Paul Frischauer
Weltgeschichte in Romanen Band 4 Vom Ende des 11. Jahunderts bis zum Ende des 15. Jahrhunderts
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Paul Frischauer
Weltgeschichte in Romanen Band 4 Vom Ende des 11. Jahunderts bis zum Ende des 15. Jahrhunderts
Inhaltsangabe Aus dem Zeitlauf der Geschichte erhebt es sich trotz aller Kämpfe, aller Krisen als eines der interessantesten Epochen unserer Geschichte: das Mittelalter, geprägt vom Gegensatz zwischen Kaiser und der Kurie, die nun auch weltlichen Machtanspruch immer wieder durchzusetzen versucht. Große Herrschergestalten prägen die Zeit. Auf der Seite des Königtums Otto I. Heinrich der Fünfte und insbesondere die Staufenkaiser Friedrich der Erste, Barbarossa, und der sagenumwobene, hochbegabte Friedrich der Zweite. Das Mittelalter ist die Zeit der Kreuzzüge, die begonnen wurden, als der Papst dem bedrängten Ostreich gegen die türkischen Seldschuken half. Jerusalem wurde erobert. Blutige Kämpfe gegen die Sarazenen dezimierten immer wieder die Heere der Christen. König Richard Löwenherz begleitet Friedrich Barbarossa auf dem dritten Kreuzzug, wird bei seiner Rückkehr von Leopold von Österreich gefangen genommen. Noch heute ist in Dürnstein sein Name lebendig. In dieser Zeit spielt der berühmte Roman ›Ivanhoe‹ von Walter Scott, der in wichtigen Teilen Kernstück dieses Bandes von Frischauers Weltgeschichte ist. Neue Kräfte drängen nach vorn. Das Rittertum wurde abgelöst durch den aufstrebenden Bürger, das Mittelalter als große Epoche geht zu Ende. Die Ideale der römischen Republik werden wieder lebendig. In seinem berühmten Roman ›Rienzi‹ erzählt Bulwer vom römischen Volkstribun, der den Adel aus Rom vertrieb und von seinen Gegnern ermordet wurde. In solchen Brennpunkten zeigt Frischauer den Wandel der Zeiten, in dieser Art der Komposition seines Werkes liegt dessen besondere Stärke. Ein meisterhafter Erzähler wie Bulwer kann lebendig machen, Atmosphäre vermitteln, besser als es der Chronist vermag, doch auch seiner Chronistenpflicht kommt Frischauer nach. Er führt den Leser dieses Bandes bis in die Zeit der Reformation und die Entdeckung Amerikas, bis in den Beginn eines neuen Zeitalters herein. Die mächtige Bewegung der Renaissance, die das Geistesleben genauso ergreift wie die Architektur und die Malerei, löst in ihrer humanistisch weltlichen Ausrichtung den Widerstand des Mönches aus Wittenberg, Martin Luther, aus, der zurückführen will zu den Werten des Glaubens und verkündet: ›sola fide‹, allein durch den Glauben.
Sonderausgabe des Lingen Verlags, Köln by Literarica Anstalt, Vaduz Gesamtherstellung: Lingen Verlag, Köln und Bercker Graph. Betrieb GmbH, Kevelaer Schutzumschlag: Roberto Patelli Printed in West-Germany Alle Rechte vorbehalten Dieses eBook ist umwelt- und leserfreundlich, da es weder chlorhaltiges Papier noch einen Abgabepreis beinhaltet! ☺
Das Kreuz als Wegweiser und Werkzeug der Macht I Es gab zwei Arten von Kreuzfahrern: Die einen waren hergelaufene Abenteuerlustige und aus Dörfern und Städten zusammengetrommelte, von Frömmigkeit besessene Bewaffnete, die den lauten Rufen von Predigern ungeordnet folgten, unter denen sich Peter der Einsiedler, Gautier Habenichts und der Priester Gottschalk hervortaten. Die anderen waren große und kleinere Herren, die gelobt hatten, das Grab des Heilands zu erobern, und von denen jeder für sich eine geordnete Streitmacht sammelte. Zu den ersten Gruppen, die, das Kreuz auf die Mäntel geheftet, die weite Reise nach dem Osten unternahmen, gehörten auch Frauen und Kinder, bald auch Dirnen, die ihre Gelegenheit suchten. Diese armseligen Landstreicher des Glaubens begehrten von den Städten und Siedlungen, durch die sie zogen, mit Nahrung und Wegzehrung versehen zu werden. Oft fielen sie plündernd über Felder und Häuser her und scheuten vor keinem Verbrechen zurück. Als diese hungrigen und kranken Bettler, die den Rhein und die Donau entlang gezogen waren, in Byzanz ankamen und von Kaiser Alexios I. der sie herzlich willkommen hieß, nicht so bewirtet wurden, wie sie es gehofft hatten, plünderten sie Kirchen, Häuser und Paläste, bis der Kaiser sie mit Lebensmitteln versorgte und ihnen Schiffe gab, damit sie nach Kleinasi1
en übersetzen konnten. Er riet ihren Wortführern aber, doch auf die inzwischen angekündigten adeligen Herren zu warten, die den Kreuzzug als Feldherren führen sollten. Die kriegerischen Pilger schlugen den kaiserlichen Rat in den Wind. Sie warteten nicht und wurden vor Nicaea von türkischen Bogenschützen fast völlig vernichtet. Die bedeutendsten großen Herren, die sich auf den Weg gemacht hatten, waren der Herzog Gottfried von Bouillon, die Grafen von Flandern und Toulouse und der Sohn Robert Guiscards, Graf Bohemund von Tarent, den sein Neffe, Tankred von Hauteville, begleitete. Ihre Ankunft erfreute Alexios noch weniger. Er hatte erfahren, daß Bohemund nach guter Normannenart angesichts des Reichtums der alten Kaiserstadt gleich den Vorschlag gemacht hatte, sich der Schätze von Byzanz zu bemächtigen und das Kaiserreich zu erobern. Waren diese streitsüchtigen Fürsten und Grafen seine Retter, oder waren sie gekommen, ihm den Gnadenstoß zu geben? Alexios vertraute jedoch Gottfried von Bouillon, der mit gelassener Überlegenheit erklärte, er habe sein Schloß in Lothringen nur verlassen, um gegen Ungläubige zu kämpfen, der aber doch, ebenso wie seine vornehmen Gefährten, überaus empfänglich war für bedeutende Geschenke, die sie alle bestimmen sollten, sich sobald wie möglich auf den Weg nach ihrem Ziel zu machen. Sie nahmen das Geld und genossen den Aufenthalt. Byzanz mit seiner gesättigten und verfeinerten Lebensform war ein noch nie dagewesenes Schauspiel für die großen Herren und ihre Gefolgsleute. Alle Genußmittel, von denen sie bestenfalls Proben gekostet oder gesehen hatten, gab es im Überfluß: Seide, Gewürze – und sogar Zucker, ›die süßen Rohre, die man Zucra nennt‹. Ihre Haltung verriet ganz deutlich ihre Gedanken: Wieso kamen die vom römischen Glauben abtrünnigen griechischen Christen dazu, alles das zu haben, was doch den rechtgläubigen Tapferen gehören sollte, wenn es nach Recht und Billigkeit ging? Es fiel Alexios nicht leicht, die Heeresgruppen der fürstlichen Kreuzfahrer zur Abreise zu veranlassen. Aber es gelang dem Kaiser schließlich doch durch den Hinweis auf die ungeheuren Schätze der Musel2
manen und die Wichtigkeit, die er der Bedingung beimaß, daß sie ihm als ihrem obersten Lehensherren den Treueid schwören und alle Gebiete, die sie eroberten, als seine Lehen gelten lassen sollten. Sie waren dazu bereit, um so mehr, als weder der Kaiser noch die Könige von Frankreich und von England an dem Kreuzzug teilnahmen, und sie sich, wenn sie eigene Königreiche errichteten, selbst vom Treueid freisprechen konnten. Konnten sie sich in dieser Hinsicht nicht auch auf den Heiligen Vater verlassen, dessen Ruf sie gefolgt waren? Dreißigtausend Kreuzfahrer landeten in Kleinasien. Sie vernichteten ein türkisches Heer und zogen unentwegt weiter. Als der Zug in Edessa ankam, war ein großer Teil der wandernden Truppen dem Hunger und der Hitze erlegen. Die Überlebenden waren erschöpft, aber die fürstlichen Herren waren darauf aus, auf eigene Faust zu ihren eigenen Gunsten Eroberungen zu machen. Das erste Reich im Orient gründete Balduin, der Bruder Gottfrieds von Bouillon. Er wurde Fürst von Edessa. Die nächste wichtige Eroberung war Antiochia. Auf die Nachricht, daß ein großes Aufgebot von Muselmanen unter der Führung des Kalifen von Mossul im Anmarsch sei, ergriffen viele Männer die Flucht. Alexios I. der den unentwegten Kreuzfahrern in vorsichtigen Tagesmärschen gefolgt war, wurde von diesen Kleinmütigen überzeugt, daß das Christenheer schon vernichtet worden sei. Er machte kehrt. Als die übriggebliebenen Kreuzfahrer die Nachricht von seinem Rückzug bekamen, waren sie so entmutigt, daß der päpstliche Begleiter des Zuges, Adhemar, eine List ersinnen mußte, um sie zum Kampf anzustacheln. Er erklärte, daß ein Mönch die römische Lanze gefunden habe, mit der Christus verwundet worden sei, und veranlaßte, daß drei weiß gekleidete Ritter sich für die heiligen Märtyrer Mauritius, Theodor und Georg ausgaben und die Echtheit der Lanze bestätigten. Jetzt übernahm Bohemund von Tarent den Befehl über die Kreuzfahrer. Das Sinnbild wurde dem Angriff vorangetragen, er errang einen vollständigen Sieg. Der Mönch, der die heilige Lanze gefunden haben wollte, mußte sich zum Beweis seiner Wahrhaftigkeit einer Feuerprobe unterziehen. Er lief durch brennende Reisigbündel – und blieb am Leben. Als er am 3
nächsten Tag doch an den Brandwunden starb, verlor auch die Lanze ihren sinnbildlichen Wert. Aber Bohemund wurde Fürst von Antiochia und behauptete, daß sein Treueid an Alexios nichtig sei, da der Kaiser von Byzanz nicht an der Schlacht teilgenommen habe. In den nächsten Monaten wechselten erfolgreiche Raubzüge mit unentschiedenen Streitigkeiten zwischen den Anführern der Kreuzfahrer ab. Der kriegerische Haufen setzte einen unaufhaltsamen Zug durch das Heilige Land fort. Endlich waren die Kreuzfahrer vor Jerusalem angelangt. Jetzt übernahm Gottfried von Bouillon den Befehl und erstürmte die Mauern. Es war ein unsäglicher Triumph, der die Sieger in einen Blutrausch versetzte. Ein geistlicher Augenzeuge berichtete: »Auf den Straßen konnte man haufenweise abgehauene Hände, Köpfe und Füße sehen. Überall mußte man sich seinen Weg durch Pferdeund Menschenleiber bahnen.« Insgesamt wurden siebzigtausend Muselmanen niedergemetzelt. Frauen erstochen, Säuglinge über die Stadtmauern geschleudert, die Juden in einer Synagoge lebendigen Leibes verbrannt. Aber dann eilten die Kämpfer zur Kirche, in deren Grabkammern, wie es hieß, Christus gelegen habe. Die Kreuzfahrer weinten vor glückseliger Freude und dankten dem Herrn der Barmherzigkeit für den Sieg. Als Belohnung für die Eroberung von Jerusalem wurde Gottfried von Bouillon mit dem Titel eines Verteidigers des Heiligen Grabes geehrt. Gottfried, an dessen frommer Rechtschaffenheit kein Zweifel war, hinterließ das Reich, das er geschaffen hatte, seinem Bruder Balduin. Der neue Herr von Jerusalem nannte sich König und teilte sein Gebiet nach abendländischer Art in Lehensfürstentümer auf. Die ursprünglichen Grundbesitzer wurden Leibeigene der Ritter, die den Boden ihrerseits als Lehen vom König empfingen. Nach dem Fall Jerusalems waren viele Kreuzfahrer mit Beute beladen in die Heimat zurückgekehrt. Andere Ritter, die im Heiligen Land geblieben waren, schlossen sich in mönchischen Orden zusammen. Sie legten das Gelübde der Keuschheit, der Armut, des Gehorsams und des Schutzes von Palästina ab. Sie wurden zu einer barmherzigen Körperschaft, die sich Johanniterritter nannte. Wieder eine andere Grup4
pe von acht adeligen Kreuzfahrern, die sich gleichfalls einer mönchischen Regel unterwarfen und dem Kriegsdienst für die Christenheit weihten, erhielten eine Unterkunft in der Nähe des Salomon-Tempels. Bald wurden sie Tempelritter genannt. Die Johanniter trugen schwarze Gewänder mit einem weißen Kreuz auf dem linken Ärmel, die Templer weiße Gewänder mit rotem Kreuz auf dem Mantel.
II Die wunderbare Botschaft von der Befreiung des Heiligen Grabes erregte das Abendland. Die heimkehrenden Kreuzfahrer wurden als Helden gefeiert, ihr leuchtendes Beispiel den Säumigen und Zögernden von den Kanzeln der Kirchen vorgehalten und von Predigern in allen christlichen Ländern gepriesen. Aber nicht nur die dichterische Verherrlichung der Männer, die im Namen des HERRN gegen die muselmanische Welt ausgezogen waren, belebte die Einbildungskraft der Menschen im europäischen Raum. Den übertriebenen Nachrichten von den ruhmreichen Taten der Kreuzfahrer folgten die Handelsschiffe mit den fremdartigen Erzeugnissen des Orients. Wer ehrgeizig war und seines eigenen Mutes gewiß, ließ sich leicht überzeugen, daß ihn die Reise ins Morgenland und der Dienst unter den Fürsten des Kreuzes reich und mächtig machen würde. Die Werbung wirkte. Bald warteten viele Abenteuerlustige in den Hafenstädten des Mittelmeeres auf die erstbeste Gelegenheit, nach Palästina fahren zu können. Aber auch der Westen Europas bot die Möglichkeit, für den Glauben zu kämpfen. In den nördlichen Bergen der Iberischen Halbinsel hatten sich die Bewohner der christlichen Grafschaften des ehemaligen Westgotenreiches gegen die muselmanischen Eroberer jahrhundertelang gehalten und sogar wiederholt vorgewagt. Jetzt brachen sie hemmungslos aus ihren burgartigen Schanzen aus und setzten die sogenannte ›reconqui5
sta‹, die Wiedereroberung des Landes, in einem örtlichen Kreuzzug gegen die mohammedanische Besetzung der Halbinsel fort. Die kleinen Königreiche Kastilien, León und Galicien wurden von Alfons VI. zu einem Gesamtreich vereinigt. In den Kämpfen für und gegen die maurischen Kalifen, tat sich Roderigo Diaz, der auf arabisch ›cid‹, der Herr, genannt wurde, besonders hervor. Toledo wurde die Hauptstadt Alfons VI. Er verlieh die westlichste Grafschaft seines Königreiches seinem Schwiegersohn, dessen Erbe sich unabhängig machte und der erste König von Portugal wurde. Die Grafschaft Barcelona wurde mit Aragon, dessen König Alfons I. der Kämpfer, durch die Eroberung von Saragossa erweitert hatte, zum selbständigen Königreich Katalonien. Die christlichen Könige auf der Iberischen Halbinsel lebten nur selten friedlich nebeneinander. Aber wenn sie auch untereinander kämpften, waren sie doch in zwei Belangen miteinander einig: Sie anerkannten die Oberhoheit des Papstes und die Notwendigkeit, die Muselmanen nach Nordafrika zu vertreiben. Das gesteigerte Ansehen Urbans II. der zum Kreuzzug aufgerufen hatte, wirkte sich auf die brüchige Herrschaft Heinrichs IV. aus. Der in den Wirren der Zeit nach Deutschland zurückgekehrte Kaiser konnte zwar erreichen, daß sein zweiter Sohn, Heinrich, zum König gekrönt wurde. Er konnte auch eine Umänderung des Strafrechts durchsetzen, so daß dieselben Strafen an Leib und Leben für schwere Verbrechen gegen Freie wie Unfreie verhängt wurden. Aber gerade die menschenfreundliche Haltung Heinrichs IV. den niederen Ständen des Reiches gegenüber erschreckte den jungen König, dessen Bruder Konrad gestorben war und ihm die Nachfolge nicht streitig machen konnte. Er fürchtete die Unzufriedenheit der Großen des Reiches mit der neuen Gesetzgebung und war auch durch die nach dem Tod Urbans II. anhaltende Feindseligkeit der Päpste gegen seinen Vater so beängstigt, daß er ihn auf eine Burg lockte, gefangennahm und zur Abdankung zwang. Noch einmal focht Heinrich IV. für seine Krone. Er war erfolgreich, aber er überlebte den Sieg über seinen Sohn nicht lange. Heinrich V. trat, ohne es zu wollen, in die Fußstapfen des Kaisers, 6
den er so bitter bekämpft hatte. Auch er geriet in Gegensatz zum Heiligen Stuhl. Aber Heinrich V. hatte aus den Schwächen seines Vaters gelernt. Er zeigte sich stark, nahm den Papst, Paschalis II. gefangen und erzwang einen Friedensschluß. Dem König wurde das Recht der Einweisung von Bischöfen durch Ring und Stab vor ihrer Weihe zuerkannt. Das war ein bedeutender Erfolg Heinrichs V. der auch zum Kaiser gekrönt wurde und sich mit der englischen Prinzessin Mathilde vermählte. Er glaubte schon, daß er ein glücklicherer Herrscher sein würde als Heinrich IV. den er jetzt, so viele Jahre nach seinem Tod, vom päpstlichen Bannfluch hatte lösen lassen. Aber auch ihn empfing in Deutschland ein gefährlicher Fürstenaufstand, und bald kam auch noch die Nachricht von der Widerrufung des Vertrages, den der Papst mit ihm geschlossen hatte. Wieder eilte Heinrich V. nach Rom. Die Kardinäle flohen nach Frankreich, als er einen Gegenpapst einsetzte. In Deutschland herrschte Bürgerkrieg. Die Staufen, die das Herzogtum Schwaben durch den Bau von Burgen mächtig gesichert hatten, lagen in offenem Kampf mit Lothar von Supplingen, dem Heinrich V. das Herzogtum Sachsen verliehen hatte. Welche Seite sollte der Kaiser begünstigen? Friedrich von Staufen war sein Neffe. Er wollte ihn zu seinem Erben machen, da seine eigene Ehe kinderlos war. Heinrich V. kränkelte. Die Frage der Nachfolge schien dringend. Aber noch dringender wurde der Streit mit dem neuen Papst, Calixtus II. den die nach Frankreich geflohenen Kardinäle gewählt hatten. Die Könige von England und Frankreich hatten in die vom Heiligen Stuhl begehrte Scheidung in den geistlichen und weltlichen Auftrag der Bischöfe eingewilligt. Auch Heinrich V. fügte sich. Es kam zum Wormser Konkordat. Dieser Vertrag zwischen Staat und Kirche war noch immer keine endgültige Lösung. Er bestand im wesentlichen darin, daß Heinrich wörtlich erklärte: »Ich überlasse der heiligen katholischen Kirche die ganze Investitur durch Ring und Stab und gestatte, daß in allen Kirchen in meinem König- oder Kaiserreich kanonische Wahl und freie Weihe stattfinde.« Darauf erwiderte Papst Calixtus II. daß ›die Wahlen der Bischöfe und Äbte des teutonischen Königreichs, die dem Königtum unmittelbar unterstehen, in deiner Ge7
genwart geschehen sollen, ohne Simonie und irgendwelche Gewaltsamkeit, dergestalt, daß du, wenn eine Zwietracht unter den Parteien auftaucht, nach Rat oder Urteil der Bischöfe, der im Recht befindlichen Partei Zustimmung und Hilfe gewährest. Der Erwählte aber soll die Regalien ohne jeden Zwang durch das Zepter von dir empfangen und, was er dir hiernach von Rechts wegen schuldet, leisten‹. Durch diesen Vergleich Heinrichs V. mit dem Heiligen Stuhl hörten die Bischöfe des Reiches auf, unmittelbare Unterstellte des deutschen Königs zu sein, und unterschieden sich in ihrer weltlichen Stellung von den anderen Großen nur dadurch, daß ihre Würden und Ämter nicht erblich waren.
Als Heinrich V. einem Krebsleiden erlag, wurde nicht der von ihm vorgeschlagene Friedrich II. von Schwaben, sondern Lothar, der Herzog von Sachsen, zum König gewählt. Auch Lothar konnte nicht friedlich herrschen, obwohl Papst Honorius II. seine Wahl gnädig bestätigte. Die alte Fehde mit den Staufen hielt an. Konrad, der Bruder Friedrichs, wurde als Gegenkönig aufgestellt und machte Lothar die Herrschaft in blutigen Feldzügen streitig. Der Bundesgenosse des erwählten Königs war sein Schwiegersohn, Heinrich der Stolze, der Enkel Welfs I. von Bayern, den Lothar als Belohnung für die Hilfe mit dem Herzogtum Sachsen belehnte. Auch in Rom gab es bald wieder Papst und Gegenpapst. Lothar mußte von Innozenz II. in der Laterankirche zum Kaiser gekrönt werden, da die Peterskirche in den Händen des Gegenpapstes Anaklet, war, der sein Papsttum auf die kampflustigen Normannen stützte. Zum Schutze von Innozenz war der Kaiser gezwungen, Krieg gegen Roger II. von Sizilien zu führen. Es gelang ihm, das süditalienische Festland zu erobern, aber das Heer weigerte sich, ihm über die Meeresenge von Messina zu folgen. Lothar war ganz nahe darangewesen, das Kaisertum wieder groß zu machen. Er hatte die Unterwerfung Konrads von Staufen erwirkt und 8
hatte durch die Verleihung von den im Osten des Reiches gelegenen Gebieten an tüchtige Grafen bedeutende Marken zum Schutz der deutschen Siedler und zur Bekehrung der benachbarten Slawen geschaffen. Albrecht der Bär aus der Familie der Askanier, dem Lothar die Nordmark verliehen hatte, sicherte sich durch einen Vertrag mit dem Hevellerfürsten Pribislav die Erbfolge im Havelland. Er wurde der erste Markgraf von Brandenburg. Konrad von Wettin verwaltete und erweiterte die Mark Meißen und die Mark Lausitz. Auch die Grafschaft Holstein, die Lothar noch als Herzog von Sachsen an Adolf von Schauenburg verliehen hatte, wurde neu besiedelt. Aufrufe, die den Bauern ›sehr gutes, geräumiges Land, das reich an Fruchtertrag und an Fisch und Fleisch sei, sowie an bequemen Weiden Überfluß habe, lockten eine zahllose Menschenmenge aus verschiedenen Stämmen an. Sie kamen, um das Land, das ihnen verheißen wurde, in Besitz zu nehmen‹. Die einheimische slawische Bevölkerung hatte als wichtigstes Gerät den hölzernen Hackenpflug benützt. Die neuen Einwanderer brachten den Eisenpflug in die fruchtbaren Gegenden. Die Obst- und Gemüsezucht war ihnen durch die unermüdliche Belehrung der wandernden Mönche bekannt. Sie bauten Häuser, sie pflegten das Land. Sie waren unternehmungslustige, arbeitswillige Männer und Frauen, die weite Gebiete urbar machten und die Grenzen des deutschen Reiches friedlich nach dem Osten verschoben.
Der Welfe Heinrich der Stolze hatte schon Krone und Zepter von Lothar erhalten und war überdies durch die Zusicherung des Herzogtums Sachsen als Erbe des Kaisers der mächtigste Fürst im Reich geworden, daß er gewiß war, der Nachfolger seines Schwiegervaters zu werden. Er konnte es nicht fassen, daß Konrad von Staufen, der sich dem Kaiser doch hatte unterwerfen müssen, von den deutschen Fürsten unter Leitung des Erzbischofs von Trier zum König gewählt wurde. Noch bevor Heinrich der Stolze dagegen Einspruch erheben konnte, wurde Konrad III. in Aachen gekrönt. 9
Die erste Handlung des ersten anerkannten Staufenkönigs war eine Herausforderung gegen den Herzog, der wenige Jahre vorher zu seiner Demütigung beigetragen hatte. Er verlieh das Herzogtum Sachsen an Albrecht den Bären und das Herzogtum Bayern an seinen Halbbruder, den Babenberger Leopold IV. von Österreich. Der plötzliche Tod Heinrich des Stolzen unterbrach den geschichtlichen Kampf der Welfen und Staufen, der mit der Thronbesteigung Konrads III. begonnen hatte. Die blutigen Feldzüge und friedlichen Verhandlungen führten wohl zu vorübergehenden Friedensschlüssen und zum Austausch von Herrschaftsgebieten, aber die Welfen, die Sachsen wiedererhielten, verziehen es den Staufen nie, daß sie das Herzogtum Bayern verloren hatten, auch nicht, als die Witwe Heinrichs des Stolzen sich mit Heinrich Jasomirgott von Österreich, dem Bruder Leopolds IV. vermählte. Konrad gelang ein glücklicher Feldzug in Böhmen. Er band das Slawenreich der Przemysliden an die deutsche Krone. Er war des anhaltenden Erfolges seiner Herrschaft gewiß, als ihn ein ehrenvoller Vorschlag erreichte, dem er sich nicht entziehen zu können glaubte.
III Kurz vor der Eroberung Jerusalems durch Gottfried von Bouillon war in der französischen Ortschaft Citeaux bei Dijon ein Kloster gegründet worden, dessen Mönche sich Zisterzienser nannten. Diese Geistlichen hatten es sich zum Ziel gesetzt, ihre weltlichen Aufgaben durch ihrer Hände Arbeit zu erfüllen. Sie bauten schlichte Kirchen in unwirtlichen Gegenden und verwandelten Sumpfgebiete und ungerodete Wälder in fruchtbares Land. Wohin sie kamen, entstanden blühende Siedlungen. Ihr bedeutendster Abt war Bernhard, der das Tochterkloster Clair10
vaux errichtete. Er sorgte nicht nur für die Verbreitung des Zisterzienserordens, sondern wurde zur treibenden Kraft des christlichen Glaubens seiner Zeit. Er war Berater Innozenz' II. gewesen, und Eugen III. hatte den Heiligen Stuhl durch seine Einwirkung unangefochten bestiegen. Bernhard von Clairvaux war im tiefsten Wesen von seiner Sendung überzeugt. Er predigte nicht nur hinreißend, er dichtete auch. Sein ergreifendes Suchen nach der Nähe Gottes sprach aus seinen zarten Liedern. Die Verinnerlichung seines Gefühls hatte eine ebenso starke und nachhaltige Wirkung auf das geistliche und geistige Leben wie die Auffassungen seiner gelehrten mönchischen Zeitgenossen, Anselm von Canterbury und Abaelard, die den Glauben durch verstandesgemäße Erkenntnis festigen wollten. Die Grundsätze Anselms von Canterbury und Abaelards, die sich als führende Scholastiker, als Vertreter der Schulwissenschaften, bemühten, die geoffenbarten Glaubenswahrheiten durch Klärung der Begriffe und Schlußfolgerungen faßbar zu machen, entsetzten Bernhard von Clairvaux, dem das Wunder der Schöpfung mehr galt als das Verständnis des Weltalls. Er predigte, daß nur derjenige Gott erkennen könne, der die Liebe des HERRN in Christus nacherlebe. Dem ›intelligam, ut credam‹ der Scholastiker setzte er das ›credo, ut intelligam‹ entgegen, ›Glaube, damit du verstehest‹, und nicht: ›Verstehe, damit du glaubst‹. Trotz der belebten sinnlichen Sprache, die die Dichtungen Bernhards rührend und ansprechend machten, hatte er nicht nur keinen Sinn für Schönheit, er wollte sie nicht wahrhaben und deckte sich sogar die Augen zu, damit sie nicht die Freude an der Pracht von Landschaften allzu sinnenhaft genössen. Die Klöster, die unter seiner Aufsicht erbaut wurden, kannten keinen anderen Schmuck als das Kruzifix. Trotz seiner zur Schau getragenen Schlichtheit erregte die Anwesenheit und die Beredsamkeit des heiligen Bernhard die Volksmengen, denen er predigte, so sehr, daß die Hingerissenen ihm die Füße küßten und sein Gewand zerfetzten, um sich heilige Reliquien zu sichern. Als die Nachricht kam, daß Edessa wieder in den Besitz des Islam gefallen war und das türkische Heere ausgerüstet würden, um Jerusalem 11
wiederzuerobern, forderte Bernhard den Papst auf, die Christenheit zu den Waffen zu rufen. Am ersten Kreuzzug hatten weder Heinrich IV. noch die anderen Könige des Abendlandes teilgenommen. Bernhard besuchte den König von Frankreich. Ludwig VII. war zum Aufbruch bereit. Jetzt reiste Bernhard nach Deutschland, um auch Konrad III. für die fromme Fahrt zu gewinnen. Er kam in einem günstigen Zeitpunkt. Der deutsche König hatte gerade mit Kaiser Manuel von Byzanz ein Bündnis gegen den König von Sizilien geschlossen, der sich Unteritalien wieder bemächtigt hatte und mit seinen normannischen Schiffen den ohnehin eingeschränkten Handel von Byzanz bedrohte. Aber nicht dieses Bündnis mit dem bedrohten Byzanz, sondern die Möglichkeit, auch die Welfen durch ein gemeinsames Ziel an sich zu binden, bestimmten Konrad III. der Beredsamkeit des heiligen Bernhard williges Gehör zu schenken. Im Dom von Speyer hielt der Abt von Clairvaux eine zündende Kreuzzugspredigt. Dann wandte er sich an Konrad III. und sprach zu ihm, ›nicht wie zu einem Fürsten, sondern von Mensch zu Mensch‹. Er hielt ihm das Jüngste Gericht vor Augen und pries gleich darauf die Klugheit, die Körperstärke, den mannhaften Sinn Konrads so eindrucksvoll, daß der König unter Tränen ausrief: »Ich erkenne Gottes Gnadengeschenke. Ich bin bereit, IHM zu dienen, wann immer ER mich ruft.« Der König und sein Neffe, Friedrich von Schwaben, hefteten sich das Kreuz an. Die beiden Staufer waren um so eher bereit, ins Morgenland zu ziehen, als Heinrich der Löwe dem Abt von Clairvaux gelobte, während der Abwesenheit Konrads einen Kreuzzug nach dem Osten zur Unterwerfung der heidnischen Slawen zu unternehmen und bis zur Erreichung der frommen Ziele Frieden im Lande zu halten.
Der zweite Kreuzzug begann im Zeichen eines peinlichen Wettbewerbs und Unfriedens zwischen Konrad III. und Ludwig VII. von Frankreich. Zu Ostern brachen die deutschen Kreuzfahrer auf, zu Pfingsten folg12
ten die französischen, die erregt feststellen mußten, daß die Gegenden, durch die sie kamen, bereits von den Truppen Konrads geplündert worden waren. Die Städte, an denen sie vorbeizogen, hielten ihre Tore verschlossen, und die gewitzigten Bürger waren nicht immer bereit, Verpflegung in Körben von den Mauern herabzulassen. Die Entbehrungen erregten den König von Frankreich und seine Gefolgsleute um so mehr, als sie ihre Damen auf die Kreuzfahrt mitgenommen hatten und vor den Augen der Schönen nicht wie fahrende Bettler dastehen wollten. Der Kaiser von Byzanz, der die geordnete Heuschreckenplage der Kreuzheere, die ihm zu Hilfe kommen sollten, noch ängstlicher betrachtete als sein Vorgänger die ersten bewaffneten Pilger, bat seinen gefährlichen Verbündeten, nicht über Byzanz zu ziehen. Die Folge seines bescheidenen Ersuchens war ein Kronrat im Lager des französischen Königs, dem vorgeschlagen wurde, er solle die Stadt Byzanz und das Kaiserreich für Frankreich durch einen Handstreich erobern. Es kam nicht zu offenen Tätlichkeiten, denn es gelang Manuel, seine Verbündeten friedlich über den Bosporus überzusetzen. Er riet ihnen, nicht die gleiche Marschrichtung zu nehmen wie die ersten Kreuzfahrer. Aber Konrad bestand darauf. Erst ging es durch unwirtliche Gegenden. Lebensmittelmangel und tückische Hinterhalte schwächten das Heer, das schließlich mit der Hauptstreitmacht der Türken zusammenstieß und so jämmerlich geschlagen wurde, daß nur jeder zehnte Christ überlebte. Nicht viel besser erging es dem Zug Ludwigs VII. Der König von Frankreich schwenkte zur Küste nach Attalia ab, um sich mit seinem Heer auf dem Seeweg nach Antiochia bringen zu lassen. Der Preis, den die Seeleute verlangten, war unerschwinglich. Aber die flüssigen Geldmittel Ludwigs reichten hin, daß er sich in Begleitung der Damen einschiffen konnte und sein Heer zurückließ. Kurz nach seiner Abfahrt überfielen die Türken die Hafenstadt Attalia und töteten alle Franzosen. Als Ludwig VII. in Jerusalem ankam, war Konrad mit den wenigen Männern, die ihm nach seiner Niederlage verblieben waren, schon in der Königsstadt Balduins III. Sie stellten ein Heer auf, das sich zur Be13
lagerung von Damaskus in Bewegung setzte. Vor den Mauern der großen muselmanischen Stadt entstanden heftige Streitigkeiten unter den Fürsten, wer von ihnen nach dem Siege Damaskus und das Hinterland beherrschen sollte. Mohammedanische Unterhändler, die sich an die uneinigen Belagerer heranmachten, fanden sowohl offene Hände für ihre Bestechungen als auch offene Ohren für jedes Gerücht, das sie zu verbreiten wünschten. Bald hieß es im ganzen christlichen Lager, daß die Türken mit einem großen Heer zum Entsatz von Damaskus auf dem Weg seien. Die Belagerer waren sich bald einig, daß sie am besten täten, sich durch einen Rückzug zu retten. Wer noch fliehen konnte, floh nach Antiochia, nach Jerusalem und von dort in die Heimat. Konrad III. kehrte nach Deutschland zurück. Ludwig VII. blieb noch für eine kleine Weile in Jerusalem, um Pilgerfahrten zu den heiligen Stätten zu machen. Der völlige Zusammenbruch des zweiten Kreuzzuges erschütterte das Abendland. Arnold von Brescia, der ein Schüler des Scholastikers Abaelard gewesen war, verurteilte in heftigen Predigten den heiligen Bernhard, der in schwärmerischer Unbesonnenheit den Kreuzzug mutwillig heraufbeschworen und den Tod so vieler Menschen verschuldet habe. Der Abt von Clairvaux rechtfertigte sich durch die Erklärung, daß sich die Wege des Allmächtigen menschlichem Verständnis entzögen und das furchtbare Geschehen eine Strafe für die Sündhaftigkeit der Christen gewesen sei. Während die Kreuzfahrer im Morgenland so kläglich vernichtet worden waren, hatte der Kreuzzug nach dem Osten, die sogenannte ›Wendenfahrt‹, die die Bekehrung der Slawen jenseits der Grenzen des Reiches zum Ziele gehabt hatte, nicht viel mehr Erfolg. Der bewaffnete Aufmarsch der christlichen Fürsten führte aber doch dazu, daß die Anlage von Klöstern und das ungehinderte Wirken von Mönchen in den umkämpften Gebieten sichergestellt werden konnten. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland plante Konrad III. noch einen Italienzug. Er wollte sich selbst beweisen, daß er nicht am Ende seiner Kräfte sei und sich auch nicht durch den plötzlichen Tod seines ältesten Sohnes und erklärten Nachfolgers Heinrich niederdrüc14
ken ließ. Eine fiebrige Zuversicht trieb ihn an. Er wollte nach Rom, um die Wirkung der Predigten Arnolds von Brescia durch seine glanzvolle Anwesenheit zum Verblassen zu bringen. Würde es der freche Geistliche wagen, die Erneuerung Roms unter dem Schutz eines Senats anzupreisen, wenn ihm ein deutscher Herrscher mächtig entgegentrat? Konrad III. starb, bevor er sich auf den Weg machen konnte. Die Folgen der unglücklichen Kreuzfahrt Ludwigs VII. äußerten sich auf andere Weise. Seine Gattin Eleonore, die mit ihm ins Heilige Land gezogen war, um glorreiche Taten zu erleben, war bitter enttäuscht. Sie hatte Einfluß genug, sich vom König von Frankreich scheiden zu lassen. Sie heiratete Heinrich von Anjou-Plantagenet, der den Anspruch seines Hauses auf die Krone Englands nach langwierigen Bürgerkriegen verwirklichen konnte. In die Ehe brachte sie ihm die Herzogtümer Poitou und Guyenne und die Grafschaft Gascogne, die französische Kronlehen waren. Aber diese förmliche Abhängigkeit vom geschiedenen Mann seiner Königin störte Heinrich II. von England nicht. Er selbst war als Erbe der Normandie, der Bretagne und Anjous Lehensmann des Königs von Frankreich, auf den er herabsah. Er war weitaus mächtiger als sein Lehensherr. Die einzigen Herrscher des Abendlandes, die auf Heinrich Eindruck machten, waren seine normannischen Vettern, die Könige von Sizilien und der König von Deutschland. Heinrich beugte sich auch dem Papst nur dann, wenn es zu seinen unmittelbaren Gunsten war. Er ging darüber hinweg, als Thomas Beckett, der Erzbischof von Canterbury, der der Erweiterung der königlichen Rechte gegenüber der Kirche widersprochen hatte, von seinen Gefolgsleuten ermordet wurde. Aber er ließ sich vom Papst mit Irland belehnen, das als ein Teil der Konstantinischen Schenkung an den Heiligen Stuhl galt. Er begünstigte auch Laiengelehrte, die an den in Entstehung begriffenen Universitäten in Oxford und Cambridge Vorlesungen über Römisches Recht hielten und es mit dem ›common law‹, dem überlieferten Gewohnheitsrecht, verglichen, dem Heinrich II. durch die Einführung von Geschworenengerichten entgegenkam. Der Zug ins Weltliche, das sich vom geistlichen Zwang der Kirche zu befreien suchte, wurde nicht nur von den Königen von England geför15
dert, sondern auch von den ihnen stammesverwandten Herrschern Siziliens und den großen Herren im Süden des ehemaligen Westfrankenreichs. Die Nachfolger Robert Guiscards hatten nicht nur die Gebiete, sondern auch die Tatkraft ihrer Vorfahren geerbt. Das Normannenreich im Mittelmeer war zur bedeutenden Macht geworden, nicht so sehr durch die Ausdehnung des Landbesitzes, als durch die abenteuerlichen und gewinnbringenden Unternehmungen zur See. Die normannischen Kauffahrer und Kriegsschiffe kämpften um die Übermacht im Mittelmeer, bald auf dieser, bald auf jener Seite, mit den Flotten Venedigs und der anderen bedeutenden italienischen Hafenstädte oder mit den muselmanischen Händlern. Die bis zu den Zähnen bewaffneten Normannen scheuten nicht davor zurück, die Einheimischen anzugreifen, oft nicht wegen der Beute, sondern wegen des Vergnügens am Kampf. Sie brachten an den Königshof von Palermo Schätze von allen Küsten, an denen sie angelegt hatten, und auch die Kenntnis der genußreichen Lebensformen fremder Länder. In ihrer übermütigen, kraftstrotzenden Freude begnügten sie sich nicht mit den überlieferten Gebräuchen. Sie verbesserten die Kampfübungen der Muselmanen, die sie an Ort und Stelle kennengelernt hatten, und da es ihnen zu langweilig und ungefährlich erschien, mit Poloschlägern um einen Ball zu kämpfen, veränderten sie die unblutigen Reiterspiele des Islam nach ihrer Art. Sie benützten Lanzen und veranstalteten Wettkämpfe, um ihre eigene Kraft und Geschicklichkeit und die Gewandtheit ihrer Pferde zu erproben. Um diesen Kämpfen, die Turniere genannt wurden, Würde und Geltung zu geben, ersannen sie Regeln, an die sie sich bedingungslos hielten, viel strenger als an alle Landesgesetze. Auf dem Turnierplatz waren sie eine Gemeinschaft. Ob sie miteinander oder gegeneinander kämpften, galt nicht so sehr wie die Tatsache, daß sich jeder, der zum Wettkampf zugelassen wurde, den Regeln fügen mußte. Da diese adeligen Herren, die sich Ritter nannten, nicht immer die geistlichen oder weltlichen Obrigkeiten anerkannten, mußten sie eine höhere Gewalt, die allgemein gültig war, über sich stellen. Wer konnte das sein? Nur eine schöne Frau, eine edle Dame, die sie zur Königin ihrer wettkämpferischen Festlichkeit 16
machten. Jeder Ritter wollte einer Dame dienen, ihr zu Ehren streiten, um der Ehre willen oder um des Lohnes, den sie ihm für seine Tapferkeit und ritterliche Überlegenheit zuerkennen würde. Die Sitten und Vorschriften der Turniere wurden die Grundlage der ritterlichen Gebräuche. Sie fanden Verbreitung im christlichen Abendland und wurden anerkannt, wo immer sich berittene Grundherren zu Kampfspielen zusammenfanden. Aus den Spielregeln entwickelten sich allgemeine Verhaltensmaßregeln, Ehrbegriffe und Lebensformen, die bedeutsamer wurden als örtliche Gegebenheiten. Der Kampf zu Roß machte noch keinen Ritter. Wer sich bewaffnet aufs Pferde setzte, gehörte nicht schon dadurch dem bevorrechteten Stand an. So hieß es in einer gesetzlichen Bestimmung: »Wir verordnen, daß die Söhne von Geistlichen und Bauern durch den Richter des Gebiets aus dem Ritterstand ausgestoßen werden.« Die Landesherren verliehen den Gurt, der das Kennzeichen derjenigen Ritter war, die nicht schon durch den Adel ihrer Herkunft auf den Rang Anspruch erheben konnten. Zumeist lebten die Ritter in ihren Burgen, befestigten Wohnhäusern auf schwer zugänglichen Höhen oder von Wasserläufen umflossen. Die Mauern beschützten auch die Burgkapelle und die Wirtschaftsgebäude. Das umliegende Land war das Eigentum der Herren, die ihre Hörigen, die es bestellten und auch die angrenzenden freien Bauern beschützten. In der Zeit der Kreuzzüge war die Vorstellung, daß die Kreuzfahrer für die Jungfrau Maria gegen die Ungläubigen kämpften, ein ritterlicher Begriff geworden. Aber die Männer, die ihre Frauen und Bräute in der Heimat gelassen hatten, wollten auch im Namen ihrer Geliebten streitbar sein. Es wurde Brauch, daß diejenigen Ritter, die weder verheiratet noch verlobt waren, sich eine irdische Herrin erkoren, der sie huldigend dienten, wenn sie kämpften, sei es gegen den Feind oder im Turnier. Diese freiwillige Liebesergebenheit der Ritter, der Minnedienst, war den so geliebten Frauen oft nicht bekannt und verpflichtete sie zu nichts. Aber wenn sie davon erfuhren, war ihre Eitelkeit oder ihre Sinnlichkeit so berührt, daß sie zarte Möglichkeiten der Gegenliebe erwogen, wenn sie nicht gar der Schmeichelei erlagen. Aufmerk17
samkeiten und Geschenke von ungenannten Rittern wurden gnädig entgegengenommen. Bald kamen auch Briefe in der Form von Liedern, die berufsmäßige Schreiber im Auftrag verfaßten. Manche sehnsüchtige Ritter wurden zu Troubadouren. Das waren die Wortkünstler, die Reime erfinden konnten, um ihre zärtlichen Nachrichten wohlklingend zu machen. Die höfliche Bewunderung aus der Ferne wurde zur Sitte und bestimmte die höfliche Haltung, die in der Gegenwart von Frauen zur Gewohnheit wurde. Bald wurde es selbstverständlich, daß die Dame dem Ritter, der sich ihr zuliebe in gefährliche Abenteuer verstrickte, einen Lohn gewährte. Es konnte ein Augenaufschlag, ein Händedruck oder ein flüchtiger Kuß sein. Aber die Frauen, die durch die Sittenstrenge des Glaubens knapp gehalten wurden, schufen sich ihre eigenen Gesetze: die Liebe setzte sich durch. Die Ehemänner waren zu lange abwesend. Sie waren in fernen Ländern, ihre Treue war zweifelhaft. Die daheimgebliebenen Frauen vereinigten sich im Gegenstück der Turniere, den Minnehöfen, die sich damit befaßten, die Trennung von Liebe und Ehe spitzfindig zu beurteilen. Eine in lateinischer Sprache verfaßte Abhandlung ›Über die Liebe und ihre Heilung‹ ging von Hand zu Hand, von Burg zu Burg. Ihr Verfasser erörterte die ›höfische Liebe‹, die Beziehungen von Mann und Frau, verehelicht oder ledig. In den Minnehöfen saßen Damen zu Gericht, um Streitigkeiten zwischen Eheleuten und Liebenden zu schlichten. Sie hatten das ihnen von den Klagenden und Beklagten zugestandene Recht, Strafen zu verhängen. Die Gesetze der Minnehöfe waren streng, obwohl sie oft in völligem Widerspruch zu den geltenden Gesetzen standen. So hieß es: ›Die Ehe kann nicht als Entschuldigung für eine Liebesverweigerung gelten‹, oder: ›Ungern gewährte Gunstbezeigungen sind geschmacklos‹ oder: ›Die Liebe wächst und gedeiht unter dem Einfluß der Eifersucht‹ oder: ›Liebe kann der Liebe nichts versagen.‹ Die Besitzerinnen der Minnehöfe gaben auch Ratschläge, wie: ›Es schickt sich nicht, Damen zu lieben, die nur im Hinblick auf die Ehe lieben.‹ Oder ›Ein zu leichter Besitz macht die Liebe verächtlich.‹ Eine Tatsache stand fest und wirkte sich aus: »Die Liebe lehrt jedermann gutes Benehmen.« 18
Die Minnehöfe standen im Süden Frankreichs in hoher Achtung. Es findet sich kein Hinweis darauf, daß die freudige Lockerung der Sitten, die sie mit sich brachten, ebenso den Weg über die Alpen fand wie ihre Dichtung und wie die durch die Waren des Orients angeregte Veränderung der Kleidermoden und Lebensweise. Allerdings wirkte sich die Verwendung kostbarer Stoffe und Gewürze nicht so sehr in den Burgen der deutschen Ritter aus wie in den Städten, die sich, teils auf dem Boden alter römischer Lager und durch Bischöfe und Fürsten neu erbaut, zu kraftvollen Mittelpunkten des Handels und Gewerbes entwickelt hatten. Es gab bedeutende Handelsstraßen, die Venedig über den Brenner mit Augsburg, Regensburg und Nürnberg verbanden und von Mailand über die Pässe an den Rhein nach Basel, Köln und Gent führten und nach Dortmund, Bremen, Hamburg und Lübeck abzweigten. Mailand, das schon die weströmischen Kaiser wegen seiner günstigen Lage zu ihrem Hauptsitz gemacht hatten, wurde der Mittelpunkt des Geldverkehrs. Die Händler vom Norden und Süden trafen sich an der Kreuzung der Straßen und schütteten ihre Münzen auf lange Tische, die Banken, um sie vor dem Eintausch gegen Waren bewerten zu lassen. Von den muselmanischen Kaufleuten mochten die Nord-Süd-Händler des europäischen Raumes die Zahlungsanweisung gelernt haben, den Wechsel, der auf dem Vertrauen des Verkäufers gegenüber dem Käufer begründet war und die tatsächliche Auszahlung gewichtiger Münzen ersetzte. Diese Wechsel wurden innerhalb einer bestimmten Zeit an festgelegten Orten eingelöst oder mit Gegenforderungen verrechnet. Die Wechsler, die auch treuhänderische Bewahrer überschüssigen Geldes waren, wurden reich und mächtig. Sie unterhielten Zweigstellen oder Partner in den wichtigsten Städten des europäischen Raumes. Die Ansammlung von Geld, das dazu verwendet wurde, den Handel zu beleben, und das zunehmende Vertrauen auf die gewährleistete künftige Zahlung trugen dazu bei, daß der Warenaustausch in gewaltigem Ausmaß zunahm und Handwerk und Gewerbe angeregt wurden. Die Städte, in deren Mauern Handwerker und Kaufleute tätig wa19
ren, errichteten Märkte, auf denen auch die Erzeugnisse des umliegenden Ackerbaues und der Viehzucht zum Verkauf ausgestellt wurden. Die Handwerker und Kaufleute schlossen sich zu Gilden zusammen, die Blutsbrüderschaften gleichkamen und dafür sorgten, daß das Recht ihrer Mitglieder gewahrt wurde. Stadtherren waren zumeist der Bischof, der Abt oder der Burggraf, zu dessen Lehensbesitz die Stadt gehörte. Sie waren die obersten Gerichtsherren, sie hielten die Mauern instand und sorgten für die Wehrhaftigkeit der Bürger. Sie nahmen dagegen Zölle ein. Mit dem Wohlstand der Städte wuchsen die Einnahmen. Allmählich errangen die Bürger das Recht auf Teilnahme an der Verwaltung. Die Stadtherren mußten es zulassen, daß die Rechtssprüche der Stadtrichter geltend wurden, die auch ›Weistümer‹ prägten, Rechtsfindungen, die das Leben innerhalb der Stadt regeln sollten. Die Bürger der Städte erwarben besondere Rechte. Das wichtigste war das der persönlichen Freiheit und die ungehinderte Verfügung über den Besitz und den Nachlaß. Im Gegensatz zu den Bauern konnten die Bürger eheliche Verbindungen eingehen, ohne die herrschaftliche Erlaubnis einholen zu müssen. Der Grundsatz ›Stadtluft macht frei‹ bezog sich auch auf die vom Land zugezogenen Hörigen und Bauern, die nicht ›binnen Jahr und Tag‹ von den Grundherren zurückgefordert wurden. Die Bildung einer neuen Gesellschaftsordnung bereitete sich langsam vor.
IV Eine der wichtigsten Erscheinungen des beginnenden Übergangs war Friedrich I. der volkstümliche Neffe Konrads III. Er wurde auf Wunsch des sterbenden Königs Thronfolger und in Aachen zum König gekrönt. Die Wahl des allseits beliebten Herzogs von Schwaben, der sich als Be20
gleiter Konrads auf dem verunglückten Kreuzzug durch eine makellos würdige Haltung ausgezeichnet hatte, blieb unangefochten. Die deutschen Fürsten und Bischöfe versprachen sich von Friedrich, dem Sohn einer Welfin, die Beilegung des hartnäckigen Streites zwischen Staufen und Welfen. Auch Papst Eugen III. war mit dem neuen deutschen König einverstanden. Er sandte ihm unaufgefordert den päpstlichen Segen. Friedrich I. der mit dem Beinamen ›Barbarossa‹ eine sagenhafte Gestalt wurde, schien seine Herrschaft unter einem glücklichen Stern anzutreten. Alle Voraussetzungen sprachen für ihn. Als Stammesherzog der Schwaben, dem es oblag, die Hausmacht seines Geschlechts zu behaupten und auszubauen, hatte er sich zu einem genauen Kenner der Machtverhältnisse innerhalb des Königtums herangebildet und frühe Freundschaften mit den maßgeblichen Standesgenossen gepflegt. Er kannte die Grenzen ihrer ernsthaften Forderungen und wußte, wie ihre Eitelkeiten zu befriedigen waren. Er war gewiß, sie mit der Hilfe seines hervorragenden Beraters, Rainald von Dassel, in Schach halten zu können. Da er es, mit Hinblick darauf, daß sein Vorgänger männliche Nachkommen hatte, nicht für wahrscheinlich gehalten hatte, jemals König zu werden, hatte er seine Ehe mit Adelheid von Vohburg aus persönlichen Gründen und nicht mit der Voraussicht auf künftige Erb- oder Machtansprüche geschlossen. Mit der Königskrone auf dem Haupt änderte Friedrich seine Haltung. Seine Ehe war kinderlos. Er wollte sich scheiden lassen. Eugen III. hatte Entgegenkommen gezeigt. Friedrich machte sich die verbindliche Haltung des Heiligen Stuhls zunutze. Er hatte eine königliche Erbin in Aussicht. Er mußte frei sein, um sich um sie bewerben zu können. Der Papst war zur Lösung der Ehe bereit, wenn sich Friedrich eng an ihn band. Einem gegenseitigen Übereinkommen stand nichts im Wege. Friedrich versprach dem Heiligen Vater Schutz gegen Sizilien und die aufrührerischen Römer, Eugen III. sagte dem König die Kaiserkrone zu. Der ehrgeizige Plan Friedrichs, sich unauffällig aber sicher zum mächtigsten Herrscher des Abendlandes zu machen, ließ sich gut an. Er hatte bald Gelegenheit, seine hervorragendste Fähigkeit zu bewei21
sen: in Streitigkeiten anderer zum eigenen Nutzen zu vermitteln. Er machte sich zum Schiedsrichter im dänischen Thronstreit und sprach dem von ihm begünstigten Anwärter die Krone zu – unter der Bedingung, daß Dänemark die deutsche Oberhoheit anerkannte. Dieser Erfolg seines Vetters beeindruckte Heinrich den Löwen. Er vertraute der Freundschaft Friedrichs, der ihm Entschädigung für die Verluste zugesagt hatte, die die Welfen in den früheren Kämpfen gegen die Staufen erlitten hatten, und begleitete ihn nach Rom. Als Friedrich an der Spitze eines kleinen Reiterheeres vor Rom ankam, ritt ihm der neue Papst, Hadrian IV. entgegen. Das Zusammentreffen war eine peinliche Überraschung. Der Heilige Vater begehrte, daß Friedrich absitze und das päpstliche Pferd am Zügel führe, so wie es Pipin bei seiner ersten Begegnung mit dem Papst, Jahrhunderte zuvor, getan hatte. Friedrich weigerte sich erst, aber als ihm der Papst erklärte, daß es sich nur um einen freundlichen Liebesdienst handle, der nicht mehr als sinnbildliche Bedeutung habe, ließ er sich zu der demütigenden Ehrenbezeigung herbei. Rom war in Aufruhr. Arnold von Brescia hatte seine Predigten gegen die Verweltlichung des Heiligen Stuhles fortgesetzt und begehrte die Unabhängigkeit Roms vom Papst. Das Volk schrie nach Selbstverwaltung. Es wollte die Wiederherstellung der altrömischen Würde. Der Senat war zur Wahl eines Caesar zusammengetreten. Arnold von Brescia legte Friedrich ein Bündnis nahe, durch das er ihm seine uneingeschränkte Hilfe gegen das Papsttum versprach, wenn er den Wünschen Roms genüge. Friedrich ließ den gewaltigen Prediger gefangensetzen, aber die Stimmung in Rom wurde so unruhig, daß die angekündigte Kaiserkrönung heimlich erfolgen mußte. In der bewachten Peterskirche erklärte Friedrich vor dem festlich geschmückten Altar: »Im Namen Christi verspreche, gelobe und verheiße ich, Kaiser Friedrich, vor Gott und dem heiligen Petrus, dieser römischen Kirche in allen Belangen Schutzherr und Schirmherr zu sein, so gut ich es verstehe und vermag, und so mir Gottes Hilfe zur Seite stehe.« Als er die Krone und das Kaiserschwert empfing, stimmten seine Begleiter ›ein so gewaltiges Jubel- und Freudengeschrei an, daß es wie der Donner 22
eines Gewitters dröhnte‹. Über das Nachspiel der Feierlichkeit berichtete Friedrich in einem Brief an seinen entfernten Verwandten, den Babenberger Bischof Otto von Freising: »Als wir nach der Krönung, von der Anstrengung und Hitze erschöpft, zu unseren Zelten zurückkehrten und speisen wollten, sprangen die Römer von der Tiberbrücke herab und versuchten, den Herrn Papst im Kloster des heiligen Petrus zu greifen, wobei sie zwei von unseren Knechten erschlugen und die Kardinäle ausraubten. Der Lärm drang zu uns heraus, worauf wir uns bewaffnet in die Stadt stürzten. Den ganzen Tag kämpften wir mit den Römern …« Um das aufrührerische Volk der Führung zu berauben, lieferte der Kaiser Arnold von Brescia dem Papst aus. Der Prediger wurde hingerichtet und die Ordnung wiederhergestellt. Aber die deutschen Fürsten, die nach Rom gekommen waren, um der Kaiserkrönung beizuwohnen, weigerten sich, am besprochenen Feldzug gegen den König von Sizilien teilzunehmen. Friedrich blieb nichts anderes übrig als die Rückkehr. Er geriet in einen Hinterhalt und wäre ohne die Entschlossenheit seines Freundes Otto von Wittelsbach verloren gewesen. Auf deutschem Boden fühlte sich der Kaiser wieder sicher. Er nahm kaum zur Kenntnis, daß der Papst den König von Sizilien huldvoll mit den Besitzungen belehnte, die er ihm hätte streitig machen sollen. Die Zeit Friedrichs in Italien war noch nicht gekommen. Er mußte erst in seiner engeren Heimat nach dem Rechten sehen. Heinrich der Löwe wollte das Herzogtum Bayern wiederhaben, das an die Babenberger verliehen worden war: Heinrich Jasomirgott, der Stiefvater Heinrichs des Löwen, mußte entschädigt werden. Die Babenberger hatten sich als Markgrafen der Ostmark bewährt. Friedrich erhob die Mark zum selbständigen Herzogtum Österreich und gewährte Heinrich Jasomirgott besondere Vorrechte, um den schmerzlichen Verlust Bayerns, so gut es ging, wettzumachen. Damit war zwar die Unzufriedenheit des welfischen Vetters beseitigt, aber es wurde für Friedrich noch wichtiger, die Hausmacht der Staufen so zu erweitern, daß die Welfen, die nun zwei Herzogtümer beherrschten, nicht bedrohlich übermächtig würden. Um dieses Ziel zu erreichen, mußte er die Kaisergewalt fe23
stigen. Dafür hatte er von langer Hand vorgesorgt. Er heiratete Beatrix, die Erbin von Burgund, und unternahm einen Feldzug gegen den König von Polen, der sich unterwarf und ihm huldigte. Auch den König von Ungarn veranlaßte Friedrich zur Anerkennung des Lehensverhältnisses und erhob den Schwager der Babenberger, Herzog Wladislav von Böhmen, zum König. Das Gleichgewicht im deutschen Reich schien durch diese Machtverschiebungen hergestellt zu sein. Der Kaiser war Lehensherr von Königen geworden. Er konnte sich wieder mit Italien befassen. Den ersten Anlaß dazu gab ein Brief des Papstes, der die Kaiserkrone als päpstliches ›beneficium‹ bezeichnete. Das konnte als Gottesgabe oder Lehen ausgelegt werden. Diese Auffassung lehnte Friedrich grundsätzlich ab. Wünschte der Heilige Vater, die sinnbildliche Handlung des ›freundlichen Liebesdienstes‹ vor der Krönung in Rom doch zu einer Grundlage der Beziehung zwischen Papst und Kaiser zu machen? Ein Aufstand der lombardischen Städte, deren Bürger auf unabhängiger Selbstverwaltung bestanden, bestimmte Friedrich, diesmal an der Spitze starker Truppen, über die Alpen zu ziehen, in einem Reichstag auf den Ronkalischen Feldern bei Piacenza fügten sich die Abordnungen der Bürger angesichts der bewaffneten Übermacht Friedrichs. Er legte fest, daß die Städte durch kaiserliche Bevollmächtigte, die ›Podesta‹ genannt wurden, verwaltet werden sollten. Um den Gewaltmaßnahmen den Schein des Rechtes zu geben, berief der Kaiser Rechtsgelehrte, die sich in Bologna zusammengetan hatten, um das Römische Recht neu zu beleben und auszulegen. Sie sollten aus der Vergangenheit auf die Gegenwart schließen. Sie gaben ein Gutachten dahin ab, daß der Kaiser die uneingeschränkte Befehlsgewalt über alle Teile seines Reiches besitze und alle verliehenen Rechte widerrufen dürfe, falls es zugunsten der Staatsbelange geschähe. Diese von Friedrich mit Genugtuung zur Kenntnis genommene Rechtsauslegung führte zu einem heftigen Widerspruch des neuen Papstes Alexander III. des Gegenpapstes Viktors IV. der von den dem Kaiser anhänglichen Kardinälen als Nachfolger Hadrians IV. erwählt 24
worden war. Alexander III. fürchtete für die Schenkungen, die dem Heiligen Stuhl von den Kaisern und Königen der Vergangenheit gemacht worden waren. Sie konnten nach dem von Friedrich eingeholten Rechtsgutachten jederzeit widerrufen werden, wenn der Kaiser darauf bestand. Der Papst wünschte eine Erklärung Friedrichs im gegenteiligen Sinn. Als der Kaiser sich widersetzte, tat er ihn in den Bann. Um den ihm feindlichen Papst unschädlich zu machen, unterstützte Friedrich den Gegenpapst Viktor IV. und berief eine Kirchenversammlung nach Pavia, die bestimmen sollte, wer von Rechts wegen Papst war. Die Versammlung sprach sich für Viktor aus, aber Alexander wurde von den Königen von Sizilien, England und Frankreich und von den lombardischen Städten anerkannt. Die katholische Kirche war in zwei mächtige Lager gespalten. Die Feindseligkeiten begannen auf italienischem Boden. Im deutschen Reich waren die Anhänger der Staufen nach dem Dorf am Fuße ihrer Stammburg als ›Waiblingen‹ bezeichnet worden. In Italien wurden die Kaisertreuen ›Ghibellinen‹ genannt. Ihre Gegner, die in Deutschland Welfen hießen, wurden zu ›Guelfen‹. Der Schlachtruf: »Hie Guelfen! Hie Ghibellinen!« kennzeichnete die Feinde. Die erste mächtige und reiche Stadt, die sich zu den Guelfen bekannte, war Mailand. Ihre Bürger hatten Rittersitten angenommen und verfügten über bewaffnete Anhänger. Sie empörten sich gegen Friedrich und hielten seiner Belagerung beinahe zwei Jahre stand. Als er Mailand endlich einnahm, ordnete er die vollkommene Zerstörung der Stadt an. In seinem hemmungslosen Unmut begnügte er sich nicht mit der Schleifung der Mauern und Häuser. Er hielt ein unbarmherziges Strafgericht über die Bürger der Stadt, die ihm so lange widerstanden hatten. Er befahl, sie in vier offenen Flecken als unfreie Bauern anzusiedeln. Die Erinnerung an Mailand sollte für immer ausgelöscht sein. Zeitgenössische Schilderungen rühmten die männliche Haltung Friedrichs und verglichen ihn mit Theoderich dem Großen. Er war über mittelgroß. Sein Haar war blond und gelockt. Aus der unrichtigen Übersetzung seines Beinamens ›Barbarossa‹ wurde geschlossen, daß er ein ›Rotbart‹ gewesen sei. In Wirklichkeit umrahmte ein schüt25
terer blonder Bart sein blasses Gesicht. Er bot stets einen würdevollen und achtunggebietenden Anblick. Die Merkmale seiner äußeren Erscheinung blieben sprichwörtlich. Er wurde zum Sinnbild des erfolgreichen Kaisertums. Die Niederlagen, die er auf dem Schlachtfeld erlitt, gerieten in Vergessenheit angesichts der bleibenden Erfolge, die er als geschickter Vermittler und überlegener Verhandler errang. Es wurde überliefert, daß Friedrich die Schriften und Nachrichten über die Taten der früheren Könige emsig durchforschte und ein Meister des Wortes in seiner Muttersprache war. Er benützte diese Meisterschaft, um Schwierigkeiten durch Unterhandlungen aus dem Wege zu räumen. Der König von England hatte sich auf die Seite Alexanders III. gestellt. Diese mächtige Hilfe sollte der feindliche Papst verlieren. Friedrich sandte seinen bewährten Berater Rainald von Dassel nach England als Brautwerber für seinen Vetter Heinrich den Löwen und für seinen jungen Sohn. Als die Hochzeit des Welfen mit Mathilde von England abgesprochen worden war, berief Friedrich einen Hoftag nach Würzburg ein, auf dem alle Versammelten und auch die englischen Gesandten im Namen ihres Königs schworen, Alexander niemals als Papst anzuerkennen. Nach diesen ›Würzburger Eiden‹ wurde Karl der Große beim Weihnachtsfest in Aachen von Alexanders Gegenpapst, Viktor IV. heiliggesprochen. Den Worten folgten Taten. Rainald von Dassel übernahm den Befehl über einen Teil der Truppen, die Friedrich nach Italien führte. Die Römer, die für Alexander III. fochten, wurden vernichtend geschlagen. Friedrich eroberte Ancona. Aber die erfolgreichen Feldzüge hatten keine Bedeutung. Alexander hatte sich durch die Flucht in Sicherheit gebracht und wiederholte seinen Bannfluch gegen den Kaiser. Eine Seuche brach in Rom aus und rieb das Heer Friedrichs auf. Die Bürger der oberitalienischen Städte fielen von ihm ab und huldigten Alexander. Der Kaiser hatte alle Mühe, sich mit heiler Haut davonzumachen. In Deutschland angekommen, mußte er gleich seine ganzen Kräfte und Fähigkeiten darauf verwenden, einen blutigen Streit zwischen Heinrich dem Löwen und seinen Nachbarn zu schlichten. Fried26
rich entschied zugunsten seines Vetters, der eine gewaltige Ausweitung der Randsiedlungen und Schutzgebiete seines sächsischen Herzogtums durchgeführt und auch die Herzöge von Pommern lehensabhängig gemacht hatte. Heinrich der Löwe übte die Herrschaft in seinen Hoheitsgebieten so aus, als wären sie ein unabhängiges Reich. Wenn er es für nötig hielt, führte er Krieg auf eigene Faust. Aber er ergab sich mit demselben Eifer seiner friedlichen Tätigkeit als umsichtiger Verwalter der ererbten und erworbenen Länder. Er hatte in seinem nördlichen Herzogtum die Stadt Lübeck zu einem Bischofssitz und einer blühenden Handelsstadt ausgebaut. In seinem Herzogtum Bayern hatte er München gegründet. Wo immer es ihm richtig erschien, unfruchtbares Land urbar zu machen, siedelte er Bauern aus anderen Gegenden an und sorgte dafür, daß in den ›wilden Gebieten zwischen Elbe und Ostsee‹ geordnete Verhältnisse entstanden. Er erbaute Städte und Burgen und sicherte seine Gründungen durch deutsche Besatzungen, die er auf eigene Kosten unterhielt. Seine Stellung in den von ihm verwalteten Herzogtümern war so überragend, daß viele Slawen, die er bekehrt und sich untertänig gemacht hatte, ihn als einen Gott bezeichneten, ›mit dem sie wohl zufrieden waren‹. Friedrich beobachtete die zunehmende Macht seines Vetters mit eifersüchtigem Mißtrauen. Er fürchtete, daß Heinrich, der den welfischen Wirkungsbereich und Einflußraum von Jahr zu Jahr erweiterte, mächtiger werden könnte als sein staufischer Kaiser. Es mußte zu einer Kraftprobe kommen. Das sah Friedrich voraus. Dennoch: der Norden des Kaiserreiches war befriedet. Aber die aufrührerischen Städter Oberitaliens hatten die Abwesenheit des Kaisers ausgenützt. Sie hatten Mailand wiederaufgebaut und eine neue Bundesstadt gegründet, die sie zu Ehren des Papstes Alessandria nannten. Das war eine Herausforderung, die sich Friedrich nicht bieten lassen konnte. Alessandria mußte vom Erdboden verschwinden. Der Kaiser belagerte die Stadt. Er war des Sieges gewiß, wenn Heinrich der Löwe ihm Heeresfolge leistete. Aber der Vetter zeigte dem Kaiser die kalte Schulter. Er stellte Bedingungen. Es ging 27
ihm um den Besitz der reichsunmittelbaren Stadt Goslar, die durch den Betrieb von Silberbergwerken reich geworden war. Der Kaiser schlug ihm dies ab, da er es als Schande empfand, sich ein so bedeutendes Lehen abpressen zu lassen. »Darob erzürnt, verließ der Herzog den Kaiser in seiner Not.« Das Zerwürfnis, das Friedrich so lange hatte vermeiden wollen, wirkte sich um so schlimmer aus, als der Kaiser den Kampf gegen die oberitalienischen Städte fortsetzen mußte. Er konnte nicht zurück und wurde in der Schlacht bei Legnano vom Heer der Mailänder vernichtend geschlagen. Die Waffen hatten versagt. Friedrich begann wieder zu unterhandeln. Er schloß erst einen Waffenstillstand mit den verbündeten Städten und einigte sich dann mit Alexander III. Es war eine bittere Versöhnung für den Kaiser und den Papst, denn beide waren gezwungen, Zugeständnisse zu machen. Das Wesentliche für Friedrich war der in seine Vereinbarung mit dem Papst einbezogene fünfzehnjährige Waffenstillstand mit dem König von Sizilien. In fünfzehn Jahren konnte vieles geschehen. Die verzögerte Feindschaft mit den Normannen konnte zur Freundschaft werden. Heinrich, der Sohn Friedrichs, war zwar noch ein Kind, und Wilhelm II. von Sizilien war kinderlos, aber er hatte immerhin eine ledige Tante, die seine Erbin sein würde. Der von den Bürgern der lombardischen Städte geschlagene Kaiser verließ Italien und unternahm einen Triumphzug durch das Königreich Burgund, das ihm durch die Ehe mit Beatrix zugefallen war. Er ließ sich in Arles feierlich krönen und nahm die Huldigung der ritterlichen Großen gnädig entgegen. Die Freude an den höfischen Festen und Turnieren, die ihm zu Ehren veranstaltet wurden, wurde auch nicht durch die bedenklichen Nachrichten aus Rom getrübt. Papst Alexander III. hatte eine Kirchenversammlung einberufen und erwirkt, daß die Kardinäle eine Zweidrittelmehrheit als Erfordernis für eine gültige Papstwahl festlegten. Sollte diese Maßnahme den üblichen Ausweg der Aufstellung eines Gegenpapstes unmöglich machen? War es richtig, dagegen Einspruch zu erheben? »Alles zu seiner Zeit«, war das Leitwort Friedrichs I. geworden. Er hatte gelernt, die Zeit für sich wir28
ken zu lassen. Wenn man geduldig auf den richtigen Augenblick wartete, machten die anderen die Fehler. Das zeigte sich bald – im deutschen Reich. Seit der Niederlage des Kaisers gegen den oberitalienischen Städtebund hatte Heinrich der Löwe sich über die Reichsgewalt hinweggesetzt und bekriegte seine Nachbarn nach Belieben, besonders die Erben Albrechts des Bären und den Erzbischof von Köln. Durfte der Kaiser Gewalt vor Recht gehen lassen? Es war ihm nur lieb, daß er sich für die ›Treulosigkeit‹ seines Vetters rächen konnte. Er hatte sich des Gutachtens der Rechtsgelehrten von Bologna bedient, um seine eigene Gewalt zu rechtfertigen. Er stützte sich auch in einem Verfahren, das er gegen Heinrich den Löwen einleitete, auf das geltende Recht. Der Vetter, der den Kaiser im Stich gelassen hatte, wurde vor sein Gericht geladen. Als er der Aufforderung keine Folge leistete, sprach Friedrich die Acht über Heinrich den Löwen aus und enthob ihn seiner Lehen. Im Reichstag zu Gelnhausen wurde dann über die dem Reich verfallenen Besitzungen des ehemals mächtigsten Mannes im Reich mit freier Hand verfügt. Das Herzogtum Sachsen wurde geteilt. Westfalen fiel an den Erzbischof von Köln, Herzog des östlichen Teiles wurde Bernhard von Anhalt, der Sohn Albrecht des Bären. Der treueste Gefolgsmann Friedrichs I. Pfalzgraf Otto von Wittelsbach, erhielt das Herzogtum Bayern. Um einen Widerspruch des geächteten und enteigneten Herzogs unmöglich zu machen, verkündete der Kaiser den Reichskrieg gegen Heinrich den Löwen. Der Vetter, der Friedrich seine Heeresfolge versagt hatte, hatte keine Truppen zur Gegenwehr. Friedrich hatte die einflußreichsten Lehensmänner Heinrichs mit den Ländern und Grafschaften, die sie schon innehatten, so belehnt, daß sie reichsunmittelbar wurden, das heißt, nur dem Kaiser verantwortlich. Das war eine Rang- und Standeserhöhung, die sich keiner der Lehensmänner des hochmütigen Herzogs entgehen lassen wollte. In wenigen Monaten war die welfische Macht so zusammengebrochen, daß Heinrich der Löwe sich bei seinem kaiserlichen Vetter für die Belehnung mit Braunschweig und Lüneburg untertänigst bedanken mußte, die er un29
ter der Bedingung erhielt, daß er sich in die Verbannung an den Hof seines Schwiegervaters, Heinrichs II. von England, begebe. Jetzt erst hatte Friedrich I. keinen Wettbewerber mehr im eigenen Reich zu fürchten. Er verfügte außer über seine gewaltige Hausmacht über das ausgedehnte Reichsgut, die eingezogenen Gebiete, die er im Besitz der Krone behielt und durch Ministerialen verwalten ließ. Er konnte es sich leisten, einen großzügigen Frieden mit den lombardischen Städten zu schließen. Die meisten durften innerhalb ihrer Mauern ihre Unabhängigkeit behaupten. Die Stadt Alessandria aber verlor ihren Namen. Sie wurde Caesarea genannt, damit ihre Abhängigkeit vom Kaiser deutlich bekundet werde. Friedrich stand auf der Höhe seiner Macht. Er galt allgemein als der Vorherrscher des christlichen Abendlandes. Um seine Bedeutung einprägsam darzutun, veranstaltete er ein ungeheures Fest, über dessen Verlauf sich Berichte erhielten: »Wegen der großen Menschenmenge, die zu dem Fest herbeigeströmt war, hatte der Herr Kaiser auf den Wiesen von Mainz auf dem rechten Rheinufer seine und aller Fremden Zelte aufgeschlagen und große Notbauten errichten lassen … Aus dem ganzen Reich nördlich der Alpen waren zu diesem Hoftag eine solche Menge von Fürsten, Erzbischöfen, Bischöfen, Äbten, Herzögen, Markgrafen, Pfalzgrafen, Edelleuten und Dienstmannen erschienen, daß siebzigtausend Ritter zugegen waren, wozu dann noch die Kleriker und Leute aus den verschiedenen Ständen kamen … Dem Kaiser wurden so viele Ehren zuteil, daß man, ohne zu lügen, immer mehr Erstaunliches davon erzählen kann, bis an den Jüngsten Tag …« Friedrich veranstaltete Turniere, an denen sich die vornehmen Gäste in prunkvoller Rüstung beteiligten und nicht nur ihre Reitkunst, sondern auch ihre Geschicklichkeit im Schild-, Lanzen- und Fahnenschwingen zur Schau stellen konnten. Es war die prachtvollste Kundgebung des ritterlichen Wesens, die es jemals gegeben hatte. Die in schimmernder Wehr ausgefochtenen sportlichen Spiele, der Aufmarsch prächtig gesattelter Pferde, die Darbietungen der fahrenden Spielleute, Gaukler und Gauklerinnen, die geistlichen Umzüge, die 30
köstlichen Ausspeisungen beeindruckten die geladenen Gäste und die schaulustige Menge. Kein Wunder, daß die Volkstümlichkeit des Kaisers zunahm, der die Schriften und Nachrichten über die Taten der früheren Könige durchforscht hatte und der Bevölkerung nach altrömischer Art Brot und Spiele spendete. Er sorgte mit allen Mitteln für die Verbreitung seines Ruhms und für die Zukunft seines Sohnes Heinrich, den er an diesem unvergleichlichen Hoftag in Mainz in aller Öffentlichkeit zum Ritter schlug. Die fünfzehn Jahre des Waffenstillstandes mit dem König von Sizilien waren noch nicht um. Friedrich I. hatte die Zeit richtig bemessen. Sein Plan bewährte sich. Seine Vorgänger waren, bis an die Zähne bewaffnet, an die Meeresenge von Messina vorgedrungen. Er kam mit Wimpeln und Flaggen, festlich geschmückt, um den jungen Ritter Heinrich mit Konstanze, der Tante und Erbin Wilhelms II. zu vermählen. Die bedeutsame Hochzeit fand statt. Sie sicherte dem deutschen Kaisertum die Herrschaft über das lebendige Normannenreich – das Sprungbrett zur Eroberung des Mittelmeers. Der Blick Friedrichs I. war nun auf das Morgenland gerichtet. Es war auch an der Zeit, daß eine kräftige Hand die verworrenen Verhältnisse im Königreich Jerusalem ordnete. Den schwachen Thron des Heiligen Landes hatte der gewalttätige Ritter Guy de Lusignan an sich gebracht. Ein Ausspruch seines eigenen Bruders, Godefroy, war kennzeichnend für die Einstellung der fränkischen Adeligen, die sich weigerten, dem König Gehorsam zu leisten: »Wenn dieser Guy König ist, dann bin ich wert, ein Gott zu sein.« Der Unfriede zwischen den adeligen Nachkommen der Kreuzfahrer stand im Gegensatz zur friedlichen Zufriedenheit der Kinder und Enkel der Pilger, die sich dem Orient angepaßt hatten. Während die Ritter ihre schimmernde Rüstung herausfordernd beibehielten, trugen die christlichen Siedler das landesübliche lose Gewand und die gewundene Kopfbedeckung der Wüste. Sie betrieben Handel mit den Muselmanen und vermischten sich mit der örtlichen Bevölkerung, um so mehr, als die meisten als Le31
dige angekommen waren und sich mit einheimischen Frauen verheiratet hatten. Sie nahmen zwar nicht den Glauben, aber immer mehr die Sitten des Islam an, so daß ein muselmanischer Reisender zuversichtlich berichtete, die ›Ungläubigen‹ würden allmählich von der höheren Lebensform, zu der sie gekommen waren, aufgesogen. Zum gegenseitigen Nutzen schlossen mohammedanische Fürsten persönliche Schutz- und Trutzbündnisse mit christlichen Rittern und begünstigten bald die einen, bald die anderen der in gefährlichem Wettbewerb miteinander liegenden Kaufleute von Venedig und Genua. Als es dem tatkräftigen Sultan Saladin nach dem Sturz der Fatimiden gelang, Ägypten und die muselmanischen Teile Syriens unter einer gemeinsamen Herrschaft zu vereinigen, wurde es selbst den oberflächlichen, gewinnsüchtigen Rittern im Königreich Jerusalem bewußt, daß sie etwas gegen die gefährliche Ausbreitung des Islam unternehmen müßten. Einer von ihnen, Reginald von Chatillon, verkündete seine Absicht, die Feindseligkeiten zu eröffnen, das Grab des ›verfluchten Kameltreibers‹ in Medina zu zerstören und die Kaaba in Mekka zu zerschmettern. Er wollte die Drohung unverzüglich verwirklichen, segelte durch das Rote Meer an die arabische Küste und machte sich auf den Weg nach Medina. Bis zu diesem Augenblick hatte Saladin den Anschein des Friedens gewahrt. Jetzt erklärte er den ›Heiligen Krieg‹ und besiegte die zum Kampf vereinigten christlichen Ritter, die sich zwar tapfer gegen die anstürmenden Muselmanen wehren konnten, aber wehrlos waren gegen den erstickenden Rauch der Buschfeuer, die Saladin hatte legen lassen. Er nahm Reginald gefangen und tötete ihn auf der Stelle, da er sich weigerte, Mohammed als den Propheten Gottes anzuerkennen. Nach der siegreichen Schlacht sandte Saladin als wichtigstes Beutestück das ›wahre Kreuz Christi‹, das den Rittern als Feldzeichen vorangetragen worden war, dem Kalifen nach Bagdad. Dann eroberte er den reichen Hafen Akkon und stellte es der Besatzung Jerusalems frei abzuziehen, unter der Bedingung, daß sie nie mehr gegen ihn kämpfen würden. Saladin erwies sich überhaupt als barmherziger Eroberer. Er erlaubte 32
den Christen, nach Jerusalem zurückzukehren, wenn sie keine Waffen trugen, und schenkte ›den Damen und Fräulein, deren Herr gefallen war, aus seinem eigenen Schatz so viel, daß sie Gott priesen und seine Freundlichkeit und Ehre verkündeten‹. Die heiligen Orte des Islam allerdings, die ›von den Christen besudelt worden waren‹, ließ er mit Rosenwasser besprengen. Noch waren Tyrus und Antiochia im Besitze der Christen, und die Ratsherren von Venedig und Genua warben Freiwillige an, um die Mauern der bedeutenden Handelsstädte gegen bevorstehende Angriffe bemannen zu können. Der Erzbischof von Tyrus fuhr nach dem Westen, um den Heiligen Vater zu bitten, die gesamte Christenheit zu einem Kreuzzug aufzurufen. Papst Urban III. zögerte. Er war ein erbitterter Feind Friedrichs I. und hatte durch einen Versuch, die deutsche Kirche zu spalten, den überlegenen Kaiser zu einem Bündnis mit König Philipp August von Frankreich veranlaßt. Der Aufruf des Papstes an die Herrscher, die sich gegen ihn zusammengetan hatten, wäre vergebens gewesen. Der Erzbischof von Tyrus unternahm die Werbung auf eigene Faust. Er hielt Versammlungen in Italien, Frankreich und Deutschland ab und besuchte auch den Kaiser in Mainz. Er war zaghaft gekommen, er wurde glänzend empfangen. Die größte Gelegenheit seines Lebens bot sich Friedrich I. Er würde als Oberherr der Christenheit einen Kreuzzug in das Heilige Land unternehmen und durch die Gemeinsamkeit des hohen Zieles im Orient alle Feindseligkeiten im europäischen Raum ausgleichen können. Der Kaiser berief den ›Hoftag Jesu Christi‹ ein, nahm das Kreuz, ernannte seinen Sohn Heinrich zum Reichsverweser und machte sich mit seinem Heer, das er für alle Fälle sorgfältig ausgerüstet hatte, auf den Weg. Von allen Seiten strömten ihm Gefolgsleute zu. Die Kirchenglocken erklangen zu seinen Ehren. Der neue Papst, Clemens III. gab ihm den Segen. Friedrich galt als der zweite Moses auf dem Zug in das verheißene Land. Der Kaiser setzte mit seinen Kreuzfahrern über den Hellespont und begann den Vormarsch. Es erging ihm genauso wie den Teilnehmern des ersten Kreuzzuges. Türkische Bogenschützen überfielen die Ritter 33
und ihr Gefolge aus Hinterhalten. Die Angreifer verschwanden ebenso rasch, wie sie gekommen waren. Der Nachschub des Kreuzheeres wurde abgeschnitten. Hunger und Durst entmutigten selbst die tapfersten Männer. Am schlimmsten aber war die Hitze. Als Friedrich I. sich im Flüßchen Salef in Kilikien abkühlen wollte, ertrank er, bevor ihm Hilfe geleistet werden konnte. Das große Leben Friedrichs I. hatte ein jämmerliches Ende gefunden. Aber die Nachwelt behielt ihn mit dem Beinamen Barbarossa so verehrungsvoll in Erinnerung, daß die Kyffhäusersage, die sich jahrhundertelang auf seinen Enkel Friedrich II. bezog, ihm zu Ehren ausgeschmückt wurde. Der kurzgeschnittene Backenbart, der das männliche Gesicht Friedrichs I. umrahmt hatte, wurde in der Legende zum wallenden Sinnbild seiner glänzenden Kaiserwürde.
V Die Nachricht vom Tod Kaiser Friedrichs war das Zeichen für Heinrich den Löwen, nach Deutschland zurückzukehren. Mit Heinrich VI. dem fünfundzwanzigjährigen, schmächtigen Nachfolger des mächtigen Barbarossa, würde er im Handumdrehen fertig werden. Er hatte sich überdies die Hilfe seines Schwagers, Richard Löwenherz, gesichert, der Heinrich II. von England auf dem Thron gefolgt war, und war gewiß, endlich Rache für die Verbannung und die Beschlagnahmung seiner Herzogtümer nehmen zu können. Heinrich der Löwe war ein erfahrener Feldherr. Der junge Erbe seines großen Gegenspielers vermied eine blutige Auseinandersetzung. Er hielt es für besser, Frieden mit dem gefährlichen Verwandten zu schließen und ihm für seinen Sohn, den Richard Löwenherz erzogen hatte, die staufische Erbtochter Agnes zu versprechen. Heinrich der Löwe ließ den Ereignissen ihren Lauf. Er setzte sich in Sachsen fest und wartete ab, was in Sizilien 34
geschehen würde. Die Botschaften, die er aus Messina bekam, konnten nicht besser sein. Tankred, der Halbbruder des Königs von Sizilien, hatte nach dem Tod Wilhelms II. erklärt, daß dessen Erbvertrag mit Friedrich I. null und nichtig sei, und bestand auf der Krönung. Er bekam wichtigen Besuch. Richard Löwenherz, der gleichzeitig auch Lehensmann des französischen Königs war, hatte Philipp August von Frankreich dazu bewogen, gemeinsam mit ihm ins Heilige Land zu fahren, ›damit sie beide miteinander, aber nicht um ihre Besitzungen, streiten könnten‹. Die beiden Könige waren unbequeme Gäste in Sizilien. Tankred mußte ihnen seine Eignung zur Nachfolge auf den sizilianischen Thron dadurch beweisen, daß er für seine Gäste königliche Feste gab. Bei einem dieser Gelage beleidigte er Richard. Der gekränkte König bemächtigte sich Messinas, ›schneller, als ein Priester die Mette singen kann‹. Für eintausend Kilogramm Gold gab er die Stadt wieder heraus und versöhnte sich eilig mit Tankred, um Philipp August folgen zu können, der schon abgefahren war, um an der Belagerung Akkons teilzunehmen. Richard kam zurecht. Seiner unermüdlichen Tatkraft und seinem unbeugbaren Mut gelang es, die schon so lange belagerte Stadt in nur wenigen Wochen zu erobern. Die Besatzung Akkons ergab sich. Richard Löwenherz forderte zweihunderttausend Goldstücke und die Rückgabe des ›wahren Kreuzes‹. Als Gegenleistung versprach er, die Bevölkerung von Akkon abziehen zu lassen. Saladin war damit einverstanden. Es begann ein seltsam freundliches Verhältnis zwischen den beiden Feinden, die jeder dem anderen ihre verfeinerte Lebensart und Ritterlichkeit beweisen wollten. Dieser Austausch von Höflichkeiten und blutigen Metzeleien wurde noch abwechslungsreicher, als Philipp August von Frankreich erkrankte und in sein Königreich heimkehrte. Er ließ Richard seine Truppen zurück. Der König von England war nun der alleinige Führer des Kreuzheeres. Sein ungestümes Wesen kannte keine Schranken. Als die Zahlung der Goldstücke auf sich warten ließ, befahl er, zweieinhalbtausend muselmanische Gefangene vor den Mauern Akkons zu enthaupten. Die Antwort Saladins war die Drohung, daß er seinerseits alle christli35
chen Gefangenen hinrichten werde. Diesem blutigen Zwischenspiel folgte ein unerwarteter versöhnlicher Vorschlag des englischen Königs. Er bot seine Schwester Johanna dem Bruder Saladins als Frau an, um durch eine fröhliche Ehe alle Feindseligkeiten zu beenden. Als die anwesenden Kirchenfürsten sich gegen die Vermählung einer christlichen Prinzessin mit einem muselmanischen Prinzen aussprachen, zog Richard den friedlichen Vorschlag zurück und begann kriegerische Handlungen. Er zerstritt sich mit seinem Gefolge. Die deutschen Kreuzfahrer, die den Deutschen Ritterorden gegründet hatten, sagten sich von ihm los, die französischen Ritter führten seine Befehle nicht aus. Aber er machte alle seine Fehler durch seine Tapferkeit und Feldherrnkunst wett. Er führte erfolgreiche Feldzüge, schloß Frieden mit Saladin, brach die Vereinbarung und vollbrachte eine Heldentat nach der anderen, die Saladin so beeindruckten, daß er Richard Löwenherz ein Streitroß schenkte, als er wahrnahm, daß der ritterliche König von England in einer Schlacht gegen ihn sein Pferd verloren hatte. Der Bote, der das prächtig geschmückte Tier überbrachte, erklärte, der Sultan empfinde es als Schande, wenn ein so wunderbarer Krieger zu Fuß kämpfen müsse. Die Heldenhaftigkeit Richards war so allgemein anerkannt, daß er es auf sich nehmen konnte, an den geschlossenen Reihen der muselmanischen Feinde mit eingelegter Lanze entlangzureiten – und keiner wagte es, ihn anzugreifen. Alle fürchteten seine Streitaxt, gegen die es keine Abwehr zu geben schien. Als Richard an Fieber erkrankte, bat er sein Gefolge um Obst und kühlende Getränke. Saladin erfuhr davon und sandte ihm Äpfel, Pfirsiche und Schnee. Mit so deutlich erwiesener Freundschaftlichkeit ließ es sich nicht lange kämpfen. Der Sultan und Richard Löwenherz schlossen Frieden auf drei Jahre. Als Richard schon auf seinem Schiff war, um nach England zurückzukehren, versprach er Saladin übermütig, daß er wiederkommen werde, um Jerusalem zu erobern. Der Sultan gab zurück, wenn es schon sein müsse, daß er ein Land verliere, dann wolle er es tausendmal lieber an Richard als an irgendeinen anderen lebenden Menschen verlieren.
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Da Richard Löwenherz nicht in französischen Häfen anlegen wollte, um nicht in einen Hinterhalt Philipp Augusts zu fallen, unternahm er es, als er in Aquileja Schiffbruch erlitt, in bürgerlicher Tracht unter fremdem Namen durch das deutsche Reich heimzukehren. Er hatte vermutlich auch die Absicht, seinen Schwager Heinrich den Löwen zu besuchen, dem er wiederholt Geldzuwendungen gemacht hatte und dessen Hilfe er in Anspruch nehmen wollte, um sich gegen seinen eigenen Bruder Johann behaupten zu können, der sich in seiner Abwesenheit als Herrscher aufgespielt hatte. Der als Kaufmann verkleidete König machte in Wien halt, um sich von den Mühen der Reise in einem bescheidenen Gasthof einige Tage auszuruhen. Er dachte nicht mehr daran, daß er den Herzog von Österreich während der Belagerung Akkons in seiner ungestümen Art hemmungslos beleidigt hatte. Als Leopold V. erfuhr, daß Richard Löwenherz in seiner Hauptstadt sei, nahm er den Wehrlosen überraschend gefangen.
Die Geschichte der Rückkehr des heldenmütigen Königs von England schilderte Sir Walter Scott in seinem Roman ›Ivanhoe‹. Das ritterliche Leben und die gesellschaftlichen Verhältnisse Englands in der Zeit nach der Beendigung des dritten Kreuzzuges werden hier anschaulich geschildert.
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Ivanhoe
von Walter Scott
In Rotherwood Der Schloßherr von Rotherwood, Cedrik der Sachse, nahm auf einem erhöhten Sessel unter dem Baldachin in der Mitte seines gewaltigen Speisesaales Platz. Er saß allein an dem schier endlosen Eichentisch und blickte unruhig nach rechts und nach links in die lodernden Feuer der beiden Kamine, die den niedrigen langgezogenen Raum spärlich erhellten. Mißmutig griff er nach dem Silberbecher, den ihm der Mundschenk reichte: »Wo bleibt Lady Rowena?« fragte er barsch. Der Mundschenk erklärte zögernd: »Sie wechselt nur die Kleider. Sie wurde auf dem Rückweg von der Kirche vom Regen überrascht.« »Hoffentlich wählt ihre Frömmigkeit für den nächsten Kirchgang besseres Wetter«, brummte Cedrik vor sich hin. Die Verantwortung für sein Mündel Rowena bedrückte ihn. Er wollte die reiche Erbin mit Athelstane von Coningsburgh, dem letzten Nachkommen des sächsischen Königshauses, verheiraten und hatte sogar seinen eigenen Sohn Ivanhoe, in den sie verliebt war, verstoßen, da er nicht von ihr hatte ablassen wollen. Obwohl Jahre vergangen waren, hing Rowena unverändert an Ivanhoe. Cedrik machte seiner schlechten Laune Luft: »Was, in des Teufels Namen, hält Gurth so lange draußen zurück? Hat der Schweinehirt am Ende seine Schweine verloren?« »Es ist noch nicht so spät«, wandte der Mundschenk vorsichtig ein. »Es ist kaum eine Stunde seit dem Läuten der Abendglocke vergangen.« »Der Teufel hole die Abendglocke und den Normannen, der sie erfunden hat! Der Teufel hole sie! Sie zwingt rechtschaffene Leute, die Lichter auszumachen, damit die normannischen Räuber und Diebe 39
besser ihrem Gewerbe nachgehen können. Am Ende haben sie Gurth in der Dunkelheit ermordet und meine Herde fortgeschleppt. Und wo ist Wamba, mein Narr?« »Er hat Gurth begleitet.« »Dann haben sie auch ihn verschleppt!« Cedrik sprang wütend auf. »Ich werde mich rächen! Ich habe Freunde, ich habe Anhänger! Ich werde diesen Normannen zeigen, daß ich noch nicht zu alt bin, um mich zu wehren.« Die blauen Augen in seinem breiten Gesicht leuchteten auf, als lauter Hornruf ertönte. »Das ist Gurth!« Er blickte erwartungsvoll in die Richtung der Türe. Der Torhüter des Schlosses trat ein, verbeugte sich tief und meldete förmlich: »Der Abt Aymer von Jorvaulx und der gute Ritter Brian de Bois-Guilbert, Komtur des ehrwürdigen Ordens der Tempelritter, erbitten für sich und ihr kleines Gefolge Gastfreundschaft und Unterkunft für die Nacht.« »Beide sind Normannen.« Cedrik rückte die grüne, pelzverbrämte Tunika, die er über dem enganliegenden scharlachroten Gewand trug, zurecht. Er griff an das kurze zweischneidige Messer, das in seinem reich verzierten Gürtel stak. Es war eine drohende Gebärde. Doch dann besann er sich: »Ich darf ihnen die Gastfreundschaft nicht verweigern.« Er winkte seinem Haushofmeister: »Hundebert, nimm sechs Diener und führe die Fremden in die Gastzimmer. Sage ihnen, daß ich sie selbst willkommen heißen würde, wenn ich nicht das Gelübde getan hätte, niemandem, der nicht aus dem sächsischen Königsgeschlecht stammt, mehr als drei Schritte vom Baldachin meiner Halle entgegenzugehen. Laß das Abendessen auftragen, wenn die Fremden bereit sind. Sie sollen nicht sagen, der sächsische Hausherr sei arm oder geizig!«
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Die Flügeltüren am unteren Ende des Speisesaales wurden aufgerissen. Der Haushofmeister gab vier Dienern den Weg frei. Sie stellten sich mit brennenden Fackeln zu beiden Seiten des Einganges auf. Abt Aymer von Jorvaulx schritt den Gästen voran. Er trug über einem kostbaren Gewand einen prachtvoll gestickten Chorrock. Wertvolle, mit Edelsteinen besetzte Ringe glitzerten an seinen Fingern. Sein heller Bart war kunstvoll zurechtgeschnitten. Eine prächtige scharlachrote Kappe verdeckte seine Tonsur. Hinter ihm wurde der lange weiße Mantel des Tempelherrn sichtbar, den er über die pelzbesetzte Tunika aus purpurroter Seide geworfen hatte. Das achteckige Kreuz seines Ordens war in schwarzem Samt an der Schulter seines Mantels befestigt. Kurzes, schwarzes, dichtgelocktes Haar fiel ihm frei in die Stirn. Ein Mönch, zwei Knappen und zwei dunkelhäutige Sklaven, mit weißen Turbanen auf den Köpfen, betraten hinter ihnen den Saal. Zu ihrem Gefolge gehörte auch ein Fremder. Sein weiter Pilgermantel aus rauhem schwarzem Tuch unterschied ihn von den anderen. Die breite niedergeschlagene Krempe seines Hutes verbarg sein Gesicht vollkommen. Er stützte sich auf einen langen eisenbeschlagenen Stab, an dem ein Palmzweig befestigt war. Cedrik erhob sich und ging seinen Gästen drei Schritte entgegen. Er verbeugte sich: »Es tut mir leid, ehrwürdiger Abt, daß ein Gelübde mich daran hindert, Euch weiter entgegenzukommen. Auch bitte ich Euch zu entschuldigen, daß ich zu Euch in meiner Muttersprache rede.« »Gelübde müssen gehalten werden, würdiger Than«, erwiderte der Abt freundlich. »Und was die Sprache betrifft, so will ich Euch gerne auf gut sächsisch antworten, das ich von meiner Großmutter, Gott hab' sie selig, Hilda von Middleham, gelernt habe.« »Ich spreche immer französisch«, fiel Brian de Bois-Guilbert dem geistlichen Herrn unhöflich ins Wort: »Es ist die Sprache König Richards.« Er fügte geringschätzig hinzu: »Aber ich verstehe genügend Englisch, um mich mit den Eingeborenen des Landes unterhalten zu können.« 41
Cedrik warf ihm einen drohenden Blick zu, aber da er der Hausherr war, unterdrückte er die scharfe Erwiderung, die ihm schon auf der Zunge lag. »Nehmt Platz, Ihr Herren!« sagte er und gab dem Haushofmeister ein Zeichen, damit das Essen aufgetragen werde. Während die Diener die Stühle zurechtrückten, wurde die Aufmerksamkeit Cedriks durch den Eintritt Wambas und Gurths abgelenkt. Er rief ihnen zu: »Wie kommt es, ihr Schurken, daß ihr so spät zurückkehrt? Habt ihr die Herde den Räubern überlassen?« Zögernd näherten sich der Schweinehirt und der Narr dem Baldachin. »Die Herde ist unversehrt«, sagte Gurth. Wamba, der Hausnarr, der die Reizbarkeit seines Herrn kannte, trat zwischen ihn und den Schweinehirten. Er wandte sich Cedrik zu: »Onkel«, sagte er, »ist es gerecht und vernünftig, jemandem für den Fehler eines anderen zu grollen?« »Sicherlich nicht, du Narr!« »Warum hebt Ihr dann die Faust drohend gegen den armen Gurth, wenn doch sein Hund daran schuld ist, daß wir erst so spät kamen?« »Dann soll er sich einen anderen Hund anschaffen!« »Das wäre nicht gerecht gegen den Hund, denn der kann nichts dafür, daß ihm der Wildaufseher des Sir Philipp de Malvoisin die Vorderzehen abgeschnitten hat, weil er behauptete, der Hund sei auf Wild aus.« »Der böse Feind hole Malvoisin und seinen Aufseher!« schrie Cedrik. »Ich werde ihnen zeigen, daß mir ebensoviel Jagdrecht zusteht wie ihnen!« Er beherrschte seinen Zorn mühsam. »Genug davon«, sagte er und wandte sich seinen Gästen zu. Das Mahl war aufgetragen worden: verschiedenartig zubereitetes Schweinefleisch, Geflügel, Wild, Ziegen- und Hasenbraten und mehrere Sorten von Fischgerichten. In riesigen Körben wurde Brot angeboten, Semmeln und Frucht- und Honiggebäck. Vor jedem der vornehmen Gäste stand ein Becher aus getriebenem Silber. Die Leute aus dem Gefolge mußten sich mit schlichten Trinkhörnern begnügen. 42
Als die Gäste es sich schon bequem gemacht hatten und zugreifen wollten, pochte der Haushofmeister mit seinem Stab auf den Estrich. »Platz für Lady Rowena!« rief er laut in den Speisesaal. Hinter dem Baldachin öffnete sich eine Seitentür für Lady Rowena. Cedrik eilte ihr entgegen und führte sie zu dem Stuhl an seiner Rechten. Alle Anwesenden erhoben sich zu ihrer Begrüßung, die sie mit einer stummen Verneigung erwiderte. Brian de Bois-Guilbert flüsterte dem Abt zu: »Ihr habt die Wette gewonnen, sie ist noch schöner, als Ihr mir versichert habt.« »Mäßigt Euer Entzücken«, erwiderte der Abt leise. »Der Sachse beobachtet Euch.« Der Tempelritter konnte seine Augen nicht von Rowena wenden. Ihr Gesicht war fein geschnitten, die blauen Augen unter den kräftigen dunklen Brauen zeigten eine stolze Anmut. Über ihrer hohen weißen Stirn war ihr blondes, dichtes Haar in Locken gelegt, die ihr bis an die Schulter reichten. Sie trug eine Reliquienkette um den Hals und Goldreifen an ihren bloßen Armen. Das blasse Meergrün ihres seidenen Kleides schmeichelte ihrer hellen Haut. Als Rowena bemerkte, daß der Tempelritter sie unausgesetzt ansah, zog sie einen golddurchwirkten Schleier über ihr Gesicht. »Herr Templer«, sagte Cedrik scharf, »unsere sächsischen Mädchen lieben es nicht, angestaunt zu werden.« »Wenn ich mich vergangen habe«, erwiderte Brian de Bois-Guilbert mit kühler Höflichkeit, »so bitte ich um Lady Rowenas Verzeihung.« »Die Lady hat uns alle bestraft«, sagte der Abt mit höfischer Gewandtheit. »Sie hat uns ihren Anblick entzogen. Ich hoffe, sie wird beim Turnier in Ashby weniger grausam sein!« »Es ist ungewiß, ob wir dorthin gehen werden«, erwiderte Cedrik. »Ich liebe diese eitlen ritterlichen Volksschaustellungen nicht, von denen meine Väter nichts wußten, als England noch frei war.« Der Templer hob seinen Becher, als hätte er den kurzen Wortwechsel zwischen Cedrik und dem Abt nicht gehört: »Ich trinke auf das Wohl der schönen Lady Rowena!« »Ich begehre Eure Höflichkeit nicht, Herr Ritter«, erwiderte Rowe43
na mit würdevoller Zurückhaltung, ohne ihr Gesicht zu entschleiern. »Aber ich bitte Euch um die neuesten Nachrichten aus Palästina, die ich lieber höre als die Komplimente, die Euch Eure französische Erziehung gelehrt hat.« »Ich habe nichts Besonderes zu berichten, Lady«, gab der Templer zurück, »außer, daß wir mit Sultan Saladin Waffenstillstand geschlossen haben.« Wamba, der Hausnarr, der sich bisher still hinter Cedrik gehalten hatte, mischte sich frech ins Gespräch: »Diese Waffenstillstände mit den Ungläubigen«, sagte er mit vollem Munde, »machen einen alten Mann aus mir!« »Wie meinst du das, Schlingel?« Cedrik lächelte bereits über den kommenden Scherz. »Weil ich mich bereits an drei solcher Waffenstillstände erinnern kann, und jeder hätte fünfzig Jahre dauern sollen.« »Ich will dich davor schützen, daß du an Altersschwäche stirbst«, sagte Bois-Guilbert drohend. Wamba wich erschrocken zurück. Noch bevor er antworten konnte, näherte sich der Türhüter Cedrik und meldete, daß ein Fremder um Einlaß und Gastfreundschaft bitte. »Laß ihn herein«, befahl Cedrik. »Es ist ein Jude, der sich Isaak von York nennt«, erklärte der Haushofmeister. Er fragte zögernd: »Ist es schicklich, daß ich ihn in den Speisesaal führe?« »Heilige Jungfrau!« Der Abt bekreuzigte sich. »Ein Ungläubiger soll hier Zutritt erhalten?« »Ein Hund von einem Juden soll einem Verteidiger des Heiligen Grabes nahe kommen?« rief der Templer. Wamba hatte wieder Mut gefaßt. Er lachte: »Es scheint, die Templer lieben das Erbe der Juden mehr als ihre Gesellschaft!« »Meine verehrten Gäste«, sagte Cedrik bestimmt, »meine Gastfreundschaft darf nicht durch Eure Abneigungen beschränkt werden. Ich nötige niemand, mit dem Juden zu sprechen oder zu essen. Er soll allein für sich bleiben, es sei denn«, er wies mit einem Lächeln auf die 44
muselmanischen Diener des Templers, »daß diese Fremdlinge mit den Turbanen ihn bei sich haben wollen.« Der Templer fuhr auf: »Meine Sarazenen verschmähen es ebenso wie die Christen, mit Juden zu verkehren.« »Bei dir soll er sitzen, Wamba«, entschied Cedrik. »Der Narr und der Schelm passen zusammen.« »Der Narr wird Sorge dafür tragen, daß ihm der Schelm nicht zu nahe kommt«, rief Wamba und hob ein Schinkenbein hoch empor, an dem er gerade genagt hatte. Ängstlich, sich nach allen Seiten verbeugend, betrat der hochgewachsene, hagere Jude den Speisesaal. Eine hohe viereckige, gelbe Mütze bedeckte sein langes graues Haar. Er trug einen schlichten roten Mantel über einem dunklen Unterkleid, an dessen Gürtel ein kleines Messer und ein Futteral mit Schreibgerät befestigt war. Der Hausherr nahm seine wiederholten Verbeugungen mit einem leichten Nicken entgegen und bedeutete ihm, sich ans untere Ende der Tafel zu setzen. Während der Jude nach einem Platz suchte, bekreuzigten sich die Leute aus dem Gefolge des Abtes mit frommem Entsetzen, die Sarazenen strichen sich drohend über ihre Schnurrbärte und griffen nach ihren Dolchen. Der Pilger, der allein beim Kamin am unteren Ende des Saales saß, erbarmte sich des alten Mannes. »Meine Kleider sind getrocknet und mein Hunger gestillt«, sagte er mit ruhiger Stimme. »Aber du bist noch naß und hast Hunger.« Er stand auf, legte neue Holzstücke auf die Glut und reichte dem Juden von der Tafel eine Schüssel mit Suppe und Ziegenfleisch. Isaak setzte sich dankbar und hielt seine kalten zitternden Hände über das Feuer. Als er sich erwärmt hatte, begann er hastig zu essen. Cedrik unterhielt sich mit dem Abt über die Jagd. Der Templer saß in sich versunken und brütete vor sich hin. Als eine wegwerfende Bemerkung Cedriks über die Sprache der Normannen fiel, sagte er anmaßend: »Das Französische ist nicht nur die naturgemäße Sprache der Jagd«, er warf einen Seitenblick auf Rowena, »sondern auch die der Liebe und des Krieges.« 45
Cedrik gab unverändert höflich zurück: »Tut mir Bescheid, Herr Templer.« Er griff nach dem Becher: »Die Barden der Sachsen sind nicht mehr, unsere Taten sind vergessen über denen eines anderen Geschlechts, und niemand betrauert das Versinken unserer Sprache mehr als ich, ein einsamer alter Mann. Mundschenk! Fülle die Becher! Auf die Helden, Herr Templer, welchem Geschlecht sie auch angehören und welche Sprache sie auch sprechen mögen, die jetzt in Palästina unter dem Zeichen des Kreuzes die Waffen tragen!« »Es geziemt einem Mitglied meines Ordens nicht, darauf zu antworten«, erwiderte Bois-Guilbert hochmütig. »Aber wem außer den geschworenen Kämpfern des Heiligen Grabes kann Ruhm gebühren?« »Den Johannitern«, warf der Abt ein. »Ich habe einen Bruder in diesem Orden.« »Ich bestreite nicht ihre Tapferkeit, aber …« »Wäre Richard Löwenherz weise genug gewesen«, unterbrach ihn Wamba, »dann hätte er auf mich gehört und wäre mit seinen lustigen Engländern daheim geblieben und hätte die Wiedereroberung Jerusalems eben jenen Rittern überlassen, denen am meisten daran gelegen war.« Rowena fragte den Templer: »Gab es keinen im englischen Heer, dessen Name würdig ist, neben den Rittern des Tempels und des heiligen Johann genannt zu werden?« »Mein gnädiges Fräulein«, sagte Sir Brian, »der König von England führte eine Schar tapferer Krieger nach Palästina, die nur jenen nachstanden …« »… die keinem nachstanden!« rief der Pilger aus dem dunklen Hintergrund des Saales. Seine Stimme klang sicher: »Ich wiederhole, daß die englische Ritterschaft keinem nachstand, der jemals zur Verteidigung des Heiligen Landes auszog! Ich war dabei, als König Richard nach der Einnahme von St. Jean d'Acre ein Turnier abhielt, bei dem er und fünf seiner Ritter jeden zum Kampf herausforderten, der ihn annehmen wollte. Jeder der Ritter machte drei Gänge, und jeder warf drei Gegner zu Boden, und sieben von diesen Besiegten – Sir Brian de Bois-Guilbert weiß es recht gut – waren Tempelritter.« 46
Das Gesicht des Templers verzerrte sich im Zorn. Seine Hand zuckte unwillkürlich nach dem Griff seines Schwertes. Cedrik bemerkte in seiner freudigen Erregung über das Lob seiner Landsleute nicht die Aufregung des Templers. Er sprach in die Richtung des Pilgers: »Ich gebe dir dieses goldene Armband, wenn du mir die Namen jener Ritter nennst, die so tapfer für den Ruhm Englands eingetreten sind!« »Das will ich gerne tun«, kam es aus dem dunklen Hintergrund des Speisesaales zurück, »aber ohne Lohn. Mein Gelübde hindert mich daran, Gold anzunehmen.« »Ich will das Armband für Euch tragen«, rief Wamba dazwischen. Der Pilger ließ sich nicht beirren: »Die höchste Ehre für seine Tapferkeit gebührt Englands König Richard. Der Graf von Leicester war der zweite, Sir Thomas Multon von Gilsland der dritte.« »Der wenigstens ist ein Sachse«, frohlockte Cedrik. »Sir Foulk Doilly der vierte.« »Auch er ist ein Sachse, wenn auch nur mütterlicherseits. Und wer war der fünfte?« fragte Cedrik. »Sir Edwin Turneham.« »Ein echter Sachse! Und der nächste?« Der Pilger senkte den Kopf: »Der sechste war ein junger Ritter von geringerem Ruf und niedrigerem Rang … ich habe seinen Namen vergessen.« »Ihr habt ein so vorzügliches Gedächtnis bewiesen«, warf Sir Brian höhnisch ein, »daß Eure Vergeßlichkeit kaum glaubhaft erscheint. Der sechste Ritter, der mich selbst zu Fall brachte, war Ritter Ivanhoe. Und unter allen Sachsen war keiner, der ihn an Tapferkeit übertroffen hätte. Doch wäre er in England, so würde ich ihm beim Turnier in Ashby beweisen, daß ich ihm überlegen bin.« »Wenn Euer Gegner hier wäre«, erwiderte der Pilger rasch, »würde Eure Herausforderung sicher angenommen werden.« Er unterbrach sich: »Doch da dies nicht der Fall ist, bitte ich Euch, prahlt nicht mit dem Ausgang eines Kampfes, der nicht stattfinden kann! Aber wenn Ivanhoe aus Palästina zurückkehrt, so verbürge ich mich, daß er Euch zum Kampfe stellt.« 47
»Und was bietet Ihr als Pfand für Eure Bürgschaft?« »Diese Reliquie – ein Splitter des Kreuzes. Er stammt vom Kloster des Berges Karmel.« Der Pilger zog ein kleines elfenbeinernes Kästchen aus seinem Mantel und reichte es dem Mönch aus dem Gefolge des Abtes. Der Abt von Jorvaulx bekreuzigte sich. Sir Brian nahm eine Goldkette von seinem Hals und warf sie auf den Tisch: »Abt Aymer soll Euer und mein Pfand behalten. Und wenn Ritter Ivanhoe nach seiner Rückkehr dieser Aufforderung nicht nachkommt, so lasse ich ihn öffentlich als Feigling erklären!« Lady Rowena lehnte sich vor. »Ich verbürge mich mit meinem Namen und meiner Ehre, daß Ivanhoe jeder ehrenvollen Herausforderung nachkommen wird«, sagte sie. Cedrik hatte bisher geschwiegen. Der Stolz auf seinen Sohn und der kleinliche Zorn gegen ihn hatten ihn zu sehr erregt. Er nahm es Rowena übel, daß sie ihre von ihm mißbilligte Zuneigung für Ivanhoe so deutlich zeigte. Er ergriff das Wort: »Wäre noch ein weiteres Pfand nötig, so würde ich selbst meine Ehre einsetzen. Es ziemt sich nicht für Euch, Lady Rowena. Die Wettpreise sind ausreichend, sogar nach den Gebräuchen der Ritter.« Der Abt nickte zustimmend: »Ich will die heilige Reliquie und die kostbare Kette sicher aufbewahren, bis der Kampf ausgetragen ist.« Er bekreuzigte sich wieder und übergab die beiden Pfänder dem Mönch, der sie rasch an sich nahm. Dann erhob sich der Abt: »Sir Cedrik, gestattet uns noch einen Trunk auf das Wohl Lady Rowenas, bevor wir uns zur Nachtruhe zurückziehen.« »Ihr macht Eurem Rufe wenig Ehre, Herr Abt. Das Gerücht nennt Euch einen lustigen geistlichen Herrn, der die Frühmette läuten hört, bevor er seinen Becher verläßt!« Der Abt, der weitere Unstimmigkeiten vermeiden wollte, wandte bescheiden ein, daß er es in der Trinkfestigkeit mit den Sachsen kaum aufnehmen könnte. Der letzte Trunk wurde herumgereicht. Die Gäste erhoben sich und 48
verabschiedeten sich, je nach ihrem Rang, mit tiefen und tieferen Verbeugungen vor Lady Rowena und dem Hausherrn.
