Harry Thürk
Taifun Aufzeichnungen eines Geheimdienstmannes Drittes Buch Auge des Sturmes Weimar 1988
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Harry Thürk
Taifun Aufzeichnungen eines Geheimdienstmannes Drittes Buch Auge des Sturmes Weimar 1988
Mit diesem Buch möchte der Autor seine Verbundenheit mit China und dessen sozialistischer Entwicklung bekunden und seine auf eingehenden Studien beruhende persönliche Ansicht über einen wichtigen Abschnitt der Geschichte unseres Jahrhunderts einbringen.
Buchclubausgabe © Harry Thürk 1988 Alle Rechte vorbehalten Lizenz-Nr. 444-300/86/88 - 7001 Gesamtausstattung: Gerhard Medoch Gesamtherstellung: Karl-Marx-Werk Pößneck V 15/30 Band I – III : 03680
Vorbemerkung l944 hat das OSS, der erste US-Geheimdienst, seinen hervorragenden Mitarbeiter Sidney B.Robbins, der bereits als Kind in China lebte, im Machtbereich der chinesischen Kommunisten angesiedelt, in Jenan. Spezialisten der OSSOstasienabteilung sahen voraus, dass die Kommunisten sehr bald ganz China beherrschen würden. Ihre Voraussage traf ein, 1949 entstand die Volksrepublik nach jahrzehntelangen revolutionären Kämpfen. Sidney B. Robbins, der als wenig auffallender Privatgelehrter mit Einwilligung der neuen chinesischen Behörden in der Pekinger Ping Tjiao Hutung residiert, ist inzwischen zum inoffiziellen »Kanal« zwischen führenden Geheimdienstkreisen Washingtons und hohen chinesischen Funktionären geworden, die ihr eigenes Spiel spielen. Ein Mann, über den viele Fäden laufen, und der, obwohl zuweilen von Zweifel und Depressionen geplagt, eine äußerst wichtige Verbindung darstellt. Dieser dritte Band seiner Aufzeichnungen beginnt in der Phase, die Chinas Ultralinke irreführend »Kulturrevolution« nannten und die heute von chinesischen Politikern und Historikern als »eine Zeit chaotischer Zustände, an denen nichts, aber auch gar nichts positiv war«, bezeichnet wird.
Sidney B. Robbins dokumentiert auf seine Weise diese politische Verirrung einer originär sozialistischen Partei, er durchschaut auch, wer sie herbeigeführt und mit welchem Ziel. Und er hält in seinen Aufzeichnungen fest, wie aus den Wirren der sogenannten Kulturrevolution letztlich die Voraussetzung erwächst, daß China und die USA sich einander entscheidend nähern. Auch an dieser Aktion ist Robbins unmittelbar beteiligt, er fühlt sich am Ziel seines langen Weges. Er schildert die streng geheimen, auf abenteuerlichen Wegen geknüpften ersten Kontakte
mit
dem
US-Sicherheitsberater
Kissinger,
die
schließlich zum Besuch des Präsidenten Nixon in China führen. Und er denkt über seine eigene Zukunft nach, als die so lange von ihm konspirativ vorbereitete Annäherung Chinas an die USA endlich in Dokumenten fixiert ist. Sidney B.Robbins will die Aufzeichnungen über sein bemerkenswertes, ungewöhnliches Leben, die er bereits aus China herausgeschmuggelt hat, veröffentlichen, weil er sie für ein aufschlußreiches zeitgeschichtliches Dokument hält. Er ahnt wohl die Probleme, die seine Absicht aufwirft und auf die ihn Freunde aufmerksam machen. Aber er unterschätzt sie…. Der Autor
Das Hauptquartier bombardieren
Meldungen Tue Star, Hongkong, 10. April 1965: Schnee in Moskau — Snow in Peking — Nebel um Vietnam
>... Die Empörung Pekings kennt wieder einmal keine Grenzen: da haben es doch am 4. März die letzten noch in Moskau ihr Studium zu Ende führenden jungen Chinesen verstanden, ein Grüppchen Gleichgesinnter um sich zu scharen, um vor der tief eingeschneiten Moskauer US-Botschaft mit Sprechchören gegen die Aktivitäten der USA in Vietnam zu demonstrieren. Solange sie nur das taten, sahen die sowjetischen Bewacher dieser Botschaft, deren Amt es ist, die Insassen exterritorialer Häuser zu schützen (wie international üblich!), gelassen zu. Als die Demonstranten dann aber tätlich wurden, über den Zaun kletterten, Tintenfässer und Steine in die Fenster
warfen, griffen die Polizisten ein und verdrängten die jungen, sehr aufgeregten Leute,
die sich wehrten,
>Schande! Schande!< schreiend
und
immer dabei
>Nieder
mit
den
Revisionisten!< (Nein, sie schrien nicht >Polizisten<, sondern >Revisionisten<,
was
auf
Unterscheidungsfähigkeit
eine
schließen
schier läßt!)
erstaunliche
Ergebnis:
US-
Botschafter Kohler protestierte bei UdSSR-Außenminister Gromyko
wegen
ungenügender
Schutzmaßnahmen,
und
Gromyko versicherte, man werde in Zukunft zusätzliche Sicherungen erwägen. Außerdem: einige Demonstranten erlitten Hautabschürfungen und ähnliche Blessuren. Das nun — wir nehmen uns die Freiheit, es so zu schildern, wie es der ReuterKorrespondent aus Moskau berichtete - führte zur Entdeckung einer bisher in der Medizin völlig unbekannten Form von Querschnittlähmung. Sie befiel ein paar Stunden nach der Demonstration ausschließlich chinesische Demonstranten, und auch die nur, solange sie sich auf sowjetischem Territorium aufhielten. Man mußte sie auf Krankentragen angeschnallt ausfliegen, nach Peking. Hier mußten sie zwar noch aus der Maschine getragen werden, aber sie konnten dem Ehrenspalier aus schulfreien Kindern schon — Zeichen der Besserung — zuwinken. Am Abend, als sie in der großen Pekinger Sporthalle vorgezeigt
und
als
Helden
des
Kampfes
gegen
den
Revisionismus gefeiert wurden, konnten sie — Wunder über Wunder — schon wieder stehen, gehen, klatschen, Maos rotes Gebetbuch schwenken und ähnliche Leistungen vollbringen. Der Pekinger Botschafter in Moskau protestierte bei den Sowjets wegen > brutaler Unterdrückung!, >Körperverletzung ernster Natur und ähnlichem. Was aber den Protestmarsch der jungen Helden in Moskau unserer Meinung nach so fragwürdig macht, ist ein Eindruck, der mit dem ganzen Theater geweckt werden soll und den der chinesische Botschafter in Moskau ebenso dick herausstrich wie der Brandredner des Abends in der Pekinger Sporthalle: Die Sowjets sind Verräter! Sie reden von Unterstützung Vietnams gegen die US-Angriffe aus der Luft, aber wenn entrüstete junge Leute nun den Moskauer BotschaftsAmerikanern einmal zeigen wollen, was Hammer und Sichel sind, dann werden sie — oh Graus! — von Sowjetpolizei zusammengeschlagen! Na, hört sich das nicht heroisch an? Oder eher ein bißchen heuchlerisch? Wir erlauben uns im Zusammenhang mit der Sache einige Fragen an die entrüsteten Pekinger Verbündeten Vietnams. Unserer Meinung nach ist Amerika berechtigt, in Vietnam seine Interessen wahrzunehmen. Trotzdem lassen wir auch andere Meinungen gelten, vorausgesetzt, sie sind ehrlich. Untersuchen wir das doch einmal:
1.
Die
Volksrepublik
China
unternimmt
große
Anstrengungen, international anerkannt zu werden, besonders in afrikanischen und lateinamerikanischen, aber auch in asiatischen und europäischen Staaten. Will sie sich denn über die alten, ehrwürdigen Prinzipien der Diplomatie hinwegsetzen und fortan (wir konstruieren da einen Parallelfall) ausländischen Pekinger Studenten
gestatten,
etwa
die
britische
Botschaft
mit
Tintenfässern und Steinen zu bombardieren, ohne daß die Polizei einschreitet? Sollte das eine Eigenart der von Mao erfundenen >revolutionären Diplomatie< sein? Und wenn ja: dürfen Studenten dann auch fröhlich in anderen Ländern chinesische Botschaften mit Müll bewerfen, ohne daß die Ordnungskräfte des Gastlandes sich nachher Beschwerden anhören müssen ? 2. Am 5. Februar landete auf dem Pekinger Flugplatz eine sowjetische sowjetischen
Langstreckenmaschine. Premier
Kossygin,
Sie einen
beförderte etwas
den
mürrisch
wirkenden, aber nicht zu unterschätzenden Mann, nach Hanoi, wo er mit der Regierung Nordvietnams das
traf
was
man
Vereinbarungen
über
unterkommunistischen Staaten
brüderliche Hilfe< nennt, es handelt sich um effektive Unterstützung Nordvietnams mit Waffen, Gerät und anderem, was es angesichts der amerikanischen Angriffe braucht.
Kossygin wurde auf dem Hinflug bei seinem Zwischenstop protollgemäß von Tschou En-lai begrüßt. Kossygin versuchte, das wissen wir aus verläßlicher Quelle, mit Tschou En-lai Fragen der Hilfeleistung für Vietnam zu erörtern. Der sowjetische Premier habe auf gemeinsames Handeln Moskau— Peking zur Hilfe für Hanoi gedrängt. Tschou En-lai verurteilte die amerikanischen Angriffe in Vietnam. Als Kossygin aber bat, sowjetischen Militärspezialisten die Durchfahrt bis Vietnam zu gestatten, erklärte sich Tschou En-lai außerstande, das zu genehmigen. Warum? Hat er die vielen Transparente in Peking nicht gelesen, die zur Hilfe für Vietnam auffordern? Oder verfolgt er den Sowjets gegenüber absichtlich eine Taktik, die im Endeffekt den Amerikanern nützt? 3. Selbiger Mister Kossygin landete fünf Tage später, am 10. Fe-bruar, wieder in Peking, aus Hanoi kommend, wo er amerikanische Luftangriffe selbst miterlebt hatte, was man von Mao Tse-tung nicht sagen kann, der Kossygin diesmal empfing. Der Russe, offenbar ein Mann, der nicht so leicht aufsteckt, verwendete zwei Tage darauf, dem Pekinger großen Chef klarzumachen, daß angesichts der schwierigen Lage Hanois wirtschaftliche,
politische und
militärische
Unterstützung
koordiniert von allen >Bruderländern< gegeben werden müsse. Und der große Steuermann, auf den man sich in Wind und
Wellen verlassen kann? Er lehnte ab. Gemeinsame Aktionen, so Mao, der große Beschützer aller kämpfenden Revolutionäre, kämen
nicht
in
Frage,
dafür
müßten
erst
die
Meinungsverschiedenheiten, über die marxistische Theorien beseitigt werden, die es zwischen China und der UdSSR gibt. Es ist verbürgt, daß der sowjetische Premier ob dieser peinlichen Ausrede nicht laut gelacht hat, er blieb höflich. Daß inzwischen die Hanoier den amerikanischen Bombenregen relativ schutzlos einstecken müssen, weil es den Sowjets nicht leichtfällt, Hilfsgüter über See nach Vietnam zu expedieren, scheint Mao nicht gerührt zu haben. Er ließ den Bittsteller Kossygin ergebnislos nach Hause fliegen. Warum? Wirklich wegen der bestehenden theoretischen Streitfragen? Oder etwa, um die Amerikaner nicht zu reizen? Weil die sonst eventuell ihre Bomber auch über die chinesische Grenze schicken könnten? 4. Ist das Verhalten des großen Steuermannes Mao vielleicht weniger auf die theoretischen Meinungsverschiedenheiten mit Moskau zurückzuführen als auf das Bestreben, sich aus dem Vietnam-Konflikt möglichst herauszuhalten? Sehen wir die Sache so, wie sie ist und wie Mao selbst sie darstellte, seinem alten amerikanischen Lautsprecher Edgar Snow gegenüber, den er immer nach Peking holt, wenn er sich den Amerikanern verständlich machen will. Wie Hsinhua meldete, gewährte er
ihm am 9. Januar ein Interview. Das ist eine hanebüchene Albernheit: Kein Mensch kann annehmen, daß Snow auch nur über die chinesische Grenze, geschweige denn in Maos Büro gekommen wäre, wenn der ihn nicht ausdrücklich hinbefohlen hätte! Außerdem aber: wenn der Parteichef einem Ausländer ein Interview gibt, dann interessiert die Landesbewohner gemeinhin, was der Chef gesagt hat! Das allerdings konnte man in Peking nirgends lesen, es stand in der >New Republic<, einem unbedeutenden
amerikanischen
Blättchen,
das
in
China
vielleicht ein Dutzend Spezialisten lesen. Wir zitieren: >Chinas Volksarmee wird Nordvietnam nicht zu Hilfe eilen, nein, nein, nein! Nur wenn die Amerikaner China selbst zu Lande angreifen, wird Chinas Volksarmee kämpfen. China hat eigene Probleme zu lösen. Und — jenseits der eigenen Grenzen zu kämpfen, ist doch verbrecherisch! Warum sollten die Chinesen das tun? Die Vietnamesen können sehr gut mit ihren Angelegenheiten selbst fertig werden. Im Übrigen könne man ja eine internationale Konferenz in Genf abhalten, um das Vietnam-Problem zu lösen. Derweil sollten ruhig US-Truppen um Saigon herum stehen, ähnlich wie in Süd-Korea. Denn — mit der Zeit würde den Amerikanern das Engagement in Vietnam ohnehin über werden, und sie würden wieder nach Hause gehen!<
Warum sagt Mao seinen Landsleuten nicht, was er den Amerikanern sagt? Warum läßt er das Snow-Interview nicht in China verbreiten? Darin steht nämlich das genaue Gegenteil von dem, was heute in allen Pekinger Zeitungen mindestens fünfspaltig aufgemacht ist und vor revolutionärem Anti-AmerikaEifer förmlich trieft! Welches Spiel wird hier betrieben? Wer soll getäuscht werden? Das eigene Volk? Die Amerikaner? Die Sowjets? 5. Und nun eine letzte Frage, die wir nur stellen können, weil wir aus Peking, Hanoi und Moskau sehr gut über die Sache informiert sind: Warum verschweigt Mao Tse-tung, daß er die Bitte seiner nordvietnamesischen Genossen nicht ablehnen konnte, Transporte sowjetischer Waffen (Gemeinsamkeit oder nicht!) durch China zu gestatten? Tatsache ist — wenngleich in China der Bevölkerung nicht mitgeteilt, die man statt dessen mit der Phrase von der Unmöglichkeit gemeinsamer Aktionen mit den Revisionisten füttert —, daß am 30. März zwischen China und der UdSSR, in Anwesenheit vietnamesischer Beobachter, eine vertragliche Vereinbarung über den Transport sowjetischer Hilfsgüter per Eisenbahn nach Vietnam, durch China hindurch, abgeschlossen wurde! Warum, angesichts dieser unwiderlegbaren Tatsache, das Mos-kauer Botschafts-Theater? Warum die demonstrative
Weigerung Kossygin gegenüber? Warum die beschwichtigenden Worte
Maos
über
Snow
an
die
USA?
Warum
die
Desorientierung der eigenen Bevölkerung? Welche langfristige Strategie zwingt Mao, so gewunden zu lügen und lügen zu lassen? Wir haben einen Hausportier, einen alten Mann, der aus Shanghai flüchtete, hier. Als er nachts in unserer Setzerei seinen Kontrollgang machte, warf er einen Blick auf diesen Artikel, und dann ließ er eine Bemerkung fallen, die uns so treffend erschien, daß wir sie anfügen: »Der alte Fuchs hat eine Karte im Ärmel!« Aber das ist natürlich nur die Meinung eines Hausportiers in der Redaktion des <Star
Hsinhua, März 1965: > Aus dem Pekinger Zoo erfahren wir, daß hier eine höchst seltsame Erscheinung zu beobachten ist: Seit längerer Zeit leben ein Fuchs und ein Hahn im selben Gehege und vertragen sich außerordentlich gut. Es wurden keine Versuche des Fuchses beobachtet, den Hahn zu beißen. Der Hahn seinerseits pflegt dem schlafenden Fuchs gelegentlich Ungeziefer aus dem Fell zu picken, wobei dieser nicht einmal aufwacht.<
An Holly
Einzelheiten
zu
der
Affäre
Lo
Jui-tsching
(lt.
Anforderung) - November 1965 -
In der Volksarmee, die Mao Tse-tung über seinen Vertrauensmann Lin Piao als Reserve bei seinem Kampf um die volle Macht betrachtet, vollzieht sich seit dem 5. Mai eine komplexe Entwicklung. Am 5. Mai druckte das theoretische Parteiorgan >Rote Fahne< einen Gedenkartikel zum 20. Jahrestag des Sieges über Hitlers Faschismus. Titel: >Gedenkt des Sieges über den deutschen Faschismus, kämpft bis zum Ende gegen den USImperialismus!< Autor: Lo Jui-tsching, 61, Mitglied des Sekretariats des ZK der KP Chinas, Vizepremier und Chef des Generalstabes
der
Volksbefreiungsarmee,
Armeegeneral,
ranggleich mit Lin Piao. (Lo Jui-tsching ist einer der ältesten Revolutionäre und Mitbegründer der roten Streitkräfte. Er war bis 1959 Minister der Sicherheitsorgane, wurde nach der Ent-
fernung Peng Te-huais von Lin Piao als Stellvertreter ins Verteidigungsministerium
geholt
und
zum
Chef
des
Generalstabes gemacht, während er in den Sicherheitsorganen durch Hsieh Fu-tschi ersetzt wurde.) Die Grundtendenz der Abhandlung, die nur schwach verklausuliert war, lautete: Angesichts der amerikanischen Bedrohung Vietnams müssen die Sowjetunion und China sowie alle anderen sozialistischen Länder jedes andere Problem zurückstellen und gemeinsam gegen den US-Imperialismus kämpfen. Von Mao wurde das sofort als Widerspruch gegen sein eigenes Konzept verstanden. Das bewies ein bereits am 9. Mai in der Jenminshibao gedruckter Artikel (an dem Platz, der für Mao-Verlautbarungen reserviert ist), in dem der Schreiber scharf und in verletzendem Tonfall erklärte, es werde keine Gemeinsamkeit mit der revisionistischen UdSSR im Kampf gegen die US-Aggression in Vietnam geben, da die UdSSR bekanntlich schamlos mit den USA paktiere und es unanständig wäre, mit ihr Gemeinsamkeil zu pflegen. Im übrigen solle Vietnam sich nicht so sehr auf Hilfe von außen verlassen, es solle das >Volkskriegs-konzept< Mao Tse-tungs studieren, das würde den Sieg auch so verbürgen. Als zusätzlichen Effekt kann man die unmittelbar danach
demonstrativ gezündete zweite chinesische Atombombe sehen (14. Mai). Nächste Station der internen Auseinandersetzung war ein Artikel in der Pekinger Intellektuellenzeitung >Da Kung Bao< vom 26. Juli. Hier hieß es im Rahmen einer ausführlichen Argumentation: Vorbedingung des gemeinsamen Kampfes gegen
den
Imperialismus
ist
die
Zerschlagung
des
meldete
sich
Revisionismus in der UdSSR. Etwa
fünf
Wochen
danach
Verteidigungsminister Lin Piao in der Jenminshibao mit einem langen Artikel >Es lebe der Sieg im Volkskrieg!. Die Argumente gegen ein Zusammengehen mit den Sowjets wurden vertieft, das, was Lo Jui-tsching verlangt hatte, kategorisch, aber ohne Namensnennung zurückgewiesen. Interessant war, daß Lin Piao hier auch die Karten Maos insofern aufdeckte, als er für China die Führungsrolle gegenüber den
jungen
Staaten
Asiens,
Afrikas
und
Südamerikas
beanspruchte. China wisse um besten, und zwar aus eigener Erfahrung, was für diese Länder gut sei. China müsse deshalb zu einem >dritten politischen Weltzentrum< werden. —
An Holly Schwerpunkt-Hinweis, Dezember 1965
Im Zusammenhang mit der uns bekannten Strategie Mao Tsetungs verweise ich auf eine weitere gesellschaftliche Kraft, die der Vorsitzende zielstrebig
mobilisiert, was selbst von
erfahrenen Gegenspielern hier, wie ich feststellte, noch nicht voll begriffen wird: Bereits am 13. Februar 1964 hielt Mao mit Teilnehmern aus dem Erziehungswesen, auch Studenten und Schülern, eine Aussprache
über
Mängel ab,
die
er
im
Schul-
und
Erziehungssystem Chinas entdeckt hat: Ausbildungszeiten seien zu lang, Lehrpläne zu stark mit Wissen befrachtet, Studien wären praxisfern, Prüfungen glichen Gerichtsverhandlungen usw. Aus Kreisen um den Staatschef Liu Shao-tschi erfuhr ich, daß man
das
Räsonnieren
Maos
als
lästige
und
letztlich
unqualifizierte Einmischung in die moderne Pädagogik empfand und sich nicht weiter damit befaßte. Das scheint als Fehler immer noch nicht erkannt zu sein. Mao war bei dieser Zusammenkunft nicht so sehr an tatsächlichen Reformen des Erziehungswesens interessiert, es kam ihm wohl eher darauf an, das unübersehbare Reservoir der Schüler und Studenten für sich zu gewinnen. Ich halte es für möglich, daß er (nach der Armee) das Gros der jungen Leute hinter sich scharen möchte, indem er
sich zum Fürsprecher von Behauptungen, Stoßseufzern und unterschwelligen Wünschen macht, die von Schülern zu allen Zeiten gegen ihre Lehrer und das Schulreglement überhaupt vorgebracht wurden. Soweit ich es im Augenblick beurteilen kann, legt Mao es auf eine Art > Sammlungsbewegung junger, revolutionsbegeisterter Leute gegen Pauker, Prüfungsschinder, Wissensüberschätzer und Fachbürokraten < an. Anzeichen dafür ist besonders ein umfängliches Papier, das im Augenblick unter Schülern und Studenten kursiert, und das — ähnlich wie Maos rotes Zitatenbüchlein — Kernsätze aus seinen Ausführungen im Frühjahr 1964 enthält. Über die Herkunft des begeistert verschlungenen Papiers gibt es keinerlei Aufschluß. Vertraute aus der Buch- und Zeitschriftenbranche ließen mir gegenüber durchblicken, nach Aufmachung und Typensatz sei es eindeutig ein Erzeugnis jener Druckereien, in denen die Publikationen der Armee hergestellt werden. Ich füge eine Anzahl von Zitaten an, die das von mir geschilderte Hauptanliegen der Mobilisierung einer zahlenmäßig bedeutenden Bevölkerungsschicht deutlichmachen können: >Die Zahl der Schuljahre sollte verkürzt werden< >Das Übermaß an Fächern fügt den Studenten unermeßlichen Schaden zu. Schüler und Studenten leben täglich unter ungeheurer Anspannung. Kurzsichtigkeit, bereits bei Kindern,
nimmt stark zu. Die Hälfte der Fächer muß gestrichen werden.< >In der Ming-Dynastie gab es zwei gute Kaiser: Tai-tsu und Tscheng-tsu. Der eine war Analphabet, der andere konnte zur Not einige Zeichen schreiben. Später kamen Intellektuelle an die Macht, und da wurde das Land schlecht regierte >Zu viel Buchwissen bringt keine guten Kaiser hervor, es ist sogar schädlich.< >Den Studenten sollte nicht verwehrt sein, während einer Vorlesung einzuschlafen. Von einem kurzen Schlummer haben sie viel mehr, als wenn sie dem Unsinn zuhören.< >Das herrschende System erstickt die Talente und zerstört die Jugend. Ich spreche mich dagegen aus.< >Laßt uns den fremden und einheimischen Dogmatismus im Bildungswesen über Bord werfen.< >Wir wollen die Opernsänger, Lyriker, Dramatiker und Schriftsteller aus den Städten hinausjagen und sie alle aufs Land schicken. Wer sich nicht an die Arbeit begibt, bekommt nichts zu essen.< >Es genügt, über Logik und Grammatik einige wenige theoretische Kenntnisse zu besitzen.!< >Man soll nicht zu viel lesen. Ein paar Dutzend Bände genügen, ein Übermaß an Lektüre wird aus euch das Gegenteil von dem machen, was ihr zu sein wünscht, nämlich
Bücherwürmer, Dogmatiker und Revisionisten.!< >Die
jetzige
Schulordnung
mit
ihren
Lehrplänen,
Unterrichtsmethoden und Prüfungsordnungen muß geändert werden, sie richtet nur Schaden an.< >Die kommenden Jahrzehnte werden für die Zukunft unseres Landes und das Schicksal der Menschheit von großer Bedeutung sein und müssen genutzt werden ... Junge Chinesen mit hohen Ambitionen müssen ihr Leben der Erfüllung unserer großen historischen Mission widmen. Für dieses Ziel muß unsere junge Generation entschlossen sein, den Rest ihres Lebens hartem Kampf zu weihen! ... Politik muß der Massenlinie folgen, es geht nicht an, alles den Führern zu überlassen ... Demokratie heißt, den Massen erlauben, ihre Angelegenheiten selbst in die Hand zu nehmen. Entweder man verläßt sich auf wenige Einzelpersonen, oder man mobilisiert die Massen zur Regelung ihrer eigenen Probleme ...<
Anfügung: Mao versucht, unter Verwendung von pseudopopulären, dabei ultralinken Losungen und Forderungen, an den meisten übrigen
Parteiführern
und
Staatsmännern
vorbei
seine
Gefolgschaft zu mobilisieren, um diese gegen den Flügel der Partei einzusetzen, der ihm im Wege steht.
Violet
13.2.1966 Schnee! Wie immer, wenn er in der Pekinger Gegend fällt, sind die Leute auf eine ganz besondere Weise freudig bewegt; Schnee verzaubert die Stadt. Er macht sie einigen der schönsten klassischen Malereien auf Rollbildern ähnlich, so dünn er auch fallen mag und so schnell ihn die Sonne wenige Stunden später in feuchte Luft auflöst. So gut wie immer fällt er in der Nacht und ist am Morgen die große Überraschung. Wie gestern. Die Idee eines Winterspazierganges in den Westbergen hatte Tjiuy Tong gehabt. Von ihm war am Samstag der Anruf gekommen, am frühen Vormittag, als die Kinder draußen in der Gasse
übermütig
einen
Vietnamkrieg
mit
Schneebällen
ausfochten. »Wirst du den ganzen Tag arbeiten?« Ich hatte das nicht vorgehabt. In ziemlicher Eile hatte ich im Januar eine neue Serie übersetzter Märchen redigiert. Schon Tage später waren sie in der Setzerei. Danach war ich in jenem eigenartigen Zustand des unentschlossenen Nichtstuns gewesen, dem erfahrungsgemäß entweder die Wahrnehmung einer von Holly kommenden Aufgabe folgen würde oder die Rückkehr zur chinesischen Epik, mit der ich inzwischen immerhin im 18.
Jahrhundert angekommen war, in der letzten, der TjingDynastie,
bei
einem
der
bedeutendsten
und
zugleich
aufschlußreichsten Werke über Chinas Feudalgesellschaft, das Mao Tse-tung für >durch und durch dekadent< hielt. Als Tjiuy Tong anrief, hatte ich einen kurzen, erfrischenden Spaziergang hinter mir, ich saß am Schreibtisch, vor mir eine der alten Ausgaben des >Traums der Roten Kämmen, und dachte über das Haus der Familie Tschia nach, in Shihtou, von dem die meisten Kenner behaupteten, damit sei Nanking gemeint gewesen. Während ich mit Tong sprach, klappte ich das Buch zu, ohne es eigentlich zu wollen. Ich mußte lächeln: Der Vorschlag, den er mir machte, war nicht nur reizvoll, er gab mir auch die Chance, wieder einmal einen meiner Informanten zu treffen, ohne daß dieser sich seiner Funktion überhaupt bewußt werden könnte. »Ich habe mit Chang Wen gesprochen«, teilte er mir mit, »vor einer Stunde. Er war in der Stadt, etwas besorgen. Und er sagte,
bei
Tagesanbruch
seien
die
Westberge
eine
Zauberlandschaft gewesen. Er ist da an einem solchen Platz ...« Chang Wen hatte ich lange nicht gesehen. Seine Frau traf ich gelegentlich in der Stadt, und sie hatte auch nach Abklingen der schlimmsten Reisknappheit die Gewohnheit beibehalten, bei
uns hereinzuschauen, falls sie in unserer Gegend war. Ich hatte richtig gerechnet, sie vergaß nicht, daß ich seit Tschungking ein verläßlicher Mitverschwörer war, und außerdem fühlte sie sich seit jener kritischen Periode, in der wir ihr ab und zu etwas Eßbares verschafften, auf besondere Weise mit uns verbunden. Daß wir den kranken, auf der Flucht befindlichen Chang Wen beherbergt hatten, verpflichtete sie noch stärker. Nun gut, so verschaffte man sich in diesem Handwerk Informanten. Warum sollte ich mir über den moralischen Aspekt dieser Technik Gedanken machen? Was ich hier tue, hat der Aufgabe zu dienen, alle anderen Überlegungen sind überflüssig. — Chang Wen war inzwischen in seiner neuen Funktion so gut wie sicher vor Verfolgung. Trotzdem verhielt er sich still, er zeigte sich selten in Peking. Seine Frau hatte mir erzählt, er habe sich verändert. Bei politischen Diskussionen mit Leuten, die er nicht kannte, stellte er sich naiv-unwissend, und er äußerte auch seinen Vorgesetzten gegenüber niemals eine Meinung, die von der allgemein verbreiteten abwich. »Über das, was ihn wirklich bewegt, sprechen wir, wenn wir allein sind«, vertraute sie mir eines Tages an. »Es ist schlimm. Wir haben eine Situation in der Partei, in der man nie genau wissen kann, auf welcher Seite der andere steht. Trotzdem — es gibt Genossen, die zueinander finden, um der Clique um Mao
Tse-tung Grenzen zu setzen, weil die Gefahr besteht, daß sie die Partei zerstört und die Volksrepublik aufs Spiel setzt...« Tong, mit dem wir wieder häufiger zusammenkamen, ließ sich über die Fraktionen innerhalb der chinesischen KP in seiner durch die Verbannung nicht zerstörten ironischen Art aus: »Es ist die geschichtliche Tragödie unserer Partei, daß es >Flügel< in ihr gibt, was eigentlich sonst
in einer modernen,
marxistischen Partei nicht üblich ist. Meist hatten wir zwei solche Flügel. Auch jetzt ist das so. Auf der einen Seite steht der Vorsitzende, und der hat natürlich recht, immer, denn er besitzt das Mandat des Himmels, wie alle früheren chinesischen Herrscher, davon ist er zutiefst überzeugt. Auf der anderen Seite stehen, wie schon früher so oft, die übrigen Parteimitglieder, und die müssen durch Umerziehung davon überzeugt werden, daß sie unrecht haben. Schwenken sie früh genug um, sind sie gute Leute, wie schon in der christlichen Bibel die Reumütigen, die umkehren, worüber sich der Herr freut. Wenn sie nicht umkehren, werden sie zu Parteifeinden. Ich frage mich manchmal, ob es noch eine Partei in der Welt gibt, die sich mit vergleichbaren Problemen herumplagen muß ...« Der alte Tong! Ohne Zigaretten und Zigarren, ein bißchen mager und zuweilen recht kurzatmig, aber es war schon erstaunlich, wie er seine Bestrafung und alles übrige hinter sich
gebracht hatte. Bei Ma Hai-te war er gut untergebracht. Dieser Doktor, obwohl er zu den ältesten Mitstreitern Maos gehörte, als eine Art Senior der in Peking residierenden Ausländer galt, ähnlich wie der Neuseeländer Rewi Alley, aber doch völlig anders als die alte Dame Strong, deren ganzer Ehrgeiz sich darin erschöpfte, >Vertraute Maos< zu sein, — hielt sich aus so delikaten politischen Angelegenheiten heraus. Er hatte gewiß seine alte Verbundenheit zu Mao behalten, aber es schien mir manchmal, als sei bei ihm im Laufe der Jahre doch eine Ernüchterung eingetreten und als gäbe er sich Mühe, daß niemand ihm das anmerkte. Gelegentlich handelte er nicht unbedingt nach den gängigen und gerade opportunen Weisungen des Vorsitzenden, sondern er traf seine Entscheidungen, wie im Falle Tongs, nach dem gesunden Menschenverstand. Er hatte Tong eine gutbezahlte und mäßig arbeitsintensive Stelle verschafft, er ließ ihn für den Dienstgebrauch medizinischwissenschaftliche Texte aus dem Englischen übersetzen und ein wenig Schriftverkehr nebenbei abwickeln. Das alles aber zu einer Zeit, in der ehemalige >Rechtselemente< wie Tong anderswo, von Spitzeln argwöhnisch kontrolliert, ein Paria Leben führten und in der überall sonst die von Mao für die Medizin gegebene Devise galt: >Kürzung der Mittel für Forschung und Orientierung auf die Bedürfnisse der Bauern,
was durch schnell ausgebildete Heilgehilfen geschehen kann. Weg von der nichtsnutzigen Kompliziertheit der sogenannten westlichen Medizin, zurück zu Akupunktur, Lanzette, zu Aderlaß und Moxibustion!< Tong lächelte, als ich ihn darauf aufmerksam machte. Über Ma Hai-te sprach er mit Dankbarkeit, aber er war eben ein unbe-stechlicher Beobachter: »Ein Mann, den ein großer Traum zu uns gebracht hat. Etwas tun für die Unterprivilegierten dieser Welt! Die Realität hat ihn eingeholt. Er merkt es, denn er ist klug. Aber er ist auch älter geworden, er fühlt sich hier zu Hause, seine Kinder werden erwachsen, hier bei uns. Deshalb wird er vielleicht seinen Traum nach und nach vergessen, aber er wird immer alles tun, was man von ihm fordert. Mit Maß und Verstand, und so, daß sein Gewissen ihn nicht plagt...« Wir waren bis Wentjüan, im Gebiet der Westberge, mit dem Bus gefahren, durch eine Märchenlandschaft, mit dick bereiften Bäumen, einer dünnen Schneedecke, die sich malerisch über die glasierten Ziegeldächer der Pagoden und Tempel gelegt hatte und bei deren An-blick man die alten Meister verstehen konnte, die das malten. An der Thermalquelle waren wir ausgestiegen und zu Fuß in Richtung Dschoudjiahsiang gegangen, ein Dorf, das ich noch aus der Zeit kannte, da ich mit Kellis' Kommando auf dem
Adlergipfel residiert hatte, während in Peking die Japaner ihre letzten Monate verbrachten. Chang Wen war damals bewaffnet durch diese Berge gezogen... Es lief sich gut in dem pulverigen Schnee. Die Luft war klar und trocken. Eine gelbliche Sonne vergoldete alles, vom schäbigsten Eselkarren bis zur hoch aufragenden einsamen Kiefer. »Weißt
du,
was
der
große
Steuermann
über
das
Gesundheitswesen gesagt hat?« fragte Tong. Ich ließ ihn zitieren, er hatte die Worte im Kopf. »Er schlug vor, das Gesundheitswesen umzubenennen, in Ministerium für die Gesundheit der feinen Leute in den Städten.« »Was hat er nur gegen die Städter?« »Er ist Bauer«, gab Tong lakonisch zurück. »In den Städten leben Arbeiter.« »Und feine Herren?« Tong sagte: »Er verlangt eine Änderung der Ausbildung. Ob du
es
glaubst
oder
nicht,
er
hat
erklärt,
die
viele
wissenschaftliche Lektüre für angehende Ärzte sei überflüssig. Absolventen der dritten Mittelschulklasse sollen künftig an den medizinischen Hochschulen zum Studium zugelassen werden. Und dieses Studium muß verkürzt werden. Es ist zu lang, meint
er, das macht dumm. Außerdem ist er dagegen, daß ein Arzt einen Mundschutz aus Mull trägt. Das richtet zwischen ihm und dem Patienten eine Barriere auf ...« Als ich mich nicht dazu äußerte, lachte er. »Ma Hai-te hat das auf den Tisch bekommen, als ich in der Nähe war. Er legte es mir hin und sagte, ich solle es abheften. Kein Kommentar. Aber er trägt seit ein paar Wochen eine große Plakette mit Maos Bild am Jackett. Eine von der Sorte, in der sich das Licht spiegelt. Da entstehen Strahlen um Maos Kopf herum, wenn man aus einem bestimmten Winkel hinzieht. Wie in dem Musical >Der Osten erglüht
Chang
Wen
kam,
während
wir
die
Pagode
bewunderten, auf der es schon kaum noch Schnee gab. »Haben Sie die Landschaft wieder erkannt?« rief er mir schon aus einiger Entfernung zu. Ich hatte mich nicht getäuscht, auch er bewahrte Erinnerungen an jene Zeit. Wieder war ich froh, daß er mich als Freund betrachtete. Seit dem Tag, an dem
ich mich in einer Gefängniszelle in Tschungking zum ersten Mal mit ihm unterhalten hatte, sah er in mir viel weniger den Amerikaner, eher den Mann gleichen Sinnes, denn ich hatte damals in der Tat einiges für ihn tun können. Vermutlich hatte ihm meine Intervention das Leben erhalten. Es kann nützlich sein, Leuten zu helfen, die auf der anderen Seite stehen! Chang Wen repräsentierte für mich jene Leute, die Mao zwar als Führer während der Revolutionsjahre akzeptierten, die ihn jedoch auch damals nicht unkritisch gesehen hatten und die ihn in den letzten Jahren, nach seinen verwirrenden Experimenten mit
der
chinesischen
Gesellschaft,
immer
skeptischer
beurteilten. Wenn es heute Widerstand gab, dann kam er von ihnen. Und wenn eines Tages vielleicht überhaupt jemand etwas in diesem Lande wieder umkehren konnte, dann würde es jemand wie dieser Chang Wen sein. Einer oder eine Gruppe. So gesehen, war Chang Wen für mich ein Widersacher. Aber unser Geschäft brachte es eben mit sich, daß man zuweilen zu den Gegnern besser Kontakt fand als zu jenen, auf die man zählte. »Die grünen Hügel unserer Jugend sind verschneit«, machte ich den Versuch, ihn nostalgisch einzustimmen, während wir uns begrüßten. Er trug einen Arbeitsanzug, darüber eine Felljacke, wie man sie bei Bauern oft findet, hatte eine nicht mehr neue Fellmütze auf und blinzelte vergnügt durch seine
verstaubten
Brillengläser.
Auch
seine
Kleidung
war
staubbedeckt. »Die grünen Hügel sahen uns bereits als entschlossene Männer«, erwiderte er gutgelaunt. Er trat an die Quelle, nahm die Mütze vom Kopf, wusch sich das Gesicht, schüttelte die Tropfen ab, und dann fuhr er fort: »Wir hatten Waffen in den Händen, Sie als amerikanischer Genosse ebenso wie ich, der chinesische Kommunist. Wenn das nicht ein viel zu wenig bekanntes Kapitel internationaler Gemeinsamkeit ist!« Tong
bemerkte
trocken:
»Man
müßte
den
Großen
Steuermann hierauf aufmerksam machen, er würde daraus ein Zitat formulieren. Klar, daß es ganz unangebracht ist, wenn Chinesen und Amerikaner sich über solche Nebensächlichkeiten wie Vietnam streiten.« Mit Chang Wen gab es eine Veränderung. War er eben noch heiler gewesen, so machte er plötzlich einen bissigen Eindruck. Dann entspannte sich sein Gesicht wieder, er lächelte. »Meine Frau wartet da vorn ...« Eine vage Handbewegung wies in die Richtung, aus der er gekommen war. Als er merkte, daß wir überrascht waren, bequemte er sich zu einer Erklärung, die ihm sichtlich zu schaffen machte. »Ich war so oft bei Ihnen zu Gast, Kamerad Robbins, auch meine Krau, und es waren manchmal Festtage, an denen wir uns
trafen. Heute ist für uns ein Festtag. Kommen Sie mit, Sie werden alles selbst sehen ...« Ich hatte durch das Gesprudel der Quelle gelegentlich ein anderes, aus einiger Entfernung kommendes Geräusch zu hören vermeint. Jetzt, während wir den Dadjüase verließen und am Fuße des Yangtai-Berges südwärts weitergingen, hinter Chang Wen her, der den Weg bestimmte, verstärkte sich das fremde Geräusch, das nicht in diese idyllische Landschaft von schneebestäubten Bäumen, Sonnengold und dunkelgrünen Nordhängen paßte. Es war das Rattern von Maschinen, zuerst noch unklar auszumachen, je weiter wir in das Tal gingen, aber um so deutlicher vernehmbar. Und dann standen wir auf einer kleinen Bodenwelle, unter uns das weite Tal, und wir sahen die Bagger, die Förderbänder, Transportlastwagen, die wie Käfer auf einem provisorisch angelegten Fahrweg entlangkrochen, zur Straße hin. Preßlufthämmer waren zu hören, und selbst aus dieser
Entfernung
sah
man
das
bläuliche
Licht
von
Schweißflammen. »Es ist nichts streng Geheimes«, sagte Chang Wen. »Die Bevölkerung der Bergdörfer weiß es, die Arbeiter sind nicht einmal zu Stillschweigen verpflichtet, und außerdem — die Amerikaner werden es auch wissen, seitdem sie ihre fotografierenden Flugzeuge regelmäßig über dem Land kreisen
lassen. Wir bauen unterirdische Anlagen hier, für den Fall eines Krieges. Da drüben wollen wir hin ...!« Er deutete auf eines der Pilgerhäuschen, wie sie von den Klöstern früher zur Beherbergung von wandernden Gläubigen errichtet worden waren. In den Bergen westlich Pekings hatte es unzählige solcher Klöster gegeben, einige existierten heute noch. »Irgend jemand hat es gepflegt«, sagte Chang Wen, als wir angekommen waren. »Wir benutzen es als Quartier für den Aufsichthabenden des Tunnelbaues. Der bin ich. Abgeordnet aus meinem Gästehaus, bis die Anlage unter der Erde hier fertig ist. Und da ist Chen Tsu-lin, und der junge Mann ist Dao-tsu ...« Chen Tsu-lin, seine Frau, trug eine Schürze über ihrer blauen Einheitskleidung. Sie sah freudig erregt aus, eine leicht ergraute Haarsträhne fiel ihr über die Stirn, sie strich sie weg, gab mir die Hand und sagte, daß sie sich so freue, mich und Tong zu sehen, gesund und als ihre Gäste. Nichts war mir klar, weder der Anlaß, noch, wer der junge Mann sein konnte, der mich und Tong höflich begrüßte, leicht lächelnd. Ich starrte ihn verblüfft an, als Chen Tsu-lin mich aufmerksam machte: »Mein Sohn. Erkennen Sie ihn?« »Er ist es!« versicherte mir die Mutter stolz. »Und, sehen Sie nur, wie groß er geworden ist! Ich sagte Ihnen einmal, daß er in
der Ölgegend arbeitet, oben im Norden ...« Das hatte ich in Erinnerung, aus der Zeit, da ich den von der Kwan-Tochter gestohlenen Reis für Chen Tsu-lin besorgte. Sie hatte den Sohn erwähnt, ja. Für einen Augenblick dachte ich darüber nach, daß nicht nur aus dem Tschungkinger Kind ein Mann geworden war — in der gleichen Zeit war ich zwanzig Jahre älter geworden! »Vater hat mir erzählt, daß er einen amerikanischen Genossen kennt, seit seiner Haft ...« Er sagte >Vater<. Ich konnte sehen, daß das Chang Wen stolz machte, sein Blick ruhte nachdenklich auf dem Gesicht des Dreißigjährigen, so, als wolle er herausfinden, wie sein weiterer Lebensweg wohl verlaufen würde;. Doch für mich war wieder einmal das warnende Stichwort gefallen: der amerikanische Genosse, der ich in den Augen dieser Leute war! Dao-tsu erkundigte sich auch sogleich: »Ist es wahr, daß die amerikanische Partei das Volk gegen den Krieg in Vietnam mobilisiert, Kamerad Robbins?« Was antwortete man auf eine solche Frage? Ich mußte meine Rolle weiterspielen. Niemand von diesen Leuten würde jemals nachprüfen können, wer ich in Wirklichkeit war und was mich hier hielt. Deswegen antwortete ich vorsichtig: »Es kommt darauf an, wie man die Dinge sieht. Die amerikanische Partei ist schwach. Aber sie kann eine Menge Aufklärungsarbeit in der
Bevölkerung leisten.« Wir führten unser Gespräch noch, als wir bereits um den festlich gedeckten Tisch in dem winzigen Innenraum dessen saßen, was Cheng Wen >Bauquartier< nannte und worin es außer
Schlafstellen,
einem Herd,
Sitzgelegenheiten
und
Arbeitspulten sogar ein Telefon gab. »Damit ich sofort in Peking Hilfe anfordern kann, wenn etwas nicht klappt«, erläuterte Chang Wen. Es gab natürlich auch einen technischen Baustab mit unzähligen Architekten und Leitern, es gab ein Militärkommando, das die Baustelle sicherte, aber Chang Wen oblag es, über alle Tagesarbeit die Übersicht zu behalten, und er entschied auch darüber, ob eine Komplikation auf der Baustelle ernst genug war, um Peking zu alarmieren oder nicht. »Trinken wir auf Dao-tsu«, forderte er uns auf, während Chen Tsu-lin uns >Löwenköpfe< vorsetzte, eine seltene Delikatesse in den letzten Jahren, diese in Öl gebratenen Fleischbälle. »Er
wird
heute
dreißig
Jahre,
und
er
hat
viele
Schwierigkeiten auf sich genommen, um aus dem fernen Landschou an diesem Tage zu uns zu kommen!« Während wir aßen, erkundigte sich Tong nach den näheren Lebensumständen des Sohnes, und wir erfuhren, daß er
Ingenieur in einer Raffinerie war, seine Frau die Tuberkulose überwinden konnte, er sie und den Enkel leider nicht hatte mitbringen können, aber — es würden ja eines Tages bessere Zeiten kommen! Chen Tsu-lin, die sich zwischen mich und ihren Mann gesetzt hatte, flüsterte mir auf englisch zu, daß sie sehr glücklich sei. Obwohl Chang Wen ihr zweiter Mann war, hatte der Junge sich entschlossen, ihn Mutter zu nennen. Seit jener Nacht, in der Chang Wen, von Sinkiang kommend, als Flüchtiger, bei dem Sohn seiner Frau, in einer Notunterkunft am Rande eines Ölfeldes, angeklopft und um eine Schale Reis gebeten hatte. »Damals sind sie Freunde geworden«, sagte sie. »Ich habe es lange nicht gewußt, erst jetzt haben sie es mir gesagt. Dao-tsu kannte das Vorleben Chang Wens, ich hatte mit ihm darüber gesprochen. Er war, ohne ihn noch gesehen zu haben, voller Respekt für den Mann, den Tschungkings Gefängnisse nicht hatten umbringen können und der unserer Partei treu geblieben war, obwohl man ihn nach seiner Flucht in Jenan wie einen Verbrecher behandelte. Nun stand dieser Mann eines Nachts vor seiner Tür. Da entschied sich Dao-tsu endgültig für ihn. Er ist sehr nachdenklich geworden, seit damals. Vieles besieht er sich jetzt genauer als früher, bevor er urteilt'...« Sie mußte das Geflüster unterbrechen, weil Chang Wen sie
erinnerte: »Wenn du, liebe Frau, mit dem Kameraden Robbins englisch sprichst, werde ich mich bald mit meinem Sohn in russisch unterhalten!« Auch Dao-tsu hatte in der Sowjetunion studiert,
in
Baku,
an
einem
Institut
für
Erdölförderungstechnologie. Und ich merkte wenig später, daß ich inmitten von Leuten saß, die genau das Gegenteil von dem für richtig hielten, was Mao Tse-tung anstrebte. Als ich nämlich Dao-tsu fragte, ob er in der gegenwärtigen Atmosphäre nicht lieber über seine Ausbildung in Baku schwieg. »Natürlich ist es klug, manchmal zu schweigen«, gab er zurück. »Aber letztlich kann man doch nicht das leugnen, wovon man überzeugt ist. Vielleicht kennen Sie das aus Peking ein bißchen anders — ich lebe unter Arbeitern, die hart zu schaffen haben, und da lügt man nicht, auch wenn die Bilder des neuen Gottes noch größer werden ...« Es war die überraschendste Erfahrung, die ich seit langer Zeit machte:
ein
junger,
gebildeter,
in
der
Volksrepublik
aufgewachsener Mann, der in einer Offenheit über gegenwärtige politische Probleme sprach, die ich nicht mehr gewöhnt war. Chang Wen lächelte nur. Die Mutter schwieg. Tong machte ein so unbeteiligtes Gesicht, daß man es nur als stille Zustimmung werten konnte. »Sie kennen das Leben meines Vaters«, machte er mich
aufmerksam, als ich ihn auf die Ansicht Maos hinwies, daß in Ghina der Klassenkampf nötig sei, entschlossene Aktionen gegen die Revisionisten und unbedingtes Vertrauen in die Ideen des großen Steuermanns. »Ich habe lange darüber nachgedacht. Mir ist klargeworden, daß er im Recht war, als er in Wuhan gegen den Unsinn auftrat, der dort gemacht wurde.« »Könnte er nicht als Direktor in Wuhan mehr als hier leisten, für China?« Er aß etwas von dem Gemüse, das die Mutter auftrug, und erwiderte: »Alle Chinesen, Arbeiter, Bauern, Wissenschaftler und Künstler könnten heute mehr leisten, wenn nicht ein Phantast seine Fieberträume fortwährend der Gesellschaft als großartige Ideen aufzwingen und damit allen wahren Erfolg ihrer Arbeit zerstören würde!« Der Phantast ist Ihrer Meinung nach ...?« Er sprach es aus, ohne zu zögern, er dämpfte nicht einmal seine Summe. »Mao Tse-tung, natürlich! Schauen Sie sich an, Genosse Robbins, was er aus China gemacht hat! Ein Land des Fraktionskampfes, in dem einer den anderen denunziert, Kinder in den Kommunen ihre Eltern der Bestrafung zuführen, weil diese geäußert haben, das Gemeinschaftsessen sei nicht so gut wie das, was die Großmutter früher kochte! Klassenkampf nennt er das! Es ist Schwachsinn. Studenten spucken heute vor ihren Professoren aus und nennen sie
antikommunistische Verbrecher, nur weil sie die vom Staat beschlossenen Lehrpläne einhalten wollen. Da kann jeder von jedem beschuldigt werden, keiner verteidigt jemanden. Eine Versammlung jagt die andere, ein Plan wird vom anderen umgeworfen, es gibt keine Ordnung mehr, wir haben kein Bohrwerkzeug, wenn wir das aber laut sagen, werden wir zu Gegnern Mao Tse-tungs erklärt, der behauptet, man könne allein mit dem Bewußtsein ebensogut bohren wie mit Diamantkronen! Aus unserem Betrieb sind alle Großmaschinen abgezogen worden, niemand wußte, wohin. Heute ist bekannt, daß die Maschinen ganz oben im Norden, an der mongolischen Grenze und an der sowjetischen, Bunker ausheben, Schützenstellungen, unterirdische
Munitionslager.
Nennt
man
das
in
der
amerikanischen Partei etwa Klassenkampf? Nein, Genosse Robbins, wir waren, als ich in Landschou zu arbeiten begann, ein glückliches Land. Es gab noch eine Menge Armut, aber keinen Hunger, es gab Mißhelligkeiten, mehr als genug, aber wir hatten Zuversicht und eine gesicherte Perspektive. Wissen Sie, was wir heute sind, Kamerad Robbins?« Er gab die Antwort selbst: »Wir sind ein Experimentierfeld für die unberechenbaren Vorstellungen, die sich ein einsamer Mann vom Sozialismus zurechtgezimmert hat und die er als göttliche Erleuchtung verstanden haben möchte. Sich selbst zwingt er der Partei auf,
als gebe es nur seinen Kopf und sonst keinen mehr auf der Welt. Was haben wir davon? Eine zerrüttete Wirtschaft, Bauern, die nicht mehr alt werden, verwirrte Schulkinder und Studenten, Künstler, die als Schweinehirten arbeiten müssen, eine Außenpolitik, die keine neuen Freunde bringt, uns dafür aber den alten entfremdet. An den Grenzen zur UdSSR massieren wir Truppen. Dagegen, daß die USA unsere vietnamesischen Genossen abschlachten, haben wir nur Druckerschwärze. Mit den Sowjets reden wir nicht einmal mehr! Was haben sie uns getan? Was soll der Unsinn vom Revisionismus, von der Restaurierung des Kapitalismus? Vielleicht kann man das jemandem erzählen, der gar nicht weiß, wo die UdSSR liegt, aber uns, die wir sie kennen ... ? Die Sowjets wollten uns vor Fehlern warnen, die sie selbst beinahe oder tatsächlich gemacht haben und die sie uns ersparen wollten, deshalb nennen wir sie heute Feinde! Wer das zu verantworten hat und wer sich mit seinen skurrilen Ideen über die Partei stellt, wird nicht als verdienstvoller Mann in die Geschichte eingehen, so groß seine Verdienste in der Frühzeit der Revolution auch gewesen sein mögen ...« Es fiel mir auf, daß niemand Dao-tsu widersprach. Weder Chang Wen noch seine Mutter bremsten ihn. Wenn er an seiner Arbeitsstelle so sprach, konnte es nicht mehr lange dauern, bis
man ihn >an die Graswurzeln schickte, wie eine Menge aufmüpfiger Intellektueller. Er lachte laut auf, als ich ihm das zu bedenken gab. Ein schwer zu vergessendes Bild: der junge Mann mit dem sehr kurz geschnittenen Haar, das seinen Kopf bedeckte wie eine Kappe, die Eßstäbchen erhoben, ein Stück Gemüse zwischen ihnen. Er sagte: »Kamerad Robbins, ich bin an den Graswurzeln! Man kann mich nicht mehr dorthin schicken, wie andere. Ich lebe das Leben eines Arbeiters. Um mich herum sind ebenfalls Arbeiter. Was meinen Sie, was zwischen uns gesprochen wird? Glauben Sie, wir wiederholen den ganzen Tag die Sprüche aus dem roten Buch?« »Aber ihr müßt sie gemeinsam aufsagen«, warf Tong ein, »wie alle anderen auch!« »Wir absolvieren das wie einen Gang zur Toilette. Wissen Sie, der Kommunismus in China wird bleiben, wenn die Sprüche aus dem roten Buch längst vergessen sind und niemand mehr genau weiß, wie eigentlich das Gesicht auf den großen Ansteckplaketten aussah!« »Vielleicht wird der Sozialismus überhaupt erst dann aufblühen«, meinte Tong. Er griff nach der Trinkschale. Chang Wen hatte aromatischen Apfelschnaps eingeschenkt, vermutlich wurde er in irgendeinem Dorf in den Bergen heimlich gebraut.
Nachdem wir getrunken hatten, machte sich Tong mit einer Geste in Richtung des Bauplatzes lustig: »Und — das alles wird gemacht, weil die Sowjets das chinesische Volk vernichten wollen, wie?« »Ebenso wie die Tunnel unter Peking«, sagte Chen Tsu-lin. »Zuerst riß man alte Mauern ein, schaffte abgesperrte Bauplätze, schrieb über eine Metro. Unser Büro hielt diese Irreführung nicht für gut. Die Amerikaner würden mit ihren Spionageflugzeugen sowieso herausfinden, wie die Tunnels unter Peking verlaufen. Vor zwei Wochen erwies sich, daß wir recht gehabt hatten. Eine amerikanische Zeitschrift druckte Infrarotaufnahmen aus großer Höhe ...« Draußen wurde es kälter. An den Fenstern des Häuschens zeigten sich Eisblumen. Chang Wen erhob sich und schob Holz in den Herd. Er brachte die Suppe mit, die gar war. Während er sie ausschenkte, brummte er mürrisch: »Nun muß nur noch jemand das Kunststück fertigbringen, dem großen Steuermann beizubringen, was Infrarot ist und was man damit anstellen kann ...« »Wird schwer sein«, sinnierte Tong. »Infrarot hat es in Jenan nicht gegeben, also gibt es das auch jetzt nicht.« Chang Wen und seine Frau trafen sich wegen der Nachbarn in Peking meist hier draußen. Chen Tsu-lin war schon in ihrer
Jugend konspirativ tätig gewesen, und Chang Wen verfügte über die gleichen Erfahrungen, sie wußten, weshalb sie kein Risiko eingingen. Einen Augenblick lang stellte ich mir die Frage, ob ich sie verraten würde, wenn das unserer Sache diente. Ich würde es tun, gestand ich mir ein. Aber da die beiden für mich in Freiheit viel wichtiger waren, nämlich als Informanten, stellte sich ja das Problem nicht. »Vorher haben wir uns zuweilen in einem Kloster getroffen, in dem es ein paar Mönche gibt, die Räume übers Wochenende vermieten«, sagte Chen Tsu-lin. Sie sagte nicht, welches Kloster es gewesen war, es gab deren in den Bergen eine Menge. Als ich später mit Chang Wen für einige Zeit allein war, wir machten einen Spaziergang, der uns bis in die Nähe der Rausteile führte, brachte ich die Rede auf Vietnam. Chang Wen zuckte die Schultern und meinte: »Was wir da machen, ist Verrat. Es gibt kein anderes Wort dafür.« Mit einer ausladenden Geste wies er dorthin, wo sich die Maschinen in den Berg gefressen hatten, wo Erdhaufen lagen, Bagger unentwegt Lastwagen beluden. »Während
die
Amerikaner
Vietnam
bombardieren,
beaufsichtige ich einen Bauplatz, der angeblich nötig ist, um China gegen die Sowjets zu schützen. Wissen Sie, wie ich mir zum ersten Mal im Leben vorkomme?« »Wie ein unwissender Mann?«
»Wie ein verdammter Opportunist«, sagte er. »Ich hätte nicht gedacht, daß ich das eines Tages werden würde. Aber — ich werde so einfach nicht aufstecken. Es gibt genug Genossen, die es an der Zeit finden, daß etwas unternommen wird!« »Und — man muß etwas unternehmen?« Er blieb stehen, sah mich forschend an. »Was würden Sie tun, als Kommunist, wenn in Ihrer Partei eine kleine Gruppe ihre früheren Verdienste und heutige Position dazu benutzte, einen Weg zu diktieren, von dem die meisten anderen überzeugt sind, daß er in die Irre führt?« Ich zog es vor, gedankenvoll zu nicken. Es war wohl besser, die Dinge nicht weiterzutreiben. Worüber ich Aufschluß haben wollte, das Kräfteverhältnis innerhalb der Partei, das blieb trotz aller offenen Worte, die hier gefallen waren, unklar. Noch stand alles auf des Messers Schneide. Letztlich würde wohl Maos Prestige den Ausschlag geben. Ich wechselte das Thema und sprach davon, daß ich nach Hawaii zu reisen beabsichtigte, irgendwann in diesem Jahr, wenn es sich einrichten ließ, daß Sandy sich in Akupunktur unterweisen ließ, neuerdings, den Weisungen Maos über die Bevorzugung traditioneller Medizin folgend, daß Tongs Sohn Jan unlängst sein Ingenieursexamen gemacht hatte, einer der letzten Prüflinge, denn es war schon bekannt, daß alle Examen
in Zukunft wegfallen würden, auf Weisung des Vorsitzenden. Und unsere Kinder — nun, Sue würde dieses Jahr sechzehn, Burt war gerade vierzehn geworden, man erkannte an den Kindern, daß man so langsam ein älterer Herr wurde ... Als wir zurückkamen, hatte Chen Tsu-lin schon Kaffee gebrüht, sie wußte, daß Tong ihn gern trank und auch ich ihn dem Tee vorzog. Sie hatte ihn über Kollegen aus dem Büro bekommen, die ihn aus dem Ausland mitgebracht hatten. Wir aßen Sesamkuchen und jenes billige, knallrot eingefärbte Kindergebäck, das wieder ab und zu im Handel war und das überraschend gut schmeckte. Wir spielten sogar, als sich herausstellte, daß Daotsu Karten spielte, ein paar Runden Poker. Draußen wurde der Tag nach und nach grau. Das Geräusch der Bagger und Erdförderbänder riß nicht ab. Und dann hupte draußen, vor dem Gebäude, ein Fahrzeug. Chang Wen ging hinaus. Daotsu kratzte ein paar Eisblumen vom Fenster. Ich weiß nicht, was mich bewog, neben ihn zu treten und ebenfalls einen Blick nach draußen zu werfen. Ich glaubte, meinen Augen nicht trauen zu können, es war ein Jeep, darin saß ein junger Mann, der vor Chang Wen eine Zeichnung ausbreitete. Sie sprachen miteinander, und ich war so überrascht über das Auftauchen des jungen Mannes, daß Chen Tsu-lin mich zweimal fragen mußte, ob ich noch Kaffee möchte, bevor ich es
hörte. »War das nicht Di-di?« fragte ich Chang Wen, als er zurückkam. Er lächelte. »Ein sehr begabter junger Ingenieur ist aus ihm geworden. Er ist seit kurzem für eine bestimmte technische Ausrüstung in den Tunnels zuständig ...« »Der Sohn der Kohlenfrau aus der Ping Tjiao Hutang!« Chang Wen nickte. Entwaffnend freundlich verriet er mir: »Es ist verboten, über Arbeiter, die hier tätig sind, Auskunft an Fremde zu geben. Nur — daß dieser Junge ein brauchbarer Mensch ist, das darf ich Ihnen mitteilen. Brauchbar in jeder Beziehung!« »Ich werde mir immer der Ehre bewußt sein, die Sie mir erwiesen haben, dadurch daß Sie diesen Tag mit uns verbrachten«, versicherte uns der dreißigjährige Daotsu, als wir aufbrachen. Chang Wen und seine Frau winkten uns lächelnd nach. Zwei Menschen, die getrennt leben mußten. Das Schwert der Gefahr über ihren Köpfen, waren sie glücklich, dem Sohn einen schönen Tag bereitet zu haben, gemeinsam mit Fremden, die sie für Freunde hielten. Wenn jemand nicht zu unterschätzen war, dann waren es wohl jene chinesischen Kommunisten, die offen oder verdeckt gegen Mao standen. Man mußte mit ihnen rechnen. — Es roch nach feuchtem Holz, nach Nudelbäumen, ein bißchen auch nach Moder, als ich mit Tong zurückging den
langen Weg bis zur Busstation. Der Schnee war verschwunden. Verdunstet in der trockenen Luft. Was tat's, es würde vielleicht in der Nacht zum Sonntag wieder schneien. Wieder würden die Äste dick bereift sein, die Landschaft würde den alten Malereien gleichen ... An der Bushaltestelle gab es eine Mauer mit einem riesigen Mao-Bild, das mir vorher gar nicht aufgefallen war. Jetzt aber konnte man das Porträt nicht übersehen, es war von zwei Scheinwerfern
angestrahlt.
Maos
Gesicht
wirkte
rosig,
pausbäckig, es sollte wohl bewußt an die Neujahrsbilder erinnern mit den vergnügt grinsenden Gesichtern dicklicher Babys. Am Kinn hatte Mao auch auf diesem Bild die Warze, naturalistisch genau abgebildet. Als ich Tong darauf aufmerksam machte, verzog er das Gesicht und knurrte: »Wohin man auch geht, sein Auge ist immer da. Oder ein Sprüchlein von ihm. Ich glaube, er und das US-Marine Corps haben die beiden besten Propa-gandaapparate der Welt!« Heute früh, am Sonntag, als Sandy, die Dienst hatte, gerade in das kleine Austin-Taxi stieg, mit dem sie während der Wintermonate zur Stadt zu fahren pflegte, erschien Tso Wen, in dicke Steppkleidung gehüllt, eine unförmige Hasenfellmütze auf dem Kopf. Er trank Tee mit Rum, wärmte sich auf und überbrachte mir von Kang Sheng die Mitteilung, daß der
Vorsitzende, der sich immer noch in Hangtschou befand und weiter dort verweilen würde, leider auf absehbare Zeit keine Chance sah, mich dort zu empfangen. Er, Kang Sheng, stehe zur Verfügung, jederzeit, der Vorsitzende würde durch ihn informiert werden. — Draußen auf der Gasse erschien, nachdem ich Tso Wen verabschiedet hatte, Di-di. Immer noch nannte ich ihn so, und er nannte mich >Onkel Sid<, obwohl er nun ein erwachsener Mann war, auf der Baustelle in den Westbergen sogar eine Respektsperson. Ich würde mit keinem Wort verraten, daß ich ihn dort gesehen hatte. »Mutter ist krank«, vertraute er mir an. »Sie hat Rheuma. Hängt mit ihrer früheren Arbeit zusammen. Manchen Tag kann sie ihre Glieder kaum bewegen. Ich bringe ihr etwas zu essen ...« Er hatte ein Blechgeschirr mit Reis und Gemüse bei sich, zum ersten Mal sah ich, daß Di-di um den linken Oberarm eine breite Binde aus rotem Stoff trug. Die Schriftzeichen, darauf waren einigermaßen lesbar. Da stand >Revolution ist gut<. Einer der aus dem Zusammenhang genommenen Sprüche des Vorsitzenden. Als Di-di meinen Blick sah, klärte er mich auf: »Ich war Mitglied der Gruppe der Kulturrevolution an der Universität...« Er sagte nicht, wo er jetzt arbeitete. Diese >Gruppen für Kulturrevolution< waren geschaffen
worden,
um
Maos
Forderung
nach
Stärkung
des
kommunistischen Bewußtseins nachzukommen. Als oberste Kontrolleure dieser Bewegung galten offiziell Peng Dschen, der Pekinger Oberbürgermeister, Lu Ting-yi, Propagandachef des ZK der KP Chinas, Dachou Yang, im selben ZK für Kultur und Erziehung
verantwortlich,
Wu
Leng-hsi,
Direktor
der
Nachrichtenagentur Hsinhun, und Kang Sheng, dem man die Position der >grauen Eminenz< zuschrieb, in diesem Gremium, das >Fünfergruppe< genannt wurde. »Revolution ist gut«, las ich laut, gespannt auf Di-dis Reaktion. »Steht in dem kleinen roten Buch«, sagte er nur. Und dann, bevor er mit dem Essen zu seiner kranken Mutter ging, verriet er mir auch noch mit einem rätselhaften Lächeln, auf welcher Seite der Spruch stand. Ende der nächsten Woche will David Kung vorbeikommen...
An Holly Hinweise, März 1966
1. Neueste These Mao Tse-tungs, hier bekanntgegeben:
Revisionismus und Imperialismus sind als feindliche Elemente« gleichzusetzen. gefährliche
USA und UdSSR
sind
>zwei gleich
Supermächte.< Es ist das erste Mal, daß UdSSR
und USA öffentlich von einem kommunistischen Politiker so nebeneinandergestellt werden. Man empfindet es hier in weiten Kreisen der Partei schon als normal, daß Mao gleichzeitig die Fortführung des Klassenkampfes fordert (Da Kung Bao). 2. Die von Mao angeheizte Stimmung gegen die Sowjets findet
bei
einem
zahlenmäßig
beträchtlichen
Teil
der
Parteimitglieder keinen Beifall. Aber die Betreffenden fürchten sich vor dem Stigma des Revisionismus, wenn sie sich gegen die >Weisheit Maos< äußern. Sie schweigen daher und fallen als Opposition gegen Mao zunächst aus. Mao hat — über eine Einstimmenmehrheit, die er im Büro des ZK in Peking für seine Ideen hat — angefangen, den aktiven und passiven Widerstand im Führungsorgan zu brechen. Die Parteiführung in Shanghai hat er bereits auf seine Seite gebracht. Mit Hilfe von Yao Wenyuan und Tschang Tschun-tjiao beherrscht er die dortigen Medien. Es wird vermutet, daß Mao in eine neue >Fünfergruppe< seine beiden Shanghaier Vertrauten Yao Wen-yüan und Tschang Tschun-Ijiao lancieren will. Ersterer ist ein als radikal bekannter Literaturkritiker, >Revisionisten<
der
sich
bisher
zumeist
abgestempelten
mit
den als
Schriftstellern
auseinandergesetzt hat. Tschang Tschun-Ijiao der
Propagandaabteilung
des
ist
Leiter
Shang-haier
Parteikommitees. Beide sind sehr eng mit Tschiang Tsching befreundet und können als ergebene Ausführer der Weisungen Maos betrachtet werden. 3. Die >Shanghaier Gruppe< führte bereits einen ersten Schlag: In einer vernichtenden Kritik in einer Shanghaier Zeitung werden alle Leute, die sich in der Art Peng Teh-huais den Weisungen Maos widersetzten, als Renegaten und Feinde bezeichnet. Peng Tschen >begab sich zum Zwecke der Erholung auf eine längere Reise<.(!) Ich werte diese Vorgänge als die erste entscheidende Aktion Maos, die eine Basis für weitere Operationen in der Hauptstadt schafft. 4. Es ist auffallend, daß in Maos Äußerungen seit langer Zeit der Begriff >Partei< sehr bedingt verwendet wird. Mao spricht (oder läßt sprechen) im wesentlichen von seinen >Ideen< und von >Elementen in der Partei, die einen kapitalistischen Weg einschlagen!. Auf diese Weise distanziert er sich zwar nicht offiziell von dem, was normalerweise >die Partei< ist, aber er teilt sie auf in >Elemente< und sich selbst. Wobei er keinen Zweifel läßt, daß er die geistige Führung beansprucht. 5.Durch Lin Piao (in dessen Schriftstück >Über den
Volkskrieg< ließ Mao verbreiten, daß er in der Volksarmee vor allem das >Instrument für die Weiterführung der Revolution< sieht, d.h. einen vorrangig innenpolitischen Machtfaktor. 6. Ausspruch Maos (wörtlich) anläßlich eines Banketts in Shanghai am 24.11.1965 für die achtzig Jahre alt werdende Anna
Louise
Strong:
»Ich
habe
dem
sowjetischen
Ministerpräsidenten Kossygin gesagt, wenn Sie mich einen Dogmatiker nennen würden, so wäre das für mich eine Ehre . Ich bin bereit, zehntausend Jahre gegen den Revisionismus zu kämpfen. Ihnen zuliebe, Herr Kossygin, will ich vorerst einmal neuntausend Jahre für diesen Kampf veranschlagen.« Unter der Hand wurde in Peking verbreitet, Kossygin habe massive Hilfsmaßnahmen gegen unsere Luftangriffe auf Vietnam vorgeschlagen, beispielsweise bot er an, sowjetische Fliegerkräfte
auf
Feldflugplätze
nahe
der
chinesisch-
vietnamesischen Grenze zu verlegen, damit sie Angriffen auf Nordvietnam begegnen könnten. Mao lehnte das schroff ab, er wünsche keine neue »Ausbreitung fremder Truppen auf chinesischem Boden<. Ich verweise auf den Umstand, daß dies mir nicht auf dem Wege von Informationen durch Kang Sheng mitgeteilt wurde, es wurde mir von dessen Beauftragtem (Tso Wen) gezielt als Privatinformation gegeben. 7. Das folgende Gedicht (Autor: Kuo Kuo-tung) soll als
Beispiel dafür dienen, auf welche Weise das Image Maos angehoben und er zu einer Kultfigur gemacht wird, deren Gedanken heilig und unanfechtbar sind wie die eines Gottes. Hier wird, an der übrigen Parteiführung vorbei, hauptsächlich durch Armeepublikationen, aber im wachsenden Maße auch durch die übrigen, der absolute Führungsanspruch Maos psychologisch vorbereitet. Morgendliche Studien Ganz früh sitzen die Geologen vor ihren Zelten, atmen die frische Morgenluft und studieren die Ideen des Vorsitzenden Mao. Jeder Satz ist wie ein erfrischender Regentropfen, wie Tau. Jedes Wort wie ein Frühlingslüftchen, öffnet Fenster für die Gedanken. Am Flußufer arbeitend erzittern unsere Herzen im Sturm der fünf Erdteile. Auf Bergeshöhen entwerfen wir die Züge des Kommunismus. Erregende Weisheit, seine Worte! Sie schärfen den Blick, das Urteil. Worte voller Wahrheit,
Kraft verströmend. Sonne erhell! die weißen Wolken über den Gipfeln, Tau netzt das grüne Gras, und die Geologen, mit den Werken Mao Tse-tungs bewaffnet, erklimmen die Höhen der Wahrheit!
(Anmerkung: Gegenstand des Gedichts ist das kleine rote Buch mit den Zitaten aus Maos frühen Artikeln, das gegenwärtig von jedermann auswendig gelernt, zumindest aber laut gelesen wird, wie Psalmen aus einem Gebetbuch.)
Zitate Tschou En-lai in einem Interview mit dem Korrespondenten der pakistanischen Nachrichtenagentur in Peking, 10. April 1966: 1. China wird keinen Krieg mit den USA vom Zaune brechen. Es ist bereit, die Botschaftergespräche in Warschau weiterzuführen. 2. China bekräftigt erneut seine Verbundenheit mit jenen Ländern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas, die Opfer der USAggression sind. Sollte diese Aggression in einen Angriff gegen
China ausarten, würden die Chinesen Widerstand leisten und bis zum Ende kämpfen. 3. China würde einer US-Aggression Widerstand leisten, egal wie viele Soldaten die USA schickten, und ob sie konventionelle oder nukleare Waffen benützten. 4. Wenn die USA China angreifen sollten, dann würde der Konflikt nicht begrenzbar sein.
US-Außenminister Dean Rusk am 16. April 1966 vor dem Komitee für Fernost-Angelegenheiten und am 17. April in der New York Times: »Wir (die Vereinigten Staaten) wünschen keinen Krieg mit China. Wir werden uns weiter bemühen, Peking klarzumachen, daß die USA nicht die Absicht haben, China (die Volksrepublik) anzugreifen.«
Jenminshibao, 9. Mai 1966: »Eröffnet das Feuer gegen die schwarze, antisozialistische Linie in der Partei!«
Lin Piao in einem von den Armeezeitungen gedruckten Brief an die Werktätigen in Industrie- und Verkehrswesen, datiert vom März 1966, in Umlauf gebracht im Mai: »China ist ein großer sozialistischer Staat der Diktatur des
Proletariats und hat eine Bevölkerung von 700 Millionen. Es braucht ein einheitliches Denken, ein revolutionäres, korrektes Denken. Das ist nur das Denken Mao Tse-tungs. Lediglich mit seinem
Denken
können
wir
kraftvollen,
revolutionären
Enthusiasmus aufrechterhalten und eine feste, richtige politische Orientierung geben.«
Mao Tse-tung in einem Brief an seine Gattin Tschiang Tsching, datiert vom 8. Juli 1966, in Peking hektographiert, inoffiziell von Hand zu Hand weitergegeben: »
...
In
der
ganzen
Welt
gibt
es
über
hundert
(kommunistische) Parteien. Die größte Zahl dieser Parteien ist nicht mehr marxistisch-leninistisch ... Unsere jetzige Aufgabe heißt, die Rechten in der Partei zu einem Teil (vollständig ist unmöglich) niederzuschlagen. Nach weiteren sieben oder acht Jahren kann man dann erneut eine Kampagne starten, und die Rinderteufel und Schlangengeister hinwegfegen. Später muß so etwas noch viele Male durchgeführt werden. Zu welcher Zeit man diese Worte veröffentlichen kann, läßt sich jetzt noch nicht mit Bestimmtheit sagen, weil die Linke und die breiten Massen über meine Worte nicht sehr erfreut sein würden ... ... Wenn China von einem Staatsstreich der Rechten überrascht werden sollte, könnten die Rechten meine Worte
benutzen, um an die Macht zu gelangen. Die Linke wird daraufhin irgendwelche anderen Worte von mir benutzen, um sich zu organisieren, dann wird sie die Rechte niederschlagen ...«
Hongkong Tiger Standard, 18. August 1966 Ist >Kulturrevolution< das Wort für Chaos?
In letzter Zeit kommen aus der Festlandsmetropole wirre, ja irre Nachrichten. Reisende berichten von Zuständen, für die sie keine Deutung finden. Die Lektüre der roten Zeitungen, die uns hier erreichen, wird zum Vexierspiel: wo in dem Durcheinander des äußeren Hildes sind die Goldkörner der Wahrheit versteckt, die Motive, die Realitäten? Wir haben sorgfältig recherchiert, was es mit dieser eigenartigen >Kulturrevolution<, die Mao Tsetung da entfesselt, auf sich hat. Hier bieten wir Vermutungen an, die — obzwar sie vorerst Vermutungen bleiben müssen — doch allerbeste Kenntnisse zum Ausgangspunkt haben. Erinnern wir uns: Mao hatte sich mit nahezu allen Politbüromitgliedern zerstritten und war nach dem idyllischen Hangtschou ausgewichen. Geisterschreiber Tschen Po-ta stieß
dort zu ihm, auch Madame Mao fehlte nicht, sie war sogar sehr nötig, als es galt, Intrigen zu planen. Und dann mobilisierten die drei im nahen Shanghai noch einen Propagandafunktionär und einen sogenannten Literaturkritiker (sogenannt, weil er Lu Hsun für einen bourgeoisen Giftspritzer hielt, was er einst schrieb, heute aber nicht mehr gern hört)! Die Namen der beiden: Tschang Tschun-tschiao und Yao Wen-yuan. Verbündet mit diesem Team, das entschlossen war, Chinas politische Landschaft radikal zu verändern, zeigte sich die von hin Piao geführte Volksarmee, sie stand im Hintergrund. Jetzt ist sie schon aktiver geworden, sie lenkt und leitet den von Mao Tsetung entfesselten allgemeinen Aufruhr. Ist es ein Aufruhr? Eine ziellose Eruption? Wir glauben, nur von außen sieht das alles spontan aus, in Wirklichkeit läuft hier ein äußerst präzise geplanter, gestaffelter Machtkampf ab, woran sich nichts dadurch ändert, daß es gelegentlich, am Rande, auch zu spontanen Aktionen kommt. Übrigens ist in der Armee besonders die Gattin Mao Tse-tungs aktiv, Tschiang Tsching, die sich neuerdings (sie war eine nicht sehr überzeugende Schauspielerin, früher) in Sachen Kunst und Literatur für kompetent erklärt. Sie" steuert offiziell, seit ihrem Auftreten im Februar auf der Shanghaier Zusammenkunft der >Gruppe für Kulturrevolution in der Armee<, diese Bewegung innerhalb der
Streitkräfte. Wir erhielten damals aus zuverlässiger Quelle eine Kopie den Aktionsprogramms von Shanghai. Darin war von Kunst und Literatur zwar die Rede, auch von >Kultur<, aber wir spürten, daß diese Begriffe eigentlich für Philosophie und Justiz ebenso standen wie für Tradition und kommunistisches Denkkonzept. Der Begriff >Kultur< wird, das ist unser Verdacht, bei dem, was Mao und seine Gruppe tun, als Synonym für das gesamte geistige Leben, man könnte sagen, für die Marschrichtung der Gesellschaft benutzt. Abgesehen davon, daß man sich aller jener Leute entledigen will, die >Maos Denken< nicht den Unfehlbarkeitsanspruch zugestehen wollen. . Im Plan von Shanghai nahm sich das wörtlich so aus: >Seit mindestens 16 Jahren gibt es auf kulturellem Gebiet eine schwarze Linie, die sich direkt gegen die Ideen Mao 'Tse-tungs richtet. Mit ihr muß Schluß gemacht werden!< Der Boykott begann auf dem Gebiet der Literatur. Yao Wenyuan fordert die endgültige Verdammung Wu Hans und Peng Tschens anderer literarischer Freunde. Mao erweiterte die Forderung, in geschickter Abstimmung der Aktionen, um die Auflösung des gesamten >verrotteten< Pekinger Parteikomitees, der >destruktiven< Propagandaabteilung des Zentralkomitees und der alten, sogenannten Fünfergruppe, die bislang die Kulturrevolution — oder das, was sie machte — geleitet hat. Im
Mai berief Mao alle, die zu ihm hielten und dem ZK angehörten, nach Hangtschou ein, wo er residierte. Von wem bekannt war, daß er sich skeptisch verhielt, der bekam — obwohl ZKMitglied — erst gar keine Einladung. Der Coup gelang. Mao ist immerhin der berühmteste, sicher auch der verdienstvollste Führer der Revolution, aus der die Volksrepublik hervorging. Sein Nimbus ist ungebrochen, trotz des zu kurz geratenen >Sprunges<
und
der
kränkelnden
Volkskommunen:
intellektuelle Diversanten waren an den Mißerfolgen schuld, nicht er, zu viele von seinen Gegnern gedungene Kader befolgten seine Weisungen nicht, deshalb die Mißerfolge. Das — und da soll man keine Illusionen haben — glauben immer noch die meisten Leute in der Volksrepublik. Deshalb liegt Bereitwilligkeit vor, die Gegner Maos auszumerzen, wie das jetzt gefordert wird. Außerdem macht es Spaß. (Ja, Sie haben richtig gelesen!) Besonders den Kindern, den Hooliganen. Die können sich — auf allerhöchste Weisung — mal so richtig austoben, an ihren Lehrern! Nach dem Mai-Coup nahm die Sache Gestalt an. Schulen und andere Bildungseinrichtungen wurden geschlossen, die Schüler sollten Maos Werke studieren und gleichzeitig die schlechten alten Gewohnheiten ihrer Lehrer bekämpfen. Wie gern sie das taten! Manche Lehrer erschlugen sie der Einfachheit halber
gleich. Wer mit angebrochenen Knochen, bespien und verlacht überlebte, kann von Glück reden. Aber er hält doch wohl besser den Mund, denn die Angehörigen der Hung Wei Ping, der >Roten Garden<, die sich (besser gesagt: andere!) mit roten Armbinden ausgerüstet, für die Durchsetzung von Maos Ideen schlugen, verstehen keinen Spaß. Warum sollten sie auch? Wo doch ihre obersten Lehrer von der >Gruppe< ihnen den weisen Ausspruch des großen Steuermanns eingebläut haben, zuerst müsse man alles zerstören, bevor man etwas Vernünftiges (sprich: Revolutionäres) aufbauen könnte. Wenn die jungen Leute nicht gerade ihre Lehrer verprügeln oder irgendwelche, ihnen von der >Gruppe< gewiesenen, mißliebigen Intellektuellen, durchsuchen sie Wohnungen, werfen Möbel auf die Straße, verbrennen Bücher und Rollbilder, sie kippen die Bronzelöwen vor den Tempeln um. verdreschen öffentlich
buddhistische
und
lamaistische
Mönche,
sie
übertünchen alte Malereien an öffentlichen Gebäuden mit MaoLosungen, sie zerstören alles, was traditionell chinesisch ist, von der Porzellanvase bis zum Sommerpalast, sie vernichten auch alles, was an ausländische Kultur erinnert, vom Piano bis zur Sonnenbrille ... Es war interessant zu beobachten, wie hilflos sich die kommunistische Regierung in Peking gegen Maos rote
Hooligane
ausnahm,
von
Beginn
der
Kampagne
an.
Einschließlich Liu Shao-tschi, der sich zur offenen Gegenwehr nicht aufraffen konnte. Wie denn auch, wo er und der Generalsekretär
der
Partei,
Deng
Hsiao-ping,
von den
Randalierern — zwar indirekt, aber unverwechselbar — als >Machthaber in der Partei, die den kapitalistischen Weg gehen< verschrien wurden! Und wenn irgendwo
ein Gendarm
tatsächlich Einhalt gebieten wollte, einfach aus Ordnungsliebe, oder weil er die letzte Weisung des großen Steuermannes noch nicht gelesen hatte, erschien ganz schnell die Armee auf dem Plan, die brachte dann ihn, den irrenden Gendarmen, zur Ordnung. Fein eingefädelt. — Es gab trotzdem Widerstand. Nicht offen, eher ein wenig von alter chinesischer Kriegslist inspiriert, wie uns scheint. Die noch intakte Parteizentrale entsandte von sich aus sogenannte Arbeitsgruppen in Schulen und Universitäten, in denen es zu Aufständen gekommen war. Da sollten dann die Aufständischen >auf der Basis von Kritik und Selbstkritik, durch offene Auseinandersetzung neue Einheit herbeiführen<. Selbst die Gattin Liu Shao-tschis, Wang Kuangmei, führte eine solche Gruppe an, und zwar an der Tjing HuaUniversität. Doch da war nichts mehr zu retten. Das Chaos siegte, weil die auf Erhaltung eines Minimums an Ordnung bedachten »Arbeitsgruppen sogleich mit Hilfe des Propa-
gandaapparates der Armee als »schwärze, konterrevolutionäre Bande< bezeichnet, davongejagt oder einfach ignoriert wurden. So konnte Mao Tse-tung auf der unserer Meinung nach entscheidenden 11. Plenartagung des Zentralkomitees, die am 1. August begann und zwei Wochen dauerte, einen ersten Sieg für sich buchen. Der Terror, den seine >Roten Garden< im Lande ausübten, diese Rebellion der Halbwüchsigen, hatte etwa die Hälfte der gewählten ZK-Mitglieder am Erscheinen in Peking gehindert. Es handelte sich um jene Leute, die für die Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung eintraten. Für sie hatte Mao »Aktivisten der Kulturrevolution zur Tagung eingeladen, die für ihn stimmten, eine Technik, die er nicht zum ersten Mal in der Parteigeschichte anwendete: Schon während des Langen Marsches hatte er ein Meeting einmal in ähnlicher Weise manipuliert, in Tsunyi, wo er sich einfach von einer Mehrheit von Versammlungsteilnehmern, die gar nicht gewählte ZK-Mitglieder waren, zum Chef der Partei machen ließ. Er hatte die Umstände für sich: Niemand konnte genau sagen, wohin es die gewählten ZK-Mitglieder verschlagen hatte, und ob sie überhaupt noch lebten, Einunddreißig Jahre nach dem Coup von Tsunyi kämpft Mao erneut um die absolute Macht in der Parteispitze. Seit dem 8. Parteitag hatte es eine kollektive Führung gegeben, die Maos Möglichkeiten zu selbständigen
Entscheidungen einengte. Er hat mit Hilfe der für sich selbst mobilisierten Rote-Garden-Lobby nun immerhin folgendes erreicht: Liu Shao-tschi, Tschou En-lai, Tschu Teh und I sehen Yün, bisher Stellvertreter des Vorsitzenden, sind das nicht mehr. Der einzige Stellvertreter Maos ist ab sofort Lin Piao, Chef der Armee und damit des bewaffneten Machtorgans im Staate. Andere Widersacher Maos, wie etwa Peng Tschen, wurden aus dem ZK geworfen. Ein halbes Dutzend Sekretäre des ZK wurden abgelöst. Liu Shao-tschi traut sich als >kapitalistisches Element< nicht mehr, gegen Mao offen aufzutreten. Deng Hsiao-ping, bisher Generalsekretär, soll sich schon >an den Graswurzeln< befinden, wenn man Gerüchten glauben will. Er sei faul gewesen, habe Fehler gemacht und die Politik des Großen Steuermannes nicht begriffen. (Das soll er in einer Selbstkritik übrigens inzwischen zugegeben haben.) Wichtiger als die von Mao durchgedrückten personellen Veränderungen scheinen uns aber die Beschlüsse zu sein, die >Große Proletarische Kulturrevolution siegreich zu Ende zuführen, die >kapitalistischen< Machthaber in der Partei bis zu ihrer Vernichtung zu bekämpfen und die Ideen Mao Tse-tungs zum Pflichtstudium für jedermann zu erklären. Mao Tse-tung, so heißt es in dem uns zugespielten offiziellen Tagungsdokument, sei
>der
größte
Marxist-Leninist
unserer
Zeit<.
Auseinandersetzungen hat es immerhin auch auf dieser so geschickt manipulierten 11. ZK-Tagung gegeben, erfahren wir. Ein Teil der gewählten Pateiführung hat sich — anders als damals in Tsunyi — gegen Maos Vorgehen gewehrt, allerdings nur mit dem Erfolg, daß Mao höchstpersönlich im Tagungssaal ein >Datse-bao< aushing, eine jener >Große-SchriftzeichenWandzeitungen<, wie sie gegenwärtig überall im Lande das Bild der Städte verschandeln. >DER FEIND SITZT IN UNSEREM EIGENEN HAUPT-QUARTIER!< konstatierte Mao auf dem Plakat.
Und
er
forderte:
>WIR
MÜSSEN
UNSER
HAUPTQUARTIER BOMBARDIEREN!< Ein geschickter Dreh. Er nutzt die Verblüffung seiner Widersacher und sein eigenes Image als bannerschwingender Revolutionär und verschafft sich selbst, seinen >Roten Garden< und der Armee die Möglichkeit, ganz legal, nämlich im Namen des (durch ihn gesäuberten!) Zentralkomitees gegen alle Kader in der Partei vorzugehen, die sich nicht auf seine Seite schlagen. Der Verdacht, den wir seit einiger Zeit hegten, ist bestätigt worden: hier geht es nicht so sehr um Kultur, um Literatur und Kunst, es geht vielmehr um die Konzentration der kommunistischen Entscheidungsgewalt in den Händen eines einzelnen Herrschers. Des Großen Steuermannes. Radio AFN äußerte kürzlich die Vermutung, wenn Mao alles
zu entscheiden hat, wird sich sein ganzer Haß gegen die (amerikanischen) Imperialisten entladen, in Vietnam vielleicht. Wir halten das — ohne unseren Kollegen vom amerikanischen Truppensender zu
nahe treten zu wollen — für die
unwahrscheinlichste aller Möglichkeiten. Mao beschimpft seit langem die Sowjets mit viel ärgeren Worten als die Amerikaner. Deshalb liegt die Vermutung näher, daß er aufbricht, um, wie er selbst fordert, >den Revisionismus zu schlagen und Ordnung im eigenen Lagen zu schaffen.< Deshalb scheint uns das, was die New York Times am 13. Juni schrieb, den Kern der Sache besser zu treffen. Da hieß es: >Umfassende Säuberung, von Mao gelenkt. Kampf auf Leben und Tod, wie er sich noch nie in der Geschichte zugetragen hat.< Es handelt sich — vorerst jedenfalls — ganz offenkundig um einen internen Machtkampf, der die US-Truppen in Vietnam kaum bedroht und die Vereinigten Staaten selbst schon gar nicht. Kein Pearl Harbor, das da heraufzieht. Denn: Mao schwingt die >röteste aller roten Fahnen im eigenen Land, gegen seine eigenen Widersacher, und er wird seine Armee für lange Zeit innerhalb seines eigenen Machtbereiches brauchen, um Widerspruch gegen sich selbst und seinen Anspruch auf das himmlische Mandat zu unterdrücken, Wer Lust hat, kann das als beruhigendes Element empfinden. Übrigens während diese Zeilen geschrieben werden,
tobt auch in Hongkong der Mob (genannt Hung Wei Ping) in den Straßen. Mao hat Sympathisanten hier. Viele davon sind dumme Kinder. Gefährlich trotzdem. Sie schwenken das rote Büchlein, schreien Losungen, spucken englische Polizisten an und taiwanfreundliche Geschäftsleute — aber sie werden von Gönnern ausgehalten, die in der Bank of China sitzen, in Handelsunternehmungen der Volksrepublik, in Buchhandlungen. Mao Tse-tung will in Hongkong mehr Einfluß erzwingen. Wir fürchten, es wird ihm gelingen.
