zu machen. Allah habe es ihm befohlen, erklärte der Pro phet. Dagegen war er selbst machtlos, denn: »Allah ist groß.« An sein Recht, sich auf den einzigen allmächtigen Gott berufen zu können, glaubten noch zu Lebzeiten Mohammeds beinahe alle seß haften und nomadisierenden Stämme Arabiens mit der brennenden Überzeugung ihrer leidenschaftlichen Naturen, um so mehr, als die Lehre Mohammeds ihnen die Herrschaft über den Erdkreis und die Glückseligkeiten des Paradieses verhieß. Mit so weitreichenden Ver sprechungen, von denen schon so viele verwirklicht worden waren, blieb Mohammed auch über seinen Tod hinaus der Prophet. Mit dem Schlachtruf: »Allah ist groß!« verbreiteten die Stellvertreter Mohammeds, die Kalifen, seine Lehre. Ihr heiliges Buch war der ›Ko ran‹, die ›Vorlesung‹, der ›Vortrag‹. Es waren die Aussprüche Moham meds, das von Gott offenbarte, durch ihn den Gläubigen verkünde 199
te Gesetz. Erst kannten die zeitgenössischen Araber nur Bruchstücke des Korans und die Voraussetzung ihrer bedingungslosen Anhänger schaft war der Glaube, daß Gott sich dem Propheten mitgeteilt habe. Was Mohammed von ihnen forderte und was er ihnen versprach, ent sprach auch im wesentlichen ihren Gewohnheiten und Wünschen. Er war weder gegen die Gewinnsucht im Handel noch gegen die Sinnen freude, wenn sie durch die Ehe besiegelt war, und er kam der Heißblü tigkeit seiner engeren Landsleute dadurch entgegen, daß er ihnen die Vielweiberei gestattete. Die Befolgung seines eigenen Beispiels erlaub te er jedoch nicht in gleichem Maße. Für seine Anhänger erschien ihm die Höchstzahl von vier Ehefrauen großzügig genug. Und damit sie sich der geheiligten Hausstätte, deren Betreten allen Fremden verboten war, des ›harems‹ ungestört erfreuen könnten, erlaubte er den Frauen, nur auszugehen, ›so es notwendig ist‹. Allerdings, was notwendig war oder nicht, das bestimmte im mohammedanischen Haus in jeder Hin sicht der Hausherr. Die Beschränkungen, die Mohammed den Muselmanen auferleg te, waren unwesentlich im Verhältnis zu dem, was sie durch die Be obachtung der Glaubensvorschriften gewinnen konnten: das Para dies, einen gewaltigen, von munteren Bächen durchströmten und von dichten Bäumen beschatteten Garten, in dem die guten Gläubigen in prächtiger Kleidung einherwandeln und bei himmlischen Festmäh lern von Jungfrauen mit schwellenden Brüsten bedient werden wür den, die kein Mensch und kein Geist vor ihnen berührt hätte. Zwei undsiebzig solcher ›huris‹ würde jeder Mann im Paradies als Beloh nung für seine irdischen Taten erhalten und ohne Ermüdung genie ßen können. Auch den Frauen versprach Mohammed das Paradies. Er zählte allerdings nicht die sinnlichen Möglichkeiten auf, die sie dort zu gewärtigen hätten, aber er erwähnte doch, daß sie von unsterblichen Jünglingen umgeben sein würden, während sie das höchste Entzücken in der Schau von Allahs Antlitz erlebten. Und was hatten seine Anhänger zu leisten, um der Freuden des Pa radieses teilhaftig zu werden? Es schien einfach genug, denn Moham med erklärte: »Der Islam ist der Glaube an Allah und seinen Prophe 200
ten, das Hersagen der vorgeschriebenen Gebete, die Verteilung von Al mosen und die Pilgerfahrt nach Mekka.« Es dauerte geraume Zeit, bis die mohammedanische Lehre den ge regelten Ausdruck gewann, der die öffentliche und häusliche Lebens form des Islam endgültig bestimmte, und auch bis der Rufer zum Ge bet, der ›muezzin‹, den Muselmanen fünfmal am Tage in eindringli cher Wiederholung verkündete: »Allahu Akbar – Gott ist der größ te. Ich bezeuge, daß es keinen Gott gibt außer Allah. Ich bezeuge, daß Mohammed Allahs Gesandter ist. Kommt zum Gebet, kommt zum Heil! Allahu Akbar – es gibt keinen Gott außer Allah.« Wenn dieser Ruf ertönte, mußten sich die Muselmanen reinigen und, das Gesicht gegen Mekka und die ›kaaba‹ gekehrt, in kurzem Ge bet mit Allah vereinigen. Die Gemeinsamkeit des alltäglichen mehrmaligen Glaubensbe kenntnisses schuf eine Zusammengehörigkeit aller Muselmanen und zwang sie, die Allgegenwärtigkeit Gottes nicht zu vergessen und auch nicht, daß sie alle in Gottes Hand seien, denn Mohammed hatte ver kündet: »Da ist keiner unter euch, von dem nicht von Gott geschrieben steht, ob sein Sitz im Feuer oder im Paradies ist.« Die zur Gewißheit der Gläubigen gewordene Annahme, daß der Lebensweg jedes einzel nen bis zum Ende unabänderlich vorausbestimmt sei, wurde oft die Ausrede für die zur Faulheit ausartende Gleichgültigkeit der Moham medaner. Warum sollten sie etwas aus eigenem Antrieb tun, wenn es ohnehin vorausbestimmt war, was sie tun oder nicht tun sollten? Die ser ›Fatalismus‹ widersprach der vom heiligen Augustin gepredigten Lehre vom freien Willen der Christenmenschen. Die Vorstellungen von der Hölle und dem ewigen Leben im Him mel und die Heraufbeschwörung des Jüngsten Gerichts, die auch im Islam galten, hatte Mohammed aus dem Alten und dem Neuen Te stament übernommen und abgewandelt. Er leugnete weder die göttli chen Offenbarungen Mosis noch die Psalmen Davids, und auch nicht die ›gute Botschaft‹ Jesu Christi. Er ließ die biblische Geschichte gelten, allerdings mit Berichtigung gewisser Stellen, die Gottes Ehre in Frage stellten, wie zum Beispiel die den Christen heilige Überzeugung, daß 201
Gott seinen eingeborenen Sohn Jesus Christus am Kreuz habe sterben lassen. Nach der Meinung Mohammeds war auch Christus ein Pro phet. Er zweifelte auch nicht an der Wundertätigkeit Jesu, aber daß der Nazarener Gottes Sohn gewesen sei, das könne er nicht anerkennen: »Wahrlich, Gott ist ein Einheitsgott. Er ist zu erhaben, einen Sohn zu besitzen.« Mohammed verurteilte weder die Juden noch die Christen, wenn sie ihre Glaubensvorschriften befolgten. Er hinderte sie auch nicht dar an, aber er warnte und beschwor sie, sich dem Koran zu unterwerfen, denn Gott habe durch seinen Propheten Mohammed alle vorhergegan genen Offenbarungen erneuert. Das Alte und Neue Testament sei Got tes Wort gewesen, jetzt aber wünsche Allah, daß die ganze Menschheit sich geläutert im Islam vereinige.
Der Islam war kein friedlicher Glaube. Seine Verbreitung wurde zum heiligen Krieg. Was das Wort nicht erreichte, sollte das Schwert er kämpfen. Trotz der streitbaren Abenteuerlust der Araber, unterstützt durch ihren Fatalismus und ihre Sehnsucht nach dem verheißenen Pa radies, wäre den Kalifen die weitreichende Verbreitung ihres Glaubens nicht geglückt, wenn die Offenbarungen Mohammeds nicht auch vie len durch die Glaubensstreitigkeiten verwirrten Christen entgegenge kommen wären. Es hatte so viele haarspalterische Unterscheidungen in der Auslegung des östlichen Christentums gegeben, daß es nicht er staunlich war, daß die Glaubenswilligen den mit guten Worten und harter Gewalt vorstürmenden Muselmanen Gehör schenkten. Auch die Justinianische Gesetzgebung, die alle jene Christen benachteilig te, die sich nicht zur katholischen Glaubenslehre bekannten, veranlaß te viele Monophysiten und die Anhänger anderer christlicher Sekten, in der duldsamen Herrschaft der Kalifen Zuflucht zu suchen. Die blutigen Auseinandersetzungen zwischen den oströmischen Kai sern und den persischen Königen hatten beide Großmächte so sehr ge schwächt, daß es Omar, dem Nachfolger des ersten Kalifen Abu Bekr, 202
nicht allzu schwer fiel, mit seinen kampflustigen Reitern die kärgli chen, unlustigen byzantinischen Garnisonen zu überrennen und Da maskus und Jerusalem zu erobern. Die arabischen Scharen brachen in Armenien ein. Sie eroberten das Zweistromgebiet und wurden die Erben des Königtums der Sassani den. Die Weltmacht des Islam, die sich in wenigen Jahrzehnten durch hemmungslose Eroberungen entwickelte, umfaßte schon unter dem Kalifen Othman, außer dem arabischen Mutterland, Syrien, Palästi na, Persien, Ägypten und große Teile Nordafrikas. Manchmal war die Herrschaft nicht einheitlich. Es entstanden auch Glaubensspaltungen, die zu inneren Gewalttätigkeiten im Islam führten. Aber da der Koran in keine fremde Sprache übersetzt werden durfte und es zu den Glau bensvorschriften der Mohammedaner gehörte, die Verkündigung aus wendig zu lernen, wurde die arabische Sprache in allen von den Ara bern eroberten Gebieten beherrschend.
Im europäischen Raum waren die Herrscher der germanischen Reiche durch die Umschichtung und Festigung ihrer Lebensverhältnisse und durch die Abwehr der sie im Osten bedrängenden Awaren und Slawen zu sehr in Anspruch genommen, als daß sie sich mit der unheimlich raschen Ausbreitung des Islam hätten beschäftigen können. Die ein zige Macht, die sich aus dem Zerfall des ungeheuren römischen Welt reiches, wenn auch mit eingeschränkten Grenzen, erhalten hatte, das byzantinische Kaiserreich, mußte sich dagegen unmittelbar gegen den gefährlichen Ansturm der Araber verteidigen, die nicht davor zurück schreckten, Byzanz erobern zu wollen. Konstans II. der Enkel des Herakleios, hatte schon alle Kräfte auf bieten müssen, um sich gegen die Angriffe des Kalifen Muawija I. be haupten zu können. Er hatte sogar zur Verstärkung der Abwehr slawi sche Stämme nach Kleinasien verpflanzt und einen Gegenangriff ge gen den Islam erwogen. Er wollte daher erst die italischen Besitzun 203
gen des oströmischen Kaiserreiches gegen die Langobarden sichern. Im Zuge dieser Unternehmung wurde er in Sizilien ermordet. Sein Nachfolger, Konstantin IV. schien verloren zu sein, als Muawija eine übermächtige Flotte gegen Byzanz ausfahren ließ. Er hatte kaum ge nug Truppen, die von Kaiser Anastasius, dem Vorgänger Justins, er baute Schutzmauer zu besetzen, und keine wesentliche Kriegsflotte den überlegenen muselmanischen Schiffen entgegenzustellen, die aus allen Häfen Ägyptens und Syriens zusammengezogen und mit geüb ten Landungstruppen bemannt worden waren. Er hatte nur eines: eine Erfindung, die einmal vorher versuchsweise im ›Gotenkrieg‹ Justini ans in Verwendung gekommen war und die Ostgoten so eingeschüch tert hatte, daß sie jedes Gefecht zur See vermieden hatten. Es war das griechische Feuer. In dieser Sommernacht, in der die arabische Flotte im Hafen von By zanz Anker legte, um die Landung vorzubereiten, wurde das Wasser zum Feuer. Alle Schiffe, die den geheimnisvollen Gluten nicht durch eine rasche Ausfahrt entgingen, verbrannten. War das Abendland vor dem Ansturm der Araber gerettet? Die Vernichtung des größten Teils ihrer Flotte entmutigte die heili gen Krieger des Islam nicht. Sie machten eine Wendung und wieder holten in der entgegengesetzten Richtung den Zug der Vandalen durch Nordafrika. Der Berber Tariq, ein Sklave Musas, des arabischen Statthalters von Nordafrika, der nach seiner Bekehrung zum Islam freigelassen wor den war, unternahm es, mit einem kleinen Heer, das aus siebentausend Berbern und dreihundert Arabern bestand, die Iberische Halbinsel zu erobern. Er mochte dazu durch den Befehlshaber einer der letzten by zantinischen Besitzungen im westlichen Mittelmeer, der Festung Ceu ta, angeregt worden sein. Dieser Julian stellte auch die nötigen Schiffe zur Verfügung. Tariq vollzog die Landung am Fuße eines Felsens, der nach ihm Gebel-al-Tariq, Gibraltar, benannt wurde. Nachdem dieser Brückenkopf befestigt war, folgte Musa mit zehntausend Arabern und achttausend Mauren und eroberte den Süden der Iberischen Halbin sel, Stadt um Stadt, Landstrich um Landstrich. 204
Der Zeitpunkt, den Musa zum Angriff gewählt hatte, hätte nicht gün stiger sein können. Das durch innere Streitigkeiten schon geschwäch te westgotische Königreich war überdies noch durch einen bedenkli chen Thronwechsel in zwei Lager gespalten. Der Adelige Roderich hat te die Söhne des verstorbenen Königs Wittika ihres Erbrechtes beraubt und sich der Krone bemächtigt. Er konnte den begeistert vorstürmen den Muselmanen nur ein Heer entgegenstellen, dessen Krieger ihn wi derstrebend anerkannt hatten. Er wurde in der Entscheidungsschlacht bei Jerez de la Frontera besiegt, und obwohl selbst die Araber bestä tigten, daß der letzte Westgotenkönig mit der größten Tapferkeit ge kämpft hatte, ›hörte man nichts wieder von ihm, und da man ihn we der lebend noch tot fand, so kennt sein Schicksal niemand, außer Gott allein‹. Die Muselmanen fanden kaum noch nennenswerten Widerstand auf ihrem Vormarsch. Die schonungslose Herrschaft des westgotischen Königtums und der Adeligen hatte die Bevölkerung so bedrückt, daß sie den Sieg der Muselmanen feierte. Auch die auf der Halbinsel ansäs sigen Juden priesen die Eroberer als ›Befreier des auserwählten Volkes aus pharaonischer Knechtschaft‹. Nur Asturien, ein kleines christliches Königreich, behauptete sich im Nordwesten des Landes, während die siegreichen Araber die Py renäen überschritten und in die ehemaligen gallischen Provinzen des Römischen Reiches eindrangen. War das Abendland doch verloren?
205
Das wachsende Frankenreich I Nach dem Tode Chlodowechs, des gefährlichen Gegenspielers Theode richs des Großen, war das gewaltig ausgebreitete Frankenreich unter seine vier Söhne aufgeteilt worden. Der älteste, Theoderich, und Chlo thar, der jüngste der Brüder, hatten mit Hilfe von Sachsen den größten Teil des Thüringerreichs dazugewonnen. Die merowingischen Könige hatten auch aus der Vernichtung der Ostgoten Nutzen gezogen, als Kö nig Wittigis ihnen die Gebiete südlich des Bodensees abtrat, in denen der große Theoderich alamannische Flüchtlinge angesiedelt hatte. Trotz der Teilung unter die vier Könige der Franken, die ihren Hof, unabhängig voneinander, in Reims, Orkans, Paris und Soissons hiel ten, bewahrte das Frankenreich die Einheitlichkeit, die sein eigentli cher Begründer, Chlodowech, durch seine Gesetzgebung und Verwal tung und auch durch die Glaubenseinheit geschaffen hatte. Als von seinen Söhnen nur Chlothar überlebte, stand der Alleinherrschaft des jüngsten nur wenig im Wege. Erst die nach dem Tode Chlothars I. voll zogene Teilung hatte folgenschwere Bedeutung. Es gab nun drei Kö nigreiche der Franken: Neustrien, das mit der Hauptstadt Paris das ei gentliche Erbe des römischen Gallien war, Burgund, das mit dem Kö nigssitz Orkans das obere und mittlere Loire- und Rhônegebiet um faßte, und Austrasien, das das Maas- und Moselland und die Cham pagne in seinen Grenzen umfing und dessen Könige vorerst in Reims herrschten. Aquitanien, das der vierte Landesteil gewesen war, gehör te den drei Königreichen gemeinsam. Der rücksichtslose Wettbewerb um die Übermacht, die offenen und geheimen Kämpfe der merowingischen Könige und Königinnen unter 206
einander hatten unaufhörliche Unruhen und sittliche Verwilderung in allen drei Reichen zur Folge. Mord und Unzucht waren in der Königs familie an der Tagesordnung, aber das Königtum als Begriff war unter den Franken doch so gefestigt, daß die Merowinger trotz des Wider standes der großen Herren in ihren Reichen die Krone nicht verloren und die drei Königreiche neuerdings unter einem einzigen Herrscher, Chlothar II. vereinigt wurden. Kurz nach seiner Erhebung erließ der neue König das ›edictum Chlo tharii‹, eine Verordnung, durch die die Machtverhältnisse im Fran kenreich verschoben wurden. Bis zu diesem Zeitpunkt waren die Gra fen, die ›comites‹, die die einzelnen Teile des Reiches als königliche Be auftragte verwaltet hatten und für die Rechtssprechung, das Heer und die Wirtschaft verantwortlich gewesen waren, von den Königen nach freiem Ermessen ernannt worden. Jetzt verpflichtete sich Chlothar II. nur noch Grundbesitzer zu Grafen der jeweiligen Gegenden zu ernen nen. Die beiden Königmacher Chlothars, die ihm die Krone gegen sei ne Widersacher erkämpft hatten, waren Mitglieder der am reichsten begüterten Familien Austrasiens: Bischof Arnulf von Metz und Pipin = Pippin). Sie hatten sich die Erlassung des Edikts als Belohnung er wirkt und sich dadurch die Herrschaft in den Gebieten gesichert, in denen sie Güter besaßen. Die Vorsteher der königlichen Hofhaltung, die auch gleichzeitig An führer der ›Anthrustionen‹, der berittenen königlichen Gefolgschaf ten, und Verwalter der königlichen Besitzungen waren, führten den Titel ›Maior domus‹. Sie waren die ›Hausmeier‹, die sich zu Mittels männern zwischen dem Königtum und dem Adel aufwarfen. Wenn sie dem gekrönten Herrscher auch dem Namen nach untertan waren und ihm öffentlich huldigten, so waren sie doch durch die Anhäufung von Gütern und Vorrechten zu Königen im Königreich geworden, de nen an Macht nur die Bischöfe gleichkamen und deren kirchliche Gü ter sich vor allem durch königliche Schenkungen zu richtigen Herr schaftsgebieten ausgedehnt hatten. Die Bischöfe versahen ihr geistliches Amt zumeist in ehemaligen rö mischen Provinzstädten, deren Äußeres sich so verändert hatte, daß 207
oft nur Baureste und die sprachlich abgewandelten Ortsnamen aus der Vergangenheit übriggeblieben waren. Die Häuser waren der neuen Le bensart ihrer Bewohner angepaßt. Inwieweit Veränderungen der all gemeinen Wetterverhältnisse in diesen Gegenden, in denen die rö mischen Legionäre und Verwaltungsangestellten und ihre örtlichen Nachahmer nur hemdartige Tuniken und umhangartige Togen getra gen hatten, auch dafür verantwortlich waren, daß die Kleidung der Männer und Frauen so vieles schwerer geworden waren, kann kaum festgestellt werden. Gewiß ist nur, daß in den Landstrichen, in denen wegen stets milder Witterung die Kleidung zu allen Jahreszeiten leicht gewesen war, jetzt lange Hosen und Bundschuhe von den Einwohnern getragen wurden, Wämse aus Leder und Fellen und bis zu den Knö cheln herabreichende Röcke und Mäntel. Die Mode war plump gewor den. Statt verfeinerter Speisen, die schmackhaft gewürzt waren, dampf ten einfache, nahrhafte Gerichte in den Küchen, die auch als Wohn räume benützt wurden. Da Theater und Zirkusveranstaltungen ver pönt waren, galt als einzig erlaubte Zerstreuung der Kirchgang. So ge wannen die Predigten immer mehr Einfluß auf die Gemüter, und die Bischöfe, die ihren Inhalt bestimmten, immer mehr Macht. Die adeligen Grundbesitzer, die in ihren Herrenhäusern im Um kreis der Städte zumeist auf Anhöhen lebten, waren bestrebt, Famili enangehörige zu Bischöfen zu machen. In der ersten Zeit der gewalt samen Einwanderung in die römischen Provinzen hatte sich der Prie sterstand aus den gebildeteren, oft verarmten römischen Bürgern zu sammengesetzt, die auf dem Umweg über die Kirche wiederzuerlan gen versuchten, was sie verloren hatten. Aber allmählich erfaßten auch die neuen Gutsherren, die nichts als das Kriegshandwerk erlernt hat ten, daß es auch in weltlichen Belangen ratsam war, sich geistig und geistlich zu bilden. Priester wurden zu Lehrern an den adeligen Höfen und die Schüler zu Priestern. Da es aber selbstverständlich war, daß die jungen Herren, von ihren Familien erkoren, Bischöfe zu werden, auch im Gebrauch der Waffen geschult wurden, geschah es nur allzu oft, daß die Bischöfe Kriegsherren waren, die das Meßgewand, wann immer es nötig oder nützlich schien, mit der Rüstung vertauschten 208
und mit ihren Mannschaften das militärische Aufgebot ihrer Famili en verstärkten. Das hatte auch der Bischof Arnulf von Metz getan, als Pipin und er Chlothar zum Thron verholfen hatten. Ursprünglich war Reims die Hauptstadt Austrasiens gewesen. Bald wurde es Metz. Pipin wur de Hausmeier und beherrschte die austrasische Verwaltung und das Heer. Unter Dagobert I. dem Nachfolger Chlothars, schien es, daß das Kö nigtum der Merowinger wieder in seinem alten Glanz erstehen könne. Zeitgenössische Aufzeichnungen berichteten über ihn: »Er ließ arm und reich gleichermaßen Recht widerfahren. Er schlief wenig und aß wenig. Er bemühte sich, stets so zu handeln, daß niemand von ihm ging, ohne von Freude und Bewunderung erfüllt zu sein.« Daß Dag obert drei Königinnen und ein Heer von Konkubinen hatte und ›ein Sklave der Unenthaltsamkeit‹ war, schien in der Familie gelegen zu ha ben, aber er war doch Persönlichkeit genug, die Macht der Hausmeier und der Großen zu beschränken. Seine Nachfolger, die sogenannten ›nichtstuerischen Könige‹ des wieder geteilten Frankenreiches, sahen sich gezwungen, den Hausmei ern die Machtbefugnisse wieder zu überantworten, die Dagobert für sich allein beansprucht hatte. So gelang es Pipin II. der der Ehe der Tochter Pipins I. mit dem Sohn Bischof Arnulfs von Metz entstamm te, die Herrschaft ganz und gar an sich zu reißen. Er schlug seine Ne benbuhler aus Neustrien und Burgund in einer blutigen Schlacht bei Tertry, nahm den Titel ›dux et princeps Francorum‹ an und herrsch te unbeschränkt über das ganze Reich, das dem Namen nach den Me rowingerkönigen gehörte. Er hatte es nicht leicht, sich zu behaupten. Im Süden hatte sich das Herzogtum Aquitanien unabhängig gemacht, und die Stammesherzöge im Elsaß, in Bayern und Thüringen waren nicht willig, sich ihm widerstandslos zu fügen. Aber er hatte es doch so weit gebracht, daß nach seinem Tod nicht mehr danach gefragt wurde, ob der Merowingerkönig seinen Nachfolger bestellen sollte. Niemand zweifelte daran, daß einer der Söhne Pipins Hausmeier werden wür de. Die tatsächliche Macht, mit einem merowingischen Schattenkönig 209
über sich, ergriff ein unehelicher Sohn Pipins, Karl, der später den Zu namen Martell (›der Hammer‹) erhielt. Er nannte sich ›Haushofmeister des Palastes und Herzog von Austrasien‹. Er schlug die großen Herren Neustriens, die ihm den Rang und die Ausübung der Gewalt streitig machen wollten, und auch die Friesen und Sachsen, die seine Gegner zu Hilfe gerufen hatten. Wie schon sein Zuname besagte, hatte Karl eine harte Hand. Um in der Ausübung seines Amtes nicht durch königstreue Ehrgei zige gehindert zu werden, setzte er selbst den Merowinger Theoderich IV. als König des Gesamtreiches ein und hielt seine Gegner durch Dro hungen, die er im Ernstfall auch verwirklichte, in Schach. Er beschlag nahmte Kirchengüter, wenn ihm die Bischöfe feindlich gegenübertra ten, und verkaufte oder verlieh die Besitzungen an ergebene Freun de oder an die Befehlshaber von Truppen, die ihm Gefolgschaft lei steten. Karl soll dafür in mehr als hundert Predigten zur ewigen Ver dammnis verurteilt worden sein. Dennoch bewies er seine christliche Gesinnung durch eine tatkräftige Unterstützung des heiligen Bonifati us. Rom mußte ihm gnädig sein, denn daß der angelsächsische Mönch unter seiner straffen Herrschaft Klöster und Bischofssitze in Salzburg, Regensburg und anderen bayrischen Gegenden und auch in Thürin gen gründen konnte, sprach gewiß nicht dafür, daß Karl ihn daran ge hindert hatte, seine vom Heiligen Stuhl begünstigte Sendung für den Glauben durchzuführen. Die große geschichtliche Tat Karls war die Abwehr des Einbruchs des Islams ins Frankenreich. Unter Abdarrachman, dem Statthalter des Kalifen auf der Iberischen Halbinsel, hatten die muselmanischen Streitscharen Narbonne, die letzte Hauptstadt des Westgotenreiches auf gallischem Boden, erobert und das Heer des Herzogs von Aquitanien in die Flucht geschlagen. Sie waren über Bordeaux hinaus in die Gegend zwischen Tours und Poitiers vorgedrungen. Ihre Übermacht war so groß, daß es Karl aus sichtslos erschien, einen Gegenangriff zu wagen. Er beschränkte sich auf die Verteidigung und stellte seine austrasischen Fußkämpfer nach altgermanischem Kriegsbrauch in enggeschlossenen Haufen auf. Nur so konnten sie dem Anprall der Reitermassen widerstehen. 210
Die hochgewachsenen Krieger standen ›wie eine Mauer aus Eis, un beweglich, ausdauernd, Mann an Mann. Mit eiserner Faust, hoch von oben herab und von ganzen Herzen schlugen sie zu‹. Einer dieser, mit dem wahren ›furor teutonicus‹ geführten Hiebe erschlug Abdarrachman. Die Muselmanen zogen sich fluchtartig zurück und überließen ihr reiches Lager den Siegern zur Plünderung. Das Ansehen Karls war durch die erfolgreiche Verteidigung so ge steigert, daß er es nach dem Tode Theoderichs IV. nicht einmal der Mühe wert fand, einen anderen Merowinger zu krönen. Er benahm sich, als wäre er selbst der König und teilte das Frankenreich unter sei ne Söhne Karlmann und Pipin auf. II Auch die Brüder nannten sich ›Hausmeier‹. Sie hatten es nicht leicht, die ihnen willkürlich vererbte Herrschaft zu behaupten. Die Herzö ge von Aquitanien, Bayern und anderer alamannischer Siedlungsge biete, die sich mit dem Volksstamm der Sueben verbunden hatten und Schwaben genannt wurden, begehrten gegen die königslosen Haus meier auf. Um sie zu beschwichtigen und sich einen gültigen Rechtsti tel für ihre Amtsgewalt zu schaffen, krönten die Söhne Karls den Me rowinger Childerich III. zum Schattenkönig. Er machte sich nur da durch geltend, daß die Königsurkunden, die Karlmann und Pipin ver faßten, seinen Namen trugen. In wenigen Jahren gelang es den Brüdern, ihre Herrschaft so zu fe stigen, daß Karlmann einem Herzenswunsch nachgeben konnte. Er hatte genug von der unruhigen Welt und dem unaufhörlichen Kampf um die Macht. Er sehnte sich nach Zurückgezogenheit. Seine Reise in die Einsamkeit führte ihn nach Rom. Karlmann wollte in einem von ihm gestifteten Kloster zum inneren Frieden gelangen. Papst Zacha rias nahm sein Mönchsgelübde entgegen. Aber auch in der Kutte fand Karlmann nicht die Abgeschiedenheit, die er suchte. Die wachsen 211
de Bedeutung seines Bruders, des unbeschränkten Beherrschers des Frankenreiches, veranlaßte zu viele Freunde und Feinde, ihn um seine Fürsprache zu bitten. Er floh aus seinem eigenen Kloster in die strenge Zucht von Monte Cassino. Die Entsagung Karlmanns, der sich als Benediktinermönch den Klo sterregeln demütig unterwarf, machte keinen Eindruck auf Pipin. Im Gegenteil. Er nützte die durch Karlmann angebahnte Beziehung zum Heiligen Vater aus, um das Ziel zu erreichen, das schon seinem Vater vorgeschwebt hatte. Pipin wollte nicht nur die Macht, er wollte auch ihren Glanz. Er ging vorsichtig zu Werke, denn das Königtum der Me rowinger war durch die Überlieferung so tief in der Seele der Franken verwurzelt, daß es das Ansehen einer geheiligten Legende hatte. Für das Blut, das in den Adern der Abkömmlinge der uralten Stammes könige floß, mußte ein würdiger Ersatz geschaffen werden, wenn Pi pin als rechtmäßiger König der Franken gelten sollte. Er beriet sich mit den ihm befreundeten großen Herren des Reiches und mit Bischöfen, die seine Anhänger waren. Es wurde beschlossen, zwei dieser hohen Geistlichen zum Papst zu senden mit der Frage, ›ob das Dasein von Königen in Frankreich ohne königliche Gewalt gut sei‹. Der Bescheid aus Rom lautete: »Es ist besser, der wirkliche Inhaber der Gewalt heißt König, als einer, dem keine königliche Gewalt geblieben ist.« Auf diese Antwort hatte Pipin gewartet. Sie war sein Freibrief. Er ließ sich in Soissons von den dort versammelten Franken zum König erwählen, wie es den alten germanischen Bräuchen entsprach. Seine Gattin Berthrada wurde Königin, und auch seine jungen Söhne Karl und Karlmann erhielten, so wie es in der Merowinger-Familie üblich gewesen war, den Titel König. Alles war so geschehen, wie Pipin es vor bereitet hatte. Die feierliche Salbung durch die Bischöfe ersetzte das königliche Geblüt und das ›Gottesgnadentum‹, das der Papst in Rom anerkannte, die Abstammung von den Göttern, deren sich die Mero winger gerühmt hatten. Der letzte Stammeskönig der Franken, Childerich III. und sein klei ner Sohn verschwanden im Kloster. Ihr rotes Haar, das die Merowin ger als sinnbildliches Zeichen ihrer königlichen Herkunft lang getra 212
gen hatten, fiel unter der Schere, während Pipin sich die Krone aufs Haupt setzte. Der äußeren Form war nun Genüge getan. Pipin war König. Er woll te seinen Kindern und Kindeskindern die Erbfolge sichern. Dazu gab es zwei Möglichkeiten: die Erweiterung und Stärkung des Familienbe sitzes, der sie einflußreicher und mächtiger machen würde als alle an deren Großen des Frankenreiches, und die innige Verknüpfung des neu gegründeten Königshauses mit den Hütern des Glaubens, die das ›Gottesgnadentum‹ seines Geschlechts als Voraussetzung des König tums bestätigen sollten. Pipin setzte alles daran, sich beider Möglichkeiten zu vergewis sern. Da hatte doch ein einfacher arabischer Kaufmann nur durch die Macht seines Wortes, das einen Glauben geschaffen hatte, ein unge heures Reich ins Leben gerufen, das vom äußersten Westen Südeuro pas bis in das tiefste Innere Asiens reichte, und jeder Krieg, den er un ternommen hatte, war von seinen eigenen Anhängern und von den Untertanen seiner Nachfolger, der Kalifen, als heilig erklärt worden, da die Waffen doch um des Glaubens willen und im Namen Allahs ergriffen worden waren. Die Muselmanen beherrschten die Iberische Halbinsel, die nordafrikanische Küste, Ägypten, die Ostküste des Mit telmeeres und von dort bis ins ferne Unbekannte reichende Länder. Diese Eroberungen waren ihnen durch die blindwütige Begeisterung für den Islam gelungen. Es war christlich und auch zum Schutze der Reiche nötig, die sich auf dem Boden des Römischen Reiches gebildet hatten, den Glauben der Völker, die christlich lebten, zu festigen und sie für die Abwehr der drohenden Angreifer zu begeistern. Daß die Muselmanen durch seinen Vater zurückgeworfen worden waren, bedeutete für Pipin keine Gewähr, daß sie nicht wiederkom men würden. Dagegen mußten Schutzmaßnahmen getroffen werden und auch gegen die Möglichkeit eines Überfalls der Muselmanen auf die Apenninische Halbinsel, die zum größten Teil von den Langobar den besetzt war. Wie gering die von den Exarchen verwalteten byzan tinischen Gebiete auf italischem Boden selbst von Byzanz gewertet wurden, war nur allzu offenkundig. Die kaiserlichen Statthalter blie 213
ben auf ihren Posten in Ravenna und vor allem in Rom, um die Ab hängigkeit der römischen Kirche von Byzanz zu sichern. Die Exarcha te waren Zankäpfel zwischen den Königen der Langobarden und den byzantinischen Kaisern, unaufhörlich schwelende Gefahrenherde, die auch die Päpste bedrohten – und die unter ihrer Herrschaft stehenden Landstriche, die seit Gregor I. noch an Umfang zugenommen hatten. Das ›patrimonium Petri‹ lag wie ein Keil zwischen den beiden Teilen des Königreiches der Langobarden. Das Verhältnis der Langobarden könige zu den Päpsten war auch dadurch getrübt, daß sich die gekrön ten Häupter den Stellvertretern Christi auf Erden in irdischen Fragen nicht unterwerfen wollten. Sie versuchten, die schwierige Lage der by zantinischen Kaiser auszunützen, die an ihren nördlichen Grenzen in Kämpfe mit dem aus slawischen und anderen Völkermischungen neu entstandenen Reich der Bulgaren so verwickelt waren, daß sie die Ex archate kaum schützen konnten. Der Langobardenkönig Aistulf er oberte Ravenna und wandte sich gegen Rom. Stefan II. der Nachfolger des Papstes Zacharias, der Pipin so gefällig geantwortet hatte, bat den Frankenkönig um Hilfe. Das war die große Gelegenheit für Pipin. Er lud den Heiligen Vater ein, vertrauensvoll zu ihm zu kommen. Der Papst unternahm die Rei se und wurde, als er ankam, von Pipin mit allen Ehren empfangen. Der König ging sogar so weit, daß er absaß und das Pferd des Papstes de mütig beim Zügel führte. Stefan II. trug Trauergewänder, um seine bedauerliche Lage auch eindeutig darzutun. Aber es fiel ihm leichter, als er erwartet hatte, Pi pin davon zu überzeugen, daß er den Heiligen Stuhl mit Waffengewalt gegen die Angriffe und Übergriffe des Königs der Langobarden schüt zen müsse. Pipin und der Papst schlossen ein Bündnis, das auf Gabe und Gegengabe beruhte. Der Heerbann der Franken trat auf dem so genannten ›Märzfeld‹ zusammen, und die Großen des Reiches ließen sich von ihrem König dafür gewinnen, sich mit einem Kriegszug au ßerhalb des Frankenreiches zum Schutze des Heiligen Vaters einver standen zu erklären. Stefan II. aber sicherte dem neuen Königsge schlecht das ›Gottesgnadentum‹ durch eine päpstliche Beschwörung 214
der Franken, ihre Könige nur aus der Nachkommenschaft Pipins zu wählen. Ein einziger Zwischenfall gefährdete doch die Durchführung des von Pipin mit Stefan II. so sorgfältig vorbereiteten Planes. Während der Papst vom König in Anwesenheit von dessen beiden Söhnen Karl und Karlmann ein feierliches Versprechen empfing, das ihm gewaltige Landgebiete als die ›Pipinsche Schenkung‹ zusicherte, erschien Karl mann, der Mönch, der Bruder Pipins, und erklärte, es nicht dulden zu können, daß seine Söhne einfach übergangen würden. Er habe für sich, aber nicht für sie abgedankt. Er habe sich nach Monte Cassino zurückgezogen, aber nicht sie. Sie seien seine rechtmäßigen Erben und hätten den gleichen Anspruch auf Würden und Länder wie die Söh ne Pipins. Der Papst machte von seinem Recht Gebrauch, Karlmann, der das Mönchsgelübde abgelegt hatte, ins Kloster zu verweisen. Um jeden wei teren Erbstreit unmöglich zu machen, wurden auch die Söhne Karl manns ins Kloster geschickt. Stefan II. bedrohte jeden mit dem Kir chenbann, der Pipin oder seiner Nachkommenschaft den Thron strei tig machte. Dann begab er sich in die Kirche von St. Denis und salbte, um nur ja keinen Zweifel an der päpstlichen Gutheißung aufkommen zu lassen, Pipin und seine Frau Berthrada nochmals als König und Königin. Gleichzeitig verlieh er Pipin und seinen Söhnen die Würde eines ›patricius Romanorum‹, des Schutzherrn der römischen Kirche und der Gebiete, die das ›patrimonium Petri‹ gewesen waren und die durch die ›Pipinsche Schenkung‹ zum Kirchenstaat abgerundet wer den sollten. Die Urkunde der ›Pipinschen Schenkung‹ ging verloren. Aber ein er folgreicher Feldzug des nun auch vom Heiligen Vater gesalbten Fran kenkönigs führte dazu, daß König Aistulf die Oberhoheit Pipins über das Langobardenreich anerkennen mußte und die byzantinischen Ge biete, die er erobert hatte, an den Papst abtrat. Aistulf beugte sich der Gewalt. Aber kaum war Pipin ins Frankenreich zurückgekehrt, als er Rom wieder besetzte. Jetzt rief der Papst Pipin nochmals zu Hilfe. Sein Brief lautete so, als habe der heilige Petrus selbst dem König geschrie 215
ben. Er versprach ihm Belohnung im Diesseits und im Jenseits, wenn er den Kirchenstaat schütze. Pipin ließ sich nicht zweimal bitten und sorgte in einem neuen Feld zug für die Einhaltung der Bedingungen, die er dem Langobardenkö nig auferlegt hatte. Als Aistulf starb, verwandte sich der Papst zugunsten des langobar dischen Herzogs Desiderius, der als Nachfolger Aistulfs König wurde. Die mächtige Nachbarschaft erschien dem Papst jedoch bedenklich. Er wollte weitere Sicherungen und auch Abrundungen des Kirchenstaa tes. Da das irdische Reich Gottes länger währen sollte, als das irdische Leben seines Schutzherrn, Pipins, währen konnte, ließ der Papst für alle Fälle eine gefälschte Urkunde herstellen, die als die ›Konstantini sche Schenkung‹ bezeichnet wurde und gegebenenfalls als Beweis da für dienen sollte, daß schon Kaiser Konstantin dem Papst Silvester und allen päpstlichen Nachfolgern die Herrschaft über Rom, die Apennini sche Halbinsel und den gesamten Westen zugesprochen habe. Diese Urkunde mochte wohl in den Auseinandersetzungen mit Kö nig Desiderius zur Sprache gekommen sein. Pipin jedoch nahm sie kaum zur Kenntnis. Er hatte in Rom erreicht, was er wünschte. Er woll te daraus Nutzen ziehen. In seinem Königreich sollte die Kirche, deren Schutzherr er geworden war, nach dem König die größte Macht wer den. Er beschenkte Bischofssitze und Klöster mit Ländereien und auch mit den Einkünften aus einer neuen Steuer, die er der Landbevölke rung auferlegte: dem ›Zehnten‹. Ein geistlicher Herr wurde Leiter der Königskanzlei. Sie übernahm die Amtsgewalt, die die Ahnen Pipins, die Hausmeier, ausgeübt hatten. Auch das war eine Vorsichtsmaßnah me zugunsten des neuen Königsgeschlechts, denn es war nicht zuläs sig, daß geistliche Herren ihre Ämter vererbten. Wer die Ereignisse der Gegenwart umsichtig abwog, mußte die Mög lichkeiten der Zukunft voraussehen und vorbauen. Beinahe ein Jahr hundert hatten sich die Eroberungen des riesigen Kalifenreiches als Einheit erhalten, trotz bedenklicher Glaubensspaltungen, denen vor al lem die Frage zugrunde lag, wer das Kalifat innehaben sollte: die Schi iten, welche die Herrschaft für die leiblichen Nachkommen Alis, des 216
Schwiegersohnes des Propheten, forderten, oder die Charidschiten, die schwärmerisch dafür warben, daß der jeweils frömmste und würdigste Bewerber, ohne Rücksicht auf seine Abstammung, Kalif werden soll te. Eine dritte Gruppe, die Sunniten, begehrte, daß die Überlieferun gen des Propheten und die Einheit der islamitischen Gemeinschaft al len anderen Belangen vorangestellt würden. Die mit den Abkömmlin gen Muawijas, der nach seinem Urgroßvater Omaija genannten Omai jaden, Unzufriedenen wurden von den Abkömmlingen Abbas', eines Onkels Mohammeds, zu Anhängern gewonnen. Abul Abbas besiegte die Omaijaden. Neunzig Prinzen wurden getötet, nur ein einziger ent kam und gründete auf der Iberischen Halbinsel das selbständige Ka lifat von Cordova. Die Abbassiden errichteten ihrerseits ein Kalifat in Bagdad, welches das Königreich Persien, das durch den Islam vernich tet worden war, im mohammedanischen Glauben erneuerte. Die überraschende Teilung des arabischen Weltreiches wirkte auf König Pipin als Warnung. Er schickte Gesandte an die Höfe der bei den Kalifen mit Freundschaftsangeboten und um ihre Absichten zu erkunden. Fürs erste schien seinem Reich keine Gefahr vom Islam zu drohen, aber er mußte verhüten, daß seine eigenen großen Herren das Beispiel der Muselmanen nachahmten, daß die Bischöfe, Herzöge und Grafen zu groß würden und vergaßen, daß sie dem König Gehorsam und Gefolgschaft schuldeten. Der wichtigste Landesteil, den Pipin in bedingungslose Abhängig keit vom Königtum bringen wollte, war Bayern. Dort herrschte Her zog Tassilo ähnlich, wie die Vorfahren Pipins in Austrasien geschaltet und gewaltet hatten. Das mußte geändert werden. Der in allen Feldzü gen gegen die Sachsen an den Grenzen des Frankenreiches und spä ter auch gegen Aquitanien erfolgreiche Pipin brachte es dazu, daß Tas silo von Bayern ihm den Treueid als Vasall leistete. Das schuf ein Le hensverhältnis, die erste Beziehung dieser Art zwischen einem König und einem Stammesherzog, denn vorher hatte es ein Lehensverhält nis nur zwischen dem König und solchen Dienstleuten des Königs ge geben, denen er Land aus seinem persönlichen Eigentum zugewiesen hatte. Wenn auch Tassilo später die Abhängigkeit von Pipin selbstherr 217
lich aufkündigte, so war doch der Beispielsfall des Lehensverhältnisses eines Herzogs zum König geschaffen. Pipin wurde nicht alt. Er starb als Vierundfünfzigjähriger und hin terließ seinen beiden Söhnen Karl und Karlmann das zu einer überra genden Weltmacht gewordene Frankenreich.
Karl der Große I König Karlmann II. und König Karl, später ›der Große‹ genannt, wa ren feindliche Brüder. Über ihre Streitigkeiten erhielten sich nur kar ge Berichte. Karlmann starb kaum drei Jahre nach dem Tod seines Va ters, zu einem Zeitpunkt, in dem sowohl er als auch sein Miterbe be reits entschlossen waren, zu den Waffen zu greifen, da sie sich anders nicht einigen konnten. Kaum hatte Karl die Nachricht vom Tode seines Bruders erhalten, als er in die von Karlmann ererbten Länder einrückte und sich in Ge genwart einiger Grafen des Verstorbenen von den bedeutendsten Bi schöfen zum König des gesamten Frankenreiches salben ließ. Gerber ga, die Witwe Karlmanns, floh mit ihren Kindern nach dem Süden, um sich in den Schutz des Langobardenkönigs Desiderius zu begeben. Sie begründete ihre Flucht damit, daß ihr Schwager Karl sich durch die überstürzte Salbung zum König des ganzen Frankenreiches eindeutig über das Erbrecht ihrer Kinder hinweggesetzt habe. Die eilige Reise Gerbergas an den Hof des Desiderius, des Schwie gervaters Karls, hatte vermutlich den Zweck, den Langobardenkönig um Vermittlung zu bitten. Aber die Ankunft der Witwe Karlmanns war ebenso unerwartet und vermutlich auch unerwünscht, wie es kurz vorher die Rückkehr seiner Tochter Desiderata in den elterlichen Pa 218
last gewesen war. Die junge Königin, von ihrem Gatten Karl versto ßen, war zu ihrem Vater gekommen. Der Vetter Karls, Adalhard, der sich ein Jahr vorher als Brautwerber dem König der Langobarden ge genüber eidlich für die Ehrung seiner Tochter verbürgt hatte, stellte fest, daß Desiderata ›sine diquo crimine‹, ›ohne jegliche Schuld‹, ver stoßen worden sei. Auch Königin Berthrada, die Mutter Karls, hat te sich gegen die Verstoßung der unschuldigen Schwiegertochter aus gesprochen. Sie war um so aufgebrachter, als sich ihr Sohn Karl, der durch einen Staatsstreich zum alleinigen König der Franken gewor den war, wenige Monate nach der Verstoßung Desideratas mit der erst dreizehnjährigen Hildegardis vermählte, deren Mutter Imma eine Ur enkelin Gottfrieds, des Stammesherzogs der Alamannen, war. Eine solche Hinwegsetzung über Familienbande aller Art schien auch kein vielversprechender Beginn einer königlichen Laufbahn. Es war vorauszusehen, daß weder Desiderius, der sich öffentlich als Schutz herr der Söhne Karlmanns erklärte, noch die Anhänger des verstorbe nen Miterben Karls die Beleidigungen und die Mißachtung des Rechts friedlich hinnehmen würden. Dennoch sollten gerade diese beiden unglückseligen Handlungen des jungen Königs Karl der unmittelbare Anlaß seiner hervorragendsten kriegerischen Leistungen werden. Es war von Anfang an klar, daß er über sich selbst und über seinen Vater hinauswachsen müsse, um behaupten zu können, was er an sich geris sen und was er geerbt hatte. Obwohl er wußte, daß jenseits seiner südlichen Grenzen der mäch tige Langobardenkönig gewaltige Kriegsvorbereitungen traf und Papst Hadrian I. bestürmte, die Söhne Karlmanns zu Königen zu salben, be schloß Karl in einer als ›Reichstag‹ bezeichneten Versammlung von großen Herren und Bischöfen des fränkischen Königreiches zu Worms den Sachsenkrieg. Er zog mit einer vorzüglich ausgerüsteten Streit macht nach dem Norden. Dieser Aufmarsch des von Karl befehligten fränkischen Heeres hat te einen mehrfachen Zweck. Die Grafen der Gebiete, die Karlmann be herrscht hatte, konnten erkennen, daß ein bewaffneter Widerstand ge gen Karl oder ein Einspruch gegen die von ihm geschaffene Lage sinn 219
los war. Sie erkannten auch, daß sie besser daran taten, sich seinem Heerbann anzuschließen, der aufgeboten worden war, um die säch sischen und friesischen Stämme an den Grenzen des Frankenreiches durch Gewalt oder freundlichen Zuspruch dazu zu bringen, sich der großen germanischen Völkerfamilie einzuverleiben, die als Einheit so mächtig geworden war. Die im Glauben ihrer Urväter und nach alten Sitten lebenden Sachsen sollten auch der Segnungen des christlichen Glaubens teilhaftig werden und der erhöhten Lebensformen, die die anderen wandernden Germanenstämme nach ihrer Seßhaftigkeit im Frankenreich errungen hatten. Die Sachsen hatten keinen König. Sie erhielten ihre Gemeinschaft durch die alljährliche Versammlung der drei alten Volksgruppen, der Adeligen, der Freien und der Hörigen, und wählten wie eh und je im Kriegsfall einen ›furisto‹ zum Heerführer. Sie traten dem Kriegszug Karls in Waffen entgegen. Er eroberte die Eresburg an der Diemel und zerstörte ihr Hauptheiligtum, die Irminsul, einen heiligen Holzstamm. Aber die Einnahme von Volksburgen, in denen sich die Sachsen zur Abwehr vereinigt hatten, bedeutete nicht den Sieg über die Männer, die in den dichten Wäldern verschwanden und sich an anderen Stel len zu erneutem Gegenangriff sammelten. Da und dort gelang es Karl, ein friedliches Übereinkommen zu treffen. Aber wie lange würde es in Geltung sein, da er doch jetzt gezwungen war, seine ganze Macht zu vereinigen und nach dem Süden zu werfen? Genauso wie sein Vater wurde Karl vom Papst gegen einen Lango bardenkönig zu Hilfe gerufen. Der Grund war freilich ein anderer, der Anlaß der gleiche. Desiderius hatte römisches Gebiet angegriffen, um den Papst zum Nachgeben zu zwingen. Karl überschritt die Alpen. Ge gen seine im Feldzug gegen die Sachsen erprobten Krieger dauerte der Widerstand der Langobarden nicht lange. Desiderius, der nach Pavia geflohen war, ergab sich und wurde mit seiner gesamten Familie ins Kloster gesteckt. Auch Gerberga, die unglückliche Witwe Karlmanns, die Schwägerin Karls, die mit ihren Kindern in Verona Zuflucht ge funden hatte, fiel in die Hände des Siegers. Ihre Gefangennahme war die letzte Nachricht, die sich über sie erhalten hat. Karl ernannte sich 220
selbst zum Nachfolger des geschlagenen Desiderius. Er war nun auch König der Langobarden und setzte sich die ›eiserne Krone‹ aufs Haupt, die er im langobardischen Königsschatz gefunden hatte. Karl war schon anläßlich der Krönung seines Vaters zum ›patrici us Romanorum‹ erhoben worden. In Rom empfingen ihn Knaben und Mädchen mit Palm- und Ölzweigen in den Händen, als er unter Lob gesängen und begeisterten Zurufen vom Pferd stieg und sich der Peter skirche näherte. Der Papst erwartete ihn auf der Terrasse oberhalb der Stufen der Kirche. Karl küßte jede der Stufen, bis er den Papst auf der Terrasse erreicht hatte. Dann begaben sich der Heilige Vater und der König der Franken und Langobarden in die ›confessio‹ des heiligen Petrus und schworen vor der Leiche des ersten Stellvertreters Christi auf Erden gegenseitige Sicherheitseide. Bei dieser Gelegenheit ließ sich der Papst die von Pipin gemachten Schenkungen auch durch Karl be stätigen. Die versprochenen Gebiete waren zahlreicher und umfang reicher als die Gebiete, die tatsächlich in den Besitz des ›patrimonium Petri‹ gelangten, denn Pipin und sein Sohn hatten mehr versprochen, als sie erfüllen konnten. Aber alle anwesenden Bischöfe, Herzöge und Grafen unterschrieben die Urkunde, die bei der Leiche des heiligen Pe trus aufbewahrt wurde. Der Kirchenstaat, das Reich Gottes auf Erden, war nun Wirklichkeit. Die Langobarden, die dagegen aufbegehrt hat ten, waren zu fränkischen Untertanen geworden, und den byzantini schen Kaisern verblieben nur noch kleine Gebiete auf italischem Bo den. Am wichtigsten waren ihnen die von Flüchtlingen auf Lagunen erbaute Stadt Venedig und die vorgelagerten Inseln. Dort sollte von nun ab der Handel aus Byzanz mit dem mitteleuropäischen Hinter land betrieben werden.
221
II
Der Sachsenkrieg Karls, der vor seinem siegreichen Zug nach Italien begonnen hatte, dauerte alles in allem dreißig Jahre. Es waren nicht un unterbrochene Kampfhandlungen, sondern immer wieder unternom mene Feldzüge, die den zähen Widerstand der Sachsen durch noch zä here Angriffe brechen sollten. Kein Mittel blieb in diesem Krieg unge nützt. Aber während die in vielen Gebieten noch im Urzustand leben den Sachsen keine einheitliche Führung hatten und nur auf die not dürftigen Mittel ihrer kargen Umgebung angewiesen waren, verfüg te Karl nicht nur über die militärischen Kräfte und Rüstungsmöglich keiten des riesigen Frankenreiches, sondern brachte auch seinen Er findungsreichtum als Feldherr und Staatsmann zur Geltung. Wenn er mit seinen Truppen vorgedrungen war, sicherte er das eroberte Gebiet durch die Errichtung von Königshöfen, die, nach dem Muster der ehe maligen römischen Feldlager, gleichzeitig auch Sammelstellen für die Verpflegung und Stützpunkte für den weiteren Vormarsch waren. Er baute Straßen, um die Zufuhr zu sichern, und sorgte für die geregelte Bebauung und Verwaltung des in Besitz genommenen Landes. Er war immer wieder bemüht, den Besiegten seine friedlichen Absichten zu bekunden. Es gelang Karl auch, Reichstage mit sächsischen Adeligen abzuhal ten. Er empfing Treueide. Aber wenn dann die Mönche, die ihm in die Königshöfe gefolgt waren, ihr Bekehrungswerk unternahmen und Kir chen zu bauen begannen, wehrten sich die Sachsen zum Schutze ihres Götterglaubens nur allzuoft. Neue Feindseligkeiten brachen aus, und der Friede, den das Kreuz hätte bringen sollen, mußte durch das Schwert wiederhergestellt wer den. 222
Endlich schien es, daß die Unterwerfung der Sachsen vollendet sei. Karl hielt zu Paderborn, im Herzen der umkämpften Gebiete, einen Reichstag ab, der Massentaufen der Sachsen zur Folge hatte. Waren die Widerspenstigen endlich bekehrt und bereit, sich dem Reich der Franken als gleichwertige christliche Untertanen einzuordnen? Karl war davon überzeugt, denn als ihn der muselmanische Statthalter von Barcelona, Ibn-al-Arabi, in seinem nördlichsten Königshof besuchte, um die Hilfe des christlichen Königs gegen den Kalifen von Cordova zu erbitten, verließ er das Sachsenland und machte sich auf den Weg südwärts über die Pyrenäen. Alles ging planmäßig vor sich, aber auf seinem ungestümen Sieges zug, der Karl bis nach Saragossa führte, hatte er die christliche Stadt Pamplona belagert und eingenommen und sich, ohne es zu bedenken, dadurch die in Nordspanien ansässigen christlichen Basken zu Fein den gemacht. Die Aufstände der Muselmanen, die ihm Ibn-al-Arabi als sicher vorausgesagt hatte, fanden nicht statt. Karl fühlte sich nicht stark genug, um den Vormarsch gegen Cordova ohne die Hilfe von einheimischen Aufständischen wagen zu können. Überdies erhielt er die erschreckende Nachricht, daß sich die Sachsen in einem wüten den Aufruhr gegen seine Herrschaft erhoben hatten und seine Stadt Köln bedrohten. In aller Eile machte Karl kehrt. Er hatte mit dem Großteil seines Heeres die Pyrenäen in langgestreckten Einheiten be reits überschritten, als eine baskische Streitschar die Nachhut am Paß von Roncesvalles überfiel und bis auf den letzten Mann niedermachte. Graf Hroudland, der Held des später entstandenen Rolandliedes, fand bei diesem Überfall den Tod. Karl mußte die Rache verschieben, denn nunmehr galt es, die Sach sen wieder zur Ruhe zu bringen: Durch gütigen Zuspruch oder durch Gewalt. Er berief neue Reichstage ein und verkündete den Taufzwang für jedermann, verbot Menschenopfer und Leichenverbrennung, er ließ Verordnungen zum Kirchenschutz und verfügte die Eintreibung des ›Zehnten‹. Wer sich diesen Erlässen nicht fügte, hatte schwere Geldbußen oder die Todesstrafe zu gewärtigen. Widukind, ein Herzog der Sachsen, der den Aufruhr gegen Karl an 223
geführt hatte, war inzwischen geflohen. Aber er kehrte zurück, als Karl die Sachsen zur Heeresfolge aufrief. Ein Feldzug gegen die Slawen, die die östliche Grenze des Frankenreiches beunruhigten, war geplant. Fränkische Truppen standen bereit, die Sachsen in ihre Reihen auf zunehmen. Die vermeintlichen Mitkämpfer entpuppten sich als Geg ner, die unter der Führung Widukinds die fränkischen Mannschaften erschlugen. Karl, der in Eilmärschen heranzog, wurde Herr der Lage. Er nahm furchtbare Rache. Er ließ viertausendfünfhundert gefangene Sachsen bei Verden an der Aller niederhauen. Nun wollten die Sachsen sich rächen. Ein noch wütenderer Aufruhr brach aus. Aber die überlegene Kriegskunst Karls bewährte sich, auch als Widukind die Friesen zu Hilfe rief. Nach verzweifelten Schlachten gab der Sachsenherzog den Widerstand auf. Das Land war verwüstet. Es erschien Widukind sinnlos, gegen die Heere Karls anzukämpfen, die der König der Franken und Langobarden mit immer neuen Krie gern auffüllen konnte, während seine eigenen Reihen sich nach jedem Zusammenstoß lichteten. Das Kreuz, das den Truppen Karls vorange tragen wurde, schien unbesiegbar zu sein. Es hatte sich auch so oft er wiesen, daß die Frauen und Kinder der besiegten Sachsen nur Wohlta ten und Hilfe von den Mönchen empfangen hatten, die den Zwang der Taufe mit gütigem Zuspruch und belehrenden und erhebenden Wor ten und Gesängen ausübten, daß Widukind an seiner Berufung zur Führung der Sachsen gegen den Gott der Christen und ihren Herr scher, der von SEINEN Gnaden König war, zweifelte. Er unterwarf sich und ließ sich mit seinen Gefolgsleuten taufen. Daß Karl, der Widukind Straflosigkeit zugesichert hatte, sein Wort hielt, bestimmte viele andere Sachsen, dem Beispiel des Herzogs zu fol gen. Auch die Ernennung von sächsischen Adeligen zu Grafen beein druckte den größten Teil der durch den langen Krieg schon erschöpf ten Bevölkerung. Sie mieden die Kirchen nicht mehr und auch nicht die Klöster, die eines nach dem anderen errichtet wurden. Der mil de, versöhnliche Glaube, der ihren eigenen) wilden, unversöhnlichen Glauben besiegt hatte, gewann schließlich die Männer, die sich den Waffen so hartnäckig widersetzt hatten. Trotzdem flackerten in man 224
chen Gegenden immer wieder Unruhen auf. Sie wurden mit harter Hand unterdrückt, aber die überlebenden Sachsen wurden schließlich mit sanfter Sicherheit befriedigt, und die nordöstlichen Grenzen des Frankenreiches waren nun an Eider und Elbe befestigt. Karl zwang auch den Herzog Tassilo von Bayern, der seinen Sohn Pipin schon als Lehensherrn anerkannt, sich aber dann den Lehenspflichten entzogen hatte, zur Abdankung. Er beschuldigte den ehemaligen Schwager des Treubruchs und schenkte ihm ›um Gottes und um der Verwandtschaft willen das Leben‹. Tassilo, der das Schicksal seines verschwundenen Schwiegervaters Desiderius, des Königs der Langobarden, vor Augen hatte und ahnte, daß er ihm nicht entgehen würde, erwiderte auf die Frage, was er nun beginnen wolle: Er bitte, sich scheren lassen und in ein Kloster treten zu dürfen. Karl erfüllte die Bitte, und Bayern hatte durch den erzwungenen Verzicht Tassilos aufgehört, ein Stammesherzogtum zu sein. Graf Ge rold, der Bruder von Karls inzwischen verstorbener Gattin Hildegar dis, wurde zum ›praefectus Baioriae‹ bestellt, mit dem Auftrag, Grenz festungen gegen die benachbarten Slawen und Awaren zu errichten.
