Paul Frischauer
Weltgeschichte
in Romanen
Band 5
Von der Entdeckung Amerikas bis ins 18. Jahrhundert
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Paul Frischauer
Weltgeschichte
in Romanen
Band 5
Von der Entdeckung Amerikas bis ins 18. Jahrhundert
Inhaltsangabe Als die großen Gelehrten Kopernikus, Bruno und Galilei entdeckten, daß nicht die Erde der Mittelpunkt der Welt ist, sondern die Sonne das Zentrum des Universums, begann die neue Zeit. Das christliche Mittelalter wurde abgelöst durch das Zeitalter der Entdek kungen in aller Welt und durch religiöse Erneuerung. Kolumbus entdeckt Amerika, por tugiesische Seefahrer erreichen nie gekannte Fernen, und Martin Luther schlägt seine Thesen an die Kirche von Wittenberg. In der Zeit dieses totalen Umbruches setzt dieser Band von Frischauers Weltgeschichte ein. Auch hier gelingt es ihm durch die Auswahl zweier Romane, wichtige Geschichtsepochen lebendig zu machen, sie in der Person der Romanhelden zu zentrieren. Charles de Costers meisterhafter, weltberühmter Roman ›Ulenspiegel‹ schildert den Weg eines tumben Toren zum Freiheitskämpfer im Aufstand der Niederlande gegen die spanische Herrschaft. Eine neue Zeit, ein neues Menschen bild steht auf gegen Kräfte des Beharrens, aus dem lächerlichen Ulenspiegel wird eine beachtliche Persönlichkeit, eingebettet in Ereignisse und Umgebungen seiner Zeit, die dem Leser das 16. Jahrhundert in plastischen Bildern vor Augen führt. Der Reformation des Martin Luther folgte die Gegenreformation des Ignatius von Loyola, des Gründers des Jesuitenordens. Dem geistigen Kampf folgte die Auseinandersetzung mit den Waffen. Der Dreißigjährige Krieg verwüstet Europa. Die großen Gegenspieler: der geheimnisvolle Wallenstein, der häufig den Sternen mehr folgt als den Gesetzen der Kriegskunst, und der strahlende Held aus dem Norden - König Gustav Adolf, der mit seinen Schweden nach Deutschland kam, um den bedrängten Protestanten zu helfen. Von seinem letzten Kampf gegen Wallenstein in der großen Schlacht bei Lützen erzählt die Novelle ›Gustav Adolfs Page‹ von C.F. Meyer, der zweite Mittelpunkt dieses Bandes. Als Page verkleidet folgt ein Mädchen dem geliebten König in die Schlacht. Große Herrschergestalten prägen die Ge schichte. Frischauer läßt den Sonnenkönig Ludwig XIV. in all seinem Prunk im Versailler Schloß vor dem Leser auferstehen, ebenso wie den Alten Fritz, Friedrich den Großen, der 1763 nach dem Ende des Siebenjährigen Krieges ganz Europa widerstanden hatte. Mit dem sagenumwobenen Preußenkönig endet dieser Band.
Sonderausgabe des Lingen Verlags, Köln
© by Literarica Anstalt, Vaduz
Gesamtherstellung: Lingen Verlag, Köln
und Bercker Graph. Betrieb GmbH, Kevelaer
Schutzumschlag: Roberto Patelli
Printed in West-Germany
Alle Rechte vorbehalten
Dieses eBook ist umwelt- und leserfreundlich, da es weder
chlorhaltiges Papier noch einen Abgabepreis beinhaltet! ☺
Weltgeschichte
von der Entdeckung Amerikas
bis in die zweite Hälfte
des 16. Jahrhunderts
Die Geburt der Neuzeit und die
Wiedergeburt des Altertums
I Die Kirchenglocken von Palos, die der kleinen Flotte des Genuesen Christoph Kolumbus am 3. August 1492 das feierliche Geleit gaben, läu teten den Beginn der Neuzeit ein. Der nach langjährigem Betteln und hartnäckigem Verhandeln schließlich zum königlich-spanischen Ad miral ernannte Abenteurer zur See begann an diesem denkwürdigen Tag seine Irrfahrt, die zur Erschließung der westlichen Erdhalbkugel führen sollte, zur gewaltigen Erweiterung des geschichtlichen Raumes. Die Absichten des Christoph Kolumbus waren weitaus bescheide ner gewesen als sein Erfolg. Er hatte die ihm gnädig bewilligten Schif fe ausgerüstet um nach Indien zu segeln, »in das westliche Gebiet, wo die Gewürze sind«, in die asiatische Provinz Kathay, in deren ›Stadt des Himmels‹ der Groß-Khan, der mongolische König der Könige, herrschte, und auch zu den Häfen ›der berühmten Insel Cippangu‹, die als sehr reich an Gold, Perlen und Edelsteinen galt. Auf unbekann ten, aber nicht weiten Wegen, erklärte Kolumbus, müsse der Raum des Meeres durchschritten werden, um zu den Tempeln und Palästen zu gelangen, deren Dächer aus purem Gold verfertigt seien, wie der vene zianische Reisende Marco Polo berichtet hatte. Die durch eine Seekarte des anerkannten Gelehrten Toscanelli wis senschaftlich gestützte Verheißung des unermüdlichen Bittstellers, daß die katholischen Könige unermeßliche Reichtümer gewinnen würden, hatte Ferdinand und Isabella ebenso zur Gutheißung der abenteuerli chen Fahrt bestimmt, wie die Berufung des Christoph Columbus auf 2
die christliche Prophezeiung, daß das Ende der Welt siebentausend Jahre nach der Schöpfung kommen werde und daher die Frist bis zum Weltuntergang nur noch sehr kurz sei, und auch auf die heidnische Voraussage: »Es wird dereinst die Zeit kommen, wo der Ozean sei ne Fesseln sprengt und der Erdkreis weit und breit sich auftut und das Meer neue Länder entschleiert!« Der Blick des spanischen Herrscherpaares war auf Indien gerichtet. Ferdinand und Isabella hatten den Islam durch die Eroberung Grana das endgültig von der Iberischen Halbinsel vertrieben. Sie wollten we der auf die muselmanische Schiffahrt noch auf mohammedanische Häfen angewiesen sein, um Handel mit dem Fernen Osten treiben zu können. Der von Kolumbus gewählte Weg durch den westlichen Oze an mußte nach der zeitgenössischen Kenntnis der Erdbeschaffenheit der richtige Weg zu den Reichtümern Indiens sein. Die ozeanische Sei te des soeben vom Nürnberger Martin Behaim fertiggestellten Globus zeigte es. Die Richtung immer weiter nach dem Westen führte durch die Meere, an zahllosen Inseln vorbei, ›zu den Spezereien Indiens‹. So wurden denn auch die Entdeckungen des Kolumbus ›Westindien‹ be nannt, und die Eingeborenen, die er antraf, »Indianer«. Diese falschen Bezeichnungen erhielten sich, auch nachdem allge mein bekannt war, daß sowohl Guanahani, die Insel der BahamaGruppe, an der Kolumbus nach siebzigtägiger Fahrt Anker warf, als auch ihr Hinterland nicht das geringste mit Indien zu tun hatten, son dern viele Tausende von Meilen davon entfernt waren. Kolumbus war übrigens nicht der erste europäische Seefahrer, der auf dem neuen Erdteil gelandet war. An den Nordküsten Amerikas, das nicht nach ihm, sondern nach dem Entdeckungsreisenden Ame rigo Vespucci benannt wurde, hatten Jahrhunderte vorher unterneh mungslustige Wikinger auf ihrer Suche nach neuen Wohnsitzen ange legt. Diese normannischen Wegbereiter hätten sich vielleicht schon da mals in der unheimlichen Wildnis angesiedelt, wenn sich ihnen nicht in der Alten Welt noch freundlichere Heimstätten geboten hätten. Sie zogen die sonnigen, fruchtbaren Gestade Europas den drohenden Ur wäldern des fremden Erdteils vor. 3
Aber verband die Forschungsreisen, die von den spanischen und por tugiesischen Königen gefördert wurden, nicht eine merkwürdige Ähn lichkeit mit den abenteuerlustigen oder eroberungssüchtigen Nor mannen und vielleicht auch mit den wandernden frühen geschicht lichen Seevölkern? Es deuten zwar nur wenige Urkunden darauf hin, daß die Zustände in Europa im ausklingenden Mittelalter in den Für sten und ihren Untertanen den Wunsch nach neuen Siedlungs- und Lebensmöglichkeiten hervorriefen. Anlässe, Ortsveränderungen zu erwägen, gab es jedoch genug. Die Gefahr, die ein träges Verbleiben mit sich bringen mußte, war nicht zu verkennen. Im Südosten des eu ropäischen Raumes standen türkische Heere, bis an die Zähne bewaff net, marschbereit. Sie bedrohten die angrenzenden Länder mit völliger Vernichtung – genauso wie die vorhergegangenen bewaffneten Völ kerwanderungen der Geschichte! – und schienen um so unaufhalt samer zu sein, als die Herrscher des Westens in unerbittlicher Zwie tracht gegeneinander aufbegehrten und kaum gewillt waren, sich zur Abwehr des gemeinsamen Feindes zu vereinigen. In Frankreich herrschte Karl VIII. der die Erbin des Herzogs von der Bretagne (Anna, die mit Maximilian von Habsburg, dem Nachfol ger Kaiser Friedrichs III. verlobt war) zur Heirat zwang, um die Bre tagne seinem Königreich einzuverleiben. Die Apenninische Halbinsel war an allen Ecken und Enden von Machtkämpfen zerrissen, während Deutschland, das der päpstliche Legat Campano bereiste, um dem Heiligen Stuhl Bericht zu erstatten, als ›eine einzige große Räuberhöh le‹ bezeichnet wurde. Die Jagiellonen, die Herrscher der nordöstlichen europäischen Randstaaten Polen und Litauen, die für kurze Zeit zu ei ner Großmacht geworden waren, wurden von ihrem Nachbarn, dem Großfürsten Iwan III. von Moskau, der sich als erster ›Zar‹ nannte, so unbarmherzig bedrängt, daß der geistige Aufschwung der polnischen Königsstadt Krakau, an deren Universität über achtzehntausend Stu denten eingeschrieben waren, zum Stillstand kam. Eine selbstsüchti ge polnische Adelsschicht machte sich die notwendige Kriegsbereit schaft auf Kosten der leibeigenen Bauern und der Städte zunutze, ver zögerte den Fortschritt und unterhöhlte den Wohlstand der Bevölke 4
rung, während sie selbst, die großen und kleinen Herren, in vollen Zü gen den Reichtum und die höhere Lebensform genossen, die sie aus dem Westen eingeführt hatten. Auch das Königreich Ungarn stand in Waffen, jeden Augenblick des übermächtigen Überfalls der Türken ge wärtig, und hatte sich die überaus zweifelhafte nachbarliche Hilfe der Habsburger nur durch fadenscheinige Verträge zu sichern vermocht. In England hatte der neue König, Heinrich VII. aus dem Hause Tu dor, mit seiner Thronbesteigung den blutigen ›Rosenkriegen‹ wohl ein Ende gemacht, aber er hatte kein anderes Ziel im Sinn, als die Macht und das Ansehen der englischen Krone mit allen Mitteln zu stärken. Er bewarb sich für seinen Sohn, den späteren Heinrich VIII. um die Hand Katharinas von Aragon, der jüngeren Tochter Ferdinands und Isabellas. Die katholischen Könige hatten ihren Erben Juan und ihre ältere Tochter Johanna dem Sohn und der Tochter Maximilians I. ver sprochen. Das Verantwortungsgefühl der meisten europäischen Herrscher be schränkte sich auf den eigenen Machtbereich, den sie lediglich per sönlicher Gründe wegen durch private Verbindungen zu erweitern be müht waren. Nur die Spanier und die Portugiesen, welche die gefähr liche Macht des Islams in jahrhundertelangen Kämpfen kennenge lernt hatten, suchten nach neuen Möglichkeiten außerhalb des euro päischen Raumes. Erging es ihnen dabei wie den Seevölkern um die Wende des ersten Jahrtausends vor unserer Zeitrechnung, die Flücht linge vor drohenden Angriffen waren? Weder die Etrusker noch die Philister hatten ihre ursprünglichen Länder über Nacht aufgegeben. Der Bau von Schiffen, die Vorberei tungen zum Verlassen der Heimat, das Suchen geeigneter Landungs plätze mochten Jahre, Jahrzehnte, ja vielleicht Jahrhunderte gedauert haben. Die Reisen der portugiesischen und spanischen Seefahrer nach oft vagen Zielen hatten gewiß auch kaufmännische Gründe. Aber ein kühner und gewinnsüchtiger Kapitän nach dem anderen fuhr ins Un bekannte aus, mit einer einzigen Gewißheit: daß der Kompaß, die er probte Erfindung, ihn nötigenfalls wieder in den Hafen zurückführen würde. 5
Diese zum größten Teil vergessenen und von der Berühmtheit glücklicherer Bahnbrecher beschatteten Kapitäne waren die Pionie re der beginnenden Völkerwanderung über die Meere von der Al ten zur Neuen Welt, von Europa zum neuen Erdteil, deren Erfolg das Schicksal und die Entwicklung der Neuzeit bestimmte und vermut lich noch über unsere Tage hinaus bestimmen wird: die Entdeckung, die Eroberung, die Besiedlung und die Ausbeutung Nord- und Süd amerikas. II Wie unzureichend die Vorstellungen der spanischen und portugiesi schen Könige von dem neuen Erdteil waren, dessen Entdeckung sie – wenn auch unter falschen Voraussetzungen – veranlaßt und begünstigt hatten, wurde aus dem sogenannten Vertrag von Tordesillas ersicht lich, der im Jahre 1494 zwischen Portugal und Spanien unter der Auf sicht des Papstes Alexander VI. geschlossen wurde. Spaniens Rechte wurden auf das beschränkt, was mehr als 370 Meilen westlich der Kap verdischen Inseln lag; damit war für Portugal unter anderem der An spruch auf das Gebiet gesichert, das später Brasilien wurde, und auch der Anspruch auf die Erforschung Afrikas und des Seewegs nach Indi en. Zwei Bedingungen banden beide iberischen Herrscher: die ›päpst liche Schenkung‹, als die der Vertrag angesehen wurde, sollte nur dann gültig sein, wenn die neu entdeckten Länder nicht bereits von Christen bewohnt waren und wenn die Herrscher ihre neuen Untertanen zum christlichen Glauben bekehrten.
Daß durch die zufällige Entdeckung und die planmäßige Aufteilung der Neuen Welt ein neues Zeitalter angebrochen sein könnte, daran glaubte Papst Alexander VI. der mit seinem Laiennamen Rodrigo Bor 6
gia geheißen hatte, nicht im mindesten. Er war auch zu sehr damit be schäftigt, die Wiedergeburt des Altertums zu vollenden. Dieser von Weltlichkeit erfüllte geistliche Staatsmann, der schon Vater von vier erwachsenen Kindern war, als er der Heilige Vater der Christenheit wurde, war von seinem Onkel Alfonso, der seiner seits nach seiner Erhebung zum Papst Calixtus III. den spanischen Fa miliennamen Borja in das italienische Borgia umgewandelt hatte, als Fünfundzwanzigjähriger zum Kardinal ernannt worden. Zwölf Jahre lang hatte Rodrigo Borgia das Amt des päpstlichen Vizekanzlers inne gehabt, bevor er sich zum Priester hatte salben lassen. Auf den Heili gen Stuhl aber erhob er erst Anspruch, nachdem er so reich geworden war, daß er gewiß sein konnte, sich seine Wahl erkaufen zu können. Dazu hatte er doch einige Jahre gebraucht, denn die wichtigsten Kar dinale, die, wie die Sforza, die Orsini und Savelli, altangesehenen ita lienischen Adelshäusern entstammten, hatten sich nicht mit belanglo sen Geschenken für ihre Stimmen zufriedengegeben. Sie hatten einen guten Anteil am Vermögen Rodrigo Borgias gewünscht, wenn sie da für sorgen sollten, daß er die päpstliche Tiara erhielte. Der großzügige Spanier, dem sogar von seinen Feinden ›eine wun derbare Kunst in der Behandlung von Geschäften‹ nachgesagt wur de, hatte weder mit Geld noch mit Versprechungen gespart. Er hat te verteilt, was er besaß, und auch, was ihm nicht gehörte. Aber nach vollzogener Wahl hatte er sich als der anerkannte Stellvertreter Christi auf Erden auf die Unfehlbarkeit seines geheiligten Amtes berufen und mit überlegenem Achselzucken erklärt: »Der herr hat es gegeben, der herr hat es genommen, gepriesen sei der herr.« Noch bezeichnender für die Einstellung Rodrigo Borgias als ober ster Hirte der Christenheit war seine heidnisch hochmütige Antwort auf die Frage, welchen Namen er als Papst wählen würde: »Ich nenne mich nach dem unüberwindlichen Alexander.«
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III
Der Begriff der ›Renaissance‹, der Wiedergeburt des Altertums, die in der landläufigen Beurteilung als Beginn der Neuzeit angenommen wurde, prägte sich der Nachwelt als Bezeichnung für ein Zeitalter ein. Aber die großartige Bewegung, die unvergeßliche künstlerische und wissenschaftliche Werte hervorbrachte, hatte vom Gesichtspunkt der Weltgeschichte nur örtliche Bedeutung. Sie beschränkte sich im we sentlichen auf Italien. Die Renaissance war nicht fortschrittlich. Nur wenige Männer, die in ihr wirkten, um die Vergangenheit zur Gegenwart zu machen, rich teten den Blick in die Zukunft. Im Grunde wollten diese in kostbaren Denkmälern verewigten Helden der Renaissance, daß alles so bliebe, wie es war. Für sie war die Welt, in der sie herrschten, die beste. Ihr ei genes Leben, das sie so glanzvoll gestalteten, konnte in ihnen nicht den Wunsch nach dem ›besseren Leben‹ wecken. In ihrem eigenen Inter essenkreis gesättigt und vom Übermaß der Genüsse oft übersättigt, sammelten sie die begrifflichen und greifbaren Werte der Überliefe rung und genossen sie in vollendeter Weise. Die verlockenden Beispiele griechischer Lebensfreude und römi scher Lebensart vereinigten sich zur Lebensform der Renaissance, die noch bis in unsere Tage als Ausdruck der höchsten erreichbaren Voll kommenheit bewundert wird. Die Erbauung von Palästen, die mit al len erdenklichen Zieraten ausgestattet wurden, die Aufstellung von aus Marmor gemeißelten Brunnen, die in ihren vielfältigen, wasser speienden Gestalten Sinnbilder des Altertums verkörperten, die Er richtung von Gotteshäusern, die mit ihren Säulen und Kapitälen, Po stamenten und Statuen den Tempeln heidnischer Götter glichen, die Anschaffung farbenprächtiger Gemälde, die zwar in ihrem Inhalt die geheiligten Ereignisse des Evangeliums und der Heiligen Schrift dar stellten, aber in der Behandlung der Körper oft noch sinnlicher waren als die ausgegrabenen Bruchstücke bacchantischer Szenen der heid nischen Vergangenheit: kurz, die den Schönheitssinn ansprechende 8
Ausschmückung der Gegenwart (um sie unvergänglich zu machen!) bestimmte die Handlungen der großmächtigen Beherrscher Italiens mehr als die Notwendigkeiten ihres Alltags. Die Wirklichkeit der Renaissance spielte sich gewissermaßen wie auf einem Nebenschauplatz ab. Daß auch blutige Kriege auf italienischem Boden ausgekämpft wurden, schien den Fürsten und Kirchenfürsten nicht so wichtig zu sein wie ihr aufregender Wettbewerb um die präch tigere Gestaltung ihrer Lebensweise. Die in päpstliche, fürstliche und städtische Herrschaften gespalte ne Halbinsel wurde zum Tummelplatz der Eroberungssucht. Da wollte Karl VIII. von Frankreich den Anspruch seiner Familie auf das König reich beider Neapel durchsetzen und Maximilian I. seine geschichtli che Kaiserkrone römischen Ursprungs behaupten, während das Kö nigreich Spanien keineswegs bereit war, aufzugeben, was es durch Er oberungen und Erbschaften gewonnen hatte. Genauso wie die italienischen Städte einander Jahrhunderte vorher als Guelfen und Ghibellinen bekämpft hatten, gab es nun franzosen feindliche und franzosenfreundliche Bürger und Bauern, obwohl die alte, überlieferte Trennung des Volkes in die beiden gegnerischen La ger des Kaisers und des Papstes nicht zu Ende war. Der gesellschaft liche Unfrieden war jedoch nicht nur von der Einwirkung fremder Machthaber bestimmt. Es gab überdies noch die mündliche und tät liche Auseinandersetzung derjenigen Kräfte, die mit ehrlichem Eifer um die Verbesserung des Kirchenwesens, um die Reformierung des Glaubens kämpften, mit denjenigen, welche die bestehenden Zustände zu erhalten wünschten, um sie als Mittel zur Macht zu benützen. Je nach ihrer Geschicklichkeit bedienten sich die fremden Herrscher, die ihre Ansprüche auf italienischem Boden sichern wollten, auch die ser entgegengesetzten Strömungen mit Erfolg und opferten die eine oder die andere um des lieben Unfriedens willen, den sie schürten. Karl VIII. von Frankreich, der das zerrissene Italien wie eine reife Frucht ernten wollte, hatte auf seinem Zug durch die Apenninische Halbinsel Gelegenheit, mit den Kardinalen Giuliano de Rovere und Giovanni di Medici in Beziehung zu treten, die mit der Wahl Alex 9
anders VI. unzufrieden waren. Er konnte sich auf ihre Hilfe stützen, wenn er, zur Erreichung seiner Ziele, gegen die der Papst auftrat, für eine nötige Reinigung der Kirche eintrat. Aber trotz seiner militäri schen Überlegenheit war Karl der Persönlichkeit Alexanders VI. nicht gewachsen. Der König von Frankreich war gezwungen, den Ring des Papstes zu küssen. Es nützte Karl auch nichts, daß der von ihm be günstigte Buß- und Strafprediger Girolamo Savonarola in Florenz sei ne feurigen Reden gegen die Verrottung des Heiligen Stuhles hielt und von einer begeisterten Menge als Heiliger verehrt wurde. Savonaro la beschimpfte auch ihn als ›Gottesgeißel‹. Der große päpstliche Ge genspieler bediente sich schließlich aller Machtmittel, um sich des lä stigen, sich auf das Gewissen berufenden Aufwieglers zu entledigen. Alexander VI. erwirkte, daß der von seinen Ordensbrüdern geförder te und geschützte Dominikaner Savonarola als Ketzer verurteilt und verbrannt wurde. Der Papst war unantastbar, auch wenn seine persönliche Lebensfüh rung öffentliches Ärgernis erregte. Er schuf die ›Heilige Liga‹ unter dem Vorwand, die Türken bekriegen zu müssen, in Wirklichkeit aber, um Karl VIII. von weiteren kriegerischen Handlungen abzuschrecken, um dem mächtigen König ganz deutlich zu erkennen zu geben, daß er alle anderen Herrscher des europäischen Raumes und auch die Türken ge gen sich haben würde, wenn er nicht nach Frankreich zurückkehrte. Der Kirchenstaat, dieses aus den Schenkungen königlicher Ge schlechterfolgen, zum Teil nur auf dem Papier entstandene Herr schaftsgebiet des Heiligen Stuhls, war das Kernstück der tatsächlichen päpstlichen Gewalt. Cesare Borgia, der jüngere Sohn Papst Alexanders VI. wurde Herzog der Campagna. Er warb Söldner an, mit denen er die ehrgeizigen Pläne seines Vaters zu seinen eigenen machen wollte. Durch ihn verfügte der ›unüberwindliche‹ Alexander über ein kriegs tüchtiges Heer, das er dazu verwenden wollte, den Staat der Kirche zur militärischen Großmacht zu erheben. Aber ebenso wie Cesare Borgia und sein päpstlicher Vater warben die anderen Machthaber auf italienischem Boden Truppen an. Deut sche Landsknechte, französische Freibeuter, spanische Abenteurer 10
vermieteten sich und ihre Arkebusen und Degen an den Meistbieten den. Wer sich einem Gegner nicht bedingungslos unterwerfen wollte, mußte das Kriegshandwerk lernen, ob er nun Beherrscher eines Her zogtums, eines Fürstentums, einer Stadt war oder ob er sich als Kir chenfürst behaupten wollte. Dabei entschied nicht mehr nur die Zahl der Männer, die aufgestellt werden konnten, sondern auch die Art ih rer Waffen. Die Kunst, Belagerungsmaschinen herzustellen und Ver teidigungsanlagen zu bauen, wurde noch höher bewertet als die Kün ste, die der Verschönerung des Friedens dienten: Malerei, Bildhauerei und Baukunst. IV Der begehrteste ›Erfinder‹ der Renaissance war Leonardo. Der als un ehelicher Sohn eines Bauernmädchens im Dorfe Vinci bei Florenz Ge borene war schon als junger Mann in allen Wissenschaften und Kunst fertigkeiten bewandert. Ein Angebot, das er dem Herzog von Mailand als Dreißigjähriger machte, veranschaulichte seine umfassende Viel seitigkeit. Leonardo da Vinci schrieb: »Ich habe Pläne für sehr leichte, aber dabei sehr starke Brücken … Ich kann bei der Belagerung eines Platzes das Wasser aus den Gräben ableiten … Ich habe Entwürfe für Bombarden gemacht, mit denen man kleine Steine schleudern kann, fast so, als ob es hagle … Ich kann sichere und unangreifbare gedeck te Wagen bauen, die mit den Geschützen durch die Reihen des Feindes fahren und jeden noch so großen Haufen von Bewaffneten zerspren gen werden. Hinter ihnen können die Fußsoldaten fast unangefochten und völlig ungestört folgen … Ich kann Katapulte, Wurf- und Schleu dermaschinen herstellen … Ich werde je nach den verschiedenen Um ständen allerlei verschiedene Angriffs- und Verteidigungsmaschinen bauen … Ferner werde ich bei der Bearbeitung von Marmor, Erz und Ton sowie in der Malerei etwas leisten, was sich vor jedem anderen, wer immer es auch sei, sehen lassen kann …« 11
Später, als Leonardo da Vinci seine ›Madonna in der Felsgrotte‹, sein unvergleichliches ›Abendmahl‹ und die ›Mona Lisa‹ gemalt und einem eigenwilligen Machthaber nach dem anderen als Kriegsberater und Freund, als Architekt und Generalingenieur gedient hatte, hieß es von ihm: »Leonardo erträgt den Pinsel nicht mehr. Er arbeitet nur noch an der Geometrie.« Tatsächlich verfertigte Leonardo ›täglich Modelle und Zeichnungen, wie man mit Leichtigkeit Berge abtragen und durchbre chen könne, um von einer Ebene zur anderen gelangen zu können, wie mit Winden, Haspeln und Schrauben große Lasten zu befördern wä ren und auf welche Weise man Seehäfen reinigen und mit Pumpen Wasser aus Abgründen heraufschöpfen könnte …‹ Leonardo übersah keine Möglichkeit der Anwendbarkeit mechanischer Grundsätze, um neue Geräte für kriegerische oder friedliche Zwecke herzustellen. Er erfand das erste Maschinengewehr und Übersetzungsgetriebe mit ver schiedenen Geschwindigkeiten, Vorrichtungen zum Auswalzen von Metallen und den mehrfachen Riemenantrieb. Er hielt die Unterwas serschiffahrt nicht für unmöglich und vervollkommnete die Gedan kengänge Herons von Alexandria zur Erzeugung einer Dampfmaschi ne oder eines Geschützes, das mit Hilfe des Dampfes ein Geschoß Tau sende von Metern weit schleudern könnte. Die Bewegung durch die Luft beunruhigte die schöpferische Einbildungskraft Leonardos. Er er wog die Herstellung eines Fallschirms, eines Zeltdachs aus abgedich teter Leinwand, mit dessen Hilfe ›jeder Mensch sich aus jeder noch so großen Höhe herabstürzen könnte, ohne Schaden zu nehmen‹. Er war überzeugt, daß der Mensch fliegen könnte, und schrieb: »Du mußt die Flügel eines Vogels samt den Brustmuskeln und den Bewegungen dieser Flügel wissenschaftlich untersuchen … Der Vogel ist ein nach dem mathematischen Gesetz arbeitendes Werkzeug … Aber da der Mensch nicht eine ebenso große Fähigkeit zum Fliegen besitzt wie der Vogel, muß er sie ergänzen durch ein schraubenförmiges Instrument, das schnell gedreht wird. Diese Schraube wird sich in der Luft empor schrauben und aufsteigen …« Es kam nicht zu tatsächlichen Flugversuchen Leonardo da Vincis. Er hatte zu viele Pläne, um alle verwirklichen zu können. Er lebte lange, 12
aber seine Gedanken eilten seiner Zeit weit voran, und seine Schüler vollendeten nicht, was er begonnen hatte. Seine wissenschaftlichen Er gebnisse, ob er sie nun selbständig schuf oder ob er die erprobten Er fahrungen uralter Bauhütten und Werkstätten weiterentwickelte, blie ben Anregungen, deren Durchführung und Vervollkommnung nicht der Wiedergeburt des Altertums, sondern der Neuzeit zu verdanken sein sollten.
Als bildender Künstler aber fand Leonardo da Vinci seinesgleichen nur in Michelangelo Buonarotti, der sich seinem besessenen Kunstwil len leidenschaftlicher ergab als den wissenschaftlichen Kenntnissen, die er sich angeeignet hatte. Schon als Knabe hielt Michelangelo, der in der Nähe von Steinbrüchen geboren worden war und, wie er sag te, den durch Meißel und Hammer hervorgebrachten Marmorstaub mit der Milch seiner Amme eingesogen hatte, die Augen offen, um wiedergeben zu können, was er gesehen hatte. Er ging auf den Fisch markt und beobachtete, ›von welcher Form und Farbe die Flossen der Fische waren und von welcher Farbe die Augen und jeder andere Kör perteil, damit er sie in seinem Bild so darstellen könnte‹. Er war ein geradezu süchtiger Betrachter der kleinsten Einzelheiten, um sie na turgetreu wiedergeben zu können. Aber sein Wesen erhob sich über die Wirklichkeit in höhere Gedanken, deren Zartheit und tiefe Erfül lung die Gestaltung seiner Werke beeinflußte. Als ihm, zum Beispiel, nach der Fertigstellung seiner weltberühmten ›Pieta‹ vorgehalten wur de, daß die jungfräuliche Mutter mit dem toten Sohn in ihrem Schoß zu jugendlich wirke, begegnete Michelangelo dem Einwand: »Weißt du nicht, daß die keuschen Frauen sich viel länger jung erhalten als die unkeuschen? … Ich will dir noch sagen, daß sich solche Frische und Blüte der Jugend nicht nur auf dem natürlichen Weg in ihr erhielt, son dern auch durch göttliche Macht bewirkt wurde, damit sie der Welt die Jungfräulichkeit und immerwährende Reinheit der Mutter bezeu ge …« Die Kunst Michelangelos, ob er den Meißel handhabte oder den 13
Pinsel führte, ob er den ›Moses‹ und den ›David‹ aus Marmor schuf oder ob er die Fresken der Sixtinischen Kapelle malte, wurde sinnbild lich für die Vollkommenheit der Renaissance. In seiner gewaltigen ei genartigen Persönlichkeit überragte er seine Zeitgenossen, auch in die ser Zeit der großen Persönlichkeiten. Als ein Priester sich bedauernd darüber aussprach, daß Michelangelo nie geheiratet und Kinder ge zeugt habe, erwiderte er: »Ich habe zu viel mit einer Frau zu schaffen gehabt, das ist die Kunst. Sie hat mich stets gequält, und meine Kinder sind die Werke, die von mir zurückbleiben.« Mit struppigem Haar und Bart, eingedrückter Nase, kleinen stechen den Augen und finsterem Gesicht, ging Michelangelo in alten Kleidern ungepflegt einher. Er gehorchte dem Ratschlag seines strengen Vaters: »Paß auf, daß du dich nicht wäschst. Reibe dich ab, aber wasche dich nicht.« Er lebte bescheiden, auch wenn er durch seine Arbeiten Reich tümer erwarb. Er brauchte das verdiente Geld für seine Familie, seine Brüder, die ihn so ausnützten, daß sein Mahl oft aus nichts anderem als einer trockenen Brotkruste bestand. Die Beziehung Michelangelos zu seinem bedeutendsten Auftraggeber, Papst Julius II. war durch Haß und Liebe gekennzeichnet, durch wilde Auflehnung und demütige Unterwerfung. Einmal schrieb Michelangelo: »Heiligster Vater, man hat mich heute morgen Eurerseits aus dem Palast fortgejagt, deshalb ich Euch zu wissen gebe, daß, wenn Ihr mich braucht, Ihr mich su chen lassen könnt, wo Ihr Lust habt, nur nicht in Rom.« Dann aber be glückte ihn wieder die Anerkennung des hemmungslos heftigen Pap stes mehr als jedes andere Lob. In seinem Alter schrieb Michelangelo Sonette. Er hatte als junger Mann die Gesellschaft von Frauen gemieden, als alter Mann liebte er die verwitwete Fürstin Vittoria Colonna. Ihr sagte der Greis mit zit ternder Stimme: »Ich bin Bildhauer, Maler, Dichter, Baumeister, Inge nieur und Anatom gewesen. Ich habe Riesen aus Stein gemeißelt und kleine Figürchen aus Elfenbein geschnitzt. Ich habe die Befestigungen von Florenz und Rom entworfen. Ich habe Wälle und Bastionen al ler Art gebaut. Und nicht ferne von dem Gebäude, an dessen Wand ich die Offenbarung des Jüngsten Gerichts malte, habe ich die gewal 14
tige Kuppel des Doms von Sankt Peter, des Fürsten der Apostel, bis in die höchsten Höhen errichtet. Mitten in der Arbeit hat mein Herz die Ruhe erlangt. Ich bin im Alter jung geblieben. Ich bereue es nicht, ge lebt zu haben …«
Ebenso berühmt wie Michelangelo Buonarotti und Leonardo da Vin ci wurde Raffael Sana, dessen so anders geartete Kunst von ihnen be einflußt war. Die Bilder Raffaels, die in ihrer Vollkommenheit den Überlieferungen der Vergangenheit ebenso entsprachen wie den neu zeitlichen Schöpfungen kunstvollster Farbengebung, verkündeten die Schönheit des Lebens schlechthin. Jedes Thema, das er auf der Lein wand darstellte, strahlte Heiterkeit und Anmut aus. Selbst Trauer und Schmerz verloren ihre Schrecken in seinen Gemälden und fügten sich melodisch in den Gleichklang der Umgebung. Raffael wurde als Sohn eines bedeutenden Malers geboren, in des sen Haus sich die Künstler trafen. Auch als er schon ein erwachsener Mann war, behielt sein Gesicht die mädchenhaften Züge, und seine Augen verloren nicht den träumerischen Blick, der in seiner freund lichen Kunst zum Ausdruck kam. Raffael war ein Glückskind, dessen hinreißendes Wesen Männer und Frauen bezauberte. Er schuf aus der Fülle seiner gefälligen Natur Kunstwerke, die gefielen. Kirchenfürsten, große Herren und große Damen verwöhnten ihn. Selbst Papst Julius II. der Michelangelo in seiner Ungeduld gedroht hatte, daß er ihn von dem Gerüst, auf dem er die Sixtinische Kapelle ausmalte, herunter werfen lassen werde, behandelte Raffael mit zärtlicher Achtung. Die unschuldsvolle Sinnlichkeit, welche die etwa fünfzig Madon nenbilder verklärte, die Raffael Santi im Laufe seines kurzen Lebens malte, verriet nichts von der Sinnenfreude des jungen Lebemanns, der eine Geliebte nach der anderen hatte und für seine kirchlichen Gönner heidnische Liebesszenen als Gegenstücke zu den frommen Darstellun gen auf die Leinwand zauberte. Kurz vor dem Tod Raffaels hieß es, er solle Kardinal werden, und er schob die schon beschlossene Eheschlie 15
ßung mit der Nichte des Kirchenfürsten Bibiena hinaus, um kein Hin dernis für seine geistliche Erhebung zu schaffen. Aber er quartierte die Braut in seiner Wohnung ein, um ihre Nähe nicht zu missen. Sein frü hes Ende wurde den ›Vergnügungen ohne Maß‹ zugeschrieben, die er mit Maria da Bibiena genoß. V Die Renaissance, deren unvergleichliche Kunstwerke von den großen Meistern, ihren Schülern und Nachbildnern geschaffen wurden und in ihrer harmonischen Pracht den Eindruck erweckten, als sei in Italien mit der Wiedergeburt des Altertums eine neue Zeit aus der Taufe ge hoben worden, brachte auch im Schrifttum überlebensgroße Persön lichkeiten hervor, die zu geistigen Vorbildern wurden. So wurden das Buch Niccolò Machiavellis ›Über den Fürsten‹ und seine anderen poli tisch geschichtlichen Werke von Generationen als bedeutsamste An leitung zur Staatskunst gewertet und behielten Geltung für diejenigen, die mit dem Florentiner übereinstimmten, daß die menschliche Na tur sich im Ablauf der Geschichte niemals geändert habe. Machiavelli schrieb, daß kluge Männer betrachten müßten, was geschehen ist, um voraussehen zu können, was sein würde: »Alle Begebenheiten sind nur Seitenstücke zu Ereignissen der Vergangenheit. Und dies kommt da her, daß die Menschen, die handelnden Personen auf der großen Büh ne des Erlebens, stets dieselben Leidenschaften haben und dieselbe Ur sache daher stets dieselbe Wirkung hervorbringen muß. Die Welt war stets dieselbe. Es gab auf ihr immer so viel Gutes wie Böses. Jedoch die ses Böse und dieses Gute wechselten.« Machiavelli vertrat den Standpunkt, daß es kein allgemein aner kanntes Recht, kein ›Naturrecht‹ gäbe, deshalb müsse die Politik im Sinne der Staatskunst frei von Moralbegriffen gehandhabt werden. Die machiavellistische Verwerfung aller geltenden Grundsätze zum unmittelbaren Nutzen des Staates oder des ›Fürsten‹ wurde von späte 16
ren Philosophen im Namen der sittlichen Entwicklung der Menschheit verurteilt, aber von den meisten Staatsmännern zu ihrem eigenen Vor teil angewandt. Zahllose Gegenschriften verdammten die Folgerich tigkeit, Glaubwürdigkeit und den inneren Wert des zum Schlagwort geprägten ›Machiavellismus‹, aber die gefährliche Geistesrichtung, die Machiavelli festgehalten hatte, setzte sich immer wieder durch. Kurz sichtige Machthaber bedienten sich der Erfahrungen und Deutun gen des Florentiners, der die Fürsten und Politiker der Renaissance mit offenen Augen beobachtet hatte. Sie vergaßen, daß dem laut und nachdrücklich verkündeten Augenblickserfolg eines ›Fürsten‹, seinem kurzfristigen Siegesjubel nur allzuoft die endgültige Niederlage folg te: das ruhmlose Ende Cesare Borgias (des Beispiels Machiavellis), der nach all seinen vorübergehenden meteorartigen Erfolgen schließlich als hilfloser Flüchtling zugrunde gegangen war. Auch der Kardinal Giuliano de Rovere, der als Julius II. nach dem raschen Tod Pius' III. des Nachfolgers Alexanders VI. zum Papst ge wählt wurde, erreichte trotz seines unbändigen Machttriebes nicht mehr, als daß er sich an der Macht halten konnte. Das war angesichts der unaufhörlichen blutigen Auseinandersetzungen, der Feldzüge und Belagerungen, die er aushielt und führte, immerhin eine erstaunliche Leistung. Aber der von unglaublicher Lebenskraft und eisernem Wil len erfüllte Julius II. ging doch nur als außerordentliche Erscheinung in die Geschichte ein – als der Auftraggeber Michelangelo Buonarot tis und Raffael Santis und als Bauherr der Peterskirche, dieses gewal tigsten aller Gotteshäuser, dessen Errichtung er Bramante anvertraut hatte. Die drei berühmten Päpste der Renaissance, Alexander VI. Julius II. und sein Nachfolger, Leo X. der zweite Sohn Lorenzo di Medicis, der schon als Vierzehnjähriger den Kardinalshut empfing, damit sei ne fürstliche Familie einen Sitz im innersten Machtraum der Kirche, im Kardinalskollegium, innehaben konnte, begünstigten die künstle rische Wiedergeburt des Altertums. Sie verwendeten ihr eigenes Ver mögen und die Schätze der Kirche zur Verherrlichung der päpstli chen Würde. Alexander VI. war ein kühler, berechnender Spieler, Ju 17
lius II. ein Besessener, Leo X. ein gebildeter Lebemann auf dem Heili gen Stuhl, der jeden anderen Thron mit dem gleichen Glanz hätte ein nehmen können. Mehr als die ungeheure Zurschaustellung von Pracht und den An trieb zur Schaffung von Kunstwerken schienen die Päpste der Renais sance nicht geleistet zu haben. Aber ihre Ausstrahlung war doch wei terreichend und überdauerte ihr so kunstvoll gestaltetes irdisches Da sein. Mit dem Begriff der römischen Kirche, die sie in aller Herrlich keit ausgeschmückt hatten, verband sich der Prunk um des Glaubens willen, der als anhaltende Werbung für den römischen Glauben wirk te. Der Schönheitssinn der Massen wurde durch die italienische Kunst, die Kunst der Renaissance geprägt. Der römisch-katholische Glaube warb um die sinnbildliche, ja ›sinnliche‹ Anerkennung der Gläubigen mit Gemälden und Statuen, durch Kirchenmusik und Gesänge, durch feierliche Riten, in deren erhebendem Verlauf die ausübenden Priester wie höhere Wesen erschienen.
Über die künstlerische und geistliche Auswirkung hinaus hatte die Re naissance auch eine geistige Folge: Mit den Ausgrabungen des Alter tums und ihrer Nachahmung, mit der aus der alten neu erstandenen Kunst ging eine Verbreitung der Gelehrsamkeit Hand in Hand. Die Kirche, welche die wissenschaftlichen Forschungen in den Kloster schulen beschränkt hatte, ließ es nun zu, daß ihre Lehrer und Schü ler sich nicht nur mit der Gottesgelehrtheit befaßten. Die Deutung und Auslegung vorchristlicher Schriften wurde ebenso emsig betrieben wie die Auslegung der Heiligen Schrift. Die Wissenschaften, die erst der Kunst gedient hatten, traten nun in ihr eigenes Recht und wurden nicht mehr nur um der Kunst wil len gepflegt. Die geänderte Lebensform, die nach außen hin eine ge treue Wiederbelebung der Vergangenheit war, konnte sich den inneren Werten nicht verschließen. Sie richtete sich nach den wiederaufgefun denen und ergänzten Texten griechischer und römischer Philosophen 18
und Dichter. Wissenschaftliche Erkenntnisse des Altertums wurden aufgefrischt und durch neuere Ergebnisse erweitert. Das geschah auf allen Wissensgebieten, und als gebildet im neuen Rom galt nur, wer den Wesensinhalt des alten Rom im weitesten Sinn in sich aufgenom men hatte. Latein wurde die gemeinsame Sprache der Gelehrten in aller Welt. Bildungshungrige kamen in das Italien der Renaissance, um ihre bis herigen Kenntnisse durch die Erweiterung des Gesichtskreises zu ver vollständigen. Nicht nur Künstler, wie Albrecht Dürer, die dadurch angelockt waren, daß es hieß, die italienischen Meister hätten die alte Kunst der Farbenmischung durch neue Mittel vervollkommnet und beherrschten die Zahlenverhältnisse der Körpermaße und die Grö ßenverhältnisse der Perspektive, sondern auch wißbegierige Söhne rei cher Handelsgeschlechter, wie Willibald Pirkheimer, der Freund Al brecht Dürers, kamen nach Italien. Sie alle wollten, wie es im Sprach gebrauch der Zeit hieß, »Humanisten« werden, Kenner des menschli chen Wesens im vornehmsten Sinn. Was diese gelehrigen Schüler über die Alpen heimbrachten, war mehr als das Verständnis der Künste und bedeutungsvoller als ihr oft nur äußerliches Bedürfnis, das Großartige der italienischen Renais sance im engeren Raum ihrer Heimat nachzuahmen. Sie lernten, in Schönheit zu leben, nicht nur in körperlicher, sondern auch in geistiger Hinsicht. Die Begriffe aus der großen Zeit Griechenlands und Roms, der Bürgersinn, die Verantwortung für den Mitmenschen, das Beispiel makelloser Lebensführung, der Tugend schlechthin, prägte sich die sen wandernden Schülern durch die Lektüre der griechischen und rö mischen Dichter und Philosophen ein. Sie wurden ihrerseits Lehrer und gründeten Schulen, in denen die besten Gedanken des Altertums hochgehalten und verbreitet wurden. Die humanistische Bildung wur de zur Richtschnur der europäischen Erziehung. Einer der bedeutendsten Vorkämpfer des Humanismus war Erasmus von Rotterdam. Er verdankte den Ehrentitel ›König der Wissenschaf ten‹ der Erläuterung der Schriften des Altertums. Er wurde volkstüm lich durch ›Das Lob der Narrheit‹, in dem er die Dummheit der Men 19
schen und die Engstirnigkeit zeitgenössischer Gottesgelehrter geißel te. Johannes Reuchlin unternahm es, die hebräische Sprache zu ergrün den, während die Wiederauffindung der ›Germania‹ des Tacitus deut sche Gelehrte veranlaßte, die frühe Geschichte ihrer Heimat zu erfor schen. Hand in Hand mit der Wiederauffindung und Deutung von ge schichtlichen Betrachtungen und Dichtungen gingen die Versuche der Naturwissenschaftler, die Heilkunde der Vergangenheit neu zu bele ben. Eine der hervorragendsten Persönlichkeiten auf medizinischem Gebiet war Paracelsus.
Der Beginn der Reformation I Die pomphafte Hofhaltung der Päpste, ihre ausschweifende und la sterhafte Lebensführung, die, wenn auch in bescheidenerem Ausmaß, von örtlichen Kirchenfürsten nachgeahmt wurde und durch die lok kere Lebensführung der höheren und niedrigeren Geistlichkeit glaub würdig bestätigt schien, veranlaßte einen großen Teil der Bevölkerung nördlich der Alpen zur Abkehr von Rom. Schon in der Kirchenver sammlung von Konstanz, die Johann Hus zum Tode verurteilt hatte, war das Wort ›Reformation‹ als geläufiger Begriff verwendet worden. Es brachte den Wunsch nach Reinigung der Kirche zum Ausdruck, nach Verbesserung des Kirchenwesens, nach Rückführung des Glau bensbekenntnisses auf die Heilige Schrift. Die blutigen Auseinandersetzungen der Hussitenkriege in böhmi schen und deutschen Ländern, der Lollardenaufstände in England, die durch die Lehren Wiclifs hervorgerufen worden waren – alle diese und andere, durch die Aufregung ehrlicher, gewissenhafter Gemüter aus 20
gelösten Widerstandsbewegungen gegen die römische Kirche waren durch gewalttätige Niederwerfung nicht aus der Welt geschafft worden. Die mönchischen Wanderprediger, die durch den Verkauf von Ablaß zetteln offenen Handel mit der ewigen Seligkeit trieben und gleichzei tig ein abschreckendes Beispiel durch ihr sündhaftes Leben gaben, die habsüchtigen und machtgierigen Übergriffe der geistlichen Landbe sitzer, ihre Ausbeutung der Armut und der ›Armen im Geiste‹ hatten weite Schichten der denkenden Bevölkerung so abgestoßen, daß sie an dem Glauben zu zweifeln begannen, der von so sündigen Dienern des Heiligen Stuhles verkündet und verwaltet wurde. Nicht zuletzt hatten die Übersetzung, die Drucklegung und der Ver kauf von Bibeln es dazu gebracht, daß immer mehr Gläubige das Wort Gottes schwarz auf weiß vor sich sehen, in sich aufnehmen und da nach leben konnten, ohne auf die Vermittlung der Priester angewiesen zu sein, die oft nicht nur Wasser predigten und Wein tranken, sondern auch alle Sünden begingen, die sie heuchlerisch verdammten. Die Kirchen waren von Buden umgeben, in denen nicht nur der Ab laß feilgehalten wurde, sondern auch als Reliquien bezeichnete Ge genstände angeboten wurden, die je nach Bedarf erzeugt wurden. Oft überstieg das Angebot die Nachfrage. Da gab es keinen Heiligen, des sen Gunst nicht von Marktschreiern den gläubigen und abergläubi schen Namensvettern verheißen wurde, um sie zum Erwerb eines un echten Splitters seiner Gebeine oder eines Fetzens seines angeblichen heiligen Gewandes anzuregen. Auch die geweihten Heiligenbilder ver loren an Wert dadurch, daß sie gleichzeitig mit Hasenpfoten und Kat zenfellen zur Schau gestellt wurden, die als Heilmittel gegen Erkältun gen und Hautkrankheiten dienen sollten. Diese Jahrmärkte des Glaubens vermehrten die Einkünfte der Kir che, aber sie hatten besonders in Gegenden, die von Kirchenfürsten be herrscht wurden, eine Beeinträchtigung des Glaubens in so bedenkli cher Form zur Folge, daß sich die Bauern gegen die bestehende Ord nung auflehnten, die auf der Kirche beruhte. Wenn der Hunger die Leu te quälte oder die Steuer sie bedrängte, griffen sie zu den Waffen, seng ten, mordeten, raubten und wehrten sich ihrer Haut. Die Geplagten 21
zweifelten daran, daß es einen Gott gäbe, wenn ER durch solche Prie ster vertreten wurde. Sie leugneten die Vorrechte der Kirche und auch des Adels und folgerichtig auch das Recht der Bevorrechteten, zu be sitzen, was sie besaßen. Da sie die Überzeugung hatten, daß ihnen die Hoffnung auf das ewige Leben veruntreut worden sei, stellten sie An sprüche an das irdische Leben und waren bereit, sie zu erkämpfen. Da sie selbst nichts hatten, waren sie gegen diejenigen, die etwas besaßen. Schlagworte wurden zu Leitgedanken und schließlich zu planmäßigen Forderungen. Diese Entwicklung vollzog sich nicht von einem Tag zum anderen. Erst waren es nur Gruppen von Verzweifelten da und dort, die zu Sensen und Sicheln, Heugabeln und Holzhacken griffen und sich zu sammenrotteten, wie der ›Bundschuh‹ am Oberrhein und der ›Arme Konrad‹ in Württemberg – aufständische Bauern, die ihrer Erbitterung Luft machten. Es dauerte eine Weile, bis ein gemeinsamer Schlachtruf den größten Teil der Bauernschaft Deutschlands vereinte: »Drauf und dran, Spieß voran, setzt aufs Klosterdach den roten Hahn!« II Die Forderungen derjenigen Bauern, die ruhiges Blut und kühlen Kopf bewahrten und sich von der kaiserlichen Obrigkeit Hilfe versprachen, hatten, wenn auch unabhängig voneinander und an verschiedenen Or ten vorgebracht, beinahe den gleichen Wortlaut. Sie begehrten: »Nicht nur der Zehnte der Kirche, sondern auch die Zölle und Zinsen der weltlichen Herren, überhaupt alle Untertänigkeitsverhältnisse sollen abgeschafft, die Güter der Kirche und des Adels eingezogen und nur noch der römische König anerkannt werden.« Als der römische König war Maximilian I. gemeint. Er selbst nannte sich Kaiser. Den Sohn des von der Geschichtsschreibung stiefmütter lich behandelten Friedrich III. zierten schon zu seinen Lebzeiten mehr volkstümliche, mehr zu Herzen sprechende Legenden als irgendeinen anderen Herrscher aus dem Hause Habsburg. 22
Maximilian stellte sein Licht allerdings nicht unter den Scheffel. Er war der erste Kaiser, der das neue Werbungsmittel, die Buchdrucker kunst, für sich verwendete. Humanistische Dichter, Philosophen und Gelehrte wurden von ihm reichlich entlohnt und verwöhnt, damit sie die Druckerpresse zu seinem Lob in Bewegung setzten. Obwohl Ma ximilian einer der ersten Fürsten war, der sich auf seinen Kriegszü gen mit Pulver geladener Kanonen bediente, der ›unritterlichen Waf fengattung mit zerstörender Fernwirkung‹, galt er der Nachwelt als der ›letzte Ritter‹. Dafür hatte er gesorgt durch die ritterlich romantische Darstellung seiner Jugend. ›Der Weißkönig‹, die er persönlich entwor fen hatte und durch den Berufsdichter Treizsaurwein volkstümlich schreiben und von Hans Burgkmair wundervoll be bildern ließ. Die Urkunden der deutschen Reichstage, die Maximilian immer wieder einberief, um Reichsheere, einmal gegen die Türken, ein an dermal gegen die Franzosen, die Schweizer oder gegen Venedig aufzu bieten, erweckten den Eindruck, als wäre er in einem einzigen unge heuren, menschenmordenden Weltkrieg tätig gewesen. In Wirklich keit war Maximilian wohl in unaufhörliche Feldzüge verwickelt, aber schon ein Zeitgenosse beschrieb die kriegerischen Unternehmungen des Kaisers im Stil der Renaissance mit dem lateinischen Sprichwort: »Die Berge kreißen und eine Maus wird geboren.« Die scheinbare Doppelgesichtigkeit Maximilians, der gewaltige Plä ne schmiedete, die nie zur Ausführung kamen, und der doch bedeut same Erfolge errang, war auf die doppelte Stellung zurückzuführen, die er einnahm. Was er als Kaiser wollte, gelang ihm nie, aber als Erbe der habsburgischen Hausmacht wurde er ein würdiger Sohn seines Vaters. Er verwirklichte die Hoffnungen Friedrichs III. Er vermählte nicht nur seinen Sohn, sondern auch seine Tochter, die ihm Maria von Burgund geboren hatte, mit dem Sohn und einer Tochter der katholi schen Könige Ferdinand und Isabella. Die politische Hochzeit Margaretes von Österreich mit Don Juan von Spanien entwickelte sich zu einer Liebesehe. Das jung vermähl te Paar genoß das Beisammensein so übermäßig, daß die königliche 23
Mutter des kränklichen Prinzen vor den Folgen der Ausschweifung gewarnt wurde. Isabella entschied: »Was Gott verbunden hat, dürfen die Menschen nicht trennen.« Ein halbes Jahr später starb Don Juan an der Auszehrung. Sein Tod war ein Unglück für seine Witwe, die Habs burgerin Margarete – aber ein Glück für das Haus Habsburg. Maxi milian hatte allen Anlaß, die Voraussicht seines Vaters zu bewundern. Wer war nun die Erbin Spaniens und der Neuen Welt? Johanna, die Gattin seines Sohnes Philipp des Schönen. Das Kind, das sie unter dem Herzen trug, mußte, wenn es ein Sohn wurde, die Voraussage Fried richs III. erfüllen, daß das Haus Österreich den Erdkreis beherrschen werde. Johanna gebar im Jahre 1498 eine Tochter. Aber sie war bald wieder guter Hoffnung, und diesmal war es ein Sohn. Er kam am 14. Februar 1500 zur Welt und wurde auf den Namen Karl getauft. Zwei Jahre spä ter gebar Johanna einen zweiten Sohn, der den Namen Ferdinand er hielt. Für Nachkommen des Hauses Habsburg war nun gesorgt. Aber würden die Enkel Maximilians je dazu kommen, ihre Stammländer zu erben? Der päpstliche Legat, der das deutsche Reich als ›eine ein zige große Räuberhöhle‹ bezeichnet hatte, war, soweit es den Zustand der Kirche betraf, nicht zu weit gegangen. Sein Urteil bezog sich vor allem auf die größeren und kleineren Herren, die ihre Herrschaft un eingeschränkt genießen und ›vom harten, drückenden Joch des Pap stes‹ befreien wollten. Hier behielt sich ein Fürst die Klostervisitation als fürstliches Recht vor, dort ein anderer die ›Reformation der Klöster‹ und die Sittenpolizei über die Geistlichkeit. Erst verwahrten sich die Bischöfe gegen solche Übergriffe, dann die Erzbischöfe, schließlich der Heilige Vater selbst. Ohne Erfolg. Wer im deutschen Reich nicht unmittelbarer Nutznießer der Kirche war, »pro testierte«, wie das neue zeitgemäße Wort hieß, gegen ›die bauchdiene rischen Fresser der Witwen, die Wasser predigten und Wein tranken‹, und auch gegen den Papst. Man spottete: »Der heilige Petrus hat das Fasten eingeführt, um seine Fische besser verkaufen zu können.« Die Volksstimme, die sich in solchen Aussprüchen gegen den Ablaßhandel 24
stellte, beunruhigte die Kirchenfürsten, die sich schon durch die un aufhörlichen örtlichen Bauernaufstände gefährdet fühlten. Der Erzbi schof von Mainz schrieb verzweifelt an Maximilian: »Ein allgemeiner Brand, wie man ihn zuvor nie gesehen, droht Deutschland zu verhee ren.« Maximilian hatte bald nach seiner Thronbesteigung den ›ewigen Landfrieden‹ verkündet, und die bedeutendsten Fürsten hatten ihm zugestimmt. Aber sie waren nicht mehr Herren der Lage. Sie fürch teten die Gärung in der Bevölkerung und daß die ungeheure Unru he, die jedermann im kleinsten Dorf und in der größten Stadt erfaßt hatte, sich gegen sie richten würde. Viele Fürsten hielten es für richtig, die erregte Volksstimmung gegen die Kirche für ihre eigenen Zwecke auszunützen. Sie hatten vor, den Kirchenbesitz einzuziehen und nicht nur die Güter, sondern auch die geistliche Gerichtsbarkeit über die Bi schöfe und Klöster zu gewinnen. Schon nannte sich der Kurfürst von Sachsen ›oberster Handhaber aller guten Werke in meinem Lande‹. Je mehr Verlegenheiten den Papst und den Kaiser plagten, desto bes ser. Freie Hand den Fürsten – sie hegten und pflegten die Gelehrten, Prediger und Doktoren, die das römische Recht zugunsten der ›Liber tät‹, der Selbständigkeit der Fürsten, auslegten und gleichzeitig ihrer Mißachtung für das geistliche Rom Ausdruck gaben. »Ich verachte den Papst«, erklärte Johann von Wesel in aller Öffentlichkeit. »Ich verachte die Kirche, die Konzilia und lobe Christum … Die Kirche befindet sich in einer babylonischen Gefangenschaft. Der Papst ist ein bepurpurter Affe.« Geschützt von seinem Landesherrn, führte Wesel in seinem An griff aus, daß er als ›berufener Professor der Heiligen Schrift‹ die Leh re vom Ablaßhandel bekämpfe, ebenso wie die Lehren von der Ver ehrung der Heiligen, vom Fegefeuer, von den Sakramenten, von der Beichte, vom Heiligen Abendmahl und von der Letzten Ölung. Das ge weihte Öl sei nicht besser als das, welches man in der Küche zum Ko chen verwende. Im Abendmahl könne der Leib Christi auch ohne Ver wandlung des Brotes zugegen sein. Nur die Heilige Schrift sei die un trügliche Glaubensquelle und müsse aus sich selbst erklärt werden! Johann von Wesel war nur einer von vielen Gelehrten und aufrüh 25
rerischen Priestern, die gegen die ›Willkür des Papstes‹ aufbegehr ten. Gegen sie setzte der Heilige Stuhl das Aufgebot des Glaubens ein: Mönche und Prediger, ›beredte Anwälte der Kirche‹, die von den Kan zeln vor den ›betrügerischen Auslegern der Heiligen Schrift‹ warnten: »Das sind die falschen Doktoren und Glossierer des Antichristen. Sie bereiten ihm den Weg. Er wird der allergrößte Fälscher und Betrüger sein. Wenn er kommen wird, so wird er viele Leute seinesgleichen fin den, und es ist zu glauben, daß er nicht ferne ist!« War das eine Drohung? War es eine Prophezeiung? Die Stimmen für und gegen die Kirche verstummten nicht. In Wien schlug ein unbekannter Predigermönch am Tor des Ste phansdoms seine Thesen an: »Gegen die Lehre der Kirche von der Ge burt des Heilands, gegen die Heilige Jungfrau …« Aus Prag berichtete der Gelehrte Bohuslaw Haszenstein: »In der Religion herrscht hier eine ungeheure Ungebundenheit. Greise und Knaben, Männer und Frauen streiten über Glaubenssachen und erklären die Heilige Schrift, was sie doch nicht gelernt haben. Jede Sekte findet dort ihre Freunde, so groß ist das Verlangen nach Neuem.« In einer Audienz, die Kaiser Maximilian dem Tübinger Bürger Hein rich Bebel in der Hofburg zu Innsbruck gewährte, erklärte dieser an gesehene Humanist: »Mutter Germania erschien mir im Traum. Eile, sprach sie, zu meinem teuren Sohn, dem König Maximilian, denn er gestattet gern auch einfachen Leuten Zutritt. Erzähle ihm von meiner trostlosen Lage, schildere ihm mein erbärmliches Aussehen, gemahne ihn meiner Tränen und des steten Kummers, der mich langsam ver zehrt. Sage ihm, er sei der einzige Trost, die alleinige Zuflucht der Mut ter … Gib ihm zu bedenken, daß die Ursachen des Untergangs mäch tiger Reiche, wie des persischen, des mazedonischen, des griechischen und des römischen Reiches, im Eigennutz des einzelnen gelegen waren und der daraus entspringenden Zwietracht.«
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Der Ruf des Landvolks und der Bürger nach einer festen Hand, nach einem Kaiser, »der den Wölfen, die sich Fürsten nennen, nicht verstat ten möge, das Reich zu zerreißen«, veranlaßte Maximilian, einen Plan zu entwerfen, der wie die meisten seiner Pläne nicht zur Ausführung kam. Er wollte, ›gestützt auf Ritter, Städte und Bauern, die Macht der Reichsfürsten brechen und eine wirkliche Monarchie errichten‹. Jede Einzelheit war festgelegt, wie Maximilian ›die Grafen, Herren und gemeinen Adeligen deutscher Nation an sich ziehen und brin gen möchte, um dadurch alle hohen und niederen Stände im heili gen Reich dazu zu halten, untertänigst den Gehorsam zu leisten, da mit der Arme zum Recht komme und unbedrückt bleibe, und die kö nigliche Majestät den Türken und ihren anderen Feinden und Wider wärtigen desto mehr mit tätlichem Widerstand begegnen möchte, da durch auch Gehorsam, Gleichheit und Recht im heiligen Reiche erhal te …‹ Aber trotz dieses sorgfältig verfaßten Entwurfes trat Maximili an nicht ›als der Mann der guten Gelegenheit‹ auf, wie sehr es ihn auch danach gelüstet hätte. Sein Zeitgenosse Machiavelli, der die Kenntnis fürstlichen Wesens zu seiner Lebensaufgabe gemacht hatte, beschrieb die Handlungsweise des Kaisers: »Er ist in ständiger geistiger und kör perlicher Aufregung, aber er nimmt oft abends zurück, was er früh be schlossen hat.« Der Brief eines königlichen Rates an den Humanisten Johann Cochläus entschuldigte und erklärte die scheinbare Unentschlossen heit Maximilians: »Die starke Wand der Dinge ist gar viel härter als der Kopf des Königs und doch will er oft hindurchrennen im eiligen Schritt – selbst ohne Helm. Aber er rennt nur an, und so gibt es Leid und Unglück.« Die Schwäche Maximilians lag vor allem in der Unterschätzung sei ner Gegenspieler, der Könige von Frankreich. Erst war es Karl VIII. der ihm durch seinen Zug nach Italien zuvorgekommen war. Dann Lud wig XII. der ihm Mailand streitig machte, das Maximilian doch durch seine Ehe mit Bianca Maria Sforza, der Erbin von Mailand, als ›sein‹ Herzogtum betrachtete. Er war auch gezwungen, die Unabhängigkeit der Schweizer Eidgenossenschaft anzuerkennen, obwohl ihre Unter 27
werfung doch sein Reich ›so lieblich‹ abgerundet hätte. Und als er sich auf den Marsch nach Rom begab, um vom Papst als Kaiser gekrönt zu werden, wurde er von den Truppen der Republik Venedig aufgehal ten. Daß ihm Julius II. dennoch gnädig erlaubte, sich ›Erwählter Rö mischer Kaiser Deutscher Nation‹ zu betiteln, war nur eine kleine Ent schädigung für den ehrgeizigen Mann, der sich im Geiste schon als Beherrscher des Erdkreises gesehen hatte. Den schweren politischen Schlag, den die Hoffnungen Maximilians durch den frühen Tod seines Sohnes Philipp des Schönen erlitten, verschmerzte er nie. Auch nicht, als der Schwiegervater des früh verstorbenen Habsburger Prinzen, Kö nig Ferdinand von Spanien, ihrem gemeinsamen Enkel Karl, dem Er ben von Burgund, die Nachfolge in Spanien zusicherte. Das Weltreich, das Friedrich III. für sein Haus erträumt hatte, war nun endlich der Wirklichkeit nahe. Aber Maximilian selbst, der so eif rig mitgeholfen hatte, es zu schaffen, versagte auch weiterhin in sei nen Unternehmungen. Er konnte auch ›sein‹ Herzogtum Mailand nicht wiedergewinnen, das Franz I. der Nachfolger Ludwigs XII. von Frankreich, ihm vorenthielt. Trotz allen kriegerischen Aufwands, den die mit Maximilian befreundeten Augsburger Bankleute Fugger und Welser durch ihre Anleihen ermöglichten, wurde der Habsburger von Franz in der Schlacht bei Marignano vernichtend geschlagen. Ein Brief des Kardinals von Sion an den englischen Kardinal Wolsey faßte die Mißerfolge des Kaisers zusammen: »Acht Jahre hat Maximilian allein im Krieg ausgeharrt, beiläufig dreihunderttausend Dukaten an Fran zosen und Venezianer verloren. Verlassen vom Papst und vom Reich und von Italien, verpfändete er all das Seine: Einkünfte, Burgen, Herr schaften und sonstiges Eigentum.« Maximilian war bettelarm, als der Tod König Ferdinands von Spanien seinen Enkel Karl zum reichsten Erben der Erde machte.
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III
Der frühe Ruhm des Kolumbus, der auf seiner letzten, verunglück ten Ausfahrt alle Schiffe verloren hatte und den katholischen Königen ›lästig zu werden anfing, als er zu nützen aufgehört hatte‹, verdunkel te die Erfolge der ›kleinen Entdecker‹, wie Alonzo de Hojedas, der auf seinen waghalsigen Fahrten nach dem Westen einen Golf entdeckte, an dessen Küste rothäutige Eingeborene in Hütten auf Pfählen über dem Wasser wohnten. Das erste Dorf auf Pfahlbauten, das sie sahen, erinnerte die Begleiter Hojedas an Venedig. Sie nannten es Venezuela, »Klein-Venedig«. Über diese Entdeckungsfahrten, die den kühnen Unternehmern durch den Verkauf von zweihundertzweiunddreißig Sklaven fünfhun dert Dukaten einbrachte, die auf fünfundfünfzig Personen aufgeteilt werden mußten, berichtete Amerigo Vespucci, der durch die lebendi gen Schilderungen seiner Erlebnisse und Beobachtungen so bekannt wurde, daß der neue Erdteil nach seinem Vornamen benannt wurde, während Christoph Kolumbus von der zeitgenössischen Öffentlich keit nur für den Entdecker etlicher Inseln gehalten wurde. Die ande ren frühen Amerika-Reisenden, wie Pedro Alonzo Nino, der eine gro ße Menge Perlen heimbrachte, und Vincente Pinzon, der bis an die Mündung des Amazonenstroms vordrang und das kostbare Brasil holz nach Europa schiffte, wurden ebensowenig berühmt wie Diego de Lepe und Rodrigo de Bastidas, der auf seiner Fahrt die Nordküste Sü damerikas entdeckte. In Spanien herrschte fürs erste die Meinung vor, daß die Erträgnis se der Fahrten den dazu nötigen Aufwand nicht rechtfertigten. An ders war es in Portugal. Die portugiesischen Seefahrer, die wie Chri stoph Kolumbus den Seeweg nach Indien gesucht hatten, blieben bei ihrem Ziel. Zunächst hatte Bartolomeo Diaz das ›Stürmische Vorge birge‹, das seither das ›Kap der Guten Hoffnung‹ hieß, erreicht. Dann drang Vasco da Gama durch die Umsegelung Afrikas bis an die Kü ste Indiens vor. Seine Fahrt sicherte Portugal die Handelsherrschaft 29
im Arabischen Meer, und der Gewürzhandel brachte ungeheuren Ge winn nach Lissabon. Vasco da Gamas Landsmann Cabral stieß auf sei ner Fahrt nach dem Westen auf Land. Er warf Anker und hielt das ent deckte Gebiet für eine große Insel, die er ›Santa Cruz‹ nannte. Er sand te den Kapitän Lemos nach Portugal zurück, um Meldung zu erstat ten, und setzte seine Fahrt nach Indien fort. Die Nachricht von der Entdeckung Santa Cruz' wurde in Lissabon mit großer Freude aufgenommen. Eine Insel auf dem Weg nach Indi en, das mußte künftigen Unternehmungen von größtem Nutzen sein. Um die Entdeckung auszuwerten, wurde eine Flotte ausgesandt, auf der Amerigo Vespucci als Astronom angestellt wurde. Die Schiffe fuh ren an der afrikanischen Küste entlang, über das ›Grüne Vorgebirge‹, das ›Cap Verde‹, hinaus und dann mit westlichem Kurs über den Oze an. Bald stellten die Seefahrer fest, daß Cabral keine Insel, sondern ei nen Erdteil entdeckt hatte. Sie folgten der Küste in südlicher Richtung, bis sie am 1. Januar 1502 in die Bucht von Rio de Janeiro einfuhren. Amerigo Vespucci segelte mit einigen Schiffen weiter nach dem Süden. Als er nach Lissabon zurückkehrte, berichtete er über die Schönheit des südlichen Himmels, die köstlichen tropischen Küstenlandschaften und die unermeßlichen Schätze, die dem Zugriff offen lägen. Seine Berichte, und besonders der Brief, den er an seinen Freund Pier Francesco di Medici schrieb, wurden die beliebtesten Reisebeschrei bungen, die, ins Lateinische und auch ins Deutsche übersetzt, auf den Jahrmärkten feilgehalten wurden. Amerigo war so von Stolz erfüllt, »den vierten Teil der Welt durchschifft zu haben«, daß er ganz über zeugt war, es werde ihm gelingen, auch Indien in südwestlicher Fahrt richtung zu erreichen und den Gewürzmarkt von Malakka für den portugiesischen Handel zu eröffnen. Seine Fahrt mißlang. Damals leb te Christoph Kolumbus noch und schrieb seinem Sohn über Amerigo Vespucci: »Dem ehrenwerten Mann ist das Glück abhold gewesen, wie so vielen anderen. Auch er hat den gebührenden Lohn für seine Lei stungen nicht empfangen.« Amerigo Vespucci trat nun in den Dienst des Königs von Spanien und mußte Seekarten zeichnen, um seinen Lebensunterhalt zu verdie 30
nen. Er starb mit dem befriedigenden Bewußtsein, daß die Neue Welt nach ihm benannt worden war. Der Urheber der Benennung Ameri kas war ein gewisser Martin Waltzemueller (Waldseemüller), der in der in der Einleitung seiner im Jahre 1507 veröffentlichten Kartenkun de erklärte, daß der durch Amerigo Vespucci entdeckte vierte Erdteil ›mit gutem Fug und Recht‹ den Namen ›Amerige, gleichsam Amerigos Land‹ oder besser noch ›Amerika‹ verdiene, da sowohl Europa als auch Asia nach Frauen benannt worden seien. Zum erstenmal erschien die Bezeichnung Amerika ohne Erläute rung in einem anonym veröffentlichten Werk: »Globus Mundi.« Der neue Erdteil wurde seither allgemein so benannt. Auch Leonardo da Vinci bezeichnete ihn in seiner Weltkarte schon als ›Amerika‹. IV Die erdkundliche Erforschung der Neuen Welt und die erfolgreichen Handelsfahrten der Portugiesen und Spanier wurden fürs erste nur von den unmittelbar wissenschaftlich oder am wirtschaftlichen Er trag beteiligten Seefahrern, Kaufleuten und Herrschern ihrer Bedeu tung entsprechend bewertet. Die große europäische Öffentlichkeit blieb trotz der gelegentlich veröffentlichten aufregenden Reiseberich te unberührt von den Ereignissen, die sich am Rande des bekannten Erdkreises vollzogen. Was bedeuteten auch die kärglich ausgerüste ten Schiffe abenteuerlustiger und gewinnsüchtiger Kaufleute und For scher, die den Seeweg nach dem Fernen Westen und dem noch ferne ren Südosten eröffneten, im Vergleich zu der ungeheuren Kriegsflotte, die Selim L, der Sultan des osmanischen Reiches, gegen die Christen heit zur Ausfahrt bereithielt? Er hatte schon Mesopotamien im Kampf mit Persien und Syrien und Ägypten erobert und hielt es für selbstver ständlich, daß auch seine europäischen Nachbarn Tribute nach Kon stantinopel sandten, das schon Mohammed II. sein Vorgänger, erobert und zur Hauptstadt des türkischen Reiches gemacht hatte. Die Kern 31
truppe seines Heeres waren die Janitscharen, mohammedanisch er zogene Christenknaben, die besonders ausgebildet wurden. Sie waren die Vorhut der überlegenen Armeen des Sultans, die nur auf seinen Be fehl zur Eroberung des Abendlandes warteten. Die ›türkische‹ Gefahr war so bedrohlich wie nie zuvor. Nichts schien so wichtig zu sein, wie ihr zu begegnen. War endlich die große Zeit Kaiser Maximilians I. ge kommen? Konnte er sein ›sehnliches Verlangen‹ befriedigen, die verei nigten christlichen Fürsten gegen die Türken anzuführen? Maximilian ließ keine Gelegenheit ungenützt, um Papst Leo X. zu gemeinsamem Handeln zu bewegen. Er beschwor den Heiligen Vater, doch mit ihm, dem Kaiser, einig zu sein. Das Lateranische Konzil faß te im März 1517 tatsächlich den Beschluß, die Christenheit zu einem allgemeinen Kreuzzug aufzurufen, während dessen Dauer alle Strei tigkeiten zwischen den christlichen Mächten ruhen sollten. Auf dem Reichstag in Augsburg, den der ›letzte Ritter‹ einberief, erhob sich Kar dinal Cajetan, der Abgesandte Leos X. zu einer Rede, um die Kurfür sten und Landesherren zu bestimmen, sich Maximilian als dem ober sten Herrscher der Christenheit um der Christenheit willen zu unter werfen. Er rief: »Religion und Menschheit wirft sich hilfesuchend den Deutschen zu Füßen. Alles blickt auf Maximilians Adler. Nur der Kai ser des römischen Reiches kann der Welt Rettung verschaffen. Verlaßt ihr Fürsten es, so verlaßt ihr euch selbst. Deutschland ist ein Grenz land der Türken. Wenn auch Italien durch die Flotten der Türken eher erreicht werden kann, so sind doch für euch ihre Landheere viel drohender, und in diesen besteht, wie jedem bekannt ist, die Stärke der Türken. Ganz Deutschland liegt ihrem Ansturm offen, wenn wir nicht Kärnten und die Steiermark, Kroatien und Ungarn als Bollwer ke schützen und retten. Wenn ihr auf diesem Reichstag das Unterneh men des Kreuzzuges nicht zustande bringt, sondern wieder hinaus schiebt, so wird die ganze Christenheit den Mut verlieren. Warum sol len wir handeln, werden die anderen christlichen Fürsten sagen, wenn Deutschland, mit dem doch die Würde des Kaiserreiches verbunden und dem dadurch der Schutz der Kirche übertragen ist, zögert …?« Der Aufruf des päpstlichen Gesandten hätte nicht dringlicher sein 32
können, aber die Zustimmung der deutschen Landesherren und Kur fürsten zum Kreuzzug wäre gleichbedeutend mit ihrer militärischen Unterordnung unter den Kaiser gewesen. Das war gegen die Interes sen der deutschen Fürsten. Das hätte ihre seit nun beinahe dreihun dert Jahren zähe durchgeführten Selbständigkeitsbestrebungen be droht. Das wollten sie keinesfalls. Der Gesandte des Papstes war der Wortführer des Kaisers beim deutschen Volk, die deutschen Fürsten zählten die Beschwerden des deutschen Volkes gegen den Papst auf. Es kam auch auf diesem Reichstag von Augsburg zur Sprache, daß ein ge wisser Doktor Martin Luther, ein gelehrter Professor der Universität Wittenberg, unversöhnliche Thesen gegen den Mißbrauch des Ablas ses an die Türe der Schloßkirche zu Wittenberg angeschlagen habe. Das Datum des ›Protestes‹ Doktor Luthers gegen die römische Kir che war der 31. Oktober 1517. Aber dieses Datum bekam erst später ge schichtlich beglaubigten Wert als der ›Beginn der deutschen Reforma tion‹.
Es fand kein christlicher Kreuzzug gegen die Türken statt, aber es be gann der gefürchtete Türkenzug gegen die Christenheit. Maximilian, der unentwegte Optimist, dem es gelungen war, den Erbvertrag seines Vaters mit König Wladislaw von Ungarn und Böhmen durch ein Ver löbnis seiner spanischen Enkelkinder Ferdinand und Maria mit den Kindern Wladislaws, Ludwig und Anna, zu festigen, wurde nun doch müde. Ungarn, das er schon im Geiste habsburgisch sah, war bedroh ter denn je. Gab es keine Hilfe? Er rief verzweifelt aus: »Mir ist auf der Welt keine Freude mehr. Armes Deutschland!« Der Kaiser fürchtete nicht nur die Türken, er hatte auch Angst vor der von seinen Gegnern geplanten Erhebung Franz I. von Frankreich auf den deutschen Kaiserthron. Seine Angst ging so weit, daß er er wog, den Schwager seines verstorbenen Sohnes, Philipps des Schönen, den König Heinrich VIII. von England, an Sohnes Statt anzunehmen, um ihm die Nachfolge im Reich zu verschaffen. Gab es denn noch eine 33
Aussicht, daß es ihm gelingen könnte, seinem Enkel Karl, dem jun gen König von Spanien, zur Kaiserkrone zu verhelfen? Gegen den Wil len der Reichsfürsten, die vor der habsburgischen Übermacht zurück scheuten? Der Zwiespalt zwischen der Wirklichkeit und seiner Einbildungs kraft hatte Maximilian I. zeit seines Lebens geplagt. Als alter Mann wußte er endlich, woran er war. Er schrieb seinem Enkel Karl, dem neuen König von Spanien: »Schicke Geld und immer mehr Geld.« Karl hatte nicht nur seinen Großvater, König Ferdinand von Spanien, be erbt, sondern auch seine Mutter, Maria von Burgund. Wenn ihm auch die widerspenstigen spanischen ›Cortes‹ Schwierigkeiten machten, aus den reichen Niederlanden konnte er mehr Geld herausholen, als Franz I. von Frankreich aufbringen konnte. Die Wahl Karls war gesi chert, noch ehe Maximilian starb. Dennoch sah dieser sorgenvoll in die Zukunft. Er wußte, daß die Kurfürsten und deutschen Landesher ren nicht widerspruchslos einem römischen Kaiser deutscher Nation huldigen würden, der als Oberhaupt des Hauses Habsburg den Erd kreis beherrschte. Die Titel allerdings, die Karl V. bei seiner Krönung in Aachen annahm, schienen jeden möglichen Widerstand gegen sei ne Übermacht im vorhinein aussichtslos zu machen. Er nannte sich: ›Römischer König, künftiger Kaiser, immer Augustus, König von Spa nien, Sizilien, Jerusalem, der Balearen, der Kanarischen und Indiani schen Inseln sowie des Festlandes jenseits des Ozeans, Erzherzog von Österreich, Herzog von Burgund, Brabant etc.‹, und überdies: ›Herr in Asien und Afrika‹. V »Ich bin eines Bauern Sohn. Mein Vater, Großvater, Ahnherr sind rech te Bauern gewesen. Danach ist mein Vater gen Mansfeld gezogen und daselbst ein Bergbauer geworden. Daher bin ich.« So berichtete der in Eisleben geborene Martin Luther über seine Her 34
kunft. Der Ausdruck ›Bergbauer‹ könnte irreführen: Hans Luther, sein Vater, hatte sich zum Teilhaber an einer Erzgrube heraufgearbeitet und war Ratsherr geworden. Er wünschte, daß Martin die Rechtswis senschaften in Erfurt studiere. Der gehorsame Sohn erlangte auch den Grad und Titel eines ›Magister artium‹, aber er trat, einer plötzlichen Eingebung folgend, in das Kloster der Augustiner Bettelmönche ein. Die Frage ›Wie gewinne ich einen gnädigen Gott?‹ quälte ihn so sehr, daß er sich über die Ordensvorschriften hinaus den strengsten Übun gen ergab, um den inneren Frieden zu erlangen. Alle Kasteiungen waren vergebens. Und auch der Besuch der heiligen Stätten Roms half Martin Luther nicht. Erst ›die Rechtfertigung allein durch den Glauben‹ wies ihm den Weg zur Gewißheit, daß der rich tende Gott zugleich der gnädige Gott sei, der in SEINER unendlichen Liebe in Jesus Christus Mensch wurde und die Sünden der Mensch heit durch den Tod am Kreuz auf sich genommen hatte. Nur durch das gläubige Vertrauen darauf, daß diese Liebestat Gottes auch für ihn ge schehen sei, wurde der Mensch gerecht vor Gott. Luther lehrte, daß jeder Gläubige ohne irgendwelche Vermittlung mit Gott in Beziehung treten und seine Seele mit IHM verbinden kön ne: »Gott ist alles in allem.« Er ließ die Kirche nicht als Verwalterin und Mittlerin des Heils gelten, sondern als Gemeinschaft der im glei chen Glauben miteinander Verbundenen. Die Geistlichen sollten nicht Mittler der Gnade Gottes sein, sondern ihren Mitchristen auf Grund eines vertieften Verständnisses des Gotteswortes durch Predigt und persönliche Seelsorge dienen. Als Schloßprediger und Professor an der neugegründeten Universität Wittenberg übte Luther seine leidenschaftliche Lehrtätigkeit aus und prägte den neuen christlichen Gemeindebegriff: das allgemeine Prie stertum aller Gläubigen, das auf der unmittelbaren, uneingeschränk ten Verbindung jedes Christen mit Gott beruht und sie in brüderlicher Liebe untereinander zum gemeinsamen Hören des Gotteswortes und zum gemeinsamen Empfang der göttlichen Verheißung verpflichtet. Der örtliche Mißbrauch, der mit dem Ablaßhandel getrieben wur de, veranlaßte Luther, seine berühmten Thesen an der Türe der Wit 35
tenberger Schloßkirche anzuschlagen. Er bezweckte mit seiner Kund machung, den Dominikaner Tetzel zu einer Erörterung über den Ab laß und das Wesen der wahren Buße herauszufordern. Dieser Predi germönch hatte unter der Bevölkerung Wittenbergs den Ablaßhandel betrieben, einerseits um Geld für den Bau der Peterskirche in Rom aufzutreiben, andererseits aber im Auftrag des Erzbischofs von Mainz und von Magdeburg, der auch das Bistum Halberstadt verwaltete und für die dem Kirchenrecht widersprechende Vereinigung dieser drei Ämter eine bedeutende Summe an den Heiligen Stuhl zu entrichten hatte. Die wesentlichsten Sätze der Thesen Luthers, die, ins Deutsche über tragen, zu einem volkstümlichen Kampfruf wurden, lauteten: »Da un ser Meister und Herr Jesus Christus spricht, tut Buße, usw. will ER, daß das ganze Leben SEINER Gläubigen auf Erden eine stete und un aufhörliche Buße sein soll … Derhalben irren die Ablaßprediger, die da sagen, daß durch des Papstes Ablaß der Mensch von aller Pein los und selig werde … Ein jeder Christ, sowahr er Reue und Buße hat über seine Sünden, der hat völlige Vergebung von Pein und Schuld, die ihm auch ohne Ablaßbrief gehört …« Im Auftrag des päpstlichen Abgesandten, Kardinal Cajetan, wurde Luther zum Widerruf seiner Thesen aufgefordert. Aber er bestritt in der sogenannten ›Leipziger Disputation‹ zwischen den Professoren Karl stadt und Eck, in die er hineingezogen wurde, nicht nur das Recht der päpstlichen Vorherrschaft, sondern auch die Unfehlbarkeit der Kir chenversammlungen: ›Lasset uns aufwachen, liebe Deutsche, und Gott mehr als die Menschen fürchten!‹, schrieb er und verfocht in seinen Schriften das von der Kirche unabhängige Recht des Staates. Er for derte die weltlichen Gewalten auf, die kirchlichen Schäden zu bessern. Die Angriffe Luthers richteten sich gegen die Lehre der Sakramente und das Priestertum, das auf der Lehre von den Sakramenten beruht. An alle gläubigen Christen wandte sich sein Buch ›Von der Freiheit eines Christenmenschen‹, die jeder im Glauben gewinnen könne. Er stellte den kirchlichen Satzungen die innere, aus der Liebe Gottes er wachsene Notwendigkeit entgegen, dem Nächsten in treuer irdischer 36
Arbeit und Pflichterfüllung innerhalb der weltlichen Gemeinschaft zu dienen.
Martin Luther wurde der gefährlichste Widersacher Karls V. der schon als Zwanzigjähriger so ruhig und ernst in seiner königlichen Haltung war, daß er ›das höchste irdische Glück für nichts zu achten schien‹. Nach der Krönung Karls zum Kaiser schrieb ihm sein Großkanzler Gattinara: »Sire, da Gott Euch die ungeheure Gnade verliehen hat, Euch über alle Könige und Fürsten der Christenheit zu erhöhen, zu ei ner Macht, die bisher nur Euer Vorgänger Karl der Große besessen hat, so seid Ihr auf dem Weg zur Weltmonarchie, zur Sammlung der Chri stenheit unter einem Hirten …« Diese Voraussage war um so glaubhafter, als sich Karl vor dem er sten deutschen Reichstag, den er einberief, dem päpstlichen Gesandten Aleander gegenüber bereit erklärte, die durch die Schriften Martin Lu thers drohende Spaltung der Christenheit im deutschen Reich kurzer hand dadurch zu beendigen, daß er über den vom Heiligen Stuhl mit dem Kirchenbann belegten Doktor die Reichsacht verhängen würde. Die vollkommene Übereinstimmung mit dem Papst in allen Din gen entsprach den Grundsätzen Karls, die er, noch vor dem schicksals schweren Reichstag von Worms, seinem angeheirateten Onkel, König Heinrich VIII. von England, als richtungweisendes Bekenntnis mit teilen ließ: »Die päpstliche und die kaiserliche Gewalt sind von Gott als die obersten Gewalten, erhaben über alle anderen, eingesetzt. Papst und Kaiser, die beiden wahren Häupter der Christenheit, haben die be sondere Pflicht, die unter den christlichen Völkern vorhandenen Irr tümer zu klären, den allgemeinen Frieden zu stiften, den allgemeinen Krieg gegen die Türken zu unternehmen und alles in einen besseren Stand und eine bessere Form zu bringen. In Krieg und Frieden müs sen beide Gewalten unauflöslich miteinander verbunden sein und al len wahren Gläubigen die Bürgschaft besserer Zukunft bieten …« Der junge Kaiser mit dem blassen, starren Gesicht, der von seinem 37
Gottesgnadentum erfüllt war, begriff nicht, warum so viel Aufhebens wegen eines aufrührerischen Mönches gemacht wurde, der eine päpst liche Bulle öffentlich verbrannt hatte. Die Schriften Luthers, ›An den christlichen Adel deutscher Nation‹ und ›Von der babylonischen Ge fangenschaft der Kirche‹, kannte Karl selber nicht, und daß ein großer Teil des deutschen Volkes die in handlicher Form gedruckten Ankla gen gegen die römische Kirche und den Papst mit Begeisterung auf nahm, hätte ihn nicht berührt, wenn nicht der so angesehene Kurfürst Friedrich der Weise von Sachsen dafür eingetreten wäre, daß der Kai ser Martin Luther anhöre, ehe auch er ihn verurteile. Auch der berühmte Humanist Erasmus von Rotterdam, der mit den bedeutendsten zeitgenössischen Gelehrten einen regen Briefwech sel unterhielt und der seine lateinische Übersetzung des Neuen Testa ments aus der griechischen Urfassung Papst Leo X. persönlich gewid met hatte, wirkte für Luther – allerdings in seiner behutsamen, vorsich tigen Art. Erasmus brachte das Gerücht auf, die päpstliche Bannbul le gegen Luther sei gefälscht. Dadurch wollte er es dem Kaiser ermög lichen, sich nicht von vornherein mit der Verurteilung Luthers durch den Papst einverstanden erklären zu müssen. Schließlich waren auch die Räte Karls V. für die Vorladung Luthers. Sie hielten es nicht für wahrscheinlich, daß der ›aufrührerische Augustiner‹ ihr Folge leisten würde, auch wenn der Kaiser ihm freies Geleit zusicherte. Das Schick sal des Johann Hus war noch in aller Erinnerung. Wenn Luther nicht auf dem Reichstag erschiene, um sich zu verantworten, dann könne er, ohne daß die Gelehrten und das Volk sich über Ungerechtigkeit empö ren konnten, kurzerhand abgeurteilt werden. Für den Kaiser, der die Vorladung des als Ketzer angeklagten Mön ches verfügte, war der Fall Luther nur einer von vielen unerledigten Streitfällen, die beim Reichsgericht anhängig waren. Karl verfolgte zwei bestimmte Ziele auf dem Reichstag von Worms. Er wollte seine eigene ›hochherzige Haltung‹ gegenüber Ferdinand beweisen, um so mehr, als der jüngere Bruder sich in allernächster Zukunft mit Anna, der Prinzessin von Ungarn und Böhmen, verheiraten sollte: der heran gewachsene Infant von Spanien und Erzherzog von Österreich sollte 38
einen eigenen habsburgischen Hausstand gründen, selbständiger Lan desherr werden und entsprechend dem Plan seines Großvaters, Kai ser Maximilians, in der Nähe Ungarns und Böhmens herrschen, um gegebenenfalls die Erbansprüche des Hauses Habsburg auf diese bei den Kronen unverzüglich verteidigen zu können. Karl übertrug Fer dinand in feierlicher Sitzung alle deutschsprachigen habsburgischen Länder und begehrte überdies von den versammelten Ständen viertau send Reiter und zwanzigtausend Mann zu Fuß für den Romzug, den er selbst unternehmen wollte. Der Reichstag bewilligte sowohl die Anerkennung Ferdinands als unabhängigen Landesherrn als auch die geforderten Truppen. Der er ste Widerspruch gegen Karl V. wurde laut, als sein Beichtvater das Ver bot der Schriften Martin Luthers erwirkte, der sich doch bereit erklärt hatte, die kaiserliche Vorladung anzunehmen und sich in Worms zu verantworten. Eine ungeheure Volksmenge lief zusammen, um den gelehrten Dok tor von Angesicht zu sehen, der gekommen war, seinen Standpunkt vor des Kaisers Majestät und dem versammelten Reichstag zu verfech ten. Luther war auf dem Weg nach Worms vor den Gefahren gewarnt worden, die ihm drohten. Er hatte erwidert: »Ich will hineinziehen, wenngleich soviel Teufel darin wären als Ziegel auf den Dächern …« Die Warnung wurde wiederholt, um ihn in Schrecken zu versetzen. Es wurde ihm sogar mitgeteilt, daß des Kaisers Beichtvater erklärt habe, er würde verbannt werden, wenn er komme – nur damit er nicht käme. Aber Luther blieb bei seinem Vorsatz – ›… wiewohl ich erschrak und zitterte‹. Die erste Versammlung des Reichsrats, vor der Luther erschien, fand am 17. April 1521 im Bischofshof in Worms statt. Seine Bücher lagen auf einem Tisch. Die Titel wurden mit lauter Stimme verlesen. Er bestätig te: »Ja, sie sind mein.« Als die Frage an ihn gestellt wurde: »Wollt Ihr sie widerrufen?«, wandte sich Luther dem Thronsessel Karls V. zu: »Gnä digster Herr Kaiser«, erklärte er, »etliche meiner Bücher sind Streitbü cher. Dieselben kann und will ich nicht widerrufen, denn es ist Gottes 39
Wort. Aber so ich in den Streitbüchern wider jemand zu heftig gewe sen bin, ihm vielleicht zu viel getan hätte, so will ich mich weisen las sen. Wollet mir Bedenkzeit geben.« Ein Tag und eine Nacht Bedenkzeit wurden Luther gewährt. Als er am späten Nachmittag des 18. April auf dem Weg zur Versammlung an Georg von Frundsberg vorbeikam, klopfte ihm der berühmte Lands knechtsoberst auf die Schulter: »Mönchlein, Mönchlein«, rief er, »du hast jetzt einen Gang, einen Stand zu tun, dergleichen ich und man cher Oberster auch in allerernstesten Schlachtordnungen nicht getan haben. Bist du aufrechter Meinung und deiner Sache gewiß, so fahre in Gottes Namen und sei nur getrost. Gott wird dich nicht verlassen.« Da stand Luther wieder vor dem versammelten Reichsrat und bekann te sich zu seinen Büchern. Er erklärte bestimmt, ihren Inhalt nicht wi derrufen zu können. »Es wäre denn«, sagte er, »daß Eure kaiserliche Ma jestät und Gnaden, oder alle anderen von den Höchsten oder Niedrig sten … die Irrtümer erweisen, mich mit evangelischen und propheti schen Schriften überwinden. Dann will ich auch aufs allerbereiteste und willigste sein, so ich des unterwiesen werde, alle Irrtümer zu widerrufen, und der allererste, der meine Bücher in das Feuer werfen will.« Luther wurde angewiesen, eine ›schlichte und ungehörnte‹ Ant wort zu geben. Er erwiderte: »Weil denn Eure kaiserliche Majestät und Eure Gnaden eine schlichte Antwort begehren, so will ich eine Ant wort ohne Hörner und Zähne geben diesermaßen: Es sei denn, daß ich durch Zeugnisse der Schrift oder einleuchtender Gründe über wunden werde – denn ich glaube weder dem Papst noch den Konzi lien allein, dieweil es am Tag ist, daß sie öfters geirrt und sich selbst widersprochen haben –, so bin ich überwunden durch die heiligen Schriften, von mir angeführt, und mein Gewissen ist gefangen in Got tes Wort. Derhalben kann und will ich nichts widerrufen, dieweil wi der das Gewissen zu handeln beschwerlich, unheilsam und gefährlich ist. Ich kann nicht anders. Hier stehe ich. Gott helfe mir! Amen!« Der Lärm, in dem die letzten Sätze Luthers untergingen, widersprach der kaiserlichen Würde Karls. Er fällte kein Urteil vor dem versammelten Reichsrat. Aber er erklärte schon am nächsten Tag, daß er entschlos 40
sen sei, gegen den hartnäckigen Angeklagten ›als einen wahren und überführten Ketzer‹ zu verfahren. Die Volksstimmung jedoch sprach sich so eindringlich für Luther aus, daß die Reichsstände sich scheu ten, ein scharfes Vorgehen des Kaisers gutzuheißen. Karl zögerte die Verkündigung des Rechtsspruchs, den der päpstliche Gesandte Alean der schon abgefaßt hatte, hinaus. Erst als der Reichstag seinem Ende zuging, unterzeichnete er das folgenschwere ›Wormser Edikt‹. Es war nicht rechtsgültig und wurde auch nicht in den sogenannten ›Reichs abschied‹, die Sammlung der erledigten Reichsgesetze, aufgenommen. Aber es sprach über Martin Luther die Reichsacht aus. Das bedeutete, daß er nach dem Gesetz ›vogelfrei‹ war und jedermann ihn nach Belie ben totschlagen konnte. Noch vor der Unterzeichnung der Reichsacht hatte Luther Worms verlassen. Auf dem Heimweg nach Wittenberg wurde er überfallen und gefangengenommen. Er hatte allen Grund, für sein Leben zu fürchten. Aber die gepanzerten Männer, die ihn mit sich schleppten, waren vom Kurfürsten Friedrich dem Weisen von Sachsen ausgeschickt worden, um ihn zu retten. Luther wurde auf die Wartburg geführt, wo er unter dem Namen ›Junker Jörg‹ verborgen gehalten wurde. Während sein geheimnisvolles Verschwinden das deutsche Volk er regte und viele seiner Anhänger seine Lehre verbreiteten, übersetzte er in seinem beschützten Gewahrsam das Neue Testament in die deut sche Sprache. Warum er sich dieser Arbeit so leidenschaftlich hingab, erklärte er selbst: »Man muß nicht die Buchstaben in der lateinischen Sprache fragen, wie man soll deutsch reden … sondern man muß die Mutter im Haus, die Kinder auf der Gasse, den gemeinen Mann auf dem Markt darum fragen und denselbigen auf das Maul sehen, wie sie reden, und danach dolmetschen. So verstehen sie es dann und merken, daß man deutsch mit ihnen redet …« Das Neue Testament in der Lutherischen Übersetzung hatte kaum die Druckerpresse verlassen, als die ersten fünftausend Exemplare schon vergriffen waren. Das Volk, das jede seiner Äußerungen mit Be geisterung aufnahm, sang das vom ›Junker Jörg‹ auf der Wartburg ge dichtete Lied: »Eine feste Burg ist unser Gott …« 41
Die Herren der Welt I Die sogenannten ›Pfaffenstürmer‹, die Bürger von Erfurt, die ihrer Empörung in wüsten Plünderungen der Klöster und Gotteshäuser Luft machten, die ›Bilderstürmer‹ in Wittenberg, die den geistlichen Schmuck der Kirchen entfernten oder vernichteten und den Gottes dienst der bisherigen Geistlichen gewalttätig hinderten, waren die Vor läufer der Aufstände, die als unmittelbare Folge des Wormser Ediktes im Namen der Reformation in der deutschen Bevölkerung immer wei ter um sich griffen. Gleichzeitige Späherberichte aus dem osmanischen Reich ließen deutlich erkennen, daß der neue Sultan, Suleiman II, der ›der Große‹ genannt werden sollte, seinen Angriff auf das Abendland unmittelbar vorbereitete. Aber Kaiser Karl V. und König Franz I. von Frankreich rüsteten gegeneinander zum Krieg um die Oberherrschaft in Italien. In beiden Lagern wurden alle verfügbaren Mittel und Mannschaften aufgeboten. Karl, der keineswegs vergaß, daß er sich spanischer geben mußte als die spanischen Großen, die ihn nur widerstrebend als Kö nig von Spanien anerkannten, obwohl er Kaiser des Römischen Rei ches Deutscher Nation geworden war, sah es nicht gerne, daß unter nehmungslustige Abenteurer, »die Blüte seiner Ritterschaft«, durch die Nachrichten aus der Neuen Welt, »den Reiz des Wunderbaren«, an gelockt, oft auf eigene Kosten aus den spanischen Häfen ausfuhren, um Entdeckungen im Fernen Westen, jenseits der Meere, zu machen und Neuland in Besitz zu nehmen. Die Behauptung seines burgundi schen Erbes und die Wiedereroberung Mailands, das sein Großvater 42
Maximilian an Franz I. verloren hatte, erschienen Karl wichtiger als die Sicherung der von kühnen spanischen Seefahrern eroberten Insel Kuba und die geplanten Neuentdeckungen auf dem ›Festland jenseits des Ozeans‹, als dessen König er sich mit selbstbewußtem Stolz betitelt hatte, obwohl es durchaus nicht gewiß war, daß es auch wirklich ein ›Festland jenseits des Ozeans‹ gab. Karl V. fühlte sich als Herr der Welt und war entschlossen, es jedem, der daran zweifelte, mit Waffengewalt zu beweisen. ›Seine‹ Spanier, die Abkömmlinge der in den jahrhundertelangen Feldzügen gegen die Muselmanen gestählten Kämpfer, waren die erprobtesten, wagemutig sten und am besten ausgerüsteten Krieger Europas. Sie waren nicht von Glaubenszweifeln berührt, und ihr König glaubte ihrer Treue und Ergebenheit so sicher zu sein, daß er überzeugt war, mit ihnen auch ge gen eine gewaltige Überzahl siegreich sein zu können. Daß ihm aber eine Schar von dreihundert bewaffneten Spaniern mit nur fünfzehn Berittenen und sieben Geschützen ein riesiges Reich, das über eine un geheure Militärmacht verfügte, unterwerfen könnte, das hätte er nicht für möglich gehalten. Die ersten Nachrichten über diese unglaubliche Erweiterung seines Besitzes, die Karl erreichten, waren dürftig. Es waren Anschuldigun gen des bewährten Diego Velasquez, den sein Großvater, König Fer dinand, zum Statthalter von Kuba ernannt hatte, gegen einen ehema ligen Sekretär namens Cortez, der von ihm ausgesandt worden war, sich auf den Spuren seines Neffen Grijalva nach ›Neu-Spanien‹ auf zumachen, dem Goldland des Volkes der Maya, in dem es seltsame Steingebäude und Steinbilder gab. Die farbigen Eingeborenen waren keine primitiven Wilden. Das bezeugten die Ruinen künstlicher Be wässerungsanlagen, in Stein gemeißelte Bildschriften, deren Deutung auf eine entwickelte Sternenkunde hinwies, und Kleinodien und Ge fäße von wunderbarer Form. Es hieß, die Bevölkerung sei willig, ihre Schätze gegen Glasperlen, Nadeln und Scheren einzutauschen. War dieses ›Neu-Spanien‹ die schon von Marco Polo erwähnte In sel Zippangu, die Columbus gesucht hatte? Wollte dieser von Velas quez des aufrührerischen Ungehorsams bezichtigte Ferdinand Cortez 43
sie auf eigene Faust für seinen König oder gar für sich selbst in Be sitz nehmen? War die Fahrtrichtung der kleinen Flotte, die er befeh ligte, richtig? Es mußte so sein, denn der Steuermann des zur Erwer bung unermeßlicher Reichtümer entschlossenen Cortez war der er fahrene Alaminos, der die letzte, mißglückte Seereise des Kolumbus mitgemacht hatte. Wie konnte Karl aus dieser unvorstellbaren Ent fernung, nur auf Berichte angewiesen, entscheiden, wer von den bei den im Recht war – der Statthalter von Kuba oder der bis zu diesem Zeitpunkt vorzüglich beleumundete Cortez, den Velasquez aus eige nem Antrieb zum Befehlshaber der Entdeckungsfahrt gemacht hatte? Ob Cortez sich als unabhängiger General bezeichnete oder nicht, galt dem König von Spanien, den seine Pflichten als Kaiser allzusehr in Anspruch nahmen, so wenig, daß er die Beschwerden des Diego Ve lasquez noch nicht zur Kenntnis nahm. Der Mißerfolg oder Erfolg des Beschuldigten würde dartun, ob er sich als unabhängiger General des Königs bewährte oder nicht. Ferdinand Cortez war nicht der übliche Abenteurer. Der im Zeit punkt seiner Ausfahrt nach Neu-Spanien Dreiunddreißigjährige hatte an der Universität von Salamanca die Rechtswissenschaften studiert. Er war in allen ritterlichen Übungen gewandt und hatte die seltene Fä higkeit, überlegen zu planen und doch rasch zu entscheiden. Daß er die kriegerische Eroberung eines ›Festlands‹ mit einem Gefolge un ternahm, das kaum größer war, als das adeliger Herren in ihren nach barlichen Fehden, war nicht nur in seinem spielerischen Wagemut be gründet, sondern auch in seinem kühlen Abwägen der Tatsachen, vor allem aber in seinem kühnen Entschluß, eine unglaubliche Tatsache auszunützen, die er erfahren hatte: den Aberglauben des Volkes, das zu unterwerfen er auszog. Was Cortez aus Berichten über die indianische Bevölkerung an der Küste wußte, an der er anlegte, war, daß sie einem gräßlichen Opfer kult huldigte, der blutigen Schlachtung von Erwachsenen und auch von Knaben auf den Altären ihrer Götzen. In der Abwehr seiner Lan dung versagten die Eingeborenen. Er schlug ihren Angriff erfolgreich zurück und empfing den Besuch des farbigen Häuptlings der Gegend, 44
der wissen wollte, was die Ankunft der weißen Männer bedeutete. Cor tez erwiderte, daß er von einem mächtigen Herrscher jenseits der Mee re mit Geschenken und einer persönlichen Botschaft an den König des Landes abgesandt worden sei und freien Durchmarsch begehre. Seine gebieterische Haltung, seine weiße Hautfarbe und die Kriegs geräte, besonders die Feuerwaffen, die er mitführte, beeindruckten den Häuptling so sehr, daß er sich bereit erklärte, den Wunsch des Fremden an seinen Oberherrn weiterzuleiten. Cortez ließ es zu, daß er und sein Gefolge von eingeborenen Malern dargestellt wurden, und befahl der Mannschaft seiner Geschütze, Übungen auszuführen, da mit die offenkundig als wunderbar angesehenen Feuerwaffen zur Er höhung des Eindrucks mit abgebildet würden. Dann errichtete er ein festes Lager und wartete auf die Antwort des Oberherrn. Er erfuhr, daß der König der Azteken, des Volkes, das die alteingesessene Bevöl kerung durch unaufhörliche Überfälle im Laufe der Zeit unterworfen hatte, Montezuma hieß und ein kriegerischer, stolzer, aber mißtrau ischer Herrscher war, der sich sogar seiner Verwandten entledigt hat te, um seines Thrones sicher zu sein. Sein Heer bestand aus Hundert tausenden von Männern, die mit Schwertern, Lanzen, Bogen, Pfeilen und Schleudern ausgerüstet waren. Er hatte es in schlagkräftige Ein heiten von achttausend Mann und diese Einheiten wieder in Unterab teilungen von vierhundert Mann aufgeteilt. Das Königreich Montezumas II. war keineswegs wild und verwildert, wie die indianischen Inseln, die schon von den Spaniern entdeckt und besetzt worden waren. Die Bebauung des Landes wurde planmäßig be trieben. Aus der sorgfältig angepflanzten Baumwolle wurden Stoffe ge woben. Die Töpferei war allgemein verbreitet. Mais und Pfeffer wur den angebaut und auch die Aloe, aus deren Fasern Papier und aus de ren Saft Pulquewein gewonnen wurde. Eine besondere Neuigkeit war die ›Kakaostaude‹, deren Bohnenfrüchte als kleinste Münze verwendet wurden und mit ›Vanille‹ gemischt zur Bereitung des ›Chocolatl‹ dien ten. Die nützlichste Frucht war die Banane, und der unter den Ein geborenen beliebteste Genuß das Rauchen von zerschnittenen Tabakblättern in Pfeifen oder von dicht zusammengerollten Blättern als ›Zi 45
garren‹. Es gab sehr viel Gold, aber kein Eisen. Messer und Schwerter wurden aus scharfen Splittern eines glasartigen Steines, des auch im alten Ägypten benützten vulkanischen Obsidians, hergestellt. Wenn Ferdinand Cortez nicht von einer ganz seltsamen Sage gehört hätte, die von den Eingeborenen hochgehalten wurde wie ein Glau bensbekenntnis, wäre er als klar überlegender, verantwortungsbewuß ter Befehlshaber kaum bei seinem Entschluß geblieben, das Königreich Montezumas, der die Tapferkeit seiner Krieger mit Orden belohnte und die Zügel der Herrschaft mit eiserner Faust führte, zu erobern. Das wäre auch mit seiner Handvoll Männer angesichts der tausendfachen Übermacht ein ganz und gar aussichtsloses Unterfangen gewesen, aber er erfuhr überdies, daß die Gewaltherrschaft der Azteken der unter worfenen Bevölkerung unerträglich erschien, um so mehr, als sie auch die von ihnen schon vor langer Zeit besiegten einheimischen Stämme nur durch jährliche Menschenopfer in Schach hielten. Der Begriff der Völkerwanderung in seinem landläufig gewordenen Sinn mochte Cortez fremd gewesen sein. Aber es wurde ihm durch seine eigenen Beobachtungen und die ihm zugetragenen Nachrichten bewußt, daß schon seit Hunderten und aber Hunderten Jahren eine Wanderwelle nach der anderen auf das Hochland geschwemmt war, an dessen Fuß er auf die Antwort Montezumas wartete. Es gab seltsa me Bauten und Tempel aus vergangenen Zeiten, die Stufentürme und Pyramiden der Maya. Die Eingeborenen berichteten, daß im Westen, umgeben vom Kranz der Berge, die der mit ewigem Schnee bedeckte Popocatepetl überragte, das Hochtal von Mexiko lag, die Hauptstadt, von der aus Montezuma seine Eilboten über die mit Posthäusern be setzten Straßen in sein ganzes Königreich aussandte. Der oberste Gott der Azteken war der zur Gottheit erhobene Huit zilopochtli, der sein wanderndes Volk in das Hochtal von Mexiko ge führt hatte. Er hatte seinen Widersacher Quetzalcoatl aus dem König reich vertrieben, weil dieser Hohepriester die Menschenopfer hatte ab schaffen wollen. Aber QuetzalcoatI wurde als Gott der Luft verehrt, als Wohltäter der Menschheit, die ihm die Kunst des Landbaus verdank te. In der Vorstellung der Bevölkerung hatte er eine hohe Gestalt und 46
eine weiße Hautfarbe. Und niemand hatte vergessen, daß er vor sei nem Verschwinden feierlich erklärt hatte, er würde zurückkehren und sein Reich wieder in Besitz nehmen. War Cortez, dessen hohe gebieterische Gestalt und weiße Hautfarbe die Eingeborenen, die ihn sahen, übermächtig beeindruckte, der wie derkehrende Quetzalcoatl? Er mußte es sein. Allerlei Zeichen deuteten darauf hin, daß etwas Unerhörtes bevorstand. Der Turm des Haupttempels in Mexiko war abgebrannt. Im Osten war ein seltsames Licht aufgegangen. Kometen waren am Himmel erschienen. Auch König Montezuma, der die Nach richt von der Landung eines geheimnisvollen Fremden erhielt, glaub te an die Wiederauferstehung des verschwundenen Quetzalcoatl. Er sandte reiche Geschenke an Cortez, mit der ergebenen Bitte, doch den beabsichtigten Besuch seiner Hauptstadt zu unterlassen. Vielleicht hätte Cortez der Bitte nachgegeben, um so mehr, als die Eingeborenen mit einem Mal, offenkundig auf Befehl Montezumas, die Nähe des spanischen Lagers mieden und keine Lebensmittel mehr lieferten. Die Vorsicht hätte den Abenteurer zur eiligen Umkehr bewo gen, wenn nicht einige Totomaken, Angehörige eines erst vor kurzem von Montezuma besiegten Volksstammes, ihn zu einem Besuch ihrer Stadt Cempoalla eingeladen hätten. Das war ein Unternehmen, das er jedenfalls wagen konnte. ›Im Na men der spanischen Majestät‹ nannte Cortez sein befestigtes Lager ›Villa rica de la Vera Cruz‹ – die reiche Stadt des wahren Kreuzes – und machte sich mit einem Teil seiner Mannschaft auf den Weg nach Cem poalla. Er wurde festlich empfangen. Die beiden Mönche, die er auf seine Entdeckungsfahrt mitgenommen hatte, konnten in den Götzentempeln Cempoallas christliche Altäre errichten, die meisten Einwoh ner der Stadt ließen sich willig taufen, und ihre Häuptlinge erkannten die spanische Oberhoheit an. Dreizehnhundert totomakische Krieger schlossen sich jetzt dem Zug Ferdinand Cortez' nach dem Westen ins Innere des Berglandes an. Die Landschaft veränderte sich mit zunehmender Höhe. Die Luft wurde kühler. Es war Cortez und seinem Gefolge, als ob sie durch ein an 47
deres Land zögen, das auch von einer anderen Art von Menschen be wohnt war als die Küste. Sie nannten sich Tlascalaner. Sie waren feind selig. Ohne ihre Geschütze wäre es den Spaniern nicht möglich ge wesen, sich der anstürmenden tlascalanischen Krieger, die Cortez auf hunderttausend schätzte, zu erwehren. Er erfuhr, daß ›Tlascala‹ Brotland bedeutete. Es wurde nach dem Mais benannt, der auf der Hoch ebene angebaut wurde, und seine Häuptlinge hatten die Fremdlin ge nur überfallen, weil sie gefürchtet hatten, daß Cortez sie berauben und brandschatzen werde, wie es Montezuma und seine Azteken getan hatten. Als Cortez ihnen aber nach dem vernichtenden Zurückschla gen ihres Angriffs seine Freundschaft anbot, waren sie bereit, mit ihm Frieden zu schließen. Im Zuge der Verhandlungen fragte er ihren Für sten Xicotencatl, ob er sich als Untertan Montezumas betrachte. »Wer ist das nicht?« entgegnete der Tlascalaner, und erklärte: »Montezuma ist der Herr der Welt.« II »Der allmächtige Kaiser und König, Don Carlos, ist der Herr der Welt«, war die stolze Antwort Ferdinand Cortez auf die Frage nach seinem Auftraggeber. »Ich bin sein Bevollmächtigter«, setzte er hinzu und empfing die Gesandten Montezumas, die ihn im Auftrag des Kö nigs baten, »die Höhe und den Umfang an Gold, Silber, Edelsteinen, Sklaven und bunten Baumwolltüchern nach seinem Gutdünken zu be stimmen, die er als Tribut zu empfangen bereit sei« – wenn er nur um kehren wolle. Cortez lehnte die Angebote hochmütig ab. Er wollte alles oder nichts, und zog weiter auf dem vorgezeichneten Weg. Er erreichte die Stadt Cholula, in der Quetzalcoatl ein gewaltiger Stufentempel geweiht war, auf dessen Höhe sich das riesige Standbild des vertriebenen Gottes er hob. In Cholula kam Cortez einer von Montezuma gegen ihn angestif teten Verschwörung zuvor und schreckte durch ein furchtbares Blut 48
gericht die Nachbarstädte, durch die er ziehen wollte, von einer Wie derholung solcher Anschläge ab. Sein unentwegter Marsch führte ihn über die Gebirgspässe am Popocatepetl vorbei, endlich auf die breite Heerstraße von Itztallapan, »von wo aus uns die schöne schnurgerade Straße nach Mexiko führte … Wir wurden in wahre Paläste einquar tiert, die von ansehnlichem Umfang, mit großen Höfen umgeben, aus schönen behauenen Quadersteinen, aus Zedern- und anderem wohl riechenden Holz aufgeführt waren. Sämtliche Gemächer waren mit Ta peten von baumwollenen Zeugen behangen …«, erzählte Bernal Diaz, ein Begleiter Cortez, und fügte offen hinzu: »Wenn man unsere Lage erwägt, darf man wohl fragen, ob es je vorher Männer gegeben hat, die ein so kühnes Wagestück unternommen haben.« Die erste Zusammenkunft Montezumas mit Cortez bewies dem Abenteurer, daß sein Spiel gewonnen war, ehe er es begonnen hatte. Der König, der, mit Juwelen geschmückt, auf goldenen Sohlen an ihn herantrat, erzählte ihm gleich die Sage von Quetzalcoatl und erklär te, daß er selbst nach allem, was er von den Spaniern über ihr Land und über ihren König gehört habe, fest daran glaube, daß der König von Spanien der rechtmäßige Herr von Mexiko sei. Cortez möge daher über ihn und sein Königreich verfügen. Diese großzügige Aufforderung ließ Cortez wörtlich gelten. Er ver hielt sich so hochmütig und selbstbewußt, als wäre er wirklich der heimgekehrte Gott Quetzalcoatl oder doch sein bevollmächtigter Stellvertreter. Im Namen des Königs von Spanien nahm er den Huldi gungseid Montezumas mit dem Hinweis entgegen, daß die Prophezei ung Quetzalcoatls in Erfüllung gegangen sei. Schon der Ertrag des ersten Raubzuges, den die Gefolgsleute Cortez', unter dem Vorwand, Steuern für ihren König einzutreiben, planmäßig vornahmen, belief sich auf viele Tonnen puren Goldes. Die Geschen ke, die Montezuma aus freien Stücken hinzufügte, schilderte Cortez selbst: »Diese Kleinodien sind, abgesehen von ihrem Metallwert, we gen ihrer Neuheit und eigenartigen Form unschätzbar. Kein Fürst der Welt kann dergleichen haben. Alles, was Montezuma auf der Erde ge sehen oder aus der Tiefe des Meeres gezogen hat, wurde auf seinen Be 49
fehl in Gold, Silber, Edelsteinen und bunten Federn auf das vollkom menste nachgebildet. Er hat auch nach meinen Zeichnungen Kruzifi xe, Medaillen und Halsbänder nach europäischem Geschmack anfer tigen lassen …«
Durch die rücksichtslose und umsichtige Ausbeutung eines Aberglau bens hatte Cortez ein Königreich für Karl V. erworben und die Er kenntnis gewonnen, daß der Erdkreis weiter, die Welt reicher war, als es sogar die phantasiebegabtesten Seefahrer für möglich gehalten hät ten. Wenn man ein schier unfaßbares Ziel erreicht hatte, gab es noch ein neues, ferneres, das angestrebt werden konnte. Was war der Ursprung dieser rothäutigen Menschen, die in den bis zu diesem Zeitpunkt nur durch Gerüchte angedeuteten, unermeßli chen Gegenden Staatengebilde errichtet hatten, die zwar verschieden waren von denen der Alten Welt, aber doch auf zielbewußter Ordnung und Planung beruhten? Stammten auch die ›Indianer‹ von Adam ab? Waren auch sie Nachkommen des aus dem Paradies vertriebenen er sten Menschenpaares – ebenso wie die dunkelhäutigen Bewohner Afri kas, die sich als Sklaven der portugiesischen Seefahrer vorzüglich be währt hatten? Cortez entschied: Alle Indianer mußten für den christ lichen Glauben gewonnen werden, mit Liebe und mit Gewalt. Er be schloß auch, sich nicht mit der Eroberung Mexikos zu begnügen. Es gab noch unentdeckte Inseln im Ozeanischen Meer und den Weg auf dem Festland nach dem Norden und Süden, den Spuren menschlicher Siedlungen folgend, ins Unbegrenzte. Cortez und seine Nachahmer setzten ihre Erkundungsfahrten und Eroberungszüge fort, um ›Amerika‹, die Neue Welt, in seiner gan zen Größe zu erforschen und zugunsten ihrer Herrscher ausnützen zu können. Die Frage, ob die Erde wie eine Birne geformt oder am Ende gar rund wie eine Kugel sei, ließ die Gelehrten und Seefahrer nicht zur Ruhe kommen. Der Portugiese Magalhães (Magellan) unternahm es, die 50
Probe auf das Exempel zu machen. Er umfuhr die Südspitze Amerikas und durchquerte den Stillen Ozean bis zu den Philippinen. Eines sei ner Schiffe vollendete die erste Weltumsegelung ungefähr zur gleichen Zeit, in der Cortez Montezuma unterwarf. War es richtig, daß die Son ne der Mittelpunkt eines Planetensystems war und daß die Erdkugel sich in eigener Achsendrehung als Glied dieses Systems um die Son ne bewegte, wie der deutsche Gelehrte Nikolaus Kopernikus, angeregt durch das Studium alter griechischer Schriften, in seinem Werk ›Über die Bewegung der Himmelskörper‹ behauptete? III Erst nachdem Karl V. vom Wormser Reichstag nach Spanien zurück gekehrt war, nahm er die unerwartete Erwerbung des neuen ›König reichs im ozeanischen Meer‹ gnädigst zur Kenntnis. Mehr als alle an deren ›wunderbaren Nachrichten‹ beeindruckte ihn die Aussicht auf Gold, immer mehr Gold. Trotz der ungeheuren Einkünfte der Kro ne in seinen Herrschaftsgebieten litt er, der Herrscher persönlich, an Geldmangel. Würden ihn die Schiffe von Übersee, die ihm die ange kündigten Schätze bringen sollten, unabhängig machen von den geld lichen Beschränkungen, die ihm die ständischen Einrichtungen in seinen Ländern, das Parlament in Sizilien, die Cortez in den spani schen Königreichen, die Generalstaaten in den Niederlanden und der Reichstag in Deutschland, auferlegten? Zwei Jahrzehnte später sollte Karl ein frei verfügbares Jahreseinkommen von fünfeinhalb Millio nen Dukaten haben, während die Einkünfte der als reich geltenden Könige von England etwa dreihundertfünf zigtausend Dukaten betru gen. Aber jetzt mußte er sich noch mit Verpfändungen und Anleihen gegen Wucherzinsen helfen, um die notwendigsten Ausgaben decken zu können. Die Zeit verging Karl nicht rasch genug. Die Zeiger seiner Taschen uhr, einer der ersten, die der Nürnberger Henlein hergestellt hatte, be 51
wegten sich zu langsam für den Kaiser, der mit unzulänglichen Mitteln für den unvermeidlichen Krieg rüsten mußte, obwohl ihm der Frieden am Herzen lag. Er haßte den Kampf, zu den ihn die ererbten Länder und Würden und die damit verbundenen Verpflichtungen zwangen. Von frühester Kindheit an war ihm gepredigt worden, daß er auf das Schlimmste gefaßt sein müsse, für jede Gelegenheit in Waffen bereit, seine Ansprüche, die ihm rechtlich zustanden, zu verteidigen. Das starre, blasse Gesicht Karls, die hoheitsvolle Teilnahmslosigkeit, die er zur Schau trug, war nur die Maske eines von Mitleid mit sich selbst qualvoll Heimgesuchten, der glaubte, es sei unter der Würde des Herrn der Welt, als der er galt, menschliche Schwächen zu zeigen. Der Kaiser, der seinen Harnisch nur selten ablegte, klagte über ›das gro ße Unglück des Krieges, den allgemeinen Brand‹, der die Erde in den Jahrzehnten seiner Herrschaft verheerte. »Du weißt es hinlänglich«, schrieb er in einem vertraulichen Brief an seinen Bruder Ferdinand, der oft als sein Stellvertreter auftrat, »und es sollte allen bekannt sein, daß mein beständiger Wunsch und all mein Streben ist, Frieden zu ha ben.« In den zeitgenössischen Flugblättern aber, den damaligen, unregel mäßig erscheinenden Zeitungen, wurde als der ständige Begleiter Karls V. der Tod dargestellt. Unter seinem Bildnis stand die Inschrift: »Ein grausamer Sterb ist immer in seinem Gefolge.« Der auf den Schlacht feldern und in Verhandlungen zumeist erfolgreiche Kaiser wurde von einem einzigen Feind immer wieder besiegt: von der Druckerpresse, der unermüdlichen Verbündeten der Reformation. Der papierne Auf ruhr gegen ihn war stärker und ausdauernder als seine bis an die Zäh ne bewaffneten Truppen, als seine Geschütze und alle überseeischen Schätze, die er gegen die Drohung des gedruckten Wortes aufwenden konnte.
Vorerst hatte er nur die Hoffnung auf Gold. Während sein hartnäk kiger Gegner, der unermüdliche, weltgewandte König Franz I. von 52
Frankreich, ausreichende Mittel besaß, um Schweizer Landsknechte anzuwerben, die ihm, abgesehen von der Bezahlung, um so lieber folg ten, als sie gegen ihre Erbfeinde, die Habsburger, eingesetzt werden sollten, brachte Karl den Sold für seine deutschen Landsknechte unter dem Befehl Georg von Frundsbergs nur mühsam auf. Er verbündete sich mit Heinrich VIII. von England, der sich den Krieg des Kaisers ge gen Frankreich zunutze machen wollte, um die ehemaligen englischen Besitzungen auf dem Festland zurückzugewinnen. Solange der Nach folger Papst Leos X. ein ehemaliger Lehrer Karls, Hadrian VI. den Hei ligen Stuhl einnahm, schien es, als ob die blutige Austragung der Ge gensätze durch das einige Vorgehen des Kaisers und des Papstes doch vermieden werden könnte. Nach dem plötzlichen Tod Hadrians aber verschob sich das Mächtespiel zugunsten des Königs von Frankreich. Der neue Papst, Clemens VII. aus dem Hause der Medici, neigte Franz I. zu, der sich, wie er selbst, mit weltlichen und geistlichen Gelehr ten umgab und ein begeisterter Kunstliebhaber war, was er auch als Gönner Leonardo da Vincis bewiesen hatte. Angesichts dieser gefähr lichen Seelenverwandtschaft zwischen dem Papst und Franz hielt Karl den Augenblick zum endgültigen Losschlagen noch nicht für gekom men. Der Ausbruch der Feindseligkeiten, abgesehen von bedeutungs losen Gefechten, mochte auch dadurch verzögert worden sein, daß alle beteiligten Herrscher abwarten wollten, wie sich die Ereignisse außer halb der unmittelbaren Streitgebiete entwickeln würden. Für alle Fälle bahnte Franz freundschaftliche Beziehungen zu Suleiman II. an. Aber er traute seinen eigenen Verhandlungen mit dem Sultan nicht ganz, denn es konnte auch für ihn gefährlich sein, wenn der Ansturm der Türken gerade in dem Augenblick losbrach, in dem die christlichen Heere einander in geordneten Schlachtreihen gegenüberstanden. Karl V. und Franz I. wollten auch abwarten, was die unmittelba ren und mittelbaren Folgen der deutschen Unruhen sein würden, die durch die Reformation hervorgerufen worden waren. Welche Landes herren und Fürsten würden die durch den Aufruhr ihrer Untertanen begünstigte Gelegenheit nutzen, sich die Kirchengüter in ihren Gebie ten anzueignen, um sich nicht nur als weltliche, sondern auch als geist 53
liche Herren gebärden zu können? War die Erhebung der Reichsritter unter der Führung Franz von Sickingens, der sich die kirchenfeindli che Stimmung zunutze machen wollte, um sich auf Kosten der benach barten geistlichen Besitzungen ein eigenes Fürstentum zu schaffen, ein vereinzelter Fall oder würden andere adelige Herren, welche die um ihren Einfluß gebrachte Ritterschaft wieder mächtig und bedeutend machen wollten, Sickingen nachahmen? Deutsche Bauern und Hand werker, die den Anbruch eines neuen Reiches herbeiführen wollten, in dem alle Standesunterschiede aufgehoben waren und Gütergemein schaft herrschen sollte, durchzogen plündernd die Lande. Aufgerührt durch den Prediger Thomas Münzer, der die Heilige Schrift als Quelle des Glaubens ablehnte und nur ›das innere Licht‹ anerkannte, begehr ten sie die ›Wiedertaufe‹ mit der Erklärung, daß ein Kind nicht wis se, was ihm geschehe, und erst ein Erwachsener verantwortlich han deln könne. Kaum war Sickingen mit seiner Gefolgschaft von einem Bund geist licher und weltlicher Fürsten geschlagen worden und hatte den Tod gefunden, als sich die Bauern, die schon von Kaiser Maximilian eine Neuordnung verlangt hatten, erhoben und Forderungen stellten, die durch die Lehre vom ›allgemeinen Priestertum aller Gläubigen‹ ange regt worden waren. Die Bürger kleinerer Reichsstädte und einige Rit ter, deren namhafteste Götz von Berlichingen und Florian Geyer wa ren, verbündeten sich mit den Bauern. Auch sie traten für die Refor mation ein und bestanden auf einer starken kaiserlichen Obergewalt im Reich. Sie wünschten, daß das durch die Geistlichkeit eingeführ te Römische Recht durch ein neues Recht ersetzt werde. Sie setzten sich für die Auflösung der großen Handelsgesellschaften, welche die Preisgestaltung auf den Märkten willkürlich bestimmten, und für die Schaffung einer einheitlichen Währung ein. Martin Luther, der von der Wartburg in sein Amt zurückgekehrt war, um die Ordnung in Wittenberg wiederherzustellen, ermahnte die Fürsten, mit denen die Anführer der Bauern verhandeln wollten, zum Frieden. Aber selbst die Landesherren, die seiner Lehre zuneig ten, lehnten Verhandlungen mit Aufrührern ab. Die Bauern griffen zur 54
Gewalt. Ihr Aufstand dehnte sich von Schwaben über das Elsaß, von den Alpenländern über Franken und Thüringen aus. Das Sengen und Brennen wurde allgemein. In Thüringen verkündete Thomas Münzer ein ›Gottesreich‹, in dem allen alles zu gleichen Teilen gehören sollte. Gegen die brandschatzenden und mordenden Horden der Bauern sandten die Landesherren ihre geübten Landsknechte aus. Sie hatten die Übermacht nicht nur tatsächlicher, sondern auch geistiger Waf fen für sich. Sie sorgten dafür, daß der Aufruf Luthers ›wider die räu berischen und mörderischen Rotten der Bauern‹ jenen Bauern und Bürgern zur Kenntnis kam, die sich zur Reformation bekannten. Die Landsknechte des Schwäbischen Bundes, die Truppen des Herzogs von Lothringen, bekämpften die Aufständischen mit rücksichtsloser Grau samkeit. Das bäuerliche Heer wurde vernichtet, auch Thomas Münzer gefangen und hingerichtet. Die in ihre Höfe zurückgekehrten Bauern wurden zu jahrelangen Zahlungen verurteilt; ihre Lage hatte sich noch verschlechtert. Sie ver ziehen Luther seine Stellungnahme nicht. Sie klagten ihn wegen seines Aufrufs als ›Fürstenknecht‹ an. Sie begriffen nicht, daß die von ihm gepredigte ›Freiheit eines Christenmenschen‹ nichts mit der äußeren Freiheit zu tun habe, und daß er jede Vermengung der Glaubensziele mit irdischen Zielen als ein Werk des Satans ablehnte.
War die Ausbreitung der Reformation durch diese traurigen Ereignis se zum Stillstand gekommen? Die Kirchenfürsten, die zur Niederlage Sickingens und zur Niederschlagung der aufständischen Bauern bei getragen hatten, hofften es, und manche Anzeichen sprachen dafür. Aber die große Glaubensbewegung erlitt nur vorübergehende, örtli che Rückschläge. Sie setzte sich, wenn auch da und dort in veränder ten Formen, unaufhaltsam fort. So predigte Ulrich Zwingli, der ›Leut priester von Zürich‹, die sittliche Erneuerung des Volkes auf Grund der sittlichen Forderungen des Evangeliums. Unter seinem Einfluß hob der Rat der Stadt Zürich alle kirchlichen Einrichtungen auf, die 55
nicht ausdrücklich im Evangelium begründet waren. Messe und Zö libat wurden abgeschafft, Bilder und Kruzifixe aus den Kirchen ent fernt. Die Lehre Zwinglis fand auch in deutschen Städten Anklang. In Kur sachsen aber bekannte sich Kurfürst Johann der Beständige, der Bru der und Nachfolger Friedrichs des Weisen, zur Lehre Luthers. In Mar burg gründete der Landgraf Philipp von Hessen ›die erste evangeli sche Universität‹, während der Hochmeister des Deutschen Ordens, Albrecht von Hohenzollern, den kirchlichen Ordensstaat in ein welt liches Fürstentum lutherischen Bekenntnisses umwandelte, das Her zogtum Preußen, das durch den Vertrag von Krakau unter die Ober hoheit des Königs von Polen kam. Diese durch Luther persönlich ange regte Handlung des Hohenzollerschen Hochmeisters entzog den öst lichen Teil des deutschen Reiches vorübergehend dem Einfluß des Rö mischen Kaisers Deutscher Nation. Aber nicht nur fürstliche Herr schaftsgebiete wie Schleswig-Holstein und Brandenburg-Ansbach, sondern auch Städte wie Nürnberg, Hamburg, Bremen, Magdeburg, Braunschweig, Straßburg, Ulm und Konstanz wurden ›lutherisch‹. Diese Wandlungen im Glauben vollzogen sich nicht ohne gewaltsa me Auseinandersetzungen, um so weniger, als die Fürsten und Stadt obrigkeiten auf der Einheitlichkeit des Glaubens ihrer Untertanen und Bürger bestanden.
Karl V. griff in diese bedeutsame Entwicklung nördlich der Alpen nicht ein. Blieb er untätig, weil lähmende Fieberanfälle seine Gesundheit er schütterten? Oder waren seine Grundsätze schwankend geworden? Die Anhänger des lutherischen Bekenntnisses waren die geschwore nen Feinde des Papstes. Und er selbst? Karl durchschaute das Doppel spiel Clemens VII. und erklärte dem spanischen Gesandten in Rom, die Zeit werde kommen, mit Freund und Feind Abrechnung zu hal ten. Als er aber von einem eindeutigen geheimen Vertrag erfuhr, den Clemens VII. mit Franz I. geschlossen hatte, erregte er sich so, daß 56
er mit lauter Stimme erklärte, er werde sich an denen rächen, die ihn gekränkt hatten, ›besonders an dieser Memme, dem Papst‹. Er setzte bedeutungsvoll hinzu: »Heute oder morgen wird Martin Luther viel leicht ein wertvoller Mann sein.« Diese Bereitschaft zum Bruch mit seiner eigenen Überzeugung er schreckte Karl so sehr, daß er fürs erste noch lässiger wurde, obwohl die Ereignisse auf dem italienischen Kriegsschauplatz seinen vollen Einsatz verlangt hätten. Franz I. errang einen Vorteil nach dem an dern, aber als er Pavia belagerte, rückte ein Entsatzheer unter dem Be fehl Georg von Frundsbergs und des Generals Pescara, des Gatten Vit toria Colonnas, der Freundin Michelangelos, gegen die belagernden Franzosen. Der Sieg der Kaiserlichen war vollkommen. Franz wollte im Kampf den Tod suchen. Er wurde mit seinem erstochenen Pferd zu Boden gerissen und gezwungen, sich zu ergeben. Als Gefangener schrieb er an seine Mutter: »Ich habe alles verloren, bis auf die Ehre und das Leben.« Als Karl V. die überraschende Siegesnachricht erhielt, zeigte er kei ne Freude. Er zog sich in sein Schlafgemach zurück, warf sich vor dem Marienbild auf die Knie und ordnete statt einer glänzenden Feier kirchliche Danksagungen an.