An Holly
.
Schwerpunkt-Information
1.
Meiner Einschätzung zufolge ist der Kampf Mao Tse-
tungs um die absolute Beherrschung der Machtorgane des Landes, nach seiner Rückkehr aus Hangtschou in die Hauptstadt, in die entscheidende Phase eingetreten. Über die Dauer der Auseinandersetzung läßt sich noch nichts Abschließendes sagen, das Bild ist verwirrend. 2.
Ich bewerte die Vorstöße gegen Literaten sowie andere
Intellektuelle, deren mangelnder revolutionärer Eifer verurteilt wird, für taktische Geplänkel, die teils der Ablenkung, teils der
Abschreckung dienen. Die tatsächlich heiße Phase wird sich gegen die Parteiorgane richten. Offiziell wurde der Kampf durch eine von Tschiang Tsching vorgeschobene Person an der Peking-Universität
eröffnet.
Es
handelt
sich
um
die
Mitarbeiterin an der philosophischen Fakultät NiehYuan-tse, die 1961 wegen linksradikaler Tendenzen durch den Rektor (zugleich Sekretär des Parteikomitees) Lu Ping getadelt worden war. Als >bekannte Linke< eignete sie sich für eine Schrittmacherrolle. Rektor Lu Ping hingegen gilt als überlegter, aufgeschlossener Mann, von dem bekannt ist, daß er Doktrinäre gelegentlich verspottete, wegen ihrer Engstirnigkeit. (Lu Ping kommt aus der Jugendbewegung, er empfahl, innerhalb des chinesischen Bildungssystems, vom Ausland zu lernen: UdSSR, USA, England.) Nieh Yuan-tse verfaßte gegen Lu Ping das, was man hier >Datse-bao< nennt, und hängte es in der Universität aus. Lu Ping wurde auf dem Plakat Revisionismus vorgeworfen. Er versuche angeblich, gemeinsam mit der vom Vorsitzenden Mao bekämpften > schwarzen Bande< im Pekinger Parteikomitee, die Kulturrevolution an der Universität zu unterdrücken. Das war am 25. Mai 1966. Am Abend des nächsten Tages lief Lu Ping in die von Tschiang Tsching mit dem Köder Nieh Yuan-tse aufgestellte Falle, er ließ ein Meeting veranstalten, in dem die
auf Ordnung und gesittete Debatten an der Universität bedachte Mehrheit der Parteiorganisation die Anschuldigungen Nieh Yuan-tses zurückwies und ihr wieder einmal Linksradikalismus vorhielt. Mao Tse-tung, der bereits im Mai von Hangtschou aus mit Hilfe Lin Piaos auf das widerspenstige Pekinger Parteikomitee hatte Druck ausüben lassen, und dem es damals gelungen war, seine Hauptgegner zum Rückzug (vor der Armee) zu veranlassen, beherrschte inzwischen nicht nur dieses wichtige Organ der Hauptstadt, sondern hatte auch in den Medien bereits ihm ergebene Leute plaziert. Er wartete bis zum l. Juni, dann ließ er über den Rundfunk verbreiten, er persönlich halte die Kritik der Nieh Yuan-tse für richtig, ihr Datse-bao sei >die erste marxistisch-leninistische
Wandzeitung
in
China<.
Diese
Feststellung Maos wurde zusammen mit dem vollständigen Text des Datse-baos am nächsten Morgen (2.Junil966) in großer Aufmachung durch die Jenminshibao und andere Pekinger Zeitungen verbreitet. Von da an waren die Verteidiger von Ordnung
und
sachlicher
Diskussion
an
den
Bildungseinrichtungen in der Defensive. 3. Ich empfehle genaueste Auswertung des ZK-Beschlusses über die >Große proletarische Kulturrevolution< (16 Punkte). Die mir bekannten wörtlichen Abdrucke in Hongkong sind
fehlerfrei, so daß ich von einer nochmaligen Übersetzung absehe. Aus dieser Direktive geht deutlich hervor, daß sich die jetzt voll laufende Kampagne trotz >starker Worte< nicht gegen uns wendet. Es wird auch ersichtlich, daß Vorkehrungen gegen ein Ausufern der >Revolte< getroffen wurden, so
ist
bemerkenswert, daß Landwirtschaft, Industrie, Verkehrswesen, Forschung und Rüstung sowie die Militärorgane ausdrücklich von der Pflicht entbunden sind, »Kulturrevolution* zu machen. Die Kampagne zielt hauptsächlich gegen den Parteiapparat sowie gegen die Massenorganisationen. 4. An Personen sind nach allgemeiner Meinung die Hauptziele der Kampagne: Liu Shao-tschi (Vorsitzender der Volksrepublik) und Deng Hsiao-ping (Generalsekretär der Partei). Die von der >Gruppe< gegen die beiden vorgebrachten Anschuldigungen
werden
—
Namensnennung
fortwährend
vorerst
noch
wiederholt.
—
ohne
Trotz
der
Ausklammerung der Namen sind die Gemeinten klar zu identifizieren. 5. Ich bitte dringend, folgende Aspekte der gegenwärtigen Entwicklung
zu
beachten
und
im
Rahmen
unserer
Langzeitüberlegungen zu berücksichtigen: a) Mao Tse-tung führt seine Kampagne unter betont linken Losungen. Er verwendet die gängigsten und reaktionserprobten
marxistischen Begriffe und die bekannten Schlagworte der antiimperialistischen Terminologie, die hier jeder kennt. Es ist wichtig, das richtig einzuordnen: Sein Ziel ist, sich als >der einzige Kommunist in der Welt, der noch die Revolution weiterführen kann< zu profilieren. b) Mao Tse-tung strebt keinesfalls eine Beseitigung des kommunistischen
Systems
in
China
an.
(Wurde
mir
ausdrücklich von K. Sh. erläutert.) Er will lediglich >Verräter< ausschalten, um seine eigene Vorstellung von Kommunismus realisieren zu können, gegen die alle anderen mehr oder weniger Bedenken haben. Diese Vorstellung schließt die enge Allianz mit den Sowjets aus. China soll sich >auf seine eigenen Kräfte als Weltmacht besinnen.< Sobald dieser Weg erfolgreich beschritten ist, so kalkuliert Mao, dürften einer Annäherung Chinas an Amerika keine Hindernisse mehr entgegenstehen, ein absolut souveräner Staat nimmt aus eigenem Entschluß Beziehungen zu einem anderen auf, zu dem er bislang keine Beziehungen pflegte. Dringende Bitte von K. Sh. an uns: Jegliche offizielle Erklärung
Chinas,
einschließlich
der
Warschauer
Botschaftergespräche, die hier nicht mehr als >abhörsicher< bezeichnet werden, im Zusammenhang mit dem gegenwärtigen innenpolitischen Machtkampf in Peking zu verstehen und
seitens der USA keine falschen Schlüsse zu ziehen. 1. August
Violet
August—September 1966 Es war Tong, der es vorlas. Ein seltsam ernst wirkender Tong, der am Tisch unter dem Bambus saß, in unserem Hof, trotz aller guten Vorsätze wieder eine Zigarre rauchend. Die Titelseite der Abendzeitung hatte er vor sich, und gerade, weil er das, was da stand, ohne spürbare Gemütsbewegung, so betont sachlich, nahezu distanziert vortrug, brachte er uns, die Zuhörer, zu wieherndem Gelächter. Tjiuy Tong dozierte todernst: »Das chinesische Volk und die Völker der Welt sind begeistert, daß der Vorsitzende Mao im Yangtse-Fluß geschwommen hat. Der Vorsitzende Mao, der geachtetste und beliebteste Führer des chinesischen Volkes hat am 16. Juli vergnügt im Yangtse geschwommen. Er war fünfundsechzig Minuten lang im Wasser und legte eine Strecke von fast fünfzehn Kilometern stromabwärts zurück. Diese gute Nachricht verbreitete sich im ganzen Lande und wurde mit beispielloser
Begeisterung
aufgenommen.
Die
Menschen
wünschten ihrem äußerst verehrten, geliebten Führer von
ganzem
Herzen
langes
Leben
und
äußerten
ihre
Entschlossenheit, den revolutionären Weg, den der Vorsitzende Mao gebahnt hatte, beim Marsch durch die wütenden Stürme des Klassenkampfes im Inneren und auf internationalem Gebiet immer zu folgen. Als die Nachricht sich in der Welt verbreitete, begrüßten sie die Freunde und waren über die gute Gesundheit des Vorsitzenden Mao erfreut, da dies nicht nur für das chinesische Volk, sondern auch für die Völker der ganzen Welt ein Glück bedeutet ...« Er hielt inne und erkundigte sich, weshalb Elma so versonnen in den Himmel blickte. Sie gab boshaft zurück: »Ich stelle mir gerade vor, wie die Gäste in den Pariser Bistros ihre Pernodgläser an die Wände schmeißen, vor lauter Begeisterung darüber, daß der geliebte Führer der Chinesen noch schwimmen kann!« Sandy bemerkte trocken: »Eine faszinierende Vorstellung.« Tong schüttelte bekümmert den Kopf, er rückte seine Brille zurecht, warf den Frauen einen strafenden Blick zu, paffte an der verglimmenden Zigarre und brummelte: »Ihr seid undankbar wie die
Heiden gegenüber dem Kreuztod des Herrn Jesus,
damals. Und nun hört euch gefälligst an, was sich geziemt! Also: >Als die Einwohner Pekings die gute Nachricht hörten und sich durch Fotos von der blühenden Gesundheit des
Vorsitzenden überzeugen konnten, begannen sie zu singen ...<« »Ach, deshalb!« rief Elma. »Ich hatte mich gewundert, weshalb plötzlich alles grölte!« Ich machte mir Gedanken über die verschiedenen Aspekte, unter denen Mao Mitte Juli seine spektakuläre Rückkehr nach Peking vollzogen hatte. Mao hatte wohl befürchtet, daß seine innenpolitischen Widersacher gezielt verbreiten lassen würden, er sei krank und hinfällig, seine Ablösung daher nötig. Wie dem auch gewesen war — die Legende von der zauberhaften Genesung nach einer offiziell überhaupt nicht erwähnten Krankheit lief seit dem Yangtse-Bad auf Hochtouren. Und Mao selbst verlor keine Zeit. Er stiftete das, was der Affenkönig in der leider aus dem Repertoire verschwundenen alten Peking-Oper als >große Aufruhr unter dem Himmel< bezeichnet hatte. In den ersten beiden Augustwochen, während draußen Trupps von Jugendlichen durch die Straßen zogen und Parolen gegen die
und
Buddhafiguren
zertrümmerten,
während
sie
uralte
Malereien im Sommerpalast unkenntlich machten, Schlipse, Sonnenbrillen, Lederschuhe und Strohhüte zertrampelten, Straßenschilder abrissen und neue Bezeichnungen anpinselten, während sie auf ganzen Tonnen von Datse-baos, die überall in der Stadt wie trocknende Wäsche herumhingen, tonnenweise neue aufklebten — während dies alles und noch vieles andere geschah,
schuf
Mao
kühl
und
überlegt
an
der
Parteiführungsspitze vollendete Tatsachen: Er ließ über Lin Piao verkünden, jeder, der sich den Weisungen des Großen Steuermannes, des >Genius' der Weltrevolution< widersetzte, würde >wie Rinderteufel und Schlangengeister< ausgerottet werden. Lin Piao schien daran gelegen zu sein, bei den Huldigungen des Vorsitzenden die grandiosesten Worte zu prägen. Er sagte: »Vorsitzender Mao hat Weitblick und Gedanken, von denen wir viele nicht verstehen. Wir müssen deshalb seine Weisungen entschlossen ausführen, egal, ob wir sie verstehen oder nicht!< Tschou En-lai heißt es hier, setze sich unauffällig dafür ein, daß Tschen Yi und auch Deng Hsiao-ping nicht allzu unwiderruflich als »Verräter« abgestempelt werden, im übrigen habe ihn der Vorsitzende persönlich damit beauftragt, daß die Staatsangelegenheiten trotz Kulturrevolution keinen Schaden
nehmen. Eine Art Regulator. Lui Shao-tschi ist virtuell ausgeschaltet, obwohl es weder einen öffentlichen Prozeß noch etwa ein parteiinternes Disziplinarverfahren gegeben hat. Er »wird bekämpft«, heißt es, manchmal auch, »er wird kritisiert<. Doch man kommt damit nicht zum Ende, es wird keine Entscheidung getroffen. So bleibt Liu Shao-tschi als Ziel für aufgemischte Emotionen noch lange erhalten, wie mir scheint, und er selbst kann in dieser ungeklärten Situation, in der er
nicht
einmal
namentlich
bezichtigt
wird,
keinerlei
Gegenbewegungen machen, die würden sofort das Einschreiten der Armee bewirken. Eine sehr geschickte Art, politische Gegner kaltzustellen. Deng Hsiao-ping geht es ähnlich. Diese beiden waren es wohl, die als die populärsten Widersacher Maos galten. Man bezeichnet den Großen Steuermann heute offiziell (d. h. in den Zeitungen) als >die röteste aller Sonnen« oder den >rötesten aller Steuermänner«. In der chinesischen Sprache sind solche Steigerungen bei Farben möglich. Dabei operiert Mao kaum selbst. Das ist es, was mir auffällt, und was auch den von Tong vorgelesenen Salbadereien über sein Bad im Yangste einen Beigeschmack von Raffinesse verleiht. So wird nach außen
hin
alles,
was
mit
dieser
seltsamen
neuen
Massenkampagne zusammenhängt, viel weniger von ihm getan, als eben von der >Gruppe Kulturrevolution< im ZK, die dort als oberstes
Entscheidungsgremium
operiert.
Es
ist
die
Steuerungszentrale. Tschiang Tsching gehört ihr an, Kang Sheng, Tschen Po-ta, die beiden Shanghaier Verbündeten Tschang Tschun-Ijiao und Yao Wen-yuan sowie einige andere, durchweg linksradikale Leute. Wie weit Mao hier tatsächlich allein bestimmt oder bei vielen einzelnen, von ihm kaum noch zu kontrollierenden Einzelentscheidungen nur vorgeschoben wird, ist nicht zu durchschauen. Bei dem persönlichen Ehrgeiz, für den etwa Tschiang Tsching bekannt ist, und bei der Vorliebe Kang Shengs für verdeckte Manipulationen, bei der eigenartigen Veranlagung Tschen Po-tas, seinem Meister mit den Gedanken stets vorauseilen zu wollen und sich damit Anerkennung zu sichern, liegt jedoch der Gedanke nahe, daß sich das ursprüngliche Programm Maos nach und nach verselbständigt. Wohin das führt, bleibt abzuwarten. Die stets wiederholten Beteuerungen, wie gut der Gesundheitszustand des Vorsitzenden sei, die ganze Yangtse-Aktion, lassen bei mir den Verdacht aufkommen, daß er womöglich gar nicht mehr in der Lage ist, alle Aspekte des Durcheinanders im Auge zu behalten. Das würde ihn über kurz oder lang vom Manipulator der Gesellschaft zum Manipulationsobjekt in den Händen der
>Gruppe Kulturrevolution< machen. Ich bin mir bewußt, wie kühn diese Vermutung ist. Widerlegen könnte sie nur Mao selbst. Der aber, den ich zuletzt vor Jahren in Hangtschou sah, sehr kränklich damals, ist für mich nicht erreichbar. Kang Sheng teilt mir ein ums andere Mal mit, ich solle mich an ihn wenden, er
nähme
dem
Vorsitzenden
vieles
ab.
(Aber
—
selbstverständlich sei er kerngesund!) Inzwischen spricht die >Gruppe Kulturrevolution< davon, daß der Aufruhr noch gesteigert werden müsse, und zwar im Namen Maos, den man zwar auf Fotos sieht, wie er auf den Füßen steht, von dem man aber nicht genau weiß, wie stabil seine Gesundheit tatsächlich noch ist. Da heißt es in den neuen Parolen: >Ob in Peking oder anderswo — wir geben allen, die in der Kulturrevolution eine rote Haltung einnehmen, unsere wärmste Unterstützung!< Oder: >Das wichtigste Studienfach für unsere Jugend ist der Klassenkampf<. Damit ist nicht mehr das gemeint, was die Klassiker der marxistischen Theorie einmal als Klassenkampf definierten, sondern einfach Aufruhr in den Straßen, an den Schulen, überall. Einmal unterhielt ich mich über diese Frage mit Chen Tsulin, der Frau Chang Wens, als wir uns im frühen August in der Stadt trafen. Es war in der Nähe des Be Hai. Die Aufmerksamkeit
konzentrierte
sich
auf
Tausende
von
Jugendlichen mit roten Armbinden, die dort herumwimmelten, weil die >Gruppe Kulturrevolution< den Be-Hai-Park samt des Restaurants Fangshan an diesem Tage zu einem ihrer Hauptquartiere erwählt und für die Öffentlichkeit gesperrt hatte. Wir fanden eine Bank, auf der wir — sozusagen im Schatten großer Ereignisse — ein paar Minuten miteinander sprechen konnten. Die Dienststelle, in der sie für Liu Shao-tschi gearbeitet hatte, existierte zwar weiter, nur gab es Liu nicht mehr dort. Auch wurden Weisungen nicht mehr erteilt, das Büro hatte keine Befugnisse mehr, es erledigte laufende Arbeiten und mußte im übrigen bei jeder Entscheidung die > Gruppe Kulturrevolution< konsultieren. Liu Shao-tschi, so erfuhr ich, war vom 11. Parteiplenum, das ihn entmachtete, durch Leute Kang Shengs nach Hause begleitet worden, zu seiner Wohnung im TschungNan-hai, wo man ihn zwar nicht offiziell unter Hausarrest hielt, ihm aber bedeutet hatte, daß er für alle Aktivitäten außerhalb seines Hauses die Einwilligung der >Gruppe< brauche. Auch müsse er außerhalb seines Hauses von Wächtern Kang Shengs begleitet sein, denn sobald er es wage, aus dem Tor des Regierungswohnbezirkes zu treten, würden sich >Rote Garden<, die dort lauerten, auf ihn stürzen. »Etwas Unglaubliches ist eingetreten«, flüsterte Chen Tsu-lin, »so ungeheuerlich, daß ich
manchmal glaube, es kann nur ein böser Traum sein. Doch dann wird mir wieder klar, es ist so: Mao Tse-tung, der bekannteste Revolutionär unseres Landes, der an der Spitze unserer Befreiungsbewegung gestanden hat, fordert zum Angriff gegen seine eigene Partei auf. Zum Kampf gegen so gut wie alle jene, die an seiner Seite die Revolution ausgefochten haben. Ich gehe oft wie betäubt durch die Straßen, ich höre und sehe nicht, was um mich herum vorgeht, so sehr hat mich das alles in Verwirrung gestürzt ...« Chang Wen, ihr Mann, bei dem ich zu Anfang dieser Entwicklung für ein paar Stunden einen Besuch machte, draußen in den Westbergen, schüttelte nur bekümmert den Kopf. Kr war traurig, und er gab es zu. »Kamerad Robbins, das ist nicht irgendein unwichtiges Ereignis, es ist ein Kampf auf Leben und Tod, den die Partei gegen einen Angriff von außen führen muß, und an dessen Spitze sich der größte Revolutionär Chinas gestellt hat. Muß ich Ihnen mehr sagen?« Es war nicht nötig, ich begriff die Tragweite dessen, was sich abspielte, auch so einigermaßen. Von Chang Wen erfuhr ich, daß Eingriffe in die Tunnelarbeiten den >Rebellen< verboten worden waren, durch Tschou En-lai, aber auch durch die >Gruppe<. Also würde es da draußen ruhig bleiben, die Arbeiten würden ihren Gang gehen.
»Li Ta«, sagte Chang Wen, als wir uns verabschiedeten. Wir standen vor seiner >Baubude<, blickten auf das Gewimmel der Lastwagen, die jetzt nicht mehr Erde fortschafften, sondern Holz brachten, für den Innenausbau, Eisenteile, Behälter und Kisten, Handwerkszeug. Ich wußte nicht, wen er meinte, und er klärte mich geduldig auf, etwas abwesend, wie mir schien, durch Gedanken abgelenkt, die ich schwer nachvollziehen konnte. »Ein alter Mann.
Sechsundsiebzig
Jahre.
Er
hat
zu
den
sieben
Kommunisten gehört, die sich im Mai 1920 in Shanghai trafen, um
den
Entwurf
für
das
Statut
einer
chinesischen
kommunistischen Partei auszuarbeiten. Sie wurde etwa ein Jahr später dann gegründet. Jetzt ist Li Ta tot. >Rote Garden< haben ihn umgebracht ...« Ich spürte, daß Zorn in ihm aufstieg. Er schwieg, blickte in die tiefstehende Sonne, blinzelte, nahm die Brille ab und putzte sie umständlich. »Sie waren mit ihm befreundet?« Er erwiderte langsam: »Er war Präsident der Universität von Wuhan. Dort kam ich mit ihm zusammen. Er hat unser Werk besucht. Und ich habe Vorlesungen an der Universität gehört. Li Ta war ein Weiser. Eine lebende Legende. Wir haben uns oft unterhalten, er war gern in unserem Werk, und wir verstanden uns gut. Als ich
deportiert wurde, ließ er mir eine Nachricht zukommen, ich solle nicht aufgeben, die Partei sei stark genug, um Fehler wie den, unter dem ich zu leiden hätte, eines nicht fernen Tages zu korrigieren.« »Warum hat man ihn getötet?« »Warum!« Er hob hilflos die Arme. »Ein paar Einpeitscher von der >Gruppe< haben den Studenten weisgemacht, ihr Universitätspräsident würde sie unterdrücken, indem er von ihnen Fleiß und intensives Studium verlange. Die Partei habe angeblich zum Kampf gegen solche alten, verbürgerlichten, den Revisionisten folgenden Despoten aufgerufen. Also folgten sie diesem >Ruf der Partei <, sie schleppten den alten Mann in eine sogenannte Kampfversammlung.« »Ohne daß jemand eingriff?« »Wer sollte da wohl eingreifen?« Er sah mich traurig an. »Die Armee wies die Polizei an, sich aus der vom Großen Steuermann persönlich initiierten Revolution herauszuhalten. Jede Einmischung wäre Konterrevolution. Wissen Sie, was in unserem Lande das Wort Konterrevolution bedeutet? Sie wissen es, sie sind lange genug bei uns.« »Hat der Universitätspräsident sich gewehrt?« Chang Wen verzog die Mundwinkel. »Ein alter Mann mit einem offenen Magengeschwür, sich wehren? Nach der
Versammlung telegrafierte er an Mao Tse-tung persönlich, er möge
ihn
retten,
man
terrorisiere
ihn
mit
falschen
Anschuldigungen und wolle ihn, den Mitbegründer, aus der Partei werfen. Er bekam keine Antwort. Rowdys belagerten seine Wohnung, hielten ihn Tag und Nacht unter Spannung, sie ließen ihn nicht schlafen, indem sie Lautsprecher vor seinem Haus aufstellten, aus denen vierundzwanzig Stunden am Tag Losungen gebrüllt wurden. Sie zerstörten sein Eigentum, bis der alte Mann einfach umfiel.« »Tot?« »Er spuckte Blut. War ohne Kräfte. Die Kerle ließen ihn acht Tage dort liegen, zwischen den Trümmern seines Eigentums, kein Arzt durfte zu ihm. Am 22. August bekam die Bande dann einen Wink, den Sterbenden besser in ein Hospital zu schaffen, unauffällig, damit niemand sie später verantwortlich machen könnte. Sie taten das. Lieferten ihn irgendwo ab, sagten, sie hätten ihn auf der Straße gefunden. Ein alter Mann, den die Schwäche gepackt hat, angeblich. Man erkannte ihn nicht einmal in dem Hospital, man entdeckte nur die Spuren der Prügel, die er bezogen hatte. Aber es war ohnehin zu spät. Als ihn endlich jemand identifizierte, nach weiteren zwei Tagen, war er schon tot.« »Vielleicht«, warf ich ein, »hat der Vorsitzende Mao doch
mehr Schwierigkeiten mit seiner Gesundheit, als man annimmt. Vielleicht konnte er Li Ta nicht beistehen, weil er selbst nicht mehr voll aktionsfähig ist und seine engsten Berater ihn von vielen Dingen abschirmen, um ihn nicht zu belasten?« Er äußerte sich nicht dazu. Ich hatte Chang Wen böse gesehen, wütend, von Verachtung erfüllt, jetzt erlebte ich ihn in einem Zustand kalten Zorns, der sich aus dem Wissen um die eigene Hilflosigkeit nährte. Während er mich ein Stück auf dem Rückweg begleitete, und nachdem ich mich vorsichtig in dem Sinne geäußert hatte, daß ich leider so vieles, was gegenwärtig geschah, nicht so recht verstehen könnte, sagte er nachdenklich: »Die meisten Bruderparteien verstehen uns nicht mehr. Das sollte ein ernstes Zeichen für uns sein. Wir sprechen in letzter Zeit so viel von Veränderungen. Nun ja, der Wille zur Veränderung der Welt unterscheidet uns Kommunisten von Leuten, die die Well so akzeptieren, wie sie ist. Es ist schon unsere Streitbarkeit, die uns von jenen abhebt, die Grabesruhe als Idealzustand befürworten. Und natürlich müssen Veränderer der Welt auch Unruhe verbreiten, müssen sie unnachgiebig sein. Aber — meine Erfahrung sagt mir, daß man die Begriffe nicht verwechseln darf. Unsere ältesten Gelehrten haben uns beigebracht, daß man sich nur miteinander verständigen kann, wenn man zuvor >die Begriffe klärt<. Klassenkampf, das ist
nicht Unruhe um jeden Preis und Terror gegen Gutwillige. Wer das behauptet, hat nicht begriffen, was Klassenkampf ist, und das, was er tut, kann sich daher leicht in Intoleranz und Zelotentum verwandeln. Das ist es, was mich an der neuen Kampagne beunruhigt. Unser Vorsitzender selbst mag aus seinem Horizont heraus das Beste wollen. Nur — es ist die Realität, die seinem Horizont Grenzen setzt. Und um die zu überwinden, hat er lediglich Ideen zur Verfügung, Theorien. Die Tatsachen sprechen gegen die Möglichkeit, sie durchzusetzen.« »Aber er versucht es trotzdem!« »Seine persönliche Tragödie«, gab Chang Wen zurück, »liegt darin, daß er offenbar nicht merkt, wie unzulässig und gefährlich die Mittel sind, mit denen er heute glaubt kämpfen zu müssen. Und niemand hat den Mut, es ihm zu sagen. Wer soll schon noch mit einem Gott argumentieren? Ich fürchte, daß seine persönliche Tragödie zur Tragödie Chinas werden kann.« »Man kann ihn nicht bremsen?« Chang Wen schüttelte den Kopf. »Die Nutznießer kleben an ihm wie die Fliegen am Zuckersaft. Um ihn herum ist das Auge des Taifuns. Fern von ihm ist der große Sturm, der alles zerstört ...« Leute wie Chang Wen standen auf der anderen Seite. Sie befürworteten eine behutsame Entwicklung des Sozialismus in China, in vollem Einvernehmen mit den Bruderländern, vor
allem mit den Sowjets. Insofern war Chang Wen ein Gegner meiner Vorstellungen, die er zum Glück nicht kannte. Ich würde ihn weiter in dem Glauben belassen, einen ausländischen Freund« vor sich zu haben, was brachte es schon ein, im Zusammenhang mit meinem Job über Charakter und Ehre nachzudenken, über Freundestreue vielleicht? Ich mußte diese andere Seite, die Seite Chang Wens, weiter kennen und genau beobachten, ihre Kräfte beurteilen können, das war nötig, wenn meine Analysen auch nur annähernd stimmen sollten. —
»Als
die
Nachricht
vom
Schwimmen
des
großen
Vorsitzenden Mao die Produktionsbrigade Fanghsiang, Kreis Handjiang,
Provinz
Kiangsu,
erreichte,
hüpften
die
Kommunemitglieder vor Freude und eilten, die Mitteilung weiterzuverbreiten ...« las Tong inzwischen. Seine Zigarre war endgültig ausgegangen, aber er war so in die Lektüre der >Peking Review« vertieft, daß er es nicht bemerkte. »Als Leang
Hap
An,
der
amtierende
Vorsitzende
des
kambodschanischen Schriftstellerverbandes die gute Nachricht aus China hörte, erklärte er: >Die Gesundheit des Vorsitzenden Mao ist das Glück der Völker der ganzen Welt, denn er ist in den Herzen der Völker in aller Welt zum Leuchtturm geworden ...<
Poorna Bahadur in Khatmandu äußerte sich: >Die Nachricht, daß der Vorsitzende Mao im Yangtse geschwommen hat, ist ein Schlag gegen die Imperialisten und alle Reaktionäre ... < Ein Gewerkschaftsführer in Mali rief aus: >Eine freudige Nachricht! Eine freudige Nachricht!< ...« »Hör auf, Tjiuy«, bat Elma. Aber ihr Mann verlas noch einen besonders blumigen Bericht eines Augenzeugen: »Vorsitzender Mao ist die rote Sonne in unserem Herzen und immer mit uns ... Er erschien auf einem Schnellboot von Osten her, wo die Sonne aufgeht ...
Mit
glühend roten Wangen und heiter stand Vorsitzender Mao an Deck ... Nachdem er sich einmal benetzt hatte, warf er seine Arme aus und begann zu schwimmen. Es war Punkt elf Uhr vormittags. Ein Schwimmer ... geriet beim Anblick des Vorsitzenden Mao in eine solche Erregung, daß er völlig vergaß, wo er sich befand. Er hob beide Hände und rief: >Es lebe der Vorsitzende Mao!< Er versuchte, in die Luft zu springen, versank aber in den Fluten. Er schluckte etwas Yangtse-Wasser, aber es schien ihm besonders süß ...« »Das erinnert mich, daß wir Ingwer-Bier angesetzt haben«, sagte Sandy. »Ist es schon trinkbar, Sid?« Es war trinkbar, Andy hatte mir einmal das Rezept verraten, man mußte frische Ingwerwurzeln in Steintöpfen mit einigen
Zutaten zum Gären bringen und den Sud zum richtigen Zeitpunkt in Flaschen füllen, die nach einigen Wochen >reif< waren. Der Trick bestand darin, den genau richtigen Zeitpunkt für die Abfüllung des Gebräus in Flaschen zu bestimmen. Tat man es zu spät, war das Getränk schal, tat man es aber zu früh, explodierte die Flasche unweigerlich. Ich hatte nach einigen Mißerfolgen Routine bekommen, und ich setzte nun mehrmals im Sommer Ingwer-Bier an, es erfrischte, und der Spaß daran, daß man es selbst zubereitet hatte, tat ein übriges. Während wir uns labten, schob mir Tong ein Blatt Papier zu, mit Text bedeckt, der auf einem altmodischen Vervielfältigungsapparat abgezogen war. Ich zog mich in mein Arbeitszimmer zurück, unter dem Vorwand, in Ruhe lesen zu können. Sandy unterhielt sich draußen weiter mit den Tongs bei Lao Wus selbstgebackenen Mohnkuchen. Es fiel nicht weiter auf, daß ich etwas länger wegblieb. Von dem Text, den Tong mir mitgebracht hatte, war gelegentlich zu hören gewesen, hinter vorgehaltener Hand, nachdem in den Zeitungen zu lesen gewesen war, Kuo Mo-jo, einer der hervorragendsten Intellektuellen des Landes, Literat und
Kunstwissenschaftler,
Präsident
des
Allchinesischen
Verbandes der Schriftsteller und Künstler und Präsident der angesehenen Akademie der Wissenschaften habe eine >
selbstkritische Erklärung< abgegeben. Er kommentierte, was Kuo Mo-jo geschrieben hatte, mit einem einzigen Wort: »Zerbrochen.« — Dann kam Jan Tong. Ein junger Mann war aus ihm geworden, dem man ansah, daß er mehr Selbstbewußtsein gewonnen hatte. Er wurde akzeptiert, doch das mochte im wesentlichen daran liegen, daß Tong bei allen politischen Aktivitäten mittat, die gegenwärtig als revolutionär galten. Er hatte buchstäblich als letzter seines Semesters noch im zeitigen Frühjahr das Abschlußexamen ablegen können, bevor es abgeschafft wurde. Formell war er im Aeronautischen Institut angestellt, aber von dort hatte man ihn als >revolutionären Aktivisten< beurlaubt und wieder an die Tjinghua-Universität geschickt als Anführer eines Trupps >Roter Garden<, um gemäß der Weisung des Vorsitzenden >die Kulturrevolution bis zum Ende zu führen <. Anführer wie ihn nannte man, nachdem Mao Tse-tung diesen Begriff einmal benutzt hatte, >junge Generäle<. Der einst so schüchterne Jan Tong, der als Schulkind an primitiven Sticheleien einiger seiner Mitschüler beinahe verzweifelt wäre, gab sich heute redlich Mühe, sein äußeres Erscheinungsbild dem eines >Generals< anzupassen. Vor einiger Zeit bereits hatte Tong mir anvertraut, daß der
Junge eine verwunderliche Entwicklung nähme, aber es gab nach seinem Dafürhalten keine Möglichkeit, ihn umzustimmen. Sein Sohn verehrte nicht nur Mao, sondern vor allem dessen Frau, die an der Universität einige feurige Reden gehalten hatte, nachdem die Gattin Liu Shao-tschis von dort vertrieben worden war. Er bewunderte die Kenntnisse Tschen Po-tas, den revolutionären Eifer Lin Piaos, er legte ein Tagebuch an, nach dem Beispiel Lei Fengs, und er war voll und ganz der Meinung, man müsse >die alte Welt von Grund auf umkrempeln <, und zwar möglichst schnell. Am Ann trug er die rote Stoffbinde mit der Aufschrift >Hung Wei Ting«, das Erkennungszeichen der Garden, an der Jacke eine handtellergroße Plakette mit Maos Gesicht. Seine Kleidung war der seiner Freunde angepaßt, sie bestand aus der üblichen blauen Hose, einem Unterhemd und einer losen Jacke. Die Ballonmütze mit dem roten Blechstern trug er, wie ich vermutete, jetzt in der warmen Jahreszeit wohl wegen seines hellen Haares. Er wollte unnötiges Aufsehen vermeiden. »Sehr gut!« lobte er das Ingwer-Bier. Seine Mutter zog ihn auf: »Daß man dich überhaupt wieder einmal sieht! Seit einer Woche hast du nur eine einzige Nacht zu Hause geschlafen!« Er gab todernst zurück: »Revolution ist keine Häkelstunde, Mutter.« Sie nickte zu der aus dem roten Büchlein stammenden Weisheit und
machte: »Aha. Und was habt ihr in den letzten Tagen revolutioniert?« Der junge Mann aß von den Mohnkuchen, die auf dem Tisch standen. Offenbar war er hungrig. Nach und nach erfuhren wir, daß seine Gruppe als >Einheit zur Kontrolle von Ungeheuern< eingesetzt gewesen war. Tschen Po-ta hatte im Juni in einem feurigen Leitartikel von den Jugendlichen Chinas gefordert: »Fegt alle Ungeheuer hinweg! < »Ungeheuer — das sind Menschen — oder?« erkundigte sich Tong. Es hatte den Anschein, als wolle er ihm lediglich durch diese oder jene gezielte Frage Stoff zum Nachdenken geben, für später, wenn die Emotionen sich abgenutzt hatten. Der Sohn antwortete: »Lehrer. Von einer Mittelschule. Die Mitglieder meiner Gruppe wurden von ihnen gequält, zu leerem Fachwissen gedrillt und von den Ideen des Vorsitzenden isoliert. Jetzt haben wir sie bestraft.« »Das heißt verprügelt?« »Wir haben sie eine Woche lang in einen Schuppen gesperrt, um sie zu erziehen. Bis sie bereit waren, ihre Verfehlungen öffentlich zu bekennen, blieben sie in Haft. Dann mußten sie ihre schwarzen Bücher aus dem Ausland verbrennen, ihre protzigen Möbel, ihre feudalistischen Rollbilder und überhaupt den ganzen alten, reaktionären Kram, vom Miniaturgarten bis
zur Rückenkratze. Sie bekamen gelbe Papierhüte aufgesetzt und mußten durch die Straßen marschieren, laut dabei ihre Verfehlungen ausrufen und um Vergebung bitten. Danach mußten sie zur Sühne den Abort der Schule mit ihren Händen ausschöpfen, und sie durften sich erst einen Tag später waschen, um zu erfassen, was Arbeiter und Bauern auf sich nehmen. Jetzt schreiben sie unter Aufsicht Datse-baos mit Selbstkritiken —« Tongs Blick lag auf dem Miniaturgarten, den ich auch dieses Jahr wieder im Hof stehen hatte, damit er sieh am Licht und an der Luft erholte. Jan Tong folgte dem Blick des Vaters. Er war ein intelligenter Junge, und er wußte sofort, worauf der Vater ihn aufmerksam machen wollte. Gelassen bemerkte er: »Wir wissen, daß Ausländer einen anderen Lebensstil haben. Er geht uns nichts an. Dies ist eine chinesische Revolution.« Elma sagte vor sich hin: »Was bin ich denn nun? Ausländerin? Oder?« Ihr Sohn zog es vor, darauf nicht einzugehen. Er blickte an ihr vorbei, als er sagte: »Wir werden morgen von der Genossin Tschian
Tsching
empfangen.
Da
bekommen
wir
als
Auszeichnung den Titel »Regiment unermüdlicher roter Kämpfen.« »Das wird sicher eine Ehre sein«, sagte Elma leise. Ihr Sohn spürte die tiefe Traurigkeit, die sich hinter ihren ironischen
Worten versteckte, aber sie schien ihn nicht zu berühren. Er teilte uns schnell mit, daß sie sich die Auszeichnung auch damit verdient hatten, daß sie vor der Sowjetbotschaft demonstriert, niemandem den Zutritt gestattet, Russinnen angespuckt und Diplomatenautos mit Fäkalien beworfen hätten. »Außerdem haben wir angefangen, die alten, reaktionären Straßennamen Pekings zu revolutionieren. Der Changan heißt jetzt >Osten ist rot<, am Trommelturm heißt die Straße jetzt >Kampf
der
vereinten
Arbeiter
und
Bauern<.
Zum
Sommerpalast hinaus führt die >Avenue der Kulturrevolution!, am Kohlenhügel vorbei der »Weg der Roten Generation!, die sowjetische Botschaft liegt ab sofort an der »Straße des Antirevisionismus<, damit diese fremden Spione endlich die Kraft der Mao-Tse-tung-Ideen spüren. Es gibt jetzt auch eine >Straße des Antiimperialismus<, die frühere Wanfut-jing, eine »Straße der Ausrottung des Kapitalismus! ...« »Und gar kein Boulevard Mao Tse-tung?« Der Sohn, obwohl er die ironische Ader des Vaters kannte, antwortete sachlich: »Nein. Dazu hatten wir keinen Auftrag.« »Wer verteilt euch denn die Aufträge?« Ich wollte mich vergewissern, wie die Befehlsstruktur dieser >Revolution< angelegt war. Jan
Tong
antwortete
mir:
>Die
»Gruppe
für
Kulturrevolution!< Sie vertritt die Parteiführung, bis diejenigen hohen
Parteifunktionäre
niedergekämpft
sind,
die
den
kapitalistischen Weg gehen.« »Und diese Gruppe wird von Tschiang Tsching angeführt, und von Tschen Po-ta, Kang Sheng, Yao Wen-yuan und solchen Leuten?« »Ja.« »Der Vorsitzende ist nicht Mitglied?« »Der Vorsitzende Mao ist unser großer Lehrer, Führer und Steuermann, er steht über der gesamten Organisation, seine Weisungen sind Gesetz.« »Aha«, machte Tong. »Am Eingang zum >Ostwind!-Basar habe ich Datse-baos gelesen, auf denen wird behauptet, Liu Shao-tschi will den kapitalistischen Weg gehen, und außer ihm Deng Hsiao-ping, und Tschu Teh, und Dschou Yang und Peng Dschen. Haben wir wirklich so viele Kapitalistenfreunde unter den Leuten, die sich für die Revolution den Kugeln unserer Gegner ausgesetzt haben?« Wenn die Frage den jungen Mann in Verlegenheit brachte, so verstand er es meisterhaft, sie zu verbergen. Er gab ernst zurück: »Vater, das muß ein illegales Datse-bao sein. Wir haben noch keine Weisung, die Namen zu nennen.« »Und wer entscheidet darüber, bei wem es sich um einen
Kapitalisten handelt? Der Vorsitzende? Die Gruppe? Die Frau des Vorsitzenden?« »Vater«, sagte Jan Tong ein wenig nachsichtig, »das ist alles wohlbedacht. Unser großer Vorsitzender führt uns, wir können uns auf ihn verlassen, das hat er uns selbst gesagt. Mit ihm als unserem Führer werden wir der ganzen Welt zeigen, wozu China fähig ist. Daß es die bedeutendste und einzig noch revolutionäre Kraft in der Welt ist, die den Revisionismus der Sowjets niederringen und den Imperialismus besiegen kann. Die Verräter und die schlechten, alten Gewohnheiten und die Leute, die in der Partei den kapitalistischen Weg gehen, werden wir ausrotten, das- ist unsere historische Pflicht!« Kr wandte sich an mich und wollte wissen, wie die Amerikaner über die Kulturrevolution dächten. Ich wählte meine Diktion mit Bedacht, als ich ihm erklärte: »So etwas wie >die Amerikaner< gibt es nicht, Jan. Auch in Amerika gibt es Klassen. Aber es gibt klassenüberschreitende Meinungsgruppierungen. Für unsere Kapitalisten und die meisten Amerikaner sind die Sowjets der gefährlichste Gegner. Es wäre ihnen lieb, wenn man sie einfach ausschalten könnte. Was die Chinesen tun, bewegt Amerikaner weniger. Die Kommunisten bei uns zu Hause — die meisten jedenfalls — verstehen nicht so recht, was hier eigentlich vorgehl.«
»Wollen Sie sagen, sie könnten keine Revolution erkennen, wenn sie vor ihren Augen abläuft?« »Sie haben verstanden, daß es 1949 zum Sieg der Revolution in China kam«, erwiderte ich. Kr war damit nicht zufrieden, womit ich gerechnet hatte, denn ich wollte nicht seine Neugier befriedigen, sondern vielmehr seine Reaktion testen. Nun war ihm anzumerken; daß er in Sachen Weltpolitik weil weniger sicher war, als er den Anschein erwecken wollte; deshalb wohl schwieg er, erklärte uns, er habe ohnehin nur eine kurze Pause, und er müsse nun wieder zu seinem >Regiment< Nachdem er gegangen war, verlor Elma die Fassung und begann zu weinen. Sandy tröstete sie, junge Leute müßten manchmal über die Stränge schlagen, das würde alles eines Tages wieder in die rechte Bahn kommen, und was derlei Sprüche mehr sind. Tjiuy Tong knurrte plötzlich böse: »Es ist eine Schande!« Mich hatte das Gespräch neugierig gemacht. Schließlich hing viel davon ab, daß junge Hitzköpfe wie Jan Tong mit ihrem Feldzug gegen den sowjetischen >Revisionismus< den geistigen Nährboden für das bereiteten, was mich hier beschäftigte. Der Gedanke schien absurd, und doch traf er die Sache in ihrem Kern. — Draußen auf der Gasse schien eine Kolonne Hung Wei Pings vorbeizumarschieren, es waren Rufe und Gongschläge zu hören,
die ganze Stadt war seit Monaten vom Marschtritt solcher Kolonnen erfüllt, von gebrüllten Parolen, von Anklagen gegen >Verrat<, dem Krachen zersplitternder Spiegel, dem Gejammer der Geschlagenen, dem Geklimper von Zimbeln und dem Dröhnen der Blechpauken: Peking, 1966. Für jeden, der die Stadt liebte, bot sie ein trostloses Bild. Überall stieg der Rauch verbrannter Bücher und Kleidungstücke auf. An Mauern, Fenstern, Fassaden, klebten Datse-baos, sie hingen über der Wanfutjing, an langen Leinen. In den Basaren konnte man nur noch gebückt gehen. Dabei waren die Basare, wie alle Geschäfte, das bevorzugte Ziel der jungen Randalierer. Sie vernichteten
die
>alten
Übel<,
wozu
Haarspangen
und
Blumenvasen gehörten, Briefpapier und Heuschreckenkäfige, Lackdosen und Fächer, Buddhafiguren und Wandbilder; es war erstaunlich, was alles man ihnen als >reaktionär< bezeichnet hatte. Ich wollte es nicht glauben, als man mir erzählte, eine Gruppe »Roter Garden< habe die berühmte Holzstockdruckerei Jungbaodsai verwüstet, die in der traditionellen Seidengasse lag, nicht weit von uns. Als ich hinging, sah ich es. Fenster und Türen waren eingeschlagen, die Wände mit Parolen beschmiert, handgeschnitzte Birnholzdruckstöcke lagen zertrampelt herum, zwischen zerrissenen Aquarellen Tji Bai-shis, des großen Malers, die hier so blendend gedruckt worden waren, daß nur
Fachleute die Vervielfältigungen vom Original zu unterscheiden vermochten: alle Bilder, auf denen keine rote Fahne wehte, sich nicht wenigstens ein roter Fleck befand, oder das Gesicht Maos, waren reaktionär. — Als mir Sandy berichtete, im Hospital sei ein Mann mit einem Schädelbruch eingeliefert worden — er habe versucht, eine Horde Jugendlicher zurückzuhalten, die das Grab Tji Baishis zertrampelten —, hatte ich bereits keine Zweifel mehr, weil ich viele ähnliche Szenen inzwischen selbst beobachten konnte. Trupps von >Rotgardisten< drangen in das Pelzgeschäft in der Wanfutjing ein, verprügelten die Verkäufer und verboten ihnen, Pelze zu verkaufen. Nur Kapitalisten würden so etwas tragen. Ich war in der Wanfutjing, als das geschah, im Frisörladen nebenan ließ ich mir gerade die Haare schneiden. Eine andere Gruppe >Rebellen< verlangte hier, daß sämtliche aus Plaste gefertigten Haarspangen zu zerstören seien. Die Frisöre wurden verpflichtet, gewaschenes Haar nicht mehr mit dem Fön zu trocknen. Weibliche Kunden sollten grundsätzlich keine Wellen mehr gelegt bekommen, das Haar war ihnen kurz zu schneiden, in der Fasson, in der es Tschiang Tsching trug, deren Foto die Rebellen vorzeigten. Langes Haar war das Zeichen, daß es sich um Prostituierte handelte, erklärten sie. Eine Revolte von Kindern? Ich kam nach und nach dahinter,
daß die jungen Leute vor ihren Streifzügen von Rednern aufgeputscht wurden, die Armeeuniform trugen. Von weitem sah ich solche Meetings und hörte die Kommandostimmen der Instrukteure. Sie redeten den jungen Leuten ein, der Vorsitzende verlange, daß sie ihre eigenen Unterdrücker bestraften — so zogen sie denn los. Mit ihnen, meist unauffällig im Hintergrund, zogen Armeekommandos. Wenn es doch einmal jemanden gab, der sich gegen die tobenden Halbwüchsigen zur Wehr setzen wollte, wurde er von den Armeeleuten schnell weggebracht. Wie groß die Widersprüche bei dieser Kampagne waren, wurde mir klar, als ich einmal den Abtransport eines einfach gekleideten Mannes mit ansah, der fortwährend schrie, er sei bereit, die Wunden vorzuzeigen, die er aus dem revolutionären Krieg zurückbehalten habe. Fr nannte sogar die Nummer der Division, in der er gekämpft hatte. Man fuhr ihn trotzdem in einem Lastwagen weg, auf dessen gedeckter Ladefläche bereits mehrere andere Leute saßen. Zuweilen verhinderten Armeekommandos geschickt, daß die Randalierer Objekte beschädigten, die wohl selbst nach den Richtlinien der >Gruppe< tabu waren. So mieden sie maotreue Zeitungen und demolierten lediglich die Redaktionen der wenigen,
noch
nicht
auf
die
>Kulturrevolution<
eingeschwenkten Blätter. Ich sah sie auf dem Weg in den
Winterpalast, wild entschlossen, den >Thron der alten Götter zu zerstören, wie sie im Chor brüllten. Es brauchte nur zwei Soldaten
der
Volksarmee,
die
ihnen
am
Südeingang
entgegentraten, ihnen mitteilten, dies sei ein vom Vorsitzenden persönlich aus der Liste gestrichenes Objekt, und schon machten sie kehrt, wenngleich murrend, daß man sie wohin schickte, wo es nichts zu demolieren gab, das sollte man sich gefälligst vorher überlegen. Sie zogen zum Lamatempel Yung Ho Gung, wo ich beobachten konnte, wie sie die Lamas aus ihren Quartieren prügelten. Die Mönche mußten im Staub knien und »Osten ist rot< singen. Am interessantesten war für mich dabei das Verhalten der Armeebegleiter. Sie wiesen den Rowdys ein bestimmtes
Gebäude
samt
Götterfiguren,
Altären
und
Gebetsmühlen zur Zerstörung zu und riegelten den übrigen Tempelbezirk
ab.
Nachdem
das
sorgsam
eingegrenzte
>spontane< Werk der Demolierung vollbracht war, versiegelte die Armee den Tempel und sorgte für den Abzug der jungen Leute. — Es waren Beobachtungen dieser Art, die bei mir Vertrauen in die Mitteilung Kang Shengs weckten, daß keine Gruppe es wagen würde, etwa in mein Haus einzudringen. Tso Wen, den Kang Sheng mir schickte, nachdem ich bei ihm angerufen und
um Schutz gebeten hatte, war damals mit zwei roten Armbinden erschienen, die er Lao Wu und der Tai-tai überstreifte, worauf er ihnen verkündete, sie wären nun >Hung Wei Ping< und hätten vom Vorsitzenden persönlich den Auftrag, Leben und Eigentum des »ausländischen Freundes Robbins< zu schützen. Unsere beiden chinesischen Angestellten nahmen diese Aufgabe sehr ernst, wie wir bald beobachten konnten. Sobald die Türglocke ertönte, eilten sie beide ans Tor zur Gasse. Lao Wu mit einem Bild Maos bewaffnet, an einem Stock, und die Tai-tai mit dem roten Zitatenbuch, das sie wild über dem Kopf schwang. Es war eine Show, die uns zu einer Menge ironischer Bemerkungen veranlaßte, aber sie beeindruckte sichtlich jeden Besucher, gleich, ob es Chen Tsu-lin war, die ab und zu hereinschaute, oder Doktor Ma Hai-te, der sich vor Lachen schüttelte und mir versicherte, ich hätte die besten Leibwächter von ganz Peking. Außerdem, so meinte er, stecke ja eben in jedem echten Chinesen ein talentierter Schauspieler! Kang Sheng hatte mich informiert, daß die >Unruhe< eine unbestimmte Zeit anhalten würde. Sandy sollte nach seinem Rat eine große Mao-Plakette am Jackett tragen, wenn sie zur Arbeit ging, und sie sollte das Zitatenbüchlein mitführen. Das gleiche galt für mich. Beide sollten
wir
uns
aus
politischen
Aktivitäten
unbedingt
heraushalten, notfalls mit dem Hinweis darauf, daß wir
ausländische Gäste seien, denen es nicht zusteht, sich einzumischen, so habe es uns der Vorsitzende persönlich bei einem Gespräch empfohlen. Tso Wen gab mir eine zusätzliche Telefonnummer für dringliche Notrufe. »Und«, so empfahl er mir, »wenn Sie an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen wollen, oder wenn Sie Einkäufe
zu
tätigen
haben,
in
Gegenden,
wo
gerade
Revolutionäre operieren, rufen Sie mich unter dieser Nummer an, ich sorge dann für eine unauffällige Begleitung, die im Falle von Belästigungen eingreift.« Ich rief die Nummer nicht an, als ich an einem der nächsten Tage nach Tienchao hinüberging, weil ich einem zufällig mitgehörten Gespräch Lao Wus mit der Tai-tai entnommen hatte, daß >Tienchao tot sei<. Die Gegend an der Himmelsbrücke war zwar nicht >tot<, aber sie bot ein trostloses Bild. Zelte, in denen Akrobaten auftraten, gab es nicht mehr. Entweder waren sie verschwunden, oder sie lagen zerfetzt und unbrauchbar gemacht auf großen Schutthaufen, zwischen Bretterwänden und
Tonscherben,
beschmutzten Kostümen und zerschnittenen Sätteln. An Mauern leuchteten Parolen wie >Weg mit dem bourgeoisen Gift — Her mit den Gedanken des Großen Vorsitzenden Mao!< oder: >Zerschlagt die schwarze Tradition der Verdummung der
Massen durch sogenannte Kunst!« Es war, wie wenn ein Herbsttaifun über das ehemalige Akrobatenquartier hinweggefegt wäre, über die Stätte der Unterhaltung für Hunderttausende von Pekinger Arbeitern und anderen, nicht sehr gut verdienenden Leuten. Hier und da bastelten
Menschen
aus
Trümmern
Behelfsunterkünfte
zusammen, andere suchten in Bergen von zerbrochenem Gerät herum, es gab alte Krauen, die still dasaßen, fassungslos, Kinder auf dem Schoß, die sie abwesend streichelten. Ich hatte solche Bilder nach Luftangriffen in Tschungking gesehen. Niemand beachtete mich. Aus der Gegend, wo früher die Familie Hoang gewohnt hatte, kam der Klang von Gongs und Zimbeln, Stimmen schrien durcheinander. Näherkommend gewahrte ich den alten Hoang Tu, den Bogenspanner, der betrübt auf einen zerbrochenen Bogen starrte, den er in der Hand hielt. Er nickte nur stumm, als ich ihn begrüßte. Aus dem Hintergrund erschien Kai-ming, seine Frau, die Kunstreiterin. Sie trug blaue Einheitskleidung, was fremd anmutete, wenn man sie in ihrem golddurchwirkten Kostüm auf dem Pferd gesehen hatte. »Leider«, sagte sie, »können wir Sie nicht ins Haus bitten, wir müssen es erst wieder aufbauen ...« Sie schleppte ein Brett zu einem bereits kniehohen Stapel
anderer. Hinter ihr tauchten die Zwillinge auf, das Mädchen Lung-Yen und der junge Mann Lung-wen. Auch sie trugen zerbrochene Bretter zusammen, die zur Not noch für den Hausbau würden herhalten müssen. Schweigend begrüßten sie mich und gingen wieder. Hoang Tu hielt mir den zerbrochenen Bogen hin und fragte leise: »Wissen Sie, was so ein Instrument kostet?« Ich wußte es nicht. Er sagte: »Mehr als dreihundert Yüan. Nur, daß es kaum noch gute Bogenmacher gibt. Zwölf Stück hatte ich. Alle zerbrochen.« »Hung Wei Ping?« erkündigte ich mich. Er sah mich nur an, ohne etwas zu antworten. Noch bevor ich mich nach dem Schicksal der anderen Familienmitglieder erkundigen konnte, nach der mittleren Tochter Lung-tse und der Ältesten Lung-lung, deren besonderes Vertrauen ich seit dem Reisgeschäft im Hungerwinter genoß, erschien Lung-lung. Ich hätte sie kaum wiedererkannt, wenn sie mir irgendwo in der Stadt begegnet und ich nicht auf ihr Auftauchen vorbereitet gewesen wäre. Gekleidet war sie in schmutzigblaues Drillich, wie die Tausende der >jungen Rebellen<, die durch die Straßen zogen, ihr einstmals langes Haar, das bis über die Hüften herabgereicht hatte, war bis zum Nacken abgeschnitten, über der Stirn hingen Ponyfransen: die amtlich gewünschte Kopie der
Frisur Tschiang Tschings. Am meisten überraschte mich aber, daß ausgerechnet sie, deren Familie hier vor den Trümmern ihrer Habe stand, die breite rote Armbinde mit der Aufschrift >Hung Wei Ping< trug, ebenso wie die obligatorische MaoPlakette und das rote Büchlein in der Jackentasche, so daß man es sehen konnte. Sie war die einzige, die mich anlächelte und meine Hand schüttelte. »Kann ich helfen?« erkundigte ich mich. Ich wußte, daß ich es nicht konnte, aber es war immer gut, Verbündete zu haben, die in einem den Mann mit dem guten Willen sahen. Lung-lung maß mich mit einem abschätzenden Blick, dann gab sie zurück: »Vielen Dank. Vielleicht komme ich am Abend vorbei ...« »Sie könnten mit uns essen!« schlug ich vor. Das Mädchen nickte. »Ich nehme Ihre Einladung mit Dank an. Und jetzt — gehen Sie bitte. Die Leute hier haben großen Kummer. In diesem Zustand sehen sie nicht gern Fremde.« Ich war froh, daß sie mich bis zur Straße begleitete. »Wie konnte das nur geschehen?« fragte ich vorsichtig. Das Mädchen mit den großen, dunklen Augen, für mich eine der schönsten Chinesinnen, die ich kannte, sagte gedämpft: »Sie haben uns alle zur sogenannten >Schwarzen Tradition< erklärt, Mister Robbins. Wir sollen das Volk nicht weiter vom Studium
der Werke des Vorsitzenden abhalten.« Das klang leidenschaftslos, nur in ihren Augen blitzte ein kaltes Feuer, das mich warnte. »Und jetzt?« »Heute abend werde ich kommen«, wich sie aus. Als ich mich noch einmal umblickte, war sie verschwunden. Sie kam nach Einbruch der Dunkelheit. Von der Stadtmitte her waren Gongs und Trommeln zu hören, das üblich gewordene Geschrei, Fetzen von Sprechchören. Der Vorsitzende hatte die Jugend des ganzen Landes aufgerufen,
ihre
Erfahrungen im »Klassenkampf« auszutauschen und weite Bildungsreisen zu unternehmen. Außerdem wollte er die besten jungen Revolutionäre in Peking empfangen. Seitdem wimmelte es in der Stadt von Auswärtigen, sie lungerten in den Straßen herum, wenn sie nicht gerade >revolutionäre Aktionen< vollbrachten, schliefen in Schulen und Universitäten, Turnhallen, Sälen, zogen durch die Parks, besangen
die
Kulturrevolution
und
verdammten
die
>Kapitalisten in der Partei<. Gelegentlich stürmten sie ein Restaurant, wie etwa das Tjüandjüde, dessen kreisrunden, knallrot gestrichenen Eingang jeder Pekinger kannte, selbst, wenn er sich ein traditionelles Entenessen nicht leisten konnte. Das Lokal war geschlossen. Tong hatte mir berichtet, es würde nichts darin verderben, die >Revolutionäre< hätten alles
aufgegessen, was sie vorfanden, bevor sie entschieden, daß das Tjüandjüde, ja Entenessen überhaupt, ein >Stück schwarzer Tradition«
seien,
beseelt
von
Rinderteufeln
und
Schlangengeistern. Gelegentlich brachten die herumstreifenden Jugendlichen, die aus Szetchuan kamen oder Kiangsi, aus der inneren Mongolei oder aus Kirin, den Gemüsefrauen auf einem Pekinger Basar revolutionäre Gesinnung bei, indem sie alle Äpfel des Standes aufaßen und sich dann entfernten, ohne zu bezahlen. Pekinger Jugendliche, so hieß es, zogen derweil in anderen Provinzen
herum,
um
dort
die
Revolution
mit
ihren
hauptstädtischen Erfahrungen zu bereichern und das Wort des Vorsitzenden zu verkünden. Ganz China, so sagten manche, war in Bewegung. Die Eisenbahn war verpflichtet, Rotgardisten umsonst zu befördern, in allen Städten standen die öffentlichen Verkehrsmittel jedem offen, der die rote Armbinde trug. Und die Armee sorgte für Verpflegung, für Quartiere und Pissoirs. Täglich karrten Fahrzeuge der Armee beispielsweise Fäkalien aus den Übernachtungsstellen der Jungen Rebellen ab, brachten sie auf die außerhalb der Hauptstadt liegenden Kommunefelder, wo dieser Dünger hochwillkommen war. Unter der Hand wurde der Witz kolportiert, im Herbst würde das alljährlich um diese Zeit in die Stadt gebrachte Kraut, das von den Hausfrauen gern
eingesalzen oder gesäuert für den Winter konserviert wurde, nicht mehr grün sein, sondern rot. Dies alles nahm sich nach außen so spontan aus, daß es schon einiger Erfahrung bedurfte, der lenkenden Hand gewahr zu werden. »Sie hatten eine Kompanie Soldaten dabei, als sie Tienchao verwüsteten«, erzählte mir Lung-lung an diesem Abend. Wir saßen allein unter dem Bambus im Hof, die Luft war noch sehr warm, in den von Lao Wu aufgehängten Käfigen zirpten Grillen. Auch ein Relikt der schwarzen Tradition, nur schien er sich den Teufel darum zu scheren, er liebte — wie ich auch — den Gesang der kleinen Tiere. »Verprügelt haben sie nur einige von uns, die man wohl vorher schon ausgewählt hatte«, erzählte Lung-lung weiter, während sie mit ihren Stäbchen Fleischstücken in die Brühe des Feuertopfes hielt, den uns Lao Wu auf den Tisch gestellt hatte, dazu Teller mit Gemüse, Fleisch und Soßen. »Es waren Halbwüchsige. Kinder darunter. Wir hätten sie mit ein paar Ohrfeigen verjagen können, aber die Soldaten hatten Waffen. Sie standen im Hintergrund. Einen Zauberkünstler gab es, der soll vor der Befreiung mal Taschendieb gewesen sein, sehr geschickt mit seinen Fingern, er brachte es fertig dem Anführer des Kommandos unbemerkt den Hosenriemen zu
lösen. Plötzlich stand der junge Mann mit nacktem Hintern vor uns. Aber den Leuten verging das Lachen schnell. Die Soldaten griffen sofort ein. Sie fesselten den Zauberer und befahlen ihm, an einem bestimmten Platz stehenzubleiben. Dann überließen sie ihn einer Gruppe der jüngsten Rowdys. Kinder noch. Wir haben ihn schon begraben —...« Sie genoß das Fleisch. Der Gedanke an den totgeschlagenen Zauberkünstler schien ihren Appetit nicht zu beeinträchtigen. Schließlich faßte ich Mut, deutete auf ihre rote Armbinde und fragte: »Und das da?« Sie ließ sich Zeit. Aß eine Weile schweigend, ehe sie sagte: »Meine Mutter hat uns Kindern früher manchmal Märchen erzählt. Kennen Sie das von der Braut, deren Bräutigam einer Schlange zum Opfer fällt, und die dann von einer gütigen Fee selbst zu einer Schlange verwandelt wird, um Rache nehmen zu können? Zu einer Schlange noch dazu, die nicht des Giftzahnes bedarf, deren Blick allein schon tötet?« Ich ahnte, was sie meinte. Später bestätigte sie meine Überlegung: »Wir müssen uns schützen. Jetzt, wo wir unsere Hütten wieder aufbauen, haben wir unsere eigene Rote Garde. Ich führe sie an.« »Aber keine Soldaten habt ihr ...?« Sie lachte. Ließ ihre Zähne aufblitzen im Schein der Sturmla-
terne, die wir abends im Hof aus dekorativen Gründen der elektrischen Beleuchtung vorzogen. »Haben Sie morgen vormittag Zeit?« Sie versprach mir ein aufschlußreiches Abenteuer, aber ich mußte ihr in die Hand versprechen, jegliche Bekanntschaft mit ihr zu leugnen, wann immer ich gefragt würde. »Selbst wenn mich jemand hier in Ihrem Haus beobachtet — ich kam lediglich, um Ihren Kindern Grüße meiner Eltern auszurichten!« Ich versprach zu schweigen. Aber ich forschte vorsichtig ein bißchen weiter: »Das hört sich an wie eine Verschwörung?« Wieder lachte sie. Es schien mir, als sei ein böser Zug um ihren Mund, als sie sagte: »Mister Robbins, es gibt keine friedlicheren Menschen auf der Welt als chinesische Akrobaten. Glückliche, mit wenigen irdischen Gütern zufriedene Leute waren wir. Bis vor kurzem. Sie werden es bedauern, daß sie unsere armseligen Buden zerstört haben und unsere Zelte. Wir haben niemandem Böses angetan. Aber jetzt werden wir ihnen zeigen, wie Rebellion aussieht, wenn wir sie machen. Seien Sie morgen um zehn Uhr vormittag an der Ecke Wanfutjing und Dung-An-MenDadjiä. Seien Sie Zuschauer, sonst nichts. Danke für das Essen, es war sehr gut. Und ein liebes Wort für Ihre Gattin!« Sie hatte nach Fleisch und Gemüse aus dem Feuertopf zuletzt eine Kakifrucht gegessen, einen Rest davon schob sie jetzt in
den im Bambus hängenden Grillenkäfig, lauschte verzückt ein paar Sekunden auf das Zirpen, dann winkte sie mir kurz zu, legte an der Gassentür artig die Hände vor der Brust zusammen und war bald in der Dunkelheit verschwunden. Die Dung-An-Men-Dadjiä endet in einer T-Kreuzung, genau vor dem westlichen Eingang des Dung-An-Basars. Rechts beginnt
die
Wanfutjing,
die
jetzt
in
>
Straße
des
Antiimperialismus< umgetauft war. Ich hatte mich einige Minuten vor der vereinbarten Zeit in den Eingang des nunmehr >Ostwind< genannten Basars gestellt und las in der Zeitung. Leute gingen in den Basar oder verließen ihn, unmittelbar am Eingang befand sich ein Laden, in dem es kandierte Früchte und Bonbons
gab.
Ich
kaufte
mir
ein
paar
gezuckerte
Ingwerscheiben, die ich nach langer Zeit wieder einmal entdeckte, und während ich sie kaute und dabei las, marschierte von Westen her der Zug der Jungen Leute heran, Losungen rufend, und Becken schlagend, in
Dreierreihen. Ein paar
Soldaten gaben mit Trillerpfeifen den Schritt an, sie hatten Revolver umgeschnallt, es waren junge Burschen mit harten, entschlossenen Gesichtern. Als der Zug die Ecke Wanfutjing erreicht hatte, ging alles sehr schnell. Ich war verblüfft, wie minutiös die Aktion geplant war: Eine Gruppe der ausnahmslos jungen Leute, von denen manche mir
seltsam bekannt vorkamen, alle Hung-Wei-Ping-Armbinden tragend, klebte Plakate an die Fassade des Eckladens. Dies war das einzige staatliche Geschäft für den monopolisierten Verkauf von Gold- und Silberwaren, auch für in diese Edelmetalle gefaßte Brillanten. Obwohl der Laden jedermann offenstand, kauften hier doch fast ausschließlich Ausländer, Diplomaten und ihre Gattinnen, Staatsgäste. Sie allein konnten die geforderten Preise bezahlen. Die gelben Plakate, die schnell die gesamte Fassade bedeckten, richteten sich gegen die bürgerlichen, schwarzen Körper, gegen Verschwendung und Prunksucht, wie sie unter kapitalistischen Elementen üblich waren. Ich traute meinen Augen nicht, als ich sah, daß Lung-lung den Trupp anführte, der den Laden betrat. Ja, sie war es, in schlichtes Blau gekleidet wie die anderen, die leuchtend rote Binde am linken Arm, und eine besternte Ballonmütze auf dem Haar! Ganz Maos junges Rebellenmädchen! Die Soldaten riegelten die Straße ab, winkten Autos mit herrischen Bewegungen zurück. Ein-zweimal sah ich, wie die Ladentür aufging und eine Person, vermutlich ein Angestellter, im hohen Bogen auf den Bürgersteig flog. Ein paar Schritte weiter gab es einen bekannten Briefmarkenladen. Die Volksrepublik gab jedes Jahr eine Menge interessanter Motive auf Marken heraus, Hier konnte man sie erwerben, wenn sie bei der Post längst vergriffen waren. Während sich die
Angestellten des Goldladens auf dem Bürgersteig krümmten, schlossen die Verkäufer des Briefmarkenladens die Tür und hängten große Schilder in die Schaufenster »Wir schließen uns der Bekämpfung schwarzer Gewohnheiten an! Nieder mit dem Markenverkauf! Hoch die Ideen des Vorsitzenden!« Inzwischen
umringten
die
Mitglieder
der
Demonstrantengruppe den Eingang des Goldladens und trommelten, gongten, lärmten auf jede erdenkliche Weise, schrien Parolen und sangen das Lied vom Steuermann. Die Gaffer hielten sich in respektvollem Abstand. Kein Polizist zeigte sich, niemand ließ erkennen, daß er vielleicht etwas gegen die Aktion einzuwenden habe. Zwischen anderen Gesichtern erkannte ich das von Lung-tse, der mittleren Hoang-Tochter, und auch die Zwillinge waren dabei, alle lärmten, so laut sie konnten. Es vergingen etwas mehr als zehn Minuten, dann verließ Lung-lung mit ihrem Trupp den Laden. Sie trug eine große Tasche
aus
schilfgrünem
Drillichstoff,
ähnlich
einem
Postbehälter. Alle Jugendlichen des Trupps waren mit solchen Taschen ausgestattet. Mit aus dem Laden kam noch ein weiterer Angestellter. Er bekam ebenso wie jene, die schon vor ihm herausgeflogen waren, einen spitzen Papierhut aufgesetzt, ein Schild quer über die Brust gehängt, und mußte dem sich schnell
wieder formierenden Demonstrationszug vorangehen. Erneut die Stöße der Trillerpfeife. »I ... Erh ... San ...!« kommandierte einer der Soldaten, und ab ging es, die Dung-An-Men-Dadjiä zurück. Erst jetzt sah ich, daß die Tür des Ladens mit einem großen Papiersiegel blockiert war. — In keiner Zeitung wurde über das Ereignis geschrieben, auch der Rundfunk meldete es nicht. Die Sache ging unter im Durcheinander der allgemeinen >revolutionären Aktivitäten< oder sie wurde verschwiegen. Täglich gab es tausend solcher Vorfälle allein in der Hauptstadt, wer konnte noch kontrollieren, ob die Soldaten vielleicht gar keine Soldaten waren, sondern kostümierte Diebe? Für mich bewies der Coup an der Ecke der Wanfutjing, daß es kaum noch möglich war, gesteuerte und spontane Aktionen auseinanderzuhalten. Es kam mir so vor, als sei
es
zwar
gelungen,
die
Machtstrukturen
völlig
durcheinanderzubringen, aber ob sich aus dem Chaos überhaupt wieder ein brauchbares System schaffen ließ, begann ich zu bezweifeln. Es fiel mir auf, daß es nicht nur clevere Nutznießer der allgemeinen Gesetzlosigkeit gab, wie Lung-lung und ihre Truppe, sondern daß auch zwischen einzelnen Gruppen Auseinandersetzungen ausgetragen wurden, die sich nicht mehr auf den Abtausch von Argumenten in Datse-baos beschränkten. Man beobachtete regelrechte Straßenschlachten, in denen
rivalisierende Gruppen, die jeweils für sich in Anspruch nahmen, einzig und allein im Sinne des großen Vorsitzenden zu handeln, mit Steinen und Schlagstöcken, Ketten und Messern aufeinander losgingen. In der Peking-Universität, ebenso in der Tjinghua, herrschte so etwas wie Belagerungszustand. Einzelne Wohnblocks waren von Studentengruppen in Festungen verwandelt worden, andere griffen sie an. Es waren jeweils verschiedene Rotgardistengruppen, die sich da schlugen, eine warf der andern vor, nicht >rot genug< zu sein, oder >sich nur rot zu gebärden, in Wirklichkeit aber schwarz zu sein. In der phrasenreichen Sprache, die jetzt üblich war, hieß das auch: >Sie schwingen die rote Fahne, um dahinter ihre schwarze Seele zu verstecken. < Einige Tage nach dem Vorfall am Goldladen hatte Sandy frei, wir wollten mit einem Taxi in die Duftberge fahren, die um die Zeit in den herrlichsten Herbstfarben leuchteten, und die wohl nicht vom nervenzehrenden Lärm der roten Garden erfüllt sein würden. Aber es wurde nichts daraus. Aus dem Hospital wurde angerufen, ein Krankenwagen sei unterwegs, er würde Sandy aufnehmen, es sei eine Notlage eingetreten, man bitte sie auszuhelfen. Ich brachte sie bis ans Ende der Gasse, die für den Krankenwagen schwer befahrbar war. Der Fahrer konnte ihr, als er sie aufnahm, lediglich mitteilen, daß es zur Peking-
Universität ging, wo es Tote und Verletzte geben sollte. Wieder einmal. Ich benutzte die Gelegenheit, einen Spaziergang bis nach Tien-chao zu machen, und ich traf die Angehörigen der Familie Hoang an, die dabei waren, aus den verschiedensten Baumaterialien ihr Heim wiederaufzubauen. Auch Zelte wurden geflickt. Das alles war schon ziemlich weit gediehen, und es fiel mir auf, daß die Gesichter der Leute weniger finster waren als bei meinem letzten Besuch. Einige grüßten mich sogar. Vater Hoang schien die Trauer um seine zerbrochenen Requisiten überwunden zu haben. Als ich Lung-lung darauf ansprach, die dabei war, Gemüse und Hühnerfleisch auf einer offenen Kochstelle zu garen, lachte sie und wies auf den Topf: »Da, wir haben wieder etwas zu beißen! Noch einmal wird man uns nicht übertölpeln!« Sie machte mich aufmerksam auf Artistenkinder mit roten Armbinden, die um das Viertel herum Wache hielten. Überall wehten rote Fahnen, klebten Mao-Bilder, waren Losungen hingepinselt. Ich blinzelte dem Mädchen zu und erinnerte sie: »Gute Show, das in der Wanfutjing!« Sie winkte ab. Lung-lung hatte zu mir Vertrauen, wie damals als wir das Geschäft mit dem Reis machten. Und sie hatte wohl registriert, daß ich als Ausländer nie Überheblichkeit gegenüber
dem Völkchen von Tienchao gezeigt hatte. »Was habt ihr mit den Angestellten gemacht?« »Wir haben sie irgendwo hinter dem Djingshan-Park zur Schau gestellt und sind weitermarschiert.« »Und sie sind einfach stehengeblieben?« »Ja«, sagte das Mädchen. Sie stocherte mit einem Ast in den glühenden Kohlestückchen unter dem Topf. »Die Regeln sind jedem bekannt. Haben Sie noch nie gesehen, wie ein paar > Bekämpfte < irgendwo stehen?« »Nun ja ...« Sie machte es mir vor. »Also — sie hatten auf diese Weise die Hände auf den Rücken zu legen und die Köpfe tief zu senken. Unsere revolutionären Studenten haben dafür die Bezeichnung >Düsenjäger< geprägt. Dabei blicken die Augen auf die Erde. Sie konnten uns also nicht sehen. Außerdem hatten sie damit zu tun, sich anzuklagen, wir hatten ihnen befohlen, immer abwechselnd im Chor ihre Schlechtigkeit zu beschreien und eine Strophe aus >Sozialismus ist gut< zu singen.« »So einfach ist das?« »Wir ahmen das nach, was andere mit uns gemacht haben. Ich habe eine Stunde so stehen müssen.« Ihre Augen waren kalt, als sie anfügte: »Dafür werden einhundert Leute einhundertmal solange so dastehen, Mister Robbins!«
Ich beschloß, das heikle Gebiet zu verlassen und erkundigte mich:
»Werden
eure
bescheidenen
Mittel reichen,
um
wenigstens ein Minimum an Existenz neu zu schaffen?« Sie lächelte nur. »Sehen Sie, Mister Robbins, ab und zu finden wir hier, unter den Trümmern, ein wertvolles Schmuckstück. Wir haben Wege, es zu Verwandten zu bringen, die im Ausland leben. Die schicken uns dafür gutes, revolutionäres Bargeld. Mögen die ausländischen reaktionären Schweine sich mit unseren Wertstücken behängen — wir haben das Geld und können unsere Hütten wieder aufbauen. Sogar Fleisch können wir kaufen. Na, haben wir nicht ein herrliches, revolutionäres Leben, bei all dem wilden Klassenkampf, den wir führen?« Ich nickte etwas verlegen. — Sandy kam spät zurück, abgespannt, zu müde, um sofort schlafen zu können. Eine Weile sagte sie nichts. Erst nach einem großen Brandy,
den
sie —
entgegen
ihren
sonstigen
Gewohnheiten — auf einen Zug trank, berichtete sie: »An der Universität rotten die einzelnen Gruppen sich gegenseitig aus. Mit Messern und Fleischbeilen. >Djingkangshan-Regiment<
Einige haben Schußwaffen.
gegen Gruppe Rote Fahne<,
>Jenan-Korps< gegen >Regiment der rötesten Kämpfer des Vorsitzenden Mao<. Der Himmel weiß, wie sie alle heißen, was sie wollen, wer gegen wen steht, wer hinter wem. Die Soldaten
mußten uns Ärzte schützen, sonst hätten uns diese überdrehten Schreihälse mit Brandflaschen beworfen.« »Tote?« »Ein älterer Mann. Nichts mehr zu machen. Er soll der Dekan der Historischen Fakultät gewesen sein. Hatte russische Bücher und ein Glas mit revisionistischen Goldfischen im Haus.« Würde sie noch solange durchhalten, wie ich hier durchhalten mußte? Für mich trat der Aufenthalt in Peking jetzt wohl endlich in eine entscheidende Phase ein. Aber Sandy konnte unter dem Eindruck des sich täglich steigernden Terrors leicht die Nerven verlieren. Sie erzählte: »Es gab einige Dutzend Verletzte. Meist Kopfverletzungen. Messerwunden auch. Wir mußten Leute mit inneren Blutungen zum Hospital bringen, in den Operationssaal. Wer weiß, ob alle durchkommen. Da draußen, in den Universitäten, herrscht so etwas wie Kriegszustand, Sid. Sie werfen sich gegenseitig selbstgebaute Bomben in die Quartiere. Und
ihre
Dozenten
sitzen
in
den
Kellern,
oder
in
Bambuskäfigen, wie man sie für Schweine verwendet, wenn sie zum Schlachten gebracht werden. Ich sah einen, der wurde mit Bananen gefüttert unter dem Gelächter der Umstehenden, sie verglichen ihn mit einem Affen im Zoo ...« Sie trank einen weiteren Brandy. Ich sagte: »Liebe, wirst du mir ein Signal geben, wenn du glaubst, es nicht mehr auszuhalten?«
»Was habe ich schon auszuhalten?« Sie sagte es beiläufig, während sie Schluck um Schluck ihr Glas leerte. »Ich bin Zuschauer. Werde es bleiben. Solange du aushalten mußt, halte ich auch aus.« Sie lächelte. »Eine Wahine verläßt ihren Mann nicht, wenn der Sturm geht. Du solltest das wissen!« Am nächsten Morgen rief Tong an. »Ich soll dir einen Gruß von Ma Hai-te übermitteln. Ob du interessiert bist, am 1. Oktober die Demonstration zum Nationalfeiertag auf der Tribüne des Tien An Men zu erleben, will er wissen!« »Oh«, machte ich überrascht, »wie komme ich zu solcher Ehre?« »Sag ja oder nein. Über die Ehre mußt du Ma Hai-te befragen.« »Ja«, sagte ich. »Ohne Frau.« Wir wechselten noch ein paar Belanglosigkeiten, dann verabschiedete er sich, und ganz am Endes unseres Gesprächs riet er mir ganz nebenbei, aber in einem Tonfall, der mich neugierig machte: »Jetzt geh gleich zum großen Warenhaus in der Wanfutjing. Wenn du mit dem Gesicht zum Eingang stehst, wendest du dich nach links, dort beginnt eine Gasse, in der meist Autos und Rikschas parken. Am Anfang der Gasse, rechts, an der Wand des Warenhauses, klebt ein Datse-bao, das wird dich interessieren. Laß den Fotoapparat zu Hause, die lieben es nicht, wenn Ausländer so was fotografieren. Bis bald?« Ich ging sofort
los. Statt des Fotoapparates steckte ich mein winziges Tonbandgerät ein, mit dem Mikrofon, das in die (sogar gehende) Uhr eingebaut war. Mein Gefühl sagte mir, daß es sich lohnen würde. Das aus mehreren Blättern bestehende Datse-bao fand ich ohne Schwierigkeiten. An der Stelle wo es hing, gab es keine Leser, vielleicht, weil früher Vormittag war. Nach den ersten Zeichen stockte ich. Es dauerte eine Weile, bis ich die Überraschung überwunden hatte. Noch bevor ich alles gelesen hatte, wurde mir klar, daß der Erfolg meiner Mission unweigerlich verbunden war mit dem Verlust vieler Dinge, die mir — völlig abgesehen von meinem Job — an China lieb und teuer gewesen waren. Wie hieß das doch bei uns daheim: Jedes Ding hat seinen Preis! Ich würde meinen Preis zahlen müssen. — Mit der linken Hand begann ich mein Kinn zu massieren, damit sich die Armbanduhr mit dem Mikrofon aus dem Hemdsärmel schob. Es war nicht unüblich, daß Chinesen einen längeren Text halblaut vor sich hin murmelten, während sie ihn lasen. Ich tat es ihnen nach ...
Datse-bao
ausgehängt
am
Warenhaus
Wanfutjing,
Peking, Ende September 1966. (Tonspulenkopie) Der
Konterrevolutionär
Lao
She
entzog
sich
der
revolutionären Gerechtigkeit durch Selbstmord. Vorsitzender Mao, die röteste aller Sonnen, die unsere jungen, revolutionären Herzen erwärmt, hat gesagt: >Eure gegenwärtige Aufgabe heißt, die Rechten in der Partei und im ganzen Lande niederzuschlagen. Nach weiteren sieben oder acht Jahren kann man erneut eine Kampagne starten und die Rinderteufel und Schlangengeister hinwegfegen. Später muß man so etwas noch viele Male durchführend Unser Regiment >Rote Faust der Massen< folgt den Weisungen des großen, geliebten Steuermannes bis ins letzte. Als wir das uns zugewiesene Stadtviertel nach versteckten Ungeheuern absuchten und Haus für Haus kontrollierten, stießen wir auf die giftgefüllte Höhle des gefährlichen, bourgeoisen Elements Lao She, der sich als Literat bezeichnete, und dem es von den kapitalistischen Machthabern in der Partei seit der Befreiung erlaubt worden war, die Massen auszubeuten, zu betrügen und mit dem schwarzen Gift seiner abscheulichen Ideen zu verderben. Wir faßten sofort den Beschluß, ihn zu bekämpfen. 1. Er setzte seine dekadente Hornbrille auf, um sich schon reinäußerlich über die Massen zu erheben, und verweigerte uns das Betreten seines Hauses. Er sei krank. Wenn wir eine Diskussion über seine Werke wünschten, würde er den Wunsch
gnädigst entgegennehmen. Auch seine ebenfalls von schwarzen Ideen erfüllte, reaktionäre Frau, ein widerliches, gegen die Massen gerichtetes Element, stellte sich uns in den Weg. Wir vom Kampfregiment >Rote Faust der Massen< waren zutiefst empört. Unser gerechter Zorn traf das schwarze Element Lao She und seine Frau, wir erzwangen uns auf revolutionäre Weise den Eintritt, indem wir beide die Fäuste der Massen spüren ließen. 2. Unser Verdacht bestätigte sich. Lao Shes Höhle war für den dekadenten Lebensstil feudalistischer und kapitalistischer Elemente eingerichtet. An den Wänden hingen die schmutzigen Abfallprodukte reaktionärer Malerei, aber es fand sich kein einziges
Bild
unseres
heiß
verehrten
und
geliebten
Vorsitzenden, Führers und Steuermannes Mao Tse-tung. Überall im Haus stapelte sich giftige Literatur, vom alten, verlogenen feudalistischen Märchen bis zu den verabscheuungswürdigen Schwarten Ai Tjings, Ding Lings, Ba Djins, Dschao Shu-lis oder Mao
Duns.
Selbst
Machwerke
der
bekannten
Konterrevolutionäre Hu Fung und Wu Han fehlten nicht, ebensowenig wie der schmutzige >Traum der roten Kämmen, der das chinesische Volk verleumdet, und >King Ping Meh<, das üble Produkt pornografischer Phantasien. Selbstverständlich waren die Schriften der gefährlichsten russischen Revisionisten,
von Puschkin bis Dostojewski, zu finden — ein stinkender Haufen
konterrevolutionären
Unrats,
in
dem
sich
das
hundeköpfige Schwein Lao She wonnig suhlte. Wie verkommen dieses Subjekt war, geht auch daraus hervor, daß es in seinem Haus eine Menge altes Gerumpel aus Porzellan gab, nicht aber etwa einen Trinktopf, wie wir ihn benutzen, mit dem roten Stern darauf und einem Wort des Vorsitzenden. 3.
Wir prüften die üble Gesinnung des Konterrevolutionärs,
von dem wir wußten, daß er einige Bücher und mehr als ein Dutzendschwarzer
Theaterstücke geschrieben hat, ohne
in
einem davon auch nur einmal die größte Gestalt der chinesischen Geschichte, den geliebten Vorsitzenden Mao auftreten zu lassen. Als wir ihm anboten, wir würden ihm helfen, sich zu revolutionieren, wollte er nicht einmal aufstehen und eine demütige Haltung gegenüber den Massen einnehmen. Wir erkannten, daß es sich um einen der schwersten Fälle von heimtückischer Gesinnung handelte und befreiten ihn zunächst von all dem Plunder, der seine Höhle füllte. Wir warfen Bilder, Porzellan und Bücher auf einen Haufen im Hof und forderten Lao She auf, sich durch Anzünden davon zu distanzieren. Er weigerte sich. Seine Frau wurde hysterisch. Wir mußten sie beruhigen. Dazu verwendeten wir unsere Fäuste. 4.
Der Kommandeur unseres Regiments >Rote Faust der
Massen< ermahnte den Konterrevolutionär Lao She ein letztes Mal mit ernsten Worten. Doch das schwarze Element wies auf den Haufen Unrat im Hof und erklärte uns zu Barbaren, die unschätzbare Werte vernichteten.
Er hingegen
habe
Verdienste um die Kultur und Kunst, und wir sollten darüber nachdenken. Wir beschlossen, ihm eine Lektion zu erteilen, was den
Respekt
uns
gegenüber,
als
den
Vertretern
der
revolutionären Massen betraf. Erst danach wollten wir wieder mit der Waffe des Wortes gegen ihn weiterkämpfen. Diese Absicht wurde dadurch erschwert, daß das ruchlose Element Lao She nach unserer Lektion nicht mehr stehen konnte. 5. Wir machten dem Konterrevolutionär den Vorschlag, sein verdorbenes Gewissen dadurch zu erleichtern, daß er die Bücher der Revisionisten Puschkin und Dostojewski sowie anderes ausländisches Gift auf dem Boden seines Arbeitszimmers verbrannte. Weil er selbst angeblich nicht die Kraft hatte, häuften wir die Bücher auf und gaben ihm Zündhölzer in die Hand. Er weigerte sich erneut. Seine Frau warf sich auf uns und gefährdete ernstlich unser Leben. Daraufhin verteidigten wir uns gegen die beiden gefährlichen konterrevolutionären Schädlinge mit unseren roten Fäusten. Es gelang uns, die Frau zu fesseln. Der Verräter Lao She fiel in Ohnmacht. Wir verließen den Schauplatz der schändlichen konterrevolutionären Gesinnung,
um neue Maßnahmen zu beschließen und einzuleiten. Unmittelbar nach unserer Aktion, so erfuhren wir später, hat sich das schwarze, verdorbene, konterrevolutionäre Element Lao She in verräterischer Weise das Leben genommen, um dadurch die Ehre der Kulturrevolution zu besudeln und die Ideen des großen Vorsitzenden Mao Tse-tung zu beleidigen. Er ging lieber in den schändlichen Tod, als den Kopf vor den Massen zu beugen. Lao She tat alles, um uns ein letztes Mal heimtückisch verleumden zu können. Damit ist sein übler Geist endgültig bewiesen. Er glaubte, daß er selbst noch durch die feige Flucht aus dem Leben unserer revolutionären Sache Schaden zufügen könnte. Das Regiment >Rote Faust der Massen< teilt diesen Vorfall mit, um eine Warnung an andere schwarze Elemente auszusprechen: Niemand von der verkommenen Bande der Volksbetrüger und kapitalistischen Machthaber in der Partei wird uns entkommen! Wir werden weiter der Weisung des großen Vorsitzenden folgen und die Ungeheuer aufstöbern, wo immer sie sich verstecken. Wir werden die große proletarische Kulturrevolution, wie der Genosse Vorsitzende es von uns jungen roten Kämpfern verlangt, zum siegreichen Ende führen! Regiment Rote Faust der Massen.
An Holly Informationen (7), Quelle: K. Sh.
Bei den von VR China
nach Vietnam delegierten
Hilfsgruppen handelt es sich um zivile Helfer auf verschiedenen Gebieten (z.B. Straßen- und Brückenbau). Der Einsatz dieser von bewaffneten Milizabteilungen geschützten
Gruppen ist
keine verschleierte Teilnahme am Vietnam-Krieg, leitet eine solche auch nicht ein. Die von Kräften der VR China gegenwärtig gebaute Allwetterstraße von Yünan nach Luang Prabang (Weiterführung bis Vientiane und später nach Thailand) dient nicht militärischen Zwecken, sondern der Erleichterung unserer Landverbindung nach Bangkok und der geplanten Nutzung thailändischer Häfen für unseren Exporthandel. Aktivitäten junger Kommunisten in Hongkong, Macao und Singapore zielen auf die Erringung von Grundrechten und Grundfreiheiten für die beträchtlichen chinesischen Kommunen in
den
genannten
Orten
sowie
auf
den
Handelsbeschränkungen gegenüber der VR China.
Abbau
von
Außenpolitische
Aktivitäten
der
VR
China
erfahren
gegenwärtig eine Gewichtsverlagerung. Der diplomatische Aspekt
wird
zurückgestellt
hinter
die
ideologische
Unterstützung derjenigen Parteien und Gruppierungen im Ausland,
die
die
richtungsweisende
Ideen
des
Vorsitzenden
Weiterent-wicklung
als
der marxistischen
Theorie akzeptieren und verbreiten. VR
China
erhält
Hinweise,
daß
US-Bergungsschiffe
versuchen, die von China am 27.10.1966 in ein vorher bekanntgemachtes
Zielgebiet
Mittelstreckenrakete
zu
im
heben.
Südpazifik Wir
geschossene
verweisen
auf die
Eigentumsrechte der VR China an den mit einer Zerstörladung bestückten
Wrackteilen.