Der kriegerische König, der das gewaltige Frankenreich durch die Er oberung der in die ›spanische Mark‹ umgewandelten Gebiete Nordost spaniens erweiterte und auch durch die gewaltsame Einverleibung an Bayern angrenzender Landstriche, denen er die Namen ›Ostmark‹ und ›Mark Kärnten‹ gab, war seinem Wesen nach ein Friedensfürst. Sein Vorbild wurde Theoderich der Große. Karl beförderte ein Standbild des Ostgotenkönigs von Ravenna nach Aachen, seinem bevorzugten Königssitz. Wie Theoderich wünschte auch er, alle Germanenstämme, die einander in den Jahrhunderten ihrer Wanderung und bedräng ten Seßhaftigkeit bekämpft hatten, friedlich in einem Reich zu vereini gen. Der Plan war der gleiche, die Art der Durchführung jedoch ver schieden. Der Ostgotenkönig hatte als Vermittler gewirkt und in bei nahe allen seinen Handlungen und Erlässen seiner Duldung aller Be 225
kenntnisse und Einstellungen Ausdruck gegeben. Karl kannte und an erkannte in jeder Frage nur einen Standpunkt: den seinen – den er sich oft mühsam abrang. Er ließ auch nur einen Glauben gelten: den römischkatholischen. Er setzte sich eindeutige Ziele und verfolgte sie, wenn es nicht anders ging, bis zum bitteren Ende. Karl verdankte seinem Vater die ursprüngliche Sicherheit der Ziele und auch die Voraussetzungen zur Durchführung seiner Pläne. Pipin hatte ein geeinigtes, wirtschaftlich geordnetes Königreich und ein vor züglich ausgerüstetes Heer hinterlassen und Karl die staatsmännische und vermutlich auch persönlich empfundene Auffassung vermittelt, daß die Verbreitung und Festigung des römischkatholischen Glaubens die wesentlichste Pflicht und auch die verläßlichste und stärkste Stütze des Königs der Franken sei. Die Einheitlichkeit des Glaubens und die Förderung der Klöster, die dafür sorgten, daß die Gläubigen in christ licher Zusammengehörigkeit lebten und ihrem König dienten, machte die Bevölkerung und auch die großen Herren des Frankenreichs emp fänglich für jede Maßnahme und für jedes Gesetz, das Karl im Namen Gottes erließ. Karl hatte alle Eigenschaften eines überragenden Herrschers. Er hat te gut geerbt: Er war ebenso umsichtig und vorsichtig wie Pipin und konnte ebenso hart sein wie Karl der Hammer. Er war jedoch geleh riger als beide und trotz seiner scheinbaren Halsstarrigkeit weitaus geschmeidiger. Er stand auch nicht wie seine beiden Vorgänger un ter dem Zwang, die Ausübung der Königsgewalt zu rechtfertigen. Seit er sich nach dem 'Tod Karlmanns zum Alleinherrscher aufgeschwun gen hatte, fühlte er sich im Besitz der Macht nicht bedroht und schien überzeugt von seinem Recht zu sein, sie voll und ganz zu besitzen und nach seinem Ermessen auszuüben. Die Lebensweise Karls war einfach. Er unterschied sich im Ausse hen kaum von den meisten anderen Franken. Seine Kleidung bestand aus einem schlichten Leinenhemd, enganliegenden Kniehosen, ei nem wollenen, nur selten mit Seide verbrämten Rock, einfachen Le derschuhen und mit Bändern umwundenen Strümpfen. Wenn es kalt war, kleidete er sich in einen enganliegenden Pelzmantel. Sein von Ge 226
sundheit strotzendes Gesicht, das ein Schnurrbart schmückte, war von blondem Haar umrahmt. Er war ein mäßiger Esser und Trinker. Sei ne Lieblingsbeschäftigungen waren die Jagd und die Arbeit. Wenn sich die Staatsgeschäfte drängten, ließ er sich sogar während des Anklei dens formlos Bericht erstatten. Nur bei besonders festlichen Anlässen trug Karl edelsteinbesetzte Schuhe, bestickte Seidengewänder und bei ganz feierlichen Anlässen eine Krone aus Gold und Edelsteinen. Sein Freund und Ratgeber Einhard überlieferte allerlei Einzelheiten aus seinem Leben. Karl liebte Tischmusik und ließ sich während der Mahlzeiten geschichtliche Werke vorlesen. »Großen Gefallen fand er auch an den Büchern des heiligen Augustinus, vor allem am ›Gottes staat‹ … Er war ein eifriger Gönner der Wissenschaften, schätzte ihre Lehrer und zeichnete sie mit den höchsten Ehren aus … Er nahm Un terricht in der Sprachkunst und in der Astronomie … Er versuchte sich auch mit Schreiben. Zu diesem Zweck hatte er stets Schreibtäfelchen unter dem Kopfkissen seines Bettes, damit er seine Hand in schlaflo sen Stunden an das Formen von Buchstaben gewöhne, doch machte er dabei nur geringe Fortschritte … In späterer Zeit hatte er große Freude an den von Natur heißen Quellen und übte seinen Körper im Schwim men. Darin besaß er so große Gewandtheit, daß ihn keiner übertraf. Nicht nur seine Söhne, sondern auch seine Verwandten, Freunde und Leibwächter lud er zum Baden ein, so daß sich manchmal hundert und mehr Menschen zugleich badeten.« Die Unermüdlichkeit Karls während der endlosen Kriegszüge, der unaufhörlichen Reisen und der Bewältigung der unendlichen Arbeit bewies sich auch in seinem regen Liebesleben. Er hatte vier Ehefrauen, die ihm zwölf Kinder gebaren, und viele sogenannte ›Gespielinnen‹, Geliebte, die ihn außerhalb der Ehe erfreuten und denen er sechs nach weisbare Kinder verdankte. Er galt als zärtlicher Vater, und in einem Gedicht, ›Ad Carolum Regen‹, schilderte ihn der westgotische Prie ster und Gelehrte Theodulf im Kreise seiner engsten Familie: »Wenn er heimkehrte, umringten ihn seine Kinder. Sein Sohn Karl nahm ihm den Mantel ab, sein Sohn Ludwig das Schwert. Sechs Töchter umarm ten ihn, brachten ihm Brot, Wein, Äpfel und Blumen.« 227
Es hieß, daß Karl seine Töchter so sehr liebte, daß er erklärte, er könne ohne sie nicht leben. Er hielt sie auch von der Ehe ab. Wenn sie sich unerlaubten Liebesbeziehungen ergaben und sogar Kindern das Leben schenkten, sah er darüber hinweg. Diese mangelnde Beach tung der christlichen Sittlichkeit führte auch dazu, daß Karl, der gro ße Schutzherr der Christenheit, schließlich nur ›selig‹ und nicht ›hei lig‹ gesprochen wurde. Man sagte, er müsse erst einige Zeit im Fege feuer schmachten, bevor er des himmlischen Reiches teilhaftig wer den könne. III Das irdische Reich, das Karl schuf und verwaltete, war von so umfas sender Bedeutung und nachhaltiger Wirkung, daß seine menschlichen Schwächen seiner Größe keinen Abbruch zu tun vermögen. Aber nicht die Kriegszüge, durch die er dem Frankenreich neue Länder einverleib te, machten ihn größer als andere Eroberer. Die zeitnahe Lebendigkeit, die sich in seinen Verwaltungsmaßnahmen äußerte, und seine vielsei tige Bemühung, die Lebensform seiner Völker nicht nur in wirtschaft licher, sondern auch in geistiger und geistlicher Beziehung zu heben, verdienten ihm den Beinamen, den ihm die Geschichte verlieh. Er selbst hatte in seinem Leben oft Unrecht getan und war unbarm herzig gewesen, aber er sorgte dafür, daß ein gutes Rechtsgefühl und Nächstenliebe in seinen Untertanen lebten. Das bezeugen seine Ver ordnungen an die Königsboten: »Wo in einem Gesetz etwas wider Recht und Gerechtigkeit angeordnet ist, sollen sie es auf das sorgfältig ste untersuchen und zu seiner Kenntnis bringen. Mit Gottes Hilfe will er selbst es dann bessern. Sie sollen alle ermahnen, überall nach Gottes Gebot, rechter Vernunft und rechtem Verstand zu leben und auch je den ermahnen, in seinem Amt oder Beruf zu bleiben. Und so sollen sie überall und in allen Fällen, möge es sich um die heiligen Kirchen Got tes handeln oder um die Armen, die Waisen und die Witwen oder um 228
das ganze Volk, Recht und Gerechtigkeit in Fülle austeilen, nach dem Willen und der Furcht Gottes.« Die Königsboten reisten zu zweit. Je ein geistlicher und ein weltlicher Herr überwachten die Amtsführung der Grafen in ihren Gebieten und erstatteten Karl schriftlichen Bericht. Er war von brennender Neugierde: »Er wollte wissen, ob in einem Teil oder Winkel seines Reiches das Volk unstet war und warum.« Wenn ihm Untaten bekannt wurden, zwang er die Schuldigen, öffent lich dem ungerecht Behandelten Schadenersatz zu leisten und Sicher heit gegen die Wiederholung von Untaten zu bieten. Auch Herzöge und Grafen entgingen solcher Buße nicht. Im persönlichen Umgang zeigte Karl Wärme und Freundlichkeit. In den Versammlungen, die er in den Königshöfen in regelmäßigen Abständen abhielt, erlaubte er Gruppen von Adeligen oder Bischöfen, über die Gesetzesvorschläge, die er machen wollte, zu beraten. Bei sol chen Gelegenheiten ›grüßte er die Angesehensten, unterhielt sich mit den Männern, die er selten zu sehen bekam, bezeigte den Älteren eine gütige Anteilnahme und scherzte mit den Jungen‹. In den sogenannten ›capitula‹, den Abschnitten seiner Gesetzge bung, beschäftigte sich Karl mit allen Lebensgebieten. Er regelte den Ackerbau, das Gewerbe, das Geldwesen, den Glauben. Er versuchte, die freie Bauernschaft gegen die sich aus breitende Hörigkeit zu schüt zen. Er ordnete auch die Verwaltung der königseigenen Güter in al len Einzelheiten. Einer seiner wichtigsten Erlässe war an die Bischöfe und Äbte des Reiches gerichtet. Er warf den Geistlichen ihre ›ungeho belte‹ und ›ungebildete‹ Redeweise vor und forderte sie auf, Schulen zu gründen, und zwar so, ›daß kein Unterschied zwischen Knechten und Freien gemacht werde, so daß alle kommen und auf der gleichen Bank Grammatik, Musik und Arithmetik betreiben können‹. Gebildete Männer konnten der Gunst Karls gewiß sein. Er ernann te seinen Biographen Einhard zum Haushofmeister und Schatzkanz ler, dem auch die Überwachung des Bauwesens oblag. Die meisten Kir chen, Klöster und Herrensitze im Frankenreich wurden in römischer Bauart errichtet. Der Bogen der Toreinfahrten und der oft als Kreuz 229
gänge benützten Hallen wurde getreulich nachgeahmt und blieb das Kennzeichen des romanischen Baustils. In Aachen, dem Lieblingssitz Karls, wurde seine berühmte Kapelle erbaut. Ihr Vorbild war eine Kir che in Ravenna, der Hauptstadt Theoderichs. Um sein Gotteshaus ge bührend zu vollenden, ließ Karl Säulen und Zierate aus Rom und Ra venna kommen. In der ›Hofschule‹ von Aachen, einem nordischen Gegenstück zu den griechischen Hochschulen, versammelte er die namhaftesten Gelehr ten, die er an sich binden konnte. Seine Versuche, in verwandtschaft liche Beziehungen zu den angelsächsischen Königen zu treten, waren mißlungen. Er hatte weder eine geeignete Flotte noch die Zeit, eine gewaltsame Annäherung an die sieben germanischen Könige durch zuführen, die im Wettbewerb miteinander Britannien beherrschten. Aber er benützte die eingeleiteten Heiratsverhandlungen dazu, angel sächsische Lehrer für die ›Hofschule‹ von Aachen zu werben. Der be deutendste davon war der Gottesgelehrte Alkuin, der in Moral, Gram matik und Dichtung unterrichtete. Während der von kriegerischen Wanderungen so unaufhörlich be unruhigten Umwandlung des Römischen Reiches in ein seßhaftes Germanenreich waren die Überlieferungen des wissenschaftlichen Altertums verlorengegangen. In dieser unerbittlichen Übergangszeit war auch die Ausübung der Lehrtätigkeit, die als heidnisch bezeichnet worden war, gehindert worden und der Wunsch nach brotloser Geleh rigkeit erloschen. Die Anregung Karls führte zu einem Versuch, die zerrissenen Fäden der Vergangenheitsforschung wiederaufzunehmen. In der ›Hofschule‹ von Aachen schrieb Paulus Diaconus die Geschich te der Langobarden, und Karl veranlaßte die Sammlung von Volks liedern und Sagen, die in der Heldenzeit der Germanen entstanden waren. Die Sprache der Bevölkerung im austrasischen Ursprungsge biet Karls und in seinen germanischen Landerwerbungen war im wah ren Sinne des Wortes seine Muttersprache. Die ›lingua Theodisca‹, das ›Volkstümliche‹, vom Worte ›diutisc‹ und ›diot‹ abgeleitete ›Deutsche‹ begann nicht nur unter den Ungebildeten, sondern auch an den Kö nigshöfen das Lateinische zu ersetzen oder doch zu ergänzen. Die Er 230
mutigung zum Gebrauch der Volkssprache erwies sich als nötig, um den Knaben und Mädchen, in deren Elternhaus nicht lateinisch ge sprochen wurde, das zur Pflicht gemachte Erlernen und Verständnis des Glaubensbekenntnisses und des Vaterunsers zu erleichtern. Die Kirche, die in ihren wachsenden Bischofssitzen und Klöstern den christlichen Glauben lebendig verkörperte, wurde von Karl kaum an ders verwaltet als seine königlichen Besitzungen oder die Grafschaften des Reiches. Er ernannte Bischöfe und Äbte nach seinem Belieben, so wie die Grafen und die Angestellten seiner Verwaltung. Er legte seine eigene Stellungnahme zum Glauben in einem Brief an den Papst fest: »Meine Pflicht ist es, die heilige Kirche überall nach außen mit den Waffen zu schirmen vor dem Angriff der Heiden und der Verwüstung der Ungläubigen, und sie im Innern zu festigen durch Anerkennung des katholischen Glaubens. Deine Pflicht ist es, meine Kriegsarbeit durch Erhebung der Hände zu Gott zu unterstützen, auf daß das Chri stenvolk überall und immer den Sieg habe über die Feinde seines Na mens, und der Name Christi auf dem ganzen Erdball verherrlicht wer de.« Durch diese rückhaltlos erklärte Aufteilung des Pflichtenkreises tat Karl dem Heiligen Vater eindeutig kund, wie er sich zum Reich Gottes auf Erden stellte. Der Heilige Stuhl besaß wohl das ›patrimonium Pe tri‹, den Kirchenstaat, die ›Pipinsche Schenkung‹, die Karl anerkannt hatte. Er selbst aber betrachtete sich ›überall‹ als der oberste Schirm herr der Kirche. Dieser Brief Karls war nicht an seinen geliebten Papst Hadrian I. ge richtet, dessen Tod er bitterlich beweint hatte, sondern an den Nach folger, Leo III. der die Hilfe des mächtigen Frankenkönigs brauchte, um sich als Papst behaupten zu können. In diesen Jahren war das Ansehen Karls noch dadurch gestie gen, daß er mit Harun al-Raschid, dem weisen Kalifen von Bagdad, freundschaftliche Gesandtschaften ausgetauscht und über das Schutzrecht der heiligen Stätten in Jerusalem verhandelt hatte. Auch der er folgreiche Kriegszug seines Sohnes Pipin gegen die Avaren, die Alkuin als ›de holte Hunnorum‹ bezeichnete, hatte die Bedeutung Karls als 231
christlicher Herrscher erhöht. Sein Ruf als unermüdlicher Verbreiter des Christentums war durch die Erhebung Salzburgs zum Erzbistum, dem die Bekehrung neugewonnener östlicher Untertanen zur Pflicht gemacht wurde, gefestigt worden. Karl hielt gerade hof in Paderborn, wo er eine ›wunderbar große‹ Kirche hatte erbauen lassen, als Leo III. unerwartet ankam. Der umstrittene Papst war mißhandelt und ver brecherischer und lasterhafter Dinge, der Unzucht und des Meineids, bezichtigt worden. Er wurde von Karl mit den höchsten Ehren emp fangen und, nachdem er die neue Kirche geweiht hatte, von großen Herren des Frankenreiches nach Rom zurückgeführt. Vor einem Ge richt, das die Stellvertreter Karls einsetzten, um Schuld oder Unschuld des Stellvertreters Christi auf Erden zu untersuchen, konnten die An kläger des Papstes nichts vorbringen, was ihre Beschuldigungen hätte begründen können. Ob Karl in diesem Dezember des Jahres 800 die schicksalschwere Reise nach Rom unternahm, um die Untersuchungen gegen den Papst persönlich zu Ende zu führen, oder ob sein Besuch in Rom nur dem Wunsch entsprang, auch diesen Teil seines ungeheuren Reiches wie derzusehen, wurde nicht eindeutig festgestellt, um so weniger, als auch das bedeutsamste Ereignis seines Aufenthalts unterschiedlich dar gestellt wurde. Jedoch auch die voneinander abweichenden Berichte stimmten in der äußeren Beschreibung des Geschehens überein. Erst leistete Papst Leo III. in der Peterskirche feierlich den ›Reinigungseid‹, durch den er sich selbst von aller Schuld freisprach. Dann, zwei Tage später, fand der Weihnachtsgottesdienst statt. Karl, bekleidet mit dem vorschriftsmäßigen Überwurf und den Sandalen des ›patricius Ro manorum‹, kniete nieder zum Gebet. Vom Altar holte der Papst die edelsteingeschmückte Krone und setzte sie dem knienden König aufs Haupt. Die Anwesenden, die gewiß darauf vorbereitet gewesen sein mußten, riefen dreimal: »Karl, dem Augustus, dem von Gott gekrön ten großen und friedbringenden Kaiser der Römer, Heil und Sieg!« Ehe sich Karl dessen versehen konnte, wurde er vom Heiligen Vater mit heiligem Öl gesalbt, und der Papst sprach ihn als Kaiser und Augustus an. 232
War der neue römische Kaiser überrascht worden? War es richtig, daß Karl gesagt habe, er hätte die Kirche nicht betreten, wenn er ge wußt hätte, daß der Papst ihn zum Kaiser krönen würde? War es ihm nicht recht, die Krone vom Papst zu empfangen, der dadurch der Ge ber wurde, während er sich als Empfänger verpflichtete? Außerdem konnte es Schwierigkeiten mit Byzanz geben. Karl sandte unverzüglich Briefe und Botschafter an die verwitwe te Kaiserin Irene, die das byzantinische Kaiserreich nach der Ermor dung ihres Sohnes beherrschte, um zu verhindern, daß seine Kaiser krönung zum Krieg führe. Er, der zum vierten Male verwitwet war, bot Irene sogar seine Hand an. Der Sturz der Kaiserinwitwe machte den Plan Karls zunichte. Aber er sicherte sich gleich durch sein Bünd nis mit Harun-al-Raschid gegen einen Angriff der oströmischen Kai ser und wurde schließlich von Michael I. als ›Mitkaiser‹ anerkannt. Als Gegenleistung für dieses Zugeständnis bestätigte Karl, daß den byzan tinischen Kaisern Venedig und ihre Besitzungen in Süditalien unge stört verbleiben würden. IV Der volle Titel Karls: ›Serenissimus Augustus a Deo coronatus mag nus pacificus Imperator Romanum imperium gubernans et per mise ricordiam Dei Rex Francorum et Langobardorum‹ sollte deutlich zum Ausdruck bringen, daß er seine erhabene Stellung als Kaiser und Kö nig der Gnade Gottes verdankte. Das hatte er gewünscht. Aber daß er der erklärte Schirmherr des Heiligen Stuhles geworden war, konn te trotz seiner Anerkennung durch die Kaiser von Byzanz zu Schwie rigkeiten führen. Die oströmischen Bischöfe und Priester hatten die kirchliche Ober hoheit des Papstes wiederholt angerufen, auch im berüchtigten Bilderstreit, den Papst Gregor III. durch die Verdammung der Bilderfein de nicht beendigt hatte. Würden sie nun in geistlicher Abhängigkeit 233
von Rom bleiben wollen, von einem römischen Kaiser abhängig war? Um eine drohende Spaltung der Kirche zu vermeiden, behielt Karl auf ausdrücklichen Wunsch des Papstes seinen Hauptsitz in Aachen und übersiedelte nicht in die Hauptstadt der Christenheit, wie er es geplant haben mochte. Dadurch wurde zwar ein unmittelbarer neuer Anlaß zur Trennung der christlichen Welt aus dem Wege geräumt, aber die Macht des westlichen Kaisertums verlagerte sich vom Mittelmeerraum nach dem Inneren Europas und wurde germanisch. In Aachen, seiner Kaiserstadt, hielt Karl hof. Es war ihm nicht ver gönnt, friedlich zu leben. Sowohl er als auch seine Söhne mußten wie derholt zu den Waffen greifen. Nach einem letzten Feldzug gegen die Sachsen vollendete er sein Bekehrungswerk durch die Einrichtung von Kirchenprovinzen in Mainz und Köln und durch die Schaffung von Bis tümern in den befriedeten Gebieten. Böhmen wurde ihm tributpflich tig, und sein Sohn Karl unterwarf die Sorben zwischen Elbe und Saale. Der Kaiser fand es an der Zeit, die Erbfolge vorzubereiten. Sein Plan war ganz ähnlich wie der seiner Vorgänger. Jeder seiner drei ehelichen Söhne sollte nach seinem Tod ein abgerundetes Königreich nach sei nen in allen Einzelheiten festgelegten Grundsätzen verwalten. Die vorgesehene Teilung sollte auch der Verteidigungsbereitschaft des Reiches dienen, dem ein neuer, ganz unerwarteter und unbere chenbarer Feind erstanden war. Karl sah sich zur See bedroht. Auch im fernen Norden hatten sich Reiche gebildet. Die unmittel baren Nachbarn des Sachsen- und Friesenlandes, die Dänen, mach ten unter ihrem König Göttrik Einfälle in das neue Reichsgebiet. Ein Feldzug Karls gegen sie war erfolglos. Er errichtete eine Burg zur Ab wehr gegen sie und die anderen Normannen, die seetüchtigen Kü stenbewohner der Skandinavischen Halbinsel, die ›Wikinger‹ genannt wurden. Zu Lande konnte er diese unermüdlichen Angreifer in Schach halten. Aber sie plünderten die Küsten. Ihre mit Kriegern bemannten Schiffe erschienen plötzlich drohend vor den Häfen des Frankenrei ches und machten den Seehandel unmöglich. Mit seiner gewohnten Tatkraft ließ Karl Meeres- und Flußflotten bauen und errichtete Fe stungen in den gefährdeten Gegenden, um den neuen Eroberern ge 234
wachsen zu sein. Daß sie überall auftauchten, wo sie am wenigsten ver mutet wurden, veranlaßte ihn, seine Anstrengungen zu verdoppeln. Da gab es besonders einen Zwischenfall, der den alternden Kaiser ent setzte: Als er seinen Palast in Narbonne besuchte, wurden dänische Seeräuber im Golf von Lyon gesichtet. Hatte er diese Gefahr unter schätzt? Karl schloß Frieden mit dem Nachfolger König Göttriks, aber er stell te den Schiffbau nicht ein. Er hatte den Handel bisher nur wenig geför dert. Die einzigen Kaufleute im Frankenreich, die Wirtschaftsbezie hungen mit den Nachbarländern unterhalten hatten, waren die Juden. Ihnen ließ Karl seinen besonderen Schutz angedeihen, um so mehr, als sie auch in der Gunst seines muselmanischen Verbündeten, des Kali fen von Bagdad, Harun al-Raschid, standen. Karl wollte den fränki schen Handel seetüchtig machen. ›Die Christen können sich nicht ein mal mit einem Brett aufs offene Meer hinauswagen‹ – diesen prahleri schen Ausspruch eines zeitgenössischen Muselmanen wollte er macht voll entkräften. Noch als alter Mann war Karl zu allen Unternehmungen bereit. Auch die furchtbarsten Schicksalsschläge konnten seine Willenskraft nicht erschüttern. Als seine beiden Söhne Pipin und Karl kurz nacheinander starben, erhob er den einzigen Sohn, der ihm verblieb, den schwächli chen Ludwig, in einer förmlichen Festlichkeit in Aachen ohne Beihil fe des Papstes zum Kaiser. Das geschah in seiner Kapelle in Aachen. Karl befahl Ludwig, eine Krone vom Altar zu nehmen und sich selbst aufzusetzen. Dann berief er die Bischöfe, Äbte, Herzöge, Grafen und sein Gefolge in den Palast zu Aachen. Er forderte die Versammelten auf, seinem Sohn Treue zu erweisen, und fragte alle ›vom größten bis zum geringsten, ob es ihnen genehm sei, daß er seinen Rang als Kaiser seinem Sohn Ludwig über trage‹. Die Anwesenden erwiderten einstimmig: »Das ist eine Einge bung Gottes.« Nun ermahnte Karl seinen Sohn vor der Menge, ›den allmächtigen Gott zu lieben und zu fürchten, seine Gebote in allen Dingen zu erfüllen, die Kirchen Gottes zu verwalten und zu schützen vor bösen Menschen‹. 235
Wenige Wochen nach der Kaiserkrönung Ludwigs befiel Karl ein heftiges Fieber. Er legte sich strenges Fasten auf. Das schwächte ihn noch mehr. Er verlangte nach seinem Erzkaplan. Als er das Abend mahl empfangen hatte, schlug er mit letzter Kraft das Zeichen des Kreuzes und sang mit leiser Stimme den Bibelvers: »In deine Hände, HERR, empfehle ich meinen Geist.«
Verlagerungen der Macht im geteilten Reich I Noch während Karl der Große die Überfälle der seefahrenden Wikin ger auf das Frankenreich durch die Errichtung von Küstenfestungen und den Bau von Schiffen so erschwerte, daß sie es vorzogen, ihre Raub züge gegen andere Küsten zu unternehmen, machte sich eine Schar von kaum zweihundert dieser Normannen, die sich Waräger, das heißt ›Ge folgsleute eines Häuptlings‹, nannten, auf den Weg nach dem Osten. Sie waren vorzüglich bewaffnet und hatten schon in vorherigen Fahrten die Erfahrung gemacht, daß es nicht immer nötig sei, zu kämpfen, um zu siegen. Es genügte manchmal, mit den Einwohnern fremder Sied lungen Waren zu tauschen, um sich zu Schutzherren des neuentstan denen Handels machen zu können. Je weiter die Waräger kamen, desto vielfältiger wurden ihre Geschäftsmöglichkeiten. Solange sie am Ran de des Meeres vordringen konnten, hatten sie es leicht, für Nachschub zu sorgen. Die Männer aus den alten Buchten sandten ihre Menschenund Warenüberschüsse an die Männer in den neuen Buchten und zo gen viel sichereren Nutzen aus dem, Handel als aus Raubzügen. Die Waräger begnügten sich nicht mit der Ausbeutung der Küsten. Ihr Weg führte sie südöstlich in das Innere des Landes, den großen Flüssen entlang, die die Richtung der natürlichen Straßen vorzeich 236
neten. Ihre Lagerhäuser wurden zu Städten, die sie befestigten, wie Nowgorod, die ›neue Festung‹. Allmählich verbanden sich viele dieser Handelsniederlassungen, die auch einheimische Ansiedler an sich zo gen, zu einer staatlichen Gemeinschaft, die ›ru‹ hieß und ihren Handel weiter nach dem Südosten ausdehnte. Die bewaffneten Kaufleute aus ›rus‹ hatten genügend Waren, Pelze aus dem Nordlande, Bernstein und die Erzeugnisse der Bienenzucht, Honig und Wachs, sie handelten auch mit Sklaven, wenn der Markt es verlangte. Als Gegenwert bezogen sie Gewürze und Seidenstoffe. Sie wurden als Einkäufer und Verkäufer bekannt. Die muselmanischen Kaufleute, die als Karawanenführer gelernt hatten, um des lieben Nut zens willen keine Gefahr und Entbehrung zu scheuen, kamen den Wa rägern auf ihren Handelswegen entgegen. Kiew wurde der wichtigste Umschlagplatz. An der Nordküste des Schwarzen Meeres entstanden warägische Werften, auf denen auch Kriegsschiffe gebaut wurden, um den Handel im Schwarzen Meer zu beschützen. Eine Jahrhunderte später verfaßte Aufzeichnung berichtete, daß drei Brüder, Rurik, Sineus und Truvor, die von den frühen Warägern be gründete Staatengemeinschaft ›rus‹ in ein Fürstentum umgewandelt hatten. Rurik wurde der erste russische Fürst. Auch nördlich und nordwestlich des germanischen Kaiserreiches brachten die Normannen Gebiete unter ihre Herrschaft. Sie drangen in die Britannischen Inseln ein und bemächtigten sich der Insel. Es gab viele normannische Stämme. Norwegen, das seinen Namen von ›Nordweg‹ der Fahrten hatte, entstand durch die Vereinigung von Nachbarn, die einander bekriegt hatten. Der erste norwegische Kö nig wurde Halftan der Schwarze. Auch das Reich Schweden begann sich zu formen. Aber das erste skandinavische Königreich, das christ lich wurde, war Dänemark. Bald nach dem Tod Kaiser Karls ließ sich der Dänenkönig Harald in Mainz taufen. Auf seiner Reise hatte ihn Ansgar begleitet. Dieser ›Apostel des Nordens‹ wurde der erste Erzbi schof der befestigten Stadt Hamburg, dem Ausgangspunkt seiner Be kehrungsfahrten nach Schweden. 237
II Von diesen Ereignissen nahm der Nachfolger Karls des Großen nur in soweit Kenntnis, als sie sich auf die Verbreitung des christlichen Glau bens und die Festigung der Kirche bezogen. Kaiser Ludwig war mehr seinem Großonkel Karlmann als seinem großen Vater nachgeraten. Auch er hätte Mönch werden und sich in ein Kloster zurückziehen mögen. Da seine Stellung es ihm unmöglich machte, einsam zu sein, war er in jeder Gesellschaft traurig. Er lachte niemals. Er lächelte nicht einmal bei Festen, wenn Schauspieler, Possenreißer und Musiker ihre Kunststücke zeigten. Er war immer schlechter Laune, aber in allen An gelegenheiten guten Willens. Er versuchte auch, die unermüdliche Tä tigkeit seines Vaters nachzuahmen. Aber während Karl die Staatsge schäfte mit sicherer Hand geführt hatte, war Ludwig nur geschäftig. Er verzögerte Entscheidungen, nur eine nicht, die ihm über alles am Her zen lag: Er wollte sein Reich unter seine Söhne aufteilen. Die Frömmigkeit Ludwigs war so bestimmend, daß er es nicht wag te, Stefan IV. dem Nachfolger Leos III., zu widersprechen, als der Hei lige Vater darauf bestand, ihn zum Kaiser zu krönen. Gerade das hat te Karl durch die Selbstkrönung seines Sohnes vermeiden wollen, er hatte gewünscht, daß die Kaiserwürde ein erbliches und nicht ein vom Papsttum verliehenes Recht seiner Nachkommen sei. Aber Ludwig ge nügte, daß seine geistlichen Berater seine Ergebenheit dem Heiligen Stuhl gegenüber so anerkannten, daß er ›der Fromme‹ genannt wur de. Wichtig war ihm nur, daß in einem Reichstag zu Aachen die von ihm gewünschte Regelung des kaiserlichen Erbes beschlossen wur de. Lothar, sein ältester Sohn, sollte der künftige Kaiser sein und die Oberhoheit über seine beiden Brüder Pipin und Ludwig ausüben, die als Könige über Aquitanien, Bayern und die angeschlossenen Länder 238
herrschen sollten. Als aber die Mutter der drei Söhne starb und Lud wig aus seiner zweiten Ehe mit Judith, einer Tochter des bayrischen Grafen Welf, ein Sohn geboren wurde, wollte der Kaiser auch diesem Karl ein Herrschaftsgebiet sichern. Er verhandelte mit Lothar, den er schon zum Mitkaiser gemacht hatte. Erst stimmte Lothar dem Wunsch seines Vaters zu, aber dann wi derrief er. Dennoch erkannte Ludwig dem jungen Karl Alamannien und die angrenzenden Gebiete zu. Das hatte einen Handstreich Lo thars zur Folge. Der Kaiser und sein jüngster Sohn wurden in Haft ge setzt und sollten ins Kloster gesperrt werden. Seine beiden anderen Söhne verhalfen dem Vater wieder zur Macht. Er verbannte Lothar, aber da die beiden hilfreichen Brüder auch nicht bereit waren, dem jüngsten einen Reichsteil zuzuerkennen, versöhn te sich der Kaiser mit seinem verbannten Sohn, der allerdings die Ver söhnung nicht ernst nahm. Lothar kam zwar zurück, aber nicht, um dem Kaiser zu helfen, sondern um sich mit Pipin und Ludwig gegen ihn zu vereinigen. Er brachte einen wichtigen Bundesgenossen mit: Papst Gregor IV. der als Vermittler zwischen den streitsüchtigen Mit gliedern des Kaiserhauses auftreten wollte. Als sich die in Eile aufge stellten Heere Ludwigs und seiner feindlichen Söhne gegenüberstan den, besuchte Gregor IV. den Kaiser, um Blutvergießen zu vermeiden. Während Ludwig noch mit dem Papst verhandelte, fielen seine Trup pen von ihm ab. Der Sohn Karls des Großen ergab sich seinen aufrüh rerischen Söhnen. Er wurde abgesetzt und von seinen geistlichen Rat gebern veranlaßt, ein öffentliches Sündenbekenntnis abzulegen. Aber kaum ein Jahr später erklärten sich die Großen des Reiches so eindeu tig für den abgesetzten Kaiser, daß seine Söhne Pipin und Ludwig für seine Freilassung und neuerliche Einsetzung eintraten. Statt des beim Volk unbeliebten Mitkaisers Lothar sollte Ludwig wieder der Kaiser sein. Es war eine schwierige Zeit. Das Reich brauchte eine einheitliche Führung. Die Normannen hatten die durch die Uneinigkeit in der kai serlichen Familie geschwächte Verteidigung ausgenützt und das Reich in die Zange genommen. Sie waren sowohl ins Loiregebiet als auch in Friesland eingefallen. Sie mußten vertrieben werden. Das gelang Lud 239
wig dem Frommen. Die kriegerischen Erfolge stärkten sein Selbstge fühl. Er kam auf seinen alten Plan zurück. Er wünschte, die Länder, die er von den Eindringlingen gesäubert hatte, seinem heranwachsen den Lieblingssohn Karl als Königreich zu vererben. Damit war keiner der anderen Söhne einverstanden. Sie einigten sich auch nicht, als Pi pin starb und der Kaiser eine neue Reichsteilung zugunsten Lothars und Karls vornahm. Diesmal empörte sich der jüngere Ludwig. Die Feindseligkeiten begannen. Sie kamen erst nach dem Tode des Kaisers ernsthaft zum Ausbruch.
Der Tod des Vaters änderte nur die Partnerschaft der Brüder. Ludwig verband sich mit dem jüngsten gegen den ältesten, und es gelang ih nen, den ehemaligen Mitkaiser ihres Vaters zu schlagen. Lothar mach te verzweifelte Versuche, die Übermacht wiederzugewinnen. Er schloß sogar ein Bündnis mit Normannenhäuptlingen und dem Stellinga bund, dem die Sachsen und Friesen angehörten, die noch zu den alten Göttern beteten. Ludwig und Karl zogen mit ihren Gefolgsleuten nach Straßburg und leisteten in aller Öffentlichkeit einen gleichlautenden Eid, durch den sie ihre Stellungnahme bekundeten. Die ›Straßburger Eide‹ wurden von den beiden Enkeln Karls des Großen jeweils in der Volkssprache der Länder geleistet, die der an dere Bruder beherrschen sollte, damit die Anwesenden auch wirklich verstünden, was den Bruderstreit herbeigeführt hatte. Ludwig erklär te den Truppen Karls in der Sprache des Westfrankenreiches und Karl den Kriegern Ludwigs mit deutschen Worten: »Wie oft Lothar nach dem Tode unseres Vaters mich und meinen Bruder verfolgte und zu vernichten suchte, wißt ihr … Wir wurden durch Gottes Barmherzigkeit die Sieger … Aber er gibt sich auch jetzt mit diesem Gottesgericht nicht zufrieden, sondern läßt nicht ab, mich und meinen Bruder voll Feindschaft zu verfolgen, ja, er sucht auch un ser Volk mit Brand, Raub und Mord heim. Darum sind wir notge drungen hier zusammengekommen und wollen, da ihr unseres Erach 240
tens an unserer unerschütterlichen brüderlichen Treue noch zweifelt, sie durch diesen Eid in eurer Gegenwart bekräftigen.« Jeder der beiden Brüder verkündete: »Wenn ich wagen sollte, den Eid zu brechen, den ich meinem Bruder schwöre, so befreie ich euch von Untertanenpflicht und dem Treueid, den ihr mir geleistet habt.« Durch diese beschwörende Anrufung der Heeres- und Volksver sammlung bekundeten die kaiserlichen Erben die Wichtigkeit, die sie der Meinung und Haltung ihrer Gefolgsleute beimaßen. Sie befahlen nicht, sie baten und räumten, ohne es deutlich zu sagen, den Kriegern und Großen des Reiches das Recht ein, ihre Handlungsweise zu beur teilen und sich danach zu richten. Um von ihrem Bruder Lothar unab hängig zu sein, brachten sie sich in eine Abhängigkeit von ihren Un tertanen. Sie spalteten auch durch die ausgesprochene Anerkennung der Verschiedenheit der Sprachgebiete das einheitliche Reich Karls des Großen, das er ererbt und so mächtig abgerundet hatte. Die drei feindlichen Brüder einigten sich im berühmten Vertrag von Verdun, der die Reichsteilung regelte und die Grundlage zur Bildung neuer Reiche wurde. Lothar erhielt Italien und ein langgestrecktes Ge biet nördlich der Alpen, das von Friesland bis zur Küste der Provence reichte. Er hatte seinen Kaisersitz in Aachen und auch in Rom, wenn er es so wünschte, jedoch keine Oberhoheit über seine Brüder. Ludwig, der mit dem Beinamen ›der Deutsche‹ in die Geschichte einging, wur de König des Ostfrankenreiches. Karl II. erhielt das Westfrankenreich. Als Karl ›der Kahle‹ wurde er später der einzige westfränkische Herr scher, der die Kaiserwürde erlangte. III
Die Nachfolger Karls des Großen, die von der Geschichtsschreibung Karolinger genannt wurden, hatten keine glückliche Hand. Durch un aufhörliche Erbstreitigkeiten nach Todesfällen und unausgesetzte Zwi 241
stigkeiten untereinander fiel das im Vertrag von Verdun so mühsam geteilte Frankenreich weiteren Teilungen anheim. Es entstanden neue Reiche, wie das Lothars II. der von seinem Vater ein Gebiet erbte, das von der Nordsee bis zu den Maas- und Moselquellen reichte und nach ihm Lothringen genannt wurde, und das Königreich Burgund, das Lo thars I. zweiter Sohn, Karl, erbte, und das nach seinem frühen Tod zwi schen Lothar II. und dessen ältestem Bruder Ludwig aufgeteilt wurde. Dieser beherrschte nach dem Ableben Lothars I. Italien und wurde Kaiser Ludwig II. Alle drei Brüder starben kinderlos. Ihre Hinterlassenschaft wurde der Zankapfel zwischen den beiden Onkeln, Karl II. dem Kahlen, und Ludwig dem Deutschen und dessen Söhnen Karlmann, Ludwig III. und Karl III. dem Dicken. Aber die eigentlichen Nutznießer der karolingischen Uneinigkeit wurden nicht die einzelnen, überlebenden Familienmitglieder, wenn ihre Herrschaftsgebiete auch beträchtlichen Landzuwachs erfuhren, sondern ihre Grenznachbarn und die Großen des zerfallenen Reiches, die die karolingischen Könige und Kaiser ganz ähnlich behandelten, wie die Merowinger von den Hausmeistern behandelt worden waren. Die Söhne Ludwigs des Deutschen teilten die Länder, die er durch den Vertrag von Verdun erworben und hinzugeerbt hatte, untereinander auf: Karlmann erhielt Bayern und die südöstlichen Marken; Ludwig III. der ›der Jüngere‹ genannt wurde, Mainfranken, Thüringen und Sachsen und Karl III. der Dicke, Alamannien. Nach dem Tod seiner Brüder wurde Karl der Dicke Alleinherrscher im Ostfrankenreich und später auch Nachfolger Karls des Kahlen als Kaiser und Beherrscher des Westfrankenreichs. Seine Herrlichkeit war von kurzer Dauer. Er wurde von den Großen des Reiches zur Abdan kung gezwungen. Er galt als verschollen. Ein Sohn seines Bruders Karl mann, Arnulf von Kärnten, wurde sein Nachfolger als Kaiser. Dessen Sohn, Ludwig IV. das Kind, war der letzte deutsche Karolinger.
242
Das große, einheitliche Frankenreich war zerfallen. Das Westfranken reich wurde zu Frankreich, in das die Normannen von allen Seiten ein drangen. In dieser Schreckenszeit wurde sogar Paris geplündert und niedergebrannt. Keine Gegend war vor den wilden Angreifern sicher. Sie brandschatzten auch Klöster und Kirchen. Die allgemeine Angst vor ihnen wurde so heftig, daß die Bewohner des ehemals so reichen und gesicherten Landes in ihren Gebeten zu Gott flehten: »Befreie uns von der Wut der Normannen!« Die finsteren Zeiten begannen sich erst zu lichten, als sich die Nor mannen mit dem Mündungsgebiet der Seine als Lehensherzogtum zu friedengaben. Auch im Süden des Westfrankenreichs entstanden zwei selbständige burgundische Königreiche. Das Ostfrankenreich, dessen friedlose Herrscher nur selten unter einander einig waren, mußte sich gegen das neuentstandene groß mährische Reich des slawischen Fürsten Swatopluk (= Zwentibold) be haupten und gegen die Angriffe des in das ehemalige Pannonien ein gedrungenen, aus Asien stammenden Volkes der Magyaren, die sich in ihrer Kampfart nur wenig von den Hunnen und Avaren unterschie den. Auch die von Karl dem Großen so mühsam erkämpften nörd lichen Landesteile mußten verteidigt werden. Die Normannen, die Hamburg schon unter Ludwig dem Deutschen zerstört hatten, ver heerten das Sachsenland und konnten nur durch Geld und Landver leihungen beschwichtigt werden. Erst Arnulf von Kärnten gelang es, sie zu besiegen. Im Mittelmeerraum setzten die Muselmanen ihre Eroberungen fort. Sie machten sich Aufstände der ehemaligen Langobarden gegen die Nachfolger Karls des Großen zunutze. Für kurze Zeit verbündeten sich die byzantinischen Kaiser mit den Karolingern und ihren hohen Würdenträgern, um die gefährdete christliche Welt gegen den Islam zu schützen. Die verzweifelte Lage der gekrönten Häupter des Westens begün stigte den Ehrgeiz der örtlichen Grafen und erblichen großen Herren nicht nur auf italischem Boden, wo sich Markgraf Bererigar zum Kö nig krönen ließ und seinen selbsttätig angenommenen Titel gegen kö 243
nigliche Wettbewerber aller Art und die Angriffe von außen verteidig te, sondern auch in den Ländern des Frankenreiches Karls des Gro ßen. Die Stammesherzogtümer, die der Kaiser vernichtet hatte, ent standen wieder in neuer Form. Die Abkömmlinge uralter Adelsge schlechter wurden als Herzöge zu Stammvätern neuer Fürstenfami lien, in Schwaben und Bayern, in Thüringen, Sachsen und Franken. Sie hielten hof wie Könige, aber waren doch bereit, den Königen und Kaisern, die sie anerkannten, Gefolgschaft zu leisten. Das Unabhän gigkeitsbedürfnis dieser großen Herren war dadurch beschränkt, daß sie sich trotz all der Macht, die sie in den Jahrzehnten der königli chen Zerwürfnisse errungen hatten, allein nicht stark genug fühlten, um den von allen Seiten gegen die Grenzen des Reiches anstürmenden Feinden gewachsen zu sein. Sie waren auch ihrerseits in ihrer Mach tentfaltung von den kleineren Herren in ihren Gebieten abhängig und von den Äbten und Bischöfen, die innerhalb ihrer Länder nicht nur geistliche, sondern auch wirtschaftliche und militärische Bedeutung hatten. Viele Klöster und Bischofssitze waren in Festungen umgewan delt worden, um nicht gegen einen Angriff anstürmender Slawen, Ma gyaren oder Normannen wehrlos zu sein. Die Herrenhöfe der adeligen Grundbesitzer waren zu Burgen geworden, die in ihren Mauern flie hende Bauern und Hörige aufnehmen und bewaffnen konnten, damit sie mit ihrer Hilfe, für sie und für sich, die von Eindringlingen besetz ten Ländereien wieder erobern könnten. Die Burgherren auf ihren Bergeshöhen beherrschten das umliegen de Land, oft als unabhängige Grundbesitzer, die sich den Herzögen ge gen Belohnung zur Dienstleistung verpflichteten, und auch als Lehens männer, die von den Herzögen Burgen gegen die Verpflichtung zur Dienstleistung erhalten hatten.
Wie das Leben der Bevölkerung in dieser grausamen Zeitenwende sei nen ernsten und heiteren Fortgang nahm, schilderte Victor von Schef fel in seinem Roman ›Ekkehard‹. Die Irrungen und Verwirrungen des 244
Mönches von Sankt Gallen, der als Verfasser des Walthariliedes galt, kennzeichneten die Unsicherheit seiner Zeitgenossen in geistigen und geistlichen Belangen. In lebendiger Darstellung ergänzt die Dichtung Victor von Scheffels die spärlichen Urkundenberichte der Zeit.
245
Ekkehard
Von Victor von Scheffel
I
Im Hegau, dem milden Hügelland zwischen dem Schwarzwald und dem Bodensee, der das Schwäbische Meer genannt wird, stand die Burg Hohentwiel. Von dort aus hatte Burkhard, der Herzog von Schwaben, seine Län der verwaltet. Er war ein tapferer Krieger gewesen, der es immer mit dem Kaiser gehalten hatte, einerlei, ob es gegen die Welschen gegangen war oder die Ungarn, oder ob es gegolten hatte, einen Bischof oder ei nen Grafen in seine Schranken zu weisen. Kurz vor seinem Tod hatte sich Burkhard mit der Tochter des Her zogs von Bayern vermählt. Hadwig hatte ihn nur ihrem Vater zuliebe genommen und ihn als pflichtbewußte Gattin gepflegt, wie es seinem Alter zugekommen war. Als Burkhard starb, war ihr Kummer nicht sehr groß. Sie begrub den Herzog von Schwaben in der Gruft seiner Väter und ließ ihm ein Grabmal aus grauem Sandstein setzen. Manchmal ging sie zu seinem Grab hinunter, um dort zu beten. Aber das tat sie nicht allzu oft. Vom Kaiser war ihr das Recht zugesichert worden, daß sie als Reichs verweserin über Schwaben gebieten könne, solange sie Witwe bliebe. Nun herrschte sie allein auf Burg Hohentwiel über die Erbgüter des Schwäbischen Hauses, über das Hochstift Konstanz und die anderen Klöster in der Umgebung des Bodensees. Hadwig war von einer eigenartigen Schönheit: Reiches kastanien braunes Haar umrahmte ihr Gesicht. Über dem weichen, vollen Mund stand die feine, etwas kurze Nase, doch das energische Kinn verriet ein strenges Wesen, und mancher fürchtete ihren scharfen Verstand. An jenem Morgen blickte Hadwig aus einem Fenster ihrer Burg miß mutig in die Landschaft. Sie trug ein stahlgraues Kleid, das bis zu den gestickten Sandalen reichte. Der mit Edelsteinen besetzte Gürtel hielt 247
ihre schwarze Tunika um die Mitte zusammen. Wohlriechende Kräu ter brannten in einem dunkelgrün gebeizten Metallgefäß, das auf ei nem Marmortisch neben dem Fenster stand. In weißen Wölkchen ver breitete sich ihr Duft im hochgewölbten Raum. Die Stille wurde durch das Eintreten des Kämmerers Spazzo unter brochen. Er bemühte sich vergeblich, die Aufmerksamkeit der Herzo gin auf sich zu lenken. Ungeduldig wartete er im Türrahmen, strich sich wohlgefällig über sein besticktes Leinenhemd und rückte das neue saphirfarbige Oberkleid mit dem Purpursaum zurecht. Endlich wandte sich die Herzogin um. Spazzo begann unverzüglich seinen Bericht. Die Hunde des Grafen von Fridingen hatten zwei Läm mer aus der Herde zerrissen, und der Kämmerer wollte nun von der Herzogin wissen, ob er beim Gericht Klage erheben solle. Hadwig unterbrach ihn durch ein unwilliges Zeichen. Mit dem Zei gefinger fuhr sie sich an ihre Stirn. Spazzo begriff bald, daß es ihm überlassen war, die richtige Lösung zu finden. Noch während er sich zum Abschied verbeugte, rief Hadwig ungeduldig: »Praxedis!« Es dauerte nicht lange, bis die Kammerfrau eintrat. Sie war eine Grie chin, die ihr der Sohn des byzantinischen Kaisers Basilius, der sich vor der Ehe Hadwigs mit dem Herzog von Schwaben um ihre Hand be müht hatte, neben vielen kostbaren Schmuckstücken geschenkt hatte, damit die Dienerin sie mit ihrem Gesang und weiblichen Kunstfertig keiten erfreue. »Praxedis, hol mir meinen Schmuck!« Das Mädchen brachte das kostbare Kästchen herbei. Auf rotem Samtfutter leuchteten der Herzogin die Edelsteine entgegen. Daneben lag eine kostbare Miniatur des griechischen Prinzen. »Was meinst du, wie es mir ergangen wäre«, sagte sie zu Praxedis, »wenn ich deinen spitznasigen Prinzen zum Mann genommen hät te?« »Es wäre Euch sicher gut ergangen.« »Erzähl mir etwas von deiner langweiligen Heimat!« »Solch trüber Himmel wie hier wäre Euch am Ufer des Marmorsees erspart geblieben.« Wehmütig blickte Praxedis vor sich hin. »Wenn wir 248
auf einer Galeere dorthin gefahren wären, an den sieben Türmen vor bei, hätten wir die Paläste und die Kuppeln der Gotteshäuser gesehen, alles aus blendend weißem Marmor. Aus blauem Grund erhebt sich ein dunkler Wald von Zypressen, dahinter die riesige Wölbung der Hagia Sophia. Uns gegenüber am asiatischen Ufer grüßt eine zweite Stadt. Wenn die Sonne untergeht und die Nacht über den flimmernden Wel len des Meeres heraufsteigt, leuchtet im blaufahlen Glanz das griechi sche Feuer. Stellt Euch vor: Wir fahren in den Hafen ein. Am Ufer ste hen des Kaisers Leibwache mit ihren zweischneidigen Streitäxten und die blauäugigen Normannen. Dort wartet der Patriarch mit zahllosen Priestern. Überall Musik und Jubelruf. Der junge Königssohn emp fängt die Braut und führt sie im Festzug zum Palast von Blacharnae.« »Und all diese Herrlichkeit habe ich versäumt«, spottete Hadwig, als Praxedis geendet hatte. »Weißt du, was der Byzantiner über mich sag te, der mich malen sollte?« »Es ist schon lange her«, zögernd kam die Antwort der Dienerin, »er hatte nicht viel Gutes über Euch zu berichten. Er lobte Eure Anmut, doch als er Euch malen wollte, habt ihr ihm die Zunge gezeigt und die Hände mit gespreizten Fingern an die Nase gehalten. Er sprach sehr abfällig über den Mangel an Bildung in Deutschland und schwor, dort nie mehr ein Fräulein zu malen …« Hadwig hatte unterdessen eine goldene Armspange angelegt und sich einen mit Edelsteinen geschmückten Pfeil ins Haar gesteckt. Langsam ging sie durch den Raum, doch sie fand keinen Spiegel, in dem sie ihre Schönheit hätte bewundern können. Ungeduldig mit sich und der Einsamkeit, fragte sie Praxedis: »Wa rum hab' ich mich so festlich geschmückt?« »Ich weiß es nicht«, erwiderte die Griechin. Nachdenklich blieb Hadwig stehen. »Ich glaube, es geschah aus Lan geweile«, sagte sie schließlich. Unzufrieden fuhr sie fort: »Diese Burg ist auch ein gar zu trauriger Aufenthalt – besonders für eine alleinste hende Frau. Weißt du kein Mittel gegen die Langeweile, Praxedis?« »Ich habe von mancherlei Mitteln gehört –«, erwiderte die Griechin eif rig: »Schlafen, Trinken, Reisen – doch am besten sei Fasten und Beten.« 249
Die Herzogin blickte Praxedis forschend an. »Morgen reisen wir!« sagte sie. Ihr Befehl hatte den Unterton einer Frage.
II
Am nächsten Morgen brach die Herzogin von Schwaben mit Praxedis und einem großen Gefolge auf. Sie fuhren über den Bodensee. Alle waren in prächtiger Stimmung, doch wußte keiner, wohin die Fahrt ging. Als sie in die Bucht von Rorschach kamen, befahl Hadwig anzule gen. Der Schiffszöllner, der Marktschreier und alle die anderen, die im Hafen zu tun hatten, fanden sich zum Empfang ihrer Herrin ein. Grü ßend schritt sie durch die Menge, und auf ihren Befehl verteilte der Kämmerer Spazzo Silbermünzen unter die Leute. Doch schon ging es weiter. Sie bestiegen die Pferde, die in der Nacht vorausgeschickt wor den waren, und dann hieß es: »Nach St. Gallen!« Die Dorfleute wun derten sich über diese Wallfahrt, aber niemand gab Antwort auf ihre staunenden Fragen. Die Mittagszeit war vorüber, tiefe Ruhe lag über dem Tal von St. Gal len. Stattlich ragte der achteckige Kirchturm aus den schindelgedeck ten Dächern der Wohngebäude. Häuser, Kornspeicher, Scheunen und auch eine Kellerei waren darangebaut, ein klapperndes Mühlrad war zu hören, denn der Bedarf zum Lebensunterhalt mußte in nächster Nähe des Klosters bereitet werden. Eine feste Ringmauer mit Turm und Tor umschloß alle Gebäude, denn es waren unsichere Zeiten. Romeias, der Wächter, hielt aus seiner Turmstube aufmerksam Aus schau über das Land. Plötzlich horchte er auf: Vom Wald her vernahm er das Geräusch von herannahenden Reitern. Er ließ das Gitter des Tores fallen und 250
zog die Brücke, die über den Wassergraben führte, auf. Dann blickte er wieder zum Wald hinüber und konnte kaum glauben, was er sah. »Weiber!« rief er staunend, fast ärgerlich, griff nach seinem Horn und blies dreimal hinein. An den Fenstern der Klosterschule zeigten sich neugierige Gesichter. Abt Cralo, der seine Mittagsruhe gehalten hatte, rieb sich verschlafen die Augen und fuhr aus seinem Lehnstuhl auf. Er hinkte zum Fenster, um nachzusehen, was der Lärm bedeute … »Heiliger Benedikt!« Er bekreuzigte sich. »Meine Base, die Herzogin!« Er zog seine Kutte zurecht, fuhr sich übers Haar, hängte sich die gol dene Kette um, bückte sich nach seinem Stab mit dem Elfenbeingriff und eilte in den Hof hinunter. »Wird's bald?« rief einer der Reiter von draußen. Der Abt seufzte und stieg zu Romeias auf den Turm. Auf seinen Stab gestützt, erteilte er der wartenden Schar seinen Segen und sprach: »Im Namen des heiligen Gallus danke ich für euren Besuch – doch einlassen kann ich euch nicht. Das Kloster ist keine Herberge, in die je der kommen kann, und die Nähe einer Frau, auch wenn es die mäch tigste im Lande ist, bedeutet eine allzu große Versuchung für diejeni gen, die nach dem Reich Gottes trachten und seiner Gerechtigkeit die nen.« »Spart euch die Worte, Vetter Cralo!« rief die Herzogin ungeduldig zu ihm hinauf. »Ich will das Kloster sehen.« Wehmütig begann der Abt von neuem: »Wehe dem, durch den Är gernis in die Welt kommt! Es wäre besser, daß an seinem Hals ein Mühlstein …« Hadwig unterbrach ihn scharf: »Herr Abt, die Herzogin von Schwa ben muß das Kloster sehen.« Cralo erkannte, daß jeder weitere Widerstand schlimme Folgen für sein Kloster haben könne, aber da er selbst keinen Ausweg mehr wuß te, wollte er sich mit den Ordensbrüdern beraten. Langsam schritt er über den Hof zurück. Fünfmal erklang die Glocke in der Kapelle neben der Hauptkir che und rief die Mönche zur Versammlung in den Kapitelsaal. Bald 251
hatten sich alle eingefunden, Notker, der Arzt, Tutilo, der sich so gut aufs Schnitzen verstand, Sintram, ein bekannter Schreiber, der Predi ger Gerhard und alle die anderen in ihren weißen Kutten unter dem dunklen Oberkleid. Abt Cralo ließ sich auf dem hohen Steinsitz nieder und trug den ver sammelten Priestern den schwierigen Fall vor. Die strengeren Brüder murrten. Als ihr Wortführer erklärte Notker, der Arzt: »Sie ist die Witwe eines Landverwüsters und Klosterschän ders. Er hat uns die kostbaren Kelche als Kriegssteuern weggenommen und höhnend dazu gesagt: ›Gott ißt nicht und Gott trinkt nicht! Wozu braucht er dann goldene Gefäße?‹ Ich stimme dafür, daß für sie das Tor verschlossen bleibt.« Das war dem Abt nicht recht. Die Beratung ging hin und her. Als Bru der Volo hörte, daß von einer Frau die Rede war, schlich er sich leise da von. Da erhob sich einer der jüngeren Priester und bat um das Wort. »Sprecht, Bruder Ekkehard!« forderte der Abt ihn auf. Alle verstummten, denn sie hörten Ekkehard gern. Er war jung und hochgewachsen, aber er galt als weise und beredt. Obwohl die Ordens regel vorschrieb, daß ein weiser Greis zum Pförtner bestimmt werden müsse, waren die Brüder eins, daß Ekkehard die berufliche Eignung zum Pförtner besitze. Ein kaum sichtbares Lächeln hatte bei dem Streit der Alten auf Ekke hards Lippen gelegen. Jetzt begann er mit überlegener Bestimmtheit: »Die Herzogin von Schwaben ist der Schirmvogt unseres Klosters und in dieser Eigenschaft einem Manne gleichgestellt. Wir können ihr daher den Eintritt nicht verwehren. Doch da in den Satzungen steht, eine Frau dürfe die Schwelle nicht betreten, kann man sie ja über die Schwelle tragen.« Beifällig nickten die Kapuzen. Alle waren mit dem Vorschlag Ekke hards einverstanden. Der Abt erklärte: »Oftmals offenbart der Herr einem jüngeren das Beste. Bruder Ekkehard, Ihr seid sanft wie die Taube, aber klug wie die Schlange. Ihr sollt Euren eigenen Ratschlag ausführen. Wir geben Euch Dispens.« 252
Dem Pförtner schoß das Blut in die Wangen. Der Abt tat, als bemer ke er es nicht. »Und die weibliche Begleitung der Fürstin?« fuhr er fort. Die Versammlung war sich einig, daß auch die freimütigste Geset zesauslegung den Frauen Hadwigs den Aufenthalt im Kloster nicht er lauben könne. Sie beschlossen, die Begleiterinnen der Herzogin zu den Klausnerinnen auf dem Irenhügel zu schicken. Der Abt hatte noch eine lange Verhandlung mit Gerold, dem Schaff ner, wegen des Vesperimbisses, den er der hohen Frau vorsetzen woll te. Dann stieg er von seinem Steinsitz und zog mit den Brüdern zum Tor. »Wie geht's Euch, Vetter Cralo?« rief ihm Hadwig entgegen. »Ich hab' Euch lange nicht gesehen. Hinkt Ihr noch immer?« Der Abt ging nicht auf ihre leichtfertige Rede ein. Mit ernstem Ge sicht teilte er Hadwig den Beschluß der Klosterversammlung mit. Ganz gegen sein Erwarten erwiderte sie mit einem Lächeln: »Seit ich Herzogin von Schwaben bin, ist mir ein solcher Vorschlag noch nie ge macht worden. Doch ich will mich der Vorschrift Eures Ordens ger ne fügen. Welchem der Brüder habt Ihr das Amt zugesprochen, mich über die Schwelle zu tragen?« Ihre Augen überflogen suchend die Reihen der Geistlichen. In feierlichem Ton kam die Antwort: »Es ist die Aufgabe des Pfört ners. Dort steht er!« Hadwig wandte sich um und folgte der Richtung, die der Zeigefinger des Abtes gewiesen hatte. Sie sah Ekkehard, der mit gesenktem Haupt, die Wangen leicht gerötet, vor ihr stand. Sie maß ihn mit einem langen Blick. Was sie sah, schien ihr zu gefallen: die gedankenbewegten Züge, das wallende blonde Haar, das über die breite Tonsur fiel. Sie sprang aus dem Sattel, trat auf ihn zu und sagte: »Tut Eure Pflicht!« Ekkehard hatte die Absicht gehabt, sich wegen der ungewöhnlichen Berührung in tadellosem Latein zu rechtfertigen. In ihrer Nähe ver sagte ihm die Stimme. Aber er blieb doch unverzagten Mutes und um faßte die Herzogin mit starkem Arm. 253
Hadwig schmiegte sich an ihren Träger und legte ihre Hand auf seine Schulter. Festen Schrittes trug er sie über die Schwelle, die kein Frau enfuß betreten durfte. Abt Cralo, der Kämmerer Spazzo und die an deren Diener der Fürstin folgten ihnen. Die Klosterknaben schwangen die Weihrauchfässer, die Mönche stimmten ein Loblied an und zogen in langen Reihen hinterdrein. »Ich bin Euch wohl schwer geworden?« fragte die Herzogin, als Ek kehard sie endlich absetzte. »Hohe Herrin«, erwiderte der Mönch leise, »es steht geschrieben: Mein Joch ist sanft, und meine Bürde ist leicht.« »Ich hätte nicht gedacht«, spottete sie, »daß man die Worte der Heili gen Schrift in einer Schmeichelrede anwenden kann. Wie heißt Ihr?« »Ekkehard.« »Ich danke Euch, Ekkehard.« Dann wandte sich die Herzogin von ihm ab und folgte dem Abt, der seine Gäste in die Kirche geleitete.
III
Während der Wächter Romeias die Frauen der Herzogin zu den Ein siedlerinnen auf dem Irenhügel brachte, hielt Hadwig Andacht am Grabe des heiligen Gallus. Dann wollte ihr der Abt den Klostergarten zeigen, doch sie wünsch te, zuerst den Kirchenschatz zu sehen. Er versuchte, sie davon abzu bringen: St. Gallen sei nur ein armes Kloster, und die Schätze, die der Abt ihr zu bieten habe, könnten sich gewiß nicht mit denen verglei chen, die seine Base am Kaiserhof und auf ihren Reisen gesehen habe. Seine Ausflüchte halfen ihm nichts. Sie traten in die Sakristei. In riesigen, braunen Schränken hingen die purpurnen Meßgewänder und reich bestickte Priesterornate. Der Abt ließ die Truhen öffnen, in denen die silbernen Ampeln aufbewahrt wur 254
den, die Kronen und Streifen aus getriebenem Gold zur Einfassung der Evangelienbücher, die die Mönche von ihren Fahrten nach Italien mitge bracht hatten. Staunend bewunderte Hadwig kostbare Altargefäße, selt sam geformte Leuchter, Schalen und getriebene Weihrauchkessel. Dem Kämmerer Spazzo, der die Herzogin und den Abt begleitete, kamen allerlei unfromme Gedanken: Er schätzte den Wert jedes Stük kes und überlegte, wieviel vorteilhafter es wäre, gegen diese Kloster brüder in den Kampf zu ziehen und sich ihres wertvollsten Besitzes zu bemächtigen, anstatt die Gastfreundschaft mit ihnen zu pflegen. Auch der Abt dachte daran, daß der allzu lange Anblick der Klo sterschätze den Neid und die Habsucht seiner Gäste erregen könne. Er ließ die letzte Truhe, in der die wertvollsten Kostbarkeiten aufbewahrt wurden, nicht aufschließen und beeilte sich, die Herzogin und ihr Ge folge in den Klostergarten zu führen. Dort gab es Gemüsebeete, Heilkräuter, Obststräucher und auch den Tiergarten. Hier hielten die Brüder Bären, Affen, Meerkatzen, Mur meltiere, einen alten Steinbock, der in der Gefangenschaft erblindet war, Dachse und viele seltene Vögel, die dem Kloster von fremden Gä sten geschenkt worden waren. Auf ihrem Rundgang begegneten der Abt und seine neugierigen Gä ste den jüngsten Zöglingen der Klosterschule. In langen, wohlgeord neten Reihen zogen die Knaben, ehrfürchtig grüßend, an der Herzo gin vorüber. Alle waren in Kutten gekleidet. Manchen hatte man so gar schon die Tonsur geschoren, und sie hielten den Blick gesenkt, als ob sie sich schon des Ernstes ihres zukünftigen geistlichen Berufes be wußt wären. Die Herzogin war gerührt. »Sind alle Eure Schüler so gut erzogen?« »Die Disziplin unterscheidet den Menschen vom Tier«, gab der Abt würdevoll zur Antwort. »Wenn Ihr Euch davon überzeugen wollt, will ich Euch gerne zeigen, wie der Unterricht der Laienschüler vor sich geht.« Sie traten in die Klasse der Ältesten ein. Die Schüler waren zum größten Teil Söhne vornehmer Familien aus der Umgebung. Sie saßen geduckt über ihren Pergamenten und folgten den Ausführungen Bru 255
der Ratperts über die Lehren des Aristoteles. Sie beachteten kaum die Anwesenheit des hohen Besuches, doch der Lehrer wollte sich mit sei nen Zöglingen hervortun. Der beste unter ihnen sollte seine Überset zung in flüssiger Rede vortragen. Während der Knabe sprach und in ausführlichen Worten die grie chische Logik darstellte, machte sich unter den anderen eine Unruhe bemerkbar. Sie steckten die Köpfe zusammen und flüsterten. Plötzlich sprangen sie wie auf Befehl von ihren Bänken auf, drängten sich an die Herzogin heran und umringten sie. »Gefangen! Gefangen!« jubelten sie. Ratpert drohte mit der Rute, aber er konnte die Ordnung nicht wie derherstellen. Der Abt stand sprachlos. Hadwig aber, die alles Ungewohnte liebte, schickte sich vergnügt in ihre neue Lage. »Was soll das?« fragte sie. Einer der Knaben trat vor und beugte das Knie vor ihr: »Jeder Frem de, der schutzlos zu uns kommt, wird gefangengehalten, bis er sich los kauft.« »So will ich mich loskaufen.« Hadwig lachte. »Was wollt Ihr als Lö segeld!« »Der Bischof von Konstanz war auch unser Gefangener«, erklärte der Knabe. »Er hat uns drei zusätzliche Ferientage erwirkt und es auch schriftlich festgelegt.« »Ich muß es zumindest dem Bischof gleichtun.« Hadwig überlegte. »Zum Andenken an mich sollt ihr jährlich sechs Bodenseefische er halten.« »Lang lebe die Herzogin von Schwaben!« schrien die Knaben. »Sie ist frei!« In fröhlicher Ausgelassenheit begleiteten sie Hadwig zur Tür. Die Herzogin fühlte sich von den ungewohnten Ereignissen des Tages er müdet. Sie wollte die Klosterbücherei nicht mehr besichtigen. Auf dem Weg zu den Gemächern des Abtes sah sie vom Kreuzgang aus durch eine halboffene Tür in einen kleinen Raum. Vor der kahlen Wand stand eine niedere Säule, an der eine Kette angebracht war. Über 256
dem Eingang bemerkte sie, in blassen Farben gemalt, das Bild eines Mannes mit einer Rute. In großen Buchstaben stand darunter: »Wen der Herr liebt, den züchtigt er.« Hadwig warf dem Abt einen fragenden Blick zu. »Das ist die Geißelkammer.« Er nötigte sie weiterzugehen. Im Zimmer des Abtes setzte sich Hadwig erschöpft in einen Lehn stuhl, um bis zum Abendessen auszuruhen. Es dauerte nicht lange, bis die Glocke die Brüder zur Mahlzeit rief. Als die Herzogin mit ihrem Gastgeber die hohe, säulengeschmück te Halle des Refektoriums betrat, waren schon alle Brüder versammelt. Sie standen in langen Reihen um die Tafel. Ekkehard, der Pförtner, sprach das Tischgebet. Mit Unwillen bemerkte der Abt, daß die Herzogin die ganze Zeit un verwandt auf Ekkehard blickte. Als das Gebet beendet war, konnte er es nicht verhindern, daß sie dem Pförtner, der sie über die Schwelle ge tragen hatte, befahl, den Platz neben ihr einzunehmen. Die Mahlzeit begann. Der Küchenmeister hatte dem Besuch alle Ehre erwiesen und ließ statt der üblichen, sehr karg bemessenen Kloster kost die ausgesuchtesten Speisen auftragen. Schüssel folgte auf Schüs sel: Hirschbraten, Bärenschinken, Fasane, Rebhühner, Turteltauben. Es gab auch eine reiche Auswahl von Fischen aus dem Klosterteich. Manchem der Brüder fiel es schwer, Mäßigung zu üben. Auch für Ge tränke war reichlich gesorgt. Während der Mahlzeit bemühte sich der Abt redlich, seine Base zu unterhalten. Er begann, des verstorbenen Herzogs Burkhard gute Ei genschaften zu loben, aber bald merkte er an Hadwigs einsilbigen Ant worten, daß die Liebe einer Witwe zu ihrem toten Gatten nicht ewig währt. Er lenkte das Gespräch auf den Besuch der Klosterschule. »Die Kinder tun mir leid, die in ihren jungen Jahren schon so vie les lernen müssen«, sagte die Herzogin. »Ist das nicht wie eine Last, die Ihr ihnen aufbürdet und an der sie zeitlebens schleppen?« »Verzeiht, liebe Base«, erwiderte der Abt, »daß ich Euch als Freund und Blutsverwandter ermahne, weniger in den Tag hineinzureden. Das Studium der Wissenschaft ist für den jungen Menschen kein lä 257
stiger Zwang. Es ist wie Erdbeeren: je mehr man davon genießt, desto größer wird der Hunger.« »Was haben aber die heidnischen Sprachen mit der Gotteslehre zu tun?« fragte sie spöttisch. »Ich selbst habe bisher recht gut gelebt, ohne Latein zu sprechen.« »Es würde Euch nicht schaden, es noch zu lernen«, erwiderte der Abt. »Wenn Ihr die Wohllaute des Lateinischen vernehmt, werdet Ihr zugeben müssen, daß unsere deutsche Sprache im Vergleich recht un gelenk und rauh klingt.« Er setzte hinzu: »Außerdem sind die Schrif ten der Römer voll Weisheit. Fragt Ekkehard, der an der Klosterschule den Vergil lehrt. Er wird's Euch bestätigen.« Ekkehard, der dem Gespräch aufmerksam gefolgt war, stimmte eif rig zu. »Es ist wahr, hohe Herrin«, sagte er. »Glaubt mir, es ist in allen Lebenslagen gut, wenn man sich bei den Klassikern Rat holen kann.« Die Herzogin wurde von seiner Begeisterung eigenartig berührt. Sie selbst begeisterte sich immer für neue, fremdartige Dinge. Als der by zantinische Prinz um sie warb, hatte sie Griechisch gelernt. Vor dem Lateinischen hatte sie bisher nur Ehrfurcht gehabt. Nun wollte sie es lernen. Zeit genug hatte sie, und ein weiterer Blick auf Ekkehard ge nügte für sie zu wissen, wer ihr Lehrer sein sollte. Unterdessen war der Nachtisch aufgetragen worden, Pfirsiche, Melo nen, trockene Feigen. Die lebhaften Reden an den anderen Tischen lie ßen darauf schließen, daß alle dem Wein eifrig zusprachen. Nach dem Essen wurde wie üblich aus der Heiligen Schrift oder aus dem Leben der Heiligen vorgelesen. Am Abend vorher hatte Ekke hard mit dem Leben des heiligen Benedikt begonnen, und er setzte nun fort: »Eines Tages aber, als er allein war, erschien ihm der Versucher. Es folgte eine so große Versuchung des Fleisches, wie sie der heilige Mann noch nie verspürt hatte. Vor langer Zeit hatte er eine Frau gesehen. Diese führte ihm der böse Feind jetzt vor die Augen des Geistes und entzündete sein Herz mit solchem Feuer, daß eine verzehrende Liebe in ihm zu glühen begann. Von Lust und Sehnsucht überwältigt, wollte er seinen Einsiedlerstand verlassen. Da warf die Gnade des Himmels 258
einen Schein auf ihn, daß er zu sich selbst zurückkehrte. Er sah neben sich ein Gebüsch von Nesseln. Er zog sein Gewand aus und warf sich nackt in den Brand der Nesseln, bis er am ganzen Körper verwundet war. So löschte er des Geistes Wunde durch die Wunden der Haut und siegte über die Sünde …« Hadwig war von dieser Vorlesung nicht erbaut. Gelangweilt blickte sie über den Saal. Auch Spazzo, dem Kämmerer, dem der Wein schon zu Kopf gestiegen war, schien das Ende der Versuchung des heiligen Benedikt nicht zu gefallen. Kurzerhand schlug er das Buch zu, aus dem Ekkehard vorlas. »Der heilige Benedikt soll leben!« rief er und hielt Ekkehard seinen Pokal entgegen. Einige der jüngeren Brüder stimmten in den Trink spruch ein: »Der heilige Benedikt soll leben«, riefen auch sie und be gannen ein Loblied auf den Schutzpatron des Klosters. Hadwig aber neigte sich zu Ekkehard: »Würdet Ihr mich Latein leh ren, wenn ich es wollte?« fragte sie leise. Wirf dich in die Nesseln und sag nein! ging es ihm durch den Sinn. Doch er faßte sich rasch und sagte: »Befehlt – ich gehorche!« Hadwig warf ihm einen sonderbaren Blick zu. Dann wandte sie sich wieder an den Abt und sprach mit ihm über gleichgültige Dinge.