Die Gefangennahme Franz I. und das in Madrid zwischen dem Kaiser und dem König von Frankreich geschlossene Übereinkommen been deten die Feindseligkeiten nur vorübergehend. Der Krieg bekam bald ein anderes Gesicht. Heinrich VIII. der von Karl begehrte, daß er das Geschlecht der Valois ein für allemal entthrone und ihm die französi sche Krone verschaffe, machte, als Karl die Forderung ablehnte, bera ten von seinem Kanzler Wolsey, Frieden mit Franz. Das war ein großer Erfolg des Kardinals, der alles daran setzte, die sogenannte ›Universalmonarchie‹ des Kaisers zu verhindern. Jetzt er klärte Wolsey öffentlich, Karl V. sei ein Lügner und sein Bruder Fer dinand nichts als ein unreifes Kind. Der Kanzler Heinrichs VIII. be 57
reitete die ›Heilige Liga‹ vor, das Bündnis Englands, des Papstes, Vene digs und Mailands mit dem König von Frankreich, um die ungeheure Machtstellung des Kaisers zu brechen. IV Die Türken hätten keinen günstigeren Zeitpunkt für einen Angriff auf das Abendland wählen können. Die Uneinigkeit der Christenheit in jeder Hinsicht ermutigte Suleiman II. vor allem da seine Ratgeber die Spaltung der christlichen Kirche als einen offenen Machtkampf aus legten. Sie sprachen ›von dem neuen Gegenpapst Martin Luther, der ebenso wie die Mohammedaner keine Bilder in den Kirchen leiden wollte‹. Die Abgesandten Franz I. der seinen Vertrauten gesagt hat te, daß er ›sogar den Teufel herbeiholen würde, um die Habsburger zu vernichten‹, überzeugten den Sultan, daß er gegen den Kaiser mit dem Beistand des mächtigen Königs von Frankreich rechnen könne, der Karl V. nur unter Zwang sein Ehrenwort gegeben hatte, Frieden zu halten. Seine Ehre sei nicht verfallen, erklärte Franz. Durch ihre vor übergehende Preisgabe hätte er nur sein Leben und seine Krone retten wollen. Suleiman bekam auch den verläßlichen Bericht, daß die fran zösischen Unterhändler den mächtigen kroatischen Adeligen Frangi pan dazu gewonnen hatten, im Bündnis mit dem Pascha von Bosnien in die habsburgischen Länder Steiermark und Kärnten einzufallen. Die Türken waren zum Angriff bereit. Daran war kein Zweifel mehr. In Rom wurde eine Meldung bekannt, die der Sultan dem König von Frankreich zukommen ließ: »Tag und Nacht sind unsere Pferde gesat telt und unsere Säbel gegürtet.« Clemens VII. geriet in einen furchtba ren Zwiespalt, als er schwarz auf weiß sah, daß er, der Heilige Vater, mit einem Bundesgenossen der ungläubigen Türken verbündet war. Welche Folgen das mit sich bringen mußte, wurde dem Papst deutlich, als ihn sein Nuntius in Ofen, der Hauptstadt Ungarns, wissen ließ, der Sultan habe verkündet, er halte Ofen zur Sicherung des Osmanischen 58
Reiches für unentbehrlich. Der päpstliche Abgesandte schloß seinen Brief mit den Worten: »Wenn der Türke kommt, muß Seine Heiligkeit Ungarn als verloren betrachten.« Jetzt war es schon zu spät für den Papst, Franz I. von Frankreich zur Lösung seines Bündnisses mit dem Sultan zu bewegen, denn der Vor marsch der Türken gegen Ungarn hatte begonnen. Sie kamen nicht nur zu Pferd und zu Fuß an der Donau aufwärts, im Wasser beglei teten ihren Vormarsch achthundert mit Mannschaften, Kriegsausrü stung und Verpflegung beladene Schiffe. Sie fanden keine nennens werte Gegenwehr. In einer sogar den fatalistischen Mohammedanern unverständlichen Gottesergebenheit ließen sich die deutschsprachigen Siedler in Siebenbürgen kampflos hinschlachten. Die Widerstandslo sigkeit dieser in der Mehrheit aus Sachsen stammenden Grenzer, die in allen bisherigen Türkenkriegen die Kerntruppen der Abwehr gestellt hatten, war auf erneute Verbindung mit ihrer ursprünglichen Heimat zurückzuführen. Der Ausspruch Luthers: »Wider die Türken streiten ist ebenso viel, wie Gott widerstreben, der mit solchen Ruten unsere Sünden heimsucht«, war durch die Prediger der Reformation, die im Königreich Ungarn Anklang gefunden hatte, verbreitet worden. Nun war die von Luther angekündigte Heimsuchung Gottes gekommen. Sie lähmte nicht nur die deutschen Grenzer, sondern auch die unga rischen Husaren. Die Lage erschien so aussichtslos, daß die junge Kö nigin Maria von Ungarn ihrem Bruder Ferdinand am 18. August 1526 schrieb: »Ich fürchte alles für den König und das Reich, vorzüglich aber für den König.« Die Sorge Marias von Habsburg war nur allzu begründet. Der mäch tigste ungarische Adelige, Johann Zapolya, verhandelte für sich und seine Standesgenossen ebenso wie der Kroate Frangipan mit den Pa schas des Sultans. Ludwig II. von Böhmen und Ungarn, der Ofen ver lassen hatte, um sich den Türken entgegenzuwerfen, konnte nicht mehr als fünfundzwanzigtausend in Eile zusammengetrommelte Männer in die Schlacht führen. Bei Mohacz durchbrach seine ungarische Reiterei die Reihen der Türken und war schon bis an das ›Heilige Zelt‹ des Sul tans vorgedrungen. Der Sieg schien gewiß, als plötzlich dreihundert 59
Geschütze der Türken gleichzeitig ihr Feuer eröffneten. Treue Diener Ludwigs II. fanden den entseelten Körper ihres Königs, von Wunden entstellt, in einem Sumpf in der Nähe des Schlachtfeldes.
Der Tod seines Schwagers machte Ferdinand von Österreich zum Er ben der Königreiche Böhmen und Ungarn. Er wurde mit der Krone des heiligen Stephan in der Kathedrale der kleinen Stadt Stuhlweißen burg gekrönt und konnte seinem kaiserlichen Bruder berichten, daß er ›das Königreich Böhmen ohne Schweiß, ohne das Schwert zu ziehen, in ruhigem Besitz und Verwaltung habe‹. Aber einige Tage nach die ser feierlichen Machtübernahme erhielt Graf Harrach, der Hofkanzler Ferdinands, einen Brief seines gleichnamigen Vetters: »Lieber Herr«, schrieb der hellseherische Kanzler von Böhmen, »Ihr seid noch nicht über den Zaun. Ungarn wird die anderen Länder der Habsburger auf zehren. Es war besser, Ungarn zu einem Nachbarn als den Türken zu einem Feind zu haben.« Die Nachbarschaft der Türken war tatsächlich verhängnisvoll. Aus Bosnien brachen sie in Kroatien ein. Sie kamen aus Serbien über die Donau, verwüsteten die fruchtbaren Ebenen, verheerten die sieben bürgischen Städte, schleiften die Mauern der ungarischen und kroati schen Schlösser, schleppten Männer, Frauen und Kinder als Kriegsge fangene fort. Die Türkenangst blieb, auch als Johann Zapolya, der von den ungarischen Großen zum König von Ungarn unter der Oberherr schaft des Sultans gewählt worden war, den habsburgischen Nachbarn seiner friedlichen Haltung versicherte. Ferdinand bat seinen Bruder um Hilfe, um neuen Angriffen der Türken, die unausbleiblich schie nen, begegnen zu können. Er bekam nicht einmal ein Versprechen zur Antwort. Karl V. war mit seinen eigenen Sorgen zu sehr beschäftigt, um sich um die Angelegenheiten Ferdinands kümmern zu können. Franz I. von Frankreich hatte, im Einvernehmen mit der Heiligen Liga, seinem Bundesgenossen, den Krieg auf italienischem Boden wie der begonnen, gerade als Karl im Begriff war, seine noch immer drük 60
kenden Geldsorgen durch die Vermählung mit Isabella von Portugal aus der Welt zu schaffen. Eine Million Golddukaten in bar als Mitgift und die reizende Prinzessin als Frau waren Anlaß genug für ihn, sich nach außen hin mit nichts anderem als den feierlichen Vorbereitun gen der Hochzeit und den Flitterwochen zu befassen. Daß seine tap feren, von Georg von Frundsberg befehligten Landsknechte in Itali en ihren Sold nicht ausgezahlt bekamen, weil keine flüssigen Geldmit tel zur Verfügung standen, berührte ihn nur wenig. Er ließ sich auch durch ihre Drohung, daß sie Rom plündern und sich durch die Schät ze der Kirche bezahlt machen würden, nicht beunruhigen. In Rom be fand sich Papst Clemens VII. der sich offen mit Franz I. dem Wort brecher, verbündet hatte und dem Karl längst schon Rache geschwo ren hatte. Die Landsknechte hatten schon einmal einen Sieg für ihn erfochten, ohne daß er selbst Spanien hatte verlassen müssen. Georg von Frundsberg hatte erklärt, wenn er nach Rom komme, wolle er den Papst henken. Sollten der Feldhauptmann und seine Landsknechte die Drohung nur wahrmachen! Der als ›Sacco di Roma‹ bezeichnete Überfall auf Rom begann mit kleinen Meutereien der Landsknechte, die, »Geld! Geld!« schreiend, Frundsberg so sehr bedrohten, daß er in der Aufregung einen Schlag anfall erlitt, von dem er sich nicht mehr erholte. Die führerlosen Auf rührer verbrüderten sich mit spanischen Reitern, die ihre Lebensmit telvorräte mit den Landsknechten teilten, um den Zug nicht aufzu halten. Das Heer wälzte sich vorwärts, durch Schneestürme und Re gen, unter Plündern und Brennen, nach Rom. Die große Stadt fiel, mit Ausnahme der Engelsburg, in die sich der Papst geflüchtet hatte, in die Gewalt der zügellosen Horden. Zwanzigtausend Mann feierten ›einen Hexensabbat der Grausamkeit, Wollust, Habgier und Schwelgerei‹. Die Verwüstung, die sie anrichteten, war so furchtbar, daß ein spanischer Augenzeuge an den Kanzler Gattinara schrieb: »In fünfhundert Jahren wird sich Rom von diesem Schlag nicht erholen, und die Greuel sind derart, daß weder Zeit noch Gedächtnis, noch Papier, noch Tinte ge nug vorhanden sind, sie zu beschreiben.« Die Landsknechte, die in den unaufhörlichen Kriegszügen verroht waren, machten sich einen Spaß 61
daraus, die Kardinale und Priester wie Vieh vor sich herzutreiben und zu peinigen. In violette Seidengewänder gekleidet, spielten diese außer Rand und Band geratenen Männer Kardinalskollegium und riefen vor der Engelsburg Martin Luther zum Papst aus. Kardinal Cajetan, der alte Gegner Luthers, wurde von lutherischen Landsknechten durch die Straßen gepeitscht, und als Clemens VII. nach einer einmonatigen Be lagerung der Engelsburg beschloß, sich in kaiserliche Gefangenschaft zu begeben, fanden ihn die Landsknechte, die ihn in Haft nahmen, mit zwölf Kardinalen in einem engen Saal. Wie Sebastian Schertlin, einer ihrer Anführer, kurz erzählte: »War ein großer Jammer unter ihnen, weinten sehr; wurden wir alle reich.« Der Papst, der sich gegen seinen ›gottgegebenen‹ Bundesgenossen, den Kaiser, vergangen hatte, war nun Gefangener des Kaisers. Der Neffe des Kanzlers Karls V. Bartolomeo Gattinara, der mit dem gefan genen Clemens verhandelte, schrieb am 24. Mai 1527 aus Rom: »Wir erwarten die schleunigen Anordnungen Eurer Majestät über die Re gierung Roms, ob nämlich in dieser Stadt irgendeine Art von apostoli schem Stuhl bleiben soll oder nicht.« Wer war nun der Herr der Welt: der Stellvertreter Christi oder der Kaiser des Römischen Reiches Deutscher Nation und König von Spa nien, der das Schicksal des Papstes in seinen Händen hielt? Die übermütige Selbstzufriedenheit Karls dauerte nicht lange. Eur opa brauchte den Frieden. In Frankreich kam es zu Teuerungen und Unruhen. Ferdinand, der von neuen bevorstehenden Angriffen der Türken in Kenntnis gesetzt worden war, flehte seinen Bruder an, Frie den mit Frankreich zu schließen, um ihm die freiwerdenden Truppen zur Verfügung zu stellen. Die Tante Karls, Margarete, die Witwe Don Juans, hatte sich mit der Mutter Franz' I. in Verbindung gesetzt, um den Frieden herbeizuführen, und der Papst erklärte sich huldvoll be reit, Karl zur Versöhnung die Kaiserkrone feierlich aufs Haupt zu set zen. Zwei Millionen Goldtaler Kriegsentschädigung, die er überdies erhalten sollte, gaben den Ausschlag. Karl war bereit, ›der ganzen Welt zu zeigen, welch großes Herz er hat‹. Kaum war der ›Damenfriede‹ von Cambrai geschlossen, als Suleiman 62
II. aufgefordert durch Franz I. von Frankreich, der ›Europa eher durch die Türken vernichten lassen wollte, als selbst durch die Umklamme rung von Deutschland und Spanien zugrunde zu gehen‹, seinen Vor marsch begann. Der Sultan zog mit dreihundertfünfzigtausend Mann gegen Wien, um sein Recht auf die Herrschaft der Erde, als ›Schatten Allahs über beide Welten‹, zu erkämpfen. Martin Luther widerrief, im Einverständnis mit den deutschen Fürsten, die sein Bekenntnis teilten, seinen früheren Ausspruch, daß die Türken die Heimsuchung Gottes seien. Er verkündete, daß es die unbedingte Verpflichtung jedes Chri sten sei, ›dem Kaiser gegen die türkischen Räuber und Zerstörer Fol ge zu leisten‹. Ein allgemeines Aufgebot der vereinigten Christenheit war das Er gebnis. Obwohl auch die lutherischen Landesherren dem Aufruf folg ten, kam es nicht zum geplanten Entsatz Wiens, denn Suleiman hob die schon fortgeschrittene Belagerung der Stadt auf, obwohl sie nach den Berichten eines österreichischen Befehlshabers nur ›ein weitschichti ger, unfester und unverbauter Flecken‹ war, der nicht gehalten werden könne. Der Großherr des Osmanischen Reiches zog sich zurück, weil, wie er sagte, ›Wien die Residenz des Sultans des Winters und das Va terland des Frostes und der Kälte ist‹. Er erklärte, ›die Landschaft trü be sein Gemüt‹. Suleiman II. hatte einer Laune nachgegeben. Er hatte sich durch die Witterung vertreiben lassen. Aber die Christenheit mußte darauf ge faßt sein, daß die Türken wiederkehrten. V Das geplünderte Rom war nicht der geeignete Ort für die festliche Kaiserkrönung, die Karl V. mit der Feier seines dreißigsten Geburts tags verbinden wollte. Bologna, in dessen Palast Kaiser und Papst, die beiden verfeindeten Häupter der Christenheit, monatelang, Tür an Türe lebend, miteinander gezankt hatten, wurde zur Krönungsstadt 63
bestimmt. Und im Dom von Bologna setzte Clemens VII. nun dem Feind seiner Bundesgenossen die Krone Karls des Großen aufs Haupt. Bei dieser prunkvollen Feierlichkeit umgaben den vom Papst gesalbten Römischen Kaiser Deutscher Nation seine spanischen Großen und ita lienische Fürsten, aber keine deutschen Landesherren und Kurfürsten, und der Heilige Vater seufzte so tief, daß man seinen schweren Pracht mantel sich heben und senken sah. Er hatte allen Grund zu Sorge und Kummer. Seine Heilige Liga gegen Karl hatte versagt, ihr geistiger Ur heber, Kardinal Wolsey, war von Heinrich VIII. seiner Ämter entklei det und gefangengenommen worden und jammerte: »Verzeihung und Vergebung!«, weil er seinen König durch seine kaiserfeindlichen Rat schläge in Verlegenheit gebracht hatte. Der Papst war machtlos. Die einzige Möglichkeit, die er gehabt hät te, seinen englischen Vertrauensmann zu retten, war durch seine ei gene demütige Versöhnung mit Karl V. verlorengegangen. Heinrich VIII. hatte durch Wolsey seine Scheidung von Katharina, der Tante Karls, betrieben, um seine Geliebte mit den schönen dunklen Augen und dem schwarzen wallenden Haar, Anna Boleyn, zur Frau nehmen zu können. Clemens VII. konnte dem Wunsch des englischen Königs nicht entsprechen, denn eine päpstliche Entscheidung gegen Kathari na hätte den so schwierig erreichten Frieden Seiner Heiligkeit mit dem Kaiser empfindlich gestört. Und jetzt drohte Heinrich VIII. der römi schen Kirche den Rücken zu kehren und sich genauso zu verhalten wie die deutschen Fürsten, die auf dem Zweiten Reichstag von Speyer gegen den kaiserlichen Wunsch protestiert hatten, daß ›alle weiteren Neue rungen so viel als möglich und menschlich‹ unterblieben und den Ka tholiken in lutherischen Ländern die Ausübung ihres Glaubens gestat tet sein sollte. Der König von England wollte ›Protestant‹ sein, wie diese deutschen Landesherren. Auch er teilte den Standpunkt, daß in ›Sachen Gottes, der Ehre und der Seele Seligkeit belangend ein jeglicher für sich selbst vor Gott stehen und Recht geben muß‹. Er verstieß Katharina. Es lag ihm nichts daran, daß ihn sowohl Karl V. als auch Franz I. als ›unbe rechenbaren Narren‹ bezeichneten. Er wollte Anna Boleyn zu seiner 64
rechtmäßigen Frau machen – das war ›seiner Seele Seligkeit‹. In Flo renz, der Heimatstadt des Papstes, hatten die Bürger sein fürstliches Geschlecht, die Medici, verjagt und ›Christus als ihren König‹ ausge rufen, während Karl entschlossen war, seinen Landsknechten Florenz ebenso preiszugeben wie Rom, wenn sich die Stadt nicht bereit erklär te, den vom Papst keineswegs begünstigten Alessandro di Medici, den Karl mit einer seiner unehelichen Töchter verheiratet hatte, als Gebie ter anzuerkennen. ›Die stinkende Herrschaft der Barbaren‹ hatte sich, wie Machiavelli damals schrieb, in Italien festgesetzt. Die Renaissance war zu Ende und das Papsttum, das sich so glanzvoll erhoben hatte, war zum Werkzeug des Kaisers geworden, der sich des Heiligen Stuh les bediente, um seinen geplanten Gewaltmaßnahmen im deutschen Reich den Glorienschein des Glaubens zu geben!
Ein neuerlicher Reichstag wurde nach Augsburg einberufen. Kaiser Karl V. wollte, gemäß dem Wortlaut des Einladungsschreibens, ›eines jeden Gutdünken, Opinion und Meinung hören‹. War das wirklich so? Ein Züricher Flugblatt warnte die evangelischen Glaubensgenossen, daß Karl als ›Messias der Pfaffen‹ nach Deutschland ziehe. Er komme nicht als Schiedsrichter, sondern als ›Schirmvogt der römischen Kir che‹. Es war bekannt geworden, daß der Beichtvater des Kaisers die Gewalt als den ›wahren Rhabarber‹ für die Krankheit der Reformati on bezeichnet hatte. Luther hingegen sprach von Karl V. als von dem ›lieben, frommen, unschuldigen Kaiser‹. Er wollte es nicht wahrha ben, daß Karl ›nicht Deutschlands rechter Vater‹ sei, obwohl der Kai ser des Römischen Reiches Deutscher Nation der deutschen Sprache nicht mächtig war und sich seines Bruders Ferdinand als Dolmetscher bediente. Luther war auch durch das schweigsame Wesen Karls beein druckt. Er sagte: »Ich halte, er redet in einem Jahr nicht so viel als ich an einem Tag.« Martin Luther konnte dem Reichstag als ›Geächteter‹ nicht beiwoh nen. Aber er äußerte sich zu der von seinem vertrauten Freund und 65
Berater, dem ›Praeceptor Germaniae‹ Melanchthon, verfaßten ›Con fessio‹ – den gesammelten Grundsätzen des lutherischen Bekenntnis ses –, die verkündet werden sollte: »Sie gefällt mir fast wohl und weiß nichts daran zu bessern noch zu ändern.« Er setzte hinzu: »Würde sich auch nicht schicken, denn ich so sanft und leise nicht treten kann.« Trotz des Versuches des Gelehrten Melanchthon, durch seine ›Apo logie‹, die im wesentlichen eine Verteidigung gegen die römischen An klagen sein sollte, am Zusammenhang mit der alten Kirche festzuhal ten und nur eine Reform zu begehren, erkannte Karl V. die ›Confu tatio‹, die Widerlegungsschrift Doktor Ecks, als richtig an, erneuer te das Wormser Edikt und verlangte die Rückgabe der eingezogenen Kirchengüter. Die protestantischen Landesherren verließen Augsburg. Der Reichstag, auf dem Ferdinand von Habsburg zum römischen Kö nig gewählt worden war, endete mit einer Kriegserklärung von Kaiser und Reich an die Protestanten. Luther schrieb damals: »Wird ein Krieg daraus, so werde er daraus. Wir haben genug gebeten und getan.« Die protestantischen Fürsten und die Abgesandten der protestanti schen Städte schlossen in der thüringischen Stadt Schmalkalden den Evangelischen Bund, dessen Zweck die Verteidigungspflicht gegen je den Angriff war, der gegen eines seiner Mitglieder wegen ›des gött lichen Wortes, evangelischer Lehre oder des Glaubens ausdrücklich, oder auch unter anderem Vorwand unternommen würde‹. Ein Ge sandter Heinrichs VIII. von England erklärte sich im Namen seines Herrn als Freund der Verbündeten. In London war Kardinal Wolsey auf dem Weg zur Hinrichtung im Tower mit den Worten gestorben: »Hätte ich Gott so eifrig gedient wie dem König, er würde mich in meinem Alter nicht verlassen haben.« Der zum Tod Verurteilte hatte noch in den letzten Stunden seines Le bens einen Vertrauensmann gebeten, Heinrich ›vor dem staatsfeind lichen Geist der lutherischen Ketzerei‹ zu warnen. Aber die festgeleg te ›Ordnung‹ der lutherischen Kirche, an deren Spitze der Landesherr als ›Notbischof‹ stand, war zu verlockend für den machthungrigen und genußsüchtigen König. Er wollte weltlicher und geistlicher Herrscher in einem sein. Beraten von Thomas Cranmer, der als Erzbischof, von 66
York seine Ehe mit Katharina von Spanien für null und nichtig er klärt und seinen Segen dazu gegeben hatte, daß Heinrich die schon schwangere Anna Boleyn heiratete, bereitete Heinrich die Reformati on in seinem Königreich vor. Er erließ ein Gesetz, das die päpstliche Gerichtsbarkeit und jede Anrufung Roms für England aufhob, und beantwortete die päpstliche Bannbulle mit seiner eigenen Erhebung ›zum obersten Haupt auf Erden der Kirche von England, unmittelbar unter Gott‹. Heinrich VIII. zog zwar die reichen Kirchengüter ein und gewann den Beifall eines großen Teiles der Bevölkerung, die seit Wycliffs Zei ten gegen die römische Kirche aufgetreten war, aber seine Abgesand ten, die seine Handlungen in Wittenberg rechtfertigen sollten, fanden nur kühle Aufnahme. Besonders Luther trat mit Entschiedenheit für die verstoßene Königin Katharina ein. Er hatte sich schon vorher mit Melanchthon dahingehend ausgesprochen, daß der König von Eng land seine Ehe nicht auflösen dürfe, sondern eher noch eine zweite Frau neben der ersten nehme, ›da die Vielweiberei durch göttliches Recht nicht verboten sei‹. Die gesamte öffentliche Meinung Europas richte te sich gegen Heinrich, als er auch den Lordkanzler Thomas More hin richten ließ – den Verfasser der ›Utopia‹, der Lehre, daß der Staat den Gesamtwillen des Volkes verkörpere, dem sich der einzelne unterwer fen müsse. Das Entsetzen über Heinrich VIII. steigerte sich noch, als er auch die Enthauptung Anna Boleyns befahl, nachdem sie eine Toch ter zur Welt gebracht hatte, die später Elisabeth genannt und Königin von England wurde. VI Die spöttische Frage, die Sultan Suleiman II. an die Gesandten Kö nig Ferdinands stellen ließ, »ob denn sein Bruder, der Kaiser, mit dem Martin Luther schon Frieden gemacht habe«, war durch den ›Nürn berger Anstand‹ begründet. Karl V. hatte nämlich die Entscheidung 67
in Glaubensfragen wieder vertagt, um die Hilfe der protestantischen Reichsstände im bevorstehenden Türkenkrieg nicht entbehren zu müssen. Die Gesandtschaft Ferdinands an den ›Goldenen Thron‹ hatte den Zweck gehabt, Suleiman ein friedliches Angebot zu überbringen, wonach Ungarn dem vom Sultan begünstigten König Johann Zapolya auf Lebzeiten überlassen werden und nach seinem Tod an das Haus Habsburg fallen sollte. Suleiman hatte sich von venezianischen Goldschmieden eine Kai serkrone anfertigen lassen, als Sinnbild seiner Herrschaft über die Welt. Er wies das Angebot hochmütig zurück: »Der König von Spani en rühmt sich schon seit langem, er wolle gegen die Türken«, sagte er. »Ich aber führe mit Gottes Hilfe meine Heerscharen gegen ihn. Wenn er Mut hat, so erwarte er mich im Feld, und es wird geschehen, was Gott wohlgefällt. Will er nicht mit mir kämpfen, so schicke er mei ner kaiserlichen Majestät Tribut.« Um seine überlegene Macht darzu tun, besichtigte der Sultan seine Kriegsflotte und ließ ihre Geschütze zu seinen Ehren Feuer geben. Es donnerte, wie die Gesandten Ferdin ands berichteten, ›als wäre der Jüngste Tag gekommen‹. Karl V. ließ sich nicht einschüchtern. Er selbst hatte schon achtzig tausend Mann auf die Beine gebracht, und auch die protestantischen Städte weigerten sich nicht, Truppen zu stellen. Wenn er sich nicht durch Gichtanfälle und Rotlauf am Bein behindert gefühlt hätte, wäre er an der Spitze des Heeres dem ruhmrednerischen Sultan entgegenge zogen, der gedroht hatte, ›den Kaiser, diese Nachteule, in den Schlupf winkeln der Gebirge aufzusuchen‹. Die ungeheure türkische Übermacht stürmte vor. Aber an den Mau ern des westungarischen Städtchens Güns, das von siebenhundert Mann verteidigt wurde, scheiterten alle Belagerungskünste und Stür me der Türken. Suleiman beharrte eigensinnig darauf, Güns einzu nehmen. Es gelang auch beinahe. Aber als seine Truppen die Mauern schon besetzt hatten, berührte das furchtbare Entsetzensgeschrei der verzweifelten Einwohner von Güns den Sultan so sehr, daß er die Bela gerung aufhob und sich unter furchtbaren Verwüstungen zurückzog. So wurde berichtet. Aber vielleicht hatte nicht nur eine neue launische 68
Empfindlichkeit dem Großherrn die Lust am weiteren Vormarsch ge nommen, sondern die Nachricht von der Besiegung einer seiner Flot ten durch Andrea Doria, den Dogen von Genua, der die kaiserliche Flotte befehligte. Auf Karl V. wirkte der unerwartete Abzug des Sultans wie eine Er lösung. Er dachte nicht an die Verfolgung der Türken. »Ich muß den Papst befriedigen«, sagte er, »alles übrige hat noch Zeit.« Die geplan te Aufteilung Italiens, die der Kaiser im Einvernehmen mit dem Papst vornehmen wollte, der dauernde Unfriede im deutschen Reich, die un aufhörlichen Kriegsdrohungen Franz' I. die Notwendigkeit, den Über blick über seine so ausgedehnten Herrschaftsgebiete nicht zu verlieren, veranlaßten Karl, seinem Bruder die spanische Hilfe zu versagen, die Ferdinand gebraucht hätte, um Ungarn zu erobern. Karl wußte, daß Suleiman II. Frieden mit Ferdinand schließen würde, um freie Hand im Osten zu haben – gegen Persien, das er erobern wollte. Ihm selbst drohte Gefahr aus einer anderen Richtung. Er hatte erfahren, daß Franz I. eine Gesandtschaft an den Sultan geschickt hatte, um ihn um eine Million Dukaten für einen Feldzug gegen den Kaiser zu bitten. Das Geld bewilligte Suleiman II. nicht. Aber er sandte auf Wunsch Franz I. eine türkische Flotte von mehr als dreihundert Schiffen gegen die süditalienischen Küsten aus, um Karl V. zu beweisen, wer der wirk liche Herr der Welt war. Die Flotte des Sultans stand unter dem Befehl Chaireddin Barbarossas, eines ehemaligen Seeräubers, der einen Teil der nordafrikanischen Küste unterworfen und den Herrscher von Tu nis verjagt hatte. Chaireddin nannte sich König von Algier. Als solcher beglaubigte er seine Gesandten am französischen Hof. Zum erstenmal in all den Kriegen während seiner Herrschaft über nahm Karl V. persönlich den Befehl. Er bezeichnete sich als ›Fähnrich seines Feldhauptmanns Christus‹ und fuhr mit einer Flotte von vier hundert Kriegsschiffen gegen Nordafrika, um Chaireddin zu vernich ten und dem Seekrieg ein Ende zu machen. Das kaiserliche Heer landete in der glühenden Sonne. »Wir starben vor Hitze«, schrieb der Kaiser selbst. Aber der Durst seiner Truppen trieb sie dazu an, die Brunnen zu erstürmen. Tunis fiel, um so rascher, 69
als die christlichen Sklaven in der Stadt sich befreiten und den Erobe rern halfen, Chaireddin zu schlagen. Karl genoß das Hochgefühl eines Sieges, an dem er endlich in eigener Person teilgenommen hatte. Wenn seine Gichtanfälle nicht wiedergekehrt wären, hätte er sich ganz glück lich gefühlt. Er klagte zwar über die Schmerzen, aber er schrieb seiner Schwester: »Gott hat mir gute Pflaster gegeben, um mich ganz zu hei len.« VII Eines der besten Pflaster für Karl war die Entdeckung Perus durch Francisco Pizarro. Das Vorbild des ehemaligen Schweinehirten war Ferdinand Cortez, den Karl V. zur Belohnung für die Eroberung Me xikos erst zum Marquis de Valle erhoben und dem er dann wegen der Nichtachtung der Befehle Diego Velasquez' die Verwaltung von ›NeuSpanien‹ entzogen hatte. Pizarro wollte von Anfang an mit der Zu stimmung seines Herrschers handeln, als ihm, einem unbekannten Abenteurer, ein Unfall die Forschungsergebnisse des als ›Großaufse her der Indier‹ tätigen Andagoya in die Hände gespielt hatte. Es hieß, daß an der westlichen Küste des neuen Erdteils, südlich von Panama, in das die Spanier bereits vorgedrungen waren, das große Reich Peru, in dem es noch mehr Gold und Schätze geben sollte als im Königreich Montezumas, nur auf die Eroberung warte. Die Nachrichten über Peru waren spärlich. Es verdankte seinen Na men dem Flüßchen Biru, an dem Andagoya auf seinem Zug durch eine mit Sumpfwald bedeckte Landschaft gelagert hatte. Das auf dem Rücken eines hohen Kettengebirges sich weit nach dem Süden erstrek kende Land wirkte von der Küste aus unfruchtbar. In den öden stei nigen Gegenden war kein Baum zu sehen. Nur dort, wo wilde Ge birgsbäche sich von den Höhenkämmen in die See ergossen, gab es fruchtbare Täler und Schluchten. Inmitten des großartigen Gebirges lag die Hauptstadt des Landes, welche die Eingeborenen als den ›Na 70
bel der Welt‹ bezeichneten. Die dort herrschenden Fürsten nannten sich ›Inka‹. Sie galten als die ›Söhne der Sonne‹ und genossen eine fast göttliche Verehrung. An vielen Orten gab es mit Gold verzierte Tem pel, in denen nicht nur die Sonne, sondern auch Gestirne und Natur erscheinungen, Berge und Felsen, Quellen und Ströme angebetet wur den. Die Tempelpriester, die sich einer strengen Regel unterordneten, waren die höchsten Würdenträger. Auch im ›Land der Sonne‹ wurden Knaben getötet. Wie bei den Azteken wurde den Opfern die Brust mit einem Stein geöffnet, damit das Herz herausgerissen werden konn te. Die Häuptlinge der unterworfenen und dem Reich der Inka ein verleibten Volksstämme und die Angehörigen der königlichen Ver wandtschaft, die Oberpriester, königliche Räte und Befehlshaber im Heer waren, genossen eine bevorzugte Stellung. Alle anderen Bewoh ner des Landes hatten keinerlei Selbstbestimmung. Ihre Lebensweise, ihr Trachten waren gesetzlich vorgeschrieben. Die Berufe vererbten sich vom Vater auf den Sohn. Niemand konnte reich, aber auch nie mand arm werden, denn aus den Ländereien des Inka erhielt jede Fa milie ihren Lebensbedarf zugewiesen. Das wichtigste Tier Perus war das Lama. Es trug Lasten, und von der Wolle der dem König gehö renden Lamaherden erhielten die Familien ihren Anteil für die An fertigung von Kleidern. Im Reich der Inka brauchte niemand Hun ger zu leiden. Die fruchtbaren Felder, die an den Berghängen terras senartig angelegt waren, wurden mit Guano gedüngt und mit abge leiteten Gebirgsbächen künstlich bewässert. Es gab kein Eisen. Aus Kupfer, Bronze oder Stein wurden die Werkzeuge hergestellt. Schrift zeichen gab es nicht, aber geflochtene ›quipos‹, Knoten aus künst lich verschlungenen und verknüpften Schnurbündeln. Die Stärke und Länge der Schnüre, die Art der Verknüpfung und die Zusammenstel lung der Farben hatten ihre eigene Bedeutung. Weiß bedeutete Frie den oder Silber, rot den Krieg oder Krieger, gelb galt für Gold und grün für Mais. Die Bewaffnung der Männer bestand aus Kupferkeu len und bronzenen Streitäxten. Auch Steinschleudern wurden ver wendet. Die Straßen, die das ›Land der Sonne‹ durchzogen, waren mit behauenen Quadersteinen gepflastert und oft von Baumreihen be 71
schattet. Schnelläufer besorgten den Postdienst und setzten den Inka von allen Vorfällen in seinem Reich in Kenntnis. Später nahm man an, daß die Ayamara, die um den gewaltigen, im Hochland gelegenen Titicacasee angesiedelt waren, das älteste Volk in Peru gewesen seien. Aber auch die Geschichte der Ayamara ist sagen haft. Hatten sie tatsächlich eine Verbindung mit dem so ferne gele genen, durch weite Meere getrennten asiatischen Festland, wie neu ere Forschungen annahmen – mit dem chinesischen ›Reich der Mit te‹? Waren sie versprengte Stämme nördlicher Wandervölker? Vor der Eroberung Mexikos durch Cortez unternahm es der Inka-Erobe rer Huayna-Capac, sein Reich nach dem Norden zu erweitern. Er war kurz vor der Forschungsreise Andagoyas gestorben, und seine Söhne Huascar und Atahualpa waren in einen Bruderkrieg verwickelt, als Pi zarro seine abenteuerliche Unternehmung begann. Schon der erste Aufenthalt Pizarros in der von drei Mauerringen umgebenen peruanischen Küstenstadt Tumbez bewies ihm, daß die Angaben Andagoyas richtig waren. Ihr Tempel war mit goldenen und silbernen Platten belegt, und die Eingeborenen verhielten sich fried lich, nachdem einer der Begleiter Pizarros mit seiner Donnerbüchse auf ein gestecktes Ziel geschossen hatte. Er fuhr weiter nach dem Sü den, die Küste entlang, und erkannte bald, daß er das ungeheure Reich nur erobern konnte, wenn er die Unterstützung der höchsten Behör den in Spanien gewann. Er unternahm die beschwerliche Fahrt in die Alte Welt, und es gelang ihm, von Karl V. in Toledo empfangen zu wer den. Der goldene Schmuck, den Pizarro von den Eingeborenen eingehan delt, und ein Lama, das er mitgeführt hatte, beeindruckten den Kai ser so sehr, daß er dem ›Indischen Rat‹ befahl, dem Abenteurer bei der Durchführung seiner Pläne zu helfen. In der Abwesenheit Karls unter schrieb Königin Isabella den Vertrag, der Pizarro zum Statthalter von Peru machte. Mit drei Schiffen, hundertachtzig Mann und siebenunddreißig Pfer den stach Pizarro von Panama aus in See. Schon seine erste gewalttäti ge Landung in Peru brachte ihm eine ansehnliche Beute an Gold, Sil 72
ber und Smaragden. Ein Fünftel des Raubes wurde als Anteil der spa nischen Krone zurückgelegt, der Rest nach Verhältnis des Ranges un ter die Mannschaft verteilt. Dann ging es weiter nach Tumbez, wo Pi zarro erfuhr, daß zwischen den Söhnen des verstorbenen Inka ein blu tiger Krieg ausgebrochen sei. Der Sieger, Atahualpa, halte sich mit sei nem Heer etwa hundert Kilometer südlich im Hochland auf. Mit hun dertachtundsechzig Mann machte sich Pizarro nun auf den Weg. Er wollte die Schlacht gegen den Inka wagen, der vierzigtausend Mann befehligte, um das Reich durch einen einzigen Sieg zu erobern. In dem zweitausendachthundert Meter hoch gelegenen Tal vor der Stadt Cajamarca breitete sich die Zeltstadt des peruanischen Kriegs heeres aus. Pizarro ließ sich nicht einschüchtern. Er besetzte die mit einer hohen Mauer umgebene menschenleere Stadt und entsandte Hernando de Soto, den späteren Eroberer Floridas, mit zwanzig Rei tern in das Lager des Inka. Auf einem Thronsessel, hinter einem zar ten durchsichtigen Schleier, den zwei Frauen vor ihn hielten, damit er nicht von unberufenen Augen beobachtet werden könne, empfing Ata hualpa schließlich Pizarro persönlich und ließ sich von einem Dol metscher Wort für Wort der Ansprache des Fremden übersetzen, der sich als Stellvertreter eines mächtigen Herrschers bezeichnete und sich erbot, die Peruaner im ›wahren Glauben‹ zu unterrichten. Atahualpa selbst gab keine Antwort. Aber ein Hofangestellter sagte für ihn: »Es ist gut«, und nahm im Namen des Inka die förmliche Einladung an, die Spanier in ihrem Lager zu besuchen. Nach der Rückkehr nach Cajamarca hielt Pizarro Kriegsrat. Die glänzende Erscheinung des Inka, die fast göttliche Verehrung, die ihm gezollt wurde, und seine offenkundig unbeschränkte Gewalt über eine große Truppenzahl machten es von Anfang an klar, daß die kleine Schar der Abenteurer trotz ihrer Feuerwaffen in einem offenen Kampf erdrückt werden würde. Das einzige Mittel, die Macht an sich zu rei ßen, schien Pizarro die Gefangennahme Atahualpas zu sein. Dieser Handstreich wurde beschlossen. Am nächsten Abend erschien der Inka mit großem Gefolge und fünftausend Mann erlesener Truppen vor den Mauern der Stadt. Auf 73
die feierliche Mitteilung Pizarros, daß alles zu seinem Empfang bereit sei, begab er sich auf den großen Marktplatz von Cajamarca. Erst trat dem Inka ein Dominikaner mit Kreuz und Brevier entgegen und trug ihm den Inhalt der christlichen Glaubenslehre vor, von der Schöpfung und dem Sündenfall bis auf Christus, der alle Macht auf Erden seinem Apostel Petrus und seinen Nachfolgern, den Päpsten, übergeben habe. Der Dominikaner erklärte, der Heilige Vater in Rom habe dem Kai ser Karl die Neue Welt zugeteilt, damit er dafür sorge, daß alle Völker zum christlichen Glauben bekehrt und getauft würden. Atahualpa hörte aufmerksam zu. Dann erwiderte er mit ruhiger Stimme, er wisse von Christus und Petrus nichts. Die Sonne sei die höchste Gottheit, und er habe sein Reich von seinen Vätern geerbt. Der Dominikaner wiederholte aufgeregt, was er gesagt habe, sei in der Heiligen Schrift von Gott selbst verkündet. Er hielt dem Inka die Bibel entgegen. Atahualpa nahm das Buch in Empfang, blätterte acht los darin und warf es, mit den Worten »Es sagt nichts« verächtlich auf das Steinpflaster. In diesem Augenblick gab Pizarro das Zeichen zum Überfall. Trompeten erklangen, Geschütze dröhnten, die Spanier bra chen aus ihren Verstecken hervor und fielen über das Gefolge Atahu alpas her. Sie erschlugen zweitausend Mann, die anderen flohen, wäh rend der Inka gefangengenommen wurde. Am nächsten Morgen wurde das Heer Atahualpas zerstreut – ohne Kampf, da die Krieger des Inka in seiner Abwesenheit keinen Wider stand leisteten. Um zu verhindern, daß sein Bruder Huascar, den er be siegt hatte, von den Spaniern auf den Thron erhoben wurde, bot Ata hualpa ein ungeheures Lösegeld für seine Freiheit an. Er erklärte sich bereit, den Raum, in dem er gefangengehalten wurde, mit Gold füllen zu lassen, so hoch ein Mann mit der Hand reichen könne. Pizarro griff gierig zu, aber der weiße Strich, bis zu dem der Raum mit Gold gefüllt werden sollte, wurde drei Meter hoch an der Wand ringsum gezogen. Während in seinem Auftrag die Schätze aus den Sonnentempeln der Hauptstadt Cuzco und anderer Städte herbeigetragen wurden, er fuhr Atahualpa, daß sich Huascar an Pizarro gewandt habe, damit der Spanier den Thronstreit zwischen den Brüdern entscheide. Der Inka 74
gab den Befehl, Huascar zu beseitigen. Die Nachricht dieses Bruder mordes brach auch den inneren Widerstand der meisten Eingebore nen. Sie wehrten sich nicht, als Fußvolk und Reiter die Götzenbilder in den Tempeln zerstörten und Kreuze an ihre Stelle setzten. Mit Geleit briefen des Inka versehen, von indianischen Trägern auf das bequem ste befördert, reiste eine Abteilung von Spaniern nach Cuzco, dessen Sonnentempel buchstäblich mit Goldplatten belegt war. Die Männer brachten siebenhundert Goldplatten aus Cuzco und noch zweihundert Wagenladungen Gold, die sie auf dem Weg erbeutet hatten, nach Ca jamarca zurück. Das Lösegeld war gezahlt, und der Inka forderte sei ne Freiheit, da er die Bedingung doch erfüllt habe. Aber Pizarro, der Nachschub an Mannschaften und Geschützen erhalten hatte, fühlte sich stark genug, alles zu wagen. Es waren ihm Gerüchte von Erhe bungen und Heeresansammlungen der Peruaner zugetragen worden. Obwohl De Soto, den er auf Kundschaft ausgeschickt hatte, das gan ze Volk ruhig gefunden hatte, bestand Pizarro darauf, daß Atahual pa hingerichtet werde. Der Inka wurde gefesselt auf den Marktplatz geführt, um als Thronräuber, Brudermörder und Gotteslästerer ver brannt zu werden. Atahualpa erklärte sich zur Annahme der Taufe bereit, um sein Le ben zu retten. Pizarro begnadigte ihn zum Erdrosseln. Dann begab er sich an der Spitze seines kleinen Heeres nach Cuzco und ernannte, nachdem er alles Gold und alle Edelsteine beschlagnahmt und sogar die Inka-Mumien ihres Schmuckes und ihrer Juwelen beraubt hatte, einen neuen Inka und legte ihm die königliche Kopfbinde selbst ums Haupt. Dieser Scheinherrscher erkannte die Oberherrschaft Spaniens an. Pizarro gründete am Ufer des Flusses Rimac die neue Hauptstadt Perus, ›Ciudad de los Reyes‹. Die ›Stadt der Heiligen Drei Könige‹ wur de später Lima genannt.
Almagro, einer der Gefolgsleute Pizarros, unternahm es, die südlich des Inkareiches gelegenen Länder zu unterwerfen. Es gelang ihm, durch 75
die Wüsteneien des Hochgebirges von Peru nahezu tausend Kilometer nach Chile vorzudringen. Er fand keine Schätze und geriet, als er von seiner waghalsigen Unternehmung zurückkehrte, in einen grausamen Machtkampf mit Pizarro. Während die Spanier sich stritten, rief der neue Inka sein Volk zu den Waffen. Der Aufstand der Peruaner wur de in einem furchtbaren Blutbad unterdrückt und Almagro erdrosselt. Pizarro begann eine Schreckensherrschaft, die erst ein Ende fand, als Diego, der junge Sohn Almagros, seinen Vater durch die Ermordung Pizarros rächte. Der Tod der beiden Abenteurer hemmte den Lauf der Entwicklung nicht. Neue Statthalter und neue Truppen wurden nach Peru gesandt, um die Verwaltung des ehemaligen Inkareiches für den König von Spanien zu ordnen – dem nur an einem gelegen war: an den gewalti gen Mengen erbeuteten Goldes für seinen Schatz. Immer mehr Schiffe fuhren aus und kehrten mit Waren und reich gewordenen Abenteurern zurück. Ihre Berichte von den unglaubli chen Möglichkeiten in der Neuen Welt riefen ein Auswanderungsfie ber im Königreich Spanien hervor. In Sevilla, dem Sitz des ›Indischen Rates‹, gab es bald so wenige Männer, daß der venezianische Gesand te dem Dogen berichtete, die Stadt sei nur von Weibern bewohnt. Aber nicht nur die Güter, die von Übersee in die spanischen und portugie sischen Häfen befördert wurden, beeinflußten die Wirtschaft Europas. Die in die Neue Welt Ausgewanderten schufen sich eine neue Heimat und bezogen aus der Alten Welt immer mehr Waren im Austausch ge gen das Gold und die Erzeugnisse, die sie über das Meer sandten. Das Schwergewicht des Handels verlagerte sich allmählich vom Mittelmeer an die Küsten des Atlantischen Ozeans. An Stelle von Venedig und Genua wurden Lissabon und Sevilla die bedeutendsten Häfen. Sie ver schifften eine kostbare Ware: unzählige afrikanische Sklaven, auf die Jagd gemacht worden war, da sie zur Urbarmachung und Bebauung der ›indischen‹ Besitzungen der Könige von Spanien und Portugal be nötigt wurden. Durch die gleichzeitige Herrschaft Karls V. in den Nie derlanden und in Spanien wurde Antwerpen reich. In der niederlän dischen Stadt eröffneten die bedeutendsten Bank- und Handelshäuser 76
ihre Niederlassungen. Fünfhundert Millionen Dukaten, die nach dem Kaiser ›Karolus‹ hießen, wurden in ihrem Seehandel angelegt, fünf hundert Schiffe liefen täglich in ihrem Hafen ein und aus, während jede Woche zweitausend Frachtwagen aus Antwerpen nach Deutsch land und Frankreich abgingen. VIII Paul III. der Nachfolger Papst Clemens VII. der noch ein letztes Mal, schon auf dem Sterbebett, versuchte, die kaiserliche Freundschaft ge gen die französische einzutauschen, hatte mit seinem weltlichen Na men Alessandro Farnese geheißen. Alles sprach gegen die Erhebung dieses prachtliebenden Lebemanns auf den Heiligen Stuhl. Seine Schwester Julia war die Geliebte Alexanders VI. gewesen. Sein wichtig stes Ziel war, für einen seiner natürlichen Söhne, den er anerkannt hat te, und dessen Kinder unabhängige Fürstentümer zu schaffen. Gleich nach seiner Wahl zum Papst erhob er zwei seiner Enkel, einen sech zehn- und einen vierzehnjährigen Jungen, zu Kardinalen. Von diesem, von der Lebensfreude und den Sitten der Renaissance von frühester Jugend an erfüllten Papst glaubten die Führer der deut schen Protestanten, die Paul III. feierlich zu einer Kirchenversamm lung einlud, nichts Gutes erwarten zu können. Sie lehnten seine Ein ladung nach Mantua ab und verpflichteten sich auf dem Konvent zu Schmalkalden nochmals auf das Augsburger Bekenntnis. Da seine ge plante Vermittlung zur Einigung der christlichen Kirchen gescheitert war, ernannte Paul einen Ausschuß von Kardinalen und beauftragte sie, eine Reform der Kirche auszuarbeiten. Ihr Bericht klang verzwei felt: »Welch schrecklichen Anblick bietet die katholische Welt … Die religiösen Orden sind derart verderbt, daß sie zum großen Ärgernis für die Laien werden und durch ihr Beispiel gewaltigen Schaden an richten. In der Mehrzahl der Frauenklöster gehen öffentlich Greuel vor sich, zur großen Entrüstung der Bürger …« 77
Es war klar, daß eine Reformierung der Kirche nötig war, um der Reformation begegnen zu können, aber ob die Neuordnung an der Spitze der Pyramide oder in ihren unteren Schichten beginnen solle, ließ Paul III. fürs erste dahingestellt sein. Schließlich aber hieß er es gut, daß Ignatius von Loyola, ein im Kampf gegen die Franzosen zum Krüppel geschossener spanischer Adliger, einen Priesterorden grün dete, der jedes Mitglied verpflichtete, ›alles zu tun, was der jedesma lige Papst befehlen werde, ohne Widerrede, ohne Bedingung, ohne Lohn‹. Das praktische Ziel des neuen Ordens, der den Namen ›die Gesellschaft Jesu‹ erhielt, war die geistliche Weltherrschaft des Pap stes und die Überwindung des Protestantismus. Im Sinn einer Bul le Pauls III. in der die überseeischen Eingeborenen ausdrücklich als menschlich vollwertig und fähig zum christlichen Sakrament erklärt worden waren, sollten die Brüder des neuen Ordens alle heidnischen Länder dem Glauben Sankt Peters gewinnen und die in den Zeiten des allgemeinen Abfalls von Rom verlorenen Gebiete zurückerobern. Nicht nur durch die Waffen, die Kaiser Karl V. und sein Bruder Ferdi nand mit wechselndem Erfolg für die Kirche führten, nicht nur durch die fromme Gläubigkeit der spanischen Truppen und die mit schwe rem Geld erkaufte Tapferkeit der deutschen Landsknechte sollte die ›alleinseligmachende Kirche‹ den Angriffssturm der Welt gegen sie bestehen. Dem Schutze Roms widmeten sich jetzt auch die Soldaten der ›Le gion Gottes‹ an deren Spitze der mit allen Vollmachten ausgestattete ›General der Gesellschaft Jesu‹ stand. Die Mönche des neuen Ordens, die kurz ›Jesuiten‹ genannt wurden, sollten sich der Bußübungen und gottesgelehrten Arbeiten zur eigenen Vervollkommnung im Sinne der anderen Mönchsorden enthalten. Ihr Ziel sollte sein, ›ihre Mitmen schen durch Beispiel und Überredung, durch List und Gewalt, auf ge raden und krummen Wegen zur alleinseligmachenden Kirche zu be kehren und so zur ewigen Seligkeit reif und fähig zu machen‹. Wer das oberste Gelübde des Ordens ablegte, mußte sein Leben dem beständigen Dienst Christi und der Päpste weihen, unter dem Kreu zesbanner Kriegsdienste leisten und nur dem herrn im Himmel und 78
dem römischen Pontifex als dem Stellvertreter Christi auf Erden die nen. In welche Länder er sie auch sandte, mußten sie ohne jede Säum nis und Entschuldigung eilen und sich nicht bedenken, in Ermang lung eines Schiffes das Weltmeer auf einem Brett zu überqueren. Wer der Gesellschaft Jesu beitreten wollte, mußte nicht nur sein Handeln, sondern auch seinen Willen, und nicht nur seinen Willen, sondern auch seine bessere Einsicht seinen Oberen und dem Ordens general unterordnen. So lautete die 13. Regel der geistlichen Übungen, der sogenannten ›exercitia spiritualia‹, die von jedem Jesuiten befolgt werden mußten: »Wenn die Kirche definiert, daß etwas, was unserem Auge weiß erscheint, schwarz ist, so müssen wir sofort erklären kön nen, es ist schwarz.« Der Aufbau des Ordens, die strenge Befolgung der Regel, die aus je dem Jesuiten einen vollkommenen Schauspieler machen sollte, die geistlichen Übungen, denen sie sich unterwerfen mußten und die nur von den stärksten Naturen bewältigt werden konnten, sicherte den Er folg der Ordensbrüder, die in jeder Schicht der Gesellschaft Zutritt fin den sollten: »Mit dem Bauern Bauer, mit dem Soldaten Soldat, mit dem Schiffer Schiffer! Laßt euch einmal in die tiefsten Tiefen hinab, ein an dermal erhebt euch zum Höchsten und dann wieder haltet euch in der Mitte, und hütet euch vor nichts so sehr, als euch den Neigungen der Menschen durch ungleiche Lebensweise und Gewohnheit zu entfrem den. Durch Übereinstimmung in den Sitten und Äußerungen sucht euch zu allen Zugang zu schaffen, durch den Zugang Umgang, durch Umgang Zuneigung und durch die Zuneigung eine unwiderstehliche, die Gemüter beherrschende Macht.«
Noch bevor sich die Vorhut dieser neuen Armee des Papstes in Be wegung setzte, hatte König Franz I. von Frankreich, ungehalten über die Ausschreitungen der ›Wiedertäufer‹, die in Münster das ›König reich Zion‹ begründet und unter der Führung Johann Bockelsons eine Schreckensherrschaft mit Gütergemeinschaft und Vielweiberei einge 79
setzt hatten, ein ›Verbot aller Buchdruckerei bei Strafe des Strickes‹ in Paris erlassen. Durch diese Maßnahme abgeschreckt, verließ ein damals sechsund zwanzigjähriger ›Jünger des Humanismus‹, den sein strenger Vater erst zum Studium der Gottesgelehrtheit und dann der Rechtswissenschaf ten angehalten hatte, das heimatliche Frankreich und begab sich nach Basel, mit der Absicht, ein Werk zu verfassen, das den schwerbedräng ten französischen Protestanten, seinen Brüdern im Glauben, Hilfe und Rechtfertigung bringen sollte. Dieser Johann Calvin schrieb die ›Insti tutio Religionis Christianae‹, eine Darstellung der evangelischen Leh re, die auch für den Laien verständlich sein sollte. Die Einleitung die ses Buches war an Franz I. gerichtet, aber nicht, um Mitleid und Barm herzigkeit zu erwirken, sondern Gerechtigkeit und Anerkennung des evangelischen Glaubens, die Bekehrung des Königs von Frankreich und seines Volkes zur wahren Lehre. Wer sich gegen das Evangelium stelle, würde der göttlichen Strafe nicht entgehen. Die Bekenner aber würden gegen alle Verfolgung bestehen, bis der HERR erscheinen wer de, sie zu retten und die übermütigen Widersacher zu vernichten. Die Lehre Calvins unterschied sich von den Lehren Luthers und Zwanglos durch seine unbedingte Ablehnung ihrer ursprünglichen Bemühungen, die katholische Kirche zu verbessern. Er verwarf Rom und anerkannte nur einen Grundsatz: die alleinige Gültigkeit des durch das Zeugnis des Heiligen Geistes im Inneren des Menschen be glaubigten und belebten Schriftwortes, der biblischen Offenbarung. Die vollkommene Allmacht Gottes, erklärte Calvin, habe jeden ein zelnen Menschen von Uranfang an zur Gnade oder zur Verdammnis vorherbestimmt. Diese ›Prädestination‹ sei unabänderlich, was auch der Mensch tue. Wer in der Gnade Gottes gewesen sei, könne sie nicht verlieren, während der von Gott Verworfene ›ein zur Schande gebilde tes Gefäß der Verdammnis‹ sei: »Mit Furcht und Zittern ergibt sich der Erwählte seinen irdischen Pflichten und wirkt in ständiger Bußbereit schaft mit, die Welt zur höheren Ehre Gottes umzugestalten.« Noch ehe der ›Unterricht im Christentum‹ im Druck erschien, ver ließ Calvin Basel, aus Angst vor den Folgen der Veröffentlichung. Er 80
wollte keinesfalls ein Märtyrer werden, er wollte leben und lehren. Sei ne unablässige Flucht führte ihn erst nach Italien, dann verbarg er sich in Frankreich. Schließlich kam er nach Genf, wo er nur eine Nacht zu bleiben gedachte. Aber der magere Gelehrte mit dem blassen, regelmä ßigen Gesicht und dem schwarzen spitzen Bart wurde als der Verfas ser der ›Institutio Religionis Christianae‹ erkannt. Einige Genfer Pro testanten baten ihn, als ihr Berater tätig zu sein. Calvin blieb. Aber sei ne strenge Lehre erweckte die Mißstimmung der genuß- und freiheit liebenden Bevölkerung Genfs. Er wurde verbannt und begab sich nach Straßburg, wo er mit den Führern der deutschen Reformation in enge re Beziehung trat. Durch persönliche Gespräche sollte sein Gegensatz zum deutschen Protestantismus beseitigt werden. Aber er sprach sich unentwegt gegen die von den deutschen Predigern anerkannte Abhän gigkeit von der Staatsgewalt aus. Nachdem Calvin von den Genfer Bürgern zurückgerufen und unter den glänzendsten Ehrenbezeigungen wieder in die Stadt eingezogen war, begründete er in Genf ein neues Kirchentum, dessen grundsätzli che Ordnung maßgebend für alle später nach ihm benannten Gemein den wurde. Einem ›Konsistorium‹, einer obersten Kirchenbehörde, die sich aus den Ältesten der Gemeinde, den ›Presbytern‹, und den Pfarrern zusam mensetzte, oblag die Erziehung aller Angehörigen der Gemeinde zum Dienste Gottes, zur Kirchenzucht. Die Presbyter überwachten das Le ben der Gläubigen in jeder Einzelheit und sorgten dafür, daß sie ihrer Pflicht, dem Gottesdienst und der monatlichen Teilnahme am Abend mahl, nachkamen. Der Gottesdienst bestand aus Predigt, Gebet, Sün denbekenntnis und Psalmengesang. Brot und Wein der Abendmahl feier waren das Unterpfand dafür, daß Christus die Erwählten in sei ne Gemeinschaft aufgenommen hatte. Jede Verschwendung, Üppigkeit, Prunksucht, alle weltlichen Vergnügungen, Tanz, Kartenspiel, Theaterund Wirtshausbesuch, Volks- und Familienfeste waren verboten. Wer dagegen verstieß, mußte sich öffentlicher Buße unterziehen. In Genf, wo Calvin die Herrschaft der christlichen Strenge errichtete, konnte das Abweichen von der biblischen Lehre oder Ehebruch mit dem Tod be 81
straft werden. Er ordnete an, daß Vornamen, die nicht in der Bibel stan den, Täuflingen nicht mehr gegeben wurden. Aller Schmuck wurde aus den Kirchen verbannt. Nichts sollte die Einbildungskraft der Gläubi gen anregen als die Predigt, das öffentliche Gebet in der Muttersprache und der Gesang von Psalmen. Im Glaubensstaat, den Calvin in Genf mit unerbittlicher Strenge einrichtete, verbot er jedes gedruckte Wort gegen die bestehende Ordnung und tat alles dazu, daß jeder einzelne Bürger von der unduldsamen Überzeugung erfaßt wurde, seine irdi sche Lebensform sei nur die notwendige Grundlage seines Glaubens daseins. Calvin entrechtete die weltliche Obrigkeit nicht, er unterstütz te sie durch das Konsistorium in ihrer christlichen Pflicht, die göttliche Ordnung auf Erden zu sichern. Das bedeutete allerdings, daß das Kon sistorium die tatsächliche Obrigkeit wurde, da der kirchlichen Rüge die Bestrafung durch die Obrigkeit folgen mußte. Das Calvin und seinen Anhängern vorschwebende Muster der Voll kommenheit war der altjüdische Staat der Heiligen Schrift, dessen Auf gabe die Verwirklichung der göttlichen Lehre gewesen war, und dessen Fürsten, Staatsmänner und Krieger als begeisterte Vorkämpfer Gottes gepriesen wurden. In diesem Sinne predigte Calvin nicht nur die Bi bel, sondern auch das Schwert als Wahrzeichen, dessen sich seine An hänger im Namen Gottes zur Unterdrückung der inneren Feinde und zum Eroberungskrieg nach außen bedienen sollten.
Noch zu Lebzeiten Calvins, der das Haupt der Schweizer reformier ten Kirche wurde, verbreitete sich der ›Calvinismus‹ als das bevorzug te evangelische Bekenntnis in den Niederlanden, in England, Schott land, Frankreich, Polen und auch in Ungarn. Seine Lehre, die jedes weltliche Vergnügen untersagte, hatte eine erhöhte Arbeitsamkeit und dadurch auch ein wirtschaftliches Wohlergehen der einzelnen Gläubi gen und der Gemeinwesen zur Folge. Die bedingungslose Opferbereit schaft der Calvinisten machte sie zu den gefährlichsten Gegnern der katholischen Kirche. 82
IX
Das bekannteste Bild Karls V. hat Tizian gemalt. Dieser hervorra gendste Schüler seines venezianischen Landsmanns Bellini übertraf nicht nur durch seine Farbengebung die zeitgenössischen Maler der als Hochrenaissance gekennzeichneten künstlerischen Entwicklung Italiens, sondern vor allem durch seine tiefgründige Menschenkennt nis, die in seinen Bildern zum Ausdruck kam. Tizian stellte Karl als einen schwarzgepanzerten Ritter dar, der mit eingelegter Lanze im Morgengrauen langsam durch eine einsame Landschaft reitet. Das starre, vom schwarzen Bart umrahmte Gesicht des damals sieben undvierzigjährigen Kaisers zeigte keine Gemütsregung. Es war in sich geschlossen, das Gesicht eines Mannes, der nicht nur seine Feinde, sondern auch sich selbst besiegt hat. Ein unwiderstehliches Schick sal zwang den bleichen Mann in der schwarzen Rüstung vorwärts auf seinem Weg. Dem Kaiser, den Tizian abgebildet hatte, lag die Welt zu Füßen – aber was war ihm die Welt? Der Schauplatz von Siegen und Niederlagen. Er hatte Gefahren überwunden und herausgefordert. Er hatte Franz I. der ihn in all den Jahrzehnten seiner Herrschaft nie hatte ruhen lassen, schließlich besiegt und im Frieden von Crepy gezwungen, seinen An spruch auf das Herzogtum Mailand, den ursprünglichen Stein des An stoßes, aufzugeben. Dennoch behielt Suleiman II. den Franz wieder zu einem Bündnis veranlaßt hatte, das Königreich Ungarn, in das er neu erlich eingedrungen war. Er hatte Ofen erobert und nach dem Tod des von ihm geförderten Königs Johann Zapolya das Reich der Stephans krone zu einer türkischen Provinz gemacht. Unweit Wiens; der Haupt stadt König Ferdinands, verlief die Grenze des Islams, während die Christenheit sich nicht einigen konnte. Französische Münzen waren im Umlauf, die auf der einen Seite die königlichen Lilien, auf der an deren den türkischen Halbmond zeigten. Ihre Umschrift kam einem Leitspruch gleich: ›Non contra fidem, sed contra Carolum‹ – nicht ge gen den Glauben, sondern gegen Karl – als ob er, der unentwegte Ver 83
fechter des Glaubens, nicht nur der Feind der Ungläubigen, sondern auch der Gläubigen wäre … Noch einmal hatte Karl V. seine Feldherrnkunst und sein Glück zur See versucht. Er hatte einen Seekrieg gegen die türkische Flotte auf sich genommen, die der aus Tunis entflohene Chaireddin Barbarossa wieder befehligte. Aber als die überlegenen Kriegsschiffe Karls im Ha fen von Algier anlegen und das Heer an Land setzen wollten, brachen Stürme und Regenschauer aus, wie sie der greise Admiral der kaiserli chen Flotte, Andrea Doria, in fünfzig Jahren nicht erlebt hatte. Er siegte und wurde wieder besiegt. Auch als seine großen Feinde nicht mehr lebten, verringerten sich nicht die drohenden Gefahren. Der Protestantismus war nicht mit Luther gestorben, und mit Franz I. waren die Feindseligkeiten Frankreichs nicht begraben worden. Der neue König, Heinrich II, der mit Katharina von Medici, einer Nich te Papst Clemens VII. verheiratet war, begann die Fäden wieder anzu knüpfen, die der Kaiser gewaltsam zerrissen hatte. Was hatte es genützt, daß Karl mit der Zusage, daß er ›Einigkeit, Frieden und Recht im Reich‹ herstellen und ›Duldung in Glaubens sachen‹ üben wolle, den jungen protestantischen Herzog Moritz von Sachsen, dem er überdies die sächsische Kurwürde versprach, dazu be wogen hatte, in sein Lager überzugehen, und daß es ihm gelungen war, den Kurfürsten Johann Friedrich von Sachsen und den Landgrafen Philipp von Hessen, die Führer der Protestanten, mit der Hilfe Moritz' in der Schlacht von Mühlberg zu besiegen? Der Sieg der Waffen war kein Sieg, solange er nicht das Ziel des Kampfes, die Einigung im Glau ben, erreichte. Johann Friedrich von Sachsen und Philipp von Hes sen waren die Gefangenen des Kaisers. Konnte er sie freilassen, solan ge sie sich eigensinnig der Glaubenseinheit widersetzten? Karl verhan delte auf dem ›Geharnischten Reichstag‹ in Augsburg mit den Besieg ten über Reformen und Einigung, forderte aber die Wiederherstellung der katholischen Lehre und wollte den Protestanten nicht mehr als die Priesterehe und den Laienkelch zugestehen. Ein ›Interim‹ sollte in Gel tung sein, bis ein Reformkonzil, das der Papst einberufen sollte, die Mißstände der Kirche endgültig beseitigen würde. 84
Wenn dieses Konzil stattgefunden hätte und erfolgreich gewesen wäre, hätte die Wiederherstellung der Glaubenseinheit in der christ lichen Welt Kaiser Karl V. zum mächtigsten europäischen Herrscher aller Zeiten gemacht. Aber das Zustandekommen dieser großen Ver mittlung wurde sowohl vom Papst als auch von den deutschen Fürsten beider Bekenntnisse vereitelt, und entscheidend für den Mißerfolg war die Haltung Moritz' von Sachsen, den das Verbleiben spanischer und niederländischer Truppen, die Karl für den Kampf gegen die Schmal kaldischen Verbündeten nach Deutschland gerufen hatte, in Besorg nis versetzte und der sich getäuscht fühlte, weil Karl und sein Bruder Ferdinand, entgegen ihren Zusagen, wo immer sie konnten, gewaltsam gegen den lutherischen Glauben vorgingen, den er selbst nicht preis geben wollte. Die ›Libertät‹, die Selbständigkeit der deutschen Landes herren, stand auf dem Spiel. Moritz verbündete sich heimlich mit meh reren norddeutschen Fürsten gegen die ›viehische spanische Servitud‹ und sicherte sich die Hilfe König Heinrichs II. von Frankreich, dem er gegen die monatliche Zahlung von achtzigtausend Golddukaten Metz, Toul und Verdun zusagte. Noch eine andere Gefahr drohte Karl. Dreißig Jahre hatte Ferdin and von Habsburg nur als Schatten, als Stellvertreter des Kaisers, ge lebt. Die militärischen Berater des älteren Bruders hatten den Marsch tritt seiner Heere bestimmt. Die Kanzler des Königreichs Spanien hat ten den Inhalt und die Form der Urkunden vorgeschrieben, die Fer dinand als römischer König, als König von Ungarn und Böhmen, als Erzherzog von Österreich unterzeichnet hatte. Für Ferdinand war Karl die Verkörperung des höchsten Amtes auf Erden gewesen, bis zu dem Tag, an dem der Kaiser es unternahm, das künftige Verhältnis der spa nischen und der deutschen Linie der Habsburger zu regeln. Schuld an dem nie öffentlich gewordenen Zerwürfnis zwischen den Brüdern waren ihre Söhne: Philipp, der Infant von Spanien, und Ma ximilian, der Erzherzog von Österreich, der auch der Schwiegersohn Karls geworden war. Beide habsburgischen Prinzen beanspruchten noch zu Lebzeiten ihrer Väter, des Kaisers und seines erklärten Nach folgers, des römischen Königs, die Sicherung der Erbschaft der Kaiser 85
krone für sich. Dieser Zwiespalt zwischen Karl und Ferdinand gewann um so mehr Bedeutung, als die deutschen Kurfürsten sowohl die Räte des Kaisers als auch Ferdinand und Maximilian wissen ließen, daß sie, wenn sie schon einen Habsburger zum Kaiser haben mußten, ei nen von der österreichischen Linie, der unter ihnen und mit ihnen leb te, bei der Wahl vorziehen würden. Wenn die Kurfürsten in ihrer Ent scheidung nicht durch politische Beweggründe bestimmt gewesen wä ren, hätte sie doch die Personenfrage beeinflußt. Philipp hatte von sei nem Vater die eisige Zurückhaltung geerbt. Er galt als ein ›unbeugsa mer Streiter für den Glauben‹. Maximilian hingegen hielt mehr von der Lebenslust als vom Glauben. Er war gewöhnlich ausgezeichneter Laune, und allein der Widerwillen gegen seinen Vetter Philipp, den er unverhohlen zur Schau trug, gewann ihm die Zuneigung der deut schen Kurfürsten und Landesherren. Karl V. hatte auch Streitigkeiten mit Papst Paul III. der sich, besorgt um Belange des Hauses Farnese, dem König von Frankreich genähert hatte. Die Beziehung des Kaisers zum Heiligen Stuhl wurde nicht bes ser, als Paul plötzlich starb und Julius III. sein Nachfolger wurde. Denn der neue Papst hatte sich vor seiner Wahl Frankreich gegenüber durch eidliche Zusagen gebunden. Der schlimmste Schlag seines Lebens aber traf Karl zu einer Zeit, in der das Gerücht im Umlauf war, daß er die Absicht habe, sich die drei fache Krone des Papstes aufs Haupt zu setzen, um als geistlicher und weltlicher Oberherr der Christenheit Ruhe und Frieden auf Erden her beiführen zu können. Im Gegensatz zu diesem Gerücht berichtete da mals der englische Gesandte seinem Lordkanzler, Karl sei so alt und krank, daß er nur noch als ›ein Häuflein Medizin‹ bezeichnet werden könne. »Er hat ein Gesicht, so ungewohnt, irgendeine Bewegung des Herzens zu verraten, wie ich kein zweites gesehen habe. Da ist nichts an ihm, was spricht, außer der Zunge.« Ein Widerwillen sondergleichen gegen alles und jeden erfüllte Karl so sehr, daß seine Gleichgültigkeit zur Krankheit wurde. Die Ärzte rieten ihm, den Winter in der gesunden Bergluft Innsbrucks zu ver bringen, während seine Schwester Maria, die Witwe König Ludwigs 86
II. von Ungarn, ihn bestürmte, in Speyer Aufenthalt zu nehmen, um dem drohenden Aufruhr seines Reichsfeldherrn, Moritz von Sachsen, mit sicherer Rückendeckung begegnen zu können. Karl entschied sich für Innsbruck, auch um der Kirchenversammlung, die in Trient tagte, nahe zu sein. Er hielt es nicht für möglich, daß irgend jemand es wa gen würde, ihn anzugreifen. Erst als Moritz von Sachsen in Tirol ein gefallen war, kam der Kaiser zur Besinnung. Er entfloh ohne Truppen und Geld durch verborgene Alpentäler in das habsburgische Kärnten. Die Person des alten Kurfürsten Johann Friedrich von Sachsen, des in Freiheit gesetzten Gefangenen, der gegen Ehrenwort im Gefolge des Kaisers geblieben war, war das einzige Druckmittel, das er gegen Mo ritz anwenden konnte. Die sächsische Kurfürstenwürde stand auf dem Spiel. Moritz war bereit zu Friedensverhandlungen. Sie fanden unter dem Vorsitz König Ferdinands in Passau statt und führten zur Freilas sung des Landgrafen Philipp von Hessen und zur Aufhebung des um strittenen ›Interim‹ bis zur Einberufung eines Reichstags. Von Gichtanfällen gequält, so daß er nicht einmal mehr die Feder führen konnte und in einer Sänfte reisen mußte, unternahm es Karl, Metz, Toul und Verdun, die der König von Frankreich entsprechend dem Vertrag mit Moritz von Sachsen in Besitz genommen hatte, wie derzugewinnen. Es war ein vergebliches Unterfangen. Karl mußte die Belagerung von Metz aufheben. War sein Glücksstern untergegangen? Er zog sich in die Niederlande zurück, noch immer nicht willens, auf zugeben. Ein neuer Plan, viel gewaltiger als die ehrgeizigen Pläne sei nes Bruders Ferdinand, der sich brüstete, schon als römischer König ein besserer Herrscher zu sein als der römische Kaiser deutscher Na tion, bewegte Karl V. in dessen Reich die Sonne nicht untergegangen war. Er wollte es an seinem Lebensabend gewaltig erweitern. Sein Sohn Philipp sollte die Königin Maria von England heiraten, die Nachfolge rin des jungen Eduard VI. unter dessen kurzer Herrschaft die Episko palische Hochkirche, die in der Lehre protestantische, in der bischöf lichen Verfassung und in der Form des Gottesdienstes jedoch katholi sche ›High Church‹, gegründet worden war. An der Spitze einer prächtigen Gesandtschaft traf der Vertrauens 87
mann Karls, der niederländische Graf Egmont, in London ein, um den Ehevertrag für Philipp zu unterzeichnen. Die Verbindung ihrer Kö nigin mit dem Erben von Spanien wurde vom Volk nicht gern gese hen. Aber Maria Tudor bestand gegen alle Ratschläge auf dieser Hei rat, auch als aufständische protestantische Adelige, denen sich die rasch aufgebotenen Truppen anschlossen, in die Vorstädte Londons eindrangen. Maria weigerte sich, zu fliehen. Der Führer der Aufständi schen, Sir Thomas Wyatt, verlor seine Zeit in öffentlichen Kundgebun gen, während die Königin von allen Seiten neue Mannschaften auf bieten konnte. Sie verhinderte nicht, daß Sir Thomas in die City ein drang. Er und seine Gefolgsleute wurden umzingelt und gefangenge nommen. Ein furchtbares Blutgericht folgte, dem auch Thomas Cran mer, der Verfasser des ›Common Prayer Book‹, der Vorschriften des Gottesdienstes der High Church, zum Opfer fiel. Die grausamen Hin richtungen trugen Maria, die auch ›die Katholische‹ genannt wurde, den Beinamen ›die Blutige‹ ein. England war ein gefährlicher Boden für Philipp, der auf Grund des Ehevertrages von jedem Amt im Königreich seiner Frau ausgeschlos sen sein sollte. Er unternahm die Reise nur, um den Ehrgeiz seines Va ters nicht zu enttäuschen. Maria war elf Jahre älter als er. Überdies war sie vor der Zeit gealtert, kränklich, ernst und kurzsichtig. Ihr starrer finsterer Blick, ihre tiefe männliche Stimme erschreckten Philipp so sehr, daß er am liebsten gleich umgekehrt wäre. Er hatte seine erste Frau, Maria von Portugal, die ihm seinen Sohn Don Carlos geboren hatte, nicht vergessen. Er hätte viel lieber die reiz volle Isabella von Portugal zur Frau genommen als Maria, über die er dem Kaiser vorwurfsvoll schrieb: »Die Königin ist ein recht gutes Ding, aber älter, als man uns gesagt hat.« Philipp blieb widerstrebend in London, als Kämpfer des katholi schen Glaubens, um die alleinseligmachende Kirche wiederherzustel len. Tatsächlich wurden während seines Aufenthalts die Oberhoheit des Papstes in England erneuert und auch die ehemaligen, gegen den Protestantismus gerichteten Erlasse bestätigt. Das königliche Ehepaar scheute in Glaubensfragen vor keiner Gewalttat zurück. Dennoch war 88
das englische Parlament bereit, Philipp mit der Regentschaft zu betrau en, als bekannt wurde, daß die Königin Nachkommenschaft erwarte. Öffentliche Freudenbezeugungen fanden statt. Aber als sich heraus stellte, daß die Schwangerschaft Marias nur Wassersucht war und die Ärzte erklärten, daß sie nie in der Lage sein würde, einen Erben zu ge bären, entschloß sich Philipp, der Ehe und England den Rücken zu kehren, um so mehr, als das Parlament sich von vornherein grundsätz lich weigerte, ihn nach dem etwaigen erbenlosen Ableben Marias als König von England anzuerkennen. Trotz allen Zuredens seines kaiserlichen Vaters, dem zuliebe er sich den englischen Sitten angepaßt hatte, verließ Philipp seine Frau, die sich aus Verzweiflung über seine Untreue leidenschaftlicher Frömmig keit ergab und durch ihren Beschluß, der Kirche die von der Krone eingezogenen Klostergüter zurückzugeben, einen Aufstand der Prote stanten heraufbeschwor, die fürchteten, daß sie gezwungen sein wür den, das gleiche zu tun. Mehr als vierzigtausend englische Familien fühlten sich durch die ›katholische‹ Maria in ihrem Besitz bedroht. X Beinahe vier Jahrzehnte hatte die Witwe Philipps des Schönen, die Stammutter des Hauses Habsburg in der Neuzeit, ihren so früh ver storbenen Gatten in geistiger Umnachtung überlebt. Jetzt erschütterte die Nachricht vom Tod Johannas der Wahnsinnigen ihren Sohn Karl, der immer häufiger von schwermütigen Anfällen heimgesucht wur de, so sehr, daß er sich von den Regierungsgeschäften zurückziehen wollte. Er hätte es am liebsten ohne Umschweife getan – gleich nach der fluchtartigen Rückkehr Philipps von England nach Brüssel. Der Traum des Kaisers, daß er der Herrscher aller Herrscher würde sein können, war endgültig zerronnen. Aber er wollte doch noch eines, be vor er abtrat: den Frieden. Wenn sein Sohn Philipp eine französische Prinzessin zur Frau nahm, konnten die engen Familienbeziehungen 89
eine Bürgschaft bedeuten. Elisabeth von Valois war noch unverheira tet, und nach menschlicher Voraussicht würde Maria die Katholische von England nicht mehr lange am Leben bleiben. Philipp würde Wit wer sein, eine neue Ehe eingehen und Frieden mit Frankreich halten können. Ebenso wichtig erschien Karl die Sicherung des Friedens im deutschen Reich, in dem ihn sein Bruder als römischer König vertrat. Ferdinand sollte das Haus in Ordnung bringen, ehe er selbst es ihm endgültig überließ. Das war nur durch eine Einigung mit den prote stantischen Landesherren und Städten des deutschen Reiches möglich. Der einzige Widersacher, der Karl wirklich gedemütigt hatte, Moritz von Sachsen, war in einem siegreichen Gefecht gegen den Markgra fen von Brandenburg, »den größten und schamlosesten Friedbrecher des Jahrhunderts«, gefallen. Der alternde Kaiser hatte keinen persönli chen Streit mehr auszutragen. Er wollte auch auf dem Reichstag nicht anwesend sein, den einzuberufen er seinen Bruder veranlaßte, um die Gleichberechtigung des katholischen und des lutherischen Glaubens bekenntnisses anzuerkennen. Er ließ sich über die Fortschritte berich ten. Es war nicht leicht, die einander widersprechenden Belange der Glaubensfeinde unter einen Hut zu bringen und in einer Urkunde fest zuhalten. Schließlich konnten die Hauptbestimmungen des ›Augsbur ger Religionsfriedens‹ verkündet werden, die die Protestanten wie die Katholiken sowohl als Sieg als auch als Niederlage empfanden. Sie lau teten: Die Reichsstände (Obrigkeiten) durften katholisch oder evan gelisch-lutherisch sein. Kein Reichsstand sollte künftig wegen seines Glaubens bekriegt werden. In den Reichsstädten durften die Bürger ihren jeweiligen Glauben frei beibehalten. In den Ländern aber gab das Bekenntnis der Landesherren den Ausschlag. Der Rechtssatz ›Cui us regio, eius religio‹ – wessen Gebiet, dessen Glaube – wurde maßge bend. Es wurde auch festgelegt, daß die andersgläubigen Untertanen des Herrschers auswandern, aber nicht zur Annahme des landesherr lichen Bekenntnisses gezwungen werden dürften. In den habsburgi schen Erblanden allerdings war dieser Zwang erlaubt. Als besonderen Erfolg rechnete sich Ferdinand den ›geistlichen Vor behalt‹ an. Es bedeutete, daß ein Kirchenfürst, der sein Bekenntnis 90
wechselte, alle Kirchengüter verlieren sollte. Daß die Protestanten da gegen Einspruch erhoben, da der ›geistliche Vorbehalt‹ dem Grund satz ›Cuius regio, eius religio‹ widersprach, nützte nichts. Sie erreich ten nur, daß sie die Kirchengüter, die sie schon hatten, behalten durf ten, mit der Einschränkung, daß die früheren Besitzer, falls sie katho lisch waren, die Einkünfte erhalten sollten – allerdings ohne Erbrecht.
Der Augsburger Religionsfrieden war im Grunde nur ein Waffenstill stand, um so mehr, als er sich, abgesehen von den offen gebliebenen Streitfragen, auf die Anhänger des ›Augsburger Bekenntnisses‹ be schränkte und alle anderen reformierten Bekenner, wie die Calvini sten, in die friedliche Duldung nicht einbezog. Aber Karl V. gab sich mit dem Ergebnis zufrieden. Er konnte den Schein für die Wirklich keit gelten lassen und erklären, daß er das Ziel seiner Jugend, den Frie den, im Alter erreicht hatte. Um sich selbst und der Mitwelt zu beweisen, daß er in seinem lan gen kriegerischen Leben nichts anderes und nicht mehr gewollt hat te, dankte er feierlich ab. Die Kronen Spaniens, das Königreich bei der Sizilien, das Herzogtum Mailand, die Niederlande und die gewal tigen überseeischen Besitzungen, deren Ausmaße sich in seiner Vor stellung nach den Goldladungen richteten, die sie lieferten, kamen an seinen Sohn Philipp II. Es war ein Weltreich, mit dem sich der Sohn Karls V. durchaus nicht zufriedengab, denn Ferdinand I. wurde Kaiser und Maximilian II. römischer König und Erbe der Kronen von Böh men und Ungarn und der österreichischen Länder. Karl V. zog sich in das spanische Kloster San Yuste zurück, um sei nen Lebensabend in gottgefälliger Abgeschiedenheit und Ruhe zu ver bringen. Er war nicht mehr der Herr der Welt, der Erdkreis lag ihm nicht mehr zu Füßen, aber er hatte von seinem Standpunkt aus den höchsten irdischen Sieg errungen: er hatte sich selbst überwunden. Als der Kaiser, der die Ausführung seines Letzten Willens noch zu seinen Lebzeiten überwacht hatte, starb, waren weder sein Sohn noch 91
sein Bruder und dessen Sohn die wirklichen Erben seiner Macht. Die tatsächliche Herrschaft der Königreiche Philipps, die er zu beherrschen glaubte, übernahmen die bescheidenen, in schwarze Kutten gekleide ten Brüder der ›Gesellschaft Jesu‹. Aber auch Zepter und Reichsapfel, die Sinnbilder der Macht des Kaisers des Römischen Reiches Deut scher Nation, wurden immer wertloser für den, der sie besaß. Den deutschen Landesherren und Fürsten galt die mit wunderbaren Stei nen geschmückte Krone kaum mehr als ein Scheinrecht, und der Rek tor des neu errichteten Kollegiums der Jesuiten in Wien, der kaiserli chen Hauptstadt, konnte dem General seines Ordens über seine Erfol ge beim künftigen Kaiser berichten: »Mit unserem Pater Stephan ver kehrt Maximilian ganz vertraulich. In den wichtigsten Anliegen erbit tet und empfängt er Rat von ihm. Der Fürst ist uns sehr zugetan. Alles, was Pater Stephan ihm vorschlägt, führt er mit größter Freude aus.«
Die Verfolgten
Der Grundsatz ›Cuius regio, eius religio‹ führte zu einer Stärkung der Staatsgewalt, in den protestantischen wie auch in den katholischen Ländern. Der Glaube wurde da und dort immer mehr zum weltlichen Machtmittel, das je nach dem Belieben des Herrschers Anwendung fand. Das kam besonders zum Ausdruck in den Herrschaftsgebieten König Philipps II. der die ›Inquisition‹ zur staatlichen Einrichtung machte. Wer nicht katholisch war, galt nicht nur nicht als gleichbe rechtigter Mensch, sondern als Verbrecher, der grausam verfolgt wer den mußte. Jede, auch die mindeste, Abweichung vom Glauben der al leinseligmachenden Kirche wurde furchtbar gesühnt. Der Verdacht al lein führte zur Folter. Das Angebertum hatte seine große Zeit. Wer sei nen Nachbarn eines Vergehens gegen die Kirche beschuldigte, konnte einer Belohnung gewiß sein, und selbst der geringste Hinweis auf ehe 92
mals volkstümliche Bräuche reichte aus, Unschuldige zu Ketzern und Hexen zu stempeln. Abergläubische Gewohnheiten wurden als Verbre chen geahndet. Die unversöhnliche Engstirnigkeit der von der Inqui sition eingesetzten und unaufhörlich selbst von ihr bedrohten Richter und Behörden begnügte sich mit keiner Sühne, die nicht die Vernich tung des Verdächtigten oder Beschuldigten mit sich brachte. Die mit dem Schein des Rechts ausgestattete Schreckensherrschaft der Unduldsamkeit hatte in den katholisch beherrschten Gebieten zahllose Menschenopfer zur Folge, während sich in den protestanti schen Ländern ein immer stärkeres Bedürfnis des einzelnen Menschen entwickelte, seine Entscheidung über sein Glaubensbekenntnis nach eigenem Ermessen zu fällen. Die Anhänger des lutherischen Glaubens neigten dazu, den Schutz ihrer Überzeugung in gläubigem Vertrauen dem herrn zu überlassen und jede Unterdrückung um des Glaubens willen als eine Prüfung Gottes zu betrachten. Die Calvinisten jedoch fühlten sich als ›Kämpfer für Gottes Sache‹ berufen. Sie waren nicht bereit, sich widerstandslos zu beugen und friedlich zu ergeben. Der durch den Glauben und die Unterdrückung hervorgerufene Zwiespalt der Bevölkerung äußerte sich in den verschiedenen Ländern unterschiedlich. Je nach dem Widerstand der Verfolgten als einzelne oder als Gesamtheit kam es zu kleineren oder größeren Aufständen, zu vereinzelten oder weitausgreifenden Blutgerichten. Die erschüttern den Schicksale der Männer und Frauen in den ersten Jahrzehnten der Reformation wurden von Charles de Coster in seinem Roman ›Ulen spiegel‹ festgehalten. Wenn sich auch der Schauplatz der unmittelba ren Handlung des ›Ulenspiegel‹ nur auf die Niederlande erstreckt, ist doch die menschliche Haltung der handelnden Personen kennzeich nend für das Geschehen in dieser Zeit in ganz Europa.
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Ulenspiegel
von Charles de Coster
I
Klas, der Vater Tylls, wurde in der Stadt Damme in Flandern ›Der Koh lenträger‹ genannt. Er war klein, aber vierschrötig und kräftig und hat te ein lustiges Gesicht. Er war überall beliebt, und wenn er nach dem Tagewerk in die Schenke ging, begrüßten ihn alle Frauen, denen er be gegnete. »Guten Abend«, riefen sie. »Und süffiges Bier, Kohlenträger.« »Guten Abend«, erwiderte Klas lachend. »Das wünsche ich auch dir und dir und dazu einen wachsamen Mann.« Die Mädchen, die von den Feldern heimkehrten, hielten ihn spiele risch auf: »Was zahlst du als Wegzoll?« fragten sie. »Ein scharlachro tes Band, eine goldene Schnalle, Samtschuhe oder einen Gulden in die Gürteltasche?« Klas faßte die mutwilligste Wegelagerin um die Hüfte und küßte sie auf Wangen und Hals: »Das zahle ich«, flüsterte er fröhlich. »Und den Rest, ihr Schätzchen, den fordert von eurem Liebsten.« Klas hatte seinen eigenen Zoll zu entrichten. Er liebte seine Frau Soetkin. Sie war frisch wie der Morgen und emsig wie eine Amei se. Gemeinsam mit ihr bestellte er das Feld. Sie spannten sich gleich Ochsen vor den Pflug und zogen die schwere Egge. Sie taten es gu ten Mutes und sangen dabei. Und ob sie auch ihre Lenden anstreng ten, wenn sie den Pflug und die Egge schleppten – sobald sie still hielten, küßte Klas das sanfte Gesicht Soetkins, diesen Spiegel einer zärtlichen Seele. Und wenn es der Frau schwer ums Herz wurde, weil nicht ein elender Heller im Hause war, wog Klas den leeren Beutel in der hohlen Hand: »Was sorgst du dich? Haben wir nicht ein gro ßes Stück Rindfleisch und einen fetten Kuchen im Schrank? Spricht der Sack mit Bohnen dort in der Ecke von einer Hungersnot? Ist die ser vollgestrichene Model mit Butter am Ende ein Hirngespinst? Und 95
verheißt uns nicht das brave Faß mit Brügger Knytbier erfrischen den Trunk?« Am Tag, bevor Tyll auf die Welt kam, wurde am Stadthaus von Dam me ausgerufen, daß die Bürger und Bürgerinnen beten sollten für die schwangere Gemahlin Kaiser Karls, damit Ihre Majestät bald nieder käme. Solche Gebete waren nicht nötig für Soetkin. Tyll war mit einemmal da. Katheline, die Hebamme, wickelte ihn in Windeln. »Glückshaube, unter gutem Stern geboren«, stellte sie munter fest und wies auf den Haarschopf des Kindes. Doch als sie ein schwarzes Pünktchen auf der winzigen Schulter sah, jammerte sie: »Wehe! Das ist das Mal vom Teufelsfinger!« Sie legte Tyll in die Hände seines Vaters und verließ eilig die Kü che. Klas öffnete das Fenster und beugte sich über seinen Sohn: »Du Glückskind, schau, da geht Frau Sonne auf, das Land Flandern zu grü ßen. Betrachte sie, wann immer du nur kannst. Und so du einmal nicht weißt, wie du handeln sollst, frage Frau Sonne um Rat. Sei aufrichtig, wie sie licht ist, und gut, wie sie warm ist!« »Du predigst einem Tauben, Klas, Mann«, sagte Soetkin und bot dem Neugeborenen ihre schönen Naturflaschen: »Trinke, mein Sohn!« Tyll sog mit Lust. Am ganzen Leib zitternd, kam Katheline am nächsten Morgen wie der. »Was ficht dich an, Gevatterin?« fragte Klas besorgt. »Diese Nacht –« Katheline sprach in abgerissenen Sätzen, wie gei stesabwesend, wenn sie von ihren Träumen erzählte. Sie stand deshalb auch im Ruf einer Zauberin: »Diese Nacht, diese Nacht«, wiederholte sie, »Geister mähten die Menschen wie Schnitter das Gras – Mädchen wurden lebendig begraben. Der Stein, der seit neun Monden Blut ge schwitzt hat, zersprang in dieser Nacht … zwei Kindlein wurden gebo ren, eines in Hispanien, das ist das kaiserliche Kind, der Infant Philipp, das andere in Flandern, das ist Tyll, Klasens Sohn. Philipp wird ein Henker werden, denn er ist gezeugt von Karl dem Fünften, dem Mör der von Flandern. Tyll wird ein großer Meister in lustigen Reden und 96
Bubenstreichen sein. Er wird ein gutes Herz haben, denn er hat Klas zum Vater, einen wackeren Arbeitsmann. Philipp wird hoch zu Roß durchs Leben reiten und mit Schlachten, Erpressungen und anderen Verbrechen Unheil anrichten. Tyll wird Bauer, Edelmann, Maler und Bildhauer sein. Er wird die Welt durchwandern, gute und schöne Din ge loben und der Dummheit spotten …«
Als Tyll zur Taufe getragen wurde, fiel ein Platzregen, der ihn durch näßte. So wurde er zum ersten Male getauft. In der Kirche befahl der Küster den glücklichen Eltern und den Paten, sich um das Taufbecken zu stellen. Darüber hatte ein Maurer ein Loch gemacht, um eine Lam pe aufzuhängen. Als der Maurer aus seiner Höhe die Eltern des Täuf lings und seine Paten stocksteif stehen sah, packte ihn der Übermut. Er entleerte seinen Eimer durch das Loch, das er aufgestemmt hatte. Wasser spritzte auf den Deckel des Taufbeckens. Die versprühenden Tropfen trafen Tyll, der so zum zweiten Male getauft wurde. Endlich kam der Dechant. Aber anstatt Seiner Hochwürden zu sa gen, auf welchen Namen ihr Sohn getauft werden sollte, führten Klas und Soetkin Klage über den Maurer, und das Kind zappelte noch hef tiger in den Windeln, da es auch von oben naß geworden war. Der Priester gab ihm rasch Salz und Wasser und nannte ihn Thylbert, das heißt ›Der Bewegliche‹. Nach dieser dritten Taufe verließen die Eltern und Paten Tylls die Frauenkirche. Sie gingen in die Lange Gasse und kehrten in den ›Rosenkranz der Flaschen‹ ein. Dort tranken sie sieb zehn Kannen Doppelbier und noch mehr. Das wurde die vierte Tau fe Tylls. Als sie aber heimtaumelten und ihr Kopf schwerer war als ihr Kör per, kamen sie an einen Steg, der über einen Pfuhl führte. Katheline, die das Kind trug, stolperte und fiel mit ihm in die Lache. Nach dieser fünften Taufe im Pfuhl wurde Tyll im Elternhaus gewaschen. Und das war seine sechste Taufe. 97
So von allem Anfang an reichlich begossen, wuchs Tyll wie eine jun ge Pappel heran. Seinem Vater machte es Spaß, ihm eine Klapper von Weidengeflecht mit Schellen in die Händchen zu legen. Klas lachte dazu: »Klinglingling! Steck dir die Glöcklein an deine Kappe, kleiner Mann, denn den Narren gehört die Welt!« Auch Tyll lachte. Der Kohlenträger küßte seinen Sohn bald nicht mehr so oft, sondern gab seiner Liebe Ausdruck auf derbere Weise, damit der Junge nicht weichlich würde. Wenn Tyll auf der Straße gespielt hatte und dann Klage führte, daß er im Streit von seinen Freunden durchgebleut wor den wäre, schlug auch Klas ihn. Das war die Strafe dafür, daß er die anderen nicht geschlagen hatte. So erzogen, wurde Tyll kühn wie ein junger Löwe. Aber seine Mutter verzog ihn doch. Wenn der Vater nicht daheim war, war der Sohn König im Hause. Eines Morgens beobachtete Soetkin, wie Klas in der Küche gesenk ten Hauptes hin und her ging. »Was plagt dich, Mann?« fragte sie. »Du bist blaß, erzürnt und zerstreut.« »Sie wollen die grausamen Edikte des Kaisers erneuern«, erwiderte Tylls Vater. »Den Angebern von Ketzern wird die Hälfte von der Habe der Opfer versprochen.« Besorgt setzte er hinzu: »Wir sind zwar arm, aber doch nicht arm genug. Es gibt schlechte Menschen, die uns ger ne verleumden würden, um mit Seiner Heiligen Majestät einen Korb Kohlen wie einen Sack Karolustaler zu teilen. Das Leben in Flandern ist nicht mehr lebenswert. Bald wird der Karren des Todes durch die Städte rollen, und wir werden hören, wie das Gerippe darin mit den Knochen klappert.« »Du darfst mir nicht Angst machen, Mann!« gab Soetkin zurück. »Der Kaiser ist der Vater von Flandern und Brabant und als solcher voll Geduld, Sanftmut und Barmherzigkeit.«
Es geschah nicht so, wie Soetkin es gehofft, sondern so wie Klas es be fürchtet hatte. Die Trompeten der Herolde riefen die Bürger von Dam 98
me zusammen. Klas und Soetkin nahmen Tyll abwechselnd auf den Arm und eilten den Klängen nach, bis vor das Stadthaus. Dort sahen sie – hoch zu Roß – den Profos, der die Gerichtsrute hochhielt, und den Amtmann, der eine kaiserliche Verordnung vor der Menge schwenkte und sich anschickte, sie laut vorzulesen. Da konnte hören, wer es wollte oder nicht, daß es wieder für alle im allgemeinen und im besonderen verboten sei, zu drucken, zu lesen, zu haben oder zu unterstützen die Schriften, Bücher und Lehren von Martin Luther, Johann Wycliff, Johannes Hus, Ulrich Zwingli, Philip pus Melanchthon und anderer, desgleichen die ›Neuen Testamente‹, gedruckt von Adrian de Berghes, Christoph de Remonda und Johan nes Zel, die, voll lutherischer und anderer Ketzereien, auch von der Theologischen Fakultät der Universität Löwen verworfen und ver dammt waren. Der Amtmann verkündete schreiend: »Es ist verboten, auszulöschen die Bilder oder Malereien, die zur Ehre Gottes und der Jungfrau Maria oder der von der Kirche anerkannten Heiligen gemacht sind. Keiner, der nicht ein wohlbeleumdeter und von einer Universität anerkann ter Theologe ist, darf sich unterfangen, die Heilige Schrift mitzuteilen, noch darüber zu disputieren.« »Darauf steht Strafe, Strafe, Strafe!« schrie er in die Menge und er klärte, daß Seine Heilige Majestät verbiete, daß die solcher Übelta ten sogar nur Verdächtigen ein ehrliches Gewerbe ausüben dürften. Die aber, welche in ihrem Irrtum beharrten, sollten verurteilt werden, bei langsamem oder raschem Feuer verbrannt zu werden. So sie ade lig oder gute Bürger waren, sollten sie durch das Schwert hingerichtet werden, die Bauern am Galgen, die Frauen in der Grube. Ihre Köpfe sollten zur Warnung auf Pfähle gespießt und ihre Güter zugunsten des Kaisers eingezogen werden. Der Amtmann hob die kaiserliche Verordnung hoch: »Seine Heilige Majestät belohnt auch!« las er mit gnädiger Stimme. »Der gütige Kai ser gewährt den Angebern die Hälfte aller Habe der Gerichteten …«
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Das von solch Drohung und blutiger Verfolgung heimgesuchte Flan dern erschien Klas nicht mehr wie eine Heimat. Er hatte ein gutes Jahr hinter sich. Er kaufte für sieben Gulden einen Esel und neun Schef fel Erbsen und befahl Tyll, aufzusitzen. Klas wollte seinen Bruder be suchen, der nicht ferne von der Stadt Meyborg in Deutschland wohn te. Jobst war in seiner Jugend schlichten und sanften Sinnes gewesen. Aber es hieß, daß er grämlich geworden sei, nachdem er viel Unbill er duldet hatte. Mehr wußte Klas von ihm nicht, als er ausritt. Im Weichbild von Meyborg machte er vor einer Kapelle halt. Auf ih rem Giebel ragte ein Bild Unserer Lieben Frau empor. Zu ihren Fü ßen lagen zwei steinerne Stiere. Auf den Stufen, die in das kleine Got teshaus führten, stand ein Einsiedler neben einer bronzenen Glocke. Burschen mit brennenden Kerzen hatten hinter ihm Aufstellung ge nommen. Tausende von Pilgern zogen an der Kapelle vorbei und lie ßen ihre Stöcke aus grünem Holz segnen. Jeder Pilger erhielt eine Ker ze von den Burschen und zahlte dem Einsiedler einen halben Gulden. Plötzlich klang die Glocke auf und die Instrumente von Spielleuten, die sich hinter den Burschen verborgen hatten. Diese Musik war das Zeichen für die Pilger. Sie drehten sich um, stellten sich in Rotten von sieben gegeneinander auf und bedrohten zur Herausforderung ihre Gesichter mit den brennenden Kerzen. Sie schlugen aufeinander los mit Füßen, Händen, den grünen Stöcken und allem, dessen sie habhaft werden konnten. Manche von ihnen stürzten sich wie Widder auf ihre Gegner mit dem Kopf voran. Der Einsiedler rief den hemmungslos Kämpfenden zu: »Mut, Freun de! Wer gut trifft, der liebt besser. Den besten Schlägern lacht die Lie be ihrer Schönen!« Die Pilger schlugen in sinnloser Wut und nach Herzenslust aufeinan der los, während Klas sich dem Einsiedler näherte und fragte: »From mer Vater, was haben diese armen Schelme verbrochen, daß sie einan der so unbarmherzig durchprügeln müssen?« Der Einsiedler schien Klas nicht zu hören und fuhr in seiner Auf munterung fort: »Faulenzer!« rief er den Kämpfenden zu. »Habt ihr keinen Mut mehr? Wenn die Fäuste auch ermüden, bleiben euch nicht 100
die Füße? Was denn belebt die Manneskraft besser als eine gute Tracht Prügel?« Endlich ließ er die Glocke wieder erklingen, und das war das Zei chen zum Frieden. Auch die Instrumente der Spielleute verstummten und die Pilger lasen ihre Verwundeten auf. Der Einsiedler gebot ihnen: »Sprecht ein Ave und kehrt heim zu eu ren Weibern. In neun Monaten wird es um so viel mehr Kinder geben, als es heute wackere Streiter in der Schlacht gegeben hat.« Er sang das Ave, die Pilger stimmten ein, die Glocke klang mit. Dann segnete er die Versammelten und sprach: »Gehet in Frieden!« Die Pilger zogen mit Schreien und Singen nach Meyborg. Alle Wei ber der Stadt, alt und jung, harrten ihrer auf der Schwelle der Häuser. Die Glocken läuteten freudig und der Wein floß in Strömen. Klas, der all dies beobachtet hatte, war noch neugieriger geworden. Er fragte den Einsiedler, welche Gnade des Himmels diese braven Kämpfer durch solch hartes Werk zu erlangen gedächten. »Du siehst vor dieser Kapelle zwei steinerne Stiere«, erwiderte der Einsiedler. »Sie sind zum Gedächtnis an das Wunder errichtet worden, das der heilige Martin tat, als er zwei Ochsen in Stiere verwandelte – dadurch, daß er sie mit den Hörnern aufeinanderstoßen ließ. Dann schlug er ihnen mit einer Kerze und mit grünem Holz auf die Mäuler. Da ich um dieses Wunder wußte, beschaffte ich mir für teures Geld eine Erlaubnis Seiner Heiligkeit des Papstes und ließ mich hier nieder. Ich überredete alle alten Huster und Schmerbäuche von Meyborg, daß sie sich Unsere Liebe Frau –« er wies auf die Statue der heiligen Ma ria, »und ihre lieben Frauen im Schlafgemach geneigt machen würden, wenn sie sich mit der Kerze, welche die Salbung ist, und dem Stock, welcher die Kraft ist, weidlich verprügelten. Mein Tun war gottesge fällig. Es hat Meyborg Segen gebracht. Die Weiber schicken ihre ver sagenden Männer hierher. Und die Kinder, die nach dieser Wallfahrt zur Welt kommen, sind kühn und behend und werden vollkommene Kriegsleute.« Klas hatte den Blick nicht von den lächelnden Lippen des Erzählenden gewendet. Plötzlich fragte ihn der Einsiedler: »Erkennst du mich?« 101
»Ja«, sagte Klas zögernd. »Bist du nicht mein Bruder Jobst?« »Der bin ich«, erwiderte der Einsiedler und fragte: »Wer ist dieser Dreikäsehoch, der mir Fratzen schneidet?« »Das ist dein Neffe«, gab Klas zurück. Tyll lauschte aufmerksam, was die beiden so verschiedenen Brüder miteinander sprachen. »Welchen Unterschied findest du zwischen mir und Kaiser Karl?« fragte der Einsiedler. »Einen großen«, erwiderte Klas. »Einen kleinen«, widersprach Jobst, »der Kaiser läßt die Menschen einander umbringen, und ich lasse sie einander schlagen. Wir tun das beide zu unserem Nutzen und Kurzweil.« Mit diesen Worten führte Jobst seinen Bruder und Neffen in sei ne Einsiedelei und bewirtete sie mit einem köstlichen Gelage elf Tage, ohne auszuruhen. War das abergläubische, heuchlerische Treiben nicht ebenso schlimm in Meyborg wie in Damme? Klas hatte Sehnsucht nach zu Hause. Er nahm Abschied von seinem Bruder, bestieg wieder seinen Esel und nahm Tyll hinten auf. Als sie durch Lüttich kamen, erfuhren sie, daß die armen Leute vom Rivage großen Hunger litten und sich empört hätten, um Brot und weltliche Richter statt des geistlichen Gerichts zu bekommen. Viele waren enthauptet oder gehängt worden und die anderen des Landes verwiesen. Auf dem Weg trafen Klas und Tyll die Verbannten, die aus dem lieb lichen Tal von Lüttich flohen. An den Bäumen vor der Stadt hingen die Leichen derer, die wegen ihrer Empörung gegen den Hunger gehenkt worden waren. Klas weinte über sie. Tyll sah sich mit erstaunten Augen erschreckt um. Sie eilten besorgt nach Hause.
Klas hatte allen Grund zur Eile, denn Soetkin trug das Zeichen neu er Mutterschaft unter dem Gürtel. Auch Katheline, die Hebamme, war 102
schwanger. Aber sie war noch viel mehr in Sorge als die Frau des Koh lenträgers. Sie klagte: »Was soll ich mit der armen Frucht meines Leibes tun? Soll ich sie ersticken? Lieber will ich sterben. Wenn mich aber die Hä scher ergreifen, da ich ein Kind erwarte und nicht verheiratet bin, wer den sie mich wie eine Dirne zur Zahlung von zwanzig Gulden verur teilen und mich überdies noch auf dem Markte auspeitschen.« Soetkin rührte die Not ihrer Gevatterin. Sie fragte Klas gleich nach ihrer innigen Begrüßung: »Würdest du mich schlagen, Mann, wenn ich anstatt eines Kindes zwei hätte?« »Ich weiß, daß das nicht der Fall ist«, erwiderte Klas. »Wenn es aber doch so wäre und das zweite nicht aus meinem Schoß käme, wenn es wie Kathelines Kind von einem Unbekannten gezeugt wäre?« Klas bat sie, doch keine Umschweife zu machen. Er sagte: »Ich werde Kathelines Kind wie das meine halten.« Soetkin und Katheline brachten, die eine einen Knaben, die andere ein Mädchen zur Welt, und beide trug Klas als Sohn und Tochter zur Taufe. Soetkins Sohn wurde Hans benannt und starb bald. Kathelines Tochter hieß Nele und gedieh. Sie trank den Lebenssaft aus vier Fla schen, den beiden von Katheline und den beiden von Soetkin. Und die Frauen stritten sanft miteinander, welche von ihnen dem Kind zu trin ken gäbe. Doch Katheline mußte ihre Milch versiegen lassen, damit niemand sie fragte, woher denn die Milch käme, ohne daß sie Mutter geworden war. Als die kleine Nele entwöhnt war, nahm Katheline sie zu sich und ließ sie nicht eher zu Soetkin, als bis sie sie selbst Mutter genannt hat te. Die Nachbarn aber sagten, es sei gut von Katheline, die begütert war, daß sie die Tochter der armen Klasens ernährte, die doch keine Zeit für ihre Kinder hätten, da sie der Arbeit lebten. Der kleine Tyll war oft allein zu Hause, und da ihm nichts Besseres einfiel, schnitzelte er an einem Schuh seines Vaters, um ein Schifflein daraus zu machen. Schon hatte er den Hauptmast in der Sohle aufge 103
richtet und das Oberleder durchbohrt, um das Bugspriet einzulassen, da sah er durch die Türe, deren obere Hälfte offenstand, den Leib eines Reiters und den Kopf eines Pferdes. »Ist wer drin?« fragte der Reiter. »Anderthalb Mann und ein Pferdekopf«, antwortete Tyll. »Wie das?« »Weil ich hier einen ganzen Mann sehe – das bin ich, einen halben Mann – das ist dein Oberkörper, und einen Pferdekopf – das ist der deines Gaules«, lachte der Junge. »Wo sind dein Vater und deine Mutter?« Tyll antwortete: »Mein Vater ist gegangen, das Böse böser zu ma chen, und meine Mutter ist gerade dabei, uns Schande oder Schaden zu machen.« »Erkläre das!« befahl der Reiter. »Mein Vater gräbt die Löcher in seinem Feld tiefer, damit die Jäger, die das Korn zerstampfen, zu Fall und Schaden kommen. Meine Mut ter ist gegangen, Geld zu leihen. Gibt sie zuwenig zurück, so ist es eine Schande für uns, und gibt sie zuviel, so wird es unser Schaden sein.« Dann fragte ihn der Mann, wohin er reiten müsse, um den Weg nach Heyst zu finden. »Dort wo die Gänse gehen«, erwiderte Tyll. Nach einer kleinen Weile kam der Reiter zurück und schimpfte: »Du hast mich gefoppt. Dort wo die Gänse sind, ist nur Schlamm und Sumpf, in dem sie herumpatschen!« »Ich habe dir nicht gesagt, daß du hinreiten sollst, wo die Gänse pat schen, sondern wo sie gehen.« »Zeige mir doch den Weg, der nach Heyst geht!« forderte der Reiter ärgerlich. »In Flandern gehen die Fußgänger und nicht die Wege«, erwider te Tyll.
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Eines Tages sprach Soetkin zu Klas: »Mann, mir blutet das Herz. Nun sind es drei Tage, daß Tyll von zu Hause fort ist. Weißt du nicht, wo er sein könnte?« »Wo die lungernden Hunde sind, auf irgendeiner Landstraße mit Taugenichtsen seiner Art. Als Tyll geboren wurde, sah ich in ihm die Freude unserer alten Tage. Ich hatte die Absicht, einen Handwerker aus ihm zu machen, und das böse Schicksal macht ihn zum Schelm und Tagedieb!« »Sei nicht so hart, Mann«, bat Soetkin. »Till ist erst neun Jahre alt. Ich weiß wohl, er ist ein Schalk, aber seine Schalkheit wird ihm einmal zum Nutzen gereichen, wenn er sie nicht zu Bubenstreichen, sondern zu einem nützlichen Handwerk gebraucht. Wenn er läuft, so tut er es, weil er wachsen muß. Wenn er faulenzt und zuweilen eine halbe Wo che ausbleibt, so weiß er nicht, wieviel Schmerz er uns zufügt. Er hat ein gutes Herz und liebt uns.« Am unruhigsten war Tyll in den Monaten Mai und Juni. Klas hat te aus Binsen, Stroh und geflochtenem Heu Bienenkörbe verfertigt. Es gab so viele Blüten in Flandern, und die Bienen vermehrten sich so, daß ihre Königinnen neue Unterkunft suchten. In einem der Bie nenstöcke, der schon mit erlesenen Honigwaben gefüllt war, um die schwärmenden Bienen anzulocken, hatte sich Tyll eines Nachts vor der Kühle geflüchtet und blickte zusammengekauert durch die Fluglöcher in den ausgestirnten Himmel. Er beobachtete zwei Strolche, die lange Haare und Barte trugen und von Korb zu Korb gingen. Vor dem, in dem Tyll saß, blieben sie stehen, hoben ihn auf und sag ten: »Diesen wollen wir nehmen, es ist der schwerste.« Tyll fand keine Freude daran, im Bienenkorb zu reisen. Die Diebe hielten alle fünfzig Schritte atemlos an, dann eilten sie weiter. Der vor dere brummte voll Wut, daß er eine so schwere Last tragen müsse. Der hinten ging jammerte schwermütig. Tyll zauste den vorderen Dieb an den Haaren und den hinteren am Bart. »Hör auf, mich an den Haaren zu raufen, oder ich schlage dir mit der Faust auf den Kopf, daß er dir in die Brust fährt«, schrie der Wütende. 105
»Du bist es, der mich am Bart zupft«, gab der andere zurück. »Ich jage kein Ungeziefer im Bart eines Strolches.« Tyll bewegte sich hin und her. »Laß den Korb nicht so schwanken! Meine schwachen Arme tragen ihn nimmer«, klagte der Jammerer. »Ich werde sie dir ganz und gar ausreißen.« Der Wüterich setzte den Korb nieder, entledigte sich seines Lederriemens und sprang auf sei nen Gefährten los. Tyll hörte die Püffe regnen, kroch aus dem Korb und versteckte ihn und sich in einem nahen Gehölz, während die Diebe einander weid lich prügelten.
Als Tyll größer wurde, fand er Gefallen daran, sich auf Messen und Jahrmärkten herumzutreiben. Wenn er einen Querpfeifer, Geiger oder Dudelsackpfeifer traf, so ließ er sich für eine Münze zeigen, wie ihre Instrumente gespielt wurden. Der Rommelpot sagte Tyll besonders zu. Es war ein Instrument, aus einer Blase, einem Topf und einem star ken Strohhalm angefertigt. Tyll verbesserte seinen Rommelpot, so daß er lauter brummte als eine Baßgeige, und zog mit dem Topf, dessen Klang wie das Gebell molossischer Hunde war, von Haus zu Haus und sang Weihnachtslieder mit einer Schar von Kindern, deren eines am Dreikönigstag einen vergoldeten Stern am Kopf trug. Wenn irgendein Malermeister nach Damme kam, um die Mitglie der einer Gilde zu malen, bat Tyll, daß er die Farben reiben dürfe, und nahm keinen Lohn dafür – nur eine Schnitte Brot und einen Schoppen Kräuterbier. Aber er studierte des Meisters Kunst. Wenn diese Mei ster Damme verlassen hatten, versuchte Tyll ihre Fertigkeit nachzuah men. Er malte Klas, Soetkin, Katheline und die süß heranwachsende Nele, desgleichen Kannen und Kochtöpfe. Klas prophezeite ihm, daß er sich eines Tages die Gulden zu Dutzenden verdienen würde – durch Aufschriften auf den ›Spielwagen‹, das sind in Flandern die Wagen der Gaukler. 106
Tyll lernte von einem Maurermeister, Holz und Stein zu schneiden. Er schnitzte auch Messergriffe und begann so, die Weissagung Kathe lines wahr zu machen, da er sich doch als Bauer, Maler und Bildschnit zer erwies. Edelmann war er von Geburt auf. Denn die Klase besaßen ein Wappen: drei silberne Kannen auf einem Grund von Braunbier. Als Tyll fünfzehn Jahre alt war, stellte er in Damme ein Zelt auf und lockte die Bürger mit dem Ausruf an, daß jedermann sein gegenwär tiges und zukünftiges Wesen in einem Rahmen von Stroh sehen kön ne. Wenn ein dünkelhafter Rechtsgelehrter vorbeikam, so steckte Tyll den Kopf aus dem Rahmen, schnitt eine Fratze wie ein Affe und lachte: »Bin ich nicht Euer Spiegel, Herr mit der Pedantenmiene?« Wenn ein alter Mann sein junges Weib an das Zelt führte, so ver steckte sich Tyll und zeigte in seinem Strohrahmen einen kleinen Strauch, an dem Messergriffe, Kämme und Schreibzeug hingen, alle aus Horn geschnitzt. Dazu rief er: »Woher stammt dieser artige Tän delkram, Herr? Stammt er nicht vom Hornbaum, der im Gehege alter Ehemänner wächst? Wer wird noch sagen, daß die Hahnreie unnütze Leute seien?« Rasch zeigte Tyll sein junges Gesicht neben dem Strauch im Strohrahmen. »Wirst du mir auch meinen Spiegel zeigen?« fragte die junge Frau. »Tritt näher«, erwiderte Tyll. Sie gehorchte, und er küßte sie, wo er konnte. Dann sagte er: »Dein Spiegel ist stramme Jugend, so in vornehmen Hosenlätzen wohnt.« Keine junge Frau verließ Tyll, ohne ihm einen oder zwei Gulden zu geben. Auch dem feisten Mönch, der sein gegenwärtiges und künftiges Schicksal zu sehen begehrte, gab Tyll Bescheid: »Du bist ein Schrank für Schinken und wirst ein Gewölbe für Würz bier sein. Gib mir einen Heller dafür, daß ich nicht gelogen habe.« »Mein Sohn«, erwiderte der Mönch, »wir tragen niemals Geld.« »Dann trägt das Geld dich«, sagte Tyll, »denn ich weiß, daß du es zwischen zwei Sohlen unter deinen Füßen trägst. Gib mir deine San dale.« 107
»Das ist Klostergut, mein Sohn«, protestierte der Mönch. »Doch wenn es sein muß, werde ich zwei Heller für deine Mühe zwischen den Sohlen hervorholen.« So zeigte Tyll den Leuten von Damme, Brügge und Blankenberghe ihren Zukunftsspiegel in seiner eigenen Weise. Aber statt in seiner flämischen Mundart zu sagen: »Ick ben u lieden Spiegel« – Ich bin Euer Liebden Spiegel – sagte er kurz: »Ick ben ulen Spiegel.« Daher stammt sein Beiname Ulenspiegel. II Die liebste Gefährtin Tyll Ulenspiegels war Nele. Bei den Leuten von Damme galt sie als seine Schwester, aber sie beide wußten, daß sie ein ander nicht wie Geschwister liebten. Als Tyll von einer kleinen Reise heimkehrte, sah er Nele an einen Zaun gelehnt. Sie aß blaue Weinbeeren. Er trat von hinten auf sie zu und gab ihr einen Kuß auf den Nacken. Sie aber verabreichte ihm als Gegengabe eine tüchtige Backpfeife. »Geh deiner Wege«, gebot sie. »Ich kann doch nicht gehen, wenn du weinst, Liebchen.« »Ich bin kein Liebchen, und ich weine nicht.« »Du weinst nicht? Es kommt doch Wasser aus deinen Augen!« »Willst du wohl fortgehen?« »Nein.« Sie faßte ihre Schürze mit zitternden Händen und riß an dem Stoff. Tränen flossen darauf. »Nele«, fragte Tyll, »wird bald Schönwetter?« »Warum fragst du mich das?« »Weil es nicht regnet, wenn es schön ist.« »Du spottest meiner, schlechter Mann!« sagte sie. »Nele«, sprach Ulenspiegel, »ich bin ein Mann, doch kein schlechter, 108
denn unser edles Schöffengeschlecht führt drei silberne Kannen auf ei nem Grunde von Braunbier.« Er fragte: »Ist es wahr, daß man im Lan de Flandern Küsse sät und Maulschellen erntet?« »Ich will dir nicht Rede stehen.« »Warum öffnest du dann den Mund, um es mir zu sagen?« »Ich bin böse.« Ulenspiegel gab ihr einen leichten Schlag auf den Rücken: »Küß die Magd, so schlägt sie dich, schlag die Magd, so salbt sie dich. Salbe mich, Liebchen, da ich dich schlug.« Nele wandte sich um. Er tat die Arme auf, und sie warf sich, noch weinend, hinein: »Du gehst nimmermehr fort, nicht wahr, Tyll?« Er gab keine Antwort, denn er mußte mit seinen Lippen die heißen Tränen trocknen, die gleich Regentropfen aus Neles Augen fielen. Ulenspiegel und Nele liebten sich heiß. Oft streiften sie zusammen umher. Nele hing an Ulenspiegels Arm und hielt ihn mit beiden Hän den umfaßt. Er umschlang ihre Hüften, um sie besser zu halten, wie er sagte. Sie war glücklich, aber sie sprach nicht. Sie lehnte den Kopf an seine Schulter. Er küßte sie im Gehen auf die Stirne, die Wangen und ihren lieblichen Mund. Doch sie schwieg. Sie setzten sich am Rande eines Grabens auf den Rasen. Nele war bleich und nachdenklich. Ulenspiegel betrachtete sie scheu. »Du bist traurig?« fragte sie. »Ja.« »Warum?« »Ich weiß nicht. Wer erklärt mir, warum ich mich so unruhig füh le und stets bereit bin, zu sterben oder zu schlafen? Bald ist mir kalt, bald heiß. Ach, Nele, ich wollte, ich wäre nicht mehr auf dieser er bärmlichen Welt oder ich könnte der, die mich liebt, tausend Leben geben …« Nele schwieg und blickte Ulenspiegel mit frohem Lächeln an. Sie war noch sehr jung, aber sie verstand ihn ganz. Am Allerheiligentag kam Ulenspiegel mit etlichen Taugenichtsen aus der Frauenkirche. Sein Jugendgespiele, Lamm Goedzak, hatte sich unter die freche Bande verirrt wie ein Schaf unter Wölfe. Er zahlte für 109
alle die Zeche. Das konnte er, denn seine Mutter gab ihm alle Sonnund Feiertage drei Heller. Er ging also mit Ulenspiegel und den anderen in das Gasthaus ›Zum Roten Schild‹. Der Wirt trug ihnen ›dobbele knollaert‹ auf. Das Ge tränk erhitzte sie. Sie sprachen von Gebeten, und Ulenspiegel sagte, daß die Seelenmessen nur für die Pfaffen von Vorteil seien. Es war ein Judas unter den Burschen, und der zeigte Ulenspiegel als Ketzer an. Trotz der Tränen Soetkins und der Bitten Klasens wurde Ulenspiegel festgenommen und blieb einen Monat in einem vergitter ten Kellerloch, ohne jemanden zu sehen. Der Kerkermeister fraß drei Viertel von Ulenspiegels Verköstigung, während Erkundigungen über seinen Leumund eingezogen wurden. Was zutage kam, war nur, daß Tyll ein schlimmer Spötter war, der sich über seinen Nächsten gerne lustig machte. Doch hatte er niemals über den Herrgott, die Frau Ma ria und die Heiligen Übles geredet. So war auch die Strafe milde: In Anbetracht seiner Jugend verurteilten ihn die Richter nur, in der näch sten Prozession, die aus der Kirche kommen würde, im Hemd, bar häuptig und barfuß, mit einer Kerze in der Hand hinter den Priestern einherzuschreiten. Das geschah am Tage der Himmelfahrt. Während die Prozession in die Kirche zurückkehrte, mußte Tyll in der Vorhalle stehenbleiben und rufen: »Dank dem Herrn Jesus! Dank den Herren Priestern! Ihre Ge bete tun den Seelen im Fegefeuer wohl und sind gar kühlend. Denn je des Ave ist ein Eimer Wasser, der auf den Rücken der armen Sünder fällt, und jedes Paternoster ist ein Kübel voll.« Das Volk hörte Tyll mit großer Andacht zu, nicht ohne zu lächeln. Er hatte mit heller, lauter Stimme gesprochen, jedoch nicht ohne spöt tische Fratzen zu schneiden. Darauf wurde er drei Jahre des Landes Flandern verwiesen, und es wurde ihm auferlegt, nach Rom zu pilgern und nur mit der Absolution des Papstes heimzukehren. Klas mußte drei Gulden für dieses Urteil zahlen. Tyll nahm traurig von seinen Eltern Abschied. Nele hatte sich in der Scheune verborgen, damit niemand sähe, wie sie um Ulenspiegel weinte. Da sie ihn allein fortziehen sah, lief sie ihm 110
nach und fiel ihm um den Hals: »Du wirst viele schöne Damen auf dei ner Pilgerfahrt finden.« »Schöne, das weiß ich nicht«, erwiderte Ulenspiegel, »aber frische wie du, nein, denn die Sonne hat sie alle verbrannt.« Sie gingen nebeneinander. Ulenspiegel war ganz in Gedanken ver sunken. Hin und wieder sagte er: »Ich werde sie ihre Seelenmessen be zahlen lassen.« »Was für Messen, und wer wird sie bezahlen?« »Alle Dechanten, Pfarrer und Pfaffen, die uns mit Hirngespinsten mästen. Wäre ich ein wackerer Handwerker, so hätten sie mir durch diese erzwungene Wallfahrt die Frucht von dreijähriger Arbeit gestoh len. Nun aber muß der arme Klas zahlen! Sie sollen mir meine drei Jahre hundertfältig zurückgeben, und ich werde die Seelenmesse für sie von ihrem Geld singen.« »Ach, Tyll, sei vorsichtig! Sie werden dich sonst lebendig verbren nen«, bat Nele. »Ich bin von Asbest«, erwiderte er. Dann trennten sie sich. Sie ganz in Tränen und er voller Schmerz und Grimm.
Um diese Zeit führten die Inquisitoren und Theologen dem Kaiser Karl vor Augen, daß die Kirche zugrunde ginge, daß ihr Ansehen verach tet werde und daß er die herrlichen Siege, die er errungen, den Gebe ten des Katholizismus verdanke. Ein Erzbischof von Spanien begehr te vom Kaiser, daß sechstausend Köpfe abgeschlagen und ebenso vie le Körper verbrannt würden, um die bösartige lutherische Ketzerei in den Niederlanden mit Stumpf und Stiel auszurotten. So sah denn der arme wandernde Ulenspiegel in allen Orten, durch die er kam, Köpfe auf Pfählen, junge Mädchen, in Säcke gesteckt und lebendig in den Fluß geworfen, Männer, nackend aufs Rad gefloch ten und mit Eisenstangen grausam zerschlagen, Frauen, in eine Gru be geworfen und mit Erde bedeckt. In Löwen sah er die Henker drei 111
ßig Lutherische auf einmal verbrennen, und der Scheiterhaufen wurde mit Schießpulver zum Aufflammen gebracht. In Limburg sah er eine Familie, Männer, Frauen, Töchter und Töchtermänner, zur Richtstatt schreiten und Psalmen singen. Ulenspiegel zog voller Furcht und Schmerz weiter. Erst als er wieder auf freiem Felde war, schüttelte er sich wie ein entflohener Vogel oder ein losgerissener Hund und war wieder guten Mutes angesichts der Bäume, der Wiesen und der hellen Sonne.
Während Tyll auf seiner Wanderung war, kurierte Katheline, die Mut ter Neles, durch Heilkräuter einen Ochsen, drei Hammel und ein Schwein, die einem Bauern namens Speelmann gehörten. Eine Kuh aber, die das Eigentum Jan Beloens war, konnte Katheline nicht hei len. Beloen klagte sie der Zauberei an. Er erklärte, daß Katheline die Kuh behext habe, als sie sie streichelte und zu ihr sprach, während sie ihr die Heilkräuter gab. Auf das Zeugnis von Pieter Meulemeester, einem Mann von gutem Wandel und Sitten, sowie von Jan Beloen, die beide aussagten, daß Katheline in Damme als Hexe verrufen sei und die Kuh aus Bosheit umgebracht habe, wurde sie ins Gefängnis gebracht und verurteilt, so lange gefoltert zu werden, bis sie ihre Verbrechen und Missetaten ge standen hätte. Katheline wurde von einem Schöffen verhört, der ständig betrunken war, und da sie leugnete, von seinen Gehilfen auf die Folterbank gelegt. Ein Henker zog sie nackt aus, dann schor er ihr die Haare am ganzen Körper und sah überall nach, ob sie irgendeinen Zauber verberge. Da er nichts fand, wurde sie auf der Folterbank festgebunden. »Ich schäme mich, nackt vor diesen Männern zu sein«, klagte Kathe line und betete: »Heilige Frau Maria, gib, daß ich sterbe.« Der Henker hob die Bank in die Höhe und goß Katheline so viel hei ßes Wasser in den Magen, daß sie ganz aufgebläht zu sein schien. Jetzt 112
fragte sie der Schöffe, ob sie ihr Verbrechen bekennen wolle. Sie mach te ein Zeichen der Verneinung. Der Henker goß ihr noch mehr heißes Wasser ein, aber Katheline brach alles aus. Da wurde sie auf Anraten des Arztes losgebunden. Als der Schöffe sah, daß sie sich von der ersten Folter erholt hatte, schrie er sie an: »Bekenne, daß du eine Hexe bist und daß du die Kuh verzaubert hast.« »Ich werde so etwas nicht bekennen«, erwiderte Katheline. »Ich lie be alle Tiere, und ich würde eher mir ein Leides tun als ihnen, denn sie können sich nicht wehren. Um die Kuh zu heilen, habe ich alle nö tigen Mittel angewandt.« »Du hast ihr Gift gegeben, denn die Kuh ist tot.« »Herr Schöffe«, sagte Katheline, »ich bin in eurer Gewalt, aber ich muß es doch sagen: Ein Tier kann an einer Krankheit sterben wie ein Mensch. Ich schwöre beim Herrn Christus, der für unsere Sünden am Kreuze starb, daß ich dieser Kuh nichts zuleide tun wollte; ich wollte sie heilen.« Der Schöffe wurde wütend und trank ein großes Glas Branntwein. »Diese Teufelsdirne soll nicht unaufhörlich leugnen«, schimpfte er und befahl: »Bringt sie auf die nächste Folterbank!« Der Henker setzte Katheline auf den Deckel eines Sarges, der die Form eines spitzen Daches hatte. Im Kamin der Folterkammer brann te ein großes Feuer, denn es war November. Katheline wurde mit zu engen Schuhen aus frischem Leder bekleidet, und man schob den Sarg, auf dem sie saß, vor das Feuer. Sie schrie auf: »Ich leide tausend Schmerzen! Wer gibt mir schwar zes Gift?« »Wie oft bist du auf einem Besen zum Hexensabbat geritten?« frag te der Schöffe erregt. »Wie oft hast du das Korn in der Ähre, die Frucht am Baum, das Kind im Mutterleib vernichtet?« Katheline konnte nicht sprechen. Sie bewegte nur die Arme, um nein zu sagen. »Sie wird nicht eher den Mund auftun, als bis sie am Feuer ihr He xenfett schmelzen fühlt.« Der Schöffe befahl: »Rückt sie näher heran!« 113
Katheline machte eine Bewegung, als wollte sie die Schuhe auszie hen, die in der Feuersglut rauchten. Es schlug zehn Uhr, das war die Mittagszeit des Schöffen. Er ging mit dem Henker und dem Schreiber hinaus und ließ Katheline allein vor dem Kamin in der Folterkammer. Als sie um elf Uhr zurückkamen, fanden sie die Angeklagte steif und unbeweglich auf dem Sarge hocken. »Mich deucht, sie ist tot«, sagte der Schreiber. Der Schöffe befahl dem Henker, Katheline vom Sarg zu heben und ihr die Schuhe auszuziehen. Ihre Füße waren rotgebrannt und blute ten. Als die Gequälte zu sich kam, konnte sie sich trotz aller Anstren gung nicht erheben. Sie wandte sich dem Schöffen mit leerem Blick zu: »Ehedem hast du mich zum Weibe gewollt«, sagte sie, »nun aber sollst du mich nicht mehr bekommen. Viermal drei, das ist die heilige Zahl, und der dreizehnte ist der Ehemann.« »Sie empfängt den Teufel in ihrem Bett«, sagte der Schöffe entsetzt. »Sie ist irr durch die Folterqualen«, murmelte der Schreiber. Katheline wurde ins Gefängnis zurückgebracht und drei Tage später zur Feuerstrafe verurteilt. Der Henker und seine Büttel führten sie auf den großen Markt von Damme. Vor dem Blutgerüst standen die Rich ter und der Profos. Der Herold rief: »Dieweil der Magistrat von Damme mit der Jung frau Katheline Mitleid gehabt hat, so wollte er sie nicht nach der äußer sten Strenge des Stadtgesetzes bestrafen. Um aber zu bezeugen, daß sie eine Hexe ist, sollen ihre Haare verbrannt werden. Auch soll sie zwan zig Goldkarolus Buße zahlen und auf drei Jahre aus dem Weichbild von Damme verbannt werden – bei Gefahr, ein Glied zu verlieren.« Das Volk begrüßte diese rohe Milde mit Beifall. Der Henker band Katheline am Pfahl fest, setzte eine Perücke von Flachs auf ihren ge schorenen Kopf und zündete sie an. Das Werg brannte langsam und lange, bevor es verlöschte. Katheline schrie und weinte. Als sie losge bunden wurde, mußte sie auf einem Karren aus dem Weichbild von Damme gefahren werden, denn ihre Füße waren verbrannt. 114
Inmitten von Turnieren und Festen besuchte der Kaisersohn Philipp seine künftigen Erblande: das frohe Herzogtum Brabant, die reiche Grafschaft Flandern und seine anderen Herrschaften. Er kam auch nach Antwerpen, und obwohl die Stadt zweihundertsiebenundachtzig Gulden ausgegeben hatte, um seinen Empfang zu feiern, blieb Philipp traurig und düster. Der Markgraf von Antwerpen, die Bürgermeister, Hauptleute und Ältesten versammelten sich, um irgendein Spiel zu ersinnen, das den hohen Gast zum Lachen bringen könnte. »Habt ihr nicht von einem gewissen Ulenspiegel reden hören«, fragte der Markgraf die Versammelten, »dem Narren, der für seine Schwan ke berüchtigt ist?« Er schlug vor: »Entbieten wir ihn hierher, auf daß er geschickte Streiche ersinne.« Der Bote von Antwerpen fand Ulenspiegel in einer Schenke in Her zogenbusch in Brabant. »Ich bin ein Pilger«, sagte Tyll erst abweisend. Aber als er sah, daß ein schönes Pferd für ihn bereitstand, war er willens, nach Antwerpen zu reiten. Er trat vor den Markgrafen, die Bürgermeister und die Ratsherren. »Welchen neuen Schelmenstreich gedenkst du zu erfinden?« fragte der Markgraf. »In die Luft zu fliegen.« »Wie wirst du das anstellen?« »Wißt ihr, was noch weniger wert ist als eine geplatzte Blase?« frag te Ulenspiegel. »Das weiß ich nicht.« »Ein verratenes Geheimnis ist noch weniger wert.« Die Herolde ritten durch alle Straßen der Stadt und bliesen die Trom pete. Derart verkündeten sie den ›Signorkes‹ und ›Signorkinnes‹, daß Ulenspiegel, der Narr aus Damme, am Ufer der Scheide in die Luft flie gen werde, und die kaiserlich und königliche Hoheit, Philipp, und sein Gefolge würden zugegen sein. An diesem Tag ritt Ulenspiegel auf einem Esel durch die Stadt. Er hatte das schöne Gewand aus karmesinroter Seide angelegt, das ihm 115
die Ratsherren gegeben hatten. Seine Kopfbedeckung war eine karme sinrote Kapuze, an der zwei Eselsohren mit einer Schelle hingen. Er trug eine Halskette von Kupfermünzen, in die das Wappen von Ant werpen geprägt war. An den Ärmeln seines Wamses klingelten vergol dete Schellen. Ulenspiegel ließ seinen Esel vor einem Haus gegenüber der Estrade des Hofstaats halten. Er stieg hinauf bis an die Dachrinne. Dort schüt telte er seine Schellen und öffnete die Arme ganz weit, als ob er flie gen wollte. Er sah sich dem Sohn des Kaisers, der am gleichen Tag und zur gleichen Stunde geboren worden war wie er, gegenüber. Würde er in seiner überschäumenden Fröhlichkeit den jämmerlich Trauernden zum Lachen bringen? Er verneigte sich vor Philipp und rief: »Ich mein te, es sei kein Narr in Antwerpen außer mir. Nun sehe ich, daß die ganze Stadt voller Narren ist. Wenn ihr mir alle gesagt hättet, ihr woll tet fliegen, ich hätte es nicht geglaubt. Und ihr glaubt einem Narren? Wie sollte ich fliegen können, da ich doch keine Flügel habe?« Die einen lachten, die anderen fluchten, alle aber sagten: »Der Narr spricht die Wahrheit.« Auf seiner mit Purpur ausgeschlagenen Tribüne blieb Philipp steif wie ein Stein. Die Ratsherren flüsterten einander zu: »Es war nicht nötig, so große Feste für einen solchen Sauertopf zu veranstalten.« Sie gaben Ulenspiegel drei Gulden zum Abschied. Er war nicht gut gelaunt, da er ihnen das Kleid aus karmesinroter Seide hatte zurück geben müssen. Als er wieder sinnend in seinem eigenen Gewand auf der Straße wanderte, fühlte er zwei Hände, die sich flach auf seine Augen legten. Er hatte die raschen Schritte hinter sich nicht gehört. Aber ein gutes Gefühl sagte ihm, wer ihn so überraschte. »Du bist es, Nele?« fragte er. »Ja«, erwiderte sie, »ich laufe hinter dir her, seit du aus der Stadt ge gangen bist. Komm mit mir.« »Aber wo ist Katheline?« fragte Ulenspiegel. »Du weißt nicht, daß sie ungerecht als Hexe gefoltert und dann auf 116
drei Jahre aus Damme verbannt worden ist? Du weißt nicht, daß sie ihr die Füße verbrannt und ihr Flachs auf dem Kopf angezündet haben? Ich sage es dir gleich, damit du nicht vor ihr erschrickst. Sie ist durch das große Leiden irre geworden. Oft blickt sie stundenlang ihre Füße an und sagt: ›Hanske, mein süßer Teufel, sieh, was sie deiner Liebsten getan haben!‹ Dann weint sie und sagt: ›Die anderen Frauen haben ei nen Liebsten, ich aber lebe auf Erden wie eine Witwe.‹ Ich glaube, man hat ihr auch das Hirn im Kopf verbrannt, als man das Bündel Flachs auf ihrem Kopfe verbrannte.« Schweigend machten sich Ulenspiegel und Nele auf den Weg zu Katheline. Sie sahen sie auf einer Bank an der Wand des Hauses, das sie in Borgerhout bei Antwerpen bewohnte. »Erkennst du mich?« fragte Ulenspiegel. »Viermal drei«, schwätzte Katheline, »das ist die heilige Zahl, und der dreizehnte, das ist Therab. Wer bist du?« »Ich bin Ulenspiegel, der Sohn von Soetkin und Klas.« Katheline erkannte ihn und flüsterte ihm ins Ohr: »Wenn du den siehst, dessen Küsse wie Schnee sind, sag ihm, er solle wiederkom men.« Dann wies sie auf ihren verbrannten Kopf. »Ich habe Schmerzen, sie haben mir meinen Verstand genommen. Aber Hanske wird mir den Kopf wieder füllen, der jetzt ganz leer ist. Wenn er kommt, werde ich ihm sagen, daß er mit einem Messer ein Loch in den Kopf macht. Die Seele, die drin ist, pocht immerzu und will hinaus und schafft mir grausame Pein.« Sie sank in sich zusammen und ächzte. Die Bauern, die von den Feldern heimkehrten, weil sie die Glocke zum Essen rief, gingen an Katheline vorüber und bekreuzigten sich ängstlich. »Das ist die Irre«, sagten sie. Nele und Ulenspiegel weinten, doch er konnte nicht bei ihr bleiben. Er war gezwungen, seine Wallfahrt fortzusetzen. Er wanderte auf der Straße nach Audenaerde, wo sich eine Besat zung flämischer Reiter befand. Es war eine kriegerische Zeit. Die ei nen kämpften gegen die andern. Auch französische Streifscharen ver 117
heerten das Land wie Heuschrecken. Der Hauptmann der flämischen Reiter war ein geborener Friese mit Namen Kornjuin. Auch er durch streifte das Land mit seinen Leuten und plünderte das Volk aus. Eines Tages, als die flämischen Reiter mit Beute beladen nach Aude naerde zurückkehrten, sahen Kornjuin und seine Männer Ulenspiegel schlafend am Fuße eines Baumes. Sie weckten ihn auf. »Was tust du, um zu leben?« fragte Kornjuin. »Ich sterbe vor Hunger«, erwiderte Ulenspiegel. »Was kannst du?« »Für meine Sünden wallfahrten und den anderen zusehen, wie sie arbeiten. Ich kann auch auf dem Seil tanzen und hübsche Gesichter abkonterfeien, Messergriffe schnitzen, den Rommelpot spielen und die Trompete blasen.« »Das paßt mir«, sagte Kornjuin. »Du sollst unser Turmbläser sein.« Ulenspiegel folgte den Reitern nach Audenaerde und wurde auf dem höchsten Turm der Wälle in eine Warte einquartiert, die von al len Winden durchlüftet war, mit Ausnahme des Südwinds. Es wurde ihm anbefohlen, die Trompete zu blasen, sobald er den Feind anrük ken sähe, und deshalb den Kopf frei zu halten und immer klare Augen zu haben. Darum dürfe er auch nicht viel essen und trinken. Während der Hauptmann und seine Reiter im Untergeschoß des Turms blieben und auf Kosten des Landes Gelage hielten, mußte sich Ulenspiegel mit einer mageren Suppe begnügen. Als die Franzosen ka men und Vieh raubten, blies er die Trompete nicht. »Warum hast du nicht geblasen?« fragte Kornjuin streng. »Ich spreche nicht das Gratias bei eurem Essen«, erwiderte Ulenspie gel. Am folgenden Tag ordnete der Hauptmann ein großes Mahl für sich und seine Reiter an. Aber da Ulenspiegel wieder vergessen wurde, blies er die Trompete in dem Augenblick, als sie zu schmausen begannen. Kornjuin und seine Mannschaft glaubten, daß die Franzosen kämen. Sie ließen Wein und Braten im Stich, stiegen zu Pferd und ritten ei lends zum Kampf hinaus. Auf den Feldern vor den Wällen begegne ten sie nur einem Ochsen, der wiederkäute. Den führten sie mit sich. 118
In ihrer Abwesenheit hatte sich Ulenspiegel mit Wein und Fleischspei sen angefüllt. Kornjuin sah ihn lächelnd an der Tür der Halle stehen und schrie: »Das heißt Verrat üben, Alarm zu blasen, wenn du keine Feinde siehst, und nicht zu blasen, wenn du die Feinde siehst.« »Herr Hauptmann«, gab Ulenspiegel zurück, »ich werde in meinem Turm solchermaßen von den Winden aufgebläht, daß ich oben schwe ben müßte wie eine Blase, hätte ich mich nicht durch Trompetenblasen erleichtert. Laßt mich jetzt hängen oder ein andermal, wenn ihr eine Eselshaut für eure Trommeln braucht.«
Besser fort in die gute Möglichkeit als im Hoffnungslosen geblieben. Alle Wege führen nach Rom, hieß es im Sprichwort, und dorthin mußte Ulenspiegel. Er durfte in keinem Ort bleiben, wenn er das Ziel seiner Wallfahrt erreichen wollte. Noch zwei Jahre hatte er Zeit, aber der Weg war weit und voll von Hindernissen und Hürden, die überwunden werden mußten und auch von solchen, die er sich selbst schuf. Als er in Lüttich auf den Fischmarkt kam, beobachtete er einen Bur schen, der am Arm ein Netz mit Geflügel und Fischen trug. Er erkann te seinen Jugendgespielen Lamm Goedzak. Tyll sprach ihn an: »Was tust du hier, Lamm?« »Du weißt doch, wie sehr wir Flamen im freundlichen Lüttich will kommen sind. Ich gehe hier meiner Liebe nach. Und du?« »Ich suche einen Herrn, dem ich für Brot dienen könnte. Bist du reich?« »Ich habe meine Familie verloren«, erwiderte Lamm bescheiden. »Ich werde ihr Hab und Gut erben. Inzwischen lebe ich mit einer Magd, die eine große Meisterin im Kochen von Frikassees ist.« »Soll ich dir deine Fische und dein Geflügel tragen?« »Tu das. Du wirst davon essen und mir dienen, wenn meine Köchin dich haben will.« 119
Auf der Straße begegneten sie einem zierlichen Mädchen, das in Sei de gekleidet über den Markt trippelte. Sie blickte Lamm mit sanften Augen an. »Die da«, rief er, »die mache ich zu meiner Frau.« »Ich kenne sie«, sagte Ulenspiegel. »Sie ist eine Flamin aus Zotteg hem. Die Nachbarn erzählen, daß ihre Mutter ihre Hemden bügelt und an ihrer Statt vor dem Hause die Straße kehrt.« »Sie hat mich angeblickt«, jubelte Lamm. Als sie zu seinem Haus kamen, öffnete eine einäugige Magd, »La Sanginne.« Lamm begrüßte sie: »Möchtest du, daß dieser Mann dir bei der Arbeit hilft?« »Ich nehme ihn auf Probe.« »Nimm ihn und lasse ihn die Freuden deiner Küche kosten.« Er wandte sich Ulenspiegel zu: »Du wirst hier einen guten Dienst haben und so essen wie ich.« »Das höre ich gerne«, entgegnete Ulenspiegel. Einige Tage später hatte La Sanginne zwei Hühner zu braten. Sie hieß Ulenspiegel den Bratspieß drehen, während sie zum Markte ging. Als die beiden Hühner gebraten waren, verzehrte er eines. La Sanginne kam zurück und sah sich um: »Es waren doch zwei Hühner da, und jetzt sehe ich nur noch eines.« Sie beklagte sich bei Lamm. Er kam in die Küche hinunter und stell te fest: »Es waren doch zwei Hühner da!« »Gewiß, Lamm, aber als ich hier in den Dienst trat, sagtest du mir zu, ich sollte so essen und trinken wie du. Zwei Hühner waren da, eines habe ich gegessen, und du wirst das andere essen. Meine Freude ist vor über, die deine wird erst kommen. Bist du nicht glücklicher als ich?« »Das ist so«, erwiderte Lamm lächelnd, »aber bitte, tue alles, wie La Sanginne dich heißen wird, dann wirst du nur halbe Arbeit haben.« Auch Ulenspiegel lächelte, und wann immer La Sanginne ihn etwas tun hieß, tat er es von nun ab nur halb. Wenn sie ihm befahl, zwei Ei mer Wasser zu holen, so brachte er nur einen. Trug sie ihm auf, einen Krug Bier aus dem Faß zu füllen, so goß er die Hälfte des Kruges in sei ne Kehle, und so tat er es mit allem. 120
Da La Sanginne dieser Ränke überdrüssig wurde und Lamm drohte, sie würde davonlaufen, wenn dieser Taugenichts noch länger im Hau se bliebe, ging er zu Ulenspiegel: »Du mußt abziehen, mein Lieber, ob wohl du in diesem Haus ein gesundes Aussehen bekommen hast. Es wäre mir lieber, dich nicht vor die Türe setzen zu müssen. Aber beden ke, daß La Sanginne mir durch ihre Fleischgerichte das Leben erhält. Ich kann sie nicht gehen lassen. Du aber geh mit Gottes Segen. Nimm diese drei Gulden und diesen Rosenkranz von Schlackwürsten mit, um deinen Weg zu erleichtern.« Ulenspiegel ging betrübt von dannen. Er hatte schon beim Abschied Sehnsucht nach Lamm und seiner Küche.