VR
China
betrachtet
die
widerrechtliche Aneignung der Raketenteile durch die USA als unfreundlichen Akt und wird öffentlich dagegen protestieren. Ein
Versuch
der
Bergungsarbeiten wird
gewaltsamen
Verhinderung
von
von unserer
Seite jedoch
nicht
unternommen werden. VR China wird voraussichtlich Mitte Juni 1967 eine weiterentwickelte
Kernladung
auf
ihrem
Testgelände
überirdisch zünden. Es handelt sich um einen HydrogenSprengsatz. Mai1967
Violet
Juni-Juli 1967 Di-di kam und flüsterte mir zu, daß Chang Wen am Abend zur Stadt fahren würde, ich wüßte schon, weshalb erst nach Einbruch der Dunkelheit. Aus der Art, in der er mir das mitteilte, schloß ich, daß er sich eng an Chang Wen angeschlossen haben mußte. Ich überlegte, welche Veränderung doch der junge Ingenieur seit seiner Kindheit genommen hatte. Es war mir unauslöschlich ins Gedächtnis eingeprägt, wie er, noch als Schulkind, uns Maos Theorie von der Macht aus den Gewehrläufen vorgebetet hatte. Und nun — obwohl er eine rote Armbinde und die knallige Mao-Plakette trug —, kam er mir vor wie das um viele Jahre jüngere Abbild Chang Wens. Ich entsinne mich, daß er auf meine Frage, wie es auf der Baustelle gehe, erwiderte: »Wir haben alle Hände voll zu tun, die Horden von Dummköpfen davon abzuhalten, daß sie unsere Anlagen kaputtschlagen ...« Noch einer, der auf der anderen Seite stand. In der Tat bewies es sich, daß diejenigen Mitglieder der Partei, die deren Zerschlagung durch jugendliche Rowdys nicht tatenlos zusehen wollten, zunehmend einfallsreicher wurden, was die Formen ihres Widerstandes betraf. Die ursprüngliche Idee Maos, aus ganz China einen einheitlich denkenden Block von siebenhundert Millionen Menschen < zu
machen, war wohl bereits durchkreuzt. Mao würde vermutlich keine Sorgen haben, was die administrative Macht betraf, innerlich aber würde das, was aus der > Kulturrevolution < hervorging,
ein
zerrissenes,
wirtschaftlich
wie
kulturell
niedergebrochenes China sein. Und deutlich, wie bisher nie, drängte sich mir der Gedanke auf, daß ich mich ganz persönlich in einem lächerlichen Widerspruch befand, wenn ich das aus einer sentimentalen Neigung China gegenüber bedauerte. Ich sollte eigentlich darüber erfreut sein, denn aus der enormen Schwächung der chinesischen Wirtschaft, die sich abzeichnete, konnten
die
Vereinigten
Staaten
tatsächlich
ökonomisches
wie auch
militärisches
politisches,
Kapital schlagen!
Streckten wir die Hand zur Hilfeleistung aus, würde China sie ergreifen, nachdem die > Kulturrevolution < das Land virtuell ruiniert hatte. Vorausgesetzt, wir verstanden es, in diese Geste die geziemende Würde zu legen, und wir halfen diesem künftigen China, sein Gesicht zu wahren. Unbedingt verhindert werden mußte, daß der Eindruck entstand, hier suche ein bankrottes System Hilfe bei den USA! Nein, zwei gleichrangige große Mächte würden sich in aller Form zum besseren Umgang miteinander verständigen! Oft durchdachte ich das, bis mir klar wurde, daß sich China mit all dem Durcheinander der Kulturrevolution unaufhaltsam auf den Punkt
zu bewegte, an dem allein der Ausgleich mit den Vereinigten Staaten stehen würde! China war nie so weit von jeglicher Liaison mit den Sowjets gewesen wie heute. Darin lag die positivste Seite des gegenwärtigen Wirrwarrs. Alle Publikationen des Landes schienen sich in zwei Fragen gegenseitig überbieten zu wollen, einmal in der Lobpreisung des Vorsitzenden und zum anderen in der Schmähung des nördlichen Nachbarn. Welch ein Unterschied zu früher! Besorgt war ich allerdings über die Entwicklung in Vietnam. Die Angriffe gegen unsere Stützpunkte im Süden rissen nicht ab, und im Norden brachten die Sowjets es im Verein mit den anderen Ostblock-Staaten offenbar fertig, durch Luftangriffe verursachte Ausfälle schnell wieder zu kompensieren. Wenn man Hanoi glauben wollte, dann erwiesen sich auch die Methoden der Abwehr gegen unsere Flugzeuge als wirksam, das bewies die wachsende Zahl der abgeschossenen Piloten, deren Namen
hin
und
wieder
bekanntgegeben
wurden,
also
nachkontrollierbar waren. Sandy brachte eines Tages eine Briefmarke mit nach Hause, sie stammte aus Nord-Vietnam. Darauf war das tausendste US-Flugzeug abgebildet, das man über Hanoi abgeschossen hatte. — Vermutlich wegen der durch Chinas >Kulturrevolution< verursachten Ausfälle gelangte der sowjetische Nachschub für
Hanoi meist auf dem Seewege dorthin. Aber auch eine direkte Luftlinie Moskau-Hanoi spielte eine Rolle. Auf ihr wurde wohl heute das technisch komplizierteste und empfindlichste Material nach Nord-Vietnam gebracht, nachdem in der Vergangenheit viele Transportzüge auf dem Wege durch China von >Roten Garden< geplündert worden waren, wie man sich hier erzählte. Was immer an diesen Gerüchten Wahrheit war und was Dichtung, konnte ich nicht herausfinden. Sicher hingegen war, daß die von der Sowjetunion aus durch China geleiteten Eisenbahntransporte, zu deren Durchlaß sich Peking verpflichtet hatte, auf Bitte der Nordvietnamesen hin, jetzt von der sowjetischen
Grenze
an
durch
Kommandos
von
nordvietnamesischen Soldaten begleitet wurden. Es war Peking unmöglich gewesen, diese Bitte abzuschlagen. Unsere
Militärkommentatoren
äußerten
allerdings
mit
geringen Einschränkungen die naive Meinung, daß die Lage in Südvietnam nach und nach stabilisiert werden könnte und die im Norden durch unsere Luftangriffe unentwegt angerichteten Schäden die Moral der Einwohner tiefgreifend zerstören würden. Sie rechneten sich aus, daß Vietnam als fest in unserer Hand befindliche Basis ausreichte, um unsere Interessen auf dem asiatischen Festland nachhaltig zu sichern. Keiner von ihnen kam auf die Idee, daß es für unsere weitreichenden
strategischen Interessen absolut abträglich war, daß unsere Streitkräfte in die Nähe der südlichen Grenzen Chinas gelangten und dadurch Alarm in Peking auslösten. Es mußte uns vielmehr daran gelegen sein, dort unten im Süden überhaupt kein Aufsehen zu verursachen — um so schneller würde es möglich werden, die chinesischen Sicherheitsinteressen nachhaltiger in die nördliche Richtung zu orientieren als zum Süden hin. Das mußte dann endgültig der Zeitpunkt sein, zu dem von unserer Seite Sicherheitsgarantien hinsichtlich der Nordgrenzen zu offerieren wären. Wurde diese Chance wiederum versäumt, so entschloß ich mich, würde ich um meine Ablösung bitten. Ich würde mich mit der Aufgabe meines Pekinger Postens ohnehin aus dem Dienst zurückziehen und meine Zeit zum Schreiben verwenden. Trotzdem — lieber als an Aufgeben dachte ich natürlich an ein US-Einflußgebiet vom Mekongdelta bis hinauf in die Ebenen der Mandschurei. Wir konnten es schaffen, wenn zu Hause nur rechtzeitig gehandelt würde: eine geopolitische Konstellation, die zur Folge haben mußte, daß die Sowjets zwischen der westeuropäischen NATO und der US-ChinaKombination in einer absolut defensiven Lage aussichtlos eingeklemmt waren. Träume? Die Realität war, daß Maos Kulturrevolution
inzwischen
ein
höchst
problematisches
Eigenleben entwickelte. Daran fiel mir nach und nach folgendes
auf: l. Von Mitte August bis Ende November 1966 wurden in der Hauptstadt, auf dem Platz vor dem Tien An Men acht Großkundgebungen abgehalten, an denen insgesamt zwischen 10 und 15 Millionen >junger Revolutionäre< aus dem ganzen Land teilnahmen. Sie marschierten auf, sangen, riefen Losungen und feierten den Vorsitzenden. Der allerdings erschien nur bei einigen der Veranstaltungen überhaupt persönlich, d. h. er winkte den Demonstranten aus großer Entfernung, von der Balustrade des Tien An Men zu. Nur einmal sprach er bei einer solchen Kundgebung, und es waren einige Phrasen, die er mit — wie es mir schien — etwas schwerer Zunge, ins Mikrofon sagte: »Die Genossen mögen lange leben! Ihr müßt der Politik den Vorrang geben, unter die Massen gehen und euch mit ihnen vereinen. Ihr müßt die >Große Proletarische Kulturrevolution< zu noch größerem Erfolg führen!« Für mein Empfinden ein paar rhetorische Allgemeinplätze, aber sie wurden sofort von allen Medien zur höchsten Weisheit hochstilisiert. Bei allen übrigen Anlässen hielten entweder Lin Piao oder Tschiang Tsching die Reden, einige Male auch Tschen Po-ta oder andere Mitglieder der > Gruppe Kulturrevolution <. Für mich ergab sich die Frage, ob Mao gesundheitlich doch nicht so stabil war, wie es immer wieder betont wurde, Anstrengungen
daher vermied, und die Führung der von ihm eingeleiteten Kampagne längst hochgradig in den Händen der > Gruppe < lag. Alle führenden Funktionäre der Partei, selbst die Veteranen wie Tschu Teh, wurden in Datse-baos und auf großen Versammlungen, teils in Sportstadien, tagelang >bekämpft<. Der Rundfunk übertrug das. Man bezeichnete sie als Abweichler oder Revisionisten und Kapitalisten. Die einzige Ausnahme war bisher Tschou En-lai. Während Peng Tschen, Lo Jui-tsching, Lu Ding-i, Ho Lung und andere verhaftet wurden oder, hysterisch angefeindet,
stundenlang
mit
gesenktem
Kopf
vor
aufgeputschten Versammlungen stehen mußten, angespuckt oft, war Tschou En-lai mit den Regierungsgeschäften beschäftigt, wenn man davon absah, daß er gelegentlich bei öffentlichen Anlässen, mit dem roten Zitatenbüchlein wedelte, etwas abwesend, wie es schien. Meist stand er an der Seite Kang Shengs oder Tschiang Tschings. Er sprach kaum öffentlich, aber er wurde ganzoffensichtlich >Bekämpfung<
von der
freigegeben.
Bei
>Gruppe< nicht den
hier
zur
vorhandenen
Machtstrukturen hieß das, daß Mao persönlich ihn schützte. Die Vermutung, daß Tschou En-lai als versierter Staatsmann während der >großen Umwandlung unter dem Himmel< im Auftrag des Vorsitzenden ein Minimum an Ordnung in den Staatsangelegenheiten aufrechterhalten sollte, lag sehr nahe.
Es gibt offenbar bereits schwerwiegende ökonomische Folgen der Kulturrevolution. Dafür spricht unter anderem ein ZK-Beschluß vom September 1966, der es den >Roten Garden< verbietet, die Kulturrevolution in die Landwirtschaft zu tragen. Weiterhin ordnete das ZK im November an, daß in der Industrie die Produktion den Vorrang habe, keinesfalls dürfe unter den kulturrevolutionären Aktivitäten etwa der Achtstundentag vernachlässigt werden. Andrerseits hat der Vorsitzende persönlich im Oktober 1966 kritisiert, daß die Kulturrevolution in den Provinzen nur schleppend vorankäme und von den Elementen in den Parteikomitees, die den kapitalistischen Weg gehen behindert werde. (Das entspricht insofern den Tatsachen, als es in einigen Provinzen bereits blutige Auseinandersetzungen zwischen >Rebellen< und vorwiegend älteren Parteimitgliedern gibt. Parteikomitees werden gegen >Rotgardler< verteidigt. Zuweilen stellt sich die örtliche Armeeführung gegen die Unruhestifter, da traditionell die örtliche Armeeführung sehr eng mit den örtlichen Parteifunktionären verbunden ist.) Seit dem Dezember 1966 mehren sich Meldungen aus den Provinzen,
wonach
es
im
wachsenden
Maße
zu
Zusammenstößen zwischen >Rebellen< und Industrie-arbeitern oder Bauern kommt. Die >Gruppe Kultur-revolution< gab
bekannt, es sollten jetzt auch Rotgardistenorganisationen in Industrie und Landwirtschaft gebildet werden. Unmittelbar nach Verkündung dieses — inzwischen nicht mehr propagierten — Aufrufs
zogen
besonders die
verarmten Schichten der
Kommunebauern in großen Scharen aus den Dörfern in die Städte, um nach den Weisungen des Vorsitzenden > revolutionären Erfahrungsaustausch zu üben. In Wirklichkeit benutzten sie ihren Stadtaufenthalt zur Plünderung von Geschäften und Warenlagern aller Art, unter dem Vorwand, dort befänden sich > Rinderteufel und Schlangengeister. Ich hörte solche Meldungen wiederholt über den Rundfunk, und ich stellte fest, daß es inzwischen um die > Revolutionierung der Kommunen< still geworden ist. Von Mao Tse-tung persönlich kommen immer häufiger sogenannte Weisungen, kurze, meist nur einen oder zwei Sätze lange Verhaltensmaßregeln mit sehr aktuellem Bezug. Sie lassen die Vermutung zu, daß er damit die ordnende und mäßigende Wirkung der Armee auf die Rebellen untermauern will. Er ist scheinbar bemüht, die Bewegung der Jugendlichen, die ihm zu entgleiten droht, einigermaßen unter Kontrolle zu halten. Die Unordnung im Lande hat, wie ich bereits konstatierte, ein Stadium erreicht, das den massiven Einsatz der Armee als Machtorgan unumgänglich macht. Dies könnte man als
Ausnahmezustand bezeichnen, als Kriegsrecht, leicht variiert. Da der bisherige Parteiapparat so gut wie zerschlagen und seiner fähigsten Köpfe beraubt ist, da es im Staatsapparat ähnlich aussieht, bleibt als letzte, landesweit operationsfähige Autorität die Armee. Sie soll, wie ich hinter Maos Strategie vermute, >unbekämpft
gebliebenes oder
erfolgreich
umer-zogene<
Arbeiter- und Bauernkader sowie Rebellen und Armeeoffiziere paritätisch zur Zusammenarbeit in den sogenannten Revolutionskomitees heranziehen, um wenigstens eine gewisse Struktur wiederherzustellen, die man an die Stelle des bisherigen Lenkungsapparates der Volksrepublik setzt. Damit wäre, so vermute ich, die Phase des allgemeinen Aufruhrs, den Mao für seinen Vorstoß an die Spitze brauchte, abgeschlossen. Nachdem inzwischen seine Hauptgegner in der Partei, Liu und Deng, offen und mit Namensnennung angegriffen werden, gibt es für ihn kaum noch Widerstände. Allerdings, und hier setzen meine gravierenden Bedenken ein, die durch die Gründung der >Revolutionskomitees< nicht beseitigt werden — der einmal entfesselte Aufruhr, das >Jeder-gegen-Jeden<, hat eine solche Eigendynamik gewonnen, daß es beim geringsten Zusammenstoß mit Ordnungskräften (seien es nun strukturell ältere, unversehrte Staats- oder Parteiorgane, oder seien es jene > Revolutionskomitees <) sofort zu bürgerkriegsartigen Tumulten
kommt, mit hohen Zahlen an Verletzten und Toten. Das ist wohl auch in Wuhan geschehen. Ich weiß allerdings noch nichts Genaues darüber, kenne nur die Meldungen angeblich gut informierter Radiosender des Auslands, daß am Yangtse Gefechte toben. So gesehen läßt die für unsere Absichten grundsätzlich positive Entwicklung manche Frage offen. Ein Kardinalproblem scheint mir zu sein, daß die Sprache der Propagandaorgane hierzulande im wachsenden Maße zügelloser geworden ist. Im Bestreben, die Sowjets in den Augen der übrigen Kommunisten in der Welt >links zu überholen<, hat man eine verbale Kampagne gegen >die Imperialisten<, d.h. gegen uns, entfesselt, die in ihrer Gehässigkeit nicht mehr zu übertreffen sein dürfte. Und obwohl man solche Kampagnen von einem Tag auf den anderen abschalten kann, hinterlassen sie doch Spuren. Um die mache ich mir Sorgen, denn ich vermute, sie werden nicht so schnell getilgt sein, wenn es tatsächlich eines Tages zu einem Arrangement mit uns kommt. Keine Frage, daß man die geistlosen und leichtgläubigen Schreihälse, die Nachplapperer von Parolen, schnell umorientieren kann, ähnlich wie man sie umorientierte, als das Verhältnis zu den Sowjets verändert wurde. Die Reserven an solchen Leuten sind in China gewiß groß. Aber der Anteil der politisch Gebildeten hat sich in den
Jahren seit der Befreiung gewaltig vergrößert. Was werden solche Bürger, ob sie nun eingeschriebene Kommunisten sind oder nicht, davon halten, daß man ihnen mitteilt, die >Imperialisten< seien der neue Partner der Volksrepublik? Ich stelle mir bei diesen Überlegungen Chang Wen vor, Chen Tsulin, ihren Sohn Chen Dao-tsu. Ich denke auch an Intellektuelle wie Tong, deren Sympathien nach allem was sie erleben mußten, eher bei Kommunisten vom Schlage Chang Wens liegen dürften, als bei denen, die Horden von Rowdys auf sie losließen. Nichts, so sage ich mir, ist wirklich entschieden! Immer wieder, ohne daß ich es verhindern konnte, befiel mich das Gefühl, versagt zu haben, auf meinem Pekinger Posten. Dann suchte ich nach einem entscheidenden Fehler in meinem Vorgehen. Aber ich kam jedesmal nur auf die Schwerfälligkeit der Administration zu Hause zurück, auf die Verbohrtheit von Leuten, die Asien nie gesehen hatten, sich aber anmaßten, Entscheidungen über unsere Politik hier zu treffen. Dies alles war ein altes Lied. Dann wieder grübelte ich: war nicht doch ich selbst gescheitert? Ganz persönlich? Hatte ich nicht doch meine eigene Bedeutung und die Bedeutung des >Kanals<, an dessen Pekinger Ende ich saß, total überschätzt? Es war jener 1. Oktober 1966, der Nationalfeiertag, dem ich die schlimmsten Zweifel an mir selbst zu verdanken habe. Sie
quälen mich heute noch. Brandmale, die sich in meine Seele gefressen haben. Unauslöschbar wohl. — Tso Wen holte mich an jenem frühen Morgen ab, heiter, gelöst. Er lachte, als Sandy sich erkundigte, ob ich zum Mittagessen zurück sein würde. »Oh nein! Es ist eine sehr große Feier, Mrs. Robbins, und sie wird viele Stunden dauern ...« Sie riet mir, eine Schachtel Keks einzustecken, aber ich wußte von Ma Hai-te bereits, daß es bei diesen Gelegenheiten für Ehrengäste ein Buffett gab, an dem sie jederzeit einen Imbiß einnehmen konnten. Tso Wen drängte zum Aufbruch. Erst als wir uns auf engen Nebenstraßen von Westen her dem Gelände des Winterpalastes näherten, und als der >Pobjeda<, den wir benutzten, immer öfter im Menschengewimmel steckenblieb, begriff ich seine Befürchtung, zu spät zu kommen. Als sich uns der Blick auf den Platz vor dem Tien An Men öffnete, stellte ich verdutzt fest, daß die riesige Fläche bereits völlig von Menschen bedeckt war. Sonst war es immer so gewesen,
daß
die
Einwohner
der
Hauptstadt
mit
Blumensträußen und Fähnchen rings um den Platz herum gestanden hatten, hinter Absperrungen, bis die Parade vorbei war. Dann, auf ein Zeichen, waren sie winkend und jubelnd losgerannt, bis unter die Balustrade, um
einen nach allen Seiten grüßenden Mao Tse-tung als letzte aus der Nähe zu sehen, bevor er die Tribüne verließ. Heute lagerten schätzungsweise hunderttausend junge Leute auf dem Platz, er sah aus wie ein riesiges Biwak, nur daß keine Feuer brannten. Die jungen Leute waren aus allen Provinzen angereiste >Rebellen<,
mit
Zitatenbüchlein,
Armbinden, gekleidet
in
zahllosen Armeekhaki,
Mao-Plaketten, einschließlich
Feldflaschen und kleiner Tragetaschen. Jede Provinz, jede der großen Städte entsandte ihre Abordnung. Die besten warteten, wie mir Tso Wen erläuterte, bereits seit dem vergangenen Abend auf dem Platz, um als erste den Vorsitzenden zu sehen, gewissermaßen
als
Auszeichnung
für
revolutionäre
Sonderleistungen. Sie würden die Demonstration der insgesamt eine Million zählenden > Rebellen < anführen. Durch einen Seiteneingang betraten wir das >Tor des Himmlischen Friedens<. Ein Fahrstuhl brachte uns hinauf zur Tribüne, wo Tso Wen sich diskret in den Hintergrund verzog, als der quirlige Israel Epstein auf mich zuschoß und mir eine rote Papierblume in die Hand drückte, mit der ich >dem Volke zuwinken < sollte. »Du bist zum ersten Mal hier oben?« wollte der alte Rewi Alley wissen, der mich als nächster begrüßte. Als ich es bejahte, schilderte er mir, was ihn stets bewegte, wenn er am 1. Mai oder
am Nationalfeiertag hier oben stand. Alley, den ich von den gemeinsamen > Informationsreisen < kannte, die wir vor vielen Jahren unternommen hatten, gelegentlich auch von einer Zufallsbegegnung im Club, war einer der Leute, denen man jedes Wort unbesehen glaubte. Ohne sich um eine >Position< bemüht zu haben, wie etwa die Dame Strong, war Alley tatsächlich so etwas geworden, wie der von allen respektierte Senior der Ausländer in Chinas Hauptstadt. Niemand zweifelte an seiner kommunistischen Grundhaltung. Sie hatte sich wohl, wie ich vermutete, nach und nach herausgebildet, von der Zeit an, da er als junger Mann in den frühen dreißiger Jahren beruflich nach Shanghai kam und dort das Bedürfnis empfand, zu helfen. Alley hatte nie geheiratet. Seine Liebe waren Kinder. Vor allem die unzähligen chinesischen Waisen, die hungerten und an den Straßenrändern starben. Noch unter dem Regime der Kuomintang erwarb er sich das Ansehen eines praktisch handelnden weisen Mannes, als er in der tiefsten Provinz sogenannte
Jugendzentren
einrichtete,
Siedlungen
für
heimatlose, entwurzelte Kinder. Die Volksrepublik, deren führende Männer Alley bereits im Untergrund kennengelernt hatte, bewerteten sein Werk äußerst positiv, sie stellte ihn in eine Reihe mit Dr. Bethune. Nach dem Sieg der Revolution bat man ihn, zu bleiben. Er hatte Einfluß, und er wurde als Vertreter
Chinas in das Pazifische Friedenskomitee delegiert, eine hohe Ehre für einen Ausländer. Alley war in China nicht dem Beispiel so vieler instinktloser Ausländer gefolgt, die mach Besichtigung der Sachlage Ratschläge gaben < — er tat das, was jeder im Lande aus der philosophischen Tradition Konfutses heraus begriff: >Eine Kerze anzünden ist besser, als der Dunkelheit zu fluchen. < Da
stand
er,
in
seinen
knielangen,
verwaschenen
Kattunhosen, auf den stämmigen Beinen, ein weißes Hemd über dem massigen Oberkörper. Das gerötete Gesicht mit der markanten Hakennase wies ein väterliches Lächeln auf, als er zum Platz hinabblickte. Er wandte sich mir zu: »Siehst blaß aus. Immer noch an der Epik?« »An derselben.« Ich versuchte zu lächeln. »Ein Job, für den man ein Leben braucht!« Er sagte bedächtig: »Wir haben nur eins. Es reicht nicht für alles, was wir schaffen wollen. Deshalb geht einigen Leuten manches nicht schnell genug ...« »Da machen wir dann Sprünge«, ergriff ich die Gelegenheit, ihm eine Äußerung zu entlocken, die seine Gedanken enthüllte. Er gab mir eine Antwort, die ich nicht vermutet hatte. Gelassen auf die vielen jungen Leute herunterblickend, die den Platz bedeckten, so daß man den Boden nicht mehr sah, brummte er:
»Ich habe gerade überlegt, wie hoch der Berg würde, wenn jeder dieser jungen Rebellen eine einzige Schaufel voll Erde beisteuerte ...» Er blinzelte mir zu, musterte mich kritisch und erkundigte sich: »Du hast dein Büchlein nicht bei dir?« Maos Zitate? Nein, die hatte ich in der Tat nicht mitgebracht. Tso Wen hatte mich auch nicht daran erinnert. Der alte Neuseeländer, den man ob seines Temperamentes geneigt war, einen Neufundländer zu nennen, griff in die Hüfttasche seiner Kniehose und zauberte ein rotes Zitatenbuch hervor, das er mir in die Hand drückte. »Winke damit. Es ist zwar spanisch, aber du mußt es ja nicht lesen!« Ich fand Züge an ihm, die ich gelegentlich auch an Ma Hai-te entdeckt hatte. Eine intellektuelle Abgeklärtheit, die sich angesichts des Tagesgeschehens nicht in Besserwisserei äußerte, sondern eher in einer unerschütterlichen Geduld, so, als hätte er fortwährend den konfuzianischen Grundsatz im Ohr, daß der Wechsel das Wesen der Dinge ist. Die Dame Strong, arg gehbehindert schon, wurde von zwei Begleiterinnen auf die Tribüne geführt, wo sie sich in einem Stuhl niederließ und ohne sichtlichen Grund begann, ihr rotes Büchlein zu schwenken. Das unterbrach sie nur, wenn jemand sie begrüßte, aber meist reichte sie den Leuten die rechte Hand
und wedelte das Büchlein mit der Linken. Es gehörte offenbar zum Ritual, ihr die Reverenz zu erweisen, also tat ich es auch. Und da sie am linken Arm die rote Binde mit der Aufschrift >Hung Wei Ping< trug, machte ich eine respektvolle Anspielung auf ihre Mitgliedschaft bei den Rebellen. Sie teilte mir freudig mit: »Die größte Ehre meines Lebens, man hat mich als Ehrenmitglied aufgenommen! So kann ich doch noch an der großen proletarischen Kulturrevolution teilnehmen!« Dann kam Jack Chen, aufgekratzt wie üblich, schlug mir auf die Schulter, zückte sein Skizzenbuch und erbat sich die Erlaubnis der alten Dame, sie zeichnen zu dürfen, wie sie, büchleinwedelnd, auf der Tribüne saß, im Hintergrund ein Lampion, auf dem stand >Lang, lang, lang lebe ...< Der Rest war von unserem Standort aus nicht zu lesen. Irgend jemand stellte mir englischsprechende Leute vor, einen Mann, von dem ich nur den Vornamen Mike verstand, einen,
der
hieß
Tannebaum
und
sagte
dazu
höflich:
»Baltimore!«, so daß ich schon versucht war, >Tschengtu< zu erwidern. Dann kam ein Ehepaar, Dave und Nan, die unvermeidliche Talitha war da, die Wood mit den vielen Kindern, Coe und Adler, eine Dame namens Hinton oder so ähnlich, die ihre Hand nicht aus der Hosentasche nahm und nur müde
>Hallo<
murmelte.
Rittenbergs
schwache
Augen
funkelten hinter blankgeputzten Brillengläsern — ich dachte einen Augenblick an Hollys Mitteilung über die Aktivitäten von John Service in Kalifornien — wie viele von diesen Sprachlehrern, Übersetzern, Beratern, Spezialisten und Gästen mochte John Service hierher vermittelt haben? Oder Davies. Und zu welchem Zweck? Am besten würde es für mich sein, wenn ich mich, wie bisher, ein wenig am Rande dieser Gesellschaft hielt. So sehr es mich reizte, Landsleute zu treffen, die vielleicht mit ähnlicher Zielvorstellung wie ich hier weilten — ich war zu lange in diesem Geschäft, um die Fehler eines Anfängers zu begehen. Das Schauspiel war großartig inszeniert. Ma Hai-te, der ziemlich spät eingetroffen war, machte mich aufmerksam, daß auf dem Zentralteil der Haupttribüne bereits untergeordnete Mitstreiter Maos warteten, zwischen ihnen auch, zu meinem Erstaunen, Deng Hsiao-ping und Liu Shao-tschi, die beide wenig erfreute Gesichter machten. Wie immer roch es ein bißchen nach Ironie, als Ma Hai-te mir die Dramaturgie der Show erklärte: »Bis Punkt zehn Uhr ist es an der zentralen Brüstung schattig, aber genau eine Minute danach wird die Stelle, wo dann der Vorsitzende steht, im Licht der höher gestiegenen Sonne liegen. Und jetzt...« Er warf einen Blick auf seine Uhr und stellte fest, daß es drei Minuten vor zehn war. Ich
sah, daß er den Zeigefinger hob, und plötzlich hörte ich die Sprechchöre, während Ma Hai-te mir lachend auf die Schulter schlug und verkündete: »Es ist losgegangen!« Die Jugendlichen, die den Platz füllten, hatten sich erhoben. Sie schwangen das rote Büchlein. Khaki und Rot beherrschten das Bild. Dazu die gesungen Worte: »Vor uns geht die rote Sonne auf. Ihr glänzendes Licht erhellt die Erde. Unser großer Führer, der geliebte und verehrte Vorsitzende Mao, ist ewig bei uns!« Gleichzeitig begann das Orchester der Armee > Osten erglüht< zu spielen, langsam, getragen. Es geschah überhaupt alles synchron: die Musik pries den roten Osten, der Platz hallte nach von den Sprechchören, die Sonne schüttete Licht auf die zentrale Tribüne, und genau dort, wo das Licht einfiel, wie der Doktor es angekündigt hatte, erschien Mao Tse-tung, die Sonne im Rücken, so daß es von unten, auf dem Platz, aussehen mußte, als umrahme ein himmlischer Strahlenkranz seine Gestalt. Er hob die Hand und winkte. Von da an kochte der Platz, und die Tribünen
machten
den
Eindruck,
als
sei
von
einem
Gymnastiklehrer >Hüpfen< befohlen worden. Selbst die alte Dame Strong sprang auf und humpelte mit Hilfe der Krücken an die Balustrade. Dabei warf sie einen Spucknapf um, und lockte ein halbes Dutzend Sicherheitsleute
herbei, die den Spucknapf nach einer versteckten Sprengladung untersuchten. Ballons und Blumensträuße, Blechmusik und Gongschläge, Transparente Freudentränen,
und
Zitatenbüchlein,
Wansui-Rufe
und
erhitzte hysterische
Gesichter, Schreie.
Irgendjemand, vielleicht der gegenwärtige Bürgermeister, rief ins Mikrofon, daß die Feier eröffnet sei. Mao winkte gelassen. Oder müde? Die Armeekapelle spielte die Nationalhymne. Weit hinter dem Kohlenhügel donnerten Salutschüsse. Neben mir stand inzwischen eine kleine, weißhaarige Dame, die ich im Club gelegentlich gesehen hatte, und von der ich wußte, daß sie sich in China aufhielt, seitdem sie vor Hitlers Truppen aus Osterreich hatte fliehen müssen. Sie schüttelte verzweifelt ihren Füllfederhalter, in dem offenbar keine Tinte war, unglücklicherweise. Ich zog einen meiner Hongkonger Kugelschreiber aus der Hemdtasche und hielt ihn ihr hin. Sie kontrollierte die Uhrzeit, dann trug sie >10 Uhr 05< auf die erste Seite ihres Zitatenbüchlein ein und vermerkte darunter: >Vorsitzenden Mao erblickt. 1. Oktober 1966<. Sie schrieb es in Englisch. Ich nahm höflich lächelnd den Stift wieder zurück. Die Frau, vielleicht nicht viel jünger als die Dame Strong, war glücklich. Später sah ich, daß die beiden sich unterhielten. Lin Piao, nach dem Wortlaut der letzten Zeitungs-meldungen,
der >engste Kampfgefährte des Vor-sitzenden Mao<, hielt die Festrede. Ich hörte ihn zum ersten Mal, und ich bezweifle, daß viele verstanden haben, was er sagte. Seine Stimme war piepsig, und es fehlte ihr an Kraft, zudem machte der schwere HupehDialekt jedes zweite Wort zum Rätsel für Leute, die aus anderen Provinzen kamen. Auch ich verstand nur, daß er die > Große Proletarische Kulturrevolution < für eine > völlig neue Art von Revolution < hielt, die nach der Machtergreifung durch das Proletariat dazu diente, eine Handvoll von Leuten in der Partei, die Machtpositionen innehaben, und die den kapitalistischen Weg gehen, zu bekämpfen, zu stürzen, alle finsteren Elemente überhaupt aus der Gesellschaft hinwegzufegen. Die Tage der US-Imperialisten
und
der
modernen
Revisionisten,
so
versicherte er, seien gleichermaßen gezählt. Aber man müsse aus ganz China eben eine einzige große Schule der Lehre Mao Tse-tungs machen. Er möge noch viele, viele, viele Jahre leben ... Ich blickte hinüber zur Zentraltribüne. Tschou En-lai schwenkte mit der gesunden linken Hand das rote Buch, den beschädigten rechten Arm, wie immer angewinkelt, den Daumen in die Knopfleiste der Jacke geschoben. Neben ihm Kang Sheng, winkend. Liu Shao-tschi, mit unbewegtem Gesicht, winkend, ebenso Deng Hsiao-ping, der die Lider fast
geschlossen hielt, so als ob die Sonne ihn blendete. Eigenartig, in der unmittelbaren Nähe Maos hielt sich der Jubel in Grenzen. Dafür aber waren die ausländischen Freunde außer sich vor Freude, man konnte nicht übersehen, daß sie sich durch besonders auffälliges Benehmen auszeichnen wollten. Es konnte einem überhaupt einiges auffallen, auf der Ehrentribüne dieses 17. Nationalfeiertagsvorbeimarsches. Nach Lin Piao sprachen Vertreter von Arbeitern, Bauern, der Armee, der nationalen Minderheiten, die alle versicherten, dies sei der glücklichste Tag ihres Lebens, weil sie ihren Vorsitzenden, den großen Lehrer, Führer, Steuermann, Oberkommandierenden,
Wegweiser
und
Initiator
der
Kulturrevolution sehen könnten. Dann kam ein Student der Peking-Universität, der dort Rebellenführer war. Ich stellte unaufällig das Mikrofon an meiner Armbanduhr an, weil das, was er redete, mir von den ersten Worten an originell genug erschien, um es festzuhalten: »... Lieber Vorsitzender Mao! Sie sind die glühendrote Sonne in unseren Herzen! Mit welcher Sehnsucht haben wir diesen Tag erwartet! Lieber Vorsitzender Mao, wir folgen Ihnen, halten das rote Banner der proletarischen, revolutionären Rebellion hoch, unternehmen
kühne
Angriffe.
Wir
werden
die
konterrevolutionären Revisionisten, die bürgerlichen Rechten und die reaktionären bürgerlichen akademischen Autoritäten gründlich bekämpfen und niederschlagen, ihre Arroganz vernichten und ihnen nie erlauben, sich wieder zu erheben ... Wir werden eine neue rote Welt errichten, die von der Lehre Mao Tse-tungs erhellt wird ...!« Unten begann die Menge spontan das Lied vom Steuermann zu singen, die einfache Melodie mit dem Naivtext, der gerade deshalb so eingängig war: »Wer zur See fährt, vertraut auf den Steuermann. Alles, was wächst, vertraut auf die Sonne. Regen und Tau ernähren die sprießenden Saaten.« Die Revolution vertraut auf die Lehre Mao Tse-tungs! Auffällig
erschien
mir
auch
die
Akzentuierung
der
Begrüßungsrede einer Vietnamesin, in der grünen Kleidung der Guerillas. Sie wurde als Heldin bezeichnet, vermutlich hatte sie große Taten vollbracht. Es war ein eigenartiges Gefühl für mich, in dieses freundliche Gesicht zu blicken und zu wissen: Wenn sie mit ihrer Einheit Camp David angegriffen hätte, als ich mich dort aufhielt, hätte ich leicht von ihrer Hand sterben können. — Ich hatte in China seit langer Zeit keine so kühlen und gemessenen Worte gehört, die zugleich so viel innere Festigkeit verrieten. Diese kleine Frau brauchte nicht zu schreien, wie die Redner vor ihr, sie brauchte nicht einmal die Stimme zu heben.
Sie dankte höflich für die Gelegenheit, an der Feier teilnehmen zu können, versprach, daß ihr Volk die Waffen nicht niederlegen würde, bis der letzte US-Soldat Vietnam verlassen habe, sie dankte China für die erwiesene Unterstützung und schloß in diesen Dank überraschend alle anderen sozialistischen Länder ein, wie auch die >friedliebenden Völker in aller Welt<. Eine feine Nuance. Und am Schluß dieser einzigen Rede, bei der absolute Totenstille herrschte, bevor der Beifall wie ein Taifun losbrach, stand im Gegensatz zu allen anderen Reden nicht der Wunsch auf langes Leben für Mao. Er wurde überhaupt nicht mehr erwähnt. Die kleine Frau erklärte lakonisch, das vietnamesische Volk werde siegen, der US-Imperialismus, den sie sorgsam vom amerikanischen Volk absetzte, werde in Vietnam(!) geschlagen werden, und die Freundschaft des vietnamesischen und des chinesischen Volkes soll lange leben. Ich ertappte mich noch Minuten später dabei, daß ich im Gesicht der kleinen Person forschte, in ihren Augen, über die ein Dschungelhut Schatten warf. Ich erschrak, als ich sie mir vorstellte, wie sie die Phosphorhandgranaten Made in USA auf unsere nächtliche Patrouille warf, wie sie den Abzugsring zwischen den Zähnen hatte, ihn nach der Detonation ausspie, nach der Detonation, die Abel Kamasuki verbrannte. Meine Skepsis, was unsere Chancen in Vietnam betraf, wurde an
diesem verdammten Feiertag durch die intelligent
und
distanziert wirkende, gelassene kleine Vietnamesin weiter vertieft. — Irgendjemand sprach dann von den Sowjetrevisionisten, die gemeinsam mit uns die Welt beherrschen wollten, paritätisch angeblich. Ein Abgesandter einer nach Maos Theorien orientierten ausländischen Partei redete ganz ähnlich. Zuletzt sprach der Star der Gäste, ein gewisser Robert Williams aus den USA, der als >Negerführer< angekündigt wurde, was er wohl zum Glück nicht verstand. Beklatscht wurde der
große,
grobknochige,
bebrillte
Mann,
als
er
den
Vorsitzenden und seine Lehre hochleben ließ und China zum >revolutionären Stützpunktgebiet der Weltrevolution< erklärte, dem einzigen, das es gäbe. Chinas fieberhafte Public Relationsarbeit, was die Theorien des Vorsitzenden betraf, schien in der übrigen Welt wenigstens einen Teilerfolg errungen zu haben. Nach etwas mehr als einer Stunde Reden begann der Vorbeimarsch
von
eineinhalb
Millionen
Menschen.
Rebellen,
Volksbefreiungsarmee, Volksmilizen, Arbeiter, Bauern, alle bildeten lange Reihen, jubelten, tanzten, winkten Mao zu. Man mußte sich auf Stunden einrichten. Und dieser Umstand lieferte ungewollt Aufschluß darüber, wie es tatsächlich mit den
körperlichen Kräften des Vorsitzenden stand. Kurz nach Beginn des Vorbeimarsches drehte er sich um und strebte der Tür zum Ruheraum der Tribüne zu. Blitzschnell waren die beiden uniformierten Mädchen bei ihm, genau so weit von ihm entfernt, daß sie ihn auffangen konnten, falls die Kräfte ihn verließen, aber so geschickt, daß der unbefangene Beobachter sie wohl übersah oder für ganz gewöhnliche Adjutantinnen hielt. »Er wird uns zu sich bitten«, sagte Ma Hai-te voraus, der neben mir stand, ein Taschentuch über sein ergrauendes Haar gelegt, um sich gegen die Sonne zu schützen, die unbarmherzig auf die Tribüne brannte. In der Tat lud sich der Vorsitzende in den häufigen Pausen Leute ein, >schubweise<, und immer nur für wenige Minuten. Unten auf dem Platz blieben wie auf Verabredung die Reihen der Demonstranten stehen, sobald Mao sich von der Brüstung entfernte. Sie warteten, bis er wieder erschien, so daß sich beachtliche Verzögerungen ergaben. Der Vorsitzende pausierte daher jeweils nicht länger, als bis er hastig eine Zigarette aufgeraucht hatte, wobei er zwischendurch seine Rechte den Besuchern hinhielt. Audienz. Ich wurde zusammen mit Ma Hai-te, Chen und einigen Unbekannten in den Ruheraum gebeten. Alles ging so schnell, daß ich unversehens vor dem Vorsitzenden stand, der in Hemdsärmeln auf dem Stuhl saß. Ich
fühlte, daß seine Hand schlaff war, feucht auch, und ich muß ein sehr dummes Gesicht gemacht haben, als er, nachdem ihm eines der zwei Mädchen, das eine Liste in der Hand hielt, etwas ins Ohr geflüstert hatte, sich räuspernd, kehlig, und mit schwerer Zunge zu mir sagte: »Ah, der Genosse Rittenberg, hao, hao, hao ...« Im Gesicht Tschou En-lais, der im Hintergrund stand, bewegte sich kein Muskel. Auch Kang Sheng, der ebenfalls anwesend war, verzog keine Miene. Er gab nicht zu erkennen, daß er mich kannte, was ich normal fand. Mao aber sollte mich nicht wiedererkannt haben, nur weil die Begleiterin offenbar die falsche Liste erwischte? Der Mann, der in Jenan bei ihm zu Gast gewesen war, mit dem er im Hallenbad um die Wette geschwommen war, lange vor seinem spektakulären Start im Yangtse? Mao verwechselte mich ausgerechnet mit diesem Fatzken Rittenberg? Er mußte doch wissen, daß ich der >Kanal< war! Konnte man das durcheinanderbringen? Tschiang Tsching, der ich am Eingang begegnete, als ich ein wenig verdattert den Raum wieder verließ, hielt mir demonstrativ die Hand hin und sagte mit allem Charme, den sie aufbieten konnte: »Hallo, Kamerad Robbins! Es freut mich, Sie an unserem Feiertag so gesund und froh zu sehen!« Platitüde, gewiß, aber immerhin wußte sie wenigstens noch, wer ich war! »Nimm es nicht so
tragisch«, tröstete mich Ma Hai-te. »Aber
—
was
ist
das?
Gedächtnisschwund?
Oder
Überanstrengung? Die Hitze vielleicht?« Ich war wütend und verbarg es nicht. Ma Hai-te hielt mir ein Ginseng-Bonbon hin. Ohne auf meine Frage direkt einzugehen, sagte er langsam: »Dreiundsiebzig Jahre. Und sie waren hart.« Für mich war das kein Trost. Der Gedanke, von Mao nicht einmal erkannt worden zu sein, ließ mir fortan keine Ruhe. Das Schlimmste daran war, daß es niemanden gab, mit dem ich mich darüber unterhalten konnte. Hier ohnehin nicht. Und in Hongkong, wo der Wert, den man meiner Person zumaß, an dem Grad meiner Beziehungen zum Vorsitzenden gemessen wurde? Ich konnte auch mit Holly darüber nicht reden, nein! »Tschiang Tsching war sehr freundlich zu dir«, erinnerte mich Ma Hai-te nach einer Weile. »Darüber solltest du dich freuen. Sie ist eine ungemein wichtige Person geworden. Weißt du, daß nichts mehr hierzulande geht, absolut gar nichts, was sie nicht zuvor genehmigt hat?« Ich wußte es, natürlich, aber es konnte mich nicht über die Enttäuschung hinwegbringen. Am späten Nachmittag war die Demonstration beendet gewesen. Ein müder Mao schleppte sich zusammen mit Tschou En-lai von der Tribüne, um Hände von verdienten Rebellen zu schütteln. Tso Wen brachte mich nach
Hause. »Die Genossin Strong hat heute einen Satz geprägt, der lange Bestand haben wird«, verriet er mir, als wir im Auto saßen. Wir fuhren >Tjien Men Wai<, aus dem Tjien Men südwärts. Da ich nichts sagte, setzte Kang Shengs bester Mann seine Rede fort: »Sie sagte: >Mao Tse-tung hat vierzig Jahre lang die Theorie und Praxis dieser Revolution ausgearbeitet, die jetzt die Revolution unserer Epoche ist. Mao Tse-tung ist nicht nur der Führer Chinas, Mao Tse-tung und seine Lehren über die Revolution
sind
Chinas
herrlichstes
Geschenk
an
die
Menschheit! < Es wird morgen in der Zeitung stehen, man hat die Genossin Streng fotografiert, als sie mit dem Genossen Mao sprach ...« Inzwischen sind Monate vergangen. Wir haben einen heißen, feuchten Sommer, wie er Peking für gewöhnlich peinigt. Der Schweiß steht mir auf der Haut, das Hemd, das ich früh angezogen habe, ist salzverkrustet. Ein Whisky wäre jetzt gut, aber bei dieser schwülen Hitze würde er mich sofort umwerfen. Während ich noch unter dem Bambus sitze und nachdenke, wird der
berühmte
tiefblaue
Pekinger
Sommerhimmel
in
Minutenschnelle bleigrau und schwer. Zuerst lispeln die Bambusblätter warnend, dann kommt der erste Windstoß. Lao Wu und die Tai-tai rennen herbei, retten all das Papier, das um
mich herum liegt, zerren den Tisch unter ein Überdach, den Stuhl, laufen dann mit mir zusammen zum Eingang des Hauses, als die ersten schweren Tropfen fallen, den Staub in kleinen Wölkchen aufwirbelnd. Doch nur für kurze Zeit ist das so. Dann peitscht das Wasser herab, von Böen gewirbelt, fällt wie aus Sturzbächen, verwandelt den Boden in einen See, schwemmt Staub von den Dächern und sättigt die Luft so mit Feuchtigkeit, daß sie dampft. Als der Guß vorbei ist, haben wir Nebel, aber nur für Minuten, dann bricht die Sonne wieder durch die letzten Wolkenschleier, frißt die Feuchtigkeit aus der Luft, saugt sie aus dem Boden — eine Stunde später sitze ich erneut unter dem Bambus, als wäre nichts weiter gewesen. Lao Wu höre ich im Badezimmer Kakerlaken jagen. Aus einem tiefen Aberglauben heraus haßt er diese vielbeinigen, haarigen
Parasiten,
die
besonders
während
der
Sommerregenfälle in den Behausungen unterkriechen, während ich selbst mich eher darüber ärgere, daß sie mit Vorliebe die geleimten Rücken meiner älteren Bücher abknabbern, so daß manches unersetzliche Werk nur noch aus losen Blättern besteht. Seltsamerweise lassen sie neuere Bücher in Ruhe. Alles, was mir Holly nach und nach aus der amerikanischen Produktion der letzten Jahre geschickt hat, von >Peyton Place< bis zu den >Carpetbaggers< rühren sie nicht an. Sandy meint, es liegt
daran, daß die neuen Bücher mit synthetischen Kleistern verleimt sind. Nach einer Weile störten mich Klatschen und Schimpfen Lao Wus nicht mehr, das alles verblaßte zur Geräuschkulisse. Was da seit dem Herbst des letzten Jahres abgelaufen war, konnte verwirren, weil zu vieles geschah, das sich scheinbar widersprach, in Wirklichkeit jedoch nur Ausdruck eines langwierigen und nicht unkomplizierten Prozesses war, in dem die Kräftefelder nicht immer von vornherein genau abschätzbar waren. Ich machte es mir zur Übung, fortlaufend Ereignisse zu notieren, die ich für kennzeichnend oder entscheidend hielt. Auch wenn ich dabei nicht immer ins Ziel traf, war das doch für mich eine Methode, den Überblick über das Verwirrspiel zu behalten. — Es war im November, als Tschiang Tsching vor >verdienten Hebellen< eine programmatische Rede hielt. Sie feuerte zu neuen Aktivitäten an. Interessant dabei: Nicht mehr die Dichter, Schauspieler, die Intellektuellen waren das Hauptziel. Tschiang Tsching orientierte den >revolutionären Zorn< zielsicher auf den Staatsapparat und das Rest-ZK, unter Berufung auf Maos Devise, daß das Hauptquartier bombardiert werden müsse. In der Tat gab es auch nur noch wenige Tempel zu zerstören,
Straßenschilder zu wechseln, Möbel und Bücher zu verbrennen; selbst die weltberühmten Malereien im Wandelgang des Sommerpalastes am Kunming-See waren von Rebellentrupps schon mit weißer Farbe übertüncht worden, Bronzelöwen umgestürzt, die riesigen Steinfiguren auf dem Weg in das Tal, in dem die Grabstätten der Ming-Kaiser lagen, nördlich der Hauptstadt, trugen aufgepinselte revolutionäre Losungen. Die Intellektuellen waren als gesellschaftliche Kraft nicht mehr vorhanden. Also konnte sich die mit dem Zerstörungstrieb angekurbelte Rebellion nun der Hauptaufgabe zuwenden: den tatsächlichen oder vermeintlichen, ja sogar den potentiellen Widersachern des Vorsitzenden. Mir sind Übertragungen von >Kampfhandlungen<
gegen
Tschu
Teh
und
Ho
Lung
erinnerlich, die >Bekämpfung< und nachfolgende Verhaftung Peng Dschens, Lu Ding-is und Yang Shang-kuns. Bekannt gegeben wurde auch, daß Peng Te-huai inhaftiert worden war. Fast alle wurden, was die Radioübertragungen nicht etwa aussparten, körperlich mißhandelt. Außer den >Roten Garden< gab es keine gesellschaftliche Organisation mehr. Die Büros von Gewerkschaften,
dem
Jugendverband,
vielen
anderen
Organisationen waren geschlossen, die Funktionäre verjagt oder inhaftiert. Sehr schnell kam ich hinter das System: Von einer zentralen, hervorragend informierten Stelle erhielten die
Rebellengruppen Dossiers, in denen sie genug Material — echtes oder erfundenes — fanden, aus dem sie Anklagen formulieren konnten. Für mich gab es keinen Zweifel, daß der Lieferant dieser Dossiers Kang Shengs Sicherheitsapparat war. Nur er konnte über derart brisantes Material verfügen oder es systematisch
zusammenstellen.
Überrascht
durch
die
Detailkenntnisse ihrer öffentlichen Vernehmer, kapitulierten die meisten >Bekämpften< bald freiwillig, beugten ihr Haupt, gelobten Reue und baten um Gnade. Aber es gab Ausnahmen. Ich erlebte einige davon. Die öffentlichen Verhandlungen, die den größten Teil des gegenwärtigen Rundfunkprogramms ausmachten, wurden nicht abgeschaltet, wenn der >Bekämpfte< einmal massiv widersprach. Vielleicht wollte man damit bei den Mitläufern noch mehr Abscheu hervorrufen? Ich entsinne mich daran, daß der jugendliche Feuerkopf, der Tschu Teh des Verrats anklagte, ihn ein >hundeköpfiges Schwein< und einen >hartgesottenen Kriegsherrn < schimpfte, der so verrottet war, daß er Orchideen züchtete. Der achtzigjährige populäre Marschall, seinen Freunden ohnehin als rauhbeiniger Haudegen bekannt, hörte sich die >Anklagen!< erstaunlich ruhig an. Aber als er dann das Wort erhielt, sagte er laut und deutlich: »Jeder von euch Schwätzern, die ihr keine Kugellöcher in eurem Fell habt und so frech seid, einen Marschall der Volksbefrei-
ungsarmee zu beleidigen, soll wissen, daß ein solcher Marschall seine Ehre mit dem Säbel verteidigt. Also kommt, einer nach dem anderen, hier herauf, bringt zwei Säbel mit, und dann werden wir sehen, wer von uns ein feiger Verräter ist! Los!« Als darauf jemand aus dem Saal rief, er solle gefälligst vor den Massen das Haupt beugen, bellte der Alte zurück: »Komm her, du Hundesohn, ich werde dir das Genick beugen! Der Vorsitzende Mao würde mich persönlich erschießen, wenn ich mein Haupt vor euch beuge! Falls einer unter euch ist, dem der Gegner ein Bein oder einen Arm abgeschossen hat, dann soll er heraufkommen, ich werde vor ihm strammstehen. Das ist alles, was ihr von mir haben könnt. Macht meinetwegen das, was ihr für eine Revolution haltet, aber beleidigt nicht einen Marschall der Volksarmee! Nicht einmal, wenn ihr achtzig Jahre alt werdet wie ich und wenn ihr alle die Löcher im Fell habt, die ich habe, dürft ihr das! Nun — wer kommt mit den Säbeln?« Er blieb der einzige, dem es gelang, seine Peiniger eiskalt zu überrumpeln.
Im
Dezember
wurde
aus
dem
Pekinger
Sportstadion ein Massenmeeting übertragen, in dem neben anderen Liu Shao-tschis Gattin Wang Kuang-mei unter Anklage stand. Auch sie widersprach ihren Anklägern, es gab Schläge, Schmähungen, Drohungen, doch noch verhaftete man sie nicht. Man verkündete ihr lediglich, daß man sie wieder vorladen
würde. Während dieses Meetings wurde Lo Tui-tsching, der ehemalige Generalstabschef zum Krüppel geschlagen. Man konnte seine Schmerzlaute hören, ein gespenstischer Vorgang. — Meetings dieser Art, im Radio übertragen, in den Zeitungen beschrieben, in den unzähligen Blättchen der Hung-Wei-PingGruppen mit allen Einzelheiten wiedergegeben, aus riesigen Lautsprechern überall in der Stadt verbreitet, machten den Hauptteil der Atmosphäre dieser Monate aus. Wenn ich — Tag oder Nacht — das Fenster öffnete, drang der Lärm von Rebellenkolonnen herein, das Gekreisch der hysterischen Ankläger,
die
dozierenden
Stimmen
der
Verleser
von
Leitartikeln, die Musik aus Lautsprechern, Johlen und Jubeln, die ganze Kakophonie, die diesem Land eigentlich so fremd war; hier hatte man es als schön empfunden, einer Grille zu lauschen, einer Nachtigall. Tso Wen postierte in der Gasse einen jungen Mann, dem es oblag, etwaige Aktionen gegen uns sofort zu unterbinden. Lao Wu und die Tai-tai schliefen wenig in den Nächten, sie lauschten auf die Gasse hinaus. Es häuften sich Meldungen aus dem ganzen Land über bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen >Rebellen< und Mitgliedern des lokalen Staats- und Parteiapparates,
aber
auch
von
Rebellengruppierungen
untereinander. Innerhalb weniger Tage besetzten Hung Wei Pings einige hundert Pekinger Kommunaldienststellen, Betriebe und andere Institutionen, deren Angestellte sich wehrten. Es kam zu Belagerungen, mit Schießereien verbunden. Die Armee wurde immer öfter und offener eingesetzt, um die Ruhe wiederherzustellen. Und sie betrieb forciert die Gründung der neuen Revolutionskomitees, von denen man sich in der Führung wohl die Lösung versprach. Tong
brachte
aufgemachte,
meist
mir im
Rotgardistenzeitungen, Rotaprintverfahren
primitiv
hergestellte,
wortgewaltige, von Phrasen strotzende Machwerke, in denen zum ersten Mal Liu Shao-tschi und Deng Hsiao-ping unter voller Namensnennung angegriffen wurden. >Zerschmettert die Hundeköpfe Lius und Dengs! Schlagt sie in Stücke! Schafft die alte Welt ab, indem ihr sie zum Chaos macht!< In einem anderen dieser Blätter war Lin Piaos Aufforderung an die Roten Garden zitiert, in der er die grenzenlose Demokratie< forderte. Das, was er die >breiten Massen< nannte, sollte fortan die Kontrolle über Staat, Gesellschaft und Partei ausüben. Wie das technisch geschehen sollte, definierte er nicht, er beließ es bei der nicht ganz unbekannten, in anderen Gegenden der Welt längst als utopische Schwärmerei erkannten Formulierung.
»Weißt du«, meinte Tong, »diese Aufforderung hat einen hochinteressanten Nebeneffekt in anderen Erdteilen, das kann man aus der internationalen Presse entnehmen. In den meisten kapitalistischen Ländern gibt es linke junge Leute. Aber sie sind oft
voller
Ressentiments
Kommunismus,
weil
der
gegen sich
den
einen
sowjetischen
durchorganisierten
Staatsapparat geschaffen hat. Die hier von Lin Piao oder Tschiang Tsching empfohlene Art von Demokratie, in der jeder über alles zu urteilen hat und jeder gegen jeden demonstriert, es keine Verwaltungen mehr gibt, sondern nur noch tagelange Massenmeetings mit langwierigen Abstimmungen — das trifft auf eine ganz unvermutete Weise den politischen Nerv junger, rebellischer Linker im Kapitalismus. Es treibt sie auf die Straße, zu Demonstrationen, in denen sie das Bild unseres Vorsitzenden auf Plakaten herumtragen. Es beflügelt sie in ihren meist wenig vorausschauenden
Vorstellungen
von
einer
>neuen
Gesellschaft<. Ob du es glaubst oder nicht, sie lassen sich für die Ideen Maos, Lin Piaos, Tschiang Tschings und Tschen Potas, >die alte Welt zertrümmern<, von ihrer Polizei den Schädel blutig
schlagen!
Eine
völlig
neue
Gattung
von
Gesellschaftsveränderern entsteht da. Sie nehmen für sich in Anspruch, revolutionärer zu sein als jede bereits bestehende kommunistische Partei, ganz besonders als jedes bestehende
sozialistische Staatssystem. Irrsinnig — aber wir sind ihr Vorbild! Ich entsinne mich an Unterhaltungen, die ich als Student in Holland hatte, über die europäische Geschichte. Da wurden solche Kräfte schon einmal erwähnt. Man nannte sie damals die >heimatlose Linke<. Jetzt haben sie eine politische Heimat: des großen Steuermannes schöpferisches Chaos!« — Aus dem, was ich den verschiedensten Nachrichten über längere
Zeit
Parteikomitee
hinweg seit
entnahm,
dem
Beginn
hatte der
das
Shanghaier
so
genannten
Kulturrevolution eine höchst interessante Taktik angewendet, was umso erstaunlicher war, als Mao und Tschiang Tsching gerade im Shanghaier Parteiapparat viele Freunde hatten. Die Shanghaier Parteifunktionäre hatten die Parole ausgegeben, junge Leute mit roten Armbinden seien dazu da, den Vorsitzenden und die gewählten Organe der Partei gegen Angriffe
unverantwortlicher
Konter-revolutionäre
und
Revisionisten zu schützen. (Ob sie das tatsächlich meinten, oder ob sie lediglich eine Waffe Maos, die sich eigentlich gegen sie richten sollte, entschärften, indem sie diese Waffe selbst aufnahmen, ist ungewiß!) Monatelang lief das Leben in Shanghai in geordneten Bahnen weiter, während anderswo der jugendliche Mob bereits die Parteihäuser stürmte. Natürlich gab es die unvermeidlichen Massenmeetings, bei denen ein alter
Reaktionär von irgendwoher geholt, >bekämpft< und mit einem Papierhut versehen wurde. Aber das ging nicht an die Substanz der Partei, die >Rebellen< lagen gewissermaßen am Zügel. Es waren Tschiang Tsching und Tschen Po-ta gewesen, die schließlich an der Shanghaier Situation etwas faul fanden, gewiß, nachdem ihre beiden Gewährsleute Yao Wen-yüan und Tschang Tschun-tschiao das Spiel durchschaut hatten, denn sie kannten sich in den Shanghaier Kräftefeldern am besten aus. Die beiden, die inzwischen in der Pekinger >Gruppe< zu hohen Funktionen gekommen waren, wurden dann auch in ihre Heimatstadt entsandt, um dort endlich das > schöpferische Chaos < zu entfesseln, an dem es fehlte. Sie brauchten immerhin Monate. Maos Weisung, daß die Kulturrevolution raun auch auf Industrie und Landwirtschaft auszudehnen sei, erlassen im Dezember, brachte den entscheidenden Durchbruch. Ein bis dahin unbekannter und nicht sehr bedeutender Parteifunktionär gründete in Absprache mit Yao und Tschang das erste >Komitee roter Rebellen<. Von da an ergoß sich, mit kräftiger Förderung der Pekinger Zentrale und unter dem Schutz der Armee ein Strom
von
Beschuldigungen,
anhand
sorgfältig
zusammengestellter Dossiers zusammengebastelt, über die führenden Funktionäre der Shanghaier Partei, über Direktoren von Fabriken und Hafeneinrichtungen, Ärzte und Wissenschaftler.
Wang Hung-wen — so hieß der einstmals unbedeutende Funktionär, der die Bewegung in Schwung brachte, konnte schließlich mit persönlicher Hilfe der zur nationalen Legende gewordenen Nieh Yuan-tse, der ersten Datsebao-Schreiberin von der Peking-Universität, die er nach Shanghai holte, Rebellenabteilungen an allen Shanghaier Universitäten und Oberschulen bilden, mit deren Hilfe er die bedeutendsten Tageszeitungen besetzen ließ. Als die Arbeiter im Hafen gegen die Belästigung durch >Rebellen< streikten, übernahm einfach die Volksarmee die Sicherung der Anlagen. Die Arbeiter wurden ausgesperrt. Wochenlang gab es daraufhin erbitterte Straßenschlachten, doch Wang Hung-wen und die Pekinger Abgesandten verfügten über die Armee, und so blieben sie Sieger. Sie gestatteten den — im Gegensatz zu den Arbeitern in anderen Gegenden Chinas — relativ wohlhabenden Shanghaier Arbeitern, in ihre Fabriken zurückzukehren. Allerdings mußten sie zum Zeichen der >proletarischen Wandlung< Radios, Fahrräder, Uhren und andere Gebrauchsgegenstände, die sie früher hatten erwerben können, abliefern. Daraufhin wurde die >Shanghaier Kommune< gegründet, ein Verwaltungsorgan, das formal der historischen Pariser Commune nachempfunden war, und das >die Massen endgültig an die Macht bringen< sollte. Mao ließ diese, von ihren Erfindern als superrevolutionär
gepriesene Einrichtung eine Zeitlang agieren, wußte aber wohl nichts Rechtes damit anzufangen und befürchtete, wenn sie Schule machte, würde das Chaos, das seinen Zweck längst erfüllt hatte, sich weiter steigern. Daher befahl er, sie aufzulösen. Kommunen in Städten seien unpraktisch. Es brauche da, wie anderswo im Lande auch, das >Dreierkomitee<. Mao ließ sich nicht beirren, schloß ich daraus, er wollte eben doch nicht das Chaos als Endziel, sondern er wollte es als Mittel zum Zweck. Sobald es diesen erfüllt hatte, mußte es der neuen Autorität weichen, die an die Stelle des zerschlagenen Partei- und Staatsapparates treten sollte, eine Autorität, die so gut wie völlig auf den Vorsitzenden eingeschworen war und seinen Weisungen mit militärischem Gehorsam zu folgen versprach. Wie stabil aber, so fragte ich mich, konnte ein Staatswesen sein, das aus einem solchen Wirbelsturm der Ungerechtigkeit hervorging? Wie zuverlässig würde es sein, als Partner, mit dem unsere Interessen in diesem Erdteil auszuhandeln wären? Eines Tages fing ich die Rundfunknachricht auf, daß soeben in irgendeinem Nest in Honan die tausendste Statue des Vorsitzenden Mao errichtet worden war, sie >sähe dem Vorsitzenden sehr ähnlich und bezeuge in hervorragender Weise die Gesundheit des großen Führers der Massen sowie die Kraft und Weisheit, mit der er die Politik Chinas leitete
Immer wieder berichteten Sprecher aus den verschiedensten Provinzen
über
Krawalle
und
bürgerkriegsähnliche
Auseinandersetzungen. An manchen Stellen, so entnahm ich den verwirrenden Nachrichten, taten sich ehemalige Funktionäre, Arbeiter, entlassene Soldaten und >Bekämpfte< zu bewaffneter Gegenwehr zusammen, so in Kanton. In Zentralchina tobten Fraktionskämpfe weiter. Nanchang wurde oft erwähnt, Nanking, dann wieder flammten Schießereien in Sinkiang auf, in Szetchuan, Kansu. Arbeiter verteidigten Fabriken gegen >Rebellen< und beschimpften die Armee, die den Terror unterstützte.
Moslemgläubige
im
Norden
reagierten
lange
angestauten Zorn über die Geringschätzung ihrer religiösen Sitten durch Han-Kader ab, indem sie Staatseinrichtungen demolierten. Parteibüros in Fukien wurden von Schülern gestürmt, die Funktionäre aus den Fenstern geworfen, vor die Füße der sichernden Armeeangehörigen — es gab keine Fesseln mehr, keine Disziplin, keine Chance, dem Sturm zu entgehen, er fegte
überallhin.
Kaum
ist
die
in
Shanghai
erfolgte
Machtübernahme durch die Rebellen als >Januarsturm < zum öffentlichen Schlagwort gemacht worden, gibt es schon die >Februar-Gegenströmung<, eine Aktion verschiedener, noch in Freiheit befindlicher Mitglieder des ordentlich gewählten Politbüros, wie Tschu Teh oder Tschen Yün, die ein Ende des
Terrors gegen Parteikader fordern. Aber die >FebruarGegenströmung< ist kurzlebig. Ihr folgt als Gegenmaßnahme sofort die auf alle Lebensbereiche der Hauptstadt ausgedehnte Kontrolle
durch
die
Armee:
Kriegsrecht,
bis
das
Revolutionskomitee gegründet ist, das neue Machtorgan. Ende März wird die Kampagne gegen Liu Shao-tschi und Deng Hsiao-ping neu belebt. Mao hat den Antrag gestellt, sie aus dem Politbüro auszuschließen. Vom ZK, das einen solchen Beschluß fassen muß, existieren nur noch Fragmente. Diese entscheiden gemeinsam mit ausgewählten Mitgliedern der Militärkommission, die Lin Piao vorher einschwört, und >verdienten Rebellen<, die zur Abstimmung hinzugezogen werden.
Selbstverständlich
wird
der
Ausschluß
formell
vollzogen. Außerdem wird das >Einschlagen der verräterischen Hundeköpfe< gefordert. Tschiang Tsching erklärt öffentlich, daß die >Gruppe Kultur-revolution< die Aufgaben des ehemaligen Sekretariats des ZK übernimmt. >Rote Rebellen< belagern in Peking die sowjetische Botschaft. Vor der Tür waren Barrikaden mit Mao-Zitaten aufgerichtet. Jeder, der herauskam, sich nicht verbeugte und die Sprüche laut zitierte, wurde von Jugendlichen angespuckt, nicht selten blutig geschlagen. Die Sowjets hatten kurz zuvor das Personal ihrer Botschaft stark reduziert, Frauen und Kinder
wurden heimgeschickt. Da hatten sich die >Rebellen< eine besondere Demonstration ausgedacht: Sie stellten auf dem Flugplatz, vor der Gangway zu der abflugbereiten Maschine, Mao-Porträts auf, eins hinter dem anderen, so daß es nicht möglich war, anders als kriechend in das Flugzeug zu gelangen. Fotos davon wurden tags darauf bereits gedruckt: »Auf Knien flüchten diese Revisionisten aus dem einzigen roten Land der wahren Revolution dorthin zurück, wo der kapitalistische Weg beschritten wird<. Gegen den französischen Handelsrat Richards ließen sich Hung Wei Ping eine besonders sinnreiche Methode der Belästigung einfallen. Sie zerrten ihn und seine Frau gegen Mittag aus dem Auto, als es in Richtung seiner Botschaft fuhr. Er habe jemanden überfahren, hieß es. Brüllende Jugendliche bildeten einen undurchdringlichen Kreis um die beiden Ausländer, bespien sie und schrien ihnen ununterbrochen Drohungen ins Gesicht. Sieben Stunden ging das so, wobei die Jugendlichen sich ablösten. Dann jagte man die beiden Ausländer in die Botschaft. Als der französische Botschafter am nächsten Tag das Außenministerium aufsuchte, um Protest einzulegen, führten ihm Krankenpfleger zwei alte Leute vor, die mit Verbänden reichlich umwickelt waren, sie habe der Handelsrat angeblich schwer verletzt. Bei seiner Rückkehr in die
Botschaft fand der Botschafter an der Mauer eine frisch gepinselte Losung
vor:
»Das antirevolutionäre Schwein
Richards soll Sühnegeld zahlen, oder es wird Böses erleben!< Dieses gefährliche Spiel mit Emotionen hat sich über Monate fortgesetzt und gesteigert. Eines Tages, ich saß wieder einmal unter dem Bambus im Hof, schlug die Türglocke an, und Lao Wu ließ Sid Rittenberg eintreten. Er kam zum ersten Mal zu mir. Nachdem er sich unser Haus besehen hatte, kam er gleich zur Sache: Der revolutionäre Kampf träte jetzt in das Stadium, wo die wahren Internationalisten in China nicht mehr beiseite stehen könnten. Man habe für diese treuen Freunde der chinesischen Revolution eine besondere Gruppe geschaffen, ihr den Namen >Regiment Dr. Bethune< gegeben. Ich sollte beitreten. Nun wußte ich, daß sich Rittenberg, dieser immer etwas nervös wirkende, durch seine von Jahr zu Jahr dicker werdenden Brillengläser blinzelnde Südstaatler mit dem phänomenalen Sprachtalent, seit Beginn des Jahres erheblich stärker politisch engagiert hatte als zuvor schon. Seine Position hatte
sich
entscheidend
gewandelt.
Während
der
interfraktionellen Auseinandersetzungen im Pekinger Rundfunk, wo er als Korrektor und Sprecher für englischsprachige Propagandasendungen arbeitete, hatte er es verstanden, sich auf die Seite der Gewinner zu lancieren. Er nahm heute einen der
drei Sitze im hausinternen Revolutionskomitee ein, das den Sender leitete, belegte damit also eine recht einflußreiche Position. Und das als Ausländer in einem Land, in dem man Ausländer gar nicht so gern in höheren Funktionen sah, nicht einmal Leute, die eine ausländische Mutter oder Großmutter hatten! Rittenberg war da ein kühner Sprung gelungen. Er trug nicht mehr das an ihm gewohnte braune Cordzeug, sondern blaue chinesische Einheitskleidung, zwei riesige Mao-Plaketten an Hemd und Jacke, und selbstverständlich die Armbinde und das rote Büchlein. Regimentskommandeur Rittenberg! Epstein hätte sich auch engagiert, Jack Chen käme dazu, dieser und jener noch. Ich antwortete ihm, eingedenk der Warnung, die mir Kang Sheng hatte zugehen lassen, daß ich leider keine großen Belastungen auf mich nehmen könnte. Ich argumentierte absichtlich nicht politisch
mit
ihm,
sondern
ich
vertröstete
ihn
mit
gesundheitlichen Ausreden, was mir klüger zu sein schien. Er war nicht zufrieden. Sagte mir, er hoffe mich, wenn es mir wieder besser ginge, im >Internationalen Tsao-Fan-Regiment< zu sehen. Dabei beließen wir es. Bevor er ging, machte er einige mir seltsam vorkommende Bemerkungen, die sich auf Tschou En-lai bezogen und auf Tschen Yi. Tschou nannte er einen >aalglatten Schleicher<, der
schon viel zu lange in seinem Mandarinsessel sitze und den Vorsitzenden täusche, und Tschen Yi trieb nach seiner Meinung eine Außenpolitik, die überhaupt nicht revolutionär sei. Man müsse mit dem »herrlichen Instrument einer revolutionären Diplomatie< andere Völker endlich zur Revolution bringen, statt feige den Schwanz vor den in anderen Ländern Herrschenden einzuziehen. Das schien mir besonders eigenartig, angesichts der Tatsache, daß so gut wie alle Diplomaten der Volksrepublik in den letzten Monaten nach Hause zurückbeordert worden waren, um >kulturrevolutionär geschult< zu werden, wie ich Tschiang Tsching selbst auf einem Meeting hatte verkünden hören. »Na dann ...« Rittenberg schüttelte meine Hand. Er hatte nicht einmal den Saft getrunken, den Lao Wu ihm hingestellt hatte. Daß es Sandy gab, hatte er ebenfalls übersehen. Ich hatte den Eindruck, daß er vor innerer Erregung fieberte. Ein Mann, der seine große Stunde für gekommen hält. Eine Weile dachte ich nach über diese seltsame Figur, aus der ich nicht so recht klug wurde, erst recht, nachdem Holly mich aufmerksam gemacht hatte, wer hinter der Lancierung von Lehrern, Beratern und Spezialisten nach China stand. War das ein stiller Gefährte? In diesem Falle hätte ich ihm eine Menge abzubitten. War er es nicht, so blieb er der zwielichtige Karrieristentyp, als den ich ihn empfand. Und dann war es erst recht gut, wenn ich mich von
seinem >Regiment Dr. Bethune< fernhielt. Aus Hongkong Berichte über Tumulte. Agitatoren der Kulturrevolution verhaftet. In Peking Gegendemonstrationen. Ein Hexensabbat.
Kopie aus >Djingkangshan — Rotes Banner Zeitung der gleichnamigen Tsao-Fan-Gruppe an der Tjinghua-Uni-versität, 17. April
bis
Peking.
Ausgabe
von
Montag,
Sonntag, 23. April 1967 (Gekürzt auf die
Hauptaussagen)
Lasst die bourgeoise Füchsin nicht zur Ruhe kommen!
Kuai Ta-fu, unser Regimentskommandeur, hatte die entscheidende Aktion gegen die rennende Hündin, die täuschende Füchsin
und
Komplizin
des
größten
kapitalistischen
Machthabers in der Partei zusammen mit den Genossen Kommandeuren von der Päd-agogischen Hochschule (Tan Houlan) und vom Institut für Geologie (Wang Da-ping) geplant und mit unserem großen Vorbild, der Genossin Tschiang Tsching, besprochen.
Nachdem die Hündin und Füchsin Wang Kuang-mei schon im vergangenen Dezember einmal ohne befriedigenden Erfolg bekämpft worden war, machte sich jetzt eine entscheidende Aktion nötig. Wir bereiteten uns gut vor, indem wir die Person genau studierten und die Anklagevertreter mit allen wichtigen Erkenntnissen vertraut machten ... ... Schon mit ihrem Namen beginnt der Verrat. Ihr bürokratischkapitalistischer Vater, Industrieller in Tientsin, der vor ihrer Geburt die Vereinigten Staaten bereiste, nannte sie, voller Sympathie für den Sumpf des Kapitalismus, >Schönes Amerika< (Kuang-mei). Damit nicht genug: es gab in ihrer Familie auch noch einen Bruder, der hieß >Schönes England< (Mit Liu Shao-tschis kräftiger Protektion durfte er seinen Besitz, nämlich die Fabriken seines Vaters, auch nach der Befreiung weiterführen und verdiente Unsummen dabei. Wie richtig ist da doch das Wort unseres Vorsitzenden Mao, daß man zuerst alles zerstören muß, um etwas Neues aufbauen zu können!) Einer der Onkel der feinen Dame Kuang-mei beutete in der größten Textilfabrik nördlich des Yangtse die Werktätigen aus, ein anderer brachte es zum Kommandeur von Tschiang Kaisheks Luftflotte und wurde sogar in den KuomintangGeneralstab geholt — so verrottet war diese feine Familie! Die Füchsin Kuang-mei selbst studierte an einer katholischen
Universität, sie sprach Englisch besser als ihre Muttersprache, man stelle sich das vor! 1946 gelangte sie durch die Protektion des bereits abgeurteilten Verbrechers Lo Jui-tsching als Dolmetscherin in die Delegation der KP Chinas, die in Peking mit den Vertretern der Kuomintang verhandelte. Es war auch Lo Jui-tsching, der sie später nach Jenan lancierte, wo sie sich in die Reihen der Partei immer tiefer einschleichen konnte, weil sie dem kapitalistischen Element Shao-tschi gefiel. So konnte sie es bis zur >First Lady< bringen, weil sie geheiratet wurde, von Liu, der vorher schon fünfmal verheiratet gewesen war und seine Frauen sehr schlecht behandelt hatte. Aber das war ihr egal. Sie genoß die Korruption. Verrat hat sie schon damals geübt, ihr ist es mit Sicherheit zu verdanken, daß die Kuomintang auf ihrem Vorstoß nach Jenan leere Stellungen vorfand: Die Füchsin hatte, Truppenkommandeure bestochen, sich zurückzuziehen, so mußte Jenan schließlich aufgegeben werden ... ... Nach Pakistan, Afghanistan und Burma reiste sie und warf Geld der werktätigen Massen dabei aus dem Fenster. Besonders widerlich benahm sie sich aber in Indonesien, wo sie den bekannten Weiberhelden Sukarno umschmeichelte und sogar Geschenke annahm. 1964 beging sie zahllose Vergehen, während sie zur Durchsetzung der revisionistischen Politik Liu Shao-tschis auf dem Lande weilte. Und 1966 führte sie
wiederum die verräterische Politik Liu Shao-tschis durch, hier an der Tjinghua-Universität, als Leiterin einer sogenannten >Arbeitsgruppe<, da wollte sie vor allem Kuai Ta-fu terrorisieren, der sich als erster entschlossen zu der vom Vorsitzenden Mao geforderten Revolution bekannte. Unser heutiger Kommandeur
wurde
damals
auf
ihr
Betreiben
vielen
unwürdigen Befragungen unterzogen ... ...Am Montag, dem 10. April, bei Sonnenaufgang, holte unser Kommando die Füchsin Wang Kuang-mei aus ihrer Hundehöhle im Tschung Nan Hai. Dank der Kooperation der Roten Garden in diesem Wohnviertel, konnten wir ungehindert operieren. Wir ließen die >First Lady< sogar einen Pelzmantel anziehen, weil es ein kalter Tag zu werden versprach. An solchen Tagen kleiden sich feine Füchsinnen und Hündinnen im Gegensatz zu revolutionären Werktätigen in teure Pelze! Sie nahm ein Handtuch, Seife und Zahnbürste mit, woran man ihr heimliches Schuldbewußtsein erkennen kann: sie glaubte, ihr letztes Stündlein in Freiheit habe schon geschlagen! Auch ein Adjutant wurde ihr gestattet, der vornehmen Dame steht einer zu. Wir sorgten dafür, daß er sich gefälligst im Hintergrund hielt... ... Wir hatten ein seidenes Kleid für die Angeklagte zurechtgelegt, um sie der Versammlung im Hörsaal im sechsten Stock so vorzuführen, wie sie sich in der Vergangenheit
präsentiert hatte, ebenso hochhackige Schuhe. Aber die Füchsin weigerte sich, die Sachen anzulegen. Sie wurde ziemlich frech. Als der Ankläger sie fragte, warum sie sich weigere, behauptete sie, es sei zu kalt, überhaupt sei dies keine Angelegenheit, bei der man Seidenkeider oder ausländische Schuhe trage. Dafür bekam sie zunächst die Faust der Massen zu spüren. Auf die Frage, was sie zu der Entthronung des Kapitalistenmachthabers Liu sage, antwortete sie frech, das sei gut, jetzt würde es keinen Revisionismus mehr in China geben! Wir entschlossen uns zu einer neuen Lektion in der Sprache der Massen ... ... Nach einer Stunde weigerte sie sich immer noch, die Sachen anzuziehen. Sogar handeln wollte sie mit uns, sie wollte >die Hälfte tun<, nämlich nur die Schuhe tragen. Und wir hätten nicht das Recht, sie zu irgendwas zu zwingen. Daraufhin der Ankläger: » Wir haben jedes Recht, das es überhaupt gibt! Du wirst heute bekämpft, und da haben wir das Recht, dich in jeder beliebigen Weise zu behandeln. Du hingegen hast absolut gar kein Recht. Wir sind die revolutionären Massen, während du ein berüchtigtes, konterrevolutionäres Weib bist und dazu die Komplizin des größten kapitalistischen Machthabers. Du wirst mit
deinen
Frechheiten
unsere
Klassenlinie
nicht
durcheinanderbringen!« Er gab das Zeichen, das auch für mich galt, und wir packten
die widerspenstige Konterrevolutionärin. Sie lag schnell auf dem Boden, obwohl sie strampelte und sich wehrte. Sie dachte wohl, wir wollten sie öffentlich vergewaltigen, und sie wußte nicht, daß uns eigentlich vor ihrem stinkenden, bourgeoisen Körper ekelte! Wir rissen ihr also Pelzmantel und Winterkleid ab, und wir zogen ihr trotz ihres Widerstandes das bunte Seidenkleid über. Währenddessen feuerten uns die Massen mit treffenden Losungen an: >Eine Revolution ist ein Akt der Gewalt!< oder >Dickköpfige Gegner verwandeln wir in Hundescheiße!< Wir hatten alle Hände voll zu tun, aber die klugen Worte des Vorsitzenden hörten wir deutlich, sie gaben uns Stärke. Die Frisur der Füchsin hatte sich aufgelöst. Jemand steckte einen Besen in den Rückenausschnitt ihres Kleides, ein anderer malte ihr Gesicht an. Ich selbst hatte aus nicht mehr verwendungsfähigen Tischtennisbällen und Schnur eine Kette gebastelt, die ich ihr jetzt um den Hals legte, damit auch ihre schwarze Leidenschaft für Schmuck gekennzeichnet war. Sie wehrte sich nur noch mit Worten und verleumdete den Vorsitzenden Mao, er habe angeblich verboten, daß Verräter so behandelt werden! Darauf
der
Ankläger:
»Von
jetzt
ab
halte
dein
konterrevolutionäres Maul, oder es wird dir mit Dreck gestopft. Gewalt ist berechtigt. Unser großer Vorsitzender Mao hat
nämlich auch gesagt: >Alles Reaktionäre ist gleich, schlägt man es nicht, kann es nicht zu Fall gebracht werden.< Beuge jetzt gefälligst
dein Haupt
vor den Massen, du schamlose
Verbrecherin!« Als sie nicht folgte, überzeugten wir sie erneut mit dem Argument der revolutionären Stärke. Dann kam die Anklage. Sie umfaßte fünf Hauptpunkte. Wang
Kuang-mei
hat
am
meisten
den
größten
kapitalistischen Machthaber in der Partei unterstützt und mit ihm konspiriert. Wang Kuang-mei hat Schande über China gebracht durch ihre Luxuskleidung bei Auslandsreisen, und vor allem in Indonesien, wo sie dem Gastgeber sogar Feuer für seine Zigarette anbot, das Verhalten einer Hure. Wang Kuang-mei ist ein durch und durch bürgerliches Element, das schon früher Verrat an den Massen geübt hat. Sie war immer reaktionär und hat sich in die Partei nur eingeschlichen, um sie zu zersetzen und verraten zu können. 1964 hat Wang Kuang-mei im Auftrag des größten kapitalistischen Machthabers Terror auf dem Lande ausgeübt (Volkskommune Taoyüan im Kreis Funing, Hopei). Sie hat hier — wie ihre gesamte >Arbeitsgruppe< — mit Reaktionären und Großbauern paktiert,
die
armen
Elemente
unterdrückt,
sowie Privatland und Privatvieh für die Bauern gefordert, also
den Kapitalismus restauriert. 1966
hat
Wang
Kuang-mei
einer
sogenannten
>Arbeitsgruppe< des vom größten kapitalistischen Machthaber regierten Zentralkomitees angehört. In der Tjinghua-Universität hat sie Terror gegen Revo-lutionäre ausgeübt, die sich an die Weisungen des Vorsitzenden Mao hielten. Gemäß den Weisungen der Genossin Tschiang Tsching, mit berüchtigten Konterrevolutionären wie Wang Kuang-mei ohne Milde zu verfahren, spürte die Füchsin die ganze Härte der revolutionären Massen. Sie bot ein lächerliches Bild, aber sie leugnete hartnäckig jede Schuld. Immer, wenn sie frech wurde und die revolutionären Massen beschimpfte, mußte sie von roten Fäusten beruhigt werden. Nicht einmal die weisen Worte des großen Vorsitzenden Mao konnte sie richtig zitieren, sie verwendete sie nur, indem sie >mit der roten Fahne wedelte, um die rote Fahne dadurch zu vernichten<. Sie hatte die Frechheit, den Massen zu sagen, man sollte die Worte des Vorsitzenden Mao lieber in die Realität umsetzen, als sie nach Papageienart daherzuplappern. Daraufhin wurde sie von uns >Papageien< am eigenen Körper mit allen Farben versehen, die ein Papagei aufweist ... ... Mit wachsendem Gewicht der Anklage wurde die Füchsin Wang Kuang-mei immer verstockter, statt Reue zu zeigen. Sie
leugnete alle Schuld und bezichtigte uns der Lüge. Den Ankläger, der ihr das konterrevolutionäre Verhalten auf dem Lande vorgeworfen hatte, bezeichnete sie als unwissend: Sie habe sich ein Jahr lang auf dem Lande aufgehalten, er hingegen müsse erst noch dorthin gehen. Als sie aufgefordert wurde, die Schuld Liu Shao-tschis öffentlich zuzugeben, fiel sie — selbst nach mehr als fünfzehn Stunden ununterbrochener Bekämpfung — wieder in ihre alte Frechheit zurück und behauptete, der größte kapitalistische Machthaber sei ohne Schuld. Ein weiterer Beweis für ihre Hartnäckigkeit und Unverbesserlichkeit. Sie hatte sogar die Frechheit, erneut den Vorsitzenden Mao in ihrem Interesse zu zitieren, indem sie behauptete, wir müßten uns die Argumente Andersdenkender anhören, auch wenn sie uns nicht gefielen. Diese Verdrehung des Sinnes der Worte unseres großen Führers und Steuermannes bewies letztlich, daß Wang Kuang-mei, wie ihr Mann, ein völlig unbrauchbares, zu keiner Reue fähiges, feindliches Element ist, das die Haltung der Kapitalisten und sowjetischen Revisionisten einnimmt... ... Nach sechzehn Stunden, als die revolutionären Massen vom Starrsinn der Angeklagten angewidert waren, beschlossen sie: Die Angeklagte muß innerhalb von zehn Tagen eine schriftliche Selbstkritik vorlegen, in der sie ihre Verbrechen
bekennt. Der Gipfel der Frechheit Wang Kuang-meis war, daß sie das nur akzeptieren wollte, wenn wir ihr ein schriftliches Protokoll der Bekämpfung liefern würden, wir hätten sie geschlagen, auf den Kopf, und sie würde sich nicht an alles erinnern können. Wir beschlossen daraufhin, daß ihre Strafe in keinem Falle weniger als zehn Jahre harte Arbeit an den Graswurzeln sein darf... ... Mit der erfolgreichen Bekämpfung der Füchsin Wang Kuang-mei wurden die entscheidenden Voraussetzungen dafür geschaffen, auch den größten kapitalistischen Machthaber allseitig zu vernichten, wie es uns die Genossin Tschiang Tsching aufgetragen hat. Han Ai-tsching Stellvertretender Regimentskommandeur
Schlagzeilen, Ereignisse, Beobachtungen ab Sommer 1966
Eigenbeobachtung: Mehrmals in diesem Jahr, vom zeitigen Frühling bis in den Sommer hinein, äußerte sich in Peking (ob
anderswo auch, ist mir nicht bekannt) Widerstand gegen die auf Datse-baos geübte Hetze gegen Liu Shao-tschi, Deng Hsiaoping, Wang Kuang-mei, in Einzelfällen auch gegen kritische Stellungnahmen, die Tschou En-lai und Tschu Teh betrafen, dadurch, daß nächtens Kolonnen von >Rebellen< (?) große, fettgedruckte Plakate mit Losungen aus dem Zitatenbuch des Vorsitzenden über die betreffenden Datse-baos klebten. Der Umstand, daß die Täter die betreffenden Datse-baos nicht einfach abrissen (was verfolgt wird), sondern sie mit >Worten des Vorsitzendem überklebten, die absolut tabu sind, läßt auf intelligente Urheber der Methode schließen. Hsinhua zitiert >Orientamenti< (italienische Zeitschrift): >Mao Tse-tungs Denken ist heute der politische Reichtum des volksreichsten Landes der Welt sowie von Millionen und aber Millionen anderer Menschen, die den Ideen Mao Tse-tungs treu sind und sie in täglichen Kämpfen mutig unterstützen^
Peking Review, Nr. 25/1966: > Wenn die Menschen des Vorsitzenden Maos Worte beachten, arbeiten die Maschinen gemäß den Wünschen der Menschen.<
Hsinhua, 1967:
>Mit den Ideen Mao Tse-tungs wird das Tor des Rätsels des Lebens geöffnet: China ist erstmalig in der Welt die Totalsynthese von kristallinem Insulin gelungene
Jenminshibao, 31. Juli 1967: Schlagzeile, die Aktionen von Gegnern der Kulturrevolution in Wuhan betreffend: >Ratten, die über die Straße der Revolution laufen — tötet sie! Tötet sie!<
Wuhan — ein neuer Wendepunkt? — Niederschrift der Tonbandaufzeichnung eines Gespräches mit Chang Wen, nachdem dieser von einer illegalen Reise nach Wuhan zurückgekehrt war. Gekürzt auf die Ausführungen Chang Wens, die für die Bewertung der Wuhaner Ereignisse im Sommer 1967 relevant sind — »... Wuhan, Kamerad Robbins, das ist nicht Peking! Wuhan ist eine aufrührerische Stadt, aber eine Stadt, die von Arbeitern bewohnt wird. Sie hat Tradition. Tschiang Kai-shek verzog sich von dort. In Wuhan liegen heute einige der bedeutendsten Industriebetriebe Chinas, dort existiert, was im ganzen übrigen
China, vielleicht mit der Ausnahme von Shanghai, erst langsam heranwächst, eine bewußte Arbeiterklasse. Leute, die zupacken können und denken dazu. Keine Befehlsempfänger. Keine Götzenanbeter. Realisten. Leute, die in modernen Hochöfen Stahl schmelzen, wissen, daß sie nicht mit Sprüchen arbeiten können, sondern mit Asbesthandschuhen... ... Ja, ich bin hingefahren, als es losging. Es ergab sich so. Wir mußten ein bestimmtes Ausrüstungsteil für unseren Bau von dort abholen. Aus einer Fabrik, die ich zwar kenne, in der mich aber kaum noch jemand identifizieren könnte. Deshalb nutzte ich die Chance und fuhr. Mit dem jungen Ingenieur aus Ihrer Gasse zusammen. Di-di. Er ist ein guter Junge... ... Sie müssen, wenn Sie hinter die auslösenden Faktoren des Aufstandes von Wuhan kommen wollen, die Kräfteverhältnisse dort berücksichtigen. Provinz ist nicht Hauptstadt. Man war in Wuhan gewohnt, zwischen Revolution und Krawall zu unterscheiden.