Der Pilger folgte einem Diener, der den Weg durch die finsteren Gänge mit einer Fackel beleuchtete. Sie wurden von Rowenas Kammerfrau aufgehalten, die in befehlendem Ton meldete, daß ihre Herrin den Pilger zu sprechen wünsche. Sie wartete die Antwort nicht ab, sondern nahm dem Diener die Fackel aus der Hand, so daß der Pilger ihr wohl oder übel folgen mußte. Über eine hölzerne Stiege führte sie ihn in ein geschmackvoll ausgestattetes Gemach. Die Wände waren mit seidenen Tapeten behängt, auf denen mit buntem Garn und Silberfäden Jagdszenen eingestickt waren. Die Stühle waren mit bunten Überzügen versehen, und daneben standen kunstvoll geschnitzte elfenbeinerne Fußschemel. Vier Wachskerzen in silbernen Armen erhellten den Raum nur notdürftig. Auch jetzt lüftete der Pilger nicht seinen breitkrempeligen Hut. Aber er beugte sein Knie tief vor Lady Rowena, die auf einem erhöhten Sessel saß. »Steht auf«, sagte sie freundlich und fuhr fort: »Ihr habt heute abend einen Namen erwähnt – den Namen Ritter Ivanhoes. Wir haben gehört, daß er wegen seiner geschwächten Gesundheit auch nach dem Abzug des englischen Heeres in Palästina bleiben mußte.« Der Pilger unterdrückte mühsam seine Erregung: »Ich weiß wenig von Ritter Ivanhoe. Ich wollte, ich wüßte mehr, da Ihr an seinem Schicksal solchen Anteil nehmt. Er ist, wie ich glaube, auf dem Weg zurück nach England.« Rowena seufzte. »Gäbe Gott, daß er schon hier wäre und sich am Turnier von Ashby beteiligen könnte! Wenn Athelstane von Coningsburgh den Preis davonträgt, wird Ivanhoe schlimme Nachrichten hören, wenn er nach England kommt.« Sie hielt inne: »Guter Pilger, habt Dank für die Nachrichten über meinen Jugendgefährten.« Der Pilger verbeugte sich tief zum Abschied. 49
Der Fackelträger, der vor der Tür auf ihn gewartet hatte, wies ihm den Weg zu einer der Zellen im äußeren Teil des weit angelegten Gebäudes. »Wo schläft der Jude?« fragte der Pilger. »Der ungläubige Hund liegt in der Zelle neben Eurer Heiligkeit.« »Und wo schläft Gurth, der Schweinehirt?« »Auf der anderen Seite Eurer Zelle.« Der Pilger nahm dem Diener die Fackel ab und wünschte ihm eine gute Nacht. Er verschloß die Türe seiner Zelle, löschte die Fackel aus und legte sich angekleidet auf die Schaffelle, die auf dem Bettgestell ausgebreitet waren. Als der erste Sonnenstrahl durch die vergitterte Maueröffnung fiel, erhob sich der Pilger, verrichtete eine kurze Morgenandacht und trat leise in die danebenliegende Zelle des Juden. Isaak streckte ihm angstvoll die Arme entgegen: »Um des Gottes Abrahams willen verschont einen armen Greis! Ich habe keinen Heller, und wenn Ihr mich in Stücke reißt, ich kann Euch nichts geben!« Er sprang auf und drückte seine Kleider fest an sich. »Ich komme als dein Freund«, beruhigte ihn der Pilger. »Aber wenn du nicht auf der Stelle dieses Haus verläßt und deine Reise fortsetzt, gebe ich nichts für dein Leben.« »Heiliger Vater«, rief der Jude. »Wem kann daran liegen, mich in Gefahr zu bringen!« »Den Grund mußt du selbst erraten. Aber als der Templer gestern die Halle verließ, hörte ich, wie er einem seiner Sarazenensklaven in arabischer Sprache, die ich sehr gut verstehe, befahl, dem Juden in der Frühe nachzuschleichen und ihn mit Gewalt auf das Schloß Philipps von Malvoisin zu bringen.« Isaak begann vor Schreck zu zittern. Seine Knie gaben nach. Er sank zu Boden. »Steh auf«, sagte der Pilger und trat einen Schritt zurück. »Ich will dir einen Weg zur Rettung zeigen. Verlaß dieses Haus, solange noch alle schlafen. Ich will dich auf einen Waldpfad führen, bis wir einen Edelmann treffen, der dich unter seinem Schutz sicher nach Ashby bringen kann. Du hast gewiß die Mittel, ihn dafür zu bezahlen.« 50
»Ich habe keine Mittel, die Hilfe eines Edelmanns zu bezahlen, und wäre es noch so wenig. Guter Jüngling, ich will mit Euch gehen! Laßt uns fliehen! Laßt uns eilen!« Der Pilger nickte und trat in die Zelle des Schweinehirten. »Gurth«, rief er, »steh auf und laß mich und den Juden durch die Hintertüre hinaus!« »Jude und Christ müssen warten, bis das große Tor geöffnet wird«, erwiderte Gurth schlaftrunken. »Wir lassen keine Gäste zu so ungewöhnlicher Zeit fort.« Der Pilger beugte sich über das Lager des Schweinehirten und flüsterte in sächsischer Sprache. Sofort sprang Gurth auf und gehorchte dem Befehl des Pilgers. Als sie das Gebäude durch die Hintertür verließen, klagte der Jude: »Mein Maulesel! Mein Maulesel!« »Hol ihm seinen Maulesel«, befahl der Pilger dem Schweinehirten, »und laß mich auch einen haben.« Diensteifrig kam Gurth dem Befehl nach, und es dauerte nicht lange, bis er auf der anderen Seite des Schloßgartens mit den Tieren erschien. Isaak schwang sich hastig auf seinen Maulesel, langsam folgte ihm der Pilger. Gurth küßte ihm zum Abschied ehrerbietig die Hand und starrte den beiden nach, bis sie auf dem Waldpfad im dichten Gebüsch verschwunden waren. Schweigend ritten Isaak und der Pilger nebeneinander her, bis sie zu einer riesigen zerklüfteten Eiche kamen. »Hier endet die Herrschaft Malvoisins«, erklärte der Pilger. »Nun hast du keine Verfolgung mehr zu befürchten.« »Verlaßt mich nicht«, flehte der Jude. »Denkt doch an den grimmigen Templer mit seinen Sarazenensklaven. Sie werden mich einholen!« »Es geziemt sich nicht für einen Christen, länger als unbedingt nötig mit einem Juden zu reisen.« »Oh, guter Jüngling, Ihr könnt mich verteidigen, und ich weiß, Ihr würdet es tun. So arm ich auch bin, ich will es Euch vergelten, wenn auch nicht mit Geld …« 51
»Ich will weder Geld noch sonst eine Belohnung, aber ich bleibe bis Sheffield bei dir.« »Jakobs Segen sei mit Euch, guter Jüngling!« rief der Jude erleichtert aus. »In Sheffield kann ich bei meinen Verwandten wohnen und auch Mittel finden, in Sicherheit weiterzureisen.« Auf einer Anhöhe hielt der Pilger an. Zu ihren Füßen lag Sheffield. »Hier scheiden wir also«, sagte er. »Nicht, bis Euch der arme Jude gedankt hat«, erwiderte Isaak. »Gott weiß, ich bin arm, aber ich glaube, ich kann Euch geben, wonach Ihr in diesem Augenblick am meisten verlangt.« »Auch wenn du meinen Wunsch erraten könntest, würde es dir nicht möglich sein, ihn zu erfüllen – wärst du auch so reich, wie du vorgibst, arm zu sein.« »Ich sage die reine Wahrheit«, beteuerte Isaak. »Ich bin arm, bedrängt und verschuldet. Aber vielleicht kann ich Euch die Rüstung, die Ihr Euch wünscht, verschaffen.« Der Pilger schrak zusammen: »Woher weißt du das?« »Ich kenne euch Christen«, erwiderte der Jude schlau. »Ich habe Euch beobachtet, Herr. Unter Eurem Pilgerkleid versteckt Ihr die Ritterkette und goldene Sporen …« Der Pilger konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. »Würde ich dich mit ebenso neugierigen Augen betrachten, Isaak, was würde ich unter deinem armseligen Gewand entdecken?« Der Jude hob abwehrend die Hände. »Reden wir nicht davon!« Er suchte eilig sein Schreibgerät hervor, legte ein Stück Papier auf seine gelbe Mütze und begann zu schreiben. »In der Stadt Leitaster wohnt der reiche Jude Kirjath Jairam aus der Lombardei«, erklärte er, als er dem Pilger das Papier überreichte. »Er hat sechs mailändische Rüstungen zu verkaufen und zehn stattliche Pferde. Unter diesen sollt Ihr wählen und Euch auch sonst mit allem ausrüsten, was für das Turnier nötig ist. Wenn es vorbei ist, gebt Ihr alles zurück.« »Aber wenn ich aus dem Sattel gehoben werde, gehören doch Rüstung und Pferd dem Sieger. Auch ich kann Unglück haben und verlieren, was ich weder ersetzen noch bezahlen könnte.« 52
Der Jude sagte bestimmt: »Der Segen unseres Vaters wird über Euch sein. Ich bin meiner Sache gewiß.« Er zögerte, dann sagte er rasch: »Wenn ein Schaden geschieht, soll es Euch nichts kosten.« Er wandte seinen Maulesel herum. »Lebt wohl, Herr!« »Ich will dein Anerbieten gerne annehmen«, rief ihm der Pilger nach. »Und es müßte mir schlimm ergehen, wenn ich es dir nicht vergelte.«
Das Turnier von Ashby Der Turnierplatz von Ashby lag am Rande der Stadt. Es war eine große rechteckige Wiese, die mit starken Palisaden eingefaßt war. Am nördlichen und südlichen Ende waren hölzerne Tore angebracht, die groß genug waren, daß zwei Kämpfer nebeneinander hindurchreiten konnten. An jedem dieser beiden Eingänge waren zwei Herolde aufgestellt, sechs Trompeter, sechs Pagen und eine Truppe bewaffneter Männer. Auf einer kleinen Anhöhe an der Südseite der Schranken ragten fünf prachtvolle Zelte in einer Reihe auf, mit roten und schwarzen Wappenschilden verziert – in den Farben der fünf herausfordernden Ritter. Vor jedem Zelt hing der Schild des Ritters, von einem als wilder Mann verkleideten Schildknappen bewacht. Das Zelt in der Mitte war als Ehrenplatz Brian de Bois-Guilbert zugewiesen worden. Die anderen Herausforderer waren Reginald Frontde-Boeuf, Richard de Malvoisin, Baron Hugo de Grantmesnil und der Johanniterritter Ralph de Vipont. An der Nordseite der Schranken standen Zelte für die Waffen-und Hufschmiede und andere Handwerker hinter einem großen eingezäunten Viereck, in dem sich diejenigen Ritter versammeln sollten, die die Herausforderung annahmen. Um die Schranken liefen Galerien für die Zuschauer. Sie waren mit Wand- und Fußteppichen ausgelegt und mit Kissen versehen. An der 53
Ostseite war eine Tribüne errichtet, höher als die Galerien, prachtvoll geschmückt und von einem Baldachin überdacht. Sie war für Prinz Johann bestimmt, den Bruder König Richards, der in Österreich gefangengehalten wurde. Diesem Ehrensitz gegenüber stand ein Thron, über dem eine Inschrift verkündete, daß er von ›La Rayne de la Beaute et des Amours‹, der Königin der Schönheit und Liebe, eingenommen werden sollte. Aus allen Teilen des Landes waren die Zuschauer zusammengeströmt. Die Galerien füllten sich mit Rittern und Edelleuten, wohlhabenden Gutsbesitzern und Bürgern. Die Herolde wachten genau darüber, daß jeder den ihm zustehenden Platz einnahm. Isaak, der Jude, prächtig gekleidet in einen mit Spitzen besetzten und mit Pelz gefütterten Überrock, drängte sich mit seiner Tochter Rebekka, die ihn in Ashby erwartet hatte, in die vorderste Reihe der Zuschauer. Er stieß einen normannischen Edelmann zur Seite, der ihm den Weg verstellen wollte. Die Umstehenden murrten über sein rücksichtsloses Benehmen, doch ihre Aufmerksamkeit wurde bald durch das Erscheinen Prinz Johanns abgelenkt. Begleitet von einem großen Gefolge, ritt er in die Schranken. Der Abt von Jorvaulx, der sich ihm angeschlossen hatte, war prächtig gekleidet. Er trug ein reichlich mit Pelz und Gold besetztes Gewand, und die Spitzen seiner Stiefel waren nach der neuesten Mode so lang und hochgebogen, daß sie bis an den Gürtel reichten und ihn hinderten, die Füße in die Steigbügel zu setzen. Mit dem Prinzen waren die Anführer seiner Söldner gekommen, einige Raubjunker, Höflinge und mehrere Tempel- und Johanniterritter. Er selbst, ganz in Gold und Purpur gekleidet, ein edelsteinbesetztes Pelzbarett auf dem langen Haar, saß auf einem grauen Pferd. Unbekümmert ließ er seine Augen über die Galerien schweifen, wobei er besonders nach den Damen Ausschau hielt. Unter lautem Beifall führte er sein Gefolge einmal in den Schranken herum, als er plötzlich Isaak und seine schöne Tochter entdeckte. »Bei Abrahams kahlem Schädel«, Johann wandte sich dem Abt von Jorvaulx zu, »diese Jüdin sieht wahrhaftig aus wie die Braut des Hohenliedes!« 54
»Die Rose von Saron und die Lilie des Tales«, erwiderte der Abt in näselndem Ton. »Aber Euer Gnaden dürfen nicht vergessen, daß sie nur eine Jüdin ist.« Rebekkas Erscheinung hätte jeden Vergleich mit Englands stolzesten Schönheiten ausgehalten. Ihre ebenmäßige Gestalt kam in der orientalischen Kleidung vorteilhaft zur Geltung. Ein gelber Turban schmeichelte der dunkel getönten Farbe ihres Gesichtes. Eine mit einer Brillantspange befestigte Straußenfeder umrahmte ihr dichtes schwarzes Haar. »Hier ist ja auch mein ungerechter Mammon, Isaak«, lachte Johann. Er rief: »Mein Zufuhrprinz und seine liebliche Jüdin sollen einen Platz auf der Galerie haben. Was ist sie, Isaak, dein Weib oder deine Tochter, diese orientalische Perle?« »Meine Tochter, Euer Gnaden.« Isaak verbeugte sich tief. Der Prinz brach in schallendes Gelächter aus: »Gleichviel, ob sie deine Tochter oder dein Weib ist, sie soll den Rang einnehmen, der ihrer Schönheit gebührt. Wer sitzt dort oben?« Suchend blickte er über die Galerien. »Diese sächsischen Bauernlümmel, die sich ihrer ganzen Länge nach ausbreiten, sollen zusammenrücken und Platz machen für meinen Wucherfürsten und seine liebliche Tochter!« Er wandte sich Cedrik dem Sachsen zu, der mit seinem Verwandten, Athelstane von Coningsburgh, in einer der vordersten Reihen saß. Athelstane, der wie Rowena von seinen Stammesgenossen als Abkömmling der letzten Sachsenkönige von England verehrt wurde und bei seinen Anhängern in hohem Ansehen stand, war über diese beleidigende Aufforderung so empört, daß er den Prinzen nur erstaunt anstarrte. »Der sächsische Schweinekerl scheint zu schlafen«, fuhr Johann ärgerlich fort. »De Bracy«, rief er einem seiner Begleiter zu, »wecke ihn mit deiner Lanze!« De Bracy wollte dem Befehl nachkommen, aber Cedrik zog blitzschnell sein Schwert und trennte mit einem einzigen Schlag die Lanzenspitze vom Schaft. Der Prinz stieß einen Fluch aus. Seine Begleiter hielten ihn zurück. Finster sah Johann auf die Menge, die in Bewunderung über Cedriks 55
Mut in Beifallsrufe ausgebrochen war. Ein ganz in Grün gekleideter Landmann, der einen silbernen Schild trug und sich auf einen fast zwei Meter langen Bogen stützte, rief besonders lauten Beifall. Johann fragte ihn scharf, warum er so schreie. »Ich schreie immer Hallo, wenn ich einen tapferen Streich ausführen sehe«, erwiderte der Bogenschütze unerschrocken. »Dann kannst du wohl selbst ins Weiße treffen, wie?« »Eines Waidmanns Ziel und auf eines Waidmanns Entfernung kann ich's treffen.« »Wir wollen deine Geschicklichkeit auf die Probe stellen, da du so bereit bist, deine Stimme den Taten anderer zu leihen.« Johann befahl einem seiner Gefolgsleute, den Landmann im Auge zu behalten. »Ich werde nicht vor der Probe fliehen«, sagte der Bogenschütze. »Steht auf, ihr Sachsenlümmel«, rief der Prinz, der sich kaum mehr beherrschen konnte. »Da ich es einmal gesagt habe, soll der Jude in eurer Mitte sitzen!« »Wenn Euer Gnaden nichts dagegen haben, möchte ich das lieber nicht«, wandte Isaak ein, der gar keine Lust verspürte, sich in die Vorrechte der vornehmen Sachsen einzudrängen. »Tu, was ich dir befehle, du ungläubiger Hund!« Johann sah Cedrik fest an, der entschlossen war, auf seinem Recht zu beharren. »Ich will doch sehen, wer es wagt, ihn aufzuhalten!« »Das will ich!« Wamba, der Narr, mischte sich ein. Er trat zwischen seinen Herrn und Isaak, zog ein Stück Schweinebraten unter seinem Mantel hervor und hielt es dem Juden unter die Nase. Isaak fuhr entsetzt zurück, glitt aus und rollte über die Galerie, bis er auf der untersten Stufe liegenblieb. »Der Preis gebührt mir, Vetter Prinz«, rief Wamba übermütig. »Ich habe den Feind in ehrlichem Gefecht besiegt.« Die Umstehenden waren in lautes Gelächter ausgebrochen, Johann stimmte erleichtert ein. Er war beinahe froh, auf diese Weise von seinem ursprünglichen Vorhaben abgebracht worden zu sein. »Macht Platz für den Juden in der unteren Reihe«, befahl er. »Es wäre nicht gerecht, den Besiegten neben den Sieger zu setzen.« 56
»Schelm neben Narr wäre schlimmer«, frohlockte Wamba, »und Jude neben Schinken am allerschlimmsten!« »Du gefällst mir, Kerl«, rief Johann lachend. »Hallo, Isaak, leih mir eine Handvoll Dukaten!« Isaak schrak zusammen und tastete nach seinem Geldbeutel, den er am Gürtel trug. Noch während er zögerte, beugte sich der Prinz von seinem Pferd, entriß ihm den Beutel und warf Wamba einige Goldstücke zu. Unter den begeisterten Hochrufen der Menge stieg der Prinz zu seinem Ehrensitz hinauf. Nachdem er Platz genommen hatte, verlasen die Herolde mit lauter Stimme die Turniergesetze: »Erstens, die fünf Herausforderer sollen mit allen fechten, die den Kampf annehmen. Zweitens, jeder Ritter kann nach Belieben seinen Gegner wählen, indem er seinen Schild berührt. Wenn er dies mit umgekehrter Lanze tut, so soll der Kampf mit Höflichkeitswaffen geführt werden, das heißt, mit Lanzen, an deren Spitze ein kleines rundes Brett befestigt ist. Berührt er aber den Schild mit der Lanzenspitze, so soll der Kampf auf Leben und Tod mit scharfen Waffen ausgetragen werden. Drittens, wenn jeder der fünf Ritter fünf Lanzen gebrochen hat, wird der Prinz den Sieger im Turnier des ersten Tages ernennen. Dieser hat die besondere Ehre, die Königin der Schönheit und Liebe zu erwählen, die am folgenden Tag den Preis verteilen soll. Am zweiten Tag soll ein allgemeines Turnier stattfinden, an dem alle Ritter teilnehmen dürfen, die, in zwei Scharen geteilt, gegeneinander kämpfen sollen, bis Prinz Johann das Zeichen gibt aufzuhören. Den Sieger in diesem Turnier wird die Königin der Schönheit und Liebe krönen.« Die Zuschauer dankten für die Verlesung, indem sie den Herolden Gold- und Silberstücke zuwarfen. In den Schranken blieben nur die Marschälle des Feldes zurück, die, von Kopf bis Fuß gerüstet, an beiden Enden der Arena unbeweglich auf ihren Pferden saßen. Der eingezäunte Raum an der Nordseite der Schranken hatte sich inzwischen mit den Rittern gefüllt, die bereit waren, sich den Herausforderern zu stellen. Durch das Los wurden fünf von ihnen ausge57
wählt. Als die Tore sich öffneten, zogen sie langsam über den Kampfplatz. Vor den Zelten der fünf Herausforderer trennten sie sich, und jeder berührte mit umgekehrter Lanze den Schild des erwählten Gegners. Dann zogen sie sich ans Ende der Schranken zurück und warteten in einer Reihe, bis die Herausforderer ihre Pferde bestiegen hatten. Die Trompeten gaben das Zeichen. Beide Gruppen sprengten aufeinander los. In kurzer Zeit bewiesen die Herausforderer ihre Überlegenheit und Geschicklichkeit. Alle fünf Kämpfer, die sich ihnen gestellt hatten, wurden aus den Sätteln gehoben. Das Geschrei der Zuschauer, die Rufe der Herolde und neuerliche Trompetenstöße verkündeten den Triumph der Sieger, die in ihre Zelte zurückkehrten, während die Unterlegenen beschimpft und niedergeschlagen die Schranken verließen. Zwei weitere Gruppen stellten sich den Siegern, und obwohl sie manchen Erfolg erringen konnten, blieb der Vorteil wieder auf seiten der Herausforderer, von denen bisher kein einziger aus dem Sattel gehoben worden war. Eine Weile schien es, als ob sich kein Ritter mehr in die Schranken wagen würde. Die Zuschauer begannen bereits zu murren, da sie fürchteten, um die Fortsetzung des Schauspiels gebracht zu werden. Hin und wieder ertönten die Rufe der Herolde. »Tretet hervor, tapfere Ritter, schöne Augen sehen auf eure Taten!« Die Trompeten der Sieger bliesen schon zum Triumph ihrer Herren. Endlich antwortete vom Nordende der Schranken her ein einzelner Ruf. Aller Augen wandten sich dem neuen Kämpfer zu. Die Tore wurden weit geöffnet. Ein einzelner Mann ritt in die Arena. Er war mittelgroß und schlank. Seine Rüstung war aus Stahl geschmiedet und reich mit Gold ausgelegt. Auf seinem Schild war das Bild einer entwurzelten Eiche zu sehen. Darunter stand: »Der Enterbte.« Er gab seinem stattlichen schwarzen Roß die Sporen, begrüßte den Prinzen und die Damen, indem er die Lanze senkte, und hielt geradewegs auf das mittlere Zelt der Herausforderer zu. Mit der scharfen Spitze seiner Lanze berührte er den Schild Brian de Bois-Guilberts. 58
Erstaunte und entsetzte Rufe folgten dieser sinnbildlichen Erklärung, daß der Kampf auf Tod und Leben ausgetragen werden sollte. Der Templer, der am meisten erstaunt war, rief dem fremden Ritter zu: »Habt Ihr gebeichtet und heute morgen die Messe gehört, daß Ihr Euer Leben so kühn aufs Spiel setzt?« »Ich bin besser für den Tod gerüstet als du«, erwiderte der Enterbte Ritter, der sich unter diesem Namen ins Turnierbuch hatte eintragen lassen. »Dann reitet in die Schranken und blickt zum letzten Mal auf die Sonne«, rief Bois-Guilbert höhnisch. »Vielen Dank für deine Höflichkeit«, rief der Enterbte Ritter. »Ich rate dir jedoch, ein frisches Pferd zu nehmen und eine neue Lanze – du wirst beides nötig haben!« Ohne seinen Rappen zu wenden, zog er sich zurück und wartete am anderen Ende der Schranken auf seinen Gegner. Obwohl Brian de Bois-Guilbert entrüstet war über die hochmütigen Ratschläge, vertauschte er doch sein Pferd, wählte eine neue feste Lanze und ließ sich von seinem Knappen einen unbeschädigten Schild reichen. Sobald die Trompeter das Zeichen gaben, ritten die beiden Kämpfer zur Mitte des Kampfplatzes, wo sie heftig aufeinanderprallten. Ihre Lanzen zersplitterten bis auf den Griff. Ihre Pferde richteten sich auf den Hinterbeinen auf und konnten gerade noch rechtzeitig zum Stehen gebracht werden. Die Knappen eilten herbei und reichten ihren Herren neue Lanzen. Dem lauten Beifall folgte atemlose Stille, als Prinz Johann neuerlich zum Angriff blasen ließ. Wieder stießen die beiden Gegner aufeinander. Der Templer führte einen so heftigen Stoß gegen den Schild des Enterbten Ritters, daß dieser im Sattel schwankte. Er aber hatte das Visier des Normannen getroffen – die Lanzenspitze verfing sich in den Stangen. Der Templer hielt sich aufrecht, doch die Gurte seines Sattels rissen, und er stürzte mit dem Pferd auf den Rasen. In wenigen Augenblicken machte er sich frei und zog sein Schwert. Der Enterbte Ritter sprang von seinem Roß und wollte sich ihm im 59
Zweikampf stellen. Doch die Marschälle traten zwischen die beiden erbitterten Feinde und geboten Einhalt. »Wir werden uns wiedertreffen«, stieß der Templer voll Haß hervor, »und an einem Ort, wo uns keiner trennen soll!« »Wenn es nicht geschieht, ist es gewiß nicht meine Schuld«, antwortete der Enterbte Ritter. Brian de Bois-Guilbert kehrte in sein Zelt zurück. Der Enterbte Ritter ließ sich einen Becher Wein reichen und rief mit lauter Stimme: »Auf alle wahren englischen Herzen und auf die Vernichtung der fremden Tyrannen!« Er leerte den Becher in einem Zug. Dann befahl er seinem Trompeter, zur Herausforderung der übrigen vier Ritter zu blasen, mit denen er in der Reihenfolge kämpfen wollte, die ihnen beliebte. Der riesenhafte Front-de-Boeuf ritt als erster ins Feld. Beide Ritter zerbrachen ihre Lanzen, aber Front-de-Boeuf verlor beim Zusammenstoß einen Steigbügel und wurde für besiegt erklärt. Auch im dritten Kampf, gegen Sir Philipp de Malvoisin, war der Fremde siegreich. Gegen den vierten Gegner, De Grantmesnil, zeigte sich der Enterbte Ritter überaus höflich. De Grantmesnils Pferd bäumte sich so, daß sein Reiter in seiner Angriffssicherheit behindert war. Der Enterbte Ritter nützte seinen Vorteil nicht aus. Er hob seine Lanze hoch und ritt an seinem Gegner vorbei, ohne ihn zu berühren. De Grantmesnil lehnte die Fortsetzung des Kampfes ab und erklärte sich durch die Höflichkeit seines Gegners ebenso besiegt wie durch seine Geschicklichkeit. Ralph de Vipont jedoch wurde vom Enterbten Ritter mit solcher Wucht zu Boden geschleudert, daß er bewußtlos aus den Schranken getragen werden mußte. Die Zuschauer jubelten, als Prinz Johann und die Preisrichter den Enterbten Ritter einstimmig zum Sieger des Tages erkoren. Als erste beglückwünschten ihn die Marschälle des Feldes. Sie baten ihn, den Helm abzunehmen oder wenigstens sein Visier aufzuschlagen, bevor sie ihn vor den Prinzen führten. Der Enterbte Ritter lehnte ab. Der Prinz wandte sich ungeduldig an sein Gefolge: »Dieser Ritter 60
scheint seiner Höflichkeit ebenso enterbt zu sein wie seiner Güter, da er vor uns erscheinen will, ohne sein Gesicht zu zeigen. Ich wünsche zu wissen, wer er ist!« »Ich kann's nicht erraten«, erwiderte der hochmütige De Bracy. »Ich hätte es keinesfalls für möglich gehalten, daß es in ganz England einen Ritter gibt, der fünf Männer wie unsere Freunde in einem Tage besiegen kann!« »Der Enterbte Ritter wartet noch auf die Antwort, Euer Hoheit«, erinnerte der Marschall den Prinzen. »Es ist unser Belieben«, gab Johann anmaßend zurück, »daß er so lange wartet, bis wir seinen Namen und Stand erraten.« »Euer Hoheit erweisen dem Sieger weniger als die schuldige Ehre«, mischte sich Waldemar Fitzurse ein. »Niemand von uns kann Euch sagen, was er nicht weiß – wir können nur raten. Meiner Meinung nach könnte es einer der Männer sein, die König Richard nach Palästina begleitet haben und jetzt einzeln zurückkehren.« »Vielleicht der Graf von Salisbury«, meinte De Bracy. »Er hat ungefähr die gleiche Größe.« »Es könnte der König sein!« – Unter dem Gefolge entstand Geflüster. Der Prinz vernahm die Worte: »Vielleicht ist es Richard Löwenherz selbst!« Johann erblaßte und fuhr zurück. »Gott verhüte es!« Er wandte sich bittend an seine beiden Vertrauensmänner: »Waldemar, De Bracy, denkt an eure Versprechungen und haltet zu mir!« »Seid Ihr so wenig vertraut mit der Gestalt Eures Bruders?« fragte Fitzurse ruhig. »Niemals würden seine riesenhaften Glieder in diese Rüstung passen!« Er wandte sich den Marschällen zu und befahl: »Führt den Sieger sofort hierher!« Zu Johann gewandt, fuhr er fort: »Seht ihn nur genauer an. Es fehlen ihm mindestens drei Zoll zu Richards Größe!« Es war offenkundig, daß Fitzurse sich nicht geirrt hatte. Dennoch zitterte Johann, als er in einer kurzen und verlegenen Rede die Tapferkeit des Siegers lobte. Er fürchtete, daß ihm der Enterbte Ritter mit der tiefen vollen Stimme seines Bruders antworten könnte. Aber der 61
Enterbte Ritter sprach kein Wort. Er verbeugte sich tief, schwang sich auf das prächtige Roß, das ihm von zwei Reitknechten als Preis zugeführt wurde, kehrte in die Arena zurück, durchmaß sie und dankte den Hochrufen der Menge. Als er wieder am Ehrensitz Johanns vorbeikam, gab ihm der Prinz das Zeichen, anzuhalten und die Lanze zu senken. »Herr Enterbter Ritter«, begann Johann, »es ist Eure Pflicht, die Dame zu erwählen, die am morgigen Tag als Königin der Schönheit und Liebe regieren soll. Erhebt Eure Lanze!« Er befestigte an der Spitze der Lanze eine kleine Krone aus grünem Atlas und Gold. Der Enterbte Ritter ritt langsam die Schranken entlang bis zur Galerie, auf der Lady Rowena saß. Dann senkte er die Spitze seiner Lanze und legte die Krone zu Füßen Rowenas nieder. In diesem Augenblick ertönten die Trompeten. Die Herolde riefen die vom Enterbten Ritter Erwählte als Königin der Liebe und Schönheit für den nächsten Tag aus. »Lang lebe Lady Rowena!« Die begeisterten Rufe der Sachsen ertränkten die unzufriedenen Bemerkungen der normannischen Zuschauer. Prinz Johann war wider Willen genötigt, die Wahl des Siegers zu bestätigen. Er ließ sein Pferd vorführen und ritt so hastig, daß seine Begleiter ihm kaum folgen konnten, an die Seite des Enterbten Ritters. Er verbeugte sich vor Lady Rowena: »Schöne Dame«, begann er, entsprechend den Regeln des Turniers, »empfangt das Zeichen Eurer Herrschaft, der niemand aufrichtiger huldigt als ich selbst, Johann von Anjou. Wenn Ihr heute geruht, mit Eurem Vormund und Euren Freunden an unserem Bankett im Schloß zu Ashby teilzunehmen, so werden wir uns freuen, die Herrscherin näher kennenzulernen, deren Dienst der morgige Tag geweiht ist.« Cedrik antwortete für sein Mündel auf sächsisch: »Lady Rowena beherrscht nicht die Sprache, in der sie Eure Höflichkeit erwidern könnte. Auch ich und der edle Athelstane von Coningsburgh sprechen nur die Sprache unserer Väter. Wir lehnen deshalb Eure höfliche Einladung zu dem Bankett ab. Morgen aber wird Lady Rowena die Wür62
de übernehmen, zu der sie die Wahl des siegreichen Ritters erkoren hat und die durch den Zuruf des Volkes bestätigt worden ist.« Er hob die grüne Atlaskrone auf und setzte sie Rowena auf die Stirn, zum Zeichen, daß sie ihre Herrschaft annehme. »Was sagt er?« Der Prinz stellte sich an, als verstünde er die sächsische Sprache nicht. Er ließ sich die Antwort Cedriks in französischer Sprache wiederholen. Dann sagte er: »Es ist gut so. Wir werden morgen diese stumme Herrscherin zum Sitz ihrer Würde geleiten. Ihr aber, Herr Ritter«, er wandte sich dem Sieger zu: »Ihr werdet doch an unserem Bankett teilnehmen?« Der Enterbte Ritter entschuldigte sich. Leise und undeutlich sprechend, erklärte er, zu müde zu sein. »Es ist gut so«, wiederholte der Prinz, obwohl er mit Mühe seinen zunehmenden Ärger unterdrückte. »Wir sind nicht an solche Ablehnungen gewöhnt, aber wir werden versuchen, das Fest fröhlich zu feiern, auch wenn der glückliche Sieger und seine erkorene Königin nicht anwesend sind.« Er galoppierte mit seinem Gefolge aus den Schranken. Der Enterbte Ritter zog sich in das Zelt zurück, das ihm vom Marschall des Feldes zugewiesen worden war. Dort wartete sein Knappe auf ihn, ein bäurisch plumper Mann, in einem dunklen Mantel und einer riesigen schwarzen Pelzmütze. Er schien ebenso unbekannt bleiben zu wollen wie sein Herr. Er nahm ihm die unbequeme Rüstung ab und brachte das Abendessen. Der Ritter hatte gerade sein Mahl beendet, als die Knappen der fünf besiegten Kämpfer ihn zu sprechen begehrten. Es war inzwischen so dunkel geworden, daß der Enterbte Ritter ihnen entgegengehen konnte, ohne befürchten zu müssen, daß sie ihn erkannten. Er trat vor das Zelt und begrüßte sie. Jeder von ihnen führte das Pferd seines Herrn am Zügel, beladen mit der Rüstung, die der Besiegte während des Kampfes getragen hatte. »Gemäß der Vorschriften der Ritterschaft«, begann der erste Knappe, »biete ich, Baldwin de Oyley, Knappe des Ritters Brian de Bois63
Guilbert, Euch, dem Enterbten Ritter, das Roß und die Rüstung an, die mein Herr heute getragen hat. Es bleibt Euch überlassen, sie zu behalten oder ein Lösegeld dafür zu bestimmen.« Die anderen Knappen wiederholten beinahe die gleichen Worte im Namen ihrer Herren. Der Enterbte Ritter wandte sich zuerst an diejenigen, die zuletzt gesprochen hatten: »Empfehlt mich euren Herren und sagt ihnen, daß ich sie ihrer Pferde und Rüstungen nicht berauben will, aber da ich wirklich ein Enterbter bin, muß ich ihr Anerbieten annehmen und sie bitten, die Rosse und Rüstungen auszulösen.« »Wir haben den Auftrag, Euch ein jeder hundert Zechinen dafür anzubieten«, sagte der Wortführer. »Die Hälfte dieser Summe genügt mir. Von dem Rest verteilt eine Hälfte unter euch, die andere unter die Herolde, Musikanten und Diener.« Seine Züge wurden hart, als er zu Baldwin, dem Knappen BoisGuilberts, sprach: »Von deinem Herrn nehme ich weder Waffen noch Lösegeld an. Sage ihm in meinem Auftrag, daß unser Kampf noch nicht beendet ist. Sollte er es ablehnen, Pferd und Rüstung zurückzunehmen, so behalte du sie für dich.« Die Knappen dankten mit tiefen Verbeugungen für die Großmut und wandten die Pferde. Der Enterbte Ritter kehrte in sein Zelt zurück. »Ich glaube, der Ruf der englischen Ritterschaft hat durch mich nicht gelitten, Gurth«, sagte er zufrieden. Der Diener schob seine Pelzmütze aus der Stirn. Das vergnügte Gesicht des Schweinehirten glänzte: »Auch ich meine, Herr, daß ich die Rolle eines normannischen Schildknappen recht gut gespielt habe.« »Ich will die Gefahr, die du aus Liebe zu mir auf dich genommen hast, vergelten.« Der Enterbte Ritter reichte Gurth zehn Goldstücke. Der Schweinehirt steckte sie bedächtig in seine Tasche: »Nun bin ich reicher, als je ein Leibeigener war.« »Du hast noch einen Auftrag zu erfüllen.« Der Ritter übergab Gurth einen Geldbeutel: »Geh gleich nach Ashby und suche Isaak, den Juden von York. Gib ihm das! Er soll sich selbst von diesem Geld bezahlen für das Pferd und die Waffen, die ich durch ihn bekommen habe.« 64
»Beim heiligen Dunstan, das will ich nicht tun!« rief Gurth. »Das wäre ja närrisch und dazu unchristlich, denn es würde bedeuten, daß ein Gläubiger zugunsten eines Ungläubigen geplündert wird!« »Sieh zu, wie du mit ihm fertig wirst, du eigensinniger Bursche!« Isaak, der Jude von York, seine Tochter und ihre Dienerschaft waren etwas außerhalb von Ashby im Landhaus eines reichen Glaubensgenossen untergebracht. Rebekka saß auf einem kostbaren Kissen in einem kleinen Gemach und beschwichtigte ihren Vater, der die Hände rang und rastlos auf und ab ging. »O Jakob«, rief er, »was für ein Unglück für einen, der das Gesetz getreulich befolgt hat! Das stattliche Roß und die gute Rüstung! Das ist ein Verlust, der mehr als den Verdienst einer ganzen Woche verschlingt!« »Du wirst es sicher nicht bereuen, die Wohltat des fremden Ritters vergolten zu haben.« »Hat je ein Christ einem Juden seine Schuld bezahlt, es sei denn vor dem Richter?« Ein Diener stellte zwei Silberlampen, die mit wohlriechendem Öl gefüllt waren, auf einen eingelegten Ebenholztisch. Ein anderer Diener brachte mehrere Flaschen mit erlesenen Weinen und meldete, daß ein Nazarener, wie die Juden die Christen nannten, Isaak von York zu sprechen wünsche. »Laß deinen Schleier herunter«, rief Isaak seiner Tochter hastig zu und befahl, den Fremden einzulassen. Gurth trat ein. »Bist du Isaak von York?« fragte er auf sächsisch. »Der bin ich«, erwiderte der Jude. »Und wer bist du?« »Das geht dich nichts an!« »Wie kann ich mit dir ein Geschäft machen, wenn ich deinen Namen nicht kenne?« »Ich soll Geld zahlen und muß mich daher vergewissern, ob es in die rechten Hände kommt.« Er höhnte: »Du wirst dich nicht kümmern, wer es dir zahlt!« »Von wem bringst du das Geld?« 65
»Vom Enterbten Ritter, dem Sieger im Turnier«, erwiderte Gurth kurz angebunden. »Das Roß steht schon in deinem Stall. Wieviel habe ich für die Rüstung zu zahlen?« Isaak füllte einen Becher und reichte ihn dem Schweinehirten: »Ein guter Trunk wird dir nicht schaden! Wieviel Geld hast du mitgebracht?« fragte er. »Heilige Jungfrau!« rief Gurth. »Welchen Nektar trinken diese Ungläubigen, und wahre Christen müssen sich mit dickem, trübem Bier zufriedengeben!« Er stellte den Becher auf den Tisch. »Wieviel Geld ich mitgebracht habe? Nur eine kleine Summe, eine Anzahlung.« »Dein Herr hat doch stattliche Rosse gewonnen und kostbare Rüstungen – ich will sie an Zahlungsstatt nehmen und ihm den Überschuß des Wertes bezahlen.« »Mein Herr hat bereits über die Ritterbeute verfügt.« »Das war gehandelt wie ein Narr!« Isaak fuhr auf. Er wies auf den Geldbeutel, den Gurth an seinen Gürtel geschnallt hatte: »Du hast gewiß hundert Zechinen bei dir. Das ist ein voller Beutel!« »Ich habe Spitzen für Armbrustpfeile darin«, erwiderte Gurth ohne Zögern. »Gut.« Isaak hatte das Verlangen, sich freigebig zu zeigen. Er fragte: »Wenn ich achtzig Zechinen verlange – hast du genug, sie zu zahlen?« »Es wird gerade reichen«, sagte Gurth. Er unterdrückte ein listiges Lächeln. Die Summe war niedriger, als er erwartet hatte. »Schenke dir noch einen Becher Wein ein«, munterte Isaak ihn auf. »Achtzig Zechinen, das ist wenig. Ich werde nichts daran verdienen.« Er überlegte rasch: »Vielleicht hat das Roß gelitten.« »Es steht in deinem Stall, du kannst es ja untersuchen, das Roß ist unbeschädigt. Deshalb sage ich, siebzig Zechinen sind mehr als genug für die Rüstung. Wenn du nicht siebzig Zechinen annimmst, öffne ich den Beutel nicht.« »Nein, nein!« rief Isaak. »Siebzig Zechinen sind nicht genug. Gib mir achtzig.« Gurth zuckte die Achseln und zählte die genannte Summe auf den Tisch. Isaak reichte ihm die Quittung über das Roß und die Rüstung 66
und strich mit zitternden Händen die Goldstücke ein, während er halblaut mitzählte. »Achtzig macht die Summe voll«, sagte er, als er fertig war. »Ich hoffe, dein Herr wird dich belohnen. Gewiß hast du noch mehr Geld in deinem Beutel?« »Gerade so viel, als du soeben eingesteckt hast«, erwiderte Gurth mit schadenfrohem Grinsen. Er faltete die Quittung sorgfältig, steckte sie unter seine hohe Pelzmütze, schenkte sich unaufgefordert noch einen dritten Becher Wein ein, leerte ihn in einem Zug und verließ den Raum. »Rebekka, er hat mich hinters Licht geführt«, sagte der Jude. Er wandte sich nach seiner Tochter um. Aber sie saß nicht mehr auf dem reich bestickten Kissen. Gurth tappte im Dunkeln die Treppe hinunter. Er suchte nach dem Ausgang. Plötzlich fiel ihm Lichtschein ins Gesicht. Eine Frauenstimme befahl ihm, ihr zu folgen. Widerstrebend ging er hinter ihr her. Als sie in ein kleines Zimmer traten, erkannte er zu seiner Erleichterung, daß es die Tochter des Juden war. »Mein Vater hat nur gescherzt«, erklärte Rebekka. »Er schuldet deinem Herrn mehr, als diese Waffen und Pferde wert sind. Wieviel hast du ihm bezahlt?« »Achtzig Zechinen«, erwiderte Gurth. »In dieser Börse wirst du hundert finden«, sagte Rebekka. »Gib deinem Herrn sein Eigentum zurück und behalte den Rest.« Sie schlug leicht in die Hände und befahl einem herbeieilenden Diener: »Leuchte dem Fremden hinaus und verschließe das Tor hinter ihm!«
Schon bei Sonnenaufgang fanden sich die Zuschauer wieder auf dem Turnierplatz ein, um günstige Sitze zu finden. Die Marschälle und Herolde nahmen die Namen der Ritter auf, die sich am Kampf beteiligen würden. Die gegnerischen Gruppen sollten, den Vorschriften gemäß, vom 67
Enterbten Ritter und von Brian de Bois-Guilbert, als dem Zweitbesten im Turnier des vergangenen Tages, angeführt werden. Athelstane von Coningsburgh hatte sich zur Verwunderung seiner Freunde der Partei des Tempelritters zuteilen lassen. Die Gründe dafür behielt der sächsische Erbe wohlweislich für sich. Er mißbilligte es, daß ein anderer Lady Rowena die Ehre erwiesen hatte, die zu verleihen er als sein Recht ansah, und war entschlossen, nicht nur dem Fremden Ritter seine Unterstützung zu entziehen, sondern sogar gegen ihn zu kämpfen. Prinz Johann ritt Rowena ehrerbietig entgegen, stieg ab und half ihr aus dem Sattel. Unter den fröhlichen Zurufen der Menge geleitete er die erwählte Königin der Schönheit und Liebe zu ihrem Ehrensitz. Die beiden feindlichen Gruppen der Kämpfer hatten außerhalb der Arena Aufstellung genommen und warteten geduldig auf die Verlesung der Turniergesetze. Die Herolde verkündeten die üblichen Vorschriften laut: Es wurde den Kämpfern verboten, die Schwerter zum Stoß zu gebrauchen. Ein Ritter, der aus dem Sattel gehoben worden war, konnte den Kampf zu Fuß fortsetzen, aber nur mit einem Gegner, der ebenfalls abgestiegen oder abgeworfen worden war. Berittene Gegner durften ihn nicht angreifen. Der Kampf sollte unverzüglich enden, wenn Prinz Johann seinen Stab auf den Turnierplatz warf. Die Herolde schlossen mit der Ermahnung, daß jeder gute Ritter seine Pflicht tun sollte, um die Gunst der Königin der Schönheit und Liebe zu gewinnen. Nun zogen die Kämpfer an beiden Enden der Schranken ein und ordneten sich in doppelten Reihen, einander genau gegenüber. Der Anführer jeder Partei hielt sich jeweils in der Mitte der vorderen Reihe. Die Ritter hielten ihre Lanzen gerade in die Höhe, so daß sie in der Sonne funkelten und die Fähnchen, die die glänzenden Spitzen schmückten, über ihren Helmbüschen flatterten. Die Rosse wieherten und stampften vor Ungeduld, während die Marschälle die Reihen abschritten, um festzustellen, ob die angegebene Zahl eingehalten worden war. Sie zogen sich zurück, als die Trompeten erklangen. Die Lanzen 68
senkten sich gleichzeitig. Die Reiter in den beiden vorderen Reihen gaben ihren Rossen die Sporen und sprengten in vollem Galopp gegeneinander. Der Staub wirbelte auf. Auf jeder Seite wurde ungefähr die Hälfte der Ritter aus dem Sattel gehoben. Die Gefallenen waren teilweise zu schwer verwundet, als daß sie hätten weiterkämpfen können. Die anderen erhoben sich und setzten den Kampf zu Fuß fort. Auch die sattelfesten Ritter hatten fast alle ihre Lanzen zersplittert. Sie griffen zu den Schwertern. Die einen riefen: »Beauseant! Für den Tempel!« Die anderen: »Für den Enterbten!« Die rückwärtigen Reihen stürzten sich ins Gefecht. Das Geklirr der Waffen wurde vom Schmettern der Trompeten übertönt. Bald waren die glänzenden Rüstungen mit Staub und Blut bedeckt. Bunte Helmbüsche fielen auf den Rasen. Die aus dem Sattel Gehobenen rafften sich mühsam auf. Der Kampf wogte hin und her. Bald war die eine Partei im Vorteil, bald die andere. Erregte Zurufe der Herolde munterten die Kämpfer auf beiden Seiten auf, sobald eine Pause eintrat: »Kämpft weiter, tapfere Männer! Der Tod ist besser als die Niederlage!« Den beiden erbitterten Feinden, dem Enterbten Ritter und dem Templer, war es bisher nicht gelungen, aufeinanderzutreffen. Immer wieder wurden sie durch ihre Begleiter voneinander getrennt, von denen jeder seinen Ehrgeiz darein setzte, sich mit dem gegnerischen Anführer zu messen. Als Front-de-Boeuf und Athelstane sich ihrer unmittelbaren Gegner entledigt hatten, kamen sie Bois-Guilbert zu Hilfe. Sie sprengten von beiden Seiten auf den Enterbten Ritter los. »Hütet Euch, Enterbter Ritter! Hütet Euch!« warnten die Zuschauer. Er wandte den Kopf und führte einen gewaltigen Hieb gegen den Templer. Beinahe im gleichen Augenblick riß er sein Pferd herum, um dem vereinten Angriff Athelstanes und Front-de-Boeufs auszuweichen, die fast aufeinandergestoßen wären. Rasch hatten sie ihre Tiere wieder in der Gewalt, warfen sie herum und verfolgten gemeinsam mit Bois-Guilbert den Enterbten Ritter. Es gelang ihm, seine Feinde für kurze Zeit abzuwehren, indem er sie 69
möglichst weit auseinanderdrängte und, bald gegen den einen, bald gegen den anderen losjagend, schnelle Hiebe austeilte und sich den ihren geschickt entzog. Die Schranken hallten wider von den Beifallsrufen der Menge, aber es konnte nicht lange dauern, bis er der Übermacht erliegen würde. Unter den Männern, die sich dem Enterbten Ritter angeschlossen hatten, hatte sich ein Ritter in schwarzer Rüstung bisher kaum am Gefecht beteiligt, was ihm bei den Zuschauern den Spitznamen ›Schwarzer Faulenzer‹ eingetragen hatte. Sie nahmen es ihm übel, daß er mit Leichtigkeit alle, die ihn herausgefordert hatten, zurückgeschlagen hatte, aber selbst nicht angriff. Doch als er wahrnahm, daß der Anführer seiner Partei in Gefahr war, schien er seine Gleichgültigkeit abzulegen. Er gab seinem Pferd die Sporen und kam dem Bedrängten zu Hilfe. Während der Enterbte Ritter sich Bois-Guilberts erwehrte, war Front-de-Boeuf ihm nahe gekommen und schwang sein Schwert. Bevor er zuschlagen konnte, sauste die Klinge des Schwarzen Ritters mit voller Wucht auf ihn nieder. Der Schlag glitt vom Helm des normannischen Barons ab, traf aber mit unverminderter Gewalt das Stirnband des Pferdes. Das Tier stürzte und riß Front-de-Boeuf mit sich. Unverzüglich wandte sich der Schwarze Ritter, dessen Schwert zerbrochen war, gegen Athelstane von Coningsburgh, entrang dem Sachsen die Streitaxt und versetzte ihm damit einen so gewaltigen Schlag auf den Helm, daß Athelstane bewußtlos aus dem Sattel fiel. Der Schwarze Ritter wandte sein Pferd und ritt gelassen zum Nordende der Schranken zurück. Er überließ es seinem Anführer, den Kampf mit Bois-Guilbert allein auszutragen. Das Pferd des Templers war durch Blutverlust geschwächt. Es wankte unter dem Ansturm des Enterbten Ritters. Brian de Bois-Guilbert verfing sich im Steigbügel und rollte zu Boden. Sein Gegner sprang vom Pferd, schwang seine Waffe über dem Kopf des Templers und befahl ihm, sich zu ergeben. In diesem Augenblick warf Prinz Johann, der durch die gefährliche Lage des Templers beunruhigt war, seinen Stab in die Arena und ersparte ihm so die Demütigung, sich als besiegt erklären zu müssen. 70
Die Knappen eilten in die Schranken, um die verwundeten Herren in ihre Zelte zu tragen. Obwohl seine Begleiter darauf hinwiesen, daß der Enterbte Ritter zum Sieger des Tages erklärt werden müsse, entschied Prinz Johann sich für den, der von den Zuschauern als ›Schwarzer Faulenzer‹ bezeichnet worden war. Aber der so Geehrte konnte nicht gefunden werden. Nachdem er zweimal vergeblich durch Trompeten und Heroldsrufe aufgefordert worden war zu erscheinen, konnte sich der Prinz nicht länger weigern, die Ehre des Tages dem Enterbten Ritter zuzuerkennen. Über das mit zerschlagenen Rüstungen und gefallenen Pferden bedeckte Feld führten die Marschälle den Sieger vor den Thron des Prinzen. »Enterbter Ritter«, begann Johann, »ich nenne Euch so, da Ihr nun einmal darauf beharrt, Euch mit diesem Namen zu bezeichnen. Wir verleihen Euch zum zweiten Male die Ehre des Turniers. Ihr habt somit das Recht, die Krone, die Ihr durch Eure Tapferkeit verdient habt, aus den Händen der Königin der Schönheit und Liebe zu empfangen.« Ohne ein Wort der Erwiderung verneigte sich der Ritter und ließ sich von den Marschällen vor den Ehrensitz Lady Rowenas führen. Auf der untersten Stufe des erhöhten Sitzes mußte er niederknien. »Sein Haupt muß entblößt sein!« riefen die Marschälle und nahmen ihm den Helm ab, ohne auf seinen Widerspruch zu achten. Rowena stieß einen Schrei aus, als sie sein Gesicht sah. Sie zitterte am ganzen Körper, doch sie faßte sich sogleich und setzte Ivanhoe die Krone auf das kurze blonde Haar. Sie sagte mit klarer, deutlicher Stimme: »Ich reiche dir diesen Kranz als Preis der Tapferkeit, der für den Helden dieses Tages bestimmt ist.« Sie hielt einen Augenblick inne und fügte bewegt hinzu: »Für einen Würdigeren hätte diese Auszeichnung nicht bestimmt werden können.« Der Ritter neigte den Kopf und küßte ihre Hand. Dann verließen ihn die Kräfte. Er sank vornüber, bis er hingestreckt zu ihren Füßen lag. Cedrik war durch das Erscheinen seines Sohnes wie betäubt. Er 71
stürzte vor, um ihn von Rowena zu trennen. Aber die Marschälle des Feldes waren ihm bereits zuvorgekommen und hatten dem Ohnmächtigen die Rüstung abgenommen. Der Sachse brachte es nicht über sich, in Gegenwart der Versammelten den Sohn, den er verleugnet und verbannt hatte, anzuerkennen. Doch er wies seinen Haushofmeister an, Ivanhoe nach Ashby bringen zu lassen, sobald sich die Zuschauer zerstreut hätten. Als der Haushofmeister dem Befehl Cedriks nachkommen wollte, war sein junger Herr verschwunden. Er stieß auf Gurth, der über den Unfall seines Herrn alle Vorsicht vergessen hatte. Der Haushofmeister bestand darauf, den entlaufenen Schweinehirten zu Cedrik zurückzuführen, der über sein Schicksal entscheiden sollte.
Der Name Ivanhoes ging von Mund zu Mund und drang auch bis zum Kreis der Herren, die den Prinzen umgaben. »Mylords«, sagte Johann mit gespielter Gleichgültigkeit, »ich glaube, ich habe die Anwesenheit des Lieblings meines Bruders bereits gefühlt, als ich noch keine Ahnung hatte, wer sich in der Rüstung verbarg.« De Bracy fragte vorsichtig: »Muß Front-de-Boeuf sich darauf gefaßt machen, Ivanhoe sein Lehen zurückzugeben?« »Front-de-Boeuf steckt lieber drei Güter wie das Ivanhoes ein, als daß er eines herausgibt«, erwiderte der Prinz. »Außerdem kann niemand mir das Recht abstreiten, meinen treuen Anhängern Kronlehen zu verleihen, anstatt sie denjenigen zurückzugeben, die in fremde Länder gewandert sind und ihre Lehenspflicht nicht leisten können, wenn man ihrer bedarf.« Die anwesenden Ritter stimmten zu, da keiner unter ihnen war, der nicht auf Kosten der Anhänger König Richards ähnliche Schenkungen entweder bereits erhalten hatte oder doch erwartete. Waldemar Fitzurse schloß sich dem Gefolge des Prinzen an. Er brachte Nachrichten: »Ich glaube, Ivanhoe wird Front-de-Boeuf im ruhigen Besitz seiner Beute lassen müssen – er ist schwer verwundet.« 72
Der Prinz blickte sich um. Er warb um die Zustimmung seiner Freunde. Er wollte sich als wahrhafter Ritter zeigen. Er reckte sich und sagte: »Was immer auch mit ihm geschehen möge, er ist der Sieger des Tages. Und wäre er zehnmal unser Feind oder der ergebene Freund unseres Bruders, unser eigener Arzt soll nach seinen Wunden sehen.« Waldemar Fitzurse erwiderte hastig, Ivanhoe befinde sich in der Obhut seiner Freunde. Er spottete: »Ich war doch sehr ergriffen, als ich den Kummer der Königin der Schönheit und Liebe bemerkte.« »Wer ist diese Lady Rowena?« fragte Johann. »Eine wohlbegüterte sächsische Erbin.« Abt Aymer mischte sich ins Gespräch: »Eine Rose an Lieblichkeit, ein Juwel an Reichtum!« »Wir wollen sie trösten und aufheitern«, lachte der Prinz. »Wir wollen ihr Blut durch Vermählung mit einem Normannen veredeln. Da sie minderjährig zu sein scheint, steht es uns zu, den Richtigen für sie zu finden.« Er lächelte De Bracy zu: »Würde es dir nicht gefallen, stattliche Ländereien und Einkünfte durch Heirat mit einer Sächsin zu gewinnen?« De Bracy verbeugte sich tief: »Wenn die Ländereien mir zusagen, Mylord, wird mir die Braut nicht mißfallen.« »Wir werden es nicht vergessen«, erklärte Johann huldvoll. »Fürs erste soll unser Seneschall die Lady Rowena und ihre Gesellschaft, das heißt den groben Lümmel, ihren Vormund, und den sächsischen Ochsen, den der Schwarze Ritter im Turnier besiegt hat, zum heutigen Bankett einladen.« Als er das Zeichen zum Aufbruch gab, wurde ihm ein Billett überreicht. Er nahm es hastig an sich und sah sich nach dem Boten um. »Ein Franzose hat es gebracht«, wurde ihm gemeldet. »Er sagt, er sei Tag und Nacht geritten, um es Euch zu bringen.« Der Prinz betrachtete das Siegel, auf dem drei Lilien eingeprägt waren, öffnete das Billett und las: »Nehmt Euch in acht, der Teufel ist entfesselt!« Johann wurde so blaß, als ob er die Nachricht von seinem Todesurteil empfangen hätte. Sobald er sich vom ersten Schrecken erholt hatte, 73
nahm er Fitzurse und De Bracy beiseite. Er wies auf das Billett: »Das bedeutet, daß mein Bruder Richard auf freiem Fuß ist«, sagte er leise. »Es kann ein gefälschter Brief sein«, erwiderte De Bracy beruhigend. »Es ist die Handschrift und das Siegel des Königs von Frankreich.« Nur Fitzurse bewahrte seine überlegene Ruhe: »Es ist an der Zeit, unsere Partei zu versammeln – entweder in York oder in einer anderen Stadt. In ein paar Tagen kann es schon zu spät sein. Eure Hoheit müssen das Fest beenden.« »Die Landleute und die Gemeinden dürfen nicht enttäuscht werden«, gab De Bracy zu bedenken. »Sie müssen auch ihren Anteil an den Spielen haben.« »Es wäre besser, das Bogenschießen noch heute abzuhalten«, meinte Fitzurse. Der Prinz erklärte sich damit einverstanden. Aber er beharrte eigensinnig darauf, daß das Bankett trotzdem stattfinden sollte. »Und wenn es die letzte Stunde meiner Macht wäre«, sprach er, »soll sie der Rache und dem Vergnügen gewidmet sein!«
Die Trompeter riefen die Zuschauer zurück, die sich bereits anschickten, den Turnierplatz zu verlassen. Sie verkündeten, daß wichtige Pflichten Prinz Johann abhielten, das Fest am nächsten Tag fortzusetzen. Er habe deshalb beschlossen, das Bogenschießen noch am selben Tag abzuhalten. Der Preis sei ein mit Silber eingefaßtes Jagdhorn und ein seidenes Wehrgehänge. Nur acht Bewerber traten zu diesem Teil des Wettkampfes an. Die anderen hatten sich zurückgezogen, weil sie die fast gewisse Niederlage vermeiden wollten. Prinz Johann verließ seinen Ehrenplatz, um die Ausgewählten zu begrüßen. Mehrere trugen die königliche Livree. Er sah sich nach dem Landmann um, der ihm am Tag vorher so trotzig die Stirn geboten hatte, als er selbst Cedrik, den Sachsen, aufgefordert hatte, dem Juden Isaak Platz zu machen. 74
Der Bogenschütze stand an derselben Stelle wie am Tag zuvor. Der Prinz sprach ihn an: »Ich sehe, du wagst es nicht, deine Geschicklichkeit auf die Probe zu stellen.« »Ich weiß nicht«, erwiderte der Landmann unerschrocken, »ob diese Leute und ich gewohnt sind, nach demselben Ziel zu schießen. Ich bin überdies nicht gewiß, wie es Euer Gnaden aufnehmen würde, wenn jemand, der sich Euer Mißfallen zugezogen hat, den Preis gewinnen sollte.« Der Prinz unterdrückte seinen Unwillen. »Wie heißt du?« fragte er kurz. »Locksley.« »Locksley, du sollst schießen, wenn die Reihe an dich kommt. Gewinnst du den Preis, so will ich noch zwanzig Goldmünzen hinzufügen. Verlierst du ihn aber, dann sollst du als unverschämter Prahler aus den Schranken gejagt werden.« »Obwohl Ihr mich zwingt, es bei Strafe der Entehrung mit den besten Schützen von Leicester und Staffordshire aufzunehmen, wenn sie besser schießen als ich, will ich mich Eurem ungerechten Verlangen fügen.« »Achtet auf ihn«, befahl der Prinz seinen Gefolgsleuten. »Er verliert den Mut und will sich dem Wettkampf entziehen. Das Spiel kann beginnen«, verkündete er den anderen Bewerbern. »Schießt nur kühn einer nach dem andern! Ihr erhaltet einen Rehbock und eine Butte Wein zur Erfrischung.« Eine Schießscheibe war am oberen Ende der Allee, die zu den Schranken führte, errichtet worden. Die Schützen stellten sich an die Plätze, die durch das Los bestimmt worden waren. Einer nach dem anderen schoß seinen Pfeil ab. Von vierundzwanzig Schüssen staken zehn in der Scheibe. Nur zwei Pfeile hatten den inneren Ring getroffen. Beide waren von Hubert, einem Förster Philipp Malvoisins, abgeschossen worden. Er wurde zum Sieger erklärt. Mit höhnischem Gesicht fragte der Prinz Locksley: »Willst du es mit Hubert aufnehmen, oder ziehst du es vor, Bogen, Wehrgehänge und Köcher dem Profos auszuliefern?« 75
»Ich versuche mein Glück«, gab Locksley ruhig zurück. Der Prinz munterte Hubert auf: »Wenn du diesen Prahlhans besiegst, will ich dir das Jagdhorn mit Silberpfennigen füllen.« »Ein Mann kann nur tun, was in seinen Kräften steht«, erwiderte der Förster. Eine neue Schießscheibe wurde befestigt. Hubert, der als der Sieger des ersten Wettbewerbes das Recht auf den ersten Schuß hatte, zielte mit Überlegung. Er maß die Entfernung lange mit den Blicken, während er den gespannten Bogen mit dem Pfeil an der Sehne in der Hand hielt. Dann trat er einen Schritt vor, hob den Bogen, so daß die Mitte beinahe in gleicher Höhe mit seinem Kopf war, und zog die Sehne bis an sein Ohr. Der Pfeil pfiff durch die Luft und traf den inneren Kreis der Scheibe, doch nicht den Mittelpunkt. Locksley trat an seine Stelle. Ohne sich lange mit Zielen aufzuhalten, schoß er. Sein Pfeil traf zwei Zoll näher am weißen Fleck des Mittelpunktes als Huberts Pfeil. Der Prinz schrie den Förster an: »Wenn du duldest, daß dieser Vagabund dich besiegt, hast du den Galgen verdient!« »Ein Mann kann nur tun, was in seinen Kräften steht …«, seufzte Hubert. »Schieß, Schurke«, befahl Johann, »und schieß gut, oder es soll dir schlimm ergehen!« Hubert stellte sich wieder auf seinen Platz. Er schoß so glücklich, daß der Pfeil im Mittelpunkt der Scheibe festsaß. »Hubert hoch! Hubert hoch!« jubelten die Zuschauer. »Mitten ins Weiße!« »Diesen Schuß kannst du nicht übertreffen, Locksley«, sagte der Prinz. »So will ich ihm doch den Schaft kerben«, gab der Landmann gelassen zurück. Ein wenig aufmerksamer als das erste Mal spannte er den Bogen. Sein Pfeil zersplitterte den Huberts so, daß die Stücke flogen. Lauter Beifallsjubel brach aus, und sogar Prinz Johann vergaß seinen Widerwillen gegen Locksley. 76
»Du hast die zwanzig Goldmünzen verdient«, sagte er. »Wir wollen noch dreißig dazulegen, wenn du in unsere Leibgarde eintreten willst.« »Verzeiht, edler Prinz«, erwiderte Locksley, »aber ich habe gelobt, daß ich, wenn ich jemals Dienste nehme, es nur bei Eurem königlichen Bruder Richard tun werde. Die zwanzig Goldmünzen überlasse ich Hubert, der einen guten Bogen gespannt hat. Hätte er sich nicht aus Bescheidenheit zurückgehalten, so würde er ebenso gut getroffen haben wie ich.« Hubert nahm das Geschenk widerstrebend an. Locksley aber benützte die Verwirrung und mischte sich unter das Volk.
Für das feierliche Bankett in Ashby, das mit königlichem Aufwand vorbereitet worden war, hatten Cedrik von Rotherwood und Athelstane von Coningsburgh ihre altsächsische Tracht angelegt, die im Schnitt und Aussehen so verschieden war von der Kleidung der anderen Gäste, daß die normannischen Herren nur mit Mühe ein Lachen unterdrücken konnten. Aber der Prinz empfing die sächsischen Adeligen mit ausgesuchter Höflichkeit und drückte sein Bedauern aus, daß Lady Rowena sich nicht wohl fühle und nicht am Bankett teilnehmen könne. Die Tafel bog sich unter den Schüsseln mit köstlichen Speisen, ausländischen Leckerbissen, üppigen Pasteten und feinsten Kuchen. Das Mahl war vorzüglich. Aber mit kaum verhohlenem Spott verfolgten die normannischen Edelleute das ungeschickte Benehmen Cedriks und Athelstanes, die, ohne es zu wissen, gegen die gesellschaftlichen Regeln verstießen, die die Normannen eingeführt hatten. War es nicht lächerlich, daß Cedrik seine Hände mit einem Tuch trocknete, anstatt sie, wie es die neueste Etikette vorschrieb, durch anmutiges Schwenken an der Luft trocknen zu lassen, oder daß Athelstane, der eine ganze Pastete allein verzehrte, nicht fragte, aus welchen Delikatessen sie zubereitet worden war? 77
Als die Mahlzeit ihrem Ende zuging, wandte sich die allgemeine Unterhaltung den Ereignissen des Tages zu. Scherzen und Lachen erfüllten den Saal, während dem Wein fleißig zugesprochen wurde. Der Prinz brütete finster vor sich hin. Als er sich plötzlich seiner Pflichten als Gastgeber erinnerte, ergriff er einen Becher und erhob sich: »Diesen Becher Wein wollen wir auf die Gesundheit Wilfreds von Ivanhoe trinken, des Siegers in beiden Turnieren! Wir bedauern, daß seine Wunde ihn von unserem Fest fernhält. Tut mir Bescheid, auch Ihr, Cedrik von Rotherwood, der Vater eines so vielversprechenden Sohnes!« »Nein, Mylord.« Cedrik stellte seinen Becher unberührt auf den Tisch zurück. »Ich anerkenne den Ungehorsamen, der die Sitten und Gebräuche seiner Väter verachtet und meine Gebote nicht befolgt, nicht als meinen Sohn.« Johann tat überrascht: »Ist es möglich, daß ein so tapferer Ritter ein ungehorsamer Sohn sein sollte?« Cedrik ging bereitwillig darauf ein: »Es ist so. Wilfred hat das Haus seiner Väter verlassen, um sich unter den lustigen Adel an Eures Bruders Hof zu mischen.« »Wenn Euer Sohn ein Anhänger meines unglücklichen Bruders war, dann braucht man nicht lange zu forschen, von wem er den Ungehorsam gelernt hat!« Er überlegte einen Augenblick, dann fragte er vorsichtig: »Hatte mein Bruder nicht die Absicht, seinen Günstling mit dem reichen Lehen Ivanhoe zu belehnen?« »Das hat er bereits getan«, gab Cedrik zurück. »Und ich war nicht dafür, daß mein Sohn sich erniedrigte, Lehensvasall auf einem Besitz zu sein, den seine Väter frei und unabhängig besessen haben.« »Dann dürfen wir also Eurer Zustimmung gewiß sein, wenn wir dieses Lehen an einen Mann übertragen, dessen Würde in keiner Weise dadurch leiden wird? Sir Reginald Front-de-Boeuf …« Der Prinz wandte sich dem ihm gegenübersitzenden Baron zu: »Ich hoffe, Ihr werdet die Freiherrschaft Ivanhoe so behüten, daß Sir Wilfred nicht durch die Besitznahme des Lehens seines Vaters Mißfallen auf sich ziehen kann.« 78
»Beim heiligen Antonius!« lachte Front-de-Boeuf. »Ihr dürft mich einen Sachsen nennen, wenn Cedrik oder Wilfred mir das Geschenk entreißen, mit dem Eure Hoheit mich beehrt hat!« »Wer dich jemals einen Sachsen nennt, der tut dir eine ebenso große wie unverdiente Ehre an!« rief Cedrik heftig. »Wahrhaftig, der edle Cedrik spricht die Wahrheit.« Der Prinz spottete: »Sein Geschlecht ist uns ebenso in der Länge der Stammbäume voraus als in der Länge der Mäntel.« »Sie gehen uns auch im Feld voraus – wie das Wild vor den Hunden«, fiel Malvoisin boshaft ein. »Und bedenkt doch ihre Enthaltsamkeit und Mäßigkeit«, grölte De Bracy, der ganz vergaß, daß er eine sächsische Braut bekommen sollte. »Dazu ihr Mut und ihre Tapferkeit«, höhnte Bois-Guilbert, »die sie besonders bei Hastings bewiesen haben!« Cedrik blickte mit mühsam verhaltenem Zorn von einem zum andern. Er wandte sich dem Prinzen zu: »Was immer auch die Torheiten und Laster unseres Stammes gewesen sein mögen, ein Sachse würde als gemeiner Schuft gegolten haben, wenn er in seinem eigenen Hause einen Gast auf die Weise hätte behandeln lassen, wie Eure Hoheit es zugibt.« Er heftete seinen Blick auf Front-de-Boeuf und den Templer: »Wie groß auch das Unglück unserer Väter bei Hastings gewesen sein mag – die sollten wenigstens schweigen, die noch vor wenigen Stunden Sattel und Bügel durch die Lanze eines Sachsen verloren haben!« Prinz Johann lachte gekünstelt: »Wie gefällt euch das, ihr Herren? Unsere sächsischen Untertanen werden schneidend im Witz und kühn in der Haltung! Wie wäre es, wenn wir unsere Schiffe beizeiten bestiegen und in die Normandie zurückkehrten?« »Hört auf mit eurem Spott, ihr Herren«, sagte der kluge Fitzurse. Er flüsterte Johann zu: »Es wäre richtig, wenn Eure Hoheit dem edlen Cedrik versicherte, daß mit diesen Späßen keine Beleidigung gemeint war.« »Beleidigung! Es wird doch, hoffe ich, niemand denken, daß ich es zulassen würde, wenn meine Gäste in meiner Gegenwart beleidigt 79
würden?« Der Prinz hob seinen Becher: »Hier? Ich trinke auf Cedriks Gesundheit!« Alle taten ihm Bescheid. Nur Cedrik schwieg. Der Prinz ergriff wieder das Wort: »Nachdem wir unseren sächsischen Gästen Gerechtigkeit haben widerfahren lassen, wollen wir sie bitten, unsere Höflichkeit zu erwidern.« Er sprach Cedrik an: »Würdiger Than, nennt uns den Namen eines Normannen, auf den Ihr anzustoßen wünscht!« Fitzurse erhob sich, beugte sich zu Cedrik und flüsterte ihm zu, er möge die Gelegenheit zur Versöhnung benützen und Prinz Johann nennen. Der Sachse stand auf und sagte langsam: »Eure Hoheit hat verlangt, ich solle einen Normannen nennen, der es verdient, bei diesem Bankett geehrt zu werden. Es ist eine schwere Aufgabe, da sie dem Sklaven zumutet, das Lob seines Herrn zu singen. Doch ich will einen Normannen nennen, den ersten an Rang, den Edelsten seines Geschlechts.« Er machte erst eine Pause, dann setzte er feierlich fort: »Ich leere diesen Becher auf die Gesundheit König Richards des Löwenherzigen.« Prinz Johann fuhr erschrocken auf. Mechanisch hob er den Becher an seine Lippen, stellte ihn aber gleich wieder auf den Tisch und beobachtete verstohlen das Benehmen der Anwesenden. Einige waren seinem Beispiel gefolgt, andere stimmten in den Trinkspruch ein und riefen: »Lang lebe König Richard, und möge er bald zurückkehren!« Nur einige wenige, unter ihnen Front-de-Boeuf und der Templer, hatten ihre Becher unberührt vor sich stehenlassen. Keiner aber hatte es gewagt, offen zu widersprechen. Nachdem Cedrik seinen Triumph ausgekostet hatte, begann er, die sächsischen Adeligen zum Aufbruch zu drängen: »Wir haben lange genug verweilt und die Gastfreundschaft des Prinzen genossen. Wer von unseren rauhen sächsischen Sitten mehr erfahren will, muß uns in den Heimstätten unserer Väter besuchen.« »Die sächsischen Lümmel sind die Sieger des Tages«, rief Prinz Johann, sobald sich die Tür hinter Cedrik und Athelstane geschlossen hatte. 80
Abt Aymer wollte begütigen. Er sagte: »Wir haben getrunken, und wir haben gelärmt, es ist Zeit, daß auch wir uns von den Weinkrügen trennen.« Prinz Johann blieb mit seinem engsten Gefolge zurück. Er war unzufrieden und machte seinem Ärger Luft. Er sagte vorwurfsvoll zu Fitzurse: »Das ist also das Ergebnis Eures Rates! Ich wurde an meiner eigenen Tafel von einem betrunkenen sächsischen Bauernlümmel geschmäht, und beim bloßen Klang des Namens meines Bruders weichen die Leute von mir zurück, als wäre ich aussätzig!« »Habt nur Geduld«, beruhigte ihn sein Ratgeber. »De Bracy und ich werden sofort zu den Wankelmütigen gehen und sie davon überzeugen, daß sie sich zu weit mit uns eingelassen haben, um noch zurück zu können.« Der Prinz ging erregt auf und ab. »Es wird vergebens sein. Sie haben die Handschrift an der Mauer gesehen, nichts wird ihren Mut neu beleben!«
Waldemar Fitzurse hatte alle Mühe, die zerstreuten Anhänger des Prinzen wieder zu sammeln. Er versprach ihnen Gold, Ämter und Besitzungen. Die Anführer der Söldner versuchte er durch Geldgeschenke zu überzeugen. Von König Richards Rückkehr sprach er, als wäre es ein ganz unwahrscheinliches Ereignis, da er merkte, daß die meisten gerade davor die größte Angst hatten. Er verstand es, sie in einem Atem zu beruhigen und aufzuhetzen. »Kehrt Richard zurück«, erklärte er, »so wird er seine bedürftigen und verarmten Kreuzfahrer auf Kosten derer bereichern, die nicht mit ihm ins Heilige Land gezogen sind. Er wird sich an den Templern und Hospitalitern rächen, die während des Kreuzzuges zu Philipp von Frankreich gehalten haben, und er wird alle Anhänger seines Bruders als Empörer bestrafen. Das wird seine Absicht sein. Aber wird er erreichen, was er will? Bedenkt doch, wenn er kommt, kommt er allein – ohne Freunde, ohne Anhänger. Die wenigen seines Gefolges, die schon 81
zurückgekehrt sind, kamen wie Wilfred von Ivanhoe als Bettler und gebrochene Leute!« Er fuhr fort: »Es ist auch unser Recht, aus dem königlichen Geschlecht denjenigen zu wählen, der am besten geeignet ist, die Königsgewalt auszuüben.« Er verbesserte sich: »Das heißt, denjenigen, der die Interessen des Adels am besten fördert. Mag sein, daß Prinz Johann seinem Bruder an persönlichen Eigenschaften nachsteht. Aber bedenkt doch, daß Richard, wenn er zurückkehrt, das Racheschwert in der Hand halten wird, während Johann bereit ist, nicht mit Belohnung und Vorrechten zu sparen.« Mit diesen und ähnlichen Vorstellungen gelang es Fitzurse, die meisten Adeligen dazu zu bestimmen, an der geplanten Versammlung in York teilzunehmen, wo die Vorbereitungen für die Krönung des Prinzen getroffen werden sollten. Als der Berater Johanns endlich spät in der Nacht ins Schloß von Ashby zurückkehrte, traf er auf De Bracy, der sein besticktes Festgewand mit einem kurzen grünen Wams und grünen Beinkleidern vertauscht hatte. »Was ist das für ein Mummenschanz?« rief Fitzurse ärgerlich. »Jetzt ist wirklich nicht die Zeit für Maskeraden. Das Schicksal unseres Herrn steht auf dem Spiel!« »Ich habe mich um meine eigenen Angelegenheiten gekümmert, während du die deinigen besorgt hast«, erwiderte De Bracy ruhig. »Ich habe nur die Angelegenheiten unseres gemeinsamen Herrn erledigt.« »Fitzurse, wir kennen einander. Der Ehrgeiz ist dein Geschäft, das Vergnügen meines – so wie es unserem Alter entspricht. Von Prinz Johann denkst du genauso wie ich. Er ist zu schwach, um ein entschlossener, zu tyrannisch, um ein bequemer, und zu hochfahrend und anmaßend, um ein beliebter Herrscher zu sein. Aber er ist ein Herrscher, durch den wir beide emporkommen wollen. Deshalb hilfst du ihm mit deiner staatsmännischen Klugheit und ich mit den Lanzen meiner Freischärler.« Fitzurse gab sich den Anschein, als höre er nicht zu. Er fragte un82
geduldig: »Was hast du denn in dieser abgeschmackten Verkleidung vor?« »Mir ein Weib verschaffen«, erwiderte De Bracy, »das heißt, ich will in dieser Verkleidung über die Sachsen herfallen, die heute Nacht das Schloß verlassen haben, und ihnen die liebliche Rowena entführen.« »Bist du toll, De Bracy? Diese Sachsen sind reich und mächtig, sie haben viele Anhänger. Wir brauchen sie. Prinz Johann kann keinen ungestraft lassen, der die Günstlinge der Menge beleidigt.« »Mag er's tun, wenn er's wagt. Er wird früh genug den Unterschied merken zwischen einer rüstigen Schar von Lanzen wie den meinigen und dem herzlosen sächsischen Pöbel! Übrigens glaube ich nicht, daß man mir hinter die Maske sehen kann. Die Schuld an dem Überfall wird auf die Geächteten im Wald von Yorkshire fallen. Bois-Guilbert wird mir helfen. Seine Begleiter werden die Banditen spielen, aus deren Händen ich die Lady befreien werde.« »Der Plan ist eurer vereinten Weisheit würdig«, sagte Fitzurse geringschätzig. »Deine Klugheit zeigt sich besonders darin, daß du Rowena den Händen deines Helfershelfers anvertrauen willst!« »Er ist ein Templer und kann mir nicht im Wege stehen, die Erbin zu heiraten.« Fitzurse zuckte die Achseln: »Wenn schon nichts, was ich sage, dich von deiner Torheit abbringen kann, verschwende wenigstens so wenig Zeit wie nur möglich.« »Es wird das Werk weniger Stunden sein«, versicherte De Bracy. »Ich werde zur rechten Zeit in York erscheinen.«
Rebekka hatte einige Mühe gehabt, ihren Vater zu überreden, den schwer verwundeten Ivanhoe, der vor ihren Augen auf der Tribüne zusammengebrochen war, in das von ihnen bewohnte Haus in der Nähe Ashbys bringen zu lassen. »Heiliger Abraham!« hatte Isaak gerufen. »Er ist ein guter Jüngling, aber er ist ein Christ!« 83
Rebekka hatte den Vater beruhigt: »In Not und Elend ist der Heide des Juden Bruder.« Rebekka begann sofort, mit großer Kenntnis und Geschicklichkeit die Wunden Ivanhoes zu verbinden, der, durch den starken Blutverlust arg geschwächt, noch immer bewußtlos war. Sie wußte, daß er außer Gefahr sein würde, wenn es ihr gelang, den Ausbruch eines Fiebers zu verhüten. Spät am Abend erwachte Ivanhoe aus seinem tiefen Schlaf. Trotz der Schmerzen gelang es ihm schließlich mit vieler Mühe, den Vorhang seines Bettes zurückzuziehen. Erstaunt betrachtete er das prachtvolle Zimmer. Angesichts der orientalischen Einrichtung glaubte er, daß er wieder in Palästina sei. Er war davon überzeugt, als Rebekka in ihrem morgenländischen Gewand, gefolgt von einem schwarzen Diener, eintrat. Als Ivanhoe mit ihr sprechen wollte, legte sie ihm den Finger auf den Mund, untersuchte den Verband und gab dem Diener Anweisungen in hebräischer Sprache. Der Verwundete ließ alles schweigend mit sich geschehen, bis sie sich anschickte, den Raum zu verlassen. »Schönes Mädchen«, begann er auf arabisch, »ich bitte Euch …« Rebekka fiel ihm ins Wort: »Ich bin aus England, Herr Ritter, wenn auch meine Familie und meine Kleidung einem anderen Land angehören. Ich bin die Tochter des Juden Isaak von York, gegen den Ihr Euch so gütig gezeigt habt.« Sie konnte sich einer leisen Wehmut nicht erwehren, als sie wahrnahm, daß ihre Erklärung den Ausdruck achtungsvoller Bewunderung, mit dem Ivanhoe sie betrachtet hatte, verscheuchte. Sie machte ihm keinen Vorwurf. Er teilte die Vorurteile seiner Zeit. Sie sagte ihm rasch, daß er mit ihr und ihrem Vater am nächsten Tag nach York reisen sollte, wo sie ihn in ihrem eigenen Haus gesundpflegen wolle. Ivanhoe zeigte sich diesem Plan abgeneigt. Er fragte: »Gibt es in der Nähe Ashbys keinen sächsischen Freisassen, kein Kloster, das mich aufnehmen könnte, bis ich meine Rüstung wieder tragen kann?« »Wenn Ihr Euren Arzt behalten wollt«, erwiderte Rebekka mit 84
schwermütigem Lächeln, »dann müßt Ihr mit uns kommen. Unser Volk versteht es, Wunden zu heilen, obwohl wir uns nicht damit abgeben, Wunden zu schlagen. Kein christlicher Arzt könnte Euch so schnell gesund machen wie ich. Wenn Ihr Euch meinen Anordnungen fügt, könnt Ihr in acht Tagen Euren Harnisch wieder tragen.« »Wenn du dein Versprechen erfüllst, Mädchen«, sagte Ivanhoe, »will ich dich mit einem Helm voll Goldkronen belohnen – wie ich auch dazu kommen mag!« »Ich will nichts anderes von Euch, als daß Ihr glaubt, daß ein Jude einem Christen einen guten Dienst erweisen kann, ohne anderen Lohn zu beanspruchen als den Segen Gottes, der beide erschaffen hat.« »Ich vertraue dir! Doch bitte, erzähle, was hört man von dem edlen Cedrik und was von der lieblichen Dame …« Er hielt inne: »Ich meine, von ihr, die zur Königin des Turniers erwählt wurde? Und was von Prinz Johann? Auch möchte ich wissen, was mit meinem treuen Knappen geschehen ist?« »Prinz Johann hat das Turnier abgebrochen und sich in aller Eile nach York aufgemacht. Es heißt, er will sich seines Bruders Krone aufs Haupt setzen.« »Das soll ihm nicht so einfach gelingen!« Ivanhoe richtete sich auf und rief erregt: »Ich will für Richards Krone kämpfen.« Rebekka drückte ihn sanft in die Kissen zurück: »Beruhigt Euch, oder Ihr werdet nicht dazu imstande sein. Ich beantworte Eure andern Fragen: Cedrik und Athelstane haben am Bankett des Prinzen teilgenommen. Sie sind jetzt mit ihrem Gefolge auf der Heimreise. Und was Euren treuen Knappen Gurth betrifft …« »Du kennst seinen Namen?« staunte Ivanhoe. Er erinnerte sich: »Verzeih, du warst es ja, die ihm das Geld zurückgab.« »Sprecht nicht davon«, wehrte Rebekka verlegen ab. »Es ist leicht für die Zunge, zu verraten, was das Herz verbergen möchte.« Sie fuhr fort: »Gurth aber befindet sich auf Befehl Cedriks in Gewahrsam.« Ivanhoe seufzte: »Es scheint, daß ich allen, die mir Gutes tun, Verderben bringe. Sei klug, Mädchen, und laß mich gehen, bevor ich auch dich ins Unglück stürze.« 85
»Seid guten Mutes«, tröstete ihn Rebekka. »Ihr seid Eurem Land wiedergegeben worden in einer Zeit, in der es jeder starken Hand bedarf. Versucht nun zu schlafen, damit Ihr für die morgige Reise gestärkt seid.«
Die Geächteten und Torquilstone Der Abt des Klosters von St. Withold, ein gebürtiger Sachse, empfing Cedrik, Athelstane und ihr Gefolge, die auf der Heimreise haltmachten, mit überschwenglicher Freude. Ein üppiges Mahl stärkte die hohen Gäste. Sie verließen das Kloster am nächsten Morgen, mit reichlicher Wegzehrung versehen. Wamba, der der schlechten Laune seines Herrn ausweichen wollte, hielt sich beim Nachtrab an der Seite des gefesselten Gurth. »Freund Wamba«, Gurth brach das verstockte Schweigen, »von allen, die närrisch genug sind, Cedrik zu dienen, bist du der einzige, der es versteht, ihm deine Narrheit angenehm zu machen. Geh und sag ihm, daß ich ihm weder aus Liebe noch aus Furcht länger dienen will. Sag ihm, daß Gurth, der Sohn des Beowulph, seinen Dienst aufgibt!« »Wenn ich auch ein Narr bin, so lasse ich mich doch nicht zu deiner Narrenbotschaft gebrauchen! Cedrik trägt einen Wurfspieß in seinem Gürtel, und du weißt, er verfehlt sein Ziel nicht oft!« »Meinetwegen, mag er mich zu seinem Ziel wählen! Gestern ließ er Wilfred, meinen jungen Herrn, in seinem Blut liegen.«
Cedrik unterhielt sich mit Athelstane über die Zwistigkeiten in der königlichen Familie, die Fehden zwischen den normannischen Edelleuten und über die Aussichten auf die Befreiung der Sachsen vom Nor86
mannenjoch, die sie durch den bevorstehenden Bürgerkrieg erlangen könnten. Cedrik wußte, daß es ihm nicht schwerfallen würde, seine sächsischen Anhänger in einer Partei zusammenzufassen. Aber da durch hätte er das ohnehin schon geschwächte Volk noch mehr gespalten. Er setzte seinen Ehrgeiz darein, die Unstimmigkeiten zwischen den sächsischen Stämmen durch eine Heirat zwischen Rowena und Athelstane zu beenden. Er hatte gehofft, daß Rowena ihre unglückselige Neigung zu Ivanhoe aufgeben würde. Daß seine Erwartung sich nicht erfüllt hatte, war zum größten Teil seiner eigenen Erziehung des Mündels zuzuschreiben. Cedrik, der den großen König Alfred wie eine Gottheit verehrte, hatte Rowena, die von ihm abstammte, mit solcher Ehrerbietung behandelt, daß es nicht zu verwundern war, wenn sie sich gegen jeden Versuch, ihre Neigung zu beeinflussen, entschieden verwahrte. Sie sagte geradeheraus, was sie dachte und fühlte, so daß Cedrik nicht wußte, wie er sein Ansehen als Vormund geltend machen konnte. Vergeblich versuchte er sie durch die Aussicht auf den Thron zu überreden. Rowena hielt seine Pläne weder für verständig noch für wünschenswert. Sie versuchte nicht einmal, ihre Liebe zu Wilfred von Ivanhoe zu verbergen, und hatte erklärt, daß sie, wenn sie ihrem Herzen nicht folgen dürfte, in ein Kloster eintreten würde, ehe sie mit Athelstane, den sie immer schon verachtet habe, jetzt aber, seit sie seinetwegen so viel zu leiden habe, gründlich verabscheue, einen Thron teilen würde. Cedrik, der keine hohe Meinung von weiblicher Beständigkeit hatte, beharrte jedoch auf seinem Beschluß und setzte alles daran, ihn auszuführen. Das unerwartete Erscheinen seines Sohnes beim Turnier von Ashby hatte ihn nicht entmutigt. Im Gegenteil, er fühlte sich nur genötigt, eine rasche Entscheidung herbeizuführen. Dabei wurde er allerdings von Athelstane nicht wesentlich unterstützt. Der edle Sachse war zwar eitel genug, oft und gerne von seiner hohen Abstammung und von seinen Erbansprüchen zu sprechen, aber er war ganz damit zufrieden, daß ihm nur seine nächste Umgebung gebührend huldigte. Er war viel zu bequem für die ehrgeizigen Pläne Cedriks. 87
Als der Zug der Sachsen den Waldsaum erreichte, hörten die Reisenden plötzlich laute Hilferufe. Sie folgten der Richtung und stießen auf eine Sänfte, neben der eine reichgekleidete junge Jüdin saß. Ein alter Mann, dessen gelbe Kappe ihn als Juden kennzeichnete, stand, verzweifelt die Hände ringend, vor ihr. Es war Isaak von York mit seiner Tochter, der auf die eindringlichen Fragen Cedriks endlich erzählte, daß er in Ashby eine Leibwache von sechs Männern und Maultiere gedungen habe, um die Sänfte eines erkrankten Freundes zu tragen. Die Männer hätten sie wohlbehalten nach Doncaster gebracht, aber als sie dort erfuhren, daß eine Bande Geächteter in den Wäldern seien, hätten sie die Flucht ergriffen und die Maultiere mitgenommen. Isaak schloß seine Erzählung mit den flehenden Worten: »Erlaubt dem armen Juden, unter Eurem Schutz weiterzureisen.« »Hund von einem Juden!« schrie Athelstane. »Hast du vergessen, daß du uns auf der Galerie am Turnierplatz beleidigt hast? Kämpfe oder flieh', wie es dir gefällt, aber bitte uns nicht um Geleit!« Cedrik war anderer Meinung: »Wir werden ihnen zwei Pferde und zwei unserer Leute zurücklassen, die sie zum nächsten Dorf bringen können.« Rowena setzte sich für den Vorschlag ihres Vormunds ein. Doch Rebekka, die bisher kein Wort gesprochen hatte, eilte auf Rowena zu, küßte nach Art der Morgenländer den Saum ihres Gewandes, schlug ihren Schleier zurück und bat sie flehentlich, sie unter ihrem Schutz weiterreisen zu lassen. »Ich erbitte diese Gunst nicht für mich«, sagte sie, »ja nicht einmal für meinen alten Vater. Aber im Namen eines, der Euch sehr teuer ist, beschwöre ich Euch, diesen Kranken in Eurem sicheren Geleit reisen zu lassen.« Rowena war von Rebekkas Bitte berührt. Sie erklärte ihrem Vormund: »Wir können den alten Mann, das junge Mädchen und ihren kranken Freund nicht in dieser Bedrängnis zurücklassen.« Sie setzte hinzu: »Wenn es auch Juden sind. Zwei Maultiere können die Sänfte tragen, und für den alten Mann und seine Tochter haben wir ein paar Handpferde.« 88
In aller Hast wurde Rowenas Wunsch ausgeführt und die Reise fortgesetzt. In der allgemeinen Verwirrung gelang es Gurth, sich von den Fesseln, die Wamba gelockert hatte, ganz zu befreien und unbemerkt ins Gebüsch zu entschlüpfen. Bald wurde der Pfad so eng, daß nur zwei Personen nebeneinander reiten konnten. Es ging abwärts, über steiles Geröll, in eine Talschlucht. Athelstane und Cedrik, die an der Spitze des Zuges ritten, erkannten wohl die Gefahr, die ihnen im Falle eines Angriffes an dieser Stelle drohen würde. Aber sie hatten keinen anderen Ausweg, als so schnell wie möglich durch die Schlucht zu reiten. Ein Teil des Gefolges hatte gerade einen Bach überschritten, als der ganze Zug gleichzeitig von vorne, von der Seite und von hinten angegriffen wurde. Cedrik schleuderte seinen Wurfspeer auf den ersten, der ihm nahe kam. Dann zog er sein Schwert und drang auf den nächsten ein. Er verfehlte in der Dunkelheit sein Ziel und hieb mit solcher Wucht auf einen Ast, daß er sich dadurch selbst entwaffnete. Die Wegelagerer umringten ihn, zerrten ihn vom Pferd und führten ihn gefangen hinweg. Athelstane wurde aus dem Sattel gehoben, bevor er Zeit hatte, sein Schwert zu ziehen. Mit Leichtigkeit überwältigten die Angreifer das Gefolge. Nur Wamba gelang es zu entkommen. Er hatte einem der Diener sein Schwert entrissen, hieb wütend um sich, so daß die verdutzten Angreifer zurückwichen, und machte sogar einen Versuch, seinen Herrn zu befreien. Als er erkannte, daß seine Anstrengungen vergeblich waren, sprang er vom Pferd und entkam ins Dickicht. »Wamba!« flüsterte eine Stimme in seiner nächsten Nähe. »Gurth!« kam es ebenso leise zurück. »Sie sind alle Gefangene der grünen Röcke und schwarzen Larven. Ich würde darüber lachen, wenn ich's vor Weinen könnte!« »Wir wollen sie befreien«, sagte Gurth. »Aber du hast doch eben erst Cedriks Dienst aufgegeben!« »Das galt, solange er glücklich war! Folge mir!« Sie richteten sich auf. Eine Stimme hielt sie zurück. Sie erkannten 89
Locksley, den Landmann, der beim Turnier den Preis im Bogenschießen gewonnen hatte. »Was geht hier vor?« fragte er. »Wer macht in diesen Wäldern Gefangene?« »Du kannst ihre grünen Röcke aus der Nähe besehen«, erwiderte Wamba. »Sie gleichen dem deinen wie eine Erbsenschote der anderen. Sieh sie dir an!« »Das will ich tun«, sagte Locksley kurz. »Wartet hier auf mich, bis ich wieder da bin. Wenn ihr mir gehorcht, soll es euch und eurem Herrn zugute kommen!« Nach wenigen Minuten kehrte Locksley zurück. »Ich weiß nun, wer die Leute sind und wohin sie wollen. Ich glaube nicht, daß sie ihren Gefangenen Gewalt antun werden. Es wäre für uns drei sinnlos, sie anzugreifen. Ihr beide seid, wie ich glaube, treue Diener Cedriks des Sachsen. Es soll nicht an englischen Händen fehlen, ihn aus seiner Not zu befreien.« Er bedeutete Wamba und Gurth, ihm zu folgen, und führte sie schnell und sicher durch den Wald. Nach einiger Zeit erreichten sie eine Lichtung, in deren Mitte unter einer riesigen Eiche fünf bewaffnete Männer lagen, während ein sechster im Mondlicht auf und ab ging. Auf das Signal der Wache griffen die Schläfer nach ihren Bogen, doch als sie Locksley erkannten, senkten sie die Waffen und begrüßten ihn ehrerbietig als ihren Führer. »Wo ist der Müller?« fragte er. »Auf dem Weg nach Rotherham. Mit sechs Mann und guter Hoffnung auf Beute.« »Wo ist Allan-a-Dale?« »In die Richtung der Watlingstraße, um dem Abt von Jorvaulx aufzulauern.« »Wo ist der Mönch?« »In seiner Zelle.« »Dorthin will ich gehen. Inzwischen sucht eure Gefährten. Sammelt so viele Leute wie möglich und trefft mich hier bei Tagesanbruch«, befahl er. »Zwei von euch machen sich auf den Weg nach Torquilstone, 90
dem Schloß Front-de-Boeufs. Banditen, die sich in unsere Tracht verkleidet haben, führen eine Schar Gefangener dorthin. Verfolgt sie!« Die Männer entfernten sich. Locksley brach mit Wamba und Gurth zur Kapelle von Copmanhurst auf.
Der unbekannte Ritter, den die Zuschauer des Turniers von Ashby mit dem Spitznamen ›Schwarzer Faulenzer‹ bezeichnet hatten und der nach dem Ende des letzten entscheidenden Kampfes so plötzlich verschwunden war, ritt auf dem kürzesten Weg durch die Wälder nordwärts. Er hatte die Nacht in einer kleinen abgelegenen Schenke verbracht und war schon zeitig am Morgen aufgebrochen, um eine lange Tagesreise bewältigen zu können. Viele Umwege erschwerten sein Vorwärtskommen so sehr, daß er bei Einbruch der Dämmerung nicht weiter als bis zur Westgrenze von Yorkshire gekommen war. Jede Bemühung, die Reise in der zunehmenden Dunkelheit fortzusetzen, konnte ihn noch mehr vom Weg abbringen. So beschloß er, sich dem Instinkt seines Pferdes anzuvertrauen. Bald weitete sich der Weg, und das Läuten einer kleinen Glocke verriet die Nähe einer Kapelle. Der Ritter und sein Pferd erreichten eine offene Wiese. Am Fuße eines gewaltigen Felsens stand eine aus rohen Baumstämmen gezimmerte Hütte. Daneben erhoben sich die Ruinen einer kleinen Kapelle mit einem baufälligen Glockenturm. Der Ritter stieg ab und stieß mit dem Schaft seiner Lanze gegen die Tür der Einsiedelei. »Geh weiter, wer du auch bist«, erklang eine tiefe heisere Stimme. »Störe nicht den Diener Gottes und St. Dunstans in seiner Abendandacht!« »Würdiger Vater«, rief der Ritter, »hier steht ein armer Wanderer, der sich verirrt hat. Er gibt Euch Gelegenheit, Eure christliche Liebe auszuüben. Ich bitte Euch, ehrwürdiger Vater, zeigt mir den Weg.« »Der Weg ist leicht zu finden«, kam es von drinnen zurück. »Der 91
Pfad aus dem Wald führt zu einem Sumpf, von dort zu einer Furt. Am anderen Ufer geht der Weg über einen steilen Pfad weiter, der, wie ich hörte, stellenweise weggeschwemmt sein soll …« »Ein unterbrochener Pfad, ein Sumpf, ein Abgrund! Nein, Einsiedler, auf diesen Weg sollt Ihr mich heute nicht bringen! Öffnet, oder ich schlage die Türe ein!« Zur Bekräftigung trat der Ritter mit dem Fuß so heftig gegen die Tür, daß sie in den Angeln erbebte. »Geduld, Geduld, ich komme schon!« Der Einsiedler, ein großer, kräftig gebauter Mann in grober Leinenkutte und Kapuze, erschien im Türrahmen. In der einen Hand hielt er eine brennende Fackel, in der anderen einen schweren Holzknüppel. Als das flackernde Licht auf den Helm und die goldenen Sporen des Fremden fiel, änderte er seine Absicht und bat den Ritter mit derber Höflichkeit, einzutreten. Der unwillkommene Gast folgte ihm in die Hütte, deren Einrichtung nur aus einem Bett von Waldlaub, einem rohgezimmerten dreibeinigen Tisch und zwei Sesseln bestand. Der Einsiedler befestigte die Fackel in einem eisernen, gedrehten Stiel und bat den Ritter, Platz zu nehmen. Beide setzten sich einander gegenüber und musterten sich schweigend. »Verzeiht, ehrwürdiger Vater«, begann der Ritter, »wenn ich Eure frommen Betrachtungen unterbreche. Aber ich möchte gerne wissen, wo ich mein Pferd hinbringen kann, was Ihr mir zum Abendessen anbietet und wo ich mein Lager für die Nacht aufschlagen soll.« Der Einsiedler wies erst auf einen, dann auf einen anderen Winkel der Hütte: »Der Stall ist hier – Euer Bett dort.« Er erhob sich und holte vom Herd eine Schüssel mit gerösteten Erbsen. »Hier ist Euer Abendessen.« Nachdem der Einsiedler ein langes Tischgebet vor sich hergesagt hatte, nahm er ein paar von den gerösteten Erbsen und schob sie in seinen Mund. Der Ritter legte seinen Helm ab und beugte sich über die Schüssel. Sein Gastgeber betrachtete aufmerksam die vornehmen Gesichtszüge, den wohlgeformten Mund unter dem Schnurrbart, die hellen blau92
en Augen und die hohe Stirn, die von blondem, gelocktem Haar umrahmt war. Um das Vertrauen des Ritters zu erwidern, schlug er seinerseits die Kapuze zurück und zeigte seinen kugelrunden Kopf mit der kurzgeschorenen Tonsur, die von dichtem schwarzem Haar umwachsen war. Der Ritter würgte einen Mund voll Erbsen hinunter und bat um einen Trunk. Der Einsiedler setzte ihm einen großen Krug Wasser vor. »Es ist aus dem Brunnen des heiligen Dunstan, in dem er innerhalb von vierundzwanzig Stunden fünfhundert Dänen und Briten getauft hat. Gelobt sei sein Name!« Der Ritter maß den Einsiedler aufmerksam: »Es scheint mir, ehrwürdiger Vater, daß Euch die schmale Kost und dieses heilige, aber dünne Getränk wunderbar bekommen. Ihr seht danach aus, als wäret Ihr besser geeignet, den Sieg im Schwerterspiel zu gewinnen, als hier in dieser trostlosen Wildnis Messe lesend bei trockenen Erbsen und kaltem Wasser Euer Dasein zu fristen!« »Eure Gedanken sind, wie die aller unwissenden Laien, ganz fleischlich.« Der Einsiedler erwiderte den prüfenden Blick. »Es hat unserer lieben Frau und meinem Schutzheiligen gefallen, das Wenige zu segnen, auf das ich mich beschränke.« »Heiliger Vater, gestattet einem sündhaften Laien, nach Eurem Namen zu fragen.« »Die Leute nennen mich den Geistlichen von Copmanhurst. Man fügt auch das Beiwort ›heilig‹ hinzu, jedoch bestehe ich nicht darauf, da ich dessen unwürdig bin. Darf ich nun gleichfalls um Euren Namen bitten?« »Man nennt mich in dieser Gegend den Schwarzen Ritter. Manche setzen auch noch ›Faulenzer‹ hinzu, jedoch lege ich keinen Wert auf diese Auszeichnung.« »Ich merke, Herr Fauler Ritter«, erwiderte der Einsiedler lächelnd, »daß Ihr ein kluger und verständiger Mann seid. Auch scheint Euch meine kärgliche Mönchskost nicht zuzusagen. Es fällt mir eben ein, daß der Forstaufseher mir etwas zurückgelassen hat. Aber da es sich für meinen Gebrauch nicht eignet, habe ich ganz darauf vergessen.« 93
»Ich hätte darauf schwören können, denn als Ihr Eure Kapuze abnahmt, war ich überzeugt, daß es bessere Nahrung in dieser Zelle gäbe, als Ihr mir bisher vorgesetzt habt.« Der Priester sah den Ritter noch einmal zweifelnd an, als wollte er erforschen, wie weit er seinem Gast trauen konnte. Dann brachte er aus einem Versteck eine riesige Zinnschüssel hervor, auf der eine köstliche Wildpastete stand. Er stellte sie vor den Ritter, der keine Zeit verlor, sich zu bedienen. Als er einige Bissen gegessen hatte, fragte er: »Wie lange ist es her, seit der gute Aufseher hier gewesen ist?« »Etwa zwei Monate.« »In Eurer Einsiedelei ist alles wunderbar. Ich hätte gedacht, daß der Rehbock, aus dem diese herrliche Pastete zubereitet wurde, noch vor einer Woche am Leben war!« Der Priester erwiderte nichts, sondern blickte bedauernd auf die Pastete, die rasch an Umfang abnahm. Er atmete erleichtert auf, als der Ritter innehielt: »Es fällt mir eben ein, daß in Palästina die Sitte herrscht, daß jeder, der einen Gast bewirtet, mitessen muß, um die Zuträglichkeit der Speisen zu beweisen. Obwohl ich einen so heiligen Mann, wie Ihr es seid, in keiner Weise verdächtigen möchte, würde ich mich freuen, wenn Ihr Euch dieser morgenländischen Sitte anschließen wolltet.« »Gern will ich Eure Bedenken zerstreuen und für dieses Mal von meiner Regel abweichen.« Ohne sich lange zu zieren, griff der Mönch zu und erwies dem Gericht solche Ehre, daß er den Vorsprung seines Gastes bald aufgeholt hatte. Als sein Hunger gestillt war, lehnte sich der Ritter zurück: »Heiliger Mann, ich möchte mein Pferd wetten, daß Euch der brave Forstaufseher auch einen Humpen Wein zurückgelassen hat. Ich weiß, daß es Euer vollkommen unwürdig ist, so etwas im Gedächtnis zu behalten. Aber wenn Ihr noch einmal nachsucht, werdet Ihr gewiß finden, daß meine Vermutung richtig ist.« Der Einsiedler antwortete durch ein breites Grinsen, stand auf und holte eine riesige Lederflasche hervor. Er brachte noch zwei Trinkscha94
len aus Auerochshorn und füllte sie ohne weitere Umstände bis zum Rand. »Waes hael, Herr Fauler Ritter!« rief er nach sächsischer Sitte. »Auf Eure Gesundheit!« »Drink hael, heiliger Pfaff von Copmanhurst!« erwiderte der Fremde. »Ich muß wirklich staunen«, begann er nach einer Weile, »daß ein Mann wie Ihr in dieser Wildnis ganz für sich bleiben kann. Meines Erachtens würdet Ihr besser dazu taugen, ein Schloß zu hüten und vom Fetten zu leben als hier von Gemüse und Wasser oder von der Barmherzigkeit des Forstaufsehers. Ich an Eurer Stelle würde mir sowohl Zeitvertreib als auch Eßvorrat in den Wäldern des Königs verschaffen!« »Das sind gefährliche Reden, Herr Fauler Ritter. Ich lebe getreulich nach dem Gesetz des Königs, und wollte ich meines Herrn Wild angreifen, so käme ich gewiß ins Gefängnis!« Er fuhr fort: »Ihr habt alles gesehen, was Euch an meinem Hauswesen interessieren kann. Und noch etwas mehr, als der verdient, der sich mit Gewalt Einlaß verschafft. Glaubt mir, es ist besser, das Gute zu genießen, als danach zu forschen, woher es kommt. Füllt Eure Schale und seid willkommen und zwingt mich nicht, Euch zu beweisen, daß Ihr Euch schwerlich Zutritt verschafft hättet, wenn ich mich ernstlich widersetzt hätte!« »Ihr macht mich immer neugieriger! Aber bedenkt, heiliger Mann, daß Ihr mit einem sprecht, dessen Gewerbe es ist, die Gefahr dort zu suchen, wo immer er sie finden kann.« »Ich trinke Euch zu, Herr Fauler Ritter! Eure Tapferkeit in Ehren, aber es gibt keine Waffe, mit der ich Euch nicht gewachsen wäre. Was sagt Ihr zu diesen Spielereien?« Er öffnete einen versteckten Behälter und nahm ein paar Schilde und ein Schwert heraus. Auch eine kleine Harfe kam zum Vorschein. Der Ritter lachte: »Ich verspreche, daß ich keine beleidigenden Fragen mehr an Euch richten werde. Doch ich sehe da eine Waffe, auf der ich meine Geschicklichkeit gegen Euch erproben möchte.« Er beugte sich vor und griff nach der Harfe. 95
Er stimmte sie und sang eine sächsische Ballade über die Heimkehr des Kreuzfahrers. Als er geendet hatte, nahm ihm der Einsiedler die Harfe aus der Hand und begleitete sich zu einem lustigen Lied über den Barfüßermönch, dem es vergönnt ist, die Rosen des Lebens ohne Dornen zu pflücken. »Ihr habt gut gesungen zum Lob Eures Ordens«, sagte der Ritter. »Aber fürchtet Ihr nicht, daß Euch der Teufel bei einer Eurer ungeistlichen Belustigungen einen Besuch machen könnte?« »Ich habe nie einen Menschen gefürchtet, und ich fürchte auch den Teufel nicht.« Sie gaben sich wieder der Fröhlichkeit hin und sangen abwechselnd zur Harfe, bis sie durch lautes Klopfen unterbrochen wurden. Der Pfaffe fuhr auf: »Beim Rosenkranz! Hier kommen noch mehr Gäste. Um meiner Kutte willen möchte ich nicht, daß sie uns so antreffen. Setzt Euren Eisentopf auf, Freund Faulenzer! Ich will inzwischen die Krüge wegräumen. Und damit man uns nicht hört, singt mit mir, so gut Ihr könnt, auch wenn Ihr die Worte nicht kennt.« Er stimmte ein lautes ›De Profundis‹ an, während er in aller Eile die Reste des Gelages im Schrank verstaute. Herzlich lachend sang der Ritter von Zeit zu Zeit mit, während er sich bewaffnete. Eine ungeduldige Stimme rief von draußen: »Was für eine Teufelsmette ist denn das zu dieser Stunde?« »Der Himmel vergebe Euch, Herr Reisender«, gab der Priester zur Antwort. »Geht in Gottes Namen weiter, und stört unsere geistlichen Übungen nicht!« »Wahnwitziger Pfaff!« kam es zurück. »Laß Locksley ein!« »Es ist alles in Ordnung.« Der Geistliche atmete auf: »Es ist ein Freund.« »Wenn er auch Euer Freund ist, muß er nicht meiner sein.« Der Einsiedler zögerte und erklärte: »Es ist der Forstaufseher, von dem ich Euch erzählt habe.« »Dann macht die Tür auf, bevor er sie einschlägt!« Locksley, gefolgt von Wamba und Gurth, trat in die Hütte und sah sich um: »Wen hast du denn da?« fragte er und wies auf den Ritter. 96
»Ein Bruder unseres Ordens«, erklärte der Einsiedler. »Wir sind die ganze Nacht bei unseren Übungen gesessen.« »Er ist wohl ein Mönch der streitenden Kirche«, lachte Locksley. »Aber jetzt mußt du deinen Rosenkranz liegenlassen und den Stock nehmen. Wir brauchen jeden einzelnen Mann.« Der Mönch streifte seine Kutte ab, unter der er ein enganliegendes schwarzes Wams trug. Darüber zog er einen grünen Rock und grüne Hosen. Inzwischen war Locksley näher an den Ritter herangetreten: »Seid Ihr nicht der Ritter, der am zweiten Turniertag in Ashby den Engländern zum Sieg gegen die Normannen verhalf?« »Und wenn es so wäre?« entgegnete der Ritter. »Dann halte ich Euch für einen Freund der Schwachen und Bedrängten.« »Das ist nur die Pflicht eines jeden wahren Ritters!« »Aber für meinen Zweck müßt Ihr ein ebenso guter Engländer wie ein guter Ritter sein.« »Es gibt niemanden, dem England teurer wäre als mir.« Locksley gab sich damit zufrieden. Er erklärte: »Eine Bande von Schurken hat Cedrik den Sachsen und sein Gefolge auf Schloß Torquilstone geschleppt. Wollt Ihr, als guter Ritter und guter Engländer, helfen, sie zu befreien?« »Mein Gelübde verpflichtet mich dazu. Aber wer bist du, der meinen Beistand erbittet?« »Ich bin ein namenloser Mann, aber ein Freund meines Landes und seiner Freunde. Mehr kann ich Euch im Augenblick nicht sagen, um so weniger, als auch Ihr unbekannt zu bleiben wünscht.« »Ich vertraue deiner Ehrlichkeit und Entschlossenheit. Ich werde dir gerne behilflich sein.« Der Mönch hatte sich unterdessen mit Schwert, Schild, Bogen und Köcher bewaffnet. Er verließ mit seinen nächtlichen Besuchern die Hütte, schloß die Türe sorgfältig ab und legte den Schlüssel unter die Schwelle. Locksley wandte sich um: »Wenn das Horn erklingt, beginnt der Kampf«, sagte er. »Achtet auf den Klang des Horns.« Er setzte drohend 97
hinzu: »Jedermann in dieser Gegend weiß, was der Ruf meines Horns bedeutet!«
Als der Morgen dämmerte, waren die Bewaffneten, die Cedrik und sein Gefolge gefangengenommen hatten, noch immer unterwegs. An ihrer Spitze ritten Brian de Bois-Guilbert und De Bracy. »Es wird Zeit, daß du uns verläßt«, sagte der Templer, »wenn du die Rolle des ritterlichen Befreiers spielen willst.« »Ich habe es mir anders überlegt«, erwiderte Moritz de Bracy. »Ich werde bei dir bleiben, bis wir sicher in Torquilstone sind. Dort will ich vor Lady Rowena erscheinen. Ich bin gewiß, daß sie mir die Gewalttat, die ich ihretwegen begangen habe, verzeihen wird.« »Ich will nicht hoffen, daß du deinen Plan aus Argwohn gegen meine ehrlichen Absichten geändert hast!« »Ich kenne die Moral des Templerordens«, lachte De Bracy. »Ich mache mir gar nichts aus deiner blauäugigen Schönheit«, gab Bois-Guilbert zurück. »Ich habe unter den Gefangenen einen Preis gefunden, der so lieblich ist wie der deinige!« »Du meinst die schöne Jüdin?« »Und wenn ich's tue?« »Denkst du nicht an dein Gelübde?« »Was mein Gelübde anbelangt, so hat mir unser Großmeister Dispens erteilt.« »Du mußt deine eigenen Vorrechte am besten kennen. Doch ich könnte schwören, daß du dabei eher an die Geldsäcke des alten Juden denkst als an die schwarzen Augen seiner Tochter.« »Es fällt mir nicht schwer, beides zu bewundern. Aber der Jude ist nur ein halber Preis, denn seine Schätze muß ich mit Front-de-Boeuf teilen, der uns sein Schloß nicht umsonst überlassen wird.« De Bracy schwieg. Er zögerte, den Templer wissen zu lassen, daß er den Verwundeten in der Sänfte erkannt hatte. Sein ritterliches Ehrgefühl hinderte ihn, Ivanhoe anzugreifen oder ihn an Front-de-Boeuf zu 98
verraten. Deshalb gebot er zwei seiner Knappen, die Sänfte zu bewachen, in der, wie er ihnen sagte, einer ihrer Kameraden verwundet liege. Cedrik hatte sich vergeblich bemüht, von seinen Wächtern, die er ihrer Kleidung nach für englische Geächtete hielt, Auskünfte zu bekommen. Sie gaben keine Antwort auf seine Fragen, sondern trieben unaufhörlich zur Eile an, bis sie in der langen Allee vor Schloß Torquilstone ankamen. Der äußere Wall war mit kleinen Türmen befestigt und von einem tiefen Wassergraben umgeben, über den man durch eine gewölbte Brückenschanze in den Innenhof gelangte, über dessen niedrigem Gebäude der viereckige Hauptturm drohend aufragte. Vor dem Schloßtor stieß De Bracy dreimal ins Horn. Augenblicklich ließen die Bogenschützen, die den Wall bewachten, die Zugbrücke herunter. Die Gefangenen mußten absteigen. Rowena wurde von ihrem Gefolge getrennt und in ein entferntes Gemach geführt. Das gleiche geschah mit Rebekka. Ihr Vater wurde mit Gewalt in die entgegengesetzte Richtung geschleppt. Cedrik ging in dem großen Gemach, in dem er mit Athelstane festgehalten wurde, auf und ab. Er war entrüstet über die Ungerechtigkeit, die ihm widerfahren war, während Athelstane über die Unbequemlichkeit klagte: »Ich hoffe, daß man nicht vergessen wird, uns Wein und Erfrischungen zu schicken.« Er nahm kaum zur Kenntnis, daß Cedrik darauf hinwies, welche Schande es sei, daß er, der aus Haralds Geschlecht stammte, von einem elenden Normannen gefangengehalten wurde. »Ich hoffe, sie werden uns um ein mäßiges Lösegeld freilassen«, fuhr Athelstane gleichgültig fort. »Es ist verlorene Zeit, zu ihm von irgend etwas anderem zu sprechen, als was seinen Appetit betrifft«, murmelte Cedrik ungeduldig vor sich hin und setzte mit einem mitleidigen Blick auf seinen Gefährten halblaut hinzu: »Ach, daß ein so träger Geist eine so stattliche Gestalt beherrscht!« Als der Tafelmeister, den weißen Amtsstab in der Hand, eintrat, ge99
folgt von vier bis zur Unkenntlichkeit verkleideten Dienern, die einen Tisch trugen, auf dem verschiedenartige Speisen angerichtet waren, rief Cedrik empört: »Was ist das für ein Mummenschanz? Meint ihr, wir wüßten nicht, wessen Gefangene wir sind? Sagt eurem Herrn, Reginald Front-de-Boeuf, daß wir keinen Grund kennen, weshalb er uns der Freiheit beraubt, außer, daß er sich widerrechtlich auf unsere Kosten bereichern will. Sagt ihm, er soll das Lösegeld bestimmen, und es soll bezahlt werden, wenn die Forderung unseren Mitteln angemessen ist.« Der Tafelmeister verneigte sich wortlos. »Und sagt eurem Herrn«, fügte Athelstane hinzu, dem der Anblick des Essens neue Tatkraft zu verleihen schien, »daß ich ihn auf Tod und Leben herausfordere, mit mir binnen acht Tagen nach unserer Befreiung zu kämpfen.«
Isaak von York war in ein Kellergewölbe geworfen worden, das noch tiefer lag als der Graben, der das Schloß umgab. Schwacher Lichtstrahl, der durch die Luftlöcher drang, die unterhalb der feuchten Decke angebracht waren, erhellte das düstere Gefängnis, an dessen Wänden verrostete Fesseln und Ketten hingen. In einer Ecke stand ein riesiger Herd, über dem mehrere eiserne Stangen lagen, die vom Rost halb zerfressen waren. Isaak hockte mit gefalteten Händen auf dem kalten Steinboden. Ohne sich zu bewegen, wartete er über drei Stunden, bis er endlich Schritte auf der Treppe vernahm. Der Riegel kreischte, die Türangeln knarrten, und Reginald Front-de-Boeuf betrat mit den zwei Sarazenensklaven des Templers das Gefängnis. Bei seinem Anblick wich der Jude noch weiter in seine Ecke zurück. Front-de-Boeuf war hochgewachsen und kräftig gebaut, er trug ein enganliegendes Lederwams, das von den Flecken seiner Rüstung beschmutzt war. Sein finsteres Gesicht war von tiefen Narben entstellt. Er schloß die Türe sorgfältig hinter den Sklaven und kam langsam auf den Juden zu. Der Schrecken war Isaak in alle Glieder gefahren, 100
so daß er unfähig war, aufzustehen und sich zu verbeugen. Er konnte vor Angst nicht einmal seine Mütze abnehmen und brachte auch kein Wort hervor, sondern starrte den Baron mit offenem Mund und vor Entsetzen geweiteten Augen an. Drei Schritte vor dem Juden blieb Front-de-Boeuf stehen und winkte einem der Sklaven. Der Sarazene trat näher und holte aus einem Korb, den er am Arm trug, eine Waage und mehrere Gewichte hervor, die er vor Front-de-Boeuf auf den Boden legte. »Verfluchter Hund aus einem verfluchten Geschlecht«, begann der Schloßherr, »in dieser Waagschale sollst du mir tausend Pfund Silber abwiegen, nach dem genauen Maß und Gewicht des Towers von London.« »Heiliger Abraham«, stieß Isaak mühsam hervor. »Hat ein Mensch je von einer solchen Forderung gehört? Welcher Mensch hat je einen solchen Schatz gesehen?« »Wenn es an Silber fehlt, nehme ich auch Gold.« Der Baron war ungerührt. »Zum Preis einer Goldmark für je sechs Pfund Silber kannst du dich von der entsetzlichen Strafe loskaufen, die dir droht!« »Habt Erbarmen!« stöhnte Isaak. »Ich bin arm und alt und hilflos.« »Alt magst du sein und schwach auch, aber arm bist du nicht. Jeder kennt deinen Reichtum!« »Ich schwöre es Euch bei allem, woran ich glaube, und bei allem, woran wir beide glauben …« »Verschwöre dich nicht«, unterbrach ihn Front-de-Boeuf. »Und glaube nicht, daß ich nur deine Furcht erregen will. Dieser Kerker ist kein Platz zum Scherzen. Zehntausendmal vornehmere Gefangene sind in diesen Mauern gestorben. Ihr Geschick ist nie bekannt geworden. Deiner wartet ein langer und langsamer Tod, gegen den der ihrige eine Wollust war!« Auf sein Zeichen traten beide Sklaven näher. Er sprach zu ihnen in ihrer Sprache, die Isaak nicht verstand. Sie entnahmen ihren Körben Holzkohlen, einen Blasebalg und ein Fläschchen mit Öl und begannen, auf dem Herd ein Feuer zu entfachen. »Siehst du den Herd und die Eisenstangen über der Glut?« fragte 101
Front-de-Boeuf. »Dort sollst du liegen, ohne Kleider. Einer dieser Sklaven wird das Feuer unter dir schüren, der andere wird deinen Körper mit Öl salben. Du kannst wählen zwischen diesem Lager und der Zahlung des Silbers.« »Es ist unmöglich! Der barmherzige Gott hat nie einen Menschen erschaffen, der solcher Grausamkeit fähig wäre!« »Verlaß dich nicht darauf, Isaak! Das wäre ein verhängnisvoller Irrtum. Glaubst du, daß diese schwarzen Sklaven mit dir Erbarmen haben werden? Komm doch zur Vernunft! Zahle einen Teil dessen zurück, was du meinen Glaubensgenossen durch Wucherzinsen abgenommen hast! Deinen Geldbeutel kannst du wieder auffüllen, aber kein Arzt der Welt wird dich wieder gesund machen können, wenn du einmal auf diesem Rost gelegen bist. Rücke mit dem Lösegeld heraus und freue dich, daß du dich aus diesem Kerker befreien kannst!« »So mögen mir die Väter meines Volkes helfen«, jammerte Isaak. »Ich habe keine Wahl. Ich kann Eure ungeheuerliche Forderung nicht erfüllen.« »Entkleidet ihn!« befahl der Baron. Die beiden Sarazenensklaven rissen den Juden vom Boden auf und hielten ihn fest. Isaak warf verzweifelte Blicke auf Front-de-Boeuf, doch das Gesicht seines Peinigers verriet nicht die geringste Spur von Erbarmen, nur ein spöttisches Grinsen verzog seinen Mund. Der Jude blickte noch einmal auf den Herd und begann zu zittern. »Ich will zahlen«, rief er. »Mit der Hilfe meiner Brüder will ich versuchen, die ungeheure Summe aufzubringen! Wo soll sie abgeliefert werden?« »Hier«, erwiderte Front-de-Boeuf. »Meinst du, ich würde dich freilassen, bevor ich dein Lösegeld in Händen habe?« »Und was ist meine Sicherheit, daß ich wirklich freigelassen werde, wenn die Summe bezahlt ist?« »Das Wort eines normannischen Edelmanns!« »Verzeiht«, sagte Isaak noch immer zitternd, »aber wie kann ich mich auf das Wort eines Mannes verlassen, der nichts auf das meine gibt?« »Es bleibt dir keine Wahl«, gab Front-de-Boeuf zurück. 102
Isaak stöhnte: »Bewillige mir wenigstens, daß die Leute, mit denen ich reise, mit mir freigelassen werden«, bat er. »Sie verhöhnten mich als einen Juden, aber sie hatten doch Mitleid mit mir, und weil sie sich meiner erbarmten, ist mein Unglück über sie gekommen.« »Kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten! Wann soll ich das Geld bekommen?« »Laßt meine Tochter Rebekka nach York gehen, unter Eurem sicheren Geleit …« »Deine Tochter?« Front-de-Boeuf war überrascht. »Ich dachte, das Mädchen sei dein Kebsweib. Ich habe sie Brian de Bois-Guilbert als Magd überlassen!« Isaak stieß einen gellenden Schrei aus und warf sich Front-de-Boeuf zu Füßen: »Nehmt alles, was Ihr gefordert habt, und noch mehr, ja, durchbohrt mich mit Eurem Dolch, aber verschont meine Tochter! Laßt sie frei in Sicherheit und Ehren! Wollt Ihr, daß ich wünschte, meine eigene Tochter läge neben ihrer toten Mutter im Grab?« Die Verzweiflung Isaaks stimmte den Normannen milder: »Ich dachte, Euer Geschlecht liebt nichts als seine Geldsäcke. Aber es hilft nichts – ich kann mein Wort nicht brechen. Doch warum sollte deiner Tochter etwas geschehen, auch wenn sie Bois Guilberts Beute ist?« »Es wird, es muß«, rief Isaak und rang verzweifelt die Hände. »Was haben die Templer anderes getan, als Grausamkeiten gegen Männer verübt und Schande über die Frauen gebracht!« »Ungläubiger Hund! Lästere nicht die heiligen Orden des Ziontempels! Denke lieber daran, wie du dein Lösegeld zahlen wirst!« Isaak konnte sich nicht mehr beherrschen: »Räuber, Halunke!« schrie er. »Nicht einen Silberpfennig will ich zahlen, wenn du meine Tochter nicht freiläßt!« »Bist du bei Sinnen? Ist dein Körper gefeit gegen glühendes Eisen und siedendes Öl?« »Ich mache mir nichts daraus«, erwiderte Isaak leidenschaftlich. »Tut, was Ihr wollt! Meine Tochter ist mir teurer als mein Leben. Kein Silber will ich Euch geben, es sei denn, um es geschmolzen in Eure habgierige Kehle zu gießen!« 103
»Das werden wir sehen!« rief der Normanne zornig. »Entkleidet ihn und kettet ihn an die Eisenstangen!« Er unterbrach sich: »Halt!« rief er, als draußen ein Hornstoß ertönte. »Sind das die Geächteten?« fragte er erregt. Laute Stimmen riefen nach dem Schloßherrn. Front-de-Boeuf gebot den Sklaven, dem Juden seine Kleider zu lassen, und verließ eilig mit ihnen das Verlies. Rowena ergab sich in dem düsteren Gemach, das ihr zugewiesen worden war, trüben Betrachtungen über ihr ungewisses Schicksal, als De Bracy bei ihr eintrat. Er hatte seine Verkleidung abgelegt. Sein langes Haar fiel in Locken über den pelzverbrämten Mantel herab, sein Bart war sorgfältig geschoren, das Wams, das ihm bis zu den Knien reichte, war mit einem goldverzierten Gürtel zusammengehalten. Seine Füße staken in den Schuhen, die die Mode vorschrieb. Die Spitzen waren wie die Hörner eines Widders gewunden. Mit höflichem Gruß nahm er das Samtbarett ab und bat Rowena, sich zu setzen. Gleichzeitig zog er einen Handschuh aus und reichte ihr den Arm, um sie zu einem Sessel zu geleiten. Rowena lehnte seine Höflichkeit ab. »Es geziemt einer Gefangenen nicht, in Gegenwart ihres Kerkermeisters zu sitzen, bevor sie nicht ihr Urteil kennt.« »Ach, Lady Rowena, Ihr steht vor Eurem Gefangenen«, seufzte De Bracy, »nicht vor Eurem Kerkermeister. Von Euren schönen Augen will ich mein Urteil empfangen.« »Ich kenne Euch nicht«, erwiderte Rowena, »doch die unverschämte Vertraulichkeit, mit der Ihr wie ein Troubadour zu mir sprecht, entschuldigt durchaus nicht die Gewalttätigkeit eines Räubers!« »Ihr seid ungerecht, Lady Rowena. Ihr selbst seid frei von Leidenschaft, deshalb versteht Ihr nicht die eines anderen, obwohl Eure eigene Schönheit sie verursacht.« »Ich bitte Euch, Herr Ritter, laßt ab, in der Sprache von fahrenden Sängern zu mir zu reden, die sich für Ritter oder Edelleute nicht geziemt!« 104
»Ich habe meine Bewerbung um Eure Hand in der Weise durchgeführt, die Eurem hochmütigen Wesen angemessen ist! Ihr wollt lieber mit Bogen und Schwert erworben werden als durch wohlgesetzte Worte. Deshalb sage ich Euch, daß Ihr dieses Schloß nicht verlassen werdet, bevor Ihr mein Weib geworden seid.« Er hielt inne: »Ihr seid stolz, Rowena, um so geeigneter seid Ihr, mein Weib zu sein. Wie sonst könntet Ihr den elenden Maierhöfen entgehen, wo die Sachsen mit den Schweinen hausen, um den Euch gebührenden Ehrensitz einzunehmen, als durch eine Verbindung mit mir?« »Die Maierhöfe, die Ihr so verachtet, sind mein Heim gewesen von Jugend auf, und wenn ich sie verlasse, dann nur mit einem Mann, der die Wohnung und die Sitten nicht verachtet, in denen ich erzogen worden bin!« De Bracy verlor die höfliche Beherrschung: »Gebt den Traum auf, daß Richard Löwenherz seinen Thron je wieder einnehmen wird. Glaubt auch nicht, daß Wilfred von Ivanhoe Euch je als Braut zu seinem Palast führen wird. Der ist in meiner Macht, und es hängt nur von mir ab, das Geheimnis seiner Anwesenheit Front-de-Boeuf zu verraten, dessen Eifersucht gefährlicher wäre als meine.« »Wilfred hier?« »Wußtet Ihr wirklich nicht, daß sich Wilfred von Ivanhoe in der Sänfte des Juden befand?« »Und wenn er hier ist«, gab Rowena mit verhaltener Stimme zurück, »was hat das mit Front-de-Boeuf zu tun?« »Wißt Ihr denn nicht, daß Front-de-Boeuf jeden aus den Weg räumen wird, der ihm seine Ansprüche auf die Herrschaft über das Lehen Ivanhoe streitig machen wollte? Wenn Ihr aber meine Werbung annehmt«, setzte De Bracy rasch hinzu, »dann soll Front-de-Boeuf dem verwundeten Ritter nichts anhaben.« »Rettet ihn um Gottes willen!« flehte Rowena. »Ich will es tun, aber nur wenn Ihr einwilligt, meine Braut zu werden. Eure Liebe muß seinen Schutz erkaufen«, sagte er lauernd. »Benützt Euren Einfluß auf mich zugunsten Ivanhoes, und er ist gerettet. Tut Ihr's nicht, so stirbt er, und Ihr seid der Freiheit um nichts nä105
her!« Er fügte nach einer kurzen Weile hinzu: »Auch Cedriks Geschick hängt von Eurer Entscheidung ab.« Als Rowena, die sich mit unerschrockenem Mut aufrecht gehalten hatte, das volle Ausmaß der Gefahr erkannte, die nicht nur sie, sondern auch die ihr Nahestehenden bedrohte, wurde sie von Angst überwältigt. Hilfesuchend hob sie die Hände und brach in Tränen aus. De Bracy, mehr verlegen als ergriffen, konnte sich doch einer gewissen Rührung nicht erwehren. Er versuchte vergeblich, Rowena zu trösten. Er bat sie eindringlich, sich doch zu fassen, und versicherte ihr, daß sie keine Veranlassung zu solcher Verzweiflung habe. Auch er vernahm den lauten Hornruf, der Front-de-Boeuf veranlaßt hatte, die Folter Isaaks abzubrechen, und verließ eilig den Raum. Waren es tatsächlich die Geächteten aus den Wäldern von Sherwood? Zwei verkleidete Männer hatten Rebekka in einen abgelegenen Teil des Schlosses geführt. Als sie die Türe der kleinen Zelleöffneten, die für den Aufenthalt der Jüdin bestimmt war, trat ihnen ein altes Weib entgegen, das Rebekka mit bösen Blicken musterte. »Du mußt heraus, alte Hausunke«, sagte einer der Männer. »Du mußt deine Kammer einem schöneren Gast überlassen.« »So werden meine Dienste belohnt«, murrte die Alte. »Es gab eine Zeit, wo ein Wort von mir Euch das Leben gekostet hätte!« »Gute Frau Urfried«, beruhigte sie der zweite, »macht, daß Ihr fortkommt. Eure Zeit ist um.« »Möge der böse Geist mich in Stücke reißen, wenn ich meine Zelle verlasse, bevor ich den Hanf abgesponnen habe!« Sie setzte sich ans Spinnrad und nahm den Faden auf. Die Männer entfernten sich. Rebekka blieb zurück. »Was für ein Teufelswerk haben sie jetzt wieder vor?« brummte die Alte vor sich hin, indem sie von Zeit zu Zeit einen gehässigen Seitenblick auf Rebekka warf. »Feurige Augen, schwarze Locken. Es ist leicht zu erraten, warum sie dich in diesem einsamen Turm halten … du wirst Eulen zur Gesellschaft haben, meine Schöne! … Ausländisch auch! Aus welchem Land bist du? Warum antwortest du nicht? Du kannst ja weinen, kannst du nicht reden?« 106
»Zürne mir nicht, gute Alte«, gab Rebekka leise zurück. »Du brauchst mir nichts mehr zu sagen. Man erkennt die Jüdin an der Sprache!« Sie erhob sich umständlich: »Leb wohl! Mein Faden ist abgesponnen.« »Bleibe, um des Himmels willen, bleibe!« bat Rebekka. »Deine Gegenwart ist doch ein Schutz.« »Nicht einmal die Gegenwart der Mutter Gottes könnte dich schützen!« Rebekka hörte, wie die Alte langsam die Treppe hinabstieg. Sie untersuchte den Raum nach einer Möglichkeit, die ihr zur Flucht verhelfen könnte. Enttäuscht mußte sie feststellen, daß das einzige Fenster auf einen mit Zinnen versehenen Balkon führte. Sie war auf das Schlimmste gefaßt und erschrak doch, als sie schwere Schritte auf der Treppe vernahm. Einer der Banditen, die sie gefangengenommen hatten, betrat den Raum und verschloß die Türe sorgfältig. Rebekka streifte ihre kostbaren Armbänder ab. »Nehmt dies, guter Freund«, sagte sie rasch. »Seid barmherzig gegen mich und meinen Vater! Diese Schmucksachen sind wertvoll, und doch sind sie nur von geringem Wert im Vergleich mit dem, was mein Vater geben würde, wenn wir dieses Schloß verlassen könnten.« »Schöne Blume Palästinas«, erwiderte der Mann. »Ich bin durch ein Gelübde gebunden, die Schönheit dem Reichtum vorzuziehen.« »Steht Euch nicht selbst im Licht!« drängte Rebekka. »Nehmt ein Lösegeld und habt Erbarmen. Das Gold wird Euch Lust und Vergnügen erkaufen. Mißhandelt Ihr uns aber, wird es Euer Gewissen bedrücken. Mit dem Erlös der Beute könnt Ihr wieder in die bürgerliche Gesellschaft zurückkehren!« »Du hast gut gesprochen«, erwiderte der vermeintliche Geächtete auf französisch. »Aber dein Vater befindet sich bereits in den Händen eines Mannes, der es versteht, selbst die Eisenstangen eines Rostes in Gold zu verwandeln. Dein Lösegeld jedoch muß Liebe und Schönheit sein. In keiner anderen Münze nehme ich es an.« 107
Rebekka wich zurück. »Ihr seid kein Geächteter!« sagte sie, gleichfalls in französischer Sprache. »Ein Geächteter hätte mein Anerbieten nicht ausgeschlagen, und kein Geächteter spricht die Sprache, die Ihr sprecht. Ihr seid ein Normanne – vielleicht von edler Abkunft.« Sie bat: »Seid es auch in Euren Handlungen!« »Und du bist keine wahre Tochter Israels, sondern eine Hexe von Endor!« Brian de Bois-Guilbert nahm seinen Mantel ab. »Nein, ich bin kein Geächteter, sondern ein Mann, der alles tun wird, deinen Hals und deine Arme mit Perlen und Diamanten zu schmücken, anstatt dich dieses Schmuckes zu berauben!« »Was könntet Ihr von mir begehren, wenn Ihr meinen Reichtum verschmäht? Ihr seid Christ, und ich bin Jüdin – unsere Verbindung würde sowohl den Gesetzen Eurer Kirche als unserer Synagoge widersprechen.« »Eine Jüdin heiraten?« Bois-Guilbert lachte laut auf. »Nicht, wenn sie die Königin von Saba wäre! Aber selbst wenn mir der allerchristlichste König seine Tochter anböte, könnte ich sie nicht heiraten. Es ist gegen mein Gelübde: Ich bin ein Templer. Sieh hier das Kreuz meines heiligen Ordens.« »Wagt Ihr, Euch jetzt darauf zu berufen?« »Und wenn ich's auch täte, so kümmert's dich nicht, da du nicht an das Zeichen unserer Erlösung glaubst!« »Ich glaube, was meine Väter mich gelehrt haben, und möge Gott mir vergeben, wenn mein Glaube falsch ist. Aber was ist Euer Glaube, Herr Ritter, wenn Ihr Euch ohne Bedenken auf das beruft, was Ihr als das Heiligste erachtet, gerade in dem Augenblick, da Ihr im Begriffe seid, das feierlichste Gelübde, das Ihr als Ritter und als Diener Eures Glaubens geleistet habt, zu brechen?« Zornig fuhr der Templer auf. »Bisher habe ich milde mit dir gesprochen, Rebekka, aber jetzt will ich in der Sprache eines Eroberers mit dir reden. Ich habe dich mit Bogen und Speer erkämpft, du bist nach dem Gesetz aller Völker meinem Willen unterworfen!« Rebekka kämpfte mit ihrer Beherrschung: »Hört mich an, bevor Ihr diese Todsünde begeht. Meine Kraft könnt Ihr leicht überwälti108
gen, denn Gott hat das Weib schwach erschaffen und seinen Schutz der Großmut des Mannes anvertraut. Aber ich will Eure Schurkentat verkünden, jedes Präzeptorium, jedes Kapitel Eures Ordens soll erfahren, daß Ihr wie ein Ketzer mit einer Jüdin gesündigt habt, und jeder wird Euch für verflucht erklären, weil Ihr das Kreuz, das Ihr tragt, entehrt habt!« »Du bist sehr klug.« Der Templer wußte, daß Rebekka die Wahrheit gesprochen hatte, dennoch fuhr er gelassen fort: »Die Stimme wird nicht außerhalb der Mauern dieses Schlosses gehört werden. Dich kann nur eines retten – füge dich in dein Schicksal, nimm unseren Glauben an, und du sollst fortan so leben, daß manche normannische Dame dich beneiden wird.« »Ich Euren Glauben annehmen? Was kann das für ein Glaube sein, der Schurken wie Euch hervorbringt!« Rebekka öffnete das Gitterfenster, das auf den Balkon führte. Sie schwang sich auf die Brustwehr, bevor Bois-Guilbert sie daran hindern konnte. Als er sich ihr näherte, rief sie: »Bleibt, wo Ihr seid, oder ich stürze mich in die Tiefe. Eher soll mein Leib zerschmettert werden, als daß ich das Opfer Eurer Gemeinheit werde!« Bois-Guilbert mußte ihren Mut bewundern. Er bat: »Komm herunter, unbesonnenes Mädchen! Ich schwöre, daß ich dir kein Leid antun will.« »Ich traue Euch nicht«, gab Rebekka zurück. »Das nächste Präzeptorium würde Euch Absolution für einen gebrochenen Eid gewähren.« »Ich schwöre dir bei dem Namen, den ich führe, bei dem Kreuz auf meiner Brust, ich will dir nichts tun!« beteuerte er. »Ich habe manches Gesetz und manches Gebot gebrochen, aber niemals mein Wort!« »Ich will Euch trauen.« Rebekka stieg zögernd von der Brüstung herab und blieb bei den Schießscharten stehen. »Aber sobald Ihr versucht, mir nur um einen Schritt näher zu kommen, sollt Ihr sehen, daß das jüdische Mädchen seine Seele lieber Gott anvertraut, als seine Ehre dem Templer.« Rebekkas Entschlossenheit verlieh ihren Zügen eine fast übermensch109
liche Würde und verfehlte nicht, tiefen Eindruck auf den Templer zu machen. »Laß Friede zwischen uns sein, Rebekka. Du brauchst mich nicht mehr zu fürchten. Wer den Tod der Schande vorzieht, muß eine stolze und starke Seele haben.« Er rief leidenschaftlich: »Mein mußt du sein! Aber weiche nicht zurück – ich will, daß es mit deiner eigenen Zustimmung geschieht. Höre mich an, bevor du mich zurückweist. Ein Ritter, der Templer wird, verliert seine Rechte in der ritterlichen Gesellschaft, wie du weißt, aber er wird zum Mitglied einer mächtigen Körperschaft, vor der selbst Könige erbeben. Ich nehme in unserem Orden eine bevorzugte Stellung ein. Ich kann sogar eines Tages danach trachten, den Stab des Großmeisters zu besitzen. Nicht einmal das Reich eures so vergeblich erwarteten Messias bietet euren zerstreuten Stämmen solche Macht, wie mein Ehrgeiz erringen kann. Ich habe nur einen verwandten Geist gesucht, sie mit mir zu teilen – in dir, Rebekka, habe ich ihn gefunden …« »Sagt Ihr das zu einer von meinem Volk?« »Sprich nicht von den Unterschieden unseres Glaubens! In unseren geheimen Versammlungen machen wir uns über diese Ammenmärchen lustig. Unsere unermeßlichen Besitzungen in ganz Europa, unser kriegerischer Ruf sind Zielen gewidmet, von denen sich unsere frommen Stifter nichts träumen ließen. Sie sind denjenigen verborgen, die nach den alten Grundsätzen in unseren Orden eintreten und deren Aberglaube sie zu unseren bereitwilligen Werkzeugen macht!« Er hielt plötzlich inne und lauschte. Der Hornruf drang bis in den Turm. »Ich will nicht weiter in dich dringen«, sagte er rasch. »Denke darüber nach, bis ich wiederkehre!« In der Halle des Schlosses traf der Templer mit De Bracy zusammen. »Wo ist Front-de-Boeuf?« fragte er. »Er unterhandelt mit dem Juden, soviel ich weiß«, erwiderte De Bracy. »Das Geheul Isaaks wird den Hornruf übertönt haben. Wenn ein Jude von seinen Schätzen lassen soll, schreit er lauter als zwanzig Hörner und Trompeten!« 110
Beinahe im gleichen Augenblick erschien der Schloßherr. »Hier ist ein Brief«, sagte er statt jeder Begrüßung. »In sächsischer Sprache, wenn ich nicht irre.« Er besah das Schriftstück ratlos von allen Seiten und reichte es De Bracy. »Mein Kaplan hat sich zwar alle Mühe gegeben, mir das Schreiben beizubringen«, sagte der, »aber meine Buchstaben sahen wie Lanzenspitzen und Schwertklingen aus, so daß er bald davon abließ!« Mit verlegenem Lachen gab er den Brief Bois-Guilbert: »Laß uns an Deiner priesterlichen Gelehrsamkeit teilnehmen!« »Es ist ein Fehdebrief«, erklärte der Templer. »Und wenn es nicht ein schlechter Witz ist, dann ist es die außerordentlichste Herausforderung, die je über die Zugbrücke eines Schlosses gesandt wurde!« »Ich möchte wohl wissen, wer sich das gegen mich herauszunehmen wagt!« rief Front-de-Boeuf. »Lest, Sir Brian!« Der Templer begann: »Ich, Wamba, Sohn des Witzlos, Possenreißer Cedricks von Rotherwood, eines edlen und freigeborenen Mannes, und ich, Gurth, Sohn des Beowulph, Schweinehirt des erwähnten Cedrik, wir beide, unterstützt von unseren Verbündeten, nämlich dem guten Ritter, bekannt unter dem Namen Schwarzer Faulenzer, und dem Waidmann Robert Locksley, tun Euch, Reginald Front-de-Boeuf, und Euren Mitschuldigen kund, daß Ihr unrechtmäßig und mit Gewalt unseren Herrn und Meister sowie das edle und freigeborene Fräulein, Lady Rowena von Hargottstandstede, und den edlen Athelstane von Coningsburgh, zusammen mit einem Juden, Isaak von York, und dessen Tochter, nebst beider Gefolge gefangengenommen habt, als diese im Frieden mit Seiner Majestät und als getreue Untertanen auf den königlichen Heerstraßen reisten. Wir verlangen daher, daß besagte Personen mit ihren Dienern und dem Gefolge, mit Pferden und Maultieren und mit all ihrer Habe binnen einer Stunde nach Übergabe dieses Schreibens ausgeliefert werden, widrigenfalls wir Euch für Verräter erklären und in Schlacht und Belagerung unser Äußerstes tun wollen, Euch zu vernichten. Unterzeichnet am Vorabend des Tages St. Witholds, unter der Gerichtseiche am Harthill-Gang.« 111
De Bracy brach in Lachen aus, in das der Templer einstimmte. Frontde-Boeuf wurde ungeduldig. »Es wäre besser, wir würden beraten, was zu tun ist!« sagte er bestimmt. »Diese Kerle würden es nicht wagen, mit solcher Unverschämtheit aufzutreten, wenn sie nicht von starken Banden unterstützt würden. Es gibt genügend Geächtete in diesen Wäldern, die meinen Wildschutz übel vermerken.« Er wandte sich seinem Diener zu: »Hast du ausspähen lassen, was hinter dieser Kriegserklärung steckt?« »Es sind mindestens zweihundert Mann in den Wäldern versammelt.« »Das kommt davon, daß ich Euch mein Schloß geliehen habe!« rief Front-de-Boeuf unwillig. »Konntet ihr Eure Sache nicht anderswo abmachen?« »Laßt unsere Leute zusammenrufen«, rief der Templer. »Ein Ritter nimmt es leicht mit zwanzig dieser Bauern auf.« »Wir haben kaum genug Männer, das Schloß zu verteidigen«, gab Front-de-Boeuf zu bedenken. »Meine tapfersten Leute sind in York, wo auch deine Männer sind, De Bracy.« »Du fürchtest doch nicht, daß sie das Schloß angreifen werden?« »Das nicht, Sir Brian«, erwiderte Front-de-Boeuf. »Ohne Maschinen, Sturmleitern und erfahrene Führer können sie meinem Schloß nichts anhaben!« »Schick doch zu deinem Nachbarn um Hilfe«, schlug Bois-Guilbert vor. »Malvoisin ist mit seinen Dienstmannen in York, und dort sind auch meine anderen Nachbarn.« Front-de-Boeuf überlegte einen Augenblick, dann wandte er sich an den Templer: »Du kannst doch ebenso gut schreiben wie lesen – du sollst eine Antwort auf die freche Herausforderung schreiben.« Er befahl einem Diener, Schreibzeug zu suchen. Als der Knappe damit zurückkam, setzte sich Bois-Guilbert widerstrebend an den Tisch. »Ich gäbe ihnen lieber mit dem Schwert Bescheid als mit der Feder«, sagte er mürrisch, bevor er zu schreiben begann: »Sir Reginald Front-de-Boeuf und seine ritterlichen Freunde neh112
men keine Herausforderung von Sklaven, Leibeigenen oder Flüchtlingen an. Wenn derjenige, der sich Schwarzer Faulenzer nennt, wirklich Ansprüche auf die Ehre der Ritterschaft hat, so sollte er wissen, daß er sich durch diese Verbindung entehrt und kein Recht hat, von Männern edlen Blutes Rechenschaft zu fordern. Es ist unsere Absicht, unsere Gefangenen heute vormittag hinzurichten, was beweisen soll, wie gering wir die achten, die sie befreien wollen. Deshalb ersuchen wir euch, einen Priester zu senden, um sie mit Gott zu versöhnen, wodurch ihr ihnen den letzten irdischen Dienst erweisen werdet.« Das Schreiben wurde fein säuberlich zusammengefaltet und von einem Knappen dem wartenden Boten überreicht.
Unter einer Eiche, etwa drei Bogenschüsse vom Schloß entfernt, warteten der Schwarze Ritter, Locksley, Wamba, Gurth und der lustige Einsiedler ungeduldig auf die Antwort ihres Briefes. Immer mehr Freisassen versammelten sich um sie. Auch viele Sachsen aus dem benachbarten Stadtbezirk, Dienstmannen und Leibeigene Cedriks hatten sich eingefunden. Sie waren nur notdürftig mit Spießen, Sensen und Dreschflegeln bewaffnet. Der zurückkehrende Bote überreichte dem Einsiedler den Brief BoisGuilberts. »Beim heiligen Dunstan«, rief der Geistliche aus. »Ich kann dieses Kauderwelsch, von dem ich nicht einmal weiß, ob es französisch oder arabisch ist, nicht entziffern!« Er gab den Brief an Gurth, der nur mürrisch den Kopf schüttelte. Kurz entschlossen nahm der Schwarze Ritter den Brief an sich und übersetzte den Inhalt ins Sächsische. »Hinrichten! Den edlen Cedrik!« riefen Wamba und Gurth wie aus einem Munde. »Wir werden das Schloß erstürmen, und wenn wir es mit unseren Händen niederreißen müßten!« »Die Drohung ist nur ein Vorwand, sie wollen Zeit gewinnen«, beruhigte sie Locksley. 113
»Einer von uns muß versuchen, ins Schloß zu gelangen«, überlegte der Schwarze Ritter. »Wir müssen ausfindig machen, wie es drinnen aussieht … Da sie einen Priester für die Gefangenen verlangen, könnte nicht unser guter Einsiedler …?« Der Mönch schüttelte heftig den Kopf: »Wenn ich meine Kutte ausziehe, lege ich auch meine Heiligkeit ab, meine Priesterschaft und mein Latein.« Nach einer kurzen Pause sagte Wamba mit lautem Seufzer: »Der Narr muß immer der Narr sein und seinen Kopf in die Schlinge stecken, vor der weise Männer sich fürchten! Mit der Kutte unseres frommen Einsiedlers am Leib werde ich imstande sein, unserem Herrn und seinen Leidensgenossen weltlichen und geistlichen Rat zu geben.« »Hinein in eine Kutte, guter Bursche«, rief der Schwarze Ritter. »Und bringe uns Bericht über die Lage im Schloß.« Locksley ergänzte: »Wir wollen den Platz umzingeln, so daß niemand von drinnen herauskann.« »Pax vobiscum!« sagte Wamba in feierlichem Tonfall, nachdem er sich in ein geistliches Gewand gehüllt hatte. Langsam und würdig machte er sich auf den Weg, seinen Auftrag auszuführen.
Der Pförtner des Schlosses eilte aufgeregt in die Halle und brachte den Rittern die ungewöhnliche Nachricht, daß ein Mönch vor dem Tore stehe und Einlaß begehre. Front-de-Boeuf befahl, den Mönch sofort einzulassen. »Pax vobiscum.« Das Zauberwort Wambas wurde nur ängstlich und zögernd laut, als er sich dem gefürchteten Normannen gegenübersah. Front-de-Boeuf war daran gewöhnt, daß jedermann in seiner Gegenwart zitterte. Er schenkte daher der so deutlich zur Schau getragenen Furcht des angeblichen Mönches keine Aufmerksamkeit. »Wer bist du und woher kommst du?« fragte er kurz angebunden. »Pax vobiscum«, wiederholte Wamba. »Ich bin ein armer Knecht des heiligen Franziskus, der unter die Räuber gefallen ist, die mich hier114
her geschickt haben, um die Beichte von zwei Eurer Gefangenen zu hören.« »Das ist in Ordnung«, erwiderte Front-de-Boeuf gnädig. »Kannst du mir sagen, heiliger Vater, wie groß die Zahl der Banditen ist?« »Nomen illis legio«, gab Wamba würdevoll zurück. »Ihr Name ist Legion.« »Sage mir augenblicklich, wieviel es sind, Priester«, herrschte Frontde-Boeuf ihn an, »oder es wird dir schlecht ergehen!« Wamba wich erschrocken zurück. »Es werden sein …« Er stotterte: »Ich denke … ungefähr fünfhundert.« »Was!« der Templer war erstaunt. »Sammeln sich die Wespen hier so dicht?« Er nahm den Schloßherrn beiseite: »Kennst du den Pfaffen?« »Er ist ein Fremder, aus einem entfernten Kloster, ich kenne ihn nicht.« »Er soll einen schriftlichen Befehl an De Bracys Söldner mitnehmen«, riet Bois-Guilbert. »Inzwischen erlaube ihm, seine Pflicht zu tun, damit er keinen Verdacht schöpft.« Front-de-Boeuf nickte und winkte einem Diener, der Wamba zu Cedrik und Athelstane führte.