Im Lande Flandern waren die bösen Tage wiedergekehrt. Klas arbei tete allein auf dem Felde, denn es gab nicht Arbeit für zwei. Soetkin blieb zu Hause und bereitete die Bohnen, ihre tägliche Speise, auf im mer neue Art zu, um ihrem Mann Lust zum Essen zu machen. Sie sang und lachte, damit er sie nicht traurig sähe. Sie erschrak, als ein schwarzgekleideter Mann zu Pferde vor dem Tore anhielt. »Wo ist dein Mann?« fragte er. »Du siehst ihn dort unten Korn säen«, gab sie zurück. Er ritt in die Richtung, die sie ihm angegeben hatte, und sie ging be trübten Herzens in die Stadt. Sie mußte zum sechsten Male Brot vom Bäcker holen, ohne zahlen zu können. Als sie mit leeren Händen zu rückkehrte, traute sie ihren Augen nicht. Sie sah Klas triumphierend auf dem Pferd des schwarz gekleideten Mannes, der zu Fuß daneben ging. Klas stützte einen vollen ledernen Sack stolz auf seinen Schenkel. Als sie alle im Hause waren, stellte er den Sack auf den Tisch. Soetkin sagte voll Harm: »Mann, wir werden heute nicht essen, der Bäcker wollte mir kein Brot geben.« »Brot?« lachte Klas, öffnete den Sack und ließ einen goldenen Strom über den Tisch fließen. 121
»Brot? Hier ist Brot, Butter, Fleisch, Wein, Bier. Hier sind die feinsten Speisen. Ein Narr ist der Bäcker, der uns das Brot verweigert; wir wer den nicht mehr bei ihm kaufen.« »Aber Mann«, sprach Soetkin verblüfft. »Wohlan, höre«, rief Klas, »und sei guter Dinge. Das ist geschehen.« Er erzählte: »Katheline ist nicht in Antwerpen geblieben, sondern, von Nele geführt, nach Meyborg gegangen. Dort hat Nele meinem Bru der Jobst gesagt, daß wir ungeachtet unserer sauren Arbeit oft dar ben. Wie dieser wackre Bote mir soeben vermeldete, hat Jobst die heili ge römische Religion verlassen und sich der Ketzerei Luthers hingege ben. Jobst will mit den Truppen Friedrichs von Sachsen kämpfen und ihm fünfzig trefflich gewappnete Männer zuführen. Da er in den Krieg zieht, ist ihm so viel Geld nicht vonnöten. Darum hat er gesagt: ›Brin ge diese siebenhundert Karolusgulden meinem Bruder Klas samt mei nem Segen. Sage ihm, er möge einen guten Wandel führen und seines Seelenheils gedenken.‹« Klas wandte sich dem Boten zu: »Wenn du meinen Bruder Jobst wie dersiehst, so gib ihm meinen friedlichen Kuß und wache über ihn in der Schlacht.« »Das werde ich tun«, erwiderte der schwarzgekleidete Mann und ritt davon. In Damme verbreitete sich bald das Gerücht, daß der arme Klas durch das Vermögen seines Bruders Jobst zum reichen Klas gewor den sei. Er und Soetkin waren tatsächlich zufriedener. Er arbeitete auf dem Felde und verkaufte seine Kohlen und sie zeigte sich daheim als tüchti ge Hausfrau. Aber sie hielt ohne Unterlaß Ausschau nach ihrem Sohn Tyll. Wo war er?
Ulenspiegel war auf dem weiten Weg, auf der endlosen Wallfahrt nach Rom. Er hatte blutende Füße und wanderte und wanderte, bis er im Bistum Mainz einem Wagen mit Pilgern begegnete, die ihn mit nach 122
Rom nahmen. Als er in der Ewigen Stadt ankam und vom Wagen stieg, erblickte er an der Schwelle einer Herbergstür ein artiges Weib, das seinen Gruß lächelnd erwiderte. Diese holde Laune deutete Ulen spiegel zu seinen Gunsten. »Wirtin«, sagte er, »willst du dem Pilger Obdach geben? Ich bin der Entbindung nahe und werde mit dem Erlaß meiner Sünden nieder kommen.« »Wir geben Obdach allen, die uns zahlen. Doch sage, schöner Pilger, warum bist du hierhergekommen?« »Um mit dem Papst zu sprechen.« »Ach«, sagte sie, »mit dem Papst zu sprechen? Ich bin von hier und habe es nimmer vermocht.« »Ich werde es tun«, sprach Ulenspiegel. »Wie wirst du das tun? Weißt du denn, wie er ist und wohin er geht? Kennst du denn seine Gewohnheiten und seine Lebensweise?« Ulenspiegel erklärte: »Man hat es mir unterwegs erzählt. Er heißt Ju lius III. Man sagt, er ist ein Wüstling, lustig und ausschweifend, ein geschickter Plauderer und schlagfertig. Man sagt auch, daß er wie ein Soldat flucht. Als er eines Tages beim Nachtmahl einen kalten delika ten Pfauen, auf dessen Genuß er sich gefreut hatte, nicht vorfand, sagte er: ›Ich, der Statthalter Christi, mag wohl eines Pfauen halber fluchen, da mein Herr um einen Apfel gezürnt hat!‹ Du siehst, schöne Wirtin, daß ich den Papst kenne und weiß, wie er ist.« »Ach, sprich nicht so laut«, flüsterte sie und schwenkte den Zeigefin ger: »Du wirst ihn gleichwohl nicht sehen.« »Ich werde doch mit ihm sprechen!« Am anderen Morgen lief Ulenspiegel in Rom umher und erfuhr, daß der Papst an diesem Tage in St. Johann vom Lateran die Messe lesen würde. Er ging in diese prächtige Kirche und stellte sich auffallend in die Nähe des Papstes und kehrte jedesmal, wenn der Papst den Kelch oder die Hostie hob, dem Altar den Rücken. Ein Kardinal, der die Messe mi nistrierte, machte den Papst auf Ulenspiegels Gebaren aufmerksam, und der Papst sandte nach dem Hochamt vier von seinen kräftigsten Söld nern, daß sie sich des Pilgers bemächtigten. Ulenspiegel wurde gepackt. 123
»Welchen Glauben hast du?« fragte ihn der Papst. »Ich glaube, was Eure Heiligkeit glaubt.« »Warum hast du dem heiligen Sakrament den Rücken gedreht?« »Ich fühle mich unwürdig, es anzuschauen.« »Bist du ein Pilger?« »Ja«, sagte Ulenspiegel. »Ich komme aus Flandern, um Vergebung meiner Sünden zu erbitten.« Julius III. erhob die Hand zum Segen. Ulenspiegel verließ Rom, um in das Land Flandern zurückzukehren. Für den Ablaß des Papstes, der auf Pergament geschrieben war, mußte er sieben Dukaten bezahlen.
Der Ablaßhandel blühte. Auch nach Damme kamen zwei Prämonstra tenserbrüder, um Ablaß zu verkaufen. Über ihren Mönchsgewändern trugen sie schöne, mit Spitzen besetzte Hemden. Der reiche Klas kauf te von ihnen für einen Gulden zehntausend Jahre Ablaß. Das war auf einem Stück Pergament sorgfältig aufgeschrieben. Mit zehntausend Jahren Ablaß in der Tasche konnte man manche Sünde auf sich nehmen. So dachte Klas, der seit seiner Erbschaft die Schenke ›Zum blauen Turm‹ oft besuchte und an einem Tisch mit Lamm Goedzak saß, der das schöne Mädchen von Zotteghem gehei ratet und das wegen der Ketzereien unsichere Lüttich mit ihr verlassen hatte. Damme war doch seine Heimatstadt. Am Tisch neben Klas, Lamm und ihren Freunden, die sich nicht lumpen ließen, saß Jobst Griepenstüver, der Älteste der Fischergilde. Er liebte das Geld mehr als das Heil seiner Seele und sein Vergnügen und trank aus Geiz nur eine halbe Kanne. Klas hatte das Pergament, auf dem die zehntausend Jahre Ablaß geschrieben waren, bei sich und trank mit Gusto. Sein Freund Jan Roosebeke sagte zu ihm: »Das heißt sündigen, so viel zu trinken.« »Man brennt nur einen halben Tag für eine halbe Kanne zuviel«, lachte Klas. »Und ich habe zehntausend Jahre Ablaß gekauft. Willst du 124
ihn sehen? Ich habe ihn mit. Wer will hundert Jahre davon, um sich ohne Furcht vollzutrinken?« »Wie teuer verkaufst du die hundert?« riefen alle. »Für eine Kanne gebe ich hundert Jahre, doch für ein Kaninchenge richt gebe ich hundertfünfzig.« Einige Trinker wurden mit Klas handelseinig. Die einen bezahlten den Ablaß mit Schoppen, die anderen mit Schinken. Er schnitt jedem einen Streifen Pergament ab. Das war ein Festtag für Lamm, der den Preis des Ablasses vertrank. Griepenstüver kehrte Klas seine mürrische Fratze zu: »Hast du Ab laß für zehn Tage?« »Nein«, erwiderte Klas, »das ist zu schwer abzuschneiden.« Alle lachten. Griepenstüver aber würgte seinen Zorn hinunter.
Oft saßen Soetkin und Nele, die mit Katheline am Ende des dritten Jahres ihrer Verbannung nach Damme zurückgekehrt war, zusammen an einem Fenster und blickten auf die Straße. Ulenspiegels Mutter sag te zu Nele: »Herzchen, siehst du nicht meinen Sohn Tyll?« »Ich sehe ihn nicht, und ich fürchte, wir werden den schlimmen Landstreicher nicht wiedersehen.« »Du mußt nicht böse auf ihn sein, Nele, sondern ihn beklagen, denn er ist fern von zu Hause, der arme Junge.« »Das weiß ich wohl, aber ich glaube, er hat ein andres Heim gar weit von hier, reicher als sein eigenes. Irgendeine schöne Dame gibt ihm si cherlich Obdach.« »Woher kommt dir dieser große Zorn, mein Herz?« lachte Soetkin. Klas, der in einer Ecke Reisigbündel schnürte, sagte: »Siehst du nicht, daß sie in ihn verliebt ist?« »Ei, seht doch das durchtriebene Mädchen«, sagte Soetkin, »ist es wahr, Liebchen, daß du ihn magst?« »Glaube es nicht«, erwiderte Nele. »An Tyll wirst du einen wackeren Ehemann haben!« spottete Klas. 125
»Mit großem Maul, leerem Bauch und langer Zunge, der die Gulden zu Hellern macht und nie einen Pfennig durch seine Arbeit verdient, der allzeit das Pflaster tritt und die Wege mit der Elle des Landstrei chers mißt.« »Warum habt ihr nichts Besseres aus ihm gemacht?« erwiderte Nele tiefrot und zornig. »Da haben wir's, nun weint sie. Schweig doch, Mann!«
Es war Sonntag, und in Brügge fand die Prozession des Heiligen Blutes statt. Klas schlug Soetkin und Nele vor, sie möchten gehen, die Prozes sion zu sehen. Sie würden vielleicht Ulenspiegel in Brügge finden. Er selbst werde in ihrer Abwesenheit das Haus hüten. Die Frauen gingen fort. Klas setzte sich vor seine Türschwelle und fand die Stadt gar verödet. Er vernahm in der Nähe nichts als den kri stallenen Ton einer Dorfglocke, während ihm der Wind von Brügge her die Musik des Glockenspiels und ein großes Getöse von Böllern und Mörsern zutrug, die man zu Ehren des Heiligen Blutes abschoß. Trotz dieser freudigen Laute war Klas traurig. Er hielt Ausschau nach seinem Sohn. Plötzlich sah er auf dem Wege von Maldeghem einen Mann von hoher Gestalt näher kommen. Klas sah den Fremden am Rande eines Feldes stillstehen und nach Rüben wühlen. Er erkannte den Boten von Jobst, der ihm die siebenhundert Goldkarolus gebracht hatte. Er ging auf ihn zu und sagte: »Komm in mein Haus.« »Gesegnet seien, die liebreich gegen die irrenden Wanderer sind«, er widerte der Mann. »Dich hungert und dürstet.« »Vor acht Tagen wurde ich von Räubern ausgeplündert, und nun nähre ich mich von den Rüben auf den Feldern und von den Wurzeln im Walde.« »So ist es an der Zeit zu schlemmen.« Klas öffnete den Schrank. »Hier sind volle Schüsseln mit allerlei Speisen. Bringst du Nachricht von Jobst, meinem Bruder?« 126
»Dein Bruder Jobst ist in Aachen auf dem Rad gestorben«, erwider te der Mann, »weil er als Ketzer die Waffen gegen den Kaiser erhoben hat.« Klas war wie von Sinnen. Er zitterte am ganzen Leib. »Elende Hen ker!« stieß er hervor. »Jobst, mein armer Bruder!« Mit fester Stimme erklärte der Mann: »Unsere Freuden und Leiden sind nicht von dieser Welt. Ich habe deinem Bruder in seinem Kerker beistehen können, da er mich für seinen Verwandten ausgab. Ich kom me zu dir, weil er zu mir gesagt hat: ›Wenn du nicht gleich mir für den Glauben stirbst, so gehe zu meinem Bruder Klas. Heiß ihn im Frie den des Herrn leben, Werke der Barmherzigkeit verrichten und seinen Sohn insgeheim nach Christi Gebot erziehen.‹« Soetkin und Nele waren sieben Tage fern. Während dieser Zeit wohnte der Bote von Jobst unter Klasens Dach. Jede Nacht hörten sie Katheline in der Hütte heulen: »Das Feuer, das Feuer! Bohrt ein Loch, die Seele will hinaus!« Als Nele und Soetkin von Brügge heimgekehrt waren, war Klas wie der allein. Er saß in seiner Küche nach Art der Schneider am Boden und nähte Knöpfe an eine alte Hose. Soetkin stand immerwährend am Fenster und spähte auf die Straße, ob sie Ulenspiegel nicht kom men sähe. Plötzlich sagte sie: »Da sind der Profos und vier Büttel. Zwei gehen rund um unser Haus und zwei bleiben vorne stehen. Wen wer den sie in dieser Straße gefangennehmen? Herr Jesus, Mann, sie kom men herein!« Klas sprang aus der Küche in den Garten, Nele ihm nach. »Rette die Karolus, sie sind hinter der Rückwand des Rauchfangs«, sagte er zu ihr. Nele verstand ihn wohl, und als sie sah, wie er über die Hecke sprang und zwei Büttel ihn beim Kragen packten, und wie er sie schlug, um sie loszuwerden, schrie sie und weinte: »Er ist unschuldig! Tut meinem Vater Klas kein Leids an!« Soetkin sprach die Büttel an, die ihr Haus betreten hatten: »Ihr Her ren, was sucht ihr in unserer Wohnung? Wenn es mein Sohn ist, der ist fern. Da müßt ihr Beine machen.« 127
Jetzt erst hörte sie, daß Nele um Hilfe schrie. Sie lief in den Garten und sah, wie ihr Mann sich wehrte. »Schlag zu, töte sie«, rief Soetkin. Sie wollte Klas zu Hilfe kommen, doch einer der Büttel packte sie um den Leib. Sie mußte hilflos zusehen, wie sie Klas mit gebundenen Händen in die Küche führten. »Herr Profos«, sagte Soetkin, »was hat mein armer Mann getan, daß Ihr ihn mit Stricken bindet?« »Er ist ein Ketzer.« »Du bist ein Ketzer«, erwiderte Soetkin. »Du! Diese Teufel haben ge logen.« »Ich befehle mich in Gottes Hut«, sagte Klas und ließ sich wehrlos von den Bütteln fortführen. Soetkin und Nele folgten ihm weinend. Sie glaubten, daß man auch sie vor den Richter bringen würde. Nachbarn und Freunde fragten sie, was denn los sei. Aber als sie hörten, daß Klas gebunden ging, weil er der Ketzerei verdächtig war, hatten alle so gro ße Furcht, daß sie in ihre Häuser zurückkehrten und die Türen hinter sich verschlossen. Nur einige Mädchen traten wie immer an Klas her an und fragten: »Wohin gehst du so gebunden, Kohlenträger?« »Wohin Gott will, ihr Mädchen«, erwiderte er. Die Büttel brachten Klas in den Gemeindekerker, und Soetkin und Nele setzten sich auf die Schwelle. Als der Abend kam, sagte Soetkin zu Nele, sie solle im Hause nachsehen, ob Ulenspiegel nicht heimge kehrt sei.
Ulenspiegel lebte um diese Zeit in Koolkerke und stand in Gunst und Gnaden bei einer artigen Bäuerin, einer gefälligen Witwe, die ihm nichts abschlug, was ihr gehörte. Ulenspiegel war guter Dinge. Er wur de gehätschelt und liebkost bis zu dem Tag, an dem ein Nebenbuh ler, ein Gemeindeschöffe, ihm am Morgen beim Verlassen der Schen ke auflauerte, um ihn zu verprügeln. Ulenspiegel warf den Schöffen in den Pfuhl, damit er seinen Zorn 128
abkühle. Grün wie eine Kröte und durchweicht wie ein Schwamm kroch der Schöffe heraus. Ulenspiegel fürchtete die Rache des Schöf fen. Er verließ Koolkerke und floh, so schnell seine Beine ihn trugen, nach Damme. Es verlangte ihn, daheim zu sein. Während er über Wie sen und Felder lief, sah er im Geiste, wie Nele nähte, wie Soetkin das Nachtmahl bereitete und Klas Reisigbündel schnürte. Als Tyll bei den ersten Häusern von Damme ankam, sprangen ihm die Hunde an die Beine und kläfften. Durch den Lärm aufgeschreckt, kamen die Weiber heraus. »Woher kommst du?« riefen sie ihm zu: »Hast du Kunde von deinem Vater? Wo ist deine Mutter? Ist sie auch im Kerker mit ihm? Wehe! Gnade Gott, daß man Klas nicht verbrenne!« Ulenspiegel lief noch rascher. Er begegnete Nele. Sie hielt ihn auf: »Tyll, geh nicht in dein Haus. Die von der Stadt haben im Namen Sei ner Majestät einen Wächter dort aufgestellt.« »Nele, ist es wahr, daß mein Vater im Gefängnis ist?« »So ist es«, erwiderte sie, »und Soetkin weint auf der Schwelle.« Da schwoll das Herz des verlorenen Sohnes vor Leid, und er sagte zu Nele: »Ich will sie dort aufsuchen.« »Das sollst du nicht tun, sondern du sollst Klas gehorchen, der mir, ehe sie ihn ergriffen, gesagt hat: ›Rette die Karolus, sie sind hinter der Rückwand des Rauchfangs. Die müssen gerettet werden, denn sie sind Soetkins, des armen Weibes, Erbe.‹« Nele flehte ihn an: »Komm mit mir in das Haus Kathelines.« Ulenspiegel hörte nicht auf sie. Er lief zum Gefängnis. Er sah Soet kin auf der Schwelle sitzen. Sie umfing ihn, und sie weinten mitsam men. Aber da das Volk sich ihretwegen in Haufen um das Gefängnis scharte, kamen Büttel und geboten Ulenspiegel und Soetkin, sich fort zuscheren. Mutter und Sohn gingen in das Haus Kathelines. Vor ihrem Haus stand tatsächlich einer der Landsknechte, die aus Brügge entboten worden waren, um die Unruhen niederzuschlagen, die während des Gerichts und der Hinrichtung Klasens entstehen mochten. Denn die Leute von Damme liebten den Kohlenträger sehr. 129
Landsknechte umstellten den Platz um die Gerichtslinde, als die Sturmglocke die Richter zum Tribunal rief. Klas wurde vor den Rich terstuhl gebracht und sah den Amtmann von Damme unter dem Bal dachin sitzen, ihm zur Seite und gegenüber den Bürgermeister und die Schöffen. Der Gerichtsschreiber verkündete, daß der Gerichtshof Anlaß ge funden habe, in Ansehung und Anhörung der Anzeigen und Aussa gen, Klas den Kohlenträger, aus Damme gebürtig, gefänglich einzuzie hen. Nunmehr würden sie zum Verhör der Zeugen schreiten. Das Volk, das beim Klang der Glocken herbeigeströmt war, wurde unruhig, aber Hans Barbier, Klasens Nachbar, wurde dennoch ver nommen. Nachdem er den Eid geleistet hatte, sagte er aus: »Beim Heil meiner Seele versichere und bezeuge ich, daß Klas, der hier vor Ge richt steht, allzeit rechtschaffen und nach den Gesetzen unserer Hei ligen Mutter Kirche gelebt, niemals schimpflich von ihr geredet, auch meines Wissens nie einen Ketzer beherbergt, noch das Buch Luthers verborgen, noch von besagtem Buche geredet oder irgend etwas getan hat, was ihn in den Verdacht bringen könnte, gegen die Gesetze und Verordnungen des Reiches gefehlt zu haben. So helfe mir Gott und alle seine Heiligen.« Als nächster wurde Jan van Roosebeke verhört. Er sagte aus, daß er die Stimme zweier Männer im Hause des Angeklagten zu verneh men vermeint habe, während Soetkin, Klasens Weib, abwesend gewe sen sei. Auch habe er am Abend nach der Feierstunde in der Dachstu be ein Licht und zwei Männer gesehen, deren einer Klas war, und sie hätten vertraulich miteinander geredet. Ob der andere Mann ein Ket zer war oder nicht, vermöchte er nicht zu sagen, denn er hätte ihn nur von ferne gesehen. »Was Klas angeht«, fügte er hinzu, »so sage ich aus und spreche die volle Wahrheit, daß er, solange ich ihn kenne, um die Osterzeit regelmäßig beichtete, an den hohen Festen kommunizierte und alle Sonntage zur Messe ging. Mehr weiß ich nicht. So helfe mir Gott und alle seine Heiligen.« Befragt, ob er nicht gesehen hätte, wie Klas in der Schenke ›Zum blauen Turm‹ Ablaß verkauft und über das Fegefeuer gespottet hät 130
te, erwiderte Jan van Roosebeke, daß Klas allerdings Ablaß verkauft hätte, doch ohne Verachtung oder Spott. Er, Jan van Roosebeke, hätte selbst welchen gekauft, und so habe auch Jobst Griepenstüver, der Äl teste der Fischergilde, tun wollen, der dort in der Menge stehe. Darauf sagte der Amtmann, er wolle die Taten und Handlungen, um derent willen Klas vor dem Gerichtshof stehe, bekanntgeben. »Der Mann, der ihn angezeigt hat«, sagte er, »ist am Tage der Pro zession des Heiligen Blutes nicht in Brügge gewesen, sondern in Dam me geblieben und hat beobachtet, wie Klas einen Mann begrüßte. Die ser Mann war in schwarzes Tuch gekleidet. Er trat bei Klas ein. Neu gierig zu wissen, wer dieser Mann sei, trat der Angeber in den Haus flur und hörte Klas in der Küche mit dem Fremden von einem gewis sen Jobst, seinem Bruder, sprechen, der unter den Truppen der Re formierten gefangengenommen und für diese Tat in Aachen gerädert worden sei. Der Fremde sagte zu Klas, das Geld, das er von seinem Bruder empfangen habe, sei dem armen unwissenden Volk abgenom men worden und Klas solle es dazu verwenden, seinen Sohn in der re formierten Religion zu erziehen. Außerdem forderte er Klas auf, den Schoß unserer heiligen Mutter Kirche zu verlassen, und sprach andere gottlose Worte, auf die Klas nur erwiderte: ›Grausame Henker! Mein armer Bruder!‹ Und so hat der Angeklagte Unseren Heiligen Vater, den Papst, und Seine Königliche Majestät beschimpft. Er hat sie der Grau samkeit beschuldigt, weil sie die Ketzerei zu Recht als Verbrechen an göttlicher und irdischer Majestät bestraften. Der Angeber hat mit ei genen Ohren gehört, daß Klas Gott selber der Gottlosigkeit angeklagt hat. Der Fremde aber hat geschrien: ›Sie wird stürzen, die große Babel, die römische Hure, und sie wird die Behausung von Teufeln und der Schlupfwinkel jedes Galgenvogels werden! Denn der Engel wird den Stein nehmen, groß wie ein Mühlstein, und wird ihn ins Meer werfen und sagen: Also wird die große Babel verworfen und nicht mehr ge funden werden.‹ – ›Herr‹, sprach Klas, ›Euer Mund ist voll Zorn. Aber sagt mir, wann wird das Reich kommen, wo die Sanftmütigen in Frie den auf Erden leben können?‹ – ›Nimmer!‹ antwortete der Fremde, ›so lange der Antichrist herrschen wird, welcher ist der Papst und Wi 131
dersacher aller Wahrheit! Er ist es, der die Urteile schleudert und sie durch den Kaiser ausführen läßt. Der hat den Nutzen von den Gü tereinziehungen. Er beerbt die Verstorbenen und macht den Reichen gern den Prozeß wegen Ketzerei.‹ Klas antwortete: ›Man redet solches im Lande Flandern, ich muß es glauben. Das Fleisch des Menschen ist schwach, selbst wenn es königliches Fleisch ist.‹ Also gab Klas zu verstehen, daß Seine Majestät aus schnöder Gewinnsucht die Ketzerei straft. Da der Fremde ihn beschwatzen wollte, erwiderte Klas: ›Herr, haltet mir nicht solche Reden, denn wenn sie gehört werden, können sie mir einen schlimmen Prozeß zuziehen. Ich will die Tür schließen‹, sagte er dann, und der Angeber hörte nichts mehr, denn er mußte aus dem Hause gehen. Die Türe wurde verschlossen, jedoch bei sinkender Nacht wieder geöffnet. Der Fremde kam heraus, kehrte aber bald wie der zurück, pochte an und sagte: ›Klas, mich friert, ich weiß nicht, wo ich einkehren soll. Gib mir Obdach, niemand hat mich hereinkommen sehen, die Stadt ist menschenleer.‹ Klas nahm ihn bei sich auf, entzündete eine Laterne, und man sah ihn, dem Ketzer vorangehend, die Stiege hinaufsteigen und den Fremden in eine Kammer unter dem Dach führen, deren Fenster aufs Feld geht.« Der Amtmann hielt inne. Aber Klas schrie auf und deutete mit dem Finger in die Richtung Jobst Griepenstüvers, des Ältesten der Fischer gilde, der in der Menge stand: »Wer anders kann all dies angegeben haben, wenn nicht dieser schändliche Fischhändler!« Atemlos setzte er hinzu: »Ich sah dich am Sonntag auf deiner Schwelle stehen und scheinheilig dem Fluge der Schwalben zuschauen.« Der Fischhändler lächelte hämisch, da er sah, daß Klas sich durch seinen Aufschrei verraten hatte. Die Männer, Frauen und Kinder im Volke erkannten es auch und sagten: »Armer, guter Klas, seine Worte werden ihm den Tod bringen.« Es wurde wieder still in der Menge, denn der Gerichtsschreiber fuhr in seiner Verlesung fort: »Der Ketzer und Klas sprachen in jener Nacht lange zusammen, desgleichen während sechs weiterer Nächte. Gewiß sprachen sie in dieser Woche schändlich über Messe und Beichte, über den Ablaß und über Seine Kaiserliche Majestät.« 132
»Keiner hat es gehört«, sagte Klas, »und man kann mich nicht ohne Beweise anklagen.« Der Gerichtsschreiber wies ihn zurecht: »Man hat anderes gehört. Als der Fremde am siebenten Tag um zehn Uhr aus deinem Haus ging und die Nacht schon gesunken war, gabst du ihm bis zur Grenze von Kathelines Feld das Geleite. Dort erkundigte sich der Fremde, was du mit den schändlichen Götzenbildern der erhabenen Frau Maria und der hohen Heiligen Nikolas und Martin gemacht hättest. Du hast zur Antwort gegeben, du habest sie zerbrochen und in den Brunnen ge worfen. Und wirklich wurden sie vergangene Nacht in deinem Brun nen gefunden, und die Stücke sind in der Folterkammer.« Diese Ausführungen schienen Klas niederzuschmettern. Der Amt mann fragte, ob er nichts zu erwidern hätte, doch Klas schüttelte ver neinend den Kopf. Der Amtmann fragte ihn, ob er den verruchten Ge danken, die Bilder zu zerbrechen, und den gottlosen Irrtum, kraft des sen er schändliche Worte wider Seine Göttliche und Seine Kaiserliche Majestät gesprochen habe, nicht widerrufen wolle. Klas erwiderte, daß sein Leib Seiner Kaiserlichen Majestät, sein Gewissen aber Christo ge höre, dessen Gebot er folgen wolle. Der Amtmann fragte, ob dieses Gebot das Gebot unserer Heiligen Mutter Kirche wäre. Klas antworte te: »Es ist im heiligen Evangelio.« Aufgefordert, auf die Frage zu antworten, ob der Papst der Statthal ter Gottes auf Erden sei, erwiderte Klas: »Nein.« Verhört, ob er es für unerlaubt halte, die Bilder der Heiligen Jungfrau und der hohen Hei ligen anzubeten, erwiderte er, daß solches Götzendienst sei. Befragt, ob die Ohrenbeichte eine gute und heilsame Sache sei, gab er zurück: »Christus hat gesagt: Beichtet einer dem anderen.« Die Antworten Klasens waren tapfer, wenn er auch im Grunde sei nes Herzens betrübt und erschrocken zu sein schien. Als es acht Uhr geschlagen hatte und die Nacht herabsank, zog sich der Gerichtshof zurück. Das endgültige Urteil sollte am nächsten Tag gesprochen werden.
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In Kathelines Haus weinte Soetkin ohne Unterlaß. Ulenspiegel und Nele umarmten sie mit inniger Zärtlichkeit. Sie drückte beide in ihre Arme und machte ihnen ein Zeichen, sie allein zu lassen. Nele flüsterte Ulenspiegel zu: »Gehen wir, sie will es. Laß uns die Ka rolus retten.« Die Häuser von Klas und Katheline stießen aneinander. Das von Katheline hatte nach der Straße zu ein Stück Land, mit Saubohnen bepflanzt, das von Klas hatte ein Gärtlein. Das Land Kathelines war mit einer grünen Hecke eingefriedet, in die Ulenspiegel ein großes Loch gemacht hatte, um zu Nele gehen zu können. Durch dieses Loch kamen sie in den Gemüsegarten und sahen von dort aus den Lands knecht, der, anstatt Wache zu halten, auf der Wiese schlief. Eine mit Weidenruten umflochtene Flasche lag neben ihm. »Nele«, sagte Ulenspiegel ganz leise, »dieser trunkene Landsknecht hat noch nicht genug für seinen Durst. Er muß noch mehr trinken.« Er glitt durch das Loch in der Hecke, nahm die Flasche des Soldaten und reichte sie Nele, die sie mit Branntwein füllte. Der Landsknecht schnarchte ohne Unterlaß. Ulenspiegel legte ihm die volle Flasche zwi schen die Beine, kehrte in Kathelines Gärtlein zurück und wartete mit Nele hinter der Hecke. Bald griff der Landsknecht nach der vollen Flasche. Ulenspiegel und Nele sahen zu, wie er im Mondschein die Flasche schüttelte, um das Glucksen der Flüssigkeit zu hören. Dann kostete er davon, lachte, wun derte sich, daß sie so voll war, trank einen Schluck, tat einen Zug, setz te sie zu Boden, nahm sie abermals auf, trank von neuem und schlief ein. Er konnte nicht hören, wie Nele sagte: »Das Geld ist in einem Topf hinter der Rückwand des Rauchfangs.« Er sah auch nicht, wie Ulen spiegel durch den Stall in Klasens Küche trat, die Platte von der Rück wand abhob, den Topf und die Karolus fand, in Kathelines Garten zu rückkehrte und den Beutel mit den Karolus neben der Brunnenmau er vergrub. Der Landsknecht schlief den rechten Schlaf des Trunkenbolds, auch noch, als sie beide wieder zu Soetkin zurückgekehrt waren, die ohne Unterlaß jammerte: »Mein Mann, mein armer Mann!« 134
Nachdem die Sturmglocke am nächsten Morgen wieder die Richter um die Gerichtslinde versammelt hatte, verhörten sie Klas nochmals und fragten ihn, ob er seinen Irrtum aufgeben wolle. Er hob die Hand gegen den Himmel: »Christus, mein Herr, blickt auf mich herab. Ich schaute in Seine Sonne, als mein Sohn Ulenspiegel geboren wurde. Wo ist er zur Stun de, der Landstreicher? Soetkin, mein sanftes Weib, wirst du im Un glück tapfer sein? Ihr Herren, habt Mitleid mit mir und richtet mich, wie unser barmherziger Heiland es täte!« Dann fragte er, ob es keine Begnadigung für ihn gäbe, und sprach: »Ich habe immer gearbeitet und wenig verdient, ich war gut zu den Ar men, freundlich gegen jedermann. Die römische Kirche habe ich ver lassen, um dem Geist Gottes zu gehorchen, der zu mir sprach. Ich fle he um keine Gnade, als daß die Feuerstrafe in lebenslängliche Verban nung aus Flandern verwandelt werde, welche Strafe wahrlich schon groß ist.« Alle Anwesenden schrien: »Gnade, Ihr Herren! Erbarmen!« Aber Jobst Griepenstüver öffnete den Mund nicht. Der Amtmann winkte dem Volk, damit es schweige, und sagte, daß die Edikte das ausdrückliche Verbot enthielten, für Ketzer um Gnade zu bitten. Wenn Klas aber seinem Irrtum abschwören wolle, solle er durch den Strang hingerichtet werden anstatt durch das Feuer. »Ob Feuer oder Strang – es ist der Tod!« riefen die Männer murrend, und die Frauen weinten. Darauf sagte Klas: »Ich werde mitnichten abschwören. Tut mit mei nem Leib, was Eurer Barmherzigkeit gefällt.« Der Dechant von Ronse aber erhob die Stimme: »Es ist unerträg lich zu sehen, wie solches Ketzergeschmeiß das Haupt vor seinen Rich tern erhebt. Ihre Körper zu verbrennen, ist eine Strafe von kurzer Dau er. Man muß ihre Seelen retten und sie durch die Folter zwingen, ih ren Irrtümern abzuschwören, auf daß sie dem Volk nicht das gefährli che Schauspiel von Ketzern geben, die eines unbußfertigen Todes ster ben.« Der Gerichtshof entschied aber anders: Weil die Folter nicht in den 135
Verordnungen stehe, sei es nicht statthaft, sie Klas erleiden zu lassen. Abermals aufgefordert, seine Ansichten zu widerrufen, erwiderte er: »Ich kann es nicht.« Kraft der Edikte wurde er der Simonie für schuldig erklärt wegen Verkaufes von Ablaß, desgleichen der Ketzerei und Beherbergung von Ketzern und als solcher verurteilt, vor den Gitterfenstern des Rathau ses lebendig verbrannt zu werden, ›bis der Tod eintritt‹. Sein Leichnam sollte während zweier Tage am Pfahl bleiben, um zum Exempel zu die nen, und alsdann an der Stätte begraben werden, wo man die Körper der Hingerichteten verscharrte. Der Gerichtshof bewilligte dem Ankläger, dessen Name nicht ge nannt wurde, fünfzig Gulden auf die ersten hundert Karolusgulden der Erbschaft und den zehnten Teil vom übrigen. Als Klas diesen Richterspruch vernommen hatte, wandte er sich dem Ältesten der Fischhändler zu: »Jobst Griepenstüver, du wirst eines elen den Todes sterben, du schlechter Mensch, der für armselige Groschen aus einem glücklichen Eheweib eine Witwe und aus einem fröhlichen Sohn eine bekümmerte Waise macht.« Die Richter hatten Klas nicht am Sprechen gehindert, denn auch sie, mit Ausnahme des Dechanten von Ronse, waren von tiefer Verachtung für den Denunzianten. Klas trug den Kopf hoch, als er in sein Gefängnis zurückgeführt wurde.
Als Soetkin, Ulenspiegel und Nele das Urteil erfuhren, baten sie die Richter um Einlaß in das Gefängnis. Nele wurde die Erlaubnis verwei gert, aber Tyll und seine Mutter durften hinein. Erst sahen sie die flackernden Flammen eines Holzfeuers, das im Ka min brannte, und dann Klas, der mit einer langen Kette an die Mauer gefesselt war. Sie schraken entsetzt zurück, aber dann konnten sie se hen, daß die Flammen nicht loderten, um Klas zu quälen. Im Gegen teil. Der Verurteilte sollte nicht frieren, denn in Flandern ist es Recht 136
und Gesetz, gegen die, die den Tod im Gefängnis erwarten, milde zu sein und ihnen auch Brot, Fleisch oder Käse und Wein zu geben. Soetkin und Ulenspiegel weinten. Aber die Augen Klasens waren trocken, wie es ihm als Familienhaupt geziemte. Mit knirschenden Zähnen sagte Ulenspiegel: »Ich will deine abscheulichen Ketten zer brechen!« Soetkin flüsterte unter Tränen: »Ich werde zu König Philipp gehen. Er wird dich begnadigen.« »Der König erbt die Habe der Opfer«, erwiderte Klas. Sein Blick ver schleierte sich: »Ich gehe traurig und voller Harm aus dieser Welt. Es ist nicht so schlimm, daß ich Furcht vor dem Leiden für meinen Kör per habe, ich bin noch betrübter, weil ich weiß, daß ihr beiden arm und elend sein werdet, denn der König wird euch eure Habe nehmen.« Ulenspiegel trat ganz nahe an seinen Vater heran und flüsterte ihm ins Ohr: »Nele hat gestern alles mit mir gerettet.« »Des bin ich froh.« Ein Lächeln erhellte das sorgenvolle Gesicht Kla sens: »Der Angeber wird sich nicht über meinen Nachlaß freuen!« Das Auge voll Haß, ohne zu weinen, sagte Soetkin: »Möge er ster ben!« »Du warst schlau, Tyllken, mein Söhnchen«, murmelte Klas. »Meine Witwe wird in ihren alten Tagen nicht Hunger leiden.« Er küßte Soetkin und drückte sie fest an seine Brust. Dann sagte er zu Ulenspiegel: »Du hast oft gesündigt, mein Sohn. Du darfst dich nicht mehr mit den bösen Buben auf den Landstraßen herumtreiben, du darfst deine Mutter nicht allein im Haus lassen. Du bist ein Mann und schuldest ihr Schutz und Schirm.« »Ich werde tun, wie du es wünschest, mein Vater.« Ulenspiegel wollte noch mehr sagen, aber der Kerkermeister trat ein und forderte Tyll und Soetkin zum Gehen auf. Sie verlangte zu bleiben. Klas fühlte, wie ihr armes Gesicht an dem seinen glühte, wie ihre Trä nen seine Wangen netzten und wie ihr armer Körper in seinen Armen zitterte. Der Kerkermeister sagte nochmals, daß sie nun gehen müß ten, und zog Soetkin aus der Umarmung ihres Mannes. Klas sprach mit fester Stimme zu Ulenspiegel: »Wache über sie!« 137
Die Nachbarn hatten Mitleid mit Soetkin, Ulenspiegel und Nele. Da mit sie nichts von der Hinrichtung hörten und sähen, schlossen sie sie in das Haus Kathelines ein, die durch die Straßen irrte und, den Kopf schüttelnd, rief: »Macht ein Loch, die Seele will hinaus!« Die Nachbarn hatten nicht bedacht, daß Ulenspiegel, Soetkin und Nele auch in Kathelines Haus das Geschrei des armen Sünders hören und durch die Fenster die Flamme des Holzstoßes sehen könnten. Sie waren aber doch nicht dabei, als Klas um die neunte Stunde, im Hemd, die Hände auf den Rücken gebunden, aus dem Gefängnis geführt wur de. Sie sahen nicht, daß der Scheiterhaufen in der Straße der Frauen kirche aufgeschichtet war, rings um einen Pfahl, der vor den Gitterfen stern des Rathauses eingerammt war. Klas wartete inmitten der Henker und der Büttel geduldig, bis sie das Holz zurechtlegten. Das Volk auf dem Platz murrte. Es konnte nur mit großer Mühe im Zaum gehalten werden. Männer und Frauen riefen, daß es Grausamkeit wäre, den braven Kohlenträger, der so freundlich und barmherzig und so wacker bei der Arbeit gewesen sei, in seinen al ten Tagen so ungerecht hinzumorden. Aber sie beugten doch das Knie, als die Sterbeglocken der Frauenkirche läuteten. Auch Soetkin und Nele hörten den herzbeklemmenden Klang der Glocken. Sie bekreuzigten sich. Aber Ulenspiegel tat es nicht. Er sagte mit bitterer Stimme, daß er nicht mehr nach Art der Henker zu Gott beten werde. Er rannte in der Hütte hin und her und versuchte, die Tü ren einzuschlagen und durch die Fenster zu springen. Aber die Türe war verriegelt und die Fenster vergittert. Plötzlich schrie Soetkin, das Gesicht in der Schürze bergend: »Der Rauch!« Eine große schwarze Rauchwolke wehte über den Himmel. Sie kam vom Scheiterhaufen, auf dem Klas an den Pfahl gekettet stand, und der Henker hatte das Holz gerade an drei Stellen angezündet, im Namen Gottes, des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Ein Windstoß trug die betende Stimme Klasens heran, die Geräusche des prasselnden Holzes, das Murren der Männer, das Weinen der Frauen und die laute Stimme Kathelines, die schrie: »Nehmt das Feuer fort! Macht ein Loch, die Seele will hinaus.« 138
Die Sterbeglocken der Frauenkirche läuteten unaufhörlich. Plötzlich wurde Soetkin weiß wie Schnee. Sie bebte am ganzen Körper, ohne zu weinen, und wies mit dem Finger gegen den Himmel. Eine lange, schmale Flamme schoß aus dem Scheiterhaufen empor und erhob sich über die Dächer. Ulenspiegel hielt seine Mutter in seinen Armen fest und wollte sie vom Fenster fortreißen. Aber ein gellender Schrei, den er hörte, bann te auch ihn. Dann war es still – auch im Hause Kathelines. »Er stirbt«, sagte Soetkin. »Herr Gott, erbarm dich der Seele des Un schuldigen.« Die Sterbeglocken der Frauenkirche läuteten und läuteten. Soetkin hörte den lauten Schrei Klasens. Aber sie sah nicht, wie sein Körper sich unter den Flammen des Feuers krümmte, auch nicht, wie sein Gesicht sich verzerrte und wie er den Kopf nach allen Seiten dreh te und ihn gegen das Holz des Pfahles schlug. »Wo ist der König?« mur melte sie. »Daß ich ihm mit meinen Nägeln das Herz ausreiße!« Die Menge auf dem Platz vor der Frauenkirche fuhr fort, entrüstet zu rufen und Zischlaute auszustoßen. Die Frauen und Knaben warfen Steine. Plötzlich loderte der Scheiterhaufen auf, und alle hörten, wie Klas inmitten der Flammen und des Rauches sagte: »Soetkin! Tyll!« Sein Haupt fiel schwer auf die Brust wie eine Kugel aus Blei. Klas war verschieden. Der ausgebrannte Scheiterhaufen sank am Fuße des Pfahles in sich zusammen. Die Totenglocken der Frauenkir che läuteten, und der verkohlte Körper Klasens hing reglos am Pfahl. Die Nachbarn kamen vom Richtplatz zum Haus Kathelines zurück. Teilnahmsvoll berichteten sie Soetkin, die mit gesenktem Kopf und ge falteten Händen an die Wand gelehnt stand, daß Klas ausgelitten hätte. »Er ist in die Herrlichkeit eingegangen«, erwiderte die Witwe. »Bete«, sagte Nele zu Ulenspiegel, der starr vor sich hin sah. Sie reichte ihm ihren Rosenkranz, aber er wollte ihn nicht gebrauchen, da die Perlen vom Papst geweiht waren. Sie blieben beisammen, ohne zu reden und ohne zu weinen. Als die Nacht herabsank, sagte Ulenspiegel zu Soetkin: »Mutter, du mußt dich schlafen legen. Ich werde bei dir wachen.« 139
»Es ist nicht nötig, daß du bei mir wachst«, erwiderte sie. »Der Schlaf ist gut für die Jugend.« Nele bereitete ihren Gästen ein Lager in der Küche und verließ das Haus, um Katheline zu suchen. Mutter und Sohn blieben beieinander. Die Reste von Baumwurzeln verglimmten im Kamin. Soetkin legte sich nieder. Ulenspiegel hörte sie unter ihrer Decke weinen. Plötzlich stieß ein Windstoß die Türe auf. Staub drang in den Raum. Fernes Rabengekrächze berührte Mut ter und Sohn so heftig, daß sie nicht ruhen konnten. Sie wollten hin aus. Die Straßen waren menschenleer, als sie sich in die Richtung des Scheiterhaufens wandten. Ulenspiegel und Soetkin hörten den Schall der Schritte eines Gemeindebüttels, der Wache am Scheiterhaufen hielt. Sie hörten auch das Krächzen eines Raben. Als sie vor dem Scheiter haufen ankamen, ließ sich der Rabe auf Klasens Schulter nieder, und alsbald flogen noch mehr Raben heran. Ulenspiegel wollte sie vertrei ben, aber der Büttel fiel ihm in den Arm. »Halt!« schrie er. »Fort mit dir, du Zauberer! Suchst du Teufelsklau en? Weißt du nicht, daß die Hände von Verbrannten nicht unsicht bar machen, sondern nur die Hände von Gehenkten, wie du einer sein wirst?« »Herr Waibel«, erwiderte Ulenspiegel beherrscht. »Ich bin kein Zau berer, sondern der verwaiste Sohn des Mannes am Pfahl, und dieses Weib ist seine Witwe. Wir wollen Klas nur noch einmal küssen und ein weniges von seiner Asche zum Gedächtnis an ihn mit uns nehmen. Erlaubt es uns, Herr! Ihr seid doch kein fremder Söldling, sondern ein Sohn dieses Landes!« Der Büttel wandte sich ab und sagte: »Es geschehe, wie du willst.« Soetkin und Ulenspiegel schritten über das verbrannte Holz, das un ter ihren Füßen knirschte, und näherten sich dem Leichnam. Sie küß ten das Antlitz Klasens, und Ulenspiegel nahm an der Stelle, wo das Herz gewesen war und die Flamme ein großes Loch ausgehöhlt hatte, ein wenig von der Asche des Toten. Dann knieten Soetkin und er nie der. Und sie beteten. 140
Als sie wieder im Haus Kathelines waren, machte Soetkin ein Säck chen aus roter und schwarzer Seide, tat die Asche hinein und näh te zwei Bänder an das Säckchen, damit es Ulenspiegel immer um den Hals tragen könne. »Möge diese Asche, die das Herz meines Mannes, dieses Rot, das sein Blut, dieses Schwarz, das unsere Trauer ist, immerdar auf deiner Brust sein wie das Feuer der Rache wider die Henker.« »So sei es«, erwiderte Ulenspiegel, während ihm seine Mutter das Säcklein um den Hals hängte.
Am nächsten Morgen drangen die Büttel und Ausrufer der Gemein de Damme in das Haus Klasens ein und setzten allen Hausrat auf die Straße. In aller Öffentlichkeit sollte das Hab und Gut des Hingerichte ten versteigert werden. Von Kathelines Haus aus sah Soetkin, wie die Büttel die Wiege aus Eisen und Kupfer hinaustrugen, die in den Geschlechterfolgen der Klase vom Vater auf den Sohn vererbt worden war. Dann trugen sie das Bett hinaus, in dem Soetkin so trauliche Nächte an der Seite ih res Mannes verbracht und ihre Kinder empfangen hatte. Dann kam der Schrank, in dem sie das Brot verwahrt hatte, die Lade, in der das Fleisch gelegen war, die Pfannen, Kessel und Töpfe. Ohne zu schreien oder zu klagen, saß Soetkin still und sah blutenden Herzens, wie ihr bescheidener Wohlstand davongetragen wurde. Der öffentliche Ausrufer steckte ein Talglicht an, und der Hausrat wurde dem Meistbietenden angeboten. Niemand hob die Hand, um zu kau fen, nur der Denunziant Griepenstüver. Und als das Talglicht schon beinahe ganz ausgebrannt war, hatte der Älteste der Fischergilde alles um ein Spottgeld erstanden. »Du wirst nicht lange lachen, Mörder«, sprach Ulenspiegel in seinem Herzen und sah, wie der Fischhändler nur die Hälfte des Kaufpreises zu entrichten brauchte, denn die andere Hälfte diente als Lohn für sei ne Angeberei. Die brauchte er so lange nicht zu zahlen, bis die sieben 141
hundert Karolustaler gefunden würden, die ihn zu seiner Schurkerei angestiftet hatten. Soetkin verbrachte die Nächte mit Weinen und die Tage mit Hausar beit. Oft hörte Ulenspiegel sie vor sich hin sprechen. Dann sagte sie zu sich selbst: »Wenn der Schurke erbt, bringe ich mich um.« Wußte sie, daß der Fischhändler wieder zum Amtmann gegangen war, um ihm nochmals mit Nachdruck zu sagen, daß der verstorbe ne Klas doch vor wenigen Monaten siebenhundert Karolus erhalten habe, daß er ein sparsamer Mann gewesen war, der mit wenigem aus kam und daher nicht diese große Summe ausgegeben haben konn te, die ohne Zweifel in einem Winkel des Hauses verborgen sei? Der Amtmann fragte Jobst Griepenstüver, was Soetkin und Ulenspiegel ihm denn angetan hätten, da er noch darauf sinne, sie grausam zu verfolgen, nachdem er ihnen doch Mann und Vater genommen habe. Der Fischhändler erwiderte mit gespielter Empörung, daß er als an gesehener Bürger von Damme nichts anderes im Sinne habe, als den Gesetzen des Reiches Achtung zu verschaffen, und die Gnade Seiner Majestät zu verdienen. Er überreichte dem Amtmann eine Anklage schrift und führte Zeugen auf, die zwar wider Willen, aber doch der Wahrheit gemäß bestätigten, daß der Älteste der Fischergilde nicht löge. Der Amtmann war genötigt, den Herren von der Schöffenkammer die Anklageschrift und die Zeugenaussagen vorzulegen. Sie erklär ten die Indizien der Schuld Soetkins und Ulenspiegels ausreichend zur Folter. Die Büttel erhielten Vollmacht, das Haus Klasens auf der Suche nach den siebenhundert Karolus zu durchwühlen und Mutter und Sohn in das Stadtgefängnis zu bringen, wo sie festgehalten wer den sollten, bis der Henker von Brügge ankam, der die Folterung vor nehmen sollte. Als Soetkin und Ulenspiegel mit auf den Rücken gebundenen Hän den, von den Bütteln bewacht, durch die Straßen gingen, stand der Fischhändler auf der Schwelle seines Hauses und sah sie mit kalten Au gen an. Mathyssen, der nächste Nachbar Griepenstüvers, hörte Ulen spiegel zum Ankläger sagen: »Gott wird dir fluchen, du Henker der 142
Witwen!« Und Soetkin sagte: »Du wirst eines elendigen Todes sterben, du Verfolger der Waisen.« Die Bürger und Bürgerinnen von Damme schmähten den Fisch händler und warfen ihm Steine in die Fenster. Seine Türe wurde mit Unrat beschmiert. Die Entrüstung aller war so groß, daß er es nicht mehr wagte, aus dem Hause zu gehen. Aber Soetkin und Ulenspiegel wurden gleich in die Folterkammer geführt. In der Anwesenheit des Gerichtsschreibers, der Schöffen, des Henkers von Brügge und eines Wundarztes fragte der Amtmann die Witwe, ob sie kein dem Kaiser gehöriges Gut vorenthalte. Sie erwider te, daß sie nichts vorenthalten könne, da sie nichts habe. »Und du?« Der Amtmann wandte sich Ulenspiegel zu. »Vor sieben Monaten«, erwiderte der Sohn Klasens, »haben wir siebenhundert Karolus vom Bruder meines Vaters geerbt. Einige da von haben wir verzehrt. Was die andern betrifft, so weiß ich nicht, wo sie sind. Ich glaube aber, daß der Wanderer, der zu unserem Unglück in unserem Hause wohnte, den Rest mitgenommen hat.« Der Amtmann schüttelte ernst und traurig den Kopf: »Da die Aussa gen der Zeugen euch schwer belasten und die Anklage daher begrün det ist, müßt ihr beide, falls ihr nicht bekennt, die hochnotpeinliche Frage erleiden.« »Schont die Witwe!« rief Ulenspiegel außer sich. »Nehmt mich statt meines Sohnes«, bat Soetkin. Die Richter hielten Rat und bestimmten, daß mit der Frau begonnen werden solle, um die Wahrheit zu erfahren. Der Amtmann befahl dem Henker: »Setze die Frau auf den Stuhl und lege ihr die Schraubstöcke an Hände und Füße.« »Oh, tut es nicht, Ihr Herren Richter!« schrie Ulenspiegel verzwei felt. »Bindet mich an ihrer Statt an, zerbrecht mir die Finger und Ze hen, aber schont die Witwe!« »Schnüre!« befahl der Amtmann. Der Henker tat es grausam. Der Amtmann sprach hastig zu Soetkin: »Bezeichne mir den Ort, wo die Karolus verborgen sind!« »Ich kenne den Ort nicht«, antwortete Soetkin ächzend. 143
»Schnüre stärker!« gebot der Amtmann. Als Ulenspiegel sah, daß der Henker die Schraubstöcke noch enger anzog, schrie er auf: »Erbarmen, Ihr Herren! Ihr zerbrecht der Witwe die Finger. Sie braucht sie zur Arbeit. Erbarmen, ihre Füße! Sie wird nicht mehr gehen können. Erbarmen, Ihr Herren!« Die Knochen Soetkins krachten. Das Blut troff von ihren Füßen. Sie schrie: »Du wirst eines elendigen Todes sterben, Fischhändler.« Ulenspiegel sah alles mit an. Er zitterte vor Schmerz und Zorn. »Zer brecht nicht Frauenknochen, Ihr Herren Richter!« »Der Fischhändler«, ächzte Soetkin. »Ihr Herren Richter, die Hände bluten und die Füße auch«, stieß Ulenspiegel hervor. »Man hat der Witwe die Knochen gebrochen.« Der Wundarzt berührte Soetkin mit dem Finger. Sie stieß einen lau ten Schrei aus. »Bekenne für sie«, sagte der Amtmann zu Ulenspiegel. Aber Soetkin blickte ihren Sohn an. Ihre weit offenen Augen glichen denen einer Dahingeschiedenen. Er begriff, daß sie ihm nicht erlaubte zu sprechen. Er weinte stumm. Aber der Amtmann fuhr fort: »Da die ses Weib mit der Standhaftigkeit eines Mannes begabt ist, so muß ihr Mut vor der Tortur ihres Sohnes auf die Probe gestellt werden.« Auf seinen Befehl wurden Ulenspiegels Hände an zwei Stricke ge bunden, die über eine an der Decke befestigte Rolle liefen, so daß der Henker ihn nach Belieben mit heftigem Ruck hochziehen und herun terlassen konnte. Er hängte an jedes Bein ein Gewicht von fünfund zwanzig Pfund, und dann begann er zu ziehen. Beim neunten Ruck des Henkers zerriß die Haut über den Handge lenken und Fußknöcheln Ulenspiegels und die Knochen seiner Beine traten aus ihren Gelenken. »Bekenne«, sagte der Amtmann. »Nein«, erwiderte Ulenspiegel. Soetkin sah ihren Sohn an. Sie hatte weder die Kraft zu schreien noch zu sprechen. Sie streckte nur die Arme aus und rang ihre bluten den Hände, zum Zeichen, daß man dieser Marter ein Ende machen solle. Der Henker zog Ulenspiegel abermals hinauf und hinunter. Aber der Gequälte schrie nicht. 144
»Bekenne die Hehlerei«, drängte der Amtmann, »und dir soll verzie hen sein.« »Der Fischhändler braucht Verzeihung«, erwiderte Ulenspiegel. Der Amtmann sprach mit dem Henker. Ein Knecht entzündete Un schlittkerzen und brachte ein glühendes Kohlenbecken. »Zieht Ulenspiegel hoch«, befahl der Amtmann. »Stellt ihm das Koh lenbecken unter die Füße und haltet eine Kerze unter jede Achsel.« Als der Henker gehorchte, knisterte und rauchte, was an Haar unter den Achseln Ulenspiegels übriggeblieben war, in der Flamme der Ker ze. Er schrie auf. »Bekenne die Hehlerei und du sollst erlöst sein. Gestehe!« »Nehmt das Feuer fort!« weinte Soetkin. Ulenspiegel aber rang nach Atem und sagte in die plötzliche Stille: »Wer will den Fischhändler in das ewig brennende Feuer werfen?« Indessen hatte der Henker die Kerzen ausgelöscht und das Becken mit glühenden Kohlen unter Ulenspiegels Füße geschoben. »Herr Gott! Habt Erbarmen!« keuchte Soetkin. »Nehmt das Kohlen becken fort!« Ulenspiegel knirschte mit den Zähnen, als die Kohlen unter seinen Füßen aufflammten. Er ächzte: »Verbrennt den Fischhändler!« Er er brach Blut und verlor das Bewußtsein. »Sie haben ihn gemordet!« heulte Soetkin. »Laßt mich ihn in die Arme nehmen, um bei ihm zu sterben!« »Gebt der Witwe ihren Sohn«, befahl der Amtmann. Der Henker band Ulenspiegel los und legte ihn nackt und blutüber strömt auf Soetkins Knie. Sie weinte, außer sich: »Wach auf, Tyll, mein Sohn!« Sie flehte die Richter an: »Ihr Herren, laßt uns mitsammen frei. Wir haben nur einander in der Welt, wir armen Leute.« Die Richter berieten sich mit dem Amtmann, dann sprachen sie das Urteil: »In Ansehnung dessen, daß ihr, du Soetkin, eheliche Witwe von Klas, und du, Tyll, Sohn von Klas, mit dem Beinamen Ulenspiegel, auf die Anschuldigung, das Vermögen unterschlagen zu haben, das kraft der Konfiskation und ohngeachtet aller entgegengesetzten Rechte Seiner Kö niglichen Majestät gehörte, trotz grausamer Tortur und genügsamer Pro 145
ben nichts bekannt habt, erklärt der Gerichtshof euch mangels ausrei chender Beweise und bei dir, Frau, des jammervollen Zustands deiner Glieder wegen, und bei dir, Mann, der peinlichen Folter wegen, die du er litten, für frei und erlaubt euch, bei Mann oder Frau zu wohnen, die euch unangesehen eurer Armut beherbergen wollen. So gegeben zu Damme, den dreiundzwanzigsten Tag des Weinmonats Anno Domini 1558.«
Mutter und Sohn wurden auf einem Karren zu Katheline gebracht. Es war ein trauriges Haus, denn Katheline wurde täglich bleicher und magerer. Sie bestürmte ihre Tochter Nele in der Gegenwart Soetkins und Ulenspiegels. Sie stieß hervor: »Du sollst Ehefrau sein. Schön, star kes Haar, heiße Liebe, kalte Knie und kalte Arme! Gesegnet sei der graue Ritter.« Soetkin wollte sie unterbrechen, aber Katheline fuhr fort: »Nele muß einen Mann haben, schöner Mann, der den Degen trägt, schwarzer Mann mit glänzendem Antlitz.« »Warum nicht«, warf Ulenspiegel bitter ein, »ein Hackfleisch von Männern soll sie haben, und dazu werde ich mit meinem Messer die Tunke machen.« Nele blickte Ulenspiegel mit vor Freude feuchten Augen an, da sie ihn so eifersüchtig sah. »Ich will keinen Mann als –« Katheline fiel ein: »Der grau gekleidet und immer auf andre Art ge stiefelt und gespornt ist, wird kommen.« »Bittet Gott für die Irre«, murmelte Soetkin. Sie setzten sich zu Tisch, um ihr Nachtmahl zu verzehren. Katheli ne forderte Ulenspiegel auf, er solle als der einzige Mann und als das Haupt des Hauses mehr als die andern trinken und auch singen. Und Ulenspiegel trank, jedoch er sang nicht. Nele weinte, da sie Soetkin so bleich in sich zusammengesunken sah, Katheline aber war lustig. Nach der Mahlzeit stiegen Soetkin und Ulenspiegel zum Boden hin auf, um sich schlafen zu legen. Katheline und Nele blieben in der Kü che, wo ihre Betten aufgeschlagen waren. 146
Um die zweite Morgenstunde, als Ulenspiegel längst schon schlief und Soetkin mit offenen Augen dalag und wie jede Nacht Unsere Lie be Frau bat, ihr Schlaf zu geben, hörte sie den Schrei eines Fischad lers. Aus der Küche antwortete ein ähnlicher Schrei. Dann ertönten von ferne aus den Feldern andere Rufe, und immer erschien es Soet kin, daß aus der Küche geantwortet wurde. Es sind Nachtvögel, dach te sie, und achtete nicht darauf. Als sie aber Pferdegewieher und Klap pern von Hufeisen auf der Straße hörte, öffnete sie das Bodenfenster und sah zwei gesattelte Pferde, die das Gras des Wegrains abweide ten. Eine Frauenstimme schrie, eine drohende Männerstimme drang durch die Nacht. Schläge fielen, neues Geschrei. Eine Türe wurde mit Getöse geschlossen. Angstvolle Schritte kamen die Stiege herauf. Die Bodentüre knarrte. Nele trat in die Kammer, fast nackt, atemlos und schluchzend. Hastig rückte sie einen Tisch, Stühle und ein altes Koh lenbecken vor die Türe. Soetkin zündete das Licht an. Sie sah, daß Ne les Hemd an der Schulter zerrissen war, und ihre Stirne, Wangen und Hals waren blutig zerkratzt. »Woher kommst du so verwundet?« fragte Soetkin. Nele zitterte und bat stöhnend: »Bring uns nicht auf den Scheiter haufen.« Ulenspiegel erwachte und zwinkerte im Lichtschein. Soetkin fragte: »Wer ist unten?« »Es ist der Mann, den sie mir geben will«, erwiderte Nele. Sie hörten Katheline schreien. »Er schlägt sie, er schlägt sie um mei netwillen«, keuchte Nele. »Wer ist im Haus?« schrie Ulenspiegel und sprang aus dem Bett. Er griff nach einem schweren Schürhaken. »Niemand ist im Haus«, flüsterte Nele. »Niemand. Geh nicht hin, Ulenspiegel!« Er lief zur Türe, rückte Stühle, Tische und Kohlenbecken beiseite. Nele bat: »Geh nicht hin, Ulenspiegel, es sind Teufel.« »Ja«, erwiderte er, »der Teufelsmann für dich. Ich werde ihn mit mei nem Schürhaken ehelich zusammentun!« Er jagte in Sprüngen und Sätzen hinunter, kam in die Küche, sah 147
Katheline fahl und verstört beim Schein der Morgenröte und hörte sie sagen: »Hanske, weshalb läßt du mich allein? Es ist nicht meine Schuld, wenn Nele boshaft ist.« Ulenspiegel öffnete die Stalltüre. Da er im Stall niemanden fand, stürzte er in den Garten und von dort auf die Straße. Er sah zwei da voneilende Reiter, die sich im Nebel verloren. Von Zorn und Verzweif lung gepeinigt, kehrte er um. »Sie haben sie mißbraucht!« sagte er zwi schen den Zähnen. Seine Augen glühten, als er Nele betrachtete, die, am ganzen Leibe zitternd, vor Soetkin und Katheline stand. »Nein, Tyll, mein Geliebter, nein«, sagte Nele. Da sie ihm so aufrichtig und traurig in die Augen sah, glaubte er, daß sie die Wahrheit sprach. »Woher kamen die Rufe?« fragte er. »Wo hin gingen die Männer? Warum ist dein Hemd an der Schulter und im Rücken zerrissen? Wer hat dich auf der Stirne und den Wangen zer kratzt?« »Hör mich, bitte, an«, sagte Nele. »Aber bring uns nicht auf den Schei terhaufen. Katheline hat einen Teufel in schwarzen Kleidern, gestiefelt und gespornt, zum Freunde. Sein Antlitz gleißt wie das grüne Feuer, das man im Sommer, wenn es heiß ist, auf den Meereswellen sieht.« »Warum bist du fortgegangen, Hanske, mein Liebster?« jammerte Katheline und setzte hinzu: »Nele ist boshaft.« Aber Nele sprach weiter: »Dieser Teufel in schwarzen Kleidern schreit wie ein Fischadler, um seine Ankunft anzukündigen. Meine Mutter empfängt ihn jeden Samstag in der Küche. Sie erzählt, seine Küsse sei en kalt und sein Körper wie Schnee. Und wenn sie nicht alles tut, was er will, schlägt er sie. Einmal brachte er ihr etliche Gulden, aber alle andern Male nimmt er von ihr alles, was sie hat.« Soetkin faltete die Hände und betete für Katheline. Aber die Mut ter Neles nickte fröhlich und sagte: »Mein Körper ist nicht mehr mein, mein Geist ist nicht mehr mein, sondern sein. Hanske, mein Liebster, führe mich wiederum zum Sabbat. Nur Nele will nimmer mitgehen, Nele ist boshaft.« »Bei Tagesanbruch ging er davon«, fuhr Nele fort. »Am nächsten Tag erzählte meine Mutter mir hundert sehr seltsame Dinge … Du mußt 148
mich nicht mit so bösen Augen anschauen, Ulenspiegel. Gestern hat sie mir gesagt, daß ein schöner Herr, grau gekleidet und Hilbert gehei ßen, mich zur Ehe begehre und daß er herkommen wolle, sich mir zu zeigen. Ich habe geantwortet, daß ich keinen Mann wolle, weder schön noch häßlich. Aber Mutter hat mich gezwungen aufzubleiben, um auf ihn zu warten. Als es Mitternacht schlug, glaubte sie nicht mehr, daß er komme. Ich schlief halb entkleidet auf dem Stuhl dort ein. Als die Männer eintraten, erwachte ich nicht. Plötzlich fühlte ich, wie mich ei ner umfing und auf den Hals küßte. Im strahlenden Mondschein sah ich ein Antlitz, gleißend wie die Schaumkämme der Meereswogen. ›Ich bin Hilbert‹, sagte er, ›ich bin dein Ehemann. Ich werde dich reich machen, wenn du mein bist.‹« Nele unterbrach sich schaudernd. »Sein Gesicht war häßlich wie das eines Toten. Er hatte einen Fischgeruch. Ich stieß ihn zurück. Er wollte mich mit Gewalt packen, doch ich hat te die Kraft von zehn Männern. Er zerriß mir das Hemd. ›Sei mein, ich werde dich reich machen‹, sagte er immerfort. Ich fuhr ihm mit mei nen Nägeln so heftig in die Augen, daß er vor Schmerz schrie, und ich entschlüpfte und kam zu Soetkin.« »Nele ist Boshaft, Nele ist boshaft«, wiederholte Katheline und frag te so, als ob der Teufel noch anwesend wäre: »Warum bist du so schnell fortgegangen, Hanske, mein Buhle?«
Nele nächtigte seit diesem Tag bei der Witwe von den Houte, unter dem Vorwand, sie könne bei Katheline nicht bleiben, weil Ulenspie gel dort wohnte. Katheline empfing aber, während Soetkin und Ulenspiegel schlie fen, ihren schwarzgekleideten Gast und dessen Freund in der Keet, dem Anbau für die Waschküche und den Backofen. Dort aßen sie ge räucherte Ochsenzunge und tranken alten Wein. Der schwarze Teufel drängte Katheline: »Wir brauchen eine ansehnliche Summe Geld, um ein großes Werk zu tun. Gib uns, soviel du kannst.« Katheline gab ihm einen Gulden und warnte ihn: »Kommt nicht 149
am Samstag, denn ich habe Ulenspiegel gesagt, daß ihr am Samstag kommt. Er wird euch bewaffnet erwarten, um euch totzuschlagen, und ich würde euch nicht überleben.« »Wir werden am nächsten Dienstag kommen«, sagten der schwarze Teufel und sein Freund. In dieser Nacht stand Katheline auf und ging in die Keet, um nach zusehen, ob die Männer schon gekommen wären. Es war niemand da, aber sie hörte auf dem Felde den Fischadler schreien und ging dem Ruf nach. Auf der Wiese am Fuß eines Deiches angekommen, lauschte sie. Sie erkannte die Stimmen. Der eine sagte: »Ich will die Hälfte haben.« Der andere erwiderte: »Du sollst nichts haben. Was Kathelines ist, das ist mein.« Dann lästerten sie wütend und stritten miteinander, wer von Ihnen Kathelines und Neles Gut und Liebe haben sollte. Katheline war von Furcht erstarrt. Sie wagte es nicht, sich zu rühren. Die beiden kämpf ten miteinander. Der eine sagte: »Dieses Eisen ist kalt.« Sie hörte ein Röcheln und den Fall eines schweren Körpers. Zitternd kehrte sie in ihr Haus zurück und wartete. Endlich erklang der Schrei des Fisch adlers, nicht aus der Ferne, sondern in ihrem Garten. Sie öffnete. Ihr teuflischer Freund war allein. »Was hast du mit dem andern gemacht?« fragte Katheline. »Er wird nicht mehr kommen«, erwiderte er. Dann umarmte und liebkoste er sie. Und er schien ihr kälter als sonst. Ihr Geist war in dieser Nacht wach. Als er sich verabschiedete, begehrte er von ihr zwanzig Gulden, alles, was sie hatte. Aber sie gab ihm nur siebzehn. Neugierig ging sie am andern Tag am Deich entlang, an die Stelle, wo die beiden miteinander gekämpft hatten. Dort sah sie Blut auf dem Rasen. Ihr Fuß sank in das gelockerte Erdreich ein. Sie sah starr auf die Stelle, die so groß war wie der Sarg eines Mannes. Am Abend wusch der Regen das Blut fort.
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Wenn Ulenspiegel Geld brauchte, um bei Katheline seinen und seiner Mutter Unterhalt zu bezahlen, hob er nachts den Stein von dem Loch, das er beim Brunnen gegraben hatte, und entnahm dem Versteck ei nen Karolus. Er dachte nicht daran, daß Katheline von Soetkin oder Nele erfahren haben könnte, wo das Geld verborgen sei. Er bekam erst Sorge um den Schatz, als Katheline eines Morgens weder wie sonst in der Küche war noch das Feuer angezündet hatte noch die Milch ge kocht hatte. Wohin war sie verschwunden? Endlich erblickten Soet kin und Ulenspiegel Katheline im Garten. Ihr Haar war zerzaust, ihr Hemd durchnäßt. Sie schien zu frieren, aber sie wagte nicht, ins Haus zu kommen. »Was tust du da, fast nackt, während es regnet?« fragte Ulenspiegel. »Ach«, erwiderte Katheline, »das gibt ein großes Wunder!« Sie wies auf den Hund, der erdrosselt und ganz steif an der Brunnenmauer lag. Ulenspiegel lief hin. Das Loch war leer, die Erde weithin verstreut. Nele beschützte ihre Mutter vor dem Zorn Ulenspiegels. »Gnade und Erbarmen!« bat sie. Soetkin eilte herbei. Ulenspiegel zeigte ihr den erwürgten Hund und das leere Loch. Die Witwe erbleichte und sagte nur: »Du schlägst mich hart, Herr Gott!« Da Nele die Mutter Ulenspiegels so sanft sah, wurde sie noch ver zweifelter. Sie weinte auf. Aber Katheline schwenkte ein Pergament. »Großes Wunder«, sagte sie. »Diese Nacht kam er freundlich und schön. Ich war verzückt, mein Herz schmolz. Er hatte im Antlitz nicht mehr den gleichen Schimmer, der mich so bange machte. Er sprach mit großer Zärtlichkeit: ›Ich bin jetzt reich und werde dir bald tau send Goldgulden bringen.‹ – ›Das ist schön‹, sagte ich, ›aber das freut mich mehr deinethalben als meinethalben, Hanske, mein Liebster.‹ – ›Aber hast du nicht in deinem Haus Menschen, die ich reich machen könnte, wie Soetkin und Ulenspiegel, deren Güter doch eingezogen sind?‹ Ihr, meine Lieben, erwiderte ich, hättet lieber die Tortur erdul det, als euch euer Hab und Gut nehmen zu lassen. ›Sie sind doch nicht etwa so einfältig gewesen, ihren Schatz im Hause zu verbergen?‹ Ich 151
lachte. ›Im Keller?‹ fragte er. ›Mitnichten‹, sagte ich. ›Noch im Gar ten?‹ fragte er. Ich antwortete nicht. ›Oh‹, sagte er, ›das wäre große Torheit.‹ ›Kleine‹, sagte ich, ›denn Wasser und Mauer reden nicht.‹ Er lachte und lachte. Diese Nacht ging er früher als sonst fort, nachdem er mir ein Pulver gegeben hatte, mit dem ich, wie er sagte, zum schön sten Sabbat fliegen würde. Ich geleitete ihn im Hemd bis an die Gar tenpforte und war ganz schlaftrunken. Dann fand ich mich hier, an dieser Stelle, und sah den erwürgten Hund und das leere Loch. Das ist ein gar schwerer Schlag für mich, die ihn so zärtlich liebte und ihm meine Seele gab.« »Ich bin das Korn unter dem Mühlstein! Gott und ein schurkischer Teufel schlagen mich zur gleichen Zeit«, sagte Soetkin. »Sprecht nicht von ihm als einem Schurken«, sagte Katheline. »Er ist ein Teufel, jaja, ein Teufel. Zum Beweis werde ich euch das Pergament zeigen, das er im Hof gelassen hat. Hier steht geschrieben: ›Vergiß nimmer, mir zu die nen. In dreimal zwei Wochen und fünf Tagen werde ich dir den Schatz zweifach zurückgeben. Habe keinen Zweifel, sonst wirst du sterben.‹ Und er wird Wort halten, dessen bin ich sicher.« »Arme Irre«, sagte Soetkin. Und das war ihr letzter Vorwurf.
Dreimal zwei Wochen vergingen und die fünf Tage desgleichen, aber der teuflische Freund Kathelines kehrte nicht wieder. Gleichwohl ließ sie die Hoffnung nicht sinken. Soetkin arbeitete nicht mehr. Sie saß hustend und gebückt am Feu er. Nele gab ihr die besten Kräuter, aber kein Heilmittel half ihr. Ulen spiegel ging nicht aus dem Haus, aus Angst, daß Soetkin inzwischen stürbe. Bald konnte die Witwe nicht mehr essen noch trinken, ohne sich zu erbrechen. Der Bader kam und ließ sie zur Ader. Dann war sie so schwach, daß sie ihre Bank am offenen Feuer nicht mehr verlassen konnte. Von Schmerz verzehrt, sagte sie eines Abends: »Klas, mein Mann! Tyll, mein Sohn! Dank sei dir, Gott, daß du mich hinwegnimmst.« 152
Die Witwe Klasens starb mit einem Seufzer und wurde auf dem To tenacker der Armen begraben.
Seit dem Tode Soetkins ging Ulenspiegel sinnend, betrübt oder zor nig umher, hörte auf nichts und nahm wahllos Speise und Trank zu sich. Oft stand er des Nachts auf. Umsonst mahnte ihn Nele zur Hoff nung. Vergeblich sagte Katheline zu ihm, sie wisse, daß Soetkin mit Klas im Paradies sei. Ulenspiegel antwortete auf alles nur: »Die Asche brennt.« Er stand eines Abends auf der Türschwelle. Als Mathyssen, der Faß binder, ihn so in Gedanken versunken sah, sagte er: »Tyll, du mußt dei nen Händen Arbeit geben und diesen Schicksalsschlag vergessen.« »Klasens Asche brennt auf meiner Brust«, erwiderte Tyll. »Ach«, sagte Mathyssen, »der elende Fischhändler führt ein trauri geres Leben als du. Keiner spricht mit ihm und jeder flieht ihn, so daß er genötigt ist, bei den armen Lumpen im ›Roten Falken‹ sein Braun bier einsam zu trinken.« An einem Abend, als die Glocke der Frauenkirche die neunte Stunde läutete, ging Ulenspiegel in den ›Roten Falken‹. Der Fischhändler war nicht dort. Ulenspiegel wartete unter den Bäumen, die den Kanal ein faßten. Der Mond schien hell. Er sah den Mörder kommen. Als er an ihm vorüberging, konnte er ihn mit sich sprechen hören, denn er hielt Zwiegespräche wie Leute, die allein leben: »Wo haben sie die Karolus versteckt?« »Wo der Teufel sie gefunden hat«, schrie Ulenspiegel und schlug dem Fischhändler mit der Faust ins Gesicht. »Wehe«, klagte Jobst Griepenstüver, als er Ulenspiegel erkannte. »Du bist der Sohn. Habe Mitleid, ich bin alt und kraftlos. Was ich getan habe, geschah nicht aus Haß, sondern um Seiner Majestät zu dienen. Verzeih mir. Ich will dir deinen Hausrat wiedergeben, den ich erstei gert habe. Du sollst mir keinen Groschen dafür bezahlen. Ist das nicht genug?« Er wollte sich auf die Knie werfen. 153
Aber da Ulenspiegel den Angeber so häßlich, zitternd und feige sah, verlor er keine Worte an ihn. Er warf ihn in den Kanal und kehrte heim.
An einem Herbstmorgen nahm Ulenspiegel seinen Stab, drei Gulden, die ihm Katheline gegeben hatte, ein Stück Schweinsleber, eine Schnit te Brot und machte sich auf den Weg von Damme nach Antwerpen. Als er etwa eine Stunde gewandert war, sah er auf der Landstraße einen mit einem Esel bespannten Karren am Wegrand. Auf der Bö schung daneben saß ein dicker Mann. In der einen Hand hielt er eine Hammelkeule, an der er nagte, in der anderen eine Flasche. Wenn er nicht gerade aß oder trank, weinte er. Ulenspiegel erkannte Lamm Goedzak. »Was tust du hier?« fragte er. »Gleichzeitig essend, trinkend und bitterlich weinend?« »Ich vertreibe meine traurigen Gedanken«, erwiderte Lamm. »Mein Weib ist mir davongelaufen.« »Warum?« fragte Ulenspiegel und dachte an Nele. Sie hatte geschla fen, als er sich davongemacht hatte. »Warum ist dein Weib dir davon gelaufen?« »Weiß ich es?« seufzte Lamm. »Ich werde meine Liebste nicht wie dersehen! Sie ist aus Damme entflohen. Willst du mit mir kommen und mir helfen, sie zu suchen?« »Das will ich«, sagte Ulenspiegel. Sie bestiegen den Karren. Das Grautier schrie trübselig »Iaah – Iaah –«. Dann zog es an. »Jaja!« sagten die großen und kleineren Herren, durch deren Hän de die Papiere und Pergamente kamen, die König Philipp, der Sohn und Erbe Kaiser Karls Nacht für Nacht, ohne Rast und Ruh, mit seiner kritzeligen Schrift beschmiert hatte. Was er schrieb, war der Nieder schlag seines harten Herzens. Philipp war voller Abscheu gegen jedes fröhliche Gesicht. Deshalb haßte er die Niederlande wegen ihres heite ren Sinnes, ihre Kaufherren wegen ihrer Prachtliebe und ihres Reich 154
tums, ihre Adeligen wegen ihrer offenen Reden, ihres freien Gebarens und des feurigen Schwunges ihres biederen Frohsinns. Er wollte, daß die Niederlande sich unter das alte, harte Joch des ver storbenen Kaisers beugten. Von ihm selbst sollten sie keine Reform er langen. Er wollte seine heilige Mutter, die römisch-katholische Kirche, einig, ungeteilt und allgemein haben, ohne Neuerung oder Änderung, und er hatte keinen anderen Grund, es zu wollen, als weil er es wollte. »Ja, Sankt Philippus, ja, Herr Gott.« Der König betrachtete sein gelb lich-blasses Totengräbergesicht im Spiegel: »Sollte ich auch aus den Niederlanden eine einzige Gruft machen müssen und alle Einwohner hineinwerfen, sie werden zu dir zurückkehren, Sankt Philippus, mein gesegneter Schutzpatron, und auch zu dir, heilige Frau Maria.« Und Philipp versuchte zu tun, wie er gesagt hatte. Er wurde römi scher als der Papst und katholischer als die Konzile. Ungeachtet der Tatsache, daß die päpstliche Inquisition unter Karls Regierung hun derttausend Christen durch Scheiterhaufen, Grube und Strang getö tet hatte, ungeachtet der Tatsache, daß die Habe der armen Verurteil ten in die Truhen des Kaisers und des Königs geflossen war, vermeinte Philipp, daß nicht genug geschehen sei. Er drängte den Niederlanden neue Bischöfe auf und führte die spanische Inquisition ein. Die He rolde in den Städten lasen Edikte vor, die für alle ketzerischen Män ner, die ihren Irrglauben nicht abschworen, den Feuertod bestimm ten und den Tod durch den Strang für die, die widerriefen. Die ketze rischen Frauen und Jungfrauen sollten lebendig begraben werden, und der Henker sollte auf ihren Leibern tanzen. Das war doch zu hart für die Bürger und Bürgerinnen der Nieder lande. Das Feuer des Aufstands lief von Stadt zu Stadt und erfaßte auch den Adel. Am fünften April vor Ostern kamen die Herren Ludwig von Nas sau, von Kullenburg, von Brederode mit dreihundert anderen Edlen in den Burghof zu Brüssel zur Frau Herzogin-Regentin von Parma. In Viererreihen stiegen sie die große Treppe des Palastes hinan. Als sie in die Halle kamen, empfing sie Ihre Hoheit. Sie baten sie in einer Bitt schrift, sie möchte von König Philipp die Abschaffung der Verordnun 155
gen erlangen, die die Sache der Religion und die spanische Inquisition beträfen. Die Herren erklärten, daß in ihren unzufriedenen Ländern daraus nichts als Unruhen, Zerstörung und allgemeines Elend entste hen könnten. Neben dem Thronsessel der Herzogin-Regentin von Parma stand der Herr von Berlaymont und sah hochmütig auf seine Standesgenos sen und adeligen Landsleute herab. Er war reich und angesehen. Es machte ihm Spaß, die Armut einiger der verbündeten Adeligen zu ver höhnen. Er sagte laut zu Ihrer Hoheit: »Edle Herrin, fürchtet nichts. Diese Adeligen sind nur Bettler.« Berlaymont gebrauchte das landläufige Wort ›Geuse‹ für Bettler, und sein Spott galt vor allem den Herren, die sich entweder im Dienst des Königs zugrunde gerichtet oder versucht hatten, es durch ihren Auf wand den spanischen Rittern gleichzutun. Um das Wort des Herrn von Berlaymont mit Verachtung zu strafen, erklärte der Wortführer der Ritter, »daß sie es sich zur Ehre anrechne ten, wegen des Dienstes für den König und das Wohl des Landes Geu sen genannt zu werden!« Von diesem Tag an trugen die verbündeten niederländischen Adeli gen goldene Münzen um den Hals, die auf einer Seite das Bild König Philipps zeigten und auf der anderen zwei Hände, die sich um einen Bettelsack ineinanderschlangen. Dieses Sinnbild umgab der Satz: »Ge treu dem König bis zum Bettelsack.« Auf ihren Hüten und Kappen be festigten die Herren goldene Zierate, die Eßnäpfe und Bettlerhüte dar stellten.
Das war der Beginn des Aufstandes der Geusen. Das gemeine Volk wußte noch wenig davon, aber Ulenspiegel, der Lamm auf seiner Su che nach seinem Weib begleitete, hielt die Augen offen und erkannte die drohenden Vorzeichen. Er forschte und fragte und verknüpfte die Fäden des Erfragten zu einem Netz der Erkenntnis. Das wollte er aus werfen wie ein Fischer, um Seelen zu fangen. 156
Eines Morgens sagte er zu Lamm: »Folge mir nach. Wir wollen eine hohe, edle, mächtige und gefürchtete Persönlichkeit begrüßen.« »Wird der große Herr mir sagen, wo mein Weib ist?« fragte Lamm. »Wenn er es weiß«, entgegnete Ulenspiegel. Sie begaben sich zu Brederode, der den Beinamen ›der herkulische Zecher‹ führte. Der Graf trat Ulenspiegel im Hof seines Palastes entge gen: »Was begehrst du von mir?« »Mit Euch zu reden, edler Herr.« »So rede!« »Ihr seid«, begann Ulenspiegel, »ein schöner, tapferer und starker Rit ter. Aber Ihr seid auch klug. Warum tragt Ihr dann diese Schaumünze um den Hals, auf der jeder lesen kann: ›Getreu dem König bis zum Bet telsack‹? Warum wollt Ihr Herren dem König bis zum Bettelsack treu sein? Am Ende gar, weil er euch so wohl will? Warum sorgt ihr nicht da für, daß der königliche Henker seinerseits, seiner Länder beraubt, dem Bettelsack treu wird, anstatt, daß ihr ihm bis zum Bettelsack treu seid?« Der lebhafte Blick Brederodes forschte in den Zügen Ulenspiegels. Er lächelte, da er ein gutes Gesicht sah: »Wenn du kein Spion König Philipps bist, dann bist du ein aufrechter Flame. Ich will dich für bei de Fälle belohnen.« Er führte Ulenspiegel und Lamm in seine Küche und gab ihnen zu trinken. Es war gutes, frisches Bier. Doch Klasens Asche brannte auf Ulenspiegels Brust.
Einige Tage später ging Ulenspiegel in der Flandrischen Straße in Brüs sel am Haus von Jan Potztausend vorbei, der diesen Namen führte, weil sein Ahnherr im Zorn so zu fluchen pflegte, um nicht den aller heiligsten Namen Gottes zu lästern. Potztausend war seines Zeichens Sticker. Aber da er selbst durch unmäßiges Trinken taub und blind ge worden war, bestickte sein Weib die Röcke, Wämse, Mäntel und Schu he seiner Kunden, der Edelleute. Ihre hübsche Tochter half der Mutter bei dieser einträglichen Arbeit. 157
Während Ulenspiegel mit dem Mädchen scharmutzierte, kam die alte Potztausend in das Zimmer. »Gott sei mit Euch, Herr«, begrüßte sie ihn, wandte sich ihrer Tochter zu und sagte: »Ich habe Geld bekom men, schönes Geld vom Herrn von Egmont, da ich ihm seinen Mantel brachte, auf den ich die Narrenkappe gestickt hatte. Ja, Herr, eine Nar renkappe gegen den Roten Hund.« »Den Kardinal von Granvella?« fragte Ulenspiegel, als wäre es selbst verständlich, wen Frau Potztausend damit meinte. »Gewiß«, gab sie zurück. »Man sagt, daß er dem König die Anschlä ge der adeligen Herren hinterbringt. Sie wollen ihn deshalb umbrin gen. Sie haben recht, ist es nicht so?« Ulenspiegel gab keine Antwort. Frau Potztausend fuhr fort: »Sähet Ihr nicht die Herren auf den Straßen mit einem Wams und einem grauen Mantel bekleidet, wie das Volk es trägt, mit langen, hängenden Ärmeln und Mönchskapu zen und auf all den grauen Obergewändern die gestickte Narrenkap pe? Ich habe mindestens siebenundzwanzig solcher Narrenkappen ge macht und meine Tochter fünfzehn. Es erboste den Roten Hund, die se Kappen zu sehen.« Frau Potztausend beugte sich vor und flüsterte Ulenspiegel ins Ohr: »Die Herren haben beschlossen, die Kappe durch ein Ährenbündel zu ersetzen, zum Zeichen der Einigkeit. Sie wollen gegen den König und gegen die Inquisition kämpfen. Sie tun gut daran, nicht wahr, Herr?« Ulenspiegel sagte wieder nichts. »Der Herr bläst Trübsal«, lachte die Alte. »Sein Schnabel ist mit ei nemmal zu.« Ulenspiegel sprach kein Wort und ging. Am Abend kehrte er in einer Musikschenke ein, um das Trinken nicht zu vergessen. Die Schankstube war voll von Zechern. Sie spra chen ohne alle Vorsicht vom König, von den verhaßten Edikten, von der Inquisition und dem Roten Hund, der gezwungen werden müsse, das Land zu verlassen. Da sah er in einer Ecke die alte Potztausend. Sie schien bei einem Schoppen Branntwein zu schlafen. Sie war ganz zer lumpt. Die wohlhabende Frau Potztausend? Ulenspiegel beobachtete sie eine Weile. Schließlich sah er, daß sie einen kleinen Teller aus einer 158
schäbigen Tasche zog und unter den Zechern zu betteln begann. Sie machte sich besonders an die Gäste heran, die am unvorsichtigsten re deten. Heller und Pfennige klirrten in ihren Teller. Warum tat das die Alte? Ulenspiegel hoffte, es von ihrer Tochter zu erfahren. Er ging wieder in das Haus des Stickers. Das Mädchen lä chelte ihm zu und zwinkerte verheißend mit den Augen. Ulenspiegel umarmte sie. Plötzlich sagte sie weinend: »Komm nicht mehr hierher. Du bist ein Geuse und Feind des Papstes. Komm nicht wieder …« »Deine Mutter?« fragte er. »Ja«, sagte das Mädchen und errötete. »Weißt du, wo sie jetzt ist? Sie horcht da, wo es brennt. Weißt du, wohin sie dann gehen wird? Zum Roten Hund, um alles zu berichten, was sie gehört hat, und auch dem Herzog von Alba, der kommen wird, das spanische Werk zu voll enden. Flieh, Ulenspiegel, ich bitte dich, flieh! Noch einen Kuß, aber komm nicht wieder. Noch einen, du bist schön. Ich weine – aber geh!« »Wackeres Mädchen.« Ulenspiegel hielt sie innig umfangen. »Ich war es nicht immer«, erwiderte sie. »Ich war wie meine Mut ter … Verweile noch! Wie weich deine Hand ist. Laß mich deine Hand küssen. Das ist das Zeichen der Knechtschaft. Du bist mein Herr.« Die Tochter der Potztausend hob den Kopf. »Komm näher, aber schweige. Ich werde dir etwas sagen, das du wissen mußt.« Sie flüsterte: »Diese Nacht sind Männer ins Haus gekommen. Lumpen und Spitz buben waren es, unter ihnen ein Italiener. Meine Mutter ließ sie in die ses Gemach treten und befahl mir, hinauszugehen. Die Türe war ge schlossen, aber ich hörte doch, was gesprochen wurde. Ich habe mir die Worte gemerkt: ›Steinernes Kruzifix, Tor von Borgerhout, Prozes sion, Antwerpen, Unsere Liebe Frau …‹ Ich habe ersticktes Gelächter gehört und das Klimpern von Gulden, die auf den Tisch gezählt wur den … Flieh, bevor sie wiederkommen! Flieh, mein Geliebter. Denk an mich, aber flieh …!« Ulenspiegel lief, so rasch er konnte, in den ›Alten Hahn‹, wo er Lamm traf, der an einer Wurst knabberte und seine siebente Kanne Löwener Petermann schlürfte. Und er zwang Lamm, trotz seines dicken Bau ches zu laufen wie er. 159
Als sie ermüdet nach Brügge kamen, machten sie in der Kirche des Heiligen Erlösers halt. Dort ereiferte sich Cornelis Adriaensen, ein Mi noritenbruder, gerade auf der Kanzel der Wahrheit. Junge, schöne, an dächtige Frauen umdrängten ihn. Als der Pater zu der Stelle des heili gen Evangeliums kam, da die Juden Pontius Pilatus zuschreien: »Kreu zige ihn!« rief er: »Ihr habt es gehört, ihr guten Leute. Wenn unser Herr Jesus Christus einen schrecklichen, schmählichen Tod erlitten hat, so geschah es, weil es allezeit Gesetze gab, um die Ketzer zu strafen. Er wurde verurteilt, weil er den Gesetzen nicht gehorcht hatte. Und jetzt wollen die adeligen Herren die Edikte und Dekrete für nichts achten! Sie haben gewagt, der Regentin eine Bittschrift gegen die Inquisition zu überreichen, und gegen die Dekrete. Luther, dieser schmutzige Lu ther, dieser tolle Ochs, triumphiert in Sachsen, Braunschweig, Lüne burg, Mecklenburg. Sein Sendling Brentius, der kotige Brentius, der in Deutschland von Eicheln lebte, die die Schweine nicht mochten, trium phiert in Württemberg. Der mondsüchtige Servet, der Antitrinitarier, regiert in Pommern, Dänemark und Schweden, und da wagt er, die heilige, glorreiche und mächtige Dreieinigkeit zu lästern. Ja, aber man hat mir gesagt, daß er von Calvin lebendig verbrannt worden ist. Ja, diese Wölfe fressen einander. Jawohl, dieser tolle Ochs Luther wappne te die deutschen Fürsten gegen den Wiedertäufer Münzer, der ein Bie dermann war, wie man sagt, und nach dem Evangelio lebte. Und was sieht man in Flandern, Geldern, Friesland, Holland, See land? Freidenker, die lehren, daß jede Knechtschaft dem Worte Gottes zuwider sei. Sie lügen, die stinkenden Ketzer, man muß sich der hei ligen römischen Mutter Kirche unterwerfen. Und in dieser verfluch ten Stadt Antwerpen, dem Stelldichein der ganzen ketzerischen Hun debrut der Welt, haben sie zu predigen gewagt, daß wir die Hostien mit Hundefett backen lassen. ›Es gibt kein Fegefeuer‹, sagen andere. Kein Fegefeuer, ihr guten Leute! Wehe! Euch wäre besser, mit euren Müttern, Schwestern und Töchtern Unzucht zu treiben, als am Fege feuer zu zweifeln! Sie rümpfen die Nase vor dem Inquisitor, dem hei ligen Mann. Sie sind unweit von hier nach Belem gezogen, an vier tausend Calvinisten, mit Gewappneten, mit Bannern und Trommeln. 160
Der Dunst ihrer Speisen dringt bis hierher. Sie haben die Kirche Sankt Katholyne besetzt, um sie zu entehren, zu entweihen, zu entheiligen durch ihr verfluchtes Gepredige. Was soll diese gottlose und schändliche Duldsamkeit? Bei den tau send Teufeln der Hölle, warum nehmt nicht auch ihr die Waffen zur Hand, ihr schlaffen Katholiken? Sie sind friedfertig, sagt ihr. Sie wol len in aller Freiheit und Ruhe das Wort Gottes hören. Das ist mir ganz einerlei. Hinaus aus Brügge! Verjagt, tötet, werft alle diese Calvinisten aus der Kirche. Ich sehe schon den Augenblick, da diese verdammten Calvinisten auf dem Bauch eurer Weiber und Töchter die Trommel schlagen, und ihr lasset es geschehen, ihr Männer von Werg und Teig. Pfui, ihr Brügger, pfui! Wehe! Uns armen römischen Katholiken bleibt nichts übrig, als die Niederlande zu verlassen, da man hier das Geschrei duldet: ›Es lebe der Geuse!‹ Welcher verdammte Mühlstein ist diesem verhexten und blö den Volk auf den Kopf gefallen? O Jesus! Reich und arm, adelig und unadelig, jung und alt, Männer und Frauen schreien: ›Es lebe der Geu se!‹ Ja, schreit, ihr Esel, schreit nur: ›Es lebe der Geuse!‹ Alle Flüche, alle Not, alle Krankheiten werden über die Niederlande kommen. Und also wird Gott gerächt werden für euer ekles Geplärr: ›Es lebe der Geuse!‹ Und von euren Häusern wird nicht ein Stein auf dem anderen bleiben und nicht ein Stück Knochen von euren verdammten Beinen, die zu dieser verfluchten Calvinisterei und Predigerei laufen. Also geschehe es. Amen.« »Laß uns gehen, Lamm«, sagte Ulenspiegel. »Gleich.« Lamm machte sich fertig zum Gehen, aber er suchte seine Frau erst unter den jungen, schönen, andächtigen Frauen, die der Pre digt beiwohnten. Da er sie in der Kirche nicht fand, ging er mit Ulen spiegel in die ›Blaue Laterne‹, wo sie so unmäßig fraßen und soffen, daß Lamm seinen Esel samt dem Karren um vierundzwanzig Gulden verkaufen mußte, um den Wirt bezahlen zu können. Während sie zechten, hatte eine hübsche Frau, die im Hof stand, oft mals durch das Fenster geschaut, den Blick auf Lamm gerichtet. Wann 161
immer aber er ihr Gesicht hätte sehen können, zog sie sich zurück. Am Abend aber, als er, schwankend vom Wein, ohne Licht die Treppe hin aufging, umarmte ihn eine Frau, küßte ihn begehrlich auf die Wangen, den Mund und sogar auf die Nase. Sie benetzte sein Gesicht mit ver liebten Tränen. Dann ließ sie ihn frei. War es seine eigene Frau gewesen, die ihn doch verlassen hatte? Lamm wußte es nicht. Der weite Weg und der Wein hatten ihn so müde ge macht, daß er schlaftrunken war. Er legte sich nieder und träumte von seiner Frau. Sie war ihm begegnet, träumte er, sie hatte ihn umhalst und geküßt. Er mußte sie suchen. Am nächsten Morgen zog er mit Ulenspiegel nach Gent. Immer wie der gedachte Lamm der holden Begegnung auf der Stiege der ›Blauen Laterne‹. Der Traum nahm ihm den Appetit. Sein Herz zog ihn nach Brügge. Doch Ulenspiegel führte ihn mit Gewalt nach Antwerpen. Er wollte dabeisein, wenn die große Provokation, von der er erfahren hat te, stattfand.
Am fünfzehnten August, dem großen Marientag, an dem die Kräu ter und Wurzeln geweiht werden, wurde ein steinernes Kruzifix an ei nem Tore von Antwerpen von einem Italiener, der im Solde des Kar dinals Granvella stand, zerschlagen. Die Prozession der Jungfrau, der grüne, gelbe und rote Narren vorangingen, kam aus der Frauenkirche. Die Statue der Jungfrau wurde unterwegs von unbekannten Männern beschimpft und eilends in den Chor der Frauenkirche zurückgebracht. Die Gitter wurden geschlossen. Ulenspiegel betrat mit Lamm die Frauenkirche. Da waren sie also: Junge, ausgehungerte, zerlumpte Gesellen, die niemand kannte, stan den vor dem Chor und machten einander Zeichen und Fratzen. Einer von ihnen fragte laut, ob ›Mieke‹, damit meinte er die Jungfrau, Angst gehabt hätte, weil sie so hastig in die Kirche zurückgekehrt sei. »Vor dir hat sie keine Furcht gehabt, du garstiger Mohr«, erwider te Ulenspiegel und wandte sich einigen Männern von Antwerpen zu, 162
die in der Kirche anwesend waren. Er wies auf die jungen zerlumpten Kerle und erklärte: »Signorkes und Pagaders, hütet euch, diese Männer sind falsche Flamen, sie sind Verräter, die dafür bezahlt worden sind, uns Leid, Elend und Untergang zu bringen.« Dann sprach er die Un bekannten mutig an: »He, ihr vom Elend ausgedörrten Eselsköpfe, wo her habt ihr denn das Geld, das man heute in euren Säckeln klingen hört? Habt ihr etwa eure Haut im voraus verkauft, um Trommeln dar aus zu machen?« »Seht doch den Prediger!« lachten die Unbekannten und begannen laut zu rufen: »Mieke hat ein schönes Kleid! Mieke hat eine schöne Krone! Ich will sie meiner Vettel geben! Steig herab, Mieke, steig her ab, ehe wir dich holen. Tu ein Wunder, damit wir sehen, daß du ebenso gut gehen als dich tragen lassen kannst, Mieke, du Faulenzerin!« »Ihr Unheilstifter, hört auf mit euren schlimmen Reden«, rief Ulen spiegel. »Ich warne euch: Jede Plünderung ist Verbrechen!« Ein Getobe begann, und der Markgraf kam mit seinen Bütteln in die Kirche. Ganz gegen seine Gewohnheit bat er die Versammelten mit sanfter Stimme, das Gotteshaus zu verlassen. »Zuvor wollen wir hören, wie die Domherren zu Miekes Ehre die Vesper singen!« schrien die Unbekannten. »Es wird nicht gesungen werden«, erklärte der Markgraf. »Wir wollen aber singen«, erwiderten die unbekannten Lumpen. »Mieke! Mieke!« riefen sie in den Schiffen und in der Vorhalle der Kir che. Sie beschimpften das Marienbild und pfiffen. Auf das Geheiß des Markgrafen wurden alle Eingänge zur Kirche bis auf eine Türe geschlossen. Jetzt erst brach der Lärm los. Der ganze Schwarm der Unbekann ten höhnte und schrie: »Mieke, Mieke, dies ist die Stunde des Auszugs! Machst du dir in deiner Nische vor Angst das Hemd naß? Fort mit den hölzernen Heiligen! Wer will ein Bad in der Scheide nehmen? Holz schwimmt besser als Fische.« Die in der Kirche anwesenden Bürger von Antwerpen hörten wi derspruchslos zu. Aber Ulenspiegel stieg auf die Kanzel: »Ihr Rasen den, die man binden müßte«, rief er, »begreift ihr denn nicht, daß all 163
dies das Werk von Verrätern ist? Sie wollen euch zu Kirchenschän dern und Räubern machen, um euch für Rebellen zu erklären. Sie wol len eure Geldtruhen leeren, euch enthaupten und lebendig verbren nen!« Er hob die Stimme: »Und der König wird erben! Signorkes und Pagaders, messet den Worten der Unheilstifter keinen Glauben bei! Laßt Unsere Liebe Frau in ihrer Nische. Lebet wacker, arbeitet fröh lich! Der schwarze Teufel des Verderbens hat ein Auge auf euch. Er will, daß ihr plündert und zerstört. Dann wird er das feindliche Heer herbeirufen, um euch als Rebellen zu behandeln. Dann wird der Her zog von Alba durch Diktatur, Inquisition, Konfiskation und Tod über euch herrschen. Und der König wird erben.« »Plünderung und Auszug von Mieke!« schrien die Unbekannten Ulenspiegel entgegen. »Ins Wasser mit den Heiligen!« Obwohl sich Ulenspiegel mit Händen und Füßen wehrte, zerkratz ten sie sein Gesicht und zerrissen sein Wams und seine Hose. Doch er ließ nicht ab zu schreien: »Leidet die Plünderung nicht!« Die Unbekannten und das Gesindel der Stadt warfen sich auf das Gitter des Chors und zerbrachen es mit dem Ruf: »Es lebe der Geuse!« Die von den Männern des Roten Hunds provozierte Plünderung und Zerstörung begann. Vor Mitternacht war die große Kirche, in der es siebzig Altäre, alle Arten schöner Malereien und kostbare Dinge gab, ausgeleert wie eine Nuß. Jetzt machten sich dieselben Unbekannten auf den Weg, alle Kirchen und Kapellen der Stadt zu traktieren wie die Frauenkirche, ohne daß ihnen die Reformierten Beistand leisteten. Im Haag fragte der Magistrat die Plünderer, wo ihre Vollmacht wäre. »Da ist sie«, sagte einer und schlug auf sein Herz. »Ihre Vollmacht, hört ihr, Signorkes und Pagaders?« rief Ulenspie gel, als er davon erfahren hatte: »Ihre Vollmacht – versteht doch das Wort! Es ist also einer da, der ihnen befohlen hat, Kirchenschänder zu sein. Wenn in mein Haus ein plündernder Spitzbube kommt, wer de ich so tun, wie der Magistrat vom Haag. Ich werde meinen Hut zie hen und sagen: ›Edler Spitzbube, gnädiger Taugenichts, ehrwürdiger Lump, zeig mir deine Vollmacht!‹ Und der Gauner wird sagen, daß sie 164
in seinem Herzen sei, das nach meinem Hab und Gut verlangt. Und ich werde ihm die Schlüssel zu allem geben, was ich besitze. Das von unseren Feinden gewünschte Verbrechen ist begangen. Nun wird man es strafen. Das steinerne Kruzifix ist zerschlagen worden. Hütet euch vor dem Roten Hund!« Als der große Rat von Mecheln durch seinen Präsidenten befahl, dem Zerbrechen der Bilder keinen Widerstand entgegenzusetzen, klagte Ulenspiegel: »Wehe, die Ernte wird täglich reifer für die spanischen Schnitter. Der Herzog von Alba marschiert gegen uns. Flamen, das Meer schwillt, das Meer der Rache. Arme Frauen, arme Jungfrauen, fliehet die Grube, in der ihr lebendig begraben werden sollt! Arme Männer, flieht den Gal gen, das Feuer und das Schwert! Philipp will das blutige Werk Karls vollenden.« Das Volk hörte auf Ulenspiegel. Hunderte Familien verließen die Städte. Auf den Landstraßen stauten sich die Wagen, beladen mit dem Hausrat derer, die in die Verbannung zogen. Ulenspiegel ging überall hin, wo es Verfolgte gab, um zu helfen, wo er konnte. Lamm folgte ihm betrübt und suchte seine Frau. Ulenspie gel wußte, daß in Damme Nele bei Katheline, der Irren, weinte.
Als der Graf von Egmont von einem festlichen Mahl im Kloster von Sankt Bavo heimkehrte, trat plötzlich ein Mann mit einer brennenden Laterne auf ihn zu. »Was willst du?« fragte Egmont. »Gutes«, erwiderte Ulenspiegel. »Ich habe eine gute Laterne.« »Geh und laß mich!« befahl der Graf. »Ich werde nicht gehen.« »Willst du einen Peitschenhieb?« »Ich will zehn Peitschenhiebe, wenn ich Euch solch eine Laterne da für in den Kopf setzen kann, damit Ihr von hier bis zum Eskorial deut lich sehen könnt.« 165
»Was kümmert mich dein Licht und der Eskorial?« »Mich brennt es, Herr. Mich brennt es, Euch einen guten Rat zu ge ben. Bedenkt, Euer Gnaden, daß Ihr jetzt auf Eurem Roß tanzt und daß Euer Haupt auch vorzüglich auf Euren Schultern tanzt. Aber der König, so sagt man, will diesen schönen Tanz unterbrechen. Er will Euch Euren Körper lassen, aber Euren Kopf nehmen. Gebt mir einen Gulden, ich habe ihn verdient.« »Du kriegst die Peitsche, wenn du nicht ausweichst, du schlechter Ratgeber! Wer bist du?« »Euer Gnaden, ich bin Ulenspiegel, Klasens Sohn, der für seinen Glauben lebendig verbrannt wurde. Und ich bin Soetkins Sohn, die an Herzeleid gestorben ist. Die Asche Klasens brennt auf meiner Brust und sagt mir, daß Egmont, der tapfere Soldat, mit der Reiterei, die er befehligte, dem Herzog von Alba ein dreimal siegreiches Heer entge genstellen kann.« »Geh! Ich bin kein Verräter.« »Rette die Niederlande, du allein kannst es!« Ulenspiegel hob be schwörend die Hände. Der Graf hob die Peitsche, aber Ulenspiegel wartete nicht auf den Hieb. Er entfloh mit dem Ruf: »Eßt Laternen, Herr Graf, rettet das Land!«
Im nächsten Monat gab ein gewisser Doktor Agileus Ulenspiegel zwei Gulden und Briefe, mit denen er sich zu Simon Praet begeben sollte. Der würde ihm sagen, was seine Aufgabe sei. Ulenspiegel fand bei Praet Kost und Obdach. Sein Gastgeber war schwächlich und von kläglichem Aussehen und schien immer in trü ben Gedanken versunken zu sein. Ulenspiegels Schlaf war gut. Aber er erwachte doch des Nachts, wenn er es hämmern hörte. Was geschah in dem Haus? Er fand es nicht heraus, denn so zeitig er auch aufstand, Praet war vor ihm auf den Beinen. Ulenspiegel beschloß zu erfahren, woher das Hämmern und auch 166
der Trübsinn Praets kämen. Er nötigte seinen Gastgeber, mit ihm in die ›Blaue Gans‹ zu gehen, und stellte sich, als ob er solch einen Rausch hätte, daß er sich stracks auf das Kissen legen müsse. Praet führte den Wankenden in sein Haus zurück. Dann ging er in den Keller, und bald vernahm Ulenspiegel Hammerschläge, die gleichen, die ihn in der Nacht geweckt hatten. Er stand geräuschlos auf und stieg die schmale Stiege zum Keller hin unter, bis er vor eine niedrige Türe kam, durch deren Spalt ein schwa cher Lichtschein drang. Er sah: Simon Praet druckte Flugblätter mit alten Lettern. »Was machst du hier?« fragte Ulenspiegel. Simon erwiderte: »Wenn du des Teufels bist, zeige mich an, auf das ich sterbe. Bist du aber Gottes, so sei dein Mund deiner Zunge Ker ker.« »Ich bin Gottes«, sagte Ulenspiegel, »und ich will dir nichts Übles tun. Was tust du hier?« »Ich drucke Bibeln«, gestand Simon. »Während ich bei Tag, um Weib und Kinder zu ernähren, die grausamen und schlechten Edikte Sei ner Majestät veröffentliche, säe ich nachts das wahrhaftige Wort Got tes und mache so das Übel wieder gut, das ich am Tage anrichte.« »Du bist tapfer.« »Ich bin im Glauben«, erwiderte Praet.
Einige Tage später sagte Praet zu Ulenspiegel: »Höre, Bruder, hast du Mut? Kannst du in einem Kamin ausharren und horchen, was in ei nem Zimmer gesprochen wird?« »Da ich ein starkes Kreuz und geschmeidige Kniekehlen habe, kann ich mich wie eine Katze festhalten, wo immer ich will.« »Hast du Geduld und Gedächtnis?« »Klasens Asche brennt auf meiner Brust«, erwiderte Ulenspiegel. »Höre denn«, sagte Praet. »Du wirst diese gefaltete Spielkarte neh men, nach Dendermonde gehen und dort zweimal stark und einmal 167
leise an die Tür des Hauses pochen, dessen Abbild ich auf die Spiel karte gezeichnet habe. Jemand wird dir öffnen und dich fragen, ob du der Essenfeger bist. Du antwortest, daß du mager bist und daß du die Karte nicht verloren hast. Man wird dir dann einen Kamin zeigen, der im voraus zugerichtet und schon gefegt ist. Darin wirst du gute Kram pen für deine Füße und als Sitz ein kleines Brett finden. Der, der auf gemacht hat, wird dich heißen, in den Kaminschacht zu steigen. Du wirst es tun und dich still verhalten. Erlauchte Herren werden sich in dem Gemach vor dem Kamin versammeln. Es sind der Prinz von Ora nien, Wilhelm der Schweiger, die Grafen von Egmont, von Hoorn, von Hoogstraeten und Ludwig von Nassau, der Bruder des Schweigers. Wir Reformierten wollen wissen, was diese Herren unternehmen wollen und können, um die Niederlande zu retten.« Am ersten Tage des Ostermonats tat Ulenspiegel, wie Praet ihn ge heißen hatte, und hockte sich in den Kaminschacht. Bald hörte er die Herren in das Gemach treten. Sie begannen miteinander zu reden von ihren Befürchtungen, vom Zorn des Königs und der schlechten Ver waltung der Finanzen. An dem harten, hochmütigen, hellen Ton, in dem einer sprach, erkannte Ulenspiegel Egmont. Er erkannte auch Hoogstraeten an seiner heiseren Stimme und von Hoorn an seinem lauten Sprechen, den Grafen von Nassau an seinem derben, kriegeri schen Ton und den Schweiger daran, daß er alle seine Worte langsam setzte, als wäge er ein jedes auf einer Waage. Graf Egmont fragte, wa rum man sie wieder zusammengerufen habe, da sie doch in Heilegat Muße gehabt hätten, sich zu entscheiden. Von Hoorn erwiderte: »Die Zeit rennt davon. Der König ist zornig. Hüten wir uns zu zaudern.« »Die Niederlande sind bedroht«, sagte der Schweiger. »Man muß sie vor dem Angriff eines fremden Heeres schirmen.« Aufbrausend erwiderte Egmont, es verwundere ihn, daß der König sich bemüßigt fühle, ein Heer zu entsenden, da doch alles beruhigt sei. Der Schweiger gab zurück: »Philipp hat in den Niederlanden vier zehn Haufen Kriegsvolk, und jeder Soldat hält zu dem Feldherrn, der bei Saint-Quentin und bei Gravelingen befehligte.« 168
»Ich verstehe nicht«, sagte Egmont obenhin. »Ich will nicht mehr sagen«, meinte der Prinz, »doch es sollen Euch, mein lieber Egmont, und den versammelten Herren gewisse Briefe ver lesen werden. Ich fange mit denen des armen Gefangenen Montigny an.« Herr von Montigny schrieb: »Der König ist höchlichst erzürnt wegen der Geschehnisse in den Niederlanden. Er wird die Begünstiger der Unruhen zur gegebenen Zeit strafen.« Graf von Hoogstraeten faßte den Inhalt der an die Regentin gerich teten aufgefangenen Briefe Alavas, des spanischen Gesandten, zusam men. »Er schreibt«, sagte er, »daß alles Unheil, das in den Niederlan den geschehen ist, das Werk der Herren von Oranien, von Egmont und von Hoorn sei. Man müsse, so schlägt er vor, diesen drei Herren ein freundlich Gesicht zeigen und ihnen sagen, der König erkenne an, daß er die Niederlande durch ihre Dienste in Botmäßigkeit erhalte. Der Gesandte fügte hinzu, daß der König in der Stadt Madrid gesagt habe: ›Durch alles, was in den Niederlanden sich zugetragen hat, ist Unser königliches Ansehen erschüttert, der Gottesdienst erniedrigt, und lie ber werden Wir alle Unsere Lande in Gefahr bringen, als eine solche Rebellion ungestraft lassen. Wir sind entschlossen, in höchsteigener Person nach den Niederlanden zu reisen und Papst wie Kaiser um Bei stand anzugehen. Wir werden die Niederlande unter Unsere uneinge schränkte Botmäßigkeit zwingen und Staat, Religion und Regierung nach Unserem Belieben ändern.‹« Ulenspiegel hatte sich jedes einzelne Wort gemerkt. Es war still im Zimmer geworden. Die versammelten großen Herren warteten, daß Wein gebracht werde. Die Gläser klirrten. Jetzt klang die Stimme des Herrn von Hoogstraeten auf: »Ich trinke auf das Wohl der Niederlan de.« Alke taten ihm Bescheid. Er fügte hinzu: »Die böse Stunde schlägt für den niederländischen Adel. Man muß auf Mittel zur Abwehr sinnen.« Es war klar, daß Hoogstraeten eine Äußerung von Egmont erwartete. Aber der Graf blieb stumm. Der Schweiger begann zu sprechen: »Wir 169
werden widerstehen können, wenn unser Egmont, der bei Saint-Quen tin und Gravelingen Frankreich zweimal erzittern ließ und der bei den flamischen Söldnern unbedingtes Ansehen genießt, uns zu Hilfe kom men und den Spanier hindern will, in unsere Lande zu dringen.« Egmont sagte mit fester Stimme: »Ich hege zuviel Ehrfurcht vor dem König, um zu glauben, daß wir uns als Rebellen wider ihn wappnen müssen. Mögen diejenigen sich zurückziehen, die seinen Zorn fürch ten. Ich werde bleiben, denn ich habe keine Mittel, ohne seine Hilfe zu leben.« »Philipp kann sich grausam rächen«, warnte der Schweiger. »Ich habe Vertrauen«, wiederholte Egmont. »Lieber und getreuer Egmont, ich werde handeln wie du«, sagte von Hoorn. »Man muß voraussehen und nicht warten«, erklärte der Schweiger. Herr von Egmont sprach heftig: »Ich habe zu Grammont zweiund zwanzig Reformierte henken lassen. Wenn die Predigten aufhören, wenn man die Bilderstürmer bestraft, wird des Königs Zorn sich be sänftigen.« »Es gibt trügerische Hoffnungen«, sagte der Schweiger. »Wappnen wir uns mit Vertrauen.« Von Hoorn stimmte Egmont zu. »Mit Eisen muß man sich wappnen und nicht mit Vertrauen«, ent gegnete von Hoogstraeten. Hierauf schien der Schweiger gehen zu wollen. Ulenspiegel hörte das Rücken der Stühle. »Gehabt Euch wohl, Prinz ohne Land«, sagte Egmont zum Ab schied. »Gehabt Euch wohl, Graf ohne Kopf«, erwiderte der Schweiger. Ludwig von Nassau setzte hinzu: »Der Schlächter ist für das Schaf, der Ruhm für den Soldaten, der das Land seiner Väter rettet!« »Das Blut der Opfer komme über das Haupt des Höflings«, flüsterte Ulenspiegel. Die Herren zogen sich zurück. Es wurde still im Zimmer. Ulenspiegel stieg aus dem Kamin und eilte zu Praet. Als der Buchdruk ker den Inhalt der Gespräche erfahren hatte, sagte er nur: »Egmont ist ein Verräter. Gott ist mit dem Prinzen.« 170
Erst waren es nur Gerüchte. Einer erzählte es dem andern: »Der Schweiger ist nicht geblieben. Er hat sich der Verhaftung entzogen. Gott führte ihn«, sagten die Bürger und Bürgerinnen, als sie erfuh ren, daß die Grafen von Egmont und von Hoorn gefangengenommen wurden. Der Herzog von Alba, der sie hatte in Haft nehmen lassen, versprach dem Schweiger Milde und Verzeihung, wenn er vor ihm er schiene. Ulenspiegel, der von allem hörte, was geschah, erklärte Lamm: »Mein Lieber, ich erzähle dir eine Geschichte.« Er begann: »Eines Ta ges forderte ein Amsterdamer Jude einen seiner Feinde, der am Fen ster stand, auf, in die Gasse herunterzukommen. ›Steig doch herunter!‹ sagte er, ›und ich werde dir einen solchen Faustschlag auf den Kopf ge ben, daß dir der Hals in die Brust rutscht!‹ Der also Aufgeforderte er widerte: ›Wenn du mir auch hundertmal mehr versprächst, so käme ich doch nicht.‹ Ulenspiegel setzte hinzu: ›So mögen Oranien und die andern Adeligen antworten.‹«
Auf dem Roßmarkt zu Brüssel wurden die Herren von Andelot, die Kinder Battenburgs und andere Ritter enthauptet, die sich der Stadt Amsterdam durch einen Überfall hatten bemächtigen wollen. Wäh rend sie, achtzehn an der Zahl, zum Richtplatz gingen und Psalmen sangen, erdröhnten die Trommeln. Die spanischen Söldner, die sie be gleiteten, trugen brennende Fackeln, deren Flammen die Körper der gefangenen Ritter versengten. Wenn sie vor Schmerzen zuckten, lach ten die Söldner: »Wie, ihr Lutheraner, tut es euch denn weh, verbrannt zu werden?« Und der sie verraten hatte, war einer namens Dierick Slosse. Der hat te sie nach dem noch katholischen Enkhuysen geführt, um sie des Her zogs Häschern zu überliefern. Sie starben tapfer, und der König erbte.
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»Sahst du sie vorbeiziehen?« fragte Ulenspiegel, als Holzhauer verklei det, den ebenso ausstaffierten Lamm. »Sahst du den elenden Herzog, der seinen Häschern voranritt? Daß Gott ihn an seinem eigenen Bart erdroßle! Sahst du diese Spinne, die Satan auf unser Land spie? Komm, Lamm, wir wollen dem Herzog Steine ins Netz werfen …« »Wehe«, klagte Lamm, »wir werden lebendig verbrannt werden.« »Komm mit nach Groenendal.« Ulenspiegel gab nicht nach: »Dort ist ein schönes Kloster. Dort wird Seine Herzogliche Gnaden den Gott des Friedens bitten, daß er ihn sein Werk vollenden lasse. Wir sind in der Fastenzeit. Seine Gnaden wird sich sicher kasteien, wenn er sich auch des Blutes nicht enthält. Komm mit, Lamm. Es sind fünfhundert gewappnete Reiter um das Stadthaus von Ohain aufgestellt. Dreihun dert Mann Fußvolk sind in kleinen Trupps aufgebrochen und dringen in den Wald von Soignes ein. Wenn Alba seine Andacht halten wird, fallen wir mit diesen Männern über ihn her. Wenn wir ihn gefangen haben, setzen wir ihn in einen schönen eisernen Käfig und schicken ihn dem Prinzen als Ostergeschenk.« Als sie durch den Wald von Soignes kamen, erspähte Ulenspiegel durch die Blätter herzogliche Söldner, die den Wald durchstreiften. »Wir sind verraten«, sagte er und rannte im schnellsten Lauf bis nach Ohain. Obwohl er es eilig hatte, trug er einen gefällten Baumstamm auf der Schulter. Die Söldner ließen den Holzhauer durch. Ulenspie gel fand die Reiter und warnte sie. Sie stoben auseinander und ent kamen, außer dem Herrn von Armentieres, der gefangen wurde. Von den Fußtruppen aber, die aus Brüssel kamen, konnte man keinen fas sen, da Ulenspiegel sie bewogen hatte, umzukehren. Herr von Armen tieres zahlte grausam für die andern. Mit klopfendem Herzen ging Ulenspiegel zum Viehmarkt nach Brüs sel, um seine grausame Hinrichtung anzusehen. Armentieres wurde aufs Rad geflochten. Er erhielt siebenunddreißig Schläge mit der Eisen stange auf Beine und Arme, bis alle Knochen zerbrachen. Den letzten Schlag erhielt er auf die Brust und starb. An einem hellen, milden Junitag wurde auf dem Markt vor dem Rat haus in Brüssel ein mit schwarzem Tuch bedecktes Schafott errichtet, 172
aus dem zwei hohe Pfähle mit Eisenspitzen aufragten. Auf dem Blut gerüst lagen zwei schwarze Kissen vor einem Tisch, auf dem ein silber nes Kreuz stand. Auf diesem Schafott wurden die Grafen von Egmont und von Hoorn mit dem Schwert enthauptet und ihre Köpfe auf die Eisenstangen ge steckt. Und der König erbte.