Stadtparteiorganisation
und
Garnison
der
Volksarmee waren eng verbunden. Auch Tradition. Gewachsen. Viele Parteikader haben in der Armee gekämpft, und viele Armeeoffiziere sind Arbeiter gewesen. Alle diese Leute waren stolz auf das, was sie geschaffen hatten. Sie wollten nicht, daß es zerschlagen wurde. Sozialistische Werte zertrümmert man nicht mutwillig oder, um eine Modetheorie zu beweisen. So ist
das ... ... Auch ich hatte ja seinerzeit weiter nichts im Sinn gehabt, als das zu bewahren, was wir in der Aufbauphase geschaffen hatten. Ich war gescheitert. Andere waren erfolgreicher. Leute wie mich gab es in Wuhan zu Tausenden. Gibt es. Auch heute. Was meinen Sie, wie sicher ich mich dort fühlte! Niemand sucht mich. Ich bin weg, das ist alles. Die Leute, die mich >bekämpften<, sind längst wieder woanders. Spreu. Vom Wind der Zeit verweht. Spurenlos. Die Körner sind geblieben... ... Parteikomitee und Armee arbeiteten in Wuhan eng zusammen, auch wenn es gelegentlich Übergriffe gab, nachdem diese sogenannte Kulturrevolution angefacht worden war. Ja, es gab Eiferer. Manchmal hatten sie für gewisse Zeit Macht. Aber sie verschwanden immer wieder. Im Sommer 1966, als die >Tsao Fans< in Wuhan angeheizt wurden, von Peking aus, kam es zu traurigen Ausschreitungen, besonders durch Studenten. Das war, als Li Ta getötet wurde. Danach versuchten Parteikomitee und Armee, die Chaoten zurückzudrängen. Das war nicht leicht, denn es gab ja immerhin die Weisungen aus Peking, diese .verdammte Kulturrevolution, die mit Kultur so gar nichts zu tun hatte, voranzutreiben... ... Man sagte mir, es habe im Herbst vorigen Jahres immer mehr Einmischungen von Tschiang Tsching, von Tschen Po-ta
und anderen in die Wuhaner Angelegenheiten gegeben. Trotzdem, die Genossen in Wuhan versuchten, die Zerstörung sozialistischen Eigentums aufzuhalten. Bis es dann im Januar auf Weisung der Pekinger >Gruppe< zu ernsten Krawallen kam. Da rotteten sich zusammen,
von
einige tausend Pekinger
jugendliche
Instrukteuren
Aufrührer
angeheizt,
und
blockierten die Yangtse-Brücken, den Flughafen, alle Verkehrswege überhaupt. Aus den Waggons der Transitzüge, die sowjetische und andere Hilfsgüter nach Vietnam bringen sollten, stahlen sie Handfeuerwaffen, sie warfen Container aus den Wagen und zerstörten den Inhalt. Daraufhin griff die Armee ein. Das Kommando der 9. Division, in der Stadt stationiert, verbot die Störung von Ordnung und Sicherheit, die Beschädigung von Werten, die Unterbrechung von Verkehrsverbindungen, Arbeitsbummelei, gewalttätige Demonstrationen und Überfälle auf Personen. Eine Weile war Ruhe. Aber es gärte. Heimlich. Die Radikalisten, die die Anarchie anstrebten, organisierten eine Kampfgemeinschaft
Arbeiter-Hauptquartier.
Sie
bekamen
weitere Tausende junger Leute zusammen, meist Schüler und Studenten, aber auch Saisonarbeiter und entlassene Soldaten. Unterstützt wurden sie von Li Ying-hsi, das ist ein hoher Politoffizier der Garnison, der sozusagen einen Privatfeldzug gegen den Wuhaner Garnisonschef Tschen Tsai-tao begann.
Tschen Tsai-tao seinerseits hatte nicht nur seine Truppen zur Verfügung. Mit ihm vereinigten sich die >Million Helden<, das ist eine Organisation sozialistischer Arbeiter und Studenten. Es gibt auch Angestellte dabei, Milizangehörige, sogar Bauern aus den Stadtrandkommunen. Eine gut organisierte, disziplinierte Bewegung, die sich die Erhaltung der Ordnung zum Ziel gestellt hat. Damit war nun eine Polarisierung eingetreten, die zur Explosion führen mußte. Mir war das klar, als Genossen aus Wuhan mir die Lage im Frühjahr schilderten. Ich habe viele Kontakte zu alten Freunden dort wiederhergestellt, es ist möglich... ... Mitte Mai begann die Situation kritisch zu werden. Einige tausend Radikalisten griffen die Garnison an. Sie waren bewaffnet, nicht nur aus Diebstählen, vermutlich hatte Li Yinghsi ihnen noch Pistolen und Gewehre zugespielt. Es ist bekannt, daß er sehr enge Verbindung zu Kang Sheng hat, auch zu Tschen Po-ta. Bei ihm sind auch dauernd Instrukteure aus Peking gewesen. Es gab also Schießereien. Tote bei der Garnison. Wissen Sie, Kamerad Robbins, was passiert, wenn aus einer militärischen Einheit ein Mann getötet wird? Alle sinnen auf Rache. Tschen Tsai-tao ging behutsam vor, trotzdem. Er forderte die Radikalisten zur Einhaltung der Ordnung auf und zur Ablieferung der Waffen. Bis Mitte Juni kam es aber nicht
dazu. Stattdessen sperrten die Radikalisten erneut die YangtseBrücke. Sie errichteten sogenannte Festungen in Schulen und Internaten. Und sie versuchten, Betriebe mit Gewalt in Besitz zu nehmen. Die Garnison griff dann, zusammen mit den organisierten Kommunisten der >Million Helden<, massiv ein. Zuerst wurden die >Festungen< beseitigt. Dabei gab es hundert Tote und
mehrere
hundert
Verletzte. Die
Radikalisten
versuchten nun, ein Wasserreservoir außerhalb der Stadt zu besetzen. Noch bevor die Armee eingriff, verschafften sich die Bauern Respekt, die ihre Felder bewässert haben wollten. Sie benutzten die alten bäuerlichen Waffen, die schon in vielen Auseinandersetzungen gedient haben — es gab zweihundert Tote durch Sicheln und Gabeln. Mehrere hundert Verletzte. Um diese Zeit sah es in Wuhan katastrophal aus, ich kann es bezeugen. Der Strom fiel oft aus. die Hospitäler waren überfüllt, Wasser wurde knapp, Nahrung auch. Und das alles mitten im Hochsommer, in diesem >Hochofen< Wuhan, einer der heißesten Städte Chinas, wo die Temperaturen selbst nachts noch bei vierzig Grad Celsius stehen ... ... Am 23.Juni war ich in der Nähe meiner alten Arbeitsstelle. Da versuchten Horden von Radikalisten, die Stahlwerke zu stürmen. Agitatoren riefen ihnen über Megaphone zu, der große Vorsitzende sei auf ihrer Seite, seine Frau auch, ebenso Tschen
Po-ta und was weiß ich, wer noch alles. Die jungen Leute rannten sich die Köpfe ein, obwohl sie mit Schußwaffen und Knüppeln bewaffnet waren, mit Brandflaschen und Säure. Trotzdem wiesen die Stahlwerker den Angriff zurück. Es war gespenstisch. Mir wurde der ganze Wahnsinn dessen klar, was sich augenblicklich in China abspielt, Kamerad Robbins, die Angreifer schrien Zitate aus dem roten Büchlein und schwangen Mao-Plakate, sie waren überzeugt, im Recht zu sein. Ebenso aber die Stahlwerker! Jeder von ihnen trug sein rotes Buch bei sich. Viele pflanzten Plakate mit dem Bild des Vorsitzenden auf, oder sie riefen Losungen, die zu ihrer Situation paßten. Jeder wähnte sich im Recht, jeder reklamierte den Vorsitzenden für sich, jeder glaubte tatsächlich, ihm zu dienen, und jeder schlug voller Wut auf den anderen ein und hielt das für Klassenkampf ... ... Peking schickte Tschou En-lai nach Wuhan. Er sollte den Aufruhr schlichten. Aber für meine Begriffe machte der Ministerpräsident einen verhängnisvollen Fehler. Er erklärte, Tschen Tsai-tao und die »Million Helden<, die für die Erhaltung der sozialistischen Errungenschaften und der Ordnung und Sicherheit gekämpft hatten, wären Konservative, sie sollten lieber die eigentlichen Revolutionäre unterstützen. Verstehen Sie, er nannte die Randalierer mit den gestohlenen Waffen, die
Werfer von Brandflaschen und Säure >echte< Revolutionären Er muß wohl selbst gemerkt haben, daß er damit nicht durchkommen würde, denn er zog sich zurück, berief aus Peking den Sicherheitsminister Hsieh Fu-tschi und den ehemaligen Chefredakteur der >Roten Fahne< nach Wuhan, beides Mitglieder der >Gruppe für Kulturrevolution<. Ihnen überließ er die Arbeit. Was dann geschah, nachdem diese beiden Spitzenleute der >Gruppe< am 19. Juli bekannt gaben, die Radikalen und Anarchisten, die mit den Brandflaschen und der Säure, wären die echten Revolutionäre, die anderen aber die Schurken, wie das schon Tschou En-lai hatte verlauten lassen — das hört sich streckenweise an wie Geschichten der Räuber vom Liang Shan Po ... ... In der Nacht wurden die beiden Pekinger Abgesandten von aufgebrachten >Million Helden<- Leuten im Hotel Dung Hu, wo sie logierten, erst einmal verprügelt. Wang Li, der ehemalige Chefredakteur der >Roten Fahne<, wurde mitgenommen. Hsieh Fu-tschi konnte flüchten, wurde aber am nächsten Morgen ebenfalls ergriffen. Das Kampfblatt der >Million Helden< erschien mit der dicken Schlagzeile, man habe zwei Saboteure und Diversanten ergriffen, die dem Sozialismus hatten schaden wollen, indem sie — als Superrevolutionäre getarnt — zu Zerstörungen und Anarchie aufgerufen hätten. Das, was jeder
heute in Wuhan sehen könne, seien die Früchte gemeinsamer Aufbauarbeit unter Führung der Partei, an deren Spitze der Vorsitzende Mao stehe. Niemand habe das Recht, das anzutasten, keine Gruppe und keine Einzelperson. Nicht einmal der Vorsitzende selbst dürfe aus eigener Entscheidung Schaden an den Errungenschaften des Sozialismus anrichten, denn auch er sei ein Teil der Partei und ehe unter ihrer allgemeinen Disziplin, wie jeder andere Genosse... ... Es war mit Abstand einer der mutigsten Artikel, die ich je gelesen habe, Kamerad Robbin! Nun, in Peking war man anderer Meinung. Aus allen Himmelsrichtungen wurde Militär um Wuhan herum gruppiert: eine Luftlandedivision, drei Infanteriedivisionen, ein halbes Dutzend Kanonenboote flitzte auf dem Yangtse heran, von Shanghai her. Tschen Tsai-tao hatte die beiden Pekinger Oberrebellen inzwischen unter militärische Bewachung gestellt. Damit nicht irgendwelche Hitzköpfe sich an ihnen vergriffen. Aber schon in der ersten Nacht wurden sie beide von zwei verschiedenen Kommandos befreit, auf Betreiben der Pekinger >Gruppe<. Man brachte sie zu einem kleinen Feldflugplatz südlich von Wuhan, der inzwischen von dem zu den Radikalen abgeschwenkten Politoffizier Li Ying-hsi besetzt worden war. Hier traf auch Tschou En-lai ein, der sie abholte und nach Peking zurückbrachte. Wenig später erschien
Lin Piao und dirigierte persönlich die Truppen, die den nun zum >Verräter< erklärten General Tschen Tsai-tao überwältigen sollten. Der aber ließ es nicht auf einen Kampf ankommen. Er hatte
die
sozialistischen
Errungenschaften
gegen
die
Zerstörungswut so genannter >Rebellen< verteidigen wollen, mehr nicht. Gegen seinen Oberkommandierenden zu handeln, war nicht seine Absicht. Er ging freiwillig mit Lin Piao nach Peking, um die Sache zu klären. Im Gegensatz zu den beiden Oberrebellen wurde er dort aber nicht mit organisiertem Jubel empfangen, sondern mit Handschellen. Er steht fast jeden Tag vor einem anderen von diesen illegalen >Tribunalen<, aber er zeigt keine Furcht. Er sagt, er hat die Revolution verteidigt, das ist sein Parteiauftrag, seitdem er Soldat wurde. Wer anderer Meinung sei, der solle sich Wuhan ansehen, dort gäbe es sehr wohl Werte zu verteidigen, die das Volk geschaffen hat ... ... Ob man ihn hinrichten wird? Ich glaube nicht, Kamerad Robbins. Es ist eine eigenartige Situation eingetreten. Wie ich den Genossen Vorsitzenden beurteile, wird er die Sache nicht auf die Spitze treiben lassen. Er muß sich schützend vor die Armee stellen. Denn, wenn die Armee anfängt, sich selbst zu zerfleischen, wird China im Bürgerkrieg versinken, für viele Jahre, für Jahrzehnte. Ich rechne damit, daß der Vorsitzende die Bedeutung dessen, was in Wuhan geschah, erkennt. Er wird
einzusehen haben, daß Revolutionen von einer Klasse gegen die andere gemacht werden, nicht von einer Sorte Wirrköpfe gegen eine andere Sorte Wirrköpfe. Allerdings — das kann man schon bei Lenin lesen... ... Wenn der Vorsitzende rechtzeitig eingreift, wird man ihm eines Tages noch für die weise Schlichtung der Krawalle danken. Man wird vergessen, daß er selbst es war, der sie entfesselte. Ein historischer Fehler? Vielleicht. Was es tatsächlich war, wird sich daran erweisen, wann und wie der Vorsitzende es beendet. Er allein hat die Mittel dazu... Aufnahme: 2. August, 1967 114
Operation Polo
Aushang Ehemaliges Restaurant >Fangshan<, jetzt Haupt-quartier der für Peking zuständigen >Gruppe Kulturrevolution< Ausgehängt unter dem Datum des 6.11. 1968 Von mir
tonkopiert am 15.2. 1969
Achtung! Bekanntmachung! Achtung!
Größter kapitalistischer Machthaber in der Partei endgültig entmachtet! Die erweiterte 12. Plenarsitzung des 8. Zentralkomitees der KP Chinas fand in Peking vom 13. 10. bis 31. 10. 1968 statt. Genosse Mao Tse-tung, Vorsitzender des Zentralkomitees der KP
Chinas,
unser
verehrter
Lehrer,
Führer
und
Oberkommandierender, präsidierte über diese Sitzung, die von größter historischer Bedeutung war, und hielt eine höchst bedeutsame Rede über den siegreichen Verlauf der Großen Proletarischen Kulturrevolution seit der 11. Plenarsitzung im August 1966. Der
stellvertretende
Vorsitzende
Lin
Piao,
engster
Kampfgefährte des Vorsitzenden Mao Tse-tung, nahm an der Sitzung teil und hielt ebenfalls eine bedeutende Rede. Teilnehmer der Sitzung waren Mitglieder und Kandidaten des Zentralkomitees. Alle führenden Persönlichkeiten der Gruppe Kulturrevolution
waren
verantwortliche
Genossen
Provinzen,
Städten
und
ebenfalls der
anwesend,
sowie
Revolutionskomitees
autonomen
Gebieten,
in
weiterhin
verantwortliche
Genossen
der
Chinesischen
Volksbefreiungsarmee. Die erweiterte 12. Plenarsitzung des 8. Zentralkomitees stellte
einstimmig
fest,
daß
die
Große
Proletarische
Kulturrevolution, die von unserem großen Führer, dem Genossen Mao Tse-tung, persönlich initiiert und geführt wurde, eine große politische Revolution des Proletariats gegen die Bourgeoisie und alle anderen Ausbeuterklassen unter den Bedingungen der Diktatur des Proletariats in unserem Lande war und ist. Die Plenarsitzung stimmte dem Bericht über die Untersuchung der Verbrechen des Renegaten, Verräters und Schuftes Liu Shao-tschi zu, der von einer Sonderkommission unterbreitet worden war, die seinen Fall eingehend untersucht hatte. Der Bericht bestätigt durch umfassendes und umfangreiches Material, daß Liu Shao-tschi, die Nr. 1 in der Partei, die den kapitalistischen Weg ging, ein Renegat, Verräter und Schuft ist, der sich in der Partei versteckte und dabei ein Lakai des Imperialismus,
Revisionismus
und
der
Kuomtintang-
Reaktionäre sowie der japanischen Faschisten war. Er hat unzählige Verbrechen verübt. Die Plenarsitzung stellte fest, daß die Entlarvung der konterrevolutionären Gesinnung Liu Shao-tschis durch die
revolutionären
Massen
in
der
Großen
Proletarischen
Kulturrevolution ein ungeheurer Sieg für die Ideen Mao Tsetungs und für die Große Proletarische Kulturrevolution selbst war. Die Plenarsitzung brachte tiefe revolutionäre Entrüstung über Liu Shao-tschis konterrevolutionäre Verbrechen zum Ausdruck und nahm eine Resolution einstimmig an, durch die Liu Shaotschi sofort und für immer aus der Partei ausgeschlossen wird, ihm alle Ämter innerhalb und außerhalb der Partei entzogen werden und mit ihm sowie seinen Kollegen abgerechnet wird für den Verrat. Die Plenarsitzung ruft alle Revolutionäre und die gesamte Bevölkerung auf, tiefgehende revolutionäre Massenkritik zu üben. Die konterrevolutionären und revisionistischen Ideen Liu Shao-tschis und der Handvoll anderer führender Personen in der Partei, die den kapitalistischen Weg gehen, sind zurückzuweisen und zu zerschmettern.
25. Februar 1969 »Jetzt können wir den Hund totschlagen, sobald er sich aus seiner Höhle traut!« sagt das junge Mädchen, das mich führt, als ich den Text des Aushangs halblaut vor mich hin gelesen habe.
Und sie macht eine freundliche Bemerkung darüber, daß mein Chinesisch so fließend ist. »Danke!« sage ich zu dem Mädchen und verziehe mein Gesicht zu einer Grimasse, die man für ein Lächeln halten kann, wenn man will. Was soll ich hier? Zu Hause wartet das letzte Kapitel meines Epik-Buches. In Berkeley lauert ein Professor des Zentrums für China-Studien namens Hotbread darauf (von Holly über Service an meine Arbeiten herangeführt), daß ich fertig werde mit
dem
Mammut-Manuskript.
Sein
Interesse
hat
er
überdeutlich angemeldet. Das Zentrum hat seinen eigenen Verlag. Er schrieb mir: »Dies ist nicht mehr die McCarthy-Zeit, Mister Robbins. Wir werden Ihr Werk sofort zum Druck vorbereiten, wenn Sie es uns übergeben. Zwanzig Jahre haben wir China ignoriert, ohne daß uns das geholfen hätte. Jetzt müssen wir zu Taten aufbrechen.«
Nixon. Auf dem Parteikonvent der Republikaner, letztes Jahr in
Miami,
wo
man
ihn
schließlich
zum
Präsidentschaftskandidaten machte, hatte dieser kalifornische Rechtsanwalt, der unter Eisenhower Vizepräsident gewesen und vor acht Jahren als Kandidat gescheitert war, eine Bemerkung gemacht, die viele Leute überraschte. Auch mich, als ich sie in einer Zeitschrift las. Und Kang Sheng, der mich sogleich
konsultierte, dem ich aber keinen näheren Aufschluß geben konnte. Nixon, den sie zu Hause scherzhaft >Tricky Dick< nannten, weil er immer ein fünftes As im Ärmel bereithielt, wie man sagte, hatte erklärt: »Wir dürfen in unserer Außenpolitik China nicht vergessen. Wir müssen bemüht bleiben, mit China ins Gespräch zu kommen, und wir dürfen überhaupt nicht nur immer
auf
Veränderungen
warten,
wir
müssen
diese
Veränderungen selbst herbeiführen.« Alles, was ich Kang Sheng damals über jenen Mister Richard M. Nixon erzählen konnte, wußte dieser schon. Daß er ein Erzkonservativer war, daß er noch vor Jahren ein Programm vorgelegt hatte, das ein Aufschaukeln der internationalen Spannungen bezweckte, daß er in des unseligen Senators McCarthys Ausschuß zur Untersuchung unamerikanischer Tätigkeiten der Chefadvokat gewesen war — aber auch, daß ihm, wie ihm der kalifornische Gouverneur Reagan, ein ehemaliger
Schauspieler
und
ebenfalls
>Kommunistenbekämpfer< zu McCarthys Zeiten, kürzlich bescheinigt hatte, jeder noch so halsbrecherische politische Schwenk zuzutrauen sei, wenn er nur seinen Zwecken dienen und seine Publicity befeuern könnte. Niemand konnte wohl sagen, wieweit der Wink mit dem Zaunpfahl »China« dabei mitgeholfen hatte, Nixon zum
Kandidaten zu machen, jedenfalls war er inzwischen Präsident. Gegenwärtig stellte er gerade seine Regierung zusammen. Bei mir zu Hause lag seit einigen Tagen ein Artikel aus der >Foreign Affairs<, den ebendieser Nixon dort bereits im Oktober 1967 veröffentlicht hatte. Sehr früh. Er schilderte darin etwas genauer, was er sich so über China dachte: >Auf lange Sicht können wir es uns einfach nicht leisten, China außerhalb der Völkerfamilie zu halten, weil es dort Phantasien entwickelt, seine Haßgefühle pflegt und die Nachbarn bedroht. Auf diesem kleinen Planeten ist es unvorstellbar, daß eine Milliarde seiner potentiell tüchtigsten Bewohner in zorniger Isolation lebt. Aber wir könnten einen verhängnisvollen Fehler begehen, wenn wir bei der Verfolgung dieses Fernziels in nächster Zeit beweisen, daß wir nichts aus der Geschichte gelernt haben. Für die unmittelbare Zukunft bedeutet das eine Politik der entschlossenen Zurückhaltung, der Unnachgiebigkeit, aber eben des kreativen Drucks, mit der Peking überzeugt werden muß, daß es seinen Interessen nur dienen kann,
wenn
es
die
Grundregeln
der
internationalen
Umgangsformen einhält. Das würde dazu führen, daß China in die Familie der Völker integriert wird als große und fortschrittliche
Nation,
nicht
aber
als
Epizentrum
der
Weltrevolution.« Kang Sheng hatte diesen Text wahrscheinlich nie gesehen, und das war gut so, denn mir wäre jede Frage seinerseits nach diesen penetrant lehrhaften Auslassungen mehr als unangenehm gewesen. Wenn Nixon glaubte, er könne auf diese Weise mit Peking ins Gespräch kommen, dann unterschätzte er das Selbstwertgefühl chinesischer Politiker so sehr, daß es gar keinen Zweck haben würde, ihm die in den letzten Jahren erfolgte Aufstockung nationalistischer Tendenzen zu erklären. Befremdliches und Überraschendes auf beiden Seiten. Ich fand mich nicht zurecht, was gewiß zu der schlechten Stimmung beitrug, die ich herumschleppte. Der Warschauer Kanal schien sich totzulaufen. (>Exzellenz, ich habe Ihnen mitzuteilen, daß ich nichts mitzuteilen habe!<) Im Mai vergangenen Jahres waren die Botschaftergespräche auf Bitte Pekings unterbrochen worden. Intern teilte man uns mit, man wolle die fälligen Präsidentschaftswahlen nicht belasten. Ich hielt das für eine Ausrede. Zumal in Peking zu hören war, man würde keine Gespräche mit uns führen, weil es eben nichts von Belang zu besprechen gäbe, das einzige Thema von Belang sei Taiwan. Erst im November 1968 hatte Peking wieder offiziell angedeutet, man könne sich eventuell in einem Vierteljahr in Warschau treffen.
Allerdings müßten — bevor es sich lohnte weiterzureden — die USA sich aus Taiwan zurückziehen und eine Vereinbarung zur Wahrung der friedlichen Koexistenz eingehen. Das hieß für jeden, der jemals mit Chinesen Politik gemacht hatte: keine Gespräche werden gewünscht. Ich war sehr überrascht, als Kang Sheng, mit dem ich eine Unterredung über die Frage hatte, mir klipp und klar sagte, ich solle mich gedulden, es lägen immer noch unterschiedliche Meinungen in der Führungsspitze im Streit miteinander, was eine Annäherung an uns beträfe. Dem Pro-Annäherungsflügel (Ich gewöhne mir langsam solche Denkkombinationen von Berufspolitikern an!) gelang es dann aber wohl doch, sich etwas mehr Geltung zu verschaffen, denn die unzumutbare Forderung an uns nach Rückzug von Taiwan als Gesprächsbedingung, wurde kurz darauf modifiziert: Nun sollten wir als Gesprächsvoraussetzung nur noch die Präsenz unserer Marine in der Taiwan-Straße reduzieren. Es war ein Schattenboxen, die Chinesen wußten genau, daß wir darauf nicht eingehen konnten, weil die Forderung öffentlich erhoben worden war. Für eine Weltmacht wie uns gab es keine Bedingungen zu erfüllen, wenn es um Gespräche ging, jedenfalls nicht offiziell. Es ergab sich die Frage, weshalb die Pekinger Führer die Spiegelfechterei überhaupt aufführten. Sie setzten sie, noch ehe wir antworten konnten, mit der endgültigen
Absage fort, nachdem zunächst der 20. Februar 1969 als möglicher Termin von ihnen genannt worden war. Ein unbedeutender Diplomat der Volksrepublik hatte seinen Posten im Ausland verlassen und in den USA um Asyl gebeten. Dies sei eine so schwere Verletzung der internationalen Gepflogenheiten, daß man auf Gespräche vorerst verzichten müsse. Eine mehr als fragwürdige Ausrede, so spektakulär sie sich auch anhörte. Denn in Peking kannte man genau die Gesetze, die innerhalb der Vereinigten Staaten galten, und nach denen war es normal, einem kommunistischen Überläufer Asyl zu gewähren, wenn er es beantragte. Das mochte Peking nicht gefallen, aber es war nicht seine Rechtshoheit, um die es sich drehte, sondern unsere. Umgekehrt könnten die Vereinigten Staaten niemals von der Volksrepublik die Auslieferung eines Asylanten verlangen, indem
sie
die
Asylgewährung
als
Verletzung
von
Gepflogenheiten bezeichneten. Es gab gar keinen Zweifel, daß die Leute, die diesen Schaum schlugen, ganz genau wußten, welch kurze Zeit die Blasen existieren würden. Kang Sheng signalisierte mir, es gäbe immer noch sehr gravierende Meinungsverschiedenheiten über das Vorgehen uns gegenüber. Er bat mich, intern Geduld zu verlangen und auf die offiziellen Verlautbarungen nichts zu geben. Was zu sagen war, würde über unseren Kanal gesagt werden. Für mich war durch Hinweise
verschiedener Art inzwischen klar geworden, daß sich im Verlaufe der vielfältigen Umschichtungen während der letzten turbulenten
Jahre
tatsächlich
einige
neue
Machtzentren
herausgebildet hatten, die sich aneinander rieben. Bislang hatte ich mich an Kang Sheng gehalten, weil ich hier die entscheidende Kraft vermutete. Aber man konnte nicht mehr so ganz sicher sein, auch Holly war der Meinung, daß der Einfluß der Madame Tschiang Tsching beispielsweise ständig stieg. Deshalb war mir die Einladung der Gattin Maos, die als gegenwärtig hinter dem Steuermann populärste Spitzenfigur den Rummel der ausbrennenden Kulturrevolution unverdrossen weiterführte, sehr recht gewesen. Ich wollte feststellen, wie weit man Entscheidungsprozesse vielleicht über sie beeinflussen könnte. — »Aber dieser feige Schuft traut sich nicht aus seinem Bau heraus ...« nörgelte das Mädchen neben mir weiter. Ihr ging es immer noch um Liu Shao-tschi, der jetzt endgültig so gut wie vogelfrei war, dessen Ausschaltung aber wohl noch nicht die endgültige Klärung der Machtverhältnisse gebracht hatte. Ich sagte ein paar belanglose Worte, um nicht unhöflich zu erscheinen, und das Mädchen freute sich sichtlich, daß sie es mit einem so revolutionären Ausländer zu tun hatte, den sogar die unvergleichliche Tschiang Tsching persönlich zum Abendessen ins Hauptquartier einlud. Sie führte mich durch ein Gewimmel
von jungen Leuten mit roten Armbinden zum Landungssteg, wo ein Boot wartete, das uns zur Insel mit der Weißen Pagode bringen sollte. In meinen Ohren dröhnte der Lärm, der in dem einst
so
stillen
Be
Hai
Park
herrschte.
Aus
einem
Großlautsprecher erklang >Osten ist rot<, aus einem anderen das Lied vom Steuermann, ein dritter übertrug Klänge aus der Propagandaoper >Rotes Frauenbataillon<, und in einiger Entfernung plärrte aus einem weiteren eine Stimme, von der man nicht erkennen konnte, ob sie männlich oder weiblich war, sie warf einem mir unbekannten Kader des Stadtparteikomitees vor, er sei ein Verräter an den Ideen des Vorsitzenden, ein Anhänger der verruchten Bande, die mit schwarzer Hand nach den Hung Wei Ping griff, er habe im übrigen gestohlen, Einbrüche verübt, Frauen geschändet und Kinder vom revolutionären Weg abgebracht, man würde ihn deshalb nie Mitglied eines revolutionären Dreierkomitees werden lassen. Eine Menge von Zuhörern grölte Beifall. In Sprechchören wurde geschrien: »Nieder mit der Hundescheiße!« Es war nicht nur dieser >revolutionäre Lärm<, der meine Nerven zunehmend strapazierte, es war die ganze Atmosphäre aus für mich immer sinnloser werdenden Aktivitäten, die Massenhysterie ebenso wie die Massenheuchelei, die schnell zunehmende Kriminalisierung der Gesellschaft, es war das
gesamte trostlose Bild, das sich einem in diesem Lande bot, vor dem Hintergrund des Eingeständnisses, daß meine persönliche Tätigkeit (wenn man von den Büchern absah, die ich schrieb) so gut wie nutzlos geblieben war. Solange ich Mao Tse-tungs eigenartige Revolution gegen die eigene Partei als Mittel zu einem uns genehmen Zweck hatte begreifen können, war mir der Widersinn der Mammut-Kampagne gleichgültig gewesen — jetzt begann er in mir einen grenzenlosen Pessimismus zu bewirken: Mao hatte selbst nach Beseitigung seiner gewichtigsten politischen Gegenspieler bei weitem nicht freie Hand, im Gegenteil,
er
rief
mit
seiner
Kampagne
immer
neue
Gegenspieler auf den Plan, er entfachte nicht nur neuen Widerspruch, sondern er setzte auch eine Unzahl menschlicher Schwächen frei, die sich gegen ihn kehrten. Machtkampf war eine davon. Für mich, als Beobachter, frustrierende Vorgänge, weil sich das alles letztlich gegen mich kehrte, gegen uns, gegen die Strategie, die mich hier hatte Domizil nehmen lassen. Ich wurde den Verdacht nicht los, daß Mao selbst schon lange keinen Überblick mehr besaß, er schwebte nach meinem Urteil wie ein Gott in höheren Regionen, auf den Wolken seiner Gedanken, man ließ ihn seine Weisungen verfassen, lobte sie als hochgeistige Ergüsse, was ihm wiederum schmeichelte und
noch stärker das Gefühl gab, ein Gott zu sein, im übrigen tat jede der entstandenen Interessengruppen, was ihr richtig erschien. Mao selbst — war es nun seiner abbröckelnden Gesundheit
zuzuschreiben
oder
einer
Kombination
von
altersbedingtem Wunschdenken im Verein mit blendend organisierter Isolierung von den Realitäten — diente meiner Meinung nach heute lediglich noch als Vorzeigeobjekt, das jede der verschiedenen Kräftegruppierungen jeweils dann vorschob, wenn sich für sie daraus Nutzen ziehen ließ. In Wirklichkeit hatte Mao eigentlich das Gegenteil von dem erreicht, was er beabsichtigt hatte: an die Stelle des einen Machtzentrums waren mehrere
andere
getreten,
die
ihn
selbst
hochgradig
ausschalteten, wiewohl sie ihm den Spaß ließen, Weisungen auszudenken. Sie hofierten ihn, um ihn daran zu hindern, sie zu bekämpfen. Vor diesem Hintergrund eines nahezu klassischen chinesischen Hofintrigenspiels bekämpften sie sich selbst gegenseitig bis aufs Messer. Sie taten es nicht offen, jedenfalls nicht im Augenblick, aber das konnte sich ändern. Wer würde dann wohl die Oberhand behalten? Kein Zweifel, Kang Sheng hielt viele Fäden. Aber sein Einfluß auf die Armee war begrenzt. Lin Piao schien sich nicht völlig mit ihm verbünden zu wollen, er hatte seine eigenen Ambitionen. Tschen Po-ta und Tschiang Tsching bildeten fraglos ein weiteres Kräftefeld. Mit ihnen
waren Tschang Tschun-tjiao und Yao Wenyuan, die beiden Shanghaier, die so gut wie alle Massenmedien im Lande, außer denen der Armee, beherrschten und damit weitgehend die öffentliche Meinung prägten. Doch es gab auch noch Tschou En-lai. Während Tschiang Tsching als Maos Gattin skrupellos das Image ihres Mannes für ihre Interessen ausbeutete, wie es mir schien, vor allem für die verspätete Abrechnung mit alten Feinden, mit Leuten, die ihr kein Talent zugetraut und sie nicht gefördert hatten, hielt sich Tschou En-lai sehr zurück. Man wußte, daß er der vielleicht verläßlichste, der treueste und uneigennützigste Vertraute Maos war, daß er unter dessen persönlichem Schutz stand, als Organisator des Restbestandes an staatlicher Ordnung — nur ließ Tschou nie öffentlich durchblicken, ob es neben seiner unwandelbaren Treue zu dem alternden, kränkelnden, hilfloser werdenden Mao für ihn nicht doch auch eigene Interessen gab. Deng Hsiao-ping, seinen alten Freund, den er für ein großes politisches Talent hielt, und von dem erzählt worden war, er würde einst die Nachfolge Tschous antreten, versuchte er im Augenblick noch nicht aus der Verbannung auf die politische Bühne zurückzumanipulieren, er taktierte vorsichtig, ließ sich Zeit. Welche der verschiedenen Kräftegruppen würde sich schließlich durchsetzen, würde aus dem Chaos der Kulturrevolution eines Tages als tatsächliche
Führung des Landes hervorgehen? Welche Verbindungen untereinander konnte es geben? Wer wollte wen ausschalten, und wer mußte sich mit wem verbünden? Tschou En-lai todsicher mit der Gruppe, die überlebte, sein Instinkt war verläßlich. Alle weiteren Kombinationen waren unklar. Holly drängte mich, Einzelheiten herauszufinden, die Aufschluß gaben. Es täte sich etwas in der Agentur, signalisierte er mir einmal ums andere. Neue Kräfte seien am Werk. Daß wir Vietnam aufgeben würden, sei beschlossene Sache. Kein Sieg möglich, und die Kosten begannen unseren heimischen Etat auszuhöhlen. In seinen knappen Mitteilungen an mich wiederholte Holly immer wieder die Vermutung, unser langsamer Abzug aus Vietnam würde die Situation für einen Ausgleich mit China weiter verbessern — ich solle möglichst viele Kenntnisse über die inneren Kräfteverhältnisse in Peking sammeln, für den entscheidenden Tag. Also brachte ich mich unaufdringlich bei Madame Tschiang Tsching in Erinnerung, und sie hatte mich prompt in ihr Hauptquartier eingeladen, den für jegliches Publikum gesperrten Be Hai Park. »Sobald er auch nur die Schnauze aus seiner Höhle steckt, haben wir ihn!« Liu Shao-tschi schien meine junge Begleiterin zutiefst zu beschäftigen. Mir war das Katz-und-Maus-Spiel um
den ehemaligen Staatschef mittlerweile langweilig geworden, ich glaubte, es wurde nur noch weitergeführt, um ein Aufsehen erregendes Angriffsziel für die Aktivitäten der Hung Wei Ping nicht so schnell zu verlieren. Es hielt sie davon ab, sich gegenseitig umzubringen, aber wenn man darauf spekuliert hatte, es würde so etwas wie einen Vereinigungseffekt bewirken, dann war das ein Irrtum gewesen. Die einzelnen Rebellenfraktionen bekämpften sich nach wie vor. Mao hatte angeordnet, daß sogenannte Arbeitertrupps die Streitenden besonders in den Universitäten zur Ordnung brachten. Natürlich waren in diesen Trupps nur jeweils einige Alibi-Arbeiter, der Rest bestand aus Soldaten. Sie gingen in der letzten Zeit mit Rebellengruppen, die gegeneinander Krieg führten, in Schulen oder einfach auf den Straßen nicht zartfühlend um. Offiziell hieß das: die Arbeiterklasse sorgt für Ordnung. Mao hatte wohl gespürt, daß er seinem Image als Organisator der chinesischen Arbeiterklasse wenigstens nach außen hin einiges schuldig war. Doch — wer immer in der unübersichtlichen Praxis die Trupps zusammenstellte — er achtete darauf, daß die Armee das Sagen behielt. Dennoch war in der Öffentlichkeit nicht übersehen worden, daß Mao seit einiger Zeit eine Art Wiederbelebung der Partei betrieb. Es hieß, er verlange frisches Blut in einer neuen Partei,
aber auch gemaßregelte Kader sollten nach einer >Bewährung an den Graswurzeln< wieder in ihre Reihen aufgenommen werden können. Wo stand in dieser Frage Tschiang Tsching? Von ihr war bekannt, daß sie die Kommunistische Partei für überflüssig hielt, ihre Aufgabe sei erledigt, was jetzt noch zu tun war, sollten die Gruppe für Kulturrevolution und die revolutionären Dreierkomitees erledigen. Widerspruch zu Mao? Wo sie sich doch für dessen engste Mitarbeiterin hielt... »Haben Sie früher studiert?« erkundigte ich mich beiläufig bei meiner Begleiterin, während wir zur Anlegestelle gingen. Sie antwortete, sie sei am Fremdspracheninstitut gewesen. Ich erinnerte mich daran, daß die >Rebellion< an dieser Lehranstalt, die formell dem Außenministerium unterstand, besonders exzessiv verlaufen war. Aber es war besser, darüber nicht zu sprechen,
dieses
untergeordnete
Mädchen
Funktion
zu
schien
ohnehin
bekleiden.
Sie
nur
eine
trug
einen
Drillichanzug, der buchstäblich zerlumpt war. So waren in den Jahren vor der Befreiung die Rikschafahrer herumgelaufen. Nirgendwo war der Versuch zu entdecken, eines der ausgefransten Löcher etwa zu stopfen. Es war revolutionär, zerlumpte Kleidung zu tragen, sich das Haar nicht zu waschen, Schmutz unter den Nagelrändern zu haben — alle jene hervorragenden Leistungen, die das Land vor fünfzehn und mehr Jahren
vollbracht hatte, um Hygiene und Sauberkeit durchzusetzen, schienen
total
vergessen.
Gestrichen,
durch
die
Kulturrevolution. Bis das Boot herangestakt war, hockten wir uns auf einen Stapel glasierter Kacheln, die mit Sicherheit aus einem der Tempel stammten. Sie waren teils zerbrochen. Die Art, in der sie aufgeschichtet waren, deutete darauf hin, daß sie bei eilig hier abgehaltenen Meetings als Sitzbänke dienten. Man gewöhnte sich erstaunlich schnell an die vielen Zeichen barbarischer Verwüstung. Es war wohl nicht zu ändern. Das Land, das Mao mit seiner Kampagne einen riesenhaften Sprung nach vorn hatte machen lassen wollen, sprang nirgendwohin, es krümmte sich am Boden. Selbst wenn dem Großen Steuermann aufgegangen sein sollte, welche Schäden seine Experimente angerichtet hatten, so gelang es ihm wohl nicht mehr, sie auch nur einigermaßen gutzumachen. Zu hoffen war, daß wir endlich Nutzen daraus ziehen konnten. Die absolute Durchtrennung jeglicher gewachsener Verbindung zu den Sowjets war das für uns erfreulichste Ergebnis. Tschiang Tsching hatte daran nicht geringen Anteil gehabt, (ich war allein deshalb schon neugierig auf sie. Sie stand wie eine Denkmalsfigur an der Anlegestelle, und sie war nicht in verwaschene blaue Lumpen gehüllt wie ihre
>Rebellen<,
sondern
sie
trug
einen
gut
geschnittenen
Hosenanzug aus lackschwarz glänzendem Kaliko, darüber einen dunklen Mantel, einen Schal, den sie malerisch um die Ballonmütze geschlungen und am Hals verknotet hatte. Sekunden-lang überlegte ich, warum sie das dünne, glatte Kaliko zur Frühlingszeit in Peking anzog, da die Luft noch kühl war. Vielleicht hatte sie darunter dicke Unterwäsche an — hol mich der Teufel, dachte ich, warum soll ich mir wohl den Kopf zerbrechen, weshalb sie eine Kantonesin mimt —, es kann mir egal sein, ob sie sich erkältet oder nicht, wer bin ich, daß ich mich auch noch um die Unterhosen der Frau Maos kümmere? Hinter ihr waren Begleiter aufmarschiert, junge, kräftige Burschen, lässig gekämmt, zerlumpt auch, mit roten Armbinden und großen Mao-Plaketten. Tschiang Tsching stand an einer provisorisch um die Anlegestelle auf der Hortensien-Insel geschichteten Balustrade. Es rührte mich schon nicht mehr sonderlich an, als ich erkannte, daß es sich bei den >Bausteinen<
um die
berühmten
Steinplatten
mit
den
kalligraphischen Inschriften aus dem Tempel Yüegu-lou handelte. Die ältesten dieser Druckstöcke stammten noch aus dem fünften Jahrhundert ... »Ich begrüße Sie sehr herzlich unter den proletarischen Helden
der
großen revolutionären
Bewegung,
Kamerad
Robbins!« Sie sprach getragen, gönnerhaft, sich ihrer Zuhörer bewußt,
mit
jenem
unverwechselbaren
Ausdruck
von
übersteigertem Selbstbewußtsein, das ich zuweilen schon in ihren Reden bemerkt hatte: Ja diese Schauspielerin hatte ihre Rolle gefunden! Ich war überrascht, wie gut Maos Frau aussah. Wenn man berücksichtigte, daß sie viele Jahre lang mit schweren Krankheiten gekämpft hatte, mußte man über die Vitalität staunen, die sie heute ausstrahlte. Ihr Gesicht zeigte Falten, die Haut war welk und gefleckt, aber ihre Augen funkelten, ihre Art zu agieren entsprach der eines Armeekommandeurs. Auf mein fröhlich hervorgebrachtes »Ni Hao!«, auf das übliche »Hao bu Hao?«, das ebenso wenig eine Antwort erforderte wie das englische Äquivalent >How are you?<, versicherte sie mir, daß es ihr ausgezeichnet gehe, sie fühle sich wie ein Fisch im Wasser, und als ich listig einwarf, es gäbe Karpfen im Be Hai, die fühlten sich auch oft so wohl, daß sie das Netz des Fischers gar nicht sähen, da hob sie die Lider und legte mir vertrauensvoll die Hand auf den Arm, wobei sie flüsterte: »Kamerad Robbins, Sie sind einer der scharfsinnigsten Beobachter des Lebens! In der Tat, ich wittere das Netz. Aber ich werde aufpassen. Niemandem trauen, der es nicht verdient. Und meine Kräfte ausbauen ...« Sie zwinkerte mir zu und ging
mit mir von der Anlegestelle zum Restaurant, ohne auch nur einen Blick an die seitlich aufgeschichteten Druckstöcke zu verschwenden. Auf meine Frage, welche Dienststellen sich denn im Park befänden, gab sie mir bereitwillig Auskunft: »Hier, auf der Insel Tjunghua befindet sich mein persönlicher Stab. Wachen. Telegraphen. Alles, was für Stabsarbeit nötig ist. Funkstation auch. Von zuverlässigem Personal besetzt. Das Sportstadion drüben, auf dem Festland, dient uns als Ort für Massenveranstaltungen. Im Wasserkraftwerk waren immer >Junge Pioniere<. Es gibt diese revisionistische Organisation nicht mehr, heute ist es von den jüngsten Rebellen besetzt. Ein Bollwerk
der
tatsächlich
revolutionären
Jugend!
Der
Pionierpalast ist Quartier für unsere Bereitschaftseinheiten, ebenso die Halle der Zehntausend Buddhas. Einige andere, kleinere Gebäude und der Tempel werden als Stabsquartiere und Stützpunkte genutzt, es gibt da unsere Rundfunkstudios, die Druckerei, eben alles, was eine so riesige Bewegung wie die unsere braucht ...« Sie verlor kein Wort über die Zweckentfremdung des Parks, es tat ihr offenbar auch nicht leid um die kulturhistorischen Werte, die für immer verloren gingen. Ein leichter, noch frischer Wind kräuselte die Oberfläche des Sees. Vor Tagen war Staubsturm gewesen. In den Ecken des
Arkadenbaues lagen Sandhäufchen, niemand schien sich darum zu kümmern. Aber an jeder Säule hing mindestens ein Datsebao, manchmal ein Mao-Bild, eines jener lauten Plakate mit Arbeitern, Bauern, Revolutionären und Soldaten, alle ihre Fäuste einer Strahlen aussendenden Sonne entgegenstreckend, in deren Mitte Mao lächelte — mit Warze am Kinn, unverkennbar. »Wir werden eine bescheidene Mahlzeit zu uns nehmen, Kamerad Robbins«, bereitete sie mich vor. »Revolutionäre leben spartanisch. Wird eine interessante Erfahrung für Sie sein!« »Sie feiern auch das Frühlingsfest nicht?« Ich hatte nur humoristisch auf den Busch klopfen wollen, aber ich bekam gleich die volle Portion revolutionärer Ideologie zurück: »Das ist nicht üblich, nein, keinesfalls! Wissen Sie, daß dieses sogenannte Frühlingsfest uns Jahr für Jahr Millionen von Yüan gekostet hat? Daß dabei Verschwendung getrieben wurde in
unvorstellbarem Ausmaß? Essen,
Trinken,
Kleidung,
Süßigkeiten, Spielzeug, sogar Feuerwerkskörper — das alles wurde nutzlos vertan...« Sie dozierte noch eine Weile weiter, während ein weißgekleideter junger Mann, der wohl in dieser Show einen Kellner darzustellen hatte, uns in eine Nische des Restaurants führte, eine der wenigen, aus der nicht Broschüren, Plakatstapel oder gesammelte Datse-baos hervorquollen. Er legte uns
Speisekarten
vor,
in
der
Mappe
des
traditionsreichen
Restaurants, verschwand dann, und immer noch sprudelte es aus Tschiang Tsching hervor: »Wußten Sie übrigens, Kamerad Robbins, daß das Frühlingsfest auf uralte feudalistische Traditionen des Aberglaubens zurückgeht?« Natürlich kannte ich so ungefähr die folkloristischen Sitten des Neujahrsbrauchtums, die viel mit dem Ahnenkult und der Totenverehrung zu tun hatten und ebensoviel mit überlieferten Fruchtbarkeitsriten, eine Portion harmloser Magie war dabei, die wohl ohnehin nur einen Teil der Leute ernst genommen hatte. Tschiang Tsching setzte mir das alles eifrig auseinander, nachdem wir uns für das Tagesmenü entschieden hatten (das einzige auf der Karte!), das aus Pfefferfleisch und süßsaurer Soße und verschiedenen Gemüsen bestand, sowie aus einer Hühnersuppe und einem Nachtisch aus kandierten Apfelspalten. »Sie müssen sich vorstellen«, Tschiang Tsching hob den Zeigefinger und machte ein so ernstes Gesicht, daß es mich zum Lachen reizte, »in den Jahren vor der Kulturrevolution, das haben wir festgestellt, wurden weitaus mehr Nian Hua gedruckt, diese bunten, wertlosen Neujahrsbilder mit gemästeten Babys drauf, als etwa Porträts des Vorsitzenden! Ist das nicht bezeichnend für die Verschlagenheit seiner revisionistischen Gegner?«
Das bestätigte ich vorsichtshalber sofort, es gelang mir immer noch nicht absolut sicher, Ironie von todernster Dümmlichkeit zu unterscheiden, Heuchelei von Engagement. Deshalb hielt ich mich meist zurück, denn ich wußte, daß es stimmte, was Tong mir einmal ans Herz gelegt hatte, warnend: »Man irrt sich in dieser Frage nur einmal, das genügt für den Rest des Lebens!« Nachdem Tschiang Tsching meine Zustimmung zu ihrer Entrüstung über den >Mißbrauch feudaler Traditionen für die Zwecke der Revisionisten< zur Kenntnis genommen hatte, ließ sie sich durch mich überraschend leicht auf die Problematik lenken, über die ich Aufschluß haben wollte, es lag wohl daran, daß sie selbst für dieses Gespräch mit mir kein spezielles Programm hatte, daß sie es mehr als geselliges Beisammensein betrachtete. Mao Tse-tung: was war mit ihm? Lange hatte ich nicht mit ihm gesprochen. Wie stand es um seine Gesundheit? Kam er mit seinem politischen Pensum vorwärts? Sie goß roten Reiswein in die winzigen Schalen, die der Bediener auf den Tisch gestellt hatte, und wir sprachen das erste >Ganbei<( auf die Gesundheit Maos. Sie setzte die Schale ab und klagte: »Es sieht schlecht aus, Kamerad Robbins. Schlimm. Der Vorsitzende hat trotz aller eisernen Disziplin und Selbstüberwindung heute nicht mehr die Kräfte, die er brauchen würde, um unsere Revolution zu lenken ...«
»Aber — es ist seine Revolution! Er hat sie geplant, das ist schon viel, oder?« Sie nickte eifrig. »Natürlich. Es wird vor der Geschichte stets seine Revolution bleiben. Sein mutiger Aufbruch, den er mit einer ganzen Gesellschaft wagte, zu neuen Ufern. Nur — ich muß Sie bitten, das einerseits äußerst diskret zu behandeln, andrerseits ist es aber nötig, daß die wahren Freunde, die wir im Ausland haben, den Sachverhalt kennen — der Vorsitzende mußte schon seit vielen Monaten eine Aufgabe nach der anderen an uns delegieren. Er selbst ist beschränkt arbeitsfähig. Seine Gedanken sind klar, aber die Kraft schwindet, verstehen Sie ...?« Und ob ich verstand! Sie beugte sich über den Tisch und sah mir eindringlich in die Augen, als wolle sie sich vergewissern, daß es da nicht irgendwo Ungläubigkeit gab, oder etwa ein schadenfrohes Blitzen. »Ich verstehe«, sagte ich. »Er verlagert sozusagen einen Teil seiner drückenden Pflichten auf verläßliche Mitstreiter.« »Auf mich. Und auf Lao Kang. Andere Vertraute, die es ehrlich meinen, hat er kaum noch. Obwohl er es zuweilen glaubt!« »Aber — ist da nicht Tschou En-lai? Tschen Po-ta? Lin Piao? Die vielen anderen ...?« Sie winkte unwillig ab und erinnerte mich an die 12. Tagung
des Zentralkomitees im vergangenen Oktober, auf der Liu Shaotschi aus der Partei geworfen worden war. Damals war auf Betreiben Maos auch noch der Beschluß gefaßt worden, in absehbarer Zeit den 9. Parteitag abzuhalten. Ein neues Statut war vorgelegt
worden. Eine neue Verfassung
für die
Volksrepublik war in Arbeit. Lin Piao, so bestätigte es die ZKTagung, sollte auch weiterhin der engste Kampfgefährte des Vorsitzenden sein. »Da sitzt der Stachel des Verrats!« schimpfte Tschiang Tsching. »Lin Piao treibt sein eigenes Spiel. Er will an die Macht, und er will die Revolution dämmen. Mit der Armee regieren! Er hat den Vorsitzenden im Verlaufe einer langen Zeit immer mehr unter Druck gesetzt, so daß diesem nichts weiter übrig blieb, als wohl oder übel die alte Partei neu zu beleben. Sie kann das einzige Gegengewicht gegen Lin Piao sein ...« »Aber«, wandte ich ein, um ihr noch ein paar weitere Einzelheiten zu entlocken, »es gibt doch die Dreierkomitees! Und es ist doch beschlossen worden, daß die Zerschlagung des revisionistischen Parteiapparates zu Recht erfolgt ist!« Der Weißgekleidete brachte die Speisen, er fuhr sie auf einem kleinen Wägelchen heran und stellte alles auf den Tisch, Reis und Fleisch, Gemüse und Soßen. Tschiang Tsching bedeutete ihm, Wein nachzugießen, und als er sich wieder
entfernt hatte, als wir unsere Schalen mit Reis gefüllt und sie mir die ersten Fleischstücke vorgelegt hatte, wie es sich für eine Gastgeberin gehörte, sagte sie, ungeniert dabei essend und mit halbvollem Mund sprechend: »Kamerad Robbins, die Lage ist komplizierter als Sie denken. Ich bin die einzige und engste Vertraute des Vorsitzenden, daher weiß ich, wie die Dinge sich entwickelt haben. Mein Wissen teilt nur noch Lao Kang, sonst niemand. Keinem ist zu trauen. Selbst Tschou En-lai, der sich gegenüber dem Vorsitzenden wenigstens nach außen loyal verhält, weiß nicht alles. Der Vorsitzende hat den Mut verloren. Das ist die reine Wahrheit, über die ich Sie bitte zu schweigen. Er ist von den bisherigen Ergebnissen der Revolution enttäuscht und hält seine Pläne für gescheitert, obwohl er das niemanden außer mir merken läßt. Er ist in sehr schwarzer Stimmung. Dazu kommt, daß sein Körper ihn quält. Und die heimlichen Revisionisten, jene, die wir noch nicht entlarven konnten, drängen ihn, ohne sich selbst zu exponieren, zur Aufgabe. Lauern auf die Neugründung der Partei! Das ist ihre Chance! Er merkt es, aber er hat keine andere Wahl, wenn er den heimtückischen Lin Piao bremsen will. Die Last der Revolution liegt weiter auf den Schultern der Hung Wei Ping. Es ist unsere historische Aufgabe, das Werk des Vorsitzenden zu Ende zu führen ...«
Ich hütete mich, sie zu unterbrechen. Sie entwarf ein Bild des heimlichen und offenen Gegeneinanders in der Führungsschicht, das stark an die Szene der Rebellengruppen erinnerte — hier wie dort bekämpfte man sich nach allen Regeln der Kunst, es ging
bei dem Gegeneinander
kaum
noch
um
unterschiedliche politische Programme oder Marschrouten, es ging um persönliche Abneigung, Mißtrauen, Neid, Machtgier, wie ich zuvor vermutet hatte. Hier war die Bestätigung. Lin Piao, so erzählte sie mir, sei nicht zu trauen, er pflege sogar heimlich Kontakte zu Sowjets. Tschou En-lai sei weich, ein Mandarin, unzuverlässig, was die Revolution betraf. Tschen Pota kämpfte zwar gegen Lin Piao, mit dem Argument, man müsse die Armee endlich von ihren eigenen Revisionisten befreien, Kang Sheng und Tschiang Tsching konnten sich aber mit Tschen Po-ta nicht mehr offen solidarisieren, obwohl sie seiner Meinung waren: sie fürchteten, daß Lin Piao die Armee gegen sie mobilisieren würde. Andrerseits konnte Lin Piao aber auch keine
entscheidenden
Bewegungen
machen,
denn
Mao
mißtraute ihm, weil er sich vehement gegen das von Mao konzipierte strategische Ziel der Annäherung an die USA sträubte — es war, das wurde mir nach und nach klar, ein klassisches Patt entstanden zwischen den unterschiedlichsten Kräften, keine von ihnen konnte mehr ohne Risiko einen ent-
scheidenden Zug tun. Und in dieser Situation, die Mao offenbar trotz seiner gesundheitlichen Schwierigkeiten mit großer Klarheit erkannt hatte, war ihm als Ausweg eingefallen, die von ihm zerschlagene, ihrer erfahrensten Kader beraubte Partei wieder aufzubauen. Im Herbst hatte ich mich mit Chang Wen unterhalten. Der beurteilte die Wiederbelebung der Partei im Zusammenhang mit einigen anderen, ebenfalls um diese Zeit verstärkt betriebenen Maßnahmen, als eine Art Korrektur, die Mao an der eigenen Politik vornehmen mußte, nachdem er erkannt hatte, daß ihm Fehler unterlaufen waren. Aber er sah auch neue Fehler. Beispielsweise erwähnte er die um diese Zeit beginnende massenweise Verschickung von Parteifunktionären in entlegene Gebiete. Das wurde von Mao selbst als notwendige Erziehungsmaßnahme bezeichnet. Die neuen Lager bekamen die Bezeichnung >Schulen des 7.Mai<, wurden auch nicht — wie frühere Gefangenenkolonien — bewacht, aber es handelte sich eben um die gezielte Verschickung von Kommunisten, die von Parteiaktivitäten noch ferngehalten werden sollten, in Gegenden, wo sie auf niemanden Einfluß ausüben konnten. Sie bauten Hütten, züchteten Vieh und pflanzten Nahrungsmittel an, darüber hinaus sollten sie >sich umerziehen<, wobei man ihnen mit gelegent-lichen Vorträgen von Rednern half. Erst wenn sich bei ihnen »keine Spur von Revisionismus« mehr zeigte, sollten
sie heimkehren und wieder in der neuen Partei arbeiten dürfen. — »Nicht mehr als recht und billig«, behauptete Tschiang Tsching boshaft, während sie sich mit Gemüse versorgte. »Wenn man bedenkt, daß die immer noch aktiven Gegner der Revolution dem Vorsitzenden eingeredet haben, er müsse die Roten Garden auflösen! Denken Sie nur, im gerade vergangenen Winter wurden etwa zehn Millionen roter Rebellen aufs Land umgesiedelt! Wir konnten es nicht verhindern, der Vorsitzende bestand
darauf.
Sehr
geschickte
Verräter
hatten
ihm
eingeflüstert, daß es nötig sei, in Chinas Interesse. Dabei braucht China keine Arbeitskräfte in entfernten Gebieten, es braucht die Revolution, hier, wo die Revisionisten sich immer geschickter tarnen! „Ach — haben Sie das Flugblatt gelesen, in dem der Vorsitzende zum ersten Mal forderte, man müsse die Partei reaktivieren?« Weil ich es nicht kannte, ließ sie es bringen. Sie bestand darauf, daß ich einen von ihr hervorgehobenen Teil laut vorlas. Da stand: »Man braucht schließlich immer noch eine Partei. Man braucht einen Kern, ganz gleich, wie der sich nennt, ob
Sozialdemokratische
Partei
oder
Sozialdemokratische
Arbeiterpartei, oder Kuomintang oder Yikuantao, auf jeden Fall braucht man eine Partei. Die Volkskommunen brauchen
ebenfalls eine Partei. Oder könnte vielleicht die Kommune die Partei ersetzen? Gehen wir besser nach der alten Methode vor, es soll auch den Volkskongreß geben, und wir wollen Volkskomitees wählen ...« Sie schwang die Faust, aus der die Eßstäbchen hervorlugten. »Sehen Sie! Das ist es! Niemals hat der Vorsitzende das selbst so beschlossen. Andere haben es ihm eingeflüstert! Ich kenne ihn am besten, ich bin die einzige, die seine oft wirren Gedanken ordnen und so ausdrücken kann, daß sie tatsächlich seinem Willen entsprechen! Aber mich will man ausschalten. Nun, sie werden es nicht schaffen ...« »Tschou En-lai?« fühlte ich vor. »Der wird bald die Faust der Massen spüren, er konspiriert mit dem Verräter Deng Hsiao-ping!« »Ich denke, der ist an den Graswurzeln?« stellte ich mich naiv. Sie lachte. »Der! Er hat so lange im Süden bei der Armee gearbeitet, daß er Dutzende von Busenfreunden dort hat. Irgendwo in Szetchuan oder in Kuangtung haben seine Beschützer ihn zum Kellner in einem Offiziersrestaurant gemacht. Leichte Arbeit, gutes Essen, viel Schlaf — genau das Gegenteil von dem, was er bekommen sollte! Man hintertreibt die Politik des Vorsitzenden überall, und man verleumdet uns, die wir die Revolution in seinem Sinne weiterführen wollen. Die Verräter reden ihm ein, daß er Arbeiter gegen uns mobilisieren
soll. Arbeiter! Eine Schande für Revolutionäre, sich von revisionistischen Arbeitern herumkommandieren lassen zu müssen!« Die Rebellen nannten die >Arbeiterpropagandatrupps< die >Schwarze Hand<. Aber Mao hatte erklären lassen: »Die >Schwarze Hand<, das bin ich!« Hatte er es wirklich selbst erklärt? Schwer für mich, das zu entscheiden. »Er ist alt geworden«, sagte Tschiang Tsching mit dem Ausdruck tiefen Bedauerns,
»und
so
krank«.
Eine
hervorragende
schauspielerische Leistung: sie mußte die runde stahlgefaßte Brille abnehmen und sich die feuchten Augen betupfen. »Tragisch«, murmelte ich und gab mir Mühe, betroffen zu erscheinen. Es fiel mir nicht allzu schwer, denn es ergaben sich aus dem, was Tschiang Tsching mir anvertraute, in der Tat komplizierte Fragen. Was wurde aus meinem Job in Peking, wenn es den Steuermann nur noch als aktionsunfähigen Kranken gab? Übertrieb die Frau? Andrerseits hatte ich noch in Erinnerung, daß er mich vor einiger Zeit bereits mit Rittenberg verwechselt hatte. Mich! Ich baute darauf, daß sich vorerst nichts weiter änderte, niemand würde den Mut haben, zu Lebzeiten Maos dessen durch die Kulturrevolution erneut umfassend gewordene Richtlinien-Kompetenz anzutasten. Inzwischen war es wohl ratsam, wenn ich weiter mit Kang Sheng,
den Maos Frau zum Zeichen der Verehrung >Lao Kang< nannte, aushandelte, was für uns auszuhandeln war und versuchte, das Beste herauszuschlagen. Wem anders als Kang Sheng konnte Mao nach Lage der Dinge die Aufgabe übertragen haben, mit uns in Verbindung zu bleiben! Wenn man Tschiang Tsching glauben wollte, dann gab es ringsum heimtückische, heuchlerische Feinde, die sich als Freunde gebärdeten. Ich beschloß, einen Test zu machen, der mir über ihr Verhältnis zu Kang Sheng etwas eindeutiger Aufschluß geben sollte. Deshalb erwähnte ich, während wir von dem scharf gewürzten Fleisch aßen, daß ich Kang Sheng lange nicht gesehen hatte, er sei wohl ebenfalls krank. Sie wiegte den Kopf. »Ganz gesund ist er nicht. Es plagen ihn einige Dinge, gegen die man in seinem Alter wenig tun kann. Das Herz. Die Gefäße. Die Leber. Sie kennen das ja, wir alle sind nicht geschont worden, und heute spüren wir die Folgen. Nun — Lao Kangs Gesundheit ist für mich entscheidend, immerhin ist er mein engster Kampfgefährte ...« So war das: jeder hatte seinen engsten Kampfgefährten. Für Mao war es — wenigstens offiziell immer noch — Lin Piao, für seine Frau Kang Sheng, für Tschou En-lai wohl Deng Hsiaoping. Gruppierungen ... Holly hatte mich beauftragt, etwaige Machtverschiebungen aufmerksam zu verfolgen. Nun, hier gab es ebenso wenig
abgeschlossene
Verschiebungen
wie
endgültig
geklärte
Verhältnisse. Würde der Parteitag sie bringen? Als ich Tschiang Tsching vorsichtig danach befragte, gab sie mir eine wenig befriedigende Antwort, aus der ich im Grunde nur ihre Abneigung gegen die Wiederbelebung der Partei entnehmen konnte: »Ich hoffe, wir können erreichen, daß man eine weitere Abgrenzung gegen die modernen Revisionisten beschließt. Aber Klarheit wird es nur in sehr wenigen Fragen geben können, die Revolution muß weitergehen. ...« Kang Sheng, so schien es mir, lieferte dieser ehrgeizigen Schauspielerin das, was sie ohne ihn nicht hatte — eine bewaffnete Hausmacht. Das waren die Polizei, Miliz, die Sicherheitstruppen mit ihren unzähligen Möglichkeiten legaler und nicht legaler Art. Würde Kang Sheng sie uneigennützig als >engster
Kampfgefährte«
weiter
an
Tschiang
Tsching
ausleihen? Oder beanspruchte er, ohne das schon laut werden zu lassen, für sich selbst die letzte Entscheidung? In jedem Falle blieb er für mich die einzig kompetente Kontaktperson, insofern würde sich nichts ändern, und das konnte ich auch Holly mitteilen. Nach einer Weile entschloß ich mich, Tschiang Tsching auf eine Formulierung aus den Veröffentlichungen über die 12. Plenarsitzung hinzuweisen, um vielleicht noch etwas mehr Aufschluß über die Kernfrage aller unserer Überlegungen zu
gewinnen. Es war gesagt worden, und man schrieb diesen Ausspruch Mao selbst zu, daß die Sowjetunion China mehr bedrohe, als die Vereinigten Staaten das täten. Was steckte hinter dieser Formulierung? »Das Zitat ist richtig«, bestätigte Tschiang Tsching. »Aber ich habe damit nicht übereingestimmt. Ich habe verlangt, daß man die beiden imperialistischen Supermächte als gleich gefährliche Gegner behandelt. Nun, ich bin zurückgewiesen worden, Lin Piao hat sich durchgesetzt.« Mir war das unklar. Von Lin Piao nahmen wir an, er habe zu den USA ein sehr gebrochenes Verhältnis. Aber Tschiang Tsching schüttelte den Kopf. »Obwohl das so ist, ja, ist es doch wiederum auch nicht so!« »Aha!« machte ich. Was sollte ich zu dieser rabulistischen Äußerung schon weiter sagen! »Sie verstehen nicht, was ich meine?« »Nein«, gab ich zu. Der Weißgekleidete erschien mit dem Nachtisch. Eine riesige Schale
voller
frisch kandierter
Apfelspalten. Dazu weißen Wein, der in der letzten Zeit in der Pekinger Gegend angebaut wurde. Eine Weile beschäftigten wir uns damit, die von klebrigem, heißen Zuckersirup umhüllten Apfelspalten aus der Schale zu fischen, sie geschickt zu drehen, so daß die feinen Zuckerfädchen sich anlegten, sie dann im kühlen Wein sozusagen abzuschrecken, wobei der Zucker hart
wurde und man sie zerbeißen mußte — ein Genuß, heißes Apfelfleisch in kalter, süßer Schale! Ich hatte manchmal im Herbst meine Gäste damit bewirtet, wir hatten Stunden bei dieser Mischung von Spiel und Essen verbracht. »Wir haben uns in der Sache, von der Sie reden, auf einen Kompromiß einigen müssen, Kamerad Robbins. Natürlich bedrohen die Amerikaner mit ihrem Krieg in Vietnam unsere Südgrenzen im gewissen Sinne. Und die Revisionisten bedrohen unsere Nordgrenzen, obwohl sie das leugnen. Trotzdem — der Vorsitzende hat lange mit Tschou En-lai beraten, ehe wir zweierlei taten: Wir ließen den Vorsitzenden einerseits erklären, daß sie Sowjets uns mehr bedrohen als die USA. Andrerseits erläuterten wir eingehend, daß die beiden Supermächte zwecks Aufteilung der Welt, also auch Chinas, zusammenarbeiten. Das zwingt uns zu einem Zweifrontenkampf, den wir zwar nicht wollen, den aber China allein nicht beenden kann. Es ist bekannt, daß wir den USA die Normalisierung der Beziehungen angeboten haben, die Wahl liegt also bei den USA. Wir mußten das so formulieren, um sehr unterschiedliche Ansichten in dieser Frage überhaupt vereinen zu können.« Ich hatte das bereits bei Erscheinen der Pressemitteilung vermutet, trotzdem gab mir ihre Interpretation jetzt die Chance, sie zu fragen: »An die Sowjets haben Sie kein derartiges Angebot zur Normalisierung der
Beziehungen ergehen lassen, oder?« Sie lachte schallend! »Mit diesen neuen Zaren kann man keine normalen Beziehungen haben, Kamerad Robbins. Man muß sie allseitig isolieren!« Worin ich ihr zustimmte. Wir aßen noch frische Früchte, die der Servierer brachte. Völlig allein waren wir in dem riesigen Restaurant. Es diente offenbar nur noch für private Empfänge Tschiang Tschings. Sie war guter Laune jetzt, sie nahm sich viel Zeit, um mir die Bedeutung des Parteiausschlusses von Liu Shao-tschi zu erklären, durch den der revolutionäre Flügel, wie sie meinte, endlich freie Hand erhalten habe, und sie erläuterte mir das neue Statut der Partei, das im Entwurf bereits vorlag, hauptsächlich von Tschen Po-ta erarbeitet, wie sie anmerkte, der direkt die Gedanken des Vorsitzenden darin zum Ausdruck gebracht habe. »Die Ideen Mao Tse-tungs sind darin völlig richtig als der Marxismus-Leninismus unserer Epoche deklariert worden. Sie werden das ideologische Fundament unserer Partei sein, nicht irgendwelche ausländischen revisionistischen Theorien. Alles, was von Marx oder Lenin kommt, muß man überhaupt mit großer Vorsicht filtern, bevor es für uns brauchbar wird. Es enthält den ganzen Unrat der europäischen Pseudo-Zivilisation und des russischen Zarentums, wir müssen sehr vorsichtig damit
sein.« »Der Wiederaufbau der Partei wäre doch«, fühlte ich vor, »im Interesse der Kulturrevolution überhaupt am besten vermieden worden, nicht? Oder aufgeschoben?« Sie wiegte den Kopf. Machte ein so ernstes Gesicht, daß sie mich wiederum an ihren einstigen Beruf erinnerte: Lan Ping in der Rolle der Denkerin. Schließlich gestand sie mir: »Ich
habe
die
Meinung
vertreten,
daß
die
Rebellenorganisationen, die sich im Kampf gestählt haben, sehr gut in der Lage sind, Basisdemokratie auszuüben und damit die stets vom Revisionismus bedrohte Partei überflüssig machen. Aber ich bin überstimmt worden. Obwohl man mein Argument nicht eindeutig widerlegen konnte. So gab es wieder einmal einen Kompromiß. Wir werden die Partei neu begründen, und zwar nach der Losung des Vorsitzenden >Fort mit dem Abfall, her mit frischem Blut für unsere Reihen!< Gleichzeitig aber hat der Vorsitzende festgelegt, daß wir in bestimmten Abständen immer wieder neue Kulturrevolutionen durchführen werden, nach vier oder fünf Jahren, je nachdem, wie sich die Notwendigkeit
ergibt,
nachgewachsene
Revisionisten
auszurotten. Die Organe dafür bleiben erhalten. Die neue Partei wird sich also vor uns zu hüten haben!« »Trotzdem gehen die meisten Rebellen jetzt erst einmal aufs
Land?« Sie lächelte hintergründig. »Sie werden voller revolutionärem Zorn zurückkehren.« »Wie geht es Tschou En-lai?« fragte ich, das Thema wechselnd. Ich wollte mir unauffällig Aufschluß über ihre Einstellung zu einem weiteren Problem verschaffen. »Nicht so gut, wie er es sich wünscht«, gab sie reserviert zurück, aber sie konnte nicht der Versuchung widerstehen, anzumerken: »Bis auf gelegentliche Differenzen bin ich mit ihm einig, wir unterscheiden uns weniger in den Prinzipien, mehr in den Methoden. Aber — er hat sich uns gegenüber stets loyal benommen ...« »Auch damals, als diese Geschichte mit der britischen Botschaft passierte?« Ich hatte auf die Chance gelauert, die Frage überraschend abzuschießen. Über diese mysteriöse Sache, in der eine bestimmte Rebellenorganisation eine Rolle gespielt hatte und in die Rittenberg, Epstein und mancher andere Ausländer verwickelt gewesen waren, hatte ich bereits eine Menge Einzelheiten für Holly zusammengetragen. Nun fügte es sich, daß die oberste Rebellenführerin mir weiteren Aufschluß geben könnte. Ich hörte aufmerksam zu, wie sie mir von Beginn an schilderte, was sich da ereignet hatte. Wir erhoben uns von unseren Plätzen im leeren Restaurant und spazierten durch die Arkaden, während sie mich ins Bild setzte, wir bestiegen ein
Boot, das uns zum Nordufer brachte, ins ehemalige Pionierhaus, wo Tschiang Tsching mich zum Tee einlud in ein kleines Büro, das sie dort hatte. Und immer noch erzählte Tschiang Tsching von den verräterischen Ausländern um Rittenberg, dem Erzverräter und Spion (!), vom Sturm auf die britische Botschaft,
der
Besetzung
des
Außenministeriums,
der
tagelangen Festsetzung Tschou En-lais in seinem Büro. Mein Tonband lief und zeichnete auf, was sie sagte. Ich würde es später mit anderen Erkenntnissen vergleichen, bevor ich die Sache für Holly aufbereitete. Dies war doch kein so verlorener Tag, im Gegenteil! Während wir noch Tee mit Päonienblüten tranken, rief Kang Sheng an, der wohl wußte, daß ich bei Tschiang Tsching zu Besuch war. Ob ich am Nachmittag noch seine Einladung zu einem kurzen Gespräch annehmen würde? Ich sagte selbstverständlich zu. Wenig später hatte ich über die Ereignisse um das Außenministerium im vergangenen Frühjahr über die offiziell großes Schweigen herrschte, und die nirgends überhaupt kommentiert wurden, so vieles erfahren, daß mein Bild sich abrundete. Holly würde zufrieden sein können. »Was ist denn?« fragte Tschiang Tsching unwillig, als eine junge Rebellin eintrat. Das Mädchen erkundigte sich sehr zaghaft, ob inzwischen eine Entscheidung über Hsu Kuang-ping gefallen sei, das Blatt müsse zur Druckerei, und man sei sich
nicht schlüssig. Ich konnte zunächst mit dem Namen nichts anfangen, aber aus dem weiteren Gespräch entnahm ich, daß es sich um die Witwe Lu Hsuns handelte, des geschätzten realistischen Dichters, der 1936 gestorben war, und dessen hochpolitische, von
vielen
Revolutionären
geliebten,
zuweilen
beißend
satirische Arbeiten jeder Gebildete in China kannte. Mao Tsetung hatte Lu Hsun oft als Vorbild für andere Autoren gepriesen. Eine Zeitlang war er als der Gorki Chinas bezeichnet worden. Irgendwo hatte ich nach der Befreiung gelesen, daß seine Witwe in Shanghai lebte, mit einem Sohn Lu Hsuns, der studierte. Sie selbst arbeitete nicht auf dem Gebiet der Literatur, war wohl auch nicht bei der Neuordnung und Herausgabe der Werke ihres verstorbenen Gatten tätig gewesen, sie wurde lediglich als seine Witwe erwähnt. Später hörte ich nie wieder etwas von ihr. Hier tauchte plötzlich ihr Name auf. »Wir bleiben bei der verabredeten Version«, bellte Tschiang Tsching das Mädchen an, offenbar die Redakteurin eines zentralen Rebellenblattes, das in Druck gehen sollte. »Wie oft muß ich noch wiederholen: Es war Dschou Yang, der die schwarzen Elemente provokatorisch auf sie hetzte. Er hat immer gegen Lu Hsun intrigiert, er kritisierte ihn, machte seine Arbeiten schlecht, obwohl er in der Öffentlichkeit immer den
Eindruck erwecken wollte, er sei Lu Hsuns Verehrer. Vor einem Jahr dann nahm er seine Chance wahr, und er ließ Kuang-ping töten. Das ist alles. Wir ehren ihr Andenken. Mehr ist nicht zu sagen!« »Aber«, das Mädchen zögerte. »Dschou Yang ist zu dieser Zeit schon geschlagen gewesen, er hatte gar keine Möglichkeit mehr, das zu tun ...« »Ach was!« wies Tschiang Tsching den Einwand brüsk zurück. »Wenn wir erklären, Dschou Yang hat sie auf dem Gewissen,
wird
niemand
es
wagen,
unsere
Worte
anzuzweifeln!« Ob etwas über ihre persönliche Freundschaft in den Artikel solle, wollte das Mädchen wissen. Tschiang Tsching bejahte das eifrig. »Natürlich! Wir kannten uns im alten Shanghai schon. Das ist es ja gerade: bereits damals setzte uns dieser Dschou Yang zu, mit seinen abfälligen Kritiken, mit seiner Abwertung unserer Kunst als sogenannten Durchschnitt! Da fing es an! Das alles muß in den Artikel!« Das Mädchen bemerkte schüchtern: »Eines von diesen illegalen, revisionistischen Flugblättern behauptet, Hsu Kuangping sei noch wenige Tage vor ihrem Tode von Tschiang Tsching besucht worden, und ... erpreßt. Ich zitiere nur, die Sache ist ziemlich verbreitet ...«
»Weiter!« forderte Tschiang Tsching mit schneidender Stimme. Das Mädchen nahm ihr Notizbuch zu Hilfe und las vor: »Tschiang Tsching, so heißt es dort, wollte Hsu Kuang-ping erpressen, sich für die sogenannte Kulturrevolution persönlich zu engagieren. Sie wollte Lu Hsuns großes Ansehen dafür mißbrauchen.
Aber
Hsu
Kuang-ping
stellte
ihrerseits
Bedingungen: Ting Ling und einige andere, inzwischen verbannte Schriftsteller waren Schüler Lu Hsuns und Freunde der Familie gewesen, man müsse sie völlig rehabilitieren, bevor sie auch nur ein Wort sage. Man müsse außerdem alle jene Arbeiten von Lu Hsun, die seit der Befreiung nicht mehr gedruckt werden durften, endlich veröffentlichen. Daraufhin, steht hier, brach Tschiang Tsching den Versuch ab, die Witwe zu gewinnen. Wenige Tage später erschien eine Gruppe Rebellen, die eindeutig auf Tschiang Tschings Weisung operierte, und demolierte das Haus Kuang-pings. Die Witwe selbst starb dabei. Wie im Falle Lao Shes, wurde es als Selbstmord deklariert, aber Eingeweihte wissen, daß die Frau langsam totgeschlagen wurde ... Genossin Tschiang Tsching, das Flugblatt ist so stark verbreitet, wir können es nicht ignorieren ...« »Und woher wollen diese Revisionistenschweine das so
genau wissen? Sie waren nicht dabei! Nein, wir lassen uns nicht beirren: Ich bin auf ihren Ruf hin zu ihr geeilt, sie war leidend, ich habe ihr Hilfe versprochen, Lao Kang hat sich um ihren Sohn gekümmert, beim Rundfunk, und ich habe nach einer Möglichkeit gesucht, ihr zu helfen. Da ist diese schwarze Gruppe von Dschou Yangs Verbrechern zu ihr gegangen, um die Kulturrevolution zu diskriminieren! Als ich es erfuhr, war es schon zu spät! Warst du dabei?« »Ja«, sagte das Mädchen kleinlaut, mit gesenktem Kopf. Es war ihr anzusehen, daß ihr der Schwindel nicht behagte. »Also!« Tschiang Tschings Hand fegte gleichsam die letzten Bedenken mit einer schnellen Bewegung fort. »Ein Verbrechen Dschou Yangs. Er muß dafür büßen. Auch der Vorsitzende weiß davon. Dabei bleibt es!« Sie grollte, nachdem das Mädchen gegangen war: »Jeder glaubt heute, alles behaupten zu können, was er will! Aber, soweit sind wir noch nicht, nein, was die Wahrheit ist, bestimmen immer noch wir! Möchten Sie noch Tee, Kamerad Robbins?« Ich hatte nach der Stippvisite in ihrem Hauptquartier zwar nichts Umwerfendes für unsere Zwecke erfahren, aber immerhin war mir ein weiterer Einblick in den Mechanismus dieser seltsamen Revolution gelungen. Tschiang Tsching verabschiedete sich äußerst herzlich von
mir, sie verzog ihr Gesicht zu einer von Falten und Fältchen förmlich übersäten Fläche und hauchte mir ins Ohr, Kang Sheng habe, wie sie seit einigen Tagen wisse, ganz enorm Bedeutsames mit mir zu bereden. Der gute Lao Kang rechne stark auf mich, ich solle alles tun, um ihn nicht zu enttäuschen. Es seien weltverändernde Dinge, die sich da anbahnten ... Die Drachenlady, wie sie zuweilen im Volksmund genannt wurde, gefiel sich in geheimnisvollen Andeutungen. Zuvor hatte sie mir abgeraten, einen Besuch bei Mao zu versuchen — er sei nur sehr begrenzt belastbar. War es schon so, daß er von allen möglichen Leuten abgeschirmt wurde, nur um nicht etwa deren Konzept zu verderben?
»Es tut mir leid, daß ich Sie so kurzfristig bemühen muß«, entschuldigte sich Kang Sheng mit seinem stets etwas verkniffen wirkenden Lächeln, bei dem sein Schnurrbart sich an den Enden abwärts krümmte. Er wirkte weitaus beweglicher als Mao. Aber sein Gesicht war eingefallen, es wies eine ins Graue fließende Hautfarbe auf. (Sandy, der ich einmal davon erzählte, hatte mich aufmerksam gemacht, daß Krebskranke oft so aussehen, schon in einem relativ frühen Stadium ihrer Erkrankung!) Während ich höflich seine Entschuldigung als
unnötig bezeichnete, weil es mir eine Freude sei, ihn wieder einmal zu treffen, griff er in einen sehr alten Wandschrank, dessen Türen nicht nur außen, sondern auch innen mit Schildpatt belegt waren, und zog eine Flasche holländischen rosa Gin hervor, was einerseits von seiner Gastfreundlichkeit zeugte, andrerseits aber auch seine absolute Unkenntnis der Trinksitten solider Ausländer verriet. Ich konnte das Angebot schlecht ablehnen, er würde es als Zurückweisung empfinden, weil er wußte, daß ich kein Antialkoholiker war. Wen sollte ich schon dafür beschimpfen, daß der Geheimdienstchef des größten Landes Asiens mir zumutete, meinen Geschmack mit diesem Gesöff zu traktieren! »Bitte, aber nur einen sehr kleinen!« gab ich ihm zu verstehen. Er goß selbst ein, für sich ein Mineralwasser. Kein Hausdiener war zu sehen, keine Frau, es war totenstill in dem von einer hohen Mauer umgebenen Haus, dessen Anlage meiner Wohnstätte in der Ping Tjiao Hutang stark ähnelte, nur war dieses Haus weit luxuriöser eingerichtet, mit teuren Möbeln und schweren Teppichen, uralten Rollbildern und ganzen Tischen voller Cloisonnevasen, Porzellanfiguren, Buddhas aus Bronze und all dem Tand, den man in sehr teuren Antiquitätenläden vor der Kulturrevolution hatte kaufen können. Hier, in dem zwar dem meinen ähnlichen, aber viel größeren Haus Kang Shengs,
nördlich des Be Hai, in der Nähe des alten Trommelturmes, von dem aus noch vor etwas mehr als hundert Jahren die Stunden ausgetrommelt
worden
waren,
hatte
es
wohl
keine
Durchsuchung gegeben, keine Aktion roter Rebellen gegen >alte, schwarze Gewohnheiten«. Im Garten, den ich durch das Fenster betrachten konnte, stand eine Staffelei mit einem halbfertigen Ölbild: Blumen. Ob der Hausherr selbst diesem bourgeoisen Hobby frönte? »Machen Sie es sich bequem, Kamerad Robbins«, forderte er mich auf, »ich werde Sie nicht allzu lange aufhalten, werde aber nichtsdestotrotz einige sehr wichtige Dinge mit Ihnen bereden ...« Er gab mir Papier und
Sehreibzeug,
machte mich
aufmerksam, daß ich keine vorgefertigten Informationen von ihm erhalten würde, sondern einige mündliche Fragen, die ich >mit meinen Dienstvorgesetzten«, wen immer er sich darunter vorstellte, besprechen sollte. Im übrigen, so habe er aus sicherer Quelle
erfahren,
hielte sich
in
Hongkong
bereits
ein
Sonderbeauftragter der neuen US-Regierung auf, dessen Auftrag es sei, für die von Präsident Nixon und dessen engsten Mitarbeitern verschiedentlich in der Öffentlichkeit bezeigte Bereitschaft zur Gesprächsaufnahme mit China geeignete Vorbedingungen zu schaffen.
»Das ist mir neu«, entgegnete ich. Es war in der Tat die Überraschung des Tages. Kang Sheng nickte verständnisvoll und ließ durchblicken, daß seine Verbindungen in Hongkong sehr weit reichten. Wenn ich ihm zuhörte, konnte ich aus dem Fenster sehen, über die Malstaffelei hinweg, zum Houhai, dessen leicht gekräuselte Wasseroberfläche davon zeugte, daß ein bißchen Frühlingswind aufgekommen war. Kang Sheng wohnte in einer der idyllischsten Gegenden des alten Pekings. Scheschahai, das Gebiet dreier miteinander verbundener Seen, an deren Ufern malerische Tempel und Pavillons standen, umgeben von riesigen Trauerweiden, war ein beliebter Ausflugsplatz gewesen, bevor man Teile davon absperrte, weil sich hier einige jener hohen Staatsfunktionäre ansiedelten, die im Tschung Nan Hai keinen Platz mehr gefunden hatten. »Wie kann sich die Situation in Ihrer Dienststelle verändern, durch den Tod von Mister Dulles?« wollte Kang Sheng wissen. Ich hatte aus dem Rundfunk gehört, daß Allen Welsh Dulles, der onkelhafte alte Herr mit der Pfeife, vor etwa vier Wochen gestorben war, aber da er ohnehin schon seit dem kubanischen Desaster zurückgezogen gelebt hatte, würde sich aus seinem Tode kaum eine nennenswerte Veränderung ergeben. Kang Sheng wendete ein: »Er schien aber von Mister
McCone und dessen Nachfolger, Mister Raborn, immer noch häufig konsultiert zu werden ...?« »Nun ja, er hatte Erfahrungen. Zu bestellen hatte er wohl nichts mehr. Mister Helms, seit etwas mehr als zwei Jahren unser Chef, ist ein altgedienter Mann, ich bin überzeugt, seine Entscheidungen hat er stets allein getroffen.« Kang Sheng machte es offensichtlich von Zeit zu Zeit Spaß, mich durch Detailkenntnisse zu beeindrucken. Er erzählte mir, er wisse alles über die Persönlichkeiten an der Spitze der CIA. Mister Helms, so machte er mich aufmerksam, habe in der Schweiz und in Deutschland an erstklassigen Schulen studiert, auch in den USA. Zwei Jahre nach der Machtergreifung des Herrn Hitler war er als Korrespondent für die Scripps-HowardPressekette nach Berlin gegangen, wo es ihm übrigens gelungen sei, ein Interview mit diesem Hitler zu machen. Bei Kriegsausbruch war er zur Marine gekommen, von wo ihn Donovan dann zum OSS holte, um ihn — gemäß seinen hervorragenden Vorkriegskenntnissen — gegen Deutschland anzusetzen, von England aus. In der Phase der Ungewißheit, zwischen der Auflösung des OSS und der Gründung der CIA war Helms im US-Besatzungsgebiet in Deutschland tätig gewesen. Im Zuge der Umbesetzungen nach der mißglückten Kuba-Invasion war er dann Planungschef der Agentur
geworden, daß er sie eines Tages leiten würde, war damals schon zu erwarten gewesen. »Wir wissen, daß er Senatoren gegenüber erklärt hat, der Vietnam-Krieg, wie die USA ihn gegenwärtig führen, könne noch 100 Jahre dauern. Sind Sie in der Lage, das zu erläutern?« »Nein«, gab ich zurück. »Dazu bin ich außerstande. Ich müßte zu Hause um Aufschluß bitten.« Er überlegte einen Augenblick lang, dann nickte er mir freundlich zu. »Tun Sie das, bitte. Ohne es dringlich zu machen. Und finden Sie heraus, was es mit der von der CIA verbreiteten Anschauung zu tun hat, daß die Theorie irrig ist, nach der ein Sieg der Kommunisten in Vietnam automatisch ganz Asien Moskau ausliefern würde. Verstehen Sie mich recht, es kommt mir lediglich darauf an, festzustellen, ob die Vorstellungen der CIA sich tatsächlich in so entscheidenden Fragen wie dieser mit den unsrigen decken. Das bezieht sich auch auf die nach unseren Informationen in der CIA vorherrschende Meinung, daß die Bombenangriffe auf NordVietnam sinnlos sind, weil sie weder ökonomisch noch psychologisch Resultate zeitigen. Und ob die Agentur wirklich der Ansicht ist, es war falsch, US-Truppen in einem Dschungelkrieg in Asien zu engagieren. Wenn wir nämlich in diesen Fragen übereinstimmen sollten, dann hilft das. zumal die
CIA auch noch die Meinung vertritt, China führe in Vietnam keinen Stellvertreterkrieg gegen die USA. Das wäre die Basis, miteinander über weit wichtigere Fragen ins Gespräch zu kommen ...« Ich machte mir ein paar Notizen. Es sah so aus, als ob Kang Sheng wünschte, daß ich nach Hongkong reiste. Als ich mich danach erkundigte, gestand er diesen Wunsch beinahe verlegen ein und knüpfte daran die Frage: »Würden Sie ohne Verzögerung reisen können?« »Ich würde meine Frau mitnehmen«, setzte ich ihn in Kenntnis. »Wir haben bei meinem Schwiegervater den fünfundsiebzigsten Geburtstag zu feiern, in diesem Sommer ...« Die Erleichterung war ihm anzusehen. Er beglückwünschte mich zu so alt und weise gewordenen Verwandten. Es schien ihm viel daran zu liegen, daß ich so bald wie möglich Verbindung mit der Agentur aufnahm. Und mit jenem seltsamen >Sonderbeauftragten<, von dessen Existenz ich noch nichts wußte. Dann zitierte er mir ganz genau die Passage aus Präsident Nixons Miami-Rede, wo dieser gesagt halte, selbstverständlich würde er zum Zwecke der Verständigung nach China reisen, wenn man ihn einreisen lasse, er würde es auch als Tourist tun, wenn man ihn als Präsidenten nicht haben wolle. China sei
interessiert, zu erfahren, inwieweit dies ernst zu nehmen sei. »Ich werde Zeit brauchen, das zu eruieren«, beugte ich vor, denn ich fürchtete, daß Holly mir gar nichts weiter würde sagen können, bevor er Antworten aus Langley erhielt, und Antworten aus Langley ließen meist lange auf sich warten. Kang Sheng drängte nicht, er machte mich aufmerksam: »Wir wollen nichts unzuträglich forcieren, Kamerad Robbins. Nur — wir haben den Eindruck, daß sich erstarrt gewesene Fronten auf Ihrer Seite zu bewegen beginnen. In eine gute Richtung. Dazu möchten wir unseren Beitrag leisten. Wir sind uns völlig darüber klar, daß es bei den USA und China um zwei große Staaten geht, die gleichermaßen bemüht sein müssen, ihr eigenes Gesicht und das Gesicht des anderen zu wahren. Deshalb sollten Sie sich Zeit nehmen ...« Er schob mir die Januarausgabe unserer Zeitschrift >Foreign Affairs< zu, wo in einem Artikel eines Henry Kissinger eine Stelle unterstrichen war. Der Autor unterschob den Sowjets die Absicht, in China militärisch intervenieren zu wollen, was einen heißen Krieg zwischen Moskau und Peking durchaus möglich erscheinen lasse. Ich überlegte noch, wo ich den Namen gehört hatte, als Kang Sheng mich höflich aufmerksam machte: »Es handelt sich um einen ehemaligen Harvard-Professor der Politikwissenschaften. Präsident Nixon hat ihn zu seinem
Sicherheitsberater gemacht. Uns wäre daran gelegen, daß dieser Mister Kissinger erfährt, wie ähnlich wir selbst die Lage beurteilen. Er hat übrigens bereits vor einem halben Jahr, als er noch für Herrn Nelson Rockefeller arbeitete, eine Rede für diesen ausgearbeitet, in der sich ein äußerst interessanter Gedanke findet, wie wir erfahren haben ...« Er griff lächelnd
in eine Mappe und
brachte ein
Manuskriptblatt zum Vorschein, von dem er ablas: »Ich würde einen Dialog mit dem kommunistischen China beginnen. In einem subtilen Dreieck von Beziehungen zwischen Washington, Peking und Moskau könnten wir die Möglichkeiten der Verständigung mit jeder dieser Mächte verbessern, und dabei erhöht sich auch noch die Zahl der Alternativen, die uns im Umgang mit beiden zur Verfügung stehen...« Kang Sheng blickte auf und rückte seine Brille zurecht. Er spitzte die Lippen und sagte belustigt: »Dieser Mister Professor Kissinger könnte ein Chinese sein, so genau begreift er das, was wir
uns
seit
langer
Zeit
bemühen,
einer
verstockten
Administration in den USA begreiflich zu machen. Wir sind genau dieser Meinung!« Und ich Naivling hatte mich für hervorragend informiert gehalten! Hatte hier und da dieses oder jenes erfahren, was ich zu deuten versuchte, als Positivum oder als zerstörendes
Element!