»Pax vobiscum«, rief Wamba, als er in den Raum trat, in dem Cedrik und Athelstane gefangengehalten wurden. »Der Segen aller Heiligen sei mit Euch!« Cedrik ging ihm höflich entgegen: »In wessen Auftrag hat man Euch hierher geschickt?« »Euch auf den Tod vorzubereiten«, erwiderte Wamba mit verstellter Stimme. »Denn noch heute werdet Ihr vor ein höheres Gericht gerufen werden.« »Das ist unmöglich!« rief Cedrik. »Sie werden es nicht wagen, eine so zwecklose Grausamkeit zu verüben!« Athelstane nahm die erschreckende Nachricht mit der gewohnten 115
Gleichgültigkeit hin: »Ich bin bereit, ihrer ärgsten Bosheit standzuhalten, und werde gefaßt in den Tod gehen.« »Dann wollen wir unser heiliges Geschäft beginnen, ehrwürdiger Vater«, sagte Cedrik mit Fassung. »Warte noch einen Augenblick, guter Onkel«, Wamba sprach mit seiner natürlichen Stimme: »Es ist besser, erst zu schauen, bevor man ins Dunkle springt!« Er schlug die Kapuze der Kutte zurück, so daß der überraschte Cedrik ihn erkennen konnte. »Hättet Ihr früher auf den Rat Eures Narren gehört, so wäret Ihr nie hierher gekommen! Aber hört jetzt auf mich, und Ihr werdet nicht mehr lange hier sein. Nehmt diese Kutte und diesen Strick – aus diesen beiden Stücken besteht mein geistlicher Stand – und geht still aus dem Schloß hinaus.« »Und dich soll ich an meiner Statt zurücklassen?« Cedrik war tief gerührt: »Sie werden dich aufhängen, mein armer Schelm!« »Sollen sie tun, was ihnen gefällt. Ohne Euch nahetreten zu wollen, ich werde mit ebensolcher Würde hängen, wie Ihr es könntet!« »Geht, edler Cedrik!« drängte auch Athelstane. »Verschmäht die Gelegenheit nicht. Wenn Ihr in Freiheit seid, könnt Ihr Freunde anspornen, uns zu befreien.« »Besteht Aussicht auf Befreiung?« fragte Cedrik. »Das will ich meinen«, versicherte Wamba. »Und wenn Ihr Euch in meine Kutte hüllt, so steckt Ihr in eines Generals Rock. Fünfhundert Mann stehen draußen, und heute früh war ich einer ihrer Anführer! Nun, wir werden sehen, welchen Vorteil ihnen der Tausch bringen wird. Lebt wohl, edler Herr, und seid gütig gegen den armen Gurth. Hängt meine Schellenkappe in der Halle von Rotherwood auf, zur Erinnerung, daß ich mein Leben für meinen Herrn hingegeben habe.« Tränen erstickten seine Stimme: »So wie es einem treuen Narren geziemt.« Auch Cedrik wurden die Augen feucht. »Dein Andenken soll in Ehren gehalten werden«, sagte er. »Aber ich hoffe, daß wir Mittel finden werden, Rowena, Athelstane und auch dich zu retten, mein armer Wamba.« Während sie die Kleider tauschten, kamen Cedrik neue Bedenken: 116
»Ich spreche nur sächsisch und ein paar Worte von dem gezierten Normannisch. Wie soll ich mich denn als ehrwürdiger Bruder benehmen?« »Der Zauber liegt in zwei Worten«, beruhigte ihn Wamba: »Pax vobiscum – das beantwortet alle Fragen. Es ist unwiderstehlich. Alle werden sich davor beugen.« »Dieses Losungswort werde ich behalten können«, meinte Cedrik, der schon die Verkleidung angelegt hatte. »Lebt wohl, edler Athelstane, lebt wohl, mein armer Narr! Ich werde euch retten oder zurückkehren, um mit euch zu sterben.« – Als Cedrik seinen Weg unsicher und vorsichtig suchte, wurde er von einer weiblichen Stimme angerufen. »Pax vobiscum«, sagte er hastig. Er wollte weitergehen. »Et vobis«, erwiderte die Frau. »Ich erbitte von Euch, ehrwürdiger Vater, geistlichen Trost für einen verwundeten Gefangenen.« »Meine Zeit erlaubt mir nicht, die Pflichten meines Amtes auszuüben«, gab Cedrik verlegen zur Antwort. »Ich muß weitereilen, Leben und Tod hängen davon ab.« »Ich beschwöre Euch bei Eurem Gelübde«, drängte die Frau, »laßt den Bedrängten nicht ohne Rat und Beistand!« »Daß der Böse mit mir wegflöge!« rief Cedrik ungeduldig. »Vergiltst du mir auf diese Weise, daß ich dir erlaubt habe, deine Zelle im Turm zu verlassen?« rief eine schrille Stimme. Im nächsten Augenblick stand die alte Urfried vor Cedrik und Rebekka. Sie schimpfte: »Du bringst den ehrwürdigen Vater dazu, ärgerlich zu sprechen, um sich der Zudringlichkeit einer Jüdin zu erwehren.« »Eine Jüdin?« Cedrik war entsetzt. »Halte mich nicht auf, ich möchte mich nicht beflecken!« »Kommt mit mir, Vater«, bat die alte Urfried zutraulich. »Ihr seid fremd in diesem Schloß, ich werde Euch führen.« Nachdem Urfried die Jüdin mit heftigen Worten in das Zimmer zurückgetrieben hatte, in das man auf De Bracys Befehl den kranken Ivanhoe gebracht hatte, nötigte sie den widerstrebenden Cedrik in ein kleines Gemach. Von einem Schranktisch holte sie einen Humpen Wein und zwei Becher und stellte sie auf den Tisch. 117
»Ihr seid ein Sachse, Vater, leugnet es nicht! Ein sächsischer Priester und überdies ein freier Mann. Eure Worte klingen süß in meinem Ohr.« »Ich bin ein Sachse«, bestätigte Cedrik, »aber unwürdig, ein Priester genannt zu werden. Laß mich meiner Wege gehen.« »Bleibt noch ein wenig«, bat die Alte, während sie die Becher füllte. Hastig stürzte sie den Wein hinunter. »Es betäubt«, sagte sie und blickte auf. »Ich bin nicht so elend geboren, wie Ihr mich seht. Ich war frei, glücklich, geehrt und geliebt. Jetzt bin ich eine Sklavin, verachtet und ehrlos. Ich bin Ulrika, die Tochter des edlen Than von Torquilstone.« »Du, die Tochter Torquil Wolfgangers? Des Freundes und Waffengefährten meines Vaters?« »Deines Vaters Freund?« fragte Ulrika. »Dann bist du Cedrik der Sachse?« »Es liegt nichts daran, wer ich bin. Aber erzähle weiter!« »In diesen Hallen, befleckt mit dem Blut meines Vaters und meiner Brüder, in diesen Hallen habe ich als Buhlerin ihres Mörders gelebt«, rief sie in bitterer Selbstanklage. »Während jedermann dich als tot beklagte, hast du dich in den Banden gesetzloser Liebe mit ihm, der deine Nächsten hingemordet hat, verbunden?« »In gesetzlosen Banden, ja, aber nicht in den Banden der Liebe«, erwiderte Ulrika heftig. »Nur der Haß gegen ihn beherrschte meine Seele, auch wenn ich in seinen Armen lag. Nur an Rache habe ich gedacht. Lange hatte das Feuer des Haders zwischen dem tyrannischen Vater und seinem wilden Sohn geglimmt, und ich habe diesen unnatürlichen Haß genährt, bis dann eines Tages mein Quäler durch die Hand seines eigenen Sohnes, Front-de-Boeuf, an seinem eigenen Tisch starb.« Cedrik hatte ihr widerwillig zugehört. Sie fuhr fort: »Vergiß, daß die Unglückliche vor dir die Tochter des Freundes deines Vaters ist. Draußen liegt eine Streitmacht, die dieses verwünschte Schloß belagert. Wenn du die rote Fahne vom Ostturm 118
wehen siehst, dann führe sie zum Angriff. Ich werde meine Rache zu Ende führen.« Mit diesen Worten verschwand Ulrika ebenso rasch, wie sie gekommen war. Im nächsten Augenblick stand Front-de-Boeuf vor Cedrik. »Deine Beichtkinder haben lange gebraucht«, herrschte er den vermeintlichen Mönch an. »Aber desto besser – es war ihre letzte Beichte. Hast du sie auf den Tod vorbereitet?« »Ich fand sie auf das Schlimmste gefaßt«, erwiderte Cedrik in gebrochenem Französisch. »Deine Sprache verrät deine sächsische Abstammung – es wäre besser für dich und auch für meinen Zweck, wenn du ein Normanne wärst. Aber die Not kennt keine Wahl. Folge mir, ich werde dich durch die Hintertüre hinauslassen.« Er erklärte: »Die sächsischen Schweine haben es gewagt, das Schloß von Torquilstone einzuschließen. Erzähle ihnen etwas über die Festung, daß sie noch vierundzwanzig Stunden aufgehalten werden. Inzwischen bringe diese Papierrolle auf das Schloß Philipps von Malvoisin. Sage ihm, ich bäte ihn, die Botschaft so rasch wie möglich nach York zu senden. Er soll nicht zweifeln, daß wir hinter unseren Schanzen sicher sind. Denk dir etwas Gescheites aus, Priester, damit die Schurken warten, bis unsere Freunde uns zu Hilfe kommen.« »Bei meinem Schutzpatron, ich will Eurem Befehl gehorchen«, erwiderte Cedrik mit fester Stimme. »Nicht ein Sachse soll von der Stelle weichen.« »Du sprichst, als läge dir daran, daß diese Sachsen abgeschlachtet werden, und bist doch selbst einer von ihnen?« Cedrik war nicht sehr gewandt in der Kunst der Verstellung, aber die Not schärfte seine Erfindungskraft. Er murmelte undeutlich etwas davon, daß die Leute da draußen von der Kirche Geächtete und vom Staat Ausgestoßene seien. »Du sprichst die Wahrheit«, stimmte Front-de-Boeuf zu. »Waren es nicht Sachsen, die die Kapelle von St. Bees beraubten?« »Gottlose Kerle waren es.« »Es ist deine Pflicht, solchen Kirchenraub zu rächen, Priester!« 119
»Gewiß«, brummte Cedrik. »St. Withold kennt mein Herz.« Front-de-Boeuf führte ihn durch ein Pförtchen und auf einem schmalen Brett über den Schloßgraben zu einer Zwingmauer, die das Schloß durch ein gut befestigtes Ausfalltor mit dem offenen Feld verband. »Geh«, sagte er, »und wenn du meinen Auftrag ausgeführt hast und wiederkommst, sollst du mehr Wein zu trinken bekommen, als dein Kloster ertränken könnte!« Er drückte dem widerstrebenden Cedrik ein Goldstück in die Hand und drohte: »Ich laß' dir Kutte und Haut abziehen, wenn du meinen Plan zum Mißlingen bringst!« »Gern erlaube ich Euch, beides zu tun«, erwiderte Cedrik, »wenn ich bei unserer nächsten Begegnung nichts Besseres aus Eurer Hand verdiene.« Eilig trat er aus der Pforte und ging über das Feld davon. Befriedigt kehrte Front-de-Boeuf in die Halle seines Schlosses zurück. »Hallo, Kerkermeister«, rief er. »Bring einen Humpen Wein in die Waffenhalle und führe Cedrik und den von Coningsburgh dorthin!« Als er die Waffenhalle betrat, stand der Wein schon auf dem Tisch. »Nun, ihr tapferen Engländer«, rief Front-de-Boeuf den beiden Sachsen entgegen. »Wie schmeckt euch die Bewirtung auf Torquilstone? Wenn ihr nicht ein hohes Lösegeld zahlt, dann lasse ich euch mit den Beinen an den Eisenstäben dieser Fenster aufhängen! Heraus mit der Sprache, edler Cedrik! Was bietet Ihr für Euer nichtswürdiges Leben?« »Nicht einen Deut«, antwortete Wamba. »Heilige Genoveva«, rief Front-de-Boeuf. »Was haben wir denn da?« Mit dem Handrücken schlug er dem Possenreißer die Kappe vom Kopf und entdeckte dabei den silbernen Halsreifen des Leibeigenen Wamba. »Hunde! Schufte!« brüllte der Baron. »Was habt ihr mir da gebracht?« »Das ist Cedriks Hanswurst«, erklärte De Bracy, der in die Waffenhalle trat. »Wenn nicht sein Herr und dieser Eber von Coningsburgh gut für ihr 120
Leben bezahlen, sollen sie beide an demselben Galgen hängen! Überdies sollen sie eine Verzichtleistung auf ihre Freiheiten unterschreiben und fortan als unsere Lehensleute leben. Geht!« herrschte Front-deBoeuf zwei seiner Leute an. »Holt mir den richtigen Cedrik!« Zögernd erklärten die Diener, daß, wenn Wamba nicht Cedrik wäre, sie nicht wüßten, was aus ihm geworden sei. »Heilige des Himmels!« rief De Bracy. »Er muß in der Mönchskutte entschlüpft sein!« »Teufel und Hölle«, schrie Front-de-Boeuf. »So war es Cedrik, den ich mit meinen eigenen Händen hinausgelassen habe. Und dir«, er drohte Wamba, »dir will ich die kanonischen Weihen geben, ich will dir die Tonsur besorgen! Zieht ihm die Haut vom Kopf und stürzt ihn über die Schanzen!« »Du sollst ihn nicht töten lassen, Front-de-Boeuf«, fiel De Bracy ein. »Gib ihn mir zur Belustigung. Was meinst du dazu, Wamba? Willst du die Gnade annehmen und mit mir in den Krieg ziehen?« »Oh, ja, aber …« Wamba griff sich ans Halsband. »Ohne meines Herrn Erlaubnis darf ich nicht aus dem Band schlüpfen.« »Eine normannische Säge wird schnell genug ein sächsisches Halsband durchschneiden.« »Du stehst da und hörst auf das Geschwätz eines Narren«, unterbrach ihn Front-de-Boeuf ärgerlich. »Siehst du nicht, daß wir hinters Licht geführt worden sind? Gleich wird der Sturm losbrechen!« »Auf die Mauern denn!« rief De Bracy. »Diese sächsischen Landstreicher sollen es nur versuchen, das Schloß zu erstürmen. Aber wenn du doch mit den Banditen verhandeln willst, so kann uns dieser würdige Freisasse dabei helfen«, fügte er nachdenklich hinzu. Er wandte sich Athelstane zu: »Sage uns, was du für deine Freiheit tun willst!« »Entlaßt mich mit meinen Gefährten, und ich will ein Lösegeld von tausend Mark bezahlen.« »Und willst du dafür einstehen, daß sich diese Banditen zurückziehen?« »Soweit ich es vermag, will ich es gerne versuchen.« 121
»Du wirst also freigelassen und gegen die Bezahlung von tausend Mark soll auf beiden Seiten der Friede wiederhergestellt werden. Aber dieses Lösegeld erstreckt sich nicht auf den Juden Isaak.« »Noch auf seine Tochter«, warf der Templer ein, der die letzten Worte vernommen hatte. »Macht mit den Ungläubigen, was euch beliebt«, gab Athelstane gleichmütig zurück. »Das Lösegeld schließt auch nicht Lady Rowena ein«, fuhr De Bracy fort. »Lady Rowena ist meine verlobte Braut.« Athelstane begehrte auf: »Eher lasse ich mich von wilden Pferden zerreißen, als daß ich mich von ihr trenne!« De Bracy lachte: »Lady Rowena deine Braut? Die Braut eines Vasallen? Du träumst, Sachse. Die Prinzen vom Hause Anjou überlassen ihre Pflegebefohlenen nicht Leuten deiner Abstammung!« »Meine Vorfahren waren Könige«, gab Athelstane mit Würde zurück. »Stark im Kampf und weise im Rat. Sie haben jeden Tag hundertmal mehr Gäste bewirtet, als du einzeln aufzählen kannst, und ihre Gebeine ruhen inmitten der Leichname von Heiligen. Über ihren Grabstätten wurden Münster erbaut …« »Deine stolze Rede wird Lady Rowena nicht die Freiheit bringen.« De Bracy zuckte die Achseln. Ein Diener trat ein und meldete, daß ein Mönch Einlaß begehre. »Ist es diesmal ein wirklicher Priester oder wieder ein Betrüger?« rief Front-de-Boeuf. Der Haushofmeister verbeugte sich unterwürfig: »Der geistliche Herr ist Bruder Ambrosius, ein Mönch aus dem Gefolge des Abts von Jorvaulx.« »Bringt diese Sachsen fort und führt den Mönch herein!« befahl der Baron. »Ich beanspruche ein anständiges Gefängnis!« rief Athelstane. »Ein gutes Lager und entsprechende Verpflegung. Außerdem sollst du mir Genugtuung geben, sobald ich freigelassen bin. Hier liegt mein Handschuh!« 122
»Ich nehme keine Herausforderung von einem Gefangenen an«, erwiderte Front-de-Boeuf hochmütig. »Hängt seinen Handschuh auf ein Hirschgeweih. Dort soll er bleiben, bis sein Besitzer ein freier Mann ist. Wenn er sich dann anmaßt, ihn zurückzufordern, werde ich mich nicht weigern, ihm im Kampf zu begegnen!« Kaum hatte sich die Türe hinter den sächsischen Gefangenen geschlossen, als Bruder Ambrosius aufgeregt in die Waffenhalle stürzte. »Heilige Mutter«, rief er, »endlich bin ich sicher und in christlicher Obhut. Ihr seid Freunde und Verbündete unseres ehrwürdigen Vaters, Abt Aymer von Jorvaulx. Ihr schuldet ihm Hilfe sowohl aus ritterlicher Treue wie aus christlicher Liebe. Bösewichte, die alle Gottesfurcht und Achtung vor seiner Kirche außer acht gelassen …« »Faß dich kurz, Priester«, unterbrach ihn der Templer, »und sage, was geschehen ist!« »So es Euch beliebt«, erwiderte Ambrosius, »gewalttätige Hände haben meinen ehrwürdigen Abt gefangengenommen. Sie haben seine Koffer und Reisesäcke geleert und ihm zweihundert Mark des feinsten Goldes abgenommen. Sie begehren außerdem ein hohes Lösegeld. Der ehrwürdige Vater bittet Euch, ihn zu befreien, entweder durch Zahlung des Lösegeldes oder durch Waffengewalt.« »Der Teufel hole den Abt!« rief Front-de-Boeuf. »Wann hat ein normannischer Baron je seinen Beutel geöffnet, um einen Mann der Kirche auszulösen, der zehnmal soviel besitzt wie er? Und was können wir mit Waffengewalt tun, da wir hier selbst von einer zehnfach stärkeren Streitmacht eingeschlossen sind?« »Darüber wollte ich Euch eben Meldung erstatten, hättet Ihr mir Zeit gelassen«, sagte Ambrosius. »Sie ziehen ihre Leute zusammen und errichten einen Damm gegen die Mauer des Schlosses.« De Bracy eilte ans Fenster: »Sie bringen Schutzwehren und Setztartschen herbei! Die Bogenschützen sammeln sich am Waldrand!« Front-de-Boeuf blies in sein Horn. »Wir sind wenige an Zahl«, sagte er bestimmt, »aber Entschlossenheit und Mut werden diesen Mangel wettmachen, da wir es doch nur mit Bauern zu tun haben.« Auch Bois-Guilbert war ans Fenster getreten: »Sie rücken in geord123
neten Reihen heran!« rief er erstaunt. »Ich sehe weder ein Banner noch ein Wappenschild, und doch könnte ich wetten, daß sie von einem Ritter angeführt werden, der im Kriegshandwerk geübt ist.« »Ich sehe eines Ritters Helmbusch«, fiel De Bracy ein. »Seht diesen hochgewachsenen Mann im schwarzen Harnisch. Ich glaube sogar ihn zu erkennen – es ist derjenige, den sie in Ashby den Schwarzen Faulenzer nannten!« »Um so besser, daß er selbst hierher kommt«, sagte Front-de-Boeuf. »Ich würde ihn vergeblich gesucht haben, wo Ritter und Edelleute ihre Feinde sonst finden, um ihm Revanche zu geben!« Er eilte hinaus, gefolgt von den anderen Rittern. Jeder begab sich auf seinen Posten. Sie warteten mit den wenigen Leuten, die sie zur Verfügung hatten, den Angriff der Belagerer ab. Die schweren und hastigen Schritte der Bewaffneten, die sich auf die Verteidigung vorbereiteten, dröhnten in den Gängen des Schlosses. Aufgeregt lauschte Ivanhoe auf die Stimmen der Ritter, die Befehle erteilten und ihre Leute zur Eile anspornten. Er klagte: »Oh, könnte ich mich nur ans Fenster schleppen, um zu sehen, was geschieht! Wenn ich wenigstens einen Bogen hätte oder eine Streitaxt! Gleich wird der Sturm losbrechen …« Er wiederholte: »Wenn ich wenigstens das Fenster erreichen könnte!« »Ihr würdet Euch nur schaden«, erwiderte Rebekka. »Ich werde mich ans Fenster stellen und beschreiben, was ich sehe.« »Das darfst du nicht«, rief Ivanhoe. »Jedes Fenster, jede Öffnung wird den Bogenschützen als Zielscheibe dienen.« Rebekka stieg unbekümmert die Stufen hinan, die zum Fenster führten. »Rebekka, liebe Rebekka!« bat Ivanhoe. »Das ist kein Zeitvertreib für Mädchen. Setze dich nicht der Gefahr aus – oder decke dich wenigstens mit diesem alten Schild!« Rebekka gehorchte. Sie lehnte den riesigen Schild gegen den unteren Teil des Fenstergitters und nahm ihren Beobachtungsstand ein. Da sich das Zimmer in einem Turm an der Ecke des Hauptgebäudes befand, konnte sie die Bewegungen der Angreifer jenseits der Mauern überblicken und sehen, was innerhalb der Befestigungen vorging. 124
»Der Saum des Waldes scheint mit Bogenschützen eingefaßt zu sein.« »Unter welchem Banner?« »Ich sehe keines – ein Ritter in schwarzer Rüstung scheint der Anführer zu sein.« »Kannst du sein Wappen erkennen?« »Es sieht aus wie ein blaues Fesselschloß auf schwarzem Grunde.« »Sind keine anderen Führer unter den Angreifern?« »Ich kann sonst niemand sehen, aber es ist gewiß, daß auch die andere Seite des Schlosses belagert wird.« In diesem Augenblick ertönte ein lauter Hornstoß, das Zeichen zum Sturm, das die Fanfaren der Normannen erwiderten. Mit dem Ruf: »St. Georg fürs lustige England!« rückten die Angreifer vor. Die Bogenschützen schossen ihre Pfeile so sicher und dicht, daß die Verteidiger sich kaum zeigen konnten, ohne sich der höchsten Gefahr auszusetzen. Aber Front-de-Boeufs Krieger und seine Verbündeten hielten stand und gaben Schuß um Schuß zurück. »Siehst du den Ritter vom Fesselschloß, schöne Rebekka?« fragte Ivanhoe. »Er führt eine Schar von Männern dicht an das äußere Tor der Brückenschanze heran.« Rebekka schauderte: »Sie reißen die Pfähle und Palisaden nieder … jetzt haben sie eine Bresche in das Tor geschlagen – sie stürzen herein – und werden zurückgeworfen.« Sie wandte sich ab. »Sieh noch einmal hinaus«, drängte Ivanhoe. »Das Schießen muß nachgelassen haben, sie sind handgemein geworden – es ist jetzt weniger gefährlich.« Rebekka trat wieder ans Fenster. »Front-de-Boeuf und der Schwarze Ritter kämpfen Mann gegen Mann in der Bresche!« Sie stieß einen lauten Schrei aus: »Er ist gefallen!« »Wer ist gefallen?« »Der Schwarze Ritter.« Sie jubelte auf: »Er ist wieder auf den Füßen – sein Schwert war zerbrochen, er entreißt einem Freisassen die Axt und bedrängt Front-de-Boeuf – er schwankt – er fällt!« 125
»Front-de-Boeuf?« »Jaja! Seine Leute befreien ihn und tragen ihn ins Schloß zurück … Die Angreifer haben das Tor erstürmt und bedrängen die Verteidiger auf dem äußeren Wall. Sie legen Leitern an – von oben rollen Steine, Balken und Baumstämme herunter.« Rebekka hielt inne und griff sich ans Herz. »Wer weicht, wer dringt vor?« »Die Leitern werden niedergeworfen, die Krieger liegen darunter, aber die Bogenschützen halten sich. Der Schwarze Ritter nähert sich der Pforte, Steine und Balken hageln auf ihn herunter, er achtet nicht darauf, die Pforte zersplittert unter seiner Axt – sie stürzen hinein …« »Haben sie die Brücke genommen?« Rebekka verlor beinahe den Atem: »Nein. Der Templer hat die Planke zerstört und ist mit seinen Leuten ins Schloß entkommen.« »Was tun sie jetzt? Sie werden doch nicht aufgeben? Unter einem Führer wie dem Schwarzen Ritter gibt es keine feige Furcht. Ich wollte zehn Jahre gefangen liegen, könnte ich nur einen Tag an seiner Seite kämpfen!« Rebekka setzte sich an das Lager Ivanhoes. »Wie dürft Ihr hoffen, anderen Wunden beizubringen, ehe Eure eigenen geheilt sind? Was bleibt Euch als Preis für all das vergossene Blut, für alle Tränen, die andere weinen, wenn Euch der Tod ereilt?« »Was uns bleibt? Der Ruhm, der unsere Grabstätten vergoldet und unsere Namen fortleben läßt!« »Der Ruhm?« wiederholte Rebekka. »Er ist nur der rostige Panzer, der als Wappenbild über dem Grab hängt. Oder liegt eine solche Zauberkraft in den rohen Versen des wandernden Sängers, daß Liebe, Glück und Frieden so eifrig dagegen eingetauscht werden, um zum Helden jener Balladen zu werden, die die herumziehenden Sänger betrunkenen Männern beim Abendbier vorsingen?« »Du sprichst von Dingen, die du nicht verstehst. Du bist keine Christin, Rebekka, du kennst nicht das beglückende Gefühl, das ein Mädchen empfindet, wenn ihr Geliebter eine kühne Tat vollbracht hat, die 126
seine Liebe feierlich bestätigt. Das Rittertum ist die Pflegerin reiner Liebe, die Stütze der Unterdrückten, der Zaum für die Gewalt des Tyrannen. Ohne das Rittertum wäre der Adel ein leerer Wahn, in seiner Lanze findet die Freiheit ihren besten Schutz.« Rebekka schwieg. Sie wußte, daß Ivanhoe es nicht verstehen würde, warum sie das Rittertum getadelt hatte, und war verletzt, daß er sie nicht für berechtigt hielt, in einer Ehrensache mitzureden. Sie richtete sich auf und blickte auf den Verwundeten. Ivanhoe war eingeschlafen. Sie betrachtete ihn mit liebevoller Zärtlichkeit, doch dann verdrängte die Sorge um ihren Vater jedes andere Gefühl. Sie machte sich bittere Selbstvorwürfe: »Ach, mein Vater, wie konnte ich dich vergessen über den Locken dieses Jünglings? Ich will diese Torheit aus meinem Herzen reißen, wie sehr ich auch darunter leiden mag.« Sie hüllte sich in ihren Schleier und setzte sich auf einen Sessel in einiger Entfernung von Ivanhoes Bett.
Während der kurzen Waffenruhe, die nach dem erfolgreichen Durchbruch der Belagerer eingetreten war, trafen De Bracy und der Templer in der Halle des Schlosses zusammen. »Wo ist Front-de-Boeuf?« fragte De Bracy, der die Verteidigung auf einer anderen Seite der Festung befehligt hatte. »Es heißt, er ist erschlagen worden.« »Er lebt noch«, erwiderte der Templer unbewegt. »Aber in ein paar Stunden wird er bei seinen Vätern sein.« »Ein tüchtiger Zuwachs zu Satans Reich! Das kommt davon, wenn man Heilige und Engel verspottet.« »Du bist ein Narr«, gab Bois-Guilbert zurück. »Dein Aberglaube ist um nichts besser als Front-de-Boeufs Unglaube! Laß uns lieber überlegen, wie wir das Schloß halten können. Wie haben die Bauern auf deiner Seite gekämpft?« 127
»Wie die Teufel. Sie schwärmten dicht bis an die Wälle heran, unter dem Befehl des Landsmanns, der den Preis im Bogenschießen von Ashby gewann. Er traf jede Fuge in meiner Rüstung mit einem Pfeil. Trüge ich nicht ein spanisches Panzerhemd, wo wäre ich nicht mehr am Leben.« »Wir haben das Außenwerk auf unserer Seite freigeben müssen.« »Das ist ein schlimmer Verlust.« De Bracy erklärte: »Wir sind eben zu wenige, um jeden Platz verteidigen zu können. Meinst du nicht, daß es besser wäre, wenn wir uns mit den Schurken durch die Auslieferung der Gefangenen vergleichen würden?« »Schäm dich deines Rates, De Bracy! Ich will eher unter den Trümmern dieses Schlosses begraben werden, als daß ich mich ergebe!«
Von grauenhaften Schmerzen und verzweifelter Todesangst gequält, lag der Herr des belagerten Schlosses auf seinem Lager. »Wo stecken diese Hunde von Priestern jetzt?« murrte er. »Wo sind diese unbeschuhten Karmeliter, für die der alte Front-de-Boeuf ein Kloster stiftete? Mich, den Erben ihres Wohltäters, lassen sie hinsterben wie einen herrenlosen Hund, ohne Beichte und ohne Abendmahl …« »Lebt Reginald Front-de-Boeuf?« unterbrach ihn eine schrille Stimme. Der Fiebernde schauderte: »Wer ist da? Komm an mein Lager, damit ich dich sehe!« »Ich bin dein böser Geist, Reginald Front-de-Boeuf. Denke an deine Sünden«, fuhr die unheimliche Stimme fort. »Wer stachelte Johann zum Krieg gegen seinen alten Vater an, gegen seinen großmütigen Bruder Richard?« »Das lügst du! Nicht ich war's, nicht ich allein – es waren fünfzig Ritter und Barone – muß ich büßen für einen Fehler, den fünfzig begangen haben? Mach, daß du fortkommst, laß mich in Frieden sterben!« 128
»In Frieden sollst du nicht sterben. Sogar im Tod sollst du an deine Mordtaten denken.« Front-de-Boeuf lachte böse auf: »Die sächsischen Schweine, die ich erschlug, waren die Feinde meines Vaterlandes und meines Geschlechts.« »Denk an deinen Vater, an seinen Tod! Denk an sein Blut, das du vergossen hast!« »Wenn du das weißt, dann bist du in der Tat der Teufel! Aber ich war es nicht allein. Die sächsische Hexe Urika war meine Versucherin, sie hat mich zu der Tat gereizt und mich schändlich dafür belohnt! Sie soll die Qualen spüren, die der Hölle vorausgehen!« »Sie spürt sie bereits«, sagte Ulrika und beugte sich über das Lager Front-de-Boeufs, so daß er sie erkannte. »Elende Hexe!« schrie der Baron. »Giles, Klemens, packt diese Furie und werft sie über die Mauern!« »Dein Schreien wird dir nichts nützen, sie können dich nicht hören. Die geschmähten Sachsen erstürmen die Mauern deines Schlosses, und du sollst umkommen wie der Fuchs in seiner Höhle, wenn die Bauern ringsum Feuer gelegt haben.« Rasch wandte Ulrika sich ab. Der Sterbende blickte ihr in ohnmächtiger Todesangst nach.
Nachdem der Wachtturm durch den ersten Sturm genommen worden war, ließ der Schwarze Ritter eine schwimmende Brücke bauen, auf der er den Graben überqueren wollte, um mit seinen Leuten weiter in das Innere des Schlosses vordringen zu können. Locksley sollte unterdessen die Aufmerksamkeit der Verteidiger durch einen Angriff auf die andere Seite des Schlosses ablenken. Die Pforte, die von der Innenmauer des Wachtturms zum Graben führte, wurde geöffnet und die Notbrücke, die vom Außenwerk bis zum Schloß reichte, hinübergeworfen. Der Schwarze Ritter, dicht gefolgt von Cedrik, betrat die Brücke zuerst und begann, mit der Streit129
axt auf das Schloßtor einzuschlagen, nach oben geschützt durch die Überreste der alten Zugbrücke, die der Templer beim Rückzug zerstört hatte. Die dem Schwarzen Ritter nachfolgenden Männer waren den Schüssen der Verteidiger ausgesetzt und zogen sich bald in den Wachtturm zurück. Nur Cedrik wich nicht von seiner Seite. Ihre Lage wurde bedenklich, als De Bracys Leute begannen, die schweren Steine loszubrechen, die aus der Mauer über ihnen hervorragten. Jetzt bemerkte Locksley die rote Fahne an der Ecke des Turms, das Zeichen zum Sturm, das Ulrika mit Cedrik verabredet hatte. »Vorwärts!« feuerte Locksley seine Sachsen an. »Das Schloß ist unser, wir haben Freunde drinnen!« Er spannte seinen Bogen, und mit schnell aufeinanderfolgenden Schüssen tötete er drei Verteidiger, so daß die anderen entmutigt zurückwichen. De Bracy riß das Brecheisen an sich und begann, auf den Stein loszuhauen, der gefährlich über den Köpfen der Angreifer hing. Locksley schoß vier Pfeile auf ihn, doch sie prallten von der Rüstung ab. Bois-Guilbert erschien auf der Mauer: »Alles ist verloren, das Schloß brennt!« rief er: »Die Westseite steht in Flammen.« De Bracy ließ das Brecheisen fallen. »Was können wir noch tun?« fragte er ratlos. »Führe deine Leute hinunter, wie zu einem Ausfall«, befahl der Templer mit kühler Überlegenheit. »Vor der kleinen Pforte stehen nur zwei Leute auf dem Floß. Schleudere sie in den Graben und dringe in das Außenwerk vor. Ich selbst werde durch das Haupttor ausbrechen.« De Bracy zog eiligst seine Leute zusammen und ließ das Ausfallstor öffnen. Das half dem Schwarzen Ritter, seinen Weg ins Innere der Burg zu nehmen. Er tötete zwei von De Bracys Männern, die anderen wichen erschrocken zurück. Nun stand er De Bracy gegenüber. Die Schläge, die sie gegeneinander führten, hallten in den Gängen des Gewölbes, bis De Bracy unter der Wucht eines Axthiebes zusammenbrach. Der Schwarze Ritter beugte sich über ihn: »Ergib dich, auf Gnade oder Ungnade, oder du mußt es mit deinem Leben büßen.« 130
»Ich werde mich keinem ungekannten Sieger ergeben«, erwiderte De Bracy mit schwacher Stimme. »Nenne deinen Namen, oder tu, was dir beliebt.« Der Schwarze Ritter flüsterte ihm etwas zu. De Bracy erblaßte: »Ich ergebe mich dir als dein Gefangener«, sagte er mit ehrerbietiger Unterwürfigkeit. Er zögerte – dann fügte er entschlossen hinzu: »Wilfred von Ivanhoe ist verwundet und gefangen im Schloß. Er wird in den Flammen umkommen.« »Wilfred von Ivanhoe? Wo ist sein Zimmer?« »Steig über diese Wendeltreppe hinauf – willst du meine Führung annehmen?« »Nein«, gab der Schwarze Ritter zurück. »Ich traue dir nicht. Geh ins Außenwerk und erwarte dort meine Befehle.« De Bracy erhob sich langsam, nahm seinen Helm zum Zeichen seiner Unterwerfung ab und ging zum Außenwerk, wo er sein Schwert Locksley übergab.
Als der zweite Sturm losbrach, hatte Rebekka auf die Bitte Ivanhoes ihren Platz beim Fenster wieder eingenommen. Doch sie konnte den Kampf nicht lange verfolgen, denn dicke Rauchschwaden erschwerten die Sicht, und bald drangen sie auch durch Fenster und Türe in das Gemach. Laute Rufe nach Wasser übertönten den Lärm der Schlacht. »Das Schloß brennt!« rief Rebekka entsetzt. »Flieh und rette dich«, drängte Ivanhoe. »Ich will nicht fliehen und Euch zurücklassen – wir werden zusammen gerettet werden oder zusammen sterben.« Der Templer erschien auf der Schwelle. Seine Rüstung war zerbrochen und beschmutzt, der Federbusch auf seinem Helm war zum Teil zerhauen, zum Teil verbrannt. »Auf, folge mir sofort!« Er trat auf Rebekka zu: »Komm mit!« »Allein will ich dir nicht folgen«, erwiderte sie. »Rette meinen alten Vater und diesen verwundeten Ritter!« 131
»Ein Ritter muß sein Schicksal auf sich nehmen«, sagte Bois-Guilbert kalt. »Und wer kümmert sich um einen Juden?« Er ergriff das Mädchen und trug sie, ohne ihren Widerstand zu beachten, in seinen Armen aus dem Zimmer. In ohnmächtigem Zorn rief Ivanhoe ihm nach: »Laß das Mädchen frei, Templerhund! Du Schande deines Ordens!« »Ich hätte dich nicht gefunden, Wilfred, wenn du nicht so laut geschrien hättest!« Der Schwarze Ritter stand vor Ivanhoe. Er packte ihn und trug ihn mit Leichtigkeit zum Tor, wo er ihn der Fürsorge der Landleute überließ. Der Turm stand nun in hellen Flammen, doch an anderen Stellen widerstanden die dicken Mauern dem Feuer. Die Belagerer verfolgten die Verteidiger des Schlosses von Raum zu Raum. Die Leute Front-deBoeufs leisteten äußersten Widerstand. Verzweifelt bahnte sich Cedrik seinen Weg durch die Kämpfenden, um Rowena zu retten, die schon alle Hoffnung aufgegeben hatte. Die anderen Gefangenen flüchteten sich in der all gemeinen Verwirrung in den Schloßhof, wo der letzte Kampf ausgetragen wurde. Der Templer hatte befohlen, die Zugbrücke niederzulassen. Die Bogenschützen drangen ungehindert herein. Auf der anderen Seite rückten die Belagerer vom Außenwerk in den Schloßhof vor und griffen die Verteidiger an. Rebekka war von einem Sarazenensklaven auf ein Pferd gehoben worden. Der Templer hielt sich an ihrer Seite und beschützte sie vor den Hieben der Angreifer. Athelstane, der glaubte, daß es Rowena war, die Bois-Guilbert entführen wollte, riß einen Streitkolben an sich und bahnte sich mit wütenden Schlägen einen Weg durch die Schar der feindlichen Krieger. Schon hob er die Axt gegen den Templer, als dieser sein Pferd herumriß und sein Schwert mit solcher Wucht auf Athelstanes Helm niedersausen ließ, daß der Sachse zusammenbrach. »Wer sich retten will, folge mir!« rief Bois-Guilbert. Sich dicht an Rebekkas Seite haltend, sprengte er über die Zugbrücke, gefolgt von seinen Sarazenen und einigen Bewaffneten. Er galoppierte rund um das Außenwerk davon. 132
Die zurückgebliebenen Schloßsoldaten setzten ihren aussichtslosen Widerstand fort, bis die um sich greifenden Flammen und herabfallenden Balken die Kämpfenden aus dem Schloßhof vertrieben. Die wenigen, die das Gefecht überlebten, entflohen in den nahen Wald. Das Feuer breitete sich mit rasender Geschwindigkeit aus. Ulrika stand hoch aufgerichtet auf der Spitze eines Turmes und stimmte mit gellender Stimme einen Kriegsgesang an. Die grauen Haare wehten aufgelöst um ihren Kopf. Die Freude befriedigter Rache leuchtete aus ihren Augen, bis der Turm, auf dem sie stand, mit schrecklichem Getöse zusammenbrach und sie in den Trümmern begrub.
Am frühen Morgen des nächsten Tages versammelten sich die Geächteten unter dem Gerichtsbaum im Harthillgang, einer alten Eiche, die eine halbkreisförmige Waldlichtung in der Nähe von Torquilstone überragte. Die Beute, die sie noch am Abend nach dem Kampf zusammengetragen hatten, war reich ausgefallen. Obwohl ein Großteil der Schätze des Schlosses durch das Feuer vernichtet worden war, hatten die Geächteten doch viel Silberzeug, Rüstungen und kostbare Gewänder gerettet. Locksley übernahm den Vorsitz der Versammlung und wies dem Schwarzen Ritter und Cedrik die Plätze an seiner Seite an. »Verzeiht, edle Herren«, sagte er, »aber in diesen Wäldern bin ich der Herrscher, und meine Untertanen würden gering von mir denken, wenn ich meinen Platz einem anderen überlassen würde.« Er unterbrach sich besorgt: »Wo ist unser Kaplan? Wer hat ihn nach der Einnahme des Schlosses noch gesehen?« »Ich sah ihn zuletzt an der Türe eines Kellers im Schloß Front-deBoeufs«, berichtete der Müller. »Mögen die Heiligen verhüten, daß er zu tief in den Becher geschaut hat und unter den Trümmern begraben worden ist!« Locksley befahl einigen seiner Leute, sich auf die Suche nach dem Mönch zu machen: »Schüttet Wasser auf die brennenden Trümmer! Ich will eher Stein 133
für Stein wegräumen lassen, als daß ich meinen guten Mönch verliere!« Dann wandte er sich wieder der Versammlung zu: »Inzwischen wollen wir fortfahren. Wir müssen uns bald aus dieser Gegend zurückziehen. Wir könnten von Front-de-Boeufs Verbündeten angegriffen werden. Die Beute ist in zwei Teile geteilt. Edler Cedrik, wählt, was Euch am besten gefällt, um Euer Gefolge zu belohnen.« »Mein Herz ist schwer vor Kummer«, erklärte der Sachse. »Athelstane von Coningsburgh ist nicht mehr – der letzte Sproß aus der Familie des heiligen Bekenners! Meine Leute erwarten nichts von mir als meine Anwesenheit bei seiner Bestattung. Lady Rowena wünscht, nach Rotherwood zurückzukehren, und ich blieb nur noch hier, um dir und deinen Leuten meinen Dank auszusprechen. Überdies bin ich reich genug, um mein Gefolge aus meinem eigenen Besitz zu belohnen. Aber du, mein armer Schelm«, sagte Cedrik zu Wamba, der sich treu an der Seite seines Herrn hielt, »wie soll ich dich belohnen, der bereit war, sein Leben für mich zu geben?« »Wenn Ihr mir wirklich ein Vergnügen machen wollt, Onkel, so bitte ich Euch, verzeiht dem armen Gurth, der Euch eine Woche Dienst entzogen hat, um Eurem Sohn zu dienen.« »Ihm verzeihen?« rief Cedrik. »Ich will ihn belohnen! Knie nieder, Gurth!« Der Schweinehirt sank zu Füßen seines Herrn nieder. Cedrik berührte ihn mit seinem Stab und sprach: »Von nun an bist du nicht mehr Sklave und Leibeigener, sondern ein gesetzmäßiger Freier, in Stadt und Land. Außerdem will ich dir und den Deinen für immer und ewig eine Hufe Land überlassen, und Gottes Fluch über den, der dem widerspricht.« Gurth erhob sich und machte einen Luftsprung: »Ein Schmied und eine Feile«, rief er, »um das Band der Leibeigenschaft vom Hals eines freien Mannes zu entfernen! Edler Herr, Euer Geschenk hat meine Kraft verdoppelt, und doppelt will ich für Euch fechten.« Hufschlag ertönte. Lady Rowena, reich geschmückt, von mehreren Reitern und einer Schar Fußvolk umgeben, ritt auf einem kastanien134
braunen Zelter in den Kreis der Versammelten. Locksley und seine Begleiter erhoben sich, um sie zu begrüßen. Sie errötete leicht, während sie sich bei ihnen bedankte. Sie schloß mit den Worten: »Gott segne euch, wackere Männer, und vergelte euch, daß ihr so mutig euer Leben gewagt habt. Denkt daran, daß ich euch gern Speise gebe, wenn einer von euch hungert, und wenn euch die Normannen aus diesen Wäldern vertreiben, könnt ihr in meinen Wäldern frei herumstreifen und kein Forstwart soll je fragen, wessen Pfeil das Wild erlegt hat.« »Ich bedanke mich auch im Namen meiner Gefährten«, erwiderte Locksley gerührt. »Aber Euch befreit haben zu dürfen ist guter Lohn an sich.« Als De Bracy Rowena erblickte, trat er vor, faßte ihr Pferd beim Zügel und beugte das Knie vor ihr: »Laßt mich nur wissen, edle Dame, daß Ihr mir die Gewalttat vergebt, die durch meine unglückliche Leidenschaft veranlaßt wurde. Ihr sollt bald erfahren, daß ich Euch auf anderen Wegen zu dienen verstehe.« »Ich vergebe Euch, Herr Ritter«, sagte Rowena. »Aber ich kann nicht das Elend und die Verwüstung vergeben, die Eure Unbesonnenheit verursacht hat.« »Laßt den Zügel der Dame los«, befahl Cedrik und trat zwischen die beiden. »Ihr könnt sicher sein, daß Ihr für Euren Anteil an dieser Schandtat büßen werdet!« »Sicher droht, wer einem Gefangenen droht«, stieß De Bracy hervor. »Aber wann hat auch ein Sachse eine Spur von Höflichkeit bewiesen?« Cedrik wandte ihm den Rücken. Er verbeugte sich vor dem Schwarzen Ritter und bat, daß er ihn nach Rotherwood begleiten möge. »Ich weiß, daß ihr irrenden Ritter euch nicht um Land und Güter kümmert«, sagte er. »Aber solltet Ihr einmal das Verlangen nach einer Heimstätte verspüren, so stehen Euch meine Hallen offen. Alles, was Cedrik besitzt, gehört auch seinem Befreier. Kommt nach Rotherwood, nicht als Gast, sondern als Sohn oder Bruder!« »Gerne will ich Eure Einladung annehmen, doch nicht jetzt, und wenn ich komme, werde ich ein Geschenk von Euch erbitten, das Eure Großmut auf die Probe stellen wird.« 135
»Es ist gewährt, bevor Ihr es noch aussprecht!« Cedrik reichte ihm die Hand. Rowena nickte dem Schwarzen Ritter anmutig zum Abschied zu und folgte ihrem Vormund, der sofort aufbrach. Locksley fragte nun den Schwarzen Ritter: »Wollt Ihr Euch aus der Beute nehmen, was Euch am besten zusagt?« »Ich nehme Euer Angebot an. Ich bitte Euch um die Erlaubnis, über Sir Moritz de Bracy nach meinem Gefallen verfügen zu dürfen.« »Euer Wunsch ist erfüllt. De Bracy gehört Euch – und das ist sein Glück, sonst hätte seine Leiche den höchsten Zweig dieser Eiche geschmückt!« Der Schwarze Ritter herrschte seinen Gefangenen an: »De Bracy, du bist frei! Ich verschmähe es, niedere Rache zu nehmen für das, was vergangen ist. Aber hüte dich vor der Zukunft!« Der Normanne verbeugte sich ohne ein Wort der Erwiderung, schwang sich auf eines der Pferde aus Front-de-Boeufs Ställen und sprengte durch den Wald davon. Der Hauptmann nahm das Horn, das er beim Preisschießen in Ashby gewonnen hatte, und überreichte es dem Schwarzen Ritter: »Wenn Ihr es nicht verschmäht, ein Horn zu tragen, das ein englischer Landsmann besessen hat, so bitte ich Euch, es zu behalten als Andenken an Eure Tapferkeit. Und wenn Ihr einmal in irgendeinem Walde zwischen Trent und Tees hart bedrängt seid, so blast drei Noten. Ihr werdet Helfer und Retter finden.« Locksley stieß in das Horn und blies das beschriebene Signal. »Ich danke dir für deine Gabe. Bessere Hilfe als die deine und die deiner Gesellen könnte ich nicht finden«, antwortete der Schwarze Ritter. »Kameraden, merkt euch diese Noten«, sagte Locksley zu seinen Leuten. »Es ist das Signal des Ritters vom Fesselschloß. Und wer es hört und nicht eilt, ihm zu helfen, der wird mit Schimpf und Schande aus unserem Bund ausgestoßen.« »Lang lebe unser Hauptmann«, riefen die Geächteten, »und lang lebe der Ritter vom Fesselschloß!« Nun begann die Verteilung der Beute. Der zehnte Teil wurde für die 136
Kirche beiseite gelegt, ein Teil für den öffentlichen Schatz und ein anderer für die Hinterbliebenen der Gefallenen. Der Rest wurde nach Rang und Verdienst gerecht unter die Männer verteilt, die in lautes Jubelgeschrei ausbrachen, als sie den Mönch kommen sahen. »Macht Platz!« rief der lustige Einsiedler. Er erschien in der Mitte des Halbkreises, eine ungeheure Partisane in einer Hand. Mit der anderen schleppte er an einem Halfter Isaak, den Juden von York, hinter sich her. »Wen hast du denn da?« fragte Locksley. »Einen Gefangenen meines Schwertes«, erwiderte der Pfaffe von Copmanshurst. »Und doch habe ich ihn von einer schlimmeren Gefangenschaft befreit. Sprich, Jude, habe ich dich nicht losgekauft vom Satan? Habe ich dich nicht dein Credo, dein Paternoster und dein Ave Maria gelehrt?« »Um der Liebe Gottes willen!« jammerte Isaak. »Will mich denn niemand aus den Händen dieses tollen … dieses heiligen Mannes retten?« Der Einsiedler erzählte: »Ich fand ihn, wo ich nach besserer Ware suchte. Ich stieg in den Keller hinunter, um zu sehen, was es dort noch zu befreien gäbe. Ich packte ein Fäßchen Sekt, als ich eine dicke Türe bemerkte. Ich dachte, dort sei der kostbarste Saft von allen aufbewahrt – hinein also! Aber ich fand nichts außer rostigen Ketten und diesen Juden, der sich mir sofort auf Gnade oder Ungnade ergab. Ich war im Begriff, meinen Gefangenen hinauszuführen, als mit wildem Getöse ein Turm über uns einstürzte und die Trümmer den Ausgang verschütteten. Ich gab mein Leben verloren, und da ich nicht in der Gemeinschaft eines Juden aus dieser Welt scheiden wollte, griff ich zu meinen geistlichen Waffen, um ihn zu bekehren. Die Saat fiel auf guten Boden, aber ich war völlig erschöpft – Gilbert und Wibbald wissen, in welchem Zustand sie mich fanden!« »Wir können's bezeugen«, sagte Gilbert. »Als wir die Trümmer weggeräumt hatten und auf die Kerkertreppen vorstießen, fanden wir das Fäßchen Sekt halb geleert, den Juden halb tot und den Mönch mehr als halb – erschöpft, wie er's nennt!« 137
»Ihr lügt, ihr Schurken«, rief der Einsiedler empört. »Ihr selbst habt den Sekt getrunken! Aber was macht's – der Jude ist bekehrt!« »Ist das wahr, Isaak?« fragte Locksley. »Ich weiß nicht ein Wort von dem, was der ehrwürdige Priester zu mir gesprochen hat in dieser furchtbaren Nacht«, beteuerte der Jude. »Ich war so außer mir vor Todesangst und Kummer, daß selbst Abraham taube Ohren gefunden hätte, wenn er gekommen wäre, mir zu predigen.« »Du lügst, Jude, und du weißt es!« rief der Mönch. »Du hast versprochen, all deinen Besitz unserem Orden zu schenken!« »Solche Worte sind nie über meine Lippen gekommen«, sagte Isaak. »Ich bin ein armer alter Mann, ich fürchte, auch ein kinderloser. Habt Erbarmen mit mir und laßt mich gehen!« »Nein«, widersprach der Geistliche. »Wenn du dein Gelübde zugunsten der heiligen Kirche brichst, mußt du büßen.« »Laßt alle Unfreundlichkeit zu Ende sein«, entschied Locksley. »Der Jude soll ein Lösegeld bezahlen. Denke schnell über den Betrag nach, Isaak, denn du weißt, wir dürfen dich nicht länger als unbedingt nötig in unserer christlichen Gesellschaft dulden. – Und nun führt die anderen Gefangenen vor!« Als nächster wurde Abt Aymer von Jorvaulx vor Locksley gebracht. »Meine Herren«, begann der Abt mit einer Stimme, aus der beleidigter Stolz und angstvolle Erregung sprachen, »seid ihr Türken oder Christen, daß ihr einen Mann der Kirche so behandelt? Ein anderer hätte längst gerufen: ›Excommunicabo vos!‹ Aber wenn ihr meine Pferde herausgebt, meine Brüder freilaßt und außerdem hundert Kronen zahlt, für die Messen am Hochaltar der Abtei von Jorvaulx gelesen werden sollen, und das Gelübde ablegt, bis nächste Pfingsten kein Wild zu essen, dann ist euch vergeben.« »Es betrübt mich zu hören, heiliger Vater, daß Ihr von meinen Leuten solche Behandlung erfahren habt«, sagte Locksley. Der Abt fuhr in seiner Anklage fort: »Ein gottloser, betrunkener Minnesänger hat mir mit körperlicher Züchtigung gedroht, ja sogar mit dem Tod, wenn ich nicht vierhundert Kronen zahle, noch zu den 138
Schätzen, die er mir bereits geraubt hat. Er schwor, mich auf dem höchsten Baum aufzuhängen.« »Wenn er das wirklich getan hat, dann würdet ihr besser daran tun, Euch seinen Forderungen zu fügen, denn Allan a Dale ist ein Mann, der sein Wort hält.« »Ihr spaßt nur«, sagte der Abt mit erzwungenem Lächeln. »Ich bin so ernst wie ein Beichtvater«, erwiderte Locksley. »Ihr müßt ein rundes Lösegeld zahlen – oder Euer Kloster wird eine neue Wahl treffen müssen.« »Seid ihr Christen und sprecht so zu einem Mann der Kirche?« empörte sich der Abt. »Und welches Lösegeld muß ich dafür bezahlen, daß ich auf der Watlingstraße reiste, ohne fünfzig Mann zu meinem Schutz bei mir zu haben?« »Wäre es nicht gut, wenn der Jude das Lösegeld des Geistlichen bestimmte und der Abt das des Juden?« schlug Allan a Dale leise vor. »Der Gedanke ist nicht schlecht. Tritt vor, Isaak!« befahl Locksley. »Sieh dir den heiligen Vater Aymer an, den reichen Abt von Jorvaulx, und sage uns, welches Lösegeld wir von ihm fordern sollen. Kennst du das Einkommen seines Klosters?« »Gewiß«, erwiderte Isaak. »Ich habe mit den guten Vätern gehandelt. Es ist eine reiche Abtei, sie leben vom Fetten und trinken die süßen Weine wie Wasser.« »Hund von einem Juden!« schrie der Abt. »Niemand weiß besser als du, daß unser Gotteshaus wegen der Vollendung der Kanzel verschuldet ist!« »Und wegen der Füllung eurer Keller mit dem nötigen Vorrat von Gascogner Wein«, unterbrach Isaak. »Hört nicht auf den ungläubigen Hund!« »Streitet euch nicht«, befahl Locksley. »Sag, was der Abt zahlen kann!« Isaak überlegte: »Sechshundert Kronen könnte der gute Abt schon zahlen, ohne darum weniger bequem in seinem Chorstuhl zu sitzen.« »Gut gesprochen, Isaak, sechshundert Kronen – das ist ein Rechtsspruch!« 139
»Wo soll ich eine solche Summe finden?« jammerte der Abt. »Selbst wenn ich die Monstranzen und die Altarleuchter von Jorvaulx verkaufte, könnte ich kaum die Hälfte dieses Betrages dafür bekommen … Und dazu müßte ich selbst nach Jorvaulx reiten«, fügte er rasch hinzu. »Ihr könnt meine zwei Priester als Geiseln behalten.« »Das wäre ein schlechter Tausch«, lachte Locksley. »Wir werden sie schicken, um das Lösegeld für Euch zu holen!« Isaak sah eine Gelegenheit, sich bei den Geächteten einzuschmeicheln: »Wenn es Euch beliebt, könnte ich nach York schicken und die sechshundert Kronen holen lassen, wenn mir der Abt einen Schein darüber ausstellt.« »Er soll dir ausstellen, was du wünschst«, erklärte der Hauptmann, »und du wirst das Lösegeld für ihn und für dich selbst bezahlen.« »Für mich?« fragte Isaak entsetzt. »Ich bin ein gebrochener und verarmter Mann!« »Der Abt soll darüber urteilen. Was meint Ihr, Vater Aymer, kann der Jude ein gutes Lösegeld bestreiten?« »Kann er ein gutes Lösegeld bestreiten?« höhnte der Abt. »In seinem Haus in York befindet sich so viel Gold und Silber, daß sich ein christliches Land dessen schämen müßte. Es ist ein Wunder, daß diese nagenden Nattern sich in das Eingeweide des Staates und der heiligen Kirche mit schändlichen Wucherzinsen und Erpressungen hineinfressen dürfen!« »Mäßigt Euren Zorn, wenn er auch ein Jude ist. Nennt sein Lösegeld, wie er das Eurige genannt hat, und beschimpft ihn nicht weiter.« »Da ihr verlangt, daß ich auf diesen Schurken einen Preis setze, so würde ich sagen, daß ihr euch im Licht stehen würdet, wenn ihr weniger als tausend Kronen von ihm nähmt.« »Ein Richtspruch!« rief Locksley. »Ein Richtspruch!« jubelten die Beisitzer. »Der Gott meiner Väter stehe mir bei!« klagte Isaak. »Wollt Ihr mich ganz zu Boden drücken? Ich habe mein Kind verloren und soll nun auch meinen Lebensunterhalt verlieren?« »Du wirst um so weniger brauchen, wenn du kinderlos bist«, spottete der Abt. 140
»Euer Gesetz gestattet Euch nicht, zu wissen, wie sehr unser Volk seine Kinder liebt, Herr … Oh, Rebekka!« jammerte der Jude. »Alles Gold wollte ich geben, um zu erfahren, ob du noch lebst!« »Hatte deine Tochter nicht dunkles Haar?« fragte einer der Geächteten. »Und trug sie nicht einen Schleier aus Taft und Silber?« mischte ein anderer sich ein. »Jaja!« Der Jude zitterte vor Erregung: »Kannst du mir etwas von ihrer Errettung sagen?« »Der Templer hat sie entführt! Ich hatte meinen Bogen schon gespannt, um ihm einen Pfeil nachzusenden. Aber ich unterließ es, da ich das Mädchen sonst verletzt hätte.« »Oh, hättest du doch geschossen! Besser das Grab ihrer Väter als das Lager des Templers!« Locksley konnte sich einer Rührung nicht erwehren: »Sprich aufrichtig mit mir, Isaak. Wird dieses Lösegeld von tausend Kronen dich wirklich deines ganzen Geldes berauben? Ohne Geld kannst du dein Kind nicht aus den Klauen Bois-Guilberts befreien. Wir wollen dich für dasselbe Lösegeld gehen lassen wie den Abt. So bleiben dir noch vierhundert Kronen, um deine Tochter loszukaufen. Die Templer lieben den Schimmer des Silbers ebensosehr wie den Glanz schwarzer Augen!« Isaak warf sich Locksley zu Füßen und versuchte, den Saum seines grünen Rockes zu küssen. »Es tut mir leid um das schöne Mädchen«, mischte sich Abt Aymer ein. »Ich sah sie in den Schranken von Ashby – Brian de Bois-Guilbert ist ein Mann, bei dem ich viel zu tun vermag …« Locksley nahm Isaak beiseite und flüsterte ihm zu: »Ich rate dir, mache dir den Abt zum Freund. Er ist eitel und habsüchtig und braucht Geld, um seinen Aufwand zu bestreiten … Du kannst seine Geldgier leicht befriedigen, denn du mußt nicht meinen, daß ich mich durch deine vorgegebene Armut täuschen lasse!« Isaak erbleichte. »Fürchte nichts von mir«, fuhr Locksley fort. »Denn wir sind alte 141
Freunde. Erinnerst du dich nicht mehr an den kranken Landmann, den deine schöne Tochter aus den Fesseln befreite und in deinem Haus in York gesund pflegte?« »Bist du's, den wir Dikkon Spanne-Bogen nannten?« Locksley nickte: »Ich heiße auch Locksley und habe noch einen guten Namen außer diesem. Hätte ich nur gewußt, daß es Rebekka war, die der Templer entführte! Jetzt bleibt dir nichts übrig, als schlau zu verfahren. Soll ich mit dem Abt für dich unterhandeln?« »In Gottes Namen, wenn du kannst, hilf mir, das Kind meines Herzens zu retten!« Locksley wandte sich wieder dem Abt zu: »Es heißt, Ihr liebt den Wein und das Lächeln einer Dame mehr, als Eurem Orden zukommt, Abt Aymer«, begann er. »Aber das geht mich nichts an. – Ich habe auch gehört, daß ihr gute Hunde und ein schmuckes, schnelles Pferd liebt, und es scheint mir, Ihr würdet auch eine Börse voll Gold nicht verachten. Isaak erklärt sich bereit, Euch einen Beutel mit hundert Mark Silber zu überlassen, wenn Ihr durch Eure Fürsprache bei dem Templer erwirkt, daß er seine Tochter freigibt.« Der Abt wiegte nachdenklich den Kopf: »Die Sache liegt nicht ganz klar. Denn tue ich einerseits etwas Gutes, so geschieht es doch zum Vorteil eines Juden … aber wenn er auch unsere Kirche mit einer Gabe bedenken würde …« »Um zwanzig Mark für Euren Orden – sei still, Isaak! – oder ein paar silberne Altarleuchter wollen wir nicht hadern! Wenn Isaak durch Eure Vermittlung erfolgreich zurückkehrt, so will ich dafür sorgen, daß er Euch in gutem Silber bezahlt.« »Nun gut, Jude«, gab Aymer zurück. »Da ich mich gezwungenermaßen in diese Angelegenheit mischen muß, so gestatte mir den Gebrauch deiner Schreibtafel.« Er setzte sich umständlich nieder und entwarf einen Brief an Brian de Bois-Guilbert, versiegelte ihn sorgfältig und übergab ihn dem Juden: »Mit diesem Brief wirst du in das Präzeptorium von Templestowe gelangen, wo deine Tochter sich gegenwärtig befindet. Er wird, wie ich glaube, ihre Befreiung bewirken, das heißt, wenn du mit vorteilhaften Angeboten nachhilfst. Denn verlaß 142
dich darauf, der gute Ritter Bois-Guilbert gehört zu denjenigen, die nichts für nichts tun.« Der Schwarze Ritter, der die Vorgänge mit großem Interesse verfolgt hatte, nahm als nächster Abschied von Locksley. Er sprach sein Erstaunen darüber aus, soviel Weisheit und Ordnung unter den Leuten gefunden zu haben, die doch von allem Schutz und Einfluß der Gesetze ausgeschlossen waren. »Schlimme Zeiten bringen nicht immer nur Schlimmes hervor«, erwiderte Locksley. »Unter uns gibt es viele, die es bedauern, einem solchen Gewerbe nachgehen zu müssen.« »Spreche ich jetzt zu einem solchen?« fragte der Schwarze Ritter. »Jeder von uns hat sein Geheimnis. Wie ich nicht verlange, Eures zu erfahren, so nehmt es mir nicht übel, wenn ich auch meines für mich behalte.« »Euer Tadel ist gerecht.« Der Ritter lächelte. »Vielleicht treffen wir uns später einmal unter weniger geheimnisvollen Umständen. Inzwischen wollen wir als Freunde scheiden.«
Ein König gibt sich zu erkennen Im Schloß von York ging es hoch her. Prinz Johann hatte diejenigen Edelleute und hohen Geistlichen eingeladen, die ihm dazu verhelfen sollten, den Thron seines Bruders an sich zu reißen. Waldemar Fitzurse versuchte, die Gäste durch geschicktes Zureden für den Plan zu gewinnen. Die Entscheidung war noch nicht gefallen. Sie verzögerte sich, da sowohl Front-de-Boeuf und De Bracy, als auch Bois-Guilbert nicht anwesend waren. Weder Johann noch sein Ratgeber wagten es, ohne sie vorzugehen. Auch der Jude Isaak schien verschwunden zu sein und mit ihm die Hoffnung auf die Geldsummen, die er dem Prinzen zugesagt hatte. 143
In York verbreitete sich das Gerücht, daß De Bracy, Front-de-Boeuf und Bois-Guilbert gefangengenommen oder sogar erschlagen worden seien. Waldemar Fitzurse gab seiner Befürchtung Ausdruck, daß es auf Wahrheit beruhen könne, da die drei mit einem Gefolge ausgezogen seien, um gegen den Sachsen Cedrik und seine Begleiter einen Streich auszuführen. Zu jeder anderen Zeit würde der Prinz die Unternehmung der Ritter für einen guten Scherz gehalten haben, aber da sie seine eigenen Pläne durchkreuzten, brach er in heftige Verwünschungen gegen die Abwesenden aus: »Diese Landstreicher! Sollte ich je König werden, würde ich solche Übeltäter von den Zugbrücken ihrer eigenen Schlösser baumeln lassen!« »Um König von England zu werden«, gab Fitzurse kühl zurück, »müßt Ihr solche Übertretungen nicht nur dulden, sondern die Landstreicher, wie Ihr sie nennt, beschützen. Euer Gnaden weiß wohl, daß es gefährlich wäre, ohne Front-de-Boeuf, De Bracy oder den Templer aufzubrechen.« Prinz Johann schlug sich ungeduldig vor die Stirne und ging mit langen Schritten im Zimmer auf und ab. »Diese Schurken! Mich jetzt zu verlassen! Aber was ist zu tun?« »Ich habe De Bracys Leutnant befohlen, das Banner zu hissen und sofort nach Front-de-Boeufs Schloß aufzubrechen, um unsere Freunde zu unterstützen. Da die Zeit drängte, hielt ich es für das beste, die Verantwortung auf mich zu nehmen und zu handeln, ohne den Befehl Euer Gnaden einzuholen.« »Es sei dir verziehen«, sagte der Prinz ernst. »Deine Absicht entschuldigt die hastige Übereilung.« Das Gespräch wurde durch den Eintritt De Bracys unterbrochen. Seine Rüstung war zerschlagen und beschmutzt. Er nahm seinen Helm ab und stellte ihn wortlos auf den Tisch. »De Bracy!« rief der Prinz. »Was bedeutet das? Haben sich die Sachsen empört?« »Wo ist der Templer? Wo ist Front-de-Boeuf?« fiel Fitzurse ein. »Der Templer ist geflohen«, gab De Bracy mit müder Stimme zurück. 144
»Front-de-Boeuf ist in seinem Schloß verbrannt. Ich allein bin entkommen, um euch das zu melden. Aber die schlimmste Nachricht ist …«, er trat ganz nahe auf Prinz Johann zu, »Richard ist in England. Ich war sein Gefangener und habe selbst mit ihm gesprochen.« Der Prinz hielt sich an der Lehne einer Eichenbank aufrecht. »Es kann nicht sein, De Bracy«, sagte Fitzurse. »Richard Plantagenet?« »Richard Plantagenet«, bestätigte De Bracy. »Richard von England.« »Und du warst sein Gefangener?« fragte Fitzurse ungläubig. »Hat er denn ein Heer mit sich?« »Es waren nur ein paar Geächtete um ihn, die er bei der Belagerung von Torquilstone angeführt hat und die überdies nicht wissen, wer er ist. Ich hörte ihn sagen, daß er sie verlassen wolle.« »Was beabsichtigst du zu tun?« »Ich bot Richard meine Dienste an, aber er schlug sie aus. Ich werde meine Leute nach Hull führen und von dort nach Flandern segeln. Und du, Waldemar, willst du deine Politik fahren lassen, mit mir ziehen und das Schicksal teilen, das Gott uns sendet?« »Ich bin zu alt dazu, Moritz, und ich habe eine Tochter. Ich werde in der Kirche von St. Peter meine Zuflucht suchen. Der Erzbischof ist mein Bundesbruder.« Mit erzwungenem Lachen unterbrach Prinz Johann das Zwiegespräch seiner Freunde: »Meine guten Lords, ich hielt euch für weise, kühne, scharfsichtige Männer. Ihr werft jedoch Reichtum und Ehre, alles was unser Spiel euch verhieß, in dem Augenblick zu Boden, wo es durch einen kühnen Zug gewonnen werden könnte!« De Bracy sah ihn verständnislos an: »Sobald Richards Rückkehr in England bekannt wird, wird sich auch ein Heer um ihn sammeln. Ich möchte Euch raten, Mylord, entweder nach Frankreich zu fliehen oder den Schutz der Königinmutter zu suchen.« »Ich suche keine Sicherheit für mich selbst«, erwiderte der Prinz. »Ich könnte sie durch ein Wort von meinem Bruder erlangen. Doch obwohl ihr so bereit seid, mich zu verlassen, würde es mich wenig ergötzen, eure abgehauenen Köpfe schwarz werden zu sehen! Glaubst du nicht, 145
Fitzurse, daß dich dein Freund, der Erzbischof, nur allzu willig ausliefern wird, wenn es ihm Frieden mit König Richard bringt? Meinst du nicht, De Bracy, daß es Robert Estoteville und seiner Macht ein leichtes sein würde, dich und deine Freischärler in den Humber zu treiben? Es gibt nur einen Weg zur Rettung.« Der Prinz sagte bestimmt: »Richard reist allein – wir müssen ihm allein begegnen.« »Ich nicht!« De Bracy hob abwehrend die Hände: »Ich war sein Gefangener, und er hat mich begnadigt.« »Niemand sprach davon, ihm ein Leid zuzufügen«, sagte der Prinz rasch. »Nein – ein Gefängnis wäre besser. Ob in Österreich oder in England, was liegt daran? Unser Unternehmen war ja auf der Hoffnung begründet, daß Richard in Deutschland gefangen bleiben würde.« »Das beste Gefängnis ist das, welches der Totengräber macht«, erklärte Fitzurse. »Gefängnis oder Grab«, beharrte De Bracy. »Ich will mit der ganzen Sache nichts zu tun haben.« »Willst du unseren Anschlag verraten?« »Ich habe noch nie etwas verraten«, erwiderte De Bracy scharf. »Spring doch nicht zur Seite wie ein scheu gewordenes Pferd«, beschwichtigte ihn Fitzurse. »Noch vor vierundzwanzig Stunden wäre es dein liebster Wunsch gewesen, diesem Richard Mann gegen Mann in der Schlacht zu begegnen.« »Das stimmt. Aber das war, wie du sagst, Mann gegen Mann und in der Schlacht. Doch nie habe ich den Gedanken auch nur angedeutet, ihn allein im Walde zu überfallen!« »Du bist kein guter Ritter, wenn du davor Bedenken hast«, meinte Fitzurse. »Was ist denn so Besonderes an dem Vorschlag, den wir dir machen, dir, dem gedungenen Hauptmann der Söldner, deren Schwerter für den Dienst Prinz Johanns erkauft sind?« »Ich sage dir, daß Richard mir das Leben schenkte! Es ist wahr, er schickte mich fort und nahm meine Huldigung nicht an – so schulde ich ihm weder Dank noch Gehorsam. Aber ich will doch meine Hand nicht gegen ihn erheben.« 146
Johann konnte seinen Unwillen nicht länger beherrschen: »Bist du so eigensinnig und willst mich verlassen, nachdem du mir so oft deine Treue beteuert hast?« »Ich will zu Euch halten in allem, was einem Ritter geziemt, aber diese Straßenräuberweise gehört nicht zu meinen Pflichten.« »Da es nicht anders sein kann, werde ich die Ausführung dieses gefährlichen Anschlages auf mich nehmen«, erklärte Fitzurse mit einem Seufzer. »Weit eher möchte ich ein Heer von Heiligen angreifen, als eine Lanze gegen Löwenherz einlegen! Du, De Bracy, sorge inzwischen für die Sicherheit Prinz Johanns und trachte, daß seine Anhänger nicht von ihm abfallen …« »Er geht, meinen Bruder gefangenzunehmen«, sagte der Prinz zu De Bracy, als Fitzurse das Gemach verlassen hatte, »und hat ebensowenig Bedenken, es zu tun, als beträfe es einen Sachsen! Ich hoffe, er wird unsere Befehle befolgen und die Person unseres teuren Richard mit allem schuldigen Respekt behandeln.« De Bracy lächelte spöttisch: »Wäre es nicht besser, ich ginge ihm nach und unterrichtete ihn genauer von Euer Gnaden Wünschen? Denn da ich es nicht gehört habe, mag es auch Fitzurses Aufmerksamkeit entgangen sein.« »Nein, nein«, der Prinz wehrte hastig ab. »Du kannst dich darauf verlassen, er hat es gehört. Komm hierher, Moritz, ich lehne mich auf deine Schulter.« In dieser Haltung gingen sie in der Halle auf und ab. Prinz Johann fuhr in vertraulichem Ton fort: »Fitzurse meint, unser Kanzler zu werden. Aber wir werden es uns überlegen, ob wir ein so hohes Amt einem Mann anvertrauen, der so offenkundig beweist, wie wenig er das königliche Blut achtet. Ich ehre deine Standhaftigkeit, Moritz! Es gibt notwendige Dinge in der Welt, deren Täter wir jedoch weder lieben noch ehren. Die Gefangennahme meines unglücklichen Bruders verleiht keinen so guten Anspruch auf das Amt des Kanzlers wie dein ritterliches Benehmen auf den Stab des Großmarschalls. Denke daran, De Bracy!« 147
Der Sitz des Templerordens in Templestowe lag inmitten schöner Wiesen und Weiden, die ein früherer Präzeptor dem Orden geschenkt hatte. Das Präzeptorium war gut befestigt. Zwei schwarz gekleidete Soldaten bewachten die Zugbrücke, andere umschritten in regelmäßigen Abständen den Wall. Lukas Beaumanoir, der Großmeister, ging in einem kleinen Garten innerhalb der Befestigungsmauern auf und ab und unterhielt sich mit Konrad Mont-Fitchet, einem Präzeptor des Ordens, der mit ihm aus Palästina gekommen war. Der Großmeister war ein Mann in vorgerücktem Alter, hochgewachsen und aufrecht. Buschige dunkle Brauen überschatteten seine Augen, ein langer grauer Bart umrahmte die strengen asketischen Gesichtszüge. Sein weißer Mantel war nach vorschriftsmäßigem Schnitt angefertigt, das achteckige Ordens kreuz aus rotem Tuch auf der linken Schulter war sein einziger Schmuck. In der Hand trug er den Amtsstab, an dessen oberem Ende eine runde Platte mit dem eingravierten Ordenskreuz befestigt war. »Konrad«, begann der Großmeister, »seitdem ich in dieses Land kam, habe ich nichts gesehen, auf dem mein Auge mit Vergnügen hätte verweilen können, außer den Gräbern unserer Brüder.« »Das ist nur zu wahr. Die Ausschweifungen unserer Brüder in England sind noch gröber als in Frankreich.« »Weil sie wohlhabender sind. Wie befolgen unsere Brüder die Statuten, die besagen, sie sollen keinen weltlichen Schmuck tragen, keinen Federbusch auf ihrem Helm, kein Gold am Steigbügel? Und wer geht so stolz und bunt geputzt daher wie die armen Krieger des Tempels? Es ist ihnen verboten, Tiere mit dem Bogen zu schießen oder das Roß nach dem Wild zu spornen. Aber wer ist beim Jagen und bei der Vogelbeize so eifrig wie die Templer? Es ist ihnen untersagt zu lesen, außer, was ihr Oberer gestattet, oder etwas anzuhören außer den heiligen Dingen, die während der Stunden der Erbauung laut vorgelesen werden. Aber ihre Ohren lauschen andächtig den läppischen Minnesängern, und ihre Augen lesen eifrig nichtswürdige Romane! Einfache Kost war ihnen vorgeschrieben und siehe, ihre Tische ächzen un148
ter den Köstlichkeiten! Ihr Trunk sollte Wasser sein, und jetzt brüstet sich jeder Trinkkumpan, er trinke gleich einem Templer.« Der Großmeister hielt erregt inne: »Aber das Nachlassen der Disziplin hat dabei nicht sein Bewenden. Du weißt, daß es uns verboten war, jene frommen Frauen aufzunehmen, die anfänglich Schwestern unseres Ordens waren, ja, im letzten Kapitel unserer Lehre wird es uns sogar versagt, unseren Müttern und Schwestern den Kuß der Liebe zu geben, und jetzt – ich schäme mich, über die Laster zu sprechen, die gleich einer Flut über die Ordensbrüder hereingebrochen sind! Im Schatten der Nacht sind mir die Seelen unserer Stifter erschienen und haben mich zum Gericht über die Sünder aufgerufen. Ich will tun, wie sie mich geheißen, ich will den Bau des Tempels reinigen und die schädlichen Steine aus dem Bau hinauswerfen! Unser Orden steht auf dem Wendepunkt seines Schicksals. Unsere Anmaßung, unser Reichtum haben uns mächtige Feinde geschaffen. Wir müssen die Reichtümer von uns werfen, die eine Versuchung für die Fürsten sind, die Anmaßung ablegen, die sie beleidigt, und wir müssen die Sittenlosigkeit ausrotten, die ein Ärgernis für die ganze christliche Welt ist! Wir müssen umkehren und uns als treue Kreuzesstreiter erweisen und als Männer handeln, die sich dessen bewußt sind, daß manche Vergnügungen dem geschworenen Krieger des Tempels nicht erlaubt sind.« Ein Knappe trat in den Garten, verneigte sich tief und wartete auf ein Zeichen des Großmeisters, bevor er zu sprechen begann: »Ein Jude steht vor dem Tor, edler und ehrwürdiger Vater. Er wünscht mit Bruder Brian de Bois-Guilbert zu sprechen.« »Du hast recht gehandelt, mir davon Mitteilung zu machen«, sagte Beaumanoir. »Es liegt uns besonders daran, das Treiben dieses BoisGuilbert kennenzulernen.« »Der Ruf nennt Brian wacker und tapfer«, warf Mont-Fitchet ein. »Aber er ist in unseren Orden eingetreten nicht in Aufrichtigkeit des Herzens, sondern als einer, den eine Anwandlung von Mißmut zur Reue getrieben hat. Seitdem ist er ein Murrkopf geworden, ein Ränkeschmied und ein Anführer derer, die unsere Autorität bestreiten. Damian«, befahl er dem Knappen, »bringe den Juden hierher!« 149
Damian kehrte mit Isaak von York zurück. Als der Jude noch drei Schritt von ihm entfernt war, gab ihm der Großmeister ein Zeichen stehenzubleiben. Isaak kniete nieder und küßte die Erde zum Zeichen seiner Verehrung. Demütig, die Hände auf der Brust gefaltet, den Kopf tief gesenkt, erhob er sich. »Es schickt sich nicht für uns, mit dir langen Verkehr zu pflegen. Deshalb halte deine Antworten kurz und sprich die Wahrheit!« befahl der Großmeister. »Was für ein Geschäft hast du mit unserem Bruder Brian de Bois-Guilbert?« Isaak keuchte vor Angst: »Ich bin der Überbringer eines Briefes«, stotterte er, »an diesen guten Ritter von Abt Aymer von Jorvaulx.« »Schlimme Zeiten«, murmelte der Großmeister. »Ein Zisterzienser Abt sendet einen Brief an einen Krieger des Tempels und kann keinen passenderen Boten finden als einen ungläubigen Juden? – Gib den Brief her!« Mit zitternden Händen legte Isaak die Falten seiner Mütze auseinander, in die er der Sicherheit halber die Schreibtafel verborgen hatte. Er stand im Begriff, mit ausgestreckter Hand näher zu kommen. »Konrad, nimm dem Juden das Schreiben ab und gib es mir.« Er schickte sich an, den Bindfaden des Briefes zu lösen. »Wollt Ihr das Siegel brechen, ehrwürdiger Vater?« fragte Mont-Fitchet erstaunt. Der Großmeister runzelte die Stirn: »Steht denn nicht geschrieben, daß ein Templer keinen Brief, nicht einmal von seinem Vater, empfangen soll, ohne ihn dem Großmeister mitzuteilen und ihn in seiner Gegenwart zu lesen?« Hastig überflog er das Schreiben und reichte es dem Präzeptor mit dem Ausdruck des Abscheus: »Lies den Brief laut, Konrad«, sagte er. »Und du, Jude, höre zu!« Mont-Fitchet begann: »Aymer, durch Gottes Gnade Abt des Zisterzienser-Hauses der heiligen Maria von Jorvaulx, wünscht Sir Brian de Bois-Guilbert, Ritter des heiligen Tempelordens, Gesundheit nebst allen guten Gaben des Königs Bacchus und der Frau Venus. 150
Teurer Bruder, wir sind gefangen in den Händen gewisser gesetzloser und gottloser Menschen, die sich nicht gescheut haben, uns ein Lösegeld aufzuerlegen. Bei dieser Gelegenheit haben wir noch von Frontde-Boeufs Mißgeschick gehört und Deinem Entkommen mit der schönen jüdischen Zauberin, deren schwarze Augen Dich behext haben. Wir freuen uns herzlich über deine Rettung, nichtsdestoweniger bitten wir Dich, auf Deiner Hut zu sein; denn wir haben erfahren, daß euer Großmeister, der sich nichts aus roten Wangen und schwarzen Augen macht, aus der Normandie herüberkommt, um Eure Lust abzukühlen und Eure Übeltaten zu strafen. Da nun der reiche Jude, ihr Vater, Isaak von York, mich ersucht hat, ihm einen Brief zu seinen Gunsten mitzugeben, so dringe ich in Dich, daß Du das Mädchen für ein Lösegeld freigibst, da er gerne so viel zahlt, als Dir fünfzig Mädchen unter sicheren Bedingungen verschaffen können, woran ich meinen Anteil zu haben hoffe, wenn wir lustig beisammen sind, den Wein nicht vergessend! Bis zu diesem heiteren Beisammensein wünschen wir Dir Lebewohl, Aymer, Abt Sancta Maria Jorvolciensis.« »Was sagst du dazu?« fragte der Großmeister den Präzeptor. »Kein Wunder, daß wir Fuß um Fuß an die Ungläubigen verlieren, wenn wir solche Kirchenmänner haben wie diesen Aymer! – Deine Tochter ist also die Gefangene Brian de Bois-Guilberts?« fragte er Isaak. »Ja, ehrwürdiger Herr«, stammelte der Jude. »Und welches Lösegeld auch immer ein armer Mann für ihre Befreiung zahlen kann …« »Schweig!« rief Beaumanoir. »Hat deine Tochter nicht die Heilkunst ausgeübt?« »Ja, gnädiger Herr«, erwiderte Isaak zuversichtlicher. »So manche können es bezeugen, daß sie ihre Gesundheit der Kunst meiner Tochter verdanken, nachdem jede andere menschliche Hilfe versagte. Der Segen des Gottes Jakobs ruht auf ihr.« »Die Blendwerke des gefräßigen Feindes«, sagte Beaumanoir. »Dei151
ne Tochter verrichtete ihre Kunst unzweifelhaft durch Worte, Amulette und andere kabalistische Zaubermittel?« »Nein, tapferer Ritter«, erwiderte Isaak, »sondern in der Hauptsache mit einem Balsam von wunderbarer Kraft!« »Woher hat sie das Geheimnis?« »Von Miriam, einer weisen Matrone unseres Stammes.« Beaumanoir bekreuzigte sich: »Der Leib dieser Miriam wurde am Schandpfahl verbrannt und ihre Asche in alle Winde zerstreut! Und dasselbe soll mit ihrer Schülerin geschehen! Damian, jage den Juden zum Tor hinaus! Mit seiner Tochter wollen wir verfahren nach der Vollmacht, die das christliche Gesetz und unser eigenes hohes Amt uns verleihen!«
Albert Malvoisin, der Präzeptor von Templestowe, der wie sein Bruder Philipp eng mit Bois-Guilbert befreundet war, verstand es vorzüglich, seinen Ehrgeiz und seine Laster zu verschleiern. Wäre der Großmeister nicht so unerwartet angekommen, hätte er in Templestowe nichts gesehen, was ihn ein Nachlassen der Disziplin hätte vermuten lassen. Obgleich er eine gewisse Überraschung nicht verbergen konnte, lauschte Albert mit solcher Ehrerbietung und scheinbarer Zerknirschung auf die Zurechtweisung seines Oberen und beeilte sich so sehr, die getadelten Punkte zu verbessern, daß Lukas Beaumanoir begann, eine bessere Meinung von der Moral des Präzeptors zu fassen. Aber nachdem der Großmeister erfahren hatte, daß Albert eine jüdische Gefangene, die überdies noch die Geliebte eines Ordensritters war, in Templestowe aufgenommen hatte, ließ er den Präzeptor zu sich rufen: »Es befindet sich in diesem Haus, das den Zwecken des heiligen Ordens des Tempels gewidmet ist, ein jüdisches Weib. Sie wurde von einem Ordensbruder hierher gebracht. Wie kommt es, daß du einem Bruder gestattet hast, seine Buhlerin, die noch dazu eine jüdische Zauberin ist, an diesen heiligen Ort zu bringen?« »Eine jüdische Zauberin? Die guten Engel schützen uns!« »Wagst du zu leugnen, daß diese Rebekka, Tochter jenes elenden 152
Isaak von York und Schülerin der Hexe Miriam, sich in deinem Präzeptorium aufhält?« Der Präzeptor faßte sich: »Eure Weisheit hat das Dunkel von meinem Verstand genommen. Es hat mich sehr gewundert, daß ein so guter Ritter wie Brian de Bois-Guilbert auf so törichte Weise von den Reizen dieses Frauenzimmers umstrickt schien, die ich nur in dieses Haus aufnahm, um ihrer wachsenden Vertraulichkeit ein Ende zu bereiten.« »Ist nichts vorgefallen, wodurch er sein Gelübde gebrochen hat?« »Unter diesem Dach?« rief Malvoisin mit gespielter Entrüstung. »Nein, wenn ich darin gesündigt habe, daß ich sie hier aufnahm, so geschah es in dem irrtümlichen Wahn, daß ich dadurch unseres Bruders Neigung zu dieser Jüdin ein Ende machen könnte. Aber da Euer Ehrwürden entdeckt haben, daß diese jüdische Dirne eine Zauberin ist, so mag das seine verliebte Torheit hinlänglich erklären!« »So ist es, so ist es«, nickte der Großmeister. »Es mag sein, daß unser Bruder Bois-Guilbert in dieser Sache eher Mitleid als strenge Züchtigung verdient. Vielleicht können unsere Ermahnungen und Bitten ihn von seiner Torheit befreien.« »Es wäre bedauerlich für den Orden«, meinte Mont-Fitchet, »eine seiner besten Lanzen zu verlieren. Brian de Bois-Guilbert hat dreihundert Sarazenen mit eigener Hand erlegt.« »Wir wollen den Zauberkünsten entgegenarbeiten, von denen unser Bruder wie von einem Netz umstrickt ist«, entschied Beaumanoir. »Was aber diese nichtswürdige Hexe angeht, die einen Bruder des heiligen Tempels mit ihren Künsten bezaubert hat, so soll sie eines furchtbaren Todes sterben!« Malvoisin, der zwar erleichtert war darüber, daß er den Zorn des Großmeisters von sich und Bois-Guilbert abgelenkt hatte, rief entsetzt: »Aber die Gesetze Englands –!« »Die englischen Gesetze«, unterbrach ihn Beaumanoir, »berechtigen und verpflichten jeden Richter, innerhalb seines Gerichtsbezirks Gerechtigkeit zu üben. Der unbedeutendste Baron kann eine Hexe, die innerhalb seines Gebietes gefunden wird, festhalten und verurteilen. 153
Und sollte dieses Recht dem Großmeister des Tempels innerhalb eines Präzeptoriums seines Ordens nicht zustehen? Rüste die Schloßhalle zum Verhör der Zauberin!« befahl er. Albert Malvoisin verbeugte sich und verließ den Garten in Eile, um Brian Bois-Guilbert aufzusuchen. Er fand ihn schäumend vor Wut über die schöne Jüdin, die ihn neuerlich zurückgewiesen hatte. »Die Undankbare verschmäht mich, der sie aus den Flammen gerettet hat!« rief er. »Das eigensinnige Mädchen macht mir Vorwürfe, daß ich sie nicht umkommen ließ! Sie verweigert mir den geringsten Beweis ihrer Dankbarkeit und nimmt mir die Hoffnung, daß sie mir je gehören wird.« »Warum müßt Ihr Euch an diese eigensinnige Jüdin hängen? Ich glaube, der alte Lukas Beaumanoir errät das Richtige, wenn er behauptet, sie habe Euch mit einem Zauber umstrickt.« »Lukas Beaumanoir?« fragte Bois-Guilbert. »Hast du dem kindischen Greis mitgeteilt, daß Rebekka hier ist?« »Ich habe alles getan, Eure Geschichte geheimzuhalten, aber er hat es erfahren. Ihr könnt Euch nur retten, wenn Ihr Rebekka aufgebt. Ihr werdet bemitleidet werden – als das Opfer magischer Umstrickung! Sie ist eine Zauberin und muß als solche büßen!« »Das soll sie nicht, beim Himmel!« »Weder Ihr noch irgend jemand sonst vermag sie davor zu bewahren. Der Großmeister hat entschieden, daß der Tod einer Jüdin ein hinreichendes Sühneopfer für alle Liebesverwirrungen der Tempelritter ist.« Bois-Guilbert rief erregt: »Albert, du bist mein Freund: Du mußt ihre Flucht ermöglichen! Ich will sie an einen sicheren, verborgenen Ort bringen!« »Ich könnte es nicht, wenn ich es auch wollte. Das Haus ist voll von den Dienern des Großmeisters. Außerdem habe ich Euretwegen bereits genug aufs Spiel gesetzt. Ich habe keine Lust, mein Amt um einer Jüdin willen zu verlieren! Auch Ihr tätet besser daran, diese dumme Jagd aufzugeben. Denkt daran, Euer Rang, Eure zukünftigen Ehren … Ich sage Euch noch einmal, Ihr könnt Rebekka nicht retten! 154
Aber geht, eilt zum Großmeister, werft Euch ihm zu Füßen, sagt ihm, daß Ihr diese Jüdin bis zum Wahnsinn liebt! Er wird sich beeilen, Eure Leidenschaft durch ihren Tod zu beenden, während Ihr, durch das Geständnis Eures Vergehens, keinen Beistand von Euren Brüdern erwarten könnt und alle Eure glänzenden Aussichten auf Ehre und Macht verliert!« »Du sprichst die Wahrheit, Malvoisin«, sagte Bois-Guilbert nach kurzem Besinnen. »Ich will diesem frommen Greis keinen Vorteil über mich einräumen. Rebekka hat es nicht verdient, daß ich ihretwegen Rang und Ehre opfern sollte.« »So ist es recht. Doch jetzt muß ich Euch verlassen und die Halle zur Gerichtsverhandlung rüsten.« »Was! So rasch?« »Ein Prozeß geht rasch vor sich, wenn der Richter das Urteil schon vorher bestimmt hat …«
Als die Glocke, die die Mittagszeit verkündete, verstummte, vernahm Rebekka Fußtritte auf der geheimen Treppe, die zu ihrem Zimmer führte. Konrad Mont-Fitchet und der Präzeptor Malvoisin traten ein. Sie waren von vier schwarzgekleideten Hellebardenträgern begleitet. »Tochter eines verfluchten Geschlechts, steh auf und folge uns!« befahl Malvoisin. »Du sollst vor das Tribunal des Großmeisters unseres heiligen Ordens geführt werden, um dich wegen deiner Vergehungen zu verantworten.« »Der Gott Abrahams sei gepriesen!« rief Rebekka und faltete andächtig die Hände. »Der Name eines Richters, sei er auch ein Feind meines Volkes, ist für mich der Name eines Beschützers.« Sie ließ den Schleier über ihr Gesicht fallen und folgte den Männern über die Treppe, durch eine lange Galerie in eine weite Halle. Der untere Teil dieses Gerichtssaales war mit einer dichtgedrängten Menschenmenge gefüllt. Als die Jüdin gesenkten Kopfes mit ihren Begleitern durch die Menge schritt, wurde ihr ein Stück Papier zuge155
steckt, das sie unwillkürlich festhielt, ohne es anzusehen. Die Gewißheit, einen Freund in der Nähe zu haben, stärkte ihren Mut. Auf einem erhöhten Sessel auf einer Plattform am oberen Ende des Raumes saß der Großmeister des Templerordens, im weiten weißen Gewand, den Amtsstab in der Rechten. Vier Präzeptoren hatten hinter ihm Platz genommen. An einem Tisch zu seinen Füßen saßen zwei Kaplane des Ordens, um das Protokoll aufzunehmen. Die Ordensritter hatten sich auf niedrigen langen Bänken niedergelassen. Hinter ihnen standen die Knappen in weißen Mänteln. Der übrige, tiefer gelegene Teil der Halle war mit Trabanten gefüllt und mit anderen Dienstleuten, deren schwarze Anzüge verrieten, daß sie zum Orden gehörten. Auch den Bauern der Umgebung war der Zutritt gestattet worden. Beaumanoir wollte das erbauliche Schauspiel der Gerechtigkeit so öffentlich wie nur möglich machen. Ein Psalm eröffnete die Verhandlung. Die tiefen, langgezogenen Töne des ›Venite! Exultemus Domino‹, von hundert im Chorgesang geübten Männern angestimmt, stiegen feierlich zu dem gewölbten Dach empor. Als der Gesang verstummte, ließ der Großmeister seinen Blick langsam über die Versammlung schweifen. Er bemerkte, daß Brian de Bois-Guilbert seinen Platz unter den Präzeptoren verlassen hatte und am äußersten Ende einer der Ritterbänke stand. Seine rechte Hand hielt den Mantel so, daß er einen Teil seines Gesichtes verdeckte. Mit der anderen umfaßte er das Schwert und zog mit der Spitze Linien auf dem Eichenboden. »Unglücklicher Mann«, flüsterte der Großmeister Mont-Fitchet zu. »Er kann uns nicht ansehen. Wer weiß, durch welchen Antrieb er diese Linien auf den Boden zeichnet?« Er warf noch einen mitleidigen Blick auf Bois-Guilbert und erhob sich zur Ansprache: »Ehrwürdige und tapfere Männer, Ritter, Präzeptoren und Genossen dieses heiligen Ordens, meine Brüder und meine Kinder! Wie sehr auch unsere Person dessen unwürdig ist, so wurde uns doch mit diesem Stab die Macht anvertraut, alles zu beurteilen und zu richten, was das Wohl dieses heiligen Ordens angeht. Es obliegt uns, die Veranlas156
sung, die Zeit und den Ort zu bestimmen, wann und wo ein Kapitel des Ordens sich versammeln soll. Es ist unsere Pflicht, den Rat unserer Brüder zu hören und nach unserem eigenen Ermessen zu verfahren. Wir haben ein jüdisches Weib namens Rebekka, die Tochter des Isaak von York, vor uns beschieden. Sie ist berüchtigt als Zauberin und Hexe und hat durch ihre Blendwerke einen Ritter, der dem Dienst des heiligen Tempels verschrieben ist, einen Präzeptor unseres Ordens, bestrickt. Unser Bruder, Brian de Bois-Guilbert, ist uns selbst und allen hier Versammelten als treuer und eifriger Kämpfer des Kreuzes wohl bekannt. Er hat seinen Scharfsinn und seine Klugheit so oft bewiesen, daß er als der geeignete Nachfolger in unserem Amt gelten darf, wenn es dem Himmel gefällt, uns von dieser Last zu befreien. Wenn nun ein solcher Mann sein Gelübde vergißt, seine Brüder und seine Aussichten außer acht läßt und sich mit einem Judenmädchen verbindet, ihre Person unter Gefährdung seines eigenen Lebens verteidigt und sie schließlich in eines unserer Präzeptorien bringt, was können wir da anderes sagen, als daß der gute Ritter von einem bösen Geist besessen oder durch einen gottlosen Zauber beeinflußt ist? Könnten wir eine andere Vermutung hegen, so würden uns weder sein Ruf noch sein Rang davon abhalten, Brian de Bois-Guilbert aus unserer Gesellschaft auszustoßen, wäre er auch ihre rechte Hand und ihr rechtes Auge.« Beaumanoir hielt inne. Ein leises Murmeln ging durch die Versammlung. »Aber wenn durch Zauberei und Blendwerk Satan über den Ritter die Herrschaft gewonnen hat«, fuhr der Großmeister fort, »vielleicht weil er seine Augen zu leichtfertig auf ein schönes Mädchen gerichtet hat, so müssen wir seinen Abfall eher beklagen als züchtigen und unsere volle Entrüstung gegen das vernichte Werkzeug richten, das ihn beinahe abtrünnig gemacht hätte. Deshalb sollen diejenigen, die Zeugen dieses unglücklichen Treibens gewesen sind, vortreten, damit wir die Tragweite beurteilen und entscheiden können, ob sich unsere Gerechtigkeit mit der Bestrafung des 157
ungläubigen Weibes zufriedengeben darf oder ob wir, wenn auch blutenden Herzens, zu einem weitern Verfahren gegen unseren Bruder schreiten müssen.« Verschiedene Zeugen wurden aufgerufen. Sie bestätigten, unter welcher Lebensgefahr Brian de Bois-Guilbert Rebekka aus dem brennenden Schloß Torquilstone gerettet hatte. Sie erzählten alle Umstände mit solchen Übertreibungen, daß die Gefahren, die der Ritter überwunden hatte, in ihrer Darstellung ganz ungeheuerlich wurden. Seine Aufopferung bei ihrer Verteidigung übertraf in ihrer Schilderung jedes Maß der üblichen Ritterlichkeit. Seine ergebene, fast demütige Aufmerksamkeit ihr gegenüber wurde so sehr betont, daß sie bei einem Mann seines stolzen Wesens fast unnatürlich erscheinen mußte. Albert Malvoisin beschrieb die Ankunft Bois-Guilberts und der Jüdin in Templestowe. Die Aussage des Präzeptors war vorsichtig gehalten. Mit reumütigen Seufzern und in tiefer Zerknirschung gestand er, daß er Rebekka und ihren Liebhaber in die Mauern des Präzeptoriums eingelassen habe: »Unser ehrwürdiger Vater, der Großmeister, kennt meine Beweggründe. Freudig will ich mich jeder Buße unterwerfen, die er mir auferlegen wird.« »Dein Verhalten war unrecht«, bestätigte Lukas Beaumanoir. »Wer ein durchgegangenes Pferd aufhalten will und es beim Steigbügel anstatt beim Zaum erfaßt, wird selbst beschädigt, erreicht aber nicht seinen Zweck. Du sollst während der nächsten sechs Wochen die vorgeschriebene Anzahl von Paternostern verdoppeln und kein Fleisch essen.« Mit einem heuchlerischen Blick ergebener Unterwürfigkeit verbeugte sich der Präzeptor von Templestowe und nahm seinen Sitz wieder ein. Nun erhob sich Hermann von Goodalricke, der vierte der anwesenden Präzeptoren, und verbeugte sich vor dem Großmeister, der ihm sofort die Erlaubnis zum Sprechen gab. »Ich wünsche, höchst ehrwürdiger Vater«, begann er, »von unserem tapferen Bruder Brian de Bois-Guilbert zu erfahren, was er zu diesen Anklagen zu sagen hat.« 158
»Brian de Bois-Guilbert«, rief Beaumanoir, »du hast die Frage gehört. Ich befehle dir zu antworten.« Bois-Guilbert konnte seine Verachtung und Entrüstung kaum verbergen: »Ehrwürdiger Vater«, erwiderte er, »ich antworte nicht auf so übertriebene und ungenaue Beschuldigungen.« »Wir vergeben dir, Bruder Brian«, sagte der Großmeister, »da wir erachten, daß du weniger aus eigener Eingebung sprichst als aus dem Antrieb des Teufels, den wir mit Gottes Hilfe aus unserer Versammlung vertreiben wollen. Und nun wollen wir unsere Untersuchung fortsetzen, um dem Geheimnis auf den Grund zu kommen.« Im unteren Teil der Halle entstand eine Bewegung. Beaumanoir fragte nach dem Grund. Er erfuhr, es sei unter den Zuschauern ein Mann, den die gefangene Jüdin durch einen wundertätigen Balsam von einer lähmenden Krankheit geheilt habe. Dieser sächsische Bauer wurde vor die Schranken geschleppt. Er war durchaus nicht vollkommen geheilt, sondern brachte sich nur mühsam auf Krücken vorwärts. Unter vielen Tränen gestand er, daß er vor zwei Jahren plötzlich von einer schmerzhaften Krankheit befallen worden sei, als er in York für den reichen Juden Isaak als Tischler arbeitete. Er sei unfähig gewesen, das Bett zu verlassen, bis ihm die auf Rebekkas Anordnung angewendeten Heilmittel den Gebrauch seiner Glieder wiedergegeben hätten. Sie habe ihm auch einen Topf jener kostbaren Salbe geschenkt und auch noch ein Stück Geld, damit er nach Hause zurückkehren könne. »Ich kann nicht glauben«, schloß der Mann, »daß das Mädchen mir Harm zufügen wollte, wenn sie auch das Unglück hat, eine Jüdin zu sein. Denn jedesmal, wenn ich ihr Mittel verwendete, sagte ich das Pater und Credo, und es wirkte darum nicht weniger.« »Hast du die Salbe noch, von der du sprichst?« fragte der Großmeister. Mit zitternder Hand griff der Bauer in seinen Rock und brachte eine kleine Büchse hervor. Beaumanoir bekreuzigte sich, nahm die Büchse in die Hand und las die hebräische Inschrift auf dem Deckel: »Es hat überwunden der Löwe aus dem Stamm Juda.« 159
»Seltsame Macht des Satans«, sagte der Großmeister halblaut vor sich hin, »der die heilige Schrift in eine Gotteslästerung verwandeln kann. Ist ein Heilkundiger hier, der uns die Bestandteile dieser geheimnisvollen Salbe nennen kann?« Ein Mönch und ein Barbier, die sich ›Mediziner‹ nannten, traten vor. Sie besichtigten die Salbe flüchtig und versicherten, daß sie von den Bestandteilen nichts wüßten, außer, daß die Salbe nach Myrrhe und Kampfer röche. Sie deuteten an, daß sie aus einem gesetzwidrigen und magischen Arzneibuch bereitet sein müsse, da die Medizin sich ihren eigenen Kenntnissen nicht erschließe. Denn obgleich sie keine Zauberer seien, verstünden sie doch jeden Zweig ihrer Wissenschaft – soweit diese von einem guten Christen ausgeübt werden dürfe. Als die Untersuchung beendet war, bat der Bauer demütig um seine Salbe. Der Großmeister runzelte die Stirn. »Wie heißt du?« fragte er den Krüppel. »Higg, Snells Sohn.« »Es ist besser, bettlägerig zu sein, als von Ungläubigen Medizin anzunehmen, und besser, die Ungläubigen ihrer Schätze zu berauben, als Wohltaten von ihnen zu empfangen oder ihnen um Lohn zu dienen!« Higg verschwand in der Menge. Aber da er am Schicksal seiner Wohltäterin Anteil nahm, blieb er, um ihr Urteil zu erfahren. Der Großmeister befahl Rebekka, ihren Schleier zu lüften. Zum ersten Mal öffnete sie ihre Lippen. Sie erwiderte mit ruhiger Würde: »Es ist nicht die Gewohnheit der Töchter meines Volkes, ihr Gesicht vor Fremden zu zeigen.« Der Wohllaut ihrer Stimme erregte ein Gefühl mitleidiger Teilnahme unter den Zuhörern. »Aber da Ihr es befehlt, will ich Euch gehorchen.« Rebekka trat vor den Großmeister: »Ihr seid der Älteste Eures Ordens. Euch will ich das Gesicht eines unglücklichen Mädchens zeigen.« Sie schlug den Schleier zurück und sah ihrem Richter voll in die Augen. Ihre außerordentliche Schönheit rief ein Gemurmel der Bewunderung in der Halle hervor. 160
Zwei Krieger wurden als Zeugen aufgerufen. Obwohl sie abgehärtete Männer waren, schien der Anblick der Gefangenen sie zu verwirren. Aber ein scharfer Blick des Präzeptors von Templestowe wies sie zurecht. Sie begannen mit einer fast verdächtigen Genauigkeit, Umstände zu schildern, die entweder ganz und gar erdichtet oder doch unwesentlich und selbstverständlich waren. Durch ihre düstere Darstellung wurden ihre Erzählungen zu wichtigen Beweisgründen: Rebekka habe öfters in einer fremden Sprache mit sich selbst gesprochen, ihre Gesänge seien von einem seltsam süßen Wohlklang, ihre Gewänder hätten einen merkwürdigen Schnitt – nicht wie die anderer ehrbarer Frauen –, und sie trüge Ringe mit geheimnisvollen Zeichen. Ihr Schleier sei mit fremdartigen Mustern bestickt. Einer der Soldaten berichtete, er habe mit eigenen Augen gesehen, wie Rebekka in Schloß Torquilstone an einem Verwundeten eine Kur verrichtet habe: »Sie machte Zeichen über seiner Wunde und sprach dazu geheimnisvolle Worte, die ich nicht verstand, worauf sich die Eisenspitze eines Armbrustbolzens aus der Wunde löste, die Blutung aufhörte und die Wunde sich schloß. Innerhalb einer Viertelstunde war der Sterbende so weit genesen, daß er imstande war, mir bei der Bedienung einer Steinwurfmaschine zur Hand zu gehen.« Als Beweis zog der Soldat die Eisenspitze aus der Tasche, so daß niemand mehr an der Wahrheit seiner Erzählung zweifeln konnte. Einer seiner Kameraden wollte gesehen haben, daß sich Rebekka auf der Spitze eines Turmes in einen weißen Schwan verwandelt habe und dreimal um das Schloß geflogen sei. Danach habe sie sich wieder auf dem Turm niedergelassen und ihre frühere Gestalt angenommen. Weniger als die Hälfte dieser Zeugenaussagen hätte genügt, ein Weib, auch wenn sie eine Christin und noch schöner als Rebekka gewesen wäre, des Todes schuldig zu finden. Der Großmeister sammelte die Stimmen und fragte die Angeklagte in feierlichem Ton, was sie gegen das Verdammungsurteil einzuwenden habe, das er aussprechen müsse. Rebekkas Stimme zitterte vor Erregung: »Es würde ebenso nutzlos sein, euer Mitleid anzurufen, wie vorzubringen, daß die Pflege von 161
Kranken und Verwundeten, die einer anderen Religion angehören, dem Stifter unserer beider Glauben nicht mißfallen kann. Zu behaupten, daß manche Dinge, die diese Männer gegen mich vorgebracht haben, unmöglich sind, würde mir nicht helfen, da ihr an die Möglichkeit glaubt, genauso wenig, wie zu erklären, daß die Eigentümlichkeit meiner Kleidung, Sprache und Sitten Eigentümlichkeiten meines Volkes sind. Ich will mich auch nicht rechtfertigen auf Kosten meines Verfolgers, der dasteht und die Erdichtungen und Einbildungen der Zeugen gelassen anhört! Gott sei Richter zwischen ihm und mir! Aber lieber wollte ich eines zehnfachen Todes sterben, als die Bewerbung annehmen, mit der er mich verfolgt hat. Ich will mich auf ihn selbst berufen: Er soll erklären, ob diese Anklagen nicht falsch sind, ungeheuerlich und verleumderisch, so wie sie tödlich sind.« Als Rebekka innehielt, richteten sich aller Augen auf Brian de BoisGuilbert. »Sprecht!« rief sie. »Wenn Ihr ein Mann seid und ein Christ! Ich beschwöre Euch, sagt, sind diese Dinge wahr?« »Antworte ihr, Bruder«, befahl der Großmeister, »wenn der böse Feind, mit dem du ringst, dir die Kraft dazu läßt!« Ein schwerer innerer Kampf zeichnete sich auf den Zügen des Ritters ab. Er stieß mühsam hervor: »Das Papier – das Papier!« »Von welchem Papier spricht er?« rief Beaumanoir. »Wenn es eines ist, auf dem ein Zauber steht, dann ist es unzweifelhaft die Ursache seines Schweigens.« Rebekka deutete die Worte Bois-Guilberts anders. Sie entfaltete den Pergamentstreifen, der ihr zugesteckt worden war und den sie in der Hand behalten hatte. Sie las: »Fordere einen Kämpfer!« Der Großmeister gab es auf, Bois-Guilbert nach dem Sinn seines Ausrufes zu fragen. Er wandte sich Rebekka zu: »Was immer dieser unglückliche Ritter sagt, kann dir wenig nützen. Hast du sonst noch etwas vorzubringen?« »Sogar nach euren harten Gesetzen bleibt mir noch ein Weg, mein Leben zu retten«, erwiderte Rebekka gefaßt. »Ich leugne die Richtig162
keit der gegen mich erhobenen Beschuldigung, ich behaupte meine Unschuld und erkläre die Anklage für eine Lüge. Ich appelliere an ein Gottesgericht durch Kampfesprobe!« »Wer wird für eine Zauberin eine Lanze brechen? Wer wird der Ritter einer Jüdin sein?« »Gott wird mir einen Kämpfer schicken«, gab Rebekka leidenschaftlich zurück. »Es ist unmöglich, daß sich im gastfreien, großmütigen England nicht einer finden sollte, der bereit wäre, für die Gerechtigkeit zu kämpfen. Ich verlange einen Rechtsspruch durch Zweikampf – da liegt mein Pfand!« Sie zog den gestickten Handschuh von ihrer Hand und warf ihn vor den Großmeister. Sogar Lukas Beaumanoir war ergriffen durch Rebekkas Haltung: »Wenn das Mitleid, das ich für dich fühle, durch deine bösen Künste hervorgerufen wird, so ist deine Schuld groß. Doch schreibe ich es lieber dem Bedauern zu, daß eine so schöne Erscheinung ein Gefäß des Verderbens sein sollte. Geh in dich, meine Tochter, bekenne deine Hexenkünste, wende dich ab von deinem falschen Glauben und umfasse dieses heilige Zeichen! In irgendeiner Schwesternschaft des strengsten Ordens sollst du Zeit haben zum Gebet und zur Reue. Was hat Moses' Gesetz für dich getan, daß du dafür sterben solltest?« »Es ist das Gesetz meiner Väter«, erwiderte Rebekka selbstbewußt. »Es wurde unter Donner und Blitz auf dem Berge Sinai verkündet. Dies glaubt auch ihr, wenn ihr Christen seid. Freilich sagt ihr, wurde das Gesetz widerrufen. Aber das haben mich meine Lehrer nicht gelehrt!« »Unser Kaplan soll dieser hartnäckigen Ungläubigen …« »Verzeiht die Unterbrechung«, sagte Rebekka sanft. »Ich bin ein Mädchen und habe nicht gelernt, für meine Religion zu streiten, aber ich kann für sie sterben – wenn es Gottes Wille ist.« »Du bestehst also auf deiner Weigerung, deine Schuld zu bekennen, und auf der Herausforderung zum Kampf?« »Ja, edler Herr.« »So sei es denn im Namen des Himmels! Gott möge das Recht zeigen.« 163
»Amen«, antworteten die Präzeptoren. »Wen, ehrwürdige Brüder«, fuhr Beaumanoir fort, »meint ihr, sollten wir zu unserem Kämpfer im Feld ernennen?« »Brian de Bois-Guilbert, den es angeht«, meinte der Präzeptor von Goodalricke, »und der überdies am besten weiß, wie es sich mit der Wahrheit in dieser Sache verhält.« »Wenn nun aber unser Bruder Brian unter dem Einfluß eines Zaubers steht –?« »Ehrwürdiger Vater, kein Zauber kann den Kämpfer berühren, der für ein Gottesurteil die Waffen ergreift.« Diese Antwort schien den Großmeister zu überzeugen. »Reiche dieses Pfand Brian de Bois-Guilbert«, befahl er Malvoisin. »Und du, Rebekka, hast drei Tage Zeit, einen Kämpfer zu finden.« »Das ist eine kurze Frist«, erwiderte sie. »Aber ich vertraue auf Gott, der in einem Augenblick ebensogut zu retten vermag als in einem Jahrhundert.« Der Großmeister fuhr fort: »Es ist nur noch nötig, einen passenden Platz zum Kampf und, wenn es sein soll, auch zur Hinrichtung zu bestimmen. Wo ist der Präzeptor dieses Hauses?« Albert Malvoisin hielt noch immer Rebekkas Handschuh in der Hand und sprach leise, aber eindringlich mit Bois-Guilbert. »Will er das Pfand nicht annehmen?« fragte der Großmeister unwillig. Malvoisin verbarg den Handschuh unter seinem eigenen Mantel. »Sicherlich tut er es, ehrwürdiger Vater«, gab er hastig zurück. »Was den Kampfplatz betrifft, so halte ich die Schranken von St. Georg, die diesem Präzeptorium gehören, am geeignetsten.« Der Großmeister verkündete: »Rebekka, in diesen Schranken soll dein Kämpfer erscheinen. Vermagst du es nicht, einen zu stellen, oder wird dein Streiter durch Gottes Urteil geschlagen, so sollst du den Tod einer Zauberin sterben.« Einer der Kaplane trug das Urteil in das große Protokollbuch ein, der andere las es laut vor und schloß mit den Worten: »Möge Gott die gerechte Sache unterstützen.« 164
»Amen«, riefen die Anwesenden. Mit gefalteten Händen blickte Rebekka zum Himmel empor. Dann bat sie, sich mit ihren Freunden in Verbindung setzen zu dürfen. »Das ist gerecht und entspricht dem Gesetz«, erklärte der Großmeister. »Wähle einen Boten!« »Ist hier jemand«, fragte Rebekka mit erhobener Stimme, »der aus Liebe zu einer guten Sache oder für reichlich Lohn meine Botschaft übernehmen will?« Alles blieb still. Unbeschreibliche Angst erfaßte die Jüdin: »Ist es wirklich so, daß niemand diese Handlung der Nächstenliebe vollbringen will, die man dem schlimmsten Verbrecher nicht verweigern würde?« Higg, Snells Sohn, trat vor: »Ich bin nur ein Krüppel, aber daß ich mich überhaupt bewegen kann, verdanke ich deiner liebevollen Hilfe. Ich will deine Botschaft übernehmen.« »Gott lenkt alle Dinge«, erwiderte Rebekka. »Suche Isaak von York auf und bringe ihm die Botschaft, die ich niederschreiben werde. Hier ist genug Geld, um einen Reiter zu bezahlen. Lebe wohl! Leben und Tod hängen von deiner Eile ab.«
Higg eilte, um sich das Pferd seines Nachbarn zu borgen. Aber auf dem Weg traf er zwei Reiter, die er an ihrer Kleidung und an ihren großen gelben Mützen sofort als Juden erkannte. Es waren Isaak von York und der Rabbi Ben Samuel, die aus Neugierde in die Nähe des Präzeptoriums gekommen waren, da sie gehört hatten, daß dort eine Zauberin verhört werden sollte. Higg humpelte auf seinen Krücken an Isaak heran und reichte ihm die kleine Rolle, die Rebekka ihm gegeben hatte. Kaum hatte der Jude sie geöffnet und gelesen, als er seine Mütze vom Kopf riß: »Mein einziges Kind«, rief er. »Warum soll dein Tod meine grauen Haare ins Grab bringen? Muß ich in der Bitterkeit meines Herzens Gott fluchen und sterben?« 165
Der Rabbi nahm ihm die Rolle aus der Hand und las: »An Isaak, den die Heiden Isaak von York nennen. Mein teurer Vater, ich bin verdammt zu sterben für etwas, von dem meine Seele nichts weiß – für das Verbrechen der Zauberei. Mein Vater, sieh zu, ob ein Mann gefunden werden kann, der am dritten Tag von heute mit Lanze und Schwert in den Schranken von Templestowe für meine Sache kämpfen will. Ein Nazarener Krieger würde gewiß für mich die Waffen ergreifen – Wilfred, Cedriks Sohn, den die Heiden Ivanhoe nennen. Obwohl er noch nicht das Gewicht seiner Rüstung zu tragen vermag, sende ihm diese Nachricht, denn er ist beliebt unter den Kriegern seines Volkes und kann vielleicht jemanden finden, der für mich kämpfen will. Und sage ihm, daß ich, ob ich lebe oder sterben muß, frei bin von der Schuld, die man mir zuschreibt!« Isaak zerriß seine Kleider und jammerte: »Meine Tochter, meine Tochter!« »Diese Klagen nützen dir nichts«, sagte der Rabbi. »Suche Wilfred, Cedriks Sohn. Er kann dir vielleicht helfen.« »Ich will es tun, er hat ein mitleidiges Herz für die Verbannten Jakobs. Aber er kann seine Rüstung nicht tragen, und welcher andere Christ wird für die Unterdrückten Zions kämpfen?« »Mit Gold wirst du ihre Tapferkeit erkaufen, ebenso wie deine eigene Sicherheit. Ich will inzwischen nach York eilen, und zweifle nicht, daß ich einen finden werde, der für deine Tochter fechten wird. Und du sollst erfüllen, was ich ihm in deinem Namen verspreche.« »Gewiß, Bruder. Was würde mir mein Gold auch nützen, wenn das Kind meiner Liebe sterben müßte?«
Der Abend dämmerte bereits, als Brian de Bois-Guilbert in das Zimmer Rebekkas trat. Der Anblick des Mannes, der ihr Unglück verschuldet hatte, beunruhigte sie so sehr, daß sie scheu in eine Ecke des Gemachs zurückwich. 166
»Du hast keine Ursache, mich zu fürchten«, sagte der Templer statt jeder Begrüßung. »Ich fürchte Euch nicht, Herr Ritter.« Die bebende Stimme strafte ihre Worte Lügen. »Mein Glaube ist stark, darum fürchte ich Euch nicht.« »Dein Ruf könnte die Wachen leicht erreichen. Sie haben zwar den Befehl, dich zum Tod zu führen, aber sie würden es nicht zulassen, daß dich jemand beleidigt.« »Der Tod schreckt mich nicht.« »Der Gedanke an den Tod wird von einem mutigen Geist leicht ertragen, aber der Tod, zu dem du verurteilt bist, wird nicht leicht und plötzlich sein. Du wirst langsam und unter Qualen sterben, deinem Verbrechen angemessen, wie es diese abergläubischen Männer nennen.« »Und wenn das mein Schicksal ist, wem verdanke ich es? Gewiß jenem, der mich hierher schleppte und der jetzt bemüht ist, das, was mir bevorsteht, grauenvoll zu schildern.« »Du irrst«, unterbrach sie der Templer. »Wie konnte ich die unerwartete Ankunft jenes kindischen Greises vermuten, der über seine wahren Verdienste hoch über mich erhoben wurde und über die Hunderte in unserem Orden, die als Männer denken und fühlen, frei von den phantastischen Vorurteilen, die die Gründe seiner Meinungen und Handlungen sind?« »Ihr seid selbst über mich als Richter gesessen. Ihr wußtet, daß ich unschuldig bin und habt dennoch zu meiner Verurteilung beigetragen. Ihr habt Euch sogar bereit erklärt, in Waffen zu erscheinen, um meine Schuld zu bekräftigen.« »Deine Worte sind bitter, Rebekka. Aber ich bin nicht hierhergekommen, um Vorwürfe auszutauschen. Ich selbst habe dir das Blatt zugesteckt, das dir riet, einen Kämpfer zu fordern. Wäre jener fanatische Greis und der Narr von Goodalricke nicht dazwischen gekommen, dann wäre ich als dein Kämpfer in den Schranken erschienen. Und wenn Lukas Beaumanoir mir zwei oder drei Ritter entgegengestellt hätte, ich hätte sie mit einer einzigen Lanze aus dem Sattel gehoben.« 167
»Leicht könnt Ihr mit dem prahlen, was Ihr getan hättet. Ihr habt meinen Handschuh angenommen und mein Kämpfer, wenn ich einen finden kann, muß sich Euch stellen.« »Höre, Rebekka. Wenn ich nicht in den Schranken erscheine, verliere ich Ehre und Rang. Verwünscht sei dieser Goodalricke, der mir die Falle stellte, und verwünscht sei Malvoisin, der mich davon abhielt, den Handschuh diesem altersschwachen, abergläubischen Narren ins Gesicht zu werfen!« »Ihr habt die Wahl getroffen. Ihr laßt es zu, daß das Blut eines unschuldigen Mädchens vergossen wird, nur um Eure irdische Stellung nicht zu gefährden.« Bois-Guilbert trat auf Rebekka zu: »Nein, meine Wahl ist nicht getroffen. Du hast sie zu treffen. Erscheine ich in den Schranken, so muß ich meinem Namen Ehre machen, und du stirbst – denn es lebt kein Ritter, der es mit mir aufnehmen könnte, außer Richard Löwenherz oder Ivanhoe. Aber Ivanhoe ist, wie du weißt, nicht fähig, seine Rüstung anzulegen, und Richard liegt gefangen im Ausland. Erscheine ich nicht in den Schranken, so bin ich ein entehrter Ritter, der Zauberei und des Verkehrs mit einer Ungläubigen überführt. Ich verliere meinen guten Ruf, ich verliere die Aussicht auf eine Größe, wie sie kaum ein Kaiser erreichen kann. Und doch …« Er hielt inne und warf sich vor ihr auf die Knie: »Ich will diesem Ruhm entsagen und auf diese Macht verzichten, wenn du mich erhörst.« Er griff nach dem Saum ihres Kleides und sah sie bittend an. Rebekka wich zurück: »Seid ein Mann, seid ein Christ! Wenn Euer Erbarmen so groß ist, dann errettet mich vor diesem gräßlichen Tod, ohne Belohnung dafür zu suchen.« »Nein«, rief Bois-Guilbert heftig. Er sprang auf: »Wenn ich meinem Ehrgeiz entsage, dann tue ich es um deinetwillen. Höre, Rebekka«, bat er und versuchte seine Stimme zu dämpfen. Die Begeisterung riß ihn fort: »Wir wollen miteinander fliehen! England, Europa ist nicht die Welt! Wir wollen nach Palästina gehen. Ich will neue Wege zum Ruhm finden. Du sollst eine Königin sein, Rebekka! Ich will dir auf dem Berge Karmel einen Thron errichten, und ich wer168
de den langersehnten Großmeisterstab mit einem Königszepter vertauschen!« »Ein Traum«, sagte Rebekka. »Ein leeres Trugbild, aber auch wenn es Wirklichkeit wäre, könnte es mich nicht locken. Ich will die Macht, die Ihr erlangen könntet, nicht mit Euch teilen. Ich denke auch von Vaterland und Glauben keineswegs so gering, als daß ich den achten könnte, der so rasch bereit ist, diese Bande zu zerreißen um einer zügellosen Leidenschaft willen. Setzt keinen Preis auf meine Rettung, tut es aus Menschenliebe. Geht vor Englands Thron! Richard wird meiner Berufung Gehör schenken.« »Niemals, Rebekka! Wenn ich meinem Orden entsage, so tue ich es für dich. Ich mich beugen vor Richard? Niemals würde ich meinen Orden in dieser Weise verraten und erniedrigen, auch wenn ich bereit wäre, ihn zu verlassen.« »Gott sei mir gnädig, denn auf Menschenhilfe kann ich kaum noch hoffen.« »So ist es! Dein Stolz hat in mir seinen Mann gefunden. Wenn ich in die Schranken reite, so glaube nicht, daß mich irgendeine Rücksicht abhalten wird, meine ganze Kraft zu gebrauchen.« »Ich bin nur ein Weib.« Ruhig und gefaßt begegnete Rebekka dem Blick Bois-Guilberts: »Ich bin von Natur aus furchtsam. Ich habe Angst vor Gefahr und Schmerzen. Doch glaubt mir, wenn wir jene Todesschranken betreten, wird mein Mut größer sein als der Eurige.« »Wollte der Himmel, wir wären einander nie begegnet, oder du wärest adelig geboren und eine Christin! Fast könnte ich wünschen, zu deinem Volk zu gehören und mit Geldsäcken vertraut zu sein statt mit Lanze und Schild. Ich würde meinen Kopf beugen vor jedem lumpigen Edelmann, und mein Blick wäre nur für den Schuldner furchtbar. All das könnte ich wünschen, um dir im Leben nahe zu sein und nicht Anteil haben zu müssen an deinem Tod!« »Ihr habt den Juden geschildert, wie er durch Euresgleichen geworden ist. Im Zorn hat ihn der Herr aus seinem Vaterland gewiesen, und die Unterdrückung hat ihm keinen anderen Erwerb gelassen als den Handel. Und doch gibt es auch unter den Juden solche, die ihrer Ab169
kunft keine Schande machen, und zu ihnen soll die Tochter Isaaks gehören. Ich neide Euch nicht die blutig errungenen Ehren noch Eure Abkunft von nordischen Heiden und auch nicht Euren Glauben, den Ihr nur im Munde führt, der sich aber nicht in Eurem Tun zeigt.« Bois-Guilbert konnte seine Blicke nicht von Rebekka wenden:»Fast glaube ich, daß diese abergläubischen Narren die Wahrheit sprechen und du mich tatsächlich verzaubert hast. So jung, so schön, so frei von Todesfurcht bist du und mußt doch sterben, schmachvoll und qualvoll! Aber nichts kann jetzt dein Leben retten. Laß uns als Freunde scheiden und vergib mir.« »Ich vergebe Euch, obwohl Ihr meinen Tod verschuldet.« Hastig wandte sich der Templer ab.
Vom Gerichtsbaum der Geächteten begab sich der Schwarze Ritter zu dem kleinen Kloster in der Nähe der Abtei Sankt Botolph. Dorthin hatten Wamba und Gurth den verwundeten Ivanhoe nach dem Fall von Torquilstone gebracht. Der Schwarze Ritter hatte eine lange und ernste Unterredung mit Wilfred, bevor er sich am nächsten Morgen zur Abreise fertig machte. »Wir werden uns beim Leichenfest in Coningsburgh wieder treffen«, sagte er zum Abschied. »Ruhe noch einen Tag. Wamba soll als Reiseführer mit mir kommen.« »Ich komme von Herzen gern mit Euch.« Der Possenreißer rieb sich die Hände: »Auch will ich mir die Schmauserei bei Athelstanes Leichenbegängnis nicht entgehen lassen. Denn wenn sie nicht ganz vorzüglich ist, steht er gewiß von den Toten auf und schilt den Koch, den Haushofmeister und den Mundschenk – das wäre ein sehenswerter Anblick!« Ivanhoe lächelte dem Schwarzen Ritter zu: »Ihr habt Euch einen geschwätzigen und lästigen Narren zum Begleiter erwählt. Aber er kennt jeden Stein in diesen Wäldern und ist, wie Ihr wißt, so treu wie Gold.« 170
»Wenn er es versteht, mir den Weg zu zeigen, werde ich es nicht übelnehmen, wenn er ihn zugleich unterhaltend macht!« Der Schwarze Ritter reichte Ivanhoe die Hand, der sie ehrerbietig küßte, verabschiedete sich vom Abt des Klosters und brach mit Wamba auf.
Kurz nach der Frühmette verlangte Ivanhoe den Abt zu sehen. Der alte Priester kam eiligst herbei und erkundigte sich ängstlich nach seinem Befinden. »Es geht mir besser«, sagte Ivanhoe. »Ich fühle mich so gut, daß ich glaube, schon eine Rüstung tragen zu können, und so will ich auch nicht länger untätig hier liegen bleiben.« Der Abt war bestürzt: »Was veranlaßt Euch denn zu einer so plötzlichen Abreise?« »Habt Ihr niemals eine Vorahnung drohenden Unglücks gehabt, heiliger Vater?« Der Abt bekreuzigte sich. »Ich kann nicht leugnen, daß solche Dinge vorgekommen sind. Aber dann hatten die geheimnisvollen Warnungen einen sichtbaren nützlichen Zweck. Ihr aber seid verwundet und kaum imstande, jemandem zu helfen.« »Ihr irrt. Ich bin kräftig genug, mich jedem, der mich herausfordert, im Kampfe zu stellen. Außerdem könnte ich einem Bedrängten durch andere Mittel helfen, als ihm mit den Waffen beizustehen. Und um das besser tun zu können, bitte ich Euch um ein Pferd, dessen Tritt sanfter ist als der meines Schlachtrosses.« »Ihr sollt meine Malkin haben – ein stilleres Tier könntet Ihr nicht finden.« »Laßt sie mir satteln, ehrwürdiger Vater, und schickt Gurth mit meinen Waffen zu mir.«
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Der Schwarze Ritter trabte gemächlich den Waldpfad entlang. Wamba trug sein gewöhnliches Narrenkleid, hatte aber, durch die letzten Vorkommnisse gewitzigt, sein Holzschwert mit einem scharfen Pallasch vertauscht und sich einen Schild angeschafft. Er versuchte mit allen Mitteln, mit dem Schwarzen Ritter ins Gespräch zu kommen. »Herr«, sagte er, »ich würde mir gerne das Horn, das an Eurem Gürtel hängt, einmal besehen. Woher habt Ihr es?« »Es ist ein Geschenk Locksleys.« Der Schwarze Ritter setzte hinzu: »Ein nützliches Geschenk, denn drei Noten auf diesem Horn würden im Notfall eine Bande seiner Leute herbeirufen.« »Der Himmel behüte uns davor! Wäre dieses Geschenk nicht von Locksley, würden sie uns nicht friedlich dahinziehen lassen!« »Meinst du am Ende, daß sie uns ohne dieses Horn angreifen würden?« »Ich sage gar nichts«, erwiderte Wamba. Er sah sich um. »Selbst die grünen Bäume haben Ohren. Und doch«, er ritt dicht an den Ritter heran: »Es gibt Leute, die weit gefährlicher sind als jene Geächteten. Denkt an Malvoisins Bewaffnete! Sie warten jetzt auf ihre Ernte, und durch die von Torquilstone entkommenden Soldaten haben sie neue Verstärkung erhalten. Wenn wir auf eine Bande von ihnen treffen, müssen wir für unsere früheren Heldentaten bezahlen! Was würdet Ihr tun, wenn wir zwei von ihnen gegenüberstünden?« »Ich würde die Schurken mit meiner Lanze auf den Boden spießen!« »Und wenn es vier wären?« »Genau dasselbe!« »Und wenn es sechs wären – würdet Ihr nicht zu Locksleys Horn greifen?« »Was! Um Hilfe blasen? Niemals!« »Ich bitte Euch, Herr, laßt mich doch einmal das Horn sehen, das einen so mächtigen Ton hat.« Der Ritter löste das Horn von seinem Gürtel und reichte es Wamba, der es sofort um seinen eigenen Hals hängte. »Tra-lira-la.« Er pfiff leise die Noten. »Ich kenne meine Skala so gut wie ein anderer.« 172
»Was fällt dir ein? Gib mir sofort das Horn zurück!« »Seid zufrieden, Herr, es ist in guter Hut.« Mit gedämpfter Stimme fügte er hinzu: »Wenn ich mich nicht irre, stecken in dem Gebüsch ein paar Kumpane, die es auf uns abgesehen haben! Ich habe zwei- oder dreimal eine Sturmhaube zwischen den Blättern hervorschimmern sehen.« Der Ritter schloß sein Visier. »Meiner Treu, ich glaube, du hast recht.« Im selben Augenblick flogen drei Pfeile gegen seinen Kopf und seine Brust, prallten jedoch wirkungslos ab. Ohne sich weiter zu besinnen, sprengte der Schwarze Ritter dem Dickicht entgegen. Sechs oder sieben bewaffnete Männer rannten auf ihn los. Drei Lanzen trafen ihn, verwundeten ihn jedoch nicht. Der Schwarze Ritter erhob sich in den Steigbügeln. »Was bedeutet das, ihr Herren?« rief er. Statt einer Antwort zogen die Angreifer ihre Schwerter und stürmten von allen Seiten auf ihn ein. Vor seinen wütend ausgeteilten Hieben wichen sie zurück. Es schien, als würde er den Sieg gegen die Übermacht davontragen, als in vollem Galopp ein Reiter in blauer Rüstung auf ihn los jagte. Seine Lanze traf das Pferd des Schwarzen Ritters. Es brach zusammen und riß im Fall seinen Herrn mit sich zu Boden. In diesem Augenblick blies Wamba in das Horn. Die drei Noten klangen auf. Der unerwartete Ton bestürzte die Angreifer. Sie wichen zurück. Wamba wagte sich vor, um dem Schwarzen Ritter zu Hilfe zu kommen. »Ihr Feiglinge!« rief der Ritter in der blauen Rüstung seinen Männern zu. »Flieht ihr beim bloßen Klang eines Horns, das ein Possenreißer bläst?« Der Schwarze Ritter stand mit dem Rücken an eine Eiche gelehnt und wehrte sich gegen die Angreifer, die ihn von neuem bedrängten. Der blaue Ritter wollte den Vorteil ausnützen und den Gegner mit seiner Lanze am Baum festnageln. Sein Pferd brach zusammen. Wamba hatte dem Tier die Kniesehnen rechtzeitig durchschnitten. Roß und Reiter stürzten zu Boden. 173
Aus den Gebüschen brach eine Schar von Geächteten. An ihrer Spitze kamen Locksley und der lustige Einsiedler. Die Wegelagerer waren rasch überwältigt. Nachdem der Schwarze Ritter seinen Befreiern gedankt hatte, befahl er Wamba, das Visier des verwundeten Ritters in der blauen Rüstung zu öffnen. Der Possenreißer beugte sich über den wehrlos am Boden Liegenden: »Kommt, tapferer Herr, ich muß Euer Rüstknappe sein! Ich habe Euch vom Pferd heruntergeholfen, nun will ich Euch auch den Helm abnehmen.« Er öffnete das Visier. »Waldemar Fitzurse!« rief der Schwarze Ritter überrascht. »Was konnte einen Mann wie dich zu so einem Streich veranlassen?« »Richard«, erwiderte der Gefangene. Es fiel ihm sichtlich schwer zu sprechen. »Du kennst die Menschen nicht, wenn du nicht weißt, wozu Ehrgeiz und Rache sie verleiten können.« »Wofür wolltest du dich an mir rächen?« »Meine Tochter, Richard, deren Hand du verschmäht hast! War das nicht Beleidigung genug für einen Normannen, dessen Blut so edel ist wie das meine?« »Tretet zurück, ihr Herren. Ich möchte mit ihm allein sprechen«, befahl der Schwarze Ritter den Geächteten. Als sie seiner Aufforderung nachgekommen waren, fragte er: »Gestehe, Waldemar Fitzurse, wer dich zu dieser Schandtat verleitet hat!« »Deines Vaters Sohn. Er wollte dadurch deinen Ungehorsam gegen euren Vater rächen.« Mit einer heftigen Bewegung fuhr sich Richard über die Stirn. Dann fragte er den gefangenen Baron: »Bittest du nicht um dein Leben?« »Wer in den Klauen des Löwen ist, weiß, daß es vergeblich wäre.« »Ich schenke dir das Leben. Aber unter der Bedingung, daß du binnen drei Tagen England verläßt.« Er wandte sich Locksley zu: »Gebt diesem Ritter ein Pferd.« »Wenn ich nicht wüßte, daß einer zu mir spricht, dessen Befehle keinen Widerspruch dulden, würde ich diesem heimtückischen Mörder 174
einen Pfeil nachsenden, der ihm die Anstrengungen einer langen Reise ersparen würde«, erwiderte Locksley. »Du hast ein englisches Herz. Du hast recht: Du bist verpflichtet, meinem Gebot zu gehorchen – ich bin Richard von England.« Ehrfürchtig knieten die Geächteten vor dem Schwarzen Ritter nieder und baten um Verzeihung für ihre Vergehen. »Steht auf, meine Freunde«, sagte Richard mild. »Eure Verfehlungen habt ihr längst gutgemacht durch die Dienste, die ihr meinen bedrängten Untertanen bei Torquilstone geleistet habt und durch euer beherztes Eingreifen, das mich heute errettet hat. Und du, Locksley …« »Nennt mich nicht länger Locksley, Herr, ich bin Robin Hood von Sherwood.« »Der König der Geächteten und der Fürst der guten Gesellen! Wer hätte nicht den Namen gehört, der bis nach Palästina gedrungen ist? Fürchte nichts, tapferer Geächteter! Nichts, das in unserer Abwesenheit geschehen ist, soll dir zum Nachteil gereichen.« »Confiteor! Confiteor!« rief eine demütige Stimme. »Mein Latein reicht nicht weiter, aber ich bekenne meinen tödlichen Verrat und bitte um Absolution, bevor ich zur Hinrichtung geführt werde!« Richard wandte sich um. Vor ihm kniete der lustige Mönch und drehte seinen Rosenkranz in den Fingern. Im Gras daneben lag der gewaltige Streitknüppel, den er während des Handgemenges gebraucht hatte. »Warum bist du denn so gebrochen?« fragte Richard. »Fürchtest du am Ende, dein Oberer könnte erfahren, wie treu du unserer lieben Frau und dem heiligen Dunstan dienst?« Er lächelte: »Richard von England verrät keine Geheimnisse, die er beim Wein erfahren hat! Aber ich denke, es wäre besser für die Kirche und für dich, wenn ich die Erlaubnis erwirkte, daß du deine Kutte ablegst und als Trabant in meine Leibgarde eintrittst. Dann dienst du mir wie bisher dem heiligen Dunstan.« »Verzeiht, hoher Herr«, erwiderte der Mönch, »aber die Ehre ist zu groß für mich. Ihr habt schon erfahren, wie sehr mich die Sünde der Faulheit plagt. St. Dunstan steht ruhig in seiner Nische, wenn ich auch 175
zuweilen meine Gebete vergesse oder nachts die Zelle verlasse. Aber wäre ich ein Trabant des Königs, so würde es bei der geringsten Vernachlässigung heißen: ›Wo steckt denn der Pfaff?‹ Wenn Ihr mir Euer Wohlwollen zuteil werden lassen wollt, so wisset, der arme Pfaff von Copmanhurst nimmt auch die kleinste Gabe dankbar an.« »Ich verstehe!« Der König lachte: »Der heilige Pfaff soll die Jagdfreiheit in meinen Wäldern von Warncliffe erhalten. Und da das Wildbret eine trockene Speise ist, wollen wir unserem Kellermeister befehlen, dir einen Eimer Sekt, ein Fäßchen Malvasier und drei Tonnen frisches Ale zu senden.« »Und was bekommt der heilige Dunstan?« Richard bekreuzigte sich. »Einen Chorrock, eine Stola und eine Altardecke.« Er streckte dem Einsiedler seine Hand entgegen, die der Pfaffe von Copmanhurst verlegen ergriff und ehrfürchtig küßte.