Der Schweiger aber brachte ein Heer zusammen und fiel von drei Sei ten in die Niederlande ein. Als die Nachricht davon kam, ergriff Ulen spiegel das Wort in einer Versammlung wilder Geusen in Marenhout. Er sprach mit lauter Stimme: »Auf den Rat der Inquisitionsmänner hat König Philipp alle Einwohner der Niederlande des Majestätsverbre chens für schuldig erklärt, weil sie der Ketzerei angehangen oder ihr nicht widerstanden haben. In Ansehung dieses abscheulichen Verbre chens verdammt er alle, ohne Rücksicht auf Geschlecht oder Alter, mit Ausnahme der namentlich Bezeichneten, zu den Strafen, die auf solche Frevel stehen, und solches ohne alle Hoffnung auf Gnade. Elftausend Henker sind dem König nicht zuviel, um die Arbeit zu tun. Alba nennt sie Soldaten. Das Land unserer Väter ist ein Beinhaus geworden, daraus die Künste fliehen, das Handwerk entweicht und die Gewerbe auswandern. Die Niederlande hatten ihre Vorrechte erworben dadurch, daß sie viel Geld an bedürftige Fürsten gaben. Diese Vorrechte sind aufgeho ben. Die Niederlande hatten gehofft, kraft der Verträge, die sie mit den Herrschern geschlossen hatten, den Reichtum, die Frucht ihrer Arbeit, zu genießen. Sie täuschen sich: Der König erbt. Blut und Tränen! Der Tod mäht auf dem Scheiterhaufen, an den Bäu men, die längs der Heerstraße als Galgen dienen, in den offenen Gru ben, in die die armen Mädchen lebendig geworden werden, in den Ge fängnissen, in denen man die Opfer ertränkt. Der König erbt. So hat der römische Papst es gewollt. 173
Die Städte sind übervoll mit Spionen und Angebern, die ihren Anteil von der Habe der Opfer erwarten. Je reicher, desto schuldiger ist man im vorhinein, denn der König will erben. Doch die tapferen Männer der Niederlande werden sich nicht gleich Lämmern erwürgen lassen. Unter den Flüchtigen sind Bewaffnete, die sich in den Wäldern verbergen. Sie überfallen des Königs Soldaten, tö ten sie, plündern sie aus und ziehen sich wieder in ihre Schlupfwinkel zurück. Bei Nacht sieht man in den Wäldern Feuer lodern, die Feuer unserer Gelage. Unser ist das Wild. Wir sind die Herren. Die Bauern versorgen uns mit Speck und Brot. Zerlumpt, aber mit stolzem Blick, so irren die tapferen Männer des Landes mit ihren Waffen in den Wäl dern umher. Es lebe der Geuse!« Alle in der Versammlung Anwesenden tranken Ulenspiegel zu und schrien: »Es lebe der Geuse!«
Im September überschritt der Schweiger mit sechs Feldstücken und vier schweren Kanonen nebst vierzehntausend Flamen, Wallonen und Deutschen den Rhein bei Sankt Veit. Unter den gelben und roten Fahnen des Burgunder Knotenstocks, der in Albas Hand zum Stock der beginnenden Knechtschaft wurde, marschierten sechsundzwanzigtausendfünfhundert Mann und roll ten siebzehn Feldstücke und neun schwere Kanonen dem Heer des Schweigers entgegen. Er hatte in diesem Krieg kein Glück, denn Alba stellte sich nicht zur Schlacht. Noch viel schlimmer erging es Ludwig von Nassau, der erst viele Städte genommen und viele Schiffe auf dem Rhein gekapert hat te und dann bei Jemmingen in Friesland sechzehn Kanonen, tausend fünfhundert Pferde und zwanzig Fahnen an Don Henricis, den Sohn des Herzogs von Alba, verlor, weil die feigen Söldner, die Nassau be fehligte, Geld verlangten und, da er es ihnen nicht geben konnte, nicht kämpfen wollten. Der Herzog von Alba stellte sich zwar nicht zur Schlacht, aber er 174
beunruhigte den Schweiger, der zwischen Jülich und der Maas durch die Niederlande streifte, ohne Unterlaß. So ließ er im Flußbett an vie len Stellen Fußangeln legen, um Menschen und Pferde beim Durch gang zu verletzen. Der Schweiger wurde gewarnt und fand eine Stel le des Flusses, an der es keine Fußangeln gab. Seine Reiter durchritten die Maas und stellten sich am andern Ufer in Schlachtordnung auf, um den Übergang ins Bistum Lüttich zu decken. Dann errichteten zehn Reihen Bogen- und Scharfschützen von einem Ufer zum anderen ei nen lebendigen Wall, um die Strömung zu brechen. Unter diesen Män nern befand sich auch Ulenspiegel. Er sah die gewaltige Kriegsmacht des Schweigers vorbeiziehen. Sie ordneten sich auf Befehl der Obersten und Hauptleute, und als alle Sol daten den Fluß durchschritten hatten, folgten ihnen die zehn Reihen Bogen- und Scharfschützen. »Wir wollen auf Lüttich marschieren«, erklärte der Schweiger. Mit allen Flamen rief Ulenspiegel: »Lang lebe Oranien! Auf nach Lüttich!« Niemand und nichts hätte den Aufmarsch verhindert, wenn nicht die Hochdeutschen unter den Fahnen des Schweigers erklärt hätten, sie seien zu sehr durchnäßt und eingeweicht, um weitermarschieren zu können. Der Prinz versicherte ihnen, daß sie zu einem sicheren Sieg in eine befreundete Stadt gingen. Die Männer wollten nichts hören. Sie zündeten große Feuer an und wärmten sich und ihre abgesattel ten Pferde. Der Angriff auf Lüttich wurde auf den kommenden Tag verschoben. Alba, den der kühne Durchmarsch durch die Maas gewaltig bestürzt hatte, erfuhr, daß die Söldner des Schweigers noch nicht zum Angriff bereit seien. Er bedrohte Lüttich und das ganze umliegende Land mit Feuer und Schwert, falls er erfahren würde, daß die Freunde des Prin zen sich rührten. Der bischöfliche Häscher, Gerhard von Groesbe ke, waffnete seine Söldner gegen den Prinzen. Durch die Schuld der Hochdeutschen, die Angst vor nassen Hosen gehabt hatten, kam der Schweiger zu spät. Es mangelte ihm an Geld, sein Heer hungerte. Seine Söldner murrten. Er marschierte nach Frankreich und bot Alba eine 175
Schlacht an. Der Herzog stellte sich nicht. Der Schweiger brach von Quesnoy-le-Comte auf, um auf Cambrai zu rücken. Da stieß er auf zehn Kompanien Deutscher, acht Fähnlein Spanier und drei Schwa dronen leichter Reiter, die der Sohn des Herzogs befehligte. Don Hen ricis rief mitten in der Schlacht auf spanisch: »Tötet, tötet! Gebt kein Pardon! Es lebe der Papst!« Er stand der Kompanie Schützen gegen über, in der Ulenspiegel Rottenführer war, und stürzte sich mit seinen Leuten auf sie. »Ich will diesem Henker die Zunge abschneiden«, sagte Ulenspiegel zum Feldwebel. »Schneide«, sagte der Feldwebel. Mit einer wohlgezielten Kugel zerriß Ulenspiegel Zunge und Kinn backen des Don Henrici, des Sohns des Herzogs von Alba. Seine acht Fähnlein und drei Schwadronen wurden geschlagen. Nach diesem Sieg suchte Ulenspiegel Lamm im Lager, aber er fand ihn nicht und klagte: »Nun ist er fort, mein Freund. Sie werden ihn ge fangen haben, um Lösegeld für ihn zu bekommen. Wo bist du, Lamm, mein fetter Freund?«
Die Trübsal Ulenspiegels darüber, daß er Lamm verloren hatte, war groß. Aber er riß sich zusammen, als ihn der Schweiger zu sich entbie ten ließ. »Höre und bewahre«, sagte der Prinz. »Meine Ohren sind Gefängnistore. Man geht leicht hinein, aber schwer heraus«, erwiderte Ulenspiegel. Der Schweiger sprach: »Geh durch die Niederlande und verkünde allerorten: Wenn das Kriegsglück unsere heilige christliche Sache auf dem Lande verrät, wird der Kampf auf dem Meere fortgesetzt. Unsere Sache liegt in Gottes Hand. In Amsterdam wirst du Paul Puys von dei nem Treiben Rechenschaft ablegen. Hier sind drei Pässe. Sie sind von Alba persönlich unterschrieben und bei den Leichen von Quesnoy le-Comte gefunden worden. Mein Sekretarius hat sie ausgefüllt. Viel 176
leicht findest du unterwegs einen guten Gefährten, dem du vertrauen kannst. Wenn du auf das Lied der Lerche mit kriegerischem Hahnruf antwortest, gelten die Pässe. Hier sind fünfzig Gulden. Du wirst tap fer und treu sein.« Ulenspiegel nickte mit dem Kopf. Er sagte vor sich hin: »Klasens Asche brennt auf meiner Brust.« In Namur fand Ulenspiegel Lamm, der von großer Liebe für die Fi sche der Maas ergriffen war. Er verkaufte und aß die Fische, die er ge fangen hatte, und erwarb sich bei diesem Handwerk einen noch dik keren Wanst und ein Säcklein voll Karolus. Da er seinen Freund und Gesellen am Ufer der Maas nach der Stadt wandern sah, trieb er sein Boot an Land, erklomm schnaufend die Böschung und sprach freudig erregt: »Da bist du also, Ulenspiegel, du lustiger Landstreicher. Wieviel Spanier hast du getötet? Sahst du mein Weib nicht in ihren Wagen vol ler Dirnen? Bist du verwundet? Du bleibst also hier, gesund und mun ter? Gott sei gelobt, wie bin ich froh!« Lamm tanzte, sprang, schnaufte und zwang Ulenspiegel zu tanzen. Dann wanderten sie zusammen nach Namur. Am Stadttor zeig te Ulenspiegel seinen vom Herzog von Alba unterschriebenen Paß. Lamm führte ihn in sein Haus. Während er das Mahl bereitete, er zählte er, daß er das Heer verlassen habe, um einem Mädchen zu fol gen, das er für seine Frau gehalten hatte. »Hast du sie nicht gesehen?« fragte er unaufhörlich. »Ich habe andere, sehr schöne gesehen«, erwiderte Ulenspiegel, »und besonders in dieser Stadt, wo alle verliebt sind.« »Morgen werden wir Namur verlassen«, sagte Lamm. »Wir wollen uns zwei Esel kaufen und nach Flandern reiten. Mein Herz zieht mich nach Damme. Es war der Ort, wo meine Frau mich so geliebt hat. Kann sein, daß sie dorthin zurückgekehrt ist.« »Da du es begehrst, wollen wir morgen aufbrechen«, sagte Ulenspie gel, denn auch er hatte Sehnsucht. In Damme lebte Nele einsam und betrübt mit Katheline, die jede Nacht verliebt nach dem kalten Teufel rief. Aber er kam nicht. »Ach«, klagte Katheline, »du bist reich, Hanske, mein Buhle, und 177
könntest mir die siebenhundert Karolus wiederbringen. Dann würde Soetkin aus dem Fegefeuer auf die Erde zurückkehren, und Klas wür de im Himmel lachen.« Katheline war sehr arm, doch die Nachbarn halfen ihr mit Bohnen, Brot und Fleisch aus. Die Gemeinde gab ihr etwas Geld. Nele aber näh te Kleider für die reichen Bürgerfrauen und ging in ihre Häuser, um die Wäsche zu bügeln. So verdiente sie einen Gulden die Woche. Katheline sagte immer wieder: »Macht ein Loch, nehmt meine See le fort. Sie pocht und will hinaus. Er wird die siebenhundert Karolus wiederbringen.« Nele weinte, wenn sie das hörte. Wie lange würde sie arbeiten müs sen, um den Schaden gutzumachen, den ihre Mutter Ulenspiegel zuge fügt hatte? Würde sie ihren Tyll jemals wiedersehen? In einer Schenke in der Sambre kehrten Ulenspiegel und Lamm ein und plauderten mit dem Wirt, einem Papisten. Sie leerten einen Hum pen nach dem andern mit ihm, und als der Wirt schon betrunken war, sprach er: »Worin fängt man Maulwürfe? In Maulwurfsfallen. Wer ist der Maulwurf? Das ist der Schweiger, der große Ketzer, orangefarben wie das Feuer der Hölle. Gott sei mit uns. Sie werden kommen, um zu trinken! Ich koche, ich brenne. Sehr schöne reformierte Prediger … schöne, tapfere Soldaten, wie Eichen … zu trinken! Wollt ihr nicht mit ihnen in das Lager des großen Ketzers gehen? Ich habe Pässe, von ihm unterzeichnet … Ihr werdet sehen, was ihr damit ausrichtet.« »Wir werden in das Lager gehen«, erwiderte Ulenspiegel. Der Wirt plapperte darauflos: »In der Nacht, wenn die Gelegenheit günstig ist, wird Eisenwind der Drossel Nassau das Pfeifen legen. Sie sind schon im Lager, dreihundert Schritt weit, auf dem Weg bei Mar che-les-Dames. Dort könnt ihr sie sehen. Und nun laßt uns trinken.« »Trink«, sagte Ulenspiegel, »ich trinke mit dir auf den König, auf den Herzog, auf die Prediger und auf den Eisenwind. Ich trinke auf dein Wohl und auf meines. Du trinkst ja nicht.« Bei jedem Trinkspruch füllte Ulenspiegel das Glas des Wirtes, der ein Glas nach dem anderen leerte und einschlief. Ulenspiegel betrachtete ihn eine kleine Weile. Dann stand er auf und 178
sagte zu Lamm: »Er schläft, und wir machen uns davon. Hast du ge hört, was der Taugenichts gesagt hat? Und weißt du, wer die drei Predi ger sind? Dann weißt du auch, daß es gut sein wird, sie auf dem Wege zu erwarten, ehe der Eisenwind bläst. Es gilt, das Leben des Prinzen zu retten.« Er befahl Lamm: »Da, nimm meine Büchse, geh dort in das Gebüsch zwischen den Felsen. Lade die Büchse mit zwei Kugeln und schieße, wenn ich wie ein Rabe krächze.« »Das will ich tun.« Lamm verschwand in den Büschen. Ulenspiegel hörte das Rad der Büchse knarren. »Siehst du sie kommen?« flüsterte er. »Ich sehe sie«, erwiderte Lamm. »Es sind ihrer drei, sie gehen wie Soldaten, einer überragt die andern um Haupteslänge.« Ulenspiegel setzte sich mit vorgestreckten Beinen an den Straßen rand und betete murmelnd einen Rosenkranz, wie Bettler es tun. Er hielt seinen Hut zwischen den Knien. Als die drei Prediger vorüber kamen, hielt Ulenspiegel ihnen seinen Hut hin, aber keiner von ihnen legte eine Münze hinein. Da stand Ulenspiegel auf und sagte mit kläg licher Stimme: »Ihr guten Herren, gebt einem armen Steinhauer, der sich das Kreuz gebrochen hat, doch einen Heller. Gott wird euch euer Leben lang fröhlich erhalten. Segnet mich!« Die drei Prediger legten die Hände auf Ulenspiegels Kopf. Sie taten es ohne Andacht, und da er wahrnahm, daß sie mager waren und doch ansehnliche Bäuche hatten, stellte er sich, als ob er fiele, und stieß mit der Stirn gegen den Bauch des hochgewachsenen Predigers. Als er ein lustiges Klingeln von Münzen hörte, richtete er sich wieder auf und zog sein kurzes Schwert. »Ihr schönen Väter«, sagte er heuchlerisch, »es ist kalt. Ich bin schlecht gekleidet. Gebt mir von eurer Wolle, daß ich mir daraus ei nen Mantel schneiden kann. Ich bin Geuse, es lebe der Geuse!« »Du geschwollener Geuse«, schrie der hochgewachsene Prediger, »du trägst den Kamm hoch, wir werden ihn dir abschneiden.« »Abschneiden«, erwiderte Ulenspiegel. Er wich zurück. »Der Eisen 179
wind wird euch anwehen, ehe er den Prinzen anweht. Ein Geuse bin ich, es lebe der Geuse!« Die drei Prediger sagten bestürzt zueinander: »Woher weiß er vom Eisenwind? Wir sind verraten. Drauf! Es lebe die Messe!« Sie zogen scharfgeschliffene Schwerter hervor. Ulenspiegel krächzte. Ein Büch senschuß aus dem Gebüsch streckte den größten Prediger nieder. Ein weiterer Schuß fällte den zweiten. Der dritte Prediger raste vor Wut und warf sich auf Ulenspiegel. Das Blut spritzte Ulenspiegel vom Kopf und blendete ihn. Er wehrte sich, während er in großen Sätze zurückwich. Er fühlte, daß er schwach wurde. Er wäre getötet worden, wenn Lamm nicht wieder geschossen hätte. Blauer Rauch stieg aus dem Gebüsch auf. Lamm zeigte sein gu tes Vollmondgesicht. »Ist es vollbracht?« fragte er. »Ja, mein Sohn«, antwortete Ulenspiegel, »aber komm!« Sie nahmen ihren toten Feinden in Eile die Mäntel ab und die Wert sachen über dreihundert Karolus sowie Briefe. Dann warfen sie die Leichen der Prediger in ein Loch zwischen den Felsen. In Huy, wohin sie bald gelangten, suchte Lamm voll Unruhe sein Weib. Vergeblich.
Sie zogen weiter. In Gent sah Ulenspiegel oftmals Jakob Scoelap, Lie ven Smet und Jan de Wulfschlaeger, die ihn über das gute und böse Geschick des Schweigers auf dem laufenden hielten. Wenn Ulenspiegel nach Destelbergh zurückkehrte, wo Lamm und er Quartier genom men hatten, fragte ihn der dicke Freund: »Was bringst du, Glück oder Unglück?« »Ach«, gab Ulenspiegel zurück, »der Schweiger, sein Bruder Ludwig, die anderen Führer und die Franzosen waren entschlossen, weiter nach Frankreich vorzurücken und sich mit dem Prinzen von Conde zu ver einigen. Sie hätten das arme Vaterland und das freie Gewissen geret tet. Gott hat es anders gewollt. Ihre deutschen Reiter und Landsknech te weigerten sich weiterzuziehen, sie sagten, daß ihr Eid sie verpflich 180
te, gegen den Herzog von Alba zu kämpfen, nicht aber gegen Frank reich. Nachdem der Schweiger sie vergeblich beschworen hatte, war er gezwungen, sie durch die Champagne und Lothringen nach Straßburg zu führen, von wo sie nach Deutschland zurückkehrten. Seit dem Ab zug der deutschen Söldner mißglückte alles. Der König von Frank reich weigerte sich trotz seines Vertrags mit dem Prinzen, das verspro chene Geld zu zahlen. Die Königin von England wollte ihm welches schicken, um die Stadt Calais und Umgebung wieder in ihren Besitz zu bekommen. Doch ihre Briefe wurden abgefangen und dem Kardi nal von Lothringen überliefert. Der Kirchenfürst fälschte eine ableh nende Antwort. Unsere Hoffnung vergeht wie Gespenster beim Hah nenschrei. Aber Gott ist mit uns, und wenn das Land versagt, wird das Wasser seine Schuldigkeit tun. Es lebe der Geuse!«
Ulenspiegel und Lamm brachen auf. Sie zogen an der Leye, dem klaren Fluß, entlang nach Kortrijk. Lamm wanderte kläglichen Mutes. »Du stöhnst, Mattherziger«, sagte Ulenspiegel, »und sehnst dich nach dei nem Weib, das dir die gehörnte Krone des Hahnreis aufgesetzt hat.« »Sie war mir allezeit treu«, jammerte Lamm. »Sie liebte mich, wie ich sie liebte. Eines Tages, da sie nach Brügge gegangen war, kam sie ver wandelt zurück. Seither sagte sie zu mir, wenn ich sie um Liebe bat: ›Ich muß als Freundin mit dir leben, nicht anders!‹ ›Wehe‹, fragte ich sie, ›hast du in Brügge diesen harten Entschluß ge faßt?‹ Sie antwortete mir: ›Ich habe vor Gott und seinen Heiligen geschwo ren.‹ ›Wer zwang dich denn zum Schwur‹, schrie ich, ›deine Pflichten als Frau nicht zu erfüllen?‹ ›Der, welcher Gottes Geist in sich hat und mich unter die Zahl seiner Büßerinnen aufnimmt!‹ So sagte sie und hörte von Stund' an auf, mein zu sein, gleich als wäre sie die getreue Frau eines anderen gewesen. Ich flehte sie an, quälte, 181
drohte, weinte, ich bat. Aber umsonst. Eines Abends, bei der Heim kehr von Blankenberghe, wohin ich gegangen war, um den Zins für ei nen meiner Pachthöfe einzutreiben, fand ich das Haus leer. Mein Weib war, ohne Zweifel, meines Flehens müde, böse und traurig über mei nen Kummer, entflohen. Wo weilt sie nun?« Lamm wollte nicht weitergehen. Er setzte sich ans Ufer der Leye, senkte den Kopf und schaute ins Wasser.
In der Umgegend von Damme hatten nicht nur die Papisten gewütet. Es waren auch verschiedene abscheuliche Verbrechen begangen wor den. Junge Mädchen und Burschen und auch Greise, von denen man wußte, daß sie mit Geld in der Tasche nach Brügge, Gent oder sonst ei ner Ortschaft in Flandern gegangen waren, waren tot aufgefunden wor den. Sie waren splitternackt und von so langen spitzen Zähnen ins Ge nick gebissen worden, daß der Halswirbel bei allen gebrochen war. Die Ärzte und Bader erklärten, daß diese Zähne die eines großen Wolfes seien. Ohne Zweifel, sagten sie, wären die Diebe, die die Opfer geplün dert hätten, erst nach dem Wolf gekommen. Aber trotz aller Nachfor schungen konnte niemand entdecken, wer die Diebe gewesen waren. Auch einige angesehene Bürger, die sich ohne Geleit auf den Weg gemacht hatten, waren verschwunden, ohne daß man wußte, was aus ihnen geworden war. Bisweilen fand ein Bauer, der des Morgens zur Feldarbeit ging, Wolfsspuren auf seinem Acker. Wenn sein Hund mit den Pfoten die Furchen aufscharrte, legte er einen Leichnam bloß, der die Spuren der Wolfszähne im Genick oder unter dem Ohr aufwies, gar oft auch am Bein und immer von hinten. In allen Fällen war der Wirbelknochen gebrochen. Der Bauer ging unverzüglich zum Amtmann, ihm die Kunde zu bringen. Dieser kam mit dem Kriminalschreiber, zwei Schöffen und zwei Wundärzten zur Stelle, wo der Leichnam lag. Nachdem sie ihn sorgsam visitiert hatten, verwunderten sie sich, daß der Wolf, der doch aus Hunger tötet, dem Toten kein Stück Fleisch abgebissen hatte. 182
Es wurden Soldaten auf die Suche geschickt, um den Wolf bei Tag und Nacht in den Dünen längs des Meeres aufzuspüren. Das taten sie auch bei Heyst. Die Nacht war gekommen. Einer der Soldaten, der auf seine Kraft vertraute, wollte, mit seiner Büchse bewaffnet, allein auf die Suche gehen. Seine Kollegen waren überzeugt, daß er, tapfer und bewaffnet, wie er war, den Wolf töten würde, wenn er sich zu zeigen wagte. Plötzlich hörten sie einen lauten Schrei, wie den eines Sterben den. Sie eilten in die Richtung und riefen: »Halt aus, wir kommen dir zu Hilfe.« Als sie Dünen und Tal mit ihren Laternen gründlich abge sucht hatten, fanden sie ihren Gefährten, an einem Arm und an ei nem Bein gebissen. Wie bei den anderen Opfern war sein Nacken von hinten gebrochen worden. Neben der Leiche des Kameraden fanden sie drei abgeschnittene Finger, die sie mitnahmen. Sie waren nicht die seinen. Sein Säbel aber war geraubt. Sie nahmen den Körper auf die Schultern und trugen ihn betrübt und ergrimmt zum Amtshaus. Der Amtmann und seine Gehilfen prüften die abgeschnittenen Finger und erkannten sie als die eines Greises, der keinem Handwerk oblag, denn die Finger waren dünn und die Nägel lang wie bei Männern des Rich ter- oder Priesterstandes. Am nächsten Morgen gingen der Amtmann, die Schöffen, der Schrei ber, die Wundärzte und die Soldaten an die Stelle, wo der arme Tote gebissen worden war. Sie sahen Blutstropfen auf dem Gras und Fuß stapfen, die bis ans Meer führten.
In Belem, am Ufer des Brügger Kanals, begegneten Ulenspiegel und Lamm einem Reiter, der mit verhängten Zügeln nach Gent ritt. Ulen spiegel trillerte wie eine Lerche. Auf dieses Zeichen hielt der Reiter an. »Bringst du Zeitung, ungestümer Reiter?« fragte Ulenspiegel. »Hochwichtige Zeitung«, sagte der Reiter. »Auf des Herrn von Cha tillon Rat, der im Lande Frankreich Admiral ist, hat der Freiheitsprinz Befehl erteilt, Kriegsschiffe auszurüsten, noch außer denen, die in Em 183
den und Ostfriesland schon bewaffnet und bemannt sind. Die wacke ren Männer, die den Auftrag zur Ausrüstung erhielten, sind Adrian de Berghes, Herr von Dolhain, sein Bruder Ludwig von Hennegau, der Baron von Montfaucon, Herr Ludwig von Brederode und Albert von Egmont, der der Sohn des Enthaupteten und kein Verräter ist, und Jan Brock.« Er fuhr fort: »Der Prinz hat seine ganze Habe, mehr denn fünfzig tausend Gulden, gegeben.« »Ich habe fünfhundert Gulden für ihn«, sagte Ulenspiegel. »Trag sie ans Meer«, sagte der Reiter und galoppierte davon. »Der Schweiger gibt seine ganze Habe«, sagte Ulenspiegel, »wir andern ge ben nur unsere Haut.« »Ist das denn nichts?« Lamm schüttelte den Kopf: »Werden wir im mer nur von Plündern und Morden reden hören? Oranien liegt am Bo den.« »Am Boden wie die Eiche«, lachte Ulenspiegel, »aber aus der Eiche macht man Schiffe der Freiheit!«
»Wir haben eine große Summe Geldes ausgegeben, um Soldaten an zuwerben, die Häscher zu bestechen und die unzähligen Ölkuchen zu bezahlen, die du unaufhörlich ißt, anstatt einen zu verkaufen. Gib mir dein Geld, ich werde die gemeinsame Börse aufheben«, sagte Ulenspie gel. Zögernd gehorchte Lamm. Der Abend sank. Sie kamen nach Brügge durch das Genter Tor und wiesen ihre Pässe vor. Nachdem sie für sich einen halben Sou und zwei für die Esel, die sie erstanden hatten, bezahlten, zogen sie in die Stadt ein. Sie stiegen im ›Meerweib‹ ab und führten ihre Esel in den Stall. Ulenspiegel bestellte für sich und Lamm Nachtessen: Brot, Bier und Käse. Der Wirt lächelte spöttisch, da er diese karge Kost auftrug. Lamm aß mit langen Zähnen und blickte voller Verzweiflung auf Ulenspie 184
gel, der in das zu alte Brot und den zu jungen Käse hineinbiß, als wä ren es Fettammern. Lamm trank sein Dünnbier ohne Genuß. Ulen spiegel lachte, da er ihn in so kläglicher Stimmung sah. Und es war noch jemand, der im Hof der Herberge lachte und manchmal das Ge sicht an die Fensterscheiben preßte. Ulenspiegel erkannte, daß es ein Weib war, das sein Gesicht verbarg. In der Meinung, es sei irgendeine boshafte Magd, schenkte er ihr keine Aufmerksamkeit. Und da Lamm wegen der vereitelten Gier seines Bauches so blaß, traurig und elend war, tat er Ulenspiegel leid. Er wollte für seinen Gefährten schon einen Eierkuchen mit Blutwurst, eine Schüssel Rindfleisch mit Saubohnen oder irgendein anderes warmes Gericht bestellen, als der Wirt eintrat und seinen Hut höflich lüftete: »Wenn die Herren Reisenden ein bes seres Nachtmahl begehren«, sagte er, »so müssen sie sprechen und nur sagen, was es sein soll.« Lamm riß Mund und Augen weit auf. Der Vorschlag verschlug ihm die Rede, aber Ulenspiegel antwortete: »Wandernde Handwerker sind nicht reich.« »Es kommt gleichwohl vor«, lächelte der Wirt, »daß sie nicht wissen, was sie alles besitzen.« Er deutete auf Lamm: »Dieses gute Vollmond gesicht ist soviel wert wie zwei andere. Was behebt den Herrschaften zu speisen und zu trinken? Einen Eierkuchen mit fettem Schinken, Back werk, einen Kapaun, eine schöne gebratene Kalbsrippe in Gewürztun ke, Dobbel-Knol aus Antwerpen und Löwener Wein nach Burgunder Art? Und alles ohne Bezahlung?« »Bringt es, bringt es«, bat Lamm. Der Tisch wurde gedeckt, und Ulenspiegel ergötzte sich daran, zu zusehen, wie der arme Lamm sich hungriger denn je auf die Platten stürzte und das Bier und den Wein maßweise hinter die Binde goß. Als Lamm nichts mehr zu sich nehmen konnte, schnaubte er vor Behagen wie ein Walfisch. Weder Ulenspiegel noch Lamm hatten das hübsche Gesicht gesehen, das lächelnd an die Scheiben gepreßt war, und auch nicht die Frau, die im Hof munter auf und ab ging. Als die Nachtstunde kam, fragte der Wirt, ob sie nicht jeder in sein großes und schönes Gemach hinaufge 185
hen wollten. Ulenspiegel entgegnete, daß ein kleines Zimmer für bei de genüge. Der Wirt zuckte die Achseln: »Das habe ich nicht, aber ihr sollt jeder, ohne zu zahlen, ein herrschaftliches Zimmer haben.« Er führte Ulenspiegel und Lamm in reich mit Hausrat und Teppi chen ausgestattete Gemächer. In Lamms Gemach stand ein großes Bett. Ulenspiegel, der auch wacker gezecht hatte und vor Müdigkeit umsank, ergab sich in seinem Zimmer dem Schlafe. Es war ein guter und langer Schlaf. Doch als er zur Mittagszeit das andere Zimmer betrat, schlief Lamm noch und schnarchte beseligt. Auf dem Kissen neben seinem Kopf lag ein zierliches Täschchen. Ulen spiegel machte es auf und fand, daß es mit Goldkarolus und Silbergro schen gefüllt war. Er rüttelte den Schlafenden auf. Lamm rieb sich die Augen, blickte unstet umher und fragte außer sich: »Mein Weib, wo ist mein Weib?« Auf die leere Stelle neben sich im Bette deutend, jammer te er: »Da war sie noch eben.« Dann sprang er auf, durchstöberte alle Ecken und Winkel des Zim mers. Er stampfte mit dem Fuß: »Mein Weib, wo ist mein Weib?« Er machte so viel Lärm, daß der Wirt heraufkam. Lamm packte ihn an der Kehle: »Taugenichts«, schrie er, »wo ist mein Weib, was hast du mit meinem Weib gemacht?« »Dein Weib?« fragte der Wirt. »Welches Weib? Du bist allein gekom men. Ich weiß nichts.« »Er weiß nichts!« Lamm durchstöberte verzweifelt den Raum »Ach! Sie war da, diese Nacht, in meinem Bett wie zur Zeit unserer holden Liebe.« Er lockte: »Wo bist du, Liebchen?« Er warf die Börse zu Boden: »Nicht dein Geld brauch' ich, sondern dich, deinen holden Leib, oh, meine Geliebte! Nun verläßt du mich, nachdem du wieder zu mir ge kommen warst. Ich will sterben. Mein Weib, wo ist mein Weib?« Lamm warf sich zu Boden und weinte bitterlich. Dann riß er die Türe auf, lief im Hemd auf die Straße und schrie: »Wo ist mein Weib?« Ulenspiegel hatte alle Mühe, Lamm dazu zu bringen, sich anzuklei den. Er sprach ihm zu: »Tröste dich. Sie liebt dich noch, da sie wieder zu dir gekommen ist. Ohne Zweifel war sie es, die das Nachtmahl und 186
die vornehmen Zimmer bezahlt hat, und diesen vollen Säckel kann nur sie auf das Bett gelegt haben. Weine nicht mehr, Lamm, und laß uns zur Verteidigung des Vaterlandes weiterziehen.« »Bleiben wir noch in Brügge«, bat Lamm. »Ich will durch die ganze Stadt laufen und sie wiederfinden.« »Du wirst sie nicht wiederfinden, da sie sich doch vor dir versteckt«, sagte Ulenspiegel. Und sie machten sich auf den Weg nach Damme.
Aus der Ferne sahen Lamm und Ulenspiegel den Turm der Frauenkir che von Damme. »An diesem Ort sind deine Schmerzen und Liebes freuden«, sagte Lamm. Ulenspiegel antwortete nicht. »Bald werde ich meine alte Wohnung und vielleicht mein Weib wie dersehen«, fuhr Lamm fort. Aber Ulenspiegels Kopf war gebeugt, sein Gesicht fahl. Seine Lippen bebten, und er weinte stumm. Sie ritten wortlos in Damme ein. Erst durch die Reiherstraße. Sie sa hen niemanden wegen der Hitze. Sie kamen am Rathaus vorbei, vor dem Klas verbrannt worden war. Ulenspiegels Lippen zitterten noch mehr, aber seine Tränen versiegten. Sie kamen vor das Haus Klasens, das jetzt ein anderer Kohlenhändler bewohnte. Ulenspiegel pochte an die Türe: »Erkennst du mich?« fragte er den neuen Besitzer. »Ich will mich hier ausruhen.« »Ich erkenne dich«, erwiderte der Kohlenhändler. »Du bist der Sohn des Geopferten. Tu in diesem Haus, was du willst.« Ulenspiegel ging in die Küche, dann in Klasens und Soetkins Kam mer. Er sah aus dem Fenster, hinüber zu Kathelines Haus. »Gehen wir dorthin«, sagte er zu Lamm, der ihm gefolgt war. Sie banden ihre Esel an den Pfählen vor der Türe Kathelines an und betraten die Küche. Es war Essenszeit. Auf dem Tisch standen grüne Bohnen in einer Schale. Katheline aß. Nele stand neben ihr und woll te gerade eine Essigtunke, die sie vom Feuer genommen hatte, in den Napf Kathelines gießen. 187
Als sie Ulenspiegel sah, erschrak sie so, daß sie den Topf mitsamt der Tunke in Kathelines Napf warf. Ulenspiegel blieb stehen. Er blick te Nele an und lächelte trotz seiner Trübsal liebevoll. Nele schlang ihre Arme um seinen Hals. Sie weinte und lachte und sagte nur immerfort: »Tyll, Tyll!« Ulenspiegel hielt sie glückselig umfangen und konnte sich nicht von ihr trennen, bis sie matt auf einen Stuhl sank. »Tyll, mein Ge liebter«, sagte sie ohne Scheu, »da bist du wieder!« Als Nele sich beruhigt hatte, sah sie Lamm an der Tür. Sie fragte: »Wo hab' ich diesen dicken Mann schon gesehen?« »Das ist mein Freund«, gab Ulenspiegel zurück. »Er begleitet mich und sucht seine Frau.« »Ich erkenne dich«, sprach Nele zu Lamm. »Du wohntest in der Rei herstraße. Ich habe deine Frau in Brügge gesehen. Dort lebt sie in Frömmigkeit. Als ich sie fragte, warum sie ihren Mann verlassen habe, antwortete sie mir: ›Es war der heilige Wille Gottes und das Gebot der heiligen Beichte. Ich kann nun nicht mehr mit ihm leben!‹« Lamm blickte traurig auf die Bohnen mit Essig. Es war ein großes Glück für Ulenspiegel, bei Nele zu sein. Aber die Asche Klasens brannte auf seiner Brust. Etwas würde geschehen.
Einige Tage nach der Ankunft Ulenspiegels in Damme ging Betkin, ein fünfzehnjähriges Mädchen, allein am hellichten Tag durch die Dü nen von Heyst nach Knokke. Niemand sorgte sich um sie, obwohl sie in einem Beutel vier Karolusgulden trug, die ihre Mutter dem Jan Ra pen schuldete, denn die Wölfe und die verdammten Seelen bedroh ten die Wanderer nur bei Nacht. Am Abend sorgte sich ihre Mutter, daß Betkin, die in ihren schönsten Kleidern fröhlich fortgegangen war, nicht heimkam. Hatte sie am Ende bei ihrem Onkel genächtigt? Am folgenden Tag zogen Fischer, die mit vollen Netzen vom Meer zurückkamen, ihr Boot auf den Strand und luden ihre Fische auf die Wagen, um sie dann auf dem Markt zu verkaufen. Sie fanden auf den Dünen ein nacktes Mädchen, und ringsum war Blut. Als sie näher ka 188
men, entdeckten sie an ihrem gebrochenen Nacken die Spuren langer spitzer Zähne. Sie lag auf dem Rücken, und ihre offenen Augen blick ten gegen den Himmel. Die Fischer bedeckten den kleinen Leichnam mit einem Mantel und trugen ihn ins Rathaus nach Heyst. Dort versammelten sich die Schöf fen und der Wundarzt, der erklärte, daß die langen Zähne, die das Mädchen gebissen hatten, nicht Wolfszähne seien, wie die Natur sie macht, sondern die Zähne eines höllischen Werwolfs. In Erwägung, daß der Werwolf ein Tier ist, das vom Blut lebt und nicht Tote plündert, erklärte der Amtmann von Damme, daß dem Werwolf zweifellos Diebe um des schnöden Gewinstes willen durch die Dünen folgten. Er ließ durch öffentliches Ausschellen bekanntma chen, daß jedermann wohlbewaffnet und mit Knütteln versehen auf alle Landstreicher losgehen, sie gefangennehmen und nachsehen solle, ob sie in ihren Taschen Goldkarolus oder ein Stück von der Kleidung der Opfer hätten. Da kein Landstreicher gestellt werden konnte, ging Ulenspiegel zum Amtmann und erbot sich: »Ich will den Werwolf umbringen. Gebt mir Erlaubnis, in der Gemeindeschmiede zu arbeiten.« »Du darfst es«, sagte der Amtmann. Ulenspiegel verriet keinem aus Damme ein Wort über seinen Plan. Er ging in die Schmiede und verfertigte insgeheim eine große Falle für wilde Tiere. Am Samstag, dem Lieblingstag des Werwolfs, machte sich Ulenspiegel auf. Er hatte einen Brief des Amtmanns an den Pfar rer von Heyst in der Tasche und die Falle unter seinem Mantel. Außer dem trug er eine gute Armbrust und einen scharfgeschliffenen Dolch im Gürtel. Der Pfarrer von Heyst, dem er den Brief des Amtmanns übergab, warnte ihn: »Du bist kühn, aber wisse, daß jeder, der am Samstagabend allein durch die Dünen geht, gebissen wird und tot auf dem Sand lie genbleibt. Der Abend sinkt. Hörst du den Werwolf im Tal heulen?« »Klasens Asche brennt auf meiner Brust«, entgegnete Ulenspiegel. »Herr Pfarrer, ich werde mich beim Kirchhof aufstellen, und Ihr ge bietet der Mutter des Mädchens, ihrem Vater und ihren Brüdern, sich 189
vor Mitternacht wohlbewaffnet in der Kirche einzufinden. Wenn sie den Schrei der Möwe hören, so heißt das, daß ich den Werwolf gese hen habe. Sie müssen sogleich die Sturmglocke läuten und mir zu Hil fe kommen.« »Ich werde tun, was du begehrst«, sprach der Pfarrer, »und sei geseg net.« Ulenspiegel stieg in das Tal hinab und schwankte, als wirkte ein Saufgelage in seinem Kopf nach. Er sang, rülpste, taumelte, gähnte und spuckte, stand still und stellte sich, als ob er sich erbräche. Aber in Wahrheit hielt er die Augen offen. Plötzlich hörte er ein gellendes Ge heul, blieb stehen und sah im hellen Mondschein die lange Gestalt ei nes Wolfes in die Richtung des Kirchhofs laufen. Wiederum taumelnd, betrat er den Fußsteig zwischen den Ginsterbüschen. Dort tat er, als ob er fiele, und stellte die Falle auf, lud seine Armbrust und ging zehn Schritte, immer taumelnd, rülpsend und sich scheinbar erbrechend weiter. Eine dicke schwarze Gestalt kam auf ihn zu. Ulenspiegel hör te nichts als das Knirschen der Muscheln auf dem Weg unter einem schweren, springenden Schritt. Er tat, als wollte er sich setzen, und fiel wie ein Trunkener nieder. Dann hörte er, zehn Schritte hinter sich, ein Klirren von Eisenwerk, das Zuklappen der Falle – und den Schrei ei nes Menschen. »Der Werwolf hat seine Vorderpfoten in der Falle«, murmelte Ulen spiegel. »Er erhebt sich heulend, schüttelt das Eisen und möchte laufen. Aber er wird nicht entkommen.« Er schoß dem sich erhebenden Untier mit der Armbrust in die Beine und schrie gleichzeitig wie eine Möwe. Die Kirchenglocke läutete Sturm. Eine helle Knabenstimme rief im Dorf: »Erwacht, der Werwolf ist gefangen.« Betkins, des toten Mädchens Mutter, ihr Vater und ihre Brüder ka men zuerst mit Laternen an. »Ist er gefangen?« fragten sie. »Schaut auf den Weg«, erwiderte Ulenspiegel. »Gelobt sei Gott«, sagten sie und bekreuzigten sich. Plötzlich redete der Werwolf: »Habt Erbarmen mit mir, Ulenspiegel. Ich bin kein Wolf. Meine Handgelenke sind von der Falle durchbohrt. Ich bin alt und blute. Erbarmen!« 190
»Dich hörte ich einst«, sagte Ulenspiegel heftig. »Du bist der Fisch händler, Klasens Mörder, der Vampir des armen Mädchens.« Er wand te sich den vorsichtig näher kommenden Verwandten der armen Bet kin zu: »Gevatter und Gevatterinnen, habt keine Furcht. Dieser hier ist der nämliche, durch den Soetkin vor Kummer starb.« Er würgte Jobst Griepenstüver am Hals und zog seinen Dolch. Aber Betkins Mutter hielt Ulenspiegel zurück. »Fangt ihn lebendig«, schrie sie. Sie riß ihm seine weißen Haare in Büscheln aus und zerfleischte sein Gesicht mit ihren Nägeln. Mit den Händen in der Falle sprang der falsche Werwolf, von Schmerz geplagt, auf dem Weg herum. »Erbarmen, Erbarmen«, rief er, »bringt dieses Weib fort. Ich werde zwei Karolus zahlen.« »Fangt ihn lebendig«, schrie die Mutter Betkins, »damit er büße! Die Sterbeglocken für dich, Mörder. Bei langsamem Feuer mit glühenden Zangen!« Die anderen hatten inzwischen ein Waffeleisen aufgehoben. Sie be trachteten es beim Fackelschein. Auf den beiden Eisenplatten innen waren tief eingegrabene Rauten mit langen spitzen Zähnen versehen. Wenn man das Waffeleisen öffnete, war es wie der Rachen eines Wol fes. Auf das Gerücht hin, daß das gefährliche Tier ein Mensch und kein Teufel sei, waren alle Fischer, Bauern und Weiber von Heyst herbeige laufen. Sie schrien: »Raubmörder, wo verbirgst du das Gold, das du den armen Opfern gestohlen hast?« »Ich habe keins. Erbarmen«, sagte der Fischhändler. Aber die Weiber warfen mit Steinen und Sand nach ihm. »Er büßt, er büßt!« schrie die Mutter des Mädchens. »Erbarmen«, ächzte Jobst Griepenstüver. »Mein Blut fließt und durchnäßt mich.« »Dein Blut!« höhnte die Frau. »Dir wird noch genug verbleiben, um zu büßen. Legt Balsam auf seine Wunden. Mit abgehauener Hand, bei langsamem Feuer und glühenden Zangen soll er büßen!« Ulenspiegel löste die Hände des Fischhändlers aus der Falle und sah, daß an der rechten Hand drei Finger fehlten. Er befahl, Jobst Griepen 191
stüver festzubinden und in einen Fischkorb zu legen. Männer, Weiber und Kinder trugen den Mörder abwechselnd. So zogen sie nach Dam me, um Gerechtigkeit zu fordern. Als sie vor des Amtmanns Haus ka men, rief das Volk. »Der Werwolf ist gefangen! Lang lebe unser Bru der Ulenspiegel!« Der Amtmann trat heraus. »Du bist der Sieger«, sagte er. »Heil dir!« »Klasens Asche brannte auf meiner Brust«, entgegnete Ulenspiegel. »Du sollst den halben Nachlaß des Mörders haben.« »Gebt ihn den Opfern«, erwiderte Ulenspiegel.
Am nächsten Tag wurde der Fischhändler in Anbetracht hinlänglicher Beweise verurteilt, auf die Folter gespannt zu werden, bis er bekannt hätte, wie er zu töten pflegte, wo das den Opfern geraubte Gut sei und wo er sein Gold versteckt habe. In der Marterkammer zog man ihm zu enge Gamaschen aus neuem Leder an, und der Amtmann fragte ihn, wie Satan ihm so schändliche Verbrechen eingegeben habe. »Ich selbst bin Satan«, erwiderte der Fischhändler. »Schon als Kind war ich häß lich und ungeschickt. Ich wurde von jedermann für einen Tropf gehal ten und oftmals geschlagen. In meiner Jugend mochte mich kein Mäd chen, selbst nicht für Geld. Da faßte ich kalten Haß gegen alle vom Weib geborene Kreatur. Darum zeigte ich Klas an, den jedermann liebte. Und ich liebte einzig das Geld. Ich fand Nutzen und Vergnügen daran, Klas in den Tod zu treiben. Hernach mußte ich wie ein Wolf le ben, und ich träumte vom Bösen. Als ich durch Brabant kam, sah ich dort die Waffeleisen und dachte, daß ich mir aus einem solchen einen guten eisernen Rachen machen könnte. Am Tag schminkte ich mein Gesicht und färbte meine Haare rot, damit niemand mich erkennen könne. Das Fell, in das ich schlüpfte, stammt von zwei Wölfen, die ich erlegte.« »Wo ist dein Gold?« fragte der Amtmann. »Es ist in einem Kasten mit doppeltem Boden in meinem Keller. Nun habe ich alles gesagt. Nehmt mich vom Feuer fort.« 192
»Bereue und bete zu Gott«, erwiderte der Amtmann. Nun wurde Jobst Griepenstüver unter die Linde gebracht. Als ab scheulicher Mörder, Dieb und Gotteslästerer wurde er verurteilt, daß ihm die Zunge mit glühendem Eisen durchbohrt, die rechte Hand ab gehauen werde und daß er bei langsamem Feuer lebendig verbrenne, bis der Tod einträte. Die Sterbeglocken der Frauenkirche läuteten. Dem Fischhänd ler wurde die Hand abgehackt und die Zunge mit glühendem Eisen durchbohrt. Und er wurde bei langsamem Feuer vor den Gitterfen stern des Rathauses verbrannt. Er starb mit wölfischem Geheul.
Lamm und Ulenspiegel bestiegen wieder ihre Esel. Nele blieb betrüb ten Herzens bei Katheline, die ohne Unterlaß wiederholte: »Nehmt das Feuer fort! Mein Kopf brennt, komm wieder, Hanske, mein Buhle!«
Von den Dünen von Heyst aus sahen Ulenspiegel und Lamm viele Fi scherboote von Ostende, Blankenberghe und Knokke näher kommen. Sie waren voll Bewaffneter und folgten den Geusen von Zeeland, die am Hut den silbernen Halbmond mit der Inschrift trugen: »Lieber dem Türken dienen als dem Papst.« Die Bootsleute ruderten oder fischten und verkauften ihre Fische, und ein Boot nach dem andern legte in Emden an. Dort hielt sich Guil laume de Bois auf, der im Auftrag des Prinzen von Oranien ein Schiff ausrüstete. Ulenspiegel und Lamm kamen nach Emden, da sie gehört hatten, daß die Schiffe der Geusen auf Befehl des General Tres-Longs wieder aufs hohe Meer ausfahren würden. Tres-Long, der sein Schiff seit elf Wochen in Emden verankert hat te, war von Ungeduld verzehrt. Er ging vom Schiff an Land und vom Land aufs Schiff, wie ein angeketteter Bär. Ulenspiegel und Lamm schlenderten am Hafendamm umher und 193
erblickten einen vornehmen Herrn mit biederem Gesicht, der traurig dreinsah. »Wer bist du?« fragte der Herr. »Ich bin Tyll Ulenspiegel, Klasens Sohn, der für den Glauben in den Flammen starb.« Er sang wie eine Lerche. Der Herr lächelte und krähte zur Antwort wie ein Hahn. »Ich bin der Admiral Tres-Long«, sagte er. »Was willst du von mir?« Ulenspiegel erzählte ihm seine Abenteuer. »Wer ist dieser Dicke?« fragte Tres-Long. »Lamm, mein Geselle und Freund«, antwortete Ulenspiegel. »Er will gleich mir mit der holden Stimme der Büchse auf deinem Schiff das Lied der Befreiung des Vaterlands singen.« »Ihr seid wackre Leute«, sagte Tres-Long, »ihr sollt auf meinem Schiff mitfahren.« Es war im Februar, der Frostwind war scharf. Nach drei Wochen verdrießlichen Wartens verließ Tres-Long Emden wider Willen. Mit der Absicht, nach Texel zu fahren, segelte er von Vlieland ab, war aber wegen des hohen Eisganges gezwungen, Wieringen anzulaufen. Das Meer fror fest. Bald gab es rings um das Schiff ein fröhliches Schau spiel: Schlitten und Schlittschuhläufer, in Samt gekleidet, Schlitt schuhläuferinnen in goldbestickten Jacken und Röcken. Burschen und Mädchen liefen in langer Reihe hintereinander oder paarweise, oder sie gingen in die geschmückten Buden und erfrischten sich nach dem lustigen Laufen. Lamm suchte seine Frau und lief auf Schlitt schuhen umher wie die anderen. Aber er fiel oftmals hin und fand sie nicht. Eines Sonntags gegen neun Uhr morgens kehrte Ulenspiegel in ei ner kleinen Hafenkneipe ein und begehrte ein Mittagessen. »Ei«, sagte er zu einem artigen Frauenzimmer, das ihn bediente: »Verjüngte Wir tin, was hast du mit deinen Runzeln gemacht? Dein Mund hat all sei ne weißen, jungen Zähne wieder, und deine Lippen sind rot wie Kir schen. Lächeln sie für mich?« »Sprich nicht so zu mir«, gab sie zurück, »oder sag mir doch, was du mit dem schönen, Wohlgestalten und behäbigen Mann angefangen 194
hast, den ich oftmals in deiner Gesellschaft gesehen habe und den du Lamm nanntest?« »Der ißt in den Buden auf dem Eis harte Eier, geräucherte Aale, ge pökeltes Fleisch und was er sonst noch zwischen die Zähne bekommen kann. Das tut er, um seine Frau zu suchen. Er ist lustig, wenn er ißt, traurig, wenn er hungert, und immerzu nachdenklich. Ich werde ihm sagen, daß er dich besuchen soll.« »Tu das nicht. Er würde weinen, und auch ich würde weinen.« »Hast du seine Frau gesehen?« »Sie sündigte mit ihm und wurde zu einer grausamen Buße ver dammt«, seufzte sie. »Sie weiß, daß er für den Sieg der Ketzerei aufs Meer geht, und das ist ein harter Gedanke für ihr christliches Herz. Verteidige ihn, wenn er angegriffen wird, pflege ihn, wenn er verwun det ist: Seine Frau trug mir auf, diese Bitte an dich auszurichten.« »Lamm ist mein Freund und Bruder.« »Ach«, jammerte sie, »warum kehrt ihr nicht in den Schoß unserer Heiligen Mutter Kirche zurück?« »Sie frißt ihre Kinder«, erwiderte Ulenspiegel und verabschiedete sich. An einem Märzmorgen, als ein beißender Wind blies und das Eis immer dicker wurde, so daß Tres-Longs Schiff nicht absegeln konnte, feierten die Matrosen und Soldaten allerhand Schlitten- und Schlitt schuhfeste. Ulenspiegel war in der Herberge, und die hübsche Frau sprach tiefbetrübt zu ihm: »Armer Lamm! Armer Ulenspiegel!« »Warum jammerst du wieder?« »Wehe, wehe!« sagte sie. »Warum glaubt ihr denn nicht an die Mes se? Ihr würdet gewiß ins Paradies eingehen, und ich könnte euch ret ten. Der Tod kommt wie ein Dieb!« »Der Tod?« fragte Ulenspiegel. »Ich verstehe dich nicht. Komm nä her und rede.« »Sie sind da.« »Wer?« »Die Soldaten von Simonen-Bol«, erwiderte die junge Frau. »Sie, die in des Herzogs von Alba Namen über euch alle herfallen werden. Wenn 195
man euch hier so gut behandelt, so geschieht es wie bei den Ochsen, die man schlachten will. Ach, warum habe ich es erst jetzt erfahren?« »Weine nicht und schreie nicht«, befahl Ulenspiegel, »und bleibe.« »Verrate mich nicht«, bat sie. Ulenspiegel verließ das Haus, eilte in alle Buden und Schenken und flüsterte den Seeleuten und Soldaten ins Ohr: »Der Spanier kommt.« Sie eilten zum Schiff, bereiteten in großer Hast vor, was zur Schlacht nötig war, und erwarteten den Feind. Ulenspiegel sagte zu Lamm: »Siehst du das hübsche Weib in dem schwarzen, mit Scharlach bestick ten Kleid, das am Ufer steht und das Gesicht unter der weißen Hau be versteckt?« »Ich sehe nichts und ich will nichts sehen«, erwiderte Lamm. »Mich friert, und ich will schlafen.« Er zog seinen Mantel über den Kopf und sah nicht nur nichts, sondern war auch wie ein Tauber. Da erkannte Ulenspiegel die Frau und rief ihr vom Schiff aus zu: »Willst du uns fol gen?« »Bis ins Grab, aber ich kann nicht …« »Du tätest wohl daran«, sagte Ulenspiegel. »Bedenke inzwischen: Wenn die Nachtigall im Wald bleibt, ist sie glücklich und singt. Aber wenn sie den Wald verläßt und ihre Flügel dem starken Seewind aus setzt, zerbrechen sie, und sie stirbt.« »Ich habe daheim gesungen, und ich würde draußen singen, wenn ich nur könnte.« Sie näherte sich dem Schiff. »Nimm diesen Balsam für dich und deinen Freund, der dann schläft, wenn er wachen sollte.« Sie entfernte sich flüsternd: »Lamm, Lamm! Gott bewahre dich vor al lem Übel, komm gesund zurück.« Sie enthüllte ihr Antlitz. »Mein Weib, mein Weib!« schrie Lamm. Er wollte vom Deck aufs Eis springen, aber ein Soldat hinderte ihn daran. Lamm schrie, weinte und flehte, ihn gehen zu lassen. Aber der Profos sagte: »Wenn du das Schiff verläßt, wirst du gehenkt.« »Mein Weib, mein Weib!« jammerte Lamm unaufhörlich. »Laßt mich zu meinem Weib gehen!« »Du wirst sie wiedersehen.« Ulenspiegel sprach ihm zu: »Sie hebt dich, aber sie liebt Gott mehr als dich.« 196
»Wehe«, klagte Lamm. »Ich werde bald sterben.« Geschützfeuer klang auf. Die Leute von Simonen-Bol schossen auf das Schiff, das ihr Feuer erwiderte. Ihre Kugeln zerbrachen das Eis ringsumher. Gegen Abend fiel ein lauer Regen. Als der Wind aus We sten wehte, wurde das Meer unter dem Eis erregt und hob es in riesi gen Blöcken hoch, die gegeneinanderprallten und sich übereinander schoben, nicht ohne Gefahr für das Schiff. Als die Morgenröte auf stieg, entfaltete das Schiff Tres-Longs seine linnenen Flügel und fuhr aus – in die hohe See. Es stieß zur Flotte des Herrn de la Marche, des Admirals von Holland und Zeeland, der als Zeichen seines Oberbe fehls eine Laterne am Mast seines Schiffes trug. Es war eine gute Fahrt. Tres-Longs Schiff kaperte einen Kauffahrer aus Biskaya, der mit Quecksilber, Goldstaub, Wein und Gewürzen be frachtet war. Die Geusen nahmen Briel, eine starke Seefeste, die der Garten der Freiheit genannt wurde. Die Kämpfer traf es nicht, daß der Herzog der Niederlanden grausame und schändliche Steuern auferlegte, laut de nen alle Einwohner, die bewegliche und unbewegliche Habe verkauf ten, tausend Gulden von zehntausend zahlen mußten. Handel und Ge werbefleiß gingen den Weg des Verfalls und des Todes in den Städten. Aber zur See kämpften die Geusen.
Auch in Damme fror es Stein und Bein. Katheline und Nele waren al lein in ihrem Haus, und es fiel ihnen nicht leicht, sich in der kalten Küche warm zu halten. Katheline sprach unausgesetzt vor sich hin: »Hans, mein Herz zieht mich zu dir. Du mußt Ulenspiegel die sieben hundert Karolus wiedergeben. Wenn du arm bist, komm wenigstens, daß ich dein leuchtendes Antlitz schaue. Nimm das Feuer fort, mein Kopf brennt.« Nele stand am Fenster. Sie sah einen Läufer, der mit Schellen am Gürtel vorbeilief, und rief: »Der Amtmann kommt, der Amthaupt mann von Damme!« Die Trompeten schmetterten. Die Bürger und 197
Bürgerinnen traten vor die Türen, in der Meinung, daß Seine König liche Majestät sich durch solche Fanfaren ankündige. Auch Katheline trat mit Nele auf die Straße. Eine Schar glänzender Reiter nahte. Vor an ritt ein Mann in schwarzem fellverbrämtem Samtmantel: der Amt hauptmann. Hinter ihm kamen junge Ritter, die trotz der Verordnung Seiner Hochseligen Kaiserlichen Majestät an ihren Samtgewändern Stickerei en, Tressen und Besätze von Gold und Silber trugen. Auch ihre Män tel waren mit Pelz verbrämt, und die langen Straußenfedern auf ihren Baretten wallten im Wind. Sie schienen alle gute Freunde des Amt hauptmanns zu sein, besonders ein Ritter mit finsterer Miene in grü nem, goldbesticktem Samtkleid. Sein Mantel war schwarz, desgleichen das federgeschmückte Barett. Sein Gesicht war bleich, seine Nase hat te die Form eines Geierschnabels, die Lippen waren schmal, das Haar rot, und stolz war seine Haltung. Als das Häuflein der Ritter am Haus Kathelines vorbeiritt, fiel sie dem Pferd des bleichen Ritters in den Zügel und rief, närrisch vor Freu de: »Hans, mein Geliebter, ich wußte es, du kehrst wieder. Wie schön du bist, so ganz in Samt und Gold!« »Was will diese Geusin von mir?« fragte der bleiche Ritter. Katheline hielt das Pferd am Zügel: »Geh nicht wieder fort!« bat sie. »Ich habe so viel um dich geweint. Holde Nächte, mein Liebster, schneeige Küsse und eisiger Leib. Hier ist das Kind!« Sie zeigte auf Nele. »Hinweg!« sagte der Ritter und trieb sein Pferd vorwärts, so daß Katheline zu Boden fiel. Das Pferd trat auf sie und schlug ihr eine Wunde an der Stirne. »Herr, kennt Ihr diese Frau?« fragte der Amtmann den bleichen Rit ter. »Ich kenne sie nicht«, erwiderte er, »sie ist ohne Zweifel eine Irre.« Aber Nele, die Katheline aufgehoben hatte, rief: »Auch wenn die se Frau irre ist, so bin ich es nicht, Euer Gnaden. Ich will auf der Stelle sterben, wenn dieser Mann nicht meine Mutter gekannt hat, wenn er ihr nicht all ihr Geld genommen und nicht Klasens Hund getötet hat, 198
um siebenhundert Karolus, die dem armen Toten gehörten, von der Brunnenmauer unseres Hauses zu nehmen.« »Hans, mein Herzliebster«, weinte Katheline, die blutend auf den Knien lag, »gib mir den Friedenskuß. Sieh, mein Blut fließt. Die Seele hat sich ein Loch gemacht und will hinaus. Ich werde bald sterben, ver laß mich nicht.« Sie flüsterte: »Einst tötetest du deinen Gefährten aus Eifersucht am Deiche.« Sie wies mit dem Finger in der Richtung nach Dudzeele. »Zu jener Zeit liebtest du mich.« Sie umschlang die Knie des Edelmanns und küßte seinen Stiefel. »Wer ist dieser Getötete?« fragte der Amthauptmann. »Ich weiß es nicht, Euer Gnaden«, erwiderte der Ritter. »Was küm mern uns die Reden dieser Geusin? Vorwärts!« Das Volk hatte sich um sie zusammengerottet. Reiche und geringe Bürger, Handwerker und Bauern nahmen die Partei Kathelines. »Ge rechtigkeit, Herr Amtmann«, riefen sie, »Gerechtigkeit!« »Wer ist der Getötete?« fragte der Amtmann Nele. »Sprich, wie Gott und die Wahrheit es heischt.« Nele erwiderte, auf den bleichen Edelmann deutend: »Der da kam alle Samstage, um meine Mutter zu besuchen und ihr Geld zu nehmen. Er hat seinen Freund, Hilbert genannt, auf dem Acker des Nachbarn getötet. Nicht aus Liebe, wie diese arme Närrin wähnt, sondern um die siebenhundert Karolus allein zu haben.« Nele erzählte von Kathelines Liebschaft und was diese in der Nacht hinter dem Deich gehört hatte, der des Nachbarn Acker durchschnei det. »Ich schwöre, daß er wie ein Fischadler schrie, um sich anzumel den.« »Du lügst«, sagte der Edelmann. »O nein!« erwiderte Nele. »Und Ihr Herren, Ihr sehet es wohl: Du bist nicht vor Kälte, sondern vor Furcht so bleich. Woher kommt es, daß dein Antlitz nicht mehr glänzt? Du hast also die Zaubersalbe ver loren, mit der du es einriebst, damit es hell scheine. Aber du wirst vor den Fenstern des Rathauses verbrannt werden, verfluchter Zauberer. Du warst an Soetkins Tod schuld, du hast ihren verwaisten Sohn ins Elend getrieben.« 199
»Hans«, sprach Katheline, »hör nicht auf Nele, sie ist boshaft. Du siehst das Blut. Die Seele hat sich ein Loch gemacht und will hinaus. Ich werde bald sterben und in die Vorhölle kommen, wo es nicht brennt.« »Schweig, verrückte Hexe, ich kenne dich nicht«, schrie der Edel mann, »und ich weiß nicht, was du meinst.« Nele fiel ein: »Und doch kamst du mit einem Gefährten und wolltest ihn mir zum Mann geben. Du weißt, daß ich ihn nicht haben wollte.« »Nele ist boshaft«, sagte Katheline. »Glaub ihr nicht, Hans, mein Herzliebster. Sie ist böse auf Hilbert, weil er ihr Gewalt antun wollte. Aber jetzt kann er es nicht mehr, denn die Würmer haben ihn gefres sen. Hilbert war häßlich, du allein bist schön, Hans, mein Geliebter.« »Edle Herren«, der Amtmann wandte sich den Rittern zu, die ihm gefolgt waren: »Ungeachtet aller Privilegien, die den Adelsstand im Lande Flandern schützen, muß ich Herrn Joos Damman auf die ge gen ihn erhobenen Anschuldigungen, insbesondere die der Zauberei, verhaften lassen, bis er nach den Gesetzen und Verordnungen des Rei ches gerichtet ist.« »Gerechtigkeit«, schrie das Volk, »Euer Gnaden, Gerechtigkeit! Er soll seinen Degen ausliefern!« Der bleiche Ritter tat es sehr wider Willen, stieg vom Pferd und wur de von zwei Schergen zum Gemeindekerker geführt. Er wurde jedoch nicht in ein Verlies gesperrt, sondern in ein vergittertes Zimmer, wo er für sein Geld gutes Feuer, gutes Bett und gute Nahrung erhielt. Davon nahm sich der Kerkermeister die Hälfte.
Um Katheline zu bewegen, daß sie den Acker angebe, in dessen Erde der Leichnam des Ermordeten liege, sagte Nele zu ihr: »Hans, dein Liebster, verlangt Hilberts abgeschnittene Hand. Heute abend wird er wie ein Fischadler schreien, in unsere Hütte kommen und dir die siebenhundert Goldkarolus bringen.« »Ich werde sie abschneiden«, erwiderte Katheline, nahm ein Messer und machte sich in Neles Begleitung auf. Wie verabredet, folgten ihr 200
der Amtmann, die Kriminalschreiber, die Schöffen und ein Wundarzt. Als sie auf dem Deichacker anlangten, ging Katheline bis zur Mitte und sprach, zur Rechten auf die Wiese deutend: »Hans, du wußtest nicht, daß ich da verborgen war und beim Klirren der Degen erbebte. Und Hilbert schrie: ›Dies Eisen ist kalt.‹ Hilbert war häßlich, Hans ist schön. Du sollst seine Hand haben, laßt mich allein.« Sie kniete im Schnee nieder und rief dreimal in die Luft, um den Geist herbeizurufen. Nele gab ihr ein Grabscheit, über das Katheline dreimal das Zeichen des Kreuzes machte. Sie zeichnete auf das Eis die Form eines Sarges und sprach: »Drei, das ist Mars bei Saturn, und drei ist Entdeckung unter Venus, dem hellen Stern. Hebe dich hinweg, bö ser Geist, der den Leichnam bewacht.« Sie zerbrach das Eis in der Linie des Sarges und grub im feuchten Ra sen, dann im Sand. Die Anwesenden erblickten den Körper eines jun gen Mannes, der vom Sand weiß wie Kalk war. Er trug ein Wams von grauem Tuch, desgleichen den Mantel. Sein Degen war ihm zur Seite gelegt. Er hatte eine gestickte Tasche am Gürtel, und ein breiter Dolch steckte über seinem Herzen. Katheline schnitt dem Leichnam die Hand ab und tat sie in ihren Beutel. Und die Gerichtsbeamten ließen es geschehen. Als der Leichnam entkleidet war, sah man, daß er nicht verwest war. Der Amtmann ließ ihn wieder mit Sand bedecken. Die Büttel folgten ihm mit den Sachen des Toten. Als sie am Gemeindekerker vorbeika men, sagte der Amtmann zu Katheline, daß Hans sie erwarte. Sie ging freudig hinein. Nele wollte sie hindern. »Ich will Hans, meinen Herrn, sehen«, erwiderte Katheline immer wieder. Nele weinte auf der Schwelle, denn sie wußte, daß Katheline als Hexe verhaftet worden war wegen der Beschwörungen und Zeichen, die sie in den Schnee gemacht hatte. In Damme ging die Rede, daß es keine Gnade für Katheline gäbe.
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Am folgenden Morgen war der Schnee geschmolzen. Die Sturmglocke hatte die Richter zum Gericht um die Linde gerufen. Das Volk stand im Kreis herum, als Joos Damman ungefesselt in seiner Edelmanns tracht vorgeführt wurde. Aber Kathelines Hände waren zusammenge bunden. Sie trug die Gefängnistracht, ein Kleid von grauer Leinwand. Joos Damman bekannte im Verhör, daß er seinen Freund Hilbert im Zweikampf mit dem Degen getötet habe. Als man ihm vorhielt, Hil bert sei mit einem Dolche durchbohrt worden, erwiderte Joos: »Ich habe ihn erstochen, weil er nicht rasch genug starb. Ich bekenne den Mord willig, da ich unter dem Schutz der flandrischen Gesetze stehe, kraft deren ein Mord nach Ablauf von zehn Jahren nicht mehr verfolgt werden darf.« »Bist du kein Zauberer?« fragte der Amtmann. »Gewiß nicht. Ich werde es zu gelegener Zeit beweisen.« »Zauberer ist, wer durch wissentlich angewandte teuflische Mittel ir gend etwas zu erreichen sucht«, erklärte der Amtmann den Richtern. »Also sind diese beiden, Mann und Weib, Zauberer nach Absicht und Tat, er, weil er ihr die Salbe für den Hexensabbat gegeben und sich das Gesicht glänzend gemacht hat wie Luzifer, um Geld zu erlangen und seine Wollust zu befriedigen. Sie, weil sie sich ihm unterworfen, ihn für einen Teufel gehalten und sich seinen Begierden hingegeben hat. Er hat Zauberei getrieben. Sie ist seine offenbare Mitschuldige. Darum frage ich die Herren vom Gericht, ob sie nicht der Meinung sind, daß die beiden auf die Folter gebracht werden müssen.« Als die Schöffen nicht antworteten, um nicht auch Katheline zu ge fährden, fuhr der Amtmann fort: »Ich fordere den Gerichtshof auf, alle beide, Katheline und Joos Damman, auf die Folter zu bringen, um zu erfahren, ob sie kein anderes Verbrechen als die schon bekannten und erforschten begangen haben. Joos Damman weigerte sich, irgend et was außer dem Mord zu gestehen, und Katheline hat nicht alles ge sagt.« Der Spruch der Schöffen lautete auf Tortur. Nele rief: »Gnade, Ihr Herren.« Das Volk rief mit ihr: »Gnade, Ihr Herren.« Aber es war ver geblich, und es wurde mit der Folter begonnen. 202
Trotz aller Schmerzen, die ihm zugefügt wurden, leugnete Joos Damman. Er scheute nicht zurück, Katheline zu beschimpfen und al ler Verbrechen, deren er selbst angeklagt war, zu beschuldigen. Auch Katheline wurde gefoltert, aber sie gestand nichts, sondern bat immer wieder, ihren Geliebten zu schonen. »Dieses Weib wird vom grausamen Wahnsinn geplagt«, sagte einer der Schöffen. »Sie muß von der Folterbank genommen werden.« »Diese Hexe ist nur verrückt, wenn sie behauptet, daß das Feuer ihr den Kopf verbrennt«, sagte ein zweiter Schöffe. »In anderen Dingen ist sie es nicht, denn sie hat uns mit klarem Geiste geholfen, die Reste des Toten zu entdecken. Wenn das behaarte Mal sich, wie sie behaup tet, auf Joos Dammans Körper findet, so genügt dies als Beweis, daß er der Teufel Hans ist.« Der Henker entblößte Joos Dammans Hals und Schulter und zeigte das braune, behaarte Mal. Er stach eine lange Na del hinein, aber es blutete nicht. Der Amtmann und die Schöffen erschraken und sprachen: »Er ist ein Teufel, er wird Joos Damman umgebracht und seine Gestalt ange nommen haben.« Da weder Joos noch Katheline bekannten, wurden sie von der Fol terbank losgebunden und in das Gefängnis zurückgeführt. Dort beka men sie nichts zu trinken und durften auch nicht schlafen, bis sie ihre Zaubereien und Beschwörungen gestanden hätten.
Am Tag, an dem das Urteil gesprochen werden sollte, wurde Nele als Zeugin vorgeladen. Alles Volk stand rings um die Dingstätte. Katheline und Joos Damman wurden vorgeführt. Damman schien noch bleicher wegen der Marter des Durstes und der schlaflos ver brachten Nächte. Katheline konnte nicht auf ihren zitternden Beinen stehen. Sie wies auf die Sonne: »Nehmt das Feuer fort«, sagte sie, »mein Kopf brennt!« Und sie sah Damman voll zärtlicher Liebe an. Er warf ihr einen Blick voll Haß und Verachtung zu. Der Amtmann begann die Verhandlung: »Unter den Überbleibseln 203
des Herrn Hilbert fand ich in der Gürteltasche einen Brief von besag tem Damman, der hier als Angeklagter vor euch steht. Ich habe ihn mir bewahrt, damit Ihr im rechten Augenblick, der jetzt gekommen ist, über die Hartnäckigkeit dieses Mannes urteilen und richten könnt. Hier ist das Pergament.« Der Gerichtsschreiber las mit lauter Stimme: »Dem Ritter Hilbert Ryvisch sendet Ritter Joos Damman seinen Gruß. Viellieber Freund, verliere nicht weiter Dein Geld in Karten- und Würfelspiel. Ich will Dir sagen, wie man es mit sicherem Wurf ge winnt. Wir wollen uns in hübsche Teufel verwandeln, die von Frau en und Mädchen geliebt werden. Die Frauen geben dem Mann, den sie lieben, ihre Röcke und Hemden. Was Dich betrifft, verkünde Dein Kommen durch den Schrei eines Nachtvogels. Und um Dir ein wah res, schreckliches Teufelsgesicht zu machen, reibe Dir das Antlitz mit Phosphor ein, der glänzt, wenn er feucht wird. Der Geruch ist übel, aber die Frauen werden glauben, daß es Höllenduft ist. Töte, was Dir in den Weg kommt, Mann, Weib oder Tier. Wir werden zusammen zu Katheline gehen, einem schönen, guther zigen Weibsbild. Ihre Tochter Nele, ein Kind von mir, wenn Katheline mir treu war, ist artig und hübsch. Du wirst sie ohne Mühe besitzen. Ich gebe sie Dir, denn ich schere mich nicht um meine Bastarde. Ihre Mut ter gab mir schon dreiundzwanzig Karolus, ihre ganze Habe. Aber sie verbirgt einen Schatz, der, wenn ich kein Dummkopf bin, der Nachlaß von Klas, dem zu Damme verbrannten Ketzer, ist: siebenhundert Karo lusgulden. Katheline wird mir sagen, wo der Schatz ist, und wir werden ihn teilen. Nur mußt Du mir für die Entdeckung den größeren Teil las sen. So werden wir ohne Anstrengung reich sein und von den Schönen geliebt werden. Alle Frauen sind dumm und albern gegen den Mann, der das Liebesfeuer entzünden kann, das Gott ihnen unter den Gür tel legte. Katheline und Nele werden es noch mehr sein als andere und in allen Stücken gehorchen, da sie uns für Teufel halten. Behalte Du Deinen Vornamen, aber gib niemals Deinen Vaternamen an. Wenn der Richter die Weiber faßt, reisen wir ab, ohne daß sie uns kennen und uns angeben können. Vorwärts, mein Getreuer, Fortuna lächelt uns.« 204
Der Gerichtsschreiber hielt inne. Dann sagte er: »Dies ist der Brief. Er ist unterzeichnet: Joos Damman, Ritter.« »Zum Tode mit dem Mörder und Zauberer!« schrie das Volk. Der Amtmann ermahnte das Volk zur Ruhe und wandte sich an die Schöf fen: »Ich will euch jetzt einen zweiten Brief vorlesen, den Nele in der Tasche von Kathelines Festtagsrock gefunden hat.« Er las: »Reizende Hexe, hier ist das Rezept einer Mixtur, die Luzi fers Weib selbst geschickt hat. Mit Hilfe dieser Mixtur kannst Du Dich auf die Sonne, den Mond und die Sterne versetzen. Du kannst mit den Geistern Zwiesprache halten und die ganze Welt durcheilen. Zerrei be zu gleichen Teilen Stechapfel, betäubenden Nachtschatten, Bilsen kraut, Opium, die frischen Spitzen des Hanfes und der Tollkirsche. Wenn Du willst, gehen wir heute zum Sabbat der Geister. Aber Du mußt mich mehr lieben und nicht so knauserig sein wie beim letztenmal, da Du mir zehn Gulden verweigertest und sagtest, daß Du sie nicht hättest. Ich weiß, daß Du einen Schatz verborgen hältst und es mir nicht sagen willst. Liebst Du mich nicht mehr, mein süßes Herz? Unterschrieben: Dein kalter Teufel Hanske.« »Zum Tode mit dem Zauberer!« schrie das Volk. »Erkennt Ihr diesen da als Herrn Joos Damman, den Sohn des Schöf fen der Küre zu Gent?« fragte der Amtmann die anwesenden Ritter. »Ja, wir erkennen ihn.« »Habt Ihr Junker Hilbert, den Sohn des Ritters Willem Ryvisch, ge kannt?« Einer der Edelleute nahm das Wort: »Ich bin aus Gent. Ich kenne den Ritter Willem Ryvisch, den Schöffen der Küre zu Gent. Vor fünf zehn Jahren verlor er einen Sohn im Alter von dreiundzwanzig Jah ren. Der war ausschweifend, ein Spieler und Müßiggänger. Aber jeder mann verzieh ihm seiner Jugend halber. Seit jener Zeit hat keiner Kun de von ihm gehabt. Ich bitte, Degen, Dolch und Gürteltasche des To ten zu sehen.« Als er die Gegenstände vor sich hatte, sagte er: »Degen und Dolch tragen am Knopf des Griffes das Wappen der Ryvisch. Wem gehört dieser andere Dolch?« 205
»Es ist der, den man in der Leiche von Hilbert Ryvisch, dem Sohn Willems, fand.« »Ich erkenne das Wappen der Damman daran. So helfe mir Gott und alle seine Heiligen.« Der Amtmann verkündete: »Nach den vor dem Schöffengericht ge hörten und gelesenen Beweisen ist Herr Joos Damman ein Zauberer, Mörder, Weiberbetörer und Dieb an Königlichem Gut und als solcher des Verbrechens an göttlicher und irdischer Majestät schuldig.« »Nele ist boshaft«, sagte Katheline. »Du mußt ihr nicht glauben.« Im Volk weinten die Frauen und die Männer sagten: »Gnade für Katheline.« Auf ein Geständnis, das Joos Damman nach erneuerter Folter mach te, sprachen der Amtmann und die Schöffen das Urteil. Joos sollte aus dem Adel ausgestoßen und bei langsamem Feuer lebendig verbrannt werden. Er erlitt die Strafe am folgenden Morgen vor den Gitterfen stern des Rathauses: »Laßt die Hexe sterben«, wiederholte er laut, »sie allein ist schuldig! Gott sei verflucht!« Auch Katheline wurde verurteilt. Sie sollte im Brügger Kanal die Was serprobe bestehen. Bliebe sie oben schwimmen, so sollte sie als Hexe ver brannt werden. Ginge sie aber unter und stürbe dabei, so sollte man sie als christlich gestorben betrachten und auf dem Kirchhof begraben. Katheline, die eine Wachskerze trug, wurde barfuß und mit einem schwarzen Hemd bekleidet, in großer Prozession zum Kanal geführt. Sie ließ sich wie ein Lamm an der Leine halten und sagte immerzu: »Nehmt das Feuer fort, mein Kopf brennt! Hans, wo bist du?« Am Ufer stand eine große Menge weinender Frauen und murrender Männer. Nele, die unter den Frauen stand, schrie: »Ich will mit ihr hin eingeworfen werden!« Aber die Frauen hielten sie fest. Der Henker und seine Knechte bemächtigten sich im Namen Seiner Königlichen Majestät eines Kahnes, der am Ufer lag. Katheline stieg hinein. Der Henker fuhr aus und warf sie in den Kanal. Katheline kämpfte mit der Flut, aber nicht lange: »Hans, Hans, zu Hilfe!« rief sie und ging unter. 206
Das Volk sagte: »Dies Weib ist keine Hexe.« Männer sprangen in den Kanal und zogen Katheline heraus. Sie war starr wie eine Leiche. Dann wurde sie in eine Schenke gebracht und vor ein starkes Feuer gelegt. Nele zog ihr die nassen Kleider und die Wäsche aus und gab ihr trok kene. Doch Katheline konnte nicht wieder warm werden. Sie starb am dritten Tag und wurde auf dem Kirchhof begraben. Die verwaiste Nele begab sich ins Land Holland zu Rosa von Auweghem.
Das freie Meer trägt die wackeren Vlieboote, deren eiserne Feldstücke Tod und Verderben auf die spanischen Verräter speien. Tyll Ulenspiegel war ein trefflicher Kanonier auf den Vliebooten. Man mußte ihn nur sehen, wie er scharf richtete, gut zielte und die Schiffsrümpfe der Feinde wie eine Mauer von Butter durchlöcherte. Am Filzhut trug er den silbernen Halbmond mit der Inschrift: »Lieber dem Türken dienen als dem Papst.« Wenn die Matrosen ihn flink wie eine Katze und behend wie ein Eichhörnchen auf den Huckern, den Bujern und Galeassen klettern sahen, fragten sie ihn neugierig: »Wie geht es zu, kleiner Kerl, daß du so jugendlich aussiehst, denn die Rede geht, du seiest vor langer Zeit in Damme geboren?« »Ich bin nicht Körper, sondern Geist«, lachte Ulenspiegel, »und Nele, mein Liebchen, gleicht mir. Ich bin flamischer Geist, sie flamische Lie be. Wir werden nicht sterben.« Die gestickten Banner der römischen Prozessionen, die sie aus den Kirchen geraubt hatten, flatterten von den Schiffsmasten der Geusen. In Samt, Brokat, Gold- und Silberstoff gekleidet, wie die Äbte beim Hochamt, so hielten sie Wacht auf den Schiffen. Es war ein seltsames Schauspiel, wenn aus den reichen Gewändern die rauhen Hände her vorlugten, die Büchsen oder Armbrüste, Hellebarden oder Piken tru gen, und die harten Männergesichter, und wenn die mutigen Seeleu te aus goldenen Kelchen den Klosterwein tranken, der zum Wein der Freiheit geworden war. 207
Sie sangen und riefen: »Es lebe der Geuse!« Und sie segelten auf dem Meer und der Scheide mutig in den Kampf. Die Schiffe, auf denen Ulenspiegel und Lamm waren, wurden vom Kapitän Marin befehligt, der ehemals Deicharbeiter war. Er erober te Gorkum und spreizte sich in großem Hochmut und Dünkel, als er mit Gaspard Türe, dem Verteidiger von Gorkum, eine Kapitulation abschloß, laut welcher Türe, die Mönche, Bürger und Soldaten, die in der Zitadelle eingeschlossen waren, frei abziehen sollten – mit der Ku gel im Mund, der Muskete auf der Schulter und allem, was sie tragen konnten. Nur die Kirchengüter sollten den Eroberern bleiben. Es voll zog sich alles so, wie die Kapitulation bestimmte, nur eines nicht: der Kapitän ließ wohl die Soldaten und Bürger abziehen, aber er behielt dreizehn Mönche als Gefangene zurück. »Soldatenwort soll goldenes Wort sein«, sagte Ulenspiegel. »Warum hält der Kapitän das seine nicht?« Ein alter Geuse erwiderte: »Die Mönche sind Satans Kinder. Der Ka pitän tut wohl daran, sie als Gefangene festzuhalten. Sie würden sonst in die Dörfer und Städte gehen, gegen uns predigen, das Volk aufwie geln und die armen Reformierten verbrennen lassen. Es lebe der Geu se!« »Aber unser Herr von Oranien, der Schweiger, will, daß man bei de nen, die sich ergeben, die persönliche Habe und das freie Gewissen achte.« Ulenspiegel hielt an seinem Grundsatz fest: »Soldatenwort ist goldenes Wort! Warum bricht er es?« Am anderen Tage kam ein Bote des Herrn von Lumey mit dem Be fehl, die gefangenen Mönche von Gorkum nach Briel zu schaffen. »Sie werden gehenkt werden«, sagte der Kapitän Marin zu Ulenspiegel. »Nicht, solange ich am Leben bin.« »Wenn du sie retten kannst, so führe ihre Barke nach Briel. Nimm den Lotsen und deinen Freund Lamm mit, wenn du willst.« »Ich will«, erwiderte Ulenspiegel. Die Mönche stiegen in die Barke ein. Der Lotse wurde an das Steu erruder gesetzt, Ulenspiegel und Lamm nahmen, bis an die Zähne be waffnet, im Bug Platz. Verlotterte Söldner, die sich, um plündern zu 208
können, zu den Geusen geschlagen hatten, saßen bei den hungernden Mönchen. Ulenspiegel gab ihnen zu trinken und zu essen. Im Hafen von Dordrecht legte die Barke am Blumenkai an. Viel Volk kam herbeigelaufen, um die Gefangenen zu sehen. Ulenspiegel ging in die Stadt und holte Brot, Schinken und einen großen Krug Bier für die hungrigen Mönche: »Esset und trinket. Ihr seid unsere Gefange nen, aber ich werde euch retten, wenn ich kann. Soldatenwort ist gol denes Wort!« Bei Tagesanbruch kamen sie nach Briel. Nachdem ihnen die Tore ge öffnet worden waren, wurde ihre Ankunft Herrn von Lumey gemel det. Kaum hatte er die Kunde empfangen, als er zu Pferde, von bewaff neten Reitern gefolgt, erschien. Er ritt mit grimmigem Gesicht an die Gefangenen heran. »Seid gegrüßt, ihr Herren Mönche«, sagte er höhnisch. »Hebt die Hände auf! Wo ist das Blut der Herren von Egmont und von Hoorn? Ihr zeigt mir weiße Pfoten, aber es klebt doch an euch.« Ulenspiegel trat dazwischen: »Exzellenz«, sagte er, »ich will die Mön che freibitten. Als der Kapitän Marin die Kapitulation von Gorkum abschloß, hieß es, daß diese Mönche freien Abzug erhalten sollten, wie alle, die in der Zitadelle gefangen wurden. Sie wurden jedoch ohne Grund gefangengehalten. Ich höre, daß sie gehenkt werden sollen. Euer Gnaden, ich wende mich in aller Demut an Euch und lege Fürsprache für sie ein, denn ich weiß: Soldatenwort ist goldenes Wort.« »Wer bist du?« fragte Herr von Lumey. »Ein Flame aus dem schönen Land Flandern. Ich wandere durch die Welt, lobe die guten und schönen Dinge und spotte der Dummheit. Ich will Euch preisen, wenn Ihr das Versprechen haltet, das der Kapi tän gegeben hat.« »Euer Gnaden, dieser Mensch ist ein Verräter«, sagten die schlim men Söldner, die auf dem Schiff mitgefahren waren. »Er hat verspro chen, sie zu retten. Er hat ihnen Brot, Schinken, Wurst und Bier gege ben, und uns nichts.« »Wandernder Flame und Ernährer von Mönchen«, sagte Herr von Lumey, »du wirst mit ihnen gehenkt werden.« 209
»Ich habe keine Furcht«, erwiderte Ulenspiegel. Die Mönche wurden in eine Scheune gebracht und am nächsten Tag gehenkt. Ulenspiegel, der der Hinrichtung hatte beiwohnen müssen, wurde neuerlich vor Herrn von Lumey geführt. »Nun, bringst du Kunde von deinen Freunden, den Mönchen?« frag te der Admiral. »Sie sind gehenkt«, erwiderte Ulenspiegel. »Soldatenwort ist kein gol denes Wort mehr. Schande über dich!« »Richtet den Galgen auf und führt ihn hin!« schrie Lumey. »Ja, tue das«, sagte Ulenspiegel gelassen, »tue das, und ich werde dir vor allem Volk noch zurufen: Soldatenwort ist kein goldenes Wort mehr!« Der Galgen wurde auf dem Großen Markt aufgerichtet, und die Kunde durchlief bald die Stadt, daß Ulenspiegel, der tapfere Geuse, gehenkt werden sollte. Das Volk war von Mitleid ergriffen. In hellen Haufen kam es zum Großen Markt. Auch Herr von Lumey kam ange ritten und wollte selbst das Zeichen zur Hinrichtung geben. »Dieser Eisenkopf hat mir getrotzt«, sagte er, »er möge bereuen und sagen, daß ich recht getan habe.« »Soldatenwort ist kein goldenes Wort mehr«, gab Ulenspiegel uner bittlich zur Antwort. »Zieht den Strick an«, befahl Lumey. Der Henker wollte gehorchen. Da sprang ein junges Mädchen im wei ßen Kleid, mit einem Kranz im Haar, die Stufen des Blutgerichts hin auf, warf sich an Ulenspiegels Brust und rief: »Dieser Mann ist mein, ich nehme ihn zum Gatten.« Das Volk klatschte in die Hände und die Weiber schrien: »Es lebe das Mädchen, das Ulenspiegel rettet!« »Was bedeutet das?« fragte Herr von Lumey. Tres-Long erwiderte: »Nach Sitte und Brauch der Stadt ist es Recht und Gesetz, daß ein junges Weib, Jungfrau und ledig, einen Mann vom Strang errettet, wenn sie ihn am Fuße des Galgens zum Gatten nimmt.« »Gott ist mit ihm«, sagte Lumey. »Bindet ihn los! Und wer bist du?« fragte er das Mädchen. 210
»Ich bin Nele«, erwiderte sie, »die Braut Ulenspiegels, und komme aus Flandern, ihn zu suchen.« »Du tatest recht«, sagte Lumey in rauhem Ton und ritt stolz davon. Tres-Long trat an Ulenspiegel heran. »Kleiner Flame«, fragte er, »wirst du als Ehemann noch Soldat auf unseren Schiffen bleiben?« »Gewiß, Herr.« »Und du, Mädchen, was wirst du ohne deinen Mann anfangen?« »Wenn Ihr erlaubt, Herr, werde ich Pfeifer auf seinem Schiff wer den«, erwiderte Nele. »Ich erlaube es«, sagte Tres-Long und gab ihr zwei Gulden als Hoch zeitsgeschenk. »Hier sind noch drei Gulden«, sagte Lamm, vor Freude weinend und lachend. »Wir wollen alles aufessen. Laßt uns zum ›Goldenen Kamm‹ gehen. Mein Freund ist nicht tot. Es lebe der Geuse!« Ulenspiegel sagte zu Nele: »Herzallerliebste, da bist du also bei mir! Du hast mir das Leben gerettet, zärtliches Liebchen! Auf unseren Schiffen wirst du die Pfeife der Freiheit blasen. Unser ist diese Stunde voller Wonne. Ich bin im Paradies.« Ein Priester kam und traute Nele und Ulenspiegel.
In einer düsteren Nacht, in der der Donner in den Tiefen der Wolken grollte, war Ulenspiegel mit Nele auf Deck. Sie sahen nichts als den schwarzen Himmel, die hochgehende See und rote Sterne zwischen dem düsteren Gewölk. Die Sterne leuchteten in der Nähe, denn es wa ren die Laternen der zweiundzwanzig Kuffs der Feinde. Ulenspiegel zog sacht die Alarmglocke und rief: »Der Spanier, der Spanier! Er se gelt auf Vlissingen!« Sein Ruf hallte durch die ganze Flotte wider. Auf den Schiffen der Geusen dröhnten die Trommeln und schrillten die Pfeifen, während die zweiundzwanzig Kuffs vorbeisegelten. Lumey befahl: »Klar zum Entern!« Die Hucker ›Johanna‹, ›Schwan‹ und ›Geuse‹, gefolgt von Tres-Longs Hucker ›Briel‹, auf dem auch Ulenspiegel und Lamm waren, erober 211
ten vier Kuffs. Die Geusen warfen alles, was spanisch war, ins Meer, nahmen die Niederländer gefangen, leerten die Schiffe und ließen sie ohne Mast und Segel in die Reede treiben. Dann machten sie Jagd auf die achtzehn anderen Schiffe. Der Wind wehte heftig von Antwerpen her. Die Kuffs fuhren schnell. Doch die Geusen verfolgten sie bis in die Reede von Middelburg unter dem Feuer der Forts. Da entspann sich eine blutige Schlacht. Die Geusen schwangen sich mit Äxten auf die Decks der Schiffe und nahmen mit dem Ruf: »Es lebe der Geuse!« Pulver, Geschütze, Kugeln und Getreide aus den Kuffs, steckten sie in Brand, ließen sie rauchend und brennend in der Reede zurück und se gelten nach Vlissingen. Von dort sandten sie Mannschaften aus, um die Deiche von Holland und Zeeland zu durchstechen und beim Bau neuer Schiffe zu helfen, besonders Vlieboote von hundertundvierzig Tonnen, die bis zu zwanzig gußeiserne Feldstücke tragen konnten.
Lamm ging gern an Land und machte auf Ochsen, Schafe und Geflü gel Jagd. Es war eine Freude, ihn und seine Gefährten heimkehren zu sehen. Das Großvieh zogen sie an den Hörnern, das Kleinvieh trie ben sie vor sich her, mit der Gerte lenkten sie Gänseherden, und am Ende ihrer Bootshaken trugen sie Hühner und Kapaune. Dann gab es Schmaus und Gelage auf dem Schiff. Während sie kreuzten, kam eine Kauffahrerflotte aus Lissabon, de ren Kommandant nicht wußte, daß Vlissingen schon in die Hände der Geusen gefallen war. Sie warfen Anker aus und wurden eingeschlos sen. Es lebe der Geuse! Trommeln und Pfeifen riefen zum Entern. Die Kauffahrer hatten Kanonen, Piken, Beile und Büchsen. Doch von den Schiffen der Geusen regnete es Musketen- und Stückkugeln. Ihre Scharfschützen verschanzten sich hinter ihren Brustwehren um den Großmast und schossen sicher und gefahrlos. Die Kauffahrer starben wie die Fliegen. »Vorwärts!« befahl Ulenspiegel Lamm und Nele. »Hier sind Gewür ze, Juwelen, kostbare Eßwaren und glänzende Reale und Dukaten. Es 212
sind mehr als fünfhunderttausend Stück. Der Spanier wird die Kriegskosten tragen. Laßt uns trinken! Wir wollen die Geusenmesse singen, das ist die Schlacht!« Ulenspiegel und Lamm eilten überall hin wie Löwen. Nele blies die Pfeife im Schutz der hölzernen Schanze. Die ganze Flotte wurde er beutet. Als die Toten gezählt wurden, waren es ihrer tausend auf Seiten der Spanier, dreihundert auf Seiten der Geusen, unter ihnen der Schiffs koch des Vliebootes ›Briel‹. Ulenspiegel bat, vor den Matrosen reden zu dürfen. Tres-Long gestand es ihm gerne zu. Er sprach: »Herr Kapitän und ihr, Gevattern und Freunde, wir ha ben viel Spezereien geerbt, und hier haben wir Lamm, den guten Dick wanst, der meint, daß der arme Tote da, Gott habe ihn selig, kein gro ßer Meister in Fleischgerichten war. Laßt uns Lamm an seiner Stel le erwählen, und er wird euch himmlische Ragouts und paradiesische Suppen bereiten.« »Das wollen wir«, sagte Tres-Long. »Lamm soll Oberkoch des Schif fes sein. Er soll die große hölzerne Kelle tragen, um den Schaum von seinen Brühen abzulöffeln.« »Herr Kapitän, Gevattern und Freunde«, sagte Lamm, »ihr sehet mich vor Freude weinen, denn ich verdiene eine so große Ehre nicht. Doch ich nehme die Pflichten eines Meisters der Kochkunst auf dem wackeren Vlieboot ›Briel‹ an. Zugleich bitte ich euch demütig, mir den Oberbefehl in der Küche zu verleihen, so daß ich durch Recht, Gesetz und Gewalt einem jeden verwehren kann, des anderen Portion aufzu essen. Ich habe noch eine Bitte vorzubringen. Ich bin groß und stark, und mein Bauch ist dick. Meine arme Frau gab mir allzeit zwei Portio nen anstatt einer zu essen. Bewilligt mir die gleiche Gunst.« »Deine Bitten sind dir gewährt!« sagte Tres-Long. Ulenspiegel und die Matrosen klatschten Beifall. Lamm wurde Oberkoch auf dem Vlieboot ›Briel‹. Während die saf tigen Suppen in den Töpfen kochten, stand er stolz an der Küchentür und hielt seine große hölzerne Kelle wie ein Zepter. Am Sonntag be kam er drei Portionen. 213
Wenn die Geusen mit dem Feind handgemein wurden, hielt sich Lamm in seinem Laboratorium für Brühen auf, kam aber auf Deck, um einige Büchsenschüsse abzugeben. Da er ein treuer Koch und tap ferer Soldat war, war er beim Kapitän und bei der ganzen Mannschaft beliebt. Aber keiner durfte seine Küche betreten, denn dann war er wie ein Teufel und schlug und stach mit seiner Holzkelle ohne Erbarmen. Deshalb wurde er auch ›Lamm der Löwe‹ genannt.
Philipp, den die Geusen den Blutkönig nannten, schleppte seine ge schwollenen Beine durch die Gänge von Valladolid. Er wurde immer elender und menschenscheuer. Er lachte nicht, und wenn die Sonne sein Reich wie ein Lächeln Gottes erhellte, so empfand er keine Freu de in seinem Herzen. Aber Ulenspiegel, der das Licht der Welt in der gleichen Stunde er blickt hatte wie Philipp, Lamm und Nele sangen wie Vögel. Sie tru gen ihr Fell zu Markt, nämlich Ulenspiegel und Lamm, und Nele ihre weiße Haut. Sie lebten in den hellen Tag hinein und freuten sich mehr über einen Scheiterhaufen, den die Geusen löschten, als der schwarze König über eine eingeäscherte Stadt. Auf den Schiffen der Geusen unter dem strahlenden Himmel schrill ten Pfeifen, schnarrten Dudelsäcke, klangen Gläser, gleißte das Eisen der Waffen. »Wohlan, rühret die Trommel des Ruhmes«, sagte Ulenspiegel. »Es lebe der Geuse! Unser ist das Meer, unser ist die Küste von Nieuport bis Ostende und Blankenberghe, die Inseln von Zeeland, die Mündun gen der Scheide, der Maas und des Rheins. Unser sind die Inseln. Un ser die Stadt. Die Henker verlassen Rotterdam. Noch haben wir Am sterdam, Schoonhoven und Middelburg nicht, doch mit der Zeit fällt dem Geduldigen alles zu. Es lebe der Geuse! Horcht, wie in Flandern, dem teuren Vaterland, der Racheschrei los bricht! Waffen werden geschmiedet, Schwerter geschärft. Unser ist 214
die weite Nordsee, unser sind die guten Kanonen, die stolzen Schiffe, die kühne Schar der gefürchteten Seeleute: Bettler, Priester in Waffen, Edelleute, Bürger und Arbeiter, die vor der Verfolgung fliehen. Blutkönig Philipp, wo bist du? Alba, wo bist du? Rühret die Freuden trommel! Laßt uns trinken! Es lebe der Geuse!« Der Triumph Ulenspiegels war verfrüht. Der endgültige Sieg war noch nicht errungen. Aber die Geusen benahmen sich schon wie groß mütige Sieger. Sie erlaubten den römischen Katholiken, in allen Län dern und Städten, die sie erobert hatten, die freie Übung ihrer Religi on ohne Verfolgung und Schmähung. Man kann das Gewissen nicht durch Gewalt bekehren, aber durch Duldung kann man es in die rich tige Richtung lenken. Deshalb enthob auch Wilhelm der Schweiger Herrn de Lumey wegen Grausamkeit seines Amtes und ernannte Bou wen Worst an seiner Statt. Es war im Dezember. Eisiger Regen fiel gleich Nadeln ins Wasser. Die Geusen kreuzten in der Zuydersee. Der neue Admiral entbot die Ka pitäne der Hucker und Vlieboote durch Trompetenruf auf sein Schiff und mit ihnen namentlich Ulenspiegel. »Wohlan, Tyll«, sagte er, als sie alle auf dem Deck versammelt stan den, und wandte sich Ulenspiegel zu: »Der Prinz will deine guten Ta ten und getreuen Dienste anerkennen und ernennt dich zum Kapitän der ›Briel‹. Ich übergebe dir hiermit die Bestellung auf Pergament.« Ulenspiegel verbeugte sich: »Vielen Dank, Herr Admiral.« Er hob den Kopf: »Ich werde all meine geringe Kraft daransetzen, ein guter Kapitän zu sein, und hoffe sehr, daß ich dazu beitragen kann, Flandern und Holland von Spanien abzutrennen.« »Das ist gut so«, sagte der Admiral und schüttelte die Hand Ulen spiegels. Er sprach die anderen Kapitäne an: »Ich will euch allen sagen, daß die Soldaten aus dem katholischen Amsterdam Enckhuysen be lagern wollen. Noch sind sie nicht aus dem Y-Kanal heraus. Wir wol len davor kreuzen, damit sie drinnen bleiben. Entert jedes ihrer Schif fe, das seinen Rumpf in der Zuydersee blicken läßt!« »Wir werden sie in den Grund bohren«, riefen die Kapitäne. »Es lebe der Geuse!« 215
In der Nacht darauf sahen die Mannschaften der ganzen Geusenflot te am Strand eine schwarze Schar, in der Waffen blinkten. Der Admi ral befahl, die Fackeln auf den Schiffen zu löschen. Matrosen und Sol daten legten sich, mit Äxten bewaffnet, auf Deck platt auf den Bauch. Die Kanoniere wachten mit ihren Lunten bei den Geschützen. Sobald der Admiral und die Kapitäne riefen: »Hundert Schritt!«, sollten sie mit dem Stern- oder Heckgeschütz oder den Breitseiten Feuer geben, je nach ihrer Lage. »Hörst du die Stimmen der Amsterdamer und das Knirschen des Ei ses unter ihren Schlittschuhen?« fragte Ulenspiegel Lamm. »Jetzt sa gen sie: ›Die faulen Geusen schlafen. Der Schatz von Lissabon ist un ser!‹ Siehst du, jetzt zünden sie die Fackeln an. Siehst du ihre Sturmlei tern? Es sind ihrer tausend Männer und mehr.« »Hundert Schritt!« rief Herr Worst, und »Hundert Schritt!« wieder holten die Kapitäne. Donnergetöse und Jammergeheul brach auf dem Eise aus. »Sie fliehen!« sagte Ulenspiegel. »Siehst du, wie die Fackeln sich ent fernen?« »Ihnen nach!« geboten der Admiral und die Kapitäne. Nach diesem Sieg sprachen die Geusen untereinander: »So Gott mit uns ist, wer mag wider uns sein? Es lebe der Geuse!« Der Winter ging vorüber, der Sommer kam, die Geusen waren in Vlissingen. Nele bekam das Fieber. Sie mußte das Schiff verlassen und wurde bei Peeters, einem Reformierten, untergebracht. Ulenspiegel war sehr betrübt, aber doch froh bei dem Gedanken, daß die spani schen Kugeln sein Weib nicht erreichen konnten. Und sooft er konnte, war er mit Lamm bei ihr, pflegte sie gut und liebte sie noch mehr. »Lieber und Getreuer«, sagte Ulenspiegel eines Tages zu Lamm. »Hast du die Kunde nicht gehört? Wir haben Befehl erhalten, mit un seren Booten die Scheide bis Antwerpen hinunterzufahren, um dort feindliche Schiffe zu nehmen oder zu verbrennen. Was die Männer be trifft, so wird kein Pardon gegeben. Was hältst du davon, Dickwanst?« »Ach, werden wir in diesem traurigen Land immer nur von Brennen, Henken, Ertrinken und anderen Hinrichtungen armer Menschen hö 216
ren?« erwiderte Lamm. »Wann wird doch der gesegnete Friede kom men? Ach, wenn ich nur meine Frau wiederfände, meine herzallerlieb ste Frau!« »Genug des Geredes«, sagte Ulenspiegel. »Hörst du den Admiral ru fen: ›Die Anker gelichtet!‹? Wir müssen uns segelfertig machen.« Singend fuhren sie davon, nachdem Ulenspiegel den Mund und die holden Augen der fiebernden Nele geküßt hatte. Die Geusen kamen nach Antwerpen. Sie erbeuteten Albas Schiffe. Bei hellem Tage drangen sie in die Stadt ein, befreiten Gefangene und machten andere, die ihnen als Lösegeld dienen sollten. »Des Admirals Sohn wird beim Kanonikus gefangengehalten«, sag te Ulenspiegel zu Lamm. »Wir müssen ihn befreien.« Als sie ins Haus des Kanonikus kamen, fanden sie den Sohn des Ad mirals, den sie suchten, in Gesellschaft eines dicken, schmerbäuchi gen Mönches, der zornig auf ihn einredete, denn er wollte ihn in den Schoß unserer Heiligen Mutter Kirche zurückführen. Aber der junge Worst wollte nicht und ging mit Ulenspiegel fort. Lamm packte den Mönch bei der Kapuze, trieb ihn durch die Stra ßen vor sich her und sagte zu ihm: »Du bist hundert Gulden Lösegeld wert. Hast du Blei in deinen Sandalen? Marsch, du Specksack, Speise schrank, Suppenbauch!« »Ich gehe, Herr Geuse«, erwiderte der Mönch in großer Wut. »Aber trotz aller Achtung, die ich Eurer Büchse schulde, Ihr seid so fettleibig, schmerbäuchig und dick wie ich.« »Wagst du es, elender Mönch, dein klösterliches, unnützes Faulenzerfett mit dem Fett eines Flamen zu vergleichen, das durch Anstren gungen und Strapazen ehrlich angemästet ist? Lauf, oder ich treibe dich wie einen Hund vorwärts!« Beide waren ganz außer Atem, als sie zum Schiff gelangten. Als Nele genesen war, kam sie wieder auf Deck der ›Briel‹. Da sie den Mönch sah, der dort mit gefesselten Händen herumspazierte, sag te sie: »Wer ist der? Ich habe ihn schon gesehen und glaube, ihn zu er kennen.« »Er ist hundert Gulden Lösegeld wert«, erwiderte Lamm. 217
Als der Mönch merkte, daß die Geusen nicht seinen Tod, sondern Lö segeld wollten, begann er die Nase hoch zu tragen. Er beschimpfte die Geusen und ihre Führer. Die Schiffsjungen trieben ihren Spott mit ihm und schossen aus Blasrohren mit trockenen Erbsen auf ihn. Und gegen diese Geschosse bedeckte er das Gesicht mit den Händen. Um ihn zum Predigen anzureizen, lästerten die Matrosen und Soldaten die Heilige Jungfrau, die hohen Heiligen und die frommen Bräuche der heiligen römischen Kirche. Der Mönch geriet in Wut und spie tausend Beschimpfungen gegen sie aus. Da sprachen die Geusen: »Was behal ten wir diesen Faulenzer hier, der nichts kann als Schimpfworte aus speien? Wir wollen ihn lieber henken.« Sie machten sich ans Werk. »Habt Mitleid mit mir, ihr Herren Geusen!« schrie der Mönch, als er sah, daß der Strick bereit, die Leiter an den Mastbaum gelehnt war und man ihm die Hände binden wollte. »Es ist der Teufel des Zornes, der in meinem Herzen spricht, und nicht euer geringer Gefangener, ein armer Mönch, der auf dieser Welt nicht mehr als einen Hals hat. Er barmt euch! Schließt mir den Mund mit einer Angstbirne, aber henkt mich nicht!« Das Geschrei wurde so gellend, daß Lamm zu Ulenspiegel sprach: »Mein Sohn, sie haben ein Schwein aus dem Koben gestohlen und ste chen es ab. Oh, die Spitzbuben!« Ulenspiegel ging an Deck, um nachzusehen. Der Mönch fiel vor ihm auf die Knie und erhob die Hände: »Herr Kapitän«, bat er, »Eure Solda ten wollen mich henken, weil ich mich mit der Zunge vergangen habe. Das ist eine ungerechte Strafe, Herr Kapitän, denn dann müßten alle Advokaten, Sachwalter, Prediger und Weiber ein hänfenes Halsband haben und die Welt würde entvölkert. Herr, errettet mich vom Strick!« Doch Lamm, der gefolgt war, legte die Hand auf Ulenspiegels Arm: »Ich habe einen großen Plan in betreff Seiner Väterlichkeit gefaßt«, sagte er. »Schenk ihm das Leben, aber laß ihn nicht frei. Vielmehr laß ihm auf Deck einen engen Käfig bauen, wie man ihn für die Kapaunen macht. Laß mich ihn füttern, und wenn er nicht so viel ißt, wie ich will, möge er gehenkt werden.« 218
Ulenspiegel tat, was Lamm wünschte. Der Mönch wurde auf Deck in einen Käfig gesetzt und jedermann konnte ihn darin nach Belieben betrachten. Alle Samstage maß Lamm den Leibesumfang des Mönchs mit einem Lederriehmen. Am ersten Samstag sagte er: »Vier Fuß.« Und sich selbst messend: »Viereinhalb.« Das machte ihn schwermütig. Doch am ach ten Samstag wurde Lamm fröhlich und sagte: »Vierdreiviertel Fuß.« »Was hast du mit mir vor, Dicker?« fragte der Mönch. Lamm streckte ihm die Zunge heraus und schwieg. Aber siebenmal am Tage sahen die Matrosen und Soldaten ihren Oberkoch mit irgen deinem Gericht ankommen. »Hier sind fette Bohnen mit flandrischer Butter«, sagte er zu dem Mönch. »Hast du je so gute in deinem Kloster gegessen? Fühlst du noch keine Fettpolster auf deinem Rücken wach sen?« Oder: »Sieh da, das sind Küchlein nach Brüsseler Art, und siehst du die Butter darauf zerrinnen?« »Ich habe keinen Hunger«, sagte der Mönch. »Du mußt essen!« Lamm ermunterte ihn: »Vater mit vierfachem Kinn, ich sehe schon das fünfte keimen, und mein Herz ist froh. Iß! Ich bin Herr über dein Leben. Ziehst du einem guten Napf Erbsenbrei mit geröstetem Brot den Strang vor, den ich dir bringen werde, wenn du nicht ißt?« Lamm kam alle Stunden und mästete den Mönch. Die Matrosen und Soldaten fragten ihn: »Was hast du davon, diesen Mönch, der dir nicht wohl will, so reichlich zu füttern?« »Laßt mich nur machen!« erwiderte Lamm. »Ich vollführe ein gu tes Werk.« Eines Tages verlangte er, daß die große Waage auf Deck gebracht werde und daß man ihn auf das eine Waagebrett und den Mönch auf das andere lege. Kaum war der Mönch darauf, als Lamm wie ein Pfeil in die Luft schnellte. Hocherfreut rief er: »Er ist schwer! Ich bin leicht wie ein Geist neben ihm. Ich werde wie ein Vogel in die Luft fliegen. Wieviel wiegt er? Dreihundertvierzehn Pfund. Und ich? Zweihundert zwanzig!« 219
In der folgenden Nacht wurde Ulenspiegel von Lamm geweckt: »Zu Hilfe, Ulenspiegel! Zu Hilfe! Hindere sie fortzugehen!« »Warum rufst du?« Ulenspiegel stieg auf Deck. »Ich sehe nichts.« »Sie ist es«, antwortete Lamm, »sie, meine Frau. Dort in der Schalup pe, die jenes Vlieboot umkreist. Dort das Vlieboot, von dem die Lieder und die Lautenklänge kommen.« Auch Nele war auf Deck gekommen. Sie faßte nach der Hand Lamms und berührte sein Gesicht: »Er hat Fieber«, sagte sie. »Gebt mir eine Schaluppe!« bat Lamm. Als das Boot flottgemacht war, stiegen Ulenspiegel, Nele und Lamm mit einem Ruderknecht hinein und steuerten auf das Vlieboot zu, das in der Ferne vor Anker lag. Ulenspiegel fragte: »Sag uns, Lamm, wie du sie wiedergefunden hast.« Lamm erwiderte: »Ich schlief. Plötzlich hörte ich dumpfes Geräusch. Etwas Hölzernes stieß ans Schiff – eine Schaluppe. Ein Matrose lief beim Geräusch herbei. Wer da? Eine sanfte Stimme, ihre süße Stim me, antwortete: ›Gut Freund.‹ Dann hörte ich eine derbere Stimme: ›Es lebe der Geuse! Der Kommandant des Vlieboots Johanna wünscht mit Lamm Goedzak zu sprechen.‹ Der Matrose warf eine Strickleiter hin unter. Ich sah die Gestalt eines Mannes auf Deck steigen: Starke Hüf ten, runde Knie, breites Becken. Ich sagte mir: Falscher Mann! Und im gleichen Augenblick berührte ihr Mund meine Wange und ich hörte sie selbst sagen: ›Ich weiß, daß ich unrecht tue, aber ich habe dich lieb, mein guter Mann.‹ Sie bedeckte mein Gesicht mit Küssen und Tränen und fuhr fort: ›Ich habe vor Gott geschworen, und ich breche meinen Schwur! Ich bin oft gekommen, aber ich wagte dir nicht zu nahen. Sei nicht böse, lieber Mann. Ich bin dir gefolgt, aber ich fürchte mich, er ist auf diesem Schiff. Wenn er mich sähe, so verfluchte er mich, und ich würde im ewigen Feuer brennen.‹ Das war meine Frau, die zu mir sprach! Weinend und glücklich küßte sie mich immer wieder und ver ließ mich dann, trotz meiner Tränen, so rasch, daß ich sie nicht hal ten konnte.« »Das ist es also«, sagte Ulenspiegel. Sie näherten sich dem Vlieboot. Lamm rief erfreut: »Da steht sie auf 220
Deck und spielt die Laute, meine reizende Frau! Ihre Haare sind gold braun, ihre Augen blau, ihre Wangen blühend, ihre Arme rund und weiß!« Der Kapitän des Vlieboots sah die Schaluppe herankommen. Er ließ eine Strickleiter hinunterwerfen. Lamm sprang von der Schaluppe auf die Leiter. Wie eine Katze kletterte er an Bord und lief auf seine Frau zu, die ihn, vor Freude halb ohnmächtig, küßte. »Lamm! Nimm mich nicht mit, ich habe bei Gott geschworen, aber ich hab' dich lieb. Ach, lieber Mann!« »Was hast du geschworen?« fragte Lamm. »Was geschah mit dir? Wa rum hast du mich verlassen? Warum willst du mich jetzt meiden?« »Hör mir zu«, bat sie, »und zürne nicht. Ich will dir alles sagen. Im Glauben, daß alle Mönche Gottesmänner sind, vertraute ich mich ei nem von ihnen an. Er hieß Cornelis Adriaensen.« »Was! Dieser schlimme Heuchler?« rief Lamm. »Er hat ein Maul wie eine Kloake voll Schmutz und Unrat und sprach von nichts, als das Blut der Reformierten zu vergießen. Was! Dieser Lobredner der Inqui sition und der Edikte! Wehe! Dieser schuftige Taugenichts war es! Un seliges Geschick! Meine schöne Calleken in den Händen dieses gei len Mönches! Komm mir nicht nahe, ich ermorde dich! Und ich liebte dich so! Was willst du hier? Heb dich hinweg, ich will dich nicht mehr sehen, heb dich hinweg oder ich werfe dich ins Meer!« »Lamm, lieber Mann, weine nicht!« Sie warf ihm die Arme um den Hals: »Ich bin nicht, was du denkst. Ich habe diesen Mönch nicht er hört. Höre mir zu! Adriaensen galt als ein guter Prediger. Ich ging hin, ihn zu hören. Er stellte den geistlichen Stand und das Zölibat weit über jeden anderen, weil die Enthaltsamkeit die Frommen am besten ins Paradies führt. Seine Beredsamkeit war gewaltig und ungestüm. Vie le ehrbare Frauen waren wie ich ganz erschüttert, und da der ehelo se Stand so vollkommen ist, empfahl er uns, darin zu verbleiben. Wir schworen, nicht mehr ehelich zu leben …« »Außer mit ihm, ohne Zweifel«, zürnte Lamm. »Aber vollende! Du hast mir einen harten Schlag versetzt, den werde ich nicht verwin den.« 221
»Doch, lieber Mann, wenn ich allzeit bei dir sein werde.« Sie wollte ihn küssen, er aber stieß sie zurück. Voll Scham erzählte sie weiter: »Er wollte nur schöne und junge Frau en und Jungfrauen als Beichtkinder haben. Er gründete einen Orden der Andächtigen und ließ alle schwören, nur ihn zum Beichtiger zu nehmen. Ich leistete den Schwur. Meine Genossinnen fragten mich, ob ich mich nicht in der Heiligen Disziplin und der Heiligen Pönitenz un terweisen lassen wollte. Zu Brügge, nahe dem Kloster der Minoriten brüder, war ein Haus, in dem eine Frau namens Calle de Najage wohn te. Sie unterrichtete und ernährte junge Mädchen für einen Goldkaro lus im Monat. Cornelis Adriaensen konnte in ihr Haus gelangen, ohne daß jemand wußte, daß er sein Kloster verließ. In dieses Haus ging ich, in ein Kämmerlein zu ihm, wenn er allein da war. Er befahl mir, ihm alle meine natürlichen und fleischlichen Begierden zu sagen. Erst war ich scheu, aber ich gab endlich nach, weinte und sagte ihm alles.« »Wehe! So empfing dieser schweinische Mönch deine holde Beich te.« »Er sagte mir immer, daß über der irdischen eine himmlische Scham ist, und wenn wir also unserem Beichtiger alle unsere geheimsten Be gierden bekennen, seien wir würdig, die heilige Geißelung und die hei lige Buße zu empfangen. Er nötigte mich, nackt vor ihn zu treten und auf meinem Körper, der gesündigt hatte, die allzu leichte Züchtigung für meine Sünden hinzunehmen. Das geschah oft, aber niemals … ich schwöre bei Gott und all seinen Heiligen … ich blieb rein und treu … ich liebte dich. Aber ich hatte bei der Jungfrau mit furchtbaren Eiden geschworen, mich zu versagen. Doch war ich deinetwegen schwach. Entsinnst du dich des Gasthauses in Brügge? Du kamst auf deinem Esel mit Ulenspiegel vorbeigeritten. Ich ging dir nach. Ich hatte eine hübsche Summe Geldes, denn ich gab für mich nichts aus. Ich sah dich hungern, mein Herz zog mich zu dir, ich empfand Mitleid und Lie be.« »Wo ist der Mönch jetzt?« fragte Ulenspiegel. »Nach einer vom Magistrat angeordneten Nachforschung mußte Adriaensen Brügge verlassen«, erwiderte Calleken. »Er flüchtete nach 222
Antwerpen. Man hat mir auf dem Vlieboot erzählt, daß mein Mann ihn gefangengenommen hat.« »Was!« rief Lamm. »Der Mönch, den ich mäste, ist …« »Er.« Calleken verbarg ihr Gesicht. »Eine Axt, eine Axt!« schrie Lamm. »Daß ich ihn schlachte und das Fett dieses geilen Bockes meistbietend verkaufe! Rasch zurück zum Schiff. Wo ist die Schaluppe?« »Es ist eine niedrige Grausamkeit, einen Gefangenen zu töten«, sag te Nele. »Ich werde ihm nichts antun«, sagte Lamm. »Laß mich ihn nur aus dem Käfig werfen. Die Schaluppe!« Sie stiegen eilig ein. Lamm ruderte eifrig und weinte zugleich. »Du bist traurig, Mann?« fragte Calleken. »Nein, ich bin froh. Du wirst mich gewiß nicht mehr verlassen?« »Nimmer! Du weißt nicht, wie ich dich liebe.« »Sagst du die Wahrheit?« rief Lamm. »Komm, Liebchen, komm, mein Weib. Kein grauer Herbst ist mehr da und kein Winter, der die Liebe begräbt.« Er war fröhlich, als sie zum Schiff kamen. Ulenspiegel gab Lamm die Schlüssel zum Käfig, den der gekränkte Ehemann öffnete. Er wollte den Mönch bei einem Ohr auf Deck zie hen, aber er konnte es nicht. Er wollte ihn seitwärts herausziehen, aber das ging ebensowenig. »Man muß alles zerschlagen. Der Kapaun ist fett«, sagte Lamm. Endlich kam der Mönch heraus. Er rollte seine verstörten Augen und hielt seinen Bauch mit beiden Händen. Lamm sprach zu ihm: »Wirst du noch Dicker zu mir sagen? Du bist jetzt dicker als ich. Woher kommt es, Schreihals, daß du jetzt ruhiger bist und sanfter zu den armen Geu sen? Ich bin Lamm Goedzak, du bist Dicksack, Fettsack, Lügensack, Wollustsack! Du nennst mich Dicker! Willst du einen Spiegel, um dei nen Bauch zu betrachten? Ich habe dich gemästet. Ich habe geschwo ren, daß du Fett speien, Fett schwitzen und Fettspuren zurücklassen sollst wie ein Talglicht. Man sagt, daß der Schlagfuß beim siebenten Kinn kommt. Du hast ihrer jetzt sechs und ein halbes!« 223
Dann wandte er sich den Geusen zu: »Sehet diesen Lüstling! Das ist Bruder Cornelis Adriaensen Nichtsnutz aus Brügge. Er hat dort eine neue Schamhaftigkeit gepredigt. Sein Fett ist die Strafe! Sein Fett ist mein Werk. Höret alle: Ich werde euch verlassen, dich, Ulenspiegel, auch dich, kleine Nele, und in Vlissingen, wo ich Vermögen habe, mit meiner wiedergefundenen Frau leben. Ihr habt mir ehedem geschwo ren, mir alles zu bewilligen, um was ich euch bitten würde. Wohlan, betrachtet diesen Lüstling. Ich schwor, ihn in seinem Fett umkommen zu lassen wie ein Schwein. Bauet einen größeren Käfig und zwingt ihn, täglich zwölf Mahlzeiten zu essen anstatt sieben. Bald werdet ihr se hen, daß er den Käfig ausfüllt.« »Wir werden ihn mästen«, versprachen die Geusen. Lamm sagte: »Gott befohlen, Ulenspiegel und ihr alle, meine guten Freunde. Gott befohlen, Nele und die heilige Sache der Freiheit. Ich vermag nichts mehr für sie zu tun.« Nachdem Lamm allen den Bruderkuß gegeben und ihn empfangen hatte, sagte er zu seiner Frau: »Komm, dies ist die Stunde der rechtmä ßigen Liebe.« Während das Boot mit Lamm und seiner Herzliebsten über das Was ser glitt, riefen alle Matrosen, Soldaten und Schiffsjungen: »Leb wohl, Bruder, leb wohl, Lamm!« Und sie hielten ihr Versprechen und mästeten den Mönch im Kä fig. Als er für Lösegeld in Freiheit gesetzt wurde, wog er dreihundert siebzehn Pfund und fünf Unzen. Kein anderer Mönch wog mehr. Bald starb er als Prior seines Klosters. Das Gericht, das Lamm über den Prediger Cornelis Adriaensen ge halten hatte, war eines von vielen, durch das die Geusen sich rächten. Aber das große Gericht fand im Haag statt, als sich die Herren von den Generalstaaten versammelten, um über Philipp, König von Spanien, zu urteilen. Sie bezogen sich auf die von ihm selbst bestätigten Urkun den und Privilegien. Der Schreiber sprach im Namen aller: »Es ist männiglich bekannt, daß ein Landesfürst von Gott als Herr und Haupt seiner Untertanen eingesetzt ist, um sie vor allen Kränkungen, Bedrückungen und Ge 224
walttaten zu schützen. Gleichermaßen ist es bekannt, daß die Unter tanen nicht von Gott zum Nutzen der Fürsten geschaffen wurden, um ihm in allem, was er befiehlt, gehorsam zu sein, noch um ihm wie Sklaven zu dienen. Sondern der Fürst ist Fürst für seine Untertanen, ohne die er nicht sein kann, auf daß er nach Recht und Vernunft regie re, auf daß er sie liebe und sein Leben wage, um sie zu schirmen. Tut er es nicht, so soll er nicht für einen Fürsten, sondern für einen Ty rannen gehalten werden. König Philipp hat durch Soldatenwerbung, Kreuzzugsbullen und Kirchenbann vier feindliche Heere gegen uns gehetzt. Was soll kraft der Gesetze und Gebräuche des Landes seine Strafe sein?« »Er werde abgesetzt«, antworteten die Herren von den Generalstaa ten einstimmig. Der Schreiber fuhr fort: »Philipp hat seine Eide gebro chen. Er hat die Dienste vergessen, die wir ihm leisteten, und die Sie ge, die wir ihm erringen halfen. Als er sah, daß wir reich waren, ließ er uns von den spanischen Räten brandschatzen und plündern. Er hat in den mächtigsten Städten des Landes neue Bischöfe eingesetzt und mit ihrer Hilfe die spanische Inquisition eingeführt.« Die Herren von den Generalstaaten riefen: »Er werde abgesetzt als Undankbarer, als Räuber und als Henker.« »Es besteht starker Verdacht, daß Philipp durch seine spanischen Räte den Bildersturm und die Plünderung der Kirchen angestiftet hat, um unter dem Vorwand von Verbrechen und Unruhen fremde Heere gegen uns ins Feld zu schicken«, fuhr der Schreiber fort. »Er werde abgesetzt als Werkzeug des Todes«, erklärten die Herren von den Generalstaaten. »Er hat die Länder durch den Herzog von Alba und seine Bluthun de, durch die verräterischen Staats- und Provinzialräte geschröpft. Er hat Don Juan und Alexander Farnese, dem Prinzen von Parma, bluti ge Strenge empfohlen, wie man aus den aufgefangenen Briefen ersieht. Er hat über den Prinzen von Oranien die Reichsacht verhängt. Er hat Burgen und Festungen errichten, Männer lebendig verbrennen, Frau en und Mädchen lebendig begraben lassen. Er hat ihre Vermögen ge erbt. Er hat gegen uns ein Edikt geschleudert, das uns alle zu Verrätern 225
erklärte. Er hat das in einem christlichen Land unerhörte Verbrechen begangen, die Unschuldigen mit den Schuldigen zu verwechseln.« »Er werde abgesetzt in Gemäßheit aller Gesetze, Rechte und Privile gien«, riefen die Herren von den Generalstaaten. Das Siegel König Philipps wurde zerbrochen. Aber ein von dem ab gesetzten Monarchen gedungener Meuchelmörder schoß dem Prinzen von Oranien in Delft drei Kugeln in die Brust. Der Schweiger starb, seinem Wahlspruch getreu: »Ruhig inmitten der wilden Wogen.«
Friesland, Nordbrabant, Holland, Beveland, Zeeland, die ganze Nord seeküste, alle Inseln sollten vom spanischen Joch befreit werden. Mo ritz von Oranien, der Sohn des Schweigers, setzte den Krieg fort. Ulenspiegel und Nele, die ihre Jugend, Kraft und Schönheit bewahrt hatten, denn die Liebe und der Geist Flanderns altern nicht, verließen die Flotte und lebten auf dem Turm von Necre. Sie harrten der Zeit, da sie nach manch harten Prüfungen den Wind der Freiheit im Vaterland atmen könnten. Ulenspiegel hatte gebeten, Kommandant und Wächter des Turmes zu werden, mit der Erklärung, daß er mit seinen Adleraugen und sei nen Hasenohren besser merken könnte als jeder andere, ob der Spanier versuchen werde, sich in den befreiten Landen aufs neue einzustellen. Seiner guten Dienste halber erhielt Ulenspiegel täglich einen Gulden, zwei Kannen Bier, Bohnen, Käse, Schiffszwieback und in der Woche drei Pfund Rindfleisch. So lebten er und Nele gar trefflich. Sie konn ten Ausschau halten über die freien Inseln Zeelands, Wiesen, Wälder, Burgen und Festungen und die Kriegsschiffe der Geusen, die die Kü sten bewachten. Als Nele eines Morgens erwachte, sah sie Ulenspiegel neben sich lie gen. Sie glaubte, daß er schliefe, schüttelte ihn, aber er rührte sich so wenig wie ein Toter, und sie wurde von Furcht ergriffen. »O Tyll, wach auf!« rief sie. »Hab' ich meinen Gesellen verloren? So will ich auch ster ben!« 226
Ein Tag und zwei Nächte vergingen, aber Ulenspiegel erwachte nicht. Nele hielt, vor Harm fiebernd, die Wacht an seinem Lager. Beim An bruch des zweiten Tages vernahm sie den Ton eines Glöckleins und sah einen Bauern kommen, der eine Schaufel trug. Hinter ihm schrit ten, eine Wachskerze in der Hand, der Bürgermeister und zwei Schöf fen, der Pfarrer und ein Mesner. Sie seien auf dem Weg, sagten sie, um den wackeren Jakobsen das heilige Sakrament der Letzten Ölung zu geben. Aber sie machten halt bei der weinenden Nele, als sie Ulenspie gels Leichnam sahen. »Was machst du bei diesem Toten?« fragte der Bürgermeister die kniende Nele. Sie wagte die Augen nicht aufzuschlagen: »Ich bete für meinen Liebsten, der gestorben ist. Ich bin jetzt allein und will auch sterben.« »Ulenspiegel, der Geuse, ist tot!« sagte der Pfarrer, vor Freude schnau fend. »Gelobt sei Gott! Bauer, spute dich, eine Grube zu graben.« »Das ist mir recht«, sagte Nele unter Tränen. »In dem kalkhaltigen Sand sind keine Würmer, und mein Geliebter wird unversehrt und schön bleiben.« Sie beugte sich über Ulenspiegels Körper und küßte ihn. Dann hob der Bauer eine Grube aus, legte Ulenspiegel hinein und bedeckte sei nen Körper mit Sand. Der Pfarrer sprach die Totengebete. Alle knie ten im Kreis um das Grab. Plötzlich schien sich der Sand zu bewegen und Ulenspiegel stieg heraus, nieste und schüttelte sich den Sand aus den Haaren. Er packte den Pfarrer an der Kehle und sprach: »Inquisi tor! Legst du mich lebendig ins Grab, während ich schlafe?« Der Pfarrer schrie: »Der große Geuse kehrt in die Welt zurück! Herr Gott, erbarm dich meiner Seele!« Er entfloh wie ein Hirsch vor den Hunden. Ulenspiegel trat auf Nele zu: »Küß mich, Herzliebste«, sagte er. Dann blickte er sich abermals um. Die beiden Bauern waren entflohen wie der Pfarrer und hatten, um besser laufen zu können, Schaufel und Ker ze auf den Sand geworfen. Bürgermeister und Schöffen hielten sich vor Angst die Ohren zu und stöhnten auf dem Boden. Ulenspiegel ging auf sie zu, rüttelte sie auf und sagte: »Begräbt man Ulenspiegel, den Geist, 227
und Nele, das Herz der Mutter Flandern? Sie kann wohl schlafen, aber sterben kann sie nicht!« Und er ging mit Nele von dannen und sang sein schönstes Lied. Wo Tyll Ulenspiegel sein letztes Lied gesungen hat, das weiß keiner …
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Von der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts bis in die ersten Jahre des Dreißigjährigen Krieges
Der Glaube der Anderen I ›Das boshafte Tier, das man Volk nennt‹ – so bezeichnete Kardinal Granvella die aufständischen Niederländer, die sich durch Flugschrif ten, Versammlungen und mit den Waffen in der Hand gegen die ge waltsame Unterdrückung ihres protestantischen Bekenntnisses und die Vergewaltigung ihrer bürgerlichen Rechte wehrten. Diese weg werfende Redewendung des Ratgebers Philipps II. von Spanien gegen den Widerstand des Gewissens machte an den europäischen Höfen die Runde. Sie gefiel den Fürsten. Hieß es nicht: ›Cuius regio, eius religio‹? War es nicht in Staatsverträgen festgelegt worden, daß das Volk den gleichen Glauben haben mußte wie der Landesherr? Die meisten ge krönten Häupter, ob Katholiken oder Protestanten, betrachteten es als Verbrechen gegen die Majestät, wenn ihre Untertanen nicht dem glei chen Bekenntnis anhingen wie sie. Sie fürchteten, daß jede Anders gläubigkeit die geistliche und die weltliche Ordnung in ihrem Lande bedrohe. So verschärften die Bestimmungen des Augsburger Religionsfriedens die durch Glaubensverschiedenheiten bedingten Gegensätze zwischen Herrschern und Beherrschten nicht nur innerhalb des deutschen Rei ches, sondern auch in den meisten Ländern des europäischen Raumes. Dänemark war unter seinem König Christian III. lutherisch geworden und auch Schweden unter Gustav, dem ersten König aus dem Hause Wasa, dem das nordische Königreich seine wachsende Bedeutung ver dankte. Je nach dem Erfolg und dem Bekenntnis der einzelnen Pre diger, die aus dem deutschen Reich über die skandinavische Halbin 230
sel oder das Königreich Ungarn nach Polen kamen, entstanden größe re oder kleinere lutherische oder calvinistische Inseln im katholischen Königreich der Jagiellonen, das in ständiger Kampfbereitschaft gegen die andrängenden Türken lebte und sich gegen die Übergriffe des Za ren Iwan IV. des ›Drohenden‹, wehren mußte. Iwan, der in Westeuro pa ›der Schreckliche‹ hieß, hatte Rußland durch die Unterwerfung der Mongolenstaaten Kasan und Astrachan erweitert und setzte alles dar an, an der Ostsee Fuß zu fassen. Am meisten Anhänger fand das reformierte Bekenntnis in Frank reich. Die Nähe Genfs und der Umstand, daß die Schriften Calvins in französischer Sprache abgefaßt worden waren, erleichterte die Aufga be seiner Sendboten. Sie fanden bei der mit ihren schwachen Königen unzufriedenen Bevölkerung willige Aufnahme. Für die französischen Calvinisten, die sich ›Hugenotten‹ nannten, wurde der Glaube bald gleichbedeutend mit ihren bürgerlichen Rechten. Sie wollten in Frei heit leben oder für ihren Glauben sterben. Im kaiserlichen Wien faß te der später heiliggesprochene Jesuitenpater Canisius die durch den Augsburger Religionsfrieden herbeigeführte Lage hellsichtig zusam men: »Der Friede bestimmt nicht, was sein soll, sondern was kraft der unüberwindlichen Machtverhältnisse ist und so lange sein wird, als die schlimme Lage andauert.«
Die endgültigen Ergebnisse des von Papst Paul III. nach Trient ein berufenen Konzils verbesserten ›die schlimme Lage‹ nicht. Sie grenz ten die gegnerischen Lager noch schärfer voneinander ab, obwohl die mehr als zwanzig Jahre beratende Kirchenversammlung einen vermit telnden Ausgleich erstrebt hatte, der auch den von der Evangelienleh re erfüllten Gläubigen die Möglichkeit geben sollte, zufrieden zu sein. Das Konzil von Trient hatte die Gleichstellung der Heiligen Schrift mit der kirchlichen Überlieferung verfügt und die Zucht der Geistlich keit durch das Recht und die Pflicht der Bischöfe, sie zu überwachen, wiederhergestellt. Der katholische Unterricht der Jugend, die Ausbil 231
dung der Priester waren an einen besonderen Eid der Lehrer, das ›Tri dentinum‹, gebunden. Dadurch wurde zwar der katholischen Kirche neue Widerstandskraft gegen den Protestantismus aller Bekenntnisse verliehen, die Mehrzahl der Protestanten jedoch war nicht überzeugt. Dennoch ging der Heilige Stuhl, der bis dahin von seinen Anhängern verzweifelt verteidigt worden war, jetzt zum Gegenangriff über. Das geschah vor allem durch den Aufmarsch eines spanischen Hee res in den Niederlanden. Vom Grundsatz Philipps II. geleitet: »Ich will lieber hunderttausend Leben verlieren, als dulden, daß man im ge ringsten die Religion verändere«, suchte sein Feldherr, der Herzog von Alba, die in der Mehrzahl calvinistische Bevölkerung der Niederlande heim. Seinen Soldaten schlossen sich die Mönche der Inquisition und ihre erbarmungslosen Folterknechte an. Ihren vereinten Greueltaten gelang es nicht, den ›Glaubenssieg‹ zu erringen. Sie eroberten und ent völkerten Städte und Dörfer. Der einstmals blühende Handel der rei chen Häfen lag still. Männer, Frauen und Kinder entzogen sich der un barmherzigen Verfolgung durch die Flucht. Vor den niederländischen Küsten kreuzten die Schiffe der Geusen – wie sich bald nicht mehr nur die empörten adligen Herren, sondern auch die aufrührerischen Fi scher, Bürger und Bauern nannten – und bedrängten die Flotten Al bas. Auch als das Heer, das Graf Ludwig von Nassau seinem Bruder, dem Prinzen von Oranien, der ›Seele des niederländischen Aufstands‹ zuführte, von den spanischen Truppen völlig vernichtet wurde, brach der Widerstand der Bevölkerung nicht zusammen. Gegen die militä rische Überlegenheit der Unterdrücker griffen die Niederländer zu ei nem letzten verzweifelten Mittel: sie durchstachen die jahrhunderte alten Dämme, durch die sie das dem Meer abgerungene Land vor den Fluten geschützt hatten. »Besser ein verdorbenes Land als ein verlore nes!« riefen sie, während die Wellen ihre wohlbestellten Äcker, aber auch die königlich-spanischen Kampfstellungen überschwemmten.
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Solche Nachrichten waren nicht ermutigend für den König von Spani en. Aber der mißgelaunte Erbe Karls V. ließ sich nicht von seinen Plä nen und Überzeugungen abbringen. Philipp II. beharrte darauf, daß das Volk der Niederlande der alleinseligmachenden Kirche wiederge wonnen werde. Daß Tausende und aber Tausende Menschen dabei elend zugrunde gingen, bedrückte ihn kaum, denn sein Beichtvater hatte ihm das un bedingte Recht über das Leben aller seiner Untertanen zugestanden: »Was Seine Majestät tut, geschieht für den Dienst Gottes und zum all gemeinen Besten der Christenheit und des katholischen Glaubens.« Von diesem Grundsatz des uneingeschränkten Gottesgnadentums war der König von Spanien durchdrungen. Wenn er auch auf die Kai serkrone verzichten und es neidisch hatte zulassen müssen, daß sein unfreundlicher Vetter Maximilian II. der Nachfolger Kaiser Ferdin ands I. geworden war, verhielt sich Philipp II. doch so, als wäre er das anerkannte Oberhaupt der christlichen Welt. Er ließ sich keine Gele genheit entgehen, dem jeweiligen Papst seine Wünsche aufzuzwingen – die er allerdings, oft ohne es selbst zu wissen, nur als Wortführer sei ner priesterlichen Vertrauensmänner hegte und aussprach. Trotz aller Macht- und Prachtentfaltung war der katholische König in Wirklich keit machtlos, und die düstere Feierlichkeit, die seinen Alltag umgab – die spanische Hofetikette –, war von seiner geistlichen Umgebung ge schaffen worden, um ihn in seiner höfischen Erhabenheit so zu verein samen, daß er ganz und gar auf sie angewiesen war. Die königlichen Beichtväter und ihre Helfershelfer waren die tatsächlichen Beherrscher der Königreiche und Länder Philipps II. In seiner starren Würde, die ihn allem Menschlichen entfremdete, wurde er unmenschlich. Er ver sagte sich alle Gefühlsregungen, die ihm als unköniglich dargestellt wurden. Philipp II. kränkelte viel in seiner Jugend. Im Mannesalter blieb ihm nur wenig Unglück erspart. Seine erste Frau, Maria von Por tugal, die ihm einen Sohn geboren hatte, starb früh. Der Witwer hat te nicht viel Freude an seinem Erben. Der Infant Don Carlos, dem an der Wiege gesungen worden war, daß er ein noch größerer Herrscher sein würde als sein Großvater, Kaiser Karl V. zeigte schon von Kind 233
heit an die verhängnisvollen Spuren seiner Abstammung von Johanna der Wahnsinnigen, seiner Urgroßmutter. Don Carlos war ungebärdig, aufbrausend und von einem unstillbaren Bedürfnis getrieben, Men schen und Tieren körperliche und seelische Schmerzen zuzufügen. Als er heranwuchs, gab er sich allen Ausschweifungen hin und war, nach dem er sich durch einen Sturz eine Kopfverletzung zugezogen hatte, kaum noch zu bändigen. Philipp II. hatte gehofft, daß er nach seinem unwillig unternomme nen und so peinlich mißglückten Versuch, König von England zu wer den, und nach dem Ableben der ›katholischen‹ Maria in seiner müh sam zustandegekommenen dritten Ehe stille Zufriedenheit finden würde. Die französische Prinzessin Elisabeth von Valois gebar ihm zwei Töchter. Aber das Familienleben des Königspaars wurde durch die unaufhörlichen Anfälle und Übeltaten Don Carlos' um so emp findlicher gestört, als Elisabeth den ungeduldigen Philipp zur Ver söhnlichkeit gegen den offenkundig geisteskranken Sohn zu bestim men versuchte. Ihre Fürsprache machte den König mißtrauisch ge gen sie und hatte den entgegengesetzten Erfolg. Aber je härter Philipp II. auftrat, desto wahnsinniger wurde die hilflose Wut Don Carlos'. Er haßte seinen Vater so sehr, daß er die Lieblingspferde Philipps in den Hofstallungen zu Tode marterte und in der Öffentlichkeit der in den ›Cortes‹ zum Zweck der Steuerbewilligung versammelten Stände die Verfügungen des Königs mit lauter Stimme mißbilligte. Philipp be fahl die Verhaftung des Infanten. In einem entlegenen Turm des Pa lastes eingesperrt, trat Don Carlos in Hungerstreik. Als er zu schwach war, die sich selbst auferlegte Entbehrung durchzuhalten, wollte er sich durch ein Übermaß an Nahrung ums Leben bringen. Schließlich ge lang ihm der Selbstmord durch das beständige Schlucken gewaltiger Mengen von Eis, das eine ›allgemeine fieberhafte Entzündung‹ seines geschwächten Körpers hervorrief. Es gab mannigfaltige Gerüchte über die Todesursache des dreiund zwanzigjährigen Erben der Kronen von Spanien und auch über das wenige Monate später erfolgte Hinscheiden seiner Stiefmutter, Elisa beth von Valois, die an den Folgen einer vorzeitigen Geburt starb. 234
Das traurige Schicksal des Don Carlos wurde in der Dichtung ver herrlicht, vielleicht auch, um die völlige Unbarmherzigkeit seines Va ters gegen seine Untertanen zu unterstreichen. Sein eigenes Mißge schick machte Philipp II. so unversöhnlich gegen alle Menschen, daß er in all den Jahrzehnten seiner Herrschaft keinem Verurteilten die königliche Gnade zuteil werden ließ. Es gab keine Lockerung der un erbittlichen Strenge seiner Gesetze, durch die er die Völker in seinem Reich im Glauben und im Gehorsam gleichmachen wollte. Der im vor aus gesicherten Billigung der katholischen Majestät gewiß, bedienten sich die Inquisitoren der Folter, der niemand, der die Inquisition nicht guthieß, entging.