Kang
Sheng,
der
Altmeister
der
geheimen
Manipulationen Chinas, bewies mir mit zurückhaltender Höflichkeit, daß er immer noch die besseren Nachrichtenquellen als ich hatte. — »Wir sind zu einem Dialog in dem von Herrn Kissinger angedeuteten Sinne bereit, Kamerad Robbins«, sagte Kang Sheng. Er erhob sich aus dem bequemen alten Rotholzsessel, in dem er sich weit zurückgelehnt hatte, und ging hin und her auf einem Teppich mit dem Zeichen >Doppeltes Glück<. Seine Füße versanken bis an die Knöchel darin. »Wir sind bereit, über Verfahrensweisen zu verhandeln. Keiner darf brüskiert werden. Zwei gleichrangige Anlieger des Pazifiks treffen sich. Jede Art Entgegenkommen für Ihren Präsidenten. Wir schlagen vor, daß wir einen Strich unter die Vergangenheit machen. Wir wollen neu beginnen. Ganz von vorn. Das Ziel muß sein, uns über das zu einigen, was zur Einigung drängt, und die unlösbaren Fragen vorerst auszuklammern. Aufzuschieben. Werden Sie das Ihren Vorgesetzten mitteilen? Einschließlich Herrn Kissinger?« »Aber selbstverständlich!« »Als mündliche, und trotzdem nicht weniger authentische Nachricht. « »Ja«, sagte ich. Er hob die Hand. Blieb vor mir stehen, überlegte eine Weile und sagte dann, jedes Wort sorgsam
abwägend: »Wir werden im April unseren Parteitag abhalten. Ein Ereignis, das die Wege für lange Zeit abstecken wird. Aber — noch vor diesem Ereignis wird die Überlegung des Herrn Professors Kissinger, nach der wir von Norden her bedroht sind, auf eine nicht zu übersehende Weise ihre Bestätigung finden. Unsere Partner in den Vereinigten Staaten sollen dann staatsmännisches Kalkül beweisen, in der Praxis. Wir werden jedes Signal, das sie uns geben, mit einem unsrerseits gegebenen Signal beantworten. Kann ich mich darauf verlassen, daß unsere Partner dies übermittelt bekommen?« »Ich werde es übermitteln.« »Und ich werde auf eine Botschaft warten.« Am Abend empfing ich Sandy, die müde von der Arbeit im Hospital heimkam, mit einer Umarmung an der Gassentür. »Himmel«, staunte sie, »was ist es? Der Frühling? Oder hast du eine Porzellanvase umgeworfen?« Sie wollte es nicht glauben, daß wir, wenn uns daran lag, noch in derselben Woche aufbrechen konnten nach den Inseln.
Bericht: Aktivitäten der Einheit 516 (besser: 16. Mai), Ereignisse
um das Außenministerium der VR, Rolle des >BethuneRegiments<.
1.
Gruppe 516 (benannt nach dem Datum 16.5.1966, dem
Tag, an dem Mao Tse-tung seine Weisung zur Bildung einer >wahrhaft erließ,
revolutionären
entstand
parallel
Zentralgruppe zu
anderen
Kulturrevolution< Fraktionen
und
Rebellengruppen Anfang 1967, im Rahmen der üblichen Bildung von >Rebellengruppen gegen alte und schwarze Gewohnheiten<. Mitte August (Beginn am 17.) besetzten Jugendliche der Gruppe 516 im Handstreich das Außenministerium. Hilfe bekamen sie von Yao Deng-shan, der die >linken Rebellen< innerhalb des Ministeriums anführte. (Zur Person: Yao Dengshan war während des Putsches der indonesischen Generäle, 1965, Angehöriger der Botschaft Chinas in Djakarta gewesen. Um ihn wurde eine Heldenlegende gehoben, weil er bei einem Angriff indonesischer Rowdys auf die Botschaft die Fahne der Volksrepublik verteidigt und sie später — blutbefleckt — nach China zurückgebracht hatte. Ich selbst sprach an einem Tage, an dem Yao Deng-shan mit Mao zusammen in der Jenminshibao abgebildet war, mit Rittenberg. Dieser teilte mir mit, Yao werde früher oder später den Außenminister Tschen Yi ablösen, der ein
böser Revisionist sei. Yao Deng-shan übernahm an jenem 17. August dann auch die Geschäfte des Ministers. Als erstes schickte er an alle Vertretungen im Ausland die Aufforderung, die >kulturrevolutionäre Ausstrahlung< zu verstärken. Das Archiv
wurde
den
Rebellen
von
>516<
geöffnet,
Geheimdokumente verschwanden. Tschen Yi aber, dem man vor ein großes Tribunal hatte stellen wollen, war nicht zu finden. Tschou En-lai hatte ihn zu sich geholt, um ihn zu retten. 2.
Sidney
manipulierte,
Rittenberg, in
der
das
stillschweigender
>Bethune-Regiment< oder
verabredeter
Aktionseinheit mit Tschiang Tsching, war um die Zeit, als sich die Auseinandersetzung um das Außen-ministerium zuspitzte, de facto der einflußreichste Mann bei Radio Peking. Vom Chef des englischsprachigen Programms hatte er es durch geschicktes Ausnutzen
von
Chancen
und
Anpassung
an
jeweils
übergewichtige politische Strömungen verstanden, in das dreiköpfige Führungsgremium aufzusteigen, eine für einen Ausländer schwindelerregende Karriere. Offenbar wollte er seinen Einfluß an der Seite Tschiang Tschings ausüben, vor allem gegen Tschou En-lai, Tschen Yi und andere Gemäßigte. Er führte die Rebellengruppe der Ausländer bei den Aktionen gegen das Außenministerium, gegen Tschou En-lais Büro und bei der Zerstörung der britischen Botschaft. Vorher hatte er,
vornehmlich
für
die >516< und
>Bethune< eine
Art
Symbolfigur aufgebaut: Tschen Li-ning. Dieser Mann in mittleren Jahren war in einem Heim für Geisteskranke gewesen, dort hatte ihn jemand >entdeckt<. Tschen Li-ning hatte über Jahre die Bücher und Reden des Staatspräsidenten Liu Shao-tschi einer — wie man es plötzlich nannte — wissenschaftlichen Analyse unterzogen und dem Staatsoberhaupt auf vielen Manuskriptseiten nachgewiesen, daß er von jeher ein Schuft
und Verräter gewesen war.
(Jenminshibao schrieb: >Eine Leistung, die in die Geschichte eingehen wird!<) Die
Gruppe
516
und
Rittenbergs
Bethune-Regiment
veranstalteten sensationell angekündigte Meetings, in denen Tschen Li-ning Reden hielt. Er wurde als Genius bezeichnet, den Lius revisionistische Clique in eine Anstalt gesperrt hatte, weil sie ihn fürchtete, jetzt aber könne er seine immensen Geistesgaben endlich frei entfalten. Viele meiner Bekannten hatten den Eindruck, daß Rittenberg sich am äußersten linken Rand der Bewegung hielt, daß er zu Tschiang Tsching enge Beziehungen hatte, besonders auch zu deren beiden Shanghaier Vertrauten in der >Gruppe<, Yao Wenyuan und Tschang Tschun-tschiao. Er war auf dem besten Wege, eine später nicht mehr zu erschütternde Machtposition zu
erringen. Allerdings hatte er seinen unmittelbaren Gegenspieler Tschou En-lai unterschätzt, der die >516< für konterrevolutionär erklärte und sie noch während der Belagerung seines Büros vor weiteren Aktionen warnte. Rittenberg unterschätzte weiterhin, wie sich schon im September zeigte, die Entschlossenheit Maos, nach der Erreichung seines strategischen Hauptziels das Emporkommen neuer Gruppen zu verhindern. 3, Die Auflösung des >Bethune-Regiments< und die Inhaftierung der meisten seiner führenden Leute durch den Sicherheitsapparat Öffentlichkeit
geschah
nahezu
schrittweise
unbemerkt.
und
Zuerst
von
wurde
der dem
>Wahnsinnigen unserer Tage<, Tschen Li-ning, öffentlich nachgewiesen, daß er tatsächlich schizophren war und sich zu recht in einem Asyl befunden hatte: Er hatte das Werk Mao Tsetungs in ähnlicher Weise schriftlich analysiert wie das Lius, und er war auch hier zu dem Ergebnis gekommen, es handle sich um einen notorischen Konterrevolutionär und Parteifeind. Solches konnte nur ein wirklich an Irrsinn leidender Mann behaupten, wurde als Begründung für die Inhaftierung und Einweisung in das alte Asyl angegeben. Dann wurde im Institut für Fremdsprachen einer der ältesten ausländischen Residenten in Peking, der englische Sprachlehrer David Crook wegen angeblicher Spionage verhaftet, seine Frau
bekam Hausarrest. Um die Jahreswende 1967/68 schließlich begann bei Radio Peking eine Kampagne gegen Rittenberg. Datse-baos erschienen, die ihn einen amerikanischen Spion< nannten. Tschen Po-ta tauchte im Funkhaus von Radio Peking zu einem Meeting auf und lobte das politische Bewußtsein der Radiomitarbeiter sowie ihre ausgezeichnete revolutionäre Art, Datse-baos zu schreiben. Das hätte Rittenberg warnen müssen. Aber er war sicher, daß er nur einige >gehässige Gegner< habe, die sich nicht durchsetzen würden. Er irrte sich. Anfang Februar 1968 wurde er von Sicherheitskräften verhaftet, ebenso seine Frau. Seine Wohnung wurde versiegelt. Zum gleichen Zeitpunkt wurden auch Epstein und eine von mir nicht genau zu ermittelnde Anzahl weiterer Ausländer, die alle zum >BethuneRegiment< gehört hatten, verhaftet. Über keinen von ihnen war in der Folgezeit etwas zu erfahren. Lediglich Rittenbergs Name wurde in einer Versammlung bei Radio Peking erwähnt. Er sei vom US-Geheimdienst bereits vor der Befreiung nach China lanciert worden, man habe ihn 1948 (in Jenan) unter Hausarrest gestellt, wegen Spionage, aber Revisionisten hätten ihm ab 1953 einen Weg zu hohem politischen Einfluß gebahnt. Das sei jetzt vorbei. Violet
10. März 1969 »Ich bin Franklin Delano Yang«, sagte der junge Mann freundlich. Er hielt mir die Hand hin, verzog sein an chinesische Ahnen erinnerndes Gesicht zu einem breiten Lächeln, wobei seine Wangen sich röteten, etwas für einen Asiaten höchst Ungewöhnliches — aber dieser Mister Yang war bestenfalls nur zur Hälfte Asiate. »Robbins«, murmelte ich automatisch. Er winkte ab. Teilte mir in seiner verbindlichen, unbeschwert wirkenden, fast jungenhaften Art mit: »Ich weiß, Sir! Ich kenne Sie so genau, wie man jemanden nur kennen kann, dessen Tätigkeit man über viele Jahre aus der Entfernung verfolgt. Hochachtung! Sie sind einer der Leute, mit denen ich mir immer schon gewünscht habe, zusammenarbeiten zu können!« Nach Kang Shengs Andeutung, daß es in Honkong einen Sonderbeauftragten gab, überraschte mich dieser Mann aus Langley nicht mehr so sehr. Ich würde ihm nicht mitteilen, daß Kang Sheng von seiner Existenz wußte, wer weiß, ob er es für sich behielt, und wenn Kang Sheng erfuhr, daß ich seine Worte weitergegeben
hatte,
war
eine
Verstimmung
nicht
auszuschließen. Schätzungsweise hatte Yang die Vierzig noch nicht erreicht. Dies war sozusagen >die junge Agentur<: frisch und hochgebildet, wie ich bald merkte, selbstsicher, zuversichtlich. Statt der modisch abgewetzten Jeans trug er konservativen hellgrauen Flanell, ein Pilotenhemd, sein Haar war kurz geschnitten, es schien mit Fixierspray behandelt zu sein, Yang roch dezent nach >Old Spice<. Holly, der bei uns stand, machte ein Gesicht, als höre er einer Rede zu, die er schon kannte. Er war an der Grenze gewesen, als ich mit Sandy ankam, und er empfing uns mit dem Hinweis, es sei gut, daß Sandy dabei wäre, denn für einige Zeit gäbe es für mich hier zu tun. Wir entschieden dann später, daß Sandy schon nach Kauai vorausfliegen würde. Ich würde ihr folgen, sobald meine Anwesenheit in Hongkong nicht mehr erforderlich wäre. Ein Kuß in Kai Tak, das eigenartige Gefühl, wenn man die Police für die Unfallversicherung aus dem Automaten zieht, ein paar Ermahnungen an mich, immer zeitig schlafen zu gehen, Grüße an die Eltern meinerseits, dann donnerte der Jet steil hoch, legte sich auf Ostkurs, und ich folgte Holly, der mir eröffnete, >die Dinge seien in Gang gekommen, es stehen große Entscheidungen bevor<. »Ausgerechnet bei diesem Präsidenten?« erlaubte ich mir skeptisch zu bemerken. »Jeder weiß doch, daß er der Taiwan-
Lobby nahesteht. Und daß sein Antikommunismus krankhaft ist, hat sich schon McCarthy zunutze gemacht! Wie soll das gehen?« Er ließ sich Zeit mit einer Antwort. Wir fuhren wieder mit dem Boot zur Big Wave Bay, in die Villa, die inzwischen über eine moderne Anlegestelle verfügte, durch einen hohen Zaun von der Außenwelt abgegrenzt und intensiv bewacht war. »Es ist so eine Sache mit Präsidenten«, begann er schließlich grinsend. »Bevor sie an die Hebel kommen, machen sie dies und das. Aber wenn sie an die Hebel gebracht worden sind, dann passen die Leute, die das bezahlen, schon auf, daß ihre Interessen gewahrt werden. Nixon muß den Krieg in Vietnam beenden, er ist aussichtslos geworden. Konventionell schaffen wir es dort nicht, und atomar können wir nicht anfangen, das würde die Sowjets auf den Plan rufen, als Verbündete Hanois. Also — selbst wenn man diesen Nixon nur dazu brauchte, den Dreck von Vietnam aus unserem Stall zu kehren, wäre das allein ein Grund, ihn gewählt zu haben. Er muß aber etwas mehr tun, er muß beispielsweise dafür sorgen, daß unser Auszug da unten nicht allzu sehr nach Niederlage riecht. Und um das zu bewerkstelligen, muß er zur Ablenkung einen großen politischen Erfolg im asiatischen Raum vorzeigen können. Das wird eine Vereinbarung mit China sein, Sid. Wir sind an dem Punkt angelangt, an dem sich die Bereitschaft der Pekinger endlich mit
der auf unserer Seite entstandenen Notwendigkeit deckt. Die Sache ist bereits in Fluß. Du wirst für Konsultationen hier gebraucht. Der Spezialist, der aus Langley gekommen ist, läuft im persönlichen Auftrag des Sicherheitsberaters.« »Das ist der, der auch mit den Vietnamesen verhandelt?« »Selbiger, ja.« »Und was soll geschehen?« Die Aktion, zu der jener Spezialist angereist war, trug die Codebezeichnung >Polo<. Mehr wußte Holly nicht. In der Agentur hatte sich einiges geändert, was auch die Hongkonger Station betraf. Tokio hatte als Leitstation für diesen Teil Asiens größere Befugnisse bekommen. Hollys >Southern Trading< existierte zwar selbstverständlich weiter, weil die neuen Leute in der Agenturspitze ihre Bedeutung richtig erkannt hatten. Sie hatten sogar, wie Holly andeutete, noch eine Anzahl weiterer Einrichtungen dieser Art etabliert, eine Charterfluggesellschaft mit Geschäftssitz in Taiwan, mehrere wissenschaftliche Institute, die vornehmlich an Analysen für uns arbeiteten, Stiftungen, in denen Leute verkehrten, die von uns früher oder später angesprochen und engagiert werden konnten, Zeitschriften, sogar ein paar Kneipen, Massagesalons, ExportImport-Agenturen und ähnliches. Neu war, daß Holly offiziell seinen Sitz im Generalkonsulat in der Garden Road hatte. Dort
befand sich aber außer ein paar leeren Aktendeckeln nichts von Bedeutung, und auch Hollys Anwesenheil war eher symbolisch. Die eigentlichen Geschäfte der Agentur wurden dezentralisiert abgewickelt. Jede der verschiedenen Tarnfirmen war auf einen bestimmten Aspekt spezialisiert. Die als wissenschaftliche Institute firmierten Analysezentren, die Chinas Zeitungen auswerteten, Rundfunkmeldungen abhörten und mit Hilfe raffinierter
Antennenkombinationen
den
innerchinesischen
Funkverkehr, ja sogar Teile des Telefonnetzes überwachten, leisteten die Hauptarbeit. Sie ließen ahnen, welch ungeheuer verzweigter und technisierter Apparat aus der Agentur geworden war, deren Anfänge ich miterlebt hatte. Rings um die kommunistischen Staaten existierten die gleichen Einrichtungen, wie sie sich in Honkong mit dem Blick auf China ballten. Und Häuser wie das an der Big Wave Bay gab es in großer Zahl, wie mir Holly beiläufig mitteilte. Einige von ihnen seien bedeutend luxuriöser ausgestattet. Er grinste nur, als ich ihn an die schöne alte Zeit mit Onkel Joes Mantel-und-Dolch-Spionen erinnerte. Nostalgie, meinte er, wäre das, die Gegenwart lebe von Elektronik und ähnlichen Erfindungen. Ich bekam von ihm auf der Rückfahrt von Kai Tak erläutert, was man unter einem >Chip< zu verstehen hatte. Mister Yang kannte die Anfänge der Agentur nicht mehr, er
gab auf meine Frage freimütig zu, daß er sich für Historie nicht allzu sehr interessierte. »Ich bin 1933 geboren«, klärte er mich heiter auf. »An dem Tage, als Präsident Roosevelt sein Amt antrat. Das erklärt meinen Namen, meine Eltern waren Verehrer Roosevelts. Um Sie gleich ins Bild zu setzen, Sid — falls Sie nicht ausdrücklich dagegen sind, nenne ich Sie so, und ich hoffe, Sie erweisen mir die Ehre, mich Frank zu nennen — mein Vater lehrte an der Columbia University, wo er auch meine Mutter kennen lernte. Er hatte die Wissenschaft vorgezogen und es seinem jüngeren Bruder überlassen, das Restaurant der Familie mit dem schönen Namen >Sha Guo Ju< weiterzuführen. Die »Irdene Bratpfanne<, Kennern in New York heute noch ein Begriff. Meine Mutter wurde in Shanghai geboren. Ist Ihnen die Esquire Book Company noch ein Begriff?« Ich konnte mich nicht daran erinnern. Es mußte wohl vor meiner Zeit gewesen sein. Aus dem Nebenzimmer kam ein junger Mann mit einem Tablett voller Cocktailgläser, gefüllt mit rötlicher Flüssigkeit. Wir bedienten uns. Stilvoll, dieser Sonderbeauftragte, bei Holly war es stets mit Whisky abgegangen, oder mit Bier. Yang sagte: »Macht nichts. Die Firma meiner Großeltern mütterlicherseits befand sich im Sassoon House, in der Nanking
Road Shanghais. Großvater war Sinologe. Einer von den alten, die sich an der langen, langen Geschichte begeisterten. Was nicht hieß, daß er nicht Geschälte mit der Gegenwart machte. Oh ja, er war ein guter Geschäftsmann. Verleger. Bücher für die gebildete Oberschicht Chinas, in englischer Sprache. Das neueste aus den westlichen Literaturen. China lag so weit vom juristischen Arm der übrigen Welt entfernt, daß Großvater die Bücher publizieren konnte, ohne Lizenzgebühr dafür zu bezahlen oder wenigstens die Autoren um die Erlaubnis zu fragen. Einträgliches Geschäft. In der Fachwelt nannte man die Dinger >Piraten-Editionen<. Nach Ende des Krieges gab er den >Victory Digest< heraus. 1949 sind dann beide Großeltern heimgekehrt nach Long Island. Da war ich sechzehn. Meine Mutter hat nur noch Kindheitserinnerungen an Shanghai. Sie lehrte mich Englisch. Vater Mandarin. So ist das ...« Er trank uns zu. Holly gähnte. »O.K.«, sagte er zu mir, nachdem er das rote Zeug tapfer geschluckt und sich geschüttelt hatte. »Mister Yang ist hier der Hausherr, du bist sein Gast. Zu tun habt Ihr genug, ich werde mich um meine eigenen Pflichten kümmern. Sehe dich bei Gelegenheit ...« »Sie sind gut mit Holly ausgekommen?« fragte Yang beiläufig, nachdem wir allein waren. Wir saßen auf der Terrasse, konnten den Strand sehen. Vor uns stand endlich eine Auswahl
anständiger Biersorten, Büchsen zwar, aber immerhin etwas Trinkbares,
verglichen
mit
Cocktails!
Ich
machte
die
Entdeckung, daß Yang selbst auch Bier bevorzugte. Ein Mann, der die Form wahrt: Cocktails zum Einstand, wie in der Chefetage einer Bank, und dann Bier, wie Männer es gewöhnt waren! »Wir haben den Krieg zusammen durchgestanden«, sagte ich in Gedanken. »Den Nachkrieg auch. Die Gründung der Agentur und ihre Verteidigung gegen diesen Tölpel McCarthy. Ich habe mich auf Holly verlassen können, immer, und er sich auf mich. Das ist das Maß ...« Yang sah mich eine Weile nachdenklich an, dann drehte er sein Bierglas unschlüssig, suchte im Himmel nach einer Wolke, fand sie nicht, ließ seinen Blick zu mir zurückwandern und sagte gleichmütig: »Wissen Sie, daß ich schon einige Wochen hier bin?« Ich wich aus: »Ich habe es vermutet.« »Ich wollte Sie kennen lernen, bevor ich Sie zu sehen bekam, Sid. Ich habe in Langley jede Zeile gelesen, die von ihnen kam.« »Den Rest hat Ihnen Holly erklärt, wie?« Er lächelte. »Holly hat mir Ihre Aufzeichnungen zu lesen gegeben«, eröffnete er mir unvermittelt. Und es war nicht allein die Indiskretion Hollys, die ich zu verdauen hatte, es war wieder
einmal die Einsicht, daß es in der Agentur nichts Privates gab, nicht einmal eine uralte Freundschaft war etwas wert. Ich weiß nicht, ob es mir gelang, das, was mich in diesem Augenblick bewegte, nicht auf meinem Gesicht zu offenbaren. So gelassen, wie ich konnte, bemerkte ich: »Da hatten Sie eine interessante Lektüre, Frank. In gewisser Weise eine gute Ergänzung zu dem, was ich dienstlich verfertigt habe.« Ich lauerte darauf, daß er mir jetzt eröffnete, in der Agentur gäbe es nichts, was nicht dienstlich sei, gar nichts. Aber Frank war kein harmloser, guter Junge, er war ein zumindest ebenso ausgekochter Fuchs wie Holly. Oder wie ich selbst. Er lächelte, nippte an seinem Bier und sagte: »Sid, ich weiß, daß es Ihnen nicht gleich ist, wer diese Aufzeichnungen liest. Betrachten Sie mich deshalb als eine Art Vertrauten. Diese vielen Seiten haben mir geholfen, unseren Mann in Peking, den ich stets für seine unbeirrbare Beharrlichkeit und für sein unbestechliches Urteil verehrt habe, ganz genau kennen zu lernen. Keine bösen Gefühle deswegen?« Er hielt mir die Hand hin, es kam mir theatralisch vor. Aber ich mußte wohl das Spiel mitspielen. Deshalb schlug ich ein. Stellte mich gelassen und bemerkte beiläufig: »Ich werde diese Aufzeichnungen
zu
gegebener
Zeit,
wenn
es
meine
Arbeitsbelastung einmal zuläßt, durchsehen. Es gibt vieles darin, das ich nicht aufheben möchte, nachdem ein paar Jahre seit dem
Hinschreiben vergangen sind ...« Er merkte die Falle nicht. Nickte eifrig. Stimmte mir zu und warnte mich: »Von dem, was ich jetzt sage, klammere ich Sie ausdrücklich aus, Sid. Aber: die Agentur hat eine Krankheit entwickelt, in den letzten Jahren. Jeder Dummkopf, der nach gewisser Zeit Skrupel bekommt, bei uns, der seinen Hut nimmt, schreibt anschließend seine Memoiren. Enthüllungen. Beichten aus der Agentur. Das ist in Mode gekommen. Wird durch einige juristische Unterlassungen in der Vergangenheit begünstigt. Leider. Manches von dem, was da gebeichtet wird, ist schlicht Hochverrat. Die Leute weichen dann in ein Land aus, in dem wir sie nicht mehr belangen können. Nun, wir haben inzwischen eine ganze Legion Schreiber unter Vertrag genommen, die auch solche Beichten zu Papier bringen. Desinformationsmaterial. Eine Kleinigkeit nutzt das, wenn wir dadurch Verwirrung ins Geschäft bringen, niemand weiß mehr genau, was echt und was unecht ist. Aber — ich möchte nicht, daß man ausgerechnet Sie mit solch einer Absicht in Verbindung bringen kann. Wie ich höre, sind Sie ohnehin mehr an Veröffentlichungen über chinesische Literatur interessiert als über unseren Job ...?« Nun wußte ich, wie die Zeiger auf der Uhr standen. Ich würde das zu überlegen haben, in Ruhe. Später. Jetzt hatte ich einen Gegenspieler in einer Partie irrezuführen, die schwieriger war,
als ein Informations-gespräch mit Kang Sheng. Denn ich würde keinesfalls darauf verzichten, meine Aufzeichnungen zu gegebener Zeit irgendwo zu veröffentlichen. Allein schon deshalb, weil sie eine der fraglos interessantesten Perioden in der Geschichte Asiens von innen her ausleuchten konnten. Was wäre die Welt ohne solche Bücher! »Epik«, zielte ich auf Yangs Kenntnisse über mich. »Ich habe das Werk so gut wie fertig.« »Ich weiß!« »Und ich habe ein Script über Tu Fu in Kalifornien liegen ...« »Auch das weiß ich, Sid. Ich habe es sogar gelesen. Mister Lowenstein, ja! Nun, ich glaube, es wird demnächst erscheinen. Übrigens habe ich vor meiner Abreise hierher mit dem Verleger verhandelt, der Ihre Geschichte der chinesischen Epik drucken wird ...« »Wie ich hoffe, auch bald!« Er verriet mir: »Daß diese Sache jetzt herauskommt, liegt genau in unserem Interesse, Sid. Auch die Tu-Fu-Arbeit. Wir werden das unterstützen. Und wenn kein Schwanz diese Bücher kauft, dann wird die Agentur sie aufkaufen, einstampfen und sofort neu verlegen lassen! Was wir von jetzt an am dringendsten brauchen, sind die verschiedensten GoodwillGesten China gegenüber. Wir müssen den süßen Leim
produzieren, auf den die roten Ameisen kriechen, Sid! Klar?« »Die blauen!« gab ich grinsend zurück. Ich konnte sehen, daß es ihm imponierte. Also fügte ich hinzu, den Gedanken an Hollys
Vertrauensbruch
und
die
Gefährdung
meiner
Aufzeichnungen zunächst einmal verdrängend: »Es sieht so aus, als ob wir endlich Ernst machen, wie?« Er lachte. Franklin Delano Yang konnte lachen wie ein College Boy. Was war das für eine Generation? Gefährliche Effizienz hinter der Fassade des folgsamen Sonntagsschülers! »Bevor wir zur Sache kommen, Sid«, er war aufgestanden, trat neben mich und legte mir die Hand leicht auf den Arm. Die Geste hatte Format, man spürte die Hand kaum, empfand sie weder als lästig, noch als beglückend vertraulich — sie lag da, ohne Gewicht, es wäre lächerlich gewesen, sie unwillig abzuschütteln. »Ich bewundere Sie. Seitdem ich über das viele Papier mit Ihnen noch besser bekannt bin, habe ich mir Gedanken über den Menschen machen müssen, der so lange wie Sie in der Kälte steckt. Der dort leben muß. Kinder aufziehen. Krankheiten durchstehen. Ich habe Ihre Texte gelesen, wie die Biographie eines von mir verehrten Helden. Darf ich Ihnen als jüngerer Mann einen wohlgemeinten Rat geben?« »Aber ja!« »Nicht um Ihnen Überlegenheit zu beweisen, bitte! Lediglich,
weil ich glaube, ich kann einem Idol für das danken, was es mir gab, ohne davon zu wissen ...« »Ich höre«, sagte ich innerlich belustigt. Ich war über den Schock hinweg. Er zögerte. Dann setzte er an, indem er sich zur Seite wandte und aufs Meer hinausblickte: »Veröffentlichen Sie nie, was Sie da aufgezeichnet haben. Verstehen Sie: nie!« »Im Interesse der Agentur?« »Vorwiegend in Ihrem eigenen Interesse, Sid.« »Sie halten die Gedanken, die ich gelegentlich zu Papier gebracht habe, für gefährlich?« »Ich halte sie für nicht geeignet als Lesestoff für die Öffentlichkeit.« »Das ist ein für mich neuer Gedanke«, gab ich ausweichend zurück. Er fuhr fort, mir zu erklären: »Sid, die Agentur ist empfindlich geworden. Wir haben Niederlagen einstecken müssen. Enthüllungen. Verrat. Sie sollten Acht geben, daß man Ihre Aufzeichnungen nicht etwa eines Tages in diese Kategorie einordnet. Ich muß Ihnen nicht auseinandersetzen, wie die Agentur mit Leuten umgeht, denen sie etwas übel nimmt, oder?« Darauf entschloß ich mich, nur zu grinsen. Er stellte sein Bierglas erleichtert ab, nachdem er einen langen Zug gemacht hatte, und schlug mir vor: »Wollen wir es dabei bewenden lassen, Sid? Es ist mir
ohnehin peinlich, einem erfahrenen Kollegen gegenüber altklug zu erscheinen ...« Da war Hongkong! Ich kannte die Stadt nun seit Jahrzehnten. Manchmal erschien sie mir wie ein giftiges, in seinem Wachstum nicht zu hemmendes Gewächs der Tropen. Ich streifte diesmal durch Gegenden, die ich früher besucht hatte, bevor sie sich zu verändern begannen, sah mir Ladder Street wieder einmal an, den Peak, besuchte den Tiergarten und ein paar Strände, Kneipen in Wanchai und auf der Kowlooner Seite. Jedesmal war ich enttäuscht. Die Kommerzialisierung war perfekt geworden. Selbst der Blick vom Peak herab kostete jetzt Geld. Dabei war er kaum erfreulich. Die einst romantischen Straßenschluchten waren nicht mehr romantisch und voller exotischer Geheimnisse, sie waren nur noch dreckig. Überall, wohin der Blick schweifen konnte, erhoben sich gigantische Betongebilde. Versicherungen und Banken gab es in Hongkong in einer Zahl, wie wohl in keiner anderen Stadt der Welt. Gleichzeitig mit diesem >Boom<, von dem die lokalen Zeitungen schwärmten, wurden manche Leute hier märchenhaft reich. Die Kehrseite davon war eine sich ausbreitende Verarmung der
unteren
Schichten
des
gesellschaftlichen
Gefüges.
Abgesehen von den Leuten, die auf Sampans lebten, gab es viele
andere Formen der Verelendung. Slums bestanden nicht mehr nur aus Blechschuppen, die Bewohner der billigen Betonklötze in den neuen Siedlungsgebieten von Kowloon waren kaum besser gestellt als ihre Mitbürger, die unter Regendächern aus Cola-Reklameschildern Schutz suchten. Aus der Volksrepublik kamen jede Nacht fast tausend Flüchtlinge illegal nach Hongkong. Zuerst hatten die britischen Behörden der Sache nicht Herr werden können, aber inzwischen wurden die Grenzen aufmerksam bewacht, Drahtzäune sperrten die unübersichtlichsten Stellen, Spezialkommandos fingen die Grenzgänger ein und schickten sie über offizielle Durchgänge wieder zurück. Ich nahm die Gelegenheit des gemeinsamen Frühstücks mit Yang am nächsten Morgen wahr, um ihn in großen Zügen mit dem vertraut zu machen, was Kang Sheng mich zu übermitteln gebeten hatte. Yang war ganz Ohr, es war ihm anzusehen, daß er mich um die Gelegenheit beneidete, mit dem chinesischen Geheimdienstchef, über dessen Fähigkeiten und Ambitionen man
in
Washington
phantastische
Vorstellungen
hatte,
sozusagen von Mann zu Mann zu reden. Bei Whisky und Tee. Er ließ sich gerade die Begleitumstände des Gespräches ganz ausführlich
schildern,
während
wir
den
einigermaßen
brauchbaren Kaffee tranken, ausgiebig Toast und Rühreier dazu aßen, ein paar Würstchen und geräucherte Schinkenscheiben.
Daß Kang Sheng über alles, was Nixon öffentlich sagte, wohlorientiert war, beeindruckte ihn. »Sogar, was Kissinger in der >Foreign Affairs< schreibt, liest man in Peking!« Er staunte. Doch er kam schnell zum Geschäft zurück und schlug mir vor, formlose Antworten auf die Fragen Kang Shengs mit dem nächsten Kurier nach Peking bringen zu lassen. Professionell, wie er war, erwähnte er nicht einmal den Namen David Hongs. Ja, die Agentur war über den Vietnamkrieg einer Meinung mit Kang Sheng, sie war es auch, was die Vergangenheit betraf. »Ein Strich soll gemacht werden, das ist gut!« stellte Yang fest. Er fand Kang Shengs Vorschlag, sich vorerst über das zu einigen, worüber es deckungsgleiche Ansichten gab, und den Rest der Probleme auszuklammern, ausgezeichnet. In der Tat sei in Washington an eine ähnliche Verfahrensweise gedacht worden. Man überlegte dort allerdings immer noch, wie in der Taiwan-Frage zu verfahren sein würde. Hier lag der vielleicht delikateste Punkt der Annäherungsproblematik. Als Yang nun das Stichwort >Ausklammern < hörte, gestand er mir, daß er darüber erleichtert war, weil es von den Pekingern kam. »Wir müssen die ganze Sache nämlich so machen, daß uns Taiwan nicht etwa aussteigen kann. Oder das Geschäft verderben«, dozierte er. Nachdem wir das Frühstück beendet, die Morgennachrichten
gehört hatten, und ich zehn Minuten mit Sandy telefonieren konnte, die mir berichtete, wie glücklich sie sich in Kauai fühlte, riet mir der Sonderbeauftragte: »Wenn Sie meine Meinung hören wollen, Sid, dann lassen Sie Ihre Frau noch eine Weile dort. Was jetzt für uns kommt, ist das Finish eines langen Rennens. Es kann günstig sein, dabei nicht so oft Rücksicht auf die Gattin nehmen zu müssen. Ich breite die Karten der Agentur vor Ihnen aus: Der Entschluß des Präsidenten läuft auf fortschreitenden Abbau unseres Vietnam-Engagements hinaus, wir streben eine Übergabe der Verantwortlichkeit für die Zurückdrängung der Vietcong an Saigon an. Lediglich unsere Materiallieferungen
bleiben
bestehen,
moralische
Unterstützung, sonst nichts. Darüber wird in Paris verhandelt. Es wird dauern, denn wir müssen den Eindruck vermeiden, daß wir unter Zeitnot stehen. Das sähe nach Aufgabe aus. Soll es aber nicht!« Er hatte Akten dabei. Ab und zu sah er hinein, aber wohl nicht, um sich Stichworte zu holen, er wußte sehr genau, was er mir sagen wollte. Es war eine seiner Angewohnheiten, wie ich herausfand, bei solchen Unterhaltungen die Augen demonstrativ nicht am Partner kleben zu lassen. Trotzdem merkte ich, daß ihm nichts entging, was sich auf meinem Gesicht abspielte. Das wiederum, so belächelte ich ihn innerlich, gab mir die Chance,
auf meinem Gesicht Vorgänge ablaufen zu lassen, die ihn ein wenig täuschten. »Tja«, meinte er gedehnt, »und dann, im Zusammenhang mit der neuen Vietnam-Politik zu sehen, sowie mit dem Verhältnis UdSSR-China — der Kontakt zu Peking. Eine neue Asien-Politik im Grunde, aber wir werden es nicht als solche bezeichnen. Sid. Sie können für sich in Anspruch nehmen, sehr früh schon darauf verwiesen zu haben, was gut für uns ist. Die Sache ist nun beschlossen. Punkt. Nicht mehr eine Eventualität, sondern eine Aufgabe, die wir beide zu bewältigen haben. Sieg für Sie. Arbeit für Sie und mich. So einfach ist das.« »Und wie sieht das aus: wir beide?« Er grinste. »Schön hört sich das an, nicht? Wir sitzen hier beisammen, um alle letzten Vorarbeiten zu leisten, wie ein Generalstab vor der Schlacht. Wir entscheiden über Leute, über Mittel, Wege, Methoden, über alles, was zu tun ist, bevor sich die beiden mächtigsten Männer Amerikas und Chinas persönlich treffen. Das ist das Ziel. Erkannt?« »Sie meinen Nixon und Mao?« Er sah mich mit seinen großen Kinderaugen an und erkundigte sich: »Meinen Sie, wir kriegen Mao dazu herum?« »Ich habe vor vielen Jahren sein Angebot an die Agentur übermittelt«, gab ich zurück. »Haben Sie es nicht gelesen?« Da grinste er wieder. »Damals war nicht heute. Wir hatten
Korea. Wir hatten das chinesische Bündnis mit den Sowjets. Wir hatten McCarthy. Wir hatten Kennedy ... Wollen wir uns darauf einigen, daß wir Vergangenes jetzt nicht aufrühren, um festzustellen, wer schon damals recht gehabt hat? Wenn Sie wollen, bestätige ich Ihnen persönlich gern, daß Sie der erste waren, der uns auf Chancen aufmerksam hätten
wahrnehmen
können.
machte, die
wir
Was soll's — wir haben sie
verpaßt. Und jetzt sitzen wir beide hier, um neue Chancen zu beraten, so ist das Leben. Ich wiederhole meine Frage, ob wir den Obermandarin herumkriegen können?« Das wollte von verschiedenen Seiten betrachtet sein, bevor man sich auf eine Antwort festlegte. Also hielt ich ihm einen längeren Vortrag über die Gesundheit des Großen Steuermanns. Er war die ganze Zeit hellwach, machte sich Notizen, es überraschte ihn aber nicht sonderlich, als ich ihm zu verstehen gab, ein Treffen mit Mao würde wohl Weltbedeutung haben, man könne es außerdem durch entsprechende Publicity zum Ereignis des Jahrhunderts stempeln, nur — zur Erörterung der praktischen Fragen von Annäherung und Miteinander, zum Disput über die Konditionen, zu denen man sich einigle, über das, worüber man es vorzog, uneinig zu bleiben, dazu seien andere Partner nötig. Er fragte nicht sofort nach den von mir gemeinten Partnern, er war ein gründlicher Arbeiter. Zunächst stellte er fest: »Da sich
im Personenkreis der höchsten Führung ja wohl immer noch Veränderungen ergeben können, müssen wir variabel bleiben. Als feste Größe ist lediglich Mao selbst einzukalkulieren, was immer man noch mit ihm erledigen kann. Selbst wenn wir ihn von drei Seilen stützen lassen müßten, damit er aufstellt und unserem Präsidenten vor den Kameras die Hand schüttelt, wäre das schon genug. Müßte genug sein, meine ich. Richtig?« Ich konnte seine Logik nur bestätigen. Einen Hinweis meinerseits, daß Tschou En-lai diejenige politische Größe in der Spitze sei, mit der man vielleicht am sichersten langfristig rechnen konnte, nahm er gelassen zur Kenntnis. Er zog ein Schriftstück aus seinen Akten und übergab es mir. »Jetzt lesen, in meiner Anwesenheit. Keine Notizen. Was wir ergänzen, besorge ich. Sie wissen, was ein Psychogramm ist?« Ich wußte es nicht nur, ich fand auch bald heraus, daß ich durch Analysen wie Aufzeichnungen zu diesen Dokument der Persönlichkeit
Maos,
Charaktereigenschaften,
seinen Stärken
Gewohnheiten wie
Schwächen
und einiges
beigetragen hatte. Franklin Delano Yang, der Sonderbeauftragte der Zentrale legte mir ein Papier vor, nach dem Mao (ich gebe es aus dem Gedächtnis wieder) folgendes war: Geschult an diversen linken Philosophen, die vor Ausbreitung des Marxismus in China bekannt wurden. Wenig intellektuelle Bindung
an die klassische marxistische Philosophie. Skeptisch gegenüber den Sowjets in der Frühperiode, später im offenen Konflikt um die
Vormachtstellung
Weltsystems. Wendiger
innerhalb
Militärsachverständig.
Agitator.
Charismatische
des In
kommunistischen Taktik
geschickt.
Persönlichkeit,
deren
Wirkung zwischen der des revolutionären Aufrührers und der Figur des strengen, aber gütigen Vaters liegt. Zerstritten mit allen Parteigängern, die für ein Minimum an Zusammenarbeit mit den Sowjets und anderen kommunistischen Staaten waren. Kulturrevolution, um diesen Einfluß aus der Partei auszumerzen. Engste Vertraute: Tschou En-lai, Lin Piao, Tschen Po-ta, Tschiang Tsching. Besonderheiten: starker Raucher, kräftiger Esser, sexuell anscheinend normale Veranlagung, liebt die Zurückgezogenheit, Bücher philosophischer Prägung, auch Gespräche dieser Art, eitel, braucht ständig Impulse der Selbstbestätigung, traditionsbewußt, gern als Fortsetzer des Ruhms eines mächtigen Kaiser-Reiches der Mitte gesehen, auf Wahrung
der
Formen
in
der
Öffentlichkeit
bedacht
(Zeremonien), auch auf >Gesicht<. »Getroffen?« wollte Yang wissen, als ich das Blatt sinken ließ, in dem Bewußtsein, daß dies die Übersicht über Maos Persönlichkeit war, die der amerikanische Präsident zu studieren hatte, bevor es vielleicht zu dem historischen Händedruck kam.
Ich zögerte zuzustimmen, wegen der Verkürzungen, die das Dokument enthielt. Aber vielleicht bedurfte es gerade dieser Reduzierung auf Stichworte, um einen völlig unwissenden Mann, wie Präsident Nixon es im Hinblick auf Mao war, pauschal ins Bild zu setzen. Zu einzelnen Feststellungen würde es allerdings noch mancherlei zu sagen geben. Yang zeigte sich aufgeschlossen. »Natürlich! Wir werden anhand der Charakteristik festlegen, worüber mit ihm zu sprechen ist, ob man sich verbeugt bei der Begrüßung, alles das. Aber zuvor haben wir zu entscheiden: Soll man ihn vielleicht besser nach Washington einladen, diesen Mao Tse-tung? Es ist alles offen, der Präsident ist ein agiler Mann, er wartet auf unsere Hinweise ...« »Sie haben da die Beobachtung festgehalten, daß Mao sich gern als Fortsetzer einer großen chinesischen Machttradition sieht«, machte ich ihn aufmerksam. »Ist Ihnen bekannt, daß zu dieser Tradition das Gefühl gehört, dadurch geehrt zu werden, daß Fremde aus fernen Ländern vor dem Herrn des Reiches der Mitte erscheinen?« Er nickte. »Sie sprechen mit einem Chinesen, Sid. Ich weiß, wie es war, als die ausländischen Barbaren den chinesischen Kaisern
Besuche
machten.
Tribut
zollten.
Ergebenheit
bezeigten, obgleich es eher Neugier war, was sie trieb. Und
Geschäftssinn. Aber der Kaiser konnte das stets für sich buchen, das
zählte.
Ich
Informationsgespräch
habe mit
bereits dem
bei
meinem
ersten
Sicherheitsberater
darauf
verwiesen, daß unbedingt Mister Nixon sozusagen vor dem Thron des chinesischen Herrschers erscheinen sollte, das bringt Achtung zum Ausdruck.« Yang war ein Mann, mit dem man äußerst flott und zügig arbeiten konnte. Innerhalb weniger Stunden hatten wir uns über die Veränderungen geeinigt, die an dem Psychogramm Maos nötig waren. Dann gingen wir zu den Modalitäten über, die gewissermaßen
die
innere
Mechanik
der
Annäherung
darstellten. Ich fand, daß es von unserer Seite mehr und auffälligere Signale geben müßte. So feinfühlig die chinesischen Führer in diesen Dingen waren — sie hatten zu lange Böses gehört und warten müssen. Yang gab mir ein Papier mit Vorschlägen, und er ließ mir eine Woche Zeit, bis wir darüber sprechen würden. Eine Woche, in der ich nicht nur Überlegungen anstellte, sondern meine Tage oft im Boot auf dem Meer verbrachte, gut beschützt, hervorragend verpflegt und über eine Sprechanlage von Land aus mit den — allerdings wenig interessanten — Neuigkeiten aus aller Well versorgt Ich lag in der Sonne, am Strand der Bucht, machte Spaziergänge, wenn ich Lust bekam, sah mir das turbulente Hongkonger
Fernsehprogramm an, ich las Zeitungen und ging ins Kino. Yang redete mir zu, mich möglichst vielseitig abzulenken. »Das führt dazu, daß die Gedanken sofort wieder kristallklar und unverbraucht sind, wenn man danach zur Sache kommt«, meinte er. Nicht alles, was diese jungen Burschen auf den Schulen der Agentur gelernt hatten, war unnütz gewesen! Nach etwa einer Woche kamen wir über weitere >Signale< zur Sache. Yang machte mich aufmerksam, daß er in Washington eine Studie in Auftrag gegeben hatte, über Möglichkeiten, auf dem Gebiet des Handels mit Erleichterungen zu winken. Ich hatte mir einiges überlegt, was ich ihm jetzt zur Weiterleitung empfahl. Wenn ich mich recht entsinne, riet ich zu Erleichterungen im Export nach China, vor allem bei Alltagsgütern,
deren
Vorhandensein
sich
vor
einem
Massenpublikum nicht würde verheimlich lassen. Beispiel: Wenn wir Weizen lieferten, dann trugen die daraus hergestellten Nudeln eine chinesische Bezeichnung, lieferten wir aber (mit Tomatenzugabe) rot oder (mit Spinatbeimischung) grün gefärbte Nudeln, wie die Chinesen sie noch nie gesehen hatten, abgepackt und mit amerikanischen Fabrikmarken versehen, dann wären wir optisch auf dem chinesischen Binnenmarkt präsent, wovon ich mir (abgesehen vom Geschäft) eine Publicity versprach,
die,
wenn
auch
langsam,
langfristig
Enthemmungswirkungen gegenüber uns zeitigen mußte. Yang stimmte
mir
zu,
zumal
ich
hervorhob,
wir
sollten
Handelserleichterungen keinesfalls stillschweigend vornehmen, sondern demonstrativ, laut. Aus ähnlichen Erwägungen riet ich zum Abbau der Reisebeschränkungen und befürwortete auch hier ein offenes Vorgehen. Wem schadet es, wenn eine gewisse Zahl von US-Bürgern China mit ordentlichem Visum besuchen durfte, ohne bei der Rückkehr dafür gerügt zu werden? Sicherheitspolitisch war damit kein Risiko verbunden. Ohnehin würden
vermutlich
meist
Journalisten,
Literaten
oder
Geschäftsleute diese teure Chance nutzen — trotzdem würde es nach außen hin wie eine Entspannung der Beziehungen wirken. Und gar nicht zu reden war davon, was ein solcher Personenverkehr unserer Agentur für Möglichkeiten eröffnen konnte. Yang grinste, als ich ihn darauf aufmerksam machte. Er war ein Fuchs, ein kleiner Anstoß genügte, um das Räderwerk seiner Gedanken in Gang zu bringen. Ich setzte mich dafür ein, daß auf die Liste der Signale auch der Abbau der idiotischen Einfuhrbestimmungen gesetzt wurde, nach denen ein Reisender selbst aus Hongkong, wohin er legal reisen durfte, nur für hundert Dollar rotchinesische Souvenirs in die Staaten mitbringen durfte. Wußte man zu Hause nicht, daß
der größte Teil von diesem Manisch, der billig aus der Volksrepublik bezogen wurde, dort ganze Dörfer ernährte? Wer wurde geschädigt, durch ein paar Rosenholzbuddhas oder ein paar Spielzeugdschunken aus Plaste? Die Dollars blieben in Hongkong! Ich riet, das gesamte Handelsembargo auf Chancen für chinafreundliche Demonstrationen zu überprüfen und machte Yang aufmerksam, daß jenes uralte Embargo ohnehin illusorisch sei, weil China über Hongkongs Freihafen jeden Artikel aus der ganzen Welt beziehen konnte, wobei nur ein paar Zwischenhändler in Hongkong zusätzlich verdienten — etwas, das die Firmen in den Staaten selbst tun sollten. Yang bestätigte mir, daß es von Computern erstellte Vergleichslisten über Erzeugnisse gab, die sich in unserem Embargokatalog befanden, von China aber ohne weiteres aus Drittländern bezogen oder in Einzelfällen sogar selbst hergestellt werden konnten, weil unsere Erhebungen
über
Handelsmöglichkeiten
Produktionskapazitäten Pekings
und
nicht mehr der veränderten
Realität entsprachen. Sie waren, so drückte er es aus, so verstaubt wie die Reliquien aus dem zweiten Weltkrieg in den Traditionszimmern der American Legion. Dabei grinste er. Besonders aufmerksam hörte der Sonderbeauftragte zu, als ich ihn auf das hinwies, was ich die Chancen zum indirekten Gespräch nannte: Wir hatten in mehr als hundert Staaten
Diplomaten stationiert — es sollte einfach sein, sie so zu instruieren, daß sie zunächst einmal den chinesischen Kollegen nicht mehr demonstrativ aus dem Weg gingen, sie schon einmal grüßten, wie es unter zivilisierten Menschen üblich ist, ihnen gelegentlich zulächelten, und im übrigen in der täglichen diplomatischen Praxis jede Chance nutzten, von China vorteilhaft zu sprechen, sobald nur die Rede auf die Volksrepublik kam. Bei der Sensibilität, mit der Äußerungen von Diplomaten (natürlich auch unüberlegte!) gewertet, ausgedeutet, analysiert und bespekuliert wurden, mußte eine solche Praxis unweigerlich in Kürze zu Reaktionen der anderen Seite führen. Auch hier stimmte Yang mir sogleich zu, er zog allerdings dann ein säuerliches Gesicht und meinte, das State Department habe in seiner ganzen Geschichte bewiesen, wie starr und einfallslos es sei, es wäre bedeutend einfacher, wenn Leute der Agentur die Diplomatie in die Hand nähmen. Ich äußerte mich dazu lieber nicht, meine Meinung über die Unbeweglichkeit unseres State Departments lag nicht nur in Berichten der Agentur vor, Yang hatte die Gelegenheit
gehabt
aus meinen persönlichen
Aufzeichnungen meinen Standpunkt herauszulesen. Ich bestand allerdings darauf, daß zumindest der Außenminister — nachdem der Präsident das Signal gegeben hatte — öffentlich Positives über China äußern müßte. Tschou En-lai und Tschen Yi würden
das nicht unbeantwortet lassen. — Ob sich an der leidigen Taiwan-Frage nicht doch etwas basteln ließe? Yang wiegte den Kopf, er sprach von leider noch lange unverändert bleibenden Sicherheitsinteressen, gegebenen Zusagen, Verträgen, von der Taiwan-Lobby daheim und vom >Gesicht der USA<, die natürlich ein einmal eingegangenes Bündnis nicht willkürlich negieren könnten. Er redete an mir vorbei, ich meinte keine Veränderung in der Sache, sondern eine Geste, denn mir mußte niemand die militärische Bedeutung des US-Partners Taiwan buchstabieren. Man konnte ihn nie zugunsten eines wetterwendigen, roten, unsicheren Chinas aufgeben. »Aber«, machte ich Yang aufmerksam, »können wir denn beim gegenwärtigen Stand der Militärtechnik, bei Satelliten, Luftaufklärung durch U2 und Funkabhören nicht einmal auf etwas verzichten, das entbehrlich geworden ist? Peking
hat
beispielsweise
operationsfähigen
nicht
Kriegsflotte,
es
den
Schatten
verfügt
nur
einer über
Küstenschutzkräfte. Taiwan ist durch sie nicht effektiv bedroht. Können wir da, im Interesse der Annäherung, nicht eines schönen Tages die Drohgebärden unserer beiden alten, vor sich hin rostenden Zerstörer in der Straße von Taiwan einstellen, die dort seit dem Korea-Krieg Säbelrasseln üben? Wer wäre geschädigt?«
Der Stift Yangs flog über das Papier. Als er aufblickte, war ehrliche Bewunderung in seinem Gesicht. »Wissen Sie, Sid, daß ich Sie für Ihre unkonventionelle Art zu denken bewundere?« »Bringt es denn, um Himmels Willen, niemand sonst mehr fertig, sein Gehirn zu nutzen?« Er winkte ab. »Natürlich. Wir haben Freigeister mit Einfällen. Wir haben Stiftungen, die ganze Denkfabriken unterhalten, da treffen sich intelligente Leute, um weiter nichts zu tun, als sich gegenseitig Ideen zu unterbreiten, um vom anderen zu hören, ob sie brauchbar sind. Ich selbst war lange genug in einem solchen >Denk-Tank< — nein, bei Ihnen ist es etwas anderes: Sie kommen aus der Kälte! Jeder daheim nimmt an, daß der lange Aufenthalt in einem kommunistischen Land
die
Fähigkeit
zu
unkonventionellem
Denken,
zu
grandiosen Einfällen unweigerlich tötet. Sie sind das schlagende Gegenbeispiel!« Ich gab gezielt rüde zurück: »Mein lieber Junge, ich hoffe, Sie nehmen es mir nicht übel, wenn ich Sie so nenne, man hat mich nicht in einem kommunistischen Land angesiedelt, vor einem Vierteljahrhundert, damit ich stupide werde, sondern, weil ich als Insider herausfinden sollte, auf welche Weise und unter welchen spezifischen Voraussetzungen objektiver und subjektiver Art wir solch ein Staatswesen über die Gewinnung von Teilen seiner Führungsschicht, meinetwegen auch über
deren Korrumpierung, von Moskau trennen können! Auf unsere Seite ziehen! Weil wir vor einem Vierteljahrhundert schon wußten, daß es bei Einzelpersonen sehr oft irgendwelche Anknüpfungspunkte gibt, die sich zur Ausnutzung durch uns eignen. Manchmal allerdings ist es mir in den vielen Jahren so vorgekommen, als hätten meine ehemaligen Auftraggeber nach und nach vergessen, was ich eigentlich in Peking sollte. Ich behaupte, in der Politik kann man nur etwas erreichen, wenn man den Arsch hebt! Was mich betrifft, so ist mein Arsch seit einem Vierteljahrhundert bodenfrei, mein Junge, alles, was ich möchte, ist, daß unsere Herren Präsidenten und Sicherheitsberater und Außenminister und Journalisten und Handelsleute und jeder Pinsel, der sich für wichtig hält, endlich auch seinen werten Arsch hebt, habe ich mich verständlich genug ausgedrückt?« Er war erschrocken, aber er faßte sich schnell, hob die Hand und sagte besänftigend: »Gut, gut, jetzt haben Sie es aus Ihrem System herausgejagt. Das war nötig. Sid, ich weiß genau, wie Ihnen zumute ist. Und — ich gebe Ihnen recht. Gleiche Ansichten. Deshalb bin ich hier. Mein Wort: unser neuer Präsident, auch sein Sicherheitsberater, das sind Männer, die, wie Sie es auszudrücken geruhten, auch einen bodenfreien Arsch haben.« »So helfe ihnen Gott!« knurrte ich die alte Formel. Ich war
nicht wirklich wütend, aber es war höchste Zeit, diesem Franklin Delano Yang, Holly, der Agentur überhaupt, endlich einmal anzudeuten, daß ich ein Mensch war. Und Menschen haben eine begrenzte Geduld. Ich würde kein Jahrzehnt mehr in China verbringen,
um
darauf
zu
warten,
daß
ein
paar
entschlußschwache Wirrköpfe daheim sich einigten, was mit diesem verdammten China zu tun war — ich würde eines Tages für immer nach Kauai fliegen, der Agentur einen letzten Gruß schicken und mich mit Frau und Kindern beschäftigen. Ehrenvoller
Abschied
nannte
man
das.
»Wenn
jeder
Geheimdienst der Welt so lange braucht, um zur Sache zu kommen«, grollte ich, »dann könnte dieser Job auch von Insassen eines Asyls für geistig Behinderte versehen werden, weil eigenes Denken nicht gefragt ist! So, und jetzt lassen Sie uns zum Ende kommen, mit unseren Vorschlägen!« Ich war am Abend mit dem Berkeley-Professor verabredet, der die Herausgabe meiner Geschichte der chinesischen Epik vorbereiten sollte. Deshalb beeilten wir uns und schafften eine Menge. Bevor wir uns nach der täglichen Arbeit trennten, machte Yang stets noch einen Kontrollgang durch den Fernschreiberraum, ließ sich vom Funker des Hauses die letzten Telegramme
zeigen,
sprach
mit
den
Leuten
in
der
Rechenzentrale, zu der ich keinen Zutritt hatte, ließ sich von den
rings um das Anwesen verteilten Posten über Sprechfunk Bericht erstatten, dann verschwand er in seiner Etage. Ob er dort etwas aß, und was das war, blieb mir verborgen. Ebenso fragte ich mich, ob er verheiratet war, daheim, oder ob er sich nur ab und zu ein Mädchen suchte, wenn ja, dann blieb mir das verborgen. Er hätte ebenso gut auch schwul sein können, doch dann hätte es ihn ja wohl gelegentlich zum gleichen Geschlecht hingezogen — ich beschloß, mir über sein Privatleben keine Gedanken zu machen, und empfand es als wohltuend, daß er sich in das meine auch nicht einmischte. Wenngleich ich seit den ersten Erfahrungen mit noch untrainierten jungen Burschen, vor langer Zeit, wußte, daß man als Mitarbeiter der Agentur in Hongkong überwacht wurde. Es interessierte mich nicht, ich hielt nicht einmal Ausschau nach möglichen Beobachtern. Ob Yang vielleicht deshalb nicht ausging, weil er von der Überwachung wußte und sie als lästig empfand? Er gab es nicht zu erkennen. Früh erschien er zum gemeinsamen Frühstück, ausgeruht, ohne schwärzliche Ringe unter den Augen, er betrat mit federndem Schritt den Raum, sein Gesicht war eine freundliche Maske — ein Chinese mit einer amerikanischen Mutter, für mich ein verschlossenes Buch, was seinen Charakter betraf, sein Naturell. Schwerer zu berechnen als Mao Tse-tung. Gefährlich intelligent, freundlich wie eine Klapperschlange und
undurchschaubar. Er bewies das an jenem Abend, als der Professor Hotbread sich zum Essen mit mir im >Mandarin< verabredet hatte. Wir waren zuvor noch einmal durchgegangen, was wir der Zentrale vorschlagen würden. Nun war es Yangs Geschäft, es Langley zu übermitteln. »Haben Sie das Gefühl, wir könnten etwas vergessen haben, Sid?« vergewisserte er sich. Ich hatte nicht dieses Gefühl. »Nun gut, ich lasse es dann codiert durchgeben. Wir warten noch eine bestimmte Zeit, ob sich für die Zentrale Rückfragen nötig machen. Dann können Sie zu Ihrer Familie abschwirren. Sind Sie auf Kauai telefonisch erreichbar?« »Ja«, gab ich zurück. »Sie werden nicht zufällig in Kanada sein? Unerreichbar?« Ich zog es vor, mich auf keine Debatte einzulassen, ich antwortete gezielt kurz angebunden: »Nein, ich werde in Kauai sein, die Nummer hat Holly!« Er war schlau, er begriff sofort, daß er mich zu keiner weiteren Äußerung würde provozieren können, und er steckte zurück, indem er grinsend bemerkte: »Es sei denn, Sie schwimmen gerade im Meer, wie?« Seelenruhig gab ich zurück: »Ich pflege stets etwa zwanzig Minuten im Meer zu schwimmen, danach bin ich dann jeweils am Ufer und erreichbar. Die Verzögerung könnte also kaum länger sein.«
Ich verbrachte den Abend mit jenem Professor Hotbread aus Berkeley. Die Formalitäten waren so gut wie erledigt, ich würde in Kürze einen Vertrag bekommen, einen fürstlichen Vorschuß, und Mister Hotbread hatte bereits ein Team von Mitarbeitern verpflichtet, das mein Buch druckfertig machen sollte, einschließlich Illustrationen, einem Glossarium und ähnlichen Nebenarbeiten. Hotbread hatte errechnet, ohne daß er das Manuskript bis ganz zum Ende gelesen hatte, daß es mehrere Bände werden würden. Mir war das recht, ebenso wie die etwas reißerische
Aufmachung
der
Tu-Fu-Ausgabe,
deren
Schutzumschlagmuster Hotbread bei sich hatte. Wir trennten uns spät, im besten Einvernehmen, und wir vereinbarten, daß wir uns bald zu weiteren Gesprächen sehen würden. Ich deutete vorsichtig an, meinetwegen könnte das sogar in Peking sein, und Mister Hotbread, ein Sinologe, der China nie gesehen hatte (es sei denn, man hielt Taiwan oder Hongkong für China), der leidlich
Mandarin
sprach
und
las
und
mit
einem
bewundernswerten Einfühlungsvermögen in chinesische Poesie begabt war, freute sich bereits.
Teleprint 316/4/69 3. Zentrale an Station HK/4.
Dringend mit Vorrang an Chef >Polo<
Zusatzinformationen zu Pressemeldungen über Zwischenfall an sowjetisch-chinesischer Grenze am 2. März 1969. AP und UPI beachten. Alle anderen Agenturen oder Organe ohne direkte Kenntnis, daher unverläßlich! Beginn des Zwischenfalls: 2. März (Sonntag) 1969, Zeitpunkt nicht mehr genau feststellbar, aber am frühen Morgen. Schauplatz: Insel Damanski (chinesisch: Tschenpao) im Grenzfluß Ussuri (siehe Funkkarte). Diese Insel ist bei Hochwasser, während der regenreichen Monate zuweilen überschwemmt. Um die jetzige Jahreszeit (März) herrscht hier noch Frost, die Insel ist über feste Eisdecke mit hoher Tragfähigkeit von beiden Seiten zu erreichen. Ablauf: Eine sowjetische Grenzpatrouille, angeführt durch einen Oberleutnant (Name: Strelnikow) wurde per Funk alarmiert. Chinesen in größerer Zahl strebten angeblich von ihrer Uferseite auf die Insel Damanski zu, die bei den Sowjets als sowjetisches Territorium gilt. (China hat allerdings erklärt, daß die Insel sowie größere Teile des sibirischen Hinterlandes in der Vorzeit chinesisch gewesen wären und zurückgegeben werden müßten.) Die Patrouille, die sich an der sowjetischen Uferseite aufgehalten hatte, erreichte die Insel nicht mehr vor
den Chinesen, deren Zahl in sowjetischen Verlautbarungen mit >etwa 300< angegeben wird, so daß die Konfrontation mitten auf dem Eis vor der Insel stattfand. Während der Rest der sowjetischen Patrouille sich am sowjetischen Ufer sammelte und abwartete, ging Oberleutnant Strelnikow mit sieben Soldaten den Chinesen entgegen und forderte sie auf, das sowjetische Territorium zu verlassen. Nach Aussage von sowjetischen Überlebenden (Sergeant Babanski, Oberleutnant Bubenin, Untersergeant Kanygin, Sergeant Kosus werden genannt) bestand in der Grenzeinheit der Befehl, Schußwaffen und Magazine getrennt zu tragen, bis >Laden< befohlen würde (eine, wie bestätigt wird, bei sowjetischen Grenztruppen übliche Weisung). Der Prozeß, die Patronenmagazine aus den Tragetaschen zu holen, in die automatischen Waffen einzusetzen und diese schußfertig zu machen, beträgt ca. eine Minute. Von verschiedenen Seiten wird bestätigt, daß die hier geschilderte sowjetische Praxis, mit nicht durchgeladener Waffe zu patroullieren, unbeabsichtigte und übereilte Schüsse verhindern soll. Die chinesischen Eindringlinge (sowj. Bezeichnung) ließen sich nach übereinstimmenden Aussagen nicht auf Erörterungen ein, sondern schossen (aus ihren bereits durchgeladenen Automatikwaffen) sofort. Strelnikow und seine sieben Soldaten
wurden auf der Stelle getötet. Die Chinesen griffen dann den Rest der Patrouille an und verursachten dort weitere zwölf Tote sowie eine unbekannte Zahl von Verwundeten. Inzwischen hatte der
Funker
der
Patrouille
Hilfe
herbeigerufen,
ein
Schützenpanzerwagen mit ca. zwanzig Soldaten rollte heran und traf auf eine große Gruppe chinesischer Soldaten, die abwechselnd schossen und mit Holzprügeln auf das Fahrzeug einhieben, ein Teil von ihnen schwang fortwährend ein kleines rotes Buch mit Sprüchen Mao Tse-tungs, wobei Losungen gerufen wurden, die die Sowjets nicht verstanden. Es kam zu einem weiteren Gefecht, in dessen Verlauf die Sowjets wiederum mehrere Tote und Verletzte hatten, es ihnen aber gelang, die Chinesen zu ihrem Ufer zurückzudrängen. Unter den sowjetischen Toten soll sich ein Oberst befinden, der versuchte, den chinesischen Kommandeur zur Vernunft zu ermahnen. Das Gefecht dauerte Stunden. Danach blieb die Insel Damanski vorerst unbesetzt. Nach sowjetischen Berichten waren einige der durch Schüsse getöteten sowjetischen Soldaten zusätzlich von den Chinesen durch Bajonettstiche verstümmelt worden. Es wurden entsprechende Fotos publiziert. Andere Berichte besagen, es seien Messer verwendet worden, da sich die (älteren) chinesischen Maschinenpistolen vom sowjetischen Typ >Schpagin< nicht mit Bajonetten ausstatten lassen. Fotos im
sowjetischen
Fernsehen
erweckten
den
Eindruck
von
Authentizität. In der Folge der Ereignisse wurden die sowjetischen Truppen in Fernost in Bereitschaftszustand versetzt. Peking behauptet, die Sowjets verletzten dauernd chinesisches Territorium. Über die Höhe der chinesischen Verluste wurde in Peking nichts bekanntgegeben, Moskau erwähnte ebenfalls keine Zahl. Der Pekinger Rundfunk forderte zu Demonstrationen vor der >Botschaft der neuen Zaren< auf. Schlußfolgerung:
Nach
den
gegenwärtigen
Aufklärungsergebnissen und nach Meinung von Sachkennern werden weitere Zwischenfälle dieser Art erwartet. Die Frage nach Ausbruch umfassenderer Kriegshandlungen wird vorerst verneint. Im Hinblick auf unverkennbare chinesische Absichten, die Sowjets im Bewußtsein ihrer Bürger als Hauptfeind darzustellen, sind diplomatische Aktionen Pekings, die auf einen Ausgleich mit den USA abzielen, durch die Ereignisse am Ussuri wahrscheinlicher geworden. CoC/02 -7.
30. Juli 1969 In Hongkong blieb ich noch einige Wochen, im Frühjahr,
nach
dem
ersten
Grenzzwischenfall
am
Ussuri.
Der
Sonderbeauftragte der Agentur, Franklin Delano Yang, mußte nach Washington zur Berichterstattung und Beratung fliegen. So hatte ich Zeit, einiges zu erledigen, was mir am Herzen lag. Holly händigte mir auf meine Bitte ohne Widerspruch die Aufzeichnungen aus, die er in seinem Safe verwahrt hatte, und von denen ich wußte, daß Yang (vielleicht nicht er allein!) sie kannte. Holly, als ich ihm das vorhielt, hob nur die Hände und sagte mit einer beinahe hilflos wirkenden Geste, die ich ziemlich verlogen fand: »Schieß nicht auf mich, alter Junge! Was Vorgesetzte von mir verlangen, habe ich zu tun. Du kennst die Sitten!« Es schien mir so, als sei das Gefühl, im Apparat der Agentur so etwas haben zu können wie einen persönlichen Freund, eine Illusion. Möglicherweise hatte man den beim OSS noch haben können, unter den Bedingungen eines heißen Krieges, in dem das Leben jeden Tag zu Ende sein konnte, oder vielleicht noch auf dem Adlergipfel, beim Kommando K. Heute wohl nicht mehr. Also schwieg ich lieber. Und ich ließ auch Holly im unklaren, was ich eigentlich wollte — ich gab ihm die Aufzeichnungen nämlich zurück, nachdem ich ohne sein Wissen davon in einer der neuen Kopierstuben, die mit ausgezeichneter japanischer Technik ausgestattet
waren, Duplikate hatte
herstellen lassen. Ich nutzte Chancen, an die weder Holly noch
jener Franklin Delano Yang denken würden. Schwager Lung-ho unterhielt nämlich inzwischen in einem vielstöckigen Bürohaus in der Connaught Road eine Zweigniederlassung, die eigentlich nur
dafür
gedacht
war,
die
Verbindung
mit
seinem
Investitionsobjekt in der Volksrepublik aufrechtzuerhalten. Über dieses Büro, in dem es lediglich einen Mann und eine Sekretärin gab, liefen Materialanforderungen und Exportaufträge, hier wurde schnell und reibungslos jegliche Art von Geschäften abgewickelt, an denen Schwager Lung-ho interessiert war. Die Sekretärin stellte bei meinem Besuch binnen weniger Minuten eine Telefonverbindung mit Lung-ho her, und als er von meinem kleinen Problem erfuhr, ordnete er an, das Mädchen solle sofort ein Gepäckstück von mir im Safe aufbewahren. Er deutete ihr auch an, es würde von mir in gewissen Abständen Zugang dazu verlangt werden, denn ich würde im Laufe der Zeit weitere Papiere hinzufügen. Die Sekretärin machte einen zuverlässigen Eindruck. Sie gab mir sogar ihre Privatadresse, für den Fall, daß ich einmal außerhalb der Dienstzeit an mein Paket heran wollte. Zu öffnen war der Safe durch einen Schlüssel, den sie bei sich trug, in Kombination mit einer Zahlengruppe, die sie im Kopf hatte, und außer ihr noch ihr Filialenchef und Schwager Lung-ho. In der Ladderstreet hatte ich eine strapazierfähige Umhängetasche gekauft, darin
steckten die Kopien. Die Sekretärin kannte den Inhalt der Tasche nicht. Von allem, was ich von nun an aufzeichnete, würde ich eine Kopie ablichten lassen, die kam in den Safe, und das Original sollte Holly bekommen, damit kein Verdacht entstand. Was ich hier schreibe, existiert allerdings nur einmal, Holly bekommt es nicht, es wandert original in den Safe! Wer immer es gewesen war, der uns noch während unserer Ausbildung auf Hawaii gesagt hatte, für einen Mann der Agentur gäbe es nichts mehr, das privat sei, nichts Vertrauliches, Intimes, Persönliches, er gehöre so, wie er sei, der Zentrale — er hatte letztlich recht behalten. Der Dummkopf war ich gewesen, ich hatte an die berühmte Ausnahme von der Regel geglaubt. Nun, ich habe den Irrtum korrigieren können. — An dem Tag, als ich nach
Honolulu
flog,
erschienen
die
Hongkonger
Morgenzeitungen mit dicken Balkenüberschriften, nach denen es
am
chinesisch-sowjetischen
Grenzfluß
Ussuri
neue
bewaffnete Zusammenstöße gab. Wenn man den Meldungen glauben wollte, waren die Gefechte diesmal länger gewesen und hatten mehr Opfer gefordert. Holly, der mich zum Flugplatz brachte, hatte mit Yang telefoniert, es gab keine Einwände, daß ich trotz der gespannten Lage nach Kauai flog, man würde sofort mit mir in Verbindung treten, wenn man mich brauchte, ich saß demzufolge auf gepacktem Koffer, doch das machte mir
nicht viel aus ... Luaus, Strandpartys, Streifzüge durch den Waimea-Canyon oder das Makaweli-Tal, Einkaufsbummel in Lihue oder Port Allen, Abende unter Palmen, beim Rauschen der Brandung, der Geruch von Tang und süßen Blüten, das Gesicht Sandys neben mir, irgendwo ein paar leise Worte von Vater Kwan oder der Mutter, die einem Dienstmädchen etwas auftrug, das Brummen eines Flugzeugs hoch oben, in der würzigen Luft, Stille, Sterne, Nächte
mit
ferner
Musik,
aus
den
Quartieren
der
Ananasschneider — mußte ich wirklich wieder zurück in das innerlich zerrissene Land hinter der westlichen Küste des gleichen Meeres, das mich hier so glücklich machte, auf der grünen Insel? — Während des Aprils hörte ich fast jeden Abend die Kurzwellensendungen von Radio Peking und hielt mich auf dem laufenden über den 9. Parteitag, der dort die während der >Kulturrevolution< erreichten Ergebnisse als Errungenschaften des Mao-Tse-tung-Denkens offiziell absegnete. Zwischen den großen Worten war herauszuhören, daß alle Delegierten von Revolutionskomitees oder der Armee bestimmt, nicht aber gewählt worden waren. Es hieß, daß die Partei insgesamt fünf Millionen >Konterrevolutionäre und Abweichler von den Ideen Mao Tse-tungs< ausgeschieden hatte. Das kam einer Auflösung
gleich, und mir erschien der 9. Parteitag denn auch aus der Ferne wie eine Neugründung. Mao selbst, das entnahm ich den Berichten, hatte nur einzelne Sätze gesprochen, wie schon seit längerer Zeit. Die Hauptrede war von Lin Piao gehalten worden. Er hatte sehr viel zur Ehre Maos gesagt, so vieles, daß es mir ein wenig gezielt vorkam. Die Ideen des Vorsitzenden seien von nun an nicht nur die Staatsgrundlage, sie stellten die höchste Entwicklungsstufe der marxistischen Theorie überhaupt dar. Über Ökonomie, Kultur, Erziehung und ähnliches konnte ich wenig hören, den Hauptteil der Ausführungen nahmen solche Phrasen
wie
der
>fortgesetzte
Klassenkampf<,
die
>Internationali-sierung der Revolution< und der >Kampf gegen den Sowjetrevisionismus< ein. In einem Versuch der theoretischen Zeitanalyse wurde erklärt, die Welt habe sich mit vier großen
Widersprüchen
unterdrückten
auseinanderzusetzen,
Nationen
gegen
dem
Imperialismus
der und
Sozialimperialismus (womit die Sowjets gemeint waren), dem zwischen
Proletariat
und
Bourgeoisie
in
den
noch
kapitalistischen Ländern, dem zwischen den Imperialisten und den Sozialimperialisten (d. h. den Sowjets), sowie dem zwischen den
bereits
sozialistischen
Ländern
und
dem
Sozialimperialismus (d. h. den Sowjets). Außer der Tatsache, daß
damit
zwischen
sowjetischer
Gesellschaft
und
amerikanischem Kapitalismus offenbar kein Unterschied mehr markiert wurde, fiel mir daran nicht viel Merkenswertes auf, ich hielt auch das, was an Diskussionsreden von Radio Peking zitiert wurde, für ziemlich verwaschen, voller Phrasen und deutlich mit dem Handicap der Unvereinbarkeit mit der bisher gültig gewesenen Theorie belastet. Interessant waren mir schließlich nur ein paar Einzelheiten, die ich als Chronist festhielt, über die mir aber auch nach Rückfrage bei Holly keine Einschätzung
abgefordert
wurde.
Man
habe
über
die
Abhörstationen alles Wissenswerte vorliegen, ich solle mir keine unnötige Arbeit machen, riet mir Holly, die Analytiker wären bereits an der Sache und würden die Computer solange füttern, bis es Ergebnisse gab. In der Tat hatte dieser von Mao Tse-tung inszenierte Parteitag mit einer völlig neuen Partei wohl niemanden mehr ernstlich überrascht. Er erklärte, die >Mao-Tse-tung-Ideen< zu der für alle verbindlichen Staatstheorie. Man hatte also seine Position — obwohl krank und geschwächt — auf Lebenszeit festigen können. Lin Piao wurde offiziell zum Nachfolger Maos bestellt, ein in der kommunistischen Bewegung einmaliger Vorgang, daß ein Parteivorsitzender zu Lebzeiten ohne Wahl entschied, wer ihn im Todesfall ablösen sollte. Überhaupt schien das neue Politbüro eine Art von Mao eingesetzter Dynastie zu sein, es
fanden sich darin seine Frau Tschiang Tsching, sein Sekretär Tschen Po-ta, Lin Piao, dessen Frau Yeh Tschün, Yao Wenyuan, auch der Chef der Leibwache, Wang Tung-hsing, war nicht vergessen worden. Nicht einmal fünfzig der auf dem 8. Parteitag gewählten ZK-Mitglieder hatten die Kulturrevolution überstanden, von den neuen 170 Mitgliedern und 109 Kandidaten gehörten laut Mandatsübersicht mehr als die Hälfte der Armee an. Die Macht, Entscheidungen zu treffen, lag einzig und allein bei Mao. Ich hörte ihn während eines seiner kurzen Auftritte ins Mikrofon quengeln: »Genossen, bereiten wir uns auf den Krieg vor, er ist unvermeidlich, und wir müssen uns auf der Basis der siegreichen Kulturrevolution einigen — der Feind für uns alle steht im Norden!« Zu dieser Vorbereitung gehörte auch die Gewinnung starker Verbündeter, wie offen betont wurde. Man sprach von neuen Verbündeten, die Gegner der >neuen Zaren< waren, wie die Sowjets neuerdings bezeichnet wurden. Die Zeit drängte zum Handeln.
Wie
klug
es
sein
würde,
die
Dinge
jetzt
voranzubringen, wurde mir im Mai klar, als die Pekinger sich bereiterklärten, mit den Sowjets Verhandlungen über die strittigen Grenzfragen aufzunehmen, sowie über die Schiffahrt auf den Grenzflüssen. Es gab Anzeichen, daß die Sowjets
ihrerseits interessiert waren, die Streitigkeiten nicht ausufern zu lassen, und weil die Pekinger das erkannten, steigerten sie ihre verbalen
Angriffe
parallel
mit
der
Erklärung
der
Verhandlungsbereitschaft zu einer selbst aus der Ferne noch als wüste Orgie von Beschimpfungen anmutenden Intensität. Yang rief mich an und sagte, es gäbe noch nichts Greifbares, aber alles sei >sehr gut in Fluß<, ich solle Hawaii genießen, er würde mich benachrichtigen, sobald meine Anwesenheit in Hongkong nötig werde. Es war gerade Juni geworden, als ein paar vorwitzige Reporter kleiner Rundfunkstationen in den Staaten durchsickern ließen, der Präsident werde in Kürze das Handelsembargo, das gegen China verhängt worden war, nachdem die Kommunisten dort an die Macht gekommen waren, entscheidend modifizieren. So sollte es ab sofort amerikanischen Touristen nicht mehr verboten sein, China zu betreten, sie könnten sogar chinesische Andenken zollfrei in die USA zurückbringen. Außerdem war an die völlige Aufhebung des Getreideembargos
gedacht,
darüber
würde
zwar
noch
verhandelt, aber eine Veränderung der amerikanischen Haltung sei auch hier bereits beschlossene Sache. Ich lächelte innerlich: Was Yang und ich in Hongkong zu Papier gebracht hatten, schien also doch nicht völlig unbeachtet geblieben zu sein.
Tschou En-lai und Kang Sheng" würden aufmerksam werden. Ab nun mußten wir auf die chinesischen Gegensignale achten. — Vierzehn Tage später, um die Mitte Juni, rief Yang mich aus Hongkong an: Sofort kommen! Ich verabschiedete mich schnell von der Familie. Sandy gab ich zu erkennen, daß >mein Job sich seinem Höhepunkt nähert und ich am Ort der Handlung gebraucht werde <. Sie nahm es in der stillen Hoffnung zur Kenntnis, daß dieser Job bald sein Ende fand. Lung-ho brachte mich mit seiner Privatmaschine von Kauai nach Honolulu. Wir hatten Zeit, uns ohne Zuhörer zu unterhalten, und ich erläuterte ihm nochmals, was es mit den Aufzeichnungen in seinem Hongkonger Filialensafe auf sich hatte. Lung-ho meinte, das wäre überhaupt nicht problematisch, die Sachen lägen da sicher, die Sekretärin sei zuverlässig, das habe er überprüft, der Angestellte, der die Filiale leitete und den ich nicht einmal kannte, sei ein sehr guter Freund der Familie, eine Indiskretion wäre daher keinesfalls zu befürchten. Er riet mir trotzdem, die Sachen so bald wie möglich nach Hawaii zu bringen. »Weißt du«, meinte er, »dieses Hongkong ist eine Hexenküche. Was heute noch stimmt, das kann morgen ganz anders sein. Dinge, auf die du heute baust, haben morgen ihren
Wert verloren. So ist es auch bei Menschen. Es liegt einfach zu nahe an Rotchina. Ich kann dir sicher nichts Neues sagen, wenn ich dich darauf hinweise, daß es da Einflüsse gibt, die unkontrollierbar
sind.
Ich
erlebe
das
in
meiner
Investitionspraxis. China ist für mich ein guter Partner, ich mache heute schon Gewinn, trotz all dieser inneren Wirren. Nur — man ist nie sicher, was der nächste Tag bringt. Eine Anweisung zentraler Stellen kann alles über Nacht auf den Kopf stellen, es kann aus Leuten, mit denen du zuvor gut gearbeitet hast, spröde Gegenspieler machen, mit denen kein vernünftiges Wort mehr zu wechseln ist ...« Wem sagte er das! »Ich werde mir vielleicht demnächst noch eine weitere Kopie von den Sachen anfertigen lassen«, überlegte ich. »Die werde ich in Kauai deponieren.« Er stimmte zu. Wenn ich Hilfe brauchte, sollte ich mich sofort an ihn wenden, legte er mir ans Herz. Die Station Honolulu hatte auf Yangs Anweisung bereits meinen Platz gebucht, ein junger Mann übergab mir die Flugkarte, und eine Stunde später war ich hoch über dem Pazifik. Aus dem geruhsam in der Pekinger Hutang lebenden Privatgelehrten war ein Mann geworden, der eine hektische Betriebsamkeit entwickelte. —
»Nehmen Sie das Ruder, Sid!« Yang flüsterte es mir zu, während das kleine Boot aus der Bucht hinausglitt, in völliger Dunkelheit, ohne Positionslichter, etwa zwei Stunden nach Mitternacht. Ich gab mir Mühe, das Holz in der richtigen Stellung zu halten, jeweils so, wie Yang es von mir verlangte. Eigentlich war das etwas völlig Neues für mich, ich hatte nie zuvor ein Boot gesteuert. Unser Motor lief sehr leise, es war eine Spezialanfertigung, schnurrte wie eine Nähmaschine, man würde ihn hundert Meter weiter schon nicht mehr hören können. Wieviel Seemeilen waren eigentlich hundert Meter? Innerlich lächelte ich über meine Unbedarftheit, die für Yang gar kein Problem zu sein schien, er hatte mir zur Antwort gegeben: »Machen Sie genau das, was ich sage, und Sie sind der beste Steuermann von Hongkong!« Hauptsächlich hatte ich darauf zu achten, daß wir am östlichen Rande der Sterling Bucht entlang auf das offene Meer zu glitten, ohne dem westlichen Ufer zu nahe zu kommen. Die Bucht war hier nur etwas breiter als ein Kilometer. Unmittelbar an der nordöstlichen Ecke Kowloons leuchteten die Lichter von Sha
Tau
Kok,
dem
Grenzort.
Dahinter
begann
die
Volksrepublik. Auch an der Öffnung der Bucht begann China. Hinter Sha
Tau Kok war es nur erlaubt, bis zur Mitte des Wassers zu fahren. Wer zu weit nach Westen abdriftete, geriet in Gewässer, die von den Pekingern je nach den politischen Absichten mehr oder weniger streng als chinesische Küstenzone beansprucht wurden. Hoheitsgewässer. Anderswo waren es dreizehn Meilen, hatte ich mir sagen lassen, hier war eine für beide Seiten befriedigende Lösung gefunden worden: man teilte sich die Bucht. »Recht so?« fragte ich leise. Yang grunzte zufrieden zurück. Er hing mit dem Nachtglas über dem Bordrand, von dem er mir gesagt hatte, das sei das Schanzkleid, warum das so hieß, weiß ich heute noch nicht. Yang beobachtete die Segelyacht, die eine halbe Stunde vor uns in Luk Keng ausgelaufen war: Sie war genau dort, wo die Bucht sich ins Meer öffnete, gekentert. Es sah aus wie ein Segelfehler. Das kleine Beiboot mit den beiden Insassen befand sich schon einen Steinwurf von der gekenterten Yacht entfernt. »Sie rudern genau richtig«, flüsterte Yang. Ich konnte es auch ohne Nachtglas erkennen, das Boot strebte der falschen Küste zu, der chinesischen. Und ich muß mich korrigieren: es strebte der richtigen Küste zu! Es war kein Segelfehler gewesen. Yang und ich hatten die beiden Männer mehrere Tage lang sorgfältig auf das vorbereitet,
was sie in Kürze erwartete. Ich kannte ihre Namen, wußte, wie sie aussahen, und daß sie zwischen dreißig und vierzig Jahren alt waren. Leute, die nicht wie Abenteurer wirkten, in der Tat hatten sie auch das Alibi, zum Einkauf von Hongkonger Textilien aus Kalifornien hierher geflogen zu sein. Sie unterhielten zu Hause ein entsprechendes Unternehmen, und auch, daß sie segeln konnten, ließ sich nachweisen. Hier hatten sie die günstige Gelegenheit nutzen wollen, nach erfolgreichem Geschäftsabschluß
eine
romantische
Fahrt
durch
die
Küstengewässer bei Nacht zu machen — Mister George Huntress und sein Bruder Mark. Natürlich waren die Namen ebenso echt wie die ganze TextilLegende, ich staunte nur über Yangs Talent, diese zivilen Typen aufzutreiben und für das Abenteuer zu engagieren, mit dem die Agentur die Reaktion Pekings auf unsere bisherigen GoodwillSignale testen wollte. Doch vielleicht war es gar nicht Yang gewesen, der sie ausfindig machte — die Agentur war groß, möglicherweise gab es eine ganze Spezialabteilung, die auf das Auffinden solcher geeigneten Zivilpersonen eingerichtet war. Ob man die Sache nun mit Geld abmachte, oder ob die Leute vielleicht tatsächlich aus purer Vaterlandsliebe ihre Haut hinhielten, war schwer zu entscheiden. Beider Möglichkeiten bediente sich die Agentur, wie man inzwischen wußte.
Der Wind war nur leicht, aber er war bockig. Das würde die Legende vom Segelunfall glaubhafter machen. Ich mußte das Ruder mit aller Kraft festhalten, denn je näher wir dem Ausgang der Bucht kamen, desto stärker rollten die Wellen an. Wir waren bereits ein gutes Stück um die Landzunge herum, die Sha Tau Kok gegenüberlag, als Yang mir plötzlich zuwinkte. Seine Stimme war erregt, heiser. Ein Büromann, der zum ersten Mal im Leben eine Sache auf Biegen und Brechen mitmachte, besser gesagt, er beobachtete sie aus angemessener Entfernung! »Sie kommen!« Ich hielt weiter auf das Meer hinaus, gab hinter der Landzunge noch etwas auf Ost zu, und da ich im Heck stand, konnte ich einigermaßen genau sehen, was vorging. Es war eine erstaunlich kurze Aktion. Auf diese Entfernung waren Geräusche nicht mehr wahrnehmbar, so wirkte das ganze wie eine Szene aus einem schlecht ausgeleuchteten Stummfilm: Das Kü-stenwachfahrzeug der Volksrepublik war eines der unzähligen schnellen Motorboote, die in Kanton gebaut wurden, klein und wendig, weiß angepinselt, mit zwölf Mann besetzt, ausgerüstet mit einem starken Scheinwerfer, Sprechfunk und einem
über
der
Kajüte
montierten
überschweren
Maschinengewehr. Der Scheinwerfer faßte zuerst das Beiboot mit den beiden winkenden Schiffbrüchigen, schwenkte dann
kurz auf die bereits ziemlich tief im Wasser liegende Yacht, und kehrte zum Beiboot zurück. Es war den Matrosen weder Überraschung noch Erregung anzumerken, jedenfalls nicht auf diese Entfernung, sie drehten bei, ließen eine Strickleiter herab und, nachdem die beiden Schiffbrüchigen an Bord geklettert waren, wurde das Beiboot ins Schlepp genommen. Der Scheinwerfer verweilte noch ein paar Sekunden auf der weiter sinkenden Yacht, wie um die Bestätigung zu liefern, daß hier nichts mehr zu tun war. Dann erlosch das Licht. Das Wachboot drehte ab. Es war Sekunden später im Dunkel verschwunden. »Morgen ist der 18.Juli«, rechnete Yang nach, als wir an Crooked Island vorbei waren, mit Kurs auf den Tolo-Kanal. Unsere Positionslichter brannten jetzt. In der Nähe von Ma Liu Shui würden wir anlegen und ein bereitstehendes Auto besteigen, das uns wieder nach Big Wave Bay brachte. »Sie können die Mittagsmaschine nach Peking bekommen, Holly hat dafür buchen lassen, für alle Fälle. Jetzt wird viel davon abhängen, wie Sie Ihre Rolle spielen, Sid!« Bis
Morgengrauen
erörterten
wir
Einzelheiten
des
Unternehmens, das im Rahmen von >Polo< lief. Ein Test nur? Ich hielt es für mehr als das, aber es gab keinen Grund, darüber Auseinandersetzungen zu führen, ich war wieder Soldat, ich tat,
was mir befohlen wurde, auch wenn der Befehl von einem Mann kam, von dem ich immer noch nicht wußte, ob man ihm eigentlich trauen konnte. Ich bekam die Viscount der CAAC in Kanton, wie es geplant gewesen war. Die Stadt war ruhiger geworden. Es gab noch rauchgeschwärzte Trümmer hier und da, von den letzten kulturrevolutionären Zusammenstößen, und manche Straßen wirkten wie Altpapierlager, die Mauern waren voller Datsebaos, teils abgerissen, teils vom Regen aufgeweicht. Alles zusammen machte den Eindruck von Unordnung, den selbst ein paar blühende Flammenbäume und der prachtvolle Oleander nicht
verwischen
konnten.