IV
Früh am nächsten Morgen brachen die Gäste auf. Die Herzogin hatte sich jegliche Abschiedsfeierlichkeiten verbeten, und der Abt fügte sich ihrem Wunsch nur allzu gern. Nun kam er, nur von zwei Brüdern begleitet, zum Tor. Der eine trug ein prachtvolles Kristallgefäß, dessen silberner Fuß mit Onyxen und Smaragden verziert war, der andere einen aus Gold getriebenen Krug mit Wein. Abt Cralo füllte ein wenig davon in das Kristallgefäß, reich te der Herzogin den Trunk und bat sie, den kostbaren Becher als An 259
denken zu behalten. Hadwig ergriff das Gefäß, nippte ein wenig am Wein, dann gab sie den Becher wieder zurück. »Was soll ich damit?« sagte sie. »Ich trinke nicht oft. Ich wünsche ein anderes Gastgeschenk. Ihr hat gestern von den Quellen der Weisheit gesprochen … ich möchte den Vergil aus Eurer Bücherei!« »Ihr scherzt wohl«, antwortete der Abt erleichtert, denn er hatte eine kostspieligere Forderung erwartet. »Was wollt Ihr mit dem Vergil, wenn Ihr das Lateinische nicht könnt?« »Es versteht sich von selbst, daß Ihr mir den Lehrer dazu gebt.« Der Abt schüttelte betrübt den Kopf. »Seit wann werden die Jünger des heiligen Gallus verschenkt?« »Der blonde Pförtner soll mein Lehrer sein«, sagte sie in bestimm tem Ton. »Ich wünsche, daß er sich mitsamt dem Vergil in längstens drei Tagen bei mir auf Hohentwiel einfindet. Denkt daran, daß die Entscheidung im Streit um die Klostergüter im Rheintal bei mir liegt … lebt wohl, Herr Vetter!« Sie reichte ihm die Hand, der Kämmerer schwang grüßend seinen Hut. Die kleine Schar setzte sich in Bewegung. Langsam ging der Abt ins Kloster zurück. Er ließ Ekkehard zu sich rufen. »Die Herzogin hat befohlen, daß Ihr den Vergil auf die Burg bringen und sie Latein lehren sollt.« Der junge Mönch errötete und schlug die Augen nieder. »Wir dürfen den Mächtigen nicht widersprechen«, erklärte der Abt. »Ihr müßt morgen schon von hier fort – ich verliere Euch nicht gern.« In stummem Gehorsam beugte Ekkehard sein Knie. Dann ging er in seine Zelle und begann, sich für die Reise zu rüsten. Auf seinem Tisch lag das Psalmenbuch. Er schlug es auf. Nun wür de ein anderer die Anfangsbuchstaben und Zeichnungen mit der wert vollen Goldfarbe aus Venedig verzieren. Er nahm die Pergamentblätter und die Farben und brachte sie zu Folkard, dem Maler. Dann trat Ekkehard in die Bibliothek. Wehmütig blickte er über den geliebten Raum, über die Bücher, von denen er jedes einzelne kann te und wußte, wer es geschrieben hatte. Traurig holte er den Vergil aus 260
dem Schrank. »Wer dieses Buch wegträgt, den sollen tausend Peitschen hiebe treffen!« stand auf dem ersten Blatt. Ekkehard schnitt es weg. Am Abend ging er noch einmal auf den Berg hinter dem Kloster, wie er so oft getan hatte. In den künstlich angelegten Fischweihern spiegel ten sich die Tannen. Ein leichter Wind strich übers Wasser. Es war fei erlich still unter den Bäumen. Zu den Füßen Ekkehards lag das Kloster. Aus der Ferne glänzte der Bodensee. Die Bergketten am jenseitigen Ufer waren in Dunst gehüllt. Hinter ihm, über dem Säntis, der hoch aus den Wäldern und Schluch ten aufstieg, begann ein Wetterleuchten. »Soll das ein Zeichen sein?« sprach Ekkehard halblaut zu sich selbst. »Mein Weg geht nicht zum Säntis.« Nachdenklich stieg er den Berg hinunter. In der Nacht betete er am Grab des heiligen Gallus. Zeitig am nächsten Morgen nahm er Abschied. Der Abt gab ihm zwei Goldschillinge und einige Silberdenare mit auf den Weg. Ekke hards Gepäck war leicht. Mit einem Kornschiff des Klosters fuhr er über den See. Die Wan derlust hatte ihn erfaßt, und er war mit seinem Schicksal zufrieden. In Konstanz ging er an Land, doch er wollte dort nicht haltmachen. Es war die Residenz des Bischofs Salomo gewesen, eines hochmütigen Mannes, der es verstanden hatte, sich dem Kaiser unentbehrlich zu machen und mit Hilfe sehr weltlicher Schliche zu höchstem Ansehen zu gelangen. In der Kirche, in der man Salomo vor kurzem begraben hatte, wolle Ekkehard nicht beten. Gestützt auf einen festen Haselstock wanderte er weiter. Durch Wie sen und hohes Schilf ging sein Weg, bis er gegenüber der Insel Reiche nau angelangt war. Dort lag das Kloster des heiligen Pirminius. Dort wollte Ekkehard einkehren. Ein Fischer stand in seinem Kahn am Ufer und schöpfte das Wasser aus. Ekkehard deutete zur Insel: »Fahrt mich hinüber, guter Mann!« Der Fischer bemerkte Ekkehards Kutte. »Ich fahre keinen mehr von euch«, antwortete er mürrisch, »seit ich die Buße zahlen mußte.« »Warum hat Ihr Buße zahlen müssen?« 261
»Wegen dem Kreuzmann.« »Wer ist der Kreuzmann? Wie sieht er aus?« »Er ist aus Erz gegossen«, brummte der Fischer, »zwei Spannen hoch und hält drei Seerosen in der Hand. Er stand im Weidenbaum zu All mannsdorf. Doch jetzt haben sie ihn aus dem Baum geholt und ins Kloster geschleppt. Er steht jetzt auf dem Grab des welschen Bischofs. Was soll er dort? Dem Toten Fische fangen helfen …?« Ekkehard erkannte, daß der Christenglaube des Fischers nicht gefe stigt war, und erriet auch, weshalb er die Buße hatte zahlen müssen – wegen des Opfertieres, das er dem Götzenbild geschlachtet hatte, da mit sich seine Netze füllten. »Seid vernünftig«, sprach er begütigend. »Vergeßt den Kreuzmann. Ich will zum Kloster.« »Ihr könnt mich nicht überreden. Ich fahre keinen mehr von euch. Mein Bub kann es tun, wenn er will.« Der Alte pfiff durch die Finger. Der Knabe kam und setzte Ekkehard über. Versteckt lagen die Klostergebäude zwischen den Obstbäumen und Weingärten. Es war Spätherbst. Alle Brüder waren mit der Weinlese beschäftigt. Hie und da konnte man die Kapuze eines Mönches zwi schen dem Weinlaub sehen. Unbemerkt näherte sich Ekkehard dem Kloster und stand bald un ter den mit roten und grauen Sandsteinquadern geschmückten Rund bogen der Vorhalle. Im Klosterhof rührte sich nichts. Das Pförtner zimmer war leer. Entschlossen trat Ekkehard in die danebenliegende Fremdenstube. Auch sie war voll mit Fässern, manche schon mit Most gefüllt. Ekkehard setzte sich auf eine Steinbank in der Ecke und lehn te den Stock neben sich. Ermüdet von der langen Wanderung schlief er ein. Bald darauf kam Bruder Rudimann, der Kellermeister, in die Frem denstube. Er trug über dem dicken Bauch die weiße Schürze, den schweren Schlüsselbund an der Seite. Er schien für sein Amt wie ge schaffen, und seinem fröhlichen Gesicht sah man es nicht an, daß er auch die Geißelungen im Kloster mit großem Eifer vollzog. Er war bos 262
haft und wußte dem Abt manche üblen Verdächtigungen seiner Mit brüder zuzutragen, was eigentlich nicht zu seinen Pflichten gehörte. Rudimann bemerkte den Schläfer nicht. Er schöpfte Most mit einem steinernen Krug aus einem der Fässer und schlürfte die Kostprobe be dächtig prüfend. An der Türe ging Kerhildis, die Obermagd, mit einer Butte voll Trau ben vorbei. »Kerhildis«, rief der Kellermeister leise, »du beste aller Mägde, nimm meinen Krug und bring mir vom neuen Wartberger, der drüben beim Kelter steht! Ich will ihn mit diesem vergleichen.« Kerhildis kam mit dem Krug zurück. Sie stand vor Bruder Rudi mann und sah vergnügt zu ihm auf. »Wohl bekomm's!« sagte sie. Rudimann kostete in einem langen, tiefen Zug. »Alle werden sie süß und gut«, sagte er schließlich. »Wenn ich aber Euch ansehe«, fuhr er mit einem Blick auf die Magd fort, »dann freue ich mich doppelt. Auch Ihr gedeiht wie der Klosterwein im Herbst. Eure Wangen sind rot wie Granatäpfel, die aufs Pflücken warten.« Er faßte die Magd um die Hüf ten und zog sie an sich. Sie wehrte sich nicht lange – was lag schon an einem Kuß im Herbst! Da erwachte Ekkehard. Er sah zwischen den Fässern eine Kutte und ein Paar Zöpfe, die nicht dazugehörten! Er war an die strengen Sit ten seines Klosters gewöhnt, und es war ihm bisher noch nie in den Sinn gekommen, daß ein Mann im Ordensgewand ein Mädchen küs sen könnte. Zornig richtete er sich auf, ergriff seinen Stock und schlug dem Kellermeister mit ganzer Kraft über den Rücken. Der Weinkrug fiel zu Boden und zerbrach. Kerhildis lief davon. »Beim Krug der Hochzeit von Kana! Was ist das?« rief Rudimann und drehte sich nach seinem Angreifer um. »Ein Gastgeschenk des heiligen Gallus an den heiligen Pirminius!« erwiderte Ekkehard und schwang von neuem den Stock. »Ich hab' mir's ja gedacht!« schimpfte der Kellermeister. »Sankt Gal lische Holzäpfel! Ich werd's Euch schon heimzahlen!« Er sah sich nach einer Waffe um und wollte schon den Besen aus der Ecke holen, da erschien Abt Wazmann in der Türe. 263
»Einhalten!« rief er gebieterisch. Sein Begleiter, Simon Bardo, der dem byzantinischen Kaiser lange Jahre als Befehlshaber der Leibwache gedient hatte, bedauerte, daß der Zweikampf unterbrochen wurde. Der Abt ließ sich berichten, was vorgefallen war. Rudimann erzählte, er verschwieg nichts. »Ein leichtes Vergehen«, murmelte der Abt. »Sünde bei der Arbeit, in Küche oder Keller … was mit den Mägden geschieht.« Er forderte Ek kehard auf: »Der Gegner spreche!« Ekkehard erklärte, wie er die Sache gesehen habe, und daß er meine, in gerechtem Zorn gehandelt zu haben. »Sehr verwickelt«, murmelte der Abt. »Kein Bruder nehme sich her aus, seinen Mitbruder ohne Befugnis des Abtes zu züchtigen … Wie alt seid Ihr?« »Dreiundzwanzig Jahre.« »Der Streit ist aus«, bestimmte der Abt. »Ihr, Bruder Rudimann, habt die wohlverdiente Strafe schon empfangen. Ihr aber, Jünger des heili gen Gallus, sollt als Sühne für Eure Tat am Altar unserer Hauptkirche eine einstündige Abendandacht verrichten. Dann seid als unser Gast freund willkommen!« Wie bei allen gerechten Schiedssprüchen war keiner der Beteiligten zufrieden. Sie gehorchten, aber unversöhnt.
V
Als Ekkehard früh am nächsten Morgen aufbrach, trat ihm der Abt an der Schwelle des Klosters entgegen. Er begrüßte Ekkehard freundlich. Sein Ärger über den Streit mit dem Kellermeister schien verflogen zu sein. Er flüsterte dem jungen Mönch beim Abschied vertraulich ins Ohr: »Ihr könnt Euch glücklich schätzen, daß Ihr eine solche Schülerin im Lateinischen unterrichten dürft.« 264
Betroffen blickte Ekkehard zu ihm auf. Eine längst vergessene Ge schichte kam ihm in den Sinn. Er wehrte die Anzüglichkeit ab: »Ihr denkt wohl daran, heiliger Herr«, sagte er spöttisch, »wie Ihr der Nonne Clotildis die Dialektik beigebracht habt.« Damit hatte es Ek kehard mit dem Abt von Reichenau endgültig verdorben. Doch es be drückte ihn nicht. Unbekümmert fuhr er über den See, seinem Ziel entgegen. Hinter den fachen Hügeln des Ufers ragte groß und stolz ein stei ler, felsiger Bergrücken empor. »Das ist der Hohentwiel«, erklärte der Fährmann. Ekkehard hätte die Erklärung nicht nötig gehabt. So mußte der Berg aussehen, der die Burg der Herzogin trug! Eine ernste Stimmung über kam ihn. Sie fuhren an dem Ufervorsprung vorbei, auf dem Radolfszell lag. Da sahen sie ein merkwürdiges Boot im See treiben, einen ausgehöhl ten Baumstamm, überdeckt mit grünen Zweigen und Schilfrohr. Der Fährmann stieß mit der Ruderstange danach. »Pest und Aussatz über Euch!« fluchte eine tiefe Stimme. »Nun sind die Wildgänse dahin.« Mit heiserem Geschnatter stieg ein Zug Was servögel auf. Zwischen dem Buschwerk des seltsamen Bootes erschien ein wettergebräuntes, runzeliges Gesicht, ein Mann erhob sich, den riesigen Leib bekleidet mit einer verblichenen Kutte, die in Kniehö he abgeschnitten war. Im Gürtel trug er statt des Rosenkranzes einen Köcher. Er setzte zu neuerlichen Verwünschungen an, da sah er Ekkehards Tonsur und Habit. »Beim Bart des heiligen Patrick!« Sein Ärger wich freudiger Überraschung. »Seid mir willkommen! Hättet Ihr mich nicht vorzeitig gestört, so könnte ich Euch zu einem vortrefflichen Mahl ein laden.« Bedauernd schaute er den davonziehenden Wildgänsen nach. Ekkehard drohte ihm lächelnd: »Kein Geweihter des Herrn soll der Jagd nachgehen!« »Stubenweisheit gilt nicht bei uns am Untersee«, rief der andere. »Seid Ihr gekommen, beim Leutepriester von Radolfszell Kirchschau zu halten?« 265
»So seid ihr Bruder Marcellus?« Ekkehard war freudig überrascht. »Euch hab' ich mir anders vorgestellt!« In St. Gallen galt der Ire Marcellus als tüchtiger Lehrer, der sich vor allem im Lateinischen hervorgetan hatte. »Bruder Marcellus?« lachte der Alte. »Hier nennt man mich Moen gal. Seid mir willkommen!« Er stieg zu Ekkehard ins Boot, küßte ihn auf Wange und Stirn. »Der heilige Gallus soll leben. Ihr seid mein Gast – auch ohne Wildgänse!« Sie fuhren ans Ufer, der Fährmann wurde mit einer Silbermünze be lohnt, und Moengal führte den jungen Mönch zum Pfarrhaus. »Hoffentlich erstattet Ihr dem Bischof von Konstanz nicht Bericht über mein Hauswesen«, sagte der Alte. Hirschgeweihe und Hörner von Auerochsen hingen über dem Ein gang der holzgetäfelten Halle. An den Wänden lehnten Jagdspieße, Leimruten und Fischzeug in unordentlichem Durcheinander. Auf ei nem umgestürzten Faß in der Ecke lag sogar ein Würfelbecher. Über dem rasch bereiteten Mahl – geräucherte Fische, Brot, Butter und saurer Wein – kamen die beiden in ein eifriges Gespräch. Aber die meisten der Brüder, nach denen Bruder Marcellus fragte, waren längst tot, und was sich seither ereignet hatte, interessierte ihn nicht sonderlich. Als Ekkehard vom Ziel seiner Reise erzählte, war Moen gal erstaunt. »Ihr habt keinen Grund, gegen die Jagd zu reden – Ihr zieht ja selbst auf Edelwild aus!« Ekkehard lenkte ab. »Habt Ihr nie Heimweh nach der Stille des Klo sters und den lateinischen Büchern verspürt?« Er sagte mit einem Sei tenblick auf das Jagdgerät: »Was hat Euch so verändert?« »Die Zeit und die Erkenntnis. Das braucht Ihr aber Eurem Abt nicht zu berichten. Auch ich hab' einmal wie Ihr gedacht. Damals hättet Ihr mich kennen sollen: Nichts freute mich, außer Psalmen und Vigilien zu singen. Ich blieb im Kloster, dem ich eigentlich nur einen Besuch abstatten wollte. Ich war so beeindruckt vom Leben der Brüder, daß ich mich dem heiligen Gallus weihte.« Er nahm einen Schluck aus seinem Krug. »Es waren schöne Jah 266
re. Ich hab' gebetet und studiert nach Herzenslust. Aber das viele Sit zen schadet dem Menschen, und eines Tages machte ich die Entdek kung, daß es auch jenseits der Klostermauern ein Leben gab. Manche Nacht stieg ich heimlich auf den Turm und blickte sehnsüchtig hin aus über die Wälder und Täler … Der damalige Abt hatte Verständ nis und schickte mich für ein Jahr hierher. Aber der Bruder Marcellus ging nicht mehr ins Kloster zurück. Bei der schweren Arbeit lernte ich, was es heißt, gesund zu sein. Holzfällen, Fischfang und Jagd vertreiben die unnützen Gedanken. Die ganzen langen Jahre hab' ich nicht be reut, daß ich geblieben bin.« Ekkehard fiel ein: »Ihr habt sicher viel zu tun, hier mit dem Heiden tum und der Ketzerei aufzuräumen?« »Es geht an«, erwiderte der Alte. »Aber in der Wirklichkeit sieht es anders aus, als es sich die Bischöfe und kaiserlichen Räte vorstellen. Wenn man mit und unter den Leuten lebt, kann man auch verstehen, daß sie die Gottheit in Bäumen und Flüssen verehren. Doch sonntags kommen sie dann wieder zu mir und singen die Messe mit.« Er hob seinen Becher: »Laßt uns trinken, Bruder, auf die frische Luft …« Ekkehard wurde ungeduldig. Er wollte weiter. »Der Hohentwiel läuft Euch nicht davon«, spottete Moengal. Doch sein Wein und die Lehre vom Leben im Freien konnten den jungen Mönch nicht länger zurückhalten. »Ich geh' mit Euch bis zur Grenze meines Pfarrsprengels«, sagte der Alte. »Wenn Ihr einmal in der Burg dort oben zu Hause seid, werdet Ihr Euch meiner nicht mehr so gerne erinnern.« »Das sollt Ihr nicht sagen!« Ekkehard umarmte den irischen Mitbruder. Nach einer kurzen wort losen Wanderung unter den hohen Tannen blieb Moengal stehen. »Es bewegt sich was im Wald – das sind keine Wildenten!« Sie lauschten. Es klang wie das Wiehern von Rossen. »Liegt das Kloster von St. Gallen im Streit mit einem Gewaltigen des Landes?« fragte der Alte. »Nein.« »Habt Ihr jemanden beleidigt?« 267
»Nein«, wiederholte Ekkehard. »Sonderbar«, murmelte Moengal. »Es kommen drei bewaffnete Rei ter auf uns zu.« »Das werden Boten der Herzogin sein, mich zu empfangen«, beru higte ihn Ekkehard. »Das glaub' ich nicht.« Moengal hielt inne. »Sie haben ihr Schwert gezogen. Kommt mit mir!« Er wollte Ekkehard mit sich ins Gebüsch ziehen, doch der blieb stehen. Inzwischen waren die Reiter näher ge kommen. »Er ist's!« Sie sprangen von ihren Pferden. »Was wollt ihr?« rief Ekkehard ihnen entgegen. Er griff ans Kruzifix, das ihm am Gürtel hing. »Im Namen des Gekreuzigten …« Ehe er weitersprechen konnte, war er schon zu Boden geworfen wor den, ein Strick band ihm die Hände auf den Rücken, eine weiße Binde umschloß seine Augen. »Vorwärts!« Unsicher gehorchte Ekkehard. Die Männer, die ihn festgenommen hatten, hoben ihn in eine Sänfte, die am Waldrand bereitstand. Sie zo gen mit ihrer Beute davon. Als es wieder still war, wagte sich Moengal aus seinem Versteck her vor. »In die herzogliche Burg wollte er ziehen – nun kommt er ins Ge fängnis! Heiliger Gallus, bitt' für uns!« Kopfschüttelnd trat der Alte den Heimweg an. »Welche Zeiten!« Überfälle solcher Art waren so häufig wie Schlüsselblumen im Frühling. – Gebunden und geknebelt lag Ekkehard in der Sänfte. Er verstand nicht, was ihm widerfahren war. Sein Gewissen war rein. Aber er machte sich auf das Schlimmste gefaßt. Er wußte, daß manchen Priester weder die Tonsur noch sein geistliches Gewand vor dem Ausstechen der Augen und dem Abhau en der Hände bewahrte, wenn es um Rache ging. Aber wer wollte an ihm, dem unschuldigen Pförtner des Klosters von St. Gallen, Rache nehmen? Ekkehard merkte, daß es bergauf ging. Die Hufe der Pferde dröhn ten, als ob sie über eine hölzerne Brücke ritten: Zogen sie in einen Burghof ein? Ekkehard hörte, daß ein Tor geöffnet wurde. Sie hielten 268
an. Sie halfen ihm auf die Füße, er hörte Flüstern, die Stricke wurden von seinen Armen gelöst. »Nehmt die Binde ab!« sagte einer der Männer. Ekkehard gehorchte – und sah, daß er im Schloßhof von Hohent wiel stand. Vor ihm, in einen purpurroten Mantel gehüllt, saß auf ei ner Steinbank die Herzogin. Freundlich lächelnd erhob sie sich und trat auf ihn zu: »Willkommen auf Hohentwiel!« Ekkehard wollte vor ihr aufs Knie sinken. Hadwig hielt ihn gnädig zurück und reichte ihm die Hand. Spazzo, der Kämmerer, der sich unkenntlich gemacht hatte, um Ekkehard festzunehmen, warf sei nen grauen Umhang ab, trat auf ihn zu und umarmte ihn wie einen Freund. »Im Namen der Herzogin, empfang den Friedenskuß!« »Nun hab' ich's Euch heimgezahlt«, lachte Hadwig. »Vor drei Ta gen mußte ich auf Euren Rat hin über die Schwelle des Klosters getra gen werden – es war nur recht und billig, daß auch ich Euch in mein Schloß tragen ließ. …« »Für einen Scherz habt Ihr's recht ernsthaft gemacht«, sagte Ekke hard. Er dachte dabei an den kräftigen Stoß, den ihm einer der Reit knechte versetzt hatte, als er in die Sänfte gehoben worden war. Offen bar war dieser Mann der weitverbreiteten Meinung gewesen, daß bei der Niederwerfung geistlicher Herren ein fester Faustschlag, Stoß oder Fußtritt nötig sei. Hadwig führte ihren Gast durch den Schloßhof zum Eingang der Burg. Der junge Mönch segnete alle, die sich zu seinem Empfang ein gefunden hatten. Ein Bad wurde für ihn gerichtet, frische Kleider waren bereitgelegt. Bald vergaß er die leicht überstandene Gefahr, um so mehr, als die Herzogin ihm nahelegte, sich zu pflegen und gut auszuruhen.
269
VI
Ekkehard war beunruhigt, als er am nächsten Tag feststellte, daß sein Zimmer, ein hoher luftiger Raum mit großen, säulengetragenen Rund bogenfenstern, neben den Gemächern der Herzogin lag. Die Abge schiedenheit und Stille seiner Klosterzelle fehlten ihm. Er fürchtete, er würde in seinen Studien und Betrachtungen durch den Lärm ge spornter Stiefel, durch das Flüstern vorbeieilender Mägde oder etwa gar durch die Schritte der Herzogin selbst gestört werden. »Ich habe eine Bitte, hohe Frau«, sagte er nach dem Morgengruß. »Redet!« »Ich wünschte, Ihr könntet mir ein entlegeneres Zimmer zuweisen – vielleicht unterm Dach oder in einem der Türme. Gebet und Wissen schaft sollen in der Stille gepflegt werden, Ihr kennt ja den Brauch des Klosters.« »Sehnt Ihr Euch danach, oft allein zu sein?« fragte Hadwig spöttisch. »Warum seid Ihr dann nicht in St. Gallen geblieben?« Ekkehard schwieg. »Ich will sehen, was ich für Euch tun kann«, setzte sie freundlicher fort. »Seht Euch das Gemach an, in dem unser alter Kaplan Vincentius bis zu seinem Tode wohnte. Der zog auch die Einsamkeit der Bequem lichkeit vor. Praxedis, führ unseren Gast hinauf!« Das Zimmer des verstorbenen Kaplans lag im viereckigen Haupt turm der Burg. Ekkehard folgte Praxedis und stieg lang sam die finste re Wendeltreppe hinan. Der Schlüssel kreischte im Schloß, knarrend ging die Türe auf. Der viereckige Raum war verstaubt. Spinnweben hingen an den weiß getünchten Wänden. Auf dem Eichentisch stand ein ausgetrocknetes Tintenfaß. Auf einem Brett in der Wandnische lagen ein paar Bücher und aufgeschlagene Pergamentrollen. Dazwischen hatten sich Vögel 270
ihr Nest gebaut, denn der Sturm hatte das Fenster zerschlagen und ih nen den Weg frei gemacht. Die Eintretenden scheuchten sie auf. Ekkehard musterte die Bücher. »Es tut mir leid um die armen Tau ben, sie werden abziehen müssen. Sie haben das ganze erste Buch über den Gallischen Krieg verdorben.« »Ihr armen Tauben!« Praxedis versuchte die Vögel zu sich zu locken und begann, leise vor sich hin zu summen. Es war ein Leid aus ihrer Heimat. »Was singt Ihr?« Erstaunt horchte Ekkehard auf. »Das klingt ja wie Griechisch!« »Warum soll ich nicht griechisch singen?« »Wo in aller Welt habt Ihr das erlernt?« »Zu Hause«, sagte Praxedis einfach. Ekkehard betrachtete sie mit neuen Augen. Scheue Hochachtung lag in seinem Blick. Es war ihm nie durch den Kopf gegangen, daß es Menschen geben könnte, deren Muttersprache die Sprache Homers und Aristoteles' war. »Ich glaubte, als Lehrer hierhergekommen zu sein«, sagte er, »und nun finde ich meinen Meister! Wollt Ihr mir nicht ein wenig von Eu rer Weisheit abgeben?« »Wenn Ihr die Tauben nicht verjagt …« Eine scharfe Stimme unterbrach sie: »Was wird hier über Tauben und Griechisch verhandelt?« Die Herzogin stand in der Tür. »Braucht man so lange, diese vier Wände anzusehen?« Sie wandte sich Ekkehard zu. »Gefällt Euch diese Höhle?« Er nickte. »Dann soll sie gereinigt werden«, befahl die Herzogin. »Vor allem müssen die Tauben hinaus.« Ekkehard wagte einen leisen Einwand. »Ihr wünscht allein zu sein, und nun wollt Ihr auch noch Tauben züchten! Soll ich Euch vielleicht noch eine Laute an die Wand hängen und Rosenblätter in den Wein streuen lassen?« spottete die Herzogin. Sie unterbrach sich: »Gut, wir wollen die Tauben nicht verjagen: Heute abend sollen sie gebraten auf den Tisch kommen.« 271
Weder Praxedis noch Ekkehard widersprachen. Die Herzogin fuhr fort: »Und wie war das mit dem Griechischen?« Ekkehard berichtete, was vorgefallen war. »Wenn Ihr so wißbegierig seid, könnt Ihr auch mich fragen«, be merkte sie spitzig. »Auch ich kenne die Sprache.« Ekkehard schwieg. Der Ton der Herzogin war so rechthaberisch und befehlsgewohnt, daß jeder Widerspruch von vorneherein aussichtslos erschien. Sie be nahm sich keineswegs wie eine Schülerin des Mönches, eher wie seine Lehrerin, auch als sie einen genauen Plan entwarf, nach dem ihr Un terricht im Lateinischen vor sich gehen sollte. Eine Stunde wurde für die Grammatik bestimmt, eine andere für die Lektüre des Vergil. Die Dichtung zu erklären, fiel Ekkehard leicht. Schwieriger war es mit der Grammatik. Jeden Tag schrieb er der Herzogin eine Aufgabe auf ein Pergamentblatt. Sie war eine eifrige Schülerin, und wenn die Frühsonne über dem Bodensee aufstieg, stand sie schon an der Wölbung des Fensters und lernte, was Ekkehard ihr aufgeschrieben hatte. Leise und laut, bis zu seinem Zimmer klang ihr einförmiges Hersagen: »Amo, amas, amat, amamus …« – ich liebe, du liebst, er liebt, wir lieben … Auch Praxedis blieb nicht vom Lerneifer ihrer Herrin verschont. Sie mußte am Unterricht teilnehmen, und die Herzogin hatte ihre Freude daran, wenn sie die Griechin mit ihrem eigenen, soeben erlernten Wis sen beschämen konnte. Nie war sie zufriedener, als wenn Praxedis ein lateinisches Hauptwort für ein Beiwort hielt und ein unregelmäßiges Zeitwort regelmäßig abwandelte. Am Abend versammelten sie sich zur Lesung des Vergil in Ecke hards Zimmer. Voll tönte seine Stimme und verriet tiefes Verständnis dessen, was er vortrug. Es wurde spät, und die Lampe begann schon zu flackern, bis sich die beiden Frauen endlich entfernten, um zur Ruhe zu gehen. Auch Ekkehard stieg hinauf in seine Turmstube. Sein Kopf war verwirrt. In der Stille wollte er seine Gedanken ordnen. Immer wieder stand das Bild der Herzogin vor ihm, und wenn er sie recht ins Auge faßte, so sah er auch den schwarzäugigen Kopf der Griechin Praxedis. Was wohl aus all dem werden sollte? 272
Lange stand er und blickte hinaus in die kühle, dunkle Herbstnacht. Endlich schloß der das Fenster, bekreuzigte sich und ging schlafen.
VII
Die Magd Hadumoth kam mit ihren Gänsen den Berg herunter. Sie sah Audifax, den Ziegenhirten, der auf einem Felsblock saß und bitter lich weinte. Rasch ging sie zu ihm hinüber und setzte sich neben ihn. »Warum weinst du?« Besorgt legte sie den Arm um seine Schulter. »Wenn du weinst, dann will ich mit dir weinen.« »Du brauchst nicht zu weinen«, antwortete Audifax. »Aber in mir ist etwas, daß ich weinen muß.« Er schleuderte einen Stein weit von sich. »Hast du's gehört?« fragte er. »Ich hab's gehört, es klingt wie immer.« »Hast du den Klang auch verstanden?« Hadumoth schüttelte den Kopf. »Ich versteh' ihn aber, und deshalb muß ich weinen.« Seine Stimme wurde geheimnisvoll: »Wenn ich übers Feld geh', hör' ich's unter mei nen Füßen rieseln, als ob eine Quelle in der Erde verborgen wäre. Wenn ich einen Felsen anschau', seh' ich durchs Gestein, und drinnen klopft's und hämmert's. Das müssen die Zwerge sein, von denen der Großvater erzählt hat. Und von ganz unten leuchtet es hervor … Hadumoth, ich muß einen großen Schatz finden, und weil ich ihn nicht finden kann, darum weine ich.« »Sei vernünftig!« Hadumoth schlug ein Kreuz. »Was wolltest du denn mit dem Schatz, auch wenn du ihn findest?« »Dann kauf' ich mich frei – und dich auch, und der Frau Herzo gin kauf' ich ihr Herzogtum ab, mit allem, was drauf steht.« Seine Au gen begannen zu leuchten. »Dir lass' ich eine goldene Krone machen und für jede Ziege ein goldenes Glöckchen und mir eine Sackpfeife aus Ebenholz und purem Gold.« 273
»Weißt du denn überhaupt, wie Gold aussieht?« lachte Hadumoth. »Kannst du schweigen?« Audifax hielt seinen Finger vor den Mund. Als die Gefährtin nickte, fuhr er fort: »Ich will dir zeigen, wie Gold aussieht.« Er griff in seine Brusttasche und zog etwas hervor, das aussah wie eine mittelgroße Münze mit verwischten Zeichen. Es war gewölbt und tatsächlich aus Gold. »Das hab' ich nach dem Gewitter auf dem Feld gefunden«, sagte er stolz, »dort, wo der Regenbogen auf die Erde stieß.« Hadumoth wog das Gold in der Hand. Allmählich glaubte sie an seine Berufung zum Schatzsuchen. »Schön, daß du es gefunden hast. Aber das nützt dir nichts«, sagte sie, »wer einen wirklichen Schatz fin den will, muß die Zauberformel wissen.« »Ja, wer die wüßte!« »Frag doch den heiligen Mann in der Burg. Er weiß alles«, riet Hadu moth eifrig. »Aus einem großen Buch, in dem alles steht, liest er der Herzogin vor! Er wird auch den Zauber wissen.« »Ich will zu ihm gehen … Ich weiß etwas, das will ich ihm sagen, wenn er mir den Zauber gibt.« Sie riefen die Ziegen und Gänse zusammen und trieben sie langsam in die Burg zurück. Ekkehard schritt durch den Burghof, als Audifax auf ihn zulief, vor ihm niederkniete und den Saum seiner Kutte küßte. »Was hast du denn?« fragte er den Hirten erstaunt. »Ich möchte den Zauber haben, damit ich den Schatz heben kann«, war die zaghafte Antwort. Ekkehard lachte: »Das möchte ich auch!« »Ihr habt ihn aber, heiliger Mann. In dem großen Buch, aus dem Ihr unserer Herrin jeden Abend vorlest!« »Du redest Unsinn … geh!« Ekkehard wurde ärgerlich: »Laß mich damit zufrieden!« Audifax hielt ihn zurück. »Ihr sollt es nicht umsonst tun! Ich will Euch etwas zeigen.« Ekkehard ging mit ihm aus dem Burghof hinaus, über die Stufen 274
hinunter, zur Rückseite des Berges. Audifax bog einen Strauch zurück und riß das Moos auf. Eine fingerbreite, gelb und weißrot schimmern de Ader zog sich durch das graue Gestein. Der Knabe löste ein Stück ab und reichte es dem Mönch. Ekkehard prüfte den Kristall – es war kein Edelstein. »Was soll ich damit?« fragte er Audifax. »Das wißt Ihr besser als ich. Ihr könnt es schleifen lassen und Eure Bücher damit verzieren. Gebt Ihr mir jetzt den Zauber?« Ekkehard mußte lachen. »Du solltest Bergknappe werden!« sagte er schließlich und wandte sich zum Gehen. Doch Audifax beschwor ihn, ihn doch einen Spruch aus seinem Buch zu lehren, damit er die glän zende Ader in Gold verwandeln könne. Ekkehard gab endlich nach, und um dem Knaben die Freude zu machen, sprach er ihm eine Vers zeile aus Vergil vor: »Auri sacra fames, quid non mortalia cogis pecto ra?« – Gräßlicher Hunger nach Gold, wozu nicht zwingst du der Men schen Gemüt? Geduldig wiederholte Audifax die fremden, schweren Worte, deren Sinn er nicht verstand. Endlich konnte er sie auswendig. Doch das ge nügte ihm nicht. Ekkehard mußte den Vers auch auf einen Pergamentstreifen schreiben, damit der Junge den Spruch bei sich tragen konn te. Voll Dankbarkeit küßte Audifax noch einmal Ekkehards Gewand und lief vergnügt zu seinen Ziegen. Er setzte sich fröhlich auf einen Steinblock und zog seine Sackpfeife hervor. Hadumoth hörte die ver trauten, so lange nicht mehr vernommenen Laute und kam eilig zu ihm. Audifax stand auf. Er blickte sich vorsichtig um. »Ich war beim heiligen Mann«, flüsterte er der Freundin ins Ohr. »Heute nacht holen wir den Schatz. Du gehst mit.« Hadumoth versprach es ihm.
275
In der Gesindestube erhoben sich die Leute vom Nachtessen und stell ten sich in langer Reihe hinter die Bänke. Hadumoth sprach das Dank gebet vor. Noch bevor der Tisch abgeräumt war, huschte sie mit Audifax zum Burgtor hinaus. Die Nacht war kalt. Audifax hatte Hadumoth ein Ziegenfell um geworfen. Hinter einem alten Erdwall am Südhang des Burgberges machten sie halt. »Hier wollen wir warten«, sagte Audifax leise. »Es wird noch lange dauern bis Mitternacht.« Dicht saßen sie nebeneinander. Durch die dünnen Wolken schien der Mond. Auf der Burg oben erhellten sich einige Fenster. Hin und wieder unterbrach ein Eulenruf die Stille. Es war die Nacht des ersten November. Hadumoth lehnte den Kopf an Audifax' Schulter und schlief ein. Der Junge, dem selbst die Augen zufallen wollten, schüttelte sie wach. »Die Nacht ist so lang«, flüsterte er, »erzähl mir was, Hadumoth!« »Mir ist was Böses eingefallen«, erwiderte sie verschlafen. »Es war einmal ein Mann, der ging beim Morgenrot auf den Acker. Da pflüg te er den Goldzwerg aus der Furche. Der grinste ihn freundlich an. ›Nimm mich mit! Wer uns nicht sucht, dem gehören wir, wer uns sucht, den erwürgen wir!‹ Ich fürcht' mich, Audifax.« Er nahm ihre Hand. Vom Turm verkündete der Hornruf des Wäch ters die Mitternachsstunde. Audifax zog den Holzschuh von seinem rechten Fuß, so daß er mit der nackten Sohle auf der Erde stand. Dann ließ er sich auf das andere Knie nieder. In der Hand hielt er den Pergamentstreifen. Laut sprach er die lateinischen Worte vor sich hin. Sie warteten. Es blieb still. Noch einmal wiederholte er den Spruch, doch nichts geschah. Betrübt sah der Junge auf. »Es ist nichts – wir werden Hirten blei ben!« »Vielleicht hat dir der heilige Mann nicht den richtigen Spruch gege ben … vielleicht weiß er ihn selbst nicht.« »Warum?« 276
»Weil er den rechten Gott nicht hat!« Audifax legte ihr schnell die Hand auf den Mund. »Ich weiß aber, wen wir fragen sollten«, fuhr Hadumoth tapfer fort. »Laß uns zur Waldfrau gehen!« Audifax blickte sie erschrocken an. »Jetzt können wir ja nicht mehr in die Burg zurück«, setzte Hadu moth überredend hinzu. Zögernd folgte ihr Audifax durch den dichten, dunklen, einsamen Wald. Eine Stunde lang waren sie so gegangen, bis sie zu dem hohen Felsen kamen, den die Leute Hohenkrähen nannten. Am Fuße des Fel sens, vor einer kleinen Steinhütte, die versteckt zwischen den Bäumen stand, hielten sie an. Nichts rührte sich. Sie traten näher. Die Tür stand offen. »Die Waldfrau ist fort«, sagte Hadumoth enttäuscht. Doch auf dem Hohenkrähen brannte ein Feuer. Die Kinder schli chen sich hinauf, duckten sich hinter einen Stein und sahen hinüber. Unter den riesigen Ästen einer alten Eiche bewegten sich dunkle Ge stalten. Spieße standen über dem Feuer, Knochen lagen verstreut auf dem Boden, der Kopf eines Tieres war an den Stamm der Eiche gena gelt. In einem Gefäß dampfte das Blut des Opfertieres. Um einen Felsblock saßen mehrere Männer und schöpften mit stei nernen Krügen Bier aus einem Kessel. Unter der Eiche kauerte ein al tes Weib mit wirren, struppigen Haaren. Der Himmel begann sich im Osten aufzuhellen. In dicken Schwaden stieg der Nebel aus den Tälern auf. Die ersten Strahlen der Sonne ver goldeten schon die Berge. Die Männer erhoben sich schweigend. Das Weib sprang auf. Es tauch te ein Bündel Reisig in das Gefäß mit Blut und schwang es dreimal in Richtung der aufgehenden Sonne, dreimal über die Männer. Den Rest des Blutes goß es über die Wurzeln der Eiche. Die Männer packten ihre Krüge und rieben sie gegen den Felsblock, so daß ein Summen entstand, hoben sie der Sonne entgegen und tran ken. Dann waren sie ihre Mäntel um und gingen grußlos davon. Audifax und Hadumoth faßten sich an den Händen. Sie wollten sich 277
der Waldfrau nähern. Die aber riß einen brennenden Zweig aus dem verlodernden Feuer und kam drohend auf sie zu. In wildem Schreck liefen die Kinder zur Burg zurück.
VIII
Niemand hatte das Ausbleiben der beiden bemerkt, sie sprachen auch zu niemandem über ihre nächtlichen Erlebnisse – nicht einmal zuein ander. Allmählich ging der Herbst in den Winter über. Die Tiere blieben in den Ställen, die beiden jungen Hirten verbrachten die meiste Zeit in der Gesindestube. Audifax grübelte. »Der heilige Mann hat doch den rechten Gott«, sagte er eines Tages zu Hadumoth. »Die Waldfrau ist schuld, daß wir den Schatz nicht ge funden haben.« Sie beschlossen, Ekkehard zu erzählen, was sich in jener Nacht zu getragen hatte. Freundlich hörte sie der junge Mönch an. Am gleichen Abend noch berichtete er es der Herzogin. Sie lächelte. »Sie haben einen seltsamen Geschmack, meine treuen Untertanen! Überall werden Kirchen für sie errichtet, feierliche Got tesdienste und fromme Bittgänge werden abgehalten – es genügt ih nen nicht: In kalten Nächten sitzen sie im Freien und trinken Bier und wissen selbst nicht, warum.« Sie fragte Ekkehard: »Was haltet Ihr da von?« »Aberglaube«, erwiderte er, »nichts als heidnischer Aberglaube.« »Sie sind keine Heiden mehr«, widersprach die Herzogin, »jeder von ihnen ist getauft. Aber tief drinnen lebt noch die Erinnerung weiter, die sinnlos geworden ist, und sie wissen nichts damit anzufangen. Was wollt Ihr dagegen tun?« 278
»Ausrotten«, gab Ekkehard zurück. »Wer seinen Christenglauben bricht, ist auf ewig verdammt.« Hadwig fiel ihm ins Wort: »Meinen Hegauern sollt Ihr deshalb doch nicht den Kopf abschlagen!« Sie erklärte: »Wenn man ein Land regiert, lernt man manches, das nicht in Euren Büchern steht. Der Schwache wird am wirksamsten durch seine eigene Schwäche bestraft und nicht durch das Schwert. Als der heilige Gallus in das zerstörte Bregenz ein zog, fand er auf dem zertrümmerten Altar der heiligen Aurelia drei Götzenbilder aufgerichtet. Um einen Bierkessel saßen die Männer und tranken. Gallus schlug die Bildstöcke entzwei und warf die Trümmer in den See. Dann begann er, das Evangelium zu predigen. Als kein Feuer vom Himmel fiel, merkten sie, daß sein Glaube stärker und bes ser war als der ihre, und bekehrten sich.« »Das war damals!« unterbrach Ekkehard. »Und jetzt«, fuhr die Herzogin unbeirrt fort, »steht die Kirche mächtig und stark vom Rhein bis zur Nordsee. Bis in die Wildnis des Schwarzwalds ist das christliche Bekenntnis gedrungen. Und Ihr wollt gegen diese Nachzügler so streng vorgehen?« »Wollt Ihr sie etwa belohnen?« Ekkehard war empört. »Es gibt auch noch ein Mittelding.« Hadwig lächelte über seinen Ei fer. »Natürlich müssen wir gegen den nächtlichen Unfug einschreiten. Nur in einem einheitlichen Glauben können wir uns gegen Gefahren wehren, die von draußen kommen mögen.« Ekkehard schien von dieser Weisheit nicht befriedigt zu sein. »Was denkt Ihr über die Zauberei überhaupt?« fragte ihn die Herzogin. »Die Zauberei …« Er überlegte: »Sie ist eine Kunst, mit deren Hil fe sich der Mensch die dämonischen Naturgewalten dienstbar macht.« Er ereiferte sich: »Die Zauberei ist alt wie die Sünde, ein Blendwerk der Mächte der Finsternis. Und besonders die Frauen sind Anhängerin nen dieser Kunst, denn sie sind neugierig und lieben verbotene Din ge. Wenn wir in der Lektüre des Vergil fortfahren, werdet Ihr von Cir ce hören, die der Ausbund der Zauberei in Gestalt einer Frau war. Sie verwandelte Menschen in Tiere …« Hadwig wurde ungeduldig: »Ihr sprecht ja wie ein Buch«, sagte sie 279
spitz, »Ihr sollt Gelegenheit haben, Euer Wissen über die Zauberei wei ter auszubilden. Reitet morgen auf den Hohenkrähen und untersucht, ob die Waldfrau eine Zauberin ist. Tut in meinem Namen, was Ihr für das Richtige haltet!« Ekkehard wich aus. »Man hat mich nicht gelehrt, weltliche Dinge zu schlichten und zu beurteilen.« »Das wird sich finden«, erwiderte Hadwig. »Ihr werdet es schon ler nen. Weisheit hat noch selten jemanden in Verlegenheit gebracht. Am wenigsten einen Sohn der Kirche.« Ekkehard fügte sich widerstrebend. Schließlich glaubte er, in ihrem Auftrag einen Beweis des Vertrauens zu erkennen. Schon am nächsten Morgen ritt er, begleitet von Audifax, der ihm den Weg zeigen sollte, auf den Hohenkrähen. Auf einem Vorsprung in halber Höhe des Felsens stand die Hütte der Waldfrau. Sie banden Ekkehards Pferd an eine Tanne. Über drei Stufen aus Klingsteinplatten gelangten sie in eine hohe, dunkle Stube. Der würzige Duft von getrockneten Kräutern füllte den Raum. An den Wandpfeilern hingen drei weißgebleichte Pferdeschädel und ein riesi ges Hirschgeweih. Über dem Eingang war ein verschlungenes Dop peldreieck in den Pfosten der Türe geschnitten. Die Waldfrau saß am Herd und nähte. »Gelobt sei Jesus Christus!« sagte Ekkehard als Gruß – und auch ge gen den Zauber. Unwillkürlich schloß er die Faust um den Daumen seiner rechten Hand – Audifax hatte ihm erzählt, daß die Waldfrau den bösen Blick habe. Sie saß unbeweglich und schwieg. »Was macht Ihr da?« fragte Ekkehard. »Ich flicke einen Rock«, murrte die Alte. »Er ist schadhaft gewor den.« »Stimmt es, daß Ihr auch Kräuter sucht?« »Ich such' auch Kräuter«, bestätigte sie. »Dort liegen sie alle: Ha bichtskraut, Schneckenklee, Bocksbart und auch dürrer Waldmeister; wollt Ihr welche?« 280
»Ich bin kein Kräutermann«, erwiderte Ekkehard. »Was macht Ihr mit den Kräutern?« Die Alte blickte ihn mißtrauisch an. »Was fragt Ihr? Jeder weiß, wo für Kräuter gut sind. Es wär' schlecht bestellt um kranke Menschen und Tiere, wenn es keine Kräuter gäbe. Und womit könnte man die Geister beschwören und die Sehnsucht stillen?« »Seid Ihr getauft?« fragte Ekkehard aufgebracht. »Sie werden mich auch getauft haben …« »Wenn Ihr getauft seid und dem Teufel und allen seinen Werken ab geschworen habt …« Er deutete mit seinem Stab auf die Pferdeschä del und stieß einen davon herunter, daß er zu Boden fiel und zerbrach. »Was soll das?« »Das war der Schädel eines Pferdes, den Ihr jetzt zertrümmert habt«, gab die Alte gelassen zur Antwort. Ekkehard trat drohend an sie heran: »Weib, du treibst Zauberei und Hexenkunst!« Die Waldfrau erhob sich langsam. Ihre Stirne runzelte sich, unheim lich glänzten ihre grauen Augen. »Ihr tragt ein geistliches Gewand«, sagte sie, »Ihr könnt mir das sa gen. Gegen Euch hat eine Waldfrau kein Recht!« Audifax war scheu an der Tür stehengeblieben. Nun trat er ängstlich neben Ekkehard. Da fiel sein Blick auf einen behauenen, unansehnli chen Stein neben dem Herd. Neugierig hob er das Tuch auf, das den Stein halb verdeckte. Die verwitterte, in den Stein gemeißelte Figur ei nes römischen Altars kam zum Vorschein: Ein Jüngling kniend auf ei nem niedergeworfenen Stier – der persische Lichtgott Mithras, den die Römer unter ihre Götter aufgenommen hatten. Auch Ekkehard betrachtete das Bildnis aufmerksam. »Den Mann auf dem Tier betet Ihr an!« rief er heftig. »Wie kommt der Stein in Eure Hütte?« »Weil er uns leid getan hat«, sagte die Waldfrau ruhig. »Das könnt Ihr nicht verstehen. Sicher haben in den alten Tagen viele vor ihm gekniet. Er war einmal etwas Heiliges. Da haben wir ihn herausge hoben und an den Herd gestellt.« Sie fuhr wehmütig fort: »Wir wis 281
sen, wie es den alten Göttern zumute ist – unsere gelten auch nicht mehr!« »Eure Götter?« fuhr Ekkehard sie an. »Wer sind Eure Götter?« »Das müßt Ihr wissen«, erwiderte die Alte. »Ihr habt sie ja vertrie ben. Wir sehen sie nicht mehr. Wir kennen nur noch die Plätze, wo un sere Väter sie verehrt haben, bevor die Franken ins Land kamen und mit ihnen die Männer in den Kutten. Aber wenn der Wind durch die alten Bäume fährt, dann hören wir ihre Klagen …« Ekkehard bekreuzigte sich. Die Waldfrau fuhr fort: »Ich rede nur, wie ich es weiß. Ich will Euren Heiland nicht beleidigen, aber er ist als Fremder zu uns gekommen. Ihr redet mit ihm in einer fremden Sprache, die wir nicht verstehen. Käme er von unserem Grund und Boden, dann könnten auch wir mit ihm reden und wären seine treuesten Diener. Es stünde besser um das ale mannische Land …« Ekkehard unterbrach sie zornig: »Wir werden Euch verbrennen las sen!« »Wenn es so in Euren Büchern steht, tut es! Ich habe genug gelebt.« Die Alte deutete auf einen schwärzlichen Streifen an der Wand: »Der Blitz hat die alte Waldfrau verschont!« Sie kauerte sich wieder an den Herd und blieb unbeweglich sitzen. Unheimlich flackerte der Widerschein der glühenden Kohlen über ihr runzeliges Gesicht. Ekkehard wandte sich um und verließ die Stube. Audifax folgte ihm erleichtert ins Freie. Der Hirt deutete auf den Felshügel: »Dort haben sie gesessen!« »Ich werde es mir ansehen«, erwiderte Ekkehard. »Du gehst inzwi schen zur Burg zurück und schickst mir zwei Knechte mit Hacke und Beil und bestellst dem Diakon von Singen, er soll kommen mit seinem Meßbuch und der Stola.« Audifax gehorchte. Ekkehard stieg auf den Hohenkrähen. Nur wenige Spuren wa ren vom nächtlichen Gelage zurückgeblieben: Reste von Kohlen und Asche. Doch in den Ästen der Eiche hingen kleine Wachsbilder von 282
menschlichen Gliedmaßen, Füße und Hände, und auch Abbilder von Pferden und Kühen. Ekkehard blieb nicht lange allein. Zwei Männer kamen auf ihn zu. »Wir sind bestellt«, sagten sie. »Vom Hohentwiel?« »Wir arbeiten für die Herrschaft, doch wir sind in Hohenhöwen zu Hause, wo der Kohlenmeiler ist.« »Gut«, sagte Ekkehard. »Ihr sollt die Eiche hier fällen!« Die Männer sahen ihn verlegen an. »Vorwärts!« befahl Ekkehard. »Eilt euch, damit ihr fertig seid, bevor es dunkel wird!« Die beiden Männer gingen auf die Eiche zu. Der eine ließ sein Beil auf den Boden fallen. »Kommt dir der Platz nicht bekannt vor?« fragte er seinen Gefähr ten. »Wir wissen von nichts!« Er blickte auf Ekkehard. »Der Mönch wird's wissen … schade um den schönen Baum. An die zweihundert Jahre steht er schon hier und hat manches gesehen.« »Sei kein Dummkopf!« sprach der andere wieder. »Wir müssen dran. Je schneller wir die Arbeit tun, desto weniger wird der in der Kutte glauben, daß wir selbst einmal darunter gesessen haben.« Der erste betrachtete noch einmal wehmütig das Wachsbild, das er vor wenigen Tagen daran gehängt hatte, damit seine Kuh gesund wer de, dann hob er entschlossen die Axt. In dumpfem Takt krachten die Schläge, die Späne flogen. Bald fand sich auch der Diakon von Singen ein, und Ekkehard führ te ihn zur Waldfrau. Die Alte saß noch immer unbeweglich am Herd. Als Ekkehard und der Priester eintraten, verlöschte der Luftzug das Feuer. »Schnürt Euer Bündel!« befahl Ekkehard. »Ihr müßt fort!« »Wer will mich aus dem Haus meiner Mutter werfen wie einen her renlosen Hund?« fragte die Waldfrau mit drohender Stimme. »Im Namen der Herzogin von Schwaben«, erklärte Ekkehard feier lich, »weise ich Euch aus dem Land wegen heidnischen Aberglaubens 283
und Götzendienstes. Keiner soll Euch aufnehmen, bis Ihr Euren Frevel gebüßt habt und Euch reuig zum dreieinigen Gott bekehrt, der richtet über die Lebenden und Toten.« Die Waldfrau hatte ihm ohne große Erregung zugehört. Nun packte sie ihre Sachen gleichmütig zu einem Bündel zusammen, griff nach ih rem Stock und rüstete sich zu gehen. Mitleidig sah ihr der Diakon zu. »Ruft Gott durch seine Diener um Verzeihung an und tut Buße!« »Dafür bin ich zu alt«, sagte die Waldfrau unfreundlich. Sie lock te ihren zahmen Specht, er flog ihr auf die Schulter. Ängstlich hüpfte auch der Rabe hinter ihr drein. An der Tür wandte sie sich noch ein mal um und stieß dreimal mit dem Stock auf die Schwelle. »Seid ver flucht, ihr Hunde!« rief sie den beiden Priestern zu und verschwand im Wald. Ekkehard ließ sich die Stola umhängen. Er folgte dem Diakon, der das Meßbuch vor ihm hertrug, durch die Räume der Hütte. Er weih te die Wände mit dem Zeichen des Kreuzes und sprach viele Gebete zur Austreibung der bösen Geister. Nach der Beschwörung nahm der Diakon, der so große Worte noch nie gehört hatte, Ekkehard die Sto la wieder ab. Ekkehard hörte Hufschlag und trat hinaus. »Ihr seid lange ausgeblieben!« rief die Herzogin ihm entgegen. Ihr Begleiter half ihr vom Pferd. »Ich muß wohl selbst nachsehen, was Ihr ausgerichtet habt«, fuhr sie fort. Der Diakon verbeugte sich und trat den Heimweg an. Auch die zwei Holzfäller, die ihre Arbeit beendet hatten, schlichen sich davon, gruß los, denn sie fürchteten sich vor der Herzogin. Ekkehard berichtete, was vorgefallen war. »Ihr seid streng«, sagte sie. »Ich glaubte, mild zu sein.« »Wir genehmigen, was Ihr getan habt. Aber was wollt Ihr mit dem verlassenen Haus tun?« »Die bösen Geister sind gebannt … Ich will die Hütte zu einer Kapel le der heiligen Hadwig weihen.« 284
Die Herzogin sah ihn wohlwollend an. »Wie kommt Ihr auf den Ge danken?« »Es fiel mir nur so ein … Die Eiche habe ich fällen lassen.« »Wir wollen den Platz besichtigen. Ich denke, wir werden auch das Fällen der Eiche genehmigen.« Sie stieg mit Ekkehard auf den Gipfel des Hohenkrähen. Steil stürz ten die Felsen vor ihren Füßen in die Tiefe. Der mächtige Baum lag ge fällt am Boden und versperrte den Weg. Die Herzogin zog ihren hellen Mantel enger. Schweigend blickten beide über die abendliche Land schaft. Die Herzogin war bewegt. Er will der heiligen Hadwig eine Kapel le weihen, ging es ihr durch den Sinn. Sie trat einen Schritt auf Ekke hard zu und lehnte ihren Arm auf seine Schulter, als suchte sie Halt bei ihm. »Was denkt mein Freund?« fragte sie mit weicher Stimme. »Ich habe nie auf solcher Höhe gestanden«, erwiderte Ekkehard. »Ich mußte an die Heilige Schrift denken. Es steht geschrieben: ›Und der Teufel führte ihn auf einen hohen Berg und zeigte ihm alle Reiche der Welt und ihre Pracht und sprach zu ihm: Dies alles will ich dir geben, wenn du niederfällst und mich anbetest.‹ Er aber antwortete: ›Weg von mir, Satan! Denn es steht geschrieben: Du sollst den Herrn, deinen Gott, anbeten und ihm allein dienen.‹« Die Herzogin zog ihre Hand zurück. »Ekkehard«, rief sie verstimmt. »Ihr seid ein Kind – oder ein Dummkopf!« Sie wandte sich ab und stieg eilig den steilen Pfad hinunter. Allein ritt sie nach Hohentwiel zurück, so schnell, daß ihr Begleiter kaum fol gen konnte. Ekkehard blickte ihr verwundert nach. Dann kehrte auch er in die Burg zurück.
285
IX
Die Abende wurden länger, die Tage trüb und grau. Bald waren Berge und Täler mit Schnee bedeckt. Der Winter hatte seinen Einzug gehalten. Auf Hohentwiel begann man, sich auf das Weihnachtsfest vorzu bereiten. Vergil und lateinische Grammatik wurden beiseite gelegt. Im Frauensaal wurde genäht und gestickt, und als Ekkehard einmal unvermutet eintrat, verstellte ihm Praxedis den Weg und wies ihm freundlich die Tür. Hadwig aber versteckte ein Knäuel von Goldfaden und ein Stück schwarzer Seide in ihrem Korb. Ekkehard zog daraus den Schluß, daß man an einem Geschenk für ihn arbeitete. Nun wollte er natürlich nicht zurückstehen und dach te lange nach, was er seinerseits geben könne. Durch einen Boten be schaffte er sich von seinem Freund und Lehrer Folkard in Sankt Gal len Pergament und Farben, Pinsel und Tinte. Er beschloß, ein Gedicht in lateinischen Versen für die Herzogin zu schreiben. Die Arbeit ging ihm nicht leicht von der Hand. Erst wollte er der Herzogin in einem Gedicht huldigen, in dem er von der Erschaffung der Welt bis zum Beginn ihrer Herrschaft in Schwa ben erzählte. Dann wieder wollte er ihr Loblied singen, indem er sie mit allen Frauen der Geschichte verglich, die ihm bemerkenswert er schienen. Doch er mußte feststellen, daß er alle Worte des Lobes schon verschwendet hatte, als er zur Herzogin selbst kam. Praxedis bemerkte seine Niedergeschlagenheit. »Habt Ihr eine Spinne verschluckt?« fragte sie. »Ihr habt gut scherzen«, erwiderte Ekkehard traurig. Er bat sie, ihn nicht zu verraten, und klagte ihr sein Leid. »Ihr wollt ganze Wälder umhauen und braucht doch nur ein paar Blumen für den Strauß!« spottete die Griechin. »Macht's einfach und ungelehrt – wie Euer geliebter Vergil!« 286
Wie Vergil? Ekkehard grübelte. »Ich hab's! Vergil selbst soll die Hul digung darbringen.« In wenigen Minuten schrieb er das Gedicht nieder. Es handelte da von, daß Vergil ihm in seinem Turmzimmer erschien und ihn bat, der hohen Frau zu danken für die Ehre, die sie ihm zuteil werden ließ. Nun wollte er das Gedicht noch mit einer schönen Malerei verzieren: Her zogin Hadwig mit Krone und Szepter auf dem Thron sitzend, Vergil, in weißem Gewand, den Lorbeerkranz im Haar, und Ekkehard selbst, sich tief verneigend. Wie er es von Folkard gelernt hatte, ordnete er die Gestalten an: Hadwig zwei Finger breit höher als Vergil, er selbst wieder kleiner als der Dichter. Den Vergil brachte er leidlich zuwege. Auch sein eigenes Bild glückte, man erkannte die Figur im Mönchsgewand mit der Ton sur. Die Darstellung der Herzogin aber war ein schwieriges Problem. »Was fehlt Euch denn?« fragte Praxedis teilnahmsvoll, als sie Ekke hard wieder betrübt umhergehen sah. »Ich sollte wissen, wie sich Frauen kleiden.« »Ihr sprecht ja ganz abscheulich!« entrüstete sich Praxedis. »Macht doch Eure Augen auf!« Ekkehard blickte sie aufmerksam an. »Es nützt nichts«, sagte er schließlich. »Ihr tragt ja keinen Königsmantel!« »Wartet, ich will Euch helfen«, sagte sie. »Die Herzogin ist im Garten drunten, ich will den Staatsmantel anlegen.« Nach wenigen Augenblicken trat sie wieder ins Zimmer, den schwe ren Purpurmantel mit der goldenen Verbrämung um die Schultern ge worfen. Mit gemessenen Schritten ging sie durch den Raum, ergriff ei nen eisernen Leuchter, hielt ihn wie ein Szepter vor sich hin und stell te sich vor Ekkehard. »Wendet Euch ein wenig mehr gegen das Licht!« sagte er und begann schon, eifrig zu malen. Nach einer Weile trat Praxedis neben ihn und blickte über seine Schulter auf das Pergamentblatt. »Das Bild hat ja keinen Kopf!« »Ich brauchte nur den Faltenwurf«, erwiderte Ekkehard bestimmt. 287
Schritte näherten sich der Türe. Rasch ließ Praxedis den Mantel von ihrer Schulter gleiten, so daß er nur lose über ihrem Arm hing. Im nächsten Augenblick stand die Herzogin vor ihnen. »Wollt Ihr wieder Griechisch lernen?« fragte sie Ekkehard. »Ich habe ihm nur den Edelstein am Gürtel Eures Mantels gezeigt«, erklärte Praxedis hastig. »Es ist so ein herrlich geschnittener Stein – Herr Ek kehard versteht sich darauf.« Auch Audifax traf seine Vorbereitungen für Weihnachten. Er hat te die Hoffnung aufgegeben, daß er jemals einen Schatz heben würde, und begnügte sich mit den Dingen, die schon vorhanden waren. Jeden Abend stieg er hinunter zur Ache. Dort lauerte er stundenlang vor ei nem hohlen Weidenbaum auf einen Fischotter. Doch der Otter wußte viele Ausgänge in den Fluß, die Audifax nicht kannte. Er wartete vie le Male vergeblich. Eines Morgens aber kam er ganz erfroren in die Küche und hockte sich ganz nahe an den Herd. Seine Lippen zitterten vor Kälte, aber sein Gesicht glühte vor Freude und Zufriedenheit. Praxedis trat in die Küche. »Zieh dich an!« sagte sie zu dem Hirten. »Du mußt heute in den Wald und eine Tanne holen.« »Das ist nicht meine Arbeit«, erwiderte Audifax stolz. »Aber ich will's tun, wenn Ihr mir einen Gefallen tut.« »Was befiehlt der Herr Ziegenhirt?« Statt jeder Antwort lief der Knabe hinaus und kam bald darauf zu rück. Er hielt Praxedis einen dunkelbraunen Balg hin. »Woher hast du das Otterfell?« Praxedis strich über das kurze, dichte, glänzende Haar. »Selbst gefangen«, erwiderte Audifax. Er fügte leiser hinzu: »Ich möchte, daß Ihr daraus eine Haube für Hadumoth näht.« Praxedis versprach es. Hadwig stand selbst in der Küche und beaufsichtigte die Mägde. Sie teilte Mehl und Honig aus, Praxedis mischte Ingwer, Pfeffer und Zimt für den Lebkuchenteig. »Was nehmen wir für eine Form?« fragte sie die Herrin. »Das Vier eck mit den Schlangen?« 288
»Das große Herz ist schöner«, erwiderte die Herzogin, und sie selbst belegte die schönsten Herzen mit Mandeln und Nüssen. Der Weihnachtsbaum war gefällt. Er wurde im großen Saal aufge stellt und mit Äpfeln und Kerzen geschmückt. Am Heiligen Abend versammelten sich alle, festlich gekleidet, Herrschaft und Gesinde. Ek kehard las das Evangelium von der Geburt des Heilands. Dann gingen sie paarweise in den großen Saal. Auf breiten Tischen lagen die Geschenke für die dienenden Leute, Leinwand und Gebäck. Auf Hadumoths Platz lag die Pelzhaube. Als Praxedis ihr verriet, von wem das Geschenk sei, weinte Hadumoth und sagte traurig zu Audifax: »Ich habe nichts für dich.« Doch Audi fax tröstete sie: »Das ist statt der Goldkrone.« Knechte und Mägde dankten ihrer Herrin und gingen in die Gesin destube hinunter. Die Herzogin führte Ekkehard an ein Tischchen. »Das ist für Euch!« Neben einem mandelgespickten Lebkuchenherzen und einem gro ßen Korb, der mit Leinwand zugenäht war, lag eine Priesterkappe aus Samt und eine prächtige Stola aus Goldgewebe, mit schwarzer Seide bestickt und mit Perlen verziert. »Laßt sehen, wie es Euch steht!« Praxedis setzte ihm die Kappe auf und warf ihm die Stola um. »Meisterhaft!« rief sie. »Ihr dürft Euch be danken!« Ekkehard legte die herrlichen Geschenke scheu wieder ab, zog aus seinem Gewand die Pergamentrolle und reichte sie schüchtern der Herzogin. Hadwig öffnete sie nicht. »Erst wollen wir sehen, was in Eurem Korb ist.« Sie wies auf das Pergament: »Das Beste soll zuletzt kommen.« Sie schnitten den Korb auf: In Heu verpackt, lag ein riesiger Auer hahn. Ekkehard hob ihn in die Höhe – die ausgebreiteten Flügel reich ten bis auf den Boden. Ein Brief lag dabei. »Vorlesen!« befahl Hadwig. Ekkehard öffnete das Siegel. »Dem ehrwürdigen Bruder Ekkehard auf dem Hohentwiel durch Burkard, den Klosterschüler, von Romeias, dem Wächter am Tor. 289
Wenn es zwei wären, so wäre einer für Euch. Da es aber nur einer ist, ist er nicht für Euch, sondern Eurer kommt nach. Gesendet wird er an Euch wegen Unkenntnis des Namens. Die ihn haben soll war damals mit der Frau Herzogin im Kloster und trug ein Gewand von der Farbe des Grünspechts und einen Zopf um die Stirne gelegt. Dazu Glück und Segen. Auch Euch, ehrwürdiger Bruder. Sollte auf der Burg ein Wächter, Turmwart oder Forstwart gebraucht werden, so empfehlet der Frau Herzogin den Romeias. Langes Leben Euch und der Frau Herzogin. Lebet wohl!« »Sollen wir den Bittsteller auf unser Schloß versetzen, Praxedis?« fragte die Herzogin lächelnd, als Ekkehard geendet hatte. »Das verbitt' ich mir!« Praxedis war rot geworden. »Es soll niemand meinen, daß …« »Schon gut.« Hadwig hob abwehrend die Hand. Dann begann sie die Pergamentrolle zu öffnen. Sie war überrascht und erfreut über die kunstvolle Malerei. Die dargestellten Personen waren leicht zu erken nen, da Ekkehard zur Verdeutlichung auch noch die Namen darüber geschrieben hatte. Sie bewunderte das Werk nach Gebühr und bat Ek kehard, sein Gedicht selbst vorzulesen und zu erklären. Aufmerksam hörten ihm die beiden Frauen zu. Dann war es eine Weile still. Schließlich trat die Herzogin auf den Mönch zu und reichte ihm die Hand. »Ich danke Euch, Ekkehard!« sagte sie schlicht. Es waren dieselben Worte, mit denen sie ihm im Klosterhof von Sankt Gallen dafür gedankt hatte, daß er sie über die Schwelle getra gen hatte.