Am grausamsten war der Vernichtungskrieg, den Philipp II. gegen die Morisken, die muselmanischen Nachkommen der maurischen Bevöl kerung im Süden Spaniens, führte. Die von Karl V. unter der Bedin gung, daß sie sich taufen ließen und christliche Namen trügen, in ih ren Wohnsitzen geduldeten Männer und Frauen waren fleißige Hand werker und betriebsame Kaufleute. Die Behörden sahen darüber hin weg, daß diese guten Steuerzahler sich nur nach außen hin bekehrt hatten und in ihren Häusern dem Glauben ihrer Väter huldigten. Jetzt befahl Philipp den Morisken, innerhalb von drei Jahren die arabische Sprache durch die Landessprache zu ersetzen und ihre gebräuchlichen Trachten abzulegen. Sie sollten christliche Spanier werden. Ihre volks tümlichen Tänze und Gesänge, die täglichen warmen Bäder der mo hammedanischen gottesdienstlichen Ordnung wurden unter Stra fe gestellt. Da die Morisken fürchteten, daß sie allen Zusammenhang mit ihrer geliebten Vergangenheit verlieren würden, sandten sie Ab ordnungen an den Hof, um die Widerrufung des königlichen Befehls zu erwirken. Sie traten, als auch die demütigsten Bitten nicht halfen, in Aufstand. Im Gebirge der Alpujarras südlich von Granada forder te die blutige Unterdrückung der Morisken Tausende von Opfern und war das Vorspiel eines weit um sich greifenden Krieges zwischen dem 235
christlichen Spanien und den muselmanischen Völkern im Mittel meerraum. II Trotz seiner von der Nachwelt als ›mittelalterlich‹ gekennzeichneten Unduldsamkeit war Philipp II. davon überzeugt, ein neuzeitlicher Herrscher zu sein, der seine Königreiche und Hoheitsgebiete von sei ner Hauptstadt aus einheitlich verwaltete. Er führte Kriege durch Feld herren und machte Frieden durch seine Bevollmächtigten. Er ließ sich an fremden Höfen durch Gesandte vertreten und vermied es, sich sei nen Untertanen persönlich zu zeigen. Er war ›El Rey‹, der König – er haben in seiner Einbildung. Er glaubte, den Erdkreis durch Federstri che auf Urkunden erobern zu können. Philipp II. gelang es nie, sich die notwendige Voraussetzung seiner erstrebten Vorherrschaft in der christlichen Welt zu verschaffen: die Übersicht über die europäischen Machtverhältnisse. Seine Bericht erstatter hielten ihn nur über solche Ereignisse auf dem laufenden, von denen sie wünschten, daß er sie erfahre. Seine Berater zauber ten eine Scheinwelt vor sein geistiges Auge, während er glaubte, sei ner Herrscherpflicht durch unverfälschte Anschauung zu genügen. Zur Verwaltung aller seiner Königreiche hatte Philipp eigene hohe Behörden eingesetzt, vor allem den Staatsrat, der sich nur aus weni gen Männern zusammensetzte und die geheimsten und wichtigsten Angelegenheiten zu behandeln hatte. Dem Indischen, dem Flandri schen, dem Italienischen ›Rat‹ und den Räten der Kronen von Ka stilien und Aragon waren die jeweiligen Hoheitsgebiete anvertraut. Sie überwachten die Wirtschaft und gaben der örtlichen Politik die Richtung, aber Philipp behielt sich jede wesentliche Entscheidung persönlich vor, ohne sich bewußt zu sein, daß er sich nur zu Fragen äußern konnte, die ihm vorgelegt wurden. Seine Ratgeber sorgten dafür, daß der katholische König Tag für Tag einen gewaltigen Berg 236
von Papieren bewältigen mußte, wenn er nicht hinter der Arbeit zu rückbleiben wollte. Noch zahlreicher und umfangreicher als die Verfügungen, die sei ne eigenen Kronen betrafen, waren die Berichte, die Philipp II. aus je nen fremden Reichen erhielt, die er, wenn auch nicht immer unmit telbar, in seinen Einflußbereich einbeziehen wollte. Wenn sich in sei nen Königreichen nicht alles so zutrug, wie es ihm gefiel, konnte er ei nen Machtspruch fällen. Er konnte Gewalt anwenden lassen, um sei nen Willen durchzusetzen. Die Unbotmäßigkeit von Personen und Er eignissen in fremden Reichen aber galt ihm als häßlicher Beweis da für, daß er sein Ziel der Vorherrschaft noch nicht erreicht hatte, und stachelte seinen Ehrgeiz und Tätigkeitsdrang an. Er schwor jedem, der ihm durch Wort und Tat widersprach, furchtbare Rache und be reitete seine Vergeltungsmaßnahmen mit aller Sorgfalt vor. Am hef tigsten richtete sich seine stille verbissene Wut gegen Fürstlichkeiten, die er sich zu Dank verpflichtet glaubte. Das war vor allem Elisabeth, die Tochter Anna Boleyns und Heinrichs VIII. die junge Königin von England, der Philipp während seines kurzen Aufenthalts in London, als Gatte der Königin Maria, durch seine Fürsprache zur Freiheit ver holfen hatte, obwohl sich die protestantisch erzogene Elisabeth eigen sinnig geweigert hatte, die Messe zu hören. Für diese Nachsicht des ka tholischen Königs einer Ketzerin gegenüber gab es nur die Erklärung, daß Philipp, angesichts der Kinderlosigkeit und Kränklichkeit Marias, die Möglichkeit erwogen hatte, ihre Stiefschwester Elisabeth zu heira ten und zu bekehren, wenn sie ›seine‹ Königin von England geworden war. Auch nach dem bald eingetretenen Tod Marias hatte Philipp sei nen Einfluß auf die führenden englischen Katholiken zugunsten der Protestantin Elisabeth eingesetzt – gegen die Anhänger ihrer Base Ma ria Stuart, der katholischen Königin von Schottland. Der glaubwürdige Vorwand Philipps für diese Begünstigung Elisa beths war die von seinen Gesandten vorgebrachte Begründung, daß Maria Stuart mit Franz, dem Dauphin von Frankreich, verheiratet war. Falls Maria Stuart den Thron Englands bestiege, würde der künf tige König von Frankreich, der sich schon König von Schottland nann 237
te, auch König von England werden. Sich der Herrschaft eines franzö sischen Königs unterwerfen, das wollten selbst die englischen Katho liken nicht. Sie ließen sich von den Sprechern Philipps II. überzeugen und huldigten, gemeinsam mit den Protestanten, der Tochter Hein richs VIII. in der Hoffnung, daß die vom König von Spanien Begün stigte sich zum Katholizismus bekehren lassen würde. Dafür sprach auch die persönliche Haltung Elisabeths. Sie sagte zwar, sie spräche lie ber andächtig zu Gott, als daß sie andere über ihn reden höre. Aber sie äußerte sich weder gegen die Heiligkeit der Jungfrau Maria noch gegen die Heiligenverehrung überhaupt und duldete es auch nicht, daß in ih rer Gegenwart spöttisch darüber geredet wurde. Sowohl Philipp II. als auch die katholischen Anhänger Elisabeths übersahen den wesentlichen Grund, der sie davon abhalten mußte, je mals Katholikin zu werden, wenn sie Königin bleiben wollte. Ihr Va ter, Heinrich VIII. hatte Anna Boleyn gegen den Willen des Papstes ge heiratet. Die katholische Kirche hatte diese Ehe als ungültig gebrand markt. Elisabeth hätte sich daher selbst als ›unehelich gezeugt‹ beken nen müssen, wenn sie Katholikin geworden wäre. Auch die Stimmung des Volkes sprach dagegen. Ihre Vorgängerin auf dem Thron, Maria, war nicht grundlos die ›Blutige‹ geheißen worden. Sie war wegen ih rer Ausschreitungen um des Glaubens willen verhaßt, und Elisabeth selbst war im Namen der katholischen Kirche nicht nur mit dem Aus schluß vom Nachfolgerecht, sondern sogar mit dem Tod bedroht wor den, während die protestantischen Adeligen und Bürger immer zu ihr gehalten hatten. Andererseits aber fürchtete Elisabeth den Calvinismus, dem die Mehrheit der englischen Protestanten zuneigte: die demokra tische Oberaufsicht der Presbyter, die sich nicht nur auf kirchliche Fra gen beschränkte und in ihrer unerbittlichen Strenge gegen das erbli che Königtum gerichtet sein mußte. Elisabeth ließ sich Zeit mit allen Entscheidungen und lehnte den Heiratsantrag Philipps II. mit freundli chen Ausflüchten ab. Er mochte gewußt haben, daß sie eine enge Bezie hung zu Robert Dudley, dem späteren Earl of Leicester, unterhielt, und ihr mochte nicht nur sein abstoßendes Äußeres, sondern auch sein ei siges Wesen und seine freudlose Lebensführung zuwider gewesen sein. 238
Philipp II. war durch die Ablehnung der Königin von England nicht gekränkt gewesen, denn sie hatte ihm politische Hoffnungen gemacht. Er hatte Elisabeth von Valois geheiratet, um den Frieden mit Frank reich, den der später auf seinem Befehl enthauptete niederländische Graf Egmont in der Schlacht von Saint Quentin und Gravelingen er zwungen hatte, durch verwandtschaftliche Bande zu sichern. Frank reich hatte auf alle Ansprüche in Italien und Burgund verzichtet, und die englische Elisabeth hatte durchblicken lassen, daß sie der Ehe mit einem anderen Habsburger nicht abgeneigt wäre. Um eine solche Ver bindung für die Königin von England besonders schmackhaft zu ma chen, erschien bei ihr bald darauf ein päpstlicher Gesandter mit ei nem herzlichen und eindringlichen Brief des Heiligen Vaters, in dem er die ›geliebteste Tochter‹ zur Rückkehr in den Schoß der alleinselig machenden Kirche ermahnte. Botschafter gingen und kamen. Sie brachten köstlich gemalte Bil der der österreichischen Erzherzöge mit, der habsburgischen Vet tern Philipps II. die er durch Gunstbezeugungen und Versprechun gen an sich gebunden hatte. Das Ja-Wort Elisabeths hing an einem Fa den. Ihre mögliche Zustimmung zur Ehe mit einem Habsburger war ein Köder, den sie auswarf, um das gute Einvernehmen mit Philipp II. nicht aufs Spiel zu setzen. Es dauerte Jahre, bis Elisabeth sich stark ge nug fühlte, zulassen zu können, daß das englische Parlament die von Heinrich VIII. beschlagnahmten kirchlichen Einkünfte, die die ›ka tholische‹ Maria wieder der katholischen Kirche hatte zufließen las sen, neuerdings der Krone zuführte und die erneuerte Englische Kir che der obersten richterlichen Gewalt des Königtums unterstellte. Elisabeth selbst wollte nicht als oberstes Haupt der Kirche von Eng land wirken wie ihr Vater. Sie bemäntelte ihre Zurückhaltung mit ih rer Weiblichkeit. Hieß es nicht: ›… taceat mulier in ecclesia‹? Sie ver hielt sich in Kirchenfragen schweigsam. Für kurze Zeit schien es, als habe sie sich zwischen zwei Stühle gesetzt. Die Calvinisten, die Vertei diger der ›reinen‹ Lehre, die sich in England ›Puritaner‹ nannten, fan den in der von Rom unabhängigen englischen Kirche zuviel ›von dem alten papistischen Sauerteig‹. Die Katholiken aber beklagten die Tren 239
nung von Rom und das Eindringen lutherischer und calvinistischer Ketzerei. Die junge Königin von England bewegte sich vorsichtig auf einem seiltänzerischen Mittelweg. Sie duldete sowohl die eine als auch die an dere Glaubensrichtung. Aber sie hatte sich einen hervorragenden Mit arbeiter gesichert: Sir William Cecil, über den der spanische Gesandte an Philipp II. schrieb: »Er regiert die Königin. Er ist ein fähiger Mann, obwohl ein verfluchter Ketzer.« Aber war es richtig, daß Cecil Elisabe th regierte? Seine Haltung war eindeutig – ihre nicht. Alles wies darauf hin, daß er England zum ›Hort und Haupt des Protestantismus in der Welt‹ machen wollte und eine entschiedene Politik in dieser Richtung sowohl im Inneren des Landes als auch nach außen hin betrieb, wäh rend die Königin sich den Anschein gab, zu zaudern und zu vermit teln, sich bemühte, die Gegensätze auszugleichen, und entscheidende, unwiderrufliche Entschlüsse vermied. Daß Elisabeth keine eindeutige Haltung einnahm, machte Philipp II. mißtrauisch gegen sie. Er wollte nicht mit sich spaßen lassen und erwog, seine Gunst doch Maria Stuart zuzuwenden. Warum sollte er nicht diese katholische Königin, die mütterlicherseits von den Herzö gen von Guise, seinen mächtigen Vertrauensmännern in Frankreich, abstammte, an einen seiner österreichischen Vettern verheiraten und dadurch den Habsburgern die Krone Schottlands und den Anspruch auf England sichern, das davor bewahrt werden mußte, ganz und gar protestantisch zu werden? Der König von Spanien hatte ebenso wenig Glück mit der schotti schen wie mit der englischen Königin. Maria Stuart durchkreuzte sei ne Absichten. Sie heiratete erst ihren Vetter Lord Darnley, dem sie ei nen Sohn gebar, und kurz nach der vermutlich von ihr gutgeheißenen Ermordung Darnleys den Earl Bothwell, der die Witwe nur heiratete, um durch sie König zu werden, aber von einem schottischen Aufstand vertrieben wurde und in Norwegen als Staatsgefangener starb. Maria Stuart begab sich unter den Schutz ihrer ›guten Schwester‹ Elisabeth, der Königin von England. Es brauchte eine Weile, bis ihr bewußt wur de, daß das ihr so herzlich angebotene Asyl eine tödliche Falle war. Die 240
katholischen Adeligen Englands, unter der Führung des Herzogs von Norfolk, der seinerseits den Ehrgeiz hatte, Maria Stuart zu heiraten und König von Schottland zu werden, bereiteten eine Verschwörung vor. Elisabeth deckte den Anschlag auf, und ihre Grausamkeit anläß lich der Unterdrückung des Aufstands machte sie zur erklärten Fein din der Katholiken. Jetzt mußte sie Stellung nehmen, um so mehr, als Papst Pius V. eine Exkommunikationsbulle gegen sie erließ. Der Hei lige Vater löste die Untertanen der Königin von England von dem ihr geleisteten Treueid und befahl ihnen, der Ketzerin den Gehorsam zu verweigern. Diese Kriegserklärung des Heiligen Stuhls gegen Elisabe th war um so gefährlicher, als sowohl König Karl IX. von Frankreich als auch Philipp II. für Maria Stuart Partei ergriffen und sich die eng lischen Katholiken offen gegen Elisabeth stellten. Der damals schon zum Lord Burghley erhobene William Cecil erklärte: »Gewissensfrei heit ist im allgemeinen eine gute Sache. Aber nach dem Schritt, den der Papst getan hat, ist die Religion zu einem Gegenstand der Politik geworden. Der Staat ist in Gefahr, und der Thron der Königin ist er schüttert.« Jede Beschimpfung Elisabeths als Ketzerin oder Tyrannin, jede Be streitung der vollen Gesetzlichkeit ihrer Herrschaft wurde als Hoch verrat gebrandmarkt und bestraft. Der von Elisabeth so lange hinaus gezogene und gefürchtete Bruch mit der römischen Kirche und den Katholiken Englands war vollzogen. Ob sie es wollte oder nicht, sie mußte sich nun an die Ratschläge Cecils halten. Wenn sie Königin bleiben wollte, mußte England, so wie er es geplant hatte, ›Hort und Haupt des Protestantismus in der Welt‹ werden. III Philipp II. hätte unverzüglich in die englischen Wirren eingreifen mö gen. Aber die Verhältnisse im benachbarten Königreich Frankreich waren noch verworrener, der Bürgerkrieg in den Niederlanden keines 241
wegs beendigt und der türkische Krieg, zu dem er längst schon ent schlossen war, ließ keinen Aufschub zu. Philipp hatte die Feindschaft gegen den Sultan mit seinen Kronen geerbt. Der östliche Gegenspie ler Karls V. Suleiman II. der zwar von der Belagerung Wiens abgelas sen, aber den größten Teil des Königreichs Ungarn und seiner Neben länder und später auch Persien erobert hatte, war in seinem Verlangen, das Riesenreich des Islam wiederherzustellen, im ganzen Mittelmeer raum zum Angriff übergegangen. Der osmanische Eroberer hatte der Republik Venedig Dalmatien ab gerungen und die wichtigsten Küstenstriche Nordafrikas besetzt. Schon zu Beginn seiner Herrschaft war es ihm gelungen, den Johanniteror den aus der Insel Rhodos zu vertreiben, und Karl V. hatte die Ritter in ihrem überlieferten Ordenskampf gegen die Mohammedaner be stärkt. Suleiman schickte zweihundert Kriegsschiffe gegen Malta, das der Großmeister Lavalette heldenmütig verteidigte. Philipp sandte ihm Hilfe, um Malta, den vorgeschobenen Posten seiner Königreiche in Süditalien, zu schützen. Die spanische Flotte erkämpfte die Aufhe bung der Belagerung. Aber jetzt setzte Selim II, der Nachfolger Sulei mans, durch den Verzweiflungskampf der Morisken im Inneren Spa niens zum Glaubenskrieg ermutigt, zu einem neuen Angriff gegen christliche Besitzungen im Mittelmeer an. Die Insel Zypern, die Vene dig gehörte, war das erste Ziel des neuen Sultans. Der Doge von Vene dig wandte sich um Hilfe an den Papst, und Pius V. bemühte sich, ei nen Kreuzzug der katholischen Christenheit gegen die Türken zustan de zu bringen. Der Heilige Vater hatte nicht viel Erfolg. Die Fürsten des deutschen Reiches waren zu sehr mit ihren eigenen, unmittelbaren Angelegenheiten beschäftigt, und König Karl IX. von Frankreich hielt an dem Bündnis fest, das sein Großvater, Franz I. mit Suleiman II. ge schlossen hatte. Philipp war der einzige Herrscher Europas, der zum Kreuzzug be reit war. Er stellte allerdings die Bedingung, daß die ›cruzada‹, der Ab laßhandel in Spanien, zugunsten der königlichen Schatzkammer be trieben werde. Als der Papst diese Bedingung erst heftig ablehnte und dann doch ergeben einlenken mußte, erklärte der Beichtvater Philipps 242
dem Abgesandten des Heiligen Stuhls: »Herr Nuntius, unser Herr Pius hat sich so fromm benommen, wie wir selbst es nur wünschen. Aber es ist Seiner Heiligkeit so ergangen, wie wir Kastilianer im Sprichwort sa gen: Die Hartleibigen sterben schließlich am Durchfall.« Diese unehrerbietige Äußerung bedeutete, daß Philipp die unwillig flüssig gemachten Dukaten der ›cruzada‹ in reichlichem Ausmaß er halten hatte. Für einige Millionen in bar war er durchaus willig, den Kreuzzug gegen die Türken zu führen, obwohl sich ihm außer Vene dig nur Genua und Malta anschlossen. Zypern mußte gerettet werden. Es war ein wichtiger Umschlagplatz des italienischen Handels mit dem Nahen Osten. Nun mußte alles geschehen, um den Krieg gegen die Un gläubigen nicht nur bei der Bevölkerung der Apenninischen Halbinsel, sondern auch in Spanien volkstümlich zu machen. Zahllose Freiwilli ge meldeten sich zur Kreuzzugsflotte, zu deren Befehlshaber der Halb bruder Philipps, Don Juan d'Austria, ernannt wurde.
Die Verlagerung des militärischen Schwergewichts der spanischen Königreiche in den Mittelmeerraum war durch das von den geistli chen Beratern Philipps II. geprägte Schlagwort angeregt worden: »Der Wohlstand Spaniens steht auf dem Spiel.« Das war richtig und doch scheinbar widersinnig, denn der Reichtum Spaniens kam aus Ameri ka, das von den wirklich Eingeweihten als der Magen bezeichnet wur de, der den ganzen Körper ernährte. Gold und Edelsteine im Werte von Hunderten Millionen Dukaten waren im Laufe der vergangenen Jahrzehnte aus Peru und Mexiko in die spanischen Häfen verschifft worden. Aber da es verboten war, das eingeführte Gold und Silber wie der auszuführen, sank der Wert des Geldes im Inland mit erschrek kender Schnelligkeit. Die Spanier sagten, daß das amerikanische Gold für sie die gleiche Bedeutung habe wie das Regenwasser für die Dä cher der Häuser, das gleich wieder abfließe, so daß die Dächer trok ken blieben. Der Überfluß an den kostbaren Metallen hatte die Prei se der inländischen Verbrauchsgüter so sehr gesteigert, daß die spani 243
schen Handwerker und Kaufleute den Wettbewerb mit den ausländi schen nicht aufrechterhalten konnten. Durch die immer zunehmen de Auswanderung von Spaniern in die Neue Welt, wo ›das Gold auf der Straße lag‹, hatte die Bevölkerung im Mutterland empfindlich ab genommen. Die wachsenden überseeischen Städte und Siedlungen zo gen abenteuerlustige Unternehmer an und auch arbeitsscheue Ange stellte, die allein auf Grund ihrer spanischen Abstammung Aufseher der farbigen Eingeborenen und reich werden konnten, ohne einen Fin ger rühren zu müssen, während der Mangel an Arbeitern in Spani en sich immer peinlicher bemerkbar machte und zu einer Erhöhung der Löhne führte. Der früher so kostbare Überschuß an spanischer Wolle fand keine Käufer im Ausland und keinen Absatz im Inland. Die wirtschaftliche Unausgeglichenheit im reichsten Land der Erde, das im wahrsten Sinne des Wortes in seinem Gold erstickte, wurde so schlimm, daß das aus Sizilien bezogene Getreide in manchen Gegen den billiger zu erstehen war als das auf spanischem Boden gewachse ne. Ein zeitgenössischer Beobachter schrieb besorgt: »Viele meinen, es sei unmöglich, daß das spanische Reich lange bestehe, da alle auslän dischen Staaten ihm feind, seine eigenen Länder aber verstreut und in allem voneinander verschieden sind.« Die wirtschaftliche Lage Spaniens war auch dadurch gefährdet, daß es im Königreich Philipps zweihunderttausend Geistliche gab, die ge waltige Güter ›in der toten Hand hielten‹, wie es im Volksmund hieß, und die Verwaltung der Ländereien nur nachlässig betreuten, da sie überreichliche Einkünfte aus Steuern und freiwilligen und erzwunge nen Zuwendungen bezogen. Im Gegensatz zu diesem inneren Verfall, der sich nicht nur in der zunehmenden Notlage des Bürger- und Bau ernstandes äußerte, sondern auch in den Wissenschaften, die durch die Unduldsamkeit der Inquisition vernachlässigt werden mußten, stand der äußere Glanz der nach Hunderttausenden zählenden Adeli gen, die sich durch die Freibeuterei in Amerika bereicherten und Inha ber der siebzigtausend königlichen Ämter waren, welche die Krone an sie vergab. Diese Herzöge, Grafen und ›Hidalgos‹ genannten Angehö rigen des niederen spanischen Adels waren die Vorbilder der vorneh 244
men Welt Europas. Ihre großen runden Hüte mit den wallenden Fe dern, ihre langen Stoßdegen wurden zur adligen Mode, die in Deutsch land und England, besonders aber in Frankreich übertrieben nachge ahmt wurde. Es gehörte zum guten Ton, spanische Redensarten zu ge brauchen, sich prahlerisch zu benehmen und hochfahrend Umschau zu halten, um festzustellen, ob nicht etwa ein unvollkommener Gruß oder ein schiefer Blick eine Ehrenkränkung bedeute. Jeder als Heraus forderung gewertete Mangel an ›schuldiger Ehrerbietung‹ wurde zum Anlaß eines Zweikampfes, der zumeist an Ort und Stelle ausgetragen wurde, um nur ja keinen Zweifel an der Furchtlosigkeit des durch den geringsten Anlaß Beleidigten aufkommen zu lassen. Diese übermüti ge Duellwut der adligen Spanier übernahmen die Ritter Europas, die es nur noch dem Namen nach waren, um so lieber, als sie den meisten ›Rittern‹ die einzige Möglichkeit bot, ihr Standesbewußtsein zum Aus druck zu bringen. Sie erhoben den Zweikampf zum adligen Vorrecht, das sie von den Bürgerlichen unterschied, die sie keineswegs für wür dig befanden, sich mit ihnen ›zu schlagen‹.
Einer der beliebtesten und beispielgebenden großen Herren Spaniens war der neue Befehlshaber der königlichen Flotte, Don Juan d'Austria. Er verdankte sein Leben der zärtlichen Beziehung Kaiser Karls V. zu der Regensburger Bürgerin Barbara Blomberg. Der auffallend gut aus sehende, blonde ›Generalissimus der christlichen Armada‹ hatte eine ärmliche Jugend hinter sich. Er war so sehr in verborgener Vergessen heit aufgewachsen, daß er erstaunt war, als ihn sein kaiserlicher Vater in seinem Letzten Willen als natürlichen Sohn anerkannte. Der als Jo hann Blomberg Geborene wurde nun Don Juan genannt und erhielt den Ehrentitel ›von Österreich‹. In wenigen Jahren holte Don Juan alles nach, was er sich bisher hat te versagen müssen. Er war geckenhaft gekleidet, von sprichwörtli cher Eitelkeit und übermütig standesbewußt. Er setzte im Spiel und Ernst alles daran, daß ihn niemand über die Schulter ansah. Nach dem 245
Tode des Infanten Don Carlos hieß es am spanischen Hof, Philipp wer de den unehelichen Halbbruder, für den er eine Schwäche hatte, zum Thronerben machen. Dieses Gerücht regte den Ehrgeiz Don Juans an. Er wollte durch seinen Mut und seine Fähigkeiten beweisen, daß er sei ner kaiserlichen Abstammung und des höchsten Ranges würdig sei. Als er den Oberbefehl der spanischen Flotte im Hafen von Messina übernahm, hatten die Türken die Insel Zypern bereits erobert. Don Juan fuhr aus, und seine Kriegsschiffe stießen mit der türkischen Flot te in der Bucht von Lepanto zusammen. Es kam zu keinem regelrech ten Seegefecht. Die berühmt gewordene Schlacht bestand aus willkür lichen Einzelangriffen der feindlichen Kriegsschiffe, die einander wie Duellanten bekämpften. Aber der Tod des türkischen Großadmirals brachte die Entscheidung – und den Sieg Don Juans. Die Flotte des Sultans war nun ganz und gar ohne Führung. Hundertdreißig türki sche Schiffe wurden geentert und zwölftausend christliche Galeeren sklaven, die sie bemannt hatten, aus der Knechtschaft befreit. Die Seeschlacht von Lepanto, in der Miguel Cervantes, der Dichter des ›Don Quixote‹, des in liebevollem Spott unvergeßlich dargestellten ›Hidalgo‹, einen Arm verlor, hatte keine unmittelbaren militärischen Folgen. Die Venezianer stritten sich mit den Genuesen um die Ziele des Kreuzzugs, während Don Juan nur daran lag, das glorreiche Bei spiel seines Vaters nachzuahmen und Tunis zu erobern. Er verkünde te seinen Wahlspruch: »Wer nicht vorwärts strebt, geht zurück.« Das war ganz im Sinne Philipps II. Aber als Don Juan unabhängiger König von Tunis werden wollte, lehnte der durch den Sieg des Halbbruders neidisch gewordene König von Spanien ab. Das war zuviel des Guten. Philipp II. erfuhr auch von seinem Beichtvater, der den leichtsinni gen Lebenswandel des Prinzen, sein bedenkenloses Erobern und Ver lassen von Geliebten, die Vernachlässigung seiner zahlreichen natür lichen Kinder eines christlichen Infanten als unwürdig bezeichnete, daß Don Juan d'Austria seine Mutter, die von Karl V. in Brüssel ange siedelt und verheiratet worden war, und auch den bürgerlichen Halb bruder aus dieser Ehe einfach hatte verschwinden lassen, um die Zeu gen seiner unebenbürtigen Abstammung aus dem Wege zu räumen. 246
Dieses zielbewußte Sichhinwegsetzen seines allzu ehrgeizigen Halb bruders über die engsten Familienbande machte Philipp II. noch vor sichtiger. Don Juan d'Austria verlor jede Aussicht, sein Erbe zu werden. Es gab noch andere habsburgische Verwandte des Königs von Spani en, die ehelich geborenen Erzherzöge von Österreich – und Philipp II. fühlte sich noch jung genug, selbst einen Erben zu zeugen. Er hatte ein viertes Mal geheiratet: Anna, die Tochter Kaiser Maximilians II. Die zwanzigjährige Erzherzogin war darauf vorbereitet worden, als Gattin Don Carlos' Königin von Spanien zu werden. Nun war sie die Frau des alternden Philipp geworden, der an Brustbeklemmung, Sei tenschmerzen, Atemnot und Gicht litt und sie dafür verantwortlich machte, daß der von ihm erwartete Sohn ausblieb. Sie wußte, er hielt schon ungeduldig Ausschau nach einer fünften Frau. IV Die Ehe von Herrschern wurden nicht im Himmel geschlossen, aber in diesem Zeitabschnitt der Geschichte oft um des Glaubens willen. Sie beeinflußten infolge der weitreichenden Auswirkung des landes herrlichen ›Glaubensentscheids‹ den Ablauf der Ereignisse. Durch die gute oder schlechte Beziehung der einzelnen Königshäuser zueinan der wurden Kriege ausgelöst und Friedensverträge zustande gebracht. Dennoch waren Familienbeziehungen nicht immer bestimmend. Um in besserer Nachbarschaft mit den Königen von Frankreich zu leben, deren Grenzen im Norden die Niederlande und im Süden Spanien be rührten, hatte Philipp II. sich seinerzeit um die Heirat mit Elisabeth von Valois bemüht. Erst nach der Hochzeit hatte er erkannt, daß er sei ne Rechnung ohne die Schwiegermutter gemacht hatte. Nicht er hatte seine Schwäger, die aufeinanderfolgenden Könige von Frankreich, für seine Zwecke benützen können, sondern Katharina von Medici, die Königin-Mutter, hatte sich keine Gelegenheit entgehen lassen, sich sei ner zu bedienen, oft ohne daß er es wußte oder davon erfuhr. 247
Die in Florenz mit Hinblick auf ihre künftige Stellung nach allen Regeln Machiavellis erzogene Witwe König Heinrichs II. hatte ihrem Mann vier Söhne geboren. Der älteste, Franz II. hatte zwar durch seine Ehe mit Maria Stuart das Recht erworben, sich König von Schottland zu nennen, aber er hatte nicht lange gelebt. Sein nächstältester Bruder war als Karl IX. König von Frankreich geworden. Er war das Mutter söhnchen der überaus männlichen Königinwitwe, die sich vergeblich bemühte, ihn zu einem Mann nach ihrem Herzen zu machen. Aber seine allgemein bekannte Wankelmütigkeit hatte auch ihre Vorteile. Wenn Katharina ein Fehler unterlief, konnte sie sagen, daß der König mit jedem Tag älter und reifer werde und sich durch die Einsicht seiner eigenen Irrtümer belehre. Diese im Grunde unkönigliche Entschuldi gung der Unentschlossenheit Karls IX. durch seine Jugend war für Ka tharina von Medici unerläßlich, um für sich und ihren Sohn keine ein deutige Stellung beziehen zu müssen. Das Königshaus der Valois, in das sie eingeheiratet hatte, stand seit dem Tod ihres Schwiegervaters, Franz' I, und ihres Gatten, Heinrichs II. auf schwachen Füßen. Der Glaubenszwiespalt hatte in Frankreich kriegerische Formen angenommen. Im katholischen Lager hatten die der hochgeborenen Familie Guise entstammenden Herzöge von Loth ringen die Führung an sich gerissen. Den Hugenotten schlossen sich führende Mitglieder des Hochadels an, auch Prinzen aus königlichem Geblüt, wie Heinrich von Conde, der im Bürgerkrieg fiel, und sein Vet ter Heinrich von Bourbon, der König des in den westlichen Pyrenä en gelegenen kleinen Reiches Navarra. Nachfolger Condes als militäri sches Oberhaupt der Hugenotten, die zur freien Ausübung ihres Glau bens anerkannte ›Sicherheitsplätze‹ erwirkten, wurde Gaspard Colig ny von Chatillon, der von Freund und Feind wegen seiner Begabung und Rechtschaffenheit geachtete Admiral der französischen Flotten. Die Guisen leiteten ihre Herkunft mütterlicherseits von Karl dem Großen ab. Von fürstlichem Standesbewußtsein geschwellt, hielten sie königlicher hof als die Könige und waren unbotmäßige Lehnsher ren der Krone Frankreichs, auf die sie selbst Anspruch erhoben. Nun glaubten sie, daß die Zeit gekommen sei, ihre ›Vettern‹, die Valois, zu 248
verdrängen und die Königswürde als die anerkannten Vorkämpfer der alleinseligmachenden Kirche zu verlangen. Die Herzöge von Gui se und von Mayenne und ihr Bruder, der Kardinal von Lothringen, waren machtvolle Persönlichkeiten, die vor keiner Gewalttat zurück schreckten. Um sich und ihre Söhne gegen die Guisen zu verteidigen, mußte sich Katharina auf die Hugenotten stützen, die über zweitau sendfünfhundert Gemeinden verfügten, deren Mitglieder durch ihre bedingungslose Unterwerfung unter den Willen der weltlichen und geistlichen Leiter ihrer Kirchen in ihrer Gesamtheit einem streitbaren Heere glichen. Die sogenannten ›Generalsynoden‹ der Hugenotten, die mit pein lichster Strenge für die calvinistische Kirchenzucht eintraten und da für sorgten, daß ›unerlaubte Erlustigungen, die die Sitten verderben‹, von den Gläubigen gemieden wurden, versammelten sich nach dem Genfer Muster Calvins. Manche hohe Herren, die an ihnen teilnah men, waren weniger durch den Glauben angelockt zum Protestantis mus übergetreten, sondern vielmehr durch die örtliche Anwendung des im deutschen Reich geltenden Grundsatzes ›Cuius regio, eius reli gio‹, die sie unabhängig von den Einflüssen der katholischen Bischö fe in ihren Gebieten machen würde, wenn sie dem Protestantismus zum Siege verhalfen. Diese mächtigen Grundbesitzer nahmen lieber die durch den Calvinismus bedingten Beschränkungen ihrer Lebens weise auf sich, als sich den unfähigen Königen von Frankreich und ih rer gefährlichen Mutter oder gar den Guisen zu beugen. Diese vorneh men Hugenotten kleideten sich betont schlicht, wie es sich für Calvi nisten geziemte. Sie förderten die Verbreitung des Wissens durch die Gründung von Schulen. Ihr Versuch, die Mehrzahl der Bevölkerung durch geistige Mittel zu ›reformieren‹ und für sich zu gewinnen, be schleunigte die Entwicklung des Druckereigewerbes in Frankreich. Zahllose Bürger, die sich durch die einfache Lebensführung der hu genottischen großen Herren angezogen fühlten und sich ihnen anglei chen wollten, kauften und lasen mit Begeisterung die mit Holzschnit ten gezierten Bücher, die sie aufklären sollten, die Flugschriften wie ›Des Papstes Küche‹, und Spottgedichte, die sich gegen die heilige Mes 249
se, den Heiligen Vater und die Mönchsorden richteten. Aber diese Vor läufer der Zeitungen, die die öffentliche Meinung beeinflussen sollten, erreichten nur die wohlhabenden Stände und nicht die Masse der Be völkerung Frankreichs. Sie ersetzten auch nicht die Waffen, die im ka tholischen Lager aus gutem Eisen geschmiedet wurden, und waren wirkungslos gegen die Predigten der katholischen Priester, welche die Protestanten als Ketzer verdammten. Dennoch behaupteten sich die Hugenotten in ihren Feldzügen gegen die von den Guisen angeführ te Übermacht. An diesem langwierigen französischen Glaubenskrieg, den er durch Mittelsmänner schürte, beteiligte sich Philipp II. nur vorsichtig. Sein Verhalten wurde durch den Kardinal von Lothringen, der als sein Ver trauensmann galt, eindeutig gekennzeichnet: »Philipp betrügt uns und hält uns hin. Er freut sich, daß die Franzosen einander zerflei schen und diese Krone sich schwächt. Er unterstützt sie mit einem Du katen und nötigt sie, hundert Dukaten auszugeben. Mit all den Briefen und schönen Worten werden wir nur betrogen.« Davon war auch Katharina von Medici überzeugt, der es ähnlich er ging wie den Guisen. Nach dem frühen Tod ihrer Tochter Elisabeth mißtraute sie ihrem ehemaligen Schwiegersohn noch mehr. Sie glaub te nicht an seine so oft beteuerte Uneigennützigkeit. Es war Feindse ligkeit gegen sie, wenn er den Guisen unter dem Vorwand des Glau bens auch nur ›mit einem Dukaten‹ half. Um ihre Hand zu stärken, be schloß die Königinmutter, durch die Ehe ihrer Tochter Margarete von Valois den vornehmsten Hugenotten an die Krone zu binden: den jun gen König Heinrich von Navarra, der überdies einfach, aber vorzüg lich erzogen worden war und sich in allen Gefechten, auch gegen sie selbst, ausgezeichnet hatte. In Florenz hatte Katharina gelernt, nicht alles auf eine Karte zu set zen. Sie vergewisserte sich daher durch eine andere Ehe gleichzeitig der katholischen Habsburger. Sie brachte die Vermählung Karls IX. mit Elisabeth von Österreich, der zweiten Tochter Kaiser Maximilians II. zustande. Dadurch war Philipp als Gatte Annas von Österreich wieder Schwager der Söhne Katharinas von Medici und nochmals ihr ange 250
heirateter Verwandter geworden. Aber als der König von Spanien aus der erneuten Verschwägerung unverzüglich Nutzen ziehen und Karl IX. zur Teilnahme am Türkenkrieg bestimmen wollte, wies der König von Frankreich auf den Rat seiner Mutter die Aufforderung Philipps als Zumutung zurück. Frankreich habe seit Franz I. enge Beziehun gen zu den Sultanen unterhalten. Er würde sie nicht aufgeben. »Gott lob bin ich jetzt Mann«, erklärte er selbstbewußt, »und als solcher wer de ich die Geschäfte meines Reiches allein lenken.«
Philipp II. war um so erbitterter über die Ablehnung seines Schwagers, als Karl IX. den Admiral von Coligny, den einflußreichsten Hugenot ten, zu seinem unmittelbaren Ratgeber ernannte und enge Beziehun gen zu Elisabeth von England anknüpfte. Bereitete sich ein mächtiges Bündnis der Protestanten gegen den spanischen König vor? Coligny war nicht nur aus Glaubensgründen gegen Philipp II. einge stellt. Um Frankreich befrieden zu können, mußte er es vom gefähr lichen spanischen Einfluß befreien. Er half dem Herzog von Mont morency, einem erblichen Gegner der Guisen, eine unabhängige Partei gemäßigter Katholiken zu bilden, die um des Friedens willen für die Glaubensgleichstellung waren und eine neuerliche militärische Einmi schung Frankreichs in den Niederlanden befürworteten, um der grau samen spanischen Willkür ein Ende zu setzen. Karl IX. war von seinem hugenottischen Ratgeber bald so einge nommen, daß er ihn als ›Mein Vater‹ ansprach. Coligny, der die Größe Frankreichs vor ihm heraufbeschwor, belebte seine Einbildungskraft. Die Befürchtung, daß sich Karl IX. und seine Mutter von einem Tag zum anderen als Hugenotten bekennen würden, bewog Philipp II. den Ordensgeneral der ›Gesellschaft Jesu‹ zur Reise nach Paris zu veran lassen, um die Heirat Margaretes von Valois mit Heinrich von Navarra und die ›Pläne der Ketzer‹ im letzten Augenblick zu vereiteln. Tatsächlich war schon eine aus französischen Katholiken und Hu genotten zusammengesetzte Abteilung auf dem Weg, um zu den nie 251
derländischen Widerstandskämpfern zu stoßen. Bei der Hafenfestung La Rochelle wurden Truppen zusammengezogen, die zur Landung an den niederländischen Küsten bestimmt waren. In diesen entschei denden Tagen schrieb Karl IX. der die Vermittlung des Jesuitengene rals zurückgewiesen hatte, an seinen Gesandten in Konstantinopel zur Kenntnisnahme des Sultans: »Alle meine Gedanken sind darauf ge richtet, mich der Größe der Spanier zu widersetzen.« Es kam anders. Katharina hatte dem Fürsprecher Philipps nicht die kalte Schulter gezeigt. Sie, die als Nichte eines bedeutenden Papstes Königin von Frankreich geworden war, wollte nicht alle Brücken zu Rom abbrechen. Sie war auch eifersüchtig auf Coligny geworden. Er verdrängte sie im Vertrauen des Königs. Sie fürchtete, daß die Bera tung Karls IX. durch den Admiral zum offenen Krieg mit Spanien füh ren würde. Sie sprach sich unverblümt dagegen aus. »Wollte Gott, daß nicht ein anderer Krieg ausbricht, dem der König nicht ausweichen kann!« erwiderte Coligny, und mußte hilflos zusehen, daß Katharina von Medici kein Mittel scheute, immer mehr Boden bei ihrem Sohn zu gewinnen. Die Unversöhnlichkeit der Königinmutter gegen Coligny und sei ne Hugenotten nahm zu, als die verwitwete Mutter Heinrichs von Na varra, die zur Hochzeit ihres Sohnes nach Paris gekommen war, plötz lich starb und die Hugenotten Katharina des Giftmordes bezichtigten. Diese ›Verleumdung‹ empörte Katharina so sehr, daß sie einen Mörder dingen ließ, um Coligny aus dem Weg zu räumen. Als der Anschlag ausgeführt wurde, kam der Admiral mit einer Verwundung am linken Oberarm und der rechten Hand davon. Wenn Coligny getötet wor den wäre, hätte sich Katharina beruhigt. Aber nun fürchtete sie sei ne Rache. Die in Paris anwesenden hugenottischen Edelleute ergingen sich in Drohungen gegen sie. Auch Karl IX. erklärte, daß er die An stifter des Anschlags auf Coligny ermitteln und unerbittlich bestrafen würde. In dieser Gefahr bewies Katharina von Medici ihre überlegene Persönlichkeit. In Gegenwart ihres Zweitältesten Sohnes Heinrich, für den sie sich um den durch das Aussterben der Jagiellonen frei gewor denen Königsthron von Polen bewarb, gestand sie Karl IX. daß sie bei 252
de, seine Mutter und sein Bruder Heinrich, den Mann gedungen hät ten, der Coligny ermorden sollte. Und das hätte sie auf sich genom men, um ihn, ihren geliebten Sohn und König, vor dem Äußersten zu bewahren. Wenn Karl den Admiral als seinen Ratgeber behalte, sei er selbst verloren. Die Rache der Hugenotten, die ihr, der Königinmutter, gedroht hatte, würde auch ihn, den König, treffen. Der schrecklichste Bürgerkrieg sei unvermeidbar, wenn Karl die Hugenotten nicht un schädlich mache. Das bestätigten dem König auch andere nahe Verwandte und Freun de. Einstimmig bestürmten sie ihn, das Land seiner Väter nicht zu ver derben. Karl IX. geriet in immer heftigere Erregung. Er hatte Angst um sein Leben. Aber er wollte nicht Coligny allein preisgeben. Wenn es schon sein müsse, erklärte er außer sich, dann sollten alle Hugenot ten vernichtet werden, damit wenigstens für immer Ruhe geschaffen werde. Um Karl keine Möglichkeit zum Widerruf seines unseligen Ent schlusses zu geben, wurde der nächste Tag zur Ausführung des Mas senmordes bestimmt. Es war ein gut gewählter Zeitpunkt. Zur Feier der Hochzeit Heinrichs von Navarra mit Margarete von Valois waren die meisten hugenottischen Adligen nach Paris gekommen. Sie waren im Netz, es brauchte nur zugezogen zu werden. Schon vor der drängenden Vorsprache der Königin-Mutter bei Karl IX. waren alle Vorbereitungen getroffen worden. Die katholischen Pa riser Bürgerkompanien, deren Hauptleute katholische Eiferer waren, warteten nur auf die Befehle. Der Vorstand der Kaufleute von Paris versprach die Beihilfe der katholischen Mitglieder seiner Gilde, die ihre nüchtern und sparsam lebenden hugenottischen Berufsgenossen haßten. Die einander feindlichen Herzöge von Guise und von Mont morency feuerten ihre Anhänger zu gemeinsamem Losschlagen an. Die Vesperglocken erklangen zu Ehren des Namenstages des heiligen Bartholomäus. Als die Dunkelheit über die scheinbar friedliche Stadt hereinbrach, begann die berüchtigte ›Bartholomäusnacht‹ mit der Er mordung Colignys. Sie endete mit der Niedermetzelung von mehr als zweitausend Hugenotten in Paris. Weder Frauen noch Kinder wurden 253
geschont. Jeder tötete, wen er wollte, und plünderte den Besitz der Er schlagenen. Heinrich von Navarra entging dem Tod nur dadurch, daß er unter dem Schutz Katharina von Medicis, seiner Schwiegermutter, den katholischen Glauben annahm. Die ›Pariser Bluthochzeit‹ war nur der Beginn der geplanten Aus merzung des anderen Glaubens in Frankreich. Die Verfolger scheuten nicht mehr das Tageslicht. In den Wochen, die der berüchtigten Nacht folgten, wurden mehr als dreißigtausend Hugenotten in den französi schen Provinzen ermordet. Aber Tausenden der planmäßig und rück sichtslos Gehetzten gelang es, sich zu verbergen oder über die Gren zen nach England, in die Schweiz und nach Deutschland zu entkom men, während in Rom das erfolgreiche Blutgericht in Hochämtern und durch die Prägung von Gedenkmünzen gefeiert wurde. Philipp II. be glückwünschte seine ehemalige Schwiegermutter, Katharina von Me dici, und ihren Sohn Heinrich als die ›Urheber der Befreiung von der Ketzerei‹. Der König von Spanien war nun ohne Rückhalt bereit, dem französischen Prinzen zum Thron von Polen zu verhelfen. Er betrach tete ihn als Vorkämpfer der katholischen Ausbreitung im Osten Euro pas, zu der durch die Aussendung und reiche Unterstützung überaus fähiger Jesuiten der Grund gelegt worden war. Aber die festliche Freude Philipps II. und seiner gleichgesinnten An hänger und Freunde war verfrüht. Die Hugenotten waren nicht aus gerottet. Die meisten überlebenden Adligen waren in die Festung La Rochelle geflohen. Die Städte Nimes und Montauban hatten den an deren ihre Tore geöffnet, damit sie ihren Glauben hinter schützenden Wällen verteidigen könnten. La Rochelle wurde belagert. Aber Katha rina und ihr Sohn Heinrich, der eine Wendung machen mußte, da er den Beistand der protestantischen Adligen Polens brauchte, um die so heiß begehrte Krone zu gewinnen, nahmen eine Kriegsdrohung Elisa beths von England zum Anlaß, Frieden mit den Hugenotten zu schlie ßen. Sie gewährten den Städten La Rochelle, Nimes und Montauban und den adligen Hugenotten um so lieber das Recht zur Ausübung ih res Gottesdienstes, als sie dadurch die Hugenotten im Süden Frank reichs, die sich rasch wieder zu einer bewaffneten Macht zusammen 254
geschlossen hatten, beruhigten, Heinrich unverzüglich nach Polen ab reisen wollte und Katharina neuerlich Angst vor der Übermacht der Guisen hatte. So war dieser Erfolg Philipps II. in Frankreich nur kurz lebig. Die Königinmutter, die nun die eigentliche Führung der franzö sischen Staatsgeschäfte übernahm, war durch das Zusammenspiel der Umstände gezwungen, die Politik Colignys, den sie hatte töten lassen, mit eiserner Hand fortzusetzen – in der Hoffnung, den das Königreich zersetzenden Glaubenskrieg ihrerseits beendigen zu können. Der Bestand und die Geltung des Hauses Valois standen auf dem Spiel. Um nur ja keine Schwäche zu zeigen, unternahm es Katharina, sich für ihren Sohn Karl IX. ebenso wie ihr Schwiegervater Franz I. es für sich selbst getan hatte, bei den deutschen Kurfürsten für die bevor stehende Wahl zum römischen König und erklärten Nachfolger Maxi milians II. einzusetzen. Das war auch eine mutige Kundgebung gegen Philipp II. der nur einen Habsburger als Kaiser des Römischen Rei ches Deutscher Nation anerkennen konnte. Vielleicht hatte Karl IX. wirklich Aussichten, Kaiser zu werden, vielleicht würde ihr Plan gelin gen, da ihr Sohn Heinrich trotz der Bemühungen des in Eile gegen ihn aufgestellten Habsburgers, Erzherzog Ernst von Österreich, König von Polen geworden war und das Eintreten der protestantischen deutschen Fürsten zu ihren Gunsten durchaus möglich war, da sie doch den Prin zen Wilhelm von Oranien in seinem zähen Widerstand gegen Philipp II. durch Geld und die Entsendung von Truppen unterstützt hatte. Katharina von Medici arbeitete fieberhaft für Karl IX. Aber der von seiner Mutter als Anwärter auf die Kaiserkrone vorgeschlagene Kö nig von Frankreich hatte nur einen Wunsch: die Ereignisse der Bar tholomäusnacht zu vergessen. Er konnte nicht schlafen. Wenn es dun kel war, glaubte er das Wehgeschrei und die Hilferufe der Opfer zu hö ren. Er tat alles, um sein Gewissen zu betäuben und sich Schlaf zu ver schaffen. Er hielt sich zwölf bis vierzehn Stunden unaufhörlich im Sat tel, um müde zu werden. Er jagte, er focht, er spielte Ball und stand stundenlang am Schmiedeamboß, um sich durch das Schwingen ei nes gewaltigen Hammers zu erschöpfen. Er schämte sich, seine be sten Freunde preisgegeben zu haben und an ihrem Tod schuldig zu 255
sein. Er wurde düster und konnte niemandem in die Augen sehen. Die einzige Zerstreuung, die Karl IX. beruhigen konnte, war die Nieder schrift einer Abhandlung über die Naturgeschichte und die Jagd der Hirsche – ›Le Livre du Roi Charles‹. Aber auch das bei der Jagd vergos sene Blut verursachte ihm Entsetzen und rief die Erinnerungen wach, die er vergessen wollte. Er mied seine Frau, die ihn, als er an Schwind sucht starb, keineswegs betrauerte. Es war der geborenen Habsbur gerin bekannt, daß sich Philipp II. um ihre Hand bewerben würde, wenn ihre Schwester Anna ihm keinen Erben gebar. Die junge franzö sische Königinwitwe hatte im geheimen ihr Jawort gegeben. Aber ihre Hoffnung wurde zunichte, als die königliche Hebamme Philipp II. den nach achtjähriger Ehe geborenen Infanten überreichte, der auf den Na men Philipp getauft wurde. Die Freude des katholischen Königs war unermeßlich. Die Kronen von Spanien würden also nicht an seine österreichischen Verwand ten fallen – er hielt nicht viel von den habsburgischen Vettern, die er an seinem Hof großgezogen hatte –, sein eigener Sohn würde in seine Fußstapfen treten, sein Lebenswerk vollenden, ein so bedeutender Kö nig werden, wie er selbst es war. Dafür würde er durch die persönli che Erziehung des Infanten sorgen. Er würde ihn lehren, ein Herrscher von Gottes Gnaden zu sein, der sich durch vorübergehende Mißerfol ge nicht davon abhalten ließ, neue Erfolge zu erringen, und seine Rei che zur höheren Ehre Gottes erweiterte. Sein eigenes Fleisch und Blut würde sich nicht entmutigen lassen wie Don Juan d'Austria, den er zum königlichen Statthalter der Niederlande erhoben und der ihm vor seinem frühen Tod geschrieben hatte: »Das Volk riefe lieber die Fran zosen, lieber den Türken, als daß es den Spanier in den Niederlanden ließe.« Philipp II. sandte ein neues Heer gegen die unbotmäßigen Nieder länder aus und hatte doch genug Truppen, das Königreich Portugal in Besitz zu nehmen, als dessen berechtigter Erbe er sich nach dem Aussterben des portugiesischen Königshauses fühlte, da er der Sohn der ältesten Tochter Emanuels von Portugal war, dem seine dankbaren Untertanen den Beinamen ›der Große‹ gegeben hatten. 256
Zwanzigtausend Spanier unter dem Befehl des erprobten Herzogs von Alba rückten in das widerspenstige Portugal ein. Sie eroberten das Königreich und bemächtigten sich der portugiesischen Flotte. Durch die Unterwerfung des seetüchtigen Volkes, dessen Cortes ihn als König anerkennen mußten, glaubte Philipp II. ›Herr der Meere‹ ge worden zu sein. Er fühlte sich so erhaben, daß er kaum zur Kennt nis nahm, daß die niederländischen Aufrührer wichtige überseeische Häfen Portugals besetzten, die Utrechter Union der sieben nördlichen calvinistischen Provinzen bildeten und dem Prinzen von Oranien die erbliche Statthalterschaft von Holland und Seeland übertrugen, als ob nicht Philipp II. ihr angestammter Herrscher wäre. Wie lange würde Wilhelm von Oranien am Leben bleiben? Welchen Bestand würde die Unabhängigkeit von sieben Provinzen seiner Erblande haben, da er, ›El Rey‹, alles daran setzte, die größte Flotte der Erde zu bauen, die ›un überwindliche Armada‹? V Das selbstbewußte Gefühl der vollkommenen Überlegenheit Philipps II. war auch dadurch begründet, daß der zum römischen König und König von Böhmen erwählte Rudolf II. von Habsburg nach dem frü hen Tod seines Vaters Maximilian II. Kaiser des Römischen Reiches Deutscher Nation geworden war und Philipp sich seiner Abhängig keit vergewissert hatte. Rudolf war sein Neffe, Schwager und Vetter in einem, er war am spanischen Hof erzogen worden und bemühte sich, unter der Aufsicht seiner geistlichen Lehrer, seine steife Förmlichkeit und düstere Abgeschlossenheit seinem Vorbild, dem König von Spani en, anzugleichen. Der neue Kaiser befahl in seiner allerhöchsten Ge genwart sogar das ›entblößte Haupt‹ seiner nächsten Verwandten. Er führte die spanische Etikette in der Wiener Hofburg ein, die majestä tischen Regeln, die den Herrscher unnahbar machten und zum We sensinhalt des habsburgischen Kaiserhofes wurden. Die rücksichtslo 257
se Willkürherrschaft Philipps II. aber konnte Rudolf in seinen Reichen nicht einführen. Die Stände der Königreiche Böhmen und Ungarn hielten an den ih nen von ihren früheren Herrschern zugestandenen Rechten und Vor rechten fest. Besonders in Ungarn wachte der Adel eifersüchtig über seine Freiheiten – wenn nötig, mit den Waffen in der Hand. Beina he alle habsburgischen Hoheitsgebiete hatten unterschiedliche Ver fassungen. Bezeichnend für den Widerstand der Stände eines Lan des gegen die Versuche der Vereinheitlichung der Staatsordnung war der Ausspruch des Tiroler Grafen Lodron: »Was geht es den Tiroler an, was in Böhmen, in Mähren und in anderen Staaten geschieht? Die Tiroler haben ihren eigenen Herrscher, ihre eigenen Rechte, ihre ei gene Verfassung, ihr eigenes Land. Wenn ihr Fürst auch noch andere Staaten beherrscht, ist das bloß Zufall. Es ist zwar schmeichelhaft für die Tiroler, daß sie einen so großen Herrscher haben, allein sie wol len diese Ehre nicht so teuer, nicht mit dem Verlust ihrer grundlegen den Gesetze bezahlen, wofür ihnen Gott und die Stände Bürgschaft leisten.« Rudolf II. erkannte bald, daß es ihm, ohne staatsmännische Kunst stücke und sorgfältig abgewogene Zugeständnisse in jedem einzelnen Fall, unmöglich sein würde, eine einheitliche Verwaltung zu schaffen. Er ließ den Ereignissen freien Lauf, im Inland und im Ausland. In Po len war nach der schleunigen Abreise Heinrichs II. der es nach dem Tod seines Bruders vorgezogen hatte, König von Frankreich zu sein statt König von Polen, der Fürst von Siebenbürgen, Stefan Bathory, zum Kö nig gewählt worden. Rudolf tat nichts dagegen, daß der habsburgische Einfluß im Osten seiner Erblande an Boden verlor. Er war gegen Ein mischungen jeglicher Art. Solange seine geistlichen Ratgeber am Wer ke waren, hatte er selbst es nicht nötig, sich um die Staatsgeschäfte zu kümmern. Der Heilige Vater hatte einen geheimen Botschafter nach Rußland gesandt, um mit Iwan dem Drohenden über die Möglichkei ten einer Vereinigung des katholischen mit dem griechischen Glau ben zu verhandeln. Der Unterhändler hatte dem Zaren die Hilfe des Kaisers angeboten, die frechen Protestanten Polens zu Paaren zu trei 258
ben. Rudolf war erleichtert, als Iwan lachend erklärte, daß er mit dem Papst, der sich die Füße küssen lasse und den Bart schere, kein Über einkommen wünsche. Die Häfen an der Ostsee, die er brauche, könne er aus eigenen Kräften erobern. Die Ratgeber des Kaisers legten ihm nahe, die Unverschämtheit des Zaren nicht zur Kenntnis zu nehmen, denn es gab ein Handelsübereinkommen Iwans mit der unverbesser lichen Protestantin Elisabeth von England, und alle Fragen, die Eng land auch nur im entferntesten berührten, waren der persönlichen Ge schäftsführung Philipps II. vorbehalten. Solange der katholische Kö nig keine Anweisung gab, war es für den Kaiser nicht ratsam, den Fin ger zu rühren oder den Mund zu öffnen. Seine Pflicht als Habsburger war es, dafür zu sorgen, daß alles blieb, wie es war. Da er als Herrscher untätig sein mußte, ergab sich Rudolf in frei williger Abgeschiedenheit im Hradschin, der Prager Königsburg, sei ner Sammlerleidenschaft für Bilder, Münzen und altertümliche Ge genstände und widmete sich in der Gesellschaft der großen Gelehrten Tycho Brahe und Johann Kepler der Sternenkunde. Der Blick durch das Fernrohr in die gestirne Welt trieb die Einbil dungskraft Rudolfs in die Unendlichkeit des Raumes. Die Erforschung der von den wegbereitenden Wissenschaftlern neu entdeckten Berech nung der Bahnen und Umlaufzeiten der Planeten mit der Sonne als Mittelpunkt ließ ihn alle Probleme der Erde vergessen. Er war seinem Wesen nach das Abbild seines Urahnen Kaiser Friedrichs III. Zur voll kommenen Ähnlichkeit fehlte nur der Beweggrund der zur Schau ge tragenen Gleichgültigkeit Rudolfs. Er war nicht ehrgeizig wie Friedrich, er wollte kein Kaiserreich aufbauen. Er wünschte keinen leiblichen Er ben und heiratete nicht, obwohl Philipp II. ihm eine seiner Töchter zur Frau anbot. Als Rudolf von seinen Brüdern in der Ausübung der we nigen Herrscherrechte, die er sich vorbehalten hatte, behindert wurde, gab er nach. Sein Bruder Matthias hatte ihm schon die Verwaltung in Österreich und in Mähren gewaltsam abgerungen. Es wurde dem Kai ser nahegelegt, etwas dagegen zu tun. Seine Berater erbaten seine Be fehle. Er weigerte sich, sie zu empfangen. Da aber doch irgend jemand Entscheidungen treffen mußte, überließ Rudolf es seinem Kammer 259
diener Philipp Lang, die Staatsgeschäfte zu erledigen. Man spottete in ganz Österreich: »Ein Philipp muß bei uns herrschen.«
Erzherzog Matthias war Statthalter Philipps II. in den Niederlan den gewesen. Trotz seines wiederholten Versagens glaubte der König von Spanien ihm angesichts der unverbesserlichen Lässigkeit Rudolfs die Aufrechterhaltung der Ordnung in den österreichischen Erblan den anvertrauen zu können, und auch die Abwehr der Türken, die ei nen Angriff zu Lande vorbereiteten, da sie ihre Überlegenheit zur See durch die Schlacht von Lepanto verloren hatten und es kaum wagen würden, die zunehmende spanische Seemacht im Mittelmeer heraus zufordern. Philipp selbst war von einem Wunsch besessen, der ihm al les andere unwesentlich erscheinen ließ, von einem Plan: an Elisabe th von England persönlich Rache zu nehmen und ihr Königreich, das er nicht durch seine Ehe mit Maria, der Katholischen, hatte erwerben können, durch Gewalt zu gewinnen und katholisch zu machen. Dann würden Elisabeth und alle anderen englischen Protestanten dafür be zahlen, daß sie den noch immer mit dem Mut der Verzweiflung ge gen seinen Willen kämpfenden Niederländern Truppen unter dem Be fehl Leicesters, des Günstlings der Königin von England, zu Hilfe ge schickt hatten. Der neue Statthalter Philipps in den Niederlanden war sein Neffe Alexander Farnese, Herzog von Parma. Endlich ein Verwandter, der sich bewährte und vor keinem Mittel zurückschreckte, auch nicht da vor, Wilhelm von Oranien ermorden zu lassen. Der Zweck hatte das Mittel geheiligt, dachte Philipp; der Prinz von Oranien war tot. Nach dem gelungenen Anschlag wurde die Familie des Meuchelmörders Balthasar Gerard als Belohnung für den Mord vom katholischen Kö nig in den Adelsstand erhoben. Philipp II. beglückwünschte sich: ohne ›die Seele des Aufstands‹ brach der Widerstand der Niederländer zu sammen. Zumindest schien es so. Alexander Farnese eroberte eine Stadt nach der anderen, schließlich auch das reiche Antwerpen, das 260
der geeignetste Hafen zur Ausfahrt der spanischen Kriegsschiffe gegen London war und auch der Brückenkopf gegen die Union der nördli chen sieben Provinzen, die Philipp II. abgesetzt hatten. Auch in Frankreich entwickelte sich die Lage so, wie Philipp es wünschte. Die Guisen, die er durch große Versprechungen und kleine Zuwendungen von sich abhängig gehalten hatte, waren immer mäch tiger geworden und bedrängten Heinrich III. dem es trotz des erfah renen Beistands seiner Mutter nicht gelang, seinen Thron zu festigen. Auch die gemäßigten Katholiken vertrauten ihm nicht, und die Hu genotten hatten nicht vergessen, daß er einer der Urheber der Bartho lomäusnacht war. Mühsam brachte Heinrich III. Verhandlungen mit den Hugenotten zustande, aber sie begehrten eine eindeutige Kundge bung zu ihren Gunsten, wenn sie ihm gegen ihre eigenen Todfeinde, die Guisen, beistehen sollten. In seiner Not warb der König von Frank reich für seinen jüngeren Bruder Franz, den Herzog von Alencon, der sein erklärter Thronfolger war, da er selbst nicht heiraten wollte, um die Hand Elisabeths von England. Der französische Prinz war um zwanzig Jahre jünger als Elisabeth. Aber persönliche Vorurteile fielen nicht ins Gewicht, wenn es sich um einen so bedeutenden gemeinsa men Vorteil handelte wie ein französisch-englisches Bündnis, das den unausbleiblichen Abwehrkampf Englands gegen Spanien aussichtsrei cher machen konnte. Elisabeth ließ Heinrich II. wissen, daß sie seinem Bruder zum Altar folgen werde, sobald das Bündnis in aller Form be siegelt sei. Der plötzliche Tod des Franz von Alengon beendigte den Plan. Heinrich III. war nun der letzte Valois. Nach seinem Tod wür de die französische Krone auf den Mann seiner Schwester Margarete, König Heinrich von Navarra, übergehen, der sich wieder offen als Hu genotte bekannte. Ein hugenottischer König in Frankreich? Das mußte Philipp II. ver hindern. Er schloß eine offene ›Liga‹ mit den Guisen, die Papst Gregor XIII. öffentlich segnete. Die ›Liga‹ wurde in Frankreich volkstümlich, auch aus Unwillen der Bevölkerung gegen die ›Mignons‹, die Günst linge Heinrichs III. der nur allzuoft bewiesen hatte, daß ihm die Zu neigung seiner Herzensfreunde wichtiger war als alle anderen Din 261
ge. Er war der König von Frankreich, aber sie waren die Modekönige. Da die von Spanien geförderten Edelleute aus dem Gefolge der Guisen ihre geschworenen Feinde waren, versuchten die ›Mignons‹, die in spa nischen Trachten stolzierenden Adligen nicht nur in der Pracht ihrer Kleidung zu übertrumpfen, sondern auch in ihrer Duellwut. Sie ließen sich keine Gelegenheit entgehen, ihre politischen Gegner zum Zwei kampf herauszufordern. Der Mut der ›Mignons‹ war über jeden Zweifel erhaben, aber ihre Verschwendungssucht, der Heinrich III. Vorschub leistete, verbitterte das Volk, das sich durch die kampflustigen Edel leute gefährdet fühlte und den König und seine ›Mignons‹ als Land plage bezeichnete. Wenn Philipp II. in diesem Zeitpunkt das Zeichen zum Losschlagen gegeben hätte, wäre der Aufstand der Guisen unver züglich ausgebrochen. Aber sein Übereinkommen mit ihnen war zeit lich gebunden. Nur für den Fall des Ablebens Heinrichs III. sollte der Herzog Heinrich von Guise König von Frankreich werden. Und erst wenn das französische Volk sich seiner Erhebung widersetzte, durfte es zu blutigen Auseinandersetzungen kommen. Aber um allen Mög lichkeiten eines Umschwenkens der Volksmeinung zuvorzukommen, erließ Papst Sixtus V. eine Bulle, in der er König Heinrich von Navar ra als Haupt der hugenottischen Ketzerei des Rechts der Thronfolge in Frankreich und aller seiner Besitzungen für verlustig erklärte. Das war eine unmißverständliche Bestätigung der beschlossenen Nachfol ge Heinrichs von Guise. Aber König Heinrich III. lebte noch und tat alles dazu, seinen Tod so lange wie nur möglich hinauszuschieben. Er sorgte mit allen Mit teln für seine Sicherheit und teilte sogar sein Schlafzimmer mit Ara gon, dem stärksten Mann Frankreichs, den er zum Hauptmann seiner Leibwache erhob, und mit einem gezähmten Wolf, der ihn über den menschlichen Schutz hinaus schützen sollte. Bei Tag umgab sich Hein rich III. mit seinen ›Mignons‹, die jederzeit bereit waren, ihre Degen und Dolche für ihn zu ziehen. Mit leichtsinniger Geschicklichkeit be wegte er sich zwischen den Parteien und machte bald der einen, bald der anderen vorsichtige Zugeständnisse, die er im gegebenen Augen blick ebenso vorsichtig widerrief. Die päpstliche Bulle aber hatte die al 262
ternde Katharina von Medici so sehr erschreckt, daß sie dem einzigen Sohn, der ihr geblieben war, riet, sich den Guisen gegenüber freundli cher zu verhalten. Es war ein machiavellischer Ratschlag. Die Königin mutter hoffte, durch eine Annäherung ihres Sohnes an ihre Feinde den Einfluß Philipps zu schwächen, da es gewiß war, daß die Guisen lieber unabhängig und aus eigenen Kräften als durch die Gnade des Königs von Spanien Könige von Frankreich sein wollten. Bald war Katharina nicht mehr ganz davon überzeugt, daß ihr ängstlicher Ratschlag rich tig war, denn ihr Schwiegersohn Heinrich von Navarra hatte inzwi schen die Hugenotten kraftvoll gesammelt und mit der Unterstützung englischer und deutscher Protestanten Erfolge errungen. Aber was be deutete das gegen die katholische Übermacht? VI In England bereitete die ›geheime Armee des Papstes‹ den Angriff Philipps II. gegen Elisabeth umsichtig vor. Es war ein von langer Hand geplantes Unternehmen, das im Jesuitenkollegium von Douay ausge heckt und im neu gegründeten ›Collegium Anglicanum‹ in Rom fort gesponnen wurde. Junge englische Katholiken wurden in allen Mög lichkeiten unterrichtet, wie sie ihr Vaterland der alleinseligmachen den Kirche wiedergewinnen könnten. Nach ihrer Ausbildung kamen sie unauffällig nach England. Als Soldaten und als Kaufleute verklei det, stellten sie die Verbindung zwischen den katholischen Adligen ih rer Heimat her, hielten Predigten, hörten die Beichte, erteilten die Ab solution und gaben politische Ratschläge. In geheimen Druckereien wurden Flugschriften gegen die Königin und die Englische Kirche ge druckt. Elisabeth wurde rundheraus das Recht der Herrschaft aber kannt und ihre Ermordung als erlaubt und gerechtfertigt dargestellt. Die Tätigkeit der Zöglinge des ›Collegium Anglicanum‹ hatte er staunlich raschen Erfolg. Verschwörerische Zusammenkünfte waren an der Tagesordnung. Es gab sogar Anschläge auf das Leben Elisa 263
beths. Bei geschickt veranstalteten Volksaufläufen und in den meisten Aufrufen gegen die Königin wurde als ihre natürliche Nachfolgerin die gefangene Maria Stuart angepriesen. Ihre Abstammung von den Guisen, die sich nach der Annäherung Heinrichs III. ihm gegenüber so verhielten, als wäre er nicht mehr der König, wurde herausgestri chen, um der friedliebenden englischen Bevölkerung darzutun, daß England unter der Herrschaft Maria Stuarts keinen Krieg mit Frank reich zu befürchten hätte. Es würde auch keine Drohungen Philipps II. mehr geben, der in den Ländern seiner Kronen den Handel mit Eng land verboten und englische Handelsschiffe in seinen Häfen beschlag nahmt hatte. Sir Francis Walsingham, einer der entschlossensten und begabtesten Mitarbeiter Lord Burghleys, hatte genaue Kenntnis von allen Umtrie ben gegen Elisabeth. Er war Mitglied des Geheimen Rates und vertrat den Standpunkt, daß die Königin ihre Gegner ebenso unbedenklich und mit allen Mitteln bekämpfen müsse, wie sie selbst bekämpft wer de. Von Walsingham bezahlte Vertrauensmänner nahmen zum Schein an den Verschwörungen gegen Elisabeth teil und hielten ihn über jede Einzelheit auf dem laufenden. Von ihm bestochene katholische Prie ster waren oft die Mittelsmänner des geheimen Briefwechsels Ma ria Stuarts mit ihren Verbündeten. Den sorgfältigen Abschriften ent nahm Walsingham, daß Mendoza, der ehemalige spanische Gesand te in London, den Maria Stuart ergebenen katholischen Adeligen Eng lands von Paris aus geraten hatte, alle Ratgeber Elisabeths zu ermor den, um sie hilflos zu machen und nach Belieben beseitigen zu können. Ohne den Gleichmut zu verlieren, traf Walsingham die nötigen Maß nahmen zum Schutze Elisabeths und seiner Amtsgenossen und wieg te die Verschwörer in Sicherheit. Er war sich im klaren darüber, daß eine endgültige Auseinandersetzung zwischen Philipp II. und Elisa beth unaufhaltbar war. In ihren Personen verkörperten sich die Glau bensgegensätze der Zeit. Der Zusammenprall war unvermeidlich, da beide davon überzeugt waren, daß sie nicht einlenken durften. Seit ge raumer Zeit hatte Elisabeth jede Feindseligkeit des Königs von Spani en mit unerschütterlicher Festigkeit erwidert. Wenn er den englischen 264
Handel schädigte, ließ sie den englischen Seeräubern freie Hand, die spanische Seefahrt lahmzulegen. Sie tat oft so, als wären die kriegeri schen Handlungen ohne ihr Wissen und ihre Zustimmung geschehen. Sie wusch ihre Hände in Unschuld, aber Francis Drake, dem mutigsten und erfolgreichsten dieser Freibeuter, der in den westindischen Gewäs sern kreuzte und spanische Überseeflotten versenkte, dankte sie gnä dig für seine unerlaubten Abenteuer. Als er die blühenden Städte San Domingo und Cartagena im Sturm nahm und brandschatzte, zeich nete sie ihn durch den Ritterschlag aus. Unbekümmert um den An spruch Philipps, daß alles amerikanische Land den Kronen von Spa nien und Portugal gehöre, gründete Walter Raleigh die erste englische Überseebesitzung und nannte sie nach seiner unverheirateten Königin ›Virginia‹. Elisabeth hatte auch die aufständischen Niederländer bald offen bald im geheimen unterstützt. Auf die Drohung Philipps II. daß er alle englischen und niederländischen Schiffe versenken werde, ant wortete sie nicht selbst, sondern ihr Günstling Sir Francis Drake, der mit achtundzwanzig kleinen Schiffen in den Hafen von Cadix einfuhr und spanische Kriegs- und Handelsschiffe mit unermeßlichen Vorrä ten versenkte. Philipp wollte die unüberwindliche Armada unverzüg lich gegen England auslaufen lassen. Aber der Admiral Santa Cruz er klärte, daß weder Schiffe noch Mannschaft bereit wären. Philipp ent setzte ihn seines Amtes und ernannte den Herzog von Medina-Sido nia zum Nachfolger. Aber vielleicht war es gar nicht nötig, die pracht vollen Schiffe der Armada in See stechen zu lassen, vielleicht konn te Philipp England durch staatsmännische Verträge an sich bringen. Vielleicht gelang der geheime Plan, dem Maria Stuart zugestimmt hat te. Die gefangene Königin war bereit, ihrem Sohn Jakob VI. der un ter der Aufsicht Elisabeths protestantisch erzogen worden war und ein Bündnis mit ihr geschlossen hatte, das Königreich Schottland zu ent reißen und Philipp II. zur Verfügung zu stellen. Der Herzog von Guise hatte diesen Plan für ausgezeichnet befunden und durch einen schot tischen Unterhändler nach Madrid gesandt, mit der dringenden Emp fehlung an Philipp, ihn gutzuheißen. Von diesem gefährlichen Briefwechsel erfuhr Walsingham und for 265
derte, mit den urkundlichen Beweisen hochverräterischer Umtriebe in Händen, ein strenges gerichtliches Verfahren gegen Maria Stuart und ihre Hinrichtung. Es war nicht rechtens, eine unabhängige Herrsche rin, die sich keineswegs unter den Schutz der englischen Gesetze ge stellt hatte, sondern gewaltsam in England gefangengehalten wurde, vor einen englischen Gerichtshof zu stellen. Wenn die Königin von Schottland sich nicht herbeiließ, vor dem aus sechsundvierzig Lords und hohen Richtern zusammengesetzten Gerichtshof Rede und Ant wort zu stehen, durfte sie dem geltenden Rechte nach nicht verurteilt werden, obwohl über ihre Teilnahme an der Verschwörung nicht nur gegen die Sicherheit Englands, sondern auch gegen das Leben Elisa beths kein Zweifel bestehen konnte – wenn die aufgefangenen Briefe echt waren und nicht von Walsingham gefälscht, wie viele Anhänger Maria Stuarts behaupteten. Aber die Königin von Schottland ließ sich nach anfänglicher Weigerung dazu bestimmen, ihre unangreifbare Stellung aufzugeben und den Gerichtshof dadurch anzuerkennen, daß sie sich vor ihm verantwortete. Die durch die langjährige Kerkerhaft geschwächte kränkelnde Frau verteidigte sich ohne Rechtsbeistand mit bewunderungswürdigem Mut und erstaunlicher Geistesgegenwart. Sie leugnete die Echtheit der ihr vorgelegten Schriftstücke und bezeichne te die sie belastenden eidlichen Aussagen als durch die Folter erpreßt und von den Anklägern willkürlich abgeändert. Dennoch verurteilte sie der Gerichtshof einstimmig zur Hinrichtung, und das Parlament verlangte von Elisabeth die Unterzeichnung des Todesurteils. In ganz London läuteten die Glocken. Auf den Straßen und Plätzen wurden Feuer angezündet als Zeichen der Freude über die bevorste hende Beseitigung der gehaßten Feindin Englands und seiner Köni gin. Aber Elisabeth zögerte die verhängnisvolle Unterschrift hinaus. Ihr Wahlspruch war: ›Semper eadem‹ – immer dieselbe. Aber das be deutete keineswegs, daß sie einen festen Standpunkt einnahm. Im Ge genteil. Sie blieb immer dieselbe: unentschieden bis zum Äußersten, und sagte nur unter dem äußeren Zwang ein »Ja« oder ein »Nein«. Sie war unsicher und unterschätzte ihre eigenen Verdienste um England. Sie wollte weniger geliebt als gelobt werden. Es war nötig, ihr immer 266
wieder zur Kenntnis zu bringen, daß sie England einen Dienst nach dem anderen geleistet habe. Sie hatte der englischen Währung Gel tung verschafft, indem sie die minderwertigen Münzen ihrer Vorgän ger eingezogen und durch vollgewichtige ersetzt hatte. Sie hatte den Ackerbau belebt, indem sie die bisher verbotene Ausfuhr von Getreide wieder gestattete. Sie hatte nie nach dem Gut und Leben ihrer Unter tanen getrachtet und durch die Aufnahme von flüchtigen protestanti schen Handwerkern aus den Niederlanden die englische Leinenwebe rei und Tucherzeugung, die Gold- und Silberschmiedekunst gefördert. Sie hatte alle beleidigenden Vorwürfe, daß sie Seeräuber geschützt hätte, auf sich genommen, um den englischen Seefahrern die schif fahrtskundlichen Erfahrungen der von ihr gnädig behandelten Frei beuter und ihre erbeuteten Schätze zugute kommen lassen. Sie hatte das königliche Wechselhaus, den ›Royal Exchange‹, persönlich einge weiht, um den unternehmenden Kaufleuten, den Goldschmieden, den Schiffsunternehmern die verdiente Anerkennung und Sicherheit zu gewährleisten. Unter ihrer Herrschaft war London der bedeutendste Handelsumschlagplatz der Erde geworden, eine reiche große Stadt, in deren von prächtigen Häusern gesäumten Straßen die ersten Kutschen fuhren. Sie hatte die Mühe auf sich genommen, ihr Königreich in je dem Jahr monatelang zu bereisen, um die Bedürfnisse und Wünsche ihrer Untertanen kennenzulernen und nach Möglichkeit zu befriedi gen. War es richtig, daß durch ihre Herrschaft ein goldenes Zeitalter in England angebrochen war? Das offenkundige Wohlergehen, von dem Elisabeth sich selbst überzeugte, bewies es. In den Häusern der Bür ger herrschte Wohlstand. Die Schenken und Vergnügungsstätten wa ren überfüllt. Die Leute tranken nicht nur Bier und Wein, sie ›rauch ten‹ auch. Dieses neue Genußmittel, den Tabak, verdankten sie den von ihr begünstigten ›Seeräubern‹. Die Künste blühten. Schauspieler truppen zogen von Stadt zu Stadt und erheiterten und belehrten durch ihre Theaterstücke das Volk. Förderte sie nicht jedes Bestreben, das sie zum Nutzen Englands für gut befand? Dreizehn Wochen lang wog Elisabeth ihre eigenen Leistungen in der Waagschale des Gewissens gegen die Anschläge, die gegen ihr Leben 267
und gegen ihre Herrschaft gerichtet waren und fortgesetzt würden, wenn Maria Stuart am Leben blieb. Elisabeth empfing eine Gesandt schaft König Heinrichs III. von Frankreich, der sich auf das dringend ste, ja mit Drohungen für seine ehemalige Schwägerin verwandte, trotz ihrer verwandtschaftlichen und politischen Beziehungen zu den ver haßten Guisen. König Jakob VI. von Schottland schickte eine Abord nung zu Elisabeth, um gegen die Hinrichtung seiner Mutter Einspruch zu erheben. Elisabeth verbat sich jede Einmischung, aber sie zöger te noch immer. Sie hatte nicht mehr Angst vor ihrem Gewissen, aber vor der Rache der Katholiken. In ihrer peinlichen Verlegenheit legte sie Poulet, der die Gefangenschaft Maria Stuarts überwachte und ihre liebenswürdigen Annäherungsversuche zurückgewiesen hatte, nahe, die Königin von Schottland heimlich zu ermorden. Da der alte Purita ner die ungeheuerliche Zumutung Elisabeths ablehnte, übergab sie das unterschriebene Todesurteil ihrem Sekretär Davison zur Besiegelung durch den Lordkanzler, ohne jedoch in klaren Worten den Befehl zur Hinrichtung zu erteilen. Der versammelte Geheime Rat wartete nicht auf den ausdrücklichen Befehl der Königin. Maria Stuart, die bis zum letzten Augenblick die Würde bewahrte, wurde enthauptet. Elisabeth war entsetzt. Sie wollte die Verantwortung für die Voll streckung des Todesurteils von sich abwälzen. Sie ließ Davison unter der Beschuldigung, daß er seine Befugnisse überschritten und die Be fehle falsch ausgeführt habe, in den Tower werfen, legte Trauer an und veranstaltete für Maria Stuart ein glänzendes Leichenbegängnis. Die Nachricht von der Hinrichtung der Königin von Schottland erregte die katholische Welt. Papst Sixtus V. schleuderte eine neue Bulle ge gen Elisabeth, durch die er sie der Herrschaft für verlustig erklärte und alle Engländer aufforderte, sich der Armee des Königs von Spanien zu unterwerfen. Die Guisen und ihre Anhänger versprachen, den An griff Philipps auf England mit allen Kräften zu unterstützen. Mendo za schrieb seinem König aus Paris: »Indem Gott erlaubt hat, daß die se verdammte Nation SEINEN Zorn erregte, nicht nur in göttlichen Dingen durch ihre Ketzerei, sondern auch in menschlicher Beziehung 268
durch ein solches Verbrechen, hat ER offenbar Seiner Majestät diese beiden Länder in vollen Besitz überliefern wollen.« Es war endlich soweit: die unüberwindliche Armada konnte in See stechen. Es war eine gewaltige Flotte. Die für die damalige Zeit unge wöhnlich großen Schiffe waren mit zehntausend Matrosen und Ruder sklaven bemannt. Zweitausend hochadlige spanische und französische Freiwillige und zwanzigtausend erprobte Kämpfer waren an Bord. Die Armada sollte unverzüglich nach der niederländischen Küste abgehen, wo Alexander Farnese ein Heer von fast dreißigtausend Mann gesam melt hatte, das nach England geschafft werden sollte. Ein plötzlicher Sturm verzögerte die Ausfahrt der Armada. Das gab Elisabeth Zeit zu rüsten. Ihre ursprünglich verfügbare Seemacht be stand aus nur vierunddreißig Schiffen. Ihr stehendes Heer war unwe sentlich. Doch sie konnte es durch fünfzigtausend Volkswehrmän ner ergänzen, die den Sammelplätzen zuströmten, und die englischen Städte und Kaufleute brachten hundertdreiundsechzig Fahrzeuge zur Unterstützung der schwachen englischen Flotte auf. Es waren nicht Galeeren von dreihundert bis zwölfhundert Tonnen wie die Kriegs schiffe der Armada, sondern nur dem Zweck angepaßte Handelsschif fe, die dicht mit Seeleuten bemannt waren, verwegenen Gesellen, die ihre kriegerische Lehrzeit auf den von Elisabeth geduldeten Seeräu berschiffen abgedient hatten. Zum Großadmiral dieser dürftigen See macht wurde Lord Howard ernannt. Er war entschlossen, mit einer solchen Flotte keine Entscheidungsschlacht anzunehmen. Von günstigen Winden getrieben, nahte die unüberwindliche Ar mada. Auf der Fahrt nach Calais wurden die schweren spanischen Ga leeren von den leichten englischen Fahrzeugen unaufhörlich angegrif fen und beschädigt. Medina-Sidonia hatte in Calais eine Zusammen kunft mit Alexander Farnese vereinbart, um die letzten Verfügungen für den Angriff auf die englischen Küsten zu treffen. Während die bei den Herzöge miteinander berieten, sandte Francis Drake einige Feuer schiffe gegen die verankerte spanische Flotte. War das der Beginn der Seeschlacht? Medina-Sidonia kam der Angriff unerwartet. Er wollte nicht überrumpelt werden. Er befahl, die Ankertaue zu durchschnei 269
den, und ließ seine Schiffe ausfahren. Aber kaum war die Armada auf offener See, als ein furchtbarer Südweststurm ausbrach und Galeere gegen Galeere jagte. Die flinken englischen Schiffe, deren Befehlsha ber mit den gefährlichen Wind- und Seeverhältnissen des Ärmelka nals vertraut waren, griffen die schwerfälligen spanischen Kriegsschif fe durch gutgezielte Schüsse an. Medina-Sidonia sah keine andere Ret tung, als seine arg beschädigten Galeeren vom Südwestwind treiben zu lassen und mit ihnen den Weg um die Nordspitze Schottlands ein zuschlagen. Vergebens riet Alexander Farnese, die Armada nach Em den oder in Hansahäfen einfahren zu lassen, um sie für einen neu en Angriff wieder flott machen zu können. Nur Zeit würde dadurch verlorengehen, sonst nichts. Aber Medina-Sidonia wollte nach Spani en zurück. Der Sturm wurde so heftig, daß die englischen Seeleute in ihre Hä fen zurückkehrten. Sie brauchten nicht mehr zu kämpfen. Sie wußten, daß die spanischen Galeeren an den Küsten Schottlands, Norwegens und Irlands scheitern würden. Es war eine Leistung Medina-Sidonias, daß er fünfzig Schiffe mit etwa zehntausend Mann nach Spanien zurückbrachte. Aber zwanzig Millionen Dukaten und zwanzigtausend Menschenleben waren ver geblich geopfert worden. Philipp II. konnte sich nicht mehr als ›Herr der Meere‹ bezeichnen. VII Der undurchdringliche Gesichtsausdruck des ›Vaters der Heuchelei‹, wie der König von Spanien vom venezianischen Gesandten an seinem Hof gekennzeichnet wurde, gab nicht preis, wie furchtbar ihn die Ver nichtung seiner Armada getroffen hatte. Aber die Vorsicht, die er sei nem französischen Bundesgenossen, dem Herzog von Guise, mit ei nem Mal dringend ans Herz legte, deutete auf die teuer erkaufte Er kenntnis Philipps II. hin, daß großspuriges Auftreten nicht immer ge 270
nüge. Trotz des Verbotes Heinrichs III. war Heinrich von Guise nach Paris gekommen und von der Bevölkerung mit ungeheurem Jubel empfangen worden. Gegen die hochbezahlten Söldner des Königs, die Schweizer Garden, hatte das Volk Barrikaden errichtet und im Stra ßenkampf gesiegt. Heinrich III. war aus der aufrührerischen Stadt geflohen, hatte, als wäre in Paris nichts vorgefallen, die französische Ständeversammlung in Blois eröffnet und den in der Mehrzahl katho lischen Abgeordneten feierlich versprochen, alles zur Ausrottung der hugenottischen Ketzerei zu tun. Aber die von den Guisen aufgehetzten Stände stellten Forderungen, die Heinrich III. nicht annehmen konn te, vor allem nicht die Herabsetzung der Steuern in so bedeutendem Ausmaß, daß sie ihn seiner wichtigsten Einkünfte beraubt hätte. Als der Herzog von Guise, ungeachtet der Ratschläge Philipps II. die For derung der Stände hochmütig vertrat, erklärte sich Heinrich III. ver gnüglich bereit, mit seinem ›geliebten Vetter‹, den er seit dem Barrika dentag, dem er selbst entflohen war, im Kreise seiner ›Mignons‹ ver ächtlich den ›König von Paris‹ nannte, freundschaftlich zu verhandeln. Prunkvoll gekleidet erschienen am nächsten Morgen im königlichen Vorzimmer Herzog Heinrich von Guise und sein Bruder, der Kardinal von Lothringen, um von Heinrich III. empfangen zu werden. Die Leib wachen senkten ihre Hellebarden, aber nicht zur Begrüßung, sondern zur Ermordung der hohen Gäste. Katharina von Medici, die schon längere Zeit schwer leidend gewe sen war, überlebte die Nachricht von der ›plötzlichen, leidenschaftli chen Kühnheit‹ ihres Sohnes nur um wenige Tage. »Das wird Heinrich den Kopf und die Krone kosten!« jammerte sie auf dem Sterbebett. In den Pariser Straßen rottete sich die Menge in unbeschreiblicher Wut zusammen. Ein Rechtsgutachten der Sorbonne erklärte die Franzo sen ihres an Heinrich III. geleisteten Treueids für entbunden. Der Her zog von Mayenne wurde zum König ausgerufen. Er wollte jedoch erst als ›Generalleutnant des Königreiches‹ handeln, bis ihn Philipp II. in seiner Königswürde bestätigte. Als der Papst die an der Ermordung des Herzogs von Guise und des Kardinals von Lothringen Schuldigen ohne Namensnennung exkommunizierte, sagten sich die meisten Ka 271
tholiken von Heinrich III. los. Seine ganze Macht bestand nur noch aus fünftausend Mann. Er wäre verloren gewesen, wenn er sich nicht auf seinen Schwager Heinrich von Navarra hätte stützen können. Das in Eile geschlossene Bündnis zwischen den Königen von Frank reich und Navarra wurde als Waffenstillstand bezeichnet, um die Ka tholiken, die etwa noch für Heinrich III. eintreten wollten, nicht abzu schrecken. Diese Vorsicht bewährte sich. Die gemäßigten Katholiken zogen noch immer ein friedliches Zusammenleben mit den Hugenot ten dem endlosen Bürgerkrieg vor. Heinrich III. gelang es, die Anhän ger der ›Liga‹, die sich seinem Marsch entgegenstellten, in einem ra schen Gefecht zu besiegen. Er begann die Belagerung von Paris. Innerhalb der Mauern der erregten Stadt wurde ein von einem ka tholischen Priester unterzeichnetes Flugblatt verteilt. Der Titel laute te: »Über die gerechte Erledigung des Thrones Heinrichs III.« Papst Sixtus V. ließ eine Aufforderung veröffentlichen, durch die er Hein rich III. befahl, binnen sechzig Tagen unter Strafe der Exkommunika tion in Rom zu erscheinen. Wenn der König dem Heiligen Vater Folge geleistet hätte, wäre er gezwungen gewesen, die Belagerung von Paris aufzuheben. Er rüstete zur Einnahme der Stadt. In seinem Lager hat ten sich zahlreiche bedingungslos königstreue Adelige zu seiner Hilfe eingefunden. Ermutigt durch sein Bündnis mit Heinrich von Navarra, waren die Hugenotten zu ihm gestoßen. Es waren von ihren Rechten und Pflichten durchdrungene Männer. Sie wollten für die Gewissens freiheit kämpfen, für die geistige Unabhängigkeit und die Aufrechter haltung der Staatseinrichtungen. Die Ausfälle der Belagerten waren zurückgeschlagen worden. Die Pariser wußten, daß der große Sturm auf ihre Stadt beschlossen und nicht mehr abzuwehren war. Die vom Papst gesegnete ›Liga‹, die Philipp II. mit den Guisen geschlossen hat te, war dem Untergang geweiht. Da näherte sich Heinrich III. unauf fällig ein Mönch und stieß ihm ein Messer in den Leib. Der Mörder des letzten Valois hieß Jacob Clemont. Er gab seine Auftraggeber nicht preis. Wer würde der Nachfolger Heinrichs III. werden? Nach altherge brachter Überlieferung riefen die Adligen, die Bürger und Bauern 272
Frankreichs: »Der König ist tot. Es lebe der König!« Aber welcher Kö nig? Die einen meinten den Herzog von Mayenne, die anderen zo gen ihm einen nahen Blutsverwandten der Valois, den schon alters schwachsinnigen Kardinal von Bourbon, vor. Der Heilige Vater war bereit, ihn seines Priestereides zu entbinden, damit er solange König von Frankreich sei, um seinen Segen zur Vermählung des Herzogs von Mayenne mit der Infantin Isabella geben zu können, einer der beiden Töchter aus der Ehe Philipps II. mit Elisabeth von Valois. Damit hätte er die Rechtmäßigkeit der Nachfolge unterstrichen. Niemand zweifelte mehr daran, daß der König von Spanien in jedem Fall der eigentliche König von Frankreich sein und seine Überlegenheit über alle Könige des Erdkreises durch die Annahme des Titels ›Großkönig‹ kundgeben würde. Kein katholischer Staatsmann und nur verhältnismäßig weni ge Franzosen hielten es für möglich, daß König Heinrich von Navarra, der sich unverzüglich Heinrich IV. von Frankreich nannte, seinen An spruch auf die Krone Frankreichs durchsetzen könne. VIII Erst viel später, durch die Denkwürdigkeiten des Herzogs von Sully und andere zeitgenössische Urkunden, zeichnete sich die wahre Per sönlichkeit Heinrichs IV. des ersten Bourbonen auf dem französischen Königsthron, klar und deutlich vom dunklen Hintergrund der ver worrenen Ereignisse ab. Er war schon in seiner Jugend besser als sein übler Ruf. Man sagte ihm nach, daß er verständnisvoll durch die Fin ger sehe, wenn sich seine leichtsinnige Frau Margarete, die von der Lebewelt zärtlich ›La Reine Margot‹ genannt wurde, in ausschweifen de Liebesabenteuer verstrickte. Er habe weder Rückgrat als Ehemann noch fände er Halt im Glauben, da er sein Bekenntnis je nach der gün stigsten Gelegenheit wechsle. Es hieß, er sei oberflächlich und unzu verlässig, und man wollte ihm auch den persönlichen Mut nicht zu gestehen, den er bei allen kriegerischen Anlässen bewies. Wenn Hein 273
rich von Navarra an der Spitze seiner Reiter gegen feindliche Reihen galoppiert war und Gegner um Gegner aus dem Sattel geworfen hat te, wurde behauptet, daß ihm nichts anderes übriggeblieben wäre, als mutig zu sein, da er vor dem Gefecht an sein Pferd gebunden worden sei. Auch an seinen staatsmännischen Fähigkeiten wurde gezweifelt. Hatte er sich nicht von seiner Schwiegermutter, Katharina von Me dici, nach ihrem Belieben an der langen Nase herumführen lassen? Man warf Heinrich vor, daß er zwar Demütigungen speichelleckerisch entgegennehme, aber außer Sicht und Hörweite des Stärkeren besin nungslose Schimpfreden und Flüche ausstoße, Drohungen furchtba rer Art, durch die er sich Luft mache. Nur selten kam zur Sprache, daß Heinrich vieles auf sich nahm, sich oft duckte und heuchelte, nachgab und auswich, mit dem einen Ziel im Auge: durch seine Person und in seiner Person den Zwiespalt der Zeit aus der Welt zu schaffen. Er woll te den Glaubenskrieg beendigen. Ob als Hugenotte oder Katholik, galt ihm gleich. Er mußte ehrgeizig sein, um überleben zu können. Nur als König von Frankreich konnte er gegen seine Feinde bestehen. Heinrich IV. der als fürstlicher Lebemann rauschende Feste gab und sich, wenn seine Gäste betrunken waren, mit seinem Berater zur Ar beit zurückzog, während seine Widersacher glaubten, daß auch er dem Vergnügen erlegen sei, war ein behutsamer Rechner, als Staatsmann, auf dem Schlachtfeld und in der Wirtschaft. Er bewies seine Fähigkei ten gleich. Es gelang ihm, sich der Angriffe Alexander Farneses zu er wehren, den Philipp II. ausgeschickt hatte, um den vom Papst exkom munizierten König von Frankreich zu vernichten. Er rang der ›Liga‹ unter dem Herzog von Mayenne Stadt um Stadt ab und entschloß sich, um von allen Franzosen als König von Frankreich anerkannt zu wer den, wieder zum katholischen Glauben überzutreten. Das von ihm be lagerte Paris öffnete ihm die Tore, während er aufatmend erklärte: »Pa ris ist eine Messe wert.« Heinrich hatte eine harte Zeit hinter sich, als er in den Louvre, den uralten französischen Königspalast, einritt, und eine noch härtere Zeit vor sich, wenn er König von Frankreich bleiben wollte. Er durf te sich seine ehemaligen hugenottischen Glaubensgenossen durch sei 274
nen neuerlichen Übertritt zum katholischen Glauben nicht entfrem den und mußte die Katholiken glauben machen, daß er einer von ih nen sei. Die Hugenotten hatten, mit seiner Hilfe, einen vollkommen ausgebildeten Staat im Staate geschaffen. Sie hatten eigene Festungen, ein eigenes Heer und durch die ›Generalsynoden‹, denen er selbst sich unterworfen hatte, eine eigene Verfassung. Sie waren der Zahl nach etwa der achte Teil seiner Untertanen, hohe Adelige, die in ihren Ge bieten selbstherrlich waren, Kaufleute und Gewerbetreibende, die es zu Reichtum und Ansehen gebracht hatten. Diese von ihrer Bedeu tung und ihrem Bekenntnis erfüllten Hugenotten bestanden auf der gesetzlichen Anerkennung ihrer in den Bürgerkriegen blutig behaup teten Rechte. Sie wollten es nicht darauf ankommen lassen, daß ihr ›Bearner‹, wie Heinrich nach der Hauptstadt Bearn seines kleinen Kö nigreichs Navarra liebevoll genannt worden war, als König von Frank reich eine neue Wendung machte und sie, die Gefährten seiner gefähr lichen Jahre, unterdrückte. Durch Mittelsmänner knüpften die Huge notten Verbindungen mit Elisabeth von England an, das unter ihrer Herrschaft tatsächlich zum ›Haupt und Hort des Protestantismus in der Welt‹ geworden war. Heinrich IV. kam einer voreiligen Entscheidung Elisabeths zuvor. Er erklärte Philipp II. ihrem geschworenen Feind, den Krieg, um ihn mit Waffengewalt zum Aufgeben seiner Einmischung in Frankreich zu zwingen. Um Philipp den beliebten Vorwand zu nehmen, daß er seine Truppen im Namen der alleinseligmachenden Kirche entsende, bot Heinrich IV. dem neuen Papst, Clemens VIII. die Versöhnung an. Es war keine demütige Unterwerfung, sondern der Vorschlag an den Papst, sich zwischen zwei Möglichkeiten zu entscheiden: Entweder hob der Heilige Vater die Exkommunikation des Königs von Frank reich auf oder Heinrich war gezwungen, wie Heinrich VIII. es in Eng land getan hatte, eine unabhängige Kirche in Frankreich zu gründen. Die Verhandlungen Heinrichs IV. mit Clemens VIII. wären beinahe an einer Forderung des Papstes gescheitert. Der wünschte nämlich, daß die Bevollmächtigten Heinrichs IV. zur sinnbildlichen Buße des Königs mit Ruten gestrichen würden. Da sie das ablehnten, erbot sich 275
Clemens VIII. schließlich, ihre Schultern nur so leicht zu berühren, ›als ob eine Fliege über die Kleider liefe‹. Durch die Aufhebung der Ex kommunikation Heinrichs IV. hatten auch die französischen Anhän ger der ›Liga‹ keinen offenen Anlaß mehr, gegen ihn zu kämpfen. Der Herzog von Mayenne unterwarf sich ihm, verärgert durch Philipp II. der seine Tochter Isabella mit dem jungen Sohn des ermordeten Her zogs von Guise verheiraten und ihn – nicht Mayenne – zum König von Frankreich machen wollte. Heinrich IV. war nun ein vom Papst gesegneter Katholik und als Freund der Hugenotten Bündnispartner Englands und der unabhän gigen Union der sieben nördlichen Provinzen der Niederlande im Krieg gegen Spanien. Diese außerordentliche staatsmännische Lei stung krönte er durch das feierliche Versprechen, den Hugenotten in Frankreich freie Glaubensausübung zu gestatten. Er zögerte die Ein haltung des Versprechens hinaus. Der Versuch, verschiedenen Glau bensbekenntnissen angehörige Bürger eines Staates gleichberechtigt zu machen, bedurfte sorgfältiger Vorbereitung. Der Haß zwischen Hu genotten und Katholiken war keineswegs erloschen. Eiferer auf beiden Seiten schrien nach Rache für das vergossene Blut. Die Gefahr, daß die feindlichen Nachbarn einander überfielen, muß te durch eine vorsichtig ausgewogene Gesetzgebung ausgeschaltet wer den. Aber daran sollte es nicht fehlen: Heinrich versicherte sich der hervorragendsten Rechtsgelehrten aus beiden Lagern, um den Aus gleich zu schaffen. Das ging nicht von einem Tag zum andern. Aber das war ihm recht so. Denn er brauchte Zeit, um Krieg gegen Philipp II. führen zu können und seine eigene Herrschaft zu festigen. IX Im Gegensatz zur ›Utrechter Union‹, den sieben nördlichen Provinzen, die Hilfe von England und den deutschen Protestanten erhielten, sich selbst durch kühne Seefahrt halfen und trotz des Krieges mit Spanien 276
immer blühender, reicher und mächtiger wurden, herrschten in den von den Statthaltern Philipps II. zum Gehorsam gezwungenen südli chen Provinzen der Niederlande die traurigsten Zustände. Die wohl habenden Kaufleute und Gewerbetreibenden zogen es vor, nach dem Norden zu fliehen und ihr Glück zu versuchen, anstatt der Verarmung zu verfallen, die durch die unerbittliche spanische Steuerschraube und die unaufhörlichen Plünderungen der spanischen Truppen unaus bleiblich war. Die ›freien‹ niederländischen Seefahrer wurden begünstigte Teil haber des englischen Überseehandels, der immer weitere Kreise zog. Auch sie beförderten die ›schwarze Fracht‹, die afrikanischen Neger sklaven, die in den spanisch-portugiesischen Besitzungen in der Neuen Welt an Stelle der abnehmenden indianischen Bevölkerung die schwe ren Arbeiten verrichteten, deren sich die weißen Eroberer enthielten. Schon Karl V. hatte alle Veröffentlichungen über die Ausrottung der eingeborenen Bevölkerungen in den ›indischen‹ Ländern unter Ver bot gestellt. Der kurze Bericht ›Über die Vernichtung der Indier‹, den der spanische Geistliche Las Casas geschrieben hatte, war von der In quisition beschlagnahmt worden, um nicht böses Blut zu machen, da doch die Brüder der Gesellschaft Jesu ausgeschickt worden waren, die rothäutigen ›Indier‹ der alleinseligmachenden Kirche zu gewinnen, so als ob sie Weiße wären. Nur in der nächsten Nähe der ›Missionen‹, der unmittelbaren Wirkungsbereiche der Jesuiten, wurden die Eingebore nen menschlich behandelt. Aber auch dort waren sie der Härte der Ar beit nicht gewachsen, die ihnen auferlegt wurde. Es bedurfte kräftige rer, urwüchsigerer Farbiger, um die Pflanzungen gewinnbringend zu bebauen. Die gewaltsame Verschiffung Tausender und aber Tausen der afrikanischer Neger nach Amerika war eine traurige Völkerwan derung, die gleichzeitig mit der steigenden Auswanderung von Euro päern vor sich ging. In der Neuen Welt entstanden zwei grundverschiedene Arten von Siedlungen, die nach den altrömischen ›Colonen‹, den in unterworfe nen Ländern angesiedelten ehemaligen Legionären und Bürgern, als Sammelbegriff ›Kolonien‹ genannt wurden. In den Gebieten, in de 277
nen es vor der Ankunft der weißen Einwanderer eine geordnete ein heimische Lebensform gegeben hatte, glichen sich die Neuankömm linge, wenn sie auch ihre überkommenen Gewohnheiten mitbrach ten, den örtlichen Gegebenheiten an. Nur selten waren Frauen mit den Abenteurern über die Meere gefahren. Die eingeborenen Indianerin nen und die verfrachteten Negerinnen wurden in den meisten Land strichen des südlichen Amerikas die Stammütter einer gemischten Be völkerung, die sich gewaltig vermehrte. Anders war es in dem von den Engländern besiedelten ›Virginia‹ und ihren späteren nördlichen Besitzungen. Die Indianer Nordameri kas waren nicht seßhaft. Sie lebten nicht in Städten, sondern in beweg lichen Zeltdörfern. Sie waren kriegerische Nomaden, die es vorzogen, den mit Feuerwaffen kämpfenden Eroberern nach aussichtslosen Ge fechten den Rücken zu kehren und in das freie Land nach dem Westen zu ziehen. Die englischen Siedler erhielten sich ihre ursprüngliche Le bensform. Sie ahmten auf fremdem Boden ihre Heimat nach. Sie wur den ›Neu-Engländer‹. Der kaufmännische Ertrag der spanischen, portugiesischen und englischen Kolonien regte Heinrich IV. dazu an, die während des Glaubenskriegs vernachlässigte französische Flotte wieder aufzubau en. Auch er wollte überseeische Besitzungen. Er bereitete nach dem Muster Englands und der freien Niederlande die Gründung einer aus schließlich berechtigten Gesellschaft für den ostindischen Handel vor und ermunterte Champlain und andere Wegbereiter, Neuland zu su chen. Champlain hatte Reiseberichte über Kanada verfaßt und Land karten gezeichnet. Die Mündung des mächtigen Sankt-Lorenz-Stro mes, der sich von weit, weit her aus dem Unerforschten ins Atlantische Meer ergoß, wurde zur Besiedlung vorgesehen. Eine Stadt, die ›Que bec‹ heißen sollte, würde ein Binnenhandelsplatz in einer fruchtbaren Gegend mit gemäßigten, milden Wetterverhältnissen sein und auch unmittelbar vom Meer aus erreicht werden können. Neue Schiffe wur den ausgerüstet, um auch Frankreich der Reichtümer der Neuen Welt teilhaftig werden zu lassen. Heinrich IV. war für jedes Unternehmen, das die wirtschaftliche Lei 278
stung Frankreichs erhöhen könnte. Der Staatsschatz, den er ›geerbt‹ hatte, war mit einer ungeheuren öffentlichen Schuld belastet. Der Kö nig begnügte sich nicht mit dem Ausspruch seines Ratgebers Sully: »Ackerbau und Viehzucht sind die beiden Brüste, welche Frankreich ernähren, und die wahren Minen und Schätze Perus.« Er wollte den Handel beleben und verkündete in einem Erlaß: »Die Erfahrung lehrt uns, daß die Freiheit des Handels, welchen die Völker und Unterta nen der Reiche mit ihren Nachbarn und den Fremden treiben, eines der vorzüglichsten Mittel ist, sie wohlhabend, reich und begütert zu machen. Deshalb möchten wir nicht verhindern, daß ein jeder seinen Vorteil aus seinem Besitztum ziehe durch das Mittel und die Wohltat des Handels.« Dieser königliche Verzicht auf ›Verhinderung‹ sollte eine Ermun terung der Geschäftsleute sein. Das diesbezügliche Schriftstück war zwar von Heinrich IV. persönlich verfaßt, aber der Inhalt erinner te an seine königliche Nachbarin jenseits des Ärmelkanals. Sie war sein Beispiel. So wie Elisabeth die Leinenweberei und Tucherzeugung durch die Aufnahme von Niederländern in England hochgebracht hat te, wollte er die Seidenerzeugung in Frankreich fördern. Er ließ weite Landstrecken mit Maulbeerbäumen bepflanzen und ernannte staatli che Lehrer, um die Kunst der Seidenraupenzucht volkstümlich zu ma chen. Mit großen Kosten ließ er Italiener und auch Spanier nach Pa ris, Orleans und Lyon kommen. Sie gründeten ausgebreitete Werkstät ten zur Seidenerzeugung und führten die Gold- und Silberweberei in Frankreich ein. Heinrich schuf eine Handelskammer in Marseille zur Überwachung ›aller Dinge, die Geschäft, Handel und Verkehr betref fen‹. Wer ein Fachmann in seinem Handwerk und Gewerbe war, konn te gewiß sein, vom König von Frankreich das Recht zur Ansiedlung zu erhalten, ob es vor der Inquisition aus Spanien geflüchtete Juden und Morisken (Mauren), ob es verfolgte Protestanten oder Katholiken aus den Niederlanden waren oder ob sie nur durch ihr Können die wirt schaftlichen Verhältnisse besserten. Der von ihm mit Ehren überhäuf te Sully ordnete das Steuerwesen und ermöglichte durch die Aufbrin gung der Mittel nicht nur die Verwirklichung der ehrgeizigen Pläne 279
seines Königs, sondern gab ihm auch die Befriedigung, voller Über zeugung erklären zu können, er werde dafür sorgen, daß jede Familie in seinem Königreich am Sonntag ›ein Huhn im Topfe habe‹. Der ›gute König Heinrich‹ wurde bald volkstümlich. Er lebte schlicht und bescheiden, wie es einem ehemaligen Hugenotten geziemte. Er plante zwar den Bau eines gewaltigen Königspalastes, aber er ließ fürs erste nur eine ›Große Galerie‹ im Louvre errichten, einen Riesensaal, in dem er die Gesandten fremder Herrscher in standesgemäßem Prunk empfing, und erweiterte das Schloß Fontainebleau, seinen inmitten ge waltiger Wälder gelegenen Lieblingsaufenthalt. Für Nützlichkeitsbau ten beschränkte Heinrich seine Ausgaben nicht. Großzügige Umbau ten gaben dem engen Paris mehr Licht und Raum, die Straßen wurden gepflastert, und eine steinerne, befahrbare Brücke, der ›Pont Neuf‹, ver band die Ufer der Seine. Besorgt fragten sich die königstreuen Fran zosen, wer der Erbe dieses in wenigen Jahren so wunderbar erneuer ten Königreiches sein würde. Sogar die strengsten Hugenotten fanden es nur recht und billig, daß Heinrich von der leichtfertigen Margare te von Valois getrennt lebte. Nur die Mißgünstigen nahmen ihm übel, daß er eine ständige Geliebte hatte, die schöne Gabriele von Estrees, die er zur Herzogin von Beaufort erhob und mit der er wie Mann und Frau lebte und Kinder zeugte. Der Heilige Vater und einige Eingeweih te wußten, daß Heinrich sich um die Nichtigkeitserklärung seiner Ehe mit Margarete bemühte und Gabriele zu heiraten beabsichtigte. Das Geheimnis war auch der Königin von England bekannt. Aber Elisabe th behielt es für sich. Sie hatte ein freundschaftliches Gefühl für Hein rich IV. der es in keinem politischen Brief unterließ, ihr zu schmei cheln. Sie war eitel – und verliebt. Seit dem Tod ihres Herzensfreundes Leicester war der Graf von Essex der Günstling Elisabeths von England. Er war viel jünger als sie. Aber welche Frau hätte seiner anmutigen Ritterlichkeit wider stehen können? Seine Begabung rechtfertigte seine Ernennung zum Großmarschall von England. Essex war auch gebildet, ein freigebi ger Beschützer der Gelehrten, besonders Francis Bacons, der Elisa beth durch seine Lehre beeindruckte, daß alle Erkenntnis sich aus 280
der Erfahrung ableite, und Vernunft und Denkkraft über alles ande re stellte. Ließ sich Elisabeth nicht durch Vernunft leiten, wenn sie Essex lieb te? Den Versuch des Königs von Spanien, sie nach der Kriegserklä rung Heinrichs IV. an Philipp II. durch ihren portugiesischen Leibarzt vergiften zu lassen, hatte Essex durch einen erfolgreichen Angriff auf den Hafen von Cadix erwidert. Er hatte die spanische Flotte versenkt, die Stadt geplündert und war mit einer Beute im Werte von zwanzig Millionen Dukaten zurückgekehrt. Die Zuneigung Elisabeths zu Essex vertiefte sich. Es war ein harter Schlag, als sie erfuhr, daß er sich heim lich mit einer Tochter des inzwischen verstorbenen Sir Francis Wal singham verheiratet hatte. Die Königin verzieh Essex. Aber als seine Haltung ihr gegenüber immer anmaßender und unehrerbietiger wur de, konnte sie sich nicht zurückhalten, ihn auf die Wange zu schlagen. Er griff empört ans Schwert. Sie war doch unfähig, mit ihm zu bre chen, auch als sie hörte, daß er über ihr Alter und Aussehen spotte te. Sie war im tiefsten ihres Inneren verletzt – aber hatte sie das Recht, England seines Großmarschalls zu berauben, nur weil er ihre Liebe nicht erwiderte? Konnte die Königin ihn entbehren, da Philipp eine neue Armada ausrüstete, um die katholischen Iren in dem von ihm ge nährten Aufstand gegen sie zu stärken?
Noch immer hatte der König von Spanien seine Hoffnung nicht auf gegeben, Elisabeth zu vernichten. Er mußte es tun, um sein Leben vor sich zu rechtfertigen. Auf seinen Erben konnte er sich nicht verlassen. Das war die einzige Trauer, die er zur Schau trug. Er klagte seinen nächsten Vertrauten, der nach ihm benannte Infant Philipp sei nur der Schatten eines Prinzen, ohne jede Begabung für das Herrscheramt. Philipp II. rüstete nicht nur mit den Waffen gegen England. Er hat te erkannt, daß sein Kampf gegen Elisabeth hoffnungslos sein würde, wenn es ihm nicht gelänge, Heinrich IV. aus dem Bündnis mit ihr zu lösen. War Papst Clemens VIII. nicht der geeignete Vermittler? Die 281
ser Gedanke mag Philipp durch Vertrauensmänner des Königs von Frankreich eingegeben worden sein, der den Frieden brauchte, um sei ne Pläne verwirklichen zu können. Heinrich IV. hatte, obwohl er sein Versprechen an die Hugenotten durch die Erlassung des Ediktes von Nantes eingehalten hatte, das ihnen Glaubensfreiheit gewährte und das Zusammenleben der Bekenntnisse nach den Bedürfnissen weltli cher Ordnung regelte, auch die Jesuiten in seinem Königreich begün stigt. Wollte er dadurch die Grundsätze seiner ›Toleranz‹, der allge meinen Glaubensduldung, zum Ausdruck bringen, oder war ihm dar an gelegen, um jeden Preis die von ihm erwünschte Nichtigkeitser klärung seiner Ehe mit Margarete von Valois vom Papst zu erwirken? War die Liebe Heinrichs IV. zu der schönen Gabriele stärker als seine Weltanschauung und Politik? Oder war sein Sinn für Politik so stark, daß er auch die Liebe in ihren Dienst stellte? Heinrich nahm die Ver mittlung Papst Clemens VIII. an. Philipp II. betrachtete den Friedens schluß mit dem König von Frankreich als Erfolg. Er hielt sich viel dar auf zugute, wenn er sich auch eingestehen mußte, daß der ungeheure Aufwand spanischen Blutes und Geldes in Frankreich umsonst gewe sen war. Aber das war nun Vergangenheit. Philipp sah in die Zukunft: er brauchte jetzt nur noch Krieg gegen England und die sieben nördli chen niederländischen Provinzen zu führen.
»El Rey«, der sich auch im Alter keine Erholung gönnte, ergab sich nur einer angenehmen Zerstreuung: der Beaufsichtigung seiner Bau ten. Er selbst lebte ärmlich wie ein Mönch. Aber die Pracht seiner Pa läste sollte den Glanz seiner Herrschaft dartun. Der Escorial war das ausgedehnteste, würdigste Königsschloß der Zeit, Aranjuez der bezau berndste Fürstensitz, die Gemälde an den Wänden der vom König nur bei seltenen Anlässen geöffneten Säle waren die Werke der berühmte sten spanischen und italienischen Meister. Sie wurden als köstlich und kostbar bezeichnet. Aber ihre Farbenfreudigkeit berührte und erhei terte den verbitterten König kaum. Er war lustlos und einsam. Er lieb 282
te seine Familienangehörigen nicht und wurde von ihnen nicht geliebt. Er war ebenso unzufrieden mit seinen Untertanen wie sie mit ihm. Als der Kardinal von Sevilla ihm erklärte, daß die Beichtväter seines geistlichen Wirkungsbereiches ihm berichtet hätten, ihre Beichtkin der haßten Seine Majestät, erwiderte Philipp: »Gut, daß ihre Hände gebunden sind, da ihnen die Zunge gelöst ist.« Die Steuern in den spa nischen Hoheitsgebieten wurden drückender als in allen anderen Län dern des europäischen Raumes. Die Portugiesen zeigten ihren Wider willen gegen Philipp bei jeder Gelegenheit. Er wußte, daß sie nur auf einen günstigen Augenblick warteten, von Spanien abzufallen und ei nen der angeheirateten Abkömmlinge des ausgestorbenen Herrscher hauses zum König zu machen. Ihre Hände waren gebunden, aber er hatte freie Hand. Er handelte, wie es ihm gefiel. Da ihm das Wesen Erzherzog Alberts, eines jüngeren Bruders Kaiser Rudolfs II. zusagte, schenkte er ihm das Erzbistum Toledo, das dreihunderttausend Duka ten jährlich einbrachte, und verlangte vom Papst, daß er dem Erzher zog den Kardinalshut verleihe. Bald darauf gefiel es Philipp, den Kar dinal Albert mit der Infantin Isabella zu vermählen, seiner Lieblings tochter, die er schon so oft und so verschiedenen Prinzen zur Heirat angeboten hatte. Albert sollte sein Statthalter in den Niederlanden werden, in Brüssel hofhalten wie ein König, die katholischen Provinzen für ihn beherr schen und die ketzerischen wiedererobern. Auf den Wunsch Philipps II. genehmigte der Heilige Vater den Austritt Alberts aus dem geistli chen Stand. Philipp ließ sich täglich Bericht über die Entwicklung der neuen Ar mada erstatten, die zur Eroberung Irlands erbaut wurde. Obwohl er schwer erkrankt war, wollte er noch so lange leben, bis sie ausfahren, die englische Flotte besiegen und den Sturm der britannischen Ka tholiken gegen Elisabeth entfesseln konnte. Philipp wurde bettlägerig. An allen Gelenken entstanden unglaublich große Geschwüre. Im Ei ter bewegten sich Würmer, die trotz aller Mühen der spanischen Hof ärzte nicht zu vertilgen waren. Wo waren die jüdischen Leibärzte, die der König der Inquisition preisgegeben hatte? Seit Hunderten von Jah 283
ren hatten sie die erschreckendsten Krankheiten geheilt und ihre Wis senschaft vom Vater auf den Sohn vererbt. Wo waren die muselma nischen Heilkünstler der Morisken, die mit ihren Glaubensgenossen ausgerottet oder vertrieben worden waren? Sie hatten das Geheimnis der schmerzlindernden Säfte mit sich genommen, während der König litt, viel, viel schlimmer noch als die Opfer der Folter, die er um ihres Glaubens willen hatte zu Tode quälen lassen. Welcher Gefolterte hat te den Zerfall seines eigenen Körpers durch fünfzig Tage erlebt, ohne daß die Schmerzen nur einen Augenblick nachgelassen hätten? War das die Strafe Gottes? Oder die Prüfung, die ihn, den Kämpfer Got tes, zum Heiligen machen würde? Philipp II. setzte alle Einzelheiten seiner Leichenfeier fest. Er glaubte seine letzte Stunde gekommen. Er übergab seinem Sohn die Geschäftsführung der Königreiche. Er woll te sich nur noch seinem Seelenheil widmen, ungestört beten, sich mit Gott vereinen. Zehn qualvolle Tage später nahm Philipp Abschied von seinen Kindern und legte ihnen die getreue Bewahrung des katholi schen Glaubens ans Herz. War es endlich so weit? Er konnte noch im mer nicht sterben, obwohl der Sarg schon bereit war und das Fleisch an seinen Knochen zerfiel. Kurz bevor er die Augen für immer schloß, sah er, wie sein Erbe sei nem vertrautesten Berater die Geheimschlüssel abnahm, um sie einem von ihm gehaßten Günstling zu übergeben. War das eine sinnbildliche Handlung, die dartat, daß Philipp III. nicht in die Fußstapfen Philipps II. treten wollte? X Nach dem Grundsatz ›Der König ist tot. Es lebe der König!‹ blieb in Spanien alles beim alten. Aber ein Sturm verhinderte die Ausfahrt der Armada, durch die Philipp III. die aufständischen irischen Katholi ken unterstützen wollte. Auch ohne die Hilfe des neuen Königs von Spanien besiegte der irische Graf Tyrone die Engländer und erober 284
te vier Fünftel Irlands. Graf Essex war im Geheimen Rat der Köni gin von England gegen die mangelhafte Heerführung losgezogen. War sein Tadel ein erneuter Versuch, alles herabzusetzen, was Elisabeth an geordnet hatte? Der bucklige Sohn Lord Burghleys, Sir Robert Cecil, der nicht nur die Begabung, sondern auch die Abneigung gegen Es sex von seinem Vater geerbt hatte, riet Elisabeth, dem Großmarschall das neue Heer, das sie gegen die aufständischen Iren aufstellte, anzu vertrauen. Essex nahm den Befehl nur widerwillig an. Er wollte sich nicht aus der Nähe der Königin, auf die er durch seine Anwesenheit wirkte, entfernen und sie dem Einfluß seiner Gegner überlassen. Aber da er gehen mußte, beschloß er, unter den von ihm befehligten Trup pen persönliche Anhänger zu werben. Dazu brauchte er Zeit. Er schloß mit Tyrone einen Waffenstillstand, der der englischen Krone nur den Schein der Oberhoheit in Irland beließ, und kehrte trotz des ausdrück lichen Verbotes Elisabeths, so rasch er nur konnte, nach London zu rück. Am frühen Morgen besuchte er die Königin in ihrem Schlafge mach. Sie nahm ihn erst gnädig auf. Aber da er sich wieder eigensinnig und übermütig zeigte, verlor sie die Geduld mit sich selbst – und mit ihm. Sie ließ ihn noch am gleichen Abend verhaften. Essex wurde auf ihre Veranlassung vom höchsten Gerichtshof des Königreiches seiner Ämter entkleidet und zur Haft in seinem eigenen Haus verurteilt. Mo nat um Monat verstrich, ohne daß Elisabeth sich um Essex kümmer te. Das hatte auch einen politischen Grund. Sie wünschte den Frieden mit Spanien. Auch Philipp III. sah für sich keinen Vorteil in der Fort setzung der Feindseligkeiten, die der Lebensinhalt seines Vaters gewe sen waren, und Essex hatte sich offen für die Fortsetzung des Krieges ausgesprochen. Der von Walsingham eingerichtete Geheimdienst Eli sabeths bewährte sich auch jetzt. Von seinem Hause aus erneuerte Es sex seine alten Beziehungen zu Jakob VI. von Schottland, der als Nach folger Elisabeths König von England werden sollte. Elisabeth selbst war für diese Thronfolge, aber nicht durch Empörung. Das Haus Es sex' wurde der Ort der Versammlung aller Verschwörungen gegen Eli sabeth. Die puritanischen Prediger beteten in aller Öffentlichkeit für den Erfolg der Pläne Essex'. Er war von seiner Beliebtheit bei der Lon 285
doner Bevölkerung so überzeugt, daß er es wagte, Boten der Königin, die ihn in ihrem Auftrag über seine Umtriebe befragen sollten, gefan genzunehmen. Unbekümmert um die verhängte Haft verließ er sein Haus. Von sechzig Bewaffneten begleitet, ritt er durch die Straßen und rief die Bürger zur Erhebung gegen Elisabeth auf. Es gab viel Geschrei, aber Essex fand nur wenige Mitläufer, die bereit waren, zu kämpfen. Er ergab sich den königlichen Truppen, die gegen ihn ausgesandt wurden, auf Gnade und Ungnade. Staatsanwalt des höchsten Gerichtshofes, der den Grafen von Essex zum Tode verurteilte, war Francis Bacon. Der große Gelehrte stellte die eigene Freundschaft für seinen ehemaligen Gönner zurück, ›um der Feststellung der Tatsachen zu genügen‹. Wieder zögerte Elisabeth, das Urteil zu unterzeichnen. Sie wartete darauf, daß Essex sie um Gna de anflehen, daß er seinen Stolz vor ihr demütigen würde. Sie war be reit, ihn mit einer leichten Strafe davonkommen zu lassen. Als er die ihm vermittelten Angebote ausschlug und in seinem ver ächtlichen Hochmut ihr gegenüber verharrte, ließ die Königin von England zu, daß er enthauptet wurde. Es ging mit Elisabeth abwärts. Das Volk nahm ihr übel, daß sie ih ren Liebling hatte hinrichten lassen. Im Parlament wurde die Liste der ausschließlichen Handelsberechtigungen, die sie als Belohnung an ihre Günstlinge und Diener vergeben hatte, in offener Sitzung verlesen. Salz, Leder und Kohle standen auf der Liste. Durch die Willkür der Begünstigten hatten die Preise angezogen. Die Abgeordneten schrien: »Bald wird auch das Brot dazugehören und teurer verkauft werden!« Elisabeth gab dem Drängen des Parlaments nach. Sie widerrief die ausschließlichen Handelsberechtigungen. Aber der Ton im Parlament blieb nicht mehr der gleiche. Die Abgeordneten machten der Köni gin nicht mehr demütige Vorschläge. Sie forderten. Sie machten sie da für verantwortlich, daß sich die Friedensverhandlungen mit Spanien zerschlugen. Es gelang der endlich ausgefahrenen Armada, Truppen in Irland zu landen. Daß Lord Mountjoy den ›General des Heiligen Krieges‹ der irischen Katholiken schlug, war zwar ein englischer Er folg, aber der siegreiche Feldherr riet der Königin, den aufständischen 286
Iren wenigstens einen Teil ihrer Forderungen zu bewilligen und Straf losigkeit zuzusichern. Elisabeth versuchte, ein Bündnis mit Frankreich und der Republik Venedig gegen Philipp III. zustande zu bringen. Sie rüstete eine Flotte aus, um gleiches mit gleichem zu vergelten, näm lich den mit der Herrschaft Spaniens unzufriedenen Portugiesen zu helfen, ihr Königreich unter einem eigenen König unabhängig zu ma chen. Auf die Anfrage Elisabeths ließ Heinrich IV. ihr erwidern: »Der König von Frankreich wird für England alles tun, was ihm möglich ist, jedoch den Frieden brechen und sich offen gegen Spanien erklären, das kann er nicht.« Der Gesandte Venedigs brachte statt der von Eli sabeth erwarteten Zustimmung zum gemeinsamen Angriffskrieg ge gen Spanien eine Aufstellung der Übergriffe englischer Seeräuber ge gen die venezianische Schiffahrt nach London und verlangte Genug tuung für die Schäden. Die Enttäuschung wirkte vernichtend auf die Königin von England. Der französische Gesandte Beaumont berichtete Heinrich IV. der sich sehr rasch über den plötzlichen Tod seiner schönen Gabriele mit der noch schöneren Marquise von Verneuil getröstet und in aller Eile mit der reichen Maria von Medici verheiratet hatte, daß sich die fast sieb zigjährige Elisabeth mit Tränen in den Augen in ihren geschäftlichen Gesprächen mit ihm immer wieder über Essex unterhalte: »Ich bin es müde zu leben«, sagte sie, »da ich nichts mehr finde, was mich befrie digt oder mir Freude verursacht.« Sie war seelisch krank. Sie seufzte und weinte, verweigerte tagelang alle Nahrung, ließ sich nicht dazu bewegen, zu Bett zu gehen. Wo chenlang blieb sie in ihrem Zimmer auf Kissen ausgestreckt und fand keinen Schlaf. Sie konnte und wollte nicht mehr sprechen. Einer ihrer Verwandten mütterlicherseits, der Graf Monmouth, der selbst Augen zeuge ihres Verfalls war oder Einzelheiten von seiner Schwester, einer vertrauten Hofdame Elisabeths, hörte, erklärte: »Der Zustand der Kö nigin wurde immer schlimmer, weil sie selbst es so wollte.« Auf ihrem Sterbebett deutete Elisabeth durch Zeichen an, daß Kö nig Jakob von Schottland, Sohn Maria Stuarts, ihr Nachfolger sein sol le. Stundenlang betete der Erzbischof von Canterbury mit lauter Stim 287
me an ihrem Lager für ihre Seele. Sie lag still und in sich gekehrt bis zum letzten Augenblick. Der Körper Elisabeths war noch nicht erkaltet, als ein englischer Lord nach dem anderen mit prächtig gekleidetem Gefolge eilig nach Edinburgh ritt, um Jakob VI. von Schottland als König Jakob I. von England zu huldigen. Elisabeths großer Zeitgenosse William Shakespeare, der die Vorbil der der von allen menschlichen Schwächen und Leidenschaften be wegten Helden seiner unvergeßlichen Theaterstücke mit der engli schen Vergangenheit verwob, konnte die wetterwendische Vergäng lichkeit alles Irdischen aus nächster Nähe beobachten: die Adligen und das Volk, das anläßlich der Hinrichtung Maria Stuarts Freudenfeuer angezündet hatte, jubelte begeistert dem ersten Stuart auf dem engli schen Thron zu.
Der Beginn des Dreißigjährigen Krieges I Die gewaltige Auseinandersetzung zwischen Philipp II. und Elisabe th von England und der Glaubenskrieg in Frankreich hatten die mei sten Fürstenhöfe Europas so sehr beschäftigt, daß die gleichzeitigen bedeutungsvollen Ereignisse im Osten des europäischen Raumes nur von den Eingeweihten beachtet und auf ihre Wirkung geprüft wurden. Dieser Mangel an Aufmerksamkeit der herrschenden Kreise war durch ihre Meinung begründet, daß der endgültige Sieg Englands oder Spa niens das Schicksal der gesamten christlichen Welt entscheiden wür de. Daß ein friedliches Nebeneinanderleben zweier entgegengesetz ter, einander feindlicher Bekenntnisse überhaupt möglich sei, war erst 288
durch die staatsmännische Leistung Heinrichs IV. von Frankreich be wiesen worden. Dennoch wurden die durch die Glaubensverschieden heit bedingten Feindseligkeiten an allen Ecken und Enden Ost-, Mit tel- und Nordeuropas noch heftiger als zuvor: es schien, als hätten die Polen und die Deutschen, die Schweden und die Untertanen der habs burgischen Kronen vom abschreckenden Beispiel des Westens nichts gelernt. In Polen hielt der ursprünglich den Protestanten zugeneigte Kö nig Stefan Bathory den Protestantismus mit Hilfe der Jesuiten nieder. Auch sein Schwager, König Johann III. Wasa, begünstigte alle Bemü hungen, die katholische Kirche in Schweden wieder aufzurichten. Er ließ seinen Sohn Sigismund, den ihm die letzte jagiellonische Prinzes sin geboren hatte, von Jesuiten erziehen. Von den Fähigkeiten Sigismunds III. der König von Polen (1587) und von Schweden (1592) wurde, hing es ab, ob der Nordosten Europas der alleinseligmachenden Kirche zugehören würde. Er mußte seine Vor herrschaft an der Ostsee sowohl gegen Rußland, das an den baltischen Küsten Fuß fassen wollte, als auch gegen den Handel der niederländi schen Calvinisten verteidigen und auch die protestantischen Hanse städte unter seinen Einfluß bringen. Seine vom Papst gesegnete Ehe mit der Erzherzogin Anna, einer Nichte Kaiser Rudolfs II. sicherte sei ne Zugehörigkeit zur katholischen Übermacht. Er ging gegen die lu therischen Kirchen in Polen mit so offener Rücksichtslosigkeit vor, daß er als ›Jesuitenkönig‹ bezeichnet wurde. Als Sigismund, noch als Thronerbe von Schweden, König von Po len geworden war, hatten die bedeutendsten schwedischen Adelsge schlechter einen Beschluß erwirkt, daß Schweden nicht von außen beherrscht werden dürfe. Wenn sich der König außer Landes befin de, solle ein Kollegium die Regentschaft führen. Herzog Karl von Sö dermanland, der Onkel Sigismunds, stand diesem ›Sieben-Mann-Re giment‹ vor und veranlaßte die Beschlüsse von Upsala, durch welche die Heilige Schrift ›als einziger Grund und Regel‹ der Kirche Schwe dens, das unveränderte Augsburger Bekenntnis als ihr alleiniges Sinn bild festgelegt und der ›papistische Gottesdienst‹ unbedingt untersagt 289
wurde. Die schwedischen Protestanten riefen: »Nun ist Schweden ein Mann geworden und wir alle haben einen Gott.« Unverzüglich wollte Sigismund III. in seinem schwedischen Erbreich nach dem Rechten sehen. Aber er hatte sich den polnischen Großen gegenüber verpflichten müssen, Polen nicht ohne ihre Zustimmung zu verlassen. Erst als sie davon überzeugt waren, daß er mehr polnisch als schwedisch und durchaus katholisch fühlte, erlaubten sie ihm in ei nem eigens einberufenen Reichstag, nach Schweden zu reisen, um sein Erbreich in Besitz zu nehmen. Er mußte sich jedoch verpflichten, bin nen Jahresfrist nach Polen zurückzukehren. Als sich Sigismund in Danzig einschiffte, überreichte ihm ein Ab gesandter des Papstes im Namen Seiner Heiligkeit zwanzigtausend Goldstücke: »Einen kleinen Beitrag zu den Kosten, welche die Herstel lung des Katholizismus veranlassen könnte.« Aber die Krönung Sigis munds in Schweden fand erst statt, nachdem er die Upsalaer Beschlüs se durch einen Schwur bestätigt hatte. Als er bei dem Eid die Hand ein wenig sinken ließ, ermahnte ihn sein Onkel, Karl von Södermanland, sie in die Höhe zu halten. Sigismund hielt sich nicht an den Eid. Er kehrte nach Polen zurück, nachdem er Ämter und Würden in Schweden an Katholiken verliehen und die Wiedereinführung des katholischen Gottesdienstes befohlen hatte. Eine Empörung der schwedischen Protestanten brach aus. Sigis mund wollte sie mit Waffen brechen und wurde von den Schweden un ter der Führung Herzog Karls vernichtend geschlagen. Er versprach, sich einem Reichstag zu unterwerfen, floh aber, sobald er konnte, wie der nach Warschau zurück. Auf dem einberufenen Reichstag, an dem Sigismund nicht teilnahm, wurde Herzog Karl zum Erbfürsten des Reiches gewählt. Wer für Sigismund gewesen war, fiel nun dem Blut gericht Karls anheim. Der katholische Adel Schwedens wurde ausge rottet. Nach erfolgreichen Feldzügen, die verhindern sollten, daß Si gismund wieder nach Schweden komme, wurde Karl, der ›Bauernkö nig‹, wie sein ehrender Spottname lautete, von den Ständen zum Kö nig gewählt. Er empfing die Krone mit der Einschränkung, daß er und seine Nachkommen stets dem in Schweden herrschenden Glauben an 290
hängen müßten und, falls sie eine nichtlutherische Gemahlin nähmen, ihr Erbrecht verwirkten. König Karl IX. der nach dem Grundsatz sei nes Vaters, Gustav I. Wasa, lebte: »Besser zuvorkommen, als sich zu vorkommen lassen«, erzog seinen Sohn Gustav Adolf mit aller Strenge im protestantischen Glauben. Er liebte seinen Erben, und wenn er in den langen Jahren seiner Herrschaft an seiner eigenen Fähigkeit, Schweden zu einer Großmacht zu erheben, zweifelte, wies er auf den heranwachsenden Prinzen, der die Hoffnungen, die er in ihn setzte, zu erfüllen schien, mit den Wor ten: »Der wird es machen!«
König Sigismund III. von Polen gab die Aussichten auf Schweden auf. Er setzte sich ein neues Ziel. Nach dem Tode des Zaren Iwan, des ›Schreck lichen‹, war das benachbarte Rußland durch furchtbare Thronstreitig keiten erschüttert worden. Ein griechischer Mönch hatte sich für den Zarensohn Demetrius ausgegeben und dem Zaren Boris Godunow die Krone streitig gemacht. Dieser Demetrius war von Sigismund und den Jesuiten unterstützt worden, jedoch einer Verschwörung zum Opfer gefallen. Als sich das Haupt der Verschwörung, Schuiski, zum Zaren ausrufen und krönen ließ, tauchten, vom König von Polen gefördert, ein zweiter und dritter Demetrius auf. Die Unruhe und Unsicherheit in Rußland wurde so untragbar, daß die russischen Fürsten die Hilfe eines mächtigen Herrschers zur Herstellung der Ordnung wünschten und den Sohn Sigismunds III. zum Zaren wählten. Prinz Wladislaw Wasa zog an der Spitze eines polnischen Heeres in den Kreml, den Za renpalast in Moskau, ein. Mit ihm kamen die hohen polnischen Ade ligen und gebärdeten sich so unverfroren als Herren des Landes, daß die russischen Fürsten sich gegen sie und Wladislaw erhoben und den letzten noch lebenden Verwandten der alten Zarenfamilie, Michael Ro manow, auf den Thron setzten. Rußland wurde wieder zur unabhängi gen Macht, die jede Gelegenheit wahrnahm, ihre gefährliche Ausbrei tung in alle Windrichtungen fortzusetzen. 291
Einer der vertrautesten Freunde Karls IX. von Schweden, wenn sie auch nie sich begegneten, war Heinrich IV. von Frankreich. Karl pflog auch ›freundschaftlichen Verkehr‹ mit seinen deutschen Glaubensge nossen, dem Kurfürsten von der Pfalz und dem Landgrafen von Hes sen. Er munterte sie zum Widerstand gegen die katholischen Über griffe auf. Sie sollten etwas dagegen tun, daß sich die anderen deut schen Landesherren so benahmen, wie es im zeitgenössischen Spott lied hieß: »Kleider aus, Kleider an, essen, trinken, löffeln, schlafen gan, ist die Arbeit, so die deutschen Herren han.« Sahen diese von ihrer ›Li bertät‹ erfüllten großen und kleinen Herrscher nicht die Gefahren, die sie durch ihre Untätigkeit heraufbeschworen? Außer im Königreiche Böhmen herrschte in den habsburgischen Erblanden Erzherzog Matthias, der den Kaiser in einem Familienrat der Brüder, Neffen und Vettern Rudolfs II. ›wegen seiner gefährlichen Gemütsblödigkeit‹, wie es in der geheimen Urkunde hieß, hatte ›der Herrschaft unfähig‹ erklären lassen. In Wirklichkeit lagen die Zügel der Staatsführung in den Händen Pater Melchior Kiesels, der den Titel ›Generalreformator der niederösterreichischen Lande‹ führte. Kiesel war der Sohn eines lutherischen Bäckers aus Wien, der zum katholi schen Glauben übergetreten war. Er kannte die Zusammensetzung der österreichischen protestantischen Gemeinden, die wie in Frankreich zum größten Teil von den adeligen Grundbesitzern gegründet wor den waren. Diese Grafen und Freiherren wollte er zur Aufgabe ihres Glaubens zwingen. Erst durch den Druck von oben, der Protestanten aus allen hohen Ämtern entfernte, dann durch den Druck von unten, durch Aufstände der Bauern. »Ketzerei ist die Ursache der Aufstän de«, ließ Kiesel verlautbaren, »wer gegen die Aufstände ist, darf nicht für die Ketzerei sein.« Wer Würden bei Hof und in der Verwaltung ge winnen wolle, müsse den gleichen Glauben haben wie der Herrscher, der die Würden vergebe. Die protestantischen Stände taten sich zu ei ner streitbaren Körperschaft zusammen. Kiesel stellte ihnen eine aus Katholiken zusammengesetzte Partei entgegen und bestand im Erz herzogtum Österreich unerbittlich auf der Durchführung der Gegen reformation. 292
Erzherzog Matthias, der Kiesel vollkommen vertraute, begriff nicht ganz, warum sein Generalreformator den ungarischen Adeligen die Glaubensfreiheit zubilligte. Es bedurfte einer ausführlichen, urkund lich erhaltenen Erklärung des erfahrenen Staatsmanns, Matthias zu überzeugen, daß er, koste es, was es wolle, Frieden mit den Türken und dem Fürsten von Siebenbürgen, Bethlen Gabor, schließen müsse. Er war sogar willig, Tribut in klingender Münze zu zahlen, um der öster reichischen Hausmacht den Rücken zu decken. Er wußte, daß er aller Kräfte bedürfen werde, um sich zu behaupten. Es mußte geschehen, im Dienste und zum Nutzen des Heiligen Vaters in Rom. Der Bruder zwist im Hause Habsburg hatte noch bedrohlichere Formen dadurch angenommen, daß sich der entmachtete Kaiser, Rudolf II. wenigstens im Königreich Böhmen gegen die Angriffe seiner Verwandten weh ren wollte. Er wünschte im Hradschin zu bleiben. Das konnte er nur, wenn ihn ›die Untertanen der Wenzelskrone‹ beschützten. Die schon seit dem Auftreten von Johann Hus gegen die römische Kirche einge stellten böhmischen Adeligen, Bürger und Bauern waren protestan tisch geworden. Um sich auf diese breite Schicht der Bevölkerung stüt zen zu können, erließ Rudolf II. einen ›Majestätsbrief‹, in dem er al len Bewohnern Böhmens volle Glaubensfreiheit und den böhmischen Ständen den Bau protestantischer Kirchen erlaubte. Zum Schutze die ses Rechts wurden Verteidiger erwählt. Sie erhielten den Titel ›Defen soren‹.