Peking
empfing
mich
mit
prasselndem Sommerregen. Ich hatte unterwegs geschlafen, das war jetzt in chinesischen Inlandsmaschinen wieder möglich, es gab zwar bei Start und Landung Agitationsmusik statt der sonst wo üblichen Bonbons, aber dafür tanzte die Stewardeß nicht mehr während des Fluges im Mittelgang mit dem roten Büchlein herum. Tso Wen winkte mir zu. Er hatte einen der großen chinesischen Ölpapierschirme aufgespannt und bemühte sich um mich, als sei ich der nach ewigen Zeiten heimgekehrte verlorene Sohn. »Alles beim Alten?« erkundigte ich mich routinemäßig. Worauf er mich wissen ließ, die Zeiten seien, im Vergleich zu
früher, wesentlich ruhiger geworden. Das fiel mir auch auf. Es schien, als gäbe die Stadtverwaltung sich Mühe, das Bild nach und nach wieder etwas freundlicher zu gestalten. Aber das würde schwer sein. Selbst die unter großem Aufwand auf dem Weg vom Flugplatz zur Stadt hinein angelegte Allee sah aus wie nach mehreren Taifunen: Hier waren jugendliche Demonstrierer von ihren Anführern ermuntert worden, die unteren Äste der jungen Bäume abzureißen, um beim Vorbeimarsch am Vorsitzenden damit zu winken. Was war schon ein Baum gegen die grandiosen Ideen des Steuermannes! »Keine jungen Revolutionäre mehr zu sehen«, konnte ich mir nicht verkneifen, etwas ironisch zu bemerken. Tso Wen grinste. »Was zu tun war, haben sie erledigt. Jetzt werden sie umerzogen.« Um die aus der Bahn gerissenen jungen Leute, für die es noch keine Schule wieder gab, auch keine Lehrstellen, von weiteren Zerstörungen abzuhalten, um sie zu beschäftigen und gleichzeitig von den Städten fernzuhalten, wo dringend wieder Ruhe einziehen sollte, hatte die >Gruppe< die Parole ausgegeben, die Jugend müsse aus den Leistungen der alten Revolutionäre lernen, auch aus ihren Entbehrungen. Also solle sie
versuchen,
den
legendären
>langen
Märsche<
nachzuvollziehen. Seitdem trampten Millionen ehemaliger Hung Wei Pings, soweit sie nicht in Umerziehungssiedlungen im
Norden konzentriert waren, durch Wüsten und Gebirge, hungernd, frierend, sich von Wurzeln und Kräutern nährend. Zu meinem Erstaunen ging es nicht zum Tschung Nan Hai, wo sich Kang Shengs offizielle Residenz befand, sondern, wie Tso
Wen
mir
Geheimdienstchef
eröffnete,
in
etwas
hatte,
die
Westberge, was
Tso
wo
der
Wen
als
>Außendienststelle< bezeichnete. »Hallo, mein lieber Kamerad Robbins!« Kang Sheng lächelte über das ganze Gesicht, so daß sich um seine kurzsichtigen Augen hundert Fältchen zeigten, die durch die starken Brillengläser enorm vergrößert wurden. Er war noch hagerer geworden, der Anzug schlotterte an seinem Körper, und die Haut war von einer aschefarbenen Blässe. Aber er war so gut gelaunt, wie ich ihn nie erlebt hatte. »Kommen Sie, trinken Sie einen Schluck Whisky, es ist englischer, machen Sie es sich bequem ...« Ein Diener brachte einen Imbiß, ich staunte, Kang Sheng ließ für uns beide auf Schinken gebratene Spiegeleier servieren, eine für
China
unbegreifliche
Speise,
die
man
nur
in
Ausländerrestaurants bekam, wo sie als >Hamandeggs< bezeichnet wurde, in absolut klassischem Pidgin, wie es von Tokio bis Sidney immer noch als Verständigungsmittel benutzt wurde.
Kang Sheng scherzte: »Lassen wir uns zu dem nieder, was man in Diplomatenkreisen ein Arbeitsessen nennt! Wir sind doch die eigentlichen Diplomaten, wie?« Ich ließ mir die Eier schmecken, den goldgelben Toast, trank Orangenlimonade dazu, bekam als zweiten Gang gegrillte Schweinswürstchen, und zwischendurch erkundigte ich mich, ob man in Peking schon Bescheid über die beiden Herren Huntress hatte, die bei Hongkong verschwunden waren, von chinesischen Küstenwachen aufgegriffen, wie ich bei meiner Abreise als Schlagzeile in allen Hongkonger Zeitungen hatte lesen können. Kang Sheng nickte. »Wir haben einen Routinebericht über den Vorfall. Ich kenne keine Einzelheiten. Was ist damit?« Dies war die Stunde, in der ich persönlich sein Vertrauen in mich erneut festigen konnte, indem ich ihm das Geschäft aufdeckte, das wir da aufgezogen hatten, und ihm zugleich verriet, meine Chefs wüßten selbstverständlich, daß ich ihn ins Vertrauen ziehen würde und rechneten mit seinem nächsten Zug, damit das Spiel weitergehen konnte. Das einzige, was ich ihm nicht verriet, war der Codename >Polo<. Kang Sheng hörte aufmerksam zu. Er biß hin und wieder ein Stück Schweinswürstchen ab und überlegte. Am Ende sagte ich: »Jetzt wäre Ihre Seite am Zuge. Man wartet zu Hause auf das nächste Signal, es würde sofort beantwortet werden. Offenheit
gegen Offenheit!« »Entschuldigen Sie mich, bitte«, sagte er. Ging ins Nebenzimmer und kam nach einer halben Minute zurück. Aß weiter Würstchen und wies darauf hin, daß wir eine kleine Pause einlegen müßten. Ein Soldat trat ein und übergab Kang Sheng wortlos ein Stück Papier, von der Fernschreiberrolle abgerissen, wie ich erkannte. Der Abwehrchef las es, vergewisserte sich bei mir: »Die Herren heißen George und Mark Huntress und sind Brüder?« »So ist es.« Er hielt, ohne den Soldaten anzusehen, die Hand auf, der Soldat gab ihm einen Stift, mit dem Kang Sheng schnell Zeichen auf die Rückseite des Fernschreibens warf. Zum Schluß zog er aus der Innentasche der Kaderjacke die Kombination von Stempel
und
Stempelpastebehälter,
jenes
elegante,
lederüberzogene Etui, wie es vornehme Chinesen schon früher bei sich getragen hatten, um jederzeit ein Schriftstück siegeln zu können, in einem Lande, in dem das in Elfenbein geschnitzte Siegel eines Mannes traditionell mehr Gewicht besaß, als seine gepinselte Unterschrift. Als der Abdruck rot auf dem Papier leuchtete, klappte Kang Sheng gelassen sein Etui zu und steckte es wieder ein. Er
übergab dem Soldaten Stift und Papier und befahl: »Sofort!« Der Soldat verschwand. Kang Sheng griff sich ein neues Würstchen und fragte: »Es stimmt doch, daß Ihr Präsident am 21. Juli, vor dem Antritt einer Weltreise, eine öffentliche Erklärung abgeben wird?« Das war übermorgen. Ich bestätigte es. Niemand wußte genau, was Nixon sagen würde, aber Yang hatte mir mitgeteilt, er würde auf jeden Fall entscheidende Erleichterungen der Handels- und Reisemöglichkeiten mit China verkünden. Kang Sheng schien zufrieden. » Das trifft sich mit unseren Absichten. Beide Seiten gehen aufeinander zu und wahren dabei ihr Gesicht. Für uns so wichtig wie für Sie. Ich habe angeordnet, daß die beiden Herren Huntress absolut korrekt zu behandeln sind, bis genau einhundert Stunden nach der Ansprache Ihres Präsidenten. Dann sind sie ohne Aufhebens den Hongkonger Behörden zu übergeben. Einverstanden?« Und ob ich einverstanden war! Genau das sollte nach unserem — besser gesagt nach Yangs — Plan ablaufen. »Das Aufheben werden schon die Hongkonger Zeitungen besorgen«, machte ich meinen Gastgeber aufmerksam. Er hoffte, auch unsere amerikanischen Zeitungen zu Hause würden den Vorfall beachten. Daran zweifelte ich nicht. Die Agentur würde über
ihre Verbindungen dafür sorgen, daß Publicity entstand. Das Spiel ging weiter. »Nachdem der Präsident die Nachricht von der Freilassung erhalten hat, wird er bei allen Gesprächspartnern während seiner Besuche Bemerkungen machen, die seine Bereitschaft zu Gesprächen mit der chinesischen Partei- und Staatsführung ausdrücken. Es werden nicht öffentliche Gespräche sein, die der Präsident in den verschiedenen Ländern führt, aber wir sind gewiß, die betreffenden Diplomaten werden die Bereitschaft des Präsidenten gegenüber chinesischen Kollegen erwähnen ...« »Da bin ich ebenfalls ganz sicher«, bemerkte er lächelnd. »Wann haben Sie wieder Verbindung mir Ihren Vorgesetzten in Hongkong?« Yang würde mich anfordern. Es sei denn, es traten unvorhersehbare Probleme auf, dann war ich bereit, sofort zu reisen. Kang Sheng überlegte. Er verließ wieder den Raum, kehrte nach einigen Minuten zurück und teilte mir mit: »Es ist nicht nötig, daß Sie selbst reisen. Ein Herr wird Sie morgen besuchen und Ihre Nachricht mitnehmen, er fliegt gegen Mittag, wird also vormittags bei Ihnen erscheinen. Ich möchte, daß Sie Ihren Vorgesetzten einige weitere Mitteilungen machen, die den Präsidenten noch während der ersten Station seiner Reise erreichen sollten. Sagen wir — spätestens bis zu seinem Abflug
aus Indonesien ... Mir wurde klar, daß Kang Sheng in dieser Angelegenheit völlig selbstständig handelte. Er hatte — ich konnte das selbst kontrollieren — keine Abstimmung mit Mao zu treffen, etwa über die Freilassung der Schiffbrüchigen, keine Rückfrage beim Außenminister zu halten, oder bei Tschou En-lai. >Polo< war, daran gab es keinen Zweifel mehr, eine Aktion, die von den beiden Geheimdiensten abgewickelt wurde, nachdem diese von ihren Regierungen sozusagen >grünes Licht< bekommen hatten. Hier schaltete Kang Sheng, der Altmeister, und auf unserer Seite war es wohl der Sicherheitsberater des Präsidenten, der die Dienstaufsicht über die CIA hatte, im Einvernehmen mit Mister Helms, unserem neuen Chef. Geheimdiplomatie, das hatten wir in der Ausbildung bereits gelernt, war eine Methode, selbst die ärgerlichsten Probleme zwischen Staaten so auszuräumen, daß die Bevölkerung sehr lange im Unklaren über die tatsächlichen Vorgänge blieb und zudem keine Chance erhielt, sich etwa mit gegenteiligen Argumenten zu Wort zu melden, bevor vollendete Tatsachen geschaffen worden waren. Die konnten dann eben nicht mehr rückgängig gemacht werden. Nur — wir hatten damals auch gelernt, daß Geheimdiplomatie eine Variante der Arbeit in den jeweiligen Außenministerien ist. Hier und heute lagen die Dinge wesentlich anders. Die Welt hatte
sich in den zweieinhalb Jahrzehnten verändert: Geheimdienste waren es, die im stillen Einvernehmen miteinander eine Palette von Fakten vorbereiteten, die durch ihre Regierungen später nicht mehr ignoriert werden konnten. CIA wie Kang Shengs Organisation
nötigten
sozusagen
ihre
Regierungen
im
stillschweigenden Einverständnis zu einem Vorgehen auf von ihnen abgesteckten Wegen. Und das war gewiß nicht nur eine neue Variante der Geheimdienstarbeit, es signalisierte für die Zukunft einen neuen Trend. Der bestand, wenn ich es richtig sah, im Vorrang geheimer, persönlich getroffener Abmachungen gegenüber offizieller Regierungspolitik und auch gegenüber bestehenden Gesetzen. — Darüber mit Kang Sheng zu sprechen, hatte ich nicht die Absicht. >Polo< war ins Rollen geraten, schneller, als ich es für möglich gehalten hatte, nach so langer, unbefriedigender, tatenloser Zeit des Nichtstuns. »Wie lautet die Mitteilung?« erkundigte ich mich, als der Tee kam. »Bekomme ich sie schriftlich?« Er schüttelte lachend den Kopf. »Ich spreche zu Ihnen, Kamerad Robbins. Sie können Notizen machen. Und Sie schreiben für Ihre Vorgesetzten auf, was mitzuteilen ist. Diese benachrichtigen den Präsidenten. So wollen wir verfahren, es wird keine Dokumente geben, nur mündliche Abmachungen und
private Notizen. Einverstanden?« Nach allem, was ich in dieser Sache bereits erlebt hatte, wunderte mich gar kein Schachzug mehr, selbst wenn er noch so skurril war. Kang Sheng kam schnell zur Sache. »Wir möchten, daß Ihr Präsident und sein Sicherheitsberater folgendes erfahren: China hat mit der Staatsführung von Pakistan, das Ihr Präsident auch besuchen wird, ausgezeichnete Beziehungen. Was immer er uns mitteilen möchte zu diesem Zeitpunkt, kann er dem pakistanischen Präsidenten mündlich übermitteln, wir haben Wege, es schnell zu erfahren. Zu Ihrer persönlichen Information: Der Botschafter Pakistans, Herr Agha Hilali, ist ein sehr guter Freund des pakistanischen Präsidenten Yahya Khan. Und der sehr geschätzte Herr Bruder des pakistanischen Botschafters in Washington ist gegenwärtig Botschafter seines Landes in Peking. Wußten Sie das?« Ich
schüttelte
den
Kopf.
Da
zeichnete
sich
eine
abenteuerliche Konstellation ab! Kang Sheng lächelte mild, es war zu spüren, wie er seine Rolle als Wissender mir gegenüber genoß. »Nun ja«, sagte er, »das ist für Sie persönlich auch bisher uninteressant gewesen. Es bekommt erst jetzt Bedeutung. Wir haben da ein wenig vorgearbeitet. Kennen Sie den Herrn Sicherheitsberater Ihres Präsidenten?« »Nicht persönlich. Ich weiß nur, daß er in Harvard politische
Wissenschaften gelehrt hat, Professor ist ...« »Sehr richtig. Dabei fällt mir ein, daß der Herr Professor Kissinger vor etwa fünfzehn Jahren, es kann auch weiter zurückliegen,
in
Harvard
eine
Lieblingsstudentin
hatte.
Verstehen sie mich bitte recht, wenn ich sage, er wird sich an sie erinnern: Es handelte sich um Sympathie aufgrund ihrer Leistungen, die Sache hatte nicht das geringste mit einer Affäre zu tun — diese Studentin lebt inzwischen wieder in ihrem asiatischen Heimatland, das heißt, sie hält sich gegenwärtig für ein paar Tage in Peking auf und reist dann in die Heimat zurück, sie besucht hier ihren Bruder. Das ist der Botschafter Pakistans in Peking ...« Er grinste hinter seinen dicken Brillengläsern. Als er sah, daß ich noch auf weitere Erklärungen wartete, besann er sich: »Ach ja, natürlich ist der Herr Botschafter Hilali in Washington auch ihr Bruder! Wie sich die Dinge zuweilen so treffen, nicht wahr? Wie
sich
auch
für
Ihren
Herrn
Sicherheitsberater
Anknüpfungspunkte ergeben, beim Bruder seiner einstigen Lieblingsstudentin! Verwandtschaftliche Bande sind unter bestimmten
Umständen
sehr
nützlich
für
politische
Abmachungen, die man ein wenig gegen die Öffentlichkeit abschirmen möchte. Wir Chinesen haben in dieser Art der Diplomatie eine lange Tradition. Und Erfahrungen. Wenn wir
Ihnen unseren Rat anbieten, geschieht es aus wohlerwogenen Gründen des Entgegenkommens, nicht um Sie etwa zu übertölpeln .,.« »Das würde ich nie annehmen!« verwahrte ich mich gegen den Gedanken. Es klang nicht besonders forsch. Sollte es auch nicht. Mir wurde bewußt, wie unbedeutend meine eigenen Informationen waren. Hier lief in der Tat ein großes Spiel an, bedeutender als >Dixie< es gewesen war, und ich war ein Statist, nicht mehr. Ein unentbehrlicher Statist vielleicht, aber immerhin ... »Wird die Situation an Ihrer Nordgrenze sich weiter zuspitzen?« fragte ich. Er überlegte lange. Ich vermute, er dachte darüber nach, ob er mir reinen Wein einschenken sollte über die Hintergründe, beispielsweise, wer nun wirklich die bewaffneten Streitigkeiten begonnen hatte. Zuletzt erkundigte er sich: »Wollen das Ihre Vorgesetzten wissen?« »Ja«, log ich bedenkenlos. Er war einverstanden, mich zu informieren. Hatte wohl selbst keine Illusionen über die Möglichkeiten unserer Aufklärung per Satelliten. Sagte: »Es wird dort oben im Norden genau so viele Zwischenfälle geben, wie wir brauchen, um unserer — nun, sagen wir einmal — antiimperialistisch erzogenen Bevölkerung klarzumachen, daß China einen zuverlässigen Verbündeten braucht, einen neuen,
um sich gegen den ehemaligen, der uns heute bedroht, zu schützen.« Dabei lächelte er so maliziös, daß ich versucht war, ihn zu fragen, ob er für diese psychologische Meisterleistung die Ehrenmedaille unseres Kongresses erwartete, aber das wäre so unglaublich rüde gewesen, daß es mich vermutlich das Genick gekostet hätte und Amerika den Erfolg, deshalb verdrängte ich den ketzerischen Gedanken, was mir ein wenig erleichtert wurde, dadurch, daß Kang Sheng auf ein anderes Thema überging. »Es wird vermutet, daß es in absehbarer Zeit interne Gespräche zwischen Nordvietnam und den USA geben könnte. Zur Frage des amerikanischen Disengagements in Vietnam. Wissen Sie Näheres?« »Ich habe Andeutungen über einen Truppenabzug gehört, mehr nicht.« »Meinen Sie, daß Ihr Präsident entschlossen ist, das militärische Engagement in Vietnam abzubauen?« »Ich rechne damit«, gab ich zurück. »Er muß das allein deshalb
tun,
weil
unser
Engagement
in
Vietnam
die
amerikanische Bevölkerung förmlich aufgespalten hat. Wir sind eine zerrissene Nation, der Riß geht selbst durch die Familien. Meine eigene leidet übrigens auch darunter. Unsere Kinder denken anders über viele Dinge, als wir es tun.«
Die Augen hinter seinen Brillengläsern funkelten, es machte den Eindruck, als belustigte ihn mein Hinweis. Er sagte: »Das, lieber Kamerad Robbins, haben gerade wir im eigenen Lande beobachten können, in den letzten Jahren. Beantworten Sie mir offen die Frage: Wird das Disengagement in Vietnam die Position des Präsidenten festigen?« »Mit Sicherheit.« »Aber — wird ein Präsident, der zum ersten Mal amerikanische Truppen aus einem Krieg heimholt, den diese nicht haben gewinnen können — wird er nicht in eben diesem Asien einen großen politischen Erfolg brauchen, um den Abzug zu kompensieren? Um sozusagen Schatten zu Licht zu machen?« »Das halte ich für sehr wahrscheinlich«, gab ich vorsichtig zurück. Es war sinnlos, einem Mann wie Kang Sheng gegenüber diesen Zusammenhang zu leugnen. »Wird daher nicht jeder Fortschritt bei der Einigung mit uns ein ganz persönlicher und Aufsehen erregender Erfolg für Ihren Präsidenten sein?« Ich nickte. Seine Gedanken wiesen Kang Sheng als den Mann mit der phantastischen Kombinationsgabe aus, als den ich ihn immer bewundert hatte. Er vertraute mir lächelnd an: »Dies alles ist eine für unsere beiden Länder sehr vernünftige Konstellation. Was uns angeht, werden wir sie
nutzen. Ihr Entgegenkommen freut uns. Die Vereinigten Staaten werden Nutzen haben, wie wir auch. Aber — überlegt man sich bei Ihnen zu Hause auch, was in Vietnam geschieht, nachdem die USA sich von dort entfernt haben?« Da war wieder die Frage nach dem Vakuum, ich hatte sie vor langer Zeit schon mit Mao Tse-tung erörtert, noch bevor der Vietnam-Krieg auf den Höhepunkt kam. Hanoi würde sich nach dem Rückzug der Vereinigten Staaten noch enger als bisher mit den Sowjets verbünden. Die Sowjetunion hatte dem kleinen Land unermeßlich geholfen, seinen Bestand zu wahren. Sie würde auch den Nachkriegsaufbau fördern. China, von dem man zwar wußte, daß es große Demonstrationen gegen uns veranstaltete, daß es Lebensmittel und anderes nach NordVietnam geliefert hatte, war mit den Männern in Hanoi nie so recht warm geworden. Man traute einander nicht. Ich glaube, es lag daran, daß Hanoi sich vor der chinesischen Dominanz fürchtete und vor den nie zurückgenommenen Gebietsforderungen Chinas an Vietnam. Von den Sowjets drohte in dieser Hinsicht kaum Gefahr, zumal ihr Land weit von Vietnam entfernt lag, mit China aber gab es eine gemeinsame Grenze! Jetzt machte sich Kang Sheng offenbar ähnliche Gedanken, wie Mao schon viel früher. Ich wurde den Verdacht nicht los, daß man hier in Peking nichts weiter dagegen gehabt hätte, wenn wir
unsere militärische Präsenz in Vietnam weiter aufrechterhielten, obwohl niemand das bisher offen gesagt hatte. Auch Kang Sheng sagte es nicht. Er nickte bedächtig, als ich ihm auseinandersetzte: »Ich glaube, es herrscht die Meinung vor, wenn wir ein gewisses Maß an Waffenhilfe leisten, wird SüdVietnam in der Perspektive mit dem Problem sehr gut allein fertig werden können.« Nach einer Pause, in der er schweigend überlegte, ging er ans Fenster und sprach von dort aus leise und gemessen, so als wolle er mich auf die Bedeutung seiner Gedanken aufmerksam machen: »Es wäre nützlich, eine Überlegung anzustellen, die gewisse unvorhersehbare Entwicklungen berücksichtigt. Wir schätzen die Kampfkraft der nordvietnamesischen Armee als sehr hoch ein. Wir wissen auch, daß ihre technische Ausrüstung von der Sowjetunion ständig verbessert wurde. Und wir wissen, daß Nord-Vietnam entschlossen ist, bis zur endgültigen Vereinigung des Landes weiterzukämpfen. Dabei könnte sich Erfolg einstellen, fürchten Sie nicht auch?« Ich blickte an ihm vorbei, aus dem Fenster auf die Berge. Ein paar Majolikadachziegel auf Tempeln und Pavillons, die sich im Wald versteckten, glänzten goldgelb unter den jetzt direkt einfallenden Sonnenstrahlen. Ich weiß nicht«, gab ich zurück, »so recht möchte ich daran
nicht glauben, nein ...« Er bewegte die Schultern. Sagte beinahe gleichmütig: »Sollte die Befürchtung zutreffen, die ich ihnen schilderte, hätten wir plötzlich an unserer Südgrenze einen Staat, für den der sowjetische Revisionismus der große Verbündete ist. Im Zusammenhang mit der Haltung Indiens und einigen anderen Faktoren könnte sich damit nicht nur das Gesicht Indochinas verändern, sogar das ganz Südasiens ...« Er ließ den Gedanken hängen. Hatte mich wohl nur indirekt einstimmen wollen für mein nächstes Gespräch mit den Vorgesetzten. Nun schlug er mir vor, mich nach der langen Reise erst einmal gründlich auszuschlafen. Das tat ich zu Hause, in dem stiller werdenden Haus in der Ping Tjiao Hutang, nachdem ich die Nachricht für Yang verfaßt hatte. Lao Wu und die Tai-tai schlichen auf Zehenspitzen herum, so als sei jemand gestorben. Sie vermißten Sandy und waren traurig, weil ich ihnen nicht sagen konnte, wann sie zurückkehren würde. Als ich ihnen Bilder von Sue und Burt zeigte, blickten sie einander an, und die Tai-tai sagte leise: »Es ist uns klargeworden, daß wir schon sehr alt sind ...« Mir schien, sie ahnten, daß die besten Zeiten für sie mit der Stellung bei uns zu Ende gingen. Ihre roten Armbinden hatten sie längst abgelegt ...«
Um zehn Uhr vormittag, mit dem Zeitzeichen des Pekinger Rundfunks, der Nachrichten sendete, erschien David Hong. Er war in Eile, am Ende der Gasse wartete ein Auto auf ihn. Wollte nur >Ni Hao< sagen, aus purer Verbundenheit. Ich verstand. Drückte ihm die Botschaft in die Hand. Ob wir uns in Hongkong sehen würden, wollte er wissen. Ich versprach ihm, bei einem Besuch die Nummer anzurufen, unter der er im Büro des Mister Ho Yin erreichbar war. Er schien interessiert zu sein, mich in der Kolonie zu treffen. Vielleicht wollte er mir ein Geschäft vorschlagen. Oder sein Chef, der — trotz allen Durcheinanders der letzten Jahre und allen Kampfes gegen > schwarze bourgeoise Strolche< — immer noch Abgeordneter des Nationalen Volkskongresses war und dort die Interessen der Auslandschiriesen vertrat. Nur daß der Kongreß nicht tagte ... Ich nehme mir vor, Tong anzurufen, Chang Wen zu besuchen, überhaupt
eine Anzahl von alten Kontakten
aufzufrischen, aber zuerst muß ich schlafen. Ich merke erst jetzt, wie müde ich bin. Zum Schreiben habe ich wenig Lust. Dazu hat nicht zuletzt die Überraschung beigetragen, die Franklin Delano Yang mir bereitete, als er mir mitteilte, über das Schicksal meiner Aufzeichnungen würde die Agentur mitentscheiden. Der Teufel wird mitentscheiden! Und — ich werde mich wohl kürzer fassen müssen, die Zeit wird knapp.
Beobachtungen und Daten
21.7.1969: Ich fiebere am Radio, wo die > Stimme Amerikas < läuft, mit den Amerikanern, die ihr für mich schwer vorstellbares Fahrzeug auf dem Mond aufsetzen! Keine Fernsehberichterstattung in Peking, lediglich die knappe Mitteilung. Ich höre unsere Nationalhymne zum ersten Mal seit dem zweiten Weltkrieg mit innerer Bewegung und mit dem Stolz eines Mannes, der froh ist, dieser Nation anzugehören ...
26.7.1969: Radio Hongkong meldet die >Freilassung von zwei in Rotchina
inhaftiert
gewesenen
Schiffbrüchigen<.
Wenig
Kommentar. Aber die Bemerkung, daß die Heimgekehrten sich anerkennend
über
die
faire
Behandlung
durch
die
kommunistischen Behörden geäußert hätten. Sie seien weder schlecht
behandelt
worden,
Kommunismus bekehren wollen.
noch
habe
man
sie
zum
1.8.1969: In drei verschiedenen Ländern hat Präsident Nixon auf seiner Weltreise bisher ähnliche Aussagen gezielt in Richtung Peking gemacht (Indonesien, Thailand, Pakistan). Tenor: Die USA sind Verbesserung
der
bereit, Gespräche über eine
Beziehungen
ohne
Vorbedingungen
aufzunehmen. Der sowjetische Vorschlag, in Asien ein System kollektiver Sicherheit zu schaffen, werde von den USA (ebenso wie von China) abgelehnt.
8.8.1969: US-Außenminister Rogers sagt in Canberra — nach Betrachtungen über Realitäten in Asien und über den Abbau der Reise- und Handelsbeschränkungen — wörtlich: >Unsere Absicht ist es gewesen, Störfaktoren in unseren Beziehungen zu beseitigen und die Menschen auf dem chinesischen Festland daran zu erinnern, daß es eine historische Freundschaft zwischen beiden Völkern gibt<.
15.8.1969: Hsinhua berichtet über neue Grenzzwischenfälle in Sinkiang. Die UdSSR bereite angeblich einen Krieg gegen China vor, Chinas Bevölkerung solle dem Aufruf des Vorsitzenden folgen,
Vorräte anzulegen, tiefe Bunker zu bauen und sich auf einen Widerstandskrieg einzustellen. In
Peking
laufen
Arbeiten
an
einem
unterirdischen
Luftschutzsystem an. Es werden vorhandene Tunnel der früher geplanten U-Bahn benutzt, neue werden gegraben.
11.9.1969: Ho Chi Minh ist in Hanoi beigesetzt worden. Tschou En-lai und (der sowjetische Ministerpräsident) Kossygin, die sich in Hanoi selbst nicht getroffen hatten, kamen heute auf dem Pekinger Flugplatz zusammen. Kossygin war nach Absprache mit Tschou En-lai hier auf dem Heimflug zwischengelandet. Thema des Treffens fraglos die neuen Grenzzwischenfälle. Offenbar haben die Sowjets durchblicken lassen, sie würden jeden weiteren Übergriff massiv zurückschlagen.
26.11.1969: Die bisher in der Taiwan-Straße patroullierenden zwei USZerstörer werden (wie ich es Yang riet) als Goodwill-Zeichen abgezogen. Sie hatten sich in dem Seegebiet seit dem KoreaKrieg aufgehalten. Kommentar von Radio Taipeh dazu: »Es handelt sich lediglich um eine Demonstration. Gleichzeitig
(weshalb ich aufmerksam zuhöre) verbreitet sich der Taiwaner Kommentator über die zwischen den USA und Nord-Vietnam bereits bestehenden Kontakte vertraulicher Art. Danach soll Präsident Nixon bereits im Winter 1968/69 durch die Vermittlung eines ehemaligen französischen Geheimdienstoffiziers mit ausgezeichneten Kontakten nach Asien, namens Jean Sainteny, den Hanoiern eine intime Botschaft zugesandt haben, die ernste Gespräche miteinander vorschlägt, mit dem Ziel, eine für beide Seiten >ehrenhafte Entflechtung< möglich zu machen. Später seien durch besagten Sainteny (wie recht der Kerl hat, ich kenne Sainteny noch aus Kunming, wo er während des zweiten Weltkrieges den französischen Geheimdienst repräsentierte!) weitere Vermittlungen erfolgt. Inzwischen gäbe es inoffizielle und informelle Gespräche beider Seiten, die in Paris geführt würden.
Tonspulenabschrift (Auszüge) Gespräch mit Tjiuy Tong, am 18. Oktober 1969:
... Weißt du, Sid, Liu-Shao-tschi war nicht mehr sehr gesund. Ich weiß das von Chen Tsu-lin, sie hat mit mir einmal sehr offen über ihre Furcht gesprochen, daß man ihn langsam zermürbt. Er
selbst hat sich davor gefürchtet, er war ein charakterstarker Mann, aber er wußte, daß er ganz allein dastand wie auf einer Bühne, jeder konnte ihn mit faulen Eiern bewerfen. Er litt an einem fortgeschrittenen Diabetes, mußte schon Injektionen bekommen. Insulin. Um jede Ampulle mußte er betteln. Erniedrigend so etwas. Im Tschung Nan Hai war er ein Gefangener. Er konnte das abgesperrte Gebiet nicht verlassen, die Posten wiesen ihn zwar nicht zurück, aber sie benachrichtigten sofort bereitstehende Rowdygruppen, die ihn überfielen — ja, er war tatsächlich gefangen. Ohne Zelle. Ohne Ketten. Schlimmer ... ... Seine Frau war bereits verschwunden, seit Monaten, ebenso wie seine Kinder. Es heißt, ein Tribunal der Roten Garden habe sie zu zwölf Jahren >harter Arbeit an den Graswurzeln< verurteilt und sogleich weggeschafft. Liu war allein. Hatte noch einen Koch, der Diätküche für ihn machte, aber den haben sie auch vor einiger Zeit weggeholt. Verschwunden. Aus. Chen Tsu-lin war die einzige, der man gestattete, ihn aufzusuchen, angeblich, wie sie mir sagte, zur Abwicklung von Staatsgeschäften, die er noch besorgen mußte. Liu war der einzige Mann, der Mao oder Lin Piao hätte gefährlich werden können. Ein Marxist eben. Er sagte es offen, wenn er mit etwas nicht einverstanden war. Das vertrug Mao
nicht. Zumal Liu zu oft recht hatte, wie sich immer wieder herausstellte. Und dann war es die Rache Tschiang Tschings. Sie und Wang Kuäng-mei haßten einander. Tschiang Tsching beneidete Lius Frau um ihre solide Bildung, um die Sicherheit ihres Auftretens. Du darfst nicht vergessen, man hatte Tschiang Tsching bereits in Jenan untersagt, die nächsten zwanzig Jahre eine Parteifunktion zu bekleiden. Das hing mit der Scheidung Maos zusammen und mit Tschiang Tschings Ruf aus der Shanghaier Zeit. Sie rächte sich an Wang Kuang-mei persönlich, da bin ich sicher, und sie rächte sich besonders dadurch an ihr, daß sie Mao antrieb, den Kranken endlich loszuwerden ... ... Chang Wen hat mir erzählt, Chen Tsu-lin sei durch einen Zufall Zeuge gewesen, wie man ihn wegbrachte. Es war gestern. Chen Tsu-lin sagte, er habe eine schwere Grippe gehabt seit längerer Zeit, sei geschwächt gewesen. Sie hatte man im Büro beauftragt, ihm Medikamente zu bringen, das war üblich. Es gab Leute, die stillschweigend dafür sorgten, daß er Insulin bekam. Als Chen Tsu-lin in die Nähe seines Hauses im Tschung Nan Hai kam, sah sie, wie er gerade auf einer Trage in einen Krankenwagen
verladen
wurde.
Angeblich,
um
in
ein
Krankenhaus gebracht zu werden, sein Zustand sei danach, sagte man ihr. Er war wohl selbst nicht in der Lage zu sprechen. Chen Tsu-lin fragte den Fahrer, in welches Hospital man ihn bringe.
Da blickte der Fahrer sich um, ob jemand von den Posten mithörte, und dann flüsterte er: »Nicht Hospital. Ich fahre zum Flugplatz. Er wird nach Kaifeng transportiert.«
Tonspulenabschrift (Auszüge) Gespräch mit Chang Wen am 20.November 1969: ... Ich habe schon ein paar Tage später mit einem Freund in Kaifeng telefoniert. Er hat einen Bruder, der ist auf dem kleinen Flugplatz dort angestellt. Und der hat Liu Shao-tschi gefahren. Auf einem Elektrokarren, von der Maschine bis zu einem abgesicherten Raum ... ... Liu Shao-tschi habe völlig weißes Haar gehabt, er sei sehr krank gewesen, ohne Bewußtsein, von einer Virusgrippe gepackt, wie man beim Ausladen sagte. Er hatte hohes Fieber und Schüttelfrost. In dem abgesicherten Raum habe man ihn samt Krankentrage abgestellt, etwas hatte nicht geklappt mit der Abholung, man erwartete ein Gefängnisfahrzeug. Es wurde dann von Flugplatzleuten, denen die Sache nicht ganz geheuer war, ein Arzt gerufen. Der Posten, der Liu bewachte, konnte nichts dagegen machen, er war allein. Der Arzt sagte, der alte Mann habe eine ziemlich fortgeschrittene Lungenentzündung, man könne das über das Stethoskop an den Atemgeräuschen deutlich hören. Es soll schon dunkel gewesen sein, als man Liu abholte.
Gefangenenwagen. Sie schoben ihn samt Trage hinein. Mein Freund konnte mehrere Tage weiter nichts erfahren, als daß Liu Shao-tschi seine gerechte Strafe im Kaifenger Gefängnis abzusitzen habe, er werde dort auch ärztlich betreut, hieß es. Den Leuten auf dem Flugplatz wurde auf die Frage, ob das nicht Liu Shao-tschi sei, geantwortet: »Das ist der größte Machthaber in der Partei, der den kapitalistischen Weg geht. Die Massen haben ihn verurteilt, er wird hier seine Strafe verbringen!« ... Nein, getötet in dem Sinne, daß jemand ihn erschoß, oder köpfte, hat man ihn nicht. Er kam, wie ich viel später herausfinden konnte, in das Kaifenger Gefängnis und wurde in Abständen von einem Arzt betreut. Das Ganze war eine elegantere Art, ihn zu töten. Es war die Rache dafür, daß er sich seit vielen Jahren gegen tollkühne Gesellschaftsexperimente ausgesprochen hatte, offen, wenngleich mit der gebotenen Vorsicht, aber immerhin, er tat es. Er war gegen den sogenannten Großen Sprung und das Eisenschmelzen und die chaotische Auflösung aller Dorfstrukturen durch die rasante Kommunisierung, Familienbeziehungen Individualeigentums.
die
Zerstörung und
Er
die versuchte,
der
gewachsenen
Abschaffung diese
des
schädliche
Entwicklung wenigstens zu bremsen, er versuchte auch, den Wahnwitz der Kulturrevolution in Grenzen zu halten, anfangs
— das haben ihm weder der Initiator noch die Durchpeitscher der Kulturrevolution jemals vergessen. Sein Tod war wohl vorgeplant, nur der Zeitpunkt war noch nicht bestimmt ... ... Ja, er starb in Kaifeng. Es ist durch das Personal des Gefängniskrankenhauses bekannt geworden. Ich kenne Tag und Stunde: Es war am 12. November, frühmorgens, sechs Uhr fünfundvierzig.
Darüber
gibt
es
sogar
ein
Protokoll.
Todesursache: Lungenent-zündung und Herzschwäche ... ... Ein Grab gibt es nicht. Er wurde im Krematorium des Gefängniskrankenhauses sofort nach seinem Tode verbrannt. Ob eine Urne existiert, ist mir nicht bekannt. ... Ich weiß nicht, wo Wang Kuang-mei gefangengehalten wird. Auch über die Kinder hört man nichts. Nach Kaifeng, wo Liu Shao-chi im Sterben lag, wurden sie jedenfalls nicht gebracht ... ... Ob man ihn schnell vergessen wird? Sie fragen mich etwas Schwieriges. Eines Tages wird unsere Partei sich besinnen. Sie wird zu den Grundsätzen zurückkehren, auf denen unsere Überzeugung als Kommunisten fußt. Es wird eines Tages genug kluge Leute in China geben, tatsächliche Marxisten, die beurteilen können, wer Liu Shao-tschi wirklich war und warum er verleumdet wurde. Man wird auch wissen, wer es zu verantworten hat. Zu früh, jetzt darüber Aufschluß zu verlangen,
wir sind in einer sehr schwierigen Phase. Alles ist noch offen. Was der Genosse Liu verhindern wollte, das geschieht jetzt. Es wird
lange
dauern,
zusammenfinden,
bis
um
sich
diese
in
China
verhängnisvolle
Kommunisten Entwicklung
wenigstens aufzuhalten, wenn sie schon nicht gleich umkehrbar ist. Ich werde dabei sein, keine Frage. Aber das liegt noch weit in der Ferne ... ... Ich selbst? Werde arbeiten. Wie immer zuvor. Natürlich sind diese Tunnel ein Unsinn, die Sowjets bedrohen uns nicht. Aber ich werde nicht nur in den Tunnels gebraucht. Die Partei existiert wieder, wie immer sie auch aussehen mag. Sie braucht jeden von uns, denn nur wir, die wir Marxisten geblieben sind, können aus der jetzigen Partei wieder das machen, was wir >unsere Partei< nennen würden. Also werden wir das tun, was wir schon so oft zuvor taten, das Blut abwischen, uns erheben und weiterarbeiten. Unbeirrt. Eine Ernte wird erst gewogen, nachdem sie eingebracht ist ...
Mai 1970-April 1971 Wieder in Hongkong.
Peking war staubig und kühl, als ich es verließ. Dafür war der
Winter in Kauai, wo ich an meinem Buch gearbeitet habe, mild. Nach Absprache mit Professor Hotbread werden es nun sechs handliche Bände sein, die da ab nächstes Jahr in Berkeley herauskommen, ich bin noch nicht ganz fertig damit, die Einteilung vorzunehmen, es gibt Zäsuren, die wollen gut überlegt sein, man kann nicht allein nach Jahreszahlen oder Dynastien ein Phänomen wie die Erzählkunst der alten Chinesen in Kapitel aufteilen. Vor allem: meine Übersetzung der Tu-FuGedichte ist erschienen. Ich bin stolz darauf! Doch — zurück nach Peking ... Millionen jener, die vor nicht langer Zeit Leute geschunden und Werte zerstört hatten, sind in entfernte Gegenden des Landes verschickt worden, zum Mißvergnügen Tschiang Tschings wohl, deren Hausmacht schwindet. Aber es gibt noch genügend Hung Wei Pings in der Stadt. Die Bewegung, die sich vorher durch ihren Massencharakter ausgezeichnet hat, ist jetzt zwar kleiner, dafür aber ruchloser geworden. Es bleibt nicht mehr bei Demonstrationen und Kampfversammlungen. Wenn heute Hung Wei Ping ausrücken, dann kann man sicher sein, daß einige Schwerverletzte irgendwo liegenbleiben, wenn nicht Tote. In
den
Zeitungen
>Musterrevolutionär<
aus
wird
ständig
Shanghai,
Wang
der
neue
Hung-wen
angepriesen. Er war an der Niederschlagung jener Kräfte in Shanghai führend beteiligt gewesen, die ein Minimum an Ordnung und Sicherheit hatten aufrechterhalten wollen. Heute wird er von Tschiang Tsching, die immer noch die Zeitungen, den Rundfunk und das Fernsehen dirigiert, unentwegt als das hingestellt, was man sich unter einem >Arbeiter< vorstellen soll. Jemand sagte ironisch zu mir, wenn es so weiterginge, würde er bald so populär sein wie Frühlingsröllchen oder Jasmintee. — Ich kümmerte mich nur wenig um das politische Leben in der Hauptstadt. Mein Interesse galt anderen Dingen. Einige Male traf ich mit Kang Sheng
zusammen,
und
wir
registrierten
gemeinsam
chinafreundliche Äußerungen von US-Politikern. Dann wieder machte mich Kang Sheng aufmerksam, welche positiven Äußerungen oder Zeichen äußerster Zurückhaltung es auf chinesischer Seite gab. Etwa bei den Bombardements, die unser Präsident auf angeblich von der Luftaufklärung erkannte Vietcong-Bereitstellungen in Kambodscha anordnete. Kurz zuvor hatte Nixon den Abzug von 150000 GIs aus Vietnam verfügt. Nun machte Kang Sheng ein besorgtes Gesicht. Wir sprachen seit dem vergangenen Jahr bemerkenswert offen miteinander, es gab keinerlei Schattenboxen zwischen uns, die Dinge wurden beim Namen genannt: »Wir haben alle Brücken
zu den Sowjets abgebrochen, Kamerad Robbins, wir bereiten uns auf einen Krieg mit ihnen vor — nun wollen wir endlich die Vereinigten Staaten auf unserer Seite haben. Wir brauchen Beistand, und die USA brauchen die Nähe zur sowjetischen Grenze — also ...« Unvorstellbar, das vor zehn Jahren so zu besprechen! Weder mit Kang Sheng noch mit irgendeinem anderen von den Leuten hier, die zu uns tendierten. Es folgte alles atemberauschend schnell aufeinander. Kambodschas
eitler
und
ziemlich
arroganter
Staatschef
Sihanouk hatte sich mit seiner Politik in eine Sackgasse manövriert: Er stand vor der Entscheidung, entweder mit uns zusammenzugehen oder mit den Vietcong. Da wählte er eine Reise nach Paris und wurde prompt (weil wir etwas nachhalfen) ausgebootet. Nach einigen Umwegen traf er als Exilant in Peking ein, wo er in Tschou En-lai und Kang Sheng Stützen hatte, die ihn gewissermaßen >auf Eis lagern<, bis sie ihn wieder einmal brauchen können. Kurz nach Sihanouks Sturz ließ Präsident Nixon einige Regimenter Südviet-namesen unter USFührung in Kambodscha einmar-schieren. Wiederum wurde gesagt, damit sollte den Vietcong endgültig der Garaus gemacht werden, die logistischen Linien wollte man abschneiden. Die Sache mißlang, weil die Vietcong lediglich nach Westen
auswichen, womit sie die Lage der Absetzer Sihanouks hoffnungslos machten, jene regierten bald nur noch die Hauptstadt Phnom Penh, der Rest des Landes gehörte ihnen nicht mehr. Die Vietcong-Aktionen in Südvietnam, das erkannten unsere Strategen wohl zu spät, wurden nicht einmal ernstlich behindert. Es klang unglaublich, wenn man in den Berichten las, die Vietcong kurvten mit modernen Panzern sowjetischer Bauart nicht weit von Saigon herum. Wo waren sie hergekommen? Und wie? Wir inszenieren da unten ein Schauspiel, in der Absicht, unseren Truppenabzug im Lichte >gesicherter Verhältnisse< in Südvietnam
erscheinen
zu
lassen.
Augenwischerei,
die
Verhältnisse sind katastrophal. Kang Sheng machte mich eines Tages aufmerksam: »Kambodscha ist für uns ein wichtiges Gebiet, wir werden dort keinen fremden Einfluß dulden. Dafür sind unsere Interessen in Indochina zu gewichtig. China braucht angesichts der engen Verbindung Hanois zur UdSSR die Westflanke Vietnams. Das ist eine strategische Frage für uns, Kamerad Robbins.« Inzwischen hat Sihanouk in Peking mit Hilfe Tschou En-lais eine Art Exilregierung gebildet. Sie residiert im alten Botschaftsviertel in einer der geräumten Missionsvillen. Der
Herbst war voller schöner Tage, die Abende schenkten den Pekingern einen runden, prallen Mond, der zum Träumen einlud, zum Dichten — allein, die Zeiten waren noch längst nicht friedlich genug, um, wie die alten Poeten sagten, >Schwert und Schild am Fluß für immer niederzulegen<. Tschiang Tsching machte Furore um ihre sogenannten revolutionären Opern, Propagandastücke, denen selbst das große darstellerische Können der Akteure, ihre Tanzdarbietungen und Akrobatik nicht den Hauch von Kunst verleihen konnten, von dem eine Bühnenvorstellung lebt und ohne den sie langweilig ist. Ich ging mir das nicht ansehen, hatte zu tun. Schnell und unkompliziert war die Arbeit an zwei weiteren Märchenbänden, mit der ich meine langen Abende ausfüllte. Dabei ließ ich zuweilen das Fernsehgerät mit abgeschaltetem Ton laufen, nur um aufmerksam zu werden, wenn sich in der Welt außerhalb der Hutang etwas ereignete, das mich betraf. Es geschah nichts weiter, als daß ein stiller, kaum noch an den alten, lustigen Tjiuy erinnernder Tong mich allein oder mit Elma besuchte, wir ein paar Gläser tranken und dabei Erinnerungen an Dinge und Zeiten nachhingen, die, wie wir wußten, für immer dahin waren. Zerstört wie die Tempel und Altäre, die Klaviere und Geigen. Jan Tong war in Sinkiang. Viel mehr wußten die Eltern nicht von ihm. Er stritt immer noch für die Kulturrevolution, wie er in
dem bisher einzigen Brief seit vielen Monaten geschrieben hatte — die Zeiten seien hart, aber man werde aus diesem Land eine Bastion des >roten Weltdorfes < machen. Eine der zeitgemäßen Bezeichnungen für die unterentwickelten Länder der Welt, deren Schicksal China durch den Export der Kulturrevolution von heute auf morgen zu ändern versprach. Schlagworte, von jungen Leuten so gedankenlos nachgeplappert, wie sie einst die Sprüche des Steuermanns heruntergeleiert hatten. »Er wird frieren, da oben«, sinnierte Elma. — Taxifahrer Nr. 1 kam immer noch, wenn ich in der Zentrale ein Auto anforderte. Er nahm Zigaretten von mir, wenn niemand zusah, sprach wenig, und einmal, als ich ihm eine Flasche Öl zusteckte, weil ich wußte, daß es immer knapper wurde, senkte er beschämt den Kopf und murmelte: »Früher ging ich in Lumpen, Mister Robbins, Sie erinnern sich bestimmt noch — aber ich war gewiß, die Revolution würde uns endlich ein Leben ohne Not bringen. Heute bin ich besser gekleidet. Aber ich bin arm. Weil ich nicht mehr daran glaube, daß diese Revolution wirklich für uns arme Leute gemacht ist.« »Für wen dann?« fragte ich ihn. Er zuckte nur die Schultern und gestand mir, er bestaune meine Freundschaft zu China, die mich trotz der schlimmen Zeiten hierbleiben ließ. Ich könnte doch nach Amerika zurückgehen und würde wesentlich besser
leben ... Kang Sheng ließ mich rufen, teilte mir mit, man habe sich >im Führungsgremium< entschlossen, das für den 20. Mai in Warschau vorgesehene Treffen der beiden Botschafter Stoessel und Lei Yang im Hinblick auf die Aktivitäten der USA in Indochina abzusagen. Er fügte an, es sei natürlich eine >Sache des Gesichts< für China. Ich war trotzdem verblüfft. In Warschau hätte an diesem 20. Mai
das
Datum
der
Reise
eines
amerikanischen
Sonderbeauftragten nach China festgesetzt werden sollen, soweit waren wir nämlich. Monate zuvor hatten die beiden Botschafter in schwerfälligen, von Formfragen belasteten Gesprächen immerhin eine Einigung darüber erzielt, daß ein solcher Besuch der Staatsvisite des amerikanischen Präsidenten in Peking vorausgehen und daß der Sonderbeauftragte sozusagen das Register der gegenseitig interessierenden oder auszuklammernden Themen mit den Chinesen ausarbeiten sollte. »Wir können uns nicht lächerlich machen«, erläuterte mir Kang Sheng, »oder unglaubhaft. Verstehen Sie uns recht, wir haben volles Verständnis, daß die USA in Indochina günstige Verhältnisse schaffen wollen, bevor sie von dort weggehen. Nur — wir sind verpflichtet, darauf zu reagieren, offiziell jedenfalls.
Also schieben wir das Treffen auf. Wir erklären, daß der Zeitpunkt für uns unannehmbar ist, da kann jeder denken, was er will. Es werden zu gegebener Zeit neue Vereinbarungen zu treffen sein ...« Ich hatte schon verstanden. Wir durften nicht glauben, daß es sich hier um einen Operettenstaat handelte, der sozusagen um Hilfe bettelte. Peking bot Beziehungen an, aber zu einem eigenen
Preis.
War
das
auch
unser
Preis?
Um
das
Botschaftertreffen, auf das man bei uns große Hoffnungen gesetzt hatte, hob ein diplomatisches Tauziehen an, das Kang Sheng, wie er mir zu verstehen gab, >mit ein paar kühnen Schwertstreichen< beenden würde, sobald es dem Führungsgremium ratsam erschien. »Sie müssen verstehen, Kamerad Robbins«, machte er mich aufmerksam, »daß wir bis in die höchsten Führungskreise hinein nicht lediglich Befürworter des Ausgleichs mit den USA haben — es gibt da Kräfte, die zielstrebig dagegen arbeiten!« Ich beschloß, aufs Ganze zu gehen. »Nun«, sagte ich, »ich kann wohl voraussetzen, daß der Vorsitzende selbst seine Auffassung nicht geändert hat? Von Tschou En-lai weiß ich, daß er gern eine Annäherung sähe. Tschiang Tsching? Wang Hungwen? Tschen Po-ta?« Er schüttelte den Kopf. »Übrigens ist der Genosse Tschen
Po-ta wegen schwerer Abweichungen von der Linie des Vorsitzenden aus seiner Funktion entfernt worden.« »Bleibt Marschall Lin Piao?« Ich sprach meinen Verdacht absichtlich so direkt aus, daß ihm keine Chance blieb, als auszuweichen.
Er
murmelte
etwas
davon,
daß
man
jahrzehntelang eingeführte Feindbilder nicht so schnell abbauen kann, noch dazu, wenn die andere Partei wenig Instinkt zeigt. Dann schlug er vor, den Kanal zur Agentur wieder zu beleben. Damit hatte ich genug erfahren. Er leugnete es nicht, daß Lin Piao gegen die von Mao geplante Annäherung war. Das war für mich bedeutsamer, als er vielleicht vermutete. Wir unterhielten uns, da ich seine Meinung teilte, daß der CIA-Kanal bessere Chancen und höhere Sicherheit bot, sehr bald über neue >Signale<. Im Pekinger Gefängnis saß seit 1958 ein amerikanischer Bischof, der wegen angeblicher Spionage noch zehn Jahre Haft vor sich hatte. Seine Entlassung wurde nun von Kang Sheng vorgeschlagen. Meine Zustimmung war eine Selbstverständlichkeit, ich brauchte in diesem Falle nicht einmal mit Yang Rücksprache zu halten. Kang Sheng schlug mir vor, für
eine
Weile
nach
Hongkong
zu
reisen
und
dort
>amerikanische Signale< anzuregen. Er erzählte mir über ein Geschäft, das Peking mit einer italienischen Autofirma abgeschlossen habe, dabei handelte es sich um den Import von
überschweren Lastautos. Der Haken sei, daß die Motoren dieser weltbekannten Fahrzeuge aus den USA kamen und immer noch auf der Embargoliste standen. Nur der Präsident selbst könne da eine Entscheidung treffen, und das wäre in jedem Falle ein deutliches Entgegenkommen. Ich konnte das Wort Signal schon bald nicht mehr hören, ohne unwillig zu werden: schließlich würde man es in Peking noch als freundschaftliche Geste auffassen, wenn jemand aus der entfernten Verwandtschaft des Präsidenten am Sonntag in San Francisco in ein chinesisches Restaurant ging und dort mit Stäbchen aß! Wenn man dieses stupide Denken in Signalkategorien in die Absurdität trieb, wonach es mir aussah, würde bald keiner der beiden Partner sich die Nase putzen können, ohne zuvor eine Konferenz über die mögliche Signalwirkung dieser Handlung abzuhalten! Und trotzdem fiel mir etwas ein, womit ich Kang Sheng verblüffte. Ich habe erst hier, und viel später erfahren, daß dieser Vorschlag von allen am Spiel Beteiligten als Stein der Weisen betrachtet wurde. »Warum«, so fragte ich Kang Sheng, »lädt der Vorsitzende nicht einen seiner ältesten amerikanischen Freunde nach Peking ein?« Weil er nicht wußte, wen ich meinte, sagte ich ihm, es handle sich um Edgar Snow, seines Zeichens Reiseautor, mit einer starken Affinität zu China und Mao. Außerdem habe er
schon zu Zeiten Roosevelts, als dessen persönlicher Freund, zwischen diesem und den roten Chinesen eine höchst delikate Mittlerrolle gespielt. Er würde sie fraglos wieder spielen. Kang Sheng sagte sofort zu. Er zerstreute meine Zweifel an der Bereitwilligkeit Maos mit der Bemerkung: »Der Vorsitzende wird denjenigen einladen, den wir ihm vorschlagen!« Das war überdeutlich. Ich hatte jetzt nicht den geringsten Zweifel mehr, wie die Dinge hier lagen. »Du bist ein Genie, Sid!« empfing mich Holly und Yang sprach mir seine tiefe Bewunderung aus. Ich hatte, angeregt durch Kang Shengs sofort bezeugte Bereitschaft außerdem noch den Vorschlag gemacht, mit Snow zusammen, oder wenigstens zur selben Zeit, ein paar Veteranen der amerikanischchinesischen Annäherungsbemühungen einzuladen. Als völlig unmißverständliche
Erinnerung
daran,
daß
man
diese
Bestrebungen heute honorierte. Ich schlug von David Barrett über John Service, Charles Stelle und James Kellis vom Kommando K auf dem Adlergipfel alles vor, was mir an Namen aus der ehemaligen Dixie-Gruppe noch einfiel. Kang Sheng stimmte ohne lange Überlegungen zu. — »Wir haben John Service mobilisiert«, teilte mir Yang bei der Ankunft mit. »Kellis wird sowieso dabei sein, wenn es nach Peking geht. Sein Dienstrang ist jetzt Oberst, nur für den Fall,
daß Sie ihn mal auf die alte Art anreden möchten ...« Er ließ den Wagen, als wir durch Kowloon fuhren, anhalten, und schlug vor: »Kommt, laßt uns da drüben an der Bude ein Hamburger essen! Kinder, ich liebe Hongkong, aber ich bin Amerikaner, trotz meiner Augen — und ich sterbe, wenn ich nicht ab und zu ein Hamburger kriege!« Die Bude war noch mit einem Porträt Maos geschmückt, vermutlich war der Inhaber ein Peking-Sympathisant, oder aber er zielte auf diesen Kundenkreis. Was auch immer — Yang zog ein Fernschreiben aus der Tasche, erklärte, er werde uns jetzt mit einer hochintelligenten Analyse etwas die Zeit vertreiben, und dann las er vor, daß der absolute Höhepunkt des MaoKultes in der Volksrepublik etwa im Sommer 1968 gelegen habe. Als Beweis zitierte er uns, während wir kauten, ab und zu einen Schluck Bier durch die Kehle rinnen ließen: »China Pictorial,
die
Staatsillustrierte,
unzweifelhaft
eines
der
Leitorgane der Mao-Gruppe, druckte in der Juni-Ausgabe 1968 auf sechsundvierzig Seiten insgesamt zweihunderteinundzwanzigmal Maos Namen. Von einundsiebzig Fotos wurde auf fünfundfünfzig für ihn geworben, und auf diesen fünfundfünfzig Fotos war Mao insgesamt sechsundsiebzigmal abgebildet. Sein Zitatenbuch, das zählte man auch, tauchte in diesem Heft allein dreihundertsechsundsiebzigmal auf, das heißt, auf jeder Seite
rund achtmal ...« Nur um die Sache zu unterbrechen, warf ich ein: »Er hat unlängst diese übermäßige Propaganda mit seiner Person als falsch bezeichnet.« Der pfiffige, verschlagene Yang lachte laut, er verschluckte sich beinahe an seinem Hamburger. »Natürlich! Es ist vermutlich alles gegen seinen Willen gemacht worden, von den hundert Blumen über den Großen Sprung und die Kommunen und die Eisenschmelzerei bis zur Abschaffung der schwarzen Gewohnheiten! Der mächtigste Mann im Staate kann sich nicht gegen den Kult um seine Person verwahren, haha! Liu Shaotschi konnte er aus dem Weg räumen, aber die Inflation seines Gesichts, den Ausverkauf seiner Warze, das war er nicht in der Lage zu unterbinden, wie? Nun gut, jemand mit dieser Technik ist tatsächlich als Partner für uns brauchbar, selbst wenn er rote Anwandlungen hat! Hauptsache, er läuft gegen die Sowjets. Übrigens: seine Gedichte wurden in einer Auflage von sechsundneunzig Millionen Exemplaren gedruckt. Das kleine rote Buch mit seinen weisen Sprüchen hat bisher eine Auflage von siebenhundertfünfzig Millionen. Für jeden Chinesen, vom Baby bis zur Oma eins. Dagegen hat er sicher auch vergeblich protestiert, wie ich vermute, wie?« Man konnte wenig gegen seine Ironie sagen. Wenn die
Agentur solche Statistiken aufschlußreich fand, dann hatte das wohl seinen Grund. Holly brummte vergnügt zwischen zwei Happen: »Lieber Frank, wir werden es erleben, daß Salisbury oder ein anderer in seinem Blatt demnächst enthüllen wird, dieser Kult mit der Person Maos wäre eine gezielte Schweinerei Liu Shao-tschis gegen den Vorsitzenden gewesen! Oder zweifeln Sie daran?« »Aber nein! Es hängt davon ab, ob wir mit Mao ins Geschäft kommen. Wenn ja, können wir diese Version mühelos über unsere Agenturen verbreiten lassen, und jeder auf der ganzen Welt wird sie erst mal glauben.« »Außerdem ist Liu tot«, sagte ich. Yang meinte: »Egal, wer immer da nach vorn geschoben wird, wir haben Kang Sheng am Haken, der wiegt die anderen jederzeit auf. Könnt ihr euch vorstellen, wie das Gesicht Asiens aussehen wird, sobald die Russen merken, daß südlich des Ussuri nicht mehr nur kleine gelbe Männlein stehen und mit roten Büchlein winken, sondern die GIs mit elektronischen Stationen, die bis in den Ural hinein jedes Bettgeflüster mithören können?« »Sie werden außer sich vor Freude sein«, vermutete Holly. Ich fragte Yang: »Sie meinen, die Pekinger werden uns das gestatten?«
Er grinste. »Wir werden sehen, was wir erreichen. Jetzt wollen wir erst mal überlegen, wie wir die Sache mit Edgar Snow einfädeln, und dann widme ich mich diesem neuen Kanal über Pakistan. Ich gebe Kang Sheng recht, Warschau ist Schnee vom Vorjahr ...« In der Villa am Strand von Big Wave Bay absolvierten wir in der Folgezeit eine Menge von Planungsarbeiten. Ich telefonierte gelegentlich mit Sandy. Wir vereinbarten, daß ich sie, sobald ein Ende meines Aufenthaltes hier in Hongkong absehbar war, abholen und wir beide dann erst einmal nach Peking zurückkehren würden. Daß uns dort in nicht mehr allzu ferner Zeit die Auflösung unseres Haushaltes bevorstand, erfüllte uns eigenartigerweise nicht nur mit Freude. Ein wenig hatten wir uns an die rote Hauptstadt gewöhnt, wenngleich das politische System uns anwiderte. Da gab es vertraute Gegenden, eine reizvolle, uns weder fremde noch unverständliche Kultur, die trotz allen Krawalls wohl so leicht nicht zu zerstören war. — Yang offenbarte mir nach und nach das System des >Signalaustausches<, sowie die Zusammenhänge zwischen einzelnen Personen, die eine Rolle in unserem Spiel zu spielen begannen. Ich war nicht überrascht zu hören, daß Mister Kissinger mit Freuden bereit war, sich der Verbindungen zu bedienen, die sich durch die Botschafter Hilali in Washington
und
Peking
sowie
durch
das
Entgegenkommen
seiner
ehemaligen pakistanischen Lieblingsstudentin boten. Mister Kissinger schien Fingerspitzengefühl für solche Dinge zu haben, das hatte er schon allein dadurch bewiesen, daß er den Altgeheimdienstler Sainteny vom Deuxieme Bureau in Paris, den er >zufällig< kannte, für sich einspannte und ihn seine Vietnam-Verbindungen für die USA nutzbar machen ließ. Ohne nennenswerte Zeitverluste konnten wir eine Station nach der anderen markieren, und ich mußte oft daran denken, wie lange ich auf einen so zügigen Fortgang der Arbeit hatte warten müssen. Jetzt wich die tief eingefressene Unzufriedenheit über die schwerfällige politische Bürokratie daheim der neuen Spannung: Würden wir noch einmal scheitern, wie damals >Dixie Und wie weit würden die Pekinger bereit sein zu gehen? Tage voller Besprechungen. Abende bei Essen, die Yang großzügig aus dem Spesenfonds der Agentur bezahlte. Aber auch Fahrten auf Tsaos Luxusdschunke. Besuche, Telegramme, Fernschreiben, faule Stunden am Strand, ab und zu Sandy am Telefon. Sie hatte sich in Kauai schon eine Stellung als Chefin einer nagelneuen Klinik gesucht. Die Universität von Honolulu hatte ihr einen Job in der Unfallforschung angeboten, und sie hatte — unter dem Hinweis, daß sie noch eine begrenzte Zeit in
Peking verbringen müßte — zugesagt. Der Job stand für sie bereit, ein Institut, wie es in Asien erstmalig sein würde. Sollte ich es noch erleben, daß meine Wahine zur Professorin avancierte? Ich war zeitweise fröhlich, zeitweise litt ich unter Sandys Abwesenheit, immer aber war ich beschäftigt und voller Pläne, die zum ersten Mal nach so langer Zeit ohne nennenswerte Hemmnisse realisiert werden konnten. Erfolgserlebnisse, wie Yang mir grinsend erklärte, seien gut für die Psyche. Sagten die Psychiater, meinte er. In den Staaten, wo das einer der einträglichsten Berufe geworden sei in den letzten Jahren. »Man braucht bloß ein Pokergesicht und eine Ledercouch!« Ich habe einfach nicht die Zeit, alles ausführlich festzuhalten, vielleicht arbeite ich es später einmal in Ruhe aus, hier werde ich die Strukturen dessen zu skizzieren versuchen, was durch >Polo< erreicht wurde und wie. Snow und seine Frau Nym Wales reisten vor dem Nationalfeiertag nach Peking. Tschou En-lai empfing sie demonstrativ herzlich wie lange vermißte Freunde, ebenso benahm sich Mao, der die beiden (im Hinblick auf die neugierige Presse!) am Nationalfeiertag an der Brüstung der Empore des Tien An Men mit Handschlag begrüßte. John Service hatten wir um diese Zeit ebenfalls durch Hongkong ge-
schleust, samt seiner Frau. Ich sah die beiden in den Filmen über den Vorbeimarsch am Tien An Men; sie wurden offiziell als Ehrengäste erwähnt, als Tschou En-lai am Abend des Festtages ein Bankett in der Großen Halle des Volkes gab. Service und seine Gattin befanden sich in der Gesellschaft von Frank Coe und Salomon Adler, die mit ihren Familien die Kulturrevolution gut überstanden hatten. Epstein und Rittenberg sowie mancher andere des >Regiments Bethune< wurden weder gesehen noch erwähnt. Die Dame Strong, die vielleicht wieder eine glanzvolle Rolle gespielt hätte, konnte ebenfalls nicht mehr dabei sein — sie war Ostern verschieden. — Wir hatten dem guten alten John Service, als wir ihn hier in Hongkong instruierten, empfohlen, weder Rittenberg noch Epstein oder irgendeinen der Inhaftierten zu erwähnen, und John hatte sich tatsächlich an unseren Rat gehalten. Ich war nur kurze Zeit mit ihm zusammen, er schien gealtert, aber es war ihm die Freude darüber anzumerken, daß er so lange nach >Dixie< nun doch noch seinen Traum der Annäherung zwischen China und den USA würde realisiert sehen können. Weil wir in unbeschreiblicher Eile waren, verabredeten wir ein Treffen zu einem späteren Termin. Es würde ganz bestimmt nicht das letzte Mal sein, daß John, einer der Vorkämpfer der Annäherungsidee, sich hier aufhielt oder in Peking. Für alle
Fälle empfahl ich der Agentur, ihn als Landesspezialisten mit besten Verbindungen zur Teilnahme an einer künftigen offiziellen Reisegruppe einzuteilen. — Weiter ging es mit den Signalen. Nixon äußerte sich im >Time Magazin<: >Wenn es etwas gibt, was ich mir noch wünsche, bevor ich sterbe, dann ist es die Möglichkeit, China zu besuchen<. Im November entschlossen sich unsere Außenpolitiker, die möglich gewordene Aufnahme Chinas in die UNO noch einmal zu verhindern. Yang hielt das ebenso wie ich für einen Fehler. Aber es schien auf Peking keinen so schlimmen Eindruck gemacht zu haben, denn wenige Tage danach wurde ich über Hollys Vermittlung von David Hong zu einem Treff gebeten, der aus verständlichen Gründen nicht in unserer Villa stattfinden konnte. »Es ist eigentlich nicht viel, was ich mitzuteilen habe«, sagte mein ehemaliger Leibwächter, der sich an seinen Tschungkinger Job immer noch nicht erinnern wollte. »Kang Sheng bat mich, mündlich auszurichten, daß Tschou En-lai eine handschriftliche Nachricht an den Herrn Sicherheitsbeauftragten des Präsidenten abgeschickt hätte. Sie werde ihn auf dem von Kang Sheng Ihnen gegenüber erwähnten Weg erreichen. Die Nachricht wird vom Überbringer lediglich verlesen, nicht aber übergeben werden ...«
Es vergingen weitere zwei Wochen, in denen wir zu analysieren versuchten, was es bedeuten könnte, daß Mao Tsetung während der 2. Plenartagung des Zentralkomitees im Lushan-Gebirge abgelehnt hatte, Lin Piao als Staatspräsidenten an die Stelle des toten Liu einsetzen zu lassen. War das der Beginn von Lin Piaos Abstieg? Vielen Beobachtern war aufgefallen, daß Lin Piao und Tschiang Tsching nicht mehr sehr eng
zusammenzuarbeiten
verschiedenen,
illegal
schienen,
es
herausgegebenen
war
sogar
in
Hung-Wei-Ping-
Blättchen, die wir erwischen konnten, die Rede von >Linken< und >Konfuzianern<, wobei als > Linke ( die Kräfte um Tschiang Tsching zu verstehen waren.) Tschen Po-ta war ganz offensichtlich in Ungnade, sein Name wurde nirgends mehr erwähnt. Wer aber stand an Maos Seite, wenn nicht mehr Lin Piao mit der Armee? Konnte Kang Sheng allein für die Durchsetzung von Maos Politik sorgen, zusammen mit Tschou En-lai vielleicht? Es waren neue Rätsel entstanden. Das Karussell der Kräfte begann sich erneut zu drehen, noch war ungewiß, wo es zum Stillstand kam. Aber davon, das wußten wir, war zu einem großen Teil der Erfolg dessen abhängig, was wir planten ... Mao Tse-tung selbst zerstreute einen Teil der Zweifel, als er am Ende der ersten Dezemberwoche Edgar Snow ein Interview gab, mit der Weisung verbunden, es noch
zurückzuhalten,
bis
er
die
endgültige
Erlaubnis
zur
Veröffentlichung gab. Doch hier unterschätzte Mao wohl unsere Möglichkeiten. Bereits Tage später hatten wir von Snow den Originaltext.
Yang
und
ich
arbeiteten
ihn
unabhängig
voneinander durch und kamen zu deutlich übereinstimmenden Ergebnissen: Ob aus eigener Erkenntnis oder auf Hinweis Snows — Mao hatte gemerkt, daß bestimmte äußere Formen seiner
Kulturrevolution,
der
Personenkult
um
ihn,
die
Zerstörungen, die Aktivitäten der Maoistengruppen in anderen Ländern das Ansehen Chinas nicht gesteigert, sondern untergraben hatten. Er bezeichnete deshalb diese Dinge im Rückblick als übertrieben, besonders den Kult um seine Person, aber er wälzte die Schuld auf angeblich dreitausendjährige Gewohnheiten der Kaiserverehrung ab. Deutliches Zeichen, daß er sich nicht distanzierte, immerhin aber als der weiseste Mann des Landes eine begütigende Entschuldigung bereithielt. Auf diese Weise sollte das Image Chinas repariert werden. Was die Sowjets betraf, so blieb er bei seiner Anklage, sie bedrohten China. Von Snow aufgefordert, sich über das Verhältnis China—USA zu äußern, ließ er geschickt durchblicken, man prüfe
gegenwärtig
die
Möglichkeit
für
weitere
Reiseerleichterungen. Im übrigen könnten die zwischen beiden Staaten bestehenden Probleme nur mit Präsident Nixon geregelt
werden, das heißt, er strebte ein Gespräch auf höchster Ebene an, wie es auch unsere Absicht war. Mao betonte, er persönlich werde sehr gern mit Präsident Nixon sprechen, wenn er nach China komme, egal ob als Tourist oder als Präsident. Genauer konnte die Aussage nicht ausfallen: nach der vorhergegangenen Anklage, die Sowjets würden China mit Krieg bedrohen, diese freundliche, offenherzige Einladung. »Das ist die deutlichste Sprache, die wir von Peking überhaupt erwarten können«, stimmte Yang mir zu. Inzwischen war in Washington etwas geschehen, das an einen nicht besonders originellen Spionageroman erinnerte. Yang wurde darüber durch eine codierte persönliche Botschaft informiert: Der pakistanische Botschafter in Washington, Hilali, hatte sich am 8. Dezember beim Sicherheitsberater Kissinger anmelden lassen, um ihm eine von Tschou En-lai handschriftlich verfaßte Botschaft zu verlesen. (Wir hatten sie nach David Hongs Mitteilung längst avisiert!) Staatspräsident Yahya Khan hatte diese Botschaft von Tschou En-lai persönlich am Ende seines Staatsbesuches in Peking übergeben bekommen und sie nach Washington expediert. Hilali las Henry Kissinger einen Text vor, in dem an den Präsidenten im Auftrage Mao Tse-tungs die Zusage gemacht wurde, China sei bereit, mit friedlichen Mitteln eine
Lösung der zwischen den USA und China anstehenden Probleme zu erreichen. China würde den Besuch eines Sonderbeauftragten von Präsident Nixon in Peking begrüßen, um mit ihm das Programm des Präsidentenbesuchs zu besprechen. Bei den zu erörternden Fragen wurde natürlich Taiwan erwähnt, und Washington fragte dringlich bei uns an, wie das zu werten sei. Wieder einmal waren Yang und ich einer Meinung: Die Pekinger sicherten sich mit der demonstrativen Erwähnung Taiwans für den Fall einer Indiskretion
ab
—
sie
hatten
dann
als
revolutionäre
Führungsgruppe < nichts Ehrenrühriges vorgeschlagen. Es war schon eine rasante Partie Poker! Wir entwarfen für Washington den Text einer Antwort, in der die USA sich für Tschous Vorschlag bedankten und zum Ausdruck brachten, daß sie zu Gesprächen auf hoher Ebene bereit seien. Wir schlugen als Formel vor, über >ein weites Feld von Fragen zu sprechen, die es zwischen beiden Staaten gab, und zu denen auch das Taiwan-Problem gehörten Und wir empfahlen zu unterstreichen, daß ein solches Treffen auf hoher Ebene die Aussprache über Schritte jeder Art einschließen sollte, die unsere Beziehungen verbessern und Spannungen abbauen könnten. Als sybillinischen Nachsatz riet
ich,
anzumerken, was das militärische Engagement der USA in
Taiwan beträfe, so sei es unser Ziel, unsere militärische Präsenz in diesem Teil der Welt genau in dem Maße abzubauen, in dem bestehende Spannungen beseitigt werden könnten. »Meisterleistung eines chinesischen Fabulisten!« lobte mich Yang.
Wir
hatten
das
Schriftstück
nach
Washington
durchgeackert und tranken kühles Bier auf der Terrasse der Villa. Draußen wurde es dunkel, die See rollte gegen den nahen Strand. »Vollmond«, bemerkte Yang gelassen. »Da spürt man die Gezeiten plötzlich doppelt ...« Ich hatte nicht für möglich gehalten, daß dieser ausgekochte Bursche, der eiskalt ein Stück inszenierte, in dem unser Präsident und Chinas erster Mann die Hauptdarsteller sein würden, überhaupt einen Sinn für so etwas besaß. Ich sagte testend: »Wäre schön, wenn ich diese Mondphase noch in Hawaii erleben könnte — die See klingt dort ganz anders ...« Er grinste. »Warum fliegen Sie nicht hin? Ich glaube, wir haben jetzt Pause. Schlimmstenfalls rufe ich an, und Sie fliegen nach ein paar Wochen zurück. Natürlich — Sie können auch ins geliebte Peking zurückkehren, aber Sie müssen nicht, wenn es nach mir geht!« Ich hätte ihm gern gesagt, was er sich wohin schieben konnte, aber ich überlegte es mir anders. Tatsächlich, es wäre machbar, morgen eine Flugkarte zu kaufen ...
Zwei Tage später bin ich in Kauai. Als wir im Februar, nach einer langen, erholsamen Zeit, in der ich gelegentlich noch an den Andrucken der >Geschichte der chinesischen Epik< kleine Korrekturen vornehme, wieder Hongkong durchlaufen, rät mir Yang, mich stets für eine schnelle Abreise bereitzuhalten, wenn ich wieder in der roten Metropole bin. —
Eines Abends im Frühling stand Lung-lung, die Tochter der Akrobatenfamilie aus Tienchao, vor der Hoftür. Lao Wu kam in mein Arbeitszimmer und erkundigte sich: »Soll ich sie wegschicken?« Selbstverständlich wollte ich sie sehen. Sie war nicht weniger hübsch als früher, auch schien sie einfach nicht älter zu werden, eine sportlich wirkende junge Frau, deren Blick einem unter die Haut gehen konnte. Nachdem wir eine Weile die übliche unverbindliche Plauderei geführt hatten, und ich nun wußte, daß die Familie nicht mehr auftrat, weil Akrobatik immer noch als Volksverdummung galt, sah sie mich forschend an und fragte: »Mister Robbins, könnten Sie mir eine persönliche Bitte erfüllen, wenn ich verspreche, aus ewiger Dankbarkeit nie mehr darüber zu reden, auch wenn Sie nein sagen?« Ich forderte sie auf, unverblümt zu reden. Sie griff in ihre Jacke und brachte
dreißig Dollar in verschiedenen, teils recht abgegriffenen Scheinen hervor. Aus ihren etwas gewundenen Worten entnahm ich, daß sie erfahren hatte, für diese Summe könne man in Hongkong eines jener winzigen Radios kaufen, die den Empfang von Kurzwellensendern aus den Nachbarländern ermöglichten. Sie blickte verlegen zu Boden, als sie mir endlich beigebracht hatte, ein solches Radio wäre ihr größter Wunsch. In diesem Augenblick kam Sandy herein, die im Bad gewesen war, ihr Haar war naß, sie trug einen Frottemantel voller HawaiiPalmen. Sandy begrüßte Lung-lung herzlich, sie mochte sie, egal in welchen kriminellen Verbindungen sie steckte. Sogleich erzählte sie ihr von den Kindern, sie kramte Fotos hervor, von Sue mit Chet, ihrem zukünftigen Mann, vor einem Flugzeug. Burt, den Lung-lung so oft auf das Pony gehoben hatte, als er seine ersten Reitversuche machte, lachte, hinter dem Lenkrad eines
mit
mächtigen
Heckflossen
geschmückten
alten
Oldsmobils, in die Kamera. Lung-lung wurde traurig. »Es ist ein anderes Leben«, sagte sie. »Eine andere Welt.« Sie war verbittert. Ich hatte sie so noch nicht erlebt, selbst den Hunger hatte sie gelassener ertragen als diese Zeit. Tschiang Tsching, so erzählte sie, hatte alle Akrobatik als >schwarzes Übel< bezeichnet, dem Volk sollte damit nicht mehr das Bewußtsein verdorben werden, es sollte stattdessen in eine der
acht Musteropern gehen und sieh Kraft holen für den Kampf. Lung-lung murrte: »Acht Opern soll der Mensch sehen, ein Leben lang, das ist alles, damit ist er sozusagen mit allem versorgt, was es an Kunst für ihn gibt. Acht Opern für siebenhundert Millionen Chinesen. Ich habe allein in der guten ersten Zeit des Sozialismus, als ich noch sehr jung war, mehr als hundert Opern gesehen ...« Die gute erste Zeit. Ich stellte immer wieder fest, daß kein Chinese sie vergessen hatte! Sandy steckte Lung-lung die Dollars wieder in die Tasche und gab ihr eines der inzwischen drei Transistorradios, die sich nach und nach bei uns angesammelt hatten. Sie erklärte ihr, wie man die Batterien wechselt, und stellte Taipeh ein, Hongkong, Manila. Das Mädchen dankte uns und steckte das winzige Gerät in die Innentasche ihrer Jacke. Dabei versicherte sie uns, sie würde nie vergessen, was wir für sie täten. Bevor sie uns verließ, legte sie einen in Papier gewickelten Gegenstand auf den Kaminsims und sagte: »Bewahren Sie das gut. Wann immer Sie in einem anderen Land in Not sind, zeigen Sie es einem dort lebenden Chinesen. Sie werden sogleich Hilfe bekommen.« In dem Papier befand sich eine Brosche, drei aneinandergefügte Schmetterlinge
aus Silber-filigran.
Ich
glaubte zuerst, es handle sich um ein gestohlenes Schmuckstück.
Aber Sandy warf nur einen kurzen Blick auf die Schmetterlinge und
schüttelte
den
Erkennungszeichen.
Kopf. Die
»Kein
Schmuckstück.
Ein
der
der
Mitglieder
Triaden,
chinesischen Geheimgesellschaften im Ausland, benutzen es, um sich gegenseitig zu erkennen. Mein Vater zeigte mir einmal eines, das bestand aus drei Lotosblüten. Er hat es heute noch ...« Dann warf sie einen Blick auf das Einwickelpapier und stutzte. Es war ein Flugblatt. Nachdem sie es gelesen hatte, reichte sie es mir und meinte: »Es wird Zeit, daß wir Pekings Staub von den Schuhen schütteln, Sid!« Auf dem Flugblatt stand, in sauber gesetzten Lettern, die ganz sicher während der Tumulte aus einer gediegenen Druckerei gestohlen worden waren: »... An der Spitze unseres gequälten Landes steht ein Intrigant und Gewaltherrscher, dessen Gattin die Dreckarbeit organisiert, ein Mann, der seine eigenen frühen Jahre als Revolutionär verraten hat, vergessen, verdrängt ... Wir müssen etwas dagegen tun, daß man uns, das Volk,
auf
das
der
Herrscher
sich
oft
beruft,
mit
zusammengeketteten Händen gefangenhält. Wenn man die Geschichte jahrzehntelang zurückverfolgt, wer von unseren besten Kämpfern ist nicht von diesem Herrscher anfangs hochgelobt und später zum politischen Tod verurteilt worden?
Welcher politische Kämpfer hat mit ihm tatsächlich vom Anfang der Revolution bis heute zusammenarbeiten können, ohne unehrlich gegenüber sich selbst zu werden? Sagen wir es offen: Einer nach dem anderen sind sie weggejagt worden, von ihm, als Sündenböcke, geopfert ... Es
wird
höchste
Zeit,
zum
wahren
Sozialismus
zurückzukehren!« Ich wußte von Chang Wen, daß es nicht nur eine Opposition gegen die Praktiken der Kulturrevolution gab, sondern
daß
alte,
zuverlässige
Parteimitglieder
ihrem
Vorsitzenden ebenso einsame wie falsche Entscheidungen anlasteten, die Zerstörung der Parteistrukturen und die Verfolgung von ehrenhaften Kommunisten, wenngleich sie das aus Disziplin nie öffentlich taten. Wuchs nun, nach ihnen, eine Jugend heran, die bereit war, sich offen zu dem zu bekennen, was sie für richtig erkannte?
Ni Hao America 11.7. 1971 »Es wird mir ein Rätsel bleiben, wie du es hier solange ausgehalten hast«, bekannte James Kellis. Er war zusammen mit Yang nach Peking gekommen, die beiden hatten sich ohne viel Aufhebens in Hsinchao einquartiert und mich angerufen.
Vorauskommando. Wenige Tage des Eingewöhnens, dann der Anruf Kang Shengs bei mir, wir sollen uns mit der bereitstehenden Maschine nach Islamabad
begeben,
der
Hauptstadt West-Pakistans. Am Flugplatz warteten bereits unsere vier chinesischen Begleiter. Zwei Männer und zwei junge Frauen. Sie saßen weiter vorn jetzt, in der riesigen, sonst leeren Sondermaschine, die zehntausend Meter hoch flog. Wenn man aus dem Seitenfenster nach unten blickte, sah man riesige, zerklüftete, teils schneebedeckte Bergketten, eine in die andere übergehend, schwarze Schlünde dazwischen, selten nur etwas Grün, und selbst das schien von hier oben rötlich gefärbt zu sein, welk. »Scheiß-Himalaya«, brummte Kellis. Er spielte darauf an, daß er einige Zeit nach unserer gemeinsamen Aktion am Adlergipfel noch einmal nach Tschengtu zurückberufen worden war. Von dort lief immer noch die Versorgungslinie über den >Hump<, wie die Piloten der Nachschubstaffeln das Gebirge im Süden
nannten,
und
Kellis
war
mit
einer
der
alten
Propellermaschinen damals fast abgestürzt, weil ein Motor ausfiel. Er hatte mir schon bei unserem ersten Gespräch gestanden, daß dieses >Polo< eigentlich eine Routinesache für ihn war, nachdem unsere Politiker sich endlich zum Handeln bequemt hatten. Sorgen machte ihm das Fliegen, er haßte es, seit
dem Tage, als er damals gesehen hatte, wie der rechte Propeller der Maschine aufhörte, sich zu drehen. Als ich ihm gegenüber einmal mein Erstaunen über das Tempo geäußert hatte, mit dem die Dinge um China jetzt plötzlich in Bewegung gerieten, erinnerte er mich an Pearl Harbor: »Wir waren auch damals eingeschlafen und ohne Initiative. Eine Menge Bürokratie war entstanden. Doch dann, nach sehr kurzer Zeit, liefen wir an. Du weißt, was für eine Maschinerie wir binnen einiger Monate auf die Beine brachten. Amerika ist ein Langsamstarter!« »Fünfundzwanzig Jahre nichts«, machte ich ihn aufmerksam. »Und jetzt steige ich schon seit Monaten von einem Flugzeug ins andere. Weißt du, was für eine Nummer der Mann ist, den wir in Pakistan abholen sollen?« »Kissinger«, Klugscheißer.
gab Hat
er einen
gleichmütig Akzent
zurück. wie
ein
»Professor. serbischer
Schafzüchter, sagen manche bei uns zu Hause. Ist aber clever. Privat ist er umgänglich. Kannst ihn zu einem Schnaps einladen, wenn der Schnaps gut ist, er wird es nicht abschlagen ...« Yang grinste, sagte aber nichts. Wir waren gewöhnt, bei Gesprächen in Peking gewisse Vorsichtsmaßnahmen zu beachten, denn inzwischen hatten Kang Shengs Leute den Wert von abgehörten Unterhaltungen nicht nur begriffen, sie
praktizierten das, was Kellis >Wanzentechnik< nannte, mit wachsender Perfektion. Die Geräte bezogen sie aus Hongkong. Gute US-Ware, auch japanische, die in der Kronkolonie von Zwischenhändlern an die Volksrepublik verhökert wurde. Nancy Tang stand plötzlich neben uns, ein Tablett in der Hand. Eine gutaussehende, dabei penetrant auf proletarisches Aussehen getrimmte junge Frau, Chefdolmetscherin des vor uns liegenden Unternehmens. Niemand konnte erklären, wie ausgerechnet sie in diese Vertrauensstellung gekommen war. Sie war in New York geboren, Kind einer Emigrantenfamilie. Wenn sie wollte, konnte sie ihr Englisch so unglaublich nach Harvard klingen lassen, daß man meinte, sie sei dort mindestens Professor
gewesen.
Aber
sie
konnte
ebensogut
eine
Schimpfkanonade loslassen, die durch ihren ungekünstelten, in Kinderjahren auf der Straße erworbenen Brooklyn-Akzent besonders umwerfend wirkte. Sie war außerordentlich gebildet. Man hörte, daß sie bereits in den Vereinigten Staaten auf der Seite der Volksrepublik gestanden hatte. Yang, der sie von irgendwoher kannte, aber keine Auskunft darüber gab, stufte sie als >rot bis auf die Knöcheln< ein. Sie habe das absolute Vertrauen Maos, versicherte er mir. Trotzdem vertrug er sich gut mit ihr, und selbst wenn die beiden gelegentlich über eine
ideologische Frage stritten, was sie gern und demonstrativ taten, blieb der Streit ohne Beleidigungen. Jetzt bot Tang Wen-sheng, wie ihr voller Name lautete, uns geeiste Ananasscheiben an. Kellis knurrte: »Ananas überm Himalaya, mein Knie! Was wird's in diesem lausigen Pakilonien geben, außer Hammel?« »Pakistan«, korrigierte Nancy Tang ihn spitz. »Und Hammel schmeckt gut!« »Bloß daß weder Kissy noch wir Moslems sind!« Ungerührt gab Nancy Tang in gestochenem Englisch zurück: »Sie könnten zur Not noch an einer Hamburger-Bude am Flugplatz essen. Ich glaube, dort verwenden sie Büffelfleisch.« Kellis musterte die kleine Chinesin ungeniert und mit Wohlgefallen, er legte es darauf an, daß sie es merkte, und er setzte sie über seine geheimsten Gedanken in Kenntnis: »Hätte ich nicht zwanzig Ehejahre hinter mir und kürzlich eine Scheidung, würde ich Ihnen einen Antrag machen, Miss Tang. Ich hoffe, das beleidigt sie nicht!" Sie parierte die Frechheit mit bewundernswerter Ruhe, man spürte, daß sie bei uns zu Hause aufgewachsen war und die rüde Art amerikanischer Späße kannte, daß sie auch wußte, wie wenig beleidigend sie in der Tat gemeint waren. Sie schob ihm einfach das Tablett unter die Nase und forderte ihn auf: »Nehmen Sie eine Scheibe, bitte. Die Frucht kühlt hervorragend
ab!« Es herrschte eine Atmosphäre konstruktiver Zusammenarbeit zwischen uns und den chinesischen Begleitern, wenn man von solchen Flachsereien absah. Außer Nancy Tang flog der alte Mitarbeiter
Tschou
En-lais
in
außenpolitischen
Fragen,
Tschang-Wen-tjien, mit uns, ein stiller, asketisch wirkender Mann, der, wie wir festgestellt hatten, umfangreiche Kenntnisse über Amerika und andere Länder des Westens besaß. Als Protokollbeamter begleitete uns ein gewisser Tang Lung-ping, von dem ich annahm, Kang Sheng stehe hinter ihm, er hatte so gut wie keine Funktion während dieses Fluges, sprach aber stets mit dem Flair der Bedeutsamkeit. Dabei redete er meist Belanglosigkeiten. Zuletzt gab es da noch Wang Hai-tschung, eine Nichte Mao Tse-tungs, ein schlankes, schüchternes Mädchen, das förmlich schrumpfte, wenn man es nur anblickte. Ein seltsames Mädchen, und, wie mir schien, nicht sehr helle. Es hatte sich in der Kulturrevolution nach vorn geschoben, war vielleicht
geschoben
worden,
wegen
seines
Verwandtschaftsgrades zu Mao Tse-tung. Damals hatte es mit seinem Onkel öffentlich über Vorzüge und Fehler der heranwachsenden Generation diskutiert. Mao hatte seine Nichte publikumswirksam ermahnt, >nie die Revolution zu vergessen<, und er hatte das Gespräch benutzt, um seiner Sorge Ausdruck zu
verleihen, die heranwachsende Generation könnte dem Revisionismus verfallen, was er dadurch zu verhindern trachte, daß er, gewissermaßen vorbeugend, die Kulturrevolution entfesselte. Inzwischen war Wang Hai-tschung im Außenministerium tätig. Niemand wußte, was sie so wichtig machte, daß sie mit uns auf diesen höchst geheimen Flug ging, zur Abholung des Sicherheitsberaters unseres Präsidenten. »Ist sie nicht herrlich keß!« sagte Kellis, geeiste Ananas kauend, während Nancy Tang wieder zu ihren Leuten ging. Die Maschine lag ruhig in der Luft. Nach und nach bildete sich zwischen ihr und den Gebirgsgraten eine dichte, schneeweiße Wolkendecke aus, von der Sonne intensiv angestrahlt. Wie Watte anzusehen. Man hatte unwillkürlich den Wunsch, sich darauf zu betten für ein Schläfchen. — Nach monatelangem Hin und Her, nach einigen höchst inhaltsschweren Mitteilungen beider Seiten, die jeweils der pakistanische Botschafter dem betreffenden Partner verlas, ohne ihm den Notizzettel auszuhändigen, waren Datum und Modalitäten
des
Vorausbesuches
von
Mister
Kissinger
festgelegt worden, alles so streng geheim, daß tatsächlich nichts in die Öffentlichkeit drang. Wir wollten das Ereignis erst dann als politische Überraschung präsentieren, wenn sich Aussichten auf echten Erfolg zeigten. Vorher kein Wort. Deshalb hatte
Präsident Nixon seinen Sicherheitsberater offiziell auf eine Besuchsreise nach Saigon, Bangkok und New Delhi geschickt. Von dort aus sollte er dann Pakistans Präsidenten Yahya Khan, der eingeweiht war, einen Besuch abstatten und gleichzeitig laut über
Reisebeschwerden
Überforderung,
worauf
vereinbarungsgemäß
alles
klagen, Präsident weitere
Magenschmerzen Yahya
Khan
übernehmen
und dann würde.