Als es auf Mitternacht ging, verließ Ekkehard die beiden Frauen und ging hinauf in sein Turmzimmer. Praxedis brachte eine Schale mit Wasser, einige Stücke Blei und ei nen metallenen Löffel. »Das Bleigießen vom vorigen Jahr ist eingetroffen«, sagte sie. »Je 290
mehr ich darüber nachdenke, meine ich, daß es einer Mönchskapu ze glich.« »Es ist doch nur Spielerei«, erwiderte die Herzogin. Praxedis hielt den Löffel mit dem Blei über das Licht der Lampe. Das Blei schmolz, da stand sie auf, murmelte einige unverständliche Worte. Zischend floß das flüssige Metall in die Wasserschale. Scheinbar gleichgültig sah Hadwig ihr zu. Praxedis hielt die Schale ans Licht: Die Form glich einem länglich zugespitzten Tropfen. »Das ist wieder ein Rätsel, bis die Lösung kommt!« rief Praxedis. »Die Zukunft sieht fast wie ein Tannenzapfen aus.« Matt glänzte das Metall in der Hand der Herzogin. »Wie eine Träne …«, sagte sie ernst.
X
Der Winter verging eintönig und doch unmerklich rasch, bei Arbeit und Gebet, Vergil und lateinischer Grammatik. Die Herzogin stellte keine verfänglichen Fragen mehr an Ekkehard. In der Faschingszeit kamen die Grafen und Fürsten aus der Nach barschaft, der Herzogin ihren Besuch abzustatten. Es wurde viel ge gessen und getrunken. Der März zog mit heftigen Stürmen ins Land. In einer klaren Stern nacht stand ein Komet am Himmel – ein schlechtes Vorzeichen. Ein Schäfer berichtete, daß er dem Heerwurm begegnet sei – das bedeutete Krieg. Eine unheimliche Vorahnung bedrückte die Menschen. Sogar der Kämmerer Spazzo war niedergeschlagen. »Ihr sollt mir einen Dienst erweisen«, sagte er vertraulich zu Ekke hard. »Ich habe im Traum einen toten Fisch gesehen, der auf dem Rük ken schwamm. Ich will mein Testament machen.« Er seufzte tief. »Die Welt ist alt geworden und steht nur noch auf einem Bein. Die Mensch heit kann es auch nicht mehr weiter bringen: Sogar auf Hohentwiel ha 291
ben wir jetzt mehr als ein halbes Dutzend Bücher. Wenn einer geschla gen wird, läuft er zum Gericht und erhebt Klage, anstatt dem andern das Haus über dem Kopf niederzubrennen … Da hört die Welt von sel ber auf.« »Und wer soll Euer Erbe sein, wenn ohnehin alle zugrunde gehen?« fragte Ekkehard. Der Bischof Ulrich von Augsburg hatte dem Kloster von Reiche nau ein kostbares Heiligtum versprochen – den rechten Vorderarm des heiligen Theopontus, in Silber und Edelsteine gefaßt. Nun schickte er Nachricht, daß er die heilige Reliquie nicht senden könne, weil das Land unsicher sei. Der Abt von Reichenau sandte den Boten auf den Hohentwiel. »Was bringt Ihr Gutes?« fragte die Herzogin. »Nicht viel. Ich möchte lieber etwas mitnehmen – den schwäbischen Heerbann, Pferde und Bewaffnete, soviel Ihr aufbringen könnt. Sie sind wieder auf dem Weg zwischen Donau und Rhein.« »Wer?« »Unsere kleinen Freunde von drüben, mit den tiefliegenden Augen und den stumpfen Nasen. Dieses Jahr wird wieder viel rohes Fleisch mürbe geritten unter dem Sattel!« Er zog ein seltsam geformtes klei nes Hufeisen mit hohem Absatz aus seinem Gewand. »Kennt Ihr das Zeichen?« »Die Hunnen!« Die Herzogin erschrak. »Sie sind schon über die Donau geschwommen«, fuhr der Bote fort. »Wie die Heuschrecken fallen sie über das deutsche Land her.« »Haben sie die Schlacht am Inn so schnell vergessen?« »Eben darum. Wer tüchtig geschlagen wird, kommt gerne wie der …« »Auch wir wissen, was wir zu tun haben!« sagte die Herzogin stolz. Sie entließ den Mann mit einem Geschenk. Dann ließ sie Ekkehard zu sich rufen. »Vergil wird eine Zeitlang ruhen müssen«, sagte sie, bevor sie ihm die schreckliche Neuigkeit mitteilte. Die Lage war nicht erfreulich. Die Reichsfürsten bekämpften einan 292
der und hatten es verlernt, sich gegen die Gefahr von außen zusam menzuschließen. Der Kaiser war den Schwaben nicht gut gesinnt. Er war nach Italien gezogen und kämpfte dort, fern der deutschen Gren zen. Die Straße zum Bodensee stand den Hunnen offen. Seit Jahren beunruhigten sie das Reich, seit Karl der Große es seinen unfähigen Nachfolgern hinterlassen hatte. »Wenn der fromme Bischof Ulrich keine Gespenster gesehen hat, dann werden die Hunnen auch zu uns kommen«, sagte die Herzogin. »Was sollen wir tun? In den Kampf ziehen? Den Frieden durch Gold und Tribut erkaufen? Uns auf dem Hohentwiel verschanzen und unse re Leute preisgeben, die uns treu dienen und denen wir unseren Schutz gelobt haben? Ratet!« »Ich bin für derlei Dinge nicht geschult.« »Ihr Schulmeister!« rief Hadwig erregt und vorwurfsvoll. »Warum seid Ihr kein Krieger geworden? Es wäre vieles besser!« Ekkehard war verletzt und wollte sich zurückziehen. »Halt!« befahl die Herzogin. »Ihr sollt mit Eurem Wissen der Hei mat dienen, und was Ihr nicht wißt, sollt ihr lernen. Ich will Euch zu jemandem schicken, der in solchen Dingen Bescheid weiß – wenn er noch lebt! Wollt Ihr meinen Auftrag bestellen?« »Ich habe es noch nie versäumt, meiner Herrin zu dienen«, erwider te Ekkehard. »Ihr dürft aber nicht erschrecken, wenn Ihr Ungewöhnliches seht. Morgen fahrt Ihr zum Sipplinger Hof hinüber, am Überlinger See. Wenn aus dem Berg über dem Ufer der Rauch aufsteigt, dann geht zum Alten in der Heidenhöhle hinauf und redet mit ihm wegen der Hunnen.« Sie ging zu ihrem Schrank, in dem sie ihre Schmucksachen aufbewahrte, und brachte dem erstaunten Mönch ein Schiefertäfel chen. Ekkehard las: »Neque enim … das ergibt keinen Sinn.« »Das tut nichts«, erwiderte die Herzogin. »Wenn Euch der Alte nicht einlassen will, dann weist ihm diese Schrift vor. Er weiß, was es be deutet.« 293
Am nächsten Tag machte sich Ekkehard auf den Weg. Schon nach we nigen Stunden erreichte er den herzoglichen Hof Sernatingen. Dort ließ er das Pferd zurück und ging zu Fuß weiter, am Ufer des Überlin ger Sees entlang. Die Sandsteinfelsen fielen steil zum See ab, und nach einer Weile führte der Pfad aufwärts. Stufen waren in den Felsen ge hauen, und hie und da sah er Öffnungen in der Felswand, die an römi sche Katakomben erinnerten. Auf einem schmalen, viereckigen Fels vorsprung machte er halt. Aus einem mannshohen Höhleneingang vor ihm sprang ein riesiger, schwarzer Hund. Hilfesuchend blickte Ekkehard um sich, da bemerk te er im Schatten des Eingangs einen grauhaarigen Mann mit rotem Bart, bewaffnet mit einem Spieß. »Ruft das Tier zurück!« rief ihm Ekkehard zu. Ungern gehorchte der Hund und zog sich knurrend in die Höhle zu rück, als der Alte ihm mit dem Spieß drohte. »Man sollte den Hund erschlagen und über Euer Tor hängen, bis er verfault und auf Euch herunterfällt!« sagte Ekkehard entrüstet. »Fast hätte er mich hinuntergestoßen.« »In den Heidenhöhlen gilt das Landrecht nicht!« war die trotzige Antwort. Ekkehard wollte weitergehen, doch der Alte versperrte ihm mit dem Spieß den Weg. »So schnell geht's nicht. Wohin wollt Ihr?« »Zum Alten in der Heidenhöhle.« »Zum Alten in der Heidenhöhle? Wißt Ihr keine ehrerbietigere Anre de, gelbschnäbeliger Kuttenträger?« schimpfte der Alte. »Ich weiß keine andere«, sagte Ekkehard betroffen. »Mein Gruß heißt ›neque enim‹.« »Das klingt schon besser.« Das Gesicht des Alten hellte sich auf. Er reichte Ekkehard die Hand: »Woher kommt Ihr?« »Vom Hohentwiel. Ich soll Euch …« »Ich bin nicht der, den Ihr sucht. Ich bin Rauching, sein Dienstmann. Ich werde Euch anmelden.« Es dauerte eine ganze Weile, bis der Alte wiederkam. Er bedeutete Ekkehard, ihm zu folgen. Sie gingen einen dunklen Gang entlang, der 294
sich bald zu einem hohen Raum weitete. Unter den spitzbogigen Gewöl ben zog sich ein Sims die Wände entlang, durch weite Fensteröffnungen drang das Sonnenlicht herein. Da und dort standen Steinbänke. Ekkehard gewöhnte sich langsam an das Dämmerlicht des Raumes. Er sah eine riesige Gestalt, die in einem hohen steinernen Lehnstuhl nahe bei einem der Fenster saß. Tief stak der Kopf zwischen den Schul tern über dem mächtigen Leib, Stirn und Wangen waren von Run zeln durchfurcht. Spärliches weißes Haar umrahmte das Gesicht. Der zahnlose Mund war eingefallen. Der Greis trug einen verblichenen, ge flickten Mantel und grobe Stiefel an den Füßen. Ein alter, verstaubter Hut, mit Fuchspelz verbrämt, lag neben ihm. »Wer kommt zu dem Vergessenen?« Ekkehard verneigte sich, nannte seinen Namen und wer ihn gesandt hatte. »Ihr habt ein böses Losungswort gebracht«, fuhr die dünne Stimme fort. »Sprechen die Leute noch von Luitward von Vercelli?« »Ich habe nichts von ihm gehört.« »Sag's ihm, Rauching, wer der Luitward war!« »Der größte Schurke, den die Sonne je beschienen«, sagte der Dienst mann mit grimmiger Stimme. »Sag ihm auch, was ›neque enim‹ heißt!« »Es gibt keinen Dank auf dieser Welt, und auch der beste Freund ei nes Kaisers ist ein Verräter!« »Auch der beste ein Verräter«, wiederholte der Alte im Lehnstuhl. Er deutete auf ein Schachbrett, das in einer Felsennische stand. Eine Par tie war zu Ende gespielt worden. »Matt gesetzt durch Läufer und Über läufer«, murmelte er. Er ballte die Faust, dann seufzte er laut und stütz te den Kopf in die Hand. »Das Kopfweh, das verfluchte Kopfweh …« »Mummolin!« rief Rauching. Mit großen Sätzen kam der schwarze Hund vom Eingang. Schmei chelnd setzte er sich neben den Alten und leckte ihm die Stirn. »Es ist gut«, sagte der Greis nach einer Weile und richtete sich wie der auf. 295
»Seid Ihr krank?« fragte Ekkehard teilnahmsvoll. »Krank? – Es mag eine Krankheit sein, doch ich hab' mich schon daran gewöhnt.« Er beugte sich zu Ekkehard: »Ich rate Euch, zieht nie mals zu Felde, wenn Ihr Kopfweh habt. Und schließt auch keinen Frie den, es könnte Euch ein Reich kosten …« »Habt Ihr keinen Arzt befragt?« »Die Ärzte können mir nicht helfen.« Der Greis wies auf seine Stirn: »Seht Ihr diese Narben? An den Füßen haben sie mich aufgehängt und ein Stück Verstand herausgeschnitten … Es hat nichts geholfen … In Cremona haben sie die Sterne befragt und mich um Mitternacht un ter einen Maulbeerbaum gestellt. Mit einem langen Spruch haben sie das Kopfweh in den Baum hinein verbannt – es hat nichts genützt.« Er hielt inne und streichelte den Hund. »Jetzt bin ich's gewöhnt, und das Ärgste leckt der Mummolin mir weg.« »Meine Botschaft …« begann Ekkehard zögernd. Der Greis winkte ab. »Erst müßt ihr essen und trinken.« Rauching ging in den anstoßenden Raum, der als Küche diente. Bald kam er wieder und deckte auf einer Steinplatte den Tisch. Den Höhe punkt des Mahles bildete ein Hecht – aber er war alt und stellenweise mit Moos bewachsen. Zu dem Fleisch, das zäh schmeckte wie Leder, gab es Sipplinger Rotwein, der als der sauerste im ganzen Land bekannt war. Nach dem Essen forderte der Alte Ekkehard zum Reden auf. »Ich bringe schlimme Botschaft. Die Hunnen sind ins Land eingebrochen. Bald werden sie auch nach Schwaben kommen.« »Das geschieht Euch recht!« »Ihr sprecht sonderbar«, begann Ekkehard wieder. Die Augen des Greises leuchteten. »Ihr habt's verdient, Ihr und Eure Herren. Ein großes, stolzes Reich hat Kaiser Karl …« »… den Gott segnen möge!« fiel Rauching ein. »… errichtet.« Der Alte fuhr unbeirrt fort: »Keine Maus wagte sich einzuschleichen, die Wächter hätten sie gefangen. Damals blieben die Hunnen, wo sie hingehörten.« Bedächtig nahm er einen Schluck aus seinem Becher. »Aber un sere Großen wurden übermütig. Ein jeder wollte der Herr der Welt 296
sein, und sie haben gegenseitig gekämpft. Den letzten aus Kaiser Karls Stamm haben sie abgesetzt … Jetzt haben sie die Hunnen wieder auf dem Hals.« »Ihr denkt an alte Geschichten«, wagte Ekkehard einzuwerfen. »Noch haben wir einen Kaiser und ein Reich.« »Ich wünsch' ihm Glück. Das Gebäude ist morsch.« Der Alte schüt telte sich. »Der Kaiser zieht in Welschland zu Felde und erwirbt großen Ruhm«, beharrte Ekkehard. »O Welschland, Welschland!« unterbrach der Greis ihn unmutig. »Das wird den Deutschen noch schlimm zu schaffen machen. Jenes eine Mal hat sich der große Karl …« »… den Gott segnen möge!« fiel Rauching wieder ein. »… blauen Dunst vormachen lassen. Es war ein böser Tag, als man ihm in Rom die Krone aufsetzte, und keiner hat sich gefreut, nur der Papst – der hat uns gebraucht. Was haben wir mit Welschland zu schaf fen? Griechische List wird dort eher fertig als deutsche Kraft. Wir ha ben im Osten und Norden genug zu tun, was brauchen wir ins Welsch land zu ziehen?« Der Alte unterbrach sich, als er merkte, wie betrübt Ekkehard gewor den war. »Hört nicht darauf, was ein Begrabener spricht!« fuhr er ru higer fort. »Aber es ist schon so, daß die Wahrheit in Höhlen wohnt, während der Unsinn das Land regiert.« »Ein Begrabener?« Ekkehard sah ihn fragend an. Der Alte lachte und trank ihm zu: »Ich will Euch eine schöne Ge schichte erzählen – Ihr könnt ein Lied darüber dichten: Es war einmal ein Kaiser, der hatte wenig frohe Tage. Sein Reich war groß, er selbst war dick, und das Kopfweh plagte ihn, seit er auf dem Thron saß. Darum nahm er sich einen Kanzler, der war dünn wie eine Stange, und ihn plagte kein Kopfweh, so daß er besser denken konn te als sein Herr. Doch der Kanzler betrog den Kaiser. Er verführte sei ne Gemahlin und verbündete sich mit seinen Gegnern, und schließ lich brachte er das Volk dazu, daß man den dicken Kaiser absetzte und davonjagte. 297
Im Schwabenland fand der betrogene Kaiser Zuflucht, doch auch das war dem falschen Kanzler noch zu gut – er sandte Mörder nach ihm aus … und als sie den Kaiser nicht fanden, zogen sie wieder heim. Und als der dicke Meginhart zu Neidingen starb, legte man ihn auf die Bah re und verkündete, der Kaiser sei tot, und trug ihn feierlich zu Grabe … Wer das erlebt hat, der tut am besten, wenn er stirbt. Die Hunnen kommen – vielleicht erfüllt sich auch sein Schick sal …« »Herr, wie wunderbar sind deine Wege!« rief Ekkehard ehrerbietig, kniete nieder und wollte die Hand des Greises küssen. »Das alles gilt nicht mehr!« Der Alte wehrte ab. Er griff wieder nach seinem Becher. »Welchen Bescheid soll ich meiner Herrin bringen?« fragte Ecke hard. »Wegen der Hunnen? Sagt Eurer Herzogin, sie soll in den Wald ge hen und sehen, wie's der Igel macht, wenn einer ihm zu nahe kommt: Er rollt sich zusammen wie eine Kugel, und wer nach ihm greift, der sticht sich. Macht's ebenso. Das Schwabenland hat Lanzen genug; auch euch Mönchen könnt's nicht schaden, wenn ihr nach den Spießen greift! – Und wenn vom Frieden die Rede ist, so sagt, der Alte in der Heidenhöhle hätte einmal einen schlechten Frieden geschlossen, und er täte es nicht wieder. Doch er wird selbst sein Pferd satteln, wenn zur Schlacht geblasen wird – lest eine Messe für ihn, wenn Ihr seinen letz ten Ritt überlebt!«
XI
Vom Turm wehte die Kriegsfahne. Der Hohentwiel sollte der Sammel platz für die Truppen sein. Boten ritten durch den Hegau, in allen Tä lern und auch in den entferntesten Meierhöfen erklang das Heerhorn, die Männer aufzubieten. Nur die Allerärmsten waren von der Kriegs 298
pflicht befreit. Allen anderen wurde befohlen, sich beim ersten Ruf be wehrt und bewaffnet auf der Burg einzufinden. Ekkehard wurde von der Herzogin nach Reichenau gesandt: alle Be wohner des Klosters sollten sich für die Zeit der Gefahr auf den Ho hentwiel begeben. In Reichenau war schon alles in Bewegung. Die Brüder ergingen sich im Klostergarten, aber keiner erfreute sich des milden Frühlingstages. Aufgeregt redeten sie durcheinander. »Heiliger Pirminius!« klagte der Bruder Gärtner. »Wer soll den Gemüsegarten bestellen, wenn wir fort müssen?« »Und wer soll nach den Hühnern sehen?« »Man sollte den Hunnen einen Brief hinterlassen. Sie werden doch keine solchen Unmenschen sein.« Nur Simon Bardo, der ehemalige Befehlshaber der Leibgarde des griechischen Kaisers, lächelte über den einfältigen Eifer seiner Klo sterbrüder. Ekkehard fragte nach dem Abt. Ein Bruder führte ihn in die Rüst kammer auf dem Speicher. Abt Wazmann hatte die jahrelang nicht ge brauchten Rüstungen und Waffen von den Wänden nehmen lassen. Er selbst hatte einen Ringpanzer angelegt. »Tretet näher!« rief er Ekke hard entgegen. »Andere Zeiten – anderer Empfang.« Ekkehard bestellte unverzüglich seinen Auftrag. Abt Wazmann wurde ernst. »Wenn Ihr nicht gekommen wärt, dann hätte ich selbst darum bei der Herzogin angefragt.« Er ergriff ein lan ges Schwert und schwang es so heftig durch die Luft, daß Ekkehard er schrocken zurückwich. Der Abt stieg mit ihm in den Hof hinunter und verkündete den Brü dern das Gebot der Herzogin. Jetzt wurde auch den sorglosesten unter ihnen bewußt, daß Gefahr im Anzug war. Trotzdem erschien ihnen der bevorstehende Kriegszug als willkommene Abwechslung. Rudimann, der Kellermeister, stand, nachdenkliche Falten auf der Stirn, an einen Apfelbaum gelehnt. Ekkehard trat auf ihn zu und woll te ihn umarmen, zum Zeichen, daß in der Zeit der Not ihr Zwist nicht mehr gelten solle. Rudimann aber wehrte ab. 299
»Ich weiß, was Ihr wollt«, rief er. »Solange die Hunnen in unserem Land weilen, soll unsere Feindschaft ruhen. Überleben wir den bevor stehenden Kampf, dann wollen wir sie neuerlich aufnehmen!« Er wandte sich trotzig ab. Eilig wurde die Flucht vorbereitet. In der Schatzkammer wurden die Kostbarkeiten und Heiligtümer verpackt und in schweren Truhen auf die bereitstehenden Schiffe verladen. In der Rüstkammer wurden die Waffen verteilt. Der Vorrat reichte nicht aus, alle Brüder kriegsgerecht auszurüsten. Noch bevor der Abend einbrach, versammelten sich alle, zum Aus zug bereit, im Hofe: Die meisten waren in Harnisch und Waffen. An dere, eine Litanei betend, trugen den Sarg des heiligen Markus. So stie gen sie hinunter zum Ufer, gefolgt von Abt Wazmann, Ekkehard und den Klosterschülern. Zwei Lädinen – größere Ruderschiffe mit Segelmasten – nahmen sie auf. In kleinen Kähnen hatten sich die dienenden Leute des Klosters mit Hab und Gut eingeschifft. Kerhildis und die übrigen Mägde waren schon vorausgefahren. Langsam bewegten sich die schwerbeladenen Schiffe über den See, der erst vor kurzem aufgetaut war. Geduckt behüteten die Mönche den Sarg des heiligen Markus. Abt Wazmann aber stand hoch aufge richtet am Bug und achtete nicht auf die Wellen, die ins Boot schlu gen. Spät am selben Abend kamen die Reichenauer auf dem Hohentwiel an. Der Sarg ihres Heiligen fand seinen Platz in der Burgkapelle. Sechs Brüder wurden zu Wache und Gebet bestimmt. Die anderen begaben sich bald zur Ruhe. In den nächsten Tagen verwandelte sich der Burghof in ein Heerla ger. Mehrere hundert Männer waren schon aufgeboten worden, zu de nen noch die neunzig aus Reichenau kamen. Schon vor Sonnenaufgang ertönte das Hämmern der Schmiede. Auf einem riesigen Stein, der neben dem Brunnen aufgestellt worden war, wurden die rostigen Klingen geschliffen. Unter der Linde saß der Korbmacher von Weiterdingen mit seinen Buben: Mit einem starken 300
Geflecht aus Weidenzweigen wurden lange, zu Schilden zurechtge schnittene Bretter bespannt und darüber gegerbte Felle genagelt. An dere gossen Blei in Formen zu spitzen Wurfgeschossen für die Schleu der. Über einem Feuer wurden Knüppel und Keulen gehärtet. Simon Bardo überwachte die Übungen der im Gebrauch der Waf fen noch unerfahrenen Männer. Das Pflaster des Burghofes hallte vom schweren Schritt der Mönche wider, die im geschlossenen Speerangriff unterwiesen wurden. Wieder an anderer Stelle übten die Pfeilschützen. Als Zielscheibe diente ein Strohmann, dem die Männer in ihrem Übermut eine Kro ne aus Eulenfedern aufs Haupt gesetzt und eine sechsendige Peitsche in die Hand gedrückt hatten.
Nach wenigen Tagen schon war die Mannschaft so geschult, daß Si mon Bardo sie der Herzogin zur Musterung vorführen konnte. Es war auch an der Zeit. In der vorangegangenen Nacht waren die Burgbe wohner durch hellen Feuerschein am Horizont aufgeschreckt worden. Manche meinten sogar, den Brandgeruch gespürt zu haben. Die Herzogin, hoch zu Roß, begleitet von einigen Edelleuten aus der Umgebung, hatte sich auf die Wiese am Südabhang des Burgberges be geben. Auch Abt Wazmann hatte sich auf seinem Zelter eingefunden und Herr Spazzo, der Kämmerer, der sich bemühte, es ihm in Haltung und Gebärden gleichzutun. Jetzt öffnete sich das äußere Burgtor vor den hervordrängenden Scharen. Zuerst kamen die Bogen- und Armbrustschützen, hinter ih nen die Hornisten, darunter Audifax als Sackpfeifer. Auf ein Zeichen lösten sich die Reihen. Sie schwärmten aus und bezogen ihre Stellun gen – hinter Büschen und Hecken. Dann kam die Kohorte der Mön che, in Helm und Harnisch, darüber die Kutten, den Schild auf dem Rücken und den Speer wurfbereit in der Hand. In drei Haufen folgten die Dienstmannen und die aufgebotenen Heerbannleute. Sie trugen seltsame Rüstungen. Manche der Waf 301
fen mochten schon in den Feldzügen Kaiser Karls des Großen ge braucht worden sein. Einige trugen nur riesige Knüppel und sonst nichts. »Ich glaube, es gibt gleich Arbeit«, rief plötzlich der Kämmerer Spaz zo. Er deutete ins Tal hinunter: Tatsächlich bewegte sich dort in langen Reihen eine Schar in die Richtung der Burg. »Das sind keine Hunnen«, entschied Simon Bardo. »Sie kommen un beritten.« Er befahl den Bogenschützen, für jeden Fall den Abhang des Berges zu besetzen. Doch als der fremde Zug näher kam, erkannten sie, daß die Männer das Ordensgewand des heiligen Benedikt trugen. Zwischen den Lan zen wurde die Standarte mit dem goldenen Kreuz sichtbar. »Meine Brüder!« rief Ekkehard außer sich vor Freude und eilte mit den anderen den Ankömmlingen entgegen. »Gott zum Gruße, erlauchte Frau Base!« Abt Cralo verneigte sich vor der Herzogin. »Wer hätte vor einem halben Jahr gedacht, daß ich mit dem ganzen Kloster Euren Besuch so bald erwidern würde?« Hadwig reichte ihm herzlich die Hand: »Seid willkommen!« Verstärkt durch die Sankt Gallener zogen die Hohentwieler in die Burg zurück. Sogleich begann man mit der Unterbringung der Gäste. Der Raum war knapp geworden. In einer Halle des Hauptturmes wur de mit aufgeschüttetem Stroh ein notdürftiges Lager bereitet. Küche und Keller gaben, was sie zu bieten hatten. Unten saßen die Mönche und Kriegsleute bei ihrer Mahlzeit. Die beiden Äbte und die Edelleute hatten sich im Saale der Herzogin ein gefunden. Abt Cralo erzählte, daß die Hunnen nach Sankt Gallen gekommen waren und daß sie selbst auf der Flucht hatten zusehen müssen, wie das Kloster in Flammen aufgegangen war. »Wir sind heimatlos und flüchtig«, sagte er. »Wir bringen Euch nichts, außer der Kunde, daß die Hunnen uns auf den Fersen folgen.« »Je eher sie kommen, desto besser!« Der Reichenauer Abt hob sei nen Becher. 302
Hadwig stieß mit ihm an: »Sieg den Waffen der tapferen Streiter Got tes.«
XII
Auf der Insel Reichenau war es einsam und leer, seit die Bewohner des Klosters fortgezogen waren. Bruder Heribald, der nicht ganz richtig im Kopf war, war allein zurückgeblieben. Er hatte sich geweigert, mit den anderen zu gehen. Er gefiel sich in seiner Einsamkeit. Stundenlang saß er am Seeufer und warf flache Kieselsteine über die Wellen. Aber pflichtbewußt ver richtete er Gebet, Andacht und Psalmensingen und hielt die Zeiten ängstlich ein, als könne er wegen einer Versäumnis bestraft werden. In Friedenszeiten war es Heribalds Aufgabe, das Holz zu spalten, da er sonst nichts konnte. Jetzt aber ging er stolz an den aufgeschichteten Scheiten vorüber. »Komm doch herunter, Vater Rudimann!« rief er zu einem der Klo sterfenster hinauf. »Halte den Heribald zum Holzhauen an!« Doch es kam keine Antwort. Er zog eines der untersten Scheite her aus, so daß der ganze Stoß zusammenfiel. »Heribald macht Feiertag heut'!« rief er in den Lärm und wandte sich zum Klostergarten. Vom Ufer des Sees sah er im aufwirbelnden Staub eine Schar Reiter heranrücken. »Seid Ihr schon da?« Erschrocken schlug er ein Kreuz und murmelte ein hastiges Gebet. Aber rasch beruhigte er sich wieder und setzte sich gelassen auf einen gefällten Eichenstamm. Mit lärmenden Rufen zogen die Hunnen ins Kloster ein. »Erbarm' dich unser, o Herr!« stieß Heribald hervor, als er ihrer an sichtig wurde. Tief über den Sattel gebeugt, saßen die Reiter, hagere, dürre, kleine 303
Gestalten, bekleidet mit Tierfellen. Ihre Schädel waren viereckig, das Haar hing ihnen steif und struppig in die gelbhäutigen Gesichter. Er staunt hielten sie vor dem Mönch an. Als sie die kahlgeschorene Stel le seines Kopfes bemerkten, stimmten sie ein grinsendes Gelächter an. Einer griff sogar nach Bogen und Pfeil und legte auf Heribald an. »Die Krone meines Hauptes soll kein Heidenhund lästern«, rief der Mönch aufgebracht. Er sprang auf, fiel dem Angreifer in die Zügel und riß ihm den krummen Säbel von der Seite. Aber schon warf ihm ein anderer eine starke Schlinge über den Kopf, so daß er niederfiel. Alle stürzten sich auf ihn. Sie banden ihm die Hände auf den Rücken. Im nächsten Augenblick ließen sie von ihm ab. Lautes Getöse kün digte die Ankunft des hunnischen Trosses an. Zu Hunderten stürmten sie daher, tief in den Sattel geduckt. Ihnen voran wehte die Fahne – eine grüne Katze im roten Feld. Dahinter kamen die Heerführer Ellak und Hornebog. Über die Rücken ihrer Pferde hingen prächtige Decken, auch Meßgewänder. Die übrige Kriegsbeute wurde in etlichen Wagen mit geführt. Auf einem von Maultieren gezogenen Karren, zwischen Feldkesseln und anderem Küchengerät, saß ein altes, runzeliges Weib – die Waldfrau. Nachdem Ekkehard sie vertrieben hatte, war sie, von Rache erfüllt, den Hunnen entgegengewandert und hatte sich zu ihnen gesellt. Neben ihr, auf einem stattlichen Rappen, ritt ein junges Mädchen, Erika. Die Fülle ihres geflochtenen Haares, das mit einem roten Band zusammengehalten wurde, umrahmte ihr Gesicht, aus dem schwarze Augen funkelten, darunter ein stumpfes Näschen über den vollen Lip pen. Ihr Rock war kurz geschürzt, über dem losen Mieder trug sie Bo gen und Köcher. Die Hunnen hatten sie als Kind in den pannonischen Steppen aufgelesen und mitgenommen. Sie liebte den, der ihr gerade gefiel, und mancher der hunnischen Hauptleute hatte ihretwegen sein Leben lassen müssen. Doch sie gehörte zu ihnen und wurde von allen verehrt, als wäre sie der gute Geist des Heeres. Einer vom Vortrab berichtete dem Heerführer Ellak von dem wi derspenstigen Mönch. Ellak bedeutete ihnen, ihn vorzuführen. Sie lö sten Heribald den Strick und trieben ihn mit Faustschlägen vor ihren Häuptling. 304
Ein spöttischer Zug flog über Ellaks Gesicht. Seine Hautfarbe war blasser als die der übrigen, er hatte eine kühngeschnittene Nase, und sein Blick war scharf und klug. »Schau doch, wie ein Vertreter deutscher Kunst und Wissenschaft aussieht!« rief er zu Erika hinüber. Er wandte sich Heribald zu: »Wo sind die übrigen Bewohner der Insel?« fragte er in gebrochenem Deutsch. Heribald deutete in die Richtung des Hegaus. »Bewaffnet?« »Die Diener Gottes sind stets bewaffnet!« Die Hunnen brachen in wieherndes Gelächter aus. »Ihr braucht nicht zu lachen!« rief Heribald zornig. »Ich weiß, wer Ihr seid, Abt Wazmann hat es uns gesagt.« »Ich werde dich totschlagen lassen«, erwiderte Ellak gleichgültig. »Das wird mir recht geschehen – warum bin ich auch nicht mit den anderen fortgezogen!« Ellak sah den Mönch eine Weile nachdenklich an. »Bringt die Fah ne«, befahl er dem Bannerträger, und »knie nieder!« sagte er zu Heri bald. »Du sollst den Gott der Hunnen anbeten!« »Ich kenne ihn nicht«, gab Heribald störrisch zurück. »Auf die Knie, Kuttenträger! Oder …« Heribald lachte einfältig und fuhr sich mit dem Zeigefinger an die Stirn: »Ich glaub' Euch nicht! Gott, der Himmel und Erde erschuf, hat gesagt: ›Es werde Licht.‹ Wenn Gott eine Katze wäre, dann hätte er nicht gesagt: ›Es werde Licht!‹« Ein hunnischer Reiter trat auf ihn zu. »An deiner Stelle würde ich niederknien«, flüsterte er Heribald in gutem Schwäbisch ins Ohr. Er war auch tatsächlich aus Schwaben gebürtig, war aber nach einem Streit mit einem Landsmann zu den Hunnen gegangen und dort ge blieben. Heribald hörte nicht auf ihn. Die Waldfrau, die von ihrem Karren gestiegen war, mischte sich ein: »Ich hab' nach den Sternen geschaut. Von kahlgeschorenen Männern droht uns Unheil.« Grinsend blickte sie den Mönch an: »Laßt ihn auf hängen an der Klosterpforte!« riet sie Ellka. 305
»Knüpft ihn auf!« riefen die Hunnen im Chor. Heribalds Leben hing an einem schwachen Faden. Sein Mut begann zu schwinden. Hilfesuchend blickte er sich um. Dann eilte er mit aus gestreckten Armen auf Erika zu, warf sich vor ihr auf die Knie und flehte sie um Schutz an. »Seht nur!« rief Erika. »Der Mann ist gar nicht so töricht, wie er aus sieht. Er kniet lieber vor Erika als vor der grünen Katze.« Sie sprang vom Pferd und streichelte Heribald. »Fürchte dich nicht, alter Schwarz rock! Du sollst am Leben bleiben.« »Heil Erika!« schrien die Hunnen und klirrten mit ihren Waffen. Auch Heribald rief ein heiseres »Heil!« Tränen standen in seinen Au gen. Die Hunnen sattelten ab. »Zeig uns die Schatzkammer!« befahlen sie Heribald. Der gehorchte willig. Er wußte ja, daß das Kostbarste fortgetragen worden war. Nur versilberte Leuchter und ein riesiger, smaragdfarbe ner Stein aus Glas waren noch zurückgeblieben. »Schlechtes Kloster!« rief einer der Hunnen und trat auf den unech ten Stein, daß er zerklirrte. »Bettelvolk!« »Wo ist euer Keller?« fragte Snewelin, der Hunne aus dem Schwa benland. Heribald führte ihn. Vergnügt sah er auf die frischaufgeführten Wände, die den Haupteingang versperrten, und wies auf die davorste henden wenigen Fässer. Snewelin schöpfte seinen Krug voll Wein. Er nahm einen langen, tie fen Zug. »O Heidenheim!« Er schüttelte sich. »Wegen dieses Getränks hätte ich nicht unter die Hunnen zu gehen brauchen!« Vergeblich hatten die Hunnen alles durchsucht, auch die Kirche hat ten sie geplündert, doch ohne besonderen Erfolg. Zwei waren sogar auf den Kirchturm gestiegen, wo der vergoldete Wetterhahn sie lockte. Ver wegen saßen sie auf dem Dach und stachen mit ihren Lanzen nach dem Hahn. Plötzlich wurden sie vom Schwindel erfaßt und stürzten herab. Ein Aufschrei ging durch die Reihen der Hunnen. Doch bald beruhigten 306
sie sich wieder, trugen die Leichen in den Klostergarten und begannen, einen Scheiterhaufen für die Verbrennung aufzuschichten. Der Holz stoß, den Heribald am Morgen umgeworfen hatte, wurde mit den noch übriggebliebenen Büchern aus der Klosterbücherei aufgefüllt. Zwischen den Scheiten schauten die mit Gold verzierten Handschriften hervor. Hornebog spießte eines der Pergamente mit seinem krummen Schwert auf und hielt es Ellak vor die Augen: »Was bedeuten die Ha ken und Krähenfüße?« Ellak, der auch ein wenig Latein verstand, betrachtete die Schrift auf merksam. »Abendländische Weisheit«, erwiderte er verächtlich. »Einer namens Boethius hat es geschrieben. Es stehen schöne Sachen darin vom Trost der Philosophie.« Er warf die Schrift auf den Haufen zurück. »Es ist ein Glück, daß solches Zeug angefertigt wird«, fuhr er fort; »denn die Hand, die die Rohrfeder führt, versteht es nicht, mit dem Schwert um zugehen. Solang sie im Abendland Bücher schreiben, können wir un sere Zeltlager ruhig vorwärts rücken.« Erika hatte eine Altardecke aus roter Seide wie einen Mantel über die Schultern geworfen. Tänzelnd kam sie auf die Männer zu. »Wie gefal le ich euch?« fragte sie selbstgefällig. »Du brauchst nicht den Schmuck schwäbischer Götzendiener, um zu gefallen«, brummte Ellak. Erika streichelte ihm beschwichtigend über das straffe schwarze Haar: »Kommt, das Mahl ist gerichtet!« Die Hunnen hatten den Heuvorrat des Klosters im Hof aufgestreut und sich darauf niedergelassen. »Leg dich nieder, Schwarzrock!« rief Erika Heribald zu, der mißbil ligend auf die ungebetenen Gäste niederschaute. »Du darfst auch mit essen.« Heribald versuchte, sich auf verschränkten Beinen niederzusetzen, doch es schien ihm unwürdig. Er stand wieder auf, holte sich einen Sessel aus dem Kloster und setzte sich zu den anderen. Ein Ochse wurde am Spieß gebraten. Hungrig fielen die Hunnen über das noch halbrohe Fleisch her. Mit ihren kurzen Säbeln schnitten 307
sie sich riesige Stücke ab und verzehrten sie ohne Besteck. Ein großes Faß mit saurem Wein aus dem Klosterkeller stand in der Mitte des Ho fes. Jeder schöpfte daraus, soviel er wollte, mit Meßkelchen und wert vollen Gefäßen, die sie bei ihren Plünderungen erbeutet hatten. Die abgenagten Knochen wurden einfach fortgeworfen, manchmal dem Nebenmann an den Kopf. Nach dem Essen stimmten die Hunnen einen schauerlichen Gesang an – ein Lied zu Ehren ihres toten Königs Etzel, in dem nicht nur seine kriegerischen Leistungen, sondern auch seine Erfolge bei Frauen geprie sen wurden. Auch Heribald wurde aufgefordert, ein Lied zum besten zu geben. Mit ernster, fast weinerlicher Stimme begann er eine Strophe zu Ehren des heiligen Kreuzes. Staunend hörten die Hunnen ihm zu. Unbemerkt schlich sich die Waldfrau an Heribald heran und wollte ihm mit einem Messer das Haar über der Tonsur abschneiden. Er stieß sie heftig zurück und sang unverdrossen weiter. Das gefiel den Hunnen. Sie jauchzten ihm zu, Musik klang auf, und bald drehten sich alle im Tanz – einschließlich Heribald, den Erika wie einen täppischen Bären im wirbelnden Kreise drehte. Als der Wein ausgetrunken war, stiegen die Hunnen auf ihre Pferde und ritten hinüber in den Klostergarten. Der Älteste unter ihnen tö tete die Rosse der verunglückten Kameraden, sagte einen unheimli chen Weihespruch vor sich hin und setzte den Scheiterhaufen mit sei ner Fackel in Brand. Mit Ringkämpfen, Waffenspielen und Wettren nen wurde die Bestattungsfeierlichkeit beendet. Moengal, der Priester von Radolfszell, bemerkte die Rauchsäule, die vom Totenbrand der Hunnen über der Insel Reichenau emporstieg. »Es ist Zeit!« Entschlossen verpackte er den Meßkelch und das Ziborium, warf, was an Essen noch vorrätig war, seinen Jagdhunden vor, schlug das Weinfaß im Keller entzwei und streute Asche über die Butter im Holz faß. Sorgfältig vergrub er seine Angelhaken und das Jagdgerät. Er zer brach die Fensterscheiben und streute die spitzen Scherben auf den Fußboden der Räume seines Hauses. Er warf seine Tasche um, schnallte sich eine handfeste Keule auf den 308
Rücken, nahm einen Speer in die Hand und verließ seinen langjähri gen Pfarrsitz – in Richtung des Hohentwiel.
XIII
In der Nacht nach Moengals Ankunft auf Hohentwiel wurde ein eili ger Kriegsrat abgehalten. Man beschloß, den Hunnen entgegenzuzie hen und sie zum offenen Kampf herauszufordern. Ekkehard ging nachdenklich in seiner Turmstube auf und ab. Ihm war das ehrenvolle Amt übertragen worden, den Kriegern eine ermu tigende Predigt zu halten, bevor sie auszogen. Die Türe öffnete sich. Die Herzogin trat ein, begleitet von der Grie chin Praxedis. Hadwig trug einen weiten, faltigen Mantel über ihrem Morgengewand. Sie errötete leicht, als sie ihrem jungen Lehrer gegenüberstand. »Zieht Ihr heute mit in den Kampf?« fragte sie. – »Ich ziehe mit.« »Und ans Abschiednehmen denkt Ihr nicht?« Leiser Vorwurf klang aus ihrer Stimme. Ekkehard senkte verlegen den Kopf. »Es ziehen bessere und edlere Leute fort, die Äbte werden um Euch sein … wie konnte ich an einen besonderen Abschied denken …« Er verstummte. Die Herzogin sah ihn forschend an. Nach einer Weile sagte sie: »Ich bringe Euch etwas, das Euch im Kampf dienlich sein soll.« Sie zog aus dem Mantel ein kostbares Schwert mit reichen Verzierungen. Am Griff glänzte ein milchigweißer Achat: »Es ist die Waffe Burkhards, meines verstorbenen Gemahls. Er hat sie in Ehren gehalten. Ihr sollt ihr Ehre machen.« Verwirrt nahm Ekkehard das Geschenk entgegen. »Und noch etwas«, fuhr Hadwig fort. An ihrem Hals trug sie ein Sei denband, an dem ein goldgefaßter Kristall hing, der einen unschein baren Splitter umschloß. Sie nahm es ab. »Wenn mein Gebet nicht aus 309
reicht, so möge Euch diese Reliquie beschützen. Es ist ein Splitter vom heiligen Kreuz.« Ekkehard kniete vor ihr nieder. Hadwig beugte sich über ihn, um ihm das Band zu befestigen. Fast unmerklich streifte ihre Hand sein Haar. Ein milder wehmütiger Zug überflog ihr Gesicht. Ekkehards Gedanken verwirrten sich, seine Pulse flogen. Die Ehr furcht vor seiner Gebieterin hatte bisher jede Regung von Liebe, die er nicht kannte, zurückgedrängt. Jetzt dachte er nicht mehr daran und auch nicht an sein Mönchsgelübde. Er dachte nur, daß er Hadwig um armen wollte, und daran, wie er sie einst über die Klosterschwelle ge tragen hatte … Er erhob sich, groß, stark, frei, wie Hadwig ihn noch nie gesehen hat te. Aber es währte nur einen Augenblick – sein Blick fiel auf das Holzkreuz, das der verstorbene Kaplan Vincentius in der Turmstube ange bracht hatte. Schüchtern und zaghaft ergriff er die Hand der Herzogin. »Wie soll ich Euch danken, hohe Herrin?« sagte er leise. Hadwig sah ihn durchdringend an. Der weiche Ausdruck war aus ihrem Gesicht gewichen. Sie zog ihre Hand zurück: »Seid fromm und tapfer!« sagte sie kurz, fast spöttisch und verließ den Raum. Ekkehard betrat die Stufen des Altars, der unter der Linde im Burg hof errichtet worden war. Dichtgedrängt standen die versammelten Männer. Wie dumpfes Gewitterrollen hallte der Gesang der Mönche von den Steinmauern wider. Abt Wazmann zelebrierte das Hochamt. Es war Karfreitagmorgen. Ekkehard las das Evangelium vom Leiden und vom Tod des Erlösers mit klarer, heller Stimme. Als er geendet hatte, küßte er das Buch und reichte es dem Diakon, der es auf ein seidenes Kissen zurücklegte. Ek kehard begann die Predigt: »Beinahe tausend Jahre sind vergangen, seit der Sohn Gottes sein Le ben für uns hingab. Aber wir haben in unseren Herzen der Erlösung keine Stätte bereitet und sind in Sünden gewandelt. Darum gehen wir jetzt einer Zeit der Trübsal entgegen. Heidnische Ungeheuer sind in unser christliches Land eingefallen …« 310
Er schloß mit den Worten: »Darum zieht tapfer aus gegen die Völ ker, die unser Heiligtum austilgen wollen, denn es ist besser, im Kampf umzukommen, als den Frevel zu erdulden – Amen.« »Amen«, antwortete es im Chor. Einen Augenblick blieb es still. »Sie kommen! Zu den Waffen!« schrie der Türmer in den Hof. Klirrend schlugen die Schwerter auf die Schilde, die Krieger hoben die Speere und schwenkten die Fahnen. Sie stürmten durch das Tor den steilen Bergweg hinunter. In der Talebene zu Füßen der Burg ord nete Simon Bardo die Reihen. Er trug eine fremdartig geformte, spitze Stahlkappe über dem schweren Panzer, um den sich ein breiter edel steingeschmückter Gürtel schloß. Die Bogenschützen und Schleuderer zogen voraus und besetzten den Waldsaum, wo sie das Dickicht gegen den Reiterangriff schützte. »Zielt niedrig!« befahl Simon Bardo. »Wenn ihr auch nur das Roß und nicht den Mann trefft.« Die Männer des Heerbanns nahmen in zwei geschlossenen Gruppen hintereinander Aufstellung. Die Nachhut bildeten die Mönche. »Warum das?« fragte der Abt Wazmann, der sich ärgerte, daß ihnen nicht die Ehre des vordersten Angriffs zukam. Simon Bardo lächelte überlegen: »Die Heerbannleute streiten für ihre Frauen und Höfe. das macht ihre Hiebe schärfer. Aber habt keine Sor ge«, beruhigte er den Abt, »auch die Mannschaft des heiligen Benedikt wird ihr Teil abbekommen!«
Die Hunnen hatten alle Vorräte des Klosters Reichenau aufgebraucht, die wenigen Weinfässer geleert, die Kirche geplündert. Bei Tagesgrau en brachen sie auf. Durch den dunklen Tannenwald ritten sie dem Ho hentwiel entgegen. Hier und da kreuzte ein Reiter ihren Weg, vereinzelte Pfeile und Schleuderkugeln, von unsichtbaren Feinden gezielt, schreckten sie aus ihrer Sorglosigkeit auf. 311
»Was kümmert euch ein Mückenstich?« rief Ellak und gab seinem Pferd die Sporen. »Vorwärts!« Ein Dutzend Reiter blieb beim Troß zurück. Die andern stürmten auf ihren Rossen aus dem Wald in die Talebene, gegen die anrücken den Schwaben. Ellak richtete sich im Sattel hoch auf und gab den er sten Pfeilschuß ab, der die Schlacht eröffnete. Unerschütterlich hielten die Heerbannleute Simon Bardos stand. Aber es nützte ihnen wenig. Kaum prallte der Angriff der Reiter ab, so schwirrte der 'Pfeilregen aus den hinteren Reihen auf sie nieder. Bei nahe im Bügel stehend, zielten die Hunnen, während ihre Pferde nach vorne drängten. Andere schwärmten von der Seite heran. Ein Hornstoß versammelte die Leichtbewaffneten, die den Hunnen in den Rücken fallen sollten. Sie rückten vor, aber im nächsten Augen blick waren die feindlichen Rosse gewendet, und ein neuerlicher Ha gel von Pfeilen prasselte auf die Angreifer nieder. Sie stutzten und hiel ten an. Nur Audifax mit seiner Sackpfeife achtete nicht auf die Pfeile, die um ihn schwirrten. Er schritt unbekümmert weiter, mitten ins Ge wühl der feindlichen Reiter. Im Vorübersprengen warf ihm ein Hunne eine Schlinge um den Hals und riß ihn zu sich aufs Pferd. Der Kampf ging weiter. Bedenklich schaute Simon Bardo über sei ne langsam ermüdenden Reihen. Was nützte der schönste Schlacht plan, wenn sich der Gegner nicht an die Ordnung hielt! Er ritt zu den Mönchen und teilte sie wieder in zwei Haufen. Die Sankt Gallener zur Rechten der Heerbannleute, die Reichenauer zur Linken, so sollten sie vorrücken und die Feinde von hinten umzingeln und ihnen den Rück zug abschneiden. Bald standen sie im Handgemenge. »Hui! Hui!« ertönten die Schreie der Hunnen gegen den frommen Schlachtgesang der Mönche. Auch Ellak hatte seine Reiter geteilt. Mit gespornten Rossen durchbrachen sie die schwachen Truppen der Klosterbrüder. Es rang die Kraft ge gen die Schnelligkeit, germanische Schwerfälligkeit gegen hunnische List. Moengal, der alte Priester, hatte seine Kapuze über den Kopf gezo gen. Er faßte seine grobe Keule fester und stand im Gewühl wie ein 312
Drescher auf der Tenne, rechts und links seine kräftigen Hiebe austei lend. Dem Kämmerer Spazzo, der eine Gruppe der Hegauer anführte, wurde der Kampf bald zuviel. Doch als ihm ein Hunne im Vorbeirei ten den Helm vom Kopf riß, packte ihn neuerliche Wut. Er schwang sein Schwert und traf den Feind in den Schenkel. Aber als er ihm den Todesstoß versetzen wollte, fiel sein Blick auf das häßliche Gesicht des Hunnen, und er beschloß, ihn der Herzogin als Erinnerung an die Schlacht mitzubringen. Der Verwundete beugte seinen Hals un ter Spazzos Arm, als Zeichen der Unterwerfung und grinste über sein ganzes, häßliches Gesicht, weil man ihm das Leben geschenkt hatte. Erbittert feuerte Ekkehard das stark verringerte Häuflein der Sankt Gallener zu neuem Kampf an. Er hielt das Schwert Burkhards fest in der Rechten und wollte es gerade gegen Ellak, den hunnischen Heer führer erheben. Da ging ein Schrei des Staunens durch die Reihen. »Der Erzengel Michael!« riefen die Christen. Über den Abhang sprengte ein Reiter auf sie zu. Er war riesig von Gestalt. Spärliches, wei ßes Haar umrahmte sein altes, runzeliges Gesicht. Seine Rüstung war altmodisch, um seinen Helm schlang sich ein goldener Reif, in dem ein roter Federbusch steckte. Ellak wandte sein Pferd und stellte sich dem Fremden entgegen. Un ter dem ersten Hieb brach das Pferd des Hunnenhäuptlings zusam men. Im nächsten Augenblick stand er aufrecht vor dem Alten. Wäh rend er sein kurzes Schwert zog, traf ihn die Keule seines Gegners. El lak führte den Stoß noch aus, dann sank er blutüberströmt zusam men. Der Tod ihres Heerführers löste wilde Panik unter den Hunnen aus. Sie drangen noch einmal in verzweifeltem Angriff vor, dann wandten sie sich nach rückwärts und flohen, so schnell sie ihre Rosse trugen. »Zum Rhein!« rief Hornebog den Flüchtenden zu.
313
Der Alte aus der Heidenhöhle, den sie für den Erzengel Michael gehal ten hatten, überlebte den Sieg seiner Landsleute nicht. Sie hoben ihn tot vom Roß. Ein frohes Lächeln lag auf seinen Zügen – nun war er von seinem Kopfweh endgültig befreit.
XIV
Zwölf Mönche wurden dazu bestimmt, auf dem Schlachtfeld die Wa che zu halten, alle anderen zogen in die Burg zurück. Simon Bardo war nicht damit einverstanden. »Der Sieg ist nur halb, wenn wir ihn nicht nützen. Wir müssen den Fliehenden nach.« Aber er stieß auf hartnäckigen Widerstand. »Bis wir die Hunnen mit ihren schnellen Rossen einholen, können wir weit ziehen«, sagte ein Reichenauer. »Wir haben sie geschlagen. Wenn sie wiederkommen, sind neue Hie be vorrätig«, mischte sich ein anderer ein. Es wurde beschlossen, die gefallenen Krieger noch vor dem Osterfest zu begraben. Zwei riesige Gräber wurden geschaufelt. Das eine auf der Stelle einer stillgelegten Kiesgrube für die Hunnen, das andere auf der gegenüberliegenden Talseite für die Schwaben. Die toten Mönche soll ten in der Klosterkirche von Reichenau bestattet werden. Nach der feierlichen Beisetzung nahmen die Reichenauer und die Sankt Gallener Abschied von Hohentwiel. Es war ein trauriger Zug. Neben den Bahren der Gefallenen gingen die Brüder mit brennenden Kerzen, Litaneien betend oder singend. Als sie im Wald verschwunden waren, ritt die Herzogin, begleitet von Ekkehard und Spazzo, langsam über das Schlachtfeld in die Burg zurück. Auch die Heerbannleute wa ren wieder nach Hause gezogen und in der Burg war es leer geworden. Nur der Graf von Randegg war mit seinen Leuten zum Schutz auf Ho hentwiel zurückgeblieben. Mit großen Worten und vielen Übertreibungen schilderte Spazzo 314
der Herzogin noch einmal den Hergang der Schlacht. Wortlos hörte sie ihm zu. Mit Ekkehard sprach sie nicht.
Am Abend des Ostersonntags saß Hadwig im großen Saal der Burg mit Ekkehard, Praxedis, dem Kämmerer Spazzo und dem Grafen von Randegg beisammen. Die Gespräche waren ernst und bedrückt. Der Abt von Reichenau hatte einen Boten geschickt. Der Mann berichte te, daß die Reichenauer ihr Kloster nur wenig zerstört gefunden hät ten und daß ihr Alitbruder Heribald sie empfangen habe, als sei gar nichts geschehen. Er habe überdies vieles zum Lob der Hunnen vor gebracht. Die Herzogin gab dem Boten das Panzerhemd und den Schild des erschlagenen Hunnenhäuptlings mit, die in der Reichenauer Kloster kirche aufbewahrt werden sollten, und entließ ihn. »Ich habe auch noch ein Beutestück abzuliefern«, sagte Spazzo, so bald der Mann sich entfernt hatte. Der Kämmerer stieg hinunter zu den unteren Kammern. Der Hun ne Cappan, den er während der Schlacht gefangengenommen hatte, schlief zufrieden auf seinem Strohsack. »Steh auf, du Sohn des Teufels!« Spazzo gab ihm einen unsanften Stoß. Der Hunne erhob sich und stützte sich auf einen Krückstock. »Vorwärts!« Spazzo führte den Hinkenden vor die Herzogin. »Schön ist Euer Beutestück nicht!« rief Praxedis. »Und vor diesen Leuten hat das deutsche Land gezittert«, sagte Hadwig. Voll Teilnahme sah sie auf den verwundeten Hunnen. Praxedis versuchte, sich auf griechisch mit ihm zu verständigen. Cappan aber schüttelte nur betrübt den Kopf. Doch als die Herzogin ihm einen Becher mit scharfem Obstbranntwein reichte, verzog sich sein häßliches Gesicht zu einem freudigen Grinsen. Er leerte den Be cher in einem Zug, kreuzte seine Arme über der Brust, fiel vor der Her zogin nieder und wollte ihre Schuhe küssen. 315
Hadwig wehrte ab und bedeutete Spazzo, seinen Gefangenen wieder abzuführen. Ekkehard hatte sich verdrossen abgewandt. Noch liegt die Erde frisch auf dem Grab der Gefallenen, und schon sind die Lebenden wieder zu Späßen aufgelegt, dachte er bei sich. »Habt Ihr uns auch ein Andenken aus der Schlacht mitgebracht, Pro fessor?« fragte Praxedis obenhin. »Ekkehard schweigt wie einer, der ein Gelübde getan hat«, sagte Hadwig mit spöttischem Unterton. »Was brauchen wir zu erfahren, wie es ihm in der Schlacht ergangen ist?« Ohne ein Wort verließ Ekkehard den Saal, kam gleich darauf mit Herzog Burkhards Schwert wieder zurück und warf es unwillig vor Hadwig auf den Tisch. »Das mag bezeugen, ob der Schulmeister müßig war«, sagte er kurz. »Ich habe meine Zunge nicht zum Herold meiner Tat ernannt.« Das Schwert trug noch die Spuren der Schlacht. Rostrote Flecken glänzten auf der Klinge, und in der Schneide waren frische Scharten zu sehen. »Ich wollte Euch nicht kränken«, sagte die Herzogin betroffen und reichte Ekkehard die Hand. Im gleichen Augenblick öffnete sich die Türe des Saals. Hadumoth, die Gänsemagd, stand schüchtern am Eingang. Tränen liefen ihr über die bleichen Wangen. »Was ist denn, du armes Kind!« rief die Herzogin. »Komm näher!« Zögernd trat Hadumoth vor Hadwig und küßte ihre Hand. Schluch zend begann sie zu sprechen: »Ich kann die Gänse nicht mehr hüten, ich muß fortgehen. Du sollst mir ein großes Goldstück geben, und wenn ich wiederkomme, will ich zeit meines Lebens dafür arbeiten.« »Warum willst du denn fort?« »Die Hunnen haben Audifax mitgenommen. Er war nicht unter den Toten auf dem Schlachtfeld. Ich muß ihn von ihnen wegholen, es läßt mir keine Ruhe.« »Wo willst du ihn denn holen?« »Das weiß ich nicht. Ich will gehen, wo sie hingeritten sind. Am Ende 316
finde ich ihn doch. Das Goldstück, das du mir schenken sollst, will ich den Hunnen geben und sie bitten, den Audifax dafür freizulassen.« Gerührt hob die Herzogin das Kind zu sich empor und küßte es auf die Stirn. »Gott ist mit dir!« sagte sie bewegt. »Er wird dir helfen.« Sie wandte sich an die anderen: »Hat einer ein Goldstück von euch?« Der Graf von Randegg holte einen großen Goldtaler aus seiner Ta sche und reichte ihn Hadumoth. Ekkehard legte segnend seine Hand auf den Kopf des Kindes. »Ich danke Euch«, sagte die Gänsemagd. Zögernd setzte sie hin zu: »Aber wenn sie mir den Audifax für das eine Goldstück nicht ge ben?« »Dann schenke ich dir ein zweites«, versprach die Herzogin.
Voll Zuversicht machte sich Hadumoth auf den Weg. Ihre einzige Sor ge galt Audifax. Sie wollte zum Rhein, in Richtung des Sonnenunter gangs, wohin die Hunnen davongezogen waren. Bald wurde ihr die Gegend fremd. Hohe Bergrücken verdeckten die Sicht auf den heimat lichen Hohentwiel. Ein neues Tal lag zu ihren Füßen, das zu beiden Seiten von hohen, dunklen Tannenwäldern eingerahmt war. Als es Abend wurde, kam Hadumoth zu einem Dorf. Die Häuser schienen verlassen, als ob die Bewohner geflüchtet wären. Nur vor ei ner Hütte saß eine alte Frau. »Kann ich heute nacht hier schlafen, Großmutter?« fragte Hadumoth zutraulich. Durch ein Zeichen gab ihr die Alte zu verstehen, daß sie bleiben könne. Noch im Morgengrauen brach Hadumoth wieder auf. Ihr Weg führ te sie durch endlose Wälder. Endlich kam sie zu einer Lichtung auf ei ner Anhöhe. In der Ferne schlängelte sich ein breiter Fluß. Das muß der Rhein sein, dachte Hadumoth. Sie unterschied die Türme und die Kirche eines Klosters auf einer Insel. Aber es schien ihr, als seien die Mauern von Brand geschwärzt. Eine blaugraue Rauchwolke stieg aus den Gebäuden auf. 317
»Wie heißt die Gegend hier?« fragte Hadumoth einen Mann, der aus dem Wald auf sie zu kam. »Schwarzwald«, erwiderte er. »Und die Insel dort?« »Rheinau. Vorgestern waren die Hunnen dort.« »Wo sind sie jetzt?« fragte Hadumoth schnell. Der Mann deutete rheinabwärts. »Warum?« »Ich will zu ihnen«, erwiderte sie bestimmt. Der Mann schüttelte den Kopf. Aber Hadumoth ging weiter. Der Weg war mühsam. Sie war hungrig geworden und so müde, daß sie sich am Rande eines Baches niedersetzte und bald erschöpft einschlief. Als sie erwachte, stand ein Fischer vor ihr. Er trug ein grobleine nes Hemd und knielange Hosen. Angelruten und Netze lagen im Gras umher. »Woher kommst du?« fragte er. »Aus dem Hegau.« »Das ist weit von hier! Und wohin willst du jetzt?« »Wo die Hunnen sind.« Hadumoth erzählte zögernd ihre Geschich te. »Du mußt mir den Weg zeigen«, sagte sie rasch und faltete bittend die Hände. Der Fischer überlegte und blickte das mutige Mädchen nachdenklich an. »Wenn es sein muß«, sagte er langsam. »Komm mit!« Rasch pack te er sein Angelgerät zusammen. Er führte sie den Bach entlang durch eine Talschlucht und wieder aufwärts zu einer Anhöhe, die zum Rhein abfiel. »Dort steht das Hunnenlager.« Er wies auf das jenseitige Ufer. »Ge stern haben sie das Laufenburger Schloß ausgebrannt. Aber weiter sol len die Mordbrenner nicht kommen!« setzte er drohend hinzu. Vorsichtig stiegen sie zum Fluß hinunter. Im Gebüsch war ein Kahn verborgen. Der Fischer machte ihn los und setzte Hadumoth über. »Weiter geh' ich nicht mit«, sagte er, als sie anlegten. »Sieh zu, daß sie deinen Buben bald herausgeben. Lieber heute als morgen.« »Ich danke dir«, erwiderte Hadumoth. »Aber warum kommst du nicht mit?« 318
»Ich komme später«, gab der Fischer zurück und stieg wieder in sei nen Kahn. Hornebog, der seit dem Tod Ellaks die Führung der Hunnen über nommen hatte, lag auf einem Lager in seinem Zelt. Erika saß daneben und spielte gelangweilt mit einem goldenen Schmuckstück, das sie an einer seidenen Schnur um den Hals trug, als ein Wächter eintrat, ge folgt vom Schwaben Snewelin und der Hirtin Hadumoth. Snewelin begann, dem Hunnenführer das Anliegen Hadumoths vor zutragen. Sie unterbrach ihn: »Sag ihm auch, daß ich ein Lösegeld zah len kann.« Hadumoth zeigte Hornebog den Goldtaler. Er lachte: »Wir sind in einem verrückten Land. Die Männer scheren sich das Haupt und die Kinder tun, was den Kriegern geziemte!« Er warf einen mißtrauischen Blick auf Hadumoth: »Vielleicht kommt sie, um zu spähen. Schafft sie fort, wir sind nicht bis zum Rhein gezogen, um mit Kindern zu spielen!« Erika nahm Hadumoth bei der Hand und führte das verschüchter te Mädchen hinaus. Als sie zu dem Platz kamen, wo die Feldküche der Hunnen errichtet war, sah Hadumoth Audifax. Er kniete neben ei nem riesigen Kupferkessel und rührte darin mit einem geschälten Ast. Als er Hadumoth erkannte, stieß er einen freudigen Schrei aus. Hinter ihm richtete sich die Waldfrau auf. »Daß Ihr den Kindern nichts zuleide tut!« rief Erika ihr zu und zog sich ins Zelt des Häuptlings zurück. Hadumoth reichte Audifax die Hand. Ihre Freude über das Wieder sehen war so groß, daß sie beide keine Worte fanden. Hadumoth faß te sich zuerst. »Gib mir von deiner Suppe«, bat sie leise. Die Waldfrau ließ es ge schehen, daß Audifax ihr eine hölzerne Schüssel aus dem Kessel füll te. Hadumoth kauerte sich neben den Gefährten und begann zu essen. Ängstlich beobachtete sie die hunnischen Soldaten, die kamen, um ihre Abendsuppe zu holen. Als es dunkel wurde, ließ die Waldfrau die Kinder allein. Audifax sah sich vorsichtig um. 319
»Ich weiß viel, Hadumoth«, begann er geheimnisvoll. »Ich weiß so gar, wo der Hunnenschatz ist! Die Waldfrau hat ihn in Verwahrung, zwei schwere Truhen stehen unter ihrer Bettstatt. Ich habe hineinge schaut. Sie sind voll mit Schmuck und kostbarem Geschirr.« Er fuhr flüsternd fort: »Ich hab's teuer gebüßt, den Schatz zu sehen.« Er nahm seine Lederkappe ab: Sein rechtes Ohr war halb abgeschnitten. Er sag te leise: »Die Waldfrau kam zurück, bevor ich die Truhe zuschlagen konnte. Es hat weh getan, aber ich werd's ihr heimzahlen!« Er erklärte zuversichtlich: »Ich krieg' meinen Schatz doch noch, Hadumoth.« »Ich helf dir dabei«, versprach sie. Plötzlich faßte Audifax nach ihrem Arm. Auf der anderen Seite des Rheins flammte ein Feuerzeichen auf. Es sah aus, als ob ein Mann eine Fackel schwinge. Das Feuer erlosch, doch gleich darauf leuchtete es an einer anderen Stelle wieder auf und dann an einer dritten. Warnschreie gellten durch das Lager. Überall begann es sich zu re gen. Aufgeregt kam die Waldfrau auf die beiden Kinder zu. »Was schwätzt ihr da!« rief sie. »Spannt das Roß an!« Audifax gehorchte. Die Alte hängte dem Pferd zwei Körbe über den Rücken und lud die Truhen auf, in denen der Hunnenschatz verwahrt war. Es wurde wieder still im Lager. Die Waldfrau brummte: »Es ist nichts.« Doch noch während sie sprach, wurde es auf dem Berg hinter dem Lager lebendig. Es blitz te und glühte von vielen hundert Fackeln. Mit wütendem Schlachtruf stürmten unsichtbare Krieger herunter. Vom Rhein her wälzten sich dunkle Massen näher. Auf allen Gipfeln in der Umgebung loderten Flammen auf. Schon flog der erste Brandpfeil ins Lager der Hunnen. Die geängstigten Pferde wieherten auf, grauenvoll klangen die Schreie der Überfallenen. »Verloren, verloren«, murmelte die Waldfrau vor sich hin. Sie spann te noch ein zweites Pferd vor den Wagen. Audifax bückte sich rasch, hob einen Stein auf, sprang auf die Waldfrau zu und schlug sie nieder. Dann band er das Pferd, das die beiden 320
Körbe mit den Schatztruhen trug, vom Wagen los und hob Hadumoth hinauf. »Halt dich am Sattelknopf fest!« rief er ihr zu, schwang sich hinter ihr auf, ergriff die Zügel, und das Pferd, von Feuerschein und Lärm verwirrt, sprengte davon, über die rauchenden Trümmer des Hunnen lagers, durch das Kampfgewühl hindurch, zum Ufer des Rheins – sie waren gerettet.