Auch im benachbarten Bayern hatten die katholischen Herrscher aus dem Hause Witteisbach ihre ganze Macht gegen den Protestantismus aufgeboten. Die lutherischen Priester waren vertrieben und ihre An hänger gezwungen worden, zur römischen Kirche zurückzukehren oder auszuwandern. Jeder Widerstand war mit Gewalt unterdrückt worden. Als der Kurfürst von Köln, Gebhard Truchseß, zum Prote stantismus übergetreten war, hatte Herzog Wilhelm V. von Bayern seinen Sohn Ernst mit Zustimmung des Kölner Domkapitels zum 293
Kurfürsten von Köln erheben lassen. Er wollte verhindern, daß eine evangelische Mehrheit im Kurfürstenkollegium entstehe und daß sich im Bündnis mit den unabhängigen niederländischen Provinzen, die später die ›Generalstaaten‹ genannt wurden, ein großes zusammen hängendes protestantisches Gebiet im deutschen Reich bilde. Es war auch zu befürchten, daß sich der Nachbar des Kurfürsten von Köln, der alte Herzog von Jülich-Cleve, zum lutherischen Glauben beken ne. Das hätte ein Übergewicht des Protestantismus im mitteleuropä ischen Raum zur Folge gehabt. Das tatkräftige Eingreifen der Herzö ge von Bayern führte das Gegenteil herbei: eine katholische Macht gruppe, die von Österreich über Bayern bis in die spanischen Nieder lande reichte. Um sich dagegen zu wehren, vereinigte der Kurfürst von der Pfalz die bedeutendsten protestantischen Reichsstände zu einer ›Union‹, die mit Frankreich, England und den protestantischen Niederlanden ein Bündnis schloß. Unter bayrischer Führung trat der ›Union‹ eine ›Liga‹ entgegen, der der Papst und Spanien angehörten. Die beiden Lager standen einander in bewaffneten Gruppen gegen über, jederzeit bereit, den unvermeidlich scheinenden Krieg zu begin nen. Oder gab es doch noch die Möglichkeit einer friedlichen Vermitt lung? II Die Republik Venedig hatte zwar ihre überragende Stellung im Mit telmeerraum eingebüßt, aber ihre Dogen verfügten noch immer über eine stattliche Kriegsflotte und gefestigte Stützpunkte für ihren rei chen Handel. Ihr Nachrichtendienst war der zuverlässigste in Europa. Was ihre Gesandten berichteten, stimmte. Darauf konnte sich der Rat im Dogenpalast ebenso verlassen wie Heinrich IV. von Frankreich, der die Geheimnisse seiner venezianischen Vertrauensmänner für teures Geld kaufte. Er bekam auf dem Weg über Venedig die verläßlichste Be 294
schreibung Philipps III. von Spanien. Sie lautete: »Seine Majestät liebt es, ohne viel Gedanken zu leben.« Der Nachfolger Philipps II. holte als König nach, was er sich als In fant hatte versagen müssen. Er hatte viel gefastet. Jetzt ergab er sich den Freuden der Tafel. Er durfte freundlich und wohlwollend sein und mußte sich nicht um die Staatsgeschäfte kümmern. Die überantwor tete er seinem Günstling, dem Herzog von Lerma, dem er schon am Sterbebett seines Vaters die Geheimschlüssel übergeben hatte. Der Herzog hatte eine seinem König unbekannte Eigenschaft, die sich Heinrich IV. zunutze machte. Er war unehrlich und bestechlich. Sein jährliches Einkommen wurde auf siebenhunderttausend Gold stücke geschätzt. Mit einem Mann wie Lerma konnte Heinrich IV. ver handeln, um den endlosen spanischniederländischen Krieg, der seine eigenen Absichten störte, durch einen zwölfjährigen Waffenstillstand zu unterbrechen. Das war nötig, denn Heinrich hatte den sieben nörd lichen Provinzen der Niederlande in seiner beabsichtigten Neuord nung Europas einen wichtigen Platz zugedacht. Daß dadurch das habsburgische Spanien in seiner europäischen Stel lung geschwächt wurde, war im Sinne Heinrichs. Er störte auch die Friedensverhandlungen zwischen den österreichischen Habsburgern und den Türken, ›soweit es anging‹, wie er sagte, ›ohne den äußeren Anstand zu verletzen‹. Er wagte ein weitverzweigtes staatsmännisches Spiel. Die vom Kurfürsten von der Pfalz begründete Union der deut schen Protestanten wies ihm die Richtung, um seinen ›Großen Plan‹ zu verwirklichen: den Entscheidungskampf gegen das Haus Habsburg zu unternehmen, Europa in fünfzehn gleichmächtige Staaten aufzutei len, die unter seiner Oberhoheit als ›christliche Republik‹ ein ewiges Friedensbündnis miteinander schließen sollten. Der ›Große Plan‹ des Königs von Frankreich, den Sully ausführ lich beschrieb, mochte nur eine Tarnung der wirklichen Pläne Hein richs IV. gewesen sein, mit dem Zweck, seine Bündnispartner über sei ne wahren Absichten zu täuschen. Wollte er Europa unterwerfen? Aus Machttrieb? Oder um auch in den Nachbarländern den Glaubensaus gleich zu schaffen, der Frankreich unter seiner Herrschaft so zugute 295
gekommen war? Wollte er seinem Sohn Ludwig, den ihm Maria von Medici geboren hatte, ein Weltreich hinterlassen? Von England, das Jakob I. wieder zum katholischen Glauben zurück führen wollte, hatte Heinrich wenig zu befürchten. Der Sohn Maria Stuarts war damit zufrieden, von seinen Höflingen als ›Halbgott‹ ver ehrt zu werden, ›dem auf dem ganzen Erdkreis kein einziger Fürst an Glanz des Geschlechts und königlicher Vorfahren gleichkommt‹. Die ser Eitelkeit Jakobs leistete Heinrich IV. gefälligen Vorschub. Er miß brauchte sie für seine Zwecke, nachdem endlich der Friede zwischen Spanien und England zustande gekommen war, indem er Jakob I. ver anlaßte, der ›Union‹ beizutreten, nicht aus Glaubensgründen – war er nicht selbst ein katholischer Herrscher? –, sondern um die Vormacht stellung der Habsburger in Europa zu brechen. Die Rüstungen Heinrichs IV. waren so weit gediehen, daß er nur auf die richtige Gelegenheit wartete, militärisch einzugreifen. Er hatte ein Heer von siebzigtausend Mann aufgestellt und pflegte in seiner spöt tischen Art zu sagen, es gäbe in Frankreich noch dreihunderttausend kriegsgeübte Männer, die auf ihre eigenen Kosten im Bürgerkrieg den militärischen Dienst erlernt hätten. Heinrich hatte eine starke und vorzüglich bediente Artillerie, ein ›Ingenieurkorps‹ und für alle Fäl le einen Festungsgürtel zum Schutze Frankreichs geschaffen. Er hatte in den Glaubenskämpfen das wechselnde Glück des Krieges kennen gelernt. Er wollte sich vorsehen, um gewiß zu sein, die großen Schlach ten des ›Großen Planes‹ mit der allergrößten Wahrscheinlichkeit ge winnen zu können. Der Tod des Herzogs von Jülich-Cleve war der äußere Anlaß für Heinrich IV. den Krieg vom Zaun zu brechen. Der alte Herzog war kinderlos gewesen. Als erbberechtigt traten der Kurfürst von Branden burg und der Pfalzgraf von Neuburg auf. Sie stützten ihren Anspruch auf alte Verträge. Im Namen des von seinen Verwandten für ›blöd sinnig‹ erklärten Kaiser Rudolfs II. wurde Erzherzog Leopold mit der zwischenweiligen Besitznahme der Erbschaft beauftragt, die jedoch vom Kurfürsten von Brandenburg und vom Pfalzgraf von Neuburg in vorläufiger Übereinstimmung schon besetzt worden war. Unbeküm 296
mert um den Widerstand dieser ›possidierenden‹ Fürsten bemächtig te sich Erzherzog Leopold der Festung Jülich durch einen Handstreich. Das könne er nicht dulden, erklärte Heinrich IV. Es gab noch einen anderen, einen persönlichen Grund, der den Kö nig von Frankreich drängte, keine Zeit zu verlieren. Er hatte sich in die fünfzehnjährige Charlotte von Montmorency verliebt und sie mit sei nem Vetter, dem Prinzen von Conde, verheiratet – in der Hoffnung, er werde den Prinzen durch Geschenke und Ämter dazu bewegen, ein Auge zuzudrücken. Aber Conde verliebte sich selbst in seine junge Frau, und da Heinrich kein Mittel gescheut hatte, sich der Prinzessin zu nähern – er hatte sich als Pilger und dann als Jägerbursche verklei det an sie herangemacht –, war Conde mit seiner Prinzessin in die spa nischen Niederlande nach Brüssel geflohen und hatte sich unter den Schutz des ehemaligen Kardinals, des königlichspanischen Statthal ters, Erzherzog Albert, und seiner Frau, der Infantin Isabella, gestellt. Wenn die Prinzessin Charlotte Conde Heinrich nicht zärtliche Brie fe geschrieben hätte, wäre er vielleicht auf andere Gedanken gekom men. Aber so war der König von Frankreich entschlossen, den euro päischen Krieg zu beginnen – mit einem Streifzug nach Brüssel, um sich der Prinzessin zu bemächtigen. Die Liebe beschleunigte die Vor bereitungen Heinrichs. Er schloß in Eile mit dem Herzog von Savoyen einen Vertrag und versprach ihm für seine Mitwirkung gegen Spani en das Herzogtum Mailand, das der Herzog allerdings selbst erobern müsse, um die spanischen Kräfte auf italienischem Boden zu binden. Der Aufmarschplan war in allen Einzelheiten ausgearbeitet. Wäh rend der Abwesenheit Heinrichs IV. sollte die Königin, Maria von Me dici, als Regentin in Frankreich bleiben. Um ihre Stellung zu festigen, ließ er sie in Saint Denis feierlich krönen und ernannte eifrige Katholi ken zu ihren Ratgebern, um die mit dem Kriegsziel unzufriedenen Ka tholiken Frankreichs zu beruhigen, während er im Sinne des bevorste henden Krieges dafür sorgte, daß seine Truppenabteilungen fast aus schließlich von Hugenotten befehligt wurden. Heinrich hatte sich zu oft persönlich davon überzeugt, daß das Volk von Frankreich ihn aus vollem Herzen den ›guten König‹ nannte, als daß er die dringenden 297
Warnungen seiner Umgebung ernst genommen hätte. Wer war gegen ihn? Die Marquise von Verneuil, der er vor seiner Heirat mit Maria von Medici die Ehe versprochen hatte, und ihre persönlichen Freun de, die ihm aus enttäuschtem Eigennutz übelnahmen, daß er das Ver sprechen nicht gehalten hatte. Die ehemaligen Anhänger der französi schen ›Liga‹, die dem jungen Herzogspaar von Guise hofierten. Stren ge katholische Kreise, die ihm nicht verziehen, daß er das Edikt von Nantes erlassen hatte. Seine gefährlichsten Feinde in Frankreich wa ren eine Gruppe von bezahlten Vertrauensmännern der Habsburger und des Heiligen Stuhles, der ihm durch den Jesuitenpater Cartier zu bedenken gegeben hatte: »Wie können wir für Sie beten, Sire, da Sie in ein Land von Ketzern gehen wollen, um die Handvoll Katholiken, die es dort noch gibt, auszurotten?« Heinrich kehrte von der Feier der Krönung Maria von Medicis zu rück, um die letzten Vorbereitungen vor seiner Abreise zu seinem marschbereiten Heer zu treffen. Er fuhr langsam im offenen Wagen durch die enge Straße de la Ferronnerie. Lastwagen versperrten den Weg. An den königlichen Wagen, der anhalten mußte, machte sich ein Mann heran und stieß Heinrich IV. ein Messer zwischen die Rippen. Heinrich sagte nur: »Es ist nichts.« Dann war er tot. Obwohl der Mörder, ein Fanatiker namens Francois Ravaillac, grau sam gefoltert wurde, um die Anstifter seiner Tat zu nennen, gestand er nur, daß er sich durch die Ermordung des Königs die Zustimmung al ler gutgesinnten Katholiken auf Erden und in der Ewigkeit das Para dies hatte verdienen wollen, als er die katholische Welt von einem so gefährlichen Gegner befreite. III Der Tod Heinrichs IV. lähmte die Kampflust der einander in Waffen gegenüberstehenden deutschen Fürsten. Die Kräfte der ›Union‹ und der ›Liga‹ schienen sich die Waage zu halten. Das zeigte sich deutlich, als 298
der Kurfürst von Brandenburg und der Pfalzgraf von Neuburg wegen des jülich-cleveschen Erbes in Streit gerieten. Der Markgraf von Bran denburg wandte sich an die ›Union‹ um Hilfe. Er war Katholik gewe sen, er wurde Protestant, das war die Bedingung der ›Union‹, wenn sie für ihn eintreten sollte. Der Pfalzgraf von Neuburg war Protestant ge wesen, er wurde katholisch, um sich auf die ›Liga‹ und den Herzog von Bayern stützen zu können. Da und dort fand ein Aufmarsch kampfbe reiter Truppen statt. Aber es kam nicht zum Ausbruch der Feindselig keiten, denn das Gleichgewicht der Kräfte verschob sich noch einmal, als Kaiser Rudolf II. starb und sein feindlicher Bruder, Erzherzog Matt hias, Kaiser des Römischen Reiches Deutscher Nation wurde. Pater Melchior Kiesel riet dem neuen Kaiser, sich die Nachfolge in Böhmen von den Ständen durch die Anerkennung des Rechts der frei en Königswahl zu erkaufen. Wenn er seine Herrschaft in Böhmen gesi chert haben würde, könne er die Anerkennung immer noch widerru fen. Matthias befolgte den Rat. Aber er hatte Gewissensbisse. Hatte er richtig gehandelt? In allen Erblanden, mit Ausnahme der Steiermark, wo sein Neffe Ferdinand die Interessen der alleinseligmachenden Kir che mit eiserner Hand vertrat, waren die Ständeherrschaft und der Protestantismus gekräftigt. Sollte er nicht wie Ferdinand den Befehl erteilen, ›Bürger und Bauern mit Prügeln zur Messe zu schlagen‹? Soll te er sich nicht dem Grundsatz Ferdinands anschließen: ›Grausamkeit gegen Andersgläubige ist der höchste Grad der Frömmigkeit‹? Daß Pater Kiesel ihm geraten hatte, den Ungarn und Böhmen die Ausübung des Protestantismus zu gestatten, erschütterte die Gläubig keit Matthias'. In den Mittelpunkt des Machtkampfes der beiden Be kenntnisse gestellt, war der Kaiser das eine Mal der römischen Kirche treu, wenn es politisch günstig schien, das andere Mal neigte er dazu, Protestant zu werden, wenn er dadurch hoffen konnte, Aufstände oder gar den Krieg zu vermeiden. Er versuchte, den Mittelweg einzuhal ten. Aber die geistigen Führer der Gegenreformation verlangten eine entschiedene Stellungnahme. Sie entfernten Kiesel gewaltsam aus der Nähe des Kaisers. Die Gärung in Böhmen wurde unerträglich. Durch die protestantischen Stände ermuntert, verkündigten Prediger von 299
den Kanzeln: »Man geht damit um, den Majestätsbrief Rudolfs II. die Glaubensfreiheit und andere Vorrechte des Königreiches außer Kraft zu setzen.« Die Katholiken speisten die Aufregung der böhmischen Bevölkerung. Sie wünschten einen Bruch, in der Hoffnung, der erklär te Nachfolger des kränkelnden Matthias, Erzherzog Ferdinand, wer de ›der Mann der Entscheidung‹ sein. Sie verkündeten: »Ein neuer Kö nig – ein neues Gesetz«, und drohten den wohlhabenden böhmischen Protestanten mit der Beschlagnahme ihrer Güter und Verbannung, ja selbst mit Hinrichtung, wenn sie bei ihrem Glauben blieben. Mit erregter Aufmerksamkeit beobachteten die deutschen Fürsten in beiden Lagern die gefährlichen Zustände in den habsburgischen Län dern. Sie vermittelten zwischen dem Markgrafen von Brandenburg und dem Pfalzgrafen von Neuburg im jülich-cleveschen Erbfolgestreit und retteten den Frieden durch einen Teilungsvertrag, den beide Par teien annahmen. Aber sowohl die großen Herren der Liga als auch der Union waren sich dessen bewußt, daß Blut fließen würde. In einer ›In struktion‹ des Fürsten Christian von Anhalt wurde der protestanti sche Angriffsplan gegen den Kaiser und seine Verwandten festgehal ten: »Wenn wir Ungarn und Böhmen und Schlesien für uns haben, so kann sich das Haus Habsburg keiner anderen Kräfte gegen uns bedie nen als Österreichs, des verbündeten Bayern und einiger Bischöfe …« Der Herzog von Bayern aber rüstete mit aller Macht, um den Habs burgern gegebenenfalls zu Hilfe zu eilen. Er unterhielt freundschaft liche Beziehungen zum Thronerben Kaiser Matthias'. Die katholische und ständefeindliche Haltung Ferdinands sagte ihm zu. Er hatte un verblümt erklärt: »Ich will lieber über eine Wüste herrschen als über ein Land von Ketzern.« Auf Veranlassung Ferdinands focht Matthias die Gültigkeit des ›Ma jestätsbriefes‹ Rudolfs II. an. Dagegen traten die ›Defensoren‹ auf, die Rudolf ernannt hatte. Als Matthias seinen Neffen, Erzherzog Ferdin and, zum König von Böhmen krönen ließ, erklärten die Stände, denen Matthias die freie Königswahl zugesichert hatte, die Krönung Ferdin ands für ungültig. Der Kaiser verbot Versammlungen protestantischer Stände unter der Führung des Grafen von Thurn. Ein Aufstand brach 300
in Prag los. Die Protestanten begehrten eine Zusammenkunft auf dem Hradschin, dem Königsschloß, und warfen die königlichen Statthal ter Martinic und Slawata ›nach altem böhmischen Brauch‹ zum Fen ster hinaus. Der ›Fenstersturz von Prag‹ am 21. Mai 1618 war das Zeichen zum Ausbruch der von allen Seiten längst erwarteten Feindseligkeiten, die in Böhmen als Glaubenskrieg begannen und dreißig Jahre lang als po litischer, europäischer Krieg andauern sollten. IV Während sich erst verhältnismäßig kleine Truppenabteilungen in Be wegung setzten und es nur zu bedeutungslosen örtlichen Zusammen stößen kam, ergriffen dreißig von den Ständen gewählte ›Direktoren‹ die Macht in Böhmen. Sie stellten ein Heer auf, vertrieben die habs burgischen Besatzungen und schlossen Bündnisse mit den gleichge sinnten Ständen der anderen österreichischen Erblande und mit dem Fürsten von Siebenbürgen gegen Ferdinand II. der der Nachfolger von Kaiser Matthias geworden war. Während seiner zwanzigjährigen Herrschaft wiederholte sich in den Briefen Ferdinands ein vollkommen gleichlautender Satz: »Nie hat es einen gefährlicheren Augenblick für die Monarchie gegeben.« Je nach den gegebenen Umständen war es ein flammender Aufruf oder eine betrübte Feststellung. Immer war es die versteckte Bitte um Hilfe. Am gefährlichsten war die Lage Ferdinands, kurz nachdem er sich in der Hofburg als Kaiser und Herr eingerichtet hatte. Ein Graf Starhemberg hatte im Namen der österreichischen adligen Protestanten den böh mischen Grafen Thurn aufgefordert, einen Einfall in Österreich zu un ternehmen, ›wo man seiner wie eines Messias' harre‹. Thurn beeilte sich, der Einladung Folge zu leisten, und bemächtigte sich der Vor städte Wiens. Selbst der spanische Gesandte hielt Ferdinand für ver loren, denn auch die Wiener Stände drangen in großer Zahl bewaff 301
net in die Hofburg ein und erzwangen eine Audienz. Der Kaiser emp fing die Aufrührer allein, ohne Wachen. Seine einzige Waffe war sei ne Haltung. Er hörte zu, antwortete nicht auf die Drohungen, ließ sich kein Zugeständnis erpressen und vertraute auf Gott und die ›Genera lissima‹, wie er die Mutter Gottes, seine Schutzheilige, nannte. Und da Gott einige Abteilungen kaisertreuer Kürassiere in die Höfe der Burg leitete und ihn schon durch ihr Erscheinen aus der Gefahr rettete, ver traute Ferdinand, solange er lebte, in jeder Lage, wie verzweifelt sie auch sein mochte, auf den herrn und die ›Generalissima‹. Die böhmischen Stände sprachen die Absetzung Ferdinands aus und wählten das Haupt der protestantischen Union, den Kurfürsten von der Pfalz, zum König von Böhmen. Friedrich V. war der Schwieger sohn Jakobs I. der sich trotz der Volksstimmung in England zugunsten Friedrichs der Einmischung enthielt. Aber freiwillige englische Adlige meldeten sich zu den Fahnen des neuen Königs von Böhmen, der ein Heer ausrüstete. Kaiser Ferdinand II. blieb unerschüttert. Im eingebildeten Zwiege spräch mit der ›Generalissima‹ und in Besprechungen mit ihren er gebensten Dienern, den spanischen Jesuitenpadres, beriet er, welchen Generälen er seinen Schutz und den Schutz der Madonna anvertrauen und welche Herrscher er zu Hilfe rufen sollte. Die Beratung bewähr te sich. Maximilian von Bayern, der Führer der katholischen Liga, war bereit, Ferdinand seine Truppen zur Verfügung zu stellen. Sein Feld herr, Graf Tilly, schlug in der Schlacht am Weißen Berg bei Prag Fried rich V. von der Pfalz den ›Winterkönig‹, der die Truppen der Union und die protestantischen Böhmen befehligte.
Zwölf Jahre hatten sich die von Heinrich IV. als freie Staaten aner kannten sieben nördlichen Provinzen der Niederlande den von ihm vermittelten Waffenstillstand zunutze machen können und sich eine Machtstellung zur See errungen. Sie hatten, begeistert vom Begriff des ›Mare Liberum‹, der ›Freiheit der Meere‹, die der Delfter Grotius, der 302
Begründer der Völkerrechtswissenschaft, verkündigt hatte, alle Kräf te auf den Schiffbau und die Seefahrt verwendet. Grotius hatte gelehrt, daß das Meer frei sei, damit jedes Volk seine natürlichen Lebensbe dürfnisse auf dem zweckmäßigsten Wege decke. Das entspreche der Vernunft und stimme daher mit Gottes Willen überein. In Amster dam war eine Wechselbank errichtet worden, und ihre reichen Kauf leute galten als die Bankiers Europas. Die Schaffung der niederlän disch-ostindischen Kompanie, die es sorgfältig vermied, mit der engli schen Ostindienkompanie in Wettbewerb zu treten, genügte dem Un ternehmungsgeist der freien Niederländer nicht. Ihre Handelsschiffe beförderten auch englische Frachten. Da sie schon im Kampf gegen Philipp II. portugiesische Besitzungen in Südamerika besetzt und aus gebaut hatten, wagten sie es, nun auch an unerforschten Küsten Nord amerikas Anker zu werfen und als ehrenwerte Kaufleute mit den ein geborenen Indianern um die Überlassung eines Hafens zu verhan deln. Sie kauften die Insel Manhattan, die an der Mündung des später Hudson-River genannten Stromes lag, um eine geringe Summe, die sie gleich wieder durch den Verkauf von Waren an die Indianer zurücker hielten. Die Stadt, die sie gründeten, benannten sie nach der reichsten Stadt ihrer Heimat ›Neu-Amsterdam‹ und ließen sich in der Ausbrei tung ihres Handels nicht dadurch beirren, daß der Waffenstillstand mit Spanien zu Ende war. Auch sie wurden Kriegsteilnehmer, aber das Meer war weit, und sie konnten in ihren Häfen durch die Beschaffung von Waren und die Verleihung von Geldern ihren Verbündeten helfen, auch wenn sie die geschlagenen Truppen der Union nur durch wenige Bewaffnete verstärkten. Sie taten ein übriges: sie gewährten dem ›Win terkönig‹ fürstliche Zuflucht, als ihn sein Schwiegervater, Jakob I. von England, im Stich ließ.
In den Jahren nach der Schlacht am Weißen Berg bei Prag boten die Buchhändler in den habsburgischen Ländern auf ihren Ständen ne ben den Kirchen der Städte und Dörfer reichbebilderte Flugblätter feil, 303
die in großen Mengen abgesetzt wurden. Wer es wollte, konnte den Prozeß, der den aufrührerischen protestantischen Adligen Böhmens im Namen des Kaisers gemacht worden war, bildhaft sehen und sich durch die Betrachtung der grausamen Hinrichtungen der Verurteil ten das Gruseln lehren lassen. Gevierteilte Körper hingen auf Spieße gesteckt aus den Fenstern der böhmischen Adelspaläste. Folterknech te rissen hier ›frechen Gotteslästerern‹ die Zunge aus, dort baumelten andere Ketzer, mit der Zunge an den Galgen genagelt, im leeren Raum. Und damit jeder Beschauer sich überzeuge, daß es für ›verdammte Protestanten‹, welchen Ranges sie auch sein mochten, kein Erbarmen gebe, konnte er auf den Abbildungen protestantische Gräfinnen und Freifrauen auf den Knien rutschen sehen, wie sie Seine Durchlaucht, Fürst Liechtenstein, den Statthalter des Kaisers in Böhmen, vergeblich um Verzeihung ›für ihre Herren‹ baten. Erbarmen für Ketzer gab es in den Ländern Kaiser Ferdinands II. nicht. Das unveränderlich mild lächelnde Gesicht der ›Generalissima‹, die Seiner Majestät gütig zu geneigt war, die holde Musik der Orgel erhoben den Kaiser über den grausamen Alltag, den er um des Glaubens willen blutig färbte. Er lag auf den Knien, betete und fastete. Tat er nicht alles, um Gott zu ge fallen? Er hatte den Krieg nicht gewollt. Er durfte nicht schwach wer den, um der ewigen Barmherzigkeit willen keine irdische Barmherzig keit üben. Als er die Todesurteile böhmischer protestantischer Adliger unterzeichnete, sagte er mit Tränen in den Augen: »Ich gäbe mein Le ben darum, wenn ich dadurch alle diese Ungläubigen gläubig machen könnte.« Ferdinand hatte in seiner Jugend an den Türkenkriegen teilgenom men. Aber den ›Religionskrieg‹ lernte er nur durch das Umstellen von Fähnchen auf Landkarten kennen, die seine Räte ihm vorlegten. Die Fähnchen waren die Truppeneinheiten, die über das gesamte Hoheits gebiet des Hauses Habsburg und des Römischen Reiches Deutscher Nation verteilt waren. Die Bewegung der Fähnchen auf dem ›Kriegs theater‹ war ein aufregendes Spiel für den Kaiser. Er glaubte fest, daß er den kurzen Frieden mit dem Fürsten von Siebenbürgen zunächst seiner ›Generalissima‹ und dann der Tapferkeit der Fähnchen und sei 304
ner ungarischen Parteigänger verdankte. Es war ihm recht, daß Til ly, der Feldherr seines bayrischen Vetters, die Länder des aus Böhmen vertriebenen ›Winterkönigs‹ Friedrichs V. von der Pfalz mit Hilfe spa nischer Truppen eroberte und verwüstete. Aber er wollte nicht zur Kenntnis nehmen, daß der Anmarsch von zweitausend Soldaten, die Graf Mansfeld im Auftrag des Herzogs von Savoyen den protestanti schen deutschen Fürsten zu Hilfe sandte, die vollkommene Beraubung und Verwüstung der Länder bedeutete, durch die der Graf zog. Eine neue Art der Kriegsführung hatte begonnen. Der Krieg be deutete nicht mehr nur den Kampf von Soldaten gegen Soldaten. Das Schlachtfeld war nicht mehr nur das von den Feldherren zur Schlacht abgesteckte Gebiet. Der Krieg war allgemein. Es wurde keine Gnade gewährt, nicht Greisen, nicht wehrlosen Frauen, nicht Kindern. Graf Mansfeld war zu dieser grausamen Kriegsführung nicht aus Erfin dungsreichtum gekommen. Die Not zwang ihn dazu. Seine Söldner hätten aus der Kriegsentschädigung bezahlt werden sollen, die nach dem ursprünglich gewiß scheinenden Sieg als gesichert anzunehmen war. Aber der Kaiser war nicht geschlagen worden, es gab keine Kriegs entschädigung, und Graf Mansfeld hatte kein Geld, seine Mannschaf ten zu bezahlen und Lebensmittel zu kaufen. Wenn er sich mit sei nen Söldnern einer Heeresgruppe anschloß oder wenn eine Heeres gruppe seinem Befehl anvertraut wurde, war die Richtung, die er ein schlug, durch die Aussicht auf Beute bestimmt. Seine Söldner plünder ten Städte, Schlösser und Dörfer mit solchem Erfolg, daß die Freibeu tereien des Grafen Mansfeld im Römischen Reich Deutscher Nation und in den habsburgischen Ländern bald größere und kleinere Herren zur Nachahmung aufmunterten.
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V
Der ›Große Plan‹ Heinrichs IV. hatte den ›guten König‹, wenn auch nur zum Teil, überlebt. In der ersten Zeit der Regentschaft Maria von Medicis für ihren Sohn Ludwig XIII. schien es allerdings keinen An laß für Frankreich zu geben, gegen die Habsburger aufzutreten. Dem jungen König wurde Anna von Österreich, eine Tochter Philipps III. versprochen und die Königinmutter hatte alle Mühe, sich der immer wachsenden Ansprüche des hohen Adels zu erwehren. Erst als Ludwig XIII. großjährig erklärt wurde und Kardinal Richelieu nach dem spa nischen Muster des Herzogs von Lerma die Zügel der Herrschaft über nahm, zeigte es sich, wie nützlich Frankreich eine starke Hand sein konnte. Richelieu brach mit Gewalt und Geschicklichkeit die Selbständig keit des französischen Adels, machte die Krone unabhängig von den Reichsständen und bekämpfte den hugenottischen ›Staat im Staat‹ er folgreich, um die einheitliche Macht eines ›absoluten‹, eines unbeding ten Königtums in dem von ihm beabsichtigten Kampf gegen die Habs burger in die Waagschale werfen zu können. Er setzte die Politik Hein richs IV. der die militärische Grundlage dazu geschaffen hatte, in der Erkenntnis fort, daß Frankreich nur bestehen und groß werden könne, wenn es fähig wäre, sich gegen die Übermacht der vereinigten Häu ser Habsburg in Spanien und Österreich zu halten. Frankreich muß te die Umklammerung lockern, die im Süden an der Pyrenäengrenze und im Norden durch die spanischen Niederlande, im Nordosten aber durch das Römische Reich Deutscher Nation sein Dasein bedrohte. Als Kardinal war Richelieu der Erzfeind der Protestanten innerhalb der Grenzen Frankreichs. In seinen Beziehungen zu fremden Mächten aber ließ er sich nicht von Glaubensdingen leiten. Er tat es um so we niger, als er wußte, daß der protestantische König von Dänemark und die protestantischen deutschen Fürsten, mit denen er sich verband, ih rerseits ihre Kriege gegen den Kaiser keineswegs um des Glaubens wil len führten. Das bewiesen sie zur Genüge durch ihr Bündnis mit ihm 306
selbst, dem katholischen Kardinal des allerchristlichsten Königs, in dessen Namen er gegen die Hugenotten auftrat. Aufgemuntert durch Richelieu, trat Christian IV. von Dänemark an die Spitze des Bundes der deutschen protestantischen Fürsten. Mit ei nem besorgten Blick auf die Fähnchen seiner Landkarte erklärte Fer dinand II. im Kronrat: »Nie hat es einen gefährlicheren Augenblick für die Monarchie gegeben.« Alle Mannschaften, über die er und Maxi milian von Bayern verfügten, mußten nach dem Norden. In den von Truppen entblößten habsburgischen Erblanden aber, in Österreich, in Böhmen und in Ungarn, begann der letzte Verzweiflungskampf der Aufständischen, die sich dem Blutgericht des Kaisers hatten entziehen können. Es war nicht mehr ein Aufstand nur um des Glaubens willen. Der Kaiser hatte nicht alle Protestanten auf dem Schafott um einen Kopf kürzer gemacht. Aber er hatte alle um ihr Gut und um ihre Güter ge bracht. Die Beschlagnahme des Besitzes der protestantischen Adligen hatte es ihm ermöglicht, treue Anhänger mit fremdem Gut zu beloh nen und durch ihre Anhänglichkeit an den neu erworbenen Grundbe sitz die Anhänglichkeit an das Haus Habsburg zu gewährleisten. Be schlagnahmte und neu verliehene Ländereien kamen billig auf den Markt. Der größte Nutznießer des ertragreichen Handels wurde der böhmische Adlige Albrecht von Waldstein-Wallenstein, der nach dem Tode seiner streng protestantischen Eltern von einem katholischen Onkel in ein Jesuitenkloster gesteckt worden war und an nichts ande res glaubte als an sich selbst und die Sterne. Wallenstein war schon in frühester Jugend so ehrgeizig, daß er nur seine Großjährigkeit abwartete, um seine Armut durch die Ehe mit ei ner reichen ältlichen Witwe zu beendigen. Reichtum war nicht Selbst zweck für ihn: Geld war nur eine Stufe zur Macht. Als Ferdinand II. damals noch Erzherzog in der Steiermark, in Streitigkeiten mit der Re publik Venedig verwickelt war, hatte Wallenstein den Erzherzog um die Gnade gebeten, ihm zweihundert eisengepanzerte Pferde als Ge schenk übersenden zu dürfen. Der Empfänger bedankte sich bei dem uneigennützigen böhmischen Herrn bald nach seiner Erhebung zum 307
Kaiser mit einer Rangerhöhung Wallensteins und mit der Überlassung ungeheurer Güter aus dem beschlagnahmten Besitz protestantischer böhmischer Adliger. Wallenstein hatte inzwischen seine erste, die ält liche Frau beerbt und sich mit einer zweiten, jungen, aber nicht minder reichen vermählt. In den ungarischen und böhmischen Feldzügen hat te er sich als schneidiger Reiteroberst bewährt und war für seine Dien ste und in Anerkennung der Tatsache, daß ein Mann, der ein wahrhaft fürstliches Gebiet sein eigen nannte, einen hohen Titel verdiente, zum Herzog von Friedland erhoben worden. In der Verzweiflung, die der Angriff Christians von Dänemark ihm verursachte, während ein neuer Angriff des Fürsten von Siebenbür gen drohte und die Söldner Graf Mansfelds die habsburgischen Länder verwüsteten, glaubte der Kaiser verloren zu sein. Maximilian von Bay ern drängte ihn, Truppen aufzustellen. Ferdinand hatte weder Geld noch Mannschaften. Nur die ›Generalissima‹ konnte ihm helfen. Ihr zu Ehren ernannte er Wallenstein, der ihm anbot, auf eigene Kosten ein Heer anzuwerben und zu erhalten, voll Zuversicht zum kaiserli chen ›Generalissimus‹. Die Neider Wallensteins warnten den Kaiser. Wie sollte der Herzog von Friedland, der schließlich nicht mehr als ein schwerreicher Groß grundbesitzer war, die ungeheuren Geldsummen aufbringen, die nö tig waren, ein Heer zu erhalten? Und woher würde er die Männer neh men? Während Ferdinand noch zweifelte, gab Wallenstein schon die Antwort. Abgesprengt von ihrem Truppenkörper, als Marodeure, in den Gegenden rings um die Schlachtfelder in den österreichischen Er blanden, lebten Tausende von Söldnern der feindlichen Heere, der pro testantischen und der katholischen. Die Werbetrommeln Wallensteins riefen sie zu den kaiserlichen Fahnen. Er bildete Regimenter, indem er Abenteurern die Möglichkeit gab, Oberste zu werden, und sie mit Geld ausstattete, den Mannschaften Handgeld zu zahlen. Innerhalb kurzer Zeit hatte er fünfzehntausend Mann auf den Beinen und fünftausend Berittene unter seinem Befehl. Jetzt hieß es, sie nach dem Muster des Grafen von Mansfeld auf großem Fuß zu erhalten: in Feindesland. Die Wahl Wallensteins zum Generalissimus war eine glückliche 308
Wahl für den Kaiser, eine unglückliche für die Bevölkerung aller Län der, in denen Wallenstein seine berüchtigten Kriegslager aufschlug. Er bezahlte seine Soldaten besser als alle anderen. Er konnte es sich lei sten, denn er erhob höhere Kriegssteuern und ließ gründlicher plün dern. Er war seinem Meister, dem Grafen Mansfeld, nicht nur in der Aufbringung von Beute überlegen, sondern auch als Feldherr. Er führ te nicht Krieg um des Krieges willen. Er hatte das Ziel: Macht, immer mehr Macht. Der Feldzug in Böhmen, in Mähren, in Ungarn war beendigt. Der Fürst von Siebenbürgen schloß wieder, und diesmal einen sicheren, Frieden mit dem Kaiser. Gestützt auf einen Befehlshaber wie Wallen stein, der das ganze Königreich Böhmen von allen Feinden und Geg nern gesäubert hatte, konnte Ferdinand II. es unternehmen, eine neue Verfassung für Böhmen zu erlassen. Er erklärte die heilige Wenzels krone für erblich im Hause Habsburg, während Wallenstein einen großen Eroberungszug begann. Es ging nach dem Norden. Erst nahm er, mit Tilly vereinigt, Holstein ein, dann, auf eigene Faust, Schleswig, Jütland und Mecklenburg. Zur Belohnung für diese Siege erhielt Wal lenstein vom Kaiser das Herzogtum Mecklenburg zum Geschenk und wurde, nachdem er den mächtigsten Bundesgenossen der deutschen Protestanten, König Christian von Dänemark und Norwegen, bis an die Nordsee zurückgetrieben und zum Frieden gezwungen hatte, zum ›General des ozeanischen und des baltischen Meeres‹ ernannt.
Kurze Zeit vor dem Friedensschluß des Kaisers mit dem König von Dänemark hatte Kardinal Richelieu die Schwäche der deutschen Pro testanten zum Anlaß genommen, La Rochelle, den stärksten ›Sicher heitsplatz‹ der Hugenotten, zu erobern. Damit war ihr letzter politi scher Widerstand gebrochen. Darum war es dem Kardinal zu tun ge wesen. Er gewährte den Besiegten das Recht der Glaubensausübung und sandte dem jungen König Gustav II. Adolf von Schweden das nö tige Geld, um sein Heer zur Befreiung der unterdrückten deutschen 309
Protestanten gebührend ausrüsten zu können. Es war ein guter Au genblick für einen neuen Angriff auf den Kaiser und das Haus Habs burg. Ferdinand II. hätte freie Hand zur Brechung des Protestantismus im Römischen Reich Deutscher Nation gehabt, wenn er nicht auf den Widerstand der katholischen Fürsten gestoßen wäre. Es nützte ihm nichts, daß er durch das ›Restitutionsedikt‹ die Rückgabe der von den Protestanten eingezogenen geistlichen Güter verfügte und dadurch den Katholizismus in Deutschland gewaltig stärkte. Die Siege Wallen steins hatten die Macht des Kaisers so erhöht, daß selbst seine Glau bensgenossen auf den deutschen Fürstenthronen für ihre Unabhän gigkeit als Reichsfürsten zu fürchten begannen. Wallenstein, der die se Übermacht herbeigeführt hatte, mußte entfernt werden. Es gelang den katholischen Fürsten, den Kaiser an seiner schwachen Stelle zu fassen. Während seiner Kriegszüge hatte Wallenstein keinen Unter schied zwischen Katholiken und Protestanten gemacht, wenn es sich darum gehandelt hatte, Geld und Lebensmittel für sein Heer aus den Bevölkerungen von Ländern, Städten und Dörfern zu pressen. Er be gann auch dem Kaiser zu groß zu werden. Die Jesuiten warnten Ferdi nand vor dem Generalissimus, der sich nicht im Gebet göttlichen Rat holte, sondern auf seiner Sternwarte mit seinen Astronomen beriet. Auf dem Kurfürstentag zu Regensburg erzwang Maximilian von Bay ern die Entlassung Wallensteins. Auf seinen böhmischen Gütern wie ein unabhängiger Herrscher le bend, überschaute der Herzog von Friedland mit klarer Überlegen heit die weltpolitische Lage. Der Glaubenskrieg hatte sich eindeutig als Kampf der europäischen Mächte um die Übermacht in Europa entpuppt. Der einzige Herrscher, der sich in seinem unverrückbaren Glauben nicht davon überzeugen lassen wollte, war Kaiser Ferdinand II. Gegen den Einfluß der Jesuiten war es nicht möglich, ihn zur Wie dereinsetzung seines besten Feldherrn zu gewinnen. Wallenstein wuß te, daß er vom Kaiser nur als Werkzeug gebraucht worden war. Er war entschlossen, auf die Gelegenheit zu warten, die es ihm ermöglichen würde, seinerseits den Kaiser als Werkzeug zu gebrauchen. Die Ereignisse überstürzten sich. Gustav II. Adolf von Schweden war 310
in Pommern gelandet und in deutsches Reichsgebiet eingefallen. Er trieb die kaiserlichen und bayrischen Truppen aus den noch kurz vor her von Tilly und Wallenstein besetzten Gebieten zurück. Tilly, der 1631 Magdeburg erobert hatte, das Entsetzliches unter seinen Trup pen erleiden mußte, wurde von ihm bei Breitenfeld geschlagen; im fol genden Jahr fiel Tilly in der Schlacht bei Rain am Lech. Die Sachsen verbündeten sich mit den Schweden und eroberten Prag. Beinahe das ganze Römische Reich Deutscher Nation stand unter der Oberherr schaft Gustavs II. Adolf. Es war eine Fremdherrschaft. Aber die Persönlichkeit des Schweden königs, dem selbst seine Gegner zugestanden, daß seine Handlungen, auch wenn sie auf persönliche Vorteile abspielten, durch die Kraft sei nes Glaubens bestimmt waren, und die seine ehrliche Rechtschaffen heit nicht bestritten, war so überragend, daß viele protestantische Für sten und Stände sich mit dem Gedanken trugen, den siegreichen Feld herrn und gerechten Herrscher zum Kaiser auszurufen. Wieder einmal war der ›gefährlichste Augenblick für die Monar chie‹ gekommen. Ferdinand II. wußte keinen anderen Rat, als seinem bewährten Freund, dem Herzog von Friedland, neuerlich den unbe schränkten Oberbefehl über alle kaiserlichen Truppen anzubieten. Darauf hatte Wallenstein gewartet. Er nahm unter der Bedingung an, daß es ›in absolutissima forma‹, mit den weitestgehenden Vollmach ten geschehe. Die Ereignisse vor der berühmten Schlacht von Lützen, in der die Heere des Königs von Schweden und Wallensteins aufeinander stie ßen, schilderte Conrad Ferdinand Meyer in seinem Werk ›Gustav Adolfs Page‹ mit dichterischer Kraft.
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Gustav Adolfs Page
von Conrad Ferdinand Meyer
I
Im Kontor des nürnbergischen Patrizierhauses der Leubelfing saßen Vater und Sohn einander gegenüber und addierten, jeder für sich auf einem Stück Papier, die gleiche lange Reihe von Posten. Der schmäch tige August, der dem Vater verblüffend ähnlich sah, erhob die spitze Nase zuerst von den zierlich geschriebenen Zahlen. Während er auf den bedächtigeren Vater wartete, nicht ohne einen Anflug von Selbst gefälligkeit in dem schmalen, sorgenvollen Gesicht, legte ein Diener einen umfangreichen, mit einem schweren Siegel verschlossenen Brief auf den geräumigen Schreibtisch. Erstaunt blickte der alte Leubelfing von seiner Addition auf: »Wer hat das Schreiben gebracht?« fragte er. »Ein Kornett von den schwedischen Karabinieren«, meldete der Die ner. »Er wird sich pünktlich in einer Stunde wieder einfinden.« Ver traulich setzte er hinzu: »Der Herr Offizier ist inzwischen nebenan im Rathaussaal, um unsere weltberühmten Schildereien zu bewundern.« Der Handelsherr erkannte auf den ersten Blick die kühnen Schrift züge der Majestät des schwedischen Königs auf dem Umschlag. Er er schrak ein wenig über die große Ehre des eigenhändigen Schreibens. Sollte Gustav Adolf, den er in seinem neuerbauten Haus, dem schön sten von Nürnberg, bewirtet und gefeiert hatte, bei ihm eine Anlei he machen wollen? Da Leubelfing unermeßlich begütert war und die Gewissenhaftigkeit der schwedischen Rentkammer kannte, erbrach er das königliche Siegel ohne sonderliche Besorgnis. Aber sein geschmei cheltes Lächeln erstarrte, als er die wenigen Zeilen des in königlicher Kürze verfaßten Schreibens überflog. Er wurde bleich wie die getünch te Decke des Raumes, deren Stuck in hervorquellenden Formen die Opferung Isaaks durch Vater Abraham darstellte. Auch August, der 313
den alten Leubelfing beobachtete, erbleichte, denn die plötzliche Ent färbung des vertrockneten Gesichts kündete großes Unheil. Seine Be stürzung wuchs, als ihn der alte Leubelfing über den Brief hinweg mit einem wehmütigen Ausdruck väterlicher Zärtlichkeit ansah. »Um Gottes willen«, stotterte August, »um was handelt es sich?« Der alte Leubelfing reichte seinem Sohn den Brief mit zitternder Hand. August las: »Lieber Herr! Wissend und Uns wohl erinnernd, daß der Sohn des Herrn den Wunsch nährt, als Page bei Uns einzutreten, melden Wir hiermit, daß dieses heute geschehen und völlig werden mag, dieweil Unser voriger Page, der Max Beheim seliger (mit nachträglicher Ehrenmeldung des vorvorigen, Utzen Volkamers seligen, und des fürdervorigen, Götzen Tuchers seligen) heute bei währendem Sturme nach beiden ihm von einer Stückkugel abgerissenen Beinen in Unseren Armen sänftiglich entschlafen ist. Es wird Uns zu besonderer Genugtuung gereichen, wieder einen aus der evangelischen Reichsstadt Nüremberg, welcher Stadt Wir fürnehmlich gewogen sind, in Unseren nahen Dienst zu nehmen. Eines guten Unterhaltes und täglicher christlicher Vermahnung seines Sohnes kann der Herr gewiß sein. Des Herrn wohl affektionierter Gustavus Adolphus Rex.« »O du meine Güte«, jammerte August. »Jetzt trage ich meinen Toten schein in der Tasche! Und Ihr, Herr Vater – mit allem Respekt gesagt –, werdet die Schuld an meinem frühen Hinscheiden tragen. Denn wer, wenn nicht Ihr, könnte dem König eine so irrtümliche Meinung von meinen Wünschen und Absichten beigebracht haben? Daß Gott er barm!« seufzte er und blickte aufwärts auf die Stuckgruppe. Er sah ge radewegs auf das schwebende Messer des gipsernen Erzvaters. 314
»Du brichst mir das Herz mit deinen Vorwürfen!« erwiderte der Alte verzagt. »Vermaledeit sei das Glas Tokajer, das ich zuviel getrun ken –« »Herr Vater«, unterbrach ihn August, der mitten im Elend den Kopf noch erstaunlich klar behielt: »Berichtet mir, wie sich das Unglück er eignet hat.« »Du erinnerst dich doch an das üppige Gastmahl«, begann der Alte zerknirscht seine Beichte, »das ich dem König bei seinem ersten Ein zug gab. Es kam mich teuer zu stehen –« »Dreihundertneunundneunzig Gulden und elf Kreuzer, Herr Va ter«, warf der Junge weinerlich ein. »Und ich habe nicht einen Tropfen von dem herrlichen Wein kosten können, denn ich hatte einen nassen Umschlag über dem Auge und durfte nicht aus der Kammer. Die Gu stel hat mir den Federball ins Auge geschmissen, als gerade ein Trom petenstoß schmetterte und sie glaubte, der Schwede halte Einzug. Sie war halb unsinnig und närrisch vor Freude, den König zu sehen. Mein rechtes Auge hat die Rechnung bezahlt.« Er hielt atemlos inne: »Aber redet weiter, Herr Vater.« Der alte Leubelfing zuckte unglücklich die Achseln und fuhr fort: »Nachdem das Essen abgetragen war und wir bei den Früchten und Kelchen saßen, brauste ein Jubelsturm durch den Saal und unten über den Platz durch das Kopf an Kopf versammelte Volk. Alle wollten sie den König sehen. Die Humpen dröhnten, und bei offenen Fenstern wurde auf die Gesundheit angestoßen und oben und unten gejauchzt. Dazwischen schrie eine klare, durchdringende Stimme: ›Hoch Gustav, König von Deutschland!‹ Es wurde mäuschenstill im Saal, denn das war ein starkes Ding. Der König spitzte die Ohren und strich sich den Zwickel. ›Solches darf ich nicht hören‹, sagte er: ›Ich bringe ein Hoch der evangelischen Reichsstadt Nürnberg!‹ Nun erst brach der gan ze Jubel aus. Alles ging drüber und drunter! Nach einer Weile schob mich die Majestät von ungefähr in eine Ecke: ›Wer hat den König von Deutschland hochleben lassen, Leubelfing?‹ fragte er mich leise. Nun stach mich alten, betrunkenen Esel die Prahlsucht« – der alte Mann schlug sich vor die Stirn, als klage er sie an, ihn nicht besser beraten 315
zu haben. »Ich antwortete: ›Majestät, das war mein Sohn, der August. Tag und Nacht sinnt er auf nichts anderes, als wie er als Page in Euren Dienst treten kann.‹ Trotz meines Rausches wußte ich genau, daß der königliche Leibdienst von Götz Tucher versehen wurde und der Bür germeister Volkamer nebst dem Schöffen Beheim ihre Buben als Pagen empfohlen hatten. Ich sagte es auch nur, um hinter meinen Nachbarn, dem alten Tucher und dem Großmaul, dem Beheim, nicht zurückzu stehen. Wer konnte denken, daß Gustav Adolf die ganze Nürnberger Ware in Bayern verbrauchen würde –« »Aber was wäre geschehen, wenn der König mich mit meinem blau en Auge hätte holen lassen?« »Auch daran hatte ich gedacht, August! Ich rechnete eben mit der Vergeßlichkeit seiner Majestät. Der verschmitzte Spitzbube, der fran zösische Botschafter Charnace, lärmte im Vorzimmer. Schon dreimal hatte er sich melden lassen und war gar nicht abzuwimmeln. Der Kö nig ließ ihn dann eintreten und hudelte den Ambassadeur vor uns Pa triziern, daß einem deutschen Mann das Herz im Leibe lachen muß te. Nichts von alledem hatte ich in der Geschwindigkeit unerwogen ge lassen –« »So viel und so wenig Weisheit, Vater!« seufzte August. Dann steckten die beiden die Köpfe zusammen, um eine Lösung zu finden, eine Remedur, wie sie es nannten. Sie dämpften ihre Stimmen, denn plötzlich fiel ihnen trotz ihrer Aufregung ein, daß im Nebenzim mer Angestellte und Lehrlinge arbeiteten und sie nicht laut sprechen durften, wenn sie nicht gehört werden wollten. Sie fanden keinen Rat. Ihre Gebärden wurden immer ängstlicher und besorgter, als im Gang ein kräftiger Alt das Leiblied Gustav Adolfs anstimmte: »Verzage nicht, du Häuflein klein,
Ob auch die Feinde willens sein,
Dich gänzlich zu zerstören!«
Ein gertenschlankes Mädchen mit lustigen Augen, kurzgeschnittenen Haaren, knabenhaften Formen und reitermäßigen Manieren trat ein. 316
»Willst du uns die Ohren zersprengen, Base?« murrten Vater und Sohn beinahe gleichzeitig. Sie musterte das trübselige Paar: »Was hat's gegeben, Herr Ohm und Herr Vetter? Ihr habt ja beide ganz bleiche Nasenspitzen!« Ohne Umstände griff sie nach dem verhängnisvollen Brief, der zwi schen den Hilflosen lag. Sie verschlang mit leidenschaftlichen Blik ken die kräftig hingeworfene Unterschrift des Königs. Die schreckhaf te Haltung ihrer Verwandten wurde ihr klar. Sie lächelte: »Zu Tisch, Ihr Herren!«, und schritt den beiden Leubelfingen voran in das Spei sezimmer. Während des Essens ging es dem gutherzigen Mädchen nahe, wie den Leubelfingen jeder Bissen im Munde steckenblieb. Sie ließ abtra gen, setzte ihren Stuhl zurück, kreuzte die Arme übereinander und ließ sich von ihrem Onkel den ganzen verfänglichen Handel vortra gen. Als der alte Leubelfing geendet hatte, konnte Gustel ihr keckes We sen nicht beherrschen. »Wenn ich denke«, sagte sie, »wer es war, der das Hoch auf den König ausgebracht hat!« »Wer denn?« fragte August. »Niemand anders als ich«, erwiderte sie selbstbewußt. »Hol dich der Henker, Mädchen!« grollte der alte Leubelfing. »Gewiß hast du den blauen schwedischen Soldatenrock, den du dir im Schrank hinter deinen Schürzen aufhebst, angezogen und dich im Speisesaal an deinen Götzen herangeschlichen, statt dich züchtig unter den Wei bern zu halten.« »Sie hätten mir nur den hintersten Platz gegeben«, erwiderte das Mädchen zornig, »die kleine Hallerin, die große Holzschuherin, die hochmütige Ebnerin, die schiefe Geuderin, die alberne Creßerin, tut te quante, die dem König das Geschenk unserer Stadt, die beiden sil bernen Trinkschalen, die Himmelskugel und die Erdkugel, überrei chen durften.« »Wie kann ein schamhaftes Mädchen, und das bist du, Gustel, es nur über sich bringen, Männertracht zu tragen!« zankte August. »Männertracht?« erwiderte Gustel ernst. »Du meinst die Tracht mei 317
nes Vaters, in der noch neben der Brusttasche das gestopfte Loch sicht bar ist, das der Degen des Franzosen gerissen hat. Ich brauche nur ei nen schrägen Blick zu tun, so sehe ich den Riß, und wenn ich den Rock anhabe, wirkt er wie eine Predigt. Dann –« sie brach in ein Lachen aus: »Dann wollen mir die Weiberröcke auch gar nicht sitzen. Kein Wun der, daß sie mich schlecht kleiden, da ich doch bis in mein vierzehn tes Jahr mit dem Vater und der Mutter in kurzem Habit zu Rosse ge sessen bin.« »Liebe Base«, jammerte der junge Leubelfing, nicht ohne Zärtlich keit, »seit dem Tode deines Vaters bist du hier wie das Kind des Hau ses gehalten worden, und nun hast du mir das eingebrockt! Du lieferst deinen leibhaftigen Vetter wie ein Lamm auf die Schlachtbank! Der Utz wurde durch die Stirn geschossen, der Götz durch den Hals!« Eine Gänsehaut überlief August. »Wenn du mir wenigstens einen guten Rat wüßtest, Base!« »Einen guten Rat«, sagte sie fest, »den will ich dir geben: Halte dich wie ein Nürnberger, wie ein Leubelfing!« »Ein Leubelfing!« höhnte der alte Herr. »Muß denn jeder Nürnber ger und jeder Leubelfing ein Raufbold sein, wie der Rupert, dein Vater, Gott hab' ihn selig, der als Zehnjähriger mich, den älteren, auf einem Leiterwagen entführte, umwarf, heil blieb und mir zwei Rippen brach? Welche Laufbahn! Mit fünfzehn zu den Schweden durchgegangen, mit siebzehn eine Fünfzehnjährige vor der Trommel geheiratet, mit drei ßig in einem Raufhandel das Zeitliche gesegnet!« »Das heißt«, unterbrach das Mädchen, »er fiel für die Ehre meiner Mutter –« »Weißt du mir keinen Rat, Bäschen?« drängte August. »Du kennst den schwedischen Dienst und die natürlichen Fehler, die davon frei machen. Worauf kann ich mich bei dem König ausreden?« Gustel brach in ein tolles Gelächter aus. »Wir wollen dich, wie den jungen Achill im Bildwerk dort am Ofen, unter die Mädchen stecken, und wenn der listige Ulysses vor ihnen das Kriegszeug ausbreitet, wirst du nicht auf ein Schwert losspringen.« »Ich gehe nicht!« erklärte der durch diese mythologische Gelehrsam 318
keit seiner Base noch empfindlicher Geärgerte. »Ich bin nicht die Per son, die der Vater dem König geschildert hat.« Der alte Leubelfing packte den Sohn an beiden Armen: »Willst du mich ehrwürdigen Mann dem König als einen windigen Lügner hin stellen?« »Willst du mit deiner Feigheit den braven Namen meines Vaters ent ehren?« rief Gustel entrüstet. Außer sich schrie sie der junge Leubelfing an: »Geh du doch als Page zum König! Wenn ich dich ansehe, weiß ich, daß er, bubenhaft wie du aussiehst und dich beträgst, das Mädchen in dir ebensowenig vermu ten wird, als der Ulysses am Ofen, von dem du fabelst, in mir den Bu ben erraten hätte! Mach dich auf zu deinem Abgott und bet ihn an! Am Ende«, fuhr er fort, »wer weiß, ob du diesen Gedanken nicht schon lange in dir trägst? Du träumst doch vom Schwedenkönig, mit dem du als Kind in der Welt herumgefahren bist, wachend und schlafend. Als ich vorgestern auf dem Weg in meine Kammer an der deinen vorüber ging, hörte ich deine Traumstimme schon von weitem. Ich brauchte nicht an der Türe zu horchen. ›Der König!‹ hast du geschrien, ›Wache heraus! Präsentiert Gewehr!‹« August ahmte das Kommando mit schriller Stimme nach. Gustel wandte sich ab, Wangen und Stirne mit Purpurröte übergos sen: »Nimm dich in acht!« sagte sie und blickte ihn aus ihren warmen lichtbraunen Augen voll an. »Es könnte dazu kommen, daß ich für dich als Page gehe, und wenn es auch nur darum geschähe, damit der Name Leubelfing nicht nur von Memmen getragen wird!«
Das Wort war gesagt. Ein kindlicher Traum hatte Gestalt angenom men. Ein dreistes, aber nicht unmögliches Abenteuer bereitete sich vor. Das väterliche Blut trieb Gustel an. Aber die mädchenhafte Scham und Zucht überwogen den Überschuß ihres Mutes und ihrer Verwegenheit. Sie empfand auch allzu große Ehrfurcht vor dem König. Dennoch ge riet sie in den Strudel des Geschehens und wurde mit fortgerissen. 319
Der schwedische Kornett, der das Schreiben Gustav Adolfs gebracht hatte und den neuen Pagen ins Lager geleiten sollte, wurde gemeldet. Der alte Leubelfing, in Todesangst um seinen Sohn und um seine Fir ma, machte eine Bewegung, die Knie seiner Nichte zu umfangen, nicht anders als der greise Priamus, um den Körper seines Sohnes bittend, die Knie Achills umarmte, während der junge Leubelfing an allen Glie dern zu schlottern begann. Gustel machte sich mit einem krampfhaften Gelächter los und ent eilte durch eine Seitentür gerade in dem Augenblick, in dem der Kor nett sporenklirrend eintrat. Der Anblick des Offiziers, dem der Mut und das Lebensfeuer aus den Augen sprühten, spornte Gustel Leubelfing an. Sie wirtschaftete hastig, wie berauscht in ihrer Kammer, pack te einen Mantelsack, warf sich eilig die Kleider ihres Vaters über, die ihrem schlanken und knappen Wuchs wie angegossen saßen. Sie sank auf die Knie zu einem kurzen Stoßseufzer und betete um Vergebung und Begünstigung des Abenteuers. Als sie wieder den unteren Saal betrat, rief ihr der Kornett zu: »Rasch, Herr Kamerad! Es eilt! Die Rosse scharren! Der König erwartet uns! Nehmt Abschied von Vater und Vetter!« Mit einem Zug trank er den ihm vorgesetzten Römer leer. Der in schwedische Uniform gekleidete Scheinjüngling neigte sich über die Hand des alten Leubelfing, küßte sie mit Rührung und wur de von ihm dankbar gesegnet. Dann aber plötzlich in eine unbändige Lustigkeit übergehend, ergriff der falsche Page die Rechte des jungen Leubelfing und schwang sie hin und her: »Lebt wohl, Jungfer Base!« rief Gustel. Der Kornett schüttelte sich vor Lachen: »Hol mich, straf mich – was der Herr Kamerad für Späße vorbringt!« Er sagte ungeniert: »Mit Gunst und Verlaub, mir fiel es gleich auf: das reine alte Weib, der Herr Vetter! In jedem Zug, in jeder Gebärde, wie sie bei uns in Finnland sin gen: ›Ein altes Weib auf einer Ofengabel ritt –‹ Hol mich, straf mich!« Er entführte mit einem raschen Handgriff dem aufwartenden Stu benmädchen das Häubchen und stülpte es dem jungen Leubelfing auf den von spärlichen Flachshaaren umhangenen Kopf. Die spitze Nase 320
und das rückwärts fliehende Kinn Augusts vollendeten das Profil ei nes alten Weibes. Jetzt legte der leichtbezechte Kornett seinen Arm vertraulich in den des Pagen. Gustel aber trat einen Schritt zurück und legte die Hand auf den Knopf des Degens: »Herr Kamerad!« sagte er. »Ich bin ein Freund der Reserve und ein Feind naher Berührung!« »Potz!« sagte der Kornett, trat aber seitwärts und gab dem Pagen mit einer höflichen Handbewegung den Vortritt. Die beiden Wildfänge rasselten die Treppe hinunter. Lange noch ratschlagten die Leubelfinge. Daß für den jungen, wel cher seine Identität eingebüßt hatte, des Bleibens in Nürnberg nicht länger sei, war einleuchtend. Schließlich wurden Vater und Sohn ei nig. August sollte einen Zweig des Geschäfts nach Kursachsen, und zwar nach der aufblühenden Stadt Leipzig, verpflanzen, nicht unter dem verscherzten patrizischen Namen, sondern unter dem plebeji schen ›Laubfinger‹, nur auf kurze Zeit, bis die liebe Base, der jetzige August von Leubelfing, neben dem König vom Roß und in den Tod ge stürzt sei, welches Ende nicht auf sich warten lassen würde. Als der vertauschte Kaufherrnsohn sich nach der traurigen Beratung erhob und seinem Bild im Spiegel begegnete, trug er über seinen ver störten Zügen noch das Häubchen, das ihm der schwedische Tauge nichts aufgestülpt hatte.
II
»Höre, Page Leubelfing! Ich habe ein Hühnchen mit dir zu rupfen. Wenn du mit deinen flinken Fingern in den dringendsten Fällen dem König, meinem Herrn, eine aufgehende Naht seines Rockes zunähen oder einen fehlenden Knopf ersetzen würdest, vergäbest du deiner Pagenwürde nicht das geringste. Hast du denn in Nürnberg Mütterchen 321
oder Schwesterchen nie über die Schulter auf das Nähkissen geschaut? Ist es doch eine leichte Kunst, die dich jeder schwedische Soldat lehren kann. Du rümpfst die Stirne, Unfreundlicher? Sei artig und folgsam! Sieh da mein eigenes Nähzeug! Ich schenk' es dir.« Ihre Majestät die Königin von Schweden, die geborene Brandenbur gerin, reichte dem Pagen Leubelfing ein Nähzeug von englischer Ar beit, das Zwirn, Fingerhut, Nadel und Schere enthielt. Sie hielt die Sor ge für den König als ihre eheliche Pflicht, obwohl es hieß, daß sie ihm nur aus Eifersucht überallhin nachreise. So hatte sie ihn auch mitten in seinem unseligen Lager bei Nürnberg, in dessen Mitte er einen vom Krieg halb verwüsteten Edelsitz bewohnte, mit ihrem zärtlichen Be such überrascht. Sie entnahm dem Etui einen silbernen Fingerhut und steckte ihn an den widerstrebenden Finger des Pagen: »Ich binde dir's aufs Gewissen, Leubelfing, daß mein Herr und König stets ordentlich und vollständig einhergehe.« »Den Teufel scher' ich mich um Nähte und Knöpfe, Majestät«, erwi derte Leubelfing unmutig errötend, aber mit einer so drolligen Miene und einer so angenehm markigen Stimme, daß die Königin sich kei neswegs beleidigt fühlte, sondern mit einem herablassenden Lächeln ihn in die Wange kniff. In den Ohren des Pagen klang die lachende Stimme ihrer Majestät hohl und albern. Er empfand einen Widerwillen gegen die erlauch te Fürstin, von dem sie keine Ahnung hatte. Der König, der auf der Schwelle des Gemachs den Auftritt belauscht hatte, brach in ein herz liches Gelächter aus, als er seinen Pagen mit dem Raufdegen an der lin ken Hüfte und einem Fingerhut an der rechten Hand sah. »Aber Gust«, sagte er, »du fluchst ja wie ein Papist oder Heide! Ich habe noch viel an dir zu erziehen.« Gustav Adolf hatte ein besonderes Wohlwollen für seinen Pagen. Er, der jeden seiner Leute, auch den Geringsten, mit Wohlwollen behan delte, war ganz besonders eingenommen von dem offenkundig gutge arteten Jungen, der unter seinen Augen lebte und nicht von seiner Sei te wich. Er war auch ein unverdorbener Bursche, der bei dem gering 322
sten Anlaß wie ein Mädchen bis unter das Stirnhaar errötete! Vor al lem aber vergaß Gustav Adolf es dem jungen Nürnberger nicht, daß er an jenem folgenschweren Bankett im Hause Leubelfing ihn als den ›König von Deutschland‹ hatte hochleben lassen und so den ruhmrei chen Ausgang seines heroischen Abenteuers in eine kühne propheti sche Formel gefaßt hatte.
Als der nürnbergische Junker August Leubelfing vom Kornett, der ihn geholt hatte, dem König vorgestellt worden war, hatte der beschäftig te Monarch kaum einen Augenblick gefunden, seinen neuen Pagen flüchtig ins Auge zu fassen. Gustav Adolf war damals im Begriff gewe sen, sich auf sein Leibroß zu schwingen, um den zweiten fruchtlosen Sturm auf die uneinnehmbare Stellung des Friedländers vorzuberei ten. Er hieß den Pagen folgen, und dieser warf sich ohne Zaudern auf den ihm vorgeführten Fuchs, denn er war von jung an im Sattel hei misch und hatte von seinem Vater, dem wildesten Reiter im schwedi schen Heer, einen schlanken und ritterlichen Körper geerbt. Wenn der König, nach einer Weile sich umwendend, den Pagen erblassen sah, so verschuldeten nicht die feurigen Sprünge des Fuchses und die Unge wohnheit des Sattels die seltsame ängstliche Verfärbung, sondern es geschah, weil Leubelfing in einiger Entfernung eine ertappte Dirne er blickte, die aus dem schwedischen Lager gepeitscht wurde, und ihn das Schauspiel ekelte und erschreckte. Tag um Tag – denn der König ermüdete nicht, den abgeschlagenen Sturm mit einer ihm sonst fremden Hartnäckigkeit zu wiederholen – ritt der Page ohne ein Gefühl der Furcht an seiner Seite. Jeder Augen blick konnte es bringen, daß er den tödlich Getroffenen in seinen Ar men vom Roß hob oder selbst tödlich verwundet in den Armen Gustav Adolfs sein Leben ausatmete. Wenn sie dann wieder ohne Erfolg zu rückritten, der König mit verdüsterter Stirn, so täuschte oder verbarg er seine Sorge, indem er den Neuling aufzog, daß er den Bügel verlo ren und die Mähne seines Tieres gepackt hätte. Oder er tadelte auch 323
im Gegenteil seine Waghalsigkeit und schalt ihn einen Casse-Cou, wie der Lagerausdruck lautete. Überhaupt ließ er es sich nicht verdrießen, seinem Pagen gute, väterliche Lehren zu geben und ihm gelegentlich ein wenig Christentum beizubringen.
So hatte der Page schon eine zärtliche und wilde, selige und ängstli che Fabel neben seinem Helden gelebt, ohne daß der arglose König eine Ahnung dieses verstohlenen Glücks gehabt hätte. Berauschende Stunden, gerade nach vollendeten achtzehn unmündigen Jahren be ginnend und diese auslöschend wie Sonne einen Schatten! Eine Jagd, eine Flucht süßer und stolzer Gefühle, quälender Befürchtungen, ver hehlter Wonnen, klopfender Pulse, beschleunigter Atemzüge, soviel nur eine junge Brust fassen und ein leichtsinniges Herz genießen kann in der Vorstunde einer tötenden Kugel oder am Vorabend einer be schämenden Entlarvung!
Der König hatte die löbliche und gesunde Gewohnheit, nach beendig tem Tagewerk die letzte halbe Stunde vor dem Schlafengehen zu ver tändeln und allerhand Allotria zu treiben, jede Sorge mit geübter Wil lenskraft hinter sich werfend, um sie dann im ersten Frühlicht an der selben Stelle wieder aufzuheben. An dieser Gewohnheit hielt er auch jetzt und um so mehr fest, als die vereitelten Stürme und geopferten Menschenleben seine Pläne störten, seinen Stolz beleidigten und sei nem christlichen Gewissen zu schaffen machten. In dieser späten Frei stunde saß er dann behaglich in seinen Sessel zurückgelehnt und Page Leubelfing auf einem Schemel daneben. Da wurde Dame gezogen oder Schach gespielt, und im Brettspiel schlug der Page zuweilen den König. Oder Gustav Adolf erzählte, wenn er sehr guter Laune war, harmlose Geschichten, wie sie eben in seinem Gedächtnis obenauflagen. Zum Beispiel von der pompösen Predigt, die er auf seiner Brautfahrt nach 324
Berlin in der Hofkirche gehört hatte. Der Prediger habe das Leben mit einer Bühne verglichen: mit den Menschen als Schauspielern, den En geln als Zuschauern und dem den Vorhang senkenden Tod als Regis seur. Oder auch die unglaubliche Geschichte, wie man ihm, dem Kö nig, nach der Geburt seines Kindes anfänglich einen Sohn verkündigt und er selbst eine Weile sich habe betrügen lassen, oder von Festen und Kostümen, seltsamerweise meistens Geschichten, die ein Mäd chen ebensosehr oder mehr als einen Jüngling belustigen konnten, als empfände der getäuschte König, ohne sich Rechenschaft davon zu ge ben, die Wirkung des Betruges, den der Page an ihm verübte. Darüber befiel auch wohl den Pagen eine plötzliche Angst. Er ver tiefte seine Altstimme und wagte irgendeine männliche Gebärde. Aber ein nicht zu mißdeutendes Wort oder eine kurzsichtige Bewegung des Königs gab dem Erschreckten die Gewißheit zurück, Gustav Adolf un terliege demselben Blendwerk wie bei der Geburt seiner Tochter Chri stine. Dann geriet der wieder sicher gewordene Page in eine übermü tige Stimmung und gab etwas so Verwegenes und Persönliches zum besten, daß er sich eine Züchtigung zuzog. Wie damals, als Gustav Adolf der Königin ein warmes eheliches Lob angedeihen ließ und er die kecke Frage hinwarf, wie denn die Gräfin Eva Brahe eigentlich aus gesehen habe. Diese Jugendgeliebte Gustav Adolfs und spätere Ge mahlin De la Gardies, den sie, da ihr der tapferste Mann des Jahrhun derts entschlüpft war, als den zweittapfersten heiratete, hatte dunkles Haar, schwarze Augen und scharfe Züge. Das erfuhr aber der neugieri ge Page nicht, sondern erhielt einen ziemlich derben Schlag mit der fla chen Hand auf den vorlauten Mund, in dessen Winkeln Gustav Adolf die Lust zu einem mutwilligen Auflachen wahrzunehmen glaubte. Eines Tages begab es sich, daß der König seiner Tochter Christel das Geschenk eines ersten Siegelringes machte. In den Edelstein dessel ben sollte ein Denkspruch eingraviert werden, eine Devise, wie man es nannte, die – im Unterschied zu dem ererbten Wappenspruch – et was dem Besitzer des Siegels persönlich Eigenes, eine Maxime seines Kopfes, einen Wunsch seines Herzens, in nachdrücklicher Kürze aus sprechen mußte, wie zum Beispiel das ehrgeizige ›Nondum‹ des jun 325
gen Karl V. König Gustav Adolf hätte selbst seiner Tochter einen Leib spruch erfunden, aber, wieder der Mode gemäß, mußte dieser latei nisch, italienisch oder französisch abgefaßt sein. So suchte er denn, tief über einen Quartband gebückt, hinter den tausend darin verzeichneten Sinnsprüchen berühmter oder witziger Leute mit seinen lichtgefüllten, doch kurzsichtigen Augen, nach dem, den er seiner erst siebenjährigen, aber frühreifen Christel bescheren wollte. Er belustigte sich an den lakonischen Sätzen, die das Wesen ih rer Erfinder – zumeist geschichtlicher Persönlichkeiten – oft richtig, ja schlagend ausdrückten, oft aber auch, entsprechend der menschlichen Selbsttäuschung und Prahlerei, das gerade Gegenteil sagten. Jetzt wies ein feiner Finger mit einem scharfen schwarzen Schatten auf das hellbeleuchtete Blatt und eine Devise von unbekanntem Ur sprung. Es war der Finger des über die Schultern des Königs gucken den Pagen. Die Devise lautete: »Courte et bonne!« Der König las, sann einen Augenblick, schüttelte bedenklich den Kopf und zupfte, hinter sich greifend, seines Pagen wohlgebildeten Ohrlappen. Dann drückte er Leubelfing auf seinen Schemel nieder, in der Absicht, ihm eine klei ne Predigt zu halten. »Gust Leubelfing«, begann Seine Majestät lehrhaft behaglich, den Kopf rückwärts in das Polster gedrückt, so daß das volle Kinn mit dem goldhaarigen Bärtchen vorsprang und das schalkhafte Licht der halb geschlossenen Augen auf das lauschend gehobene Antlitz des Pagen niederblitzte: »Gust Leubelfing, mein Sohn! Ich vermute, diesen frag würdigen Spruch hat ein Weltkind erfunden, ein ›Epikurer‹, wie Dok tor Luther solche Leute nennt. Unser Leben ist Gottes. So dürfen wir es weder lang noch kurz wünschen, sondern wir nehmen es, wie er es gibt. Und gut? Freilich gut, das ist schlicht und recht. Aber nicht voll Rausches und Taumels, wie der französische Spruch hier unzweifel haft bedeutet. Oder wie hast du ihn verstanden, mein lieber Sohn?« Leubelfing antwortete erst schüchtern und befangen, dann aber mit jeder Silbe freudiger und entschlossener: »Solchergestalt, mein gnädi ger Herr: Ich wünsche mir alle Strahlen meines Lebens in ein Flam menbündel und in den Raum einer Stunde vereinigt, so daß statt einer 326
blöden Dämmerung ein kurzes, aber blendendhelles Licht von Glück entstünde, um dann zu verlöschen wie ein zuckender Blitz …« Gustel hielt inne. Dem König schien dieser Stil und dieser ›zuckende Blitz‹ nicht zu gefallen, obgleich es die Lieblingsmetapher des Jahrhun derts war. Er kräuselte spöttisch die feinen Lippen. Aber der noch un gesprochenen Rüge zuvorkommend, leidenschaftlich hingerissen, rief der Page aus: »Ja, so möcht' ich! Courte et bonne!« Dann besann er sich plötzlich und fügte demütig hinzu: »Lieber Herr! Möglicherweise miß versteh' ich den Spruch. Er ist vieldeutig, wie die meisten hier im Buch. Eines aber weiß ich, und das ist die lautere Wahrheit: Wenn dich, mein liebster Herr, die Kugel, welche dich heute streifte« – er verschluckte das Wort – »›Courte et bonne!‹ hätte es geheißen, denn du bist doch ein Jüngling geblieben, trotzdem du schon ein Mann bist – und dein Leben ist ein gutes!« Gustav Adolf schloß die Augen und verfiel dann, tagesmüde wie er war, in den Schlummer, den er erst heuchelte, um die Schmeichelei des Pagen nicht gehört zu haben oder wenigstens nicht zu beantworten … So spielte der Löwe mit dem Hündchen und auch das Hündchen mit dem Löwen. Und als ob ein neckisches oder verderbliches Schicksal es darauf absehe, dem verliebten Kind seinen vergötterten Helden aufs innigste zu verbinden, ihm denselben in immer neuer Gestalt und in seinen tiefsten Empfindungen zeigend, ließ es den Pagen mit seinem Herrn auch den herbsten Schmerz teilen, den es gibt: den väterlichen.
Der König bediente sich des Pagen Leubelfing, dem er unbedingtes Vertrauen bewies, um sich die regelmäßig aus Stockholm eingehenden Briefe der Hofmeisterin seines Prinzeßchens vorlesen und auch be antworten zu lassen. Diese Dame schrieb einen kritzeligen, schmalen Buchstaben und einen breiten, gründlichen Stil, so daß Gustav Adolf ihre umständlichen Schreiben meist gleich dem Pagen zuschob, des sen rasche Augen und beweglichen Lippen die Zeilen einer Briefsei te nicht weniger behende hinuntersprangen als seine jungen Füße die 327
ungezählten Stufen einer Wendeltreppe. Eines Tages bemerkte Leubelfing in der Ecke des Briefumschlags das große S, womit man damals wichtige oder sekrete Schreiben zu kennzeichnen pflegte, damit sie der Empfänger persönlich öffne und lese. Die Pageneigenschaften: Neu gierde und Keckheit, überwogen. Leubelfing brach das Siegel, und eine wunderliche Geschichte kam zum Vorschein. Die Hofmeisterin des Prinzeßchens hatte es – gemäß dem vom Kö nig selbst verfaßten und frühe Erlernung fremder Sprachen vorschrei benden Studienplan – an der Zeit gefunden, der Christel einen Lehrer des Italienischen zu bestellen. Die mit Umsicht vorgenommene Wahl schien geglückt. Der noch junge Mann, ein Schwede von guter Ab kunft, der sich auf langen Reisen in der weiten Welt umgesehen hatte, vereinigte alle Vorzüge der Erscheinung und des Geistes, einen edel schlanken Körperbau, einnehmende Gesichtszüge, eine feingewölbte Stirn, ein gefälliges Betragen, eine befestigte Sittlichkeit, gleich weit entfernt von finsterer Strenge und lächerlicher Pedanterie, adeliges Ehrgefühl, christliche Demut. Und damit verband er die Hauptsache: ein echtes Luthertum, das ihm erst angesichts der römischen Greu el, die er in Rom mit eigenen Augen gesehen hatte, zu einer selbstän digen und unerschütterlichen Überzeugung geworden sei. Die kühle und verständige Hofmeisterin wiederholte in jedem ihrer Briefe, die ser junge Mann habe es ihr angetan. Auch die Prinzessin lerne frisch drauflos mit ihrem aufgeweckten Kopf und unter einem solchen Leh rer. Da ertappte die Hofmeisterin eines Tages die gelehrige und phan tasiereiche Christel, wie sie, in einen Winkel geduckt, sich im stillen damit vergnügte, die Kugeln eines Rosenkranzes von wohlduftendem Zedernholz herunterzubeten. Wer hatte ihr den Rosenkranz gegeben? »Ein reißender Wolf im Schafskleid!« schrieb die brave Hofmeisterin mit fünf Ausrufungszeichen. Der gute lutherische Lehrer war ein er fahrener Jesuit. »Ich schlug die Hände über dem Kopf zusammen und wurde zur weißen Bildsäule.« Auch Gustav Adolf erbleichte, zutiefst erschüttert. Seine großen blau en Augen starrten in die Zukunft. Er kannte die Gesellschaft Jesu. Der Jesuit, der sich als Lehrer ausgegeben hatte, war ins Gefängnis 328
gesetzt worden. Nach dem drakonischen schwedischen Gesetz stand ihm eine Halsstrafe bevor, wenn der König nicht Gnade vor Recht er gehen ließ. Gustav Adolf befahl dem Pagen, umgehend an die Hof meisterin zu schreiben, daß mit dem Mädchen nicht viele Worte zu machen seien. Die ganze Angelegenheit sei als eine Kinderei zu be handeln. Den Jesuiten schaffe man ohne Geschrei und Aufsehen über die Grenze, »denn« – so diktierte der König dem Pagen Leubelfing – »ich will keinen Märtyrer machen. Der verblendete Lehrer mit seinem gefälschten Gewissen ließe sich schlankweg köpfen, um in die Pur purwolke der Blutzeugen aufgenommen zu werden und gen Himmel zu fahren mitsamt seiner geheimen bösen Lust, das bildsame Gehirn meines Kindes mißhandelt zu haben.« Trotz dieser überlegenen Entscheidung ließ Gustav Adolf ›das Un glück und das Verbrechen‹ – so nannte er das Attentat auf die Seele sei nes Kindes – nicht mehr los. Er erging sich in Gegenwart seines Lieb lings, weit über Mitternacht, bis zum Erlöschen seiner Ampel, rastlos auf und nieder schreitend, freilich eher im Selbst- als im Zwiegespräch, über die Lüge, die Sophistik und die Verlarvungen der frommen Vä ter, während sich der im Halbdunkel sitzende Page entsetzt und zer knirscht an die klopfende junge Brust schlug und sich die leisen, be schämenden Worte zuflüsterte: »Auch du bist eine Lügnerin, eine So phistin, eine Verlarvte!«
Seit jenen nächtlichen Stunden ängstigte sich der Page furchtbar über seine Verkleidung und sein Geschlecht. Der nichtigste Umstand konn te die Entdeckung herbeiführen. Dieser Schande zu entgehen, be schloß der Ärmste zehnmal, im Abenddunkel oder in der Morgenfrü he sein Roß zu satteln, bis an das Ende der Welt zu reiten, und zehn mal wurde er zurückgehalten durch eine unschuldige Liebkosung des Königs, der keine Ahnung hatte, daß ein Weib um ihn war. Leicht zu mute wurde es Gustel nur im Pulverdampf. Da blitzten ihre Augen, und fröhlich ritt sie der tödlichen Kugel entgegen, die sie herausforder 329
te, ihren bangen Traum zu endigen. Und wenn der König hernach in seiner Abendstunde beim trauten Lichtschein seinen Pagen über einer Dummheit oder Unwissenheit ertappte, beim Kopf kriegte und ihm mit einem ehrlichen Gelächter durch das krause Haar fuhr, sagte sich Gustel in herzlicher Lust und Angst erbebend: »Es ist das letztemal!« So beruhigte sich der Page und genoß das höchste Leben mit der Hil fe des Todes. Es war seltsam. Leubelfing fühlte es: Auch der König lebte mit dem Tod auf vertrautem Fuß. Wallenstein, der kaiserliche Friedländer, hat te den Angriff an sich gerissen und den schwedischen Eroberer in die unerträgliche Lage eines Weichenden, beinahe Flüchtigen gebracht. So legte der christliche König sein Schicksal täglich, ja stündlich und fast herausfordernd in die Hände seines Gottes. Den Brustharnisch, den ihm der Page zu bieten pflegte, wies er beharrlich zurück – unter dem Vorwand einer Schulterwunde, die der anliegende Stahl drücke. Ein schmiegsames, feines Panzerhemd, wie die Klugen und Vorsichtigen es auf bloßem Leib trugen, ein Meisterstück niederländischer Schmie dekunst, traf ein, und die Königin schrieb dazu, sie hätte erfahren, der Friedländer trage ein solches. Ihr Herr und Gemahl dürfe nicht schlechter beschirmt in den Kampf gehen als sein Feind. Aber Gustav Adolf warf dieses feine Geschmiede verächtlich in einen Winkel. Einmal, in der Stille der Nacht, hörte Leubelfing, dessen Haupt von dem des Königs nur durch die Wand getrennt war, wie Gustav Adolf in brünstig betete und seinen Gott bestürmte, ihn auf dem Gipfel des Le bens hinwegzunehmen, wenn seine Stunde da sei, bevor er ein Unnö tiger oder Unmöglicher werde. Zuerst quollen der Lauscherin die Trä nen, dann erfüllte sie vom Wirbel zur Zehe eine selbstsüchtige Freude, ein verstohlener Jubel, ein Sieg, ein Triumph über die Ähnlichkeit ih res kleinen mit diesem großen Los, ein Hochgefühl, das sich dann mit dem albernen Kindergedanken, eine gemeinsame Silbe beendige ihren Namen und beginne den des Königs, in Schlummer verlor. Aber der Page träumte schlecht, denn er träumte mit seinem Gewis sen. In den richtenden Bildern, die vor seinen Traumaugen aufstiegen, geschah es, daß der König den Entdeckten mit flammendem Blick und 330
verurteilender Gebärde von sich wies. Bald verjagte ihn auch die Kö nigin mit einem Besenstiel und den derbsten Scheltworten, wie sie die gebildete Frau am Tag nie über die Lippen gebracht hätte, ja, die sie wohl gar nicht kannte. Einmal träumte dem Pagen, seine Fuchsstute gehe mit ihm durch und rase durch eine nackte, von einer zornigen Spätglut gerötete Ge gend einer Schlucht zu. Der König setze ihm nach. Er aber stürze vor den Augen seines Retters oder Verfolgers in die zerschmetternde Tie fe, von einem höllischen Gelächter umklungen.
III
Leubelfing erwachte mit einem jähen Schrei. Der Morgen dämmerte, und der Page fand seinen König, der sich in einem Zuge völlig frisch geschlafen hatte, in der gelassensten und leutseligsten Laune der Welt. Ein Brief der Königin traf ein, der nichts Dringliches enthielt, außer der Nachschrift, in der sie ihren Gemahl bat, nach dem Rechten zu se hen in einem bestimmten Fall, der ihr naheging: Der Herzog von Lau enburg, ein unbeständiger und sittenloser Mensch, hatte vor einigen Monaten aus politischen Gründen eine der vielen Basen der Königin geheiratet. Nachdem er in das schwedische Lager zurückgekehrt war, hatte er sich mit einer blutjungen Slavonierin eingelassen, die er aus der Mitte einer feindlichen Eskorte herausgefangen hatte. Das verur sachte öffentlichen Anstoß, und nun ersuchte die Königin ihren Ge mahl, dem Ärgernis ein rasches Ende zu machen. Gustav Adolf wollte sich der Sache gleich annehmen. Er befahl, die Slavonierin – man nannte sie die Korinna – festzunehmen und ihm vorzuführen, sobald er von seinen kurzen Rekognoszierungsritt zu rück zu sein glaubte, etwa um die achte Stunde. Streng und menschlich zugleich, hatte er die Absicht, das Mädchen, dem er, den Lauenbur 331
ger kennend, den kleineren Teil der Schuld beimaß, zu ermahnen und dann ihrem Vater in das Wallensteinische Lager zurückzusenden. Be vor er ausritt, wies er den Pagen Leubelfing an, die Königin brieflich zu beruhigen. Er selbst würde eine eigenhändige Zeile hinzufügen. Acht Uhr verstrich, und der König war noch nicht wieder zurückgekehrt. Aber die Korinna wurde von ein paar grimmigen schwedischen Pike nieren vor den Pagen gebracht, der im Vorzimmer, Degen und Pistolen neben sich auf den Tisch gelegt, über seinem Brief saß. Vor dem Tor des Schlößchens stand eine Wache. Neugierig warf der Page einen Blick über seine Buchstaben hin weg nach der Gefangenen. Er befahl ihr, sich zu setzen und erstaunte über ihre Schönheit. Von mittlerer Größe, trug Korinna über den vol len Schultern auf dem schlanken Hals den wohlgeformten Kopf hoch. Pechschwarze Flechten und dunkeldrohende Augen ließen das fesseln de Gesicht noch bleicher erscheinen. Die in Unordnung geratene bunt farbige Kleidung, von keinem südlich leuchtenden Himmel gedämpft, erschien unter dem nordischen Licht grell und aufdringlich. Das Schweigen wurde dem Mädchen unerträglich. »Wo ist der Kö nig, Junker?« fragte sie, vor Erregung fast schreiend. »Ist ausgeritten. Wird gleich zurück sein!« antwortete Leubelfing mit seiner tiefsten Stimme. »Der König bilde sich nur nicht ein, daß ich von dem Herzog las se«, erklärte das leidenschaftliche Mädchen mit unbändiger Heftigkeit. »Ich liebe ihn zum Sterben. Und wo sollte ich hin? Zu meinem Vater? Der würde mich grausam mißhandeln. Ich bleibe. Der König hat dem Herzog nichts zu befehlen. Mein Herzog ist ein Reichsfürst.« Offenbar plapperte die Geängstigte dem Lauenburger nach, der, wenn auch an und für sich ein frevelhafter Mensch, seinen Fürsten mantel halb im Hohn, halb im Ernst allen seinen Missetaten umhing. »Nutzt ihm nichts, Jungfer«, versetzte der Page Gustav Adolfs. »Reichsfürst hin, Reichsfürst her, der König ist sein Kriegsherr, und der Lauenburger hat zu parieren.« »Der Herzog«, begehrte die Slavonierin auf, »ist vom alleredelsten Blut, der König aber stammt von einem gemeinen schwedischen Bauern.« 332
Ihr Freund, der Lauenburger, mochte ihr das aus dem Bauernkleid Gustav Wasas entstandene Märchen erzählt haben. Leubelfing erhob sich beleidigt und schritt kerzengerade auf die Ko rinna zu, machte dicht vor ihr halt und fragte streng: »Was sagst?« Auch das Mädchen hatte sich ängstlich erhoben und fiel jetzt mit plötzlich verändertem Ausdruck dem Pagen um den Hals: »Teurer Herr! Schöner Herr! Helft mir! Ihr müßt mir helfen! Ich liebe den Lau enburger und lasse nicht von ihm! Niemals!« Erst flehte sie und küßte und herzte und streichelte den Pagen. Dann aber wich sie in unsäglicher Verblüffung einen Schritt zurück, und ein seltsames Lächeln irrte um ihren spöttisch verzogenen Mund. Der Page wurde bleich und fahl. »Schwesterchen«, lispelte die Korinna mit einem schlauen Blick, »wenn du deinen Einfluß –« In demselben Augenblick packte sie Leu belfing mit der kräftigen Linken am Arm, drückte sie auf die Knie nie der und näherte den Lauf seiner rasch ergriffenen Pistole ihrer Schlä fe. »Drückt los«, rief die Korinna halb wahnsinnig, »und der Lust und des Elends sei ein Ende!« Sie wich aber doch dem Lauf mit den behen desten und gelenkigsten Drehungen und Wendungen ihres Hälschens aus. Jetzt setzte ihr Leubelfing den kalten Ring des Eisens mitten auf die Stirn und sagte totenbleich, aber ruhig: »Der König weiß nichts davon, bei meiner Seligkeit.« Ein ungläubiges Lächeln war die Antwort. »Der König weiß nichts davon«, wiederholte der Page bestimmt, »und du schwörst mir bei diesem Kreuz« – er hatte es Korinna an einem goldenen Kettchen aus dem Busen gezerrt – »von wem hast du das? von deiner Mutter, sagst du? – du schwörst mir bei diesem Kreuz, daß auch du nichts davon weißt! Mach schnell, oder ich schie ße!« Der Page senkte seine Waffe, außer sich, denn er vernahm Roßge stampfe, das Gerassel des militärischen Saluts und die schweren Tritte des Königs auf der Treppe. Er warf noch einen Blick auf Korinna, die 333
sich erhob, einen flehenden Blick, in dem zu lesen war, was er nie aus gesprochen hätte: »Sei barmherzig! Ich bin in deiner Gewalt! Verrat mich nicht! Ich liebe den König!« Gustav Adolf trat ein, ein anderer Mann als der, der vor zwei Stun den ausgeritten war: streng wie ein Richter in Israel, in heiliger Entrü stung, in loderndem Zorn, wie ein biblischer Held, der ein himmel schreiendes Unrecht aus dem Mittel heben muß, damit nicht das gan ze Volk verderbe. Er hatte einem empörenden Auftritt, einer ekeler regenden Szene beigewohnt: der Beraubung eines vor dem Friedlän der in das schwedische Lager flüchtenden Haufens deutscher Bauern durch deutsche Adelige unter Führung eines deutschen Fürsten. Die Herren hatten in einem der Zelte bis zur Morgendämmerung ge zecht, gewürfelt und Karten gespielt. Ein Abenteurer zweifelhaftester Art, der die Bank hielt, hatte sie alle ausgebeutet. Sie ließen den offen kundigen Falschspieler nach einem kurzen Wortwechsel – er war von Adel – als einen Mann ihrer Gattung unangefochten ziehen. Doch als sie gereizt und übernächtigt zu ihren Zelten zurückkehrten, fielen sie über einen Haufen beladener Wagen her, die sich in einer Lagergasse stauten. Der Lauenburger, der im Vorbeireiten sein Zelt geöffnet, das Nest leer gefunden und seinen Verdacht ohne weiteres auf den König geworfen hatte, kam ihnen nachgesprengt und feuerte ihre Raubgier zu einer Tat an, von der er wußte, daß sie Gustav Adolf tief treffen wür de, wenn er davon erfuhr. Aber der König wollte den Frevel mit eigenen Augen sehen. Mitten in den Tumult – Kisten und Kasten wurden erbrochen, Rosse nieder gestochen oder geraubt, Wehrlose mißhandelt, sich zur Wehr Setzen de verwundet – ritt der König. Flehende Arme, Gebete, Flüche, Ver wünschungen wurden laut. Gustav Adolf bezwang seinen Zorn. Er gab Befehl, für die mißhandelten Flüchtlinge zu sorgen. Dann beorderte er die adeligen Missetäter zu sich auf die neunte Stunde. Heimreitend hielt er vor dem Zelt des Generalgewaltigen an, hieß ihn seinen roten Mantel umwerfen und – in einiger Entfernung – folgen. In dieser Stimmung befand sich König Gustav Adolf, als er die Sla vonierin erblickte. Er maß das Mädchen, deren wilde Schönheit ihm 334
mißfiel und deren grelle Tracht seine klaren Augen beleidigte, mit ei nem abschätzenden Blick. »Wer sind deine Eltern?« fragte er barsch. »Ein Hauptmann von den Kroaten. Die Mutter starb früh weg«, er widerte das Mädchen, mit ihren dunklen Augen seinem hellen Blick ausweichend. »Ich werde dich deinem Vater zurücksenden.« »Nein«, schrie sie entsetzt auf, »er würde mich erstechen.« Eine mitleidige Regung milderte die Strenge des Königs. Er suchte einen geringen Straffall für das Mädchen. Er beschuldigte sie: »Du hast dich im Lager in Männerkleidern umhergetrieben, das ist verboten.« »Niemals«, widersprach die Korinna, aufrichtig entrüstet, »nie be ging ich diese Zuchtlosigkeit.« »Aber du machst eine edle junge Fürstin unglücklich.« Rasende Eifersucht loderte in den Augen der Slavonierin: »Wenn er nun mich mehr, mich allein liebt, was kann ich dafür? Was kümmert mich die andere?« Der König betrachtete sie mit einem erstaunten Blick, als frage er sich, ob sie je in eine christliche Kinderlehre gegangen sei. »Ich wer de für dich sorgen«, sagte er ruhig. »Jetzt befehle ich dir: Du läßt von dem Lauenburger auf immer und ewig. Deine Liebe ist eine Todsünde. Wirst du gehorchen?« Korinna hielt den festen, starr auf sie gerichteten Blick aus und schüt telte das Haupt. Der König wendete sich gegen den Generalgewaltigen, der im Türrahmen stand. »Was soll der mit mir?« fragte das Mädchen schaudernd. »Ist's der Henker? Wird er mich richten?« »Er wird dir die Haare scheren, dann bringt dich der nächste Trans port nach Schweden, wo du in einem Besserungshause bleibst, bis du ein evangelisches Weib geworden bist.« Ein heftiger Stoß von wunderlichen Befürchtungen und unbekann ten Schrecken erschütterte das kleine Gehirn. Ein geschorener Schä del, welche entehrendere, beschämendere Entblößung konnte es ge ben! Schweden, das eisige Land mit seinen Winternächten, von dem 335
sie hatte fabeln hören, dort sei der Eingang zum Reiche der Larven und Gespenster! Besserung? Welche ausgesuchte, grausame Folter bedeute te dieses ihr unbekannte Wort? Ein evangelisches Weib? Was war das, wenn nicht eine Ketzerin? Sie sollte also zu allem noch des Himmels verlustig gehen? Sie, die keine Fasten brach und keine fromme Übung versäumte! Korinna ergriff das Kreuz, das an dem zerrissenen Kett chen niederhing, und küßte es inbrünstig. Dann ließ sie die irren Augen im Kreise laufen. Ihr Blick blieb auf dem Pagen haften. Ihre Rachelust flammte auf. Sie öffnete den Mund, um dem König das Geheimnis des Pagen zu verraten. Gustav Adolf stand ruhig beiseite. Er hatte den Brief, den der Page schrieben hat te, in die Hand genommen und las ihn aufmerksam. Seine Züge, de ren aus Gerechtigkeit und Milde gemischter Ausdruck etwas Majestä tisches und Göttliches an sich hatte, erschreckten die Slavonierin. Sie fürchtete sich davor wie vor etwas Fremdem und Unheimlichem. Das wilde Mädchen, das jedes von einer faßlichen Leidenschaft verzoge ne Männerantlitz richtig beurteilte, ohne davor zu erschrecken, wur de aus dieser veredelten Miene nicht klug. Sie mochte den König nicht länger ansehen. »Am Ende«, dachte sie, »ist der Schneekönig ein gefro rener Mensch, der die ihn heimlich umschleichende Liebe nicht merkt. Ich könnte das junge Blut verderben! Wozu aber auch? Und dann – sie liebt ihn.« Jetzt trat der Profos einen Schritt vorwärts und streckte die Hand nach der Slavonierin aus. Blitzschnell richtete sie sich an dem Pagen auf und wisperte ihm ins Ohr: »Laß mir zehn Messen lesen, Schwe sterchen! Von den teuren! Du bist mir eine dicke Kerze schuldig! Nun, eine hat das Glück, die andere« – sie fuhr in die Tasche, zog einen Dolch heraus, schleuderte die Scheide weg und zerschnitt sich die Halsader, kunstfertig wie einem Täubchen. Nachdem der Generalgewaltige sie in seinem roten Mantel durch eine Seitentüre weggetragen hatte, wurde es im Nebenzimmer leben dig von allerhand ungebührlich laut geführten Unterhaltungen. Mit dem Schlage neun trat der König, dem Leubelfing die Flügeltür öffne te, unter die versammelten deutschen Fürsten und Herren. Sie bilde 336
ten in dem engen Raum einen dichtgedrängten Kreis. Es mochten ih rer fünfzig oder sechzig sein. Die Herren hielten sich nicht allzu ehrer bietig, manche sogar nachlässig, als ob sie ebensowenig die Farbe der Scham als die Farbe der Furcht kennten: schlaue neben verwegenen, ehrgeizige neben beschränkten, fromme neben frechen Gesichtern, in der Mehrzahl Leute, die ihren Mann stellten und mit denen gerech net werden mußte. Links vom König stand in bescheidener Haltung der Hauptmann Erlach, der eigentlich hier nichts zu suchen hatte. Er war unter die Fahnen Gustav Adolfs getreten, als des gottesfürchtig sten Helden seiner Zeit, und hatte dem König oft bekannt, ihn jamme re der Sünden, die er hier außen im Reich sehen müsse: Undank, Mas ke, Fallstrick, Intrige, Kabale, verdecktes Spiel, verteilte Rollen, ver wischte Spuren, Bestechung, Länderverkauf, Verrat, lauter in seinen Schweizer Bergen vollständig unbekannte und unmögliche Dinge. Er hatte sich hier eingefunden, vielleicht um seinem intimen Freund, dem französischen Gesandten, der sich von seiner Sitteneinfalt angezogen fühlte, etwas Neues erzählen zu können, worauf die Franzosen bren nen, wie sie einmal sind. Vielleicht auch nur, um zur Erbauung sei ner Seele einem Sieg der Tugend über das Laster beizuwohnen. Haupt mann Erlach kniff seelenruhig die Augen zu und drehte die Daumen der gefalteten Hände. Diesem Tugendbild gegenüber, rechts vom König, stand die fre che Sünde: der Lauenburger, mit unruhigen Füßen, in seiner reichsten Tracht und seinem kostbarsten Spitzenkragen, dämonisch lächelnd und die Augen rollend. Er war einem Knecht des Generalgewaltigen begeg net und hatte unter den Falten seines roten Mantels eine Menschenge stalt erkannt. So hatte der Lauenburger die Korinna wiedergesehen. Gustav Adolf maß die Versammlung mit einem verdammenden Blick. Dann brauste der Sturm. Seltsam – der König, gereizt durch den Widerspruch dieser stolzen Gesichter, dieser übermütigen Haltungen, dieser prunkenden Rüstungen mit dem Unadel der darunter schlagen den Herzen, bediente sich, um den Hochmut zu erniedrigen und das Verbrechen zu brandmarken, absichtlich einer groben, ja bäurischen Rede, wie sie ihm sonst nicht eigen war: 337
»Räuber und Diebe seid ihr vom ersten bis zum letzten! Schande über euch! Ihr bestehlt eure Landsleute und Glaubensgenossen! Pfui! Mir ekelt vor euch! Das Herz gällt mir im Leib! Für eure Freiheit habe ich meinen Schatz erschöpft – vierzig Tonnen Goldes – und nicht so viel von euch genommen, um mir eine Reithose machen zu lassen! Ja, eher bar war' ich geritten, als mich aus deutschem Gut zu bekleiden! Euch schenkte ich, was mir in die Hände fiel, nicht einen Schweinestall hab' ich für mich behalten!« Mit derben und harten Worten beschimpfte der König den Adel. Dann lenkte er ein und lobte den Mut der Herren, ihre untadelige Hal tung auf dem Schlachtfeld und wiederholte mehrmals: »Tapfer seid ihr, ja, das seid ihr! Über euer Reiten und Fechten ist nicht zu klagen!« Dann aber fuhr er in noch heftigerem Zorn fort: »Rebelliert ihr gegen mich«, forderte er sie heraus, »so will ich mich an der Spitze meiner Finnen und Schweden mit euch herumhauen, daß die Fetzen fliegen!« Er schloß mit einer christlichen Ermahnung und der Bitte, die emp fangene Lehre zu beherzigen. Der Hauptmann Erlach trocknete sich mit der Hand verstohlen eine Träne. Die Herren gaben sich die Miene, es fechte sie nicht sonderlich an, was der König gesagt habe, aber ihre Haltung war sichtlich bescheidener geworden. Einige schienen ergrif fen, ja gerührt. Das deutsche Gemüt erträgt eine grobe, redliche Schel te besser als eine lahme Predigt oder feinen, schneidenden Hohn. Soweit wäre alles gut und in der Ordnung gewesen. Wenn nicht der Lauenburger, halb gegen den König, halb gegen seine Standesgenossen gewendet, in nackter Frechheit gesprochen hätte: »Wie mag Seine Ma jestät über so etwas zürnen? Was haben wir Herren denn verbrochen? Unsere Untertanen erleichtert!« Gustav Adolf erbleichte. Er winkte dem Generalgewaltigen, der wie der an der Tür lehnte: »Lege diesem Herrn deine Hand auf die Schul ter!« befahl er. Der Profos trat heran, wagte aber nicht zu gehorchen, denn der Fürst hatte den Degen aus der Scheide gerissen. Ein gefährliches Gemurmel lief durch den Kreis. Gustav Adolf entwaffnete den Lauenburger mit seinen eigenen Händen. Er stemmte die Klinge gegen den Fuß und ließ 338
sie in Stücke springen. Dann ergriff er die breite, behaarte Hand des Generalgewaltigen und legte sie auf die Schulter des Lauenburgers, der wie gelähmt war. Langsam und mit verhaltener Drohung begann er: »Du bist ein Reichsfürst, Bube, dir darf ich nicht an den Kragen. Aber die Hand des Henkers bleibe über dir!« Gustav Adolf wandte sich um und verließ den Raum. Der Profos folgte ihm mit gemessenen Schrit ten. Den Pagen Leubelfing, den die eng aneinander stehenden Herren in die Fensternische gedrängt hatten, vor der eine schwere Damastdek ke mit riesigen Quasten niederhing, hatte der Vorgang bis zu einem krampfhaften Lachen ergötzt. Nach dem blutigen Ende der Korinna, das ihn zugleich erschüttert und erleichtert hatte, waren ihm die von seinem Helden heruntergemachten Fürsten wie die Personen einer Ko mödie erschienen, ungefähr wie ein Knabe mit Vergnügen und un terdrücktem Gelächter seinen Vater, in dessen Hut er sich weiß und dessen Ansehen und Macht er bewundert, einen pflichtvergessenen Knecht schelten hört. Bei der ersten Silbe aber, die der Lauenburger aussprach, war er zusammengefahren über die unheimliche Ähnlich keit dieser Stimme mit seiner eigenen. Derselbe Klang, dasselbe Mark und Metall. Und dieser Schreck wurde zum Grauen, als der Lauen burger, nachdem Gustav Adolf sich entfernt hatte, gekünstelt auflachte und rief: »Er hat wie ein Stallknecht geschimpft, der schwedische Bau er! Donnerwetter, haben wir den heute geärgert! Pereat Gustavus! Es lebe die deutsche Libertät!« Er legte seinen rechten Arm in den linken der Fürstlichkeit, die ihm zunächst stand: »Machen wir ein Spielchen, Herr Bruder, in meinem Zelt? Ich lasse ein Fäßchen Würzburger anzapfen!« Der angesprochene Herr zog seinen linken Arm höflich zurück und antwortete mit einer gemessenen Verbeugung: »Bedaure, Euer Lieb den. Bin schon vergeben.« Unbekümmert wandte sich der Lauenbur ger an einen anderen, den Raugrafen, und lud ihn mit noch lustigeren und dringlicheren Worten ein: »Du darfst es mir nicht abschlagen, Ka merad! Du bist mir noch Revanche schuldig!« Der Raugraf, ein kurz angebundener Herr, wandte ihm ohne weite 339
res den Rücken. Sooft der Lauenburger seine Versuche wiederholte, so oft wurde er, immer kürzer und derber, abgewiesen. Vor seinen Schrit ten und Gebärden wich einer nach dem andern zurück, und der Raum leerte sich. Jetzt stand der Lauenburger allein in der Mitte des von allen verlas senen Gemaches. Sein Gesicht verzerrte sich. Wütend ballte er die er hobene Faust und drohte dem Schicksal und dem König. Was er mur melte, verstand der Page nicht. Aber der Ausdruck des vornehmen Ge sichts war so teuflisch, daß der Lauscher einer Ohnmacht nahe war.
IV
In der Dämmerstunde dieses ereignisvollen Tages wurde dem König ein mit einem richtig befundenen Salvokondukt versehener friedlän discher Hauptmann gemeldet. Er mochte gekommen sein, um über die Bestattung der in dem letzten Zusammenstoß Gefallenen zu ver handeln oder sonst über ein Abkommen, wie sie häufig zwischen ein ander gegenüberliegenden Heeren getroffen werden. Page Leubelfing führte den friedländischen Hauptmann in das eben leer gewordene Empfangszimmer und bat ihn, sich zu gedulden. Er werde ihn Seiner Majestät ansagen. Der Wallensteiner aber, ein hage rer Mann mit einem gelben, verschlossenen Gesicht, hielt den Pagen zurück. Er ruhe gern einen Augenblick nach seinem raschen Ritt, sag te er. Nachlässig warf er sich auf einen Stuhl und verwickelte den jun gen Menschen, der vor ihm stehen geblieben war, in ein gleichgültiges Gespräch. »Mir ist«, sagte er leichthin, »die Stimme wäre mir bekannt. Ich bit te um den Namen des Herrn.« Leubelfing, der gewiß war, diese kalte und diktatorische Persönlich keit nie in seinem Leben mit Augen gesehen zu haben, erwiderte un 340
befangen: »Ich bin des Königs Page, Leubelfing von Nürnberg, Gna den zu dienen.« »Eine kunstfertige Stadt«, bemerkte der Hauptmann gleichgültig. »Tue mir der junge Herr den Gefallen, diesen Handschuh – es ist ein linker – zu probieren. Man hat mir in meiner Jugend bei den Jesu iten, wo ich erzogen wurde, die demütige und dienstfertige Gewohn heit eingeprägt, die sich jetzt für meine Hauptmannschaft nicht mehr recht schicken will, verlorene und am Wege liegende Gegenstände auf zuheben. Das ist mir nun so geblieben.« Er zog einen ledernen Reithandschuh aus der Tasche, wie sie damals allgemein getragen wurden. Nur war dieser Handschuh von einer aus nehmenden Eleganz und von auffallender Schlankheit, so daß wohl neun Zehntel der wallensteinischen oder schwedischen Soldatenhände hineinfahrend mit dem ersten Ruck alle seine Nähte gesprengt hätten. »Ich fand ihn draußen an der untersten Stufe der Freitreppe.« Leubelfing, durch den kurzen Ton und die befehlende Rede des Hauptmanns etwas befremdet, aber ohne jedes Mißtrauen, ergriff in gefälliger Höflichkeit den Handschuh und zog sich ihn über die Fin ger. Der Handschuh saß wie angegossen. »Er ist der Eurige«, sagte der Hauptmann. »Nein, Herr«, erwiderte der Page, »ich trage kein so feines Leder.« »So gebt mir ihn zurück!« Der Hauptmann nahm den Handschuh wieder an sich, erhob sich langsam von seinem Stuhl und verneigte sich, denn der König war ein getreten. Gustav Adolf tat einige Schritte mit wachsendem Erstaunen. Seine starkgewölbten, strahlenden Augen vergrößerten sich: »Ihr hier, Herr Herzog?« fragte er zögernd. Er hatte den Friedländer nie von Angesicht gesehen, aber oft seine viel verbreiteten Bildnisse be trachtet. Der Kopf war so eigentümlich, daß man ihn mit keinem an deren verwechseln konnte. Wallenstein bejahte mit einer zweiten Verneigung. Der König erwiderte sie mit ernster Höflichkeit: »Ich grüße die Ho heit und stehe zu Diensten. Was wollt Ihr von mir, Herzog?« 341
Er winkte den Pagen mit einer Gebärde weg. Leubelfing flüchtete in seine anliegende Kammer, die, ärmlich ausgerüstet, zwischen dem Empfangszimmer und dem Schlafgemach des Königs, dem ruhigsten des Hauses, gelegen war. Er war erschreckt, nicht durch die Gegenwart des gefürchteten Feldherrn, sondern durch das Unheimliche dieses späten Besuchs. Ein dunkles Gefühl zwang ihn, das Erscheinen Wal lensteins mit seinem Schicksal in Zusammenhang zu bringen. Mehr von Angst als von Neugierde getrieben, öffnete er vorsichtig ei nen tiefen Schrank, aus dem er – wenn es gesagt werden muß – durch eine Wandspalte den König schon einmal – nur einmal – belauscht hatte, um ihn ungestört und nach Herzenslust betrachten zu können. Er preßte sein Auge und abwechselnd sein Ohr an die Spalte. Er wollte kein Wort und keine Gebärde des belauschten Gesprächs missen. Die einander gegenüber Sitzenden schwiegen eine Weile. Sie be trachteten einer den anderen, ohne sich zu fixieren. Sie wußten, daß nun, vor der entscheidenden Schlacht – nachdem die das Schicksal Deutschlands bestimmende Schachpartie mit ihren vieldeutigen Zü gen und verdeckten Plänen begonnen und sich auf allen Feldern ver wickelt hatte –, das unterhaltende Wort nicht am Platz und ein Über einkommen unmöglich sei. Diesem Gedanken gab der Friedländer Ausdruck: »Majestät«, sagte er, »ich komme in einer persönlichen Angelegenheit.« Gustav Adolf lächelte kühl und verbindlich. Der Friedländer begann: »Ich pflege im Bett zu lesen, wenn mich der Schlaf meidet. Gestern oder heute früh fand ich in einem fran zösischen Memoirenwerk eine unterhaltende Geschichte. Eine wah re Geschichte mit wörtlicher Angabe der gerichtlichen Deposition des Admirals – ich meine den Admiral Coligny, den ich als Feldherrn zu schätzen weiß. Ich erzähle sie mit der Erlaubnis Eurer Majestät. Bei dem Admiral trat eines Tages ein Partisan ein, Poltrot oder wie der Mensch hieß. Wie ein halb Wahnsinniger warf er sich auf einen Stuhl und begann ein Selbstgespräch, in dem er sich über den politischen und militärischen Gegner des Admirals, Herzog Franz de Guise, lei denschaftlich äußerte und davon redete, den Lothringer aus der Welt 342
zu schaffen. Es war, wie gesagt, das Selbstgespräch eines Geistesabwe senden, und es stand bei dem Admiral, welchen Wert er darauf legen wollte – ich möchte die Szene einem Dramatiker empfehlen, sie wäre wirksam. Der Admiral schwieg, da er das Gerede des Menschen für eine leere Prahlerei hielt, und Franz de Guise fiel, von einer Kugel –« »Hat Coligny so gehandelt, so tadle ich ihn. Er tat unmenschlich und unchristlich.« »Und unritterlich«, höhnte der Friedländer kalt. »Zur Sache, Hoheit«, bat der König. »Majestät, etwas Ähnliches ist mir heute begegnet, nur hat der zum Mord sich Erbietende eine noch künstlichere Szene ins Werk gesetzt. Einer der Eurigen wurde gemeldet, und da ich eben beschäftigt war, ließ ich ihn in das Nebenzimmer führen. Als ich eintrat, war er in der schwülen Mittagsstunde entschlummert und sprach heftig im Traum. Nur wenige gestammelte Worte, aber ein Zusammenhang ließ sich er raten. Wenn ich daraus klug geworden bin, hätte ihn Eure Majestät, ich weiß nicht womit, tödlich beleidigt, und er wäre entschlossen, ja genötigt, den König von Schweden umzubringen um jeden Preis, oder wenigstens um einen anständigen Preis, was ihm leicht sein würde, da er in der Nähe der Majestät und in dessen täglichem Umgang lebe. Ich weckte dann den Träumenden, ohne ein Wort an ihn zu verlieren. Außer, daß ich nach seinem Begehr fragte. Es handelte sich um Aus kunft über einen schon vor Jahren in kaiserlichem Dienst verscholle nen Rheinländer, ob er noch lebe oder nicht. Eine Erbsache. Ich gab Bescheid und entließ den Listigen. Nach seinem Namen fragte ich ihn nicht. Er hätte mir einen falschen angegeben. Ihn aber auf das Zeugnis abgerissener Worte einer gestammelten Traumrede zu verhaften wäre untunlich und eine schreiende Ungerechtigkeit gewesen.« »Gewiß«, stimmte der König bei. »Majestät«, der Friedländer betonte jede Silbe schwer: »Du bist ge warnt!« Gustav Adolf dachte nach, dann sagte er: »Ich will meine Zeit nicht damit verlieren und mein Gemüt nicht damit vergiften, so zweifelhaf ten und verwischten Spuren nachzugehen. Ich stehe in Gottes Hand.« 343
Er hob den Kopf. »Hat die Hoheit keine weiteren Zeugen oder Indizi en?« Der Friedländer zog den Handschuh hervor, den der Page Leubelfing anprobiert hatte. »Meine Zeugen sind: Mein Ohr und dieser Lap pen da! Ich vergaß, Eurer Majestät noch zu sagen, daß der Träumer schlank war und ein ganz charakterloses, nichtssagendes Gesicht hat te. Er trug offenbar eine jener enganschließenden Larven, wie sie in Venedig mit der größten Kunst verfertigt werden. Aber seine Stimme war angenehm markig, ein Bariton oder tiefer Alt, nicht unähnlich der Stimme Eures Pagen, und der Handschuh, der ihm entfiel und bei mir liegenblieb, paßt Eurem Pagen wie angegossen.« Der König lachte herzlich. »Ich will mein schlummerndes Haupt in den Schoß meines Leubelfing legen«, sagte er. »Auch ich kann den jungen Menschen nicht beargwöhnen«, erwider te der Friedländer. »Er hat ein gutes, ehrliches Gesicht, dasselbe kek ke Bubengesicht wie meine barfüßigen böhmischen Bauernmädchen. Doch, Majestät, ich bürge für keinen Menschen. Ein Gesicht kann täu schen, und – täuschte es nicht – ich möchte keinen Pagen um mich se hen, wäre es mein Liebling, dessen Stimme klingt wie die Stimme mei nes Hassers und dessen Hand dasselbe Maß hat wie die Hand meines Meuchlers. Das ist dunkel. Das ist ein Verhängnis. Das kann verder ben.« Gustav Adolf lächelte. Er mochte sich denken, daß der großartige Emporkömmling Wallenstein jetzt, da er durch seinen ungeheuerli chen Pakt mit dem Habsburger das Reich des Unausführbaren und Schimärischen betreten hatte, mehr als je allen Arten von Aberglau ben huldigte. Er durchschaute den inneren Widerspruch zwischen dem Glauben an ein Fatum und den Versuchen, dieses Fatum zu ent kräftigen. Er, der seines lebendigen Gottes gewiß war, wollte mit kei nem Wort, auch nicht mit einer Andeutung ein Gebiet berühren, in dem das Blendwerk der Hölle, wie er glaubte, sein Spiel trieb. Er erhob sich, dem Herzog für sein loyales Benehmen zu danken. Doch griff er dabei nach dem Handschuh, den der Friedländer nachlässig auf ein zwischen ihnen stehendes Tischlein geworfen hatte, aber mit einer so 344
kurzsichtigen Gebärde, daß sie dem scharfblickenden Wallenstein, der sich gleichfalls erhoben hatte, ein unwillkürliches Lächeln abnötigte. »Ich sehe mit Vergnügen«, scherzte der König, den Friedländer an die Türe begleitend, »daß die Hoheit um mein Leben besorgt ist.« »Wie sollte ich es nicht sein«, erwiderte Wallenstein. »Ob sich auch die Majestät und ich mit unseren Armaden bekriegen, gehören die Ma jestät und ich« – der Herzog wich höflich einem ›wir‹ aus – »dennoch zusammen. Einer ist undenkbar ohne den andern. Stürzte die Maje stät oder ich von dem einen Ende der Weltschaukel, schlüge das ande re unsanft zu Boden.« Wieder dachte der König nach und kam unwillkürlich auf die Ver mutung, irgendeine himmlische Konjunktur, eine Sternstellung, habe dem Friedländer ihre beiden Todesstunden im Zusammenhang ge zeigt, eine der andern folgend mit verstohlenen Schritten und verhüll tem Haupt. Seltsamerweise gewann diese Vorstellung trotz seines Gott vertrauens plötzlich Gewalt über Gustav Adolf. Jetzt fühlte der christ liche König, daß die Atmosphäre des Aberglaubens, die den Friedlän der umgab, ihn anzustecken beginne. Er tat wieder einen Schritt in die Richtung des Ausgangs. »Die Majestät sollte sich wenigstens ihrem Kind erhalten«, lächelte der Friedländer beinahe verbindlich. »Die Prinzeß lernt brav, wie ich höre, und ist der Majestät ans Herz gewachsen. Wenn man keine Söh ne hat, ist es so! Ich bin auch solch ein Mädchenpapa!« Damit empfahl sich der Herzog. Noch sah der Page, dem das belauschte Gespräch die Haare zu Ber ge getrieben hatte, daß Gustav Adolf sich in seinen Sessel warf und mit dem Handschuh spielte. Dann zog er sich in die Kammer zurück, warf sich neben dem Lager nieder und flehte den Himmel um die Bewah rung seines Helden an. Er war außer sich darüber, daß seine bloße Ge genwart – wie der Friedländer meinte und er selbst nun auch zu glau ben begann – Gustav Adolf ein geheimnisvolles Unheil bereiten könn te. »Was es mich auch koste«, gelobte sich der verzweifelte Page, »ich will mich von ihm losreißen, ihn von mir befreien, damit ihn meine unheimliche Nähe nicht verderbe.« 345
Da er ungerufen blieb, schlich er sich erst wieder zum König in jener Freistunde, die dann zu ihrer größeren Hälfte in gleichgültigem Ge spräch verfloß. Eine einzige Wendung erregte den Pagen. Der König fragte obenhin: »Wo hast du dich heute gegen Mittag herumgetrieben, Leubelfing? Ich rief dich, und du fehltest.« Der Page antwortete, der Wahrheit gemäß, er habe mit dem Bedürf nis, nach den erschütternden Szenen des Morgens freie Luft zu schöp fen, sich auf das Roß geworfen und es in der Richtung des Wallenstei nischen Lagers fast bis an die Tragweite der Kanonen getummelt. Er hatte die Absicht gehabt, sich einen freundlichen Verweis des Königs zuzuziehen, doch der Verweis kam nicht. Das Gespräch nahm eine unbefangene Wendung, und jetzt schlug die zehnte Stunde. Da zog Gustav Adolf mit einer zerstreuten Gebärde den Handschuh aus der Tasche. »Dieser Handschuh ist nicht der mei nige«, sagte er. »Hast du ihn verloren, Unordentlicher, und ich ihn aus Versehen eingesteckt? Laß sehen!« Er ergriff spielend die linke Hand des Pagen und zog ihm das weiche Leder über die Finger. »Er sitzt«, sagte er. Der Page warf sich vor Gustav Adolf nieder, ergriff seine Hän de und überströmte sie mit Tränen. »Lebe wohl«, schluchzte er, »mein Herr, mein alles! Dich behüte Gott mit seinen Scharen!« Er sprang jählings auf, stürzte hinaus wie ein Unsinniger. Der Kö nig erhob sich und rief ihn zurück. Aber schon erklang der Hufschlag eines galoppierenden Pferdes, und der König ließ weder in der Nacht noch am folgenden Tag Nachforschungen über die Flucht und das Ver bleiben seines Pagen anstellen. Freilich hatte er alle Hände voll zu tun, denn er hatte beschlossen, das Lager bei Nürnberg aufzuheben.
Leubelfing hatte den gestreckten Lauf seines Tieres nicht angehalten. Das Pferd ermüdete von selbst am äußersten Ende des Lagers. Die erreg ten Sinne des Reiters beruhigten sich. Der Mond schien taghell, und das Roß ging im Schritt. Bei klarer Überlegung erkannte jetzt der Flüchtling mit den scharfen Augen der Liebe und des Hasses seinen Doppelgänger: 346
Es war der Lauenburger. Hatte er nicht gesehen, wie der Gebrandmark te die Faust gegen die Gerechtigkeit des Königs geballt hatte? Besaß der Gestrafte nicht den Scheinklang seiner eigenen Stimme? War er selbst nicht Weib genug, um in jenem fürchterlichen Augenblick die Klein heit der geballten fürstlichen Faust bemerkt zu haben? Der Lauenburger sann Rache, sann Mord gegen das geliebte Haupt. Und in dieser Stun de unheimlicher Verfolgung und Beschleichung seines Königs hatte sich Leubelfing aus der Nähe des Bedrohten verbannt? Eine unendliche Sor ge für das Liebste, das er besessen, preßte ihm das Herz zusammen und löste sich bei dem Gedanken, daß er es nicht mehr besitze, in ein be klommenes Schluchzen und dann in unbändig stürzende Tränen. Eine schwedische Wache, ein Musketier mit schon ergrautem Kne belbart, der den schlanken Reiter weinen sah, verzog den Mund zu ei ner lustigen Grimasse, fragte dann aber gutmütig: »Sinnt der junge Herr nach Hause?« Leubelfing nahm sich zusammen, und langsam weiterreitend, ent schloß er sich mit jener Keckheit, die ihm die Natur gegeben und das Schlachtfeld verdoppelt hatte, nicht aus dem Lager zu weichen. »Der König wird es abbrechen«, sagte er zu sich selbst, »ich komme in ei nem Regiment unter und bleibe während der Märsche und Ermüdun gen unbekannt! Dann die Schlacht!« Jetzt gewahrte er einen Oberst, der die Lagerstraßen wachsam abritt. Das Licht des Mondes war so kräftig, daß man einen Brief hätte entzif fern können. So erkannte der entflohene Page auf den ersten Blick ei nen Freund seines Vaters. Er trieb seinen Fuchs an die linke Seite des Schweden, der dem Hauptmann Leubelfing in dem für ihn tödlichen Duell sekundiert hatte. Der Oberst, der in der letzten Zeit meist auf Vorposten gelegen hatte, betrachtete den jungen Reiter aufmerksam. »Entweder ich irre mich«, sagte er, »oder ich habe Euer Gnaden, wenn auch aus einiger Entfer nung, als Pagen neben dem König reiten sehen? Wahrlich, jetzt erken ne ich Euch wieder, ob Ihr auch etwas mondenblaß und schwermütig ausseht.« Dann, plötzlich wie von einer Erinnerung überrascht: »Seid Ihr ein Nürnberger und mit dem seligen Hauptmann Leubelfing ver 347
wandt? Ihr gleicht ihm zum Erschrecken oder eigentlich seinem Kind, dem Wildfang, der Gustel, die bis in ihr fünfzehntes Jahr mit uns ge ritten ist. Doch Mondenlicht trügt und hext. Steigen wir ab! Hier ist mein Zelt.« Er übergab sein Roß und das des Pagen einem ihn erwartenden Die ner mit plattgedrückter Nase und breitem Gesicht, der seinen Gebieter mit einem gutmütigen, stupiden Lächeln empfing. »Mach sich's der Herr bequem«, lud der Oberst den Pagen ein, ihm einen Feldstuhl anbietend und sich auf seinen harten Schrägen nieder lassend. Zwei Windlichter gaben eine schwankende Helle. Jetzt fuhr der Oberst ohne Zeremonie mit seiner breiten, ehrlichen Hand dem Pagen durch das Haar. Auf der bloßgelegten Stirnhöhe wur de eine alte, aber tiefeingeschnittene Narbe sichtbar. »Gustel, du Nar re«, brach er los, »meinst, ich hätt's vergessen, wie dich das ungarische Fohlen, die Hinterhufen aufwerfend, über seinen Starrkopf schleuder te, daß du durch die Luft flogst und wir drei dich für tot auflasen, die heulende Mutter, der Vater blaß wie ein Geist und ich selber herzlich erschrocken? Ein perfekter Soldat, der selige Leubelfing, mein bester Hauptmann und mein Herzensfreund! Nur ein bißchen toll, wie du es auch sein wirst, Gustel! Alle Wetter, Kind, wie lange schon treibst du dein Wesen um den König! Siehst übrigens akkurat wie ein Bub aus! Hast dir das blonde Kraushaar im Nacken wegrasiert, Kobold?« Er zupfte sie. »Mach dir nur nicht vor, du seist das einzige Weibsbild im Lager! Sieh dir mal den Jakob Erichson an, meinen Kerl!« Der Bursche trat eben mit Flaschen und Gläsern ein. »Ein Mann wie du! Keine Angst, Gustel! Er hat nicht ein deutsches Wort erlernen kön nen. Dazu ist er viel zu dumm. Aber ein kreuzbraves, gottesfürchtiges Weib! Und garstig! Übrigens die einfachste Geschichte von der Welt, Gustel: Sieben Schreihälse, der Ernährer ausgehoben, sein Weib für ihn eintretend. Der denkbar beste Kerl! Ich könnte ihn nun gar nicht mehr entbehren!« Der Page betrachtete das brave Geschöpf mit entschiedenem Wider willen, während der Oberst weiter polterte: »Allewege ein starkes Stück, Gustel, neben dem König dich einzunisten, der die Weibsen in Man 348
nestracht verabscheut! Hast eine Fabel gespielt, was sie auf den Bän ken von Upsala ein Monodrama nennen, wenn eine Person für sich mutterseelenallein jubelt, fürchtet, verzagt, empfindet, tragiert, ima giniert! Und hast dir, Gott weiß wieviel, darauf eingebildet, ohne daß eine sterbliche Seele etwas davon wußte oder sich einen Deut darum bekümmerte. Du blickst unmutig? Halsgefährlich, Kind, war es gera de nicht! Wurdest du entlarvt: ›Pack dich, dummes Ding!‹ hätte er dich gescholten und den nächsten Augenblick an etwas anderes gedacht. Ja, wenn dich die Königin demaskiert hätte! Puh! Nun sag' ich: Man soll die Kinder nicht küssen! So'n Kuß schläft und lodert wieder auf, wenn die Lippen wachsen und schwellen. Und wahr ist's und bleibt's, der Kö nig hat dich mir einmal von den Armen genommen, Patchen, und hat dich geherzt und abgeküßt, daß es nur so klatschte! Denn du warst ein keckes und hübsches Kind.« Der Page wußte nichts mehr von dem Kuß, aber er empfand ihn wild errötend. »Und nun, Wildfang, was soll werden?« Der Oberst dachte einen Au genblick nach. »Kurz und gut, ich trete dir mein zweites Zelt ab! Du wirst mein Galopin, gibst mir dein Ehrenwort, nicht auszureißen, und reitest mit mir bis zum Frieden. Dann führ' ich dich heim nach Schwe den in mein Gehöft bei Gefle. Ich bin allein. Meine zwei jüngeren Söh ne, der Axel und der Erich –« er zerdrückte eine Träne: »Für König und Vaterland!« sagte er. »Der übergebliebene älteste lebt in Falun, ein Diener am Wort mit einer fetten Pfründe. Da hast du dann die Wahl zwischen uns beiden.« Page Leubelfing gelobte seinem Paten, was er sich selbst schon gelobt hatte, und erzählte ihm darauf sein vollständiges Abenteuer mit jenem Wahrheitsbedürfnis, das sich nach lange getragener Larve so gebiete risch meldet wie Hunger und Durst nach langem Fasten. Der Oberst dachte sich sein Teil und belustigte sich dann besonders an dem Vetter Leubelfing, dessen Konterfei er sich von dem Pagen ent werfen ließ. »Der Flachskopf«, philosophierte er, »kann nichts dafür, eine Memme zu sein. Es liegt in den Säften. Auch mein Sohn, der Pfar rer in Falun, ist ein Hase. Er hat es von der Mutter.« 349
Von Sommerende bis zu dem Tag, an dem die ersten dünnen Schnee flocken über der Heerstraße wirbelten, ritt Page Leubelfing brav neben seinem Paten, dem Obersten Ake Tott, in die Kreuz und Quere, wie es die Wechselfälle eines Feldzugs mit sich bringen. Dem Hauptquartier und dem König begegnete er nicht, da der Oberst meist die Vor- oder Nachhut führte. Aber Gustav Adolf füllte Gustels Geist, wenn auch in verklärter und unnahbarer Gestalt, jetzt da er aufgehört hatte, ihr durch die Locken zu fahren, und der Page den Gebieter nachts nicht mehr an seiner Seite, nur durch eine dünne Wand getrennt, sich um wenden und sich räuspern hörte. Da geschah es zufällig, daß Leubelfing seinen König wieder mit Augen sah. Es war auf dem Marktplatz von Naumburg, wo sich der Page eines Einkaufs halber verspätet hatte und eben seinem Obersten nachsprengen wollte, der, diesmal die Vor hut befehligend, die Stadt schon verlassen hatte. Von einer immer dichter werdenden Menge mit seinem Roß gegen die Häuser zurückgedrängt, sah er auf dem engen Platz ein Schauspiel, wie ein ähnliches nur erst einmal menschlichen Augen sich gezeigt hatte, da vor vielen hundert Jahren Jesus auf einer Eselin in Jerusalem Einzug hielt. Freilich saß Gustav Adolf auf seinem stattlichen Streit hengst, von geharnischten Hauptleuten auf mutigen Tieren umringt. Aber Hunderte von leidenschaftlichen Gestalten, Weiber, die mit bei den gehobenen Armen ihre Kinder über die jubelnden Häupter empor hielten, Männer, die Hände streckend, um die Rechte Gustav Adolfs zu ergreifen und zu drücken, Mägde, die nur seine Steigbügel küßten, ge ringe Leute, die sich vor ihm auf die Knie warfen, ohne Furcht vor dem Hufschlag seines Tieres, das übrigens sanft und ruhig schritt, ein Volk in kühnen und von einem Sturm der Liebe und der Begeisterung er griffenen Gruppen umwogte den nordischen König, der ihm seine gei stigen Güter gerettet hatte. Gustav Adolf, sichtlich gerührt, neigte sich von seinem Roß her ab zu dem greisen Ortsgeistlichen, der ihm dicht vor den Augen Leubelfings die Hand küßte, ohne daß er es abwehren konnte, und sprach mit überlauter Stimme: »Die Leute ehren mich wie einen Gott! Das ist zuviel und gemahnt mich an mein Ende. Prediger, ich 350
reite mit der heidnischen Göttin Viktoria und mit dem christlichen Todesengel!«
Dem Pagen brachen die Tränen aus den Augen. Als er aber gegenüber an einem Fenster die Königin erblickte und ihr der König einen zärt lichen Abschied zuwinkte, schwoll ihm das Herz vor brennender Ei fersucht.