Wilfred von Ivanhoe war mit Gurth der Spur des Schwarzen Ritters gefolgt. Er wußte nicht, wie er seinen Herrn begrüßen sollte, als er ihn in der Versammlung der Geächteten traf. Verwundert sah er sich in der Waldlichtung um, die noch deutliche Spuren des stattgefundenen Kampfes zeigte. »Fürchte nicht, Wilfred, mich bei meinem Namen zu begrüßen«, empfing ihn Richard. »Ich befinde mich in der Gesellschaft treuer englischer Untertanen.« »Ich zweifle nicht daran«, erwiderte Ivanhoe, »da ich ihren Anführer zu erkennen glaube. Ist es nicht Locksley? Aber was bedeuten diese erschlagenen Männer und die blutbedeckte Rüstung meines Fürsten?« »Verräter haben uns überrascht. Aber dank dieser tapferen Männer haben sie ihren gerechten Lohn erhalten. Aber auch du bist ein Verräter«, fügte er lächelnd hinzu. »Du solltest dich in der Abtei von St. Botolph ausruhen, bis deine Wunde geheilt ist.« »Sie ist geheilt. Aber Ihr, mein König, setzt Euer Leben durch einsame Reisen und waghalsige Abenteuer aufs Spiel.« 176
»Wer von uns beiden hat mehr Ursache, dem anderen Vorwürfe zu machen?« gab der König zurück. »Aber ich kann noch nicht öffentlich hervortreten. Ich muß meinen Freunden Zeit lassen, sich zu sammeln. Wenn meine Rückkehr bekannt wird, muß ich mich auf eine Macht stützen können, vor der meine Feinde erzittern. Ich warte auf Nachrichten von Salisbury, aus Warwickshire und aus dem Norden von Multon und Percy sowie aus London. Würde ich mich jetzt schon zu erkennen geben, dann würde ich mich Gefahren aussetzen, aus denen ich mich, selbst mit Hilfe Robin Hoods und seiner Gefährten, nicht erretten könnte.« Wilfred schwieg. Er wußte, daß jeder Versuch vergeblich war, seinen Herrn von einem einmal gefaßten Vorhaben abzubringen. Richard, der froh war, die berechtigten Vorhaltungen seines Ratgebers zum Schweigen gebracht zu haben, befahl: »Doch kommt, ihr Herren, laßt uns nach Coningsburgh aufbrechen, um dem edlen Athelstane die letzte Ehre zu erweisen!«
Noch vor Sonnenuntergang erreichten der König, Ivanhoe, Wamba und Gurth Schloß Coningsburgh, das auf einer Anhöhe am Ufer eines Flusses gelegen war. Schon von weitem sahen sie die riesige schwarze Fahne, die vom Hauptturm der gewaltigen Festung wehte. Auf dem Hügel vor dem Schloß war alles in geschäftiger Bewegung. Nicht nur die näheren und entfernten Verwandten des Verstorbenen waren erschienen, sondern auch alle Vorüberreisenden, die, wer immer sie auch waren, an dem Leichenbankett teilnehmen durften. Durch das offene, unbewachte Schloßtor ritten der König und seine Begleiter unbemerkt in den Hof. Innerhalb der Befestigungen waren die Köche mit dem Braten von Ochsen und Schafen beschäftigt. Mächtige Bierfässer wurden angezapft. Alle Anwesenden, sächsische Sklaven, Bürger und Handwerker aus der Umgebung, sprachen dem Essen herzhaft zu. Es hatten sich auch ein paar normannische Edelleute eingefunden. Sie hatten sich 177
von den anderen Gruppen abgesondert und sahen mit Verachtung auf die Festlichkeit, obwohl sie reichlich aßen und tranken. Das Leichenbegängnis war ein Fest, das allgemein ausgenützt wurde. Krämer legten ihre Waren aus, reisende Handwerker machten sich nützlich, Pilger, Priester, sächsische Minnesänger und walisische Barden, Possenreißer und Gaukler hatten sich unter die lärmende Menge gemischt. Gelegentlich wurden Klagelieder angestimmt, die die Gäste an den traurigen Anlaß der Feierlichkeit erinnerten. Von Zeit zu Zeit erhoben die Frauen ihre Stimmen und weinten laut. Dem Haushofmeister, der die landläufigen Gäste, die unentwegt aus und ein gingen, kaum zur Kenntnis nahm, fielen die beiden stattlichen Neuankömmlinge sofort auf. Es galt als besondere Ehre für den Verstorbenen und seine Familie, wenn Ritter an einer sächsischen Leichenfeier teilnahmen. Ehrerbietig bahnte er Richard und Ivanhoe den Weg durch die Menge und geleitete sie zum Eingang des Hauptturmes. Steile Stufen führten zu einem Portal an der Südseite des Turmes, durch das man zu einer engen Treppe innerhalb der Hauptmauer gelangte. In den beiden unteren Stockwerken des Turmes befanden sich Gefängnisse und finstere Gewölbe. Richard und Ivanhoe, der sein Gesicht mit der Kapuze seines Mantels verhüllt hatte, folgten dem Haushofmeister in den dritten Stock, in ein weites, rundes Gemach. Um einen riesigen Eichentisch saßen die vornehmsten Sachsen aus der Umgebung. Sie unterschieden sich durch ihre ernsten Blicke, ihre würdevolle Haltung und ihr kummervolles Schweigen von der lauten, fröhlichen Gesellschaft im Hof. Cedrik, der das Haupt der Versammlung zu sein schien, erhob sich und begrüßte den Schwarzen Ritter mit feierlichem Ernst. Richard erwiderte den Gruß und leerte einen Becher, den ihm der Tafelmeister reichte. Ivanhoe empfing die gleiche Höflichkeit, aber statt der üblichen Antwort, die der König vorbrachte, verneigte er sich nur stumm, um sich nicht vorzeitig zu verraten. Cedrik führte die beiden Ritter in eine schlichte kleine Kapelle, die in einen der äußeren Strebepfeiler eingebaut war. Vor dem Altar war 178
eine Bahre aufgestellt, neben der sechs Priester knieten, die ihre Rosenkränze drehten und ohne Unterbrechung andächtige Gebete vor sich hersagten, damit die alten heidnischen Geister, an die noch viele Trauergäste glaubten, der Seele des Toten kein Leid zufügen könnten. Richard und Wilfred bekreuzigten sich und murmelten ein kurzes Gebet. Über ein paar Stufen und durch eine Tür traten sie hinter Cedrik in das Betzimmer, das wie die Kapelle von den dicken Mauern umschlossen war. Vor einem Steintisch, auf dem ein elfenbeinernes Kruzifix neben einem Meßbuch stand, saß eine schwarzgekleidete Frau. Cedrik sprach sie an: »Edle Edith, hier sind zwei Fremde, die an deinem Kummer teilnehmen. Der eine von ihnen ist jener tapfere Ritter, der so selbstlos für die Befreiung deines Sohnes gekämpft hat.« »Obwohl es dem Himmel gefallen hat, daß seine Tapferkeit umsonst war«, erwiderte die verschleierte Dame, »danke ich ihm und auch seinem Begleiter, daß sie mich in der Stunde meines größten Leides besuchen. Ich hoffe, daß sie nichts entbehren werden, was unsere Gastfreundschaft bieten kann.« Richard und Ivanhoe verbeugten sich vor der trauernden Mutter und folgten Cedrik in ein höher gelegenes Stockwerk. Dort saßen in einem Saal Mädchen und Frauen aus vornehmen sächsischen Familien, unter ihnen Rowena. Einige wanden Blumenkränze, andere stickten an einem seidenen Grabtuch, wieder andere sangen mit gedämpfter Stimme Trauerhymnen. Rowena begrüßte ihren Befreier mit anmutiger Verbeugung. Sie war ernst, wenn auch nicht niedergeschlagen. Cedrik aber flüsterte seinen Begleitern, im Glauben, daß sie sehr um den Verstorbenen trauerte, zu: »Sie war die Braut des edlen Athelstane.« Als er mit Richard und Ivanhoe das nächste Gemach betrat, das für den Aufenthalt der Ehrengäste bestimmt war, ergriff der König seine Hand. Er fragte: »Darf ich Euch daran erinnern, daß Ihr mir bei unserer letzten Begegnung versprochen habt, eine Gunst zu gewähren?« »Sie ist gewährt, noch ehe sie ausgesprochen ist«, erwiderte Cedrik. »Doch bei diesem traurigen Anlaß …« 179
»Auch ich habe daran gedacht«, unterbrach der König, »aber meine Zeit ist knapp bemessen, und es erscheint mir nicht unpassend, daß Ihr, wenn sich das Grab über dem edlen Athelstane schließt, darin gewisse Vorurteile mit begraben solltet.« Cedrik machte eine ablehnende Handbewegung: »Ich hoffe, Herr Ritter vom Fesselschloß, daß Euer Wunsch nur Euch selbst und niemand anderen betrifft, denn es schickt sich nicht, daß sich ein Fremder in die Angelegenheit meines Hauses einmischt.« »Ihr werdet mir das Recht zugestehen müssen, wenn ich Euch sage, daß ich nicht, wie Ihr meint, der Ritter vom Fesselschloß, sondern Richard Plantagenet bin!« »Richard von Anjou?« fragte Cedrik erstaunt. »Nein – Richard von England.« Der König wartete einen Augenblick auf die Wirkung. Als Cedrik ihn unverwandt ansah, fragte er: »Habt Ihr keinen Kniefall für Euren Fürsten?« »Vor normannischem Blut hat sich mein Knie noch nie gebeugt!« Richard hob den Kopf hoch: »Schiebt Eure Huldigung auf, bis ich mein Anrecht darauf bewiesen habe.« Er lächelte gleich wieder: »Kehren wir zu meiner Bitte zurück, die ich mit vollem Vertrauen ausspreche, denn Ihr habt mir Euer Wort gegeben, sie zu erfüllen: Ich bitte Euch, Eurem Sohn, Wilfred von Ivanhoe, zu vergeben.« Cedrik wandte sich hastig um und erkannte im selben Augenblick Ivanhoe, der die Kapuze seines Mantels von seinem Gesicht gezogen hatte. Er warf sich vor seinem Vater auf die Knie. »Ich vergebe dir, mein Sohn«, sagte Cedrik milde und hob ihn auf. Ivanhoe wollte sprechen, doch Cedrik ließ ihn nicht zu Wort kommen: »Ich weiß, was du sagen willst, und hier ist meine Antwort: Lady Rowena muß zwei volle Trauerjahre halten, wie um einen angetrauten Gatten. Athelstanes Geist würde vor uns treten, wenn wir seinem Gedächtnis diese Ehre nicht erwiesen!« Kaum hatte er zu Ende gesprochen, als sich die Türe öffnete und Athelstane im Grabgewand vor ihnen stand, blaß und verstört. Cedrik wich zurück. An die Wand gelehnt, blickte er starr auf die 180
Gestalt seines Freundes. Ivanhoe bekreuzigte sich und murmelte Gebete vor sich hin, während Richard abwechselnd rief: »Benedicte«, und fluchte, »mort de ma vie!« Cedrik faßte sich zuerst: »Im Namen Gottes«, begann er, »wenn du ein Geist bist, so sage uns, warum du uns besuchst. Lebend oder tot, sprich, Athelstane!« »Ich bin so lebendig, wie einer sein kann, der drei Tage lang von Brot und Wasser gelebt hat!« erwiderte Athelstane mit sehr natürlicher Stimme. »Ich wurde zwar zu Boden gestreckt, aber ich war nur betäubt. Andere fielen auf mich, so daß ich erst zur Besinnung kam, als ich in einem Sarg lag – der zum Glück offenstand – in der Kirche des heiligen Edmund. Als ich mich erheben wollte, kamen der Küster und der Abt des Klosters herbeigelaufen, voll Schrecken über das Geräusch und keineswegs erfreut, den Mann am Leben zu finden, auf dessen Erbe sie lauerten! Ich bat um Wein. Sie gaben mir auch welchen, aber er muß mit einem starken Betäubungsmittel versetzt gewesen sein, denn ich schlief noch fester als zuvor. Als ich wieder wach wurde, waren meine Arme und Füße festgebunden, und ich lag in einem unterirdischen Kerker des verwünschten Klosters. Zwei Mönche traten in mein Gefängnis. Sie wollten mich überreden, ich sei im Fegefeuer, aber obwohl es stockfinster war, erkannte ich den frommen Abt an seiner Stimme.« »Laßt Euch Zeit, edler Athelstane«, unterbrach ihn der König, »und schöpft Atem!« »Nichts als ein Gerstenbrot und einen Krug Wasser gaben mir die geizigen Verräter zu essen.« »Aber wie bist du entkommen?« fragte Cedrik. »Ich würde noch dort sein, wenn die Heuchler nicht das Kloster verlassen hätten, um an meinem Leichenschmaus teilzunehmen, obwohl sie wußten, wo ich begraben war! Lange wartete ich vergeblich auf meine nächste Mahlzeit, bis endlich der Küster kam. Sein Schritt war unsicher, sein Atem roch nach Wein. Als er mich verließ, vergaß er, die Türe fest abzuschließen.« »Nehmt eine Erfrischung zu Euch, edler Athelstane«, ermunterte ihn Richard. 181
Während Athelstane hastig einen Becher Wein leerte, fanden sich immer mehr Zuhörer ein. Auch Edith, die Mutter des Wiedererstandenen, war ihm in das Fremdenzimmer gefolgt und mit ihr soviel Gäste, als der Raum fassen konnte. Nachdem er sich genügend gestärkt hatte, setzte Athelstane seine Erzählung fort: »Als ich meine Fesseln vom Ring gelöst hatte, der verrosteter war, als der Abt geglaubt haben mochte, schleppte ich mich die Treppe hinauf, ging in den Stall und fand dort – mein eigenes Pferd. Ich ritt hierher, so schnell ich nur konnte. Groß und klein flohen vor mir, um so mehr, als ich mir das Leichentuch über das Gesicht gezogen hatte, um nicht erkannt zu werden. Nur weil man mich für den Gehilfen eines Gauklers hielt, ließ man mich schließlich in mein eigenes Schloß.« Er schwieg erschöpft und griff wieder nach dem Becher. »Du findest mich bereit, unsere Pläne für Freiheit und Ehre wieder aufzunehmen«, sagte Cedrik. »Nie war der Zeitpunkt günstiger für die Befreiung des Sachsenvolkes.« Athelstane wehrte ab: »Sprich mir nicht von Befreiung! Ich bin froh, selbst frei zu sein. Viel mehr liegt mir daran, den Abt zu züchtigen! Auf der Spitze meines Schlosses soll er hängen in Kutte und Stola!« »Vergiß diesen Elenden. Denke lieber an die ruhmreiche Laufbahn, die vor dir liegt! Sage diesem Normannenprinzen, Richard von Anjou, daß er Alfreds Thron nicht besitzen soll, solange noch ein Nachkomme des heiligen Bekenners lebt!« »Wie!« rief Athelstane. »Dies ist König Richard?« »Richard Plantagenet selbst«, bestätigte Cedrik. »Aber denke daran, daß er weder beleidigt noch festgehalten werden darf. Er ist als Gast und freiwillig hierhergekommen.« »Bei meiner Ehre, ich kenne meine Pflicht als Wirt und auch als Untertan – ich biete ihm mit Hand und Herz meinen Treueid!« »Mein Sohn!« rief seine Mutter bestürzt. »Denke an deine königlichen Rechte!« »Und an die Freiheit Englands!« fiel Cedrik ein. »Verschont mich mit Vorschlägen.« Athelstane hob abwehrend die 182
Hand: »Brot, Wasser und das Gefängnis haben mir den Ehrgeiz genommen. Ich komme als ein weiserer Mann aus meinem Grabe. Seitdem wir unsere hochfliegenden Pläne faßten, habe ich unter überstürzten Reisen, Magenbeschwerden, Schlägen, Stößen und Hunger gelitten. Ich sage euch, ich will König sein – aber nur in meinem eigenen Gebiet … und meine erste Handlung soll sein, den Abt hängen zu lassen!« »Und Rowena?« fragte Cedrik. »Du wirst sie doch nicht aufgeben?« »Vater Cedrik, seid vernünftig«, gab Athelstane ruhig zurück, »Lady Rowena macht sich nichts aus mir. Hier steht sie, sie soll es doch selbst sagen!« Er trat auf sie zu und ergriff ihre Hand: »Vetter Wilfred, zu deinen Gunsten leiste ich freiwillig Verzicht auf Rowena.« Er wandte sich um – doch Ivanhoe war verschwunden. Wo war er? Die bestürzten Anwesenden erfuhren, daß ein Jude nach ihm gefragt habe und daß Ivanhoe gleich darauf nach Gurth gerufen und das Schloß verlassen habe.
Vor dem Präzeptorium von Templestowe hatte sich eine gewaltige Menschenmenge angesammelt. Aller Augen waren erwartungsvoll auf das Tor gerichtet. Endlich senkte sich die Zugbrücke, und die Pforten öffneten sich. Erst erschien der Bannerträger, gefolgt von sechs Trompetern, dahinter die Ritter und Präzeptoren, als letzter, hoch zu Roß, der Großmeister. In geringem Abstand folgte Brian de Bois-Guilbert, von Kopf bis Fuß gerüstet. Sein stolzes Gesicht war bleich, doch mit gewohnter Sicherheit lenkte er sein Streitroß, das ungeduldig scharrte. Ihm zur Seite ritten Konrad von Mont-Fitchet und Albert von Malvoisin in ihren weißen Ordensgewändern. Hinter ihnen bewegte sich ein langer Zug von schwarzgekleideten Knappen und Pagen und schließlich, inmitten einer Schar von bewaffneten Wächtern, Rebekka, die ihre prächtigen orientalischen Kleider mit einem groben wei183
ßen Leinengewand vertauscht hatte und gefaßt dem Schauplatz ihres Gerichtes entgegenschritt. Langsam zog die Prozession hinauf zum Turnierplatz. Der Großmeister und seine Begleiter saßen ab und nahmen ihre Ehrensitze ein. Rebekka wurde zu einem schwarzen Sessel geführt, der in der Nähe des Scheiterhaufens stand. Es war ein Pfahl, um den trockenes Reisig aufgeschichtet war, von vier schwarzen Sklaven bewacht. Bei diesem Anblick befiel Rebekka plötzliche Angst. Sie begann am ganzen Körper zu zittern und schloß die Augen. Doch sie faßte sich sogleich und richtete ihren Blick fest auf den Holzstoß, der ihren Tod bedeutete. Ein langanhaltender Trompetenstoß eröffnete die Verhandlung. Albert Malvoisin trat vor und legte den Handschuh der Angeklagten zu Füßen des Großmeisters nieder. »Tapferer Herr und ehrwürdiger Vater«, begann er, »der gute Ritter Brian de Bois-Guilbert, Präzeptor des Templerordens, hat sich durch die Annahme dieses Pfandes bereit erklärt, im Kampf zu beweisen, daß dieses jüdische Mädchen, das als Zauberin verurteilt wurde, den Tod zu Recht verdient.« »Hat er den Eid abgelegt, daß dieser Streit gerecht und ehrenvoll ist?« »Unser Bruder hat die Wahrheit seiner Anklage dem Ritter Konrad von Mont-Fitchet beschworen«, erwiderte Malvoisin. Auf ein Zeichen des Großmeisters trat ein Herold vor und verkündete mit lauter Stimme: »Oyez! Oyez! Hört! Hier steht der gute Ritter, Sir Brian de Bois-Guilbert, bereit zu kämpfen mit jedem freigeborenen Ritter, der für die Jüdin Rebekka in die Schranken treten will!« Aufs neue erklangen die Trompeten. Dann folgte eine erwartungsvolle Stille, die Lukas Beaumanoir brach: »Es erscheint kein Kämpfer für die Angeklagte«, verkündete er. »Aber weder Jude noch Heide sollen uns der Ungerechtigkeit bezichtigen. Wir wollen warten, bis die Schatten von Westen nach Osten fallen. Dann möge sich die Angeklagte zum Tode rüsten.« Rebekka neigte demütig ihren Kopf. Sie hörte die flüsternde Stimme Bois-Guilberts an ihrem Ohr: 184
»Rebekka, hörst du mich?« Sie erschrak. »Meine Sinne sind empfänglich für Ort und Zeit«, erwiderte sie, »obwohl ich weiß, daß dieses Holz bestimmt ist, mir einen schmerzvollen Tod zu bereiten und mich in eine bessere Welt zu entrücken.« »Höre mich an, Rebekka«, fuhr der Ritter hastig fort. »Es gibt eine bessere Aussicht als die, von der die Schwärmer träumen! Ich biete dir Leben und Freiheit. Steige hinter mich auf mein Roß! In einer Stunde können wir so weit kommen, daß jede Verfolgung vergeblich wäre.« »Auch in dieser höchsten Not könnt Ihr mich nicht von meinem Vorsatz abbringen! Ich bin umgeben von Feinden, doch Ihr seid der schlimmste unter ihnen.« Albert Malvoisin, der die beiden beunruhigt beobachtet hatte, trat dazwischen: »Hat das Mädchen seine Schuld bekannt, oder beharrt sie bei ihrem Leugnen?« »Sie beharrt allerdings«, stieß Bois-Guilbert hervor. »So kommt, tapferer Bruder, und nehmt Euren Platz wieder ein!« Er legte seine Hand auf den Zaum des Pferdes, doch Bois-Guilbert schüttelte den Zugriff ab und ritt langsam zum oberen Ende der Schranken zurück.
Zwei Stunden waren in vergeblichem Warten vergangen. Schon begannen die anwesenden Ordensritter und Ordensbrüder miteinander zu flüstern. Sie waren gewiß, daß der Großmeister das Pfand der Jüdin für verfallen erklären würde, als ein Reiter in gestrecktem Galopp in die Schranken sprengte. »Ein Kämpfer! Ein Kämpfer!« rief die Menge. Trotz aller Vorurteile wurde der Ritter jubelnd begrüßt. Bald zeigte es sich, daß sein Pferd vor Überanstrengung taumelte und er selbst sich nur mühsam im Sattel aufrecht hielt. Der Herold fragte nach seinem Rang und Namen. »Ich bin ein Ritter, von adeliger Herkunft und hierher gekommen, 185
um für dieses Mädchen, die Tochter Isaaks von York, zu kämpfen und das Urteil, das über sie ausgesprochen wurde, für falsch zu erklären.« Malvoisin trat auf den Ritter zu: »Der Tempel entsendet seine Kämpfer nicht gegen namenlose Männer!« Der Ritter nahm seinen Helm ab: »Mein Name ist besser bekannt als der Eurige – ich bin Wilfred von Ivanhoe.« »Mit dir will ich jetzt nicht kämpfen«, rief Bois-Guilbert mit heiserer Stimme. »Laß deine Wunden heilen und verschaffe dir ein besseres Pferd, dann will ich dir deine kindische Prahlerei austreiben!« Ivanhoe wandte sich um: »Hast du schon vergessen, daß du zweimal durch meine Lanze gefallen bist? Denke an die Schranken von Acre, an das Turnier von Ashby! Hast du nicht deine Goldkette gegen mein Reliquienkästchen verpfändet? Ich lasse dich für einen Feigling erklären, wenn du zögerst, dich mir im Kampf zu stellen!« »Hund von einem Sachsen«, rief Bois-Guilbert. »Ergreife deine Lanze und bereite dich auf deinen Tod vor!« »Gestattet mir der Großmeister den Kampf?« fragte Ivanhoe. »Ich kann deine Herausforderung nicht ablehnen«, erwiderte Beaumanoir, »wenn das Mädchen dich als ihren Streiter anerkennt.« »Rebekka, nimmst du mich als Kämpfer an?« »Ich nehme Euch an als den Kämpfer, den Gott mir sandte«, rief das Mädchen erregt. Sie besann sich plötzlich: »Nein – Eure Wunden sind noch nicht geheilt – warum solltet Ihr für mich sterben?« Ivanhoe schloß sein Visier: »Es ist ein Gericht Gottes. Seiner Hut vertraue ich mich an!« Er senkte seine Lanze. Bois-Guilbert hatte sich auf seinen Platz begeben. Dreimal rief der Herold: »Faites vos devoirs, preux chevaliers!« Beaumanoir hob Rebekkas Handschuh auf und warf ihn in die Schranken. Er rief mit feierlichem Ernst: »Laissez aller!« Die Ritter stürmten aufeinander ein. Im nächsten Augenblick brachen Ivanhoe und sein Pferd unter dem wohlgezielten Hieb des Templers zusammen. Obgleich Ivanhoe mit seiner Lanze den Schild seines Gegners nur berührt hatte, taumelte auch Bois-Guilbert. Er verlor die Steigbügel und stürzte zu Boden. 186
Rasch hatte sich Ivanhoe unter seinem gefallenen Pferd hervorgearbeitet und trat mit gezogenem Schwert auf Bois-Guilbert zu. Da der Templer sich nicht erhob, setzte er ihm den Fuß auf den Brustpanzer und gebot ihm, sich zu ergeben. »Töte ihn nicht!« rief der Großmeister. »Wir erklären ihn für besiegt.« Beaumanoir stieg in die Schranken hinunter und befahl, dem besiegten Templer den Helm abzunehmen. Die Augen Bois Guilberts waren geschlossen. Unverletzt von der Waffe seines Feindes war er gestorben. Das Gottesgericht hatte entschieden … Beaumanoir richtete sich auf. Sein Gesicht zeigte keine Bewegung, die ihn erschütterte, aber seine Stimme klang gebrochen, als er verkündete: »Ich erkläre das Mädchen frei und schuldlos. Waffen und Leichnam des toten Ritters stehen dem Sieger zur Verfügung.« »Ich will ihn nicht seiner Waffen berauben«, erwiderte Ivanhoe. »Er hat für die Christenheit gefochten. Gottes Arm, nicht Menschenhand hat ihn besiegt.« Die Stille des Turnierplatzes wurde von dem dröhnenden Hufschlag von Pferden unterbrochen. Alle Anwesenden sahen in die Richtung des Ostendes der Schranken: Der Schwarze Ritter, gefolgt von einer Schar Bewaffneter, sprengte über den Rasen. Er hielt unvermittelt an, als er Ivanhoe vor der Leiche Bois-Guilberts stehen sah. »Friede sei mit ihm«, sagte Richard. »Er war ein tapferer Ritter und ist ritterlich gestorben.« Einer der Männer aus dem Gefolge des Königs saß ab, trat auf Albert Malvoisin zu und legte ihm die Hand auf die Schulter: »Ich verhafte dich wegen Hochverrates.« »Wer wagt es, einen Ritter des Ziontempels innerhalb seines eigenen Präzeptoriums zu verhaften?« rief der Großmeister empört. »Heinrich Bohun, Graf von Essex, Lord Groß-Konstabel von England, das ist mein Name«, erwiderte der Gefolgsmann Richards. »Es geschieht auf meinen Befehl«, sagte der König und öffnete sein Visier. Lukas Beaumanoir maß Richard von oben bis unten. Dann sagte er kurz: »Ich widersetze mich deinem Befehl.« 187
»Du kannst es nicht! Sieh dich um – über den Türmen dieses Präzeptoriums wehen schon die Fahnen Englands.« »Ich werde an Rom appellieren!« rief der Großmeister. »Das magst du später tun, doch jetzt ist Widerstand sinnlos. Löse das Kapitel auf, ziehe mit deinem Gefolge ab, oder nimm unsere Gastfreundschaft an und sei Zeuge unserer Gerechtigkeit.« »Als Gast in dem Haus, in dem mir der Befehl zusteht? Niemals!« Der Großmeister erhob seine Stimme: »Ritter, Knappen und Angehörige des heiligen Tempels, rüstet euch, dem Banner von Beauseant zu folgen!« Seine würdevolle Haltung flößte seinen bestürzten Anhängern neuen Mut ein. Sie stellten sich schweigend in einer Reihe auf. Der Graf von Essex gab seinem Roß die Sporen und sammelte seine Leute. Der König ritt unbekümmert zwischen den feindlichen Fronten hin und her. »Ist unter so vielen tapferen Rittern keiner, der eine Lanze mit Richard brechen will?« fragte er herausfordernd. »Der Papst und die Fürsten Europas sollen unseren Streit entscheiden«, erwiderte Beaumanoir. »Wenn wir nicht angegriffen werden, entfernen wir uns, ohne jemand anzugreifen. Deiner Ehre vertrauen wir die Waffenvorräte und Haushaltsgüter an, die wir zurücklassen, und auf deinem Gewissen ruht die Verantwortung für den Frevel, den du der Christenheit zufügst.« Ohne die Antwort des Königs abzuwarten, gab er das Zeichen zum Aufbruch. Die Trompeten stimmten einen wilden orientalischen Marsch an, langsam setzte sich der Zug der Templer in Bewegung. Rebekka sah und hörte nichts. Halb betäubt lag sie in den Armen ihres Vaters. »Laß uns gehen«, sagte Isaak. »Wir wollen uns dem guten Jüngling zu Füßen werfen und ihm danken.« »Nein, nein, nicht jetzt …«, Rebekka wehrte hastig ab. »Aber meine Tochter, denke doch, er hat sein Leben für dich aufs Spiel gesetzt!« »Seine Hingabe wird mit vollster Dankbarkeit anerkannt, aber nicht 188
jetzt … ich könnte nicht mehr sagen …« In größter Verwirrung brach sie ab. Mit einem Vorwand überredete sie schließlich ihren Vater, sofort nach York aufzubrechen, was ihnen in der allgemeinen Aufregung unbemerkt gelang.
Die Luft erschallte von Hochrufen: »Lang lebe König Richard – nieder mit den Templern!« Ivanhoe zog den Grafen von Essex beiseite: »Wie gut, daß der König dich und so viele deiner Anhänger mitbrachte.« »Kennst du unseren Herrn so schlecht, daß du meinst, er hätte so weise Vorsichtsmaßnahmen getroffen? Ich war auf meinem Weg nach York, als ich König Richard traf, der im Begriff stand, selbst für die Jüdin in die Schranken zu treten. Ich begleitete ihn mit meiner Schar – fast gegen seinen Willen!« »Was gibt es Neues aus York?« »Die Rebellen haben sich zerstreut. Prinz Johann selbst hat uns die Nachricht überbracht.« »Der undankbare Verräter!« rief Ivanhoe. »Hat Richard ihn ins Gefängnis werfen lassen?« »Richard empfing ihn wie einen Freund und riet ihm, zu seiner Mutter zu gehen und dort zu bleiben, bis sich die Gemüter beruhigt hätten! Aber wir wollen nach York, denn Richard gedenkt, einige unbedeutende Rebellen zu bestrafen, obwohl er ihrem Anführer verziehen hat!« Ivanhoe sah sich nach Rebekka um. Er erfuhr erst später, daß sie den Platz vor dem Scheiterhaufen mit ihrem Vater grußlos verlassen hatte.
Als König Richard in York residierte, wurde Cedrik der Sachse an seinen Hof entboten. Cedrik war die Aufforderung nicht willkommen, doch er verweigerte nicht den Gehorsam. Seit der Rückkehr Richards hatte er alle Hoffnung aufgegeben, die 189
sächsische Dynastie in England wiederherstellen zu können. Die persönliche Freundlichkeit Richards hatte wesentlich dazu beigetragen, daß die Abneigung Cedriks gegen das normannische Königsgeschlecht bedeutend nachgelassen hatte. Der König, dem der derbe Humor des Sachsen zusagte, verstand es vortrefflich, mit ihm umzugehen, und bewirkte in wenigen Tagen, daß Cedrik in die Vermählung seines Sohnes Ivanhoe mit Rowena einwilligte. Die Hochzeit wurde im Münster von York gefeiert. Der König, der es sich nicht hatte nehmen lassen, der Trauung beizuwohnen, zeigte so viel Wohlwollen, daß sogar Cedrik überzeugt war, daß es den Sachsen unter seiner Herrschaft gelingen würde, ihre gerechten Ansprüche erfolgreicher geltend zu machen, als sie es in einem Bürgerkrieg erwarten konnten.
Zwei Tage nach dem Hochzeitsfest meldete Elgitha, Rowenas Zofe, ihrer Herrin, daß ein Mädchen sie zu sehen und ohne Zeugen zu sprechen wünsche. Rowena befahl, die Fremde hereinzuführen. Sie erhob sich, um ihrer Besucherin entgegenzugehen und sie zu einem Stuhl zu führen, doch die Fremde bat noch einmal, Lady Rowena allein sprechen zu dürfen. Kaum hatte sich die Zofe entfernt, als sie vor Rowena niederkniete, ihre Hände an die Stirne drückte und den Saum ihres Kleides küßte. »Warum erweist Ihr mir eine so ungewöhnliche Ehrerbietung?« fragte Rowena überrascht. »Es ist der Ausdruck meiner Dankbarkeit, die ich Eurem Gemahl schulde. Verzeiht die Huldigung, die ich Euch nach der Sitte meines Volkes dargebracht habe.« Rebekka schlug ihren Schleier zurück: »Ich bin die Jüdin, für die Wilfred von Ivanhoe in den Schranken von Templestowe sein Leben gewagt hat.« »Wilfred hat an diesem Tag Eure Barmherzigkeit nur in kleinem Maß vergolten. Gibt es noch etwas, womit ich Euch dienen könnte?« 190
»Nichts«, gab Rebekka ruhig zurück. Sie zögerte und fügte hinzu: »Außer, daß Ihr ihm Lebewohl von mir sagen sollt.« »Wollt Ihr England verlassen?« »Mein Vater hat einen Bruder, der bei Mohammed Boabdil, dem König von Granada, in hoher Gunst steht. Dorthin gehen wir. Dort sind wir gegen Bezahlung eines Tributes des Schutzes der Muselmanen sicher.« »Seid Ihr in England nicht ebensogut beschützt? Mein Gemahl steht in des Königs Gunst, der König ist gerecht und großmütig …« »Daran zweifle ich nicht. Aber England ist kein sicherer Aufenthalt für die Kinder meines Volkes. Es ist ein Land des Krieges, von feindseligen Nachbarn umgeben und von inneren Spannungen zerrissen. Lebt wohl! Ich werde mich Euer immer erinnern und Gott danken, daß ich meinen edlen Befreier mit Euch vereinigt weiß!« Ihre Augen füllten sich mit Tränen, die sie hastig trocknete. »Nehmt dieses Kästchen«, fuhr sie fort. »Erschreckt nicht über seinen Inhalt.« Rowena öffnete die kleine silberne Schatulle. Sie konnte einen leisen Aufschrei nicht unterdrücken, als sie das kostbare Halsgeschmeide und die diamantenen Ohrringe erblickte. »Wie kann ich ein so wertvolles Geschenk annehmen?« Sie wollte der Jüdin die Schatulle zurückgeben. Rebekka wehrte ab: »Behaltet es – denkt nicht, daß ich diese funkelnden Steine höher schätze als meine Freiheit! Nehmt sie an, Lady! Für mich sind sie wertlos, ich will niemals wieder Edelsteine tragen. Er, dem ich mein künftiges Leben weihe, begehrt solchen Schmuck nicht.« »Habt Ihr denn Klöster, die Euch Zuflucht bieten?« »Es gibt Frauen unseres Volkes, die ihre Gedanken dem Himmel geweiht haben und ihre Handlungen der Nächstenliebe.« Rebekkas Stimme zitterte. »Lebt wohl!« sagte sie. »Möge Er, der sowohl die Juden als auch die Christen erschaffen hat, Euch und die Eurigen segnen!«
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Vom Ende des zwölften Jahrhunderts bis um die Mitte des vierzehnten Jahrhunderts
Ein verändertes Weltbild I Die kometenartige Erscheinung von Richard Löwenherz am Himmel der Geschichte wirkte, als sei sie unwirklich gewesen. Dennoch war sein Leben kennzeichnend für das zeitgenössische Rittertum, dem das Kämpfen als solches mehr bedeutete als das verfolgte Ziel und dem kein Preis zu hoch war für die Gelegenheit, den Mut zu beweisen. Der abenteuernde König von England, seine mit Wappen und Wimpeln geschmückten Gefolgsleute und geharnischten Gegner führten trotz aller großsprecherischen Unternehmungen keine wesentlichen Änderungen herbei. Sie beeinflußten den Ablauf der Ereignisse nur durch glanzvolle Zwischenhandlungen, deren Einmaligkeit die Berichterstatter so beeindruckte, daß sie sie als allgemein gültig beurteilten und zum Sinnbild erhoben. Das geläufige Beiwort ›ritterlich‹ verdankte seine Entstehung den artigen Lebensgewohnheiten der berittenen Fürsten und Herren, die zu beispielgebenden Vorbildern guten Benehmens wurden und geltend blieben, auch als sie längst schon ihre gesellschaftliche und militärische Bedeutung verloren hatten. Die vielgerühmten Taten der Ritter waren im großen und ganzen nichts als Spiegelfechtereien, Faschingszüge des Krieges, die um so gefährlicher waren, als sie den Ernst der Zeit spielerisch verschleierten. Ihre Handlungen und Pläne waren durch Gefühlsaufwallungen veranlaßt, unberechenbar und kaum durch staatsmännische Voraussicht gelenkt. Sie erreichten selten den beabsichtigten Zweck. Auch die prahlerische Großmut des Richard Löwenherz gegenüber seinem verräterischen Bruder Johann bewährte sich nicht. Der Prinz ohne Land, der während der Abwesenheit des rechtmäßigen Königs 193
seine eigene Herrschaft in England vorbereitet hatte, verhandelte gleich nach seiner Versöhnung mit Richard mit dem König von Frankreich. Er fand freundschaftliche Aufnahme, denn Philipp II. August hatte es satt, sich von seinem mächtigen normannischen Lehensmann, dem König von England, geringschätzig behandeln zu lassen. Er führte Krieg mit Richard Löwenherz, um nicht nur dem Namen nach König von Frankreich zu sein. Die Feldzüge, die er später auch gegen Johann fortsetzte, der nach dem Tod seines Bruders König wurde, waren das Vorspiel der blutigen Kämpfe, die Frankreich mehr als ein Jahrhundert lang zum Kriegsschauplatz machten. Es war ein örtlich bedingter Machtkampf und kein Eroberungskrieg, denn schon zu Beginn dieser feindseligen Auseinandersetzung hatten die Normannen ihre bedeutsame Rolle in der Formung von Reichen zu Ende gespielt. Nicht nur die Fürsten, auch die adeligen Gefolgsleute der heldenmütigen Seefahrer und hemmungslosen Abenteurer, die das geschichtliche Geschehen so entscheidend beeinflußt hatten, waren seßhafte Länder- und Landbesitzer geworden. Sie wollten, ebenso wie ihre einheimischen Nachbarn, mit denen sie sich vermischt hatten, behalten, was sie erobert hatten. Das war so in England, in Frankreich und auch im Königreich Sizilien, das der Erbe Friedrich Barbarossas, der zum Kaiser gekrönte Heinrich VI. nach dem Tode des Gegenkönigs Tankred ohne allzu große Mühe erwarb. Am Tage seiner Krönung zum König des ehemaligen Normannenreiches gebar ihm Konstanze, die ihm das Erbe in die Ehe eingebracht hatte, einen Sohn. Das Kind erhielt den Namen Friedrich nach seinem Großvater. Es wurde ihm an der Wiege gesungen, daß er der größte deutsche Kaiser werden würde. Dieses Ziel jedoch verfolgte Heinrich VI. vorerst für sich selbst. Der Sohn Barbarossas war in seinem Äußeren nicht achtungsgebietend und wirkungsvoll wie sein Vater. Die Natur hatte ihn auch nicht mit den gewinnenden Zügen Friedrichs I. ausgestattet. Heinrich VI. hatte ein abstoßendes Gesicht. Er war mager und kränklich, aber von so ungeheurer Willenskraft belebt, daß er sich durch seine schwache Gesundheit nicht behindern ließ. Er hatte von seinem Vater nicht nur die Krone, sondern auch den Ehrgeiz geerbt. Heinrich VI. war ent194
schlossen, die weitreichenden Pläne Kaiser Barbarossas zu verwirklichen. Er wollte Deutschland mit Sizilien, dem Erbe seines kleinen Sohnes, in einem übermächtigen erblichen Kaiserreich vereinigen, dem alle christlichen Herrscher der Erde lehenspflichtig sein sollten. In wenigen Jahren gelang Heinrich VI. das ungeheure Vorhaben beinahe zur Gänze. Er war Oberherr ganz Italiens, mit Ausnahme des Kirchenstaates. Er war König von Burgund. Die Herren der Provence und der Dauphine huldigten ihm. Die Könige von Böhmen, Polen und Ungarn anerkannten ihn als Lehensherrn. Die Kalifen Afrikas waren ihm zinspflichtig. Die von den Kreuzfahrern erworbenen Fürstentümer Antiochia und Cypern baten um seine schützende Oberhoheit. Er hatte vor, Byzanz, Frankreich und die spanischen Königreiche dem ungeheuren Reich seiner Vorstellung einzuverleiben. Die Gesandten Heinrich VI. durchfuhren die Meere und bereiteten die Besitznahme der Länder vor, die er für sich gewinnen wollte. Er selbst unternahm unausgesetzt Gewaltritte, um an Ort und Stelle zu sein, wann und wo es ihm ratsam erschien. Am liebsten war es ihm, wenn er seine Redegewandtheit wirken lassen konnte und wenn er es nicht nötig hatte, mit dem gewaltigen Heer, das er vorsorglich aufgestellt hatte, zu drohen. Aber wenn es nötig wurde, schlug er jeden Widerstand mit unbarmherziger Gewalt nieder. Er ließ sich weder durch den Heiligen Stuhl noch durch den Widerspruch der Großen des Deutschen Reiches von der Durchführung eines Vorhabens abhalten, wenn er einmal dazu entschlossen war. Die Eile und Sicherheit, mit der er jede noch so verwickelte und gefährliche Unternehmung betrieb, machte es für seine Zeitgenossen durchaus glaubhaft, daß dem jungen Kaiser gelingen würde, was seine Vorgänger auf dem Thron nicht zuwege gebracht hatten: die Wiederherstellung des großen römischen Imperiums. Heinrich VI. hatte den weltlichen Fürsten Deutschlands die Erblichkeit ihrer Lehen angeboten, um ihr Schicksal in der Geschlechterfolge an das seines Kaiserhauses zu knüpfen. Er nahm ihre Ablehnung mit kühler Gelassenheit entgegen und veranlaßte sie durch seine überlegene Haltung, seinen zweijährigen Sohn Friedrich zum König zu wäh195
len. Er ließ weder Einspruch noch Hindernisse gelten. Sie waren dazu da, überwunden zu werden. Der Kreuzzug, den der rastlose Kaiser mit sorgfältiger Planung vorbereitet hatte, war schon überall angekündigt. Zahllose Ritter aus allen seinen Reichen waren mit ihren Gefolgsleuten in der von ihm vorgeschriebenen Ausrüstung in Sizilien und Unteritalien versammelt. Die Schiffe waren für das großartige Unterfangen bemannt. Wenn diese Flotte ausfuhr und in den Häfen des Heiligen Landes anlegte, konnte kein Widerstand den Sieg des Kreuzes aufhalten. Heinrich VI. hatte auch dafür gesorgt, daß ihm keine Gefahr im Rücken drohte. In einer Aussprache am Kyffhäuser hatte er sich mit dem greisen Heinrich dem Löwen endgültig versöhnt. Der staufische Erbe konnte nun damit rechnen, daß ihm auch die Welfen die Treue hielten. Es war alles bereit, als er einem jähen Fieber erlag. II Mit dem Tode Heinrichs VI. brach sein gewaltiges Herrschaftsgebäude zusammen. Seine Witwe Konstanze, die vom häßlichen Gesicht des Kaisers abgestoßen und von seinem hochfliegenden Wesen erschreckt worden war, wäre lieber nur Königin des ererbten Normannenreiches gewesen als Kaiserin der westlichen Welt. Sie anerkannte die Lehenshoheit des Heiligen Stuhles über Sizilien. Sie verließ sich auf den Schutz des Papstes für ihren unmündigen Sohn. Sie lebte nicht lange. Ein junger Geistlicher, der mit seinem weltlichen Namen Lothar von Segni hieß und aus dem Hause der Grafen von Campagna stammte, bestieg den Heiligen Stuhl. Er nannte sich Innozenz III. Er wurde der Vormund Friedrichs II. Dem neuen Papst galten seine Pflichten als Vater der Kirche höher als die Rechte des Mündels, das er väterlich betreuen sollte. Er nützte die Gelegenheiten, die sich ihm durch das frühzeitige Ableben Heinrichs VI. boten, mit einer planmäßigen Eile aus, die dem verstorbenen Kaiser alle Ehre gemacht hätte. In wenigen Monaten wurde der Papst 196
Herr über ganz Italien. Der kleine König, der in Palermo verwildert aufwuchs, war ein ausgezeichnetes Pfand im Mächtespiel, das Innozenz III. plante. Sein erstes Ziel war, den deutschen Einfluß in Italien auszumerzen. Dann wollte er weitersehen. Er legte seine Grundsätze vorweg fest: »Der HERR übertrug an Petrus nicht nur die Herrschaft über die ganze Kirche, sondern über die ganze Welt.« Mit eindeutiger Klarheit verkündigte der Papst: »Wie Gott, der Schöpfer des Weltalls, zwei große Lichter an das Himmelsgewölbe gesetzt hat, ein größeres, um den Tag, und ein kleineres, um die Nacht zu beherrschen, so hat ER an das Firmament der Kirche zwei hohe Würden gesetzt, eine größere, die die Seelen, sozusagen die Tage, und eine kleinere, die die Körper, sozusagen die Nächte, beherrschen soll, nämlich die päpstliche Amtsgewalt und die königliche Macht. Wie der Mond sein Licht von der Sonne empfängt und ihr an Größe und Kraft nachsteht, so empfängt die königliche Macht von der päpstlichen Amtsgewalt den Glanz ihrer Würde.« Das pomphafte Gepränge, mit dem sich Innozenz III. in der öffentlichen Ausübung seines Amtes umgab, sollte der angestrebten Übermacht Ausdruck verleihen. Für sich selbst änderte er seine bescheidene Haltung nicht. In seiner persönlichen Lebensführung vermied er irdischen Prunk. Die Welt der Gedanken galt ihm mehr. Er hatte sich in der Schule von Paris als Gottesgelehrter und Philosoph und in Bologna als Rechtsgelehrter ausgebildet und trotz seiner Jugend wissenschaftliche Werke verfaßt, die sein scharfes, folgerichtiges Denken bewiesen. Aber die strenge Schulung, der er sich unterzogen hatte, sollte nicht nur geistigen und geistlichen Zwecken dienen. Soweit es nicht um unmittelbare Glaubensfragen ging, verfocht Innozenz III. die harte Wirklichkeit. Er kannte die Fehler seiner Vorgänger auf dem Heiligen Stuhl und schätzte die durch sie herbeigeführte bedenkliche Lage der Christenheit mit kühner Sicherheit ein: »Die Verderbnis des Volkes hat ihre wichtigste Ursache in der Geistlichkeit. Der Glaube schwindet … die Gerechtigkeit wird mit Füßen getreten, die Ungläubigen werden stark …« Er stellte fest, daß die Verbesserung des Bestehenden nicht nur von oben beginnen müsse, bei den Bischöfen und Äbten. Das 197
Klosterleben, das locker geworden sei, müsse neu geregelt werden. Es müsse aufgeräumt werden mit der Trunksucht, Unsittlichkeit und den geheimen Ehen von Mönchen, die den Glauben in Verruf brächten. Innozenz veränderte die Formeln der Glaubensausübung und prägte in neuer Form die Lehre von der Verwandlung von Brot und Wein in das Fleisch und Blut Jesu Christi durch das Wort der Priester. Als Sprachgelehrter unterwarf er – zur Vorbeugung von mißverständlichen Auslegungen – die Übersetzungen der Heiligen Schrift in die Sprachen der einzelnen Völker der wörtlichen Zustimmung des Heiligen Stuhles. Seine weltlichen Leistungen und Erfolge, durch die England, die nördlichen und die spanischen Königreiche, Ungarn und Armenien dem Heiligen Stuhl lehenspflichtig wurden, brachten es mit sich, daß von Innozenz III. gesagt wurde, er sei nicht der Nachfolger des heiligen Petrus, sondern Kaiser Konstantins. Die jährlichen Tribute, die er empfing, wurden der Grundstock des Reichtums der Päpste und des Kirchenstaates, den er mit eiserner Hand verwaltete. Der geistliche Einfluß Innozenz' III. der das Papsttum so mächtig erhob, wirkte sich auch in der Gründung von Mönchsorden aus. Franz von Assisi, ein reicher Kaufmannssohn aus Perugia, legte das sinnbildlich geheiligte Gewand des HERRN, die von einem Strick zusammengehaltene grobe Kutte, an und predigte die Liebe zu den Menschen und zur Natur. Er lebte von milden Gaben und pries alles Erschaffene als ein Zeugnis der Liebe Gottes. Seine vollkommene Armut und Bedürfnislosigkeit waren unbestritten. Die Jünger, die ihm folgten, nannten sich Franziskaner und gründeten den wohltätigen Orden der Minoriten. Die von Innozenz III. angeregte Glaubensinbrunst und Bruderliebe der Bettelmönche wurden auch von den Dominikanern ausgeübt, die der vornehme Kastilier Dominikus durch sein Beispiel zur Bekehrung von Ketzern angefeuert hatte. Während die Franziskaner nur volkstümliche Predigten hielten, waren die Dominikaner wissenschaftlich gelehrt. Sie widmeten sich den unerbittlichen Untersuchungen der Ketzergerichte, der Inquisition, die es erst unternahm, die Waldenser und die südfranzösischen Albigenser zu bekehren, die das arme Leben 198
der Apostel entsprechend ihrer Auslegung der Schrift erneuern wollten. In dieser Zeit der Glaubenswirren, die Innozenz III. zielbewußt abschaffen wollte, wurden auch die Katharer ausgerottet, die europäische Anhänger der altpersischen Lehre vom steten Kampf der Finsternis gegen das Licht waren und den christlichen Gottesdienst verwarfen. Alle Abweichungen von seinem Glauben, ob Unglaube oder Irrglaube, waren Innozenz III. so verhaßt, daß er kein Mittel scheute, um seine eigene Rechtgläubigkeit allerorts zum Siege zu führen. Ein Plan folgte dem anderen. Die byzantinische Kirche, die sich von Rom unabhängig gemacht hatte, mußte wiedergewonnen werden. Da Worte versagt hatten, wurde Gewalt angewandt. Das mächtige und reiche Venedig war ein williges Werkzeug des Papstes. Die fortschrittliche Lagunenstadt der Dogen, die von der Ratsversammlung gewählt wurden, hatte schon einen großen Teil des byzantinischen Handels an sich gerissen. Die Abrundung des Geschäftes war einen Kampf wert, um so eher, da er im Namen des Glaubens gewagt werden konnte. Eine venezianische Flotte setzte angeworbene Kreuzfahrer vor Byzanz an Land. Sie eroberten die Stadt und plünderten sie unbarmherzig. Das byzantinische Kaiserreich wurde gespalten, damit die christliche Kirche einig werde. Für kurze Zeit las ein venezianischer Erzbischof die Messe in Byzanz. Aber ein neuer byzantinischer Staat entstand nach dem Muster des alten im Westen Kleinasiens, mit der Hauptstadt Nicaea, und bewahrte die Überlieferungen mit dem Ziel, die ehemalige Hauptstadt des griechischen Glaubensbekenntnisses wiederzugewinnen. In Trapezunt am Schwarzen Meer behauptete sich ein zweites byzantinisches Kaisertum und hielt die Verbindung zu den kräftig emporgeblühten Siedlungen der ehemaligen Waräger im russischen Raume aufrecht: die griechische Kirche war aus Byzanz verdrängt worden, aber sie ergab sich dem Papst nicht. Dennoch befolgte Innozenz III. auch im Deutschen Reich den alten römischen Grundsatz: ›Divide et impera!‹ – Teile und gebiete! Der plötzliche Tod Heinrichs VI. hatte in Deutschland eine Lücke hinter199
lassen, die der Papst weder in eigener Person füllen konnte noch durch sein Mündel füllen lassen wollte. Er zögerte, Friedrich II. aus seiner Hut zu entlassen. Der Junge, den sein Vater schon als Kind zum deutschen König hatte krönen lassen, konnte von den ehrgeizigen Fürsten des Deutschen Reiches für ihre eigenen Zwecke benützt werden. Gerade das wollte der Heilige Vater vermeiden, denn wenn er den kleinen Friedrich seinem Onkel, Philipp von Schwaben, überantwortete, würde dieser jüngste Sohn Barbarossas alles daransetzen, das Königreich Sizilien, das durch die Erklärung der Kaiserinwitwe Konstanze ein Lehen des Heiligen Stuhles geworden war, als staufisches Erbgut zu beanspruchen. Philipp mußte so geschwächt werden, daß er nicht einmal im entferntesten daran denken konnte, Gewalt gegen den Vormund seines Neffen, den Papst, anzuwenden. Daher förderte Innozenz III. den Sohn Heinrich des Löwen, der endlich die Zeit für die Welfen gekommen sah, sich der Kaisergewalt zu bemächtigen. Otto IV. wurde gewählt. Um die deutsche Krone für das staufische Haus und vielleicht auch für seinen unmündigen Neffen zu retten, ließ sich Philipp von Schwaben seinerseits von seinen Anhängern zum König wählen. Die Welfen verbündeten sich mit Johann von England. Philipp suchte Hilfe beim König von Frankreich. Die beiden deutschen Gegenkönige waren jugendliche Ritter, die sich durch persönliche Tapferkeit auszeichneten und Gefolgsleute durch die Verleihung von Reichsgütern, die sie noch nicht rechtlich besaßen, zu gewinnen suchten. Otto wurde von König Johann mit Geld unterstützt, aber Philipp war besser im Versprechen. Als er die Oberhand gewann, erkannte ihn der Papst an. Der staufische Gegenkönig konnte sich nicht lange der vom Heiligen Stuhl gesegneten Krone erfreuen. Er wurde vom Pfalzgrafen Otto von Wittelsbach meuchlings ermordet. Jetzt blieb den deutschen Fürsten um des lieben Friedens willen nichts anderes übrig, als Otto IV. nochmals zu wählen. Sie vermählten ihn überdies mit Beatrix, der minderjährigen Tochter Philipps. Innozenz III. erneuerte die guten Beziehungen zu seinem früheren Günstling, allerdings unter der Bedingung, daß Otto ihm volle Freiheit in der Verleihung kirchlicher Ämter zugestand. 200
Aber war der König noch ein König, wenn er den Einfluß auf die bedeutende, über das ganze Reich verteilte Macht der Bischofssitze verlor? Der von Richard Löwenherz erzogene Otto hatte vom letzten normannischen Ritter auf dem Thron gelernt, daß ein König seine Zugeständnisse widerrufen könne, wenn und wann es ihm paßte. Er ließ sich zwar von Innozenz III. zum Kaiser krönen, aber war drauf und dran, dem Papst die Herrschaft über Italien zu entreißen. Auf seine militärische Überlegenheit pochend, hatte er die staatsmännische Überlegenheit des Papstes unterschätzt. Er wurde von allen Seiten so beunruhigt, daß er nicht wußte, woran er war. Drohte wirklich ein Einfall des Königs von Frankreich in das Reichsgebiet? Waren die deutschen Fürsten, die auf der Seite der Staufen gestanden waren, von ihm abgefallen? Otto bekam eine bedrohliche Nachricht nach der anderen. Seine Befürchtungen verdichteten sich: ein Krieg stand bevor. Er kehrte nach Deutschland zurück, um Truppen zu sammeln. Jetzt war die Zeit für den halbwüchsigen Jungen aus Sizilien gekommen, den Innozenz III. von dem Zeitpunkt an sorgfältig hatte ausbilden lassen, in dem die Aussichten für seine eigenen Pläne in Deutschland verdunkelt worden waren. Der große Papst, der das Wirken der katholischen Kirche bis in die kleinsten Einzelheiten übersichtlich regelte, war gewiß, daß er auch die Erziehung des vergessenen Königs vorausschauend überwacht hatte. Wie ein Zauberer holte er Friedrich aus dem Palast von Palermo und war entschlossen, jeden seiner Schritte zu lenken. Die Berichte der Lehrer, die Innozenz III. mit der Erziehung seines Mündels betraut hatte, konnten nicht zuversichtlicher sein. Friedrich hatte keine Wissenschaft vernachlässigt. Seine geistige Neugierde war so ungewöhnlich, daß er sich in die einzelnen Fächer über das vorgeschriebene Maß hinaus vertiefte. Er studierte Mathematik und Naturwissenschaften, aber nicht nur, soweit die westlichen Forscher sie ergründet hatten. Sizilien war durch die muselmanische Besetzung und die lebendige Staatsführung der Normannen ein wichtiger Mittelpunkt fortschrittlichen Lebens geworden. Der junge König, der trotz der strengen Vormundschaft des Papstes ohne eigentliche Aufsicht her201
angewachsen war, hatte sich die Anregungen dort geholt, wo er sie hatte finden können. Die vernachlässigte Waise war den Lehrern immer wieder entschlüpft und hatte Bekanntschaften mit den Bürgern von Palermo angeknüpft. Er hatte sich eine frühreife Menschenkenntnis angeeignet und die Fähigkeit, sich zu verstellen. Als er kaum mannbar geworden war, hatte ihn der Papst mit Konstanze von Aragonien verheiratet. Aber der Versuch des Heiligen Vaters, den jungen König durch die Ehe zu einem ruhigen, steten Leben zu veranlassen, war nur oberflächlich geglückt. Friedrich war rastlos. Er bildete sich selbst zum besten Reiter Siziliens aus. Er lernte fechten und zwang sich bei Nacht ›noch einige Stunden zum Lesen von Geschichtswerken‹. Innozenz III. hatte wohl kaum von der Beschreibung eines Beobachters des jungen Königs erfahren, der berichtete, daß Friedrich keine Ermahnung ertrug: »Er folgt lediglich seinem eigenen Kopf und soviel man sehen kann, dünkt es ihn eine Schande, daß er noch einem Vormund untersteht … Seine Tüchtigkeit eilt seinem Alter so sehr voraus, daß er, noch ehe er zum Mann herangereift ist, bereits ein Maß von Weisheit besitzt, das sich sonst nur im Laufe der Jahre erreichen läßt.« Als Innozenz sein Mündel zur Reise nach Deutschland aufmunterte, versprach der siebzehnjährige Friedrich, das Königreich Sizilien nie wieder mit dem deutschen Reich zu vereinigen, das er nun mit Hilfe des Heiligen Stuhles gewinnen sollte. Zum Abschied ließ Friedrich den Säugling, den die junge Konstanze ihm geboren hatte, zum König von Sizilien krönen. Die geistlichen Fürsten des Reiches, die ihn in Frankfurt erwartet hatten, krönten ihn in Mainz mit aller Feierlichkeit zum König. Die erste königliche Handlung Friedrichs war die Veröffentlichung der ›Goldenen Bulle von Eger‹, durch die er Innozenz die von seinem Gegenkönig, Otto IV. gemachten Zugeständnisse bestätigte. Dann wartete er, mit mühsam beherrschter Ungeduld, aber ganz vorsichtig auf den Ablauf der Ereignisse. Zwei Heere rückten gegeneinander vor: Das eine unter dem Befehl des Königs von Frankreich, der der vom Papst geworbene Bundesgenosse Friedrichs war, das andere unter dem Befehl Ottos IV. der sich englischer Hilfe versichert hatte. In der Schlacht von Bouvines bei Lille 202
errang Philipp II. August einen entscheidenden Sieg. Er sandte Friedrich den erbeuteten goldenen Reichsadler. Um dem geschlagenen Otto die letzte Macht zu entziehen, schloß Friedrich in aller Eile einen Vertrag mit König Waldemar II. von Dänemark, dem er alle Reichslande nördlich der Eider und östlich der Elbe überließ, damit er dem verhaßten Welfen den Garaus machte. Nichts stand der endgültigen Machtergreifung Friedrichs im Wege. Er empfing die Krone, zum dritten Mal, in Aachen. Um seine Wahl sinnbildlich zu erheben, ließ er die Gebeine Karls des Großen aus der Gruft hervorholen. Er wollte die glorreiche Vergangenheit des gewaltigen Kaisers in seiner Person erneuern. III Die Krönung seines Mündels zum deutschen König war ein stolzer Erfolg Innozenz' III. Er stand jetzt auf der Höhe seiner Macht und konnte darangehen, seinen Lebensplan zu verwirklichen: der Stellvertreter Christi auf Erden sollte alle christlichen Herrscher der Erde nach seinem Ermessen lenken. Es war soweit – sie huldigten ihm alle, und wehe dem, der sich ihm widersetzte! Die Schlacht bei Bouvines hatte nicht nur Friedrich II. zum deutschen Thron verholfen, sie hatte auch den aufrührerischen Sinn Johanns I. von England gedämpft. Der ehemalige Prinz ohne Land, der sich immer auf jene Seite geschlagen hatte, die ihm vorteilhaft erschienen war, mußte darauf gefaßt sein, daß Philipp II. August, der König von Frankreich, der ihn besiegt hatte, die Landung Wilhelm des Eroberers nachahmte und mit seinen siegreichen Truppen England besetzte. In dieser schwierigen Lage gab es nur eines: die verlorene Gunst des Heiligen Vaters wiederzugewinnen. Die Mönche von Canterbury hatten mit Zustimmung des Papstes Stephan Langton zum Erzbischof geweiht. Johann hatte die Wahl mißachtet. Jetzt beugte er sich. Um die Krone zu behalten, stellte er sogar sein Königreich dem Heiligen Stuhl als ergebener Lehensmann zur Verfügung. Diese demütige Haltung des Königs, der durch seine Niederlagen den größten Teil seines 203
französischen Besitzes verloren hatte, stärkte das Rückgrat der Barone und Ritter Englands. Sie lehnten sich gegen die unstete Willkür Johanns auf und zwangen ihn, auf der Wiese Runnymede beim Schloß Windsor die ›Magna Charta libertatum‹ zu unterzeichnen. Diese Urkunde, die die Rechte des Königs von England begrenzte, hatte eine weiterreichende Wirkung, als die von ihr unmittelbar begünstigten Barone erfaßt haben mochten. Die verbriefte Beschränkung der Königsgewalt und das Zugeständnis von ritterlichen Freiheiten, die später bürgerliche Freiheiten wurden, waren die ersten deutlichen Zeichen des von diesem Zeitpunkt an in den meisten Ländern der westlichen Welt planmäßig geführten Kampfes der Untertanen um die Erweiterung und Vermehrung ihrer Rechte im Verhältnis zum Herrscher. Es ging in der ›Magna Charta‹ nicht nur darum, daß keine Steuern ohne Zustimmung der Barone verfügt oder eingehoben werden durften, sondern vor allem um die Schaffung einer ständigen Versammlung von Baronen, die berechtigt war, den König durch Gewalt zur Beobachtung des Rechtes zu zwingen. Innozenz III. erkannte die Bedeutung der ›Magna Charta‹. Um sie außer Kraft zu setzen, entband er seinen neuen Lehensmann König Johann von der Einhaltung der übernommenen Verpflichtung. Als Oberherr aller Könige wollte der Papst die Königsmacht als solche unangetastet erhalten. Aber der päpstliche Erlaß wirkte nur, solange Innozenz III. am Leben war. Der Aufstand der Barone führte nach blutigen Kämpfen nicht viel später unter dem Nachfolger Johanns zur großen Ratsversammlung, dem ›Parlament‹, in dem erst nur die Barone und auch Ritter als Vertreter jeder Grafschaft, dann aber auch Bürger jeder Stadt gemeinsam mit dem Adel auf der Geistlichkeit dem König als beratende und beschränkende Körperschaft zur Seite gestellt wurden. Es hieß bald in England: »Der König untersteht Gott und dem Gesetz, das den König macht.« Im gleichen Jahr, in dem die ›Magna Charta‹ der englischen Entwicklung die Richtung zu weisen begann, berief Innozenz III. eine große Kirchenversammlung in die Laterankirche nach Rom. Der Papst, der von Friedrich II. das feierliche Gelübde erhalten hatte, daß er ei204
nen Kreuzzug unternehmen werde, durch den die Ungläubigen ein für allemal aus dem Heiligen Land vertrieben werden sollten, empfing fünfzehnhundert Erzbischöfe, Bischöfe und Äbte, um die Christenheit neu zu ordnen. Alle geistigen und geistlichen Erkenntnisse Innozenz' III. wurden in dieser Kirchenversammlung zu Glaubenssätzen, deren Wortlaut die anwesenden hohen Priester guthießen. Was immer auch der Papst forderte, wurde ihm zugestanden. Er hatte durch die Übermacht seiner Persönlichkeit die christlichen Könige auf die Knie gezwungen. Auch die versammelten Würdenträger der Kirche knieten vor ihm. Nie vorher hatte ein Papst eine so überragende weltliche Stellung errungen. Er selbst aber klagte: »Ich habe keine Muße mehr, über Jenseitiges nachzudenken. Kaum, daß ich noch atme. So sehr muß ich für andere leben, daß ich mir selbst ein Fremder bin.« IV Erst nach dem Ableben Innozenz III. wurde Friedrich II. tatsächlich mündig. Er war allem Anschein nach Wachs in der Hand seines Vormundes gewesen. Jetzt vertauschte er die Rollen. Der Nachfolger des großen Papstes war ein milder Mann, der der gewandten Überlegenheit seines königlichen Gegenspielers nicht gewachsen war. Honorius III. erhob keinen Einspruch, als Friedrich entgegen dem feierlichen Versprechen, das er Innozenz III. geleistet hatte, seinen kleinen Sohn Heinrich, den König von Sizilien, zum deutschen König krönen ließ und damit die Vereinigung beider Reiche unter einem gekrönten Haupte bekundete. Der Papst mußte sich damit zufriedengeben, daß die geistlichen Fürsten des deutschen Reiches für ihre Zustimmung zur Wahl Heinrichs ähnliche landesherrliche Rechte erhielten, wie sie die bedeutendsten weltlichen Fürsten innehatten. Sie erwarben die Gerichtsbarkeit in ihren Gebieten, das Zoll- und Münzrecht und das Recht, Burgen zu bauen. Diese Erzbischöfe, Bischöfe und Äbte, die Friedrich so gestärkt hatte, schienen ihm verläßlichere Anhänger zu sein als die anderen deut205
schen Fürsten, mit denen er nur das eine gemeinsam hatte, daß er väterlicherseits deutschen Ursprungs war. Die einfache Lebensführung der hohen Standesgenossen seiner Vorfahren mißfiel ihm. Ihre plumpe Art zu denken und Hof zu halten stieß ihn ab. Die deutsche Landschaft behagte ihm nicht. Er hatte Sehnsucht nach der Sonne Siziliens und nach dem durch die Kreuzung so vieler verschiedener Völker belebten Gedankenreichtum seines Geburtslandes. Er wollte der Geisteswelt an seinem Hof in Palermo ein königliches Heim bereiten. Unter dem Vorwand, daß er zur Kaiserkrönung nach Rom müsse, verließ Friedrich II. Deutschland und überließ die vormundschaftliche Herrschaft für seinen Sohn Heinrich dem Erzbischof von Köln. Was nördlich der Alpen geschah, bedeutete dem Kaiser nur wenig. Er hatte außer dem Erzbischof noch einen verläßlichen Vertrauensmann, der seine Belange in den unwirtlichen Gegenden des Nordens vertreten und nach dem Rechten sehen würde: Den Hochmeister des Deutschen Ritterordens, Hermann von Salza, den er mit allen Vollmachten versah, einen ganz anderen Kreuzzug zu unternehmen als den, den er selbst Innozenz III. versprochen hatte. Es ging darum, die heidnischen Preußen zu unterwerfen, die die deutschen Ansiedler an den östlichen und nördlichen Grenzen des Reiches bedrohten. Der Einsetzung des Deutschen Ritterordens im Nordosten des deutschen Reiches ging die Wiedergewinnung der Gebiete voran, die Friedrich nach der Schlacht von Bouvines an den König von Dänemark abgetreten hatte. Es war nicht mehr nötig, die Welfen durch einen fremden Herrscher in Schach zu halten, um so weniger, als sich der König von Dänemark Übergriffe erlaubt hatte. Der Erzbischof von Bremen, der Herzog von Sachsen und die Freistadt Lübeck besiegten Waldemar und ermöglichten dadurch die aufstrebende Entwicklung der deutschen Städte an der Küste der Ostsee, die sich später zum Bund der Hanse vereinigen sollten. Während die Grenzen des Deutschen Reiches erweitert und mächtig gefestigt wurden, ergab sich Friedrich II. in Sizilien einem königlichen Leben eigener Prägung. Er erbaute Paläste, die er mit festen Mauern umgab, aber im Innern mit allem erdenklichen Glanz ausstattete. Die 206
Wände der Säle waren aus farbigem Marmor, die Böden aus kunstvollem Mosaik, die eingelegten Möbel aus den köstlichsten Hölzern des Orients verfertigt. Er machte sich schon in dieser Welt die Kunst des Genusses zu eigen, den Mohammed den Anhängern seines Glaubens als höchste Belohnung im siebenten Himmel verheißen hatte. Er versagte sich nichts, was die Erde an Schönem bot. Er entwarf Grundrisse für immer prächtigere Bauten und pflegte die Jagd. In lange, farbige Umhänge gekleidet, die bis zu den weichen Schuhen reichten, bot er dem oberflächlichen Beobachter das Bild eines verweichlichten Mannes, der nur dem Vergnügen lebte. In Wirklichkeit aber arbeitete Friedrich II. außerhalb der wenigen Stunden, die er den ausschweifenden Zerstreuungen widmete, hart und vielseitig. Er schuf ein neues Gesetzbuch, in dem römisches und normannisches Recht mit bewährten Satzungen italienischer Städte zu einem vorbildlichen Werk zusammengefügt waren. Er gründete eine Schule für Staatsangestellte, die nicht nur das Königreich verwalten, sondern auch durch Steuern und den staatlichen Alleinhandel die Einnahmen sichern sollten, die der Volkswirtschaft und der Volksgesundheit zugute kamen. Die üppige Lässigkeit seiner Hofhaltung täuschte seine Gegner darüber hinweg, daß Friedrich II. mit eisernem Willen dazu entschlossen war, sein Kaisertum über alle anderen Mächte der Erde zu erheben. Der christliche Glaube und die Kirche, die ihn verwaltete, galten ihm nur als Mittel zum Zweck. Er selbst glaubte an die überlegene Macht des Verstandes, an die schöpferische Kraft und die Pflicht des Herrschers, seine Persönlichkeit durch Wissen, Bildung und Weisheit zu stärken. Er erklärte in einem Brief, den er an einen seiner Söhne schrieb: »Die Könige werden geboren wie die übrigen Menschen und sterben auch wie sie.« Er mahnte ihn zur Vorsicht: »Die Kopflosigkeit der Fürsten stürzt die Völker in den Untergang.« Der Kaiser, der alle lebendigen Sprachen der Zeit beherrschte, lud die bedeutendsten Denker und Gelehrten an seinen Hof und tauschte mit denen, die nicht kommen konnten, ausführliche Briefe aus. Er begnügte sich nicht damit, Freude an der Jagd zu finden. Er schrieb ein grundlegendes Werk ›Über die Kunst, mit Vögeln zu jagen‹ und stell207
te jahrelange Versuche und Vergleiche an, um die naturwissenschaftlichen Fragen, die ihn beschäftigten, mit gelehrter Genauigkeit zu lösen. Er unterhielt einen Tiergarten, in dem er fremdartige Tiere beobachtete, und vertiefte sich in die Kunde des menschlichen Gesichts, um in den Zügen der Menschen das lesen zu können, was sie verschwiegen. Den Gelehrten, die an seinem Hof lebten, stellte der Kaiser immer wieder die Frage ›nach dem Ursprung der Welt von Ewigkeit her‹. Er wollte für alles eine folgerichtige, vernunftmäßige Erklärung und forschte besonders ›nach Beweisen für und gegen die Unsterblichkeit der Seele‹. Er verfolgte das Vorurteil und alle Arten des Aberglaubens. Er verwarf das übliche Gottesgericht mit glühenden Eisen und siedendem Wasser und begründete seine Ablehnung damit, daß solche Urteile ›die Natur außer acht ließen und nicht Wahrheit erzielten‹. Das Streben nach Wahrheit und Vernunft erschwerte seine Herrschaft um so mehr, als er sein ganzes Leben gezwungen war, den überlieferten Kampf des Kaisertums gegen das Papsttum mit heuchlerischen Waffen auszufechten. Solange Papst Honorius III. lebte, gelang es Friedrich II. die Ausführung des Kreuzzuges, zu dem er sich so feierlich verpflichtet hatte, von Jahr zu Jahr zu verschieben. Um seinen guten Willen zu beweisen, verheiratete er sich in zweiter Ehe mit Isabella, der Tochter des Königs von Jerusalem, der die Krone trug, ohne zu herrschen. Bevor Friedrich das Heilige Land wiedergewann, wollte er nicht nur sein geliebtes Sizilien sichern, sondern auch die übrige christliche Welt, die, wie er fürchtete, von viel gefährlicheren Mächten bedroht war, als der Papst es wahrhaben wollte. Der Kreuzzug hatte Zeit. Der Kampf gegen die Ungläubigen konnte zu einem geeigneteren Zeitpunkt unternommen werden, später, wenn es sich erwiesen hatte, was die ungeheuren Umwälzungen im fernen Osten bedeuteten, über die nur spärliche Kunde nach dem Westen gedrungen war. Würde es nicht nötiger und folgerichtiger sein, sich mit den muselmanischen Sultanen gegen einen gemeinsamen Feind zu verbünden, der aus Asien dem europäischen Raum immer näher kam, als gegen sie zu kämpfen? War es nicht vorteilhafter, durch Verträge mit den Sultanen das Heilige Land zu gewinnen, 208
anstatt die besten Kräfte der christlichen Welt an eine abenteuerliche Fahrt gegen sie zu wagen? Friedrich II. rüstete unentwegt. Geschah es für den Kreuzzug? V Daß eine neue Zeit angebrochen war, erkannte nicht nur der Kaiser, der sich bemühte, sie in seiner Person zu verkörpern und zu gestalten. Da und dort entstanden Kunstwerke, die in Stein gefügt und in Worte gefaßt der Umwelt vermittelten, was die Herzen bedrängte. In den zart geschwungenen, spitzen Bögen der gotischen Bauart wurden Gotteshäuser errichtet. Die gemeißelten Ornamente der Wasserspeier, die schlanken Säulen und spitzen Glockentürme waren deutliche Kennzeichen einer neuen Kunst, die auch im Wort zum Ausdruck kam. Überlieferte Dichtungen wurden neu gestaltet. So berichtete das Nibelungenlied von der Gefahr, die der christlichen Welt gedroht hatte. Helden und Hunnen, Tapferkeit und List der Vergangenheit wurden in gereimten Sätzen zeitgemäß eingekleidet ohne Rücksicht auf geschichtliche Wahrheit. Hartmann von Aue schrieb den ›Armen Heinrich‹, und Wolfram von Eschenbach gestaltete Parzifal als christlich ritterliches Vorbild. Walther von der Vogelweide dichtete seine Lieder von Freud und Leid des Herzens und klagte rührend über die fremde Welt, die einst die seine gewesen war. Die Namen dieser Ritter, die Liebe und Gesinnung in ihren Liedern verkündeten, blieben der Nachwelt erhalten. Viele andere Dichter lebten namenlos in Volksliedern fort. Die Stimmung, die sie verbreiteten, war im wesentlichen weltlich und verbrämte die Gottesangst und Gläubigkeit, von der die Menge erfüllt war, die in den alten Domen und neu erbauten Kirchen der Christenheit geistige und geistliche Zuflucht suchten. Die Bauern und Hörigen hatten ein unverändert schwieriges Dasein. Die Bürger der Städte lebten freier und hoffnungsvoller. Sie wurden selbstbewußter. Ihr Einfluß wuchs durch Handel und Gewerbe. Sie verfeinerten ihre Lebensführung und erkannten im209
mer deutlicher, daß sie sich in ihren von Mauern gesicherten Städten zu einer neuen Macht im Lande entwickelten. Die Ritter und großen Herren in ihren Burgen und Festungen warteten ängstlich oder hoffnungsvoll auf das Glockengeläute und die Sendboten, durch die der Kaiser den Beginn des versprochenen Kreuzzuges ankündigen würde, den er immer wieder hinausschob. Was hielt ihn zurück? Kein zeitgenössischer Bericht vermittelte, daß sich in diesen Jahren des Übergangs und der ungewissen Bereitschaft der christlichen Welt eine verhängnisvolle Veränderung im fernen Osten vollzog. In den unendlichen Wüsten und Ebenen des nördlichen Asien hatten die volkreichen wandernden Stämme der Mongolen jahrhundertelang urzuständlich gelebt. Sie hatten in Zelten oder im Freien gewohnt und mit ihren Herden neue Weidegründe gesucht. Ihre Kleidung waren Ochsenfelle. Das einzige, das sie in ihrer langsamen Entwicklung erlernt zu haben schienen, war die Handhabung von Waffen und die Haltung und Verwendung von Pferden. Die Gebiete, durch die sie zogen, waren weit. Die Mongolen waren nur selten mit ihren in der Entwicklung höherstehenden Nachbarn in Berührung gekommen. Erst als sich Temudschin, der von seinen Gefolgsleuten Dschingis Khan, das heißt ›der große König‹, genannt wurde, die umherstreifenden Horden, eine nach der anderen, botmäßig machte, wurden sie zu einer Einheit, die er mit straffer Gesetzgebung zusammenhielt. Er übte die Männer im Gebrauch von Dolch und Schwert. Er bildete sie zu treffsicheren Bogenschützen aus. Da diese Halbwilden seinen Befehlen bedingungslos gehorchten, schuf er aus ihnen in einem Menschenalter das gewaltigste Heer. Er hatte nicht für die Verpflegung seiner Krieger zu sorgen. Sie waren vollkommen bedürfnislos. Es hieß, daß sie alles aßen, Ratten-, Katzen-, Hunde- und Menschenfleisch, sogar Läuse. Der erste Feind, den Dschingis Khan überfiel, war der Sultan von Samarkand, der den Mongolen vierhunderttausend Mann entgegenstellen konnte, aber gegen die berittene Menschenlawine, die sich auf das Schlachtfeld ergoß, hilflos war. Eine Stadt nach der andern wurde von den Horden Dschingis Khans geplündert und ging in Flammen auf. Ein islamitischer Staat nach dem andern wurde verwüstet. In einem 210
einzigen Feldzug, der dreizehn Tage dauerte, kamen eine Million dreihunderttausend Menschen ums Leben. Männer, Frauen und Kinder wurden niedergemacht. Auch die Türken stellten sich Dschingis Khan zum Kampf. Sie wurden geschlagen. Diese Niederlagen, durch die Königreiche über Nacht so vernichtet wurden, als hätten sie nie bestanden, waren verschieden von den vorhergegangenen Schlachten der Geschichte, in denen sich die Besiegten auf Gnade und Ungnade unterworfen hatten und zu Untertanen der Sieger geworden waren. Die Mongolen wollten nicht nur die Länder erobern, die sie heimsuchten, sie löschten sie aus. Gotteshäuser und Gebäude wurden niedergebrannt. Nur wenige Bewohner überlebten die Ausrottung durch die Eroberer. Wer am Leben blieb, konnte die Vergangenheit nur im Gedächtnis behalten: Alle tatsächlichen Erinnerungszeichen waren ausgelöscht. Die Mongolen raubten alles, was ihnen gefiel, bevor sie die Häuser in Brand steckten. Hunderttausende Frauen wurden geschändet und in die Sklaverei verschleppt. Den Überlebenden blieb der lähmende Schrecken. Darauf hatte Dschingis Khan es angelegt. Die Bewohner der Gegenden, die seine Horden heimgesucht hatten, sollten fürchten, daß sie wiederkämen. Er plante nicht die Schaffung einer neuen Staatsform in den eroberten Gegenden. Er war gekommen, hatte gesehen, gesiegt und Beute gemacht. Mehr hatte er nicht gewollt. Nach diesem ungeheuren Feldzug, dem Persien und die Sultanate von Buchara und Samarkand zum Opfer fielen, kehrten die Mongolen, die unter dem Befehl Dschingis Khans gestanden hatten, in ihre Ursprungsgebiete zurück. Sie hinterließen die Ruhe des Todes. Würden sie wiederkommen? Gab es eine Möglichkeit, sie abzuwehren? Die Berichte über die Zahl der bewaffneten Reiter schwankten. Waren es zwanzig, fünfzig Millionen oder mehr Krieger, die kämpften, sengten und mordeten? Verhältnismäßig kleine Abteilungen von Mongolen blieben in den eroberten Gebieten zurück und siedelten sich an. Im Jahre 1227 hieß es, daß Dschingis Khan in seinem Bett gestorben sei.
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Im gleichen Jahr entschloß sich Friedrich II. den so lange aufgeschobenen Kreuzzug zu wagen. Er hatte sechzigtausend Ritter mit ihren Dienstmannen in der Hafenstadt Brindisi versammelt. Die Flotte lag bereit und fuhr aus, obwohl zahllose Teilnehmer an der Kreuzfahrt von einem fremdartigen Fieber so heftig erfaßt wurden, daß die meisten zähneklappernd unter Zuckungen litten. Auch der Kaiser und sein Begleiter, der Landgraf von Thüringen, erkrankten. Ihr Fieber nahm so zu, daß Friedrich in Otranto anlegen ließ. Der Landgraf starb. Der Kaiser fühlte sich zu geschwächt, um die Fahrt fortzusetzen. Seine Schiffe wurden in sicheren Häfen verankert. Würden sie wieder in See stechen? Der neue Papst, Gregor IX. der Honorius III. im gleichen Jahr gefolgt war, glaubte es nicht. Er hielt die Krankheit Friedrichs für eine neuerliche willkürliche Verzögerung, die er zum Anlaß nahm, den Bannfluch gegen den Kaiser auszusprechen. Dieser Angriff des achtzigjährigen Papstes war eine erschreckende Überraschung für Friedrich, der den Kreuzzug aufgegeben hatte, weil er, von Fieber geschüttelt, die Fahrt nicht hatte fortsetzen können. Mehr als zehn Jahre hatte er eine Ausrede nach der andern gebraucht. Jetzt war er tatsächlich unschuldig. Wußte das der Papst nicht? Oder benützte er den Bannfluch nicht als Strafe für die Unterbrechung des heiligen Unternehmens, sondern um die Lehenshoheit des Heiligen Stuhles über Sizilien, die Friedrich kaum zur Kenntnis genommen hatte, gewaltsam wiederherzustellen? Es war nicht die Zeit zu Feindseligkeiten innerhalb der christlichen Welt. Friedrich unterdrückte seinen Unwillen und sandte ergebene Erzbischöfe nach Rom, um dem Papst zu erklären, daß er nur wegen seiner Erkrankung haltgemacht habe. Statt jeder Antwort stieß Gregor IX. den Kaiser öffentlich aus der Kirche aus und sandte Rundschreiben an alle Länder und Städte des Abendlandes mit der Aufforderung, von Friedrich II. abzufallen. Das war gleichbedeutend mit einer Kriegserklärung. Friedricherwiderte in einem Brief, den auch er in allen Ländern und Städten des Abendlandes verlesen ließ. Darin hieß es: »Wir leben wahrhaftig am Ende der Zeiten, da die Liebe nicht bloß in den Zweigen, sondern sogar in den Wurzeln zu erkalten scheint … Würde sich wider Uns ein 212
Feind erheben, ein Verfolger der Kirche, ein Hasser des Glaubens, der die Völker wider Uns aufpeitscht, dann würden Wir zu den Waffen greifen. Da aber der Vater aller, der Stellvertreter Christi und Nachfolger des heiligen Petrus sich so unwürdig wider Uns erhebt … so muß jedermann verwirrt staunen, daß wider Unsere Unschuld so schwere Kriege heraufbeschworen werden.«
Wer würde unterliegen, der Papst oder der Kaiser? Mit dem Schlachtruf ›Hie Guelfen!‹ oder ›Hie Ghibellinen!‹ bekriegten die Anhänger des Papstes und des Kaisers einander in den italienischen Städten. Es war ein unversöhnlicher Kampf, der Familienbande zerriß und Gemeinsamkeiten zerstörte. Auch Friedrich II. scheute vor keinem Mittel zurück. Als Gregor IX. den Bannfluch öffentlich wiederholte, ließ der Kaiser den Papst durch seine Anhänger aus Rom vertreiben. Der Heilige Vater ging zum Gegenangriff vor und befahl der Geistlichkeit, alle Orte, in denen sich der Kaiser aufhielt, mit dem Bann zu belegen. Wo immer Friedrich sei, sollte kein Gottesdienst stattfinden. Der Kaiser ließ sich nicht einschüchtern. Er drohte den Priestern, die der Aufforderung des Papstes folgten, mit der unverzüglichen Absetzung. Das war eine Maßnahme, die wirkte. Aber ein solcher Zustand war doch nur für kurze Zeit tragbar. Friedrich erwog, daß die einzige Lösung darin bestehe, den Papst ins Unrecht zu setzen. Er war gebannt worden, weil er den Kreuzzug nicht ausgeführt hatte. Was hinderte ihn jetzt daran, da er gesundet war? Friedrich berief einen Hoftag nach Ravenna ein. Aber er konnte nicht stattfinden, denn die Machthaber von Verona und Mailand ließen im Auftrag des Papstes niemand durch ihr Hoheitsgebiet ziehen und beraubten die deutschen Kreuzfahrer ihrer heiligen Abzeichen. Dabei beriefen sie sich auf die Erlaubnis des Heiligen Vaters. Auch diesem gefährlichen Zwischenspiel zeigte sich Friedrich gewachsen. Er schiffte sich überraschend ein und fuhr mit seinem Heer ins Heilige Land. In seinen Reichen aber ließ er verkünden, daß der Kaiser sein Gelübde 213
erfüllen und den Papst versöhnlich stimmen wolle. Kaum war Friedrich bei Akkon gelandet, als ihm gemeldet wurde, daß der Papst Truppen nach Unteritalien entsandt habe, um seine Länder zu unterwerfen. In Deutschland predigten die Dominikaner gegen Friedrich. Die Kölner Chronik berichtete, daß der Kardinal Otto sich an den Herzog von Lüneburg wandte und ihn fragte, wie man den Kaiser am wirksamsten schädigen könnte. Der Herzog weigerte sich, etwas gegen Friedrich zu unternehmen. Als der Kardinal dann nach Lüttich kam, wurde er vom Aachener Vogt und anderen Anhängern des Kaisers verjagt. Er bannte die Stadt Lüttich und auch Aachen, weil die Anhänger des Kaisers den Bischof von Modena in Aachen aufgegriffen und gefangengesetzt hatten.
Während der Zwiespalt im europäischen Raum immer heftigere Formen annahm, gelang Friedrich eine staatsmännische Meisterleistung im Nahen Osten. Er schloß Freundschaft mit dem Sultan von Damaskus und einen Friedensvertrag, durch den das Königreich Jerusalem wiederhergestellt wurde. Er hatte sein Gelübde erfüllt. Hermann von Salza berichtete über diesen Erfolg: »Der Jubel der Christen und aller Bewohner der Stadt bei des Kaisers Einzug in Jerusalem läßt sich nicht mit Worten schildern.« Trotz der unverminderten Spannung versuchte der Hochmeister des Deutschen Ritterordens, zwischen dem Papst und dem Kaiser zu vermitteln. Aber während Briefe und Botschaften noch hin und her gingen, gelang es Gregor IX. den Herzog Ludwig von Bayern, der an Stelle des Erzbischofs von Köln Reichsverweser geworden war, zum Aufstand gegen den Kaiser zu veranlassen. In Deutschland brach der Bürgerkrieg aus. Ein kaiserliches Heer, bei dem sich der junge König Heinrich VII. aufhielt, drang in Bayern ein. Die Kämpfe verheerten das Land. Auf beiden Seiten wurde zur Entscheidung gerüstet, als plötzlich die Nachricht kam, daß Friedrich II. in Unteritalien gelandet sei und seine Truppen nach dem Norden führe. 214
An den Grenzen des Kirchenstaates machte der Kaiser halt. Er hatte seine Macht gezeigt. Er löste sein Heer auf und befahl seinen Anhängern in Deutschland, die Waffen niederzulegen. Gleichzeitig tat er kund, daß er dem Papst den Frieden angeboten habe. Gregor IX. war gezwungen, das Friedensangebot anzunehmen, um zu verhindern, daß er in den Ruf eines mutwilligen Kriegshetzers komme. Ein Jahr lang verhandelte Friedrich II. mit dem Papst und gab so weit nach, daß er Ancona und das Herzogtum Spoleto dem Kirchenstaat überließ, um vom Banne gelöst zu werden. Jetzt konnte er sich wieder seinem geliebten Sizilien widmen und sich mit seinen wissenschaftlichen Neigungen und Vergnügungen befassen. Er blieb nicht lange ungestört. Die deutschen Fürsten, die sich den Wunsch Heinrich VII. nach Selbständigkeit zunutze machen wollten, zwangen den jungen König, ihnen dieselben Rechte zu gewähren, die Friedrich den hohen Geistlichen zugebilligt hatte. Im Widerspruch zu seinem Vater unterzeichnete Heinrich das ›Statutum in favorem principum‹, den bedeutsamen Erlaß zugunsten der Fürsten, der sie zu tatsächlichen Landesherren machte. Nur ungern bestätigte Friedrich das Zugeständnis des Sohnes, der gegen seinen Auftrag gehandelt hatte. Aber Deutschland war weit. Friedrich lag daran, den ›Neuen Staat‹ in Sizilien zu vervollkommnen und seine gelehrten Untersuchungen weiter zu betreiben. Er gab der Welt ein königliches Beispiel, indem er allen Untertanen Siziliens völlige Gleichheit vor dem Gesetz gewährte, mit der Begründung, ›daß ihm nichts verhaßter sei als die Vergewaltigung der Armen durch die Reichen‹. Nur ganz selten wich Friedrich von der nüchternen Folgerichtigkeit seiner Weltanschauung ab und ergab sich spielerischer Selbstverherrlichung. Er wollte die römische Vergangenheit, die er glaubte, als Staatsmann wiederherstellen zu können, auch in künstlerischer Form wiedererstehen lassen und erbaute über der Via Appia einen Torbogen, auf dem er sich in einer Statue abbilden ließ, die vom gewaltigen Standbild der Fortuna Caesarea überragt war, dem Sinnbild des kaiserlichen Glücks. Friedrich II. war nicht so glücklich, wie er sich darstellen ließ. Die 215
Feindseligkeit Gregors IX. der die Inquisition in Deutschland anordnete und den Dominikanern als ›Spürhunden des HERRN‹ übertrug, war beunruhigend. Die Ketzerverfolgungen fanden blutigen Widerstand. Der Einsatz von Truppen war nötig. Dazu kam, daß Heinrich VII. gegen den Vater aufbegehrte und sich mit den lombardischen Städten verbündete, die sich gegen den Kaiser aufgelehnt hatten. Die Anwesenheit Friedrichs in Deutschland war unerläßlich. Er überschritt die Alpen nur mit einem kleinen Gefolge. Er vertraute der Macht seiner Persönlichkeit und begab sich ungehindert nach Worms. Als Heinrich sich ihm unterwarf, ließ Friedrich ihn verhaften und in einem Burgpalast in Apulien bis zu seinem Tod gefangenhalten. Er selbst blieb in Worms und nahm die Huldigung der Großen seines Reiches in einem glanzvollen Reichstag entgegen. Im festlichen Dom von Mainz vermählte er sich in dritter Ehe mit der Tochter des Königs von England und erließ darauf in deutscher Sprache ›das große Landfriedensgesetz‹. Er ernannte einen ständigen Hofrichter als Vertreter des Kaisers im Reichsgerichtshof und versöhnte sich mit dem Neffen Ottos IV. um die Feindseligkeiten zwischen den Welfen und Staufen ein für allemal aus der Welt zu schaffen. Diesen Otto, den Stammvater aller späteren Welfen, erhob er zum Herzog von Braunschweig-Lüneburg. Die Rückkehr des Kaisers nach Italien konnte nicht friedlich vor sich gehen. Die lombardischen Städte, die von den Guelfen beherrscht wurden und die wichtigsten Nord-Süd-Straßen gesperrt hielten, mußten zur Unterwerfung gebracht werden. Friedrich beschloß in Mainz den Reichskrieg, nachdem er sich mit dem Markgrafen von Verona verbündet und dadurch die Brenner-Straße gesichert hatte. Er mochte den Krieg nicht. Er hätte lieber mit Kundgebungen als mit Waffen gesiegt. Aber da sich auch der Herzog von Österreich auf die Seite der lombardischen Städte geschlagen hatte, blieb dem Kaiser nur der Ausweg der Gewalt. Er besetzte Österreich und machte Wien zu einer reichsunmittelbaren Stadt. Die ehemalige römische Lagerstadt Vindobona, die zur Hauptstadt der Babenberger geworden war, beherbergte zum erstenmal einen Kaiser. Friedrich ließ in Wien seinen neunjährigen Sohn Konrad zum König und künftigen Kaiser wählen. 216
Dann brach er mit seiner Heeresmacht auf und errang einen überwältigenden Sieg über die lombardischen Städte. Aber der Friede, den er schließen wollte, scheiterte am Einspruch des Papstes, der offen auf die Seite der besiegten Städte trat und Venedig und Genua zum Kampf gegen den Kaiser aufwiegelte. Friedrich verheiratete seinen natürlichen Sohn Enzio mit der Erbin von Sardinien, das zu den Lehensstaaten des Papstes gehörte, und erhob ihn zum König. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Hermann von Salza zwischen Kaiser und Papst vermittelt. Am Todestag des Hochmeisters des Deutschen Ritterordens sprach Gregor IX. den Bann über Friedrich aus. Gleichzeitig bot er durch einen Erzbischof König Ludwig IX. von Frankreich, der später heiliggesprochen wurde, die Kaiserkrone an. Jetzt war die Geduld Friedrichs zu Ende. Er besetzte Teile des Kirchenstaates und ernannte Bevollmächtigte zur Verwaltung Italiens. Gregor IX. gab nicht nach und berief eine Kirchenversammlung nach Rom. Die geistlichen Herren die dem Ruf des Heiligen Vaters Folge leisteten, wurden auf dem Weg abgefangen. Diesen Aufregungen war der greise Papst nicht mehr gewachsen, und er starb. VI Zu keinem Zeitpunkt vorher war die westliche Welt so gefährdet gewesen. Friedrich hätte jeden erträglichen Frieden mit dem Heiligen Stuhl geschlossen, um die Christenheit einig zu wissen – in der Abwehr des Mongolensturmes, der unter Führung Batus, eines Enkels Dschingis Khans, ausgebrochen war. Diesem Neffen des neuen Groß-Khans Ügedei, der seinen Hauptsitz in Karakorum im Inneren Asiens hatte, war bereits die Vernichtung der an der Wolga angesiedelten Bulgaren gelungen. Er hatte die Teilfürsten der russischen Gebiete besiegt, Kiew erobert und befand sich auf dem Marsch nach Ungarn, in die Wallachei, nach Polen und Schlesien. Das im obersten Kriegsrat des GroßKhans beschlossene Ziel Batus war die Eroberung ganz Europas. Nur eine gewaltige Gruppe des ungeheuren Heeres der Mongolen 217
hatte sich nach dem Westen in Bewegung gesetzt. Die anderen Heere brachen in die Koreanische Halbinsel und in Südchina ein. Die Gefahr schien unaufhaltsam zu sein. Während der Streit zwischen den Anhängern Friedrichs und des Papstes in allen Ländern, die die Lehenshoheit des Heiligen Stuhles oder des Kaisers anerkannt hatten oder bestritten, immer heftiger wurde, näherten sich die mongolischen Horden den deutschen Grenzen mit ungeahnter Schnelligkeit. Sie hatten Polen erobert und verheert. Der einzige geordnete Widerstand, der sich ihnen entgegenstellen konnte, war ein von Herzog Heinrich von Schlesien in Eile aufgebotenes Heer. Der Herzog von Oppeln, der Markgraf von Mähren und die Ritter des Deutschen Ordens kamen gerade noch zurecht, um sich in Liegnitz zu sammeln. Die Truppen des Königs von Böhmen waren noch auf dem Anmarsch, als die Mongolen Liegnitz schon erreicht hatten. Die Ritter in ihren schweren Panzern warfen sich in einer verzweifelten Abwehrschlacht dem ungestümen Ansturm entgegen. Die Mongolen waren in Haufen von je tausend Reitern zusammengeschlossen und erhielten von ihren Anführern Befehle durch Winkzeichen mit Fähnchen. Die Ritter schlugen die Mongolen zurück. Auf ihren kleinen Pferden wandten sie sich zur Flucht. Plötzlich aber waren die nachjagenden Ritter von allen Seiten umzingelt. Ein Hagel von Pfeilen brach über sie herein. Die ungeheure Überzahl der Mongolen mit ihren krummen Säbeln und Keulen war unwiderstehlich. Die meisten Ritter stürzten von ihren Pferden. Der Kopf des gefallenen Herzogs Heinrich von Schlesien wurde vom Rumpf getrennt und auf eine Lanze gesteckt. Noch bevor Liegnitz brannte, fielen Streifscharen der Mongolen in die Mark Meißen ein. Die wilden Reiter verwüsteten Mähren und drangen bis Wien vor. Dann machten sie eine Wendung, vernichteten das ungarische Heer, und wieder eine Schwenkung nach Osten. Sie stürzten sich auf Siebenbürgen, hieben die sich zur Wehr setzenden deutschen Siedler nieder und zerstörten Hermannstadt. In dieser Not rief Friedrich II. das christliche Abendland zum Verteidigungskrieg auf. Ludwig von Frankreich wurde gewarnt, daß er Hilfe leisten müsse, denn wenn die Deutschen besiegt würden, gäbe 218
es niemand an seinen Grenzen, der den Mongolen Widerstand leisten könnte. Im Osten des europäischen Raumes hatten sie alle Städte zerstört, an denen sie vorbeigezogen waren. Die Länder waren verwüstet. Verzweifelte Flüchtlinge berichteten über die grauenhaften Mordbrennereien. Und immer neue Wellen von Angreifern drangen aus dem Inneren Asiens an die untere Donau vor. Batu bereitete den endgültigen Vernichtungskrieg vor. Als die Nachricht kam, daß der Mongolenfürst mit seinen Horden wieder nach Asien zurückgekehrt sei, ohne den beabsichtigten Angriff auszuführen, hieß es, daß ihn der Tod Ügedeis veranlaßt habe, seine Zelte abzubrechen. Batu wollte Groß-Khan werden. Die uneingeschränkte Herrschaft über alle Mongolenstämme war ihm wichtiger als die Beherrschung Europas. Oder plante er, erst ganz Asien zu unterwerfen, bevor er seine Welteroberung fortsetzte? VII Der plötzliche unvermutete Abzug der Mongolen brachte keine Entspannung im europäischen Raum mit sich. Während das christliche Abendland in so unmittelbarer Gefahr gewesen war, von den Mongolen vernichtet zu werden, hatten die leidenschaftlichen Kämpfe der Guelfen und Ghibellinen auf italienischem Boden nicht aufgehört. Auch im deutschen Reich wirkte die Unversöhnlichkeit der Päpste nach. Friedrich II. hatte die hetzerischen Wanderpredigten der Dominikaner gegen seine Person unterschätzt. In wessen Namen verfluchten sie ihn, da kein Papst auf dem Heiligen Stuhl thronte? Immer mehr Geistliche ließen sich davon überzeugen, daß der Kaiser ein Ketzer sei. Der Erzbischof von Mainz, den Friedrich zum Reichsverweser ernannt hatte, der Erzbischof von Köln und noch andere Bischöfe fielen von ihm ab, und er war gezwungen, sich zu wehren. Er erhob den Landgrafen Heinrich Raspe zum Nachfolger des Erzbischofs von Mainz und verlieh den Bürgern der rheinischen Städte Sonderrechte, um sie als Verbündete gegen die rheinischen Kirchenfürsten zu gewinnen. 219
Nicht nur zu Lande, auch zur See tobte der Krieg. Enzio, der natürliche Sohn Friedrichs, siegte über die genuesische Flotte, um sein Königreich Sardinien zu behaupten. Aber die lombardischen Städte gaben nicht nach. Sie hofften auf die Wahl eines ihnen günstig gesinnten Papstes. Wo immer der Kaiser Friedensfühler ausstreckte, fand er verschlossene Türen. Die Anhänger des Papsttums hatten sich seinen Untergang zugeschworen. Als endlich der neue Papst gewählt wurde, war es – ein Genuese. Er bestieg unter dem Namen Innozenz IV. den Heiligen Stuhl. Friedrich begann unverzüglich Verhandlungen. Er versprach die Rückgabe der besetzten Gebiete des Kirchenstaates und gnädiges Verzeihen und Straferlaß an die lombardischen Städte. Während der Verhandlungen begehrte der Heilige Vater, daß er zu entscheiden habe, inwieweit das Reichsrecht für die lombardischen Städte Geltung haben solle. Noch ehe diese schwerwiegende Frage entschieden war, verließ Innozenz IV. Rom und begab sich nach Lyon, außerhalb des Machtbereiches Friedrichs. Dort berief er eine Kirchenversammlung ein, sprach den Bann über den Kaiser aus, erklärte ihn aller Würden entsetzt, entband die Untertanen ihres Treueeides und forderte die deutschen Fürsten zur Wahl eines neuen Königs auf. Der Vertreter des Kaisers auf der Kirchenversammlung erhob Einspruch, besonders gegen die Anklage, daß Friedrich ein Ketzer sei. Er erklärte: »Über diesen schwerwiegenden Punkt kann sich kein Mensch Klarheit verschaffen, wenn mein Herr nicht anwesend ist und mit eigenem Munde vorbringt, was in seinem innersten Herzen verborgen ist.« Der Papst lehnte es ab, mit Friedrich persönlich zu unterhandeln: »Ich fürchte die Fallstricke«, sagte er und drohte, »erscheint der Kaiser hier, so reise ich auf der Stelle ab.« Jeder Versuch, eine Versöhnung herbeizuführen, war vergebens. Innozenz IV. sandte den Bischof von Ferrara nach Deutschland zum Reichsverweser, dem Landgrafen Heinrich Raspe von Thüringen, der sich, mit Hinblick auf die päpstliche Entbindung vom Treueid, einverstanden erklärte, Gegenkönig zu werden. Er wurde von den rheinischen Kirchenfürsten gewählt, schlug das Heer Konrads IV. und setzte ihn auf einem Reichstag zu Frankfurt ab. Der Papst forderte nun alle 220
Fürsten Deutschlands auf, sich von Friedrich, »dem Feind der Kirche«, zu trennen und sich Heinrich Raspe, »dem Sohn des Gehorsams«, anzuschließen. Die Ermordung Friedrichs wurde beschlossen. Aber der Mordplan mißlang, und die Anhänger des Kaisers verwarfen die Aufforderung des Papstes. Der Bürgerkrieg in Deutschland fand ein rasches Ende, als Heinrich Raspe vom Pferd stürzte und seiner Verletzung erlag. Mit ihm erlosch das Haus der Landgrafen von Thüringen. Seine Verwandten teilten sich den Besitz. Die Grafen von Brabant erhielten die Landgrafschaft Hessen, die Wettiner Thüringen mit der Wartburg. Friedrich fühlte sich stark genug, die gleichen Mittel einzusetzen, die der Papst gegen ihn angewandt hatte. Auch seine Sendboten ließen die Glocken der Kirchtürme läuten und predigten der Menge auf offenem Markt: »Der Papst ist ein Ketzer, alle Bischöfe und Prälaten sind Simonisten und Ketzer. Wegen ihrer Laster und Todsünden haben sie nicht die Macht, zu binden und zu lösen. Kein Mensch, weder der Papst noch die Bischöfe, noch sonst jemand, kann den Gottesdienst verbieten. Wer es tut, ist ein Ketzer und Verführer. Für den Herrn Kaiser Friedrich und seinen Sohn Konrad, die vollkommen und gerecht sind, müsset ihr beten!« Die Glocken läuteten. Die Dominikaner, Franziskaner und Zisterzienser verfluchten Friedrich. Die kaisertreuen Wortführer verfluchten den Papst. Rundschreiben wurden ausgeschickt und der Streit der Worte auch mit Waffen blutig ausgetragen. Die rheinischen Erzbischöfe ließen sich durch den Tod Heinrich Raspes nicht entmutigen. Sie waren entschlossen, Friedrich II. zu entmachten und erwählten den Grafen Wilhelm von Holland zum Gegenkönig. Friedrich nahm diese Herausforderung entrüstet zur Kenntnis, aber er ließ sich in seinen Plänen nicht stören. Der letzte Babenberger, Friedrich der Streitbare, war in einem Feldzug gefallen. Das gab dem Kaiser Gelegenheit, Österreich und Steiermark als erledigte Lehen für das Reich einzuziehen. Er stärkte seine Stellung durch die Vermählung seines Sohnes Konrad mit der Tochter des Herzogs von Bayern. Was am Rhein, im Nordwesten des Reiches, geschah, bedeutete ihm fürs erste nur we221
nig. Es war ein Nebenschauplatz seines großen Kampfes. Er hatte vor, die untragbare Lage durch einen Handstreich zu beendigen: er wollte den Papst in Lyon gefangennehmen. »Nachdem Wir mit Geduld und Frömmigkeit bisher die Rolle des Ambosses gespielt haben«, erklärte er, »müssen Wir jetzt Hammer sein.« Er war um so entschlossener, vor keiner Gewalt zurückzuscheuen, als sein Lieblingssohn Enzio, der König von Sardinien, von den Bolognesen gefangengenommen worden war. Die Kämpfe auf italienischem Boden mußten beendet werden. Friedrich berief sich auf die Krönungsformel, daß er von Gottes Gnaden Kaiser sei, und beschimpfte den Papst als Antichrist, der vernichtet werden müsse. Er bereitete ungeheure Rüstungen vor, um den Endsieg zu erringen. An einem Dezembertag des Jahres 1250 erlag er einem plötzlichen Fieber. VIII Die Bezeichnung ›kaiserlose Zeit‹ für die Zeit nach dem Tod Friedrichs II. wurde erst zu einem späteren Zeitpunkt geprägt. In Wirklichkeit hatte der widerspruchsvolle Kaiser, der seinem Jahrhundert vorausgeeilt war, zwei von ihren Anhängern anerkannte Nachfolger: seinen Sohn Konrad IV. und Wilhelm von Holland. Im Schatten der gewaltigen Persönlichkeit Friedrichs II. verblaßten die Gegenkönige, wenn auch Wilhelm nach dem frühen Tod Konrads durch eine neue Wahl anerkannt wurde. In Sizilien wurde Manfred, ein natürlicher Sohn Friedrichs, König und bemühte sich, das Erbe seines Vaters auch in geistiger und künstlerischer Hinsicht zu wahren. Er wurde jedoch vom Nachfolger Innozenz' IV. der im Triumph nach Rom zurückgekehrt war, ebenso angefeindet wie Friedrich. Auch Heinrich III. der König von England, erhob Anspruch auf Sizilien. Um die staufische Macht zu schwächen, erwählten die rheinischen Kirchenfürsten nach dem Tod Wilhelms von Holland den Bruder Heinrichs III. Richard von Cornwall, zum deut222
schen König. Als Gegenkönig trat, durch Vermittlung des Königs von Frankreich, der mit England verfeindet war, Alfons X. auf, der Sohn der staufischen Prinzessin Beatrix, die den König von Kastilien geheiratet hatte. Das sogenannte ›Interregnum‹, die Zwischenherrschaft in Deutschland, bedeutete nicht, daß es keine Könige gab, sondern daß keiner der gewählten Könige von allen Mächten des Reiches anerkannt wurde. Um der Uneinigkeit ein Ende zu setzen, wurde von den mächtigsten deutschen Landesherren das Wahlrecht der sieben Kurfürsten anerkannt. Die Erzbischöfe von Köln, von Mainz und von Trier, die nach dem althergebrachten Brauch an der Krönung der deutschen Könige teilgenommen hatten, wurden gemeinsam mit dem Pfalzgrafen bei Rhein, dem Herzog von Sachsen, dem Markgrafen von Brandenburg, die als Truchseß, Marschall und Kämmerer, und dem König von Böhmen, der als Mundschenk bei den Krönungsfeierlichkeiten gewirkt hatte, mit den hohen Ämtern betraut. Es dauerte geraume Zeit, bis sich die Kurfürsten in der Wahl eines Königs einigten. Inzwischen waren sie und ihre fürstlichen Standesgenossen, die anderen deutschen Landesherren, vollauf damit beschäftigt, ihre Länder, vor allem auf Kosten der herrenlosen staufischen Hausmacht, abzurunden und ihre Macht durch die Anwerbung von Gefolgsleuten zu stärken. Am erfolgreichsten in der Erweiterung seines Besitzes war König Ottokar II. von Böhmen. Er nahm seine Verwandtschaft mit dem ausgestorbenen Geschlecht der Babenberger zum Anlaß, ihre Herrschaftsgebiete seinem Königreich einzuverleiben. In diesen umstrittenen Jahrzehnten war er der mächtigste Landesherr im Deutschen Reich. Die landfremden Gegenkönige waren bedeutungslos. Richard von Cornwall konnte die Vorteile, die er im Rheinland errang, nicht ausnützen. Er mußte zur Unterstützung seines Bruders, Heinrichs III. gegen den die Barone in Aufstand getreten waren, nach England zurückkehren. Alfons von Kastilien blieb in seinem väterlichen Königreich. Aber die Tatsache des Vorhandenseins von Gegenkönigen konnte den Kurfürsten als Vorwand dienen, keine neue Wahl treffen zu müssen. Sie zögerten ihre Entscheidung hinaus. Es lebten noch Nachkommen 223
Friedrichs II. Die Staufen hatten Anhänger. Konradin, der Sohn Konrads IV. wuchs heran. Die deutschen Kurfürsten und Landesherren hatten noch einen anderen bedeutsamen Grund, Zeit verstreichen zu lassen, bevor sie einen König wählten. Das ›statutum in favorem princi pum‹, der Erlaß, der ihre landesherrlichen Rechte gefestigt hatte, ließ sich nicht von einem Tag zum nächsten so ausnützen, daß die Vorteile der errungenen Begünstigungen sichergestellt werden konnten. Verwaltungsmaßnahmen aller Art waren unerläßlich. So mußte der ›Sachsenspiegel‹, das aufgefundene Gewohnheitsrecht, der hohen Gerichtsbarkeit eingefügt werden. Diese Sammlung des Landes- und Lehensrechtes wurde in den ›Spiegel deutscher Leute‹, den deutschen Spiegel, übersetzt und gewann eine ergänzende Ausarbeitung im ›Schwabenspiegel‹. Es verfocht auch das alte Recht des Volkes, einen König zu wählen, und das Recht der Bauern, ihre Freiheit und ihren Boden zu behalten. Das Verlangen nach einer Vereinheitlichung der Rechtsprechung entsprach dem Bedürfnis nach Sicherheit sowohl der Fürsten als auch der Untertanen. Die Anerkennung gleicher Gesetze festigte das Zusammengehörigkeitsgefühl wie die Sprache. Das Deutsche Reich brauchte gemeinsame Nenner. Daß das Papsttum aus dem Kampf mit Friedrich II. siegreich hervorgegangen war, verdankte es dem Tod seines Widersachers. Aber noch zu Lebzeiten Friedrichs hatte das Ansehen des Heiligen Stuhles so gelitten, daß schon Heinrich Raspe, der vom Papst gesegnete Gegenkönig, vom Volk als ›Pfaffenkönig‹ bekämpft worden war. In den Gebieten, in denen die Kirchenfürsten übermächtig waren, erhielt sich die Kraft der Kirche. In der Bevölkerung der anderen Länder aber gärte es bedenklich. Nur wenige Landesherren waren willig, sich der Geistlichkeit in weltlichen Belangen zu fügen. Neue geistige Strömungen machten sich fühlbar. Eine naturwissenschaftliche Neugierde setzte ein. Auch priesterliche Gelehrte bemühten sich, Fühlung mit den Wissenschaftlern fremder Länder zu nehmen. Vermittler zwischen den öffentlich anerkannten oder im geheimen betriebenen Schulen, die in deutschen Städten entstanden, waren auch die Baumeister, die die kirchlichen Gebäude der gotischen Bauart nach mathe224
matischen Gesetzen errichteten und Forschungsergebnisse von Stadt zu Stadt, von Fürstenhof zu Fürstenhof brachten. Das zeitgenössische Skizzenbuch des Baumeisters Villard de Honnecourt, das sich über die Jahrhunderte erhielt, gibt einen deutlichen Überblick über den gedanklichen Fortschritt und die erfinderische Kunstfertigkeit der Jahrzehnte, die als die ›schrecklichen‹ des dreizehnten Jahrhunderts bezeichnet wurden. Tierzeichnungen, die in ihrer Genauigkeit nur durch die Benützung von Vergrößerungslinsen zustande gekommen sein konnten, sorgfältig errechnete Darstellungen der Körpermaße und -verhältnisse beweisen die damalige Kenntnis der höheren Mathematik und der darauf beruhenden Regeln angewandter Mechanik, die in den landläufigen Berichten erst späteren Jahrhunderten zugeschrieben wurden. Waren Villard de Honnecourt und die anderen gelehrten Kenner von Naturgesetzen und Formeln Angehörige geheimer Gesellschaften, die das zeitgenössische Wissen verwalteten und nur ihren Vertrauten mitteilten? Oder waren Kräfte am Werk, den schon erreichten Fortschritt der Mitwelt und so auch der Nachwelt zu verbergen? Nach wie vor oblag die planmäßige Verwaltung des geistigen Lebens vor allem den geistlichen Schulen, deren Leiter aufmerksam darüber wachten, daß nur solche wissenschaftlichen Erkenntnisse verlautbart und verbreitet wurden, die dem Gefüge des Glaubens und den päpstlichen Auslegungen angepaßt werden konnten. Selbst die großen Persönlichkeiten der christlichen Gelehrtenwelt, die auf dem Umweg über die Übersetzungen und Erläuterungen der muselmanischen Philosophen mit den Werken der großen Weisen des vergangenen Griechenlands vertraut geworden waren und sie verarbeiteten, waren gezwungen, ihre Deutungen so zu fassen, daß die Kirche keinen Anstoß daran nahm. Diese Priestergelehrten wurden als Scholastiker bezeichnet. Einer ihrer bedeutendsten Lehrer, Albertus Magnus, schrieb in einem Anfall der Verzweiflung: »Es gibt Unwissende, die die Anwendung der Philosophie mit allen Mitteln bekämpfen möchten, ganz besonders die Franziskaner – blöde Tiere, die das lästern, was sie nicht wissen.« Aber auch Albertus Magnus, der sich nicht nur der Klärung philosophischer Begriffe des Altertums und der christlichen Lehre er225
gab, sondern auch zweckdienlichen naturwissenschaftlichen Versuchen, zwang sich, seine Erkenntnisse der vorgeschriebenen Gottesgelehrtheit einzugliedern. Fast alle seine Schriften waren auf Aristoteles und auf den aristotelischen Auslegungen des muselmanischen Gelehrten Averroes begründet, aber wo immer auch seine Vorläufer im Denken von der christlichen Lehre abwichen, bekämpfte und berichtigte er sie. Albertus Magnus, ein Abkömmling der reichen schwäbischen Grafen von Bollstädt, wurde der Lehrer eines Verwandten Kaiser Friedrichs II. des hochadeligen Thomas von Aquin, der wie er von den Dominikanern erzogen worden war. In seiner Jugend wurde Thomas von Aquin von seinen Freunden ›der große stumme Ochse von Sizilien‹ genannt. Er schien auch so schwerfällig und zerstreut gewesen zu sein, daß seine spätere lebhafte Vielseitigkeit um so erstaunlicher wirkte. Als Schüler des großen Albertus stellte sich auch Thomas die Aufgabe, die aristotelische Philosophie mit der Kirche zu versöhnen und verschrieb sich der Vernunft, sofern sie dem Glauben nicht widersprach. In seinen Schriften, die kaum ein Wissensgebiet unberührt ließen, berief er sich auf die bedeutenden muselmanischen und jüdischen Gelehrten, besonders auf Maimonides, der erklärt hatte, daß der menschliche Verstand Gottes Dasein zwar beweisen, nie aber zur Kenntnis SEINER Wesenseigenheiten gelangen könnte. Thomas nahm wohl die folgerichtige Klarheit seiner andersgläubigen Vorbilder zum Beispiel und beugte sich vor der Gültigkeit der Vernunft, im gleichen Atem aber bekundete er, daß die Dreieinigkeit, die Fleischwerdung und Erlösung Christi und das Jüngste Gericht nicht durch die Vernunft zu belegen seien. Die wichtigsten Werke Thomas von Aquins waren ›De summa philosophica‹, eine Zusammenfassung seiner philosophischen Lehren, die gegen die Heiden gerichtet war, und ›De summa theologica‹, in der er sich an die Christenheit wandte und den katholischen Glauben durch Belegstellen aus der Bibel und durch die Heranziehung der aristotelischen Vernunft zu bestätigen und gegen geistige Angriffe zu verteidigen versuchte. Er schrieb auch über den Staat. In seiner Schrift: ›De re226
gimine principum‹ führte er aus, daß der Mensch, der Vernunft entsprechend, als ›zoon politikon‹ – wie Aristoteles ihn gekennzeichnet hatte – als gesellschaftliches Wesen in der Gemeinschaft mit vielen lebe, da der einzelne sich nicht alles verschaffen könne, was er brauche. Der Staat als vereinigende Gesamtheit ermögliche den Untertanen ein tugendhaftes Leben, die Kirche vermittle ihnen die göttliche Gnade, das höchste Ziel der Tugend. Thomas von Aquin lehrte, daß alle bestehenden Dinge der göttlichen Ordnung unterlägen: Welt und Überwelt, auch die Stufen der gesellschaftlichen Schichtung. Er prägte den Satz: »Es kommt dem Weisen zu, Ordnung zu schaffen.« Er trat dafür ein, daß die Menge besser durch einen beherrscht werde als durch mehrere, aber er beschränkte die Willkür der übermacht. »Der Fürst«, verkündete er, »hat nur so weit Gewalt, Gesetze aufzustellen, insoweit er die Menge in seiner Person vertritt.« Gott war für Thomas von Aquin das Sein an sich. »Ich bin, der ist«, stellte er mit gläubiger Demut fest und predigte, daß es Gott zukomme, die Menschen vorherzubestimmen. Alles unterliege der göttlichen Vorsehung. Die ganze Schöpfung, die von Gott gekommen sei, fließe in IHN zurück. Albertus Magnus, Thomas von Aquin und die anderen Scholastiker bemühten sich, den christlichen Glauben durch die Vernunft zu erklären. Sie warben mit folgerichtigen Beweisen und bestrickenden Beschwörungen um die Gläubigkeit ihrer Zeitgenossen, die sie jedoch verfolgten, wann immer sich ihre Vernunft des Glaubensgewandes entledigte. Die Lehrtätigkeit der Scholastiker beeindruckte nicht nur das geistige und geistliche Leben. Besonders die Schriften Thomas von Aquins hatten politische Wirkung. Seine Lehre von der ›Ordnung‹ der gesellschaftlichen Schichten beeinflußte die Einteilung der Berufsgattungen in eigene Körperschaften, das Zünftewesen. Es gab nur wenige Laienschulen in der christlichen Welt. Die meisten Universitäten, die jeweiligen örtlichen Gemeinschaften der Lehrer und Schüler, unterstanden der Geistlichkeit. Das Wort ›Fakultät‹, das Fähigkeit bedeutete, entstand in der vorbildlichen Universität von Paris, die die Bildungshungrigen Frankreichs und des Deutschen Reiches anzog. Die 227
weltlichen Schüler lebten in ›hospicia‹, in eigenen Herbergen, die geistlichen in den Heimen der Mönchsorden. Es gab vier Fakultäten: Gotteslehre, Kirchenrecht, Medizin und Künste. Die namhafteste Universität, an der auch das Bürgerliche Recht gelehrt wurde, war Bologna. In England errangen die Universitäten von Cambridge und Oxford überragende Bedeutung, aber die englischen Lehrer und Schüler des Bürgerlichen Rechts fühlten sich in der klösterlichen Umgebung der Universitäten beengt. Sie schufen eigene Rechtsschulen in London. Nach einem kurzen Aufenthalt an der Pariser Universität kehrte der junge Engländer Roger Bacon überaus unbefriedigt nach Oxford zurück. Es erschien ihm ›verbrecherisch sinnlos‹, daß die Pariser Lehrer die wahren Wissenschaften um der philosophischen Streitereien willen vernachlässigten. Um der Wahrheit der ›Geheimbücher‹ auf den Grund zu kommen, die er unter Aufwand namhafter Mittel erstand, erlernte er Sprachen und vertiefte sich leidenschaftlich in die Erkenntnisse der Vergangenheit. Wie sehr sie ihn überwältigten, brachte er dadurch zum Ausdruck, daß er, nur um dem christlichen Zeitgeist nicht zu unversöhnlich zu widersprechen, erklärte, daß auch die heidnischen Philosophen der Griechen, Muselmanen und Juden von Gott erfüllt gewesen seien. Der Ruf der Gelehrsamkeit Roger Bacons nahm zu. Er genoß die bis dahin unerhörte Bevorzugung, daß der Papst, Clemens IV. ihm befahl, unverzüglich und geheim ein ordentliches Exemplar seiner Schriften nach Rom zu senden, ›ungeachtet aller Verbote eines Geistlichen oder der Ordenssatzungen‹. Der Heilige Vater wollte die Arbeiten über Vergrößerungsgläser, über die ›Wundergewalt der Kunst und Natur‹ und den ›Überblick über die Naturerscheinungen‹ in allen Einzelheiten kennenlernen und auch das ›Scriptum principale‹, die Hauptschrift Roger Bacons, die alles irdische Wissen in vier Bänden zusammenfassen sollte. Bacon war besorgt, daß Clemens IV. sterben könnte, bevor er sich mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen seiner Zeit vertraut gemacht habe. Er schrieb erst ein ›Opus minus‹, ein kleines Werk, und dann das ›Größere Werk‹, schließlich das ›Dritte Werk‹ und legte den gewaltigen Mengen beschriebener Bögen, die er absandte, eine Linse bei, damit 228
der Papst sich davon überzeugen könne, daß Worte auch Wirklichkeit werden könnten. Weder Clemens IV. noch seine Nachfolger bestätigten den Empfang der gelehrten Sendung. Auch nur wenige zeitgenössische Wissenschaftler nahmen die tatsächlichen Erfindungen und den Niederschlag der geistigen Erscheinungen Roger Bacons zur Kenntnis, nicht die Mischung aus Salpeter, Holzkohle und Schwefel zu einem Pulver, das zerknallen könne und von ›Schwärmern‹ bereits hergestellt worden sei, noch die Abschnitte seiner Schriften, die von der Herstellung von Maschinen berichteten, die Fahrzeuge ›ohne Tiere und doch mit unvergleichlicher Geschwindigkeit vorwärtstreiben könnten‹, oder von Schiffen, die sich ›ohne Räder schneller vorwärts bewegen, als es durch Menschenhand für möglich gehalten wird‹. »Diese Dinge«, schrieb Roger Bacon, »sind in unserer Zeit vollbracht worden, auf daß keiner sie geringschätze oder über sie erstaune. Man kann Flugmaschinen herstellen, in deren Mitte ein Mann sitzt und eine Vorrichtung betätigen kann, und deren künstliche Schwingen sich wie die Flügel eines Vogels bewegen. Man kann auch Maschinen bauen, um im Meer und in den Flüssen gefahrlos auf den Grund zu gehen.« Roger Bacon erklärte auch, daß ›das Meer zwischen der spanischen Westküste und dem Anfang von Indien sich in ganz wenigen Tagen durchsegeln lasse, wenn der Wind günstig ist‹. IX Die in Gelehrtenkreisen leidenschaftlich bekämpfte und zaghaft bekannte Anerkennung der geistigen Vergangenheit des europäischen Raumes hatte zur Folge, daß die Bezeichnung ›Wiedergeburt des Altertums‹ immer häufiger Anwendung fand. Welche Schätze der Wissenschaft und Lebenskunst waren den Völkern in den zerstörerischen Jahrhunderten der Wanderungen verlorengegangen? Hatte die westliche Menschheit einen gewaltigen Rückschritt mitgemacht, während der Fortschritt der islamitischen Welt die philosophischen Erkennt229
nisse Griechenlands und Roms ausgewertet und ausgebaut hatte? Wissenshungrige Forscher suchten nach den Spuren der ungeheuren Bibliothek Alexandrias, die in Flammen aufgegangen war, nach den Resten der zahllosen Bücher der Kalifen und ihrer Gelehrten, die durch die Kriegswirren verstreut worden waren. Es hieß, daß sich in Bagdad die reichsten Schätze an wissenschaftlichen Urkunden und Schriften befänden, die vollkommenste Sammlung alles Geschriebenen und Aufgezeichneten, die von den fürstlichen Buchliebhabern des Islam vereinigt worden sei. In Bagdad herrschten noch die Abassiden. Der gebildete Kalif AlMustasim Billah vertraute auf die Ausstrahlung seines sanftmütigen Wesens. Wer würde ihn auch angreifen wollen, da er selbst sein Leben der Mildtätigkeit und Versöhnlichkeit widmete? Al-Mustasim war von der Friedfertigkeit der Mongolen überzeugt. Was wollten sie mehr? Sie hatten China erobert und nach ihrem Einbruch in den Westen das Reich der ›Goldenen Horde‹ an der Wolga gegründet, dem die russischen Fürsten untertan waren. Hatten sie nicht schon mehr Reiche verschluckt, als sie verdauen konnten? Der Kalif von Bagdad war peinlich berührt, als Hulagu, ein Enkel Dschingis Khans, seine Unterwerfung begehrte. Al-Mustasim berief sich auf den herrschenden Frieden und weigerte sich, seine Truppen zu entlassen. Hulagu belagerte Bagdad und versprach dem Kalifen, daß er ihn mit der gebührenden Milde behandeln werde, wenn er sich ergebe. Der Kalif begab sich mit seinen beiden Söhnen in das Lager der Mongolen. Die letzten Abassiden wurden erst hingerichtet, nachdem Hulagu während einer vierzigtägigen Plünderung achthunderttausend Einwohner Bagdads ermordet und die Bücher der größten Bibliothek der Erde als Zündstoff zur Brandlegung der Stadt verwendet hatte. Der Mongolenfürst, der sich der in Jahrhunderten aufgehäuften Schätze der Abassiden bemächtigte, befahl seinem Unterfeldherrn, weiter nach dem Westen vorzudringen und Syrien zu erobern. Er selbst kehrte nach Karakorum zurück. Die verheerende Sturzflut der Mongolen setzte sich in Bewegung. Ein Jahr vor der Zerstörung Bagdads hatten die Nachkommen Sul230
tan Saladins, des freundlichen Feindes von Richard Löwenherz, ihre Herrschaft an die Mamelucken verloren. Mit dem Namen Mamelucken waren die weißen Sklaven bezeichnet worden, die die Sultane von Damaskus und von Ägypten von den Küsten des Schwarzen Meeres eingeführt hatten, um sie als Leibwachen zu verwenden. Ebenso wie die Seldschucken es getan hatten, machten sich die Mamelucken zu Herren ihrer Herren. In diesem gefährlichen Jahr des neuerlichen Einbruchs der Mongolen in kulturell höherstehende Nachbarländer war der ehemalige Sklave Baibars Befehlshaber des in Ägypten aufgestellten Söldnerheeres. Er warf sich den Mongolen entgegen und schlug sie so vernichtend, daß sie sich entsetzt zurückzogen. Baibars vollendete seinen persönlichen Sieg durch die Ermordung seines Sultans und die Eroberung der christlichen Burgen in Palästina. Der gewalttätige Feldherr, der der eigentliche Begründer der Mameluckenherrschaft über Ägypten und die angrenzenden Länder war, erwies sich als Friedensfürst. Er war, wie es in einem zeitgenössischen christlichen Bericht hieß, ›nüchtern, keusch, gerecht zu seinem Volk und auch freundlich zu christlichen Untertanen‹. Die nachfolgenden Mameluckensultane erfreuten sich keines so guten Rufes. Sie waren wohl prachtliebende Bauherren und begünstigten das Schrifttum und die Wissenschaft, aber sie schienen ihre eigene Abstammung von Sklaven durch die grausame Versklavung der Völker vergessen machen zu wollen. Ein Jahrzehnt vor ihrem Sieg über die Mongolen, die trotz ihrer Niederlage nicht aufhörten, Syrien zu bedrohen, hatten die Mamelucken unter Baibars einen der bedeutendsten Könige des europäischen Raumes besiegt und mit seinem ganzen Heer gefangengenommen. Ludwig IX. der heiliggesprochene König von Frankreich, der nach dem Tode Friedrichs II. der mächtigste Herrscher der christlichen Welt geworden war, hatte die ihm durch Erbschaft und Geschicklichkeit so glücklich gelungene Abrundung der französischen Königsmacht durch einen Kreuzzug krönen wollen. Es war ihm kläglich mißlungen. Er hatte es der schlechten Lage in den Nachbarländern und dem guten Willen des Heiligen Stuhles, dem er sich bei allen Gelegenheiten ergeben zeig231
te, zu verdanken, daß er trotz der mißlungenen Kreuzfahrt als der beste König seiner Zeit gefeiert wurde. Alle kriegerischen Unternehmungen Ludwigs IX. hatten mit versöhnlichen Friedensverhandlungen geendigt. Der als unendlich gütiger Mensch gerühmte König war so gewandt in der Behandlung von Menschen und in der Herbeiführung von Ausgleichen, daß er in seiner Güte beinahe immer zum eigenen Vorteil abschnitt. Seine wohltätigen Unternehmungen, die Gründung von Krankenhäusern, Alters- und Blindenheimen, seine Gewohnheit, täglich hundertzwanzig Arme zu beköstigen, machten ihn volkstümlich. Von der Geistlichkeit Frankreichs wurde ihm besonders hoch angerechnet, daß er ein Heim für reuige Freudenmädchen, die ›filles Dieu‹, ins Leben rief. Er konnte sich die bedeutenden Ausgaben, die er aus Nächstenliebe aufwandte, leisten. Er war durch die Beschlagnahmung des Besitzes verurteilter Ketzer noch reicher geworden als durch den Einzug fälliger Lehen. Seine Rechtschaffenheit war sprichwörtlich. Als den Mamelucken aus Versehen eine geringere Summe als das vereinbarte Lösegeld für ihn bezahlt worden war, zahlte er aus freien Stücken nach. Vielleicht angeregt durch die Wiederbelebung und Ausweitung des Sachsenspiegels, ordnete Ludwig IX. die Sammlung des französischen Gewohnheitsrechtes an, das im wesentlichen auf dem germanischen Gewohnheitsrecht beruhte, und schuf das oberste Hofgericht, das ›Parlament‹ genannt wurde, sich aber von der gleichnamigen englischen Körperschaft dadurch unterschied, daß es nicht eine Ständeversammlung im englischen Sinn war, sondern lediglich der höchsten Verwaltung des Rechtes diente. Der magere König mit dem Engelsgesicht und der anmutigen Haltung wäre am liebsten Franziskaner geworden, um sich ganz und gar dem Gottesdienst widmen zu können. Als es bekannt wurde, daß er oft die braune Mönchskutte anlegte und sich mit kleinen Eisenketten peitschen ließ, nannten ihn boshafte Spötter ›Bruder Ludwig‹. Die tiefe Frömmigkeit, der sich der König ergab, hinderte ihn nicht, mit offenen Augen die große Gelegenheit zu erkennen, die sich seiner Familie darbot. Sein jüngster Bruder, Karl von Anjou, hatte die Erbin der Graf232
schaft Provence geheiratet. Er war tatkräftig und ehrgeizig. Als Papst Urban IV. das Recht für sich in Anspruch nahm, einen päpstlichen Verwalter seiner Lehenshoheit über Sizilien zu ernennen, war Karl von Anjou, auf den die Wahl des Papstes fiel, mit Zustimmung seines Bruders, des heiligen Ludwig, bereit, die staufische Macht ein für allemal zu vernichten. Die Eroberung Siziliens durch französische Truppen erschien dem König von Frankreich um so wichtiger, als er einen Kreuzzug nach dem muselmanischen Tunis plante und sich der Häfen der nahen Insel für den Nachschub vergewissern wollte. Ludwig hatte auch Frieden mit dem König von England geschlossen und die Lehenshuldigung Heinrichs III. für das ihm auf französischem Boden verbleibende Herzogtum Guyenne gnädig entgegengenommen. Er hatte, um seine bevorstehenden Unternehmungen im Mittelmeer ungestört durchführen zu können, auf seine Lehenshoheit über die Grafschaft in Katalonien gegenüber dem König von Aragon verzichtet, dafür allerdings das Aragon lehenspflichtige Languedoc zur freien Verfügung erhalten. Ludwig hatte alle drohenden Gefahren friedlich aus der Welt geschafft. Er konnte den Krieg beginnen. An der Spitze eines französischen Heeres fiel es Karl von Anjou nicht allzu schwer, König Manfred, den unehelichen Sohn Friedrichs II. der von keiner Macht der Erde Hilfe erwarten durfte und vom Heiligen Stuhl verfemt war, Siziliens und der unteritalienischen staufischen Besitzungen zu berauben. Manfred fiel in der Schlacht bei Benevent. Um seinen Onkel zu rächen und das letzte staufische Erbe wiederzuerobern, verließ Konradin, der junge Sohn Konrads IV. Deutschland mit einem ritterlichen Gefolge, dem auch Friedrich von Steiermark angehörte. Die Ankunft Konradins wurde von allen Ghibellinen gefeiert. Eine Welle der Begeisterung schlug ihm entgegen. Der Papst aber ließ einen Kreuzzug gegen ihn predigen. Der Siebzehnjährige war weder den Flüchen der Mönche noch der französischen Übermacht gewachsen. Die dreitausend Ritter, mit denen Konradin über die Alpen gekommen war, wurden von Karl von Anjou geschlagen. Er selbst und sein Freund Friedrich wurden vom neuen König von Sizilien ›wie Räu233
ber verurteilt und hingerichtet‹. Vor der Enthauptung sagte Konradin zu seinem Henker, der davor zurückgescheut sein mochte, einen anerkannten Fürsten hinzurichten: »Ich verzeihe dir, daß du mich tötest.« Nun, da Karl von Anjou König von Neapel und Sizilien war und Tunis dem französischen Zugriff offen zu sein schien, unternahm Ludwig IX. die beabsichtigte Kreuzfahrt. Es war ein sorgfältig vorbereitetes Unternehmen. Aber kurz nach der Ankunft Ludwigs IX. in Tunis erlag der durch Selbstkasteiung geschwächte fromme Eroberer einem Anfall von Ruhr. Die Kreuzfahrt verlief ohne Erfolg, denn der Ehrgeiz seines Nachfolgers, Philipps III. des Kühnen, war auf den europäischen Raum gerichtet. Die einzigen wirklich erfolgreichen Kreuzzüge, von denen allerdings die weite Öffentlichkeit kaum berührt wurde, wurden auf spanischem Boden ausgefochten. Es waren die Kämpfe der ›reconquista‹, der Wiedereroberung der von den muselmanischen Mauren besetzten Gebiete der Iberischen Halbinsel. Eine islamische Festung nach der anderen war gefallen, Cordova, Valencia, Sevilla, Cadix, und der Vater Alfons X. hatte die christliche Grenze bis Granada vorgeschoben und die große Moschee von Sevilla in ein christliches Gotteshaus umgewandelt. Sein junger Nachfolger, Alfons X. der Gegenkönig Richards von Cornwall, liebte das väterliche Erbe. Er konnte sich nicht entschließen, seine Stellung als deutscher König mit Waffengewalt zu behaupten. Er sandte seinen Anhängern Geld, aber blieb in Sevilla. Später wurde er ›der Weise‹ genannt. Von mütterlicher Seite war er ein Verwandter Friedrichs II. und schien die geistigen Neigungen des verstorbenen Vetters zu teilen, zu dessen Nachfolger ihn die staufischen Gefolgsleute machen wollten. Er versammelte Wissenschaftler um sich und schrieb Bücher über seine beliebtesten Zerstreuungen, das Schach- und das Damespiel. Er beauftragte fachkundige Schreiber, eine Weltgeschichte zu verfassen, und gründete eine Schule für Sterndeuter, die die grundlegenden ›Alfonsinischen Tafeln‹ der Himmelskörper und Sternenbahnen zusammenstellten. Er dichtete Lieder und stellte arabische und jüdische Gelehrte an, um Werke des Islams ins Lateinische zu übertragen und die Bi234
bel in die sich formende kastilische Sprache. Alfons hatte eine Vorliebe für alle Wissenschaften mit Ausnahme der Volkswirtschaft. Die Steuererhöhungen und Geldabwertungen, die er vornahm, um seine reiche Lebensführung und seine teuren Neigungen zu ermöglichen, führten dazu, daß er zugunsten seines Sohnes abgesetzt wurde. Sein nächster Nachbar, Jaime, der König von Aragon, war ein vielseitiger Staatsmann. Er hatte sein mit Katalonien vereinigtes Königreich groß gemacht und strebte die Vorherrschaft im westlichen Mittelmeer an. Trotz seiner friedlichen Verhandlungen mit Ludwig IX. war er nicht bereit, die französische Eroberung Siziliens stillschweigend hinzunehmen. Sein Sohn Peter hatte die Tochter Manfreds, des besiegten Königs von Sizilien, geheiratet. Jaime war entschlossen, den Anspruch seines Sohnes zu verfechten. Die kriegerischen Unternehmungen der spanischen Herrscher waren ebenso kostspielig wie ihre friedliche Verschwendung. Die Städte lieferten den Königen die nötigen Mittel. Aber das ging nicht ohne Gegenforderungen vor sich. Die geschäftstüchtigen Bürger, die die Schiffahrt und das Gewerbe beherrschten, begehrten das Selbstverwaltungsrecht ihrer Städte. Sie vereinigten sich zu ›hermandades‹, zu Bruderschaften, die für die bürgerlichen Freiheiten eintraten. Aus diesen durch Volksvertretungen verfochtenen Unabhängigkeitsbestrebungen der Städte erwuchsen die ›cortes‹, die aus Adeligen, Geistlichen und Bürgern zusammengesetzten Verwaltungshöfe, ohne die keine Gesetzgebung erfolgen durfte. Die jährliche Einberufung der ›cortes‹ wurde beschlossen und auch die Einsetzung einer ›junta‹, einem Ausschuß aus den Vertretern aller Stände, der über die Einhaltung der Gesetze und die Ausgaben des Staatsschatzes zu wachen hatte. Die Entwicklung der ›cortes‹ vollzog sich stetig, wenn auch nicht gleichzeitig, sowohl in Aragon als auch in Kastilien. Der Wohlstand beider Königreiche beruhte auf der Tüchtigkeit der Kaufleute, die den Außenhandel betrieben und das Handwerk belebten. Muselmanen und Juden arbeiteten ungestört in ihren Werkstätten und nahmen am geistigen Leben teil, das auch durch die Gründung zahlreicher Universitäten zum Ausdruck kam. 235
Der namhafteste Gelehrte im spanischen Wirkungsbereich war Ramon Lull, der von den Balearischen Inseln stammte und auf Mallorca eine Schule für arabische Gelehrsamkeit gründete. Seine wichtigsten Werke waren: »Das Buch der Betrachtung über Gott«, das ein umfangreiches Nachschlagewerk der Gottesgelehrtheit war, ein erzieherisches Handbuch und ein allgemeines Nachschlagewerk: ›Ein Baum der Wissenschaft‹. X Während sich die zeitgenössischen Könige und hohen Herren der christlichen Welt noch an das althergebrachte politische Mächtespiel verloren und Gebietserweiterungen und Eroberungsmöglichkeiten als das wesentlichste Ziel ihrer Herrschaft gelten ließen, entwickelte sich, besonders in den bürgerlichen Schichten der Bewohner des europäischen Raumes, ein veränderter Wertbegriff. Er trat in dem oft blutig verfochtenen Wunsch der Städte nach Selbstverwaltung und der Bürger nach bürgerlichen Rechten zutage. Handwerker und Kaufleute schlossen sich in Zünften und Gilden zusammen, um nicht der Willkür der Herrschenden ausgeliefert zu sein. Die Gelehrtenwelt strebte, wenn auch ängstlich, nach einer Befreiung von den einengenden Beschränkungen der engstirnigen Verwalter der Kirche, die von der Bedeutsamkeit ihrer Leistung erfüllten Handwerker nach einer Lockerung des ihnen von den fürstlichen Machthabern auferlegten entwürdigenden Zwanges. Sie strebten nach dem besseren Leben, das sie nicht nur im Glauben und im Wirtschaftlichen suchten, sondern auch in einer umfassenden Behauptung ihrer Menschenwürde. Erst konnten nur wenige aufgeklärte Bürger an der Belebung der gelehrten Vergangenheit teilnehmen. Ihre Zahl mehrte sich. Sie waren zum größten Teil von Berufs wegen eigennützige Rechner, die sich vor allem mit dem eigenen Vorteil befaßten. Aber sie bildeten doch einen Stand zwischen den Ständen – eine Schicht zwischen den Königen und adeligen Herren, die alle Rechte für sich 236
beanspruchten, und den nur von wenigen Rechten begünstigten Bauern und Hörigen.