XV
Die Hunnen waren wohl aus dem Hegau vertrieben worden; aber sie hatten viel Unheil angerichtet, und es war die Pflicht der Herzogin, da für zu sorgen, daß der Schaden wiedergutgemacht werde. Die Witwen und Waisen der Gefallenen mußten unterstützt, die nie dergebrannten Höfe und Hütten wieder aufgebaut werden. Boten rit ten mit Berichten über die Überfälle und mit Vorschlägen zur künf tigen Abwehr zum Kaiser, die Befestigungen der Burg wurden ausge bessert, die Beutestücke verteilt, und es wurde beschlossen, auf dem Grabhügel der christlichen Kämpfer eine Kapelle zu errichten. Mit den Klöstern Reichenau und Sankt Gallen, die sich bitter über den ihnen zugefügten Schaden beklagten und Ersatzansprüche stell ten, wurden langwierige Verhandlungen geführt. Fast täglich kamen Abgesandte auf den Hohentwiel, die der Herzogin in Erinnerung rie fen, daß den Äbten eine Schenkung von Gütern im Rheintal als Be lohnung für die geleisteten Dienste sehr willkommen wäre. Und als es schien, daß die Herzogin nicht ganz abgeneigt sei, diesem Wunsch zu entsprechen, sandte der Abt von Reichenau am nächsten Tag schon einen Subprior, der die bereits aufgesetzte Schenkungsurkunde mit brachte, in die nur mehr die Grenzen der abgetretenen Ländereien und die Unterschrift eingetragen werden mußten. Darüber war die Herzogin so empört, daß sie den Subprior unver 321
richteterdinge wieder zurückschickte. Um den Abt zu ärgern, über sandte sie noch am gleichen Tag Simon Bardo als Auszeichnung und Belohnung für seinen Mut in der Hunnenschlacht eine goldene Kette. Sie beschäftigte sich auch mit dem Schicksal des gefangenen Hunnen Cappan. Anfangs war er scheu und wußte nicht recht, warum man ihn am Leben gelassen hatte. Allmählich aber wurde er zutraulicher. Sei ne Wunde verheilte, und da ihn niemand hinderte, trieb er sich im Hof und in der Küche herum und sah staunend der Arbeit zu. Die Magd Friderun, die die Aufsicht über die Wirtschaft auf Hohentwiel führte, nahm sich seiner mitleidig an. Friderun war groß und mager und nicht mehr die jüngste. Ihr Kopf hatte die Form einer Birne, und wenn sie den Mund auftat, zeigte sich ein einzelner Stockzahn. Jahrelang war sie einem Knecht zugetan ge wesen. Seit er im Kampf gegen die Hunnen gefallen war, war ihr Herz einsam. Nun richtete sie ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Arbeit und hielt Cappan an, ihr zu helfen. Er jätete im Garten, schnitt Gemüse und Kräuter für die Küche, und nach wenigen Wochen brauchte Friderun nur auf den hölzernen Kübel zu deuten, um Cappan wissen zu lassen, daß er Wasser vom Brunnen holen sollte. »Ich glaube, mein Gefangener gefällt dir«, sagte der Kämmerer Spaz zo eines Morgens zu Friderun. Die Magd errötete und senkte verlegen den Kopf. »Du verdienst es, Friderun.« Sie faßte sich ein Herz: »Es ist wegen der Sprache«, begann sie zö gernd, »und auch daß er ein Heide ist. Aber er braucht ja keiner zu blei ben, und das Deutsche könnte er erlernen, aber …« »Was aber?« »Er kann nicht sitzen beim Essen wie unsereins. Wenn es ihm schmecken soll, muß er der Länge nach auf dem Boden liegen.« »Das Sitzen wirst du ihm schon beibringen. Habt ihr euch schon ver ständigt?« Friderun wurde wieder rot. Sie antwortete nicht und lief davon. Spazzo berichtete der Herzogin über die Freundschaft der beiden. 322
»Wir werden dem Hunnen etwas Land zuweisen, drüben am Stoff lerberg«, beschloß sie. »Als Fron und Felddienst soll er dafür auf un seren Äckern das Ungeziefer bekämpfen. Fallen aufstellen und Schlin gen ziehen, das kann er. Und wenn Friderun ihn mag, dann soll sie ihn nehmen.« Ekkehard bekam den Auftrag, Cappan im christlichen Glauben zu unterweisen. Wo seine Kenntnisse der deutschen Sprache nicht aus reichten, half er sich mit Gebärden. Ganz gegen sein Erwarten war Ek kehard erfolgreich. Ein Tag wurde festgesetzt, an dem gleichzeitig die Taufe des Hunnen und nachher seine Hochzeit mit der Magd Friderun stattfinden sollte. Cappan sollte drei Paten haben, einen aus dem Kloster Sankt Gallen, einen von der Insel Reichenau und einen der Heerbannleute, zum An denken an die Schlacht, in der er gefangengenommen worden war. Als die Paten sich nicht über den christlichen Namen des Täuflings einigen konnten, schlug die Herzogin vor, ihn Paulus zu nennen. Sie erklärte: »Auch der heilige Paulus ist gegen die Jünger des Herrn gezo gen, bis ihm die Schuppen von den Augen fielen …« Am nächsten Sonntagmorgen zog eine feierliche Schar den Burgweg hinab. Hinter dem Träger des vergoldeten Holzkreuzes schritt Ekke hard im violetten Priestergewand. Ihm folgte der Hunne mit seinen drei Paten. Im Tal, am Ufer der Ache machten sie halt. Das Kreuz wur de im weißen Ufersand aufgestellt. Die Männer umstanden Cappan im Halbkreis. Ekkehard befahl ihm, das Hemd auszuziehen und niederzuknien. Dann sprach er die Beschwörung im Namen ›dessen, den Engel und Erzengel fürchten, vor dem Himmel und Erde erzittern und die Ab gründe sich auftun, auf daß der böse Geist die Gewalt über ihn ver liere‹. Er hauchte Cappan dreimal an, reichte ihm geweihtes Salz und salb te ihm Stirn und Brust mit heiligem Öl. So gut er konnte, sprach Cappan die Worte des Bekenntnisses nach, die Ekkehard ihm vorsagte. Gehorsam stieg er ins Wasser der Ache – die Taufe war vollzogen. 323
Die Paten hüllten den bekehrten Hunnen in ein weißes Leinenge wand und führten ihn unter Lobgesängen in die Burg zurück. Unterdessen hatte sich Praxedis der Aufgabe unterzogen, die Braut zu schmücken. Sie flocht rote Fäden in das Haar Frideruns und half ihr, die weiten Falten der Schürze so zurechtzulegen, daß der mit Flit ter besetzte Gürtel sie festhalten konnte. »Heilige Mutter Gottes von Byzanz!« rief Praxedis und wies auf die Flitterkrone, die Friderun sich auf den Kopf setzen wollte. »Soll das auch noch aufgesteckt werden?« »Es muß sein«, erwiderte Friderun bestimmt. »Warum muß es sein?« fragte Praxedis. »Bei uns daheim trägt die Braut einen Myrtenkranz oder einen Olivenzweig im Haar. Freilich wächst beides nicht in euren dunklen Tannenwäldern, aber grüner Efeu wäre doch auch schön!« »Lieber bleibe ich ledig!« gab Friderun heftig zurück. »Als daß ich mit Blättern oder Gras im Haar zur Kirche gehe. Wenn eine Hegauerin Hochzeit macht, dann muß sie die Krone tragen, das ist alter Brauch. Wir Schwaben stammen aus königlichem Geschlecht, hat mein Vater immer gesagt.« Praxedis mußte sich fügen. Im Hof wurde die Braut von den Ehrenmägden feierlich empfangen, der neugetaufte Bräutigam lachte ihr fröhlich entgegen. Das Glöcklein der Burgkapelle begann zu läuten, der Hochzeitszug setzte sich in Be wegung. Gefolgt von den Hochzeitsgästen verließ das ungleiche Paar die Burg. Frideruns gesamte Verwandtschaft war zur Trauung erschienen, Knechte und Bauern von den benachbarten Höfen. Hinter dem be kränzten Wagen, auf dem der Brautschatz aufgeladen war, die große Bettstatt aus Tannenbrettern und der Hausrat in Kisten und Truhen verpackt, ging es in Richtung des Stofflerberges, wo die beiden von nun an zu Hause sein sollten. Zwei von Frideruns Vettern waren als die Hochzeitsbitter in der Burg zurückgeblieben, um die Herzogin zum Fest zu laden. Verlegen stan den sie am Eingang des Saales. Auf einen Wink Hadwigs traten sie nä 324
her, machten eine tiefe Verbeugung und trugen den üblichen Spruch vor: Die Herzogin möge ihnen folgen ›über Weg und Steg, über Gassen und Straßen, Brück' und Wasser, zum Hochzeitshaus zum Ehrentag der Base. Dort wird man auftragen ein Kraut und Brot, wie es Gott ge schaffen. Ein Faß wird rinnen und Geigen klingen zum Tanzen und Springen, Jubilieren und Singen‹. Sie schlossen mit den Worten: »Wir bitten Euch, laßt zwei schlechte Boten sein für einen guten, gelobt sei Jesus Christus!« Sie verbeugten sich noch einmal, und ohne die Ant wort abzuwarten verließen sie den Saal. »Wollen wir ihnen die Ehre unseres Besuches erweisen?« fragte Hadwig. Alle Anwesenden stimmten zu. Auch Rudimann, der vom Reichenauer Kloster als Pate gekommen war, ritt mit. Er hielt sich ab seits, schweigsam – seine Rechnung mit Ekkehard war noch nicht be glichen …
Auf dem Stofflerberg war das Fest schon in vollem Schwung. Cappan, der neue Paulus, drehte sich mit der langen Friderun so heftig im Tanz, daß sie kaum Schritt halten konnte. Als die Herzogin mit ihrem Gefol ge ankam, ließ er Friderun los, machte sieben Luftsprünge, einen hö her als den anderen, wobei er die Absätze seiner Holzschuhe zusam menschlug, fiel vor der Herzogin aufs Knie und beugte den Kopf tief über den Wiesengrund, als Ehrerbietung und Dank für ihre Güte. Lächelnd stieg Hadwig vom Pferd. Sie blickte suchend über die Rei hen ihres Gefolges: »Wo ist Ekkehard?« fragte sie. Die Griechin wies hinüber zum schattigen Waldrand. Unter einer riesigen Tanne saß der Mönch, den Kopf auf den Arm gestützt und blickte nachdenklich auf die Feiernden. Hadwig trat auf ihn zu: »Warum zieht Ihr Euch zurück?« Ekkehard fuhr aus seinen Gedanken auf. »Ich denke darüber nach, wo das Glück ist«, erwiderte er langsam. »Das Glück?« fragte Hadwig verwundert. »Fehlt's Euch denn?« 325
»Das wäre möglich«, gab Ekkehard zurück. »Die dort können sagen, was ihnen das Herz bewegt, sie tanzen und sind glücklich dabei. Wie einfach ist doch das Leben auf dem Lande!« »Ich verstehe Euch nicht«, sagte Hadwig obenhin – doch sie verstand ihn recht gut.
Ekkehard hatte sich verändert. Der Kampf mit den Hunnen hatte ihn aus seinem bisherigen Leben herausgerissen, und die nur allzu deut liche Zuneigung der Herzogin hatte ihn zu neuen Überlegungen ge zwungen. Tag und Nacht mußte er daran denken, wie sie ihm das Schwert ihres toten Gatten gereicht hatte … Er sah sie vor sich, so wie sie jetzt vor ihm stand, und faßte sich. Er sagte, um ihr seine Geistes abwesenheit zu erklären: »Ich mußte an den Vergil denken, an seine Verse zum Lob des Ackerbaus …« »Wenn Ihr Freude an der Landwirtschaft habt«, unterbrach ihn Hadwig, »könnte ich Abhilfe schaffen. Der Abt von Reichenau wollte mir eines meiner Güter abhandeln. Ich will Euch als Verwalter darauf setzen, dann habt Ihr all die Herrlichkeit, die Euch heute so schwer mütig macht!« Es raschelte im Gebüsch – sie achteten nicht darauf. Ekkehard senkte den Kopf. »Ich kann's Euch ausmalen«, fuhr die Herzogin fort. »Wenn ich auch meine Worte nicht so wählen kann wie Euer Vergil …« Wieder beweg ten sich die Zweige im Gebüsch. Hadwig war von ihrer eigenen Dar stellung hingerissen: »Es ist Herbst, von allen Hängen steigen die Mäg de und Knechte mit Körben voll Trauben zum Haus herunter. Ihr steht am Tor und überlegt, wie der Wein wohl werden wird. Da seht Ihr Staub aufwirbeln auf der Straße. Ihr hebt den Kopf … nun Meister Ek kehard, wer wird dort kommen?« »Wer?« fragte er verwirrt. »Wer anders als Eure Gebieterin!« Hadwig lachte: »Sie wird sich er kundigen, ob Ihr Eure Pflicht getan habt. Und alle werden sagen: Er ist 326
brav und ernst, und wenn er nicht soviel in seinen Pergamenten lesen würde, wäre er uns noch lieber …« »Und dann?« fragte Ekkehard mit verhaltener Stimme. »Dann werde ich die Worte der Schrift an Euch richten: Wohl, du guter Knecht! Du warst treu über weniges, ich will dich über vieles set zen.« Ekkehard hob den Arm und ließ ihn wieder sinken. Tränen traten ihm in die Augen. Er war sehr unglücklich. Aus dem Gebüsch hinter ihnen schlich ein Mann davon – sie sa hen ihn nicht. Er hatte die Kutte fest um sich geschlagen. Als er wie der auf der Festwiese ankam, sah er sich noch einmal vorsichtig nach der Herzogin und Ekkehard um. Dann ging er wieder zurück zu den anderen.
Das Fest hatte seinen Höhepunkt erreicht. Den meisten war der Met schon zu Kopf gestiegen. Sie lärmten und schrien durcheinander, und der frischgebackene Bräutigam mußte sich manchen derben Scherz von seinen neuen Verwandten gefallen lassen. Plötzlich gellte ein Schrei, alle Köpfe wandten sich. Ungeheurer Ju bel brach los: Neben einem schwerbeladenen Gaul kamen Hand in Hand Audi fax und Hadumoth auf die Hochzeitsgesellschaft zu. Als sie die Herzo gin bei Ekkehard unter der Tanne am Waldrand stehen sahen, dräng ten sie sich durch die Leute, die sie umringten. Vor Hadwig knieten sie nieder. Hadumoth hielt der Herzogin den Goldtaler entgegen, Audifax reichte ihr zwei Goldmünzen aus dem Hunnenschatz. Er wollte spre chen, aber seine Stimme versagte in der Rührung des feierlichen Au genblicks. Hadwig nahm das Wort: »Ich will meinen beiden tapferen Unter tanen meine Gnade erweisen.« Sie wandte sich an alle Umstehenden: »Ihr sollt meine Zeugen sein.« Sie brach einen Zweig von einem Haselstrauch, streifte den beiden 327
Kindern die Münzen aus den Händen und berührte ihre Scheitel mit dem Zweig: »Steht auf!« befahl sie. »Keine Schere soll von heute ab euer Haupt haar kürzen. Erhebt euch als Freie!« Da Audifax fränkischer Abstam mung war, hatte sie die Worte der Freilassung nach salischem Recht gesprochen. Die beiden Hirten erhoben sich. Audifax konnte sein Glück kaum fassen – der Traum seines jungen Lebens, Freiheit und Goldschatz, war zur Wirklichkeit geworden …
Noch in der gleichen Nacht kehrte Bruder Rudimann nach Reichenau zurück. Obwohl es schon spät war, klopfte er an die Türe Abt Waz manns. Er öffnete und blickte in den schwachen Lichtschein. »Mit dem herzoglichen Gut am Rhein wird's nichts«, berichtete er dem Abt. »Sie setzt das Milchgesicht von Sankt Gallen drauf!«
XVI
Im Kloster des heiligen Amandus sur l'Elon in Belgien setzte Bru der Gunzo das Wort ›Finis‹, »Ende«, unter eine in Briefform verfaß te lateinische Schmähschrift. Monatelang hatte er daran gearbeitet. Tisch und Sessel seiner Zelle waren mit Pergamenten bedeckt, auf jedem freien Platz lagen Stöße von Büchern aus der Klosterbiblio thek. »Gelobt sei der heilige Amandus!« rief er aus. »Wir sind gerächt.« Ein höhnisches Lächeln verzog seinen Mund. »Zugeeignet der ehrwürdigen Bruderschaft von Reichenau, gerichtet gegen Ekkehard, Pförtner zu Sankt Gallen.« Er las vor sich hin: 328
»Als ich aus Welschland auszog, um in das Kloster des heiligen Amandus einzutreten, kam ich auf meinem Weg über steile Berge, ab schüssige Schluchten und Täler. Schließlich erreichte ich das Kloster des heiligen Gallus. Ich war erschöpft von der Wanderung und hoff te, mich friedlich ausruhen zu können. Mit Genugtuung bemerkte ich dort häufiges Neigen der Häupter, sittig geordnete Kapuzen, sanftes Einherschreiten und seltenen Gebrauch der Rede. Ich freute mich harmlos meines Lebens und hoffte, in den spärli chen Gesprächen der Brüder philosophische Weisheit zu finden. Ver geblich. Unter anderen war auch ein Schüler anwesend und sein Lehrer – sie hießen ihn einen braven Lehrer des Klosters, obwohl es mir schien, er blicke mit den Augen einer falschen Turteltaube in die Welt! Über die sen Lehrer möchte ich nun berichten. Ein ungünstiges Geschick verführte mich, während des lateinischen Tischgesprächs einen Fehler in der Grammatik zu begehen. Ich setzte einen Akkusativ, wo ein Ablativ am Platz gewesen wäre. Nun wurde offenbar, in welchen Künsten jener besagte Lehrer seinen Schüler unterwiesen hatte. ›Solch Vergehen wider Sprache und Gram matik verdient die Schulgeißel‹ höhnte der Knabe und trug ein Spott gedicht vor, das ihn eben dieser Lehrer gelehrt hatte, so daß auch alle anderen Brüder in unhöfliches Gelächter über den Gastfreund ausbra chen … Ermeßt nun, ehrwürdige Brüder, welches Unrecht man mir angetan, und was für ein Mensch der sein muß, der einem anderen den Irrtum eines Ablativs vorhält!« Der Urheber dieses, wie es schien, harmlosen Scherzes war niemand anderer als Ekkehard. In Sankt Gallen hatte man das heitere Tischge spräch am darauffolgenden Morgen schon vergessen. Nicht so Bruder Gunzo. Die Schmähschrift hatte noch einen Anhang, in dem Gunzo sich be mühte, Ekkehard und der Welt zu beweisen, daß er selbst gelehrt und wei se, Ekkehard aber ein roher und unwissender Mensch sei, der sich in sei ner Dummheit an der Verwechslung eines Kasus stoße. Gunzo endete: »Möget Ihr nun, ehrwürdige Brüder, aus allem, was ich mitteile, er 329
sehen, ob ich die Behandlung und das Gelächter jenes Toren verdient habe. Eurem Urteil stelle ich ihn und mich anheim. Im Urteil des Ge rechten schwindet der Tor in sein verdientes Nichts! Finis.« Zufrieden verpackte Gunzo die Schrift in eine Blechkapsel und hüll te sie in einen Umschlag aus Leinen. Es bot sich die Gelegenheit, den Brief einem Pilger mitzugeben, der seinen Bruder erschlagen und das Gelübde abgelegt hatte, zu den Grä bern der Zwölf Heiligen zu wallfahrten. Da ihn sein Weg rheinauf wärts führte, tat er Gunzo gerne den Gefallen, die Blechkapsel nach Reichenau zu bringen. In der Gaststube des Klosters Reichenau wartete Moengal, der Pfar rer von Radolfszell, um mit Abt Wazmann zu sprechen. »Er ist in einen Brief vertieft«, hieß es, doch man ließ ihn eintreten. »Setzt Euch, Leutepriester«, empfing ihn der Abt. »Ihr seid doch ein Freund von Gebeiztem und Gesalzenem – ich hab' was für Euch!« Wazmann las die soeben eingetroffene Schrift Gunzos mit lauter Stimme vor. Moengal hörte aufmerksam zu. Der Abt schüttelte sich vor Lachen, als er zu Ende gelesen hatte. »Nun?« fragte er. »Dem Bürschchen wird der Hochmut aus der Kutte geklopft. Und eine Fülle von Wissenschaft, das muß man sagen!« Moengal fuhr auf. »Wissenschaft?« rief er zornig. »Aufgeblasene Lip pen und ein boshaftes Herz! So gelehrt ist mein Wald auch, der schreit auch heraus, wie man in ihn hineinruft. Aber das Echo ist lieblicher! Früher hab' auch ich geglaubt, es sei gesungen statt gekrächzt, wenn ei ner mit Grammatik und Dialektik die Backen aufblies!« »Ihr werdet bald an den Heimweg denken müssen«, unterbrach ihn der Abt scharf. »Über Konstanz zieht ein Gewitter auf.« Moengal merkte, daß er mit seinen Ansichten nicht an den rechten Mann geraten war. Er empfahl sich. »Rudimann!« rief Wazmann, als der irische Priester gegangen war. »Ihr erinnert Euch noch der Weinlese und der Schläge, die Euch ein gewisses Milchgesicht verabreichte, dem die Herzogin gewisse Grund stücke zuwenden will?« Der Kellermeister nickte eifrig. Der Abt fuhr fort: »Die Schläge hat 330
einer zurückgegeben, Ihr könnt zufrieden sein.« Er reichte ihm die Schrift: »Hier, lest!« »Mit Verlaub.« Rudimann trat ans Fenster. Sein breites, derbes Ge sicht verzog sich in boshafter Freude. »Gründliches Wissen und ein schöner Stil sind eine wahre Gottesgabe! Ekkehard wird sich nicht mehr sehen lassen dürfen.« »Laßt Abschriften anfertigen, lieber sechs als drei!« befahl der Abt. »Die Schrift Bruder Gunzos darf nicht ungelesen bleiben. Der junge Herr wird vom Hohentwiel abberufen werden, dafür sorge ich. Ich lie be die jungen Schnäbel nicht, die feiner singen wollen als die Alten.« Er hielt inne und setzte leiser fort: »Bald wird die wankelmütige Herrin dort oben um ihren Felsen herumflattern wie eine alte Schwalbe, der ein Junges aus dem Nest gefallen ist – und das Gut im Rheintal wird uns gehören!« »Amen«, murmelte Rudimann.
XVII
Die Güter der Burg Hohentwiel grenzten im Süden an die Felder des Schlangenhofes, der dem Kloster Reichenau gehörte. Der Abt hatte ei nen Mann als Verwalter eingesetzt, den sogenannten Klostermeier, der die Wirtschaft recht gut zu führen verstand. Dieser Verwalter brüste te sich damit, daß der gute Ertrag der Felder nur darauf zurückzufüh ren sei, daß er die Schlangen, die dem Hof den Namen gaben, gezähmt habe. »Die Schlangen sind des Hofes Segen«, pflegte er zu sagen. »Das ist bei den Bauern anders als am Kaiserhof!« Seit ein paar Tagen aber machte er sich Sorgen. Immer wieder zogen neue Gewitter auf und bedrohten die Ernte. Der Schaden war bisher geringfügig. Dennoch ließ der Klostermeier einen Sack Roggen aufla den und fuhr damit zum Diakon von Singen. »Ihr habt Eure Sache gut gemacht«, begrüßte er den Priester, der ihn 331
freundlich willkommen hieß. »Aber vergeßt nicht, das Wetter von mei nen Äckern wegzubeten, wenn es wieder zu donnern beginnt!« »Ihr habt mich doch gesehen, als ich unter der Kirchentüre stand, nach dem Schlangenhof gewendet, und aus dem Weihbrunnen drei Kreuze gegen das Wetter gespritzt habe.« Der Diakon setzte vorsichtig hinzu: »Euer Roggen könnte ein gutes Brot geben, Klostermeier, wenn noch etwas Gerste dabei wäre …« Der Verwalter versprach, das Gewünschte zu schicken. Während er auf dem Heimweg war, türmten sich schon wieder schwarze Wolken über dem Wald. Dennoch dachte er voller Zuversicht, als er in der Ein fahrt seines Hofes ankam, daß der Segen des Diakons das Unwetter von seinem Land fernhalten würde. Seine Zuversicht schwand, als die ersten schweren Hagelkörner auf die Kornfelder des Schlangenhofes niederprasselten. Die Ähren fielen wie Soldaten in der Schlacht, und bald lag die ganze schöne Ernte ver nichtet am Boden. In seiner Verzweiflung versuchte der Klostermeier ein altes heidnisches Hausmittel: Er brach ein paar Eichenzweige ab, riß die Blätter in kleine Stücke, füllte die Streu in die Taschen seines al ten Hochzeitsrockes und hängte ihn an die Eiche. Es nützte nichts, das Unwetter hörte nicht auf. »Wenn ich wüßte, wo die Hexe ist!« rief er in ohnmächtigem Zorn. »Die Wolkentrude!« »Seit sie die Waldfrau vom Hohenkrähen vertrieben haben, läßt sich keine mehr sehen«, sagte sein Großknecht. »Eine Hexe hat gewiß nicht die Schuld an dem Unwetter.« »Wer denn sollte schuld sein?« fuhr der Klostermeier ihn an. »Ich weiß, was ich weiß«, kam die pfiffige Antwort. »Sag's!« Der Klostermeier packte den Knecht am Kragen und schüt telte ihn: »Wer ist schuld?« Der Knecht legte den Finger auf den Mund und schwieg geheimnis voll. Am nächsten Morgen ging der Klostermeier mit ihm über die Fel der. Sie sprachen kein Wort. Der Schaden, den das Unwetter bei ih nen angerichtet hatte, war groß. Aber jenseits der Grenzmark, auf 332
den Hohentwieler Gütern, hatte der Hagel kaum Spuren hinterlas sen. Dort war Cappan, der getaufte Hunne, an der Arbeit, seine Fallen aufzustellen und Schlingen für die Maulwürfe, Wühlmäuse und all die anderen schädlichen Tiere herzurichten. Als er fertig war, trat er an den Grenzstein, in den das Herrschaftszeichen der Herzogin von Schwa ben eingemeißelt war, zog den Holzschuh vom rechten Fuß, stellte ihn auf den Stein und hob die Hände in die Richtung des Waldes jenseits der Grenzscheide zwischen den Feldern. Dann sagte er den Spruch, den Friderun ihn gelehrt hatte und der, wie sie meinte, zur Vertilgung des Ungeziefers unerläßlich war, laut vor sich her: »Maus und Mäusin, Hamster und Hamsterin, lasset das Feld, wie es bestellt! Fahrt hinunter, hinüber ins Moor, Fieber und Gicht lass' euch nimmer hervor!« Kaum hatte Cappan die letzten Worte gesprochen, als ihn ein Schlag von hinten traf. Der Klostermeier und sein Knecht hieben auf ihn ein und schüttelten ihn, daß ihm Hören und Sehen verging. »Kornmörder!« schrie der Klostermeier. »Was hat dir der Schlangen hof getan, du Wettermacher, Mausverhetzer!« »Du Teufelsbraten!« fiel der Knecht ein. »Schau ihm ins Aug'!« befahl der Klostermeier. »Ob's dich verkehrt darin spiegelt.« Der Knecht riß Cappan herum und sah ihn scharf an: »Im Aug sitzt's nicht«, sagte er enttäuscht. »Dann sieh nach unter seinem Arm!« Es hieß, daß jemand, der mit bösen Geistern in Verbindung stand, irgendwo am Körper gezeichnet sei. Sie zogen dem Hunnen das Oberhemd aus, aber sie fanden nichts, das ihren Verdacht bestärkt hätte. Sie waren schon freundlicher gegen ihn gestimmt, als ihr Blick auf einen riesigen, rötlichschwarzen Käfer fiel, der vor Cappans Füßen aus dem Boden kroch. »Der Donnerkäfer!« rief der Klostermeier. Der Knecht fuhr erschrocken zurück und bekreuzigte sich. Nun war's um Cappan geschehen. Sie zweifelten nicht mehr daran, 333
daß er an dem Unwetter schuld war, das über die Felder des Schlan genhofes niedergegangen war und die Ernte vernichtet hatte. An der Stelle, wo seine hunnischen Landsleute begraben worden waren, sollte er für seinen Frevel büßen. Sie schleppten Cappan zum Hunnengrab und banden ihn mit Wei denruten an einen Stein. Der Knecht lief zurück zum Haus, um das Gesinde zu rufen. Mit Stöcken, Mistgabeln und Steinen bewaffnet, ka men sie angerannt. Cappan wußte nicht, wie ihm geschah. Er war sich keiner Schuld be wußt, aber er begriff, daß ihm Schlimmes bevorstand. In seiner Todes angst stieß er einen gellenden Schrei aus, der bis in den Hof der Burg drang. Ekkehard, der über dem aufgeschlagenen Brevier unter der Linde im Burghof saß, horchte auf. Als ein zweiter Schrei erklang, schlug er kurz entschlossen das Buch zu und eilte, so schnell er konnte, über den Burgweg hinunter. Er kam gerade zur rechten Zeit. Sie hatten Cappan an dem Felsen aufge richtet und standen im Halbkreis um ihn herum, bereit, ihn zu steinigen. »Was tut ihr, Unsinnige?« rief Ekkehard in die unheimliche Ver sammlung. Der aufgebrachte Klostermeier gab bereitwillig Auskunft. Cappan sah den Mönch, der ihn getauft hatte, hilfesuchend an. Ekkehard be herrschte nur mühsam seine Erregung. »Ihr wollt richten und solltet lieber beten, daß ihr nicht selbst gerichtet werdet! Wenn der Mann sich vergangen hat, dann wartet bis zum Neumond, wenn der Leutepriester von Radolfszell das Sendgericht hält. Dort soll ihm nachgewiesen wer den, ob er verbotene Künste ausgeübt hat. Er soll nach kaiserlicher und kirchlicher Vorschrift bestraft werden.« Aber die Männer vom Schlangenhof wollten nicht auf ihn hören. Sie hoben die Steine. Verzweifelt fuhr Ekkehard fort: »Glaubt ihr wirklich, daß dieser her gelaufene Hunne die Macht haben könnte, unsere Wolken zu beschwö ren? Glaubt ihr nicht, daß der Blitz ihn getroffen hätte, zur Strafe für den Frevel, daß ein Fremder ihn angerufen hat?« 334
Der Klostermeier fiel ihm ins Wort: »Aber der Donnerkäfer! Wir ha ben ihn mit eigenen Augen zu seinen Füßen kriechen sehen!« »Steinigt ihn!« schrien die anderen. Im gleichen Augenblick flog der erste Stein und schlug den armen Cappan blutig. Entschlossen warf sich Ekkehard zwischen ihn und seine Angreifer und deckte ihn mit seinem eigenen Leib. Die Männer sahen einander betroffen an. Einer nach dem anderen wandte sich ab. Wortlos schlichen sie sich davon.
Auf dem Hohentwiel war die Aufregung groß, als Ekkehard mit sei nem übel zugerichteten Schützling ankam. »Das wird arg bestraft werden!« rief die Herzogin. »Sie sollen ein hohes Schmerzensgeld zahlen und für den gestörten Herzogsfrieden eine noch höhere Buße. Die Klosterleute werden frech wie ihre Her ren!« Am aufgebrachtesten war der Kämmerer Spazzo. »Hab' ich dir des halb das Leben gelassen, damit die Lümmel vom Schlangenhof dich steinigen?« Er ermutigte seinen Täufling: »Sobald deine Wunden ge heilt sind, begleite ich dich auf deinem ersten Ausgang, und dann wer den wir mit dem Klostermeier abrechnen!« »Ihr werdet reiten, Spazzo«, befahl die Herzogin, »und vom Abt von Reichenau noch heute die Buße fordern.« »Wir werden reiten!« wiederholte Spazzo grimmig. »Unsere landesherrlichen Rechte sollen durch klösterliche Anma ßung nicht verletzt werden!« In aller Eile vertauschte er sein grünsamtenes Wams und den gold verbrämten Kämmerermantel mit einem alten abgetragenen grauen Jagdgewand und legte die großen Beinschienen an, mit denen er in die Hunnenschlacht geritten war. Er wählte die größten Sporen aus, stülp te den Eisenhelm auf den Kopf, hängte das Schlachtschwert um und sattelte sein Pferd. Kaum zwei Stunden später war er in Reichenau. 335
»Ruft den Abt herunter!« befahl er dem dienenden Bruder an der Klosterpforte. »Es ist die Stunde der Mahlzeit«, erwiderte der Mönch zögernd und schielte auf das abgetragene Gewand des Besuchers. »Wenn Ihr gemel det seid …« Spazzo stieß ihn zur Seite und betrat den Kreuzgang. Abt Wazmann hatte bereits von dem Vorfall in Hohentwiel erfahren. In seinem Zimmer erklärte er Rudimann: »Der Grünspecht aus Sankt Gallen ist an allem schuld! Man soll seinem Nächsten nichts Böses wünschen, aber doch meine ich, daß es besser gewesen wäre, die Stei ne hätten Ekkehard getroffen und nicht den Hunnen!« »Ihr sollt kommen«, meldete ein Mönch dem Abt. »Es ist einer drun ten, der Euch sprechen will. Er tobt ganz fürchterlich.« Wazmann wandte sich Rudimann zu: »Das ist sicher der Kämme rer Spazzo. Es muß schlecht Wetter sein auf Hohentwiel! Macht Euch schnell auf den Weg, Kellermeister, reitet zur Herzogin hinüber und drückt ihr unser Bedauern aus. Nehmt ein paar Silberlinge aus der Klostertruhe mit, als Schmerzensgeld für den Verwundeten und sagt, daß wir für seine Genesung beten wollen. Ihr seid ja schließlich einer seiner Paten und überdies ein kluger Mann.« Rudimann schüttelte bedenklich den Kopf: »Es wird nicht leicht sein.« »Nehmt ihr ein Geschenk mit! Kinder und Frauen lassen sich ger ne blenden.« In diesem Augenblick wurde die Tür aufgerissen. Spazzo trat ein. »Hat der Abt sich Blei in die Ohren gegossen?« fragte er grob. »Oder ist ihm die Gicht in die Füße gefahren? Warum kommt Ihr nicht, Eu ren Besuch zu empfangen?« »Wir sind überrascht«, gab Wazmann gelassen zur Antwort. »Laßt Euch willkommen heißen!« Er hob die rechte Hand zum Segen. »Ich brauche Euren Segen nicht«, tobte Spazzo. »Wir sind gekränkt und fordern Buße. Zweihundert Pfund Silber ist das Mindeste. Heraus damit! Die landesherrlichen Rechte sollen durch klösterliche Anma ßung nicht verletzt werden!« Er klirrte mit den Sporen. »Wir sind der Gesandte der Herzogin!« 336
»Verzeiht!« sagte der Abt. »Wir haben Euch im grauen Jagdrock nicht erkannt.« »Zahlt, damit ich wieder heimziehen kann! Es ist schlechte Luft hier, sehr schlechte Luft …« Wazmann ließ sich nicht beirren: »Im Zorn lassen wir keinen Gast von der Insel reiten.« Er sagte beschwichtigend: »Ihr seid so schlecht gelaunt, weil Ihr noch nichts gegessen habt. Erlaubt, daß ich Euch zum Essen einlade. Nachher wollen wir über Geschäfte reden.« Spazzo war so erstaunt, daß der Abt ihm auf seine Grobheit mit ei ner so freundlichen Einladung antwortete, daß er im Augenblick ver gaß, warum er eigentlich gekommen war. »Die landesherrlichen Rech te sollen nicht verletzt werden«, wiederholte er, während er dem Abt ans Fenster folgte. Von dort sah man in die Klosterküche, wo über ei nem mächtigen Feuer der Spieß gedreht wurde. Der schnelle Ritt hatte Spazzo hungrig gemacht – er nahm die Einladung an. Bald saß er mit dem Abt und den Klosterbrüdern an der riesigen Ta fel im Refektorium, und mit jeder neuen Schüssel, die aufgetragen wur de, und mit jedem Becher Wein nahm sein Zorn ab. Immer wieder füll te der Abt roten Meersburger nach – und der rote Meersburger war gut. Mit einem riesigen Seelachs als Geschenk für die Herzogin ritt der Kellermeister Rudimann unterdessen nach Hohentwiel. Leise und schüchtern fragte er nach der Herzogin. »Sie ist im Garten«, war die Antwort. »Und mein frommer Mitbruder Ekkehard?« forschte Rudimann. »Er hat den verwundeten Cappan in seine Hütte am Hohenstoffeln gebracht und pflegt ihn. Er kommt vor Nacht nicht heim.« »Das tut mir leid«, sagte Rudimann mit gespieltem Bedauern. Er ließ den Lachs auspacken und auf die Platte eines Tisches unter der Lin de im Burghof legen. Rudimann brach einen Ast ab und sperrte da mit das Maul des Lachses auf. Er verzierte den Kopf mit Lindenblät tern, dann zog er aus seiner Kutte die Pergamentrolle, auf die Gunzo im belgischen Kloster des heiligen Amandus seine Schmähschrift ge gen Ekkehard niedergeschrieben hatte, und steckte sie dem Lachs in den offenen Rachen. 337
Praxedis stieß einen Schrei aus, als sie mit Hadwig aus dem Burggarten in den Hof trat und den fast zwei Meter langen Fisch sah. Rudi mann ging der Herzogin demütig entgegen. Er bat um Nachsicht für die Klosterleute vom Schlangenhof und er kundigte sich teilnahmsvoll nach dem Verwundeten. »Dieses beschei dene Geschenk soll Euch unseren guten Willen beweisen«, schloß er und trat zur Seite, so daß die Herzogin den riesigen Fisch in seiner ganzen Länge sehen konnte. Hadwig war schon fast versöhnt. Sie lächelte gnädig, und als sie das Pergament bemerkte, fragte sie: »Und das?« »Das Neueste aus der Literatur«, gab Rudimann bedeutungsvoll zu rück und verneigte sich zum Abschied.
Spazzo ließ sich den roten Wein schmecken. »Der Meersburger ist die vernünftigste Einrichtung in Eurem Klo ster«, sagte er anerkennend zum Abt. »Habt Ihr noch mehr davon?« Er wollte dem Abt seine versöhnliche Haltung zeigen, indem er wei ter trank. Der zweite Krug wurde gebracht. »Unbeschadet der landesherrlichen Rechte!« Spazzo hob den Be cher. Wazmann stieß mit ihm an: »Unbeschadet!« Während sie schon beim dritten Krug saßen, läutete die Glocke zur Vesperandacht. »Verzeiht!« sagte der Abt. »Wir müssen zur Kirche. Wollt Ihr mitkommen?« »Ich will Euch lieber hier erwarten!« Spazzo schielte auf den Krug. Er trank allein weiter. »Wie habt Ihr Euch unterhalten?« fragte der Abt, als er nach einer Stunde zurückkam. »Gut«, sagte Spazzo. »Ich weiß nicht …«, begann der Abt. »Doch«, unterbrach ihn Spazzo und nickte. Der vierte Krug wur 338
de gebracht. Wieder stieß Spazzo mit dem Abt an. Plötzlich besann er sich: »Beim Leben meiner Herzogin!« rief er. »Wer seid Ihr?« »Was habt Ihr gesagt?« fragte Wazmann verständnislos. Als Spazzo die Stimme hörte, fiel ihm sein Auftrag wieder ein. »Die landesherrlichen Rechte sollen durch klösterliche Anmaßung nicht verletzt werden!« »Gewiß nicht!« gab der Abt zurück. Spazzo erhob sich. Es gelang ihm mit Mühe, fest auf den Beinen zu stehen. Vor diesen Kuttenträgern wollte er sich keine Blöße geben. »Wo habt Ihr ihn?« schrie er. »Wen?« »Den Klostermeier!« Drohend trat er auf den Abt zu. »Gebt ihn her aus, den Grobian, der mein Patenkind umbringen wollte!« »Der sitzt auf dem Schlangenhof!« lächelte Wazmann. »Ihr müßt ihn selber von dort holen.« »Das werd' ich auch!« schrie Spazzo und wandte sich zur Türe. »Und wenn ich ihn habe …« Wazmann überlegte, ob er dem herzoglichen Gesandten ein Nachtlager anbieten sollte. Doch dann kamen ihm Bedenken. Spazzos Pferd wurde gesattelt. Ein Klosterdiener leuchtete dem Kämmerer auf dem Heimweg.
XVIII
Während Spazzo sich im Kloster auf der Insel Reichenau den Meers burger schmecken ließ, versuchten die Herzogin und Praxedis auf Ho hentwiel die Schmähschrift Bruder Gunzos zu entziffern. Sie hatten ge nug Latein gelernt, um den Sinn zu erfassen, und errieten, was gram matikalisch unklar blieb. »Das Reichenauer Geschenk schmeckt sauer!« rief Praxedis. Hadwig erkannte wohl, daß nicht alles stimmte, was sie soeben gelesen hatte, aber sie gönnte Ekkehard die Demütigung. 339
»Ich glaube, unser Schulmeister hat die Zurechtweisung verdient«, sagte sie kurz. Praxedis stand auf. »Es ist richtig, daß unser braver Lehrer manche Zurechtweisung verdient, aber das sollte unsere Sache sein. Die bösen Mönche haben das nur getan, um ihn anzuschwärzen. Darf ich's zum Fenster hinauswerfen?« »Ich habe Euch nicht darum ersucht«, erwiderte die Herzogin scharf. Praxedis schwieg betroffen. Hadwig konnte sich nicht von dem Schriftstück trennen. Sie war dem jungen Mönch nicht mehr so zugetan wie früher. Daß er ihre Zunei gung nicht verstanden hatte, machte sie bitter und ungerecht. Wenn sie ihn sah, klopfte ihr Herz nicht mehr so schnell wie früher. Sie emp fand nur mehr Mitleid für ihn – und Geringschätzung. Sie hatte nicht gemerkt, daß auch er sich verändert hatte, seine zarte, scheue Vereh rung hielt sie für Torheit. Und nachdem sie die Schmähschrift Gunzos gelesen hatte, schien es ihr, als könnte sie Ekkehard auch um seiner Klugheit willen nicht mehr achten. »Ist er schon zurückgekommen?« fragte sie die Griechin. Praxedis verneinte. »Nimm die Blätter und bring sie in seine Turmstube! Er soll wissen, was andere über ihn denken.«
Ekkehard kam an diesem Abend spät zurück. Er hatte sich um Cap pan gekümmert, so gut er konnte. Schwieriger war es gewesen, Fride run zu trösten und sie davon abzuhalten, auf den Schlangenhof zu ge hen und sich am Klostermeier zu rächen. Erstaunt sah er auf die Blät ter auf seinem Tisch. Als er die Schrift gelesen hatte, sprach er zu sich selbst: »Alle Tinte kommt vom Gallapfel, und der Gallapfel vom Wes penstich!« Er machte sich weiter keine Gedanken darüber, verrichte te sein Nachtgebet und begab sich zur Ruhe. Er schlief ausgezeichnet in dieser Nacht. 340
Als er am nächsten Morgen aus der Burgkapelle trat, begegnete er Praxedis. »Wie geht's Euch, Hunnentäufer?« fragte sie obenhin. »Ich bin um Euch besorgt«, setzte sie ernster hinzu. »Es träumte mir, ein großer Meerkrebs sei durch den Rhein und über den Bodensee bis zu unse rer Burg heraufgekrochen. Er hatte es auf Euch abgesehen. Der Krebs heißt Gunzo. Habt Ihr noch mehr so gute Freunde?« Ekkehard lächelte: »Wer an russige Kessel anstößt, kann sich leicht beschmutzen.« »Ihr sollt die Sache nicht so leicht nehmen«, warnte Praxedis, »sondern Euch auf eine Antwort besinnen. Stumme Verachtung gilt allzu leicht für Schwäche.« Sie trat näher an Ekkehard heran: »Soll ich Euch noch einen Rat geben?« Sie wartete seine Antwort nicht ab. »Ihr seid wieder viel zu ernst geworden in letzter Zeit. Seid fröhlich und guter Dinge – die Herrin könnte sonst recht gleichgültig gegen Euch werden.« In aufwallender Dankbarkeit für ihre Güte und ihr Verständnis woll te Ekkehard nach ihrer Hand greifen. Er hörte Hufschlag und wand te sich um. Langsam und gemächlich kam der Kämmerer Spazzo in den Burg hof geritten. Sein Kopf war ihm schwer nach vorne gesunken, ein mü des Lächeln verklärte sein Gesicht. Er konnte die Augen kaum offen halten. »Ihr habt Euch sehr verändert seit gestern!« rief Praxedis. »Bringt Ihr auch ein anständiges Schmerzensgeld mit?« »Schmerzensgeld? Für wen?« »Für den armen Cappan natürlich! Habt Ihr Mohnkörner gegessen, daß Ihr nicht mehr wißt, warum Ihr ausgeritten seid?« »Mohnkörner?« wiederholte der Kämmerer mit ausdruckslosem Ge sicht. »Nein. Aber roten Meersburger …« Er stieg schwerfällig vom Pferd und ging langsam und mit unsiche ren Schritten über den Hof. Niemand erfuhr, was er in Reichenau aus gerichtet hatte. Praxedis war an die Mauerbrüstung getreten. »Seht doch!« rief sie. »Wir bekommen Besuch.« 341
Über den Burgweg stieg ein Knabe herauf. Er trug eine Kutte, die ihm bis an die Knöchel reichte, und Sandalen an den nackten Füßen, auf dem Rücken einen Lederranzen und in der Hand den eisenbe schlagenen Wanderstab. Nach einer kleinen Weile trat der seltsam gekleidete Knabe durch das große Tor in den Burghof. Nun erst erkannte Ekkehard, daß es der Sohn seiner Schwester war, der Klosterschüler Burkard, der sei nem Onkel einen Ferienbesuch abstatten wollte. Der Knabe trat auf ihn zu. Er machte ein feierliches Gesicht und sagte den Begrüßungs spruch auf, als hätte er ihn auswendig gelernt. Ekkehard küßte den wohlerzogenen Knaben auf beide Wangen und durchflog mit großer Freude einen Brief seines Mitbruders Ratpert, den Burkard ihm mitgebracht hatte. Dann fragte er seinen Neffen nach Neuigkeiten aus Sankt Gallen. Mit Staunen hörten Praxedis und er, daß der Kellermeister Rudimann aus Reichenau vor wenigen Tagen Abt Cralo besucht habe: »Er hat ihm ein großes Schreiben überbracht. Es soll vieles über Euch drin stehen, lieber Oheim, und nicht lauter Schönes«, erzählte der eifri ge Burkard. »Dann nahm er Abschied, aber er ging nur bis zur Kirche. Dort hat er gebetet, bis es dunkel wurde. Dann schlich er sich ins große Dormitorium, um zu lauschen, was die Brüder über Euch und das, was in dem Schreiben stand, reden würden. Aber um Mitternacht hat ihn Vater Notker, der die Runde machte, entdeckt. Alle fielen über ihn her und wollten ihn in die Geißelkammer schleppen. Auf den Knien bat er so flehentlich um Gnade, daß der Abt ihn schließlich laufen ließ.« »Davon hat er uns nichts erzählt, als er gestern hier war«, sagte Praxedis. »Aber für diese Geschichte verdienst du ein Stück Kuchen.« Burkard wehrte verlegen ab: »Ach, das ist nichts. Aber ich werde ein Gedicht darüber machen. Es wird schön werden, ich hab's schon halb im Kopf.« »Gedichte machst du auch?« fragte Ekkehard. Burkard faßte die Frage als eine Aufforderung auf, sein Wissen zu zeigen. Gleich begann er, seinem Onkel eine selbstverfaßte lateinische Ode zu Ehren der heiligen Wiborad vorzutragen. Praxedis eilte inzwi 342
schen in die Küche und kehrte mit dem versprochenen Stück Kuchen zurück. Erst beim Essen vergaß Burkard seine lateinischen Verse. Praxedis wandte sich Ekkehard zu. »Die Herzogin läßt Euch sagen«, flüsterte sie, »daß sie das Studium des Vergil wiederaufnehmen will. Heute abend schon wollen wir beginnen. Ihr sollt ein fröhliches Ge sicht dazu machen – es ist ein Beweis, daß sie trotz der Schriften gewis ser Herren noch immer Vertrauen in Euer Wissen setzt.« Der Gedanke, daß er wieder wie früher mit den beiden Frauen bei sammen sein sollte, erschreckte Ekkehard. Er hatte den Karfreitag morgen vor der Hunnenschlacht noch nicht vergessen …
Am späten Nachmittag wartete Ekkehard in der großen Säulenhalle der Burg unruhig auf seine Schülerinnen. Ein halbes Jahr war vergan gen, seit sie den Vergil das letzte Mal gelesen hatten. Burkard saß am Tisch und blätterte in der lateinischen Hand schrift. »Wenn die Herzogin mit dir spricht, dann sei artig«, ermahnte Ek kehard seinen Neffen. »Mit einer so hohen Frau rede ich nur in Versen«, erwiderte der Kna be selbstbewußt. Die Herzogin trat ein, hinter ihr Praxedis. Sie grüßte mit kaum merk lichem Kopfnicken und setzte sich in ihren reichgeschnitzten Lehn stuhl. Burkard war aufgestanden und verneigte sich höflich. »Was soll der Knabe hier?« fragte Hadwig in gleichgültigem Ton. Bevor Ekkehard antworten konnte, trat Burkard vor die Herzogin. Mutig und befangen zugleich begann er: »Esse veliin Graecus, cum vis sim, dom'na Latinus …« – Obwohl ich kaum ein Lateiner bin, möchte ich ein Grieche werden. Hadwig hörte ihm erstaunt zu. Es berührte sie, daß er von ihren Kenntnissen wußte und ihr zu Ehren aus dem Stegreif einen lateini schen Vers vortrug. »Laß dich einmal ansehen!« sagte sie freundlich. Sie zog Burkard nä 343
her zu sich heran, hob ihn auf und küßte ihn auf die Wange. »Sag noch schnell ein paar Verse!« Burkard errötete, ließ sich aber nicht verwirren: »Ich finde keinen Vers mehr«, sagte er lateinisch, »zu sehr hat mich der Kuß der Herrin erschreckt.« Hadwig lachte laut auf: »Du bist sicher schon mit einem lateinischen Vers auf den Lippen zur Welt gekommen. Warum erschrickst du denn, wenn ich dich küsse?« »Weil Ihr so vornehm und schön seid«, erwiderte Burkard uner schrocken. »So arg wird's nicht sein, da du darüber deine Verse nicht vergessen hast. Warum willst du denn Griechisch lernen?« »Sie sagen, wenn einer Griechisch versteht, kann er so gescheit wer den, daß er das Gras wachsen hört …« Ekkehard war ans Fenster getreten und sah vorwurfsvoll auf die fröh liche Gruppe. Die Herzogin bemerkte seinen Blick. »Wenn du wieder in Hexametern darum bittest, werde ich dich Griechisch lehren«, sagte sie zu Burkard. »Doch jetzt setz dich zu meinen Füßen und hör zu! Wir wer den Vergil lesen.« Ekkehard begann mit dem vierten Gesang der Äneis, der von den Sorgen und vom Leid Didos handelte. Er merkte bald, daß seinen Schülerinnen der nötige Ernst und die gewohnte Aufmerksamkeit fehlten. Immer wieder unterbrach ihn die Herzogin. Was die karthagi sche Königin dachte und fühlte, schien ihr Mißfallen zu erregen. Ekkehard war verletzt. »Ihr habt recht«, sagte er schließlich, »es ist alles falsch!« und schlug das Buch zu. »Was habt Ihr?« fragte sie. »Ich kann nicht weiterlesen.« Die Herzogin erhob sich. Mühsam verbarg sie ihren Unmut. »Wenn Ihr nicht mehr lesen wollt«, sagte sie mit gespielter Gleichgültigkeit, »so gibt es noch andere Mittel, uns die Zeit zu vertreiben. Ab morgen wol len wir uns im Erzählen deutscher Sagen und anderer alter Geschich ten üben. Wir werden sehen, ob das nicht erfreulicher ist als das, was Vergil geschrieben hat. Jeder soll sich beteiligen, auch du, Praxedis, und der Kämmerer Spazzo.« 344
Sie ergriff den Vergil und warf ihn unter den Tisch. Ekkehard verließ wortlos den Saal.
XIX
Es war ein milder Spätsommerabend. Hadwig freute sich über ihren Einfall und dachte nicht daran, wie sehr sie Ekkehard verletzt hatte. Sie hatte angeordnet, die Laube im Burggarten herzurichten. Dort soll te noch am gleichen Abend mit dem Erzählen begonnen werden. Hadwig kleidete sich mit besonderer Sorgfalt, als ob irgend etwas Außerordentliches bevorstünde. Sie legte ein weites, faltenreiches Ge wand an, dessen Saum und Ärmel mit Gold bestickt waren, darüber einen stahlgrauen mantelartigen Überwurf, der bis zum Boden reichte und mit edelsteinbesetzten Spangen zusammengehalten wurde. Über das Haar band sie einen feingewebten Schleier, den sie mit einem gol denen Stirnreif befestigte und mit einer roten Rose schmückte. Langsam durchquerte sie den Burghof und betrat die Laube. Praxedis und Spazzo erwarteten sie schon. Hadwig ließ sich auf dem thronarti gen, Lehnstuhl nieder, der für diesen Abend aus der Säulenhalle her ausgetragen worden war. Bald darauf erschien Ekkehard mit seinem Neffen Burkard. Ekke hard sah niemanden an, während er sich stumm verneigte und der Herzogin gegenüber am Tisch Platz nahm. Hadwig beachtete ihn nicht. Sie sagte: »Sicher weiß ein jeder von uns etwas zu erzählen über Helden, Burgen oder Könige, das den Dichtun gen der Alten nicht nachsteht. Wir wollen daher heute, der Reihe nach, wie das Los entscheidet, mit einem Wettstreit im Erzählen beginnen. Die beste Geschichte wird mit einem Preis belohnt.« Praxedis hatte vier Grashalme von verschiedener Länge geordnet und reichte sie der Herzogin. Hadwig hielt die Halme zusammenge faßt in der Hand: »Wer den kürzesten Halm zieht, muß beginnen.« 345
»Mordbrand und Weltende!« rief Spazzo. Er hatte den kürzesten Halm gezogen. Er wußte, daß ihm keine Ausrede nützen würde. Mit einem schweren Seufzer rückte er sich in seinem Sessel zurecht, ver beugte sich leicht vor den Zuhörern und begann: »Meine Geschichte ist nicht fein, aber schön. In meinen jungen Jah ren mußte ich einmal ins Welschland reiten, durch Tirol und über den Brenner. Der Weg war steil und steinig, und so geschah es, daß mein Pferd ein Hufeisen verlor. Am Abend kam ich in ein Dorf, das hieß Gotensaß. Es soll zu Zeiten des Herrn Dietrich von Bern entstanden sein. Eines der ersten Häuser am Dorfeingang war die Schmiede. Der Schmied war ein mächtiger Mann, der mich nicht gerade mit großem Entgegenkommen empfing. Ich dachte, ein höfliches Wort wäre am Platz, und bat ihn um die Güte, mein Pferd zu beschlagen. Er wur de freundlicher und ging gleich an die Arbeit. Als er fertig war, lud er mich ein, die Nacht dort zu bleiben. Er brachte reichlich zu essen und zu trinken, und bei dem roten Terlaner, dem wir fleißig zusprachen, erzählte er mir, wie seine Schmiede den Namen Wielandsschmiede er halten hatte. Woher Wieland gekommen war, wußte keiner in dieser Gegend. Man sagt, von der Nordsee. Sein Vater war der Riese Vade, seine Groß mutter eine Meerjungfrau. Als Wieland geboren wurde, kam sie aus der Tiefe des Meeres und sang an seiner Wiege: ›Wieland muß ein Schmied werden.‹ Sein Vater Vade brachte den jungen Wieland zu Mimer. Wieland war geschickt und lernte das Handwerk rasch. Als er sein erstes Schwert verfertigt hatte, schickte ihn Mimer zu den Zwergen. Dort sollte er die letzte Fertigkeit erlernen. Die Riesen brachen ins Zwergenland ein, und Wieland mußte fliehen. Er hatte nichts als sein Schwert, das er Mimung nannte. Das schnallte er über den Rücken und zog ins Land Tirol. Im Gebiet zwischen Eisack, Etsch und Inn herrschte damals König Elberich. Er nahm Wieland freundlich auf und war mit seiner Arbeit so zufrieden, daß er ihn nicht mehr weglassen wollte. Elberich hatte viele Feinde. Der grimmigste und gefährlichste aber 346
war Amilias. Elberich gelobte, daß er seine Tochter dem zur Frau ge ben würde, der Amilias erschlug. Wieland legte sein Schwert um und machte sich auf den Weg. Er stellte den Feind König Elberichs und erschlug ihn. Als er Elberich die Nachricht brachte, wollte der König sein Versprechen nicht einlö sen. Voll Zorn wollte Wieland das Land verlassen. Elberich aber be fahl, daß dem Schmied die Sehnen an den Fersen durchschnitten wür den, so daß er hinkte und nicht fliehen konnte. Wieland sann auf Rache, und bald ergab sich auch Gelegenheit dazu. Elberichs Sohn kam eines Tages in die Schmiede und wollte Wieland bei der Arbeit zusehen. Der Schmied tötete den Knaben, verfertigte aus seinem Kopf ein Trinkgefäß und sandte es dem König. Kurze Zeit darauf zerbrach die Tochter Elberichs ihren kostbaren Ring, ein Geschenk ihres Vaters. Auf den Rat ihrer Dienerinnen ging sie zu Wieland, der das Schmuckstück wieder zusammenfügen sollte. Aber als sie in die Schmiede trat, schloß Wieland sie ein und tat ihr Gewalt an. Weinend und wehklagend lief die Königstochter ins Schloß zurück. Rasend vor Zorn versammelte Elberich seine Krieger. Sie griffen zu den Waffen, um Wieland zu bestrafen. Wieland aber schmiedete zwei riesige Flügel aus Eisen, und als die Krieger heranrückten, ergriff er sein Schwert, band sich die Flügel um und flog davon, zurück ins Land seiner Väter. Die Königstochter schenkte einem kräftigen Knaben das Leben. Er erhielt den Namen Wittich und wurde ein starker Held, wie sein Va ter Wieland.« Spazzo lehnte sich zurück und blickte die Herzogin prüfend an. Sie lobte seine Erzählkunst, Ekkehard schwieg. Praxedis meinte spöttisch, das sei eine grobe Geschichte gewesen, und man solle Spazzo verbie ten, sich in Gesellschaft von Frauen zu zeigen. Die Herzogin griff wieder nach den Halmen. Diesmal fiel das Los auf Praxedis. Die Griechin zierte sich nicht lange. Obwohl die Geschich te vom König Rother, der sich für einen anderen ausgab und in der fremden Maske die Geliebte gewann, dem Kämmerer den Preis strei tig machte, war er darüber nicht böse. 347
»Die Kammerfrauen in Konstantinopel scheinen die Feinheit mit dem Löffel gegessen zu haben«, sagte er gutgelaunt und fügte mit ei nem Blick auf Ekkehard hinzu: »Aber der letzte hat noch nicht gespro chen.« Der junge Mönch saß wie in einem Traum versunken. Sein Blick war unverwandt auf die Rose im Stirnband der Herzogin gerichtet. Hadwig brach einen Ahornzweig in zwei ungleiche Teile und hielt sie Ekkehard hin. Er fuhr verwirrt auf. »Nun«, sagte Hadwig. »Zieht: Ihr oder ich.« »Ihr oder ich«, wiederholte Ekkehard verloren. Er zog das kleinere Stück. Der Zweig fiel ihm aus der Hand. Er achtete nicht darauf und setzte sich schweigend wieder auf seinen Sessel. »Ekkehard!« Die Stim me der Herzogin klang scharf. Er blickte auf. »Ihr sollt erzählen!« »Ich soll erzählen«, murmelte er und fuhr sich mit der Hand über die Stirne. »Jawohl – erzählen!« Ekkehard erhob sich und wandte sich vom erleuchteten Tisch ab. Mit tonloser, müder Stimme begann er: »Es ist eine kurze Geschichte: Es war einmal ein Licht, das schien hell und leuchtete von einem Berg in Regenbogenfarben und trug eine Rose im Stirnband …« »Eine Rose im Stirnband?« murmelte Spazzo kopfschüttelnd. »… und es war ein dunkler Nachtfalter«, fuhr Ekkehard fort, »der flog zum Berg hinauf und flog um das Licht, und obwohl er wußte, daß er verbrennen müsse, wenn er ins Licht flöge, flog er doch hinein. Das Licht verbrannte den Nachtfalter, er wurde zur Asche und konnte nicht mehr fliegen. Amen!« »Ist das Eure ganze Geschichte?« fragte Hadwig unwillig. »Das ist meine ganze Geschichte«, gab Ekkehard mit unveränderter Stimme zurück. »Ich glaube, es ist an der Zeit, daß wir hinaufgehen«, entschied die Herzogin. »Von der Nachtluft bekommt man leicht Fieber …« 348
Mit einem verächtlichen Seitenblick ging sie an Ekkehard vorbei. Burkard bückte sich rasch nach ihrer Schleppe und folgte ihr. Spazzo klopfte Ekkehard mitleidig auf die Schulter: »Der Nachtfalter war ein dummer Teufel, Herr Kaplan.« »Es war ein Mönch«, gab Ekkehard gleichgültig zurück. »Schlaft gut!« Ein Windstoß blies die Kerzen in den Leuchtern auf dem Tisch der Laube aus.
XX
Ekkehard war in die Nacht hinausgelaufen. Er wußte nicht, wie lange er schon unterwegs gewesen war. Erst als der Morgen graute, kam er zu sich. Er stand auf dem Hohenkrähen, vor ihm ragten die Trümmer des ausgebrannten Hauses, aus dem er die Waldfrau verbannt hatte. »Eine Kapelle wollte ich hier der heiligen Hadwig stiften!« dachte er bitter. Er warf sich vor dem Götzenbild nieder, das am Herd der Waldfrau gestanden hatte. Er preßte die heiße Stirn auf den kühlen Stein. Langsam beruhigte er sich und schlief erschöpft ein. Es war schon Abend, als Ekkehard in die Burg zurückkehrte. Er ach tete nicht auf die Leute, die ihm begegneten und scheu vor ihm zu rückwichen. Er betrat die Kapelle und neigte sich vor den Stufen des Altars. Lange, lange betete er kniend, in sich versunken. Aber die Gna de, um die er flehte, wurde ihm durch kein Zeichen offenbar. Er erhob sich und ging mit unsicheren Schritten auf die Tür zu. Sein Blick fiel auf den Sarkophag, der neben der Gruft des Herzogs von Schwaben stand. Er sah im matten Schein der Ampel, die darüber hing, die Herzogin, die daneben kniete. Sie hatte ihn nicht bemerkt. Im nächsten Augenblick stand er vor ihr. Er sah sie lange und for schend an. Hadwig erhob sich. Sie standen einander schweigend ge genüber. 349
»Selig sind die Toten – man betet für sie«, sagte er endlich. Sie gab keine Antwort. »Werdet Ihr auch für mich beten, wenn ich tot bin?« fragte er. Er setzte hinzu: »Ihr könntet aus meinem Schädel einen Po kal anfertigen lassen. Und wenn Ihr wieder einen Pförtner aus dem Kloster des heiligen Gallus holt, dann reicht ihm darin den Willkom menstrunk!« »Ekkehard, Ihr versündigt Euch!« Er fuhr sich verloren mit der Hand über die Stirn: »O ja, der Rhein frevelt auch. Mit riesigen Felsen haben sie ihm den Lauf verbaut, aber er hat sie durchbrochen und braust darüber hinweg. Und Gott frevelt auch, er hat den Rhein geschaffen, und den Hohentwiel, die Herzogin von Schwaben und die Tonsur auf meinem Haupt!« Ekkehard konnte nicht weitersprechen. Tränen erstickten seine Stim me. Er fiel vor Hadwig zu Boden und griff nach dem Saum ihres Klei des. »Steht auf«, sagte Hadwig mild. »Denkt an etwas anderes … Ihr seid uns noch eine Geschichte schuldig.« »Eine Geschichte?« rief Ekkehard. »Ja, aber nicht erzählen; kommt laßt sie uns tun, die Geschichte! Oben vom Turm sieht man tief hinun ter, tief und lockend. Was hält uns noch? Wir schweben und gleiten in den Tod – dann bin ich kein Mönch mehr und darf den Arm um Euch legen …« Er brach in leises Weinen aus. Hadwig stand noch immer bewegungslos. »Ekkehard«, sagte sie lei se. »Ihr sollt nicht vom Tod sprechen. Wir leben, Ihr und ich …« »Ihr und ich!« Er starrte sie an, dann brach es aus ihm hervor: »Ihr habt recht – wir leben!« Er trat ganz nahe an sie heran, legte seine Arme um sie, hielt sie fest umschlungen und küßte sie. Sie wehrte sich nicht. Er hob sie auf und blickte vorwurfsvoll auf das Marienbild am Altar: »Warum segnest du uns nicht?« Hadwig versuchte, sich aus seinen Armen zu befreien. Es gelang ihr nicht. In diesem Augenblick öffnete sich die Türe der Kapelle. Tages licht überflutete den düsteren Raum. Rudimann trat ein. »Verzeiht!« sagte er mit übertriebener Höflichkeit, die bekunden 350
sollte, daß er erraten hatte, was vorgefallen war. »Ich habe nichts gese hen.« Mit einer heftigen Bewegung befreite sich Hadwig aus den Armen Ekkehards. »Doch!« rief sie Rudimann zu. »Ihr habt es gesehen: Einen Wahnsin nigen habt Ihr gesehen, der sich und Gott vergaß!« Kalter Stolz und bittere Verachtung klangen in ihrer Stimme. Ekkehard hob drohend die Arme und schrie: »Wer tritt zwischen sie und mich?« »Beruhigt Euch, guter Freund!« Rudimann lächelte höhnisch. »Wir haben nur einen Brief an Euch abzugeben. Ihr seid heimgerufen in Euer Kloster.« Er beugte sich zu Ekkehard: »Vergeßt Euren Stock nicht«, flü sterte er, »mit dem Ihr die Mitbrüder mißhandelt, keuscher Sittenrich ter!« Der Abt von Reichenau betrat die Kapelle, mit ihm Mönche und Ge folgsleute. »Sacrilegium!« rief Rudimann laut und wies auf Ekkehard, der an eine Säule gelehnt stand. »Sacrilegium«, wiederholte er. »Er hat vor dem Altar in buhlerischer Absicht die Hand an seine Gebieterin ge legt.« Wut, Verzweiflung und Schmerz bemächtigten sich Ekkehards. Er griff nach dem Ewigen Licht und schleuderte es gegen Rudimann. Der Kellermeister brach blutüberströmt zusammen. Die Gefolgsleute des Abtes fielen über Ekkehard her, rissen ihm den Gürtel von der Kutte und banden ihn. Er wehrte sich nicht. Er warf ei nen traurigen Blick auf die Herzogin. Sie wandte sich ab. »Tut, was Eure Pflicht ist!« befahl sie Abt Wazmann und verließ mit stolz erhobenem Kopf die Kapelle.