Gleichzeitig war über unseren Botschafter in Pakistan veranlaßt worden, daß es in der Botschaft niemanden gab, der hinter die Kulissen der Show blicken konnte: vom Stellvertreter des Botschafters bis zum Konsul waren die wichtigsten politischen Mitarbeiter unter Vorwänden auf Urlaub geschickt worden. Lediglich der Botschafter selbst war außer dem pakistanischen Präsidenten noch informiert worden, und er sollte Mister Kissinger dann auch eine Erholungspause bei leichter Nahrung und Gebirgsluft empfehlen. Durch diese Täuschung würde der Sicherheitsberater mindestens drei Tage unsichtbar sein können, jeder würde ihn im Sommersitz Yahya Khans, Nathigali, in den nördlichen Bergen wähnen. Und das waren die drei Tage, die Kissinger für Peking brauchte. — Franklin Delano Yang erzählte wenig Rühmliches von Islamabad. Zur Hauptstadt hochgetrimmtes Provinznest nannte er es. Botschafter Farland, der uns dort vertrat, war ein alter
Bekannter der Agentur. Wie Yang berichtete, besaß er eine Sammlung ausgewählter Getränkesorten, die das Leben an einem so einsamen und abwechslungslosen, außerdem noch mit der Geißel der Prohibition geschlagenen Ort überhaupt erträglich machten. Joseph Simpson Farland, Ende der Fünfzig, während des zweiten Weltkrieges vom FBI zur MarineAufklärung übergewechselt, und im Korea-Krieg G-2-Offizier geworden. Danach war er an so kritischen Plätzen US-Botschafter gewesen wie in Ciudad Trujillo und Panama. Er war, wie Yang mir versicherte, der einzige Beamte des State Departments, der von Mister Kissingers Reise nach Peking wußte. Nicht einmal sein Minister hatte die leiseste Ahnung. Bis zum Ende des Kissinger-Besuches in Peking würde dies eine Aktion der Agentur in Zusammenarbeit mit Kang Sheng sein. Pilot
und
Navigator
unserer
Maschine
würden
den
pakistanischen Kollegen assistieren, wenn Dr. Kissinger seinen Flug nach Peking antrat, zur Tarnung in der Maschine des pakistanischen Präsidenten. Alles war abgemacht, sogar die genaue Abflugzeit in Chaklala, Islamabads Flughafen. »Du gehst allein«, ordnete Kellis an, nachdem wir gelandet waren. Die letzten zwei Stunden des Fluges hatte ich in der Maschine geschlafen. »Und Ihr?« Kellis holte tief Luft und zischte mir zu: »Können wir uns endlich darauf einigen, daß ich
es bin, der hier die Befehle gibt und du derjenige, der sie ausführt, ohne jedesmal Fragen zu stellen? Mister Kissinger wünscht dich zu sehen. Informationsgespräch. Abhörsicherer Raum. Dies ist die letzte Chance dafür. In Peking steckt alles voller Wanzen, und wir werden über gar nichts mehr reden können außerhalb unserer Maschine, klar?« Ich fügte mich. Diese >Annäherung< stand von vornherein unter dem Zeichen militärischer Aspekte, und ich hatte wohl ein bißchen zu lange als zivilgekleideter Offizier in der Ping Tjiao Hutang gelebt... »Heben Sie bitte die Hände, Sir. Und drehen Sie sich um!« Der junge Mann an der Tür des Gästehauses machte eine entsprechende Handbewegung und sah mich prüfend an, ein bißchen verlegen auch. Als ich zögernd seine Anweisung befolgte, spürte ich seine Hände, die mich routiniert abtasteten. Er nahm die Untersuchung sehr genau, und als er bei meinem Fußknöcheln angelangt war, hörte ich ihn sagen: »O.K. Gary, du kannst die Waffe wegstecken, er ist sauber.« Ich drehte mich um. Der junge Mann grinste mich freundlich an und stellte sich vor: »Ich bin John Ready. Der da hinten, das ist Gary McLeod. Erfreut, Sie kennenzulernen, Sir!« Den
zweiten,
der
hinter
einem
Wandschirm
voller
chinesischer Blumenmalerei stand, sah ich erst jetzt. Er hob die
Hand und rief: »Hier, Sir! Folgen Sie mir, der Chef wartet...« Er wirkte kleiner als auf den Fotos, die ich von ihm gesehen hatte, elegant gekleidet war er, trotz der hohen Temperaturen hier. In Peking würde er schwitzen, dieser >Chef<. »Mister Robbins«, sagte er in einem Tonfall, der Freude ausdrücken sollte. Für mich war es eher eine Überraschung, dieser wichtigste Mann hinter dem Präsidenten sprach tatsächlich mit einem schweren Akzent. Nicht daß er die Sprache etwa nicht beherrschte — er sprach druckreif, aber es klang ähnlich, wie ich es noch von einigen osteuropäischen Residenten in Erinnerung hatte, die sich in Peking unserer Sprache bedient hatten. Kissinger zeigte nicht die geringste Unsicherheit, im Gegenteil, er kam mir entgegen, seine Augen funkelten hinter den Brillengläsern, etwas verschmitzt, er verbarg seine Neugier nicht, schürzte seine ziemlich wulstigen Lippen und schüttelte meine Hand lange, mich dabei intensiv musternd. »Mister Robbins, ich bin über Ihre Tätigkeit informiert, ich kenne die Substanz Ihrer Analysen, auch Ihre Meinung zu Einzelfragen habe ich kennen gelernt. Muß ich Ihnen sagen, daß ich mich freue, Sie endlich zu treffen? Wohl nicht. Und auch nicht, daß Amerika Ihnen einiges schuldet. Setzen wir uns ...« Wenig später, nachdem die Begrüßungsfloskeln absolviert
waren, befanden wir uns schon mitten in ernster Arbeit. Dieser Mann war gründlich. Er war außerdem mit Phantasie begabt, war beredsam und hatte unorthodoxe Einfälle. Er war keiner von diesen faden Bürohengsten, die jede Woche ein paar Tage Arbeit vortäuschen, um dann ein langes Wochenende beim Angeln verbringen zu können: Kissinger war, wenn mich mein erster Eindruck nicht trog, ein Vollblutpolitiker, er brauchte nur den kleinsten Anstoß, um sogleich höchst brauchbare, jedenfalls diskutable Konzepte zu entwickeln. Der maßgeschneiderte Unterhändler mit dem Akzent des serbischen Schafzüchters! Vor allem ließ er sich über die aktuelle Situation in Peking aufklären. Ob es Demonstrationen gegen ihn geben werde? Wer sitzt in Wirklichkeit an den Hebeln der Macht, wenn Maos Gesundheit
tatsächlich
zerrüttet
ist?
Opposition
in
der
Führungsgruppe? Ich setzte ihm auseinander, was ich wußte, und er schien zufrieden mit meinen Auskünften. Besonderes Interesse zeigte er an Kang Sheng. Ob er zu sprechen sein würde? »Das halte ich für unwahrscheinlich«, gab ich zurück, weil ich noch vor kurzem mit dem Abwehrchef gesprochen hatte. »Er ist nicht sehr gesund im Augenblick, eigentlich wird er laufend ärztlich behandelt, in einem Sonderhospital. Aber er wird natürlich die Absicherung persönlich organisiert haben, und er
wird, als engster Vertrauter Maos, schnell eingreifen lassen, wenn das nötig werden sollte. In Erscheinung treten wird er voraussichtlich nicht. Abgesehen von seiner Krankheit, ist er immer der Mann im Hintergrund gewesen. Ich nehme an, er wird das auch weiterhin bleiben.« »Können wir etwas für ihn tun?« »Ich verstehe nicht, Sir.« Er ruderte mir den Händen. »Nun — wir verdanken diesem Kang Sheng, daß China trotz aller Umschichtungen für uns sozusagen offen blieb, er hat sich um den Kanal verdient gemacht. Ich denke nicht gerade an die Ehrenmedaille des Kongresses, aber es wäre doch möglich, daß wir auf andere Weise ...« Ich schüttelte den Kopf. »Denken Sie nicht darüber nach, Sir. Der Mann handelt aus sehr persönlicher Überzeugung, er würde sich durch das, was Sie eine Anerkennung nennen, eher beleidigt fühlen. Darf ich Sie daran erinnern, daß man in Peking auf Angaben über Ihre Begleiter wartet?« Er besann sich. Lächelte verlegen. »Manchmal vergesse ich, daß wir es mit Chinesen zu tun haben!« Er rief zur Tür hinaus: »Winston! Geh mit Yang in den Funkraum, gib die Personalien unserer Schutzleute nach Peking durch!« Sich wieder setzend, erkundigte er sich nach jenen Chinesen,
die ihn am nächsten Morgen nach Peking begleiten sollten. Ich schilderte ihm die vier, die mit uns hergeflogen waren. Als er hörte, daß Maos Nichte dabei war, wurde er sehr nachdenklich. »Was bedeutet das? Ist es eine Geste? Muß ich darauf eingehen? Sie speziell begrüßen?« Selbst in dieser Ratlosigkeit war er noch souverän und unbekümmert, ein Mann, der es gewohnt war, Schwierigkeiten entweder zu überwinden oder zu umgehen. Ich riet ihm, zu Maos Nichte eine Bemerkung zu machen, wie sehr es ihn ehre, daß er schon hier, vor der Einreise in die Volksrepublik, eine so nahe Verwandte des Vorsitzenden träfe, die sich um ihn bemühe. Er grunzte Zustimmung und fragte unvermittelt: »Ich vergaß — wollen Sie etwas essen? Trinken? Der Flug war lang ...« Ich hatte keinen Hunger, war viel zu erregt, um jetzt an Essen zu denken. Ich machte ihn auf Nancy Tang aufmerksam: »Behandeln Sie sie wie ein rohes Ei, Sir. Keine Scherze, keinesfalls eine Bemerkung, die man als politisch anzüglich auffassen könnte ...« Er winkte grinsend ab. »Ich kenne die gute Nancy Tang. Ein attraktives Rätsel für mich. Wächst in Brooklyn auf und wird Kommunistin! Wissen Sie, daß ihre Eltern sehr wohlhabend sind?« »Ich hörte davon, Sir. Sie müssen
das
ausgeprägte
Nationalgefühl
der
Chinesen
berücksichtigen. Im Ausland, aber nicht nur dort, gerät es zuweilen zu einem handfesten Nationalismus. Bei im Ausland lebenden Chinesen entwickelt sich eine Art Heimat-Syndrom, das
nicht
etwa
auf
Taiwan
fixiert
ist,
selbst
bei
Antikommunisten, sondern eben auf das große Mutterland. Es ist rot — also hat man, wenn einem das Heimatland etwas wert ist, in der letzten Konsequenz auch rot zu werden ...« »Oder wenigstens die rote Heimat zu unterstützen. Möglichst finanziell! Darüber wurde ich bereits aufgeklärt. Eines der Phänomene, über die ich lange nachzudenken hatte. Ich möchte eine historisch gefärbte Frage an Sie richten, Mister Robbins, über die ich noch zu keinem endgültigen Schluß gekommen bin. Sie betrifft bestimmte Aspekte der rotchinesischen Politik. Da Sie mehr als zwei Jahrzehnte in China leben, erhoffe ich mir von Ihnen eine weiterführende Antwort. Ist China, das lange Zeit von zu vielen ausländischen Mächten geschurigelt wurde, heute nicht auf sein nationales Selbstwertgefühl im Übermaß stolz? Belegen nicht viele Aussprüche des Vorsitzenden und anderer Politiker, daß China, das ehemals gewaltige Reich der Mitte, so etwas wie Weltgeltung erlangen will? Ist es nicht auch zu spät an die Platte mit dem Kuchen gekommen? Ist unserer Welt nicht auch schon im gewissen Sinne in Interessensphären aufgeteilt? In Machtbezirke? Und könnte man nicht alles, was China
beispielsweise von den Sowjets trennt, unter dem Gesichtspunkt sehen, daß hier eine sich zwar spät, aber doch schnell entwickelnde Großmacht eine eigene Einflußsphäre in der Welt haben will? Nicht mehr Kolonien, wie sie der alte deutsche Kaiser anstrebte, wohl aber Gebiete, in denen das Wort Chinas dominiert? Kann man das so sehen, frage ich Sie? Kann man, ohne einen Vergleich zu ziehen, der unzulässig wäre, vom Beispiel
etwa
des
kaiserlichen
Deutschlands
gewisse
Folgerungen ableiten, die das erhellen, was heute den chinesischen Nationalismus ticken läßt?« »Sie meinen die Kommunisten?« Er zog den Kopf zwischen die Schultern. »Kommunisten hin, Kommunisten her, Robbins. Ich meine die Pekinger Nationalisten. Das, was dort in den letzten Jahren seine Entwicklung nahm, ist ein nationalistischer Taumel, der sich zuerst gegen die Sowjets, aber dann auch gegen andere Mächte entlud. Erkennen Sie die Substanz meines Gedankens, wenn ich auch nochmals darauf hinweisen muß, daß der Vergleich mit Deutschland außerordentlich unzulässig ist?« Ich war unschlüssig. Obwohl ich die Geschichte des kaiserlichen Deutschlands kaum kannte, neigte ich instinktiv dazu, eine Parallele abzulehnen. Doch darauf wollte wohl auch Kissinger nicht hinaus, er versuchte lediglich, charakteristische
Entwicklungszüge aus der Geschichte zweier Länder in vergleichender Betrachtung auf ihre inneren Triebkräfte abzuklopfen. Konnte man das im Falle Chinas riskieren? Konnte man
der
chinesischen
Logik
mit
europäischer
Ratio
beikommen? Ich zweifelte daran. Dennoch hatte die Überlegung Kissingers etwas Bestechendes, sie war ebenso riskant wie verblüffend. Nach einer Weile entschloß ich mich, ihm zu antworten: »Sir, ich muß vor Vergleichen mit europäischen Beispielen warnen, dafür sind die geistigen Voraussetzungen, die Zwänge der Tradition zu unterschiedlich. Aber — mit der Überlegung, daß hier ein Staat eine schnelle Entwicklung nimmt und nach Weltgeltung strebt, haben Sie absolut recht. Das ist eine entscheidende Triebkraft für Pekings Wunsch, Beziehungen mit uns aufzunehmen. Eine Volksrepublik, deren Fahne vor einer Botschaft in Washington flattert, deren Vorsitzender vielleicht auf dem Kennedy-Airport zum Staatsbesuch mit der Nationalhymne empfangen wird, das wäre für jeden Chinesen die Bestätigung, daß alles, was seit 1949 in China geschah, seine historische Richtigkeit hat. In der Tat, China möchte nicht ein sozialistisches Land unter anderen sein, es will an die Spitze, das wird den Leuten jeden Tag aus tausend Zeitungen und Radiosendungen eingebleut ...« Kissinger hob seinen dicken Zeigefinger. »Würde es nicht
eine Menge >Gesichter< bedeuten, wenn ausgerechnet wir, die Amerikaner, diesem China respektvoll gegenüberträten? Ich meine, >Gesicht< beispielsweise gegenüber der Sowjetunion, die dieses China als Partnerland wiedergewinnen möchte?« »Das unterliegt keinem Zweifel, Sir«, bestätigte ich. Er sprang auf. Und lief in dem luxuriös eingerichteten Gästezimmer hin und her. »Danke!« rief er. »Sie haben mir genau das bestätigt, was ich hören wollte. Hier reift Weltgeschichte heran. Hier ist es möglich, das Antlitz eines Erdteils mit einem geschickten Kunstgriff zu verändern, seine Kräftelage auf den Kopf zu stellen! Wir sind schon auf dem richtigen Weg, wenn wir mit Peking zusammengehen, ob es sich kommunistisch nennt oder nicht. Entscheidend ist sein absolut gebrochenes Verhältnis zu den Sowjets. Bleibt nur Taiwan. Das wird schwer werden. Ehe ich es vergesse: Wie rede ich Mao an? Eure Exzellenz? Oder?« »Niemand weiß bislang, ob er Sie empfängt, Sir. Er hat das lediglich für den Präsidenten zugesagt. Nur — für den Fall, daß er Sie rufen läßt, nennen Sie ihn >Sehr geehrter Herr Vorsitzenden<, das genügt. Als Partner für Gespräche wird Tschou En-lai zur Verfügung stehen ...« Wir sprachen über Tschou En-lai, als einer der beiden Sicherheitsleute, die mich untersucht hatten, in der Tür erschien und
meldete, daß Yang mit einer brandheißen Nachricht da wäre. Kissinger machte ein besorgtes Gesicht und befahl, Yang hereinzulassen. Dieser hielt Kissinger ein Fernschreiben hin. Der Sicherheitsberater überflog es in wenigen Sekunden, worauf er es wütend zusammenknüllte und in die Ecke warf, dabei brüllte er etwas von verdammten Vollidiotem. Nach einer Weile beruhigte er sich und überlegte. Dann, immer noch mit vor Wut bebender Stimme, ordnete er an: »Sie fliegen sofort nach Peking, Yang. Unverzüglich. Bitten Sie über die pakistanischen Stellen um eine Sondergenehmigung im Zusammenhang mit meinem Besuch. Man wird Ihnen hier eine Maschine geben. Tragen Sie die Sache Tschou En-lai vor, Sie wissen ja, wie der Kontakt mit ihm herzustellen ist. Ich werde nicht nach Peking reisen, wenn dieser Kerl dort herumspaziert! Niemand soll das, was wir sorgfältig planen, ausschwätzen! Alles zu seiner Zeit! Die Chinesen sollen diesen Kerl in Kanton festhalten. Unter irgendeinem Vorwand. Egal, was. Gehen Sie! Fliegen Sie sofort ab! Ich steige nicht in die Maschine, bevor ich aus Peking Nachricht habe, daß der Mann während meines Besuches in Kanton sitzen muß!« Yang verschwand so schnell, daß ich mir Gedanken über seine Bedeutung in der Agentur machte. Als ich Kissinger fragte, ob es sich bei dem >Kerl< etwa um einen Russen
handelte, schrie er wütend: »Schlimmer! James Reston! Kolumnist der New York Times, hat sich ein Visum besorgt, ist aus Hongkong nach Kanton gereist und wartet dort auf dem Flugplatz auf die nächste Maschine nach Peking! Himmel, ist denn nichts auf der Welt vor diesen Schnüfflern abzusichern! Unfähigkeit auf der ganzen Linie!« Er beruhigte sich nach und nach wieder, und wir setzten unser Gespräch fort. Ich hatte den Eindruck, daß Kissinger durchaus gut informiert war, aber er wollte wohl auf der letzten Station, bevor er nach Peking startete, noch alles tun, um sich bei einem Eingeweihten über Dinge aufklären zu lassen, die keine Dienststelle in den Staaten wußte. Schließlich glitt die Unterhaltung ins Private. Er interessierte sich für meine persönliche Situation, die Familie, und er riet mir, bald nach dem offiziellen Staatsbesuch unseres Präsidenten meinen Wohnsitz wieder in die Staaten zu verlegen. Ich hatte das ohnehin vorgehabt, weil meine Mission der Aufrechterhaltung einer verdeckten Verbindung zwischen der Agentur und Kang Sheng mit dem offiziellen Austausch von Botschaftern oder der Einrichtung von Konsulaten ihr Ende fand. In einer künftigen Botschaft der USA in Peking würde sich selbstverständlich ein Resident der Agentur befinden, alles würde mehr oder weniger offiziell zu regeln sein.
»Es wird vielleicht noch längere Zeit dauern, bis wir eine Botschaft aufmachen können«, spekulierte Kissinger jetzt. Er begründete das mit der schwierigen Situation, die infolge unserer Verpflichtungen gegenüber Taiwan bestand. Zwei Chinas konnten wir zwar diplomatisch anerkennen, nur die Volksrepublik hatte bereits signalisiert, das würde sie nicht mitmachen. China war die Volksrepublik, und Taiwan war eine noch nicht befreite Provinz, deren Rückführung in den Staatsverband sich Peking in jedem Falle vorbehielt. Akzeptierten wir das nicht, gäbe es keine Gespräche zwischen uns. »Das macht die Sache nicht einfach«, meinte Kissinger. Wir werden versuchen, diese Problematik weitgehend als sogenannte innere Angelegenheit Chinas auszuklammern. Nur — es steht bereits fest, daß wir unsere Botschaft in Taipeh liquidieren müssen. Das heißt nicht, daß wir die Beziehungen abbrechen, wir müssen lediglich einen anderen Modus finden, um sie fortzuführen. Bis das alles geregelt ist, werden wir den Pekingern vorschlagen, eine Art ständige Verbin-dungsbüros in Peking und Washington zu etablieren, mit allen Hechten, die diplomatischen Vertretungen zustehen. Hochrangiges Personal, aber eben dem Namen nach keine Botschaften.« »Und die Militärhilfe?« Er zögerte. Wollte wohl auch mir gegenüber nicht alle Karten
aufdecken. Dann aber sagte er: »Wir werden über ein Verfahren zu entscheiden haben, unsere Militärhilfe an Taiwan nach und nach einzuschränken. Eigentlich hätten wir da ein gutes Druckmittel in der Hand: Immer wenn China unsere Absichten durchkreuzt, in Zukunft, geht ein Waffentransport nach Taipeh ab. Man muß das gut überlegen, es gilt, eine Regelung zu finden, die für beide Seiten akzeptabel ist und die zu nichts verpflichtet.« Wenig später fuhr er fort, mir zu erläutern, daß er eine Handvoll freundlicher Gesten in seinem Gepäck habe. So könne man in Zukunft auf die von Peking scharf gerügten Aufklärungsflüge unserer U-2-Maschinen feierlich verzichten, sie seien angesichts der Satelliten ohnehin nicht mehr nötig, ein Verzicht höre sich aber gut an. »Gesicht gegen Gesicht, das ist meine
Marschroute«,
sagte
er
gemütlich.
»"Eine
Verfahrensweise, die Sie übrigens empfohlen haben, Robbins. Der Präsident hat entschieden, daß wir sie praktizieren. Sagen Sie, ist dieser verdammte Mao Tai obligatorisch bei Essen in Peking?« Sprunghaft war er zuweilen. Ich sagte: »Er ist es.« Und dann erkundigte ich mich, wie es um die UNO-Mitgliedschaft Chinas aussehen würde. Kissinger riet mir sofort, mit Kang Sheng offen darüber zu reden. Er selbst wollte noch nichts zu Tschou En-lai
darüber verlauten lassen. Geplant war, daß die US-Delegation einen Verfahrensfehler begehen sollte bei der nächsten Sicherheitsratssitzung. Dadurch sollte ein Antrag vor die Vollversammlung kommen, den wir bisher stets blockiert hatten. »Ein solcher Antrag liegt vor, von Albanien verfaßt, er fordert, daß der von Taiwan widerrechtlich okkupierte Sitz in der UNO von Peking eingenommen werden soll. Wir werden unser Gesicht wahren, weil wir diese jahrelang bekämpfte Sache nun nicht etwa befürworten, wir machen lediglich einen Fehler, werden überstimmt. Das wird im Oktober sein, es besteht gar kein Zweifel mehr, daß die Abstimmung zugunsten Pekings ausgeht ...« Während ich mir über die elegante Art Politik zu machen, die man zwar nicht öffentlich vertreten wollte, von der man aber wußte, daß sie opportun war, Gedanken machte, trugen Bedienstete des Gästehauses einen Imbiß für uns auf. Die politischen Begleiter Kissingers stießen zu uns, Winston Lord, John Holdridge und Richard Smyser. Das Gespräch verflachte. Kissinger empfahl uns allen, zeitig schlafen zu gehen, wir würden um drei Uhr nachts geweckt werden zum Abflug. Falls es gelang, den >Kerl< in Kanton festzuhalten! Ich kroch so müde, wie ich mich hingelegt hatte, unter der leichten Steppdecke mit dem Seidenbezug hervor, die mich ins
Schwitzen gebracht hatte. Ein Blick aus dem Fenster zeigte einen ersten schmalen grauen Streifen am Horizont. Noch brannten die starken Scheinwerfer, die um das Gästehaus herum die Parklandschaft erhellten. Posten standen schweigend an allen strategischen Punkten. Irgendwo zirpten ein paar Grillen, ein Nachtvogel schrie. Ich brachte die Routine hinter mich, die aus Duschen, Rasieren und Ankleiden bestand, begab mich dann nach unten, wo ich auf einen mürrischen Kellis traf, der mir zuknurrte: »Kannst du dir vorstellen: diese Halbaffen kriegen von Yang aus Peking Bescheid, daß die Sache mit dem TimesOnkel geregelt ist, und wen wecken sie? Mich!« »Haben sie ihn in Kanton verhaftet?« »Nein, er hat Magenbeschwerden.« »Wovon?« Ich bekam keine Antwort. Wir aßen im Stehen eine Kleinigkeit, während vor dem Portal Fahrzeuge ankamen. Es waren pakistanische Militärautos, geschlossene Stabswagen. Kissinger erschien mit seiner Begleitung, zu der auch die beiden Sicherheitsleute gehörten. Mir machte es Mühe, ernst zu bleiben, denn der Sicherheitsberater des Präsidenten trug einen Hut, der ungefähr so gut zu ihm paßte, wie Ringelsöckchen zu einem Ochsen, seine Augen verbarg er hinter sehr dunklen Brillengläsern. So wie er aussah, hatte ich die Alko-
holschmuggler aus den Prohibitionsfilmen in Erinnerung. — Die Maschine stand bereit, eine Boeing 707, die sonst nur Pakistans Präsident benutzte. Kissinger wurde am Einstieg vom chinesischen Stab begrüßt, der die Nacht vermutlich in der Maschine verbracht hatte. Nancy Tang übernahm sofort das Kommando, sie verteilte auch die Sitzplätze. Kellis konnte es sich nicht verkneifen, ihr im Vorbeigehen verschwörerisch zuzublinzeln und zu hauchen: »Ni Hao, my fair lady!« Sie bedachte ihn mit einem unglaublich freundlichen Lächeln und flötete: »Good morning, Sir!«, als wäre sie die auf taktvolles Benehmen dressierte Stewardeß einer kleinen Linie, die Kundenwerbung nötig hat. Ich wurde weder gebraucht, noch hatte ich Lust, mich einzumischen, also ließ ich Kissinger mit unseren Chinesen das machen,
was
man
als
>small
talk<
bezeichnet,
Belanglosigkeiten schwätzen. Mehrmals nickte ich ein, nachdem wir pünktlich um vier Uhr dreißig in den flammenden Sonnenaufgang hinein gestartet und auf Höhe gezogen waren. Kellis riß mich eine halbe Stunde vor der Landung in Peking unsanft aus einem verworrenen Traum, in dem Sandy eine Rolle spielte, aber auch eine Operndarstellerin mit weißen Haaren und ferner ein Tanzlöwe aus Papier, wie man ihn auf chinesischen Festen sieht.
»Spring gefälligst an, der Häuptling ruft!« Kissinger stand, ohne Jackett, in einem durch Vorhänge abgeteilten Kompartment und schäumte vor Wut. Mit seinem Zeigefinger fummelte er an einem dieser Schriftbänder herum, wie sie heutzutage auf Hemdentaschen genäht werden, meist steht dann da > Orion < oder >Rodeo<, aber auch >Privileg< oder >Windsor<. Kissinger trug ein Hemd mit der sinnigen Aufschrift >Taipeh<, was mich zum Lachen brachte, denn instinktloser konnte man in der Wahl seiner Kleidung kaum sein, wenn man nach Peking flog. Aber der Sicherheitsberater klärte das gleich auf: Irrtümlich seien alle seine weißen Hemden in Islamabad geblieben, ein Bediensteter hatte das verbrochen. Da Kissinger stark schwitzte, mußte er mehrmals täglich das Hemd wechseln, und nun, da er keine eigenen hatte, lieh ihm sein Mitarbeiter John Holdridge die seinigen, und der kaufte eben Taiwan-Ware, ohne sich dabei etwas zu denken. Außerdem sei er so verdammt groß, beinahe zwei Meter, und die Ärmel gingen
bis
über
die
Fingerspitzen!
Was
tun?
Der
Sicherheitsberater hatte ein knallrotes Gesicht. Ich beruhigte ihn zunächst: »Bis zum Quartier werden Sie das Jackett anbehalten, niemand wird die Schrift sehen. Die Ärmel krempeln Sie hoch. Kein Mensch in Peking interessiert sich für Manschetten von vorschriftsmäßiger Länge, man geht dort um diese Zeit zu
Diplomatenempfängen in kurzärmeligen Hemd, das über den Hosenbund hängt. Also ...« »Waas?« Er wollte es nicht glauben. »Ehrenwort, Sir!« versicherte ich ihm, während ich die Ärmel bis zu seinen Oberarmmuskeln umschlug. »Meine Hemdgröße dürfte annähernd passen, Sir, ich sorge dafür, daß ein Bote Ihnen sofort ein halbes Dutzend in Ihr Quartier bringt!« »Machen Sie ein Dutzend daraus!« bat er. Dann schien er einigermaßen beruhigt zu sein. Der erste Unterhändler Amerikas seit Jahrzehnten, der Peking aufsuchte, und dessen größte Angst ein lächerliches Hemdenetikett war! »Zwölf Uhr fünfzehn, Pekinger Zeit«, sagte Nancy Tang, als die
Maschine
ausrollte.
Wir
waren
angelangt.
Das
Empfangskomitee stand bereit: der ältliche Marshall Yeh Tschien-ying,
Huang
Hua,
ein
hoher
Beamter
im
Außenministerium, der soeben zum Botschafter in Kanada ernannt worden war, ein weiterer Beamter, den ich nicht kannte, von dem aber bekannt war, daß er auf Amerika spezialisiert war, sowie das männliche Gegenstück zu Nancy Tang, der Dolmetscher des Außenministeriums Tschi Tschao-tschu, ein Mann, der nach erfolgreich abgeschlossenem Chemiestudium in Harvard heimgekehrt war und der großes Vertrauen genoß, warum, wußte niemand. Vielleicht hatte er es schon in Harvard genossen
— ich vermutete, daß er in den Staaten Verbindung zu Edgar Snow aufgenommen hatte, denn Snow hatte ihn als Übersetzer bei sich gehabt, als er Mao interviewte, während er das letzte Mal in Peking weilte. Tschi hatte auch die Übersetzung des schriftlich herausgegebenen Textes besorgt, den Snow später zum Druck brachte. Kellis nahm mich beiseite, während der alte Marshall Kissinger nach dem Verlauf des Fluges befragte, nach seiner Gesundheit, nach Frau und Kindern und dem allgemeinen Befinden, Vorher hatte er ihn formell in der Volksrepublik willkommen geheißen. »Der muß denken, er ist auf dem Mond«, kicherte Kellis, weil Kissinger von diesem überaus freundlichen, dabei völlig unzeremoniellen Empfang sichtlich überrascht war. Er hatte keine Wärme vermutet, bei den Leuten, die ihn hier begrüßten, und er erlebte die erste Belehrung über chinesische Sitten. Wir waren so gut wie entlassen, fürs erste. Lediglich die beiden Sicherheitsleute fuhren jetzt mit Kissinger und dessen Gastgebern zum Tschung Nan Hai. »Fahren wir zum Hsinchao, graben wir Old Franky Yang aus und machen wir uns einen Ball", schlug Kellis aufgeräumt vor. Und genau das taten wir dann auch. In einer wachen Minute fielen mir Kissingers Nöte ein, also rief ich zu Hause an und bat Sandy,
ein
Dutzend
meiner
weißen
chinesischen
Baumwollhemden der Marke >Phönix< weiterer Anruf,
diesmal
bereitzulegen.
Ein
bei Kang Sheng, genügte. Er ließ
die Hemden holen (sicher auch intensiv untersuchen), daraufhin wurden
sie
unauffällig
den
beiden
Sicherheitsbeamten
Kissingers im Tschung Nan Hai übergeben. Yang war schon in Urlaubsstimmung. Er lachte schadenfroh, als er uns schilderte, wie er durch seinen von Kang Sheng abgestellten Kontaktmann dafür gesorgt hatte, daß James Reston inzwischen in einem sehr langsamen Zug saß, der voraussichtlich erst Tage nach der Abreise Kissingers in Peking eintreffen würde. Dann eröffnete er mir, meine Pflichten seien, was ihn beträfe, vorerst erfüllt. Für den Besuch und die Gespräche Kissingers würde ich nicht mehr gebraucht, ich könnte mich also getrost mit Kellis und ihm betrinken oder einfach nüchtern nach Hause gehen. Ich zog das erstere vor. Wir tranken allerdings nur Bier, da wir keinen eigenen Whisky mehr hatten, und ich erinnere mich, daß die restlichen
Nachtstunden,
nachdem
ich
in
der
Hutang
angekommen war, etwas unruhig wurden. Sandy zog mich am Morgen auf, ich täte gut daran, mich auf ein Blasenleiden behandeln zu lassen, abgesehen von einer Entziehungskur, die sie mir empfahl. Schlimm war, daß ich mich an nichts mehr erinnern konnte. Nur noch, daß ich am Abend des 11. Juni wieder bei Yang und Kellis erscheinen sollte, in deren
Dauerquartier im noch leidlich pompösen Hsinchao, wo einem, kaum daß man die Halle betreten hatte, ein riesiges Wandgemälde im Treppenaufgang ins Auge fiel, in dessen Mittelpunkt ein jugendfrischer, heiterer Mao inmitten der chinesischen Nationalitätenfamilie dahinschritt. Zu dieser Zeit würde sich Mister Kissinger auf dem Rückflug nach Islamabad befinden, und wir wollten anhand der Mitschnitte, die einer der Sicherheitsbeamten für uns machte, eine kurze Analyse des Besuches für die Zentrale anfertigen. Als mir das einfiel, begann mein bisher biergeschädigtes Gehirn langsam wieder zu funktionieren, und ich erinnerte mich daran, daß ich großen Spaß an Kellis' Darstellung über die Verschleierungstaktik gehabt hatte, die in Islamabad geübt worden war. »Wenn du glaubst, er sei so einfach in die Maschine geklettert, wie du es gesehen hast, irrst du«, hatte mich mein alter OSS-Kommandochef aufmerksam gemacht. Und dann hatte er Yang und mir erzählt, was er mit ein paar aus den Staaten nach Islamabad eingeflogenen Agentur-Spezialisten an Tarnmanöver aufgezogen hatte, damit nicht einmal ein Gerücht über eine Reise Kissingers nach Peking entstehen konnte. Im Falle der Erkrankung eines so hohen Politikers wie Dr. Kissinger im Ausland wird er selbstverständlich vom betref-
fenden Botschaftsarzt untersucht. Das aber war unmöglich gemacht worden, weil Botschafter Farland auch ihn unter plausiblem Vorwand auf Urlaub geschickt hatte, also klang die Legende ziemlich glaubhaft, Präsident Yahya Khan habe dem lediglich
etwas
überforderten
Dr.
Kissinger
einen
Wochenendaufenthalt in seiner Villa in den Bergen bei Nathigali angeboten. Bekannt war ohnehin, daß Henry Kissinger zwar verbissen zu arbeiten verstand, ebenso aber einer kleinen Abwechslung nicht abgeneigt war. Also lief die desorientierende Inszenierung genau nach dem Drehbuch ab, das die Agentur entworfen hatte: Dr. Kissinger speiste mit Farland in dessen Residenz zu Mittag, hier wurde er auch vom restlichen Botschaftspersonal begrüßt, wobei jemand geschickt das Gerücht verbreitete, der Sicherheitsberater habe gewisse Schwierigkeiten mit der Verdauung der Speisen auf den vorhergegangenen Reisestationen gehabt. Am Abend gab dann Präsident Yahya Khan ein Essen, und da bekam Dr. Kissinger bereits — unter den bedauernden Blicken der anderen Teilnehmer — Diätküche vorgesetzt. Er trug es mit Würde. Präsident Yahya Khan äußerte dann den Verdacht, daß das gegenwärtig sehr heiße Klima in Islamabad Dr. Kissinger vielleicht zusätzlich schwäche, er empfahl einen kurzen Erholungsaufenthalt in kühler Höhenluft. Zur Überraschung der
anderen Gäste ging Kissinger sofort darauf ein. Kellis schüttelte sich vor Lachen, als er berichtete, daraufhin sei ein dritter Sicherheitsbeamter, der zu McLeod und Ready gehörte und wie alle anderen, nichts von der geplanten Peking-Reise wußte, sofort zu besagter Villa Yahya Khans ins Gebirge geflogen und habe von dort, noch während des Abendessens, aufgeregt mitgeteilt, das Haus sei unter dem Aspekt der Sicherheit nicht als Aufenthaltsort geeignet. Kissinger handelte blitzschnell, er bat Yahya Khan, den Mann dort im Gebirge festzuhalten, bis er aus Peking zurück war. »Die 707 der Pakistani Airlines, in der wir flogen, war zuvor von ausgesuchten Technikern völlig auseinandergenommen worden«, berichtete Kellis. »Und dabei ist das die Staatskrähe! Ganz Chaklala, der Flugplatz und Umgebung, waren abgesperrt. Und mitten auf dem Rollfeld stand demonstrativ Dr. Kissingers Flugzeug. Jeder mußte denken, solange es da stand, müsse der Sicherheitsberater in den Bergen sein!« Vier Stunden nach unserem Abflug aus Chaklala fuhr dann die Autokolonne Yahya Khans durch die Stadt Islamabad, mit allen Sicherheitsvorkehrungen, die die Illusion stärkten, daß Dr. Kissinger sich in einer der Limousinen mit den verhängten Fenstern befand. Er war nicht zu sehen, natürlich. Dafür aber einer seiner Mitarbeiter, David Halperin, auch Botschafter
Farland, und andere, zivil gekleidete Amerikaner, in denen Begleitschutz für Kissinger vermutet werden sollte. Um 11 Uhr vormittags traf die Kolonne in Nathigali ein, und am nächsten Tag telefonierte Halperin mit der Botschaft Islamabad. Er teilte mit, Dr. Kissinger benötigte weitere vierundzwanzig Stunden Ruhe. Da sich dadurch einige Terminverschiebungen ergaben, mußten Besuchspartner in Teheran und Paris benachrichtigt werden. Die Story von Dr. Kissingers »asiatischer Darmgrippe< begann sich selbst in seriösen Blättern zu verbreiten. »Die erste Show ist gelaufen«, bemerkte Kellis, als ich, wie vereinbart, am Abend des 11. Juni bei ihm erschien. »FrankyBoy sitzt noch nebenan, er übersetzt Dialogstellen aus den Abhörbändern. Wir werden die Nacht durcharbeiten müssen, Langley will noch, bevor Dr. Kissinger dem Präsidenten Bericht erstattet, einen Überblick. Das ist das Schwerste: er soll kurz sein!«
An Zentrale Besuchsablauf Dr. K. in Peking, vom 9. bis 11. Juli 1971 Freitag, 9. Juli: 1. Mister Kissinger wird nach Landung um 12.15 Uhr in das Regierungsviertel Pekings >Tschung Nan Hai< gebracht.
Unterbringung in kleinem Gästehaus. Tee im Club mit Marshall Yeh Tschien-ying. Anwesend ab 16.30 Uhr auch Tschou En-lai. Gesprächsthema: Grundpositionen beider Partner. Tschou erwähnt ausführlich Passagen aus der Rede des Präsidenten vom 6. Juli in Kansas City, in der dieser erneut von der Größe und Bedeutung
Chinas sprach,
von der
Notwendigkeit
der
Beendigung der Isolation und der Bereitschaft der USA zum Dialog. Tschou bezeichnet das als gute Basis. Übereinkunft wird erzielt, daß die Frage Taiwans besprochen wird, aber nicht lediglich diese Frage, und daß außerdem Probleme zwischen China und den USA, die kontrovers sind, >in der Schwebe gehalten werden< sollen, d.h. keine Seite soll ein vorerst unlösbares Problem zum Anlaß für einen Abbruch der Gespräche nehmen. Mr. Kissinger erläutert die US-Politik in Indochina und informiert Tschou über den Inhalt seiner Gespräche mit Le Duc Tho. Ton: sachlich, freundlich, aufgeschlossen. Ende des Gesprächs: 23 Uhr 20.
Sonnabend, 10. Juli: 10 Uhr: Besichtigung des (völlig abgesperrten) Kaiserpalastes und der
ehemaligen kaiserlichen Schatzkammer. Begleitung: Tschou En-lai. Themen:
Schärfer
als
am
Vortage
vorgetragen
die
Besitzansprüche auf Taiwan, die Absicht, Nordvietnam zu unterstützen, die Befürchtung, daß China von den >beiden Supermächten< (offenbar als Sprachregelung gedacht für die UdSSR und USA) und auch von Japan eingekreist und bedroht werden könne. Tschou stellt nach Klarlegung der chinesischen Position an Dr. K. die Frage, ob er unter diesen Umständen tatsächlich Sinn in einem Präsidentenbesuch sähe. Dr. K. bejaht das. USA würden nicht auf Vorbedingungen eingehen, aber Gespräche seien nötig, um die traditionelle Freundschaft zwischen Amerika und China wiederherzustellen. Damit würden keinesfalls die jeweiligen politischen Konzepte aufgegeben, die unterschiedlich sind und bleiben werden. Als Dr. K. danach einzelne Ausführungen Tschous angreift und teilweise widerlegt, beendet Tschou geschickt die sich anbahnende Auseinandersetzung, indem er verkündet, das Essen stehe bereit. (Peking-Ente) Während des Essens und danach wird durch den gelösten Plauderton Tschous klar: er hatte lediglich darauf verweisen wollen, daß die Annäherung Chinas an die USA nicht die Aufgabe des chinesischen Staatskonzeptes und der historischen
Ansprüche bedeuten könne. Wenn die USA das — bei allen Meinungsunterschieden — auch so sähen, könnte man zusammenkommen. Weitere Themen: die Kulturrevolution, Maos weitblickende Lenkung des Staates, die Gefahren der Zukunft für China, wenn die revolutionär erprobte ältere Generation nicht mehr da sein wird. Dann schlägt Tschou unvermittelt vor, den Besuch von Präsident Nixon für Sommer 1972 zu planen. Es wird Einigung erzielt, daß er — nach Abstimmung mit sonstigen Verpflichtungen des Präsidenten — bereits im Frühjahr 1972 stattfinden soll. Ende des Gesprächs: 18 Uhr. (Vertagung auf 22 Uhr)
23 Uhr 15: Tschou erscheint im Gästehaus. Entschuldigt Verspätung mit Staatsgeschäften (in der Tat war er auf einem Bankett mit dem nordkoreanischem Staatschef Kim Il Sung, das er vorzeitig verließ). Gesprächsthemen: Indien und China, Indiens Absicht, Pakistan militärisch anzugreifen (?).
24 Uhr:
Tschou verabschiedet sich. Kündigt an, Huang Hua werde sogleich mit dem chinesischen Entwurf für eine gemeinsame Erklärung erscheinen. Danach: Gespräch mit Huang Hua über die Erklärung, in der der Eindruck erweckt wird, die USA kämen sozusagen als Bittsteller nach Peking. Dr. K. fordert, dies müsse verändert werden. Ende des Gesprächs: 3 Uhr (bereits am Sonntag, 11. Juli).
Sonntag, 11. Juli: 10 Uhr: Beginn neuer Gespräche mit Huang Hua über Erklärung. Neuer chinesischer Text ist für uns akzeptabel, unterscheidet sich nicht von unserem eigenen Vorschlag. Wir ändern (pro forma) ein einziges Wort darin und dann wird der Text als gemeinsame Erklärung akzeptiert. Danach: Tschou erscheint und bittet, sich jetzt schon verabschieden zu dürfen. Persönliches Gespräch mit Dr. K. Gute Atmosphäre. Dr. K. soll ein weiteres Mal, im Herbst, nach Peking kommen. Der Präsidentenbesuch solle effektvoll vorbereitet werden als welthistorisches Ereignis.
14 Uhr:
Mittagessen, danach Fahrt zum Flugplatz. Unverzüglicher Start (15 Uhr). In der Maschine befinden sich liebevoll zusammengestellte chinesische Delikatessenpakete sowie die Werke Maos und Samm-lungen von Souvenir-Fotos, die chinesische Regierungsfotografen von Dr. K. und den anderen amerikanischen Besuchern im Kaiserpalast gemacht haben. Reise Dr. Ks. geht über Teheran (Zwischenstop) nach Paris (Treffen mit Le Duc Tho) weiter. Gesamteindruck: Verbindung ist hergestellt. Verständnis auf beiden Seiten kann Ergebnisse bringen. China zu Partnerschaft bereit, unter der Bedingung, daß es sein Gesicht wahren kann, was so zu verstehen ist, daß China aus völliger Selbständigkeit heraus, aus eigener
Entscheidung,
ohne
fremde
Beeinflussung
den
Entschluß realisiert, seine Beziehungen zu der USA zu normalisieren. Damit soll fraglos die Position Chinas als souveräne Weltmacht unterstrichen werden. Weitergehende (u. U. auch militärische) Vereinbarungen werden auf der Basis prinzipieller Annäherung möglich sein, abhängig von Handelsvorteilen, die China eingeräumt werden, aber auch von der Haltung der USA zur Taiwan-Frage. Diese Haltung der USA wird dadurch erleichtert werden, daß China die Wiedereingliederung Taiwans, nach Tschous Worten,
grundsätzlich mit friedlichen Mitteln herbeiführen will. Hier liegt eine Chance für Manöver der US-Außenpolitik in der Zukunft. Zu beachten ist dabei, daß Chinas Armee ohnehin nicht das Potential für gewaltsame Aktionen gegen Taiwan besitzt und außerdem dringend einer Modernisierung bedarf (wörtl.: Yeh Tschien-ying). Auch hier kann in Zukunft der Hebel für eine nützliche China-Politik der USA angesetzt werden. Team Polo
Radio Hongkong, 16.Juli 1971: Seit der AP-Meldung, daß US-Präsident Richard Nixon am Abend des 15. Juli von Los Angeles aus eine wichtige Erklärung zu einer bisher geheimen Sache abgeben werde, sind die Spekulationen wild ins Kraut geschossen. Von der Ankündigung des Atombombeneinsatzes in Vietnam bis zur Bekanntgabe der Gründung eines 51. US-Staates im Himalaya, der von Yetis bewohnt ist, war so ziemlich alles im Gespräch. Was der Berg dann geboren hat, und was NBC über alle Kanäle in die Welt funkte, war zwar immer noch überraschend, aber eben nicht viel größer als die notorische Maus. Es lag auf der Hand, daß etwas in dieser Art früher oder später geschehen würde, seitdem
Präsident Nixon seine tiefe Verehrung für Rotchina publik gemacht hatte. Er hat jetzt den Joker mit dem Bild Mao Tsetungs aus dem Ärmel gezogen. Wörtlich hörte sich das gestern Abend so an: >Premier Tschou En-lai und Dr. Henry Kissinger, Berater für Fragen der Nationalen Sicherheit des Präsidenten Nixon, hüben vom 9. bis zum 11.Juli 1971 in Peking Gespräche geführt. In Kenntnis des ausdrücklichen Wunsches des Präsidenten Nixon, die Volksrepublik China zu besuchen, hat Premier Tschou Enlai im Namen der Regierung der Volksrepublik China Präsident Nixon eingeladen, China zu einem geeigneten Zeitpunkt vor dem Mai 1972 zu besuchen. Präsident Nixon hat die Einladung mit Vergnügen angenommen. Die Begegnung zwischen den Führern Chinas und der Vereinigten Staaten soll zur Normalisierung der Beziehungen zwischen
den
beiden
Ländern
beitragen
und
einen
Gedankenaustausch über beide Seiten interessierende Fragen ermöglichen. Da ich annehme, daß es nach Abgabe dieser Erklärung zu Spekulationen kommen wird, möchte ich unsere Politik in einen möglichst klaren Zusammenhang stellen. Wenn wir auf diese Weise versuchen, eine neue Beziehung zur Volksrepublik China herzustellen, werden wir das nicht auf
Kosten unserer alten Freunde tun. Dieser Schritt richtet sich gegen keine andere Nation. Wir streben freundschaftliche Beziehungen zu allen Nationen an. Jede Nation kann unser Freund sein, ohne der Feind irgendeiner anderen Nation sein zu müssen. Ich habe diesen Schritt getan, weil ich tief überzeugt bin, daß alle Nationen aus einem Abbau von Spannungen und durch bessere Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und der Volksrepublik China Vorteile gewinnen werden. In diesem Geiste werde ich, wie ich hoffe, einen Weg einschlagen, der zum Frieden führt, zu einem Frieden nicht nur für unsere Generation, sondern auch für künftige Generationen auf dieser Erde, die uns alle beherbergt. Ich danke Ihnen und wünsche Ihnen eine gute Nacht. Nun ja, zu diesem Text ließe sich außer einem ebenso höflichen >Gute Nacht< noch manches sagen. Wir verzichten darauf, weil wir sicher sind, daß in den Vereinigten Staaten nun eine ChinaEuphorie ausbrechen wird und jeder noch so berechtigte Einwand uns sogleich als >Störer des Friedens zwischen den Nationen, die unsere Erde beherbergt abstempeln würde. (In Kalifornien erscheinen bereits die ersten T-Shirts mit dem Aufdruck >l like Mao
20.9.1971
„Kannst du herkommen?« fragte Sandy am Telefon. Ihre Stimme klang ernst. Sie rief aus der Wohnung der Tongs an. »Was ist geschehen?« erkundigte ich mich. Sandy gab kurz angebunden zurück: »Stell keine Fragen, komm her, schnell.« Sie legte auf. Ich hatte sie so barsch nur selten erlebt und machte mir Gedanken. Ich telefonierte mit der Taxizentrale, und >Number One< war bald darauf am Eingang der Gasse. Kommentarlos deponierte ich eine Stange Zigaretten auf dem Sitz neben ihm, und er reagierte darauf eher betrübt: »Es ist mir eine Ehre, von Ihnen beschenkt zu werden, Mister Robbins. Nur weiß ich nicht, ob ich der Ehre würdig bin ...« Es klang wie die übliche Floskel, doch es war der Tonfall, der mich stutzig machte, und es war der seltsame Blick, den >Number One< mir zuwarf. Deshalb erkundigte ich mich behutsam, ob er etwas auf dem Herzen habe. Es dauerte eine Weile, bis er damit herausrückte. Er versicherte mir, daß er mir zu großer Dankbarkeit verpflichtet sei, weswegen er die Gefahr auf sich nähme, mir die Wahrheit zu sagen, obwohl dies ihm leicht Gefängnis einbringen könne. Er wirkte erleichtert, als er mir gebeichtet hatte, man habe ihn verpflichtet, jeden Chinesen zu melden, den er zu mir und zu dem er mich oder Sandy brachte. »Die Polizei?« Meine Frage war naiv, ich wußte wohl, wer solche Überraschungen bewerkstelligte, und ich fand das
bestätigt, als >Number One< zurückgab: »Kein Polizist. Ein Mann in Zivilkleidung. Mit einem Ausweis des Amtes für Sicherheit.« Er bedankte sich überschwenglich, als ich ihm versicherte, niemand werde davon erfahren, daß er mich informiert habe, sicher sei das Ganze Routine, schließlich sei ich ein Ausländer, da
wären
solche
Maßnahmen
in
gewissen
Grenzen
unvermeidlich. »Sicher, weil Sie Amerikaner sind, Mister Robbins«, stimmte er zögernd zu. »Möglicherweise vermutet man, Sie könnten etwas gegen diese amerikanischen Leute planen, die jetzt mit uns verhandeln. Es sind ja immerhin Imperialisten ...« Ich beeilte mich, ihm recht zu geben, fügte aber an, das sei völlig abwegig, ich sei ein »Mann des Wissens<, nicht jemand der Anschläge plant, etwa auf diesen Amerikaner Kissinger. Das beruhigte >Number One<. Er gab mir lediglich zu bedenken: »Eine Menge Leute bei uns ist sehr erregt über diese Sache mit den hohen Amerikanern. Es heißt, unsere Führer wollen sie am liebsten ins Land holen, gegen die Russen. Ob die uns wirklich angreifen wollen?« Wir waren bei den Tongs angekommen, das enthob mich einer ausführlichen Antwort. So schüttelte ich nur den Kopf und sagte, meiner Pekinger Rolle getreu, ich hielte das nicht für sehr
wahrscheinlich. Während ich bezahlte und die vielen kleinen Quittungszettel einsteckte,
schärfte
mir
>Number
One<
nochmals ein, auf keinen Fall über seine Mitteilung zu sprechen. Ich versicherte ihm, ich hätte die Sache schon vergessen. Er machte das alte Zeichen, als er abfuhr, ballte die Faust und ließ den Daumen nach oben stehen. Elma Tong saß, die Hände im Schoß gefaltet, in einem Rohrsessel und weinte lautlos vor sich hin. Sandy zog mich in einen Nebenraum. Sie hielt mir wortlos einen Brief hin, den Jan Tong, der mit anderen ehemaligen > Roten Rebellen < nach dem Nordwesten des Landes verschickt worden war, an seine Mutter geschrieben hatte. Ich ließ das Blatt sinken. Graues, schlechtes Papier, einer jener Faltbriefe, wie sie auch von Soldaten geschrieben wurden. Keine Adresse. »Das heißt noch gar nichts«, begann ich, meine eigenen Befürchtungen zu zerstreuen. Aber Sandy winkte unwillig ab. »Er ist tot!« »Woher weißt du das mit Sicherheit?« Sie sagte leise, so daß Elma es nicht hören konnte: »Der Freund, von dem er schreibt, war hier.« »Und er hat den Tod bestätigt?« »Selbstmord, ja.«
Sandy nahm mir den Brief aus der Hand, faltete ihn wieder zusammen und legte ihn auf einen Tisch. Dabei sagte sie: »Jan Tong hat von dem Lastwagen, der die Gruppe zur russischen Grenze fuhr, wo sie Stacheldraht ziehen sollten, einen Kanister Benzin abgehängt, sich damit übergossen und angezündet. Der Freund hat es Elma erzählt. Ich habe ihr etwas zur Beruhigung gegeben. Kümmere dich um Tjiuy ...« Selbstverbrennung! Ich hatte in Zeitungen gelesen, daß buddhistische Mönche in Süd-Vietnam es taten, um gegen den Krieg zu protestieren. Am Eingang von Ma Hai-tes Dienststelle hielt mir ein Pförtner einen Vortrag über die Regulationen, nach denen kein Ausländer dieses Institut betreten dürfe. Ich hatte die Belehrung schließlich satt und fuhr ihn barsch an, er solle gefälligst ganz schnell Ma Hai-te anrufen und mich melden, sonst würde ich in zehn
Minuten
mit
einer
Kompanie
Sicherheitssoldaten
zurückkommen und ihn an die Wand stellen lassen, wegen Sabotage gegenüber Freunden des Vorsitzenden. Verdutzt griff er nach dem Telefonhörer. Er ließ mich nicht aus dem Auge, während er mit einem Sekretär Ma Hai-tes sprach. »Robbins«, sagte ich. »Sidney B. Robbins. Amerikaner, aus dem Stamm, mit dessen hohen Würdenträgern der Genosse Tschou En-lai unlängst die Friedenspfeife geraucht hat! Ma Hai-
te kennt mich gut!« Der Mann erhielt einen Befehl und wurde die Höflichkeit selbst. Er bot mir sogar einen Stuhl an, der Genosse Ma Hai-te würde mich persönlich abholen. Der kleine Doktor war gealtert. Er sprang zwar noch mit federnden Schritten die Treppenstufen herab, aber in sein Gesicht hatten sich Sorgenfalten gegraben, seine Lebhaftigkeit hatte einen Stich ins Verkrampfte. »Sid!« begrüßte er mich gedämpft. »Ich weiß alles. Scheußliche Sache. Ich wollte Tong heimschicken, aber er sagt, dort ist es noch schlimmer. Komm ...!« Tjiuy Tong war wortkarg. So verschlossen hatte ich diesen eigenartigen, stets ein wenig zur Ironie neigenden Mann noch nie erlebt. Ob ich ihn überhaupt jemals begriffen hatte, diesen chinesischen Patrioten mit dem Faible für unbeschwertes Leben nach den harten Jahren in Europa? Er litt. »Elma wird zum holländischen Konsul gehen«, befürchtete er. »Ich weiß es. Sie wird ihre Heimkehr nach Holland vorbereiten. Und was mache ich dann?« Ma Hai-te versuchte, es ihm auszureden. Aber es wirkte nicht sehr überzeugend. Mir fielen auch keine besseren Argumente
ein, also überredete ich Tong, seine Arbeit mit Ma Hai-tes Genehmigung liegenzulassen und mit mir einen Spaziergang zu unternehmen. Ohne Ziel, just einen Fuß vor den anderen setzen. Irgendjemand hatte mir einmal geraten, das sei gut, um auf andere Gedanken zu kommen. Während Tong seinen Schreibtisch aufräumte, hatte ich Zeit für ein paar Worte mit Ma Hai-te. Der Doktor meinte: »Der Junge hat es wohl nicht verkraftet, daß wir endlich mit den Vereinigten Staaten zum Ausgleich kommen. Ich verstehe das einerseits, es mag ein Schock gewesen sein. Aber andrerseits haben wir seit Jahren daran gearbeitet ...« »Wir«, sagte ich. »Nicht die Generation von Jan Tong.« Er sah mich irritiert an. »Du glaubst, das ist wirklich der Grund? Der Vorsitzende hat doch die Sache erläutert, Tschou En-lai auch! Meinst du nicht, sie haben dem Jungen dort oben einfach ein zu hartes Leben zugemutet?« »Ich glaube, er ist nicht am harten Leben verzweifelt, sondern an einem gewissen Wirrwarr von politischen Konzepten, in dem er sich nicht mehr zurechtfand«, gab ich zurück. Ich zielte damit auf den Widerspruch des Doktors, auf eine Äußerung, die mich klüger machte. Aber Ma Hai-te war nicht geneigt, sich leichtfertig zu offenbaren. Er wich mir aus, indem er erneut beteuerte: »Wir haben wirklich alles erklärt, Sid! Daß die
Revolution weitergehen muß, daß die Jugendlichen sich zu stählen haben, für große Aufgaben, daß die Sowjets uns schlucken wollen und wir den Krieg einkalkulieren müssen, ja, daß China endlich als eine Großmacht die Rolle in der Welt spielen muß, die ihm zusteht ...« Es war wohl sinnlos, ihn daran zu erinnern, daß die Generation Jan Tongs seit ihrer Kinderzeit zuerst auf den Kampf gegen den US-Imperialismus an der Seite der Sowjets vorbereitet worden war, und nun plötzlich erfuhr, man brauche sie zum Kampf gegen die Sowjets an der Seite Amerikas. Wer nicht politische Tagestaktik als das durchschaute, was sie eben ist, oder wer nicht eine gehörige Portion Zynismus besaß, die ihn gegen überraschende politische Schritte gewissermaßen immunisierte, den konnte eine solche Umkehrung der Werte schon verwirren. »Er war ein sensibler Bursche«, gab ich Ma Hai-te zu bedenken. »Er nahm jedes Wort eines Vorgesetzten ernst. Er glaubte an die Unfehlbarkeit und Unwandelbarkeit des Vorsitzenden. Vermutlich hat er sich nicht mehr zurechtgefunden.« »Kannst du dir vorstellen, wie es im Kopf eines Menschen aussieht, der sich bei lebendigem Leibe verbrennt?« Ma Hai-te sah mich hilflos an. Ich gab zurück: »Verzweiflung bewirkt manches, das Unbetroffene nicht verstehen. Denk an die
Mönche in Saigon ...« Tong kam, und wir wanderten durch die Stadt. Insgeheim nahm ich Abschied. Wie lange würde ich noch hier leben? Yang und Kellis waren nach Hongkong zurückgekehrt, aber ich hatte bereits Nachricht von ihnen, daß Dr. Kissinger am 16. Oktober erneut in Peking eintreffen würde, um die Vorbereitungen für den Präsidentenbesuch endgültig abzuschließen. Yang hatte mich gebeten, Kang Sheng um die Bereitstellung von mehreren Dutzend Hotelquartieren für alle möglichen Berater Kissingers, für Spezialisten der Wirtschaft, des Handels, der Technik, der Nachrichtenübermittlung und weiß der Teufel was noch zu bitten. Kang Sheng, dem ich den Wunsch übermittelte, weil ich immer noch der einzige Mittelsmann war, mit dem er zu sprechen wünschte, sagte sofort zu. Es werde alles zur Zufriedenheit Dr. Kissingers geregelt werden. Nichts von alledem wußte Tong, mit dem ich durch die Straßen wanderte. Er ahnte nicht einmal, daß ich in die Sache verwickelt war, und der ganze spektakuläre Prozeß des Ausgleichs mit uns schien ihn überhaupt nicht übermäßig zu interessieren, denn auf eine gezielte Frage von mir gab er nur zurück: »Man gewöhnt sich hierzulande an manches, Sid. Ich habe eingesehen, daß es keinen Sinn hat, über diesen Schwindel auch nur nachzudenken. Er widert mich an. Ich werde Goldfische züchten in Zukunft...»
Keine Träne. Kein Wort überhaupt über das Schicksal des Sohnes. Wir liefen durch Parks und an Seen entlang, überquerten Plätze und Straßen, schlenderten durch romantische Gassen, in denen die Hausmauern noch voller verwaschener Datse-baos waren, die sich unter dem Sommerregen in Fetzen lösten. Irgendwo aßen wir an einer der wenigen wieder zugelassenen Straßenküchen eine Huntun-Suppe, wir kehrten in einem dürftigen Restaurant ein, in der Nähe des Hatamen, und kauften uns einen Kuchen, den wir zum Erschrecken des Wirtes mit einem Baigar herunterspülten. Es war schon dunkel, als wir vor Tongs Haus standen. Ein Tag ohne Regen. Hätte es nicht dieses Unglück gegeben, wäre es einfach ein schöner Sommertag gewesen. Sandy hatte sich bereits bei den Tongs eingerichtet, sie verkündete Tjiuy, daß Elma schlafe und daß Essen für ihn bereitstehe. Zu mir sagte sie halblaut: »Geh nach Hause, du kannst hier nichts tun. Was zu tun ist, werde ich übernehmen. Warte nicht auf mich, es wird dauern ...« Sie blieb eine Woche weg. Als Tso Wen mich in dieser Zeit aufsuchte, um im Auftrage Kang Shengs mit mir Einzelheiten des nächsten Kissinger-Besuchs zu erörtern, und er sich nach Sandy erkundigte, erinnerte ich mich an das, was >Number One< mir verraten hatte, und ich beschloß, die Flucht nach vorn
anzutreten. »Meine Frau ist bei den Tongs«, teilte ich ihm mit. »Das ist eine mit uns befreundete Familie, die Frau stammt aus Holland. Ihr Sohn war roter Rebell, man schickte ihn nach dem Nordwesten, dort hat er sich umgebracht, nachdem er von Mister Kissingers Besuch hörte. Meine Frau kümmert sich ein bißchen um seine Mutter ...« Tso Wen gab sich überrascht. Ich war sicher, er wußte jede Einzelheit der Geschichte bereits. Aber er ließ es nicht erkennen. Er meinte nur: »Ja, die jungen Leute ... Sie sind gar nicht so hart gesotten, wie es äußerlich oft den Anschein hat!« Chang Wen rief an einem der Abende an, als Sandy noch nicht zu Hause war. Er nannte seinen Namen nicht. Der erfahrene Illegale hatte Mittel und Wege gefunden, mit seiner Frau legal zusammenzuleben. Dabei war ihm wohl auch das Nachlassen der pauschalen Verfolgungen aller alten Parteikader zugute gekommen. Heute ging es eher um Positionen innerhalb der führenden Gruppe, da schien einer den anderen zu bekämpfen, und Mao Tse-tung war entweder uninteressiert oder nicht mehr in der Lage, klärend einzugreifen. Wie Chang Wen es anstellte, sich mit mir am Telefon zu verabreden, ohne daß ein Mithörer, mit dem man neuerdings rechnen mußte, Schlüsse ziehen konnte, war ein Lehrstück in
Konspiration. Er erinnerte mich an das Restaurant, in dem er seine Hochzeit gefeiert hatte. Das sei jetzt, man halte es nicht für möglich, zehn Jahren her, und er und seine Frau, bemerkte er beiläufig, würden am Abend im selben Restaurant das Jubiläum feiern. Nachdem ich mich gebührend entschuldigt hatte, weil ich vergessen hatte, ihm zu gratulieren, plauderten wir noch über manche Belanglosigkeit, ich erzählte von meinen Kindern, er von Chen Tsu-lins Sohn. Ein Mithörer würde aus dem langen Gespräch keinesfalls die Vermutung schöpfen, daß wir uns schon am selben Abend treffen wollten. Es war seltsam, wir lebten beide, ohne daß der andere es wußte, jeweils auch aus ganz konträren Motiven konspirativ, und dadurch verstanden wir uns ohne Schwierigkeiten: Am Abend ging ich ins Hungbinlou, nicht weit außerhalb des Tien Men, ein mohammedanisches Restaurant, das Kenner wegen seiner Hausnummer oft auch einfach >Nr. 50< nannten. Da die Gasse, in der das Hungbinlou liegt, nicht weit von der Ping Tjiao Hutang entfernt ist, ging ich zu Fuß, nachdem die Dunkelheit angebrochen war. Es schien, als beschränkte sich meine Observierung lediglich auf Adressen, zu denen ich mich per Taxi fahren ließ. Natürlich konnte man nie ganz sicher sein. Ich blickte mehrmals unauffällig zurück, trat in dunkle Gassen
in den Schatten von Hofeingängen, um zu prüfen, ob mir jemand folgte, aber ich konnte nichts entdecken. Nach guter alter chinesischer Sitte hatte Chang Wen für unser Abendessen ein Separe gebucht. Er kannte den Wirt des Lokals, und dieser brachte uns nicht etwa, wie es sonst üblich war, hinter Wandschirmen unter, sondern in einem der Hinterzimmer. Früher hatten hier reiche Geschäftsleute oder Beamte mit ihren häufig wechselnden Konkubinen diniert. Wir hatten uns lange nicht gesehen. Es gab viel zu erzählen, und es war so gut wie sicher, daß uns niemand zuhörte. Dafür garantierte nicht
so
sehr
meine
eigene
Fähigkeit
zur
Beobachtung, vielmehr war es der mit allen Wassern der Illegalität gewaschene Chang Wen, der mich sicher machte. Er wirkte heiter, langte kräftig zu, als das Hammelfleisch aufgetragen wurde. Dazu gab es warmen Shaoshing-Wein, und später, nach diversen Zwischengerichten, brachte der Wirt uns augenzwinkernd Original Peking-Bier, das nach und nach wieder auf dem Markt erschien. Als ich mich nach Chang Wens neuer Arbeit erkundigte, wich er anfangs ein wenig aus. Ja, es stimme, daß er an dem neuen Tunnelsystem unter der Hauptstadt mitbaue. Aber er sprach nicht über die Funktion, die er hatte, auch nicht über die Gegend der Stadt, in der sein Verantwortungsbereich lag. Während wir aßen, kreisten meine
Gedanken um diesen seltsamen Mann, den ich — ebenso wie Tong — nie ganz hatte begreifen können: man zwingt ihn, illegal zu leben, ihm droht Haft oder Verbannung, er aber wird nicht, wie die klassischen chinesischen Räuber vom Liang Shan Moor, zum Kämpfer gegen das Regime, nein, er nutzt seine Fähigkeiten, sich gewissermaßen unsichtbar zu machen, für den Staat auch, für das kommunistische System! Wie viel ich auch von China wußte — wie wenig wußte ich doch über die Leute, die Chang Wen ähnelten! Ich ließ beiläufig in die Unterhaltung einfließen, ich würde im kommenden Jahr wohl für immer nach Hause zurückkehren. »Amerika?« Chang Wen war nur mild überrascht, er aß weiter, und als ich Hawaii erwähnte, nickte er. »Es ändert sich so vieles«, sagte Chen Tsu-lin leise. »Man verliert gute Freunde aus den Augen, manche sieht man nie wieder ...« »Nun ja«, meinte Chang Wen, mich wie ein Verschwörer anblinzelnd, »man wird Sie nicht mehr verfolgen, wenn Sie jetzt aus China heimkehren. Vielleicht rechnet man es Ihnen sogar als Ehre an!« Er trug eine neue Brille mit blitzblanken Gläsern, durch die ich das verschmitzte Funkeln in seinen Augen sehen konnte. »Für Sie war es ein Schock, oder?«
Er fragte: »Sie meinen, diese Sache mit den Amerikanern?« »Hat es Sie nicht verwirrt?« Er zerkaute gelassen einen Bissen Hammelfleisch, schluckte ihn, trank etwas, dann gab er zurück: »Leute wie ich sind seit dem Beginn der sechziger Jahre nicht mehr so einfach zu überraschen,
Kamerad
Robbins.
Die
Sache
war
lange
vorbereitet, jetzt wird sie auf der Bühne vorgeführt, wie eine Oper.« »Es schmerzt Sie nicht, daß man sich ausgerechnet mit diesem Nixon einläßt, einem geschworenen Antikommunisten?« Er bewegte die Schultern. »Sie haben von unseren gegenwärtigen
Führern
wohl
doch
ziemlich
idealisierte
Vorstellungen gehabt. Ich nicht. Es tut immer weh, wenn man Vorstellungen aufgeben muß, an die man sich gewöhnt hat. Bei mir hat dieser Prozeß aber schon viel früher stattgefunden. Ich bin Ihnen sozusagen etwas voraus in meinen Empfindungen, wenn ich mich nicht irre.« Seine Frau sagte: »Bei dir hat der Prozeß in Sinkiang begonnen!« Auch sie schien durch das, was wir besprachen, nicht sonderlich erregt zu werden. »In Wuhan eigentlich«, korrigierte Chang Wen sie. »Von dort jagte man mich ja nach Sinkiang. Aber ich könnte auch noch weiter zurückgreifen. Bis Jenan, meinetwegen. Jedenfalls habe ich immer gewußt, daß die künstlich herbeigeführte
Verschlechterung unserer Beziehungen zur Sowjetunion eine Kehrseite haben wird, wie eine Münze. Ich habe auch geahnt, daß diese Kehrseite eine Anbiederung an die USA sein wird. Es hatte sich lange genug angekündigt, wenn man nur sorgfältig genug vermied, sich von Phrasen fangen zu lassen und statt dessen die Realitäten betrachtete. Etwa unsere Weigerung, mit den anderen Bruderländern gemeinsame Aktionen zur Hilfe für Vietnam zu unternehmen ...« »Eine Niederlage«, bemerkte ich, ließ das Wort absichtlich in der Luft hängen, so als sei ich mir selbst nicht ganz sicher und wartete auf eine Bestätigung. Chang Wen sagte bedächtig: »Ja, es ist eine Niederlage. Nicht nur für die vielen Kommunisten, die ähnlich darüber denken wie ich. Auch für unser Land. Wir werden mit dem Besuch des amerikanischen Präsidenten unser sozialistisches Gesicht weiter schwärzen.« »Aber — eigentlich haben doch auch die Sowjets Beziehungen zu Amerika, und sie sprechen mit diesen Leuten ...« Es war ein Versuch, er brachte weiter kein Ergebnis, als daß Chang Wen brummte: »Sprechen kann man über sehr verschiedene Dinge, Kamerad Robbins.« Ich fragte, wie er sich die Zukunft vorstelle. Im Lichte der neuen Entwicklung.
Er bewegte die Schultern und meinte lakonisch: »Coca Cola.« Wir hatten das ja schon einmal. Wir werden erfahren, daß der Mister Nixon eigentlich ein recht leidlicher Mann ist, Krieg in Vietnam führt er nur, weil die bösen Nordvietnamesen ihn dazu zwingen, und die Sowjets natürlich. Aber davon abgesehen, kann man gut mit ihm Politik machen. Man wird uns erläutern, daß Amerika viele Möglichkeiten hat, uns auf technischem und wissenschaftlichem Gebiet zu helfen, und daß wir stolz darauf sein können, selbst von den Imperialisten nunmehr voll anerkannt zu werden. Man wird uns das alles servieren, wie man uns während der Kulturrevolution die Lügen über Liu Shao-tschi serviert hat, in jeder Zeitung, im Radio. Eines Tages wird das wieder vergessen sein, niemand wird sich dazu bekennen wollen, niemand wird zugeben, beteiligt gewesen zu sein, es wird immer heißen: >die haben<, oder >man hat< etwas Falsches getan. So wie sich heute niemand mehr dazu bekennen will, die Hetzparolen für die Hung Wei Pings entworfen zu haben. Wer will schon seine leichtfertigen Worte von gestern essen? Ein paar Sündenböcke lassen sich vielleicht eines Tages finden, die wird man mit Dreck beschmieren. Wie dem auch sei, ich zweifle daran, daß unsere Liebelei mit den Vereinigten Staaten eine längere historische Periode überdauern wird, Kamerad Robbins.«
»Aber«, entschloß ich mich, ihm mitzuteilen, »sie wird Unheil anrichten! Hat sie doch schon! Wissen Sie von Jan Tong?« Er wußte es nicht. Nur daß er, wie er sagte, >zur Beruhigung seines revolutionären Temperaments< nach einer Grenzregion verschickt worden war. Ich sagte den beiden, was sich abgespielt hatte. Die Atmosphäre an unserem Tisch änderte sich schlagartig. Chen Tsu-lin wurde still, sie legte die Eßstäbchen aus der Hand und fuhr mit dem Zeigefinger ziellos über das etwas angelaufene Bierglas. Chang Wen hielt im Essen ebenfalls inne und starrte vor sich hin. Von draußen waren durch die nur angelehnte Tür Geräusche
zu
hören
und
Stimmen.
Geschirr
wurde
zusammengestellt, ein Kind lachte. »Einfach so ... verbrannt?« Chang Wen blickte auf. »Er hat in dem Brief an seine Eltern geschrieben, daß er sich verraten fühlt.« »Da hat ihn sein Gefühl nicht getrogen«, sagte Chang Wen bitter. »Aber der Verrat hat eine viel schlimmere Dimension, er wurde an etwas begangen, das jedem von uns heilig sein muß, der internationalen Solidarität der Kommunisten. Eine schlimme Erfahrung, selbst für einen alten Revolutionär wie mich, der weiß, welche Zickzackwege Revolutionen gehen. Wie viele von den jungen Leuten werden es nie verkraften können! Wissen Sie
übrigens, daß man Di-di zur Umerziehung in eine dieser >Schulen des 7. Mai< verschickt hat?« Ich wußte es noch nicht. Auch ihn also. »Dabei waren sie so siegessicher, als sie anfingen, ihre Lehrer zu verprügeln«, bemerkte Chen Tsu-lin traurig. »Heute haben Millionen von Kindern keine Lehrer mehr, der Unterricht fällt aus. Die Älteren verludern auf den Straßen. Fangen an zu stehlen. Wir haben in Peking Jugendbanden, die bewaffnet sind. Dutzende. Kein Lebensmittellager ist mehr vor ihnen sicher. Manche hausen in Gebäuden, aus denen man die Besitzer verjagt hat. Es sind ehemalige Hung Wei Pings, zynisch wie Berufsverbrecher. Wer sie aufhalten will, den schlagen sie kurzerhand tot. Was haben diese unverantwortlichen Leute, die sich weise Führer nennen, aus unserem Land gemacht!« Chang Wen erzählte, es habe im Frühjahr unweit dieses Restaurants,
in
den
Gassen,
eine
Schießerei
gegeben.
Jugendliche ohne Arbeit hatten eine Bande gebildet und sich Schußwaffen besorgt. Polizei hatte versucht, einen ihrer Schlupfwinkel zu stürmen. Vier Polizisten waren dabei getötet worden, die Bande entkam. »Sie haben Maschinenpistolen«, sagte Chang Wen. »Zuerst hat man sie auf die Parteikader gehetzt, jetzt jagt man sie selbst. Natürlich schießen sie zurück. Zerstörtes Vertrauen ist schwer
neu zu schaffen.« Ich entschloß mich, noch einmal auf den bevorstehenden Besuch unseres Präsidenten in China zurückzukommen, es mußte interessant sein, die Meinung Chang Wens zu hören, ob Demonstrationen zu fürchten waren. »Wird man ihn mit Blumen empfangen oder mit Steinen?« fragte ich. Chang Wen wartete, bis der Wirt, der uns selbst bediente, Bier nachgegossen hatte und die Suppe angekündigt war, dann sagte er: »Blumen, Kamerad Robbins. Die Leute sind zu müde zum Steinewerfen.« »Keine Jugendlichen, die mit Maschinenpistolen schießen?« »Nein«,
gab
er
mit
Bestimmtheit
zurück.
»Unsere
Sicherheitskräfte könnten das verhindern, leicht. Und außerdem — diese Sorte Jugendlicher würde eher schießen, wenn es sich um einen Lastzug voller geräucherter Entenbeine handelte. Präsidenten interessieren sie nicht so sehr!« Ich gab ihm zu bedenken, daß es meist junge Leute gewesen waren, die sowjetisches Botschaftspersonal bespuckt hatten, selbst noch auf dem Flugplatz. Aber er schüttelte den Kopf. »Das ist vorbei, Kamerad Robbins. Gefühle lassen sich nicht jahrelang aufgeputscht halten. Wenn einer heute noch spuckt, vor den Amerikanern, dann bestenfalls aus Enttäuschung über die viele Jahre geübte Heuchelei. Reagieren Sie selbst denn nicht auch so? Würden Sie an der Straße stehen und spucken,
wenn Nixon vorbeifährt?« Ich schüttelte den Kopf. Er forderte mich auf: »Also — lassen wir das. Schade, daß Sie heimgehen, und schade, daß es aus diesem Grunde ist. Trinken wir einen Schluck auf die Zeit, in der unsere Wege nebeneinander liefen ...« Wenn er es so sehen wollte, konnte mir das nur recht sein. Ich hob meine Shaoshing-Schale, und wir prosteten uns zu. »Ganbei, auf die Zukunft«, sagte Chang Wen. Der Wirt brachte die Suppe. Es war vermutlich das letzte Mal, daß ich mit diesen beiden Leuten an einem Tisch saß. Wir hatten auf die Zukunft getrunken, das war eine gute Sitte. Nur würde sich unser beider Zukunft unterscheiden, jedenfalls würde die meine mit Sicherheit anders sein, als Chang Wen vermutete. Denn ich dachte nicht an gekränktes Abreisen aus China in ein mir widerwärtiges Amerika, sondern ich dachte an das große, stille Haus in Kauai, an die weißen Strände, das Rollen der Brandung und den Schrei der Seevögel. An die Eltern dachte ich und an die Kinder, an Sandy. Sonne lockte mich, über der Erde verdampfender Regen: CIA-Pensionär Robbins genießt das Flair der glücklichen Inseln und rafft sich nur gelegentlich zu leichter Tätigkeit auf, nämlich zur Abfassung seiner Erinnerungen an einen der spektakulärsten Coups, den die Agentur jemals landen konnte, ohne daß auch nur jemand auf
die Idee gekommen wäre, die Sache mit ihr überhaupt in Verbindung zu bringen. — Wir löffelten schweigend eine Nußsuppe, die zwar nicht zu den übrigen Gerichten paßte, die Chen Tsu-lin aber so liebte, daß wir uns alle dafür entschlossen hatten, unter dem verständnisvollen Lächeln des Wirtes. Es gab nur noch wenig zu sagen: ich hing weiter meinen Gedanken nach. Mochte die Agentur sich auf den Kopf stellen — ich würde Wege finden, um zu schildern, wie zwischen 1943 und 1972 von den Vereinigten Staaten China-Politik gemacht wurde. Es war schließlich ein Lehrstück, das ich da zu berichten hatte! Yangs Warnung beunruhigte mich nicht mehr. Inzwischen hatte ich, während meines Aufenthaltes in Kauai, die ersten Bücher gelesen, die ehemalige Angehörige der Agentur verfaßt hatten. Manches daran reizte zum Lächeln, wenngleich da auch eine Menge von dem aufgedeckt wurde, was Leute bei uns daheim vermutlich vorher glatt für kommunistische Propaganda gehalten hätten. Die Sache mit der Schießerei im Golf von Tongking etwa, die als Interventionsgrund herhalten mußte. Oder die präparierte Zigarre für den Kubaner Castro ... »Ich werde über meine Zeit in China schreiben«, sagte ich zu Chang Wen und Chen Tsu-lin. Chang Wen blinzelte mir zu. »Memoiren?«
»Tatsachen«, gab ich zurück. »Sie sind oft unglaublicher als Romane.« »Wie wahr«, meinte Chang Wen. Als ich ihm erzählte, daß meine Tu-Fu-Übersetzung erschienen war, wollte er wissen, ob dieser alte Weise denn ausgerechnet in den modernen Vereinigten Staaten Leser fände, und warum. Ich konnte nicht widerstehen und sagte so ironisch wie möglich: »Nachdem Dr. Kissinger in Peking war, ist China das, was man bei uns >in< nennt. Man wird neugierig auf alles, was von hier kommt, Jasmintee und Räucherstäbchen, Sandelholzfächer oder alter Dichter ...« »Vermutlich wird sich das steigern, nachdem der Präsident hier war«, vermutete Chen Tsu-lin. Das Lachen Chang Wens klang noch lange in meinen Ohren, als er die Vermutung äußerte: »Dann werden sie in Amerika selbst Mao Tse-tung kennenlernen! Beim Händedruck mit Nixon. Vorher wußte man nicht, daß es ihn überhaupt gab. Ist das nicht ein albernes Theater?« »Eher ein trauriges«, hörte ich die leise Stimme Chen Tsulins. Drei Wochen später ließ mich Kang Sheng zu sich rufen. Er informierte mich über den genauen Ablauf des zweiten Besuchs von Dr. Kissinger, und ich erfuhr, daß China zugesagt hatte, alle
Spezialisten, die mit Kissinger reisen würden, zu empfangen. Nachrichten-und Wirtschaftsleute, Sinologen und Techniker, aber auch Leute aus Schlüsselpositionen der Rüstungsindustrie. Wieder einmal wurde ich vom Umfang der Dinge überrascht, die wir mit unserem Kanal in Bewegung gesetzt hatten, nachdem er schon fast ausgetrocknet gewesen war, tot. Und tot war Lin Piao, wie mir Kang Sheng mit steinerner Miene mitteilte. Er bat mich, meinen Vorgesetzten einen absolut internen, keinesfalls zur Veröffentlichung bestimmten Bericht über das zugehen zu lassen, was geschehen war. Angeblich, denn für das, was er mir da langsam, zum Mitschreiben, diktierte, gab es außer seinem Wort vorerst keine Beweise. Würde es sie jemals geben? »Nur damit Dr. Kissinger nicht etwa glaubt, es gäbe eine gefährliche Lage bei uns, und deshalb seinen Besuch aufschiebt. Nein, wir haben alles fest unter Kontrolle, die Dinge nehmen ihren besprochenen Lauf. Die Information, die ich Ihnen gebe, soll der Vertrauensbildung dienen ...« Mein Mini-Tonband lief bereits. Notizen machte ich pro forma.
An Holly Information
(8),
Quelle:
K.
Sh.
(gekürzte
Tonbandabschrift) Lin
Piao.