Die Pest an der Grenze der Zeiten I Zwei unmittelbare Gründe veranlaßten die deutschen Kurfürsten, ihre abwartende Haltung aufzugeben. Sie mußten so rasch wie möglich zur Wahl eines ihnen genehmen Königs schreiten, wenn sie die gefährliche Anwartschaft des französischen Königs, Philipps III. des Kühnen, verhindern wollten, der mit der Hilfe Karls, des neuen Königs von Sizilien, und des Heiligen Stuhles auch deutscher König und römischer Kaiser werden wollte. Ein so mächtiges Oberhaupt des Reiches wollten die Kurfürsten nicht. Sie hielten es auch für nötig, den König von Böhmen unverzüglich in seiner Macht zu beschränken, Ottokar II. der die von ihm besetzten babenbergischen Länder mit seinen eigenen zu einem gewaltigen Königreich vereinigt hatte. Keiner der Kurfürsten und hohen Landesherren traute den anderen. Keiner wäre damit einverstanden gewesen, daß einer von ihnen durch die Ausübung der Königsgewalt übermächtiger werde als die anderen. Es genügte schon, daß die Wittelsbacher in der Rheinpfalz und in Bayern herrschten, die Welfen in Braunschweig-Lüneburg, die Askanier in Sachsen-Lauenburg, in Anhalt und Brandenburg, die Wettiner in Hessen-Thüringen. Die Erzbischöfe von Mainz, von Trier und von Köln hatten ihre willkürlichen Erwerbungen gesichert. Sie alle wünschten, einen König zu wählen, der die von den fürstlichen Nutznießern der Zwischenherrschaft geschaffene Ordnung gutheißen und sich von ihnen lenken lassen würde. Während die Kurfürsten nach einem geeigneten Außenseiter für die 237
Krone suchten, trat ein neuer Mann auf den Plan und führte mit einem Schlag zwei Namen in die Geschichte ein: den des Anwärters, den er für den Königsthron vorschlug, und seinen eigenen. Friedrich von Hohenzollern, der Burggraf zu Nürnberg, war im Verhältnis zu seinem ehrgeizigen Vorhaben ein bescheidener Würdenträger. Er hatte kaum genug Geld für die Reisen, die er unternehmen mußte, um bei den hohen Kurfürsten vorzusprechen. Die Anschaffung von hoffähigen Trachten für einen Königmacher und sein standesgemäßes Gefolge kostete mehr, als die Feldarbeit von tausend Hörigen in einer Geschlechterfolge und hundert kleine Raubzüge einbringen konnten. Friedrich von Hohenzollern und sein Mitspieler, Graf Rudolf von Habsburg, legten alle Mittel, die sie auftreiben konnten, zusammen. Als die Ausführung ihres Planes schon beinahe gelungen war, klagte Rudolf: »Mein einziges Geld sind fünf Schillinge schlechter Münze.« Wer war dieser Graf von Habsburg, den Friedrich von Hohenzollern den Kurfürsten mundgerecht machte? Er war im Aargau und im Elsaß begütert. Aber seine Habsburg lag an keiner Hauptverkehrsader. Seine Vorfahren hatten nur unwesentliche Wegzölle eingenommen und selten Gelegenheit gehabt, sich durch die übliche ritterliche Beraubung von Kaufleuten zu bereichern. Die Habsburger waren zur Erhöhung ihres Einkommens auf Zuschüsse angewiesen gewesen. Sie mußten sich um Lehen bewerben und hatten den Herzögen von Schwaben gedient. Ihr Grundbesitz war durch die Gunst der Staufen erweitert worden. Eine Urkunde aus dem Jahre 1245 beweist, daß Graf Rudolf von Habsburg ein Anhänger Friedrichs II. war, den Kirchenbann auf sich nahm und am Hoftag des Kaisers in Verona erschien. Diese von Friedrich II. unterzeichnete Urkunde, die Rudolf als Zeuge unterschrieb, bestätigte dem letzten Babenberger, Friedrich dem Streitbaren, alte Sonderrechte: Der Name Habsburg kam zum erstenmal in Verbindung mit Österreich. Um dieses durch den Tod Friedrichs von Babenberg herrenlos gewordene Herzogtum ging es den Kurfürsten. Sie nahmen nicht zur Kenntnis, daß die österreichischen Stände, die Adeligen und geistlichen Herren, sich an den König von Böhmen gewandt hatten mit der 238
Bitte, daß er Österreich in Besitz nehme und ›mit der gleichen königlichen Gerechtigkeit verwalte wie sein eigenes Reich‹. Ottokar II. der auch Markgraf von Mähren war, nützte die Gelegenheit. Er eignete sich die Herzogtümer Österreich und Steiermark, das Land Krain und die Windische Mark an. Mehrere unabhängige Herzöge in Schlesien und Polen, die Stadt Verona und andere Städte gaben ihre unbequeme Unabhängigkeit auf und begaben sich freiwillig unter den Schutz Ottokars. Seine Zielsetzung ergab sich natürlich: Er wollte ein in sich geschlossenes Reich im Donauraum schaffen. »Einen Fürsten voll männlichen Ernstes von Jugend auf, erfüllt von der Erkenntnis, daß treffliche Taten wahren Adel verleihen«, so schilderte der Abt von Königssahl Ottokar II.: »Er war bemüht, weise zu herrschen, Gesetze und Ordnung im Inneren seines Reiches zu begründen und zu handhaben, aber auch die Grenzen siegreich zu erweitern.« Den ehrenden Beinamen ›Allwegs Mehrer des Reiches‹ verdankte der König von Böhmen einem Feldzug, den er unternahm, ›um Gott und dem Papst zu gefallen‹. Es war der Kreuzzug nach Preußen, in dem Ottokar den deutschen Ordensbrüdern half, die wilden Mischvölker der Samländer und Wenden zu christlichen Deutschen zu machen. Die Stadt Königsberg, das Bollwerk des Deutschtums im Osten, wurde nach ihrem Gründer Ottokar, der ›im Reich ohne König‹ als ›der König‹ schlechtweg bezeichnet wurde, Königsberg genannt. Ottokar war auch Kurfürst. Darüber setzten sich seine hohen Amtsgenossen hinweg, als sie den Grafen von Habsburg zum König wählten. Ottokar wußte, worum es ging, und erhob Einspruch gegen die Wahl. Auch an den Krönungsfeierlichkeiten in Aachen nahm er nicht teil und nicht an dem Krönungsmahl, bei dem ein auf dem Spieß gebratener, mit Wildbret gefüllter Ochse den abwesenden Kurfürsten, den König von Böhmen, versinnbildlichen sollte. Rudolf von Habsburg wurde von den fürstlichen Teilnehmern an der Festlichkeit mit derber Vertraulichkeit versichert, sie würden ihm helfen, den Ochsen samt der schmackhaften Füllung bis auf den letzten Rest zu vertilgen. Die erste königliche Handlung Rudolfs war die Kundmachung: »Es ist Landfriede.« Er fügte mit drohend erhobenem Zeigefinger hinzu: 239
»Wer in den letzten Zeiten Güter und Lehen rechtlos an sich gebracht hat, soll sie alsbald gutwillig zu des Königs und des Reiches Verfügung zurückstellen.« Ein Reichstag ermächtigte Rudolf, den König von Böhmen gefügig zu machen. Ein Reichsheer wurde sorgfältig ausgerüstet und Friedrich von Hohenzollern zu Ottokar gesandt, mit der Aufforderung, die babenbergischen Länder freiwillig aufzugeben, widrigenfalls er der Reichsacht verfalle. Ottokar erwiderte: »Die Länder, welche König Rudolf von mir verlangt, hat er niemals besessen, und er wird sie auch niemals besitzen. Mir aber wurden einige zuteil aufgrund meiner Ehe mit Margarete, der Tochter des Herzogs von Österreich. Andere habe ich durch Kämpfe und Siege erworben und mir botmäßig gemacht. Darum möge Rudolf in den zu seinem Reich gehörenden Ländern herrschen, niemals aber in denen, welche er von mir fordert.« Der Sieg des Reichsheeres auf dem nordöstlich von Wien gelegenen Marchfeld brachte die endgültige Entscheidung. Ottokar wurde auf dem Schlachtfeld von persönlichen Feinden erschlagen. Der neue deutsche König konnte seine Hausmacht begründen. Er belehnte seine Söhne Albrecht und Rudolf mit Österreich und der Steiermark und seinen Verwandten Meinhard von Tirol mit Kärnten und der Krain. Aber die Gründung einer fürstlichen Hausmacht genügte dem Ehrgeiz Rudolfs nicht. Er hatte trotz seiner zur Schau getragenen, beinahe schäbigen Schlichtheit weiterreichende Pläne. Er sorgte mit allem Eifer dafür, daß er durch die Verheiratung seiner Söhne und Töchter in verwandtschaftliche Beziehungen zu den bedeutendsten deutschen Fürstenhäusern trat. Er wurde auch Schwiegervater der Tochter Ottokars und seines Sohnes, Wenzels II. der König von Böhmen blieb.
Die deutschen Fürsten hatten erwartet, daß die ›Eßlust‹ Rudolfs, die sie anläßlich des Krönungsmahles angeregt hatten, durch die Erwerbung der babenbergischen Herzogtümer befriedigt sein würde. Es verstimmte sie, daß ›ihr‹ König das Herzogtum Schwaben wiederherstel240
len und die habsburgischen Besitzungen im Westen des Reiches abrunden wollte. Sie vereitelten die Pläne des ›Nimmersatts‹. Sie ermutigten ihn jedoch, seine Erfahrungen im Dienste des Reiches auszunützen. Der Graf von Habsburg war, wenn auch im kleinen Ausmaß, Raubritter gewesen. Zur Brechung von Raubburgen, die den Landfrieden störten, ließen sie Rudolf freie Hand, während sie seine Versuche, sich in das Weltgeschehen einzuschalten, mit eifersüchtiger Vorsicht überwachten. Rudolf wollte nicht nur König sein, er wollte Kaiser werden. Das hing nicht allein vom Papst ab. Der Einfluß Karls von Anjou, des Königs von Sizilien, auf den Heiligen Stuhl hatte so überhandgenommen, daß selbst Nikolaus III. aus dem uralten Fürstengeschlecht der Orsini, der ein bedeutender Staatsmann war, nicht umhin konnte, Rudolf nahezulegen, das Einverständnis Karls einzuholen, ohne das er seine päpstliche Zustimmung nicht geben wollte. Rudolf verzichtete zugunsten des Kirchenstaates auf die königliche Lehensherrschaft über die Romagna und war bereit, das burgundische Königreich an das Haus Anjou zu verleihen. Alles für die Kaiserkrone. Aber die erkaufte Freundschaft mit Karl, der die letzten Staufen, die ehemaligen Lehensherren Rudolfs von Habsburg, vernichtet hatte, lohnte sich nicht. Papst Nikolaus starb. Während Rudolf sich noch um seinen Nachfolger bemühte, brach ein Aufstand in Sizilien aus, der seine ehrgeizigen Pläne durchkreuzte. Karl von Anjou hatte die Ausbreitung des französischen Einflusses auf sein Königreich und das übrige Italien zu rasch und zu rücksichtslos betrieben. Er wollte in einem Menschenalter alle vergangenen Versäumnisse Frankreichs nachholen und nicht nur die deutsche Herrschaft ersetzen, die durch das Ende Friedrichs II. verlorengegangen war, sondern auch die Wiederherstellung des Römischen Imperiums unter der Oberhoheit seiner Familie. Der neue Papst, der ihm völlig ergeben war, hatte seinem Plan, das byzantinische Kaiserreich zu erobern, zugestimmt und den zum byzantinischen Kaiser erhobenen Feldherrn Michael Palaiologus gebannt, als er sich mit Genua gegen Venedig verbündet hatte. Die Flotte Karls lag zur Ausfahrt nach Byzanz bereit. Seine Truppen waren schon an Bord. In der Stadt Paler241
mo aber hatte ein Franzose eine junge Sizilianerin in aller Öffentlichkeit beleidigt. Der unbedeutende Anlaß entfachte die gegen die französische Besatzung aufgespeicherte Volkswut in den Abendstunden des Ostermontag. Nichts konnte die von Haß gegen die unverschämten Eroberer besessenen Sizilianer aufhalten. Wer Franzose war oder mit Franzosen Freundschaft gehalten hatte, wurde ermordet. Den Frauen, die mit Franzosen gelebt hatten, wurden die Bäuche aufgeschlitzt. Die von Karl von Anjou nach Sizilien verpflanzten französischen Priester und Mönche wurden vor den Altären erschlagen. Der nach dem Glockenläuten des Abendgebets ›Sizilianische Vesper‹ genannte blutige Aufstand setzte der Eroberungsfahrt Karls von Anjou ein Ende. Er ließ seine Flotte nicht in See stechen. Er brauchte seine Truppen im Bürgerkrieg. Im Hafen von Barcelona aber wartete Peter III. von Aragon, der Schwiegersohn Manfreds von Sizilien, abfahrbereit auf den Hilferuf der Sizilianer. Während Karl schwor, eine tausendjährige Rache für die mörderische Vesper zu nehmen und Sizilien in einen verfluchten, kahlen, unbewohnten Felsen zu verwandeln, landete Peter und nahm die Insel für sein Königshaus in Besitz.
Der letzte Abkömmling der Staufen, Enzio von Sardinien, war in Bologna in der Gefangenschaft gestorben. Aber der Kampf der Ghibellinen und Guelfen, der ehemaligen Anhänger der staufischen Kaiser und der ihnen feindlichen Päpste, hielt unverändert an. In Mailand ergriff das Geschlecht der Visconti die Macht. Sie wurden als militärische Anführer anerkannt und gebrauchten den Titel ›dux‹ – Herzog. Der Wettbewerb zwischen dem guelfischen Siena und dem ghibellinischen Florenz war noch unentschieden. Das Bankhaus Buonsignori von Siena war durch seine Darlehen an Könige und Päpste so bedeutend geworden, daß die florentinischen Kaufherren nichts unterließen, um die sienesischen Geschäftsverbindungen an sich zu reißen. Politische Anhänglichkeiten waren eine Frage zweiter Ordnung. Die florentinischen Medici hatten auf Karl von Anjou gesetzt und ihm einen gewaltigen 242
Betrag geliehen, gegen das Recht, in seinem Königreich Münzen zu prägen und sein Heer mit Waffen und Nachschub zu beliefern. Würden sie zu Mitverlierern werden, wenn Karl Sizilien verlor? Oder würde ihnen im letzten Augenblick eine neue politische Wendung mit Hilfe ausländischer Mitspieler gelingen? Die großen italienischen Städte machten ihre geschäftlichen und politischen Entscheidungen von der Papstnachfolge abhängig. Sie mußten voraussehen oder wissen, welche Seite der neue Papst bevorzugte, bevor sie selbst sich banden und, wenn nötig, mit ihren Gegnern gegen neue Gegner verbanden. Die Kämpfe der italienischen Städte gegeneinander gingen nur noch um Geld, um den Vorsprung in der Anknüpfung von Bankverbindungen und der Errichtung von Handelsniederlassungen. Aber die aufgeregten bewaffneten Adeligen und Bürger, die einander innerhalb der Städte bekämpften, schrien noch immer: »Hie Ghibellinen!« – »Hie Guelfen!« Die mit Waren beladenen Kriegsschiffe Venedigs und Genuas durchkreuzten das Meer und glichen oft mit den Waffen die Vorteile in den Geschäften aus, die die einen gegen die anderen errangen. Wie weit Rudolf von Habsburg von der Unruhe der Ereignisse in Italien als Staatsmann berührt wurde, steht nicht fest. Gewiß ist, daß er eigensinnig hoffte, in Rom zum Kaiser gekrönt zu werden. Sein Lebenswunsch erfüllte sich nicht. Ein Reichstag in Würzburg lehnte die Zehntforderungen des neuen Papstes, Honorius IV. stürmisch ab. Vom Heiligen Stuhl konnte der deutsche König jetzt keine Gunst erwarten. Der erste gekrönte Habsburger mußte auf die Kaiserwürde verzichten und sich darauf beschränken, das Ansehen seines Hauses durch eheliche Verbindungen zu erhöhen. Als Rudolf von Habsburg starb, wählten die Kurfürsten nicht seinen Sohn Albrecht zum Nachfolger. Der Erzbischof von Mainz setzte die Wahl eines ihm verwandten Grafen zum König durch. Diesem Adolf von Nassau war es nicht, wie Rudolf, beschieden, eine Hausmacht zu gründen. Er kam auch nie zu dem ersehnten Vermögen, wenn er auch namhafte Bestechungen vom König von Frankreich empfing, dem er die Nichtbeteiligung des Deutschen Reiches in einem Krieg Frankreichs gegen England versprach, obwohl er ein Bündnis mit dem Kö243
nig von England gegen Frankreich geschlossen hatte. Als sich endlich, endlich eine Möglichkeit für König Adolf bot, persönlichen Landbesitz zu erwerben, nahm es ihm sein kurfürstlicher Verwandter in Mainz übel. Die Meißener Linie der Wettiner war ausgestorben. Adolf hatte die Markgrafschaft Meißen als erledigtes Reichslehen eingezogen und versuchte überdies, die Nachfolge in Thüringen durch Kauf zu erwerben. Das war gegen die Belange des Erzbischofs von Mainz. Er berief eine Kurfürstenversammlung ein und setzte Adolf ab. Albrecht I. von Österreich hatte nur auf eine so gute Gelegenheit gewartet. Er zog mit seinem Heer heran und wurde der Königserbe Adolfs, der in der Schlacht am Donnersberg gegen ihn fiel. Die Kurfürsten, die Albrecht zum deutschen König erwählten, hatten gehofft, daß der zweite Habsburger auf dem Thron, durch das Schicksal Adolfs von Nassau gewarnt, ein ebenso williges Werkzeug in ihren Händen sein werde, wie König Rudolf es schließlich geworden war. Albrecht machte ihnen einen Strich durch die Rechnung. Er betrachtete die Welt nicht mehr aus der Sicht der Warte der Habsburg, von der aus der Burgherr Ausschau gehalten hatte, ob es in der Umgebung ›etwas zu rauben‹ gäbe. Der neue König hatte Gelegenheit gehabt, sich zum Staatsmann zu erziehen. Er kam nahe daran, die Kurfürsten, die ihn lenken wollten, zu entmachten und sich selbst eine so überlegene Stellung zu schaffen, wie sie die Staufen in ihrer Glanzzeit innegehabt hatten. Albrecht hatte das Herzogtum Österreich von seinem Vater zum Lehen erhalten und verwaltete das Erbe seines unmündigen Neffen Johann, des Sohnes seines verstorbenen Bruders Rudolf. Mit dieser verhältnismäßig schwachen Hausmacht im Rücken mußte er um so vorsichtiger sein, als Papst Bonifatius VIII. seine Königswahl nicht anerkennen wollte. Die landläufige Warnung der Zeit ›Der Papst hat tausend Ohren‹, unterschätzte die Zahl. Der Papst hatte an jedem Fürstenhof, in jeder Stadt und Burg und in allen Dörfern Berichterstatter, die ihm über die Gesinnung und Absichten jedes Christen unterrichten konnten, wann immer er es wünschte. Bonifatius VIII. schätzte Albrecht richtig ein und warnte die angeheirateten fürstlichen Verwand244
ten des Habsburgers in Bayern, Sachsen und Brandenburg vor seinem Ehrgeiz. Die geistlichen Kurfürsten schlossen ein Bündnis gegen den von ihnen erwählten König, noch bevor sie Grund und Anlaß hatten, sich über ihn zu beklagen. Albrecht traf Gegenmaßnahmen. Er hielt für seinen ältesten Sohn um die Hand einer französischen Prinzessin an und bat Philipp IV. den Schönen, um seine Hilfe gegen den Papst. Philipp war jedes Bündnis recht, das ihm Gelegenheit gab, seine königliche Überlegenheit, die er schon in der Niederhaltung des hohen Adels bewiesen hatte, auch die hohe Geistlichkeit fühlen zu lassen. Er nahm die Werbung Albrechts an und besiegelte den bevorstehenden Familienbund durch ein Bündnis der Familien gegen den Heiligen Stuhl. Das Übereinkommen der beiden Könige war kaum bekannt, als Bonifatius VIII. der ›hochgemute Sünder‹, es unternahm, den Versuch Albrechts und Philipps, die irdische Übermacht des Heiligen Stuhles anzuzweifeln, durch eine päpstliche Kundmachung im Keim zu ersticken. Es war eine sorgfältig ausgearbeitete Bulle, die die Überschrift Unam Sanctam, die ›einzige Heilige‹, trug und die Welt wissen lassen sollte, daß der Papst als der Oberherr der einzig geheiligten Kirche Christi auch der Inhaber der höchsten weltlichen Gewalt sei und alle Könige und Fürsten nach seinem Ermessen ein- und absetzen könne. Angesichts einer Bildsäule, die ihn selbst darstellte, verkündete Bonifatius VIII.: »Wir erklären, daß aus Notwendigkeit des Heils dem römischen Papst jede menschliche Kreatur unterworfen ist.« Albrecht ließ sich nicht einschüchtern. In Rom verteidigten die Angehörigen der Familie Colonna seine Belange gegen das dem Papst nahestehende Geschlecht der Orsini. Dort brauchte Albrecht fürs erste nicht selbst einzugreifen. Im Deutschen Reich waren die geistlichen Kurfürsten gegen ihn. Er strafte sie, indem er das Recht der Bischöfe, die Rheinzölle einzuheben, an die am Flußbett gelegenen Städte übertrug. Albrecht spielte nicht nur die Städte des Rheinlands gegen die weltlichen und geistlichen Kurfürsten aus, um sie zu zwingen, sich mit ihm gut zu stellen. Er spielte auch den König von Frankreich gegen den Papst aus, um sich mit ihm zu versöhnen. Das gro245
ße Spiel des zweiten gekrönten Habsburgers schien sich zu bewähren. Der Papst suchte Hilfe bei ihm gegen Philipp IV. und versprach Albrecht die Kaiserkrone, um den ›Hochmut der Gallier‹ zu strafen. Aber der schöne König von Frankreich handelte rascher. Als der Papst den Kirchenbann über ihn verhängte, ließ Philipp Bonifatius VIII. kurzerhand gefangennehmen. Der Papst überlebte die Demütigung nicht lange. Sein Nachfolger, Benedikt XI. hatte den Heiligen Stuhl nur ein Jahr inne. Ihm folgte als Papst Clemens V. ein Gefolgsmann Philipps, der ebenso geldgierig wie sittenlos war und den vergnüglichen Aufenthalt in Frankreich der bedrohlichen Unsicherheit Roms vorzog. Er war der erste Papst, der sich in Avignon niederließ. Er wurde der Begründer des Avignonesischen Papsttums, der ›Babylonischen Gefangenschaft‹ der Kirche. An diesem Geschehen hatte Albrecht I. nur oberflächlichen Anteil. Seine Aufmerksamkeit war notgedrungenermaßen an den Norden und Osten Österreichs gebunden. Unter Wenzel II. hatte sich das Königreich Böhmen wieder erholt. Dem würdigen Sohn seines Vaters war es gelungen, auch die Krone Polens zu erwerben. Da das ungarische Königsgeschlecht der Arpaden ausgestorben war, strebte er nach dem Thron Ungarns. Die Gesundheit Wenzels war schlecht. Auch der Sohn, den ihm Gutta von Habsburg, die Schwester Albrechts, geboren hatte, kränkelte. Albrecht hatte allen Grund zu hoffen, daß er Böhmen nach dem Aussterben der Przemysliden, auf sein Recht als römischer König pochend, als freigewordenes Reichslehen würde einziehen können. Aber was würde geschehen, wenn Wenzel nicht freiwillig und rechtzeitig starb? Wenn er auch noch Ungarn gewann, würde er unbesiegbar sein. Albrecht berief sich auf die Bulle Unam Sanctam, durch die er gemaßregelt worden war, denn Bonifatius VIII. hatte, in seiner beanspruchten Eigenschaft als Oberherr aller Könige, Karl Robert von Anjou als den rechtmäßigen Nachfolger der Arpaden erklärt. Albrecht entwickelte verwandtschaftliche Gefühle. Karl Robert von Anjou war sein Neffe – Wenzel war zwar sein Schwager, aber die Reichsfürsten, denen Albrecht Teile der Königreiche Böhmen und Polen versprach, schlossen auf seine Veranlassung einen Bund gegen Wenzel. Albrecht 246
konnte sich zu diesem Erfolg beglückwünschen. Bis zu diesem Zeitpunkt waren alle Fürsten gegen ihn gewesen, jetzt hatte er sie endlich so weit, daß sie für seine Ziele kämpften. Aber die böhmische Armee war siegreich und ertränkte den Plan Albrechts in Blut. Alle seine Mühe war vergeblich gewesen. Da starb, ein halbes Jahr später, Wenzel II. ein Jahr darauf sein junger Sohn Wenzel III. Albrecht stieß auf keinen nennenswerten Widerstand, als er seinen ältesten Sohn Rudolf in Prag zum König krönen ließ. Die Oberherrschaft über Ungarn glaubte er durch seinen Neffen Karl Robert von Anjou, der König von Ungarn wurde, gesichert zu haben. Die Kränklichkeit der Przemysliden war Albrecht zugute gekommen. Die plötzliche tödliche Erkrankung seines Sohnes Rudolf zwang ihn, von neuem zu planen. Der rechtmäßige Erbe Wenzels III. wäre Johann, der Neffe Albrechts, gewesen. Er war der Sohn der letzten überlebenden Tochter Ottokars. Er forderte von seinem Onkel die Herausgabe der Steiermark und seine Erhebung zum König von Böhmen. Nach dem Tode seines Sohnes hatte sich Albrecht in die Schweiz begeben. Es trieb ihn in die Nähe der Habsburg, als könnte er an der Stätte seiner Geburt neue Kräfte sammeln, um nach dem harten Schicksalsschlag wiederaufzubauen. Er wollte auch nach dem Rechten sehen und persönlich untersuchen, was der ›Ewige Bund‹ der drei Waldorte, Uri, Schwyz und Unterwalden, bedeutete. Sie hatten sich zugeschworen, ihre Freiheit gegen jede Gewalt zu schützen. Die Auflehnung der Eidgenossen war dichterisch ausgeschmückt. Sie hatten kein bestehendes Recht verletzt. Albrecht griff nicht ein. Er hatte bedeutsamere Fragen zu erledigen. Welchen seiner vier Söhne, die ihm übriggeblieben waren, sollte er zu seinem Erben heranziehen? Die Möglichkeit, seinem Neffen Johann die Krone Böhmens zu geben, schloß er von vorneherein aus. Die Mutter Johanns hatte ihn mit slawischen Wiegenliedern in den Schlaf gesungen. Sie war das Lieblingskind Ottokars II. gewesen. In ihrem Haß gegen die Familie, die ihrem Vater das Leben, die Macht und den guten Ruf geraubt hatte, veranlaßte sie Johann, in die Schweiz zu reiten, damit er zwischen Albrecht und sich klare Verhältnisse schaffe. Der König lehnte eine Aussprache ab. Aber als er am 247
nächsten Morgen allein ausritt, lauerte ihm Johann auf und stieß ihm das Schwert in die Brust.
Noch einmal versuchte ein König von Frankreich, die deutsche Krone für sein Haus zu gewinnen. Philipp der Schöne betrieb die Wahl seines Bruders, Karls von Valois. Er gewann einen ausgezeichneten Ratgeber in der Person Peter Aichspalters, des neuen Erzbischofs von Mainz, des ehemaligen Leibarztes Wenzels II. von Böhmen, der den Habsburgern tödliche Feindschaft geschworen hatte. Unter keinen Umständen sollte ein Angehöriger dieser von ihm gehaßten Familie Nachfolger Albrechts werden. »Lieber ein Franzose als ein Habsburger«, war die Losung des Erzbischofs. Aber die weltlichen Kurfürsten schreckten vor dem französischen Übergewicht zurück. Sie waren dem Vorschlag des Erzbischofs von Trier zugänglich, der seinen Bruder, den Grafen Heinrich von Luxemburg, anpries. Heinrich war in Paris erzogen worden. Seine Wahl zum deutschen König war dem König von Frankreich als Zwischenlösung genehm. Clemens V. gab seinen päpstlichen Segen und versprach, den von einem Tag zum nächsten so hoch erhobenen Heinrich zum Kaiser zu krönen. Der Graf von Luxemburg hatte vom Grafen von Habsburg gelernt, wie ein König eine Hausmacht begründet. Er verheiratete seinen Sohn Johann mit der letzten Enkelin Ottokars. Statt der Erben Rudolfs setzten sich die Luxemburger die Wenzelskrone aufs Haupt. Heinrich VII. nahm nicht zur Kenntnis, daß es schon einen König Heinrich VII. gegeben hatte. Er erkannte den von seinem Vater abgesetzten Sohn Kaiser Friedrichs II. nicht als Vorgänger an. Er bestand aus Aberglauben auf der Zahl Sieben. Er herrschte nicht lange. Seine denkwürdigste Handlung war ein Zug nach Italien, der von den Ghibellinen mit Jubel begrüßt wurde. Dante Alighieri, dessen gewaltige dichterische Einbildungskraft die Geheimnisse der jenseitigen Welt in der ›Göttlichen Komödie‹ durchleuchtet hatte, verfaßte eine an die Fürsten und Völker 248
Italiens gerichtete Schrift, in der er die Ankunft Heinrichs als den Beginn des Goldenen Zeitalters pries. War der Wunsch Dantes, daß das zerspaltene Italien wieder geeinigt werde, der Vater seines begeisterten Gedankens? Wollte er die hoffnungslos zerfallene irdische Welt durch einen gerechten Kaiser in Ordnung bringen, damit der blutige Bruderzwist in Italien ein Ende finde? Heinrich war tatsächlich gekommen, um die Zwistigkeiten zu schlichten. Aber es gelang ihm nicht. Er wurde zwar mit der eisernen Krone zum König der Lombarden gekrönt und in Genua und Pisa freudig begrüßt, aber in Rom versagte er. Der Nachfolger Karls von Anjou, der sich König von Neapel nannte, hatte die Peterskirche mit seinen Truppen besetzt. Heinrich mußte sich mit der Krönung zum Kaiser in der Laterankirche begnügen. Er wollte die kaiserliche Herrschaft beweisen und verbündete sich mit Friedrich III. dem König von Sizilien, dem jüngeren Sohn Peters, gegen Robert von Neapel. Ein Krieg war gegen die Belange des Papstes. Dennoch setzte Heinrich seine Rüstungen unentwegt fort. Ein Sonnenstich des heißen Sommers tötete ihn. II Nach der Eroberung von Byzanz durch die venezianische Flotte hatte sich unter der Herrschaft der aufeinanderfolgenden schwachen Kaiser des byzantinischen Reiches auf europäischem Boden nur eine Macht kräftig behauptet: Die Großkaufleute von Venedig, die ihre Niederlassungen in Byzanz unterhielten und ausbauten. Sie waren weitblickende Unternehmer, die den Ursprung der Waren, mit denen sie handelten, kennenlernen und vermutlich auch Zwischenhändler ausschalten wollten. Marco Polo, der junge Nachkomme eines dieser Geschlechter, die lieber Handel trieben, als Kriege führten, begleitete seinen Vater und seinen Onkel auf einer Geschäftsreise in das ferne Asien. Es war der zweite Versuch Niccoló Polos, ferne Möglichkeiten auszuforschen. Er hatte sich mit seinem Bruder Maffeo drei Jahre lang im ehemaligen Kalifat von Buchara aufgehalten und war an den Hof des mongo249
lischen Kublai Khan nach Shang-tu vorgedrungen. Kublai Khan war nicht nur der Großherr der Mongolen, er war auch Kaiser von China geworden. Schon Dschingis Khan hatte Peking erobert. Aber in wenigen Menschenaltern hatten sich seine wilden Reiter in seßhafte Bauern verwandelt. Die ausstrahlende Kraft der höheren Lebensführung hatte die mongolischen Eroberer überwältigt. Sie genossen die verfeinerte Art des Daseins in China. Sie wurden friedlich, da sie keinen Grund mehr hatten, kriegerisch zu sein. Sie fügten sich der in Jahrtausenden geschaffenen geistigen und weltlichen Ordnung und benützten sie zu ihrem Vorteil. Als Kublai Khan den Vater Marco Polos und dessen Bruder empfing, wollte der Oberherr des Morgenlandes vor allem wissen, wer der oberste Herr des Abendlandes sei. Als guter Christ und papsttreuer Venezianer erwiderte Niccoló: »Der Heilige Vater in Rom.« Kublai Khan wußte Bescheid über Mohammed. Er duldete den Islam in seinem Weltreich, um so mehr, als die Muselmanen sich nicht nur in den von seinen Vorfahren eroberten Ländern, sondern auch in seinen neuen Herrschaftsgebieten als staatstreue und erwerbstüchtige Untertanen erwiesen hatten. Dem Beherrscher so vieler Länder war es zuwider, eines oder das andere seiner Völker wegen seines Aussehens, seiner körperlichen Beschaffenheit oder seines Glaubens zu unterdrücken. Er war der Großherr aller, er wollte das Beste für alle. Vielleicht konnte der christliche Glaube ihm und seinen Völkern zum Vorteil gereichen. So beauftragte er Niccoló Polo, den Papst seinen guten Willen wissen zu lassen. Drei Jahre dauerte die Heimreise Niccoló Polos nach Venedig. Clemens IV. zu dem er Zutritt gehabt hätte, lebte nicht mehr. Der neue Papst, Gregor X. war von dem Gedanken besessen, einen neuen Kreuzzug zuwege zu bringen. Er hatte keinen Sinn für den so fernen Osten und kein Verständnis für ein freundschaftliches Einverständnis mit einem mongolischen Herrscher. Niccoló Polo kehrte in Begleitung seines Bruders und seines Sohnes Marco nach China zurück. Diese Reise durch Asien und seinen siebzehnjährigen Aufenthalt am Hofe Kublai Khans schilderte der heimgekehrte Marco Polo in einem Buch, das er 250
als Kriegsgefangener nach einem unbedeutenden örtlichen Feldzug einem Mitgefangenen in die Feder diktierte. Nur wenige Leser glaubten, daß die fabelhaften Erzählungen Marco Polos auf Wahrheit beruhten. Mit dem Begriff von Mongolen und Chinesen verband sich im europäischen Raum die Vorstellung von urzuständlichen Reitern und Höhlenbewohnern. Der Prunk der Hofhaltung des Groß-Khans der Mongolen und Kaisers von China wurde als Erfindung gewertet. Es konnte doch nicht wahr sein, daß seine halbwilden Untertanen in prachtvollen Palästen und Häusern lebten. Auch nicht, daß sich das chinesische Handwerk zum Großgewerbe entwickelt hatte und daß in den Werkstätten mit erprobten Maßnahmen Waren in ungeheuren Mengen erzeugt werden konnten. War es glaubhaft, daß auch die Kunst und Lebensform wirklich so entwickelt waren, wie Marco Polo es schilderte? Lebten die gelbhäutigen Menschen nach menschenfreundlichen Grundsätzen miteinander, geleitet von der Weisheit ihrer Denker, so, wie die Angehörigen der christlichen Welt es gewünscht hätten? Duldete jeder den nächsten, auch wenn er verschiedenen Glaubens und anderer Gesinnung war? Daß Marco Polo auch von willkürlichen grausamen Handlungen und Gewalttaten erzählte und daß er nicht alles, was er erlebt hatte, im rosigsten Licht erscheinen ließ, kam der Glaubwürdigkeit seines Berichtes zugute. Die Kaufleute, die gewohnt waren, Wechsel aufeinander zu ziehen, verstanden, daß in China bedrucktes Papier den Wert des Geldes haben könne. Fortschrittliche Gelehrte und die gebildeten Baumeister leugneten nicht die Möglichkeit der Erfindungen, die in China gemacht worden waren. Es war richtig: gewisse Stoffe konnten zu einem Pulver verbunden werden, das, von Funken berührt, eine ungeahnte Kraft auslösen konnte! Die Kenntnisse und Erkenntnisse Roger Bacons und seiner Anhänger waren durch die behüteten Mauern der Kloster- und Laienschulen gedrungen. Wer nicht mit eigenen Augen gesehen hatte, was möglich war, durfte es nicht als unmöglich bezeichnen. Die geistige Neugierde wuchs. Die Kaufleute, welche die von Marco Polo mitgebrachten Schätze als echt und wirklich erkennen mußten, wurden ihrerseits angeregt, den Handelsverkehr mit dem inneren Asien und mit 251
China anzubahnen. Die Begriffe von der Begrenzung der Erdoberfläche verschoben sich. Es gab nicht nur China, es gab auch das ungeheure Indien, in dem sich eine neue Weltanschauung und ein neuer Glaube geformt hatten. Der Buddhismus war einer andersgearteten gläubigen Lebensanschauung gewichen, dem Hinduismus, dessen Anhänger sich den Brahmanen, den Vermittlern der Gottheiten, freiwillig unterordneten. Der Wesensinhalt des Hinduismus gipfelte in dem Spruch: »Das ganze Weltall ist den Göttern untertan. Die Götter sind den Beschwörungen untertan und die Beschwörungen den Brahmanen. Daher sind die Brahmanen unsere Götter.« Auch die Lehren Mohammeds waren in Indien eingedrungen. Es war nicht in einem heiligen Krieg des Islam geschehen. Zahlreiche Muselmanen hatten sich vor dem Ansturm der Mongolen in die Ferne geflüchtet und friedliche Ansiedlungen gesucht. Was hatten die Völker Europas von diesen im ungeheuren Asien so verschieden lebenden fernen Völkern zu erwarten? Was zu befürchten? Ein seltsames Bollwerk zwischen den beiden Erdteilen entstand durch die Gründung eines neuen gewaltigen Reiches. Der Häuptling einer türkischen Nomadenhorde, namens Osman, hatte sich die Familienfehden der seldschukischen Kalifen, die durch die Mongolenangriffe geschwächt worden waren, zunutze gemacht und hatte mit seinen Kriegern, die sich ›ghazis‹, Glaubenskämpfer, nannten, die Reste der ehemaligen muselmanischen Kalifate in einem Reich vereinigt. Er nahm die alte mohammedanische Überlieferung wieder auf. Ihm und seinen Nachfolgern, die die Truppe der Janitscharen aus Knaben unterworfener christlicher Völker bildeten, gelang die Eroberung Kleinasiens und die erste Besetzung europäischen Bodens durch den Islam. III Der Gesichtskreis der gekrönten Machthaber im europäischen Raum wurde weder durch die anregenden noch durch die bedrohlichen 252
Nachrichten aus dem Nahen und Fernen Osten erweitert. Wenige Könige und fürstliche Landesherren sahen über die Grenzen ihrer Hoheitsgebiete hinaus. Wenn sie es doch taten, geschah es nur, wenn es zu ihrem unmittelbaren, kurzsichtigen Vorteil war. Ein abschreckendes Beispiel dieser machthungrigen Herrscher war Philipp IV. der Schöne, unter dem Frankreich zur stärksten Macht Europas wurde. Er verbarg sein verwickeltes, gerissenes Wesen und seine habgierige Rücksichtslosigkeit hinter der Maske der Schönheit seines Gesichts. Er begünstigte an seinem Hof eine neue Art von Rechtsberatern, die Legisten, die ihm halfen, den selbstbewußten Adel und die unabhängige Geistlichkeit unter Berufung auf gesetzliche Maßnahmen gefügig zu machen. Sie ergänzten das Königsrecht durch das römische Recht, wenn es der Königsgewalt zugute kam, und arbeiteten neue Steuern aus, um die immerwährenden Geldnöte Philipps des Schönen zu lindern. Philipp der Schöne verbannte die Juden und die lombardischen Kaufleute, um ihren Besitz beschlagnahmen zu können, und scheute auch nicht davor zurück, die reichste Körperschaft, den Templerorden, in einem durch falsche Zeugen beeinflußten Gerichtsverfahren zu vernichten. Die Tempelritter hatten sowohl ihren eigenen ursprünglichen Besitz als auch die beträchtliche Beute ihrer Kriegszüge in den gemeinsamen Schatz eingebracht. Sie waren in friedlichen Zeiten erfolgreiche Nachahmer der geschäftlichen Unternehmungslust der adeligen Kaufherren von Genua und Venedig gewesen. Ein großer Teil der Vermögenschaften des Ordens war in sorgfältig gepflegten Ländereien angelegt. Die Templer besaßen Werften und Schiffe, Häfen und Häuser. Philipp IV. klagte den Großmeister des Ordens und seine Ritter des Hochverrates und der Ketzerei an. Der Papst, der in Avignon hofhielt, billigte das Urteil, das die Templer zum Tode auf dem Scheiterhaufen verdammte. Der Orden wurde ausgetilgt. Vierundfünfzig Ritter wurden vor den Mauern von Paris verbrannt. Das Ziel Philipps war erreicht. Er zog das gesamte Vermögen des Templerordens ein. Es blieb doch ein peinlicher Nachgeschmack. Der schöne König konnte nicht vergessen, daß der Großmeister des Templerordens in den Flammen verkündet hatte, daß sein Verfolger verdammt sei, ihm in Jahres253
frist in den Tod zu folgen. Der Fluch wirkte. Philipp, der sein Königreich durch Heiratsverträge und Kauf abgerundet hatte, blieb tatsächlich nur ein einziges, sorgenbeschwertes Jahr, sich der neuen Güter zu erfreuen. Er starb plötzlich. Seine drei Söhne, die einer dem anderen auf dem Thron folgten, überlebten ihn nicht lange. Die Legisten, die durch seine Gunst groß geworden waren, verhinderten die Thronbesteigung der Königstochter. Sie beriefen sich auf das alte salische Erbfolgerecht, demzufolge der nächste männliche Verwandte der Kapetinger, Philipp von Valois, zum rechtmäßigen König von Frankreich erklärt wurde. Gegen ihn erhob Eduard III. von England, Sohn einer Tochter Philipps IV. Anspruch auf den französischen Thron und löste den mehr als Hundertjährigen Krieg zwischen Frankreich und England aus. Auch innerhalb des Deutschen Reiches ging der Wettbewerb der Fürsten um die Herrschaft nicht friedlich vor sich. Während die fortschrittlichen Bürger der aufstrebenden deutschen Städte unermüdlich in harter, gewissenhafter Arbeit für die Vermehrung ihres Wohlstandes und für die Verbesserung ihrer Lebensformen tätig waren und als Kaufleute immer weiter reichende Handelsniederlassungen errichteten, während deutsche Bauernfamilien dem Lauf der Donau entlang zogen und Siedlungen schufen, die auch zu Handelsumschlagplätzen wurden, verhielten sich die deutschen Landesherren und Adeligen unentwegt so, als hätte die Zeit stillgestanden. Sie bekämpften einander in glänzender Wehr mit Lanzen und Schwertern, sie warfen sich in selbstbewußter Überlegenheit in die gepanzerte Brust und nahmen nicht zur Kenntnis, daß das Pulver auch im europäischen Raum endgültig erfunden worden war. Die Ausbreitung der gefährlichen Formel, die die Art der Kriegführung so entscheidend ändern sollte, wurde in der geläufigen Überlieferung dem Breisgauer Mönch Berthold Schwarz zugeschrieben. Die Engländer verwendeten die vernichtenden ›Feuerrohre‹ zum erstenmal in ihren Kämpfen auf französischem Boden. Das geschah etwa drei Jahrzehnte, nachdem sich die deutschen Kurfürsten in gewohnter Zwietracht zur Wahl eines Nachfolgers Heinrichs 254
VII. vereinigt hatten. Johann, der Sohn des so unvermutet dahingegangenen ersten luxemburgischen Kaisers, wurde vorweg übergangen. Er wurde wohl König von Böhmen. Dafür sorgten die der Familie ergebenen Erzbischöfe von Trier und Mainz, aber die Wahl drei anderer Kurfürsten fiel auf Friedrich von Österreich, den Sohn Albrechts I. Vierundzwanzig Stunden galt Friedrich als unbestrittener deutscher König. Am nächsten Tag wählten die Anhänger der luxemburgischen Familie einen Gegenkönig, Ludwig IV. von Bayern. Der einzige Wittelsbacher auf dem deutschen Thron war im ersten Jahr seiner Herrschaft von Glück begünstigt. Er brauchte nichts dazu zu tun. Sein Gegenkönig Friedrich schickte seinen Bruder aus, um den ›Ewigen Bund‹ der Schweizer Waldstätten zu brechen. Leopold I. von Österreich machte sich mit einem prächtig ausgerüsteten Heer geharnischter Ritter siegesgewiß auf den Weg, am Ufer des Ägerisees entlang in die Richtung von Morgarten. Als die adeligen Herren am Paß angelangt waren, schienen sich die Berge ringsum zu bewegen. Mühselig gelockerte Felstrümmer stürzten auf die ausweichenden Reiterscharen herab. Sie wurden von den Eidgenossen überfallen und niedergemacht. Mit knapper Not entkam Leopold I. Der Gegenkönig seines Bruders besiegelte den ›Ewigen Bund‹. Die Waldstätten erhielten Freiheitsbriefe, die sie reichsunmittelbar machten. Noch unglücklicher als Leopold war Friedrich in seinen kriegerischen Unternehmungen. Ludwig hatte sich mit Johann von Böhmen verbündet, schlug das österreichische Heer und nahm Friedrich gefangen. Der König von Böhmen erhielt von Ludwig das Egerland zum Lohn für seine Waffenhilfe. Der Sieg Ludwigs des Bayern wäre vollkommen gewesen, wenn er sich nicht mit Johann XXII. überworfen hätte. Über den Anlaß dieses letzten offenen Kampfes zwischen einem deutschen König und einem Papst erhielten sich verschiedene Auslegungen. Es hieß, daß Ludwig dem vom Papst abgesetzten und gebannten Ordensgeneral der Franziskaner, Michael Cesena, Zuflucht gewährt habe. Der Papst hatte die von Michael Cesena verkündete Lehre von der vollkommenen Armut Christi und der heiligen Apostel als ketzerisch bezeichnet – vermutlich um die geistlichen Angriffe gegen den zunehmenden Reichtum 255
des Heiligen Stuhles ein für allemal abzuwehren. Dieser Anlaß jedoch wurde erst in aller Öffentlichkeit bekannt, nachdem Ludwig, über den Kopf des Papstes hinweg, einen königlichen Bevollmächtigten nach Italien geschickt und Johann XXII. die Erklärung abgegeben hatte, daß ohne die Zustimmung des Heiligen Stuhles der deutsche Thron als leerstehend zu betrachten wäre und Ludwig daher nicht deutscher König sei. Auf den Bann des Papstes erwiderte Ludwig, daß Johann XXII. ein Ketzer sei, weil er die franziskanische Armutslehre verworfen habe. Ein Angriff folgte dem anderen. Der Papst blieb bei seinem Bann, aber Ludwig behauptete sich in seiner Macht. Durch das Aussterben der Askanier war die Mark Brandenburg frei geworden. Der König gab sie seinem Sohn zum Lehen und verheiratete sich in zweiter Ehe mit der Tochter des Grafen von Hennegau-Holland. Er versöhnte sich mit seinem habsburgischen Vetter und Gegenkönig, den er gegen Verzichtleistung auf den Thron in Freiheit setzte. Friedrich führte zwar den Königstitel weiter, übte aber keine Rechte aus. In Mailand herrschten die Visconti. Sie waren als Ghibellinen, wie die Machthaber von Verona und Lucca, Feinde des Papstes und luden Ludwig ein, sich die eiserne Lombardenkrone aufs Haupt zu setzen. Ein Bündnis mit Friedrich III. von Sizilien gegen Johann XXII. öffnete auch die Tore Roms, in dem Sciarra Colonna seine demokratisch-republikanische Stadtverwaltung eingerichtet hatte. Colonna und das über die Abwesenheit Johanns XXII. aufgebrachte Volk von Rom übertrugen dem deutschen König die Oberhoheit über ihre Stadt für ein Jahr. Ludwig ließ sich mit seiner neuen Frau in der Peterskirche von einem Bischof, den Johann XXII. gebannt hatte, mit dem heiligen Öl salben und von Sciarra Colonna und von den vier höchsten römischen Stadtverwaltern zum Kaiser krönen. Um die Eigenmächtigkeit, die ihn zum Kaiser gemacht hatte, zu rechtfertigen, bediente sich Ludwig, dem rechtsbeflissenen Zug der Zeit folgend, eines Rechtsgelehrten. Der ehemalige Leiter der Universität von Paris, Marsilius von Padua, hatte ein Werk mit dem Titel ›Defenser pacis‹, Friedensanwalt, verfaßt, durch das er die Wirkungsbereiche von Kirche und Staat eindeutig abgrenzte und die Kirche dem Staat förm256
lich unterordnete. Er führte aus, daß die weltliche Herrschaft des Papstes nicht von Gott eingesetzt, sondern geschichtlich entstanden sei. Der deutsche König jedoch sei durch die Wahl im Besitze der vollen Herrschaftsgewalt und unabhängig vom Papst, der das Kurfürstenamt außer Kraft setzen wolle, um seine eigene Macht durchzusetzen. Durch diese sorgfältig ausgearbeiteten Grundsätze Marsilius gestärkt, sprach Ludwig die Absetzung Johanns XXII. aus und verhängte die Todesstrafe über ihn wegen Ketzerei und Majestätsbeleidigung. Ein Franziskaner wurde als Nikolaus V. zum Gegenpapst Johanns XXII. gewählt. Noch eine andere bedeutsame geistliche Unterstützung erhielt Ludwig durch den englischen Franziskaner Wilhelm von Ockham, den hervorragenden Gottesgelehrten, der in seinem Hauptwerk über die Macht der Kaiser und Päpste den Standpunkt vertrat, daß sowohl der Staat als auch die Kirche der Oberhoheit des Volkes unterstehen und der Papst dem Urteil der Kirchenversammlung, nötigenfalls der Laien, unterworfen sei. Von Johann XXII. in Haft gesetzt, gelang es Wilhelm von Ockham, an den Hof Ludwigs nach München zu fliehen. Auch Benedikt XII. der vom König von Frankreich abhängige Nachfolger Johanns XXII. lehnte die Erklärung Ludwigs ab, daß die Zustimmung des Papstes keineswegs als rechtsnotwendige Voraussetzung der Königsherrschaft zu betrachten sei. Die deutschen Kurfürsten einigten sich im Kurverein von Rense und bestimmten das Reichsrecht, das festlegte, daß der von ihnen oder ihrer Mehrzahl gewählte König nicht der päpstlichen Bestätigung bedürfe. Das machte die deutsche Krone unabhängig vom Heiligen Stuhl. Auf dem kurz darauf einberufenen Reichstag in Frankfurt verkündete Ludwig das Kaisergesetz. Es sagte im wesentlichen, daß ›der von den Kurfürsten zum König und Kaiser Gewählte Güter und Rechte des Reiches wahrzunehmen und überhaupt alles zu tun hat, was dem Kaiser zusteht, ohne päpstlicher Zustimmung zu bedürfen. Seine Würde und Macht rührt von Gottes Gnaden her‹. Gegen Philipp VI. der offen auf die Seite des Papstes trat, verband sich Ludwig mit Eduard III. dem König von England, und anerkannte ihn als rechtmäßigen König von Frankreich. Nach der ersten Schlacht 257
des Hundertjährigen Krieges aber, in der Eduard die französische Flotte im Hafen von Sluys vernichtete, wechselte Ludwig das Lager. Er schloß ein Bündnis mit Philipp, um durch seine Vermittlung mit dem Papst Frieden schließen zu können. Ludwig der Bayer berief sich darauf, daß er ›Weltkaiser‹ sei, und wollte seine allerhöchste Überlegenheit in einem Ehestreit zu seinem Vorteil beweisen. Margarete Maultasch von Tirol wünschte ihre nicht vollzogene Ehe mit Johann Heinrich, dem Sohn Johanns von Böhmen, zu trennen. Auf ein Gutachten Wilhelms von Ockham gestützt, der dem Kaiser das Recht zusprach, schied Ludwig die Ehe entgegen dem geltenden Kirchenrecht und verheiratete Margarete mit seinem Sohn Ludwig, dem er die Mark Brandenburg verliehen hatte. Diese völlige Hinwegsetzung über die Rechte der Kirche war zuviel für den Erzbischof von Trier. Er verdammte die Überheblichkeit Ludwigs, versöhnte sich mit Clemens VI. dem neuen Papst, und veranlaßte ihn, über Ludwig Gericht zu halten. Auch die meisten anderen Fürsten des Deutschen Reiches traten gegen den Kaiser auf. Ludwig war ihnen zu überheblich geworden. Seine willkürliche Einmischung in die Ehe Margarete Maultaschs, durch die er Tirol für sein Haus beziehungsweise für sich selbst hatte gewinnen wollen, hatten ihre Anhänglichkeit endgültig gelockert. Sie einigten sich auf einen neuen König, den ältesten Sohn Johanns von Böhmen, den jungen Karl, der seinen Vater in die Schlacht von Crecy begleitet hatte und einer der wenigen Fürsten und Ritter gewesen war, die die Niederlage Frankreichs gegen den König von England überlebt hatten. Karl war mit einer französischen Prinzessin verheiratet und stand mit dem König von Frankreich und dem Papst auf bestem Fuße. Ludwig war weder gewillt, sich absetzen zu lassen, noch Karl anzuerkennen. Er war König und Kaiser. Die deutschen Fürsten waren gegen ihn, aber er hatte die Städte für sich. Er hatte sich schon in Rom die Zuneigung der Bürger zunutze gemacht. Er war bereit, den Kampf um das Deutsche Reich als Bürgerkönig zu wagen. Er ging unbekümmert auf die Bärenjagd. Aber er erlitt einen Unfall und kam nicht lebend zurück. Karl IV. konnte seine Herrschaft beginnen. 258
IV »Nur mehr der Name des Adels ist geblieben, nichts von der Sache, bei denen, die edel heißen«, schrieb Geiler von Kaisersberg. »Der Adel ist eine Nuß ohne Kern, aber voller Würmer. Ein Ei ohne Dotter, keine Tugend, keine Klugheit, keine Frömmigkeit, keine Liebe zum Staat, keine Leutseligkeit. Sie sind voll Liederlichkeit, Übermut, Zorn, den übrigen Lastern mehr ergeben als alle anderen.« Der geistliche Stand, die zweite bevorzugte Klasse, war in den niedrigen Rängen gröblich verkommen. Was das Zölibat bedeutete, wurde in der landläufigen Glosse erklärt: »Solange der Bauer Weiber hat, braucht der Pfaffe nicht zu heiraten.« Das Volk spottete: »Die Pfaffen nehmen ihr Kreuz auf sich, indem sie Schinken und Wildbret kreuzweis aufs Butterbrot legen.« Je nach ihrem persönlichen Geschmack glichen sich die Kirchenfürsten der derbsinnlichen Lebenshaltung des Adels an oder versuchten, sie auf ihre üppige Art zu verfeinern. Das Vorbild der Bischofssitze war der Hof des Heiligen Vaters. Wie und wovon die Lebensform am päpstlichen Hof von Avignon geleitet war, schilderte der bedeutende zeitgenössische Dichter Petrarca: »Alles Gute ist dort zugrunde gegangen. Zuerst die Freiheit, dann die Ruhe, die Freude, die Hoffnung, der Glaube, die Liebe: Ungeheurer Verlust der Seele! Aber im Reiche der Habsucht wird das nicht als Schaden gerechnet, wenn nur die Einkünfte ungeschmälert bleiben. Das ewige Leben gilt dort als leere Fabel. Was von der Hölle erzählt wird: Alles Fabeln. Die Auferstehung des Fleisches, der Jüngste Tag, Christi Gericht: Lauter Torheiten. Die Wahrheit des Glaubens hält man dort für Wahnsinn, Enthaltsamkeit für Unsinn, Scham für Schande, ausschweifende Sünde für Großherzigkeit; je befleckter ein Leben ist, desto höher wird es gewertet, und der Ruhm wächst mit dem Verbrechen.« Petrarca war der anfeuernde Wortführer der geistigen Strömungen, die sich bemühten, die Wissenschaft und die Dichtung des Altertums 259
zu erneuern. Er versuchte wie Dante Alighieri in das Zeitgeschehen einzugreifen. Er schwärmte für das alte Kaisertum und die Wiedergeburt Italiens. Er war ein begeisterter Anhänger des von seinem Freund Cola di Rienzi in Rom nach dem Vorbild der alten römischen Republik geschaffenen unbeschränkten Volksstaates. Petrarca wollte den neuen Kaiser und König, Karl IV. der seinen Hofstaat in Prag, der Königsstadt seiner Familie, hielt, für seine Schwärmereien gewinnen. Er reiste an den Hof des aufgeklärten Herrschers, der die erste deutsche Universität in Prag errichtet hatte, um ihn als Friedensstifter und Erneuerer des Kaisertums nach Rom zu geleiten. Die Reise des Kaisers wurde durch die schlimmste Plage, die Europa je heimgesucht hatte, unmöglich gemacht: Die schwarze Pest. Die furchtbare Seuche ergoß sich nicht wie ein reißender Strom über die Länder. Sie tauchte bald hier, bald dort auf, verschonte einmal die einen, einmal die anderen Landstriche, um plötzlich die vorher verschonten Gebiete um so heftiger anzufassen. Wenn ein Mensch über Kopfschmerzen klagte, konnte es die Pest sein. Jede Geschwulst konnte die Pest sein, plötzliche Müdigkeit konnte die Pest sein. Wenn jemand aus dem Schlaf auffuhr und schrie – konnte es die Pest sein. Sie äußerte sich in dieser und jener Krankheitserscheinung, und, da der Mensch, den sie erfaßt hatte, nicht nur selbst starb, sondern jeden, der in seiner Nähe war, angesteckt haben konnte – durch seine Ausatmung allein oder durch die Berührung eines Gegenstandes, den der Pestkranke berührt haben mochte –, zersetzte die Krankheit alle menschlichen Bindungen. Die Pest kam aus Asien über Italien nach Mitteleuropa. Die frommen Christen behaupteten, sie sei als Strafe Gottes über Italien verhängt worden, da der Papst es verlassen habe. Aber die Pest griff auch nach Frankreich über, wo der Papst lebte, und mied auf ihrem verheerenden Weg kein Land im europäischen Raum. In den Jahrbüchern der Zeit herrschten nicht die Fürsten – die Pest herrschte. Sie hatte zwei entgegengesetzte Wirkungen zur Folge: die Jagd nach dem Erleben, bevor es zu spät sein konnte, und die Suche nach dem ewigen Leben, da das irdische so bedroht war. Wie fand man die Brüc260
ke zu Gott? Da die Lebensführung der Priester dem Worte Gottes widersprach, begannen die Gläubigen, nach einer neuen Auslegung der Evangelien zu suchen. Plötzliche Erregung ergriff die Zweifler. Wer gläubig war, hatte das Bedürfnis zu büßen. Scharen von Männern und Frauen – niemand wußte, woher sie kamen – zogen von Ort zu Ort, fahnenschwingend und düstere Lieder singend. Sie trugen schwarze Mäntel und absonderliche Mützen, von denen ein rotes Kreuz leuchtete. Die Straßen des Deutschen Reiches waren mit hundert und aber hundert solcher Züge bedeckt, zu denen immer noch mehr kamen. Wenn sie sich einer Stadt näherten, läuteten alle Glocken, und alle Einwohner strömten zur Kirche. Dort warfen sie sich neben die Teilnehmer der Züge auf die Steinfliesen und geißelten sich unter stundenlanger Absingung von Liedern und Gebeten, verlasen ›vom Himmel gefallene Briefe‹, die das sündhafte Treiben der Laien und Pfaffen verdammten, und mahnten sich und die anderen zur Buße. Diese fast närrische Glaubensinbrunst begnügte sich nicht mit den stillen Riten der Kirche. Das heilige Abendmahl, am Altar feierlich begangen, erhob die im wahren Sinne des Wortes aufgepeitschten Menschen nicht. Die Predigten ihrer namenlosen Führer halfen ihnen über den Gewissenszwiespalt hinweg, der durch die Nichtbefolgung der kirchlichen Vorschriften hervorgerufen wurde. Diese Wanderprediger lehrten, daß die Geißelung das wahre Abendmahl sei, da sich dabei das Blut der Gegeißelten mit dem des Heilands vermische! Das Blutopfer dieser Gläubigen machte die Anwesenheit von Priestern beim Gottesdienst überflüssig. Wenn sie ihm aber doch beiwohnten und ihn als heidnisch bezeichneten, zogen sie den Zorn der Gemeinde auf sich. Die Zahl der Frommen, die nach neuem Ausdruck für ihre Frömmigkeit suchten, wurde durch allerlei gewissenlose Mitläufer vermehrt, die aus der allgemeinen Weltangst Nutzen ziehen wollten. Diese Aufzüge von Abenteurern, von Bettelvolk und widernatürlichen Irren hinterließen einen beispiellos aufwühlenden Eindruck auch auf jene Zeitgenossen, die sich nicht an den Geißlerzügen beteiligten. Es war ein Eindruck aus Furcht und Hoffnung, aus Ekel und Gottesschauer seltsam gemischt, der alle erfaßte, wann immer sich der grauenhafte 261
Zug schon von fernher durch seinen gruselig eintönigen Gesang ankündigte: »Nun hebet auf eure Hände, daß Gott dies große Sterben wende! Nun hebet auf eure Arme, daß Gott sich über uns erbarme! Jesus, durch Deine Namen drei, mach, Herre, uns von Sünden frei! Jesus, durch Deine Wunden rot, behüt uns vor dem jähen Tod!« In dieser gefährlich aufgerührten Stimmung, der reich und arm, hoch und niedrig verfielen, wirkte Cola di Rienzi, der, von ehrlicher Überzeugung und Hingabe an seine Mitmenschen erfüllt, es unternahm, das alte Rom zu erneuern. In seinem berühmten Roman, »Rienzi, der letzte Tribun«, schildert E. L. Bulwer das seltsame Schicksal des schwärmerischen Volksführers.
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Rienzi
von E.L. Bulwer
I Der Abend hatte kaum Kühlung gebracht. Die unansehnlichen Häuser am anderen Ufer des Tiber schienen in der flimmernden Luft greifbar nahe zu liegen. Drohend und düster erhoben sich dazwischen die gewaltigen Dächer und Türme der befestigten Wohnsitze des römischen Adels. Der Flußpfad, den die zwei jungen Männer für ihren Spaziergang gewählt hatten, war entlegen und einsam. Der ältere der beiden – ein etwa Zwanzigjähriger – war groß und schlank. In seiner Erscheinung lag etwas Ausgezeichnetes, Edles, trotz der Einfachheit seiner Kleidung. Er trug Tunika und Mantel aus dunkelgrauem Zwillich – die Tracht der Klosterschüler. Sein ebenmäßiges Gesicht war ernst, seine dunklen Augen blickten träumerisch. Der jüngere hatte in seiner Erscheinung nichts Bemerkenswertes. Es lag fast etwas Kindliches in der zärtlichen Ergebenheit, mit der er seinem Gefährten zuhörte. Seine Kleidung war die der unteren Volksklassen, wenn auch etwas zierlicher und neuer. »Unsere Eltern hören mir zu, als ob ich schöne Sachen aus einem Buch erzählte«, sagte der ältere, »aber du, lieber Bruder, nimmst an meinen Plänen so lebhaften Anteil, daß ich oft unsere Geburt und unsere Lage vergesse und die kühnsten Gedanken hege.« »Es scheint mir, lieber Cola«, sagte der jüngere Bruder, »daß die Natur uns einen bösen Streich gespielt hat. Auf dich verpflanzte sie den königlichen Geist, den wir von unserem Vater erbten, und auf mich nur das ruhige und duldende Gemüt des unangesehenen Stammes der Mutter. Ich werde dich als einen berühmten Mann erleben, und das wird mir genügen. Jedermann hält dich jetzt schon für einen großen Gelehrten, und bei den Colonnas bist du ein stets willkommener Gast!« 264
»Die Colonna!« sagte Cola mit bitterem Lächeln. »Sie empfangen mich freundlich bei ihrem Mahl, weil die Natur mir einen gesunden Witz mitgegeben hat. Ja, sie würden mein Glück fördern können, aber –! Nein, Bruder! Sollte ich wirklich über unsere Ansprüche erhöht werden, so will ich nicht auf den Nacken meiner Mitbürger emporsteigen.« Während die beiden von diesem und jenem plauderten, strebte ein Schiff die stillen Fluten des Tiber hinauf. »Sieh nur«, sagte Cola, »wie ängstlich die Männer nach allen Seiten umherschauen; sie sind harmlose, friedliche Kaufleute und fürchten, jeden Augenblick irgendwelchen Piraten in die Hände zu fallen. Und das in unserem Rom! Wir sind tief gesunken!« Als es endlich anfing dunkel zu werden, beschleunigten die Brüder ihre Schritte und dachten an den Heimweg. »Halt«, sagte Cola plötzlich, »ich habe etwas vergessen! – Der Vater Uberto versprach mir ein seltenes Manuskript. Ich wollte es heute abend in seiner Zelle abholen. Warte einige Minuten; ich bin gleich zurück.« »Kann ich dich nicht begleiten?« »Nein«, erwiderte Cola freundlich. »Du hast den ganzen Tag gearbeitet und bist müde. Ich bin bald wieder hier.« Damit eilte er von dannen. Still träumend blieb der Bruder zurück. Plötzlich vernahm er Pferdegetrappel und das laute Rufen von Männern. Sie kamen näher und näher. Jetzt erblickte er den Zug – eine stattliche Gesellschaft. Zuerst kamen Reiter mit kostbar aufgeputzten Pferden, ihre Federn flatterten im Wind, und der Glanz ihrer Brustharnische funkelte im Zwielicht. Den Rittern folgten Soldaten zu Fuß. Hoch über den Federn und Lanzen wehte das blutrote Banner der Orsini in Gold gestickt. Der Jüngling fühlte sich beängstigt, denn zu jener Zeit wurde in Rom ein durch seine Vasallen begleiteter Baron von den Plebejern mehr gefürchtet als ein wildes Tier. Aber es war schon zu spät, um zu fliehen. »He, Bursche!« rief der Anführer der Reiter, Martino di Porto, einer aus dem angesehenen Hause der Orsini, »hast du ein Schiff vorbeikommen sehen?« 265
»Ja, edler Herr«, erwiderte der Knabe erschrocken. »Hatte es nicht eine grüne Flagge?« Der Jüngling nickte. »Also, vorwärts! Wir müssen es einholen, ehe der Mond aufgeht«, sagte der Baron. »Vorwärts! Nehmt den Burschen mit, damit er uns nicht verrät und die Colonna uns nicht auf den Hals kommen!« Trotz der Bitten und Beteuerungen des Knaben nahmen sie ihn in ihre Mitte und schleppten ihn mit sich fort. Durch die laute Unterhaltung erfuhr er, daß das Schiff, welches er gesehen hatte, eine Ladung Getreide nach einem Kastell der Colonna bringen sollte. Die Orsini hatten die Absicht, die Zufuhr abzufangen und sie ins Haus des Martino di Porto zu bringen. Das Boot war bald eingeholt. Im ersten Licht der Sterne sah man es deutlich den Strom hinauffahren. »Jetzt kann es uns nicht mehr entgehen!« rief der Anführer lachend. »Halt«, sagte der Hauptmann und ritt näher an Martino heran. »Ich höre etwas! – Pferdewiehern! – Und dort – Rüstungen!« »Vorwärts, Ihr Kerle!« rief Martino. »Vorwärts!« Mit Geschrei stießen sie vor, als plötzlich mehrere, von Kopf bis Fuß bewaffnete Reiter zwischen den Bäumen hervordrangen und mit eingelegten Lanzen gegen die Räuber ansprengten. »Colonna! Colonna!« »Orsini! Orsini!« schrie man wild von beiden Seiten. Martino di Porta, ein starker und kühner Mann, und seine Ritter, welche meist deutsche Söldner waren, begegneten unerschüttert dem Angriff. Der Kampf war kurz und heftig; die Rüstung der Reiter schützte sie vor Wunden, aber schlimmer ging es dem halbbewaffneten Troß der Orsini, als er, dicht aneinandergedrängt, sich gegen die Colonna verteidigte. Die Steinwürfe und Wurfspieße prallten wie Hagelkörner von dem Stahl der gegnerischen Reiter ab. Plötzlich sprengte eine Menge Reiter mit dem Banner der Colonna an der Spitze zur Hilfe herbei. »Verdammt!« brummte Martino. »Wer konnte glauben, daß sie uns 266
so überlisten würden! Wir können es nicht mit ihnen aufnehmen!« Er gab das Zeichen zum Rückzug. In vollkommener Ordnung wendeten sich die Reiter Martinos zur Flucht; das Fußvolk, welches gekommen war, um zu plündern, blieb zurück und wurde niedergemetzelt. Viele versuchten zwar ihren Führern zu folgen. Einigen gelang es, auf die Anhöhen zu entfliehen, wohin ihnen die Reiter nicht folgen konnten – andere stürzten sich in den Strom und schwammen an das jenseitige Ufer. Die weniger Erfahrenen, die auf dem Wege, den sie gekommen waren, zurückflüchteten, erleichterten zwar das Entkommen ihrer berittenen Führer, sie selbst aber fielen, Leiche auf Leiche, als Opfer ihres erfolglosen Widerstandes. »Schont die Schurken nicht! Jeder erschlagene Orsini ist ein Räuber weniger! Nieder mit ihnen, für Gott, den Kaiser und die Colonna!« Das war das Grabgeläute für die fallenden Flüchtlinge. Unter denen, die auf diesem Wege versuchten zu entkommen, war auch der junge Bruder Colas. Die Furcht beflügelte seine Schritte, aber hinter sich hörte er die Hufe der Rosse und die Flüche der Feinde. Er blickte schnell zurück – er sah die eingelegte Lanze eines Reiters hinter sich. Er stieß einen verzweifelten Schrei aus. Da sah er den Bruder durch das Gebüsch springen, der zu seiner Hilfe herbeieilte. »Hilfe! Hierher, Bruder!« schrie der Verfolgte laut. Seine Stimme erreichte das Ohr Colas – noch einen Augenblick – dann fiel er zu Boden. Die Lanze des Reiters hatte ihn vom Rücken bis zur Brust durchbohrt. Der Reiter zog seinen Speer zurück und folgte einem neuen Opfer. Cola hatte die Unglücksstelle erreicht und kniete neben seinem ermordeten Bruder. Unter Trompeten- und Hörnerklang nahte ein neuer Trupp der Colonna. An seiner Spitze ritt ein bejahrter Mann, dessen langes weißes Haar unter dem Helm hervordrang. »Was ist das?« sagte er und hielt an. »Der junge Rienzi?« Als Cola diese Stimme vernahm, raffte er sich auf und warf sich vor das Pferd des alten Mannes: 267
»Es ist mein Bruder, edler Stephan!« schrie er außer sich. »Sie haben meinen Bruder ermordet! Gerechtigkeit! Ihr könnt uns rächen!« »Wer hat ihn erschlagen? Ein Orsini? Du sollst deine Rache haben!« Die Männer des alten Stephan Colonna wurden, wenn sie auch an solche Szenen gewöhnt waren, doch durch den Anblick gerührt. Ein schöner Jüngling, der zur Seite Colonnas ritt, zog sein Schwert: »Herr«, sagte er, »nur ein Orsini kann ein Kind wie dieses ermorden! Laßt uns keine Zeit verlieren! Laßt uns den Schurken verfolgen!« »Nein, Adrian, nicht jetzt!« Stephan legte seine Hand auf die Schulter des Jünglings. »Die Unsrigen haben sich schon zu weit vorgewagt! Wir blasen zum Rückzug!« Die Hörner riefen die Verfolger zurück. Unter ihnen war auch der Reiter, dessen Speer das unschuldige Opfer getroffen hatte. Er war der Führer des Trupps, und seine mit Gold eingelegte Rüstung bezeichnete seinen Rang. »Danke, mein Sohn!« sagte der alte Colonna zu ihm. »Du hast dich gut gehalten! Aber sage mir auch – weißt du, wer von den Orsinis dieses arme Kind erschlagen hat?« »Wer?« erwiderte der Reiter. Er nahm den Helm ab, um seine glühende Stirn zu kühlen. »Wie kam er denn mit den Schurken des Martino zusammen? Ich konnte nur glauben, daß er zu den Orsini gehört – und da habe ich …« »Und da hast du ihn erschlagen!« rief Rienzi und sprang auf. »Gerechtigkeit, Graf Stephan! Ihr habt sie mir versprochen! Ich verlange sie auf der Stelle!« »Armer Cola«, sagte der Alte voll Mitleid. »Siehst du denn nicht, daß ein Irrtum geschah? Gegen die Orsini hätte ich deinen Bruder mit Freuden gerächt …« Cola schwieg. Er sah und hörte nichts mehr. Finstere Gedanken, in denen die Keime einer furchtbaren Revolution lagen, erfüllten seinen Geist. Gleichmütig schien er zuzusehen, wie die Lanzenknechte die Leiche des Bruders auf ihre Schilde legten.
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Cola di Rienzi war seit diesem Augenblick ein anderer. Ohne dieses Ereignis wäre der künftige Befreier Roms ein Träumer, ein Gelehrter, ein Dichter geblieben. Seit jenem Tag aber richteten sich seine Gedanken, seine Tatkraft nur auf einen Punkt. Seine Vaterlandsliebe wuchs zur Leidenschaft, fortwährend angefacht und genährt – durch Rache.
Ungeachtet der verschiedenartigen Volksstämme, welche sich in der Stadt der Cäsaren gewaltsam angesiedelt, hatte die Bevölkerung Roms ein dunkles Bewußtsein ihrer Überlegenheit über die übrige Welt behauptet. Noch war ihr jene kühne Unruhe eigen, die die Plebs des alten Forums charakterisierte. Unter einem wilden, wenn auch nicht mutigen Pöbel benahmen sich die Adeligen wie Banditen. Die Päpste hatten erfolglos mit diesen stolzen und hartnäckigen Patriziern gekämpft. Die Oberhäupter der Kirche des übrigen Europa saßen wie Gefangene im Vatikan. Ihre Macht wurde verhöhnt, ihren Befehlen getrotzt. Als ein Franzose unter dem Namen Clemens V. den Papststuhl bestiegen hatte, vertauschte er Rom mit der ruhigen Zurückgezogenheit in Avignon. Jetzt war der Adel Roms auch durch den Namen der päpstlichen Gegenwart nicht mehr gezügelt, seine Macht war uneingeschränkt. Diese Adeligen waren, wenn sie auch ihre Abstammung von den alten Römern ableiten wollten, meist Söhne der kühneren Barbaren des Nordens. Die mächtigsten unter ihnen waren die Orsini und die Colonna. Mord, Gewalttätigkeiten und Betrügerei – ein schmutziger Geiz, der sie nach einträglichen Ämtern haschen ließ –, eine übermütige Unterdrückung ihrer Mitbürger und das verächtlichste Kriechen vor jeder ihnen überlegenen Gewalt bezeichneten den Charakter dieser ersten Familien Roms, die seit langer Zeit miteinander in Fehde lagen. Jeder Tag sah die Früchte ihrer gesetzlosen Kämpfe. Die Abwesenheit des Papstes trug sehr zur Verarmung der Bürger bei. Sie litten hart unter der Verwüstung räuberischer Banden, die alle Wege und Straßen unsicher machten und die manchmal im geheimen, 269
meist aber höchst offiziell von den Baronen beschützt wurden, die oft ihre Söldner durch Banditen ersetzten. Außer diesen gewöhnlichen Räubern hatte sich in Italien noch eine gefährlichere Art von Freibeutern gebildet. Zahllose ›Kompanien‹ beunruhigten und verwüsteten das Land. Sie erschienen plötzlich, wie durch Zauberei, vor den Mauern einer Stadt und forderten ungeheure Summen für die Erkaufung des ›Friedens‹. Weder die unabhängigen Fürsten noch irgendein Gemeinwesen unterhielten genügend Streitkräfte, um ihnen erfolgreichen Widerstand leisten zu können. Und wenn nordische Söldner gegen die Banditen angeworben wurden, so liefen sie meist nach einiger Zeit zu ihnen über. Ein Söldner focht nicht gegen den andern – ein Deutscher nicht gegen einen Deutschen! Das Grundgebiet des Papstes, das zum Teil durch diese ausländischen Räuber, von deren Anführern Walter von Montreal, ein Johanniterritter, der gefürchtetste war, verwüstet wurde, gewährte den Bedürfnissen des prachtliebenden Clemens VI. nur geringe Unterstützung. Da entwarf der gute Vater einen Plan, durch den er sich und zugleich die Römer zu bereichern beabsichtigte. Bonifatius VIII. hatte schon fünfzig Jahre früher, um die päpstlichen Kassen zu füllen und die verhungernden Römer zu beruhigen, das Fest des Heiligen Jahres eingesetzt, das eigentlich die Erneuerung einer heidnischen Zeremonie war. Jedem Katholiken, der in diesem und dem ersten Jahr jedes folgenden Jahrhunderts die Kirchen von St. Peter und St. Paul besuchte, wurde vollkommener Sündenerlaß zugesagt. Eine unermeßliche Anzahl von Pilgern aus der ganzen Christenheit hatte diese vortreffliche Einrichtung genutzt, und ›zwei Geistliche standen Tag und Nacht, um die Haufen Goldes und Silbers einzuscharren, die auf dem Altar des heiligen Paulus dargebracht wurden …‹ Clemens VI. hatte daher ein zweites Heiliges Jahr für 1350 festgesetzt. Aber die Zeiten waren so unsicher und gefährlich, die Pilgerwege von den Banditen, den Verbündeten der Barone, besetzt, daß die Pilger zurückgeschreckt wurden und ausblieben. So wurde der päpstli270
che Vikar Raimond, Bischof von Orvieto, beauftragt, alle Hindernisse, die sich zwischen die Frömmigkeit der Pilger und den Schatz St. Peters stellen konnten, zu beseitigen.
An einem Abend im April des Jahres 1347 hatte sich eine große Anzahl aus den ärmeren Volksklassen in den Straßen Roms versammelt. Am Morgen dieses Tages war das Haus eines römischen Juweliers durch die Soldaten des Martino di Porto mit einer Frechheit ohnegleichen erstürmt und geplündert worden. »Nie werde ich mich dieser Tyrannei unterwerfen!« »Ich auch nicht, bei den Gebeinen des heiligen Petrus!« »Von welcher Tyrannei sprecht ihr, Freunde?« fragte ein junger Ritter die wütende, mit italienischer Leidenschaft gestikulierende Menge. »Herr! Ihr werdet uns Gerechtigkeit verschaffen!« riefen zwei oder drei aus der Menge. »Ihr seid ein Colonna!« Ein Mann von gigantischem Wuchs, der einen Hammer, das Zeichen seines Handwerks, in die Höhe schwang, lachte verächtlich: »Ein Colonna und Gerechtigkeit! Das sollte man lieber nicht in einem Atemzug nennen!« Der junge Ritter Adrian di Castello, ein entfernter Verwandter des Colonna, forderte den Schmied gebieterisch auf, Platz zu machen. »Geht nach Hause, Leute«, sagte er würdevoll. »Und wißt, daß ihr uns sehr unrecht tut, wenn ihr glaubt, wir nähmen an den schändlichen Handlungen der Orsini teil.« »So reden alle Tyrannen«, rief der Schmied unerschrocken. Bei Volksbewegungen wird jeder durch die Menge, oft halb wider seinen Willen, mit fortgerissen. Die wenigen Worte des Friedens, mit denen Adrian di Castello seine Freunde anzureden begann, wurden durch das allgemeine Geschrei übertönt. »Jetzt verschwinde, Kerl!« rief Adrian. Er wollte sich nicht weiter auf einen Wortwechsel mit dem Schmied einlassen. Um ihn abzuwehren, berührte er ihn leicht mit der flachen Seite seines Schwertes. Im näch271
sten Augenblick schwang der Schmied seinen Hammer. Gewandt wich Adrian aus. Ehe der Riese zu einem zweiten Hieb ausholen konnte, hatte Adrians Schwert seinen rechten Arm durchbohrt. Der Hammer fiel dröhnend zu Boden. »Erschlagt ihn! Erschlagt ihn!« riefen mehrere von den Anhängern der Colonna und scharten sich um den verwundeten Schmied. »Schlagt ihn nieder! Er ist einer von den Anhängern des Rienzi, die das Volk verführen!« »Ihr habt ganz recht!« schrie der Schmied und riß sich mit der linken Hand das Hemd von der Brust. »Kommt alle her – Colonna und Orsini! Bohrt in dieses Herz, und ihr trefft den Gegenstand eures Hasses: Rienzi und das Volk!« Bei dem Namen Rienzi verschwand die Röte des Zornes von den Wangen des jungen Castello. Als das Geschrei verstummt war, sagte er leise zu dem Schmied: »Freund, es tut mir leid, daß ich dich verwundet habe. Besuche mich morgen, und du wirst dich überzeugen, daß du mir unrecht getan hast.« Adrian di Castello ging schnell eine der engen Straßen hinab, die nach seinem Palast führten. Seine bisherige Lebensgeschichte war Ursache, daß er ein tiefes Interesse nicht nur an den Zwistigkeiten seines Landes, sondern auch an der Szene, deren Zeuge er eben gewesen, und an dem durch Rienzi ausgeübten Einfluß nahm. Adrian hatte schon früher die Freundschaft Rienzis gesucht und lernte bald die Kraft seines Charakters würdigen. Wenn auch Rienzi nach kurzer Zeit an den Tod seines Bruders nicht mehr zu denken schien, wenn er die Colonna wieder besuchte und an ihren Festen teilnahm, so zeigte er doch eine gewisse Zurückhaltung, die Adrian nur teilweise überwinden konnte. Er wies jedes Anerbieten von Gunst zurück, und jeder ungewöhnliche Beweis der Güte von seiten Adrians schien ihn nur noch kälter zu machen. Als sechs Jahre zuvor das Kapitol der Cäsaren Zeuge des Triumphs Petrarcas gewesen war, hatte der Ruf der Gelehrsamkeit Rienzis ihm die Freundschaft des Dichters erworben, die mit geringen Unterbrechungen bis zuletzt fortdauerte. Später war er als einer der römischen 272
Deputierten nach Avignon mit Petrarca vereinigt gewesen, um Clemens VI. zu ersuchen, den Heiligen Stuhl wieder von Avignon nach Rom zu verlegen. In dieser Sendung gab er zum erstenmal Beweise seiner außerordentlichen Beredsamkeit. Rienzi kehrte nach Rom zurück, mit Ehre überhäuft und mit einem bedeutenden Amt bekleidet. Nicht länger der tatenlose Gelehrte, der muntere Gesellschafter, erhob er sich plötzlich über alle seine Mitbürger. Während dieses das Schicksal Rienzis war, hatte Adrian lange getrennt von ihm und abwesend von Rom gelebt. Er hatte sich kurze Zeit auf einer seiner Besitzungen an dem schönsten See des nördlichen Italiens aufgehalten und dann mehrere der freien italienischen Staaten besucht, wo er Charaktere und Taten anderer kennenlernte. Als Adrian zurückkehrte, fand er die Stellung Rienzis weit mehr verändert als seine eigene. Zum Teil empfand er das Mißtrauen seines Standes gegen Rienzi, zum Teil aber entschied er sich für das begeisterte Zutrauen, welches das Volk ihm gewährte. Der Mond stand bereits hoch am Himmel. Zwei Frauen überholten Adrian mit leichtem, schnellem Schritt. Die jüngere wendete sich um und sah ihn schüchtern, aber forschend an. Adrian bemerkte sie nicht. »Was hast du denn, Kind?« fragte die Gefährtin, deren Kleidung und Stimme verrieten, daß sie geringeren Standes sei. »O Benedetta – er ist es! Es ist der junge Ritter – Adrian!« Das junge Mädchen verkürzte seine Schritte und seufzte. »Er ist allerdings sehr schön«, sagte die Amme. »Aber du solltest nicht mehr an ihn denken; er ist zu vornehm, um dich zu heiraten.« »Daran denke ich nicht! Ja, ich weiß selbst nicht, ob ich es wünsche. Vielleicht möchte ich lieber von ihm träumen, so wie ich ihn mir wünsche, als ihn kennen, wie er ist …« Ihre Unterhaltung stockte, als sie an der Straßenkreuzung das laute Geräusch lachender Stimmen vernahmen. Man sah Fackeln das bleiche Licht des Mondes überglänzen, und in einiger Entfernung näherte sich eine Gesellschaft von sieben bis acht Männern, die das gefürchtete Zeichen der Orsini trugen. 273
»Heilige Mutter!« rief Benedetta. »Schnell, Signora, schnell – oder wir geraten in ihre Hände!« Aber die Frauen waren bereits entdeckt, und einen Augenblick darauf wurden sie von den Lüstlingen umringt. »He, Gesellen, wen haben wir denn hier?« sagte der Anführer und entriß die zitternde Irene den Armen ihrer Gefährtin. »Die Fackeln hierher! – Schlage die Augen nicht nieder, schönes Kind! Du brauchst dich der Liebe eines Orsini nicht zu schämen.« »Um der heiligen Mutter willen, laß mich los! – Ich bin nicht ohne Schutz! Diese Beleidigung bleibt nicht ungerächt!« »Hört doch die Silberstimme! Dieses Abenteuer ist köstlich!« Er wandte sich an seine Begleiter: »Hüllt sie in ihren Schleier, und tragt sie vor mir her nach dem Palast.« Aber Irenes Geschrei und Widerstreben hatte schon Hilfe herbeigerufen, und als Adrian sich näherte, warf die Amme sich vor ihm auf die Knie: »O gnädiger Herr! Um Christi willen, rettet uns! Befreit meine junge Gebieterin – ihre Verwandten sind Euch befreundet.« »Es genügt, daß sie eine Frau ist«, erwiderte Adrian, »und daß ein Orsini sie beleidigte.« Das Auftreten Adrians war so edel und kühn, daß selbst die rohen Diener einen Anfall von Scham und Reue fühlten – aber nicht so Martino di Porto. Die Schönheit der ihm so schnell entrissenen Beute hatte seine Begierde gereizt. Er war seit langem an Gewalttätigkeiten und Straflosigkeit gewöhnt. »Bilde dir nicht etwa ein, daß ich mir von dir nehmen lasse, was mir gehört«, schrie er. Mit diesen Worten drang er auf Adrian ein, der schon auf einen Angriff vorbereitet war. Er stellte sich so vor Irene, daß sein Rücken durch eine Mauer gedeckt war, und wehrte den heftigen Angriff ab. Die arme Benedetta war mit dem Geschrei »Colonna! Colonna!« entflohen. Sie rannte, den Ruf wiederholend, die einsame Straße hinauf. Zwei bewaffnete Männer näherten sich dem Kampfplatz von der anderen Seite der Straße. 274
Der eine war von rohem und ungeschlachtem Äußeren, seine Waffen und sein Benehmen ließen seinen Beruf und seine Abstammung erraten: Er war ein Söldner aus dem Norden. Sein Begleiter war ein Mann von kriegerischem, dabei vornehmen Äußeren. Er trug ein Barett von rotem Samt, und in seinen Mantel war auf Brust und Rücken ein großes weißes Kreuz gewirkt. Wenn der Mantel sich bisweilen zur Seite schob, sah man einen Brustharnisch von feinstem Stahl im Mondschein glänzen. »Was ist das für ein Lärm?« flüsterte er. »Beim Heiligen Grabe! Ich höre das Klirren von Schwertern!« »Und sie rufen ›Colonna‹!« sagte Rudolf. »Entschuldigt, Herr, dort gibt es was für mich zu tun!« »Ja, du wirst dafür bezahlt! Laufe nur! Aber ich will dich zu meinem Vergnügen begleiten! Es gibt keine schönere Musik als klirrenden Stahl!« Adrian verteidigte sich noch tapfer und unverwundet, wenn auch sein Arm schon ermüdete. Martino war schon durch seine eigene Wut erschöpft, als seine Begleiter riefen: »Flieht! Flieht! Die Banditen kommen! Wir sind verraten!« »Was – Ihr seid schon fertig?« rief der Mann mit dem Samthut. »Verderbt uns den Spaß nicht! Ich bitte, fangt wieder von vorne an!« »Unverschämter!« schrie der Orsini. »Weißt du, mit wem du sprichst? Ich bin Martino di Porto. Und wer bist du?« »Walter von Montreal, Edelmann aus der Provence und St.-Johanniter-Ritter!« erwiderte jener freundlich. Bei diesem gefürchteten Namen – dem Namen eines der kühnsten Männer und des verwegensten Freibeuters seiner Zeit – entfärbten sich Martinos Wangen, und seine Begleiter wichen zurück. »Und dieser, mein Kamerad«, fuhr der Ritter fort, »ist Euch wahrscheinlich besser bekannt als ich, und Ihr erkennt ohne Zweifel in ihm Rudolf aus Sachsen. Er ist ein braver und tüchtiger Mann, besonders, wenn er für seine Dienste ordentlich bezahlt wird.« »Signor«, sagte Adrian zu seinem Gegner, der stumm und überrascht die beiden Neuangekommenen mit starren Blicken ansah. »Ihr seid 275
jetzt in meiner Gewalt. – Seht! Unsere eigenen Leute kommen auch schon!« Und in der Tat sah man Fackeln aus dem Palast des Stephan Colonna sich nähern, und bewaffnete Männer eilten herbei. »Geht ruhig nach Hause«, fuhr Adrian überlegen fort, »und wenn Ihr mich morgen oder an einem anderen Tag treffen wollt, oder auch Trupp gegen Trupp und Mann gegen Mann, nach römischer Sitte, so werdet Ihr mich finden – hier ist mein Pfand!« Martino antwortete nicht; er nahm den Handschuh auf, schob ihn in den Mantel und ging schnell davon. Adrian bemühte sich um Irene. »Entschuldigt, edler Ritter«, sagte er, »wenn ich mich noch nicht ganz der Dankbarkeit widmen kann!« »Also ein Mädchen war die Ursache des Streites. Ich brauche nicht zu fragen, wer recht hatte, wenn ein Mann als Nebenbuhler mit solcher Übermacht, wie jener Schurke auftritt!« »Ihr täuscht Euch, Herr Ritter. Ich habe nur ein Lamm vor dem Wolf gerettet.« »Für den eigenen Schmaus! – Meinetwegen!« entgegnete der Ritter schalkhaft. Adrian lächelte und schüttelte den Kopf. Er war in der Tat etwas verlegen in seiner Lage. Er konnte das Mädchen nicht auf der Straße lassen; er konnte sie keinem anderen anvertrauen. Und als sie jetzt in seinen Armen lag, war sie ihm, in dem Bewußtsein des Schutzes, das dem menschlichen Herzen so wohl tut, schon teuer geworden. Er teilte daher denen, die sich jetzt um ihn versammelt hatten, in kurzen Worten die Ursache des Kampfes mit und befahl den Fackelträgern, ihm nach Hause zu leuchten. »Ihr, Herr Ritter«, sagte er zu Montreal, »werdet, wenn Ihr nichts Angenehmeres zugesagt habt, mich als Gast beehren.« »Ich danke, Signor«, antwortete Montreal, »auch ich habe meine eigenen Angelegenheiten. Auf Wiedersehen, ich werde Euch bald einmal aufsuchen. Ich wünsche Euch eine süße Nacht und angenehme Träume!« 276
Die Wohnung Adrians befand sich gegenüber dem Palast Stephan Colonnas, seines mächtigen Verwandten. Die schweren Tore wurden geöffnet, als er kam. Er stieg die breite Treppe hinauf und trug seine schöne Last in ein Zimmer, welches sein gebildeter Geschmack mit einer für jene Zeit ungewöhnlichen Pracht ausgestattet hatte. »Lichter und Wein!« befahl der Seneschall. »Laßt uns allein«, sagte Adrian, als er auf die bleichen Wangen Irenes blickte, von deren Schönheit er sich jetzt bei hellem Licht überzeugte. – Eine süße, leidenschaftliche Hoffnung erfüllte sein Herz.
Ein Mann in den besten Jahren saß allein vor einem mit verschiedenen Papieren bedeckten Tisch. Über dem Tisch drang das Licht des Mondes durch ein hohes Fenster. In einer Vertiefung rechts von diesem Fenster sah man dreißig bis vierzig Bände, die damals für eine bedeutende Bibliothek galten, aufgestellt. Es waren meist Manuskripte von der Hand des Eigentümers nach unsterblichen Originalen. Den Kopf in die Hand gestützt, überließ sich der Mann mit gerunzelter Stirn und zusammengepreßten Lippen seinen Betrachtungen. Das stille Mondlicht beleuchtete ernste Züge, dichtes braunes Haar fiel in großen Locken auf eine hohe, gewölbte Stirn. Das feste, hervortretende Kinn, die Adlernase, die etwas eingefallenen Wangen, erinnerten an das kräftige römische Geschlecht und hätten einem Maler zum Modell für einen jungen Brutus dienen können. Der Charakter Rienzis hatte sich mit jeder neuen Stufe der Macht, die er erstieg, kräftiger und fester ausgebildet. Obgleich seine Eltern niederen Standes und arm waren, so war doch sein Vater ein natürlicher Sohn Heinrichs VII. Der Stolz der Eltern war wohl die Ursache, weshalb auf die Erziehung Rienzis ungewöhnliche Sorgfalt verwendet worden war. Dieser Stolz war auf ihn selbst übergegangen. Rienzi überhörte das leichte Klopfen an der Tür. Ein Diener in der reichen Livree der päpstlichen Beamten trat ein. 277
»Signor«, sagte er, »der Bischof von Orvieto ist angekommen.« »Ha, das ist vortrefflich! Licht her! Es widerfährt mir eine Ehre, die ich besser zu würdigen als auszudrücken vermag!« »Nur keine großen Worte«, sagte der Bischof heiter, »keine Zeremonien unter den Dienern der Kirche!« Er ließ sich schwer in einen Sessel fallen. »Und nie brauchte die Kirche mehr Freunde als in diesen Zeiten! Diese Tumulte, diese unverschämten Kämpfe in der Stadt …« »Und es wird nicht anders werden«, sagte Rienzi, »bis Seine Heiligkeit selbst geruhen, in dem Sitz seiner Vorfahren seine Residenz zu nehmen und mit starkem Arm die Gewalttätigkeiten des Adels zu zügeln!« Der Bischof machte eine müde Handbewegung: »Wenn der Papst deine Wünsche erfüllte und von Avignon nach Rom zurückkehrte, so würde nicht er den Adel, sondern der Adel ihn beugen!« Erregt fuhr Raimond fort: »Selbst ich, der Vikar des Papstes, wurde vor drei Tagen durch jenen Stephan Colonna, der immer mit so viel Gunst und Auszeichnung vom Heiligen Vater behandelt wurde, schwer beleidigt. Seine Diener verhöhnten die meinigen auf offener Straße, und ich selbst wurde gezwungen, mich an die Mauer zurückzuziehen und zu warten, bis der Unverschämte vorbei war. ›Entschuldigt, Herr Bischof‹, sagte er, als er vorbeikam, ›aber Ihr wißt, daß diese Welt notwendigerweise vor jener den Vortritt hat.‹« Rienzi unterdrückte ein Lächeln, dann begann er ernst: »Es ist das Unglück Eures Ranges, nie das Volk oder die Zeichen der Zeit zu erkennen. Aber verzweifelt nicht, hoher Herr! Die Geduld hat ihre Grenze – diese Grenze ist bereits überschritten. – Rom erwartet nur die Gelegenheit, und sie wird kommen, um sich vereinigt gegen seine Unterdrücker zu erheben!« Der Bischof horchte auf. »Aber werden sich bloß die Plebejer erheben? Du weißt, wie unzuverlässig sie sind …« »Glaubt Ihr, Herr Bischof, daß ich mich nur auf die Plebejer allein verlasse? Es gibt keinen Mann in Rom, außer unsere Unterdrücker selbst, dessen Herz und Schwert nicht mit mir wären. Alle erwarten nur das Zeichen, um unterzugehen oder zu siegen, um ein freies Le278
ben oder einen unsterblichen Tod zu erwerben – mit Rienzi und ihrem Vaterland!« »Ist das wahr?« entgegnete der Bischof überrascht. »Beweise es mir, und du wirst dich überzeugen, daß die Diener Gottes für das Glück der Menschen begeistert sind!« »Was ich sagte«, erwiderte Rienzi in kälterem Ton, »das kann ich beweisen; aber ich werde es nur denen beweisen, die sich für unsere Sache erklären.« »Sei unbesorgt«, entgegnete Raimond, »ich kenne die geheimen Absichten Seiner Heiligkeit. Teile mir unbesorgt deine Pläne mit. Glaube mir, daß Rom keinen sicheren Freund hat als den, der berufen ist, die Ordnung zu behaupten. – Jetzt aber laß uns zum Zweck meines Besuches übergehen: Du weißt, daß Seine Heiligkeit dich beauftragte, für das Jahr 1350 ein allgemeines Jubiläum in Rom zu verkünden. Erstens, damit jeder Christ, der nach Rom pilgert, eine allgemeine Vergebung der Sünden erlange, und zweitens, weil die Spenden, die bei dieser Gelegenheit zusammenfließen, die Einkünfte des Heiligen Stuhles wesentlich vermehren …« Rienzi nickte schweigend, und der Prälat fuhr fort: »Aber diese frommen Absichten dürften vereitelt werden, denn die Räuber, die die Straßen nach Rom unsicher machen, sind jetzt so kühn und zahlreich, daß in der Tat der mutigste Pilger verscheucht werden muß. – Seine Heiligkeit hat mich beauftragt, die Patrizier zu Hilfe zu rufen. Ich habe diesen meinen Auftrag erfüllt, aber meinen Zweck nicht erreicht.« »Denn mit Hilfe derselben Räuber haben die Patrizier ihre Paläste gegeneinander befestigt und verteidigt«, fügte Rienzi hinzu. »Und darum«, fuhr der Bischof fort, »weigern sie sich, irgend etwas gegen die Banditen zu tun. So höre jetzt den zweiten Auftrag Seiner Heiligkeit: Wenn es mit dem Adel nicht gelingt, so sprich mit Cola di Rienzi. Er ist ein kühner und frommer Mann und steht beim Volk in großem Ansehen. Wenn er Mittel weiß, dieses Gesindel zu vernichten und die Sicherheit der öffentlichen Wege wiederherzustellen, werden wir ihm in jeder Weise gefällig sein.« 279
Rienzi sprang auf. »Ich übernehme den Auftrag«, rief er. »Ich bürge für den Erfolg!« Der Bischof sah Rienzi forschend an: »Ich betone«, sagte er, »in solchen schwierigen Angelegenheiten ist der Erfolg die einzige Sanktion. Gelingt es dir, so werden wir alles entschuldigen – selbst den …« ». Tod eines Colonna oder eines Orsini«, schloß Rienzi. Der Bischof schwieg, aber eine leichte Bewegung seines Kopfes war für Rienzi hinreichende Antwort. Beide fühlten, daß der Vertrag abgeschlossen war. Der Bischof entfernte sich. Das Tor des Hauses wurde geöffnet, die zahlreichen Diener des Bischofs leuchteten mit den Fackeln. Da eilte eine Frau herbei und warf sich Rienzi zu Füßen. »O eilt, Herr, um Gottes willen eilt! Oder die junge Signora ist für immer verloren!« »Die Signora! Himmel und Erde, Benedetta, von wem sprichst du? Von meiner Schwester?« »Die Orsini – die Orsini«, jammerte das Weib. »Was ist mit ihnen, rede!« Benedetta erzählte atemlos und in abgebrochenen Sätzen das Abenteuer des Martino di Porto, soweit sie die Szene miterlebt hatte. Rienzi hörte schweigend zu. Totenblässe überzog seine Wangen. »Ihr hört, Herr Bischof«, sagte er, als Benedetta schwieg. »Ihr hört, welchen Beleidigungen die Bürger Roms ausgesetzt sind. – Mein Schwert – schnell! – Entschuldigt meine Eile hoher Herr!« »Wohin willst du denn?« fragte Raimond. »Wohin – wohin? Ich vergaß, Ihr habt keine Schwester – vielleicht habt Ihr auch keinen Bruder! – Ihr fragt, wohin ich will? Nach dem Palast des Martino di Porto!« »Zu einem Orsini, allein? Und um Gerechtigkeit zu fordern?« »Allein!« rief Rienzi laut und ergriff das Schwert. »Ein Mann genügt für die Rache!« Der Bischof dachte kurz nach. »Er darf nicht untergehen«, murmelte er bei sich selbst. Dann rief er mit gebieterischer Stimme: »Die Fackeln her! Wir selbst – wir, der Vikar des Papstes, wollen die Sache un280
tersuchen! Ihr sollt Eure junge Signora wiederhaben! Fort! Nach dem Palast des Martino di Porto!«
II Zärtlich blickte der junge Adrian auf die vor ihm liegende Gestalt, in die nach und nach das Leben zurückkehrte. »Benedetta!« flüsterte Irene, als sie endlich ihre Augen aufschlug. »Benedetta! Wo bin ich?« Sie fuhr auf. »Dieses Zimmer – träume ich noch? Und Ihr – Ritter Adrian di Castello …« »Ist das ein Name, den man dich fürchten gelehrt hat?« fragte Adrian. Irene begann heftig zu schluchzen. Adrian, der ihre Gedanken erriet und durch ihre Tränen gerührt wurde, vergaß für einen Augenblick alle kühneren Wünsche, die er genährt hatte. »Sei unbesorgt, süßes Mädchen«, sagte er. »Beruhige dich. Es war diese Hand, die dich vor der Schändlichkeit des Orsini schützte – dieses Haus hat einen Freund dir nur zum Zufluchtsort bestimmt. Sage mir deinen Namen und deine Wohnung – und ich will meinen Diener rufen, um dich gleich nach Hause zu geleiten.« Irene errötete. Nach einer kleinen Pause flüsterte sie: »Ich sehe meine Gefährtin nicht – gestattet, daß sie mich nach Hause begleitet; es ist nicht weit von hier.« »Deine Begleiterin, teures Mädchen, entfloh, wie ich glaube, in der Verwirrung des Kampfes. Und da ich deinen Namen nicht kannte, brachte ich dich hierher. – Doch ich will dich begleiten. – Weshalb aber dieser ängstliche Blick? Meine Diener sollen uns auch begleiten.« »Mein Dank, edler Herr, ist von wenigem Wert. Mein Bruder, der Euch nicht unbekannt ist, wird Euch genügender danken können. Darf ich gehen?« Irene war bei diesen Worten bereits an der Türe. »Willst du mich durchaus so schnell verlassen?« fragte Adrian trau281
rig. »Aber es ist ja Seligkeit, deinen Wünschen zu gehorchen – wenn sie dich auch von mir entfernen.« Ein leichtes Lächeln umspielte Irenes Lippen, und Adrians Herz schlug ihm selbst hörbar. Langsam und widerstrebend trat er an die Tür und rief seine Diener. Dann wandte er sich lächelnd Irene zu. »Der Himmel wolle, daß dein Bruder wirklich ein Freund der Colonna ist.« »Cola di Rienzi rühmt sich, ein Freund der Freunde Roms zu sein«, antwortete Irene ausweichend. »Jener außerordentliche Mann ist dein Bruder?« rief Adrian. »In einem Colonna wird er keinen Verdienst sehen – und wäre es auch dein glücklicher Retter, der schon früh um seine Freundschaft warb.« »Ihr tut ihm sehr unrecht, edler Herr«, erwiderte Irene mit Wärme. »Er ist der Mann, der vor allem anderen Euren edlen Mut anerkennen wird, wäre er auch für die Verteidigung des geringsten Weibes in Rom verwendet worden – um wieviel mehr also, wenn für die Verteidigung seiner Schwester!« »Und da du mir deines Bruders Namen gesagt hast, nenne mir jetzt auch den deinigen!« »Irene.« »Irene. Es ist ein Name, der sich ganz für dich eignet!« Adrian und Irene nahten sich schon der Straße, in der Rienzi wohnte, als ihnen unerwartet viele Männer mit Fackeln begegneten. Es war das Gefolge des Bischofs von Orvieto, der vom Palast des Martino di Porto zurückkehrte und auf dem Weg nach der Wohnung Adrians war. Rienzi, der sich dem Zuge des Bischofs angeschlossen hatte, wußte, daß Irene unter dem Schutze Adrians sicher war. Als das Mädchen den Bruder erkannte, lief es auf ihn zu und bat ihn, an seine Brust geschmiegt, dem Retter zu danken. Rienzi näherte sich mit gewinnender Herzlichkeit dem jungen Colonna und brachte ihm seinen Dank dar. »Wir sind so lange voneinander getrennt gewesen – wir müssen unsere Bekanntschaft wieder anknüpfen«, sagte Adrian. »Ich werde dich nächstens besuchen!« 282
Als er sich Irene empfahl, führte er ihre Hand an seine Lippen. Leise erwiderten ihre zarten Finger seinen Druck.
»Du tust mir unrecht!« sagte Rienzi lebhaft zu Adrian, als sie nach einiger Zeit beisammensaßen. »Ich will nicht die großen Tiefen aufregen, um darin eigenes Glück von der Oberfläche zu fischen. Ich habe meinen Geist zu einer einzigen Leidenschaft umgestaltet, und diese ist – die Wiederherstellung Roms.« »Aber durch welche Mittel?« »Es gibt nur einen Weg, die Größe eines Volkes wiederherzustellen – es ist der Aufruf an das Volk selbst. Der Macht der Fürsten und Barone ist es nicht gegeben, ein Volk auf die Dauer glorreich zu machen; sie erheben sich, aber das Volk erhebt sich nicht mit ihnen. Alle großen Regenerationen werden durch die allgemeinen Bewegungen der Massen bewirkt!« »Wenn aber Euer Plan mißlingt, so sind die Ketten Roms befestigt für immer; ein fruchtloser Versuch der Befreiung schmiedet die Ketten der Sklaverei nur desto fester.« »Und was schlägt uns denn Herr Adrian vor?« fragte Rienzi mit seinem eigentümlichen, sarkastischen Lächeln. »Sollen wir warten, bis die Colonna und die Orsini keine Fehden mehr miteinander führen? Sollen wir die Colonna um Freiheit, die Orsini um Gerechtigkeit bitten? – O möchtest du, der einzige in deinem Stande, der es weiß, daß er ein Vaterland hatte, möchtest du, der die Größe unserer Leiden zu ermessen vermag, mit uns kämpfen, um sie zu besiegen!« »Du willst gegen Stephan Colonna, meinen Verwandten, auftreten? Um die Wahrheit zu sagen: Ich achte ihn nicht allzusehr. Aber er ist doch der Stolz unseres Hauses. Wie kann ich mich daher dir anschließen?« »Sein Leben, seine Besitzungen, sein Rang werden unangetastet bleiben. Wir treten nur gegen seine Macht auf, die er dazu benützt, anderen zu schaden. – Er baut Türme und Kastelle und sieht nicht das mächtige Gebäude, das auch ich errichtet habe.« 283
»Du? Wo, Rienzi?« »In den Herzen der Römer!«
Rienzi saß in einem Zimmer seines Palastes und schien in der Gesellschaft seiner harmlosen Schreiber ganz mit den Details seines stillen Berufs beschäftigt. Da hörte man von der Straße den lauten Ruf: »Pandulfo! Lang lebe Pandulfo!« »Pastrucci, mein Freund«, mahnte Rienzi, »Ihr seid zerstreut. Ihr hört auf den Lärm da draußen – beschäftigt Euch mit der Berechnung, die ich Euch anvertraute …« Man hörte jetzt leises Klopfen an der Tür, und Pandulfo trat ein. Die Schreiber fuhren mit ihrer Arbeit fort, sahen aber bisweilen verstohlen auf den bleichen Gelehrten, dessen Name, zu ihrer großen Verwunderung, ein Gegenstand des Volksrufes geworden war. »Ah, mein Freund«, sagte Rienzi zwar mit ruhiger Stimme, aber seine Hände zitterten in schwer zu verbergender Bewegung. »Ihr wollt mich allein sprechen, nicht wahr? Tretet hier ein!« Mit diesen Worten führte er ihn in ein kleines Kabinett, verschloß sorgfältig die Tür und ergriff stürmisch die Hand Pandulfos. »Sprich«, sagte er, »hast du mit ihnen über ihr Elend gesprochen? – Hat es tiefe Wurzeln gefaßt in ihren Gemütern?« »Ja – bei Gott«, erwiderte Pandulfo bewegt. »Sie verschlangen jedes Wort meiner Rede! Du könntest sie jetzt gleich zur Schlacht führen, und sie würden kämpfen, wie Helden. Was den wilden Schmied betrifft …« »Was, Cecco del Vecchio?« unterbrach ihn Rienzi. »Was tat er?« »Er hielt mich am Zipfel meines Mantels, als ich von meinem Rostrum stieg, und sagte weinend: ›Ach Herr, ich bin ein armer Mann, aber wäre jeder Tropfen Blutes in meinen Adern ein Leben – ich wollte sie alle für mein Vaterland willig opfern!‹« »Der brave Mann«, sagte Rienzi gerührt, »hätte Rom nur fünfzig solcher Bürger!« 284
»Übrigens«, sagte Pandulfo, »hätte ich fast vergessen, dir zu erzählen, daß das Volk sich hierher begeben wollte, so sehr verlangte es, dich zu sehen. Ich verhinderte es. Hatte ich nicht recht?« »Allerdings, Pandulfo …« »Aber Cecco del Vecchio sagte, er müsse kommen, um dir die Hand zu küssen.« »Er ist willkommen!« sagte Rienzi. »Und sieh, da ist er schon.« Ein Schreiber meldete den Besuch des Schmiedes. »Nähere dich, mein Freund«, begrüßte Rienzi den Getreuen. »Ich weiß alles, was du für Rom getan hast und noch tun willst.« Er reichte dem Schmied die Hand. »Und wann«, fragte Cecco ungeduldig, »wann werden wir die große Unternehmung ausführen?« »Du hast mit allen tüchtigen Männern in deiner Nachbarschaft gesprochen? Sind sie gut vorbereitet?« »Sie sind bereit, zu leben und zu sterben nach dem Willen des Rienzi!« »Ich muß heute abend die Listen mit den Namen und Wohnungen haben.« »Es soll geschehen.« »Dann geh heute abend bei Sonnenuntergang nach dem Hause des Pandulfo di Guido. Er wird dir sagen, wo du diese Nacht mit einigen wackeren Männern zusammentriffst. – Du bist würdig, einer der ihrigen zu sein.« »Ich werde jede Minute bis dahin zählen«, sagte der Schmied. Seine braunen Wangen glühten vor Freude und Stolz über das in ihn gesetzte Vertrauen.
Durch ein offenes Fenster des Palastes der Raselli drang mildes Mondlicht. Mit einer Lampe neben sich, vor der sie ihre Augen zu decken schien, vertiefte sich Nina di Raselli in eines jener zärtlichen Sonette, 285
die damals ganz Italien begeisterten. Aber ihre Blicke waren nicht auf das Buch, sondern auf den Garten unter dem Fenster gerichtet. Auf die dicht belaubten Bäume fiel das Licht des Mondes, und in der Mitte des vernachlässigten Rasenplatzes rauschte ein Springbrunnen. In der dunkelsten Ecke des Gartens verbargen die dicht zusammenstehenden Bäume eine niedrige, dicke Mauer, die die Wohnung der Raselli umgab. Die Zweige dieser Bäume bewegten sich leise, aber Nina bemerkte es. Jetzt trat aus dem Dickicht vorsichtig eine Gestalt, deren Schatten lang und düster über die Wiese fiel. Sie näherte sich dem Fenster und flüsterte leise den Namen Ninas. »Schnell, Lucia!« rief sie dem Kammermädchen. »Schnell! Die Strickleiter! Er ist gekommen! Mein Geliebter! Mein Rienzi!« Rienzi sprang in das Zimmer und schloß Nina in seine Arme: »Was anderen Nacht ist, wird für mich zum Tag!« Die ersten süßen Augenblicke der Begrüßung waren vorüber. Rienzi saß zu den Füßen der Geliebten. Sein Haupt ruhte auf ihrem Schoße – ihre Hände waren ineinander verschlungen. »Und für mich nimmst du dies alles auf dich«, sagte Rienzi, »die Gefahr der Entdeckung – den Zorn deiner Eltern.« »Was sind schon meine Gefahren gegen die deinigen? Wenn mein Vater dich hier entdeckte – es wäre dein Tod!« »Er würde es wohl für eine große Entehrung halten, daß du deine Liebe einem Plebejer – und wäre es auch der Enkel eines Kaisers – schenkst?« »Für mich ist es eine Ehre, dir zu gehören! Es ist glorreich, deine Pläne zu teilen, deine Zweifel zu beseitigen, dir in der Gefahr Hoffnung zuzuflüstern …« »… und meinen Triumph zu teilen!« fügte Rienzi leidenschaftlich hinzu. »Wenn die Zukunft jemals meine Stirn mit einem Lorbeerkranz schmückt – welche Belohnung, ihn dir dann zu Füßen zu legen!« Dies waren Worte, die, mehr als alle Gelübde und Zärtlichkeiten, Nina die selbstgewählten Fesseln so leicht machten. Die Leidenschaft Rienzis und seiner Geliebten wurde durch tausend voneinander getrennte, aber durch die Konzentration der Liebe in einem Brennpunkt 286
gesammelte Gefühle getragen. Die Zukunft beschäftigte ihre Gedanken, der Ruhm, den sie von ihr erwarteten, wurde ihr Altar. »Eine Stunde ist vorüber«, sagte Rienzi, »es ist bald Mitternacht – unsere Freunde erwarten mich …« »Dann gehe nur, Liebster! Ich werde dich keinen Augenblick von deinen hohen Zielen abhalten! – Aber wann werden wir uns wiedersehen?« »Jedenfalls nicht so«, sagte Rienzi, »nicht heimlich – nicht wie bisher! Wenn du mich wiedersiehst, werde ich an der Spitze der Söhne Roms stehen, als ihr Held, als ihr Befreier, oder …« sagte er leise. »Es gibt kein ›Oder‹!« unterbrach ihn Nina und umarmte ihn fest. »Du hast dein eigenes Geschick ausgesprochen!« »Noch einen Kuß! Lebe wohl! Der zehnte Tag von morgen ab ist der Geburtstag des neuen Rom!«
III Es war Mittag, als Adrian sich den Toren des Palastes von Stephan Colonna näherte. Am Fuße der Treppe waren einige Dutzend der Banditen, die der alte Colonna besoldete, versammelt; sie würfelten auf einem alten Grabstein. Adrian trat in ein großes Vorzimmer, das mit der höheren Klasse der patrizischen Bedienung halb angefüllt war; fünf oder sechs aus dem niederen Adel gewählte Pagen unterhielten sich halblaut. Drei Hauptleute saßen mit gelösten Harnischen, Becher und Weinflasche neben sich, stumm an einem Tisch. Auffallend war der Gegensatz, den ihr nordisches Phlegma zu einer Menge italienischer Klienten und Schmarotzer bildete, die unruhig auf und ab gingen und laut miteinander sprachen. Es entstand allgemeines Aufsehen und Bewegung in dieser 287
so verschiedenartig zusammengesetzten Gesellschaft, als Adrian eintrat. Die Hauptleute nickten mechanisch mit den Häuptern, die Pagen verbeugten sich, die Klienten und Schmarotzer versammelten sich um ihn, jeder mit einer besonderen Bitte, um sich bei seinem mächtigen Verwandten in Erinnerung zu bringen. Adrian bedurfte seiner ganzen Gewandtheit, um sich ihnen zu entziehen. Endlich erreichte er mit Mühe die niedrige und enge Tür, an der ein Bedienter stand, der, je nach seiner Laune, die sich Anmeldenden zuließ oder zurückwies. »Ist der Baron allein?« fragte Adrian. »Wohl nicht, edler Ritter; ein fremder Herr ist bei ihm – doch für Euch wird er zu sprechen sein.« »Gut, laß mich ein. Ich will mich nach seinem Befinden erkundigen.« Durch ein großes und einsames Zimmer trat Adrian in ein kleines Kabinett, in dem er seinen Verwandten fand. Der alte Colonna saß vor einem mit Papieren bedeckten Tisch. Ein mit Pelzwerk reich besetztes Gewand umhüllte seine stattliche Gestalt. In den Zügen des alten Patriziers, der sein achtzigstes Jahr längst vollendet hatte, bemerkte man noch die Spuren einer Liebenswürdigkeit, durch die er sich in seinem Mannesalter ausgezeichnet hatte. Stephan Colonna war in der Tat auch tapferer als die meisten Römer, obgleich er fest an dem italienischen Grundsatz hielt, nie einen Feind zu bekämpfen, solange es möglich ist, ihn zu überlisten. Zwei Fehler jedoch verminderten die Erfolge seiner Klugheit: eine außerordentliche Selbstsucht und eine zu große Zuversicht auf die Resultate seiner eigenen Erfahrungen. Aber sein zahlreiches und edles Geschlecht war stolz auf sein Oberhaupt. Mit Recht, denn er war der Fähigste, nicht allein unter den Colonnas, sondern vielleicht auch unter den mächtigeren Familien. Neben Stephan Colonna saß Walter von Montreal, ein Mann von edlem Äußeren, ungefähr dreiunddreißig Jahre alt. Die Erscheinung dieses berühmten Ritters entsprach keineswegs dem Schrecken, den sein Name allgemein erregt hatte. Seine Züge waren regelmäßig und von fast weiblicher Anmut und Zartheit. Er trug ein Kleid aus brau288
nem, mit Perlen besticktem Samt und darüber den Mantel der St.-Johanniter-Ritter mit dem weißen, in acht Spitzen auslaufenden Kreuze. Seine beiden Hände, klein und zart und der Sitte der Zeit gemäß mit Edelsteinen bedeckt, stützte er auf den goldenen Griff eines großen Schwertes. »Guten Morgen!« sagte Stephan zu dem eintretenden Adrian. »Setz dich! Mein ritterlicher Besuch ist der berühmte Herr von Montreal.« »Ich bin ihm mehr Dank schuldig, als Ihr wißt, edler Stephan«, sagte Adrian, »und er versprach mir, mich zu besuchen, um meinen Dank entgegenzunehmen.« »Ich versichere Euch«, antwortete Montreal verbindlich, »daß ich die Einladung nicht vergessen habe.« »Laßt uns zum Gegenstand unserer Unterhaltung zurückkehren«, sagte Stephan feierlich. »Du mußt wissen, Adrian, daß ich meinem edlen Gast die tapferen Krieger verdanke, die Rom so ruhig halten, wenn sie auch meine Wohnung so geräuschvoll machen. Er hat sich erboten, ihre Anzahl zu vermehren. – Fahrt fort, edler Ritter, ich habe vor meinem Verwandten keine Geheimnisse!« »Ihr seht ohne Zweifel, edler Herr«, sagte Montreal zu Adrian, »daß uns Italien in diesem Augenblick ein merkwürdiges Schauspiel darbietet. Es ist ein Kampf zwischen zwei Mächten. Die eine Macht ist jene des unruhigen Volkes – die andere ist jene der Oberhäupter und Fürsten. Unter diese beiden Parteien sind die Städte Italiens geteilt.« Adrian erwiderte nichts. »Es herrscht fortwährender Kampf«, nahm Montreal das Gespräch wieder auf. »Man hört von nichts anderem als von Verfolgungen und von Verbannungen. In manchen Städten, wie Mailand, Verona, Bologna, wird das Volk durch einen einzigen Mann beherrscht, der sich selbst einen Fürsten nennt und den seine Feinde einen Tyrannen schimpfen. Da er mehr Macht hat als irgendein anderer Bürger, so behauptet er eine feste Regierung. Wenn in dem einen Staate das Volk sich gegen den Fürsten auflehnt, so schickt das Volk des anderen – nämlich des freien Staates – Waffen und Geld, um es zu unterstützen.« 289
»Unverschämt!« sagte Stephan. »Mir scheint es nun«, fuhr Montreal fort, »daß dieser Kampf früher oder später ein Ende nehmen muß. Ganz Italien muß republikanisch oder monarchisch werden. Es ist leicht, den Erfolg vorherzusehen.« »Ja, die Freiheit muß zuletzt siegen!« sagte Adrian mit Wärme. »Entschuldigt, edler Herr, meine Ansicht ist der Eurigen gänzlich entgegengesetzt. Ihr wißt, wie diese Republikaner Kriegeführen. Entweder sie wenden sich an einen ausländischen Feldherrn und versprechen ihm, wenn er seinen Schutz zusagt, dafür die Herrschaft für fünf oder zehn Jahre – oder sie leihen von einem kühnen Abenteurer so viele Truppen, wie sie bezahlen können. Ist es nicht so?« Adrian nickte mißmutig mit dem Kopfe. »Gut denn; es ist die Schuld des fremden Feldherrn, wenn er seine Herrschaft nicht zu einer dauernden macht; oder es ist die Schuld des Hauptmanns der Söldner, wenn er sie nicht zu Senatoren und sich selbst zum König macht. – Ganz Italien wird daher früher oder später monarchisch werden! Nun scheint es mir im Interesse aller mächtigen Familien zu sein, diesen Zeitpunkt zu beschleunigen und dem rebellischen Geiste, der sich jetzt schnell unter dem Volk verbreitet, entgegenzuwirken. In den freien Staaten leidet der Adel. Erst werden Euch Eure Privilegien entrissen, dann Euer Eigentum! Ja, wißt Ihr wohl, meine Herren, daß in Florenz der Edelmann selbst das niedrigste Amt im Staate nicht bekleiden darf!« »Die Bösewichter!« sagte Colonna. »Sie verletzen das erste Gesetz der Natur!« »In diesem Augenblick«, fuhr Montreal fort, »gibt es viele weise Männer in den freien Staaten, die den alten Lombardischen Bund zur Verteidigung ihrer gemeinschaftlichen Freiheit zu erneuern wünschen. Glücklicherweise ist die Eifersucht zwischen diesen Kaufmannsstaaten, die mehr auf Handel als auf Ruhm bedacht sind, diesen Absichten sehr hinderlich. – Jetzt ist daher die Zeit für uns gekommen, einen Bund zwischen allen italienischen Fürsten zu bilden. Zu Euch, edler Stephan, bin ich, wie es Eurem Range gebührt, allein von allen Baronen Roms gekommen, um Euch diese ehrenvolle Vereinigung vorzu290
schlagen! Berücksichtigt, welche Vorteile sie Eurem Hause verspricht. Die Päpste haben Rom für immer verlassen! Euer Ehrgeiz findet keinen Widerstand. Ihr könnt in Rom – der ersten Stadt Italiens – ein unabhängiges Fürstentum begründen und den Söhnen Eurer Söhne ein erbliches Königreich hinterlassen, das vielleicht nachmals die Herrschaft über die Welt begründen wird!« Stephan fuhr mit der Hand über das Gesicht und antwortete: »Aber, edler Montreal, dieses erfordert Mittel – Geld und Menschen.« »Mit Menschen kann ich Euch versehen – meine kleine Kompanie, die am besten disziplinierte, kann ich, wenn ich will, zu der zahlreichsten in Italien machen. Was das Geld betrifft, edler Herr, so kann das reiche Haus Colonna dessen nicht ermangeln …« »Herr Walter von Montreal«, sagte Adrian und sprang auf, »es tut mir leid, daß unter dem Dache des ersten Bürgers von Rom ein Fremder so ruhig und ohne unterbrochen zu werden ein derartiges Angebot zu machen wagt! – Sprecht, edler Herr«, wendete er sich an Stephan, »und sagt diesem Ritter aus der Provence: Wenn durch einen Colonna schon die frühere Größe Roms nicht wiederhergestellt werden kann, so wird er wenigstens die letzten Überbleibsel der Freiheit Roms nicht zerstören.« »Ei, Adrian«, sagte Stephan, »beruhige dich bitte. Edler Herr Walter – er ist jung – jung und hitzig – er beabsichtigt nicht, Euch zu beleidigen.« »Davon bin ich überzeugt«, antwortete Montreal kalt und mit großer Selbstbeherrschung. »Er spricht, ohne seine Worte abzuwägen – ein lobenswerter Fehler der Jugend. – In seinem Alter ging es mir ebenso, und oft mußte ich fast mit meinem Leben dafür büßen.« Gerührt durch die Höflichkeit des Ritters und durch die Anspielung auf eine Szene, in der er vielleicht Montreal sein Leben zu verdanken hatte, reichte Adrian ihm die Hand. »Gut, gut«, sagte Montreal. »Ich sehe, daß ich Rom sich selbst überlassen muß – der Bund muß sich ohne Roms Unterstützung behaupten. Laßt uns das, was wir gesprochen haben, vergessen. – Es ist ja wohl bald, edler Colonna, daß Ihr beschlossen habt, mit Euren Freun291
den und Eurem Gefolge nach Corneto zu reisen. Ihr habt mich eingeladen mitzukommen.« »So ist es«, erwiderte der Alte erleichtert. »Übrigens hat man uns so sehr den Vorwurf der Gleichgültigkeit für die Sache des guten Volkes gemacht, daß ich die Behauptung zurückweisen will: Wir beabsichtigen, eine Getreidezufuhr nach Corneto zu begleiten, um sie gegen die Wegelagerer zu beschützen. Ich möchte meinen Feinden und dem Volk dadurch auch die feste und wachsende Macht meines Hauses zeigen …« Bald darauf entfernte sich Montreal mit leichter Anmut. Der alte Colonna folgte ihm ins nächste Zimmer. »Herr Ritter«, sagte er und zog Montreal in eine Fensternische, »ein Wort unter uns. Glaubt nicht, daß ich Euer Anerbieten zurückweise, aber mit diesen jungen Männern muß man vorsichtig sein. Der Plan ist großartig – edel – angenehm; aber er erfordert Zeit und Vorsicht.« Montral warf einen scharfen Blick auf den Alten und erwiderte: »Meine Freundschaft für Euch hat mein Anerbieten veranlaßt. Der Bund kann auch ohne die Colonna bestehen – vielleicht kommt eine Zeit, in der die Colonna nicht ohne den Bund bestehen können. Schaut Euch um, edler Herr, es gibt mehr kühne Männer in Rom, als Ihr glaubt. Nehmt Euch vor Rienzi in acht! Lebt wohl – wir treffen uns bald wieder.« Kaum war Stephan zu Adrian zurückgekehrt, als er sein Mündel zärtlich umarmte. »Gut verstellt – vortrefflich!« sagte der Alte. »Du sahst, in welcher Verlegenheit ich war, da der unsinnige Plan des Barbaren mich so überraschte, daß ich zögerte zu verweigern und noch mehr, zuzusagen. Du hast mich mit größter Gewandtheit unterstützt; jene Heftigkeit – in deinem Alter so natürlich – war eine herrliche Finte.« »Dem Himmel sei Dank«, sagte Adrian, der sich kaum von seinem Erstaunen erholt hatte, »daß Ihr nicht daran denkt, auf jenen abscheulichen Vorschlag einzugehen.« »Daran denken! Nein, wahrhaftig!« sagte Stephan und lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Weißt du denn nicht, wie alt ich bin? Ich würde 292
ein Narr sein, wenn ich, meinem neunzigsten Jahre nahe, mich in solche Unruhe stürzen wollte.« Adrian beobachtete die Züge des alten Mannes, den nur Selbstsucht vom Verbrechen abhielt. »Und dann«, fuhr Stephan bedächtiger fort, »zeigt mir dieser Mann seine gänzliche Unkunde des Staates. Er warnte mich – mich, den Stephan Colonna – vor wem glaubst du? – vor jenem Rienzi – meinem alten Spaßmacher!« Und der alte Mann lachte, bis ihm die Tränen die Wangen herabliefen. »Und doch fürchten manche vom Adel den Rienzi!« sagte Adrian ernsthaft. »O laß sie! Laß sie – ich habe es gern, wenn Rienzi mit dem Pöbel über das alte Rom und über solches Zeug spricht. Sie haben dann etwas, womit sie sich beschäftigen und worüber sie schwatzen können, so verfliegt all ihre Keckheit in Worten. – Ach, ich vergaß – hier, dieses Papier erhielt ich heute, ehe ich aufstand. Willst du es lesen?« »Ich habe es selbst erhalten«, sagte Adrian, »es ist ein Gesuch Rienzis, uns in der Kirche St. Johann von Lateran einzufinden, um die Erklärung einer alten, kürzlich aufgefundenen Tafel anzuhören. Sie steht, wie er sagt, im engen Zusammenhang mit der Wohlfahrt Roms.« »Das mag wohl für Gelehrte unterhaltend sein! – Verzeih, ich vergaß, daß du auch für solche Sachen Interesse hast! Geh nur hin – der Mann spricht gut!« »Wollt Ihr nicht auch hinkommen?« »Ich, guter Junge? Ich?« sagte der alte Colonna und sah so verwundert aus, daß Adrian sich nicht enthalten konnte, selbst über die Einfalt dieser Frage zu lachen.