Praxedis war die einzige, die Mitleid mit Ekkehard hatte. Sie überleg te, was sie tun könnte, um ihm zu helfen. Sie klopfte an die Tür der Herzogin. Aber Hadwig hatte sich einge 351
schlossen und wollte niemanden sehen. Ihr Gewissen war nicht ganz rein. Sie wußte, welche Strafe Ekkehard bevorstand. Wenn die Reiche nauer nicht dazugekommen wären, hätte sie ihm seine Kühnheit viel leicht verziehen, aber so … Auch eine Herzogin hat Angst vor bösen Zungen. Praxedis kehrte unverrichteterdinge wieder um. Im Burghof traf sie Rudimann, der sich den wunden Kopf mit kaltem Brunnenwas ser kühlte. Praxedis pflückte eine Kornblume und reichte sie ihm: »Wenn Ihr das in Euerer Hand haltet, wird es Euer Blut stillen. Oder soll ich Euch einen Verband machen?« »Es wird schon von selber aufhören, wenn's Zeit ist«, sagte er mür risch. »Es ist nicht meine erste Wunde. Behaltet Eure Blume für Euch!« Aber Praxedis wollte ihn mild stimmen. Sie holte Leinen und be stand darauf, ihm einen Verband anzulegen. Rudimann ließ es wider strebend geschehen, aber er dankte ihr nicht. »Laßt Ihr Ekkehard heute nicht mehr frei?« fragte sie. »Heute?« wiederholte Rudimann höhnisch. Er deutete in die Rich tung der Berge jenseits des Bodensees: »Fragt einmal in einem Monat dort drüben an!« »Was wollt Ihr mit ihm tun?« »Was ihm gebührt. Es gibt nicht genug Namen für die Sünden, die er begangen hat, aber Mittel zur Sühne, die gibt es! Wir werden ihm ei nen Denkzettel aufs Fell schreiben.« »Habt Mitleid!« bat Praxedis. »Er ist ein kranker Mann.« »Gerade deshalb wollen wir ihn heilen.« »Er ist unschuldig.« »Der Unschuld krümmen wir kein Haar, er muß sie nur beweisen. Wenn er mit heilem Arm den goldenen Ring aus einem Kessel mit sie dendem Wasser herausholt, dann wird ihm der Abt selber den Segen erteilen, und ich werde sagen, daß ich ein Nebelbild, einen Teufelsspuk gesehen habe.« Traurig wandte sich Praxedis ab. 352
Die Leute des Abts hatten Ekkehard in ein Verließ geschleppt, viele Stockwerke tief unter seiner Turmstube. Es war ein feuchtes, finsteres Gefängnis, in dem die Trümmer von alten Grabsteinen umherlagen. Dort saß er auf einem Bündel Stroh, bewacht von einem der Mön che, und grübelte. Sein Herz war nicht gebrochen, dafür war es zu jung. Er begann seine Lage zu überdenken. Er kannte die Regel seines Ordens, und er wuß te, daß die Reichenauer seine Feinde waren. Er sah voraus, was gesche hen würde: Der Kessel mit kochendem Wasser, in den der Abt seinen goldenen Ring werfen würde … »Tauch ein den Arm und suche den Ring!« Wie konnte er seine Unschuld beweisen? Ekkehard hörte ein Geräusch vor der Türe des Verlieses. Es klang, als ob ein Steinkrug auf dem Boden gesetzt würde. »Trinkt von dem Wein, damit Ihr mutig bleibt!« sprach eine Stimme. Es war Praxedis. Der Wächter murmelte eine unverständliche Ant wort. Die Griechin fuhr fort: »In unserer Burg treiben viele Geister ihr Unwesen. Es steht noch ein zweiter Krug bereit für Euch.« Was wollte sie? Auch sie ist falsch, dachte Ekkehard. Er legte sich nieder und versuchte zu schlafen. Es dauerte nicht lan ge, bis er lautes Singen von draußen hörte. Der Mönch, der die Wache bei ihm hielt, hatte dem Wein zugesprochen. Nach einer kleinen Wei le brach das Lied ab. Bald ertönte lautes Schnarchen. Der Riegel an der Tür wurde vorsichtig zurückgeschoben. Eine Ge stalt huschte herein. Ekkehard sprang auf. »Still!« flüsterte die Stimme Praxedis'. »Ihr müßt fliehen!« sagte sie hastig. »Es wird Euch sonst schlimm er gehen.« »Ich will es erdulden«, sagte er niedergeschlagen. »Seid kein Narr!« drängte sie. »Als ob sie ein Recht hätten, Euch zu gei ßeln. Wollt Ihr ihnen die Freude machen, Eure Demütigung zu sehen?« »Wohin sollte ich gehen?« fragte er mutlos. »Nach Reichenau nicht, und auch nicht nach Sankt Gallen. Aber es gibt viele Schlupfwinkel.« Ungeduldig griff sie nach Ekkehards Hand und zog ihn mit sich. 353
»Macht schnell!« Er ließ sich von ihr führen. Sie schlichen am schlafenden Wärter vorbei in den Hof. »Über den Burgweg könnt Ihr nicht hinunter«, sagte Praxedis. »Sie haben die Brücke aufgezogen. Aber an der Ostseite des Berges, zwi schen den Mauern, wird es gehen.« Sie durchquerten den Garten und traten in die Laube. Noch einmal zögerte Ekkehard, dann schwang er sich auf die Brustwehr der Mauer. Finster gähnte die Tiefe unter ihm. »Gott segne Euren Weg!« Die Stimme Praxedis' zitterte. »Vergeßt nicht, daß Ihr uns noch eine Geschichte schuldig seid!« Sie beugte sich vor, küßte ihn und eilte davon.
Der Klosterbruder schlief noch immer, als Praxedis mit einem Aschen korb in der Hand in Ekkehards Verlies zurückkehrte. Rasch schüttete sie ihn in der Mitte des Raumes aus – als wäre das alles, was von dem Gefangenen übriggeblieben war.
XXI
Während die Reichenauer Mönche am nächsten Morgen das Häuf lein Asche im Hohentwieler Burgverlies bestaunten und hin- und herberieten, ob Ekkehard vom Teufel verbrannt worden oder entflo hen sei, saß er selbst bei seinem Freund, dem Leutepriester von Ra dolfszell. Moengal hatte voll Anteilnahme zugehört, als Ekkehard ihm die Ge schichte seiner Flucht erzählte. »Ich wüßte dir einen guten Platz, wo du gesund werden könntest und keiner dich fände«, sagte er nach einigem Nachdenken. Er deutete in 354
die Richtung des Säntis und beschrieb den Weg, der Ekkehard in eine Einsiedelei führen sollte. »Du wirst einen dort finden«, fuhr der Alte fort, »der schon seit zwanzig Jahren nicht viel von der Welt gesehen hat. Er heißt Gott schalk. Grüß ihn von mir! So Gott will, sind ihm seine Sünden verge ben worden.« Ekkehard blieb zwei Tage im Pfarrhaus von Radolfszell. In der drit ten Nacht fuhr ihn Moengal über den See. »Geh nicht ins Kloster zurück!« sagte der Alte zum Abschied. »Das Gerede der frommen Brüder wird dich umbringen. Spott schadet mehr als Strafe. Du verdienst einen Denkzettel – dort oben in der einsamen Natur wirst du ihn auch erhalten.« Schweren Herzens machte sich Ekkehard auf den Weg. Noch bevor der Morgen dämmerte, kam er am Kloster des heiligen Gallus vorüber. Scheu sah er hinüber. In einigen Fenstern brannte schon Licht. Er be schleunigte seinen Schritt. Der Weg war mühsam, steil und steinig. Ekkehard kam nur an we nigen Siedlungen vorbei, aber er kehrte nirgends ein. Der einzige Weg weiser, an den er sich hielt, war der Säntis. Während er über Geröllhal den ging, über schmale Brücken und über weiche Almböden, sah er den mächtigen Berg immer vor sich. Immer neue Schluchten taten sich vor ihm auf, und immer wieder fand er den richtigen Pfad. Nach vielen Stunden anstrengender Wanderung schien der Weg plötzlich zu Ende zu sein. Entlang einer zerklüfteten Fels wand lief ein schmaler Steig zu einer Höhle, die ins Berginnere führte. Ekkehard trat ein. Auf der einen Seite stand ein rohes Holzkreuz, an der anderen Höhlenwand ein aus Tannenstämmen grob gezimmertes Blockhaus, das Dach mit Flechtwerk überdeckt. Das mußte die Klause Gottschalks sein. Kein Laut war zu hören. Ekkehard legte die Hände an den Mund: »Gottschalk!« Vielstimmiges Echo war die einzige Antwort. Ekkehard trat wieder vor die Höhle. Im späten Abendlicht sah er in weiter Ferne den Bodensee, ihm gegenüber die gewaltigen Bergriesen, unter ihm rauschte der Abendwind durch die Tannen. 355
Es war spät, wohin sollte er gehen? Müde und entmutigt ließ er sich vor dem Eingang nieder und verzehrte, was Moengal ihm als Wegzeh rung mitgegeben hatte. Dann richtete er sich ein Lager aus Gras und Laub in einem Winkel der Höhle, hüllte sich in den alten langen Man tel, den Moengal ihm geschenkt hatte, und schlief erschöpft ein. Ekkehard erwachte vom Licht eines Kienspans, das auf sein Gesicht fiel. Erschrocken richtete er sich auf. »Gott willkommen!« Vor ihm stand, mit lachendem Gesicht, ein junges Mädchen. Auf dem Rücken trug sie einen geflochtenen Korb, in der Hand einen Alpstock. »Gott willkommen, noch einmal!« rief sie vergnügt. »Der Vater wird froh sein, daß wir einen neuen Bergbruder haben.« Ehe Ekkehard sich gefaßt hatte und fragen konnte, woher sie kam, war sie schon durch den Ausgang der Höhle verschwunden. Es dauer te nicht lange, bis sie wiederkam, gefolgt von ihrem Vater, einem hoch gewachsenen, graubärtigen Sennen. Der Hirt trat langsam näher. »Ihr wollt unser Bergbruder sein?« frag te er gutmütig. »Recht so!« Er reichte Ekkehard die Hand. Ekkehard blickte verlegen zu Boden. »Ich wollte eigentlich nur den Bruder Gottschalk besuchen.« »Da kommt Ihr zu spät«, gab der Senn zurück. »Der ist im vorigen Herbst von einer Felswand abgestürzt. Es war eine böse Geschichte!« »Mach ihm keine Angst!« unterbrach das Mädchen. »Deswegen könnt Ihr Euch aber doch bei uns niederlassen«, fuhr der Alte fort. »Ihr bekommt, was wir dem Gottschalk gegeben haben: Milch und Käse, und drei Ziegen in den Stall, die können grasen, wo sie wollen. Im Notfall könnt Ihr auch mehr kriegen. Wir hier oben sind keine Geizkragen! Dafür predigt Ihr uns an den Sonntagen und sprecht den Segen über Alm und Weiden und läutet die Tageszeit.« »Wo sind denn Eure Almen?« fragte Ekkehard. Er konnte sich nicht erklären, woher die beiden gekommen waren. »Er weiß nicht, wo die Ebenalp liegt!« rief das Mädchen. »Kommt, ich will's Euch zeigen.« 356
Mit dem flackernden Kienspan in der Hand schritt sie den beiden Männern voran, dem Inneren der Höhle zu. Erstaunt folgte Ekkehard durch eine enge, dunkle Wölbung. Bald mußten sie gebückt weiter kriechen. Die Felsen schimmerten rötlich im Schein der Fackel. Der Gang weitete sich wieder, bis ihnen vom anderen Ende das fahle Tages licht des dämmernden Morgens entgegendrang. Im nächsten Augen blick standen sie im Freien. Es war Ekkehard zumute, als träume er. Vor ihm dehnten sich wei te Almen, in der Ferne sah er den vertrauten Umriß des Bodensees, in der Tiefe wogte der Frühnebel in den Tälern, und die Berggipfel auf der anderen Seite leuchteten in der aufgehenden Sonne. »Ihr bleibt bei uns«, sagte der Senn. »Ich seh's Euch an den Augen an.« Ekkehard senkte den Blick. »Ich komme als Flüchtling«, sagte er zö gernd. »Mich hat nicht der Abt geschickt.« »Das gilt gleich«, erwiderte der Alte. »Wenn's uns recht ist und dem Säntis dort droben, hat niemand was dreinzureden.« Er wies auf den mächtigen grauen Berg, der einsam aus den Gletschern aufragte. »Der ist unser Herr hier, vor dem ziehen wir den Hut, sonst vor niemand.«
Ekkehard blieb. Der Senn von der Ebenalp half ihm, die seit dem Tod Bruder Gottschalks unbewohnte Höhle wiederherzurichten. Er brach te die versprochenen Ziegen und zeigte Ekkehard den Weg zum See alpsee, wo er Forellen fangen konnte. Das Blockhaus erhielt ein neues Dach, und als der Sonntag kam, trug Ekkehard das Kreuz in die vor dere Höhle, wand einen Blumenkranz herum und zog die Glocke. Von allen umliegenden Almen kamen die Seinen mit ihren Kindern, und Ekkehard hielt die Predigt über das Evangelium von der Verklärung. »Ein jeder«, sagte er, »der mit rechtem Sinn in die Berge geht, wird verklärt werden. Wenn auch Moses und Elias nicht zu uns herabstei gen, so haben wir doch den Säntis bei uns stehen, und es ist gut, bei ihm zu sein …« 357
Aber ganz war der Sturm in seinem Herzen noch nicht zur Ruhe ge kommen. Manchmal saß er vor seiner Höhle neben einem Felsen, der aussah wie der Deckel einer Gruft. Ekkehard nannte ihn bei sich das Grab seiner Liebe, und manchmal kam es ihm vor, als wären die Her zogin und er darunter begraben. Oft warf er sich ins Gras und überdachte die Ereignisse der letzten Monate. Eines Abends, als er auf seinem einfachen Lager lag und das bläuliche Licht des Mondes in die Höhle fiel, sah er zwei weiße Wol ken am Himmel. Sie zogen hintereinander her, und er glaubte zu hö ren, wie sie zueinander sprachen. »Ich will doch sehen, wie die Ruhe statt eines Toren aussieht«, sagte die eine der Wolken mit der Stim me der Herzogin. Die Wolke glitt über den Bergrücken hin, plötzlich senkte sie sich nieder auf die Tannenwipfel. »Er ist's!« rief sie. »Faß den Frevler!« Die Tannen verwandelten sich in Mönche, zu Tausenden und aber Tausenden machten sie sich auf und stiegen zur Höhle hinauf. Wilder Schrecken erfaßte Ekkehard. Er sprang auf und rannte bergab, über schwindelnde Abgründe und unheimliche Schluchten. Endlich stand er im Tal beim geheimnisvollen Seealpsee. Die ver faulten Stämme ragten gespenstisch am Ufer, das Wasser glänzte im Mondlicht. Ekkehard rannte in den See, die kühle Nässe drang ihm durch die Kleider, schon stand er bis zur Brust im Wasser, aber der Bo den wich nicht unter seinen Füßen. Er schaute auf – die weißen Wol ken waren verschwunden … Am nächsten Morgen fühlte er sich matt und erschöpft, und der Fie berfrost schüttelte ihn.
XXII
Sechs Tage lag Ekkehard krank. Die Sennen pflegten ihn. Allmählich ging das Fieber zurück, und nun schien Ekkehard wie verwandelt. 358
Er hörte keine geheimnisvollen Stimmen mehr, eine friedliche Ruhe kam über ihn, und wenn er an die Vergangenheit dachte, bereitete es ihm keinen Schmerz mehr. Ein paar Tage später kam nach dem Vesperläuten der Senn von der Ebenalp zu ihm. »Gott grüß Euch, Bergbruder!« sagte er. »Es hat Euch ordentlich ge schüttelt, und heute bring' ich Euch etwas zur Nachkur – aber Eure Augen sind fröhlich und Eure Backen sind rot, da wird's nicht mehr nötig sein.« Er öffnete sein Bündel und zeigte Ekkehard einen wimmelnden Ameisenhaufen, mitsamt den Fichtennadeln und dem Moderboden des Waldes. »Ihr hättet heute nacht drauf schlafen müssen«, meinte er lachend, »das vertreibt die letzte Spur von Fieber.« »Es ist vorbei«, erwiderte Ekkehard, »doch danke ich Euch für die Medizin.« »Aber haltet Euch warm, vom Brülltobel zieht eine schwarze Wol ke herüber, und die Kröten kriechen aus den Steinritzen hervor – das Wetter wird umschlagen.«
Am nächsten Tag war die ganze Landschaft in weißen, duftigen Schnee gehüllt. Trotzdem schien die Sonne mit unverminderter Kraft, denn es war noch früh im Herbst. Ekkehard konnte sich nicht sattsehen an der glitzernden Pracht. Die Sonne stand über dem Kronberg. In der Ferne stiegen die Nebel vom Bodensee auf. Ekkehard glaubte, die Insel Reichenau zu erkennen und dahinter einen Berg – es mußte der Hohentwiel sein. Seine Gedanken führten ihn zurück in den Hegau. Es war ihm, als säße er wieder bei der Herzogin auf dem Hohenstoffeln, und sie feier ten die Hochzeit des Hunnen Cappan. Er sah Audifax und Hadumoth vor sich, wie sie von den Hunnen heimkehrten, und es fiel ihm ein, was sein Mitbruder Konrad aus Alzey über Walthari und Hiltgunde erzählt hatte, und über den Hunnenkönig Etzel, dessen Gefangene sie 359
gewesen waren. Die alten Mären von der Königsburg zu Worms, vom Nibelungenschatz und von Kriemhilds Rache gingen ihm durch den Kopf. Er erinnerte sich der Erregung Konrads, der das Lied der Nibe lungen schreiben wollte. Er selbst hatte sich vorgenommen, die Erleb nisse Waltharis zu besingen. Entschlossen erhob er sich. »In der Dichtung soll sich das Herz des sen erfreuen, was ihm das Leben nicht bieten kann«, sprach er zu sich selbst. »Ich tu's!« Als der Senn von der Ebenalp den Handbuben um Eier und Honig ins Tal schickte, bat Ekkehard den Alten um einen freien Tag für ihn und gab ihm einen Brief mit an seinen Neffen in Sankt Gallen, den Klosterschüler Burkard. Damit kein Unbefugter es lesen sollte, verfaß te er das Schreiben in Stabrunenschrift, einer Geheimschrift, die Bur kard, wie er wußte, wohl verstand: »Dem Klosterschüler Burkard Heil und Segen! Du warst ein Augenzeuge des Leids, das Deinem Onkel widerfah ren ist, und ich hoffe, Du weißt zu schweigen. Frage nicht, wo er sich aufhält – Gottes Hand reicht weit. Du hast im Prokop gelesen, daß der Vandalenkönig Gelimer, als er im numidischen Gebirge eingeschlos sen war, von seinen Belagerten eine Harfe verlangte, um mit der Mu sik seinen Schmerz zu vertreiben. Denke dabei an Deinen Oheim und übergib dem Überbringer dieses Briefes eine Eurer kleinen Harfen, dazu etliche Bogen Pergament, Farbe und Rohrfeder. Ich will singen in der Einsamkeit. Verbrenne dieses Blatt. Gottes Gnade sei mit Dir, leb wohl!« »Du mußt schlau und vorsichtig sein! Es soll außer Burkard niemand davon wissen!« ermahnte Ekkehard seinen Boten. Der Handbub legte den Zeigefinger auf die Lippen: »Bei uns wird nichts verplaudert. Berg luft macht still.«
Nach zwei Tagen kam er wieder. Vor Ekkehards Höhle packte er sei nen Tragkorb aus: Unter Eichenzweigen war eine kleine Harfe verbor 360
gen, die aussah wie ein griechisches Delta, mit zehn Saiten bespannt. Farbe, Schreibpapier und viele Bogen Pergamentpapier lagen dabei, auf denen die Linien schon vorgezogen waren. Ekkehard war so glücklich, daß er beinahe vergaß, dem Knaben zu danken. Er nahm die Harfe und setzte sich vor seine Höhle. Er hatte lange nicht mehr gespielt, aber als er, erst zaghaft, in die Saiten griff, nahm das Lied vom Helden Walthari, über das er so lange nachge dacht hatte, immer festere Form an. Er schloß die Augen, und wäh rend er spielte, sah er die Gestalten seines Liedes ganz deutlich vor sich: Die Hunnen, ein fröhliches, wanderndes Reitervolk, nicht ab scheulich wie die, gegen die er selbst vor wenigen Monaten gekämpft hatte. Die Königskinder Walthari und Hagen, die sie aus Franken und Aquitanien als Geiseln mit sich nahmen, und Hiltgund von Burgund, mit der Walthari den Hunnen entfloh. Etzel erschien Ekkehard als menschenfreundlicher König, der die Unterhaltung und den Wein liebte. Drohend und unheimlich erstand das Bild des Frankenkönigs Gunther, der die Flüchtlinge verfolgen ließ, um ihnen den Schatz ab zunehmen, den sie mit sich führten. Walthari mußte sich der Krie ger Gunthers erwehren. Als er siegreich aus dem ungleichen Kampf hervorging, überfielen ihn Gunther und Hagen, der schon vor ihm aus Etzels Burg entwichen war. Walthari wehrte sich verzweifelt. Erst als alle drei Helden zu schwer verwundet waren, ließen sie voneinan der ab. König Gunther verlor ein Bein, Hagen ein Auge, nachdem er Walthari die rechte Hand abgeschlagen hatte. Die Schwerverwunde ten schlossen Freundschaft und ein Treuebündnis. Friedlich konnte Walthari in seine Heimat zurückkehren, wo er sich mit Hiltgund ver mählte.
Am nächsten Tag schon schrieb Ekkehard die ersten Zeilen seines Ge dichts nieder. Er verfaßte es in der Sprache des Vergil – das Deutsche erschien ihm zu rauh und ungeschliffen für die Dinge, die er sagen wollte. 361
Er arbeitete, bis die Sonne unterging, und am nächsten Tag saß er wieder über seinen Pergamenten; je mehr er schrieb, desto fröhlicher wurde er.
Allmählich verloren die Bäume ihr Laub, die Nächte wurden kühler, und als Ekkehard das Walthari-Lied endlich vollendet hatte und die Feder weglegte, rüsteten sich die Sennen zum Almabtrieb. »Jetzt ist's aus mit unserer Herrlichkeit hier oben«, sagte die Tochter des Sennen von der Ebenalp eines Morgens zu Ekkehard. »Morgen zie hen wir ins Tal. Wo werdet Ihr hingehen, Bergbruder?« Ekkehard wußte es nicht. »Am liebsten bliebe ich hier.« Das Mädchen lachte: »Man merkt, daß Ihr noch keinen Winter hier oben verbracht habt. Ich möcht' Euch wohl sehen, eingeschneit in Eurer Höhle. Die Eiszapfen würden Euch bis ins Haus wachsen, und die Kälte kriecht durch alle Ritzen, daß Ihr zittert wie Espen laub!«
Traurig sah der junge Einsiedler dem festlich geschmückten Zug nach. Voran ging der alte Senn, in seinem besten Leinengewand, ihm folg te das Mädchen mit den Ziegen, dahinter die Kühe, ihre Hörner mit Kränzen von Alpenblumen geschmückt. Am Schluß ritt der Handbub auf einem Stier. Lange noch lauschte Ekkehard dem Klang der Kuhglocken, als die Herde schon in den Tannen verschwunden war. »Es hilft nichts«, sagte er seufzend zu sich selbst. »Ich muß auch ins Tal.« Er kehrte in seine Klause zurück und suchte seine Sachen zusam men. Sorgfältig verpackte er die kostbaren Bogen des Walthariliedes in seiner Reisetasche. Die Harfe hängte er an die Wand – vielleicht würde einer, der nach ihm in die Höhle kam, sich darüber freuen. 362
Er warf noch einen letzten wehmütigen Blick auf die Umgebung, die ihm lieb geworden war, dann wandte er sich dem Tal zu.
Die Herzogin von Schwaben saß mit ihrer treuen Dienerin Praxedis im Burggarten. Die Griechin hatte es nicht leicht mit ihrer Herrin. Hadwig war verstimmt, unzufrieden und einsilbig. Auch an diesem Abend wollte kein Gespräch zustande kommen. »Heute ist es ein Jahr, seit wir über den Bodensee nach Sankt Gallen fuhren«, begann Praxedis. Hadwig schwieg. »Wißt Ihr auch«, fuhr die Kammerfrau nach einiger Zeit fort, »was die Leute vom Ekkehard sa gen?« Hadwig sah auf. Es zuckte um ihre Lippen. »Was sagen die Leute?« fragte sie, scheinbar gleichgültig. »Spazzo hat vor kurzem den Abt von Reichenau getroffen. Er soll ge sagt haben: ›Wollt Ihr etwas Neues wissen? Beim Säntis hat sich ein neuer Homer eingenistet, die Alpen ertönen von Harfenklang und Ge dichten.‹ Spazzo erwiderte: ›Was geht das mich an?‹, und der Abt gab zurück: ›Es ist Euer Ekkehard, ein Gerücht aus der Klosterschule von Sankt Gallen hat es uns zugetragen.‹« »Schweig!« Hadwig erhob sich. »Ich will davon nichts wissen.« Aber im Herzen dachte sie anders. Sie trat an die Mauer und blick te hinüber in die Berge auf der anderen Seite des Bodensees. Ekkehard lebte! Sie wandte sich zur Seite. Ein Pfeil flog aus der Tiefe zu ihr her auf und sank langsam vor ihren Füßen zu Boden. Hadwig bückte sich und hob das Geschoß auf. Um den Schaft waren feine Pergamentbö gen gewunden, ein Strauß später Wiesenblumen schmückte die Spitze des Pfeils. Sie löste die Blätter – und erkannte Ekkehards Schrift. Am oberen Rand des ersten Blattes über dem langen Gedicht, das Seite um Seite füllte, stand: ›Der Herzogin von Schwaben ein Abschiedsgruß‹ und darunter: ›Se lig der Mann, der die Prüfung bestanden!‹ Hadwig senkte den Kopf und weinte bitterlich. 363
Vom zehnten Jahrhundert
bis zum Ende
des zwölften Jahrhunderts
Zwischen Abendland und Morgenland I Die Bezeichnung ›finsteres Mittelalter‹ wurde ein landläufiger Be griff, der sich örtlich auf das christliche Abendland und zeitlich auf das neunte und zehnte Jahrhundert bezog. Es war auch eine unseli ge Zeit für die ohnmächtigen Nachfolger Karls des Großen und ihre heimgesuchten Untertanen. Die durch Erbteilungen und gewalttätige Anmaßung zerstückelten, voneinander unabhängig und ungleichmä ßig beherrschten Länder des einst so mächtigen einigen Frankenreichs waren von allen Seiten bedroht. Die nach dem Osten vorgeschobenen Grenzsiedlungen waren unaufhörlichen Anstürmen der benachbarten Slawen und Magyaren ausgesetzt, die sich auch nicht friedlicher zeig ten, nachdem sie eigene Reiche gebildet hatten. Sie setzten ihre verhee renden Einfälle fort. Besonders für die wilden magyarischen Reiterscharen gab es keine Grenzen. Festungen hielten ihren Ansturm nicht auf. Wenn sie be waffneten Widerstand fanden, schwenkten sie, wie es seit eh und je ihre kriegerische Gewohnheit gewesen war, in ungeschützte Gegen den ab und raubten und brandschatzten Gehöfte und Städte, Klöster und Kirchen. So verwüsteten die berittenen Horden, die vom Volk noch immer Hunnen genannt wurden, das Königreich Burgund, jag ten durch das Herzogtum Aquitanien und machten ebenso unvermit telt kehrt, wie sie gekommen waren, auch auf dem Rückweg plün dernd. Wo immer sie haltgemacht hatten, hinterließen sie Ruinen und
Brandstätten, mutwillig verwüstete Ernten und die hoffnungslose Ar mut der geplagten Bevölkerung, die ihre Wohnsitze Hals über Kopf verlassen hatte. Auch nach dem Abzug der magyarischen Hunnen blieb die verzwei felte Angst. Jedermann wußte: Sie würden wiederkommen, und wer in den von ihren mörderischen Streifzügen gefährdeten Gegenden über leben wollte, mußte zu ständiger Abwehr bereit sein. An den nördlichen und westlichen Küsten der geteilten Frankenrei che waren die Einfälle der Normannen zwar seltener geworden, nach dem sie sich unter dem Herzog Rollo als Lehensvolk in der Norman die, den später nach ihnen benannten Gebieten an der Seinemündung, niedergelassen hatten und nachdem ihren dänischen Stammesgenos sen die Eroberung des nördlichen Britannien gelungen war. Sie wa ren in unaufhörliche Kämpfe mit den Angelsachsen verwickelt. Alf red der Große, der Enkel König Egberts von Wessex, der die Oberho heit über die angelsächsischen Nachbarreiche errungen hatte, schütz te sein Land durch ein Netz von Burgen in den einzelnen Grafschaf ten, die ›shires‹ genannt wurden und von ›earls‹, den Grafen der ›shi res‹, verwaltet wurden, die der Krone unmittelbar unterstanden und deren Amt nicht erblich war. Alfred war nicht nur ein hervorragen der Verwalter und Gesetzgeber, sondern auch Schriftsteller und Über setzer wissenschaftlicher Werke. Sein philosophischer Gleichmut und seine Aufmunterung zur Gelehrsamkeit vererbten sich auf seine Nach folger, die das angelsächsische Königreich gegen die Dänen hartnäckig verteidigten. Der Sturm der Ereignisse im europäischen Raum hatte nachgelas sen, aber seine Wirkungen machten sich auch noch in der verhältnis mäßigen Ruhe, die ihnen folgte, bedenklich bemerkbar. In einer Zu sammenkunft kirchlicher Würdenträger, die über die verzweifelte Lage des Westfrankenreiches berieten, hieß es: »Die Städte sind entvölkert, die Klöster zerstört und ausgebrannt, das Land verödet. Wie die er sten Menschen ohne Gesetz lebten, so verachtet nun ein jeder das Got tes- oder Menschenrecht und tut, was ihm beliebt. Die Starken unter drücken die Schwachen, niemand scheut vor Gewaltsamkeit gegen die 366
Armen zurück und auch nicht vor Raub an Kirchengütern. Die Men schen verschlingen einander wie die Fische im Meer.« So trostlos waren die Zustände im Innern der Länder. Aber auch die Meeresküsten blieben durch die kriegerischen Seefahrten der Musel manen bedroht – um so heftiger, seit sie die wichtigsten Inseln besetzt hatten. Die Hafenstädte Korsikas und Sardiniens sowie Malta waren Flottenstützpunkte, von denen aus sie in den Süden des Westfranken reiches und die Apenninische Halbinsel einfielen. Sogar Rom, das zu allem noch von einer Feuersbrunst verheert worden war, blieb nicht von solchen Überfällen verschont. Der Heilige Stuhl, der den Kirchen staat nicht durch Waffengewalt schützen konnte, machte sich den Mu selmanen zinspflichtig und versuchte, den Frieden durch Geld zu er kaufen. In dieser düsteren Welt galt nur der erfolgreiche Kampf um das nack te Leben und, wenn das von allen Nöten bedrängte Dasein trotz des verzweifelten Widerstandes frühzeitig zu Ende gehen sollte, die Hoff nung auf das ewige Leben. Es war um das christliche Abendland in jeder Hinsicht schlecht be stellt. Statt der einheitlich geordneten Verwaltung des geeinigten Fran kenreiches, in dem die Wirtschaft und der Handel vorübergehend auf geblüht waren, gab es, je nach der Einsicht und Umsicht der einzel nen Herrscher in den einzelnen Ländern, da und dort schlecht oder recht geleitete Anwesen, deren Ertrag den Bauern und Bürgern nur dann zugute kam, wenn die Landesherren in ihrer Willkür nicht ihre eigenen Schatzkammern vorzogen, um sich durch flüssige Gelder der Gefolgschaft minderbegüterter Herren und Nachbarn vergewissern zu können, die sie in Abhängigkeit hielten und von denen sie doch abhän gig waren, wenn es galt, über Truppen zum Schutz ihrer Länder verfü gen zu können. Die gesellschaftliche Schichtung war im wesentlichen unverändert geblieben. Die Last der Landarbeit lag auf der freien Bau ernschaft und den Hörigen, die das Feld für die Grundbesitzer bebau ten und ihre Herden betreuten. Die Grafen und ihre berittenen Ge folgsleute, die kurzweg ›Ritter‹ genannt wurden, dienten den jeweili gen Herzögen oder geistlichen Würdenträgern, von denen sie ihre Be 367
sitztümer zu Lehen erhalten hatten oder deren Gönnerschaft sie sich vergewissern wollten. Sie waren Verwaltungsangestellte der hohen Herren, in deren Namen sie die Siedlungen beschützten, die sich zu Städten entwickelten. Sie stellten auch den Heerbann. Ihre Lebensfüh rung war, den rauhen Umständen angepaßt, einfach, wenn sie auch in mächtigen Steinburgen hausten. Ihr persönlicher Ehrgeiz beschränk te sich auf Reiterkünste, die Ausbildung im Gebrauch von Waffen und die Jagd. Nur in den von ihren Schirmherren oder von festen Mauern ge schützten Klöstern wurde die geistige Tätigkeit fortgesetzt, die in der Hofschule von Aachen einen so vielversprechenden Aufschwung ge nommen hatte. Besonders das Benediktinerkloster von Sankt Gallen, in dem Ekkehard, der angebliche Dichter des Walthariliedes, gewirkt und Notker Balbulus die ›Chronik des Mönches von Sankt Gallen‹ ge schrieben hatte, war wegen seiner Schule berühmt und unterhielt mit den benachbarten Klöstern regen Verkehr, um das Schrifttum der Ver gangenheit durch Übersetzungen aus dem Urtext geläufig zu machen. Dort wurden auch die Werke von Aristoteles in der sorgfältig gemal ten Handschrift der Mönche der Nachwelt in deutscher Sprache be wahrt. Der Leiter der Klosterschule von Fulda und spätere Erzbischof von Mainz, Hrabanus Maurus, errang sich durch die Schulung seiner Mön che den Ehrentitel ›praeceptor Germaniae‹. Er war auch Verfasser phi losophischer Schriften, aber als der sächsische Mönch Gottschalk eine neue Lehre über die Vorbestimmung verfechten wollte, verdammte ihn Hrabanus. Das war kein Einzelfall im finsteren Mittelalter. Jeder eigenwillige Versuch der zeitgenössischen Klostergelehrten, über das ihnen erlaub te Maß der Altertumsforschung hinaus eine fortschrittliche Deutung zu wagen, die auch nur im geringsten gegen die geltende Glaubensauf fassung der römischen Kirche verstoßen konnte, wurde von den geist lichen Obrigkeiten im Keim erstickt. Das hatte auch Johannes Scotus erfahren, ein Ire, der unter dem Namen Erigena bekannt wurde und ein Günstling Kaiser Karls des Kahlen gewesen war. Erigena hatte es 368
unternommen, die Gotteslehre und die Offenbarung wissenschaftlich zu erklären und einen gemeinsamen Nenner für das Christentum und die griechische Philosophie zu finden. Sein Meisterwerk ›Über die Ein teilung der Natur‹ wurde nur von jenen Gelehrten und Priestern gele sen, die nicht davor zurückscheuten, den Unwillen der Päpste auf sich zu ziehen. Schließlich wurden die Schriften Erigenas aus den Kloster bibliotheken entfernt und auf Befehl des Heiligen Stuhles nach Rom gesandt, um als ketzerische Auslegungen verbrannt zu werden. Die Lehren dieses in Vergessenheit geratenen Johannes Scotus be handelten nicht nur die prüfende Unterteilung der Natur in ihre Ent stehungsformen, sondern auch seine im wesentlichen begründete Auf fassung, daß mit den Begriffen Himmel und Hölle nicht tatsächliche Orte, sondern nur Seelenzustände gemeint seien. Er erklärte, die Höl le sei das Unglück der Sünde an sich, der Himmel aber das von Tugend erfüllte Glück im Anblicke Gottes, der sich der reinen Seele offenbart. Alles, was geschaffen worden sei, sei unsterblich. Auch die Tiere hätten eine Seele, die nach ihrem Tod, wie die Dinge nach ihrem Vergehen, zu Gott, der sie erschaffen habe, zurückkehren würde.
Wer sich nicht an den genauen Wortlaut der Glaubenssätze hielt, die vom Heiligen Stuhl als gültig anerkannt wurden, und eine neue Aus legung versuchte, dem drohte die Gefahr, als Ketzer verurteilt und aus der Kirche ausgestoßen zu werden. Diese unerbittliche Beschränkung verhinderte jegliche Gelehrsam keit in anderer Richtung. Bedingungslose geistige und geistliche Un terwerfung wurde nicht nur von Priestern, sondern auch von den weni gen Laiengelehrten verlangt. Die Gründung des Klosters Cluny durch Herzog Wilhelm den Frommen von Aquitanien bewirkte eine noch strengere Frömmigkeit der Bevölkerung, um so mehr, als die Buß übungen und die enthaltsame Lebensweise der Mönche von Cluny von den Mönchen anderer Klöster nachgeahmt wurden und die Weltflucht und Lebensverachtung, die sie predigten, den harten Zeiten entgegen 369
kamen. Die allgemeine Angst, die Papst Gregor der Große Jahrhunder te vorher heraufbeschworen hatte, lebte neu auf. Das einzige Heil wur de von der Gnade des HERRN erwartet und von SEINEM Stellvertre ter in Rom, dem die Äbte und Mönche der sogenannten Cluniacenser Bewegung allein unterstanden. Der christliche Glaube war das einzige Licht des ›finsteren Mittelalters‹ – im Abendland. II Die Begriffe ›Orient‹ und ›Okzident‹, die das Aufgehen und Unterge hen der Sonne bezeichneten, umschrieben damals nur den geschicht lichen Raum des christlichen Abendlandes und des muselmanischen Morgenlandes. Die Einbildungskraft der zeitgenössischen westlichen Herrscher war durch die mangelhafte Verständigung mit fernen Län dern des Ostens so sehr beschränkt, daß sie sich lediglich mit ihrer nächsten Umgebung beschäftigten und mit den Ereignissen, die un mittelbar auf sie einwirkten. Was jenseits der Meere an fremden Kü sten oder jenseits der von den Magyaren und Slawen bewohnten Ge biete geschah, danach fragten weder die Könige des Westfrankenrei ches, die Urenkel Karls des Großen, ob sie nun Ludwig der Stamm ler, Ludwig III. Karl der Dicke oder Karl der Einfältige hießen, noch der letzte Ostfrankenkönig Konrad I. und sein Nachfolger, der Sach senherzog Heinrich. Heinrich war von Konrad designiert worden und unternahm es, die anderen Stammesherzöge zur freiwilligen Anerken nung seiner Oberhoheit zu bestimmen. Das gelang ihm durch persön liche Unterhandlungen mit seinen hohen Standesgenossen, in denen er seine Überzeugung zum Ausdruck brachte, daß das Reich als Gesamt heit nur durch das gütliche Einvernehmen der Herzöge untereinan der und mit dem von ihnen gewählten König erhalten werden könne. Um eine friedliche Einigung zuwege zu bringen, war Heinrich zu je dem tragbaren Zugeständnis bereit. Er beließ dem Herzog von Schwa ben die Verfügung über die Kirchengüter und sagte Arnulf von Bayern 370
die Unantastbarkeit seiner Hoheitsrechte in seinem Herzogtum zu. In einem Vertrag, den der nun von allen Stammesherzögen als König an erkannte Heinrich I. mit dem Westfrankenkönig Karl dem Einfältigen in Bonn schloß, wurde endgültig festgelegt, daß die beiden Franken reiche selbständige Staatengebilde sein sollten. Damals wurde die Be zeichnung ›regnum Teutonicorum‹ zum ersten Male für das Ostfran kenreich gebraucht. Der erste deutsche König, der wegen seiner Leidenschaft für die Fal kenjagd den Beinamen ›der Vogler‹ führte, fand, über die persönliche Verständigung hinaus, neue Verfassungsformeln für die grundsätzli che Beziehung zwischen dem Königtum und der übermächtig gewor denen Herzogsgewalt. Im wesentlichen war die Stellung Heinrichs die eines ›primus inter pares‹, des Ersten unter Gleichberechtigten. Seine Vorherrschaft beruhte auf der von den Herzögen gutwillig übernom menen Verpflichtung, Heeresdienst zu leisten und auf den Reichsta gen zu erscheinen, die er einberufen durfte. Eigentlich war das deut sche Königreich ein Bundesstaat, dessen einzelne Angehörige erkann ten, daß sie zusammenhalten müßten, um den unablässigen Angriffen von außen gewachsen zu sein. Heinrich hatte die geistliche Königssalbung abgelehnt, um seine tat sächliche, althergebrachte Stellung als erwählter ›furisto‹ zu unterstrei chen und die Eifersucht der anderen Herzöge nicht durch ein feierlich erklärtes ›Gottesgnadentum‹ seiner Person anzustacheln. Er wollte als Sachsenherzog für sein eigenes Herrschaftsgebiet und die Herzogtü mer seiner Standesgenossen, die ihm die Führung anvertraut hatten, so beispielgebend wirken, daß der hoffnungslosen Unruhe im ganzen Reich ein Ende bereitet würde. Der Schutz gegen die Überfälle der Ma gyaren und Slawen war das erste und wichtigste Ziel Heinrichs. Er ließ Burgen bauen und die Bischofssitze, Klöster und Marktflecken seines Herzogtums ummauern. Er schuf auch ständige Besatzungen für die se festen Plätze und verfügte, daß alle öffentlichen Versammlungen und Festlichkeiten innerhalb der sicheren Mauern abgehalten wür den. Diese Maßnahmen gewährten nur mittelbaren Schutz gegen die Handstreiche berittener Feinde. Heinrich wollte ihnen auch im Felde 371
gewachsen sein. Bisher waren seine Sachsen in erster Linie Fußkämp fer gewesen. Er stellte ein Reiterheer auf und schulte es wie die Fuß kämpfer, in geschlossenen Reihen zu kämpfen. Im Winter des Jahres 928 erstürmte Heinrich an der Spitze seines neuen Heeres Brennaburg an der Havel, das spätere Brandenburg, das die wichtigste Siedlung des slawischen Stammes der Heveller war, und machte auch die benachbarten Daleminzier an der mittleren Elbe zins pflichtig. Ein Jahr später drang der König gemeinsam mit dem Herzog von Bayern in Böhmen ein und besiegte den Przemysliden Wenzel, der ihm vor der slawischen Hauptstadt Prag den Treueid leistete und die deutsche Oberhoheit anerkannte. Diese eindeutige Stärkung der östlichen Grenzen schüchterte die Sla wen und Magyaren zwar nicht so ein, daß sie ihre Einfälle nicht fort gesetzt hätten, aber wann immer sie kamen, stießen sie auf geordne ten Widerstand, der dazu führen mußte, daß auf die hemmungslosen Streifzüge und ihre vorsichtige Abwehr eine entscheidende kriegeri sche Auseinandersetzung folgen würde. Heinrich I. hatte auf die kirchliche Königssalbung nicht aus Mangel an Gläubigkeit verzichtet. Er beschwichtigte das Mißfallen der Bischö fe und bewies seine christliche Haltung durch eine planmäßige Bevor zugung der Klöster und Förderung der Mönche, die von Bremen aus die Bekehrung der nördlichen Völker fortsetzten. Als Sechzigjähriger erkrankte Heinrich I. Er hatte aus seiner Ehe mit Mathilde, die aus dem Geschlecht des widerspenstigen Sachsenherzogs Widukind stammte, einen Sohn. Den wollte er zu seinem Nachfolger machen. Er berief einen Reichstag in Erfurt ein und empfahl den ver sammelten Großen, Otto zu ihrem König zu erheben. Als Heinrich starb, wußte er nicht, ob die Herzöge und Grafen des Reiches, das er in solcher Unordnung übernommen und in so kurzer Zeit wieder ge festigt hatte, seiner Empfehlung nachkommen würden. Würden sie ei nen Vierundzwanzigjährigen als ›primus inter pares‹ anerkennen?
372
III Während das christliche Abendland noch der blutig umstrittene Schau platz der großen und kleinen Völkerbewegungen zu Land und zur See war und ein freudloses Dasein fristete, gab sich das muselmanische Morgenland besserem Leben hin. Es gab wohl auch Kriege und blu tige Unruhen, aber die freundliche Sonne des Orients und der Reich tum der Länder, die die Kalifen beherrschten, kamen der fortschrei tenden Entwicklung besonders auf den frühen geschichtlichen Boden des Zweistromlandes so sehr entgegen, daß Aufstände und Feldzüge sie zwar für kurze Zeit unterbrechen, aber nicht aufhalten konnten. Vielleicht war das Bekenntnis zum Genuß, den die mohammedani sche Lehre keineswegs verdammte, sondern eher als himmlisches Ziel pries, verantwortlich für die Verfeinerung der Lebensformen der Mu selmanen und für ihre vorurteilsfreie Betrachtung des Daseins. Es gab gewiß den Koran und die Beschränkungen, die er auferlegte, aber es stand nirgends geschrieben, daß die Freiheit des Denkens und die Lust am Leben durch den Glauben eingeschränkt werden solle. Schon Al-Mamun, der Sohn des Kalifen Harun al-Raschid, des freundschaftlichen Zeitgenossen Karls des Großen, gab ein leuchten des Beispiel für die Duldung eines morgenländischen Herrschers. Sei ne Vertrauensmänner und hohen Würdenträger mußten nicht Musel manen sein. Ob sie Christen, Juden oder Anhänger Zarathustras wa ren, galt dem Kalifen gleich. Sie konnten glauben und leben, wie sie wollten, sofern sie ihm gut dienten. Er ließ aus allen Orten, an denen die Wissenschaft gepflegt wurde, Gelehrte kommen. Er sorgte für die Übersetzung antiker griechischer Werke ins Arabische und unterhielt in der Akademie der Wissenschaften, die er in Bagdad gründete, Ärz te, Musiker, Dichter, Mathematiker und Stern- und Himmelsforscher so freigebig, als wären sie in Palästen geboren worden. 373
Ein Bericht über die Art, wie sich der Kalif seinen Tag vertrieb, blieb erhalten: »Al-Mamun pflegte jeden Dienstag Gäste einzuladen, um mit ihnen wissenschaftliche Fragen zu besprechen. Die Gelehrten wurden in teppichbelegte Säle geführt, Tische mit Speisen und Trank wurden gebracht. Sobald die Mahlzeit beendet war, holten Bedienstete Räu cherschalen und Weihrauch. Die Gäste besprengten sich mit den Düf ten, dann wurden sie vor den Kalifen geführt. Er sprach mit ihnen so freundlich und sachlich, so frei von Hochmut eines Herrschers, wie man es sich nur denken kann. Bei Sonnenuntergang wurde eine zweite Mahlzeit aufgetragen. Erst dann kehrten die Gäste heim …« Auch unter Abu, dem Bruder Al-Mamuns, und seinen Nachfolgern blieb die Wissenschaft in hohem Ansehen, wenn die Kalifen auch ihre Hofhaltung aus Angst vor Aufständen von Bagdad nach Samarra ver legten. Die türkischen Leibwachen, die sie sich hielten, wie sich die rö mischen Kaiser germanische Leibwachen gehalten hatten, nahmen an der verbesserten Lebensweise teil. Ihre Befehlshaber erbauten pracht volle Herrensitze. Lusthäuser mit Fontänen und Bädern standen in üppigen Gärten. Diese aus den innerasiatischen Bergen stammenden türkischen Offiziere waren die ersten Nutznießer des muselmanischen Reichtums – und die Schrittmacher ihres Volkes, das ihn erobern soll te. Daß das ehemalige ungeheure mohammedanische Reich, das sich von der Westküste Spaniens bis in das innerste Asien erstreckt hat te, schon damals in voneinander unabhängige Teilreiche zerfallen war, beeinträchtigte nicht den allgemeinen Hang der Kalifen und ihrer Un tertanen zur Gelehrsamkeit und zur Lebensfreude. Im Osten zum Beispiel beherrschte die Samanidendynastie, die Nachkommen eines persischen Edelmanns, Saman, das Reich Trans oxiana, in dem die persische Sprache zu neuem Leben erweckt wurde und in dessen bedeutendsten Städten Samarkand und Buchara Kunst und Bildung nicht weniger gepflegt wurden als in Bagdad. Vielleicht war es auf die Überlieferung der fernen Vergangenheit zurückzuführen, daß die erprobten Künste der Tierzucht so erfolg reich angewandt werden konnten. Rinder, Pferde, Ziegen und Elefan 374
ten dienten den wohlhabenden Haushalten. Auf dem willigen Boden gediehen alle Arten von Getreide, Gemüse und Früchten. Der Oran genbaum wurde gleichzeitig mit dem Zuckerrohrbau aus Indien ein geführt und die Baumwolle angepflanzt. Die Kalifen sorgten für die künstliche Bewässerung trockener Gegenden, so daß manche Gebiete das ›irdische Paradies‹ genannt wurden. Es gab nur wenige handwerk liche Neuerungen. Der Fortschritt beruhte auf der Verbesserung und geschickteren Ausbeutung alter Verfahren. Nur eine einzige tatsächli che Erfindung konnte später festgestellt werden: die Windmühle. Aber die geübten Handfertigkeiten wurden so verfeinert, daß sie Erfindun gen gleichgesetzt wurden, wie zum Beispiel die Wasseruhr, die Harun al-Raschid seinem abendländischen kaiserlichen Freund als aufsehen erregendes Geschenk nach Aachen gesandt hatte und die als Weltwun der bestaunt worden war. Es war auch ganz außerordentlich zu sehen, wie geschmiedete, goldschimmernde Reiter Stunde um Stunde die Tür des Uhrgehäuses öffneten und Bälle auf eine Zimbel fallen ließen, be vor sie sich zurückzogen. Der klingende Aufschlag der Bälle sagte die Stunden an. Wie viele Jahre der Künstler an dieser in jeder Einzelheit zierlich verfertigten Wasseruhr gearbeitet haben mochte, wurde nicht erwähnt, aber Zeit spielte bei den Handwerkern des Orients keine Rol le, wenn es galt, vollkommene Dinge zu schaffen. Sie wurden für ihre eigenartigen Leistungen entsprechend bezahlt und setzten ihren Stolz darein, daß in ihren Städten die beste Ware ihrer Art erzeugt wur de. Jeder namhafte Ort berief sich auf seine besondere Kunstfertig keit. Aus Damaskus kam Damast, aus Mossul Musselin. Die syrischen Städte Sidon und Tyrus waren schon im Altertum wegen der Erzeu gung ihrer reinen und feinen Gläser bekannt gewesen, jetzt wurden sie berühmt. In anderen Städten wurden köstliche keramische Vasen, Na deln und Kämme verfertigt; Wohlgerüche, Seifen und Teppiche, die ihre örtliche Eigenart und besondere Bewertung hatten. Der Austausch der Waren vollzog sich in allen Windrichtungen, bis zur chinesischen Grenze. An den Handelsstraßen fanden die Kaufleu te und Reisenden Stallungen und bequeme Herbergen, die auch höch sten Ansprüchen gerecht wurden. Für die Sicherheit des Verkehrs wur 375
den einige Schutzmannschaften eingesetzt, und da auch die vorneh men Muselmanen den Kaufmannsstand keineswegs so gering schätz ten, wie es ihre europäischen Standesgenossen taten, wurden die end losen Karawanen der schwerbeladenen Kamele von adeligen Reitern begleitet, die die angenehme Abwechslung des Rittes mit dem Nützli chen der Bewachung verbanden. Die Märkte in den Städten waren die Zusammenkunftsorte nicht nur von Kaufleuten, sondern auch von Dichtern und Gelehrten, die sich äußern wollten oder ständige Schirmherren und reiche Gönner suchten. Der orientalische Handel war nicht nur ein Kaufen und Ver kaufen von einer Hand zur andern. Wer Geld hatte, konnte sich an verzweigten Unternehmungen beteiligen und hatte es nicht nötig in bar zu zahlen. Ein Schuldschein genügte, der die Summe der Betei ligung festlegte und gegen Vorlage zu einem bestimmten Zeitpunkt in den entsprechenden Betrag in Gold- oder Silbermünzen eingelöst wurde. Diese Scheine wurden ›sakk‹ genannt. Sie waren die Vorläufer der nach ihnen benannten Schecks. Noch viele andere Wörter, die später im Sprachgebrauch des We stens Verwendung fanden, entstammten dem alltäglichen Gebrauch des Orients, wie Tarif und Magazin, Arabeske und Matratze, Sofa, Barke und Kabel. Auch die damals so seltenen Genußgüter, wie Oran gen und Limonen, Zucker und Sirup, wurden durch den Verkehr mit dem Orient in den Westen eingeführt. Nur wenige Auserwählte der im ›finstern Mittelalter‹ lebenden Be völkerung des Abendlandes wußten von der gleichzeitigen Glanzzeit des Morgenlandes und nahmen in bescheidenem Maße daran teil. Die unsichtbare Grenze, die zwischen den einander örtlich so nahen und doch so verschiedenen Lebensformen lag, war durch die Verschieden heit des Glaubens und der damit verbundenen Weltanschauung be dingt. Auch die gesellschaftliche Schichtung war anders gelagert. Im Abendland hatte die Sklaverei im wesentlichen aufgehört oder doch andere Formen angenommen, denn es stand geschrieben, daß Chri sten keine Christen versklaven dürften. Im Orient aber hatte die Skla verei zugenommen, obwohl auch der Koran die Versklavung von Mu 376
selmanen verbot. Aber während die Völker und Herrscher des Okzi dents vollkommen damit beschäftigt waren, sich in ihrem engen Raum zurechtzufinden und zu einer neuen völkischen und gesellschaftlichen Ordnung und zur Ruhe zu kommen, weitete sich die Welt der Musel manen durch Handel und Feldzüge. Ihre Möglichkeit, nicht-muselma nische Sklaven und Sklavinnen mit Geld oder durch Gewalt zu erwer ben, war beinahe unbeschränkt. Aber wenn auch der Muselman frei über Leben und Tod der Sklaven verfügte, so war doch die Behand lung, die er ihnen angedeihen ließ, allgemein recht menschlich. Der Sohn einer Sklavin mit ihrem Herrn war von Geburt an frei. Die Skla ven durften heiraten. Die Kinder von Sklaven konnten, je nach ihrer Fähigkeit und Ausbildung, zu den höchsten Stellen des Staates aufrük ken. Sehr viele Sklaven kamen aus Afrika. Aber die Hautfarbe war kei ne Schranke, wenn eine Negersklavin ihrem Herrn gefiel. Die Misch linge, die so entstanden, vermehrten sich und wurden ebensowenig herabgesetzt oder unterschiedlich behandelt wie die Abkömmlinge von Chinesinnen mit Arabern oder von weißhäutigen, blondhaarigen Frauen aus dem europäischen Raum, die wegen ihrer verhältnismäßi gen Seltenheit besonders hohe Preise auf dem Sklavenmarkt erzielten. Da die grobe Arbeit im Haus und auch in den Werkstätten von Skla ven verrichtet wurde, hatten ihre Besitzer so viel Muße, wie sie nur wünschen konnten. Alle Arten des Sports wurden in täglichem Wett bewerb geübt, vor allem die Handhabung von Waffen. Es gehörte zur guten Erziehung, Bogenschießen, Speerwerfen und Fechten zu lernen. Um die Glieder gelenkig und geschmeidig zu erhalten, wurde gerit ten, geboxt und gerungen und der Ernst des Kampfes im Spiel durch Polo- und Krocketspiele, mit Hockey- und Ballschlägern vorweg genommen. Es wurden Pferderennen und Jagden veranstaltet. Aber die männlich aufrechte Haltung, die eine Vorbedingung bei der Aus übung der sportlichen Veranstaltungen war, wurde nur außerhalb der eigenen Häuser bewahrt. In ihren vier Wänden genossen die Männer die Wohlgerüche ebenso wie die Frauen ihres Harems und trugen lose Hauskleider aus Seide über ihren mit Rosen-, Veilchen- und Jasminöl gesalbten Körpern. Blumenbeete und bunte Teppiche, deren lebendige 377
Ornamente den Vorbildern der Natur nachgebildet waren, schmück ten Gärten und Häuser. IV Während die Klosterschulen des Abendlandes nur wenigen Auser wählten zugänglich waren und sich der Lehrplan mit den Anfangs gründen des Wissens begnügte, war der Unterricht im Morgenland allgemein. In jeder größeren Siedlung gab es eine Schule, in der schon die Sechsjährigen Tag für Tag einen Teil des Korans erklärt bekamen und auswendig lernten. Aber noch bevor sich die Kinder in der Mo schee oder in der Nähe eines öffentlichen Brunnens um einen Lehrer versammelten, mußten sie im Elternhaus den wesentlichen Grundsatz und die Voraussetzung ihrer künftigen Bildung und ihr Bekenntnis aufsagen können: »Ich bezeuge, daß es keinen Gott gibt außer Allah, und Mohammed ist sein Prophet.« Diese Durchdringung des frühen Bewußtseins mit dem Glauben, dessen Vorschriften und Auslegungen den muselmanischen Kin dern zur zweiten Natur werden mußte, bestimmte ihre Entwicklung. Schon im zartesten Alter nahmen sie durch den Besuch der Schule an einem öffentlichen Wettbewerb teil, in dem am höchsten bewertet wurde, wer den ganzen Koran auswendig hersagen konnte. Er wur de zum ›hafiz‹, zum ›Behalter‹, und bekam, wenn er überdies noch schreiben lernte und sich auch im Sport tüchtig zeigte, den Titel ›al kamil‹, ›der Vollendete‹. Wer sich in der heimischen Schule so aus gezeichnet hatte, wurde zwar geehrt, aber er hatte nur die erste Stufe des Zieles aller erreicht, das darin bestand, ein ›adab‹ zu werden, ein wahrer Edelmann, der sich nach der Schulung durch höhere Lehren in vornehmer Lebensart, Sprachgewandtheit und Geschmack vervoll kommnet hatte. Daß die Begabtesten kostenfreien Zutritt zu den auf dem Grundsatz der griechischen Universität aufgebauten Erziehungsanstalten hatten, 378
war durch einen überlieferten Leitsatz des Propheten ausgelöst: »Die Tinte des Gelehrten ist heiliger als das Blut der Märtyrer.« Die Verbreitung des Allgemeinwissens, das nicht nur aus der Ausle gung des Korans, sondern aus einer gründlichen Kenntnis von Wort kunde, Logik, Mathematik und Rechtskunde bestehen mußte, wurde von den Kalifen und ihren Würdenträgern in allen Teilen der musel manischen Welt durch Geldbeihilfen an die Unterrichtsanstalten und durch lebenslängliche Gehälter für die erfolgreichen Schüler geför dert. Die in neuer Form wiederbelebte Erfindung des alten Ägyptens, das Papier, das die Chinesen nicht aus der ägyptischen Papyrusstaude, sondern aus anderen faserigen Pflanzen zu erzeugen gelernt und nach dem Westen ausgeführt hatten, trug dazu bei, die Gelehrsamkeit vom Gedächtnis des einzelnen unabhängig zu machen, der nicht mehr aus wendig lernen mußte, was er behalten wollte, denn er konnte es jeder zeit lesen. Die Kenntnis des Lesens und Schreibens wurde so volkstümlich, daß es in Bagdad um die Wende des neunten zum zehnten Jahrhun dert über hundert Buchhändler gab. Wer es sich nicht leisten konnte, die teuren Bücher zu kaufen, konnte sie in den öffentlichen Bibliothe ken der meisten Moscheen einsehen und nicht nur den Koran nach lesen, sondern sich auch an reichhaltigen und lehrreichen Fabeln er götzen und an den tausend Erzählungen, die aus dem Persischen ins Arabische übertragen worden waren und als ›Tausendundeine Nacht‹ künstlerisch zusammengefaßt wurden. Altarabische Dichtungen wur den unter dem Titel ›Buch der Lieder‹ gesammelt und standen den Le sehungrigen ebenso zur Verfügung wie wissenschaftliche Werke. In der Kalifenbibliothek von Kairo gab es schon im zehnten Jahr hundert hunderttausend Bände. Aber auch gewöhnliche Sterbliche be saßen umfangreiche Büchersammlungen. Ein Arzt, der an den Hof eines Kalifen berufen wurde, lehnte die ehrenvolle Einladung ab, da er vierhundert Kamele zur Übersiedlung seiner Bibliothek nötig ge habt hätte. Es gab erdkundliche Wörterbücher, medizinische Hand bücher, mathematische Lehrbücher und Landkartensammlungen, die im ›Buch der Länder‹ vereinigt waren. Die Übersetzungen der griechi 379
schen Philosophie wurden erläutert und durch neue Forschungen ver vollständigt. Arbeiten, wie das Werk des Aristoteles ›Über die Fort pflanzung und Entartung der Tiere‹, Platos ›Staat‹ und die Wiederbe lebung und Verarbeitung der mathematischen Kenntnisse des Alter tums unter dem Namen ›algebra‹ wurden Gemeingut und Lehrbehelf des in Bagdad gegründeten ›Hauses der Weisheit‹, das beispielgebend war und in der mohammedanischen Welt nachgeahmt wurde. Bei dieser planmäßigen Sammlung von Kenntnissen und Erkennt nissen ging es den Forschern und ihren Förderern nicht nur darum, das Wissen um des Wissens willen zu erfassen und zu verwalten, son dern auch darum, es den weitesten Kreisen zugänglich zu machen. So lehrte das Pflanzenbuch Abu Dinawaris die Pflanzenzüchter, durch Aufpfropfen neue Früchte zu ziehen, und die zeitgenössischen Schrif ten, die die Stoffkunde vermittelten, die Verarbeiter von Drogen und Metallen, Grundstoffe miteinander zu vermischen und dadurch neue Stoffe zu schaffen. Die Einwirkung von Sonne und Feuer auf Stoffe wurde untersucht und die Ergebnisse in der Heilkunde und in der Me tallurgie angewandt. Die Belebung des Wirtschaftslebens durch den Geist hatte die Ent stehung neuer Berufszweige zur Folge und dadurch wieder eine be deutsame Verbesserung der Lebensformen, die erst dem Morgenland und der ihm verbundenen muselmanischen Welt zugute kam, bevor sie dem Abendland zugänglich wurde. V Die ersten Vermittler zwischen dem Orient und dem Okzident waren die Juden. Seit sie das heimische Palästina verlassen hatten, waren sie kein Volk mehr im üblichen Sinn, sondern die verstreuten Anhänger ihres Glaubens, der sie zu einer geschlossenen Gemeinschaft verband, auch wenn sie örtlich voneinander getrennt waren. Nach der Vertreibung aus ihrem geschichtlichen Land an der Süd 380
ostküste des Mittelmeers in alle Windrichtungen waren die Juden nur selten vom Glück begünstigt gewesen. Die im Mutterland Verbliebe nen hatten um ihres Glaubens und ihrer Lebensform willen wiederholt mutig zu den Waffen gegriffen, aber die Grausamkeit, mit der ihre Ver suche, die völkische Unabhängigkeit und Freiheit wiederzugewinnen, unterdrückt worden waren, hatte dazu geführt, daß die Gemeinden, die sich überall dort ansässig gemacht hatten, wo sie geduldet oder ge fördert worden waren, Palästina nur mehr als die Hoffnung einer fer nen Zukunft betrachtet hatten. Beinahe an allen Ecken und Enden der bewohnten Erde entstanden jüdische Niederlassungen. Die Juden bauten ihre Gotteshäuser in Chi na, im Zweistromgebiet, in Arabien, in Ägypten und in den meisten Ländern des europäischen Raumes. In den Gegenden, in denen es ih nen verboten war, Grund zu bebauen, trieben sie Handel. Das unent wegte Aufrechterhalten ihrer Beziehung zu ihren fernen Glaubensge nossen erleichterte ihnen den Warenaustausch. Sie gewannen Einfluß auf die Schiffahrt und dienten den Ländern, in denen sie ansässig wa ren, auch als Vermittler geistiger Güter. Im nahen Orient und im fernen Osten waren sie nur selten durch häßliche Vorurteile gefährdet. Im finsteren Mittelalter aber wurden sie von ihren abergläubischen Zeitgenossen verfolgt. Bedeutende Herr scher des christlichen Abendlandes, wie Theoderich der Große, und weitsichtige Päpste ließen ihnen ihren besonderen Schutz angedeihen, auch die arianischen Westgotenkönige auf der Iberischen Halbinsel, bis zu dem Zeitpunkt, in dem sich König Rekkared zum katholischen Glauben bekannte. Von ihm und seinen Nachfolgern wurden die Juden rücksichtlos bedrängt und konnten erst wieder aufatmen und Wurzel fassen, als die Muselmanen die Iberische Halbinsel eroberten und die gewohnte Gemeinsamkeit mit den dort ansässigen Juden herstellten. Die unter dem Kalifat von Cordova lebenden Untertanen jüdischen Glaubens waren keinen Unbilden ausgesetzt. Sie lebten ebenso unbe lästigt wie ihre Glaubensgenossen im Orient. Was die Haus an Haus wohnenden, die gleichen Berufe ausübenden Muselmanen von den Juden unterschied, äußerte sich nur in der Verschiedenheit ihres Be 381
kenntnisses und der daran gebundenen Vorschriften. Auch die Juden hatten sich nicht mit den von Moses schriftlich niedergelegten Geset zen begnügt und sich auf ein mündliches Gesetz berufen, das von Ge schlechterfolge zu Geschlechterfolge weitergegeben und erweitert wor den war. Schon zur Zeit Christi hatten sich die Pharisäer und Sad duzäer darüber gestritten, ob das mündlich überlieferte Gesetz eben falls göttlichen Ursprungs sei. Nach der Flucht aus Palästina hatten die Schriftgelehrten und Geistlichen der Juden, die ›Rabbiner‹ genannt wurden, das von den Pharisäern verfochtene mündliche Gesetz als Gottesgebot anerkannt und den Büchern Mosis angeschlossen. So ent stand die ›thora‹, das Gesetz schlechthin, unter dem die Juden lebten und der ›talmud‹, die ›Lehre‹, die Sammlung aller jüdischen Satzun gen. Der Talmud war das Ergebnis eines jahrhundertelangen Beur teilens und Erläuterns des Gesetzes, das den Notwendigkeiten der Ju den ohne Land angepaßt wurde, ohne daß die schriftlich und münd lich überlieferte Gesetzgebung Mosis im wesentlichen verändert wer den durfte. Die Rabbiner waren keine Berufsgeistlichen. Sie gingen ihrem tägli chen Erwerb nach wie alle anderen Juden, sie wurden Gelehrte um des Glaubens und der Wissenschaft willen, die die Weisheit der Heiligen Schrift verwalteten und sich bemühten, sie den Gläubigen nahezubrin gen. Vor allem betonten sie die Einheit Gottes. Das wichtigste jüdische Gebet lautete: »Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist ein einiger Gott!« Der Name Gottes, ›Jahve‹, durfte nur bei ganz seltenen feierlichen An lässen ausgesprochen werden. Neben ›Jahve‹ galten weder Propheten noch Heilige. Die Rabbiner nannten Gott für gewöhnlich ›Adonai‹, der ›Herr‹. Er war: ›Unser Vater im Himmel‹. Sie lehrten, daß alles auf Erden einen göttlichen und segenbringen den Zweck habe. Zwischen Gott und Mensch höre die Beziehung nicht auf. Jede Tat, jeder Gedanke eines Menschen ehre oder schände die Allgegenwart Gottes. Der Mensch habe eine Seele, die ihn zur Tugend anleite, und einen Leib, der sündig sei. Vielleicht käme die Sünde vom Satan und von den allerorts lauernden üblen Geistern. Die Sünde sei natürlich, aber die Schuld nicht ererbt, und jedes Übel könne sich am 382
Ende zum Guten wenden. Ohne irdische Begierden könne der Mensch weder arbeiten noch sich vermehren. Es hieß im Talmud: »Kommt, wir wollen unseren Vorfahren dankbar sein, denn hätten sie nicht gesün digt, so wären wir nicht auf der Welt.« Die Juden glaubten nicht an die Erlösung für den einzelnen, sondern für das ganze Volk. Wenn Davids Sohn als königlicher Messias kom men würde, so beteten sie täglich, dann würde er sie wieder zu einem freien geeinten Volk machen, das Gott im eigenen Tempel von Jerusa lem mit den alten Feierlichkeiten und Liedern verehren könnte. Der muselmanische Rufer zum Gebet, der ›muezzin‹, ermahnte die gläubigen Mohammedaner fünfmal am Tag laut und vernehmlich zum Gebet. Das geschah, nachdem der Islam zum herrschenden Glau ben geworden war. Die Juden aber waren bestenfalls geduldete Unter tanen. Ihr Rufer zum Gebet mußte das eigene Gewissen sein und ihr verinnerlichter Wunsch, ihrem Gott bei allen vorgeschriebenen Gele genheiten nahe zu sein. Sie befestigten am Morgen kleine Behälter mit Bibelworten mit ›Gebetsriemen‹ an der Stirne und an den Armen und nahmen keine Mahlzeit ein, der nicht ein kurzes Tischgebet voranging und ein Dankgebet folgte. Der Lehrsatz des Talmud, daß sich Men schen nur zusammenhalten ließen, wenn sie gemeinsame Dinge ver richteten, veranlaßte die Juden, gemeinsam zu beten. Aber auch dort, wo es keine Synagogen gab, wie ihre Gotteshäuser genannt wurden, hielt die Gemeinsamkeit ihrer Regeln die Juden zusammen. Es waren Vorschriften der Sauberkeit, die sich auf alle Einzelheiten der Gesund heitspflege erstreckten und sogar bildhaft vorschrieben, wie Bäder ge nommen werden sollten: »Badet einer in heißem Wasser und läßt nicht kaltes Wasser nachfließen, so ist es, wie wenn Eisen im Ofen zum Glü hen gebracht wird, ohne nachher in kaltes Wasser getaucht zu wer den.« Das Waschen der Hände vor und nach jeder Mahlzeit und vor den Gebeten wurde zur selbstverständlichen Gewohnheit und Pflicht, ebenso wie die Vermeidung aller als unrein bezeichneten Lebensvor gänge oder aller als unrein bezeichneten Genußmittel. Ursprünglich galt die Beschneidung der Knaben als ein Opfer an Jahve, durch wel ches das Bündnis des Beschnittenen mit seinem Gott bestätigt wer 383
den sollte. Der Talmud fügte der Glaubensauslegung die Erklärung der Gesundheitspflege hinzu, von der auch andere aus dem Morgen land stammende Völker in gleicher Weise Gebrauch machten. Der Ge nuß von Schweinefleisch war verboten worden, da die Juden in frü her Zeit die Erfahrung gemacht hatten, daß die Schweine Wurmträger und als solche gesundheitsgefährdend wären. Im Talmud wurden die Gründe für alle Ernährungsbeschränkungen, die den Gläubigen auf erlegt wurden, mit zeitgenössischer Wissenschaftlichkeit erklärt, auch die Gründe für die Schlachtung, die so vorgenommen werden sollte, daß einerseits das Tier möglichst wenig Schmerz verspüre und ande rerseits dem Fleisch alles Blut entzogen werde. Die Schlachtung muß te von Fachleuten vorgenommen werden, damit sie auch die Eingewei de auf Krankheit untersuchten. Das Verbot, Fleischspeisen gleichzeitig mit Milchgerichten zu genießen, wurde medizinisch begründet. Die eigenartigen Verbote und Beschränkungen, die sich die gläubi gen Juden auferlegten, hatten keineswegs den Zweck, ihre Lebensfreu de einzuengen. Ihre im Talmud gesammelten Weisheiten beruhten auf der geübten Erfahrung von Jahrhunderten und sollten durch die zur Regel erhobene Vorsicht Schaden verhindern. Aber die guten Din ge des Lebens sollten genossen werden. Es hieß: »An einer Feier muß der Mann sein Weib und seinen Haushalt froh machen.« Die Glauben sausübung sorgte dafür, daß es außer der altüberlieferten Sabbat-Freu de, der wöchentlichen Danksagung an den HERRN, viele Festlich keiten gab. Jeden Tag solle man hundert Lobpreisungen aussprechen, empfahl ein berühmter Rabbiner. Kein Jude solle den geschriebenen Grundsatz vergessen: »Die ganze Erde füllt SEINE Herrlichkeit.« Die Juden hatten nicht die den Muselmanen gebotene Möglichkeit, ihre Kinder öffentlich zu schulen. Aber sie sorgten in noch eindring licherer Weise dafür, daß sie von frühester Kindheit an den Glauben und das Gesetz lernten. Das geschah nicht durch ein Aufsagen und Wiederholen des Erlernten, sondern durch Rede und Gegenrede zwi schen Lehrer und Schüler und zwischen den Schülern untereinander, die die Aufnahmefähigkeit beschleunigen und den Geist schärfen soll te. »Die Erlösung der Welt kommt durch den Atem von Schulkindern«, 384
hieß es im Talmud, und die Hochachtung der Gelehrsamkeit und des Wissens war das Ziel aller auf der Erde verstreuten jüdischen Gemein den, die nach dem Gesetz und der Lehre lebten. Ihr Glaube und ihre Gebräuche, die sie zusammenhielten, wo immer sie auch waren, und der sie, unabhängig vom Ort ihrer Geburt und ih res Aufenthaltes, zu gehorsamen Untertanen eines geistigen Vaterlan des machte, unterschieden die Juden von den anderen Bewohnern der Länder, in denen sie lebten und wirkten. Die Lebensweisheit und die gesammelten Erfahrungen von Jahrhunderten, die sie sich von Kin desbeinen an durch das Erlernen des Talmud aneigneten, erhoben sie über den Durchschnitt der ungebildeten Bevölkerung und entfremde ten sie ihren Nachbarn, wenn sie auch in reichem Maße die Lehre be folgten: »Wer heimlich Wohltätigkeit übt, ist größer als unser Meister, Moses.« An der weitverbreiteten Gelehrigkeit des Morgenlandes nahmen die Juden lebhaften Anteil. Es gab bedeutende jüdische Himmelsforscher, wie Maschallah, dessen Arbeit ›Über die Bewegung der Erde‹ zu frü her Berühmtheit gelangte, und Isaak Israeli, der als Augenheilkundi ger wirkte und auch als philosophischer Schriftsteller Geltung errang. Beinahe an jeder muselmanischen Akademie in allen Reichen des Is lam wirkten Juden und sorgten dafür, daß ihre Glaubensgenossen im finstern Mittelalter des fernen Abendlandes am Fortschritt des Geistes teilnehmen konnten.