Kaum eine Woche später, als die schwedischen Scharen auf dem fla chen Felde von Lützen sich zusammenzogen, marschierte Ake Tott seitwärts unweit des Wagens, in dem der König fuhr. Da erblickte Leu belfing einen Raubvogel, der, unter zerrissenen Wolken schwebend, aufs hartnäckigste sich über der königlichen Gruppe hielt und durch die Schüsse des Gefolges sich nicht erschrecken und nicht vertreiben ließ. Leubelfing gedachte des Lauenburgers, ob seine Rache über Gu stav Adolf schwebe. Das arme Herz des Pagen ängstigte sich über alle Maßen. Als es früh dunkelte, wuchs seine Angst, und als es finster ge worden war, gab er, sein Ehrenwort brechend, dem Roß die Sporen und verschwand aus den Augen des Obersten, der ihm nachrief: »Treu brüchiger Bube!« In unaufhaltsamem Ritt erreichte Leubelfing den Wagen des Königs und mischte sich unter das Gefolge, das ihn am Vorabend der erwarte ten großen Schlacht nicht zu bemerken oder sich nicht um ihn zu küm mern schien. Der König gedachte, die Nacht in seinem Wagen zuzu bringen, wurde aber durch die Kälte genötigt, auszusteigen und in ei nem bescheidenen Bauernhaus ein Unterkommen zu suchen. Mit Ta gesanbruch drängten sich in der niedrigen Stube, wo der König schon über seinen Karten saß, die Ordonnanzen. Die Aufstellung der Schwe den war beendigt. Es begann die der deutschen Regimenter. Page Leu belfing hatte sich, von dem Kammerdiener des Königs, der ihm wohl 351
wollte, erkannt und nicht zur Rede gestellt, den Schemel mit dem einge stickten schwedischen Wappen wiedererobert, auf dem er sonst neben dem König gesessen war, und sich in einer Ecke niedergelassen, wo er hinter den wechselnden kriegerischen Gestalten verborgen blieb. Der König hatte jetzt seine letzten Befehle gegeben und war in der wunderbarsten Stimmung. Er erhob sich langsam und wandte sich den Anwesenden zu, lauter Deutschen, unter ihnen mehr als einer von denen, die er im Lager bei Nürnberg mit so harten Worten gezüchtigt hatte. Ob ihn schon die Wahrheit und die Barmherzigkeit jenes Rei ches berührte, dem er sich nahe glaubte? Er winkte mit der Hand und sprach leise, fast wie träumend, mehr mit den geisterhaften Augen als mit dem kaum bewegten Mund: »Herren und Freunde, heute kommt wohl mein Stündlein. So möcht' ich euch mein Testament hinterlassen. Nicht für den Krieg sorgend – das mögen die Lebenden tun –, sondern – neben meiner Seligkeit – für mein Gedächtnis unter euch! Ich bin übers Meer gekommen mit aller hand Gedanken, aber alle überwog, ungeheuchelt, die Sorge um das reine Wort. Nach der Viktorie von Breitenfeld konnte ich dem Kaiser einen läßlichen Frieden vorschreiben und nach gesichertem Evangeli um mit meiner Beute mich wie ein Raubtier zwischen meine schwedi schen Klippen zurückziehen. Aber ich bedachte die deutschen Dinge. Nicht ohne ein Gelüst nach eurer Krone, Herren! Doch, ungeheuchelt, meinen Ehrgeiz überwog die Sorge um das Reich! Dem Habsburger darf es unmöglich länger gehören, denn es ist ein evangelisches Reich. Doch ihr denket und sprechet: Ein fremder König herrsche nicht über uns! Und ihr habt recht. Denn es steht geschrieben: Der Fremdling soll das Reich nicht ererben. Ich aber dachte letztlich an die Hand meines Kindes und an …« Das leise Reden des Königs wurde überwältigt von dem stürmischen Gesang eines thüringischen Reiterregiments, das, vor dem Quartier Gustav Adolfs vorbeiziehend, mit Begeisterung die Worte betonte: »Er wird durch einen Gideon,
Den er wohl weiß, dir helfen schon …«
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Der König lauschte, und ohne seine Rede zu beendigen, sagte er: »Es ist genug, alles in Ordnung.« Er entließ die Herren. Dank sank er aufs Knie und betete. Da sah der Page Leubelfing mit rasendem Herzklopfen, wie der Lau enburger eintrat. Als ein gemeiner Reiter gekleidet, näherte er sich in kriechender und zerknirschter Haltung und reckte flehend die Hände. Der König erhob sich langsam. Jetzt warf sich der Lauenburger vor ihm nieder, umfing seine Knie und schluchzte mit den Worten des verlo renen Sohnes: »Vater, ich habe gesündigt im Himmel und vor dir!« Er wiederholte: »Ich habe gesündigt im Himmel und vor dir, ich bin hin fort nicht mehr wert, daß ich dein Sohn heiße!« Er neigte das reuige Haupt. Der König hob ihn vom Boden auf und schloß ihn in seine Arme. Vor den entsetzten Augen des Pagen schwammen die sich umschlun gen Haltenden wie in einem Nebel. War das, konnte das die Wahr heit sein? Hatte die Heiligkeit des Königs an einem Verworfenen ein Wunder gewirkt? Oder war es eine satanische Larve? Mißbrauchte der ruchloseste der Heuchler die Worte des reinsten Mundes? So zweifelte der Page mit irren Sinnen und hämmernden Schläfen. Der Augenblick verrann. Die Pferde wurden gemeldet, der König rief nach seinem Le derwams. Der Kammerdiener erschien, in der Linken das Wams, in der Rechten aber einen blanken Harnisch haltend. Der Page entriß ihm den kugelfesten Panzer und schickte sich an, dem König behilflich zu sein. Gustav Adolf aber, ohne über die Gegen wart des Pagen erstaunt zu sein, weigerte sich und fuhr Leubelfing mit einem unbeschreiblich freundlichen Blick über das krause Stirnhaar, wie er zu tun pflegte. »Gust«, sagte er, »das geht nicht. Er drückt. Gib mir das Wams.« Kurz darauf sprengte der König davon, links und rechts hinter sich den Lauenburger und seinen Pagen Leubelfing.
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V
In der Pfarre des Dorfes Meuchen, das hinter der schwedischen Schlachtlinie lag, saß gegen Mitternacht der verwitwete Magister To dänus hinter seiner Foliobibel und las seiner Haushälterin, der eben falls verwitweten Frau Ida, die Bußpsalmen Davids vor. Der Magister, ein wehrhafter Mann mit einem derben, grauen Knebelbart, der ein paar Jugendjahre unter den Waffen verlebt hatte, betete dann inbrün stig mit Frau Ida für die Erhaltung des protestantischen Königs, dessen Holzschnitt an der Wand des Zimmers hing und der eben jetzt in ge ringer Entfernung das Schlachtfeld, er wußte nicht, ob behauptet oder verloren hatte. Da pochte es heftig an das Hoftor. Als der Pfarrer öffnete, wank te ihm ein junger Mensch entgegen, bleich wie der Tod, mit weit auf gerissenen Fieberaugen, barhaupt, an der Stirn eine klaffende Wun de. Hinter ihm hob ein anderer einen Toten vom Pferd, den der Pfar rer trotz der entstellenden Wunden als den König von Schweden er kannte. Tief ergriffen bedeckte er das Gesicht mit den Händen und schluchzte. In fieberischer Geschäftigkeit und mit hastiger Zunge begehrte der verwundete junge Mann, daß sein König im Chor der anstoßenden Kirche aufgebahrt werde. Zuerst aber verlangte er lauwarmes Wasser und einen Schwamm, um das teure Haupt zu reinigen. Dann legte er mit Hilfe seines Kameraden den Toten, der seinen Armen zu schwer war, auf ein ärmliches Bett, kniete davor nieder und betrachtete liebe voll das wachsfarbene Antlitz. Als er es aber mit dem Schwamm be rühren wollte, wurde er ohnmächtig und sank vornüber auf den Leich nam. Sein Gefährte hob ihn auf, sah näher zu und entdeckte außer der Stirnwunde eine zweite, eine Brustwunde. Durch einen frischen Riß 354
im Rock neben einem über dem Herzen liegenden geflickten Loch sik kerte Blut. Der schwedische Kornett öffnete vorsichtig das Gewand seines Ka meraden – und traute seinen Augen nicht: »Hol mich, straf mich!« stotterte er, und Frau Ida, die die Schüssel mit dem Wasser hielt, errö tete über und über. In diesem Augenblick wurde die Türe aufgerissen. Oberst Ake Tott trat ein. »Ist es wahr, ist es möglich?« schrie er und stürzte auf seinen König zu. Er ergriff seine Hand und benetzte sie mit Tränen. Nach ei ner Weile wandte er sich um und erblickte den Jüngling, der bewe gungslos in einem Lehnsessel ausgestreckt lag: »Alle Teufel«, rief er zornig, »so hat sich die Gustel doch wieder an den König gehängt!« »Ich fand den jungen Herrn, meinen Kameraden«, bemerkte der Kornett vorsichtig, »wie er, den toten König vor sich auf dem Pferde, über das Schlachtfeld sprengte. Er hat sich für die Majestät geopfert!« »Nein, für mich!« unterbrach ihn ein langer Mensch mit einem Alt weibergesicht. Es war der Kaufherr Laubfinger. Um eine beträchtliche, durch den Krieg gefährdete Schuld einzutreiben, hatte er sich aus dem sicheren Leipzig herausgewagt und war, ohne es zu wissen, in die Nähe des Schlachtfeldes geraten. Als er in die von Gepäckwagen verstopf te Dorfgasse gelangt war, ging er dem Obersten nach, um ihn um eine ›salve guardia‹ zu ersuchen. In überströmender Dankbarkeit und Erleichterung erzählte er jetzt umständlich die Geschichte seiner Familie. »Gustel, Gustel«, weinte er, »kennst du noch dein leibliches Vetterchen? Wie kann ich dir's bezah len, was du für mich getan hast?« »Damit, Herr, daß Ihr das Maul haltet!« fuhr ihn der Oberst an. Der Pfarrer trat dazwischen und sagte ernst: »Herrschaften, ihr kennt diese Welt. Sie ist voller Lästerung. Und am meisten dann, wenn ein großer und reiner Mensch eine große und reine Sache vertritt. Würde der leiseste Argwohn dieses Andenken trüben« – er wies auf den stil len König – »welches Fabelgeschöpf würde die papistische Verleum dung aus dieser armen Mücke machen!« Er deutete auf den ohnmäch tigen Pagen: »Sie hat sich die Flügel an der Sonne des Ruhmes ver 355
brannt! Ich bin wie von meinem Dasein überzeugt, daß der selige Kö nig von diesem Mädchen nichts wußte.« »Einverstanden, geistlicher Herr«, stimmte der Oberst eilig zu. »Auch ich bin davon wie von meiner Seligkeit nicht durch die Werke, sondern durch den Glauben überzeugt.« »Sicherlich«, bestätigte Laubfinger. »Sonst hätte der König sie heim geschickt und nach mir gefahndet.« »Hol mich, straf mich!« beteuerte der Kornett, und Frau Ida seufzte. »Ich bin ein Diener Gottes«, fuhr der Pfarrer fort. »Ihr tragt grau es Haar, Herr Oberst, Ihr, Kornett, seid ein Edelmann – es liegt in Eu rem Nutzen und Vorteil, Herr Laubfinger, und für Frau Ida bürge ich: Wir schweigen.« Jetzt öffnete der Page die sterbenden Augen. Sie irrten angstvoll um her und blieben auf Ake Tott haften: »Pate, ich habe dir nicht gehorcht, ich konnte nicht – ich bin eine große Sünderin.« »Ein großer Sünder«, unterbrach sie der Pfarrer streng. »Ihr redet irre! Ihr seid der Page August Leubelfing, ehelicher Sohn des nürn bergischen Patriziers und Handelsherrn Arbogast Leubelfing, gestor ben am siebenten November Eintausendsechshundertzweiunddreißig an seinen tags zuvor in der Schlacht bei Lützen empfangenen Wunden, pugnans cum rege Gustavo Adolpho.« »Fortiter pugnans!« ergänzte der Kornett begeistert. »So will ich auf Euren Grabstein setzen. Jetzt aber macht Euren Frie den mit Gott. Euer Stündlein ist gekommen.« Der Magister hatte nicht ohne Härte gesprochen, denn er konnte seinen Unmut gegen das abenteuerliche Mädchen, das den Ruf seines Helden gefährdet hatte, nicht verwinden, wenn es auch schon in den letzten Zügen lag. »Ich kann jetzt noch nicht sterben, ich habe noch viel zu reden!« stöhnte der Page. »Der König … im Nebel … die Kugel des Lauenbur gers –« Der Tod verschloß Gustel den Mund. Aber er konnte sie nicht hin dern, mit einer letzten Anstrengung der brechenden Augen das Ant litz des Königs zu suchen. 356
Jeder der Anwesenden zog seinen Schluß und ergänzte den Satz nach seiner Weise. Der geistesgegenwärtige Pfarrer aber, dessen Patriotis mus es beleidigte, den Retter Deutschlands und der protestantischen Sache von einem deutschen Fürsten meuchlings ermordet zu wissen, ermahnte alle eindringlich, dieses Bruchstück einer durch den Tod zertrümmerten Rede mit dem Pagen zu begraben. Jetzt da Gustel Leubelfing ihr Schicksal vollendet hatte und leblos neben ihrem König lag, schluchzte der Vetter: »Nun die Base verewigt und der Erbgang eröffnet ist, nehme ich doch meinen Namen wieder an?« Er warf einen fragenden Blick auf die Umstehenden. Der Magister Todänus betrachtete das unschuldige Gesicht der tap feren Nürnbergerin, das einen glücklichen Ausdruck hatte. Der stren ge Mann konnte sich einer Rührung nicht erwehren. »Nein Herr!« wandte er sich barsch an den feigen August. »Ihr bleibt ein Laubfin ger. Euer Name wird die Ehre haben, auf dem Grabhügel eines hoch gesinnten Mädchens zu stehen, das einen herrlichen Helden bis in den Tod geliebt hat. Ihr aber habt Euer höchstes Gut gerettet – das liebe Le ben. Damit begnügt Euch!« Die Kirche mußte gegen den Andrang der herbeiströmenden Menge gesperrt und verriegelt werden, denn das Gerücht hatte sich rasch ver breitet, daß der König dort liege. Die Toten wurden gewaschen und im Chor aufgebahrt. Inzwischen war es hell geworden. Der nebligen düsteren Nacht war ein wolkenloser blauer Tag gefolgt. Als die Kirchentore sich den mit ungeduldigen Gebärden, aber ehrfürchtigen Mienen Eindringenden öffneten, lagen die beiden auf zwei Schrägen gebettet vor dem Altar, der König höher, der Page niedriger und in entgegengesetzter Rich tung, so daß sein Haupt zu Füßen des Königs ruhte. Ein Strahl der Morgensonne glitt durch das niedrige Kirchenfenster, verklärte das Antlitz Gustav Adolfs und sparte noch einen Schimmer für den Lok kenkopf des Pagen Leubelfing.
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Vom Dreißigjährigen Kriege
bis in die Achtziger Jahre
des 18. Jahrhunderts
Der Westfälische Frieden I »Wenn du nur wüßtest, mein Sohn, mit wie wenig Verstand der Erd kreis regiert wird!« – Diese besorgte Erkenntnis des schwedischen Staatsmannes Axel Oxenstjerna, der es nach der verhängnisvollen Schlacht von Lützen – dem Sieg der Schweden, aber dem Tod ihres Kö nigs – auf sich nahm, die politischen und militärischen Pläne Gustavs II. Adolf auszuführen, war keine Selbstanklage. Der Kanzler des ›Go tenkönigs‹, wie Kardinal Richelieu den heldenmütigen Toten in spöt tischer Hochachtung genannt hatte, verlor die bedächtige Übersicht nicht. Er hielt die nützliche Verbindung mit Frankreich aufrecht und beklagte die unsichere Haltung Karls I. des neuen englischen Königs, der so unabhängig herrschen wollte wie sein Schwager Ludwig XIII. Aber England war kein guter Boden für das unumschränkte Kö nigtum, das Richelieu für die Könige von Frankreich erstrebte. Die überkommenen Rechte des englischen Parlaments waren im Bewußt sein der Bevölkerung verwurzelt. Durch die Annahme der ›Petition of Rights‹ hatte Karl I. den gewählten Volksvertretern zugestanden, daß willkürliche Verhaftungen und Steuerauflagen ohne Bewilligung des Unterhauses gesetzwidrig seien – und dann das Parlament aufgelöst. Einerseits hatte er hochmütig erklärt, er sei nur Gott gegenüber ver antwortlich, andererseits seine Handlungen zu rechtfertigen versucht, gleichzeitig aber einem schottischen Vertrauensmann geschrieben: »Ich bin der Ansicht, daß nur Gewalt das Volk zum Gehorsam brin gen kann!« In den düsteren Mauern des Londoner Tower schmachteten die Füh 359
rer der Puritaner, die ihre kirchlichen Freiheiten verteidigt hatten, während viele ihrer Glaubensgenossen die Freiheit, zu leben und zu glauben, wie der herr es befahl, in der Neuen Welt suchten. Ein Schiff nach dem anderen folgte den Spuren der ›Mayflower‹, dem Schiff, auf dem die ›Pilgerväter‹ genannten Glaubensauswanderer den Atlanti schen Ozean überquert hatten. Puritanische Kaufleute und Handwer ker siedelten sich in Übersee an. Diese Flüchtlinge vor der englischen Königsgewalt förderten durch ihren steten Fleiß und ihre ernste Le bensweise das Wachstum der nordamerikanischen Kolonien. Zur glei chen Zeit nahm auch die Auswanderung aus Spanien und Portugal in die überseeischen Besitzungen zu, denn Philipp IV. folgte dem Beispiel seines Vaters. Auch er liebte es, »ohne viel Gedanken zu leben«, und überließ die Regelung der Glaubensfragen der unerbittlichen Inquisiti on und die Leitung des Staates seinem Günstling Olivarez in der glei chen Weise wie sein Vorgänger Philipp III. dem Herzog von Lerma. Das Bedürfnis, die Last der Geschäfte von sich abzuwälzen, schien eine Gewohnheit der gekrönten Häupter Europas geworden zu sein. Sie waren nicht mehr die eigentlichen Herren. Ihre höchsten Diener herrschten für sie und betitelten sich nach der altrömischen Bezeich nung für Bediente: »Minister«. Axel Oxenstjerna war ein ›Minister‹ im besten Sinne des Wortes. Was er dachte und tat, geschah für die Er bin seines Königs, die noch unmündige Christine von Schweden. Für sie wollte er retten, was durch den Tod ihres Vaters gefährdet war. Oxenstjerna sah die Lage klar. Wallenstein, der große Gegenspieler Gustavs II. Adolf, zögerte, zum Entscheidungsschlag gegen das ver waiste schwedische Heer auszuholen. Der kaiserliche Generalissimus wollte nicht siegen. Er brauchte einen starken Feind im Feld, um seine eigene Bedeutung gegenüber seinen Gegnern am Wiener Kaiserhof be haupten zu können. Diese Gegebenheit nützte der schwedische Kanz ler mit überlegener Geschicklichkeit aus. Es war bald ein offenes Ge heimnis, daß er mit Wallenstein Botschaften austauschte. Geschah es, um sich mit ihm zu verbünden? Geschah es, um Friedensverhandlun gen anzubahnen? Wollte Wallenstein sich vom Kaiser loslösen und ihn zwingen, den nun schon fünfzehn Jahre währenden Krieg zu beendi 360
gen? Wollte er seine tatsächliche Macht durch die eigenmächtige Erhe bung zum König von Böhmen krönen? Die meisten der von Eilboten beförderten, versiegelten Briefe Wallensteins an Reichsfürsten in bei den Lagern enthielten vorsichtige Hinweise, jedoch keine eindeutigen Erklärungen. Oxenstjerna riet seinen fürstlichen Bundesgenossen, mit denen er als einfacher Edelmann einen schweren Stand hatte, die Vor schläge des feindlichen Feldherrn weder abzulehnen noch anzuneh men. Er warnte: Wallenstein könne ein Wolf im Schafspelz sein. Der mit der Vollstreckung der Erbschaft des Schwedenkönigs be traute Kanzler belehnte den protestantischen Prinzen Bernhard von Weimar mit den katholischen Bistümern Würzburg und Bamberg als ›Herzog von Franken‹ und übertrug ihm den Befehl über schwedische Truppen. Prinz Bernhard besetzte die freie Reichsstadt Regensburg. Wenn es jetzt dabei blieb, daß sich Wallenstein, der sich mit seinem Heer nach Böhmen zurückgezogen hatte, weigerte, dem Kurfürsten Maximilian von Bayern gegen die Protestanten zu Hilfe zu kommen, konnten die Fürsten der Union ernsthaft hoffen, daß der Generalissi mus des Kaisers zu ihnen übergehen würde. Oxenstjerna setzte die Verhandlungen mit Wallenstein fort. Er woll te Zeit gewinnen, wenigstens so lange, bis die von Richelieu in Frank reich begonnene Neuordnung gefestigt war. Wenn es der eisernen Hand des Kardinals gelang, die Macht der hochadligen Herren in sei nem Lande zu brechen und die eigensinnigen ›Gouverneure‹ der Lan desteile durch königstreue ›Intendanten‹ zu ersetzen, würde Richelieu sein außenpolitisches Ziel durchführen und als Bundesgenosse Schwe dens gegen die Vormachtstellung des Hauses Habsburg in Deutsch land und Spanien kämpfen. Die Entwicklung deutete darauf hin. Ri chelieu hatte es gewagt, den Herzog von Montmorency, der den ständi schen Widerstand gegen die Errichtung des unumschränkten König tums unterstützt hatte, enthaupten zu lassen. Aber was geschah, wenn der König den Kardinal seines Amtes entsetzte? Ludwig XIII. war her angewachsen. Er war mit einer spanischen Infantin verheiratet. Sei ne Launenhaftigkeit war bedenklich. Die alltäglichen Zerstreuungen langweilten ihn so sehr, daß er seinen Günstlingen befahl: »Langweilet 361
euch mit mir!« Würde es Richelieu gelingen, wie eine geistreiche fran zösische Hofdame spottete, ›aus seinem Herrn einen Sklaven und aus diesem Sklaven den größten König der Erde zu machen‹? Der Kardinal war allmächtig in Frankreich. Aber es konnte in Pa ris eine ähnliche Wendung eintreten wie in Wien. Ein Minister konn te ebenso seines Amtes für verlustig erklärt werden wie ein Feldherr, wenn es dem Herrscher gefiel.
Im Oktober 1633 bat Graf Onate, der Gesandte König Philipps IV. von Spanien, den Kaiser um eine Audienz. Zweck der Unterredung war es, das Zusammenwirken der habsburgischen Streitkräfte im unvermeid lichen Krieg gegen Frankreich vorzubereiten. Außerdem sollte Onate Ferdinand ›die Besorgnis seines Hofes wissen lassen und ihm die Au gen öffnen‹. Die Feinde Österreichs seien in diesem Augenblick des blutigen Krieges weniger zu fürchten als Wallenstein, der ›nur seine ei gensüchtigen, weit ausblickenden Absichten verfolge‹. Wer bürge da für, daß sich der Generalissimus nicht mit den im Namen des Kaisers geworbenen Truppen gegen Ferdinand wenden und in seiner offen kundigen Gleichgültigkeit gegen den Glauben den Kampf gegen den Schutzherrn der römischen Kirche führen würde, wie er ihn gegen die Protestanten geführt hatte? Auch seine Neigung zur ketzerischen Ster nenkunde habe ihn dem Heiligen Vater verdächtig gemacht. Wallen stein unterhalte Beziehungen zu dem unverbesserlichen Gelehrten Ga lileo Galilei, der wegen seines Bekenntnisses zum Sonnensystem des Kopernikus mehrmals von der Inquisition belangt und gezwungen worden war, seine Lehre von der Bewegung der Erde zu widerrufen. Trotz seines Widerrufes hatte Galilei angeblich auf seiner Erkenntnis beharrt: »Und sie bewegt sich doch!« – Hartnäckigen Gottlosen war nicht zu trauen … Die ›Generalissima‹ und die Jesuiten berieten Ferdinand II. im glei chen Sinn. Ein kaiserlicher Erlaß erklärte Wallenstein für abgesetzt, ›weil er eine Konspiration anzuspinnen sich angemaßt, um uns und 362
unser hochlöbliches Haus von unseren Erbkönigreichen, von Land und Leuten zu vertreiben‹. Der Kaiser befürchtete, daß ein Schriftstück ge gen Wallenstein nicht genügen könnte. Er hatte so große Angst vor dem Mann, der die Angst seiner Feinde gewesen war, daß er sicherge hen wollte. Er ließ den geächteten Wallenstein ermorden. Als die Nachricht vom gewaltsamen Tod seines Generalissimus dem Kaiser überbracht wurde, gewährte er gerade dem spanischen Gesand ten eine Audienz. Die beiden hohen Herren bekreuzigten sich. Dann wies Onate mit demütiger Gebärde auf das Bild der Madonna, das das Arbeitszimmer Ferdinands II. schmückte, und erklärte: »Der Tod Wallensteins ist eine große Gnade, die Gott dem Hause Österreich er wiesen hat.« Erst schien es so zu sein. Durch die Beschlagnahme und Vertei lung der Güter Wallensteins konnte der Kaiser die Obersten der Regi menter noch großzügiger belohnen, als es ihr freigebiger Feldherr ge tan hatte. Ferdinand erfüllte auch durch die Ernennung seines gleich namigen Erben zum ›Generalissimus‹ den Herzenswunsch des jun gen Erzherzogs und schmeichelte dem Heer, dem er ›die Hoffnung Österreichs‹ anvertraute. Die erprobten Generäle Wallensteins, durch spanische Hilfstruppen und bayrische Einheiten unter dem Befehl des schneidigen Reitergenerals von Werth verstärkt, siegten über die Schweden unter Bernhard von Weimar. Die Kurfürsten von Sachsen und Brandenburg, die das schwedische Bündnis satt hatten, waren ge gen Zugeständnisse bereit, sich mit dem Kaiser zu einigen. Das Über einkommen ermöglichte es Ernst dem Frommen von Sachsen, sein durch den Krieg verheertes Land wiederaufzubauen, und Friedrich Wilhelm von Brandenburg, seine ehrgeizigen Pläne umsichtig vorzu bereiten. Der Frieden von Prag, den die beiden Kurfürsten mit Ferdinand schlossen, bedeutete nur ein vorübergehendes Aufatmen, eine Ver schiebung des Schwergewichts auf den Kriegsschauplätzen – für kur ze Zeit, denn Kardinal Richelieu erwirkte von Ludwig XIII. die Zu stimmung, dem König von Spanien den Krieg zu erklären. Bisher hat ten die spanischen Habsburger den österreichischen Habsburgern bei 363
gestanden. Jetzt trat das umgekehrte Verhältnis ein. Die kaiserlichen Heere mußten den Spaniern zu Hilfe eilen. Europa wurde ein einzi ges Schlachtfeld. Und alle am Krieg beteiligten Herrscher, mit Aus nahme Ferdinands II. gingen in ihren Kundgebungen darüber hin weg, daß die Feindseligkeiten achtzehn Jahre zuvor um des Glaubens willen ausgebrochen waren. Nur der alternde Kaiser hielt mit eigensinniger Zähigkeit in seinen Verlautbarungen daran fest, daß er den Krieg führe, um der alleinse ligmachenden Kirche zum Sieg über die Ketzer zu verhelfen. Als sein Sohn Ferdinand zum römischen König gewählt wurde, zum Nachfol ger und Vollstrecker seines vom ersten bis zum letzten Tag seiner Herr schaft gleichlautenden Willens, wurde das Weihnachtsfest in Wien mit noch nie dagewesenem Glanz gefeiert. Ferdinand II. hatte das befriedi gende Gefühl, sein Lebenswerk vollbracht zu haben. Er brüstete sich, daß das Königreich Böhmen mit seinen Nebenländern durch sein Wir ken erblich an sein Haus gefallen war. »Ich will lieber über eine Wüste herrschen als über ein Land von Ketzern«, hatte er in seiner Jugend ge sagt. Er hatte es erreicht. Zu Beginn seiner Herrschaft hatten 4.500.000 Menschen in Böhmen gelebt. Als er starb, zählte man in Böhmen und den dazugehörenden Ländern nur noch 800.000 Seelen.
II
Kaiser Ferdinand III. war im Aussehen das verjüngte Ebenbild seines Vaters. Er war ebenso fromm. Er betete, er fastete, er fehlte bei keiner Messe. Er fiel auch den fleißigen Schreibern unbarmherziger Verfü gungen gegen Andersgläubige nicht in den Arm. Aber er hielt, wann immer er es konnte, seine Generäle zurück, Schlachten zu schlagen, wenn es nicht unbedingt nötig war. Denn er hatte den Krieg nicht, wie sein Vater, nur auf den Landkarten verfolgt. Er hatte an Feldzügen teil 364
genommen. Er hatte das Blut und die Greuel mit eigenen Augen gese hen. Er wollte den Frieden. Ferdinand III. liebte das Familienleben. Seine Frau Maria Anna, die Schwester Philipps IV. von Spanien, war so vielfältig mit ihm ver wandt, daß er sie huldvoll als ›meine liebe Schwester‹ ansprach. Er be griff es nicht ganz, warum es erlaubt war, daß sein Schwager, Ludwig XIII. der Anna Maria, die Schwester Maria Annas, geheiratet hatte, ge gen den gemeinsamen Schwager Philipp IV. und gegen ihn selbst, der doch allen Verwandten zugetan war, im Felde lag. Nur weil Ludwig XIII. einen Minister hatte, der, wie der kaiserliche Beichtvater erklär te, ›kein guter Priester‹ war? Ferdinand ließ die österreichischen und spanischen Jesuiten verhandeln, um den Kardinal Richelieu zu stür zen und die Feindschaft der gekrönten Schwäger in brüderlich innige Einigkeit zu verwandeln. Die Verhandlungen scheiterten, denn die Heere, die Richelieu ausge rüstet hatte, waren zu erfolgreich, als daß sich der König von Frank reich hätte entschließen können, sich eines Ministers zu entledigen, der ihm so gut diente. Französische Truppen hatten schon das Elsaß und einen Teil des Rheinlands besetzt, die mit ihnen verbündeten Schwe den waren in Böhmen eingebrochen – Ludwig XIII. zweifelte nicht, daß er bald der mächtigste König auf Erden sein werde. Sein Kardinal bewies ihm schwarz auf weiß, daß er nicht nur das Recht, sondern so gar die Pflicht habe, seine Schwäger zu bekämpfen, die ihm sein Eigen tum vorenthielten. Das Büchlein, das zur Erhärtung dieser schicksalsschweren Behaup tung für den König von Frankreich geschrieben, gedruckt und an die höchsten Würdenträger verteilt wurde und für dessen Niederschrift der Verfasser den für die damalige Zeit ungeheuren Betrag von sech zehntausend Livre erhielt, führte den Titel: ›Untersuchung der Rechte des Königs und der Krone von Frankreich auf Königreiche, Herzogtü mer, Grafschaften, Städte und Länder, die von fremden Fürsten wider rechtlich vorenthalten werden‹. Die vielversprechende politische Wer beschrift regte Ludwig XIII. an, seine Kriege fortzusetzen, auch nach dem ihm Richelieu nicht mehr zur Seite stand. Der Tod seines Mini 365
sters erschütterte den Gleichmut des Königs nicht. »Da ist ein großer Staatsmann gestorben«, sagte er gelangweilt und ernannte zu seinem Minister den Würdenträger, den ihm der Verstorbene empfohlen hat te. Er hieß Mazarin. Er war auch Kardinal, aber er war überdies ein ›gentiluomo‹, ein galanter Herr, der der Königin nach dem baldigen Tod Ludwigs XIII. den König nicht nur in seinem Amt ersetzte. Kar dinal Mazarin, der ein gebürtiger Italiener war und in seiner Heimat Giulio Mazarini geheißen hatte, blieb der französischen Machtpolitik seines Vorgängers treu. Er erzog sein Mündel, Ludwig XIV. von frühe ster Kindheit an im Bewußtsein, daß seine Nachbarn, die Könige von Spanien und die römischen Kaiser deutscher Nation, der Krone von Frankreich ›Königreiche, Herzogtümer, Grafschaften, Städte und Län der widerrechtlich vorenthielten‹. Die Erfolge, welche die Marschälle von Frankreich, Turenne und Conde, in den letzten Jahren des Dreißigjährigen Krieges gegen den Kaiser und den König von Spanien erfochten, bestärkten den jungen Herrscher in seiner frühreifen Absicht, sich all der ›vorenthaltenen Ge biete‹ mit Gewalt zu bemächtigen, wenn die Gelegenheit dazu günstig sein würde.
Zum ersten entscheidenden Abweichen von den politischen und Glau bensgrundsätzen seines Vaters wurde Ferdinand III. gezwungen, als Frankreich, das den Krieg begonnen hatte, um sich aus der gefährli chen Umklammerung der Habsburger zu befreien, wieder die Einkrei sung der österreichischen Länder versuchte. Am bedrohlichsten wirk te sich die aufwieglerische Tätigkeit französischer Gesandter am Hof des neuen Fürsten von Siebenbürgen aus. Der türkische Sultan hatte es nicht nötig, Rakoczy seine Heere gegen den Kaiser zur Verfügung zu stellen. Dem Fürsten genügten die eigenen Mannschaften und die Ge folgschaft der stets zum Aufruhr bereiten großen Herren Ungarns, um beinahe ganz Mähren und die den Habsburgern verbliebenen Teile des Königreichs Ungarn zu erobern. Seine Reiter drangen sogar bis an die 366
Mauern Wiens vor. Ferdinand III. floh donauaufwärts nach Linz. In Böhmen hatten die Schweden indessen den kaiserlichen Widerstand überwunden. Die französischen Marschälle Conde und Turenne hat ten die Bayern geschlagen. Ferdinand ließ sich von Rakoczy Friedens bedingungen auferlegen. Der Kaiser mußte seinen Untertanen im Kö nigreich Ungarn erlauben, den lutherischen Glauben auszuüben. Er kehrte betrübt in die Hofburg nach Wien zurück und wartete auf die Nachrichten seiner Räte, die mit den Gesandten der Franzosen und Schweden über einen allgemeinen Frieden verhandelten. Die verzweifelte Lage auf den Kriegsschauplätzen hatte die Beziehun gen Ferdinands III. zum spanischen Königshaus getrübt. Seine Gattin Maria Anna war gestorben. Er hatte die Tochter seines Onkels, Erzher zog Leopolds, geheiratet. Der vorsichtige Schwiegervater war für den Frieden unter allen Bedingungen: »Koste es, was es koste, damit das Haus Österreich nicht um alle seine Länder komme!« Der Graf von Trautmannsdorff, der die Urkunden der Zusammen kunft der europäischen Staatsmänner in Westfalen als Bevollmäch tigter des Kaisers unterschrieb, sandte, gewissermaßen zur Entschul digung, daß er die schweren und auch schimpflichen Friedensbedin gungen für Ferdinand III. annahm, die Berichte deutscher Fürsten und Städte nach Wien. Da gab es eine Erklärung des Gesandten von Braunschweig-Lüneburg, daß in seinem kleinen Land über hundert Städte, Flecken und Dörfer abgebrannt seien, eine Erklärung des Ge sandten von Württemberg, daß die Bevölkerungszahl des Herzogtums von 313.000 auf 65.000 gesunken sei. 8 Städte, 45 Dörfer, 65 Kirchen, 230 öffentliche und 30.086 Privatgebäude lägen in Asche. In dem ehe mals so reichen Land seien 40.000 Morgen Weingarten, 248.000 Mor gen Ackerland, 24.000 Morgen Wiesen unbebaut. Es gab auch einen Bericht des Gesandten der Freien Reichsstadt Augsburg, der bitter dar über klagte, daß von 80.000 Bürgern nur noch 18.000 am Leben seien. Der Tod hatte während des Dreißigjährigen Krieges so grausame Ern te gehalten, Not, Plünderung und Brand hatten beinahe das ganze Rö mische Reich Deutscher Nation in einen so vollkommenen Trümmer haufen verwandelt, daß es Gott gefällig sei, wenn sich Seine Majestät 367
der Kaiser in den geistlichen und weltlichen Fragen des Reiches gnädig zeige und die Forderungen seiner Feinde erfülle. Ferdinand III. schloß den Westfälischen Frieden nur dem Namen nach als Kaiser des Römischen Reiches Deutscher Nation, in Wirklich keit aber als Haupt des Hauses Österreich, das sich glücklich schätzen konnte, lediglich die Landgrafschaft Elsaß eingebüßt zu haben. Daß Ferdinand III. an der Regelung der verworrenen Verhältnisse im Reich keinen ernsten Anteil mehr nehmen wollte, bekannte er durch die wi derspruchslose Zustimmung zu der Friedensbedingung, daß nicht er, der Kaiser, sondern Frankreich und Schweden die Aufrechterhaltung des Friedens im Reichsgebiet gewährleisten sollten. Mochten die deut schen Kurfürsten, die für und gegen das Haus Österreich gekämpft hatten, ihre Gebiete auf Kosten von Bistümern und Abteien im Reich erweitern und den Glauben ihrer Untertanen nach ihrem Belieben be stimmen. Mochten sie sich des ihnen zugestandenen Rechtes erfreu en, Bündnisse untereinander und mit fremden Herrschern zu schlie ßen, sofern sie nicht gegen den Kaiser und das Reich gerichtet waren. Mochten die Schweizer Eidgenossenschaft und die sieben nördlichen Provinzen der Niederlande, die ›Generalstaaten‹, die nach ihrer bedeu tendsten Grafschaft ›Holland‹ genannt wurden, als vom Reich unab hängige Staaten feierlich anerkannt werden – die Gewinnung des Frie dens für die österreichischen Erblande galt Ferdinand III. mehr als die Rechte, die er als Kaiser aufgeben mußte. Der Glaube sowohl der protestantischen als auch der katholischen Bevölkerung im Römischen Reich Deutscher Nation blieb an das Be kenntnis ihres jeweiligen Fürsten gebunden. ›Cuius regio – eius religio‹ blieb der bestimmende Grundsatz. Ferdinand aber war zur Ehre des Andenkens seines Vaters entschlossen, dafür zu sorgen, daß die Unter tanen in seinen Ländern nur im alleinseligmachenden Glauben lebten und starben. Er wohnte mit seiner Familie dem prunkvollen ›Tedeum‹ bei, das im Wiener Stephansdom zur Feier des Westfälischen Friedens abgehalten wurde. Er setzte sich darüber hinweg, daß sein mit ihm so vielfach verwandter Schwager, der König von Spanien, noch im Krieg mit seinem anderen Schwager, dem König von Frankreich, lag. 368
Souveränität I Die durch die Glaubensgegensätze aufgeführte Streitfrage, ob die ›Sou veränität‹, die unumschränkte Herrschergewalt des Fürsten, von der Gnade Gottes abgeleitet und daher unbedingt sei oder ob die Bezie hung des Fürsten zu seinen Untertanen auf gegenseitigen Verträgen beruhe, mußte zeitgenössische Staatsmänner und Gelehrte um so mehr beschäftigen, als das Verhältnis der einzelnen Fürsten zu Gott, je nach ihrem Bekenntnis, von den jeweiligen Bevölkerungen gutgehei ßen oder verurteilt wurde und es immer klarer und deutlicher wurde, daß die furchtbaren Kriege nicht um des Glaubens willen geführt wor den waren. Diese Erkenntnis hatte tiefschürfende Untersuchungen zur Folge, die sich mit dem Wesen des Staates, seiner Entstehung und der gesell schaftlichen Schichtung im Staate befaßten. Es war ein gefährliches geistiges Neuland, in das sich Philosophen und Dichter, oft unter An lehnung an Beispiele des Altertums und in sinnbildlicher Umschrei bung, vorwagten. Sie machten ihre Ergebnisse einer weiteren Öffent lichkeit nur bekannt, wenn sie durch den Ablauf des Geschehens bestä tigt wurden. Der Austausch von Erkenntnissen und ihre Wechselwir kungen führten zu neuen Gedankenwegen, die als Wiedergeburt des geistigen Lebens galten. Aber ging der Franzose Rene Descartes von den ›Erfahrungen‹ seines Zeitgenossen Francis Bacon, des geistigen Beraters Elisabeths von England, aus oder schuf er seinen ›Vernunft glauben‹ aus eigenen Erfahrungen? Inwieweit seine Auslegung anderer Gelehrter seinen unerbittlichen Angriff auf die Trugbilder und Trug 369
schlüsse der ›Scholastik‹ vorbereitete, konnte nicht festgestellt werden. Descartes erlaubte den grundsätzlichen Zweifel an allem, an den Kir chenlehren, an den Sinneswahrnehmungen, sogar an der Wahrheit der Mathematik. Er anerkannte jedoch das denkende ›Ich‹. Durch seinen Lehrsatz ›Cogito, ergo sum‹ – Weil ich denke, weiß ich, daß ich bin – erhob er das Denken, die Vernunft, zum höchsten Richter alles Beste henden. Der Holländer Spinoza bestritt Gott als die über der Schöp fung stehende Persönlichkeit, als ›das Sein über den Dingen‹. Für ihn war der herr mit der Welt identisch, er war ihre logische Gesetzmä ßigkeit: »ihn zu erkennen, gibt es nur einen Weg: die logisch-rationa le Methode.« Die Leistungen der Naturwissenschaften, die sich im Zusammen hang mit den Geisteswissenschaften entwickelten, nahmen noch kei nen unmittelbaren Einfluß auf das Leben der Bevölkerung des europä ischen Raumes. Daß die Elektrizität, der Kreislauf des Blutes, die Be wegung der Planeten entdeckt wurden und Newton eine Erklärung der Natur des Lichtes gab, wurde lediglich von Gelehrten zur Kenntnis genommen. Die beschränkten Mittel der Verständigung ermöglich ten es nur eingeweihten Kreisen, den Anbruch der wissenschaftlichen Neuzeit zu werten. Die große Masse wurde zu sehr durch die äuße ren Ereignisse bewegt, als daß sie durch die Verinnerlichung des Den kens berührt werden konnte. Der Kampf um die tatsächliche Macht erschien den Völkern wichtiger als die Klärung und Erklärung der Rechte, die zur Macht führten. Die beiden Engländer Hobbes und Locke erklärten die Entstehung des Staates, jeder in seiner Art. Sie stimmten darin überein, daß der Staat auf einem Vertrag ursprünglich gänzlich freier Menschen beru he. Hobbes beschrieb in seinem ›Leviathan‹ den vorstaatlichen Natur zustand als einen Krieg aller gegen alle. Um dieser Gefahr zu begegnen, müsse die Macht einem oder mehreren Menschen übertragen werden, und in jedem vollkommenen Staat müsse schließlich einer die höchste Gewalt besitzen. Eine solche Herrschaft heiße die unbedingte, die ›ab solute‹. Locke hingegen führte aus, daß alle Menschen von Natur aus gleich und frei seien. Jeder Mensch habe dasselbe Recht. Da der Staat 370
aber als politischer Körper einen einheitlichen Willen brauche, müs se der einzelne der Entscheidung der Mehrheit gehorchen. Die Einset zung der gesetzgebenden Gewalt sei der erste grundlegende Beschluß der Mehrheit. Die ausübende Gewalt müsse der gesetzgebenden unter geordnet sein. Die von Herrschern oder Völkern jeweils tatsächlich angewendeten gegensätzlichen Auffassungen Hobbes' und Lockes bestimmten die Er eignisgeschichte der Neuzeit.
Der Begriff ›Souveränität‹ war vom französischen Rechtsgelehrten Bo din geprägt worden. Seine Anhänger und Schüler verkündeten, es ge höre zum Wesen der Souveränität, daß sie ›absolut‹ und ewig sei und daher weder in ihrer Macht, Aufgabe und Zeit beschränkt werden dür fe. Alle Fürsten dieser Erde seien den göttlichen und natürlichen Ge setzen unterworfen. – Im Kampf gegen Philipp II. hatten die Nieder länder mit Waffen und Worten die Anschauung verteidigt, daß die staatliche Gewalt ursprünglich beim Volke liege und daß die Stände, die Vollstrecker des Volkswillens, die Ausübung der den Herrschern übertragenen staatlichen Gewalt beaufsichtigen und sich im Falle der Willkür das Recht des Widerstandes vorbehalten müßten. Gegen diese grundlegende Auffassung, die in England schon Jahrhunderte vorher zur Entstehung der Parlamente geführt hatte, war König Jakob I. auf getreten, als er die Hafenzölle eigenwillig erhöht hatte. Auf den Ein spruch der Volksvertreter hatte er erwidert: »Wie es Gotteslästerung ist, zu erörtern, was Gott tun darf, so ist es Aufruhr, wenn Untertanen erörtern, was ein König tun darf.« Jakob I. hätte nichts dagegen gehabt, wenn die ›Pulververschwörung‹, der Versuch, das Parlament in die Luft zu sprengen, geglückt wäre. Er hinterließ seinem Erben die Überzeugung, daß die gottgewollte Herr scherwürde der Stuarts unantastbar sei. Auch Karl I. wollte die Steu ern erhöhen, ohne die Zustimmung der Volksvertreter einzuholen. Er löste das Parlament auf. Das hatte einen um so stürmischeren Wider 371
stand zur Folge, als die schwankende Glaubenshaltung Karls das Volk in seinem Königreich für die Glaubensfreiheit fürchten ließ. Die engli schen Puritaner waren schon verdammt und verfolgt worden. Jetzt un ternahm es Karl, den calvinistischen Presbyterianern Schottlands die königliche Kirchenhoheit aufzuzwingen. Die Schotten traten in Auf stand. Da Karl I. nicht über genügend Einkünfte verfügte, um der Un ruhen Herr zu werden, mußte er das Parlament wieder einberufen, um die nötigen Geldmittel auf verfassungsmäßigem Weg zu beschaffen. Die Versammlung der Abgeordneten im sogenannten ›Langen Par lament‹ brachte nicht das Ergebnis, das Karl I. erhofft hatte. Die Abge ordneten, die er zehn Jahre gezwungen hatte zu schweigen, gaben ih rem Unwillen beredten Ausdruck. Sie bestanden auf allen Rechten, die Karl I. bestritten hatte, zogen seinen Berater, Lord Strafford, zur Re chenschaft und ließen ihn hinrichten. Überdies beanspruchten sie die Vollmacht zur Ernennung der militärischen Befehlshaber und erklär ten, daß das Zusammentreten des Parlaments unabhängig vom Wil len des Königs sei. Die meisten Abgeordneten waren Protestanten. Sie setzten sich aus calvinistischen Presbyterianern, Puritanern und den ›Independenten‹ zusammen, die Gewissensfreiheit und Duldung abweichender Glau bensausübung forderten. Das Bürgertum neigte den Presbyterianern und Puritanern zu, die ›Independenten‹ vertraten das einfache Volk, Bauern, Fischer, Handwerker und kleine Kaufleute. In ihrem Wider stand gegen das absolute Königtum jedoch waren alle Abgeordneten untereinander einig. Jedes, auch das geringste Nachgeben Karls wur de vom ›Langen Parlament‹ als Schwäche gewertet. Drohungen wur den mit Gegendrohungen beantwortet. Um sich von den als ›Kava lieren‹ bezeichneten königlichen Truppen äußerlich zu unterscheiden, schoren die puritanischen und independenten Kämpfer für die bür gerlichen Rechte ihr Haar. Sie nannten sich ›Rundköpfe‹ und verbün deten sich mit den aufständischen Schotten. Das Heer Karls I. wurde bei Marston Moor entscheidend geschlagen. Er selbst wurde von den Schotten, zu denen er geflohen war, an das englische Parlament aus geliefert. 372
Die ›Souveränität‹ des gefangenen Königs wurde für null und nich tig erklärt. Um die Wertlosigkeit seines ›Gottesgnadentums‹ eindeutig und gesetzlich darzutun, schaffte das Parlament die von Heinrich VIII. gegründete königliche Hochkirche ab. Karl hatte keinen staatlich an erkannten Glauben mehr, auf dessen göttliche Gnade er sich berufen konnte. Die Mehrheit der Abgeordneten, die ›Independenten‹, traten gegen die Presbyterianer auf, die für ihre auf der Gemeindeleitung ge wählter Ältester beruhende Kirche ausschließlich Geltung verlangten. Oliver Cromwell, der Abgeordnete der Stadt Cambridge, ein Landade liger, »der in seinem nicht ganz reinen Leinenzeug wie ein Bauer aus sah«, hatte die Führung der Independenten an sich gerissen. Ein Zeit genosse schilderte Cromwell: »Das Schwert saß ihm fest an der Seite. Sein Antlitz war aufgedunsen und rötlich, seine Stimme scharf und nicht wohlklingend, seine Rede aber voll Feuer.« Cromwell machte sowohl von seinem Schwert als auch von seiner Re degewandtheit ausgiebig Gebrauch. Er hatte für den Kampf gegen Karl I. die Reitertruppe der ›Gottseligen‹, der ›Eisenseiten‹, ausgebildet und war überzeugt, daß er von Gott selbst zum Kampf für das Recht und für eine wahre christliche Ordnung berufen sei. Er entfernte die engli schen Presbyterianer aus dem Heer. Die Entmachteten wollten sich auf die Seite des Königs schlagen und riefen ihre schottischen Glaubensge nossen zu Hilfe. Im gleichen Jahr, in dem der Westfälische Friede ge schlossen wurde, vertrieb Cromwell die Presbyterianer mit Waffenge walt aus dem Parlament und veranlaßte die Abgeordneten des verblie benen Rumpfparlaments, Anklage gegen Karl I. zu erheben, mit der Begründung, daß es nach den Grundgesetzen Englands als Hochver rat anzusehen sei, wenn der König gegen das Parlament Krieg führe. Karl Stuart habe sich dieses Verbrechens schuldig gemacht. Das Urteil des Cromwell völlig ergebenen Rumpfparlaments war ein stimmig. Aber Karl hoffte noch bis zum letzten Augenblick auf Hilfe von Frankreich. Mazarin hatte sie seiner Frau Henriette, der Schwester des verstorbenen Ludwig XIII. zugesagt, obwohl die inneren Wirren in England den politischen Absichten des Kardinals zugute kamen. Er wollte die vorübergehende Lähmung der stärksten europäischen 373
Seemacht ausnützen, um die schon zu Lande gesicherte Übermacht Frankreichs auch zur See herbeiführen zu können. Die Unternehmun gen Mazarins zur Schwächung der Habsburger waren gelungen. Er hatte den Herzog von Braganza, der Portugal von Spanien unabhän gig gemacht hatte und als Johann IV. zum König von Portugal ausge rufen worden war, unterstützt. Er hielt die Verbindung mit den rheini schen Fürsten aufrecht. Die europäische Stellung Frankreichs war un angreifbar durch das Bündnis mit Schweden, dem Axel Oxenstjerna im Westfälischen Frieden das Übergewicht im Osten Europas gewon nen hatte. Es paßte in das staatsmännische Spiel Mazarins, daß sich der König von England nicht einmischen konnte. Dennoch hätte der Kardinal zugunsten Karls I. einzugreifen versucht, wenn nicht seine eigene Stellung durch das Pariser Parlament bedroht gewesen wäre. Er glaubte nicht, daß Oliver Cromwell es zum Äußersten kommen lassen würde. Er verhandelte zaghaft mit ihm. Aber Frankreich konnte nichts dagegen tun, als Karl I. der Enkel Maria Stuarts, ›als ein Tyrann, Ver räter, Mörder und Feind des Gemeinwesens‹ enthauptet wurde. »Das war ein gesunder Körper, der ein langes Leben versprach«, sagte Oli ver Cromwell am offenen Sarg Karls I, den er in der Kapelle von Wind sor beisetzen ließ.
Der unerbittliche Kampf Cromwells, der Karl I. den Kopf gekostet hat te, galt nicht dem König persönlich, sondern dem Königtum. Crom well hatte ein Beispiel dafür setzen wollen, daß das Gottesgnadentum nicht an die Geburt gebunden sei, sondern an Leistungen, und durch einen gewaltsamen Tod, dem Willen des Volkes gemäß, beendet wer den könne. Von seiner eigenen göttlichen Berufung überzeugt, löste er erst das Rumpfparlament und dann ein ausschließlich aus ›Indepen denten‹ zusammengesetztes Parlament auf, um die Staatsgeschäfte un gestört führen zu können. Auf den Vorschlag des Heeres nahm er den Titel eines ›Lordprotektors‹ an. Während des Gerichtsverfahrens gegen Karl I. hatte Cromwell den 374
Grundsatz der Volkssouveränität verkündigt: »Die Urquelle aller recht mäßigen Gewalt ist beim Volk.« Aber nun herrschte er selbst als der be dingungslose Befehlshaber des Heeres – ohne das Volk. Dennoch stan den seine Anhänger, denen er weitreichende Versprechungen gemacht hatte, geschlossen hinter ihm. Sie erwarteten Wunder von seiner Herr schaft. Er löste wohl sein Versprechen, den Ausgleich der kirchlichen Gegensätze herzustellen, wenn auch mit einer Einschränkung, ein. Er gewährte allen Christen, mit Ausnahme der Katholiken, Freiheit des Gewissens und ungehinderte Glaubensausübung. Aber er lenkte die Aufmerksamkeit der von ihren bürgerlichen Rechten durchdrunge nen Bevölkerung von dem mit Gewalt befriedeten Inland auf das krie gerische Ausland ab. Er erklärte, daß der Handel Englands durch die Schiffahrt der niederländischen Generalstaaten bedroht sei, und erließ die ›Navigationsakte‹, die den englischen Seefahrern zugute kommen und ihm die Anhänglichkeit der Flotte sichern sollte. Die freien Niederländer hatten einen bedeutenden Teil des übersee ischen Frachtgeschäftes an sich gerissen. Cromwell legte fest, daß die Erzeugnisse der überseeischen Länder nur auf englischen oder auf zur Hälfte mit Engländern bemannten Schiffen nach England und seinen Kolonien gebracht werden dürften, europäische Waren aber nur auf englischen Schiffen oder auf Schiffen der Ursprungsländer der ver frachteten Waren. Die ›Navigationsakte‹ zielte darauf hin, den Begriff des ›Mare Liberum‹, der Holland groß gemacht hatte, auszulöschen und den niederländischen Wettbewerb zu beseitigen. II In Frankreich hatte der Aufstand der ›Fronde‹ bedenkliche Formen angenommen. Als ›Frondeurs‹ bezeichneten sich die gegen die könig lichen Steuerhöhungen aufbegehrenden Stände und die hohen Ade ligen, die von Richelieu entmachtet worden waren und seinen Nach folger beseitigen wollten. »Alles Unheil«, erklärten ihre Flugschriften, 375
»kommt von einem einzigen Mann, einem Fremden, dem Kardinal Mazarin.« Der junge König Ludwig XIV. und sein Bruder hatten mit ihrer Mut ter und dem Kardinal das aufrührerische Paris fluchtartig verlassen. Aber im Bürgerkrieg der ›Fronde‹, der durch unbefriedigten Ehrgeiz und persönliche Feindschaften des Hochadels hervorgerufen worden war, wurde mehr geschimpft als gekämpft. Mazarin, der in die Nähe Kölns flüchtete, bestach die großen Herren Frankreichs durch seine Vertrauensmänner und beeinflußte die Stimmung der Bürger durch seinen Witz. Von ihm beauftragte Priester verkündeten, daß der von den ›Frondeurs‹ auf seinen Kopf gesetzte Preis von fünfzigtausend Ta lern bei weitem zu hoch sei, da für Christus nur dreißig Silberlinge ge zahlt worden seien. Die Bevölkerung wurde auch der ›Mazarinaden‹, der Spottlieder gegen den Kardinal, überdrüssig. Seine Gegner waren nicht bereit, ihm Truppen entgegenzustellen, als er an der Spitze von sechstausend Mann, die er aus eigenen Mitteln angeworben und aus gerüstet hatte, nach Frankreich zurückkehrte. Da Mazarin in seiner Geldgier zwar den an der ›Fronde‹ Schuldi gen, aber nicht seinen Schuldigern vergab, wurden die Feindseligkei ten nicht eingestellt. Die im Dreißigjährigen Krieg erprobten Feldher ren – Conde, der durch die Vermittlung des aufrührerischen Onkels Ludwigs XIV. von den Spaniern unterstützt wurde, und Turenne, der königstreu blieb – maßen ihre Kräfte. Die Prinzen der ›Fronde‹ besetz ten Paris. Sie hatten die Schreckensherrschaft des Pöbels, der sich den Streit in der königlichen Familie zunutze machte, bald satt. Abord nungen der Bürgerschaft luden Ludwig XIV. ein, in seine Hauptstadt zurückzukehren. Sie erhielten den Bescheid, daß erst die Anstifter der Unruhen entfernt werden müßten. Die Offiziere der Bürgermiliz zeig ten sich so geneigt, diese Bedingung mit Gewalt zu erfüllen, daß die Prinzen und sogar Conde es vorzogen, aus Paris zu entweichen. Die königlich gesinnten Behörden wurden wiedereingesetzt. Ludwig XIV. zog mit seiner Mutter und seinem Bruder, von Jubel begrüßt, in Paris ein. Bald nach ihm kam der Kardinal. Es war auch an der Zeit, denn während der ›Fronde‹ war die Kriegsführung gegen Spanien vernach 376
lässigt worden, und der einzige große Herr, der sich nicht unterwor fen hatte, der Prinz von Conde, war als Generalissimus in die Dien ste des Königs von Spanien getreten. Mazarin brauchte Hilfe, um in den Kämpfen auf spanisch-niederländischem Boden bestehen zu kön nen. Er wandte sich an Oliver Cromwell, der Holland durch einen er folgreichen Seekrieg zur Anerkennung der ›Navigationsakte‹ gezwun gen hatte und die errungenen Vorteile durch ein Bündnis mit Frank reich sichern wollte.
Nur in den Gebieten des mitteleuropäischen Raumes, in denen sich der Westfälische Friede unmittelbar auswirkte, herrschte tatsächlich Frie de. Ein mühseliger Wiederaufbau setzte zaghaft ein. Die Ängstlich keit der fürstlichen Herren und städtischen Unternehmer war nur all zu begründet. Denn die im Dreißigjährigen Krieg begonnenen Feind seligkeiten wurden von den Spaniern, Franzosen, Engländern und den mit ihnen verbündeten kleineren Staaten mit wechselndem Glück im Westen Europas zu Land und zur See blutig fortgesetzt, während der Osten Europas durch neuerliche kriegerische Handlungen zerrissen wurde. Der Machtkampf der Polen gegen die Schweden drängte zur Ent scheidung. Einflußräume und Grenzen waren umstritten und muß ten um so rascher festgelegt werden, als der unternehmungslusti ge russische Zar Alexej Michailowitsch, verstärkt durch die Kosaken der Ukraine, die sich seiner Herrschaft unterstellt hatten, erst Polen und dann Schweden angriff. Wer war der eigentliche Feind Rußlands? Der König von Polen, der dem Zaren die Ukraine streitig machte? Die Schweden, die die Häfen und den Handel der Ostsee beherrschten? Nach der Abdankung der einzigen Tochter König Gustavs II. Adolf, Christines, die durch den Übertritt zum katholischen Glauben ihr Thronrecht verwirkte, und nach dem Tod Axel Oxenstjernas war der in Stockholm erzogene Pfalzgraf von Zweibrücken, der Sohn einer Wasa-Prinzessin, König Karl X. von Schweden geworden. Er mußte 377
sich gegen seine Verwandten aus dem polnischen Herrschergeschlecht der Wasa behaupten. Karl X. hatte von seinen Vorgängern die stärkste protestantische Militärmacht geerbt. Er machte sich überdies die von Oxenstjerna sorgfältig gepflegte Beziehung zum Kurfürsten von Bran denburg zunutze. Der durch die staatsmännischen und militärischen Abenteuer des Dreißigjährigen Krieges gewitzigte, von unruhigem Ehrgeiz erfüllte Friedhelm von Hohenzollern hatte keine Gelegenheit ungenützt gelassen, sein Gebiet zu vergrößern. Er war ein geschickter Verwalter, ein tüchtiger Feldherr, der sich bei jedem Vordringen die Möglichkeit des Rückzuges offenließ und unbezwingbaren Hindernis sen geschmeidig auswich. Friedrich Wilhelm, der als ›der Große Kurfürst‹ in die Geschichte eingehen sollte, hatte ein schlagkräftiges Heer von zwanzigtausend Mann aufgestellt. Das war nicht viel im Verhältnis zu der Truppenzahl der feindlichen Mächte, gegen die er Krieg führen mußte, um die nutzbringenden Friedensschlüsse zu erwirken, die er im Auge hatte. Erst kämpfte Friedrich Wilhelm mit den Schweden gegen die Polen und dann mit den Polen gegen die Schweden. Karl X. war bereit, ihn als von Polen unabhängigen souveränen Herzog von Preußen anzu erkennen, wenn er sich an seinem Feldzug gegen den König von Po len beteiligte. Der König von Polen aber war bereit, Friedrich Wil helm aus der Lehenshoheit zu lösen, wenn er ihm gegen Schweden half. Das hatte der Kurfürst erreichen wollen. Er schloß einen feierli chen Vertrag mit Polen und wurde dadurch unabhängiger Herzog von Preußen. Der erste maßgebende Schritt zur Erfüllung seines Ehrgeizes war ge tan: Das Herzogtum Preußen lag außerhalb des Verbandes des Römi schen Reiches Deutscher Nation. Friedrich Wilhelm, der Kurfürst von Brandenburg, war demnach ein souveräner Herrscher geworden. Er zählte im Mächtespiel. Die künftige Größe vor Augen, verhielt er sich gleich, als hätte er sie schon verwirklicht. Auf welche Seite sollte er sich schlagen? Sollte er ein Bündnis mit Frankreich gegen die Habsburger schließen oder sich des neuen schwachen habsburgischen Kaisers ge gen Frankreich bedienen, um die unter seiner Herrschaft vereinigten 378
preußischen und brandenburgischen Länder zu einer noch mächtige ren Einheit ausbauen zu können?
Frankreich hatte die Vormachtstellung in Europa errungen. Aber Kar dinal Mazarin war es trotz seines Einflusses auf die deutschen Kur fürsten nicht gelungen, Ludwig XIV. nach dem Tod Ferdinands III. zum Kaiser des Römischen Reiches Deutscher Nation wählen zu las sen. Der Ausgang der Wahl war durch die alte Regel bestimmt worden: Ein zu mächtiger Kaiser konnte den Reichsfürsten gefährlich werden. Gewählt wurde der zweitgeborene Sohn des verstorbenen Kaisers, Erz herzog Leopold, der Priester hatte werden wollen, als sein älterer Bru der Ferdinand IV. noch gelebt hatte. Leopold I. war abstoßend häßlich. Die übermäßig große Unterlip pe hing ihm wie ein roter, feuchter Schwamm beinahe bis zum Kinn. Der schwedische Kanzler am Wiener Hof beschrieb den neuen Kai ser: »Seine Körperbeschaffenheit ist so, daß man insgeheim nicht da für hält, er werde zu einem hohen Alter kommen. Besonders ist er sehr schwach auf den Schenkeln, was sein wankender Gang genügsam an deutet.« Die Erzieher Leopolds hatten es ursprünglich darauf angelegt, ihm beizubringen, seine Zeit mit kleinen, harmlosen Zerstreuungen angenehm zu füllen. Er hatte Lateinisch, Italienisch und Spanisch, Ta schenspielerkunststücke mit Uhren und Münzen gelernt. Er konnte auch drechseln. Als er erfuhr, daß er alle Kronen und Zepter, die sei ne Ahnen ererbt, erheiratet und durch Verträge gesichert hatten, tra gen müsse, bekreuzigte er sich ohne Ende. Seine Sorge war begrün det. ›Erwählter Römischer Kaiser, allzeit Mehrer des Reiches‹ zu sein, das war wohl ein prunkvoller Titel. Aber er mußte zur Kenntnis neh men, daß er als Kaiser jährlich nicht mehr als 13.844 Gulden 32 Kreu zer aus dem Reich beziehen werde, während er durch den Krönungs eid die kostspielige Verpflichtung auf sich genommen hatte, die Gren zen des Reiches zu beschützen. Der neue Kaiser mußte bescheiden sein und sich bescheiden. Er be 379
saß nicht mehr als die österreichischen Erblande und das verarmte, entvölkerte Königreich Böhmen, denn Ungarn, das zum größten Teil von den Türken besetzt war, konnte kaum als Besitz gewertet werden. Jeder Adlige in Ungarn hatte das ›Insurrektionsrecht‹, das ihn befugte, bei Gesetzesübertretungen seitens der Krone zu den Waffen zu greifen, und das ›ius reformandi‹, das Recht, die Bewohner seiner Güter zu dem von ihm gewählten Bekenntnis zu bekehren. Leopold I. war bemüht, sein trauriges Äußeres durch eine eindrucksvolle Tracht wettzuma chen. Er trug scharlachrote Strümpfe, eine schwarze oder rote Feder auf dem Hut und einen großen Orden vom Goldenen Vlies auf dem Mantel. Er wollte sich kaiserlich geben. Aber sein Staatskanzler, Fürst Lobkowitz, sagte dem französischen Gesandten mit seltsamer Überle genheit: »Der Kaiser ist wie eine bewegliche Statue, die man trägt, wo hin man will, und der man nach Belieben Stellungen gibt.«
Eine Erscheinung ganz anderer Art war Ludwig XIV. Der junge Kö nig von Frankreich war prachtvoll gewachsen, selbstbewußt, von sei ner Würde so überzeugt, daß seine fürstliche Haltung natürlich wirk te. Schon als Sechzehnjähriger nach seiner feierlichen Krönung bekun dete er, daß er der Herr in Frankreich sei. Kardinal Mazarin war so geschmeidig ergeben, daß sich Ludwig nicht gegen die Ratschläge des erfahrenen Ministers wehrte, der das vollkommene Vertrauen seiner Mutter genoß. Aber seine späteren Handlungen und Äußerungen be wiesen, daß er nur so lange ein williger Schüler des Lehrmeisters hatte sein wollen, bis er selbst das Handwerk erlernt haben würde. Die Vertraulichkeit des Umgangs Ludwigs XIV. mit Mazarin wur de durch die Zuneigung des jungen Königs zu den Nichten des Kar dinals gefördert. Olympia Manzini war seine erste Geliebte. Der On kel, der nicht an die Beständigkeit Ludwigs glaubte, verheiratete sie ei ligst an den Grafen von Soissons, einen Prinzen aus dem Hause Savoy en, dem sie einen Sohn namens Eugen gebar. Ludwig tröstete sich mit ihrer Schwester Maria Manzini. Aber auch diese Liebe paßte dem Kar 380
dinal nicht. Er entfernte Maria vom Hof und verbot ihr jeden briefli chen Verkehr mit dem König. Ludwig weinte bei der Trennung. Maria rief verächtlich: »Sie weinen und sind der Herr?!« Es bedurfte des ver einten Einflusses der Königinmutter und des Kardinals, Ludwig zum Verzicht auf Maria zu bestimmen. Unwillig erklärte er sich bereit, eine Vernunftehe einzugehen, durch die er die Aussicht gewinnen würde, der mächtigste Herrscher der Erde zu werden. Philipp IV. von Spanien, dessen Truppen bei Dünkirchen von den vereinten englisch-französischen Heeren unter dem Oberbefehl Tu rennes geschlagen worden waren, wollte den Frieden. Die Grafschaft Flandern war Turenne in die Hände gefallen, seine Reiter waren bis an die Tore Brüssels vorgedrungen. Der König von Spanien befahl seinem Minister Haro, mit Mazarin zusammenzutreffen, um die Feindselig keiten zwischen Frankreich und Spanien ein für alle Male aus der Welt zu schaffen. Die Verhandlungen der beiden Staatsmänner fanden auf der im pyrenäischen Grenzfluß Bidassoa gelegenen Fasaneninsel statt. Mazarin wollte keine bedeutenden Gebietsabtretungen. Er war zufrie den mit der Grafschaft Roussilon im Süden und der Grafschaft Artois im Norden Frankreichs – falls Philipp IV. zustimmte, seine Tochter Maria Theresia mit Ludwig XIV. zu verheiraten. Durch den Pyrenäenfrieden erreichte Mazarin das Ziel, das alle seine Vorgänger erstrebt hatten. Spanien verlor seine Vorherrschaft in Eur opa an Frankreich. Mit den Kurfürsten von Mainz, Trier und Bayern, mit dem König von Schweden für seine Reichsländer, mit dem welfi schen Haus und mit Sachsen und Hessen schuf Mazarin den ›Rhein bund‹. Er verwirklichte dadurch beinahe den ›Großen Plan‹ Heinrichs IV. Der ›Rheinbund‹ wurde nicht um der Form willen geschlossen. Ein gemeinsames Heer, zu dem jeder einzelne Bundesgenosse Truppen beistellen mußte, sollte seine Bedeutung gewährleisten. Die Vereinbarungen Mazarins mit Schweden und Holland, die um sichtige Wendung, durch die er, nach dem Tod Oliver Cromwells, die Rückkehr des Sohnes Karls I. nach England und seine Krönung zum König betrieben hatte, schienen auch die heißbegehrte französische Vorherrschaft zur See wirksam vorzubereiten. Mazarin hatte sein Le 381
bensziel erreicht. Denn auch der innere Friede Frankreichs war gesi chert, als sich noch vor der Hochzeit Ludwigs XIV. mit der Infantin Maria Theresia der Prinz von Conde mit dem jungen König versöhnte. Der Kardinal wäre stolz auf seinen geliebten Schüler gewesen, wenn er bei seiner endgültigen Machtübernahme hätte anwesend sein können. Er wäre bereit gewesen, seine hohen Ämter niederzulegen, aber Lud wig XIV. hatte ihm nicht die geringste Befugnis genommen. Der Kö nig vergoß Tränen am Totenbett Mazarins. Aber am nächsten Mor gen befahl er die hohen Würdenträger Frankreichs zu sich und erklär te: »Meine Herren, ich habe Sie kommen lassen, um Ihnen zu sagen, daß ich bis jetzt zufrieden war, meine Angelegenheiten durch den ver storbenen Kardinal leiten zu lassen. Jetzt aber ist es Zeit, daß ich selbst regiere.« Nicht viel später faßte Ludwig XIV. den wesentlichen Inhalt seiner Ansprache in noch wenigeren Worten zusammen: »L'etat c'est moi«, sagte er: Der Staat – das bin ich.
Das Zeitalter eines Königs I Durch seine Großmutter Maria von Medici stammte Ludwig XIV. von den unternehmungslustigen florentischen Kaufleuten und Bankherren ab, die Großherzöge von Toskana geworden waren. Von den Medicis hatte er seinen ausgeprägten Geldsinn geerbt. Seine Schulung durch Kardinal Mazarin hatte ein übriges dazu beigetragen, daß er sich un verzüglich nach der Machtübernahme mit den wirtschaftlichen Fra gen Frankreichs befaßte. Oberintendant der Finanzen war der Staatsminister Nicolas Fouquet. Er war ein begabter Handlanger Mazarins gewesen, dem er ungeheu 382
re Summen in die Hand gespielt hatte, um sich selbst eine angemes sene Beteiligung an Heereslieferungen, Bestechungsgeldern und dem Verkauf von Ämtern zu sichern. Fouquet hatte nicht nur die Gunst des Kardinals durch solche Gelegenheitsdienste erkauft, sondern sich auch durch die großzügige Verteilung von Begünstigungen Anhänger in allen Schichten der Gesellschaft erworben – bei Hof, in den franzö sischen Parlamenten und im Heer. Er besaß prunkvolle Schlösser, in denen er kostspielige Feste veranstaltete, und feste Plätze, die er mit eigenen Truppen bemannte. Steuerpächter und Richter, Herzöge und Grafen waren von ihm abhängig. Er verteilte Jahresrenten an vorneh me Damen, die ihm gefielen und seinen Freunden gefällig waren, und an Dichter, denen er es nicht nachtrug, wenn sie Spottgedichte über ihn schrieben. Er zog die Bosheit der Langeweile vor. Die Fabeln und Komödien seiner Günstlinge Lafontaine und Moliere waren ihm lie ber als die steifen Theaterstücke Corneilles, den er trotz der ›Gemes senheit seines Versmaßes‹ unterstützte. Mademoiselle de Scudery, die Meisterin der ›Preziösen‹-Schriftsteller, pries ihn als ›Oberintendanten der schönen Künste‹. Die Gräfin von Soissons, Olympia, die ehemalige Liebe Ludwigs XIV. zu deren Verschwendungssucht Fouquet die Mittel beisteuerte, nannte ihn den ›Oberintendanten der schönen Frauen‹. Erst machten die gewaltigen Geldausgaben, wie die einmalige Auf führung eines Balletts, die Fouquet zwölftausend Dukaten kostete, Ludwig XIV. mißtrauisch. Dann war es das Wappen des Oberinten danten. »Quo non ascendam?« lautete der prahlerische Wahlspruch: »Zu welcher Höhe könnte ich nicht aufsteigen?« Hatte der mächtige Staatsminister die Absicht, noch mehr zu werden, als er schon war? Der König nahm für sich und seinen ganzen Hofstaat eine Einladung Fou quets zu einer Feier im herrlichen Schloß Vaux an. Der kunstvoll neu angelegte Park und die vielfältigen Wasserspiele boten den hohen Gä sten unvergleichlich märchenhafte Sichten. Im Festsaal von Vaux wur de auf sechsunddreißig Dutzend goldener Teller gespeist. Die Koch kunst aller Länder war aufgeboten, um die Gerichte so schmackhaft und so unerschwinglich teuer zuzubereiten, daß niemand die Gast freundschaft Fouquets überbieten konnte. Für diese Festmahlzeit al 383
lein gab er vierzigtausend Goldstücke aus. Ludwig XIV. war ein begei sterter Esser, ein überzeugter Genießer. Er fand den prächtigen Auf wand im Schloß Vaux wahrhaftig nachahmenswert, aber er überlegte: Woher hatte Fouquet das Geld? Vor seinem Tod hatte Mazarin dem jungen König geraten, sich der hervorragendsten Fachleute auf jedem Gebiet der Verwaltung zu be dienen. Er müsse ihre Kenntnisse so benützen, als wären sie seine ei genen. Für das Finanzwesen hatte Ludwig seinen eigenen Vermögens verwalter, Jean Baptiste Colbert, empfohlen. Colbert kannte die Machenschaften des Oberintendanten, durch die auch der Kardinal sich bereichert hatte. Er kannte das Netz der Bezie hungen Fouquets und wußte, daß er sich an die Königinmutter heran gemacht hatte, um sie durch Geschenke und Versprechungen für sich einzunehmen. Colbert hatte urkundliche Beweise gesammelt, durch die er Fouquet der Unterschlagung von Steuergeldern und unerlaub ter Geschäfte überführen wollte. Aber Ludwig XIV. fühlte sich noch nicht stark genug, den mächtigsten Mann im Staat, dessen großzügige Lebensweise er im Grunde seines Herzens bewunderte, zu beseitigen. Überdies hatte Fouquet auch zu all den Würden, die ihm Mazarin ver liehen hatte, noch das Amt des Generalanwalts des Königreiches er worben. Wer würde gegen ihn Anklage erheben? Er gegen sich selbst? Ähnlich wie sein Großvater Heinrich IV. in seiner Jugend schien Ludwig XIV. vor allem dem Vergnügen zu leben. Er kam zwar seinen Pflichten als Ehemann nach, aber er hatte doch allerlei Liebschaften und eine ständige Geliebte, das Fräulein von La Valliere. Er war ein leidenschaftlicher Jäger und schien bemüht, die großartige Gastlich keit Fouquets zu übertreffen. Aber nach ausschweifenden Gelagen und Liebesabenteuern fand Ludwig die Zeit, mit Colbert so zu arbeiten, wie Heinrich IV. mit dem Herzog von Sully gearbeitet hatte: insgeheim. Er machte sich den Grundsatz Colberts zu eigen, daß Größe und Macht eines Staates auf dem Reichtum an Geld und Edelmetallen be ruhe. Er lernte, daß die Ein- und Ausfuhr von Waren sorgfältig über wacht werden müsse, damit der Gesamtwert der Ausfuhr den der Ein fuhr übersteige. Nur durch einen solchen Überschuß könne das Geld 384
aufgebracht werden, das er für seine weitreichenden politischen Zwek ke brauchte. Die für den Handelsverkehr mit dem Ausland nötigen Maßnahmen müßten von langer Hand vorbereitet werden. Colbert entwarf einen umfassenden Plan, der die Volkswirtschaft Frankreichs bereichern sollte. Aber bevor die Hebung des Außenhandels verwirk licht werden könne, müßten die wirtschaftlichen Verhältnisse im In land geregelt werden. Das könne nur durch die Entfernung des Ober intendanten geschehen, der das Steuerwesen beherrschte und durch seine Vertrauensleute zu seinem und ihrem Vorteil verwalten ließ. Erst wenn der Ausgleich der Ausgaben und Einnahmen im Staate herbeige führt sei, könne der König daran denken, einen jährlichen Staatshaus haltsplan aufzustellen. Colbert schlug Ludwig XIV. vor, die unmittelbare Steuer auf das Ein kommen aus Grundbesitz und Gewerbe zu senken, dagegen aber die mittelbaren Steuern aus dem Verbrauch zu erhöhen und dem Staat durch den Alleinein- und -verkauf lebenswichtiger Waren eine regel mäßige Einkommensquelle zu schaffen. Um diese einschneidenden Eingriffe in die Volkswirtschaft vorneh men zu können, mußte Fouquet aus dem Wege geräumt werden. Aber wie? Die zeitgenössischen Beobachter schrieben Colbert die tückischen Maßnahmen zu, die den Oberintendanten zu Fall brachten. Aber die während der jahrzehntelangen Herrschaft Ludwigs XIV. von ihm per sönlich bewiesene Schlauheit läßt die Vermutung zu, daß er, wie so oft später, auch in diesem Falle aus eigenem Antrieb gehandelt hat. Von ei nem Tag zum nächsten ließ sich der Oberintendant durch die Aussicht auf die ersehnte Rangerhöhung zum leitenden Minister Frankreichs verführen, das seiner bevorstehenden überragenden Bedeutung unwür dige Amt eines Generalanwalts an den Meistbietenden zu veräußern. Für den verhältnismäßig geringen Geldbetrag, den Fouquet erhielt, ver kaufte er gleichzeitig seine Macht und sein Vermögen. Sein Nachfol ger als Generalanwalt wurde sein Ankläger. Fouquet wurde verhaftet, der Veruntreuung bezichtigt, seines Besitzes und seiner Würden für verlustig erklärt und verblieb, obwohl das strenge Gericht ihn nur zur Verbannung verurteilen konnte, bis an sein Lebensende im unterirdi 385
schen Kerker einer Festung. Ludwig XIV. hatte das Recht gebeugt, um den von ihm so beneideten und seinen Neuordnungsplänen gefährli chen Mann für immer verschwinden zu lassen. Die glanzvolle Lebens führung Fouquets aber nahm er sich zum Muster und Vorbild. Er be gann mit dem gewaltigen Ausbau seines kleinen Jagdschlosses Versail les und der Erweiterung des Louvre. Seine Paläste, seine Parkanlagen und Wasserspiele, seine Tanz- und Theaterveranstaltungen, seine Gela ge und der Prunk, mit dem er sich umgab, sollten mit ihrer königlichen Ausstrahlung den Aufwand Nicolas Fouquets in den Schatten stellen. II Jean Baptiste Colbert wurde der tatsächliche Nachfolger Fouquets, ohne daß er die Äußerlichkeiten des hohen Amtes genoß. Aber er hat te unter der Oberaufsicht des Königs die Möglichkeit, sein ›Merkantil system‹, die an die staatliche Leitung gebundene Förderung und Ord nung der französischen Wirtschaft im Inneren des Landes und im Verkehr mit dem Ausland, in die Tat umzusetzen. Er räumte mit der Vergangenheit auf. Viertausend Bankleute und Steuerpächter wurden vor Gericht gestellt. Das beschlagnahmte Vermögen der Verurteilten füllte den Staatsschatz auf. Er setzte die Arbeitslöhne herab, um die Ausfuhr französischer Erzeugnisse wettbewerbsfähig zu halten, und half Unternehmern und Kaufleuten, billige Rohstoffe zu erwerben und zu verarbeiten. Werkstätten, Herstellungsanlagen und Handelsbetrie ben wurden staatliche Berater zugewiesen, welche die Geschäftsfüh rung entsprechend den Bedürfnissen des Volkes bis in alle Einzelhei ten planvoll überwachten. Die Erwerbung von überseeischen Kolonien wurde als unumgänglich notwendig dargestellt, um neue Absatzmärk te zu eröffnen und neue Rohstoffe zur heimischen Verarbeitung zu ge winnen. Colbert setzte den Preis der landwirtschaftlichen Erzeugnisse fest, um der Bevölkerung im Einklang mit den niedrig gehaltenen Ar beitslöhnen billige Lebensmittel zuführen zu können. 386
All das geschah im Namen des Königs. Verlautbarungen, die sich auf die Verarbeitung von Rohstoffen bezogen, die Ausbildung und Anwer bung von Facharbeitern für die Produktionsstätten, die Bestimmun gen, die Einfuhr von Waren drosselten, schienen den ausländischen Beobachtern am französischen Königshof die wichtigsten Fragen zu sein, die Ludwig XIV. beschäftigten. Frankreich schien einem Zeital ter wirtschaftlichen Ausbaus und friedlicher Neuordnung entgegenzu sehen. Ein König, der einen eigenen Minister ernannte, um die Gren zen seines Reiches durch Festungsbauten zu sichern, hatte kaum vor, sie zu überschreiten. Ein einziges Vorhaben Ludwigs XIV. deutete auf seine kriegerischen Absichten hin. Mazarin hatte im Pyrenäenfrieden dem Herzog von Lothringen, dem Verbündeten Spaniens, sein während des Krieges be setztes Herzogtum zurückerstattet, mit der Bedingung, daß eine Heer straße durch sein Hoheitsgebiet gebaut werde, um Frankreich mit der im Westfälischen Frieden erworbenen Landgrafschaft Elsaß unmittel bar zu verbinden. Diese Straße sollte dem König die Herrschaft des Elsaß erleichtern, weiter nichts. Wer die militärische Wichtigkeit ei ner solchen Heerstraße, die das Elsaß zu einem französischen Aus fallstor gegen das Römische Reich Deutscher Nation machen konn te, erwähnte, wurde am Hof Ludwigs XIV. ausgelacht. Seine Majestät der allerchristlichste König, hieß es, baue Straßen und Kanäle nur, um den Handel zu erleichtern. Die ganze Bevölkerung Frankreichs werde zu friedlicher Arbeit angehalten, und daß Ludwig XIV. seinem Adel erlaube, Söldner anzuwerben, um Regimenter aufzustellen, geschehe nur, damit der König im Notfall über ein Heer zur Verteidigung ver füge. Daß diese Truppen einheitliche Bewaffnung und Kleidung er hielten, sei selbstverständlich. Da alle den König in gleicher Weise be schützen sollten, dürfe sich kein Mann vom andern unterscheiden. Die Gesandten Ludwigs XIV. beruhigten alle Zweifler an den Fürstenhö fen des europäischen Raumes, daß der König von Frankreich nichts als den Frieden wünsche und die Sicherung des Friedens durch alle Maß nahmen, die er treffe. Wer hätte auch im Ernst daran denken können, daß Ludwig ande 387
re Pläne hatte? Es fehlte in seinem Königreich bald an Händen, um der rastlosen Tätigkeit in allen Werkstätten, auf allen Werften zu genügen. Der Ausbau der französischen Handelsflotte sollte dem Aufschwung des Handels entgegenkommen. Daß der König auch eine entsprechend große Kriegsflotte bauen ließ, wurde als folgerichtig bezeichnet. Die Neue Welt war noch nicht erschlossen. Die französischen Besitzun gen in Nordamerika nahmen an Umfang zu und wurden durch un ternehmungslustige, vom König persönlich oder von Colbert begün stigte Abenteurer erweitert. Sie bereiteten entlang dem schier endlosen Mississippi-Strom die Verbindung des Nordens mit dem Süden Ame rikas vor. Kein Grund zur Beunruhigung, erwiderte Lionne, der neu ernannte Minister für auswärtige Angelegenheiten, auf jede Anfrage und bestätigte die Äußerungen seines Königs, daß er nur den Frieden und nichts als den Frieden wolle. Im Jahre 1663 hatte Ludwig XIV. Gelegenheit, seinen so oft geäußer ten guten Willen durch die Tat zu beweisen. War er nicht immer für die Sicherung des europäischen Friedens gewesen? Wenn seine militä rischen Rüstungen trotz seiner treuherzigen Beteuerungen doch Miß trauen erweckt hatten, hatte er darauf hingewiesen, daß die Kanonen gießereien Frankreichs ebenso beschäftigt sein müßten wie die Seiden erzeugungen, um gegebenenfalls die europäische Abwehr gegen den Sultan Mohammed IV. der offenkundig einen Krieg vorbereitete, zu ermöglichen. Tatsächlich überschritt ein gewaltiges türkisches Heer die ungarische Grenze zum Angriff auf Österreich. Wer den zerrütteten Zustand der habsburgischen Hausmacht nur im entferntesten kannte, wußte, daß der hilflose Kaiser Leopold I. aus ei gener Kraft dem Ansturm nicht gewachsen sein konnte. Bald erklang im ganzen Römischen Reich Deutscher Nation die Türkenglocke. Von den Kanzeln predigten sowohl die katholischen als auch die protestan tischen Geistlichen: ein jeder, sei es im Haus, auf der Straße oder auf dem Feld, solle Gott in einem herzlichen Seufzer um Abwendung der Gefahr anflehen. Aus beinahe allen Ländern des europäischen Raumes strömten Frei willige zu den kaiserlichen Fahnen, die Graf Montecuccoli befehlig 388
te. Ludwig XIV. schien die noch aus den Zeiten Franz I. stammende enge Beziehung zwischen den Sultanen und den Königen von Frank reich nicht ausnützen zu wollen. Im Gegenteil, er schickte Leopold I. Truppen zu Hilfe. Zum ersten Male seit Jahrhunderten kämpfte die Christenheit geschlossen gegen den Islam, und nach der siegreichen Schlacht von Sankt Gotthard an der Raab wurde Leopold, der die ängstlichen Tage in unaufhörlichem Gebet verbracht hatte, als der er ste Kaiser aus dem Hause Habsburg gefeiert, der den Ungläubigen eine entscheidende Niederlage beigebracht hatte. Er dankte Gott und fühl te sich Ludwig XIV. verpflichtet. III Auch König Karl II. von England fühlte sich Ludwig XIV. verpflich tet, obwohl ihm ein englisches, von General Monk befehligtes Heer den Einzug in London ermöglicht hatte. Gegen alle Erwartungen und Befürchtungen trat der Sohn des hingerichteten Königs nicht als dro hender Rächer auf. Die gesellschaftliche Umwälzung im Jahrzehnt der Herrschaft Oliver Cromwells war so tiefgreifend gewesen, daß das er schütterte Königtum der Stuarts alle Mühe hatte, wieder Fuß zu fas sen. Karl vertraute den Zusicherungen seines mächtigen Vetters, Lud wigs XIV. daß er gegebenenfalls mit ihm rechnen könne, und betrieb die Wiederherstellung des Oberhauses und der englischen Hochkir che. Wer die königliche Kirchenhoheit nicht anerkannte, ob es nun Puritaner, Independente, Presbyterianer oder Katholiken waren, wur de durch die von Karl erlassenen ›Uniformitätsakte‹ als ›Dissenter‹ be zeichnet und in seinen politischen Rechten verkürzt. Den Katholiken wurde die Abweichung vom Staatsglauben bald nachgesehen. Der Plan Karls II. bestand im wesentlichen darin, die eigentlichen Urheber der Enthauptung seines Vaters, die protestantischen ›Dissen ters‹, zu treffen, ohne jedoch offene Vergeltungsgelüste an den Tag zu legen. Gleichzeitig aber verfolgte er die Politik Cromwells zur See. Die 389
Anerkennung der ›Navigationsakte‹ durch Holland war zwar erfolgt und hatte die Vormachtstellung der englischen Flotte bestätigt, aber Seefahrer und Kaufherren der freien Niederlande hielten sich nach dem Tod Cromwells nicht an die von ihren Staatsmännern unterzeich neten Urkunden. Karl II. wollte beweisen, daß er dem Lordprotektor nicht nachstehe, und sandte seinen Bruder, den Herzog von York, über See, um den nordamerikanischen Stützpunkt der Generalstaaten zu erobern. Die Fahrt ging gegen die Insel Manhattan und ihr Hinter land. Die Hauptstadt der niederländischen Kolonie, Neu-Amsterdam I, fiel dem Herzog von York in die Hände und wurde ihm zu Ehren in New York umbenannt. Die Kolonien New Jersey, Pennsylvania, Dela ware und Carolina waren kurz vorher gegründet worden. Auswande rer aus England und anderen Ländern des europäischen Raumes setz ten die zaghafte Völkerwanderung der Verfolgten in die Neue Welt fort und fanden in den waldreichen und fruchtbaren Gebieten eine neue Heimat. Auch in den Städten und Pflanzungen in Süd- und Mittelamerika nahm die Bevölkerungsdichte zu. Der zum größten Teil von engli schen Kaufleuten über die Insel Jamaika geführte Negersklavenhan del besorgte für die spanischen und portugiesischen Siedler den Nach schub an Arbeitskräften. Die gewaltigen spanischen Kolonien wurden als Vizekönigreiche verwaltet, während die portugiesische Kolonie Brasilien in sogenannte ›Kapitanien‹ eingeteilt worden war. Die Portu giesen eroberten die von den freien Niederländern zur Zeit Philipps II. besetzten Küstenstriche Brasiliens wieder. Aber die niederländischen Verwaltungsmaßnahmen hatten sich so bewährt, daß sie von den ›Ka pitänen‹, den königlich portugiesischen Verwaltern, nachgeahmt wur den. Brasilien unterschied sich in seiner Entwicklung von den spanischen Vizekönigreichen vor allem dadurch, daß sich die Ansiedlung der Por tugiesen auf die Küstengebiete beschränkte, während das ungeheure Hinterland, das ›Interior‹, unerforscht blieb. Die brasilianischen Ha fenstädte, wie Rio de Janeiro, Bahia und Pernambuco, waren Handels umschlagplätze, in denen die ›Kapitäne‹ und die Priester wohl dafür 390
sorgten, daß prächtige Kirchen und eindrucksvolle Verwaltungsge bäude entstanden, aber es gab wenige Schulen, in denen überdies nur Zöglinge Aufnahme fanden, die begabt und der Kirche mit Leib und Seele ergeben waren. Brasilien wurde nach bestem Wissen und oft mit schlechtem Gewissen von der Krone Portugals ausgebeutet. Gold und Halbedelsteine, Holz und köstliche Bodenfrüchte, der Ertrag der Zuk kerrohrpflanzungen wurden nach Lissabon verfrachtet. Nur wenige Güter und Waren kamen im Austausch von Portugal in die brasiliani sche Kolonie. Trotz der verhältnismäßig geringen Macht ihres Königreiches blie ben die portugiesischen Seefahrer und Kaufherren doch unermüdlich in ihrer Bestrebung, Reichtümer aus der Ferne einzuholen. Sie schu fen Niederlassungen in Afrika, in Indien und wagten sich sogar in den Fernen Osten vor. Ihre Flaggen waren die ersten europäischen Ho heitszeichen auf chinesischen Inseln und an den Küsten des ›Reiches der Mitte‹, das, durch Mauern gegen den Westen geschützt, ein hoch stehendes Eigenleben führte. Die gottähnlichen Herrscher in Peking fühlten sich durch die unternehmungslustigen Seefahrer aus dem eu ropäischen Raum nicht bedroht. Sie erlaubten Kaufleuten, die sich ih ren Gesetzen beugten, den Zutritt in ihr Reich. Die Kaiser von China waren in ihrer selbständigen Unabhängigkeit nicht gefährdet wie die indischen Fürsten, in deren Gebieten europäische Handelsgesellschaf ten nicht nur ihre Warenlager, sondern auch feste Plätze errichteten, wie die ›Ostindische Kompanie‹ in Bombay und in Kalkutta. IV Die allmähliche Erschließung des Erdkreises, die Erweiterung und Befestigung von Städten im europäischen Raum, die Verbesserung der Lebensformen durch die Einfuhr und Verarbeitung von immer mehr Gebrauchsgütern und -gegenständen nahmen ihren unaufhalt samen Fortgang. Es fanden wohl keine wesentlichen Veränderungen 391
in der landwirtschaftlichen Bearbeitung statt, aber die ›Manufaktur‹, die dem wachsenden Verbrauch dienende handwerkliche Erzeugung, verbesserte die Produktionsmethoden, besonders unter dem staatli chen Zwang der wirtschaftlichen Neuordnung Colberts in Frankreich. Der Wettbewerb drängte zu Erfindungen, die es ermöglichten, rascher und dichter zu weben, einheitlicher und verläßlicher zu gießen und zu schmieden, größere und seetüchtigere Schiffe zu bauen und immer mehr überseeische und inländische Rohstoffe durch Verarbeitung dem zunehmenden Bedarf zuzuführen. Das Merkantilsystem Colberts beeinflußte nicht nur den Welthan del, sondern auch die Mode und die Lebensformen. So erschwerten die unerschwinglich hohen Zölle den holländischen und englischen Tucherzeugern die Einfuhr ihrer Waren nach Frankreich. Die Damen und Herren des Hofes Ludwigs XIV. kleideten sich in heimische Seide und Samt, nach dem Muster ihres Königs, in dessen prunkvolle Hof haltung sich die schimmernden Stoffe und köstlichen Spitzen präch tig einpaßten. In der Mode zeichneten sich die politischen Lager Europas ab. Die Protestanten waren in englisches und niederländisches Tuch geklei det, die Katholiken trugen französische und italienische Seide. Das bezog sich freilich nur auf die zahlungskräftigen Stände, auf Adeli ge und wohlhabende Bürger. Die Bauernschaft hatte am allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwung, der das bessere Leben im europäischen Raum in allen Äußerlichkeiten ermöglichte, noch keinen nennens werten Anteil. Die Trennung zwischen höheren und niederen Stän den nahm um so schärfere Formen an, als sie in den Trachten sichtbar zum Ausdruck kam. Die Vornehmen verachteten die bürgerliche ›Ca naille‹ und das ›gemeine Volk‹. Sie kleideten sich ›alamodisch‹ mit der übertriebenen Putzsucht, die in Frankreich zur Selbstverständlichkeit wurde. Nicht nur die Damen, auch die Herren trugen parfümierte far bige Handschuhe, wallende Hutfedern und mit Goldfäden durchwirk te Gewänder. Der englisch-holländische Seekrieg war zwar noch nicht endgültig ausgetragen, aber die Feindseligkeiten der Flotten beunruhigten die 392
Bewohner des europäischen Festlandes nicht wesentlich. Der zwan zigjährige Waffenstillstand, den Kaiser Leopold I. nach der Schlacht von Sankt Gotthard an der Raab mit dem Sultan geschlossen hatte, schien Europa den Frieden zu geben, den es nach den endlosen Feld zügen kreuz und quer durch die Länder so dringend brauchte. Nur wenige Eingeweihte fürchteten, daß die friedlichen Zustände die Stil le vor dem Sturm bedeuteten. Das Schicksal der Völker hing von den Herrschern ab, und das mächtigste Herrschergeschlecht der Erde, die Habsburger, drohte in Österreich und Spanien gleichzeitig zu erlö schen. Leopold I. war schwer erkrankt. Seine männlichen Verwand ten in Österreich starben plötzlich. Der vierjährige Erbe Philipps IV. von Spanien galt als nicht lebensfähig, als sein Vater begraben wurde. Die spanischen Hofärzte verrieten dieses Geheimnis den Gesandten aller Mächte, die dafür bezahlten. Das kränkelnde Kind, König Karl II. von Spanien, und der kränkelnde Kaiser, Leopold I, waren die einzigen überlebenden Habsburger. Maria Theresia, die älteste Tochter Philipps IV. aus seiner ersten Ehe, war mit Ludwig XIV. Margarete Theresia, die jüngere Toch ter aus seiner zweiten Ehe, mit Leopold I. vermählt. Der König von Frankreich und der Kaiser waren Schwäger. Während Leopold sich aber nach dem Tod seines Schwiegervaters andächtiger Familientrau er ergab, erklärte Ludwig, daß er die Erbrechte seiner Gattin wahr nehmen müsse. In der Grafschaft Brabant und einigen niederländi schen Nachbarländern, die der spanischen Krone gehörten, herrsch te die eigentümliche Rechtsgewohnheit, daß das Erbe ausschließlich den Kindern einer ersten Ehe gehöre und auf diese Kinder übergehe, ›delvolvierte‹, wie der Fachausdruck lautete. Diese örtliche und nur im bürgerlichen Recht geltende Gewohnheit übertrug Ludwig XIV. auf die Politik. Sein kleiner Schwager, Karl II. war wie die Frau Leo polds ein Kind aus zweiter Ehe. Hatte der junge König von Spanien daher Anspruch auf Brabant und die benachbarten Länder, in de nen die Rechte von Kindern aus erster Ehe den Rechten von Kindern aus zweiter Ehe vorangestellt wurden? Ludwig XIV. entschied, daß es ihm und nicht Karl II. gebühre, diese Länder zu beherrschen. Er 393
sandte die bewährten Marschälle von Frankreich, Conde und Turen ne, aus, sie zu erobern. Als die Nachricht vom Einmarsch der französischen Heere in die spanischen Niederlande den Wiener Hof erreichte, erhob der Staats kanzler Fürst Lobkowitz Einspruch beim französischen Gesandten. Aber Gremonville veranlaßte den Freund zur sofortigen Zurücknah me des Einspruches durch die Drohung, ihren Briefwechsel zu veröf fentlichen, der Lobkowitz bloßstellen würde. Es fand daher kein kai serliches Dazwischentreten im ›Devolutionskrieg‹ statt. Erst ein ge gen Frankreich gerichtetes Bündnis zwischen England, Holland und Schweden setzte den Eroberungen Ludwigs durch den Frieden von Aa chen ein Ende. Leopold, der die Feindseligkeiten, die Frankreich einen, wenn auch geringfügigen Gebietszuwachs brachten, in ängstlicher Tatenlosigkeit zur Kenntnis genommen hatte, atmete auf, obwohl die gewaltigen Rü stungen, die Ludwig XIV. weiterbetrieb, nur allzu deutlich erkennen ließen, daß seinen Friedensbeteuerungen nicht zu trauen war. Wel chen Anlaß zum nächsten Angriff würde er suchen? Der Kaiser glaubte, daß er im Osten, zumindest bis zum Ablauf des Waffenstillstands mit dem Sultan, nicht bedroht sei. Da kamen im Kö nigreich Ungarn mit einemmal Münzen in Umlauf, die um die Jahres zahl 1670 und das geprägte Bild Ludwigs XIV. die Umschrift trugen: ›Galliae Rex Defensor Hungariae‹. Der König von Frankreich begnüg te sich nicht damit, sich bei den protestantischen Adligen Ungarns durch kostbare Geschenke beliebt zu machen. Er wünschte, das ganze ungarische Volk, unter dem die Münzen im Umlauf waren, solle sich wehren, unter den kaiserlichen Fahnen gegen den ›königlichen Vertei diger Ungarns‹ zu kämpfen – wenn es dazu käme. Zum Glück für Leo pold warteten die ungarischen Herren nicht auf das Zeichen Ludwigs zum Aufstand. Ihre Verschwörung wurde unterdrückt, die Rädelsfüh rer wurden hingerichtet. Der rasche Zugriff der kaiserlichen Verwal tung trug dazu bei, daß der Einfluß Leopolds I. in Ungarn zunahm. Obwohl es eindeutig schien, durch wen die ungarischen Adligen auf gehetzt worden waren, gelang Gremonville noch im gleichen Jahr ein 394
staatsmännisches Kunststück. Er schloß mit Lobkowitz einen Vertrag, durch den der Kaiser sich verpflichtete, sich in keinen Krieg einzu mengen, der außerhalb des Römischen Reiches Deutscher Nation und außerhalb Spaniens geführt würde, und Mächten, die von Frankreich angegriffen würden, keinerlei Beistand zu leisten. Kurz nach der Un terzeichnung dieses Übereinkommens fielen hundertzwanzigtausend französische Soldaten in Holland ein. Leopold I. und seine Höflinge beteten für den Sieg Ludwigs XIV. denn war es nicht gewiß, daß sein Schwager, der allerchristlichste König, den Krieg nur begonnen hatte, weil er sich berufen fühlte, im Namen der alleinseligmachenden Kir che einen Kreuzzug gegen das protestantische Holland zu unterneh men? Es dauerte zwei Jahre, in denen Ludwig XIV. unterstützt von den geistlichen Fürsten von Köln und Münster, den größten Teil der spa nischen Niederlande und des Herzogtums Lothringen eroberte, bevor Leopold I. davon überzeugt werden konnte, daß der Krieg wohl auch gegen Holland, das sich unter Wilhelm III. von Oranien heldenhaft wehrte, in Wirklichkeit aber gegen ihn selbst und den jungen König von Spanien geführt wurde. Der in den Türkenkriegen bewährte Graf Montecuccoli und der Feldmarschall Bournonville zogen mit unzulänglichen Truppen nach dem Westen. Die kaiserlichen Feldherren erhielten unerwartete Hilfe: der Große Kurfürst schloß ein Bündnis mit Wien. Kurfürstlich bran denburgische und preußische Abteilungen marschierten im Elsaß auf. Aber die Nachricht, daß die mit Frankreich verbündeten Schweden in seine Länder eingedrungen seien, veranlaßte den Großen Kurfürsten zu jäher Umkehr. Er eilte in Gewaltmärschen nach dem Osten zurück und zerstörte durch die siegreiche Schlacht bei Fehrbellin den Ruf der Unbesiegbarkeit des schwedischen Heeres.
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V
Der Friedensschluß von Nimwegen, der Ludwig XIV. die Freigrafen schaft Burgund von Spanien einbrachte und vom Kaiser Freiburg im Breisgau, wurde am französischen Hof begeistert erläutert. In einem ihrer berühmten Briefe gab die Marquise de Sevigne der freudigen Stimmung Ausdruck: »Der König hat so vollkommenen Erfolg, daß er künftig nur auszusprechen haben wird, welches Stück von Europa er wünscht. Man wird sich glücklich schätzen, es ihm zu geben, ohne daß er sich die Mühe zu machen braucht, selbst an der Spitze seiner Armeen zu marschieren.« Aber Ludwig XIV. hatte den Frieden nicht gern geschlossen. Er brach ihn bei der ersten Gelegenheit, zwei Jahre später, durch die plötzliche Besetzung Straßburgs und durch die Einsetzung von ›Re unionskammern‹, Gerichtshöfen, die im Sinne der im Auftrage Ri chelieus verfaßten Schrift ›Untersuchung der Rechte des Königs und der Krone von Frankreich auf Königreiche, Herzogtümer, Graf schaften, Städte und Länder, die von fremden Fürsten widerrecht lich vorenthalten werden‹ selbstherrlich untersuchen und entschei den sollten, welche Länder in vorhergegangenen Friedensschlüssen an Frankreich abgetreten worden waren. Für alle Fälle bemächtigten sich französische Truppen der in Frage stehenden Gebiete des Römi schen Reiches Deutscher Nation, und Ludwig XIV. empörte die Öf fentlichkeit durch den Auftrag an seine Generäle, sich im besetzten Land rücksichtslos zu verköstigen, ›manger le pays‹ – so lautete der königliche Befehl. Die Verwüstungen dieses Raubkrieges waren noch schlimmer als die Raubzüge Mansfelds und Wallensteins im Dreißigjährigen Krieg, aber Ludwig XIV. fühlte sich über alle Vorwürfe erhaben. Seine Heere wa ren stärker als alle anderen Heere, seine Staatsmänner allen anderen überlegen, sogar die Jesuiten aller Länder waren ihm ergeben, denn sie wußten, daß der König von Frankreich die Aufhebung des von seinem Großvater Heinrich IV. erlassenen Edikts von Nantes vorbereitete, das 396
den Hugenotten ihre Glaubensfreiheit und die gleichen bürgerlichen Rechte wie den Katholiken gewährleistet hatte. Ludwig XIV. hatte allen Grund, mit den Erfolgen seiner Außenpo litik zufrieden zu sein. König von Polen war mit seiner Unterstützung der Adlige Johann Sobieski geworden, der durch seine französische Gattin und mehr noch durch ein Jahresgehalt für Frankreich einge nommen war. Ludwig konnte, gesichert durch sein Bündnis mit dem Großen Kurfürsten, der sich mit dem Kaiser überworfen hatte, und ge sichert durch seine gute Beziehung zu den meisten deutschen Kirchen fürsten, einen neuen Schlag gegen das Reich und den Kaiser wagen. Um seinen Angriff auf den Westen durch einen Aufstand im Osten zu stärken, hatte er im Grafen Tököly einen rührigen Vertrauensmann ge wonnen. Tatsächlich trat bald ganz Ungarn in Aufruhr. Schon fürchte te man sich in Wien vor den ungarischen Reitern, als dem Kaiser auch noch die Nachricht überbracht wurde, daß der neue türkische Groß wesir, Kara Mustafa, den von seinem Vorgänger geschlossenen Waf fenstillstand gebrochen habe und ein ungeheures Heer gegen Öster reich führe. War das der Anfang vom Ende? Kara Mustafa stand im Rufe besonderer Grausamkeit. Es hieß, daß er alle Einwohner der Städte, die er eroberte, niederhauen und Gefan gene lebendigen Leibes schinden, ihre Häute ausstopfen und dem Sul tan als Siegeszeichen senden ließ. Der päpstliche Nuntius Caprara, der an den Wiener Hof floh, berichtete wörtlich: »Die Türken sind von An sehen wüst, eher Wilde denn Menschen, sowohl in Kleidung als Nah rung – der Feind ist grausam, mächtig und geschwind!« Leopold I. floh nach Passau und rief die Christenheit zur verein ten Abwehr gegen die Türken auf. Das Aufgebot des Kaisers fand williges Gehör. Eine Truppenabteilung nach der anderen, welche die um ihre eigenen Länder besorgten Reichsfürsten ausrüsteten – auch Einheiten des Großen Kurfürsten und Johann Sobieskis von Polen – stellten sich unter den Befehl des von Ludwig XIV. vertriebenen Her zogs Karl von Lothringen, der von Leopold zum kaiserlichen Ober befehlshaber ernannt worden war. Während sich das Heer vereinig te, hing das Schicksal der christlichen Welt von der Widerstands 397
kraft der beinahe schutzlosen Stadt Wien ab, die von Kara Mustafa belagert wurde. Wochenlang schwiegen die türkischen Kanonen nur, wenn Regen fiel. Befehlshaber der Belagerten war Graf Ernst Rüdiger Starhemberg, und seiner Tüchtigkeit war der Widerstand der Wiener zu danken. Denn es dauerte beinahe zwei Monate, bis das Entsatzheer gesammelt worden war und der Kaiser siebzigtausend Mann gegen die nach vie len Hunderttausenden zählenden Türken auf die Beine gebracht hat te. Kara Mustafa verstand nicht, wie es möglich war, daß eine Stadt, ohne Vorräte, ohne Munition, mit einer so kleinen Besatzung, sei nen kriegsgeübten Truppen so erfolgreichen Widerstand leisten kön ne. Der Großwesir und seine Soldaten waren entmutigt, als der ge waltige Angriff des kaiserlichen Heeres, vor allem der Reiter Johann Sobieskis, einsetzte. Der Angriff begann um die Mittagsstunde. Und schon in der Zeit zwischen Tag und Nacht, zwischen sechs und sieben Uhr abends, konnte der Herzog von Lothringen den kaiserlichen Dra gonerregimentern den Befehl geben, an die Mauern Wiens vorzurük ken und vereint mit den Bürgern die Türken, die noch immer die Stadt aus ihren Geschützen beschossen, aus den Stellungen zu verjagen. Die überraschenden Siege des Herzogs von Lothringen, der Ofen, die Hauptstadt Ungarns, mit kaiserlichen und brandenburgischen Trup pen eroberte und schließlich das ganze Königreich Ungarn von der Türkenherrschaft befreite, all diese unerwarteten, von Gott gegebe nen Erfolge hoben das Selbstbewußtsein des Kaisers. Er begann, an die Sendung Österreichs zu glauben, aber zu einer Verbesserung der ver nachlässigten Verwaltung wurde er erst durch den Einfluß Prinz Eu gens von Savoyen gebracht, der an der Befreiung Wiens als Freiwilliger teilgenommen hatte und schon nach kurzem Aufenthalt am kaiserli chen Hof seinen Verwandten schrieb: »Ich sehe mich in der Lage, hier alle Ämter zu erringen, zu denen mich meine Fähigkeiten zu bestim men scheinen.« Das blasse Totenkopfgesicht Eugens und sein schwäch licher, beinahe zwergenhaft verkümmerter Körper ließen es erklärlich erscheinen, daß Ludwig XIV. die Dienste des kränklichen Prinzen im französischen Heer abgelehnt hatte und den Sohn seiner ehemaligen 398
Freundin Olympia Manzini hatte zum Priester erziehen lassen wol len.
»O mio padre, wie ich es hasse, Entscheidungen zu treffen!« – Dieser Stoßseufzer Leopolds I. bestimmte seine Politik. Der Kaiser konnte sich nur entscheiden, wenn er unmittelbar dazu gezwungen wurde. Nicht nur im Krieg, sondern auch im Frieden bestimmten ihn die Handlun gen des Königs von Frankreich, sich gegen ihn zu wehren oder sich ihm anzugleichen. Als Ludwig XIV. durch die Aufhebung des Edikts von Nantes die Ausrottung des reformierten Glaubens in Frankreich be gann und ein grausames Beispiel der Verfolgung gab, betrachtete Leo pold die unerbittliche Unduldsamkeit seines Schwagers als eine bei nahe ebenso wichtige Tat für den alleinseligmachenden Glauben wie die Vertreibung der ungläubigen Türken aus dem Königreich Ungarn. Um dem allerchristlichsten König als Glaubensstreiter nicht nachzu stehen, befahl der Kaiser seinem General Caraffa, den ›religiösen Aus gleich‹ auch in Ungarn durchzuführen. Es kam zum ›Blutgericht von Eperjes‹, das die Hinrichtung protestantischer Adliger zur Folge hat te. Dennoch waren die Bekehrungsversuche des kaiserlichen Gene rals nicht so gründlich wie die Maßnahmen des Königs von Frank reich gegen die Hugenotten, die um Haus und Hof, um Geschäft und Lebensmöglichkeiten gebracht wurden und fliehen mußten, wenn sie sich nicht bekehren wollten. Die als ›Dragonaden‹ bezeichneten rück sichtslosen Einquartierungen von Dragonern in hugenottische Schlös ser und Häuser waren eine Abart des von Ludwig XIV. an die königli chen Truppen erteilten Befehls ›manger le pays‹. Die Dragoner sollten die Hugenotten arm essen und so tief erniedrigen, daß sie, wenn aus keinem anderen Grund, um die Erhaltung ihrer Menschenwürde wil len den Glauben wechselten. Die gewalttätige Auslöschung von Standesunterschieden, durch die hugenottische Adlige und Kaufleute, Gelehrte und Ärzte von auf sie losgelassenen Schergen der Not und dem Elend preisgegeben wurden, 399
die Unduldsamkeit des von seiner frömmelnden Geliebten, Madame de Maintenon, der Nachfolgerin der scheuen La Valliere und der hoch mütigen Montespan, zur bedenkenlosen Rücksichtslosigkeit verleite ten Königs hinterließen verhängnisvolle Spuren in der Bevölkerung Frankreichs. Insgeheim veröffentlichte Schriften gegen die Ausschrei tungen Ludwigs XIV. fanden weite Verbreitung und bereiteten lang sam, aber sicher den Widerstand gegen den Mißbrauch der Königsge walt vor, die den Glauben zum traurigen Vorwand genommen hatte, um die Reichtümer der Hugenotten durch die Beschlagnahme ihres Besitzes und ihrer Güter für sich zu gewinnen. Ungarn wurde katho lisch. Das ›Blutgericht von Eperjes‹ aber blieb allen ungarischen Adli gen, auch den katholischen, in unauslöschlicher Erinnerung. Es belei digte ihren Stolz so sehr, daß sie nur auf den Augenblick warteten, in dem sie sich durch eine erfolgreiche Verschwörung von den ›neuen Be drückern‹ befreien könnten. Sogar diejenigen Adligen, die im gehei men Protestanten geblieben waren, suchten Verbindung mit den Ge sandten des großen Verfolgers der Hugenotten, Ludwigs XIV. der sich darauf vorbereitete, das Reich des Kaisers durch einen Adelsaufstand in Ungarn, einen gleichzeitigen neuen Angriff der Türken im Osten und seinen eigenen Einfall im Westen wieder in die Zange zu neh men. Leopold I. wäre viel lieber Bundesgenosse Ludwigs geworden, als sich mit protestantischen Mächten gegen den allerchristlichsten König zu verbünden. Aber die Unbarmherzigkeit der Hugenottenverfolgung in Frankreich hatte die protestantischen Fürsten Europas gegen Lud wig XIV. so aufgebracht, daß der Kaiser es sich nicht versagen durf te, die Gelegenheit zu einem umfassenden Bündnis gegen das über mächtige Frankreich auszunützen. Schon als der neunjährige Erzher zog Josef, der älteste Sohn Leopolds, zum erblichen König von Ungarn gekrönt wurde, glaubte der Kaiser allen Anlaß zu haben, mit seinem Entschluß zufrieden zu sein. Nie vorher war die Eintracht der Reichsfürsten so vollkommen. Die vornehmsten deutschen Herrscherfamili en und der König von Schweden für seine deutschen Länder schlossen sich ›gegen jede Verletzung des öffentlichen Friedens und zur Wah 400
rung der bestehenden Friedensverträge‹ zusammen. Sogar die Zarew na Sofia von Rußland, die für die beiden minderjährigen Zaren, ihren Schwachbegabten Bruder Iwan und ihren Stiefbruder Peter, die Herr schaft führte, trat dieser ›Heiligen Liga‹ bei. Außerhalb dieses Fürstenbundes standen in Europa nur Ludwig XIV. und sein Vetter Jakob II. der jüngere Bruder des früh verstorbe nen Königs Karl II. von England. Aber während der König von Frank reich an seinem Grundsatz, daß er die Verkörperung des Staates sei, mit unverbrüchlicher Zähigkeit festgehalten und seine Willkür gegen alle Widerstände durchgesetzt hatte, versagten die Könige von Eng land in ihrem Wunsch, es ihm in ihrem Königreich gleichzutun. Karl II. hatte wohl durch die sogenannten ›Testakte‹ erwirkt, daß alle im öf fentlichen Dienst stehenden Angestellten den König als Oberhaupt der Kirche anerkennen und sich gegen die katholische Abendmahlsleh re erklären müßten, und alle ›Dissenters‹ und Katholiken vom staat lichen Leben ausgeschlossen. Im erregten englischen Parlament ent standen aus Spottnamen die Parteibezeichnungen der ›Tories‹, die zum größten Teil Angehörige des Landadels und der anglikanischen Hochkirche und für einen stärkeren Einfluß der Krone waren, und der ›Whigs‹, die dem Bürgertum entstammten und fortschrittlich und freiheitlich gesinnt waren. Sie setzten gegen den Willen des Königs die ›Habeas-Corpus-Akte‹ zum Schutze der persönlichen Freiheit und zur Sicherung gegen willkürliche Verhaftungen durch. Unter dem Ein fluß Ludwigs XIV. versuchte jetzt Jakob II, der streng katholisch erzo gen worden war, die unbeschränkte Königsgewalt und den Katholizis mus in England wiederherzustellen. Er bereitete eine ›Indulgenzerklä rung‹ vor, um den Katholiken und ›Dissenters‹ die Zulassung zu den Ämtern wieder zu ermöglichen. Die Mehrheit der Abgeordneten des Parlaments war dagegen. Sie knüpften Beziehungen zum Neffen und Schwiegersohn Jakobs II. dem protestantischen Prinzen Wilhelm III. von Oranien, an. Trotz des frühen Völkerbundes der ›Heiligen Liga‹ hielt der Friede nicht an, denn die gegen ihn so vollkommen geschlossene Einigkeit Europas hinderte Ludwig XIV. nicht, im Namen seiner Schwägerin, 401
der Herzogin Liselotte von Orleans, der Schwester des letzten Kurfür sten von der Pfalz, aber gegen den Willen der Herzogin Anspruch auf einen ansehnlichen Teil der Rheinpfalz zu erheben. Ein starkes fran zösisches Heer überschritt die Grenzen. Mainz und Trier fielen, die vier rheinischen Kurfürstentümer wurden im Verlauf weniger Wochen er obert. Gleichzeitig brachen die Türken wieder in Ungarn ein. Der Kai ser stand neuerlich zwischen zwei Fronten. In Wien warnte der inzwi schen schon zum General beförderte Prinz Eugen vor einer Kriegser klärung an Frankreich, bevor der Frieden mit den Türken geschlos sen sei. Wieder drängte das türkische Heer donauaufwärts. Das von den kai serlichen Truppen kurz vorher eingenommene Belgrad konnte nicht gehalten werden. Der ungarische Aufständische Graf Tököly vertrieb die kaiserlichen Besatzungen aus Siebenbürgen. »Durchhalten!« riet Prinz Eugen. Da veränderte ein unerwartetes Ereignis die Lage. Am 12. November 1688 stach Wilhelm III. von Oranien, der Schwieger sohn König Jakobs II. mit einer Flotte von sechshundert Schiffen in See, um in England zu landen. In einer Kundgebung verhieß er, nur zu kommen, um das Schicksal des Königreiches in die Hände eines frei en und gesetzlichen Parlaments zu legen. Jakob II. der seine Politik im Fahrwasser Ludwigs XIV. hatte treiben lassen, floh kampflos. Wilhelm III. und seine Gattin Maria wurden nach der unblutigen ›glorreichen Revolution‹ durch einen Parlamentsakt auf den Thron erhoben. Sei ne ›Declaration of rights‹ legte das Vertragsverhältnis zwischen Herr scher und Volk fest. Der König blieb Oberhaupt des Staates und be hielt sich die ausübende Gewalt vor. Dem Parlament gestand er die gesetzgebende Gewalt zu. Im Einverständnis mit den Abgeordneten erstreckte sich die gesetzlich festgelegte Duldung in Glaubensfragen nicht auf die Katholiken. Wilhelm wollte verhindern, daß sich Jakob II. bei seinen Versuchen, die Macht wiederzugewinnen, seiner katholi schen Anhänger bediente. Die neue englische Verfassung war eine Zwischenlösung auf dem Weg zur Volkssouveränität, denn die Sitze im Oberhaus, dem ›House of Lords‹, blieben erblich. Der König konnte neue Oberhausmitglieder 402
ernennen. Zum Abgeordneten des Unterhauses konnte nur gewählt werden, wer entsprechenden Grundbesitz und ein namhaftes Vermö gen nachwies. So setzte sich das englische Parlament aus Landadligen und wohlhabenden Bürgern zusammen. Dennoch begnügten sich die breiten Massen mit diesem Schein der Volkssouveränität, da das aus zwei gegnerischen Parteien zusammengesetzte Unterhaus die Erör terung der wesentlichen Belange gewährleistete und die Willkür der herrschenden Partei verhinderte. Krieg konnte nur mit Zustimmung des Unterhauses erklärt werden. Als das Parlament dem neuen König von England die nötigen Mittel zum Kampf gegen Frankreich bewil ligte, rief der hartnäckige Feind Ludwigs XIV.: »Heute ist der erste Tag meines Königtums!« Ganz Europa war jetzt gegen Ludwig XIV. vereinigt, und wenn es dem Kaiser nicht viel mehr darum zu tun gewesen wäre, die Türken ein für alle Male unschädlich zu machen – wenn er seine Heere aus dem Osten nach dem Westen geworfen hätte –, dann wäre der König von Frankreich dem großen Bündnis erlegen. Leopold aber war trotz des dringenden Ersuchens seiner Verbündeten nicht bereit, Frieden mit den Türken zu schließen, bevor sie nicht auf die Herrschaft über Ungarn verzichteten. Er blieb eigensinnig dabei und ließ sich durch keinen Sieg der Marschälle von Frankreich am Rhein oder in Oberi talien davon abbringen. Er war im Osten siegreich, er war überzeugt: Gott würde ihm auch im Westen helfen!
Einer der wenigen Staatsmänner und Feldherren, die schon lange vor dem Tod Karls II. des letzten habsburgischen Königs von Spanien, ge nau erkannten, daß alle Rüstungen und Kriege Ludwigs XIV. dazu dienten, den Grund für den großen Entscheidungskampf um die spa nische Erbschaft vorzubereiten, war Prinz Eugen. Er verdankte die se Erkenntnis nicht seiner Erziehung am französischen Hof, der ge wöhnlich über die Pläne des Königs im Ungewissen gelassen wurde, sondern den Mitteilungen seiner Mutter, der Nichte Kardinal Maza 403
rins, die, nachdem sie bei Ludwig XIV. endgültig in Ungnade gefallen war, bemüht war, die Gunst des kinderlosen Königspaars von Spani en zu gewinnen. Die nächsten Verwandten des hoffnungslos kranken Karl II. waren seine beiden Schwäger, der Kaiser und der König von Frankreich. Lud wig XIV. hatte schon nach dem Tode seines Schwiegervaters Philipp IV. bewiesen, daß er den Erbverzicht seiner Gattin nicht ernst genom men hatte. Jetzt setzte er alles daran, Karl II. zu bewegen, seinen Letz ten Willen nicht zugunsten der habsburgischen, sondern der bourbo nischen Verwandten abzufassen. Um die Erbschaft ungestört erwer ben zu können, entschloß er sich zum Frieden von Ryswijk im Jahre 1697 – im gleichen Jahre, in dem es Prinz Eugen gelang, die Türken bei Zenta an der Theiß entscheidend zu schlagen. Leopold I. dem die deutschen Kurfürsten die Kaiserkrone vierzig Jahre vorher nur zugestanden hatten, weil er durchaus nicht als mäch tig gegolten hatte, wurde durch den Frieden von Karlowitz den er mit den Türken schloß, zum unbestrittenen Herrscher einer gewaltigen Großmacht. Er besaß alle österreichischen Erblande, das Königreich Böhmen ungeteilt, und jetzt, nach dem Sieg Prinz Eugens, lagen ihm auch die Adligen Ungarns und Siebenbürgens zu Füßen und bewar ben sich um Dienststellen im kaiserlichen Heer und in der Verwal tung. Leopold hatte nicht nur die gestärkte Macht des Hauses Öster reich hinter sich, sondern auch durch seine anspruchslose Bescheiden heit das Vertrauen der deutschen Fürsten gewonnen, die keinen Über griff des Kaisers in ihre durch den Westfälischen Frieden gewährlei steten Rechte befürchteten. Einige dieser Fürsten waren sogar bereit, für Österreich um die spanische Erbfolge zu kämpfen, wenn sie selbst entsprechende Zugeständnisse erhielten und wenn sich die Habsbur ger wieder in zwei Linien teilten, wenn das östliche Kaiserreich Josef I. dem ältesten Sohn Leopolds, verbleiben und der jüngere Sohn, Karl, König von Spanien werden würde. Damit war der Kaiser einverstan den. Jetzt wartete auch er, ebenso gespannt wie Ludwig XIV. auf das Ableben Karls II. seines Schwagers und Vetters. 404
Das Ende seines kurzen Lebens verbrachte der letzte habsburgische König von Spanien fast ausschließlich damit, die Besuche der Erb anwärter auf seine künftige Hinterlassenschaft entgegenzunehmen. Kaum hatte er den kaiserlichen Botschafter Harrach in Audienz emp fangen, als schon der französische Botschafter Harcourt bei ihm vor sprach. Und wenn sich die Flügeltüren des Audienzsaals hinter dem französischen Bevollmächtigten schlossen, betrat ein bayrischer Un terhändler die Schwelle, schief angesehen vom savoyischen Gesand ten, der für seinen Herrn um die Erbberechtigung feilschte. Im Vor zimmer aber berieten die Vertreter der anderen Mächte, wen ihre Re gierung bei dem Wettbewerb unterstützen solle. »De jure«, dem Rechte nach, war keiner der fürstlichen Anwärter, mit Ausnahme des Kaisers, erbberechtigt. Alle anderen Gesandten wa ren die Boten von Herrschern, die zu ihren fragwürdigen Ansprüchen nur durch die Hinwegsetzung über Erbverzichte gekommen waren und durch Eheschließungen, an welche die Bedingung geknüpft wor den war, daß keine Erbberechtigung aus der Ehe gefolgert werden dür fe. Im Falle des Kurfürsten Max Emanuel von Bayern, der seinen Erb anspruch auf seine Ehe mit der Tochter Leopolds I. aus dessen erster Ehe stützte, war es sogar eine unberechtigte Forderung zweiten Gra des. Dennoch wurde der Kurfürst von Ludwig XIV. der ihn und den Kaiser entzweien wollte, ermutigt und von einigen nicht unmittelbar beteiligten Mächten gefördert, denn das europäische Gleichgewicht stand auf dem Spiel. Weder das Haus Bourbon noch das Haus Habs burg sollte durch einen neuen Machtzuwachs das eindeutige Überge wicht in Europa gewinnen – keines der beiden Häuser! Die Aussichten des Kurfürsten von Bayern, nicht für sich selbst na türlich, denn auch er wäre übermächtig geworden, wenn er die Erbfol ge zugestanden bekommen hätte, sondern für seinen Sohn Josef, waren die günstigsten. Er war weder Bourbone noch Habsburger. Die Spanier waren am ehesten für ihn. Der Kurprinz sei noch ein Kind, sagte man in Madrid, ein Knabe, der zum Spanier erzogen werden könne! Zum Zeichen der Bevorzugung wurde Kurfürst Max Emanuel von Bayern von Karl II. zum Statthalter in den spanischen Niederlanden ernannt. 405
Dadurch rückte er dem Thron, den er für seinen Sohn gewinnen woll te, so bedenklich nahe, daß ihm der Kaiser drohte, die Freundschaft zu kündigen. Max Emanuel schloß ein Bündnis mit Ludwig XIV. und löste sich seinerseits von Leopold. Das fiel ihm um so leichter, als sei ne Frau, die Tochter des Kaisers, starb. Allmählich wurde der Kurfürst von Bayern durch und durch französisch. Allerdings mit einem Vorbe halt: als Vater eines bevorzugten Anwärters auf den spanischen Thron war er Konkurrent Ludwigs XIV. und dadurch anti-französisch. Jeder Außenminister jedes Thronanwärters mußte, gewissermaßen aus einem Januskopf heraus, in beide Richtungen denken. Freund schaft und Feindschaft waren in den gleichen Personen vereinigt. Die linke Hand streichelte, die rechte griff schon ans Schwert. In jedem Außenministerium lagen verschiedene schon unterzeichnete oder erst entworfene Verträge der einzelnen Mächte über die Teilung Spaniens vor, die die anderen Staaten ausschalteten. Karl II. allerdings wußte, daß alle Bemühungen, alle Versuche, hinter seinem Rücken eine Tei lung durchzuführen, vergeblich sein würden. Er war überzeugt, daß zum Schluß alles doch von seinem Willen, von seinem Letzten Willen abhängen würde. Der plötzliche Tod des Kurprinzen von Bayern veränderte die Lage noch einmal. In Wien rechnete man damit, daß Karl II. sich nun end gültig für die kaiserliche Familie entscheiden werde. Leopold ging flei ßiger als sonst in die Kirche und empfahl der Muttergottes die spani sche Angelegenheit.
Als Karl II. im Jahre 1700 starb, wurde sein Testament in Gegenwart der verwitweten Königin, der Großen des Königreichs, der Minister, der Kardinale und Bischöfe und der Gesandten der fremden Mächte eröffnet. Als letzter erschien der kaiserliche Botschafter, Graf Harrach, in voller Gala. Er war bereit, die Glückwünsche für das Haus Öster reich in Empfang zu nehmen. Der Kardinal-Großkanzler verlas den Letzten Willen des verstorbenen Königs mit leiser Stimme. Nur die 406
ihm zunächst Stehenden hörten ihn. Darunter war der Herzog von Abrantes, der nach der Verlesung mit offenen Armen auf den Bot schafter Leopolds I. zueilte. »Ich werde Ihren Eifer dem Kaiser rühmen«, rief Harrach entzückt. Der Herzog ließ die Arme sinken: »Ich komme, vom Haus Österreich Abschied zu nehmen.« Nicht Karl von Habsburg, der zweite Sohn Leo polds L, sondern der Bourbone Philipp von Anjou, der Enkel Ludwigs XIV. war im Letzten Willen Karls II. zum alleinigen Erben der Kronen Spaniens bestimmt worden. Einige Tage nach der Testamentseröffnung stellte Ludwig XIV. sei nen jungen Enkel dem versammelten Hof mit den Worten vor: »Meine Herren, Sie sehen hier den König von Spanien. Die Natur hat ihn dazu gemacht, der verstorbene König hat ihn dazu ernannt, die spanische Nation wünscht ihn, und ich willige ein: Spanien und Frankreich müs sen eines durch das andere glücklich werden und auf ewig den Frieden in Europa befestigen. Von nun ab gibt es keine Pyrenäen mehr!« VI Die Erhebung des Enkels Ludwigs XIV. zum König von Spanien hat te Kardinal Mazarin, der gebürtige Sizilianer, für die bourbonischen Könige von Frankreich geplant. Der in Frankreich geborene Savoyar de Eugen, der Großneffe Mazarins, trat der Verwirklichung dieses Pla nes für das Haus Österreich entgegen. In der vollkommenen Verwir rung, die das überraschende Testament am Wiener Kaiserhof hervor rief, behielt nur er klaren Kopf. Keiner der Staatsminister wagte es, Leopold aus der tröstenden Andacht in der Hofkapelle zu reißen. Jedes Unternehmen schien auch aussichtslos zu sein, denn schon in den er sten Wochen nach dem Tode des letzten spanischen Habsburgers wur de es eindeutig klar, daß Ludwig XIV. die drei Jahre seit dem Frieden von Ryswijk gründlich genützt hatte. Er hatte die wichtigsten Schlüs selstellungen Europas inne. Der Herzog von Savoyen war durch die 407
Vermählung seiner zweiten Tochter mit dem neuen spanischen König und durch einen Vertrag gewonnen worden, der ihm den Oberbefehl über das französisch-spanische Heer in Italien und die Bezahlung von Hilfsgeldern sicherte. Der Papst sprach sich trotz der frommen Gläu bigkeit Leopolds und seiner Söhne für Philipp aus. Die oberitalieni schen Fürsten außerhalb der Gebiete, die an und für sich spanisch wa ren, erklärten sich für Philipp, und in allen spanischen Provinzen, in Brüssel und Mailand, war Philipp ohne Widerspruch als König an erkannt worden. Ein französisches Heer vereinigte sich in Oberitali en mit den spanischen und savoyischen Streitkräften und besetzte die festen Plätze. Gleichzeitig erhob sich Bayern gegen den Kaiser, der al les in allem kaum hunderttausend Mann zur Verfügung hatte. Zum ersten Male während seiner so langen, erfolgreichen Herrschaft er klärte Leopold ebenso verzweifelt wie seine kaiserlichen Vorgänger in ähnlicher Lage: »Niemals hat es einen gefährlicheren Augenblick für die Monarchie gegeben.« Er begriff nicht, warum Prinz Eugen so zu versichtlich war und ihm zusprach: »Marschieren wir erst, dann wer den wir schon Verbündete finden!« Die Söhne des Kaisers bestürmten den Vater. Es ginge um ihr ›Hab und Gut‹. Das Haus Österreich kön ne nicht kampflos auf die spanische Erbschaft verzichten. Leopold I. mußte den Rat Prinz Eugens befolgen. Die kaiserlichen Heere mar schierten. Sie fanden Bundesgenossen. Vor allem Friedrich III. von Hohenzollern, den Nachfolger des Gro ßen Kurfürsten, der Tausenden von Hugenotten in Brandenburg und Preußen Zuflucht gewährt hatte. Seine grundsätzliche Einstellung ge gen Ludwig XIV. ließ sein Bündnis mit dem Haus Österreich natür lich erscheinen. Dennoch stellte er eine Bedingung: die Zuerkennung der Königswürde an das Haus Hohenzollern. Diese Forderung Fried richs III. war auch dadurch veranlaßt, daß sein unmittelbarer Nach bar, der Kurfürst August II. von Sachsen, mit Unterstützung des Kai sers gegen den Prinzen von Conti, den französischen Wettbewerber, König von Polen geworden war. Auch Friedrich wollte König sein. Leo pold beglückwünschte ihn, ehe er sich die neue Krone in Königsberg aufs Haupt setzte. Am Vorabend der Feierlichkeit hatte Friedrich III. 408
einen hohen Gast, der unter dem schlichten Namen Michailow auftrat: den jungen Zaren Peter von Rußland, der auf einer Reise nach Europa die Gebräuche des Westens kennenlernen wollte. Der Kurfürst Friedrich III. von Brandenburg wurde als Friedrich I., König in Preußen – nicht König von Preußen, im Hinblick darauf, daß preußische Gebiete noch in polnischem Besitz waren! – der angese henste Fürst des Römischen Reiches Deutscher Nation. Als Prinz Eu gen, der ein kaiserliches Heer nach dem Muster Hannibals verwegen über die Alpen geführt hatte, von der Erhebung des Kurfürsten von Brandenburg zum König erfuhr, rief er entrüstet: »Der Kaiser hätte die Minister hängen sollen, die ihm diesen perfiden Rat gegeben ha ben!« Der Preis für die kriegerische Hilfe Friedrichs III. erschien ihm zu hoch. Noch vor seinem Aufbruch hatte Prinz Eugen die Entsendung des begabten Grafen Wratislaw an den Hof des Königs von England ver anlaßt, um Wilhelm III. diesen wichtigsten Gegner des Königs von Frankreich, zum Bündnispartner zu gewinnen. Die Verleihung der Kurfürstenwürde an das protestantische Haus Hannover, das in weib licher Linie von Jakob I. abstammte und dessen Erbberechtigung auf den englischen Thron der kinderlose Wilhelm III. mit Zustimmung seiner gleichfalls kinderlosen Schwägerin Anna und des Parlaments festgelegt hatte, war das erste Entgegenkommen des Kaisers gegenüber dem König von England. Wratislaw hatte überdies den Auftrag, im Haag und in London feierlich zu erklären, daß die Vereinigung von Frankreich und Spanien unter dem Herrscher die Schiffahrt und dem Handel Hollands und Englands auf dem Ozean und im Mittelmeer bedrohe. Insgeheim aber hatte Wratislaw die Weisung, England und Holland ›all das anzubieten, was sie von den spanischen überseeischen Besitzungen erobern würden‹. Während sich die Verhandlungen über dieses Angebot noch hinzo gen, starb der Schwiegervater Wilhelms III. der ehemalige König Jakob II. von England, als Flüchtling in Saint Germain. Ludwig XIV. und sein Enkel, der sich schon Philipp V. von Spanien nannte, anerkannten den Sohn Jakobs II. feierlich als König Jakob III. 409
Auf der anderen Seite des Ärmelkanals rief diese selbstherrliche Hin wegsetzung über das englische Parlament, diese offene Beleidigung König Wilhelms III. so heftige Erregung hervor, daß nach den Parla mentswahlen im Jahre 1702 die Thronrede Wilhelms mit Ansprachen der Abgeordneten beantwortet wurde, die das Bündnis Englands mit dem Kaiser nicht nur guthießen, sondern sogar forderten. Die Richtung der englischen Politik änderte sich auch nicht, als Wil helm III. einige Wochen später vom Pferd stürzte und starb. Seine Schwägerin Anna, die ihm auf dem Thron folgte, hielt am Bündnis ih res Vorgängers fest. Sie ernannte Lord Marlborough, den Gatten ih rer engsten Freundin Sarah Churchill, zum Feldherrn des Heeres, das dem Kaiser auf dem Festland zu Hilfe kommen sollte. Marlborough wurde in den Berichten Wratislaws an den Wiener Hof geschildert ›als einer der schönsten Männer, so man mit Augen zu sehen vermag‹.