Selten war wohl ein Gotteshaus Zeuge eines so sonderbaren Schauspiels gewesen. Im Mittelpunkt der Kirche St. Johann von Lateran waren amphitheatralische Sitze erbaut. Hoch genug, um von der ganzen Versamm293
lung gesehen zu werden, war eine Tafel von Erz aufgestellt, in die eine alte Inschrift eingegraben war, welche jetzt erklärt werden sollte. Die Sitze waren mit Tuch und Tapeten bekleidet. Rechts von der Tafel saß Raimond, der Bischof von Orvieto, in seinen Staatskleidern. Auf den Bänken sah man alle ausgezeichneten Personen Roms – die Rechtsgelehrten, die Professoren, den Adel, vom hohen Rang der Savelli bis zum niederen der Raselli herab. Den Raum jenseits des Amphitheaters erfüllte das Volk, das jetzt in Massen hereinströmte, während man den Klang der großen Glocke der Kirche klar und laut hörte. Das Läuten der Glocke hörte plötzlich auf – das Getöse im Volk verstummte – der purpurne Vorhang wurde fortgezogen – und Rienzi erschien mit langsamen und feierlichen Schritten. Seine breite Brust war mit einer blendend weißen Weste bekleidet – ein langes Gewand in dem weiten Schnitt der Toga fiel bis auf seine Füße herab. Auf seinem Haupt trug er ein weißes Barett, in dessen Mitte eine goldene Krone erglänzte, die jedoch durch die mystische Zierde eines silbernen Schwertes geteilt war. »Wahrlich«, flüsterte einer der alten Patrizier seinem Nachbarn zu, »der Plebejer hat sich gut herausgeputzt.« »Er muß wohl seinen Verstand verloren haben«, sagte ein anderer. »Wie schön er ist!« flüsterte ein Mädchen unter dem Volk. »Dieses ist ein Mann, der das Volk genau kennt«, sagte Montreal zu Adrian, »er weiß, daß er zum Auge sprechen muß, um den Geist zu gewinnen; ein Schelm – ein kluger Schelm!« Rienzi hatte jetzt das Gerüst bestiegen, und als er sich lange und festen Blicks in der großen Versammlung umsah, geboten seine majestätische Ruhe und sein feierlicher Ernst allgemeines Stillschweigen. »Edle römische Herren«, begann er endlich, »und ihr, Freunde und Bürger! Ihr habt vernommen, weshalb wir an diesem Tage zusammengekommen sind; und Ihr, Herr Bischof von Orvieto, und ihr, meine Mitarbeiter in dem Gebiet der Wissenschaften – auch ihr wißt, daß wir uns mit einem Gegenstand beschäftigen wollen, der sich auf jenes alte Rom bezieht. Aber glaubt mir, dieses ist kein eitles Rätsel der Wissenschaft! Wenn ihr glaubt, edle Herren, daß wir bloß des Altertums 294
wegen Tage und Nächte studiert haben, was das Altertum uns lehren kann, so irrt ihr euch; es nützt wenig, zu erfahren, was wir gewesen sind, wenn wir nicht den Wunsch damit verbinden zu wissen, was wir sein sollen. Seht diese große eiserne Tafel, auf ihr ist eine Inschrift eingegraben. Sie wurde erst vor kurzem in den Ruinen gefunden, die o Schande für Rom! – einst die Paläste des Reiches und die Triumphbogen der Gewalt waren. Diese Inschrift berichtet von der Übergabe der kaiserlichen Macht an Vespasian durch die römischen Senatoren. Ich habe euch eingeladen, die Vorlesung dieser Inschrift mit anzuhören. Sie zeichnet die Grenzen und Bedingungen, die jener Macht gesetzt waren. Dem Kaiser war das Recht anvertraut, Gesetze zu geben und mit jeder Nation Bündnisse zu schließen – das Gebiet der Städte und Distrikte zu vergrößern oder zu verkleinern – Fürsten und Könige zu ernennen oder abzusetzen – kurz, alle Attribute der kaiserlichen Macht wurden ihm gewährt; aber durch wen? – Merkt wohl auf, ich bitte, laßt kein Wort verlorengehen – durch wen? Durch den römischen Senat. Was aber war der römische Senat? – Die Repräsentanten des römischen Volkes!« »Ein braver Mann«, sagte der Schmied, »noch dazu in Gegenwart der Patrizier so zu sprechen!« »Da könnt ihr sehen, was das Volk einst war! – Und ohne Rienzi hätten wir das nie erfahren!« »Still da!« sagte ein Offizier zu denen, die sich so besprachen. »Wer ist euer Kaiser?« fuhr Rienzi fort. »Ein Ausländer! Wer das große Haupt eurer Kirche? Ein Verbannter! – Ihr seid ohne eure gesetzlichen Oberhäupter; und weshalb? Der Übermut unseres Adels, seine Uneinigkeit und seine Gewalttätigkeiten haben unseren Heiligen Vater von dem Erbteil St. Peters vertrieben; der Adel hat euer eigenes Blut in euren Straßen fließen lassen; er hat den Ertrag eurer Arbeit in seinen Fehden und in der Unterhaltung gemieteter Wegelagerer vergeudet! – Ich bin nur ein Bürger Roms. Ich werde gehaßt, weil ich mein Vaterland liebe; ich werde verfolgt, weil ich es erhöhen will. Aber ich werde gerächt werden.« Er wandte sich plötzlich gegen die Savelli und 295
Orsini: »Drei Verräter in euren eigenen Palästen werden meine Sache führen; ihre Namen sind: Neid, Verschwörung und Uneinigkeit!« »Da hat er sie aber getroffen!« »Ha! Beim heiligen Kreuz, das war gut!« »Das ist der Mann, der uns immer gefehlt hat!« »Es wäre eine Schande, wenn wir feige wären, da er allein so mutig ist!« sagte der Schmied. »Ruhe!« rief der Offizier. »O Römer«, fuhr Rienzi fort, »erwacht! Diese Erinnerung an die Vergangenheit wurde euch in günstiger Stunde gezeigt, wenn ihr sie benutzt – in unglücklicher, wenn ihr die Gelegenheit entwischen laßt. Erinnert euch, daß das Jubiläum sich nähert!« Der Bischof von Orvieto lächelte und nickte billigend. »Das Jubiläum nähert sich – die Blicke der ganzen Christenheit werden sich hierher richten. Rom war der Welt ein Vorbild – soll es ihr jetzt eine Warnung werden? – Erhebt euch, da es noch Zeit ist! – Reinigt eure Landstraßen von den Räubern, die sie unsicher machen! – Entfernt aus euren Mauern die Söldner, verbannt diesen bürgerlichen Unfrieden oder die Männer, die ihn unterhalten, so groß, so mächtig sie auch sein mögen! Laßt die Pilger aus aller Welt Zeugen der Wiederauferstehung Roms sein! Macht das Jubiläum der Religion und die Rückkehr der Gesetzlichkeit zu einer großen Epoche!« Der Eindruck, den diese Worte in der Versammlung hervorbrachten, war so tief – die Herzen, welche sie im Sturm erobert hatten, fühlten sich so überrascht und überwältigt, daß Rienzi bereits von dem Gerüst herabgestiegen und hinter dem Vorhang verschwunden war, ehe die Menge sich bewußt wurde, daß er nicht mehr sprach. Die Eigenart seiner plötzlichen Erscheinung – der geheimnisvolle Glanz, der ihn umgab, und sein Verschwinden in dem Augenblick, da seine Aufgabe erfüllt war – vermehrten die Wirkung, die seine Worte hervorgebracht hatten. Als die Patrizier sich von ihrem ersten Erstaunen etwas erholt hatten, sahen sie sich gegenseitig an. Ihre Blicke bestätigten, wie sehr sich alle durch die Frechheit des Redners beleidigt fühlten. 296
»Das ist zu arg«, sagte Rinaldo di Orsini, »der Plebejer ist zu weit gegangen.« »Seht das Volk da unten! Welche Blicke auf uns gerichtet sind!« sagte Luca di Savelli zu seinem Todfeinde Castruccio Malatesta. Das Gefühl gemeinschaftlicher Gefahr versöhnte in einem Augenblick, aber nur für einen Augenblick, die Feindschaft von Jahren. »Diabolo!« flüsterte Raselli einem Baron zu, der so arm wie er selbst war. »Aber der Rienzi sagt die Wahrheit – es ist schade, daß er kein Edelmann ist.« »Ruhe!« riefen die Offiziere. »Ruhe, der Herr Vikar wird reden.« Bei dieser Ankündigung richteten sich alle Blicke auf Raimond, der sich mit viel geistlicher Würde erhob und Rienzi wie folgt anredete: »Mein Sohn, du hast als Patriot und als Christ gesprochen; wir fühlen alle in dem billigen Schweigen, daß deine Gesinnung geteilt wird. Laßt uns denn die Versammlung schließen; ihr Zweck ist erreicht! Die Maßregeln, welche gegen die Wegelagerer zu unternehmen sind, erfordern reifere Beratung an einem anderen Ort. Dieser Tag wird in unserer Geschichte ein wichtiger sein.« Einige Minuten darauf strömte das Volk aus der Kirche. Die Diener und Fahnenträger der Patrizier stellten sich vor den Stufen, die zur Kirche führten, auf. Sie waren darauf bedacht, für ihre Herren den Vortritt zu gewinnen. Bald entstand jedoch wieder Lärm und Gedränge unter den feindlichen Trupps, so daß die päpstlichen Beamten Mühe hatten, die Ordnung nur leidlich zu erhalten. Der Bischof von Orvieto verweilte bis zuletzt, um mit Rienzi zu sprechen, der ihn in der Sakristei erwartete. Raimond war scharfsinnig genug, um einzusehen, daß die eben stattgehabte Veranstaltung unter den Patriziern keine Veränderung hervorbringen, ihren Fehden kein Ende machen oder sie von weiteren Räubereien abhalten würde. »Geht Ihr mit uns nach Hause?« fragte er Rienzi. »Nein; ich halte es für besser hierzubleiben, bis die Menge sich ganz verlaufen hat; denn in ihrer jetzigen Aufregung könnte sie auf einer schnellen und übereilten Unternehmung bestehen. Übrigens«, fügte er hinzu, »muß bei einem unwissenden und enthusiastischen Volk 297
die Regel streng beachtet werden, nicht zu oft vor ihm zu erscheinen.« »Das ist wahr, da Ihr kein Gefolge habt«, antwortete Raimond, »so lebt denn wohl! Wir werden uns bald wiedersehen.« »Ja – zu Philippi! Euren Segen, ehrwürdiger Vater!« Rienzi verließ das heilige Gebäude einige Zeit nach dieser Unterredung. Als er auf den Stufen der jetzt einsamen Kirche stand, beleuchtete die Abendsonne die Aussicht mit magischem Licht. Dort sah er die mächtigen Bogen der Wasserleitung sich fern in die Gegend ziehen. Vor ihm zur Rechten erhob sich das Tor, das seinen römischen Namen von dem Cölischen Berge erhielt, auf dessen Abhang es noch steht. Jenseits sah er die in der grauen Campagna zerstreut liegenden, in den letzten Strahlen der Sonne erglänzenden Dörfer, und in der Ferne wurden bereits die Dächer des alten Tuskulum und des zweiten Alba – das sich noch vernachlässigt und verlassen erhebt, wo früher die Paläste Pompejis und Domitians standen – in Schatten gehüllt. Als er langsam und nachdenkend die Stufen hinabschritt, fühlte er einen leisen Schlag auf die Schulter. »Guten Abend, Herr Gelehrter!« sagte eine fremdklingende Stimme. »Guten Abend«, erwiderte Rienzi, den Mann, der ihn angeredet hatte, betrachtend. »Ihr kennt mich wohl nicht?« sagte Montreal. »Aber das tut nichts zur Sache. Wir werden bald miteinander bekannt werden; was mich betrifft, so bin ich so glücklich, Eure Bekanntschaft schon gemacht zu haben.« Rienzi warf einen forschenden Blick auf Montreal. »Kommt«, fuhr der Ritter fort. »Laßt uns weitergehen; erlaubt, daß ich Euch eine Strecke begleite. – Ja! Ich habe Euch schon gehört – an einem Abend, als Ihr mit dem Volke spracht, und heute, als Ihr dem Adel eine Strafpredigt hieltet; und um Mitternacht, vor kurzem, als Ihr auf dem wüsten Aventin Euren kühnen Verschworenen den Eid der Brüderschaft abnahmt!« Der Ritter beugte sich bei diesen Worten vor, um den Eindruck sei298
ner Worte in Rienzis Zügen zu beobachten und eine Weile zu studieren. »Ich kenne dein Geheimnis, aber niemand hat es mir verraten«, fuhr Montreal vertraulich fort. »Ich habe es selbst belauscht!« »Und hast du es als Freund oder als Feind aufgenommen?« »Das hängt von den Umständen ab«, erwiderte Montreal. »Für jetzt genügt es, dir zu beweisen, daß ich dein Feind sein kann. Ich brauche bloß das Wort auszusprechen, um dich an den Galgen zu bringen. Da ich es nicht tue, bin ich dein Freund.« »Du irrst dich! – Du kennst wenig von der Macht, über die Rienzi verfügt!« Montreal ging nicht auf die Entgegnung Rienzis ein. »Wir kommen jetzt in einen lebhafteren Teil der Stadt«, sagte er, »gibt es keinen einsamen Ort hier in der Nähe, wo wir uns weiter besprechen können?« »Ich danke dir für die Andeutung«, erwiderte Rienzi und sah sich vorsichtig um. »Willst du mir in meine Wohnung folgen? Dort können wir uns sicher unterhalten.« »Ich nehme den Vorschlag an«, sagte Montreal. Mit schnellen Schritten eilte Rienzi durch die Stadt seinem Hause zu, während Montreal ihm von weitem folgte.
Walter von Montreal war der tapferste und berühmteste Krieger des Herzogs von Athen. Er hat sein Glück und seinen Untergang geteilt. Nach dem Sturze seines Herrn hatte er als Freibeuter neuen Ruhm und neue Leute erworben. Da er jetzt ohne eine seines Unternehmungsgeistes würdige Beschäftigung war, hatte der verwirrte Zustand Roms ihn dorthin gelockt. Er hatte dem Colonna jenen Bund vorgeschlagen und die Eitelkeit dieses Herrn anzuregen versucht, aber sein einziger Zweck war nur gewesen, sich selbst unentbehrlich zu machen. Es wäre nicht schwer gewesen, durch eine Gegenrevolution den Colonna zu stürzen und sich selbst zum Oberhaupt aufzuwerfen. Aber Stephan Colonna, zufrieden mit seiner jetzigen Stellung und durch sein 299
Alter vorsichtig geworden, war nicht der Mann, der sich der Gefahr des Schafotts auszusetzen geneigt war, um einen Thron zu gewinnen. Der Ritter wendete sich daher an Rienzi. Es war ihm gleich, welche Partei siegte, die Patrizier oder das Volk, wenn nur seine eigenen Ziele erreicht wurden. Daher war sein Hauptzweck, von Rienzi zu erforschen, über welche Mittel er zu gebieten habe und wieweit ein wirklicher Aufstand schon vorbereitet sei.
»Soviel Mittel Ihr auch für die Revolution verlangt, ich kann sie verschaffen«, sagte er zu Rienzi. »Aber die Bezahlung und die Bedingungen«, sagte Rienzi mit seinem trockenen, sarkastischen Lächeln. »Diese Frage ist bald geklärt«, erwiderte Montreal. »Was mich betrifft, so würde mir schon der Ruhm und die Aufregung einer so wichtigen Unternehmung genügen. – Es ist allerdings etwas anderes mit den Kriegern, die ich anwerben müßte. Eure erste Handlung wird sein, Euch der Einkünfte des Staates zu bemächtigen. Die Einnahme des ersten Jahres – sei sie groß oder klein – soll unter uns geteilt werden. Ihr bekommt die eine Hälfte; ich und meine Krieger die andere.« »Das ist viel«, sagte Rienzi bedenklich. »Aber Rom kann seine Freiheit nicht zu teuer erkaufen. So sei es denn!« »Amen! – Nun sagt mir aber, wie stark seid ihr? – Denn Eure achtzig oder hundert Verschworenen genügen wohl kaum für eine Revolution!« Der Römer sah sich vorsichtig im Zimmer um und legte seine Hand auf Montreals Arm. »Zwischen Euch und mir bedarf es Zeit, die Sache noch weiter zu überlegen. Wir werden in den ersten fünf Wochen noch nichts beginnen können. Ich darf mich nicht übereilen.« »Fünf Wochen?« wiederholte Montreal. »Ich glaubte, die Sache wäre schon weiter gediehen.« »Was ich wünsche«, fuhr Rienzi fort und richtete seine forschenden Blicke auf Montreal, »ist, daß bis dahin alles vollkommen ruhig blei300
be. Ich werde mich in meinen Studien vergraben und keine Versammlungen mehr berufen.« »Gut!« »Und was Euch betrifft, edler Ritter, so bitte ich Euch, während dieser Zeit mit dem Adel viel umzugehen, gegen mich und das Volk die größte Verachtung zu äußern – und dazu beizutragen, daß die Patrizier noch mehr in dem trügenden Gefühl ihrer Sicherheit bestärkt werden. Mittlerweile könnt Ihr die bewaffneten Söldner, über die Ihr Einfluß habt, aus Rom entfernen und so den Adel seines einzigen Schutzes berauben. Wir verbergen diese tapferen Krieger in den Schlupfwinkeln der Berge, einen Tagesmarsch von hier. Dann stehen sie uns zu Gebote, sobald es notwendig ist, und sie werden an unseren Toren erscheinen – vom Adel als Befreier begrüßt – aber als wirkliche Verbündete des Volkes. Unsere Feinde werden, sobald sie diesen Irrtum entdeckt haben, in Verwirrung und Verzweiflung aus der Stadt fliehen.« »Und der tapfere Soldat und der listige Demagoge werden über Roms Einkünfte gebieten und es beherrschen!« sagte Montreal lächelnd. »Und jetzt, edler Montreal, eine Flasche von unserem besten Wein«, sagte Rienzi. »Ihr kennt die Provenzalen!« lachte Montreal. »Ihr wißt«, sagte Rienzi, als sie den letzten Becher tranken, »daß Stephan Colonna am 19. eine Getreidezufuhr nach Corneto begleiten will. Wird es nicht gut sein, wenn Ihr Euch ihm anschließt? Ihr könnt diese Gelegenheit benutzen, um ihm die Söldner abspenstig zu machen.« »Daran habe ich schon gedacht!« erwiderte Montreal. »Es soll geschehen! – Für jetzt lebt wohl!« Er hängte seinen Mantel um, drückte Rienzi die Hand und entfernte sich.
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IV Es war am Morgen des 19. Mai; die Luft war klar und heiter, und die ersten Strahlen der Sonne beleuchteten die funkelnden Helme und Lanzen eines stattlichen Zuges bewaffneter Reiter, der sich durch die langen Hauptstraßen Roms seinen Weg bahnte. An der Spitze des Zuges ritt auf einem feurigen Schlachtroß Stephan Colonna. Zu seiner Rechten lenkte der Ritter aus der Provence mit leichter Hand ein kleines, aber mutiges Pferd von arabischer Rasse. Eine große Anzahl von Patriziern – die Blüte des römischen Adels – folgte dem alten Baron, und der Zug wurde durch einen Trupp schwerbewaffneter ausländischer Söldner beschlossen. Es waren noch einige Menschen in den Straßen – die Bürger blickten scheinbar gleichgültig aus den Fenstern auf den Zug. »Haben diese Römer keine Freude an kriegerischen Aufzügen?« fragte Montreal. »Sie würden leichter zu regieren sein, wenn sie lebenslustiger wären.« Über Rom herrschte eine allgemeine Ruhe, ein tiefes Stillschweigen; die Läden waren immer nur halb geöffnet; niemand ging an seine Geschäfte. Plötzlich aber hörte man den Schall einer Trompete. Cecco del Vecchio, der Schmied, sah von seinem Amboß auf. Ein einzelner Reiter ritt langsam an der Schmiede vorbei und zog lange, schmetternde Töne aus der Trompete. Darauf sah man plötzlich, wie durch einen Zauber, aus allen Ecken die Menge hervordringen. Nochmals stieß der Reiter in die Trompete und rief laut: »Freunde und Römer! Morgen bei Tagesanbruch möge sich jeder Mann unbewaffnet vor der Kirche von St. Angelo einfinden. Cola die Rienzi ladet die Römer ein, über Roms Angelegenheiten zu sprechen!« 302
Ein lautes Jubelgeschrei ertönte nach dieser kurzen Aufforderung. Der Reiter zog langsam weiter, die Menge folgte ihm. – Dieses war der Anfang der Revolution! Um Mitternacht, als die Stadt in tiefer Ruhe lag, waren die Fenster der Kirche von St. Angelo noch erleuchtet. Rienzi betete in der Kirche. Die Sonne war aufgegangen, und die Menge hatte sich vor der Kirche versammelt, als das Geläute der Glocken ertönte. Rienzi trat in vollkommener Rüstung, nur ohne Helm, aus dem Portal. Sein Antlitz war bleich, seine Züge hatten einen ernsten, feierlichen Charakter. Neben Rienzi ging Raimond, und hinter ihnen folgten, zu zweien marschierend, hundert bewaffnete Männer. Die Prozession setzte in vollkommenem Schweigen ihren Weg fort, bis sie sich dem Kapitol näherte. Tausende Stimmen erfüllten die Luft mit Jubel. Die Prozession hielt am Fuß der großen Treppe, und als die Menge den weiten Platz erfüllte, redete Rienzi das Volk an. Er erklärte, daß er sein Leben der Regeneration ihres Vaterlandes widme; er forderte das Volk feierlich auf, die Unternehmung zu unterstützen und die Revolution durch ein neues Gesetzbuch und eine konstitutionelle Versammlung zu befestigen und gleichzeitig zu rechtfertigen. Darauf ließ er durch einen Herold der Menge den Entwurf der Konstitution vorlesen: Jeder absichtliche Totschlag würde, ohne Ansehen und Rang des Täters zu beachten, mit dem Tode bestraft. Die Konstitution bestimmte weiter, daß kein einzelner Patrizier oder Bürger Befestigungen oder Garnisonen in der Stadt oder in der Umgebung unterhalten dürfe und daß die öffentlichen Straßen und Brücken unter der Aufsicht der gewählten Obrigkeit stehen sollten. Sie untersagte bei tausend Mark Silber Buße die Beherbergung von Söldnern, Mördern und Räubern und machte die Barone, welche die benachbarten Ländereien innehatten, für die Sicherheit der Wege und den ungehinderten Transport der Kaufmannsgüter verantwortlich. Sie stellte die Witwen und Waisen unter den Schutz des Staates. In jedem Quartier der Stadt sollte eine bewaffnete Miliz organisiert werden, welche, sobald die Glocke auf 303
dem Kapitol ertönte, sich zum Schutz des Staates versammeln mußte. Auch in jedem Hafen der Küste sollte ein Schiff zum Schutze des Handels aufgestellt werden. Den Erben jedes in der Verteidigung Roms Gebliebenen wurden hundert Florenen versprochen und die öffentlichen Einkünfte für den Schutz und für den Dienst des Staates bestimmt. Der Entwurf dieser neuen Konstitution wurde mit den lebhaftesten Beifallskundgebungen aufgenommen. »Lang lebe Rienzi! Der neue Gesetzgeber soll uns regieren! Hoch Rienzi!« Während sich dies in Rom ereignete, war ein Diener des Stephan Colonna bereits auf dem Wege nach Corneto. Der alte Baron verlor keinen Augenblick. Er sammelte seine Söldner und rüstete zur Rückkehr nach Rom. Da trat der St.-Johanniter-Ritter zu ihm: »Was ist los?« fragte er. »Ein Aufstand? Rienzi der Beherrscher Roms? Darf man so einer Nachricht glauben?« »Sie ist nur zu wahr«, lächelte der alte Colonna bitter. »Wo sollen wir ihn aufhängen, wenn wir zurückkommen?« »Ich würde nicht so sprechen«, erwiderte Montreal. »Rienzi ist mächtiger, als Ihr glaubt. Ich kenne die Menschen – Ihr aber nur die Patrizier …« Ehe Stephan ihm antworten konnte, hatte Montreal sich mit einer geschmeidigen Verbeugung zurückgezogen. Die gespielte Gleichgültigkeit verflog, sobald Montreal allein war. Was beabsichtigte dieser Rienzi? Wollte er ihn täuschen? Hatte er ihn aus Rom entfernt, um die Vorteile der Unternehmung sich selbst anzueignen? »Rudolf!« rief er laut, als der unbeholfene Krieger halb bewaffnet in den Hof taumelte. »Halunke! Bist du schon wieder betrunken?« »Betrunken oder nüchtern«, antwortete Rudolf, sich tief verneigend, »immer zu deinen Diensten!« »Sind deine Kameraden bereit?« »Achtzig von ihnen, die der schlechten Luft in Rom schon überdrüssig sind, werden dem Ritter Walter von Montreal folgen, wohin er sie führt!« 304
»Sage ihnen, sie sollen aufsitzen! Wir reiten nicht mit dem Colonna. Wir machen uns früher aus dem Staub!« Als Stephan Colonna sein Pferd bestieg, wurde ihm gemeldet, daß der Ritter aus der Provence und achtzig seiner Söldner schon fort seien. Niemand wußte, wohin. Als der Zug Colonnas vor den Toren Roms ankam, waren die Mauern von Bewaffneten besetzt. Stephan begehrte gebieterisch Einlaß. »Wir haben Befehl«, erwiderte der Anführer der Torwache, »niemand einzulassen, der Waffen oder Fahnen trägt. Wenn die Herren Colonna ihren Zug entlassen, so sind sie willkommen!« »Wer hat diesen unverschämten Befehl gegeben?« fragte der Hauptmann. »Der Bischof von Orvieto und Cola di Rienzi, die Beschützer des neuen Staates!« »Sage dem übermütigen Rienzi«, schrie Stephan Colonna, bleich vor Wut, »daß ich ihn morgen im Kapitol aufsuchen werde, um ihn aus dem höchsten Fenster zu werfen!« Noch ehe der Baron Zeit fand, Befehle an seine Leute zu geben, wurden die Tore geöffnet und eine wohlbewaffnete Menge drang hervor, die azurnen Banner des römischen Staates an der Spitze. Ihr Angriff war so heftig, daß die Patrizier nach einem kurzen und verwirrten Kampf zurückgetrieben und mehr als eine halbe Stunde verfolgt wurden. Sobald die Barone ihre Truppen wieder gesammelt und geordnet hatten, wurde Beratung gehalten. Einige drangen darauf, man solle sich nach Palestrina, welches den Colonnas gehörte, zurückziehen. Stephan Colonna, der seine gewöhnliche Kaltblütigkeit verloren hatte, konnte seine Autorität nicht behaupten. Er machte den Vorschlag, daß einer von ihnen scheinbar unterwürfig nach Rom reiten solle, um die Mittel, über die Rienzi verfügte, auszukundschaften. »Und wer«, fragte Savelli, »soll diesen gefährlichen Auftrag übernehmen?« »Ich!« sagte der junge Ritter Adrian, der sich bis dahin abseits gehalten hatte. »Ich will den Auftrag übernehmen. Aber unter der einen Be305
dingung, daß es mir vorbehalten bleibt, meine Fahne auf meinen eigenen Türmen aufzupflanzen, oder dem neuen Staate Treue zu schwören!« Die Barone murmelten etwas unter sich – Adrians Vorschlag war zweckmäßig, und so willigten sie zuletzt ein. Adrian ritt darauf, nur von einem Schildknappen begleitet, langsam zur Stadt. Als er am Tore ankam, wurde er nach seinem Namen gefragt – er nannte ihn. »Zieht ein, edler Herr«, sagte der Hauptmann der Wache. »Wir haben den besonderen Auftrag, dem Herrn Adrian di Castello die ihm gebührende Ehre zu bezeigen.« So ritt der junge Patrizier langsam durch die stillen und einsamen Straßen. Als er sich dem Kapitol näherte, beschienen die letzten Strahlen der untergehenden Sonne eine ungeheure Menschenmenge, und auf einem im Mittelpunkt errichteten Gerüst erhob sich die große Fahne Roms, mit silbernen Sternen besät. Der Ritter hielt sein Pferd an. Er übergab es seinem Schildknappen, nahm dessen Pickelhaube und Mantel und begab sich unerkannt nach einem Eingang zum Kapitol. »Weshalb«, fragte er einen anständig gekleideten Bürger, »haben sich so viele Menschen hier versammelt?« »Wißt Ihr nichts von der Proklamation?« erwiderte jener verwundert. »Hörtet Ihr nicht, daß der Stadtrat und die Gilden der Handwerker vorgeschlagen haben, Rienzi den Titel eines Königs von Rom anzubieten?« »Er wird doch gewiß einwilligen?« »Ich weiß nicht – es gehen allerhand Gerüchte – bis jetzt hat man die Gesinnung des Befreiers noch nicht entdecken können.« In diesem Augenblick verkündete der Schall kriegerischer Musik die Ankunft Rienzis. Die Menge teilte sich, und Rienzi, noch in voller Rüstung, nur ohne Helm, ging vom Palast des Kapitols auf das Gerüst zu, ihm zur Seite Raimond von Orvieto. Worte vermögen die Begeisterung nicht zu schildern, mit der Rienzi empfangen wurde. In Geschrei, Tränen, Seufzern, wildem Gelächter äußerte sich die lebendi306
ge Teilnahme dieser empfänglichen Kinder des Südens. In den Fenstern und auf den Balkonen des Palastes standen die Frauen und Töchter der Patrizier und der wohlhabenden Bürger, und Adrian sah unter ihnen das liebliche Antlitz seiner Irene, ein Antlitz, das alle anderen überstrahlt hätte, wäre nicht eine Schönheit ihr zur Seite gewesen, die durch die Aufregung der Stunde noch erhöht war. Die großen, schwarzen, funkelnden Augen der Nina di Raselli waren auf den Helden ihrer Wahl gerichtet. Es dauerte einige Zeit, ehe die Bewegung der Menge Rienzi zu sprechen gestattete. Als aber endlich der letzte Ruf mit dem allgemeinen Geschrei »Lang lebe Rienzi! Der Befreier und der König Roms!« schloß, erhob er ungeduldig seine Hand, und die Neugierde des Volkes brachte ein plötzliches Stillschweigen zuwege. »Bewahrt euren Gehorsam eurem Papst«, sagte er, »eure Untertanenpflicht eurem Kaiser. Ihr habt ein Recht auf eure alte Konstitution, und dies bedarf keines Königs! Rom braucht einen Befreier – nie aber einen Usurpator! Verschont mich daher mit diesem Flitterstaat!« Eine Pause trat ein – das Volk war aufgeregt, aber kein Geschrei ertönte; man sah gespannt einer Erwiderung der Räte oder Volksführer entgegen. »Herr!« sagte Pandulfo di Giudo. »Eure Antwort ist Eures Ruhmes würdig. Aber Rom muß Euch einen gesetzlichen Titel geben, damit Ihr die Gesetze aufrechterhalten könnt.« »Lang lebe der Konsul Rienzi!« riefen mehrere Stimmen. Rienzi winkte mit der Hand, um sich wieder Gehör zu verschaffen. »Pandulfo di Giudo! Wenn Ihr es der Erhaltung der Ordnung wegen für nötig haltet, daß Eurem Mitbürger ein förmlicher Titel und eine anerkannte Gewalt übertragen werde, so sei es. Einst – meine Mitbürger – wählte das Volk als Beschützer seiner Rechte dem Volk verantwortliche, aus dem Volke gewählte Beamte. Diese Beamten hießen Tribunen. Das ist der Titel, den ich dankbar annehmen will.« Alle waren durch die Bescheidenheit Rienzis entzückt, von der sie vorhersahen, daß sie Rom vor tausend Gefahren von seiten des Kaisers und des Papstes sichern werde. Und sie fühlten sich noch mehr beru307
higt, als Rienzi hinzufügte: »Und da wir gleiche Arbeiter in derselben Sache waren, so sollten dieselben Ehren, welche mir erzeigt werden, auch auf den Vikar des Papstes, Raimond, Bischof von Orvieto, übergehen. Erinnert Euch, daß die Kirche und der Staat beide die eigentlichen Beherrscher und Wohltäter des Volkes sind. – Hoch lebe der erste Vikar des Papstes, der zugleich der Befreier des Staates war!« War die Mäßigung Rienzis ein reiner Antrieb seines Patriotismus oder nicht – soviel war gewiß, daß seine Klugheit seiner Tugend gleichkam. Während die Menge den Vorschlag Rienzis jubelnd begrüßte, während ihr Geschrei die Luft erfüllte, während Raimond etwas überrascht seine Ergebenheit zu beweisen suchte, bemerkte der erwählte Tribun manche, die bisher durch Neugierde herbeigezogen wurden und die es galt, noch in der ersten Hitze der Begeisterung zu gewinnen. Sobald daher Raimond eine kurze Rede beendigt hatte, winkte Rienzi zwei Herolden. Einer von ihnen trat vor, nachdem ihm der Tribun einige Worte zugeflüstert hatte, und verkündete: »Es ist wünschenswert, daß alle bisher Neutralen sich jetzt als Freunde oder Feinde erklären. Sie werden eingeladen, den Eid des Gehorsams gegen die Gesetze zu leisten und dem Buono Stato beizutreten.« So groß war die allgemeine Begeisterung und so sehr war sie durch die Reden Rienzis gesteigert worden, daß selbst die Gleichgültigen angeregt worden waren. Der erste, der sich dem Gerüst näherte und den Eid leistete, war Raselli, Ninas Vater. Andere aus den geringeren Klassen des Adels folgten seinem Beispiel. Die Gegenwart des päpstlichen Vikars beruhigte die Aristokraten; die Furcht vor dem Volk trieb die Selbstsüchtigen an; die Aufmunterung durch Beifall regte die Eitlen an. Der Raum zwischen Adrian und Rienzi wurde leer. Der junge Ritter bemerkte plötzlich, daß die Blicke des Tribunen auf ihm hafteten; er fühlte, daß in diesen Blicken etwas Aufforderndes lag – er errötete, der Atem verging ihm fast. Die edle Mäßigung Rienzis hatte ihn aufs tiefste gerührt – die allgemeine Begeisterung riß ihn hin, berauschte und verwirrte ihn. – Er erhob seine Augen und erblickte die Schwester des 308
Tribunen – das Mädchen seiner Liebe! Noch war er unentschieden, als Raimond, der ihn bemerkt hatte, laut rief: »Platz für den Ritter Adrian di Castello – einen Colonna!« Mechanisch und wie im Traum erstieg Adrian die Plattform. Und um den Triumph des Tribunen zu vollenden, sah der letzte Strahl der Sonne den edelsten der Colonna – den besten und tapfersten der römischen Barone – seiner Autorität und seinen Gesetzen Huldigung leisten!
V Walter von Montreal und seine Söldner eilten so schnell wie möglich nach Rom. Dort schickte der Ritter seinen treuen Rudolf in die Stadt, um Rienzi um Erlaubnis zu bitten, daß er mit seinem Trupp einziehen dürfe. Rudolf kehrte bald zurück. »Ich hoffe, daß Ihr mich das nächstemal an einen freundlicheren Hof schicken werdet!« »Wie meinst du das?« »Verkünde dem Walter von Montreal, sagte der neue Statthalter, daß Rom nicht länger eine Diebesherberge ist; sage ihm, daß, wenn er einzieht, er vor Gericht gestellt werden wird.« »Er hat mich also nicht nur hintergangen, er droht mir auch noch? Gut, Rudolf! Du hast ein scharfes Auge. Wie viele Normänner hätten wir wohl nötig, um diese Unverschämten an den Galgen zu bringen?« Rudolf kratzte seinen dicken Kopf und dachte nach, endlich sage er: »Er hat wenigstens zwanzigtausend Römer unter seinem Befehl! So hörte ich unterwegs, und heute abend wird er die Krone annehmen und den Kaiser absetzen.« »Ist er so toll«, lachte Montreal, »dann wird unsere Hilfe nicht erforderlich sein, um ihn an den Galgen zu bringen. Wir wollen uns vorläufig nach Terracina begeben …« 309
Als der Johanniterritter mit seinen Truppen über die einsame Campagna zog, verfiel er bald in träumerisches Nachdenken. Seine ehrgeizigen Absichten auf Rom waren für den Augenblick vereitelt. Aber wenn ihm ein Plan mißlang, so wandte er sich dem nächsten zu: Ludwig, der König von Ungarn, der den Mord seines Bruders, des unglücklichen Gemahls der schönen, aber lasterhaften Königin von Neapel, Johanna, rächen wollte, hatte bereits Anstalten getroffen, um den Garten Campaniens dem ungarischen Joch zu unterwerfen. Nach dieser Seite waren jetzt die kühnen Gedanken des Ritters gerichtet. Und seine Krieger hatten freudig die Absicht erraten, als sie ihn Terracina als Ziel nennen hörten. Montreal hatte sich eines Kastells bemächtigt, welches an jener herrlichen Küste unterhalb Terracina vor einem Engpaß lag, den die Natur für den Krieg wie für den Frieden so begünstigt hatte, daß eine geringe Anzahl bewaffneter Männer den Marsch einer Armee aufzuhalten vermochte. Der Besitz eines solchen Kastells an der neapolitanischen Grenze gewährte Montreal eine Bedeutung, von der er hoffte, sie werde durch Ludwig von Ungarn, der Streitigkeiten hatte und dem er beistehen wollte, anerkannt werden. Es war Mittag, als die Gesellschaft endlich vor einem festen, aus grauen Steinen erbauten Kastell ankam, dessen Türme durch hohe Bäume verborgen waren. Der Klang des Horns, das Wappenschild des Ritters, das schnell gegebene Erkennungswort riefen einen lauten Jubel des Willkommens einiger Dutzend wilder Krieger hervor. Montreal sprang vom Pferd und eilte über den Hof in eine hohe Halle. Ein Weib – jung, schön und reich gekleidet – lief ihm entgegen und sank atemlos und außer sich vor Freude in seine Arme. Montreal drückte die Geliebte an sein Herz und küßte ihre Tränen weg. »Adeline«, sagte er leise, »hast du dir Sorgen gemacht? Komm – du bist zu zärtlich und zu ängstlich für die Geliebte eines Soldaten!« Von seinen Kriegern umgeben, entzückt von der Schönheit der Erde, des Himmels und der See umher und in leidenschaftlicher Liebe mit Adeline vereint, vergaß Montreal eine Weile alle seine kühnen Pläne und sein abenteuerliches Treiben. 310
Eines Tages hielt ein Herold vor dem Kastell. Er brachte einen Brief für den Burgherrn. Montreal las das Schreiben mit großer Unbefangenheit. »Euer Tribun«, sagte er zum Boten, »hat sich den lakonischen Stil der Macht sehr bald angeeignet. Er befiehlt mir, binnen zehn Tagen dieses Kastell zu übergeben und das päpstliche Gebiet zu räumen. – Setzt Euch, bitte, junger Mann! – Entschuldigt, aber ich sollte glauben, Euer Herr habe genug mit seinen römischen Baronen zu tun, so daß er wohl etwas nachsichtig gegen uns fremde Gäste sein könnte. – Stephan Colonna …« »… ist nach Rom zurückgekehrt und hat den Eid geleistet. Die Savelli, die Orsini, die Frangipani sind dem Buono Stato beigetreten.« »Wie?« rief Montreal in höchstem Erstaunen. »Sie sind nicht nur zurückgekehrt, sondern haben auch alle ihre Söldlinge entlassen und alle ihre Befestigungen geschleift. Das Eisenwerk aus dem Palast der Orsini beschützt jetzt das Kapitol, die Steine aus den Befestigungswerken der Colonna und der Savelli haben zur Verstärkung der Tore des Lateran und St. Laurentius gedient.« Montreal beherrschte sich mühsam. »Versichere dem Tribunen«, sagte er, »daß ich sein Genie bewundere, ihm zu seiner Macht Glück wünsche und nicht versäumen werde, seinem Wunsch so bald als möglich nachzukommen.« Den ganzen Tag blieb Montreal nachdenklich und unruhig; er schickte sichere Boten an den Statthalter von Aquila, der damals mit Ludwig von Ungarn in Verbindung stand, nach Neapel und Rom. In einem Brief an den Tribunen von Rom versicherte er, ohne sich ganz bloßzustellen, seine Unterwerfung und bat um eine längere Frist. Zur selben Zeit jedoch wurden die Befestigungswerke des Kastells verstärkt, bedeutende Vorräte an Lebensmitteln gesammelt und Tag und Nacht Späher in den Engpaß und in der Stadt Terracina aufgestellt. Montreal bereitete sich auf den Krieg vor. Eines Morgens trat Montreal fröhlich in das Zimmer Adelines. Sie saß an einem Fenster des Turmes. Sie hatte ihr Gesicht auf ihre Hand gestützt, und es lag etwas unaussprechlich Anmutiges in ihrer Haltung. 311
Der Ausdruck des halb abgewendeten Profils hatte etwas so Trauriges und Melancholisches, daß Montreals muntere Worte auf seinen Lippen erstarben. Er näherte sich schweigend und legte seine Hand sanft auf ihre Schulter. »Liebste«, sagte er, »weißt du, wie weh es mir tut, wenn du traurig bist?« »Ich dachte an unseren Sohn, Walter! Heute ist sein Geburtstag!« »Komm, Teure«, sagte der Ritter mit zitternder Stimme, »heute wollen wir uns nicht der Trauer hingeben. Ich möchte dich zu einem Ausflug einladen. Ich habe durch die Diener unser Zelt an der Küste aufschlagen lassen – wir wollen uns der Orangenblüten erfreuen, solange es uns noch gestattet ist.« »Was meinst du damit? Ist irgend etwas geschehen?« »Du redest, süßes Kind«, sagte Montreal lächelnd, »als ob die Gefahr etwas Neues für uns wäre.« »Ach, Walter, soll dies immer so bleiben? – Du bist reich und berühmt; kannst du dieses Leben jetzt nicht aufgeben?« Montreal antwortete nicht. Liebevoll betrachtete er die Frau. »Der Schild der Krieger war meine Wiege – bitte die Heiligen, daß er auch mein Sarg sein möge!« dachte er. Das nachgiebige Gemüt Adelines ging bald auf die Fröhlichkeit Walters ein. Von einer kleinen Gesellschaft begleitet, begaben sich beide an den Ort, den Montreal für ihre heutigen Zerstreuungen gewählt hatte. Auf einem weiten Rasenplatz war ein Zelt unter einem schattigen Baum aufgeschlagen. Es war Adelines Lieblingsplatz. Sie entfloh gern den dunklen Mauern des Kastells, um sich des heiteren Sonnenscheins und der Annehmlichkeit jenes herrlichen Klimas zu erfreuen. Montreal wollte ihr diesen Genuß an diesem Tage noch gewähren, weil er vorhersah, daß er durch die Truppen Rienzis bald belagert werden könne. – Als sie im Zelt ruhten, vertrieben sich einige vom Gefolge die Zeit mit Fischen, andere fuhren in einem Kahn auf der See, einige bereiteten in einem anderen Zelt das Mittagessen. Plötzlich kam einer von Montreals Spähern atemlos und erhitzt im Zelt an. 312
»Herr Ritter«, sagte er, »ein Zug von dreißig vollkommen bewaffneten Lanzenknechten mit einem langen Gefolge von Schildknappen hat eben Terracina verlassen. Ihre Banner tragen das doppelte Zeichen Roms und der Colonna.« Es ging alles blitzschnell. Über den Rasenplatz trabten schon die ersten Reiter auf das Zelt zu, und ehe Montreal irgendeine Entscheidung treffen konnte, stand Adrian vor ihm. Der Ritter entschloß sich, den jungen Colonna als Gast zu betrachten. Er begrüßte ihn nahezu überschwenglich und führte ihn ins Zelt. Hier stand Adrian zum erstenmal Adeline gegenüber. Er war von ihrer Schönheit bezaubert. Wie ihr Gemahl, schien auch sie jünger zu sein, als sie war. Die Zeit schien eine Blüte zu verschonen, deren Bestimmung für ein frühes Grab einem erfahrenen Auge nicht entgehen konnte. Montreal sprach unterhaltend über tausend verschiedene Gegenstände und ließ die Becher fleißig kreisen. »Sagt mir, Adrian«, fragte er, »wie geht es Eurem Verwandten, dem Herrn Stephan? Ein wackerer alter Herr für seine Jahre! Und wie geht es Rienzi?« »Der Tribun«, antwortete Adrian ausweichend, »ist allerdings ein Mann von außerordentlichen Talenten. Und wißt Ihr auch, Ritter Montreal, daß Ludwig, König von Ungarn, die Entscheidung der Fehde zwischen ihm und der Königin Johanna von Neapel dem Tribunen übertragen hat?« »Bei allen Heiligen des Kalenders!« rief Montreal. »Ist das wahr?« »Ich weiß, daß Ihr mit Ludwig in Verbindung steht. Er hat dem Tribunen den besten Beweis seiner Freundschaft und seines Zutrauens gegeben; Ihr würdet nicht klug handeln, wenn Ihr …« »… mit dem Verbündeten des Ungarn einen Kampf wagt?« unterbrach ihn Montreal. »Dieses wollt Ihr doch sagen?« Die Ritter unterhielten sich noch lange. Der Abend nahte, und sie sahen aus dem offenen Zelt die glühenden Farben der untergehenden Sonne in den Wellen des Meeres. Adeline hatte sich schon früh von der Tafel zurückgezogen, und sie sahen sie jetzt mit ihren Dienerinnen auf 313
einem Hügel am Strande sitzen, während der Ton ihrer Laute ihre Ohren erreichte. »Jene liebenswürdige Dame«, sagte Adrian freundlich, »spielt die Laute wie ein Engel, und die klagende Melodie scheint mir aus der Provence zu sein.« »Es ist das Lied, das ich sie lehrte«, sagte Montreal traurig, »und mit dem ich mich zuerst um ihr Herz bewarb. Süße Erinnerungen – bittere Früchte!« »Wieso bitter? Liebt Ihr Euch nicht?« »Ich habe das Gelübde der Ehelosigkeit abgelegt. Wir sind nicht verheiratet – dieser Gedanke quält mich mehr als Adeline. Aber Ihr kennt nicht alle unsere Sorgen. Wir hatten einen Knaben, unser einziges Kind. Er war Adelines ganzer Trost während meiner Abwesenheit. Er wuchs kräftig und rüstig in unserer wilden Lebensart auf. Mein Unstern führte mich nach Mailand, wo ich mit dem Visconti zu tun hatte. – An einem schönen Morgen im Juni wurde uns der Knabe geraubt.« »Geraubt? – Wie? – Von wem?« »Die erste Frage ist leicht beantwortet – der Knabe war mit seiner Amme im Hof, das Mädchen verließ ihn nur zwei Minuten, um irgendein Spielzeug zu holen; als es zurückkehrte, war er fort und hinterließ keine Spur, außer seinem kleinen Barett.« »Ein schreckliches Ereignis! Aber welchen Zweck konnte …« »Ich will Euch sagen«, unterbrach ihn Montreal, »was ich mir denke: Als Adelines Mutter erfuhr, daß wir einen Sohn hatten, schickte sie ihrer Tochter einen Brief, in dem sie ihr die Liebe zu mir zum Vorwurf machte, als wäre sie dadurch die Verworfenste ihres Geschlechts geworden. Sie bat sie, mit ihrem Kinde Mitleid zu haben und es nicht in einem Räuberleben aufwachsen zu lassen. Sie erbot sich, das Kind selbst in ihren dumpfen Mauern zu erziehen. – Sie zürnte sehr, als Adeline sich von ihrem Schatz nicht trennen wollte. Sie allein konnte den Knaben geraubt haben!« »Und Ihr habt die alte Dame seither nie wiedergesehen?« »Doch. In Rom«, antwortete Montreal. »Als ich zuletzt dort war, traf 314
ich unvermutet mit ihr zusammen. Sie gestand, das Kind geraubt zu haben – und es ist tot. Ich habe nicht gewagt, Adeline dies mitzuteilen. Sie hat noch eine Hoffnung – es ist ihr einziger Trost.« Montreal starrte zu Boden, als schäme er sich seiner Schwäche. »Denken wir nicht mehr daran«, sagte er dann. Als sie sich an das Meeresufer begaben, drangen die Töne von Adelines Laute deutlich an ihr Ohr. Unwillkürlich traten sie leiser auf den weichen, duftenden Rasen und lauschten still ihrer weichen, schwermütigen Weise. Es war nur wenige Monate nach diesem Ereignis, daß der Name Montreal Schrecken und Unglück in Campanien verbreitete. Als rechte Hand des Königs von Ungarn, bei seinem Einfall in Neapel, wurde er später zum Vizestatthalter Ludwigs in Aversa ernannt. Glück und Ruhm schienen ihn in jener ehrgeizigen Laufbahn zu begleiten, die er sich zum Blutgerüst oder zum Throne gewählt hatte.
In einem kleinen Zimmer eines verfallenen Hauses am Fuße des Aventinischen Hügels in Rom saß ein kleiner Knabe und unterhielt sich mit seiner Erzieherin. »Ich wollte«, sagte das Kind, das emsig beschäftigt war, sich aus einem Stück Holz ein Schwert zu schnitzen, »Ihr hättet den Aufzug heute gesehen. Es ist schon herrlich, den Tribunen auf seinem weißen Rosse zu erblicken. Aber heute hat seine Gemahlin mit mir gesprochen, als ich auf der Treppe des Kapitols stand. Ihr wißt, ich hatte mein bestes blaues Wams angezogen.« »Und sie nannte dich einen schönen Knaben und fragte dich, ob du ihr kleiner Page werden wolltest – und das hat dir den Kopf ganz verdreht …« »Ich würde mich freuen, wenn ich dem Tribunen dienen könnte! Alle Knaben meines Alters haben ihn gern.« »Deine Eitelkeit, Angelo, macht meinem alten Herzen Kummer. Ich wollte, du würdest bescheidener.« 315
»Ich muß mir selbst einen Namen gewinnen«, sagte der Knabe. »Sie necken mich schon, weil ich nicht sagen kann, wer meine Eltern sind.« »Du würdest also gern den Vorschlag seiner Gemahlin annehmen?« Die Alte sah Angelo fest an. »Ja, gewiß, wenn Ihr mich entbehren könntet!« »Kind«, erwiderte sie feierlich, »der Sand meines Lebens ist fast ausgelaufen, und es ist mein Wunsch, dich unter Menschen zu bringen, die dich gut erziehen. Zwar warst du nicht bestimmt, unter dem Dache eines Plebejers zu wohnen und an fremdem Tische gespeist zu werden, aber ich will es mir überlegen.« Mit diesen Worten gebot die Alte dem Knaben, der das Gespräch mit ihr fortsetzen wollte, Stillschweigen und zog sich zurück. Am nächsten Morgen trat die alte Frau in des jungen Angelo Kammer. »Ziehe heute morgen dein blaues Wams wieder an«, sagte sie. »ich will mit dir in den Palast gehen.« »Was! Heute?« rief der Knabe freudig und sprang auf. »Also soll ich wirklich in das Gefolge der Gemahlin des großen Tribunen treten?« »Ja – und die alte Frau verlassen, damit sie einsam sterben kann.« Angelo bemerkte, was er in seiner ersten Freude nicht beachtet hatte, daß die alte Ursula nicht ihre gewöhnliche Kleidung trug. Die goldene Kette, damals selten getragen von Frauen, wenn sie nicht edler Geburt waren, erglänzte auf einem Kleide von der reinsten geblümten Seide aus Venedig, und die Schnalle an ihrem Gürtel war mit Edelsteinen von ungewöhnlichem Wert besetzt. Angelo war erstaunt und stolz, als er diese Veränderung bemerkte. Ihr Benehmen war das einer Dame, die an solche Kleider gewöhnt ist. Sie ordnete die Locken des Knaben und steckte ihm darauf einen Dolch, dessen Griff reich vergoldet war, und einen mit Florenen vollgefüllten Beutel in den Gürtel. »Lerne beide vorsichtig zu gebrauchen«, sagte sie, »und ich möge leben oder tot sein, so wirst du nie den Dolch nötig haben, um dir Geld zu verschaffen.« 316
Als die alte Frau im Palast des Kapitols mit dem Knaben angekommen war, verlangte sie die Signora Nina zu sprechen. Es lag etwas Ausländisches in ihrem Akzent, und der Offizier antwortete: »Heute, Madame, empfängt die Signora nur römische Damen. Morgen ist der für fremde Damen bestimmte Tag.« Ursula erwiderte ungeduldig: »Ich komme, um der Signora gewisse Geschenke zu Füßen zu legen, von denen ich hoffe, daß sie deren Annahme genehmigen wird.« »Und sagt, Signor«, fügte der Knabe schnell hinzu, »daß Angelo Villani, den die Signora Nina gestern mit ihrer Aufmerksamkeit beehrte, ein Römer ist und kommt, um ihr seine Ehrfurcht und Huldigung darzubringen.« Der ernste Offizier konnte sich bei der sonderbaren Dreistigkeit des Knaben eines Lächelns nicht enthalten. Er führte sie jetzt an eine breite Treppe von weißem Marmor, welche in der Mitte mit reichen morgenländischen Teppichen belegt war, die zu jener Zeit, als die Zimmer eines englischen Monarchen noch mit Binsen bestreut wurden, in den italienischen Palästen schon gebräuchlich waren. Er führte Ursula und das Kind in ein hohes Vorzimmer, dessen Wände mit Tapeten von gewirktem Samt behangen waren. »Philipp von Valois wohnt nicht so prächtig wie dieser Mann«, murmelte Ursula. Der Offizier geleitete sie weiter durch den großen Audienzsaal des Palastes. – Vierundzwanzig Säulen von orientalischem Alabaster, welche aus den Ruinen der Kaiserpaläste ausgegraben wurden, trugen das leichte Gewölbe. Am oberen Ende dieses stattlichen Saales führten zwei Stufen zum Thronsitz des Tribunen, über welchem die Wappen des Papstes und der Stadt prangten. Endlich standen sie in einem Zimmer – nicht groß, aber groß genug, um zu beweisen, daß die schöne Tochter der Raselli ihren früheren Traum von Glanz und Pracht ausgeführt hatte. Nina di Rienzi, deren überwältigende Schönheit alle Kostbarkeiten des Palastes überstrahlte, trat ihren Besuchern entgegen. Sie lächelte, als sie das Kind erkannte. 317
»Ah, mein hübscher Kleiner! Bist du gekommen, um meinen Vorschlag anzunehmen? – Gehört Euch dieses schöne Kind?« »Signora«, erwiderte Ursula, »mein Geschäft hier ist kurz; durch eine Folge von Ereignissen, mit deren Erzählung ich Euch nicht ermüden will, fiel dieser Knabe seit seiner frühesten Kindheit meiner Sorgfalt anheim. Ich habe ihn aufgezogen, wie es für das Kind aus guter Familie passend war. Er ist eine Vollwaise aus edlem Geblüt.« »Das arme Kind«, sagte Nina mitleidig. »Ist er ein Römer? Dann muß mir sein Name bekannt sein.« »Entschuldigt, Signora, er führt den Namen Angelo Villani, nicht den seines Vaters oder seiner Mutter. Die Ehre eines edlen Hauses erheischt, daß seine Verwandtschaft immer unbekannt bleibe. Er hat einer durch die Kirche nicht geheiligten Liebe sein Dasein zu verdanken.« »Um so mehr muß man ihn lieben und bedauern«, antwortete Nina. »Mit der Regierung des Tribunen beginnt eine neue Ära des Adels, in welcher Rang und Ritterwürde durch die eigenen Verdienste des Mannes gewonnen werden. Seid unbesorgt, Madame, in meinem Hause wird er sich nie verletzt fühlen.« Ursulas Stolz wurde durch die Freundlichkeit Ninas gerührt. Sie näherte sich mit Ehrfurcht und küßte die Hand der Signora. »Möge die heilige Mutter Euer edles Herz belohnen«, sagte sie. »Fügt nur, Signora, Eurer unschätzbaren Gunst noch eine hinzu. Diese Juwelen …«, Ursula zog ein Kästchen hervor, und als sie es öffnete, erblickte man eine Anzahl großer Edelsteine von herrlichstem Glanze, »… diese Juwelen gehörten einst dem fürstlichen Hause von Toulouse. Erlaubt mir, sie Euch zu Füßen zu legen.« »Nein!« sagte Nina tief errötend. »Glaubt Ihr denn, daß meine Teilnahme erkauft werden kann oder daß überhaupt die Teilnahme einer Frau je erkauft wurde? Nehmt sie zurück, oder ich muß Euch bitten, Euren Knaben wieder mitzunehmen.« Ursula war erstaunt. Nina bemerkte ihre Verlegenheit mit stolzem Lächeln und sagte ernst, aber gütig: »Die Hände des Tribunen sind rein – auf sein Weib darf kein Ver318
dacht fallen. Ich sollte Euch vielmehr ersuchen, ein Zeichen des Dankes und der Anerkennung für den schönen Schützling, den Ihr mir anvertraut habt, anzubieten …« Als die Tür sich hinter der Alten geschlossen hatte und der Knabe allein und verlassen mitten im Zimmer stand, ging Nina auf ihn zu, nahm ihn bei der Hand und küßte ihn zärtlich auf die Wange.
An diesem Tage kehrte Rienzi später als gewöhnlich vom Gerichtshof in die Zimmer des Palastes zurück. Als er durch den Audienzsaal ging, war seine Stirn umwölkt. Dicht hinter ihm folgten der Bischof von Orvieto und der alte Stephan Colonna. »Ich wiederhole euch, meine Herren«, sagte Rienzi, »daß ihr vergebens Fürsprache einlegt. – Rom kennt keinen Unterschied des Standes. – Das Gesetz ist blind in Beziehung auf den Täter.« »Aber«, sagte Raimond zögernd, »bedenke wohl, Tribun, er ist der Neffe von zwei Kardinälen, und er selbst war einst Senator!« Rienzi blieb plötzlich stehen und sah seine Gefährten mit durchdringenden Blicken an. – »Herr Bischof«, sagte er, »macht das das Verbrechen nicht noch unverzeihlicher?« »Gnade!« sagte der Colonna. Rienzi schlug die Arme übereinander und lachte verächtlich. – »Ich hörte nie den edlen Herrn Colonna um Gnade bitten, wenn ein Bauer verurteilt wurde, weil er das Brot gestohlen hatte, welches für die Ernährung seiner Kinder bestimmt war.« Colonna schlug stolz seinen Mantel um sich und biß sich schweigend auf die Lippen. Raimond jedoch versuchte einzulenken: »Alles das ist wahr, Tribun. Aber Ihr wißt, wir müssen sowohl politisch als auch gerecht sein. Wenn wir so gegen einen Neffen von zwei Kardinälen verfahren, welche Feindschaft werden wir uns dann in Avignon zuziehen?« »Beruhigt Euch nur, würdiger Raimond, ich will es schon beim Papst verantworten.« 319
Da ertönte dumpf die große Glocke des Kapitols. Colonna erschrak. »Großer Tribun«, sagte er, »bedenke dich, ehe es zu spät ist. Ich wüßte nicht, daß ich je als ein Bittender vor dir erschienen wäre, aber jetzt bitte ich dich, das Leben meines eigenen Feindes zu verschonen. Stephan Colonna bittet den Cola di Rienzi um das Leben eines Orsini.« »Ich verstehe, was Ihr meint, alter Herr«, sagte Rienzi ruhig, »aber es verletzt mich nicht. Ihr seid ein Feind des Orsini, und doch legt Ihr Fürsprache für ihn ein – das klingt großartig – aber hört! Ihr seid mehr ein Freund Eures Standes als ein Feind der Orsini. – Aber ich will gerecht mit Euch sein. Den nächsten armen Mann, den das Gesetz zum Tode verurteilt, will ich um Euretwillen begnadigen!« Raimond zog den Tribunen beiseite, während Colonna seine Wut zu unterdrücken versuchte. »Mein Freund«, sagte der Bischof, »der Adel wird das als eine Beleidigung gegen seinen ganzen Stand aufnehmen. Sie werden wie ein Mann gegen dich aufstehen!« »Es sei; mit Gott und dem Volk will ich es, selbst in Rom, wagen, gerecht zu sein. – Die große Glocke verstummt. Es ist schon zu spät!« Rienzi öffnete das Fenster, und an der Treppe des Löwen sah man einen Galgen errichtet, an dem die noch zuckende Leiche des Martino di Porto in seinen patrizischen Kleidern hing. Das unten zahlreich versammelte Volk freute sich über die Hinrichtung eines Mannes, dessen ganzes Leben aus Raub und Plünderung bestanden hatte. Rienzi hörte ihr Geschrei: »Lang lebe der Tribun, der gerechte Richter, Roms Befreier!« Der Tribun schloß das Fenster und begab sich in sein Arbeitszimmer. Er war tief in Gedanken versunken: »Es ist gefährlich und es ist schwer, Recht zu sprechen, wenn ein Patrizier der Schuldige ist«, dachte er. Sein Antlitz war bleich, seine Hände zitterten, und er sank auf einen Sessel, sein Gesicht mit den Händen bedeckend. Noch ehe er sich ganz erholt hatte, klopfte es leise an die Türe – dieser Ton schien ihn in die Wirklichkeit zurückzurufen. 320
»Herein«, sagte er und hob den Kopf. In sein Gesicht kehrte die gewohnte Farbe zurück. Ein Offizier berichtete, daß ihn ein Mann erwarte, nach dem er geschickt hatte. »Ich komme!« Er ging nach seinem Kabinett, welches an der anderen Seite des Audienzsaales lag. Hier fand er Cecco del Vecchio. »Mein braver Bursche!« sagte der Tribun. »Ich habe nach dir geschickt, weil ich wissen möchte, wie deine Handwerksgenossen die Hinrichtung des Orsini aufnehmen werden.« »O Tribun«, erwiderte der Schmied, »sie sind ganz außer sich vor Erstaunen über den Mut, mit dem Ihr es gewagt habt, den Vornehmen so zu bestrafen, wie es mit dem Geringen geschehen wäre.« »So, dann bin ich belohnt! – Aber hört, Cecco! Das wird uns vielleicht viel zu tun geben. – Jeder Baron wird fürchten, daß die Reihe an ihn kommen werde, und die Furcht wird sie kühn machen, wie die Ratten in der Verzweiflung. Wir werden noch zu kämpfen haben.« »Von Herzen gern, Tribun!« antwortete Cecco. »Ich wenigstens bin mit dabei.« »Cecco, diese Stadt steht unter der geistlichen Herrschaft des Papstes – das ist eine Ehre, keine Last. Die irdische Herrschaft sollte bloß den Römern zustehen. – Ist es nicht eine Schande für das republikanische Rom, daß gewisse Barbaren, von denen wir nie etwas wußten, jenseits der Alpen über die Verdienste zweier Herrscher entscheiden, die wir nie sahen? Dem müssen wir uns widersetzen. Was hat eine italienische Stadt mit einem böhmischen Kaiser zu tun?« »Wenig genug, daß weiß der heilige Paulus!« sagte Cecco. »Sollten wir das nicht verhindern können?« »Ich zweifle nicht daran.« »Gut, aus den Archiven ersehe ich, daß nie ein Kaiser gesetzlich gekrönt wurde, außer durch die freie Stimme des Volkes. Wir wählten nie einen Böhmen oder Bayern.« »Im Gegenteil, wenn diese Nordländer hierher kommen, um gekrönt zu werden, so versuchen wir sie mit Steinwürfen zu vertreiben – wir sind ein Volk, Tribun, das seine Freiheit liebt.« 321
»Gehe zurück zu deinen Freunden, versammle sie und sage ihnen, daß ihr Tribun sie befragen will, und unterstützt mich, sobald es Zeit ist.« »Ich freue mich sehr darüber«, sagte der Schmied, »denn unsere Freunde sind seit kurzem etwas unruhig geworden und sagen …« »Was sagen sie?« »Es sei wahr, daß Ihr die Banditen vertrieben habt und die Barone demütigt und gerecht seid …« »Ist das nicht genug für die kurze Zeit von zwei bis drei Monaten?« »Ja, sie sagen, es wäre mehr als genug für einen Patrizier gewesen, aber Ihr, der Ihr durch das Volk erhoben seid und solche Gaben und Talente habt, hättet mehr tun können. Es sind schon drei Wochen, daß sie über nichts Neues plaudern konnten, aber die Hinrichtung Orsinis wird sie wohl wieder aufmuntern.« »Gut, Cecco, gut«, sagte der Tribun, »ich werde ihnen bald wieder genug zu schwatzen geben. Ihr glaubt also, sie sind mir nicht mehr ganz so zugetan wie etwa vor drei Wochen?« »Das möchte ich nicht behaupten«, antwortete Cecco, »aber wir Römer sind ein ungeduldiges Volk!« »Ich weiß …« »Übrigens werden sie Euch trotzdem anhänglich bleiben, Tribun, wenn Ihr ihnen keine neuen Abgaben auferlegt!« »Und wenn es notwendig wird zu kämpfen – wenn, um kämpfen zu können, es notwendig ist, Soldaten zu bezahlen, will dann das Volk nicht etwas beitragen für seine eigene Freiheit?« »Ich weiß nicht«, erwiderte der Schmied verlegen. »Aber ich weiß, daß arme Leute nicht gern viele Abgaben bezahlen. Sie sagen, daß sie unter Eurer Regierung sich besser befänden als früher unter den Baronen, und deshalb lieben sie Euch. Aber der arme Mann mit großer Familie, Tribun, muß an seine persönlichen Bedürfnisse zuerst denken …« »Das kann deine Meinung nicht sein, Cecco!« sagte Rienzi in ernstem Ton. »Wieso, Tribun? – Ich bin ein ehrlicher Mann, ich habe auch eine große Familie zu ernähren …« 322
»Genug – genug!« unterbrach ihn schnell der Tribun und fügte hinzu: »Ich glaube, wir sind zu wenig sparsam gewesen; diese Aufzüge und diese prächtigen Schauspiele vor dem Volke müssen aufhören.« »Was!« rief Cecco. »Tribun, wollt Ihr den armen Leuten nicht einmal einen Festtag gönnen? Sie arbeiten schwer genug, und es ist ihr einziges Vergnügen, Eure schönen Aufzüge und Prozessionen zu sehen!« »Ah – also sie tadeln meine Pracht nicht?« »Tadeln? Nein! Ohne sie würden sie sich Eurer schämen und den Buono Stato für etwas sehr Geringes halten.« »Ihr sprecht gerade heraus, Cecco, aber vielleicht habt Ihr recht. Die Heiligen mögen Euch behüten! Vergeßt nicht, was ich Euch gesagt habe.« »Nein! Nein! Es ist eine Schande, daß man uns einen Kaiser aufdrängen will – gewiß. Guten Abend, Tribun!« Als Rienzi allein war, blieb er einige Zeit in düstere Gedanken vertieft. Er stand auf, öffnete das Fenster und atmete in tiefen Zügen die frische Abendluft ein. Als er zu den Sternen aufblickte, ging ein Beben durch seine Gestalt, und vor diesen ewigen Mahnern beugte der stolze Mann sein Knie.
VI Eines Morgens kamen die Häupter der Savelli, der Orsini und der Frangipani im Palast des Stephan Colonna zusammen. Ihre Unterhaltung war ernst und lebhaft. »Ihr habt gehört«, sagte Luca di Savelli mit seiner weichlichen und unmännlichen Stimme, »wie der Tribun verkündet hat, daß er übermorgen in den Orden der Ritterschaft treten und die Nacht zuvor in 323
der Kirche des Lateran, dem Brauch gemäß, seine Waffen bewachen will.« »Wird denn Rom niemals dieses verrückten Menschen überdrüssig werden?« fragte der alte Colonna. »Ich habe das Gefühl«, sagte Luca di Savelli, »jetzt begeht der Tribun einen Fehler, der uns in Avignon von Nutzen sein kann.« »Ja –«, rief der alte Colonna, »das muß unser Operationsplan sein; hier wollen wir uns ruhig verhalten, aber in Avignon den Kampf führen.« »Er hat befohlen, daß sein Bad in der heiligen Porphyrwanne zubereitet werden soll, in welcher einst der Kaiser Konstantin gebadet hat.« »Entheiligung!« rief Stephan. »Dies genügt, um seine Exkommunikation zu erwirken. Der Papst soll davon benachrichtigt werden! – Ich werde gleich einen Kurier schicken!« »Besser wird es sein, noch zu warten, um die Zeremonie mit anzusehen«, sagte Savelli, »ihr sollt sehen, daß er sich noch größere Torheiten zuschulden kommen läßt!« »Hört, edle Herren«, bemerkte jetzt der Orsini, »ihr ratet zur Vorsicht und zum Zögern! Aber das Blut meines Verwandten schreit um Rache.« »Und was sollen wir tun? Ohne Soldaten gegen zwanzigtausend wütende Römer kämpfen?« Orsini flüsterte bedeutsam: »In Venedig würde dieser Emporkömmling ohne eine Armee seinen Untergang finden. Glaubt ihr, daß in Rom kein Mann ein Stilett trägt?« »Still!« sagte Stephan, edlere und bessere Natur als die anderen. »Das darf nicht sein, Euer Eifer führt Euch zu weit!« »Wen könnten wir auch dafür gewinnen? Es ist fast kein Deutscher mehr in der Stadt …« »Wir haben schon genug geredet«, sagte unwillig der Orsini.»Hört, alter Herr, als ich in Euren Palast trat, sah ich einen Eurer früheren Söldner. Darf ich fragen, welche Geschäfte er hatte?« »Ach ja, es war ein Bote von Montreal. Ich schrieb dem Ritter, mach324
te ihm Vorwürfe, daß er uns in Corneto so schnell verlassen habe, und ließ ihn zugleich merken, daß fünfhundert Lanzenknechte jetzt hier sehr gut bezahlt werden würden.« »Ah«, sagte Savello, »und wie hat er geantwortet?« »Ausweichend und schlau. Er sagte, er stehe mit dem König von Ungarn in Verbindung; er könne seine jetzige Stellung nicht verlassen. Er befürchte, die Kräfte Roms seien so gleich geteilt zwischen den Patriziern und dem Volk, daß man gezwungen sein werde, einen Podesta zu ernennen. Er gibt zu verstehen, daß ihm diese Würde zusagen werde.« »Montreal, unser Podesta!« rief der Orsini. »Und weshalb nicht?« sagte Savelli. »Ist ein patrizischer Podesta etwa schlimmer als ein plebejischer Tribun? – Colonna! Hat der Bote des Montreal die Stadt schon verlassen?« »Ich glaube schon.« »Nein«, sagte Orsini, »ich begegnete ihm am Tore und erkannte ihn gleich. Es ist Rudolf, der Sachse. Ich redete ihn an. Er kann uns jetzt von Nutzen sein. Er erwartet mich in meinem Palast.« »Sehr gut«, sagte der Savelli nachdenklich, und seine Blicke begegneten denen des Orsini. – Kurz darauf wurde die Zusammenkunft beendigt, in der vieles gesprochen, aber nichts beschlossen wurde. Luca di Savelli erwartete jedoch im Hofe des Palastes den Frangipani und die anderen Patrizier und bat sie, sich im Palast Orsinis einzufinden. »Stephan Colonna«, sagte er, »wird schon altersschwach. Wir werden ohne ihn zu einem schnellen Entschluß kommen.« Für jetzt genügte die Beratung einer halben Stunde mit Rudolf, dem Sachsen, um die Unternehmung einzuleiten – den Meuchelmord an Rienzi.
Die Glocke der Laterankirche tönte hell und laut. Das Volk strömte in unübersehbarer Menge herbei. Die vordersten sahen den Tribun, umgeben von seinem glänzenden Hof, den sein Genius versammelt und sein Glück bisher an ihn gefesselt hatte. 325
Als die Töne der Glocke verstummten, trat der Tribun vor. Eine allgemeine und tiefe Stille ruhte über der Versammlung. Rienzi begann mit feierlicher Stimme: »Wir erklären, daß Rom die Hauptstadt der Welt und der Grundpfeiler der christlichen Kirche ist und daß jeder Staat, jede Stadt und jedes Volk Italiens von jetzt an frei ist. Kraft dieser Freiheit und kraft unserer geheiligten Autorität verkünden wir, daß das Wahlrecht, die Gerichtsbarkeit und die Herrschaft des Römischen Reiches Rom und dem römischen Volke sowie ganz Italien gebühren. Wir zitieren daher die berühmten Fürsten: Ludwig, Herzog von Bayern, und Karl, König von Böhmen, die sich den Kaisertitel über Italien zulegen wollen, und fordern sie auf, persönlich vor uns zu erscheinen und ihre Ansprüche zwischen heute und dem Pfingstfeste vorzutragen und zu beweisen. Wir zitieren ferner den Herzog von Sachsen, den Fürsten von Brandenburg und wer sonst, sei er König, Fürst oder Prälat, auf das Wahlrecht für den kaiserlichen Thron Anspruch macht. – Alles dieses geschieht, um unsere bürgerlichen Freiheiten zu behaupten, ohne der geistlichen Macht der Kirche, des Papstes und des heiligen Kollegiums zu nahe treten zu wollen.« Als Rienzi diese kühne Proklamation der Freiheit Italiens ausgesprochen hatte, flüsterten die Gesandten der Toskana und die einiger anderer freier Staaten leise ihren Beifall. Die Gesandten der Staaten, die zur Partei des Kaisers hielten, sahen sich verwundert und erschrocken an. Die römischen Patrizier schwiegen und schlugen die Augen nieder, nur in den Zügen des alten Stephan Colonna sah man ein Lächeln der Verachtung. Der größere Teil der Bürger jedoch wurde bezaubert durch die Worte, welche so große Aussichten für die Emanzipation Italiens eröffneten. Als der Tribun seine Blicke auf der glänzenden Versammlung ruhen ließ, als in sein Ohr das freudige Gemurmel von Tausenden drang, die auf dem Platze vor dem Palast Konstantins versammelt waren, ward sein Herz im Übermaß des Glückes mit Entzücken erfüllt. Und in dem leidenschaftlichen Drang des Augenblicks zeigte er mit seinem Schwert nach den drei Seiten der damals bekannten Erde und sagte in dem Ton eines Mannes, der im Traum spricht: 326
»Nach dem Rechte des römischen Volkes ist auch dieses mein Eigentum.« Das Fest dieses Tages war das glänzendste, das man in Rom seit langem erlebt hatte. Vom Morgen bis zum Abend flossen Ströme Weins wie ein Springquell aus den Nasenlöchern des großen Pferdes von Erz, das den Kaiser Konstantin trägt. Die Säle des Palastes waren jedem geöffnet. Das Wehen der Federn, der Glanz der Juwelen, das Rauschen der Seide und das Erklingen goldener Sporen, die Banner und Wappen an den Wänden, dies alles bot ein glänzendes und prächtiges Gemälde. Und doch war in diesem Augenblick der Herr all dieses Glanzes traurig und zerstreut. Er erinnerte sich eines Abenteuers der vorigen Nacht, und der unheimliche Gedanke erfüllte ihn, daß die Anstifter des mißglückten Mordversuchs unter seinen Gästen seien. Während das Fest seinen Höhepunkt erreicht hatte, sah man Rienzis Pagen mehreren Patriziern etwas zuflüstern; jeder verbeugte sich tief, wechselte aber die Farbe, als er die Botschaft vernahm. »Edler Savelli«, sagte Orsini zitternd, »Ihr müßt Euch nicht so ängstlich zeigen. Dieses kann nur eine Ehrenbezeigung, keine Rache sein. Ich denke, wir werden beide dieselbe Einladung erhalten haben.« »Er – er lädt uns zum Abendessen im Kapitol ein; eine freundliche Aussicht, die Pest auf seine Freundschaft!« Als Rienzi sich erhob, um aufzubrechen, wollte auch Raimond sich empfehlen. Aber der unbarmherzige Tribun hielt ihn fest: »Würdiger Herr, wir bedürfen Eurer in einer dringenden Angelegenheit im Kapitol. Ein Gefangener – eine Untersuchung – vielleicht eine Hinrichtung wartet auf uns. Kommt!« »Aber Tribun!« stammelte der gute Bischof. »Das ist eine ungewöhnliche Zeit für eine Hinrichtung!« »Vikar«, sagte Rienzi, »im Kapitol sitzt der Rat in diesem Augenblick über einen Mörder zu Gericht. Nur dem Schutz des Himmels verdanke ich es, daß ich in der letzten Nacht nicht unter dem Dolch eines besoldeten Bösewichts gefallen bin. Wißt Ihr noch nichts davon?« »Ich?« stammelte Raimond. Rienzi lächelte: »Nein, würdiger Herr! Ich sehe, daß Ihr mit Mördern 327
nichts zu tun habt. Der Mörder hat nach langem Verhör gestanden, daß neun der angesehensten Patrizier Roms seine Anstifter waren. Sie werden mit mir zu Abend speisen. Ihr wollt Euch das doch nicht entgehen lassen?«
VII Colonna fand sich zu der ihm bestimmten Stunde mit den anderen Geladenen im Kapitol ein. Rienzi empfing sie mit größter Freundlichkeit. Sie setzten sich mit geheimer Besorgnis an das glänzende Mahl. Rienzi, der ihr Stillschweigen nicht zu bemerken schien, war munterer, der alte Colonna mürrischer als gewöhnlich. »Edler Herr Colonna, wir scheinen Euch durch unsere Einladung nicht sehr erfreut zu haben. – Einst wurde es uns leichter, Euch zum Lächeln zu bringen.« »Die Verhältnisse haben sich geändert, Tribun, seit Ihr mein Gast wart.« »Oh – ich denke nicht – ich bin emporgekommen, aber Ihr habt Eure Stellung behauptet. Ihr könnt bei Tag und bei Nacht unangefochten und ruhig auf den Straßen gehen. Euer Leben ist gesichert vor Räubern und Mördern.« Die Barone schwiegen. Unbekümmert um die bedrückte Stimmung fuhr Rienzi fort: »Signor Savelli! Euch möchte ich gern etwas fragen. Die Antwort erfordert viel Scharfsinn, aber Ihr werdet sie finden: Ist es besser für den Beherrscher eines Staates, zu nachsichtig oder zu gerecht zu sein? – Nehmt Euch Zeit zur Antwort! – Ihr erbleicht? – Ihr wendet Euch ab?« Rienzi richtete sich auf und rief triumphierend: »Bösewicht und Mörder! Dein Gewissen verrät dich! – Ihr Herren, wollt Ihr antworten – für Euren Mitschuldigen?« 328
»Nein! Wenn wir entdeckt sind«, sagte der Orsini, »so wollen wir nicht ungerächt fallen! – Stirb, Tyrann!« Er sprang auf den Tribun zu und führte mit seinem Dolch einen Stoß nach dessen Brust; die Waffe durchdrang das purpurne Gewand, glitt aber harmlos ab, und Rienzi betrachtete den Mörder mit verächtlichem Lächeln. »Bis gestern abend ließ ich es mir nicht träumen, daß ich unter meinem Staatskleid auch noch eine Rüstung tragen müsse«, sagte er. »Ihr Herren habt mir eine schreckliche Lehre gegeben, und ich danke euch!« Nachdem er dieses gesagt hatte, klatschte er in die Hände. Die Türen am Ende des Zimmers sprangen auf. Man sah an einem langen Tisch die Räte in ihren Staatsgewändern sitzen und über einen Mann, den die Gäste nur zu gut kannten, Recht sprechen. »Laßt den Rudolf aus Sachsen hier eintreten«, sagte der Tribun. Der Bösewicht wurde durch zwei Soldaten in das Zimmer geführt. »Schurke! Also du hast uns verraten?« sagte einer der Frangipani. »Also Ihr gesteht Euer Verbrechen ein!« Rienzi lachte bitter. »Wo ist Euer Scharfsinn, Savelli, wo Euer Stolz, Rinaldo di Orsini? Ist es so weit gekommen mit Eurer Ritterlichkeit, Gianni Colonna?« – Leidenschaftlich fuhr er fort: »Ich habe euch nie beleidigt. Die Welt soll es erfahren, daß ihr in mir der Freiheit, der Gerechtigkeit, dem Gesetz und der Ordnung den Krieg erklärt habt! Gegen das Unsterbliche, nicht gegen mich war euer Angriff gerichtet. – Deswegen müßt ihr als Verbrecher sterben!« Mit diesen Worten verließ Rienzi den Saal. Die ganze Nacht über blieben die Angeklagten bei verschlossenen und bewachten Türen versammelt, und der Glanz des Banketts, das so jäh unterbrochen worden war, bildete einen seltsamen Gegensatz zur Stimmung der Gäste. Die Morgendämmerung beleuchtete die blassen, verzweifelten Gesichter der Angeklagten, und als der letzte Stern am Himmel erlosch und die große Glocke des Kapitols, in deren Tönen sie die Vorbedeutung des Todes sehr wohl erkannten, erschallte, wurden ihre Züge durch Furcht und Schrecken entstellt. Die Türe wurde geöffnet, und 329
eine feierliche Prozession schwarz gekleideter Mönche, für jeden Baron ein Beichtvater, trat ein. In diesem Augenblick ertönte das Geschrei der Volksmenge: »Tod den Verrätern! Tod! Tod!« Rienzi kehrte in den Rat, dessen Sitzung noch andauerte, mit einem ruhigen, fast heiteren Ausdruck zurück. »Freunde«, sagte er, »laßt die Nachwelt der Freiheit nicht nachsagen, daß sie Blut liebt, laßt uns dem erhabenen Beispiel der Barmherzigkeit unseres großen Erlösers folgen. Wir haben triumphiert – laßt uns demütig sein! Wir sind gerettet – laßt uns verzeihen!« Die Rede des Tribunen wurde durch Pandulfo und andere milde und gemäßigte Männer unterstützt, und nach einer kurzen, aber lebhaften Beratung überwog der Einfluß Rienzis, und das Todesurteil wurde, wenn auch nur durch eine kleine Mehrzahl der Stimmen, widerrufen. Der Tribun, der sich bewußt war, großmütig gehandelt zu haben, hob die Sitzung des Rates auf und zog sich in sein Zimmer zurück, wo Nina und seine Schwester ihn erwarteten. Die Barone waren weit mehr in Zorn und Wut über das Demütigende der Begnadigung als dankbar für die ihnen widerfahrene Nachsicht. Ihnen erschien die öffentliche Milde des Tribunen nur den Plan für geheime Rache zu verbergen. Unfähig, den Edelmut des Tribunen zu würdigen, fühlten sie sich noch mehr beunruhigt, als Rienzi sie am nächsten Morgen einzeln zu sich einladen ließ, sie mit Geschenken überhäufte und sie bat, das Vorgefallene zu vergessen. Furcht und schlechtes Gewissen vereinte sie in dem Plan zu fliehen. Es war am Audienztag für die römischen Damen. Ihre Frauen saßen nichtsahnend bei Signora Nina, als die Barone mit ihrem Gefolge eilig und überstürzt Rom verließen. Die Colonna zogen sich nach Palestrina zurück, die Orsini und Frangipani verschanzten sich auf ihren Besitzungen in Marino. Während dieses ganzen Tages und in der Nacht ertönte die große Glocke des Kapitols. Beim Anbruch des folgenden Tages hatten sich jedoch nur wenig Bewaffnete zusammengefunden; das Volk war geängstigt durch die Flucht der Barone, und viele machten Rienzi laute und bittere Vorwürfe, daß er es durch seine Nachsicht so weit hatte kommen lassen. Man ahnte, was der Stadt be330
vorstand. An diesem Tage dauerte die Aufregung fort, die Unzufriedenen blieben meist in ihren Häusern oder versammelten sich heimlich, der nächste Tag brach an, es zeigte sich dieselbe Kälte und Gleichgültigkeit. Da rief der Tribun seinen Rat zusammen. »Sollen wir«, fragte er, »mit den wenigen, die der römischen Fahne folgen wollen, ausrücken?« »Nein«, erwiderte Pandulfo, der mit der Stimmung des Volkes am besten bekannt war. »Meiner Meinung nach ist es besser, wenn wir uns noch ruhig verhalten. Laßt uns warten, bis die rebellischen Barone irgendeine gehässige Gewalttätigkeit begehen, dann wird der Haß die Zögernden vereinen und die Rache sie vorwärtstreiben.« Um diese Verzögerung zu rechtfertigen, wurden Boten nach dem stark befestigten Marino geschickt, wohin sich inzwischen der größte Teil der Barone zurückgezogen hatte. Sie wurden aufgefordert, sofort nach Rom zurückzukehren. An dem Tage, an dem Rienzi die übermütige Weigerung der Rebellen berichtet wurde, kamen Flüchtlinge aus allen Teilen der Campagna. Abgebrannte Häuser, geplünderte Klöster, Raub und Mord bewiesen, daß die Patrizier den Krieg nach ihrer alten Art führten. Die meisten Bürger eilten am Abend dieses Tages freiwillig zum Platz vor dem Kapitol. Rinaldo Orsini hatte in der Nähe Roms ein Kastell eingenommen und einen Turm in Brand gesteckt, so daß das Feuer von der Stadt aus zu sehen war. Die Stunde des Handelns war gekommen. Der Tribun eilte in sein Ankleidezimmer, wo die Pagen und Diener ihn mit der Rüstung erwarteten. »Ich höre durch unsere Spione«, sagte er, »daß sie noch vor Mittag, viertausend Mann zu Fuß und siebenhundert Reiter stark, vor den Toren erscheinen werden. Wir wollen ihnen einen heißen Empfang bereiten! – Wie? Angelo Villani, mein hübscher Page, was hast du hier zu tun?« »Die Signora hat mir erlaubt, mit der Wache nach dem Tor zu gehen, um die Neuigkeiten zu vernehmen.« »Und um den Sieg zu verkünden! – Tu das, mein Kind! – Was? Mein Pandulfo, auch du gerüstet?« 331
»Rom bedarf eines jeden Mannes!« »Nun bin ich wieder stolz darauf, ein Römer zu sein!« rief Rienzi. »Gebt mir den weißen Mantel. Jeder Feind soll den Rienzi gleich erkennen können!« Das römische Heer – verschiedenartig zusammengesetzt, es befanden sich Greise und Knaben darunter – war in einer Stunde auf dem Marsch nach dem Tor von St. Lorenzo. Von den zwanzigtausend Mann zu Fuß bestand kaum der sechste Teil aus vollkommen Bewaffneten, aber die Reiterei war gut gerüstet. An ihrer Spitze ritt der Tribun. Auf seinem Helm trug er einen in Silber gearbeiteten Kranz von Eichen- und Olivenblättern. Den Anfang des Zuges bildete eine Prozession von Franziskanermönchen. Die Geistlichkeit Roms hatte sich dem Volk und seinem enthusiastischen Führer angeschlossen. So erreichten sie einen weiten Platz innerhalb des Tores und erwarteten, in langen Reihen aufgestellt, die Befehle ihrer Offiziere. »Öffnet die Tore und laßt den Feind ein!« rief Rienzi mit lauter Stimme, als die Trompeten der Barone deren Kommen verkündeten.
Die Patrizier, welche am Morgen dieses Tages zwei Stunden von Rom entfernt ausgerückt waren, näherten sich jetzt. Neben dem alten Stephan ritten seine Söhne, der Frangipani, der Savelli und Giordano Orsini, der Bruder des Rinaldo. »Heute soll der Tyrann vernichtet werden«, sagte der stolze Baron, »und die Fahne der Colonna soll vom Kapitol wehen!« »Das Banner des Bären!« erwiderte Giordano Orsini zornig. »Ihr werdet nicht allein den Sieg davontragen.« »Unser Haus ist das erste in Rom!« entgegnete der Colonna. »Still!« fiel Luca di Savelli ein. »Wollt ihr schon die Löwenhaut verteilen, da der Löwe noch lebt? – He, Bursche!« fragte er einen Späher, der atemlos herbeisprengte. »Was gibt's?« »Die Tore sind geöffnet. – Kein Speer glänzt auf den Mauern!« »Habe ich es euch nicht gesagt?« wendete sich der Colonna lachend 332
an seine Begleiter. »Wir werden Rom ohne einen Schwertstreich einnehmen!« Sie näherten sich dem Tor der Stadt, das immer noch offenstand, auf Bogenschußweite. Alles war totenstill. Plötzlich flog eine Fackel über die Mauern. Sie flammte einen Augenblick auf und erlosch. »Es ist das Zeichen unserer Freunde in der Stadt, wie es verabredet wurde«, rief der alte Colonna. »Pietro, rücke mit deinem Zug vor!« Der junge Patrizier schloß sein Visier und sprengte an der Spitze seines Zuges mit eingelegten Lanzen auf das Tor zu. Den Morgen über war der Himmel mit Wolken bedeckt gewesen, jetzt aber trat die Sonne glänzend hervor und beleuchtete die spiegelblanke Rüstung des Ritters, der unter dem dunklen Bogen des Tores verschwand. Unmittelbar hinter seinem Zug folgten die durch Gianno Colonna, Pietros Vater, befehligten Reiter. Man hörte einige Augenblicke nichts als das Geklirre der Waffen und das Getrappel der Pferde. Plötzlich ertönte der Ruf: »Rom, der Tribun und das Volk!« Die Reiter hielten erschrocken an, und jetzt sah man den Gianno Colonna in voller Hast vom Tor zurücksprengen. »Mein Sohn! Mein Sohn!« rief er. »Sie haben ihn ermordet!« Er hielt einen Augenblick unentschieden an, dann sprengte er mit den Worten »Aber ich will ihn rächen!« unter den Bogen des Tores zurück. Eine große eiserne Maschine, wie ein Fallgatter geformt, fiel plötzlich auf ihn nieder und zerschmetterte Roß und Reiter zu einer blutigen Masse. Der alte Colonna traute kaum seinen Augen. Noch ehe sich seine Truppe von ihrem Schrecken erholen konnte, erhob sich die Maschine wieder. Dann drang das Volksheer aus der Stadt. Tausende und aber Tausende strömten heraus, ein wilder, lärmender, reißender Strom. Von allen Seiten stürzten sie auf ihre Feinde, die sich schnell geordnet hatten und, da sie vollkommen gepanzert waren, ihrem Angriff Widerstand leisteten. »Rache und die Colonna!« – »Der Bär und die Orsini!« – »Barmherzigkeit und die Frangipani!« – »Kämpft für die Schlange und die Savelli!« hörte man jetzt von allen Seiten und diese Rufe waren vermischt 333
mit denen der Deutschen: »Volle Geldbeutel und die drei Könige von Köln!« Die Römer, welche weniger diszipliniert und schlecht gerüstet, aber desto kampflustiger waren, wurden von den Söldnern scharenweise abgeschlachtet. Der kühne Rienzi, durch seinen auffallenden Mantel am meisten ausgesetzt, war stets in den ersten Reihen und kämpfte mit einer ungeheuren Streitaxt, welche die Italiener sehr gewandt zu führen wußten und die er als Nationalwaffe betrachtete. Bald war er hier, bald war er da – wo die Seinigen zurückwichen oder heftigen Widerstand fanden, erglänzte sein weißes Gewand und erhob sich seine blutige Streitaxt. Gegen Abend hörte die Schlacht auf. – Der Ruhm und die Blüte der Barone waren gebrochen. Von dem fürstlichen Hause der Colonna lagen drei tot auf dem Schlachtfeld. Giordano Orsini war tödlich verwundet. Die Bedeutendsten der Familie Frangipani waren nicht mehr und Luca, das feige Oberhaupt der Savelli, hatte sich längst durch die Flucht gerettet. Auf der anderen Seite war das Gemetzel unter den Bürgern furchtbar gewesen – das Blut floß in Strömen –, aber Rienzi und die Römer kehrten in der Abenddämmerung als Sieger zurück. Freudengeschrei empfing den Tribun, als er auf seinem keuchenden Roß durch das Tor ritt, und ganze Scharen von Weibern und Kindern, Greisen und barfüßigen Mönchen waren, als sie die Siegesnachricht vernommen, herbeigeeilt, um Rienzis Triumphzug zu begleiten. Der Tribun hielt an, als ihm die Leiche des jungen Colonna gezeigt wurde. Sie lag zur Hälfte in einer Pfütze und neben ihr die des Gianno Colonna – desselben Gianno Colonna, dessen Lanze einst seinen armen Bruder getötet hatte. Als Rienzi sich umwendete, sah er den kleinen Angelo, der ihm strahlend entgegeneilte. »Kind«, sagte Rienzi ernst, »gesegnet bist du, wenn du nicht das Blut eines Verwandten zu rächen hast …« Rienzi hörte um sich her das Jammern der Witwen und Mütter, das Stöhnen der Sterbenden, das leise Beten der Mönche, vermischt mit den Tönen der Freude und des Triumphes. 334
Mit einemmal erhoben die Weiber und die Nachzügler auf dem Schlachtfeld ein entsetztes Geschrei: »Der Feind! Der Feind!« »Zu den Schwertern!« rief der Tribun. »Ordnet euch schnell! – Sehr stark können sie nicht mehr sein!« Mit Trompetengeschmetter sprengten einige dreißig Reiter durch das Tor. »Eure Bogen!« rief der Tribun. »Aber halt! Der Anführer ist unbewaffnet! Es ist unser eigenes Banner! Zurück! Es ist unser Gesandter aus Neapel, Adrian di Castello!« Atemlos und mit Staub bedeckt hielt Adrian an dem schlammigen Wasser, das durch das Blut seiner Verwandten gerötet war. Ihre bleichen, toten Gesichter starrten ihn an. »Zu spät! – Unglückliches Rom!« »Sie fielen in die Grube, die sie sich selbst gegraben haben«, sagte der Tribun mit fester Stimme. Adrian war abgestiegen und beugte sich über die Toten. Der Tribun übergab sein Pferd einem Knappen und zog den widerstrebenden Freund beiseite. »Hör mich an, Adrian«, sagte er beschwörend, »diese Männer waren Eures Namens unwürdig! Sie haben mich betrogen, Mörder gegen mich gedungen, sie waren Rebellen gegen den Staat …« Adrian fühlte, daß er dem Tribunen nichts erwidern konnte. Schon der Ort, wo seine Verwandten den Tod gefunden hatten, bewies, daß sie im Angriff gegen ihre Mitbürger gefallen waren. Er sympathisierte nicht mit ihrer Sache, aber mit ihrem Schicksal. Rache, ja sogar Wut war ihm unmöglich, aber Schmerz und Trauer machten ihn stumm. Endlich kam er wieder zu sich. Mit zitternder Stimme wendete er sich an Rienzi: »Tribun – ich klage Euch nicht an. Wenn Ihr gefehlt habt, so wird der Himmel Blut mit Blut vergelten. Ich trete Euch nicht als Feind gegenüber. Aber ich bin auch nicht mehr Euer Freund. – Und Eure Schwester – Irene – zwischen ihr und mir liegt ein Abgrund.« Der junge Mann schwieg. Dann straffte sich seine Gestalt. »Diese Papiere hier«, fuhr er fort, »enthalten den Erfolg meiner Sendung nach Neapel. – Fahnenträger! Leg das Banner der Republik nieder! – Lebe wohl, Tribun!« Er schwang sich auf sein Pferd und ritt mit seiner Schar durch das Tor. 335
Der Tribun hatte nicht versucht, ihn aufzuhalten. Er fühlte, daß der junge Patrizier gehandelt hatte, wie er nicht anders handeln konnte und durfte. Er folgte ihm mit seinen Blicken, solange er zu sehen war. »Und so«, sagte er, »raubt mir also das Geschick meinen treuesten Freund, Rom hat seinen edelsten Bürger verloren.«
VIII In Rom folgte auf den ersten Siegesjubel bald Trauer und Wehklagen. Der Verlust der Römer war so groß gewesen, daß der öffentliche Triumph durch das Unglück so vieler Familien getrübt wurde, und manche der Leidtragenden machten ihrem Befreier bittere Vorwürfe. Außerdem mußten die Söldner bezahlt werden. Der Schatz war leer, es war notwendig, ihn durch die Erhebung einer neuen Abgabe wieder zu füllen. In demselben Parlament, das der Tribun für die Unterstützung der Freiheit wiederbelebt und neu gebildet hatte, wurde die Freiheit verlassen! Seine feurige Beredsamkeit wurde mit düsterem Stillschweigen aufgenommen, und bald war die Mehrzahl der Stimmen gegen seine Vorschläge für die neue Auflage und den Marsch nach Marino. Als Rienzi den Saal verließ, erhielt er einen Brief, in dem ihm mitgeteilt wurde, daß der Legat des Papstes Siena verlassen hatte. Die Republik war aufgefordert worden, ihre Hilfstruppen von Rom zurückzuziehen. Rienzi selbst aber wurde zum Rebellen und Ketzer erklärt. Der päpstliche Legat verweilte augenblicklich in Marino, um sich mit den Baronen zu besprechen. Rienzi war wie gelähmt. War das das Ende? Würde das Volk ihn in dieser Gefahr verlassen? Er berief die Hauptleute seiner Wachen und befahl, daß sie fünfzig 336
bewaffnete Reiter bereit halten sollten. Dann eilte er zu Nina. Er betrachtete sie lange mit liebevoller Aufmerksamkeit. Dann sagte er: »Wir müssen uns trennen.« »Uns trennen?« »Ja, Nina – ich habe deine Begleitung schon bestellt. Du mußt nach Florenz.« »Cola! Was ist vorgefallen? Sag es mir – ich bin doch deine Frau!« »Ich liebe dich zu innig«, flüsterte der Tribun. »Wenn du bei mir bleibst, bin ich nur ein halber Römer. – Nina! Die niedrigen Sklaven, die ich selbst frei machte, verlassen mich – jetzt, in der Stunde, da ich für immer alle Hindernisse beseitigen könnte, verläßt mich mein Glück. Es steht uns eine größere Gefahr bevor als die Wut der Barone – sie sind geflüchtet, aber das Volk ist es, das zum Verräter an Rom und an mir wird.« »Und willst du, daß auch ich treulos werden soll? – Nein, Cola. Selbst im Tode wird Nina dich nicht verlassen. Ich trenne mich nicht von dir!« »Nina!« sagte der Tribun. »Es kann buchstäblich der Tod sein, von dem du sprichst!« »Ich bleibe!« »Du bist entschlossen?« »Ja.« »Dann mache dich auf das Schlimmste gefaßt«, sagte der Tribun. »Solange ich bei dir bin, Cola, ist alles gut.« »Ich danke dir, Nina. Du hilfst mir sehr. – Aber Irene! Wenn ich untergehe, so wird sie mich nicht überleben. Das arme Kind! Ich habe ihr den Geliebten genommen und jetzt …« »Du hast recht. Irene darf nicht bei uns bleiben. Ich werde zu ihr gehen und sie vorbereiten.« Die freundliche Gewandtheit Ninas überzeugte Irene, daß nur die zärtliche Rücksicht ihres Bruders sie veranlassen wolle, Rom zu verlassen, wo sie so vieles an Adrian erinnerte. Es wurde verabredet, daß sie eine Zeitlang bei einer Verwandten Ninas, die Äbtissin eines der reichsten florentinischen Klöster war, zu337
bringen solle. Der Gedanke an klösterliche Abgeschiedenheit war ihrem müden und kranken Herzen willkommen. Die Handelsleute und Handwerker Roms hielten zu jener Zeit in jedem von den dreizehn Quartieren der Stadt wöchentliche Versammlungen ab. In derjenigen, die als besonders demokratisch galt, war Cecco del Vecchio der Wortführer. »So«, sagte Luigi, der Metzger, »er wollte uns eine neue Abgabe auferlegen?« »Ich sagte ihm«, erwiderte der Schmied, »er solle sich in acht nehmen, das Volk mit einer neuen Abgabe zu belasten. Aber wenn er nicht auf meinen Rat hört, so muß er die Folgen fühlen!« »Eurem Rate folgen, Cecco? – Dafür dünkt er sich jetzt zu vornehm!« »Trotz allem ist er aber doch ein großer Mann«, sagte einer von der Versammlung. »Er gab uns gerechte Gesetze – er reinigte die Campagna von Räubern – er belebte die Landstraßen durch Handel – er füllte die Kaufmannsläden mit Waren – er besiegte die stolzesten Patrizier und die kühnsten Krieger Italiens!« »Und jetzt will er neue Abgaben einführen, das ist aller Dank, den wir dafür haben, daß wir ihm beistanden!« erwiderte der unzufriedene Cecco. »Was wäre er gewesen ohne uns? Wir, die wir einen Tribunen gewählt haben, können ihn auch wieder absetzen!« »Und dann«, sagte ein Sattler, »laßt uns Frieden schließen mit den Baronen. Sie waren trotz allem gute Kunden.« »Was mich betrifft«, sagte ein munter aussehender Bursche, der in schlechten Zeiten Totengräber gewesen war und jetzt einen Warenladen für die Lebendigen eröffnet hatte, »ich könnte ihm alles verzeihen, außer daß er in der heiligen Porphyrwanne ein Bad genommen hat.« »Ah – das war doch nur ein schlechter Spaß«, sagten einige. »Aber zur Sache«, rief jetzt einer von den Wildesten aus der Versammlung. »Die Abgaben! Die Undankbarkeit, uns mit Abgaben belasten zu wollen! Er soll es nur wagen!« »Oh – er wird es nicht wagen – denn ich höre, daß der Papst ihm jetzt endlich zu Leibe rückt, und dann ist er ganz abhängig von uns.« 338
Die Tür wurde aufgerissen. Ein Mann trat atemlos herein. »Hört«, sagte er keuchend, »der Tribun war beim Legaten des Papstes! Gerade kommt er zurück.« Sie eilten hinaus und sahen Rienzi mit seiner üblichen Begleitung langsam vorbeireiten. In seinem Antlitz herrschte tiefe Ruhe, aber es war nicht die Ruhe der Zufriedenheit. Er zog vorbei und in der Straße wurde es wieder still. Rienzi erreichte schweigend das Kapitol und begab sich in die Zimmer des Palastes, wo Nina ängstlich seine Rückkehr erwartete. »Sprich, Geliebter! Was sagte der Kardinal?« »Nichts, was du gern hören wirst. – Er sprach zuerst in feierlichem Ton über das Verbrechen, die Römer für frei erklärt zu haben, dann über den Verrat in der Behauptung, daß die Wahl des römischen Königs den Römern zustehe. Ich behauptete mein Recht und bewies es. Der Kardinal ging auf andere Anklagen über.« »Was konnte er schon gegen dich vorbringen?« »Das Blut der Barone bei St. Lorenzo, Blut, das nur in unserer eigenen Verteidigung gegen Meineidige vergossen wurde; dies ist eigentlich das Hauptverbrechen. Der Papst schenkt den Colonna geneigtes Gehör. – Ferner die Entweihung, die ich mir hätte zuschulden kommen lassen, als ich in der Porphyrwanne ein Bad nahm, die Konstantin als Heide benutzt hatte!« »Ist das möglich? Was sagtest du?« »Ich lachte. Dann fragte ich ihn: Wird es mir vielleicht auch zum Vorwurf gemacht, daß der Handel sich wieder frei bewegen kann, daß Leben und Eigentum gesichert sind, daß der römische Name im Inund Ausland mehr geehrt wird als unter irgendeiner früheren Regierung? – Da sagte er: Ich habe von seiten des Papstes nur einen Auftrag zu erfüllen – lege deinen Posten als Tribun nieder, oder dich trifft der feierliche Fluch der Kirche!« »Wie? Was?« sagte Nina totenbleich. »Was erwartet dich?« »Die Exkommunikation.« Nina bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen. »Der Fluch«, murmelte Rienzi, »der Fluch der Kirche – und das mir!« 339
Lange nach dieser Unterredung mit Nina – die mitternächtliche Glocke war schon verklungen – stand Rienzi allein auf einem der Balkone des Palastes, um seine Stirn in der freien Luft zu kühlen. Es war eine heitere und klare Dezembernacht. Er heftete seine Blicke auf jene funkelnden Sternbilder, in denen die menschliche Leichtgläubigkeit die Weissagungen der Schicksale zu lesen vermeint. Als er seinen Blick niederschlug, bemerkte er zwei schwarzgekleidete Männer, die sich an dem Basaltlöwen zu schaffen machten. Ein Schauder ergriff ihn, denn er hatte sich der dunklen Ahnung nie erwehren können, daß eine bestimmte Verbindung zwischen seinem Geschick und jenem unheimlichen Monument bestehe. Er hörte, wie die Schildwache die Männer anrief, und als sie näher kamen, bemerkte er, daß sie Mönchskleidung trugen. »Störe uns nicht«, sagte einer von ihnen. »Wir heften nur nach dem Befehl des päpstlichen Legaten an dieses Denkmal die Exkommunikationsbulle gegen einen Ketzer und Rebellen.« Das war wie ein Donnerschlag aus heiterem Himmel – der Sturz des Tribunen im Zenit seiner Macht. Ein solcher Untergang war wie ein Hohnlachen des Schicksals, das ihn im Unglück unterstützte, um ihn auf der Höhe seines Glücks plötzlich zu verlassen. Am nächsten Morgen sah man keinen Menschen in den Straßen, die Läden waren geschlossen. Der schreckliche Fluch der Exkommunikation gegen das Oberhaupt der päpstlichen Stadt schien alle Lebensadern gelähmt zu haben. Aber in dem allgemeinen Schrecken erfüllte doch eine Überzeugung die Menge – für sie mußte der Tribun auf der Höhe seines Ruhms dieses erdulden! – Die an so vielen Mauern und Säulen gegen ihn angeheftete Bulle machte ihm zum Vorwurf: Rebellion, Ketzerei und Kirchenschändung. Die Römer fühlten ihre Schuld; sie seufzten, sie klagten – aber in seinem großen Palast war der Tribun, bis auf wenige Getreue, allein und verlassen. Am dritten Tag unterbrach ein neues Ereignis die Totenstille der Stadt; hundertfünfzig Söldner unter Pepin von Minorbino, einem Anhänger Montreals, rückten in Rom ein, besetzten den Palast der Co340
lonna, und es wurde ein Herold durch die Stadt geschickt, der im Namen des Kardinallegaten verkündete, daß ein Preis von zehntausend Florenen auf den Kopf des Cola di Rienzi gesetzt sei. Darauf ertönte, in hellen und lauten Schlägen, die Glocke des Kapitols – das Volk, entmutigt durch die Furcht vor der päpstlichen Autorität, kam unbewaffnet. Auf dem Platz des Löwen wurde es vom Tribunen erwartet. Mit entblößtem Haupt stand er da, in gebietender Haltung, die beschämte und unbewaffnete Menge mit einem Blick bitterer Verachtung überschauend. Als das Läuten der Glocke verhallte, redete er das Volk mit folgenden Worten an: »Also, ihr seid doch noch einmal gekommen! – Kommt ihr als Sklaven oder als freie Männer? Eine geringe Zahl bewaffneter Söldner ist in eure Mauern eingedrungen; wollt ihr, die ihr von euren Toren die stolzesten Ritter, die erfahrensten Krieger Roms vertrieben habt, euch jetzt hundertundfünfzig Mietlingen und Ausländern unterwerfen? Wollt ihr euch für eure eigenen Freiheiten, für eure eigene Vaterstadt bewaffnen? Ihr schweigt? – Römer! Hört mich an! – Habe ich euch Unrecht getan, so laßt mich sterben durch eure Hände – dann tretet mit den Waffen, an denen noch mein Blut klebt, dem Räuber entgegen, der der Verkünder eurer Sklaverei ist. – Römer! Bewaffnet euch – folgt mir zum Palast des Colonna! Vertreibt diesen Schurken, vertreibt euren Feind!« Er hielt inne. Seine Worte schienen keine Begeisterung zu erregen. »Oder –«, fuhr er fort, »ich überlasse euch eurem Schicksal!« Man vernahm ein allgemeines Gemurmel, das endlich lauter wurde. Mehrere Stimmen schrien gleichzeitig: »Du bist von der Kirche verflucht worden!« »Was?« rief der Tribun. »Deshalb verlaßt ihr mich? – Mit euch hätte ich gekämpft – für euch hätte ich mein Leben gegeben! – Ihr verlaßt euch selbst, da ihr mich verlaßt. Und wenn ich nicht länger über tapfere Männer regieren kann, so überlasse ich meine Macht den Tyrannen, die ihr mir vorzieht. – Sieben Monate habe ich das Staatsruder geführt; und nun, da ich die Regierung, die ihr mir übertrugt, niederlege, verteidigt wenigstens eure eigene Freiheit. – Wenn wir uns trennen 341
müssen, so lebt wohl. Ich lege mein Amt nieder, und die Welt soll sagen, daß einhundertfünfzig Räuber Rom besiegten und seine Gesetze und seine Regierung vernichteten.« Nach diesen Worten stieg er die Treppe hinab und schwang sich auf sein Roß. Das Volk wich schweigend vor ihm zurück, und der Tribun ritt langsam vorbei. Unangefochten passierte er die gefährlichen Quartiere seiner Feinde, die sich bei seiner Annäherung in den Palast zurückgezogen hatten. Ohne aufgehalten zu werden, begab er sich zum Kastell von St. Angelo, wohin sich Nina bereits zurückgezogen hatte. Heiter leuchtete die Wintersonne über den Straßen Roms. An der Spitze der Barone ritten der Kardinallegat, der alte Colonna zu seiner Rechten, Luca Savelli und Rinaldo Orsini unmittelbar hinter ihnen. Es war ein langer, barbarischer Zug, meist aus fremden Söldnern bestehend, so daß er mehr dem Marsch siegender Feinde, als der Rückkehr verbannter Bürger gleichsah. »Luca«, sagte der Legat, Kardinal de Deux, »dieser Rienzi muß sterben. Er hat sich in St. Angelo eingeschlossen. Der Orsini soll das Kastell im Sturm einnehmen. Heute besetzen wir das Kapitol, annullieren alle Gesetze des Rebellen, lösen sein lächerliches Parlament auf und übertragen die Regierung der Stadt drei Senatoren: dem Rinaldo Orsini, Colonna und mir. Für Euch, edler Herr, werde ich auch noch sorgen.« »Oh, ich bin schon belohnt, wenn ich in meinen Palast zurückkehren kann. Luca Savelli ist kein ehrgeiziger Mann! Er wünscht nur, in Ruhe und Frieden zu leben.« Der Kardinal lächelte spöttisch. Vor dem Kapitol waren, wie gewöhnlich, wenn es etwas zu sehen gab, Zuschauer versammelt. »Macht Platz, ihr Schurken!« riefen die Söldner und trieben die Menge zurück, die noch an das ruhige und höfliche Benehmen der Wache Rienzis gewöhnt war. Luigi, der Metzger, wich zu langsam zurück, und sein römisches Blut geriet in Wallung, als die Lanze eines Deutschen ihn verletzte. 342
»Fort, Römer!« sagte der rohe Söldner in einem barbarischen Italienisch. »Mache Platz für Bessere, als du bist! Ihr habt lange genug Aufzüge und Prozessionen angegafft.« »Ich erinnere mich an den Kerl«, rief ein anderer Söldner. »Er war einer von Rienzis Leuten.« »Dafür soll er gleich seinen Lohn bekommen!« erwiderte der andere. Beleidigt durch den Spott, den er in dem Blick des Metzgers zu lesen glaubte, stieß er ihm kaltblütig seine Lanze durch das Herz und ritt über seine Leiche. »Mord! Mord!« Die Menge drängte sich um die Söldner. Der Legat hörte das Geschrei und sah den Auflauf. Er erbleichte. »Die Schurken rebellieren wieder«, stammelte er. »Nein«, sagte Luca, »aber es wird nicht schaden, wenn man ihnen einen heilsamen Schrecken einjagt. Sie sind alle unbewaffnet – erlaubt, daß ich befehle, sie auseinanderzusprengen. Es wird bald geschehen sein!« Der Kardinal willigte ein, der Befehl wurde erteilt, und in wenigen Minuten trieben die Söldner ohne Rücksicht und Gnade die Menge vom Platze, einige überreitend, andere mit den Lanzen durchbohrend. Durch diese wilde, schreckliche Szene völlig unberührt, ritt der Legat mit seinem Zug über die Leichname der Schlachtopfer, um wenige Minuten später im großen Saal des Kapitols die Huldigung der Bürger entgegenzunehmen und den Segen der Rückkehr der Patrizier zu verkünden.
IX An den Ufern eines der schönsten Seen im nördlichen Italien stand der Lieblingssitz des Adrian di Castello. Hierher zog sich der junge Patrizier zurück. Das Kastell war hinlänglich befestigt, um etwaigen 343
Angriffen der Räuber aus den Bergen oder der kleinen Tyrannen aus der Nachbarschaft zu widerstehen. Der Ort war entfernt und abgelegen. Die Wege, welche von den nächsten Städten dahin führten, waren schwer zugänglich. Einige Hütten und ein kleines Kloster waren die nächsten Siedlungen, und die tiefe Einsamkeit wurde nur selten durch einen Pilger oder durch einen verirrten Wanderer gestört. An diesem stillen Zufluchtsort brachte Adrian den Winter zu, der in diesem bezaubernden Klima so milde auftritt. Das Geräusch der Welt erreichte nur schwach und undeutlich sein Ohr. Er erfuhr nur unvollkommen und mit vielen Widersprüchen die Nachricht, die wie ein Donner durch ganz Italien rollte, daß der seltsame und hochstrebende Mann – der die Teilnahme von ganz Europa und die glänzendsten Hoffnungen der Enthusiasten erregt hatte – plötzlich von seiner Höhe gestürzt war. Diese Nachrichten weckten Adrian aus seinem träumerischen Leben auf. Jetzt, dachte Adrian, kann Irene die meinige werden, ohne daß ich meinen Namen beflecke! Welche auch Rienzis Fehler sein mögen, sie hat keinen Teil an ihnen. Auch kann die Welt nicht sagen, daß Adrian di Castello mit einem hochgestellten Manne in Verwandtschaft tritt, dessen Macht auf den Ruinen des Hauses der Colonna begründet wurde. – Das Unglück vereinigt mich wieder mit meiner Geliebten! Aber Irenes Aufenthaltsort war ihm unbekannt. Er beschloß, nach Rom zu reisen und dort die nötigen Erkundigungen einzuziehen. Er befahl daher seinen Dienern, die Vorbereitungen für die Reise zu treffen – eine freudige Nachricht für sie. Die Rüstung wurde aus dem Waffensaal hervorgeholt, und nach zwei Tagen brach Adrian auf. Es war ein warmer, schwüler Morgen. Der einsame junge Mann ritt jenen herrlichen Weg hinab, von dessen Höhe der Wanderer zwischen Feigenbäumen, Weingärten und Olivenhainen nach und nach das bezaubernde Tal des Arno und die Türme und Kuppeln von Florenz erblickt. Doch alles war still und öde, und selbst das Licht der Sonne schien etwas Unheimliches zu haben. Von den Hütten an der Straße waren ei344
nige verschlossen, andere standen offen, schienen aber von ihren Bewohnern verlassen zu sein. Der Pflug stand still, kein häusliches Geschäft wurde betrieben. Dann und wann sah man eine einzelne Gestalt, gewöhnlich im Mönchskleide, die einen erstaunten Blick auf den Wanderer warf und in irgendeiner Hütte verschwand. In der Stadt war die Szene weniger einsam, aber noch unheimlicher. Man sah dicht verhüllte und behangene Karren und Sänften, in denen sich Personen befanden, die in der Flucht Rettung suchten – in einer sinnlosen Flucht vor der Pest. Die Fuhrwerke wurden durch magere Pferde gezogen, die sich selbst nur mühsam schleppten. Bisweilen unterbrach ein heftiger Schrei das Stillschweigen, und das Pferd des Reiters sprang erschrocken zur Seite, wenn ein Unglücklicher, den die Seuche ergriffen hatte, aus diesen Trauerwagen geworfen und von seinen Gefährten verlassen wurde. Dicht vor dem Tor hielt ein Karren an, und ein Mann mit einer Maske vor dem Gesicht warf ein Bündel in eine grüne, schlammige Pfütze. Es waren Kleidungsstücke aller Art und von verschiedenem Wert. Der mit Gold gestickte Mantel des Reichen, der Schleier des jungen Mädchens und die Lumpen des Bettlers. »He!« sagte der maskierte Mann, und seine hohle Stimme ertönte dumpf durch die Maske. »Kamst du hierher, um zu sterben, Fremdling?« Adrian erwiderte nichts auf diesen häßlichen Willkommensgruß und setzte seinen Weg fort. Das Tor stand weit offen. Gesetz und Polizei, die Gesundheitskommissionen und die Sicherheitstribunale, alle hatte der Tod hinweggerafft. Stumm und einsam suchte der Liebende seine Geliebte, entschlossen, sie zu retten trotz der Schrecknisse. Endlich kam er vor eine Kirche, deren Türen weit offenstanden. Mehrere Mönche – Masken vor dem Gesicht – waren um den Altar versammelt. Die Diener Gottes waren die einzigen, welche in der Stadt, deren Bevölkerung bisher als frömmste in Italien galt, ohne ihre Gemeinde den Gottesdienst hielten. Der junge Ritter wartete, bis die Mönche die Treppe herabkamen. »Heilige Väter«, redete er sie an, »hättet ihr wohl die Güte, mir zu sa345
gen, wie ich auf dem nächsten Wege nach dem Kloster St. Maria dei Pozzi komme?« »Sohn«, sagte eines von diesen maskierten Gespenstern, »setze deinen Weg fort, und Gott sei mit dir – Räuber und Taugenichtse hausen jetzt vielleicht in dem Kloster, von dem du sprichst. Die Äbtissin ist tot und manche Schwester mit ihr. Die anderen Nonnen sind vor der Seuche geflohen.« »Halte dich rechts bis zur ersten Brücke. Jenseits der dritten Brücke wirst du das Kloster am Ufer des Arno finden«, sagte ein anderer Mönch. »Gott segne Euch, heiliger Vater«, stammelte der Ritter. Ungeduldig sprengte Adrian mit verhängtem Zügel durch die Straßen. Die erste Brücke, die zweite und die dritte waren erreicht, und Adrian hielt endlich in den Mauern des Klosters. Wildes Gelächter und lauter Gesang drangen an sein Ohr. Er stieß die Tür auf, trat in einen langen Gang und kam, durch den wilden Lärm geleitet, in das Refektorium. In jenem Versammlungsort der keuschen Bräute des Himmels sah er jetzt, um einen runden Tisch sitzend, eine seltsame Gesellschaft. Einige trugen grobe Kleider von Zwillich oder schmutzige Lumpen. Andere erschienen geschmückt mit Seide und Samt, mit den kostbarsten Federn und reichbestickten Mänteln. Ein Blick genügte, um sich zu überzeugen, daß sie alle derselben Klasse angehörten und daß der glänzende Staat nur aus unbewachten Palästen oder herrenlosen Warenlagern geraubt war. In dem wilden Gelage sah man auch mehrere Frauen, junge und von mittlerem Alter, schöne und häßliche. Der Tisch war in Hülle mit Speisen, mit Weinflaschen und mit goldenen und silbernen Gefäßen, die meist ursprünglich heiligen Gebräuchen geweiht waren, gedeckt. »Kommt! Tretet ein!« rief ihm einer der Burschen zu. »Was steht ihr so verblüfft da? – Wir sind gastfreundliche Gesellen und heißen jeden willkommen. Hier gibt es Wein, köstliche Speisen und Frauenzimmer. Des Bischofs Wein und der Äbtissin Frauenzimmer!« Adrian verließ das entweihte Refektorium. Er beschloß jedoch, den Ort nicht zu verlassen, ohne noch einen Versuch zu machen, und als 346
er sich umsah, bemerkte er eine kleine Kapelle, durch deren hohe, schmale Fenster ein schwaches Licht schimmerte. Er trat durch die offene Tür ein und sah vor dem Altar eine Nonne betend auf den Knien. Auf einem langen Tisch, an dessen Enden Wachskerzen brannten, erblickte er in mehreren offenen Särgen die wächsernen, entstellten Gesichter toter Nonnen. Adrian kniete nieder, durch die Heiligkeit und tiefe Trauer des Ortes ergriffen und gerührt durch den Anblick jener einsamen Wächterin. Die Nonne erschrak, als sie ihn bemerkte. »Unglücklicher Mann«, sagte sie mit schwacher Stimme, »wie kommst du hierher? – Siehst du nicht die Leichen, die ein Opfer der Pest geworden sind? Du atmest Luft, die den Tod in sich trägt!« »Die Gefahr erschreckt mich nicht«, erwiderte Adrian, »denn ich suche ein Wesen, dessen Leben mir teurer ist als mein eigenes. Ich bitte dich, beantworte mir eine Frage. Du bist von der Schwesternschaft dieses Klosters, sage mir, weißt du vielleicht, ob Irene, die Schwester des ehemaligen Tribunen Roms, noch unter den Lebenden ist?« »Bist du ihr Bruder?« fragte die Nonne. »Ich bin ihr Verlobter.« »Das Mädchen, von dem du sprichst, lebt. Als die wenigen, die noch von der Seuche verschont worden waren, flohen, ging auch sie. Ich weiß aber nicht, wohin.« »Gott segne dich, Schwester. – Und wann verließ sie das Kloster?« »Seit vier Tagen hausen die Räuber und Bösewichte in unserem Hause«, erwiderte die Nonne seufzend. »Vier Tage? – Und weiter weißt du nichts?« »Nein – doch bleibe, junger Mann!« Die Nonne trat näher zu ihm und flüsterte ihm ins Ohr: »Frage die Totengräber …« Adrian trat erschrocken zurück, bekreuzigte sich und verließ schnell das Kloster. Er bestieg sein Pferd und ritt in die Stadt zurück. Die Hitze des Tages, die schwüle, ungesunde Luft, lange Anstrengungen, das nagende Bewußtsein, kostbare Augenblicke unwiederbringlich verloren zu haben, alles dieses zusammen wirkte auf seine so feste Gesundheit, und ein heftiges Fieber befiel ihn. Unerträglicher Durst quälte ihn, seine Kräfte schienen ihn plötzlich zu verlas347
sen, und nur mit größter Anstrengung konnte er sich noch vorwärts bewegen. Die Bilder der Menschen und der Häuser verschwammen vor seinen Augen, das glühende Pflaster schwankte unter seinen Füßen. Ein Delirium ergriff ihn, und er schlich langsam fort, gebrochene und unzusammenhängende Worte stammelnd. Die wenigen, die ihm begegneten, wichen ihm erschrocken aus. Vier Totengräber aber, die an einer Straßenecke zusammen tranken, hefteten unter ihren schwarzen Masken hervor ihre Blicke auf ihn. Er schleppte sich noch weiter, die Arme ausgebreitet, wie ein Mann, der im Dunkeln geht. »Irene! Irene!« rief er bisweilen mit heiserer Stimme. Dann wieder mit durchdringender Stimme: »Wo bist du?« Zwei Mädchen traten, maskiert und in Mäntel gehüllt, plötzlich aus einem Hause. »Es hat doch alles keinen Sinn mehr«, sagte die schlankere von den beiden. Sie trug einen Mantel von dunkelblauer Farbe, reich mit Silber bestickt, von römischem Schnitt. »Weshalb sollen wir aber in einem Hause bleiben, in dem drei Leichen liegen! Florenz hat jetzt so viele leere Häuser …« Mit einem Schrei sprang das junge Mädchen von ihrer Gefährtin fort. Sie hatte Adrian erkannt. Sie ergriff seine Hand – sie sah sein Antlitz – sie begegnete seinem bewußtlosen Blick. »Bist du von Sinnen?« rief ihre Gefährtin. »Rühre mich nicht an! Jetzt, da du ihn berührt hast – geh! Hier müssen wir uns trennen!« »Hilf mir doch, ihn irgendwohin zu tragen! Er fällt nieder, hilf mir, Freundin, um Gottes willen!« Doch ihre Begleiterin entfloh schnell, ohne sich umzusehen. Das junge Mädchen, das jetzt mit Adrian allein war, verlor dennoch seine Fassung und seine Kraft nicht. Sie nahm ihren schweren Mantel ab, der die freie Bewegung ihrer Arme behinderte, und warf ihn von sich; darauf hob sie den Kopf ihres Geliebten, lehnte ihn an ihre Brust und rief laut um Hilfe. Endlich näherten sich die Totengräber. »Schneller«, sagte Irene, »ich habe viel Gold; ich will euch gut belohnen; helft mir, ihn in das nächste Haus zu tragen.« 348
»Überlaßt ihn uns nur, junge Dame. Wir haben ihn schon beobachtet«, sagte einer der Männer. »Nein – nein! Berührt seinen Kopf nicht – ich will euch helfen – aber faßt ihn nicht so hart an!« Durch die Männer unterstützt, trug Irene den Ritter in ein nahes Haus und legte ihn auf ein Bett. Sie ließ Decken und Vorhänge fortnehmen, weil sie vielleicht noch Krankheitskeime enthielten. Sie schickte die Männer nach neuem Bettzeug und Hausgerät aus und nach irgendeinem Arzt, den das Gold noch für eine Pflicht erkaufen konnte. Draußen torkelte mit lautem Geschrei eine wilde Bande die Straße hinab. »Holla!« rief der Anführer und blieb stehen. »Da liegt ein guter Mantel für dich, Mädchen – Silber genug daran, um deinen Geldbeutel zu füllen.« »Nein«, sagte das Mädchen, »laß ihn liegen. Vielleicht ist er angesteckt.« »O Kind! Silber steckt nicht an – hänge ihn um, er steht dir gut!« Mit diesen Worten nahm er den Mantel auf, warf ihn ihr über die halbentblößten Schultern und zog sie wieder mit sich fort.
Drei Tage lang war Adrian ohne Bewußtsein. Aber er war nicht von der schrecklichen Krankheit ergriffen worden, wie seine tapfere Pflegerin es befürchtete. Es war nur ein schweres Fieber. Es konnte kein Arzt gefunden werden, um ihn zu behandeln, aber ein guter Mönch besuchte ihn täglich. Irene wachte ständig an seinem Lager. Der Mönch hatte den Kranken spät am dritten Abend besucht und ihm ein beruhigendes Mittel eingegeben. »In dieser Nacht«, sagte er zu Irene, »wird die Krisis sein. – Sollte er mit ruhigem Puls erwachen, so ist sein Leben gerettet – wenn nicht, armes Mädchen, mußt du dich auf das Schlimmste gefaßt machen. Wenn du mich brauchst, so rufe mich.« Der Schlaf Adrians war zuerst unruhig, es schien ein wilder Kampf 349
zwischen Leben und Tod zu sein. Dann aber bewegte er sich nicht mehr, sein Atem war kaum hörbar, seine abgemagerte Hand lag ruhig auf der Decke. Die Sonne ging auf. – Adrian schlief wie ein Toter. Die einsame Wächterin erschrak. Die Zeit verging, der Mittag nahte, noch dauerte der Todesschlummer an. Die Sonne stand hoch am Himmel – der Mönch kam nicht. War es wirklich Schlaf? Sollte es nicht … Irene wendete sich ab. Weshalb blieb der Mönch so lange – sie wollte zu ihm gehen. Sie konnte diese schreckliche Ungewißheit nicht länger ertragen. Sein Kloster lag in einiger Entfernung, aber sie kannte den Weg. Irene war eine halbe Stunde fort, als Adrian die Augen aufschlug. Das Fieber hatte ihn verlassen, sein Puls schlug schwach, aber ruhig. »Ich habe lange geschlafen«, murmelte er. »Es ist spät – die Sonne steht hoch – Irene ist in der Lombardei. – Nein – sie ist in Florenz – ich muß sie suchen.« Er erhob sich von dem Bett und wunderte sich über seine Schwäche. – Anfangs konnte er nicht aufrecht stehen, nach und nach gewann er aber wieder so viel Gewalt über seinen Körper, daß er gehen konnte. Ein nagender Hunger quälte ihn, er fand einige Lebensmittel im Zimmer. Er wusch sein verfallenes Gesicht in einem Waschbecken, das in der Nähe stand. Er fühlte sich jetzt wieder erfrischt und neu belebt und zog seine Kleider an, die neben dem Bett lagen. Verwundert betrachtete er seine abgemagerten Hände und Glieder und fing jetzt an einzusehen, daß er irgendeine schwere Krankheit überstanden haben müsse. Bald war er auf der Straße, die Luft erquickte ihn, und an jenem Morgen wehte zum erstenmal seit vielen Wochen wieder ein erfrischender Wind. Kaum war er einige Schritte gegangen, so fühlte er sich am Mantel festgehalten. Er wendete sich um und erblickte die unförmige Maske eines Totengräbers. »Ich dachte schon, Ihr wäret umgekommen«, sagte der Mann. »Ihr erkennt mich wohl nicht? Aber ich bin der, dem Ihr den Auftrag gabt zu suchen …« »Irene!« »Ja. Ihr habt mir eine Belohnung versprochen.« 350
»Du sollst sie haben.« »Folgt mir!« Der Totengräber ging voran und blieb bald vor einem Hause stehen. Er klopfte zweimal an die Türe, die eine alte Frau vorsichtig öffnete. »Sei unbesorgt, Alte«, sagte der Totengräber, »das ist der junge Herr, von dem ich dir erzählt habe. Du sagtest mir, es hätten hier zwei Damen gewohnt. Wie hieß die eine?« »Irene di Rienzi, eine römische Dame. – Aber ich sagte dir auch, daß sie schon seit vier Tagen das Haus verlassen hat.« »Jawohl – und war etwas Bemerkenswertes an der Signora?« »Ja. Ich habe dir schon gesagt, ein blauer Mantel mit Silber gestickt.« »Waren es nicht silberne Sterne?« rief Adrian. »Mit einer Sonne in der Mitte?« »Ganz recht.« »Weißt du weiter nichts von ihr?« »Geduld«, unterbrach ihn der Totengräber. »Ich führe Euch von Beweis zu Beweis, um meine Belohnung zu gewinnen. Folgt mir, Herr!« Er führte Adrian einige Straßen weiter, dann blieb er unvermittelt stehen. »Wollt Ihr Euch wirklich mit eigenen Augen überzeugen? Der Anblick wird Euch erschrecken.« »Ich habe keine Angst! Zeigt mir, die ich suche, lebend oder tot!« »Wenn Ihr unbedingt wollt …« Es war eine tiefe, geräumige Gruft, wie der Boden einer ausgetrockneten Zisterne. Über- und durcheinander geworfen, einige nackt, andere in schon halb verfaulten und zerbröckelten Särgen, lagen die späteren Gäste, die Unbetrauerten und durch die Kirche nicht Gesegneten. Von den bleichen Wangen und den halb hervorquellenden Eingeweiden bis zur breiartigen, unerkennbaren Masse oder den Knochen, von denen das faulende Fleisch sich in langen, schwarzen Streifen ablöste. An manchen Leichen war der Kopf noch wohlerhalten, der übrige Körper aber ein gräßliches Skelett, mit menschlichem Antlitz und lang herabrollendem Haar. Nur eine einzige Gestalt zog Adrians Blicke auf sich. Von den übri351
gen getrennt, lag ein Mädchen, dessen lange dunkle Locken die Brust und die Arme verhüllten. Das Gesicht war abwärts gewendet. Sie trug jenen Unglücksmantel, auf dem man noch das in Silber gestickte Wappen der Familie des Tribunen von Rom erkennen konnte. Adrian sah weiter nichts – er sank zurück in die Arme des Totengräbers. Als er wieder zu sich kam, befand er sich außerhalb der Tore von Florenz. Sein Führer stand neben ihm, sein Pferd am Zügel haltend. »Nun, Ihr habt Euch also doch wieder erholt – wenige können das so aushalten wie wir. – Ich hoffe, Ihr wart mit meinen Diensten zufrieden.« »Freund«, sagte Adrian, »hier ist Gold genug, um dich reich zu machen. – Aber tu mir noch einen Gefallen. – Bringe jene Leiche von dem schrecklichen Ort weg. Beerdige sie an einer einsamen Stelle. – Du versprichst es mir? – Und jetzt hilf mir auf mein Pferd. – Außer einem ritterlichen Tod bleibt mir nichts übrig, was für mein Leben noch von Wert sein könnte.«
X Fünf Jahre waren seit diesen Ereignissen vergangen. Innozenz VI. war seit kurzem Clemens VI. gefolgt. Die sittliche Verderbnis Avignons hatte schon zu tiefe Wurzeln gefaßt, als daß das Beispiel des Papstes, der ein exemplarisches und mäßiges Leben führte, von vorteilhafter Wirkung hätte sein können. Von tiefster Teilnahme für das Wohl der Kirche beseelt, beabsichtigte er, ihre gesunkene Herrschaft in Italien zu befestigen und wiederherzustellen. Zu dieser Zeit erschien in Avignon eine Dame von außerordentlicher Schönheit. Sie war mit einem kleinen Gefolge von Florenz gekommen und gab sich als Witwe eines Adeligen vom glänzenden Hofe der unglücklichen Johanna aus. Ihr Name war Cäsarini. 352
Kaum war die Signora Cäsarini öffentlich erschienen, als ihr halb Avignon zu Füßen lag. Ihre Dienerinnen suchte man durch Bestechungen zu gewinnen, ein Billett nach dem anderen wurde ihnen eingehändigt, und in jeder Nacht hörte sie unter ihrem Fenster Serenaden. Sie nahm teil an dem fröhlichen Leben und Treiben der Stadt, und ihre Reize waren damals genauso Tagesgespräch wie die Poesien Petrarcas. Wenn sie auch keine Huldigung anzunehmen schien – Giles, der kriegerisch gesinnte Kardinal Albornoz, der sich des größten Einflusses am päpstlichen Hofe rühmen konnte, glaubte der Stunde seines Triumphes schon sicher zu sein. Die Sonne stand hoch am Himmel. Im Vorzimmer der Signora unterhielten sich zwei schöne, reichgekleidete Pagen. Sie saßen über einem Würfelspiel und warteten auf ihre Herrin, die sie auf einem Spaziergang begleiten sollten. »Das dauert heute wieder«, seufzte der eine und stieß die Würfel fort. Er stand auf und trat ans Fenster. So blieb er eine Weile auf das Sims gestützt und beobachtete das Treiben auf der Straße. Ein grauer, massiver Turm von der festen Bauart des elften Jahrhunderts zog die Blicke des Pagen auf sich. – Die düsteren Mauern wurden nur hier und da durch Schießscharten unterbrochen. Dieses unheimliche Bauwerk war ein krasser Gegensatz zu dem lebendigen Treiben umher, zu den glänzenden Kaufmannsläden und den ausgelassenen Menschen. »Ich danke meinem Geschick, daß es mich nicht hoch genug stellte, um einen so großen Käfig fürchten zu müssen!« sagte Giacomo und wendete sich wieder seinem Gefährten zu. »Und doch bewohnt ihn jetzt ein Mann«, bemerkte Angelo, »der von Geburt nicht vornehmer ist als wir.« »Erzähle mir doch etwas von dem seltsamen Mann. Du bist ein Römer und mußt es wissen.« »Ja. Ich bin ein Römer«, erwiderte Angelo versonnen. »Aber deine Mitrömer sollen ihn ja fast gesteinigt haben? Die Ehre scheint mehr Schläge als Geld einzubringen!« »Sei still«, unterbrach ihn Angelo ungeduldig. »Höre mir zu, und ich 353
will dir die Sache genau erklären. – Als der Tribun das letztemal Rom verließ, reiste er in der Tracht eines Pilgers über Berge und durch Wälder, bei Tag und Nacht dem Regen und den Stürmen ausgesetzt. In Böhmen vertraute er sich einem in Prag wohnenden Florentiner an und erhielt durch dessen Vermittlung eine Audienz beim Kaiser Karl.« »Und? Schickte der Kaiser ihn wieder fort?« »Keineswegs – Karl fand Gefallen an seinem Benehmen und an seinem Geist und nahm ihn gastfreundlich auf. Er blieb einige Zeit in Prag und setzte alle Gelehrten durch seine Kenntnisse und seine Beredsamkeit in Erstaunen.« »Aber wenn er in Prag so geehrt wurde, wie kam er denn als Gefangener nach Avignon?« »Als er der leeren Höflichkeiten überdrüssig war, verließ er freiwillig – manche behaupten zwar, Karl habe ihn dem päpstlichen Legaten ausgeliefert – den Hof des Kaisers und begab sich ohne Waffen, ohne Geld auf den Weg nach Avignon!« »Welcher Unsinn!« »Doch war es vielleicht das einzige, was ihm unter seinen Umständen übrigblieb«, fuhr der ältere Page fort. »Er war der Ketzerei beschuldigt; der Fluch haftete noch an ihm. Es war notwendig, daß er sich rechtfertigte. Er hatte nur die Wahl – frei oder in Fesseln –, als ein Verbrecher oder als ein Römer nach Avignon zu gehen. Er wählte das letztere. Wo er durchreiste, da bewillkommnete ihn das Volk. Er wurde auf das feierlichste empfangen, und man erzählte mir, daß nie ein Gesandter, ein Fürst oder ein Baron in Avignon mit einem so großen Gefolge seinen Einzug gehalten hat.« »Und bei seiner Ankunft?« »Verlangte er eine Audienz und forderte eine Untersuchung.« »Und was sagte der Papst?« »Jener Turm war seine Antwort!« »Eine sehr rauhe Antwort!« »Aber es führte schon mancher Weg aus dem Gefängnis in den Palast. Gott schuf Menschen wie Rienzi nicht für den Kerker und für die Kette.« 354
Giles Kardinal Albornoz, war einer der merkwürdigsten Männer jener Zeit. Dank seiner Abkunft von den königlichen Häusern Aragonien und Leon war er fast noch als Jüngling zum Erzbischof von Toledo ernannt worden. Bei Innozenz stand er in hoher Gunst, und es verbreitete sich schon das Gerücht, daß kriegerische Vorbereitungen gemacht würden, um durch Albornoz, der inzwischen längst Kardinal geworden war, die verschiedenen Tyrannen, die sich das päpstliche Gebiet anmaßten, vertreiben zu lassen. Kühn, aber überlegend – die Tapferkeit des Ritters mit der Schlauheit des Priesters vereinigend, dieses war der Charakter von Giles Kardinal Albornoz. Der Kardinal ließ seine Diener im Vorzimmer zurück und wurde in die Wohnung der Signora Cäsarini geführt. Er war von mittlerer Größe, und obgleich in den besten Jahren, hätte man ihn doch für älter halten können. Aber sein Blick hatte nichts vom Glanz der Jugend verloren. »Schöne Signora«, sagte der Kardinal und beugte sich über die Hand der Cäsarini, »ich bedaure, daß die Befehle seiner Heiligkeit mich länger aufgehalten haben. Aber mein Herz ist bei Euch gewesen, seitdem wir uns trennten.« »Der Kardinal Albornoz«, erwiderte die Signora und zog sanft ihre Hand zurück, »wird durch die Pflichten seines Ranges so sehr in Anspruch genommen, daß es mir wie ein Verrat an seinem Ruhm erscheint, wollte man ihn aufhalten oder ablenken.« »Ah – Signora!« erwiderte der Kardinal. »Es scheint mir ein glücklicheres Los, zu Euren Füßen zu liegen, als auf dem Throne des heiligen Petrus zu sitzen.« Ein flüchtiges Rot flog über die Wangen der Signora. Sie heftete ihre stolzen Augen auf den verliebten Spanier und sagte mit leiser Stimme: »Ich will mich nicht stellen, Herr Kardinal, als verstünde ich Eure Worte nicht. Ich bin eitel genug zu glauben, daß Ihr Euch einbildet, wirklich die Wahrheit zu reden, wenn Ihr sagt, daß Ihr mich liebt.« »Einbilden! – Ebensogut könnte ich es mir nur einbilden, daß ich an die Heiligkeit des Kreuzes glaube«, erwiderte der Kardinal stürmisch. »Die Dame«, erwiderte die Signora, »welche der Kardinal Albornoz 355
mit seiner Liebe beehrt, hat das Recht, Beweise von ihm zu verlangen. Wer hat größeren Einfluß am päpstlichen Hofe als Ihr? – Ich verlange, daß Ihr ihn für mich anwendet.« »Sprecht, verehrte Signora! Sind Euch Eure Güter entrissen worden? Wünscht Ihr Titel oder Würden?« »Nein, Kardinal! – Für eine Italienerin und für eine Frau gibt es noch etwas von höherem Werte als Reichtum und Titel. – Es ist die Rache!« Der Kardinal erschrak fast über den funkelnden Blick, der auf ihn gerichtet war. »Habt Ihr die letzten Nachrichten aus Rom gehört?« fuhr die Signora fort. »Gewiß«, erwiderte der Kardinal etwas befremdet. »Mein Herz trauert um jene unglückliche Stadt. – Aber weshalb fragt Ihr mich nach Rom? – Ihr seid …« »Römerin! – Wißt, Herr, daß ich Gründe habe, mich für eine Neapolitanerin auszugeben. – Erzählt mir, was Ihr wißt!« »Der Zustand Roms«, fuhr Albornoz fort, »ist bald erzählt. Ihr wißt, daß nach dem Sturz des talentvollen, aber übermütigen Rienzi der Graf von Minorbino, Pepin – eine Kreatur Montreals – Rom an Montreal verraten wollte, aber er war weder mächtig noch klug genug dazu. Die Barone verjagten ihn, wie er den Tribun verjagt hatte. Einige Zeit darauf wurde ein neuer Demagoge, Johann Cerroni, im Kapitol eingesetzt. Dieser vertrieb nochmals die Barone, neue Revolutionen folgten – die Barone wurden zurückgerufen. Der schwache Nachfolger Rienzis rief das Volk vergeblich zu den Waffen. In Schrecken und Verzweiflung mußte er abdanken, und die Stadt wurde wieder den Fehden der Orsini, der Colonna und der Savelli ausgesetzt.« »Das war mir bekannt.« »Dann«, sagte Albornoz, »kam der düstere Teil der Geschichte. Es wurden mit der Einwilligung des Papstes zwei Senatoren gewählt.« »Sie heißen?« »Bertoldo Orsini und einer der Colonna. Einige Wochen später regte der hohe Preis der Lebensmittel die hungrigen Plebejer auf. Sie erhoben sich, machten Lärm, bewaffneten sich, belagerten das Kapitol …« 356
»Sehr gut!« rief die Signora mit blitzenden Augen. »Colonna entging dem Tod nur durch Flucht. Der Orsini wurde gesteinigt.« – »Es gibt nur ein Mittel, Rom den Frieden zurückzugeben«, erwiderte schnell die Signora, »und dieses ist – die Wiedereinsetzung Rienzis.« Der Kardinal erschrak. »Höre ich recht?« sagte er. »Seid Ihr nicht edler Geburt? – Könnt Ihr das Emporkommen eines Plebejers wünschen?« »Herr Kardinal«, erwiderte die schöne Dame mit würdigem Ernst, »ich bin allerdings edler Geburt. Und solche Männer wie der Tribun Roms waren die Gründer edler Geschlechter. Sie haben ihren Vorfahren nichts zu verdanken, aber ihre Nachkommen ihnen alles. – Genug davon! – Ich bin Italienerin – ich weine über das Unglück meines Vaterlandes. Ich wünsche, Rom wieder glücklich zu sehen.« »Rienzi aber würde nur an sein eigenes Glück denken. Weshalb nehmt Ihr diese lebhafte Teilnahme am Schicksal Rienzis?« »Würdiger Herr«, sagte die Signora, »Ihr gewährt mir Eure Neigung. Wenn Ihr mich liebt, so habe ich das Recht, über Eure Dienste zu gebieten, es ist dieses das Gesetz der Ritterschaft. Wenn ich je eine Neigung erwidere, so wird es die des Mannes sein, der meinem Vaterland seinen Helden und seinen Retter zurückgibt.« »Schöne Signora, Ihr überschätzt meine Macht. Ich kann Rienzi nicht befreien. Er ist der Rebellion angeklagt. Er ist wegen Ketzerei exkommuniziert!« »Ihr könnt aber seine Sache untersuchen lassen.« »Vielleicht, Signora.« »Dann ist er gerettet. Seht, das ist alles, was ich verlange.« »Dann, schöne Römerin, wird an mir die Reihe sein, hoffen zu dürfen!« Er beugte das Knie vor der Signora und ergriff ihre Hand.