Oberkommandierender
Volksbefreiungsarmee,
der
Verteidigungsminister
Chinesischen und
Inhaber
zahlreicher anderer hoher Funktionen, hat sich als Verräter entlarvt, als Attentäter und Verschwörer. Er ist bei Ausführung seiner Pläne ums Leben gekommen. Seit längerer Zeit war Lin Piao auf dem Weg in den Verrat. Er maßte sich immer neue Befugnisse an, sicherte sich selbst und seiner Frau sowie seinem Sohn Machtpositionen und scharte gleichzeitig willige Mitverschwörer um sich: Yen Tschun (seine Frau, Chef der Propagandaabteilung der Volksarmee), Huang Yong-sheng (Generalstabschef der Luftstreitkräfte), Wu Fa-hsian (Oberkommandierender der Luftstreitkräfte), Li Tsuo-peng (Oberster Polit-Chef der Marine), Tschiu Hui-tsuo
(Chef der
logistischen Dienste der
Volksarmee), Lin Li-guo (Sohn Lin Piaos und Kommandeur einer Luftflotte) sowie andere. Zwischen den Auffassungen des Vorsitzenden Mao Tse-tung und denen des Verräters Lin Piao entwickelte sich nach und
nach eine immer tiefere Kluft. Ein besonders typisches Beispiel politischer Abweichlerei beging Lin Piao im Zusammenhang mit der geplanten Verständigung zwischen China und den USA. Er opponierte prinzipiell gegen das vom Vorsitzenden Mao entworfene strategische Muster, nach dem vorgegangen werden soll. Er opponierte nicht nur gegen den Besuch Dr. Kissingers in Peking, sondern auch gegen den geplanten Staatsbesuch des Präsidenten Nixon. Über seine Helfershelfer verbreitete er seine falschen Auffassungen weiter in der Volksarmee. Durch seine wütende Opposition gegen die Verständigung mit den USA entlarvte er sich letztlich als verkappter Revisionist und Sympathisant der neuen Zaren. (Anmerkung: Ich habe das ohne Rücksicht auf die mangelhafte Logik so übertragen, wie K Sh. es ausführte. Vieles ist hier unklar. Z. B. sprechen ja die Sowjets laufend mit den USA, es werden alle möglichen Vereinbarungen getroffen, und es gibt normale Verbindungen. Weshalb
man
dann
Lin
Piao
als
Revisionist
und
Sympathisant der >neuen Zaren< bezeichnet, womit die Sowjets gemeint sind, wenn er ja genau das Gegenteil von dem vertritt, was die tun, ist kaum zu erklären. Ich vermute aus meiner Erfahrung, es handelt sich hier einfach um die Anhäufung von Anklagen, die, da der Betreffende tot ist, im einzelnen gar nicht
logisch begründet zu sein brauchen.) Auf der 2. Plenarsitzung des 9. Parteitages im August 1970 versuchte Lin Piao, von dem neuerdings als Renegaten bezeichneten Tschen Po-ta unterstützt, an die Spitze der Staatsmacht zu gelangen. Er bezeichnete Mao Tse-tung als Genius, der sich nicht mehr mit Tagespolitik befassen solle. Sich selbst schlug er als Vorsitzenden der Volksrepublik vor. Mao Tse-tung
durchkreuzte
dieses
Spiel,
indem
er
eine
Verfassungsänderung verfügte, durch die der Posten des Vorsitzenden der Volksrepublik abgeschafft wurde. Nach dieser Niederlage ging Lin Piao zur Vorbereitung eines konspirativen Coups über. Aber Vorsitzender Mao Tse-tung durchschaute seine Absichten und ließ bereits im Frühjahr 1971 in entsprechenden Kreisen der Partei- und Staatsführung die Wahrheit über die Absichten Lin Piaos verbreiten. Vorsitzender Mao Tse-tung war fest entschlossen, die Verhandlungen mit den Repräsentanten der USA gegen den erklärten Widerstand des Verräters Lin Piao zum Erfolg zu führen. Im Februar 1971 traf sich Lin Piao mit mehreren anderen Verschwörern in Sutschou. Dort wurde der Plan für einen Putsch ausgearbeitet, bei dem Vorsitzender Mao Tse-tung getötet werden sollte. Im März 1971 fand ein weiteres geheimes Treffen der
Verschwörer in Shanghai statt. Hier existierte bereits ein detaillierter Putschplan. Er trug die Deckbezeichnung >Projekt 571 <; Vorsitzender Mao wurde darin beispielsweise als >B-52< bezeichnet. Generell sah der Plan vor, den Vorsitzenden Mao Tse-tung, der sich in seinem Sonderzug auf der Reise durch Zentralchina befand, mit Maschinengewehren, Flammenwerfern und Sprengladungen zu überfallen, lediglich das Datum der Ausführung war noch offen. Überraschend für die Verschwörer, weil früher als geplant, traf Vorsitzender Mao am 10. September mit seinem Sonderzug im Shanghai ein und verbrachte die Nacht im Zuge. Eine eiligst von Lin Piao in Gang gesetzte Aktion, den Zug, der am nächsten Morgen schon in Richtung Peking weiterfuhr, in der Nähe der Shuofang-Brücke überfallen zu lassen, scheiterte an der Weigerung des dort zuständigen Kommandeurs, der die Verschwörung aufdeckte. Am Abend des 12. September traf Vorsitzender Mao wohlbehalten in Peking ein. Der Kern der Verschwörergruppe mit Lin Piao an der Spitze hielt sich um diese Zeit in Bedaiho, dem Badeort am Golf von Pohei auf. Es kam zu einer hektischen Betriebsamkeit, als das Scheitern des Putschplanes bekannt wurde. In erregten Beratungen faßten Lin Piao
und seine
Mitverschwörer zunächst den Entschluß, nach Kanton zu fliehen
und
dort
eine > Gegenregierung
Ministerpräsident
Tschou
En-lai,
< zu
bilden.
inzwischen
über
Aber die
Fluchtabsicht Lin Piaos informiert, erließ sofort ein Startverbot für alle Maschinen auf allen Flugplätzen Chinas. Es gelang der Gruppe um Lin Piao, das Startverbot am 13. September, null Uhr zweiunddreißig zu durchbrechen, sie stiegen in einer Maschine des Typs >Trident< von einem Militärflugplatz nahe Bedaiho auf. Offenbar wurde der Plan, südwärts zu fliehen und eine >Gegenregierung< zu gründen, wegen
Aussichtslosigkeit
aufgegeben,
die
Verschwörer
trachteten nur noch danach, ihr Leben zu retten. Sie schlugen Kurs nach Nordwesten ein, um bei den neuen Zaren unterzukriechen, deren Knechte sie ohnehin waren. Die Maschine, die das Kennzeichen 256 trug, konnte den chinesischen Luftraum verlassen. Unweit der Ortschaft Undur Chan im Bezirk Chentij der Mongolischen Volksrepublik stürzte sie jedoch aus ungeklärten Gründen ab. Nach Angabe der dortigen Behörden gab es keine Überlebenden. Damit hatte die zehnte große kämpferische Auseinandersetzung innerhalb unserer Partei um die einzuschlagende Linie ihr Ende gefunden. Anmerkungen: Gegenwärtig
finden
Säuberungen
im
Offiziersbestand
der Volksarmee statt. Kommandeure und Stabsoffiziere werden
ausgewechselt, Funktionen umbesetzt. Damit soll garantiert werden, daß jeglicher verbliebener Einfluß Lin Piaos in den Streitkräften ausgemerzt wird. Meine Frage, ob nach diesen Vorgängen die Sicherheit von Dr. Kissinger bei seinem nächsten Besuch in Peking, wie auch die des Präsidenten im Februar nächsten Jahres zu gewährleisten sei, beantwortete K.Sh. mit ja. Es gäbe keinerlei Probleme in dieser Hinsicht, keine Meutereien von Einheiten oder ähnliches. Dr. Kissinger, wie auch der Präsident seien in China absolut sicher. Ich kann das aus eigener Einschätzung bestätigen. Die über den ersten Besuch Dr. Kissingers veröffentlichte kurze Nachricht hat zusammen mit dem ebenfalls abgedruckten Statement Präsident Nixons keine spontanen Debatten oder öffentlichen Aktionen ausgelöst, obwohl Skepsis bis Ablehnung bei älteren Parteimitgliedern vorherrscht. Dabei wird weniger das Vorhaben selbst, mit den USA normale Beziehungen aufzunehmen, kritisiert, sondern der Umstand, daß dies auf Kosten der Verfeindung mit dem Nachbarn und langjährigen Verbündeten Sowjetunion geht, beziehungsweise zwischen den beiden Prozessen ein Kausalzusammenhang besteht. Ich beurteile die Situation so: Solange Mao Tse-tung lebt und die Führung bestimmt, wird er eine kritische Debatte des Kurses, den die Volksrepublik nun eingeschlagen hat, nicht
zulassen. Es ist daher meiner Meinung ratsam, die möglichst enge Anbindung der Volksrepublik an uns unmittelbar nach dem
Präsidentenbesuch äußerst forciert zu betreiben (im
Hinblick auf Maos schlechten Gesundheitszustand!) und im gewissen Maße auch unumkehrbar zumachen, etwa durch langfristige
Verträge,
Kreditgewährung,
ökonomische
Aufnahme
von
Verflechtungen,
Studenten,
die
dann
nacheinigen Jahren in Führungspositionen hierher zurückkehren etc. Violet
15. November 1971 Ich sah es selbst: An die Seitenwand des Tjien Men, des großen, oft abgebildeten, selbst als Zigarettenreklame benutzten südlichem Stadttores hatte jemand gepinselt: >Kiss-Kiss war hier!< Das galt dem zweiten Besuch Dr. Kissingers, vom 20. bis 26. Oktober. Es schien eine relativ harmlose Verballhornung gewesen zu sein, anfangs, doch dann hatte ein zweiter Pinsler (vielleicht auch eine ganze Kolonne) mit anderer Farbe daruntergesetzt: >In Saigon auch!< Ein dritter Satz gab der ganzen Sache den letzten Dreh. Da
stand, ganz unten: >Und Nixon schickt keine Bomber, er kommt selbst!< In der Nacht noch wurde das alles gelöscht, von Spezialtrupps der Armee, die Gegend war einige Stunden abgesperrt. Ich meldete den Vorfall, als ich hier in Hongkong eintraf. Alles, was es an Reaktion gab, war Gelächter: Wir hatten den Sieg so gut wie in der Tasche, was waren da noch ein paar gehässige Randbemerkungen! Wenig habe ich zu tun gehabt mit diesem zweiten Besuch des Sicherheitsberaters, ich sah ihn selbst nur einmal, bei einem Essen, zu dem ich die Gruppe des Militärs begleitete, die zusammen mit Kissinger eingeflogen war. Drei ältere Herren in Zivilkleidung, sie sahen aus wie College-Direktoren oder Musiklehrer, in ihrem Ermessen aber lag es, alle Wünsche, die Pekings Führer äußerten, entweder zu erfüllen, stillschweigend beziehungsweise demonstrativ, oder aber abzulehnen. Kellis stieß zu uns, am zweiten Tag. Dr. Kissinger verhandelte fast nur mit Tschou En-lai persönlich, und ohne Dolmetscher. Nachdem er, mit der Präsidentenmaschine von Hawaii kommend, in Shanghai zwischengelandet und offiziell begrüßt worden war, flog er mit seiner Begleitung sofort nach Peking weiter, wo ihn außer dem Marschall Yeh Tschien-ying diesmal noch der amtierende Außenminister Tschi Peng-fei
empfing. Die Gespräche mit Tschou En-lai begannen noch am selben Tag. Zuerst, darauf einigten die beiden Partner sich schnell, kam es zu einem intensiven Meinungsaustausch über fast alle gravierenden weltpolitischen Probleme. Ich interessierte mich so gut wie nicht für Kissingers Gespräche, obwohl wir sie in der auf dem Flugplatz geparkten Maschine von der ersten Minute an über eine störsichere Wanze in der Kleidung des Sicherheitsberaters abhören konnten und auf Band aufnahmen. Die Pekinger hatten zugestimmt, daß wir von der Maschine aus eine Funk- und Fernschreibverbindung zu Washington aufrechterhielten, die Rückfragen beim Präsidenten ermöglichte. Das hatte unseren Nachrichtentechniker alle Chancen gegeben, jedes gesprochene Wort aufzuzeichnen. Bis heute weiß ich nicht, ob Kang Shengs Abwehr das tatsächlich nicht merkte, oder ob sie es stillschweigend duldete, um die Atmosphäre nicht zu stören. So verbrachte ich die Besuchswoche vornehmlich in einer zu Kang Shengs Dienststelle gehörenden Villa in den Westbergen, wo unsere Experten für Militärtechnik von drei chinesischen Partnern in Zivil, die garantiert aus Kang Shengs Apparat kamen, mit bemerkenswerter Deutlichkeit geschildert bekamen, auf welche
Weise China seine Grenzen zur Sowjetunion
befestigen und mit elektronischen Anlagen ausstatten wollte.
Die Möglichkeit eines sowjetischen Angriffs auf China wurde in diesen Erörterungen als in absehbarer Zeit zu erwartendes Ereignis behandelt nicht etwa als Vermutung. Kang Shengs >Militärs< brachten denn auch ihre Wünsche an unsere Experten mit einer Offenheit vor, als wären China und die USA bereits durch eine Art Beistandspakt miteinander verbunden. »Wir
brauchen
moderne
Waffensysteme
für
die
Luftverteidigung, vor allem elektronische Lenksysteme, aber wir
haben
auch
Bedarf
bei
der
Modernisierung
der
Nachrichtentechnik und auf anderen Gebieten ...« Damit begann die Aussprache. Von unserer Seite wurde eifrig notiert, mit aufgeschlossenen Mienen auf das gelauscht, was die Chinesen vortrugen. Kang Shengs Beauftragte hatten eine Karte der nördlichen Grenzgebiete im Konferenzraum angebracht, sie erläuterten uns freimütig die Stationierungsorte der chinesischen Divisionen (die wir längst aus der Satellitenaufklärung kannten!), sie wiesen auf Probleme des Geländes hin, auf Schwierigkeiten mit den Viertaktfahrzeugen im sehr kalten Winter, auf viele Einzelheiten, die unsere Experten mit verständnisvollen Bemerkungen kommentierten. Das alles kam mir zuweilen wie ein Traum vor: Hier saßen Verbündete, und ihr gemeinsamer Gegner waren die Sowjets. Wie lange hatten wir gearbeitet, um den heutigen Tag zu
erreichen! Und wie überraschend einfach war es alles am Ende zu bewerkstelligen gewesen, nachdem Mao erst einmal den absoluten Bruch mit den Sowjets und die Verfolgung aller derer angeordnet hatte, die sie weiter als kommunistische Partner behalten wollten! Dr. Kissinger absolvierte inzwischen Bankette und Ausflüge zur Großen Mauer, zu den Gräbern der Ming-Kaiser, in den Sommerpalast. Er wurde mit mehr als hundert höheren Funktionären bekanntgemacht, und bei seinen Ausflügen wurden die entsprechenden Gegenden zwar abgesichert, von Kang Shengs und unseren eigenen Leuten, doch sie waren nicht mehr menschenleer, wie der Kaiserpalast bei seinem ersten, noch geheimen Besuch: die Leute konnten ihn sehen, den ersten offiziellen Amerikaner seit dem Ende der vierziger Jahre. Yang hatte sein Hauptquartier ebenfalls in der abgestellten Maschine Dr. Kissingers. Als ich ihn einmal in seinem Kompartment besucht und ihn aufmerksam machte, der Funkverkehr und die installierte Telexverbindung könnten abgehört werden, grinste er nur und sagte: »Sie sind in technischen Dingen immer noch ein bißchen in Ihrer Hutang, Sid. Wir operieren mit sicheren Codes. Und wir haben Geräte, die einen Abhörversuch anzeigen.« Unser Nachrichtenteam, von dem die Übermittlung des
Präsidentenbesuchs in alle Welt gesichert werden sollte, stand vor einer schwierigen Aufgabe, die mit den vorhandenen Einrichtungen nicht zu lösen war. Kang Sheng bat mich, während unsere Leute noch nach einem Ausweg suchten, den Gedanken in die Debatte zu werfen, daß wir unsere eigene Nachrichtenübermittlungstechnik heranschaffen sollten. China würde
das
akzeptieren,
vorausgesetzt,
die
installierten
Einrichtungen blieben nach dem Besuch in der Volksrepublik zurück. Eine Stunde später forderten unsere Nachrichtenleute bereits erleichtert Antennen, Kabel, Verstärker, und was sonst noch nötig war. — Nachdem Tschou En-lai sich mit Dr. Kissinger überraschend schnell darauf geeinigt hatte, daß Präsident Nixon am 21. Februar des kommenden Jahres (nach dem altchinesischen Zyklus das Jahr der Maus!) in Peking eintreffen sollte, und nachdem man sich über die naturgemäß unterschiedliche Beurteilung diverser Weltprobleme verständigt hatte, kam als wichtigste Arbeit der Text eines gemeinsamen Statements an die Reihe. Es sollte zwar erst nach Beendigung des Nixon-Besuchs verbreitet,
mußte
jetzt
aber
schon
formuliert
werden.
Gelegentlich fing ich bei unseren Leuten eine Bemerkung auf, wie schwierig es sei, zwei so konträre Weltanschauungen wie
unsere und die chinesische in einen Topf zu bekommen, aber es ging immer weiter. Erst hier in Hongkong, wo ich mit Yang zusammen sämtliche Mitschnitte
der
Kissinger-Tschou-Gespräche
systematisch
durcharbeitete und zu einem Bündel Informationsstoff für Langley zusammenstellte, wurde mir klar, wie klug Tschou Enlai die Fährnisse umschiffte, die sich da auftürmten. Er hatte Dr. Kissinger gleich zu Beginn der Gespräche vorgeschlagen, das Statement
mit
der
Darlegung
der
jeweiligen
(und
gegensätzlichen) politischen Position der beiden Partner zu beginnen. Der nächste kritische Punkt war, wie zu erwarten, die Taiwan-Frage gewesen. Nachdem Kissinger hatte durchblicken lassen,
daß
die
USA
in
der
bevorstehenden
Generalversammlung bei der Abstimmung über einen von Albanien gestellten Antrag eine Niederlage erleiden würden, durch die der Sitz Chinas von Taiwan auf die Volksrepublik überging, ließ Tschou En-lai einige Zeit verstreichen, wohl um Rückfragen zu tätigen, bis er schließlich zur Einigung über einen Vorschlag Kissingers bereit war, der schon zu den historischen Vorschlägen gehörte: eine Art Binsenweisheit, die aber für beide Seiten als (bei Licht besehen unverbindliche) Formel akzeptabel war. Sie lautete >Chinesen in der
Volksrepublik, ebenso wie Chinesen auf Taiwan sind einig in der Frage, daß es nur ein China gibt. Die USA fechten diese zweiseitige Feststellung nicht an.< Über unseren Vertrag zur Hilfe bei der Verteidigung Taiwans wurde vorerst nicht gesprochen. »Keiner hat Gesicht verloren.« Yang feixte, als wir die Texte analysierten. »Diesen rabulistischen >Ein-China-Satz< kann selbst noch Taiwan unterschreiben!« Als wichtig erwies sich weiterhin noch, daß beide Partner im Statement den Begriff Hegemonie verankerten, die Chinesen bestanden darauf, und zwar in dem Sinne, daß keiner sie über Asien anstreben dürfe. Da es aber ausdrücklich nicht heißen sollte >keiner von beiden Partnern<, richtete sich die Formulierung ausschließlich gegen die Sowjets, die ohnehin schon seit Jahren in allen chinesischen Medien der Absicht einer Hegemonie über Asien bezichtigt wurden, über China, Indien, Südostasien. Vietnam spielte ebenfalls seine Rolle. Den Pekingern wurde erneut von uns versichert, daß wir uns aus diesem Konflikt zurückziehen würden, allerdings nicht ohne die Sicherheit, daß die Saigoner Administration sich behaupten könne. Darum gehe es bei den Pariser Gesprächen. Und Dr. Kissinger ließ sich, so aufmerksam man die Aufzeichnungen auch abhörte, keine
Verärgerung anmerken, als ihm Tschou eröffnete, China werde seine Hilfslieferungen an Hanoi gerade im Hinblick auf Mr. Nixons Besuch demonstrativ steigern. Efeen8e gelassen stimmte er dem Vorschlag zu, die staatlichen Beziehungen zwischen der USA und China nach Mr. Nixons Besuch nicht sofort durch die Errichtung von Botschaften zu eröffnen. Wir hatten nichts anderes erwartet. Nun würde, wie in unserer ersten Vorstellung alles, was zwischen den beiden Staaten zu erledigen war, bis zur endgültigen Regelung der Vietnam-Frage von sogenannten Verbindungsbüros abgewickelt werden, deren Status dem von Botschaften
entsprach.
Eine
>
gesichtswahrende
<
Differenzierung, auch in unserem Sinne. »Er ist schon ein Fuchs, dieser Kissinger«, überlegte Yang laut. »Eigentlich sind sie beide Füchse, Sid. Tschou auch. Was wir hier erleben, ist das gerissenste Stück Geheimdiplomatie, das mir bisher unter die Finger gekommen ist. Keiner von uns hätte gedacht, daß es so einfach geht. Der Präsident reist tatsächlich nur noch zu seinem Vergnügen und wegen der Publicity nach China.« »Mao wird ihn empfangen«, äußerte ich mich vorsichtig. Ich vermutete, daß der kranke, alte Mann die letzten Kräfte zusammennehmen würde, um sich selbst bei der Vollendung eines seiner Lebenswünsche zu präsentieren. Und als Yang meinte: »Es gibt nur wenige westliche Staatsmänner, denen eine
solche Ehre zuteil wurde«, zog ich ihn auf: »Du scheinst vergessen zu haben, daß ich an der Spitze aller stehe, denn ich bin mit Mao um die Wette geschwommen. Und ich habe ihn sogar absichtlich gewinnen lassen!« Er warf eine Biskuitpackung herüber und schimpfte: »Du wirst das schön für dich behalten! Ebenso wie deine verdammten Aufzeichnungen! Wir können es uns zwar leisten, daß Mister Nixon vor den Objektiven der TV-Kameras den Spucknapf
Maos
benutzt,
aber
wenn
auch
nur
eine
Menschenseele von dem Kanal erfährt, den die Agentur für zwei Jahrzehnte zu Kang Sheng unterhielt, wird es eine interne Gerichtsverhandlung geben, mit dir als Angeklagten. Möchtest du die erste Leiche auf dem Privatfriedhof der CIA sein?« Ich fragte zurück: »Wieso die erste?« In Wirklichkeit bewegte mich etwas anderes weit mehr: Er hatte gesagt, daß die Agentur einen Kanal unterhielt. Er war also Vergangenheit. Aus dem Repertoire der Realitäten so gut wie gestrichen, ebenso wie der Mann an seinem Ende, ich. Yang hätte mich nicht erst darauf aufmerksam zu machen brauchen. Im Hsinchao in Peking residierten einige Amerikaner, die ich nicht kannte, ich hatte nur den Eindruck, daß sie exzellente Verbindungen besaßen. Junge Leute, verglichen mit mir. Offiziell waren es Spezialisten, die sich um die Vorbereitungen für die Fernsehübertragungen des
Präsidentenbesuchs kümmerten. Von Yang hingegen erfuhr ich nebenbei, daß sie selbstverständlich ihm, mithin der Agentur unterstanden.
Leute der
amerikanischen
Fernsehstationen
würden erst im Januar nach Peking geflogen werden. — Als wir mit unserer Analyse fertig waren, erhielt Yang ein langes Diensttelegramm aus Langley. Er zeigte es mir nicht, beschränkte sich auf die Wiedergabe einiger Fakten. Danach war inzwischen der chinesische Botschafter in Kanada mit der Wahrnehmung der Geschäfte in der UNO-Vertretung betraut worden. Unser Sicherheitsberater hatte im Einvernehmen mit Peking
zu
diesem
Botschafter
offiziell
Verbindung
aufgenommen. Es war vereinbart worden, daß die UNOBotschafter beider Länder Fragen von gegenseitigem Interesse besprachen, wann immer eine Seite das für nützlich hielt. »Neue Form der Diplomatie!« Yang grinste, als er es mir mitteilte. »Nichts Offizielles, damit sich niemand das Maul zerreißen kann.« Über den Kanal, an dessen Pekinger Ende ich über so lange Jahre gesessen hatte, ließ Langley nichts mehr verlauten. Deshalb reichte ich kurz entschlossen ein Gesuch um vorzeitige Pensionierung ein, die mir zustand, nach fünfundzwanzig Jahren im Operationsgebiet. Ich begründete es mit der Absicht, literarisch tätig zu werden. Zeit verging. Sandy kam eines
Abends aus Peking an, mit einigen Koffern. Sie hatte mir telegrafiert, und ich holte sie in Lo Wu ab, wo mich so oft Holly empfangen hatte. Meine Wahine stellte mich in ihrer gelassenen Art vor die vollendete Tatsache: »Soweit es mich betrifft, ich bin durch mit Peking!« Wir waren uns seit dem Frühjahr einig gewesen, daß meine Aufgabe, was immer auch Langley sich ausdenken sollte, ihrem Ende zuging. Der Gedanke an eine Frühpensionierung hatte sich bei mir verfestigt. Finanzielle Schwierigkeiten würde es nicht geben, so daß wir uns ohne Bedenken nach Kauai zurückziehen konnten. Inzwischen hatten wir unseren Haushalt in der Ping Tjiao Hutang immer mehr eingeschränkt, hatten verschiedene Möbel, auch Teppiche und andere Einrichtungsgegenstände nach und nach verkauft. Lao Wu und die Tai-tai arbeiteten zwar immer noch für uns, aber sie wußten bereits, daß wir abreisen würden, und sie hatten uns angedeutet, sie könnten es sich leisten, für eine Weile auf ein ähnlich gutes Angebot zu warten, wie die Arbeit für uns gewesen war. Als ich nun immer öfter für längere Zeit in Hongkong sein mußte, hatte Sandy einfach selbstständig gehandelt, sie hatte ihre Stellung im Hospital endgültig aufgegeben, und jetzt teilte sie mir freudestrahlend mit: »Lieber, am 1.Januar beginnt meine Tätigkeit in Lihue! Das Institut wartet auf mich!«
»Du willst gar nicht mehr nach Peking zurück?« Sie
bewegte
die
Schultern.
»Ich
glaube,
ein
kurz
entschlossener Abschied ist das schmerzloseste. Von allen, die ich kannte, habe ich mich verabschiedet. Aber — wie ist es mit Dir? Wirst du noch in Peking bleiben müssen?« Das war nicht sehr wahrscheinlich. Ich sagte es ihr. »Dienstlich kaum. Der Kanal ist überholt. Für das, was nun kommt, schickt die Zentrale todsicher neue Leute. Ich sitze eigentlich nur hier, um bei einigen wenigen Fragen als Konsultant zu dienen.« »Dann schlag das Haus in der Hutang los, sobald du kannst. Absolviere hier die letzten Arbeiten, und wenn das vorbei ist, komm nach Kauai.« Es mochte sein, daß ich mich an das Haus in der Ping Tjiao Hutang gewöhnt hatte wie an ein Zuhause. Das war es ja auch gewesen. Peking mit all seiner Verschlafenheit, mit seinen Unzulänglichkeiten, aber auch mit seinem unbestreitbaren Reiz war mir irgendwie ans Herz gewachsen. China und diese Stadt hatten mich über lange Jahre fast vergessen lassen, daß ich im Kommunismus lebte. Andrerseits, sagte ich mir, geht es nach Kauai, zu Sandy, den Eltern, zu Burt. Und es war wohl nur noch eine Frage der Zeit, bis Sue mit ihrem Chet aus Kanada zurückkehren konnte. Vielleicht mit einem Enkel für uns ... »Ich werde sie mit einem Handtuch erdrosseln!« schimpfte
Sandy, als ich den Enkel erwähnte. »Sie soll nicht wagen, mich zur Großmutter zu machen! Ich werde jetzt erst einmal anfangen, mit dir zu leben!« Im >Mandarin< hatte ich uns ein Zimmer gebucht, ohne Yang vorher um Erlaubnis zu fragen, wie ich es hätte tun müssen. Hol's der Teufel, ich war es leid, den Bittsteller zu spielen, wenn es um nichts weiter ging, als um eine gemeinsame Nacht mit meiner Frau! Wir waren das kurze Wegstück vom Star Ferry Pier bis zum Hotel in einem Taxi ohne Türen gefahren,
einem
jener
klapprigen
Hongkonger
Schnellverkehrsmittel, und hatten trotzdem so geschwitzt, daß wir schleunigst unter die Dusche flitzten. Sandy stand noch unter dem prickelnden Wasserstrahl, als das Telefon anschlug. Ich nahm den Hörer mit nasser Hand und hörte die Stimme Hollys. Verblüfft setzte ich mich. »Was willst du? Woher weißt du überhaupt, daß ich hier wohne?« Er stöhnte. »Junge, kriegen wir dich noch einmal groß? Du steckst in einer der heißesten Operationen der Firma, benimm dich gefälligst danach!« »Soll ich Männchen machen?« erkundigte ich mich aufgebracht. »Kann sich ein erwachsener Mann nicht mal mit seiner eigenen Frau zurückziehen, wohin er will?« Seine Stimme war ohne Erregung: »Du brauchst für so was
eine Erlaubnis, und du weißt es. Ich kann nichts dafür, daß dein Vorgesetzter dir wie ein grüner Junge erscheint, ich weiß nur, daß er es nicht ist. Dein Taxifahrer hat ihm, noch bevor ihr beide auf dem Zimmer wart, die Nummer durchtelefoniert.« »Mein Taxifahrer?« »Jesus«, machte Holly. »Tu mir den Gefallen und stell dich nicht an wie ein Yeti, dem man den Playboy zu lesen gibt! Muß ich dir buchstabieren, daß wir unsere Leute in dieser gefährlichen Stadt abschirmen?« Ich war wütend. Man lebt nicht fünfundzwanzig Jahre in einem kommunistischen Operationsgebiet wie China, völlig auf sich selbst angewiesen, um sich danach wie ein Schuljunge behandeln zu lassen! »Meint dieser Idiot in der Big Wave Bay vielleicht, ich treffe mich heimlich mit Russen, um ihnen zu verraten, wieviel Mao Tai Dr. Kiss-Kiss auf dem letzten Bankett in der Großen Volkshalle getrunken hat?« Einen Augenblick war es still. Dann merkte ich, daß Holly keine Lust hatte, mit mir zu streiten, daß er auch nicht für Scherze aufgelegt war. Möglicherweise dachte er an die > Wanzen < in den Telefonen des > Mandarin <. »Sid«, bat er leise, »tu mir die Liebe und ruf Yang an, sag ihm, wo du zu erreichen bist. Glaub mir, du tust dir selbst einen
Gefallen damit. Klar?« »Klar«, grollte ich und schmiß den Hörer auf die Gabel. Sandy, splitternackt, sich mit einem jener Frottetücher, made in China, trockenreibend, erschien in der Badezimmertür. Sie sah betörend aus, immer noch. »Was ist los? Warum schreist du?« Ich bedeutete ihr, daß mir der Dienst langsam zuwider wurde, dann wählte ich den offenen Anschluß in der Villa an der Big Wave Bay. Yang wurde an den Apparat geholt. Er sagte freundlich: »Sid, Hallo! Wann sind Sie zurück?« »Wann fliegst du?« fragte ich Sandy. Sie hatten für den nächsten Mittag gebucht. »Morgen Abend.« »Bis dann«, gab Yang zurück. »Und guten Flug für Ihre Gattin ...« Er sprach noch weiter, aber ich legte auf. In Peking war ich überflüssig, die Zentrale antwortete nicht auf meine Anfrage, hier war ich ein besserer Laufbursche. Also würde ich keine langen Überlegungen mehr anstellen, was meine Übersiedlung nach Kauai betraf. Ich würde mich auch ohne Erlaubnis unserer verschlafenen Zentrale dort niederlassen und schreiben. »Du brauchst nicht etwa zu schreiben, um unsere Existenz zu sichern, Sid, Lieber«, erinnerte mich Sandy, als wir darüber sprachen. »Ich habe bei meinem letzten Hiersein einen Blick auf die Zahlenreihe geworfen, die unseren Kontostand darstellt.«
Natürlich wußte ich, wie es finanziell um uns bestellt war. Wir hatten in den Pekinger Jahren so gut wie nichts von meinem Gehalt verbraucht. Außerdem hatten wir ohne Panne den Inhalt unseres Pekinger Safes außer Landes geschafft. Es ging letztlich nicht um Dollars. Ich würde mich lediglich auf eine neue Lebensweise einstellen müssen. Die große Spannung der vielen Jahre würde, so vermutete ich, dem Gefühl der Unzufriedenheit darüber weichen, daß der große Coup so undramatisch für mich endete. Das spürte ich bereits. Kein Höhepunkt, nichts. Sicher war das nicht zu ändern, es lag an mir, ich mußte Gelassenheit lernen", angesichts einer Agentur, die ich jetzt erst richtig kennen lernte. »Ich hoffe, du bist bald in Kauai und tust, was dir Spaß macht«, ermunterte mich Sandy. Sie hockte sich neben mich und schlug mir vor: »Schreib ein Dutzend Bücher über China. Du hast alles im Kopf. Und niemand treibt dich an — das ist der Idealzustand, wenn du mich fragst! Wir werden zwei sehr glückliche Leute sein ...« Am nächsten Morgen frühstückten wir ausgiebig, und dann rief ich ein Taxi, das uns zur Fähre bringen sollte. De Fahrer starrte mich verblüfft an, als ich ihm eröffnete: »Wir setzen nach Kowloon über, fahren nach Kai Tak, und von dort aus fliegen wir direkt nach Moskau, um Mao Tse-tungs geheimste Pläne zu
verraten!« Der Mann wußte wohl tatsächlich nicht, worum es sich handelte, und ich hatte den Verdacht, daß Yang die Observation umgestellt hatte. Wir behielten noch etwas Zeit, nachdem Sandy abgefertigt war. In einer Ecke des Cafes ließen wir uns an einem wackeligen Rattantisch nieder und bestellten Eistee. »Da du noch nicht weißt, wann du hier mit deiner Arbeit fertig sein wirst, werde ich vor Weihnachten allein nach Kanada fliegen. Mit den Kindern das Fest verbringen ...« schlug Sandy vor. Es war vielleicht das beste, denn selbst wenn ich vorher nach Kauai kam — Yang hatte mich beiläufig wissen lassen, ich würde für die Reise in ein anderes Land eine Genehmigung der Agentur brauchen. Formalität, wie er meinte. Sandy wußte das nicht. Ich hatte weder darüber gesprochen, noch hatte ich mich erregt. Es hatte wenig Sinn. Alles, was ich begriff, war, daß ich, je weiter ich mich von Peking entfernte, langsam zu einer Art Kontrollobjekt der Agentur wurde. Das war zwar im Augenblick nicht zu ändern, aber ich würde dieses lästig gewordene Verhältnis zu Langley spätestens nach dem Besuch des Präsidenten in Peking abbrechen, so oder so. Niemand brauchte mich dann wohl noch. Als ich es Sandy in diesem eigenartigen Cafe, in dem es nur wenig Licht gab, dafür aber eine quälend laute Radiomusik, sagte, stimmte sie mir sofort zu. »Mach
Schluß, ja. Du hast deinen Teil getan. Und wir haben die erste Hälfte des Lebens hinter uns. Die zweite ist kürzer, man soll sie für sich leben, nicht für andere.« Sie hatte mir das schon früher einige Male zu verstehen gegeben, ohne zu wissen, wie kritisch ich einige neue Aspekte des Umgangs der Agentur mit ihren Leuten beurteilte. Meine Wahine sah das Leben von der praktischen Seite, es lag in ihrem Naturell. Sie hatte die vielen Jahre in Peking nie geklagt, jetzt spürte sie, daß wir beide dort nichts mehr zu suchen hatten, daß der ganze Job für mich und damit auch für sie vorüber war. »Wir werden die Eltern noch ein paar Jahre haben, wenn die Götter es so wollen«, sagte sie. »Und — wer weiß, vielleicht reduziere ich meine eigene Tätigkeit in dem Institut auch nach und nach. Zwei bis vier Stunden in der Woche, das wäre mein Traum ...« »Hast du Elma noch einmal gesehen?« fragte ich, um dem Gespräch ein wenig die Schwere zu nehmen, die es zu belasten begann. Sie sagte ja, und daß mit Elma immer noch nicht vernünftig zu reden sei. Sie habe sich inzwischen einen holländischen Paß besorgt, über ihr Konsulat, und auch Tjiuy könne, als ihr Mann, einen solchen Paß bekommen. Dies alles deute darauf hin, daß die beiden bei günstiger Gelegenheit nach Europa gehen würden. Vorausgesetzt, die Behörden gestatteten
es. »Elma ist ein nervöses Wrack«, sagte Sandy. »Ich weiß, wie schwer solche Leute es haben. Ginge es nach mir, steckte ich sie für ein halbes Jahr in ein Sanatorium. Aber nicht in China.« »Und Tjiuy?« »Er beherrscht sich. Aber er ist ohne Kraft. Ma Hai-te meint, er ist ein Fall für die Psychiatrie geworden, ebenfalls. Rat weiß er auch nicht.« »Ma Hai-te geht es gut?« Sandy antwortete: »Wie immer. Er lobt die weise Politik des Vorsitzenden, der den Sowjets Zunder gibt, indem er sich mit Amerika versöhnt.« Es lohnte wohl nicht, sich über die Kehrtwendungen den Kopf zu zerbrechen, die viele Leute in China im Hinblick auf die UdSSR und Amerika vollzogen hatten. Vieles davon war einfach Anpassung, es entbehrte des inneren Engagements. Bei einer nicht geringen Zahl von Parteimitgliedern allerdings hatte die jahrelange gezielte Haßpropaganda gegen die Sowjets mittlerweile eine Art antisowjetische Hysterie erzeugt. Das kam uns zugute. Chang Wen, mit dem ich bei unserem letzten Zusammentreffen über dieses Phänomen sprach, machte mich damals aufmerksam: »Sid, dies alles hat damit zu tun, daß es in unserer Partei, so lange sie existiert, immer nur ein fast beiläufiges Studium der marxistischen Theorie gegeben hat. Teils ist das darauf
zurückzuführen, daß der Vorsitzende stets darauf drängte, der Marxismus müsse erst einmal für China brauchbar gemacht werden, bevor man ihn anwenden könne. Deswegen hat die Partei sich im wesentlichen mit den theoretischen Schriften des Vorsitzenden begnügt. Und jetzt ist sogar der gesamte klassische Marxismus, alles, was Lenin schrieb, suspekt, lediglich die Ideen des Vorsitzenden gelten für uns. Da hast du die geistige Tragödie unserer Partei ...« »Er geht nach Wuhan zurück«, teilte mir Sandy mit, als ich mich nach Chang Wen erkundigte. »Ihn selbst habe ich nicht getroffen, nur seine Frau, sie sagt, er kann wieder in der Metallbranche arbeiten, zwar nicht als Direktor, aber immerhin ...« Das Schiff bekommt eine neue Besatzung, dachte ich. Was einmal für mich Peking ausgemacht hatte, verlor sich nach und nach. Gewiß, Kang Sheng würde bleiben. Tso Wen. Aber sonst? In den Hotels, die nach der Kulturrevolution nun nicht mehr als > Heimstätten bourgeoiser Gewohnhei-ten< galten, wimmelte es von amerikanischen, englischen und allen möglichen anderen Journalisten und Beobachtern, die auf Sensationen hofften. Das Gerücht von einem präventiven Atomschlag der Sowjets wurde intensiv gehandelt. Seltsamerweise schienen die Ausländer im >Peking< oder im >Hsinchao< gar keine Angst vor einem solchen Schlag zu haben. Für mich rundete sich die lange, allzu
frustrierende Zeit meiner Kanal-Tätigkeit in Peking auf eine eigenartige Weise ab: alle Werte wurden buchstäblich umgekehrt.
Fluch
über
die
sowjetischen
Revisionisten,
Hegemonisten, Chauvinisten! Salve den neuen Freunden aus den USA! Ni Hao Amerika! Pfui und Halleluja. Der jaulende Gesang einer Chinesin, der aus mehreren Lautsprechern drang, brach ab, eine krächzende Stimme rief zum Besteigen der Maschine nach Honolulu auf. Ich versprach Sandy noch einmal, schnell nachzukommen. Mit Yang zusammen stürzte ich mich wieder in den täglichen Trott. Analyse der rotchinesischen Zeitungen, des Rundfunks, Fernsehens. Aus den Staaten war Al Jenkins in die Villa an der Big Wave Bay gekommen. Einer von Dr. Kissingers China-Spezialisten. Ich hatte ihn bei des Sicherheitsberaters zweitem Besuch in Peking zum ersten Mal gesehen. China kannte er aus der Zeit, bevor Mao Tse-tung Jenan aufgegeben hatte. Er war längere Zeit in Taiwan gewesen, und er brachte mich bei unserem ersten Gespräch in Peking dadurch in Verlegenheit, daß er sich erkundigte, ob Mao wohl als Geschenk eine moderne technische Kücheneinrichtung aus den USA annehmen würde. So, als habe er nie einen Blick in eine chinesische Küche getan! Während ich vor Verblüffung nicht gleich antworten konnte, tippte der
kaltschnäuzige Yang, den die Autorität Jenkins nicht im geringsten zu beeindrucken schien, an die Stirn, und fragte ihn spöttisch: »Waren Sie noch nie in einem China-Restaurant, Sir? Was soll der Steuermann denn mit unseren Mixern und elektrischen Fleischcuttern? Steaks präparieren und Porridge? Mister Kissinger soll ihm eine Kanone aus dem Bürgerkrieg überreichen, meinetwegen auch bloß eine Flinte, ich habe im letzten
Katalog
von
Sears,
Roebuck
welche
gesehen,
nachgemachte, sehr gut anzuschauen. Mao hält unseren Bürgerkrieg sowieso für eine Revolution, da lägen Sie mit so was viel richtiger als mit unbrauchbarem Küchenkram ...« Als ich den Aufenthaltsraum der Villa betrat, hockte Jenkins auf dem Sofa und blätterte in einem dicken Band von Analysen. Er lauerte darauf, daß sich doch irgendwo noch eine verspätete Auswirkung der Lin-Piao-Affäre zeigte, in den Streitkräften, aber er lauerte vergebens. Nur daß die meisten Kommandeure der Wehrbezirke stillschweigend ausgewechselt wurden. Yang war der Meinung, dies sollte einen Militärputsch gegen Mao verhindern, aber ich neigte eher dazu, daß die Umbesetzungen gewisse,
über
Übereinkünfte
lange
Zeit
zwischen
den
gewachsene
stillschweigende
einzelnen
Kommandeuren
liquidieren sollten. Gewachsene Verbindungen zerstören. Yang wollte das nicht so recht glauben, für ihn waren persönliche
Faktoren in der gesellschaftlichen Realität kommunistischer Staaten, seien es nun Verbindungen, die jemand nutzte, oder sei es blanke Korruption, rechte Sensationen, sie paßten nicht in das Schema des roten Systems, wie man es ihn auf der Akademie der Agentur gelehrt hatte. Doch er war schon bereit, hinzuzulernen, stillschweigend, dieser Schnösel, der mich immer höflicher behandelte. — Lediglich Mister Jenkins, der in der höchsten Position von uns allen saß, vermutete allen Ernstes, eines Tages könnte eine Rebellenarmee von Kwangtung oder Szetchuan aufbrechen, zum Marsch nach Peking, um dort die Verräter zu stürzen, die China an die Amerikaner verkaufen wollten. Yang machte sich darüber lustig. Er schärfte Jenkins respektlos ein: »Sir, Sie können dem Präsidenten ausrichten, es wird ihn in Peking niemand kidnappen, er wird weder mit faulen Eiern beworfen, noch angespuckt werden, wie seinerzeit in Venezuela, ja, es wird nicht einmal ein gegen ihn gerichtetes Transparent geben. Und das Militär, auch das aus Kwangtung und Szetchuan, wird das Gewehr präsentieren, wenn die Nationalhymne der Vereinigten Staaten gespielt wird. Hauptsache, der Präsident grüßt die rote Fahne, an der er vorbeigeführt wird, dann ist er in Peking sicherer als es Kennedy in Dallas war!« Wir machten uns an die Ausarbeitung des Programms, das
ein Vorkommando im Januar in Peking durchführen sollte. An alles war zu denken, vom Stand der Satelliten für die Übertragung der Fernsehaufnahmen angefangen, bis zu der Mitnahme von Medikamenten gegen plötzlich auftretende Durchfälle. Wir verbrachten zwei Tage damit, eine Liste aufzustellen. Dann wollte Jenkins wissen, worüber der Präsident mit Mao Tse-tung reden sollte. Kissinger war versprochen worden, Mao werde Nixon empfangen, was redete man als freier Amerikaner mit einem roten Parteichef? »Blablabla«, schlug Yang vor. Jenkins stutzte. »Wie bitte?« »Jesus«,
sagte
Yang
unbeherrscht,
»er
soll
keine
philosophischen Sprüche einüben! Small talk machen. Über die Freude an der Erfüllung seines Kindheitstraumes quatschen, die chinesischen Zuckerhutberge sehen zu können, die Reisfelder, die Yangtse-Dschunken! Wie schön es überall riecht und wie freundlich die Menschen sind — solchen Unsinn, verstehen Sie?« Jenkins hatte hochgeistige Unterhaltungen im Sinn gehabt. Yang machte ihn nachdrücklich aufmerksam: »Der Präsident soll sich auf einen Mann gefaßt machen, der mindesten zwei Schlaganfälle hinter sich hat, der an Durchblutungsstörungen leidet, und nach allem, was wir wissen, außerdem noch an
etwas, daß man Schüttellähmung nennt. Wenn man den Präsidenten überhaupt zu ihm bringt, dann ist das eine Vorführung, die für das Publikum zu Hause gedacht ist: Alles ist gut, der Barbar hat den Kotau vor dem Kaiser vollzogen! Was es zu bereden und zu entscheiden gibt, wird von chinesischer Seite durch Tschou En-lai erledigt, darauf hat der bereits verwiesen. Himmel, Ihr Vorgesetzter, der Doktor Kissinger muß das doch in seinem Protokoll haben!« Die größten Probleme sah Jenkins im Sicherheitsbereich, wir konnten ihm das gar nicht so einfach ausreden. Der Präsident dürfe
in vorher nach Peking geschafften, streng
gesicherten amerikanischen Autos fahren, jede Speise sei zu kosten, nachts würden sein Quartier vier Posten bewachen, mit stündlicher Ablösung. Es gab da manches, erschien, aber vieles würde
sich
was
berechtigt
nicht durchführen lassen.
Beispielsweise war mir bekannt, daß kein Auto, außer speziell überprüften chinesischen Fahrzeugen mit ausgewählten Fahrern in das Regierungswohnviertel Tschung Nan Hai einfahren durfte. Jeder Staatsgast bisher war von Maos Leibchauffeur abgeholt worden. Auch die Chinesen hatten ihr Sicherheitssystem! Ich brachte Jenkins mit meinen Einwänden beinahe zur Verzweiflung, während Yang vergnügt grinste. Er schlug vor, daß man Spezialisten aus den Staaten an der Kontrolle der
chinesischen Autos beteiligen sollte. Auch das legten wir schließlich
schriftlich
fest.
Sogar
über
solche
Nebensächlichkeiten, wie das halbe Glas Wasser wurde beraten, das auf dem Nachttischchen des Präsidentenehepaares zu stehen hatte, zum Herunterspülen notwendig werdender Schlafmittel oder verdauungsfördernder Tabletten nach Banketten gedacht. Es mußte kohlensäurefreies Wasser sein, aus einem mir nicht ganz verständlichen Grund, aber kein chinesisches Leitungswasser, aus Sicherheitsgründen. Also mußte es zusammen mit unzähligen anderen Dingen eingeflogen werden. Ich schlug vor, es in Kühlbehältern zu transportieren, nicht so sehr wegen der Temperatur, sondern weil es tiefgekühlt am fünften Tag wenigstens noch einigermaßen frisch schmecken würde. Zuletzt legte uns Jenkins eine Liste von Fragen vor, von denen man in Washington glaubte, daß die chinesische Seite sie an den Präsidenten stellen würde. Es gab einiges darunter, was in Peking mit hoher Wahrscheinlichkeit zur Sprache kommen könnte, der Rest war abwegig. Ich hatte inzwischen hochgradig meine Geduld
verloren,
mit
diesem Jenkins, der von
chinesischer politischer Methodologie nicht die geringste Ahnung hatte, deshalb fiel meine Belehrung drastischer aus, als er es vielleicht erwartet hatte. »Al«, redete ich ihn an, wie er es wünschte, beim Vornamen, »Sie dürfen nicht den Fehler
machen, anzunehmen, daß die Pekinger so einfach über ein Militärbündnis gegen die Sowjets mit uns verhandeln wollen. Das ist eine Primitivvariante, vergessen Sie es endlich! Die Chinesen haben nicht die geringste Neigung, sich als Kanonenfutter zur Verfügung zu stellen, behalten sie das im Gedächtnis, Al! Sie möchten lediglich ihre weltpolitische Position mit unserer Hilfe verbessern. Und in der Perspektive möchten sie mit uns zu Arrangements kommen, die ihr System stärken. Das wird kommunistisch bleiben. Aber es soll die Führungsrolle in Asien ausüben. Mit unserer Hilfe, mit unserer stillschweigenden Duldung, wenn Sie wollen, in Übereinkunft mit
uns,
bei
Austragung
gelegentlicher
öffentlicher
Scheingefechte, aber immer als Partner. Das ist die langfristige Strategie. Es liegt an uns, was wir daraus machen ...« Jenkins, der immerhin zuhören konnte, ließ eine lange Zeit verstreichen. Er betrachtete seine Fingernägel, zupfte ein Stückchen Haut ab, schürzte die Lippen, endlich fragte er: »Wissen Sie, Sid, daß es bereits fertige Pläne zu Hause gibt, für bestimmte
Operationen
von
Spezialtruppen
in
der
Mandschurei?« »US-Truppen?« Ich vergewisserte mich, obwohl ich ähnliche Bemerkungen schon während meiner letzten Aufenthalte in Peking von >Spezialisten< gehört hatte.
»Ja«, antwortete Jenkins. »Elektronik, von Experten bedient. Überwachungssysteme, die uns eine Fernkontrolle bis weit nach Sibirien hinein ermöglichen, genau und kontinuierlicher, als das mit Satelliten zu bewerkstelligen ist.« Ich nahm ihm vermutlich jede Hoffnung, als ich ihm riet: »Schlagen Sie sich das aus dem Kopf, Al. Das sind Illusionen von Leuten, die keine Vorstellungen von der realen Welt haben. Militärische Sandkastenspiele, die so enden wie Vietnam. Keine chinesische Regierung kann es sich leisten, dem Beispiel Taiwans zu folgen und uns Stützpunkte einzuräumen, selbst wenn sie das insgeheim möchte. Die Pekinger würden unter Umständen unsere Hilfe bei der Modernisierung ihrer eigenen elektronischen Anlagen in Anspruch nehmen. Bei gutem Wind wäre ein stillschweigender Austausch zwischen uns und ihnen möglich, auf streng geheimer Basis könnten Ergebnisse der Aufklärung von beiden Seiten zur Verfügung gestellt werden. Auf dieser Ebene müssen wir zu überlegen und zu planen beginnen, sonst werden wir uns in Peking totlaufen, wir werden gegen eine Gummiwand von höflichen und nichtssagenden Gesten rennen!« Er lachte unfroh auf. »Aber — sie wollen freie Hand über Taiwan! Was bekommen wir dafür?« Ich war es langsam leid, ständig neuen Leuten immer alles
von vorn zu erklären. Deshalb beendete ich das Gespräch mit Jenkins auf meine Weise, vielleicht etwas barsch, aber so, daß keine Zweifel über meine Meinung blieben. »Wenn wir wollen, daß der Präsidentenbesuch ein Erfolg wird, müssen wir Mister Nixon und den Militärs ganz schnell klarmachen, wir können China als Partner haben, nicht als Kolonie oder Militärstützpunkt. Alles, was wir in absehbarer Zeit ansteuern können, ist Sympathiebildung für uns und die Gewöhnung an eine Partnerschaft, nach jahrzehntelanger Gegenpropaganda. Das dauert Jahre, und es wird ein komplizierter Prozeß sein, in dem wir vorsichtig vorgehen müssen. Unsere Chance liegt in der Zukunft, AI. Ich glaube, wenn wir fertigbringen, die nächste Generation chinesischer Studenten hochgradig auf unseren Universitäten auszubilden, haben wir viel gewonnen. So lang wird der Zeitraum sein, den ich sehe. Diese Entwicklung einzufädeln, ist wichtiger als Abhörstationen in der Mandschurei mit GIs zu besetzen! Wann wird endlich jemand in unserer Regierung oder im State Department das begreifen?« Ich dachte an Chang Wen, als ich ihm das erläuterte. Er war für mich eines der Beispiele, die mir zu denken gegeben hatten. Er war ein Freund der Sowjets geblieben, trotz aller Propaganda, trotz aller Schläge, die er persönlich einstecken mußte. Warum?
Die Antwort lag in der Bewertung subjektiver Faktoren innerhalb der Politik: hang Wen hatte die Sowjets als Brüder erlebt, als Gefährten, unmittelbar, er hatte sozusagen das Brot mit ihnen geteilt. Er würde das nie vergessen, das war zutiefst menschlich, eine Sache der Emotion. Alles, was wir zu tun hatten, war, in der künftigen chinesischen Führungsschicht Leute heranzubilden, deren Emotionen wir geschickt in unsere Richtung lenkten. In Harvard erzogene Chang Wens. Dann konnte man die tatsächlichen Chang Wens vergessen, sie würden aussterben. Solche Überlegungen schienen mir fruchtbarer und intelligenter als die stupiden Spekulationen der Elektronik-Generäle. Es klang böse, ich gebe es zu, und Jenkins rügte mich sofort, er äußerte den Verdacht, daß ich während meines langen Aufenthaltes in einem kommunistischen Land ein wenig das Gespür für die weltpolitischen Interessen der Großmacht USA verloren hätte. Es gab nichts, was mich mehr verletzten konnte, deshalb bat ich ihn, auf meine Dienste als Berater künftig zu verzichten, wenn er übersah, daß ich mich genau im Interesse der Weltmachtinteressen der USA zweieinhalb Jahrzehnte in Peking aufgehalten hatte. Yang betrat den Raum, als ich ihm ankündigte, ich werde mich ohnehin zurückziehen, und er werde in einigen Jahren
lesen können, was in den Beziehungen zwischen uns und China tatsächlich zu tun war, und was nicht. »Vorher brauche ich Sie aber noch ein paar Tage hier«, sagte Yang grinsend, ohne auf den Streit einzugehen, den er fraglos mitgehört hatte. »Und beim Präsidentenbesuch in Peking müssen Sie ebenfalls dabei sein, Sid. Noch haben wir keinen anderen Kanal zu Kang Sheng!« Es lohnte nicht, weiterzustreiten, ich war aufgebraust, das passierte mir neuerdings gelegentlich, aber ich merkte es, und ich lenkte ein, ohne meine Position aufzugeben. In diesem Augenblick des Überdrusses wurde ich mir bewußt, wie vieles mir in der letzten Zeit Unbehagen bereitete. Vielleicht waren es die Nerven. Und vielleicht war es besser, sich einfach emotional aus der Sache zu lösen, bevor ich für immer den Abschied nahm. Ich kann nicht sagen, was mir mehr zuwider war, die Klugrederei von »Spezialisten«, die nicht das geringste von China begriffen hatten, oder die naßforsche Art, mit der sich unsere Militärs anschickten, das in Süd-Vietnam verfahrene Spiel, das ihnen den Aufstand des ganzen Landes eingebracht hatte, nun in China von neuem zu inszenieren. Ich
begann
zu
vermuten,
daß
unsere
Leute
den
Präsidentenbesuch handhaben würden, wie eine BroadwayShow: für einige Zeit Schlagzeilen machen, und danach wird
alles im zähen Schlamm von Dummheit und ungelösten Kardinalproblemen versinken. Sandys Rat, mich auf Kauai niederzulassen und meine Gedanken lieber in aller Ruhe zu Papier zu bringen, war der vernünftigste, den mir jemals ein Mensch gegeben hatte. Ich würde ihn befolgen ...
Chronologie Aktivitäten von Präsident Nixon und Mrs. Nixon in der Volksrepublik China (21. Februar 1972 bis 28. Februar 1972) Aufgezeichnet: 4. März 1972 21.2. 9 Uhr Landung in Shanghai. (US-Flagge
vor
dem
Hauptgebäude,
keine
Hymne).
Begrüßung durch stellvertretenden Außenminister Tschiao Kuan-hua und Leiter der USA-Abteilung im Außenministerium, Tschang Wen-tjien. Protokollchef Wang. Kurzes
Frühstück.
Mitflug
Empfangskomitees nach Peking.
des
chinesischen
11 Uhr 30, Landung Flughafen Peking. Ehrenkompanie, keine Bevölkerung. Tschou En-lai mit Begleitung
begrüßt
den
Präsidenten.
(Demonstrativer
Handschlag Mr. Nixons!) Knappes, aber korrektes Zeremoniell. Fahrt zum Tschung Nan Hai, ein Gästehaus für Mr. und Mrs. Nixon, Kissinger und Begleitung, ein weiteres für Mr. Rogers (Außenminister) und dessen Stab. Begrüßung mit Tee: Gattin Tschou En-lais, Marshall Yeh Tschien-ying
und
weitere
Beamte.
Tschou
eröffnet
unverbindliche Konversation. Dann Mittagessen. 14 Uhr 30, Tschou En-lai spricht Einladung Mao Tse-tungs aus, der Präsident könne ihn sofort besuchen. Abfahrt ohne Verzögerung, kurze Strecke innerhalb des Sperrbezirkes. Einstündige Audienz: Mao, Tschou, Mr. Nixon, Mr. Kissinger, Gleichzeitig Treffen der beiden Delegationen mit Festlegung des Arbeitsplanes. Abends, nach 20 Uhr, Tschou En-lai gibt Begrüßungsbankett in der Großen 'Volkshalle. Rudel von Reportern, Blitzlichter, Trinksprüche. Freundliche Atmosphäre, so als habe es nie Differenzen gegeben. Allgemeine Versöhnungsbereitschaft. 22.2. Beginn des Arbeitsprogramms für die Delegationen. Jeweils im Quartier
von
Außenminister
Rogers am Vormittag
beginnende Sitzungen über praktische Fragen. Gleichzeitig Beginn des Besuchsprogramms für Mr. und Mrs. Nixon, begleitet von Tschou En-lai. Zuvor vierstündiges Vier-AugenGespräch Nixon-Tschou. 23.2. Vierstündiges Vier-Augen-Gespräch Nixon-Tschou. 24.2. Dreistündiges Vier-Augen-Gespräch Nixon-Tschou. 25.2. Einstündiges Vier-Augen-Gespräch Nixon-Tschou. 26.2. Gemeinsame Sitzung beider Delegationen vor dem Flug nach Hangtschou. Dauer eine Stunde. Das gemeinsame Kommunique (Entwurf) wird an alle Delegationen verteilt, nachdem die Maschine gestartet ist. Reiselektüre. 27.2. Mr. Nixon, Tschou En-lai und Mitglieder der Delegationen besuchen Shanghai (Industrieausstellung). Pressekonferenz in Shanghai. Abschlußbankett, gegeben von Tschou En-lai. Nachts weitere Änderungsarbeiten am gemeinsamen Kommunique, Übersetzung und Unterzeichnung am frühen Morgen. 28.2. Bekanntgabe des Kommuniques. Einstündiges Vier-Augen-
Gespräch Nixon-Tschou. 10 Uhr Abflug von Shanghai. 8.März 1972 Kellis hatte mich empfangen, als ich von Honolulu aus am 15. Februar nach Kaneohe gefahren wurde, zum Stützpunkt der Marine-Air-Force, wo der Präsident Station machen würde, bevor er den Ozean in Richtung China überquerte. Er schien leicht angetrunken zu sein, leugnete aber, seit Tagen auch nur an Alkohol gedacht zu haben. Wir hielten uns im Stützpunkt nur eine Stunde auf, dann stiegen wir in eine vierstrahlige Boeing, von der Kellis behauptete, sie sei das genaue Gegenstück zur Präsidentenmaschine, die den Namen >Spirit of 76< führt. »Wollte dir ein Geschäft vorschlagen, alter Junge«, machte Kellis sich an mich heran, als wir auf Höhe waren. Unter uns lag Oahu, von hauchfeinen Regenschleiern getrübt. In der Maschine befanden sich Spezialisten der Nachrichtentechnik, Funker, Chiffreure,
aber
auch
(von
der
Agentur
ausgebildet)
Oberkellner, die auf dem vom Präsidenten gegebenen Bankett servieren sollten: Amerika ist unübertrefflich! Eine Stewardeß brachte uns eine ausgehöhlte Ananas voller Saft, den man durch ein Plasteröhrchen schlürfen konnte. »Geschäft?« Ich ahnte nicht, worauf er hinauswollte. Wir würden beide während des Besuchs des Präsidenten in China Dienst in dessen Boeing
machen, sie war mit den unglaublichsten technischen Finessen ausgerüstet, eine Nervenzentrale, Koordinationspunkt und Informationszentrum zugleich. Von ihr aus regierte der Präsident, auch wenn er das Land verließ, weiter. Es gab nichts, was von diesem technischen Wunderwerk aus nicht erledigt werden konnte, sei es ein Telegramm nach Hongkong oder eine Rückfrage nach dem Ergebnis des letzten Baseballturniers in Boston. Kellis gähnte. Er kam nicht direkt zur Sache, machte Umwege. »Ich höre, du bist ein hochgelehrter ChinaSchriftsteller geworden ...?« »Sagt man das?« Ich antwortete in der gleichen Tonlage, uninteressiert erscheinend. Er gab zuerst auf, wie ich vermutet hatte. Kellis konnte solche Spiele nur eine sehr begrenzte Zeit durchstehen. »In der Firma spricht man von einem umfangreichen Werk über die chinesischen Dichter. Du bist fertig damit?« »Es befindet sich im Druck. Warum fragst du? Möchtest du ein Exemplar? Das sollte mich wundern!« Er grinste. »Wußtest du, daß ich im Personalkontrollausschuß sitze?« Ich hatte es nicht gewußt, ich wußte überhaupt nicht, daß es so etwas gab. Kellis meinte, das sei auch nicht nötig, es sei sogar
üblich, die Mitglieder dieses Ausschusses geheimzuhalten. »Weil wir manchmal unpopuläre Entscheidungen treffen müssen, die mit juristischen Regeln nichts zu tun haben«, brummte er erklärend. Ich machte »Aha!« und dann fragte ich ihn, was das mit meinem Buch zu tun hätte. Wir waren auf Westkurs, unten lag das Meer. Der größte Teil der Mitpassagiere döste vor sich hin. Da wir im hintersten Teil der Kabine saßen, konnte uns niemand zuhören. Kellis sprach trotzdem nur halblaut, so daß ich mich zu ihm hinüber beugen mußte, um ihn zu verstehen. »Diese Sache über die alten Dichter ist gut. Aber die Leute fragen sich, was du machen wirst, wenn dein Job in China sozusagen ausfiedelt. Hast du Ideen?« »Pension«, gab ich zurück. »Vorzeitig.« »Das meine ich nicht. Ich meine, was schreibt ein Pensionär der Agentur, wie du es sein wirst, in seiner Freizeit?« »Du sitzt im Personalausschuß und willst mir erzählen, du weißt nicht, daß
ich
Aufzeichnungen
über
meine
Mission
in
den
vergangenen fünfundzwanzig Jahren gemacht habe, und daß ich sie bearbeiten will?« Ich sagte es aufs Geratewohl, und ich traf ins Ziel damit. Kellis, der alte Mitstreiter vom Kommando K auf dem Adlergipfel, versuchte auf andere Weise dasselbe wie der Schnösel Yang, er warnte mich davor, das auszupacken, was ich
inzwischen sicher deponiert hatte, und von dem wohl Holly immer noch annahm, es gäbe lediglich das bei ihm befindliche Original. Kellis hatte vorsichtig begonnen, wie ich erwartet hatte, und begann bald deutlicher zu werden. »Ich mache mir Sorgen um dich«, verriet er mir. »das mit deiner Pension wird in Ordnung gehen. Der Bescheid ist unterwegs. Aber man fürchtet, du wirst als Pensionär Sachen schreiben, die nicht an die Öffentlichkeit gehören, weil sie die Agentur belasten ...« »Man? Wer ist das?« »Du kennst die innere Struktur der Firma nicht, Sid«, belehrte er mich geduldig. »Du warst nie mit jemandem in Kontakt, außer den paar Asien-Leuten. Junge, die Firma ist ein Riesenunternehmen.« »Ich hatte die Ehre, mit dem Chef zu sprechen!« erinnerte ich ihn. Er grinste. »Dieser Chef ist tot. Es lebe der neue Chef. Und der liebt es gar nicht, wenn man aus der Schule plaudert. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?« »Was willst du wirklich?« Er kam auf den Anfang unserer Unterhaltung zurück: »Ein Geschäft. Du nimmst von mir den Rat eines wahren Freundes und vergißt die letzten fünfundzwanzig Jahre. Kannst du das?« »Ich müßte es wollen«, gab ich ihm zu bedenken. Er nickte ernst. Zuletzt entschloß er sich, das Visier ein wenig weiter zu
öffnen, er sagte: »Ich wollte dir tatsächlich nur einen Rat geben. Die Sache ist heiß wie eine Katze im Frühling. Sie könnte dich viel kosten ...« »Die Pension?« »Das wäre wohl nicht weiter tragisch, für einen erfolgreichen Autor«, meinte er, wobei er mich forschend ansah. »Ich höre, du hast auch noch Vermögen dazu erheiratet ...« »Was kann es also kosten?« Er wandte sich ab. Dabei sagte er: »Dein friedliches Leben, du Idiot! Verstehst du endlich, was ich dir beibringen will? Du spielst mit einer scharfen Bombe! Wenn du klug bist, läßt du demnächst erkennen, daß du die ganze Sache vergessen willst.« »Und wenn ich sie nicht vergesse?« Er zuckte die Schultern. Deutete mir an, daß er nicht weiter darüber reden wollte. Ein Rat, keine Auseinandersetzung, ich verstand. Also erkundigte ich mich: »Worin besteht denn nun das Geschäft, das du mir vorschlagen willst?« Er machte keine Umschweife mehr: »Du wirst Peking verlassen. Zuvor vermachst du mir dein Haus dort. Die Agentur wird mich in Peking stationieren, für längere Zeit ...« Ich mußte lachen. Kellis blickte mich verständnislos an. Er wollte wissen, ob ich mich über ihn lustig machte, doch das tat ich gar nicht, es reizte mich nur zum Lachen, den Mann zu
sehen, der mich auf diesem toten Posten ablösen sollte. Wie sehr mich das auch belustigte, ich bot ihm an: »O.K., du kannst das Haus haben. Von mir aus. Ich nehme nur ein paar persönliche Dinge mit, für den Rest mache ich dir einen fairen Preis. Allerdings wirst du den Kauf mit den dortigen Autoritäten besiegeln müssen ...« Das wußte er, und darüber schien er schon ziemlich klare Vorstellungen zu haben. Die Vereinigten Staaten und China würden
vorerst
Konsultations-
und
Koordinationsbüros
eröffnen, die alles erledigten, was zwischen beiden Staaten zu regeln war. Das war eine Zwischenlösung, die ich kannte, mir war nur neu, daß Kellis in diesem Zusammenhang eine Rolle spielen würde. Nun erfuhr ich, daß nach Weisung der Zentrale Kellis in Peking residieren würde, allerdings separat von unserem künftigen Verbindungsbüro. Die Sache war bereits abgemacht, also mußte inzwischen gesichert sein, daß Kang Sheng und dessen Behörde Kellis persönlich akzeptierten. Hatte er mit ihm gesprochen? Wer sonst? Gab es an mir vorbei einen Kanal von der Agentur zu Kang Sheng, durch den die Frage meines >Nachfolgers< geregelt worden war? Ich sagte, um der Sache ein wenig weiter auf den Grund zu kommen, vor mich hin, aber so, daß Kellis es hören mußte: »Sieht so aus, als sei ich schon ehrenvoll entlassen und wüßte es nur noch nicht!« Kellis
war von Natur aus ein offener Mensch, es lag ihm nicht, um die Dinge herumzureden. Er hatte zwar die Regeln der Agentur zu beachten, aber er ging bis an die Grenze dessen, was er wohl glaubte, verantworten zu können, als er mir mitteilte: »Nicht entlassen, Sid. Du hast in einer bestimmten Phase in Peking gearbeitet.
Während
einer
ganz
bestimmten
politischen
Konstellation. Jetzt beginnt eine neue. Mit neuem Personal, das ist so üblich.« »Und das neue Personal bist du?« Er grinste fröhlich, als er sah, daß ich begann, die Sache von der leichten Seite zu nehmen. »Wie gesagt, ich sitze in diesem Ausschuß, und ich dachte, es müßte meiner Karriere dienlich sein, ein paar Jahre in einer roten Hauptstadt ...« Niemand hatte mir bisher offiziell mitgeteilt, daß nach dem Präsidentenbesuch meine Tätigkeit in Peking endete, es hatte nur gelegentlich Bemerkungen darüber gegeben. Ich selbst war es gewesen, der, unabhängig von der Agentur, einen Schlußpunkt setzte. Deshalb nahm ich das, was ich von Kellis erfuhr, von der praktischen Seite, statt mich zu ärgern, schließlich kam die Absicht der Agentur, mich abzulösen, meinen eigenen Intentionen entgegen. Als wir in Peking ankamen, rief ich sofort Kang Sheng an, aber der war nicht erreichbar. Tso Wen, der Kellis und mich wenig später in der
Ping Tjiao Hutung aufsuchte, teilte uns mit, der Chef sei erkrankt
und
lasse
sich
entschuldigen.
Es
war
nicht
auszuschließen, daß diese >Krankheit( mit dem bevorstehenden Nixon-Besuch zusammenhing. Tso Wen versicherte, wenn Mister Kellis in Peking zu bleiben wünsche, und wenn er in meinem Hause wohnen wollte, so gäbe es dagegen sicher von der Administration keine Einwände. Ob er schon von der Neubesetzung des Kanals wußte? Ich kannte Tso Wen lange genug, wenn er eine so deutliche Zusage gab, hatte er bereits eine interne Weisung. Der erste Abend versank in einem Festessen, das Lao Wu und die Tai-tai uns auftischten, er versank auch in einer Flasche Mao Tai, die wir austranken, was eine nahezu unzumutbare Strapaze für jeden Magen darstellt, wobei wir uns, soweit ich mich erinnere, immer wieder versicherten, daß wir ewig Freunde bleiben würden. — Und jetzt sitzen wir in der angeblich abhörsicheren Kabine der Präsidenten-Boeing, und während ich im Kopfhörer über eine > Wanze < mithöre, was im Wohnzimmer von Mao Tsetung verhandelt wird, spreche ich einen rohen englischen Übersetzungstext
in
das
Handmikrophon
eines
Aufzeichnungsgerätes. Es wird mir wohl immer ein Rätsel bleiben, weshalb Kang Shengs Spezialisten keine Störgeräte
eingesetzt haben. Wollen Sie vielleicht sogar, daß wir alles aufzeichnen können, selbst die geheimen >Vier-Augen-Gespräche? Oder wissen sie tatsächlich nicht, daß unsere >Wanzen< jetzt so winzig sind, daß selbst Mister Kissinger nicht merkt, wenn er eine in seinem Anzug mit sich herumschleppt? Kellis gähnt. Murmelte was von senilem Geplapper, dann vertieft er sich in die Lektüre einer Zeitung aus den Staaten. Yang döst vor sich hin, er hört mit, ohne nennenswerte Bewegung zu zeigen. Ich vermute, er wird am ehesten begreifen, daß alles, was Mao Tse-tung mit spürbarer Anstrengung, oft undeutlich spricht, bei weitem nichts mit Senilität zu tun hat: Sein Geist ist klar, nur scheint er körperlich weiter gelitten zu haben. Was Mao nicht deutlich artikulieren kann, übersetzt Nancy Tang, die auch bei diesem historischen Gespräch anwesend ist, in glasklares Englisch. Ich überlege: Wird da tatsächlich Geschichte gemacht? Mao hat schon am Anfang des Gesprächs mit Nixon, als dieser begann, über Regionen in der Welt zu sprechen, in denen Krisen zu erwarten sind, dem Präsidenten kurz und bündig mitgeteilt, dies seien keine Fragen, zu denen er sich zu äußern beabsichtige, sie seien mit Tschou En-lai zu besprechen. Mao brachte es fertig, trotz seiner Sprechschwierigkeiten, ein leichtes Geplauder in Gang zu setzen. Er wich philosophischen
Fragen elegant aus, lobte dafür die jetzige amerikanische Regierung, weil sie konservativ sei und Konservative sich gut berechnen lassen, er teilte mit, daß es eine Gruppe in der chinesischen Führung (was immer darunter zu verstehen war) gäbe, die gegen den Ausgleich mit den USA sei, und er nannte Lin Piao beim Namen, schilderte sogar dessen Absturz über der Mongolischen Volksrepublik. Er streifte viele Problemkreise, vom Sport über den Handel und den Kulturaustausch kam er zur Taiwan-Frage, die er als relativ kleines innerchinesisches Problem charakterisierte, unmittelbar danach sprang er wieder auf die Weltsituation zu und ließ durchblicken, China werde auch weiterhin keine Hilfstruppen nach Vietnam entsenden, er wollte Nixon zu verstehen
geben,
daß
er
entschlossen
war,
mit
uns
stillschweigend eine Art Nichtangriffsvereinbarung zu treffen, ein wahres Gentlemen-Agreement, über das es kein Protokoll geben würde. Die Beziehungen zwischen den beiden Ländern wünschte er, wenn man ihn richtig auslegte, bis zur Grenze des Möglichen ausgebaut zu sehen — dies war der Stratege Mao Tse-tung, der sich nicht mit Details abgab, sondern das Konzept unserer
gegenseitigen
Annäherung
entwarf,
mit
dessen
Ausführung sich untergeordnete Leute wie Tschou En-lai dann plagen sollten.
Nixon kam selten zu Wort. Immer wenn er versuchte, besonders höflich zu sein und Mao Komplimente zu machen, etwa, daß er mit seinen Ideen die Welt verändert habe, wies Mao ihn mit gezielter Bescheidenheit darauf hin, daß er sich nicht gerne loben lasse. Er sei im übrigen nur ein schwacher Mann, ein Mönch gewissermaßen, barfuß, weise, in zerlumptem Gewand, sein Erfolg im Leben sei gering gewesen. Es sei ihm im Grunde wohl weiter nichts gelungen, als einige Orte in der Nähe Pekings zu verändern. Vom Totalitarismus und der Freiheit des Menschen ging es zurück zu den Entbehrungen der Revolution, von der absoluten Wahrheit, die er im Kommunismus entdeckt habe, aber erst nachdem er ihn >sinisierte<, vorwärts, zur notwendigen Modernisierung des Riesenlandes, die mit Hilfe der USA leichter und schneller würde vollzogen werden können. Eine Zick-Zack-Tour-de-horizon. Als es eine kurze Atempause gab, testete ich meinen Eindruck bei Yang: »Ich halte das für eine Geste eines mächtigen Mannes, der seinen Gästen Sympathie bekunden und sie gleichzeitig für sich einnehmen will, oder?« Yang
stimmte mir ohne Zögern zu: »Er
legt
die
Marschrichtung fest, China und die USA freunden sich an, erneuern alte Beziehungen, ob sie die neue Freundschaft aber gegen die Sowjets kehren, ist eine praktische Frage, für die
Tschou En-lai zuständig ist!« Präziser hätte ich es in keiner Analyse formulieren können, dieser Yang war schon ein Mann mit Kopf! Dabei war er eher kühl in seinem Urteil, nicht vorschnell, und schon gar nicht enthusiastisch. Als einer der Sicherheitsbeamten, die die Maschine
abschirmten,
ihm
triumphierend
die
hiesige
Abendzeitung unter die Nase hielt, mit der Schlagzeile >NI HAO AMERICA!<, fragte er den Mann: »Na und? Ist es nicht eine Sache der Höflichkeit, Gästen guten Tag zu sagen?« »Aber, Sir«, der Beamte starrte ihn verblüfft an. »Das ist doch ein Weltereignis! Ich bin noch in Korea gewesen, habe mich mit den Kerlen geschossen. Und jetzt: Wir haben gesiegt, Sir!« Yang fertigte ihn beherrscht ab: »Wie haben eine politische Chance genutzt, die sich uns bot. Die Chinesen haben das Gleiche getan. Daran ist nichts weltbewegend. Ob sich dieser ganze Zirkus hier gelohnt hat, müssen erst die kommenden Jahre erweisen.« Es war eine großartige Show, die wir hier abzogen. Horden von Reportern und Kameraleuten sorgten dafür, daß die Zuschauer daheim buchstäblich jedes Räuspern eines Mitglieds der amerikanischen Delegation über TV-Satelliten mitanhören konnten, mitansehen, wie Madame Nixon in Kindergärten
frischgewaschene chinesische Baby belächelte, wie sie beim Staatsbankett von Tschou En-lai Fleischstückchen vorgelegt bekam, auf der Großen Mauer ein wenig fror, im eiskalten Februarwind, der von der Gobi heranwehte, vom Norden, wie ein chinesischer Protokollbeamter gezielt im Hinblick auf die Sowjets sagte, und wie es ebenso gezielt von jedem Mikrophon aufgenommen wurde. Wir verfolgten auf einem Monitor in unserer Kontrollzentrale jedes Bild, das in die Staaten ging. Auf diese Weise waren wir in der Lage, die verschiedensten, manchmal gleichzeitig ablaufenden Ereignisse zu beobachten, ohne uns von der Stelle zu rühren. Da kam im Laufe der Tage einiges zusammen. Nachdem Mao in seinem Gespräch mit Nixon und Kissinger sozusagen das Konzept abgesegnet hatte, was in allen chinesischen Medien sofort zu großer Aktivität führte, saßen die Arbeitsgruppen für wirtschaftliche, kulturelle und andere Fragen jeden Tag viele Stunden an der Ausarbeitung von Vereinbarungen. Tschou Enlais Stab und Kissingers engste Mitarbeiter unterzogen das bereits im Entwurf vorliegende Schlußkommunique, vom dem Mao wünschte, daß es >eine neue Etappe der Freundschaft zwischen den beiden Völkern< begründete, immer weiteren Überarbeitungen. Es galt tatsächlich, in einigen Kernfragen Formulierungen zu finden, die praktisch nichts beinhalteten,
nichts Greifbares bedeuteten, die aber >viel Gesicht für beide< machten.
Inzwischen
lief das Visitenprotokoll für
den
Präsidenten und dessen Gattin weiter ab: die Große Volkshalle erlebte eine glanzvolle Aufführung des Balletts >Das Rote Frauenbataillon<, eines der Lieblingsstücke von Tschiang Tschings Bühnenrevolution, an dem sie persönlich mitgearbeitet haben sollte, wogegen gehässige Leute allerdings behaupteten, sie haben die Idee einfach gestohlen, von einem Künstler, den sie in ihrer Kulturrevolution habe mundtot machen lassen, oder ganz tot. Mrs. Nixon, die davon informiert worden war, klatschte trotzdem begeistert Beifall, während rote Kämpferinnen mit Gewehren und Säbeln herumfuchtelten. Dann wieder schritt die Präsidentengattin über Dämme zwischen Reisfeldern der Vorzeigekommune > Immergrün < und schüttelte die Hände von Rübenzüchtern, sie bestaunte eine Sportshow im größten Pekinger Stadion, und sie ging gemessenen Schrittes neben dem Präsidenten durch das Tor der höchsten Harmonie in den Kaiserpalast, gelegentlich auf ein erklärendes Wort des alten Marshalls Yeh Tschien-ying lauschend. Sie besuchte ein Kinderhospital, hygienisch verpackt in einen weißen Mantel, wünschte sie artig gute Besserung, und sie machte den Präsidenten voll fernsehwirksam auf die Schönheit der Bauten im Sommerpalast aufmerksam. Mr. Nixon seinerseits animierte
die Gattin an einem der riesigen Steinelefanten am Weg zu den Ming-Gräbern, >Fang-mich< mit ihm zu spielen, um den übermannshohen Rüssel des Steintieres herum. Er starrte ernst im Museum der Grabstätte auf die Kostbarkeiten, die hier (unter Bewachung
der
Armee)
die
Zerstörungswut
der
Kulturrevolution gemäß höherer Weisung überstanden hatten. Das Paar aus Amerika wurde auf geschwungenen chinesischen Parkbrücken gefilmt und vor seinem Gästehaus, das eine USFlagge zierte, neben spielenden Kindern und beim Spaziergang durch den (glücklicherweise!) am frühen Morgen in Peking gefallenen Schnee. Mister Nixon erhob sich am Abend des letzten Tages in Peking von seinem Sitz in der Ehrenloge, als Akrobaten auf der Bühne Meisterschaft demonstrieren durften (im Gegensatz zu denen von Tienchao, durch spezielle Weisungen während der Kulturrevolution geschützte Akrobaten!) Er applaudierte ekstatisch. Ich mußte an die schöne Kwan Lung-lung denken, das Mädchen, von dem ich nicht wußte, war sie Künstlerin oder Kriminelle. Doch da war schon wieder die First Lady, Mrs. Nixon, auf dem Bildschirm, die zuckersüß lächelnd ihre chinesischen Begleiter einlud, die USA zu besuchen, ähnlich nichtssagend wie die englische Königin seinerzeit einen indischen Elefantenführer. Sie lobte ihre Gastgeber: »In ihrer langen Geschichte sind die Chinesen stets gütig gewesen,
talentiert für so vieles. Ich freue mich, weil diese Eigenschaften nicht verloren gingen. Nie habe ich freundlichere Menschen kennen gelernt!« »Jesus!« grunzte Kellis, der hinter mich getreten war und auf den Kontrollschirm blickte. »Sie wird gleich jemanden küssen!« »Bist du neidisch?« Er sagte, es sei unter seiner Würde, eine solche Provokation überhaupt zur Kenntnis zu nehmen, dann rülpste er, während er eine Bierbüchse aufriß, und murmelte etwas, das sich wie eine Erleichterung darüber anhörte, daß es künftig, für die anschwellende amerikanische Residentengruppe in Peking eine Versorgungslinie aus der Heimat geben würde. Über Hongkong. Kellis wird tatsächlich meine Nachfolge hier antreten, wobei ich immer noch zögere, es so zu bezeichnen. Kang Sheng, der weiterhin krank ist, hat uns über Tso Wen mitteilen lassen, seine Dienststelle sei einverstanden, daß Kellis die Agentur > halboffen < hier vertritt, und zwar während der Periode der sogenannten Verbindungsbüros. In der Ping Tjiao Hutung hat Kellis inzwischen seine Koffer ausgepackt. Lao Wu und die Taitai scheinen mit dem Gedanken zu spielen, für ihn zu arbeiten. Kellis lebt allein. Ein bequemer Job. — Ich bin dabei, mich zu duschen und reisefertig zu machen, in meinem Haus, nachdem das letzte Pekinger Bankett vorbei ist
und die >Spirit of '76< zum Flug nach Shanghai bereitgemacht wird. Kellis, Yang und ich werden in einer anderen Maschine fliegen, kurz nach Mitternacht, wir werden morgen, wenn der Präsident in Shanghai die Industrieausstellung besucht oder in Hangtschou über den West-See gerudert wird, bereits wieder in der Zentrale sitzen und den letzten Tag des Besuches miterleben, aufzeichnen, kontrollieren. Während ich mich einseife, steckt Kellis den Kopf durch den Duschvorhang und brüllt,
um
das
Prasseln
des
»Rauskommen! Tallimann da!
Wassers
zu
übertönen:
Wollen sprechen
Master
Robbinsse!« Er ist angetrunken. Hat mir kurz zuvor noch einmal ins Gewissen geredet, ich soll die verdammten Aufzeichnungen vergessen, wegwerfen, totmachen, oder sie würden was mit mir tun. Obwohl er kaum fähig war, mich zu verstehen, habe ich ihm angedeutet, daß ich mir von keiner beschränkten Beamtenseele in den Staaten vorschreiben lasse, was ich an historischen Entwicklungen, bei denen ich beteiligt war, festhalte und was nicht. Er rollte nur die Augen, wie jetzt, als er mir endlich zubrüllt, wer da ist: »Heißt Ma, der Kerl, ist Medico oder sowas ...« Ma Hai-te, der flotte, stets eifrig um gute Laune bemühte kleine Doktor steht etwas betreten in unserem ehemaligen
Wohnzimmer, das jetzt kahl wirkt, weil die Wände leer sind und die Teppiche fehlen. »Hallo«, sagte er eigenartig müde, als ich, in ein Handtuch gehüllt, eintrete. »Du wanderst aus?« »So ist es«, bestätigte ich. »Aber das heißt nicht, daß du bei mir stehen mußt, setz dich, trink einen ;..« Er schüttelt den Kopf. »Laß nur.« »Doktor«, versuchte ich ihn zu trösten, »die Welt ist in den letzten Tagen für China größer geworden. Warum können wir uns nicht bald mal auf den Inseln sehen?« Sein Gesicht bleibt ernst. Er nickte etwas abwesend, als würden ihn die Inseln überhaupt nicht interessieren. Ohne sich zu setzen, sagt er: »Hast du eine Stunde Zeit?« Eigentlich wollte ich schlafen. Der ständige Dienst hat mich angestrengt, zumal ich nicht nur auf den Ablauf der Ereignisse achten mußte und Schnellübersetzungen in Mikrofone sprechen — ich habe es fertiggebracht, mit Hilfe eines bei meinem letzten Aufenthalt
in
Hongkong
erworbenen,
winzigen
Aufzeichnungsgerätes, so gut wie alles, was an Gesprochenem bei uns durchlief, für mich persönlich aufzuzeichnen, ohne daß jemand davon weiß. »Klar habe ich Zeit«, sage ich, trockne mich ab und greife nach meiner Wäsche, die auf dem Sofa liegt (Sandy würde aus
der Haut fahren, wenn sie die Männerwirtschaft in der früher so ordentlichen Wohnung sähe!). Von der Tür her erkundigte sich Kellis: »Was trinken? Scotch? Bier? Du sagen, Mann!« Ich rufe zurück: »Du kannst menschlich mit ihm reden, du Trottel, der Doktor ist in New York City aufgewachsen, seine Orthographie wird besser sein als deine.« »Angenehm«, grunzt Kellis, als er mit drei Gläsern Scotch erscheint. Ma Hai-te lehnt nicht ab, aber ich kann sehen, daß er nur an dem Drink nippt, den er normalerweise mit Vergnügen gekippt hätte. Als ich angezogen bin, stelle ich ihm so förmlich wie möglich den künftigen Bewohner meines Hauses vor, auch als einen Mann der China zu studieren beabsichtigte Kellis gurgelt, er sei zwar kein gelehrter Literat, aber er werde sich Mühe geben, hier heimisch zu werden, da ja nun Amerika und China ... Ob ich mit ihm kommen kann, fragt Ma Hai-te mich, sein Dienstauto steht im Eingang der Gasse. Draußen im Hof gibt er mir einen Umschlag. Der Brief ist kurz, ich lese ihn im trüben Dämmerlicht der Hoflampe, die wir immer sehr romantisch fanden. Ma Hai-te sagt neben mir: »Lesen und vergessen, Sid. Sowas ist gefährlich.« »Lieber Sid, liebe Sandy, wir haben uns entschlossen, unserem Sohn zu folgen. Wir wollten beide nicht in Europa
leben, sondern in einem ehrenhaften China. Es grüßen Euch Elma und Tjiuy.< Mein Gesicht muß die Bestürzung widerspiegeln, die ich empfinde, denn der Doktor sagt: »Reg dich nicht auf, Sid, es ist nicht mehr zu ändern. Ich fürchte, viele Leute leiden unter dem, was die beiden in den Tod gehen ließ ...'« Ich weiß endgültig, daß ich kein harter Mann bin. Dies waren zwei Informanten für mich, mit Familienanschluß, nicht viel mehr, trotzdem würgt es in meiner Kehle. Man lebt nicht ungestraft fünfundzwanzig Jahre in einem Land ... »Wie haben sie es gemacht?« »Gift«, gibt er zurück. »Tjiuy kannte alle die alten chinesischen Rezepte, er war in den Basars zu Hause, es muß ihm leicht gewesen sein ...« Er hat Zutritt zu der Halle, mit der noch von dem amerikanischen Arzt Bob eingerichteten Pathologie, und er nimmt mich mit hinein, er ist eine Respektsperson, niemand wagt es, ihn zu fragen, wer sein Begleiter ist. Ich hatte lange überlegt, wie ich mich von Elma und Tjiuy Tong verabschieden sollte — jetzt stehe ich vor der Schublade, in dem Raum, in dem es nichts mehr zu sagen gibt. Die Gesichter der beiden sind beinahe
friedlich.
Ein
Chinese
und
eine
Europäerin,
nebeneinander, wie im Leben. Nach einer Weile zieht Ma Hai-te
das weiße Wachstuch wieder über ihre Gesichter, löscht gleichsam die Erinnerung an sie aus, und sagt leise: »Komm ...« »Hätten wir es verhindern können?« Ich frage es, um überhaupt etwas zu sagen, während wir draußen beisammen stehen, obwohl ich ahne, daß niemand auf das hätte Einfluß nehmen können, was die beiden getan haben. Ma Hai-te schüttelt den Kopf. Er blickt zu Boden. Als die Maschine in Peking abhob, hatte ich kein Gefühl des wehmütigen Abschieds. Eigenartig, es fiel mir leicht, zu gehen. Ich hatte, nach allem, was ich in den letzten zweieinhalb Jahrzehnten hinter mich gebracht hatte, das Bedürfnis, künftig woanders zu leben, fern von hier. Der stille Amerikaner kehrt in sein Nest zurück. Die Inseln waren das rechte Asyl für einen Mann wie mich. Ich würde nachdenken können. Das alles, was mich an Gedanken bewegte, mit gebührendem Abstand einordnen in mein Weltbild. Neben mir schnarchte Kellis. Ich überdachte seine Warnung. Sie war ehrlich gemeint. Auch was Yang schon früher mit mir erörtert hatte, machte mich unsicher. Ich war unentschlossen. Sicher, meine Aufzeichnungen sind heißer Stoff. Aber in einigen Jahren wird das alles, was uns und die Chinesen jetzt bewegt, Geschichte sein. Und Geschichte wird lebendig durch die Erfahrungen einzelner Menschen. Ich schlief im Sitz ein,
schnarchte vermutlich ebenso laut wie Kellis, und als wir in Shanghai aufsetzten, war ich nicht einmal angeschallt. Aus dem Bullauge blickend, gewahrte ich im Osten den ersten hellen Streifen des neuen Tages am Horizont. Ein Sonntag, wie mir plötzlich einfällt. Wieder die Zentrale in der >Spirit of '76<. Wieder die summenden Geräte, das Gewirr der Stimmen aus den Lautsprechern, das Flimmern der Monitore. Nebenan sitzt Yang, ständig in Sprechkontakt mit Langley, über eine supermoderne Scrambler-Anlage. Kellis hat seinen Rausch ausgeschlafen, er schneidet den Morgenspaziergang des Präsidenten und seiner Gattin am West-See mit, und den feierlichen Akt, als Mr. Nixon im Park am See einen Redwood-Baum pflanzt, aus Amerika mitgebracht, als Symbol der Freundschaft. Routiniert hat sich Kellis die Kopfhörer so aufgesetzt, daß er ein Ohr für die Gespräche in der Kabine frei hat. Er kaut an einem Sandwich, ich habe keinen Hunger, aber Kellis hat mir erklärt, nach einer alkoholträchtigen Nacht könne er drei Steaks auf einmal essen. — Der Präsident in der Shanghaier Industrieausstellung, bewundernd, höflich interessiert an Maschinen, wie Amerika sie um die Jahrhundertwende kannte. Seine Gattin im Kinderpalast, umringt von kleinen Chinesen, die auftragsgemäß in die Hände
klatschen. Außenminister Rogers jetzt mit im Bild, seine Arbeit am
Kommunique
ist
beendet.
Ich
sehe,
wie
unsere
Sicherheitsbeamten vergeblich versuchen, dem Präsidenten eine Gasse zu bahnen, als er in Shanghai den Bund entlanggeht, eine Menge Volk umringt ihn sogleich, es ist zwecklos, einzuschreiten, die Leute wollen nichts Böses, sie wollen den Amerikaner sehen, ihn anfassen, nachdem der Große Steuermann mit ihm demonstrativ Freundschaft geschlossen hat. Der Bund, der — von den Engländern — einst für Chinesen und Hunde gesperrt war, brodelt. Nixon schüttelt Kinderhände, fragt nach Namen und Alter, Tschou En-lai übersetzt, Mrs. Nixon steht, entzückt lächelnd, im Hintergrund. Kellis gähnt neben mir und brummt dann in mein Ohr: »Den Scheiß da brauchst du nicht etwa zu übersetzen! Schwachsinn!« Letzte Nacht für den Präsidenten und seine Entourage in Hangt-schou. Wir bleiben in Shanghai, auf dem Flugplatz. Die Pressekonferenz ist vorüber, das gemeinsame Kommunique verlesen, ein paar sorgsam eingeübte Fragen gestellt und beantwortet. Morgen früh fliegt die >Spirit of '76< ab. Zurück nach Hawaii, und von dort nach Maryland, Andrew Air Force Base. Ralph Albertazzie, der Oberst, der die Boeing fliegt, studiert die Karte des Shanghaier Flughafens, bevor er sich zum
Schlafen
zurückzieht.
Die
Oberserganten,
die
man
zu
Ordonnanzen gemacht hat, in der Präsidentenmaschine, sind ungeduldig, weil wir immer noch nicht abbrechen, sie möchten den Umbau der Kabine beginnen. Aber wir sind noch damit beschäftigt, den chinesischen Text des Kommuniques mit dem englischen auf Unstimmigkeiten durchzusehen. — Als man den Morgen ahnt, steigen Yang, Kellis und ich um, in die Maschine, die uns nach Hongkong fliegen wird. Ein paar Tage braucht man mich noch dort, hat Yang mir mitgeteilt, für abschließende Arbeiten und zur Beantwortung von Rückfragen. Die Auswertung des Echos, das der Präsidentenbesuch in der chinesischen Presse finden wird, sollen schon die routinierten Spezialisten
der
Agentur
übernehmen,
die
auch
sonst
beobachten, was in den Medien des roten Reiches eine Rolle spielt. Ist das der letzte und endgültige Abschied von China für mich?
Hongkong Tiger Standard, 10. Mai 1972 Spaßige Umfrage in Europa Das
weltberühmte
Wachsfigurenkabinett
der
Madame
Tusseaurd in Paris befragt seit 1970 in jedem Jahr 3500 Besucher systematisch nach ihrer Meinung über vielerlei Dinge und
Menschen.
Die Ergebnisse haben keinen direkten
statistischen Wert, sie vermitteln lediglich einen Eindruck, wie die unterschiedlichsten Leute (meist Touristen) ihre Sympathien und Antipathien verteilen. In diesem Jahr bahnen sich interessante Ergebnisse an. So bekam im ersten Quartal beispielsweise Raquel Welsh die meisten Stimmen als schönste Frau der Welt. Ihr folgen Sophia Loren und Elizabeth Taylor. In der Liste der am meisten bewunderten Persönlichkeiten aus aller Welt rangiert bisher an erster Stelle Jeanne d'Arc, gefolgt von Abraham Lincoln und Horatio Nelson. Bei der Umfrage nach der meistgefürchteten oder am meisten gehaßten Person der Welt steht unter den Besuchern von Madame Tusseaurds Kabinett im ersten Quartal dieses Jahres (in das seine bislang spektakulärste außenpolitische Aktion fiel!) an erster Stelle Richard M. Nixon. Nach ihm kommen, mit geringem Abstand, Idi Amin (der ugandische Diktator) und Mao Tse-tung.
The Star, Hongkong, 23. Mai 1972 Wasserleiche identifiziert. Der unbekannte Tote, der am
Sonnabend am Strand von Rocky Bay Beach angetrieben wurde, ist inzwischen von Verwandten als der etwa fünfzigjährige Privatgelehrte Sidney B. Robbins erkannt worden, der sich mit chinesischer Literatur und Kunst beschäftigte. Robbins war in Hongkong mit seinem Verleger zusammengetroffen, um die Herausgabe eines umfangreichen Werkes über chinesische Epik aus mehreren Jahrhunderten vorzubereiten.
Ende des dritten Buches