385
Päpste, Herrscher und Völker I Otto von Sachsen, den Heinrich I. dem Reichstag in Erfurt als Nachfol ger empfohlen hatte, wurde von den Herzögen und großen Herren des ›regnum Teutonicorum‹ als König anerkannt. Aber der vierundzwanzig jährige Erbe wünschte nicht eine formlose Krönung wie sein bescheide ner Vater. Er wollte nicht nur die Lasten der Königsgewalt, sondern auch die Ehre und Macht. Das sollte von Anfang an feststehen, wenn er die von Heinrich I. vorgezeichneten Wege beschreiten und das so mühselig gestärkte Reich erweitern sollte. Der Leitsatz seines Vaters, daß er ›pri mus inter pares‹ sei, genügte Otto nicht. Er war entschlossen, die überle gene Stellung des höchsten Amtes deutlich zum Ausdruck zu bringen. Sein Vorbild war Karl der Große – nicht der junge Ehrgeizige, der sich durch rücksichtslose Gewalttätigkeit emporgeschwungen hatte, sondern der von groß und klein bewunderte und verehrte Vater der Völker, der aus seiner Kaiserstadt Aachen die westliche Welt mit ruhi ger Hand beherrscht hatte. Otto wollte in seiner Person die Herrscherlegende Karls erneuern und in jeder Hinsicht der Nachfolger des ersten germanischen Kaisers werden. Er wählte daher Aachen zum Ort seiner Krönung und sorg te dafür, daß die Festlichkeit so vor sich ging, wie er sich die Krönung Karls des Großen vorstellte. In der festlich geschmückten Säulenhalle, die den Königssitz mit der Marienkirche verband, wurde Otto auf den Thron er hoben. Die ver sammelten Herzöge und Grafen machten ihn nach altem Brauch zum König, indem sie ihm durch Handschlag huldigten und Hilfe und Treue gegen alle seine Feinde versprachen. 386
In der Kirche selbst erwartete der Erzbischof von Mainz, als der höchste geistliche Würdenträger, umgeben von der Priesterschaft den Eintritt des neuen Herrschers. Er berührte mit der Linken die rechte Hand Ottos I. und erhob mit seiner Rechten den Krummstab. »Sehet«, rief er den Anwesenden zu, »hier stelle ich euch vor den von Gott erko renen und von Herrn Heinrich zuvor bezeichneten, nun aber von allen Fürsten zum König erhobenen Herrn Otto.« Dann überreichte der Erzbischof dem König Szepter und Stab und beschwor ihn in feierlichem Tonfall: »Bei diesem Zeichen mögest du gedenken, daß du mit väterlicher Zucht deine Untertanen leitest und vor allem den Dienern Gottes, den Witwen und Waisen die Hand der Erbarmung reichst, und möge niemals auf deinem Haupt das Öl der Barmherzigkeit versiegen, auf daß du jetzt und in Zukunft mit ewigem Lohne gekrönt werdest.« Otto nahm die Ansprache gnädig entgegen. Er nahm huldvoll zur Kenntnis, daß sich die Diener Gottes in ihren kostbaren Meßgewän dern seiner Gunst ebenso vergewissern wollten, wie die großen Her ren, die ihm an der marmornen, mit fürstlichem Gerät verzierten Ta fel aufwarteten. Da saß er, das goldene Diadem auf der mit dem heiligen Öl gesalbten Stirn, auf seinem köstlichen, erhöhten Stuhl und sah mit Genugtuung zu, wie der Herzog von Lothringen, in dessen Hoheitsgebiet Aachen gelegen war, die Feier seinem Auftrag gemäß ordnete. Es geschah al les nach dem königlichen Wunsch: Der Herzog von Franken besorgte den Tisch, der Herzog von Schwaben überwachte die Mundschenken, der Herzog von Bayern nahm sich der am Krönungsmahl teilnehmen den Ritterschaft an. Durch die dienende Handlung, die sinnbildli che Bedeutung hatte, gaben diese stolzen, selbstbewußten Herzö ge kund, daß sie dem neuen König, der ›von Gott erkoren war‹, un tertänig sein würden. Der zeitgenössische Bericht über das bedeut same Ereignis schloß mit den Worten: »Der König ehrte einen je den der Fürsten, königlicher Freigebigkeit gemäß, mit angemesse nen Geschenken und entließ die Menge mit aller Fröhlichkeit.« Otto I. hatte allen Grund, fröhlich zu sein. Es war ihm schon am 387
Tage seiner Krönung das gelungen, was allen seinen Vorgängern seit Karl dem Großen, trotz aller Gewalttaten und Mühen, mißlungen war: er war von allen Mächten des Reiches als rechtmäßiger König aner kannt worden. Der Vierundzwanzigjährige sah eine großartige Zu kunft vor sich. II Schon im ersten Jahr der so vielversprechenden Herrschaft Ottos ver dunkelte sich seine Aussicht. Hermann Billung und Markgraf Gero, seine Vertrauensmänner, kämpften zwar erfolgreich gegen die benach barten Slawenstämme und verschoben die Grenzen des sächsischen Einflusses nach dem Osten. Aber die Stammesherzöge, die Otto so er geben an der Krönungstafel aufgewartet hatten, waren nicht willens, ihre sinnbildliche Untertänigkeit auch tatsächlich fortzusetzen, wenn es um ihre ererbten oder angemaßten Vorrechte ging. Der langjähri ge Bürgerkrieg, der dem Königtum Ottos ein frühzeitiges Ende zu be reiten drohte, war wohl in seiner Ereignisfolge verschieden, aber im wesentlichen durch die gleichen Grundsätze veranlaßt, die auch seine späteren Nachfolger gefährden sollten. Es handelte sich um den immer wieder auflebenden Kampf der bevorzugten Herren gegen ihren Ober herrn und seine Bemühung, ihre Machtbefugnisse zum Vorteil seiner Belange zu beschränken. Die Schwierigkeiten Ottos begannen, als er von Eberhard, dem Sohn und Nachfolger Herzog Arnulfs von Bayern, einen Verzicht auf die Ho heit über die bayrische Kirche begehrte. Diese Forderung war nicht un willkürlich und unbedacht. Sie war die erste Maßnahme eines großange legten Planes, von dessen Gelingen Otto sich die Sicherung der Königs herrschaft versprach. Die Bischofssitze und Klöster des Reiches waren die Mittelpunkte der Macht. Wenn Otto sie von sich abhängig machte und widerspenstige geistliche Würdenträger durch Männer seines Ver trauens ersetzen konnte, stärkte er seine Hand gegen die Landesherren. 388
Das erkannte Eberhard und lehnte die Forderung ab. Otto unter nahm zwei Feldzüge, vertrieb Eberhard und verlieh das Herzogtum Bayern an Berthold von Kärnten, der als Gegenleistung auf das Verfü gungsrecht über die Kirche verzichtete. Kurze Zeit darauf gab es einen neuen Anlaß für Otto, seine Königsmacht zu beweisen. Der Herzog von Franken, der gleichfalls Eberhard hieß, hatte die Burg eines sächsischen Edelmannes niedergebrannt, der sich geweigert hatte, ihm Heeresfolge zu leisten. Otto verurteilte den Übergriff und verlangte Buße, aber Eberhard mißachtete die kö nigliche Vorladung und verbündete sich mit dem Stiefbruder Ottos, Thankmar, der seinerseits Merseburg als Erbe beansprucht und nicht erhalten hatte. Thankmar begann die Feindseligkeiten, indem er Heinrich, den jün geren Bruder Ottos, gefangennahm und dem Frankenherzog ausliefer te. Er selbst verschanzte sich in einer festen Burg. Otto handelte rasch. Thankmar fiel im Handgemenge, das der Belagerung der Burg folgte. Aber Heinrich, den er jetzt befreien wollte, hatte inzwischen mit dem fränkischen Eberhard Freundschaft geschlossen. Das Ergebnis war eine Verlautbarung des jüngeren Bruders, daß er, und nicht Otto, der rechtmäßige König sei. Er, Heinrich, sei geboren worden, als sein Vater schon König gewesen war. Nach dem Salischen Recht sei daher er, und nicht Otto, der echte Anwärter auf den Thron Heinrichs I. Dieser Aufruf ermutigte den Herzog von Lothringen, sich dem Bund des Herzogs von Franken mit Heinrich anzuschließen. Die Herzöge waren gewiß, daß es ihnen gelingen würde, einen lenkbaren Sach senherzog statt des eigenwilligen Otto zum König zu machen, um so mehr, als Heinrich auf ihren Wunsch die Sachsen zum Aufstand gegen seinen Bruder aufrief. In den Feldzügen, die dieser Verschwörung folgten, wechselte das Glück. Die Lage Ottos wurde noch schwieriger, als der Herzog von Lothringen sich an Ludwig IV. den König des Westfrankenreiches, um Hilfe wandte. Mit seinem zahlenmäßig schwachen Heer konnte Otto keine Erfolge erzielen. Die einzigen Großen des Reiches, auf die er sich verlassen konnte, waren, außer Hermann Billung und Markgraf 389
Gero, der Herzog von Schwaben und zwei fränkische Grafen, die sich Otto aus Widerspruchsgeist gegen ihren Stammesherzog angeschlos sen hatten. Eine entscheidende Schlacht wurde von beiden Seiten er strebt. Aber als die Nachhut der gegen Otto verbündeten Herzöge den Rhein übersetzte, wurde sie von den beiden fränkischen Grafen über fallen. Eberhard von Franken fiel. Der Herzog von Lothringen ertrank im Rhein. Heinrich rettete sich durch die Flucht. Das traurige Ende seiner Feinde bedeutete nicht den Frieden für Otto. Er konnte zwar das Herzogtum der Franken als Eigentum der Krone beanspruchen, aber das Herzogtum Lothringen, dessen sich Ludwig IV. bemächtigte, blieb der Schauplatz heftiger Kämpfe. Gleichzeitig brachen neue Unruhen im Osten aus. Wenzel von Böh men, der dem Vater Ottos Treue geschworen hatte, war von seinem Bruder Boleslav ermordet worden, der nicht willens war, die Treue zu halten. Markgraf Gero, dessen Truppen Otto in Lothringen nötig ge habt hätte, um sich des Westfrankenkönigs zu erwehren, war seiner seits hart bedrängt und konnte sich nur mühsam behaupten. Auch die Magyaren waren wieder unruhig geworden. Jeder Mann unter Waffen war nötig, um die Ostgrenzen des Reiches zu verteidigen, während der König an der Westgrenze kämpfte. Erst der Vermittlung des mit einem Male freundlich gewordenen feindlichen Bruders Heinrich, der den mächtigsten Widersacher Lud wigs IV. innerhalb des Frankenreiches für Otto gewann, gelang es, das Blatt zu wenden. Als Belohnung verlieh ihm Otto das Herzogtum Lothringen, um dessen Besitz der Krieg mit dem Westfrankenreich ging. War Heinrich aber ein guter Verschwörer und ein tüchtiger Ver mittler, so zeigte er sich nun als unfähiger Verwalter. Der König ent zog ihm die Herzogswürde. Im gleichen Jahr gelang es Otto, in das Gebiet Ludwigs IV. einzu dringen und die Huldigung der wichtigsten Großen des Westfran kenreiches entgegenzunehmen. Während seiner Abwesenheit bereite te Heinrich einen Mordanschlag auf ihn vor. Die Verschwörung wur de aufgedeckt, aber Heinrich warf sich dem Bruder einige Monate spä ter bei der Weihnachtsfeier zu Füßen und bat um Verzeihung. Sie wur 390
de um so eher gewährt, als Otto bald darauf mit Ludwig IV. Frieden schließen konnte, den Heinrich durch seine Vermittlung angebahnt hatte. Endlich hatte Otto Gelegenheit, seine staatsmännische Umsicht vor sichtig zu beweisen. Keiner der Herzöge, die sich gegen ihn aufgelehnt hatten, war am Leben geblieben. Er war in so kurzer Zeit unangefoch tener Herrscher des Reiches geworden, daß er es nicht auf sich nahm, eine durchgreifende Veränderung der bestehenden Verhältnisse vor zunehmen. Er ließ die Herzogtümer bestehen, aber verlieh sie an Ver trauensmänner, die er überdies noch durch verwandtschaftliche Bande an sich fesselte. Lothringen fiel an Konrad den Roten, der eine Toch ter Ottos zur Frau nahm, Bayern an den reuigen Bruder Heinrich, und als Hermann von Schwaben starb, erhob Otto seinen eigenen ältesten Sohn Liudolf zum Herzog des Schwabenlandes. Aber die neuen Her zöge verfügten nicht mehr frei über ihre Herrschaftsgebiete. Vom Kö nig ernannte Pfalzgrafen sorgten für seine Belange in den einzelnen Herzogtümern. Er selbst ernannte auch die Grafen, die die Verwaltung innehatten. Überdies beanspruchte er die Oberaufsicht über die Kir chengüter. Um keine Zweifel aufkommen zu lassen, daß er von Gottes Gnaden König sei und alle Rechte eines Erbkönigtums beanspruchte, ließ er Liudolf von den Großen des Reiches als seinem Nachfolger hul digen. III Die Tätigkeit Ottos in dieser schwierigen Zeit beschränkte sich nicht auf sein eigenes Reich. Er sorgte dafür, daß das Königreich Burgund lebensfähig und mächtig wurde, um ein Bollwerk gegen das Westfran kenreich zu schaffen. Er stärkte die Hand des Markgrafen Berengar von Ivrea in Italien. Das war nur eine zeitweilige Maßnahme, denn Otto wußte, daß etwas Entscheidendes geschehen müsse, um sowohl die Magyaren als auch die Muselmanen daran zu hindern, weiterhin 391
nach Belieben in die von inneren Unruhen zerrüttete Apenninische Halbinsel einzufallen. Wieder wirkte das Vorbild Karls des Großen, der Italien als König der Langobarden beherrscht hatte, auf Otto. Als uneingeschränkter Schutzherr der Kirche in seinem Königreich mußte er Rom unter sei nen unmittelbaren Einfluß bringen. Solange der Heilige Stuhl wie ein Spielball der italienischen Landesfürsten und der Parteikämpfe des rö mischen Adels behandelt wurde, litt auch das Christentum im europä ischen Raum und würde sich auf die Dauer nicht gegen die Magyaren, Slawen und Muselmanen behaupten können. Otto, der sich mit geist lichen Ratgebern umgab, gewann Einblick in die verworrene Lage und wurde von den Bischöfen und Äbten dazu ermuntert, einzugreifen. In Rom, das nach der verheerenden Feuersbrunst vor der Jahrhun dertwende wieder ein neues, prächtiges Gesicht gewonnen hatte, war Theodora, die Gattin eines Senators, durch ihren Liebreiz und ihre Ge schicklichkeit so übermächtig geworden, daß es ihr gelungen war, ei nen ihrer Liebhaber zum Papst wählen zu lassen. Dieser Johannes XI. verheiratete ihre Tochter Marozia mit dem burgundischen Herzog Hugo von Vienne. Alberich, ihr Sohn aus erster Ehe, veranlaßte, daß sein Sohn Oktavian zum Papst erhoben wurde. Er führte den Namen Johannes XII. Hugo von Vienne zog sich in seine ursprünglichen Ge biete zurück und hinterließ seinem Sohn Lothar den Titel eines Kö nigs von Italien. Lothar heiratete Adelheid, die Tochter Rudolfs II. von Burgund. Er starb kurz nach der Hochzeit. Als Berengar, von Otto unterstützt, nach Italien zurückkehrte, ließ er die Witwe Adelheid in Garda gefangensetzen und krönte sich selbst zum König. Otto wurde von Adelheid zu Hilfe gerufen. Das war der Anlaß für ihn, einen Heereszug vorzube reiten. Es geschah zu einem günstigen Zeitpunkt. Markgraf Gero hatte ge rade nach einem entscheidenden Sieg Boleslav von Böhmen gezwun gen, Otto den Lehenseid zu leisten, und Hermann Billung war es ge lungen, die Grenzen gegen die Slawen durch die Errichtung von Burg städten und die Ansiedlung von sächsischen Familien zu sichern. Der 392
König konnte, mit einem befriedeten Reich im Rücken, den Zug nach dem Süden wagen. Er stieß auf keinen Widerstand. Wohin er kam, empfing er Huldi gungen. Er ernannte sich selbst zum König der Langobarden und be freite Adelheid aus der Gefangenschaft. Als er sie kennenlernte, über legte er rasch: Warum sollte er, der kurz vorher Witwer geworden war, die zauberhaft schöne Königin nicht zur Frau nehmen und sich durch die Eheschließung mit ihr den rechtlichen Anspruch auf die italieni sche Krone sichern, die Berengar von Ivrea gegen seinen Einspruch an sich gerissen hatte? Er konnte auch eine verwandtschaftliche Be ziehung zum jungen König Konrad von Hochburgund, dem Bruder Adelheids, dazu ausnützen, die Schutzherrschaft über Burgund auszu üben. Die Hochzeit fand statt. In diesem Zeitpunkt hielt es Otto für zu gewagt, weiter nach dem Süden vorzudringen. Er ernannte seinen Schwiegersohn, Konrad von Lothringen, zu seinem Stellvertreter. In Magdeburg, das sein beliebte ster Königssitz geworden war, erfuhr er, daß Konrad die von ihm er oberten Gebiete an Berengar zurückgegeben habe. Otto war drauf und dran, wieder nach Italien zu ziehen, als Konrad und Berengar an sei nem Hof erschienen, so als ob nichts geschehen wäre. Eine heftige Aus einandersetzung fand statt. Otto rügte Konrad rückhaltlos, und Be rengar erklärte sich bereit, sein Herrscheramt nur als Lehensmann Ot tos auszuüben und Istrien, Trient und Verona an das Herzogtum Bay ern abzutreten. Mehr wünschte Otto fürs erste nicht. Er wollte keine Schwierigkeiten. Er mußte ungehindert rüsten können, um den im mer bedrohlicheren Angriffen der Magyaren gewachsen zu sein. Für ihn war die Angelegenheit abgeschlossen. Aber als er als Gast des Erz bischofs Friedrich nach Mainz kam, überraschte ihn der Kirchenfürst mit der Mitteilung, daß er, der König, ein Gefangener sei. Otto begriff erst nicht. Er sollte zugunsten seines Sohnes Liudolf, der ihm die Ehe mit Adelheid übelnahm, abdanken? Sein Schwiegersohn Konrad begehrte, sich mit Liudolf in die Macht zu teilen? Die beiden Rebellen verfügten über Anhänger, nicht nur innerhalb ihrer eigenen Herzogtümer, sondern im ganzen Reich? Abdanken, dem Königtum 393
entsagen, er, der auf dem besten Wege war, es so übermächtig zu ma chen, wie es nie zuvor gewesen war? In den vier Wänden des fürstlichen Gemaches, in dem Otto gefan gengehalten wurde, beschloß er, alle Zugeständnisse zu machen, die ihm zur Freiheit verhelfen würden. Der Erzbischof legte ihm einen Ver trag vor. Otto unterschrieb und machte sich auf den Weg nach Sach sen. Dort waren seine Leute. Konnte er sich auf sie verlassen? Als sein Bruder Heinrich zu ihm stieß und ihn seiner Treue versicherte, ent schied Otto, daß ihm nichts anderes übrigbliebe, als dem Bruder, der ihn so oft schon verraten hatte, voll und ganz zu vertrauen. Heinrich war Herzog von Bayern. An der Spitze der Sachsen und Bayern konn te Otto kämpfen. Er widerrief die Gültigkeit des Vertrages, den er in Mainz unter Zwang geschlossen hatte, und forderte die Rebellen auf, sich zu unterwerfen. Da sie sich weigerten, berief Otto einen Reichstag ein, um sie ihrer Herzogtümer zu entheben. Heinrich trat als öffentli cher Ankläger auf. Liudolf und Konrad antworteten mit Krieg, den sie um so mutiger erklärten, als sie sich mit den Magyaren verbündet und sie zum Einfall ermuntert hatten. Jetzt stürmten die wilden Horden in das ungeschützte Reich, während Otto gegen seinen Sohn und seinen Schwiegersohn Krieg führen mußte. Er war der überlegene Feldherr. Liudolf und Konrad mußten sich ergeben, und es blieb bei ihrer Absetzung. Da der Erzbischof Fried rich von Mainz inzwischen gestorben war, setzte Otto seinen uneheli chen Sohn Wilhelm in das wichtigste geistliche Amt des Reiches ein, gab Lothringen an seinen jüngsten Bruder, Bruno, der Erzbischof von Köln war, und Schwaben an einen verläßlichen Freund. Das waren Notmaßnahmen, die in Eile getroffen wurden, denn Otto mußte den Magyaren entgegenziehen, die bereits bis Augsburg vorge drungen waren. Wie der sächsische Mönch Widukind berichtete, hat te der König ›nur sehr wenige von den Sachsen mit sich, weil bereits der Krieg mit den Slawen drohte‹. Als Otto in der Nähe der Stadt sein Lager aufschlug, schlossen sich ihm der Heerbann der Franken und der Bayern an. »Auch kam der abgesetzte Herzog Konrad der Rote mit starker Reiterei in das Lager.« 394
In der so denkwürdigen Schlacht bei Augsburg führte Otto seine Truppen persönlich gegen die Feinde. Es wurde ein blutiges Gemetzel. Nur wenige Magyaren entkamen. Auch Konrad der Rote, der sich tap fer gehalten hatte, blieb auf dem Schlachtfeld. Der entscheidende Sieg Ottos hatte zur Folge, daß die magyarischen Einfälle immer seltener wurden. Sie hörten bald ganz auf, als die Bay rische Mark erweitert und befestigt wurde. Aber für Otto bedeutete auch der glückliche Ausgang dieses Krieges nicht den Frieden. Die Sla wenstämme, die sich Hermann Billung unterworfen hatten, waren auf ständisch geworden, um den Erfolg der Magyaren, den sie für sicher gehalten hatten, auszunutzen. Otto mußte nach dem Norden, und es gelang ihm, nach heftigen Kämpfen auch der Slawen Herr zu werden. Er feierte den Sieg durch die Gründung des Erzbistums Magdeburg, dem die Bistümer Brandenburg und Havelberg unterstanden. Von diesen Mittelpunkten aus unternahmen seine geistlichen und weltli chen Sendboten die Bekehrung der Länder, in denen er seine eigenen Landsleute ansiedelte. Der harten Entschiedenheit Ottos, der vor keiner kriegerischen Handlung und auch nicht vor dem Einsatz seiner eigenen Person zu rückscheute, widersprach seine weiche Versöhnlichkeit gegenüber sei nen eigenen Familienmitgliedern. Sein Sohn hatte ihn gefangenneh men lassen und war mit bewaffneter Hand gegen ihn aufgetreten. Be stimmte Otto der freiwillige Einsatz seines Schwiegersohnes Konrad und die erstaunliche Verläßlichkeit seines Bruders Heinrich dazu, Liu dolf einen Feldzug gegen Berengar anzuvertrauen, der sich seinerseits die Wirren zunutze gemacht hatte, um abzufallen? Während Otto das Kirchwesen neu gestaltete, um die Laiengewalt im Reich weiter einzuschränken, bewährte sich Liudolf gegen Beren gar. Der verlorene Sohn wäre vom König in allen Ehren aufgenom men worden, wenn ihn nicht ein tödliches Fieber ereilt hätte. Dieser Unglücksfall machte das persönliche Eingreifen Ottos in Italien not wendig. Aber bevor er sich dazu aufmachte, führte er die Neuordnung, die er begonnen hatte, zu Ende. Er verlieh den Erzbischöfen weiteren Grundbesitz und erweiterte Hoheitsrechte, so daß sie in ihren Gebie 395
ten die Gerichtsbarkeit an Stelle der königlichen Grafen ausüben konn ten. Dadurch entstand eine neuerliche Verstärkung der Königsgewalt gegenüber den erblichen Fürsten, da die Bischöfe und Äbte, die der Erblichkeit entzogen waren, von den Königen ernannt wurden. Da gegen mußten sich die Kirchenfürsten zu bedeutenden militärischen und wirtschaftlichen Leistungen verpflichten. Endlich war es so weit, daß Otto die Romfahrt unternehmen konnte. Er tat es auf den unmittelbaren Wunsch Johannes' XII. der von Beren gar bedroht worden war, und nicht zuletzt, weil ihm der Papst die Kai serkrone angeboten hatte. Aber bevor Otto I. Deutschland verließ, ließ er seinen sechsjährigen gleichnamigen Sohn, den ihm Adelheid gebo ren hatte, zum König wählen und krönen. In Rom erreichte Otto das Ziel seiner Jugend. Er nahm die Kaiser krone vom Papst entgegen. Aber er begnügte sich auch jetzt nicht mit der äußeren Form der Feierlichkeit. Er begehrte von Johannes XII. da für, daß er ihm durch das sogenannte ›Ottonische Privileg‹ den Besitz des Kirchenstaates gewährleistete, den Treueid des Papstes. Dadurch sollten Feindseligkeiten des höchsten geistlichen Würdenträgers auf Erden gegen den deutschen Kaiser vermieden werden, der seine Macht auf der Stärkung der Kirche begründet hatte. Johannes XII. gelobte Otto die Treue, aber verständigte sich, so rasch er nur konnte, mit seinem bisherigen Feind Berengar, mit den Magya ren und mit den Byzantinern, die noch einen Teil Unteritaliens be herrschten. Als Antwort darauf fand in Abwesenheit des Papstes eine Versammlung der hohen Geistlichkeit statt, die heftige Anklagen ge gen Johannes XII. vorbrachte. Der Schauplatz dieses Gerichts war die Kirche des heiligen Petrus. Der vom anwesenden Bischof Liutbrand von Cremona als ›heiliger Kaiser‹ bezeichnete Otto führte den Vorsitz. Johannes XII. wurde schwerer kirchlicher Verfehlungen, Bestechung bei Bischofsweihen, des Kirchenraubes, des Ehebruchs, der Unzucht und Blutschande sowie zahlreicher anderer Verbrechen und Greuelta ten angeklagt und seines Amtes entsetzt. An seiner Stelle wurde Leo ›der ehrwürdige Kanzler der heiligen römischen Kirche, der oberste Bischof und allgemeine Papst‹. 396
Kaum hatte Otto Rom für kurze Zeit den Rücken gekehrt, als eine neue Kirchenversammlung nach einem vorübergehenden Auftreten Leos VIII. einen anderen Papst wählte, und zwar Benedikt V. Der Kai ser erhob Einspruch, Benedikt bat um Gnade und wurde als Priester dem Erzbistum Hamburg zugeteilt. Nach dem frühen Tode Leos wurde Johannes XIII. mit der Zustim mung des Kaisers zum neuen Papst gewählt. Aber die römischen Ade ligen nahmen den Heiligen Vater gefangen. Otto mußte wieder nach Rom zurück, um Ordnung zu schaffen. Diesmal kam er mit seinem Sohn und nahm die Gelegenheit wahr, auch Otto II. zum Kaiser krö nen zu lassen. Dieser Aufenthalt der beiden Kaiser, des alternden und des ganz jungen, führte zur Huldigung der langobardischen Fürsten von Ca pua und von Salerno, die sich anboten, den Süden der Apenninischen Halbinsel für den Kaiser zu erobern. Ein Krieg mit Byzanz stand be vor, aber das war von Otto nicht geplant. Ihm war daran gelegen, sei nen Sohn mit einer byzantinischen Prinzessin zu verheiraten. Er woll te vom Kaiser des oströmischen Reiches als weströmischer Kaiser an erkannt werden. Die Hochzeit des siebzehnjährigen Otto II. mit Theophanu fand im vorletzten Jahr der Herrschaft seines Vaters statt. Noch einmal rief Otto I. der schon zu seinen Lebzeiten ›der Große‹ genannt wurde, ei nen wichtigen Reichstag ein. Er hielt auch dort, in Quedlinburg, an seinem ursprünglichen Plan fest, das Reich, das er ererbt und so ge waltig vergrößert hatte, durch die Förderung der Kirche unbezwing lich zu machen. Er gründete das Bistum Prag für Böhmen, dessen Le hensherr er war, und das Bistum Passau, von dem aus die benachbar ten Magyaren bekehrt werden sollten. Als Otto kurze Zeit darauf in Memleben starb, betrauerte ihn ganz Deutschland als seinen größten König.
397
IV Die mannigfaltigen und nachhaltigen Ereignisse der siebenunddrei ßigjährigen Herrschaft Ottos des Großen wurden von den zeitgenös sischen Geschichtsschreibern mit Glanzlichtern versehen. In ihren kunstvollen Handschriften verdunkelte kein Makel den Ruhm des un vergleichlichen Wohltäters und Schirmherrn der Kirche. Das mochte darauf zurückzuführen sein, daß der Kaiser wirklich nur lobenswerte Eigenschaften hatte, oder aber darauf, daß die Mönche, denen die Auf zeichnung seines Lebenslaufes oblag, ihrer Dankbarkeit überschweng lichen Ausdruck gaben. Diese andere Möglichkeit ließ die Frage offen, ob Otto I. tatsächlich den Beinamen ›der Große‹ verdiente. Seine Persönlichkeit, ob sie so überragend war oder nicht, erschien den untersuchenden Forschern gegenstandslos im Verhältnis zur ge schichtlichen Wirkung des Kaisers, der das nach ihm benannte ›Otto nische Zeitalter‹ prägte. Seine Maßnahmen im Inneren und die Stär kung des Reiches nach außen brachten eine Vereinheitlichung im We sen und in der Entwicklung der verschiedenen germanischen Stäm me und Völker hervor, die er im ›regnum Teutonicorum‹ beherrscht hatte. Das trat sowohl in geistigen und geistlichen als auch in wirt schaftlichen Belangen zutage. Die Machtbefugnisse, die Otto den Bi schöfen und Klöstern zuerkannt hatte, ermöglichten eine gemeinsame Erziehungsgrundlage im gesamten Reich und führten zu einer Ver einheitlichung der Lebensform, die durch die gleiche Erziehung be dingt war. Er gab der Entwicklung die Richtung, und der unentwegte Kampf der Sachsen und der Angehörigen anderer deutscher Stämme gegen Wälder und Sümpfe, den sie, von den Mönchen belehrt und be gleitet, immer weiter nach dem Osten verlegten, ihre unbezwingbare Arbeitskraft, mit der sie Land urbar machten, Obstbäume und Wein berge pflanzten, Viehherden aufzogen und aus dem unwirtlichen Bo 398
den Metalle gewannen und verarbeiteten, waren bedeutsamer als die Feldzüge der Herrscher, die dem großen Kaiser folgten und den von ihm vorgezeichneten Weg der vordringenden Siedler militärisch be schützten. Auch die Züge Ottos nach Italien wirkten sich belebend für das Reich aus, das trotz aller späteren Uneinigkeiten unter Königen und Fürsten dadurch einig blieb, daß sich der gemeinsame Nenner des Glaubens und der gleichartigen Schulung erhielt. Otto hatte die Grenzen nach den Süden geöffnet. Die Straßen, die vor ihm nur von Truppen benützt worden waren, wurden Handelsstraßen und dienten nicht nur dem Verkehr wirtschaftlicher, sondern auch geistiger Güter. Die Entwicklung übertrug sich auf die slawischen und magyarischen Länder, deren Fürsten erkannten, daß ihre kriegerischen Unterneh mungen angesichts der von Heinrich I. begründeten und von seinem Sohn Otto ausgebauten Heeresmacht aussichtslos seien. Sie waren be reit, die Mönche und Handelsleute aufzunehmen, die ihnen und ih ren Untertanen halfen, besser leben zu können. Sie ahmten die Grün dung der sich ausweitenden, von Mauern geschützten Städte des be nachbarten Reiches nach. Ihre Burgen und Kirchen wurden Nachbil dungen der festen Herrensitze und Gotteshäuser, die Otto erbaut und ausgebaut hatte. Magyaren und Slawen setzten bald ihren Stolz darein, ihrerseits auch handwerkliche Fertigkeiten zu erlernen und so gebildet zu sein, wie ihre deutschsprachigen Nachbarn. Die Eheschließung Ottos II. mit der byzantinischen Prinzessin Theo phanu brachte eine Annäherung der höfischen Sitten an die verfeiner te Lebensweise der byzantinischen Kaiser mit sich. Die derben For men des finsteren Mittelalters wichen dem zunehmenden Sinn für ge schmackvollere Lebensführung, die sich vom kaiserlichen Hofstaat über die Burgen der großen und kleineren Herren allmählich auch auf das ganze Volk übertrug.
399
V Auch Otto II. dessen wichtigstes Ziel es war, den süditalienischen Be sitz der Kaiserkrone abzurunden, mußte, wie sein Vater, die Macht probe gegen einen Herzog von Bayern bestehen. Es war sein Vetter, Heinrich der Zänker, der Sohn des zanksüchtigen Bruders Ottos des Großen. Auch gegen einen König des Westfrankenreiches mußte sich Otto II. behaupten. Auch er war ein tüchtiger Feldherr, der seine krie gerischen Erfolge tatkräftig ausnützte. Sein Sieg gegen die Dänen, die in den Norden des Reiches eingefallen waren, ermöglichte ein weiteres Eindringen des Christentums in Dänemark und die Errichtung von Bistümern und Burgen, die so befestigt waren, daß es den Dänen aus sichtsreicher erschien, ihre Eroberungslust jenseits des Meeres auf den Britannischen Inseln auszuleben. Im Süden Italiens entbrannte ein blutiger Krieg. Die Ehe Ottos mit der byzantinischen Prinzessin Theophanu war kein Hindernis für den Kaiser von Byzanz, sich mit dem mohammedanischen Herrscherge schlecht der Fatimiden zu verbünden, die ihre Abkunft von Fatima, der Tochter des Propheten, ableiteten und nach der Erwerbung Ägyp tens und Syriens die Seeherrschaft über das Mittelmeer zu erringen wünschten. Durch dieses Bündnis wollte der byzantinische Kaiser sei ne unteritalienischen Besitzungen gegen Otto schützen, der sich ›Kai ser der Römer‹ nannte. Es kam zur Schlacht. Otto II. mußte fliehen und rettete sich – auf ein byzantinisches Schiff. Als er erkannte, wo er war, sprang er bei der ersten Gelegenheit von Bord und schwamm an Land. Er überlebte die Rettung nicht lange. Seine letzten staatsmänni schen Handlungen waren die Bezwingung der mächtigen Stadt Vene dig, die seine Lehensherrschaft anerkennen mußte, und die Einberu fung eines Reichstags zu Verona, wo er seinen dreijährigen gleichna migen Sohn zum König wählen ließ. 400
Die Witwe Ottos II. die gemeinsam mit Adelheid, der Großmutter des kleinen Jungen, die Herrschaft führte, wich von den Plänen des gro ßen Otto nur ab, als sie Rom zur Hauptstadt des Kaiserreichs machen wollte. Der Wunsch der beiden Frauen war, Otto III. zum Oberherren der Christenheit heranzubilden. Er sollte gemeinsam mit dem von ihm abhängigen Papst das alte Römische Reich in seiner Gesamtheit neu begründen. Schon bald nach dem Tode des Vaters hatten die unglei chen Witwen alle Mühe, das Erbe ihres Mündels zu bewahren. Hein rich der Zänker zettelte wieder eine Verschwörung an, nahm Otto III. gefangen und schloß ein Bündnis sowohl mit dem König des Westfrankenreiches als auch mit den benachbarten slawischen Fürsten, die die Gelegenheit wahrnahmen, Feindseligkeiten gegen das Reich zu be ginnen. Die meisten Erwerbungen Ottos des Großen standen auf dem Spiel. Sie wären verlorengegangen, wenn nicht der Erzbischof Willigis von Mainz den Frieden mit Heinrich dem Zänker vermittelt hätte, der sein Herzogtum Bayern behielt und sich zur Abwehr gegen die Slawen be reit erklärte. Die Ordnung im Reich war keineswegs hergestellt, als ein beschei dener Mönch, den schon Papst Johannes XII. als Gelehrten an Otto I. empfohlen und der Otto II. unterrichtet hatte, den Ablauf der ge schichtlichen Ereignisse zu beeinflussen begann. Dieser Gerbert, der in seiner Jugend dem Grafen von Barcelona als Mathematiklehrer auf gefallen war und es zum Vorsteher der Klosterschule von Reims ge bracht hatte, wurde durch seine Erhebung zum Erzbischof und seine beinahe gleichzeitige Absetzung aus diesem hohen Amt dazu bewo gen, sich aus der Geistlichkeit in die Weltlichkeit zu flüchten. Als Mathematiker in Barcelona hatte Gerbert die arabischen Zah lenzeichen der gelehrten Muselmanen des nahen Kalifats von Cordova und die Benützung des Rechenbrettes und des Winkelmessers erlernt und Abhandlungen darüber geschrieben. Er hatte auch eine neuartige Uhr erfunden und die frühen Kenntnisse der Ausnützung des Damp fes zum Bau einer Orgel verwandt. Gerbert hatte die Leidenschaft, Bü cher zu sammeln und, wenn er sie nicht erwerben konnte, Abschrif 401
ten machen zu lassen. Die Nachwelt mochte ihm die Erhaltung von Ciceros Reden verdanken. Da es dem vielseitig Gelehrten versagt war, sich in der Wissenschaft zu verinnerlichen, übertrug er seinen wissen schaftlichen Eifer auf die Außenwelt. Der ehemalige Lehrer Ottos II. wurde Berater Ottos III. Am Hofe des jungen Königs, der nach dem Tode seiner Mutter für großjährig erklärt wurde, gab Gerbert seine Bescheidenheit auf. Er war gedemütigt worden, er wollte erhöht werden. Dabei war ihm die Groß mutter Ottos III. behilflich. Ihr Ehrgeiz, ihren Enkel zum größten al ler Kaiser zu machen, wurde der Ehrgeiz Gerberts. In aller Stille und mit planmäßigem Eifer gewann er einen Überblick über die Weltlage in diesem letzten Jahrzehnt vor dem Jahre 1000. Viele Zeitgenossen im christlichen Abendland fürchteten, daß der letzte Glockenschlag des Jahres 999 den Weltuntergang anzeigen wür de. Manche Zeichen sprachen dafür: kriegerische Unruhen an allen Orten. Der völlige Verfall der Sitten bei den Päpsten und den hohen Würdenträgern des Heiligen Stuhles, deren Amtsführung von den Rö mern als ›Pornokratie‹, als Schweineherrschaft, bezeichnet wurde. In den Königreichen griffen die Erzbischöfe und Bischöfe in Grenzstrei tigkeiten mit den benachbarten Grafen und Fürsten zu den Waffen. Die gesellschaftliche Ordnung war in der kurzen Zeit seit dem Tod Ottos des Großen wieder aus den Fugen geraten. Die Unterdrückung der freien Bauern durch ihre adeligen Nachbarn, die Ausnützung der hilflosen Hörigen durch ihre Herren, die Macht vor Recht gehen ließ, mußten, so hieß es, den HERRN dazu bringen, das Jüngste Gericht einzuberufen. Gerbert war anderer Meinung, er hatte andere Absich ten. Er war dafür, die Verhältnisse auf der Erde neu zu ordnen und durch die Ordnung zu bessern, erst im großen, dann im kleinen. Die staatsmännische Übersicht des Beraters Ottos III. beschränk te sich auf das christliche Abendland. Er kannte die Verhältnisse im byzantinischen Kaiserreich durch die Berichte, die die Königinmut ter durch ihre Vertrauensmänner aus ihrer Heimat bekommen hat te. Byzanz hatte sich unter Basileios II. zu einer neuen Machtstellung emporgerungen. Sein Hoheitsgebiet reichte von der Adria bis Arme 402
nien, vom Euphrat bis zur Donau. Glückliche Feldzüge hatten die Ge fahr, die ihm durch das aus slawischen Mischvölkern entstandene Bul garenreich gedroht hatte, beseitigt. Geschickter Handel, der sich auch die Schiffahrt der Lagunenstadt Venedig zunutze machte, hatte den Schatz des Kaisers aufgefüllt. Die Prachtentfaltung am Hof von By zanz war auf einem Höhepunkt angelangt. Der Wettbewerb zwischen Basileios II. und Otto III. den Gerbert plante, würde auch auf kirchli chem Gebiet ausgetragen werden. Entscheidend dabei würde sein, ob die Bischöfe von Rom, die Päpste, die von den Bischöfen des Ostens nur noch selten als Oberhäupter der Christenheit anerkannt wurden, oder die Bischöfe von Byzanz die Christenheit leiten würden. In den von Slawen bewohnten Gebieten im Norden und Osten jen seits der Donau hatten die sogenannten ›Slawenapostel‹, Konstan tin und Methodius, wohl mit Billigung Roms, eine eigenartige Kir chenverwaltung eingeführt und sogar eine eigene Schrift, die eine Ab wandlung der griechischen war und später das Cyrillische Alphabet genannt wurde. Die nach byzantinischer Art geschulten Mönche, die das Christentum unter den Slawen verbreiteten, belehrten die Bekehr ten mit der Blickrichtung auf Byzanz als den Ausgangspunkt ihrer Tä tigkeit und drangen in östlicher Richtung bis in die russischen Gebiete vor, in die auch Byzanz unmittelbar Mönche entsandt hatte. Auch die Mohammedaner hatten es unternommen, die an den Gren zen dieser Kalifate lebenden Slawen für die Lehre des Propheten zu ge winnen. Aber das vom muselmanischen Glauben seinen Anhängern auferlegte Verbot, gebrannte Getränke zu genießen, hatte die Aussich ten, den Islam in slawischen Gebieten einzuführen, von Anfang an un möglich gemacht. Geistige Getränke waren den Slawen wichtiger als geistige Nahrung, und in dem schweren Leben, das sie in den unwirt lichen Wäldern und Sümpfen führten, waren sie schwermütig gewor den, der Lebensfreude, die Mohammed gepredigt hatte, abgewandt und empfänglich für die Lehren der Entsagung der christlichen Mönche, die ihnen nach der Mühsal ihres Lebens einen Himmel verhießen, den sie sich vorstellen konnten, und nicht das muselmanische Paradies, das für ihre bescheidene Einbildungskraft zu vielfältig genußreich war. 403
Die Entwicklung der von griechischen Mönchen erzogenen Slawen nahm einen anderen Verlauf als die der slawischen Stämme, die von den Mönchen des Westens für das Christentum gewonnen worden wa ren. Das machte sich schon um die Jahrtausendwende in der Abson derung der Serben von den Kroaten bemerkbar, die in den ehemali gen illyrischen Ländern lebten, die Theodosius I. geteilt hatte, um eine Grenzscheide zwischen dem ost- und dem weströmischen Reich zu schaffen. Es hatte sich ein kroatisches Königreich gebildet und ein ser bisches Fürstentum, die miteinander in unaufhörlicher Fehde lagen. Wenn das Römische Reich wiedererstehen sollte, mußten die Un terschiede in den Glaubensäußerungen und den dadurch bedingten Lebensformen verschwinden. Das konnte nur durch eine uneinge schränkte Weltherrschaft erreicht werden, die sich auf alles erstreck te und die Schritt für Schritt erkämpft werden mußte. Was konnte den noch nicht zwanzigjährigen Otto III. der sein Leben vor sich hatte, daran hindern? Vor allem mußte der Rücken des künftigen Welteroberers gedeckt werden. Gerbert kannte die Verhältnisse im Westfrankenreich aus ei gener Anschauung. Er war in der Auvergne aufgewachsen und hat te die verzweifelte Unruhe in seiner Heimat nach den Raubzügen der Normannen miterlebt. Die westfränkischen Enkel und Urenkel Karls des Großen hatten als Herrscher versagt. Die Nachkommen einer be deutenden Grafenfamilie hatten durch Geld und Gewalt fast das ge samte Gebiet südlich von Paris erworben und waren reicher und mäch tiger geworden als ihre Könige. Gerbert war schon in der Zeit seiner Lehrtätigkeit in Reims von seinem damaligen Erzbischof als Kenner der örtlichen Verhältnisse gefragt worden, welchen Großen die Kirche des Westfrankenreiches im Falle des Aussterbens der Karolinger för dern sollte. Der Name Hugo Capets, des Erben der reichen und mäch tigen Grafenfamilie, war ein sprichwörtlicher Begriff in der Auverg ne. Gerbert hatte ihn genannt. Nach dem Tod Ludwigs V. war Hugo Capet einstimmig zum König des Landes gewählt worden, das unter seiner Herrschaft Frankreich hieß. Ihm hätte Gerbert gedient, wenn ihn Hugo, für den er in seinem Herzen gewesen war, nicht vom Erz 404
bischofssitz von Reims verjagt hätte, um einen unehelichen Abkömm ling der Karolinger zum Erzbischof von Reims erheben zu können. Eine ernsthafte Einmischung Hugo Capets in die Pläne, die Gerbert für Otto III. hegte, war kaum zu befürchten. Einerseits stand das Kö nigreich Burgund unter dem Einfluß Adelheids, der Großmutter Ot tos, andererseits waren die Herzöge der Normandie zu stark und zu unternehmungslustig, als daß Hugo Capet es gewagt hätte, sein neuer worbenes Königtum durch eine kriegerische Verwicklung außerhalb Frankreichs zu schwächen. In der Blickrichtung Gerberts war Rom das wesentlichste und wich tigste Ziel. Der Heilige Stuhl war wiederholt von unwürdigen Päpsten eingenommen worden, seit der von Otto dem Großen nach dem Tod Leos VIII. eingesetzte Papst Johannes XIII. gestorben war. Bonifazio Francone, ein römischer Adeliger, hatte Benedikt VI. ermordet. Ei nen Monat lang war der Mörder Papst gewesen, dann war er mit dem päpstlichen Vermögen nach Byzanz geflohen. Inzwischen war Johan nes XIV. Papst geworden. Aber Bonifazio kehrte zurück und räum te seinen Nachfolger aus dem Weg, um sich wieder auf den Heiligen Stuhl zu setzen. Johannes XIV. verhungerte in der Engelsburg. Sein Peiniger wurde durch einen Volksaufstand getötet. Der römische Adel, unter der Führung von Johann Crescentius, der den Titel ›patricius‹ annahm, um die alte Abhängigkeit von dem ihn unterstützenden By zanz zu bekunden, setzte Johannes XV. ein. Das war vor der Großjäh rigkeitserklärung Ottos III. geschehen. Es war an der Zeit, daß der jun ge König in Italien selbst nach dem Rechten sah. Otto III. erschien an der Spitze eines gewaltigen Heeres in Rom und griff mit jugendlicher Unerschrockenheit in die verworrenen geistli chen Verhältnisse ein. Kein Verwandter oder Vertrauensmann des ›pa tricius‹, der so offen mit Byzanz geliebäugelt hatte, sollte Papst werden. Otto erwirkte die Wahl seines eigenen Vetters, Bruno von Kärnten, ei nes Enkels Konrads des Roten. Dieser Gregor V. war der erste deutsche Papst, und seine wesentlich ste Handlung war, Otto III. zum Kaiser zu krönen. Als Otto aber nach Deutschland zurückgekehrt war und wieder in Aachen Hof hielt, em 405
pörte sich der römische Adel gegen Gregor V. Er wurde abgesetzt und Erzbischof Johann Philagathos, ein Vertrauter des jungen Kaisers, den er als Brautwerber nach Byzanz geschickt hatte, unter der Mitwirkung Crescentius' und des griechischen Gesandten zum Gegenpapst ge weiht. Das war zuviel für Otto III. Er eilte nach Rom, ließ Johannes gefan gennehmen, ihm die Augen ausstechen, Zunge und Nase abschneiden und den Verstümmelten, mit dem Gesicht nach hinten, auf einem Esel durch die Straßen Roms führen. Johann Crescentius und die römi schen Adeligen, die die Republik ausgerufen hatten, wurden enthaup tet und ihre Leichen zur Warnung an den Mauern der Engelsburg auf gehängt. Gregor V. war wieder Papst. Sein engster Mitarbeiter wurde Gerbert, der zum Erzbischof von Ravenna erhoben worden war. Die zwiespältigen Eigenschaften Ottos wurden bald, nachdem er die in seinen Ländern beinahe allmächtige Alleinherrschaft errungen hat te, offenbar. Er hatte eine tiefe Anhänglichkeit für den Glauben. Sei ne geistlichen Erzieher waren auch seine persönlichen Freunde, be sonders der böhmische Adelige Adalbert, der es trotz der innigen Be ziehung zum Kaiser, die ihm die höchsten kirchlichen Ämter ermög licht hätte, vorzog, die heidnischen Preußen zu bekehren und dabei den Märtyrertod fand. Die unmenschliche Grausamkeit Ottos gegen Johannes XVI. war wohl dadurch ausgelöst, daß er in seinem bedin gungslosen Vertrauen zu seinem ehemaligen Lehrer und Paten so emp findlich enttäuscht worden war. Der Kaiser fiel aus Bußübungen, die von den Mönchen des neubegründeten Einsiedlerordens der Camald ulenser gepredigt wurden, unvermittelt in den Hochmut und die Le bensführung eines orientalischen Herrschers. Er nannte sich ›Erneue rer des Römischen Reiches‹ und verlegte seine Hofhaltung nach Rom, um an seinen endgültigen Plänen keinen Zweifel zu lassen. Im kai serlichen Palast wurden byzantinische Hoftitel und die feierlichen Sit ten der ›erhabenen‹ Kaiser eingeführt, die Otto nicht nur nachahmen, sondern zu seinen Lehensmännern machen wollte. Der Jugendtraum des Kaisers, der Otto den Großen himmelhoch überragen wollte, war nicht ohne Wirklichkeitssinn. Er berief Kir 406
chenversammlungen ein, die sich seinem Wunsch beugten. Gesand te aus den meisten Ländern der Erde bewarben sich um seine Gunst, und er fühlte sich seiner noch sicherer, als er nach dem Tod seines Vet ters, Gregors V. den großen Gelehrten und Weltenkenner Gerbert zum Papst erhob. Der ehemals so gedemütigte Geistliche nannte sich selbst bewußt Silvester II. Er wollte damit bekunden, daß er wie Silvester I. der zur Zeit Konstantins des Großen Papst gewesen war, eine Weltenwende für die gläubigen Christen herbeiführen würde. Jetzt waren Kaiser und Papst miteinander innig verbunden. Sie hat ten den gleichen Plan. Aber er sollte nicht in der herkömmlichen Form der geradlinigen Gewaltanwendung verwirklicht werden, sondern in ganz neuer Art. Vor allem mußte daran festgehalten und kundgetan werden, daß Rom der Mittelpunkt des Kaiserreiches war und daß al les, was Kaiser und Papst taten, im gegenseitigen Einvernehmen ge schah. Der Ablauf der Ereignisse, die Gerbert so sorgfältig beobachtet hatte, bestätigte seine Voraussicht. Markgraf Gero, der Vertraute Ottos des Großen, hatte den Zusam menschluß der ›Poloni‹, wie die slawischen Feldbewohner zwischen Weichsel und Oder genannt wurden, gefördert. Ihr Fürst Miseka und sein Volk waren zum Christentum bekehrt worden, nicht durch die Mönche der Slawenmission, sondern durch Geistliche, die von Mag deburg ausgesandt worden waren. Als Bundesgenosse des mächtigen Kaisers, der ihm den Rücken gedeckt hatte, hatte Miseka es unternom men, die polnische Herrschaft bis zur Ostsee auszudehnen. Er hatte seine Eroberungen im Zeichen des Kreuzes gemacht und war ein so gläubiger Christ geworden, daß er das von ihm geschaffene Reich dem heiligen Petrus hinterlassen hatte. War Polen nun durch die Erbschaft ein Teil des Kirchenstaates ge worden, oder sollte es unter der Oberhoheit des deutschen Königrei ches stehen, dem es unter Miseka zinspflichtig gewesen war? Papst Sil vester II. und Otto III. fanden einen Mittelweg: das ererbte Land sollte unmittelbar unter dem Kaiser stehen, gleichberechtigt mit allen Län dern des Reiches. Otto zog nach Polen und ernannte den Sohn Misekas, seinen per 407
sönlichen Freund Boleslav Chrobry, zum römischen ›patricius‹, d.h. zu seinem Statthalter. Er gründete das Erzbistum Gnesen, dem die Bistümer Breslau, Kolberg und Krakau unterstellt wurden. Der er ste Erzbischof wurde Gaudentius, der Bruder des Märtyrers Adalbert. Mit dieser Einbeziehung der zu einem großen Reich zusammenge schlossenen Slawenstämme in die Einflußsphäre Roms hatte Gerbert den ersten unblutigen Sieg gegen die byzantinische Kirche errungen. Die Glocken, die das neue Jahr 1000 ankündigten, klangen verhei ßungsvoll. Im Deutschen Reich sorgte die Äbtissin von Quedlinburg, Mathilde, die Tante des Kaisers, als ›patricia‹ für die Aufrechterhal tung der Ordnung, in Rom selbst der sächsische Graf Ziazo, der den Titel eines ›patricius Romanorum‹ erhielt. Aus dem Westen drohte keine Gefahr. Die nächste außenpolitische Handlung war vorgezeich net und durch Gerbert längst schon sorgfältig vorbereitet worden. Die Magyaren, die Otto I. in der Schlacht bei Augsburg bezwungen hat te, waren Christen geworden. Ihr Fürst hieß Stephan. Er hatte schon seine Neigung für den Westen durch seine Eheschließung mit Gise la, der Tochter Heinrichs des Zänkers, bewiesen. Er sollte durch die Verleihung der Krone durch den Papst König der Ungarn werden und sein Reich dem Heiligen Stuhl als Oberherrn unterstellen. Stephan, der den Beinamen ›der Heilige‹ erhielt, unterwarf sich dem Wunsch des Heiligen Vaters. Silvester II. hatte wieder ein Königreich dem Einfluß von Byzanz ent zogen. Es war ein bedeutender Erfolg für den Heiligen Stuhl, aber der Papst widersprach Otto III. nicht, als der Kaiser sich durch den neu en Titel ›servus apostolorum‹ sein Recht auf die Oberhoheit über Po len und Ungarn sichern wollte, die sich doch dem Heiligen Stuhl un tertänig gemacht hatten. Um nur ja keinen Zweifel darüber aufkom men zu lassen, daß er zumindest ebenso wie der Papst ein irdischer Vertreter der Apostel sei, beanspruchte Otto auch das oberste Verfü gungsrecht über allen Besitz des Heiligen Stuhles. Er erklärte, daß die Schenkung Konstantins an die Kirche eine Fälschung sei und daß so wohl die Pipinsche Schenkung als auch die Karls des Großen und die seines Großvaters gegenstandslos geworden seien. Nicht Silvester II. 408
habe ihn zum Kaiser gemacht, sondern er Gerbert zum Papst. Er sei nicht nur Kaiser, sondern auch der Herr der Kirche. Hatte der bescheidene Mönch aus der Auvergne, der es zur höchsten geistlichen Würde gebracht hatte, sich selbst durch die gewaltige Stär kung Ottos überspielt? Hatte der bewährte Mathematiker sich in sei nen Berechnungen geirrt? Oder war es seine Absicht gewesen, den jun gen Mann, der sich ihm anvertraut hatte, so über alles herkömmliche Maß zu erhöhen? Kein öffentlicher Einspruch Silvesters II. bekundete, daß er Otto III. widersprochen hatte. 'Vielleicht hoffte der Papst, daß die Zeit den Hochmut des jungen Kaisers dämpfen würde. Vielleicht aber hatte er auch keine Zeit, sich in aller Öffentlichkeit darauf zu be rufen, daß er als anerkannter Stellvertreter Christi auf Erden der Herr der Kirche sei. Ein Aufstand der Römer verwandelte Rom über Nacht in ein Rebel lenlager. Otto III. schlug sich mit seinen Leibwachen aus seinem Palast in die Engelsburg durch. Auf dem Dach des Gebäudes stehend, ver suchte er, die schreienden Römer durch eine Rede für sich zu gewin nen. Vergebens. Auch Silvester II. der dem Kaiser treu geblieben war, konnte sich kein Gehör verschaffen. Begleitet vom Papst und, wie das Gerücht ging, von seiner Gelieb ten, einer schönen jungen Frau, die Stephania hieß, verließ Otto III. unter dem Schutz seiner Leibwachen Rom. Er gab sich nicht geschla gen. Er hatte vor, an der Spitze eines deutschen Heeres in die Haupt stadt des Römischen Reiches, das er erneuern wollte, zurückzukeh ren. Aber das deutsche Heer, das er durch Eilboten anforderte, ließ auf sich warten. Otto vertrieb sich die Zeit mit Stephania und hochfliegen den Plänen, die er mit Silvester II. besprach. Als er plötzlich starb, ver breiteten die Römer, daß ihn Stephania vergiftet habe. War sie von By zanz dazu angestiftet worden, das für seinen Bestand fürchten muß te, wenn Otto III. und Papst Silvester wieder in Rom einkehrten? Hat ten die römischen Adeligen, aus deren Kreisen Stephania stammte, sie dazu veranlaßt? Die deutschen Truppen kamen zur rechten Zeit, um den Leichnam Ottos III. der Rom zu seiner Kaiserstadt gemacht hatte, zu holen. Er 409
sollte in der deutschen Kaiserstadt Aachen bestattet werden. Aufstän de erschütterten ganz Italien. Die Mächtigen kämpften untereinander um die Macht. Papst Silvester II. gab alle Hoffnung auf, ein einiges Christentum zu schaffen. Er starb bald nach dem Tode Ottos III.