Seine Heiligkeit saß vor einem kleinen, mit Papieren bedeckten Tisch. Das Zimmer war mit einfachem Hausgerät versehen, und in einer klei357
nen Vertiefung neben dem Fenster stand ein elfenbeinernes Kruzifix. Auf der Erde lag eine Karte des päpstlichen Gebietes, auf der besonders die festen Orte und Kastelle angegeben waren. Der Papst nickte freundlich mit dem Kopf, als Albornoz eintrat. »Seitdem wir uns nicht sahen, mein Sohn«, sagte er, »habe ich unangenehme Nachrichten erhalten. Unsere Kuriere sind aus der Campagna angekommen – die Macht des Johann di Vico hat sich schrecklich vermehrt, und der in ganz Europa so gefürchtete Abenteurer kämpft unter seinem Banner.« »Ihr meint Montreal?« »Jawohl. Ich fürchte den kühnen Ehrgeiz dieses wilden Abenteurers.« »Eure Heiligkeit hat Ursache dazu«, sagte der Kardinal trocken. »Montreal hat an alle Hauptleute der Freibeuter in ganz Italien geschrieben und jedem, der als Söldner zu seinen Fahnen stoßen will, die höchste Bezahlung versprochen. Er muß große Dinge im Sinn haben – ich kenne den Mann!« »Eure Heiligkeit weiß wohl, daß es für die meisten Menschen nur zwei Arten von Feldgeschrei gibt – Freiheit und Religion. Wenn es mit der Religion nachläßt, so müssen wir uns der Freiheit bedienen. Entfaltet das Banner der Kirche und ruft dann: ›Nieder mit dem Tyrannen!‹« »Giles d'Albornoz«, sagte der Papst, »ich schenke Euch vollkommenes Zutrauen. Ihr seid jetzt die rechte Hand der Kirche. Später werdet Ihr vielleicht deren Haupt.« Albornoz beugte demütig sein stolzes Haupt und erwiderte: »Der Himmel gebe, daß Innozenz VI. lang leben möge, um die Kirche zum Ruhme zu führen. Giles d'Albornoz ist mehr Krieger als Geistlicher.« »Wartet«, unterbrach ihn Innozenz, »ich habe noch mehr unerfreuliche Nachrichten. Dieser Montreal, der sich immer noch Präfekt von Rom nennt, hat jene unglückliche Stadt so sehr mit seinen Helfershelfern erfüllt, daß wir den Sitz des Apostels fast verloren haben. Ein gewisser Baroncelli, ein neuer Demagoge, hat sich erhoben, wurde vom Pöbel mit der Macht bekleidet und mißbraucht sie nun, um das Volk 358
abzuschlachten. Das Volk ruft Tag und Nacht nach Rienzi, dem Tribunen.« »Gut. Ich habe schon daran gedacht. Rienzi kann mich begleiten!« »Der Rebell? Der Ketzer?« »Wird durch Eurer Heiligkeit Absolution ein ruhiger Untertan und ein orthodoxer Katholik«, sagte Albornoz achselzuckend. »Die Menschen sind gut oder schlecht, je nachdem unsere Zwecke es gebieten. Wenn wir ihn freilassen, müssen wir ihn auch zu dem Unsrigen machen. Gebt ihm den patrizischen Titel eines Senators, und er ist dann der Stellvertreter des Papstes.« »Ich will darüber nachdenken, mein Sohn. Eure Vorschläge gefallen mir, beunruhigen mich aber. Er soll wenigstens verhört werden. Ergibt es sich, daß er ein Ketzer ist …« »… so soll er nach meinem unmaßgeblichen Rat zum Heiligen erklärt werden.« Der Papst brach in ein lautes Gelächter aus. »Was würde die Welt sagen, wenn sie dich sprechen hörte«, sagte er und klopfte dem Kardinal vertraulich auf die Schulter. Schon an diesem Abend dekretierte der Papst, daß Rienzi die Untersuchung, welche er verlangte, zugestanden werden solle.
XI Die Abenddämmerung senkte sich über Avignon. Im höchsten Zimmer jenes düsteren Turmes saß der einsame Gefangene. Eine Kette hing vom Gewölbe des Turmes herab und fesselte ihn, doch so, daß er sich frei bewegen konnte. Eine einzelne Lampe brannte vor ihm auf einem steinernen Tisch und warf ihren Strahl über eine offene Bibel. Die grauen Steine der Wände waren durch Rauch geschwärzt. Durch eine enge Öffnung fiel das Mondlicht auf den rauhen Fußboden. In 359
der einen Ecke des Zimmers stand ein Bett. Dies war seit Monaten der Aufenthalt des prachtliebenden Tribunen der glanzvollsten Stadt der Welt. Rienzi war so vertieft in seine Gedanken, daß er die Schritte nicht hörte, die sich auf der Wendeltreppe näherten. Erst als der große Schlüssel im Schloß klirrte und die Türe in ihren Angeln knarrte, hob er die Augen. Im bleichen Schein seiner Lampe sah er eine Gestalt – bekleidet mit einem langen Mantel und einem Hut mit breiter Krempe, der die Züge des seltsamen Gastes verbarg. Rienzi sah ihn lange und forschend an. »Sprecht«, sagte er endlich, die Hand an die Stirn legend, »ich kenne Euch nicht. Oder doch?« Er erhob sich langsam. Der Fremde antwortete nicht. Endlich sprang er vor und sank dem Tribunen zu Füßen. Rienzi blieb stumm und bewegungslos. »Ihr Heiligen des Himmels«, murmelte er dann, »führt Ihr mich in Versuchung?« »Geliebter, kennst du mich nicht?« »Nina!« jauchzte Rienzi laut auf. Die Stimme versagte ihm. Er hob die Frau zu sich empor und schloß sie in seine Arme. »Wie kamst du hierher?« begann Rienzi nach langem Schweigen. »Vielleicht ist mein Urteil gesprochen, und sie haben genehmigt, daß ich dich noch einmal sehe.« »Nein, Cola«, rief Nina, »ich bringe dir bessere Nachrichten. – Morgen wird man deine Verteidigung anhören.« »Was sagst du da?« »Man wird dich hören, Cola! Du wirst freigesprochen werden.« »Rom wird wieder frei! – Gott, ich danke dir!« Das Unglück seines Exils war vergessen. »Nina, ich fühle, daß meine Stunde wieder gekommen ist. Wird meine Untersuchung öffentlich geführt, so dürfen sie es nicht wagen, mich zu verdammen. Morgen, sagtest du? Morgen?« »Morgen, Rienzi, bereite dich vor!« Man hörte leises Klopfen an der Tür. Nina hüllte sich in den Mantel und setzte das Barett wieder auf. 360
»Es wird gleich Mitternacht schlagen«, sagte der Wärter. »Ich komme«, sagte Nina. »Morgen, Nina«, flüsterte Rienzi. »Leb wohl!« Der Gefangenenwärter blieb noch einen Augenblick und legte ein Pergament auf den Tisch. Es war die Ladung, die den Tribunen vor den Gerichtshof forderte.
Früh am nächsten Morgen hielt ein Reiter vor den Ruinen eines abgelegenen, verlassenen Kastells. Er führte sein Pferd am Zügel und ließ es in einem jener dachlosen Zimmer, dessen Fußboden mit Gras und wilden Kräutern bewachsen war. Mit einiger Mühe stieg er eine enge, baufällige Treppe hinauf und erreichte ein kleines Zimmer, dessen Decke und Fußboden noch erhalten waren. Ein Mann mittleren Alters von ansehnlicher Größe lag in seinen Mantel gehüllt auf dem Boden und stützte den Kopf nachdenkend in die Hand. Als der Ritter eintrat, erhob er sich mit großer Lebhaftigkeit und sagte: »Brettone! Ich habe die Stunden gezählt! Was gibt es Neues?« »Albornoz hat nichts gegen deinen Plan! Ich komme gerade von ihm …« »Gute Nachrichten! Du gibst mir neues Leben. Das Frühstück wird mir um so besser schmecken, Bruder. Du hast doch daran gedacht, daß ich Hunger habe?« Brettone zog unter seinem Mantel eine große Weinflasche und ein wohlgefülltes Körbchen hervor. Der andere langte mit großem Appetit zu. »Also, der Kardinal willigt ein?« sagte er mit vollen Backen. »Was ist er für ein Mann? Er soll ein schlauer Fuchs sein. Was hat er für Absichten in Beziehung auf Rom? – Diese kleinen Städte und diese kleinen Tyrannen kümmern mich nicht sehr. – Rom muß mein werden. Alle Umstände sind für mich: Die Abwesenheit des Papstes, die Schwäche der mittleren Klasse, die Armut des Volkes, die Barbarei der Barone. 361
Mein Plan ist gemacht. Ich will das schönste Heer in Italien bilden und mir mit ihm einen Thron im Kapitol erkämpfen. Wäre ich damals, statt jenen Einfaltspinsel Pepin zu schicken, selbst mit meinen Leuten nach Rom aufgebrochen, so wäre auf den Sturz Rienzis die Erhebung Montreals gefolgt.« »Und Rienzi? – Ich warne dich!« »Rienzi«, erwiderte Montreal verächtlich. »Durch die Menge erhielt er die Macht – durch die Menge verlor er sie. Ich aber will sie durch das Schwert gewinnen und durch das Schwert behaupten.« »Heute früh, ehe ich Avignon verließ, hörte ich merkwürdige Neuigkeiten. Die ganze Stadt war in Unruhe. Es heißt, heute solle die Sache Rienzis untersucht werden. Sein Freispruch scheint sicher …« »Warum hast du mir das nicht gleich gesagt?« »Wäre es gegen deine Pläne, wenn er in Rom wiedereingesetzt würde?« »Ich weiß nicht. Die Sache müßte dann mit viel mehr Einsicht und Gewandtheit geleitet werden. – Ich muß hierbleiben, bis ich höre, was beschlossen worden ist.« »Es wäre aber sicherer und klüger gewesen, Walter, wenn du mir die Leitung dieser Angelegenheit anvertraut hättest.« »Das nicht«, erwiderte Montreal. »Du bist kühn genug und auch schlau, aber mein Kopf ist in diesen Dingen besser als der deinige. Was meine Sicherheit betrifft, so fürchte ich nur wenig Gefahr, seitdem wir diese Amnestie mit Albornoz geschlossen haben. Überdies brauche ich Geld. Es sind jetzt tüchtige Burschen hier in der Gegend – Deutsche –, denen eine italienische Armee ein Frühstück wäre. Aber sie kosten Geld. Wie verlangt der Kardinal sein Geld zurück?« »Er wird mit sich reden lassen.«
Am nächsten Abend hatte sich in den Straßen Avignons eine große Volksmenge versammelt. Es war der zweite Tag der Untersuchung in der Sache Rienzi, und die Verkündigung des Urteils wurde jeden Au362
genblick erwartet. Die Spannung war groß. Die Italiener, selbst die von höchstem Range, waren für den Tribunen, die Franzosen gegen ihn. Was das Volk aus der Stadt selbst betrifft, so fühlte es wenig Teilnahme für etwas, das nicht Geld in seine Taschen brachte. »Gut«, sagte einer aus der Menge, ein reicher Mailänder, »ich bin aus einem Staat, der frei war, und ich hoffe, dem Manne des Volkes wird Gerechtigkeit widerfahren.« »Amen«, sagte ein ernsthafter Florentiner. »Man sagt«, flüsterte ein junger Student aus Paris einem gelehrten Doktor der Rechte zu, »seine Verteidigung sei ein Meisterwerk gewesen.« »Er hat kein Doktordiplom«, erwiderte jener zweifelnd.
Jetzt kam Rienzi vorbei! Zwei Edelleute aus dem Gefolge des Papstes gingen ihm zur Seite. Er bewegte sich langsam durch die glückwünschende Menge, weder rechts noch links blickend. Von jedem Balkon wurden Blumen auf ihn geworfen, und als er an eine breite Stelle der Straße kam, wo der Boden in der Mitte etwas erhöht war, blieb er stehen, entblößte sein Haupt und erwiderte die Huldigung mit einem Blick, mit einer Bewegung der Hand, die niemand vergessen konnte. Rienzi kehrte nicht nach dem düsteren Turm zurück. Es war eine Wohnung für ihn im Palast des Kardinals Albornoz eingerichtet worden. Am nächsten Tage hatte er eine Audienz beim Papst, und an dem Abend dieses Tages wurde er zum Senator Roms ernannt. Nina erwartete einsam in ihrem Zimmer den Erfolg der Untersuchung. Sie hörte den lauten Jubel von Tausenden in den Straßen; sie fühlte, daß der Sieg gewonnen sei. Angelo berichtete ihr, was vorgefallen war, aber es verminderte etwas ihre Freude, als sie vernahm, daß Rienzi der Gast des gefürchteten Kardinals sei. Mittlerweile hatte sich Albornoz schon mehrere Male mit Rienzi besprochen und unter dem Schein von Höflichkeit ihn als Gast aufge363
nommen, um sich mit dem Charakter eines Mannes genau bekannt zu machen, den er als sein Werkzeug zu gebrauchen beabsichtigte. Jene wunderbare und magische Gewalt, die Rienzi über jeden ausübte, mit dem er in Berührung kam, war ihm in seiner Audienz beim Papst treu geblieben. Er hatte den wahren Zustand Roms so richtig dargestellt, die Ursachen der Übel und die Heilmittel dagegen so logisch entwickelt, daß Innozenz, obgleich er ein scharfsinniger und schlauer, dabei etwas skeptischer Berechner irdischer Angelegenheiten war, durch die Beredsamkeit des Römers ganz bezaubert wurde. »Ist dies der Mann«, soll er gesagt haben, »den Wir zwölf Monate lang wie einen Gefangenen und einen Verbrecher behandelt haben? Der Himmel gebe, daß das christliche Reich auf solchen Schultern ruhe.« Albornoz, dem der Papst den Inhalt dieser Unterredung mitteilte, war etwas eifersüchtig über die Gunst, deren sich der neue Senator erfreute. Er bereute jedoch noch nicht den Anteil, den er an Rienzis Freisprechung genommen hatte. Seine Gegenwart in einem so schwach bevölkerten Feldlager war sehr wünschenswert, und der Kardinal hoffte mehr denn je auf seinen Einfluß. Albornoz glaubte jetzt seinen Lohn von der Signora fordern zu können und begab sich, entflammt durch Liebe und Hoffnung, nach dem Palast der Cäsarini. »Schönste«, flüsterte er, »könntet Ihr wissen, wie glücklich ich bin, daß ich Euren Wunsch erfüllt habe und dafür einen Engel finde, der mich leiten und ein Paradies, das mich belohnen wird.« Nina zog ihre Hand zurück und winkte dem Kardinal, sich niederzulassen. »Edler Herr, durch Eure Vermittlung und durch seine eigene Unschuld wurde der erwählte Herrscher des römischen Volkes aus jenem Turme befreit. Dafür bleibe ich immer Eure Schuldnerin. Vielleicht habe ich Euch beleidigt, vielleicht beschuldigt Ihr mich weiblicher Ränke. Ich habe nur eine Entschuldigung, wenn ich sage, daß ich alle Mittel, außer der Unehre, für erlaubt hielt, um das Leben des Cola di Rienzi zu retten: Ich bin seine Frau!« Der Kardinal war wie erstarrt. Seine dünnen Lippen zitterten einen 364
Augenblick und verzogen sich dann zu einem bitteren Lächeln. Endlich erhob er sich und sagte in leidenschaftlichem Tone: »Gut, Signora. Giles d'Albornoz war also eine Drahtpuppe in den Händen des plebejischen Demagogen Roms. Er mußte eine Stufe bilden für dessen Wiedererhebung. Ich habe meine Zusage gehalten – ich darf jetzt die Erfüllung der Eurigen verlangen. Ich entsage ihr nicht. So wie ich diesen Handschuh zerreiße, kann ich das Pergament zerreißen, das Euren Gemahl zum Senator Roms ernennt. Der Kerker ist noch nicht der Tod, und seine Pforte kann zweimal geöffnet werden.« »O Herr!« rief Nina bleich vor Schrecken und fiel vor ihm auf die Knie nieder. »Die Männer täuschen und verraten unser Geschlecht, es wird ihnen verziehen. Hinterging ich Euch mit einer falschen Hoffnung – gut. Was ist meine Rechtfertigung? – Die Freiheit meines Gemahls, die Rettung meines Vaterlandes. Die Liebe gab mir Mut, am gehässigen Treiben Eures Hofes teilzunehmen, den Befreier im edelsten seiner Gäste zu suchen. Und die Liebe, Herr Kardinal«, fügte Nina hinzu und stand auf, »wird mir Kraft geben, wenn Euer Zorn ein Opfer begehrt, zu sterben, ohne einen Laut der Klage, aber ohne Schande!« Albornoz war tief bewegt. Zum erstenmal in seinem Leben fühlte er, daß ihm das Weib erschienen sei, das er selbst zur Gattin hätte wählen können. Er näherte sich fast ehrerbietig Nina, ließ sich auf ein Knie vor ihr nieder und küßte den Saum ihres Gewandes. »Liebenswürdige Heldin«, sagte er, »die du so reizend, so tugendhaft, so stolz und doch so sanft bist – du hast mir die glänzendsten Seiten eröffnet, die meine Augen jemals im besudelten Buche der Menschheit erblickten. Fürchte mich nicht mehr und vergiß mich. Mögest du alles Glück genießen, daß ein Leben gewähren kann.« Der Spanier entfernte sich, ehe Nina antworten konnte.
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XII Es war einer der lieblichsten Tage in der Zeit des italienischen Sommers, als eine kleine Reiterschar einen Hügel hinanritt, von dem man die Aussicht auf eine der schönsten Landschaften der Toskana hatte. Der Zug wurde von einem jungen Ritter angeführt. Die Ringe seines Panzerhemdes waren so fein, daß sie einem zarten Netzwerk glichen, und zugleich so eng verbunden, daß sie Lanze und Schwert erfolgreich Widerstand leisten konnten. Auf seinem Haupt trug er einen Hut von dunkelgrünem Samt, über den lange, kostbare Federn herabwallten. Dem jungen Edelmann folgten zwei Schildknappen zu Pferde, die in ihrer Mitte ein kräftiges, bepanzertes Streitroß führten. Den Zug beschlossen zwei riesenhafte Burschen. Sie trugen ein reich verziertes Banner, auf dem eine Säule mit der Inschrift ›Allein unter Ruinen‹ eingestickt war. Die Blicke des Ritters schwärmten über die bezaubernde Landschaft. Plötzlich ertönte der helle Klang eines Waldhorns in den Weinbergen dicht neben dem Weg. Der Zug hielt sofort. »Wir sind hier an keiner vorteilhaften Stelle«, sagte der Ritter. Er winkte mit der Hand, und die Leute folgten ihm ins Dickicht. Jedes Visier war geschlossen. Es herrschte völlige Ruhe. Wenige Sekunden später brachen aus dem Dickicht hinter ihnen blanke Rüstungen und Speere hervor. Bewaffnete traten aus dem Gebüsch, und von den Weinbergen her näherte sich mit Geschrei eine große Anzahl wilder Soldaten. »Für Gott, für den Kaiser und für die Colonna!« rief der Ritter, und der kleine, fest geschlossene Zug sprengte mit eingelegten Lanzen dem Feind entgegen. Er durchbrach im ersten Ansturm seine Reihen, und der Ritter führte seinen Zug trotz des steilen Abhangs in vollem Ga366
lopp den Hügel hinunter. Eine Unzahl von Pfeilen prallte an ihren Rüstungen ab. Plötzlich brachte sie eine Wendung des Weges vor eine große Fläche wüsten Landes. Die Sonne beleuchtete die glänzenden Harnische eines langen Zuges von Reitern: Der Rückzug war abgeschnitten, ein Vordringen schien unmöglich. »Wenn Ihr wollt, edler Herr«, sagte der Hauptmann, als er eine kurze Unentschlossenheit seines jungen Herrn bemerkte, »wollen wir kämpfen bis auf den letzten Mann. Ihr seid der einzige Italiener, für den ich gerne sterben möchte!« »Nein, meine braven Burschen«, sagte der Colonna und hob sein Visier, »wir sind nicht bestimmt, in einem so ehrlosen Kampf zu fallen. Sind diese Leute Räuber, so können wir unsere Freiheit erkaufen. Sind es die Truppen irgendeines Herrn – so geht uns ihre Fehde nichts an. Gebt mir das Banner – ich will zu ihnen reiten!« Als er sich der feindlichen Schar näherte, bewunderte er unwillkürlich ihre Waffen, die Kraft und Schönheit der Pferde und ihre Disziplin. Die fremden Krieger begrüßten ihn höflich, als er mit flatternder Fahne auf sie zuritt. Das war eine gute Vorbedeutung. »Ihr Herren«, begann der Ritter, »ich komme als Herold und als Anführer des kleinen Zuges, der eben unvermutet angegriffen wurde. Ich stelle meine Leute unter den Schutz Eures Führers.« »Herr Ritter«, erwiderte der Hauptmann der Bande, »es tut mir leid, einen so edlen Mann aufzuhalten. Aber unser Befehl ist streng. Wir müssen alle Bewaffneten nach dem Lager unseres Generals bringen!« »Ich war lange nicht mehr zu Hause«, sagte der Ritter. »Erlaubt mir, nach dem Namen Eures Generals zu fragen und nach dem Eures Feindes.« Der Hauptmann lächelte. »Walter von Montreal heißt unser General. Florenz ist sein Feind.« »Dann sind wir in freundliche Hände gefallen! Walter von Montreal ist mein Freund. Laßt mich zu meinen Gefährten zurückkehren, damit ich sie beruhige!« Der Italiener wendete sein Pferd. »Ein schöner Ritter und ein kühner Mann«, sagte der Hauptmann 367
zu seinem Nachbar. »Und seine Leute sind aus dem Norden. Vielleicht können wir sie anwerben!«
Montreal saß in seinem Zelt, von Militär- und Zivilpersonen umgeben. Diese aus verschiedenen Städten zusammenberufenen Männer waren mit den inneren Verhältnissen der Staaten, aus denen sie kamen, aufs genaueste vertraut. Sie konnten die Macht eines Patriziers, den Reichtum eines Kaufmanns, die Kraft eines Pöbelhaufens haarklein angeben. Die Männer waren mitten in einer ernsthaften Beratung, als ein Offizier eintrat und Montreal einige Worte ins Ohr flüsterte. Die Augen des Feldherrn erstrahlten. »Laßt ihn eintreten!« rief er. »Ihr Herren, der Vogel scheint schon ins Netz gegangen zu sein. Wir wollen sehen!« Der Vorhang wurde aufgehoben, und der Ritter trat ein. »Was?« murmelte Montreal. »Adrian di Castello?« Er stand auf und streckte Adrian beide Hände entgegen: »Entschuldigt, edler Herr – ein Versehen meiner Diener! Ich freue mich sehr, eine Hand zu drücken, die seit unserer letzten Trennung so viele Lorbeeren gewonnen hat. – He!« fuhr er lauter fort und klatschte in die Hände. »Sorgt für Erfrischungen und eine Ruhestätte für diesen edlen Herrn und seine Diener. – Ritter Adrian, ich bin gleich wieder bei Euch.« Montreal entfernte sich. Er rief den Offizier, der Adrian gebracht hatte und befahl: »Der Paß muß bis zum Einbruch der Nacht besetzt bleiben. Ein falscher Fuchs ist uns in die Falle gegangen.« Dann trat er mit einem Lächeln in das Zelt, das seine Leute Adrian angewiesen hatten. »Laßt Euch erklären, lieber Freund! Meine Leute hatten Befehl, jeden Soldaten anzuhalten. Aber ich habe einen ganz anderen Gefangenen erwartet. Ihr seid selbstverständlich frei, samt Eurem Gefolge!« »Ich danke Euch, Montreal. Aber ich bin nicht sehr in Eile. Jetzt, da 368
ich schon einmal hier bin, erzählt mir Neuigkeiten aus meiner Vaterstadt. Ich bin ein Römer und denke an Rom!« »Das kann ich verstehen«, erwiderte Montreal schnell. »Ihr wißt, daß Albornoz als Legat des Papstes die Armee der Kirche in den Kirchenstaat führte. Er nahm Cola di Rienzi mit. – Ob Albornoz eifersüchtig wurde oder nicht, daß man den Tribunen so ehrte – jedenfalls hielt er ihn fest. Trotz aller Bitten der Römer. Er verfolgte einen Zweck, bei der Freilassung des Volkslieblings: Er gewann die Anhänglichkeit Roms an die Kirche und vermehrte durch seine Gegenwart sein Heer durch römische Rekruten. Bei Viterbo zeichnete sich Rienzi gegen den Tyrannen Johann von Vico aus; dies erweckte den Mut der Römer. Die Hälfte der Einwohner zog aus, um dem Tribunen zu folgen. Der schlaue Legat feuerte die Leute noch an: ›Bewaffnet euch gegen Johann von Vico, und Rienzi soll Senator von Rom werden.‹« »Und jetzt?« »Albornoz speiste den Senator-Tribun mit großem Glanze und schönen Worten ab, sprach aber nichts davon, ihn nach Rom zurückzuschicken. Rienzi hat, über diesen Aufschub unwillig, das Lager verlassen und geht mit ein paar Freunden nach Florenz, wo er sich Geld und Waffen beschaffen will, um nach Rom zurückzukehren.« »Ah, nun weiß ich«, sagte Adrian lächelnd, »für wen man mich gehalten hat!« »Erraten!« Montreal errötete. »Unterdessen«, fuhr er fort, »hat sich in Rom Euer Haus und das der Orsini zu höchster Macht erhoben. Francesco Baroncelli, ein neuer Demagoge und niedriger Nachahmer Rienzis, erhob sich auf den Trümmern des Friedens. Aber er wurde vom Volk ermordet. Fragt Ihr, wer jetzt Rom beherrscht, so möchte ich sagen: die Hoffnung auf Rienzi …« »Ein seltsamer Mann! Was wird daraus noch werden?« »Erst tot durch Meuchelmord – dann unsterblicher Ruhm«, antwortete Montreal ruhig. »Rienzi wird wiedereingesetzt, dieser tapfere Phönix fliegt seinen Weg durch Sturm und Gewölk bis zum eigenen Scheiterhaufen!« »Und was weissagt Ihr ferner?« 369
»Tiefen Sturz Roms auf lange Zeit. Gott schafft nicht zwei Rienzis.« Ein Offizier trat ein und unterbrach die Unterhaltung. Er überreichte dem Heerführer ein Schreiben. Montreal griff hastig nach dem Umschlag und durchschnitt die Seide mit seinem Degen. Sein Gesicht hellte sich auf, als er las. »Das Glück zeigt sich mir immer günstiger«, sagte er zu Adrian. »Gestern ersparten mir die Florentiner die Mühe einer Belagerung, und heute fällt Euer römischer Senator in meine Hände!« »Wie? Habt Ihr Rienzi schon gefangen?« »Noch viel besser! Der Tribun veränderte seinen Plan und ging nach Perugia, wo jetzt meine beiden Brüder sind. Er suchte sie auf – sie haben ihm Geld und Soldaten genug verschafft, den Gefahren einer Reise und den Schwertern der Barone zu trotzen. Das schreibt mir mein Bruder Annibaldo. Meine Brüder selbst begleiten Rienzi zu den Mauern des Kapitols!« »Aber wieso ist dann Rienzi in Eurer Gewalt?« »Nicht? Seine Soldaten sind meine Geschöpfe, seine Heerführer meine Brüder – sein Gläubiger bin ich selbst. Laßt ihn nur in Rom herrschen, die Zeit kommt bald, und er weicht …« »… dem Anführer der Großen Kompanie«, unterbrach ihn Adrian mit einem Schauder. »Nein, Ritter! Wir haben uns gebeugt unter unseren eigenen Tyrannen, doch ich hoffe, die Römer werden niemals so entartet sein, sich einem Ausländer zu unterwerfen!« Montreal lächelte bitter. »Ihr verkennt mich«, sagte er. »Ihr habt noch Zeit genug, den Brutus zu spielen, wenn ich Cäsars Rolle übernehme. Einstweilen sind wir nur Wirt und Gast …«
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XIII Ganz Rom war in Bewegung. Von St. Angelo bis an das Kapitol waren Fenster, Balkone, Dächer mit Tausenden von Menschen besetzt. Nur in den Palästen der Colonna, der Orsini und Savelli herrschte Todesstille. Sobald die Barone von Rienzis Rückkehr erfahren hatten, verließen sie Rom. Triumphbogen, mit Gold und Silber gestickte Draperien waren mit Worten des Willkommens und der Freude bezeichnet. In Zwischenräumen standen Jünglinge und Mädchen mit Blumen und Lorbeeren. Rom öffnete nochmals seine Arme, um seinen Tribunen zu empfangen. In seinen großen Mantel gehüllt und in der Verwirrung des Augenblicks von keinem beachtet, stand Adrian Colonna. Er konnte seine Teilnahme an dem Schicksal von Irenes Bruder nicht verleugnen. Ein Reiter sprengte durch die Straßen: »Platz da, zurück! Platz! Macht Platz für den Illustrissimo, den Senator Roms!« Die Menge schwieg, murmelte, trat zurück. Aus Balkonen und Fenstern beugten sich die Neugierigen. In der Ferne hörte man Pferdetritt, den Schall von Trompeten und Hörnern. Endlich schrien alle wie aus einem Munde: »Er kommt! Rienzi kommt!« Adrian zog sich noch mehr zurück, lehnte sich gegen die Mauer eines Hauses und betrachtete den sich nähernden Zug. Zuerst kamen in Sechserreihen die römischen Reiter mit Ölzweigen in den Händen. An ihrer Ausrüstung sah Adrian, daß sie meist zu den römischen Handelsleuten gehörten, ein Geschlecht, das die Freiheit nur als Handelsspekulation betrachtet. – Das ist ein unzuverlässiger Schutz, dachte der Colonna. Dann folgten in glänzenden Waffen die deutschen Söldner, angewor371
ben durch das Gold der provenzalischen Räuber. Sie betrachteten die Menge mit einem Blick, der halb Erstaunen, halb freche Verhöhnung ausdrückte. Kein Willkommensgruß empfing diese kräftigen Fremdlinge. Ihr Anblick war der Menge unheimlich. – Das ist sein einziger, wirklicher Schutz gegen die Barone, dachte Adrian, wenn er sie gut besoldet. Aber ihre Zahl ist zu gering. Darauf kamen zweihundert Mann zu Fuß aus Toskana, schwer bewaffnet und gerüstet, deren freundliche Blicke mit der Menge zu sympathisieren schienen. Ein allgemeines Vivat empfing sie. – Ein ungenügender Schutz, überlegte der erfahrene Colonna, die Barone können sie leicht überwältigen, der Pöbel kann sie verführen. Ein Zug von Trompeten und Fahnenträgern schloß sich an. Der Klang der Musik wurde von Geschrei übertönt: »Rienzi! Willkommen! Freiheit und Rienzi! Rienzi und der gute Staat!« Auf seinen Weg wurden Blumen geworfen. Er kam, der Senator-Tribun, der Phönix zu seinem Scheiterhaufen. Rienzi, ganz in Scharlach gekleidet, das Haupt entblößt, ritt langsam durch die Menge. Er hielt an – mit stammelnden und gebrochenen Worten versuchte er das Volk anzureden. »Ich bin belohnt«, sagte er, »belohnt für alles – möge es mir gelingen, euch glücklich zu machen!« Auf einem Pferd, das mit goldgestickten Decken belegt war, saß, in schneeweißen Gewändern, die mit Edelsteinen besetzt waren, die schöne, königliche Nina. Sie wurde kaum weniger stürmisch empfangen, kaum weniger angebetet als ihr Gemahl. Und neben ihr … Bleich, atemlos, zitternd lehnte Adrian sich an die Mauer. War es ein Traum? War die Tote wiederauferstanden? Irene lebte! Der prächtige Zug verschwamm vor seinen Augen. Sein Blick hing an der anmutigen Gestalt Irenes, bis Fahnen und Paniere sie seinen Blicken entzogen. Sie lebte also noch. Er mußte sich getäuscht haben, sie war der furchtbaren Pest entgangen, und die stille Trauer in ihren Zügen, selbst an jenem Freudentage, sagte ihm, daß er noch nicht vergessen sei. 372
Als Adrian sich nach und nach von dem ersten berauschenden Entzücken erholt hatte, fragte er sich, ob er das geliebte Mädchen gleich aufsuchen dürfe oder ob es nicht besser wäre, noch weiterhin Vorsicht zu üben. Stefanello Colonna, der Enkel des alten Stephan und das jugendliche Oberhaupt jenes mächtigen Hauses, hatte sich bereits feindlich gegen den Senator erklärt. In dem fast uneinnehmbaren Kastell von Palestrina hatte er alle Anhänger seiner Familie um sich versammelt, und seine Söldner verwüsteten schon die benachbarte Gegend. Adrian ahnte, daß in wenigen Tagen der Kampf zwischen dem Colonna und Rienzi ausbrechen müsse. Konnte er gegen seine eigene Familie als Gegner auftreten? Auf der anderen Seite veranlaßte ihn nicht allein die Liebe zur Schwester des Senators, sondern auch seine eigene Überzeugung, die Sache eines Mannes vorzuziehen, der ihm die redliche Absicht zu haben schien, den Frieden und die Wohlfahrt seiner Vaterstadt wiederherzustellen. Adrian nahm sich vor, wenigstens einen Versuch zu machen, die feindlichen Parteien auszusöhnen. Er wußte, daß er mit seinen stolzen Verwandten beginnen müsse. Aber sollte es nicht möglich sein, Irene zuerst noch zu sehen? Es war keine leichte Unternehmung, da sie so sehr beobachtet wurde, aber er beschloß, den Versuch zu wagen. Er ließ Giulio rufen. »Der Senator gibt heute abend ein großes Fest. Weißt du, wer geladen ist?« »Ich habe gehört, daß dem heutigen Bankett morgen ein Maskenball folgen soll, zu dem jeder zugelassen ist …« Adrian lächelte. Gab es eine bessere Gelegenheit, die Geliebte wiederzusehen, ohne erkannt zu werden? »Den Domino, Giulio!« sagte er übermütig zu seinem erstaunten Knappen. »Wir wollen auf der Maskerade des Senators nicht fehlen!« Es war noch nicht Mittag, als Adrian die hohen Berge erblickte, an deren Abhang Palestrina liegt. Er hatte den Weg tief in Gedanken versunken zurückgelegt. Er war glücklich und ruhig. Irene war ihm wiedergeschenkt. Er hatte sich ihr auf dem Maskenfest genähert, sie hatten über ihre Liebe gesprochen, 373
und zum erstenmal schien es auch eine Zukunft für den Patrizier und die Schwester des Senators zu geben. Und Rienzi? Er hatte Adrian wie einen Bruder aufgenommen. – Er hat mich mit seinem Herzen besiegt, dachte der junge Ritter, wie auch mein Besuch bei den Verwandten ausfallen möge, ich weihe mich ihm und der Sache Roms. Das Banner der Colonna fand leichten Eingang an der Porta del Sole. Er ließ seinen Zug im Hofe des Kastells zurück und verlangte Zutritt bei seinem Vetter. Stefanello Colonna saß mit zwei anderen Baronen um einen kleinen runden Tisch. Stefanellos Züge glichen denen des alten Colonna. In ihren scharfen und edlen Umrissen fand man jene regelmäßige und anmutige Symmetrie wieder, die sich oft in einer Familie durch Generationen wiederholt. Neben ihm saßen, durch den Haß jetzt miteinander vereint, die erblichen Feinde seines Geschlechts: der schlaue Luca di Savelli und der grausame Orsini. Stefanello erhob sich, um seinen Vetter zu empfangen. »Willkommen«, sagte er, »teurer Adrian! Ihr kommt zur rechten Zeit, um uns mit Eurer kriegerischen Erfahrung zu unterstützen. Glaubt Ihr nicht, daß wir eine lange Belagerung aushalten könnten, wenn der unverschämte Plebejer es wagen sollte, sie zu unternehmen? – Ihr kennt unsere Freunde, die Orsini und die Savelli?« »Ich wünschte, edler Herr, Ihr wäret einige Stunden früher gekommen«, begrüßte der Savelli den Ritter. »Wir müssen noch lachen, wenn wir daran denken!« »Ja, bei Gott!« Stefanello stimmte in das Gelächter ein. »Wißt, Adrian, daß dieser Rienzi es noch gestern wagte, uns einen Burschen zu schicken, den er seinen Gesandten nannte. Er lud uns zu einem Fest nach Rom!« »Ich wollte, Ihr hättet seinen Mantel sehen können«, fiel der Savelli ein, »Purpursamt, so wahr ich lebe, und das Wappen Roms in Gold gestickt.« »Was habt ihr ihm geantwortet?« fragte Adrian in ruhigem Tone. »Wir beauftragten unseren Schweinehirten, den Kerl in eine Pfütze 374
zu tauchen, und gaben ihm ein Nachtquartier in unserem Gefängnis, damit er sich wieder trocknen könne.« »Und heute morgen«, kicherte der Savelli, »hatten wir ihn hier und zogen ihm die Zähne, einen nach dem anderen. Ihr hättet den Burschen hören sollen, wie er um Gnade schrie!« Empört schlug Adrian mit seinem Handschuh auf den Tisch. »Stefanello Colonna«, sagte er, »antworte mir! Habt Ihr es gewagt, unseren Namen so scheußlich zu brandmarken? Haus der Colonna! Kann dies dein Oberhaupt sein?« »Ich höre wohl nicht recht!« Stefanello zitterte vor Wut. »Nimm dich in acht! Bist du vielleicht im geheimen Einverständnis mit jenem Pöbel? Warst du nicht auch schon verlobt mit der Schwester dieses Burschen? Meinem Vater und meinem Onkel hast du dich nie ganz angeschlossen …« »Verleumder!« schrie Adrian außer sich vor Zorn. »Danke dem Himmel, daß du mein Verwandter bist, sonst … Deinen Freunden begegne ich noch an einem anderen Ort, wo niemand zwischen unseren Schwertern steht!« Mit dem Degen in der Hand zog er sich zur Türe zurück. Schon stand er in dem offenen Säulengang des Hofes, als die Söldner des Colonna durch ein anderes Tor dringend, ihn umgaben. »Unterwirf dich freiwillig, Adrian di Castello«, rief Stefanello von der Treppe herab, »ich habe schon vergessen, daß du mein Verwandter bist!« Die kühnen Gefährten Adrians waren zu Hilfe geeilt und standen dichtgedrängt um ihn. Jetzt aber ertönte die Glocke, und der ganze Hof war bald mit Feinden angefüllt. Durch die Zahl überwältigt und mehr erdrückt als besiegt, wurden Adrian und seine Leute entwaffnet und gefangengesetzt.
Zehn Minuten nach der Rückkehr des verstümmelten Herolds in Rom rief die große Glocke des Kapitols zu den Waffen, und schon am Abend 375
nach der Gefangennahme Adrians waren die Streitkräfte des Senators unter seiner persönlichen Führung auf dem Wege nach Palestrina. Sie Brüder Montreals kehrten spät in der Nacht von einem Erkundigungsritt mit der Nachricht zurück, daß die Barone sich in den Wald von Pontano zurückgezogen hätten. Rienzi sah Brettone mit durchdringendem Blick an. »Wie, zurückgezogen?« sagte er. »Brettone!« und der Bruder Montreals fühlte den Blick bis ins Innerste seines Herzens. »Brettone«, fuhr Rienzi fort, »ist Euren Leuten zu trauen? Besteht Einverständnis zwischen Euch und den Baronen?« Brettone stellte sich beleidigt. Annibaldo schaltete sich ein: »Ich hoffe, daß dieses Mißtrauen nicht Euer Ernst ist.« »Annibaldo«, sagte Rienzi, »Ihr seid ein gebildeter Mann und scheint meine Pläne für die Wiedergeburt unseres Roms zu teilen. Das verbindet uns. Aber ich bin von Verrätern umgeben, das spüre ich. Selbst die Luft, die ich atme, scheint vergiftet zu sein …« Als die Brüder allein waren, sahen sie sich schweigend an. »Brettone«, flüsterte endlich Annibaldo, »die Verstellung widerstrebt mir. Walters ehrgeizige Pläne gefallen mir nicht. Was hat uns dieser anständige Römer getan?« »Sei still«, sagte Brettone, »nur die eiserne Hand unseres Bruders kann dieses unruhige Volk regieren. Kein Wort mehr davon! Ich habe Nachrichten von Montreal. Er wird in einigen Tagen in Rom sein …« »Und dann?« »Rienzi, geschwächt durch die Barone, denn er darf sie nicht besiegen, die Barone geschwächt durch Rienzi – unsere Nordmänner bemächtigen sich des Kapitols, und die in ganz Italien zerstreuten Söldner werden zu den Fahnen des großen Hauptmanns eilen. Montreal muß zuerst Podesta, dann König von Rom werden.«
Rienzi fühlte sich wie ein Mann, der an einem steilen Abhang hängt, während sein Fuß keine feste Stütze findet und jeder Zweig, an dem 376
er sich halten will, bei der Berührung nachgibt. Er fand das Volk mehr als je zu seinen Gunsten gestimmt, aber es konnte sich nicht entschließen, ein Opfer für ihn zu bringen. Rom stellte dem Senator keinen einzigen Freiwilligen und unterstützte ihn mit keinem Floren. Und noch etwas war eine Quelle von Sorge und Mißmut für jenen Mann, der der Teilnahme und Hilfe von Freunden so sehr bedurfte: Der Tribun-Senator war überall von unbekannten Gesichtern – von einer neuen Generation umgeben. Rienzi war nicht der Mann, der ehemalige Freunde, mochten sie auch geringen Standes sein, vergaß, und er hatte bereits Zeit zu einer Zusammenkunft mit Cecco del Vecchio gefunden. Jener strenge Republikaner benahm sich kalt und ablehnend gegen ihn. Seine fremden Söldner und sein Rang als Senator waren Dinge, die dem Schmied nicht zusagen konnten. Was aber Rienzi noch mehr verletzte, war das veränderte Benehmen seines alten Freundes Pandulfo di Guido. Als er den reichen Bürger unter denen vermißte, die ihn täglich im Kapitol besuchten, hatte er nach ihm geschickt und sich vergeblich bemüht, das frühere Verhältnis wieder anzuknüpfen. Pandulfo zeigte sich sehr ehrerbietig, aber verschlossen und zurückhaltend. Dies war die Lage Rienzis, und doch schien er von der Menge angebetet zu werden, und Gesetz und Freiheit, Leben und Tod waren seinen Händen anvertraut. Von allen diesen, die seine Person umgaben, war Angelo Villani der am meisten begünstigte. Der Jüngling, der Rienzi auch während seiner langen Verbannung begleitet hatte, war auf Wunsch Ninas auch von Avignon aus im Lager des Albornoz in seiner Gesellschaft geblieben. Sein Eifer und seine Anhänglichkeit ließen den Senator die Fehler seines Charakters übersehen und ihn den jungen Mann immer mehr liebgewinnen. Es beglückte ihn, zu wissen, daß ein treues Herz in seiner Nähe sei, und der Page, zum Rang eines Kammerherrn erhöht, war immer um ihn. Tage und halbe Nächte war der Getreue unterwegs, um die Meinung des Volkes über Rienzi zu erfahren. Überall hatte er seine Augen, und der einsame Senator gewöhnte sich bald daran, den klu377
gen jungen Mann, der ihm so unbedingt ergeben war, in seine Sorgen einzuweihen. »Ich wollte«, sagte Villani eines Abends, »unsere Nordmänner hätten andere Hauptleute als diese Provenzalen.« »Weshalb?« fragte Rienzi aufmerksam. »Haben die Werkzeuge Montreals sich jemals treu gegen jemanden gezeigt, den zu betrügen der Ehrgeiz Montreals gebot? War er nicht noch vor wenigen Monaten der rechte Arm des Johann di Vico, und verkaufte er nicht seine Dienste dem Feinde Vicos, dem Kardinal Albornoz? – Diese Krieger handeln mit Menschen wie mit Vieh.« »Du schilderst Montreal ganz richtig. Aber ich glaube, seine Brüder sind nicht so gefährlich – sie sind nicht kühn genug für die Verbrechen ihres Häuptlings. – Deine jungen Augen bedürfen des Schlafes, Angelo. Geh zur Ruhe. Und wenn du hörst, daß die Menschen Rienzi beneiden, so denke, daß …« »… daß Gott nie den Genius schuf, um beneidet zu werden!« schloß Villani leidenschaftlich. Palestrina wurde belagert; Rienzi beobachtete mit wacher Aufmerksamkeit die Brüder Montreals. Unter dem Vorwand, ihre kriegerische Erfahrung für die Ausbildung der italienischen Freiwilligen zu benutzen, trennte er sie von ihren Söldnern und übergab ihnen den Befehl über die weniger disziplinierten Italiener, mit denen sie, wie er glaubte, keinen Verrat wagen durften. Er selbst übernahm das Kommando der Nordmänner, und sie wurden ihm, wider ihren Willen, durch sein gewinnendes Benehmen und den Mut, den er bei einigen Ausfällen der Barone zeigte, sehr zugetan. Aber wie der Jäger das Wild auf allen seinen Wegen verfolgt, so verfolgte das unbeugsame Schicksal Cola di Rienzi.
Während die Truppen Rienzis vor Palestrina lagen, unterhielten sich Luca di Savelli und Stefanello Colonna mit einem Fremden bei ver378
schlossenen Türen. Er war die Nacht vor der Belagerung heimlich angekommen. »Ihr müßt zugeben«, sagte Montreal, ein Gespräch fortsetzend, das großen Eindruck auf die Barone gemacht hatte, »daß in diesem Kampf zwischen euch und dem Senator alles allein von mir abhängt. Rienzi ist gänzlich in meiner Gewalt – meine Brüder sind die Anführer seiner Armee – er selbst ist mein Schuldner. Ich habe nur den Befehl zu geben, und die Große Kompanie rückt in Rom ein. Wenn ihr aber eurem Versprechen treu bleibt, brauche ich nicht einmal die Soldaten, um unseren Zweck zu erreichen.« »Und doch wird Palestrina von Euren Brüdern belagert«, sagte Stefanello beleidigt. »Versteht ihr denn nicht! Sie haben meine Befehle, vor diesen Mauern Zeit zu verlieren!« »Ich verstehe«, sagte Luca di Savelli mit seinem kalten Lächeln, »und habe nichts dagegen. Sind wir erst einmal wieder in Rom und haben unsere Paläste neu befestigt … Also darin wären wir einig!« »Das ist ein Wort!« »Und Ihr verlangt dafür unsere Einwilligung, fünf Jahre die Würde eines Podesta zu bekleiden?« »Allerdings.« »Ich gehe für meinen Teil auf die Bedingung ein«, sagte der Savelli, »hier ist meine Hand! Ich bin dieser Fehden unter uns überdrüssig und glaube, daß ein ausländischer Herrscher in Rom am besten Ordnung halten kann.« »Ich habe das Gefühl«, sagte Stefanello, »daß wir nur zwischen zwei Übeln wählen können. Ein ausländischer Podesta gefällt mir nicht, aber noch viel weniger ein plebejischer Senator. Hier ist auch meine Hand, Montreal.« Der Ritter ließ seine dunklen Augen von einem zum anderen gehen. »Unser Vertrag ist abgeschlossen, jetzt noch ein kleiner Nachsatz: Walter von Montreal ist kein Pepin von Minorbino! Er vertrieb den Tribunen und ließ darauf sich selbst von den Baronen vertreiben. Merkt euch, dies wird mir nicht passieren. Ich habe eines als Soldat gelernt: 379
Daß man niemals einen Spion oder Überläufer, von welchem Range er auch sei, begnadigen sollte. – Verzeiht diese Andeutung. Laßt uns das Thema wechseln. Ihr haltet also in diesem Kastell meinen alten Freund Adrian gefangen?« »Ja!« sagte Savelli, der es nicht wagte, gegen die kühnen Worte des Ritters aufzutreten. »Behandelt ihn gut, ich bitte euch. Er ist einer von den wenigen echten Edelmännern. – Und jetzt, ihr Herren, erlaubt, daß ich mich entferne. Ich bin müde. Mögen wir alle etwas Angenehmes von der neuen Revolution träumen …« Damit folgte er den Dienern in seine Zimmer. »Dieser Provenzale ist also der neue Despot der Stadt«, zischte Savelli in ohnmächtiger Wut hinter ihm her. »Der neue Podesta, willst du sagen. – Podestas, die das Volk beleidigen, wurden schon bisweilen gesteinigt; Podestas, die den Adel beleidigen, wurden oft erdolcht oder vergiftet«, grinste Stefanello. »Wir wollen uns deshalb keine grauen Haare wachsen lassen.«
XIV Am vierten Tage der Belagerung hatte Rienzi die Söldner des Orsini zurückgetrieben. Er trat in sein Zelt und fand einige Depeschen aus Rom vor. Aus der einen erfuhr er, daß Albornoz die Boten der Orsini und Colonna mit besonderer Freundlichkeit empfangen hatte. Er wußte, daß der Kardinal seinen Sturz wünschte, aber er fürchtete ihn nicht. Ferner las er, daß während der kurzen Zeit seiner Abwesenheit Pandulfo di Guido zweimal zum Volk gesprochen hatte. Er hatte das Volk aufgewiegelt und ihm erklärt, welch großer Verlust für die Händler die Abwesenheit der Barone sei. 380
Die Nachricht der nächsten Depesche berührte Rienzi empfindlich: Walter von Montreal war öffentlich in Rom erschienen. Der grausame Bandit, dessen Kompanie stark wie die eines Königs war, dessen Brüder sich in seinem Lager befanden – Walter von Montreal war in Rom! Der Senator erschrak über diese neue Gefahr. Er hatte keine Handhabe, gegen Montreal vorzugehen. Er konnte ihm nichts beweisen. »Villani!« rief Rienzi plötzlich. »Angelo Villani!« Der junge Kammerherr erschien. »Hast du mir nicht einmal gesagt, daß du eine Waise bist?« »Jawohl, Herr. Die alte Frau, die mich aufzog, hat mir oft erzählt, daß meine Eltern nicht mehr leben.« »Angelo, wenn du mir treu dienst wie bisher, sollst du bald einen Namen haben, der gut in den Ohren der Römer klingt. Höre, ich bedarf eines Freundes – der Senator von Rom bedarf eines Freundes …« Angelo sank auf das Knie und küßte die Hand Rienzis. »Hast du schon von Montreal gehört, dem Bruder dieser Provenzalen?« Angelo nickte. »Er ist jetzt in Rom. Ich ahne seine Absicht, aber ich kann sie nicht beweisen. Du bist schlau und gewandt. Könntest du nicht nach Rom gehen, ihn beobachten, erforschen, ob er in Verbindung mit den Baronen steht? Willst du das für mich tun?« »Ich will alles tun, was Ihr von mir verlangt!«
Montreal war unter dem Vorwand nach Rom gekommen, dem neuen Senator Glück zu wünschen und die Gelder in Empfang zu nehmen, die seine Brüder Rienzi vorgestreckt hatten. Sein kluger Plan war, nicht die unsichere Herrschaft eines einzelnen Tyrannen, sondern die kräftige Verfassung eines kompakten aristokratischen Staates zu begründen. So waren die großen Dynastien des Nordens entstanden, und der König, wenn auch scheinbar beschränkt durch den Adel, wur381
de in Wirklichkeit durch ein gemeinschaftliches Interesse sowohl gegen das Volk, als gegen fremden Angriff geschützt. Das öffentliche Erscheinen Montreals erregte in Rom ungewöhnliches Aufsehen. Die Freunde der Barone verbreiteten das Gerücht, Rienzi habe sich mit Montreal vereinigt und wolle die Stadt der Plünderung und Brandschatzung barbarischer Räuber verkaufen. Das Mißtrauen verbreitete sich so schnell in der Stadt, daß schon Montreals Gegenwart genügt haben würde, den Senator in einigen Wochen zu stürzen. Während die Aufregung in Rom immer mehr zunahm, kam Angelo Villani dort an. Er war jung und verwegen, und es schien ihm am einfachsten, in die Dienste Montreals zu treten. So dachte er, könne er ihn am sichersten beobachten. Er hatte Glück. Der große Heerführer fand Gefallen an dem Jüngling und stellte ihn als Schreiber an.
Einige Tage später erhielt Rienzi Nachrichten aus Rom, die ihn sehr erheiterten. Seine Truppen lagen noch vor Palestrina, und die Banner der Barone wehten noch immer auf dem Kastell. Die Hauptleute der Belagerer wiederholten fortwährend die Versicherung, das Kastell sei uneinnehmbar, und Zeit und Geld würden unnütz verschwendet. »Ihr habt ganz recht«, verkündete Rienzi den beiden Brüdern. »Wir kehren nach Rom zurück. Die Söldner sollen die Belagerung allein fortsetzen. Ihr begleitet mich mit meiner römischen Legion. – Euer Bruder Walter und ich brauchen Euch.« Das war genau das, was die Brüder wünschten; sie billigten mit unverkennbarer Freude den Vorschlag Rienzis.
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In Rom gab Montreal dem Pandulfo di Guido und mehreren vornehmen Bürgern, die der Sache des Senators wenig geneigt waren, ein Bankett. Pandulfo saß zur Rechten des Gastgebers, und Montreal überhäufte ihn mit Höflichkeiten. »Oh«, flüsterte der Johanniterritter, »wenn Euer ruhiger und vernünftiger Geist Rom regierte, dann würde die Hauptstadt Italiens endlich Frieden haben! – Signor Vivaldi«, und er wendete sich an einen reichen Tuchhändler, »diese Unruhen sind sehr nachteilig für den Handel, nicht wahr?« »Sehr, sehr«, sagte der Tuchhändler. »Die Barone sind doch Eure besten Kunden?« »Gewiß«, antwortete der Tuchhändler. »Es ist schade, daß man sie so rücksichtslos vertrieben hat«, sagte der Montreal traurig. »Sollte es nicht möglich sein, wenn der Senator – ich trinke auf sein Wohl – weniger eifrig wäre und die Barone …« »Ach«, warf der Tuchhändler ein, »Rienzi würde niemals damit einverstanden sein, daß sie wieder zurückkehren …« »Wozu auch? Was brauchen wir einen Rienzi?« rief Bruttini. »Soll er wieder in die böhmischen Wälder gehen!« Die Gesellschaft verstummte. Die tiefen feierlichen Töne der großen Glocke des Kapitols erklangen. »Horcht! Die Glocke«, sagte Vivaldi, »das bedeutet eine Hinrichtung, aber zu dieser Stunde?« »Das ist nur ein Räuber, den sie in der Romagna gefangen haben. Ich habe gehört, daß er heute abend sterben soll«, sagte Bruttini. »Was wolltet Ihr eben sagen, Herr Ritter?« »Ja, wir sprachen von der Notwendigkeit, eine neugebildete Verfassung durch Streitkräfte zu sichern. Ich sagte … die Glocke verändert ihren Ton …« »Es wird bald soweit sein, der arme Kerl wird aufgehängt!« Montreal bekreuzigte sich und fuhr fort: »Ich möchte mich gerne mit dem Papst aussöhnen. Man hat mir zu verstehen gegeben, daß ich diesen Zweck am besten erreichen würde, wenn ich in Rom die Ord383
nung wiederherstelle. Der Legat Albornoz – hier ist sein Brief – empfiehlt mir, den Senator zu überwachen.« Kaum hatte er diese Worte gesagt, so hörte man drei Schläge an der Tür. Die Männer sahen sich verwundert und erschrocken an. »Es werden noch Gäste sein«, sagte Montreal, »sie sind willkommen, herein!« Die Tür wurde langsam geöffnet, und drei zu drei traten, in vollkommener Rüstung, die Wachen des Senators ein. Schweigend und gemessenen Schrittes marschierten sie vor. Sie umgaben den Tisch, und die Lichter erglänzten auf ihren Brustharnischen wie auf einer Mauer von Stahl. Die Gäste waren wie versteinert. Jetzt machten die Wachen Platz, und Rienzi selbst erschien. Er näherte sich dem Tische, und die Arme übereinandergeschlagen, richtete er seinen Blick ruhig auf jeden einzelnen. Montreal sprach zuerst und mit erzwungenem Lächeln: »Senator Roms, darf ich hoffen, daß mein bescheidenes Bankett Euch zusagt …« Rienzi antwortete nicht, sondern winkte seinen Wachen, die sich schnell Montreals bemächtigten. Wie ein Vogel vor der Schlange erschrak Pandulfo vor dem festen Auge des Senators. Langsam erhob Rienzi die Hand gegen den unglücklichen Bürger. Pandulfo sah es, schrie laut auf und fiel halb bewußtlos in die Arme der Soldaten. Noch einen schnellen Blick warf der Senator auf die übrige Gesellschaft, die totenbleich zurückblieb. Kein Wort war bisher über seine Lippen gekommen. Als er die Tür erreichte, wandte er sich kurz an den Johanniterritter und flüsterte ihm zu: »Walter von Montreal, Ihr habt doch die Totenglocke gehört?«
Der Hauptmann der Großen Kompanie wurde in das Gefängnis des Kapitols gebracht. Seine Brüder waren schon dort. »Das ist ein ungemütliches Zusammentreffen«, sagte Montreal, »wir haben schon fröhlichere Nächte zusammen verbracht!« 384
»Du kannst noch scherzen, Walter?« sagte Annibaldo, dem die Tränen in den Augen standen. »Weißt du nicht, was uns bevorsteht?« »Er wird sich hüten – die Söldner, unsere Nordmänner werden sich empören. Sie werden uns bald hier herausholen.« »Gib diese Hoffnung nur auf«, sagte Brettone, »die Söldner sind im Lager vor Palestrina.« »Seid ihr wahnsinnig? Seid ihr allein nach Rom gekommen?« »Du bist schuld«, antworteten die Brüder, »warum bist du hierhergekommen?« »Weshalb? Weil ich wußte, daß ihr die Feldherren meines Heeres seid und – ach! Vorwürfe sind jetzt zwecklos. – Was kann er nur von mir wissen? Wer kann mich verraten haben? – Meine Sekretäre sind zuverlässig – nur jener Jüngling – jener Angelo …« »Villani, Angelo Villani«, riefen die Brüder. »Hast du ihm etwas anvertraut?« »Er muß meine Korrespondenz mit euch und den Baronen gesehen haben – er war unter meinen Schreibern – wißt ihr etwas von ihm?« »Angelo Villani ist der Günstling Rienzis.« »Seine Augen täuschten mich also«, murmelte Montreal schaudernd, »… ihre Augen … wie komme ich nur darauf …« Es folgte eine lange Pause. Endlich sagte Montreal ganz zuversichtlich: »Sind die Geldkisten des Senators gefüllt? Ich glaube kaum.« »Er ist arm wie ein Dominikaner!« »Dann sind wir gerettet. – Er soll seinen Preis für unsere Köpfe nennen. Geld ist ihm nützlicher als Blut.« Zufrieden hüllte sich Montreal in seinen Mantel, sprach ein kurzes Gebet, legte sich auf sein Bett in der Ecke der Zelle und schlief ein. In einem Saal des Kapitols, dessen Wände mit blutroter Seide bespannt waren, saß Rienzi mit seinen Räten. »Walter von Montreal«, sagte ein kleiner Mann, »Ritter des berühmten Ordens des heiligen Johannes von Jerusalem …« »… und Hauptmann der Großen Kompanie«, fügte der Angeklagte mit kecker Stimme hinzu. 385
»Ihr seid verschiedener Verbrechen angeklagt …« »Und mein Ankläger?« unterbrach ihn Montreal. »Tretet vor, Angelo Villani!« »Also du hast mich verraten?« sagte Montreal. »Geschieht mir recht. – Ich bitte Euch, Senator Roms, laßt diesen jungen Mann abtreten. Ich bekenne meine Korrespondenz mit den Colonna und meine Absicht, die Barone zurückzuführen.« Rienzi winkte dem Villani, der sich verbeugte und abtrat. »Es bleibt Euch bloß noch übrig, Montreal, die näheren Umstände Eurer Verschwörung aufrichtig zu entdecken.« »Ich denke nicht daran«, erwiderte Montreal. »Und weshalb?« »Wenn ich schon mein Leben verliere, will ich nicht noch andere gefährden!« Auf den Zügen des Senators sah man Verwunderung. »Ritter von Montreal«, sagte er ernst, »Eure Antwort geziemt einem tapferen Mann. Ihr habt auf Erden noch eine Gunst zu verlangen, es ist die Art Eures Todes.« Montreals Lippen zuckten. »Senator«, sagte er leise, »kann ich eine Minute allein mit Euch sprechen?« Die Räte sahen sich befremdet an. »Hört mich nur an«, sagte der Gefangene, »es betrifft die Wohlfahrt Roms, nicht mein Leben.« »Ich bin Gott verantwortlich für die Wohlfahrt Roms«, sagte der Senator stolz, »aber Rom zittert, solange Ihr lebt. So reich, so mächtig, so klug Ihr auch seid – Eure Stunden sind gezählt – mit Sonnenaufgang müßt Ihr sterben.« Montreal sah, daß keine Hoffnung mehr bestand. Sein Stolz und seine Kaltblütigkeit kehrten zurück. »Ich bin vorbereitet«, sagte er, »Senator, ich gehe voran, um zu verkünden, daß im Himmel – oder in der Hölle ein paar Tage später für einen Mächtigeren, als ich es bin, Platz gebraucht wird!« Seine Augen funkelten. »Die Art Eures Todes?« fragte Rienzi heiser. 386
»Das Beil gebührt dem Ritter und Krieger. Dir, Senator, bereitet das Schicksal einen weniger edlen Tod!« Die letzten Gedanken, die Angelo Villanis Phantasie umschwebten, ehe er einschlief, waren glänzend und hoffnungsreich. Die dankbaren Worte Rienzis klangen noch in seinem Ohr; Vorstellungen von Glück und Macht wiegten ihn in Schlaf und färbten alle seine Träume. Nach drei Stunden weckte ihn ein Diener: »Entschuldigt, unten ist ein Bote von der guten Schwester Ursula – Ihr sollt gleich ins Kloster kommen, sie liegt todkrank und hat Euch ein wichtiges Geheimnis mitzuteilen …« Angelo sprang aus dem Bett, zog sich an und folgte dem Boten nach dem Kloster. Im Hof erblickte er das schwarze behangene Schafott, das wie eine düstere Wolke in der grauen Morgendämmerung drohte. Zugleich ertönte die Glocke des Kapitols in dumpfen Tönen. Angelo eilte weiter. Trotz der frühen Stunde begegnete er schon vielen Menschen, die Zeugen der Hinrichtung Montreals werden wollten. Das Kloster der Augustinerinnen lag am anderen Ende der Stadt. Villani nannte seinen Namen und wurde ohne Umstände eingelassen. Er hatte die Alte seit seiner Rückkehr nach Rom nur einmal gesehen, und sie erschien ihm damals schon sehr verändert. Jetzt aber wirkte sie im Licht der Dämmerung wie ein Gespenst, das der frühe Tag noch auf der Erde überrascht hat. »Du bist gekommen – gut!« sagte sie. »Heute morgen erzählte mir mein Beichtvater, daß Walter von Montreal auf den Befehl des Senators zum Tode verurteilt worden ist. Ist das richtig?« »Allerdings.« Angelo war befremdet. »Der Mann, den du so gehaßt hast, vor dem du mich immer warntest, wird mit Sonnenaufgang sterben.« »O heilige Mutter«, jammerte die alte Frau. Sie rutschte in ihrem Sessel nach vorne und legte ihre dürre Hand auf den Arm Angelos. »Eile zurück! Du stehst gut beim Senator! Falle auf die Knie vor ihm! Du mußt für das Leben des Provenzalen bitten!« »Sie phantasiert«, murmelte Angelo. »Ich bin ganz klar!« schrie die Nonne wild. – »Meine Tochter war die 387
Geliebte dieses Montreal. Ich Sünderin habe Rache geschworen! Ich habe ihnen das einzige Kind geraubt und dem Vater erzählt, daß es gestorben sei. Du bist ihr Kind – Montreal ist dein Vater …« »Du verfluchte Hexe!« Villani war aufgesprungen und sah die Alte haßerfüllt an. »Verfluchte Hexe!« Wie ein Rasender, wie ein Besessener stürzte er aus dem Kloster und eilte durch die Straßen. Das Läuten der Totenglocke war immer deutlicher zu hören. Er geriet in den Strom der Menge, wurde aufgehalten. – Tausende waren um ihn und vor ihm. Atemlos drängte er vorwärts. Die Sonne ging über den fernen Hügeln auf. Die Glocke verstummte. Er näherte sich dem Hinrichtungsplatz. Totenstille lag schwül und drückend über der Menge. »Halt!« wollte er schreien. Die Zunge versagte ihm. Er sah das geschwungene Beil, den gebeugten Nacken. Ein bluttriefendes Haupt wurde an den Haaren emporgehoben. Walter von Montreal war tot. Villani sah es – wendete seine Augen nach dem Balkon, auf dem, dem Brauche gemäß, in feierlichem Pomp der Senator saß – und die Augen des jungen Mannes hatten den Ausdruck eines rachsüchtigen Dämons.
XV Walter von Montreal wurde in der Kirche St. Maria dell'Araceli begraben. Obgleich die Menge bis zu seiner Gefangennahme Rienzi getadelt hatte, daß er einen so bekannten Freibeuter ungestraft lasse, wurde doch nach seinem Tod der ehemalige Gegenstand des Schreckens der ihres Bedauerns. Da seine Verräterei nur unvollkommen bekannt war, blieb von dem Andenken Montreals in Rom nichts zurück als Bewunderung seines Heldenmutes und Mitleid mit seinem Schicksal. Der Tod des Pandulfo di Guido, der einige Tage darauf folgte, er388
regte noch eine tiefere, wenn auch nicht so laute Unzufriedenheit gegen den Senator. »Er war sein Freund«, sagte man. Und: »Er war ein Freund des Volkes.« Wenn man die Haltung Rienzis in dieser schrecklichen Periode seines Lebens unparteiisch untersucht, so ist es kaum möglich, ihm einen einzigen politischen Fehler nachzuweisen. Seine Waffen wurden immer noch vom Glück begünstigt. Ein Kastell nach dem anderen, ein Ort nach dem anderen unterwarf sich den Feldherren des Senators, und selbst die Übergabe Palestrinas stand bevor. Von allen, die den Senator umgaben, war immer noch Angelo Villani der am meisten Begünstigte. Er war zu einer hohen Würde erhoben worden, und Rienzi fühlte sich selbst wieder jung, weil er glaubte, jemanden gefunden zu haben, der seiner Zuneigung wert war. Er liebte den Jüngling wie ein Vater. Einmal sagte Villani, als er mit dem Senator allein war: »Erinnert Euch, wie ich mich beim Kampf vor Viterbo ausgezeichnet habe – selbst Albornoz hat mich gelobt!« »Ich habe es nicht vergessen, Angelo, aber warum sprichst du gerade heute davon?« »Edler Herr – der Hauptmann Eurer Wache ist schwer krank …« »Ich weiß es!« »Wem könnt Ihr den Posten anvertrauen? Wie leicht könnt Ihr einen Verräter für den Posten wählen – was hätte das für Folgen …« »Deine Anhänglichkeit ist ein süßer Trost in einem bitteren Trank. Wen könnte ich besser wählen als dich! Du sollst den Posten haben – ich werde es heute schon verfügen.«
Nachdem Rienzi die Verschwörung erstickt, die Barone fast unterworfen und drei Viertel des päpstlichen Gebietes mit Rom wieder vereinigt hatte, glaubte er, einen seiner Lieblingspläne ausführen zu können: in jedem Stadtteil Roms eine römische Legion auszuheben und zu organisieren. Die Legionen waren wichtig für Rom – sie wurden gebildet, ihre 389
Ausrüstung war tadellos. Aber wie sollten sie bezahlt werden? Es gab nur ein Mittel, Roms Freiheit zu beschützen: Die Römer mußten Abgaben bezahlen.
Es wurde eine Steuer auf den Wein und auf das Salz ausgeschrieben. Die Proklamation wurde an allen öffentlichen Orten angeschlagen. Um eines dieser Plakate stauten sich die Menschen. »Er wagt es also, uns zu besteuern! Das durften sonst nur die Barone oder der Papst!« »Pandulfo di Guido hätte eine ganze Armee auf eigene Kosten erhalten können! Er war ein reicher Mann! Welche Unverschämtheit vom Sohn eines Schankwirts, Senator sein zu wollen!« »Mitbürger!« schrie ein riesenhafter Mann, der endlich begriffen hatte, daß der Wein teurer werden sollte, »Mitbürger! Wir müssen eine neue Revolution haben!« »Achtung! Cecco del Vecchio spricht!« »Nein, jetzt nicht«, sagte der Riese. »Heute abend kommen die Handwerker zusammen, dann wollen wir sehen.« Ein junger Mann, in einen Mantel gehüllt, stieß jetzt den Schmied an. »Wer übermorgen bei Tagesanbruch das Kapitol stürmen will, wird keine Wachen dort finden«, flüsterte er. Er war verschwunden, ehe der Cecco sich nach ihm umsehen konnte.
Am nächsten Morgen hielt der Senator Audienz im Kapitol. Von Florenz, von Padua, von Pisa, selbst von Mailand, wo die Visconti damals herrschten, von Genua, von Neapel, waren Gesandte gekommen, um ihm zu seiner Rückkehr Glück zu wünschen oder ihm dafür zu danken, daß er Italien von dem Freibeuter Montreal befreit hatte. Kaum war die Audienz beendet, als ein Bote von Palestrina erschien. 390
Das Kastell war übergeben worden, der Colonna hatte aufgegeben, und das Banner des Senators wehte von den Türmen des letzten festen Sitzes der rebellischen Barone. Rom konnte sich endlich als frei betrachten, und kein Feind schien die Ruhe Rienzis zu bedrohen. Der Senator, erfreut über diese Nachricht, ordnete ein Bankett für die Gesandten an. Die Mailänder, Paduaner, Pisaner und Neapolitaner wetteiferten miteinander, die Gunst ihres liebenswürdigen Wirtes zu erringen. Das Festmahl war früh beendigt. Rienzi, etwas durch den Wein erhitzt, ging aus dem Kapitol. Er sah die bleichen Nebel, die sich nach Sonnenuntergang gebildet hatten, auf das wilde Gras niedersinken, das über dem Palast der Cäsaren wucherte. Auf einem Haufen Ruinen, einem umgestürzten Triumphbogen, stand Rienzi in tiefes Nachdenken versunken. Kein Lüftchen bewegte die schlanken Zypressen und die dunklen Pinien. Es lag etwas Feierliches in dieser Ruhe. Der Mond, der eben aufgegangen war, beleuchtete das Forum. Am Jupitertempel schlichen zwei Gestalten vorbei, und der Senator erkannte Cecco del Vecchio und Angelo Villani. Sie bemerkten ihn nicht und verschwanden in lebhafter Unterhaltung hinter dem Triumphbogen. »Der gute Angelo«, dachte der Senator, »er ist noch immer für mich unterwegs …« Er trat wieder auf den Platz des Kapitols. Er stand an der Löwentreppe – auf dem Pflaster war seit Montreals Hinrichtung ein dunkler Fleck geblieben. Rienzi machte einen Bogen darum. Ein unheimliches Gefühl beschlich ihn. Er eilte nach dem Palast zurück. Eine Schildwache hielt ihn an: »Senator, der Herr Angelo Villani ist also unser neuer Hauptmann, und wir müssen ihm in allem gehorchen?« »Gewiß«, sagte der Senator zerstreut und ging weiter. Der Mann schien unruhig zu werden. Er hätte noch gern etwas gesagt, aber Rienzi bemerkte ihn nicht mehr.
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Es war der Morgen des 8. Oktober 1354. Rienzi, der ungewöhnlich früh aufstand, sagte zu Nina: »Es ist kaum Tag, meine Leute scheinen noch zu schlafen. Doch mein Tag muß vor dem ihrigen beginnen.« »Bleibe doch noch, Cola, du brauchst Ruhe …« »Nein, ich habe keine Ruhe mehr. Ich möchte einige Briefe schreiben.« »Dann laß mich dein Schreiber sein«, bat Nina. Rienzi antwortete mit einem zärtlichen Lächeln. Er begab sich ins Nebenzimmer und nahm ein Bad, wie jeden Morgen. Als er zu Nina zurückkehrte, saß sie schon vor seinem Schreibtisch. »Wie still alles ist«, sagte Rienzi, »ich habe diese ersten Stunden am Morgen so gern, dieses sanfte Vorspiel zum geräuschvollen Tag.« Er diktierte Nina einige Briefe und unterhielt sich mit ihr über deren Sinn und Inhalt. »So höre doch«, unterbrach ihn seine Frau auf einmal. »Was ist das für ein Lärm? Ich höre die Treppe knarren – jemand ruft deinen Namen.« Rienzi griff nach seinem Schwert, die Tür wurde heftig aufgerissen, und ein Mann in vollkommener Rüstung trat in den Raum. »Was hat das zu bedeuten?« rief Rienzi und stellte sich mit gezogenem Degen vor Nina. Der Fremde hob sein Visier. Es war Adrian di Castello. »Flieht, Rienzi! – Schnell, Signora! – Dem Himmel sei Dank, daß ich euch noch retten kann! – Ich komme aus Palestrina. Die Tore von Rom waren weit geöffnet! Die Stadt ist voll mit Bewaffneten, aber nicht mit den deinen, Senator!« »Wie?« »Eure Wachen waren fort. Ich begegnete mit meinem Zug einem Gefolge der Savelli! Sie sahen, daß ich ein Colonna bin, und hielten mich für Euren Feind! Überall sind sie auf dem Marsch hierher! Das Volk selbst bewaffnet sich gegen Euch! Der geheime Eingang unten ist offen! Rettet Euch! Wo ist Irene?« »Das Kapitol verlassen? Unmöglich!« rief Rienzi. Er trat ins Vor392
zimmer. Seine Wache war verschwunden. Er eilte nach Villanis Zimmer, es war leer. Er wollte weiter, aber die Türen waren von außen verschlossen. Er eilte zurück. Nina hatte bereits Irene geweckt. »Schnell, Senator!« drängte Adrian. »Es ist noch Zeit! Wir müssen über den Tiber setzen, meine Leute warten unten, sie haben ein Boot …« »Hört!« unterbrach ihn Rienzi. »Ich höre Geschrei: ›Viva 'l Popolo!‹ – das ist unser Schlachtruf, das müssen unsere Freunde sein!« »Täusche dich nicht – du hast keinen einzigen Freund in Rom!« In der Ferne hörte man die wilde, lärmende Menge. – »Jetzt, Cola!« sagte Nina und sah Rienzi in die Augen. »Ja, jetzt, Nina! Wir trennen uns, du warst mein einziger Trost – sorgsam wie eine Mutter, zärtlich wie ein Kind, du mein Herz …« Die Stimme versagte ihm. »Was?« rief Nina. »Uns trennen? Niemals. Hier ist mein Platz, ganz Rom kann mich dir nicht nehmen!« Irenes Blick, in Tränen schwimmend, begegnete dem ihres Bruders: »Wir wollen alle mit dir untergehen«, sagte sie, »nur du, Adrian, gehe jetzt!« »Wie ihr wollt«, sagte der Ritter traurig, »dann bleiben wir eben alle.« Es folgte eine stille, kurze Pause. Der Lärm der rasenden Menge kam schrecklich nahe. Rienzi sagte ruhig: »Ihr habt mich umgestimmt, ich gehe mit euch – ich will nur einige Papiere zusammensuchen. Schnell, Adrian, geh mit den Frauen voran.« Der junge Colonna erwartete keine weitere Andeutung und ergriff die Hand Ninas. Rienzi nahm Irene am Arm und stieg die Treppe hinab. Nina blieb ruhig, sie hörte die Schritte ihres Mannes hinter sich. Nur einmal sah sie nach ihm um und dankte ihm mit den Augen. Ein kräftiger Nordmann, in Stahl gehüllt, stand an der offenen Tür. Rienzi legte Irene in seine Arme und küßte sie auf die blasse Wange. »Schnell, edler Herr«, sagte der Krieger, »sie kommen von allen Seiten!« Mit diesen Worten eilte er den Abhang hinunter. Adrian folgte 393
mit Nina. Der Senator blieb einen Augenblick stehen, kehrte um und war in seinem Zimmer, ehe Adrian sein Verschwinden bemerkte. Er nahm seine Bettdecke, befestigte sie am Fensterkreuz und ließ sich auf den Balkon herab. »Ich will nicht wie eine Ratte in der Falle sterben«, sagte er, »sie sollen mich nur hören und sehen.« Als Nina bemerkte, daß sie mit Adrian allein war, riß sie sich entsetzt los. »Beruhigt Euch, Signora, er holt einige Papiere, er wird uns gleich folgen.« »Er ist fort! Cola ist fort!« schrie Nina und entwand sich Adrians Arm. Sie rannte zurück – die Türe war zugeworfen. Sie riß sie auf und schob von innen den schweren Riegel vor. Sie lief durch die Staatszimmer, laut seinen Namen rufend. Alles war öde und einsam. Ihre Stimme hallte von den Wänden wider. Die Türen, die nach den Ausgängen führten, waren verschlossen. Sie eilte ans Fenster – und sah, daß Rienzi sich hinabgelassen hatte. Ihr Herz sagte ihr, warum er es getan hatte. »So sind wir wenigstens unter demselben Dach, unser Schicksal wird das gleiche sein.« Erschöpft sank sie auf den Fußboden und wartete ergeben. Adrian hatte Nina verfolgt, doch er kam zu spät. Die von innen verriegelte Tür widerstand allen seinen Anstrengungen. Nur mehr empfänglich für die Gefahr, die Irene drohte, eilte er den Abhang hinunter, nach dem Ufer des Flusses, wo sein Gefolge ihn ungeduldig erwartete. Jetzt stürmte das Volk gegen das Kapitol. Nicht mehr in geregelter Ordnung, nein, Strom auf Strom, aus Straßen und Gassen, aus Palästen und Hütten. Weiber und Männer, Kinder und boshafte Alte in der ganzen Furchtbarkeit ihrer entfesselten, tierischen Wut. »Tod dem Verräter! – Tod dem Tyrannen!« Sie überstiegen die niedrigen Palisaden des Kapitols, und im nächsten Augenblick war der ganze große Platz mit Menschen angefüllt. Plötzlich trat Totenstille ein. Oben auf dem Balkon stand Rienzi. Sein Haupt war unbedeckt, die Strahlen der Morgensonne fielen auf seine gebieterische Stirn. Bleich und aufrecht stand er da, weder Furcht noch 394
Unwillen, weder Drohung noch Gram in seinen Zügen. Einen Augenblick war die Menge von Scham ergriffen. Der Senator begann zu sprechen: »Auch ich bin ein Römer und ein Bürger! Hört mich an!« »Hört nicht auf ihn!« rief eine Stimme, noch lauter als seine eigene, und Rienzi erkannte Cecco del Vecchio. »Hört nicht auf ihn! Nieder mit dem Tyrannen!« schrie Angelo Villani. »Hört nicht auf ihn!« kreischte noch eine Stimme dicht nebenan. Aus dem eisernen Gitter des nahen Gefängnisses glotzten die Augen des Bruders von Montreal. Nun hob sich das Gebrüll von der Erde bis zum Himmel: »Nieder mit dem Tyrannen! Nieder mit ihm, der das Volk besteuert hat!« Ein Steinhagel prasselte auf den Balkon. Rienzi rührte sich nicht. Die Söldner der Barone hatten sich bereits unter die Menge gemischt, und jetzt hörte man eine Stimme: »Platz für die Feuerbrände!« Stroh, Holz und Heu wurden schnell rings um die großen Tore des Kapitols aufgeschichtet. Der hervorqualmende Rauch drängte den Strom der Einstürmenden noch zurück. Rienzi war nicht mehr zu sehen. Ein Pfeil hatte seine Hand durchbohrt, seine rechte Hand, mit der er Roms Banner gehalten hatte. Er wich vor dem Sturm in den Saal zurück. Er setzte sich, und Tränen drängten aus seinen Augen und gewährten seinem Herzen Linderung. »Das ist zuviel!« sagte er und erhob sich entschlossen. »Ich habe für diesen entarteten Haufen genug getan.« Der Tod schien ihm nach dieser Erkenntnis nicht mehr so edel zu sein, und er beschloß, seinen Feinden zum Trotz noch einen Versuch für sein Leben zu unternehmen. Er verließ den Saal, ging durch mehrere, für die Bedienung bestimmte Zimmer und fand ein grobes Arbeitskleid. Er streifte es über und nahm ein Bündel von Tischzeug und Hausgerät auf den Kopf. Die Flammen loderten wild empor. Das äußere Tor war schon verbrannt, in das Zimmer drangen dichte Wolken von Rauch. Das stolze Kapitol der Cäsaren wankte. Jetzt war es Zeit! 395
Er ging durch das brennende Tor über die glimmende Schwelle. Auch durch das äußere Tor kam er, ohne aufgehalten zu werden. Schon befand er sich mitten unter der Menge. »Im Palast gibt es Beute genug«, sagte er in römischem Dialekt zu den Umstehenden. Das Bündel auf seinem Kopf verdeckte sein Gesicht. Der Pöbel raste an ihm vorbei, er ging weiter, er erreichte die letzte Treppe, die auf die offene Straße führte. »Gib acht, daß der Senator nicht verkleidet entflieht!« rief eine Stimme. Es war die Angelo Villanis. Die verbergende Last wurde von Rienzis Haupt gerissen. Er war entdeckt. Die Menge umringte ihn sofort. Der Senator wurde nach dem Platz des Löwen geschleift. Seine grobe, schmutzige Kleidung, die Schrecknisse der Stunde, die Beschämung der Entdeckung vermochten die Majestät seiner Erscheinung nicht zu löschen. Das ganze Kapitol war in Flammen eingehüllt. Hinab in die langen Reihen der Häuser ergoß sich der feurige Schein, und das dichte Gedränge, die Banner der Colonna, Orsini und Savelli waren in glutrote Farbe getaucht. Roms Tyrannen zogen wieder ein. »Stirb, Tyrann!« rief Cecco del Vecchio und stieß seinen Dolch in die Brust des Senators. »Stirb, Mörder Montreals«, flüsterte Villani und führte den zweiten Stoß. Als er zurücktrat und den Schmied in der trunkenen Wut tierischer Leidenschaft seinen Becher erheben sah, verzog er die Lippen in bitterer Verachtung. Als Rienzi still und ohne Seufzer zu Boden stürzte und die lebenden Wogen der Menge sich über ihm schlossen, vernahm man eine gellende, wilde Stimme, die allen Lärm noch übertönte. An einem Fenster des Palastes stand Nina. Nur ihr Gesicht und die ausgebreiteten Arme waren in den Flammen sichtbar. Noch ehe ihr Schrei verhallt war, stürzte der ganze Flügel des Kapitols, eine geschwärzte, dampfende Masse, mit donnerndem Krachen zusammen. 396
In dieser Stunde fuhr schnell ein Boot den Tiber hinab. Rom lag schon in einiger Entfernung, aber der fahle Glanz des Brandes warf seinen Schein auf den stillen Strom. Adrians Blicke waren auf die Türme des Kapitols gerichtet. Mit geschlossenen Augen lehnte Irene an seiner Brust. »Sie werden es nicht wagen«, sagte der Colonna, »ein Haar seines Hauptes zu krümmen. – Rienzis Sturz wäre der Untergang Roms. So wie diese Türme, der Stolz Roms, immer noch in den Flammen stehen, so wird auch Rienzi stehen und diese Gefahr überdauern.« Kaum hatte er diese Worte gesprochen, als eine Rauchsäule durch die Flammen zum Himmel stieg. – Ein dumpfer Donner erreichte sein Ohr, und im nächsten Augenblick waren die Türme, auf die er geblickt hatte, verschwunden. Ein unheimlicher Lichtschein verbreitete sich über der Stadt, als sei Rom der Scheiterhaufen des letzten römischen Volkstribunen.
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Von der Mitte des vierzehnten Jahrhunderts bis zum Ende des fünfzehnten Jahrhunderts
Neuordnung der Länder und Schichtung der Gesellschaft I Der großangelegte Versuch Cola di Rienzis, das alte Rom zu erneuern, war nicht nur am örtlichen Kräftespiel gescheitert. Der mutige Volkstribun hatte die wesentliche Voraussetzung zur Wiederherstellung der politischen Macht der ›Ewigen Stadt‹ falsch bewertet. Rom gehörte der Vergangenheit an. Es lebte nur mehr als glorreicher Begriff in der Einbildungskraft der Zeitgenossen, ein Sinnbild, das auf die Christenheit wirkte: als Hauptstadt des Glaubens und der Päpste, wenn sie auch noch in der selbstgewählten Verbannung in Avignon hofhielten. Dennoch war die Bedeutung Roms so sehr zur festgefügten Zwangsvorstellung geworden, daß auch Karl IV. nach dem jähen Tod des in Eile von den Anhängern der Wittelsbacher aufgestellten Gegenkönigs, Günther von Schwarzburg, in Rom zum römischen Kaiser gekrönt werden wollte. Als er in Begleitung von nur dreihundert Rittern nach Italien zog, ging es ihm nicht um die Beruhigung oder Eroberung der vom Streit der Parteien zerrissenen Halbinsel. Die Kämpfe zwischen den Ghibellinen und Guelfen wurden durch seine Anwesenheit kaum unterbrochen. Aber die kurze Atempause, die sein Aufenthalt zur Folge hatte, genügte ihm für seine Zwecke. Er ließ sich in Mailand die eiserne Krone der Lombarden aufs Haupt setzen und in Rom die Kaiserkrone. Mit dem heiligen Öl allerdings wurde Karl IV. nur von einem päpstlichen Abgesandten gesalbt. Die dürftigen Feierlichkeiten waren kaum beendigt, als der neue Kaiser die Stadt verließ, um sich dem Spott und den Gewalttätigkeiten des aufrührerischen Volkes zu entziehen, das die Ausübung von kaiserlichen Hoheitsrechten inner399
halb Roms drohend zurückwies. Die aufgeregten Römer wollten keinen weltlichen Herrscher, sie wollten einen Papst in ihrer Mitte. Um die Unabhängigkeit der Kaisergewalt vom Heiligen Stuhl von neuem eindeutig kundzutun, erließ Karl IV. die Goldene Bulle, ein Reichsgrundgesetz, das die Königswahl endgültig und förmlich den sieben Kurfürsten übertrug. Diese Urkunde, die ihren Namen vom goldenen Siegel ableitete, ergänzte die schon vorher erlassenen Bestimmungen der Wahl. Sie gewährte nicht nur dem Gewählten, sondern auch den Kurfürsten Vorteile. Der König wurde unabhängig von der Kirche, die Kurfürsten aber erhielten außerordentliche Rechte, die sie von den anderen Landesherren unterschieden. Ihre als Kurlande bezeichneten Hoheitsgebiete wurden als unteilbar erklärt und ihre Vererbung nach dem Recht der Erstgeburt gesichert. Die peinlichen Doppelwahlen von Königen wurden unmöglich gemacht, denn als rechtmäßig gewählt sollte nur gelten, wer die Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigte. Die Gerichtshoheit der Kurfürsten in ihren Ländern war unbeschränkt und ließ keine Berufung an den Kaiser gegen ihre Urteile zu. Auch die übrigen Landesherren erstrebten die gleichen oder ähnliche Vorrechte in ihren Gebieten. Die deutschen Fürsten erwirkten, daß sie in ihrer Gesamtheit den Reichstag bildeten, dem sie nicht mehr als vom König zum Hoftag geladene Lehensträger, sondern nach dem Erbrecht angehörten. Die Landeshoheit beinhaltete das Münzrecht, den Bergbau, das Recht auf Zölle und die Abgaben der Juden für die Handelserlaubnis. Auch der Besitz der Kirche wurde zum größten Teil in die weltliche Verwaltung der Hoheitsgebiete einbezogen. Der Landesherr herrschte jedoch nicht unbeschränkt, sondern unter Mitwirkung der Landstände, die Sitz und Stimme in den Versammlungen hatten und deren wichtigste Befugnis die Bewilligung von Steuern war. Zu den Landständen gehörten die geistlichen und weltlichen Großgrundbesitzer und die Vertreter der Städte. Bei der Erteilung der den Kurfürsten gewährten Sonderrechte waren die Herzöge von Österreich übergangen worden. Rudolf IV. von Habsburg wollte sich nicht durch einen luxemburgischen Kaiser kleinkriegen lassen. Er gab die Erklärung ab, daß das Amt eines Kurfürsten 400
unter der Würde seiner Familie sei. Um das unter Beweis zu stellen, war Rudolf jedes Mittel recht. Er fälschte Urkunden, die dartun sollten, daß die Herzöge von Österreich ohnehin eine Ausnahmestellung im Deutschen Reich einnähmen. Sie seien mehr als alle anderen Herzöge. Sie hätten das Recht, sich Erzherzöge zu nennen. Der erste Erzherzog von eigenen Gnaden duldete keinen Widerspruch, weder vom Reich – noch vom Volk. Er verkündigte: »Die erlauchten Fürsten stehen hoch über dem viehischen Unverstand der Untertanen, die nur durch die gröbsten Mittel auf die rechte Bahn gebracht werden können.« Als auch die Bischöfe Österreichs gegen seine Selbstherrlichkeit aufbegehrten, verlautbarte Rudolf: »In meinem Land will ich Papst, Erzbischof, Archidiakon und Dekan sein, alles in einem.« Nicht nur die kaiserliche Überlegenheit, auch die großzügige Bautätigkeit des Luxemburgers, Karls IV. ließ Rudolf von Habsburg nicht schlafen. Da der Kaiser eine Universität in Prag eingerichtet hatte, wollte auch der Erzherzog eine hohe Schule in Wien. Und da Karl den Prager Dom hatte erbauen lassen, befahl Rudolf den Umbau des Wiener Domes, der Stephanskirche, die einen viel höheren Turm haben sollte als der Dom von Prag!
Die Entwicklung, die mit dem von Friedrich II. unwillig anerkannten ›Statutum in favorem principum‹, dem Erlaß zugunsten der Fürsten, begonnen hatte, nahm immer festere Formen an. Die Hoheitsgebiete der deutschen Landesherren waren bald nicht nur durch die in der Vergangenheit willkürlich gezogenen Grenzen voneinander geschieden, sondern vielmehr durch Sonderbelange, die entsprechend der örtlichen Gegebenheiten in den verschiedenen Ländern verschieden zum Ausdruck kamen. Je nach der Eignung und dem Verständnis des jeweiligen Landesherrn wuchs oder verminderte sich die Bedeutung seines Herrschaftsgebietes im Verhältnis zum Reichsganzen. Die Kaiserwürde aber wurde immer mehr zum förmlichen Vorrecht, während die Macht der einzelnen Landesherren sich nicht nur in ihren ei401
genen Ländern auswirkte, sondern auch über die Grenzen des Deutschen Reiches hinaus auszustrahlen begann. Auch Karl IV. der von allen Kurfürsten bestätigte und in Rom gekrönte Kaiser, kam der Zeitströmung entgegen. Er widmete seine gesamten Kräfte und seine Begabung dem Ausbau seiner Hausmacht. Er hatte in seinem luxemburgischen Ursprungsland und in Frankreich gelernt. Seine Verwaltung Böhmens und Mährens war so vorbildlich, daß seine Untertanen den Zeitraum seiner Herrschaft als das ›Goldene Zeitalter‹ bezeichneten. Solange Karl IV. lebte, war Prag der Mittelpunkt des Deutschen Reiches und nicht nur des ererbten Königreiches Böhmen, das er durch die Vereinigung mit Schlesien und der Lausitz erweiterte. Er hatte von den Gelehrten, die er aus fremden Ländern an seine neugegründete Universität gerufen hatte, das Wirtschafts- und Gerichtswesen neu ordnen lassen. Handel und Gewerbe verhalfen ihm zu den Geldmitteln, die er benötigte, Prag zu einer kaiserlichen Hauptstadt zu machen. Karl IV. betrieb die Staatskunst wie die von ihm begünstigten Kaufleute ihre Geschäfte. Er war kein Kriegsherr, er war ein Unterhändler, der geschickte Verträge schloß, um Kriegen vorzubeugen. Als Ludwig, der letzte König von Ungarn aus dem Hause Anjou, versuchte, das größte ›Geschäft‹ Karls, die Erwerbung der Mark Brandenburg mit barem Geld, zu vereiteln, verlobte Karl seinen Sohn Sigismund mit Maria, der Erbin Ludwigs, und belehnte ihn mit der Mark Brandenburg. War das nicht ein deutlicher Beweis dafür, daß ihm nicht so sehr daran gelegen war, die luxemburgische Hausmacht als einheitlichen Besitz zu erhalten, sondern vielmehr daran, seine Söhne entsprechend versorgt zu wissen? Der eigentliche Erbe Karls, sein ältester Sohn Wenzel, der von den Kurfürsten als Nachfolger des Kaisers gewählt wurde, behielt nur Böhmen und Schlesien und verzichtete auf die übrigen Länder, die an den jüngsten Sohn und die Neffen Karls IV. fielen. Die Stärkung der landesherrlichen Gewalt hatte weittragende gesellschaftliche und wirtschaftliche Folgen. Die reichsunmittelbaren Ritter verloren an Bedeutung. Sie hatten den Königen erhobenen Haup402
tes gedient, nur wenige von ihnen waren ohne weiteres bereit, an den Höfen von Herzögen zu dienern. Sie wollten nicht begreifen, daß sich eine Umschichtung der Machtverhältnisse vollzogen hatte. Ihre Titel und ihr Grundbesitz waren unverändert geblieben, aber es galt nur mehr wenig, ein Reichsgraf zu sein, wenn mit dem Rang kein Amt verbunden war, und die Verwaltung von Gütern warf nicht soviel ab wie die Beute, die in Kriegsfahrten gewonnen werden konnte. Auch die persönliche Tapferkeit des einzelnen wurde nach anderen Grundsätzen bewertet. Ein Landesherr, der eine Truppe aufstellte, fragte nicht mehr nach dem Adelsbrief und überlieferter Gefolgschaft. Woher die Söldner stammten, die er anwarb, galt ihm gleich, wenn sie nur ihren Mann im Feld stellten. Kräftige Bauernburschen, die den Bogen und die daraus entwickelte Arkebuse handhaben konnten, waren gefragter als die berittenen Edelherren, die es unter ihrer Würde erachteten, andere Waffen zu führen als das Schwert und die Lanze. Tüchtige Handwerker, die sich darauf verstanden, Geschütze zu gießen und Pulver zu verfertigen, wurden den Landesherren wichtiger als die vornehmsten Ritter, in deren Rüstkammern die veralteten Kriegsgeräte verrosteten. Die Lebensformen an den Fürstenhöfen hatten sich im Gleichklang mit der gehobenen Stellung und den erhöhten Einnahmen der Landesherren so gebessert, daß die Ritter auf ihren Burgen nicht mehr Schritt halten konnten. Sie verarmten und versuchten, sich in Bünden zusammenzuschließen, um vereint den Einfluß und die Einkünfte wiederzugewinnen, die sie eingebüßt hatten. Bei diesem Versuch, ihre ehemalige Bedeutung im Reich wiederherzustellen, stießen sie auf den erfolgreichen Widerstand der Landesherren und der Städte, die zur wachsenden Macht in den Ländern wurden. In ihren vielstöckigen Geschäftshäusern, die im sicheren Schutz der Stadtmauern emporragten, hatten die Fernkaufleute einen neuen Stand begründet. Diese vornehmen Bürger wurden ›Patrizier‹ genannt und für ihre vermittelnde Tätigkeit, die den Wohlstand der Städte und Länder herbeiführte, oft mit der Erhebung in den Adelsstand belohnt. In ihren Geschäftsräumen, den ›Kontoren‹, waren zahlreiche Angestellte beschäftigt, die Kauf und Verkauf auf schriftlichem Wege tä403
tigten. Immer seltener sahen diese Unternehmer, die die gewerblichen Erzeugnisse ihrer Städte ausführten und mit dem Erlös Tauschhandel trieben, die Waren, die in ihren Geschäftsbüchern eingetragen waren, mit eigenen Augen. Sie kannten die Preise und richteten sich nach Angebot und Nachfrage. Ihre vollbeladenen Wagenzüge durchquerten, von eigenen Schutzmannschaften begleitet, den europäischen Raum. Sie schufen Märkte, Handelsniederlassungen und Lagerhäuser und vereinigten sich in Gesellschaften, deren Teilhaber ihre Vermögen zusammenlegten, um die Verlustgefahr zu vermindern und den Gewinn zu teilen. Die Ravensburger Handelsgesellschaft war die bedeutendste dieser Art. Sie erstreckte ihre Geschäfte über das ganze Mittelmeergebiet und errichtete in Venedig ein eigenes ›Kaufhaus der Deutschen‹, den ›Fondaco dei Tedeschi‹. Innerhalb der Städte sorgten die Patrizier nicht nur für die Hebung ihrer eigenen Lebensformen, die sie oft den fürstlichen Höfen anglichen, sondern auch für die Errichtung und Aufrechterhaltung der kaufmännischen Ordnung. Die Handwerker, deren Erzeugnisse sie selbst kauften und wiederverkauften, waren in Körperschaften zusammengefaßt, den Zünften, deren Vorstände die Patrizier in den meisten Städten in den Stadtrat aufnahmen. Das Zunftwesen wurde geregelt. Die Mitgliedschaft war an den Besitz des Bürgerrechts geknüpft, an einen Befähigungsnachweis, der eine bestimmte Lehr- und Gesellenzeit zur Bedingung hatte, an die Unbescholtenheit des Bewerbers und seine eheliche Herkunft. Diese sittlichen Voraussetzungen waren von christlichen Grundsätzen bestimmt. Sie entsprachen im wesentlichen den von Thomas von Aquin verkündeten Lehren. Die Zunft schuf eine Gemeinsamkeit in jedem Sinne. Nur wer ihr angehörte, durfte ein Handwerk ausüben. Ihre Vorstände kauften die nötigen Rohstoffe ein, verteilten sie an die Meister, setzten die Zahl der Lehrlinge und Gesellen fest und bestimmten die Preise der Fertigwaren. Die Mitglieder der Zünfte waren zur Verteidigung der Stadt verpflichtet. Die Zünfte nahmen sich erkrankter Gewerbetreibender und Handwerker an und sorgten für Witwen und Waisen der Verstorbenen. Der aus dem Bürgermeister und den Ratsherren zusammengesetzte 404
Stadtrat war ehrenamtlich tätig. Er verwaltete die Gerichtsbarkeit aufgrund des Stadtrechtes und versorgte die Wirtschaft der Stadt durch Steuern, zu deren Zahlung alle Bürger verpflichtet waren, um gemeinsam, je nach ihren Einkünften, die Mittel für die öffentlichen Bauten, die Instandhaltung der Straßen und der Stadtmauern aufzubringen. Die Handelsbeziehungen der Patrizier führten zu engen politischen Beziehungen zwischen einzelnen Städten, die sich in Bünden zusammenschlossen. Die zunehmende Bedeutung der miteinander verbündeten deutschen Städtegruppen, die nicht nur eine eigene Polizei, sondern auch wehrhafte Truppen aufstellten, beunruhigte Karl IV. der die Entwicklung der Städte in den Gebieten der luxemburgischen Hausmacht um des Handels willen gefördert hatte. Der Versuch des Kaisers, reichsunmittelbare Städte kurzerhand zu verpfänden, um die gewaltigen Beträge aufzubringen, die er für seine Unternehmungen brauchte, stieß auf den entschlossenen Widerstand des schwäbischen Städtebundes, der sich zum Schutz gegen Übergriffe gebildet hatte. Karl war nicht in der Lage, die wehrhaften Bürger zu besiegen. Da es ihm nicht mit Gewalt gelang, der unabhängigen Städte Herr zu werden, versuchte er es mit Freundschaft und Güte, besonders im Falle des norddeutschen Städtebundes, der Hanse, die den Ostseehandel beherrschte. Die großen norddeutschen Städte verdankten ihre Entwicklung ihrer eigenen Tatkraft. Sie hatten kaum mit einer wesentlichen Hilfe vom Reich zu rechnen, wenn sie von den benachbarten Königen von Dänemark bedroht waren. Ihre militärischen Unternehmungen waren ebenso wie ihre staatsmännischen Unterhandlungen selbständig gewesen. Sie hatten ihre Vorrechte, ihre Umschlagplätze und Warenlager aus eigener Kraft erobert. Als Karl Lübeck besuchte, anerkannte er die Bedeutung, die die norddeutschen Städte gewonnen hatten. Er sprach ihre Bürgermeister als ›Herren‹ an. Sie wehrten die ehrende Anrede demütig ab. Er bestand darauf: »Ihr seid Herren«, sagte er und verglich Lübeck mit Rom, Venedig, Pisa und Florenz.
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Die unternehmungslustigen Handelsherren der Hanse hatten sich der Zusammenarbeit der bedeutendsten Militärmacht im Nordosten des europäischen Raumes versichert. Es war der Deutsche Ritterorden, der Landesherr in den Gebieten, deren ursprüngliche Bewohner die Ordensritter zum Christentum bekehrt hatten. Diese adeligen Herren, die aus allen Ländern des Abendlandes stammten, siedelten deutsche Bauern an, gründeten Städte und Dörfer, bauten Dämme, erschlossen fruchtbares Acker- und Weideland und sorgten für den Unterricht der Siedler. Da die Schulung aller Bewohner des Ordenslandes gleich war, bediente sich auch die ursprüngliche Bevölkerung der deutschen Sprache und glich sich den Sitten und Gebräuchen der eingewanderten Bauern an. Das preußische Ordensland wurde reich. In der neugegründeten Stadt Marienburg überwachte der Hochmeister die Tätigkeit der Richter, der Landvermesser, der Baumeister und der Ritter, die das Land verwalteten. Der Handel des Deutschen Ritterordens wurde so bedeutend wie der Handel der Hanse. II Die Aufmerksamkeit des Kaisers und der deutschen Fürsten war durch ihre Bemühungen um die Neugestaltung der Ordnung an ihre Hoheitsgebiete gefesselt. Sie beachteten kaum das zeitgenössische Geschehen und die Völkerbewegungen außerhalb ihres unmittelbaren Wirkungsbereiches. Diese bedenkliche Gleichgültigkeit gegenüber der Mitwelt hatte seit dem Tode Friedrichs II. im Abendland überhandgenommen. Der Aufenthalt der Päpste in Avignon trug zu einer engstirnigen Verörtlichung der Christenheit bei. Es fehlte eine weitblickende Persönlichkeit, entweder auf dem Heiligen Stuhl oder auf dem kaiserlichen Thron. In ihrer Bemühung zu behalten, was sie hatten, verloren die deutschen Könige und Fürsten den Ausblick. Sie vernachlässigten besonders die Pufferstaaten, die den europäischen Raum vor den asiatischen Anstürmen geschützt hatten. Die slawischen Stämme, die sich in der Zeit der großen Wanderungen überall dort angesiedelt hat406
ten, wo es möglich gewesen war, hatten in vielen Gebieten ein Eigenleben begonnen und nicht nur eigene Staatengebilde geschaffen, sondern auch eigene Sprachen, die im wesentlichen wohl nur Abwandlungen der ursprünglichen Sprache waren, sie jedoch von den Nachbarn unterschieden. Ansonsten waren die Verschiedenheiten zwischen diesen slawischen Stämmen gering und abhängig von der Beeinflussung durch ihre jeweiligen Nachbarn. Ein Großteil der slawischen Urbevölkerung wurde von den deutschen Siedlern aufgesogen. Das geschah besonders in den Gebieten, die der Deutsche Ritterorden erobert und urbar gemacht hatte. Aber weiter östlich erhielt sich die polnische und in dem Königreich Böhmen und der Markgrafschaft Mähren die tschechische und slowakische Abwanderung der slawischen Mundart. Weiter südlich, auf der Balkanhalbinsel, die der Schauplatz so vieler verschiedenartiger Völkerbewegungen gewesen war, hatten sich zwei slawische Stämme, die ›Sbri‹ und die ›Chrobati‹, angesiedelt. Sie waren durch die Auswirkung der ursprünglichen Zweiteilung des römischen Weltreichs, die Theodosius vorgenommen hatte, voneinander geschieden. Jenseits der Trennungslinie hatte die griechische Sprache geherrscht, diesseits die lateinische. An die Sprache war später die Art des Glaubensbekenntnisses gebunden gewesen. Die Serben ergaben sich dem Einfluß der griechischen Kirche, die Kroaten bekannten sich zum römisch-katholischen Christentum. Durch den Zerfall des byzantinischen Kaiserreiches war das Großreich der Bulgaren entstanden, und weiter im Osten, schon auf asiatischem Boden, hatten sich durch verschiedene Völkermischungen die russischen Reiche entwickelt, die sich der mongolischen Einwanderung der ›Goldenen Horde‹ hatten unterwerfen müssen. Während die westliche Welt noch durch die Frage, ob der zum König gewählte deutsche Fürst der Anerkennung des Papstes bedürfe oder nicht, in Atem gehalten wurde, gelang es dem Großfürsten von Moskau, dem der Mongolen-Khan die Steuereintreibung im Hoheitsgebiet der Goldenen Horde übertragen hatte, ›die Sammlung der russischen Erde vorzunehmen‹. Der fürstliche Steuereintreiber, Demetrius Donskoj, vertrieb die Mongolen aus den russischen Ländern, besieg407
te den Khan und dehnte seine Herrschaft bis an die Wolga aus. Er und seine Nachfolger taten nun das gleiche wie ihre fernen Nachbarn, die deutschen Fürsten. Sie bauten und befestigten Städte, sie schufen eine eigene, ihren Lebensumständen angepaßte Gerichtsbarkeit und hielten an der griechischen Auslegung des christlichen Glaubens fest, die sie von ihren Vorfahren übernommen hatten. Ihre unmittelbar westlichen Nachbarn, die Polen, hatten ein eigenes Königreich gebildet, das dem Heiligen Stuhl unter Innozenz IV. lehenspflichtig geworden war und sich gegen die östlichen Ausdehnungsbedürfnisse des Deutschen Ritterordens zur Wehr gesetzt hatte. Unter Kasimir III. dem Großen, dem letzten König aus dem Hause der Piasten, errang Polen eine bedeutende Stellung. Auch Kasimir ahmte das Beispiel Karls IV. nach. Er legte den Grundstock zur Universität von Krakau, seiner Hauptstadt, die nach westlichem Muster erbaut und eingerichtet worden war. Kasimir war ein Bauherr und Gründer neuer Städte und Dörfer – mit dem Bemühen, sein königliches Hoheitsgebiet den fortschrittlichen Reichen des Abendlandes anzupassen und gleichzustellen. Sein Neffe, König Ludwig I. von Ungarn, wurde sein Nachfolger. Um die ererbte Königsmacht aus der Ferne aufrechterhalten zu können, gewährte Ludwig den polnischen Adeligen Vorrechte, die sie unverzüglich ausnützten, indem sie die Ansprüche seiner mit Sigismund, dem Sohn Karls IV. verheirateten Tochter übergingen und ihre jüngere Schwester Jadwiga zwangen, ihr Verlöbnis mit Wilhelm von Habsburg aufzugeben und sich mit dem heidnischen Litauer-Fürsten Jagiello zu verheiraten. Die polnischen Adeligen wollten durch die Vereinigung der beiden Reiche eine wirksame Gegenwehr gegen das Vordringen des Deutschen Ritterordens schaffen und waren bereit, ihre litauischen Standesgenossen in ihre Reihen aufzunehmen – unter der Bedingung, daß sie das Christentum annähmen. Wladyslaw II. Jagiello, der Ehegatte Jadwigas, wurde der erste König des großen polnischen Reiches, das bedeutender war als das benachbarte Rußland. Diese beiden mächtigen slawischen Staaten des Nordens hatten ein südliches Gegenstück im serbischen Königreich, das durch die Be408
siegung der Bulgaren groß geworden war und unter Stephan Dušan seinen Höhepunkt erreichte. Dušan nannte sich nach der Eroberung Thessaliens, das er den immer schwächeren Kaisern von Byzanz abgerungen hatte: ›Imperator Rasciae et Romaniae‹. Das byzantinische Kaiserreich war nicht nur durch Verluste an die Nachbarn, sondern auch durch Teilungen so zersplittert worden, daß die einzelnen Teile den aus dem Osten andrängenden Türken des osmanischen Reiches kaum noch Widerstand entgegenzusetzen vermochten. Die Kaufherren von Genua und Venedig, die die Gegenden um ihre Handelsniederlassungen zu Hoheitsgebieten gemacht hatten, die fürstlichen Freibeuter, die noch aus der Zeit der Kreuzzüge über Teile des ehemals so gewaltigen Kaiserreichs unabhängig herrschten, nahmen nur ihre eigenen Belange wahr. Vergeblich baten die letzten Kaiser von Byzanz um Hilfe beim ungarischen Königshof und beim Heiligen Stuhl. Sie gerieten in Abhängigkeit von den Türken und waren gezwungen, Tribute zu zahlen, um überleben zu können. Aber auch dieser zitternde Frieden konnte nicht lange dauern. Kleinasien war von den Osmanen erobert worden, und der Versuch der Kaiser, sich der Türken gegen die Serben zu bedienen, hatte dazu geführt, daß Sultan Murad I. mit der Landnahme auf europäischem Boden begonnen hatte. Die alte Stadt Adrianopel wurde die Hauptstadt der Osmanen, die ihre Eroberung weiter fortsetzten und die Nachfolger Dušans auf dem Amselfeld vernichtend schlugen und ihre Gebiete zinspflichtig machten. War die türkische Eroberung Europas, diese neue gewalttätige Wanderung eines kriegerischen Volkes, noch aufzuhalten? III Nachfolger Karls IV. auf dem deutschen Kaiserthron wurde sein ältester Sohn, Wenzel IV. König von Böhmen und Schlesien. Auch er war, wie sein Vater, viel mehr mit der Stärkung der luxemburgischen Hausmacht beschäftigt als mit der Verwaltung des Deutschen Reiches. Er 409
befaßte sich auch kaum mit der Rückkehr der Päpste nach Rom. Ihm war es gleich, daß der Heilige Stuhl nun im Vatikanischen Palast hofhielt und nicht mehr im Lateran. Gregor XI. hatte die Verlegung des päpstlichen Sitzes nach Italien um des Kirchenstaates willen unternommen. Sein Nachfolger, Urban VI. mußte sich gegen den von den französischen Kardinälen erwählten Gegenpapst, Clemens VII. behaupten. Der geistliche Kampf wurde mit Waffen ausgetragen. Es fand eine Schlacht statt. Urban VI. behielt Rom und den Kirchenstaat. Aber Clemens legte die päpstliche Würde nicht ab. Er verhielt sich in Frankreich so, als wäre Gregor nicht nach Rom zurückgekehrt. Die Folge dieser päpstlichen Doppelherrschaft war eine weitere Spaltung der Christenheit, die sich nicht nur in Glaubensfragen äußerte, sondern auch in wirtschaftlichen Belangen. Wem gehörten die im Namen des Stellvertreters Christi auf Erden rechtlich und widerrechtlich eingeforderten Gelder, Urban VI. in Rom oder Clemens VII. in Avignon? Das Papsttum geriet immer mehr in Verruf. Die aufgeklärten Geistlichen und Gelehrten des Abendlandes hielten Ausschau nach einer Lösung – und Einsicht in sich selbst. In Deutschland entstanden Genossenschaften von Laien, die sich ihrer Frömmigkeit in selbstgewählter Zurückgezogenheit ergaben, wie ›Die Gottesfreunde‹ im Elsaß und ›Die Brüder und Schwestern vom gemeinsamen Leben‹ am Niederrhein. Die Angehörigen dieser gläubigen Vereinigungen wichen weder in ihrem Bekenntnis noch in ihren Glaubensübungen von den Vorschriften der Kirche ab. Sie wollten nur die Vermittlung unwürdiger Priester in ihrer Verständigung mit dem HERRN vermeiden. Die übelsten Mißstände der Kirche zeitigte der Verkauf erledigter geistlicher Ämter gegen hohe Zahlungen und der Ablaßhandel. Die Erlassung kirchlicher Bußstrafen gegen klingende Münze war ursprünglich als eine Beisteuer des Volkes zu den Kreuzzügen gedacht gewesen und war der Einbildungskraft der Gläubigen und Leichtgläubigen durch die Heraufbeschwörung der guten Werke Christi und der Heiligen nahegebracht worden. Aus dem Überschuß der göttlichen Güte, die die Kirche verwaltete, konnte jeder belohnt und entsühnt werden, der sein Scherflein zu den Bedürfnissen der Kir410
che beitrug. Was als Erlassung von belanglosen kirchlichen Bußstrafen geplant gewesen war, verwandelte sich in der Meinung des Volkes in die Abgeltung von Sündenstrafen. Das Heil wurde zur Ware, die ewige Seligkeit erhielt einen Marktwert. Auch in England, dessen König, Eduard III. im Krieg mit dem König von Frankreich lag, vollzog sich eine bedeutsame gesellschaftliche Umschichtung, nachdem die bäuerlichen und bürgerlichen Bogenschützen in der Schlacht von Crécy ihre überlegene Fechtweise bewiesen hatten. Ihre Langbogen waren beinahe ebenso wirkungsvoll gewesen wie die neuartigen, mit Pulver betriebenen Feldgeschütze. Die in ihren glänzenden Panzern für den Nahkampf geschulten französischen Ritter waren gegen den Angriff aus der Ferne hilflos. Die neue Kampfart bewährte sich so, daß immer mehr Einheiten von Bogenschützen herangebildet und eingesetzt wurden. Dem König erschien es nicht mehr wichtig, Ritter aufzubieten. Wer Bogen und Pfeil handhaben konnte, galt auf den Schlachtfeldern des beweglicher gewordenen Krieges weitaus mehr als die adeligen Herren, die nur mit Lanze und Schwert umzugehen verstanden. Diese militärische Gegebenheit führte zu politischen Änderungen in England. Es kam zu einer Trennung des Parlaments in ein Oberhaus und ein Unterhaus. Die hohen Adeligen behielten im ›House of Lords‹ die oberste Gerichtsbarkeit, aber sie mußten es sich gefallen lassen, daß der Wortführer des ›House of Commons‹, der ›speaker‹, im Namen aller Gemeinen seine Stellungnahme zu Forderungen der Krone oder den Anträgen der Lords kundtat. Der König unterwarf sich dem Steuerbewilligungsrecht des Parlaments und stimmte zu, daß die von ihm bewilligten Vorschläge und Bittgesuche, die ›petitions‹ der Gemeinen, Gesetz wurden. Die Pest, die den schwarzen Tod in ganz Europa verbreitet hatte, hatte unter der englischen Bevölkerung furchtbar gewütet. Arbeitskräfte waren seltener geworden. Die Hörigen, die ihren Wert auf dem Arbeitsmarkt erkannt hatten, konnten ihre Frondienste durch feste Geldgaben ablösen. Das unbestellte Pachtland war so billig geworden, daß es fleißigen Arbeitern möglich wurde, die Ablösung zu bezahlen und sich doch erhalten zu können. Als die Schafzucht zunahm und durch 411
die Wolle zur Hauptquelle des englischen Reichtums wurde, verschwand die Hörigkeit beinahe gänzlich. Während die Bogenschützen im Landkrieg erfolgreich waren, versagte die englische Flotte. Die Küsten Englands wurden geplündert. Der König, der sich nicht mehr auf den Adel stützen konnte, vergab seine Gunst an den Bauern- und Bürgerstand. Da England mit Frankreich im Krieg lag, ging es auch nicht an, daß das Volk weiter gezwungen wurde, die Sprache der Feinde zu benützen. Die Normannen hatten es unternommen, der angelsächsischen Bevölkerung das Französische aufzuzwingen. Eduard III. machte durch einen Parlamentsbeschluß das Englische zur Gerichtssprache. Es wurde zur Landessprache, nachdem nicht nur die Richter, sondern auch die Dichter sich seiner bedienten, besonders Geoffry Chaucer, dem die ›Canterbury Tales‹ zu verdanken sind.
Die langsam, aber sicher fortschreitende Umschichtung der englischen Gesellschaft wirkte sich auch jenseits des Ärmelkanals aus. Es gab zwar keine unmittelbare Verständigung zwischen den unteren Ständen der verschiedenen Länder. Die Verbindung von Land zu Land war ein sorgsam gehütetes Vorrecht der Landesherren und der hohen Würdenträger ihrer Hofhaltungen. Aber daß sich heftige und nachhaltige Volksbewegungen dennoch von einem Land auf das andere übertragen konnten, wurde schon damals offenbar. Der Anlaß war ein höfischer: die Vermählung der Schwester des deutschen Kaisers, Wenzels IV. mit König Richard II. von England. Diese Hochzeit einer luxemburgischen Prinzessin mit einem englischen König hatte mittelbar gewaltige Umwälzungen in Böhmen und schließlich im ganzen Deutschen Reich und der übrigen Welt zur Folge. Von seinem Lehrstuhl in Oxford hatte John Wycliffe gegen die weltliche Herrschaft der Kirche gepredigt und, vom Onkel des Königs, dem Herzog von Lancaster, geschützt, die Einziehung von Kirchengütern zugunsten verarmter Adeliger gefordert. Die Predigten Wycliffes gegen die Kirche wurden von Mal zu Mal heftiger. Er stellte der 412
verweltlichten Geistlichkeit das urchristliche Vorbild einer geistlichen ›Gemeinschaft der Heiligen‹ entgegen. Wycliffe übersetzte die Bibel ins Englische, um den Inhalt der Evangelien allen Gläubigen in ihrem Wortlaut zugänglich zu machen, und erklärte, daß die Heilige Schrift die alleinige Grundlage des christlichen Glaubens sei. Er verwarf das Papsttum und die Sakramentenlehre, vor allem die Verwandlung von Brot und Wein in das Fleisch und Blut des Heilands im Abendmahl. Er erklärte die Beichte und die Heiligenverehrung für unwirksam und verkündigte, daß das Seelenheil allein von der Vorherbestimmung abhängig sei. Die Bauernschaft, die um ihre Gleichberechtigung gegenüber dem Adel und um die Aufhebung der Frondienste kämpfte, berief sich, aufgerührt durch Wanderprediger, auf die von Wycliffe verkündete Gleichheit der Christen vor Gott. Der Aufstand der sogenannten ›Lollarden‹ konnte erst nach blutigen Kämpfen niedergeschlagen werden. Im Gefolge Annas von Böhmen, der Frau König Richards, war ein Student aus Prag nach England gekommen. Dieser Hieronymus wurde ein Schüler Wycliffes. Er brachte die Schriften seines Lehrers in seine Heimatstadt, übersetzte die Evangelien ins Tschechische und vermittelte seinem Freund Johann Hus seine Verehrung für den Oxforder Gottesgelehrten. Hus führte zwar den Titel Magister der Prager Universität, aber er war kein Forscher wie Hieronymus oder gar Wycliffe. Doch gerade der Mangel an Tiefgründigkeit erleichterte es ihm, die von Wycliffe ausgearbeiteten gelehrten Grundsätze in einfache Worte zu kleiden, die jedermann im Volke verständlich waren. Hus bezweifelte die Glaubenslehren als solche nicht. Er war jedoch davon überzeugt, daß der Papst und die Priester dem Staat und den Gläubigen unheilbares Verderben brächten. Die Predigten Johann Hus, die er in tschechischer Sprache hielt, wühlten nicht nur die Landbevölkerung auf, sondern auch den böhmischen Adel, der sich über die Glaubensbelange hinaus von der Entmachtung der Kirche persönliche Vorteile versprach. Wenzel IV. war ebenso wie der Prediger des Gotteswortes, der die Freigabe des Kelches für die Laien und die apostolische Armut der 413
Geistlichkeit forderte, der Kirche und ihren Priestern nicht zugetan. Als ihm auf der Jagd ein Mönch begegnete, spannte Wenzel den Bogen und schoß den Ahnungslosen tot. »Ich habe ein sonderbares Wild erlegt«, erklärte er. »Wenn alle so täten wie ich, wäre Böhmen bald frei von Ungeziefer.« Den später heiliggesprochenen Johann von Nepomuk ließ Wenzel in der Moldau ertränken, weil Nepomuk ihm nicht das Beichtgeheimnis der Königin hatte verraten wollen. Wenzel, der den Feinden der römischen Kirche persönlich zuneigte, fürchtete jedoch, daß ihn eine Förderung der Hussiten schädigen könnte. Er begann eine Schreckensherrschaft gegen sie unter dem Vorwand, daß ihre Aufstände gegen die Kirche den Frieden des Landes bedrohten. Seine Grausamkeit führte dazu, daß ein Unbekannter an eine Wand seines berühmten Palastes, des Hradschin, schrieb: »Wenzeslaus, alter Nero!« Der König lachte und ergänzte die Inschrift: »Wenn ich es bisher nicht war, werde ich es von nun an sein!« Dennoch verhielt sich Wenzel von diesem Zeitpunkt an zurückhaltender. Er wurde vorsichtig, als er von dem Unglück erfuhr, das seine fürstlichen Nachbarn, die Habsburger, betroffen hatte. Sie hatten den Wettbewerb gegen die Luxemburger nicht aufgegeben. Wenzel hatte die Grafschaft Luxemburg von seinem Onkel geerbt. Leopold III. der Herzog von Österreich, wollte seinerseits das Ursprungsgebiet seiner Hausmacht, die Schweiz, gewinnen. Er unternahm einen fürstlichen Kriegszug. Die Ausrüstung seiner von Kopf bis Fuß gepanzerten Ritter übertraf jegliches bisherige Aufgebot. ›Die Blüte der Ritterschaft‹ hatte sich in die prachtvollsten Erzeugnisse der Wiener Handwerker geradezu einschmieden lassen, um im bevorstehenden Kampf gegen gemeine Städter und Bauern hieb- und stichfest zu sein. In geschlossenen Reihen, mit eingelegten Lanzen wollten sie die Schweizer zu Paaren treiben, sie dafür bestrafen, daß sie sich in einer freien Eidgenossenschaft zusammengetan hatten, um sich ein für allemal von den erdrückenden Belästigungen der habsburgischen Steuer- und Gerichtsvollzieher zu befreien. Die Einwohner der sogenannten ›acht alten Orte‹, die Bürger von Zürich, Luzern, Bern und der ihnen angeschlossenen kleineren Städte, die innerhalb ihrer Stadtmauern die straffe Ordnung des 414
Zunftwesens eingeführt hatten und die Bauern der gebirgigen Umgebung des gleichmachenden Segens städtischer Verwaltung teilhaftig werden lassen wollten, waren durch die Erinnerung an ihren Sieg über Leopold I. von Österreich bei Morgarten nicht übermütig geworden. Kurz bevor die Ritter mit dem rasch zusammengetrommelten Aufgebot der Eidgenossen zusammenstießen, warfen sich die in aller Eile nur ärmlich geharnischten und notdürftig bewaffneten Bauern und Bürger in demütigem Gebet zu Boden. Sie vertrauten auf Gott als die einzige Hilfe. Als sie sich, entschlossen zum Verzweiflungskampf, erhoben, jagten die Ritter mit vorgestreckten Lanzen auf sie ein. Gegen diese eiserne Stachelwand schien es keinen Widerstand zu geben. Da sprang aus der den Tod erwartenden Schar seiner Landsleute Arnold Winkelried vor, umschlang mit seinen Armen so viele Lanzen, als er fassen konnte, stieß sie sich selbst in die Brust und schrie: »Der Freiheit eine Gasse!« Die Ritter, deren Lanzen in den Leib Winkelrieds drangen, stürzten von den Pferden. In die Gasse, die so entstanden war, schlüpften die Schweizer Eidgenossen. Sie brauchten ihre zu schwer bewaffneten Feinde nur aus den Steigbügeln zu heben, um sie zu wehrlosen eisernen Puppen zu machen. Unter den siebenhundert toten Rittern, die auf dem Schlachtfeld bei Sempach blieben, war Leopold III. von Österreich. Die Schweizer Eidgenossenschaft wurde im nachfolgenden Frieden als unabhängiges Land anerkannt. IV Kaum hundert Jahre nach dem Aufenthalt Marco Polos am glanzvollen Hof des Groß-Khans der Mongolen, der auch Kaiser von China war, gelang es einem von langer Hand vorbereiteten, sorgfältig ausgeführten chinesischen Aufstand, die Mongolen aus dem ›Reich der Mitte‹ zu vertreiben. Anführer dieser gewaltigen Volksbewegung war der Gründer der Ming-Dynastie. Er begann sogleich den Ausbau der großen Mauer, die China ein für allemal vor innerasiatischen Angrif415
fen schützen sollte. Um das uralte chinesische Gewerbe und den Handel wiederzubeleben, veranlaßte er Entdeckungsfahrten über See, die nach neueren Forschungen sogar zur Errichtung chinesischer Siedlungen an der Westküste Südamerikas geführt haben. Er sorgte für die Gründung von Umschlagplätzen auf den Inseln des Indischen Ozeans und trug auch zur Verbreitung der uralten verfeinerten Lebensform bei, die Ausdruck in der prächtigen Porzellankunst fand. Auch die von den alten chinesischen Philosophen gepredigte Glaubens- und Denkungsart fand weite Verbreitung. Nicht nur in China selbst, auch im fernöstlichen Raum Asiens wurden die Mongolen zurückgeschlagen. Auf den japanischen Inseln, deren Bevölkerung sich erst unter chinesischem Einfluß entwickelt hatte, war ein Staatswesen eigener Art entstanden, in dem unter der Oberhoheit des ›Mikado‹, des Kaisers, die Großen Grundherren und die ›Samurai‹, die Schwertritter, herrschten. Das japanische Kaiserreich hatte sich von der übrigen Welt abgesondert und eine Lebensform eigenen Gepräges geschaffen, die in Glaubensbelangen im wesentlichen dem Buddhismus ergeben war. Die Versuche der Mongolen, Japan zu erobern, wurden von japanischen Ritterheeren zunichte gemacht. Als die Mongolen schließlich eine gewaltige Flotte ausrüsteten, um überlegene Truppen zu landen, vernichtete ein Taifun, der von Japanern ›Kamikaze‹, Götterwind, genannt wurde, die angreifenden Schiffe. Die Mongolen, die ganz Asien beherrscht hatten, waren aus dem Osten vertrieben. Sie wandten sich dem Westen zu. Sie stellten sich unter die Führung Timur Lenks, der es unternahm, das große Beispiel Dschingis Khans nachzuahmen. Wieder ergossen sich bewaffnete Reiterscharen über Persien nach Syrien, zerstörten auf ihrem mordbrennerischen Zug das mühselig wiederaufgebaute Bagdad und brachen in Kleinasien ein. Sultan Bajezit, der ein vom ehrgeizigen Sohn Karls IV. König Sigismund von Ungarn, geführtes Kreuzheer bei Nikopolis vernichtet hatte, war gezwungen, die Vorteile, die er durch den Sieg errungen hatte, im Stich zu lassen und sich Timur Lenk in einer Schlacht zu stellen, um die kleinasiatischen Länder des Osmanenreiches zu schützen. Die Mongolen besiegten den Bajezit in der Schlacht bei Ankara. Er 416
wurde gefangengenommen. Dadurch war der türkischen Ausbreitung in Europa Einhalt geboten. Aber wenn auch die Macht der Sultane fürs erste aufgeteilt wurde, behielten sie doch ihre Besitzungen auf europäischem Boden und bereiteten die Gelegenheit vor, sich wiederzuvereinigen und zu neuem Angriff überzugehen. Timur Lenk seinerseits begnügte sich mit dem Sieg über die Osmanen und errichtete in Samarkand, der Hauptstadt seines vergrößerten Reiches, prächtige Bauten, deren Ruinen sich bis zum heutigen Tag erhalten haben.