Die Lage des Kaisers war erheblich gebessert, aber sie war nicht gut. Das notdürftig ausgerüstete Heer, das Prinz Eugen so überraschend nach Oberitalien geführt hatte, wehrte sich hartnäckig gegen die drei fache Übermacht. Wenn ein Brief des Prinzen nach Wien kam, schloß sich der Kaiser in die Hofkapelle ein und betete. Was konnte er anderes tun, nachdem er gelesen hatte: keine Pferde bei der Reiterei, kein Pul ver, kein Blei, kein Geld, um den Soldaten die Löhnung zu zahlen! Während Eugen einen Verzweiflungskampf auf italienischem Boden kämpfte und sich der Markgraf von Baden, der Befehlshaber des Kai sers am Rhein, nur mühsam gegen die Übermacht der Franzosen hielt, brach der seit dem Blutgericht von Eperjes vorbereitete Aufstand der ungarischen Adligen aus. Die Führung übernahm der Sohn des sieben bürgischen Aufrührers Rakoczy. Seine Kundmachungen riefen nicht nur die Adligen zum Kampf gegen den Kaiser auf. Er wandte sich auch an die Bauern und Städter, die sich gegen den zu harten Steuerdruck unter der habsburgischen Herrschaft und die Unduldsamkeit in Glau bensfragen auflehnten. Bald war das von Truppen entblößte Wien wie 410
der durch ungarische Streifscharen gefährdet. Überdies drohte auch noch der Einfall des bayrischen Heeres in Österreich. Erst unter dem Zwang dieses fast hoffnungslosen Zustandes entschloß sich der Kaiser, Prinz Eugen mit dem Titel ›Präsident des Hofkriegsrates‹ zum leiten den Minister zu ernennen und ihm ›alle Vollmachten zur Rettung des Hauses Österreich‹ zu geben. Die staatsmännische Geschicklichkeit des Prinzen Eugen erwirkte zwar, daß der Aufstand in Ungarn verebbte und sein Vetter, der Herzog von Savoyen, von Frankreich abfiel, aber diese Erfolge halfen ihm nicht gegen den inneren Feind, ›die österreichische Krankheit‹. Er schilderte ihre Anzeichen in einem Brief: »Mit den Ministern reden heißt Worte in den Wind sprechen. Klagt man, das Land werde zugrunde gehen, so stimmen sie zu. Entgegnet man aber, es müsse doch Abhilfe geschaf fen werden, so erwidern sie überhaupt nichts. Es herrscht hier eine un glaubliche Faulheit oder Unwissenheit, vielleicht beides zugleich!« Die wirtschaftlichen Maßnahmen, die der Prinz für den Augenblick traf, brachten nur Erleichterung für den Augenblick. Aber die Refor men, die er beim Militär durchführte, verbanden die kaiserlichen Re gimenter zu einem schlagkräftigen Heer, das er, vereinigt mit den Eng ländern unter dem Befehl Marlboroughs, bei Höchstädt und Blindheim zum Sieg über die verbündeten Franzosen und Bayern führen konnte. Im gleichen Jahr landete Erzherzog Karl, der zweite Sohn Leopolds, mit englischer Hilfe in Portugal, um die bestrittene spanische Erb schaft mit Waffengewalt zu erobern. Die Mitglieder des Hauses Öster reich sahen hoffnungsvoll in die Zukunft, und der Kaiser hatte es nicht mehr nötig, sich bei seinem Beichtvater und seinen Ratgebern zu be klagen, wie schwer es ihm falle, Entscheidungen zu treffen. Alle Ent scheidungen wurden ihm, ob er es wollte oder nicht, vom Prinzen Eu gen abgenommen. Der Kaiser zog vor, es zu wollen, denn wenn er jetzt ausfuhr, jubelten ihm die Wiener zu. Er setzte Fett an und wurde sehr optimistisch. Seit dem Beginn seiner Herrschaft war er in Kriege ver wickelt gewesen. Aber wenn er die Landkarte betrachtete, die seine Schmeichler ihm vorlegten, konnte Leopold I. sich selbst überzeugen, was er für das Haus Österreich geleistet hatte. Sein Sohn Josef würde 411
die gewaltigen, um das Erbkönigreich Ungarn vermehrten Länder des Hauses Österreich friedlich beherrschen und sein Sohn Karl König ei nes Reiches werden, in dem die Sonne nicht unterging. VII Der Spanische Erbfolgekrieg, der alle Kräfte der beteiligten Mächte in Anspruch nahm, lenkte die Aufmerksamkeit der feindlichen Lager von den Entwicklungen und Ereignissen ab, die den nordöstlichen Raum Europas entscheidend veränderten. Es war der als ›Nordischer Krieg‹ bezeichnete Kampf um die Vormacht an der Ostsee, die Schweden erst gegen Dänemark und Polen und dann gegen Rußland behaupten woll te. Die beiden bedeutendsten Gegenspieler dieses Kampfes waren nicht nur entgegengesetzter Natur, sie verkörperten auch einander entgegen gesetzte Auffassungen der Pflichten und Rechte von Herrschern. König Karl XII. von Schweden galt das Schlachtfeld als geeigneter Platz für ein Duell, an dem nicht nur die Feldherren, sondern auch ihre Heere teilnahmen. Er führte den Krieg wie einen Ehrenhandel, während Pe ter I. von Rußland sich seiner Feldzüge bediente, um Vorteile für sein Land zu erlangen oder es zu verteidigen. Karl war als Feldherr dem Za ren, der sich mit dem König von Dänemark und August II. von Sach sen, dem König von Polen, verbündet hatte, weit überlegen. Er mußte zwar mit dem König von Dänemark Frieden schließen, der dem Her zog von Holstein die von Karl bestrittene Souveränität gewährte, aber er schlug die Russen bei Narva und die Polen und Sachsen bei Riga. Es gelang ihm, August aus Polen zu vertreiben, seine Absetzung und die Wahl des von Frankreich geförderten Stanislaus Lesczinski zum König von Polen zu erzwingen. Fünf Jahre vergeudete Karl XII. damit, Au gust unschädlich zu machen. Diese Zeit verwendete Peter dazu, die Er fahrungen, die er während seiner Lehrjahre in westeuropäischen Staa ten gesammelt hatte, nutzbringend zu verwerten. Angeregt durch Patrick Gordon, einen vornehmen schottischen 412
Flüchtling, dem Rußland zur zweiten Heimat geworden war, hatte Pe ter in der sogenannten ›Deutschen Vorstadt‹ Moskaus ungezwungenen Verkehr mit Ausländern gepflogen und war in den Gesprächen mit Kaufleuten und Gewerbetreibenden zur Erkenntnis gekommen, daß Rußland seine Macht und Bedeutung nur vergrößern könne, wenn es sich den europäischen Staaten angleiche. Durch den Beitritt seiner äl teren Schwester, der Zarewna Sofia, zur ›Heiligen Liga‹ gegen die Tür ken war Rußland ein Bündnispartner der europäischen Fürsten ge gen den Islam gewesen. Auch nachdem Prinz Eugen Ungarn und Sie benbürgen von den Türken befreit und den Frieden von Karlowitz ge schlossen hatte, blieb Rußland an seinen südlichen Grenzen vom Sul tan bedroht. Der Zugang zum Schwarzen Meer, um dessentwillen sich das griechisch-orthodoxe Zarenreich an der ›Heiligen Liga‹ beteiligt hatte, blieb ihm versperrt. Es konnte daher nur an der Ostsee Meeres küsten gewinnen, um unabhängigen Seehandel treiben zu können. Die Zaren von Rußland beherrschten ein ungeheures Gebiet, das sich vom Fürstentum Moskau aus nach allen Windrichtungen hin ausge dehnt hatte. Im Osten war den Vorgängern Peters die Eroberung Sibi riens gelungen. Aber ihm ging es nicht um Land. Seine Einbildungs kraft war durch das Meer angeregt. Entgegen dem Bericht des kaiser lichen Gesandten in Moskau, daß Peter eine Reise nach dem Westen Europas nur als Deckmantel benütze, um ›aus dem Land zu kommen und etwas zu spazieren, ohne daß etwas dadurch ausgerichtet würde‹, betätigte sich Peter I. als Zimmermann auf holländischen Werften, um die Grundbegriffe des Schiffsbaus und das Seewesen kennenzulernen. Auf seiner Reise bediente er sich eines besonderen Petschafts. Es stell te ihn selbst von Zirkel, Hammer und Beil umgeben dar. Die Inschrift des Petschafts lautete: »Ich bin im Zustande des Lernens und auf der Suche nach Lehrern.« Peter blieb sein ganzes Leben ›im Zustande des Lernens‹ und zog auch noch, als er sich schon durch die Neuordnung und Vergrößerung Rußlands den Beinamen ›der Große‹ erworben hatte, Lehrer an seinen Hof. Er unterhielt Beziehungen zu Leibniz, dem ›Universalgenie‹ sei nes Zeitalters, dessen bahnbrechende Forschungen ebenso in der Ma 413
thematik und Physik wie in der Logik der Psychologie grundlegend wurden. Das von Leibniz aufgestellte Gesetz von der Erhaltung der Kraft, der von ihm geprägte Begriff der unbewußten Vorstellungen, seine Lehre von den Monaden, den Einheiten des Geistes, die, vom Drang nach Vollkommenheit erfüllt, das All bewegen, hielten den Phi losophen nicht davon ab, sich auch mit den Tagesfragen, wenn auch mit weitreichendem Ausblick, zu beschäftigen. Leibniz wollte sich dem unter Peter I. aufstrebenden russischen Reich zur Verfügung stellen. Es war Neuland für ihn, das er ›in große geistige Blüte‹ bringen woll te. Er hoffte, durch eine Beeinflussung des Zaren ›viel Gutes auszurich ten‹. Aber die geistige Welt, die Leibniz doch mehr am Herzen lag als die materielle, beschäftigte Peter den Großen nur am Rande seiner auf un mittelbare Zielsetzung gerichteten Tatkraft. Er hatte gelernt, wie man Schiffe baute. Er wollte eine Flotte. Er schaffte die Haustruppe der ›Strelitzen‹, der ungebärdigen Krieger seiner Vorgänger, ab und stell te ein nach westlichem Muster geschultes Heer auf die Beine. Fachleu te aus jeder Berufsgattung halfen ihm bei der Ausbildung und Ausrü stung der Truppen und bei seinem durchgreifenden Ausbau von Ge werbe und Verkehr. Die Teilnahme am Seehandel, die Hebung der Wirtschaft nach französischen Vorbild schwebten Peter I. vor. Leib niz hatte die Akademie der Wissenschaften in der Hauptstadt der Kö nige in Preußen gegründet. Der Zar wollte seine eigene Akademie – nicht in Moskau. Seine Hauptstadt sollte eine Hafenstadt sein wie Ant werpen, eine Kaiserstadt wie Wien. In seiner Hauptstadt wollte er die Prachtentfaltung des Königs von Frankreich in gewaltigen Ausmaßen nachahmen. Peter der Große gönnte sich keinen Aufschub. Er nütz te die Bewegungsfreiheit aus, die er durch die eigensinnigen Feldzü ge Karls XII. gegen August II. in Sachsen gewann und besetzte In germanland, gründete seine Hauptstadt Sankt Petersburg, das ›Fenster nach Europa‹, und eroberte Estland, Livland und Kurland. Jetzt hatte er eigene Küstenstriche und Hafenstädte. Er konnte Rußland zur See macht erheben. Und er hatte ein Heer, um sich gegen den König von Schweden zu verteidigen, der sich durch ein Bündnisangebot des Ko 414
sakenhetmans Mazeppa auch zu einem Angriff auf Südrußland verlei ten ließ. VIII Beinahe fünfzig Jahre lang war Ludwig XIV. von seinen Höflingen und fürstlichen Verbündeten als der ›Sonnenkönig‹ verehrt worden. Die letzten Jahre seiner ehemals so glorreichen Herrschaft waren von Miß erfolgen beschattet. Das gegen seine Übermacht gerichtete englisch österreichische Bündnis hatte sich in siegreichen Schlachten bewährt. Beinahe die ganzen spanischen Niederlande waren von den Truppen Lord Marlboroughs besetzt, während Prinz Eugen Oberitalien für den Sohn Leopolds I. erobert hatte, den neuen Kaiser Josef I. der ihm freie Hand ließ. Papst Clemens XI., der Philipp V. den Enkel Ludwigs XIV. als König von Spanien anerkannt hatte, wurde durch den Einmarsch kaiserlicher Truppen in Rom gezwungen, nun Karl von Habsburg als König von Spanien anzuerkennen. Gibraltar war von den Engländern erobert worden. Mit ihrer Hilfe hatte sich Karl Madrids bemächtigt. Der einzige Trost Ludwigs XIV. war, daß die hohen spanischen Adli gen seinem Enkel treu blieben. Sie hatten sich für Philipp V. entschie den und wollten dabei bleiben. Dennoch mußte Ludwig erklären: »Der Zustand meiner Finanzen gestattet mir nicht, einen solchen Kampf fortzusetzen.« Der König von Frankreich fühlte sich am Ende seiner Kräfte. Aber er verlor seine Würde nicht. Er, der einem Zeitalter den Stempel sei ner Persönlichkeit aufgeprägt hatte, war nicht niedergeschlagen, ob wohl seinen Feinden seine endgültige Niederlage unaufhaltsam er schien. Er hatte ganz Europa ein Beispiel gegeben, und auch die Für sten, die ihn bekämpften, waren der Versuchung erlegen, sich seine Art zu leben bis in die kleinste Einzelheit zu eigen zu machen. Ihre Schlös ser waren bescheidene Nachbildungen der seinen. Sie alle bemühten sich, nach dem Muster Versailles' Hof zu halten. In den Haupt- und 415
Landesstädten des europäischen Raumes wurden Paläste gebaut, de ren wesentliche Grundrisse den Plänen französischer Bauwerke folg ten, die Ludwig XIV. für seine Prachtentfaltung geschaffen hatte. Man bewegte sich in den neuen Salons und Empfangssälen des übrigen Eu ropa mit den gleichen Gebärden und in gezierter Haltung wie in der Spiegelgalerie und den mit Marmor ausgelegten Vorzimmern des Lou vre. Französisch wurde die Sprache der vornehmen Welt. Die Dichter und Schauspieler, die auf den Bühnen des Königs von Frankreich und seines hochadligen Gefolges ernste und heitere Theaterstücke zur Auf führung brachten, wurden beispielgebend für die vergnügungssüchti ge Nachahmungssucht der europäischen Fürsten und hohen Herren, die die Schauspiele Racines, Carneilles und Molieres in französischer Sprache darstellen ließen. Ihre Hofdichter richteten sich nach Boileau, dessen ›Art poétique‹ die Kunst des Dichtens lehrte. Es gefiel dem aus erlesenen Publikum der fürstlichen Theater, durch die lebendige Ge staltung auf der Bühne die Lebensformen kennenzulernen, die der Kö nig von Frankreich zur gesellschaftlichen Vorschrift erhoben hatte. Die überragende Persönlichkeit Ludwigs XIV. regte zum Wettbewerb an. Sogar Prinz Eugen, der von ihm mit Geringschätzung behandelt worden war, bemühte sich, dem großen Gegner nicht nachzustehen. Seine nach französischem Vorbild errichteten Paläste und Schlösser regten auch die Fürsten und Grafen des kaiserlichen Hofes zu erhöhter Bautätigkeit an. Sie wollten es Prinz Eugen gleichtun. Ebenso die deut schen Landesherren. Den im köstlichen Stil des Barocks schwungvoll verzierten Fassaden der Adelspaläste glichen sich die zeitgenössischen Kirchenbauten und auch die Gebäude der Verwaltung an. Aber die Bestrebungen der europäischen Fürsten, Ludwig XIV. nachzuahmen, beschränkten sich in den meisten Fällen doch nur auf das Oberflächliche, auf die Äußerlichkeiten der Lebensführung – auch wenn sie es da und dort unternahmen, seine Stellung als absoluter Kö nig und die Art seiner Verwaltung zu imitieren. Es blieb bei mehr oder weniger erfolgreichen Versuchen. Zu der Vollendung, die Ludwig XIV. erreichte, fehlte den anderen Herrschern die Voraussetzung. In Frank reich diente der höfische Glanz, mit dem er sich umgab, gleichzeitig 416
dem Staat, den er verkörperte. Das Ansehen des Königs war gleichbe deutend mit der Macht und dem Ansehen des Staates. Die Volkswirt schaft wurde von ihm persönlich gelenkt und hing von ihm ab, da durch auch das Wohl und Wehe seiner Untertanen. Er war die Spitze der Machtpyramide, die er vervollständigt hatte. Die Bauern und die Masse der kleinen Bürger trugen als die hauptsächlichen Steuerzah ler die Last des Staatsgebäudes. Sie waren der dritte Stand. Der zweite Stand setzte sich aus den reichen Kaufleuten, den Gewerbetreibenden und der ›Magistratur‹, dem Amtsadel, zusammen, während der erste Stand am Hofe lebte, in der Nähe des Königs. Ihn bildeten die weltli chen und geistlichen großen Herren, die ihre Güter und Ämter durch Stellvertreter verwalten ließen, um keinen Augenblick des königlichen, mit allem Aufwand betriebenen höfischen Lebens zu missen und sich um Gunstbezeugungen und Zuwendungen Ludwigs XIV. bewerben zu können.
In den letzten Jahren des Spanischen Erbfolgekrieges wäre der Glanz des ›Sonnenkönigs‹ verblichen, wenn die Friedensverhandlungen, die den Siegen Prinz Eugens und Marlboroughs folgten, zu Ende geführt worden wären. Ludwig XIV. war schon bereit, die Folgen der militäri schen Niederlagen auf sich zu nehmen. Aber die kaiserlichen Bevoll mächtigten verlangten nicht nur die Übergabe aller spanischen König reiche und Länder an das Haus Österreich, sondern auch, daß sich der König von Frankreich verpflichte, seinen Enkel, den er selbst zum Kö nig von Spanien gemacht hatte, aus Spanien zu vertreiben. Das lehn te Ludwig XIV. ab. Er war über siebzig Jahre alt und hinfällig. Aber da man ihn dazu zwang, war er entschlossen, durchzuhalten, den Krieg weiterzuführen, bis zum letzten Mann, bis zum letzten Atemzug. Er ließ sich auch nicht dadurch entmutigen, daß Peter der Große den Kö nig von Schweden entscheidend geschlagen hatte und Karl XII. in die Türkei geflohen war. Der Krieg des Sultans gegen Rußland, den der flüchtige König heraufbeschwor, konnte die Lage Ludwigs XIV. er 417
leichtern. Würde nicht Österreich gezwungen sein, am Türkenkrieg teilzunehmen, und mußten die Eroberungszüge Peters im Nordosten Europas dem Kaiser nicht zu Bewußtsein bringen, daß seine östlichen Länder durch die neue russische Großmacht bedroht waren? In seinem langen Leben hatte Ludwig XIV. so viele Erfolge errun gen, die er vorbereitet hatte, und so viele Mißerfolge erlitten, die er nicht vorausgesehen hatte, daß er gelernt hatte, an das Unerwartete zu glauben: an die Drehung des Glücksrads. Er blickte in seine eigene Vergangenheit zurück. Lange Zeit war England sein einziger Bundes genosse gewesen. Wenn es ihm gelang, neue Fäden zu spinnen, konn te er durch die Vermittlung der ihm nahestehenden Tories im engli schen Parlament die Königin Anna dazu bewegen, Frieden mit ihm zu schließen. In den zweiundzwanzig Jahren, die seit der ›Glorreichen Revolution‹, seit der Thronbesteigung Wilhelms III. vergangen waren, hatte es für England nur vier Friedensjahre gegeben. Die Steuern hatten verdrei facht werden müssen, und die Staatsschuld war auf den gewaltigen Be trag von fünfzig Millionen Pfund gestiegen. Trotz der Freude über die Siege Marlboroughs hatte eine heftige Volksbewegung gegen die Fort führung des Krieges eingesetzt. Königin Anna war gezwungen, das Whig-Ministerium, die Freunde Marlboroughs, zu entlassen. Das Par lament wurde aufgelöst, die Neuwahlen ergaben eine Zweidrittelmehr heit für die Tories. Sie stellten die Minister. Ludwig XIV. konnte die er hofften Friedensverhandlungen beginnen. Wenn er sich mit England einigte, würde er dem neuen Kaiser gewachsen sein. IX
Kaiser Josef I. war ebenso musikalisch veranlagt wie sein Vater. Aber er liebte nur Tanzmusik. Er war vergnügungssüchtig. Trotz der stei fen spanischen Etikette genoß er die von ihm nach französischer Art 418
veranstalteten festlichen Bälle bei Hof. Um die in Versailles so sorgfäl tig gepflegte Kochkunst zu überbieten, ließ er von seinem Obersthof meister ›Kapaunerstopfer‹ heranbilden, die das für die kaiserliche Ta fel bestimmte Geflügel nach bestimmten Regeln zu füttern hatten. Po litisch hatte Josef I. nur einen Ehrgeiz: er wollte in seiner Beziehung zu seinem Bruder Karl das umgekehrte Verhältnis schaffen, das zwi schen Karl V. und dessen Bruder Ferdinand I. seinem Vorfahren, be standen hatte. Josef wollte als Kaiser des Römischen Reiches Deutscher Nation und Beherrscher Italiens auch Oberherr des Königreichs Spa nien sein. Er war durchaus damit einverstanden, daß Karl dem ver bündeten England das Recht auf Gibraltar, die Kanarischen und In dianischen Inseln als Dank für die Hilfe im Spanischen Erbfolgekrieg zubilligte, denn würde seinem Bruder nicht mehr als genug verbleiben, wenn er Spanien als Erbschaft erhielt? Josef zuckte hochmütig die Achseln, als Peter der Große seine Ver mittlung anbot, um den Frieden in Europa herzustellen, und sich be reit erklärte, dem Kaiser zur Dämpfung der wieder einmal ausgebro chenen ungarischen Unruhen Truppen zur Verfügung zu stellen. Der Zar sollte, anstatt dem Kaiser Ratschläge zu geben, seinen eigenen Krieg mit den Türken führen! Der Blick Josefs war nach dem Westen gerichtet und nicht nach dem Osten. Er erfuhr mit unverhohlener Ge nugtuung, daß der Versuch Peters, im Fürstentum Moldau an der un teren Donau Fuß zu fassen, mit einer Niederlage geendet hatte, die bei nahe dazu geführt hätte, daß der Zar der Gefangene des Sultans ge worden wäre und seine Truppen nicht in den Norden des Römischen Reiches Deutscher Nation hätte senden können, mit dem Ziel, sich der dortigen schwedischen Besitzungen zu bemächtigen.
Die Hilfsgelder für Karl XII. von Schweden aus der Staatskasse Lud wigs XIV. flossen immer spärlicher. Der König von Frankreich hatte kaum noch die Mittel, seine eigenen Truppen auszurüsten. Der Feld zugsplan Marlboroughs und Prinz Eugens, der ihren Heeren den Weg 419
nach Paris ebnen und Ludwig XIV. den Gnadenstoß versetzen sollte, war ausgearbeitet, als Josef I. an Blattern erkrankte und starb. Er hin terließ zwei Töchter. Der einzige männliche Erbe aller so gewaltig ver mehrten Länder des Hauses Österreich war jetzt sein Bruder Karl, der vom Papst anerkannte König von Spanien. Nie vorher hätte es einen mächtigeren Herrscher gegeben, wenn Karl die Herrschaft über die Länder der spanischen Krone mit den Besitzungen des Hauses Öster reich hätte vereinigen können. Er wäre der unbestreitbare Herr der Erde geworden. Die Angst vor der habsburgischen Überlegenheit beeinflußte die weltpolitische Lage entscheidend. Karl übersiedelte ungern von Bar celona nach Wien. Er sah der Zukunft schweren Herzens entgegen. Er empfand die Erhebung zum Kaiser als Erniedrigung. Lieber wäre er König Karl III. von Spanien gewesen als Kaiser Karl VI. und er war au ßer sich über die Nachricht, daß sich die englischen Staatsmänner mit Ludwig XIV. über die Aufteilung der Länder der spanischen Krone ge einigt hatten, während er gehofft hatte, doch König von Spanien blei ben zu können. Er sandte Prinz Eugen nach London, damit er die Kö nigin und die englischen Minister umstimme. Es war zu spät. Marlbo rough war in Ungnade gefallen und aller Ämter entsetzt worden. Die Bedingungen des Friedens, der den Spanischen Erbfolgekrieg beendi gen sollte, waren festgelegt. Weder die militärischen Unternehmungen Prinz Eugens noch seine Bemühungen am Verhandlungstisch konn ten die Einzelheiten des Friedens von Utrecht, die von den ehemaligen Verbündeten des neuen Kaisers mit dem König von Frankreich ausge arbeitet worden waren, verändern. Philipp V. der Enkel Ludwigs XIV. wurde als König von Spanien anerkannt, mit der Einschränkung, daß die Kronen von Frankreich und Spanien niemals bei einem Herrscher vereinigt sein dürften. Beide Bourbonen, der König von Frankreich und der König von Spanien, mußten die Wendung der englischen Poli tik teuer bezahlen. Keine der in den Erbfolgekrieg verwickelten Mäch te sollte leer ausgehen. England bekam von Frankreich Neufundland, Neuschottland und die Hudson-Bay-Länder, von Spanien Gibraltar und das Recht des Alleinhandels mit afrikanischen Negersklaven nach 420
den spanischen Kolonien in Amerika. Der Herzog von Savoyen erhielt Sizilien als Königreich, das er bald mit Sardinien vertauschte, der Kö nig von Preußen die Anerkennung seines Königstitels und Gebiete aus der oranischen Erbschaft, auf die er nach dem Tod König Wilhelms III. von England Anspruch erhoben hatte. Am meisten bekam der Kai ser: einen großen Teil Italiens und die spanischen Niederlande. Aber Karl VI. war nicht zufriedengestellt. Er schob die Unterzeich nung des Friedensvertrages hinaus, weil Philipp V. sich nicht mit dem spanischen Königreich begnügen wollte, sondern aus der Erbschaft nach dem habsburgischen Karl II. den Anspruch ableitete, sich auch Erzherzog von Österreich zu nennen. Der Kaiser vergalt dem entfern ten Vetter auf dem spanischen Thron Gleiches mit Gleichem. Er führte eigensinnig die Titel der spanischen Krone, die ihm entgangen war. Unwillig gab er die Zustimmung zum Frieden von Rastatt, der den Kriegszustand mit Frankreich förmlich beendete. Der Verlust Spani ens bedrückte Karl VI. so sehr, daß ihm alle anderen Bestimmungen des Friedensschlusses bedeutungslos erschienen. Sollten der Kurfürst Max Emanuel von Bayern und der Kurfürst von Köln, die wegen ih rer Parteinahme für Frankreich geächtet worden waren, wieder in ihre Ämter und Länder eingesetzt werden, sollten Landau, Straßburg und das Elsaß französisch sein und bleiben! All das galt dem Kaiser nichts. Er konnte es nicht verschmerzen, daß er lediglich dem Namen nach König von Kastilien und Aragon war. In seiner persönlichen Umge bung wurde spanisch gesprochen und nicht das Französisch des Kö nigs, der seine Hoffnungen und Wünsche zunichte gemacht hatte.
Ludwig XIV. war noch am Leben, als sein Zeitalter schon zu Ende war. Seine Glorie war verbraucht, sein Wesen verdüstert. Nach dem Spani schen Erbfolgekrieg gab es keine prächtigen Feste mehr in Versailles. Die großen Damen und Herren seines Hofes, die er gelehrt hatte, sich so unvergleichlich glanzvoll zu unterhalten und so bedenkenlos zu ge nießen, zogen sich in ihre Paläste zurück, um seiner verbitterten Lau 421
ne zu entfliehen. Sogar seine Verwandten mieden ihn. Sie sagten, seine Nähe bringe Unglück. Der Tod hatte furchtbare Ernte in der königli chen Familie gehalten. Ein Dauphin nach dem andern war einer plötz lichen Krankheit erlegen: sein Sohn und sein Enkel. Nun sollte sein kleiner Urenkel Ludwig sein Nachfolger im Königreich werden, des sen Kräfte er zu sehr angespannt hatte. Die Sorge Ludwigs XIV. um die Zukunft Frankreichs sprach aus seinem Letzten Willen, den er mit unendlicher Sorgfalt verfaßte. Er starb in freudloser Einsamkeit. Sein Leichenbegängnis wurde auf das einfachste veranstaltet, um, wie es in der amtlichen Verordnung hieß, ›die Kosten und die Zeit zu spa ren‹. Als das Herz des ›Sonnenkönigs‹ zu Grabe getragen wurde, folg ten nicht mehr als fünf treue Anhänger dem Zug mit der Urne.
Papier ist geduldig I Der unmittelbare Erbe Ludwigs XIV. wurde nicht sein Urenkel, Lud wig XV. sondern sein Neffe, Herzog Philipp von Orleans, der die Re gentschaft für den fünfjährigen König von Frankreich übernahm. Die Mutter des Regenten, Liselotte von der Pfalz, deren gesunder Men schenverstand aus ihren offenherzigen Briefen sprach, nahm auch in der Beurteilung ihres ritterlich tapferen und geistreichen Sohnes kein Blatt vor den Mund. Sie erzählte, eine boshafte Fee habe ihrem Philipp ›la facilite‹ in die Wiege gelegt, ›das seichte Blut‹, das alle seine großen Begabungen wertlos machte. Als der Vater des Regenten den Polizei meister des Stadtteils, in dem das von seinem hoffnungsvollen Sohn bewohnte Palais Royal gelegen war, fragte, wie viele Freudenhäuser unter seiner Aufsicht stünden, erwiderte der Polizeimeister unehrer 422
bietig: »Viele, denn der Stadtteil ist groß. Es gibt wenigstens zweiund dreißig Freudenhäuser, wenn man das Palais Royal nur für eines rech net.« Während der Regentschaft Philipps von Orleans und der Herr schaft des vielliebenden Königs Ludwig XV. vermehrte sich die Zahl der französischen Freudenhäuser ins Ungemessene – besonders wenn man auch Versailles, den Louvre und die anderen königlichen Paläste und Schlösser hinzurechnete. Die Vergnügungssucht seiner Verwandten und Höflinge, die Ludwig XIV. in seinen letzten Lebensjahren gezügelt hatte, brach nach seinem Tod ungehemmt aus. Der Staatsschatz war durch die endlosen Kriege und die unendlich kostspielige Hofhaltung erschöpft. Aber die Prin zen, Herzöge und Grafen blieben dabei, sich nicht im geringsten um die Verwaltung ihrer Güter und Ämter zu kümmern. Sie ergaben sich mit dem gleichen Eifer, mit dem sie an der ›cour‹, dem königlichen Hof, gedient hatten, dem Dienst der Kurtisanen, die, jede für sich und jede von vielen ausgehalten, ihren eigenen Hof hielten. Das Beispiel Ludwigs XIV. der sich nur in der Gesellschaft seiner Geliebten zer streut hatte, war zu seinen Lebzeiten von den großen Herren Frank reichs im geheimen nachgeahmt worden. Jetzt brauchten sie sich nicht mehr zu verstecken. Es gehörte zum guten Ton, neben dem würdigen ehelichen Hausstand die Bequemlichkeit einer Haushaltung zu genie ßen, die für die Geliebte prächtig ausgestattet wurde. Dieser Brauch wurde unter der Regentschaft Philipps von Orleans allgemein und von den ausländischen fürstlichen Nachahmern der französischen Lebens formen ebenso übernommen wie die französische Sprache und Mode. Die sprichwörtlich gewordene Pariser Leichtlebigkeit überlebte auch die wirtschaftliche Verwirrung, die durch die waghalsigen Maßnah men eines Finanzmannes hervorgerufen wurde, dessen Kenntnis se der Regent ebenso benützen wollte, wie sich Ludwig XIV. der Er fahrungen Colberts bedient hatte. John Law, ein schottischer Bankier, konnte Philipp von Orleans zwar kein neues Merkantilsystem bie ten, um den verarmten französischen Schatz wiederaufzufüllen, aber er bot ihm eine weitaus gefälligere, einfachere und raschere Art an, 423
das nötige Geld heranzuschaffen. Die Ausführungen John Laws wa ren einleuchtend. Warum sollten nur Gold und Silber als Währung dienen? In den großen Handelsplätzen der Erde wurden die geliefer ten Waren nicht immer mit barem Geld bezahlt, sondern mit Wech seln, die eine Anweisung auf bares Geld waren. Diese Papiere, die die Unterschrift der Kaufherren trugen und deren Einlösung für unbe dingt sicher galt, hatten den vollen Wert der Münzen, die sie urkund lich vertraten. Wenn Frankreich diese kaufmännische Gepflogenheit auf den täglichen Gebrauch übertrug, würde es Geld in Hülle und Fül le haben – Papiergeld zwar, aber wenn diese Münzscheine durch Un terpfänder, wie Grund und Boden, sichergestellt wären, würde das Pa piergeld beständiger sein als Metallgeld, dessen Gewicht verändert werden könne. John Law machte dem Regenten die Vorteile des Papiergeldes gegen über dem geprägten so mundgerecht, daß Philipp von Orleans dem Schotten die Vollmacht gab, eine Generalbank zu gründen, die erst ›Aktien‹ genannte Teilhaberscheine und dann Papiergeld ausgab. Bald wurden alle öffentlichen Kassen angewiesen, das Papiergeld der Bank auch bei der Entrichtung von Steuern in Zahlung zu nehmen. Die Ge neralbank wirkte wie ein wahrer Wohltäter. Sie zahlte Wechsel vor der Verfallszeit aus, sie eröffnete laufende Rechnungen für die Kaufleute und erklärte sich jederzeit bereit, auch in klingenden Banktalern von bestimmtem Silbergehalt Zahlung für Papiergeld zu leisten. Der Um satz war so groß, daß, wer Aktien der Generalbank erworben hatte, für reich galt. Aber für noch reicher galten die Käufer der Aktien der un ter dem Namen ›Westkompanie‹ gegründeten Gesellschaft John Laws, die das Eigentum der französischen Kolonie Louisiana am Mississippi und den Alleinhandel dieses ›märchenhaften Goldlandes‹ mit Frank reich unternehmen sollte. Als die ›Westkompanie‹ überdies die Tabak pacht erhielt, schnellte der Preis der Aktien in die Höhe, und noch viel mehr, als die Generalbank zur Königlichen Bank erhoben wurde, mit der amtlichen Begründung, daß ›der Umlauf der Bankbilletts den Un tertanen Seiner Majestät nützlicher ist als der von Gold- und Silber münzen‹. 424
John Law baute die ›Westkompanie‹ aus und nannte sie ›Kompanie beider Indien‹. Die alten Aktien und die neuen, die er ausgab, stiegen noch höher, als die Kompanie dem Staat das Recht der Münzprägung abkaufte. Die Rue Quincompoix in Paris, in der Bankiers, Geldwechs ler und Makler aus aller Herren Länder ihre Geschäftsstuben hatten, wurde zur offenen Börse. Tausende und aber Tausende von Franzosen und Fremden drängten sich in der engen Bankgasse darum, ihr Gold und Silber gegen Aktien einzutauschen, die von Stunde zu Stunde an Wert gewannen. Kauf und Verkauf wurden schriftlich festgelegt. Der Flickschuster der Rue Quincompoix, der seinen Schemel für die Ge schäftsabwicklung zur Verfügung stellte, wurde ebenso reich wie ein Buckliger, der sein natürliches Schreibpult auf dem Rücken als Unter lage zur Übertragung der Aktien anbot. Paris und ganz Frankreich verfielen in einen Geldtaumel. Die Aktien, die ursprünglich fünfhun dert Livre das Stück gekostet hatten, erreichten einen Marktwert von zwanzigtausend Livre. Waren sie wirklich so viel wert? Würden sie noch höher steigen? Niemand hatte größere Angst um die Beständig keit des wirtschaftlichen Kartenhauses, das er aufgebaut hatte, als John Law selbst. Er erwirkte das Verbot, Metallgeld als Zahlungsmittel zu verwenden, und den Beschluß, daß außer der Königlichen Bank nie mand in Frankreich bares Geld besitzen dürfe. In seinen zeitgenössischen Denkwürdigkeiten beschrieb der Herzog von St. Simon, daß das Papier in Frankreich zu fehlen begann, obwohl alle Mühlen Tag und Nacht arbeiteten. »Man hat Mühe zu glauben, was man gesehen hat, und die Nachwelt wird es als ein Märchen be trachten. Seit die Indische Kompanie das Recht hat, alle Häuser, selbst die königlichen, zu durchsuchen und alle Louisdors und Taler zu be schlagnahmen, muß man, was man hat, zur Bank tragen, aus Furcht, von einem Dienstboten angezeigt zu werden.« Der so gewaltsam zusammengetragene Goldschatz entsprach nur zu einem ganz kleinen Teil dem hinaufgetriebenen Wert des Papiergeldes der Königlichen Bank. Das gegen die Verwendung des Metallgeldes gerichtete Verbot konnte nicht aufrechterhalten werden. Gerade was den Taumel des Reichtums hervorgebracht hatte, die vielfache Über 425
wertung der Aktien, führte zum Krach. Die Königliche Bank mußte sich zahlungsunfähig erklären. Wer sein Vermögen in Aktien oder Pa piergeld angelegt hatte, war zugrunde gerichtet. Tausende von Fami lien wurden bettelarm. Es nützte nichts, daß der flüchtige John Law zum Sündenbock gemacht wurde. Der Haß und die Verzweiflung der geschädigten Bevölkerung richteten sich gegen den Regenten, dessen Versuch, Papiergeld einzuführen, so kläglich mißglückt war. Eine Sturmflut von Papieren ganz anderer Art nahm Rache für die um ihr Vermögen gebrachten Papiergeldbesitzer und Aktienkäufer. Es waren Flugschriften, die außerhalb Frankreichs, in holländischen und auch deutschen Druckereien hergestellt wurden, und die öffentliche Meinung über das Königtum und die herrschenden Kreise aufklären sollten. Diese fliegenden Blätter, die unter dem Titel ›J'ai vu‹ – Ich habe gesehen – die Zustände in Frankreich mit ätzendem Spott aufdeck ten, waren die ersten Vorläufer der ›gründlichsten Revolution‹, die der Herzog von St. Simon in seinen Denkwürdigkeiten als unaufhaltsam ankündigte. II Der erfolgreichste Nachahmer Ludwigs XIV. war Peter der Große. Auch er verkörperte den Staat in seiner Person. Seine unumschränkte Herrschaft entstand allerdings unter anderen Voraussetzungen. Eine stete Entwicklung in Frankreich hatte die Pläne gezeitigt, die Ludwig XIV. hatte ausführen wollen, während Peter der Große in verblüffend kurzer Zeit aufholte, was seine Vorgänger versäumt hatten. Er hatte nur die Länder geerbt, aber keineswegs die Gegebenheiten einer im merhin schon einheitlich geordneten Verwaltung. Er konnte nicht Be stehendes ausbauen, verändern oder verbessern wie Ludwig XIV. er mußte auf den meisten Gebieten von Grund auf beginnen. Zur Neu regelung des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens Rußlands bediente er sich eigenwillig, wenn auch nicht immer treffend, des Be 426
sten aus jedem Land bzw. dessen, was er, aus persönlicher Anschauung oder durch verläßliche Mitteilungen veranlaßt, für das Beste hielt: aus England, zum Beispiel, der Einerbfolge des Adels, die es ihm ermög lichte, die jüngeren Söhne der großen Grundbesitzer dem Dienstadel und dem Heere zuzuführen, das er nach dem Vorbild des Königs in Preußen ausbilden ließ, aus Schweden der fachlichen Amtsgenossen schaften und aus Frankreich der Erzeugungsverfahren der ›Manufak turen‹, in denen er allerdings nicht freie Arbeiter, sondern Leibeigene, ›Fabriksbauern‹, verwendete. Die Leibeigenschaft der auf den russischen Adelsgütern ansässigen, notdürftig lebenden landwirtschaftlichen Arbeiter blieb unverändert. Aber Peter schuf, um breiteren Schichten die Möglichkeit zum Auf stieg zu geben und Nachwuchs für seine wachsende Verwaltung zu ge winnen, eine ›Tabelle‹, die den Rang der Adligen von oben nach un ten abstufte und auch die Bürger erfaßte. Er wollte ein neues Rußland schaffen, nicht nur durch die staatliche Erschließung der natürlichen Reichtümer, die Ausweitung des Handels und die Verbesserung der Verkehrswege, sondern auch durch die staatliche Überwachung der Glaubensbelange. Die griechisch-orthodoxe Kirche, die bis zu seiner Herrschaft von einem Patriarchen geleitet worden war, wurde durch ein im Auftrag Peters verfaßtes neues Kirchengesetz der ›Heiligen Syn ode‹, einer staatlichen Oberaufsicht, unterstellt. An seinem Hof, den er großartig gestalten wollte wie der König von Frankreich, wurde eine westliche Rangordnung eingeführt. Peter per sönlich nannte sich nicht mehr Zar, sondern Kaiser und erhob seine engsten Mitarbeiter und Günstlinge zu Fürsten und Grafen oder gab ihnen den Titel Baron.
Der Kaiser von Rußland suchte auch verwandtschaftliche Beziehun gen zu europäischen Herrscherhäusern. Er verheiratete seine Nich ten und seine Tochter Anna mit deutschen Fürsten. Die Ehen, die er stiftete, standen in engem Zusammenhang mit seiner Politik, in Kur 427
land ebenso wie in Mecklenburg, das er besetzte, als sein Gegenspieler aus der frühen Zeit seiner Herrschaft, Karl XII. der aus der Gefangen schaft des Sultans, seines ehemaligen Verbündeten, ausgebrochen war, zu neuen kriegerischen Unternehmungen ansetzte. Das abenteuerliche Leben Karls XII. fand bei der Belagerung der Fe stung Frederikshall ein Ende. Der Erbprinz von Hessen-Kassel, sein Schwager, wurde machtloser König von Schweden, das durch den Zwiespalt der beiden im Königreich vorwiegenden Einflüsse in feind liche Lager zerrissen war. Die Anhänger Frankreichs trugen Hüte als Kennzeichen, die Anhänger Rußlands Mützen. Beide Parteien konnten nicht verhindern, daß Schweden bedeutende Gebiete abtreten mußte. Preußen erhielt Vorpommern. Verden und Bremen, jedoch ohne die ehemalige Hansestadt, fielen an Hannover, dessen Kurfürst entspre chend der von Wilhelm III. festgelegten Nachfolgeordnung König Ge org I. von England geworden war, obwohl er nicht englisch sprechen konnte und seine Heimat bevorzugte. Der größte Gewinner des Nor dischen Krieges war Peter I. Beinahe alle seine Eroberungen wurden anerkannt. Er war der eigentliche Sieger. Er hatte erreicht, was er er strebt hatte: den Neuaufbau Rußlands, eine mächtige Ostseeflotte, den überwiegenden Einfluß auf seine Nachbarn vom europäischen Norden bis zum Schwarzen Meer. Er hielt mit überlegener Ruhe den Frieden mit dem türkischen Nachbarn, als der Sultan venezianische Besitzun gen angriff und Kaiser Karl VI. am Seekrieg im Mittelmeer teilnahm. Weitreichende Pläne beschäftigten Peter. Sie waren durch seinen un stillbaren Wunsch, mit den westeuropäischen Staaten erfolgreich wett eifern zu können, bestimmt. Er wollte Neuland entdecken, Handel mit fernen Küsten treiben. Um eine nordöstliche Durchfahrt nach China und Indien finden zu können, befaßte er sich eingehend mit der Kar tenkunde. Er war überzeugt, daß ein Wasserweg zwischen Europa und Asien erschlossen werden müsse. Er ließ seiner Einbildungskraft freies Spiel, aber er sorgte unermüdlich dafür, daß das ungeheure Land, das er beherrschte, kartenkundlich aufgezeichnet werde, damit seine Er ben es überblicken könnten. Peter litt zeit seines Lebens an Wechselfieber. Wenn die Krankheit 428
ihn packte, versuchte er, sie durch unmäßiges Trinken zu überwinden. Seine grausamen Scherze während dieser Gelage, bei denen er sich selbst zum ›Saufpapst‹ erhob, ließen seine Umgebung vergessen, daß er ein westlicher Herrscher sein wollte. Wenn er wieder nüchtern war, klagte er sich selbst an. Er war von sich enttäuscht und legte sich Süh ne auf. Die bitterste Enttäuschung erlitt Peter durch seinen Sohn Ale xej, den er mit einer Prinzessin von Braunschweig-Wolfenbüttel, der Schwägerin Kaiser Karls VI. verheiratet hatte. Der willensschwache Thronfolger wurde der Mittelpunkt einer Verschwörung gegen seinen Vater und floh zu seinen angeheirateten Verwandten, erst nach Öster reich und dann nach Neapel. Unterhändler Peters entdeckten das Ver steck und versprachen Alexej Straflosigkeit und Versöhnung mit dem Zaren, wenn er sich reuig unterwerfe. Aber als der russische Kron prinz zurückkehrte, wurde er von Peter dem Großen wegen ›Gesin nungs- und Gedankensünden‹ zum Tode verurteilt. Die Hinrichtung fand nicht statt. Alexej erlag den Folgen der Folter. Nachfolgerin Peters des Großen wurde seine Witwe Katharina I. Nach ihr herrschte weni ge Jahre sein Enkel Peter II. dann seine Nichte Anna unter dem zerset zenden Einfluß hoher russischer Adliger. Die von ihm begonnene Ver einheitlichung des gewaltigen Reiches setzte erst seine jüngere Tochter, Kaiserin Elisabeth, fort. III Während Peter der Große und seine Nachfolger, vom Zeitgeist beein flußt, es unternahmen, Rußland in geschlossener Staatseinheit zusam menzufassen, blieben die Länder des Hauses Österreich in ihrer in neren Form unverändert. Der Ratschlag Prinz Eugens an Kaiser Karl VI.: »Es ist soviel als möglich ein Totum aus Eurer Majestät weitläufi ger und herrlicher Monarchie zu machen« verhallte ungehört. Es gab keine einheitliche Verfassung, kein gemeinsames Recht, keine gleich mäßige Verwaltung. Die habsburgischen Erbländer, die österreichi 429
schen Niederlande, die italienischen Neuerwerbungen, Böhmen, Mäh ren und Schlesien, Ungarn mit seinen Nebenländern – jede Landes gruppe hatte ihre eigene Rechtspflege, Polizei und Wehrpflicht, ja so gar eigene Zölle. Die Stände in jedem Land behielten, je nach der je weiligen Verfassung, einen mitwirkenden Einfluß in der Gesetzge bung und Verwaltung. Der Adel und die Geistlichkeit genossen Vor rechte, Bürger und Bauern blieben die ›untertänige Masse‹. Nur in der Heeresverwaltung erwirkte Prinz Eugen Maßnahmen gegen das ›spa nische Ideal‹ des Kaisers, alles beim alten zu lassen. Die Donquichotte rie Karls VI. seine Liebe für Spanien hatten so tiefe Wurzeln geschla gen, daß er während seiner von politischen Widersprüchen erfüllten Herrschaft, wenn auch nur vorübergehend, ein Bündnis mit seinem ›Erb‹feind Philipp V. schloß und ihm helfen wollte, Gibraltar für Spa nien wiederzugewinnen. Das einzige glorreiche Ereignis seiner Herrschaft verdankte Karl VI. einem Feldzug Prinz Eugens, der Seiner Majestät die Bewilligung, Krieg zu führen, nur mühsam abgerungen hatte. Der Kaiser war nicht dafür, daß seine Heere der von den Türken angegriffenen Republik Venedig zu Hilfe kommen sollten. Es war ihm an einer Schwächung Venedigs gelegen, denn er hatte im Hafen von Triest eine Handelsge sellschaft errichtet, die als Konkurrent der Dogenstadt die Ein- und Ausfuhr nach dem Nahen Osten betreiben sollte. Das war ein kurz sichtiger Plan, denn wenn die Kriegsflotte des Sultans Venedig besieg te, würden die Landheere der Türken Ungarn wieder überfallen. Um dieser Möglichkeit ein für allemal vorzubeugen, wollte Prinz Eugen die Herrschaft Österreichs bis ans Schwarze Meer ausdehnen. Die Erfolge gaben ihm recht. Er besiegte die Türken vernichtend bei Peterwardein und bei Belgrad. Aber als er seine Eroberungen im Osten festigen wollte, erhielt er den Befehl Karls VI. Frieden zu schließen, mit der Begründung, der Kaiser brauche seine Heere im Westen. Die ruhmreiche Eroberung Belgrads durch Prinz Eugen wäre nicht als die unvergeßliche Tat eines kaiserlichen Feldherrn gekennzeichnet worden, wenn nicht ein unbekannter Komponist und Dichter ein Lied darüber geschrieben und in Ton gesetzt hätte: »Prinz Eugen, der edle 430
Ritter …« sang man in Wien, aber die Volkstümlichkeit des gewon nenen Krieges gegen die Türken bedeutete Karl VI. nichts. Er woll te über alle seine Truppen verfügen, um eine in geheimer Ratssitzung entworfene Urkunde zu verteidigen, die ›die Pragmatische Sanktion‹ genannt wurde. Dieses habsburgische Hausgesetz, das weltgeschicht liche Bedeutung haben sollte, legte die unteilbare Einheit der Länder des Hauses Österreich und ihre Vererbung im Mannesstamm fest. Für den Fall, daß männliche Nachkommen Karls VI. nicht vorhanden wä ren, sollte das Erbrecht zuerst auf seine Töchter übergehen, und wenn ihm keine Töchter geboren werden sollten oder wenn die ihm gebore nen Töchter vor ihm starben, sollte es auf die Töchter Josefs I. und de ren Abkömmlinge nach dem Recht der Erstgeburt übergehen.
Karl VI. wurde im Jahre 1716 ein Erbe geboren. Er wurde auf den Na men Leopold getauft und starb kurz danach. Ein Jahr später kam Ma ria Theresia zur Welt. Ihr wollte der Kaiser die ungeteilte Erbschaft des Hauses Österreich hinterlassen. Die österreichischen Stände und der ungarische Reichstag bestätigten die Pragmatische Sanktion. Karl wollte sie durch Verträge mit allen Mächten der Erde sichern. Dieser Wunsch des Kaisers bestimmte seine Politik bis an sein Le bensende. Kein Opfer war ihm zu groß, wenn er dadurch die Aner kennung der Pragmatischen Sanktion gewinnen konnte. England zum Beispiel opferte er die Weiterführung der Handelskompanie von Ostende, die er in den österreichischen Niederlanden errichtet hatte, um nach dem Vorbild von Holland und England ›mit eigenen Schiffen die See zu befahren, die Koloniewaren selbst heimzubringen und da gegen die eigenen Natur- und Industrieprodukte vorteilhaft abzuset zen‹. Dieses Zugeständnis erschien Karl VI. besonders wichtig, da Ge org II. der seinem Vater nachgefolgt war, seine Bürgschaft für die Prag matische Sanktion nicht nur als König von England, sondern auch als Kurfürst von Hannover gab. Die einzige Bedingung, die von den Mi nistern Georgs II. gestellt wurde, war, daß Maria Theresia als die vor 431
aussichtliche Erbin aller Länder des Hauses Österreich weder mit ei nem bourbonischen Prinzen noch mit einem Prinzen aus einem an deren Königshaus vermählt werden dürfe, dessen Macht dem europä ischen Gleichgewicht gefährlich werden könnte. Diese Einschränkung richtete sich gegen die von Karl VI. ins Auge gefaßte Verehelichung Maria Theresias mit dem spanischen Infanten Don Carlos, dem Sohn Philipps V. und gegen ihre mögliche Ehe mit dem Kronprinzen Friedrich von Preußen, dessen Vater, Friedrich Wil helm I. sein kleines Königreich zu einem vollkommenen Militärstaat auszubauen begonnen hatte. Der aussichtsreichste Bewerber um Maria Theresia war Prinz Franz Stefan von Lothringen, der Enkel des Herzogs von Lothringen, der die Schlacht von Wien gegen die Türken gewonnen hatte. Franz war al len Mächten, mit Ausnahme Frankreichs, genehm und hatte das Herz Maria Theresias erobert. Dennoch wagte Karl VI. nicht, die beiden zu verheiraten. Prinz Eugen riet ihm, die ungestörte Erbfolge Maria The resias durch einen gefüllten Schatz und ein gerüstetes Heer zu gewähr leisten. Dann brauche er sich nicht um die Versprechungen der ein zelnen Mächte zu bemühen, die ohnedies niemand halten würde. Der Kaiser nahm den Rat übel. Die Befolgung hätte ihn auch um die Span nung gebracht, der er sich krankhaft ergab. Er wollte unter allen Um ständen die Bürgschaft Frankreichs, das nach dem Ableben des Regen ten, Philipps von Orleans, von Kardinal Fleury, dem Minister des jun gen Königs Ludwig XV. mühselig geleitet wurde. Auch die Bürgschaft Sachsens war noch nicht in Wien eingetroffen. Nach dem Tod Augusts II. der wieder König von Polen geworden war, wünschte Ludwig XV. der die Tochter Stanislaus Lesczinskis, des ehemaligen Königs von Po len, geheiratet hatte, die neuerliche Erhebung seines Schwiegervaters. Aber August III. von Sachsen versprach dem Kaiser die Anerkennung der Pragmatischen Sanktion nur, wenn ihm Karl VI. zur polnischen Krone verhelfe. Rußland, jetzt unter der Herrschaft der Zarin Anna Iwanowna, der Nichte Peters des Großen, trat dem eilig mit August III. geschlossenen Vertrag bei, während die Könige von Frankreich, Spani en und Sardinien für Stanislaus Lesczinski zu den Waffen griffen. 432
In den drei Jahren des sogenannten ›Polnischen Erbfolgekriegs‹ verlor Karl VI. Neapel und Sizilien an die spanische Linie des Hauses Bour bon, das sich verpflichten mußte, das neuerworbene Königreich nicht mit der Krone Spaniens zu vereinigen, und bekam als ärmlichen Er satz die Herzogtümer Parma und Piacenza, die nach dem Aussterben des Herzogsgeschlechts der Farnese durch Erbschaft an Spanien ge kommen waren. Karl VI. war doch nicht unzufrieden mit dem Ausgang des Krie ges, denn Stanislaus Lesczinski verzichtete im Frieden zu Wien auf Po len – zugunsten des Kurfürsten August III. von Sachsen, der die Prag matische Sanktion anerkannte. Stanislaus erhielt dafür das Herzog tum Lothringen, das Franz Stefan, der Maria Theresia inzwischen ge heiratet hatte, gegen das Großherzogtum Toskana austauschen muß te. Als Gegenleistung für die Bestimmung, daß Lothringen nach dem Tod Lesczinskis an Frankreich fallen würde, bestätigte auch Ludwig XV. die Pragmatische Sanktion. Es schmerzte Karl VI. nicht sehr, daß er das mühsam erkämpfte Bel grad, Serbien und die Kleine Walachei wieder an die Türken verlor. Er hatte nicht damit gerechnet, die Eroberungen behalten zu können, da Prinz Eugen, die ›Seele seiner Heere‹, nicht mehr lebte. Unbeküm mert um alle Mißerfolge hatte der Kaiser das Gefühl, sein Lebensziel erreicht zu haben: die Pragmatische Sanktion. Er war überzeugt, daß Maria Theresia nun die ungeteilten Länder des Hauses Österreich un gestört beherrschen würde. Man durfte in Anwesenheit Karls VI. nicht erwähnen, daß das Haus Habsburg mit ihm aussterben werde. Das wollte er nicht wahrhaben. Ein hochbezahlter Geschlechterforscher stellte in seinem Auftrag fest, daß das Haus Habsburg mit dem Haus Lothringen im elften Jahrhun dert nicht nur verbündet, sondern sogar verwandt gewesen war und ihm daher gleichzusetzen sei. Karl VI. wünschte, daß seine Enkel und Urenkel sich als Habsburger fühlten, damit der Name weiterlebe und er selbst nicht der letzte Habsburger gewesen sei.
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Die Erben I Das gefällige Aussehen Ludwigs XV. seine geschmackvolle Tracht und sein liebenswürdiges Auftreten machten ihn zum bewunderten Vor bild der Mode und Sitten. Er selbst und seine Höflinge glaubten, daß die glanzvolle Zeit seines Urgroßvaters noch prächtiger wiedergekehrt sei. Ein Fest folgte dem andern. Der König von Frankreich beehrte eine Dame nach der andern mit seiner freigebigen Gunst. Wie sein be deutender Vorgänger verlieh auch er der bevorzugten Geliebten seines Herzens einen hohen Adelstitel und beschenkte sie nicht nur mit Land gütern und Schlössern, sondern gab ihr auch Ansehen und Macht. Die Marquise von Pompadour, die eine wahrhaft königliche Stellung bei Hof einnahm, bemühte sich, günstig auf ihren Ludwig zu wirken. Sie wurde seine geschickte Vermittlerin in schwierigen Lagen. Sie erwarb sich das Vertrauen seiner politischen Gegner und versuchte auch, Maß in die besinnungslosen Ausgaben des Königs zu bringen. Im Gegen satz zu ihrem Liebhaber hatte sie Angst vor der Zukunft. Die Sorge der Marquise von Pompadour, die in ihrer liebreizenden Person die galante, heitere Lebensart des Rokokos verkörperte, war nur allzu begründet. Das Königtum ihres Liebhabers glich nur in der äußeren Form der glorreichen Vergangenheit: Ludwig XV. war nicht der Staat. Ihm fehlten dazu die innere Haltung, die Fähigkeit, die Fe stigkeit und der Wille Ludwigs XIV. das Heer und die Verwaltung ein heitlich zu lenken. Die höfischen Verkleidungen im Schäferspiel wa ren Ludwig XV. wichtiger als Uniformen, zartes Porzellan und zierli ches Silber galten ihm mehr als die Bewaffnung der Truppen. Er zog 434
geistreiche Gespräche über Nichtigkeiten den langweiligen Auseinan dersetzungen seiner Minister vor. Die Folgen seiner Oberflächlichkeit zeigten sich bald. Um die köstliche Fassade der verschwenderischen Lebensführung Ludwigs XV. aufrechterhalten zu können, wurden die Steuern erhöht. Das von Colbert abgeschaffte Unwesen der Steuer pächter und der Verkauf von Ämtern und Würden wurden zu einem so blühenden Geschäft, daß neue Steuern, Stellen und Titel erfunden wurden, um den immer wachsenden Geldbedarf des Hofes zu dek ken. Wenn ehrliche Ratgeber den König vor den Folgen seiner Hem mungslosigkeit warnten, erwiderte er mit gleichgültigem Achselzuk ken: ›Apres moi le déluge‹ – Nach mir die Sintflut! Er war überzeugt, daß der Reichtum und die Macht Frankreichs sich nicht vor seinem Lebensende erschöpfen würden. Für das, was später kam, sollten sei ne Nachfolger sorgen! Die Sintflut, die Ludwig XV. mit unerschütterlichem Gleichmut als unausbleiblich voraussah, kündigte sich schon nach seiner Großjäh rigkeitserklärung an. Aber der König blieb bis in sein Alter dabei, die drohenden Anzeichen nicht zur Kenntnis zu nehmen. Er befahl seinen Würdenträgern und der Polizei, unmittelbare Gefahren abzuwehren. Staatsgeschäfte störten sein Vergnügen. Sie belästigten ihn. Er haßte alle Urkunden und Papiere, die ihm vorgelegt wurden und die er un terschreiben mußte, aber er haßte sie bei weitem nicht so sehr wie die Bücher und Flugschriften, die während seiner Herrschaft veröffent licht wurden. Obwohl er sie nicht las, konnte sich Ludwig XV. doch nicht des peinlichen Gefühls erwehren, daß sie den Thron Frankreichs unterwühlten und sich noch zu seinen Lebzeiten auswirken könnten. Die einzigen Unstimmigkeiten, die seine innige Beziehung zur Mar quise von Pompadour trübten, waren durch ihr Bedürfnis hervorge rufen, sich über Moral, Recht, Tugend und Gott, wenn auch nur plau dernd, zu unterhalten. Sie zog es schließlich vor, ihm ihre geistigen Be strebungen zu verheimlichen, so wie er ihr seine ausschweifenden Lie besabenteuer verschwieg.
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Nach der Flucht John Laws und dem Bankrott der Königlichen Bank ging ein in Amsterdam gedrucktes französisches Buch in Paris von Hand zu Hand: ›Die Persischen Briefe‹. Als Reiseberichte zweier Perser getarnt, schilderten sie in schonungsloser Offenheit das französische Königtum, die gesellschaftlichen Zustände und die Kirche in Frank reich. Die geschickte, treffsichere Darstellung der ›Persischen Briefe‹ kam der allgemeinen Stimmung entgegen. Die Freigeister freuten sich des angriffslustigen Witzes, mit dem die angeblichen muselmanischen Briefschreiber den ›Aberglauben der Christen‹ verspotteten. Durch die willkürliche Hugenottenverfolgung Ludwigs XIV. hatte die Gläubigkeit vieler Katholiken in Frankreich gelitten. Sie waren ›Deisten‹ geworden, die nicht an den geoffenbarten Gott der Heiligen Schrift glaubten, son dern sich den herrn als Quelle alles Guten vorstellten, als den Schöp fer, den der Mensch vermöge seiner Vernunft im Wirken des Weltalls erkennen könne. Unzufriedene aus allen Schichten der Bevölkerung waren gegen die unumschränkte Königsgewalt, die das Land in nutz lose Kriege verstrickt und an den Rand des Zusammenbruchs gebracht hatte. Eine schleichende Empörung wandte sich gegen die Günstlings wirtschaft bei Hof und die ›fluchwürdige Verschwörung zum Reichwerden nicht durch ehrbare Arbeit und Fleiß, sondern durch Schädi gung der Mitbürger‹. Die sich auf nachweisbare Tatsachen stützende Bloßlegung und Ver höhnung der bestehenden Gesellschaftsordnung machte einen um so nachhaltigeren Eindruck, als die Leser der ›Persischen Briefe‹ erfuh ren, daß der Verfasser keineswegs ein hergelaufener ›Emporkömm ling des Geistes‹ war, sondern ein hochgeborener Adliger und Präsi dent des Parlaments von Bordeaux: der Baron von Montesquieu. Die ›Persischen Briefe‹ wurden ernster genommen als die fliegenden Blät ter ›J'ai vu‹. Was Montesquieu geschrieben hatte, konnte nachgeprüft werden. Sein Buch fand weite Verbreitung. Aber noch bekannter wur den die Schriften Francois Marie Arouets, der sich Voltaire nannte und sich schon durch seine Theaterstücke einen Namen gemacht hatte. Sei ne scharfe Zunge war gefürchtet. Als er in Gesellschaft ersucht worden war, eine Räubergeschichte zu erzählen, begann er mit den Worten: 436
»Es waren einmal drei Bankiers …«, und hielt inne. Die großen Herren nahmen Voltaire übel, daß er, der Bürgerliche, sie als seinesgleichen behandelte. Er wurde verprügelt, eingesperrt und wieder verprügelt. Als er bei den Behörden Klage führte, bekam er zur Antwort: »Herr Arouet, Sie sind ein Dichter und haben Stockprügel bekommen. Das ist in der Ordnung.« Voltaire wollte sich mit dem Edelmann, der ihn hatte prügeln lassen, duellieren, aber die Forderung wurde als unver schämte Zumutung zurückgewiesen. Er wurde wieder verhaftet und nur unter der Bedingung auf freien Fuß gesetzt, daß er sich sofort nach England begebe. In London schrieb Voltaire die ›Philisophischen Brie fe‹, die in verschiedenen Ausgaben auch als ›Briefe über die Engländer‹ betitelt waren. Ihr Erscheinen beeinflußte die öffentliche Meinung in Frankreich so entscheidend, daß ein hoher Funktionär ausrief: »Die sen Voltaire sollte man in einen Käfig sperren, wo er weder Feder noch Tinte noch Papier fände.« Sowohl Montesquieu als auch Voltaire waren Kämpfer der Vernunft gegen die überkommenen verrotteten Zustände Frankreichs. Beide be dienten sich der politischen Verhältnisse in England zum vorbildlichen Vergleich und nahmen durch ihre volkstümlich gewordenen Ausle gungen der englischen Verfassung wesentlichen Einfluß auf die Ent wicklung des europäischen Geistes. Sie gaben der Auffassung Geltung, daß die Trennung der Staatsgewalt in die gesetzgebende und die aus übende die Bürgschaft für die staatsbürgerliche Freiheit sei. Sie forder ten Achtung der Menschenwürde, Gedankenfreiheit und Förderung der Wohlfahrt. Das Aufsehen, das die in Inhalt und Form hervorragenden Wer ke Montesquieus und Voltaires erregten, war so überwältigend, daß schon die Zeitgenossen die anderen gleichgesinnten Veröffentlichun gen nur wenig beachteten, die an allen Orten Frankreichs von unbe kannten, ungenannten Verfassern geschrieben und oft unter unsäg lichen Gefahren gedruckt und verteilt wurden. Diese frühen franzö sischen Zeitungen enthielten verbürgte und auch unverbürgte Nach richten aus aller Welt, Angriffe und Verteidigungen gegen örtliche Mißbräuche und die Überheblichkeit der Behörden. Sie riefen die Mit 437
bürger zum tätlichen und geistigen Widerstand gegen die unwürdigen Vertreter der Verwaltung und gegen das Königtum auf. Hin und wie der wurde der eine oder der andere dieser mutigen Schriftsteller und Tagesschreiber verhaftet und verschwand, ohne gehört zu werden und ohne Urteil, für immer in den königlichen Verliesen. Das berüchtig ste Gefängnis war die Bastille. Voltaire war in der Bastille gewesen. Er hatte sie nicht vergessen: Sie war das Sinnbild der unumschränkten Königsgewalt. Der wegen der ihm zugefügten Mißhandlungen Unversöhnliche be schäftigte sich in seinen Briefen nicht nur mit der französischen Poli tik. Er nahm auch Stellung zur Philosophie und zu zeitgenössischen Fragen. Ganz besonderes Augenmerk schenkte er in einer seiner frü hen Arbeiten dem Quäker William Penn, der ›das goldene Zeitalter‹ in dem nach ihm benannten waldreichen Landstrich in Amerika begrün det hatte und der Gesetzgeber Pennsylvaniens war. Die menschliche Haltung der ›Gesellschaft der Freunde‹, wie sich die Quäker nannten, beeindruckte Voltaire. Er rühmte besonders das erste Gesetz Penns, das gebot, ›niemand um des Glaubens willen zu mißhandeln und alle als Brüder zu betrachten, die an Gott glauben‹.
Die Quäker waren nur eine von vielen Glaubensgruppen, der die vier hunderttausend englischen Siedler in Nordamerika angehörten. So verschieden aber auch die Bekenntnisse dieser wegbereitenden Män ner und Frauen sein mochten, es kam unter ihnen nur selten zu offe nem Kampf um des Glaubens willen. Die einzelnen Gemeinden son derten sich zwar gesellschaftlich voneinander ab, aber waren doch alle durch das gleiche Ziel vereint, die weiten Landstriche Amerikas trotz aller Hindernisse urbar zu machen. Sie hatten Städte gegründet und ihre Pflanzungen und Anwesen immer weiter nach dem Westen aus gedehnt. In der Wildnis hatten sie eine neue Heimat geschaffen, die sie nach ihrer Art verwalteten: als gleichberechtigte Bürger, als freie Men schen. 438
In den meisten Gebieten widmeten die Siedler dem Schulwesen eine besondere Pflege. Die Grundsätze der Erziehung, die in einem neu englischen Gesetz als eine der ersten Pflichten des Staates bezeichnet wurde, waren der freien Lebensführung der Bahnbrecher im neuen Erdteil angepaßt. Die nordamerikanischen Siedler waren auf ihre eige ne Tüchtigkeit und Tapferkeit angewiesen, um sich zu behaupten, oft Hunderte und aber Hunderte von Kilometern von der nächsten Ob rigkeit entfernt. Sie mußten eine neue Welt gestalten und konnten das nur, wie sie erklärten, ›in bürgerlicher und sittlicher Freiheit, die ihre Kraft in der Eintracht findet‹. Sie hatten von den Indianern, die sie be kämpften, gelernt, im Kreis um das friedliche Feuer zu sitzen, zu be raten und die Mehrheit entscheiden zu lassen, welche Handlung unter den jeweiligen Umständen die gegebene sei. Die meisten englischen Siedler waren Puritaner oder Presbyterianer, die nach strengen Geset zen gottgefällig lebten und dem Rat der Ältesten folgten, die die Frei heit predigten, ›die Freiheit, ohne Furcht alles zu tun, was recht ist und gut‹. Weder der König von England noch seine Minister aus der Partei der Whigs unter der Leitung Horace Walpoles machten sich Gedanken über die ›geheiligte Freiheit‹, die in den Kolonien verkündet wurde. Im Parlament wurde der Handel mit den amerikanischen Siedlern erör tert, nicht ihre politische Gesinnung. Der wirtschaftliche Aufschwung der Länder jenseits des Ozeans war durchaus zufriedenstellend. Ihre Erzeugnisse fanden Absatz. Die Erwerbung neuer Kolonien machte die Vergrößerung der englischen Handelsflotte notwendig. Daß sich die neuerbauten Werften in Übersee den amerikanischen Holzreich tum zunutze machten und die Schiffe gleichzeitig mit den Frachten nach England lieferten, waren dem ›erobernden Handelsvolk‹, das, wie Voltaire schrieb, »auf eine neue Art von Weltherrschaft ausging«, wich tiger als alles andere. Mit den Waren der amerikanischen Manufaktu ren, die sich allerdings nur so weit entwickelten, als es die englische Obrigkeit erlaubte, konnten auch ausländische Märkte beliefert wer den. Der gesamte Warenumsatz Englands nahm zu, darum ging es. Die Londoner Kaufleute hatten die Versuche ihrer französischen 439
Konkurrenten, auf amerikanischem Boden ebenso Fuß zu fassen wie sie, mit geringschätziger Mißgunst beobachtet. Sie hatten das miß glückte Mississippi-Unternehmen John Laws mit um so größerer Ge nugtuung verfolgt, als die durch die Aktien der Indischen Kompanie John Laws erlittene Verluste die amerikanischen Kolonien bei der Be völkerung Frankreichs in Verruf gebracht und die französische Un ternehmungslust und Auswanderung abgeschreckt hatten. Die neuer lichen Aufmunterungen der Behörden halfen kaum. Die Aussicht auf Landbesitz lockte nur die Siedler, die das Land schon kannten. Von den dreißigtausend Franzosen, die sich in Kanada um Quebec und Montreal niedergelassen hatten, waren etwa dreitausend entlang des Ohio-Flusses nach dem Süden gezogen und hatten die Städte St. Louis und Neu-Orleans gegründet. Sie versuchten, ihre Pflanzungen auszu breiten, stießen aber auf den Widerstand der aus den englischen Kolo nien weiter nach dem Westen vordringenden Pflanzer und Pioniere. Der unausgesetzte Grenzkrieg zwischen den französischen und eng lischen Siedlern wurde in London nicht ernst genommen, auch wenn Paris gegen englische Übergriffe auf amerikanischem Boden Ein spruch erhob. Man erwartete in England, daß die Kämpfe um die Wildnis nicht an Ort und Stelle entschieden werden würden. Das hat te man schon vorher erfahren, als Neufundland, Neuschottland und die Hudson-Bay-Länder mit ihren Küsten im Utrechter Frieden von Frankreich an England abgetreten worden waren. Anders war die Lage in Afrika, wo die Franzosen Niederlassungen am Senegal und an der Südspitze Madagaskars errichtet hatten, und im Fernen Osten, wo sie sich in Pondichery und Chandanagore nörd lich Kalkuttas festgesetzt und indische Fürsten unterworfen hatten. Dort beherrschten sie dreißig Millionen Eingeborene auf einem rie sigen Gebiet, gegen das die englischen Stützpunkte Bombay, Madras und Kalkutta geringfügig erschienen. Aber die Ostindische Kompanie ließ sich durch die französische Überlegenheit nicht einschüchtern. Sie war der Unterstützung Londons gewiß. Sie eröffnete den Zwischen handel mit China und bereitete einen Angriff auf die französischen Kolonien in Indien vor. 440
Der Widerstand Spaniens gegen das Eindringen des englischen Han dels in seine südamerikanischen Besitzungen verschärfte den franzö sisch-englischen Zwiespalt in Übersee. Frankreich trat auf die Seite Spaniens. Die Feindseligkeiten, die nach einer Kriegserklärung Eng lands an Spanien in fernen Landen jenseits der Ozeane ausbrachen, drohten sich jeden Augenblick auf den europäischen Raum zu über tragen, um so mehr, als Frankreich eine Flotte zur Unterstützung Spa niens ausfahren ließ. Der Krieg in Übersee hatte begonnen. Er war un vermeidbar in Europa. Aber wo würde der Kriegsschauplatz sein? II Der erste deutsche Fürst, der die Pragmatische Sanktion anerkannt hatte, war Friedrich Wilhelm I. gewesen. Der König in Preußen hatte die feierlich bemalte Urkunde nicht aus Zuneigung für Kaiser Karl VI. unterschrieben. Ihm war der Bestand des Hauses Österreich wichti ger erschienen als eine mögliche Vergrößerung Bayerns, Sachsens oder gar Hannovers auf Kosten des Hauses Österreich. Friedrich Wilhelm I. war von der Angst geplagt, daß sein naher Verwandter, der Kur fürst von Hannover, der schon König von England geworden war, auch noch Kaiser werden könnte. Er bekannte in einer eigenhändigen Auf zeichnung: »Da lasse ich mir lieber Glied für Glied abhauen, als einen englischen Chef zu haben.« Seit der Erhebung des hannoveranischen Vetters auf den englischen Thron fühlte sich Friedrich Wilhelm I. übergangen, hintergangen, ver letzt, auch wenn ihn niemand überging, hinterging oder verletzte. »Af front leide ich nicht!« schrie er bei jeder Gelegenheit und sah sich vor, daß ihn niemand ungestraft kränken könne. Als Erbe eines verhält nismäßig armen Landes mit nur zweieinhalb Millionen Untertanen war er sich im klaren, daß sein Hof weder mit dem französischen noch mit dem kaiserlichen oder mit dem englischen Hof wetteifern kön ne. Seine Folgerung war: Schluß mit dem Luxus. Preußen sollte kei 441
nen wie immer gearteten höfischen Aufwand treiben. Er veranstalte te einen gründlichen Kehraus: Alles Silbergerät in die Münze! Reitund Wagenpferde ausgetauscht gegen rechtschaffene Kavalleriepferde! Künstler und Luxushandwerker über die Grenze gewiesen! Ein preu ßischer König brauchte keine Feste, keine Musik, keine Schauspieler, keine hochbezahlten Hofangestellten! Er mußte sein eigener Minister, sein eigener Feldmarschall sein: »Das wird den König in Preußen er halten!« Der kaiserliche Gesandte am Berliner Hof, Graf Seckendorf, berich tete über die ›plebejische Geschäftigkeit‹ Friedrich Wilhelms I. nach Wien: »Alles, was er will, das führt er auch durch … Wer es nicht sieht, kann es nicht glauben, daß ein Mensch in der Welt, von was Verstand er auch ist, so viel differente Sachen an einem Tag expedieren und selbst tun könnte, wie dieser König täglich tut.« Aber Friedrich Wilhelm verdammte nicht nur sich allein zu rastlo ser Tätigkeit. Auf allen seinen Erlassen stand: »Cito – cito!« – Schnell, schnell! Und wenn es nicht so schnell ging, wie er wünschte, schrie er: »Cito, dixi! Cito!«, und vertauschte den Federstiel mit dem Stock. »Man muß dem herrn mit Leib und Leben, mit Hab und Gut die nen. Die Seligkeit ist für Gott, aber alles andere muß mein sein.« We der Rang noch Titel schützten vor einer persönlichen Züchtigung des Königs in Preußen. Er erneuerte die Verwaltung, die Finanz, die Justiz seiner Länder gründlich, gewalttätig und ›cito!‹ Sein Leitgedanke war: »Preußen muß unabhängig sein. Die Armee muß ihren Montierungs bedarf aus den heimischen Manufakturen entnehmen können.« Das ganze Königreich lebte und arbeitete für seine Armee. Trotz der gerin gen Bevölkerungszahl glaubte Friedrich Wilhelm, daß er bald über die stärkste Armee Europas verfügen würde, denn er hatte sich zurecht gelegt, daß ein richtig ausgebildeter Soldat drei oder vier weniger gut ausgebildete Soldaten aufwiege. Der König in Preußen hatte einen Freund, den Fürsten Leopold von Dessau. Friedrich Wilhelm und der Fürst unterhielten jeder ein ›Mo dellregiment‹, gewissermaßen eine Versuchsanstalt zur Feststellung der körperlichen Leistungsfähigkeit von Menschen. Die Exerzierplät 442
ze von Potsdam und Halle waren Probestellen für alle militärischen Fortschritte. Hier wie dort wurden der preußische Gleichschritt und Geschwindfeuer geübt, so als wären Hände und Füße der Soldaten Be standteile einer Maschine. Nach dem Maßstab der Mannschaften in Halle und Potsdam wurden die Rekruten auf allen preußischen Exer zierplätzen ausgebildet. Bei den Versuchen, das Geschwindfeuer zu be schleunigen, brachen die hölzernen Ladestöcke. Friedrich Wilhelm er setzte sie durch eiserne. Sein Drill bewährte sich. Was ihm zur stärk sten Armee der Erde noch fehlte, waren genügend Soldaten. Er schuf Abhilfe für den Mangel an wehrhaften Untertanen. Mehr als tausend preußische Werbeoffiziere bereisten das Römische Reich Deutscher Nation, Ungarn, Siebenbürgen und die nordischen Königreiche auf der Jagd nach ›langen Kerlen‹. Sie fragten weder nach Glauben noch nach Herkunft. Sie suchten hochgewachsene, kräftige Burschen, die sich ge gen ein Handgeld zur königlich preußischen Armee anwerben ließen. Hungernde leibeigene Bauern, Landstreicher, entlaufene Priester, vor bestrafte Diebe aus aller Herren Länder bildeten bald die ›Elite‹ des Heeres Friedrich Wilhelms. In dem Augenblick, in dem sie die Uni form anzogen, wurden sie seine Untertanen. In die Zucht der Offizie re und Unteroffiziere genommen, hörten sie auf, Wesen mit eigenem Willen, Denken und Fühlen zu sein. Sie waren Preußen geworden. So wie ihr König es befahl, fürchteten sie ›den Offizier mehr als den Tod‹. Wer sich gegen die Disziplin verging, wurde ›preußisch‹ bestraft, das heißt, er mußte langsam mit entblößtem Rücken und gefesselten Hän den durch eine Gasse schreiten, die aus zwei Reihen von dreihundert einander gegenüberstehenden Soldaten gebildet war. Jeder Soldat hielt einen in Salzwasser gebeizten Stock in der Faust und mußte mit kräf tigen Hieben auf den nackten Rücken des Verurteilten zuschlagen. »Cito – cito!« Wehe den Soldaten, die sich durch Menschlichkeit ver leiten ließen, nicht zuzuschlagen. Hinter ihnen standen Korporale mit Stöcken, um den zu schlagen, der nicht selbst geschlagen hatte. Das ganze Königreich Preußen war bald so militarisiert, daß ein französischer Besucher aus Berlin schrieb: »Die Soldaten machen den größten Teil der Einwohner der Residenz des Königs aus. Auch die 443
üblichen Gespräche der Ärzte, Priester, Bürger und sogar der Damen drehen sich um militärische Fragen, und man hört von nichts ande rem sprechen als vom Marschieren und Exerzieren.« Als Friedrich Wilhelm im Jahre 1740, einige Monate vor Karl VI. starb, hinterließ er seinem Sohn Friedrich II. eine volle Schatzkammer und eine schlagfertige Armee von 83.000 Mann. III Maria Theresia, die Erbin Karls VI. des letzten männlichen Habsbur gers, beschrieb ihre eigene Lage am Todestag ihres Vaters: »Nicht mehr als etliche tausend Gulden in den Kassen. Wenig Einigkeit unter den Ständen und Ministern. Das Volk in der Hauptstadt ebenso zaumlos wie schwierig und auf die nämliche Art fast in allen Ländern.« Mit ei nem Wort, alles sah einem allgemeinen baldigen Verfall und Zerrüt tung gleich. Trotz der geschickt herbeigeführten Huldigung der österreichischen und böhmischen Stände und des ungarischen Reichstags vermehr ten sich die Sorgen der kaum dreiundzwanzigjährigen Maria There sia. Kurfürst Karl Albert von Bayern, der Gatte ihrer Base, der jün geren Tochter Kaiser Josefs I., bestritt die Pragmatische Sanktion auf Grund eines Testaments Kaiser Ferdinands I. und einer vergilbten Ur kunde, wonach sich Anna, die Tochter Kaiser Ferdinands I. die mit ei nem Herzog von Bayern vermählt gewesen war, nach dem Ausster ben der männlichen Habsburger das Recht auf die Nachfolge ihrer ei genen Nachkommen vorbehalten habe. Auch August III. von Polen, der mit der erstgeborenen Tochter Kaiser Josefs verheiratet war, wand te sich gegen die Pragmatische Sanktion. Er verwarf seine Karl VI. in aller Form erteilte Anerkennung als null und nichtig unter dem Vor wand, daß Maria Theresia die Erbschaft mißbraucht habe, indem sie ihrem Gatten, Franz von Lothringen, dem neuen Großherzog von Tos kana, die böhmische Wahlstimme zur Kaiserwahl angeboten habe. Es 444
blieb nicht bei diesen beiden Vertragsbrüchen: Der König von Spani en erklärte sich als Nachfolger des letzten Habsburgers auf dem spani schen Thron zum einzigen rechtmäßigen Erben aller Länder des Hau ses Österreich, und Kardinal Fleury sandte im Namen Ludwigs XI. von Frankreich bevollmächtigte Vermittler an die deutschen Höfe, um Karl Albert von Bayern die Kurstimmen zur Kaiserwahl zu beschaf fen. Als Gegenleistung hatte Karl Albert dem König von Frankreich die Überlassung der österreichischen Niederlande zugesichert. Vom Erfolg der Maßnahmen überzeugt, schrieb der Kurfürst von Bayern seinem Bruder wörtlich: »Das Haus Österreich ist nit mehr. Das loth ringische wird jenes nit mehr werden.« In dieser aussichtslosen Not meldete sich am Wiener Hof der Ge sandte Friedrichs II. mit dem Angebot, der von allen Freunden verlas senen Erbin des Hauses Österreich seine Hilfe zu leihen. Maria There sia fühlte sich dem jungen König von Preußen so verpflichtet, daß sie ihm gerührt mit eigener Hand schrieb: »Die von Eurer Majestät zu er wartende große Gefälligkeit wird mich zu unvergeßlichem Dank ver binden.« Um diesen Brief nur ja zur rechten Zeit und ganz sicher zu beför dern, entsandte Maria Theresia einen persönlichen Vertrauensmann zu Friedrich II. Dieser Marquis Botta wählte, um nicht durch das feindliche Sachsen reisen zu müssen, den Weg über Schlesien. Kaum war er auf preußischem Boden angekommen, als sein Wagen aufge halten wurde. Fuhrwerke, Kavallerieregimenter, stramm marschieren de preußische Fußsoldaten verstopften die Straßen. Noch während der mühsamen Weiterfahrt schrieb der Marquis an Maria Theresia: »Ich habe leider mehr als eine Ursache zur Annahme, daß es des Königs unumstößlicher Vorsatz ist, sich in den gewalttätigen Besitz von Gott weiß wieviel Fürstentümern unseres Landes zu bringen und sich her nach huldigen zu lassen.« Während der Audienz, die Friedrich II. dem Marquis unverzüglich nach der Ankunft gewährte, erklärte der König, er könne sich nicht die zahlreichen Feinde Österreichs auf den Hals laden. Ihm bliebe nichts anderes übrig, als Schlesien zu besetzen und sich jener Gebietsteile zu 445
versichern, auf die er ein urkundliches Anrecht habe. Er marschiere, erklärte er, ›in der besten Absicht, denn ich will den übrigen Besitz Österreichs mit all meinen Truppen verteidigen‹. Einige Tage später bot ein Sondergesandter Friedrichs II. Maria Theresia noch einmal die Hilfe seines Königs und seine Kurstimme zur Kaiserwahl ihres Gatten Franz an. Wenn man diese Hilfe aber nicht annehme und ihm nicht gutwillig Schlesien überlasse, dann allerdings werde man seine Trup pen und seinen Staatsschatz auf der anderen Seite finden. »Kehren Sie zu Ihrem Herrn zurück«, erwiderte Maria Theresia, »und sagen Sie ihm, daß wir, wenn er auch nur einen Mann in Schlesien ste hen hat, eher zugrunde gehen wollen, als mit ihm zu verhandeln.« IV Die späteren Erfolge der Feldherren und Staatsmänner Maria Theresias in den gefährlichsten Lagen, ›auf der Messerschneide der Geschich te‹, führte Friedrich II. ›auf das mirakulöse Glück Österreichs‹ zurück. Der englische Minister William Pitt, der seinen König erst zum Ver bündeten Maria Theresias und dann zum Bundesgenossen Friedrichs II. machte, erklärte das ›mirakulöse Glück Österreichs‹ in einer Rede im Parlament. Es beruhe auf dem Bedürfnis nach einem Gleichgewicht der Mächte, die bald dem einen, bald dem anderen Gegner beistehen müßten, um ein Übergewicht zu verhindern. Der Frontenwechsel der am ›Österreichischen Erbfolgekrieg‹ teilneh menden Könige von Frankreich und von England war auch durch ihre den europäischen Kriegsschauplätzen so fernen Belange in den über seeischen Kolonien bedingt. Der im engen Raum Europas mit dem Einsatz verhältnismäßig großer Heere geführte Kampf wurde auch in der Weite des nordamerikanischen Erdteils und in Indien, wohl mit ge ringfügigen militärischen Kräften, aber um so erbitterter ausgetragen. Die französischen und englischen Siedler griffen einander in den ame rikanischen Urwäldern an und wehrten sich in Blockhäusern gegen 446
einander, oft mit Hilfe der eingeborenen Indianer, deren schonungslo se Kampfart sie ausnützten und sich zu eigen machten. Die Feldzüge, die zur Eroberung und Verteidigung Schlesiens, zur Anfechtung und Durchsetzung von Erbansprüchen geführt wurden, Siege und Niederlagen wurden in Europa selbstbewußt gefeiert oder bitter beklagt, während die schicksalsschweren Scharmützel, die bluti gen Handgemenge der Wegbereiter der neuzeitlichen Geschichte nur wenig beachtet wurden. Die Waldpfade und das Tal des Ohio, an des sen Ufern sich die französischen gegen die englischen Anrainer ver teidigten, galten auf den Landkarten der kaiserlichen und königlichen Feldherren nichts im Verhältnis zu den europäischen Straßen und Flußläufen, entlang derer sich die feindlichen Heere vorwärts- und rückwärtsbewegten.
Durch den Überfall auf Schlesien brachte Friedrich II. sein Schäf chen ins trockene, aber die beispiellose Zielsicherheit des Feldzugs er schreckte seine eigenen Bundesgenossen. Wenn er langsamer vorge gangen wäre, wäre er weiter gekommen. Das durch französische Trup pen verstärkte bayrische Heer unter der Führung Karl Alberts hatte schon Linz an der Donau erobert. Die oberösterreichischen Adligen und Stände hatten dem Kurfürsten von Bayern schon als ihrem neu en Herrn Treue geschworen. Aber er marschierte nicht, wie ihm sein Bündnispartner Friedrich dringend und freundschaftlich riet, gegen Wien, sondern gegen Prag. Nicht nur, um sich als König von Böhmen huldigen zu lassen, sondern um mit Hilfe der Franzosen in aller Eile zu verhindern, daß der König von Preußen ganz Böhmen einsteckte, wie er Schlesien eingesteckt hatte. Auch der sächsische König von Polen versöhnte sich, so rasch es ging, mit der österreichischen Erbin, weil ihm die Nachbarschaft des um Schlesien vergrößerten Königreichs Preußen zu gefährlich er schien. Als Maria Theresia die durch ihr geschicktes Auftreten er regte Begeisterung der Untertanen der ungarischen Krone ausnützte, 447
um hunderttausend Mann auf die Beine zu bringen, schloß Friedrich Frieden mit ihr, um Schlesien zu behalten. Jetzt gelang es den ungari schen Husaren unter der Führung des Generals Khevenhüller, Bayern zu erobern. Der flüchtige Kurfürst aber wurde zum Römischen Kaiser Deutscher Nation gewählt. Er war Karl VII. geworden. Nach dem Fest tag schrieb er aus Frankfurt: »Meine Krönung ist gestern vor sich ge gangen, mit einer Pracht und einem Jubel ohnegleichen. Aber ich sah mich zur gleichen Zeit von Stein- und Gichtschmerzen angefallen. Kö nig ohne Land und ohne Geld, kann ich mich wirklich mit Hiob, dem Mann der Schmerzen, vergleichen und nur auf Gott meine Hoffnung setzen.« Zur Überraschung des verzweifelten Kaisers unternahm es der Kö nig in Preußen, für seine Hoffnungen zu kämpfen. Friedrich II. hat te von Anfang an nicht nur Schlesien gewollt, nicht nur ein Land der böhmischen Krone, sondern das ganze Königreich. Zum Schutz des erwählten Kaisers gebärdete er sich als treuer Reichsfürst des Römi schen Reiches Deutscher Nation. Karl VII. war durch die ›Usurpatorin des österreichischen Erbes‹ vertrieben worden. Also brach der Kur fürst von Brandenburg und König in Preußen, »um dem Kaiser zu hel fen«, an der Spitze eines Reichsheeres, das in Wirklichkeit das preußi sche Heer war, in Böhmen ein und eroberte Prag. Friedrich hatte kein leichtes Spiel, obwohl er durch neue, wenn auch nicht entscheiden de Siege seine militärische Überlegenheit beweisen konnte. Er muß te Prag aufgeben und hielt es für angezeigt, wieder Frieden mit Maria Theresia zu schließen, um so mehr, als die französische Hilfe, die ihm zugesagt war, ausblieb, da alle Kräfte Frankreichs zur Eroberung der österreichischen Niederlande eingesetzt wurden. Die große Geste Friedrichs II. als Verteidiger des erwählten Kaisers hatte auch durch den plötzlichen Tod Karls VII. ihre Bedeutung verlo ren. Da Maria Theresia sich mit dem neuen Kurfürsten von Bayern un ter der Bedingung versöhnte, daß er ihrem Gatten Franz bei der bevor stehenden Kaiserwahl seine Kurstimme gebe, besann sich Friedrich II. auf sein altes Versprechen, dem Gatten Maria Theresias die Kaiserkro ne zu erringen, und erklärte sich bereit, Franz zu wählen, wenn ihm 448
Maria Theresia feierlich den rechtmäßigen Besitz von Schlesien bestä tigte. Der Krieg, der beinahe ganz Europa erfaßt hatte, wäre zu Ende ge wesen, Maria Theresia hätte sich damit abgefunden, daß Frankreich die österreichischen Niederlande erobert hatte, wenn England sich nicht dagegen hätte stellen müssen, daß die blühenden Handelsstäd te, Produktionsstätten und reichen Häfen der österreichischen Nieder lande in französischem Besitz blieben. Der englische Minister Pitt ver mittelte ein Bündnis Maria Theresias, die seit der Kaiserkrönung Franz' I. schlechtweg ›die Kaiserin‹ genannt wurde, mit der jüngeren Tochter Peters des Großen, Elisabeth, die Zarin von Rußland geworden war. Die Wendung Pitts hatte das Ziel, die Abwehrkräfte Österreichs gegen Frankreich mit allen Mitteln zu stärken. Nach langwierigen Verhandlungen kam endlich der Frieden von Aa chen zustande, der den Österreichischen Erbfolgekrieg beendigte. Ma ria Theresia wurde im Sinne der Pragmatischen Sanktion als Erbin des Hauses Österreich bestätigt. Sie hatte allerdings Schlesien verloren und mußte überdies einen Teil der Lombardei an den König von Sardini en abtreten und die Herzogtümer Parma und Piacenza an den spa nischen Infanten Don Philipp, der eine zweite Linie der spanischen Bourbonen in Italien begründete.
Der Bevollmächtigte Maria Theresias bei den Friedensverhandlungen in Aachen war Wenzel Kaunitz. Seine Liebe für Frankreich war sprich wörtlich. Sie ging so weit, daß er seine Wäsche nicht in Wien waschen ließ, sondern in Paris. Das kostete ihn sechstausend Gulden im Jahr. Er erfuhr wohl nie, daß sein Kammerdiener das Donauwasser dem Seinewasser vorzog und das Geld einsteckte. Seine persönliche Zunei gung für Frankreich war auch politisch. Er hatte den Ehrgeiz, den ur alten Zwiespalt zwischen dem Haus Österreich und den Bourbonen ein für alle Male zu beendigen. Es fiel ihm nicht schwer, Maria The resia zu überzeugen, daß ihr einziger wirklicher Feind der König in 449
Preußen sei, und er drängte, da er eine Verständigung Friedrichs II. mit England für unausbleiblich hielt, auf eine Beschleunigung der Ver handlungen mit Frankreich. Die Stimmung des Hofes von Versailles und auch die Volksstim mung in Paris kamen den Wünschen von Kaunitz entgegen. Sowohl der französische Adel als auch die Bürger waren gegen die Minister Ludwigs XV. die einen beinahe achtjährigen Krieg geführt hatten ›pour le méchant homme de Berlin‹, wie die Marquise von Pompadour Friedrich II. nannte. »Der böse Mann von Berlin«, sagte man, habe Frankreich nur Geld und Menschen gekostet und nichts eingebracht. Man schimpfte in Paris: »Du bist so dumm wie der Friede von Aa chen!« Montesquieu schrieb: »Es handelt sich nicht mehr darum, sich den protestantischen Fürsten des Römischen Reiches Deutscher Na tion zu verbünden, um das Haus Österreich zu schwächen. Das Haus Österreich und wir haben den gleichen Feind zu fürchten: Preußen.« Diese Auffassung bestimmte die französische Politik und hatte weit reichende Folgen.
Ludwig XV. persönlich hatte nichts dagegen, daß die Möglichkeit einer späteren Verheiratung seines Enkels und künftigen Thronerben mit ei ner Tochter Maria Theresias erörtert wurde. Das war Zukunftsmusik, und die Zukunft bedeutete ihm nichts. Er blieb nach wie vor dabei, sich die Peinlichkeiten der Gegenwart vom Leibe zu halten. Er wand te sich ab oder hielt sich die Ohren zu, wenn von Schriftstellern und Philosophen die Rede war, obwohl die ›Aufklärung‹ in Frankreich im mer mehr Anhänger gefunden hatte und ihre Auswirkungen dem Kö nig, der nichts davon hören und wissen wollte, nicht zu verheimlichen waren. Der allgemein gebrauchte Begriff ›Aufklärung‹ umfaßte nicht nur das politische Denken, das die Wohlfahrt der Bürger als den Zweck des Staates bezeichnete und forderte, daß der Inhaber der Staatsgewalt Diener des Allgemeinwohls sei, sondern auch die Vernunft des einzel 450
nen, der durch Wort und Schrift dazu erzogen werden sollte, die be stehenden Verhältnisse zu beurteilen und auf ihre Nützlichkeit oder Schädlichkeit für sich selbst oder die Gesamtheit zu untersuchen. Der gefährliche Gegensatz zwischen ›vernünftiger Anschauung‹ und den in Wirklichkeit bestehenden Zuständen wurde nicht zuletzt durch ein umfassendes Nachschlagewerk offenbar, die große ›Enzyklopädie‹, in der das Wissen und die Einrichtungen der Zeiten klardenkend be gutachtet wurden. Die überlieferten Wissenschaften, aber auch Staat, Gesellschaft und Glaube wurden einer scharfen Prüfung unterzogen und ihr wesentlicher Inhalt der zeitgenössischen Gedankenwelt na hegebracht. Die vielbändige ›Enzyklopädie‹, für deren Herausgabe der Dichter und Denker Diderot und der Mathematiker D'Alembert ver antwortlich waren und an deren Zusammenstellung auch Quesnay, der Begründer der Physiokratie, teilnahm, regte Gelehrte und Schriftstel ler, Rechtsanwälte und Verwaltungsbeamte dazu an, gegen die stän dischen Klassenunterschiede, die wirtschaftlichen Vorrechte der adli gen und geistlichen Herren und den unerträglichen Steuerdruck auf zubegehren. Das Verlangen nach Veränderung und Verbesserung der Staatsgewalt und der Gesellschaftsordnung wurde immer lauter. J. J. Rousseaus Erziehungsroman ›Emile‹ wurde das meistgelesene Buch. Sein Ruf ›Zurück zur Natur!‹ brachte ganz Frankreich in Gärung – und wurde oft mißverstanden, besonders von der Hofgesellschaft, die sich in bäuerlichen Verkleidungen gefiel, um der Natur näher zu sein. Im ›Emile‹ bekannte sich ein Priester zur ›natürlichen Religion‹, die kei ne Vermittlung zwischen Gott und Menschen nötig habe. Diese Ver innerlichung entfremdete die Gläubigen der Kirche. Rousseaus später erschienener ›Contrat social‹, der ›Gesellschaftsvertrag‹, der die Bezie hung des Einzelwillens zum Gesamtwillen festlegte, mußte zur Volks souveränität führen, die der französischen Bevölkerung von Voltaire und Montesquieu durch den Vergleich mit den politischen Verhältnis sen Englands mundgerecht gemacht worden war. Die zeitgemäße Begeisterung für Freiheit und Gleichheit der Staats bürger drang auch in die vornehmen Salons der hochadligen Pariser Gesellschaft und des Hofes Ludwigs XV. ein. Die Vertreibung der Jesu 451
iten aus Frankreich wurde durch den führenden Minister Choiseul, ei nen persönlichen Freund der Marquise von Pompadour, vorbereitet – als Versuch, ›die Zwangsjacke der katholischen Kirche‹ zu lockern, ge gen die eine ätzende Schrift nach der andern veröffentlicht wurde. Daß Philosophen und Dichter wie Voltaire und Diderot ehrende Einladun gen an fremde Fürstenhöfe erhielten, wurde von der französischen Öf fentlichkeit als Zeichen dafür gewertet, daß die Aufklärung überall an allerhöchster Stelle anerkannt wurde, nur nicht in Frankreich selbst. Sogar der gefährliche König in Preußen sprach sich für die politischen Grundsätze der Aufklärung aus. Er erklärte, nur der ›erste Diener des Staates‹ zu sein.
Waren es gefällige Redensarten oder meinte Friedrich II. es ernst, wenn er seine weltverbessernden humanitären Ansichten kundgab? Tat er wirklich nur seine ›verdammte Pflicht und Schuldigkeit‹, die er uner bittlich auch von allen Beamten und Soldaten forderte, wenn er selbst in aufopfernder Arbeit ganz Preußen in eiserner Zucht hielt? Oder gal ten seine aufklärerischen Bestrebungen nicht so sehr der Wohlfahrt seiner Untertanen als der politisch-militärischen Schlagkraft seiner Länder? Die Angst vor der Unberechenbarkeit Friedrichs II. dessen durch Schlesien vergrößertes Königreich vom ersten bis zum letzten Mann in ständiger Kriegsbereitschaft war, vergällte das heitere Leben, das seit dem Frieden von Aachen in Wien eingezogen war. Maria Theresia hoff te, daß ihr das Bündnis mit Frankreich ermöglichen würde, den von ihr geplanten österreichischen Einheitsstaat ungestört zu errichten. Sie hatte Schönbrunn, das bescheidene Schloß ihrer Vorgänger, zu einem prachtvollen Sommerpalast umbauen und das langgestreckte Gebäu de mit ockergelber Farbe festlich anstreichen lassen. Das war ihre Far be. Beinahe in allen Städten der österreichischen Erblande wurden die Verwaltungsgebäude, die Kasernen, die Paläste und Schulen ockergelb gestrichen. Hinter diesen freundlichen Fassaden vollzog sich die Neu 452
ordnung Österreichs, die die ›Kaiserin‹ nach dem erfolgreichen Mu ster ihres Feindes, Friedrich II. von Preußen, wenn auch weniger radi kal und weniger aufgeklärt, durchführen wollte. Maria Theresia hatte den Ruf der ›kaiserlichen Hausfrau‹. Sie galt als bürgerliches Vorbild. In seinen Erinnerungen beklagte sich der be rühmte Frauenjäger Casanova auf das bitterste, daß ihm die Keusch heitsvorschriften der Kaiserin das Liebesgeschäft verdarben: »In Wien war alles schön, viel Geld und viel Luxus«, schrieb er, »aber eine Un zahl erbärmlicher Spitzel waren die unerbittlichen Verfolger aller Mädchen.« Zeitgenössische Schmähschriften brandmarkten die unzeitgemä ße ›Moralität‹ Maria Theresias. Sie fanden es widerspruchsvoll, daß sie die Geliebte des Königs von Frankreich, die Marquise von Pom padour, als ›liebe Freundin‹ ansprach, und erklärten, daß die strenge Sittlichkeit der Kaiserin durch ihre Erbitterung über den leichtsinni gen Lebenswandel des Kaisers ausgelöst worden sei. Man spottete: »Er ist ein Schürzenjäger – was sonst soll er tun, da seine Frau die Hosen anhat?« Tatsächlich beschied sich Franz I. mit der Rolle ›eines einfa chen, schlichten Privatmannes, mehr mit Jagd, Spiel und Kunstliebha berei beschäftigt als mit ernsten politischen Dingen‹. Er mochte leicht lebig gewesen sein, aber leichtsinnig war er nicht. Im Gegenteil. Er war ein ausgezeichneter Sparmeister. Franz von Lothringen war an den Hof Kaiser Karls VI. als ganz armer Mann gekommen. Fünfzehn Jah re nach seiner Eheschließung mit Maria Theresia wurde sein Vermö gen berechnet. Er hatte flüssiges Geld und leicht verkäuflichen Besitz im Wert von zwanzig Millionen Talern. In dieser Schätzung waren we der seine Schlösser und Güter in den Ländern des Hauses Österreich noch in seinem Großherzogtum Toskana eingerechnet. Ungeachtet der neidischen Angriffe blieb die biedere Bescheidenheit, die das würdige Kaiserpaar treuherzig zur Schau trug, so volkstüm lich, daß ihr guter Ruf auch durch kleine Geständnisse nicht beein trächtigt werden konnte, die durch Urkunden bekannt und von ih rem ältesten Sohn bestätigt wurden. Josef erzählte gerne, seine Mutter sei ›in der Regiekunst allzu erfahren gewesen‹. Als sie ihn kurz nach 453
ihrem Regierungsantritt den Mitgliedern des ungarischen Reichstags auf den Armen entgegengestreckt hatte, um ihr Mitleid zu erwecken, habe sie ihn in einen empfindlichen Körperteil gezwickt und dadurch sein Geschrei erzeugt, von dem sie sich große Wirkung auf die Ungarn versprochen habe. Der Kaiserin gelang es öfter als nur dieses eine Mal, Mitleid zu er wecken, um Hilfe zu gewinnen. Jedes Mittel war Maria Theresia recht, wenn es gegen den ›lebendig gewordenen Satan‹, den König in Preu ßen, ging.
In seinen Mußestunden nach dem Frieden von Aachen beschäftigte sich Friedrich II. mit der Niederschrift eines Geschichtswerkes. Der Titel ›Histoire de mon temps‹ – Geschichte meiner Zeit – war nicht so eigentümlich wie die Tatsache, daß er französisch schrieb. Er war kei neswegs durchdrungen von seiner deutschen Sendung, wie ihm spä ter nachgerühmt wurde. Friedrich hatte im wesentlichen ein Ziel: die Grenzen seines Königreichs zu erweitern. Es war ihm einerlei, welche Nationen er in die erweiterten Grenzen Preußens einbeziehen würde. Seine Vorbilder in der Geschichte waren die Eroberer. Im geistigen Le ben war sein Vorbild Voltaire. Der große Franzose, der sich schließ lich in dem von der Krone Frankreichs unabhängigen Genf angesie delt hatte, besuchte den König in Preußen am Potsdamer Hof, um ihm bei der endgültigen Fassung der ›Denkwürdigkeiten des Hauses Bran denburg‹ behilflich zu sein. Voltaire, der Preußen ›das Königreich der Grenzstriche‹ nannte, schrieb nach Paris: »Ich bin hier in Frankreich. Man spricht nur unsere Sprache. Das Deutsche ist für die Soldaten und Pferde. Nötig hat man es nur für die Reise.« Der Aufenthalt Voltaires in der ›französischen Luft‹ des Potsdamer Hofes dauerte nicht so lange, wie es vom königlichen Gastgeber und seinem Gast vorgesehen war. Aber als Voltaire nach einem aufsehen erregenden Ärgernis abreiste, war die endgültige Fassung der ›Denk würdigkeiten des Hauses Brandenburg‹ vollendet, und darin hat 454
te Friedrich eine bedeutsame Frage aufgeworfen. Er schrieb mit eige ner Hand: »Wenn die Menschen vernünftiger Überlegung fähig wä ren, würden sie wohl so lange, so erbitterte, so kostspielige Kriege füh ren, um schließlich früher oder später doch auf Friedensbedingungen zurückzukommen, die ihnen unerträglich nur in den Augenblicken scheinen, in denen die Leidenschaft sie beherrscht oder das Kriegsglück sie begünstigt?« Der philosophische Geschichtsschreiber auf dem preußischen Thron begann im Jahre 1756 den kostspieligsten, den erbittertsten Krieg des Jahrhunderts durch einen Einfall in das mit Maria Theresia verbünde te Sachsen. In wenigen Wochen besetzte er Dresden, umzingelte die sächsische Armee, brach in Böhmen ein, schlug das Heer der Kaiserin und marschierte gegen Prag. Seine Truppen wurden bald durch sieb zehntausend kriegsgefangene Sachsen, die in preußische Uniformen gesteckt und so zu Preußen gemacht worden waren, verstärkt. Es war ein guter Beginn. Friedrich II. führte begeistert Krieg. Zur vernünfti gen Überlegung aber, die er in seinem Geschichtswerk gepriesen hat te, kam er erst wieder nach den ununterbrochenen Feldzügen des Sie benjährigen Krieges, als er und seine ewige Feindin Maria Theresia auf die gleichen Friedensbedingungen zurückkamen, die schon in Aachen festgelegt worden waren. Nie war ein Herrscher mehr Gefahren ausgesetzt als Friedrich II. in diesen sieben Jahren, die seinen Kriegsruhm besiegelten. Sein einziger Verbündeter war England, und dem englischen Parlament war im Ge gensatz zum König, Georg II. der als Kurfürst von Hannover leiden schaftliche Anteilnahme am europäischen Festlandkrieg zeigte, nur daran gelegen, die Seemacht und die Kolonien Frankreichs und spä ter Spaniens planmäßig zugrunde zu richten. Friedrich bekam wohl Geld von England, um den wirtschaftlichen Anforderungen des Krie ges nachkommen zu können, aber den drei gewaltigen Heeren Ma ria Theresias, ihrer Bundesgenossin Elisabeth von Rußland und Lud wigs XV. hatte der König in Preußen nur ein einziges Heer entgegen zustellen. Die Art seiner Kriegsführung blieb während aller Feldzü ge die gleiche. Er griff jeden Gegner einzeln an und verhinderte ihre 455
Verbindung, wann immer er es konnte. Dennoch war der Kampf un gleich. Obwohl Friedrich große Siege errang, mußte er auch schmerz liche Verluste hinnehmen. Einmal glaubte Maria Theresia schon, daß ihren Truppen eine Umklammerung Friedrichs gelungen sei. Sie war gewiß, den König in Preußen und seine Armee schon gefangen zu ha ben, so wie er das sächsische Heer umzingelt und gefangengenommen hatte, als sie nach der Einnahme von Zittau gestehen mußte: »Wir ha ben die Stadt genommen, aber ohne Besatzung … Der Feind ist mit vierundzwanzigtausend Mann vor unserer Nase, und wir mit achtzig tausend Mann vermögen nicht an ihn zu kommen …« Immer wieder waren Maria Theresia und Elisabeth von Rußland überzeugt, Friedrich II. schon ›erledigt zu haben‹. Aber immer wieder entzog er sich der Umklammerung durch einen kühnen Marsch und stürzte sich mit neuen Truppen auf die ihn verfolgenden, an Zahl weit überlegenen Feinde. Er ging nicht nur auf dem Schlachtfeld zum An griff über. In den Atempausen des Krieges versuchte er sich in staats männischen Kunststücken, um das Bündnis Frankreichs mit Maria Theresia zu brechen. Er beschwor sogar den Oberbefehlshaber der französischen Armee, die Hannover besetzt hatte und gegen ihn im Feld lag, in Erinnerung an die ›sechzehnjährige Bundestreue Frank reichs und Preußens‹ bei Ludwig XV. für ihn zu vermitteln. Er schrieb wörtlich: »Ich vertraue meine Interessen dem König von Frankreich, Ihrem Herrn, lieber an als jemand anderem.« Friedrich bemühte sich auch, das Wohlwollen der Marquise von Pompadour durch eine hal be Million Taler, und, wenn nötig, »eine noch größere Summe«, zu ge winnen. Es war vergeblich. Die Marquise erklärte Kaunitz durch den kaiserlichen Botschafter am französischen Hof: »Ich hasse den Kö nig von Preußen. Tun wir das beste, um den Attila des Nordens zu zerschmettern. Dann werden Sie mich glücklich sehen, wie ich jetzt schlechter Laune bin.« Die schlechte Laune der Marquise war durch die furchtbare Nieder lage hervorgerufen, die Friedrich II. den Franzosen bei Roßbach zu gefügt hatte. Aber seine großartigen Siege rieben seine Mittel auf. Er konnte sich damit trösten, daß es seinen Feinden nicht besser ging. 456
Als der Gesandte Maria Theresias in Paris um Hilfe bat, erwiderte der Herzog von Choiseul im Auftrag Ludwigs XV.: »Was wollen Sie, das ich tue? Wir haben kein Geld, keine Hilfsquellen, keine Marine, kei ne Soldaten, keine Generäle, keine Köpfe, keine Minister. Sie können überzeugt sein, daß ich alles tun werde, um Frieden so bald wie mög lich herbeizuführen.« Alle am europäischen Festlandskrieg beteiligten Mächte waren des Kampfes müde. Friedrich II. war am Ende seiner Kräfte. Sein Bundes genosse Georg II. war gestorben, dessen Nachfolger, Georg III. entließ William Pitt, dem zu Ehren das von den Engländern eroberte fran zösische Fort Duquesnes am Ohio Pittsburgh genannt worden war. Die Tories, die die Whigs in der Macht ablösten, waren nicht willens, die von Pitt vereinbarten Hilfszahlungen an Preußen fortzusetzen. Da starb Elisabeth von Rußland, und der neue Zar, Peter III. ein begei sterter Bewunderer Friedrichs II. schloß einen Sonderfrieden mit ihm. Auch Schweden zog sich von dem Bündnis mit Maria Theresia zurück. Die Kaiserin war, obwohl Peter III. ermordet wurde und seine Witwe, Katharina II. das Bündnis mit Österreich wiederaufnahm, gezwun gen, auf die Wiedereroberung Schlesiens zu verzichten und Frieden zu schließen. Erst jetzt erkannten Maria Theresia und auch Friedrich der Große, daß ihre Vertragspartner, Frankreich und England, nicht um ihretwillen zu den Waffen gegriffen hatten. Weit von den böhmischen, sächsischen, schlesischen und ostpreußischen Schlachtfeldern war die wirkliche Entscheidung gefallen, während sie beide noch gekämpft hatten. In Indien hatte Clive die Franzosen besiegt und die Machtge biete der Ostindischen Kompanie ausgebreitet. Die Eroberung Kana das durch den englischen General Wolfe, die Vernichtung der fran zösischen und spanischen Flotten durch die englische Seemacht hat ten den Krieg entschieden. Sieger war weder Friedrich II. noch Maria Theresia. Gesiegt hatte England. Und als es durch den Frieden von Pa ris, durch den Gewinn der französischen Kolonien seine überlegene Weltmacht begründet hatte, erkannten die Kaiserin und der König in Preußen, daß sie ›zur vernünftigen Überlegung‹ zurückkehren müß ten. Der Frieden von Hubertusburg bestätigte Friedrich II. zum drit 457
tenmal im Besitz Schlesiens. Das war alles, was er im Siebenjährigen Krieg gewonnen hatte. Der einzige Gewinn Maria Theresias war das Versprechen des Königs in Preußen, ihrem ältesten Sohn die branden burgische Kurstimme bei der Wahl zum römischen König zu geben.
458
ZEITTAFEL
Die Neuzeit 1493-1519
Kaiser Maximilian I. 1493-1541
Paracelsus 1495
Reichstag zu Worms;
Ewiger Landfriede,
Reform der Reichsverfassung
1497-1560
Philipp Melanchthon 1498-1589
Frankreich: Häuser Orleans und Angouleme; 1498-1515
Ludwig XII. um 1500
Italien: Hochrenaissance; kulturelle Blüte
1502-1519
Amerika: Aztekenkaiser Montezuma II. 1509-1547
England: Heinrich VIII. 1512
Kopernikus veröffentlicht Lehre vom heliozentrischen Weltsystem 1512
Reichstag zu Köln 1514
Machiavelli veröffentlicht ›Der Fürst‹ 1515-1547
Frankreich: Franz I. 1516
China: Die Portugiesen in Kanton 1516-1700
Spanien: 459
Haus Habsburg;
1516-56 Karl (= Kaiser Karl V.);
1556-98 Philipp II.
1517
Beginn der Reformation durch Martin Luther 1517
Vorderasien: Eroberung Ägyptens durch Selim I. 1519
Tod Leonardo da Vincis 1519-1521
Amerika: Cortez erobert Mexiko 1519-1556
Kaiser Karl V. 1520-1566
Vorderasien: Soliman der Prächtige 1520-1569
Pieter Brueghel d.Ä. der ›Bauernbrueghel‹ 1520
Tod Raffaels
1521 Balkan: Eroberung Belgrads durch die Türken 1521
Reichstag zu Worms Wormser Edikt 1521-1526
1. Krieg Karls V. gegen Franz I.
von Frankreich;
1525 Franz bei Pavia geschlagen
1522
Luthers ›Neues Testament‹ 1522/23 Vergeblicher Aufstand der Reichsritter unter Sickingen 1523-1654
Schweden: Haus Wasa;
Einführung der Reformation
1524
Tod Hans Holbeins d.Ä. 1524/25 Bauernkrieg
460
1526 Balkan: Türkensieg bei Mohacz 1526 Reichstag zu Speyer; Einschränkung des Wormser Edikts 1526-1918 Balkan/Österreich: Böhmen und Ungarn mit Österreich vereinigt 1526-1529 2. Krieg Karls V. gegen Franz I. 1527 Italien: Plünderung Roms durch deutsche Landsknechte 1528 Tod Albrecht Dürers
1531 Schmalkaldischer Bund 1531 England: Errichtung der englischen Staatskirche 1531 Zwingli stirbt in der Schlacht von Kappeln; Tod Riemenschneiders 1532 Nürnberger Religionsfriede 1532-1534 Amerika: Pizarro erobert das Inkareich 1533-1584 Rußland: Iwan IV. der Schreckliche
1529 Türken belagern Wien
1534 Gründung des Jesuitenordens durch Loyola
1529 Zweiter Reichstag zu Speyer
1536-1538 3. Krieg Karls V. gegen Franz
1530 Reichstag zu Augsburg; ›Augsburgische Konfession‹
1536 Frankreich: Bündnis mit dem Sultan 461
1536 Tod des Erasmus von Rotterdam 1538 Bildung der Liga katholischer Reichsstände 1541-1613 El Greco, spanischer Maler 1542-1544 4. Krieg Karls V. gegen Franz I.
1547-1559 Frankreich: Heinrich II. 1548-1572 Polen: Sigismund II. August 1548-1600 Giordano Bruno
1544-1595 Torquato Tasso, italienischer Dichter
1552 Frankreich: Bündnis mit deutschen protestantischen Reichsständen; Verfolgung der Hugenotten
1545-1563 Konzil zu Trient
1553 Tod Lucas Cranachs d.Ä.
1546/47 Schmalkaldischer Krieg; Schlacht bei Mühlberg
1553-1558 England: Maria die Katholische
1547-1553 England: Eduard VI.; Gründung der Hochkirche
1555 Augsburger Religionsfriede
1547-1616 Cervantes, spanischer Dichter
1556-1564 Nach Abdankung Karls V. Kaiser Ferdinand I. 1556-1598 Spanien: Philipp II. 462
1556 Niederlande: Niederlande an Spanien 1556-1559 Frankreich: Krieg gegen Spanien 1558-1603 England: Elisabeth I. 1559-1560 Frankreich: Franz II. 1560-1574 Frankreich: Karl IX. 1561 Ostseestaaten: Auflösung des Deutschen Ordensstaates 1561-1626 Francis Bacon, englischer Philosoph und Staatsmann 1562-1598 Frankreich: Hugenottenkriege (1572 Bartholomäusnacht)
1564-1576 Kaiser Maximilian II. 1564-1616 William Shakespeare 1564-1642 Galileo Galilei, italienischer Naturwissenschaftler 1566 Spanien: Verfolgung der Morisken 1567-1571 Niederlande: Blutherrschaft des Herzogs Alba 1568-1648 Niederlande: Freiheitskampf; 1579 Union der sieben nördlichen Provinzen zu Utrecht 1569 Polen/Litauen: Lubliner Union 1571 Spanien: Türkische Flotte bei Lepanto vernichtet
463
1571-1630 Johannes Kepler, deutscher Astronom
1584 England: Gründung der Kolonie Virginia
1571 Vorderasien: Türkische Flotte unterliegt bei Lepanto
1588 England: Vernichtung der spanischen Armada
1572-1697 Polen: Wahlmonarchie
1588 Spanien: Untergang der Armada
1574-1589 Frankreich: Heinrich III.
1588-1648 Dänemark: Christian IV
1576-1612 Kaiser Rudolf II.
1589-1792 Frankreich: Haus Bourbon; 1589-1610: Heinrich IV.
1576 Tod Tizians 1577-1640 P.P. Rubens, niederländischer Maler
1596-1650 Rene Descartes, französischer Philosoph
1580-1640 Portugal spanische Provinz
1598 Schließung des hansischen Stahlhofes zu London
1580-1666 Frans Hals, niederländischer Maler
1598 Frankreich: Edikt von Nantes 464
1598-1605 Rußland: Zar Boris Godunow 1599-1641 A. van Dyck, niederländischer Maler 1600 Giordano Bruno verbrannt 1600 England: Gründung der Ostindischen Kompanie 1603-1714 England: Haus Stuart;
1603-1625: Jakob I.;
Personalunion England-
Schottland
1606-1684 Pierre Corneille, französischer Dramatiker 1606-1669 Rembrandt, niederländischer Maler 1608 Gründung der Union
1609 Gründung der Katholischen Liga 1609-1614 Jülich-clevischer Erbfolgestreit 1610-1643 Frankreich: Ludwig XIII.;
1624 Richelieu leitender Minister
1611-1632 Schweden: Gustav II. Adolf 1612-1619 Kaiser Matthias 1613-1762 Rußland: Haus Romanow 1616-1664 Andreas Gryphius, deutscher Dichter 1618 Polen belehnt Brandenburg mit Preußen 1618-1648 Dreißigjähriger Krieg
465
1619-1637
Kaiser Ferdinand II. 1620
Schlacht am Weißen Berge; der ›Winterkönig‹ Friedrich V. geschlagen 1621-1665
Spanien: Philipp IV. 1621
England: Pilgerväter wandern nach Nordamerika aus
17. Jh. Nordamerika: Beginn der europäischen Kolonisierung 1625-1676
H.J. Ch. von Grimmeishausen, deutscher Epiker 1626
Jagdschloß Versailles erbaut 1626
Sieg Tillys bei Lutter über Christian IV.
1622-1673
Moliere, französischer Dramatiker
1629
Frieden zu Lübeck zwischen Kaiser und Christian IV.; Restitutionsedikt
1623-1662
Blaise Pascal, französischer Philosoph
1629
Tadsch Mahal in Agra (Indien) erbaut
1625-1649
England: Karl I.
(1628 Petition of Rights)
1630-1635
Schweden: Beteiligung am Dreißigjährigen
Krieg;
Westfälischer Frieden 1648
bestätigt Gebietsgewinne
1625-1629
Dänemark: Christian IV. beteiligt sich am Dreißigjährigen Krieg
466
1631 Französisch-Schwedischer Subsidienvertrag
1637-1707 Dietrich Buxtehude, deutscher Komponist
1631 Tilly nach Eroberung Magdeburgs von Gustav Adolf bei Breitenfeld geschlagen
1637-1657 Kaiser Ferdinand III.
1632 Sieg der Schweden bei Lützen über Wallenstein; Gustav Adolf † 1632-1675 Jan Vermeer van Delft, niederländischer Maler 1635 Sonderfriede von Prag zwischen Kaiser und Sachsen 1635 Frankreich: Krieg gegen Spanien; Eingreifen in den Dreißigjährigen Krieg 1635-1683 D.C. von Lohenstein, deutscher Dichter
1639-1699 Jean Racine, französischer Dramatiker 1640-1653 England: Das Lange Parlament 1640-1688 Friedrich Wilhelm, der Große Kurfürst von Brandenburg 1640 Portugal wieder unabhängig 1642-1646 England: Bürgerkrieg 1643-1715 Frankreich: Ludwig XIV.; 1643-61 Mazarin 1643-1727 Isaac Newton, englischer Naturwissenschaftler 467
1643 Nordamerika: Bund der Neuenglandkolonien 1644-1911 China: Mandschu-Dynastie 1646-1716 G. W. Leibniz, deutscher Philosoph 1648 Westfälischer Friede zu Münster und Osnabrück; Unabhängigkeit der Niederlande und der Schweiz anerkannt 1648 Frankreich: Elsaß an Frankreich 1648-1653 Frankreich: Fronde-Aufstand 1649 England: Karl I. hingerichtet; England unter Cromwell Republik 1651 England: Navigationsakte gegen Holland;
I. englisch-holländische Seekrieg als Folge (1652-54) 1651-1732 B. Permoser, deutscher Bildhauer 1653-1658 England: Cromwell Lord-Protektor 1653-1713 Arcangelo Corelli, italienischer Komponist 1654-1705 J. Bernoulli, Schweizer Mathematiker 1654-1718 Schweden: Haus Pfalz-Zweibrücken 1655-1660 Schweden/Polen: Schwedisch-polnischer Krieg; 1660 Friede von Oliva 1656-1723 J.B. Fischer von Erlach, Baumeister 1658-1705 Kaiser Leopold I. 468
1658 Frankreich: Erster Rheinbund geschlossen 1659 Spanien/Frankreich: Pyrenäenfrieden 1659-1731 Daniel Defoe, englischer Schriftsteller 1660-1685 England: Karl II.; 1664-67: 2. englisch holländischer Seekrieg 1660-1697 Schweden: Karl XI. 1667-1745 Jonathan Swift, englischer Schriftsteller 1667/68 Spanien/Frankreich: 1. Eroberungskrieg Ludwigs XIV. gegen Spanien 1667-1697 Frankreich: Drei Eroberungskriege gegen
Spanien, span. Niederlande, Holland, die Pfalz 1674-1696 Polen: Johann Sobieski 1675 Sieg des Großen Kurfürsten bei Fehrbellin 1680 Kanada: Gründung des französischen Kolonialreiches 1683 Türkei: Türken vor Wien; dann Rückzüge 1683 Türken belagern zum zweitenmal Wien 1683-1699 Krieg gegen die Türken, Prinz Eugen, Eroberung Ungarns 1685 Frankreich: Edikt von Nantes aufgehoben 469
1685-1750 Johann Sebastian Bach, deutscher Komponist
über Frankreich; 1697 Friede zu Ryswijk 1697-1718 Schweden: Karl XII.
1685-1759 Georg Friedrich Händel, deutscher Komponist
1697-1733 Polen: August II. der Starke
1685-1766 Dominikus Zimmermann, deutscher Baumeister
1699 Friede von Karlowitz; Österreich Großmacht
1687-1753 Balthasar Neumann, deutscher Baumeister 1688 England: Landung Wilhelms von Oranien;
›Glorious Revolution‹;
1689-1702: Wilhelm III.
1689-1725 Rußland: Peter er Große 1689-1755 Ch. d. Montesquieu, französischer Rechtsphilosoph 1692 England/Frankreich: Engl.-holl. Seesieg bei La Hogue
1700-1721 Skandinavien/Osteuropa: Der Nordische Krieg; 1721 Frieden von Stockholm und Nystad 1701-1714 Spanien: Spanischer Erbfolgekrieg der europäischen Großmächte; 1713 Friede zu Utrecht 1701 Kurfürst von Brandenburg wird ›König in Preußen‹ 1702-1714 England: Königin Anna
470
1704-1712 Dom zu Fulda von Chr. Dientzenhofer erbaut
1715-1774 Frankreich: Ludwig XV.
1705-1711 Kaiser Joseph I.
1724-1804 Immanuel Kant, deutscher Philosoph
1711-1740 Kaiser Karl VI. 1713 Pragmatische Sanktion; Unteilbarkeit der Österreichischen Monarchie, weibliche Erbfolge möglich
1727-1760 England: Georg II. 1729-1781 Gotthold Ephraim Lessing, deutscher Dichter
1713 England und Frankreich: Frieden von Utrecht
1732-1809 Josef Haydn, deutscher Komponist
1713-1740 König Friedrich Wilhelm I. in Preußen
1733-1735 Polnischer Erbfolgekrieg; 1735 Vorfriede zu Wien; August III. von Sachsen wird polnischer König
1714 Friede zu Rastatt u. Baden 1714-1787 Chr. W. v. Gluck, deutscher Komponist 1714-1901 Das Haus Hannover; 1714-1727: Georg I.
1740-1748 Österreichischer Erbfolgekrieg 1740-1780 Kaiserin Maria Theresia
471
1740-1786
Friedrich der Große König in Preußen
1751-1818
Schweden: Haus Holstein-Gottorp
1741-1743
Schweden/Rußland: Krieg Schwedens gegen Rußland; Frieden von Abo
1755-1763
Frankreich und England: Kolonialkrieg in Nordamerika; 1763 Friede von Paris
1742-1745
Kaiser Karl VII.
1756-1763
Der Siebenjährige Krieg
1742-1799
G. Chr. Lichtenberg, deutscher Schriftsteller
1756-1791
Wolfgang Amadeus Mozart
1744-1803
Joh. Gottfried Herder, deutscher Dichter 1745-1765
Kaiser Franz I.
1759-1805
Friedrich Schiller 1760-1820
England: Georg III.
1746
Bündnis Rußland-Österreich
1762-1796
Rußland: Katharina II.
1746-1828
F. J. de Goya, spanischer Maler
1763
Friede von Hubertusburg
1749-1832
Joh. Wolfgang Goethe, deutscher Dichter
1763
Nordamerika: Ende des französischen Kolonialreiches 472
1763-1825 Jean Paul, deutscher Dichter
Ewiger Landfriede, Reform der Reichsverfassung
1764-1850 J.G. Schadow, deutscher Bildhauer
1497-1560 Philipp Melanchthon
Deutsche Geschichte um 1490 ›Hexenkammer‹ verursacht Anwachsen der Hexenprozesse 1492 Landung des Kolumbus in Amerika 1493-1519 Kaiser Maximilian I. 1493-1541 Paracelsus, Begründer der modernen medizinischen Wissenschaft 1494-1576 Hans Sachs, deutscher Dichter (Meistersinger) 1495 Reichstag zu Worms;
1497-1543 Hans Holbein d.J. Maler 1512 Reichstag zu Köln; Einteilung des Reiches in zehn Landfriedenskreise 1512 Kopernikus veröffentlicht Lehre vom heliozentrischen Weltsystem 1517 Tod Heinrich Isaaks (Komponist) 1517 Beginn der Reformation durch Martin Luther. 95 Thesen 1519-1522 Erste Weltumsegelung durch Magalhães 1519-1556 Kaiser Karl V. (geb. 1500 zu Gent)
473
1520-1569 Pieter Brueghel d.Ä. der ›Bauernbrueghel‹, flämischer Maler
1526-1529 2. Krieg Karls V. gegen Franz I. von Frankreich; Damenfrieden zu Cambrai
1521 Reichstag zu Worms; Wormser Edikt
1528 Tod Albrecht Dürers
1521-1526 1. Krieg Karls V. gegen Franz I.
von Frankreich;
Frieden zu Madrid
1522 Luthers ›Neues Testament‹ erschienen 1522/23 Vergeblicher Aufstand der Reichsritter unter Sickingen 1524 Tod Hans Holbeins d.Ä. 1524/25 Bauernkrieg 1526 Reichstag zu Speyer; Einschränkung des Wormser Edikts
1529 Türken belagern Wien 1529 Zweiter Reichstag zu Speyer 1530 Reichstag zu Augsburg 1531 Schmalkaldischer Bund der Protestanten gegen kaiserliche Religionspolitik 1531 Englische Kirche löst sich von Rom 1531 Tod Zwingkis;
Tod Riemenschneiders
1532 Carolina, deutsches Strafgesetzbuch eingeführt 474
1532 Nürnberger Religionsfriede angesichts der Türkengefahr 1533 Veit Stoß (Bildschnitzer) und Lukas van Leyden (niederländischer Maler) gestorben 1534 Gründung des Jesuitenordens durch Ignatius von Loyola 1534/35 Wiedertäufer in Münster 1536 Tod des Erasmus von Rotterdam 1536-1538 3. Krieg Karls V. gegen Franz I. 1538 Albrecht Altdorfer (Maler) gestorben
1542-1544 4. Krieg Karls V. gegen Franz I. 1545-1563 Konzil zu Trient 1545 Tod des Hans Baldung (genannt Grien), Maler 1546 Tod Martin Luthers 1546/47 Schmalkaldischer Krieg; Schlacht bei Mühlberg 1552 Moritz von Sachsen erzwingt Passauer Vertrag 1553 Tod Lucas Cranachs d.Ä. 1555 Augsburger Religionsfriede
1538 Bildung der Liga katholischer Reichsstände
1556-1564 Nach Abdankung Karls V. Kaiser Ferdinand I.
1541 Calvins Reformation in Genf
1564-1576 Kaiser Maximilian II.; 475
1608 Gründung der Protestantischen Union
Deutschland und Österreich angeblich 75% protestantisch 1571-1630 Johannes Kepler, Astronom 1575-1624 Jakob Böhme, deutscher Mystiker
1609-1614 Jülich-clevischer Erbfolgestreit; Cleve, Mark und Ravensberg an Brandenburg
1576-1612 Kaiser Rudolf II.
1609 Gründung der Katholischen Liga
1577-1640 P.P. Rubens, niederländischer Maler
1612-1619 Kaiser Matthias
1580-1666 Frans Hals, niederländischer Maler 1597-1639 Martin Opitz, Dichter 1599-1641 A. van Dyck, niederländischer Maler 1606-1669 Rembrandt, niederländischer Maler 1607-1676 Paul Gerhardt, evangelischer Kirchenlieddichter
1616-1664 Andreas Gryphius, Dichter 1618 Herzogtum Preußen an Brandenburg (Erbschaft) 1618-1648 Dreißigjähriger Krieg 1619-1637 Kaiser Ferdinand II. 1620 Schlacht am Weißen Berge; Friedrich V. geschlagen; Auflösung der Union
476
1624-1677 Angelus Silesius Johann Scheffler, mystischer Dichter 1625-1676 H.J. Ch. von Grimmelshausen, Epiker 1626 Sieg Tillys bei Lutter über Christian IV. von Dänemark 1629 Frieden zwischen Kaiser und Christian IV. In der Folge Restitutionsedikt 1631 Tilly nach Eroberung Magdeburgs von Gustav Adolf bei Breitenfeld geschlagen 1632 Sieg Gustav Adolfs über Tilly bei Rain am Lech (April); Tilly † 1632 Sieg der Schweden bei Lützen über Wallenstein; Gustav Adolf fällt 1632-1675 Jan Vermeer van Delft, niederländischer Maler
1635-1683 D.C. von Lohenstein, Dichter 1635 Sonderfriede von Prag zwischen dem Kaiser und den Sachsen ab 1635 Beteiligung Frankreichs (auf selten Schwedens) am Kriege 1636 Sieg der Schweden bei Wittstock 1637-1657 Kaiser Ferdinand III. 1637-1707 Dietrich Buxtehude, Komponist 1640-1688 Friedrich Wilhelm, der Große Kurfürst, von Brandenburg 1646-1716 G.W. Leibniz, Philosoph 1648 Westfälischer Friede zu Münster und Osnabrück; Augsburger Religionsfriede wiederhergestellt
477
1651-1732 B. Permoser, Bildhauer 1656-1723 J.B. Fischer von Erlach, Baumeister 1658-1705 Kaiser Leopold I. 1664-1714 Andreas Schlüter, Baumeister und Bildhauer 1675 Sieg des Großen Kurfürsten bei Fehrbellin über die Schweden; Eroberung SchwedischPommerns
1685-1759 Georg Friedrich Händel, Komponist 1685-1766 Dominikus Zimmermann, Baumeister 1697 Kurfürst Friedrich August I. von Sachsen wird König von Polen 1699 Friede von Karlowitz; Österreich Großmacht 1699-1754 Georg von Knobelsdorff, Baumeister
1681-1767 G. Ph. Telemann, Komponist
1700-1766 J. Chr. Gottsched, Schriftsteller
1683 Die Türken belagern zum zweitenmal Wien
1701 Friedrich III. von Brandenburg als Friedrich I. ›König in Preußen‹
1683-1699 Krieg gegen die Türken, Prinz Eugen, Eroberung Ungarns 1685-1750 Johann Sebastian Bach, Komponist
1701-1714 Spanischer Erbfolgekrieg 1704-1712 Dom zu Fulda von Chr. Dientzenhofer erbaut 478
1705-1711 Kaiser Joseph I.
1732-1809 Josef Haydn, Komponist
1711-1740 Kaiser Karl VI.
1733-1735 Polnischer Erbfolgekrieg; Vorfriede zu Wien
1713-1740 König Friedrich Wilhelm I. in Preußen
1740-1815 Matthias Claudius, Dichter 1740-1780 Kaiserin Maria Theresia
1713 Pragmatische Sanktion; Unteilbarkeit der Österreichischen Monarchie 1714-1718 Beteiligung Österreichs am Krieg zwischen Venedig und der Türkei 1714-1787 Chr. W. v. Gluck, Komponist
1740-1786 König Friedrich II. der Große, in Preußen 1740-1742 Erster Schlesischer Krieg; Friedrich II. gewinnt Schlesien
1722-1730 Dresdner Zwinger von Pöppelmann erbaut
1740-1748 Österreichischer Erbfolgekrieg um Geltung der Pragmatischen Sanktion
1724-1804 Immanuel Kant, Philosoph
1742-1745 Kaiser Karl VII.
1729-1781 Gotthold Ephraim Lessing, Dichter
1742-1799 G. Chr. Lichtenberg, Schriftsteller 1744-1745 Zweiter Schlesischer Krieg; 479
Friedrich II. siegt bei Hohenfriedberg
1759-1805
Friedrich Schiller
1744-1803
Joh. Gottfried Herder, Dichter und Philosoph
1763
Friede von Hubertusburg
1745-1765
Kaiser Franz I.
1763-1825
Jean Paul, Dichter
1746
Bündnis Österreich-Rußland 1746-1754
›Die Wies‹ von D. Zimmermann erbaut 1747
Sanssouci (bei Potsdam) von Knobelsdorff erbaut 1749-1832
Joh. Wolfgang Goethe
1756-1763
Der Siebenjährige Krieg; Schlachten bei Prag, Kolin, Roßbach, Leuthen, Zorndorf, Hochkirch, Kunersdorf, Liegnitz, Torgau 1756-1791
Wolfgang Amadeus Mozart 480