Das Kreuz als Wegweiser und
Werkzeug der Macht
I Wer war der Oberherr der Christenheit, der Papst in Rom, den der Kaiser anerkennen mußte, damit sich der Stellvertreter Christi auf Er den behaupten könne, oder der Kaiser, dem der Papst die Krone aufs Haupt setzte? Diese verhängnisvolle Macht- und Gewissensfrage wur de nicht mit Otto III. und Silvester II. begraben. Sie lebte unter den Nachfolgern des ehrgeizigen, von den Widersprüchen seiner Zeit ge plagten jungen Kaisers auf und bestimmte nur allzu oft ihre Hand lungen. Je nach ihrem Wesen und ihrer Erziehung beanspruchten die gekrönten Häupter die Oberhoheit über die Kirche oder beugten sich dem Heiligen Stuhl. Auch die deutschen Bischöfe und Äbte, die immer mehr Einfluß ge wannen, waren je nach ihrer persönlichen Einstellung und dem Grad ihrer Abhängigkeit für oder gegen die Übermacht der Herrscher in ih rem Verhältnis zur Kirche. Heinrich II. der Sohn Heinrichs des Zänkers, folgte Otto III. auf dem Thron. Er gewann den Beinamen ›der Heilige‹, nicht allein wegen sei ner beispielgebenden Lebensführung und seiner vorbildlichen Ehe mit Kunigunde von Luxemburg, die als erste deutsche Königin gekrönt wurde, sondern vor allem weil er die Belange der Bischöfe geradezu lei 410
denschaftlich vertrat und gemeinsam mit Papst Benedikt VIII. auf ei ner Kirchenversammlung gegen die Priesterehe eintrat. Seine Freund schaft mit dem Abt von Cluny und seine Förderung der Cluniacenser bewegung festigte seinen Ruf als gottgefälliger Kaiser. Heinrich II. der sich auch in seiner weltlichen Herrschaft bewährte, war der letzte unmittelbare Nachkomme Heinrichs I. auf dem Kaiser thron. Mit ihm starb das sächsische Königshaus aus. Die Krone ging auf die Frankenherzöge über. Zum König erwählt wurde ein Urenkel Konrads des Roten, den Ari bo von Mainz als Haupt jener Reichsbischöfe vorgeschlagen hatte, die den bedingungslosen Einfluß des Papsttums auf das deutsche Kir chenwesen einschränken wollten. Konrad II. war ein schlichter Mann, der mit gesundem Menschen verstand das Richtige im richtigen Augenblick tat. Er ließ sich weder durch Aufstände der mit ihm verwandten Herzöge noch durch den Widerspruch von Bischöfen beirren, wenn er besondere Dienste oder außerordentliche Abgaben verlangte. Er erwirkte die Erblichkeit der kleinen Lehen im Mannesstamm, um dem Königtum eine ständi ge adelige Gefolgschaft zu sichern, und ernannte unfreie Dienstman nen zu Verwaltern der königlichen Güter. Diese ›Ministerialen‹ wur den auch zu Kriegs- und Hofdiensten herangezogen. Viele von ihnen wurden in den Adelsstand erhoben und so Ahnherren gräflicher und fürstlicher Geschlechter. Der Höhepunkt in Konrads Leben war seine Kaiserkrönung in Rom. Zwei erlauchte Gäste wohnten der glanzvollen Feier bei: der Dänenkö nig Knut, dem es gelungen war, die Angelsachsen in Britannien zu un terwerfen und der sich seither auch ›König von England‹ nannte (mit seiner Tochter sollte Heinrich, der Sohn Konrads, verheiratet werden), und König Rudolf III. von Burgund, der sein Reich dem deutschen Kaiser durch einen Erbvertrag zugesichert hatte. Durch diese Erbschaft, die Konrad II. bald antreten konnte, jedoch mit den Waffen behaupten mußte, gewann er dem Kaiserreich einen gewaltigen Machtzuwachs. Es bestand nunmehr förmlich aus drei Tei len: Deutschland, Italien, Burgund. Konrad gab allerdings auch Reichs 411
gebiete ab, wie die Mark Schleswig an König Knut, und verlor Gebie te in einem unglücklichen Feldzug gegen Ungarn. Um die gefährdete Grenze wieder zu stärken, belehnte er den Grafen Dietrich von Wettin, den Stammvater des mächtigen Hauses, mit der Ostmark.
Heinrich III. war ein würdiger Nachfolger Konrads II. der in dem von ihm begründeten Dom zu Speyer begraben wurde. Er setzte die von seinem Vater begonnene Verbesserung der gesellschaftlichen Ord nung fort, die ›renovatio regni Francorum‹. Diese Erneuerung des Kö nigtums der Franken bezog sich auf die Weltgeistlichkeit. Heinrich erwirkte das Verbot der ›Laieninvestitur‹, der Übertragung kirchli cher Ämter an weltliche Herren. Jetzt konnten Bischofssitze und Klö ster nicht mehr zu Handelsgegenständen machthungriger Fürsten und Grafen werden. Die ›Simonie‹, der Verkauf geistlicher Würden, wurde als ›widergöttlich‹ verurteilt. Dadurch sollte auch der ausschweifenden Lebensführung hoher Geistlicher, die nur um der Macht und des Be sitzes willen, ohne sonstige Voraussetzungen Priester geworden waren, ein Riegel vorgeschoben werden. Ebenso wie sein Vater trat Heinrich III. für die strenge Durchführung des Zölibats ein. In den Klöstern wurde die Beobachtung der ursprünglichen Vorschriften des heiligen Benedikt zur strengen Regel. Der König kam dem Ziel der Zeit entge gen, die Menschheit zu Bürgern des Gottesreiches zu erziehen. Die kirchlichen Maßnahmen Heinrichs III. waren, ganz abgesehen von seiner persönlichen Gläubigkeit, auch vom Standpunkt des Herr schers notwendig, der mit allen Mitteln verhindern mußte, daß das westliche Christentum bei den benachbarten Völkern noch mehr in Verruf geriet. Heinrich war gezwungen, Przetislav von Böhmen zu be kämpfen, der in Polen eingedrungen war, um eine heidnische Bewe gung zu unterdrücken, und ein großes christliches Slawenreich plan te, das vom Deutschen Reich, in dem der Glauben verfallen war, unab hängig sein sollte. In einem gewagten Feldzug unterwarf Heinrich den slawischen Fürsten, der das Herzogtum Böhmen, im Büßergewand, 412
als deutsches Lehen empfing. Auch in Ungarn mußte Heinrich zum Schutze Peters, des Nachfolgers des heiligen Stephan, eingreifen. Peter war durch die heidnischen Anhänger des Gegenkönigs Aba so heftig bedrängt worden, daß er die Belehnung mit seinem Königreich durch Heinrich und dessen gleichzeitigen Schutz der Unabhängigkeit vor zog. Die Wurzel des Übels, das die Christenheit im Nordosten des europä ischen Raumes und dadurch auch die Sicherheit der östlichen Reichs grenzen so empfindlich gefährdete, lag in Rom. Drei Päpste, die ihre Erhebung erschlichen, erkauft oder mit Gewalt durchgesetzt hatten, stritten um den Heiligen Stuhl. Heinrich zog nach Rom und ließ sich vom römischen Volk zum ›patricius‹ erheben, um seine Aufsicht über eine notwendig erscheinende neue Papstwahl förmlich zu begründen. Der von ihm begünstigte Bischof vom Bamberg wurde als Clemens II. Papst. Er verwies einen der drei umstrittenen Päpste, Gregor VI. der als sittenstrenger Priester galt und nicht gewußt haben mochte, daß ein Verwandter ihm die Papstwürde mit barer Münze gekauft hatte, nach Köln. In diesen fernen Wohnsitz folgte ihm ein Mönch, der zwar den deutschen Namen Hildebrand führte, aber als Sohn armer Eltern in einem Weiler in den Toskanischen Sümpfen geboren worden war. Dieser schlichte junge Priester setzte seine Lehrjahre, die er in Rom begonnen hatte, im Deutschen Reich mit offenen Augen fort.
Heinrich III. war mit seinem Auftreten in Rom zufrieden. Er hatte er reicht, was er wollte, aber er erkannte nicht, daß er durch seine Stär kung des Papsttums der künftigen Überlegenheit des Heiligen Stuh les den Weg bereitete, und auch nicht die Gefahr, die er durch die Anerkennung der normannischen Eroberungen in Süditalien her aufbeschwor. Er belehnte Wilhelm Eisenarm und Drogo, die Söhne Tankreds von Hauteville, mit den Fürstentümern, die sie den byzan tinischen Besatzungen abgerungen hatten. Der Kaiser hatte eine Vor liebe für die Normannen, diese mutigen Männer, die auf ihren in Fe 413
stungen verwandelten Schiffen die Meere durchkreuzten und die Kü sten eroberten, die ihnen gefielen. Sie waren Bundesgenossen, deren er sich für alle Fälle vergewissern wollte, um durch sie die Könige von Frankreich leichter in Schach halten zu können. Heinrich III. wußte auch nicht, daß Herzog Robert der Teufel und sein Sohn Wilhelm in der Normandie für einen neuen Normannenzug rüsteten, der alle bis herigen übertreffen sollte. Die Folgen der normannischen Unruhe zeigten sich bald in Süditali en. Clemens II. war kurz nach der Rückkehr Heinrichs nach Deutsch land gestorben. Der Kaiser sandte unverzüglich Ersatz: den Sohn eines sächsischen Grafenhauses, der als Papst Leo IX. bereit war, mit dem Kaiser zusammen zu arbeiten und die strenge Zucht, die er im Bistum von Toul im Sinne der Cluniacenserbewegung eingeführt hatte, der gesamten Christenheit aufzuzwingen. Kurz nach der Erhebung Leos IX. wurde die Stadt Benevent, die sich dem Heiligen Stuhl nach der Vertreibung der unter byzantinischer Hoheit stehenden Fürsten unterworfen hatte, von den Normannen an gegriffen. Der Papst ließ sich vom Kaiser die Reichsgewalt im Fürsten tum übertragen und warb deutsche Truppen an. Sein Heer wurde von den Normannen vernichtend geschlagen und Leo IX. in Benevent ge fangengehalten. Dieses in einer so aufgeregten Zeit an sich verhältnismäßig belanglo se Ereignis hatte mittelbar die weittragendsten Folgen. Auf Anregung des byzantinischen Kaisers Konstantin IX. der ein Bündnis mit dem Papst gegen die Normannen in Unteritalien wünschte, schickte Leo IX. nach seiner Freilassung Gesandte nach Byzanz. Der Heilige Vater war gewiß, daß die große Gelegenheit gekommen war, die Gemein schaft mit der byzantinischen Kirche wiederherzustellen, die sich der römischen immer mehr entfremdet hatte. Er kannte und anerkann te die Gründe dafür und tat seinerseits alles dazu, sie aus dem Weg zu räumen. Die Ablehnung des erniedrigten und verarmten Papsttums durch die stolzen und reichen Bischöfe von Byzanz war durch ihre hö here Bildung und ihre Verachtung für die grobe Laienherrschaft über das westliche Kirchenwesen begründet. Sie entrüsteten sich über den 414
Anspruch gewissenloser, sündiger Päpste auf die Alleinherrschaft im Glauben. Dabei ging es im Grunde mehr um persönliche Vorbehalte als um Verschiedenheiten des Bekenntnisses. Diesen Umständen woll te Leo IX. durch seine überlegen würdige Haltung Rechnung tragen.
Aber Michael Kerullarios, der Patriarch von Byzanz, war nicht einmal willens, die Gesandten des Papstes zu empfangen. Er bestritt ihre Eig nung, sich mit kirchlichen Fragen zu befassen, obwohl der Kaiser von Byzanz sie herzlich aufnahm. Die westlichen Geistlichen waren in ei nem ungünstigen Zeitpunkt gekommen. Kerullarios hatte kurz vor ih rer Ankunft eine Abhandlung verbreiten lassen, in der er die römische Kirche auf das heftigste rügte, weil sie, entgegen dem Vorbild der heili gen Apostel und der Überlieferung, das Zölibat durchgesetzt hatte. Er hatte auch die Kirchen in Byzanz schließen lassen, in denen die Messe nach lateinischer Art gelesen wurde, und alle Geistlichen exkommu niziert, die dabei blieben. Dem freundlichen Besuch seiner Gesandten war ein unfreundlicher Brief Leos IX. vorangegangen, in dem er Ke rullarios väterlich zurechtweisend aufgefordert hatte, die Obergewalt des Heiligen Stuhles anzuerkennen und alle Kirchen, die die Anerken nung versagten, als ›eine Versammlung von Häretikern, ein Konventi kel von Schismatikern, eine Synagoge des Satans‹ bezeichnete. Die Ge sandten hatten einen um so schwierigeren Stand, als ihr hoher römi scher Auftraggeber plötzlich starb. Der Heilige Stuhl war unbesetzt. Sie bekamen keine Aufträge und handelten nach eigenem Ermessen. Sie legten auf dem Altar der Hagia Sophia, die Justinian erbaut hat te, eine Urkunde nieder, durch die sie den Patriarchen von Byzanz ex kommunizierten. Als Antwort rief Kerullarios eine Kirchenversamm lung ein, die als Wortführer der gesamten östlichen Christenheit auf treten sollte. Dort wiederholte er seine Beschwerden gegen die römi sche Kirche und fügte noch eine besondere Äußerlichkeit hinzu, durch die die Mönche des Ostens sich von den westlichen Geistlichen unter schieden. Er brandmarkte die Rasur des Bartes, der sich auch die Apo 415
stel nicht unterzogen hätten, und verurteilte die Bulle der päpstlichen Gesandten und ›alle, die ihre Abfassung gefördert hatten, sei es durch Ratschlag, sei es sogar durch Gebete‹. Das ›Schisma‹, der endgültige Bruch zwischen der östlichen und westlichen Kirche, bedeutete nicht nur eine Trennung der Kirchen, es zog auch eine gefährliche Grenze zwischen den von byzantinischen Priestern zum Christentum bekehrten Ländern – Rußland, Bulgarien und Serbien – und der übrigen christlichen Welt. Die letzten Lebensjahre Heinrichs III. standen unter keinem guten Stern. Der Bischof von Eichstätt, sein verläßlicher Berater, ließ sich nur widerstrebend zum Nachfolger Leos IX. erheben. Der neue Papst fehlte dem Kaiser in seiner Kanzlei. Seine Beschränkung der markgräflichen Macht durch Erteilung von Sonderrechten an die aufstrebenden Städ te verursachte Unruhe unter allen großen Herren, die für ihre eigenen Sonderrechte fürchteten. Eine Fürstenverschwörung bereitete einen Mordplan gegen den Kaiser vor. Der plötzliche Tod mehrerer Rädels führer half Heinrich III. die Verschwörung zu unterdrücken, vor der er durch einen fürstlichen Teilnehmer gewarnt worden war. Der neun unddreißigjährige Kaiser starb in Anwesenheit des Papstes, den er von Rom herbeigerufen hatte, und hinterließ die Führung des Reiches sei ner Witwe bis zur Großjährigkeit seines gleichnamigen Sohnes, den er als Fünfjährigen zum König hatte krönen lassen. II Die Ereignisse während der zehn Jahre seiner Unmündigkeit be stimmten vorweg die langen Jahrzehnte der Herrschaft Heinrichs IV. Daß die beiden Gesandten Leos IX. die den endgültigen Bruch mit der byzantinischen Kirche herbeigeführt hatten, den Heiligen Stuhl bestiegen, machte fürs erste eine Versöhnung mit Byzanz unmöglich. Die Christenheit blieb gespalten. Aber die Neuerungen, die diese Päp ste und ihre unmittelbaren Nachfolger einführten, um die Papstwahl 416
von weltlichen Mächten unabhängig zu machen, kamen der Würde des Papsttums zustatten. Nur mehr die höchsten Bischöfe, die Kardi näle, sollten den Heiligen Vater wählen. Auch der deutsche König kam um das Recht, die Anerkennung zur Wahl zu geben. Dadurch war der Einfluß des königlichen Knaben, der seiner Mutter entführt wurde, um vom Erzbischof von Köln erzogen zu werden, von vornherein so beschränkt, daß er offenkundig gezwungen sein würde, sich den Päp sten entweder zu beugen oder sie offen zu bekämpfen. Die beabsichtigte Hinwegsetzung über die deutsche Königsgewalt auf italienischem Boden wurde ganz deutlich, als Papst Nikolaus II. den Normannen Robert Guiscard, den jüngeren Bruder Drogos und Wilhelm Eisenarms, ohne Befragung der Kaiserinwitwe, mit Apulien und Calabrien belehnte und ihn ermutigte, Sizilien zu erobern. Die Schiffe Robert Guiscards liefen aus und landeten seine unwi derstehlichen Krieger an der Küste der Insel. Messina fiel durch einen Handstreich, Palermo wurde erobert, die Muselmanen vertrieben. Ein Königreich entstand, das den Ehrgeiz hatte, das Mittelmeer zu beherr schen. Es war die große Zeit der Normannen. Unter Eduard dem Beken ner, der den Söhnen Knuts, Harald Hasenfuß und Harteknut, auf dem Thron Englands folgte, verlor die dänische Herrschaft den Boden un ter ihren Füßen. Eduard war ganz und gar in der Hand der angelsäch sischen Großen, die sich seiner so lange bedienen wollten, als es ihnen unmöglich erschien, sich von der dänischen Herrschaft zu befreien. Auch die blutigen Machtkämpfe im Norden der britannischen Inseln beunruhigten Eduard den Bekenner so sehr, daß er sich an seinen ent fernten Vetter, den Herzog Wilhelm der Normandie, um Rat und Un terstützung wandte. Er erklärte sich bereit, den Verwandten als Nach folger anzuerkennen. Wilhelm wartete geduldig auf das so gesicherte Erbe. Aber er er hielt die Botschaft vom Ableben Eduards gleichzeitig mit der Nach richt, daß Harald, der Sohn des mächtigsten angelsächsischen ›earl‹, sich zum König von England gemacht habe. Das Antreten der Erb schaft würde demnach nicht eine feierliche Fahrt, sondern einen Feld 417
zug bedeuten. Wilhelm rüstete umsichtig, während der Angelsach se Harald sich gegen den Norweger Harald, den Enkel Knuts, wehren mußte, der seinerseits Ansprüche auf den englischen Thron erhoben hatte. In der Schlacht vom Stamford Bridge wurden die Norweger ge schlagen. König Harald fühlte sich als Herr Englands, als Wilhelm bei Hastings landete. Die berühmte Schlacht dauerte nicht lange. Harald, der von den gro ßen Herren des Nordens im Stich gelassen wurde, fiel. Wilhelm, der Herzog der Normandie, der seither ›der Eroberer‹ genannt wurde, ließ sich auf den Thron erheben und schwor, die bestehenden englischen Gesetze zu achten. Alles schien in schönster Ordnung, als er kaum ein Jahr später in sein Herzogtum fahren mußte, um nach dem Rechten zu sehen. Aber kaum waren seine Schiffe ausgelaufen, als sich die gro ßen Herren im Norden des Königreiches gegen ihn erhoben. Er kehr te zurück und zeigte sein wahres Gesicht. Da seine königliche Aner kennung der Ordnung mißachtet worden war, mißachtete er die Ord nung. Wilhelm durchzog das Land mit seinen Normannen, nicht als Rich ter, sondern als Rächer. Hinrichtungen und Zerstörungen kennzeich neten seinen Zug durch die Gebiete der Großen, die von ihm abgefal len waren. Seine Verwüstung war so vollkommen, daß die Gegenden, die er heimgesucht hatte, sich nie mehr ganz erholen konnten. Dann verteilte er die beschlagnahmten Ländereien unter seine normanni schen Gefolgsleute, die er aufforderte, Burgen gegen die feindselige Be völkerung zu bauen. Die besten Gründe behielt er als Kronland für sich. Auf einem weiten Landstrich, den er als königliche Jagdgründe bezeichnete, wurden alle Gebäude, auch Kirchen, niedergerissen, um seinen Pferden und Hunden nicht im Wege zu sein. Jeder Wildfre vel in diesem ›New Forest‹ wurde durch Blendung bestraft. Um seine Eroberung zu sichern, errichtete Wilhelm eine Lehensherrschaft, de ren Nutznießer seine Normannen waren. Er ließ das ›Domesday Book‹ verfassen, die Sammlung grundbuchlicher Eintragungen, in denen die Besitzverhältnisse jedes Grundstückes in England in allen Einzelhei ten festgehalten waren. 418
Durch den Hochmut und die Habgier des neugeschaffenen Land adels, der nur dem König Rechenschaft schuldete, verfiel die Mehr zahl der unterworfenen Bevölkerung der Leibeigenschaft. Aber auch die großen Herren hatten es unter der harten Hand des Königs nicht leicht. Er ernannte und entließ sie nach seinem Belieben. Lords, Bi schöfe, Erzbischöfe und Äbte mußten nach seiner Pfeife tanzen und seinem Eigenwillen gehorchen. So befahl er zum Beispiel, daß in ganz England spätestens um acht Uhr abends alle Herdfeuer zugedeckt und ausgelöscht sein müßten, um Feuersbrünsten vorzubeugen. Niemand wagte es, sich den Befehlen des Königs zu widersetzen. Mit Wilhelm waren nicht nur die bewaffneten Normannen nach England gekommen, die als seine Lehensmänner adelige Schloßher ren wurden, sondern auch die normannischen Geistlichen unter der Leitung von Lafranc von Can, den er zum Erzbischof von Canterbu ry und zum höchsten Berater der Krone erhob. Die angelsächsischen Priester, die, wie der König sagte, »nur der Jagd, dem Würfelbecher und dem ehelichen Leben frönten«, wurden verjagt. Er hielt sie nicht für würdig des Zehnten, den er zugunsten der Kirche von der Bevöl kerung einzog. Wilhelm wollte sowohl seiner weltlichen als auch sei ner geistlichen Macht gewiß sein. Ohne königliche Einwilligung durf te kein päpstliches Sendschreiben in England in Umlauf gesetzt wer den und kein päpstlicher Gesandter englischen Boden betreten. Die Bischöfe seines Königsreichs sollten eine eigene Körperschaft bilden, deren Verfügungen in geistlichen Fragen nur dann Geltung hatten, wenn sie vom König bestätigt wurden. Die Gewaltherrschaft, die der Eroberer aufrichtete, war so übersicht lich geordnet, daß die von ihm verschärfte Schichtung in herrschen de und dienende Klassen im Lande Wurzel faßte. Andererseits war das von so verschiedenen Einflüssen und Volksstämmen zerrüttete König reich durch ihn geeinigt worden. Handel und Gewerbe erhielten durch die Gewinnsucht der Könige und des Adels neuen Antrieb. Die nor mannische Baukunst, die ihre Entstehung den abenteuerlustigen See fahrten der Normannen verdankte, lebte sich in prachtvollen Gebäu den aus. Auch Wissenschaft und Kunst fanden den Weg auf die Briti 419
schen Inseln und gewannen die eigenartige Prägung, die durch die all mähliche Vermischung so vieler verschiedener Völker im engen Raum entstand. III Die Kalifen der östlichen Muselmanenreiche und die Herren ihrer le bensfrohen Hofhaltungen hatten sich in den Jahrhunderten der guten Zeit des Kriegshandwerks entwöhnt. Aus den türkischen Sklaven, de ren sie sich als Leibwachen bedient hatten, waren immer häufiger frei gelassene Offiziere geworden, die die höchsten militärischen Stellen bekleideten und die tatsächliche Macht errangen. Aber nicht nur die einzelnen Türken gewannen den Anspruch auf das bessere Leben, das ihre Landesherren genossen. Ungezähmte türkische Stämme verließen ihre unwirtlichen, gebirgigen Wohnsitze im Inneren Asiens und setz ten sich in Bewegung, um gefälligere Landstriche zu besiedeln. Erst war es eine Durchdringung der Nachbargegenden durch einzelne tür kische Familien, die zu Diensten bereit waren. Dann aber formten sich streifende Horden, die gewalttätig in ihren Besitz bringen wollten, was andere hatten. Der erste namhafte türkische Eroberer, der seinem kriegerischen Stamm seinen Namen gab, hieß Seldschuk. Er und sein Sohn drangen über Persien und Kleinasien nach Armenien vor. Seinem Enkel wur de im Kalifenreich der aus Persien stammenden Bujidendynastie die höchste weltliche Würde des ›Emir al Omra‹, des Fürsten der Fürsten, zuteil. Sein Nachfolger, Alp Arslan, setzte die türkischen Eroberungen fort, nahm Jerusalem ein, besetzte Syrien und schlug ein Heer der By zantiner, das Kaiser Romanos IV. mühsam aufgestellt hatte. Durch diese Schlacht wurde der größte Teil Kleinasiens türkisch und die Macht des Kaisers von Byzanz, der zur gleichen Zeit Sizilien an Robert Guiscard verloren hatte, so unsicher, daß er sich trotz der kirchlichen Streitigkeiten an den Westen um Hilfe wenden mußte. 420
Der bescheidene Mönch mit dem häßlichen Gesicht und dem durch dringenden Blick war um diese Zeit von seiner deutschen Reise, die er als Begleiter Gregors VI. nach Köln unternommen hatte, längst schon wieder nach Rom zurückgekehrt und hatte als Berater jener Päpste gewirkt, die die Wahl auf den Heiligen Stuhl sowohl vom römischen Adel als auch von den deutschen Kaisern unabhängig gemacht hatten. Dieser Hildebrand war es auch gewesen, der die Überfälle der Nor mannen in Süditalien gutgeheißen hatte, gegen ihr Versprechen, dem Heiligen Stuhl gegebenenfalls militärischen Schutz angedeihen zu las sen. Er hatte acht Päpsten in wichtigen Ämtern gedient, als er sich dem vereinten Wunsch der Geistlichkeit und des römischen Volkes beugte und zum Papst weihen ließ. Hildebrand nahm den Namen des Papstes an, dem er in die Verban nung gefolgt war. Er nannte sich Gregor VII. Was er als Berater sei ner schwachen Vorgänger auf dem Heiligen Stuhl angeregt und durch sie nur zum Teil erwirkt hatte, wollte er nun selbst mit unerschütter licher Siegesgewißheit und eiserner Willenskraft vollenden. Sein Ziel war die vollkommene Unterwerfung der weltlichen Gewalt unter die geistliche. Ob Kaiser oder König, ob Fürst oder Adeliger, sie alle sollten die unbedingte Herrschaft des Heiligen Stuhles über die Kirche aner kennen und die Bischöfe als Steilvertreter des Papstes. Die noch im mer umstrittenen Fragen der Simonie und der Laieninvestitur traten in den Vordergrund der päpstlichen Gesetzgebung, die Gregor VII. lei denschaftlich vertrat. Das Verbot der Laieninvestitur richtete sich in erster Linie gegen das deutsche Königtum, das seit dem von Otto dem Großen eingeführ ten Reichskirchenwesen seine Macht auf die vom Herrscher erhobe nen Bischöfe und Äbte stürzte. Mit dem erst seit kurzer Zeit mündi gen Heinrich IV. glaubte Gregor VII. leichtes Spiel zu haben. Der jun ge Herrscher war scheinbar Wachs in den Händen der Herzöge und Landesfürsten, die seine Bemühungen, sich auf den niederen Adel und die Ministerialen zu stützen, mit geringschätzigem Lächeln hinnah men. Heinrich hatte seinen verläßlichen Berater, den Erzbischof Adal bert von Bremen, auf ihren Wunsch fortjagen müssen. Er hatte hilf 421
los zugesehen, wie der Herzog von Sachsen sich des größten Teils der bischöflichen Besitzungen bemächtigt hatte. Sein nächster Vertrau ter, Otto von Northeim, der Herzog von Bayern, wurde eines Mord anschlags auf Heinrich IV. angeklagt. Aber Otto ließ sich nicht ein schüchtern, obwohl er sein Herzogtum verlor. Der junge König erhob seinen Freund Welf I. zum Herzog von Bayern. Otto zog sich auf sei ne sächsischen Besitzungen zurück und bereitete einen Aufstand vor. Bald mußte Heinrich aus der Harzburg fliehen und sich um jeden Preis mit den anderen Reichsfürsten vertragen, um Otto von Northeim be siegen zu können. Eine blutige Schlacht fand statt. Der sächsische Adel unterwarf sich dem König nach dem Tod ihres Anführers. Dieser Sieg stärkte das Rückgrat Heinrichs IV. Er berief einen Reichs tag nach Worms, um die Bürger zu ehren, die ihm auf der Flucht vor Otto von Northeim, gegen den Wunsch ihres Bischofs, Unterkunft ge währt hatten. Der König brauchte Hilfe und Rat gegen Gregor VII. der ihm einen tadelnden Brief gesandt hatte, weil er einen Günstling mit Ring und Stab, ohne Zustimmung des Papstes abzuwarten, zum Bi schof von Bamberg eingesetzt hatte. Diese Hinwegsetzung über das päpstliche Verbot der Laieninvestitur war nicht das einzige Vergehen, das Gregor VII. dem König vorwarf. Heinrich IV. hatte auch fünf Bi schöfen, die seine Ratgeber waren und die der heilige Vater exkom muniziert hatte, seine öffentliche Gunst erwiesen. Eine Auseinander setzung war unausbleiblich. Heinrich IV. erweiterte den Reichstag zu einer Kirchenversammlung. Ein römischer Kardinal, der vom König dazu eingeladen worden war, klagte in aller Öffentlichkeit Gregor VII. der Ausschweifung, Grausamkeit und Hexerei an. Überdies sei Hil debrand durch Bestechung und Gewalttätigkeit Papst geworden und habe den alten Brauch, bei der Papstwahl die Zustimmung des deut schen Königs einzuholen, mißachtet. Nach dieser feierlichen Anklage erhob sich Heinrich IV. und schlug die Absetzung Gregors VII. vor. Der Erlaß, den die anwesenden Bi schöfe unterzeichneten, trug die Überschrift: »Heinrich, König, nicht durch Usurpation, sondern auf Gottes Anweisung, an Hildebrand, nicht Papst, sondern falscher Mönch.« 422
Dieses Schreiben wurde Gregor VII. in Rom ausgehändigt. Die an wesenden Bischöfe wollten den Boten erschlagen. Gregor nahm ihn in seinen Schutz, berief seinerseits eine Kirchenversammlung ein, exkom munizierte die Bischöfe, die den Wormser Erlaß unterzeichnet hatten, und sprach gegen Heinrich IV. einen dreifachen Richtspruch aus: die Acht, den Bann und die Absetzung. Überdies entband er Heinrichs Untertanen vom Treueid. Heinrich IV. hatte geglaubt, daß er Herr seines Reiches sei. Aber kaum war der furchtbare Fluch des Heiligen Stuhles bekanntgewor den, als seine Anhänger von ihm abfielen und das gesamte Volk sich gegen ihn erhob. Er berief vergeblich Bischöfe und Adelige zu Zusam menkünften. Niemand kam. Die großen Herren, die die Gelegenheit gekommen sahen, ihre Macht gegenüber dem Königtum entscheidend zu stärken, stimmten dem päpstlichen Bannfluch gegen den König zu und erklärten, daß sie einen Nachfolger wählen würden, falls ihm der Papst nicht verzeihe. Gleichzeitig beschlossen sie, Gregor VII. zu ei nem Reichstag nach Augsburg einzuladen, damit unter seinem Vorsitz die Angelegenheiten des deutschen Königtums und der deutschen Kir che geregelt würden. Der Sieg des Papstes war vollkommen. Er machte sich unverzüglich auf den Weg, obwohl Heinrich IV. ihm eine Botschaft gesandt hatte, daß er nach Rom kommen und um die Absolution bitten würde. Der König könne sich die Reise ersparen, war die Antwort des Heiligen Va ters. Der Papst sei auf dem Weg nach Augsburg. Auf der Reise machte Gregor VII. in Mantua bei seiner Anhänge rin, der Gräfin Mathilde, halt und erfuhr, daß sich Heinrich IV. be reits auf italienischem Boden befinde. Gregor VII. flüchtete sich aus Angst vor einem Überfall in die Burg Canossa. Was dort an einem strengen Wintertag geschah, berichtete er selbst: Heinrich kam ›aus eigenem Antrieb mit wenigen Begleitern. Er harrte drei Tage lang vor dem Tor der Burg aus, allen königlichen Schmuckes entledigt, in kläg lichem Aufzug, nämlich unbeschuht und in wollenem Gewand. Er ließ nicht eher ab, unter vielen Tränen Hilfe und Trost der apostolischen Erbarmung anzuflehen, bis er alle Anwesenden zu solcher Milde und 423
mitleidsvoller Erbarmung bewog, daß sie für ihn mit vielen Bitten und Tränen eintraten … und endlich lösten wir ihn von der Fessel des Ban nes und nahmen ihn wieder auf in die Gnade der Gemeinschaft und den Schoß der heiligen Kirche‹. Diese den Kaiser so demütigende Darstellung, für deren weite Ver breitung der Papst zur Mehrung seines eigenen Ansehens sorgte, mochte ungefähr den Tatsachen entsprochen haben. Aber der Heilige Vater berichtete nicht die ganze Wahrheit. Er verschwieg, daß Hein rich IV. zwar ohne Heer, aber mit seinem gesamten Hofstaat über die Alpen gezogen war, und sich nur für die erwünschte Aussprache mit dem Papst des königlichen Schmuckes entledigt hatte, um seine christ liche Haltung zu unterstreichen. Im politischen Machtspiel der Zeit erschien es dem Papst besonders wichtig, seine Überlegenheit durch die Hervorhebung von Äußerlichkeiten zu beweisen. Er tat dies um so mehr, als ihn nicht seine mildtätige Güte, sondern die Macht der Um stände zwang, den deutschen König vom Banne zu lösen. Der berühmte Gang nach Canossa bedeutete einen geistlichen Sieg Gregors VII. der nach Rom zurückkehrte, aber auch einen ungeheuren Erfolg für Heinrich IV. der ohne weiteres wieder seinen Thron einneh men konnte. Die deutschen Fürsten riefen zwar Rudolf von Schwaben zum Gegenkönig aus, aber Heinrich, der sich vom päpstlichen Bann fluch befreit hatte, fand die Unterstützung des Volkes. Er konnte ein Heer sammeln und sich zur Wehr setzen. Der Bürgerkrieg verwüstete das Land. Gregor VII. schlug sich auf die Seite des Gegenkönigs. Jetzt gab Heinrich die Demut auf. Er rief eine neue Kirchenversammlung ein und verfügte wieder die Absetzung Gregors, während die Ver sammlung den Erzbischof von Ravenna zum Papst ausrief und Hein rich das Vertrauen aussprach. Jetzt wagte der König die Schlacht gegen Rudolf – und wurde geschlagen. Er wäre verloren gewesen, wenn Ru dolf nicht in der Schlacht geblieben wäre. Mit den Resten seines geschlagenen Heeres drang Heinrich in Itali en ein und machte sich an die Belagerung Roms. Gregor VII. rief Wil helm den Eroberer zu Hilfe. Aber der neue König von England, der seine eigene Kirche gegründet hatte, war nicht dafür, daß Heinrich 424
in einem Kampf um die Übermacht des Königstums gegen den Papst unterliege. Er blieb, wo er war. Frankreich war ihm näher als Italien. Wenn er schon Krieg führen mußte, was ihm bei seiner zunehmenden Dickleibigkeit schwerfiel, dann sollte es gegen seinen Sohn sein, der sich gegen ihn aufgelehnt hatte. Während Wilhelm den Papst hinhielt, eroberte Heinrich Rom und sorgte dafür, daß der Erzbischof von Ra venna als Clemens III. den Heiligen Stuhl bestieg. Von ihm ließ er sich zum Kaiser krönen. Gregor VII. war inzwischen gefangen und von Clemens III. exkom muniziert worden. Das beugte nicht seinen Willen. Er hatte noch ei nen Verbündeten: Robert Guiscard, der an der Spitze von sechsund dreißigtausend Mann gegen Rom zog, um den Papst, der ihn begün stigt hatte, wiedereinzusetzen. Der Kaiser floh nach Deutschland. Robert nahm Rom ein, über ließ die Stadt seinen Normannen zur Plünderung und führte Gregor VII. mit sich, da der erniedrigte Papst in Rom nicht mehr in Sicherheit war. In Salerno warf Gregor noch einmal den Bannfluch auf Heinrich IV. Dann versiegte seine Kraft. Er konnte sich nicht verzeihen, daß er Heinrich verziehen hatte. Er hatte keinen Lebenswillen mehr. Seine letzten Worte waren: »Ich habe die Rechtlichkeit geliebt und die Unge rechtigkeit gehaßt, darum sterbe ich im Exil.« IV Als der Kaiser die Nachricht vom Tod des großen Papstes erhielt, glaubte er, daß seine Schwierigkeiten zu Ende seien. Er mußte mit bit teren Gefühlen erfahren, daß das Gedankengut Gregors VII. leben dig geblieben war. Der Bürgerkrieg, der durch die vom Papst angereg te Erhebung des Luxemburger Grafen Hermann von Salm zum Ge genkönig entfacht worden war, kam nicht zur Ruhe. In ihren Schlös sern und Burgen versammelten Herzöge und Grafen ihre Anhän ger. Die einen waren für, die anderen gegen Heinrich IV. und wenn es 425
auch oft schien, daß ihm das Übergewicht zufallen würde, so wende te sich das Blatt doch immer wieder. Er hatte einen mächtigen Bun desgenossen durch die Verheiratung Friedrichs von Staufen mit seiner Tochter Agnes gewonnen. Er erhob Friedrich zum Herzog von Schwa ben. Aber die Anhänglichkeit eines Herzogs bedeutete noch keines wegs die Sicherheit der Königsgewalt, und wie lange würde er sich auf den staufischen Schwiegersohn verlassen können? Heinrich hatte auf gehört, an Dankbarkeit zu glauben und Gelöbnissen zu trauen. Hat te er nicht Welf I. zum Herzog von Bayern gemacht? Und was hatte er dadurch erreicht? Er hatte einen Widersacher gefördert. Welf mach te sich zum Schirmherrn der geistlichen Bewegung, die vom Kloster Hirsau ihren Ausgang nahm und die Anregung Gregors VII. zur Aus führung brachte. Der Aufenthalt des schlichten Mönches Hildebrand in Deutschland wirkte sich aus. Der spätere Papst hatte damals die Zustände in den Klöstern untersucht und war zu dem Schluß gekommen, daß die welt lichen Beschränkungen der Kirche nicht nur von oben, sondern auch von unten fallen müßten. Die Klöster müßten mit dem Brauch aufräu men, nur adelige Freie als Mönche aufzunehmen. Nicht die Geburt, sondern die Eignung sollte entscheiden. Keinesfalls aber sollte die nied rige Abstammung einen würdigen Gelehrten hindern, das Gewand des HERRN zu tragen. In der Ausübung ihrer gottgefälligen Tätigkeit soll ten die Klöster nicht von den Bischöfen abhängig sein und auch nicht vom König. Ihre Äbte sollten den Schutz ihrer herzöglichen Gründer genießen und nur dem Heiligen Vater Rechenschaft schulden. Es nützte nichts, daß Heinrich IV. zaghaft auf seinen Rechten be stand und daß die Bischöfe sich auf seine Seite stellten. Auch daß Heinrich IV. den Gottesfrieden für das Reich verkündete, die ›treu ga Die‹, die Waffenruhe von Mittwoch abends bis Montag früh jeder Woche und für die hohen Feiertage, half ihm nicht. Seine Gegner wa ren nicht friedlich. Der Gegenkönig rührte das Land auf. Erst als Her mann von Salm in einem Gefecht fiel, schien es, daß Heinrich seine Herrschaft ungehindert genießen würde. Er ließ seinen Sohn Konrad zum König krönen. 426
Auch der neue Papst, Urban II. der seine Laufbahn als Cluniacenser Mönch begonnen hatte, schien den Frieden zu wünschen. Aber Hein rich zweifelte daran, als er die Nachricht bekam, daß der Papst eine Ehe des siebzehnjährigen Sohnes des Herzogs Welf I. von Bayern mit der vierundvierzigjährigen Gräfin Mathilde, die Gregor VII. in Ca nossa beherbergt hatte, gestiftet hatte. Er zog mit einem Heer über die Alpen, um sich den Papst, der offenkundig in die Fußstapfen Gregors VII. getreten war, näher zu besehen. Der Kaiser kam nicht nach Rom. Sein Sohn Konrad hatte sich in Mailand zum König des ehemaligen langobardischen Reiches krönen lassen und hielt zu Welf, der die Al penpässe sperrte. Vier Jahre lang wartete Heinrich vergeblich auf Nachschub und konnte nicht heimkehren. Er saß völlig machtlos in einer oberitalieni schen Burg, während die großen geistlichen und kriegerischen Wan derungen begannen, die von der Geschichte als Kreuzzüge bezeich net wurden. V Die mannigfaltigen Gründe, die hunderttausend Einzelgänger und ge sammelte Heere veranlaßten, ihre Wohnsitze und ihre Länder von ei nem Tag zum anderen zu verlassen und sich in kriegerische Abenteu er zu stürzen, wurden verschiedentlich erklärt. War es die Erregung von Gläubigen, die entsetzt erfuhren, daß das Heilige Grab in Jerusa lem von den Türken zerstört worden war? War es die Angst der herr schenden Mächte vor einem Vordringen der gewalttätigen türkischen Horden, die Kleinasien erobert hatten und Byzanz bedrohten? Oder wünschten die aufstrebenden italienischen Hafenstädte, Venedig, Pisa und Genua, die schon die Märkte des westlichen Mittelmeeres unter ihren Einfluß gebracht hatten, auch den Osten für ihre gewinnbrin genden Unternehmungen aufzuschließen? Die Gelegenheit war gün stig, denn die Kaiser- und Handelsstadt Byzanz, der große Wettbe 427
werber im Geschäft, war durch den Verlust Siziliens und der kleinasia tischen Besitzungen so geschwächt, daß seine ehemals so reichen und mächtigen Kaufleute keine kriegerischen Mittel mehr hatten, ihre Be lange zu wahren. Auch der muselmanische Handel hatte durch den Untergang der Kalifenreiche den Rückhalt verloren. Der Anlaß zu den Kreuzzügen konnte, wenigstens annähernd, ge schichtlich erfaßt werden. Es hieß, daß ein Wallfahrer Papst Urban II. einen Brief des Patriarchen Simeon von Jerusalem überbracht habe, in dem der Papst um Hilfe für die in Jerusalem verfolgten Christen ange rufen worden sei. Aber das war einige Jahre vor der Kirchenversamm lung von Piacenza geschehen, die Urban II. einberief, um sie mit ei nem viel bedeutsameren Hilferuf bekanntzumachen. Kaiser Alexios I. von Byzanz hatte seine Gesandten nach Rom geschickt, um dem Papst in aller Dringlichkeit nahezulegen, einen Aufruf zu erlassen, damit die westliche Christenheit dem Kaiserreich Byzanz gegen die Türken hel fe. Sei es nicht klüger, die Ungläubigen auf asiatischem Boden zu be kämpfen, als sie durch sein Reich in den Westen strömen zu lassen? Schon vor dem Einfall der Türken waren das Heilige Grab und die kostbare Gedächtniskirche Angriffen ausgesetzt gewesen, und Gre gor VII. hatte den denkwürdigen Ausspruch getan: »Ich möchte lieber mein Leben an die Befreiung der heiligen Stätten setzen, als die Welt regieren.« Urban II. wollte beides. Er fühlte sich stark genug, die zer fallene Christenheit wieder zu einigen und die unbändige Kriegslust der normannischen Abenteurer und der aufrührerischen Ritter in den Burgen Frankreichs und Deutschlands in eine Richtung zu lenken, die sie unmittelbar vom geistlichen Oberhaupt der Kirche abhängig mach te. Was bedeutete der Kaiser, der irgendwo in einem Winkel des Hin terlandes von Venedig nicht aus und ein wußte und nicht hin und her konnte? Was bedeuteten die Könige von Frankreich und England, die Herzöge, Fürsten und Grafen im deutschen Königreich, wenn das gro ße Sinnbild des christlichen Abendlandes, das Heilige Grab, auf dem Spiel stand? Wenn es dem Papst gelang, die unsteten, ziellosen Kräf te des Abendlandes im Zeichen des Kreuzes zu vereinigen, dann war Rom wieder die Hauptstadt der Welt und er, der Papst, ihr Herr. 428
Erst begab sich der Heilige Vater auf eine Reise, um durch persön liche Rücksprache Fühlung zu nehmen, ob das gewaltige Unterfan gen Aussicht auf Gelingen habe. Der Kaufleute der großen italieni schen Städte war Urban II. gewiß. Er kannte ihre Belange. Aber was würden die Ritter und Bauern, die Grafen und Bürger dazu sagen, wenn er sich ihnen mitteilte? Der Papst machte eine Probe. Er berief eine Kirchenversammlung nach Clermont in der Auvergne. Es war ein eisiger Wintertag. Tausende Menschen strömten aus allen Or ten der Umgebung herbei und warteten erregt auf die Ansprache des ehemaligen Cluniacenser Mönches, der in ihrer Landessprache das Wort nahm: »Ein gottloses Volk hat die Wiege unseres Heils, das Vaterland des HERRN, das Mutterland des Glaubens, in seiner Gewalt. Das gott lose Volk der Sarazenen bedrückt die heiligen Orte, die von den Fü ßen des HERRN betreten worden sind, schon seit langer Zeit mit sei ner Tyrannei und hält die Gläubigen in Knechtschaft und Unterwer fung. Die Hunde sind ins Heiligtum gekommen und das Allerheilig ste ist entweiht … Bewaffnet euch mit dem Eifer Gottes, liebe Brüder, gürtet eure Schwerter an eure Seiten, rüstet euch! … Besser ist es, im Kampf zu sterben, als unser Volk und die Heiligen leiden zu sehen. Wer einen Eifer hat für das Gesetz Gottes, der schließe sich uns an. Wir wollen unseren Brüdern helfen. Ziehet aus, und der HERR wird mit euch sein … Die Diebe, Räuber, Brandstifter und Mörder werden das Reich Gottes nicht besitzen. Erkauft euch mit wohlgefälligem Ge horsam die Gnade Gottes, daß er euch eure Sünde, mit denen ihr SEI NEN Zorn erweckt habt, um solcher frommer Werke und der verei nigten Fürbitten der Heiligen willen schnell vergebe. Wir aber erlassen durch die Barmherzigkeit Gottes und gestützt auf die heiligen Apo stel Petrus und Paulus allen gläubigen Christen, die gegen die Heiden die Waffen ergreifen und sich den Plagen dieses Pilgerzuges unterzie hen, alle Strafen, welche die Kirche für ihre Sünden über sie verhängt hat. Und wenn einer dort in wahrer Buße fällt, so darf er fest glauben, daß ihm Vergebung seiner Sünden und die Frucht ewigen Lebens zu teil werden wird.« 429
»Gott will es!« schrien die Anwesenden. »Dieu li volt!« Das wurde der Schlachtruf. Der Papst reiste von Stadt zu Stadt und predigte den 'Kreuzzug. Er befahl den Teilnehmern, auf der Stirn oder der Brust ein Kreuz zu tragen. Ritter und Freie wurden von allen Verpflichtungen entbunden. Leibeigene und Lehensmannen für die Dauer des Krie ges von der Treupflicht befreit. Während der Abwesenheit der Kreuz fahrer sollte ihr Eigentum den bischöflichen Schutz genießen. Stra fen, Steuern und Schulden wurden erlassen. Gefangene durften ihre Kerker verlassen, während Todesurteile in lebenslänglichen Dienst im Heiligen Land umgewandelt wurden. Ein Fieber ergriff den europäischen Raum. Mit dem Ruf: »Gott will es!« vereinigten sich große Herren mit Landstreichern, Reiche, die ih ren Besitz unrechtmäßig erworben hatten und vor dem Jüngsten Ge richt straflos ausgehen wollten, mit Armen, die im fabelhaften Mor genland Reichtümer zu erwerben hofften. Persönliche Feindschaf ten schienen unwesentlich angesichts der allgemeinen Feindschaft ge gen den großen und unsichtbaren Feind, der das Grab Jesu Christi ge schändet hatte. Auch Heinrich IV. konnte nach Deutschland zurückkehren und wie der Kaiser sein. Er war einer der vielen Nutznießer der ungeheuren Bewegung, die durch die Werbung des Papstes entstanden war. Die ersten unmittelbaren Opfer des beginnenden Kreuzzuges waren die Judengemeinden in den deutschen Städten, besonders in Mainz. Die wehrlosen ›Ungläubigen‹ wurden von den begeisterten Pilgern zu Tau senden hingemetzelt.
430
Zeittafel
Das Mittelalter 4.-7. Jh. Südamerika Erste Blütezeit der Maya-Kultur im sogenannten ›Alten Reich‹ um 375 Hunnen fallen in Europa ein, zerstören das Ostgotenreich 378 Die Westgoten besiegen Kaiser Valens bei Adrianopel 383 Ulfilas, westgot. Bischof, gestorben. Übersetzte die Bibel ins Gotische 386-557 Nordchina Reich der Wie 395-410 Alarich König der Westgoten 395 Theodosius teilt das Römische Reich, damit Begründung des
Byzantinischen Reiches. Arcadius erster Oströmischer Kaiser um 400 Wirken des Kirchenvaters Augustinus 410 Alarich erobert und plündert Rom seit 413 Burgundisches Reich um Worms 418-451 Westgotenreich um Tolosa (Toulouse) 418-451 Theoderich I. König der Westgoten 429-534 Das Vandalenreich in Afrika, gegründet von König Geiserich um 435 Bedeutende christliche Mosaikbilder in St. Maria Maggiore in Rom 431
445-453 Attila Herrscher des Hunnenreiches
493-553 Ostgotenreich in Italien, zunächst unter Theoderich dem Großen
449 (?) Angeln, Sachsen und Jüten erobern die Südküste der Britischen Inseln
um 500 Boethius schreibt musiktheoretische Schriften, die Grundlage der Musiktheorie im Mittelalter werden Blüte der byzantinischen Mosaikkunst Ölmalerei in China
um 450 Hymnendichter Paulus Diaconus 451 Attila wird auf den Katalaunischen Feldern von Aëtius und Theoderich I. (†) in gewaltiger Schlacht besiegt, kann aber abziehen 466-484 Westgotenkönig Eurich 476 Der Germane Odowakar wird Herrscher Italiens 480-543 Benedikt von Nursia, gründet europäisches Klosterwesen 493-526 Theoderich der Große, Ostgotenkönig
482-511 Chlodwig (Merowinger); nach seinem Tod Teilung des Reiches 507-711 Spanien Das Westgotenreich 522 Die älteste erhaltene chinesische Pagode erbaut 527-565 Byzantinisches Reich Justinian I. 531 Die Thüringer, 534 die Burgunder von den Franken unterworfen
432
537 Hagia Sophia in Konstantinopel erbaut (Kuppelbasilika) im 6. Jh. Frühbyz. Kirchenbauten in Ravenna mit Mosaiken 552 Japan Einführung des Buddhismus 553 Der Ostgotenkönig Teja wird am Vesuv vernichtend geschlagen 558-561 Chlothar I. vereinigt noch einmal das Frankenreich unter seiner Herrschaft 568-774 Italien Das Langobardenreich etwa 570-632 Mohammed 584-590 Italien Authari 586-601 Spanien
Rekkared, erster katholischer König (seit 527) um 590 Kirche St. Gereon in Köln um 600 Papst Gregor I. läßt Kirchengesänge sammeln (Gregorianischer Gesang) um 602 Die mittelamerikanische ›Olmeken-Kultur‹ um 607 Die älteste japanische Pagode in Nara erbaut 610-641 Byzantinisches Reich Herakleios I. 627 die Perser bei Ninive vernichtend geschlagen um 620 Porzellan in China nachweisbar 622 Islam Mohammeds Übersiedlung von Mekka nach Medina 433
661-750 Arabisches Reich Omaijaden (in Damaskus)
(Hedschra), Beginn der islamischen Zeitrechnung 634-644 Arabisches Reich Kalif Omar
673-754 Bonifatius, der ›Apostel der Deutschen‹
636-652 Langobardenreich Rothari 649-672 Spanien Rekkeswind; die von ihm veranlaßten neuen Gesetze lassen ein spanisches Volk entstehen 7. Jh. Für die Merowingischen Schattenkönige nach Dagoberts I. (629-639) Tod regieren die Hausmeier ab 7. Jh. Bedeutende arabische Wissenschaft um 650 Moscheen in Jerusalem und Kairo erbaut Bedeutende indische Tempelbauten
674-678 717-718 Byzantinisches Reich Konstantinopel siegreich gegen die Araber verteidigt 680 Bulgarien Gründung des Donaubulgarischen Reiches mit der Hauptstadt Pliska 687-717 Pipin II. (Karolinger) Hausmeier des ganzen Frankenreiches ab 700 Indien Erstarken des Hinduismus um 700 Entwicklung einer bedeutenden angelsächsischen Buchmalerei 701-762 Li Tai peh, chinesischer
434
Lyriker, leitet eine Blütezeit der chinesischen Lyrik ein 711 Spanien Roderich, der letzte Westgotenkönig, fällt in der Schlacht am Guadalete gegen die Araber; das Reich geht unter, arabische Statthalter 714-741 Karl Martell (der Hammer, ein unehelicher Sohn Pipins II.) 732 Karl Martell schlägt die Araber zwischen Tours und Poitiers um 740 Älteste abendländische Kreuzigungsdarstellung in Rom (Wandmalerei) 741-768 Pipin III. (der Kleine) ab 751/52 König um 750 Das Hildebrand-Lied (im Kloster Fulda) Bedeutende ostasiatische Kunst
750-1258 Arabisches Reich Abbassiden (in Bagdad) 751 Italien Ende der Byzantinischen Macht in Mittelitalien (Ravenna) 754 ›Pipinische Schenkung‹ (Urkunde angeblich verloren) an Papst Stephan II. 768-814 Karl der Große, vermutlich 742 geboren, nach Karlmanns Tod 771 Alleinherrscher, ab 25.12.800 Kaiser 770-840 Einhard, ein Gelehrter am Hofe Karls des Großen 772-804 Feldzüge Karls gegen die Sachsen 773-774 Eroberung des Langobardenreiches durch Karl den Großen
435
784-856 Hrabanus Maurus, bedeutender deutscher Gelehrter
um 814 Sammlung von Heldensagen unter Karl dem Großen
um 786 Bagdad ist ein bedeutendes Zentrum von Kunst und Wissenschaft
814-840 Ludwig der Fromme, wird 816 vom Papst zum Kaiser gekrönt
786-809 Arabisches Reich Höchste Machtentfaltung unter Harun al-Raschid 787 Byzantinisches Reich Konzil von Nicaea, Sieg der Bildverehrung um 800 Erste Blütezeit der fränkischen Klosterschulen Alkuin, bedeutender Gelehrter in Tours etwa ab 800 England Einfälle der Normannen 802-839 England König Egbert von Wessex wird Oberherr über alle angelsächsischen Reiche
um 836 In Samarra (Kalifenhauptstadt im Irak) entstehen prächtige Paläste und Moscheen 842-867 Byzantinisches Reich Michael III. 842 Kalif Omar beginnt den Ausbau Kairos 843-875 Italien Die Karolinger 843 Vertrag von Verdun 843-877 Frankreich Karl der Kahle 843-876 Ludwig der Deutsche 436
855-875 Italien Kaiser Ludwig II. im 9. Jh. Entstehung der zwölf Kirchentonarten Wirken des irischen Scholastikers Johannes Scotus Eriugena 867-886 Byzantinisches Reich Basileios I. um 870 ›Krist‹, eine bedeutende althochdeutsche Dichtung des Otfried von Weißenburg 870 Vertrag von Meerssen: nach dem Tod Lothars II. sein Reich zwischen Karl dem Kahlen und Ludwig dem Deutschen geteilt 871-899 England Alfred der Große um 872 Norwegen König Harald Harfagr (Schönhaar) eint Norwegen
876-887 Frankreich Karl III. der Dicke, ab 884 noch einmal Alleinherrscher des Frankenreiches 876 Nach dem Tode Ludwigs des Deutschen, teilen sich seine drei Söhne, Karlmann, Ludwig III. und Karl III. der Dicke, das Reich des Vaters 879-912 Rußland Oleg vereinigt die einzelnen Waräger-Herrschaften 880 Vertrag von Ribemont, der für das ganze Mittelalter die Grenze zwischen Deutschland und Frankreich festlegt 886-912 Byzantinisches Reich Leon VI. 887-899 Arnulf von Kärnten 888-962 Italienische Nationalkönige
437
Ende 9. Jh. Beginn der FujiwaraKultur in Japan
920-944
Byzantinisches Reich Romanos I. Lakapenos
um 900
Die arabische Märchensammlung ›1001 Nacht‹ beginnt zu entstehen
933
Heinrich besiegt die Ungarn bei Riade
900
Italien Ludwig von der Provence wird zum König, 901 zum Kaiser gekrönt, 905 von Berengar gefangen und geblendet
936-973
Otto I. der Große
900-911
Ludwig das Kind
945-955
Byzantinisches Reich Konstantin VII.
um 910
Benediktiner-Abtei Cluny gegründet Abteikirche in Cluny erbaut 911-918
Konrad I. von Franken (aus dem deutschen Frankenstamm) 919-1024
Sächsische Könige und Kaiser 919-936
Heinrich I.
936-954
Frankreich Ludwig IV.
951
Italien Otto I. kommt nach Oberitalien, belehnt 952 Berengar II. 955
Otto besiegt die Ungarn bei Augsburg im 10. Jh. Ungarn Gründung des Ungarischen Reiches (Dynastie der Arpaden bis 1301) 438
im 10. Jh. Ottonische Kunst Erneute Blüte der mitteleuropäischen Klosterschulen und Domschulen Edda- und Skaldendichtung in Altisländisch Erste Mysterienspiele in Mittelund Westeuropa Hochstehende arabische Wissenschaft Wasserorgel in europäischen Klöstern Blütezeit der chinesischen Landschaftsmalerei um 960
Beginn einer bedeutenden chin. Blumenmalerei 960-992
Polen Miseka, Otto dem I. tributpflichtig für das Land zwischen Oder und Warthe 960-1280
China Die Sung-Dynastie 962 Otto wird in Rom zum Kaiser gekrönt (›Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation‹)
963-969
Byzantinisches Reich Nikephoras Phokas 969-976
Byzantinisches Reich Johannes Tzimiskes um 970
Ottonische Buchmalerei der sogenannten Reichenau-Schule 971
Die große Moschee in Cordova im maurischen Stil erbaut 973-983
Otto II. 976-1025
Byzantinisches Reich Basileios II. 976
Baubeginn an der Markuskirche in Venedig um 976
Blütezeit der arabischen Kultur in Spanien 982
Niederlage Ottos gegen die Sarazenen bei Cotrone 439
983-1002 Otto III. 983 Die chinesische Enzyklopädie vollendet, sie umfaßt 1.000 Bücher 984 Skandinavien Erik der Rote von Norwegen besiedelt Grönland; Leiv Erikson entdeckt um 1000 zum erstenmal Amerika (Labrador) 987-1328 Frankreich Das Haus der Kapetinger 988 Rußland christlich 992-1025 Polen Boleslaw I. Chrobry 995-1000 Skandinavien Olaf Tryggvason, König von Norwegen. Das Land wird gewaltsam christianisiert
995-1050 Guido von Arezzo, bedeutender französischer Musiker 997-1038 Ungarn Stephan I. der Heilige um 1000 Frühromanische Kunst in Europa Das Kloster Reichenau ist in Wissenschaft und Kunst Mitteleuropas tonangebend Der ›Hiddenseer Goldschatz‹, Schmuck aus der Wikingerzeit um 1000 Skandinavien Island wird christlich 1001 Indien Der türkische Sultan Mahmud beginnt die Eroberung Indiens; 1005 ist er Herr des Induslandes 1002-1024 Heinrich II. 1010 Spanien Die Omaijaden im arabischen 440
Spanien werden gestürzt, Kleinstaaten sind die Folge
Bulgarien kommt an das Byzantinische Reich
1015 Baubeginn am Dom zu Straßburg
1024-1125 Die Salischen Kaiser
ab 1016 Normannen in Unteritalien 1016-1054 Rußland Großfürst Jaroslav der Weise 1016-1042 England Dänische Herrschaft unter Knut dem Großen und seinen Söhnen 1016-1035 Skandinavien Knut der Große ab 1016 König von England, ab 1018 König von Dänemark, erobert 1028 Norwegen, zwingt Schottland 1031 zur Huldigung 1016 Italien Salerno ruft gegen die Sarazenen normannische Pilger zu Hilfe 1018 Bulgarisches Reich
1024-1039 Konrad II. 1033 Königreich Burgund zum Deutschen Reich 1033-1109 Anselm von Canterbury, Scholastiker in England 1035-1058 Kroatien Stephan I. 1035-1047 Norwegen Magnus der Gute, nach der Vertreibung von Knut des Großen Sohn 1039-1056 Heinrich III. 1050 ›Der allgemeine Spiegel der Weltgeschichte‹, ein 441
chinesisches Werk in 294 Büchern des Sema Kuang im 11. Jh. Blüte der byzantinischen Goldschmuckkunst In Rußland entsteht eine Kunst, die das Byzantinische abwandelt Spielmannsdichtung in Frankreich 1054 Byzantinisches Reich Endgültiges Schisma der Kirche. Niederlegung der päpstlichen Bannbulle auf dem Altar der Hagia Sophia, als Antwort Bannung des Papstes durch den Patriarchen von Byzanz 1056-1106 Heinrich IV. um 1065 Gründung der Hohen Schule in Bagdad, die das Zentrum der arabischen Wissenschaft und Kunst wird 1066 Neubau des Klosters Monte Cassino
14.9.1066 England Schlacht bei Hastings. Herzog Wilhelm von der Normandie landet und siegt 1066-1087 England Wilhelm I., der Eroberer, zugleich Herr über die Normandie 1070 Baubeginn an der Kathedrale von York 1070 Jerusalem Alp Arslan erobert die Stadt, das wird Anlaß zum Ersten Kreuzzug 1076 Papst Gregor VII. (1073-1085) beginnt den Investiturstreit 1077 Heinrichs Gang nach Canossa 1080-1085 Spanien Alfons VI. belagert und erobert Toledo 442
1086 England Domesday Books: Alle Besitzungen in den Grafschaften werden nach Ackergröße, Bevölkerungsstand, Wert usw. verzeichnet
Kloster- und Domschulen Karl der Große läßt Heldensagen sammeln; Versuch einer deutschen Grammatik 802 Kloster Münster von Karl gegründet
Deutsche Geschichte
804 Carolinum-Gymnasium in Osnabrück von Karl gegründet
770-840 Einhard, Gelehrter am Hofe Karls des Großen
804 Pfalzkapelle Karls des Großen in Aachen erbaut
786-809 Arabisches Reich Höchste Machtentfaltung unter Harun al-Raschid
um 814 ›Wessobrunner Gebet‹ in althochdeutschen Stabreimen
787 Konzil von Nicaea 792 Dom zu Fulda, Baubeginn ab 800 England Einfälle der Normannen um 800 Erste Blütezeit der fränkischen
814-840 Ludwig der Fromme. Erhält sein Kaisertum von Papst Stephan IV. verliehen. Gründet die Bistümer Hildesheim und Halberstadt 820-822 Michaels-Kirche in Fulda um 830 ›Heliand«‹ (Schilderung der Geschichte des Heilands, der hier als germanischer König auftritt) 443
840 Bruderkrieg unter den Söhnen nach Ludwigs Tod um 841 Unter Abt Hrabanus Maurus (784-856) wird die Klosterschule Fulda sehr berühmt 842 ›Straßburger Eide‹ in Altfranzösisch und Althochdeutsch (zum erstenmal sprachliche Trennung zwischen Ost- und Westfranken festzustellen) 843 Vertrag zu Verdun: Teilung des Reiches in drei Teile; Ostteil an Ludwig den Deutschen 843-911 Die ›deutschen‹ Karolinger 843-876 Ludwig der Deutsche etwa 850-1150 Frühscholastik 868 Otfried von Weißenburg:
›Krist‹ (althochdeutsche Dichtung, Endreim!) 870 Vertrag von Meerssen: Lothars Mittelreich aufgeteilt 871-899 England König Alfred der Große 876 Die Söhne Ludwigs des Deutschen teilen sich nach dessen Tod das Reich. Es regieren: 876-880 Karlmann (Bayern, östl. Marken) 876-882 Ludwig III. (Mainfranken, Sachsen, Thüringen) 876-887 Karl III. der Dicke, ab 881 Kaiser (Alamannien, Churrätien) 880 Vertrag von Ribemont: Grenze zwischen Deutschland und Frankreich festgelegt, die das Mittelalter hindurch bestehenbleibt 444
881 ›Ludwigslied‹ (althochdeutsch) 887-899 Arnulf von Kärnten, Sohn Karlmanns, ab 896 Kaiser 891 Arnulf besiegt die Normannen bei Löwen an der Dyle um 900 Mönch Notker-Balbulus in St. Gallen (Musiker und Dichter) 900-911 Ludwig IV. das Kind. Ohnmacht des Königtums, Erstarken des Stammesherzogtums. Dauernde Einfälle der Ungarn 911-918 Konrad I. von Franken (aus dem deutschen Frankenstamm) im 10. Jh. Dom zu Augsburg erbaut
designiert. 919 zum erstenmal die Bezeichnung ›Reich der Deutschen‹ 919 Arnulf von Bayern zum Gegenkönig erhoben; unterwirft sich 921 um 925 Ekkehard I. Mönch im Kloster St. Gallen (909-973) schreibt das Waltharilied (lat. Hexameter) 933 Heinrich schlägt die Ungarn bei Riade 935-1000 Roswitha von Gandersheim schreibt lateinische Gedichte, Legenden und ›Schauspiele‹ 936-937 Otto I. der Große (seit 962 Kaiser)
919-1024 Die sächsischen Könige und Kaiser
936-937 Hermann Billung und Markgraf Gero errichten zwei Marken gegen die Slawen
919-936 Heinrich I. von Konrad
955 (1. Aug.) 445
Otto schlägt die Ungarn in der Nähe von Augsburg
983-1002
Otto III.
955
(Okt.)
Sieg Ottos an der Recknitz über die Slawen
987-1328
Frankreich Könige aus dem Haus der Kapetinger
um 968
Widukind von Corvey schreibt Geschichte der Sachsen
997-1038
Ungarn Stephan der Heilige
um 970
Blüte der Ottonischen Buchmalerei, besonders in der Reichenau-Schule
etwa 1000-1250
Romanische Kunst in Deutschland und Italien
973-983
Otto II. um 980
Baubeginn am Mainzer Dom 982
(Juli)
Otto II. unterliegt entscheidend gegen die Araber bei Cotrone 983
Aufstand der Slawen, die Nordmark und die Billungische Mark gehen verloren
um 1000
Beginn der frühen Mehrstimmigkeit in der Musik um 1000
Gründung des Klosters Einsiedeln 1002-1024
Heinrich II. (Herzog von Bayern) um 1015
Baubeginn am Dom zu Straßburg (zunächst romanisch) ab 1016
Italien Normannen in Unteritalien 446
1016-1042 England Dänische Herrschaft
im 11. Jh. Die Harfe als Musikinstrument in Europa
1024-1125 Die Salischen (fränkischen) Kaiser
um 1056 Bau der Kaiserpfalz in Goslar
1024-1039 Konrad II. 1033 Das Königreich Burgund wird mit dem Deutschen Reich vereinigt um 1034 Baubeginn beim Würzburger Dom 1039-1056 Heinrich III.
1056-1106 Heinrich IV. 1059 Ein Papstwahldekret; Verbot der Laieninvestitur um 1060 Dom zu Speyer erbaut im 11. Jh. In der romanischen Zeit werden im mittelhochdeutschen Sprachgebiet etwa 10.000 Burgen erbaut
1046 Die Synoden in Sutri und Rom setzen drei Päpste ab 1054 Schisma der Kirche im 11. Jh. Burg der Burggrafen von Nürnberg mit fünfeckigem Turm erbaut 447