Die wilden Angriffe der Türken, der plötzliche Aufmarsch der Mongolen, der sich segensreich für den europäischen Raum ausgewirkt hatte, war eine bedeutsame Warnung für die deutschen Kurfürsten und Landesherren. Im ganzen Reich hatten die Bündnisse der Städte gegen die Fürsten überhandgenommen. Der Sieg der Schweizer Eidgenossen bei Sempach ermunterte die süddeutschen Städte, wieder gegen die Fürsten aufzubegehren. Aber der vereinigten Macht eines Fürstenheeres waren die schwäbischen Städte nicht gewachsen. Die kriegerische Stimmung hielt an. Im Landfrieden zu Eger, den Wenzel IV. verkündete, wurde den Städten auferlegt, auf Bündnisse miteinander zu verzichten. Die Bürger fügten sich. Aber sie entzogen Wenzel jegliche Hilfe, als er von seinen eigenen Brüdern angegriffen und gefangengesetzt wurde. Die Feindschaft innerhalb der übermächtig gewordenen Familie der Luxemburger sagte den Kurfürsten zu. Sie setzten die Befreiung Wenzels durch, aber warteten nur auf einen günstigen Augenblick, sich seiner und damit auch des luxemburgischen Einflusses zu entledigen. Die Wahl eines neuen deutschen Königs war angesichts der drohenden Gefahren im Osten und der das Reich zerrüttenden Kirchenspaltung unerläßlich. Auf einer Herren- und Städteversammlung erklärten die vier rheinischen Kurfürsten Wenzel für abgesetzt und wählten Ruprecht von der Pfalz zum deutschen König. Aber seine Anerkennung blieb auch zweifelhaft, als Papst Benedikt XII. den auch Frankreich 417
stützte, die Wahl guthieß. Die untereinander feindlichen Luxemburger Brüder, Wenzel, der König von Böhmen geblieben war, Sigismund, der Markgraf von Brandenburg und König von Ungarn, und Jobst, der Markgraf von Mähren, waren zu mächtige Gegner. Sie hielten sich nicht an den Beschluß der rheinischen Kurfürsten. Wenzel hatte Giangaleazzo Visconti zum Herzog von Mailand und Reichsfürsten erhoben. Das wirkte sich aus, als Ruprecht nach Rom ziehen wollte, um eine Einigkeit des Abendlandes in der Türkenfrage herbeizuführen. Die Kaufherren von Florenz, die die Übermacht Mailands fürchteten, wurden zurückhaltend mit den Geldzuwendungen, die sie Ruprecht versprochen hatten. Seine zusammengewürfelten Truppen waren zu schwach gegen die geschlossenen Reihen des Mailänder Heeres. Es gelang ihm auch nicht, den Dogen von Venedig für sich zu gewinnen. Er kehrte nach Deutschland zurück und sah sich einem Bund bewaffneter Städte gegenüber. Die Einigkeit im Reich, die Ruprecht als redlicher Verwalter hatte herstellen wollen, scheiterte auch an der Glaubensspaltung. Wer war der rechtlich gewählte Papst? In einer Kirchenversammlung zu Pisa, deren Teilnehmer, von der Pariser Universität beeinflußt, erklärten, daß nicht der Papst, sondern die Gesamtheit der Bischöfe den göttlichen Willen in der Kirche vertrete, wurde ein neuer Papst gewählt. Aber die beiden abgesetzten Päpste verweigerten die Anerkennung der Kirchenversammlung. Nun gab es drei Päpste, die behaupteten, Stellvertreter Christi auf Erden zu sein. An der Prager Universität kam es zu einem bedenklichen Streit. König Wenzel war für die Entscheidung der Kirchenversammlung von Pisa. Aber da die Tschechen sich ihm anschlossen und entsprechend der neuen Universitätsverfassung im Rat drei Stimmen gegen die eine deutsche Stimme hatten, verließen die deutschen Lehrer und Schüler Prag und zogen nach Leipzig, wo der Markgraf von Meißen eine Universität gegründet hatte. Die Universität von Heidelberg, die Ruprecht gestiftet hatte, trat für den römischen Papst ein. Auch die Lehrer und Schüler der neuen Universitäten von Köln und Erfurt versuchten, eine gemeinsame geistige Grundlage zur Lösung der geistlichen Frage zu schaffen. Ruprecht war 418
wissenschaftlich gebildet. Er war ein gottesgelehrter Mann, aber den so verzweigten, zwiespältigen Strömungen im Reich, dessen König er nur dem Namen nach war, war er nicht gewachsen. Er starb frühzeitig. Der Tod Ruprechts von der Pfalz war nicht das wichtigste Ereignis dieses verhängnisvollen Jahres 1410. Während der deutsche König, die Landesherren und ihre gelehrten Berater darum stritten, welchen der drei Päpste sie anerkennen sollten, und sich nicht einigen konnten, und während die Städte sich durch Bündnisse und militärische Bewaffnung gegen fürstliche Machtansprüche zu sichern bemühten, hatte im östlichen Gebiet des Reiches eine immer heftigere, unterirdische Bewegung gegen den Deutschen Ritterorden eingesetzt. Es war im Grunde ein Klassenkampf der städtischen und bäuerlichen Bevölkerung gegen die Ordensritter, die das Land, das sie erobert hatten, als unbeschränkte Gebieter verwalteten. Wenn sie weniger erfolgreich gewesen wären, wäre es ihnen besser ergangen. Ihre Handelsgesellschaften und von Hörigen bebauten Güter bedrohten die Wirtschaft der Siedler. Auch die Adeligen, die als Gutsbesitzer ansässig geworden waren und von den Ordensrittern nicht als ebenbürtig behandelt wurden, suchten nach neuer Oberhoheit. Sie schlossen sich in der sogenannten ›Eidechsen-Gesellschaft‹ zusammen und regten den neuen König von Polen, Wladyslaw II. dazu an, in das Gebiet des Deutschen Ritterordens einzufallen. Über die Entscheidungsschlacht bei Tannenberg, in der das Ordensheer umzingelt und der Hochmeister erschlagen wurde, erhielt sich ein ausführlicher Bericht. Es war ein heldenmütiger Kampf stark gepanzerter Ritter gegen bewegliche Reiter und Bogenschützen, der mit einer vollkommenen Niederlage des Deutschen Ritterordens endete. Die Ordenschronik berichtete: »Großer Jammer kam über das ganze Land Preußen, denn Ritter und Knechte und die großen Städte fielen alle zu dem König von Polen ab.« Der Friede, der durch die Vermittlung König Sigismunds von Ungarn zustande kam, wurde nicht der ›ewige Friede‹ zwischen den einander bedrohenden Nachbarn, obwohl Sigismund, der auch Markgraf von 419
Brandenburg war, nichts unbequemer sein konnte als kriegerische Unruhen im Osten seiner Länder. Er wollte nach außen hin beide Gegner begünstigen. Eine zeitgenössische Chronik schilderte sein Wesen: »Er war nicht beständig in seinem Willen, denn er wollte heute so, morgen anders.« Gerade diesen Eindruck der Unbeständigkeit wünschte Sigismund hervorzurufen. Seine Absicht war es, sich und seine Pläne undurchsichtig zu machen. Er mußte sich vor allem vor seinem Bruder Wenzel, dem König von Böhmen, verstellen und sich trotz des Bruderzwistes den Einfluß der Familie zunutze machen. Er wollte deutscher König und Kaiser werden und, wie sein Vater, über ein geordnetes Kaiserreich herrschen, das sich jedoch über weitaus größere Gebiete erstrecken sollte. Es schien nötig, daß die Christenheit durch eine einzige starke Hand zusammengehalten werde. Die geschäftige Eile, die Sigismund bei seinen Bemühungen um die Einigung der Kirche und die Einigkeit im Reiche an den Tag legte, mochte auch durch die Nachrichten über erneute Rüstungen der Türken ausgelöst worden sein. Sigismund hatte Angst um sein Königreich Ungarn, Angst um Europa. Er war zu allem bereit, wenn es nur zur rechten Zeit geschah – vor dem nächsten gewaltigen Angriff der Türken. Mit der Vorbereitung zu seiner Königswahl betraute Sigismund einen großen Herrn, dessen Vorfahre sich schon als Königsmacher bewährt hatte. Der Burggraf von Nürnberg, Friedrich VI. von Hohenzollern, reiste im Auftrag des Königs von Ungarn von Kurfürst zu Kurfürst. Seine Aufgabe war gerade entgegengesetzt der seines Ahnherren aus der Zeit Rudolfs von Habsburg. Friedrich VI. sollte die auf die luxemburgische Macht eifersüchtigen deutschen Fürsten überzeugen, daß ein starker Fürst zum Kaiser gewählt werden müsse, wenn das Reich nicht zerfallen und eine leichte Beute der Türken werden sollte. Trotz seiner Geschicklichkeit gelang es Friedrich von Hohenzollern nicht, mehr als drei Kurfürsten für Sigismund zu gewinnen. Die anderen sahen wohl ein, daß nur die Luxemburger mächtig genug seien, sie zu schützen, aber sie wollten doch nicht zuviel Macht in der Hand eines Luxemburgers vereinigt wissen und wählten den jüngeren Bruder Sigismunds, den Markgrafen Jobst von Mähren, zum König. Dagegen 420
trat Wenzel von Böhmen auf. Er war sowohl gegen die Wahl des einen als auch des anderen Bruders. Aber niemand nahm seine Einwände ernstlich zur Kenntnis. Ein Jahr nach dieser luxemburgischen Doppelwahl starb Jobst plötzlich. Nun wählten die Kurfürsten Sigismund einstimmig. Der neue König hatte auch einen eigenen Papst bereit, der ihn als Kaiser bestätigte. Es war Johann XXIII. von dem es hieß, daß er in seiner Jugend Pirat gewesen sei. Aber dieser Papst wurde weder von den beiden anderen Päpsten noch von den Gegnern der Luxemburger anerkannt. Es blieb Sigismund nichts anderes übrig, als eine Kirchenversammlung einzuberufen, die drei Ziele hatte: Die Kirchenspaltung zu beseitigen, ei ne als ›Reformation‹ bezeichnete Verbesserung der kirchlichen Zustände herbeizuführen und für die Abstellung der Ketzerei zu sorgen. Die Kirchenversammlung wurde nach Konstanz am Bodensee einberufen. Es war die prächtigste Zusammenkunft, die es bisher gegeben hatte. Fünfhundert weltliche Fürsten kamen, eintausendfünfhundert Ritter mit zwanzigtausend Edelknappen, dreiunddreißig Kardinäle, siebenundvierzig Erzbischöfe und hundertsechsundvierzig Bischöfe, dreiundneunzig Weihbischöfe und etwa siebzigtausend Fremde, die an dem denkwürdigen Ereignis teilnehmen wollten. Das Gästebuch, das ein Bürger im Auftrage des Rates der Stadt Konstanz führte, berichtete auch von der Ankunft von zweitausend Angehörigen von siebenunddreißig Universitäten. Diese Vertreter der neuen Großmacht des Geistes waren nicht unabhängig. Die einzelnen Universitäten standen unter dem Einfluß der Herrscher, in deren Ländern sie lagen. Im Auftrage des Königs von Frankreich, Karl VI. beziehungsweise seines Onkels, der das noch immer im Kampf gegen England sich erschöpfende Königreich als Reichsverweser beherrschte, erschien der Kanzler der Pariser Universität Jean Charlier de Gerson. Er erklärte unverzüglich, daß Papst Johann XXIII. der von Sigismund eingesetzte Papst, nicht Papst bleiben könne. Ihm stimmten die meisten Anwesenden zu und begehrten eine öffentliche Erklärung, in dem Sinne, daß die Vereinigung der Fürsten 421
und Bischöfe über dem Papst stünde, wer immer auch den Heiligen Stuhl einnehme. Wie sollte abgestimmt werden, um zu einer Einigkeit zu gelangen? Der Konstanzer Bürger, der das Gästebuch für den Rat der Stadt verfaßte, schrieb: »Darum, daß man alles besser verstehen möge, ist zu wissen, daß alle Christenheit in fünf Teile geteilt ist, und diese heißen auf lateinisch ›nationes‹: Erstens Italici, das ist Römerland und die Lombardei, zweitens: Germanici, das ist Deutschland, drittens: Franconi, das ist Frankreich, viertens: Hispani, das ist Spanien, fünftens: Anglici, das ist England.« Diese erste öffentliche Verwendung des Begriffes ›Nation‹ erfaßte nicht die Nationen im geläufigen Sinn, mit ihren örtlichen Bräuchen und sprachlichen und rechtlichen Gemeinsamkeiten, sondern vielmehr die Einflußgebiete der jeweiligen, als Nation bezeichneten Hoheitseinheiten, wie zum Beispiel Deutschland, dem als Nation die Königreiche Böhmen, Ungarn, Polen, Dänemark, Schweden, Norwegen und Kroatien zugeschrieben wurden, das Land Litauen und das russische Land, die von der Donau durchflossenen Gebiete bis Griechenland, Land und Stadt Groß-Nowgorod, ›was davon christlich ist‹, und im Nordwesten Flandern ›und alles, was dort liegt‹. Die Einteilung der Christenheit in Nationen, die zur besseren Bewältigung der Tagesordnung der Konstanzer Kirchenversammlung geschaffen wurde, wurde später immer wieder zur Rechtfertigung mißverstandener ›nationaler Ansprüche‹ benützt, die keineswegs mit den tatsächlichen Machtbereichen ›nationaler Belange‹ in Einklang zu bringen waren. In der Kirchenversammlung ging es aufgeregt zu. Ein unvermutetes Ereignis folgte dem anderen. Die Gruppen der Mächte, die unter allen Umständen eine Verbesserung der kirchlichen Zustände herbeiführen wollten, beschlossen die Absetzung Johanns XXIII. Ein Habsburger, Herzog Friedrich, der nach Konstanz gekommen war, um Johann XXIII. zu verteidigen, versuchte mit ›seinem‹ Papst zu entfliehen. An der Flucht hinderte den abgesetzten Johann XXIII. Friedrich von Hohenzollern. Der aus dem Dunkel der Vergangenheit hervortretende Habsburger wurde geächtet, unterwarf sich in aller Ergebenheit 422
und kehrte bescheiden nach Österreich zurück. Um nur keine Zweifel an der Rechtsgültigkeit der Beschlüsse aufkommen zu lassen, erklärte die Kirchenversammlung einstimmig, ihre Gewalt unmittelbar von Gott zu haben und dem Heiligen Stuhl übergeordnet zu sein. Der zweite Papst, Gregor XII. entsagte freiwillig seiner Würde. Der dritte Papst, Benedikt XIII. wurde nicht nur abgesetzt, sondern auch feierlich verflucht. Viel schlimmer erging es dem wichtigsten Gast der Kirchenversammlung. Johann Hus war unter Zubilligung freien Geleites nach Konstanz gekommen, um sich zu rechtfertigen. Nicht nur der neugewählte König Sigismund, sondern auch der abgesetzte König Wenzel hatten Johann Hus Sicherheit des Lebens und Freiheit der Sprache zugesagt. Aber statt eines öffentlichen Gesprächs, in dem Hus seine Überzeugung festlegen wollte, daß nur die Heilige Schrift als Grundlage des Glaubens und der Christengemeinschaft gelten dürfe, fand ein öffentliches Verhör statt. Die Kirchenversammlung verlangte von ihm, daß er sich bedingungslos unterwerfe. Hus erwiderte mit der Erklärung, daß er für freie Forschung und persönlichen Glauben ein trete. Er wurde zum Widerruf aufgefordert. Als Antwort begehrte er, daß die Kirchenversammlung ihm unter Berufung auf die Schrift nachweise, daß er ein Ketzer sei. Johann Hus war schon vor seinem öffentlichen Auftreten in der Kirchenversammlung entgegen dem ihm zugesagten freien Geleit in martervoller Gefangenschaft gehalten worden. Nun galt auch die Zusicherung der Könige, daß sein Leben geschont werde, nichts. Er wurde zum Tode verurteilt. Auf seinem Weg zum Scheiterhaufen sagte er nichts anderes als: »Jesus Christus, Sohn des lebendigen Gottes, erbarme dich meiner!« Als man Hus nur dann die Beichte erlauben wollte, wenn er zuvor seiner Ketzerei entsage, erwiderte er: »So ist es nicht nötig, ich bin kein Todsünder!« Er bat, eine deutsche Predigt halten zu dürfen. Auch das wurde ihm versagt. Der Henker band ihn an ein aufrecht stehendes Brett, stellte einen Schemel unter seine Füße, legte Holz und Stroh um ihn, schüttete ein wenig Pech darüber und zündete es an. 423
Auch Hieronymus, der Johann Hus die Kenntnis von Wycliffes Schriften vermittelt hatte, wurde verurteilt und verbrannt. Es hieß: »Viele gelehrte Leute weinten, daß er verderben mußte.« König Sigismund, der Hus freies Geleit zugesichert hatte, ließ sich von der Kirchenversammlung von der Heiligkeit des Versprechens entbinden. Es entsprach seinem Wesen: »Er wollte heute so, morgen anders.« Aber was Sigismund wirklich gewollt hatte, erreichte er: die Wahl eines allgemein anerkannten Papstes, der unter dem Namen Martin V. den Heiligen Stuhl bestieg. Der erfolgreichste Nutznießer der Kirchenversammlung von Konstanz war Friedrich VI. von Hohenzollern. Sigismund, der sich seiner Kaiserwürde sicher fühlte und für seine ehrgeizigen Pläne mehr Geld brauchte, als er hatte, ließ sich vom reichen Burggrafen von Nürnberg eine gewaltige Summe vorstrecken und belehnte dafür seinen vertrauten Freund mit der Markgrafschaft Brandenburg, an die auch die Kurund Erzkämmerer würde gebunden war. Alles war so geschehen, wie Sigismund es vorbereitet hatte. Der neue Papst schloß die als ›Konkordate‹ bezeichneten Verträge zwischen Staat und Kirche mit den deutschen Fürsten, den Königen von England und Frankreich. Alle Unruhen schienen mit der Wurzel ausgerottet worden zu sein. Aber der Tod Johann Hus' hatte die entgegengesetzten Folgen. Solange er gelebt hatte, hatte er seine Anhänger zur friedlichen Verbreitung seiner Lehren ermahnt. Jetzt wurden die Leidenschaften durch niemanden und durch nichts mehr zurückgehalten. Böhmen wurde der Schauplatz eines wütenden Bürgerkrieges. Die blutigen Aufstände waren nicht nur gegen die Kirchenfürsten und den Königsthron gerichtet, sie wurden zu einer völkischen und gesellschaftlichen Kundgebung, da die deutschen Siedler in Böhmen sich um so mehr gegen die ›Hussiten‹ stellten, als diese ihre Forderungen in tschechischer Sprache vorbrachten. Der hohe böhmische Adel nahm für die Hussiten Partei. Unter der Führung von Johann Ziška eroberte der Prager Pöbel das Rathaus und warf alle Räte, deren er habhaft wurde, aus dem Fenster. Als Wenzel davon erfuhr, traf ihn der Schlag. Er starb einige Tage später. 424
Jetzt war Sigismund nicht nur Kaiser und König von Ungarn, sondern auch König von Böhmen. Aber er sollte erst siebzehn Jahre später Einzug in sein neues Königreich halten können. So lange wüteten die Hussiten-Kriege. Es gab zwei Arten von Hussiten: Die einen hießen Kalixtiner, nach dem Kelch des Abendmahles, die anderen nannten sich Utraquisten, weil sie das Abendmahl, Brot und Wein, ›sub utraque specie‹, wie es im Lateinischen hieß, auch für die Laien verlangten. Die Taboriten, die sich nach der von ihnen auf einen Berg erbauten, befestigten Stadt Tabor nannten, erklärten die Beschlüsse der Kirchenversammlung von Konstanz als ungültig. Sigismund wurde der Mörder Hus und Feind des böhmischen Volkes genannt. Während die böhmischen Adeligen sich der Kirchen- und Klostergüter bemächtigten, schlug das aufgeregte Volk nicht nur die deutschen Reichsheere, die es niederwerfen wollten, es unternahm auch selbst Züge in die umliegenden Länder. In diesen schweren Zeiten war Sigismund um so weniger erfolgreich, als nicht nur die Plünderzüge der Taboriten die Rechtssicherheit des Reiches gefährdeten, sondern auch die deutschen Fürsten gegen ihn auftraten. Er hatte Friedrich den Streitbaren aus dem Hause Wettin nach dem Aussterben der dort herrschenden Askanier mit dem Kurfürstentum Sachsen-Wittenberg belehnt. Aber die anderen Kurfürsten unter der Führung Friedrichs von Hohenzollern, der sich mit ihm zerworfen und mit Polen verbündet hatte, waren durch die Niederlagen der Reichsheere im Kampf gegen die Taboriten so aufgebracht, daß sie die Absetzung Sigismunds forderten. Er konnte sich nur mühsam behaupten. Ein sengender und mordbrennender Zug von Taboriten nach dem anderen brach in die Nachbargebiete ein. Sie kämpften nicht nur aus Gottesliebe und Glaubensbegeisterung. Die bäuerlichen Fußtruppen, die von Wagen mit Geschützen und Munition, von Weibern und Kindern begleitet wurden, errichteten Wagenburgen, von denen aus sie die umliegenden Schlösser und Städte angriffen, um die Gleichheit nicht nur im Glauben, sondern auch im Besitz und der gesellschaftlichen Stellung zu erkämpfen. 425
Das unaufhörliche Aufgebot von Reichstruppen gegen die Hussiten fiel Sigismund immer schwerer, da die gleichzeitigen Angriffe der Türken gegen die Grenzen Ungarns unausgesetzte militärische Bereitschaft seiner ganzen Macht erforderten. Er klagte: »Die Krone kann nicht mehr zu Lust und Ehre getragen werden, sie ist für den König eine schwere, fast niederdrückende Würde geworden.« V In Frankreich gab es keinen ›Erlaß zugunsten der Fürsten‹, aber die Onkel Karls VI. die Herzöge von Burgund, Anjou und Berry, genossen ihre Herrschaft während seiner Minderjährigkeit, als wären sie dazu berechtigt. Die zur Fortführung des endlosen Krieges unerläßlichen Aufwendungen konnten nur durch neue Steuern gedeckt werden. Die Bürger der Städte begehrten dagegen auf. In Paris bemächtigte sich das Volk Tausender im Rathaus lagernder Bleihämmer. Die Aufrührer nannten sich nach diesen Waffen ›Maillotins‹. Es kam zu Scharmützeln. Die ›Hammermänner‹ wurden blutig besiegt. Auch in Flandern hatte es Volksaufstände gegeben. Aber seit die reiche Grafschaft gleichzeitig mit der Freigrafschaft Burgund durch Erbschaft und Heirat an Herzog Philipp den Kühnen gekommen war, hatte ein gewaltiger politischer und wirtschaftlicher Aufschwung in den unter dem Sammelnamen ›Niederlande‹ bekannten Gebieten begonnen. Karl VI. der sich für kurze Zeit seiner zudringlichen und übermächtigen Onkel zu entledigen vermochte, erfreute sich der Alleinherrschaft nicht lange. Er fiel plötzlich in Wahnsinnszustände, die schubweise auftraten und ihn unfähig machten, die Königsgewalt auszuüben. Seine Onkel bemächtigten sich wieder der Staatsführung. Die Kämpfe um die Macht, die sie untereinander und gegen die Brüder Karls VI. führten, die ihrerseits aus der verworrenen Lage Nutzen ziehen wollten, erschöpften ganz Frankreich. Während ein Vetter Karls Anspruch auf das Königreich Sizilien erhob und ein Bruder das ›Königreich Adria‹, das nur in Landkarten eingezeichnet war, erwerben 426
wollte, bereitete sich der andere Bruder, der mit der Tochter Giangaleazzo Viscontis verheiratet war, darauf vor, Genua zu erobern. Der Sohn und Nachfolger Philipps des Kühnen aber, Johann von Burgund, fühlte sich zu den Engländern hingezogen. Er war für friedfertigen Handel und nicht für Krieg. Um seine Belange durchzusetzen, ließ er den Herzog von Orléans, den Bruder Karls VI. ermorden. An die Spitze der Orléans-Partei trat nun Bernhard von Armagnac, der Schwiegervater des Ermordeten, um die Rechte seines Enkels wahrzunehmen. Nach ihm wurden die Armagnacs benannt, die die Anhänger des Herzogs von Burgund bekämpften. Der Kampf der beiden fürstlichen Lager zerriß das ganze Land. Die Pariser Zünfte, unter der Führung Caboches, zwangen den König zu Verwaltungsmaßnahmen zugunsten der Zünfte. Aber erst, als die Armagnacs die Cabochiens besiegten, trat vorübergehend Ruhe ein. Der Vorteil, den seine Gegner errangen, veranlaßte Johann von Burgund, der Paris hatte verlassen müssen, ein Bündnis mit England zu schließen. Er forderte Heinrich V. von England auf, in Frankreich einzufallen. Während die Kirchenversammlung in Konstanz tagte, landete Heinrich V. an der Seine-Mündung. Ein vielfach überlegenes französisches Ritterheer war ausgezogen, den Eindringling zu vernichten. Wieder erlagen die schwer beweglichen, gepanzerten Ritter dem Angriff der englischen Bogenschützen, die an keine feste Stellung gebunden waren und ihre Ziele aus der Ferne erreichen konnten. Das Heer des noch als ›Dauphin‹ bezeichneten jungen Karl VII. wurde völlig geschlagen. Während Heinrich von England die Normandie eroberte, führte der Connétable Graf Armagnac seinen erbarmungslosen Kampf gegen alle Anhänger Johanns von Burgund weiter. Aber bei einem nächtlichen Einfall gelang es den Burgundern, in Paris einzudringen und den Connétable und mehr als tausend seiner Anhänger zu ermorden. Der sechzehnjährige Dauphin entfloh nach Bourges, seine Mutter, Königin Isabeau, mit dem geisteskranken König nach Troyes. Sie wollte mit Johann von Burgund Frieden schließen. Der Herzog aber glaubte nicht an den Wert eines Friedens ohne die 427
Zustimmung des Dauphins. Er suchte um eine persönliche Zusammenkunft mit Karl an. Auf dem Weg zur Brücke von Montereau fiel er einem Mordanschlag zum Opfer. Sein Sohn, Philipp der Gute, wollte den Frieden um jeden Preis. Er vermittelte zwischen Königin Isabeau und Heinrich V. Im Vertrag von Troyes wurde festgelegt, daß der König von England Katharina, die Tochter Karls VI. heiraten und der rechtliche Nachfolger auf dem Thron Frankreichs werden sollte. Der Dauphin wurde von der Thronfolge ausgeschlossen. Paris öffnete Heinrich V. die Tore. Eine Versammlung der Generalstände anerkannte ihn als König von Frankreich. Der Krieg schien zu Ende zu sein, als Heinrich plötzlich starb. Sein Bruder, der Herzog von Bedford, übernahm die Herrschaft für Heinrich VI. den einjährigen Sohn des Verstorbenen, in Frankreich, während sich der andere Bruder Heinrichs V. der Herzog von Gloucester, mehr mit seinen Vergnügungen und den Wissenschaften als mit seinem königlichen Mündel beschäftigte. Der einzige, der aus den verworrenen Verhältnissen nachhaltig Nutzen zog, war Johann von Burgund. Er kaufte die Grafschaft Namur und erwarb Hennegau, Holland und Seeland. Der Tod eines Vetters verhalf ihm zu Brabant und Limburg. Das Herzogtum Burgund, dessen Teile Lehensstaaten sowohl des deutschen Kaisers als auch des französischen Königs waren, war zu einem gewaltigen, in sich geschlossenen Hoheitsgebiet geworden und wurde das reichste Land im europäischen Raum.
Der Vertrag von Troyes, der ihn von der Thronfolge ausgeschlossen hatte, hatte Karl VII. den ›König von Bourges‹, nicht dazu bestimmt, seine Ansprüche aufzugeben. Der unerbittliche Familienzwist kam ihm zugute. Da Königin Isabeau sich mit dem Herzog von Burgund verbündet hatte, traten die anderen kapetingischen Fürstenhäuser, die Anjou, die Orleans und die Bourbon, auf die Seite des ›Dauphins‹. Dennoch wurden seine Truppen wiederholt von den Engländern, unter der Führung des Herzogs von Bedford, geschlagen. Am Hof Karls 428
VII. herrschte Unfriede und Eifersucht. Sein Günstling, La Trémoille, war zwar fähig, der höfischen Ränke Herr zu werden, aber unfähig, die militärischen Belange zu verwalten. Die Engländer drangen immer weiter vor. Schließlich machte sich Bedford an die Belagerung von Orleans. Wenn diese Stadt fiel, hinderte die siegreichen Engländer nichts mehr an der Eroberung der südlicher gelegenen Gebiete Frankreichs. In dieser verzweifelten Lage erschien ein junges Bauernmädchen vor dem König. Diese Jeanne d'Arc hatte es nicht leicht, vorgelassen zu werden. Sie hatte keine andere Empfehlung als ihre eigene Persönlichkeit und die Überzeugung, die sie ausstrahlte. Aber wer konnte ihr glauben, daß ihr Gesichte erschienen seien, daß sie geheimnisvolle Stimmen gehört habe? Hatte Gott wirklich ein einfaches lothringisches Bauernmädchen erkoren, den Dauphin auf den Thron zu führen? Im Grunde genommen war es Karl VII. gleichgültig, was geschah. Er hatte das Gefühl, auf verlorenem Posten zu stehen. Er war körperlich schwächlich, Entscheidungen waren ihm zuwider, was immer er in seinem jungen Leben getan hatte, war falsch gewesen. Er glaubte nicht an Mutterliebe. Königin Isabeau, seine Mutter, hatte ihn verlassen. Er fühlte sich von aller Welt verraten und auch von Gott. Er mochte es als Hohn und Spott des Schicksals empfunden haben, daß ihm Gott, der ihm mit einem gut ausgerüsteten Heer hätte helfen können, ein Mädchen zu Hilfe sandte, das als Mann verkleidet war und einen Harnisch trug. Er befahl, Jeanne d'Arc langwierigen Prüfungen zu unterziehen. Sie konnte auch von den Engländern gesandt worden sein, um noch mehr Verwirrung an seinem Hofe zu stiften. Karl VII. ließ sich auch nicht durch den Ausgang der Prüfungen überzeugen. Aber einige Hauptleute, darunter der Herzog von Alenon und La Hire, erklärten sich bereit, das Wagnis zu unternehmen, zu dem sie das seltsame Mädchen aufforderte. Sie unterstellten sich dem Befehl Jeanne d'Arcs und zwangen die Engländer zur Aufhebung der Belagerung von Orleans. Ganz Frankreich sprach von Jeanne nur mehr als von der ›Jungfrau von Orleans‹. Das Volk war außer sich. Frankreich war in seiner Not nicht verlassen worden. Ein Wunder war 429
geschehen. Die vollkommene Entmutigung wich einer Begeisterung, die noch wuchs, als die Jungfrau den englischen Heerführer Falstaff in einem Gefecht schlug und Karl VII. in einem tollkühnen Zug nach Reims führte, wo er feierlich gekrönt wurde. Jeanne d'Arc hatte ihr Versprechen erfüllt. Ihr Dauphin war König geworden. Jetzt wollte sie ihn nach Paris führen. Die Stadt lag seinem Zugriff offen. Er konnte sich nicht entscheiden, den Befehl zu geben. Er wartete auf ein neues Wunder, das ohne sein Zutun geschehen würde. Die Jungfrau brach auf eigene Faust auf und drang mit einer Freischar in die von den Burgundern belagerte Stadt Compiègne ein. Sie war des Sieges gewiß. Der neue Erfolg hatte ihre eigenen Zweifel an ihrer Gottesgesandtheit verscheucht. Sie unternahm einen Ausfall, um das große, von ihr gesetzte Beispiel von Orleans zu wiederholen. Sie wurde gefangengenommen und den Engländern ausgeliefert. Das Schicksal der Jungfrau von Orleans wurde nicht nur Gegenstand weltberühmter Theaterstücke und geschichtlicher Abhandlungen, sondern auch von geistlichen Gerichten untersucht, die das unter dem Vorsitz des Bischofs Cauchon über sie verhängte Urteil als ungesetzlich aufhoben. Jeanne d'Arc war als Ketzerin verurteilt und in ähnlicher Weise verbrannt worden wie Johann Hus. Ihr Auftreten im Französisch-Englischen Krieg aber war von entscheidender Bedeutung. Sogar die Bevölkerung der Normandie trat jetzt in Aufstand gegen den König von England.
In der Friedensversammlung von Arras einigte sich der Nachfolger Johanns, Philipp der Gute von Burgund, mit Karl VII. Der König von Frankreich entband den Herzog aller Lebenspflichten. Philipp konnte das Lager wechseln. Er hatte es nicht mehr nötig, mit England auf gutem Fuß zu stehen. Die Wolle, die die Webereien seiner Länder brauchten, konnte aus dem fernen Kastilien bezogen werden. Es war ein weiterer Weg zur See, die Ware war minder gut, aber sie mußte nicht mit politischen Zugeständnissen aufgewogen werden. Die niederländi430
schen Gewerbetreibenden verbesserten ihre Kunstfertigkeit und waren so in der Lage, mit den englischen Handwerkern und Webern in Wettbewerb zu treten. Sie standen unter dem Schutz eines mächtigen Herrschers, der seine Söldner entließ und sich nicht den Kopf darüber zerbrach, daß sie in Banden das benachbarte Frankreich verheerten. VI Im Königreich Böhmen war der grausame Kampf der Hussiten durch eine unversöhnliche Spaltung im eigenen Lager beendigt worden. Die Taboriten waren den Utraquisten in einem blutigen Gefecht erlegen. Nun gelang es dem böhmischen Adel, der sich an Kirchen- und Klostergut bereichert hatte, die Oberhand zu gewinnen. Diese großen Herren verwalteten die politische Macht. Die Folge davon war die Schwächung des Königtums in Böhmen und eine Verminderung des Einflusses. Der luxemburgische Stern war im Versinken. Das Deutsche Reich wurde ärmer. Es war durch den Aufschwung der Herzöge von Burgund um wesentliche Einflußgebiete gekommen. Dazu kam, daß auch das Herzogtum Lothringen an eine französische Familie fiel, als sich die Erbin der Grafen von Elsaß, die noch von Kaiser Heinrich III. mit Lothringen belehnt worden waren, mit René von Anjou vermählte. In den letzten Jahren seiner Herrschaft befand sich in der Gesellschaft Kaiser Sigismunds ›ein ernster stattlicher Mann, der nie ohne Schwert an seiner Seite gesehen wurde‹. Er hieß Albrecht, sein Rang war Erzherzog von Österreich. Er war der erste Habsburger, der von allen Zeitgenossen ›als tüchtige Persönlichkeit‹ bezeichnet wurde. In vollkommener Bescheidenheit stellte Albrecht seine Fähigkeiten in den Dienst des Kaisers. Er verbarg seinen Ehrgeiz so gut, daß niemand es für Ehrgeiz hielt, als er auf die Frage, warum er, ein Habsburger, dem Luxemburger Sigismund so ergeben diene, mit schlichter Einfachheit erwiderte: »Weil ich die Tochter des Kaisers heiraten will.« Elisabeth von Luxemburg war die Erbin aller Kronen, die das niederländische Geschlecht in hundert Jahren auf sich vereinigt hatte. 431
Aber das vergaß jeder, der den von Liebe erfüllten Blick Albrechts auf Elisabeth ruhen sah. Nur Sigismund vergaß es nicht. Aber er fühlte sich alt. Nachdem er bald fünfzig Jahre König von Ungarn, zwei Jahrzehnte Kaiser und nach dem Tod seines Bruders Wenzel mehr als ein Jahrzehnt König von Böhmen gewesen war, ohne allerdings auf dem Hradschin thronen zu können, verzweifelte er daran, die Einheit des Reiches herstellen zu können, um die Christenheit vor den immer heftiger andrängenden Türken zu retten. Er hatte keinen männlichen Erben. Die Vereinigung Österreichs mit den Königreichen Ungarn und Böhmen erschien Sigismund als die beste Gewähr für die Sicherheit Europas. Er verheiratete seine Tochter mit Albrecht von Habsburg, den er ›den Spiegel der Ritterschaft‹ nannte. Nach dem Tode Sigismunds wurde Albrecht II. als Erbe von Luxemburg zum deutschen König gewählt. Er war gleichzeitig König von Böhmen und König von Ungarn geworden. Seine Wahl war einstimmig und wurde auch von den Städten begrüßt. »Ich hege die Hoffnung«, schrieb der Mainzer Bürger Wilhelm Becker in einem Brief, »daß das Reich einen mächtigen Herrscher erhalten hat, der Friede und Recht von neuem herstellen und die Fürsten und anderen selbstsüchtigen Gewalten zu ihren Pflichten zurückführen wird. Albrecht ist ein gewaltiger Herr, im Krieg erfahren, unermüdlich tätig und ausgerüstet mit Volk und Geld.« Im Jahre der Krönung Albrechts zum deutschen König fielen die Türken in Ungarn ein. Er schlug sie zurück. Aber auf der Rückkehr nach Wien erlag er einer Krankheit, die er sich während des Feldzuges zugezogen hatte. Der erste Habsburger, der alle Länder des späteren Kaiserreichs beherrscht hatte, war nur zweiundvierzig Jahre alt geworden. Erst nach seinem Tod wurde ihm ein Sohn geboren, der Ladislaus Posthumus genannt wurde.
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Weltreiche im Werden I Der Gelehrte Aeneas Silvius Piccolomini, der spätere Papst Pius II. beschrieb in einem Brief an einen Basler Freund die Stadt Wien, die mit einem Male die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zog. Wien war eine Fürstenstadt gewesen. Es stand knapp davor, eine Kaiserstadt zu werden, eine Hauptstadt, die sich auf große Zeiten vorbereitete. »Die Häuser tragen ihre Giebel hoch, sie sind mit Geschmack und Pracht verziert, meist von innen und außen bemalt, durchaus von Stein. Wo du zu einem Bürger gehst, meinst du, in eines Fürsten Haus zu treten. Die Häuser der Bischöfe und des hohen Adels sind frei, und Stadtbehörden haben keine Gerichtsbarkeit in ihnen. Die Straßen und Gassen sind mit hartem Gestein gepflastert, das den Wagenrädern sehr gut widersteht.« Die Straßen der ehemaligen römischen Lagerstadt Vindobona wurden in diesem Jahr häufiger befahren als jemals zuvor. Erst kam Friedrich V. Herzog von Steiermark, der durch den Tod Albrechts plötzlich das Haupt des Hauses Habsburger geworden war. Der bescheidene Mann hatte nur wenig Gefolge und kärgliches Gepäck. Nach ihm traf mit großem Gefolge und zahllosen Gepäckwagen sein unbescheidener Bruder, Al brecht VI. ein. Das Testament ihres Vaters hatte Friedrich gezwungen, das Herzogtum Steiermark mit Albrecht zu teilen. Nun wollte Albrecht auch Mit-Vormund des kleinen Königs Ladislaus Posthumus werden und gemeinsam mit seinem Bruder die Königreiche Böhmen und Ungarn beherrschen. Kaum hatten sich die beiden Herzöge, die durchaus entgegengesetzter Natur waren, in der Wiener Hofburg eingerichtet, als eine Gesandt433
schaft nach der anderen durch die Stadttore fuhr. Flaggen mit den Wappen und Farben der Fürsten des ganzen Deutschen Reiches, Fahnen mit den päpstlichen Farben wehten von den Gasthöfen. Der unbekannte Herzog von Steiermark, Friedrich V. war, ohne daß er sich darum beworben hätte, zum deutschen König gewählt worden. Die Kurfürsten waren nicht durch eine plötzliche Neigung für das Haus Habsburg dazu bestimmt worden. Angesichts der bedrohlichen Lage im ganzen Reich erschien es keinem von ihnen genehm, sich um die Königswürde zu bewerben. Der Vormund des kleinen Ladislaus Posthumus sollte sich mit dem böhmischen Hexenkessel auseinandersetzen und sich gegen die Türken behaupten, wenn er seinem Mündel den Thron von Ungarn erhalten wollte. Das dritte Erbgut Ladislaus' Posthumus, das Herzogtum Österreich, hatte Friedrich ohnehin schon in Händen. Würde er es seinem Mündel aushändigen, wenn Ladislaus Posthumus großjährig geworden war? Gutwillig keinesfalls. Der spätere Unfriede im Hause Habsburg schien den Kurfürsten eine genügende Sicherstellung dafür zu sein, daß die Habsburger nicht übermächtig werden würden. Die Wahl Friedrichs V. von Steiermark, der sich als deutscher König Friedrich III. nannte, war ein Bauernfang. Ein peinlicheres Amt, als unter den gegebenen Umständen König des Deutschen Reiches und Verwalter einer so gewaltigen Vormundschaft zu sein, gab es nicht! Friedrich III. der keinen geringeren Berater hatte als Aeneas Silvius Piccolomini, tat von Anfang an das Klügste: er beobachtete den Grundsatz des geringsten Widerstands. Er war kaum deutscher König geworden, als sich die ungarischen Großen über das Erbrecht seines Mündels hinwegsetzten und den König von Polen, Wladyslaw III. zu ihrem König wählten. Das schien übrigens vom Standpunkt der Ungarn eine ausgezeichnete Wahl gewesen zu sein, denn Wladyslaw schloß mit den Türken unverzüglich einen zehnjährigen Waffenstillstand. Das Königreich Böhmen überließ Friedrich scheinbar gleichmütig dem Reichsverweser, den die böhmischen Stände haben wollten: Georg von Podiebrad. Aber auch die Verwaltung des Herzogtums Österreich behielt Friedrich nicht ungestört. In jede Verfügung, die 434
er erließ, mischte sich sein Bruder Albrecht ein. Jedem seiner Befehle folgte ein Gegenbefehl Albrechts. In Wien besangen die Gassenjungen die träge Widerstandslosigkeit des Königs, den nichts, was um ihn geschah, aus der scheinbar unerschütterlichen, heiteren Ruhe bringen konnte. Der Spottvers, der sich erhalten hat, lautete: »Er saß also still und sah nur zu – er fragte nit wie oder wu!« Friedrich saß still und sah nur zu, als Wladyslaw III. König von Polen und Ungarn, den Waffenstillstand gegen die Türken brach, sie besiegte und nach dem Sieg in neuen Kämpfen gegen sie fiel. Er saß still und sah nur zu, als die Adeligen Ungarns, Böhmens und Österreichs die Herausgabe des jungen Ladislaus forderten, damit sie ihn und seine Länder in seinem Namen ohne Vormund beherrschen könnten. Friedrich verhandelte und zog die Verhandlungen in die Länge. Er wich den Forderungen aus, ohne sie abzulehnen und ohne den Aufrührern nennenswerten Widerstand entgegenzustellen. Aber als ihm der Aufenthalt in Wien doch zu unruhig wurde, entzog er sich den Gefahren durch eine Reise nach Rom. Während es schien, daß Friedrich alle Macht für immer aufgegeben habe, begab er sich zum Papst, um sich zum Kaiser krönen zu lassen. Als der neue Kaiser nach Wien zurückkehrte, fand er die Stadt von seinem Bruder besetzt und zog sich in die kleine Festung Wiener Neustadt zurück, um zu warten, bis sein Bruder einen Ausflug in die Steiermark machen und ihm so die Fahrt nach Wien kampflos ermöglichen würde. Seine Bereitschaft zur Friedfertigkeit nützte Friedrich III. nichts. In Wiener Neustadt, damit beschäftigt, seine geliebten Bücher zu lesen und die Streitigkeiten im Deutschen Reich durch Briefe zu schlichten, fand er sich plötzlich von einem mächtigen Heer belagert, das die Stände von Österreich, Böhmen und Ungarn gegen ihn aufgestellt hatten. Er konnte seine Freiheit nur erkaufen, indem er zustimmte, daß sich die Aufständischen ihren unmündigen Herrscher Ladislaus Posthumus holten. Friedrich hatte Zeit. Sein Bündnis mit der Zeit war das einzige verläßliche Bündnis, das er einging. Er wartete geduldig darauf, daß seine 435
Feinde schließlich von ihm ablassen und einander zerfleischen würden. Wenn er in dem einzigen Wettlauf, in den er sich einließ, dem Wettlauf der Zeit, unterliegen würde, würde der Sohn, den er sich aus seiner Ehe mit der schönen Prinzessin Eleonore von Portugal erhoffte, wiedergewinnen, was er selbst verloren hatte. Sein Sohn würde die Habsburger größer machen, als sie jemals gewesen waren. Mit dem Traumbild einer glücklichen Zukunft für seine Familie vor dem inneren Auge nahm Friedrich das verworrene Treiben der Außenwelt in vollkommener Gelassenheit hin. Er ließ Georg von Podiebrad für Ladislaus im Königreich Böhmen so herrschen, als lebten weder Ladislaus noch er selbst. Er ließ Johann Hunyadi das Königreich Ungarn im Namen Ladislaus' gegen die Türken verteidigen. Die ewigen Umtriebe in Böhmen und die Gefahr der in unaufhörlichen Wellen gegen die Grenzen Ungarns anstürmenden Türken machten es für Friedrich durchaus nicht verlockend, seine fragwürdige Macht als Kaiser ins Treffen zu führen, um seine Vormundschaft über Ladislaus auszuüben. Als der Papst ihn aufforderte, Hunyadi zu Hilfe zu kommen, zeigte Friedrich dem Gesandten des Heiligen Stuhls die leere Hand. Er fragte: »Kann ich ohne Geld, ohne Waffen, ohne Anhänger gegen die Türken ziehen?« Die zeitgenössischen Berichterstatter klagten über Friedrich: »Der Kaiser, der war ein unnützer Kaiser. Er verstand nicht, Kriege und Mißhelligkeiten in dem Land niederzulegen … Man hatte von ihm keine andere Hilfe, als was er mit Briefen ausrichten konnte.« Friedrich III. herrschte weder mit dem Zepter noch mit dem Schwert. Sein Werkzeug war die Feder. Er herrschte nicht in Wirklichkeit, aber in der Einbildungskraft. Unbekümmert um alle Schicksalsschläge, ließ er sich von seinen Schreibern die Feder spitzen, um Tag für Tag fünf Buchstaben mit steiler Handschrift aufzeichnen zu können. Es waren die Aristokraten des Alphabets, die Vokale: ›A. E. I. O. U.‹ Der Kaiser vertraute nur ganz engen Freunden an, was er mit dieser Aufschreibung meinte. ›A. E. I. O. U.‹ waren die ersten Buchstaben von fünf Wörtern, die einen Satz bildeten, und dieser Satz war ein Beschwörungssatz, eine Behauptung, für die der machtlose Kaiser keinen an436
deren Beweis erbringen konnte, als seine Zuversicht. Die fünf Worte lauteten: »Austriae est imperare orbi universo« – Österreichs Bestimmung ist es, den Erdkreis zu beherrschen. II Ein ähnlicher Träumer wie Friedrich war der nahe Verwandte seiner Frau, Prinz Heinrich von Portugal, der den geschichtlichen Beinamen ›der Seefahrer‹ erhielt, obwohl er nie selbst eine Seefahrt unternommen hatte. Heinrich hatte den leidenschaftlichen Wunsch, die Geheimnisse der Erde zu ergründen. Die Landkarten, die er kannte, waren Ergebnisse der Erfahrung. Sie zeigten nicht mehr als die von Forschern errechneten und von Reisenden beschriebenen Länder und Küsten. Auch das Meer galt als begrenzt, denn es hieß, daß das Wasser, je weiter es sich vom Land befand, an Salzgehalt zunehme, so daß es von Schiffen nicht befahren werden könne. Überdies galt die Meinung, daß es jenseits des Bekannten nur wüstes Land geben könne, da die südliche Sonne die Pflanzenwelt verbrenne. Heinrich von Portugal glaubte nicht an diese entmutigenden Erkenntnisse. Er sandte Schiffe aus und konnte sich zu seiner unternehmungslustigen Einbildungskraft beglückwünschen, als er den Bericht empfing, daß die bisherigen Forscher fehlerhaft gedacht hatten. »Zahllos wohnen am Äquator schwarze Völkerschaften, und zu unglaublicher Höhe erheben sich die Bäume. Denn gerade im Süden steigert sich die Kraft und Fülle des Pflanzenwuchses.« Bald entdeckten die Schiffe Heinrichs des Seefahrers fruchtbare grüne Hänge an einer fernen Küste, ein Vorgebirge, das sie ›Cap Verde‹ nannten. Sie landeten, und die Schwärmerei des Prinzen begann Zinsen zu tragen. Seine Schiffe brachten Goldstaub, Moschus und Elfenbein nach Portugal und auch die ›schwarze Fracht‹, die Sklaven, die von den Kaufleuten gefangen oder auf den Sklavenmärkten gekauft wurden und eine der wichtigsten Handelswaren darstellten. Der Weg an Afrikas Küste entlang war vorgezeichnet. Die Erde war 437
größer und reicher, als die Bewohner des Mittelmeerraumes und Europas angenommen hatten. Man mußte sich nur die Erfahrungen zunutze machen, sie wissenschaftlich verwerten, um sie in neuen Fahrten auswerten zu können. Der Ausblick in die Weite blieb fürs erste den portugiesischen Schiffern vorbehalten, aber die Nachricht von ihren erfolgreichen Fahrten regte die spanischen Könige und Kaufleute an. Sie suchten einen Weg, wie sie den Ost-West-Handel, den ihre muselmanischen Wettbewerber beherrschten, an sich reißen oder umfahren könnten. Noch bevor die Überseeschiffahrt unermeßliche Reichtümer nach Europa brachte, war das Aufblühen der Städte im europäischen Raum der Zunahme des Handels zu verdanken. Die Einfuhr fremdländischer Waren führte zu Wohlstand, der die Lebensformen der Bürger hob. Immer deutlicher zeigte es sich, daß die reich gewordenen Kaufherren Einfluß gewannen. In Frankreich kauften sie den durch den endlosen Krieg und die Bürgerkriege verarmten Adeligen Güter ab und erwarben mit dem Besitz Titel und Rang. Viele von ihnen wurden bei Hof zugelassen und nahmen bedeutende Ämter in dem im Abwehrkampf gegen England schließlich erfolgreichen Frankreich ein. Karl VII. der schwache König, dem die Jungfrau von Orleans zum Thron verholfen hatte, war durch den Zwang, sich zu behaupten, stark geworden. Er behielt die Kriegsmaßnahmen auch im Frieden bei, vor allem die Steuer, die zur Aufstellung der Heere gedient hatte, und auch die Heere selbst, die aus regelmäßig besoldeten Truppen zusammengesetzt waren. Ihre ständige Kriegsbereitschaft bedeutete den Anfang des stehenden Heeres. Schon Karl VII. unterhielt fünfzehn sogenannte ›Ordonnanzkompanien‹ mit je hundert Lanzen, die ihm unmittelbar unterstellt waren. Außer diesen Berittenen, die ›Hommes d'armes‹ genannt wurden und die jeder ein aus fünf Mann bestehendes Gefolge stellten, gab es auch sogenannte ›frans archer‹, mit Armbrusten bewaffnete Fußsoldaten, die sich selbst ausrüsten mußten, jedoch von Steuern befreit waren. So war Frankreich aus dem Hundertjährigen Krieg als Militärmacht hervorgegangen. Es war ein einiges Land geworden, dessen Einigkeit nur von den Seitenlinien der königlichen Familie bedroht war, den ka438
petingischen ›Prinzen von Geblüt‹, die sich bemühten, die Einkünfte des Königreichs für sich zu gewinnen. Sie verursachten Aufstände, die in Erinnerung an die furchtbaren böhmischen Bürgerkriege ›Praguerien‹ genannt wurden. Karl VII. konnte das Königreich nur mit der Hilfe des reichsten Großkaufmanns der Zeit, Jacques Coeur, beruhigen. Er kaufte den aufständischen großen Herren ihre Unbotmäßigkeit mit Jahresgehältern ab. Geld spielte keine Rolle, solange Jacques Coeur den Kronschatz speiste. Als es aber zur Rückzahlung kommen sollte, sorgte Karl VII. dafür, daß der Mann, der ihm mehr Geld geliehen hatte, als er zurückzahlen konnte, wegen Veruntreuung verurteilt wurde. Viel umsichtiger und mit größerer Vorsicht hatten die großen Kaufleute von Florenz in ihren Geschäftsbeziehungen zu gekrönten Häuptern gehandelt. Sie hatten sich ein Beispiel an Venedig genommen, das nicht nur die Flottenvormacht im Mittelmeer erkämpfte, sondern auch Festland erworben hatte. Wer Handel betrieb, verdiente Geld, und wer mit klingender Münze bezahlte, konnte Truppen anwerben und unterhalten. Die Dogen von Venedig, die für gewöhnlich auf Lebenszeit aus den erblichen Mitgliedern des großen Rates, der ›Signoria‹, gewählt wurden, hatten ihr Herrschaftsgebiet der östlichen Adriaküste entlang ausgedehnt und schienen unbesiegbar zu sein. Die Visconti, ihre Wettbewerber in Mailand, waren erbliche Herzöge geworden. Giangaleazzo Visconti, der seine Tochter mit einem König von Frankreich verheiraten konnte, hatte die Eroberung ganz Italiens vorbereitet, um auch sich selbst zum König zu machen. Nur sein plötzlicher Tod hatte den Feldzügen ein Ende bereitet. Sein Sohn, Filippo Maria, hatte nicht die Tatkraft des Vaters geerbt. Er bediente sich des ›Kondottiere‹ Francesco Sforza, damit er die Eroberungen seines Vaters behaupten könne. Um sich der Anhänglichkeit des gewiegten Feldhauptmanns zu vergewissern, verheiratete er ihn mit seiner natürlichen Tochter und gab ihm dadurch die Möglichkeit, nach seinem Tode die Herzogswürde für sich zu beanspruchen. Francesco Sforza war nur einer von vielen vornehmen Abenteurern. Er und andere Feldhauptleute, die Söldner anwerben konnten, 439
bestimmten das Schicksal der reichen Städte Italiens. Sie vermieteten ihre Dienste an den Höchstbietenden und wurden oft von den Bürgern mit der Leitung der Geschäfte betraut. Das Gegenstück des ›Kondottiere‹ war der ›Capitano del Popolo‹, ein Volksbeauftragter, dem die Mitbürger sein Amt lebenslänglich zuerkannten. In den meisten Fällen wurde es erblich. Einen andersgearteten Aufstieg nahmen die Medici in Florenz. Sie hatten ihr Bankhaus zur bedeutendsten Geldmacht der Erde ausgebaut und hatten, obwohl sie die republikanischen Formen nach außen hin beibehielten, eine völlig unbeschränkte Alleinherrschaft inne. Erst hatten sie dem ›popolo grasso‹, dem ›fetten Volk‹, angehört, das sich aus Bankiers, Tuchherren, Ärzten, Rechtsgelehrten und den wichtigsten Handels- und Gewerbetreibenden zusammensetzte und aus dem die ›Signoria‹ gewählt wurde. Dann hielten es die Medici angesichts ihrer überragenden wirtschaftlichen Stellung nicht mehr für nötig, den Ratsversammlungen beizuwohnen. Die anderen Angehörigen der ›Signoria‹ waren in ihren Geschäftsunternehmungen und Werkstätten abhängig von den Anleihen, die die Medici gewähren oder verweigern konnten. Sie räumten den Bankiers die fürstliche Stellung ein, um so mehr, als auch ihre militärischen Unternehmungen so erfolgreich waren, daß Florenz die Herrschaft über die ganze Toskana gewann. Der eigentliche Begründer der Macht des Hauses war Johann von Medici. Sein Sohn Cosimo bekam den Titel ›Vater des Vaterlandes‹. Er war nicht nur ein Geldmann, sondern auch ein Förderer der Künstler, insbesondere Brunelleschis, Ghibertis und Donatellos. Sein Ziel war die ›Rinascita‹, die Erneuerung, die Wiedergeburt des Alten, die ›Renaissance‹ genannt wurde. Der allgemein gültige Begriff Renaissance erhielt sich im wesentlichen als Kennzeichnung der zeitgenössischen künstlerischen Leistungen, die die Kunst des Altertums wiederbelebten. Damals aber galt er insbesondere als Hinweis auf das politische Ansehen der städtischen Gemeinschaften des Altertums. Aus Griechenland eingewanderte Gelehrte, die vor den Türken geflohen waren, brachten als einziges Gepäck die uralte Überlieferung mit. Ihre italienischen Berufsgenossen 440
empfingen sie mit offenen Armen. Die Wissenschaft und die Poesie des Altertums wurden die Mode der Zeit. Die Gegenwart war bedrohlich. Die kirchlichen Wirren schienen unlösbar zu sein. Die Flucht aus der Gegenwart führte in die Vergangenheit. Nur wenn sie wieder aufstände, könnte es eine Zukunft geben. Neuerbaute Paläste und Verwaltungsgebäude trugen die verständnisvoll verarbeiteten Merkmale römischer und griechischer Kunst. Grabmäler und Reiterstandbilder, Büsten und Säulen wurden ausgegraben und nachgeahmt. Kirchen wurden mit Kuppeln überdacht. Der Sinn für das Schöne beugte sich den Regeln des Altertums. Die Kunst, die nur im Dienste der Kirche gestanden war, wurde weltlich. Maler, die sich nur gläubigen Darstellungen ergeben hatten, verwendeten ihre neue Kenntnis in der Behandlung von Farben zur Darstellung lebendiger Menschen. Von Gelehrten angeregt, glichen die Reichen ihre Lebensformen den Vorbildern des genußverständigen Altertums an. Es galt nicht nur für vornehm, üppig zu essen, gut gekleidet zu sein und in prunkvoll eingerichteten Räumen zu leben. Wer wirklich vornehm war, erweiterte seine wissenschaftlichen Kenntnisse und machte sich mit den Dichtungen des Altertums vertraut. Cosi mo di Medici gründete die Platonische Akademie in Florenz. Er schuf die Mediceische Bibliothek und legte den Grundstein für die Prachtentfaltung seines Enkels Lorenzo, Il Magnifico, der Florenz zum großartigen Mittelpunkt der Kunst und Bildung machte. Auch Rom begann sich wieder auf seine geistige Vergangenheit zu besinnen. Papst Nikolaus V. schuf die Vatikanische Bibliothek. Aeneas Silvius Piccolomini wurde Papst, weil er als Wissenschaftler berühmt geworden war. Die Leidenschaft, Bibliotheken zu gründen, wurde auch durch eine aufrührerische Erfindung hervorgerufen. Der Mainzer Handwerker Johann Gutenberg hatte bewegliche, gegossene Metallbuchstaben erzeugt und seinen Druckpressen angepaßt. Das erste umfangreiche ›gedruckte‹ Werk, das den Weg aus seiner Werkstatt in die Öffentlichkeit fand, war eine lateinische Bibel. Ihr Erscheinungsdatum ist 1453. Drei Jahre vorher hatte Johann Gutenberg den Auftrag erhalten, ei441
nen dringenden Aufruf des Papstes an die Christenheit zu drucken. Die Herrscher des Abendlandes sollten aufgefordert werden, dem König von Zyprus gegen die Türken Hilfe zu leisten. In den drei Jahren, die es dauerte, bis der Aufruf gedruckt wurde und die einzelnen Blätter zur Verteilung an die fürstlichen Leser gelangten, die Hilfe leisten sollten, hatten die Türken bereits Byzanz erobert. Als ihr Sultan, Mohammed II. in die Kirche der heiligen Sophia trat, frohlockte er: »Die Spinne spinnt ihr Gewebe im kaiserlichen Palast, und die Eulen singen ihren Nachtgesang auf den Türmen. Die Herrlichkeit des Römischen Reiches ist vergangen!« In der Vorstellung des Sultans bestand das große Römische Reich noch, das die einzelnen Städte Italiens, jede in ihrer Art, im kleinen wiedererrichten wollten. Nachdem er die Grenzen der östlichen europäischen Staaten überschritten hatte, war er gewiß, auch den Westen erobern zu können. Sein Vormarsch schien unaufhaltsam zu sein. Serbien wurde eine türkische Provinz. Der Peloponnes fiel, Bosnien und Slawonien gerieten unter die Herrschaft türkischer Paschas. War das Abendland verloren? Papst Pius II. konnte seinen verzweifelten Aufruf nicht der Druckerpresse anvertrauen, wenn er zurechtkommen wollte, die Christenheit aufzurütteln. Er brauchte ein schnelleres Verfahren. Er hielt eine Kreuzpredigt, die von den Kanzeln aller Kirchen Europas in seinem Namen wiederholt wurde: »Ich bin willens, in Person gegen die Türken zu ziehen und die christlichen Fürsten durch Tat und Worte zur Befolgung meines Beispiels aufzufordern. Wenn sie ihren Lehrer und Vater, den römischen Papst und Stellvertreter Christi, einen kranken und hinfälligen Greis, in diesen Krieg ziehen sehen, so schämen sie sich vielleicht, zu Hause zu bleiben …« Die Predigt des Papstes beschwor die Fürsten: »Wenn du ein Mensch bist, so hilf denen, die das Unwürdigste erdulden müssen. Wenn du ein Christ bist, so gehorche der evangelischen Wahrheit, die dir den Bruder wie dich selbst zu lieben befiehlt. Betrachte das Elend der Gläubigen, gegen die die Türken wüten: Söhne sind aus dem Armen der Väter, Kinder vom Schoß der Mütter gerissen, Gattinnen vor den Augen ihrer Männer entehrt. Jünglinge gleich dem Vieh vor die Pflugschar gespannt. Er442
barme dich deiner Brüder, und wenn du dich nicht ihrer erbarmst, erbarme dich deiner selbst, denn dich selbst kann ein ähnliches Los treffen, und wenn du dich derer nicht annimmst, die vor dir wohnen, so werden dich auch die verlassen, welche hinter dir wohnen. Ihr Deutschen, die ihr den Ungarn nicht beisteht, hoffet nicht auf die Hilfe der Franzosen, und ihr Franzosen rechnet nicht auf die Hilfe der Spanier, sofern ihr den Deutschen nicht helft. Was das Zusehen und Warten fruchtet, haben die Kaiser von Konstantinopel, die Fürsten von Bosnien und Slawonien und andere Herrscher erfahren, die alle, einer nach dem andern, überwältigt wurden und umgekommen sind. Nachdem Mohammed die Herrschaft des Orients erlangt hat, will er die Herrschaft des Okzidents erlangen.« Der Aufruf des Papstes rührte die Herrscher. Aber die Gefahr durch den nächsten Grenznachbarn schien unmittelbarer zu sein als die Gefahr, die der Papst heraufbeschworen hatte. Den ritterlichen Untertanen der Fürsten erging es in kleinen Gebieten wie ihren Herren in großen. Das bekundete der zeitgenössische Klagebrief eines deutschen Ritters an einen Nürnberger Ratsherrn: »Stellt man sich nicht in den Schutz eines Fürsten, so glaubt jeder, er darf sich alles gegen einen erlauben. Aber auch so droht bei dem geringsten Schritt aus dem Haus Verderben. Keine zwei Äcker weit kann man alleine gehen, kein Dorf unbewaffnet besuchen. Der Jagd und dem Fischfang kann man nur im Schutze des Eisens obliegen. Das Gehändel unter den eigenen und fremden Leuten hört nicht auf, und zwischen wem spielt sich das ab? Nicht zwischen Fremden, sondern zwischen Schwägern, Versippten und Nächsten, sogar Brüdern.« Diese traurigen Verhältnisse waren nicht zuletzt durch die Hussitenkriege und die selbstsüchtige Absonderung der deutschen Landesherren entstanden. Aber selbst wenn sie bereit gewesen wären, einen Türkenkreuzzug zu unternehmen, wer sollte sie führen, wer die Kosten der Ausrüstung und den Unterhalt des Heeres bezahlen? Kaiser Friedrich III. war nicht einmal fähig, seine österreichischen Herzogtümer vor dem Einfall türkischer Reiterscharen zu schützen, die, vom Pascha von Bosnien ausgesandt, Kärnten und die Salzburger Gegend 443
verwüstet hatten. Da die Fürsten ›einem solchen Kaiser‹ kein Heer zur Führung anvertrauen wollten, unterließen sie es überhaupt, ein Heer zur Abwehr gegen die Türken aufzustellen. So war der Schutz Europas Matthias Corvinus, der nach dem Tode des jungen Ladislaus Posthumus König von Ungarn geworden war, anvertraut, ob er es wollte oder nicht. III Matthias Corvinus, dessen Vater, Johann Hunyadi, die Türken im Namen des jungen Ladislaus von Habsburg geschlagen hatte, war der beliebteste Mann in Ungarn. Kleidung und Ausrüstung der von ihm neu geschaffenen Reitertruppe, der Husaren, waren den Kriegserfordernissen angepaßt. Sie trugen zwar Lanzen wie die anderen Ritter, aber keinen schweren Panzer, sondern leichte verschnürte Brustkoller, die sie schützten, ohne sie in ihren Bewegungen zu behindern. Die klug ausgedachte Bewaffnung der Husaren machte sie den wilden, nur mit Angriffswaffen versehenen türkischen Reitern überlegen. Die Abwehr gelang. Friedrich III. der als rechtmäßiger Erbe seines Vetters Ladislaus das Anrecht hatte, König von Ungarn zu sein, stellte freundschaftliche Beziehungen zu Matthias Corvinus her. Dadurch diente er einem doppelten Zweck. Er bewies den Fürsten des Deutschen Reiches, daß er seinerseits, um des Christentums willen, es dem einzigen, tatkräftigen Streiter für die Christenheit nicht übelnahm, daß dieser eine Krone trug, die zu tragen ihm selbst zustand, und er näherte sich dem Ziel, einen gegenseitigen Erbvertrag mit dem im täglichen Kampf gegen die Türken gefährdeten König von Ungarn zustande zu bringen. Das schließlich von beiden Vertragspartnern auf den Tod des andern berechnete Übereinkommen begann mit den zärtlichen Worten: »Auch ist zur größeren Befestigung väterlicher Liebe von seiten des Kaisers gegen König Matthias und zur größeren Befestigung kindlicher Liebe von seiten des Königs Matthias gegen den Kaiser …« 444
Unzufrieden mit diesem Erbschaftsvertrag war lediglich der Führer der Utraquisten, Georg von Podiebrad, der sich die Wenzelskrone aufs Haupt gesetzt hatte, auf die Friedrich nach dem Tode Ladislaus' rechtlich Anspruch gehabt hätte, und der sich den deutschen Kurfürsten, die mit Friedrich unzufrieden waren, als der geeignetste Anwärter auf die Kaiserkrone anbot. Aber der Papst stützte Friedrich III. der sich, unbekümmert um die Tatsachen und um die Ereignisse, schrankenlos seiner Einbildungskraft ergab. Er ließ sich von Wiener Handwerkern getreue Nachbildungen der ungarischen und der böhmischen Krone anfertigen, so gewiß war er, daß es ihm gelingen werde, sie für sich zu gewinnen. Er krönte sich sogar selbst an hohen Feiertagen, vor dem Spiegel sitzend, mit ›seiner‹ böhmischen Wenzelkrone und mit ›seiner‹ Krone des heiligen Stephan von Ungarn. Viel schlimmer wurde seine Besessenheit, als ihm seine Gattin, Eleonore von Portugal, der er nachtrug, daß ihm ihre Mitgift nicht ausbezahlt worden war, einen Sohn schenkte. Der Kaiser ohne Land, der König mit den vielen Kronen, ließ seinen Erben auf den Namen Maximilian taufen.
Um Maximilians willen war Friedrich III. zu allem fähig. Sein Bruder Albrecht, der gegen ihn aufbegehrt hatte, starb sehr plötzlich. Magister Puff, der behandelnde Arzt des Herzogs, war der Schwager des Bürgermeisters Holzer, den Albrecht hatte hinrichten lassen, da er für Friedrich Stellung genommen hatte. Auch der Apotheker, der die von Magister Puff verschriebene Arznei an Albrecht geliefert hatte, war ein Schwager Holzers. Der Kaiser schritt gesenkten Hauptes hinter dem Sarg seines Bruders drein, aber eine Untersuchung gegen Arzt und Apotheker, die ihn von Albrecht befreit hatten, fand nicht statt. Friedrich III. war nun unbestrittener Herzog von Österreich und Steiermark. Was konnte er für seinen einzigen Sohn tun? Als Kaiser hatte er das Recht, den von Rudolf IV. willkürlich geschaffenen Titel ›Erzherzog‹ rechtlich zu machen. Er verkündigte, daß alle Habsburger 445
Prinzen von nun an gebürtige Erzherzöge wären. Auch die Erziehung seines Sohnes leitete Friedrich mit Hinblick auf die von ihm erträumte Zukunft. Maximilian mußte nicht nur Ungarisch und Tschechisch, sondern auch Flämisch und Wallonisch lernen. Wozu? Friedrich gab keine Auskunft. Aber er schaltete in den Lehrplan Maximilians Französisch und Italienisch ein, um ihn für die glorreiche Verwirklichung seines Buchstabensinnbilds gebührend vorzubereiten. IV Der reichste Fürst Europas, Karl der Kühne, Herzog von Burgund, hatte ein einziges Kind, seine Tochter Maria. Maximilian von Habsburg war zwölf und die Erbin Karls dreizehn Jahre alt, als Friedrich III. die ersten Fühler ausstreckte, um seinem Sohn auch Burgund durch Erbschaft zu sichern. Der Herzog von Burgund hatte nichts dagegen, daß seine Tochter später einmal den Sohn des Kaisers oder, wenn diese Ehe nicht zustande kam, den Sohn des Königs von Frankreich zum Mann nehme. Wer nach ihm erbte, war Karl einerlei. Für ihn war nur wichtig, was er vererben würde. Während Friedrich III. seinem Nachkommen die Herrschaft über den europäischen Raum durch Urkunden sichern wollte – mit der Feder am Schreibtisch sitzend –, wollte Karl seinen Machtzuwachs mit dem Schwert auf dem Schlachtfelde erringen. Er führte Krieg um des Krieges willen. Er wollte König, vielleicht sogar Kaiser werden. Das eigene, ihm unmittelbar untertänige Hoheitsgebiet, das Karl dem Kühnen vorschwebte und dessen Grenzen er schon mit seinen Ratgebern in die Landkarten einzeichnete, reichte von Friesland bis ans Mittelmeer. Die freie Schweiz, das Herzogtum Lothringen und die zum Herzogtum erhobene Grafschaft Savoyen waren mit einbegriffen. Das tatsächliche Hoheitsgebiet Karls des Kühnen umfaßte schon die Herrschaft über Brabant, Holland, Hennegau, Namur, Seeland, Friesland und Antwerpen. Er war daher sowohl Lehensmann des deutschen 446
Kaisers als auch des Königs von Frankreich. Er wollte die Unabhängigkeit seiner Herrschaft gewinnen. Ludwig XI. von Frankreich, den sein Vetter, Karl der Kühne, die ›unermüdliche Spinne‹ nannte, beobachtete mißtrauisch den kriegslustigen, übermütigen Nachbarn, der sich ihm gegenüber mehr als Herr denn als Lehensmann gebärdete. Er hatte das Ziel, Karl in Kriege zu verwickeln, die ihn so schwächen würden, daß er selbst seine Oberherrschaft über Burgund ungehindert ausüben könne. Karl durchschaute den Plan Ludwigs. Er stärkte sich durch ein Bündnis mit König Eduard IV. von England, dessen Schwester Margarete er geheiratet hatte, und wollte das ihm unwürdig erscheinende Lehensverhältnis zum König von Frankreich durch die Vertauschung seines Herzogshutes mit einer Königskrone beendigen. Dazu konnte ihm nur der Kaiser verhelfen. Er schlug Friedrich III. vor, ihm im Tausch für die Zustimmung zur Vermählung seiner Tochter Maria mit Maximilian die Erhebung Burgunds zum Königreich zu gewährleisten und ihm auch die Nachfolge als Kaiser zu sichern. Wenn es um Werte und Würden der Zukunft ging, war mit Friedrich nicht zu spaßen. Die Kaiserwürde wollte er für seinen Sohn. Dennoch war er bereit, Karl zu besuchen und mit ihm zu verhandeln. Während sich Friedrich auf der Fahrt nach Trier das Reisegeld und die Kosten der standesgemäßen Ausstattung für sich und seinen Sohn durch Darlehen und freiwillige Gaben der Städte, durch die er mit seiner bewaffneten Begleitung gekommen war, hatte zusammenscharren müssen, empfing ihn Karl in wahrhaft fürstlicher Pracht und erklärte gleich zur Begrüßung, daß in seinem Gewand Edelsteine im Werte von hunderttausend Golddukaten eingestickt seien. Der Speisesaal, in dem der Herzog von Burgund den an karge Kost gewöhnten Kaiser zu Tisch lud, war mit aus Goldfäden gewirkten Tapeten behängt, in die die Geschichte der Herzöge von Burgund in leuchtenden Farben eingewoben war. Friedrich war beeindruckt, aber er gab nicht nach, als Karl die Verlobung seiner Tochter erst feiern wollte, nachdem der Kaiser seine Erhebung zum König ausgesprochen hätte. Friedrich fürchtete, daß die Verlobung nicht stattfinden würde, wenn Karl schon zum 447
König erhoben worden sei. Er forderte ein schriftliches Versprechen der Vermählung. Da Karl nicht dazu bereit war, reiste Friedrich mit seinem Sohn ab. Kaum hatte sich der Kaiser verabschiedet, als der Herzog von Burgund ihm beweisen wollte, wie wenig er sich aus ihm machte. Er rückte ins Gebiet des Erzbistums Köln ein. Erzürnt darüber, daß sein so sorgfältig vorbereiteter Plan zur unlöslichen Verbindung Österreichs mit Burgund die gegenteilige Wirkung zur Folge hatte, machte Friedrich von seiner kaiserlichen Gewalt zum ersten Male wirklich Gebrauch und berief einen Reichstag ein, um, wie er sagte, ›das ganze Römische Reich Deutscher Nation in eigener Person gegen den furchtbaren Gegner zu führen‹. Auf der Fahrt zu dem Reichstag, dem sich Friedrich als oberster Kriegsherr vorstellen wollte, wurden sein Wagen und seine Pferde durch Handwerker aufgehalten, die ihm die Ausstattung zur Reise nach Trier geliefert hatten und nicht bezahlt worden waren und jetzt unter Androhung von Gewalt die Zahlung von 6.736 Gulden forderten. Wenn es sich nicht um die Zukunft Maximilians gehandelt hätte, wäre der Kaiser umgekehrt. So aber borgte er mit Müh und Not das geforderte Geld und erklärte den deutschen Fürsten, die auf dem Reichstag erschienen waren, daß das Reich, das in Wirklichkeit im Osten von den Türken bedroht war, im Westen gefährdet sei. Während Friedrich alles dazu tat, ein Reichsheer gegen den Herzog von Burgund auf die Beine zu stellen, verrannte sich Karl der Kühne in den Plan, die Stadt Neuß am Rhein zu erobern. Er ließ das Strombett trockenlegen und gewaltige Belagerungsbauten errichten. Jetzt glaubte Ludwig XI. daß seine Zeit gekommen sei, den lang vorbereiteten Krieg gegen Burgund zu führen. Als Bundesgenosse Karls des Kühnen landete Eduard IV. von England Truppen in Calais, um die Ausbreitung Frankreichs auf Kosten Burgunds zu verhindern. Der übermütige Feldzug Karls drohte in einen allgemeinen Krieg auszuarten. Das wollten weder Friedrich III. noch Ludwig XI. Der König von Frankreich bestach die Räte des englischen Königs und vermittelte ein Bündnis des Herzogs von Lothringen mit den Schweizer Eidgenossen, 448
die sich durch die Eroberungslust Karls bedroht fühlten. Der unentwegte Herzog von Burgund ging in die Falle. Er sandte seinem englischen Schwager nicht die versprochenen Hilfstruppen, um mit seiner ganzen Macht in Lothringen einfallen zu können. Es erschien Eduard IV. der durch die Siege seines Vaters, Richard von York, in den blutigen ›Rosenkriegen‹ gegen das Haus Lancaster zur Königswürde gelangt war, vorteilhafter, sich mit Ludwig XI. von Frankreich zu einigen und seine Thronansprüche auf Frankreich gegen gutes Geld zu verkaufen, als für einen unzuverlässigen Bundesgenossen zu kämpfen. Er kehrte, so rasch er konnte, in sein unruhiges Königreich zurück. Er mußte verhindern, daß seine machthungrigen Brüder ihn um die Krone brachten. Ludwig XI. hatte erreicht, was er wollte. Auch Friedrich III. war nicht müßig gewesen. Da Karl der Kühne den König von England als Bundesgenossen verloren hatte, bot Friedrich dem Herzog von Burgund seine Freundschaft an. Wozu Feindseligkeiten, wenn man sich verständigen könne, wenn man ohnehin beabsichtige, ein enges Familienband herzustellen? Karl ließ sich überreden. Die Umstände waren geändert. Er bestätigte das Verlöbnis seiner Tochter Maria mit Maximilian von Habsburg und zahlte sogar einen Teil der Mitgift bar voraus, denn das hatte sich Friedrich ausbedungen. Er wollte das Geld, das sein Sohn bekommen sollte, noch vor dem Verlöbnis. Er selbst nämlich hatte die Mitgift, die seine Gattin ihm in die Ehe bringen sollte, noch immer nicht ausbezahlt erhalten. Der Friedensschluß kam Friedrich gelegen. Die Nachrichten, die ihn während seiner Abwesenheit aus Österreich erreichten, waren schlimmer, als er sich, geschweige denn jemandem anderen, eingestehen wollte. Jetzt war das Weltreich der Habsburger durch pergamentene Urkunden endgültig gesichert. Aber der Mann, der es im Geiste geschaffen hatte, war nahe daran, die Wiege dieses Weltreichs zu verlieren. Die Türken verwüsteten Österreich im Süden und Osten, während im Norden und Westen, wie es in den Meldungen hieß, ›böhmische und mährische Freibeuter und österreichische Raubritter umherbrandschatzten‹. Friedrich kehrte nach Wien zurück. Welch eine Rückkehr zum 449
Schauplatz seines größten Erfolges! Georg von Podiebrad war gestorben. Er hatte dem Ungarnkönig Matthias Corvinus das Nachfolgerecht in Böhmen nach langwierigen Kämpfen zuerkannt. Aber die böhmischen Stände hatten den Prinzen Wladyslaw von Polen zum König erwählt. Kaum hatte sich Friedrich in der Wiener Hofburg wieder eingerichtet, als König Kasimir von Polen und der neue König Wladyslaw von Böhmen mit großem und wehrhaftem Gefolge ankamen, um den Kaiser zu zwingen, Wladyslaw feierlich mit dem Reichslehen Böhmen zu belehnen und ihm das Erzschenkenamt zu verleihen. Gleichzeitig mit den beiden Königen erschien ein Gesandter Matthias' von Ungarn, der Schlesien und Mähren fest besetzt hielt, und forderte, daß Friedrich ihn mit Böhmen belehne. Wladyslaw und Kasimir waren in Wien. Matthias war ferne. Friedrich ergab sich dem Grundsatz des geringsten Widerstands und erfüllte die Forderungen Wladyslaws. Der befriedigte König von Böhmen reiste nach Böhmen, der zufriedene König von Polen nach Polen. Matthias Corvinus aber fiel in Österreich ein. Friedrich bemühte sich, Truppen auf die Beine zu stellen. Aber der dazu nötige Geldaufwand verschlang den Vorschuß auf die Mitgift Marias und reichte doch nicht hin. Denn gleichzeitig mit Matthias, der den Norden Österreichs verheerte, waren die Türken in den Süden des Herzogtums eingefallen. Der Kaiser hatte keine andere Wahl, als Frieden mit dem König von Ungarn zu schließen. Er belehnte auch Matthias mit Böhmen. Es war eine erbärmliche Lage für einen Kaiser, aber Friedrich fügte sich lächelnd, denn der Herzog von Burgund hatte ihm in diesen aufgeregten Tagen den schriftlichen Heiratsvertrag zugesandt. Karl der Kühne brauchte Hilfe. Er hatte sich zwar schon beinahe des ganzen Herzogtums Lothringen bemächtigt, er war sogar in die Schweiz eingedrungen, aber es war ihm ebenso ergangen wie hundert Jahre zuvor dem Herzog Leopold von Osterreich. Seine Ritter waren von den Eidgenossen vernichtend geschlagen worden. Das Spinnennetz Ludwigs XI. schloß sich um Karl, als er sich noch immer nicht friedlich mit seinen Ländern und Rechten begnügen woll450
te. Der Herzog von Burgund besaß Geld und sammelte neue Truppen. Als der Gesandte des Kaisers seiner Tochter Maria in Gent das Bild des Bräutigams überreichte, war der Vater der Braut nicht anwesend. Die Freudenfeuer und Feste, die die Prinzessin veranstalten ließ, erloschen und verstummten, als die Nachricht kam, daß Herzog Karl der Kühne von Burgund in der Schlacht von Nancy gegen den Herzog von Lothringen, dem die Schweizer Waffenhilfe geleistet hatten, gefallen war. Unverzüglich nach dem Tode Karls überschritten französische Truppen die burgundischen Grenzen. Ludwig XI. ließ öffentlich verkünden, daß er als Lehensherr die Vermählung seines Sohnes, des Dauphins, mit Maria von Burgund beschlossen habe. Seine Generale eroberten Stadt um Stadt, Grafschaft um Grafschaft, alle französischen Lehen des großen Herzogtums. Aber Maria, der auch ein Bild des Dauphins gesandt worden war, zog den schon siebzehnjährigen Maximilian dem zehnjährigen Dauphin vor. Sie erklärte: »Ich brauche einen Mann und kein Kind.« Maximilian durfte keine Zeit verlieren. Er konnte zu spät kommen. Friedrich verpfändete die letzte Herrschaft, die noch unbelastet war, Schloß und Stadt Steyr, um seinen Sohn für eine standesgemäße Brautfahrt auszustatten. Maximilian machte sich auf den Weg. Als er in Köln ankam, war seine Reisekasse leer. Wenn Maria ihm nicht durch Gesandte Geld geschickt hätte, wäre Maximilian nicht an sein Ziel gelangt. Zu dieser Großzügigkeit war Maria durch einen Kundschafter angeregt worden, der ihr berichtete: »Der Erzherzog ist so jugendlich frisch, so männlich kräftig, so strahlend vor Glück, daß ich nicht weiß, was ich mehr bewundern soll, seine blühende Jugend oder seine Kraft. Welch eine prächtige Erscheinung!« V Die Ehe Maximilians mit Maria war eine glückliche, aber der junge Ehemann war bald gezwungen, seinem Vater zu schreiben: »Wohl bin ich ein großmächtiger Herr und habe große Lande und viele Städte, 451
aber ich muß mit Sorgen denken, so mir nicht Hilfe geschieht, so bin ich in zehn oder vierzehn Tagen all meiner Länder wieder beraubt.« Ludwig XI. die ›unermüdliche Spinne‹, nützte die Gelegenheit. Er zog die französischen Gebiete des Herzogtums Burgund als erledigte Lehen ein. Daß der junge Maximilian die dem Deutschen Reich unterstehenden Lehensländer tapfer verteidigte, störte die Pläne des Königs von Frankreich nicht. Er hatte sein Königreich im Norden ebenso abgerundet wie im Süden und die Macht seiner Lehensmänner gebrochen. Er hatte sich auch zum Herrn der französischen Kirche gemacht und sich die Vergebung der geistlichen Güter vorbehalten. Sein stehendes Heer war verdoppelt. Um die erprobte Erfindung des Pulvers auszunützen, hatte er Geschützgießereien gefördert. Handel und Gewerbe nahmen einen neuen Aufschwung durch die Seidenerzeuger, die er in Lyon ansiedelte. Die Grundlage zur unumschränkten königlichen Gewalt war gesichert. Obwohl er ein Menschenhasser war, hatte er alles für sein Land getan, was er konnte, und für seinen Sohn Karl, dem er nicht nur das Königreich Frankreich, sondern auch den Anspruch auf das Königreich Neapel vererben wollte. In der Wiener Hofburg aber las Friedrich III. die verzweifelten Briefe seines Sohnes, dem er nichts geben konnte als Ratschläge. Maximilian schrieb: »Ich habe ein schönes, frommes, tugendhaftes Weib, Gott sei Dank. Kommt mir der Kaiser zu Hilfe, so bin ich im Himmel. Verzieht sein Gnad, so ist zu besorgen, es schlagen sich abermals ein Land oder zwei von mir, oder vielleicht alle Land miteinander.« Friedrich konnte seinem Erben nicht zu Hilfe kommen. Aber es gelang Maximilian, sich zu behaupten. ›Viel Not, viel Ehr‹ wurde sein in Deutschland oft gerühmter Wahlspruch. Bald enthielten seine Briefe keine Klagen mehr. »Es ist eine Lust zu leben«, schrieb er. Der Zwang zur Selbständigkeit hatte Maximilian selbständig gemacht, und da er in den Feldzügen gegen die Franzosen ebenso kühn gewesen war wie sein Schwiegervater, ließen ihn die Ritter des Goldenen Vlieses als den würdigen Nachfolger Karls des Kühnen gelten. Er wurde Großmeister des Ordens, des höchsten des habsburgischen Kaiserreiches. 452
VI Friedrich III. hielt unerschütterlich fest an seinen ehrgeizigen Hoffnungen und Plänen, obwohl zwei unerwartete Todesfälle sie zu durchkreuzen drohten. Erst starb Sultan Mohammed II. ›der Eroberer‹. Sein Nachfolger, Bajezit, mußte seine Herrschaft im eigenen Reich behaupten, ehe er es unternehmen konnte, fremde Reiche zu erobern. Er schloß einen Waffenstillstand mit dem König von Ungarn, der nun freie Hand hatte, seine Streitmacht gegen Friedrich zu wenden. Die Meldung vom Einmarsch Matthias' Corvinus in Österreich kam gleichzeitig mit der Nachricht vom plötzlichen Tode Marias von Burgund. Maximilian war nun auf sich selbst angewiesen und konnte bestenfalls die Erbschaft seines kleinen Sohnes, Philipp, gegen Ludwig XI. und die burgundischen großen Herren verteidigen, die keinen fremden Herrscher in ihrem Lande wünschten. Stadt um Stadt ergab sich dem ungarischen König, der schließlich in Wien einrückte und seinen Hofstaat in der Burg der Habsburger einrichtete. Friedrich hatte vergeblich gehofft, daß sich die Wiener gegen den ›wütenden Magyaren‹ auflehnen würden, als er beschloß, Wien zu seiner Hauptstadt zu machen. Der Bau des Stephansdomes, der unter den Babenbergern begonnen und unter den Habsburgern langsam fortgesetzt worden war, gefiel Matthias so gut, daß er ihn vollenden ließ. Das Dach wurde in den grün-weiß-roten Farben Ungarns eingedeckt. Im äußersten Westen Österreichs wartete Friedrich III. vergebens, daß ihm der König von Böhmen zu Hilfe kommen würde. Er erwehrte sich mühsam der aufrührerischen Adeligen in den schmalen Gebieten, die ihm noch geblieben waren, aber auch in dieser Bedrängnis verließ ihn die Zuversicht nicht. Er ergab sich sternkundigen Betrachtungen, um sich davon zu überzeugen, daß die Größe seines Hauses ›in den Sternen geschrieben‹ stehe. Er betrieb auch Alchimie. Da er kein Geld hatte, wollte er die verborgenen Bestandteile der Stoffe 453
und ihre Zusammensetzung ausfindig machen, um durch die geheime Kraft der Natur zu Gold zu kommen. Er hatte kaum noch Land und kaum noch Einnahmen, aber in der schlimmsten Lage erreichte Friedrich III. immer das meiste. Als er vor den böhmischen und ungarischen Reichsverwesern seines Mündels Ladislaus Posthumus geflohen war, hatte ihn die Flucht nach Rom geführt, und er hatte sich als erster Habsburger die Kaiserkrone aufs Haupt setzen lassen. Jetzt, da er wieder gezwungen war, sich auf die Wanderschaft zu begeben, führte ihn die Fahrt ohne Geld nach Frankfurt. Dort berief er die Kurfürsten des Reiches ein, um seinen Sohn Maximilian zum deutschen König wählen zu lassen und ihm so die Nachfolge als Kaiser zu sichern. Die Kurfürsten hatten alle Aufrufe Friedrichs III. ihm Truppen und Geld gegen die Türken und zum Schutz seiner Erblande gegen Matthias zu geben, überhört. Mit Mannschaft oder Mitteln waren sie zu geizen gewöhnt. Die Wahl Maximilians zum König aber kostete nichts. Sie konnten ihn, wie es in der Sprache der Zeit hieß, »als Feldhauptmann verwenden«, ohne ihn bezahlen zu müssen. Er hatte sich im Felde bewährt und seine Übermacht war nicht zu befürchten. Welche Macht besaß er überhaupt? Er herrschte wohl in den Niederlanden – aber für seinen Sohn, nicht für sich selbst. Er war Erzherzog von Österreich, aber den größten Teil Österreichs hielt Matthias Corvinus besetzt. Die habsburgische Hausmacht bedeutete den Kurfürsten keine Gefahr. Im Gegenteil. Die Notlage Maximilians bot ihnen die Gewähr, daß sie ihn nach ihrem Belieben würden verwenden können. Die Krönung Maximilians in Aachen wurde nicht so glanzvoll gefeiert wie die Krönung seines Ahnherrn Rudolf von Habsburg. Sein Vater hatte kein Geld. Er selbst, der Witwer der reichsten Erbin der Welt, war ebenso knapp bei Kasse wie der Kaiser, und beide hatten keinen Kredit. Maximilian hätte die Zuversicht auf eine bessere Zukunft verloren, wenn ihm nicht der alte, unverbesserliche Friedrich klargemacht hätte, daß seine zukünftige Größe nicht nur in den Sternen stehe, sondern auch durch die Verträge, die er abgeschlossen hatte, gesichert sei. Wie könne er daran zweifeln? Matthias Corvinus war krank und hatte keinen Erben. Wie lange noch konnte es dauern, bis sein Tod die Wahl 454
Maximilians zum König von Ungarn ermöglichen würde? Wie lange, bis Maximilian nach Wien würde zurückkehren können? Er, der deutsche König, würde dann nicht nur Österreich und Ungarn, sondern auch die Niederlande beherrschen, und sei nicht auch Böhmen und Tirol durch Erbverträge gesichert? Und wenn Maximilian seinen Sohn Philipp mit einer anderen Erbin verheiratete und wenn Maximilian selbst sich wieder mit einer reichen Erbin vermählte, was stünde dann der Weltherrschaft Maximilians und des Hauses Habsburg im Wege?
Daß durch Ehen große Königreiche entstehen konnten, war durch ein zeitgemäßes Beispiel bestätigt worden. Friedrich III. mochte zwar als deutscher Kaiser versagt und seine staatsmännischen Pflichten vernachlässigt haben, aber er war ein genauer Kenner und Beurteiler der Verhältnisse an den Königshöfen Europas. Er kannte die Skandale auf der Iberischen Halbinsel, um so besser, als Heinrich IV. von Kastilien Johanna von Portugal, eine Verwandte seiner eigenen Frau, geheiratet hatte. Die Tochter aus dieser Ehe war aber nicht anerkannt worden, da sie als Kind des Höflings Beltram galt. Es hatte unaufhörliche Adelsaufstände in Kastilien gegeben. In dieser unruhigen Zeit hatte nur die Schwester Heinrichs IV. die Ruhe bewahrt. In der langen Reihe kraftloser Abkömmlinge der kastilischen Königsfamilie war Isabella die einzige bedeutende Erscheinung. Sie erwirkte bei ihrem Bruder, daß er sie zur Erbin einsetzte. Da sie gewußt hatte, daß sie Königin sein würde und sich doch nur durch männlichen Schutz auf dem Throne halten könnte, hatte sie heimlich, ohne Wissen ihres Bruders, den Sohn Alfons V. von Aragon, Ferdinand, geheiratet. Dieser Nachkomme Peters III. der sich nach der Sizilianischen Vesper Siziliens bemächtigt hatte, war ebenso ruhig denkend und überlegen wie Isabella. Beide warteten geduldig. Nach dem Tode Heinrichs IV. erklärten sie, daß sie nunmehr gemeinsam die gesamte Iberische Halbinsel in Besitz nehmen würden. Die Vereinigung der Königreiche Kastilien und Aragonien war nur lose. Die Ehepartner herrschten erst unabhängig von455
einander in ihren Hoheitsgebieten. Schritt für Schritt gelang es ihnen, die Willkür des Adels einzudämmen. Ferdinand und Isabella stellten ein wohlgeordnetes Heer auf, das den Kampf gegen die Ungläubigen auf spanischem Boden fortsetzte. Die heilige Hermandad, die Verbrüderung der Städte, die sie begünstigten, sorgte für die innere Ruhe. Die großen Herren, die das Land unsicher gemacht hatten, wurden an den Hof gezogen, mit Ehren und Titeln verwöhnt, und bald gewöhnten sie sich an den Hofdienst. Ferdinand und Isabella beriefen Rechtsgelehrte in den königlichen Rat und ersetzten die willkürlichen Rechte der Großen durch die ›Ordenancas Reales‹, die die Grundlage der Rechtsprechung wurden. Der wichtigste Berater des königlichen Ehepaares war ›der große Kardinal‹, Gonzales Mendoza. Er wurde der ›dritte König Spaniens‹ genannt. In den dem Islam abgerungenen Gebieten lebten die Nachkommen der Mauren und Juden ungestört nebeneinander. Damit sollte aufgeräumt werden. Um die endgültige Befreiung der Iberischen Halbinsel vom Islam herbeizuführen, schien es nötig, eine Glaubensbegeisterung hervorzurufen. Die von Gregor IX. geschaffene Inquisition, die die Dominikaner zu ›Spürhunden des Herrn‹ gemacht hatte, wurde mit päpstlicher Genehmigung erneuert. Der Dominikaner Torquemada wurde Großinquisitor. Die Zwangsbekehrung der Mohammedaner und Juden begann. Tausende wurden zum Feuertod verurteilt. Ihr von den Behörden eingezogenes Vermögen kam den gläubigen Christen zugute, die Ferdinand und Isabella in ihren Bestrebungen der ›Reconquista‹ unterstützten. Immer weiter nach dem Süden rückten die spanischen Ritter vor und eroberten Landstrich um Landstrich. Dieses Ehepaar, das sich im Kampf gegen den Islam so kraftvoll bewährte, hatte einen kränkelnden Sohn und drei Töchter. Eine dieser Töchter dachte Friedrich III. seinem Enkel Philipp zu. Würden Ferdinand und Isabella, die vom Papst den ehrenden Titel ›Katholische Könige‹ erhalten hatten, die Bewerbung des machtlosen Kaisers überhaupt in Betracht ziehen? Das Haus Habsburg schien für alle Zeiten zur völligen Bedeutungslosigkeit verurteilt zu sein. Wie sollte Friedrich oder sein Sohn Maximilian sich in den Besitz des Kö456
nigreichs Ungarn setzen oder der eigenen Erblande, in denen Matthias Corvinus sich breitmachte? Die Aussicht, das Königreich Böhmen zu gewinnen, war noch geringer. Wladyslaw konnte jederzeit mit der Hilfe Kasimirs von Polen rechnen, der seinem Königreich durch die Besiegung des Deutschen Ritterordens Ostpreußen einverleibt und die Lehensherrschaft über Westpreußen errungen hatte. Das Deutsche Reich war machtlos gegen den Angriff Polens gewesen. Wie sollte es den Habsburgern bei der Erwerbung Böhmens behilflich sein, die nur durch einen kriegerischen Angriff möglich war? Der Kaiser galt als lächerliche Erscheinung und wurde verspottet. Das Reich war geschwächt durch die Niederlage des Deutschen Ritterordens im Osten, sein Einfluß im Westen war im Verhältnis zu der stetig anwachsenden französischen Macht verschwindend gering.
Sterndeutung war die große Mode geworden, und die französischen Hofastrologen weissagten dem jungen König Karl III. dem Erben Ludwigs XI. die Herrschaft über den Orient und den Okzident. Der Gesandte Venedigs am Hofe Karls VIII. faßte die Lage zusammen: »Alles in Frankreich ist unbedingt auf den Willen des Königs gestellt. Die Franzosen ehren ihn so, daß sie für ihn nicht nur ihre Habe, sondern auch ihre Seele und Ehre geben. Kein Land ist so gehorsam wie Frankreich, und Einheit und Gehorsam sind die Ursachen seines Ansehens nach außen.« Der französische Höfling und Geschichtsschreiber Froissart schrieb beinahe zur gleichen Zeit: »Bei uns übernimmt jeder König von seinen Vorgängern nicht allein die Krone zum Erbe, sondern auch die Aufgabe, ihre Macht nach innen gegen alle Widersacher zu sichern und nach außen zu erweitern. Welch herrliche Länder in Deutschland und in Italien stehen in Aussicht!« Das unter Ludwig XI. ausgebildete und ausgerüstete französische Heer war so stark, daß das Deutsche Reich dem Angriff Karls VIII. widerstandslos ausgeliefert gewesen wäre. Er rüstete gegen Italien. Der 457
Zug nach Rom reizte seine Einbildungskraft. Er wollte Italien erobern, das im Aufleben der Renaissance tonangebend in Kunst und Mode geworden war. Die Aussicht auf die Kaiserkrönung, zu der er den heiligen Stuhl würde zwingen können – all das bot einen verheißungsvolleren Ausblick für Karl VIII. einen rascheren, glänzenderen Gewinn als der Krieg gegen Deutschland, den er später immer noch unternehmen konnte. Maximilian erkannte die Gefahr, die der Zukunft des Hauses Habsburg und allen anderen deutschen Fürstenhäusern drohte. Er erließ einen Aufruf, durch den er seine Standesgenossen warnte: »Die Häuser Österreich und danach Bayern und alle anderen anstoßenden Fürstentümer werden durch die Türken an einem Ort und durch den König von Frankreich am anderen Ort in jeder Zeit und ohne Aufhören verderbt und ausgetilgt werden, wenn sich das Reich nicht zum ernsten Widerstand ermannt.« Als Türken bezeichnete Maximilian auch den Todfeind seines Vaters, Matthias Corvinus, und begründete diese Bezeichnung mit der Verdächtigung, daß der König von Ungarn, der erprobte Türkenbesieger, mit den Türken nur Frieden halte, damit er sich später mit ihnen im Angriff gegen den Westen vereinigen könne. Maximilian wollte zum Reichskrieg aufrufen. Aber Friedrich III. hatte es fünfzig Jahre lang vermieden, Krieg zu führen. Fünfzig Jahre waren die Feder und der Stundenzeiger die einzigen Waffen des Kaisers gewesen: Verträge und die Zeit. Er wollte an seinem Lebensabend nicht das Schwert für sich wirken lassen, da es immer noch möglich erschien, sein Lebensziel friedlich zu erreichen. Während die Reichsfürsten, die der Kaiser so oft vergeblich zu den Waffen gerufen hatte, damit sie ihn verteidigten, ihn jetzt zum Angriff drängten, veranlaßte Friedrich den Herzog Otto von Bayern, nach Wien zu reisen, um den Frieden mit dem König von Ungarn, der sich auch Herzog von Österreich nannte, zu vermitteln. Otto von Bayern gelang es, eine Zusammenkunft Friedrichs mit Matthias Corvinus zu verabreden. Doch bevor diese Zusammenkunft stattfinden konnte, starb der König von Ungarn in der Wiener Hofburg. Maximilian eilte nach Österreich. Er warb Mannschaften. Unter gro458
ßem Jubel der Wiener, die es nach dem Tode des bei ihnen so beliebten Königs von Ungarn vorzogen, wieder habsburgfreundlich zu sein, zog er in Wien ein. Als Herr Österreichs, dessen Burgen und Städte er eine nach der anderen eroberte, hatte Maximilian Truppen und Geld. Jetzt mußten nur noch die ungarischen Großen die Erbansprüche Friedrichs und Maximilians auf den ungarischen Königsthron bestätigen. Wenn der ungarische Reichstag sich aber weigerte, seinen Vater oder ihn als König zu wählen, war Maximilian entschlossen, das Land mit Waffengewalt zu erobern. Außer den Habsburgern waren noch Wladyslaw, der König von Böhmen, und ein natürlicher Sohn Matthias, Herzog Johann Corvinus, Anwärter auf den Thron von Ungarn. Johann Corvinus hatte die beste Aussicht bei seinen Standesgenossen. Er entsagte der Anwartschaft und sprach sich für die Wahl des Königs von Böhmen aus. Eine Gesandtschaft wurde vom ungarischen Reichstag nach Prag gesandt, Wladyslaw in sein neues Königreich zu geleiten. Maximilian hatte mit dem Ausgang der Wahl zu seinen Gunsten gerechnet. Als er erfuhr, daß die Krone weder ihm noch seinem Vater zuerkannt worden war, brach Maximilian mit Heeresmacht in Ungarn ein. Die Unternehmung wurde gegen den Wunsch Friedrichs III. begonnen. Der alte Kaiser glaubte nicht daran, daß ein Reich, das mit Waffen gewonnen wurde, von Bestand sein könne. Es war ihm beinahe recht, daß Maximilian den Feldzug erfolglos führte. Er wollte vermitteln. Am Rande seines Lebens schloß er für sich, für Maximilian und seine Erben einen neuen Vertrag, an dessen Erfüllung Friedrich unverrückbar glaubte, obwohl noch kein Erbvertrag, den er geschlossen hatte, ihn in den tatsächlichen Besitz der Kronen gebracht hatte, die er sich und seinen Erben hatte sichern wollen. Diese bedeutsame Urkunde, deren Inhalt den Großen Ungarns, Böhmens und Österreichs bekanntgegeben wurde, enthielt außer dem Recht Maximilians, sich der Ehre halber König von Ungarn nennen zu dürfen, keinen offenkundigen Vorteil, keinen Länderzuwachs, der den Zeitgenossen die Zufriedenheit Friedrichs mit dem Vertrag verständlich hätte machen können. Nur der Kaiser, sein Sohn Maximilian und König Wladyslaw 459
wußten von den geheimen Zusätzen. Sie bestimmten die Nachfolge Maximilians und seiner Erben in allen Königreichen und Herrschaften Wladyslaws, falls dieser ohne männliche Nachkommen stürbe. Obwohl Friedrich das künftige österreichische Kaiserreich an der Donau in seiner Vorstellung als schon gegebene Tatsache gelten ließ und sein Enkel Philipp der unbestrittene Herr der reichen Niederlande war, hielt der Kaiser sein Leben noch nicht für erfüllt. Er wollte für seinen Enkel, den bald vierzehnjährigen Sohn Maximilians, eine Braut, die ihm ein gewaltiges Reich in die Ehe bringen sollte. Welche Möglichkeiten hatte er, sich die ›Katholischen Könige‹, Ferdinand und Isabella, geneigt zu machen? Als Christoph Kolumbus im Jahre 1492 den Hafen von Palos verließ, lag Friedrich III. auf dem Sterbebett. Die Ärzte hatten ihn aufgegeben, aber er kämpfte um sein Leben. Sein rechtes Bein war von Geschwüren zerfressen. Er wollte nicht sterben, bevor er nicht die Nachricht erhielt, daß Ferdinand und Isabella seine Werbung um ihre Tochter Johanna für den habsburgischen Erben angenommen hatten. Friedrich ließ sich das kranke Bein abnehmen und hielt in seinem unbezähmbaren Willen, zu wissen, ob er sein Leben so erfüllt habe, wie er es erfüllt haben wollte, alle Schmerzen ohne zu klagen aus. Er hatte so oft den Wettkampf mit der Zeit gewonnen, er durfte sich nicht durch den Ablauf der Zeit überwinden lassen, die der Gesandte brauchte, um vom Hof des siegreichen Ehepaares, das den Islam aus Spanien vertrieben hatte, nach Wien zurückzukehren. Das Jahr 1493 brach an. Die geistigen Kräfte des alten Kaisers begannen zu versagen, so wie sein Körper versagte. Er unterschrieb keine staatlichen Urkunden mehr, aber mit schwacher Hand schrieb er Tag für Tag noch immer die Buchstaben der Beschwörung: »A. E. I. 0. U.« auf ein leeres Blatt Pergament. Er zitterte am ganzen Körper, als ihm die Rückkehr des Gesandten aus Spanien gemeldet wurde. Der Kaiser war außer sich, als er statt des erhofften Jawortes für seinen Enkel die Botschaft erhielt, daß ein aufregendes Ereignis Ferdinand und Isabella veranlaßt habe, mit ihrer Zustimmung zur Verheiratung ihrer Tochter zurückzuhalten. Das Wunder des Jahrhunderts war geschehen. Chri460
stoph Kolumbus war von seiner Entdeckungsfahrt zurückgekommen und hatte den ›Katholischen Königen‹ die Herrschaft über eine neue Welt zu Füßen gelegt. Friedrich III. hielt nicht viel davon. Er war mißtrauisch gegen ein Weltreich, das er seiner Vorstellung nicht einfügen konnte. Er wünschte, daß das Haus Habsburg nur sein Reich beherrsche, die alte Welt seiner Einbildungskraft, das schwärmerische Reich, das er mit so viel Liebe, Sorgfalt und Geduld ein ganzes Leben lang geplant hatte. Es war ein heißer Sommer. Nach der Vorschrift seines alten Arztes aß Friedrich zur Abkühlung so viele Melonen, wie nötig waren, seinen Durst zu stillen. Er klagte erst, daß er das Gefühl habe, es läge ihm jetzt die ganze Erde im Magen. Dann aber wurde er plötzlich wieder guter Laune, voll Zuversicht, daß die Antwort Ferdinands und Isabellas nun nicht lange auf sich warten lassen würde. Er verlangte unbeschriebenes Pergament und eine spitze Feder, schrieb seine geliebten Buchstaben nieder, lächelte überlegen, als wüßte er es besser als die Männer seiner Umgebung, die daran zweifelten, daß Österreich den Erdkreis beherrschen werde, und begehrte, mit dem heiligen Sakrament versehen zu werden. Er war ganz und gar davon überzeugt, daß er dem Hause Habsburg ein Weltreich gesichert habe. Jetzt wollte er sich selbst noch durch die Letzte Ölung den Zutritt zum Himmel sichern.
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ZEITTAFEL Das Mittelalter ab 1098 Gründung ›fränkischer‹ Kreuzfahrerstaaten im Orient, u.a. Königreich Jerusalem ab 1100 Im romanischen Kirchenbau Kreuzgewölbe Beginn einer weltlichen Malerei in Japan 1115 Das Zisterzienserkloster Clairvaux von Bernhard gegründet um 1120-1180 Johann von Salesbury, engl. Philosoph 1124 Kompaß in China konstruiert um 1130 Anfänge französischer Gotik Baubeginn an der Kathedrale in Chartres
1138-1152 Konrad III. 1140-1215 Bertran de Born, Troubadour in England um 1142 Der frei gestaltete Briefwechsel mit Heloise von Abaelard 1143-1180 Byzantinisches Reich Manuel I. 1145-1191 Chretien de Troyes, höfischer Romandichter in Frankreich im 12. Jh. Neue Blüte der Mosaikkunst in Italien, ebenso in Rußland. In Rußland Beginn der Ikonenmalerei Troubadoure in Frankreich Hochscholastik (bis Ende 13. Jh.) 1147-1149 Zweiter Kreuzzug 462
1152-1190 Friedrich I. Barbarossa. Höchste Blüte des Rittertums 1154-1399 England Das Haus Anjou-Plantagenet 1154-1189 England Heinrich II. Sein Reich von der schottischen Grenze bis zu den Pyrenäen 1156 Die Klosterkirche Maria Laach erbaut um 1156 Bernart von Ventadorn leitet eine Blütezeit der höfischen Kunstdichtung in Frankreich ein 1157-1182 Dänemark Waldemar I. der Große, Beginn der Dänischen Großmachtstellung
Die Konstitutionen von Clarendon, deren Gegner der Erzbischof von Canterbury, Thomas Becket, ist. etwa 1170-1220 Wolfram von Eschenbach, Dichter etwa 1170-1230 Walther von der Vogelweide, deutscher Minnesänger um 1175 Giraut de Bornelh tritt auf, der vielleicht bedeutendste Troubadour 1176 Byzantinisches Reich Vernichtende Niederlage gegen die Türken bei Myriokephalon Beginn des Neubaus beim Straßburger Münster 1178-1180 Heinrich der Löwe geächtet
1163 Notre-Dame in Paris, Baubeginn
1180-1223 Frankreich Philipp II. Augustus
1164 England
1182-1202 Dänemark 463
Knut VI. verheiratet mit Gertrud, der Tochter Heinrichs des Löwen. Huldigt nicht dem Kaiser 1182-1226 Franz von Assisi 1185 Die Normannen erbauen den Dom in Palermo 1186 Bulgarien Zweites bulgarisches Reich unter Peter und Ivan Asen gegründet 1189-1192 Dritter Kreuzzug 1189-1199 England Richard Löwenherz. Er wird bei seiner Rückkehr vom Dritten Kreuzzug gefangengenommen und bis 1194 von Kaiser Heinrich VI. in die Feste Trifels gesperrt etwa 1190-1220 Blüte des höfischen Minnesangs mit Instrumentalbegleitung in Mitteleuropa 1190-1197 Heinrich VI.
Höhepunkt der staufischen Weltmonarchie 1190 Gründung des Deutschen Ordens um 1191 Etwa 30 Meter hoher Pyramidentempel der Maya auf der Halbinsel Yukatan 1193-1280 Albertus Magnus, dt. Philosoph 1195 In Europa wird der Seekompaß erfunden um 1196 Das ›Igor-Lied‹, eine russische Heldensage 1198 Doppelwahl: 1198-1208 Philipp von Schwaben 1198-1215 Otto IV. 1199-1216 England Johann I. ›ohne Land‹ um 1200 Indien Eroberung des Landes
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durch die Mohammedaner; mohammedanische Herrschaft von Delhi aus um 1202 Bedeutende chinesische Keramik Baubeginn an der Kathedrale in Reims 1202-1241 Dänemark Waldemar II. 1204 Byzantinisches Reich Venezianer und Kreuzfahrer erobern Konstantinopel und errichten das lateinische Kaisertum 1206-1227 Dschingis Khan (Temudschin) schafft das Großreich der Mongolen 1209-1229 Die Albigenser-Kriege in Südfrankreich um 1210 Tristan, mittelhochdeutsche Dichtung von Gottfried von Straßburg Parzival, mittelhochdeutsches
Epos von Wolfram von Eschenbach 16. Juni 1212 Spanien Die Könige von Kastilien, Aragon und Navarra besiegen Almansor vernichtend bei Navas de Tolosa 1212-1250 Friedrich II. 1214 Schlacht bei Bouvines: Vollständiger Sieg Philipps über Kaiser Otto IV. 1215 England Die Magna Charta libertatum: Auch der König ist an das Recht gebunden China Die Mongolen des Dschingis Khan erobern Peking um 1215-1294 Roger Bacon, engl. Philosoph 1215-1250 Italien Friedrich II.
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1216-1272 England Heinrich III. 1218 Baubeginn an der Kathedrale zu Amiens (hochgotisch) 1218-1241 Bulgarien Ivan Asen II. 1220-1278 Niccoló Pisano, italienischer Bildhauer um 1220 Kathedrale in Chartres erbaut 1221 Indien Dschingis Khan erreicht den Indus 1223 Rußland Ein russisches Heer unterliegt vernichtend Dschingis Khan in der Schlacht an der Kalka 1225 Baubeginn am Wiener Stephansdom
um 1225 Snorri Stufluson, ›Edda‹ 1225-1274 Thomas von Aquino, italienischer Scholastiker 1226-1270 Frankreich Ludwig IX. der Heilige 1226 Polen Konrad von Masowien ruft den Deutschen Orden gegen die heidnischen Preußen ins Land 1227 Dänemark Schlacht bei Bornhöved, Dänenherrschaft in Deutschland bricht zusammen 1228-1229 Erneuerung des Königreichs Jerusalem unter Friedrich II. 1228/29 Fünfter Kreuzzug 1229 Frankreich Vertrag von Paris, Ende der Albigenser-Kriege 466
1230 Der Deutsche Orden beginnt die Eroberung Preußens 1235-1316 Raimundus Lullus, spanischer Scholastiker 1240 Rußland Die Ungarn erobern Kiew um 1240 Italienischer Minnesang am Hof zu Palermo 9. April 1241 Polen/Schlesien Abwehrschlacht auf der Wahlstatt bei Liegnitz; ein deutsch-polnisches Ritterheer unter Herzog Heinrich II. von Schlesien unterliegt dem Mongolen Batu 11. April 1241 Ungarn Bela IV. von Ungarn unterliegt einem Mongolenheer im Tale der Theiß. Verwüstung des Landes 1244 Jerusalem geht den Christen verloren
1245-1320 Giovanni Pisani, ital. Bildhauer 1247-1256 Wilhelm von Holland als Gegenkönig 1248 Baubeginn am Kölner Dom Baubeginn an der Alhambra in Granada (islamisch) im 13. Jh. Blüte der gotischen Glasmalerei in Europa ›Carmina burana‹, eine Sammlung von Liedern fahrender Schüler Die sogenannte ›LiederEdda‹ entsteht 1250-1254 Konrad IV. 1250-1266 Schweden Birger Jarl nach 1250 Italien Kein einheitliches Staatsgebilde; kleinere Staaten
467
13. Jh. Japan Einfallende Mongolen werden in grausigen Schlachten zurückgeworfen 1253-1278 Böhmen Ottokar II. verhilft seinem Reich zu europäischer Geltung; ist 1254/55 Anwärter auf die Kaiserkrone, unterliegt 1278 Rudolf von Habsburg auf dem Marchfeld und kommt anschließend um 1254-1324 Marco Polo, italienischer Forschungsreisender 1256-1273 Das Interregnum in Deutschland (die ›kaiserlose Zeit‹) 1257 Bildhauerarbeiten in NotreDame von Paris, hochgotisch Ägypten Beginn der Mameluckenherrschaft 1258 Bagdad Der Enkel Dschingis Khans,
Hulagu, stürzt die Abbassiden und zerstört Bagdad. (Hulagus Heer wird 1260 von den Mamelucken vernichtet) 1258-1282 Konstantinopel Michael VIII. Palaiologos um 1260 Die zwölf Stifterfiguren am Naumburger Dom fertiggestellt 1260-1294 China Hubilai (Kublai Chan), Großchan der Mongolen, ab 1280 Kaiser von China. Beginn der Mongolischen Dynastie in China) 1260-1327 Meister Eckart, deutscher Mystiker 1261 Byzantinisches Reich Wiederherstellung der griechischen Herrschaft in Konstantinopel nach dem Fall der Stadt 1263 Italien 468
Karl von Anjou wird päpstlicher Reichsvikar für Italien. Nach dem Sieg Karls 1268 bei Tagliacozzo über Konradin geht die Fremdherrschaft in Unteritalien an die Franzosen über. 1268 geht auch der Stauferbesitz im Normannenreich an Karl 1265-1321 Dante, italienischer Dichter etwa 1266-1337 Giotto di Bondone, italienischer Maler 1266-1308 Johannes Duns Scotus, schottischer Scholastiker 1268 Die Kathedrale von Amiens fertiggestellt (hochgotisch) 1272-1307 England Edward I. 1273-1347 Könige aus verschiedenen Häusern
1273-1291 Rudolf I. von Habsburg, besiegt 1278 Ottokar von Böhmen auf dem Marchfelde 1274 Byzanz Michael VIII. schließt auf dem Konzil zu Lyon eine Union mit der Römischen Kirche 1274-1398 Die Marienburg in Westpreußen erbaut 1276 Westfassade des Straßburger Münsters, hochgotisch, erbaut 1280-1294 China Hubilai (Kublai Khan), der Großkhan der Mongolen, ist Kaiser von China 1282 Byzanz Höhepunkt des Aufstands gegen Karl von Anjou, der Byzanz bedroht: die Sizilianische Vesper um 1285 ›Lohengrin‹, mittelhochdeutsche Sagendichtung 469
1285-1314 Frankreich Philipp IV. der Schöne 1288-1326 Vorderasien Osman I. ab 1299 Sultan, Begründer des osmanischen Reiches um 1290 ›Meier Helmbrecht‹, epische Verserzählung von Werner der Gartenaere 1290 England Edward vertreibt die Juden aus England 1290-1301 Ungarn Andreas III.; 1308 kommt die ungarische Krone an das Haus Anjou
Eidgenossenschaft Syrien Fall von Akkon, Ende der Kreuzfahrerstaaten 1292-1298 Adolf von Nassau 1295-1366 Heinrich Seuse, deutscher Mystiker 1298-1308 Albrecht I. von Österreich 11. Juli 1302 Frankreich Schlacht bei Kortrijk: ein französisches Ritterheer wird von den flandrischen Zünften völlig vernichtet 1304-1374 Francesco Petrarca, italienischer Dichter
etwa 1290-1349 Wilhelm von Occam, englischer Philosoph
1307 Frankreich Ausrottung der Templer
1291 Ewiger Bund von Uri, Schwyz und Unterwalden Anfang der Schweizer
1308-1313 Heinrich VII. von Luxemburg
470
1309-1377 Frankreich Die ›Babylonische Gefangenschaft der Kirche‹, Avignon wird Sitz der Kurie
1320 Polen Wladyslaw Lokietek schafft in Polen ein einheitliches Staatsgebilde
1312-1350 Kastilien Alfons XI. (1340 ein Heer des Sultans von Marokko am Salado vernichtet)
1320-1389 Hafis, persischer Dichter 1322 Sieg Ludwigs über Friedrich bei Mühldorf am Inn
1313-1375 Giovanni Boccaccio, italienischer Dichter 1314 England Robert Bruce von Schottland besiegt Edward bei Bannockburn; Schottland bleibt unabhängig
1325-1341 Rußland Fürstentum Moskau unter Ivan Kalita 1327-1377 England Edward III. 1328-1498 Frankreich Das Haus Valois
1314-1347 Ludwig IV. der Bayer 1314-1330 Friedrich der Schöne von Österreich als Gegenkönig
1328-1350 Frankreich Philipp VI.
1316-1341 Litauen Großfürst Gedymin
1328-1384 John Wycliffe, englischer Reformator und Bibelübersetzer 471
1330-1399 Peter Parlet, dt. Bildhauer
1346-1437 Luxemburgische Kaiser
1333-1378 Böhmen Karl IV.; das ›Goldene Zeitalter‹: Prag wird Erzbistum, 1348 Gründung der Universität Prag
1346-1378 Karl IV. von Luxemburg
1333-1370 Polen Kasimir III. der Große, Kampf mit Litauen, Eroberungen, Lehnshoheit über Masovien 1338 Kurverein von Rense: Deutscher König braucht nicht vom Papst bestätigt zu werden 1339-1453 Der ›hundertjährige Krieg‹ Frankreichs gegen England. Große englische Siege bei Crecy (1346) und Maupertius (1356) etwa 1340-1400 Geoffrey Chaucer, englischer Dichter 1346-1406 Eustache Deschamps, Dichter französischer Balladen
1349/50 England Die englische Bevölkerung wird durch die Pest von 4 auf etwa 2 ½ Millionen verringert 1350-1364 Frankreich Johann II. der Gute im 14. Jh. Mexiko Reich der Azteken um 1350 Höhepunkt der deutschen Glasmalerei ›Der Kreidekreis‹, ein chinesisches Drama von Li Hsing Tao 1353 ›Decameron‹ von Boccaccio, italienische Novellensammlung 1356 ›Goldene Bulle‹: Regelung der Königswahl 472
1359-1389 Rußland Ausweitung des Fürstentums Moskau unter Dmitrij 1360 Frankreich Friede von Bretigny mit England, Teile Frankreichs an England ab 1360 Timur Lenk begründet das zweite mongolische Reich: er unterwirft Persien, Syrien, Kleinasien, einen Teil Rußlands und das Indusland 1364-1380 Frankreich Karl V. der Weise 1368-1644 China Vertreibung der Mongolen Begründung der Ming-Dynastie, Ausbau der Großen Mauer 1369-1415 Johann Hus, Reformator um 1370 (Friede von Stralsund) Höhepunkt der Macht der Hanse
1377-1399 England Richard II. 1377 Baubeginn am Ulmer Münster 1378-1400 Wenzel, Zerrüttung des Reiches. Wenzel schließlich abgesetzt 1378-1419 Böhmen Wenzel IV. von Böhmen und Schlesien 1380 Rußland Sieg auf dem Kulikover Feld über Mongolen unter Mamaj 1380-1422 Frankreich Karl VI. 1381 England Großer Bauernaufstand unter Wat Tayler, blutig niedergeschlagen 1386 Polen Hedwig heiratet den 473
Litauerfürsten Jagiello; Vereinigung von Polen und Litauen 1386-1434 Polen Wladyslaw II. Jagiello 1387-1412 Skandinavien Margarete von Dänemark und Norwegen, seit 1389 auch von Schweden 1387-1437 Ungarn Sigismund von Luxemburg 1387-1455 Fra Angelico, it. Maler 1389 Serbien Abwehrschlacht der südslawischen Völker auf dem Amselfeld ab 1390 Byzanz Abhängigkeit der byzantinischen Herrscher vom Sultan 1393 Griechenland
Erster Türkeneinfall, Thessalien osmanisch, 1397 Athen besetzt 1395-1444 Konrad Witz, dt. Maler 1396 Bulgarien Bulgarien wird türkische Provinz 1397 Skandinavien Die Kalmarische Union (Vereinigung der nordischen Reiche) 1399-1461 England Das Haus Lancester 1399-1413 England Heinrich IV. 1400-1464 Roger van der Weyden, niederl. Maler etwa 1400 ›Der Ackermann aus Böhmen‹, frühe neuhochdeutsche Prosadichtung des Johann von Saaz 474
1415 Friedrich VI. von Hohenzollern erhält die Mark Brandenburg
1400-1410 Ruprecht von der Pfalz 1401-1464 Nikolaus von Kues (Cusanus), deutscher Philosoph
1419-1436 Hussiten-Kriege um 1420 Hubert und Jan van Eyck begründen die neuzeitliche niederländische Ölmalerei
1402 Kleinasien Sultan Bajezid I. unterliegt den Mongolen unter Timur bei Ankara
1422 Byzanz Konstantinopel zum erstenmal von den Osmanen belagert, behauptet sich
1406-1469 Filippo Lippi, it. Maler 1410 Polen Sieg der Polen-Litauer über den Deutschen Orden bei Tannenberg Niederlage des Deutschen Ordens bei Tannenberg
1422-1451 Frankreich Karl VII. 1422-1461 England Heinrich VI.
1410-1437 Sigismund
1427 Mexiko Itzcoatl, mit dessen Regierungszeit zugleich der große Aufstieg des Reiches der Azteken beginnt
1413-1422 England Heinrich V. 1414-1418 Konzil zu Konstanz 475
1429 Frankreich Jeanne d'Arc zwingt die Engländer zur Aufhebung der Belagerung von Orléans; sie führt Karl VII. nach Reims, wo er gekrönt wird 1431 Frankreich Jeanne d'Arc als Ketzerin verbrannt
1438-1740 Die Habsburgischen Kaiser 1438-1439 Albrecht II. von Österreich um 1440 Dreikönigsaltar in Köln von Lochner 1440-1493 Friedrich III.
1431-1449 Konzil zu Basel
1444-1510 Botticelli, it. Maler
1431 – etwa 1480 François Villon, französischer volkstümlicher Lyriker
1444 ›Euryalus und Lukretia‹, ein italienischer Liebesroman des Enea Silvio Piccolomini
1433-1494 Hans Memling, niederl. Maler 1434-1519 Michael Wolgemut, deutscher Maler und Holzschnittzeichner 1436 Mittelamerika Die Tolteken, die das Mayareich erobert hatten, werden wieder vertrieben
etwa 1445-1491 Martin Schongauer, deutscher Maler und Kupferstichzeichner etwa 1450-1533 Veit Stoß, Bildhauer in Nürnberg etwa 1450-1516 Hieronymus Bosch, niederländischer Maler ›Little Geste of Robin Hood‹, englisches Epos 476
1459 Serbien Serbien wird von den Türken genommen (außer Montenegro und der Republik Ragusa)
im 15. Jh. Die Kathedrale in York, England, erbaut Spätgotik in Deutschland 1452-1519 Leonardo da Vinci, italienischer Maler und Wissenschaftler 1453 Ende des ›Hundertjährigen Krieges‹ Byzanz Ein gewaltiges Heer unter Sultan Mohammed II. belagert Konstantinopel von Anfang April und erobert es am 29. Mai; Ende des byzantinischen Kaisertums 1455-1485 England ›Rosen-Krieg‹ 1458-1490 Ungarn Matthias I. Corvinus 1458 Griechenland Einfall Mohammeds II. Ende der Selbständigkeit fast aller christlichen Staaten auf dem griechischen Festland
15. Jh. Südamerika Größte Ausdehnung des Inkareichs 1460-1509 Adam Kraft, Bildhauer in Nürnberg 1460-1531 Tilman Riemenschneider, deutscher Bildschnitzer und Bildhauer 1460-1529 William Dunbar, schottischer Dichter 1460 (-1863) Skandinavien Personalunion der Herzogtümer Schleswig und Holstein mit Dänemark zuerst unter Christian I. 1460 England Die königliche Armee bei
477
Northhampton geschlagen. Heinrich VI. gefangen 1461 England Edward IV. von York wird in London zum König ausgerufen, siegt anschließend bei Towton in einer grausamen Schlacht 1461-1483 England Edward IV. Frankreich Ludwig XI. 1461-1485 England Das Haus York 1462-1505 Rußland Ivan III. der Große, nennt sich ›Zar von ganz Rußland‹ 1463 Bosnien Bosnien wird türkische Provinz 1465-1536 Erasmus von Rotterdam, europäischer Humanist
1465-1524 Hans Holbein d.Ä. deutscher Maler 1466 Polen Zweiter Thorner Frieden: Polen erhält Westpreußen mit Danzig und Marienburg und das Ermland; Hochmeister des Deutschen Ordens muß Treueid leisten 1469-1527 Niccoló Machiavelli, italienischer Staatsphilosoph und Dichter 1469 Heirat Isabellas von Kastilien mit Ferdinand von Aragonien. Unter ihrer Herrschaft Spanien vereinigt 1471-1528 Albrecht Dürer 1472 Lucas Cranach d.Ä. deutscher Maler 1473-1543 Nikolaus Kopernikus, europäischer Astronom 478
1474-1504 Isabella von Kastilien
Edward V. wird von Richard von Gloucester abgelöst.
1474-1533 Ludovico Ariosto, italienischer Dichter
1483-1485 England Richard III. mit Zustimmung des Parlaments zum König gekrönt; läßt viele Verwandte hinrichten
1477-1576 Tizian, italienischer Maler 1478-1535 Thomas Morus, englischer Philosoph 1479-1516 Ferdinand von Aragonien 1480 Rußland Moskau befreit sich von der Tributherrschaft der Tataren 1480-1600 Japan Das Zeitalter der ›streitenden Reiche‹ 1481-1513 Skandinavien Johann 1483 England
1483-1498 Frankreich Karl VIII. 1483-1520 Raffaelo Santi (Raffael), italienischer Maler 1484-1531 Ulrich Zwingli, Schweizer Reformator 1483-1546 Martin Luther, Reformator 1485 England Heinrich Tudor besiegt Richard in der Schlacht bei Bosworth; Richard fällt, Heinrich zum König gekrönt (1485-1509) 1485-1603 England Das Haus Tudor 479
Deutsche Geschichte
1487 Die Hauptmoschee El Haram in Medina erbaut, dort das Grabmal Mohammeds
etwa 11. – Mitte 14. Jh. Mittelhochdeutsche Sprache
1488-1523 Ulrich von Hutten, deutscher Humanist
1096-1099 Erster Kreuzzug, Gründung des Königreichs Jerusalem
1490-1516 Ungarn Wladislaw II. von Böhmen
etwa 1098-1179 Hildegard von Bingen schreibt gegen kirchliche Mißstände
1492 Spanien Ferdinand erobert Granada am 2. Januar. Auch Vertreibung der Juden. Damit ist die ganze Iberische Halbinsel dem Christentum zurückgewonnen Kolumbus, ausgerüstet von Isabella von Kastilien, entdeckt Amerika Erster Erdglobus von Behaim in Nürnberg
um 1100 Erste Kreuzgewölbe im Mittelschiff romanischer Kirchen
um 1492 Bedeutende Malerei in China
1106-1125 Heinrich V. 1122 Das Wormser Konkordat; Ende des Investiturstreits 1125-1137 Lothar von Sachsen. Beginn der ostdeutschen Kolonisation unter Konrad von Wettin und Albrecht dem Bär 1129 Dom in Quedlinburg erbaut
480
1138-1152 Konrad III.
Könige aus dem Haus Anjou Plantagenet
1138-1254 Die Staufischen Könige und Kaiser
1156 Die Klosterkirche Maria Laach erbaut
um 1140 ›Marienlied‹ des Heinrich von Melk
um 1157 Der von Kürenberg, deutscher Minnesänger
im 12. Jh. Peterskirche in München erbaut. Kaiserburg in Nürnberg erbaut
um 1160 Früher Minnesang in Deutschland
1146 Bischof Otto von Freising schreibt ›Chronik oder Geschichte der beiden Reiche‹
1165-1215 Hartmann von Aue schreibt mittelhochdeutsche höfische Epen
1147-1149 Zweiter Kreuzzug, furchtbare Katastrophe
1166 Bronzelöwe in Braunschweig etwa 1170-1220 Wolfram von Eschenbach, Dichter
um 1150 Erste deutsche Minnelieder
etwa 1170-1230 Walther von der Vogelweide, deutscher Minnesänger
1152-1190 Friedrich I. Barbarossa, Blütezeit des deutschen Rittertums
um 1170 Das erste deutsche Tierepos
1154-1399 England 481
›Reinhart Fuchs‹ von Heinrich dem Gleisner
Friedrich I. ertrinkt im Fluß Kalykadnus (Saleph)
1173 Dom zu Lübeck, Baubeginn
1190-1197 Heinrich VI.; die staufische Weltmonarchie erreicht ihren Höhepunkt
1176 Beginn des Neubaus beim Straßburger Münster 1178-1180 Heinrich der Löwe wird geächtet und seiner Lehen entsetzt um 1180 ›Herzog Ernst‹, eine mittelfränkische Dichtung 1183 Friede von Konstanz (mit den Lombarden) 1184 Die Kaiserpfalz Friedrichs I. in Kaiserswerth fertiggestellt 1186 Vermählung Heinrichs VI. mit Konstanze von Sizilien 1189-1192 Dritter Kreuzzug, Eroberung von Akkon,
etwa 1190-1220 Blüte des höfischen Minnesangs mit Instrumentalbegleitung 1192 Baubeginn beim Bamberger Dom 1195 In Europa wird der Seekompaß erfunden 1198 Doppelwahl in Deutschland: 1198-1208: Philipp von Schwaben 1198-1215: Otto IV. von Braunschweig, Sohn Heinrichs des Löwen um 1200 ›Rabenschlacht‹, mittelhochdeutsches Epos vom Sieg Dietrichs von Bern bei Ravenna Dom zu Limburg an der Lahn erbaut 482
Spätrömischer Kirchenbaustil in Deutschland
Otto IV. unterliegt Philipp August von Frankreich
1202-1204 Vierter Kreuzzug
um 1215 Papst Innozenz III. Machtentfaltung des Papsttums
1205-1270 Tannhäuser, mittelhochdeutscher Lyriker 1209 Baubeginn am Magdeburger Dom, der als erster gotischer Bau in Deutschland gilt um 1210 Baubeginn an der ZisterzienserKirche in Maulbronn (gotisch) Parzival, mittelhochdeutsches Epos von Wolfram von Eschenbach Tristan, mittelhochdeutsche Dichtung von Gottfried von Straßburg 1212-1250 Friedrich II. zugleich König von Sizilien 1213 ›Goldene Bulle‹ von Eger
1215 England Magna Charta 1218 Tod Heinrichs von Morungen, Minnesänger um 1220 Taufbecken im Dom zu Hildesheim, wertvolle romanische Plastik 1225 Baubeginn am Wiener Stephansdom etwa 1230-1313 Hugo von Trimberg, mittelhochdeutscher Dichter um 1230 ›Sächsische Weltchronik‹, Prosawerk
1214 Schlacht bei Bouvines: 483
1234 Kaiserdom in Worms (romanisch) fertiggestellt
1254 Rheinischer Städtebund, zur Stärkung des Landfriedens
um 1235 Neidhart von Reuenthal und Reinmar von Zweter tätig, mittelhochdeutsche Dichter
um 1255 Ulrich von Lichtenstein, mittelhochdeutscher Dichter
1242 Hauptbau des Naumburger Doms (romanisch) fertiggestellt 1247-1256 Wilhelm von Holland als Gegenkönig 1250-1254 Konrad IV. um 1250 Eigentlicher Beginn der Gotik in Deutschland 1250-1318 Heinrich Frauenlob von Meißen, Meistersinger 1250-1339 Schweden Die Folkunger 1253-1278 Ottokar II. von Böhmen
1256-1273 Das Interregnum in Deutschland (›Die schreckliche kaiserlose Zeit‹) 1257 Richard von Cornwall und Alfons X. von Kastilien werden nacheinander von jeweils einem Teil der Kurfürsten zu Königen gewählt. Beide setzen sich nicht durch 1260-1294 China Hubilai (Kublai Khan), ab 1280 Kaiser von China um 1260 Die zwölf lebensgroßen Stifterfiguren am Naumburger Dom fertiggestellt 1260-1327 Meister Eckart, deutscher Mystiker 484
1265 Dom in Münster in Westfalen (romanischgotischer Übergangsstil) 1267 Konradin, der letzte Staufer, wird auf Befehl von Karl von Anjou in Neapel hingerichtet
um 1285 ›Lohengrin‹, mittelhochdeutsche Sagendichtung um 1290 ›Meier Helmbrecht‹, epische Verserzählung von Werner der Gartenaere
1273-1347 Könige verschiedener Häuser
1292 Baubeginn bei der Marienkirche in Stargard
1273-1291 Rudolf I. von Habsburg
1292-1298 Adolf von Nassau
1274-1398 Die Marienburg in Westpreußen erbaut
1298-1308 Albrecht I. von Österreich
1275 Der Regensburger Dom erbaut (hochgotisch) 1278 Rudolf besiegt auf dem Marchfelde Ottokar von Böhmen 1283 Elisabeth-Kirche in Marburg erbaut
um 1308-1313 Heinrich VII. von Luxemburg 1309-1367 Frankreich Die Päpste von Avignon 1310 Durch Heirat kommt Böhmen an die Luxemburger 1314 Erneute Doppelwahl: 1314-1347: Ludwig, der Bayer 485
1314-1330: Friedrich von Österreich 1315 Friedrich, Bruder Leopolds I. unterliegt gegen die drei Waldstätte beim Morgarten
1346-1378 Karl IV. Brandenburg vom ›Falschen Waldemar‹ beherrscht um 1348 Erste weltliche Volkslieder
1322 Ludwig besiegt Friedrich bei Mühldorf am Inn
1348 Karl IV. gründet die Universität Prag
um 1326 Das Chorgestühl des Kölner Doms errichtet
1348-1352 Der ›Schwarze Tod‹ (Pest) in fast ganz Europa. Angeblich ein Drittel der Bevölkerung umgekommen.
im 14. Jh. Südamerika Reich der Azteken in Mexiko 1338 Kurverein von Rense: Der von der Mehrheit der Kurfürsten gewählte König bedarf nicht der päpstlichen Bestätigung 1339-1453 England und Frankreich ›Hundertjähriger‹ Krieg 1346-1437 Luxemburgische Kaiser
1349-1350 England Die furchtbare Pestepidemie um 1350 Allmählicher Übergang zur neuhochdeutschen Sprache Höhepunkt der deutschen Glasmalerei: gotische Glasbilder im Kölner Dom 1355 Karl IV. stiftet die Frauenkirche in Nürnberg
486
1356 ›Goldene Bulle‹ regelt die Königswahl neu um 1360 Clavichord und Cembalo werden zum erstenmal gebaut 1361-1362 1367-1370 Zwei Kriege der Hanse gegen Waldemar von Dänemark. Der Friede von Stralsund 1370 bedeutet den Höhepunkt der Hanse 1366 Tod von Heinrich Seuse, deutscher Mystiker 1377 Baubeginn am Ulmer Münster 1378-1400 Wenzel 1386 Polen und Litauen Vereinigung der Reiche durch Heirat Ein Ritterheer unter Herzog Leopold III. von Österreich unterliegt in der Schlacht bei Sempach den Eidgenossen
1388 Gründung der Universität Köln 1397 Die Kalmarische Union (Vereinigung der Skandinavischen Reiche) um 1400 Baubeginn am Neubau der Marienkirche in Danzig etwa 1400 ›Der Ackermann aus Böhmen‹, frühe neuhochdeutsche Prosadichtung des Johann von Saaz 1400-1410 Ruprecht von der Pfalz 1401-1464 Nikolaus von Kues (Cusanus), deutscher Philosoph um 1410 Die Weingartner Liederhandschrift 1410 Niederlage des Deutschen Ordens bei Tannenberg gegen Polen und Litauen. Eine der größten 487
mittelalterlichen Schlachten: etwa 40.000 Kämpfende 1410-1437 Sigismund 1414-1418 Konzil zu Konstanz (1415 Hus verbrannt) 1415 Friedrich VI. von Hohenzollern, Burggraf von Nürnberg, erhält die Mark Brandenburg mit Kurwürde 1419-1436 Hussiten-Krieg um 1420 Hubert und Jan van Eyck begründen die neuzeitliche niederländische Ölmalerei 1423 Friedrich der Streitbare (Wettiner) erhält das Kurfürstentum SachsenWittenberg 1429 Frankreich Auftreten der Jeanne d'Arc
1434-1519 Michael Wolgemut, Maler und Holzschnittzeichner 1438-1740 Habsburgische Kaiser 1438-1439 Albrecht II. von Österreich 1440-1493 Friedrich III. um 1440 Dreikönigs-Altar im Kölner Dom von Lochner um 1444 Meistersinger Hans Rosenplüt in Nürnberg etwa 1445-1491 Martin Schongauer, Maler und Kupferstichzeichner 1447 Konrad Witz gestorben, Maler vieler Altarwerke 1450-1516 Hieronymus Bosch, niederländischer Maler
488
etwa 1450-1517 Heinrich Isaak, deutscher Liederkomponist (›Innsbruck, ich muß dich lassen‹) etwa 1450-1533 Veit Stoß, Bildhauer in Nürnberg im 15. Jh. Backsteingotik in Norddeutschland verbreitet Entstehung der Motette Südamerika Größte Ausdehnung des Inkareiches 1453 Byzantinisches Reich Konstantinopel fällt in die Hände der Mohammedaner 1455-1485 England ›Rosenkriege‹ etwa 1455 Lochheimer Liederbuch um 1455 ›Goldener Tempel‹ des Hermann von Sachsenheim
1457-1521 Sebastian Brant, satirischer Dichter 1460 Schleswig-Holstein wird in Personalunion mit Dänemark vereinigt 1460-1509 Adam Kraft, Bildhauer in Nürnberg 1460-1531 Tilman Riemenschneider, deutscher Bildschnitzer und Bildhauer 1465-1524 Hans Holbein der Ältere, deutscher Maler 1465-1536 Erasmus von Rotterdam, europäischer Humanist 1466 Westpreußen und Ermland (bisher Ordensland) werden an Polen abgetreten 1468 Tod Johannes Gutenbergs, 489
des Erfinders des Buchdrucks mit gegossenen Lettern 1469 Spanien und Portugal Heirat Isabellas von Kastilien mit Ferdinand von Aragonien 1471-1528 Albrecht Dürer 1472 Lucas Cranach der Ältere, deutscher Maler 1473-1543 Nikolaus Kopernikus, Begründer des heliozentrischen Weltbildes 1475-1537 Thomas Murner, satirischer Dichter
1485-1603 England Das Haus Tudor 1486 Maximilian wird zum deutschen König gewählt 1488-1523 Ulrich von Hutten, deutscher Humanist 1492 Erster Erdglobus von Behaum in Nürnberg Spanien und Portugal Granada erobert, die ganze Iberische Halbinsel dem Christentum zurückgewonnen Kolumbus entdeckt Amerika
1477 Holstentor in Lübeck 1480-1538 Albrecht Altdorfer, deutscher Maler 1480-1545 Hans Baldung (Grien), deutscher Maler 490